LETTLAND: Zartes Pflänzchen Hoffnung
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herrnhuter Zeitschrift der Herrnhuter Brüdergemeine in der Schweiz Nr. 18 (2019) LETTLAND: zartes Pflänzchen Hoffnung Zu diesem Heft ten Fall eine geduldete Sprache, aber nicht die offizielle. Die meisten Menschen waren Leibei- Ich gebe es zu: dies ist eine Liebeserklärung. gene - was zu bestimmten Zeiten Sklaverei be- An ein Land, an seine Bewohner, an seine deutete. Und auch in der Kirche war die Spra- Landschaft, an seine Kultur. Sie fing nicht erst che Deutsch, oder Schwedisch (in der Lutheri- an, als ich vier Wochen im September und Ok- schen Kirche) und Russisch (bei den Orthodo- tober 2019 im Land war, um die Sprache zu xen und Altgläubigen). Wo war da Raum für die lernen, oder zumindest eine Annäherung zu eigene Identität? Und da kommen im 18. Jahr- wagen. Es begann bei meinem ersten Aufent- hundert die Herrnhuter, lernen die Sprache, halt im Land vor 12 Jahren. bauen Bethäuser auf den Gutshöfen und lassen 2007, Europäischer Missionsrat der Herrnhuter die Menschen aktiv mitmachen in den Ver- in Ungurmuiža. Mitten in Lettland, in Vidzeme, sammlungen, beten und singen. Viel singen, im alten Livland. Und dann springt einen in ei- was den Nerv des Volkes traf, das Herz und das nem nur anfänglich restaurierten Herrschafts- Gemüt. Und lesen können, was wichtig ist: Bibel haus mit all den Nebengebäuden die Herrnhu- und Gesangbuch und Losung. Schreiben, wie ter Geschichte an, die erste echte Missionstä- sie zu sprechen von klein auf gewöhnt waren, tigkeit, noch vor der Karibik. Mitten in Europa, auch den eigenen Lebenslauf. Nicht zufällig und doch sehr weit weg. Aber nicht nur das kleine Augenblicke und Eindrücke, sehr subjek- handelt der erste lettische Roman im späten 19. Haus nahm mich gefangen, auch diese Land- tiv, die aber hoffentlich etwas davon zeigen, Jahrhundert von lettischen Herrnhutern. schaft, mit dieser Weite, den Wäldern und dem welch wundersame Wege Gottes Geschichte Das alles ist, auch durch Fehler von Seiten Wasser. In der ein dreihundert Meter hoher mit seinen Menschen manchmal geht. In einem Herrnhuts, nach und nach zugrunde gegangen, Hügel zu den höchsten Punkten gehört und tat- Land, in dem bis zum 2. Weltkrieg die grösste und mit dem Ende des 2. Weltkriegs war alles sächlich Berg genannt wird, die Sprache aber Wirksamkeit der Herrnhuter weltweit war, und vorbei, geriet in Vergessenheit. Bis nach der keinen Ausdruck für Gebirge kennt. deren Spuren entscheidend den politischen Werdegang des Landes mitgeprägt haben. friedlichen Revolution vor 30 Jahren Menschen Und dann sind es die Menschen, die meist so ihre Geschichte wiederentdeckten. Daraus ist ernst wirken, fast verschlossen; sehr zurückhal- Es waren deutschbaltische pietistische Adlige, keine blühende, grossartige Kirche geworden, tend, den Schweizern nicht unähnlich. Mit die- die Herrnhuter aufnahmen und später gezielt sondern kleine ökumenische Kreise, sozietär ser erst einmal völlig unverständlichen Sprache ins Land holten, um der lettischen Landbevölke- strukturiert wie wir hier in der Schweiz. Jede samt den zusätzlichen Schriftzeichen, die sich rung Bildung zukommen zu lassen - und Glau- und jeder behält seine eigene kirchliche Prä- einer schnellen Annäherung entzieht. Dahinter ben, der sie als Menschen ernstnahm, ihre gung. Aber es entstehen kleine Hoffnungspflan- aber entdeckt man sehr unterschiedliche, wun- Sprache akzeptierte und den Untergang ihrer zen, an denen wir uns freuen können, die unse- derbare Menschen, deren Reaktionen sich erst Kultur verhinderte. re Unterstützung verdienen. Mehr dazu im Heft; nach längerem Hinhören und Hineinhorchen in Das ist aus der Schweiz eigentlich gar nicht zu jetzt Ihnen eine hoffentlich anregende Lektüre, die Vergangenheit, in ihre Geschichte er- ermessen, über Jahrhunderte ein von fremden Ihr Volker Schulz schliessen. Mächten besetztes und beherrschtes Land zu Deshalb will das Heft, im Gegensatz zu den sein. Mal waren es die Deutschen, anfangs mit vorherigen Ausgaben des "herrnhuter" nicht den Ritterorden, dann die Schweden und einen kurzen summarischen Einblick geben, schliesslich das zaristische Russland, immer sondern will Menschen in den Blick nehmen, hatten andere das Sagen. Lettisch war im bes- vom Typ An-2. Zum Glück keine Jets, kein Mili- derttausend Menschen – am 4. November 1989 Der 23. August 1989, oder tär. am Alexanderplatz in Ost-Berlin -, und da ging es um Reformen, aber nicht um Revolution. der Baltische Weg Der einmotorige Doppeldecker der Marke An- tonow, erstmals gebaut 1947, flog an normalen Bei der Menschenkette fassten sich pünktlich Der langjährige ARD-Korrepondent für Tagen über die weiten Felder der Kolchosen, um sieben Uhr abends die Menschen an den Skandinavien und das Baltikum, Tilmann Bünz, um Dünger zu streuen, bestens geeignet für Händen. Einige direkt von der Arbeit, mit beschreibt in seinem Buch „Wo die Ostsee den Tiefflug bei niedrigem Tempo. Aber dieser Schlips und Anzug oder im Kostüm, andere im Westsee heisst“ dieses historische Ereignis und 23. August 1989, ein Mittwoch, war kein norma- Kittel oder Blaumann. Jeder kannte seinen Platz. hat freundlicherweise zugestimmt, diese ler Tag. Die beiden Piloten hatten die Felder Die Strecke war in Abschnitte eingeteilt nach Passage hier abzudrucken. ausnahmsweise sich selbst überlassen, und der Kombinaten und Betrieben. In allen drei Repub- dritte Mann drehte auf eigene Faust. Leonas liken gab es einen Masterplan. Orte und Na- Was die meisten im Westen nicht wissen: Nicht Glinskis, ein litauischer Querkopf, Hobbyfilmer men und Zahlen, säuberlich mit der Hand ge- nur in Leipzig gingen die Menschen im Herbst und Bürgerrechtler, hatte Angst, dass das schrieben. Eine Meisterleistung der Organisati- 1989 auf die Strasse. Tausend Kilometer weiter Staatsfernsehen die Demonstration verschwei- on und ein Zeichen dafür, wie einig sich Letten, östlich in der alten Sowjetunion kam es zur gen würde. Aus dem Westen hatte er sich eine Esten und Litauer waren. Niemand hatte Zweifel grössten Demonstration in der Geschichte der kleine Videokamera besorgt, die er aus der Lu- daran, dass es gelingen würde, in den grossen Sowjetunion. Es ging um Freiheit, aber auch um ke hielt. Er wurde zum Chronisten der Wieder- Städten die Reihen zu schliessen. Aber was war Brot, und die Panzer rollten nicht. auferstehung – drei Monate vor dem Mauerfall. auf dem flachen Land? Auf keinen Fall durfte Was er filmte, sah von oben auf den ersten Blick die Kette unterbrochen werden. Zur Not dehnte Die Menschenkette war eine Meisterleistung aus wie ein Stau und dauerte nur eine Viertel- man einen Pullover und fasste ihn an beiden der drei (baltischen) Völker, ein Höhepunkt ihrer stunde lang. Ärmeln an. … Geschichte. Mehr als eine Millionen Menschen fassten sich ein Herz unten auf der Autobahn. Die Kette ging durch Estland, Lettland und Li- Als „Baltischer Weg“ ist diese Menschenkette in Oben am Himmel flog ein uralter Doppeldecker tauen, von einer Sowjetrepublik zur anderen. die Geschichte eingegangen, und die entschei- Das eigentliche Wunder war, dass es gelang, denden Dokumente – Fotos und Lagepläne – die Kette über die ganzen 600 Kilometer zu gehören seit 2009 zum Weltkulturerbe. schliessen. Dafür musste sich etwa jeder achte PS: Nicht alle schafften es an jenem heissen Lette, Litauer und Este auf den Weg machen – Augusttag zu der ihnen zugedachten Stelle. Die eine Million von acht Millionen. Vergleiche sind Strassen waren verstopft, und manche Beine immer schwierig. Die Revolution der Ostdeut- wurden müde. Eine alte Dame bei Vilnius, so schen ist unbestritten der Höhepunkt der deut- erzählt man sich, wusste sich zu helfen. Als es schen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Auf die so weit war, ging sie in ihren Garten und um- DDR übertragen, hätten sich knapp zwei Millio- armte ihren Apfelbaum. nen Menschen versammeln müssen. Tatsäch- lich liegt der Rekord in der DDR bei fünfthun- Tilmann Bünz, Hamburg rettet werden. Mein ganzes brüchiges Ein Zeugnis Leben, das in Trümmern lag, und diese unerlöste Welt kamen unter dem Kreuz Ohne ihn ist die Brüdergemeine im heutigen Christi zusammen. Ich entdeckte: Ich Lettland nicht denkbar, und doch redet Gundars bin gerettet und kann plötzlich die Welt Ceipe nicht allzugern über sein persönliches verstehen, durchschauen. Ergehen in dieser Zeit, wie die meisten. Ich hatte die Vollkommenheit der Liebe Dennoch soll am Anfang sein sehr persönliches Gottes erkannt. Zeugnis stehen, dem dann einige biographische Anmerkungen folgen. Und dann: Zeiten des politischen Wan- dels. Intrigen. Ich werde aus der Kirche «Zeit der Sowjetunion und der kommunistischen vertrieben mit KGB-Methoden. Die Herrschaft: Hoffnungslosigkeit - Särge, die aus spürbare Gegenwart des Heiligen Afghanistan in die Heimat kommen. Und darin Geistes schwindet. Stattdessen bremst ein junger Mann; auf der Suche nach spirituel- mich der Geist des Widersachers. Men- len Wurzeln. taler Kampf, der körperlich wahrnehm- Die Kirchen sind verschlossen, geschlossen. Es bar war. Es war schrecklich. Während ist keine christliche Literatur zu erhalten. Es gibt eines mehrtägigen Missionsmarsches zog er sich zurück. (Besser kann und keine Bibeln. will ich es nicht beschreiben.) Am Ende einer abenteuerlichen und wunderhaf- Der das schreibt, ist mittlerweile 53 Jahre alt, In meiner Zeit als Journalist: Im Herbst 1989 ten Suche habe ich eine Bibel von einem KGB- offiziell seit einigen Jahren als Gemeindiener für musste ich Materialien über eine völlig verges- Agenten gekauft, für einen Haufen Geld. Kost- Lettland tätig. Das geht nur, weil der Lohn direkt sene Brüdergemeine vorbereiten.