Tour de France

Helvetische Radspuren Die feiert in diesem Jahr ein grosses Jubiläum: die hundertste Austragung. Auf Frankreichs Strassen haben auch Schweizer Radfahrer Spuren hinterlassen.

Graziano Orsi «L’amour c’est comme le Tour de France. Il faut der ersten Tour de France nahmen auch vier beaucoup d’efforts pour atteindre le sommet du Schweizer Pioniere teil: Paul Mercier, Marcel Le- col.» Tatsächlich braucht es grosse Anstren- quatre, Antoine Jaeck und Charles Laeser. Der gungen, um die Passhöhe zu erreichen oder die Letztgenannte entschied die vierte Etappe von wahre Liebe zu spüren, wie der Spruch dieses Un- Toulouse nach Bordeaux für sich. Für 268 Kilo- bekannten nahelegt. Manch ein Schweizer Rad- meter benötigte er 8 Stunden und 46 Minuten. Im sportler erlebte die schweisstreibenden Aufstiege Gesamtklassement ist er jedoch «non classé», da in den Pyrenäen – und verliebte sich trotzdem in er die dritte Etappe frühzeitig abgebrochen hatte. die Grande Boucle. Sie feiert in diesem Jahr ein Neben den Beinmuskeln setzten die Schweizer grosses Jubiläum: die hundertste Austragung. auch ihre Geistesstärke ein, um Fortschritte zu er- Drehen wir am Rad der Schweizer Sportge- reichen. An dieser Stelle sei (1890– schichte, dann findet ein Schlüsselereignis am 1961) erwähnt. Mit nur 17 Jahren hatte er Zürich 7. Juli 1936 statt. Der Dürntner Bauernsohn Paul in Richtung Paris verlassen, um technischer Egli (1911–1997) gewann das 258 Kilometer Zeichner zu werden. Von 1912 bis 1926 war er lange Rennen von Paris nach Lille im Sprint. Da Profiradrennfahrer und gewann 1914 zwei Etap- In der Hitze des Gefechts es die erste Etappe der Tour de France war, errang pen der Tour de France. Doch eine noch grössere behielt Ferdy Kübler, er als erster Schweizer das Gelbe Trikot. Wirkung auf «Le Tour» hatte er dank seines me- le fou pédalant, nicht Tour-Begründer Henri Desgrange erweckte 1903 chanischen Erfindungsgeistes. In seinem Sportge- immer einen kühlen Kopf. das härteste Radrennen der Welt zum Leben. An schäft an der Avenue des Grandes Armées in Paris

52 | 4/2013 velojournal Dank seines Sieges an entstanden bedeutsame Werke: die Egg-Überset- der Grande Boucle 1951 zungswechsel. Die speziell für Rennräder konzi- rückte ins pierte Schaltung nannte er «Super Champion». Zentrum der Sportpresse Als 1937 erstmals Gangschaltungen bei der Tour (rechts). de France zugelassen wurden, entschieden sich die meisten Fahrer für die «Super Champion». Die Durchschnittsgeschwindigkeit stieg auf den neuen Höchstwert von 31,769 km / h.

Das goldene Zeitalter Der grosse Coup gelang in der Nachkriegszeit Ferdy Kübler. Er gewann als erster Schweizer 1950 «Le Tour». Der älteste noch lebende Sieger der Tour, geboren am 24. Juli 1919, erhielt auf- grund seiner stürmischen Fahrweise den Überna- men «Le fou pédalant». Er attackierte wie ein Wilder, brachte Unruhe ins Peloton und war un- berechenbar. Unvergesslich und charakteristisch war «le petit discours» 1955 zwischen ihm und Raphaël Géminiani, der sich vor Beginn der Stei- Bücher zum gung Richtung Mont Ventoux ans Hinterrad des gesprochen, und die Kehre 14 trägt nun seinen Thema Schweizers geheftet hatte. «Attention, Ferdy. Le Namen. Einen weiteren Radprofi der Achtziger- Hanspeter Born, Martin Ventoux n’est pas un col comme les autres», jahre gilt es zu erwähnen: (geb. Born, Sepp Renggli: Ferdy warnte Géminiani. Kübler antwortete schlagfer- 1959). Er erreichte den dritten Platz an der Tour Kübler – «Ferdy Natio- tig: «Ferdy non plus, pas coureur comme les au- de France im Jahr 1986 hinter Greg LeMond und nal», herausgegeben von tres!» Der Champion, der mit lautem Rosswie- . Aussergewöhnlich war, dass Peter Schnyder, 224 S., hern die Mitfahrer aufzuschrecken pflegte, ritt Zimmi zur Feder griff und sich in seinem autobio- Fr. 88.–. stürmisch weiter und erlitt unter der prallen grafischen Roman «Im Seitenwind» (edition 8) Sonne einen fürchterlichen Einbruch. Er beendete kritisch mit dem auf Leistungsmaximierung aus- Sepp Renggli, Hanspeter die Tour frühzeitig. gerichteten Radsport auseinandersetzte. Einfühl- Born, Martin Born: Hugo In die Geschichtsbücher der Tour de France sam schilderte er seine persönlichen Auseinander- Koblet – Der «Pédaleur konnte sich auch der Schweizer Hugo Koblet setzungen mit Psyche und Physis. de charme», herausgege- (1925–1964) eintragen. Ihm gelang nur ein Jahr ben von Peter Schnyder, nach Kübler ebenfalls eine historische Heldentat Ein epochaler Eklat 232 S., Fr. 88.–. mit dem Sieg bei der 38. TdF. Der schöne Hugo Und schon befinden wir uns in den dramatischen Koblet war «le pédaleur de charme». Eine unver- Neunzigerjahren. Zweifellos vollbrachte Tony Daniel Sprecher: Hugo gessliche Etappe ereignete sich am 15. Juli 1951 Rominger 1993 eine Glanzleistung. Es gelang Koblet – Ikarus auf von Brive-la-Gaillarde nach Agen. Hugo Koblet ihm, auf dem Podium hinter dem Spanier Miguel Rädern, 230 S., Fr. 39.80. machte sich mit einem königlichen, einsamen Ritt Indurain den zweiten Schlussrang zu besetzen und unsterblich. Er gewann die Flachetappe nach das Bergtrikot der Grossen Schlaufe zu erobern. Markus Bühler: Tour de einer 136-Kilometer-Soloflucht mit Tempo 39 Die Leistungen in den Neunzigerjahren erhielten France – Auf den Spuren und einem Vorsprung von 2:35 Minuten auf das jedoch ein grosses, kritisches Fragezeichen, denn eines Mythos, deutsche Verfolgerfeld. Man bedenke, dass unter den Ver- es kam zum epochalen Eklat. Eine systematische Ausgabe, 160 S., 148 Abb. folgern Bobet, Coppi, Bartali, Magni und Gémi- Dopingpraxis mit Erythropoetin (EPO) ist an der Duoton, Fr. 75.–. niani waren, die auf Teufel komm raus fuhren, Tour de France 1998 im Team aufgedeckt um den Ausreisser wieder einzufangen – vergeb- worden. Die Mannschaft wurde nach der siebten lich. Er zeigte den «Costauds» (frz. stämmige Etappe von der Tour de France ausgeschlossen. In Kerle) auf eine eindrückliche Art und Weise, was der Festina-Affäre involviert waren auch die der französische Ausspruch «Faire cavalier seul» Schweizer Alex Zülle (2. Platz an der TdF 1995 – den anderen davongaloppieren – bedeutet. Die und 1999), und . zwei grossen «K» versprachen unnachahmliche Den Schlusspunkt setzen wir jedoch mit einer po- Eleganz und unkontrollierbares Temperament. Es sitiven Nachricht. Der Berner , war «L’âge d’or»des Schweizer Radsports. der in diesem Jahr auf eine Teilnahme verzichtete, trug so oft wie kein anderer Schweizer das Lea- Die berühmteste Alp dertrikot der Tour de France, nämlich insgesamt Mit ihren 21 Kehren ist «L’Alpe d’Huez» einer 28 Mal. Das Wort «super» kommt einem dabei in der berühmtesten Anstiege der Tour de France. den Sinn. Diese Bezeichnung verwendete 1950 Ein Husarenritt gelang Beat Breu (geb. 1957) im auch der amerikanische Filmregisseur Orson Wel-

S Verlag, zVg A S Verlag, Jahr 1982. Der «Bergfloh» gewann die prestige- les, der das Radrennen in Frankreich folgender- trächtige Etappe auf die berühmteste Alp im Rad- massen beschrieb: «Le Tour c’est une superpro-

Fotos: Fotos: sport. Auf diesen Triumph wird er noch heute an- duction.» n

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