Ein Neues Ringt Sich Durch! Die Anfänge Der Ruhrfestspiele in Recklinghausen 1946–1948
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Ein Neues ringt sich durch! Die Anfänge der Ruhrfestspiele in Recklinghausen 1946–1948 70. Ruhrfestspiele Recklinghausen Ein Neues ringt sich durch! Die Anfänge der Ruhrfestspiele in Recklinghausen 1946–1948 IMPRESSUM INHALT Herausgeber Stadt Recklinghausen Einleitung: So fing es an – Ein Verwaltungsbeispiel 6 Auflage Ursache: Der Katastrophenwinter 1946/47 8 2.500 Verantwortlich für den Inhalt Anlass: Die Notlage Hamburgs und der Hamburger Theater 11 Matthias Kordes, Institut für Stadtgeschichte Recklinghausen Fürsprecher und Förderer: Max Brauer, Regierender Bürgermeister von Hamburg 14 Fotografische Reproduktionen Anton Winter, Vorläufer und Vorbild: Die Volksbühnenbewegung und das „Neue Altona“ der 1920er Jahre 16 Institut für Stadtgeschichte Recklinghausen Satz und Gestaltung Gründer und Gründungsmythos: Otto Burrmeisters Weg nach Recklinghausen (1946–1947) 19 Unica Design Auftakt als Wagnis: „Dankgastspiele“ 1947 21 Druck Rainbowprint Institutionalisierung: Hans Böckler und die Rolle des DGB (1947–1948) 23 © Stadt Recklinghausen, März 2016 www.recklinghausen.de Ruhrfestspiele: Sinn und Idee (1948) 29 Resümee: Ein Neues ringt sich durch! 31 Anmerkungen, Quellen und Literatur 34 4 70. Ruhrfestspiele Recklinghausen 5 Dieser Vorschlag fand nach einigen Überlegungen Zu- Einleitung stimmung, und es wurde nun die Verpflegungsfrage bespro- chen. Irgendjemand machte den Vorschlag, dass die Zeche So fing es an – Ein Verwaltungsbericht den Künstlern täglich einen Bergmanns-Eintopf liefern solle. Oberbürgermeister Bitter versprach, seine Beziehungen zu hiesigen Unternehmen auszunutzen, damit diese der Zeche dabei helfen sollten. Ferner wurde in Aussicht genommen, mit Hilfe der Bauernschaft usw. eine zusätzliche Brotration an die Im Frühjahr 1947 rief mich der damalige Oberbürgermeister, Staatstheater. Es wurde uns folgendes mitgeteilt: Im vergange- Künstler auszugeben. Das übrige sollten sie dann von ihren Herr Bitter, an und bat mich, weil Herr Oberstadtdirektor Dr. nen Winter habe die Zeche König Ludwig unter persönlichen Lebensmittelkarten bestreiten. Auf dieser Grundlage kam Hellermann gerade abwesend war, mit ihm zur Zeche König Opfern der Belegschaft den Hamburger Staatstheatern Koks verhältnismäßig schnell eine Einigung zustande, und in den Ludwig I/II zu fahren. Es bestehe die Möglichkeit, daß die geliefert. Die Lieferung dieses Kokses sei für die Hambur- folgenden Tagen zeigte sich dann, dass der Plan in jeder Be- Hamburger Theater in Recklinghausen aufträten. Die Zeche ger Theater eine Lebensfrage gewesen, weil bei Einstellung ziehung realisierbar war. Die finanzielle Frage machte in der allein könne des Problems aber nicht Herr werden, und es der Heizung nicht nur die Winterspielzeit ausgefallen wäre, damaligen RM-Zeit gar keine Schwierigkeiten. Es entstand ein sei zu überlegen, ob die Stadt dabei nicht helfen könne. Wir sondern es wären auch verschiedene wichtige Apparaturen, vermutliches Defizit von ca. 25 000 RM, das der Hamburger fuhren zur Zeche und trafen dort Herrn Direktor Dr. Hillen- die nicht einfrieren durften, zu Bruch gegangen, so daß der Staat großzügig deckte. hinrichs und einige andere Herren der Verwaltung und des Be- Theaterbetrieb auf unabsehbare Zeit hätte eingestellt werden triebsrats der Zeche sowie die Herren Otto Burrmeister, Mendt müssen. Es wurde nun alles in diesem Sinne vorbereitet, und die und Zotzmann als Vertreter der Künstler der Hamburger Aufführungen waren ein beispielloser Erfolg. Insbesondere Markt Recklinghausen, Südseite, 1947 Infolgedessen hätten die Hamburger als Dank für die aber erwies sich das Zusammenleben der Künstler in den Lieferung versprochen, im Sommer nach Recklinghausen zu Privatquartieren mit der hiesigen Bevölkerung als besonders kommen, um vor der Belegschaft der Zeche zu spielen. Dieses fruchtbar, es entstand eine wirklich schöne Atmosphäre, die Michaelis, Sohn des von Juli bis November 1917 am- Versprechen hätten die Staatstheater auch wahrgemacht und dem Hamburger Regierenden Bürgermeister Brauer sofort tierenden Reichskanzlers Georg Michaelis, hatte seine sich mit ihrem gesamten Ensemble – etwa 150 Personen – auffiel, als er für einen Tag in Recklinghausen erschien. Er ersten Jahre in Recklinghausen als Syndikus des Groß- angemeldet. Da erst sei sich die Zeche über den Umfang des spürte das Zukunftsträchtige heraus und gab dem in einer unternehmens Carl Still verbracht. Doch ab Sommer Angebots klargeworden und glaube nicht, der Sache organisa- Rede auf der Zeche König Ludwig 4/5 und abends nach der 1945 ist er zuständig für Wirtschaft, Wohnungs- und torisch gewachsen zu sein. Insbesondere sei die Unterbringung Aufführung bei einem Zusammensein im Cafe Wien sofort Versorgungswesen der Stadt Recklinghausen. Unbe- einer so großen Zahl von Menschen – man muß die damalige prägnanten Ausdruck. So rief er am Abend, die Veranstaltung schadet der Tatsache, dass Recklinghausen nur mäßige Notzeit berücksichtigen – der Zeche allein unmöglich. Es sei so schön gewesen, dass man nur wünschen könne, dass eine Kriegszerstörungen zu verkraften hat, steht Michaelis‘ wurde nun an Oberbürgermeister Bitter und mich die Frage Dauereinrichtung daraus werde. Es müssten Festspiele des Amtsführung somit für Ressorts, deren Management gerichtet, ob die Stadtverwaltung da helfen könne. Oberbür- Arbeiters, es müssten „Ruhrfestspiele“ werden.1 Substanz und Überleben einer deutschen Nachkriegs- germeister Bitter erklärte sich sofort grundsätzlich bereit und stadt mitbestimmen. schlug vor, die Aufführung im Städtischen Saalbau stattfinden Zitierter Bericht, der sich frei von Pathos und Sub- zu lassen. Ich machte den Vorschlag, daß die Stadt und die jektivität persönlicher Augenzeugen-Erinnerungen hält, Michaelis‘ Anspielung auf Versorgungsengpässe und Zeche die Sache gemeinsam, und zwar halbpart, aufziehen trägt Züge einer nüchternen Sachverhaltsdarstellung im organisatorische Hürden bei der Bewirtung und Be- sollten. Wenn die Stadt für die sonstige städtische Bevölkerung Aktenstil. Er stammt von Dr. jur. Wilhelm Michaelis, herbergung der Hamburger Delegation wirft daher ein etwa die Hälfte der Plätze bekomme, so könne man durch die dem 1946 von der britischen Militärregierung ernannten Licht auf die Lebenssachverhalte der deutschen Zusam- Hergabe von Eintrittskarten genügend Bürger dazu bringen, 2. kommissarischen Bürgermeister und Ersten Beigeord- menbruchgesellschaft, innerhalb welcher die neuartigen Silhouette des Steinkohlenbergwerks König Ludwig, um 1950 die Mitglieder des Ensembles in Privatquartiere aufzunehmen. neten der Stadt Recklinghausen. Ruhrfestspiele entstehen werden. 6 70. Ruhrfestspiele Recklinghausen 7 Die wirtschaftlichen, sozialen und materiellen Lebens- ohne Raum – so das verheerende Schlagwort nationalso- Ursache umstände erreichen im besiegten, zerstörten und besetz- zialistischer Expansionspolitik – ist 1945/46 jedenfalls ten Deutschland, aber nicht nur dort, im Winter 1946/47 eine besiegte und weithin geächtete Nation ohne aus- Der Katastrophenwinter 1946/47 ihren absoluten Tiefpunkt. Die Gründe dafür sind viel- reichenden Wohnraum geworden, die zwischen Rhein fältig, sie kulminieren in einem meteorologischen Jahr- und Oder/Neiße ca. drei Millionen zurückkehrende hundertwinter, der die ohnehin prekären Nachkriegsver- Kriegsgefangene und zusätzlich sechs Millionen Flücht- hältnisse in Deutschland und Europa auf das Äußerste linge und Vertriebene aus den abgetrennten Ostgebieten belastet. aufnehmen muss. Die historische Bühne, die den späteren Ruhrfestspie- Unzählige Menschen leben in notdürftig regenfest len bereitet wird, entspricht somit einer ausgehungerten, gemachten Ruinen und Baracken, in Kellerlöchern oder steifgefrorenen Ruinenlandschaft. Diese trägt apokalyp- in sog. Wellblechhütten, landläufig benannt nach ihrem tische und lebensbedrohliche Züge, die Daseinsbewäl- „Erfinder“, dem kanadischen Militär-Ingenieur Peter tigung von Millionen Menschen steht am Abgrund. In- Norman Nissen. Das besitz- und obdachlose Subsis- ternationale Quellen sprechen vom kältesten Winter seit tenzdasein von Millionen Flüchtlingen, Vertriebenen, Beginn der Wetteraufzeichnungen, das zertrümmerte entlassenen Kriegsgefangenen, Kriegsversehrten, Aus- Europa hat, kaum dass es dem sechsjährigen Kriegsin- gebombten, Trümmerfrauen und anderen Kriegsopfern ferno entkommen ist, eine weitere kontinentale Katastro- bestimmen somit die Verhältnisse in Deutschland. phe zu bewältigen. Wiewohl noch im Oktober 1945 das United States Doch zunächst zu den menschengemachten Fakto- Strategic Bombing Survey mit gewissem Erstaunen feststel- ren: Ein Drittel des gesamten Wohnungsbestandes in len muss, dass das moderne und hocheffektive deutsche Deutschland ist zerstört, in den Großstädten und in- Industriepotenzial durch die Wirkungen des strategi- dustriellen Ballungsräumen liegen, hervorgerufen durch schen Luftkrieges allenfalls zu einem Fünftel zerstört das flächendeckende Zerstörungswerk der alliierten worden war, lag in der britischen Zone die industrielle Luftkrieges, die Werte sogar bei 50-60 Prozent, örtlich Produktion 1946 allenfalls zwischen 30 und 40 Prozent auch darüber. Der Gebäudebestand von Dortmund und der Zahlen von 1938/39. Sie sackt im Laufe desselben Duisburg ist beispielsweise zu zwei Dritteln vernichtet, Jahres, auch hervorgerufen durch Reparationsleistungen wohingegen das nur mäßig, hauptsächlich im Nord- und die Demontage von Produktionsanlagen, weiter ab. viertel getroffene Recklinghausen keinen repräsentativen Befund liefert. Dramatisch entwickelt sich überdies die Ernährungs-