Editorial Inhaltsverzeichnis

Seit dem rechtsextremen Skandal am Rand der Gedenkfeier in Eben- Seite 4 see ist mehr als ein halbes Jahr vergangen. Die mediale Berichterstat- Die deutsche Militärbesatzung und die tung ist längst verebbt. Der Unruhezustand, in welchem sich die Eskalation der Gewalt in der Sowjetunion Gemeinde Ebensee zweifellos befunden hat, ist einer Wachsamkeit von Dieter Pohl gegenüber rechtsextremen Wahrnehmungen gewichen. Wenn man es als positiven Effekt des Skandals bewerten darf, so ist eine wachsende Sensibilität in der Bevölkerung hinsichtlich rechtsextremer Erscheinun- Seite 17 gen (Schmierereien, Aufklebern, NVP-Agitationen im Vorfeld der OÖ Zwangsweise deutsch - Die „“ Landtagswahlen) spürbar. Soweit uns bekannt ist, sind seit Mai keine als Schauplatz der gewaltsamen „Ein- vergleichbaren rechtsextremen Vorfälle im Gemeindegebiet gemeldet deutschung“ von polnischen Kindern worden. von Ines Hopfer Die Frage, inwieweit die inszenierte rechtsextreme Provokation für die jugendlichen Täter, abgesehen von einer mehrtägigen Untersuchungs- haft, Folgen haben wird, kann zurzeit nicht beantwortet werden. Das Seite 23 Verfahren wegen NS-Wiederbetätigung und Körperverletzung – auch „Man erfährt einfach mehr und wird stär- von der betroffenen französischen Delegation wurde im Mai 2009 An- ker, wenn man gegen den Strom zeige erstattet - ist immer noch im Gang. Warum das Verfahren so schwimmt“ - Betrachtungen zur wider- lange dauert, ist nicht nachvollziehbar, liegt der Tatbestand doch auf ständigen Entwicklung des jungen Franz Kain von Marion Hussong der Hand. Die lange Verfahrensdauer generiert vielmehr den Effekt, dass die Öffentlichkeit aufgrund der zeitlichen Distanz den Vorfall zu- nehmend zu bagatellisieren vermag. Seite 40 Ein Treffen zwischen den jugendlichen Tätern und den französischen Kreta - Deutsche Besatzung und Wider- Betroffenen hat bisher nicht stattgefunden, ebenso wenig eine persön- stand von Wolfgang Quatember liche Entschuldigung. Trotzdem hegt die französische Delegation der „Amicale Mauthausen“ keine pauschalen Ressentiments gegen Ebensee, wie von Präsident Seite 43 Daniel Simon mehrfach geäußert wurde. Der gute Kontakt zwischen Die Rückstellung von „arisierten“ Liegen- den Verantwortlichen in der Gedenkstätte Ebensee und der „Amicale“ schaften in Bad Ischl von Nina Höllinger besteht nach wie vor. Ende Oktober 2009 besuchte die Delegation wie jedes Jahr die österreichischen KZ-Gedenkstätten, darunter auch Ebensee. Seite 48 Dass, auch wenn in absehbarer Zeit ein Gerichtsurteil ergehen sollte, In Memoriam Artur Radvanský der Vorfall zu den Akten gelegt werden könnte, wäre fahrlässig. Rechtsextremes und gewaltbereites Potential, scheint in Ebensee, Zeitzeugenbericht: wenn auch unter merkbarer Zurückhaltung, nach wie vor existent zu KZ-Mauthausen/Ebensee sein. Etwa firmiert der wegen NS-Wiederbetätigung auf seine Beru- von Artur Radvanský fungsverhandlung wartende mutmaßliche Führer der „Kampfgruppe Nachruf auf Artur Radvanský Oberdonau“ auf „Facebook“ nunmehr unter dem Pseudonym des ehemaligen SS-Offiziers „Otto Skorzeny“. In der Gemeinde muss weiterhin bildungspolitische Arbeit unter Einbe- Seite 51 ziehung der Jugend forciert werden. Die Polizei wird mehr denn je auf Projekt „Schulchroniken“ der Salzkam- Wahrnehmungen einer couragierten Zivilbevölkerung angewiesen mergutgemeinden aus der NS-Zeit sein. Wir alle sind aufgefordert zu demonstrieren, dass rechtsextreme von Michael Kurz und xenophobe Einstellungen in unserer Gesellschafts- ordnung keinen Spielraum haben. Gelegenheiten dazu gibt es viele. Eine besondere wird die nächstjährige Ge- Seite 52 denkfeier in Ebensee am 8. Mai 2010 sein. EU-Jugendprojekt gegen Indifferenz von Silvia Panzl Wolfgang Quatember

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Die deutsche Militärbesatzung und die Eskalation der Gewalt in der Sowjetunion

Dieter Pohl

Ende September, Anfang Oktober 1941 erreichten die schen Seite zuzuweisen.5 Inzwischen ist die Historiogra- nationalsozialistischen Massenmorde in der besetzten phie zur in der besetzten Sowjetunion Sowjetunion ihren ersten Höhepunkt. Die SS- und Poli- kaum mehr zu überblicken; es liegt eine Vielzahl von zeieinheiten begannen damit, in neu eroberten Städten Studien zu einzelnen Armeen, Divisionen oder Besat- die Angehörigen der jüdischen Gemeinden restlos zu zungsgebieten in diesem Raum vor.6 Eine Zusammen- ermorden, in den Kriegsgefangenenlagern der Wehr- fassung bzw. Verdichtung dieser Ergebnisse wird in zwei macht setzte ein Massensterben ein, dem bis Frühjahr neueren Untersuchungen versucht.7 1942 fast zwei Millionen Rotarmisten zum Opfer fielen, Wo nun sind die Wurzeln für diesen präzedenzlosen und den ersten Akten von Widerstand wurde durch Po- Vernichtungskrieg, der wohl sogar das Vorgehen der lizei und Wehrmacht mit der Erschießung von Zehntau- kaiserlichen japanischen Armee in Ostasien seit 8 senden Zivilisten begegnet. Nur sechs Wochen später 1931/37 in den Schatten stellte , zu suchen? wurden die ersten Hungertoten unter den zivilen Ein- wohner frontnaher Gebiete, besonders in Städten, re- Der Weg in den Vernichtungskrieg bis gistriert. Wie kam es zu dieser Eskalation der zum 22. Juni 1941 Verbrechen und welche Rolle spielte dabei die Wehr- Lange Zeit galt die unausgesprochene Prämisse, dass macht? die Wehrmacht im Frühjahr 1941 eine Säule des Staa- Diese Fragen haben die internationale Historiographie tes darstellte, die von der nationalsozialistischen Dikta- seit den 1960er Jahren interessiert. Mit besonderer In- tur und deren verbrecherischer Politik vergleichsweise tensität wird daran in den letzten zwanzig Jahren ge- wenig berührt war. Insbesondere die deutsche Militär- forscht. Einigkeit besteht dabei nur an zwei Punkten: elite erschien als homogen deutsch-national, aber der überragenden Rolle Adolf Hitlers bei der Eskalation kaum nationalsozialistisch und deshalb wenig ideologi- der Gewaltpolitik und der Weichenstellung durch die siert. Ein genauerer Blick zeigt jedoch, dass die Ideolo- sogenannten „verbrecherischen Befehle“ vom Mai und gisierung dieses Milieus weit zurückreicht, in Teilen Juni 1941.1 Damit ist schon das klassische Interpretati- sogar bis in die radikale antibolschewistische (und onsmodell benannt. Erst in den letzten Jahrzehnten meist antisemitische) Ära der 1919/20. Hit- wurde diese Argumentation erheblich erweitert: Zu- lers Machtergreifung 1933 wurde im Offizierskorps zu- nächst betonte man die Vorbildfunktion des Polenkrie- meist willkommen geheißen, die Gewalttaten des ges 1939, dann aber wurden die komplexen Regimes nach der Machtergreifung hingenommen Zusammenhänge zwischen der strategisch-wirtschaftli- oder gar begrüßt. Die kleine aber bedeutsame Militä- cher Feldzugsplanung seit Ende 1940 und der verbre- ropposition, die sich von Herbst 1938 bis Anfang 1940 cherischen Kriegführung offengelegt.2 Die neuere regte, war gegen die riskante Außenpolitik, aber kaum Forschung hat gezeigt, dass erhebliche Teile der Wehr- gegen die Gewalt im Innern gerichtet. Schon der Krieg macht, nicht nur das kleine Oberkommando der Wehr- gegen Polen zeigte das rassistische Gewaltpotential, macht, an der Organisation und Ausführung der das in der Armee steckte, wenn sie kriegerisch in Ost- Verbrechen beteiligt waren bzw. diese in Eigenverant- europa operierte. Zwar meldeten viele Armeeführer wortung vorantrieben.3 Anscheinend war der zentrale Proteste gegen die Massenmorde von SS und Polizei Teil der Verbrechen, der Mord an den Juden, bei Feld- an, doch zugleich verübten Heereseinheiten etwa die zugsbeginn noch gar nicht entschieden, sondern auch Hälfte aller Verbrechen während des Feldzuges.9 Nach dieser eskalierte in den Monaten des Sommers und der erfolgreichen Beendigung des Krieges in Westeu- Herbst 1941.4 Als dürftig haben sich hingegen neuere ropa war nicht nur die Militäropposition verschwunden, Versuche erwiesen, das Heer von dieser Verantwortung sondern auch die Kritik an den Besatzungsregimes. weitgehend auszunehmen und die Schuld für die Radi- Gerade die Unterdrückung und Beraubung der Juden kalisierung sogar zu erheblichen Teilen der sowjeti- wurde unter Militärbesatzung, so in Belgien-Nordfrank-

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reich, von der Wehrmacht selbst angeleitet. Eine neue Versorgung des Ostheeres aus dem Lande, zusätzlich Welle an rassistischer Gewalt und Verfolgung brachten jedoch den Abtransport vieler Güter ins Reich, um dort der Krieg und die Besatzung der Wehrmacht auf dem das Versorgungsniveau hoch zu halten und die deut- Balkan ab April 1941, die in einigen Fällen bereits das sche Bevölkerung bei Laune zu halten. Zu diesem Regime in der besetzten Sowjetunion vorwegnahmen.10 Zweck entwickelte er ein gigantisches Hungerszenario: Der Feldzug gegen die Sowjetunion stand seit Juni Die Bevölkerung der östlichen Städte und in den Ge- 1940 auf der Tagesordnung der nationalsozialistischen bieten der Russischen Föderation sollte weitgehend von Führung. Mit den Vorbereitungen wurde im Spätherbst der Zufuhr von Nahrungsmitteln, also vor allem dem begonnen, die konkrete Entscheidung für den Krieg fiel südlichen Schwarzerde-Gebiet, abgekoppelt werden. im November/Dezember 1940. Dabei war von Anfang Der dadurch projektierte „Überschuss“ würde an die an klar, dass es sich um ein militärisch durchaus hoch- Wehrmacht und an die Deutschen im Reich abgege- riskantes Unternehmen handelte, welches sich gegen ben. Die verantwortlichen Militärs, Wirtschaftschef den ideologischen Todfeind richtete und diesen zer- Georg Thomas und Generalquartiermeister des Heeres trümmern sollte. Aus diesen Prämissen entwickelte sich Eduard Wagner, übernahmen diese Berechnungen die konkrete Feldzugsplanung, die vor allem auf die zwar nur teilweise. Doch seit Mai 1941 sprachen die Monate Januar bis Juni 1941 zu datieren ist. Die ein- Beteiligten von „zig Millionen“ Menschen, die entweder zelnen Teile dieser Planung - politisch, ökonomisch, mi- an Hunger sterben oder flüchten würden. Die rassisti- litärisch – waren eng aufeinander bezogen und müssen sche Konstruktion, dass Einheimische verhungern auch so interpretiert werden. müssten, wenn der Nachschub bei der Wehrmacht Obwohl der Kampfwert der Roten Armee als gering knapp würde, war also frühzeitig Gemeingut bei den eingestuft wurde, sahen sich Hitler und die Militärs verantwortlichen Funktionären. doch einer zahlenmäßig überlegenen Streitmacht, vor Diese brutale Konstruktion hatte aber auch organisato- allem aber einem riesigen Raum gegenüber, den sie er- rische Folgen: Die Ausbeutung des Landes sollte nicht obern wollten. So sollte das Konzept eines Blitzkrieges, mehr vom Heer und seiner Beuteorganisation über- wie es seit den 1920er Jahren bereits diskutiert worden nommen werden, sondern von einer eigens geschaffe- war, verwirklicht werden. Die bisherigen Feldzüge nen Wirtschaftsorganisation Ost. Sie war an der Spitze, waren – entgegen verbreiteten Annahmen - keines- dem sogenannten Wirtschaftsführungsstab Ost, eine wegs so geplant gewesen, sondern hatten sich durch zivil-militärische Mischkonstruktion unter Göring; der die deutschen Erfolge erst im Nachhinein als Blitz- Wirtschaftsstab Ost und seine Dienststellen in den be- kriege herausgestellt. Für den Angriff auf die Sowjet- setzten Gebieten gehörten jedoch zur Wehrmacht. union wurde projektiert, die Verbände der Roten Armee Durch diese Trennung sollten Einwände des Heeres durch Panzertruppen zu durchstoßen und von hinten gegen eine zu radikale Ausbeutungspolitik und einen einzukesseln. Infanterie würde die Kessel dann „räu- Abtransport ins Reich a priori verhindert werden. Zu- men“. Diese Projektion kalkulierte mit der Eroberung gleich hätte die extreme Ausbeutung mancher Land- riesiger Territorien und der Gefangennahme vieler Mil- striche aber ein erhöhtes Maß an Besatzungstruppen lionen Rotarmisten. Das erstere hatte zur Folge, dass erfordert, da man Hungerunruhen und das Entstehen bei der hohen Geschwindigkeit des Vormarsches eine einer Widerstandsbewegung befürchtete. Die Wehr- Versorgung der Verbände nur bis zu einer Reichweite machtführung forderte deshalb 360.000 Mann für die von 500 km möglich erschien und eine flächen- Besatzung, erhielt aber zunächst nur etwa 60.000. deckende Sicherung des besetzten Gebietes durch Dies war einer der Gründe, warum der massive Einsatz deutsche Truppen kaum zu erwarten. Nach Erreichen von SS- und Polizeitruppen von Seiten des Heeres be- der 500 km-Linie war die gesamte Lebensmittelversor- grüßt wurde. Zudem würde das Heer von der Aufgabe gung den Einheimischen wegzunehmen. Eine ausrei- der „politischen Säuberung“, d.h. Massenerschießun- chende Unterbringung und Versorgung der gen wie es sie schon im Polenfeldzug gegeben hatte, Kriegsgefangenen wurde nicht geplant, die Gefange- weitgehend entlastet. nen nach den ersten Schlachten sollten ins Reich trans- Über solche Erschießungen wurde intern seit etwa Feb- portiert werden, die später in Gefangenschaft ruar 1941 diskutiert. Dabei bestand offensichtlich Kon- geratenen Rotarmisten für die Wehrmacht vor Ort ar- sens zwischen der Wehrmachtführung und Hitler, dass beiten. die bolschewistische Elite größtenteils zu ermorden sei. Die Planungen zur Entnahme der Lebensmittel wurden Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des Si- durch den stellvertretenden Ernährungsminister Backe cherheitsdienstes der SS, die schon seit 1938 bei den noch verschärft. Dieser forderte eine weitestgehende meisten deutschen Expansionsunternehmen dabei ge-

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wesen waren, sollten unter der Hoheit des Heeres nach Die deutschen Planungen gegenüber den sowjetischen vorne marschieren und diese brutalen Aufgaben erledi- Juden sind bisher nicht eindeutig geklärt, weil kaum gen. Dabei hatten sie in den weiter vorne gelegenen Dokumente aus der Zeit vor dem Angriff existieren. Armeegebieten, die direkt den Oberbefehlshabern un- Ohne Zweifel waren die Einsatzgruppen darauf vorbe- terstanden, nur eingeschränkte Kompetenzen gegen- reitet, eine vermeintlich „jüdisch-bolschewistische Intel- über dem Heer. Dahinter, weiter westlich, wurden ligenz“ zu ermorden, vermutlich die meisten jüdischen jedoch eigens für den Sowjetunion-Feldzug neue große Männer im wehrfähigen Alter. Innerhalb der Wehr- militärische Besatzungsräume, die drei Heeresgebiete macht richteten sich solche Vorüberlegungen vor allem (Nord, Mitte und Süd) geschaffen, in denen die Sicher- gegen jüdische Kriegsgefangene, besonders wenn sie 11 heitspolizei über erheblich mehr Rechte verfügte. als „politisch verdächtig“ galten. Man kann darüber hi- Die genaue Planung der Tötungen lässt sich nicht naus annehmen, dass die Militärverwaltung die Enteig- mehr im Einzelnen rekonstruieren, da die meisten ein- nung, Isolierung und Unterdrückung der Juden, wie sie schlägigen Dokumente später absichtsvoll vernichtet bereits in Polen und ansatzweise in Serbien betrieben wurden. Frühzeitig machten diese Informationen je- wurde, auch gegenüber den sowjetischen Juden für an- doch schon die Runde, wie selbst der Deutsche Gene- gebracht hielt, zumal diese als besonders gefährlich ral in Kroatien notierte: “Befehle sollen ausgegeben eingestuft wurden. Auf jeden Fall war die Wehrmacht, sein, nach welchen bei einem Krieg mit Rußland jeder insbesondere der militärische Geheimdienst, an den kommunistische Amtswalter, der gefaßt wird, rück- Vorbereitungen zur Auslösung antijüdischer Pogrome sichtslos niederzuknallen sei. Über sie habe ich schon beteiligt, die dann in den ersten Tagen des Feldzuges vor meiner Abreise nach Agram [17.4.1941] erfahren. von einheimischen rechtsextremen Untergrundgruppen 18 Die SS wird es diesmal nicht allein machen können, die organisiert werden sollten. 12 Armee soll mithelfen.” Vorgesehen war also eine Ar- Für das Verhalten von Fronttruppe und Militärverwal- beitsteilung: Die Einsatzgruppen würden die zivilen tung war jedoch von entscheidender Bedeutung, dass Funktionäre von Kommunistischer Partei und Sowjet- der völkerrechtliche Schutz für die einheimische Bevöl- staat ermorden, die Wehrmacht die Politfunktionäre kerung komplett aufgehoben wurde und zugleich deut- der Roten Armee. Dazu erließ das OKW am 6. Juni sche Soldaten bei Gewalttaten gegen Einheimische 13 1941 den sogenannten „Kommissarbefehl“. Zeit- weitgehende Straffreiheit erwarten konnten, sofern weise war sogar im Gespräch, dass auch Wehrmacht- nicht die „Manneszucht“, d.h. die militärische Disziplin einheiten im Gebiet nahe der Front zivile dabei verletzt wurde. Dies regelte der sogenannte Ge- 19 kommunistische Amtsträger erschießen sollten, eine richtsbarkeitserlass des OKW vom 13. Mai 1941. Die- solche generelle Weisung unterblieb jedoch. Doch ser bestimmte zugleich, wie bei der Bekämpfung selbst der Kommissarbefehl, der noch in den letzten jeglichen Widerstandes vorzugehen war, nämlich mit Tagen vor Kriegsbeginn bis an die Kompanien weiter- äußerster Brutalität und ohne Rücksicht auf völker- gegeben wurde, zielte letztendlich auf ein groß ange- rechtliche Verfahrensweisen. Intern wurde vorgeschla- legtes Mordprogramm. Dabei spielte eine nicht gen, für jeden Beschuss von Soldaten aus dem unerhebliche Rolle, dass man unter den „Kommissa- Hinterhalt 30 Einwohner zu erschießen, im bereits be- ren“ eine große Zahl von Juden vermutete, was sich setzten Serbien wurde zur gleichen Zeit für diesen Fall 14 20 später aber als falsch herausstellte. Einzelne Frontver- die Erschießung von 100 Personen angedroht. Damit bände trafen schon vor Beginn des Feldzuges Abspra- zeichnete sich bereits ab, dass die Schwelle von klassi- chen zur besonderen Behandlung jüdischer schen Repressalien hin zum Massenmord überschritten 15 Kriegsgefangener. Gemessen an der Zahl der Gefan- werden sollte. genen, die erwartet wurde, konnte die Zahl der dabei Neben dieser verbrecherischen Befehlsgebung ist in entdeckten Politfunktionäre in die Zehntausende Rechnung zu stellen, dass die Wehrmacht Mitte 1941 gehen. Zudem war davon auszugehen, dass die bereits deutliche Zeichen der Nazifizierung trug, be- SS- und Polizeieinheiten einen Massenmord planten, stand sie doch aus einem relativ repräsentativen Sam- der in seinen Dimensionen über die Vorgänge in Polen ple deutscher Männer im Alter zwischen 18 und 40 16 1939 deutlich hinausging. Dass dies den Militärspit- Jahren. Nach acht Jahren NS-Herrschaft hatten sich zen nicht verborgen blieb, zeigt eine Anfrage der Hee- die Gewaltbereitschaft und der Antisemitismus in der resgruppe Mitte bei „ihrer“ Einsatzgruppe B zehn Tage deutschen Gesellschaft deutlich erhöht. Dies galt selbst vor dem Einmarsch, dass nicht „sämtliche Eisenbahn- für die Österreicher oder die Sudetendeutschen unter beamte beseitigt oder in Lager verbracht“ werden soll- den Soldaten, die erst seit kurzem Bewohner des Rei- 17 ten. ches waren. Inzwischen strömten die Jahrgänge zu den

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Streitkräften, die bereits durch Hitler-Jugend und Re- penkommissare wurden als Mittel erachtet, den Wider- gime sozialisiert waren. Nicht wenige Einheiten waren stand des Gegners sobald als möglich zu brechen, schon 1939 in Polen oder im Frühjahr 1941 auf dem indem man die vermeintlich wichtigsten Funktionsträ- Balkan im Einsatz gewesen, viele der Männer hatten ger tötet. Die Terrorisierung des Hinterlandes sollte sich bereits dort an Ausschreitungen beteiligt. Diese einen Ersatz für den Mangel an ausreichenden Siche- strukturellen Überlegungen lassen sich bisher noch rungstruppen schaffen, jegliche Widerstandsregung im wenig empirisch unterfüttern, doch zeigt das Verhalten Keim ersticken und somit die anvisierte maximale Aus- mancher Soldaten beim Aufmarsch in Polen für das beutung flankieren. Angesichts der hochriskanten, im „Unternehmen Barbarossa“, dass Ausschreitungen Grunde abenteuerlichen Feldzugsplanung lag eine Es- gegen die einheimische Bevölkerung nicht selten kalation der Gewalt somit in der Logik der deutschen waren. So erschlugen Luftwaffensoldaten in der polni- Kriegsführung. Die Massenverbrechen stellten bald schen Kleinstadt Siedlce fünf Juden und verletzten wei- alles bisher Dagewesene in den Schatten. tere 150; viele Schaulustige zog es in die Ghettos in Polen, in denen schon entsetzliche Bedingungen Die Entfesselung der Gewalt Juni - Sep- 21 herrschten. tember 1941 Noch deutlicher wird der rassistische „Zeitgeist“ beim Mit dem ersten Tag des Krieges gegen die Sowjetunion Militär, wenn man zum Vergleich die verbündeten Trup- begannen auch die deutschen Kriegsverbrechen. Drei pen heranzieht, die zusammen mit der Wehrmacht die Typen von völkerrechtswidriger Gewalt traten bis Juli Sowjetunion eroberten. Ungarische Einheiten hatten 1941 zutage: die Erschießungen gemäß dem „Kom- sich bereits 1940/41 während der Annexionen in Ru- missarbefehl“, die pauschale Erschießung von Kriegs- mänien und Jugoslawien gewalttätig gegenüber der Zi- gefangenen und die Tötung von Zivilisten als vilbevölkerung verhalten, rumänische Soldaten beim vermeintliche Repressalie. Rückzug aus Bessarabien Mitte 1940. Entgegen mancher Nachkriegslegende wurde der Halten wir kurz vor dem 22. Juni 1941 noch einmal Kommissarbefehl flächendeckend an die Truppen wei- inne und ziehen ein kurzes Resümee über die Vorstruk- tergegeben und vielfach auch befolgt. Zwar gab es turierung der Gewalt: 1. Für die sowjetische Bevölke- vielfach Kritik an dieser schriftlich fixierten Form der rung war eine völlige Entrechtung vorgesehen; Kriegsverbrechen, doch von einer systematischen Sa- 2. gleichzeitig sollte vielen Gebieten die Nahrungs- botage des Befehls, wie manche Veteranen nach dem grundlage allmählich entzogen werden; 3. sollte der Krieg behaupteten, kann keine Rede sein. Vielmehr Feldzug länger als die erwarteten etwa zehn Wochen lässt sich in den ersten Wochen des Feldzuges eine dauern, so würde sich die Ausbeutung deutlich ver- großzügige Definition des Begriffs „Kommissar“ und schärfen; 4. Angehörige der sowjetischen Funktionseli- eine Ausdehnung der Opferkategorien feststellen. Zu- ten, insbesondere soweit es sich um Juden handelte, nächst stellte sich das Problem der Identifizierung von sollten weitgehend ermordet werden; 5. den sowjeti- Kommissaren unter den Kriegsgefangenen. Die eigent- schen Juden drohte mindestens dasselbe Schicksal wie liche Funktion des Truppenkommissars wurde in der den Juden Polens, d.h. totale Entrechtung und Aushun- Roten Armee erst am 15. Juli 1941 wieder eingeführt, gerung; 6. Kriegsgefangene, die als politisch verdäch- existierte also während der ersten drei Wochen des tig galten, insbesondere wenn sie jüdischer Herkunft Krieges formal gar nicht. Trotzdem meldeten einzelne waren, sollten ermordet werden; 7. für die erwarteten Divisionen bereits in dieser Phase, sie hätten „Kommis- großen Zahlen an Kriegsgefangenen waren keine völ- sare“ erschossen. So versuchten deutsche Offiziere, die kerrechtlich angemessenen Vorbereitungen getroffen; Delinquenten an Hand von Äußerlichkeiten oder Ver- 8. jegliche Widerstandsregung sollte mit brachialer Ge- hören zu identifizieren. Nicht selten wurden schlicht- walt, d. h. mit Massenerschießungen unter der Bevöl- weg gefangene Offiziere pauschal erschossen. kerung bekämpft werden. Frühzeitig dehnte man die Morde auch auf niedrigere Die Erwartungen der Wehrmachtführung zielten auf Ränge unter den Politfunktionären der Roten Armee einen kurzen Feldzug und die baldige Übergabe der aus, die sogenannten Politruks. Die Wehrmachtführung meisten Gebiete an eine Zivilverwaltung. Auf eine zwei- begrüßte und forcierte dieses Vorgehen. Dennoch einhalbjährige Militärherrschaft, wie sie sich in vielen wurde die Mehrzahl der gefangenen Politfunktionäre Gebieten dann entwickelte, waren die allerwenigsten nicht sofort erschossen, sondern gelangte zunächst in vorbereitet, auf eine kurze Phase mit maximaler Gewalt Kriegsgefangenenlager. Ob dies an der Zurückhaltung an der Front und im Hinterland hingegen schon. Die vieler deutscher Frontoffiziere lag oder daran, dass die Ermordung der Eliten wie auch der sowjetischen Trup- Rotarmisten ihre Funktion nach der Gefangennahme

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verschleiern konnten, lässt sich schwer sagen.22 Immer- lisiert wurde diese Planung jedoch durch die Aufde- hin wurde in mindestens 60 % aller deutschen Divisio- ckung stalinistischer Verbrechen. Die sowjetische Ge- nen die Durchführung des „Kommissarbefehls“ heimpolizei NKVD hatte unmittelbar nach dem gemeldet, die Zahl der Opfer bewegt sich zwischen deutschen Einmarsch bei der Räumung ihrer Gefäng- 23 5.000-10.000 Personen. Mindestens 42.000 Politoffi- nisse einen großen Teil ihrer politischen Häftlinge er- ziere hat die Rote Armee bis 1945 als vermisst gemel- schossen. Deutsche Propaganda und einheimische det, die Mehrzahl von ihnen ist in deutscher Rechtsextremisten erklärten für diese Verbrechen die Gefangenschaft ermordet worden. Bereits einige Wo- jüdische Minderheit verantwortlich, die angeblich das chen nach Eröffnung der Kampfhandlungen wurden Personal des NKVD dominieren würde. Die Fronttrup- den deutschen Militärs klar, dass diese Morde inner- pen nahmen hierzu keine einheitliche Haltung ein. Ei- halb der Roten Armee bekannt geworden waren und nige Generäle forcierten die Pogrome, wollten sie zur Versteifung von deren militärischem Widerstand jedoch als Abrechnung unter Einheimischen begrenzt führten. Deshalb setzte ab September 1941 eine brei- sehen. Die Teilnahme vieler deutscher Soldaten an die- tere Diskussion über die Zweckmäßigkeit dieser Verbre- ser Ausschreitungen war im Hinterland jedoch nicht er- chen ein, an deren Ende im Mai 1942 die wünscht. Nach einigen Tagen wurden auch die Morde 24 27 Suspendierung des Befehls stand. der einheimischen Milizen deshalb eingeschränkt. Doch nicht nur politisch verdächtige Kriegsgefangene Deutlich andere Dimensionen nahmen die Massenver- wurden ermordet. Es gibt deutliche Indizien dafür, dass brechen der SS- und Polizeitruppen an, die um den einzelne deutsche Einheiten ihre Kriegsgefangenen seit 25. Juni begannen. Einsatzgruppen, Polizeibataillone den ersten Tagen des Feldzuges pauschal erschossen, und SS-Brigaden erschossen bald systematisch die so besonders nach harten Kämpfen mit hohen Verlust- meisten jüdischen Männer im Alter zwischen etwa 17 zahlen. Möglicherweise haben einzelne Offiziere ent- und 60 Jahren. Bereits in den ersten Julitagen 1941 sprechende Weisungen erteilt. So erging die Anweisung zeichnete sich ab, dass hier ein Völkermord in präze- der 4. Armee, alle kriegsgefangenen Frauen sofort um- denzlosem Ausmaß in Gang war. Davon war die Wehr- zubringen. Allerdings erzwang das Oberkommando des macht nicht im Vorhinein, d. h. vor Beginn des 25 Heeres die Rücknahme dieses Befehls. Bei den pau- Feldzuges, unterrichtet worden. Immerhin erhielten die schalen Morden an Kriegsgefangenen kam nach eini- Oberkommandos jedoch seit Anfang Juli regelmäßig ger Zeit ins Spiel, dass Kriegsverbrechen der Roten Berichte mit Tötungsmeldungen von den Einsatzgrup- Armee an den vergleichsweise wenigen Deutschen, die pen, schriftlich und mündlich. Trotzdem haben viele in ihre Gefangenschaft gerieten, bekannt wurden. Hier- Einheiten und Dienststellen der Wehrmacht auch bei bei lässt sich, im Gegensatz zu den anderen Verbre- diesen Verbrechen mitgeholfen. So gestattete die Hee- chenskomplexen, tatsächlich von einer gegenseitigen resorganisation der Sicherheitspolizei von Anfang an, Radikalisierung von deutscher und sowjetischer Seite quasi präventiv in Lagern internierte wehrfähige Män- sprechen. Freilich machten die Opfer der deutschen ner nach „Verdächtigen“ abzusuchen und diese zu er- 28 Verbrechen ein Vielfaches der entsprechenden Zahl morden. Eine geregelte „Amtshilfe“ für die auf sowjetischer Seite aus. Sicherheitspolizei spielte sich alsbald ein und wurde in- Wenn auch die ganze Dimension kaum mehr zu rekon- tern damit begründet, bei den Morden handle es sich struieren ist, so steht außer Zweifel, dass deutsche um Repressalaktionen, die Juden würden die Sicherheit Truppen seit den ersten Kriegstagen auch einheimische gefährden oder man wolle „unnütze Esser“ nicht er- Zivilisten erschossen haben. Dabei handelte es sich nähren, sondern lieber ermorden. Der Weg zur Total- zum Teil um willkürliche Ausschreitungen einzelner Sol- vernichtung der sowjetischen Juden unter Aufsicht der daten, oftmals aber um Massentötungen als Repressa- Wehrmacht war damit bereits frühzeitig geebnet. lie bei echtem oder vermeintlichem Beschuss aus In der zweiten Hälfte des Juli 1941 sahen sich die deut- Dörfern usw. Nicht selten wurden Juden massenhaft schen Militärs erstmals mit vereinzelten Widerstands- Opfer solcher Erschießungen, da man sie aus rassisti- akten im Hinterland konfrontiert, insbesondere bei den 26 schen Motiven bevorzugt als „Geiseln“ wählte. Heeresgruppen Mitte und Nord. Als die Zahl bewaffne- In einem etwas anderen Kontext steht die Welle von ter Attacken auf Soldaten und Einrichtungen der Pogromen, die Ende Juni/Anfang Juli 1941 über die Armee im August zunahm, griffen die Militärs zu den Juden in Litauen, der Westukraine und Bessarabien he- Mitteln, die ihnen der „Kriegsgerichtsbarkeitserlass“ an reinbrach. Grundsätzlich war in der Wehrmachtführung die Hand gegeben hatte, zu kollektiven Erschießungen. bekannt, dass diese Gewaltaktionen von der Sicher- Da es den Besatzungsfunktionären nicht gelang, die heitspolizei „spurlos ausgelöst“ werden sollten. Radika- einheimischen Widerständler zu identifizieren, richteten

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sie ihre Gewaltpolitik vor allem gegen Gruppen, die als rung des Feindes: „Dies ist das Ergebnis einer nunmehr besonders verdächtig galten: das waren neben den bald 25jährigen jüdischen Herrschaft, die als Bolsche- Juden die ethnischen Russen, aber auch versprengte wismus im tiefsten Grund nur der allergemeinsten Rotarmisten oder generell Personen, die sich fern von Form des Kapitalismus gleicht. Die Träger dieses Sys- ihren Heimatorten aufhielten, sogenannte „Orts- tems sind aber auch in beiden Fällen die gleichen: 30 fremde“. Diese mussten sich registrieren lassen, wur- Juden und nur Juden.“ den oftmals unter erbärmlichen Bedingungen interniert Bis September 1941 hatte sich das Hungerkalkül, wie 29 oder gar erschossen. es in der Feldzugsplanung entwickelt worden war, noch Betrachtet man die ersten zehn bis zwölf Wochen des kaum in der Bevölkerung ausgewirkt. Zwar waren die Feldzuges, so lässt sich die volle Entfaltung des Weltan- Ernährungssätze für die Stadtbevölkerung und beson- schauungskrieges bereits nachverfolgen. Nach den ders für die Kriegsgefangenen recht niedrig angesetzt, Planungen hätte dieser Zeitraum ausreichen sollen, angesichts der guten Ernte 1941 konnten diese jedoch um die Sowjetunion militärisch niederzuwerfen. Tat- noch einigermaßen verpflegt werden. Seit September sächlich stand die Wehrmacht tief im Land, auf einer war jedoch eine Verschärfung der Landwirtschaftspoli- Linie von Leningrad bis Kiew, doch war ein entschei- tik in der Diskussion: Das Reich verlangte höhere Ab- dender strategischer Erfolg nicht errungen worden. Nur gaben, zugleich war es in den seit August neu die wenigsten hatten erkannt, dass der deutsche Fahr- eroberten Gebieten den sowjetischen Behörden gelun- plan bereits Ende Juli ins Stocken geraten war. Im all- gen, Vorräte und Agrartechnik zu evakuieren oder zu gemeinen herrschte noch großer Optimismus vor, und zerstören. Der Vormarsch der Wehrmacht gelangte an zugleich ungehemmte ideologische Gewaltentfaltung. einen Punkt, wo die reibungslose Versorgung über Die deutsche Expansion war noch nicht an ihre Gren- lange Transportwege kaum mehr möglich erschien. zen gestoßen, weder durch die logistischen Schwierig- Deshalb wurden in Berlin eine Senkung der Rations- keiten, die man erwartete, noch durch einheimischen sätze durchgesetzt und den Armeen im Osten die rück- Widerstand, der militärisch noch völlig bedeutungslos sichtslose Plünderung ihrer Operationsgebiete als 31 blieb. In dieser Phase entfaltete die Wehrmacht nicht „Kahlfraßzonen“ gestattet. nur das Programm von Entrechtung und Gefangenen- Schon im Laufe des September verschlechterte sich die mord, sie öffnete dem SS- und Polizeiapparat auch Lage der Kriegsgefangenen drastisch. Nicht nur die all- weit die Türen. Von einer Distanzierung gegenüber die- gemeine Behandlung war schlecht; beim Abmarsch der sen Massenmördern, wie noch 1939 in Polen, ist wenig langen Kolonnen wurden Tausende von Gefangenen zu spüren. Vielmehr gingen die Militärs sogar über ur- erschossen, weil kein Eisenbahntransport zur Verfü- sprüngliche Vereinbarungen hinaus und ließen die gung gestellt wurde und viele körperlich nicht mehr Mordkommandos in den frontnahen Gebieten agieren, mithalten konnten. In den Lagern, sowohl im Reich, in bisweilen sogar in den Durchgangslagern für Kriegsge- Polen, als auch in den sowjetischen Gebieten waren fangene, die eigentlich für die Sicherheitspolizei noch Unterbringung und Versorgung erbärmlich, für Verwun- tabu waren. Die Handlungsspielräume, die die Wehr- dete völlig unzureichend. So begann in einzelnen La- macht besaß, nutzte sie also eher zugunsten von SS gern wie Molodečno bereits im September das und Polizei aus. Massensterben, in vielen dann im Oktober. In dieser Si- tuation setzten Ernährungsdiktator Backe und das Totaler Massenmord ab Oktober 1941 Kriegsgefangenenwesen der Wehrmacht die Rationen Mit dem Angriff auf Moskau, der am 2. Oktober 1941 für alle solchen Gefangenen herunter, die nicht im Ar- aufgenommen wurde, setzte die Wehrmacht zum zwei- beitseinsatz standen. Dies traf jedoch einen großen Teil ten Mal an, um der Roten Armee den entscheidenden der Rotarmisten. Im Oktober gelangten wieder große Schlag zu versetzen. Parallel dazu verschärfte sich der Massen an sowjetischen Soldaten in die Lager. Obwohl Vernichtungskrieg gegen Bevölkerung und Kriegsge- die Temperaturen drastisch fielen, wurden sie noch zu fangene in erheblichem Maße. Nun zeigten sich die erheblichen Teilen unter freiem Himmel dem Wetter Folgen der riskanten Feldzugsplanung und der bereits schutzlos ausgesetzt. Seuchen verbreiteten sich in Win- mehrere Monate andauernden brutalen Besatzungs- deseile, um die Jahreswende erreichten die Todesfälle und Ausbeutungspolitik. Zugleich verschärfte die natio- enorme Quoten, an einigen Tagen bis zu 2.000 Men- nalsozialistische Führung die Massenmorde an den schen. Im Frühjahr 1942 waren etwa zwei Millionen Juden. Nicht ohne Grund koppelte Hitler in seinem Kriegsgefangene tot. Aufruf an die Truppen zum Beginn der Offensive Krieg- Während der Generalquartiermeister des Heeres die führung und Antisemitismus in seiner Charakterisie- Hungerpolitik in den Lagern verteidigte, forderten zahl-

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reiche Offiziere eine bessere Versorgung der Gefange- kosteten mindestens 150.000 Menschen das Leben.33 nen, um nicht Arbeitskräfte zu verlieren. Die Lager- Nicht Kriegsgefangene, sondern in einzelnen besetzten funktionäre hatten nur begrenzte Spielräume bei der Regionen litten auch Zivilisten seit Spätherbst 1941 Beschaffung zusätzlicher Lebensmittel. Aber offensicht- immer mehr an Hunger. Besonders Gebiete mit über- lich nutzten die meisten nicht einmal diese und verhin- wiegend ethnisch russischer Bevölkerung und größere derten sogar Hilfsaktionen der benachbarten Städte waren davon betroffen. Anfang November 1941 Einheimischen: „In der Mehrzahl der Fälle haben je- senkte die Besatzungsmacht die Rationen für Stadtbe- doch die Lagerkommandanten es der Zivilbevölkerung wohner; zu diesem Zeitpunkt herrschte im Vorfeld von untersagt, den Kriegsgefangenen Lebensmittel zur Ver- Leningrad bereits massenhafter Hunger, um die Jah- fügung zu stellen und sie lieber dem Hungertode aus- reswende 1941/42 wurden die ersten Hungertoten in 32 geliefert.“ Stimmen im Militär für eine richtig ostukrainischen Großstädten und auf der Krim regis- völkerrechtskonforme Behandlung der sowjetischen triert. In Charkow, der vermutlich am schwersten be- Gefangenen, wie etwa Helmuth James Graf von troffenen Stadt, verhungerten bis 1943 zwischen 34 Moltke, blieben ohnehin seltene Ausnahmen. Lediglich 20.000 und 30.000 Einwohner. Nach den Richtlinien unter ethnischen Kriterien konnten Gefangene entlas- der Besatzung vom 4. November 1941 sollten nur sol- sen werden, vor allem Sowjetdeutsche, Balten und che Bewohner ernährt werden, die für deutsche Inte- Ukrainer. Doch selbst diese Entlassungen wurden mit- ressen arbeiteten. Als sich das Massensterben unter ten in der schrecklichsten Phase des Massensterbens den Zivilisten abzeichnete, verlangten die Militärstellen eingeschränkt; man fürchtete ein Überlaufen der Ent- zunächst nicht etwa ausreichende Hilfsmaßnahmen, lassenen zu den Partisanen und eine Ausbreitung der sondern vielmehr eine Vertreibung der Stadtbewohner Seuchen, die in den Lagern grassierten. aufs Land. Doch wurde Anfang 1942 bald erkannt, Erheblich mehr Konsens bestand in der Militärverwal- dass die Hungersnot im Hinterland für die Kriegsfüh- tung über die negative Selektierung bestimmter Grup- rung auch negative Folgen haben könnte, und im pen von Rotarmisten, der politisch Verdächtigen, der Frühjahr 1942 Gegenmaßnahmen diskutiert. Diese Juden, und anfangs auch der Gefangenen mit asiati- kamen jedoch über Ansätze nicht hinaus. Erst die Jah- schem Aussehen. Seit Oktober 1941 konnten die Kom- reszeit und die Ernte konnten die Katastrophe eindäm- mandos der Sicherheitspolizei nicht nur die Lager men. weiter westlich im Zivilgebiet offiziell betreten, sondern Eine deutliche Radikalisierung erfuhr im auch im Operationsgebiet, um die Selektierten abzuho- September/Oktober 1941 auch die Verfolgung der 35 len und zu erschießen. Nicht selten übernahmen die Juden. Bereits im August waren einzelne SS- und Po- Wachmannschaften selbst diese Aufgabe; sie ermorde- lizeieinheiten dazu übergegangen, nicht nur jüdische ten gelegentlich auch invalide Gefangene. Offensicht- Männer, sondern auch Frauen und Kinder zu erschie- lich fanden aber die meisten dieser Erschießungen ßen. Das schrecklichste Massaker dieser Zeit fand am nicht in den Durchgangslagern des Operationsgebie- 27. bis 29. August in der ukrainischen Stadt Kamjanec tes, sondern erst in den Stammlagern in den sowjeti- Podil’s‘kyj statt. Dort forderte die Feldkommandantur schen und polnischen Gebieten unter Zivilverwaltung den Abtransport jüdischer Flüchtlinge, die von ungari- statt, wo die Verbrechen frühzeitig zwischen Wehr- schen Behörden in die Stadt abgeschoben worden macht und Polizei geregelt worden waren. Nicht allein waren. Der Höhere SS- und Polizeiführer vereinbarte politische und rassistische Verdachtsmomente spielten schließlich mit dem Generalquartiermeister, die meisten eine Rolle für die Auswahl der Todeskandidaten, son- Juden der Stadt zu ermorden; 23.600 Menschen star- dern mehr und mehr die Absicht, geschwächte Gefan- ben. Ab Mitte September 1941 wiederholten sich diese gene möglichst schnell zu beseitigen. Die extremen Massaker, in neu eroberten Gebieten ermor- Ordnungspolizei erschoss vom 21. bis 28. September dete die Polizei nahezu alle Juden binnen weniger bei Biała Podlaska im Generalgouvernement mindes- Tage. Das größte dieser Verbrechen spielte sich vom tens 5.000 sowjetische Kriegsgefangene. Auf dem 27. bis 29. September in Kiew in der sogenannten Reichsgebiet wurden solche Gefangenen ebenso an die Babi-Jar-Mulde ab, wo 33.400 Menschen erschossen 36 Polizei ausgeliefert, kamen dann jedoch in die Konzen- wurden. trationslager. Rotarmisten aus dem Lager Lamsdorf in Das Gros der Militärverwaltung kooperierte, wie in Niederschlesien gehörten zu den ersten Opfern, die Kiew so auch andernorts unverdrossen weiter bei der Anfang September 1941 im KZ Auschwitz durch das Vorbereitung, manchmal auch bei der Durchführung Giftgas Zyklon B zu Tode kamen. Diese Verbrechen, der Massaker. Die Militärverwaltung sorgte für geson- die alle unter Ägide der Wehrmacht verübt wurden, derte Registrierung und Versammlung der Juden, stellte

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oft Transportmittel, der Generalquartiermeister lieferte schen Militärs und der Sicherheitspolizei. Das Interesse Munition. Gelegentlich kamen aus der Wehrmacht For- einzelner Dienststellen an den Räumlichkeiten konnte derungen nach Beschleunigung der Massenmorde, so tödliche Folgen haben. Oft wandte sich die zugehörige 37 auf der Krim. Immerhin ein Teil der jüdischen Arbeiter Militäreinheit dann an das nächste Sonderkommando sollte am Leben bleiben, wie ein Beobachter des Aus- mit der Bitte, die Insassen umzubringen. Während im wärtigen Amtes im Oktober notierte: „Eine rücksichts- Reich die sogenannte „Euthanasie“ Ende August 1941 lose Vertilgung der Juden ist gegenwärtig der vorläufig gestoppt wurde, begannen diese Verbrechen Wehrmacht noch unerwünscht, da jede Arbeitskraft ge- gerade ab Ende August/September 1941 unter Militär- 45 braucht wird und die Juden zu Aufräumungs- und Stra- verwaltung in der Sowjetunion. 38 ßenbauarbeiten herangezogen werden.“ In manchen Auch gegenüber der allgemeinen nichtjüdischen Bevöl- Fronteinheiten meldete sich hingegen erste Kritik, vor kerung wurden die Gewaltakte seit September/Oktober allem an der Ermordung von Frauen und Kindern. Ver- 1941 massiv verschärft, sofern sie in sogenannten Par- mutlich waren diese Verbrechen auch Anstoß zur Bil- tisanengebieten lebte. Einzelne Oberkommandos ord- dung einer Oppositionsgruppe im Oberkommando der neten explizit an, auch Kinder zu erschießen, wenn sie 39 46 Heeresgruppe Mitte. Um jeglicher Kritik zu begeg- unter die inkriminierte Gruppe fielen. Täglich erschos- nen, erließen die Oberbefehlshaber der Armeen im sen Einheiten der Wehrmacht oder der Polizei „Partisa- Süden, in deren Gebiete die meisten dieser Verbrechen nenverdächtige“, insbesondere im Raum der stattfanden, im Oktober und November Befehle zur Heeresgruppe Mitte. Vermutlich fielen bis Februar Rechtfertigung des Völkermordes. Den bekanntesten 1942 diesen Massenmorden über 80.000 Menschen dieser Aufrufe, dem schließlich Vorbildcharakter zum Opfer. Die kleinen Untergrundgruppen, die für die zukam, erließ der Oberbefehlshaber der 6. Armee, deutsche Kriegsführung kaum ins Gewicht fielen, wur- 40 Walther von Reichenau am 10. Oktober. Die Militär- den tatsächlich um die Jahreswende 1941/42 großen- verwaltung war vor allem bestrebt, ihr jeweiliges Herr- teils zerschlagen, doch nicht allein wegen des schaftsgebiet so schnell wie möglich als „judenfrei“ zu Besatzungsterrors, sondern auch wegen organisatori- melden. Seit den ersten Tagen des Feldzuges verbrei- scher Schwierigkeiten und wegen des einsetzenden 47 tete die Wehrmacht konstant antisemitische Propa- Winters. ganda in Flugblättern, Broschüren und Zeitungen für In der Phase von Ende September 1941 bis Frühjahr Einheimische, die nun zur Begleitmusik beim Massen- 1942 wurde die Wehrmacht am meisten in die genozi- 41 mord avancierte. Auch bei der Jagd nach den letzten, dale Praxis des NS-Regimes integriert. Dafür war nicht noch versteckten Juden war das Militär behilflich. Nie- nur die strategische Anlage des Sowjetunion-Krieges, mand sollte überleben. Selbst noch nach der Ermor- die Ausbeutungs- und Entrechtungskonzeption, verant- dung aller Juden im Militärgebiet steigerte die wortlich, sondern auch die zunehmende ideologische Wehrmachtpropaganda ihre antijüdischen Hassparo- Integration in den Vernichtungskrieg. In der Selbst- 42 len. Unter Zivilverwaltung, vor allem im Zentrum von wahrnehmung schwanden die Spielräume, man sah Weißrussland, vollzog die Wehrmacht hingegen eigen- sich selbst als Opfer militärischer Widrigkeiten und Ver- ständig einen Teil des Judenmordes. Die als Besat- sorgungsprobleme. In Wirklichkeit hatte man selbst alle zungsverband eingesetzte 707. Infanteriedivision Weichen dafür gestellt. Ein Vergleich mit anderen Be- ermordete, zusammen mit unterstellten Einheiten, im satzungsgebieten zeigt, dass die spezifische militärische ländlichen Raum um Minsk etwa 19.000 Juden. Damit Situation an der Ostfront jedoch nur einen Teil der Er- hatte sie die Funktion des SS- und Polizeiapparates klärung liefern kann. Überall verschärften die militäri- 43 weitgehend übernommen. schen Besatzungsverwaltungen ihre Politik, vor allem Eine erhebliche Rolle spielte das Militär bei den Verbre- gegenüber den Juden. Dies wird besonders an den chen an den Roma und den Anstaltsinsassen in den Massenmorden in Serbien, aber auch am Massenster- besetzten Gebieten. Da für diese Gruppen offensicht- ben der sowjetischen Kriegsgefangenen im Reich, Tau- lich keine zentralen Befehle erlassen worden waren, re- sende Kilometer von der Front entfernt, deutlich. gelten die Stellen im Besatzungsgebiet das Vorgehen selbst. Zwar wurden in den Heeresgebieten Mitte und Partisanenkrieg und Besatzungs- Nord Order gegeben, ansässige Roma zu verschonen. Debatten 1942/43 Im Frühjahr 1942 begannen Sicherheitspolizei und Mi- Das Jahr 1942 war für die Wehrmacht vor allem durch litär jedoch mit der systematischen Ermordung der die Sommeroffensive nach Stalingrad und auf den 44 Roma. Das Schicksal der Insassen psychiatrischer An- Kaukasus bestimmt. Nun hoffte man im dritten Anlauf stalten entschied sich von Fall zu Fall in Absprache zwi- auf den Sieg, nach dem Feldzugsbeginn und der Of-

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fensive auf Moskau. Verglichen mit der vorangegange- fang 1943 koppelte man die Partisanenbekämpfung nen Phase war eine Steigerung des Vernichtungskrie- an die Rekrutierung der Zwangsarbeiter, d. h. aufge- ges kaum noch denkbar. Die meisten Juden in den griffene Zivilisten wurden meist nicht mehr erschossen, Militärgebieten waren bis März 1942 ermordet wor- sondern auf Arbeitsfähigkeit untersucht und ins Reich den, auf den neu eroberten Territorien im südlichen deportiert. Selbst bewaffnete Partisanen, die in Gefan- Russland wurde diese Praxis im August/September genschaft gerieten, landeten so oftmals als Zwangsar- 1942 fortgesetzt, wieder mit tatkräftiger Unterstützung beiter in Deutschland. Da die meisten der 48 der Militärverwaltung. „Partisanengebiete“ auf Dauer für die Besatzungsherr- Bezüglich der Bevölkerung entwickelte sich die Besat- schaft verloren gingen, versuchte diese, möglichst alle zungspolitik in zwei Richtungen: zwar lässt sich eine ge- Wirtschaftsgüter, vor allem das Vieh, aus diesen zu eva- wisse Entideologisierung der Politik beobachten; kuieren. Ab Mitte 1943 entwickelte sich die Taktik der rassistische Massenmorde an Juden oder an Kriegsge- „toten Zonen“, Gebieten, die komplett von Menschen fangenen spielten nicht mehr die Rolle wie noch im und Wirtschaftsgüter geräumt wurden. Wer danach Jahr zuvor, die Kollaboration Einheimischer bei Wehr- noch an seinen Heimatort zurückkehrte, dem drohte macht und Polizei wurde erheblich ausgedehnt. Gleich- Erschießung. Damit war die deutsche Militärherrschaft zeitig veränderten sich die Formen der Gewalt: nun in der Sowjetunion im Grunde an ihrem äußersten 49 rückte eine systematisierte Bekämpfung der Partisanen Punkt angelangt. und die Rekrutierung von Arbeitern für das Reich in Eine neue Form der Eskalation trat Anfang 1942 mit den Vordergrund. Die Ursachen sind in einer verstärk- der Jagd nach Zwangsarbeitern auf. Zunächst setzte ten Ökonomisierung der militärischen Besatzungspolitik man auf „freiwillige“ Werbung unter den Einheimi- zu suchen. Einerseits erlitt das Ostheer größere Perso- schen. Es meldeten sich vor allem Einwohner aus Hun- nalverluste, die durch die Rekrutierung von immer gergebieten, die der Not zu entfliehen suchten. mehr Arbeitskräften aus Deutschland ausgeglichen Freiwillig war die Arbeit im Reich ohnehin nicht, weil werden sollten. Um diese wiederum zu ersetzen, wur- dort die „Ostarbeiter“ am schlechtesten behandelt wur- den Einheimische aus der Sowjetunion ins Reich ge- den und eine Rückkehr meist ausgeschlossen blieb. So holt. Andererseits schränkte der wieder auflebende stießen die Werbungskampagnen im Mai/Juni 1942 an Widerstand ab Mitte 1942 zusehends den deutschen ihre Grenzen, und die Wehrmacht wurde nun verstärkt Zugriff auf Agrarflächen ein, insbesondere im Mittelab- in die Zwangsrekrutierung eingeschaltet. Während des schnitt der besetzten Gebiete. Sommers 1942 wurde die größte Zahl von Menschen Seit März 1942 traten neben die alltägliche Gewalt zur nach Deutschland verschleppt, meist Jugendliche oder Bekämpfung der Partisanen große kombinierte Anti- junge Erwachsene. Danach brachte die Sommeroffen- Partisanen-Unternehmen von Wehrmacht und Polizei. sive neue Zwangsarbeiter in deutsche Hand, ab 1943 Die Konzeption dieser Unternehmen ging größtenteils begann die jahrgangsweise Totalerfassung und die De- auf das Heer zurück, die Durchführung teilten sich portation aus Partisanengebieten, dann auch unter den Wehrmacht und SS/Polizei. Dabei wirkte sich keines- Zwangsevakuierten, die bei den Rückzügen mitgenom- 50 wegs hemmend aus, dass die Partisanenbekämpfung men wurden. ab August 1942 nicht mehr Aufgabe des Generalquar- Mit dem Stocken des deutschen Feldzuges Ende Juli, tiermeisters war, der die Besatzungspolitik anleitete, Anfang August 1941 erhoben sich auch die ersten sondern an die Operationsabteilung überging. Im Ope- Stimmen in der Wehrmacht, die für eine leichte Kurs- rationsgebiet wurden die meisten der großen Anti-Parti- korrektur gegenüber der Bevölkerung plädierten. Es sanenunternehmen von Militärs geleitet. Massenmorde verwundert kaum, dass solche Stellungnahmen sich waren bei der engen Zusammenarbeit wieder vorpro- seit der Schlacht von Moskau im Dezember 1941 häuf- grammiert. SS und Polizeitruppen wie Wehrmachtein- ten, da der Krieg nun auf unabsehbare Zeit fortdauern heiten kreisten Partisanengebiete ein und gingen dann würde. Die Diskussion, die sich im Frühjahr 1942 ent- konzentrisch an den Landstraßen nach innen. Dabei wickelte, drehte sich im Kern um vier Punkte: eine ver- wurden aufgegriffene Partisanen, meist jedoch „Ver- stärkte propagandistische Beeinflussung der dächtige“ erschossen. Die SS-Verbände massakrierten Bevölkerung, eine graduelle Erhöhung der Ernährung kollektiv die Einwohnerschaft ganzer Dörfer; gelegent- für Kriegsgefangene und Stadtbevölkerung, die Rück- lich verhielten sich Heereseinheiten ähnlich. gabe des verstaatlichten landwirtschaftlichen Eigen- Obwohl der militärische Erfolg dieser Aktionen in der tums und schließlich die Trennung der Bevölkerung in Regel gering ausfiel, wurden sie bis zum Ende der Be- Bolschewisten und Nicht-Bolschewisten bzw. deren un- satzung mit äußerster Brutalität weitergeführt. Ab An- terschiedliche Behandlung. Angesichts des in weite

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Ferne gerückten militärischen Sieges, ab November Eskalation im Rückzug 1942 des beginnenden Rückzuges, und angesichts der Nach der Schlacht von Stalingrad, schließlich nach der Zunahme des Widerstandes, plädierten besonders viele Niederlage bei Kursk im Juli 1943 wurden die Zu- Heeresführer für leichte Zugeständnisse. Freilich war kunftsaussichten der Wehrmacht endgültig zunichte dabei nicht an eine Behandlung gedacht, wie sie die gemacht. Zwar griff man nun verstärkt zur propagan- Westeuropäer unter deutscher Herrschaft erfuhren. distischen Bearbeitung der Einheimischen, zur Schaf- Zwar wurde der Kommissarbefehl im Mai 1942 vorläu- fung von Anreizen für die Kollaboration. Die Lage der fig aufgehoben, die Übergabe von Kriegsgefangenen, Einheimischen blieb jedoch konstant schlecht, ja ver- insbesondere Juden, an die Sicherheitspolizei lief je- schlimmerte sich regional noch. Statt die Ernährung doch auf niedrigerem Niveau weiter. Ein massenhaftes der Stadtbevölkerung zu verbessern, stellte die Wirt- Hungersterben wie im Winter 1941/42 wurde zwar ver- schaftsverwaltung die Rationierung um und koppelte mieden. Dies lag jedoch auch an den deutlich niedri- sie an die Arbeitsplätze oder an die Musterung von Ar- geren Gefangenenzahlen. Auch im Winter 1942/43 beitskräften. Die Razzien auf Zwangsarbeiter verschärf- starben Zehntausende Rotarmisten in deutscher Hand, ten sich, immer jüngere Jahrgänge gerieten ins Visier ebenso wie in vielen Städten wieder der Hunger gras- der Suchtrupps. Zusätzlich wurden, bei den Heeres- sierte. Eher von kosmetischer Natur blieb die „Neue gruppen Mitte und Nord, Zwangsarbeitskolonnen, so- Agrarordnung“, die Umwandlung der Kolchosen in so- genannte Zivilarbeiterabteilungen, gebildet. Die dort genannte Landbaugenossenschaften. Sie beschränkte eingesetzten Menschen hatte man von ihren Kindern sich weitgehend auf die weniger fruchtbaren Ab- getrennt, die man nicht selten in eigene Kinderlager schnitte im Zentrum und im Norden des Besatzungsge- steckte, und sie selbst wurden völlig unzureichend be- bietes. Zudem bestand die Ablieferungspflicht weiter, 51 handelt. Mit dem Herannahen der Roten Armee mobi- allein das private Hofland wurde etwas ausgedehnt. lisierte das deutsche Militär die letzten Arbeitskräfte, Eine ganz eingeschränkte politische Autonomie wurde vor allem Frauen; Zehntausende mussten bis zur Er- lediglich, wie schon 1941 den Esten, ab Herbst 1942 schöpfung Verteidigungsanlagen um die großen Städte 53 den Kosaken und einigen Völkern auf dem Nordkauka- ausheben. sus gewährt. Diese blieben auch weitgehend von den In eine verzweifelte Lage gerieten nun die Evakuierten. Zwangsarbeiter-Deportationen verschont. Alle dieser Seit Dezember 1941 hatte die Wehrmacht immer wie- zaghaften Versuche blieben jedoch im Ansatz stecken. der Bevölkerungsteile bei Rückzügen zwangsevakuiert, Hitler untersagte alle weitergehenden Zugeständnisse. oft auch zur breiten Räumung des Gefechtsfeldes. Seit Aber auch die Militärführung blieb in ihrem rassisti- Frühjahr 1943 war die Besatzungsmacht bestrebt, schen Denken verhaftet. Die Massenmorde an Juden, möglichst alle potenziellen Arbeitskräfte, unter Um- aber auch an politisch „Verdächtigen“ wurden unverän- ständen sogar die ganze Bevölkerung mitzunehmen. dert weitergetrieben. Eine umfassende Verbesserung Wieder taten sich hier die Heeresgruppen Nord und der Lage der Bevölkerungsmehrheit, d. h. vor allem der Mitte hervor. Etwa 2,5 Mio. Menschen wurden aus Russen, kam nicht in Frage. Schließlich wurde die deut- ihren Wohnungen getrieben und mussten unter er- sche Herrschaft im Kaukasus binnen kurzer Zeit wieder bärmlichen Bedingungen Richtung Westen marschie- abgebrochen, weil im Januar 1943 der Rückzug an- 52 ren. Wer sich weigerte mitzukommen, dem drohte stand. unter Umständen die Ermordung. Sie wurden weder Somit zeigte die militärische Besatzungspolitik im Jahre unterwegs noch an den Auffangorten richtig ernährt. 1942 deutlich, dass sie zu einem grundlegenden Wan- Vielen suchten deshalb die Flucht aus den Trecks, die del nicht fähig war. Zwar wurde ein Massensterben der oftmals gelang, weil die Wehrmacht zu wenig Bewa- Kriegsgefangenen, wie es bis Mai 1942 herrschte, im cher aufbieten konnte. Doch auch wer zurückblieb, ge- folgenden Winter verhindert. Die Massaker an den riet in eine ausweglose Lage, da die Wehrmacht beim Juden verloren aber nur deshalb an Bedeutung, weil Rückzug systematisch die ganze Infrastruktur zerstörte kaum ein Angehöriger der Minderheit mehr unter Mili- und Vorräte mitnahm. Bisweilen wurden ganze Ort- tärherrschaft lebte. Zu beobachten war sowohl eine schaften verbrannt, um nichts in die Hände der Roten 54 stärkere Ökonomisierung der Besatzungspolitik als Armee fallen zu lassen. In mindestens einem Fall, im auch eine regionale Differenzierung, mit der Besserstel- weißrussischen Osariči, richtete die Wehrmacht ein lung der Esten und einiger Ethnien auf dem Kaukasus, Evakuiertenlager ein, in dem die Verschleppten zu Tau- aber mit einer deutlichen Verschlechterung der Überle- senden zugrunde gingen, viele sogar erschossen wur- 55 benschancen in den Partisanengebieten, vor allem im den. Raum der Heeresgruppe Mitte. Während also der Ausbau der militärischen Kollabora-

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tion auf Hochtouren lief, bedeutete die Rückzug der sanen. Wollte man den riskanten Blitzkrieg schon von Wehrmacht für die meisten Einwohner weiteres Leid. Anfang an mit maximaler Gewalt führen, so ver- Wie schon 1941 wiederholte sich der Mechanismus, schärfte sich diese Einstellung nach dessen vorläufigem dass die Wehrmacht, wenn sie sich in Schwierigkeiten Scheitern zunächst noch einmal bei den meisten Ein- wähnte, diese gewalttätig auf die Einheimischen abzu- heiten. wälzen suchte. Deshalb war die Mehrheit der Bevölke- 5. Erst als sich im November/Dezember 1941 abzeich- rung erleichtert darüber, von der Roten Armee befreit nete, dass der Krieg auf unbestimmte Zeit andauern zu werden, wenn dies auch die Rückkehr des Stalinis- würde, setzten die Überlegungen zu einer grundsätzli- mus bedeutete. chen Modifizierung der Gesamtstrategie ein. Freilich konzentrierten sich diese auf die Kriegsgefangenen und Als Resümee dieser kursorischen Darlegungen lässt die nichtrussische Zivilbevölkerung. Ein grundlegender sich also feststellen: Wandel trat nicht ein, und der Mord an den Juden 1. Die militärische Führung akzeptierte frühzeitig ein wurde unvermindert weiter unterstützt. Mordprogramm, das aus mehreren Elementen be- 6. In den Jahren 1942/43 veränderte sich vor allem die stand: der eigenständigen Tötung bestimmter Kriegs- Gewalt bei der Partisanenbekämpfung, insbesondere gefangener, der Tötung von bestimmten Gruppen von bei den „Großunternehmen“ im Mittelabschnitt und Zivilisten durch SS und Polizei, und massiver Repressa- angrenzenden Gebieten. Die Rekrutierung von Arbeits- lien im Falle jeglichen Widerstands. Während letzteres kräften trat immer mehr in den Vordergrund. Mit den sich bereits im Polenfeldzug, noch konkreter im Balkan- Rückzügen ab Frühjahr 1943, besonders ab 1944 ver- feldzug abgezeichnet hatte, stellten die gezielt geplan- schärfte sich die Gewalt gegen die verbliebene Bevöl- ten Tötungen ein Novum dar. kerung noch einmal deutlich. Unter Militärverwaltung 2. In den ersten Wochen des Feldzuges differenzierten starben in der Sowjetunion mindestens eine Million Zi- sich diese Planungen in der Praxis, oben bei der Füh- vilisten, zudem zeichnet das deutsche Militär für den rung wie unten bei der Truppe, mit ideologisch be- Tod von etwa drei Millionen sowjetischer Kriegsgefan- stimmten Repressalien, einer Ausweitung der gener verantwortlich. Opfergruppen unter den Kriegsgefangenen und einer Die Rolle der Wehrmacht bei dieser Eskalation der Ge- deutlichen Radikalisierung auf Seiten der Polizei. Diese walt ist nicht durchweg eindeutig zu bestimmen, zu wurde von weiten Teilen der Militärführung mitgetra- schlecht ist oft die Quellenüberlieferung, zu komplex gen. die Zusammenhänge. Das Militär stellte auch 1941 3. Der entscheidende Wendepunkt kam dann im Sep- noch den letzten Machtfaktor neben dem NS-Apparat; tember/Oktober 1941. Als der Feldzug nicht mehr nach freilich hat es sich diesem weitgehend angeschlossen; Plan verlief, wurde die ohnehin erbärmliche Lage der interne Kritik war zwischen Juni 1940 und August 1941 Kriegsgefangenen noch einmal verschlechtert. Alltägli- kaum zu spüren. Zu differenzieren ist zwischen den ver- che Gewalt, Massenmorde beim Transport, mangel- schiedenen Funktionsbereichen: der Militärverwaltung hafte Unterbringung und schließlich die Senkung der samt Sicherungstruppen, den Fronttruppen und der Rationen für die „Nicht-arbeitsfähigen“ führten binnen Wirtschaftsorganisation. Die Funktionen waren unter- kurzem zum Tod der meisten Gefangenen. Im schiedlich, die politische Sozialisation und Einstellung Herbst/Winter 1941 verschärfte sich auch das Vorge- des Personals dieser Bereiche aber doch recht ähnlich. hen der Fronttruppen gegen die Bevölkerung, vor allem Innerhalb der Wehrmacht herrschte ein hohes rassisti- in den Gebieten, in denen Widerstand spürbar wurde sches und antikommunistisches Gewaltpotential, das 56 und dort, wo die Front zum Stillstand kam. Der Groß- freilich einer starken hierarchischen Steuerung und Dis- teil der Militärverwaltung unterstützte die Ausdehnung ziplinierung unterworfen war. Erst die entscheidenden der Massenmorde auf jüdische Frauen und Kinder, Impulse der Spitzenbehörden, z.T. auch der Oberkom- ebenso wie die Auslieferung von Kriegsgefangenen mandos, öffneten den Weg zu eigenständigen Massen- zum Zwecke der Erschießung systematisiert wurde. Kri- morden und zur systematischen Zusammenarbeit mit tische Stimmen, die nun auftauchten, kamen kaum zur dem SS- und Polizeiapparat. Über ein bestimmtes Aus- Geltung. maß an Gewalt gegen Zivilisten herrschte in der Armee 4. Zwar ist die Radikalisierung der Wehrmacht vor dem Konsens, insbesondere über die Bereitschaft zur Ver- Hintergrund des unvorhergesehenen Kriegsverlaufs zu übung von exorbitanten Massakern für geringste Wi- sehen, jedoch weniger in Zusammenhang mit anderen dersetzlichkeiten, und über die bevorzugte Auswahl von exogenen Faktoren wie etwa den Verbrechen des Juden und Russen als Repressalopfer. In größerer Per- NKVD oder einer militärischen Bedrohung durch Parti- spektive gesehen, hat es den Anschein, als ob die

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Wehrmacht einige der Gewaltstrukturen übernahm, die Deutsche Besatzungspolitik und Massenverbrechen in Litauen im Polenfeldzug noch bei SS und Polizei vorgeherrscht 1941-1944: Täter, Zuschauer, Opfer. Diss. phil. Univ. Freiburg hatten. Erst spät und inkonsequent wurde seit Ende 2002, Kap. B.4 (Druck in Vorbereitung). 12 Ein General im Zwielicht. Die Erinnerungen Edmund Glaises 1941 eine Eindämmung der Massenmorde an Kriegs- von Horstenau. Hrsg. von Peter Broucek. Band 3, Wien 1988, S. gefangenen und nichtjüdischen Zivilisten diskutiert, zu- 101 (basiert auf zeitgenössischen Aufzeichnungen). nächst mit wirtschaftlichen, dann mit 13 Verbrechen der Wehrmacht: Dimensionen des Vernichtungs- politisch-strategischen Argumenten. Weiterhin galt ein krieges 1941-1944. Katalog zur Ausstellung. Hrsg. vom Hambur- Auseinanderdriften von offiziellen Verhaltensmaßregeln ger Institut für Sozialforschung, 2002, S. 52 f. und tatsächlicher Gewalt, die insbesondere bei Auftre- 14 Tatsächlich waren 1929 9 % der Politarbeiter jüdischer Her- kunft, 1938 etwa 20 %, 1941 vermutlich wieder etwas weniger. ten der – selbst produzierten – „bitteren Notwendigkei- Alec Nove, J.A. Newth, The Jewish Population: Demographic ten“ weiter betrieben wurde. Für jede Trends and Occupational Patterns, in: Lionel Kochan (ed.), The Gewaltmaßnahme war auch gleich eine Legitimie- Jews in Soviet Russia Since 1917, Oxford u.a. 1978, S. 132-167, rungsstrategie parat, ob präventive Sicherheit, Repres- hier 165; Pawel Wieczorkiewicz, Lancuch Smierci. Czystka w salie oder Engpass in der Versorgung. Als sich 1944/45 Armii Czerwonej 1937–1939, Warszawa 2001, S. 896 f. die Niederlage abzeichnete, konnte dann aus diesen 15 Bundesarchiv, Abt. Militärarchiv Freiburg i.Br. (BA-MA), RH 26-22/67, 22. Infanteriedivision, Ic-Offizier, 20.6.1941,. internen Diskussionen das Bild einer „sauberen“ Wehr- 57 16 1940 gab es in der Roten Armee 61.000 Politarbeiter, die macht konstruiert werden. etwa 1 % der Personalstärke ausmachten. In Gefangenschaft ge- riet 1941/42 wohl ein geringerer Anteil, geschätzt etwa 20.000- 40.000 der bis Frühjahr 1942 Kriegsgefangenen etwa vier Mio. Anmerkungen Rotarmisten. Höhere Zahlen bei Gerlach, Kalkulierte Morde, S. 1 Andreas Hillgruber, Hitlers Strategie. Politik und Kriegführung 839. 1940-1941, Frankfurt a.M. 1965, bes. S. 516 ff.; Hans Buch- 17 BA-MA WF-03/9121 (= Zentralarchiv des Russischen Verteidi- heim u.a., Anatomie des SS-Staates, München 1967, Band 2. gungsministeriums F.500, op. 12454, d. 209, Bl. 121, Bl. 46), 2 Christian Gerlach, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- Heeresgruppe B, Generalstabschef, an Befehlshaber rückwärti- und Vernichtungspolitik in Weißrußland, Hamburg 1999. ges Heeresgebiet 102, 11.6.1941 (Entwurf),. Zu diesem Zeit- 3 Christian Streit, Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die punkt hieß die Heeresgruppe noch B und die Einsatzgruppe C. sowjetischen Kriegsgefangenen 1941-1945, Stuttgart 1978; Das 18 Kalis Kangeris, Die nationalsozialistischen Pläne und Propa- Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Band 4: Der Angriff gandamassnahmen im Generalbezirk Lettland 1941-1942, in: auf die Sowjetunion. Von Horst Boog u.a., Stuttgart 1983; Omer David Gaunt, Paul A. Levine, Laura Palosuo (Hrsg.), Collabora- Bartov, The Eastern Front 1941-45. German Troops and the Bar- tion and Resistance during the Holocaust,. Bern u.a. 2004, S. barisation of Warfare, London 1986. 161-186, hier 169. 4 Ralf Ogorreck, Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und 19 Verbrechen der Wehrmacht, S. 46-48. des SD im Rahmen der “Genesis der Endlösung”, Diss. phil. TU 20 BA-MA RH 20-11/334, Armee-Oberkommando 11, Ic, Vor- Berlin 1992; die publizierte Fassung ist stark gekürzt: ders., Die tragsnotiz über die Besprechung am 16.5.1941 beim General- Einsatzgruppen und die Genesis der „Endlösung“, Berlin 1996. quartiermeister in Wünsdorf, o.D.; Manoschek, „Serbien ist 5 Klaus Jochen Arnold, Die Wehrmacht und die Besatzungspoli- judenfrei!“, S. 31 f. tik in den besetzten Gebieten der Sowjetunion: Kriegführung und 21 Institut für Zeitgeschichte München (IfZ), MA 679/2, fr. 900, Radikalisierung im “Unternehmen Barbarossa”, Berlin 2005. Monatsbericht Oberfeldkommandantur 393 (Warschau) für 6 Zuletzt: Jörn Hasenclever, Die Befehlshaber der rückwärtigen 16.3.-15.4.1941, 25.3.1941; vgl. Zygmunt Klukowski, Diary Heeresgebiete in den besetzten Gebieten der Sowjetunion 1941- From the Years of Occupation 1939-44, Urbana u.a. 1993, S. 1943 : Max von Schenckendorff, Karl von Roques, Franz von Ro- 141-160. ques, Erich Friderici und die deutsche Besatzungspolitik, 22 Robert Bernheim, The Commissar Order and the 17th Ger- Paderborn 2009. man Army. Diss. phil. McGill University Montreal 2005. 7 Johannes Hürter, Hitlers Heerführer. Die deutschen Oberbe- 23 So die neuesten Forschungsergebnisse von Felix Römer, Der fehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion 1941/42. München Kommissarbefehl. „... sind sofort mit der Waffe zu erledigen.“ 2006; Dieter Pohl, Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Mili- Wehrmacht und NS-Verbrechen an der Ostfront 1941/42, Pader- tärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion born u.a. 2008. 1941-1944, München 2008. 24 Rossija i SSSR v vojnach XX veka. Statističeskoe issledovanie. 8 Vgl. Jean-Louis Margolin, L’armée de l’Empereur. Violences et Red. G. F. Krivošeev, Moskva 2001, S. 434 (wahrscheinlich um- crimes du Japon en guerre, 1937-1945, 2007. fasst diese Zahl nicht alle Politfunktionäre). 9 Jochen Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht 25 Hürter, Hitlers Heerführer, S. 365 f. in Polen 1939, Frankfurt a.M. 2006. 26 Christian Gerlach, Verbrechen deutscher Fronttruppen in 10 Walter Manoschek, „Serbien ist judenfrei!“. Militärische Besat- Weißrußland 1941-1944. Eine Annäherung, in: Karl-Heinrich zungspolitik und Judenvernichtung in Serbien 1941/42, München Pohl (Hrsg.), Wehrmacht und Vernichtungspolitik, Göttingen 1993, S. 35 ff.; Marlen von Xylander, Die deutsche Besatzungs- 1999, S. 89-114; Hannes Heer, „Hitler war’s“. Die Befreiung der herrschaft auf Kreta 1941-1945, Freiburg i.Br. 1989, S. 28-33. Deutschen von ihrer Vergangenheit. Berlin 2005, S. 266 ff.; 11 Gerlach, Kalkulierte Morde, S. 46-93; Christoph Dieckmann, Römer, Kommissarbefehl. 27 Dieter Pohl, Nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgali-

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zien 1941-1944. Organisation und Durchführung eines staatli- Martin Holler: Gutachten über den nationalsozialistischen Völker- chen Massenverbrechens, München 1996, S. 54 ff. mord an den Sinti und Roma am Beispiel der deutsch besetzten 28 Gerlach, Kalkulierte Morde, S. 503 ff.; im Süden: IfZ NOKW- Sowjetunion, Berlin 2009 (Veröff. in Vorb.). Ich danke Herrn Hol- 2595, Befehlshaber rückwärtiges Heeresgebiet Süd, 24.8.1941. ler für die Überlassung des Manuskripts. 29 Gerlach, Kalkulierte Morde, S. 870 ff.; Alexander Hill, War 45 Gerlach, Kalkulierte Morde, S. 1067 ff.; Pohl, Herrschaft der Behind the Eastern Front. Soviet Partisans in North-West Russia, Wehrmacht, S. 274-276. London 2005, S. 86. 46 BA-MA, RH 26-454/7, Befehl Armeeoberkommando 6, 30 BA-MA RH 26-56/21a, Oberkommando der Wehrmacht, Pro- Quartiermeister 2, 21.8.1941. pagandaaufruf „Soldaten der Ostfront“, 2.10.1941. 47 Gerlach, Kalkulierte Morde, S. 875 ff.; Hill, War Behind the 31 Christian Gerlach, Krieg, Ernährung, Völkermord. Forschun- Eastern Front, S. 84. gen zur deutschen Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg. 48 Angrick, Besatzungspolitik und Massenmord, S. 560 ff. Hamburg 1998, S. 33 ff. 49 Gerlach, Kalkulierte Morde, S. 884 ff.; militärgeschichtlich: 32 Brief Rosenberg an Keitel, 28.2.1942, in: Gerd R. Ueber- Antonio Munoz, Oleg V. Romanko, Hitler’s White Russians. Col- schär, Wolfram Wette (Hrsg.), „Unternehmen Barbarossa“. Der laboration, Extermination and Anti-Partisan Warfare in Byelorus- deutsche Überfall auf die Sowjetunion 1941. Berichte, Analysen, sia, 1941-1944, Bayside, NY 2003, S. 197 ff., 321 ff. Dokumente, Paderborn u.a. 1984, S. 399. 50 Rolf-Dieter Müller, Die Rekrutierung sowjetischer Zwangsar- 33 Streit, Keine Kameraden; Alfred Streim, Die Behandlung sow- beiter für die deutsche Kriegswirtschaft, in: Ulrich Herbert jetischer Kriegsgefangener im „Fall Barbarossa“. Eine Dokumen- (Hrsg.), Eu ropa und der „Reichseinsatz“. Ausländische Zivilarbei- tation, Heidelberg, Karlsruhe 1981. ter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge in Deutschland 1938- 34 Johannes Hürter, Die Wehrmacht vor Leningrad. Krieg und 1945, Essen 1991, S. 234-250; Gerlach, Kalkulierte Morde, S. Besatzungspolitik der 18. Armee im Herbst und Winter 1941/42, 459 ff. in diesem Band; A. V. Skorobohatov, Charkiv u časi nimeckoï 51 Christian Gerlach, Die deutsche Agrarreform und die Bevölke- okupaciï (1941-1943), Charkiv 2004, S. 277 ff. rungspolitik in den besetzten sowjetischen Gebieten, in: Besat- 35 Vgl. Dieter Pohl, Die Wehrmacht und der Mord an den Juden zung und Bündnis. Deutsche Herrschaftsstrategien in Ost- und in den besetzten sowjetischen Gebieten, in: Wolf Kaiser (Hrsg.), Südosteuropa. Von Christian Gerlach u.a., Berlin, Göttingen Täter im Vernichtungskrieg. Der Überfall auf die Sowjetunion 1995, S. 9-60 und der Völkermord an den Juden, Berlin, München 2002, 52 Angrick, Besatzungspolitik und Massenmord, S. 591 ff.; Ol- S. 39-53. denburg, Ideologie und militärisches Kalkül, S. 259 ff. 36 Pohl, Herrschaft der Wehrmacht, S. 259-261. 53 Nicholas Terry, The German Army Group Center and the So- 37 Manfred Oldenburg, Ideologie und militärisches Kalkül. Die viet Civil Population 1942-1944, Diss. phil. Univ. London 2005. Besatzungspolitik der Wehrmacht in der Sowjetunion 1942, Köln 54 Rolf-Dieter Müller, Es begann am Kuban. Flucht- und Depor- 2004; Andrej Angrick, Besatzungspolitik und Massenmord. Die tationsbewegungen in Osteuropa während des Rückzugs der Einsatzgruppe D in der südlichen Sowjetunion 1941-1943, Ham- deutschen Wehrmacht 1943/44, in: Robert Streibel (Hrsg.), burg 2003. Flucht und Vertreibung. Zwischen Aufrechnung und Verdrän- 38 Reisebericht eines Vertreters des Auswärtigen Amtes, gung, Wien 1994, S. 42-76. 20.10.1941, zit. nach: Martin Vogt (Hrsg.), Herbst 1941 im 55 Christoph Rass, “Menschenmaterial”: Deutsche Soldaten an „Führerhauptquartier“ : Berichte Werner Koeppens an seinen Mi- der Ostfront. Innenansichten einer Infanteriedivision 1939-1945, nister Alfred Rosenberg, Koblenz 2002, S. 59, die Aussage bezog Paderborn u.a. 2003, S. 386-402; G. D. Knat’ko u.a. (Hrsg.), sich anscheinend auf den September 1941. Hervorhebung vom Založniki vermachta (Ozariči - lager’ smerti). Dokumenty i mate- Autor. rialy, Minsk 1999. 39 Johannes Hürter, Auf dem Weg zur Militäropposition. 56 Vgl. Rass, „Menschenmaterial“, S. 348 ff. Tresckow, Gersdorff, der Vernichtungskrieg und der Judenmord. 57 Einen guten Überblick über das tatsächliche Meinungsspek- Neue Dokumente über das Verhältnis der Heeresgruppe Mitte trum in der Generalität vermitteln die britischen Abhörprotokolle: zur Einsatzgruppe B im Jahr 1941, in: Vierteljahrshefte für Zeit- Sönke Neitzel (Hrsg.), Abgehört. Deutsche Generäle in britischer geschichte 52 (2004), S. 527-562. Kriegsgefangenschaft 1942-1945, München 2005; für die Solda- 40 Timm C. Richter, Handlungsspielräume am Beispiel der 6. ten generell: Rafael A.Zagovec, Gespräche mit der „Volksge- Armee, in: Christian Hartmann, Johannes Hürter, Ulrike Jureit meinschaft“. Die deutsche Kriegsgesellschaft im Spiegel (Hrsg.), Verbrechen der Wehrmacht. Eine Bilanz, München 2005, westalliierter Frontverhöre, in: Das Deutsche Reich und der S. 60-68. Zweite Weltkrieg, Band 9/2, München 2005, S. 289-381. 41 Daniel Uziel, The Propaganda Warriors. The Wehrmacht and the Consolidation of the German Home Front, Oxford u.a. 2008, PD Dr. Dieter Pohl S. 284 ff. Privatdozent am Historischen Seminar der Lud- 42 Jürgen Förster, Wehrmacht, Krieg und Holocaust, in: Rolf-Die- wig-Maximilians-Universität München ter Müller/Hans-Erich Volkmann (Hrsg.), Die Wehrmacht. My- Forschungsschwerpunkte: Geschichte der natio- thos und Realität, München 1999, S. 948-963, hier S. 962. nalsozialistischen Massenverbrechen und Besat- 43 Raul Hilberg, Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der zungspolitik in Osteuropa, NS-Prozesse, Juden 1933-1945, Frankfurt a.M. 1992, S. 76-79; Gerlach, Kal- Geschichte der DDR, Stalinismus in der Sowjet- kulierte Morde, S. 609-622. union, Geschichte der Ukraine, Geschichte Po- 44 Michael Zimmermann, Rassenutopie und Genozid. Die natio- lens seit 1939 (Foto: ZME, Dieter Pohl am nalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage“, Hamburg 1996; 30.7.2009 in Ebensee) die grundlegende Erforschung und Neubewertung verdanken wir

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Zwangsweise deutsch – Die „Ostmark“ als Schauplatz der gewaltsamen „Eindeutschung“ von polnischen Kindern

Ines Hopfer

Ab 1942 wurden tausende von polnischen Kindern auf- 1939 wurden die ersten maßgeblichen Bestimmungen grund ihres „arischen“ Erscheinungsbildes von namhaf- punktuell erfasst,2 die einheitliche Regelung der Aktion ten Dienststellen des Deutschen Reiches systematisch als erfolgte durch die Anordnung 67/I3 im Februar 1942 und „eindeutschungsfähig“ beurteilt und infolgedessen ge- dem darauf folgenden Runderlass des Reichsministers waltsam in das „Altreich“ und in die „Ostmark“ depor- des Inneren im März 1942.4 tiert. Im Laufe ihres Leidensweges mussten sich die betroffenen Jungen und Mädchen einem strengen Aus- Stationen der Eindeutschung wahlverfahren unterziehen, um als „krönender Ab- Erster wesentlicher Schritt in Richtung „erfolgreiche“ schluss“ der Aktion als „eingedeutschtes“ Pflegekind in „Eindeutschung“ waren die so genannten „rassischen“ eine deutsche Familie vermittelt zu werden. und „psychologischen“ Examina der Kinder – die Unter- suchungen wurden als „Gesundheitsuntersuchungen“ Bereits vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges gab Hein- getarnt,5 die Betroffenen sollten keinen Verdacht schöp- rich Himmler, in Personalunion Reichsführer-SS und fen und unter keinen Umständen über den wahren für die Festigung deutschen Volkstums, Zweck informiert werden. Polnische Kinder im Alter von öffentlich seine utopischen Vorstellungen bekannt, die er zwei bis zwölf Jahren mussten sich diesen Untersuchun- während des Krieges mit aller Härte zu verwirklichen ver- gen stellen.6 suchte. Während der ersten Realisierungsphase der Aktion zwei- felten die Angehörigen nicht an der Vorladung und „Alles gute Blut auf der Welt, alles germanische Blut, was brachten die Kinder ohne Einwände zum befohlenen nicht auf deutscher Seite ist, kann einmal unser Verder- Treffpunkt. Mit der Zeit wurden jedoch Gerüchte laut, die ben sein. Es ist deswegen jeder Germane mit bestem Jungen und Mädchen würden nach der „Gesundheits- Blut, den wir nach Deutschland holen und zu einem untersuchung“ aus ihrem vertrauten Umfeld gerissen deutschbewussten Germanen machen, ein Kämpfer für und in deutsche Anstalten gebracht.7 Eltern und Pflege- uns, und auf der anderen Seite ist einer weniger. Ich habe eltern begannen infolgedessen, die Vorladung zu igno- wirklich die Absicht, germanisches Blut zu holen, zu rau- rieren. Eine Weigerung, so wurde den Angehörigen ben und zu stehlen, wo ich kann.“1 jedoch mitgeteilt, konnte schwerwiegende Folgen mit sich bringen, man drohte mit einem Besuch vonseiten Heinrich Himmler gilt als zentrale Figur, die den Raub der Geheimpolizei und Arrest.8 Vereinzelt wurden blonde und die zwangsweise Überführung polnischer Jungen und blauäugige polnische Jungen und Mädchen regel- und Mädchen forcierte, um seine Idee vom „Großger- recht aus ihrem Elternhaus verschleppt.9 manischen Reich“ zu verwirklichen. Die Vision vor Die Jungen und Mädchen wurden auf ihre „rassische“ Augen, dem Deutschen Volk einen „wertvollen Bevölke- Wertigkeit untersucht, die Betroffenen mussten dem „ari- rungszuwachs“ zu liefern, wurden unzählige nichtdeut- schen“ NS-Idealbild entsprechen. Die Kinder wurden von sche Kinder „rassenbiologisch“, gesundheitlich und Mitarbeitern des Rasse- und Siedlungshauptamtes un- psychologisch getestet und nach positiver Bewertung als tersucht, „von der Sohle bis zum Kopf“,10 wie es ein Zeit- „eindeutschungsfähig“ beurteilt. zeuge formuliert. Jeder Körperteil wurde exakt In Polen – hier stellten insbesondere die Städte Litz- vermessen, das Gewicht abgewogen, die Zähne unter- mannstadt (Łódz) und Posen (Poznan) zentrale Schalt- sucht, psychologische Tests wurden durchgeführt und an- stellen dar – wurde die „Eindeutschung“ und der Raub hand diverser Farbtafeln Haar- und Augenfarbe von „rassisch wertvollen“ Kindern systematisch betrieben. bestimmt. 11 Legitimiert durch eine gesetzliche Verordnungsgrundlage In diversen Anstalten wurden die bereits als „rassisch wurde aus einem anfänglichen „Pilotprojekt“ ein plan- wertvoll“ klassifizierten Kinder weiters getestet und ge- mäßiges „Eindeutschungsverfahren“: Bereits im Jahr mustert.12 Erste wichtigste „Eindeutschungsmaßnahme“

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war das Erlernen der deutschen Sprache. Das Pflegeper- nicht schlafen und niemand wird dich fragen ob du Hun- sonal sprach ausnahmslos deutsch mit den Kindern,13 ger hast oder ob dir was weh tut… dann versteht das verwendeten die Kinder ihre Muttersprache, setzte es Kind, dass da alles umsonst ist.“16 Schläge.14 Auch bei Verständnisschwierigkeiten im Un- terricht wurden die Jungen und Mädchen sofort bestraft In der „Ostmark“ wurde in der Nähe von Gmunden ein und körperlich gezüchtigt.15 spezielles Heim für „einzudeutschende“ Jungen und Mädchen errichtet – das Kinderheim „Alpenland“ in Oberweis.

Kinderheim „Alpenland“ in Oberweis „Alpenland“ stellte eine zentrale Schaltstelle für die Ver- mittlung „einzudeutschender“ Kinder in der „Ostmark“ dar. Das Anwesen Schloss Oberweis war 1938 enteignet und dem Verein „Lebensborn“ übergeben worden.17 Im September 1943 wurde die Anstalt als so genanntes Kin- derheim „Alpenland“ eröffnet,18 im Laufe seines Beste- hens (September 1943 bis April 1945) wurden rund 230 Kinder im Kinderheim „Alpenland“ betreut.19 „Alpen- land“ wies eine Aufnahmekapazität von bis zu 50 Kin- dern auf, die Heiminsassen waren zwischen vier und fünfzehn Jahren alt.20

Abbildung 1: Das ehemalige „Übergangsheim“ „Friedrich Goss- lerstraße 36“ für „einzudeutschende“ Kinder in Łódz. Heute ul. Kopernika 36. Fotonachweis: Ines Hopfer

Die für den Einsatz „geeignet“ erklärten Jungen und Mädchen wurden von Polen aus in das „Altreich“ und in die „Ostmark“ deportiert. Die Kinder wurden in Anstalten des „Lebensborn“ und in deutsche Heimschulen unter- gebracht. In diesen speziellen Heimen wurden die Jungen und Mädchen mit weiteren „Eindeutschungsmaßnahmen“ konfrontiert, um sie ihrer Identität erfolgreich zu entledi- gen: mit dem Erlernen der deutschen Sprache, der „Ver- deutschung“ des ursprünglichen polnischen Namens (aus Janusz Bukorzycki wurde beispielsweise Johannes Bucher, aus Janina Mikolyzyk wurde Johanna Micker), der Änderung ihrer persönlichen Daten (der „Lebens- born“ stellte neue Geburtsurkunden aus, die Kinder wur- den zumeist jünger gemacht), nationalsozialistischer Schulung, Verbot der Kontaktaufnahme mit Angehöri- gen sowie körperlicher Züchtigung als permanentes Be- strafungsinstrument. Die Betroffenen wurden mit Angst und Unsicherheit gefügig gemacht, gedemütigt und ent- würdigt. Eine Betroffene:

„Später habe ich gesehen, es hat keinen Zweck um etwas zu kämpfen, ich habe überhaupt kein Recht um Abbildung 2: Ost- und Südseite des Anwesens Schloss Ober- was zu bitten, um was zu fragen. (…) Wenn du einmal weis, Kinderheim „Alpenland“, in den Dreißiger Jahren. Abbil- das Gefühl erfahren hast, du kannst die ganze Nacht dungen von J. Swoboda zur Verfügung gestellt.

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Das „Lebensborn“-Heim „Alpenland“ diente als „Um- handelt, andere Familien hingegen gaben den auslän- Erziehungsanstalt“: Die ausländischen Jungen und Mäd- dischen Pflegekindern ein herzliches Zuhause. Anna Za- chen in Oberweis sollten bis zur erfolgreichen kowska, eingedeutscht Anna Zachert, beispielsweise Vermittlung an Pflegestellen im Kinderheim mit diversen wurde an eine Pflegefamilie aus Gmunden vermittelt. „Eindeutschungsmaßnahmen“ konfrontiert werden – Anna gewöhnte sich allmählich an die neue Umgebung wenn nötig auch unter Zwang. Den Jungen und Mäd- und an ihre Pflegeeltern. Die Achtjährige war froh, nicht chen wurde bei der Ankunft mitgeteilt: „Wir machen aus mehr im Heim leben zu müssen, die polnische Mutter- Euch deutsche Jugend!“21 sprache hatte das Mädchen bereits vergessen. „Die Ver- Die Heimleitung beteuerte nach Kriegsende, dass die gangenheit wurde langsam verwischt, obwohl ich an Kinder im Heim „Alpenland“ „aufs Beste“22 betreut wur- meine eigenen Eltern und Freundinnen heimlich den. Die Berichte der ehemaligen betroffenen Kinder dachte“,30 erinnert sich die Betroffene. Mit der Zeit zeichnen jedoch ein anderes Bild. Anna Zakowska, ein- lernte das Kind auch andere Mädchen kennen und gedeutschter Name „Anna Zachert“, war als siebenjäh- schloss Freundschaften. riges Mädchen nach Oberweis gebracht worden, die Betreuung im Kinderheim „Alpenland“ schildert sie rück- „Ich hatte neue Freundinnen und wollte nicht anders als blickend folgendermaßen: die sein und nicht ‚der polnische Balg’ oder ‚das polnische Schwein’ genannt werden. Ich war doch erst ein achtjäh- „Da war es noch schlimmer: größere Disziplin, nur deut- riges Kind, das bereits in seinem Leben soviel ertragen sche Sprache, Hunger und körperliche Züchtigung für musste und die Liebe und die Freundschaft der anderen jede kleine Verfehlung. An Einsamkeit und Hunger war Leute brauchte.“31 ich gewöhnt, aber ich hatte sehr große Angst vor dem Einsperren im Keller – Angst vorm Dunkel habe ich bis Nur mit den Nachbarskindern hatte das ausländische heute –, vor den körperlichen Züchtigungen und vor Mädchen Probleme. Die Kinder aus der Nachbarschaft allem vor den Schlägen ins Gesicht.“23 wussten von Annas Herkunft und betrachteten das Mäd- chen nicht als gleichwertig. Auch Bekannte der Pflege- Befehle, Verbote und bedingungsloser Gehorsam präg- eltern äußersten sich häufig negativ über das Kind. „Es ten den Erziehungs-Alltag im Schloss: die Kinder wurden war eine schwierige Zeit, meinen neuen Eltern ging es permanent überwacht,24 die polnische Sprache war strikt auch nicht gut, aber sie gaben mir das, was sie hatten,“32 verboten.25 „Alleine hast ja nix machen dürfen, da war betont die Frau heute. Das polnische Mädchen fühlte alles abgesperrt!“26, so ein Betroffener. sich bei seiner Pflegefamilie sehr wohl.33 Zweck des Kinderheimes „Alpenland“ war es, die polni- schen Kinder zum Deutschtum zu erziehen. Ziel war es, Janina Madejczyks die Heiminsassen nach erfolgreicher Umerziehung bzw. österreichische Er- „Eindeutschung“ an Pflegefamilien zu vermitteln. Poten- satzfamilie hingegen tielle Pflegeeltern waren durch Zufall oder auch durch zeigte kein Ver- die Einschaltung des Jugendamtes auf den „Lebens- ständnis für das born“ aufmerksam gemacht worden.27 Einer Anordnung Schicksal des Mäd- von Heinrich Himmler zufolge, sollten Kinder bevorzugt chens. Im Gegen- an Familien von SS-Angehörigen übergeben werden,28 teil, die Achtjährige doch zeitgenössische Unterlagen veranschaulichen, dass wurde von ihren die parteimäßige Zugehörigkeit bzw. die politische Ge- Gasteltern malträ- sinnung nicht zu den ausschlaggebenden Kriterien zähl- tiert: ten.29

Aufenthalt bei den Familien „Krönender“ Abschluss einer „erfolgreichen“ „Eindeut- Abbildung 3: Die schung“ war die Vermittlung der Kinder in eine deutsche achtjährige Anna bei ihrer Pflegefamilie in Pflegefamilie. Die Integration in die Pflegefamilien verlief Gmunden. Abbildung sehr unterschiedlich: So wurden einige Kinder von ihren von A. Kociuba zur „Ersatzfamilien“ als Arbeitskräfte ausgenutzt und miss- Verfügung gestellt.

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„Als ich bei der Familie war, war es für mich eine Etappe, die in meinem Leben schlechte Erinnerungen hinterließ. (…) Ich gab mir natürlich Mühe, weil ich für jedes polni- sche Wort von meiner ‚Mutter’, vor der ich sehr große Angst hatte, geschlagen wurde. Als Kind lernte ich schnell Deutsch, aber ich wurde von meiner ‚Mutter’ immer noch geschubst, egal ob sie einen Grund dafür hatte oder nicht.“34

Kriegsende Nach Ende des Zweiten Weltkrieges begannen zahlrei- che Hilfsorganisationen, darunter das Polnische Rote Kreuz und eine eigens dafür eingerichtete polnische Abbildung 4: Polnische Kinder empfangen die Erste Kommunion im Lager „Hellbrunn“. Sechstes Kind von rechts: Anna Za- Kommission, rasch mit der Suche nach verschleppten kowska. Abbildung von A. Kociuba zur Verfügung gestellt. „eingedeutschten“ Kindern.35 Viele polnische Jungen und Mädchen waren nach Kriegsende erleichtert wieder in die Heimat zurückzukehren. Es sollte hier allerdings Zahlenmäßiges Ausmaß darauf hingewiesen werden, dass es auch Kinder gab, Wie viele Kinder Opfer des „Eindeutschungsverfahrens“ die eine Rückkehr in ihre Heimat strikt ablehnten. Diesen und in die „Ostmark“ transportiert wurden, ist zahlenmä- Jungen und Mädchen war es bei den Pflegefamilien gut ßig schwer zu erfassen. Polnischen Schätzungen zufolge, ergangen, viele von ihnen wussten, dass zuhause nie- sollen rund 200.000 polnische Kinder zu Eindeut- mand mehr auf sie warten würde. Doch auch diese „ein- schungszwecken nach Deutschland und Österreich ge- gedeutschten“ Kinder wurden regelrecht gezwungen, in bracht worden sein.38 Diese Zahl dürfte allerdings ihre alte, fremde Heimat Polen zu repatriieren. Für Anna deutlich zu hoch gegriffen sein. Die Berechnung deckt Zakowska beispielsweise brach eine Welt zusammen, als sich in keinster Weise mit den vorhandenen, wenn teils sie von ihren österreichischen Pflegeeltern getrennt auch lückenhaften Dokumenten und kann daher als wurde. Das Mädchen hatte sich bei der Familie wohl ge- nicht legitim betrachtet werden.39 Angesichts der Syste- fühlt und bei dieser Familie wieder Sicherheit und Ge- matik, die hinter dem Verfahren stand, kann jedoch von borgenheit empfunden: rund 20.000 polnischen Kindern ausgegangen werden, die Opfer der gewaltsamen „Eindeutschung“ der Natio- „Ich verstand kein einziges Wort auf Polnisch. Die muss- nalsozialisten wurden. Es stellt sich nun die Frage, wie ten mit mir Deutsch sprechen. Die Soldaten sahen meine viele „einzudeutschende“ Kinder in die „Ostmark“ ver- riesige Angst und glaubten nicht daran, dass ich wirklich schleppt wurden. Polnische Schätzungen sprechen von ein Kind von diesen Leuten bin. Wieder mit Tränen, Ver- einigen tausend Kindern, die in die „Ostmark“ deportiert zweiflung und Schreien wurde ich aus dem Haus genom- wurden,40 zwischen tausend und zweitausend Jungen men. Ein weiteres Mal verlor ich meine Identität – ich war und Mädchen kehrten in ihre Heimat zurück.41 Eine ge- 42 fast neun Jahre alt und wusste wieder nicht, wer ich nauere Angabe konnte nicht eruiert werden. 36 bin.“ Fremde Heimat Polen Anna wurde in das Flüchtlingslager „Hellbrunn“ nach Die Heimat Polen entpuppte sich bei vielen „einge- Salzburg überführt, „wo ich wieder hinter dem Stachel- deutschten“ Kindern als große Enttäuschung: „Nach der draht in einer Baracke wohnte“.37 Das Salzburger Lager Rückkehr nach Polen war alles anders als erwartet und 43 „Hellbrunn“ entwickelte sich zu einem Auffanglager für erhofft,“ so Henryk Wojciechowski über die Ankunft. „eingedeutschte“ Kinder, die in die ehemalige „Ostmark“ Das Wiedersehen war nicht immer herzlich, die Verwand- verschleppt worden waren: Hier warteten die polnischen ten hatten keine Zeit für die Jungen und Mädchen, man- Jungen und Mädchen auf ihre Repatriierung in ihre Hei- che Kinder erkannten ihre Eltern nicht wieder, vereinzelt mat. wartete niemand auf die Kinder und die Betroffenen wur- den, wie beispielsweise Barbara Paciorkiewicz in Kinder- heime abgeschoben: „Die ganze Zeit hatte ich Heimweh nach dieser Familie. In Polen hat mich niemand erwartet, ich war ein ungewolltes Kind, das war nicht einfach, das

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zu verstehen.“44 Der Großteil der Kinder hatte seine Mut- mannstadt, vom 22.9.1943. AP Łódź, Sign. 31700, Bl. 147 sowie tersprache vergessen und konnte sich kaum verständi- Schreiben des Jugendamtes an das Gesundheitsamt Litzmannstadt ź gen. Die polnische Gesellschaft war aufgrund der vom 7.8.1942. AP Łód , Mikrofilm L-15069, Bl. 247. 13 Vgl. Eidesstattliche Erklärung Edgar Freier. ZfA, Fall 8, Doku- Kriegsereignisse sensibilisiert und misstrauisch – vor mentebuch (DB) Sollmann II, Nr. 16, Bl. 24. allem jenen Menschen gegenüber, die aus dem Feindes- 14 Vgl. Zeugenaussage von Barbara Mikołajczyk am 6.11.1947. land „Deutschland“ kamen. Die Kinder wurden be- Institut für Zeitgeschichte (IfZG), Mikrofilm MB 30/17, S. 1072. schimpft und ausgegrenzt, mit Vorurteilen der 15 Verhörsprotokoll von Wiesława Kawczyńska. AP Łódź, Miejska Nachkriegsbevölkerung konfrontiert und so zu Außensei- Rada Narodowa i Zarząd Miejski w Łodzi 1945-1950, Wydział tern degradiert. Opieki Społecznej, wykaz nr. 3, sygn. K/99. „Wir kamen wieder zu unseren Tanten, konnten natürlich 16 Wiesława B., Interview am 28.3.2004, S. 3. 17 Vgl. Grundbuchauszug der Katastralgemeinde Oberweis, kein Polnisch und galten hier in Polen als Deutsche. In Grundbucheinlage Zahl 66 vom 2.5.1938. Landesarchiv Oberös- Österreich waren wir die ‚polnischen Schweine’ und hier tereich, Mikrofilm 34 (Weller) sowie Schreiben der Geheimen waren wir die ‚deutschen Hitler Jungen’ oder ‚Hitler Staatspolizei, Staatspolizeistelle Wien, betreffend Einziehung volks- Mädel’. Man hat sich gefreut, nachhause zu kommen und staatsfeindlichen Vermögens am 30.4.1938. Landesarchiv und dann war die Freude weg.“45 Oberösterreich, Mikrofilm 34 (Weller). 18 Vgl. Report, SS-Lebensborn Activities in Upper , Chil- drens Home „Alpenland“ by Wilhelmina van Dop, Child welfare Anmerkungen officer, UNRRA, , S. 3. Archiv des Internationalen 1 Rede Heinrich Himmlers am 8.11.1938 vor den SS-Gruppenfüh- Suchdienstes in Arolsen (ISD), Sachdokumenten-Ordner KSD Le- rern zu einer Gruppenführerbesprechung im Führerheim der SS- bensborn 7, S. 40 (2004). Vgl. Personenbestandsbuch des - ę Standarte „Deutschland" Zit. nach Bradley F. Smith, Agnes F. kinderheimes Kalisch, Eintragung Nr. 135. Instytut Pami ci ź Peterson (Hg.), Heinrich Himmler. Geheimreden 1933 bis 1945 Narodowej (IPN), Warschau, Bestand OKBZN w Łód i, 177/29, und andere Ansprachen (Frankfurt/M, Berlin, Wien, 1974), S. 38. Nr. 34. 2 Vgl. Denkschrift des Rassenpolitischen Amtes. Bundesarchiv Ber- 19 Vgl. Eidesstattliche Erklärung Maria Merkel. ZfA, DB Sollmann lin (BA) NS 2/56, Bl. 546 f, S. 18 f. II, Nr. 22, S. 48. Die genaue Anzahl der Jungen und Mädchen, die 3 Vgl. Anordnung 67/I von Ulrich Greifelt vom 19.2.1942 betref- durch das Kinderheim „Alpenland“ gegangen sind, ist nicht eru- fend „Eindeutschung von Kindern aus polnischen Familien und aus ierbar. Das gesamte Aktenmaterial sowie die Karteien der Kinder ehedem polnischen Waisenhäusern.“ BA NS 2/58, Bl. 102-106; wurden kurz vor Kriegsende befehlsgemäß in das „Lebensborn“- auch im Bundesachiv Berlin im Bestand NS 19/1861 zu finden. Heim nach Steinhöring überstellt – damit verliert sich die Spur des 4 Vgl. Schnellbrief des Reichsministers des Inneren an den Reichs- Aktenmaterials. statthalter im Wartheland in Posen am 11.3.1942. Archiwum 20 Vgl. Bericht von Maria Merkel vom 26.6.1945. S. 1. Das Doku- Panstwowe w Łódźi (AP Łódź), Sign. 31794, Bl. 103 f. ment liegt im Gemeindeamt Laakirchen auf. ąż 5 Vgl. Jerzy Małkiewicz, Fragebogen, S. 1 f. Die Stiftung „Polnisch- 21 Zygmunt Rz ewski, Interview, S. 4. deutsche Aussöhnung“ ermöglichte die Versendung von Fragebö- 22 Maria Merkel, Eidesstattliche Erklärung. ZfA, DB Sollmann II, gen an Betroffene. Die ausgefüllten Fragebögen wurden von den Nr. 22, Bl. 47. ż ś Zeitzeugen direkt an die Autorin übermittelt. 23 Anna Kociuba, Bez to ssamo ci. In: Z kart historii, polskich 6 Vgl. Anordnung 67/I. BA NS 2/58, Bl. 102, S. 2. Das „Eindeut- janczarów XX wieku. Hrsg. v. Zrzeszenie Dzieci Polskich Germani- ż ź schungsverfahren“ beschränkte sich zu Beginn auf Heimkinder zowanych Przes Re im Hitlerowski (Łód , 2000), S. 31 f. sowie auf Waisenkinder in polnischen Pflegestellen, danach wurden 24 Vgl. Leon Twardecki, Fragebogen, S. 3. auch jene Kinder überprüft, die bei ihren leiblichen Eltern lebten. 25 Vgl. Halina Olejniczak, Leon Twardecki, Karol Boczek, Frage- 7 Vgl. Zeugeneinvernahme von Wladyslawa Krata. Archiv des Zen- bogen, S. 3. ąż trums für Antisemitismusforschung (ZfA), Fall 8, Anklagendoku- 26 Zygmunt Rz ewski, Interview, S. 9. mentenbuch (ADB) 7, NO-5272, S. 1. 27 Vgl. Eidesstattliche Erklärung Maria Treiber. ZfA, Fall 8, DB Soll- 8 Vgl. Spis dzieci zabranych przez Niemcow z rodzin polskich w mann Nr. 83, Bl. 12 f. sowie Eidesstattliche Erklärung Joseph Den- celu germanizacji, Karta spisowa: Stefan Slazak. AP Łódź, Miejska ner. IfZG, MB 30/25, DB Sollmann Nr. 104, S. 1, sowie Bericht Rada Narodowa i Zarząd Miejski w Łodzi 1945-1950, Wydział Maria Merkel, S. 1. Opieki Społecznej, wykaz nr. 3, sygn. S/319. Vgl. auch Zeugenein- 28 Vgl. Anordnung 67/I. BA Berlin NS 2/58, Bl. 104. vernahme Wladyslawa Krata. ZfA, Fall 8, ADB 7, NO-5272, S. 1. 29 Vgl. Eidesstattliche Erklärung Joseph Denner. IfZG, MB 30/25, 9 Vgl. Henryk Strzelczyk, Moja droga germanizacyjna. In: Z kart DB Sollmann Nr. 104, S. 2. Eidesstattliche Erklärung Weinbrenner. historii, polskich janczarów XX wieku. Hrsg. v. Zrzeszenie Dzieci IfZG, MB 30/25, DB Sollmann Nr. 102, S. 3. Auch Merkel betonte, Polskich Germanizowanych Przes Reżim Hitlerowski (Łódź, 2000), dass bei der Auswahl der Pflegeeltern die parteiliche Zugehörigkeit S. 84. Vgl. auch Interview mit Zygmunt Rzążewski am 23.3.2005, bzw. die SS-Angehörigkeit keine Rolle spielte. Vgl. Eidesstattliche S. 1-4. Vgl. weiters Halinka Borkowska, Fragebogen, S. 1. Erklärung Merkel. ZfA, DB Sollmann, Nr. 22, Bl. 47a. Es kann an- 10 Jerzy Malkiezwicz, Fragebogen, S. 2. genommen werden, dass der Münchner Verein in den letzten 11 Vgl. „Richtlinien zur Ausfüllung der R-Kartei“. BA NS 2/161, Bl. Kriegsjahren „erleichtert“ war, wenn sich überhaupt noch Pflege- 5-16. stellen meldeten, um ein Kind im schulpflichtigen Alter aufzuneh- 12 Vgl. Schreiben des Volkspflegeamtes, Stadtverwaltung Litz- men.

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30 Anna Kociuba, Bez tożssamości. In: Z kart historii, polskich janczarów XX wieku. Hrsg. v. Zrzeszenie Dzieci Polskich Germani- REZENSION zowanych Przes Reżim Hitlerowski (Łódź, 2000), S. 32. 31 Ebda. 32 Ebda. 33 Vgl. Anna Kociuba, Fragebogen, S. 5. 34 Janina Madejczyk, Bericht von ihrem Aufenthalt in Österreich, S. 1. Das Schreiben wurde der Autorin gemeinsam mit dem Fra- Ulrike Felber (Hg.) gebogen im September 2004 übermittelt. 35 Vgl. Anastazy Nadolny, Polskie sieroty i dzieci svomotne w Aus- „Auch schon eine trii po II wojnie światowéj. In: Przegląd Zachodni, 40. Jg. Nr. 2 Vergangenheit“ (1984), S. 91. Gefängnistagebuch 36 Anna Kociuba, Bez tożssvomości. In: Z kart historii, polskich janczarów XX wieku. Hrsg. v. Zrzeszenie Dzieci Polskich Germani- und Korresponden- zowanych Przes Reżim Hitlerowski (Łódź, 2000), S. 33. zen von Bruno 37 Ebda. Kreisky 38 Vgl. Roman Z. Hrabar, Hitlerowski rabunek dzieci polskich (1939-1945) (Katowice, 1960), S. 23, S. 93. Roman Hrabar, Zofia Tokarz, Jacek E. Wilczur, Kinder im Krieg – Krieg gegen Kinder. Die „Wir, die 25jährigen, wir Geschichte der polnischen Kinder 1939-1945 (Hamburg, 1981), haben also auch schon eine S. 335. In dieser Zahl enthalten sind neben „eindeutschungsfähi- Vergangenheit.“ Mit diesen gen“ Jungen und Mädchen auch Kinder, die zur Zwangsarbeit de- Worten fasste Bruno Kreisky portiert wurden sowie ungeborene Kinder von nach einem halben Jahr Zwangsarbeiterinnen, die im „Feindesland“ das Licht der Welt er- Haft die Kriminalisierung blickten. Zum Vergleich, Polen verlor im Zweiten Weltkrieg über der politischen Opposition durch den autoritären öster- sechs Millionen Menschen. 39 Vgl. dazu auch Isabel Heinemann, „Rasse, Siedlung, deutsches reichischen Ständestaat zusammen. Während der Zeit Blut“. Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassen- seiner Inhaftierung im Jahr 1935 verfasste Bruno politischen Neuordnungen Europas (=Moderne Zeit. Neue For- Kreisky ein Gefängnistagebuch, dessen verschollen ge- schungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. glaubtes Original erst vor kurzem wieder auftauchte Jahrhunderts Bd. II, Göttingen 2003), S. 508 f. und eine bisher unveröffentlichte, weitgehend unbe- 40 Vgl. Anastazy Nadolny, Polskie sieroty i dzieci svomotne w Aus- kannte Quelle darstellt. Der sozialistische Jugendfunk- ś ą trii po II wojnie wiatowéj. In: Przegl d Zachodni, 40. Jg. Nr. 2 tionär Kreisky schildert darin den eintönigen (1984) S. 108 sowie Andrezy Pilch, Losy polaków w austrii po dru- giej wojnie światowej 1945-1955 (=Biblioteka Polonijna 29, Wro- bedrückenden Gefängnisalltag, er gewährt aber auch claw, Warszawa, Krakow, 1994), S. 139. Einblicke in seine politische Gedankenwelt. 41Roman Hrabar, Jakim prawem? (Katowice, 1962), S. 180 sowie Neben dem Gefängnistagebuch werden in diesem Anastazy Nadolny, Polskie sieroty i dzieci svomotne w Austrii po II Buch die politische Korrespondenz Kreiskys aus dem wojnie światowéj. In: Przegląd Zachodni, 40. Jg. Nr. 2 (1984) S. Jahr 1931 mit einer Berliner Sozialdemokratin sowie 108. Briefe und Kassiber aus der Haftzeit an ebenfalls in der 42 Im Archiv des Internationalen Suchdienstes in Bad Arolsen lie- Illegalität tätige Personen aus dem Umfeld Kreiskys gen essentielle Dokumente über die Rückführung polnischer Kinder aus Österreich auf. Leider wurden diese Unterlagen der Autorin erstmals veröffentlicht, in denen er nachdrücklicher als nicht zur Verfügung gestellt, da der Internationale Suchdienst „eine im Tagebuch über seine Haftbedingungen und Verhöre Weitergabe von Kopien oder von Informationen über ehemalige berichtet. Verfolgte für historische Zwecke bzw. wissenschaftliche Forschung Die transkribierten Texte wurden in diesem Buch in nicht zulässt“. (Schreiben des Internationalen Suchdienstes vom 8. ihren zeithistorischen Kontext gestellt und geben somit Dezember 2005 an die Autorin). Die Dokumente hätten mit Si- auch Auskunft über Österreich in den 1930er-Jahren, cherheit neue Kenntnisse des zahlenmäßigen Umfangs der Aktion die Radikalisierung der Gesellschaft, das Ende der De- in Österreich dargebracht. Folglich mussten auf die Zahlenanga- ben von Hrabar, Nadolny und Pilch zurückgegriffen werden. mokratie und die Faschisierung des politischen Sys- 43 Henryk Wojciechowski, Fragebogen, S. 5. tems. 44 Barbara Paciorkiewicz, Interview am 31.3.2004, S. 3. Das Bildmaterial stammt aus Kreiskys persönlichem 45 Krystyna Lesieka, Interview am 7.4.2004 in Łódź, S. 4. Nachlass, den die Stiftung Bruno Kreisky Archiv ver- wahrt, sowie aus anderen Archiven und bisher unveröf- Dr. Ines Hopfer, Historikerin fentlichten privaten Beständen. Im Frühjahr 2010 erscheint ihre Studie „Geraubte Identität. Die ge- waltsame „Eindeutschung“ von polnischen Kindern in der NS-Zeit“ im Böhlau Verlag. Mandelbaum Verlag 2009, 162 Seiten, € 15,80 ISBN 978385476-294-2

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„Man erfährt einfach mehr und wird stärker, wenn man gegen den Strom schwimmt”1 – Betrachtungen zur widerständigen Entwicklung des jungen Franz Kain

Marion Hussong

Was macht einen Menschen widerständig? Warum men als Möglichkeit menschlichen Handelns zu zeigen schwimmen manche ein Leben lang gegen den Strom? und die Akteure des Widerstands dem Vergessen zu Der österreichische Erzähler Franz Kain (1922 -1997), entziehen. Respekt für die Würde des Einzelnen in sei- der in seiner Jugend gegen das Hitler-Regime und den nen Verstrickungen und Empathie für die Leidenserfah- Österreichs an Deutschland opponiert hatte, rung des Individuums sind in den Texten Kains und um nach dem Krieg mit ansehen zu müssen, wie die Hackls maßgebend. österreichische Beteiligung an der historischen Kata- Kains Sprache ist tragend und fast archaisch, rhyth- strophe trivialisiert wurde, entwickelte früh und nach- misch und präzise. Surrealismus und Sprachexperi- haltig ein dezidiertes Misstrauen gegen den Konsens mente wird man in seiner Prosa nicht finden, und stets der Mehrheit. Außenseiter in der Jugend blieb er Au- wird straff eine Geschichte erzählt, was in der österrei- ßenseiter fürs Leben. Die Alterität zeigt sich in Franz chischen Literatur der 1960er bis 1980er Jahre nicht Kains schriftstellerischem Lebenswerk und in seiner Tä- unbedingt im Trend lag. Kain war ein Meister der tigkeit als Regionalpolitiker der kommuntistischen Par- Form, einer der sich traute, an der Schwelle der post- tei Österreichs im antikommunistischen politischen modernen Jahrtausendwende noch klassische Novellen Klima der Zweiten Republik. Als Künstler lässt er sich zu schreiben, wenn er meinte, dass der Stoff es ver- nur schwer einordnen. Selbst wenn man Kain, der langte: „Manche ‘Konkrete’ sagen herablassend: ‘Nur lange Zeit im eigenen Land so gut wie unbekannt war, eine lineare Erzählung’. Welch grobes Missverständnis. endlich den ihm zustehenden Platz im österreichischen Das ‘lineare’ ist durchaus künstlich aneinandergereiht, Kanon einräumt, lässt er sich doch schwer in die litera- verwoben, verzinkt, gerafft und zu etwas Neuem ver- rischen Strömungen der Zweiten Republik integrieren. schmolzen“ kommentierte Kain seine Technik. „Wenn Fest steht, dass er unter den ersten Autoren war, die etwas ‘wie aus einem Guss’ wirkt, dann ist lange daran sich kritisch mit der österreichischen Vergangenheit gearbeitet worden” (Kain 1992). auseinandersetzten (Hussong 2000a, 97-102).2 Es Kain ist für Historiker ebenso interessant wie für Litera- dauerte sehr lange, bis Kain in Österreich zur Kenntnis turwissenschaftler. Er schrieb über Themen, die in genommen wurde. Er veröffentlichte seine Bücher im Österreich jahrzehntelang kein Thema waren. Ein Bei- Ostberliner Aufbau-Verlag und fand erst in den 1990er spiel: Lang bevor die Gemeinde Strobl 2008 eine Aus- Jahren in Österreich eine Verlagsheimat. stellung zum Thema Widerstand im Franz Kains historische Erzählungen, fundiert durch veranstaltete,3 schrieb Franz Kain Literatur über die akribische Recherchen, dokumentieren geschichtliche Menschen, die in dieser Widerstandsbewegung tätig Ereignisse und widerständige Menschenschicksale. waren. Der Widerstand im Salzkammergut fand in den Eine literarische und biographische Verwandtschaft be- letzten Jahren bei Historikern Beachtung, doch literari- steht zu den ehemaligen Widerstandskämpfern Mi- sche Texte zum Thema sind spärlich. Vor einigen Jah- chael Guttenbrunner und Milo Dor. Mit Dor teilt Kain ren schrieb Franzobel (geb. 1967) das Stück Hirschen die Stoffwahl und die realistische Erzählweise. Auch an (2006) das ein recht zynisches Licht auf die Wider- Erich Hackl (geb. 1954) ist zu denken, doch der gehört standsgruppe „Willy-Fred“ wirft, die gegen Kriegsende einer jüngeren Generation an und geht von einem an- dort agierte. Vor Franzobel hat nur Franz Kain über deren Ansatz aus. Während Hackl das Leben von ver- diese Bewegung geschrieben. Neben seinem Roman gessenen und verschollenen Menschen rekonstruiert, Auf dem Taubenmarkt entstanden in den 1970er und schöpft Kain aus dem Fundus eigener Erinnerungen 1980er Jahren mehrere Erzählungen, die die Konflikte und Begegnungen. Dennoch ist hier ein Berührungs- der widerständischen Menschen der Region Salzkam- punkt: das Interesse, Widerständigkeit in all ihren For- mergut zeigen, die sich unter schwierigsten Bedingun-

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gen gegen das Hitler-Regime und für die Unabhängig- Schatten ihrer Zäsuren wachsen” (Kain 1996d, 204).4 keit Österreichs einsetzten. Als Überlebender des Naziterrors hatte Kain Kenntnis Der stark autobiographische Ansatz seines Werks von bedeutenden weißen Flecken auf der historischen macht eine Auseinandersetzung mit Kains Leben als Landkarte Österreichs. Er ging daran, sie literarisch zu politschem Schriftsteller und schreibendem Politiker füllen. fruchtbar und notwendig. Die folgenden Betrachtun- gen werfen einen genaueren Blick auf Kains literarisch „Wir haben nicht viel verändert, aber wir 5 formative Jugendjahre als einer der jüngsten politi- haben uns dagegengestemmt” schen Gefangenen im Austrofaschismus, als Wider- Zu Kains frühen prägenden Eindrücken zählen Erinne- standskämpfer und Soldat in der Strafeinheit 999 im rungen an die wirtschaftliche Not in den 1920er und Dritten Reich und als Kriegsgefangener in Amerika. Es 1930er Jahren. Im autobiographischen Roman „Auf zeigt sich, dass die Erfahrungen dieser Zeit, insbeson- dem Taubenmarkt“ schildert er seine erste bewusste dere die Erlebnisse in den USA, Außenseiter-Erfahrung als Zög- prägend für seinen weiteren po- ling einer Klosterschule. Dort er- litischen Werdegang gewesen lebte er, wie den Kindern sein dürften. In der Gefangen- wohlhabender Familien mehr- schaft vertiefte sich Kains Identi- gängige Mittagsmenüs serviert tät als Außenseiter, was etwas wurden, während die finanziell ironisch anmutet — schließlich schlechtergestellten „Barfüßler”, empfand er als Hitler-Gegner zu denen Kain gehörte, sich mit die Gefangennahme durch die Klostersuppe und einem Stück Alliierten als Befreiung. Brot begnügen mussten (T, 35- Die Erfahrung der Marginalisie- 37. Quatember, 110). Die Erfah- rung, des Gegen-den-Strom- rung, dass soziale Stellung, nicht Schwimmens, zieht sich als roter Nächstenliebe, darüber entschie- Faden durch die Biographie des den, wer bei den Schulbrüdern Menschen und durch das auto- gut versorgt wurde, ist eine biographische Erzählwerk des Schlüsselstelle des Romans. Die Autors Franz Kain. In zwei Es- Begebenheit schärft den Blick says zur Poetik, „Vom Wagnis, des autobiographischen Erzählers Geschichten zu erzählen” und für soziale Ungerechtigkeit, eine „Von den Würgemalen”, erläu- Perspektive, die quer durch Kains terte er sein literarisches Pro- Werk präsent bleibt. Selbst Kains gramm. Er konzentriere sich Abb. 1: Franz Kain während der Kriegsgefangen- Naturdarstellungen schließen bewusst auf die „weißen Flecken schaft in den USA. Foto: ZME immer den Blick auf die Existenz- . . . auf der literarischen Land- grundlagen der Menschen, die in karte” (Kain 2003b, 88) und dem von ihm beschriebenen meine damit Stoffe und Themen, die literarisches Neu- Raum leben und arbeiten, mit ein. So ironisiert er bei- land erschließen und damit den Schriftsteller auch in spielsweise im Roman „Der Föhn bricht“ ein in einer der gegenwärtigen Zeit der Erzählkrise, zum Geschich- Schilderung der österreichischen Bergwelt den oft tenerzählen herausfordern. Wer diese weißen Flecken schwülstigen Stil konventioneller Heimatliteratur (Hus- „einer vermeintlichen Konkurrenzlosigkeit” zu untersu- song 2000a, 78): chen beginne, werde schnell herausfinden, dass sie „Schön ist der Morgen im Hochgebirge für den, der freigeblieben seien, weil „die Herrschenden und ihre sich ruhig betrachtend an ihm erfreuen kann. Ganz an- bewussten und unbewussten Diener nicht wünschten, ders für den Forstarbeiter, der nach einer kurzen Nacht dass darüber geredet wird” (Kain 2003b, 88). Es vom schrillen Wecker aus dem Schlaf gerissen wird. In müsse „gezeigt werden, was dem Menschen wider- den Tau hinauszutreten gilt als erquickend, und der fährt: nicht im fatalistischen Sinne, sondern im Einge- Bergquell labt den Wanderer, der unvermutet auf ihn bettetsein in große Zusammenhänge. . . . Die stößt. Wer aber weit gehen muss und mit zwei Eimern, Statistik muss in eine andere Sprache übersetzt wer- wie es dem Jüngsten der Partie zukommt, der stöhnt den.” (Kain 2003b, 87-88). Kain fordert auf, „die Ge- unter der Last des köstlichen Nasses.“(Kain 1995, 331) schichte mit Geschichten zu beleuchten, die im Solche Stellen, charakteristisch für Kains Erzählwerk,

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haben ihm den Spitznamen „Der Rote Stifter” einge- autobiographischen Novelle „Als der Föhn einbrach” tragen. Kain störte sich nicht daran: Es sei „wahr”, so (1959), die die ersten Stunden in Kains Heimatge- Kain, dass „ein österreichischer Autor kaum an der meinde Bad Goisern nach dem deutschen Einmarsch Landschaftsgestaltung Stifters vorbeigehen” könne behandelt. Die Genese der Föhn-Texte kommentierte („Roter Stifter”). „Das Bestreben eines heutigen öster- Kain in einem Essay. Es sei ihm darum gegangen, die reichischen Autors sollte jedoch sein, Stifter aufzurauen Frage zu stellen: „Wie haben sich die tragischen Ereig- und zu plebejisieren. Wichtig wäre. . . das soziale Un- nisse der Kriegsvorbereitungen, des Anschlusses und terfutter der Landschaft nach außen, also hervorzukeh- des Kriegsausbruches ganz unten abgespielt, in den ren” („Roter Stifter”). Auch die Kritik erkannte Kains Häusern und Hütten derer, nach denen die Angst, die Alterität innerhalb der österreichischen Literatur und übers Gebirge kam, zuerst gegriffen hat?“ (Kain 1963, nannte ihn einen „linken Naturburschen, der . . . ge- 13-14). Kain verbindet die historische Betrachtung der genüber den Sprach- und Kulturexperimenten der weltpolitischen Entwicklung mit der Froschperspektive Neuen Linken ein geradezu konservativer Meister des der persönlichen Einbindung in den historischen Mo- Erzählens” sei („Roter Stifter”). Für Alfred Pittertschat- ment: „Die Zeiten, in denen sich große Katastrophen scher war Kain „so etwas wie ein alternativer Adalbert abzeichnen, werfen ihre Schatten auf die Familien, Stifter; die zeitgemäße Fortschreibung von dessen Hei- Klüfte und Abgründe aufreißend und einen Zustand matverbundenheit mit anderem Strich, ein Entdecker herbeiführend, in dem man plötzlich mit fremden Zun- der Heimat, fernab von ideologischer Habsucht. “ Kain gen zueinander spricht” und „Brüder und Freunde von habe „das Genre Heimat wieder unverdächtig ge- einem Tag auf den anderen als erbitterte Feinde ge- macht” (Pittertschatscher). genüberstehen” (Kain 1963, 13-14). Persönliche Erfahrungen und die Prägung durch ein Die Handlung der „Föhn”-Novelle spitzt sich zu, als der sozialistisch gesinntes Elternhaus führten Kain schon sechzehnjährige Erzähler am Tag der Annexion das früh in die kommunistische Partei im Salzkammergut, Bett seines älteren Bruders leer vorfindet. Die Familie wo er während des Austrofaschismus verhaftet wurde, wartet auf den jungen Mann, sucht, spricht aber nicht weil er illegal Flugblätter verteilt hatte. Als einer der aus, was jeder ohnehin weiß: Er ist bei den Nazis (Kain jüngsten politischen Häftlinge in Österreich saß er eine 1993, 183). Der Text vermittelt die wachsende Beklem- zweimonatige Arreststrafe ab (Ratzenböck, 3). Rückbli- mung des Protagonisten, dem im Verlauf mehrerer er- ckend äußerte sich Kain lakonisch: „Wenn man ge- zählter Stunden klar wird, dass sich sein Leben durch schnappt wird und damit eine aufs Dach kriegt, zieht den Anschluss ebenso schlagartig wie grundlegend ver- man zunächst den Kopf ein. . . . Man lernt, dass es ändert hat. Als ein Schulkollege mit Hakenkreuz-Arm- auf die versuchte Weise nicht geht, wird vorsichtiger binde vor seiner Haustür erscheint, um ihm mitzuteilen, und sucht nach anderen Möglichkeiten” (Ratzenböck, er habe bei einer Versammlung in der Schule zu er- 3). Zu diesen Möglichkeiten gehörte das Organisieren scheinen, weiß er, dass sein Name bereits auf einer von „kleine[n] Versammlungen mit Gleichgesinnten, . . Liste von politisch Oppositionellen steht: „‘Eine Ver- . , Selbststudium und anderes” (Ratzenböck, 3). „Wir sammlung?’ fragte er unsicher. ‘Ja, für euch’, antwor- waren glühende Internatonalisten in Lederhosen”, so tete der Bursche . . . ‘Vergiss es nicht, sonst wirst du Kain über seine Bemühungen, österreichische Spanien- geholt’” (Kain 1993, 183). Die Erzählung folgt dem kämpfer durch Geldsammlungen zu unterstützen (Kain historischen Sachverhalt: Der Widerstandskämpfer 1994, 6). Franz Kains erste Haft fiel in die Zeit der Alois Straubinger, der ebenfalls an der in der Erzählung Desillusionierung der österreichischen Linken nach erwähnten Versammlung teilgenommen hatte, gab zu dem Scheitern der Arbeiterbewegung 1934. Kain diag- Protokoll: „Es waren 200 bis 300 Leute da. Die Nazis nostizierte rückblickend, dass die Reaktion der Arbeiter- kannten alle Regimegegner. Von da an wurden Zusam- schaft auf die Ereignisse des Jahres 1934 „einerseits menkünfte im größeren Stil fast unmöglich” (Kammer- Niedergeschlagenheit, andererseits Abwanderung zur stätter 1977, 89). nationalsozialistischen Partei” war. (Ratzenböck, 3). Der politisch vorbelastete Kain hatte Schwierigkeiten, Dass sich die Suche nach politischen Lösungen in eine Lehrstelle zu finden. Er verdingte sich schließlich Österreich in jenen Jahren polarisierte, erlebte Kain in als Holzarbeiter und wurde im Widerstand aktiv. Nach der eigenen Familie: Sein älterer Bruder Hans schloss wie vor war Kain in die „Aufbauarbeit an der kommu- sich den Nationalsozialisten an. Kain schildert diese für nistischen Bewegung” involviert (Ratzenböck, 3). ihn und die Eltern bedrückende Erfahrung der familiä- „Hauptsächlich” jedoch, habe man sich bemüht um ren politischen Spaltung in den Romanen „Der Föhn „Hilfeleistung für Familien, deren Ernährer aus politi- bricht“ ein und „Auf dem Taubenmarkt“, sowie in der schen Gründen eingesperrt waren” (Ratzenböck, 3).

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Angehörige von Widerstandskämpfern waren in einer als andere. In der Zeit der Siegesfanfaren konnte man prekären Situation: „Denen ist es sehr schlecht gegan- keine Frontalangriffe machen. In solchen Zeiten ist es gen. Da hat man halt versucht, etwas Geld und Le- klüger für einen Revolutionär, seine Verbindungen auf- bensmittel zu sammeln. Das war verboten, und der rechtzuerhalten und vorsichtig zu erweitern und sich Tatbestand war Vorbereitung zum Hochverrat” (Ratzen- auf den morgigen Tag vorzubereiten” (Ratzenböck, 3). böck, 3).6 Kain wurde 1941 wieder geschnappt und Das „konspirative” Talent des Zwanzigjährigen ist aus verbrachte die gesamte Kriegszeit in Unfreiheit. einem Brief ersichtlich, den Kain im Welser Gefängnis Auf die neuerliche Verhaftung folgte ein langer Lei- schrieb. Geschickt trickst er hier die Zensur aus und densweg. Untersuchunghaft in Oberösterreich und teilt den Eltern die wohl wichtigste Erkenntnis seiner eine Odyssee per Bahn quer durch Deutschland zum Berliner Gefängniszeit mit: Es gab doch wesentlich Volksgerichtshof in Berlin.7 In diese Zeit fallen die ers- mehr Gleichgesinnte, als er vermutet hatte. ten lyrischen Versuche. Das Gedicht „Hunger” ent- In Berlin war ich in einem großen Gefängnis, ich stand 1942 im Berliner Gefängnis Alt-Moabit: glaube es ist das größte in Deutschland. Ich war in der Abteilung G. Das war ein fünfstöckiges Gebäude mit In einer Nacht trug mir der Traum mehr als 500 Zellen. Nun sind also bis G schon fünf den Duft von Broten zu. solcher Gebäude und ich weiß nicht, ob nach G noch Ich sah sie vor mir: andere Buchstaben folgen. . . . Den ganzen Tag war Große Laibe, rund und braun. ein Getriebe wie in einem Bienenstock. (Kain 1942b) Ich sah, wie die Mutter über das Brot die Kreuze schlug Die Botschaft ist klar: Das Gefängnis des Volksgerichts- und dabei lächelte. hofs war voll von „Politischen”. Es musste doch recht Dann legte sie das Brot viele Andersdenkende geben, um ein derart großes Ge- auf einen weißen Tisch. fängnis mit ihnen zu füllen! ). Zu wissen, dass es in den Als ich danach greifen wollte, Zuchthäusern Gleichgesinnte gab, dürfte Kain und sei- erwachte ich. nen Kameraden Auftrieb gegeben haben, wie der un- Ein Brennen war in meinem Kopf, veröffentlichte erste Epilog zum Roman Der Föhn bricht in meinem Magen. ein, geschrieben als Reflexion auf jene Zeit, veran- Es tat so weh, schaulicht: „Bei allem Hunger und bei allen Grausam- als hätten sie mich keiten, bei allen Prozessen, die das Wort ‘Verhandlung’ mit Ruten geschlagen. (Kain 1942a) zu einem Gespött machen, hatten sie doch immer wie- der staunend erlebt, wie viele sie waren“ (Kain 1962a). Traum und Wirklichkeit sind verwoben im Bild der phy- Im Gefängnis gab es zwei Möglichkeiten: sich aufs sischen und seelischen Entbehrung und Isolation eines Überleben zu konzentrieren und die antifaschistische fast noch Halbwüchsigen. Die Sprache ist schlicht und Tätigkeit einzustellen, oder weiter widerständisch zu ohne Pathos, der Blick gerichtet auf die körperlichen bleiben und ein Todesurteil oder die Versetzung in ein und emotionalen Grundbedürfnisse Nahrung und Ge- Konzentrationslager zu riskieren. Auf die Frage, ob er borgenheit. Der Hunger nach Beidem ist mit dem Bild denn nach all den Misshandlungen und Entbehrungen der Misshandlung verzahnt. Wie Schläge sich anfühl- nie versucht gewesen sei, das Handtuch zu werfen, er- ten, wusste Kain zur Genüge: „Man könnte untertrei- innerte Franz Kain: „Natürlich zieht man gelegentlich bend sagen, dass die Verhöre sehr heftig waren. Es hat in Betracht, ob man nicht doch ein bisschen mit den oft und viele Schläge gegeben. Man wurde so lange Wölfen heulen könnte. . . . Die Erfahrung, dass man geprügelt, bis genügend Material für eine Anklage bei da gegen eine Weltmacht steht, gegen eine Weltmacht Gericht beisammen war” (Ratzenböck, 3). auf dem Gipfel ihrer Siege, ist natürlich eine gewaltige Kains Anklage lautete auf „Bestreben, die Verfassung Belastung” (Ratzenböck, 4). Dennoch setzte Kain seine des Reiches gewaltsam zu ändern und die Ostmark Tätigkeit fort, indem er Kassiber zwischen Mithäftlin- vom Reiche loszureißen”. Er wurde zu drei Jahren gen beförderte und seine Umwelt genau beobachtete, Zuchthaus mit Ehrverlust verurteilt (Kain 1994, 7): um die Eindrücke später als Schriftsteller zu gestalten. „Das war eigentlich eine geringe Strafe. In der Gruppe, In der literarischen Verarbeitung seiner Erlebnisse im mit der ich aufgeflogen bin, wurden einige zu bis zu Widerstand hat Franz Kain wirkliche Pionierarbeit ge- zehn Jahren verurteilt” (Ratzenböck, 3). Pragmatisch leistet. Besondere Beachtung verdient die auf einer konstatierte er: „Aus der Erfahrung meiner ersten Ver- wahren Begebenheiten basierende Erzählung „Serben- haftung war ich in meiner Tätigkeit wohl konspirativer linde und Hollandtulpen“ (1993) die bisher kaum von

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der Kritik wahrgenommen wurde (Kain 2009). Der der holländischen Juden, da sich diese Kenntnis dem Stoff für geht auf den April 1942 zurück, als sich Franz Erzähler entzieht, der am folgenden Tag von den Hol- Kain auf dem Rücktransport vom Berliner Volksgericht ländern getrennt wird. Was geschah also mit den histo- ins Welser Gefängnis befand. rischen Personen der Novelle? Hans Mársaleks Die Novelle beginnt mit einer Reflexion des Erzählers Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen er- über ein kurioses Büchlein, das ihm ein Mithäftling zu- fasst die Einlieferung von rund 130 Holländern in den gesteckt hatte. Der kleine Band enthielt eine unge- Jahren 1942 und 1943 (Mársalek). David Wingeate- wöhnliche Geschichte mit dem Titel „Die Serbenlinde“. Pikes Statistik zum Konzentrationslager Mauthausen Schauplatz dieser Erzählung ist das Lager Mauthausen, spricht von 77 ermordeten Holländern (Wingeate-Pike, in dem im ersten Weltkrieg tausende serbische Kriegs- 43). Peter Kammerstätters Dokumentation Niederlän- gefangene unter schrecklichen Bedingungen unterge- der-Holländer im KZ Mauthausen Österreich berichtet, bracht gewesen waren. Der Häftling wird aus seiner dass Juden in Mauthausen selten erschossen wurden. Lektüre gerissen, weil er an die grausame Rolle, die Für sie war der sogenannte „Wiener Graben“ vorgese- das Lager als Vernichtungszentrum jetzt im Dritten hen (Kammerstätter 1980). Der „Wiener Graben“, Reich spielt, denken muss: „Er wusste, dass sich dort, auch zynisch „Fallschirmspringerwand“ genannt, ist nicht einmal 25 Jahre nach dem ersten Unheil, mit eine steile Felswand, die senkrecht in den Mauthause- dem neuen Lager ein noch größeres zusammengeballt ner Steinbruch abfällt. Häftlinge wurden über diese hatte“ (Kain 2009). Nach dem Krieg erinnerte Kain, Wand in den Tod gestürzt. Ein Vernehmungsprotokoll dass politisch Verfolgte in den Gefängnissen des Drit- des Lagerleiters Ziereis bestätigt Kammerstätters These ten Reichs tatsächlich gut darüber informiert gewesen und stützt Franz Kains Erzählung, die einen tödlichen waren, was sich in den Konzentrationslagern abspielte: Ausgang impliziert: „Da hat man wesentlich mehr gewusst als die Zivilbe- „Im Jahre 1941/42 wurden nach Mauthausen holländi- völkerung. In allen Gefängnissen hat es eine Art Orga- sche Juden gebracht. Am 31.5.1943 war Himmler in nisation der politischen Gefangenen gegeben. Wir Mauthausen und ordnete an, dass sämtliche Juden haben genau gewusst, dass Dachau etwa anders ist als schwere Granitsteine über die hohe Steintreppe vom Mauthausen und Auschwitz“ (Ratzenböck, 4). Schließ- Steinbruch Wienergraben ins Lager hinaufschleppen lich wird der Erzähler aus dem Zuchthaus geholt und sollten. Bei dieser Aktion gingen in kurzer Zeit sämtli- mit einem Gefangenentransport nach Berlin geschickt. che Juden freiwillig (sic!) über die 50 m hohe Stein- Das KZ Mauthausen kommt ihm wieder in den Sinn, wand hinunter und blieben mit zerschmetterten als er im Zug in der Nähe von Nürnberg auf eine Körpern unten liegen”.8 Gruppe jüdischer Bauern aus den Niederlanden trifft. Als die Holländer den Österreicher an seinem Trach- „Serbenlinde und Hollandtulpen“ ist von besonderer tenjanker erkennen, fragen sie ihn, ob er etwas über Relevanz als wohl einziger Text der österreichischen Li- ihren Bestimmungsort, Mauthausen, wisse. Die Frage teratur, der sich mit der systematischen Vernichtung stürzt den Erzähler in einen schweren Gewissenskon- holländischer Juden in Mauthausen befasst. Generell flikt. Sollte er die Wahrheit sagen über die Gräuel, die darf Franz Kains Bedeutung für die Literaturgeschichte dort auf die Deportierten warteten? „Was soll er da er- zu Mauthausen nicht unterschätzt werden: „Serben- zählen? Und überhaupt, vielleicht bekamen die Hollän- linde und Hollandtulpen“ ist nicht der einzige Text, mit der eine bessere Behandlung als die anderen?“ dem er Neuland beschritt. Die Erzählung „Maria-Licht- („Serbenlinde“). Der Erzähler beschließt, die Holländer mess-Nacht“ (1973), die über ein Jahrzehnt vor Elisa- zu schonen und redet statt von Folter und Tod von den beth Reicharts Roman „Februarschatten“ (1984) fruchtbaren Feldern und der blühenden Gegend um entstand, markiert den Beginn der heute extensiven Li- Mauthausen. Während der Zug seinem düsteren Ziel teraturgeschichte zur Thematik der „Mühlviertler Ha- entgegenfährt, ringt der Häftling mit seinem Gewissen: senjagd.“ Er hat die Kameraden belogen, indem er ihnen die Kurz nach der Begegnung mit den holländischen furchtbare Wahrheit verschwiegen hat. Aber er hat es Juden traf Kain wieder im Welser Gefängnis ein. Dort aus Barmherzigkeit getan. Hätte er ihnen denn noch war er als „Fazi“, also als Gefängnishausmeister, einge- diesen Satz sagen sollen, der auch in der ‘Serbenlinde’ teilt. Da er Essen verteilen und die Kübel für die Not- stand, nämlich den Satz: „Da warf man sie hinab in durft ausleeren musste, machte er täglich die Runde lange Gruben und schüttete sie zu mit Kalk und durch alle Zellen. So war er gut informiert und es war Sand.“? (Kain 2009) ihm gelegentlich möglich, Nachrichten weiterzuleiten. Die Erzählung schweigt über das endgültige Schicksal Zur Zeit seiner Inhaftierung in Wels gelang eine Aktion

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politischer Häftlinge, die weitreichende Folgen für den Rekruten überwachte. Die Soldaten wider Willen wur- organisierten österreichischen Widerstand haben sollte: den unter „wüsten Beschimpfungen wie ‚Landesverrä- Zwei Häftlinge, Alois Straubinger und Fritz Schwager, ter’ und ‚Verbrecher’“ den Heuberg hinauf gehetzt sägten mit einer eingeschmuggelten Feile die Gitter- (Klausch, 37). Ausrüstung und Verpflegung waren er- stäbe des Zellenfensters durch und flohen am 10. Juli bärmlich. Den Strafbrigadisten sollte auf diese Weise 1942 aus dem Gefängnis. Straubinger schloss sich spä- klar gemacht werden, dass sie als „allerletztes ‚Men- ter der Partisanenbewegung „Willy-Fred“ um Sepp Plie- schenmaterial’ galten, das sich erst zu bewähren seis im Salzkammergut an. Die Gruppe Willy-Fred hatte“ (Klausch, 42). Klausch beruft sich auf Berichte setzte sich aus politischen Gegnern Hitlers, unter von ehemaligen 999ern, die wegen des Materialman- denen auch einige ehemaligen Spanienkämpfer waren, gels keine Uniformen zugeteilt bekamen und wochen- und aus Deserteuren zusammen. Die Widerstands- lang Dienst in Zivil taten. Andere erhielten umgefärbte kämpfer verschanzten sich mit Hilfe der Bevölkerung Beutestücke fremder Armeen oder wiederverwertete, der umliegenden Gemeinden in den Bergen, um dort kugeldurchlöcherte und blutbeschmierte Teile deut- das Kriegsende abzuwarten, Sabotageakte zu organi- scher Uniformen (Klausch, 41). Klauschs Dokumenta- sieren und, falls nötig, bewaffnet für die Befreiung der tion deckt sich mit Kains Heuberg-Kapitel im Roman „Alpenfestung“ Salzkammergut zu kämpfen. Im Früh- „Auf dem Taubenmarkt“. Der Erzähler, Damasus, be- jahr 1945, beim Einmarsch der Alliierten, kam die richtet in amüsiertem Ton, dass seine Truppe ziemlich Gruppe „Willy-Fred“ aus ihrem Versteck und lieferte „bunt uniformiert“ ausgesehen habe (T, 176). Man- unter anderem entscheidende Hinweise zur Verhaftung chen 999ern kam die zusammengewürfelte, pikareske des Reichs-Sicherheitschefs Ernst Kaltenbrunner, die in Verkleidung durchaus gelegen, bot sie doch eine Mög- Franz Kains Erzählung „Der Weg zum Ödensee“ litera- lichkeit, passiv Resistenz zur Schau zu stellen: „Ihnen risch nachvollzogen wird. Seinem ehemaligen Mithäft- war es lieber, wenn die Uniform so wenig wie möglich ling Straubinger und der Gruppe Willy-Fred setzte Franz passte, sie kamen daher wie Vogelscheuchen. Dama- Kain in den Erzählungen „Der Ochsenraub“ (1973) sus, hierin solidarisch, hatte einen Mantel, der um und „Der Blinde“ (1982) ein literarisches Denkmal. seine dünnen Glieder schlotterte und in die Ärmel konnte er seine Hände zurückziehen wie in einen Muff. Der Stoff der Bluse war fleckig und ausgewaschen“ (T, „Für Hitler sterben wollen wir nicht im 177). Die politischen 999er versuchten, bei jeder Gele- 9 afrikanischen Land“ genheit ihre Ablehnung gegen das Regime und den Nach anderthalb Jahren Gefängnis eröffnete sich für Militärdienst zu demonstrieren. So entstand in der Zeit Franz Kain die Aussicht, zu einer Strafeinheit an die an der Afrikafront auch das Protestlied „Wir lagen west- Front zu gehen. Die Angst, aus dem Welser Gefängnis lich von Kairouan“ mit dem widerständischen Refrain in ein Konzentrationslager überstellt zu werden, gab „Für Hitler sterben wollen wir nicht im afrikanischen den Ausschlag: Im November 1942 wurde er Soldat in Land“10, das die überlebenden 999er später in die der „Strafbrigade 999“. Die Einheit setzte sich aus Wi- amerikanische Gefangenschaft mitnahmen und beim derständischen politischer oder religiöser Überzeugung, Einzug ins antifaschistische Kriegsgefangenenlager Fort aber auch aus Kriminellen und degradierten Wehr- Devens in Massachusetts sangen (T, 225). machtsangehörigen zusammen. „Deren Ehrgeiz und Möglichkeiten zum einem aktiven, organisierten Wider- Bestrebung war, . . . möglichst schnell wieder zu ihren stand waren in der „Strafdivision 999“ kaum vorhan- Sternen zu kommen. Das waren sehr gefährliche Men- den, da zur Abschreckung laufend Todesurteile vor der schen. Ein großer Teil des Offizierkorps hat aus solchen versammelten Truppe vollstreckt wurden (Klausch, 69- Leuten bestanden“ (Ratzenböck, 4). Die „Politischen“ 70). Die Statistik belegt, dass zwischen Dezember der Division waren durch einen schmalen roten Streifen 1942 und Oktober 1944 mindestens 66 Mitglieder der auf der Achselklappe der Uniform gekennzeichnet. Sie Truppe 999 hingerichtet wurden (Klausch, 70). Zahlrei- waren dadurch für reguläre Wehrmachtstruppen sofort che Zeugen Jehovas wurden wegen Wehrzersetzung er- als ideologisch „unzuverlässig“ und „nicht vertrauens- schossen. Die politischen 999er respektierten zwar die würdig“ erkennbar (T, 178). Kains Truppe wurde auf Standhaftigkeit dieser Märtyrer, betrachteten deren dem Heuberg in der Schwäbischen Alb ausgebildet. Opfer aber als letztendlich sinnlos und versuchten, die Hans-Peter Klauschs historische Dokumentation über religiösen Wehrdienstverweigerer umzustimmen. Auch die „Strafbrigade 999“ berichtet von fanatisch nazi- im Taubenmarkt gibt es eine entsprechende Szene. Da- treuem Stammpersonal, das mit aufgepflanzten Bajo- masus bemüht sich vergeblich, einen Zeugen Jehovas netten und entsicherten Pistolen die Ankunft der dazu zu bringen, die Uniform anzuziehen und damit

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sein Leben zu retten. „Am nächsten Tag hörten sie vom dem Taubenmarkt“ ist wohl der einzige deutschspra- nahen Sportplatz her eine Salve krachen. Die Bibelfor- chige Roman, der rückblickend, vier Jahrzehnte später, scher wurden erschossen und das halbe Bataillon das Thema der amerikanischen Kriegsgefangenschaft musste dabei zusehen“ (T, 175-176). Jahrzehnte später aus der Perspektive von Widerstandskämpfern auf- räsonierte Kain in einem Interview: „Wir haben solchen greift. Dabei fasziniert es, wie genau sich der Roman Menschen gesagt: Eure Überzeugung in allen Ehren, mit den dokumentierten historischen Fakten deckt, aber damit, dass du die Uniform nicht anziehst, tust du ohne dabei an ästhetischem Anspruch einzubüßen. ja nichts. Du wirst erschossen, und alles ist aus. Damit Es empfiehlt sich ein Blick auf Aufbau und Stil des Tau- verändert ihr ja nichts“ (Ratzenböck, 4). Allerdings benmarkt-Romans. Jeden Abschnitt beginnt Kain mit blieb die Resistenz der Pazifisten doch nicht ohne Fol- einem Prolog, der den Fluss des autobiographischen gen. Aus einem Schreiben des Reichsjustizministeriums Erzählens retardiert und den Roman in der Erweiterung geht hervor, dass aufgrund der Unbeirrbarkeit dieser der Perspektive auf die größeren historischen Zusam- Männer ab September 1943 religiöse Wehrdienstver- menhänge episch verbreitert. Seine Technik erläutert weigerer von der Einberufung in die 999er ausge- der Autor folgendermaßen: „Die . . . Mitteilung wird er- schlossen waren (Klausch, 71). Die Standhaftigkeit der gänzt durch Einschübe in einer anderen, gleichsam Hingerichteten bewahrte also andere vor einem ähnli- weiter entfernten Sprache, als kämen die Dinge von chen Gewissenskonflikt. Ob die allgemeine Überle- Ewigkeit her. . . . Daher auch die Bezeichnung Roman, bensrate durch die Aktionen der Märtyrer positiv weil das Vorhaben weit über die eigene Lebensbe- beeinflusst wurde, sei allerdings dahingestellt. schreibung hinausgeht“ (Kain 1992). An das Ende der Nach der Grundausbildung wurde Kains Truppe über einzelnen Kapitel sind jeweils satirische geschichtskriti- Belgien, Frankreich und Süditalien nach Nordafrika sche Stellungnahmen von typisierten Vertretern ver- verschickt. Kain befand sich damals in einer fast sur- schiedener Weltanschauungen gefügt. „Der real befremdlichen Situation: Er trug die Uniform des Sozialdemokrat“, „Der Kommunist“, Der Altnazi“, „Der verhassten Regimes und war gezwungen, mit der Waffe Zeuge Jehovas“ und „Der Werbe-Keiler“ melden sich in der Hand gegen seine eigentlichen Alliierten zu mar- zu Wort. Ihre Kommentare sollen „das ausgebreitete schieren. Hinzu kam, dass er zum ersten Mal räumlich Material relativieren und versuchen, es in Frage zu stel- entfernt war vom Schauplatz des österreichischen Wi- len“ (Kain 1992). Der elegische, von Reflexion und derstands. Die Chance, zuhause etwas zu verändern, Analyse geprägte Altersstil des Romans vermittelt den war nun ein für allemal vergeben. Gesamteindruck von Resignation über die Diskrepanz zwischen revolutionärer Vision und den tatsächlichen Die Darstellung der Kriegserfahrung im politischen und historischen Gegebenheiten. Der Er- Taubenmarkt-Roman zähler blickt zurück: „Das meiste von allem Ungemach, Wie bereits angeführt sind Franz Kains Memoiren das er erleiden musste, kommt aus dem Widerspruch grundlegend geprägt von der Aura des Nicht-Dazuge- zwischen großem Sprung und beharrender Realität“ hörens, des Andersseins. Es gibt viele Anti-Kriegsro- (T, 273). mane, die die Entfremdung von Soldaten wider willen Der Prolog des Kapitels über Kains Soldatenzeit ist ein in einer entheroisierten Kriegsmission thematisieren. Es sozialgeschichtliches Porträt des Salzkammerguts. Kur- gibt aber nur wenige Romane, in denen der Protago- siv gesetzt, und damit auch visuell abgehoben vom au- nist nicht nur unfreiwillig im Krieg ist, sondern auch tobiographischen Erzählstrang des Romans, behandelt noch auf der „falschen Seite“ kämpfen muss. Zu nen- der Abschnitt episodenhaft die Geschichte der Wider- nen wären etwa „Die Geschlagenen“ (1949) von Hans standsbewegung der Region (T, 167-173). Es geht hier Werner Richter (1908-1993) oder „Die Kirschen der um die, die zuhause bleiben und bis zum Schluss wei- Freiheit“ (1952) von Alfred Andersch (1914-1980). ter für die Befreiung Österreichs kämpfen konnten. Die Perspektive des Soldatenlebens in einer Strafdivi- Franz Kain wäre unter ihnen gewesen, wäre er nicht sion der Wehrmacht findet sich in der deutschsprachi- verhaftet und an die Front geschickt worden. Im Ge- gen Literatur außer bei Franz Kain kaum. Lediglich der gensatz zum autobiographischen Teil des Romans ist Roman „Zum Heldentod begnadigt“ von Ernst Rudolf der Ton des Kapitel-Prologs distanziert und allgemein. „Erge“ Greulich (1909-2005) behandelt die Zeit des Dadurch wird bei der Wiederaufnahme des autobiogra- autobiographischen Erzählers bei den 999ern von der phischen Strangs für den Leser das Gefühl des Unbe- Grundausbildung bis zur Desertion in Nordafrika. Rich- hagens verstärkt, wenn der Erzähler seinen Widerwillen ter, Andersch und Greulich schrieben ihre Kriegsro- vermittelt, in Wehrmachtsuniform durch das besetzte mane in der frühen Nachkriegszeit. Franz Kains „Auf Europa marschieren zu müssen. Verstohlene Solidari-

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tätsgesten der Bevölkerung bieten seltene Lichtblicke, sche Front bereit. Der Flug von Sizilien nach Tunis an wie diese Begebenheit in Belgien: „Eine mütterliche Bord einer JU-52 dürfte zu den schlimmsten persönli- Kellnerin beobachtete Damasus schon einigemale. Ein- chen Erlebnissen Franz Kains gehört haben. Ohne mal machte sie ihm hinter dem Rücken des Unteroffi- Schwimmwesten und unter ständigem Beschuss durch ziers Zeichen, deutete auf den roten Balken auf der britische Kampfflieger wurden die Strafbrigadisten über Schulter und lächelte. Die Bevölkerung wusste augen- die Straße von Messina nach Tunis gebracht. scheinlich, mit welcher Besatzungstruppe sie es zu tun Der sonst so detailorientierte und erzählfreudige Franz hatte“ (T, 180). Das Gedicht „Einzug in ein französi- Kain widmet im Taubenmarkt dem Horrorflug nur eine sches Dorf“, 1943 in der Nähe von Avignon entstan- halbe Seite, in knappen Zügen, fast flüchtig, als wolle den, vermittelt die Scham und Beklemmung der er die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen: Soldaten wider Willen, die sich im geheimen solidarisch „Er schloss die Augen, konnte aber dann doch nicht fühlten mit den Menschen der besetzten Region: anders, als hinzuschauen auf das Grauen. Das Meer schien übersät von weißen Flecken, deren Ringe inei- Wir zogen als Bewaffnete ein nander liefen“ (T, 188). Der nächste Satz behandelt in das alte Dörflein, ohne weitere Details oder Kommentare die geglückte das noch keiner von uns sah. Landung. Mehr erfahren wir von Franz Kains Freund Die Leute der engen steilen Straßen Erge Greulich, der ebenfalls mit von der Partie war und musterten uns abweisend. dem Flug einen ausführlichen Abschnitt in seinem Die Steine der Häuser sind steil und verwittert. Roman „Zum Heldentod begnadigt“ widmet. Greulich In Feldern grünt schon der Wein. schildert die Reaktion des diensthabenden Oberleut- Wir müssen in ehrfürchtiger Landschaft nants auf den Protest eines Piloten gegen den Befehl, die drohenden Landsknechte sein. die 999er ohne Schwimmwesten zu befördern: „Das in- Schämen wir uns nicht teressiert mich nicht. Wollen Sie wegen der paar feh- beim Vorübergehen lenden Schwimmwesten Afrika die nötigen Reserven vor spielenden Kindern am Wegesrand? vorenthalten? Sie fliegen!“ (Greulich 1949, 136).11 Den Erröten wir nicht, Luftangriff der Briten zeichnet Greulich als apokalypti- wenn junge Frauen verstohlen aus den schen Spuk. Fenstern blicken? „Ach du Scheiße!“ brüllt Trimmer. Unsere Köpfe flie- Wir kennen ihr Denken, gen ruckartig zur anderen Seite. Die Ju schräg rechts weil unsere Gefühle dieselben sind. (Kain, über uns zieht die gefürchtete Rauchschleppe hinter 1943a) sich her. . . . Links rast eine Ju senkrecht nach unten. Es ist kein Stilistisch noch etwas unbeholfen vermittelt das Ge- Flugzeug mehr, nur noch eine brennende Fackel. dicht des knapp Zwanzigjährigen den der Situation in- Immer mehr Jäger tauchen auf. . . . Wir ziehen die härenten moralischen und seelischen Konflikt der Köpfe ein und warten auf unser Ende. Jedes kleine unfreiwilligen Besatzer. Schwanken des Flugzeugs sticht den Gedanken durchs Widerständische Aktionen der 999er waren aufgrund Hirn: Jetzt – Jetzt. Furchtbar. der strengen Überwachung begrenzt. In Südfrankreich Die Gesichter sind aschfahl. Die meisten wagen nicht gab es vereinzelte Versuche, Kontakt zum französi- mehr, aus dem Fenster zu sehen. Dort bekommt man schen Untergrund aufzunehmen. Hans-Peter Klausch nur sein eigenes Ende vorgeführt. berichtet, dass es zumindest zwei Strafbrigadisten ge- Das Meer bedeckt sich mit schwimmenden, abgurgeln- lang, zur Résistance überzulaufen (Klausch, 83). Meist den Flugzeugresten. schlugen solche Versuche aber fehl. Es liegen keine In der Luft rast der Tod mit Flammen, Rauch und Stahl. verlässlichen Zahlen darüber vor, wie viele 999er in An uns kostet er seinen gemeinsten Triumph aus. Uns Südfrankreich desertierten; fest steht jedenfalls, dass spart er bis zuletzt auf. Wir dürfen bei den Sekunden- allein in der letzten Februarwoche 1943 fünf Personen begräbnissen der anderen zusehen, unser gräuliches wegen Verdachts auf Fahnenflucht hingerichtet wurden Ende in Potenzen erlebend. (Greulich 1949, 137-138) (Klausch, 83-84). Auf dem Taubenmarkt erwähnt den demoralisierenden Effekt dieser mißglückten Desertio- Tatsächlich waren die Verluste enorm. So wurden am nen auf die Truppe (T, 183). 5. April 1943 aus einem Geschwader von deutschen Von Sizilien aus machte sich die Division 999 im März Flugzeugen mit insgesamt 168 Personen an Bord 102 und April 1943 für die Versetzung an die nordafrikani- tot oder vermisst gemeldet (Klausch, 91). Über den

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furchterregenden Flug schreibt Kain in seinem ersten Kameraden gefangen genommen. Der traditionelle Feldpostbrief aus Nordafrika: „Ich bin froh, dass ich Kolportageroman käme gut ohne die Erwähnung des herüben bin, denn ich möchte diesen Flug nicht noch Irrtums aus und würde sich stattdessen eher auf die einmal erleben“ (Kain 1943b).12 psychische und physische Spannung der erschöpften Warum ist dieses traumatische Erlebnis im Tauben- Soldaten im gefährlichen Moment der Gefangen- markt so kursorisch und nüchtern dargestellt? Die Lek- nahme kaprizieren. Auch bei Franz Kain sind Gefühle türe anderer Szenen, in denen sich der Erzähler an der im Spiel: Wir lesen von der Freude und Fröhlichkeit der Front in Lebensgefahr befindet, zeigt, dass Kain den beiden „befreiten Gefangenen“. Sofort aber wird der reißerischen Stil vieler Kriegsmemoiren vermied, die, emotionale Gehalt der Szene gedämpft durch eine sehr gezielt oder unabsichtlich, der grausamen Realität des sachliche Erklärung, was es mit dem „gelben Fleck“ Krieges einen Hauch von Abenteuerromantik verleihen. auf den Uniformen der Amerikaner auf sich hatte. Der Die Frontszenen sind allesamt betont nüchtern gehal- Ausklang des Kapitels ist nüchtern und unpathetisch ten und durch knappe Kommentare und beobachtende und verzichtet auf Abenteuerromantik. Einschübe „entschärft“. In der Szene, die seine Gefan- gennahme schildert, erfasst Kain den Moment, als er mit einem Kameraden nach zweitägigem Umherirren zwischen den Fronten zu den Amerikanern überläuft. Die beiden Soldaten sind müde und durstig, als sie von ihrem Versteck aus Soldaten mit einem auffallenden gelben Fleck auf dem Uniformhemd ausmachen. Der Erzähler nimmt fälschlicherweise an, dass er und sein Kamerad jeden Moment von einer deutschen Patrouille geschnappt werden würden: „Er sah nur einen gelben Fleck auf der Bluse der bei- den und dachte entsetzt, dass sie nun den Kettenhun- den von der Feldgendarmerie in die Hände gefallen seien. Da schrie einer der Soldaten einen Befehl, er klang fremd, und der andere feuerte einen Warnschuss ab. Jetzt erst bemerkten der Gebirgsbauer und der Fleischhauer aus Berlin, dass ihnen amerikanische Sol- daten gegenüberstanden, und sie hoben die Hände. Die beiden Soldaten durchsuchten sie nach Waffen Abb. 2: POW Baracken im ehemaligen Kriegsgefangenenlager und Munition, wiesen mit dem schussbereiten Gewehr Fort Devens, Massachusets. Foto Marion Hussong, 2009. nach vorne und folgten langsam ihrem Fang. Nach etwa fünfzig Metern fingen die beiden Gefange- „Gefangenschaften hinterlassen keine 13 nen zu lachen an, und es überkam sie eine derartige Harmonie“ Fröhlichkeit, dass sie förmlich geschüttelt wurden von Im folgenden Abschnitt wird die Darstellung der Kriegs- der Erkenntnis, dass mit dieser Gefangennahme nach gefangenschaft bei Franz Kain im Kontext der Historio- Jahren der Haft und der Bedrohung für sie die Freiheit graphie zur Situation deutscher Kriegsgefangener in angebrochen war. Sie lachten so herzhaft, dass auch Amerika untersucht.14 Wiederum widmet sich Kain hier die Bewacher davon angesteckt wurden. einem der „weißen Flecken“ der literarischen Landkarte Der gelbe Fleck auf den Blusen der Amis wurde durch (Kain 2003b, 88). Während Abenteuerromane über gerippte Eier-Handgranaten gebildet, welche die Solda- die menschenverachtende Behandlung deutscher Sol- ten an die Tragriemen des kleinen Tornisters gehängt daten in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, wie etwa hatten.“ (T, 201) Josef Martin Bauers Fluchtepos „So weit die Füße tra- gen“ (1955), in der Nachkriegszeit die Bestsellerlisten Zweimal richtet der Erzähler die Aufmerksamkeit des eroberten, gab es keine vergleichbar erfolgreichen lite- Lesers auf den gelben Fleck auf der Uniform der Ame- rarischen Memoiren deutscher Gefangener in Amerika. rikaner. Auf die szenische Spannung hat die anfängli- Heimkehrerromane, die das Überleben unter grausa- che Verwechslung, ausgelöst durch den gelben Fleck, men Bedingungen in sibirischen Lagern beinhalteten, keinen Einfluss. Der Erzähler sieht den Farbfleck, hört trafen den Nerv der Zeit: Das Feindbild des kommunis- dann die fremde Sprache und wird sofort mit seinem tischen Russland solidarisierte Westdeutsche wie Öster-

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reicher in der Frühphase des Kalten Krieges. Hinzu Einerseits war er erleichtert, endlich befreit zu sein vom kommt, dass solche Romane gern die deutsche Dienst in der deutschen Wehrmacht, andererseits war Schuldfrage ausblendeten und stattdessen die Leidens- er gemeinsam mit unverbesserlichen Nazis interniert, erfahrung der Deutschen betonten. Das heroische die die Antifaschistischen brutal drangsalierten. Die Überleben des Protagonisten unter widrigsten Umstän- Anti-Nazis unter den Kriegsgefangenen betrachteten den – Bauers Romanheld Clemens Forell schlägt sich die Amerikaner als ihre Alliierten: „Wenn sie auch von nach drei Jahren Zwangsarbeit in einer lichtlosen russi- fremden Soldaten eskortiert wurden, . . . , sie fühlten schen Bleimine zu Fuß von der Bering-Straße nach sich doch als Bundesgenossen dieses Landes und sei- Deutschland durch – stärkte das deutsche Selbstbe- ner Bevölkerung. In ihren Köpfen sah alles einfach aus: wusstsein nach der Niederlage und rechnete begange- wer gegen Hitler kämpft, muss ein Freund der 999er nes Unrecht gegen erlittenes Unrecht zugunsten der sein“ (T, 215).16 Diese Betrachtung des Erzählers deckt Deutschen auf. Frank Biess’ soziologische These zum sich mit einer offiziellen Deklaration: „Wir deutschen deutschen Heimkehrerphänomen diagnostiziert über- Kriegsgefangenen als Anti-Nazis sehen in den Allierten zeugend die Existenz eines solchen Opfer-Diskurses im nicht unsere Feinde, sondern Helfer zur Vernichtung Nachkriegs-Deutschland, und trifft sich durchaus auch des Nazismus“ (Haase 2002).17 für die populäre Literatur dieser Zeit zu (Biess, 43-70). „Auf dem Taubenmarkt“ gibt Einblick in das tägliche Die amerikanische Kriegsgefangschaft gab vergleichs- Leben der Kriegsgefangenen. Der wohl interessanteste weise nicht viel Stoff her: Die Gefangenen lebten zwar Aspekt des Amerika-Kapitels ist die Unbestechlichkeit nicht in Saus und Braus, waren aber meist gut verpflegt des historischen Erzählens. Ein Blick auf den histori- und adäquat untergebracht. Die Amerikaner hielten schen Sachverhalt zeigt, dass der Roman die Situation sich im Großen und Ganzen an die Genfer Konvention, in den Lagern wahrheitsgetreu schildert. Die Quellen und die meisten deutschen „POWs“ kehrten relativ sind eindeutig: In vielen Lagern, darunter auch in Ali- wohlbehalten nach Europa zurück. Außerdem war ceville, wo die oben zitierte Taubenmarkt Szene spielt, Amerika in der Zeit des Marshall-Plans und des auf- waren von 1943 bis Kriegsende Nazis obenauf: Sie kommenden Wirtschaftswunders ein positives Identifi- stellten die Lagersprecher, und man salutierte unge- kationsmuster für viele Deutsche und Österreicher. niert mit dem Hitler-Gruß. In den Lagern feierten deut- Studien über deutsche Kriegsgefangene in den Verei- sche POWs öffentlich Hitlers Geburtstag, während nigten Staaten reichen von generellen Untersuchungen Antifaschisten mundtot gemacht wurden. Es kam zu zum Lagerleben über Memoiren bis zu Dokumentatio- schweren Körperverletzungen, forcierten Selbstmorden nen über die Lebensbedingungen antifaschistischer und Feme-Gerichten, die auch im Roman beschrieben Gefangenen in Lagern für Anti-Nazis und systemkriti- sind (T 220-221).18 Warum wurden solche Ausschwei- sche Intellektuelle. Volker Wehdekings 1971 veröffent- fungen geduldet und warum gingen die Amerikaner lichtes Buch „Der Nullpunkt“. Über die Konstituierung nicht schärfer gegen die nazistische Ideologie in ihren der Nachkriegsliteratur in den amerikanischen Kriegs- POW Lagern vor? Ein Grund war die Überlastung der gefangenenlagern ist nach wie vor die einzige umfas- Infrastruktur: Erstmals in der Geschichte der Vereinig- sende Analyse zum deutschsprachigen literarischen ten Staaten sah sich das Militär mit einer enormen An- Leben in amerikanischen POW-Camps. zahl von Kriegsgefangenen aus einem fremden Zu Kriegsende befanden sich etwa 370 000 deutsche Kulturkreis konfrontiert, die untergebracht, verpflegt Kriegsgefangene in den Vereinigten Staaten (Robins, und bewacht werden mussten. Meist wurden Militär- 8-9). Franz Kain befand sich unter den rund 5000 Sol- stützpunkte dafür adaptiert, die nicht eigentlich als daten der 999er Division, die nach der Afrikaoffensive Lager konzipiert waren. Weiters trugen die traditionel- im späten Frühjahr 1943 auf dem amerikanischen len militärischen Verhaltensregeln zu einer Begünsti- Kontinent ankamen (Haase 1999, 416). Konflikte in gung der Nazis bei. Die Hierarchie amerikanischer wie den POW-Lagern waren vorprogrammiert: Die Mehr- deutscher Kriegsgefangener war durch das militärische heit der Angehörigen des Afrika-Korps bestand aus lini- Führungsprinzip geregelt: der ranghöchste Gefangene entreuen Soldaten der Rommel-Armee. Ihnen standen übernahm die Leitung der POW Angelegenheiten im die 999er gegenüber, die bei der ersten Gelegenheit Lager. Die Amerikaner waren von der militärischen Dis- ihre Hoheitsabzeichen von der Uniform trennten (T, ziplin der regimetreuen deutschen Wehrmachtssolda- 213)15 und kein Hehl mehr aus ihrer Kritik am Hitler- ten in den Lagern beeindruckt. Wenn es Zwischenfälle Regime machen wollten. gab, schienen stets Antifaschisten darin verwickelt zu Besonders die ersten Monate in Alabama im Camp Ali- sein, wodurch die Hitlergegner bald als troublemakers ceville dürften für Franz Kain schwierig gewesen sein. abgestempelt waren. Dazu kommt, dass unter den

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Anti-Nazis viele Kommunisten waren, was den politi- der Bitte, nur ja keine Fresspakete mehr zu schicken, schen Argwohn des amerikanischen Lagerpersonals er- gefolgt von einem dicken schwarzen Balken der deut- regte. Außerdem waren die Amerikaner darauf schen Zensur (Kain 1944b).21 bedacht, die Genfer Konvention nicht zu verletzen, die Die dichtbewaldete neuenglische Landschaft um Fort die politische Beeinflussung von Kriegsgefangenen un- Devens und seinem Satellitenlager Fort Stark erinnerte tersagte. Man war 1943 diesbezüglich noch sehr vor- Franz Kain an Österreich: „Tiefe Kiefernwälder säumen sichtig und hütete sich vor Aktionen, die als das Lager und wir haben schon Schneeballschlachten Indoktrination ausgelegt werden konnte. Das ging so organisiert“ schrieb er 1944 an seine Eltern (Kain weit, dass die Lagerleitungen keine öffentliche Polemik 1944a). Wie zuhause im Salzkammergut war er wäh- antifaschistischer POWs gegen die nazistische Ideolo- rend eines mehrmonatigen Zwischenaufenthalts im gie duldeten. Erst später entwickelten die Amerikaner Camp Stark als Holzfäller eingesetzt, eine Arbeit, die ein politisches Umerziehungsprogramm für POWs im ihm zusagte: „Ich arbeite im Wald und habe dort dieser Sinne der amerikanischen Verfassung (Robin, 8-9). Tage einmal Frauenschuhe gefunden. Allerdings sind Im Laufe des Jahres 1943 kam es zu derart heftigen sie hier rot, nicht gelb wie bei uns. Auch gibt es hier al- Zusammenstößen in POW-Lagern, dass die Nazis von lerhand Wild und wir haben schon einmal ein Stachel- den Antifaschisten getrennt und spezielle Lager für Hit- ler-Gegner eingerichtet werden mussten.19 Nach schweren Unruhen in Aliceville wurde Franz Kain im Sommer 1943 nach Mississippi, in das antifaschisti- sche Camp McCain, verlegt. Im Spätwinter 1944 traf er in Fort Devens im Bundesstaat Massachusetts ein (Abb.1). Fort Devens liegt in einer waldreichen Gegend Neu- englands, etwa 65 km nordwestlich von Boston. Das Lager bestand aus hastig errichteten zweistöckigen Holzbaracken, die dann später durch gemauerte Bau- ten ersetzt wurden (Abb. 2). Die POW-Unterkünfte waren von einem doppelten Stacheldrahtzaun mit Wachtürmen umgeben. Die Gefangenen waren in ver- schiedenen Arbeitsbereichen eingesetzt und erhielten täglich einen Bon im Wert von 80 Cents, der in der Kantine gegen Tabakwaren, Schokolade und andere Notwendigkeiten des täglichen Lebens eingetauscht Abb. 3. Das ehemalige Kulturzentrum von Fort Devens im histo- werden konnte (Heath).20 In einem Brief beruhigte rischen Distrikt des Lagers. Foto Marion Hussong, 2009. Franz Kain seine besorgten Eltern: „Ich arbeite an der frischen Luft und kann mir für mein Geld alles kaufen schwein gefangen. Junge Eichhörnchen haben wir im hier – Zigaretten, Füllhalter, usw. Also braucht Ihr Euch Lager großgezogen“ (Kain 1944c). Auch das Lagerle- gewiss keine Sorgen zu machen“ (Kain 1945a). ben war erträglicher: Die interne Organisation von Die Verpflegung in den Lagern war bis auf einen mehr- Anti-Nazi Lagern wie Devens und Stark war nach de- wöchigen Engpass kurz nach Kriegsende (Koop, 101- mokratischen Prinzipien geregelt. Hitlergruß und militä- 102. T, 245-6) reichlich: „Wir werden genauso verpflegt risches Gebaren waren verpönt (Haase 1999, 17. wie die amerikanischen Soldaten“ (Kain 1943c) schrieb Koop, 45-47. 72). Die Häftlinge entwarfen antifaschis- Kain nach Hause, und: „. . . schickt nur ja nichts mehr tische Plakate, Appelle und Aufklärungsschriften und zu essen. Ich habe so viel wie ich es zuhause nie ge- publizierten eine ambitionierte, künstlerisch anspruchs- habt habe“ (Kain 1944a). Im Januar 1945 freute er volle Zeitschrift mit dem Titel PW22, die in einer Auf- sich über eine besondere Überraschung: „Zu meinem lage von 3000 Exemplaren von Februar bis Oktober Geburtstag habe ich eine Torte bekommen wie ich sie 1945 alle zwei Wochen erschien und in Kriegsgefan- zuhause nicht besser haben könnte“ (Kain 1945a). Die genlagern in ganz Amerika verteilt wurde (Haase Berichte über das reichliche Essen schienen den Zen- 2000. Wehdeking, 42). Im Februar 1945 verfassten die soren in der von Versorgungsengpässen geplagten Hei- POWs von Fort Devens einen Appell an Deutschland, mat nicht behagt zu haben. die Waffen zu strecken, der von über tausend POWs In einem der Briefe an die Familie ist die Wiederholung unterzeichnet und Anfang April von amerikanischen

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Radiosendern in Europa ausgestrahlt wurde (Haase bot, aus ihren Werken zu lesen. Der Sänger Kurt Neu- 2000). Man inszenierte Theaterstücke, nahm an Mu- kirchner, der maßgebend an der Kulturarbeit in Devens sikabenden des Lagerorchesters teil und sah Filmvor- beteiligt war, schrieb in seinen Memoiren über Kains führungen im Kulturzentrum des Lagers (Abb. 3). Am Erfolg: „. . . die gemeinsame Veranstaltung mit Franz Kain stellte einen Höhepunkt alles bisher Gebotenen dar. . . . Er ver- diente den größten Beifall des Abends“ (Neukirchner, 96-97). In Fort Devens konnten viele unter den jüngeren Kriegsgefangenen ihre unterbrochene Bildung fortstetzen. Franz Kain war ein typischer Fall: Wirtschaftliche Not und Verfolgung hatten seine Schulzeit vorzeitig been- det. Als Autodidakt hatte er im Zucht- haus gelesen, was an Büchern in den Gefängnisbibliotheken zu bekommen war, doch die Auswahl war begrenzt und eklektisch. Nun bot sich die erste Gelegenheit seit Jahren zum intellek- tuellen Gedankenaustausch. Die Volkshochschule des Lagers, geführt von älteren POWs, unter denen sich Universitätsprofessoren, Gymnasial- lehrer und Berufslehrer befanden, bot eine erstaunliche Auswahl an Bil- dungsmöglichkeiten. Eine überlieferte Wochenliste zeigt ein beeindrucken- des Angebot an Seminaren (Kram- mer, 66).23 Auch amerikanische Hochschulprofessoren gaben Vorle- sungen: Im Frühjahr 1945 kam sogar ein Professor der Harvard Universität nach Fort Devens, um ein Seminar zur amerikanischen Literatur und Ge- schichte zu halten (Wehdeking, 43). Die Gefangenen durften amerikani- sche Zeitungen abonnieren, wobei die New York Times und der deutsch- sprachige New York Staatsanzeiger und Herold besonders beliebt waren. Die Lagerbibliothek hatte einen Be- stand von 2618 Büchern, darunter viele Werke deutschsprachiger Emig- ranten (Heath, Tulatz). Ausgehungert Abb. 4. Die Lagerzeitschrift von Fort Devens, PW, mit einer Titelgrafik von Bodo „stürzte“ sich der Taubenmarkt Erzäh- Gerstenberg. Archiv Margit Kain. ler auf „die Brüder Thomas und Hein- rich Mann, Alfred und Robert 14. Januar 1945 veranstaltete Fort Devens einen Kul- Neumann und Manfred Hausmann“ (T, 227) und ar- turabend mit dem Titel „Das andere Deutschland“ beitete an der Zeitschrift PW mit. Das intellektuelle En- (Haase 2000. Haase 1999, 16), der Musik und Dich- gagement der Gefangenen ist beachtlich, wenn man tung von POWs vorstellte und ihnen die Möglichkeit bedenkt, dass in Fort Devens täglich 8 bis 12 Stunden

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lang körperliche Arbeit verrichtet wurde. Ein glücklicher übte Leser und Schreiber waren (Wehdeking, 53). Weh- Zufall bescherte Franz Kain einige Monate Dienst als dekings Einschätzung trifft auch auf Franz Kains Lyrik Heizer. Die Arbeit im Heizraum war relativ leicht: War der Kriegsjahre zu. Doch seine besten Gedichte aus der Ofen erst warm, gab es immer wieder Mußestun- dieser Zeit zeigen bereits die für den reifen Kain typi- den, die dem angehenden Dichter das boten, was er sche sprachliche Zurückhaltung. Im August 1945, als sich am meisten wünschte: Zeit zum Lesen und Ruhe Amerika das Kriegsende im Pazifik feierte, reflektierte und Einsamkeit zum Schreiben (T, 226). Für die nötige er den Freudentaumel aus der Sicht des isolierten Inspiration sorgte ein Heimwerkerprojekt: Kain schrieb Kriegsgefangenen: im Heizkeller nicht nur Gedichte sondern richtete ne- Es war ein heißer Tag, benher auch eine lukrative Schnapsbrennerei ein (T, Der letzte des Krieges; 227).24 Es dürften glückliche Wochen gewesen sein: Harte Arbeit preßte uns in stumpfen Trott. „In den Heizräumen des Lagers Fort Devens in Massa- Erst in der Nacht läuteten im Land die Glo- chusetts begann eigentlich das zweite, das literarische cken. Leben des Gebirgsbauern Damasus“ (T, 226) schreibt Wir wußten, der Krieg ist aus. der Erzähler zufrieden, doch wie es so geht im Leben: Doch als wir durch das Dunkel spähten, „Die Herrlichkeit in den Heizräumen nahm . . . ein Durch den Stacheldraht, jähes Ende, als die geheime Schnapsbrennerei auf- Fragte es in uns: flog“, ausgerechnet deshalb, weil einer der „Kunden“, Der Krieg ist aus – ein amerikanischer Soldat, betrunken im Dienst er- Wann wird uns Frieden werden? (Kain 1945f) schienen war (T, 227). Für die Zeitschrift PW schrieb Franz Kain Gedichte, Wie bereits im Gedicht „Einzug in ein französisches Feuilletons und Analysen zur politischen Geschichte Dorf“ wird auch hier ohne Larmoyanz die Außenseiter- Österreichs. Neben der Zeitschrift „Der Ruf“, die im perspektive vermittelt, mit der sich die antifaschistichen Lager Fort Kearney von Hans Werner Richter, Alfred POWs auch nach dem Sieg der Alliierten identifizierten. Andersch und Walter Kolbenhoff (1908-1993) heraus- Zwar empfanden sie das Kriegsende als Befreiung und gegeben wurde, war der PW das wichtigste antifaschis- nicht als Zusammenbruch, doch sie erlebten ihre Be- tische Kriegsgefangenenjournal in Amerika. Volker freiung hinter Stacheldraht. Wehdeking bescheinigt dem Blatt faktische Genauig- Gegen Kriegsende war Fort Devens so stark ausgelas- keit und sachliche Berichterstattung (Wehdeking, 42). tet, dass wieder SS und andere hitlertreue POWs zu- Der Ansatz der Zeitschrift war pazifistisch und prokla- sammen mit Anti-Nazis interniert wurden (T, 235). mierte die Existenz eines “anderen Deutschlands”, das Unter ihnen waren auch „größere Gruppen von ganz sich kritisch mit dem Hitlerstaat und seinen Verbrechen jungen Gefangenen aus den Kämpfen in Frankreich... . auseinandersetzte (Haase 1999, 16), an die Opfer und Angehörige der sogenannten HJ-Divisionen“, die de- den Widerstand erinnerte und für eine politische Neu- moralisiert im Lager eintrafen (T, 235). An sie wandte orientierung Europas im demokratischen Sinn plä- sich Kain im März 1945 in einem PW Feuilleton mit dierte. PW veröffentlichte Analysen zur Zeitgeschichte, dem Titel „An einen ehemaligen Hitlerjungen“ (Kain literaturkritische Essays, Erlebnisberichte, Plädoyers, Le- 1945c). Er setzt hier eine versöhnliche Geste und zieht serbriefe und Karikaturen, war sich aber auch der äs- Bilanz zur Situation der Jugend am Vorabend des thetischen Krise der deutschen Kultur nach zwölf Kriegsendes. Egal auf welcher Seite man politsch ge- Jahren Ausbeutung durch das Dritte Reich bewusst. standen habe, seiner Generation sei die Jugend ge- Man orientierte sich an Schiller, dem Jungen Deutsch- stohlen worden. „Nun sind wir hier in Gefangenschaft land und der Avantgarde der Weimarer Republik. Jede und erfahren die gleiche Behandlung. . . . Manchmal Ausgabe des PW enthielt künstlerische Beiträge von sehe ich, dass du traurig bist und ich weiß warum. Ich POWs, darunter Kurzprosa, Lyrik und die anspruchsvol- will nicht in Schmerzen wühlen, die jemand überkom- len Titelgrafiken von Bodo Gerstenberg (1916-1991)25, men, wenn er vor zertrümmerten Idealen steht“ (Kain der sich an der Tradition pazifistischer deutscher Künst- 1945c). Der Aufsatz ruft zur ideologischen Umkehr auf ler wie Otto Dix (1891-1969) und Käthe Kollwitz und befürwortet bedingt eine Rehabilitierung der Hit- (1867-1945) orientierte (Abb. 4). Die Qualität der lite- lerjugend: „So verschieden unsere Wege auch waren, rarischen Arbeiten der Zeitschrift schwankte. Wehde- Du und ich, wir sind trotzdem die Zukunft. Aus dem king kritisiert, dass vor allem manche Lyrik-Beiträge in Zusammenwirken unserer Kräfte wird das Werk entste- ihrer pathetischen und didaktischen Überfrachtung er- hen: die Freiheit der Völker“ (Kain 1945c). Im PW- kennen liessen, dass einige PW Autoren noch unge- Essay „Österreichische Jugend und Republik“

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argumentiert er allerdings, dass der Jugend im Dritten Ob Franz Kain in der amerikanischen Gefangenschaft Reich die Fähigkeit zum unabhängigen und kritischen an posttraumatischen Belastungsstörungen oder De- Denken abhanden gekommen sei und dass daher der pressionen litt, sei dahingestellt. Fest steht, dass seine Kern einer zukünftigen demokratischen Jugendbewe- Briefe in den letzten Monaten der Gefangenschaft gung von ehemaligen Kräften des Widerstands gestellt manchmal pessimistisch klingen und dass er als werden müsse (Kain 1945e). Schriftsteller nach anfänglichen Erfolgen in Fort De- Mit diesem Kern widerständischer Jugend identifizierte vens einen empfindlichen Rückschlag einstecken sich Kain zweifellos. Doch die Gefangenschaft in Über- musste: Im Lager Fort Kearney in Rhode Island, wo er see, die es unmöglich machte, aktiv in die politische kurz vor seiner Rückkehr nach Europa interniert war, Neuorientierung in Österreich und Deutschland einzu- wurde ihm bewusst, dass auch unter linken Intellektuel- greifen, belastete die POWs. Auch die lange Dauer der len Dünkel und Opportunismus an der Tagesordnung Unfreiheit hinterließ ihre Spuren. Bei seiner Rückkehr waren. Sein Angebot, bei der Zeitschrift „Der Ruf“ mit- nach Österreich hatte der knapp Vierundzwanzigjäh- zuarbeiten, wurde mit der Begründung abgelehnt, dass rige Kain fünf Jahre Freiheitsentzug hinter sich. Der Ge- er von Beruf Holzarbeiter sei und „Der Ruf“ nur „er- danke an die verlorene Jugend, ein Leitmotiv im Essay probte Fachleute“ in die Redaktion aufnehme (T, 257- „An einen ehemaligen Hitlerjungen“, taucht auch in 258). Erge Greulichs Schlüsselroman „Amerikanische seinen Briefen auf, wenn Kain die „Monate und Jahre, Odyssee“ (1965) greift die Episode auf, um anhand die aus uns Jungen verbitterte Männer gemacht der Zurückweisung Kains die Arroganz und den Oppor- haben“ (Kain 1945b) beklagt. „Ich bin . . . manchmal tunismus der Ruf-Redakteure darzustellen. Sie durften recht niedergeschlagen, wenn die anderen Kameraden im Herbst 1945 mit ihrer baldigen Freilassung rechnen von ihren Liebsten Post bekommen. Es ist eben doch und versuchten daher, sich mit Hilfe der Amerikaner ein verdammtes Alter, wenn man dazu schon so lange Positionen im literarischen und journalistischen Leben gefangen ist“, schreibt er deprimiert über seine Ju- des besetzten Deutschland zu sichern. Greulich chif- gendjahre, die er isoliert und ohne die Möglichkeit friert den Chefredakteur Hans-Werner Richter mit dem einer Liebesbeziehung verbringen musste (Kain unschmeichelhaften Namen „Zickler“, Walter Kolben- 1944a). Und abgeklärt: „Ich muss oft lachen wenn hoff tritt als „Dalbenhaff“ auf und Franz Kain ist un- Neue klagen über die lange Dauer der Gefangen- schwer in „Franz Abel“ zu erkennen, der „schon als schaft. Was wissen die von harter Gefangenschaft?“ Halbwüchsiger zum proletarischen Widerstand gekom- (Kain 1945d). In den Monaten vor und nach dem men war“ und „bereits Zuchthaus und Strafdivision Kriegsende wirkt er müde: „Ich bin seit einigen Tagen 999 hinter sich hatte“ (Greulich 1965, 319). Richter etwas kränklich, es sind die Nerven, da hilft keine Pille kommt bei Greulich nicht gut weg. Er wird als Opportu- dagegen“ (Kain 1944sd), schreibt er seinen Eltern und nist dargestellt, dem die eigene Stellung in der Redak- sorgt sich über seinen psychischen Zustand: Er habe tion und bei den amerikanischen Militärs wichtiger ist „manchmal Angst, wie das alles mit der Gesundheit als Kollegialität und die Qualität der Zeitschrift. Als ein sein wird. Man hat ja doch jahrelang buchstäblich in Mitgefangener Franz Abel fragt, ob Zickler dessen Be- einer fieberhaften Anspannung gelebt“ (Kain 1945d). werbung beim Ruf bei den Amerikanern befürwortet Auch die Gewaltverbrechen die er im Dritten Reich mit- habe, erwidert dieser: „Der?. . . Der kommt vor lauter ansehen mußte, dürften ihn belastet haben. Kurz nach Freundlichkeit nicht dazu, Anliegen weiterzugeben“ dem Kriegsende in Europa, als die deutsche Zensur (Greulich 1965, 328). endlich wegfiel, traute sich Kain erstmals, ausführlicher Das politische Klima in den amerikanischen Kriegsge- über die Gräueltaten der 999er-Führung zu berichten: fangenenlagern spiegelte nach Kriegsende die Lage in „ . . . wie oft wir dort zusehen mussten, wenn einer mit Europa (Haase 2000): Die Nazis zogen sich aus der verbundenen Augen an den Pfahl gestellt wurde! Am Lageröffentlichkeit zurück (Koop, 72) und zwischen Gründonnerstag 1943 waren es fünf auf einmal“ (Kain Österreichern und Deutschen begann sich eine Kluft zu 1945b). Hans-Peter Klauschs Buch bestätigt, wie trau- bilden. Franz Kain schwamm wie immer gegen den matisch gerade diese Hinrichtung in Nordafrika am Strom. Er hielt nichts von dem plötzlich erstarkten na- Osterwochenende 1943 für die Anwesenden gewesen tionalen Selbstbewusstsein der österreichischen POWs, sein musste. Die Exekution wurde absichtlich vor den die sich nun von den Deutschen abgrenzen wollten. versammelten Truppen in die Länge gezogen: „Keiner, Der Taubenmarkt-Protagonist Damasus misstraut „Lo- der das miterlebt hat, wird dieses Verbrechen vergessen sungen wie ‘rot-weiß-rot bis in den Tod’, weil sie ihm können“ zitiert Klausch einen Augenzeugen (Klausch, angesichts der jüngsten Vergangenheit um einige 115).26 Nummern zu groß schienen“ (T, 253) und reflektiert:

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„Gerade in den amerikanischen Jahren hat er erfahren Die Entwicklung entsprach keineswegs der Vision die müssen, dass die Geburt eines nationalen Selbstbe- sich der junge „Revoluzzer” gemacht hatte: „Am Ende wusstseins bei denen, die es bisher nicht hatten, ein oft des Krieges kommt die Revolution, da konnte es doch gewalttätiger und andere bleidigender Vorgang ist. Es keinen Zweifel geben” (Kain 1994), hatte er seinerzeit gibt einen Beute-Nationalismus, der gerne dort aus- prophezeit und für alle Fälle eine Pistole beiseite ge- und durchschlägt, wo es vermeintlich etwas zu erben legt, die er im Salzkammergut einem Wilderer abge- gilt. Das schien bei der Konkursmasse des Dritten Rei- kauft hatte. Nach all den Jahren lag die Pistole bei ches der Fall zu sein. War man nicht etwa das erste von seiner Rückkehr immer noch in ihrem Versteck: „Frei- Hitler überfallene Land und war das nicht schon Grund lich, zu dem angenommenen Zweck konnte ich sie genug für eine kräftige Wiedergutmachung? nicht gebrauchen”, schmunzelte Kain später (Kain Dass auch die Mittäterschaft ihre harten Konsequenzen 1994). Statt mit der Waffe zu kämpfen, machte er es haben würde, das war damals für viele ‘kein Thema’“. sich zur Aufgabe, als Schriftsteller Geschichte in Ge- (T, 253). schichten umzusetzen (Kain 2003b, 89-90). Zu seiner Diese Gedanken bilden den Kern von Franz Kains spä- Rolle als Außenseiter und Querdenker bekannte er terem literarischen Programm. Sie liefern das Gerüst sich: „Die Fortschrittsleistungen der Menschheit wur- für bahnbrechende Novellen wie „Maria-Lichtmess- den nur durch Widerborstige erbracht, auf allen Gebie- Nacht” und „Serbenlinde und Hollandtulpen”, die die ten”, stellte er fest. „Man erfährt einfach mehr und österreichische Kollaboration an den Massenmorden wird stärker, wenn man gegen den Strom schwimmt” von Mauthausen thematisieren und für die epischen (Ratzenböck, 5). Romane „Der Föhn bricht ein“ und „Auf dem Tauben- markt“, die die politische Entwicklung in Österreich vor, während und nach der Hitlerzeit erfassen. Der Bogen Literaturverzeichnis spannt sich zu Kains Gemeinderatsrede, Essays und zu Primärliteratur Texten wie „Das Ende der ewigen Ruh“, die die Menta- Kain, Franz (1942a) “Hunger”, unveröffentlichtes Gedicht, lität der Verdrängung in der Zweiten Republik behan- Archiv Margit Kain. deln. Kains frühe Biographie und die ersten —-. (1942b) “Brief an die Eltern, Wels, 10. Mai”, Archiv Mar- literarischen Versuche und Tagebücher aus der Zeit der git Kain. —-. (1943a) “Einzug in ein französisches Dorf”, unveröffent- Verfolgung und Gefangenschaft zeigen, dass diese lichtes Gedicht, Archiv Margit Kain. Thematik schon damals im Zentrum seines Denkens —-. (1943b) “Brief an die Eltern, Nordafrika, 9. April”, Ar- stand. chiv Margit Kain. Die Jahre von der ersten Haftstrafe bis zur Rückkehr —-. (1943c) “Brief an die Eltern, Camp McCain/Mississippi, aus Amerika formten Franz Kains Selbstbild als Außen- 21. August”, Archiv Margit Kain. seiter. Die Gefangenschaft in den USA mit ihrer Margi- —-. (1944a) “Brief an die Eltern, Fort Devens/Massachusetts, nalisierung deutscher und österreichischer 23. März”, Archiv Margit Kain Widerstandskämpfer dürfte zu dieser Identifikation bei- —-. (1944b) “Brief an die Eltern, Fort Devens/Massachusetts, getragen haben: „Gefangenschaften hinterlassen keine 24. April”, Archiv Margit Kain. —-. (1944c) “Brief an die Eltern, Fort Devens/Massachusetts, Harmonie” (T, 261) zieht Damasus auf der Heimreise 3. Juli”, Archiv Margit Kain. nach Europa Bilanz, als er in der Eisenbahn auf dem —-. (1944d) “Brief an die Eltern, Fort Devens/Massachusets, Weg zum New Yorker Hafen die amerikanische Land- 20. November”, Archiv Margit Kain. schaft an sich vorüberziehen lässt: —-. (1945a) “Brief an die Eltern, Fort Devens/Massachusetts, „Es kam der Abschied von einem Land mit großen 31. Januar”, Archiv Margit Kain. Reichtümern, aber auch von einem ohne Frühling und —-. (1945b) “Brief an die Eltern, Fort Devens, Massachu- Herbst. Die ausgezehrten Felder im inzwischen verkom- setts, 31. März”, Archiv Margit Kain. menen Königreich der Baumwollfürsten werden ebenso —-. (1945c), “An einen ehemaligen Hitlerjungen”, PW 3. 13. in seinem Gedächtnis bleiben wie die großen Städte —-. (1945d), “Brief an die Eltern, Fort Devens, Massachu- aus Stein, die kleineren aus Holz und die zerfallenden setts, 22. April”, Archiv Margit Kain. —-. (1945e) “Österreichische Jugend und Republik”, PW 13. Hütten der Farbigen. . . Er wird, zurückgekehrt ins alte Nicht paginiert. Europa, oft an Amerika denken müssen und immer —-. (1945f) “14. August 1945”, unveröffentlichtes Gedicht, wird es mit Zwiespalt im Herzen sein”. (T, 261) Archiv Margit Kain. —-. (1962a) “Der Föhn bricht ein. Epilog der ersten Nieder- Als Franz Kain im Frühjahr 1946 in Europa ankam, schrift”, Unveröffentlichtes Manuskript, Archiv Margit Kain. waren die Grundsteine der Zweiten Republik gelegt. —-. (1962b) “Immer noch und schon wieder”, in: Der Föhn

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bricht ein. Berlin: Aufbau Verlag, 430-437. Greulich, Ernst Rudolf “Erge” (1949) Zum Heldentod begna- —-. (1963) “Zu dem Roman Der Föhn bricht ein”, in: Die digt, Berlin: Verlag Lied der Zeit. Buchgemeinde, Wien: Globusverlag, 13-14. —-. (1965) Amerikanische Odyssee, München: Deutscher —-. (1988) Das Ende der ewigen Ruh, Weitra: Bibliothek der Militärverlag. Provinz. Haase, Norbert (1999) “Freiheit hinter Stacheldraht. Wider- —-. (1989a) “Der Blinde”, in: Der Schnee war warm und stand und Selbstbehauptung von deutschen Gegnern des sanft, Weitra: Bibliothek der Provinz, 9-30. NS-Regimes in westalliierten Kriegsgefangenenlagern”, in: In —-. (1989a) “Kaiser Franz Josef vor dem Volksgericht”, in: der Hand des Feindes. Kriegsgefangenschaft von der Antike Der Schnee war warm und sanft, Weitra: Bibliothek der Pro- bis zum Zweiten Weltkrieg, Hg. Rüdiger Overmanns, Wien: vinz, 47-57. Böhlau, 413-440. —-. (1989b) “Nero, der in die Kälte ging”, in: Im Brennes- —-. (2002) “Anti-Nazi Prisoners of War in American Prison seldickicht, Weitra: Bibliothek der Provinz, 61-70. Camps: The Example of Fort Devens, Massachusetts”, in: —-. (1992) “Autobiographie, Literatur oder Geschichtsschrei- Traces, www.traces.org/2002conference.nhaase.html bung – Vortrag an der Universität Innsbruck”, unveröffent- Heath, Burton (1945) “Nazi POWs Live Comfortable Lives in lichtes Manuskript, Archiv Margit Kain. Contrast to Yanks’ Lot in the Reich“, in: Ada Evening News, —-. (1993) “Als der Föhn einbrach”, in: Die Lawine, Weitra: 6. Mai. Bibliothek der Provinz, 172-179. Hussong, Marion (2000a) Der Nationalsozialismus im öster- —-. (1994) “Rede in Salzburg Nonntal”, Unveröffentlichtes reichischen Roman 1945-1969. Tübingen: Stauffenburg. Manuskript, Archiv Margit Kain. —-. (2000b) “Weiße Flecken auf der literaturgeschichtlichen —-. (1995) Der Föhn bricht ein, Weitra: Bibliothek der Pro- Landkarte: Vergangenheitsbewältigung und österreichische vinz. 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Ratzenböck Peter, Gespräch mit Franz Kain in „Mühlviertler 17 Zur Definition des Begriffs “Anti-Nazi” zitiert Haase (2002) Heimatblätter“ (Heft 1/1982) eine Proklamation antifaschistischer POWs: “Ein Anti-Nazi ist, Robin, Ron (1995) The Barbed-Wire College: Reeducating wer aus Überzeugung den Nazismus ablehnt und diese Über- German Prisoners of War in the United States During World zeugung offen zur Schau trägt. Anti-Nazis haben vor und nach War II, Princeton: Princeton University Press. der Machtergreifung durch Hitler gegen die Weltanschauung “Tradition gegen den Strich gebürstet” (1988) in Börsenblatt des Nazismus und dessen politische Gewaltlehren gekämpft”. für den deutschen Buchhandel. 484. 18 Zu Femegerichten und Misshandlungen antifaschistischer Trautmann, Klaus (1997) “Good Times Behind Barbed Wire POWs durch deutsche Mitgefangene: Carlson und Haase, 177- 183. Zum Hitlergruß in den Lagern: Haase 2002. in Fort Devens”, unveröffentlichtes Manuskript, Fort Devens: 19 Franz Kain war in den antifaschistischen Lagern Camp Fort Devens Archiv. McCain in Misssissippi, Fort Devens in Massachusetts, Camp Tulatz, Claus (1993) “Exil hinter Stacheldraht. Die Vorberei- Stark in New Hampshire und Fort Kearney in Rhode Island inter- tung politischer 999er in amerinkanischer Kriegsgefangen- niert. schaft auf die Nachkriegszeit am Beispiel Fort Devens”, 20 Vgl. Heath. Ebenso: “Prisoners of War Aid Our Farmers”: unveröffentlichtes Manuskript, Linz: Stadtarchiv, nicht pagi- “The prisoners get 80 cents a day, payable only in canteen niert. checks, not cash”. Wehdeking, Volker (1971) Der Nullpunkt. Über die Konstitu- 21 Zur Verpflegung im Lager Devens vgl. Berg. Ebenso: Traut- ierung der Nachkriegsliteratur in den amerikanischen Kriegs- mann. gefangenenlagern. Stuttgart: Metzler. 22 Der Titel der Zeitschrift ist eine Abkürzung für “Prisoner of War”. Kriegsgefangene in den Vereinigten Staaten trugen Uni- Anmerkungen formen, die mit den Buchstaben “PW” bedruckt waren. 23 Die überlieferte Aufstellung listet innerhalb einer Woche fol- 1 Ratzenböck Peter, Gespräch mit Franz Kain in „Mühlviertler gende Kurse auf: Englisch (22 Kurse), Französisch (2 Kurse), Heimatblätter“ (Heft 1/1982), 5. Spanisch (2 Kurse), Russisch (2 Kurse), Physik (1 Kurs), Anorga- 2 Zu diesen Autoren gehörten unter anderen auch Ilse Aichinger nische Chemie (1 Kurs), Organische Chemie (1 Kurs), Algebra (geb. 1921), Milo Dor (1923-2005), Erich Fried (1921-1988), (2 Kurse), Differentialrechnung (1 Kurs), Integralrechnung (1 Gerhard Fritsch (1924-1969), Michael Guttenbrunner (1919- Kurs), Statik (2 Kurse), Ingenieurbau (2 Kurse), Technisches 2004) und Hans Lebert (1919-1993). Vgl. Hussong 200a, 97- Zeichnen (1 Kurs), Malen und Zeichnen (2 Kurse ), Kunstge- 102. schichte (1 Kurs), und Business Law (1 Kurs in englischer Spra- 3 Ein Begleitband zur Strobler Ausstellung von Klaus Kienesber- che). ger, Unsichtbar Widerständiges im Salzkammergut, erschien im 24 In den meisten amerikanischen Kriegsgefangenenlagern gab Wiener Czernin Verlag (2008). es solch heimliche Schnapsbrennereien: vgl. Krammer, 71-72. 4 Zu Kains Erzähltechnik: Marion Hussong 2000b, 2-13. 25 Der Grafiker Bodo Gerstenberg war nach 1933 Mitglied der 5 Auf dem Taubenmarkt, 121. Zitate aus Auf dem Taubenmarkt illegalen KPD, verbrachte die Jahre 1930 bis 1940 im Zucht- sind fortan mit der Sigle T gekennzeichnet. haus in Brandenberg und wurde 1942 in die Strafdivision 999 6 Über das Netzwerk von Hilfeleistungen im oberösterrei- eingezogen. In Fort Devens war er Mitglied der antistalinisti- chischen Widerstand informieren ausführlich Kienesberger schen “Plattform” Gruppe. 2008, 94-109 und Kammerstätter 1977, 25-74. 346-349. 463- 26 Die Erschießung wird auch im Taubenmarkt-Roman behan- 466. delt. T, 195. 7 Die Zeit im Berliner Gefängnis behandelt die 1988 entstan- dene Erzählung “Kaiser Franz Joseph vor dem Volksgericht” (Kain, 1989b). 8 “Protokoll Ziereis”. 9 T, 225. 10 Für den vollständigen Text des Liedes “Wir lagen westlich von Kairouan” siehe Klausch, 1. 11 Vgl. Klausch, 91: “Auch bei späteren Transporten fehlten die vorgeschriebenen Schwimmwesten. Hinweise von Angehörigen der Afrika-Division 999 wurden ebenso wie der mutige, kaum verhüllte Protest eines Piloten gegen das Fehlen dieser selbstver- tändlichen Sicherheitsmaßnahmen von fanatischen Durchhalte- offizieren der Luftwaffe (die selbst nicht mitfliegen mussten) zurückgewiesen, ‘um Afrika die nötigen Reserven zuzuführen’”. 12 Vgl. Quatember 115. 13 T, 261. 14 Zwei Texte Kains, der Taubenmarkt-Roman und die 1970 entstandene Erzählung „Nero, der in die Kälte ging (Kain, 1989b) behandeln das Thema der amerikanischen Kriegsgefan- Marion Hussong genschaft. Hier wird nur auf den Roman eingegangen. Associate Professor of Literature and Holocaust & Genocide Stu- 15 Vgl. Carlson/Haase, 155. Haase 1999, 416. dies am Richard Stockton College of New Jersey 16 Vgl. Carlson/Haase, 166. Foto: ZME, M. Hussong am 29.10.2009 in Ebensee

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Kreta – Deutsche Besatzung und Widerstand

Wolfgang Quatember

Wer aufmerksam und zeitgeschichtlich interessiert durch Kreta reist, wird in zahlreichen Städten, Dörfern und Klöstern Denkmäler und Gedenktafeln entdecken, die den Opfern des kretischen Widerstands gegen die deutsche Besetzung zwischen 1941 und 1945 gewid- met sind. Einer neueren Publikation1 zufolge kamen im Freiheitskampf 8.575 Kreterinnen und Kreter ums Leben. Mindestens 20 Männer aus Kreta waren auch im KZ Ebensee inhaftiert. Der Angriff auf Kreta Trotz seiner strategischen Lage im östlichen Mittelmeer rechneten die in Kreta stationierten griechischen und britischen Streitkräfte nicht unmittelbar mit einem An- griff der deutschen Wehrmacht, sodass die Insel im Mai 1941 äußerst mangelhaft auf eine Verteidigung vorbe- reitet war. Bis auf 1.000 Soldaten waren alle grie- Denkmal für die Opfer des I. WK und des Widerstands im II. WK chischen Einheiten auf das Festland verlegt worden in der Stadt Anogia Foto: Quatember und die rund 14.000 wehrfähigen Kreter hatten kaum brauchbare Waffen, da auch diese bereits früher zur Ausschaltung von besonderen Gerichten“2 erfolgen. Verteidigung des Festlandes abgegeben werden muss- Die folgenden Exekutionen erfolgten auf Anordnung ten. Ende April 1941 wurden neuseeländische Truppen Students in erster Linie durch jene Truppenteile, die von nach Kreta verlegt, deren Kommandeur Bernhard C. Widerstandsaktionen der Zivilbevölkerung betroffen Freyberg jedoch vergeblich zusätzliche Verteidigungs- waren. Die ersten Hinrichtungen der männlichen Zivil- truppen zur See und aus der Luft anforderte. bevölkerung erfolgten in den Dörfern in der Umge- Das Unternehmen „Merkur“ startete am 14. Mai 1941 bung von Chania: Kydonia, Vrysses, Perivolia, mit schweren Bombenangriffen auf Flugplätze, Hafen- Kontomario, Sternes u.a. Die Exekution von 25 Män- anlagen und die größeren Städte Kretas. Im Morgen- nern des Dorfes Kontomario bei Malemes am 2. Juni grauen des 20. Mai griffen hunderte deutsche Bomber 1941 wurde von einem Propagandaphotographen der und Jagdflugzeuge an und setzten in der Folge Fall- Wehrmacht bildlich festgehalten. Die Männer zwischen schirmjäger ab. Innerhalb von 12 Tagen war Kreta be- 18 und 50 Jahren wurden willkürlich zusammengetrie- setzt und die Alliierten flüchteten auf britischen ben und von Fallschirmjägern des II. Batl./l.Sturmregi- Schiffen von der Südküste Kretas. Mehr als 5.000 ments unter dem Befehl von Oberleutnant Horst Trebes Commonwealth Soldaten wurden gefangen genom- erschossen. men, einige flohen in die kretischen Berge und wurden von der Bevölkerung versteckt. Ab dem 2. Juni 1941 bildeten sich in ganz Kreta im Wesentlichen von einander unabhängig agierende Wi- Der Widerstandskampf derstandsgruppen (Andarten= griech. Partisanen). An- General befahl sofort Vergeltungsmaß- führer waren unter anderen Manolis Bandouvas, nahmen für die getöteten Fallschirmjäger und die Be- Georgios Petrakogiorgis und Giannis Dramoundanis. teiligung der Kreter am Abwehrkampf. Erschießungen, Letzterer leitete die unabhängige Kampfgruppe im Ausrottung der männlichen Bevölkerung ganzer Ort- Dorf Anogia, wurde im Februar 1944 von der deut- schaften und Niederbrennern von Dörfern sollten unter schen Besatzung hingerichtet und von Michalis Xylouris „Beiseitelassung aller Formalien u. unter bewusster ersetzt. Das Hauptkampfmittel der Widerstandskämpfer

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waren Sabotageaktionen vor allem an den Flugplätzen steckten und versorgten Widerstandskämpfer und alli- und Treibstofflagern, die in vielen Fällen gemeinsam ierte Soldaten, überbrachten Botschaften und pflegten mit britischen Soldaten ausgeführt wurden. Verwundete. Frauen aus Kreta wurden wegen ihrer Be- Darüberhinaus griffen Widerstandskämpfer immer wie- teiligung am Widerstand hingerichtet oder in national- der deutsche Posten oder am Weg befindliche Kompa- sozialistische Konzentrationslager verschleppt. nien an. Dabei kam ihnen die ausgezeichnete Aber nicht nur die Zivilbevölkerung unterstützte die Wi- Ortskenntnis zugute. Die Angriffe erfolgten fast aus- derstandskämpfer mit Nahrungsmittel und gewährte schließlich dort, wo Straßen und Wege durch Schluch- Unterschlupf für Verfolgte, sondern auch die Geistli- ten führten, sodass ein Entrinnen für die deutschen chen. Klöster boten hervorragende Verstecke vor allem Truppen nahezu unmöglich war. Da die Widerstands- für die zurückgebliebenen alliierten Soldaten. Vom kämpfer ihre Verstecke in den unzugänglichen Bergre- Kloster Preveli aus, an der Südküste zwischen Plakias gionen eingerichtet hatten, richtete sich die Vergeltung und Aghia Galini gelegen, gelang es im Juli und Au- gegen die Zivilbevölkerung. Nach einem Angriff auf gust 1941 alliierten Soldaten mit einem U-Boot an die deutsche Soldaten bei Kato Symi, der 70 Deutsche afrikanische Küste zu fliehen. Die Mönche retteten das zum Opfer fielen, wurden am 14. September 1943 461 Leben von englischen, australischen und neuseeländi- Zivilisten aus Dörfern zwischen Viannos und Ierapetra schen Soldaten. An der Straße zum Kloster Preveli erin- hingerichtet, die Häuser zerstört und geplündert. Ein nert ein Denkmal bzw. innerhalb des Klosters eine Denkmal in Amiras erinnert an die Opfer. Gedenktafel an den Widerstandskampf der Mönche. Es sind auch die kretischen Frauen, die sich am Wider- standskampf beteiligen. Manche kämpften an der Seite Die Entführung des deutschen Generals ihrer Männer mit der Waffe in der Hand, andere ver- Kreipe Auf einer Marmortafel am Rathaus von Anogia: Der Befehl Zu den spektakulärsten Unternehmen des kretischen Heinrich Müllers, der der Zerstörung Anogias und der Ermor- Widerstands zählte die Entführung des deutschen Ge- dung zahlreicher Ortsbewohner vorausging. Foto: Quatember nerals Heinrich Kreipe am 26. April 19443. Ursprüng- lich planten britische Kommandos zusammen mit kretischen Widerstandskämpfern die Entführung des Generalmajors Friedrich Wilhelm Müller. Da Müller nach Frankreich abkommandiert wurde und Kreipe seine Stelle einnahm, geriet dieser ins Zentrum der Planung. In der Villa „Ariadne“ in der Kleinstadt Archanes, etwa 15 Kilometer südlich von , hatte Kreipe als Kommandant der Landstreitkräfte sein Hauptquartier und passierte nahezu täglich einen bestimmten Stra- ßenabschnitt auf seinen Fahrten in die Hauptstadt und zurück. Geplant wurde die Aktion vom britischen „Spe- cial Operations Executive“ (SOE) in London. , britischer Major und Hauptmann William Stanley Moss waren die Hauptbeteiligten. Fermor sprang im Februar 1944 mit einem Fallschirm ab. Moss erreichte Anfang April 1944 per Schnellboot von der afrikanischen Küste aus Kreta. Durch Uniformen der deutschen Militärpolizei verkleidet, stoppten die beiden Briten die Limousine Kreipes und 10 bewaffnete Partisanen umstellten das Fahrzeug. Der General wurde gefesselt und mit seinem eigenen Fahrzeug vor- bei an rund 20 deutschen Straßenposten, die die Li- mousine des Generals nicht anzuhalten wagten, weggebracht. 25 Kilometer westlich von Heraklion blieb das Fahrzeug mit einer Nachricht, der General sei entführt, zurück und die Entführer brachten den Gene- ral zu Fuß in eine Höhle in der Nähe der Kreisstadt

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Anogia, einem Zentrum des kretischen Widerstands am Fuß des Psiloritis. Sofort setzten die Briten einen Funkspruch nach Kairo ab, um das Gelingen der Ak- tion zu melden. Ein Torpedoschnellboot sollte die Briten mit General Kreipe zu gegebener Zeit an der Südküste an Bord nehmen und nach Kairo bringen. Inzwischen ließ der „Kommandant der Festung Kreta“ Bruno Bräuer deutsche Truppen das Gebiet um den Psiloritis, wo sich die Entführer mit Kreipe auch tatsächlich be- fanden, durchkämmen und von Flugzeugen Flugblätter abwerfen, worin er schärfste Vergeltungsmaßnahmen ankündigte. Trotzdem gelang es Fermon und Moss ge- meinsam mit den kretischen Partisanen in einem 20-tä- gigen Fußmarsch, versteckt und versorgt vor allem von Mädchen und Burschen aus Dörfern (Fourfouras, Pat- sos) des Amaribeckens, die als „ZiegenhüterInnen“ Nahrungsmittel in die Nähe der wechselnden Verstecke transportierten, die Südküste Kretas bei Rodakino zu erreichen. Am Morgen des 15. Mai 1944 bestiegen die beiden Briten und 6 Kreter mit Kreipe ein Schnellboot und erreichen nach Überwindung einer Strecke von ca. 470 Kilometer gegen Mitternacht Marsa Matruh in Alphabetische Auflistung der Opfer am Denkmal von Anogia Foto: Quatember Ägypten. Heinrich Kreipe wurde als Kriegsgefangener zuerst nach London und später nach Kanada gebracht, 12.000 Soldaten und 4.700 italienischen Militärinter- 1947 jedoch freigelassen. nierten war der Fluchtweg abgeschnitten. Interessantes Detail ist die Tatsache, dass es in der Deutsche Vergeltung- Die Zerstörung Folge zu einer sukzessiven Zusammenarbeit zwischen von Anogia und der Amaridörfer Deutschen und Briten kam, eine Phase, die die Grie- Für die Bewohner Kretas war damit der Terror der Be- chen „englisch-deutsche Besatzungszeit“ nannten. satzer noch nicht beendet. Vielmehr kehrte General Wohl aus Sorge, den politisch linksgerichteten kreti- Friedrich Wilhelm Müller im Juli 1944 nach Kreta zu- schen Partisanen könnten deutsche Waffenvorräte in rück und begann mit einer Vergeltungsaktion, welche die Hände fallen, ließen die Briten alle deutschen Waf- die Zerstörung der Dörfer des Amaribeckens und Ano- fen zerstören und im Meer versenken. Am 9. Mai 1945 gias zum Ziel hatte. Dahinter stand die Annahme, dass unterzeichnete der deutsche Generalmajor Hans Bene- nur durch Unterstützung der Bewohner dieser Gegend dek die bedingungslose Kapitulation. Erst Ende Juli ver- um den Psiloritis Kreipes Entführung gelungen sein ließen die letzten Deutschen Kreta in die britische konnte. Am 13. August 1944 umringten 2.000 deut- Kriegsgefangenschaft nach Alexandria. sche Soldaten Anogia und machten die Stadt dem Erd- Die Generäle Bräuer und Müller wurden wegen ihrer boden gleich. Da ein Angriff erwartet worden war, Kriegsverbrechen vor einem griechischen Gericht zum hatte sich die Mehrzahl der Bewohner in die Berge zu- Tod verurteilt und am 20. Mai 1947 hingerichtet. rückgezogen, sodass der Mordaktion vor allem Alte Zahlreiche Widerstandskämpfer, in erster Linie der und Kranke zum Opfer fielen, die nicht rechtzeitig flie- linksgerichteten ELAS (Griechische Volksbefreiungsar- hen konnten. Gleichzeitig wurde auch das in nördlicher mee), Männer wie Frauen, waren im Zuge des grie- Richtung gelegene Dorf Damasta zerstört und 40 Ein- chischen Bürgerkrieges (1946-1949) als Regimegegner wohner ermordet. Nur 9 Tage später, am 22. August inhaftiert, verbannt oder zum Tod verurteilt worden. folgten die Massaker an der männlichen Bevölkerung der Amaridörfer am Osthang des Kedrosberges: In Ge- Anmerkungen rakari wurden 49 Männer ermordet, in Vrysses 29, in 1 George I. Panagiotakis, Dokumente zur Schlacht und zum Wi- Kardaki 6, in Ano Meros 40, in Krya Vryssi 37 und in derstand auf Kreta, Heraklion 2007, S. 31 Saktouria 15 Männer. 2 Gen.Kdo. XI. Fliegerkorps, Der Kom.Gen., 31.5.1941, Bun- Zwei Monate später verließ die deutsche Besatzungs- desarchiv, BA-MA, RH 28-5-4b, Bl. 412f 3 G. Harokopos, Die Entführung von General Kreipe, Heraklion macht Athen und den noch in Kreta stationierten rund 2002

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Die Rückstellung von „arisierten“ Liegenschaften in Bad Ischl

von Nina Höllinger

Allgemeines Österreich selbst sollte Konzepte und gesetzliche Grundlagen schaffen. Es gab aber lange keine konkre- Die Rückstellung von entzogenen oder im Zwangsver- ten Pläne, wie mit entzogenem Vermögen zu verfahren kauf abgegebenen jüdischen Vermögenswerten ist ein sei. SPÖ und KPÖ plädierten für die Gründung eines höchst komplexes Forschungsgebiet im Spannungsfeld Restitutionsfonds. Dieser sollte aus entzogenemVermö- der divergierenden alliierten und österreichischen Inter- gen gedeckt werden und statt der Wiederherstellung essen. Nach der Niederlage des NS-Regimes stellte des Eigentumsrechts Zahlungen an NS-Opfer vorse- sich neben akuten Fragen der Nahrungsversorgung, hen, um den Geschädigten eine Existenzgründung und Wiederaufbau, etc. rasch die Frage, wie der Ver- ökonomische Überlebensfähigkeit zu sichern. Diese mögensentzug durch die Nationalsozialisten zu regeln Vorgehensweise wurde jedoch von den Alliierten abge- sei. Die von den Alliierten bereits 1943 verfasste „Lon- lehnt, die sich eindeutig für die Restitution von Eigen- doner Deklaration“ stellte fest, dass man sich die Nich- tum, entzogener Rechte, etc. aussprachen. Im Jänner tigkeitserklärung aller unter nationalsozialistischer 1946 wurde zwar eine Naturalrestitution angekündigt, Besetzung erzwungenen Vermögensübertragungen vor- doch Bewegung kam erst dann in die konkrete Rück- behalten würde. Damit wurde auch definiert, dass die stellungsgesetzgebung, als Österreich versuchte, die Vermögensentziehungen an den Juden und Jüdinnen sowjetische Beschlagnahme von „Deutschem Eigen- Europas als nichtige Vermögensübertragungen anzuse- tum“ im Osten Österreichs einzudämmen. Es wurde hen seien.1 das „Nichtigkeitsgesetz“ vom 15.5.1946 erlassen und Die Haltung der Alliierten zu Österreich war insofern damit erstmals der Vermögensentzug der NS-Zeit für von Diskrepanzen geprägt, als die „Moskauer Deklara- unrechtmäßig erklärt. Österreich stimmte den Prinzi- tion“ von 1943 Österreich einerseits als das erste von pien der „Londoner Deklaration“ zu und setzte damit Hitler-Deutschland besetzte Land bezeichnete, anderer- ein wichtiges außenpolitisches Signal. Die Hoffnung seits in derselben Deklaration auch die Mitverantwor- der österreichischen Regierung mit diesem Gesetz tung Österreichs am Krieg und den NS-Verbrechen auch die sowjetischen Beschlagnahmen abwehren zu dezidiert angesprochen wurde. Besonders die völker- können schlugen aber fehl. Praktische Bedeutung für rechtliche Lage Österreichs zwischen 1938 und 1945 die Rückstellung hatte das Gesetz allerdings nicht, wurde seit Kriegsbeginn diskutiert. Von Österreich denn es wurde festgehalten, dass die Art und Geltend- wurde nach 1945 die Auffassung vertreten, dass der machung und der Umfang der Ansprüche erst durch „Anschluss“ nicht den Untergang des Staates Öster- ein weiteres Bundesgesetz geregelt werden würde. reich als Völkerrechtssubjekt bedeutet hat, somit eine Um sich einen Überblick über den Umfang des entzo- Identität und Kontinuität zwischen der Republik Öster- genen Eigentums zu schaffen, erließ die provisorische reich 1945 mit dem Völkerrechtssubjekt Österreich Staatsregierung schon am 10. Mai 1945 das Gesetz vom 12. März 1938 besteht (Okkupation). Die De- über die Erfassung „arisierten“ Vermögens. Es sah vor, batte, ob Österreich okkupiert oder annektiert worden dass jeder Inhaber eines während der NS-Zeit entzoge- sei, war auch für Restitutions- und Entschädigungsfra- nen Vermögens, dieses anzumelden hätte. Die zur gen von Bedeutung.2 Durchführung notwendige Verordnung trat allerdings Von Österreich wurde, Bezug nehmend auf die „Mos- erst im September 1946, aufgrund von Änderungswün- kauer Deklaration“, es abgelehnt, für die NS-Verbre- schen der Alliierten, in Kraft. Eine vorsätzliche Unter- chen und den damit verbundenen lassung der Anmeldung wurde geahndet und konnte Entschädigungsfragen Verantwortung zu übernehmen. Haftstrafen nach sich ziehen.3 Anders als in der späteren BRD wurde die Restitution Von 1946 bis 1949 wurden schließlich insgesamt sie- entzogenen Eigentums oder auch die Entnazifizierung ben Rückstellungsgesetze erlassen, wobei vor allem die nicht von den Alliierten in die Wege geleitet, sondern ersten drei und besonders das Dritte Rückstellungsge-

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setz von Bedeutung waren. Die Rückstellung blieb aber sich gebracht hatten und im Rahmen der Entnazifizie- auf die Rückgabe von vorhandenem und auffindbarem rungsbestimmungen an den österreichischen Staat ge- Eigentum beschränkt. Entschädigungszahlungen für fallen war.5 nicht mehr vorhandenes, zerstörtes oder aufgelöstes In Bad Ischl wurden fünf Liegenschaften nach dem Vermögen wurden erst mit dem Staatsvertrag geleistet. Zweiten Rückstellungsgesetz restituiert. David Gold- mann, Wollwarenindustrieller aus Wien und Besitzer Die Rückstellungsgesetzgebung unter der Villa „Lilly“ in Bad Ischl, konnte 1940 über Prag Bezugnahme auf Bad Ischler Liegen- und London in die USA flüchten. Seine Liegenschaft schaften wurde ab Mai 1940 von Wilhelm Haenel verwaltet, von Das Erste Rückstellungsgesetz der Geheimen Staatspolizei im August 1940 beschlag- (Bundesgesetz vom 26. Juli 1946) nahmt und gleichzeitig das Eigentumsrecht der Reichs- Das Erste Rückstellungsgesetz bezog sich auf die Rück- finanzverwaltung zugesprochen. Von 1943 bis stellung entzogener Vermögen, die sich in Verwaltung Kriegsende besaß die NSDAP das Eigentumsrecht. des Bundes oder der Bundesländer befanden. Das Ver- Durch ein Rückstellungsverfahren bei der Finanzlan- fahren im Rahmen des Ersten Rückstellungsgesetztes desdirektion Wien erhielt David Goldmann mit gestaltete sich im Vergleich zu den anderen Verfahren 3.12.1947 seine Liegenschaft in Bad Ischl zurück.6 relativ einfach. Der geschädigte Eigentümer musste bei Die vier anderen Liegenschaften, welche in Bad Ischl der zuständigen Finanzlandesdirektion oder bei der Be- mittels Zweiten Rückstellungsgesetzes restituiert wur- hörde, in deren Verwaltung sich das Vermögen befand, den, betrafen die Besitzungen von Lucy Spiegl-Bonhay. seinen Rückstellungsanspruch innerhalb eines Jahres Ihr gehörten die Villa „Rothstein“ und weitere Liegen- anmelden und glaubhaft machen. Nach achtmaliger schaften in Kaltenbach. Durch Zwangsverkauf erwarb Verlängerung lief die generelle Anmeldefrist mit 30. der Oberdonau im Dezember 1938 die Lie- November 1952 aus. Wurde für Vermögen kein Rück- genschaften und verkaufte diese ein Jahr später an den stellungsanspruch gestellt, übernahm das Bundesmini- sterium für Vermögenssicherung und Wirtschafts- planung das Vermögen in gesonderte Verwaltung.4 In Bad Ischl sind von den insgesamt 98 entzogenen Liegenschaften bzw. Liegenschaftsanteilen sechs Lie- genschaften nach dem Ersten Rückstellungsgesetz re- stituiert worden. Hedwig Remi, die ein Wohnhaus in Bad Ischl/Kaltenbach besaß, wurde im Mai 1942 nach Theresienstadt deportiert und mit 8.5.1945 für tot er- klärt. Ihre Liegenschaft stand seit Mai 1940 unter der Treuhänderschaft von Wilhelm Haenel, dem „Arisie- rungskommissär“ von Bad Ischl, mit 17.1.1943 be- schlagnahmte die Geheime Staatspolizei ihren Besitz und mit 25.8.1944 wurde die Liegenschaft der Kreis- selbstverwaltung (Landrat)/Gmunden einverleibt. Hed- wig Remis Tochter und Erbin, die in die USA emigriert war, stellte bei der Finanzlandesdirektion Linz ein Rück- Villa „Rothstein“ Foto: ZME stellungsansuchen und erhielt mit 25.12.1948 die Lie- genschaft zurück. Nationalsozialistischen Lehrerbund Bayreuth weiter. 1945 ging das Eigentumsrecht an die Republik Öster- Das Zweite Rückstellungsgesetz reich über. Lucy Spiegl-Bonhay meldete ihren Anspruch (Bundesgesetz vom 6. Februar 1947) auf die Besitzungen bei der Finanzlandesdirektion Linz Das Zweite Rückstellungsgesetz befasste sich mit der an und mit Bescheid vom 24.2.1949 wurde ihr das Ei- Restitution von Vermögen, welches sich nunmehr im gentumsrecht zugesprochen. Das Bundesministerium Eigentum der Republik Österreich befand und vorher für Finanzen legte aber Berufung ein, weshalb das Ei- NS-Vermögen dargestellt hatte. Auch bei diesen Rück- gentumsrecht auf das „eines öffentlichen Verwalters“ stellungsverfahren waren die Finanzlandesdirektionen eingeschränkt wurde. Die Beschränkung des Eigen- zuständig. Gegenstand der Rückstellung bildete hier tumsrechts wurde erst aufgehoben, als die Besitzerin auch jenes Vermögen, das Nationalsozialisten zuvor an einen Vergleich mit der Republik schließen konnte.

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Lucy Spiegl-Bonhay zahlte an die Republik 120.000,- ausgenommen und teilweise in den folgenden Rück- Schilling für Aufwendungen (z.B.: Instandsetzungsko- stellungsgesetzen behandelt. Besonders präzise wurde sten, Liegenschaftssteuern, etc.) und erhielt erst dann der Vermögensentzug definiert. Er wurde nur dann alle Liegenschaften zurück.7 Die in den Rückstellungs- anerkannt, wenn der Eigentümer politisch verfolgt wor- verfahren geschlossenen Vergleiche zeichnen oft ein den war und der Erwerber des Vermögens nicht bewei- Bild der Ungerechtigkeit, wenn man bedenkt, dass der sen konnte, dass die Vermögensentziehung auch Geschädigte zuerst seine Liegenschaft unter Zwang unabhängig von der Machtergreifung des Nationalso- und Verfolgungsdruck verkaufen musste, vom Ver- zialismus erfolgt wäre. Bei bestimmten Opfergruppen kaufspreis (nach Abzug der Reichsfluchtsteuer und Ju- ging man generell von einer politischen Verfolgung aus denvermögensabgabe) kaum Geld erhielt und nun im (z.B.: Juden und Jüdinnen; von den Nationalsozialisten Rückstellungsverfahren wieder finanziellen Forderun- als „Mischlinge“ bezeichnete Personen wurden nicht gen gegenüberstand. generell, aber größtenteils „als verfolgt“ angesehen), weshalb hier die Beweislast umgekehrt wurde. Der An- Das Dritte Rückstellungsgesetz tragsgegner musste in diesen Fällen beweisen, dass (Bundesgesetz vom 6. Februar 1947) entgegen der generellen Vermutung der Rückstellungs- Das Dritte Rückstellungsgesetz befasste sich ganz all- werber im konkreten Fall keiner politischen Verfolgung gemein mit Vermögen, welches während der NS-Zeit ausgesetzt war.9 entzogen worden war, und sich jetzt in der Hand von Da nur jene Vermögensentziehungen anerkannt wur- Einzelpersonen, Firmen oder Institutionen befand. In den, die mit der Machtergreifung der Nationalsoziali- diesen Fällen musste ein Antrag auf Rückstellung bei sten verknüpft werden konnten, war ein beliebtes der Rückstellungskommission der Landesgerichte für Argument der Antragsgegner, die Veräußerung des Ver- Zivilrechtssachen eingebracht werden. Verfahren nach mögens sei nicht in Zusammenhang mit dem Natio- dem Dritten Rückstellungsgesetz wurden am häufig- nalsozialismus zu sehen. Es wurde argumentiert, dass sten eingebracht, auch in Bad Ischl. Da sich dieses Ge- Verkaufsabsichten bereits vor 1938 bekundet worden setz mit der Mehrzahl der Fälle von entzogenem seien oder wirtschaftliche Schwierigkeiten ohnehin zu Vermögen auseinandersetzte, wurde es von bestimm- einer Veräußerung geführt hätten. Für Probleme im ten politischen Kreisen, etwa dem „Verband der Unab- Verfahren konnten auch Erklärungen sorgen, in wel- hängigen“ (VdU) und Teilen der Wirtschaft bekämpft chen der Verkäufer im Zuge des Verkaufs deklariert und versucht, die Stellung der geschädigten Eigentü- hatte, es bestehe kein Zusammenhang mit der natio- mer im Gesetz zu verschlechtern.8 nalsozialistischen Machtergreifung. Vermögensentzie- Im Gesetz wurde einerseits ein ausführliches Regelwerk hungen, die aufgrund von Enteignungen entstanden aufgestellt und Details genau behandelt, andererseits waren, gestalteten sich ebenfalls prekär. Enteignungen gab es unklare Formulierungen, die der Rückstellungs- stellten per Gesetz öffentlich-rechtliche Maßnahmen kommission einen Spielraum ermöglichten, welcher und keine Entziehungen dar. Die Nationalsozialisten mehrheitlich zu Lasten der Geschädigten ausgelegt hatten jedoch aus unterschiedlichsten Gründen und in wurde. Antragsfristen und deren unübersichtliche Ver- beträchtlichem Umfang enteignet. Als schwierig erwie- längerungen um unterschiedliche Zeiträume erschwer- sen sich auch jene Rückstellungsverfahren, bei denen ten die Antragstellung und das Verfahren. Auch die der jüdische Liegenschaftseigentümer auf Drängen der Vererbbarkeit der Rückstellungsansprüche blieb be- nationalsozialistischen Behörden eine Hypothek auf schränkt und wurde damit gerechtfertigt, dass man seine Liegenschaft aufgenommen hatte um „Reichs- keine entfernt verwandten Erben entschädigen wolle. fluchtsteuer“ und „Judenvermögensabgabe“ bezahlen Erbloses Vermögen sollten neu eingerichtete staatliche zu können. Die Verpflichtung auf Rückzahlung wurde Organisationen erhalten, um jene Personen zu ent- im Grundbuch vermerkt, weshalb viele Darlehensneh- schädigen, deren entzogenes Vermögen nicht mehr mer versuchten, vor der Rückstellungskommission die- rückstellbar war. Die Rückstellungsverfahren nach dem sen Anspruch für nichtig erklären zu lassen.10 Dritten Rückstellungsgesetz waren somit für die Opfer Als Vermögensentziehung wurden Beschlagnahmen mit Hürden und Problemen verbunden. Hinzu kam, zum Beispiel auf Grund der 11. Verordnung zum dass sich im Verfahren die Antragssteller mit dem „di- Reichsbürgergesetz angesehen. In Bad Ischl wurde das rekten Ariseur“ konfrontiert sahen. Vermögen von Paula Kux, welche eine Liegenschaft in Ansprüche von Mietern, Dienstnehmern, Urheber- und der Frauengasse besaß nach dem 11. Reichsbürgerge- Patentrechteinhabern oder Ansprüche öffentlich-recht- setz11 entzogen. Obwohl sie einem Kreditinstitut in licher Natur wurden vom Dritten Rückstellungsgesetz Wien ihre Vollmacht zur Veräußerung gegeben hatte

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und der Verkauf eigentlich schon abgewickelt war, ner auch dann Anspruch auf die Kaufsumme, wenn wurde das Rechtsgeschäft für nicht gültig erklärt, da nicht er als direkter „Ariseur“ aufgetreten war. Fran- die Vollmacht älter als ein Jahr war und damit nicht ziska und Salomon Drimmer bewohnten in Bad Ischl dem Grundbuchsrecht entsprach. Es konnte somit eine ein Haus in der Ahorngasse. Frau Franziska Drimmer „Zwangsentjudung“ vorgenommen werden. Die Lie- verkaufte, wie andere jüdische Hausbesitzer in Bad genschaft wurde in „deutsches Eigentum“ umgewan- Ischl um einen geringen Preis und unter Zwang (ihr delt und die Kreisselbstverwaltung/Landrat Gmunden Mann wurde bereits im Juli in „Schutzhaft“ genom- nutzte das Gebäude. Im September 1948 wurde dem men) ihre Liegenschaft im November 1938 an das Antrag auf ein Rückstellungsverfahren stattgegeben Land Oberdonau. Das Land Oberdonau veräußerte die und schließlich erfolgte 1951 die Rückgabe an die Liegenschaft mit Gewinn einige Monate später an eine Erben von Paula Kux.12 Privatperson. Im Rückstellungsverfahren kam es nun zu einem Vergleich. Die Antragssteller, die Erben von Anspruch auf Herausgabe entzogenen Franziska Drimmer, akzeptierten die Aufwendungen für Vermögens die Liegenschaft zwischen November 1938 und 1947 Der Anspruch auf Herausgabe entzogenen Vermögens und übernahmen deshalb den auf dem Grundstück la- wurde am häufigsten gestellt. Bei 74 Rückstellungsver- stenden Schuldschein. Erst dann erhielten sie die Lie- fahren in Bad Ischl kam es zur Rückgabe an die ur- genschaft zurück. Der frühere Käufer wurde vom Land sprünglichen Eigentümer bzw. deren Erben. Bei Oberösterreich entschädigt, weil er die Liegenschaft zahlreichen Verfahren konnte eine Restitution nur über damals vom Land per Kaufvertrag erworben hatte.15 einen Vergleich erzielt werden, wie beispielsweise im Die weiteren Rückstellungsgesetze seien nur kurz er- Fall der Pianistin Ida Reik, die eine Liegenschaft in Ret- wähnt, weil sie für die „arisierten“ Bad Ischler Liegen- tenbach besaß. Aufgrund zunehmender antisemitischer schaften kaum von Bedeutung waren. Das Vierte Restriktionen veräußerte Ida Reik im September 1938 Rückstellungsgesetz befasste sich mit den unter natio- ihren Besitz und emigrierte mit ihrem Gatten in die nalsozialistischem Zwang geänderten oder gelöschten USA. Bei der Rückstellungskommission beim Landes- Firmennamen. Das Fünfte Rückstellungsgesetz behan- gericht Linz konnte am 5.10.1948 mit der Antragsgeg- delte die Rückstellung entzogenen Vermögens juristi- nerin dahingehend ein Vergleich erzielt werden, dass scher Personen des Wirtschaftslebens, die ihre die Liegenschaft rückgestellt wurde, der Antragsgegne- Rechtspersönlichkeit unter nationalsozialistischem rin aber das Mietrecht bis 1953 und ein Vorkaufsrecht Zwang verloren hatten. Das Sechste Rückstellungsge- einzuräumen sei.13 setz regelte die Rückstellung gewerblicher Schutz- Mehrere Rückstellungsverfahren, die ursprünglich eine rechte, das Siebente die Geltendmachung entzogener Herausgabe des Vermögens angemeldet hatten, ende- oder nicht erfüllter Ansprüche aus Dienstverhältnissen ten in Vergleichen, in welchen die Antragssteller auf die der Privatwirtschaft. Alle diese Gesetze blieben in ihren Liegenschaften verzichteten, und finanziell entschädigt Auswirkungen von marginaler Bedeutung und führten wurden. Elsa Haas, 1941 nach Opole deportiert und auch zu keinen politischen Diskussionen.16 dort ermordet, war Besitzerin einer Liegenschaft in Bad Ischl/Ahorn. Nach dem Zwangsverkauf an das Land Oberdonau im Jahr 1938 wurde die Liegenschaft 1939 Rückstellungsmaßnahmen im Rahmen an eine Privatperson weiterverkauft. 1949 stellte die des Staatsvertrages Erbin, Susanne Haas einen Rückstellungsantrag. 1951 Im Artikel 26 des Staatsvertrages verpflichtete sich wurde mit dem Erben des „Ariseurs“ dahingehend ein Österreich zu weiteren Rückstellungsmaßnahmen, die Vergleich geschlossen, dass der Antragsgegner der An- vor allem Entschädigungen für entzogenes Bargeld, tragstellerin Susanne Haas eine vereinbarte Summe Wertpapiere, Bankkonten und die den Jüdinnen und bezahlte und sie auf die Liegenschaft verzichtete.14 Juden vom NS-Regime auferlegten besonderen Steu- Einzelne Bestimmungen des Dritten Rückstellungsge- ern („Judenvermögensabgabe“ und „Reichsflucht- setzes wurden von der Rückstellungskommission zu steuer“) betrafen. Diesbezüglich wurde 1961 der Gunsten der „Ariseure“ ausgelegt. So konnte der „Ari- sogenannte „Abgeltungsfonds“ eingerichtet, allerdings seur“, Anspruch auf die Herausgabe der ursprüngli- erst nachdem sich die Bundesrepublik Deutschland chen Kaufsumme fordern, sofern das Opfer den Betrag dazu verpflichtet hatte, ebenfalls in diesen Fond einzu- nicht wie üblich auf ein Sperrkonto, sondern „zur freien zahlen. Im Staatsvertrag wurde zusätzlich festgeschrie- Verfügung“ erhalten hatte. Wie der Fall des Ehepaars ben, erblos bzw. unbeansprucht gebliebenes Drimmer vor Augen führt, hatte der Rückstellungsgeg- entzogenes Vermögen aufzufinden und dieses zugun-

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sten überlebender NS-Opfer zu verwerten. Hierfür wur- und Venezuela ausgewandert. Manche Antragsteller den zwei Sammelstellen eingerichtet.17 verzichteten gegen Zahlung einer Entschädigung auf Die Restitution von Liegenschaften wurde aber nicht die Liegenschaft, um den langwierigen und deshalb immer über Rückstellungsgesetze geregelt. Vor allem kostspieligen Verfahren eine Ende zu setzen. Zahlrei- Schenkungen innerhalb der Familie, die getätigt wur- che entschieden sich, nie wieder nach Österreich zu- den um die Liegenschaften vor dem Zugriff der Natio- rückzukommen. nalsozialisten zu schützen, wurden rückgängig Bei einigen wenigen Liegenschaften sind keine klaren gemacht und die Liegenschaften wieder an die Famili- Ergebnisse festzuhalten, da aus den uns zugänglichen enmitglieder übereignet. In Bad Ischl wurden einige Unterlagen keine eindeutigen Rückschlüsse möglich Liegenschaften über sogenannte Rückübergabever- waren und sich die Quellenlage schwierig gestaltete. träge restituiert. Dr. Max Wilhelm, Bankdirektor der Bodenbank in Wien, schenkte nach der Machtergreifung der Nationalsozia- Anmerkungen listen, die Liegenschaft seiner „arischen“ Ehefrau Elsa 1 Vgl.: Clemens Jabloner, ua. Hg., Schlussbericht der Historiker- Wilhelm, um den Besitz vor dem nationalsozialistischen kommission der Republik Österreich. Vermögensentzug während Zugriff zu schützen. Dr. Max Wilhelm starb am 13. Mai der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1939, seine Kinder aus erster Ehe galten als Juden und 1945 in Österreich, Bd. 1, Wien 2003, S.241. verzichteten auf das Erbe, Else Wilhelm war Alleinerbin. 2 Vgl.: Ebenda, S. 242 ff. Die Schenkung von Max Wilhelm an seine Frau wurde 3 Vgl.: Ebenda, S. 247 ff. 4 Vgl.: Ebenda, S. 254 f. von den NS-Behörden als Umgehung der Gesetze be- 5 Grundbuch Bad Ischl, EZ 217 Kaltenbach; Rückstellungsbe- trachtet, weshalb Else Wilhelm ihren Sohn aus erster scheid vom 25.12.1948 858/ 1 II der Finanzlandesdirektion Linz. Ehe (Julius Kar) die Liegenschaft übergab. Auch diese 6 Vgl.: Jabloner, S. 256 f. Schenkung wurde angezweifelt, schließlich aber doch 7 Grundbuch Bad Ischl, EZ 300 Kaltenbach. akzeptiert. Nach 1945 wurde die Liegenschaft von 8 Grundbuch Bad Ischl, EZ 44, 45, 228 und 257 Kaltenbach; ihrem Sohn wieder zurückgegeben und das Vermögen, Bescheid der Finanzlandesdirektion Linz vom 24.2.1949 Zl 14/10 IV b RK 1949 und Berufungsbescheid des Bundesministe- wie Wertpapiere und Aktien mit den Kindern aus erster riums für Finanzen Wien vom 19.2.1951 Zl 167.185-34/51; Ar- 18 Ehe im Verhältnis aufgeteilt. chiv ZME, JU I-40 Bei Liegenschaften, welche ebenfalls innerhalb der Fa- 9 Vgl.: Jabloner, S. 257. milie mittels Schenkung, Testament oder anderen Ver- 10 Vgl.: Jabloner, S. 258 f. trägen übergeben worden waren, wurde oftmals keine 11 Vgl.: Jabloner, S. 260 ff. Rückstellung angestrebt. Dr. Oskar Inwald-Waldtreu 12 Ab 25. November 1941 verfiel das Vermögen ausgewander- ter oder deportierter Juden mit der 11.Verordnung zum Reichs- hatte seinem Schwiegersohn, Viktor Geza von Erös bürgergesetz zugunsten des Reichs. Bethlenfalva, seine drei Liegenschaften in Bad Ischl 13 Grundbuch Bad Ischl, EZ 329 Ischl; Vgl.: Daniela Ellmauer, (darunter die Villa „Seilern“) über einen Abfindungsver- Michael John, Regina Thumser, „Arisierungen“, beschlag- trag geschenkt. Oskar Inwald-Waldtreu verstarb im De- nahmte Vermögen, Rückstellungen und Entschädigungen in zember 1938, eine Rückgabe wurde nicht Oberösterreich, Band 17/1,Wien 2004,S. 359 durchgeführt.19 14 Grundbuch Bad Ischl, EZ 18 Rettenbach; Rückstellungsver- fahren Rk 268/48; Archiv ZME, JU I-40. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass in Bad Ischl 15 Grundbuch Bad Ischl, EZ 122 Ahorn; Rückstellungsverfah- im Verhältnis viele Rückstellungsanträge mit der Resti- ren Rk 71/49; Archiv ZME JU-I-40 tution der Liegenschaften für die Geschädigten ende- 16 Grundbuch Bad Ischl, EZ 95 Ahorn; Rückstellungsverfahren ten. In zahlreichen Verfahren gelang dies aber nur Rk 116/47; Archiv ZME, JU I-40 durch Vergleiche. Vergleiche waren für die Antragstel- 17 Vgl.: Jabloner, S. 278ff. ler jedoch mit erheblichen finanziellen Aufwendungen 18 Vgl.: Ebenda, S 364 f. 19 Grundbuch Bad Ischl, EZ 16 Rettenbach, „Arisierungsakten“ verbunden. Viele Opfer befanden sich in der Emigra- ZME, SG JU-III-05. tion und waren im Begriff sich eine neue Existenz auf- 20 Grundbuch Bad Ischl, EZ 77, 325 und 339 Ischl. zubauen, weswegen die Vergleiche kaum finanzierbar waren. Fast alle Eigentümer oder Erben von in Bad Ischl rückgestellten Liegenschaften verkauften deshalb ihre Liegenschaften nach einigen Jahren wieder. Auch die geographische Entfernung spielte dabei eine we- sentliche Rolle, denn viele Opfer waren in die USA, Großbritannien, Frankreich, Australien, Peru, Ecuador,

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Zeitzeugenbericht: KZ-Mauthausen/Ebensee

Artur Radvanský

Mauthausen Lager und es war das letzte. Aber die Verpflegung war Wir fuhren wie gesagt nach Linz und von dort mit hier fast so schlecht wie im Kleinen Lager in Buchen- Autos aus nach Mauthausen. Als wir gegen Abend an- wald 1939. Es gab keinen großen Unterschied. kamen, wurden wir nicht gleich auf Blöcke verteilt, son- Schlechtes Brot, schlechte Lebensbedingungen, aber dern wir mussten warten, bis wir baden konnten. Wir ich war ziemlich kräftig. Trotz alledem war ich nach haben uns hinter den Baderaum auf einen freien Platz 3 Monaten so erschöpft, dass ich, wenn die amerikani- gelegt, genauso wie auf unserem bisherigen Marsch. sche Armee uns nicht befreit hätte, nicht mehr leben Hinter uns, etwa 60 bis 70 Meter, befand sich dann würde. Ich hatte Hungerödeme bis zum Bauch. schon der Stacheldrahtzaun. Ich war zufälligerweise wieder in der gleichen Gruppe mit Jozef Cyrankiewicz Ich wurde zu dem Kommando zugeteilt, das Stollen in und wir haben uns nebeneinander gelegt und ständig den Felsen hineingetrieben hat. Dort sollten Fabriken die Plätze gewechselt, so dass jeder mal außen und für die Vergeltungswaffen entstehen. Es ist dazu nie ge- innen liegen konnte. So haben wir die Nacht überlebt. kommen. In dem ersten Stollen, der schon fertig war, waren die Maschinen und zwei weitere Stollen wurden In der Früh wurden wir am ganzen Körper rasiert und gebaut von uns. Also wir haben Löcher gebohrt mit ins Bad geschickt. Die Sachen außer den Schuhen einem pneumatischen Hammer und dann ist ein Zivil- musste ich abgeben. Alles war weg. Ich bekam auch arbeiter gekommen, ein Zivilist, hat dort Sprengstoff wieder Häftlingsbekleidung. Wir mussten in einer angebracht und hat gesprengt. Und wir haben die Gruppe von 50 Mann ins Bad und wer noch laufen Steine dann weggetragen und wieder weiter gebohrt konnte, wurde ohne Abtrocknen in den Block ge- und ein Teil von den Häftlingen hat sie auf die Lore ge- schickt, trotz des Frostes. Ich hatte noch mal Glück. Wir bracht und auf die Kippe geschoben. Also in der waren nur 30 oder 40 Personen. Aber während des Nachtschicht war es leichter, es waren keine SS-Män- Duschens ist das Wasser ausgegangen, und es hat 15 ner da. Die Hammer haben geklopft und wir haben ge- bis 20 Minuten gedauert, bis es wieder funktioniert hat. schlafen, stehend. Einer hat immer aufgepasst und wir Ich gehörte zu denen, die noch nackt draußen stan- anderen haben geschlafen, waren so müde. Bei dem den. Von unserer Gruppe sind nur ca. 10 Menschen Lärm, stell`dir vor. Dabei sind sehr viele Menschen ge- am Leben geblieben. Ein Professor „Blaha“ (vermutlich storben. Dr. Josef Podlaha aus Brno), der Arzt im Häftlings- krankenbau war, ist mit Kalziuminjektionen gekommen, Ich habe auch eine Zeit in einem Kommando gearbei- woher er sie hatte, weiß ich nicht, und hat den Men- tet, nicht explodierte Bomben auszugraben in Attnang- schen die überlebt haben, eine Injektion gegeben. Der Puchheim. Das war ein kleines Städtchen, vielleicht 10 Lagerälteste ist gekommen und unsere kleine Gruppe bis 20 Kilometer entfernt von Ebensee. Man hat uns wurde auf den Block geführt. Man hat ihnen gleich ein mit Autos dahin gefahren. Das war Ende März Anfang Bett und heißen Tee gegeben. April 1945. Wir sind ca. am 25. Januar nach Mauthau- Wir waren ungefähr eine Woche bis 10 Tage in Maut- sen gekommen und waren bis Ende Januar in Quaran- hausen in Quarantäne. täne. Anfang April habe ich bei den Bombenausgrabungen gearbeitet. Wir haben mit 6 Ebensee Mann begonnen, die Erde herauszuheben und als wir Von Mauthausen aus wurden wir – wieder mit Autos – unten ankamen, konnten nur noch zwei Menschen dort nach Ebensee gebracht. Ebensee war eine kleine Stadt. arbeiten. Dann kam ein Pyrotechniker von der Armee. Dort gab es ein Lager. Das Lager war für 8.000 bis Er hat die Zünder herausgeschraubt und dann wurden 10.000 Menschen vorgesehen. Als wir dort ankamen, die Bomben herausgehoben. Gott sei Dank habe ich war es völlig überfüllt. Häftlinge aus der Schreibstube dort nicht lange gearbeitet, denn bei den Ausgrabun- sagten, es wären tausende Menschen da. Wir kamen gen sind viele Menschen auf Grund von Explosionen also nach Ebensee und durchlebten die gleiche Proze- umgekommen. dur wie in allen anderen Lagern. Dies war mein 6. Nach dieser kurzen Zeit war ich dann in einem ande-

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ren Kommando nicht mehr in den Stollen. Ich habe schen der einzelnen Nationen in unterschiedliche Lager das Lagergelände bei den SS-Kanzleien sauber ge- kamen. Wir tschechischen und polnischen Häftlinge macht. Eine Woche oder 10 Tage vor der Befreiung kamen in ein vorheriges Arbeitslager in Ebensee, wo kamen Häftlinge, mit denen ich 1939 in Buchenwald zuvor Tschechen für die „Organisation Todt“ als gewesen war. Sie waren in andere Lager gekommen. Zwangsarbeiter gearbeitet hatten. Diese wurden nach Und einer von den Häftlingen war mit dem Lagerälte- Hause geschickt. Daraufhin wurden die Baracken des- sten von Ebensee schon 1938 in Dachau gewesen. Als infiziert und wir sind dann dort eingezogen. In diesem dieser ihn sah, setzte er ihn sofort als Blockältesten ein. Lager waren wir ungefähr drei Wochen auf Quaran- Dieser Blockälteste, der mich gekannt hat von Buchen- täne. Wir haben die Verpflegung aus den dortigen SS- wald, machte mich zum Stubendienst. Ich habe dort Magazinen bekommen. Die Häftlinge, die von Beruf sauber gemacht. Deshalb musste ich nicht zum Appell Köche waren, haben für uns alle gekocht. Die Bäcker gehen. in Ebensee mussten jeden zweiten Tag für die Häftlinge Die Häftlinge in diesem Block arbeiteten in den Stollen. Brot backen. Und auch von der amerikanischen Armee Als Stubendienst musste ich das nicht. Ich war unter haben wir viele Nahrungsmittel erhalten. Oft kam ein einem Dach, war in der Wärme und war damit zufrie- Auto ins Lager mit amerikanischen Soldaten. Diese den. Ich habe einen Liter Suppe mehr als die anderen hatten Kisten mit Lebensmitteln für uns, haben sie aus bekommen. Doch dann zum Schluss, die letzten zwei, den Autos herausgeworfen und ohne anzuhalten sind drei Tage, gab es gar keine Verpflegung mehr. Vom sie gleich wieder weitergefahren. Sie wollten uns etwas Westen hat sich die amerikanische Armee genähert Gutes tun, aber das war nicht richtig. Auf diese Weise und vom Osten die russische Armee. Wir waren im Al- haben viele Menschen die Kisten nicht in die Küche penkessel. Wir haben die Flugzeuge über uns gesehen gebracht, sondern ihren Inhalt aufgegessen. Viele und gehört, wie die Artillerie schießt. Es gab nichts zu Menschen sind nach der Befreiung gestorben, weil sie essen. Ich habe gesehen, ich kann darauf schwören, viel zu fett gegessen hatten und ihr Körper dies nicht wie Tote aus den Baracken herausgetragen wurden, vertrug. Ich war von Häftlingsärzten gewarnt worden denen ein Stück vom Hinterteil fehlte. Ich vermute, und habe mich daran nicht beteiligt. dass manche Menschenfleisch gegessen haben, weil sie so großen Hunger hatten. Nach dem 20. Mai wurden wir entlassen. Wir bekamen eine deutsch/englische Bestätigung, vom Stadtamt und Befreiung von der amerikanischen Armee unterschrieben, auf der Ein oder zwei Tage vor der Befreiung hat die SS-Lager- zu erkennen war, dass der Häftling dieser oder jener leitung beim Appell bekannt gegeben, dass die Häft- Nummer dort oder dort befreit wurde. Ich habe dort linge in großer Gefahr sind und dass sie befürchten, den Namen Radvanský aufgeschrieben bekommen dass wir ums Leben kommen. Auf Grund dessen, soll- und als ich dann zu Hause war, habe ich angesucht ten wir bei Alarm alle in die Stollen gehen, damit wir um einen offiziellen Namenwechsel. Ich wollte mit dem nicht von den Bomben getroffen werden würden. In Deutschen nichts mehr zu tun haben, auch keinen Ebensee waren mehrere spanische Häftlinge, die seit deutsch klingenden Namen mehr haben. Es wurde ge- dem Spanienkrieg im KZ waren. Sie haben gesagt: nehmigt. (Radvansky hieß ursprünglich Tüberger) „Nein, die Stollen sind miniert. Sie werden zusammen Wir wurden um den 25. Mai herum mit den Autos von mit den Häftlingen in die Luft gesprengt.“ Dies war wie Linz nach Budweis überführt. Und mit dem ersten ein kleiner Aufstand. Kurze Zeit später flüchtete die SS Schnellzug kamen wir dann nach Prag. So wurde ich und uns bewachten nun ältere Menschen, 50, 60 Jahre ein freier Mensch. Ich war 70 Monate in 6 Konzentrati- alt, vielleicht , welche sich nicht um das onslagern. Lager kümmerten. Sie standen bloß pro forma an den Türmen. Das Lager war doch verlaust, es gab Epide- (Interview: Ludewig Ebba und Joachim Rasch/2005 mien, sogar Typhus gab es, und der Lagerälteste hat Diese Interviews dienten als Basis für die Publikation die Führung mit den Häftlingen vom Häftlingskranken- „Trotzdem habe ich überlebt“, 2006 im Verlag ddp bau übernommen. Der Lagerälteste hat eine Quaran- goldenbogen erschienen) täne für das ganze Lager angeordnet, weil es so viele Typhusfälle gab. Und so mussten alle im Lager bleiben.

Am 6. Mai wurden wir befreit. Es kam ein amerikani- scher Panzerwagen, brach das Lagertor auf und wir waren frei. Wir durften das Lager nicht allein verlassen. Dann hat die amerikanische Armee organisiert, dass die Men-

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Nachruf auf Artur Radvanský

24.11.1921 – 1.11.2009

Im Mai 2003 nahm Artur Radvanský zum ersten Mal Sachsenhausen. Dort kam er in das berüchtigte an der Internationalen Gedenkfeier in Ebensee teil. Aus „Schuhläuferkommando“. Zahlreiche Häftlinge erhiel- dieser Begegnung entstand über die Jahre mit ihm und ten neue Schuhe mit unterschiedlichen Sohlen und seiner Begleiterin Michaela Vidláková eine Freund- Oberleder und wurden gezwungen, am Appellplatz schaft. Nahezu jährlich waren beide als Zeitzeugen bei acht Stunden täglich im Kreis zu gehen, auf unter- uns und bei Dr. Hans Rauscher (Berufsschule Attnang) schiedlichen Belägen, etwa Sand, Kies, Asphalt, Beton, zu Gast. Trotz seines hohen Alters offensichtlich um für die Wehrmacht und zusehends angegriffener Ge- die Haltbarkeit der Schuhe zu testen. sundheit war Artur jahrelang in deut- Ältere Häftlinge, die nicht mehr schen und österreichischen Schulen gehen bzw. laufen konnten wurden unterwegs, um über seine Erfahrun- von der SS geprügelt. gen in den nationalsozialistischen Am 25. Oktober 1942 erreichte Rad- Konzentrationslagern zu erzählen. vanský mit einem Transport jüdischer 2006 traf sich eine Gruppe des Häftlinge das Stammlager Ebenseer Städtepartnerschaftsver- Auschwitz I. Bei den Aufnahmefor- eins mit Herrn Radvansky zu einem malitäten gab er an, er sei Student Zeitzeugengespräch in Prag. Artur der Medizin, eine glatte Lüge, die verstarb am 1. November im Alter ihm aber das Leben rettete. Radvan- von 88 Jahren. In unserer Erinne- ský kam als Helfer in das „SS-Revier“ rung lebt er weiter. und fand, für jüdische Häftlinge eine Ausnahme, bessere Lebensbedin- Artur Radvanský (ursprünglich Tü- gungen vor. In Zuge seiner Arbeit berger) wurde in der Kleinstadt Rad- kam er mit allen SS-Ärzten von vanice in der Nähe von Ostrava Auschwitz und Birkenau in Berüh- geboren. Er hatte noch zwei jüngere rung und gewann Einblick in die Tö- Artur und Michaela bei einem Zeitzeu- taubstumme Zwillingsbrüder, die im tungsindustrie des Lagers. gengespräch in Bad Ischl 2004 Zuge der „NS-Euthanasie“ ermordet Fotos: ZME Nach der Evakuierung von Ausch- wurden. Von 28 Familienmitgliedern witz, mehrtägigem „Todesmarsch“ überlebten nur Artur und ein Onkel, über 50 km an die tschechische der bereits 1927 nach Palästina emi- Grenze und anschließendem Bahn- griert war, die Shoah. transport kam Artur Radvanský Ende Artur Radvanský wurde im August Jänner 1945 im KZ-Mauthausen und 1939 wegen Fluchthilfe für deutsche wenige Tage später im Außenlager Emigranten verhaftet. Weil er noch Ebensee an. In Ebensee wurde er am nicht 18 Jahre alt war, wurde er zu- 6. Mai 1945 befreit. Nach seiner sammen mit seinem Vater Markus Rückkehr nach Prag erfuhr er von der GESTAPO überstellt. Im Oktober der Ermordung der Mutter und 1939 wurden beide in das KZ Bu- Großeltern in Maly Trostinec bei chenwald deportiert. Im sogenann- Minsk und jener der Brüder. ten „Kleinen Lager“ (Sonderlager) starb Radvanskýs Radvanský maturierte, beendete sein Chemiestudium Vater nach einem mehrtägigen, von der Lagerleitung im Jahr 1951 und erhielt eine Anstellung als Chemiker angeordneten Nahrungsentzug. an der Akademie der Wissenschaften. Schon 1946 Im März 1942 wurde Artur Radvanský nach Ravens- hatte er Elisabeth Kürti, eine Überlebende von Ausch- brück deportiert, im Spätsommer 1942 in das KZ

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witz geheiratet. Der Ehe entstammten ein Sohn und ausgeschlossen hatte und begann auch vor SchülerIn- eine Tochter. 1978, nach seinem Beitritt zur jüdischen nen aus seinem Leben zu erzählen. Gemeinde in Prag, wurde er Sekretär des Rates der Jü- dischen Gemeinden in Böhmen und Mähren. Als Zeu- Artur Radvanskýs Erinnerungen wurden in der 2006 er- ge im Frankfurter Auschwitzprozess und bedingt durch schienen Autobiographie „Trotzdem habe ich überlebt“ seinen Kontakt zur deutschen Organisation „Aktion publiziert. Sühnezeichen Friedensdienste“ reiste Radvanský erst- mals wieder nach Deutschland, obwohl er das früher

Projekt „Schulchroniken der Salzkammergut- gemeinden aus der NS-Zeit“

von Michael Kurz

Originale Es besteht die Absicht, diese authentischen Zeitdoku- Schulchroni- mente im Rahmen eines Forschungsprojektes historisch ken entdeckt zu analysieren und gegebenenfalls zu publizieren. Ein Die Originale der Vergleich der ursprünglichen Fassung mit der „neuen“ Schulchroniken ist nicht nur lokalhistorisch sondern auch erinnerungs- der Region Salz- politisch relevant. kammergut von 1938 bis 1945 Fragestellungen sind: Welche Inhalte wurden bewusst wurden durch verändert, ausgelassen, uminterpretiert, neu hinzuge- einen Glücksfall fügt? Mit welcher Absicht und welchem Ziel erfolgten im Oberösterrei- die Neufassungen? Wer waren die Auftraggeber und chischen Landes- welche Vorgaben für die „Entnazifizierung“ der Chroni- archiv ken wurden formuliert? aufgefunden. Die Chroniken sind auch als regionalgeschichtliche Nach 1945 ließ Quelle von Bedeutung, unter anderem deswegen, weil der zuständige mehrere Chroniken bisher unbekanntes Bildmaterial Bezirksschulrat die enthalten. Je nach finanzieller Maßgabe und Wunsch Schulchroniken der Schulleitungen ist es denkbar, die Chroniken zu di- des Bezirkes Gmunden (und des damals zum Gau gitalisieren und in lesbarer Form den Schulen rückzuer- Oberdonau gehörenden Ausseerlandes) einziehen und statten. beauftragte die Schulleitungen mit der „Entnazifizie- In einem weiteren Schritt können die Chroniken exem- rung“, also der Neuabfassung der Jahre 1938 bis plarisch in den Geschichteunterricht integriert werden. 1945. Bisher wurde angenommen, dass diese Quellen Die Beschäftigung von SchülerInnen mit der Genese vernichtet worden seien. Bei einer zufälligen Recherche der eigenen Schule insbesondere in den Jahren 1938- wurden nun diese ursprünglichen Chroniken im Ge- 1945 vermag den Geschichteunterricht exemplarisch samtumfang von rund 4000 Seiten im Bestand der Be- zu konkretisieren. zirkshauptmannschaft Gmunden entdeckt. Es handelt Das Projekt wird in den nächsten Wochen als For- sich um Chronikbestände aus allen 20 Gemeinden des schungsantrag formuliert und zur Finanzierung einge- Bezirkes Gmunden und fünf Orten des Ausseerlandes, reicht werden. also insgesamt 52 Schulchroniken, davon 44 aus OÖ Dr. Michael Kurz und acht aus der Steiermark. Historiker und Geschäftsführer BASIS Bad Goisern

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EU-Jugendprojekt gegen Indifferenz

Silvia Panzl

„Against Indifference - Why young people act!“ Unter gänge in Interaktionen mit den Anderen zu finden, diesem engagierten Motto organisierte das Jugendzen- neue Sichtweisen und Argumentationen kennen zu ler- trum YOUZ Bad Ischl von 23. September bis 3. Okto- nen und aber auch neue Sicherheit zu gewinnen. Mi- ber 2009 im Rahmen des EU-Programms „Jugend in gration, Asyl, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus sind Aktion“ ein internationales Jugendaustauschprojekt. Themen, die alle Länder der europäischen Union be- Insgesamt nahmen ca. 30 Jugendliche aus Italien treffen. Wichtig war, dass den Jugendlichen vermittelt (Triest), Griechenland (Thes- wurde, mit der Problematik nicht saloniki), Polen (Bydgoszcz) alleine zu sein, sondern dass sie und Österreich (Bad Ischl, als europäische BürgerInnen auf Ebensee) teil, um sich 10 diese Entwicklungen Einfluss Tage mit den Kernthemen nehmen können. Ein gemeinsa- Rassismus/ Ausländerfeind- mes internationales Projekt lichkeit/ Migration/ Men- konnte sie darin nur bestärken. schenrechte/ Asyl/ Gerade in einer Zeit, wo sich die Zivilcourage/ Engagement Wirtschaftskrise langsam auf die auseinanderzusetzen. Menschen auszuwirken beginnt, Anstoß für dieses Projekt ist es notwendig, dass die Ge- waren nicht nur die Vor- sellschaft gegen Pauschalisie- kommnisse rund um die Ge- rungen und Verhetzungen aus denkfeier des ehemaligen den verschiedensten Richtungen Konzentrationslagers Eben- auftritt und einen fairen Um- see, sondern auch viele Ge- gang mit allen Menschen unter- spräche mit Jugendlichen, schiedlichster Herkunft pflegt. Es die sich zum einen entsetzt war dies ein Projekt, das natür- über diese Ereignisse zeigten lich in erster Linie die Jugend und zum anderen auch auf ansprach, allerdings die Erwach- die steigende Tendenz ihrer senen ebenso in ihre Pflicht neh- MitschülerInnen, rechte Par- men sollte. teien inhaltlich attraktiv zu Teil des sehr dichten Programms finden und diese auch zu war eine Führung durch die Ge- wählen, reagieren wollten. denkstätte Ebensee und der Be- Wie die Gespräche zeigten, Workshop Grafik: such des KZ-Friedhofs, die bei gibt es aber auch Jugendli- Zivilcourage auf die Agenda setzen den Jugendlichen viele Fragen che, denen es ein Bedürfnis auslösten, zumal es auch Häft- ist, sich verstärkt dieser Themen anzunehmen und linge aller am Projekt beteiligter Nationen gegeben gegen Rassismus, Ausländerfeindlichkeit und Diskrimi- hatte. Andreas Schmoller leitete neben der Führung nierungen von Minderheiten aufzutreten, KollegInnen durch die Gedenkstätte auch die theoretischen Work- und FreundInnen ebenfalls dafür zu interessieren und shops zu den Themen Rassismus und Zivilcourage, wo aktiv zu werden. Ziel des Projektes war, die beteiligten die Jugendlichen nicht nur genaue Begriffsdefinitionen Jugendlichen für die Thematik zu sensibilisieren und sie lernten, sondern auch im internationalen Vergleich in ihrem Bestreben sich für Toleranz, Menschenrechte diese definierten und analysierten. und Zivilcourage einzusetzen zu bestärken. Sabine Grabner (Amnesty-Gruppe Bad Ischl) leitete Die Jugendlichen hatten in diesem Projekt die Chance, den Workshop zum Thema „Asyl“. Sie ist selbst im aus ihrem gewohnten Alltag auszubrechen, neue Zu- Asylbereich tätig und konnte so in eindrucksvollen

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Schilderungen den Alltag der Asylsuchenden, ihre Äng- ste und Probleme, sowie die teils traumatischen Erleb- REZENSION nisse ihrer Flucht näher bringen. Den Jugendlichen wurde ein Informationsdefizit bewusst, das sie durch Stellen vieler Fragen zu kompensieren versuchten. Birgit Kirchmayr Die Konzeption dieser Art von europäischen Jugend- projekten basiert wesentlich auf einer Verschränkung Kultur- und Frei- von inhaltlichen Aktzenten mit künstlerisch-kreativen zeiträume in Linz Aktivitäten: Ulrike Fleschhut und Ferdinand Götz be- im 20. Jahrhun- treuten die Jugendlichen in den Workshops Illustration und Malerei. dert Postkarten und Poster zum Thema „Zivilcourage“ sowie Fahnen, auf denen die Menschenrechtsartikel zu Die Linzer Historikerin lesen waren, zeugen vom kreativen Potential der Ju- Birgit Kirchmayr bringt in gendlichen. Eindrucksvoll in Szene setzte Paloma Obi- ihrer Publikation eine Ge- spo in hervorragender Theaterarbeit mit den samtdarstellung der kul- Jugendlichen die Themen Zivilcourage und Engage- turellen Entwicklung von Linz seit 1900 bis herauf in die Gegenwart. Das Klischee eine Provinzstadt zu sein ist nicht nur hartnä- ckig und langlebig, sondern prägte auch den Diskurs über das Linzer Kulturleben des 20. Jahrhunderts. Die Autorin stellt die These auf, dass kulturpolitische Maß- nahmen der Stadt bis heute von diesem Diskurs stark geprägt und nicht selten als Versuch, dieser zweifellos negativ konnotierten Zuschreibung zu entkommen, konzipiert sind. Einzelne prägende „Kulturzeiten“ der Stadt Linz werden betrachtet, dabei wird deutlich, dass es der Stadt in den letzten Jahrzehnten mit der Formel „Von der Stahl- stadt zur Kulturstadt“ gelang, eine neue kulturelle Iden- tität zu entwickeln. Beleuchtet werden das kulturelle Theaterszene: Das Fehlen von Zivilcourage im öffentlichen Ver- Leben um 1900 mit dem (Provinz-) Bürgertum als Kul- kehrsmittel Foto: Youz Bad Ischl turträger und einer roten Arbeiterschaft als Träger einer neuen kulturellen Bewegung. Die nationalsozialisti- ment. In verschiedenen Szenen wurde ein Theaterstück schen Pläne für Linz werden genauso thematisiert, wie mit den internationalen Jugendlichen einstudiert, die in der kulturelle Weg, den die Stadt nach 1945 einge- treffender Weise das Auftreten von Xenophobie im All- schlagen hat. tag vor Augen führte, sowie zu Zivilcourage und Enga- Detailiert wird auch auf die Entwicklung der einzelnen gement aufrief. Das Interesse am Projekt und das Echo Kultur-und Freizeiträume (beispielsweise Theater, Mu- bei den teilnehmenden Jugendlichen motiviert zur seum, Kino, Literatur, Sport, Bildende Kunst, etc.) ein- Nachahmung und inhaltlichen Weiterentwicklung der- gegangen und ein umfassendes Bild der kulturellen artiger Europäischer Begegnungen. Bereiche geboten.

Archiv der Stadt Linz 2008, 253 Seiten, ISBN 978-3- 900388-57-7

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Ausstellungskatalog Zeitgeschichte Museum KZ Ebensee. Ein Außenlager des KZ Mauthausen Republik - Ständestaat - Nationalsozialismus - Widerstand Autor(en): Florian Freund - Verfolgung Autor(en): Ulrike Felber, Wolfgang Verlag: Dokumentationsarchiv des österreichischen Wider- Quatember 2005 erschienen, 234 Seiten, Euro 19.50 standes, 1990, 48 Seiten, Euro 5.00

Konzentrationslager Ebensee / Ebensee Concentration Die Stärkeren Camp Ein Bericht aus Auschwitz und anderen KZ Lagern Autor(en): Ulrike Felber, Bernhard Denkinger, Wolfgang Autor: Herman Langbein Quatember Ephelant Verlag, Wien 2008 2000 in 2. Auflage erschienen, 93 Seiten, Euro 7.00 320 Seiten, Euro 22.00

Stimmen aus dem KZ Ebensee Auf den Spuren der Partisanen Autor(en): Andreas Schmoller (Hg.) Judith Moser-Kroiss Zeitgeschichtliche Wanderungen im Salzkammergut (Hg.) Autor(en): Christian Topf 2005 erschienen, 237 Seiten, Euro 15.00 Verlag: Franz Steinmassl (3. Auflage), 2006 195 Seiten, Euro 17.90 DVD Wege nach Ebensee. Die Geschichte des Ladislaus Zuk. unSICHTBAR: widerständiges im salzkammergut Ein Film von Andreas Schmoller und Philipp Bruckschlögl Autor(en): Klaus Kienesberger, Michael Kienesberger, Produktion: ZM Ebensee, Treehouse AudioVisuelleMedien Wendelin Pressl, Franz Riedl 2009, Laufzeit: 63 Minuten, Euro 15.00 Verlag: Czernin, 2008 191 Seiten, Euro 20.00 retrospektive. 20 Jahre Geschichtsarbeit Der Verein Zeitgeschichte Museum und KZ-Gedenkstätte Widerstand im Salzkammergut - Ausseerland Ebensee feiert sein 20-jähriges Bestehen Autor(en): Helmut Kalss Verlag: Zeitgeschichte Museum Ebensee, 2008 Eigenverlag, 2004, 108 Seiten, Euro 18.00 62 Seiten, Euro 10.00 Dem Galgen, dem Fallbeil, der Kugel entkommen Das Salzkammergut. Neun Lebensbilder aus dem Widerstand Seine politische Kultur in der Ersten und Zweiten Republik Edition Geschichte der Heimat Autor(en): Ulrike Felber, Susanne Rolinek, Wolfgang Qua- Autor(en): Peter Kammerstätter tember Verlag: KZ-Verband Oberösterreich, 2006 Verlag: Sandkorn Science, 1999, 203 Seiten, Euro 21.65 192 Seiten, Euro 19.50

Ta g ebuch aus dem KZ Ebensee Auschwitz. As long as I remain alive Autor(en): Drahomir Barta, Florian Freund (Hg.), Verena The Story of Max R. Garcia, reprinted 2008 Pawlowsky (Hg.) 290 Seiten, Euro 25.00 Verlag: Turia & Kant, 2005 181 Seiten, Euro 18.00 My childhood in the Holocaust Autorin: Judith Jaegermann, Jerusalem 2004 Des Teufels Werkstatt 65 Seiten, Euro 10.00 Die größte Fälscheraktion der Geschichte. Vorlage zu dem Film 'Die Fälscher' Autor(en): Adolf Burger Bestellungen telefonisch unter 06133 5601,per Email: Verlag: München Sandmann, 2005 [email protected] oder online: www.memorial-eben- 280 Seiten, Euro 23.60 see.at/shop/

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