0 2 0 / 2 1

1 Januar/Fe bruar 2020 74. Jahrgang / 2020 undschau

ISSN 0030-9273 ädagogische R

P PETER LANG · Internationaler Verlag der Wissenschaften PR012020 www.peterlang.com PÄDAGOGISCHE RUNDSCHAU Begründet von Joseph Antz und Bernhard Bergmann Herausgegeben von: Volker Bank · Renate Hinz · Eckard König · Rudolf Lassahn · Andreas Nießeler Birgit Ofenbach · Sabine Seichter · Takahiro Tashiro

Schriftleiter: Prof. Dr. Rudolf Lassahn und Prof. apl. Dr. Birgit Ofenbach Universität Koblenz-Landau, Fortstr. 7, 76829 Landau [email protected], http://www.uni-koblenz-landau.de/de/paed-rundschau/

Die Pädagogische Rundschau ist eine der führenden pädagogischen Fachzeitschriften in deutscher Sprache und mit internationaler Verbreitung. Sie ist ein unabhängiges Wissenschaftsorgan, an keinen Verband, keine Stiftung oder Institution gebunden, sie wird von keiner Seite subventioniert und ihr obliegen folglich keine Interessenvertretungen. Die Pädagogische Rundschau repräsentiert mit Forschungsbeiträgen, Berichten und Diskussionen disziplin- und methodenübergreifend den aktuellen Stand der Pädagogik und fördert Wissen- schaftstransfer und Wissensaustausch. Sie informiert über pädagogische Publizistik und wissenschaftliche Neuerscheinungen und bietet Erziehungswissenschaftlern und dem wissenschaftlichen Nachwuchs Möglich- keiten zur Publikation von Forschungsergebnissen. Die Inhaltsverzeichnisse der jeweiligen Hefte sind online verfügbar. Einzelne Aufsätze sind über den Dokumentenserver peDOCS zugänglich. Die Zeitschrift wird regelmäßig im ‚Sozialwissenschaftlichen Literaturinformationssystem SOLIS‘ des Informationszentrums So- zialwissenschaften ausgewertet. In der Pädagogischen Rundschau werden nur Originalbeiträge veröffentlicht, die nicht gleichzeitig an anderer Stelle zur Publikation angeboten sind. Manuskripte sind in druckfertiger Form per E-Mail an obige Adresse einzusenden. Der technische Standard ist der Homepage unter ‚Autorenhinweise‘ zu entnehmen. Autoren tra- gen für ihr Manuskript die Verantwortung. Eine Verpflichtung zur Aufnahme von Entgegnungen besteht nicht. Buchexemplare sind an die Redaktion zu schicken, die Auswahl der zu rezensierenden Werke behält sich die Redaktion vor. Eine Rücksendung von Rezensionsexemplaren erfolgt nicht. Werbeanzeigen und Beilagen durch den Verlag. Die Pädagogische Rundschau erscheint zweimonatlich. Bezugspreise: Einzelheft 19,95 € (Print), Jahresabon- nement 94,95 € (Print), ermäßigtes Abonnement für Studierende 49,- € (Print), jeweils zuzüglich Porto. Abbe- stellungen bis 30. Juni oder 31. Dezember zum Ende des nachfolgenden Halbjahres. Alle Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. à http://creativecommons.org/licenses/by/4.0

Anschriften der Herausgeber Prof. Dr. Volker Bank, Institut für Pädagogik, Reichenhainer Str.41, 09126 Chemnitz Prof. Dr. Renate Hinz, Institut für Allgemeine Didaktik und Schulpädagogik, Emil-Figge-Str.50, 44227 Dortmund Prof. Dr. Eckard König, Universität Paderborn, Neuhäuser Str.108, 33102 Paderborn Prof. Dr. Rudolf Lassahn, Fortstr.7, 76829 Landau Prof. Dr. Andreas Nießeler, Institut für Pädagogik, Wittelsbacherplatz1, 97074 Würzburg Prof. apl. Dr. Birgit Ofenbach, Institut für Bildung im Kindes- und Jugendalter, August-Croissant-Str.5, 76829 Landau Prof. Dr. Sabine Seichter, Fachbereich Erziehungswissenschaft der Paris-Lodron-Universität Salzburg, Erzabt-Klotz-Straße 1, 5020 Salzburg Prof. Dr. Takahiro Tashiro, Mito-City, Kawawada 1-2462-6, 311-4152 Japan

ISSN 0030-9273 – ISSN-online 2365-8142 Peter Lang GmbH Internationaler Verlag der Wissenschaften Fehlerstraße 8, 12161 Berlin http://www.peterlang.com Heft 1/ Januar – Februar / 74.Jahrgang 2020/ Inhalt PÄDAGOGISCHE RUNDSCHAU

nhalt Anschriften der Mitarbeiter I Prof. Dr. Hans-Ulrich Grunder Beiträge und Berichte Thürlacker 41 CH-3033 Wohlen bei Anke Lindemann / Jörg-W. Link / Prof. Dr. Peter Kauder Annedore Prengel / Hanno Schmidt: TU Dortmund Inklusive Tendenzen in der langen FK für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Soziologie Geschichte grundlegender Bildung © 2019 Emil Figge-Str.51 – Historische Spurensuche zum 44221 Dortmund 100-jährigen Bestehen der PD Dr. Anke Lindemann Grundschule 3 Jägerweg 8 35091 Cölbe Hans-Ulrich Grunder: Dr. Jörg-W.Link Die Beziehungen der deutsch- Universität Potsdam sprachigen Pädagogik und Erziehung­ Department Erziehungswissenschaft swissenschaft zum Institut Jean- Karl-Liebknecht Str.24-25 14476 Potsdam Jacques Rousseau in Genf (1912-1932) 17 Prof. Dr. Andreas Pehnke Universität Greifswald Institut für Erziehungswissenschaft Andreas Pehnke: Ernst-Lohmeyer-Platz Willy Steiger (1894-1976): Vom 317487 Greifswald kreativen Versuchsschullehrer zum Prof. Dr. Annedore Prengel Mit-Initiator einer öffentlichen Im Bogen 15c Diskussion über die Aufwertung 14471 Potsdam von Reformpädagogik in der Dipl.Päd. Ernst Daniel Röhrig „Tauwetterperiode“ 1956 39 Universität TrierFachbereich I – Bildungswissenschaften Ernst Daniel Röhrig: Universitätsring 15 54296 Trier Schulentwicklungsberatung, Neue Steuerung und Evidenz: Prof. Dr. Hanno Schmitt Im Bogen 15c Angebot oder Zumutung? Zur 14471 Potsdam Vermittelbarkeit gesellschaftlicher Prof. Dr. Sabine Seichter Reproduktionsansprüche im Fachbereich Erziehungswissenschaft der Pädagogischen System 63 Paris-Lodron-Universität Salzburg Erzabt-Klotz-Str. 1 A- 5020 Salzburg

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 1

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Sabine Seichter: Thomas Bernhard als Zeuge nationalsozialistischer Kindheit. Oder: „Die Ursache“ als Gedenkstättenpädagogik 79

Buchbesprechungen

Peter Kauder: Böhm, Winfried / Seichter, Sabine: Wörterbuch der Pädagogik, 17.Auflage 89

Hans-Ulrich Grunder: Skiera, Ehrenhard: Erziehung und Kontrolle. Über das totalitäre Erbe in der Pädagogik im ‚Jahrhundert des Kindes‘ 95

Selbstanzeige

Beatrice Sasha Kobow: Der Sprung in die Sprache oder Denken als-ob 99

Autorenspiegel 105

Rundschau 107

Neuerscheinungen 117

2 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 PR 2020, 74. Jahrgang, S. 3-16 © 2020 Anke Lindemann/Jörg-W. Link/Annedore Prengel/Hanno Schmitt - DOI https://doi.org/10.3726/PR012020.0001

Anke Lindemann / Jörg-W. Link / Annedore Prengel / Hanno Schmitt

Inklusive Tendenzen in der langen Geschichte grundlegender Bildung – Historische Spurensuche zum 100-jährigen Bestehen der Grundschule

1. Einleitung jedes Kind ungeachtet seiner Herkunft und Leistungsfähigkeit gemeinsam mit an- © 2020 Ansätze, grundlegende und gemeinsame deren leben und lernen kann. Damit wird Bildung für möglichst alle Angehörigen ein weiter Inklusionsbegriff umrissen, der nachwachsender Generationen zu ermög- heterogene Gruppenzugehörigkeiten um- lichen, kennzeichnen vielfältige Auseinan- fasst. Wenn in diesem Beitrag von „inklu- dersetzungen in modernen Gesellschaften siven Tendenzen“ die Rede ist, so werden seit ihren Anfängen in feudalistischen Kon- damit partielle, unvollständige Ansätze der texten bis hin zu aktuellen Bemühungen Entwicklung gemeinsamen Lernens in der um Inklusion. In Deutschland stellt dazu Bildung bezeichnet. die Gründung der Grundschule zu Beginn Unsere bildungshistorische Spuren- der Weimarer Republik einen einschnei- suche berücksichtigt ausgewählte, im Hin- denden historischen Meilenstein dar. blick auf die Fragestellung einschlägige Vor diesem Hintergrund sucht der Forschungsbefunde, die sich vor allem auf Beitrag nach Antworten auf die Frage: die verwobene ideen- und institutionenge- Werden in der langen Vorgeschichte schichtliche Ebene beziehen. Der Beitrag sowie in gegenwärtigen und zukünftigen blickt vor allem auf deutsche Entwicklungen Entwicklungen Tendenzen der Teilhabe und verweist stellenweise auf international an gemeinsamer grundlegender Bildung einflussreiche Auseinandersetzungen um für alle erkennbar? Orientierung bieten grundlegende Bildung. Er umfasst drei dabei Vorgaben der UNESCO, die grund- Teile. Zunächst wird die geschichtstheo- legende Bildung heute in der Bildungs- retisch begründete Perspektive, die wir stufe der primary education mit engen auf das Thema einnehmen, transparent Verbindungen zur lower secundary edu- gemacht (2). Anschließend werden streif- cation verorten.1 Zugleich folgen wir den lichtartig Aspekte der langen Geschichte Empfehlungen der KMK2, die Inklusion grundlegender Bildung untersucht (3). als Entwicklungsaufgabe formuliert: „Die Dabei werden universalistische Orientie- Grundschule als Schule für alle Kinder ge- rungen (3.1), soziokulturelle Ungleichhei- staltet Unterricht und Schulleben so, dass ten (3.2), Geschlechterdifferenzen (3.3)

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 3

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 und differente leistungsbezogene Dis/ konnte. Angesichts ihrer Kontingenzen, Abilities (3.4) berücksichtigt. Der Schluss- Brüche und Unabgeschlossenheiten teil (4) bündelt die Ergebnisse der histori- musste diese Entwicklung aber keines- schen Spurensuche. wegs zwangsläufig erfolgen und wird auch zukünftig mit Unvorhersehbarkeiten zu tun haben. 2. Chronoferente Zugänge zu Schon in der Entstehungszeit der grundlegender Bildung Grundschule argumentierten pädago- gische Zeitgenossen, ebenso wie die Neuere geschichtstheoretisch begründe- bildungshistorische Forschung6, damit, te Ansätze wagen es, weite Horizonte zu „daß auch die Grundschule etwas ge- eröffnen und langfristige Entwicklungen schichtlich Gewordenes [Herv. i. O.] ist zu erkunden4, ohne dabei – „postmodern und daß ihre Leitgedanken Jahrhunderte aufgeklärt“ – epochentypische, kulturell zurückliegen“7. Im vorliegenden Beitrag bedingte und ortsspezifische Differenzen werden ideen- und institutionengeschicht- zu negieren. Mit der Theorie der „Chrono- liche Tendenzen grundlegender Bildung ferenzen“5 wird ein Verfahren begründet, nachgezeichnet, die der Gründung der das thematische Sichtachsen zwischen Grundschule vorausgingen und sie an- heute Fragenden und ihren historischen gesichts stets gegebener historischer Gegenständen konzipiert, um Entwicklun- Unvorhersehbarkeiten und Kontingenzen gen im weiten Horizont großer Zeiträume schließlich erst möglich machten. Gesucht fokussiert zu erkunden. Vor dem Hinter- wird nach Ereignissen, deren individuelle grund dieser aktuellen historiografischen Protagonisten und kollektive Akteure sich Erkenntnisse plädieren wir für plurale gegen gedanklich-programmatische Aus- Forschungsperspektiven, die sowohl de- grenzungen von grundlegender Bildung tail- als auch horizontbezogene Zugänge und institutionelle Diskriminierungen wen- nutzen. Anhand der chronoferenten Fo- den – darin besteht ihr Bezug zu grund- kussierung unseres Beitrags nehmen wir legender inklusiver Bildung. – so weit wir wissen erstmals bezogen auf die Entwicklung grundlegender Bil- dung – mit punktuellen Tiefenstudien be- 3. Historische Streiflichter gründete Langzeitereignisse in den Blick. auf Kämpfe um Unsere Sichtachse wird konstituiert und grundlegende Bildung begrenzt durch die Frage nach umkämpf- ten Tendenzen grundlegender Bildung und Die historische Suche deckt auf, dass sich gemeinsamer Bildung; wir berücksichti- Anstrengungen gegen die Beeinträchti- gen dabei besonders Aspekte der öko- gung des Zugangs zu grundlegender und nomischen Lebenslage, des Geschlechts gemeinsamer Bildung als außerordent- und der Behinderung. lich vielseitig und langfristig erweisen. Sie In einem weiten Horizont, der vielseiti- leben hartnäckig zu verschiedensten Zei- ge punktuelle Einblicke in die Geschichte ten und an verschiedensten Orten auf und grundlegender Bildung zulässt, wird die gehen situativ auch unter. Die folgenden Einsicht begründet, dass die Entwick- Abschnitte belegen, dass die Gründung lung der Grundschule in einer auf einer der Grundschule auf einer hochkomplexen langandauernden, hochkomplexen und Vorgeschichte beruht8, zu der universelle nicht linearen Vorgeschichte des Ringens und gruppenbezogene Strömungen der um Bildungsbeteiligung möglich werden

4 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Stärkung des Zugangs zu grundlegender Comenius benennt gesellschaftlich rele- Bildung gehören. vante Lebenslagen seiner Zeitgenossen, um ihnen in universalistischer Perspektive 3.1 Allen Alles zu lehren – universalistisch einen egalitären Bildungsanspruch zuzu- orientierte Perspektiven sprechen. Diese universalistische Utopie, die zukunftsweisend ist, weil sie schon In weiter historischer Perspektive lässt explizit alle Menschen gemeinsam einbe- sich nachzeichnen, dass mit frühen neu- zieht, wird in der frühen Entstehungszeit zeitlichen Entwicklungen in vielen ge- der Anfänge des modernen Schulwesens sellschaftlichen Bereichen zunehmend gedacht. Angesichts der trennenden und schriftsprachliche, mathematische und ausgrenzenden Strukturen und entspre- sachbezogene Fähigkeiten an Bedeutung chenden Ideologien in der langen Ge- gewinnen. Die Geschichtsschreibung schichte grundlegender Bildung mutet das kennt lokal unterschiedliche Lernorte für bildungshistorische Erziehungsverständ- elementare Bildung, wie zum Beispiel die nis von Comenius sensationell an13. privat geführten Klipp- und Winkelschulen, Gut 100 Jahre später, im Zeitalter der Klosterschulen, Land- oder Dorfschulen, Aufklärung, begründet die philanthropi- in den Städten die deutschen Schulen, die sche Pädagogik den Bildungsanspruch unteren Klassen der Latein- und Bürger-­ aller Kinder erneut und kritisiert diskrimi- schulen und weitere spezielle Schulen nierende Bildungskonzeptionen radikal- wie die Industrie- oder Garnisonsschulen. universalistisch, obwohl sich in dieser Mit dem Übergang zur Neuzeit beginnen Position stellenweise auch noch Belege für Fürsten bereits in ihren Territorien die all- ständisch und geschlechtlich orientierte gemeine Unterrichtspflicht, vor allem zum Hierarchisierungen finden. Friedrich Eber- Zweck der Alphabetisierung, gesetzlich zu hard von Rochow (1734–1805) formulier- verordnen9. te in seinem 1772 erschienenen „Versuch Bereits in dieser Frühzeit der Entste­ eines Schulbuchs für Kinder der Landleute hung des Schulwesens wird das Pro- oder zum Gebrauch in Dorfschulen“: „Ich gramm einer grundlegenden Bildung für denke doch nicht, […] daß man den Ver- alle erdacht und formuliert. In einem der stand eines Bauernkindes und seine Seele Gründungsdokumente der Schulbildung, für Dinge einer andern Gattung hält als in der Pampaedia des in mehreren euro- den Verstand und die Seelen der Kinder päischen Regionen wirkenden Johan höherer Stände“14. Für diese universalis- Amos Comenius (1592–1670)10 heißt es: tische Haltung werden Gründe genannt: „Zunächst wünschen wir, dass in dieser „Menschen nicht tolerieren, weil sie ver- vollkommenen Weise nicht nur irgendein schieden sind an Hautfarbe, Kleidung, Sit- Mensch, wenige oder viele zum wahren ten und über ihre Art, sich das Verhältnis Menschentume geformt werden, sondern der Menschen mit Gott vorzustellen [...], alle Menschen, und zwar jeder einzelne, das ist mir ein unbegreifliches Rätsel“15. jung und alt, arm und reich, adelig und Institutionengeschichtlich bedeutsam nichtadelig, Männer und Frauen, kurz jeder, ist, dass 16 Jahre vor der Französischen der als Mensch geboren ist […]“11. Der zur Revolution im Dorf Reckahn (nahe der Böhmischen Brüder-Unität gehörende Co- Stadt Brandenburg/Havel) die erste phil- menius begründet diesen Wunsch religiös anthropische Musterschule für alle Mäd- mit dem Argument: „[…] wo Gott keinen chen und Jungen des Dorfes im Jahr 1773 Unterschied gemacht hat, da soll auch der durch Friedrich Eberhard und Christiane Mensch keine Schranken aufrichten“12. Louise von Rochow gegründet wurde16.

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 5

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Weitere Philanthropine folgten17. Philan- für Württemberg bereits 1649) allmählich thropische Experimentalschulen wurden zur Realität einer Schulpflicht. Besuchten ihrem universalistischen Anspruch in dem um 1800 z.B. in Preußen gerade einmal Maße gerecht, indem es ihnen gelang, be- die Hälfte der Kinder eine Elementarschu- reits konfessions-, stände-, geschlechter- le, so weist die preußische Schulstatistik und kulturenübergreifend zu arbeiten. für das Jahr 1846 eine Schulbesuchsquo- Fast 20 Jahre später wird im revolu- te von bereits 78 % aus und für das Jahr tionären Frankreich18 von dem Aufklärer 1864 eine Quote von 85 %. Vergleichend Marie Jean Antoine Nicolas Marquis de dazu lag der Anteil der Kinder, die eine Condorcet (1743–1794) nachdrücklich Elementarschule besuchten, in Frankreich ein universalistischer Rechtsanspruch auf im Jahr 1850 bei 47 % und im Jahr 1867 Bildung begründet19. Condorcet war einer bei rund 70 %24. Gleichwohl kann man ab der Theoretiker der Französischen Re- 1870 von einer weitgehenden Durchset- volution und selbst an der Erklärung der zung der Schulpflicht ausgehen und damit Menschen- und Bürgerrechte (1789) be- auch von einer grundsätzlichen und recht- teiligt. Er legte der verfassunggebenden lich kodifizierten Voraussetzung für eine Nationalversammlung im Jahr 1792 einen allgemeine grundlegende Bildung25. „Bericht und Entwurf einer Verordnung Aber das flächendeckend sich entwi- über die allgemeine Organisation des öf- ckelnde Schulwesen war – trotz der frühen fentlichen Unterrichtswesens“ vor20. Darin zunächst religiös und später menschen- forderte er vor dem Hintergrund der Men- rechtlich begründeten egalitären Entwürfe schen- und Bürgerrechte, die Erziehung – hierarchisch-ständisch strukturiert. Die sei „einerseits so gleich und so allgemein preußische Entwicklung hat Kuhlemann26 zu verbreiten, andererseits so vollständig in einer überzeugenden Gesamtdar- zu gestalten, wie die Umstände es erlau- stellung für die Zeit zwischen 1794 und ben; daß allen in gleicher Weise der Unter- 1872 mit den Begriffen „Modernisierung richt gegeben werden müsse, den auf alle und Disziplinierung“ charakterisiert. Auch auszudehnen möglich ist, aber keinem Teil für die quantitative und qualitative empi- der Bürger der höhere Unterricht verwei- risch-statistische Expansion der Bildungs- gert werden dürfe“21. Der Unterricht, der landschaft im 19. Jahrhundert liegen mit einer Primarschule für alle Kinder be- umfangreiche Forschungsbefunde vor27. ginnen soll, müsse „also universell sein“ Bestimmte Minderheiten, vor allem behin- und müsse sich zudem „auf alle Bürger er- derte Kinder, blieben jedoch ganz ausge- strecken“22. Zwar erhielt Condorcets Plan schlossen oder besuchten segregierende z.T. Gesetzeskraft, doch im nachrevolutio- Einrichtungen (vgl. 3.4). Erbitterte Debat- nären Frankreich blieben diese Ziele noch ten um schulische Gemeinsamkeiten und weitgehend Vision23. Trennungen hielten daher an. Bekannte Zum Verständnis der Vorgeschich- Protagonisten waren Friedrich Adolph te der Grundschule im 19. Jahrhundert Diesterweg (1790–1866) und Karl Fried- sind die folgenden Befunde zentral. Im rich Wilhelm Wander (1803–1879). Laufe dieses Jahrhunderts etablierte sich Als wichtiger Meilenstein in diesen in den meisten europäischen Staaten ein Auseinandersetzungen gilt die Gründung öffentliches Schulsystem mit Allgemei- des Allgemeinen Deutschen Lehrerver- ner Volksbildung. Auch in den deutschen eins 1848. Die Gründungsversamm- Territorialstaaten wurde die bereits früher lung forderte u.a. eine „einheitlich vom rechtlich dekretierte Unterrichtspflicht (für Kindergarten bis zur Hochschule auf- Preußen 1717 und 1763, für Bayern 1774, wärts gegliederte, auf gemeinsamer

6 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 menschlich-volkstümlicher Grundlage be- Zusammenfassend lässt sich sagen, ruhende deutsche Volksschule […] als eine dass inklusive Tendenzen einer gemein- mit den übrigen Staatsanstalten gleich- samen grundlegenden Bildung für die berechtigte und gleichverpflichtete“ (§1) ersten vier Schuljahre mit der Gründung Institution28. Diese Forderungen wurden der Grundschule maßgeblich realisiert vom 1871 gegründeten Deutschen Leh- worden sind, aber dass der Anspruch der rerverein weithin übernommen und vor neuen Schulform, Bildung für alle anzu- allem angesichts der Sozialistengeset- bieten in mehreren Hinsichten nicht erfüllt ze im Deutschen Kaiserreich vehement wurde. Darum geht es in den folgenden – und weit bis ins 20. Jahrhundert hinein Abschnitten. – vertreten. Nach dem Ersten Weltkrieg bestimmte 3.2 Bildung von Kindern ungleicher Her- die Verfassung vom 11. August 1919 der kunft – soziokulturelle Perspektiven ersten deutschen Demokratie, der Weima- rer Republik, in Artikel 146, Abs. 1: „Das Mit der Einführung der Grundschule 1919 öffentliche Schulwesen ist organisch aus- kommt es zu einem entscheidenden Schritt zugestalten. Auf einer für alle gemeinsa- zur Überwindung der überkommenen stän- men Grundschule baut sich das mittlere dischen Trennung zwischen niederem und und höhere Schulwesen auf“. Mit dieser höherem Schulwesen. Damit gilt der lange Einführung der vierjährigen Grundschu- Weg zu gemeinsamer grundlegender Bil- le (Grundschulgesetz v. 28. 4. 1920)29 dung für die ersten vier Schuljahre verfas- wurde erstmals in der deutschen Schulge- sungsrechtlich in Deutschland zwar – vom schichte die bis dahin geltende Trennung segregierenden Sonderschulwesen abge- von höherer und niederer Bildung für die sehen – weitgehend als abgeschlossen. Schuljahre 1–4 durchbrochen – trotz eini- Zugleich wirft unsere bildungshistorische ger Einschränkungen (s.u.). Spurensuche Schlaglichter auf fortdauern- Die gesetzliche Einführung der Grund- de soziale Ungleichheit. schule muss im historischen Rückblick als Der schulpolitisch und -praktisch er- „Glücksfall“30 bewertet werden. Hans-Ul- fahrene Pädagoge und Schulrat Karl rich Wehler interpretiert die Gründung der Eckardt analysierte: „Die Wünsche nach Grundschule sogar als einen „beispiello- einer gemeinsamen Grundschule wuch- se[n] Akt staatlicher Egalisierung“31. Ganz sen zugleich auch in starkem Maße aus ähnlich fällt das Urteil von Bernd Zymek dem Kampf der Abhängigen und Entrech- aus: Die Einführung der Grundschule ist teten gegen die Vorrechte der anderen „der entscheidende Reformschritt, der auf heraus“33. Er verwies auf den Verfassungs- schulpolitischem Gebiet dem politischen auftrag, der mit der Grundschule verknüpft Systemwechsel entspricht. […] Man könn- sei: „So soll die Grundschule die Forde- te sagen: Was auf politischem Gebiet das rungen der Reichsverfassung erfüllen hel- allgemeine und gleiche Wahlrecht, das fen: Für den Übergang eines Kindes aus ist auf dem Gebiet der Schule zu diesem der Grundschule in eine weiterführende Zeitpunkt die allgemeine obligatorische Schule sind seine Anlagen und Neigungen, Grundschule. […] Wenigstens für vier nicht die wirtschaftliche und gesellschaftli- Jahre gilt die Forderung der Einheitsschul- che Stellung oder das Religionsbekenntnis programmatiker: ‚Ein Volk, eine Schule‘. maßgebend“34. Die Grundschulreform begründet damit zu Trotz der verfassungsrechtlichen Ab- einem wesentlichen Teil die demokratische sicherung wurde dauerhaft Ablehnung Legitimität des neuen Systems“32. laut. So empfanden Eltern, die es bis zur

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 7

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Weimarer Republik gewohnt waren, die und 1942 wurde der Unterricht jüdischer Elementarausbildung ihrer Kinder vor Schülerinnen und Schüler gänzlich verbo- Eintritt in das Gymnasium Hauslehrern, ten (siehe auch 3.4). Privatschulen oder den höheren Schulen Mit der Gründung der beiden deut- angegliederten Vorschulen zu überlassen, schen Staaten nach dem Zweiten die Grundschulpflicht als Zumutung und Weltkrieg entwickelten sich zwei unter- wehrten sich erbittert gegen die Erfüllung schiedliche Bildungssysteme. In der DDR dieser Vorschrift.35 wurde ein Einheitsschulsystem aufgebaut, Zugleich entwickelten sich unter den das sich stark am sowjetischen Schulsys- zahlreichen reformpädagogischen Schu- tem und an Einheitsschulplänen aus der len der Weimarer Republik36 besonders in Zeit der Weimarer Republik orientierte Berliner, Hamburger und Bremer Lebens- und damit auch sozio-ökonomische Be- gemeinschaftsschulen pädagogische, di- nachteiligungen aufzufangen versuchte40. daktische und methodische Ansätze, um die In der Bundesrepublik wurde in der Se- sozialen Verhältnisse ihrer meist aus prole- kundarstufe das gegliederte Schulsystem tarischen Kreisen stammenden Schülerin- etabliert, das regional sogar nach Konfes- nen und Schüler schon im Grundschulalter sionen segregierte. Wolfgang Klafki hat zu verbessern. Die Bremer Lebensge- die damit einhergehenden bildungshistori- meinschaftsschulen untersuchten z.B. in schen Hintergründe und Zusammenhänge größeren Schulprojekten die sozialen Le- am Beispiel von Bayern analysiert und als bensverhältnisse im Stadtteil, machten sich „restaurative Schulpolitik“ charakterisiert41. dabei auch Gedanken über die Zukunft der Im Zuge der Bildungsreformdebatten der Arbeitsverhältnisse und berichteten über 1960er Jahre wurde schließlich die katholi- ihre Befunde und Analysen öffentlich auch sche Arbeitertochter vom Lande als sozio- in der Schulzeitung37. Insgesamt ist festzu- logische Interpretationsfigur ermittelt, die halten, dass die Positionen und Schulreali- gleich mehrere Benachteiligungsdimensio- täten in der Weimarer Republik kontrovers nen in sich vereinte: eine konfessionelle, und different blieben38. eine soziale, eine geschlechtsspezifische Während der NS-Zeit erfuhr der his- und eine regionale42. torische Prozess hin zu mehr Integration Die Entwicklung der westdeut- einen Bruch, der als „Zivilisationsbruch“ schen Schulen wurde bereits ab Ende analysiert wurde.39 Während die Vor- der 1950er Jahre durch einen Kreis schulen abgeschafft und die vier ersten von Dozenten und Assistenten an Er- Schuljahre den Volksschulen zugeordnet ziehungswissenschaftlichen Seminaren worden waren, machte das Reichsschul- der Universitäten und an Pädagogischen pflichtgesetz von 1938 deutlich, dass nun Hochschulen kritisch begleitet43 und er- Exklusion zu einem wesentlichen Kenn- ziehungswissenschaftlich analysiert44. Aus zeichen der Schulentwicklung wurde. diesem Arbeitszusammenhang ist u.a. die Diskriminierung und Ausgrenzung wurde einflussreiche, zehn Bände umfassende gegen verschiedene Gruppierungen ge- Reihe „Gesellschaft und Erziehung“ her- richtet, vor allem gegen jüdische Schü- vorgegangen. Der Band „Sozialisation und lerinnen und Schüler. Auf der Grundlage Auslese durch die Schule“ wurde ein pä- der rassistischen und antisemitischen NS- dagogischer Bestseller und enthält, durch Ideologie wurden sie ab 1933 schrittweise empirische Untersuchungen abgestützt, aus den öffentlichen Schulen verdrängt; ein vernichtendes Urteil über die soziale nach der Pogromnacht 1938 wurde ihnen Selektion von Unterschichtskindern in der der Besuch deutscher Schulen untersagt Grundschule45. Vor diesem Hintergrund

8 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 schien die gemeinsame Bildung von Kin- der Pädagoginnen Amalie Holst (1758– dern verschiedener sozialer Herkunft in 1829) oder Betty Gleim (1781–1827). der Grundschule zum Scheitern verurteilt. Diese Schriften sind als Plädoyers für Teil- Selbst der Begründer des Arbeitskreises habe der Mädchen an grundlegender Bil- Grundschule und spätere Vorsitzende des dung zu verstehen. Grundschulverbandes­ Erwin Schwartz Zu erinnern ist auch daran, dass seit (1916–2003) kam auf dem Grundschul- dem frühen Mittelalter adlige Mädchen kongress 1969 in Frankfurt / Main zu dem in Frauenklöstern grundlegende sowie bitteren Urteil, dass die Grundschule trotz anspruchsvolle Bildung erlangen konn- der gemeinsamen Bildung für alle „die so- ten. Novizinnen und Laien lernten Lesen, ziokulturell bedingten Lernhandicaps nicht Schreiben, Beten, das Singen der litur- aufhob, sondern verstärkte“46. gischen Gesänge und Latein, um die Bibel zu lesen. Sie wurden unterwiesen 3.3 Grundlegende Bildung von Mädchen in Rechnungsführung, im Spinnen, Nähen – genderbezogene Perspektiven und Weben. In adeligen mittelalterlichen Lebenswelten erreichten diese Frauen oft Richtet man den Blick auf das Ringen einen höheren Bildungsstand als die zu um grundlegende Bildung von Mädchen, Rittern ausgebildeten Männer47. zeigen sich besonders widersprüchliche Anders verhielt es sich mit den Töch- konfliktreiche Prozesse. Während Wissen tern der Kaufmannsgilden und Hand- um die Benachteiligung von Mädchen in werkszünften, die die im 13. Jahrhundert der Ideen- und Institutionengeschichte der gegründeten städtischen Lateinschulen, Bildung verbreitet ist, sollen im Folgen- die niederen deutschen oder kirchlichen den einige weniger bekannte Befunde zu Schulen besuchten. Unterricht erteilten grundlegender Bildung und ihrer Bedeu- Männer und, wenn es sich um gemisch- tung für weitere Bildungsmöglichkeiten te oder reine Mädchenklassen handelte, der Mädchen knapp skizziert werden. auch Frauen. 7 bis 8 Jahre gingen die Zu erinnern ist an die Streitschrif- Knaben in die Schule, nur 4 Jahre die ten der Frührenaissance-Schriftstellerin Mädchen. Neben Religion standen Lesen, Christine de Pizan (1364–1429), denn Schreiben, insbesondere Briefe schreiben seither werden immer wieder in den jahr- und die Anfangsgründe des Rechnens auf hundertelang geführten „Querelles des ihrem Lehrplan. Quellen bezeugen, dass femmes“ Bildungsfähigkeit und Bildungs- junge Frauen selbständig kaufmännische notwendigkeit für Mädchen begründet. und handwerkliche Betriebe führen konn- An zahlreichen Orten Europas wird ihre ten, was ohne grundlegende Bildung nicht Bildungsteilhabe eingefordert, dazu ge- denkbar ist.48 hören die humanistischen Plädoyers eines Die Humanisten und Reformatoren Erasmus von Rotterdam (1466/9–1536), des 16. Jahrhunderts schlossen in ihre die aufklärerischen Statements der nieder- bildungstheoretischen Überlegungen auch ländischen Universalgelehrten Anna Maria die Kinder des Volkes ein und propagier- Schürmann (1607–1678) oder der deut- ten den Schulbesuch für alle Jungen und schen Ärztin Dorothea Christiane Leporin Mädchen. Mädchenschulen realisierten (1715–1762) bis hin zu den revolutionären seit dem 17. Jahrhundert in den katholi- Streitschriften der Frauenrechtlerinnen schen Ländern erfolgreich neugegründete Olympe de Gouges (1748–1793), Mary Lehrorden, insbesondere die Ursulinen, Wollstonecraft (1759–1797) und Theodor die den Elementarunterricht im Lesen, Gottlieb von Hippel (1741–1796) sowie Schreiben, Rechnen und Handarbeiten

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 9

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 unentgeltlich leisteten und daneben für Lebenslagen, die gemeinsam haben, Mädchen aus begüterten Familien eine dass ihre Zugänge zu grundlegender Bil- höhere Bildung anboten.49 In den evan- dung ideengeschichtlich umstritten und gelischen Ländern kam es erst um 1800 institutionengeschichtlich beeinträchtigt zu einer institutionalisierten Mädchen­ sind. Die historische Erziehungswis- erziehung50. Einzelnen, meist von gebil- senschaft hat herausgearbeitet, dass deten Eltern unterstützten jungen Frauen es nach eher seltenen Bildungswegen gelang es im 17. und 18. Jahrhundert, sich einzelner beeinträchtigter Kinder in der über die grundlegende Bildung hinaus frühen Neuzeit zur Einrichtung einzel- eine herausragende Bildung anzueignen51 ner Bildungseinrichtungen für sie im 18. – trotz der systematischen Bildungsbenach- Jahrhundert kam. Im Einfluss der men- teiligung des weiblichen Geschlechts52. schenfreundlichen, philanthropisch-auf- Grundlegende Bildung im niederen geklärten Pädagogik entstanden erste Schulwesen war vor und nach ihrer Grün- Sonderschulen mit grundlegenden Bil- dung in der Grundschule weitgehend dungsangeboten für blinde und gehörlo- von Koedukation bestimmt. Zugleich war se Kinder in Leipzig, Berlin, Wien, Paris, der gemeinsame Schulbesuch von ge- Edinburgh, Bristol, London, Liverpool, schlechtsbezogenen Differenzierungen Rom, Prag, Bordeaux, Groningen, Vác durchzogen. Demgegenüber waren auf der (Ungarn), Barcelona, Madrid, St. Peters- grundlegenden Bildung aufbauende Zu- burg, Gent.54 gänge zu höherer Bildung lange Zeit von In Deutschland ist seit Ende des 19. Geschlechtersegregation dominiert. In der Jahrhunderts der Ausbau eines von der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kommt Volksschule trennenden Sonderschul- es in beiden deutschen Staaten durch die wesens mit Spezialschulen für verschie- ostdeutsche Unterstufe und polytechnische dene „Behinderungsarten“ besonders Oberschule sowie die westdeutsche Bil- ausgeprägt.55 Die in der Weimarer Re- dungsreform zu einer Stärkung eines weit- publik neu eingerichtete Grundschule gehend gleichberechtigten Zugangs von bezog Kinder der Hilfsschulen nicht mit Mädchen zu grundlegender Bildung sowie ein, so dass sie systematisch einen be- vor allem zu den Bildungsangeboten der stimmten Teil der Kinder ausschloss. Auch Sekundarstufen. Es ist inzwischen sogar so, war die vorherrschende Auffassung zahl- dass bei einem Teil der ökonomisch armen reicher Hilfsschullehrer gegen eine zu Jungen, die aus Minderheitenkulturen stam- große Annäherung der Hilfsschule an die men, grundlegende Bildung als gefährdeter Grundschule eingestellt und bestand auf gilt, als bei den Mädchen mit vergleichbarer der „prinzipielle[n] ‚Andersartigkeit‘ des Herkunft. Bemühungen um grundlegende Hilfsschulkindes“56. naturwissenschaftliche Bildung von Mäd- Für die Geschichte der Sonder- und chen sind von der Grundschule an nach wie Heilpädagogik in Deutschland ist der Zi- vor notwendig, um Benachteiligungen in vilisationsbruch während der nationalso- diesem Bereich zu überwinden53. zialistischen Herrschaft einschneidend. Ihr ausgrenzender Charakter57 wirkte sich 3.4 Grundlegende Bildung von Kindern auf viele Schülerinnen und Schüler mit mit Behinderungen – abilitybezogene Behinderungen destruktiv aus. Die Zu- Perspektiven schreibung von „Bildungsunfähigkeit“ mit dem Ziel der „Entlastung der Volksschule“ Kinder mit Behinderungen befinden sollte den Ausschluss von Bildung über- sich historisch in sehr verschiedenen haupt und die Ermordung von Kindern mit

10 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Behinderung rechtfertigen. Deren Exklu- auch nichtdiskriminierende interpersonelle sion wurde durch das Reichsschulpflicht- Interaktionen62. gesetz von 1938 noch forciert. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zum weiteren Ausbau des Sonderschul- 4. Hundert Jahre Grundschule wesens (auf unterschiedliche Weise und Inklusive Pädagogik und zu unterschiedlichen Zeiten in bei- den deutschen Staaten), verbunden mit Der Ertrag der Suche in weitem histo- einer ausgeprägten Segregation von Kin- rischen Horizont lässt sichtbar werden, dern vom Schulanfang an58. Dazu dien- dass über Jahrhunderte immer wieder um ten u.a. Schuleingangsuntersuchungen die Teilhabe an grundlegender Bildung und die Diagnose sonderpädagogischen und um eine Verminderung der Hierar- Förderbedarfs. chisierungen gerungen wird, die durch Mitte der 1970er Jahre beginnt eine ideologisch legitimierten und institutionell neue, am gemeinsamen Unterricht orien- realisierten Ausschluss von gemeinsamer tierte Zeit des Zugangs zu grundlegender Bildung verfestigt werden. Die Gründung Bildung für Kinder mit Behinderungen. der Grundschule vor 100 Jahren in der Die gemeinsame Schule für alle soll auch ersten Demokratie Deutschlands, der für Kinder mit Behinderungen geöffnet Weimarer Republik, stellt ein systemisch werden. Zunächst beginnen sieben Mo- hochbedeutsames Ereignis in der langen dellversuche an Grundschulen in West- uneinheitlichen Geschichte dieser Aus- deutschland und Berlin59, dann kommt einandersetzungen dar. Die zurücklie- es zu einer partiellen Ausbreitung in aus- gende und zukünftige Bedeutung dieses gewählten Bundesländern und schließlich Ereignisses für die Verminderung des Aus- verpflichtet sich 2009 Deutschland zur schlusses heterogener Teile der Kinder flächendeckenden Realisierung der inklu- von grundlegender gemeinsamer Bildung siven Schule für alle60. muss hoch eingeschätzt werden, weil in Mit dem heute noch unabgeschlos- spätmodernen pluralistischen Demokra- senen Vorhaben der inklusiven Grund- tien die Grundschule für alle als einziger schule für alle entsteht eine Ausweitung gesellschaftlicher Ort gilt, der von allen der grundlegenden Bildung, in der es Angehörigen jeder Generation besucht um den Verzicht auf institutionelle Segre- werden kann und so Gemeinsamkeit zu gation geht. Gemeinsame grundlegende stiften vermag. Zugleich ist die Erreichung Bildung kombiniert zwei Perspektiven: Die des Ziels der gemeinsamen grundlegen- Perspektive eines Minimalstandards, der den Bildung für alle bis heute unvollendet Bemühungen um erfolgreiches Lernen geblieben63. An den erreichten Erfolgen benachteiligter Schüler und Schülerinnen sind historisch verschiedene gesellschaft- erfordert. Hinzu kommt die Perspektive liche Strömungen beteiligt, die bedeut- differenzierter Bildungsstandards, die Be- same Gemeinsamkeiten aufweisen, auch mühungen um individuell erfolgreiches wenn sie teilweise partikulare Interessen Lernen aller Schülerinnen und Schüler mit hervorheben: Sie alle ringen um weniger ihren verschiedenen Potentialen an einem Ausschluss von Bildung, um weniger Dis- gemeinsamen Bildungsort erfordert61. Die kriminierung, um mehr Gemeinsamkeit in gemeinsame Grundschule für alle geht der grundlegenden Bildung und um uni- mit Aufmerksamkeit für die Heterogenität versalistisch orientierte Legitimierung. In der Lernenden einher und erfordert so- dem Maße, in dem sich Grundschulen der wohl eine individualisierende Didaktik als anerkennenden Potentialentfaltung aller

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 11

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 ohne Diskriminierung und Ausgrenzung Wolfgang Scheibe (Hrsg.): Zur Geschichte bestimmter Kindergruppen widmen, nä- der Volksschule. Band 2: 19. und 20. Jahr- hern sie sich dem menschenrechtlich und hundert bis zur Gegenwart (Klinkhardts pädagogische Quellentexte, Bd. 32). Bad demokratisch fundierten Anspruch der In- Heilbrunn (Obb.) 2. Aufl. 1974. klusion an. 9 Albert Reble: Geschichte der Pädagogik. Stuttgart 11. Aufl. 1971, S. 111-113; Ludwig Fertig: Veit Ludwig von Seckendorff: Patriar- chalischer Fürstenstaat und territoriale Er- Anmerkungen ziehungspolizei. In: Teutscher Fürsten Stat, 1976, H. 1. 1 OECD: ISCED 2011 Operational Ma- 10 Klaus Schaller: Johann Amos Comenius nual. Guidelines for Classifying Natio- (1592- 1670). In: Heinz-Elmar Tenorth nal Education Programmes And Related (Hrsg.): Klassiker der Pädagogik 1. Von Qualifications. Paris., 2015, https://read. Erasmus bis Helene Lange. München 2003, oecd-ilibrary.org/education/isced-2011-ope- S. 45–59. rational-manual_9789264228368-en#pa- 11 Comenius 1657, zitiert nach: Robert Alt: Bil- ge106 (30.05.2019), S. 104. deratlas zur Schul- und Erziehungsgeschich- 2 Kultusministerkonferenz: Empfehlungen zur te. Berlin 1960, S. 15. Arbeit in der Grundschule. Beschluss der 12 Comenius 1657, zitiert nach: Alt, Robert Kultusministerkonferenz vom 2.7.1970 i. d. (1960): Bilderatlas zur Schul- und Erzie- F. vom 11.6.2015, 2015, https://www.kmk. hungsgeschichte. Band 1. Berlin: Volk & org/fileadmin/Dateien/pdf/PresseUndAktu- Wissen. (Anm. 11), S. 31. elles/2015/Empfehlung_350_KMK_Arbeit_ 13 Heinz-Elmar Tenorth: Geschichte der Er- Grundschule_01.pdf (30.05.2019), S. 6. ziehung. Einführung in die Grundzüge ihrer 3 Anne Piezunka/Tina Schaffus/Michael Gro- neuzeitlichen Entwicklung. Weinheim 2. Aufl. sche: Vier Verständnisse von schulischer In- 1992. klusion und ihr gemeinsamer Kern. Ergebnisse 14 Friedrich E. von Rochow: Versuch eines von Experteninterviews mit Inklusionsforsche- Schulbuchs für Kinder der Landleute oder rinnen und -forschern. In: Unterrichtswissen- zum Gebrauch in Dorfschulen (1772). In: schaft 45, 2017, H. 4, S. 207–222. Fritz Jonas/Friedrich Wienecke (Hrsg.): 4 Vgl. z. B.Jürgen Osterhammel: Die Flughöhe Friedrich Eberhard von Rochow: Friedrich der Adler. Historische Essays zur globalen Eberhard von Rochows sämtliche pädago- Gegenwart. München 2017. gische Schriften. Berlin/Boston 2018. Aufl. 5 Achim Landwehr: Die anwesende Abwe- 2018, S. 1–87, S. 4. senheit der Vergangenheit. Essay zur Ge- 15 Friedrich E. von Rochow: Berichtigungen. Ers- schichtstheorie (S. Fischer Geschichte). ter Versuch (1792). In: Fritz Jonas/Friedrich Frankfurt am Main 2016. Wienecke (Hrsg.): Friedrich Eberhard von Ro- 6 Bernd Zymek: Schulen. In: Dieter Langewie- chow: Friedrich Eberhard von Rochows sämt- sche/Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.): Handbuch liche pädagogische Schriften. Berlin/Boston der deutschen Bildungsgeschichte. Band 2018. Aufl. 2018, S. 171–288, S. 211. V: 1918-1945. Die Weimarer Republik und 16 Hanno Schmitt: Volksaufklärung an der Ro- die nationalsozialistische Diktatur. München chowschen Musterschule in Reckahn. In: 1989, S. 155–208, S. 165. Holger Böning/Hanno Schmitt/Reinhart Sie- 7 Karl Eckhardt: Die Grundschule. In: Herman gert (Hrsg.): Volksaufklärung. Eine praktische Nohl/Ludwig Pallat (Hrsg.): Handbuch der Reformbewegung des 18. und 19. Jahrhun- Pädagogik. Band 4: Die Theorie der Schule derts. Bremen 2007, S. 163–178. und der Schulaufbau. Langensalza 1928, S. 17 Hanno Schmitt: Die Philanthropine – Mus- 91–104, S. 92. terschulen der pädagogischen Aufklärung. 8 Theo Dietrich/Job-Günter Klink (Hrsg.): Zur In: Notker Hammerstein/Ulrich Herrmann Geschichte der Volksschule. Band 1: Volks- (Hrsg.): Handbuch der deutschen Bildungs- schulordnungen 16. bis 18. Jahrhundert geschichte. Band II: 18. Jahrhundert. Vom (Klinkhardts pädagogische Quellentexte, Bd. späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung 27). Bad Heilbrunn (Obb.) 2. Aufl. 1972; Deutschlands um 1800. München 2005, S.

12 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 262–277. im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen/Zürich 18 Ulrich Herrmann/Jürgen Oelkers (Hrsg.): 1993, S. 159–160. Französische Revolution und Pädagogik der 29 Franz Rodehüser: Epochen der Grundschul- Moderne. Aufklärung, Revolution und Men- geschichte. Bochum 1987. schenbildung im Übergang vom Ancien Régi- 30 Margarete Götz/Uwe Sandfuchs: Geschichte me zur bürgerlichen Gesellschaft. Weinheim der Grundschule. In: Wolfgang Einsiedler/ 1990. Margarete Götz/Andreas Hartinger/Friederi- 19 Heinz-Hermann Schepp: Antoine de Condor- ke Heinzel/Joachim Kahlert/Uwe Sandfuchs cet (1743-1794). In: Hans Scheuerl (Hrsg.): (Hrsg.): Handbuch Grundschulpädagogik Klassiker der Pädagogik. Band 1: Von Eras- und Grundschuldidaktik (UTB, Bd. 8444). mus von Rotterdam bis Herbert Spencer Bad Heilbrunn 3. Aufl. 2011, S. 32–44, S. 35. (Klassiker der Pädagogik). München 2. Aufl. 31 Hans-Ulrich Wehler: Vom Beginn des Ers- 1991, S. 159–169. ten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden 20 Marie J. A. Condorcet: Bericht und Entwurf deutschen Staaten. 1914 - 1949 (Deutsche einer Verordnung über die allgemeine Orga- Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4). München nisation des öffentlichen Unterrichtswesens 2003, S. 452. (1792). In: Berthold Michael/Heinz-Hermann 32 Zymek: Schulen (Anm. 6), S. 165. Schepp (Hrsg.): Die Schule in Staat und 33 Eckhardt: Die Grundschule (Anm. 7), S. 92. Gesellschaft. Dokumente zur deutschen 34 Ebd., S. 94. Schulgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. 35 Karl-Heinz Nave: Die allgemeine deutsche Göttingen/Zürich 1993, S. 84–86. Grundschule. Ihre Entstehung aus der No- 21 Ebd., S. 85. vemberrevolution von 1918. Weinheim 1961, 22 Ebd., S. 86. S. 134; Ludwig von Friedeburg: Bildungs- 23 Frauke Stübig: Condorcet und Lepeletier reform in Deutschland. Geschichte und ge- – Der Beitrag der Französischen Revolu- sellschaftlicher Widerspruch. Frankfurt/Main tionspädagogik zur Schulreform heute. In: 1992, S. 227–228. Die Deutsche Schule 81, 1989, H. 1, S. 36 Ullrich Amlung/Dietmar Haubfleisch/Jörg- 103–116. Werner Link/Hanno Schmitt (Hrsg.): "Die 24 Tenorth: Geschichte der Erziehung (Anm. alte Schule überwinden". Reformpädagogi- 13), S. 161; Hans-Georg Herrlitz/Wulf Hopf/ sche Versuchsschulen zwischen Kaiserreich Hartmut Titze: Deutsche Schulgeschichte und Nationalsozialismus. Frankfurt am Main von 1800 bis zur Gegenwart. Eine Einfüh- 1993; Jörg-W. Link: Reformpädagogik im his- rung. Weinheim/München 1993, S. 52–53. torischen Überblick. In: Heiner Barz (Hrsg.): 25 Frank M. Kuhlemann: Niedere Schulen. In: Handbuch Bildungsreform und Reformpäda- Christa Berg (Hrsg.): Handbuch der deut- gogik. Wiesbaden 2018, S. 15–30. schen Bildungsgeschichte. Band. IV: 1870- 37 Jörg-W. Link: Reformpädagogik und staat- 1918. Von der Reichsgründung bis zum Ende liche Schulreform. In: Till-Sebastian Idel/ des Ersten Weltkrieges. München 1991, Heiner Ullrich (Hrsg.): Handbuch Reformpä- S. 177–227; Frank-Michael Kuhlemann: Moder- dagogik. Weinheim 2017, 89–104. nisierung und Disziplinierung. Göttingen 1992. 38 Hanno Schmitt: Zur Realität der Schulreform 26 Kuhlemann: Modernisierung und Disziplinie- in der Weimarer Republik. In: Tobias Rülcker/ rung (Anm. 25). Jürgen Oelkers (Hrsg.): Politische Reformpä- 27 Axel Nath (Hrsg.): Differenzierung und Integ- dagogik (Explorationen, Bd. 21). Bern 1998, ration der niederen Schulen in Deutschland S. 619–643. 1800–1945 (Datenhandbuch zur deutschen 39 Jörg-W. Link: "Erziehungsstätte des deut- Bildungsgeschichte, Band 3). Göttingen schen Volkes" – Die Volksschule im Natio- 2016; Frank Tosch: Gymnasium und Sys- nalsozialismus. In: Klaus-Peter Horn/Jörg-W. temdynamik. Regionaler Strukturwandel im Link (Hrsg.): Erziehungsverhältnisse im Na- höheren Schulwesen der preussischen Pro- tionalsozialismus. Totaler Anspruch und Er- vinz Brandenburg 1890-1938. Bad Heilbrunn ziehungswirklichkeit. Bad Heilbrunn 2011, S. 2006. 79–106; Dan Diner/Seyla Benhabib: Zivilisa- 28 Berthold Michael/Heinz-Hermann Schepp tionsbruch. Denken nach Auschwitz (Fischer- (Hrsg.): Die Schule in Staat und Gesellschaft. Taschenbücher, Bd. 4398). Frankfurt am Dokumente zur deutschen Schulgeschichte Main 1988.

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 13

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 40 Ute Geiling: Schulfähigkeit und Einschu- Frankfurt/Main 1996, S. 78–90; Merry lungspraxis in der DDR – ein Rückblick im Wiesner-Hanks: Ausbildung in den Zünften. Spannungsfeld von Förderung und Ausgren- In: Elke Kleinau/Claudia Opitz (Hrsg.): Ge- zung. In: Annedore Prengel: Vielfalt durch schichte der Mädchen- und Frauenbildung. gute Ordnung im Anfangsunterricht. Wiesba- Frankfurt/Main 1996, S. 91–102. den 1999, S. 161–219. 49 Anne Conrad: Weibliche Lehrorden und ka- 41 Wolfgang Klafki: Restaurative Schulpolitik tholische höhere Mädchenschulen im 17. 1945-1950 in Westdeutschland: Das Beispiel Jahrhundert. In: Elke Kleinau/Claudia Opitz Bayern. In: Wolfgang Klafki: Aspekte kri- (Hrsg.): Geschichte der Mädchen- und Frau- tisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft. enbildung. Frankfurt/Main 1996, S. 252–262; Gesammelte Beiträge zur Theorie-Praxis- Juliane Jacobi: Mädchen- und Frauenbildung in diskussion. Weinheim & Basel 1976, S. Europa. Von 1500 bis zur Gegenwart. Frank- 253–299. furt am Main 2013; Sylvia Schraut/Gabriele 42 Ralf Dahrendorf: Bildung ist Bürgerrecht. Pieri: Katholische Schulbildung in der Frühen Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik (Die Neuzeit. Vom "guten Christenmenschen" zu Zeit-Bücher). Hamburg 1965; Friedeburg: "tüchtigen Jungen" und "braven Mädchen"; Bildungsreform in Deutschland (Anm. 35). Darstellung und Quellen. Paderborn 2004. 43 Ingeborg Röbbelen: Niederschrift über die 50 Christine Mayer: Die Anfänge einer institutio- Besprechung des „Erziehungswissenschaft- nalisierten Mädchenerziehung an der Wende lichen Arbeitskreises“ am 16. April 1957 vom 18. zum 19. Jahrhundert. In: Elke Klei- in Mülheim/Ruhr. Comenius-Institut. Sign.: nau/Claudia Opitz (Hrsg.): Geschichte der 12/52 1957. Mädchen- und Frauenbildung. Frankfurt/Main 44 Carl-Ludwig Furck: Die ersten Jahre (1954- 1996, S. 373–393; Christine Mayer: Erzie- 1970). In: Volker Elsenbast/Annebelle Pithan/ hung und Schulbildung für Mädchen. In: Not- Peter Schreiner/Friedrich Schweitzer (Hrsg.): ker Hammerstein/Ulrich Herrmann (Hrsg.): Wissen klären – Bildung stärken. 50 Jahre Handbuch der deutschen Bildungsgeschich- Comenius-Institut. Münster 2004, S. 17–45; te. Band II: 18. Jahrhundert. Vom späten 17. Hanno Schmitt: Zur Genese der Erziehungs- Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutsch- wissenschaft als kritisch-konstruktive Theorie lands um 1800. München 2005, S. 188–211. bei Wolfgang Klafki. In: Susanne Lin-Klitzing 51 Annedore Prengel/Hanno Schmitt (Hrsg.): (Hrsg.): Wolfgang Klafki: Allgemeine Didaktik. Tugend, Treue, Eigenständigkeit. Schloss Fachdidaktik. Politikberatung. Beiträge zum Reckahn als geselliger Treffpunkt aufgeklär- Marburger Gedenksymposium, Bad Heil- ter Frauen; Begleitbuch zur Ausstellung im brunn 2019, S. 39–52. Rochow-Museum Reckahn 31. August bis 45 Hans-Günter Rolff: Sozialisation und Auslese 12. Dezember 2010. Reckahn 2010. durch die Schule. Heidelberg 1967. 52 Elke Kleinau/Claudia Opitz (Hrsg.): Ge- 46 Zit. n. Kai S. Cortina/Jürgen Baumert/Achim schichte der Mädchen- und Frauenbildung. Leschinsky/Karl U. Mayer/Luitgard Trommer Frankfurt/Main 1996. (Hrsg.): Das Bildungswesen in der Bun- 53 Leonie Herwartz-Emden/Verena Schurt/ desrepublik Deutschland. Strukturen und Wiebke Waburg: Mädchen und Jungen in Entwicklungen im Überblick. Reinbek bei Schule und Unterricht. Stuttgart 2012. Hamburg 2008, S. 326. 54 Sieglind Ellger-Rüttgardt: Geschichte der 47 Peter Ketsch/Annette Kuhn (Hrsg.): Frau- Sonderpädagogik. Eine Einführung, mit 12 enbild und Frauenrechte in Kirche und Ge- Tabellen (UTB, Bd. 8362). München/Basel sellschaft. Düsseldorf 1984; Bea Lundt: Zur 2008, S. 20–71. Entstehung der Universität als Männerwelt. 55 Ebd., S. 72–241. In: Elke Kleinau/Claudia Opitz (Hrsg.): Ge- 56 Ebd., S. 204. schichte der Mädchen- und Frauenbildung. 57 Klaus-Peter Horn/Jörg-W. Link (Hrsg.): Er- Frankfurt/Main 1996, S. 103–118. ziehungsverhältnisse im Nationalsozialismus. 48 Andrea Kammeier-Nebel: Frauenbildung im Totaler Anspruch und Erziehungswirklichkeit. Kaufmannsmilieu spätmittelalterlicher Städte. Bad Heilbrunn 2011; Renate Fricke-Finkeln- In: Elke Kleinau/Claudia Opitz (Hrsg.): Ge- burg: Nationalsozialismus und Schule. Amt- schichte der Mädchen- und Frauenbildung. liche Erlasse und Richtlinien, 1933–1945.

14 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Opladen 1989. 61 Ursula Carle: Chancengleichheit durch Bil- 58 Geiling: Schulfähigkeit und Einschulungspraxis dungspläne und Standards im Elementar- und in der DDR – ein Rückblick im Spannungsfeld Primarbereich? In: Friederike Heinzel/Ute von Förderung und Ausgrenzung (Anm. 40). Geiling (Hrsg.): Demokratische Perspektiven 59 Helga Deppe-Wolfinger/Annedore Prengel/ in der Pädagogik. Annedore Prengel zum 60. Helmut Reiser: Integrative Pädagogik in der Geburtstag. Wiesbaden 2004, S. 49–62. Grundschule. Bilanz und Perspektiven der 62 Annedore Prengel: Padagogik der Vielfalt: Integration behinderter Kinder in der Bundes- Inklusive Stromungen in der Sphare spatmo- republik Deutschland; 1976–1988 (DJI-Mate- derner Bildung. In: Erwägen Wissen Ethik. rialien Reihe). München 1990. Forum für Erwägungskultur 26, 2015, H. 2, S. 60 Heiner Bielefeldt: Zum Innovationspotenzial 157–168. der UN-Behindertenrechtskonvention (Essay 63 Götz/Sandfuchs: Geschichte der Grundschule / Deutsches Institut für Menschenrechte, Bd. (Anm. 30). 5). Berlin 3. Aufl. 2009.

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 15

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0

PR 2020, 74. Jahrgang, S. 17-38 © 2020 Hans-Ulrich Grunder - DOI https://doi.org/10.3726/PR012020.0002

Hans-Ulrich Grunder

Die Beziehungen der deutschsprachigen Pädagogik und Erziehungswissenschaft Zum Institut Jean-Jacques Rousseau in Genf (1912-1932)

Die Beziehungen zwischen deutschspra- der vorletzten Jahrhundertwende in der chigen Pädagogen und Erziehungswis- öffentlichen Diskussion allmählich Gehör senschaftlern und Mitarbeitenden des verschafft haben. Ich verzichte auf eine Instituts Jean-Jacques Rousseau in Genf Netzwerkanalyse, zu deren Verfertigung © 2020 sind – das zeigt die Recherche in dieser ich jedoch anregen will. erstmals eingenommenen Perspektive – beiderseitig vielfältig, verzweigt, un- programmatisch und weitgehend zufällig. 1. Die Fragen, der Zeitraum, die Die hier zwischen ihnen als interessierte Quellenlage, die Quellen Zurückhaltung beurteilte Position wirft Fragen nach der Existenz und der Qualität Die Kontakte zwischen deutschsprachigen persönlicher Beziehungen und den daran Pädagogen und Erziehungswissenschaft- Beteiligten auf. lern und den Mitarbeitern des Institut Ich präsentiere das quellengestützte1 Jean-Jacques Rousseau2 sind verzweigt, Ergebnis einer institutionengeschichtli- unprogrammatisch, pragmatisch ausge- chen und personengeschichtlichen Re- staltet und weitgehend arbiträr. Dieser cherche in der spezifischen Literatur Sachverhalt irritiert insbesondere ange- zur deutschsprachigen Schulreformbe- sichts der Stellung des Instituts als über wegung sowie in den Archives Institut die Grenzen der Schweiz hinaus allmäh- Jean-Jacques Rousseau und eines dar- lich bekanntgewordenes Zentrum für die auf vorgenommenen Abgleichs mit den Erforschung des Kindes und seiner Lern- Listen externer Dozierender, Lehrbeauf- prozesse3 und seines in der Schweiz ein- tragter und Gastreferenten am Institut zigartigen Bestrebens, eine akademisierte Jean-Jacques Rousseau. Damit will ich, Lehrerbildung anzubieten, insbesondere, personenbezogen, das Verhältnis der was die Zeitspanne zwischen 1912 und deutschsprachigen Pädagogik und Erzie- 1932 betrifft4. hungswissenschaft zur Genfer Pädagogik Wenngleich die Genfer Erziehungs- und Erziehungswissenschaft zwischen wissenschaftler die Arbeiten deutsch- 1912 und 1932 illustrieren, nachdem ich sprachiger Kollegen zur Kenntnis nahmen, skizziert habe, wie sich in der Schweiz und obwohl die deutschsprachigen Erzie- die schulreformorientierten Kräfte kurz vor hungswissenschaftler und Pädagoginnen

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 17

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 es ihnen gleichtaten, wirft die zwischen Die Exponentinnen und Propagan- ihnen dominierende Zurückhaltung Fragen disten der neuen Erziehung, die im auf: Welche Beziehungen existierten? Wer Nachhinein als Reformpädagogik, éduca- war beteiligt? Wie waren sie ausgestaltet? tion nouvelle, progressive education oder Die hier zu illustrierende These lautet: Man scuola attiva etikettiert wurde, visierten nimmt sich zwar gegenseitig zur Kenntnis, mit beträchtlichem Werbeaufwand Ziele bewahrt aber eine interessiert-reservierte an, welche die Historiographie der Erzie- Zurückhaltung – mit wenigen aufschluss- hung gebündelt hat: Geistige Mündigkeit reichen Ausnahmen5. des Kindes, Menschenbildung (weniger Einleitend ist auf die schulreformeri- Wissensvermittlung), Förderung von Inter­ schen Initiativen in der Schweiz anfangs esse, Selbsttätigkeit und Selbstbestim- des 20. Jahrhunderts zu verweisen, kurz mung, Lernen durch praktisches Tun, bevor in Genf 1912 das Institut Jean- Ablösen von Spezialistentum zugunsten Jacques Rousseau als universitätsnahes einer allgemeinen Bildung, Einsicht in die Lehrerausbildungs- und Weiterbildungs- Grenzen der Lernschule, Überwinden institut gegründet worden ist6. der Kluft zwischen Schule und Leben. Zu den übergreifenden Begehren traten auf den Unterricht bezogene: Man sprach 2. Schulreformmotive zu Beginn von einer veränderten Lehrerrolle und den des 20. Jahrhunderts weitgespannten Ansprüchen an den mo- dernen Lehrer angesichts der reinterpre- Unter dem Jahre später von Herman Nohl tierten Funktion des Educanden. geprägten Begriff Reformpädagogische Setze man radikal auf das Kind und Bewegung7 firmieren ideelle und praxis- seine kognitiven, seelischen und sozialen wirksame, schulerneuernde, bildungs- Bedürfnisse, so unterstellten die reform- reformerische Initiativen, die zu Beginn orientierten Publizisten, würde sich der des 20. Jahrhunderts mit erheblicher schwelende gesellschaftspolitische Kon- propagandistischen Verve in die bildungs- flikt zu Beginn des 20. Jahrhunderts all- politische Landschaft vor allem der euro- mählich entschärfen. Mündige Menschen päischen Staaten eingedrungen sind. Ihre – vermöge einer neuen Erziehung und Wurzeln reichten ins 19. Jahrhundert zu- einer neuen Schule dazu befähigt – soll- rück. Ihre Protagonisten diskreditierten ten die zu erwartenden Krisen kraft ihres das Schulsystem des 19. Jahrhunderts, Wissens, selbständigen Entscheidens das sie selber durchlaufen hatten, nun sowie entschlossenen Handelns meistern. aber als nicht kindgemäße Lern-, Buch-, In ihrem engagierten Impetus unterschied Pauk- und Drillschule. Bis heute ist nicht sich diese Perspektive wenig von anderen eindeutig geklärt, wie die weitverzweigten hohen Zeiten der Pädagogik: Regressiv Reformkräfte bildungshistorisch einzustu- modern und konservativ revolutionär, war fen sind, zumal wohl noch nicht alle ihnen sie, als Rezept aufgefasst, die Antwort der zuzuschreibenden Phänomene erforscht Erziehung auf die als drohender Zerfall ge- zu sein scheinen. Unbestritten ist: Wer deutete Erosion der Werte am Ende des heute schulreformerisch tätig ist, bezieht 19. Jahrhunderts – insofern also die Re- sich in der Regel auch auf Konzepte, die in aktion der Pädagogik auf gesellschaftliche der Epoche reformpädagogischer Schul- Modernisierungsprozesse. Darum ver- erneuerung, also etwa zwischen 1880 und sprach man sich von einer pädagogisch 1930 vorgestellt und oft auch realisiert begründeten Reformintention, obschon in worden sind. sich widersprüchlich, uneinheitlich und in

18 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Flügelkämpfe verstrickt, auch wichtige so- Die schulreformerischen Postulate ver- ziopolitische Anstöße mit Blick auf die ge- breiteten sich kurz nach der Jahrhundert- sellschaftliche Entwicklung. Der Ausbruch wende auch in der Schweiz. Ich schildere des Ersten Weltkriegs verunsicherte diese sie hier verkürzt, entlang einer zwar gängi- hoffnungsvolle Perspektive und ihre Re- gen, jedoch oft kritisierten Einteilung der präsentanten zutiefst. einzelnen Stränge der Bewegung, deren Verlangten die schulreformerischen Charakteristika es nahelegen, die Entwick- Kräfte zwar mehr als eine didaktische Re- lung in der Schweiz in den europäischen form hin zum differenzierenden Unterricht8, Kontext zu stellen. verwiesen ihre grundlegenden Postulate auch auf gelockerte didaktische Formen: Kinder seien von der Tyrannei des Stoffs 3. Kultur- und Schulerneuerung und des Lehrers, von der Stoffhuberei, in der Schweiz wie es hieß, zu befreien. Handelndes Ler- nen, arbeitendes Handeln seien zentral. Was die Aktivität des Wandervogels an- Die neue Erziehung empfahl, im Unter- belangt, sind in diesem Bereich die weit- richt seien die sozialen Formen nach- reichendsten Aktionen zu verorten9. In haltiger zu gewichten. Schüleraktivität der Schweiz formiert sich nach der Jahr- und selbstgesteuertes Lernen wurden zu hundertwende eine Jugendbewegung und unterrichtsdidaktischen Maximen und zum jugendbewegte Zeitschriften werden ver- pädagogischen Prinzip, was Lehr- und breitet. Sozialistische Jugendorganisatio- Lernprozesse anging. Deshalb galten das nen entstehen und zu Beginn des zweiten Kind und seine Interessen als die Basis Jahrzehnts fassen die Pfadfinder Fuß. Der schulischen Lernens und Lebensgemäß- schweizerischen Jugendbewegung lässt heit wurde zur Devise der Unterrichtenden, sich jedoch nicht (schon was die Zahlen die sich in ihrer Rolle als Lernbegleiter neu anbelangt) auch nur annähernd ein so definierten. Weil das Schulzimmer für Ein- großes Gewicht beimessen wie der deut- flüsse von außen zu öffnen war, sollten die schen. Ein Beobachter konzediert, man Kinder so oft wie möglich zum Lernen in könne nur bedingt von einer Jugendbe- die Natur geführt werden. wegung in der Schweiz sprechen, zumal Die Postulate der neuen Erziehung der Wandervogel als Altersklassenbewe- waren Teil einer kulturerneuernden Bewe- gung nie große Massen ergriffen habe. gung zu Beginn des Jahrhunderts – neben Die Gründe erkennt er darin, dass damals den Vegetariern, den Lebenskünstlern, die sozialen Gegensätze in der Schweiz Dadaisten, Naturisten, Abstinenzlern und nicht annähernd stark ausgebildet waren weiteren, insbesondere kunsterneuernden wie in anderen europäischen Staaten, Motiven. Was viele pädagogisch Handeln- dass Großstädte und eine elementare de unter den Reformern auszeichnete, war Natursehnsucht fehlten, die als tragende ihr oft kritikloser Rousseauismus, der den Basis für die Jugendbewegung vonnöten Impuls zur gesellschaftlichen Erneuerung seien. Zudem sei die höhere Schule keine als der Pädagogik inhärent begriff. Außer- Standesschule und die schweizerische dem schien der Glaube an das Kind und Bereitschaft, sich zu verständigen und zu in die hohe Qualität seiner Lernprozesse vertragen, wirke sich aggressionsmildernd die erst zwanzig Jahre später, insbeson- aus. Trotzdem sei die Jugendbewegung dere von Siegried Bernfeld beschworene an der Schweiz nicht spurlos vorüber- Grenze pädagogischer Einwirkung vorerst gegangen. Dies belegen die Quellen im auszublenden. Sozialarchiv (Zürich), wo sich das Archiv

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 19

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 des Wandervogels befindet. Sie lassen Lehrkräfte, die sich um die Schrift-, Zei- den Schluss zu, dass nie mehr als 2000 chen- und Singreform bemühten. Jugendliche eingeschriebene Wandervö- Bedeutend gewichtiger war die Kont- gel waren. Insoweit deute ich den Wan- roverse um die Arbeitsschule12, die ein Vor- dervogel als Gruppierung zwischen den trag Kerschensteiners vor Zürcher Lehrern Polen eines solitären Kuriosums und einer entfachte13. Der Sekundarlehrer und späte- abgerundeten Gestalt. Gemessen an der re Pädagogikdozent an ETH und Universi- Mitgliederzahl fand diese Gruppe jedoch tät Zürich sowie Schweizer Parlamentarier damals eine überproportionale öffent­ Robert Seidel bezichtigte den Münchner liche Resonanz. Die Idee des Jugendwan- Stadtschulrat des Plagiats bezüglich des derns war nach der Jahrhundertwende Begriffs Arbeitsschule14. In der Folge ent- von Deutschland her über Basel (1914: spann sich eine öffentliche­ Diskussion um 65 Mitglieder) und Zürich in die Nordost- Vor- und Nachteile der Arbeitsschule und schweiz eingedrungen, wo sie allmählich des Handarbeitsunterrichts für Knaben Wurzeln schlug und sich gegen Westen und Mädchen. An der Debatte, die sich und Süden ausdehnte. In der Romandie auch in Lehrerzeitschriften niederschlug, und der Südschweiz vermochte sie al- beteiligten sich Seminardirektoren, Univer- lerdings nicht zu wachsen. In der West- sitätspädagogen, Politiker und Lehrkräfte. schweiz existierte, abgesehen von jener Die Kontrahenten trugen den offen ausge- in Neuchâtel, nur noch je eine Wander- brochenen Streit bis in die Niederungen vogelgruppe in Le Locle (1915: 43 Mit- der Unterrichtsmethodik: So publizierte glieder) und Genf (1913: 21 Mitglieder). die Lehrerpresse als Lektionsvorbereitun- Die Berner Gruppe war klein, bestehend gen explizit auf arbeitsschulpädagogischer aus unter hundert eingeschriebenen Mit- Basis gründende Präparationen – was die gliedern; in Genf schlossen sich einige Gegnerschaft heftig kritisierte. Obschon Deutschschweizer Wandervögel (1914: die Arbeitsschulidee schon in der Mitte 21 Mitglieder) zusammen und – eine Ku- des 19. Jahrhunderts in der Schweiz pro- riosität – eine Ortsgruppe bestehend aus pagiert worden war, in den achtziger Jah- Studierenden bildete sich auch in Paris ren auch von Robert Seidel, fasste erst (Gründung: 1914, Mitgliederzahl: 5). der Genfer Adolphe Ferrière die bürger- Diese Zahlen legen es nahe, den Schwei- liche Version der Arbeitsschulidee syste- zer Wandervogel als deutschschweize- matisch zusammen15, als er gegen Seidels risches Phänomen zu interpretieren. Das sozialdemokratisch-marxistischen Ansatz Ende der Bewegung trat leise ein: 1955, das arbeitspädagogische Motiv des frü- anlässlich seiner Landsgemeinde löste ein hen Kerschensteiner zum umfassenderen nunmehr kleines Grüppchen von Mitglie- einer Tatschule, einer École active, erwei- dern den Schweizer Wandervogel unwi- terte. Schon 1883 waren in einigen Kanto- derruflich auf10. nen erste Handfertigkeitskurse für Knaben Ähnliches mag für die kunsterzieheri- eingerichtet worden. Aus dem zweiten schen Bemühungen gelten, deren Verlauf Berner Handfertigkeitskurs für Lehrer von allerdings noch unzureichender erforscht ist 1883 erwuchsen Thesen, die belegen, als der Schweizer Wandervogel. Zu erwäh- wie weit sich die Kontroverse akzentuiert nen sind jedoch der Genfer Musikpädago- hatte, und die illustrieren, wie die Ver- ge und Rhythmiker Émile Jaques-Dalcroze11 treter der Arbeitsschule argumentierten: sowie Mimi Scheiblauer, die sich um die Der Arbeitsunterricht diene allein erzie- Einführung der Rhythmik als Schulfach herischen Zwecken und solle die formale engagierten. Zu nennen sind außerdem Bildung fördern, liest man in einem der

20 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Kursprotokolle. Überdies entschied sich den Landerziehungsheimen nicht festzu- 1924 die Mehrheit der Lehrerschaft der stellen18. Dafür ist die Zahl dieser écoles Romandie anlässlich ihres vierten Jahres- nouvelles à la campagne zu klein und ihre kongresses dafür, die Maximen der École pädagogische Relevanz zu schwach. Trotz- activ seien einer künftigen staatlichen dem sind die schweizerischen Landerzie- Regelschule zugrunde zu legen. Infolge- hungsheime im Rückblick pädagogische dessen sollte zunächst die Primarstufe (1. und didaktische Anreger der staatlichen bis 9. Klasse) zu einer Tatschule werden. Schulen, potentiell verunsicherndes schul- Dieses kräftige schulreformerische Votum reformerisches Korrektiv zur damals domi- hinterliess allerdings in den Publikationen nierenden didaktisch-methodischen Praxis der folgenden Jahre erstaunlicherweise an den Schulen. keine Spuren. Die von den Schulerneuerern in der Ebenso konturiert zeigte sich in der Schweiz ins Zentrum gerückten Begriffe Schweiz die Bewegung Vom Kinde aus. (Anschauung, Selbsttätigkeit, Selbstän- Sie lehnte sich an jene der Landerzie- digkeit, dazu: Arbeitsschule, harmonische hungsheime, zumal deren Exponenten die Bildung) bilden die Brennpunkte der da- Postulate ersterer in ihren privaten Interna- maligen Argumentation. Allerdings waren ten zu realisieren versuchten. die den Termini Anschauung, Selbsttätig- In Genf entwickelte sich die Bewe- keit und Selbständigkeit zugrundeliegen- gung Vom Kinde aus zu einer die päda- den Maximen bereits während des 19. gogische Argumentation strukturierenden Jahrhunderts schulreformerische Slogans Kraft. Daraus ergab sich eine der wenigen gewesen. Sie verwiesen auf jene Kon- Folgen schulerneuernder Aktivität, die bis zepte, worauf vorwiegend die Lehreraus- in die Gegenwart reicht: Die 1927 von bildung nach 1870 abstellte. Zielvorgaben einem der Genfer Schule nahestehenden und methodische Absicht in einem, um- Politiker geforderte Gesamtschule / Ein- schrieben Selbsttätigkeit und Selbstän- heitsschule heute der Cycle d’ Orientation digkeit dort den Zweck einer erfolgreich (Orientierungsstufe). abgeschlossenen Ausbildungszeit des Der Genfer Adolphe Ferrière akzentu- künftigen Lehrers. Dass selbsttätiges Ler- ierte die für ihn zentrale Position der Hand- nen einen Beitrag zur Entwicklung eines arbeit in den Landerziehungsheimen als dereinst selbständigen Menschen leiste, moralische Erziehung in praktischer Ab- bekräftigten alle, die sich mit der Frage sicht zugunsten der realen Autonomie der des schulischen Lernens beschäftigten. Landerziehungsheim-Schüler16. Entstanden Die Schwierigkeit des Umgangs mit den aus den Erlebnissen ihrer späteren Grün- Worthülsen der an der Debatte Beteiligten der als Lehrer in Abbotsholme (Reddie), liegt zweifellos in der unterschiedlichen Bedales (Badley), Ilsenburg (Lietz) oder Interpretation ihres Inhalts. Roches (Demolins), nahmen die Landerzie- Anschaulich zu unterrichten war in hungsheime in der Schweiz einen gesamt- dieser Kontroverse eine Forderung des europäischen Impuls auf und führten ihn methodischen Repertoires, das jeder jahrzehntelang weiter, bis sie – nach dem Lehrkraft geläufig sein sollte. Der Begriff Kriegsende 1945 – ihren Selbstanspruch wurde in seinem didaktischen Gehalt als Reformschulen weitgehend aufgaben17. einem traditionell-klassenzimmerorien- Eine weitreichende Bewegung weg tierte, lehrerzentrierten, am Lehrbuch von den staatlichen Institutionen und hin haftenden Lehrstil entgegengesetzt, den zu den privaten Schulen ist in der Schweiz es zu überwinden gelte, wie die Refor- zu Beginn des Jahrhunderts aber auch mit mer monierten. Darum verlangten sie von

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 21

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 jedem Unterricht, dass er anschaulich sei. Naturlehre, das Unterrichten gemäß dem Anschauung, bezogen auf die damalige Arbeitsprinzip zu vermitteln.19 Lehrerbildung in der Schweiz, setzte den didaktischen Anspruch an einen schüler- gerechteren, weder über- noch unterfor- 4. Das Institut Jean- dernden Unterricht fest. Anschaulich, also Jacques Rousseau, sein am Objekt, an der Sache, erarbeitend, Patronatskomitee, die sollte diese Perspektive praktische, die Kinder beschäftigende Fragen aufgreifen. Publikationen, die Schüler, Bereits in den 70er Jahren des 19. die Briefpartner, die Jahrhunderts wurde die traditionelle Buch- eingeladenen Referenten schule mit der Forderung konfrontiert, man möge anschaulich unterrichten. In Insbesondere am Genfer Institut Jean- der Ausbildung der Lehrkräfte engagierten Jacques Rousseau20 wurden die schul- sich einige Seminardirektoren für eine Se- erneuernden Konzepte erörtert und in minarreform, die auf Stoffabbau und ver- schulreformerisches Handeln umgesetzt. tiefendes Lernen setzte, den Seminaristen Das Institut wurde so zur Drehscheibe der beim Erarbeiten der Inhalte vermehrt Frei- Schulreform in der Romandie. Die Durch- heiten gewährte und dabei die methodi- sicht der Akten in den Archives fördert die sche Komponente nachhaltiger hervorhob. Namen jener Personen zutage, welche dort Die Ausbildner der künftigen Lehrkräf- angehende Lehrkräfte (in der damals und te, die Seminarlehrer, verstanden die Idee lange Zeit danach einzigen nachmaturitären der Anschauung jedoch keineswegs als Lehrerbildung in der Schweiz) unterrichtet ein allein auf die Lehrerbildung bezogenes haben. Ich lege den Akzent auf jene Dozie- Reform­instrument, sondern als Transmis- renden aus dem deutschsprachigen Raum, sionsriemen jeder Schul- und Unterrichts- welche die Verantwortlichen des Instituts reform, als umgreifendes Reformkonzept. als Referenten, als Lehrbeauftragte und als Darum wiesen die seminaristischen Lehrer- Gäste in Diskussionen einluden21. ausbildner ausgangs des Jahrhunderts den Anspruch, den die selbsternannten Schuler- 4.1. Das Comité international de Patrona- neuerer mit dem Hinweis auf einen anschau- ge: Support lichen Unterricht erhoben, indigniert zurück. Die Begriffe Anschauung, Selbsttä- Das zentrale Gremium in der Trägerschaft tigkeit und Selbständigkeit waren in der des Instituts war sein Comité internatio- Schweiz also lange vor der Jahrhundert- nal de Patronage22. Unter den dort ge- wende geläufig. Folgten die einen dabei nannten sechsundsechzig Mitgliedern der in der zweiten Jahrhunderthälfte gän- finden sich die Namen bekannter auslän- gigen Pestalozzi-Interpretation, zählten an- discher und schweizerischer Erziehungs- dere die drei Termini zum Vokabular, das wissenschaftler und Pädagoginnen, z.B. sich gegen eine als verkrustete Institution Georges Bertier (École des Roches), qualifizierte Schule einsetzen ließ. Eng Ferdinand Buisson (Paris/Wien), Gabriel verknüpft mit Konzepten zur Handarbeit, Compayré (Paris), Ovide Decroly (Brüs- Handfertigkeit und zur Arbeitsschule tra- sel), Karl Groos (Tübingen), Stanley Hall ten sie später im Reformdiskurs wieder (Worcester), Ellen Key (Alvastra), Georg auf. Einige Lehrerausbildner bemühten Kerschensteiner (München), August Lay sich allerdings schon vor der Jahrhundert- (München), Ernst Meumann (Hamburg), wende, etwa in den Fächern Deutsch oder Maria Montessori (Rom), Wilhelm Ostwald

22 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 (Leipzig), Wilhelm Rein (Jena), Medard aus 49 Ländern haben die Lehrveranstal- Schuyten (Anvers), William Stern, (Berlin). tungen frequentiert, darunter 216 Männer Zu den sechzehn Mitgliedern aus und 555 Frauen, 318 Schweizer und 435 der Schweiz23 zählen: Érnest Briod (Lau- Ausländer; 160 Diplome sind verliehen sanne), De Cristiani (Genf), Eugène worden, nebst 214 Certificats d’étude26. Dévaud (Fribourg), Dr. Dubois (Bern), Sucht man in den Listen der élèves27, Théodore Flournoy (Genf), Friedrich Wil- der Studenten, nach deutschschweizer helm Foerster (Zürich), Friedrich Fritschi Namen, fallen zu Beginn (1912) lediglich (Zürich), René Guisan (Lausanne), Philip- einige Studierende aus der deutschspra- pe-Auguste Guye (Genf), Émile Jaques- chigen Schweiz und noch weniger aus Dalcroze (Genf/Hellerau), Carl Gustav dem deutschsprachigen Raum auf. Im Jung (Zürich), Jean Larguier Bancel (Lau- Studienjahr 1918/1919 sind es bereits sanne), Édouard Quartier-La-Tente (Neu- mehr, und im Studienjahr 1920/1921 stam- châtel), Dr. Schmid (Bern), Émile Yung men über 50% der Studierenden aus der (Genf), Friedrich Zollinger (Zürich). deutschsprachigen Schweiz – ein Phäno- Unter diesen sechzehn Personen fin- men, das sich bislang nicht erklären lässt. den wir sechs Deutschschweizer oder Nur wenige Hörer in dieser Zeitspanne Deutsche: Dr. Dubois (Professor an der stammen aus dem nichtschweizerischen Universität Bern), Friedrich Wilhelm Förs- deutschsprachigen Raum. ter (Professor an der Universität Zürich), Carl Gustav Jung (Privatdozent an der 4.4. Die Correspondants: Briefpartner Universität Zürich), Dr. Schmid (Direktor und Briefpartnerinnen des eidgenössischen Gesundheitsbü- ros), Dr. Friedrich Zollinger (Sekretär des Die Korrespondenzliste28 weist etliche Unterrichtsdepartements des Kantons Briefpartner mit deutschsprachig klingen- Zürich). den Vornamen und Namen auf. In die- ser Liste sind insbesondere verzeichnet: 4.2. Die Publications: Veröffentlichungen Marthe Bruppacher, Sigmund Freud, Carl Gustav Jung, Carl Albert Loosli, Elisabeth Geht es um Publikationen aus dem Insti- Rotten, Sabine Spielrein-Scheftel, neben tut24, verweist Bovet auf Werke zahlrei- Ovide Decroly und Maria Montessori, cher Protagonistinnen und Vertreter der In einer weiteren Liste, dem Index des Schulreform, die unter der Ägide des In- correspondants, finden sich Hinweise auf stituts publiziert worden sind (Montessori, deutschsprachig klingende Namen. In die- Dewey, Baden-Powell). Ebenfalls erwäh- ser Liste sind insbesondere verzeichnet: nenswert findet er Texte von Absolventen Dr. Binswanger, Eugen Bleuler, C. Buol, der Kurse am Institut (Dottrens, Gunning, Eva Cassirer (Odenwaldschule), Jean- Walther, Anderson, Petre-Lazar), nebst Pierre Egger, Franz Hilker, Ernest Jouhy, dem Verweis auf zwei Periodika (L’Inter- Gabriel Mutzenberg, Ida Somazzi, William médiaire des éducateurs, Archives de G. Stern, neben Célestin Freinet und Mar- Psychologie), an deren Erscheinen das tinus J. Langeveld.29 Institut maßgeblich beteiligt war. 4.5. Die Conférenciers: Referentinnen, 4.3. Die élèves: Studierende Referenten und Lehrbeauftragte

Was die Absolventen25 betrifft, gibt der Mit Blick auf die bereits kurz nach der Grün- Autor Zahlen bekannt: 818 Studierende dung eingeladenen Referenten erwähnt

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 23

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Bovet30 Kurse, Wochenendseminare­­ und dem deutschsprachigen Raum, ergibt sich zufällige Lektionen als Gespräche, die in folgendes Bild. den Lehrprogrammen oft nicht erwähnt seien31. Doch eine Liste aller Namen würde 4.6.1 Personen aus Deutschland Bovet zufolge Seiten füllen. Der Chronist konzediert, dass von den in den ersten Unter jenen knapp zehn Personen Jahren Lehraufträgen32 von Gästen etliche aus Deutschland, die das Institut zwi- Themen allmählich in das Curriculum inkor- schen 1912 und 1932 zu einem Referat poriert worden seien. Später sei es dabei nach Genf einlud, greife ich die in der eher um delikate oder kontroverse Fragen deutschsprachigen Bildungsgeschichte 34 gegangen, welche Spezialisten dargestellt wichtigsten Figuren heraus. hätten – etwa um die religiöse oder die sexuelle Erziehung, die Nationalerziehung Friedrich Wilhelm Foerster (1869-1966) und die staatsbürgerliche Erziehung sowie, Gastreferent, zwei Mal maliziös: um „…praktische Lektionen in Foerster studiert Philosophie in Freiburg 33 Schweizerdeutsch“ , neben Vortrag­ i.Br. und Berlin und habilitiert sich (1898) sreihen über Philanthropie und Erziehung an der Universität Zürich für Ethik und Pä- oder zeitgenössische französische Psy- dagogik. Nach einer kurzen Zeit als Pri- chologie. Erwähnenswert findet Bovet hier vatdozent (Universität Zürich: 1899-1901, den Hinweis auf Wolfgang Köhlers (Berlin) ETH: 1901-1912), ist er Professor (1913- Referat mit dessen Film über die Schim­ 1914) für Ethik und Sozialwissenschaften pansen. an den Universitäten Wien (1913/1914) Eine Reihe von Personen hat improvi- und München (1914-1920). Erst 1917 sierte Vorträge gehalten: Adolphe Ferriè- gibt er seine kriegsverherrlichende Posi- re, Paul Geheeb, Ovide Decroly, Marietta tion auf und wandelt sich zum Pazifisten. Johnson, António de Sena Faria de Va- Von Eisner zum Bayerischen Minister in sconcellos, Elisabeth Rotten, Karl Wilker, der Schweiz ernannt, vom Bundesrat Wilhelm Paulsen, Maria Boschetti-Alberti aber nicht anerkannt, überträgt Foerster und Célestin Freinet. Heinrich Hansel- Deutschland die Verantwortung in der mann hat über Heilpädagogik gesprochen. Kriegsschuldfrage und setzt auf einen Dazu kommen Romain Rolland, Emma Friedensvertrag. Von 1920 bis 1926 lebt Pieczynska (1921) und der Inder Rabin- er im Exil in Zürich, dann (1926-1936) in dranath Tagore. Paris und Hochsavoyen. Nachdem 1933 Fazit: Die Angaben Bovets stimmen die Nationalsozialisten seine Schriften ver- mit den Einträgen auf der Liste der Refe- brannt hatten, emigriert er (1940) nach renten nicht überein. Sich ein Bild zu ma- New York. 1963 kehrt er in die Schweiz chen, fällt infolgedessen schwer. zurück.

4.6. Deutschsprachige externe Dozie- rende, Lehrbeauftragte und Gast- Hugo Gaudig (1860-1923) Gastreferent referenten am Institut Jean-Jacques Nach Studium (Theologie, Philosophie; Rousseau: Personen, biographische Halle) und Promotion (1883) arbeitet Gau- Hintergründe dig als Lehrer an den Franckeschen Stiftun- gen in Halle/Saale und am Realgymnasium Sucht man nach den vom Institut in Gera. Als Direktor der höheren Mäd- zwischen 1912 und 1932 eingeladenen chenschule und des Lehrerseminars kehrt Lehrbeauftragten und Vortragenden aus er 1896 an die Franckeschen Stiftungen

24 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 zurück und wechselt (1900) nach Leipzig Ecole d’Humanité in Goldern/Hasliberg im an die Städtische Höhere Schule für Mäd- Kanton Bern als internationales, koeduka- chen. Seine neuen Lehrmethoden (Freie tiv geführtes Internat mit einem markanten geistige Schularbeit, Selbsttätigkeit) las- pädagogischen Profil ins Leben. sen die Anmeldezahlen hochschnellen. Schulrat und Professor, lehnt er eine Be- Wolfgang Köhler (1887-1967) Gastreferent rufung ins Sächsische Kultusministerium Köhler, mit Max Wertheimer und Kurt und die Nachfolge auf Sprangers Pro- Koffka später der Begründer der Ge- fessur für Erziehungswissenschaft an der staltpsychologie und -theorie, studiert Universität Leipzig ab. Seine Schule wird Philosophie, Naturwissenschaften und zu einem Kristallisationspunkt der deut- Psychologie in Tübingen, Bonn und Berlin, schen Schulreform. Er stellt das Training promoviert (1909) in Psychoakustik und der Lernmethoden der höheren Töchter arbeitet am Psychologischen Institut in ins Zentrum: Arbeitsteilung, Gruppen- Frankfurt am Main, wo er Wertheimer und arbeit, Projektlernen35. Gaudig verbreitet Koffka kennenlernt. Zwischen 1914 und seine Sicht der Didaktik und der Unter- 1920 führt er auf Teneriffa seine wegwei- richtsmethodik 1922 im Baltikum – just zu senden Studien zum Werkzeuggebrauch jener Zeit, als Ernst Schneider an der Uni- und Problemlöseverhalten von Schimpan- versität in Riga lehrt. sen durch. In der Ära des Behaviorismus wurden seine Arbeiten ignoriert. Nachdem Paul Geheeb (1870-1961) Gastreferent die Anthropoidenstation auf Teneriffa ge- Nach dem Abschluss seiner langdauern- schlossen worden war, kehrt Köhler als den Studien (zwanzig Semester in vielerlei Professor (Göttingen) zurück, bevor er an Fächern (1899), einer Tätigkeit als Lehrer der heutigen Humboldt Universität (1922- an den Trüper’schen Anstalten für sonder- 1935) als Direktor des Psychologischen pädagogisch zu betreuende Kinder in Jena, Instituts arbeitet. Während der 1920er einem kurzen Engagement im Kindersana- Jahre gilt Köhler international als einer der torium Wyk auf Föhr, arbeitet er (ab 1902) bekanntesten Psychologen, bevor er nach als Mitarbeiter von Hermann Lietz im Deut- erfolglosen Protesten gegen die Repres- schen Landerziehungsheim Haubinda in salien der Nationalsozialistischen 1935 Thüringen, ab 1904 als dessen Direktor. seine Emeritierung verlangt, Deutschland Infolge persönlicher, politischer und päd- verlässt und als Hochschullehrer in Penn- agogischer Differenzen trennt er sich von sylvania tätig ist. Lietz, gründet 1906 mit Gustav Wyneken die Freie Schulgemeinde Wickersdorf und Wilhelm Paulsen (1875-1943) Gastrefer- schliesslich 1910 mit Edith Geheeb-Cassi- ent, zwei Mal rer die Odenwaldschule in Ober-Hambach Paulsen, Schulreformer und Mitglied des (Hessen). Bis 1930 baut das Paar mit den Bundes Entschiedener Schulreformer Mitarbeitenden das Landerziehungsheim (ab 1919), entwickelt als Berliner Ober- kontinuierlich auf. Aufgrund nationalsozia- stadtschulrat (ab 1921) die Pädagogik listischer Drohungen emigrieren sie 1934 der Lebensgemeinschaftsschulen (gutes mit einigen jüdischen Kindern über den Lernklima, Vermittlung von Inhalten ent- Bodensee (unter Mithilfe von Schohaus lang den aktuellen gesellschaftlichen Be- und Ferrière) in die Schweiz. Nach mehre- dürfnissen – und dies Vom Kinde aus). ren Ortswechseln und Umzügen (Grunder 1920 wird Paulsen erster Schulleiter der 1987c), einem erniedrigenden Hin- und Versuchsschule Tieloh Süd, bevor er kurz Her, rufen er und Edith Geheeb 1946 die später Oberstadtschulrat in Berlin wird.

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 25

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 1924 tritt er aus politischen Gründen zu- Hof Oberkirch ist (1934-1937). Die letzte rück. Zu Beginn der 1930er Jahren zwin- Phase seines beruflichen Lebens verbringt gen ihn die Nationalsozialisten, seinen er in Südafrika und Transvaal, ist Head- Lehrauftrag in Hannover abzugeben. Sein master des Adam College (1937-1955) Buch zur Überwindung der Schule und zur und nach dessen Schließung ab 1956 Grundlegung der Gemeinschaftsschule als Psychologe und Psychotherapeut am sollte ein Jahr später – von Adolphe Fer- Meyrick Bennett Children’s Centre der rière übersetzt und mit einem Vorwort ver- University of Natal, Durban, tätig. 1964 sehen – unter dem Titel L’Ecole Solidariste kehrt Wilker in die BRD zurück. 1975 ver- in französischer Sprache erscheinen. leiht ihm die Universität Frankfurt am Main die Ehrendoktorwürde. Karl Wilker (1885-1980) Gastreferent, mehrmals 4.6.2 Personen aus der deutschspra- In Jena und Göttingen studiert Wilker Na- chigen Schweiz turwissenschaften und Pädagogik, wird bei Wilhelm Rein promoviert und legt Das Institut, v.a. Pierre Bovet, laden zwi- (1909) das Staatsexamen für das Höhere schen 1912 und 1932 rund ein Dutzend Lehramt (Botanik, Zoologie, Mineralogie, Erziehungswissenschaftler und Pädagogin­ Geologie, Pädagogik) ab. Teilzeitlehrer, nen aus der deutschsprachigen Schweiz Vertreter der Abstinenzbewegung (ab zu Vortrag und Diskussion nach Genf ein. 1906), Mitglied des Wandervogels und Einige der bekanntesten Persönlichkeiten Journalist, schließt er 1914 ein Zweit- greife ich heraus. studium (Medizin und Psychologie) ab. Aufgrund dieser personengeschichtli- Nach seinem Einsatz als Arzt für das Rote chen Herangehensweise wird bald einmal Kreuz übernimmt er (1917) die Direktion klar, dass die zu Referaten und Diskussio- der Zwangserziehungsanstalt Berlin-Lich- nen eingeladenen Personen zumindest in tenberg (umgangssprachlich: Lindenhof), einem der vier Beziehungen gestanden die er zu einem Modell für eine humanere haben, die sich zwischen einer Person Fürsorgeerziehung macht. Nach Streit mit und einer Institution ausbilden können: Vorgesetzten und Mitarbeitern beendet er persönliche Freundschaft, wissenschaft- den Versuch (1920) unter Protest und gro- liche Neugier, wissenschaftliche Affinität, ßer öffentlicher Anteilnahme. Nach einer Karriererunterstützung. Ausbildung zum Silberschmied (in Helle- rau) hält er mehrere Vorträge im Institut Carl Albert Loosli (1877-1959) Gastreferent und ist als Pädagoge Mitarbeiter in den Mit dem autobiographisch grundierten Volkshochschulen Thüringens und Sach- Pamphlet über die damaligen KInderver- sens. Mit Elisabeth Rotten gründet er die wahranstalten und seiner radikalen An- deutschsprachige Sektion des Weltbunds staltskritik ist der Berner Kulturkritiker für Erneuerung der Erziehung (New Edu- und Journalist Carl Albert Loosli in der cation Fellowship) (1922) und ediert die deutschsprachigen Schweiz Mitte der Zeitschrift Das Werdende Zeitalter (1923- 1920er Jahre schlagartig bekannt und mit 1933). Die französischsprachige Ausga- seiner klaren und sachlichen Replik auf be verantwortet Adolphe Ferrière. 1933 die Einwände seiner Gegner auch für (so- emigriert Wilker endgültig in die Schweiz, zial)pädagogische Fachkreise interessant wo er zwei Jahre lang an der Schweizer geworden. 1927 nimmt Loosli am Institut Erziehungs-Rundschau mitarbeitet und als Referent an der zweiten Konferenz Co-Direktor des Landerziehungsheims über schwererziehbare Kinder teil: „Das

26 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Wort erhielt auch Carl Albert Loosli, der in der Minderjährigen – Polemiken und der Deutschschweiz eine engagierte Kam- Ergebnisse. pagne für die Reform der Heimerziehung führt.“36 Ernst Schneider (1878-1957) Lehr- Als Jugendfreund Bovets steht Loosli beauftragter; drei Jahre häufig in Verbindung zum Institut. Er hatte Nach der Ausbildung zum Primarlehrer im Waisenhaus der Familie Bovet (einer am Lehrerseminar Muristalden in Bern guten Anstalt, wie er sagen wird) in Grand- ist Ernst Schneider bis 1899 Lehrer in champ (Kanton Neuenburg) drei Jahre Innerberg (Gemeinde Wohlen) bei Bern, seiner Kindheit verbracht (1889-1892) studiert dann an der Universität Bern Pä- und dort auch perfekt Französisch gelernt. dagogik, Philosophie, Geographie und Pierre Bovet, der Sohn des Heimleiter- Geschichte und promoviert 1904 in Päda- paars, ein Jahr jünger als Loosli, ist fortan gogik37. Als Lehrer und Oberlehrer wirkt er ein sehr enger Freund. Dies ermöglicht es an der Übungsschule des Pädagogischen ihm, sowohl mündlich als schriftlich in Fran- Universitätsseminars. Gegen den Protest zösisch zu argumentieren. Für Anstalts- der Lehrerschaft und der Freisinnigen Par- leben sollte das Kuratorium der Stiftung tei wählt die zuständige Kommission den Lucerna, in dem neben Bleuler, Schohaus 27jährigen Pädagogen 1905 zum Direktor und Binswanger auch Piere Bovet sitzt, des staatlichen Lehrerseminars des Kan- 1932 Loosli mit einem Preis ehren (Preis- tons Bern. Hier führt er Doppelstunden, summe: sFr. 1000.-). Zwischen 1933 und Schulreisen, Unterrichtspraktika, freie Auf- 1936 wird Loosli gemeinsam mit Pierre sätze und neue Prüfungsformen ein. Nach Bovet und Pierre de Mestral auf die Ju- dem Berner Seminarhandel und einer gendrechtsgesetzgebung im Kanon Genf Hetzkampagne – Schneider wurde vor- einwirken, was Genf 1937 ein fortschritt- geworfen, während des Unterrichts Psy- liches Jugendgesetzt bringt. choanalyse38 betrieben zu haben – wird er Die Pädagogen in der Romandie ver- 1915 trotz massiver Proteste seiner Schü- standen sich mit Loosli gut. Schon 1924 ler und vieler Seminarabsolventen suspen- möchte die in Genf ansässige deutsch- diert. Aufgrund der Einladung von Bovet sprachige Schriftstellerin Lisa Wenger und Claparède hält er am Institut akade- Anstaltsleben ins Französische überset- mische Übungen ab: Zwischen 1916 und zen. Leider scheut der Verlag Payot das 1919 erteilt er insbesondere einen 14täg- Risiko – das Projekt kommt nicht zustan- lichen Kurs über ausgewählte schulprak- de. Auch Alice Descoeudres und Adolphe tische Themen, Unterrichtstechniken, das Ferrière hatten Loosli zu seinem Pamphlet Thema Unterricht und Erziehung und Fra- beglückwünscht. gen der Psychoanalyse. Bovet stellt fest, 1929 diskutiert Loosli, eingeladen von sein Freund bekunde, anders als Loosli, Bovet, an einem Tafelgespräch am Insti- Mühe, sich französisch auszudrücken – tut Themen der Anstalts- und Familiener- darum sei der Kurs nicht ganz geglückt. ziehung. Nachdem er im Mai 1932 in der Erminio Solari, einer seiner damaligen Schweizerischen Erziehungsrundschau Studenten, schreibt, Schneider trage in (S.E.R.) einen Aufsatz mit dem Titel An- ungeschicktem, aber klar verständlichen staltserziehung veröffentlicht hatte, hält Französisch vor, behandle aber seine The- er, kein Jahr danach, wiederum von Bovet men auf eindrücklich Art. 1918 kündigt initiiert, institutsintern in Genf Referate Schneider die Gründung eines Instituts zu den Themen Jugenderinnerungen, Die in Bern an, das dem Institut Jean-Jacques Strafkolonie zu Trachselwald, Das Recht Rousseau nachempfunden sein würde

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 27

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 – eine Idee, die er nicht realisiert. Ende Bundesparlament, dem Nationalrat (1911- 1919 fragt Bovet Schneider, ob dieser 1917). Seidel zählt vom ausgehenden 19. eine Berufung an die Universität Riga an- Jahrhundert an zu den Führern des linken nehmen würde. Bovet war von der Fakul- Flügels der Arbeiterbewegung. Währen tät beauftragt worden, „einen Schweizer, des 1. Weltkriegs polemisiert er gegen der die westeuropäische Pädagogik kennt, seine Partei. Als linker Sozialpädagoge ausfindig zu machen und vorzuschlagen“39. vertritt er, gegen Kerschensteiner, das Nach einer Erkundungsreise nach Lettland Konzept einer Produktions- und Arbeits- sagt dieser zu und übernimmt im März den schule. Als Referent tritt der im Institut erst Lehrstuhl für Kinderpsychologie und päd- nach seiner Pensionierung auf. agogische Pathologie an der dort kürzlich eingerichteten pädagogischen Abteilung Walter Guyer (1892-1980) Gastreferent der Philosophischen Fakultät. In seinen Nach dem Abschluss am Lehrerseminar Briefen aus Riga diskutiert er in den Jahren Küsnacht (ZH) unterrichtet Walter Guyer, bis 1928 (als er die Stelle verlassen muss) während er in Zürich und Paris Pädagogik, aktuelle pädagogische Fragen in der Zeit- Psychologie, Philosophie und Geschichte schrift Die Schulreform. studiert (1916-1920), promoviert (1920), und wiederum als Sekundarlehrer arbei- Robert Seidel (1850-1933) Gastreferent, tet (1925-1928), bevor er bis 1941 als zwei Mal Hauptlehrer für Pädagogik am Seminar Nach einer Tuchmacherlehre und kurzer Rorschach tätig und schließlich Direktor Tätigkeit als Buckskinweber (Sachsen) des kantonalen Oberseminars in Zürich wird Robert Seidel aktiver Sozialdemokrat ist (1942-1958). Er publiziert über Pesta­ und flieht 1870 nach Zürich, wo er als Ge- lozzi, zum Thema Schule und Nation in Be- schäftsführer der Unternehmungen des drängnis, zu allgemeinpädagogischen und Arbeiterbunds (1876-1879) tätig ist, sich lernpsychologischen Fragen. Gemäßigt berufsbegleitend zum Primar- (1880), dann schulreformerisch eingestellt, vertritt er an der Zürcher Universität zum Sekundar- eine Schule auf werktätiger Basis und for- lehrer (1881-1883) ausbildet. Sechs Jahre dert eine philosophisch begründete Leh- unterrichtet er an der Sekundarschule rerbildung. Guyer sollte Hans Aeblis von Mollis (1884-1890), bevor er die politisch Jean Piaget betreute Genfer Dissertation linksstehenden Publikationen Arbeiterstim- am Rand begleiten. me (1890-1898), Volksrecht (ab 1898) und Grütlikalender (1900-1926) redigiert. Bis Fritz Wartenweiler (1989-1985) 1912 ist er wiederum Sekundarlehrer, quali- Gas­treferent fiziert sich aber auch wissenschaftlich (Pro- Zwischen 1909 und 1911 studiert Fritz motion, Habilitation): Zunächst Privatdozent Wartenweiler Philologie und Philosophie in für Pädagogik an der ETH (ab 1905), dann Berlin und Kopenhagen. In Dänemark liest an der Universität Zürich (ab 1908, wo er er N.F.S. Grundtvigs Publikationen zur bis 1929 als Hochschullehrer wirkt). Volksbildung – das Thema Erwachsenenbil- Wie seine journalistische und päda- dung sollte fortan seine wissenschaftliche gogische Laufbahn, ist auch seine poli- und persönliche Biographie dominieren. tische Karriere bemerkenswert: Für die 1913 wird er an der Universität Zürich Sozialdemokratische Partei sitzt er im mit seiner Studie über den Gedanken der Großen Stadtrat von Zürich (1898-1916; Volkshochschule bei Grundtvig promo- 1919-1921), im Zürcher Kantonsrat (1893- viert. Wartenweiler amtet drei Jahre (1914- 1896; 1899-1917; 1920-1923) und im 1917) als schulreformerisch engagierter

28 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Direktor des Solothurner Lehrerseminars, am Heilpädagogischen Seminar macht. bevor er seine Stelle aufgrund des Dis- Mit dem Begriff Entwicklungshemmung puts über eine Prüfungsnote unter Protest umreisst er ein neues heilpädagogisches verlässt. Er wird Gründer (1919) und bis Konzept und weist damit der Sonderpäda- 1926 Vorsteher des Volksbildungsheims gogik die Aufgabe zu, präventiv oder korri- Nussbaumen bei Frauenfeld. Zudem wirkt gierend auf die Entwicklungshemmungen er, weil immer zu Fuß unterwegs, als wan- von Kindern einzuwirken. Bis heute wird dernder Volksbildner und Vortragsred- Hanselmanns Einführung in die Heilpäda- ner. Neben seinen Veröffentlichungen zu gogik (1930) zitiert. Fragen der Volksbildung, zu Konzepten dänischer Volkshochschulen und zum Ver- Eduard Oertli (1861-1950) Gastreferent hältnis von Schule und Familie, verfasst er Nach der Ausbildung am Lehrerseminar Biographien von Politikern und Philoso- Küsnacht (Kanton Zürich; 1877-1881) phen (Ben Gurion, Gandhi, Nansen, Ein- ist Eduard Oertli neununddreißig Jahre stein). 1940 gehört er zu den Mitgründern Primarlehrer in Riesbach (1890-1929). der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft Neben dieser Tätigkeit wird er zu einem für kriegsgeschädigte Kinder. der Hauptvertreter der Handarbeit in der Schule – auch als langjähriger Redaktor Heinrich Hanselmann (1885-1960) der Schweizerischen Blätter für Knaben- Gastreferent handarbeit (1896-1925). Oertli versucht, Nach seiner Ausbildung am Lehrerseminar den Arbeitsschulgedanken in den deutsch- (Schiers, Kanton Graubünden) ist Hein- schweizer Schulen praktisch umzusetzen. rich Hanselmann Gehörlosenlehrer in St. So führt er, neben der Publikation zahl- Gallen, bevor er in Zürich Psychologie stu- reicher kleiner Schriften zu Handarbeit, diert (Studienaufenthalte in München und Volksschul- und Erziehungsfragen, als Berlin), 1911 promoviert wird, kurzzeitig Präsident des Schweizerischen Vereins Assistent am Psychologischen Institut des für Knabenhandarbeit und Schulreform Senckenbergianums in Frankfurt am Main jeweils im Sommer Lehrerweiterbildungs- wird, die Beobachtungsanstalt für verhal- kurse mit ursprünglich manuellen, ab 1909 tensgestörte Jugendliche Steinmühle nahe zusätzlich didaktisch-methodischen Pro- Frankfurt am Main (1911-1916) leitet und grammakzenten durch. 1932 verleiht ihm 1916 kriegsbedingt nach Zürich zurück­ die Universität Zürich für sein Wirken in kehrt. Bis 1923 wirkt er als Sekretär von diesem Bereich den Titel eines Doktors Pro Juventute, habilitiert sich (1924) an ehrenhalber. der Universität Zürich mit einer Studie über Die psychologischen Grundlagen der Max Oettli (1879-1965) Gastreferent Heilpädagogik und initiiert die Gründung Oettli studiert am Eidgenössischen Poly- des Heilpädagogischen Seminars an der technikum in Zürich Naturwissenschaften, Universität, dessen erster Leiter er wird. erwirbt das Diplom als Fachlehrer (1902) Ein Jahr danach (1925) unterstützt ihn und promoviert an der Universität Zürich der Winterthurer Mäzen Alfred Reinhart mit einer Arbeit über die Ökologie der bei der Gründung des Landerziehungs- Felsflora des Alpsteins. Bis 1921 ist er heims Albisbrunn in Hausen am Albis (für Lehrer im Landerziehungsheim Glarisegg, heilpädagogisch zu betreuende Kinder) wo er Ferrière und von Greyerz kenneng- – in diesem Kontext muss Adolphe Fer- lernt haben muss, bevor er sein Lebens- rière ihn kennengelernt haben –, das er thema, den Kampf gegen den Tabak- und zur Übungsschule für die Studierenden Alkoholmissbrauch, auch zu seinem

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 29

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 beruflichen Schwerpunkt macht: als Leiter sowie Lehrer an der Kantonsschule der Schweizerischen Zentralstelle zur Be- (1893-1995) und entwickelt als theologisch kämpfung des Alkoholismus (Lausanne; liberaler Geistlicher einen Sinn für soziale 1921-1947), Gründer der Geschäftsstel- Fragen. 1906 beteiligt er sich an der Ent- le der Vereinigung zur Aufklärung über stehung der religiös-sozialen Bewegung die Tabakgefahren und als Präsident des sowie an der Gründung der Zeitschrift Alkoholgegner-Bundes. Oettli proagiert Neue Wege, die er als Hauptredaktor be- Schülerexperimente im naturwissenschaft- treut (1921-1945). Professor für systema- lichen Unterricht und gehört der Jugend- tische und praktische Theologie an der schriftenkommission des Schweizerischen Universität Zürich (ab 1908), nähert sich Lehrervereins an. Ragaz der Arbeiterbewegung an, indem er sich 1903 in Basel mit den streikenden Clara Ragaz (1874-1957) Gastreferentin Bauarbeitern solidarisiert und später in Zü- Nach dem Abschluss des aargauischen rich den Generalstreik unterstützt. In der Lehrerseminars (1892) arbeitet Clara internationalen Bewegung des religiösen Nadig als Hauslehrerin in England, Frank- Sozialismus’ eine zentrale Figur gewor- reich und im sowie als Lehrerin den, kämpft er gegen marxistische und in Zürich. Kurz vor ihrem Mann, Leonhard staatszentrierte politische Modelle und en- Ragaz, tritt sie 1913 in die Sozialdemokra- gagiert sich für einen föderalistisch-genos- tische Partei ein. Ragaz zählt 1902 zu den senschaftlich-pazifistischen Sozialismus. Gründerinnen des Schweizerischen Bun- 1921 tritt er von seiner Professur zurück des abstinenter Frauen in Basel. Nach dem und geht in die Bildungsarbeit im Zürcher Beitritt zur Union für Frauenbestrebungen Arbeiterquartier Aussersihl und in die re- (1907), engagiert sie sich in der Sozialen ligiös-soziale Bewegung. Als Präsident Käuferliga (1908-1915), leitet 1909 die der Schweizerischen Zentralstelle für Frie- Schweizerische Heimarbeitsausstellung in densarbeit ist er zwischen 1918 und 1939 Zürich, neben ihrem sozialen Engagement einer der Exponenten der antimilitaristi- für die Arbeiterinnen in Aussersihl. Als Do- schen Friedensbewegung in der Schweiz. zentin an der Sozialen Frauenschule prä- Als die Sozialdemokratische Partei 1935 sidiert sie (1929-1946) als Vizepräsidentin die militärische Landesverteidigung befür- die Internationale Frauenliga für Frieden wortet, tritt Ragaz aus. Gegen Antisemitis- und Freiheit, deren Schweizer Sektion sie mus und Nationalsozialismus engagiert, 1915 mitgründet. Damit zählt Clara Ragaz lässt er die Neuen Wege illegal erschei- zu den bedeutendsten Schweizer Pazifis- nen (1941-1944), weil er die verordnete tinnen und Feministinnen der ersten Hälfte Vorzensur verweigert. Mit seiner Reich- des 20. Jahrhunderts. Das Gebot christ- Gottes-Theologie, die verbunden ist mit licher Ethik impliziert für sie das Engage- politischem Engagement, liegt er nahe an ment für eine gerechte Gesellschaft, für den nachmaligen befreiungstheologischen den Frieden und für das Recht der Frauen Konzepten. auf politische Beteiligung. Elisabeth Rotten (1882-1964) (1868-1945) Gastreferent Gastreferentin Ragaz studiert Theologie in Basel, Jena In einer Berliner Familie aufgewachsen, und Berlin, wird Pfarrer am Heinzenberg studiert Rotten Germanistik, Philosophie (Kanton Graubünden; 1895-1902), in und neuere Sprachen an deutschen Uni- Chur und am Basler Münster (1902-1908) versitäten, promoviert (1912), engagiert

30 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 sich, zur Pazifistin geworden, während des bei Bern ein Erziehungsheim und wirkt als 1. Weltkriegs in der Kriegsgefangenenhil- Seminarlehrer in Rorschach (1925-1928), fe und wird Mitgründerin der Auskunfts- bevor er 1928 als Direktor und Lehrer für und Hilfsstelle für Deutsche im Ausland Psychologie und Pädagogik an das thur- und Ausländer in Deutschland (1914). gauische Lehrerseminar in Kreuzlingen Nach dem Krieg setzt sie ihre Arbeit im berufen wird, wo er bis 1962 arbeitet. pädagogischen Bereich fort und arbeitet Wichtig für Schohaus ist die These, wo- international mit Friedensaktivisten und Ex- nach die Qualität der Schule nicht von äu- ponentinnen der Schulreformbewegung ßeren Reformen, sondern vom Geist des zusammen. Mit Adolphe Ferrière und Beat- Lehrers abhänge. Er setzt auf eine Erzie- rice Ensor gründet sie den Weltbund für Er- hung in bildender Kunst, Musik und Litera- neuerung der Erziehung (World Education tur. 1933 erregt sein Buch Schatten über Fellowship (WEF); 1921), ist Mitglied des der Schule ebenso Aufsehen wie 1936 die Gründungsvorstands und ab 1949 dessen Pressekampagne gegen die Zustände in Vizepräsidentin. Nachdem sie bis 1933 der aargauischen Erziehungsanstalt Aar- an mehreren pädagogischen Reformver- burg. suchen in Deutschland mitgearbeitet hatte (u.a. an der Odenwaldschule), emigriert Leo Weber (1876-1969) Gastreferent sie 1934 in die Schweiz und lebt in Saa- Weber absolviert an der Pädagogischen nen (Kanton Bern), wo sie sich nach 1945 Abteilung der Kantonsschule Solothurn am Aufbau des Kinderdorfs Pestalozzi in die Lehrerausbildung (Lehrerpatent: Trogen beteiligt. Referentin in ganz Euro- 1895), wird Lehrer in Breitenbach und pa, verfasst sie pazifistische und pädagogi- Deitingen, lässt sich an den Universitä- sche Werke, arbeitet bei Fachzeitschriften ten Bern und Paris zum Sekundarlehrer und ediert die deutschsprachige Version ausbilden (1897-1900), versieht Stellen der Publikation des World Education Fel- in Biberist (1901-1908), an der Töchter­ lowship, Das werdende Zeitalter (1922- schule St. Johann in Basel (1908-1911) 40 1932) . Sie ist mit Claparède, Bovet und und studiert berufsbegleitend Pädagogik Ferrière Gründerin des Internationalen und Psychologie an der Universität Basel. Erziehungsbüros (Bureau Internationale Weber ist Lehrer (Deutsch, Geschichte) 41 d’Education; 1925) in Genf , ab 1919 Mit- an der Solothurner Kantonsschule (1911- glied des Präsidiums der Deutschen Liga 1914), Schulinspektor und schließlich So- für den Völkerbund, wo sie die Erziehungs- lothurner Seminardirektor (1918-1946), abteilung leitet), 1937 Vizepräsidentin der also der Nachfolger von Fritz Wartenwei- Associazione Montessori Internazionale ler auf diesem Posten. Weber organisiert und 1948 Mitgründerin der Fédération Bildungskurse für Arbeitslehrerinnen und internationale des communautés d’enfants. Kindergärtnerinnen, verfasst Lesebücher und Studien zur Schulgeschichte und ist Willi Schohaus (1897-1981) Gastreferent Redaktor pädagogischer Periodika. Nach deutschen Kriegsdienst (1917-1918) und einer Mitgliedschaft im Spartakusbund­ und am Spartakusaufstand in Berlin 5. Zusammenfassung und Fazit (1919), studiert Schohaus Theologie in Zürich und Basel sowie Philosophie, Päd- Zunächst scheinen es verstreute deutsch- agogik und Psychologie in Bern, wird zum sprachige Pädagoginnen und Erziehungs- Dr. phil. promoviert (1922), gründet in Muri wissenschaftler zu sein42, deren Bezug

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 31

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 zum Institut Jean-Jacques Rousseau hier gegenseitiger Hilfe, was die Karriere an- zu erörtern ist. Bei näherem Hinsehen fällt geht. Politisch betrachtet, entstammen die aber auf: Es handelt sich bei den deutsch­ Gäste des Instituts weitgehend der bürger- sprachigen Gästen des Instituts um eine lichen Schicht, außer etwa Seidel, Loosli größere Gruppe teilweise langjähriger oder Ragaz. Pädagogisch besehen sind es Freunde und Kämpfer und Kämpferin­ ausnahmslos reformerisch, insbesondere nen für eine Lebensreform und eine pä- schulreformerisch engagierte Personen, dagogische Reform – hier Deutsche und nebst den erwähnten Exoten, deren Einla- Schweizer. Daneben sind wichtige zeit- dung ans Institut illustriert, dass die Genfer genössische Wissenschaftler eingeladen – trotz der eingeschränkten und unsyste- worden, die nicht zu dieser eher engen matischen Auswahl der wenigen Referen- Gruppe von Gesinnungsfreunden zählen. tinnen und zahlreicheren Referenten – ein Sie alle lehren, präsentieren und disku- gutes Gespür gehabt haben für interes- tieren in Genf. Sind die Dozierenden aus sante Außenseiter, wie etwa Wartenweiler, Deutschland (wie jene aus anderen Län- den Volkshochschulpropagandisten und dern der Welt) einflussreiche Pädagogen Wanderprediger in Sachen Erwachse- oder Exoten, welche sich mit einer Einla- nenbildung, oder Carl Albert Loosli, den dung zum Vortrag am Institut schmücken Freund Bovets aus Neuenburger Tagen dürfen, profiliert sich das Genfer Institut und radikalen Jugendanstaltsreformer. mit diesen illustren Namen als Pionierin Einige Beispiele: einer neuen Erziehung43. Was die Gruppe der deutschsprachi- – Bovet holt seinen Freund aus den Kin- gen Lehrbeauftragten und Conférenciers der- und Jugendtagen in Grandchamp betrifft, sind deren zentrale Referenz Pierre zum Referat, wohl zu einer Causerie, Bovet, Edouard Claparède und Adolphe nach Genf. Loosli kennt Schneider, den Ferrière. Die drei Protagonisten einer 1915 verjagten Direktor des Berner neuen Erziehung definieren die Gruppe Lehrerseminars sicher schon seit 1905. der Personen aus der deutschsprachigen – Bovet arrangiert für Ernst Schneider Schweiz, die in Genf zwischen 1912 und eine Teilzeitstelle als Lehrbeauftragter 1932 tätig sind. Es sind ihre Weggenos- in Genf, bevor er dem Berner zu einer sen, Freunde, Mitstreiter, die sie nach Professur an der Universität in Riga Genf einladen – und es sind durchwegs verhilft. schulreformerisch engagierte Personen, – Heinrich Hanselmann gründet das die sie nach Genf holen. Dass diese unter heilpädagogische Landerziehungs- sich auch bekannt sind und vermutlich den heim Albisbrunn (1925), was ihn mit einen oder anderen ihrer Freunde in Genf Ferrières dokumentarischer Arbeit empfehlen, liegt nahe. im Bureau International des Écoles Man kann also von einem Klüngel spre- Nouvelles (B.I.E.N.) in Kontakt bringt. chen, von Personen, die sich gut kennen, Hanselmanns zentraler Begriff der dann weitere alte oder jüngere Bekannte Entwicklungshemmung dürfte Clapa- involvieren, aber keine Gegner oder gar rèdes entwicklungspsychologisches unbekannten Personen mitrekrutieren. Die Interesse geweckt haben. Motive, jemanden aus dem deutschsprachi- – Aus dem Umfeld Ferrières, jenem gen Raum zum Vortrag einzuladen, liegen der écoles nouvelles à la campagne, demzufolge sowohl in dessen fachlich-wis- stammt auch Max Oettli, der über senschaftlicher Kompetenz als auch in der Glarisegg schreibt, wo er damals Förderung guter Freunde, gelegentlich in unterrichtet.

32 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 – Das Ehepaar Clara und Leonhard Werdende Zeitalter, dessen franzö­ Ragaz engagiert sich in der Friedens- sischsprachige Variante (Pour l’Ère bewegung, was die Affinität zu Bovets Nouvelle) in den Händen Ferrières Ansätzen der moralischen Erziehung liegt. und der Friedenspädagogik (und – Friedrich Wilhelm Foerster, nach einer damit auch zur diesbezüglich proble- rund dreijährigen Begeisterungspha- matischen Person Friedrich Wilhelm se für den 1. Weltkrieg, mutiert zum Försters) illustriert. späteren Friedenpädagogen, was ihn – Über Ernst Schneider, der sich nach Bovet, der zuvor schon friedenspäda- 1916 auch linkspolitisch engagiert hat gogisch aktiv ist, nahebringen muss. (und über die Idee eines religiösen, – Hugo Gaudig engagiert sich für das pazifistischen Sozialismus), nach- tätige Handeln im Unterricht, er ist ein dachte, müsste Bovet auf Leonhard bekannter Arbeitsschulpädagoge, geht Ragaz und über das Thema Frauen also konzeptuell mit Ferrière konform. und der Friede auf Clara Ragaz auf- – Paul Geheeb steht den Genfern, v.a. merksam geworden sein. Ferrière, der ihn und seine Schule – Eduard Oertli ist mit seinen in Deutsch während Jahrzehnten stützt und för- erschienenen Publikationen zur dert, sehr nahe. Arbeitsschule und zur Knabenhand- – Wilhelm Paulsens Sicht der Schul- arbeit Ferrière sicher aufgefallen reform entspricht jener der Genfer – Elisabeth Rotten gehört in den Kreis Pädagogik, v.a. wenn es um die Ein- der Pazifistinnen, der international be- heitsschule geht (in Genf: Cycle gründeten Konzepte von Bildung und d’Orientation). Ausbildung, der Landerziehungsheime – Robert Seidel, der jahrelang mit Ker- und des Weltbunds für Erneuerung schensteiner um die Deutungshoheit der Erziehung – ihre Beziehungen zum des Begriffs Arbeitsschule streitet44, ist Institut sind eng. ein in die Schweiz immigrierter sächsi- – Willi Schohaus, Kämpfer gegen die scher Weber und nun politisch aktiver Anstaltserziehung (Aarburg) wie Loos- Sekundarlehrer, später habilitierter Er- li, Freund Schneiders und Organisa- ziehungswissenschaftler, Zürcher Kan- tor der Flucht der Geheebs und ihrer tonsparlamentarier und schliesslich Schule über den Bodensee in die Nationalrat für die Sozialdemokratische Schweiz (1934), kennt Ferrière, der die Partei – und zeitlebens einer der vehe- Geheebs in der Schweiz jahrelang be- mentesten Exponenten der Arbeits- gleiten sollte (1933-1946). Die wohl er- schule. Mit Ferrière und Claparède heblichen weltanschaulich-politischen muss er seinen Ansatz erörtert haben. Differenzen zwischen Schohaus und Ferrière scheinen irrelevant zu sein. Soweit der Versuch der Vernetzung der ans Institut in Genf Eingeladenen anhand Dasselbe gilt im Übrigen für die aus einiger Beispiele. Es bleibt, einen Blick Deutschland stammenden Referenten – auf eine besondere Person, einen Schüler, die Bezüge dieser Personen zum Institut einen élèven des Instituts, zu werfen. sind thematisch und persönlich zuweilen Annex: Jakob Robert Schmid stark ausgeprägt: oder der Maître camarade und die Freiheitspädagogik – Karl Wilker, der Jugendstrafreformer, Auf einen deutschschweizer Stu- redigiert mit Elisabeth Rotten Das denten des Instituts ist im Sinn eines

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 33

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 rezeptionshistorischen Ausblicks einzuge- wichtigen Hinweisen unterstützt hat. hen: auf Jakob Robert Schmid (1909-1977), 2 Ab hier: Institut Jean-Jacques Rousseau: dessen Dissertation über den Maître- Institut. Archives de l‘lnstitut Jean-Jacques Rousseau: Archives. camarade et la pédagogie libertaire45 (be- 3 Grunder, Hans-Ulrich 1986: Von der Kritik zu treut von Piaget und Claparède), über den Konzepten. Aspekte einer Geschichte der die Hamburger Lebensgemeinschafts- Pädagogik der französischsprachigen Schweiz schulen, und insbesondere aufgrund des im 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main: quellenbezogen äußerst unsorgfältig ana- Haag&Herchen; Grunder, Hans-Ulrich 1987a: lysierten Tagebuchs eines der Schulleiter Die École Nouvelle in der französischsprachi- einer der Lebensgemeinschaftsschulen, gen Schweiz. Schulkritik und Schulreform zu 46 Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Pädagogi- William Lottigs , 1937 in der Reihe des sche Rundschau, 6, S. 721- S. 745. Instituts bei Delachaux&Niestlé in Neu- 4 Hofstetter, Rita/Schneuwly, Bernard (Hrsg.) châtel erschienen ist. 1973, im Gefol- 2011: Zur Geschichte der Erziehungswissen- ge der 68er-Jahre, sollte Schmid seinen schaften in der Schweiz. Bern: hep, S. 363. Band auf Deutsch übersetzt und mit den 5 Zum forschungsmethodologischen Ansatz: alten Fehldeutungen behaftet unter dem Es geht hier um eine biographisch-realge- Titel Freiheitspädagogik nochmals pub- schichtliche Betrachtung. Allerdings verzichte ich an dieser Stelle darauf, die sozialhistori- lizieren. Schmid hatte nach seinem Stu- schen Hintergründe und die mentalitätsge- dium der Pädagogik in Zürich, Berlin und schichtlichen Aspekte der Situation in der Basel 1936 in Genf promoviert und wurde deutschsprachigen Schweiz zu Beginn des 1948 (bis 1976) Professor für praktische 20. Jahrhunderts auszuleuchten, während­ Pädagogik an der Universität Bern. Zeit- dem ich institutionengeschichtliche Aspekte lebens setzte er sich mit seinem Genfer anspreche. Zum Verhältnis von Reformpädagogik und Promotionsthema, also dem, was er anti- pädagogischer Reform: Hansmann, Otto autoritäre Pädagogik nannte, auseinander. 2005: Reformpädagogik oder pädagogische Allerdings schrieb er in einer seltsamen Reform. Aachen: Shaker; Grunder, Hans-Ul- Fehldeutung den sozialdemokratischen rich 2015: Schulreform und Reformschulen. Schulerneuerungen im Hamburg liber- Bad Heilbrunn: Klinkhardt; s.a. Schneiders täre, anarchistische Züge zu47, die diese zeitgenössischen Beitrag zur Positionierung gar für sich reklamiert haben. Schließlich der historischen Pädagogik, eines seiner bevorzugten Themen am Lehrerseminar: vertrat er erziehungstheoretisch und er- Schneider, Ernst 1956: Aus meinen Lern- und ziehungspraktisch einen pädagogischen Lehrjahren. Bern: Pestalozzi-Fellenberg-Haus Mittelweg, der wenig mit seiner Gen- und Schneider, Ernst 1907: Die historische fer Erfahrung zu tun gehabt haben kann Pädagogik am Seminar. In: Schweizerische und den er autoritative Erziehung nannte. Pädagogische Zeitschrift, 17, S. 275 - S. Schmid war während fast dreißig Jahren 284. Schneiders schulhistorische Disserta- als Professor für Pädagogik, wie später tion ist bis heute lesenswert: Er wertet darin unter einer architekturhistorischen und mo- Hans Aebli (ebenfalls ein Schüler Piagets) dernitätstheoretischen Perspektive die Frage innerhalb der Ausbildung der Lehrkräfte 15 (a bis d) zum Schulhausbau der Stapfer- im Kanton Bern sehr einflussreich. Enquête von 1800 aus: Schneider, Ernst 1905: Die bernische Landschule am Ende des 19. Jahrhunderts. Bern: G. Grunau. 6 Zum Verhältnis von damaliger Lehreraus- Anmerkungen bildung und Reformpädagogik: Grunder, Hans-Ulrich 1993: Seminarreform und Re- 1 Ich bedanke mich bei Elphège Gobet, Archi- formpädagogik. Bern: Peter Lang. varin an den Archives Institut Jean-Jacques 7 Zum Forschungsstand zur europäischen Rousseau, die mich bei der Recherche mit Reformpädagogik, insbesondere zu den

34 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 zahlreichen Variationen erziehungs-, bil- von Stadtschulrat Dr. Kerschensteiner aus dungs- und schulreformerischen Denkens München. Zürich: Orell Füssli. und Handelns: 14 Seidel, Robert 1885: Der Arbeits-Unterricht Barz, Heiner (Hrsg.) 2018: Handbuch Bil- eine pädagogische und soziale Notwendig- dungsreform und Reformpädagogik. Wies- keit zu gleich eine Kritik der gegen ihn erho- baden: Springer VS; Mayer, Sina Maren benen Einwände. Tübingen: Laupp; Seidel. 2018: Die Reformpädagogik in der aktuellen Robert 1910: Der Arbeitsunterricht, eine Kontroverse: eine Metaperspektive, Disserta- soziale und pädagogische Notwendigkeit. tion Universität Augsburg; Skiera, Ehrenhard Zürich: Orell Füssli. 2018: Reformpädagogik in Geschichte und 15 Ferrière, Adolphe 1928: Tatschule. Weimar: Gegenwart: eine kritische Einführung. Berlin, H. Böhlau (fr. Original: École Active, Neu- Boston: Oldenbourg (reprint); châtel: Delachau&Niestlé 1921); Grunder Zur Definition, zu Charakteristika und zu Im- 1986; Grunder 1987a. plikationen des Begriffs Reformpädagogik: 16 Erst 1946 sollten Edith und Paul Geheeb Oelkers, Jürgen 2005: Reformpädagogik: in Goldern, im Berner Oberland, die École eine kritische Dogmengeschichte. 4. vollst. d’Humanité gründen, nach ihrem zwölf Jahre überarb. Aufl. München: Juventa. Grunder dauernden Exil in der Schweiz – das einzige 2015, S. 83 ff.; Ullrich, Heiner, Idel, Till-Se- Landerziehungsheim in jenem reformpädago- bastian (Hrsg.) 2017: Handbuch Reformpäd- gischen Sinn, das heute in der Schweiz noch agogik. Weinheim: Beltz. existiert: Grunder, Hans-Ulrich 1987c: Paul Zur Internationalität der Reformpädagogik: Geheeb und die École d’ Humanité in der Helmchen, Jürgen 1987: Die Internationalität Schweiz. In: Bildung und Erziehung 4, S. 379 der Reformpädagogik: vom Schlagwort zur - S. 392; vgl. Grunder, Hans-Ulrich 1995a: historisch-vergleichenden Forschung. Olden- Qui étaient les fondateurs des Landerzie- burg: Universität Oldenburg. hungsheime suisses? In: Hameline, Daniel/ 8 Bovet, Pierre 1925: Différenciation ou indivi- Helmchen Jürgen/Oelkers, Jürgen (Hrsg.): dualisation. In: Éducateur, 12, S. 177- S. 181. L’éducation nouvelle et les enjeux de son his- 9 Grunder, Hans-Ulrich 1995b: Schulreform toire. Bern: Peter Lang, S. 197 - S. 205. und Jugendkultur: Wandervogel und Mäd- 17 Grunder, Hans-Ulrich 1987b: Das schwei- chenwandervogel in der Schweiz. In: Päda- zerische Landerziehungsheim. Frankfurt am gogische Rundschau, 53, S. 269 - S. 293. Main: Peter Lang. 10 Zu einer damals als modern eingestuften 18 Die erste Generation von Landerziehungs- Geistesströmung, jener der Aktivisten auf heimen in der Schweiz umfasst sechs dem Monte Verità im Tessin, hat der Wander- Gründungen: vogel meines Wissens keine Beziehung ge- 1899 Institut Grünau, Looser, Wabern, Kan- knüpft. Was eine verwandte Institution, die ton Bern Ferienkolonien betrifft, waren diese bereits 1902 Schloss Glarisegg, Frei/Zuberbühler, eingeführt – und überdies vor einem durch- Steckborn, Kanton Thurgau aus unterschiedlichen sozialen Hintergrund 1906 Schloss Kefikon, Bach, Islikon, Kanton zu sehen, so dass sich die Wandervögel Thurgau damit nicht beschäftigten. 1907 Hof Oberkirch, Tobler, Kaltbrunn, Kan- 11 Grunder, Hans-Ulrich 1994: Émile Jaques- ton St. Gallen Dalcroze (1865-1950) - Reformpädagoge, 1907 École Nouvelle de la Suisse Romande, Musikerzieher, Rhythmiker. In: Pädagogi- Vittoz, Chailly, Kantont Waadt sches Forum, 1, S. 25 - S. 35. 1908 La Châtaigneraie, Schwartz, Coppet, 12 Grunder, Hans-Ulrich 1997: Zukunftsschule Katon Waadt - Arbeitsschule. Ein Lehrstück aus der Ge- Nach 1910 kommen die École-Foyer (Kanton schichte pädagogischer Kontroversen. In: Waadt), die École Nouvelle (Kanton Waadt) erziehen/unterrichten, 3, S. 49 - S. 53. und der Schlosshof Hallwil (Kanton Aargau) 13 Kerschensteiner, Georg 1908: Die Schu- dazu. le der Zukunft eine Arbeitsschule. In: Der 19 Zu thematisieren wäre hier auch die Stadt Saemann, 2, S. 36 - S. 50; Seidel, Robert Genf als ein Zentrum der Erziehungsreform 1908: Die Schule der Zukunft, eine Arbeits- um 1900, das mit den Namen T. Flournoy, É. schule. Kritik und Ergänzung des Vortrages Claparède, P. Bovet, A. Ferrière, J. Piaget,

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 35

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 R. Dottrens oder L. Meylan verbunden war correspondants (A-Z), ohne Datum. (Grunder 1987a; Soler i Mata, Joan 2009: 30 Bovet 1932, S. 138 - S. 143. The Rousseau Institute of Geneva’s influence 31 „…leçons occasionelles (des causeries dont on and presence in Catalan pedagogy in the on ne retrouvera pas toujours la mention dans first third of the 20th century. Catalan soci- nos programmes“ (Bovet 1932, S. 138). al sciences review, 1. 58-87 (2012) (DOI: 32 „leçons séries“, Bovet 1932, S. 138. 10.2436/20.3000.02.5 http://revistes.iec. 33 … „des leçons pratiques de Schwyzer- cat/index/CSSr. dütsch“, Bovet 1932, S. 140. Erwähnenswert sind zwei Alternativen zum 34 Zu den biographischen Angaben: vgl. www. gängigen Schulwesen, wie sie einige Lau- hls.ch (Historisches Lexikon der Schweiz), sanner Anarchisten und zwei Neuenburger Zugriff: 7.5.2019. Lehrer praktiziert haben – die École Ferrer 35 Gaudig, Hugo 1909: Didaktische Präludien. (1910-1919) und die École des Terreaux, eine Leipzig: Teubner, Gaudig, Hugo 1917: Die Freinet-Schule in Neuchâtel (1929-1939). Schule im Dienste der werdenden Persön- Zur Reformpädagogik in der deutschspra- lichkeit. 2 Bde. Leipzig: Quelle & Meyer, Gau- chigen Schweiz: Criblez, Lucien 1995: dig, Hugo 1923: Was mir der Tag brachte. Reformpädagogik in der Krise: Krise der Re- Leipzig/Berlin: Teubner, Gaudig, Hugo 1925: formpädagogik. In: Bildungsforschung&Bil- Freie geistige Schularbeit in Theorie und dungspraxis, 2, S. 194 - S. 209; Grunder, Praxis. Breslau: Hirt; Zigmunde. Alida 2010: Hans-Ulrich 2007: Anarchistische Erziehung Hugo Gaudig. Pädagogische Konzeption als libertäre Reformpädagogik. Baltmanns- und sein Besuch im Baltikum 1922. Eine his- weiler: Schneider; Grunder 2015; Gronert, torische Momentaufnahme. Riga: Verlag der Maren, Schraut, Alban (Hrsg.) 2018: Hand- Technischen Universität. buch Vereine der Reformpädagogik, über- 36 „On donna la parole à M. Carl Albert Loosli, regional arbeitende reformpädagogische qui mène avec vigeur et courage une cam- Vereinigungen sowie bildungsentwicklerisch pagne pour la réforme des Anstalten de la initiative Einrichtungen mit Brückenfunktion in Suisse allemande.“ (Bovet 1932, S. 89); vgl. Deutschland, Österreich, der Schweiz, Süd- Marti, Erwin 1999: C.A. Loosli (Bd. 2). Zü- tirol und Liechtenstein. Baden-Baden: Ergon. rich: Chronos, Marti, Erwin 2009: C.A. Loosli 20 Die Geschichte des Instituts ist umfassend (Bd. 3.1.). Zürich: Chronos, S. 213. dokumentiert: Hofstetter, Rita 2010: Genève: 37 Grunder 1993, s.a. Grunder, Hans-Ulrich creuset des sciences de l’éducation (fin du 2013: Die Kraft der Persönlichkeit im Feld XIXe siècle - première moitié du XX siècle. der Erziehung: Das Beispiel Ernst Schneiders Genève: Droz. Deswegen verzichte ich hier (1887-1957), Pädagoge, fortschrittlicher Er- auf vertiefende Erläuterungen. zieher, früher Verlierer – und später Gewinner 21 Vgl. Programmes de cours avec noms des (unveröffentlichtes Manuskript, beim Autor); enseignants: http://www.unige.ch/archi- Weber, Kaspar 1999: „Es geht ein mächti- ves/aijjr/sourcesenligne/institutionnelles/ ges Sehnen durch unsere Zeit“. Bern: Peter programmes/. Lang; Schneider 1956. 22 Hofstetter 2010, S. 648. 38 Als Hinweise zur damaligen Debatte um den 23 Hofstetter 2010, S. 648. Einfluss der Psychoanalyse auf die Erneue- 24 Bovet, Pierre 1932: Vingt ans de vie (1912- rung der Erziehung: Bühler, Patrick 2013: 1932). Neuchâtel: Delachaux&Niéstle, S. Unterrichten mit Gefühl – Psychoanalytische 178 -S. 185. Pädagogik zu Beginn des 20. Jahrhunderts. 25 Bovet 1932, S. 191- S. 196. In: Jahrbuch für historische Bildungsfor- 26 Studienzertifikat. schung, 19, S. 247 - S. 261, Bühler, Patrick 27 Insbesondere im Livre d’or des étudiants: 2014: Der „letzte Zufluchtsort für Stürmer http://cms.unige.ch/AIJJR/livredor/. und Dränger“? Psychoanalytische Pädago- 28 Index 1912-1947; s.a.: Listes des étudiants gik in den „Berner Seminarblättern“ und der et auditeurs: http://www.unige.ch/archi- „Schulreform“ 1907-1930. In: Schweizeri- ves/aijjr/sourcesenligne/institutionnelles/ sche Zeitschrift für Bildungswissenschaften, etudiants-et-auditeurs/. 1, S. 51- S. 65, Bühler, Patrick 2018: Neue 29 Vgl. Index de la correspondance alphabéti- Formen des Heils und der Heilung. Zur Psy- que de la direction (1912-1947), Index des chopathologie des Schullebens am Anfang

36 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 des 20. Jahrhunderts. In: Bühler, Patrick, nouvelle au XXe siècle: Itinéraires et conne- Bühler, Thomas (Hrsg.): Sakralität und Päda- xions. Grenoble: Presses universitaires de gogik. Bern: Haupt, S. 173 - S. 193. Grenoble. 39 Weber 1999, S. 281; Schneider 1956, S. 86. 44 Seidel 1885, Seidel 1908, Seidel 1910; Ker- 40 Die englischsprachige Version edierten Beat- schensteiner 1908. rice Ensor und Alexander S. Neill, die franzö- 45 Genau übersetzt: Der Lehrer als Kamerad sischsprachige gab Adolphe Ferrière heraus. und die libertäre Pädagogik. 41 Das Piaget später während vierzig Jahren 46 Schmid, Jakob Robert 1937): Le maître- leiten sollte; vgl. Grunder, Hans-Ulrich 1992: camarade et la pédagogie libertaire. Neuchâtel: Jean Piaget als Reformpädagoge. Piaget Delachaux&Niestlé (Thèse de doctorat, Uni- und die éducation nouvelle zu Beginn des versité de Genève) (Neuauflage: s. Schmid 20. Jahrhunderts: vergessene Kontexte und 1973), Schmid, Jakob Robert 1973: Frei- systematische Bedeutung. In: Pädagogische heitspädagogik. Schulreform und Schulre- Rundschau, 5, S. 541 - S. 563. volution. Deutschland 1919-33. Reinbek b. 42 Hofstetter, Rita Schneuwly, Bernard (Hrsg.) Hamburg: Rowohlt; Grunder, Hans-Ulrich 2011: Zur Geschichte der Erziehungswissen- 2014: Kämpfen gegen Windmühlen und schaften in der Schweiz. Bern: hep. reale Mächte: William Lottigs Tagebuch 43 Zu Bezügen der deutschsprachigen Schul- (1919-1921) als Ausdruck der politischen, reformer in der Schweiz zu den Vertretern pädagogischen und schulinternen Macht- der Education nouvelle in Genf zu Beginn verhältnisse in einer Hamburger Gemein- des 20. Jahrhunderts: Grunder 1987a, schaftsschule zu Beginn der 1920er Jahre. In: S. 201; Hofstetter 2010; Hofstetter, Rita/ Paedagogica Historica: International Journal Schneuwly, Bernard 2011; Go, Henry- of the History of Education, 50, 4, 1-9 (DOI: Louis/Hofstetter, Rita/Riondet, Xavier 10.1080/00309230.2014.927512). (éds.) 2018: Les acteurs de l‘éducation 47 Grunder 2007.fff

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 37

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0

PR 2020, 74. Jahrgang, S. 39-62 © 2020 Andreas Pehnke - DOI https://doi.org/10.3726/PR012020.0003

Andreas Pehnke

Willy Steiger (1894-1976): Vom kreativen Versuchsschullehrer zum Mit-Initiator einer öffentlichen Diskussion über die Aufwertung von Reformpädagogik in der „Tauwetterperiode“ 1956

Willy Steiger gehört als geradezu begna- Zimmermanns geboren, wurde Willy Stei- deter Vollblutpädagoge der staatlichen Ver- ger nach achtjährigem Besuch der mitt-

© 2020 suchsschule in der Gartenstadt Hellerau leren Volksschule in Leipzig-Gautzsch bei Dresden und zugleich gefragter Autor konfirmiert. Von Ostern 1909 erwarb er reformpädagogischer Praxisberichte zum sich im Volksschullehrerseminar in Leip- Kreis der Schulpraktiker innerhalb des de- zig-Connewitz das grundlegende Wissen mokratischen Flügels der vielschichtigen und Können für den mit Neigung ergriffe- Reformpädagogik. Seine Dokumentationen nen Beruf und bestand im August 1914 die wie „Fahrende Schule“ (1924, 21926) oder Reifeprüfung. Während seiner Seminar- sein Hauptwerk „S’ blaue Nest“ (1925) zeit inspirierte ihn besonders der Technik- zählen zu den Klassikern erfolgreich geleb- didaktiker Johannes Kühnel, der ihm auch ter Reformpädagogik. Wenngleich das „S’ lebenslang ein pädagogisches Vorbild blaue Nest“ auf dem Höhepunkt der konse- bleiben sollte. Als jugendbewegt gepräg- quentesten Bildungsreformphase der Bun- tes Mitglied der Wandervogelbewegung desrepublik der sechziger und siebziger stellte sich Steiger im September 1914 als Jahre nochmals 1977 und 1978 neu aufge- Kriegsfreiwilliger. Er diente zunächst an der legt worden ist, sucht man Steigers Namen Westfront. Während der Herbstschlacht in den aktuellen Nachschlagewerken zur 1915 in der Champagne überlebte er einen Geschichte und Gegenwart der Reformpä- Giftgaseinsatz nur knapp – und hatte aber dagogik leider vergeblich. lebenslang seinen Geruchssinn verloren. 1916 wechselte er freiwillig in die Orient- armee. Als jüngster Offizier der Pascha I. Ausbildungsjahre im I-Verbände bildete er deutsche, türkische und arabische Soldaten für die Anwen- Wilhelminischen Deutschland dung moderner Waffentechnologien aus sowie Militärzeit im und wurde zugleich Zeitzeuge und später Ersten Weltkrieg auch mit seinem Roman „Soldat Jürgen bei den Türken“ (1928) ein Chronist des Am 8. August 1894 in Leipzig-Dölitz Völkermords an den Armeniern.1 Infolge als Sohn einer Schneiderin und eines des Desasters der Palästinaschlacht geriet

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 39

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 er im Herbst 1918 für ein Jahr in britische Dresdner Georgplatz (1920-33), die VS Kriegsgefangenschaft in Sidi Bishr (Ägyp- in Hellerau (1921-33), die VS in Leipzig- ten). Nach seiner Heimkehr trat Steiger Connewitz (1921-25), die Humboldt-VS zunächst im Januar 1920 eine Hilfsleh- in Chemnitz (1921-33) und der Versuchs- rerstelle in Dresden-Kaitz an, bevor er im klassenzweig an der Bernsdorfer Schu- Oktober 1920 seine avisierte Stelle als le in Chemnitz, sowie die einzige höhere ständiger Lehrer an der Volksschule in Hel- VS Sachsens, die Dresdner Dürerschule lerau übernehmen konnte. (1922-33), verstanden sich als koedukati- ve weltliche Arbeits- und Gemeinschafts- schulen mit Selbstverwaltung und sie II. Versuchsschulpraxis in der waren vom amtlichen Lehrplan bis Ende Gartenstadt während der 1923 weitgehend befreit. Fächerüber- ersten deutschen Republik greifender Gesamtunterricht in der Unter- stufe und Projektarbeit im arbeitsteiligen Den nachhaltigsten Innovationsschub hat Gruppenunterricht in Mittel- und Oberstu- die Reformpädagogik in der Periode der fe waren die zentralen Lehr- und Lernfor- Weimarer Republik durch ein sich entwi- men des Unterrichts, Selbstbestimmung ckelndes breitgefächertes Netz von mehr und soziale Verantwortung, Solidarität und als 200 staatlichen Versuchsschulen er- Kooperationsfähigkeit ihre obersten Lern- fahren, die sich neben weiteren Reform- ziele. Die kollegiale Schulleitung unterlag schulgründungen in privater Trägerschaft, einer ständigen demokratischen Legitima- wie die erste Waldorfschulgründung 1919 tion durch das Lehrerkollegium.3 in Stuttgart, reichsweit zumeist in den Nach der verfassungsrechtlich höchst Großstädten etablieren konnten. Die von umstrittenen Reichsexekution gegen der Volksschullehrerbewegung in Sach- Sachsen im Herbst 1923 mangelte es sen getragenen reformpädagogischen infolge der installierten konservativen Initiativen waren zu Beginn der Weimarer Bildungspolitik natürlich an der aktiven Republik ein fester Bestandteil eines um- Unterstützung demokratisch-reform- fassenden gesamtgesellschaftlichen Mo- pädagogischer Initiativen. So verstand dernisierungsprozesses gewesen. Denn Willy Steiger sein reformpädagogisches der Freistaat war seit Ende 1920 – wenn Hauptwerk „S’ blaue Nest“, in dem er lt. auch nur für knapp drei Jahre – Schau- Untertitel seine „Erlebnisse und Ergeb- platz eines von der SPD und der USPD nisse aus einer vierjährigen Arbeit mit initiierten „linksrepublikanischen Projek- einer Volksschuloberstufe“ dokumentier- tes“, dessen Ziel in der energischen De- te, auch als einen „gellenden Aufschrei, mokratisierung von Staat und Gesellschaft einen flammenden Protest“ gegen die bestand. Dieser Zusammenhang zwischen konservative Bildungspolitik seit 1924, demokratischer Schul- und Gesellschafts- wie er es in seinem Nachwort unmissver- reformpolitik unter den sozialistischen ständlich zum Ausdruck brachte.4 Steiger Minderheitsregierungen in deren Amtszeit war es unmöglich gemacht worden, seine vom Dezember 1920 bis Oktober 1923 erfolgreiche Reformpraxis fortzuführen, bildete den politisch-gesellschaftlichen denn administrative Zwänge ließen die Hintergrund für den Start der Versuchs- Umsetzung seiner bis dahin betriebenen schulpraxis in Sachsen.2 Schulreformarbeit nur noch teilweise zu. Die fünf sächsischen Versuchsschulen Sämtliche Vergünstigungen wie Abminde- (VS) für den Volksschulbereich, die VS am rungsstunden für die Versuchsschullehrer

40 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 oder die gesondert finanzierten Zusatz- zusammen mit Lilian Lindsay-Neustätter unterrichtsstunden für die Schüler dieser eine koedukative Heimschule zu gründen, Modellschulen wurden bis zum Ende der die als Summerhill School sodann weltbe- Weimarer Republik durch die Notverord- kannt werden sollte. Neills Reformpädago- nungen für den Bildungssektor gestrichen. gik-Programm, das von Grundgedanken Hinzu kamen öffentliche Diffamierungen der Psychoanalyse und der radikal-sozia- seitens der christlichen Elternvereine listischen Gesellschaftskritik ebenso be- gegen die reformpädagogische Praxis stimmt war wie vom sozialpädagogischen an den Versuchsschulen im Allgemeinen Konzept der Kinderrepubliken, hatte schon sowie ihrer generellen republikanischen während seiner Tätigkeit in Hellerau erste und nicht selten pazifistischen Bekenntnis- Konturen angenommen. Zum Schulviel- se im Besonderen. faltsangebot der Gartenstadt zählte auch In der spezifischen Gartenstadtatmo- die von Carl Theil 1920 gegründete Neue sphäre wirkten auch international renom- Schule Hellerau, die sich der Landerzie- mierte Reformpädagogen, die Hellerau hungsheimbewegung zugehörig fühlte und förmlich zu einem Pilgerort der reform- bereits nach einem Jahr mit der Internatio- pädagogischen Enthusiasten aus dem nalen Schule fusionierte. In den Reigen In- und Ausland werden ließen. Die erste innovativer Bildungsangebote in Hellerau Reformpädagogen-Generation war dem gehört freilich auch die Versuchsschule. Ruf Wolf Dohrns nach Hellerau gefolgt, Des Weiteren etablierten sich in Hellerau des ersten Geschäftsführers des einfluss- Lehrwerkstätten mit firmeneigenen Fach- reichen Deutschen Werkbundes und ent- schulen, Handwerkerschulen und sozial- scheidenden Mäzens der Gartenstadt, pädagogisch orientierte Einrichtungen der mehr schaffen wollte als nur einen wie das „Waldhaus“ Hellerau. Schließlich selbstständigen Wohnorganismus, näm- koordinierte Elisabeth Rotten von 1930- lich ein fortschrittliches kulturelles Leben, 34 ihre Aktivitäten für die New Education ein bedeutendes geistiges Zentrum. So Fellowship (NEF) von ihrer geliebten Gar- gelangte die Tanzschule Hellerau unter tenstadt aus, wo sie u.a. als Dozentin an Leitung ihres Genfer Tanzpädagogen der Ausbildungsstätte für Sozialarbeiter Èmile Jaques-Dalcroze ebenso zu inter- lehrte.5 nationalem Ruhm wie die von Alexander Dohrns Pläne sollten Wirklichkeit wer- S. Neill 1921 mitbegründete Internationa- den, denn Jaques-Dalcrozes rhythmische le Schule. Während Jaques-Dalcroze mit Erziehung avancierte zu einem Ausgangs- Beginn des Ersten Weltkrieges Deutsch- punkt des Ausdruckstanzes der zwanziger land verlassen musste und seine Schüler Jahre, den Mary Wigman, die 1910-13 an diese private Rhythmikschule 1919 neu der Dalcroze-Schule ausgebildet wurde, gründeten, kehrte Neill im Zuge der be- am nachhaltigsten prägte. Sie gründete reits erwähnten Reichsexekution zurück 1920 in Dresden die Wigman-Schule, aus auf die britische Insel, weil sich die Rah- der u.a. Gret Palucca hervorging, die wie- menbedingungen für die Weiterentwick- derum 1925 eine eigene Schule für künst- lung reformpädagogischer Bestrebungen lerischen Tanz in Dresden eröffnete. Und erheblich verschlechterten. Mit fünf Schü- die mit der Dalcroze-Bildungsanstalt ins lern der Internationalen Schule zog es Neill Leben gerufenen Festspiele sollten Helle- zu einem Anwesen auf dem Summer Hill rau zu einer internationalen „Künstlerkolo- in Lyme Regis, einer Kleinstadt in der süd- nie“ werden lassen, in der beispielsweise west-englischen Grafschaft Dorset, um Rainer Maria Rilke, Franz Werfel, George

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 41

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Bernhard Shaw, Franz Kafka, Walter Ha- ist ‚S’ blaue Nest’, so nannte er sein senclever, Stefan Zweig, Paul Adler, Emil Klassenzimmer.“6 Strauß oder Alfred Kurella arbeiteten. Entsprechend seiner im Ersten Welt- In dieser Gartenstadtatmosphäre von krieg gewonnenen Erfahrungen machte Hellerau begannen Willy Steiger und die es sich Steiger und seinen Kollegen zur von ihm im Schuljahr 1920/21 für ein ge- Pflicht, die Bildungs- und Erziehungsarbeit meinsames Reformpädagogik-Projekt für von allen nationalistischen und militaristi- seine Schule gewonnenen Max Nitzsche, schen Einflüssen zu befreien. Nitzsches Arno Wegerdt, Helmut Gröger, Rudolf hauptsächliches Bemühen galt der inhalt- Wittig Ostern 1921, ihr Versuchsschul- lichen und methodischen Ausgestaltung projekt umzusetzen. Wenig später stieß des Werk- und Zeichenunterrichts, in Wilhelm Grampp dazu. Wegerdt erinnerte denen er vor allem die Forderung nach er- sich später über den Start des Versuchs- höhter Aktivität und Selbstständigkeit des schullehrerteams wie folgt: „Schulleiter Kindes realisieren wollte. Beide versuch- wurde Nitzsche, der älteste und erfah- ten darüber hinaus, die heranwachsende renste der modernen Pädagogen. [...] Generation durch ausgedehnte Wande- Sie waren allesamt Idealisten und be- rungen zur Weltoffenheit und Lebensbe- kennende Atheisten, und sie standen jahung als Alternative zur Verkümmerung politisch links. Sie waren zumeist Vege- zwischenmenschlicher Beziehungen zu tarier und Anhänger der Freikörperkultur. führen. Für sie war die Arbeit als Lehrer nicht Als demokratisch legitimierte Schul- Beruf sondern Berufung. [...] Da standen leiter wurden 1922-25 Nitzsche, 1925-28 sie vor mir [...], in kurzen Wandervogel- Wegerdt und 1928-33 Gröger durch das hosen, alle Vegetarier und Gegner des Versuchsschullehrerteam gewählt. Wäh- Alkohols und Nikotins, der quicklebendi- rend der gesamten Versuchsschuldauer ge, blonde kleine Steiger, mit seinem la- hatte Steiger das Vertrauen als Stellver- chenden Gesicht, der lange [...] Gröger tretender Schulleiter erhalten. Wenngleich und als jüngster Wittig. Jeder der Leh- Steiger ein stets präziser Beobachter rer hatte seine fachlichen Schwerpunkte und Kritiker der sozialen Verhältnisse im [...]. So befruchteten sie sich gegensei- Kaiserreich wie in der ersten deutschen tig. Sie gingen völlig in ihrer Arbeit auf. Demokratie war und darüber in seinen Fast jeden Abend saßen wir in engerem Veröffentlichungen gesellschaftskritisch Kreis beisammen, meist bei Nitzsche. Wir reflektierte, drängte es ihn zu keinem Zeit- waren so begeistert von unserer Arbeit, punkt in die vordersten Reihen, wenn es unsere Köpfe waren so vollgestopft von um Ämter und Funktionen ging. In den Fragen, dass wir oft drei- oder vierstim- Berufskorporationen der Lehrerschaft ver- mig sprachen. Es verging kaum ein Tag, suchte Steiger vor allem seine Reformge- an dem ich nicht mit einem oder mehre- danken für eine freiheitliche Erziehung in ren Freunden beisammen war. Sonntags der Presse, im Rundfunk, in Büchern und unternahmen wir oft gemeinsame Ausflü- Aufsätzen sowie in zahlreichen Vorträgen, ge. Im Laufe der Jahre erschienen zahlrei- so im Bund Entschiedener Schulreformer che Aufsätze und Broschüren, in denen und im Sächsischen Lehrerverein auf na- diese Lehrer von ihrer Arbeit berichteten tionaler oder in der World Federation of und fachliche Anleitungen gaben. [...] Am Education Associations (WFEA) sowie in meisten schrieb Steiger, bis in die sechzi- der NEF auf internationaler Ebene öffent- ger Jahre hinein. Sein bekanntestes Buch lich und überzeugend zu vertreten. Exem- plarisch sei hier nur seine aktive Teilnahme

42 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 an der Konferenz der WFEA vom 20. bis Die soziale Zusammensetzung der 27. Juli 1925 in der schottischen Haupt- rund 300 Schüler dieser Versuchsschule stadt Edinburgh erwähnt. veränderte sich gravierend: Waren 1921- Wie in keiner anderen sächsischen 24, also in der Zeit, die Steiger mit seinem Versuchsschule wurde in Hellerau von An- „S’ blaue Nest“ beschreibt, die Schüler beginn eine konstruktive Zusammenarbeit Kriegskinder, die in Zeiten der Hungersnot zwischen staatlichen und privat getrage- und der Hyperinflation (1923) aufwuch- nen Bildungseinrichtungen – quasi Tür an sen, mitunter lange Jahre ohne Vater, viele Tür – realisiert. So verwundert es nicht, für immer vaterlos, in überfüllten Klassen dass seit Bestehen dieser Volksschule hin- und hergeworfen, von einem über- Kurse in rhythmischer Gymnastik oder arbeiteten Lehrer zum anderen gegeben, zum Handarbeitsunterricht zum festen ein Drittel unter dem durchschnittlichen Bestandteil fakultativer Angebote zählten. Normalgewicht wiegend und teilweise drei Das Versuchsschullehrerteam war sich bis vier Jahre in ihrem Wachstum und ihrer über das große Ziel ihrer Arbeit schnell Körperentwicklung zurück. In der unmittel- einig geworden, die Schüler zur Mündig- baren Nachkriegszeit war der junge Indus- keit zu erziehen: „Kulturkritik in der Schule trieort ohne Tradition zudem durch starke klingt vermessen und muss doch all denen wirtschaftliche Spannungen geprägt, so selbstverständlich sein, die zu freiem befanden sich zahlreiche Arbeiter lange Menschentum erziehen, nicht mehr aber Zeit in der Aussperrung. Zu den Hellerau- Untertanen und Knechte züchten wollen“, ern Kindern stießen die aus dem Arbei- konstatierte Steiger und führte fort: „Und ter- und Industriedorf Rähnitz hinzu. Die wo gesunde Menschen natürlich aufwach- Kindheits- und Jugendforschung spricht sen im wirklichen Leben ohne Parteibril- in diesem Zusammenhang von „konflikt- le, Bürokratenzöpfe und Klostermauern, geladener Doppelgemeinde, angesiedelt muss eine Kritik einsetzen an den größten zwischen Arbeiter-Armenhaus und idyl- Verfallserscheinungen unserer so gern ge- lischer, kleinbürgerlicher Gartenstadtre- rühmten Kultur.“7 form“.8 In der zweiten Hälfte der zwanziger Nach relativ kurzer Versuchsschul- Jahre verstärkte sich der ausgesprochen arbeit machte Steiger bereits Anfang 1922 kleinbürgerliche Einschlag in der Dresd- in geradezu spektakulärer Weise auf seine ner Pendlergemeinde, weil es zunehmend Schulpraxis überregional aufmerksam, Elternwille wurde, die Kinder nach der indem er mit seinen Schülern Berechnun- Grundschulzeit auf ein Gymnasium wech- gen darüber anstellte, welche sozialen seln zu lassen. Beispielsweise nahmen Leistungen möglich wären, wenn die Fi- 1928 rund 50 Prozent der Schüler einen nanzen für den Alkoholkonsum alternativ solchen Wechsel vor. Das führte selbstver- genutzt werden würden. Das Ergebnis, ständlich dazu, dass die leistungsstärks- dass an einem einzigen Münchner Okto- ten Kinder für die Versuchsschularbeit berfest eine Summe in Alkohol umgesetzt schmerzlich vermisst wurden. wird, mit der eine ganze Gartenstadt oder Neben seinem fachlichen Schwerpunkt 400 Einfamilienhäuser errichtet werden „Wirtschaft“, profilierte sich Steiger als lei- könnten, ließ sogleich die Medien aufhor- denschaftlicher Kritiker des Systems des chen. „Eine Gartenstadt – vertrunken“, Sitzenbleibens oder der Praxis des Aus- avancierte zum Leitartikel der Frankfurter sortierens von Schülern mit Lernschwie- Zeitung vom 21. März 1922 und wurde rigkeiten. So fasziniert Steiger durch zwei Tage später in der Dresdner Volks- verschiedene Fallbeispiele seiner individu- zeitung nachgedruckt. ellen Förderung von sog. Problemschülern

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 43

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 und schaffte es damit als Autor in renom- Liquidierung des Dresdner Carl Reissner mierte pädagogische und psychologische Verlages 1939 konnte Steiger seine 1925 Fachzeitschriften wie der von Alfred Adler begonnene nebenberufliche Arbeit als in Leipzig herausgegebenen „Internationa- Lektor dieses prominenten Verlagshau- len Zeitschrift für Individualpsychologie“.9 ses noch ausüben, indem er vor allem die Des Weiteren machte sich Steiger durch Werke der von den Nationalsozialisten ge- folgende Veröffentlichungen überregional ächteten Künstler wie Käthe Kollwitz oder einen Namen: die Edition von Schüler- Georg Grosz förderte und darüber hinaus briefen „Unsere Alpenfahrt“ (1925), die verbotene fachwissenschaftliche Litera- die Vorbereitung und Durchführung einer tur wie zum Beispiel Richard Lewinsohns Exkursion seiner Klasse dokumentiert, 1932 erschienenes Buch „Die Welt aus die gemeinsam mit Wilhelm Grampp her- den Fugen“ oder Ernst von der Deckens ausgegebene gesundheitspädagogische zeitgleich – im übrigen mit Fotos von Stei- Publikation „Praktische Menschenkunde“ ger aus Bethlehem – veröffentlichter Titel (1930) oder die technikdidaktische Arbeit „Ein Sünder fährt in heiliges Land“ illegal „Die Benzinkutsche“ (1931) bis hin zu sei- vertrieb. Ihm gelang es darüber hinaus in ner kindgerechten Pionierarbeit zum Thema mutiger Weise, sowohl jüdische als auch der Globalisierung mit dem Titel „Müllers ausländische Bürger materiell zu unter- und die weite Welt“ (1931). Und schließ- stützen. lich wird den Leser heute überraschen,­ In seiner Schule musste Steiger bei- wie aktuell Steigers engagierte Kritik zur nahe monatlich die Gründe angeben, erschreckenden Relation von Rüstungs­ warum er nicht der NSDAP beitreten ausgaben auf der einen und Bildungsaus- wolle. Lange hat Steiger sich erfolgreich gaben auf der anderen Seite noch nach wehren können. Aber als Adolf Hitler mit mehr als neun Dekaden anmutet.10 Josef Stalin im August 1939 einen Nicht- angriffspakt schloss, glaubte er dem an- III. Innere Emigration im dauernden Druck nicht mehr widerstehen zu können, um seine berufliche Situation Nationalsozialismus und letztlich nicht zu gefährden. So wurde der Einberufung zur Wehrmacht zwischenzeitlich vom genannten Pakt Ge- im Zweiten Weltkrieg täuschte erst später, mit Datum vom 1. Juni 1943, für die vorgesehene Dauer von Die Nationalsozialisten ordneten bereits zwei Jahren als „Anwärter“ für eine Partei- am 5. April 1933 an, „dass sämtliche öf- mitgliedschaft geführt. Zu dieser Zeit war fentliche Versuchsschulen allmählich in Steiger längst zur Wehrmacht eingezogen. Normalschulen übergeführt werden sol- Ohne in irgendeiner Weise im Kontext len“, so Wilhelm Hartnacke, der „Beauf- der Partei tätig geworden zu sein, verlief tragten des Reichskommissars für das sich diese Anwärterschaft im Sande; zu Volksbildungsministerium“.11 Zugleich einer Vollmitgliedschaft kam es nicht. Al- verfügten die neuen Machthaber Steigers lerdings wird dieser Anwärter-Aktenver- Zwangsversetzung zunächst nach Lausa merk später, im Kontext der in Sachsen bei Dresden-Weixdorf und sodann an die sehr undifferenziert geführten Entnazifizie- 4. Dresdner Volksschule. Seine Publika- rungsverfahren, für Steiger kurzzeitig Un- tionen „Fahrende Schule“ und „Soldat Jür- annehmlichkeiten bringen. Nach Steigers gen bei den Türken“ wurden auf die „Liste Angaben waren weder seine Eltern, seine der schädlichen und unerwünschten Bü- Geschwister, seine Ehefrau noch sein cher“ gesetzt und beschlagnahmt. Bis zur Sohn Mitglied in der NSDAP oder einer

44 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 ihrer angeschlossenen Organisationen. Entlassung. Verwaltungsbeamte nahmen In der Rubrik „der NSDAP angeschlos- die aufgefundene Notiz von der bereits er- sene Verbände“ gab Willy Steiger in den wähnten Anwärterschaft auf Eintritt in die obligatorischen Fragebögen der Landes- NSDAP zum Anlass, Steigers Weiterbe- regierung Sachsen nach Kriegsende an, schäftigung als Lehrer zu verweigern. dass er Mitglied in der Nationalsozialisti- An diesen „Entnazifizierungsverfahren“ sche Volkswohlfahrt (NSV), dem National- erhitzten sich seinerzeit die Gemüter an sozialistischer Lehrerbund (NSLB) sowie Sachsens Schulen. Die Frage nach dem im Reichsluftschutzbund (RLB) war. Zeit- Umgang mit der eigenen Vergangenheit weise wurde er während des NS-Regimes und der Beurteilung der Rolle des Lehr- als Luftschutzlehrer (L-Lehrer) eingesetzt. körpers in der Zeit des Nationalsozialis- Von 1941-44 wurde Steiger in die Rück- mus barg viele persönliche Probleme und wärtigen Dienste der Wehrmacht befohlen Zündstoff. Steiger forderte diesbezüglich und diente zuletzt als Bahnhofsoffizier im eine differenziertere Bewertung als die Osten. erlebte Praxis der Verteufelung fast aller Kollegen, die während der Nazi-Diktatur im Schuldienst unterrichtet hatten. Die IV. Im Ost-West-Dialog vom Dresdner Kultusministerium durch der Nachkriegsjahre den überehrgeizigen Ministerialdirektor Wilhelm Schneller, dem früheren Mitschü- IV. 1 Widersprüchliche Erfahrungswerte ler Steigers am Leipziger Lehrerseminar,13 mit der „Entnazifizierung“ ausgelösten Entlassungswellen gingen für Steiger weit über die differenzie- Erst nach der Befreiung von der national- rungsbetonten Festlegungen sowohl des sozialistischen Diktatur, von der die Deut- Potsdamer Abkommens, der für Sach- schen sich selber nicht hatten freimachen sen zuständig gewesenen sowjetischen können, ließ sich Steiger wieder an seine Bildungsoffiziere Dragin und Medwijew Volksschule nach Hellerau zurückverset- sowie der Lehrergewerkschaft hinaus. zen, wo er am 11. Juli 1945 – wie schon Steiger erlebte demgegenüber eher ein 24 Jahre zuvor – zum Stellvertretenden Exempel zur Demonstration unnachgie- Schulleiter gewählt wurde. Als frischge- biger Konsequenz und Härte im prakti- wähltes Schulleitungsmitglied hatte er so- zierten „Entnazifizierungsprozess“. Die gleich durch den Stadtschulrat Clemens getroffenen Entscheidungen zur Entlas- Dölitzsch ausdrücklich bescheinigt be- sung zahlreicher Lehrer konnte er nur als kommen, dass er „den nicht politisch be- Symptom sich anbahnenden Machtmiss- lasteten Lehrern gleichgestellt“ sei.12 Aber brauchs einiger neu ins Amt getretener schon zum Ende des Jahres musste er Entscheidungsträger der Schulverwaltung wieder den Schuldienst quittieren, weil im deuten, denn der ursprünglich erwogene Zuge der rigiden „Entnazifizierungsverfah- differenzierte Umgang mit Pädagogen, die ren“ in Sachsen verfügt wurde, dass alle sich als Mitglieder (oder eben Anwärter) noch im Schuldienst beschäftigten Mit- der NSDAP und/oder ihrer Gliederun- glieder der NSDAP oder ihrer angeschlos- gen aktiv in das „Dritte Reich“ angepasst senen Gliederungen sofort zu entlassen hatten, wurde durch die Formalisierung seien. Während Steiger von der verfügten in der Handhabung der Bestimmungen, Entlassungswelle zum 15. November zu- jedes Mitglied dieser Organisationen zu nächst noch verschont blieb, folgte unmit- Aktivisten des NS-Regimes zu erklären, telbar vor Weihnachten 1945 auch seine entkräftet.14

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 45

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Daraufhin ließ sich Steiger, der zwi- wollte, wurde ihm sogleich sinngemäß schenzeitlich von April bis Oktober 1946 entgegnet: Wir wissen, dass sie nie ein als Büchereileiter der Gemeinde Hellerau Faschist gewesen sind! Sie haben das tätig war, zahlreiche Bürgschaften von Vertrauen der ganzen Gemeinde! Zeitgenossen und Weggefährten wie dem Bereits nach kurzer Zeit wurde Steiger jüdischen Arzt Ivan Saphra, der bereits an folgerichtig als einer der ersten rehabili- der Palästinafront und in der Kriegsgefan- tiert. In einer ihm übermittelten „Bestäti­ genschaft in Ägypten an der Seite Steigers gung über den erbrachten Nachweis der war und 1939 in die USA auswandern antifaschistischen Betätigung“ vom 8. musste, oder von früheren Autoren des Februar 1946 heißt es: „Der Sonderaus- Carl Reissner Verlages ausstellen, die un- schuss des Blocks der antifaschistisch- bestritten zu den anerkannten Größen des demokratischen Parteien [SPD, KPD, kulturellen Lebens zählten. Sämtliche Ver- LDPD, CDU] im Bundesland Sachsen hat fasser warben für Steigers Integrität und in seiner Sitzung vom 7. Februar 1946 auf differenzierten seine Aktivitäten vor und Grund der ihm vorgelegten Unterlagen nach der Machtübertragung an die Natio- einstimmig beschlossen, den Nachweis nalsozialisten. Beispielsweise schrieb Sa- Ihrer antifaschistischen Tätigkeit als er- phra aus New York: „Es tut einem in der bracht anzusehen. Die Voraussetzungen Seele weh, wenn man sieht, wie Ihr, die für eine etwa von Ihnen begehrte Aufnah- guten und unschuldigen Antifaschisten, me in eine der Blockparteien sind damit mit denen leiden müsst, die es oft nicht erfüllt. Für eine Anwendung von Maß- besser verdient haben.“15 nahmen gegen ehemalige Mitglieder der Den Lebensunterhalt der Familie si- NSDAP oder ihrer Organisationen sind cherte Steiger in dieser Zeit vor allem als in Ihrem Falle mit diesem Beschluss die Autor von Beiträgen für den Rundfunk. So Voraussetzungen entfallen. Für den Be- gestaltete er allein 57 Rundfunksendungen schluss war maßgebend, dass Sie nach zum Themenkomplex „Reformpädagogik & einheitlicher Auffassung des Ausschusses Schulreformen“. Daraufhin schrieb Saphra einen bewussten Kampf gegen den Nazis- in seinem Brief vom 4. September 1946: mus geführt haben, indem Sie 1933 aus „Ich freue mich, dass Du beim Rundfunk politischen Gründen aus dem Schuldienst einen Halt gefunden hast. Ich erinnere zunächst entlassen und dann strafversetzt, mich noch, wie ich in der Frühzeit des bis zum Jahr 1939 mit einem von den Nazis Schulfunks in Suhl zuhörte, wie Du über in den Tod getriebenen antifaschistischen das Auto mit Deinen Kindern übertrugst.“16 Verleger zusammengearbeitet und mit ihm Des Weiteren kümmerte sich Steiger in mehrere Auslandsreisen gemacht haben, der Gemeindebibliothek vor allem um die um die Verbindung mit jüdischen und an- Säuberung des Buchbestandes von natio- deren nazifeindlichen Autoren aufrecht zu nalsozialistischer und militaristischer Lite- erhalten. Sie haben weiter unter vollem ratur. Außerdem wurde er während seines Einsatz ihrer Person bis 1935 verschiede- laufenden „Entnazifizierungsverfahrens“ ne Juden materiell und ideell unterstützt, demonstrativ von Jugendgruppen, der illegal mit ihnen zusammengearbeitet und Organisation der Naturfreunde und von sind schließlich in gerechter Sache mutig verschiedenen Betrieben in Hellerau als für Ausländer eingetreten.“17 Referent zu Themen über Völkerverständi­ Nachdem Steigers Weggefährte Max gung, Reformpädagogik und Jugend- Nitzsche als kommissarischer Leiter der arbeit verpflichtet. Wenn er seinerseits bei Volksschule Hellerau im August 1946 den Vortragsangeboten Bedenken äußern nochmals bei den zuständigen Behörden

46 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 um die Wiedereinstellung Steigers in den Zuchthaushaft im Alter von 47 Jahren ver- Schuldienst warb, durfte Willy Steiger wie- starb und dem er zugleich ein Denkmal in der seine Unterrichtstätigkeit an der Schu- derartigen Vortragsveranstaltungen zu set- le in Hellerau – lt. seinem Arbeitsbuch – ab zen suchte. 16. Oktober 1946 unter dem Direktorat Ab 1. September 1954 wurde der bis von Wilhelm Grampp fortsetzen. Etwa dahin begnadete Vollblutpädagoge berufs- zeitgleich mit seinem Wiedereintritt in den unfähig, so schied er nach insgesamt 37 Schuldienst hatte Willy Steiger von der ½ Jahren Unterrichtstätigkeit aus seinem Landesverwaltung Sachsen den Auftrag geliebten Lehrerberuf aus. Als Autor blieb erhalten, ein Geschichtslehr- und Arbeits- Willy Steiger auch nebenberuflich erfolg- buch über die Revolution 1848/49 zu ver- reich, als er seinen Gesundheitsratgeber fassen. Dieses Lehrmaterial ist dann aus für Kinder unter dem Titel „Fredianer und Anlass des einhundertjährigen Jubiläums Ingenesen bleiben gesund“ (1953) und der Achtundvierziger Revolution 1948 im seine Erziehungsratgeber „Das nervöse Verlag Volk und Wissen erschienen. Des Kind“ (1955) sowie „Benimm dich anstän- Weiteren wurde Steiger sowohl für die dig“ (1957) publizierte. Steigers Ratschlä- Deutsche Zentralverwaltung für das Ge- ge zum Themenkomplex des „nervösen sundheitswesen in der Sowjetischen Be- Kindes“ erschienen auch in bulgarischer satzungszone als auch für das Deutsche Sprache (Sofia 1966). Des Weiteren ver- Hygienemuseum in Dresden bei der Ge- fasste er zahlreiche Zeitschriftenaufsätze staltung von Bildschulheften, von Lehrma- und Artikel und machte sich darüber hin- terialien sowie der Öffentlich­keitsarbeit zu aus einen Namen als Hörspielautor für den volkshygienischen Thema beratend tätig. Schulfunk. Als Gesundheitserzieher wirkte er auch Von überregionaler Bedeutung wurde als Autor und Gutachter für die deutsch- nochmals Steigers Plädoyer für die Re- landweit aufgelegte Zeitschrift „Gesun- formpädagogik im Osten Deutschlands des Leben“. Schließlich war Willy Steiger während der „Tauwetterperiode“ im auch als Referent und Mentor in der Neu- Schicksalsjahr des sozialistischen Lagers lehrerausbildung als vormals erfahrener 1956. Reformpädagoge sehr gefragt. In der Zeit- spanne bis zum IV. Pädagogischen Kon- IV. 2 Mutig „geheiligte Dogmen“ ostdeut- gress im August 1948 in Leipzig erlebte scher Schulpolitik öffentlich hinter- die Reformpädagogik-Rezeption im Osten fragt Deutschlands eine geradezu euphorische Renaissance, sodann war sie als spät- In der Nummer 3/1956 der Deutschen bürgerlich reaktionär pauschal verurteilt Lehrerzeitung (DLZ) erschien am 21. Ja- worden.18 Und nicht zuletzt engagierte nuar Willy Steigers Artikel „Können Blitze sich Steiger mit Vortragsthemen zur Frie- schlau sein? Eine Attacke gegen die päd- denserziehung, Völkerverständigung und agogischen Beckmesser“. Diesen Beitrag selbstverständlich zur demokratischen nahm Wilhelm Schneller, der 1950 vom Reformpädagogik. Er referierte darüber sächsischen Kultusministerium in die Füh- hinaus zum Thema „Die Frau und der So- rungsetage des Berliner Ministeriums für zialismus“ sowie zum Leben und Werk Volksbildung gewechselt war, zum Anlass von Karl Liebknecht. Letzteres vor allem für sein Statement „Mehr Mut zur Diskus- auf der Grundlage der Liebknecht-Biogra- sion“, in dem es u.a. heißt: „Ich habe nun fie (1919) seines langjährigen Freundes nicht die Absicht, mich mit dem Kollegen Harry Schumann, der 1942 nach seiner Steiger auseinanderzusetzen, obwohl zu

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 47

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 seinem Artikel sehr viel zu sagen ist. Ich Lehrern, interessant und volkstümlich zu möchte mich nur mit der Besonderheit unterrichten.“20 dieses Beitrages beschäftigen. Der Kolle- Die Rahmenbedingungen für eine kriti- ge Steiger greift in unbekümmerter Form sche Auseinandersetzung mit der auf dem ‚geheiligte Dogmen’ unserer Schulpolitik IV. Pädagogischen Kongress 1949 be- an. Er spricht von ‚pädagogischen Beck- schlossenen administrativen Ausgrenzung messern’. Das ist ein neuer Ton, ein Ton, von Reformpädagogik waren zwischen- den wir bisher in unserer Lehrerzeitung zeitlich günstiger geworden, nachdem im vermissten. Das Besondere und das Posi- November 1954 Fritz Lange zum Minister tive an dem Artikel des Kollegen Steiger für Volksbildung berufen worden war und ist, dass er Fragen aufwirft, über die man im darauffolgenden Monat dieses Amt an- streiten, über die man diskutieren kann. trat.21 Lange setzte sich dafür ein, dass Willy Steiger hat durch seinen Beitrag be- mit der Verurteilung aufrechter Reform- wiesen, dass er Mut zur Diskussion hat. pädagogen aus dem ersten Drittel des [...] Der Kollege Steiger hat kein Rezept zwanzigsten Jahrhunderts Schluss ge- gegeben. Und gerade deshalb werden macht werde. Ebenso dürften die didak- sich viele Lehrer angesprochen fühlen. tisch-methodischen Bestrebungen dieser Hoffen wir, dass auch die sich angespro- pädagogischen Reformzeit nicht länger chen fühlen, die er als ‚pädagogische verunglimpft werden. Sie sollten vielmehr Beckmesser’ bezeichnet.“19 auf ihre Impulsmöglichkeiten und Grenzen Und Schnellers Aufruf sollte Wirkung für eine Verwendung in der DDR-Schule zeigen, denn die DLZ druckte sowohl in unvoreingenommen überprüft werden. He- Ihrer Ausgabe Nr. 14/1956 als auch in rausragende Reformpädagogen wie Adolf Nr. 26/1956 Lesermeinungen zu der von Jensen, Langes Mentor in seiner Jungleh- Steiger aufgeworfenen Ausgangsfrage rerzeit an einer der Versuchsschulen im Re- nach der Wissenschaftlichkeit des Unter- formpädagogik-Zentrum Berlin-Neukölln, richts ab. Stellvertretend sei hier aus den der Hamburger Schulreformer Wilhelm insgesamt veröffentlichten sieben Leserzu- Lamszus und viele andere hätten auch den schriften aus der von Rudolf Scharschmidt Verantwortungsträgern der sozialistischen aus Greiz zitiert: „Gestatten Sie mir bitte Schule noch manches zu sagen.22 Sie zunächst, dass ich meiner Freude darüber seien eher zu würdigen durch ihren Mut Ausdruck gebe, Sie in unserer ‚Lehrer- für Schulreformen und nicht zuletzt durch zeitung’ Nr. 3/1956 ‚wiedergetroffen’ zu ihre Verbundenheit mit dem Volk. Folge- haben, nachdem ich Sie ein erstes Mal richtig wurde eine Expertenkommission für in Ihrem Büchlein ‚Das nervöse Kind’, in die Vorbereitung des V. Pädagogischen einem Büchlein, das ich jedem Erzieher Kongresses ins Leben gerufen, die sich auf das allerwärmste empfehlen kann, ken- u.a. „Über Probleme der deutschen Pä- nengelernt habe. Ich bin mit den Gedan- dagogik“ auszutauschen hatte und dabei kengängen in Ihrer kleinen Schrift voll und „Elemente und Erfahrungen aus der Ver- ganz einverstanden, und ich freue mich gangenheit – insbesondere der Reform- auch über die vielen schönen und wertvol- pädagogik – aufnehmen“ sollte: „’Nehmen len Hinweise und Anregungen, die Sie uns wir den Kurs auf die Schulpraktiker der allen in Ihrem Artikel ‚Können Blitze schlau Vergangenheit, damit die schulpraktische sein?’ gegeben haben. Aber einigen Ihrer Arbeit der Lehrer verbessert wird’, sagte Ausführungen kann ich doch nicht ganz Minister Lange während einer Beratung zustimmen, und sie rufen meinen Wider- über die Themen des V. Pädagogischen spruch hervor: Wer verbietet es denn uns Kongresses.“23

48 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Und genau in dieser Atmosphäre legte wissenschaftlichen Meinungsstreites. Der Willy Steiger mit seinem Plädoyer für sei- Verfasser hat den großen Vorteil für sich, nen früheren Lehrerbildner Johannes Küh- Kühnel aus der eigenen Arbeit zu kennen nel nach, der nach Steigers Auffassung und nicht nur aus den allgemein bekann- für das Vorankommen der sozialistischen ten Quellen zu schöpfen. Das schließt Schule aktueller denn je sei. Erfahrene natürlich die Gefahr in sich ein, dass man- Lehrer wie Steiger empfanden eine zu- ches subjektiv gesehen und zu Kühnels nehmende Verflachung der Schulbildung Gunsten gefärbt wird. Dennoch dürfte infolge der neuen Lehrpläne, die vorrangig offensichtlich sein, dass Kühnels Wertung der Systematik der Wissenschaften folg- durch Hohendorf nicht richtig, zumindest ten und entwicklungspsychologisch un- aber einseitig und oberflächlich ist. Schon bedacht blieben, indem sie sowjetischen wegen dieser weit verbreiteten fehler- und Mustern einseitig folgten und von einer lückenhaften Information ist diese Veröf- durchgreifenden Ideologisierung geprägt fentlichung einer Gegenmeinung wichtig. waren. In der Fachzeitschrift „Pädagogik“, Dabei fällt besonders schwer ins Gewicht, dem Wissenschaftsforum des Deutschen dass Steiger sich mit solchen Fragen der Pädagogischen Zentralinstituts (DPZI) in Kühnelschen Lebensart befasst, die für Berlin, der eine Monopolstellung bei der uns in der Vorbereitung des V. Pädagogi- Orientierung in offiziellen schulpolitischen schen Kongresses bedeutend sind, wie und pädagogischen Fragen zukam, ver- die des Werkunterrichts und der polytech- öffentlichte Steiger in der Rubrik „Dis- nischen Bildung. Hier muss jetzt unbedingt kussion: Kühnel – ein Kämpfer für den gezeigt werden, dass wir auf eine echte Fortschritt“ seine Argumente „Für eine und offene Diskussion Wert legen. Sonst richtige Einschätzung Kühnels“.24 Vor dürfte eine wirklich kritische Auswertung allem wollte er damit die angeblich wissen- des pädagogisches Erbes nicht möglich schaftliche Legitimation der bisherigen Re- sein.“25 formpädagogik-Ausgrenzung, wie sie vor Dieser „Mut zur Diskussion“ ging nun allem von Gerd Hohendorf in seiner Unter- ausgerechnet dem zu weit, der seinen suchung „Die pädagogische Bewegung in früheren Lehrerseminarkameraden noch den ersten Jahren der Weimarer Republik“ zwei Monate zuvor für genau diesen öf- (1954) betrieben wurde, widerlegen. fentlich würdigte: Wilhelm Schneller. Die- Ausschlaggebend für die Veröffent- ser schrieb am 23. April 1956 aus seiner lichung des Beitrages von Steiger über Pressestelle des Ministeriums für Volks- Kühnel dürfte das Gutachten zum Manu- bildung folgende zornigen Zeilen an Edgar skript gewesen sein, das Hans-Joachim Drefenstedt, dem Chefredakteur der „Pä- Laabs, Staatssekretär im Ministerium für dagogik“: „Ich bin einigermaßen erstaunt Volksbildung und vormals von März bis darüber, dass der Beitrag Willy Steigers November 1954 Minister, am 18. Okto- zur Veröffentlichung angenommen wurde. ber 1955 der Redaktion der „Pädagogik“ Ich habe an verschiedenen Stellen zum übermittelt hatte. Darin heißt es u.a.: „Eine Ausdruck gebracht, dass man mehr Mut Arbeit wie die von Steiger über Kühnel hat zur Diskussion haben soll, ich habe Stei- uns schon lange gefehlt. Ihre Veröffentli- ger insofern auch als Beispiel für solchen chung wäre geeignet, eine große Anzahl Mut zur Diskussion herausgestellt. Ich bin alter Schulmänner auf den Plan zu rufen aber der Meinung, dass die Diskussion und endlich eine fruchtbare Diskussion eine Grenze hat. Wenn nämlich jemand über das pädagogische Erbe auszulö- eindeutig Auffassungen vertritt, mit denen sen. Das wäre der Beginn eines wirklich wir nicht einverstanden sein können, kann

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 49

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 es nicht unsere Aufgabe sein, solche Auf- proimperialistische Einstellung nachzuwei- fassungen noch zu verbreiten.“26 Schneller sen und somit jeglichen Fortschritt Küh- legte seinem Brief eine Gegendarstellung nels infrage zu stellen. Im Übrigen gingen bei und brachte seine unmissverständ- zeitgleich in der Redaktion der „Pädago- liche Erwartung zu Ausdruck, dass sie gik“ geradezu euphorische Zuschriften zur alsbald veröffentlicht werde. Das geschah Würdigung von Johannes Kühnel durch dann auch in der Ausgabe 7/1956 der Steiger ein. Stellvertretend sei hier auf die „Pädagogik“. Darin erwiderte Schnel- vom Verleger Rudolf Forkel aus Pößneck ler u.a. Folgendes: „Willy Steiger hat im (Thüringen) verwiesen, der ebenfalls ein Heft 1/1956 der ‚Pädagogik’ eine Lanze Schüler Kühnels war und bis 1933 an der für Kühnel gebrochen. In leidenschaftli- Volksschule in Döbeln als Lehrer tätig war, cher Weise nimmt er zu seinem früheren bis ihn die Nationalsozialisten aus dem Lehrer Stellung. Eine solche Auseinan- Schuldienst verwiesen.28 dersetzung mit Kühnel als Vertreter der Forciert wurde die beabsichtigte Wie- Reformpädagogik ist richtig und notwen- dergutmachung an der bis dahin prakti- dig, aber sie muss kritisch sein. Gerd Ho- zierten Verteufelung jeglicher Form von hendorf nahm bereits in seinem Buch ‚Die Reformpädagogik alsbald noch durch die pädagogische Bewegung in den ersten Ereignisse in der Sowjetunion: Es kam Jahren der Weimarer Republik’ eine kriti- eine kurzzeitige Debatte in Fluss, die sche Wertung Kühnels vor. Steiger ist mit durch Begriffe wie Personenkult, Dogma- der Einschätzung Kühnels durch Hohen- tismus, Verletzung der Gesetzlichkeit und dorf nicht einverstanden und bemüht sich sehr bald Stalinismus bestimmt wurde. deshalb um eine Ehrenrettung Kühnels. Hinter vorgehaltener Hand wurden zuneh- Nun bin auch ich durchaus der Meinung, mend der Inhalt der Geheimrede Nikita S. dass Hohendorf in seinem Buche Kühnel Chruschtschows auf dem XX. Parteitag nicht ganz richtig einschätzt, aber noch der KPdSU vom 25. Februar 1956, die weniger richtig ist das, was Steiger über Wolfgang Leonhard als die bedeutsamste Kühnel sagt. – Die Einstellung Willy Stei- Rede des Kommunismus bezeichnete,29 gers hat ihren Grund darin, dass er sich und der Beschluss des ZK der KPdSU auch heute noch nicht von der Reform- über die Überwindung des Personenkults pädagogik gelöst hat. Das kommt sowohl und seiner Folgen vom 30. Juni 1956 wei- in seinem Beitrag über Kühnel als auch in tergegeben, die – wie auch immer – aus seinem Artikel in Nummer 3 [1956] der den geschlossenen Parteitagssitzungen ‚Deutschen Lehrerzeitung’ ‚Können Blitze zunächst in den Westen gelangten und schlau sein?’ zum Ausdruck. Der Kampf dort publiziert wurden. Ilja Ehrenburgs Steigers um die Anerkennung Kühnels ist Roman „Tauwetter“ (1953/54), der noch damit in Wirklichkeit ein Kampf um die An- auf dem zweiten Schriftstellerkongress erkennung der Reformpädagogik. Steiger der UdSSR Ende 1954 als Beispiel dafür unternimmt den Versuch, Kühnel zum Vor- gedient hatte, wie man die Wirklichkeit kämpfer der deutschen demokratischen nicht darstellen dürfe, avancierte nun zur Schule zu machen. Dabei geht er sogar so meistgelesenen Lektüre und verlieh dieser weit, zu behaupten, dass Kühnel bereits nur gut sechs Monate geduldeten Ent- die polytechnische Erziehung und Bildung wicklungsphase den trefflichen Namen: durchgeführt habe und damit ein Vorläu- Tauwetterperiode.30 fer der Sowjetpädagogik sei.“27 Schließ- Neben gesellschaftspolitischen lich fügt Schneller noch zwei Zitate aus und ökonomischen Alternativvorschlä- dem Schrifttum Kühnels an, um dessen gen für ein Mehr an Demokratie im real

50 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 existierenden Sozialismus31 formierte sich teils aber auch reaktionären politischen auf Betreiben und unter Vorsitz von Wal- und pädagogischen Auffassungen der ter Ulbricht sogar eine Kommission des Schulreformbewegung eindeutig ab[zu] ZK der SED zur Überprüfung von Angele- grenzen.“34 Obgleich Steiger seine ein- genheiten auf nahezu allen Gebieten poli- geforderte differenzierte Reformpäda- tischer Repression. Im Ergebnis konnten gogik-Rezeption mit marxistischen Ideen sich zum 1. Juni 1956 für Hunderte Opfer abzustimmen versuchte, erfuhr sein Vor- der ostdeutschen Diktaturdurchsetzung – schlag eine Zurechtweisung durch die unter ihnen viele alte sozialdemokratische Verhinderer der reformpädagogischen Bildungsfunktionäre wie Moritz Nestler – Aktivitäten um Hohendorf, die sich in sub- die Gefängnis- bzw. Zuchthaustore öffnen, jektiv ehrlicher Absicht als die eigentlichen wenngleich sie nicht wirklich rehabilitiert Verfechter einer marxistisch-leninistischen wurden.32 Geschichtsbetrachtung verstanden haben Während der konstruktiven Reform- und nicht müde wurden, diese zu betonen, pädagogik-Rezeptionsphase in der kurz- sich aber letztlich immer mehr von marxis- zeitigen „Tauwetterperiode“ vom Frühjahr tischen Arbeitsmethoden entfernten. Ihre 1956 bis zur Zerschlagung des Ungarn- Sichtweise machte sie gar weitgehend austandes im Herbst desselben Jahres blind gegenüber solchen Reformpädago- war es schon ein Erfolg, dass überhaupt gen, die wie Adolf Jensen, Wilhelm Lams- in der DDR öffentlich über das Für und zus, Fritz Karsen, Kurt Löwenstein, Adolf Wider von Reformpädagogik gestritten Reichwein, Minna Specht, Siegfried Bern- werden konnte. Stellvertretend hierfür sei feld, Célestin Freinet und vielen anderen auf die von Willy Steiger und Gerd Hohen- mit dem Begriffspaar „Reformpädagogik dorf 1956 in der DDR-Zeitschrift „Pädago- und (demokratischer) Sozialismus“ auf gik“ ausgetragene Kontroverse verwiesen: das engste verbunden waren; sie ignorier- Steiger, der einstige Versuchsschullehrer, ten selbst reformpädagogisch orientierte wies als Sprecher eines breiten Kreises elastische Einheitsschulentwürfe wie zum der Lehrer- und Elternschaft auf die Be- Beispiel die des Sächsischen Lehrer- deutung reformpädagogischer Einsichten vereins oder des Bundes Entschiedener zur Sicherung der erziehungspraktischen Schulreformer. Interessanterweise wurde Arbeit hin und formulierte mit Blick auf gerade diese linke Tradition einer sozialis- die basispädagogische Pionierarbeit der tischen Reformpädagogik vordergründig sächsischen Reformpädagogen: „Wie verdrängt.35 viel weiter wären wir heute in der Erzie- Wie es sodann um die basispädago- hung zur Arbeit und durch Arbeit, hätten gischen Initiativen für eine unvoreinge- wir uns den früher gesammelten Erfahrun- nommene Reformpädagogik-Rezeption gen gegenüber etwas positiver verhalten im Zuge der Revisionismusdiskussionen und nicht nur negative Seiten aufgespürt, in der DDR bestellt war, sollte Willy Stei- wenn wir Wertvolles beachtet und auf ihm ger zu spüren bekommen, als er im März aufgebaut hätten.“33 Hohendorf konterte 1957 der Redaktion der „Pädagogik“ sein aus der Führungsetage ostdeutscher Bil- Manuskript „Seidel contra Pestalozzi“ ein- dungspolitik und Pädagogik mit dem Ver- reichte. Steiger beabsichtigte mit einer weis auf die Notwendigkeit, die Wurzeln Würdigung des kaum noch bekannten der bürgerlichen Schulreformbewegung Reformpädagogen Robert Seidel und sei- in der imperialistischen Gesellschafts- nes am Handwerk ausgerichteten Arbeits- ordnung aufzudecken und sich „von den unterrichts einen Wegbereiter für die teils utopischen und reformistischen, Begründung der polytechnischen Bildung

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 51

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 in der sozialistischen Schule besteuern zu Marxist. [...] So gesehen ist er Reformist, können.36 Während die redaktionelle Kor- seinem politischen und pädagogischen respondenz um dieses Manuskript – ein- Standpunkt nach. Denn auch mit seinem schließlich der beauftragten Gutachten Arbeitsunterricht hat er den revolutionären – erhalten geblieben sind, ist leider das Sinn der Marxforderung, Verbindung des Manuskript selbst nicht überliefert. Somit Unterrichts mit produktiver Arbeit, ver- ist es natürlich nicht möglich, die inhalt- fälscht, abgebogen zu einem bloßen Mittel lichen Argumentationslinien von Steiger der bürgerlichen, harmonischen, allgemei- zu referieren oder gar zu werten. Un- nen Menschenbildung, einem Ideal der glücklich scheint aber die im Titel favori- kleinbürgerlichen Demokratie.“39 – Und sierte Gegenüberstellung von Seidel und folgerichtig bekommt Steiger am 21. Mai Pestalozzi zu sein, denn Seidel orientierte 1957 in einem Schreiben der Redaktion sich in seiner sozialpädagogisch begrün- der „Pädagogik“ mitgeteilt, dass sein Ma- deten Arbeitsschultheorie, die Arbeit als nuskript nicht gedruckt werden könne, produktiv gestaltende, auf harmonische weil u.a. „die Grenzen Seidels, die refor- Persönlichkeitsentwicklung orientierte mistischen Seiten seiner Ansichten, mit und zugleich als sozialintegrative Tätig- keinem Wort erwähnt (sind).“40 keit auffasst,37 doch vor allem an Johann Im Kontext der Revisionismusdiskussio- Heinrich Pestalozzi und an Karl Marx. Und nen erhielten nicht nur basispädagogische so kann die gutachterliche Kritik von Ro- Verfechter für eine unvoreingenommene bert Alt vom 6. Mai 1957 nachvollzogen Bewertung des reformpädagogischen werden, wenn bei aller berechtigten Wür- Erbes keine Öffentlichkeit mehr. Es betraf digung der pädagogischen Ansichten Sei- ebenso Gleichgesinnte bis in die bildungs- dels vermisst wurde, inwiefern Seidel die politische Führungsetage der DDR. So Auffassungen Pestalozzis beispielsweise wurde selbst der Bildungsminister Fritz hinsichtlich der Anschaulichkeit im Unter- Lange 1957/58 wegen seiner Sympa- richt weiterentwickelt habe.38 Interessant thien für die „spätbürgerliche Reformpäd- ist aber hier, wie vor dem Hintergrund der agogik“ zunehmend schärfer kritisiert und Revisionismusdiskussionen Seidel nun als schließlich im November 1958 von seinem Reformist gedeutet wurde, der unmög- Ministeramt entfernt. lich als Wegbereiter für eine sozialistische Insgesamt war Willy Steiger in dieser Schule gelten könne: So vermerkt der von Entwicklungsphase um die Tauwetterpe- Alt als „Experte der Pädagogik der deut- riode 1956 darum bemüht, mit Johannes schen Arbeiterbewegung“ empfohlene Kühnel oder Robert Seidel Klassiker der Gutachter Hans Brumme am 3. Mai 1957 Reformpädagogik daraufhin zu unter- in seiner Stellungnahme an die Redaktion suchen, inwiefern aus ihrem Schrifttum der „Pädagogik“: „Seidel war Arbeiter, mit Anregungen für die Verwirklichung der der Arbeiterklasse verbunden, war Sozial- polytechnischen Bildungsidee in der so- demokrat, anfangs wohl auch revolutionär. zialistischen Schule abgeleitet werden [...] Als Seidel in die Schweiz kommt, wird könnten. Gleiches hatte er auch mit sei- er von der Schweizer Demokratie sehr be- ner Rezension „Ein Buch kann helfen“ einflusst. Er macht sich Illusionen über sie, bezweckt, in der er die 1955 im Volk kämpft für eine soziale Demokratie und und Wissen Verlag Berlin erschienene meint, ein Mittel dazu ist die Arbeitsschu- Publikation „Ausgewählte pädagogische le. Wenn man seine Staatsauffassung, Schriften von Nadeschda K. Krupskaja“ die Stellung zur Diktatur des Proletariats auf ihre Nutzung für die Diskussionen zur in Betracht zieht, ist er kein konsequenter polytechnischen Bildung hin überprüfte.41

52 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Seriöse wissenschaftliche Arbeiten zur der Universität in Jerusalem bei einer grö- Begründung der polytechnischen Bildung ßeren wissenschaftlichen Arbeit. Da fällt begannen in der DDR erst mit der 1960 mein Blick auf die reich aussortierte päda- veröffentlichten Dissertation „Marx und En- gogische Zeitschriftensammlung aus aller gels über die Verbindung des Unterrichts Herren Länder. Siehe da, da ist auch die mit produktiver Arbeit und die polytechni- ‚Deutsche Lehrerzeitung’. Mal sehen, was sche Bildung“ von Gotthold Krapp.42 da drinsteht. Die Nummer ist zwar ein Jahr Willy Steiger beteiligte sich auch in alt, vom September 1956, aber das macht den sechziger Jahren mit technikdidakti- fast gar nichts. Auf einmal sehe ich da die schen Fachaufsätzen zum Themengebiet Besprechung eines pädagogischen Films. „Elektrotechnik in der Familie“43 sowie Und wer bespricht ihn? Willy Steiger!44 mit populärwissenschaftlichen Kurzbeiträ- Zwar steht nicht mehr hinter dieser mir so gen zum Thema „Polytechnische Bildung bekannten ‚Firma’: Hellerau – wie damals zu Hause“, so zum Beispiel in der „Wir“ – sondern nur Dresden. Aber der Stil ist vom 2. November 1963, der „Deutschen unverkennbar: Der alte Steiger – Willy von Lehrerzeitung“ vom 20. Dezember 1963 ‚damals’. [...] Na, und da fasst man sich oder dem „Neuen Deutschland“ vom 17. ein Herz, von dem man annimmt, das es Dezember 1964. Am Beispiel der Begeg- immer noch ‚auf dem rechten Fleck’ sitzt, nung seiner Enkelkinder Thilo und Birgit und schreibt dem Willy Steiger und fragt: mit elektrotechnischem Spielzeug verdeut- Hallo, Willy, wie geht es Dir denn? Und den lichte Steiger Aspekte der Frühförderung Deinen? Wie hast Du ‚überwintert’ – einen auf diesem Gebiet. grausigen ‚harten Winter’ hindurch? – Es gäbe eine Masse zu erzählen, auch von IV. 3 Internationale Kontakte bewahrten mir, aus der Gegend, deren Landschaft Du kritische Sicht inmitten von Parolen ja kennst und seinerzeit in Deinem Buch und Polemik ‚Mit Hurra zum Sinai’ beschrieben hast. Wie ‚aktuell’ der Titel dieses Buches von Die in den Medien der DDR 1956 öffent­ vor dreißig Jahren geworden ist! – Wenn lich ausgetragenen Kontroversen um das es Dir Willy, so geht, wie mir, dann lasse Für und Wider der Reformpädagogik-Re- etwas von Dir hören. Ich habe versucht, all zeption wurden selbstverständlich auch die Jahre lang der alte zu bleiben.“45 im Ausland reflektiert. Vor diesem Hin- Für Willy Steigers sehr umfangreich tergrund kam es auch zu einer Wieder- geführte Korrespondenz mit Freunden belebung des Kontaktes zwischen Willy und Kollegen im Ausland war es geradezu Steiger und David Franz Kaelter, für den charakteristisch geworden, dass er vielfäl- Steiger ein Mentor während dessen Jung- tige Pressenotizen, Zeitungen, Zeitschrif- lehrerzeit ab 1928 an der Versuchsschule ten und sogar Fachbücher mit versandte, Hellerau war. Kaelter war später, 1935-39, um nicht zuletzt mit ein wenig Stolz über Direktor der jüdischen Schule in Königs­ die überwiegend als Aufbruchsstimmung berg geworden, bis er vor den National- empfundenen Veränderungen im Bildungs- sozialisten ins Ausland fliehen musste. bereich der DDR zu informieren. Im Ver- Als Direktor der „Maavar“-Schule in Haifa gleich der Gesellschaftssysteme in Zeiten (Israel) las er Steigers Plädoyer für die des Kalten Krieges bot demgegenüber die Reformpädagogik in der DLZ und schrieb Restaurationsphase der Adenauer-Ära von daraufhin am 9. September 1957 aus 1945 bis etwa 1960, vor allem bestärkt Haifa: „Ich sitze da vor einigen Wochen durch den „Sputnik-Schock“ 1957, der die in der Bibliothek der Erziehungsabteilung Reformbedürftigkeit der Bildungssysteme

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 53

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 in den westlichen Industrienationen ins- stellenweise am Beispiel der Aktivistenbe- gesamt offensichtlich werden ließ, bevor wegung der DDR noch in seinem Gesund- sie Georg Picht 1965 – auch empirisch heitsratgeber „Fredianer und Ingenesen nachgewiesen – als „Bildungskatastro- bleiben gesund“ 1953 lesen, finden sich phe“ für die Bundesrepublik konstatierte, sodann – auch beeinflusst von seinen Er- für Steiger nur ein vordergründiges An- fahrungswerten in der Tauwetterperiode knüpfen an bürgerlich-konservative und – nicht mehr. Stellvertretend sei hier in die- -liberale Traditionen der vielschichtigen sem Zusammenhang aus zwei Briefen von Reformpädagogik der Zwischenkriegs- David Franz Kaelter vom 10. März sowie zeit. Gesellschaftskritische und dezidiert vom 23. Mai 1958 aus Haifa ausführlich demokratische Reformpädagogiken fan- zitiert: den in der westdeutschen Restaurations- „Ich bin froh, dass Du, Willy, Dir Dei- phase kaum einen Widerhall. Steiger hatte nen Optimismus und Deinen Angriffsgeist die Schicksale verschiedener pädago- bewahrt hast. Ich sehe das aus Deinem gischer Reformansätze in Westdeutsch- Artikel über die ‚SS-Pauker’, den Du mir land wie das Hamburger Schulgesetz beigelegt hast. Wir hier in unserem klei- von 1949 oder den „Hannover-Plan“ des nen Land werden ja mit den gegenseitigen Niedersächsischen Kultusministers Adolf Beschuldigungen der beiden Weltblöcke Grimme, seinem einstigen Mitstreiter im bombardiert. Der Westen berichtet: Die Bund Entschiedener Schulreformer der ostdeutsche Volkspolizei ist durchsetzt, Zwischenkriegszeit, aufmerksam verfolgt, speziell in ihren militärischen Spitzen, von die 1953 vom konservativen Hamburger Nazi-‚Helden’, der Osten berichtet, wie Senat „kassiert“ bzw. noch zur Amtszeit die von Dir eingelegten Zeitungsmeldun- Grimmes aufgrund des Widerstandes aus gen zeigen: Die westdeutschen Spitzen konservativen Parteien und Lehrerverbän- sind Nazi-durchsetzt. Und wir hier, die – im den nicht weiter verfolgt wurden. Dass es Ganzen gesehen – allzu wenigen Geret- trotz konservativer Großwetterlagen in der teten aus der Hölle von ‚damals’ fragen: Bildungspolitik dennoch eingeschränkte Ist denn dieses Tier immer noch nicht tot? Spielräume für basispädagogische Re- Was, Du lieber Himmel, muss sich denn forminitiativen gab, wurde seinerzeit kaum noch ereignen, um das Gift, das dieses öffentlich kommuniziert und fand erst Jahr- große Kulturvolk zersetzte, dessen Kin- zehnte später Berücksichtigung in der His- der ich einst mit so viel Liebe gerade in toriografie zur (Reform-)Pädagogik.46 den entscheidenden ersten Jahren meiner Interessanterweise antworteten Schulmeisterlaufbahn erzog, nicht zuletzt Steigers Briefpartner aus dem nicht­ dank Deines Vorbilds, um dieses penetrant sozialistischen Ausland stets mit deut- stinkende im wahrsten Sinne des Wortes: lichen Hinweisen auf die geradezu als zum Himmel stinkende Gift auszutilgen? unerträglich empfundenen Parolen, die Sieh ’mal, unsereinem – mit dem Schicksal Polemik und die mitunter reine Agitation und den Erfahrungen aus den Hitlerjahren und vermissten eher sachliche Argumen- – ist verdammt viel von dem Glauben an tationsweisen in der DDR-Publizistik. Das eine politische Lehre als Erlösung für die half Willy Steiger letztlich, sein eigenes wie Menschheit verloren gegangen. Futsch, gesamtgesellschaftlich-pädagogisches finito, caputo! [...].“47 Tun in der DDR zunehmend kritisch abwä- „Es scheint mir ungeheuer wichtig, gend zu reflektieren. Seine mitunter noch auch für uns hier im Land, zu wissen, wie es unkritische Übernahme von Elementen im anderen Teil Deutschlands aussieht, zu sozialistischer Propaganda, wie wir sie dem wir ja keinerlei amtliche Beziehungen

54 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 unterhalten. [...] Immer wieder freue ich das geschieht unter ungeheurer kollekti- mich, wenn ich den alten kampffreudigen ver Anstrengung aller, die dabei sind und Willy Steiger so unverblümt und jung in dabei bleiben wollen, trotz all der Gefah- den Kampfzeiten sehe, wie in den von Dir ren, die [...] immer von Neuem heraufbe- eingesandten Artikeln. Nicht so gegenüber schworen werden. Bei uns herrscht ein dem Vielen, was Du mir von dem anderen verdammt ‚heißes Klima’. Aber bei alledem Material geschickt hast. Ganz offen: Weni- bemühen wir uns, den Einzelnen nie zu ger Polemik, weniger reine Agitation und vergessen, den Menschen als Individuum mehr sachliche Argumentation würde der in seiner Not und mit seinen besonderen, gerechten Sache des Kampfes gegen die eigenen Bedürfnissen. Wenn unsere Men- Atom-Aufrüstung – wie mir scheint – mehr schen so wacker und unbeirrt ihre schwe- nützen. Wie Du vielleicht aus der Presse ren, schweren Aufgaben erfüllen, in der erfahren hast, hat unsere Regierung in ihrer Verteidigung ihres nackten Lebens (wie Antwort auf den Brief Chruschtschows in vor eineinhalb und vor zehn Jahren), wie dieser Sache eindeutig sich auf die Seite auch, und insbesondere in der täglichen, unbedingter Friedensfreunde gestellt. Seit zermürbenden Arbeit des Aufbaus weiter einiger Zeit bekomme ich – auf Grund Wüsten, Moore, Steinberge, – ja, dann meiner Korrespondenz mit einer west- können sie das nur, weil sie sich als Indi- deutschen Junglehrerin – regelmäßig die viduen, als Einzelmenschen angesprochen Zeitschrift ‚Blätter für deutsche und inter- fühlen. [...] Und als beim Ausbruch des Si- nationale Politik’. Es handelt sich um eine naifeldzuges an einem einzigen Platz sich scharf oppositionelle Zeitschrift, die seit der ‚Massenwahn’ in einer sehr schlim- Monaten gegen die Atomrüstung kämpft. men Aktion unserer Grenzpolizei gegen Sehr offen, sehr ehrlich – und doch nicht ein Araberdorf manifestierte, da hättest gehässig, sondern sachlich im Ton und in Du mal die Reaktion unserer Menschen ruhiger, wenn auch scharfer Argumenta- hier erleben sollen. Die Schuldigen durf- tion. Es mag das mit meinen Erlebnissen ten sich nicht auf einen ‚Befehl von oben’ von ‚damals’ zusammenhängen: Jede, berufen, sie wurden dingfest gemacht, ein aber auch jede Andeutung des ‚zackigen’ strenges Gericht geht gegen sie vor, und Tons von ‚damals’ gellt mir in den Ohren, sie sehen ihrer gerechten Bestrafung ent- jede ‚in Massenkundgebungen einmütig gegen, trotz des damaligen Kriegszustan- und kampfentschlossen’ ausposaunte Re- des. – Vieles, sehr Vieles ist bei uns nicht solution rührt in mir schlimme, schlimmste in Ordnung, wie es ja bei einem so jungen Erinnerungen von ‚Massenresolutionen’ Lebewesen wie dem Staat Israel nicht an- anderen Inhalts und anderer Folgen auf, ders sein kann, aber der Mensch –, der und ich denke da immer: Und wo bleibt der bleibt unangetastet und nicht uniformiert. Einzelne, der Mensch? Selbst in der Deut- Vielleicht ist dieses das ‚Geheimnis’ unse- schen Lehrerzeitung konnte ich ihn nicht rer Existenz hier als echte demokratischen entdecken, zu viel Parolen, Entschlüsse, Enklave mitten im Tyrannen- und Könige-be­ Kampfforderungen deckten ihn zu. Muss säten Nahen Osten. [...].“48 man alle Erziehung ‚ausrichten’, bleibt für Exemplarisch für den internationalen das Individuum in seiner Einmaligkeit kein Dialog mit Fachkollegen, die für die He- Raum mehr im Kollektiv? ‚Technologie’ rausgabe wissenschaftlicher Periodika als Arbeitsmethode in der Erziehung – ja! verantwortlich zeichneten, wird hier Willy ‚Technologie’ als Erziehungsinhalt – nein! Steigers Korrespondenz mit Theo Mart- Sieh ’mal, wir bauen hier unser kleines, haler von der Redaktion der in Zürich he- schwer umkämpftes Ländchen auf, und rausgegebenen „Die neue Schulpraxis“

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 55

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 herangezogen. So schrieb Marthaler am Schriftsteller, verstarb 81-jährig in Dres- 16. März 1960: „Lieber Herr Steiger, neh- den. – Seine Schüler, deren Eltern und men Sie meinen herzlichsten Dank für Ihre seine Kollegen, die den leidenschaftlichen Sendungen und vor allem für Ihre Briefe. Pädagogen im Unterricht erleben durften, [...] Ja, ich habe aus Berlin eine Sendung erinnerten sich noch Jahrzehnte in tiefer bekommen. Sie hat mich sehr interessiert. Bewunderung an ihn; ihnen ist seine Ein- [...] Was ich bis jetzt studiert habe, gefällt fühlsamkeit im menschlichen Umgang un- mir sehr gut – abgesehen von den stän- vergessen geblieben. digen Hinweisen auf den sozialistischen Menschen in der DDR. Rechte Erziehung IV. 4 Zur postumen Wertschätzung in und rechter Unterricht will m.E. überall der konsequentesten Bildungsre- auf der Welt dasselbe: einen möglichst form-Ära der BRD harmonisch ausgebildeten Menschen, einen Menschen, der seine Begabungen Nur ein Jahr nach dem Tod Willy Steigers entwickeln kann und der sie für das Wohl wurde 1977 sein reformpädagogisches einer Mitmenschen einsetzt. Gibt es je- Hauptwerk, „S’ blaue Nest“, mit dem mand Vernünftigen, der ein anderes Erzie- etwas irritierenden Untertitel „Freie Schu- hungsziel nennt? [...] Ich bewundere den le 1920“ in der Reihe reprint im päd.extra Bildungsoptimismus in der DDR. So hat Buchverlag herausgegeben. Im Folgejahr es bei uns wohl nur 1831, bei der Grün- 1978 erschien eine weitere Reprintaufla- dung der jetzigen Volksschule, ausgese- ge im gleichen Verlagshaus. Dieser Verlag hen. Seither hat man leider erkannt, dass war aus einem Konflikt um die konzeptio- für viele Menschen die Bildungsschran- nelle Gestaltung des seinerzeit bei Beltz in ken sehr eng gesetzt sind, auch wo die Weinheim erschienenen pädagogischen Bildungsmöglichkeiten uneingeschränkt Magazins betrifft:erziehung (1967-86; offen liegen! – Ihre Begabungstheorie ver- später Pädagogik heute, jetzt Pädagogik) stehe ich nicht. Auf alle Fälle deckt sie sich entstanden. Im Ergebnis wurde 1973 der nicht mit meinen bisherigen Erfahrungen. pädextra-Buchverlag in Bensheim ge- Und wo nachträglich der sog. ‚Knopf auf- gründet, der bis 1995 existierte. Seine ging’, handelt es sich immer um eine ganz Adressaten waren insbesondere politisch andere Begabungsrichtung. Das hat aber interessierte und engagierte Pädagogen. noch nie einer bestritten, dass es ver- Weder die Witwe noch der Sohn von schiedene Begabungsrichtungen gibt und Willy Steiger waren davon in Kenntnis ge- dass die Schule nicht alle ausschöpft, setzt worden, dass eine Reprintausgabe nicht ausschöpfen will. So gibt es z.B. die realisiert werden sollte. Die Angehörigen Richtung des tüchtigen Kaufmanns, der es erfuhren es erst nach sechs Jahren durch ausgezeichnet versteht, andere für seine Zufall, dass dieser reformpädagogische Zwecke zu scheren und ihnen erst noch Klassiker aus der Zwischenkriegszeit eine das Gefühl zu geben, sie haben es bei ihm solche Wertschätzung quasi auf dem Hö- besonders gut. Sollen wir solches in der hepunkt der spannenden Bildungsreform- Schule üben?“49 Ära der sechziger und siebziger Jahre in der Am 31. Mai 1976 erfüllte sich ein bis Bundesrepublik erhalten hatte. Seinerzeit zuletzt dem pädagogischen Fortschritt ging es in der bundesdeutschen Bildungs- und dem Friedensengagement gewid- geschichte um zweierlei: einmal – nach metes Leben. Willy Steiger, der heraus- Sputnikschock (1957) und 1964 durch ragende praktische Erzieher und zugleich Georg Pichts diagnostizierter „Bildungs- produktive und erfolgreiche pädagogische katastrophe“ – um die Modernisierung des

56 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Bildungswesens für eine hochtechnisierte mit polytechnischer Erziehung sind dafür Industriegesellschaft, in der Bildung einen Stichworte. – Konkret und gleichzeitig li- immer gewichtigeren Faktor dazustellen terarisch beschreibt Willy Steiger, wie der schien, zum anderen aber auch um die Unterricht seinen Anstoß und seine didak- Einlösung der Revolutionsideen von 1789 tische Struktur aus der Lebenswelt der und 1848, also von mehr (Chancen-) Kinder erhält. Da wurden Morseapparate Gleichheit und gesellschaftlicher Teilhabe. gebastelt, die Kriegskosten errechnet und Wichtigstes Ergebnis der Bildungsreform Rechtschreibung durch Briefeschreiben waren die in den siebziger Jahren ent- erlernt. Man schrieb Zeitungen, bearbeite- standenen, vielfach Studentenbewegung te einen Garten, malte, lernte Stenografie und Kritischer Theorie nahestehenden und fand Zeit, sich über seine Probleme zu Alternativschulen. Es wurden zahlreiche unterhalten.“ Gesamt-Modellschulen gegründet und es Der Bucheinband (Rückseite) wurde erfolgte die generelle Öffnung weiterfüh- mit folgenden Werbezeilen bedruckt: render Schulen. Dennoch war es bekannt- „Willy Steiger hat in den zwanziger Jahren lich auch in den siebziger Jahren zu keiner mit Schülern, die man jetzt Hauptschüler flächendeckenden Reform gekommen.50 nennen würde, einen Projektunterricht Mitte der siebziger Jahre forderte vor gemacht, der auch heute noch sinnvoll allem Winfried Böhm im Kontext der Bil- und möglich ist. Den Leser wird überra­ dungsreformdebatten auch eine umfas- schen, wie konstruktiv seine Situations- sende Erforschung der Reformpädagogik, und Unterrichtsbeschreibungen sind und und zwar nicht nur ihres Selbstverständ- wie aktuell seine Kritik an der offiziellen nisses und ihrer Theorie, sondern auch Schule anmutet.“ Zinnecker lässt sein Vor- ihrer Praxis vor dem zeitgenössischen Hin- wort, ein leidenschaftliches Plädoyer für tergrund.51 Diese Aufforderung griff Jürgen Steigers Reformpädagogik-Klassiker, in Zinnecker als einer der damals führenden der Feststellung gipfeln: „Stellt sich die Kindheits- und Jugendforscher auf, indem Frage, warum Willy Steiger nicht zu den er die Reihe reprint im päd.extra Buchver- deutschen Pädagogen gehört, die in der lag begründete.52 Erinnerung überlebt haben in der BRD.“53 Und über die Beweggründe, warum Zinnecker diesen Praxisbericht Willy Stei- gers von 1925 als Auftaktband seiner Anmerkungen Reprintreihe wählte, ließ er den Lesern Fol- gendes wissen: „’Die Überzeugung, dass 1 Vgl. Willy Steiger, Soldat Jürgen bei den Tür- wir eine neue Erziehung brauchen, gewinnt ken. Die Geschichte einer Jugend, Dresden langsam aber sicher an Boden’, schrieb 1928. – Unveränderte Zweitauflage unter 1925 der Herausgeber [Johannes Kühnel] dem Titel: Mit Hurra zum Sinai, Dresden 1929. – Vgl. insgesamt Andreas Pehnke im Geleitwort zu diesem 1925 in Dresden (Hg.), Vom Zeitzeugen des Völkermords an erschienenen Buch. – Diese Überzeugung­ den Armeniern zum Reformpädagogen und gewinnt auch heute wieder an Boden. Ent- Schriftsteller: Willy Steiger (1894-1976). täuscht von den Versprechungen der offi- Biografie und Werkauswahl, Beucha & Mark- ziellen Schulreform suchen viele wieder kleeberg 2019. nach radikalen alternativen Ansätzen. Nach 2 Vgl. Burkhard Poste, Schulreform in Sachsen 1918-1923. Eine vergessene Tradition deut- Ansätzen, die Schüler nicht mehr zurecht- scher Schulgeschichte, Frankfurt/M. 1993. stanzen, sondern in ihrer Entwicklung zu 3 Vgl. Andreas Pehnke, Progressive Education fördern versuchen: Versuche mit freien in Germany at the beginning oft he twendieth Schulen, mit projektorientiertem Unterricht, century – with special regard to the Saxon

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 57

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 centres of the movement, in: Michael Mann erster sächsischer Volksbildungsminister der (Ed.), Shantiniketan Hellerau. New Education Nachkriegszeit zu einem Karrierehindernis für in the ‚Padagogic Provinces’ of India and den Kommunisten Schneller. 1950 wechselte Germany, Heidelberg 2015, pp. 81-117. Schneller ins Berliner Ministerium für Volks- 4 Willy Steiger, S’ blaue Nest. Erlebnisse und bildung, war u.a. 1954 persönlicher Referent Ergebnisse aus einer vierjährigen Arbeit mit des Volksbildungsministers Hans-Joachim einer Volksschuloberstufe, Dresden 1925, S. Laabs, anschließend Pressereferent. Sein 160. 1955 in Berlin veröffentlichtes Buch „Die 5 Vgl. Thomas Nitschke, Die Gartenstadt Hel- deutsche demokratische Schule“ avancierte lerau als pädagogische Provinz, Dresden zum Standardwerk stalinisierter Pädagogik. – 2003, S. 38-44. Vgl. zu Erwin Hartsch: Andreas Pehnke, E. 6 Zit. aus: 100 Jahre Volksschule Hellerau, hg. H., in: Sächsische Biografie, hg. vom Institut vom Förderverein der 84. Grundschule Dres- für Sächsische Geschichte und Volkskunde den-Hellerau, 2013, S. 11f. e.V., bearb. von Martina Schattkowsky, On- 7 Willy Steiger, Kulturkritik in der Schule, in: line-Ausgabe: http://www.isgv.de/saebi/ Sächsische Schulzeitung (SSZ), 89 (1922), 14 Vgl. Joachim Petzold, Die Entnazifizierung S. 751-753, hier zit. S. 751. der sächsischen Lehrerschaft 1945, in: 8 Jürgen Zinnecker, Vorwort zum Reprint „S’ Jürgen Kocka (Hg.), Historische DDR-For- blaue Nest“, Bensheim 1977, S. VII-XI, hier schung. Aufsätze und Studien, Berlin 1993, zit. S. IX. S. 87-103.. 9 Vgl. z.B. Willy Steiger, Liesel im Irrgarten 15 Zit. n. Pehnke 2019, wie Anm. 1, S. 568. der Angst, in: Internationale Zeitschrift für 16 Zit. n. ebd. Individualpsychologie, Leipzig, 6 (1928), S. 17 Zit. n. ebd, S. 568f. – Hervorh. original. 337-338. 18 Vgl. dazu zuletzt Andreas Pehnke, Sozialis- 10 Vgl. Willy Steiger, Zahlen zur Menschenbil- tische Reformpädagogik und Reformpäda- dung unserer Zeit, in: SSZ, 93 (1926) 38, S. gogik im real existierenden Sozialismus, in: 694-696. Heiner Barz (Hg.), Handbuch Bildungsreform 11 Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, und Reformpädagogik, Wiesbaden 2018, Ministerium für Volksbildung, Nr. 10573/101, S. 65-78 und ausführlich: Andreas Pehn- Bl. 15. ke, Vorüberlegungen zu einer Bestandsauf- 12 Vgl. Pehnke 2019, wie Anm. 1, S. 567. – Der nahme der Reformpädagogik-Forschung in sozialdemokratische Bildungsexperte Cle- der DDR, in Pädagogische Rundschau, 47 mens Dölitzsch war u.a. 1927-33 und wiede- (1993) 5, S. 535-560. rum 1946-50 Stadtverordnetenvorsteher in 19 Wilhelm Schneller, Mehr Mut zur Diskus- Dresden. Er legte im Mai 1950 seine Ämter sion, in: DLZ, Berlin 3 (1956) 7, S. 2 (vom offiziell aus gesundheitlichen Gründen nieder, 18. Februar). – Vgl. zum bildungshistori- wollte aber vor allem die Stalinisierungsten- schen Hintergrund vor allem Gert Geißler, denzen in der ostdeutschen Schulpolitik nicht Zur pädagogischen Diskussion in der DDR länger mitverantworten, insbesondere die 1955-1958, in: Zeitschrift für Pädagogik, 38 Ausgrenzung der alten sozialdemokratischen (1992), S. 913-940. Bildungsfunktionäre durch die neu ins Amt 20 Zit. aus der DLZ, Berlin 3 (1956) 14, S. 4 getretenen ehrgeizigen Bildungsfunktionä- (vom 7. April). re um Wilhelm Schneller. – Vgl. Stadtarchiv 21 Fritz Lange war 1919 Lehrer im Versuchs- Dresden, 2.3.20 Schulamt, PA: D 111. schulzentrum in Berlin-Neukölln geworden, 13 Wilhelm Schneller war vor 1933 Stadtverord- sodann Mitglied der 1920 gebildeten Reichs- neter der KPD in Leipzig. Er hatte nicht wie leitung der kommunistischen Kindergruppen sein berühmter Bruder Ernst aktiv am Wider- und zugleich Mitherausgeber der Kinderzei- stand gegen das Naziregimes teilgenommen. tung „Der junge Genosse“. 1924 avancierte Schneller wurde nach Kriegsende Ministe- er zum Abgeordneten der KPD in der Berliner rialdirektor im Dresdner Kultusministerium. Stadtverordnetenversammlung. 1942 erfolg- Aufgrund des anfänglichen Paritätsprinzips te seine Verurteilung zu fünf Jahren Zucht- in der SED wurde der Sozialdemokrat Erwin haus wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“. Hartsch, ein Förderer demokratischer Re- Nach Kriegsende wurde Lange Oberbürger- formpädagogik und Versuchsschularbeit, als meister von Brandenburg und später, vom

58 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 1. Dezember 1954 bis 30. November 1958, Archiv: DPZI, 2674,1 (1955-58), sämtlich Minister für Volksbildung, danach Promotion unpaginiert. und Mitarbeiter am Institut für deutsche Mi- 26 Ebd. litärgeschichte in Potsdam (vgl. Gert Geißler 27 Wilhelm Schneller, Eine notwendige Klar- & Ulrich Wiegmann, Schule und Erziehung in stellung, in: Pädagogik, 11 (1956) 7, S. 533- der DDR. Studien und Dokumente, Neuwied 534, hier zit. S 533. [u.a.] 1995, S. 312). 28 Vgl. DIPF, BBF, wie Anm. 25. 22 Adolf Jensen verfasste gemeinsam mit Wilhelm 29 Vgl. Wolfgang Leonhard, Die bedeutendste Lamszus reformpädagogische Streitschriften Rede des Kommunismus, in: Aus Politik und zur Reform des Deutschunterrichts, so 1910 Zeitgeschichte 17 & 18 – 2006, S. 3-5. „Unser Schulaufsatz, ein verkappter Schund- 30 Vgl. Ilja Ehrenburg, Menschen, Jahre, Leben. literat“. Bis 1914 wurde Jensen wegen seines Memoiren, Bd. 3, Berlin 21982, S. 553. reformpädagogischen Engagements durch die 31 Vgl. Siegfried Prokop, 1956 – DDR am Hamburger Schulbürokratie vierzehnmal ge- Scheideweg. Opposition und neue Konzepte maßregelt und schließlich entlassen. In den der Intelligenz, Berlin 2006. Jahren 1920-29 war er Lehrer und seit 1924 32 Vgl. Zur Entlassung werden vorgeschlagen Rektor an der Berlin-Neuköllner Versuchsschu- ... – Wirken und Arbeitsergebnisse der Kom- le (Rütli-Schule), die er zu einer Lebensgemein- mission des Zentralkomitees zur Überprüfung schaftsschule profilierte, anschließend lehrte von Angelegenheiten von Parteimitgliedern er als Professor für Methodik und Didaktik an 1956. Dokumente, Berlin 1991; vgl. auch der TH Braunschweig. Die Nazis hatten ihn Andreas Pehnke, „Vollkommen zu isolieren!“ 1932 aus dem Braunschweigischen Staats- Der Chemnitzer Schulreformer Moritz Nestler dienst entlassen. Von 1947-51 war der nach (1886-1976), Beucha bei Leipzig 2006 sowie Kriegsende rehabilitierte Jensen in der ersten Andreas Pehnke, Widerständige sächsische Wahlperiode Mitglied des Niedersächsischen Schulreformer im Visier stalinistischer Politik Landtags (vgl. Schulreform – Kontinuitäten und (1945-1959), Frankfurt/M. 2008. Brüche. Das Versuchsfeld Berlin-Neukölln, 33 Willy Steiger, Erziehung und Gesundung hg. von Gerd Radde [u.a.], Opladen 1993). – durch Arbeit, in: Pädagogik, 11 (1956) 10, S. Wilhelm Lamszus, ab 1902 Volksschullehrer 780-790, hier zit. S. 780. in Hamburg, erlangte neben seinem reform- 34 Gerd Hohendorf, der unmittelbar zuvor als pädagogischen Engagement 1912 weltweites Leipziger Schulrat die Schließung der Gau- Aufsehen mit seinem Antikriegsroman „Das digschule forcierte und die administrative Menschenschlachthaus – Bilder vom kommen- Reformpädagogik-Ausgrenzung im Osten den Krieg“, mit dem ihm eine schockierende Deutschlands seit 1948 wissenschaftlich zu Vorausschau auf den industriellen Zukunfts- legitimieren suchte, gelangte am Ende der krieg gelang. Während der Weimarer Repu­ DDR zu einer differenzierteren Reformpä- blik avancierte Lamszus zu einem der kreativen dagogik-Sicht (vgl. Arbeiterbewegung und Hamburger Versuchsschullehrer. Während Reformpädagogik, Oldenburg 1989). – Vgl. des Kalten Krieges versuchte der Friedens- hier: Strohfeuer oder revolutionärer Elan?, in: und Reformpädagogen zwischen den Fronten Pädagogik, 11 (1956) 10, S. 790-792, hier der Ost- und Westpädagogik zu vermitteln (vgl. zit. S. 791. – Dieser polemische Titel ist die Andreas Pehnke (Hg.), Die literarische Werk- Antwort auf Steigers im Septemberheft 1956 ausgabe des Hamburger Friedenspädagogen veröffentlichten Artikel mit dem vielsagenden Wilhelm Lamszus (1881-1965), Beucha & Titel „Wir wollen aus der Vergangenheit das Markkleeberg 2016). Feuer übernehmen!“ (S. 671-673). 23 Zit. n. DLZ, Berlin 3 (1956) 4, S. 4 (vom 28. 35 Vgl. Pehnke 2018, wie Anm. 18. Januar). – Der V. Pädagogische Kongress 36 Robert Seidel arbeitete zunächst als Tuch- fand schließlich vom 15. bis 18. Mai 1956 in macher und Weber in Crimmitschau. 1869 Leipzig statt. nahm er am Gründungskongress der So- 24 Willy Steiger, Für eine richtige Einschätzung zialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) Kühnels, in: Pädagogik, 11 (1956) 1, S. 26-32. in Eisenach teil und war seit den neunziger 25 Deutsches Institut für Internationale Päda- Jahren in zahlreichen Funktionen der natio- gogische Forschung (DIPF), Bibliothek für nalen und internationalen Arbeiterbewegung Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF), aktiv, u.a. als Redakteur in verschiedenen

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 59

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Organen der Arbeiterpresse. 1870 emigrier- Marxistisch-Leninistischen Schriftenreihe, te Seidel in die Schweiz. Von 1879-81 be- Volk und Wissen, Berlin; Westdeutsche suchte er das Seminar Küsnacht und wurde Erstausgabe: Frankfurt am Main: Roter Primarlehrer. 1984-90 war er Sekundarlehrer Druckstock, 1972; = Probleme des wis- in Mollis. 1885 (Tübingen) veröffentlichte er senschaftlichen Sozialismus, Bd. 4). Seine das Buch „Der Arbeits-Unterricht, eine päda- Habilitationsschrift „Wilhelm Liebknecht gogische und soziale Notwendigkeit, zugleich über Bildung und Erziehung des werktäti- eine Kritik der gegen ihn erhobenen Einwän- gen Volkes. Eine Untersuchung über seine de“. In Auseinandersetzung mit der Arbeits- Kampfschrift ‚Wissen ist Macht – Macht ist schulposition Georg Kerschensteiners gab Wissen’“ legte er 1959 der Päd. Fakultät der er die Schrift „Die Schule der Zukunft eine Humboldt-Universität zu Berlin vor. Arbeitsschule“ (Zürich 31919) heraus. 1905 40 Zit. n. ebd. (DIPF, BBF). habilitierte Seidel an der Eidgenössischen 41 Vgl. Willy Steiger, Ein Buch kann helfen, Technischen Hochschule und lehrte hier und in: DLZ, Berlin 3 (1956) 44, S. 2 (vom 3. an der Universität Zürich als Privatdozent. November). Ab 1898 Wahl in zahlreiche parlamentari- 42 Vgl. Siegfried Baske, Pädagogische Wis- sche Gremien der Schweiz, u.a. von 1911- senschaft, in: Handbuch der deutschen 17 in den Nationalrat. Seidel stand mit Rosa Bildungsgeschichte. Bd. VI 1945 bis zur Luxemburg im Briefwechsel. 1920 nahm er Gegenwart, Zweiter Teilband DDR und neue als einer der Referenten zum Thema Arbeits- Bundesländer, hg. von Christoph Führ und unterricht an der Reichsschulkonferenz teil Carl-Ludwig Furck, München 1998, S. 137- (vgl. Christa Uhlig, Reformpädagogik: Re- 157, hier S. 148. zeption und Kritik in der Arbeiterbewegung. 43 Vgl. Willy Steigers Aufsätze, die er 1963 Quellenauswahl aus den Zeitschriften „Die in der Zeitschrift „Polytechnische Bildung Neue Zeit“ (1883-1918) und „Sozialistische und Erziehung“ veröffentlicht wurden, sowie Monatshefte“ (1895/97-1918), Frankfurt am seine Beiträge 1963/64 in „Elternhaus und Main 2006, S. 67-69). Schule“. – Siehe Willy-Steiger-Bibliografie, in 37 Vgl. ebd., S. 123-126. Pehnke 2019, wie Anm. 1, S. 703-707. 38 Vgl. DIPF, BBF, wie Anm. 25. – Robert Alt 44 Kaelter bezog sich hier auf Steigers Rezen- lehrte bis 1933 an der reformpädagogischen sion zum DEFA-Kurzfilm „Martins Tagebuch“ Karl-Marx-Schule in Berlin-Neukölln. Wäh- (1955), einem 28-minütigen Streifen von Fil- rend des Nationalsozialismus war er zahlrei- memacher Heiner Carow, die in Nr. 37 (S. 3) chen politischen rassistischen Verfolgungen der DLZ vom 15. September 1956 erschien. ausgesetzt. Bis 1941 unterrichtete er an jüdi- 45 Zit. n. Pehnke 2019, wie Anm. 1, S. 580. schen Bildungseinrichtungen in Berlin, bis er 46 Vgl. Wolfgang Keim, Zur Reformpädago- nach Auschwitz verschleppt wurde. Er gehört gik-Rezeption in den alten Bundesländern zu den wenigen Überlebenden des KZ-Schif- – Phasen, Funktionen, Probleme, in: And- fes „Cap Arkona“, das am 3. Mai 1945 in der reas Pehnke (Hg.), Ein Plädoyer für unser Lübecker Bucht versenkt wurde. Seit Januar reformpädagogisches Erbe, Neuwied [u.a.] 1946 war er als Lehrerbildner in Berlin als 1992, S. 111-139 sowie Georg Picht, Die Professor an der Pädagogischen Hochschule deutsche Bildungskatastrophe, Freiburg und an der Universität tätig. 1952-63 war Alt 1964. – Vgl. auch Reiner Lehberger, Die Direktor des Instituts für Systematische und Hamburger Schulreform von 1949, in: Man- Historische Pädagogik der Humboldt-Univer- fred Heinemann (Hg.), Zwischen Restau- sität zu Berlin (vgl. Ulrich Wiegmann, Zur Ge- ration und Innovation. Bildungsreformen in schichte des Lebensbildes von Robert Alt, in: Ost und West nach 1945, Köln [u.a.] 1999, Bodo Friedrich [u.a.] (Hg.), Robert Alt (1905- S. 17-35; zu Adolf Grimme: Andreas Pehnke, 1978), Frankfurt am Main 2006, S. 143-157). Zwei Reformpädagogen gegen Antisemitis- 39 Vgl. DIPF, BBF, wie Anm. 25. – Hans Brum- mus. Der Volksschullehrer Max Kosler und der me war seinerzeit an der Berliner Humboldt- Kultusminister Adolf Grimme, in: Detlef Lehn- Universität tätig, hatte zuvor (1951) mit der ert (Hg.), Vom Linksliberalismus zur Sozialde- Arbeit „Stalin über Volksbildung und Erzie- mokratie, Köln [u.a.] 2015, S. 235-262 sowie hung“ an der Päd. Fakultät der Universität Bernd Dühlmeier, Und die Schule bewegte Halle-Wittenberg promoviert (= Heft 1 der sich doch. Unbekannte Reformpädagogen

60 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 und ihre Projekte in der Nachkriegszeit, Bad Erziehungswissenschaft der Gegenwart, in: Heilbrunn/Obb. 2004, darin zum sog. „Han- Pädagogische Rundschau, 28 (1974), S. nover-Plan“: S. 43ff. und in Gänze zu den ba- 763-781. sispädagogischen Initiativen. 52 Die Forschungsinteressen des Sozialisa- 47 Zit. n. Pehnke 2019, wie Anm. 1, S. 581. tionstheoretikers und Sozialpädagogen Jür- 48 Zit. n. ebd., S. 581f. gen Zinnecker, zunächst Prof. in Marburg, 49 Zit. n. ebd., S. 582. sodann in Siegen, galten vorrangig den Le- 50 Vgl. zu den gesellschafts- und schulpoliti- bensbedingungen und Lebensformen von schen Rahmenbedingungen: Handbuch der Kindern und Jugendlichen in historisch und deutschen Bildungsgeschichte. Bd. VI: 1945 sozialräumlich besonderen persönlichen und bis zur Gegenwart. Erster Teilband: Bundes- gesellschaftlichen Kontexten. Dazu hat er republik Deutschland, hg. von Christoph Führ prägende Studien wie die Shell-Jugendstudie und Carl-Ludwig Furck, München 1998; in den achtziger Jahren (gemeinsam mit Ar- Sylvia Liebenwein, Bildungsreformen in der thur Fischer) durchgeführt. Später war er u.a. BRD, in: Barz 2018, wie Anm. 18, S. 129-142 Mitherausgeber der Zeitschrift für Soziologie sowie Wolfgang Keim 1992, wie Anm. 46. der Erziehung und Sozialisation oder beim 51 Vgl. Winfried Böhm, Zur Einschätzung der Jahrbuch Jugendforschung. reformpädagogischen Bewegung in der 53 Zinnecker 1977, wie Anm. 8, S. X.

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 61

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0

PR 2020, 74. Jahrgang, S. 63-78 © 2020 Ernst Daniel Röhrig - DOI https://doi.org/10.3726/PR012020.0004

Ernst Daniel Röhrig

Schulentwicklungsberatung, Neue Steuerung und Evidenz: Angebot oder Zumutung?

Zur Vermittelbarkeit gesellschaftlicher Reproduktionsansprüche im Pädagogischen System

„Das Erziehungssystem heißt mit an- Dieser Frage soll hier vor dem Hintergrund derem Namen auch Bildungssystem. aktueller Ansprüche an (inklusive) Schul- © 2020 Diese doppelte Benennung darf je- entwicklung nachgegangen werden. doch nicht zu dem Irrtum führen, Er- ziehung und Bildung seien dasselbe. 1. Die organisierte Vermittlung Erziehung ist eine Zumutung, Bildung ist ein Angebot. Erziehung richtet sich gesellschaftlicher an Kinder und Heranwachsende, Bil- Reproduktionsanforderungen dung nicht nur an diese. Die Erwach- senenbildung und Weiterbildung sind In Schulen, den wohl ursprünglichsten Erscheinungen, die die Frage aufwer- Institutionen organisierter pädagogischer fen, ob sie gemeinsam mit Erziehung Kommunikation, werden die Kommunika- 2 demselben System angehören.“1 tionen der Teilsysteme von Gesellschaft als Inhalte im Medium3 des Pädagogi- Dieses Zitat weckt den Eindruck, dass schen kommuniziert; sei es durch Zu- Erwachsenen die Zumutungen der Erzie- mutungen in erzieherischer Absicht oder hung nicht gemacht werden oder nicht ge- als Angebote zur individuellen Bildung. macht werden können. Doch erweckt ein Umgekehrt werden die Kommunikationen Blick auf die aktuell gestellten Ansprüche des Pädagogischen natürlich auch in den an Schulentwicklung und Lehrerprofes- Institutionen und Organisationen anderer sionalität ebenso den Eindruck, dass hier Funktionssysteme in deren Medien als Erwachsenen, nämlich den Lehrkräften – Inhalte thematisiert. Das Pädagogische aber auch anderen pädagogisch tätigen folgt dem Muster der funktionalen Diffe- Akteuren – einiges zugemutet wird. Wo renzierung und wird damit selbst zu einem sind die Bedingungen zu suchen und zu sozialen System, oder besser: es erkennt finden, die Erwachsenen das Erdulden sol- sich als solches; zunächst in den Institutio- cher Zumutungen als Angebote vermitteln nen und Professionen, in denen sich seine können und dazu beitragen, dass sie diese Kommunikationen aktualisieren, zuneh- wahrnehmen, annehmen, anerkennen? mend aber auch über die institutionellen

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 63

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 und professionellen Grenzen hinaus und der Vergabe von staatlich anerkannten wird „zu einer allgegenwärtigen, universel- Zertifikaten und Qualifikationen verbunden len und lebenslangen sozialen Realität.“4 sind, fällt diese Autonomie der Adressaten Eine bestimmte (institutionalisierte und/ besonders ins Gewicht. Lange Zeit waren oder professionalisierte) Intentionalität ist damit die Akteure des Schulsystems in für das Pädagogische nicht (mehr) fun- einer sehr komfortablen Situation: Sie ent- damental, sondern es definiert sich nun wickelten, verwalteten und bewerteten über Strukturierung, statt über bestimmte ihre Programme und deren Erfolge unter Absichten und Inhalte (wie im Falle reiner Bezugnahme auf die staatlichen Rahmen- Erziehungszumutung). vorgaben selbst. Es gab außer diesen Vor- Das (deutsche) Schulsystem stellt in- gaben keine Instanz, die einen direkten nerhalb der Gesellschaft insgesamt, aber Einfluss nahm auf das, was im Erziehungs- auch innerhalb des gesamten Erziehungs- und Bildungssystem als vermittelbar und Bildungssystems einen Sonderfall dar. erkannt wurde. Doch je mehr gesellschaft- Die Adressaten werden ihm nicht aufgrund liche Teilsysteme sich ausdifferenzieren bestimmter Eigenschaften und Bedürfnis- und ihre eigene systeminterne Komplexität se zugeführt oder wählen sich nicht freiwil- steigern, desto größer werden deren An- lig die Angebote aus, sondern sie werden sprüche an das Pädagogische als das, die qua Existenz als Person durch geltendes zur Reproduktion der Teilsysteme notwen- Recht für einen bestimmten Zeitraum zum digen Kompetenzen vermittelnde. Je grö- Erdulden der Zumutungen im Kontext ßer das (politisch, wirtschaftlich oder auch Schule verpflichtet. Entsprechend haben persönlich motivierte und artikulierte) Be- (die meisten) Lehrkräfte einen besonderen dürfnis nach Vermittlung wird, desto mehr Status als Beamte. Sie dienen dem Staat ursprünglich nicht-pädagogisch orientierte und neben Erziehungs- und Bildungs- Institutionen und Organisationen beginnen auftrag vollziehen sie in gewissem Sinne strukturiert und organisiert an pädagogi- ein rechtsstaatlich verhängtes Pauschal- scher Kommunikation teilzunehmen und urteil. Sie genießen dadurch Privilegien, erweitern damit das Pädagogische Sys- sind aber – wie z.B. auch Polizisten und tem. Das Pädagogische, das einst seinen Staatsanwälte – ungleich stärker den Wei- Kern in der Schule hatte, breitet sich über sungen staatlicher Instanzen unterstellt als alle gesellschaftlichen Bereiche aus. Fast beispielsweise Sozialarbeiter, Erzieher, jede Organisation oder Institution entwi- Erwachsenen- und Weiterbildner. Die Ad- ckelt in irgendeiner Form Pädagogische ressaten dieser professionell pädagogisch Kommunikation. kommunizierenden Akteure unterliegen Aus heutiger Perspektive greifen nun in der Regel keiner Anwesenheitspflicht. ebensolche Pluralitäten, die außerhalb der Wenn die Eltern der Kindergartenkinder, Institution Schule schon lange (pädagogi- die Klienten von Sozialarbeitern oder die sche) Realität sind in das ‚Schulsystem‘ Teilnehmer einer Fortbildung das Angebot zurück und stellen Lehrkräfte vor neue Ent- als Zumutung empfinden, dann können sie wicklungsaufgaben, welche sich nicht aus diesem in der Regel ausweichen. Damit der (Er-)Kenntnis des öffentlichen ‚Gesamt- haben die Adressaten der pädagogischen bildungssystems‘ ableiten und vermitteln Professionen außerhalb von Schule einen lassen, da ein solches Konstrukt eben kein stärkeren Einfluss auf die pädagogische als Pädagogisches System bestimmtes, Arbeit der Pädagogen und Erzieher. Be- klar differenziertes Funktionssystem dar- sonders in Angeboten des Fort- und Wei- stellt.5 Es ist lediglich eine Umschreibung terbildungsbereichs, die nicht direkt mit vielfältiger Zumutungen und Angebote.

64 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Ein differenziertes Pädagogisches System sich reflektierend zunehmend von Religion kann nicht auf bestimmte öffentliche Ein- und Mythos: die Funktion von Kultur stellte richtungen eingegrenzt werden, da es als die Vermittlung zwischen den verschiede- soziales System aus Kommunikationen und nen, hergebrachten und neu entstehenden eben nicht aus bestimmten Einrichtungen Handlungs- und Lebenssphären sowie die und Personen besteht.6 Letztere stellen Vermittlung der sich in diesen Umwelten lediglich Knotenpunkte dar, in denen das bewegen­den Subjekte dar. Pädagogik – Pädagogische sich gleich dem Politischen, und damit zunächst speziell als Erziehung Religiösen oder Wirtschaftlichen aktuali- und Unterricht verstandene – diente dazu siert und als je spezifische Kommunikation den Heranwachsenden die zur (Re-)Pro- reproduziert. Die pädagogischen Institutio- duktion der (bestehenden) Kultur nötigen nen und Professionen verlieren zunehmend Kompetenzen und das nötige Wissen ihre ‚Vermittlungshoheit‘. Sie werden nun zu vermitteln. In Bezug auf Erwachse- selbst – nicht mehr nur im Rahmen der ne bedeutete dies dementsprechend internen Selbstreflexion, sondern ganz die Vermittlung der Kompetenzen und offen im Rahmen gesamtgesellschaftlicher des nötigen Wissens zur Teilhabe an der Kommunikation über alle Systemgrenzen (bürgerlichen) Gesellschaft, sofern diese hinweg – zum Gegenstand von Vermitt- – mangels (erfolgreicher) Erziehung und lungsprozessen bezüglich dessen, was in Unterricht – nicht vorhanden waren. Je ihnen und für sie als vermittelbar gelten komplexer diese Vermittlung sich gestal- kann und – je nach Systemperspektive im tet, desto stärker ist Kultur auf Pädagogik Sinne der Vermittlung von Kompetenzen angewiesen, die nun „als Vermittlungsinsti- zur Gewährleistung der Reproduktion – zu tution zwischen kulturelle Objekte und kul- gelten hat!7 turelle Subjekte“8 tritt. Das Pädagogische Ein Versuch, zumindest theoretische expandiert, seine Inhalte, Methoden und Kontrolle über das ausufernde Pädagogi- Teilnehmer umfassen immer weitere Be- sche zu gewinnen, zeichnet das anschlie- reiche und entstammen immer größeren ßende Kapitel nach, um ganz konkret Gruppen. Ein Merkmal der pädagogischen Bedingungen der Begegnung mit päda- Expansion ist soziale Inklusion – Inklusion gogischer Komplexität in der professio- des Pädagogischen und Inklusion in das nellen pädagogischen Praxis erkennbar Pädagogische: Das Entstehen immer werden zu lassen. Denn heute stellen sich neuer Formen pädagogisch initiierter Ins- – neben der Frage nach einer hilfreichen titutionalisierung und Professionalisierung Theoriestrategie – verstärkt die Fragen: sowie deren universitär organisierte er- Wie können Schule, Unterricht, Pädago- ziehungswissenschaftliche Reflexion ma- gik dieser Unübersichtlichkeit ganz prak- chen dies erkennbar. Hieran wird bereits tisch gerecht werden? Wie können Schule der Selbstbezug des noch zu erläuternden und Unterricht selbst angesichts gesell- pädagogischen Programms ‚Vermitteln: schaftlicher Ansprüche im pädagogischen Aneignen‘ deutlich. Die Formen, Metho- System (weiterhin) als vermittelbar erkannt den und Akteure der Vermittlung sind werden? Instrument und zugleich Gegenstand von Vermittlung. Vermittlung erscheint zugleich als das Problem, das das Pädagogische 2. Verlust der Vermittlungshoheit es zu lösen auf den Plan ruft, ist aber auch die Aufgabe, die ihm gestellt wird, näm- In der Kultur entdeckte sich der Mensch lich zwischen den Reproduktionserfor- als Erzeuger ihrer Inhalte und emanzipierte dernissen der voneinander differenzierten

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 65

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Teilbereiche der Gesellschaft, der Ge- Kommunikation im pädagogischen System sellschaft selbst und den Individuen zu sein müssen, lediglich sein können. Das vermitteln. Das Pädagogische System re- pädagogische System beobachtet also mit produziert die Kommunikationsform, die der Differenz ‚vermittelbar/ nicht-vermittel- alle anderen gesellschaftlichen Funktions- bar‘ – es differenziert sich damit selbst von systeme miteinander und mit den biogra- der Welt und reproduziert sich als Sys- phischen Systemen der Individuen sowie tem, ordnet soziale Praktiken dem System ihren Psychischen und Biologischen zu oder schließt sie aus. Um sich zu re- Systemen in Verbindung bringt, um zum produzieren löst es das gesellschaftliche Zwecke der jeweiligen Reproduktion die Problem gerade eben nicht, über das es notwendigen Kompetenzen zu vermitteln. sich begründet – nämlich die Notwendig- Das Pädagogische System liegt wie alle keit der Vermittlung. Vielmehr (re-)produ- anderen Funktionssysteme quer zu deren ziert es Probleme der Vermittlung12, indem Manifestationen und aktualisiert sich in seine Programme zu Aneignung führen. jeweiligen Kommunikationen, wenn es zu Würde es das Problem lösen, hätte es entscheiden gilt, was vermittelbar ist und keine Grundlage mehr zu operieren, da die was nicht.9 Differenz zugunsten einer Seite aufgelöst wäre. Diese Paradoxie entfaltet die Unter- 2.1. Vermittelbar? Der Code des Päda- scheidung von Code und Programm: Der gogischen Code ist selbst nicht die Operation, er löst lediglich das Programm aus, das bei Er- Kade führt die Differenz „vermittelbar/ folg – etwas wird vermittelt – Aneignung zu nicht-vermittelbar“ als (primären) Code des Folge hat: das Programm wird zugunsten Pädagogischen ein und verweist auf den eines neuen Programms beendet – ande- Vorteil, bzw. Vorrang dieses Codes gegen- res ist nun vermittelbar. über dem (sekundären) Code der Selek- tion „besser/ schlechter“.10 Er beschränkt 2.2. Nicht-Vermittelbar? Die Autonomisie- sich hier auf Wissen als Gegenstand von rung des Pädagogischen Vermittlung, ist sich aber durchaus be- wusst, dass damit ein sehr umfassend Die Autonomisierung des Pädagogischen verstandener Wissensbegriff vorliegt, der Systems ist zugleich seine Öffnung hin zur Verhaltensaspekte, Handlungsaspekte, inhaltlichen Beliebigkeit. Die Inhalte und Kompetenzen aber auch Situationen, Per- Intentionen können nun beliebig aus ande- sonen, Methoden, Instrumente etc. mit- ren gesellschaftlichen Teilsystemen in das einschließt; jegliches Wissen also, dass Pädagogische hineingetragen werden, bei der Vermittlung zwischen kulturellen womit die Grundlage zur universellen Pä- Objekten und Subjekten vermittelbar sein dagogisierung von Welt gegeben ist. Ein kann – oder je nach Situation, Person, grundsätzliches ‚Vermittelbar!‘ verlangt Institution etc. – eben nicht.11 Im päda- nach der ständigen Ausweitung und Wei- gogischen System wird Wissen reflexiv terentwicklung von Vermittlungsmethoden, – Vermittlung wird vermittelbar oder eben Vermittlungsstrukturen und Vermittlungs- nicht. Damit ist alles Wissen potentiell praktiken.13 Hier wird die Konsequenz Inhalt pädagogischer Vermittlung. Die In- deutlich erkennbar – und damit Gegen- tention – ob erzieherische Absicht, Kom- stand von Wissenschaft – der sich das Bil- petenzorientierung oder Bildungskanon dungs- und Erziehungssystem angesichts – ist absolut beliebig und unterliegt Ent- wachsender Unübersichtlichkeit und zu- scheidungen, die selbst nicht Resultat der gleich umfassender Inklusionsansprüche

66 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 ausgesetzt sieht: Will es dem Anspruch Erfolg des Pädagogischen Systems eben- gerecht werden, Institutionen und Pro- so irrelevant wie es die Aneignungsleistung fessionen des Pädagogischen Systems der Adressaten oder die Professionalität bereitzustellen, um die Vermittlung ge- seiner Akteure sind; solange es weiterhin sellschaftlich relevanter Kompetenzen zu sein Programm fahren und mit der Differenz gewährleisten – also seine Funktion zu des Codes operieren kann. Die Program- erfüllen, dann müssen sich Institutionen me steuern die Operationen, sie geben an, und Professionen stets weiterentwickeln, was als vermittelbar und nicht-vermittelbar um die Ansprüche an Vermittelbarkeit zu gilt und stellen Orientierungen für päda- erfüllen (von schulischer Inklusion, Di- gogische Akteure und Adressaten bereit. gitalisierung, Arbeitsmarktorientierung, Pädagogische Programme entscheiden Ökonomisierung etc.). Gelingt dies nicht, folglich über die inhaltliche Ausrichtung von wird seine Gesellschaft Alternativen su- (Erziehungs- und Bildungs-) Maßnahmen­ chen, andere Formen und Methoden der und Einrichtungen, über die Methoden der Organisation des Pädagogischen – und Vermittlung, über die Zusammensetzung finden. Damit einher geht eine erhöhte von Lerngruppen, über die Strukturen – ma- Wahrscheinlichkeit von eigenmächtigen, teriell, zeitlich, sozial – in denen das päda- eigensinnigen und eigennützigen Entschei- gogische Geschäft verrichtet wird; wer und dungen aller Beteiligten. Kade verweist was dazugehört und wer und was nicht. auf die ‚Programmebene‘: Bildungs- und Aufgrund der Autonomie des Pädagogi- Erziehungstheorien. Zunehmend in den schen sowie der Autonomie ihrer Akteu- Blick kommen aber nun – auch vor dem re und Adressaten, ist es immer zunächst Hintergrund der Vielzahl an verfügbaren unbestimmt, wer, wann, wie und wodurch Theorien – die subjektiven Bildungs- und Einfluss auf die Umsetzung der Programme Erziehungstheorien der Akteure und Adres­ nimmt – aber es ist ebenso unbestimmt wer saten; und damit eine erhöhte Relevanz alles an den Programmen ‚mitschreibt‘ und von subjektiven Einstellungen und Hal- dadurch Entscheidungen über Methoden, tungen als Umwelten pädagogischer Strukturen und Inhalte (mit-)bestimmt. Wes- Kommunikation. Hat Kade eher die Viel- halb der einzelne Akteur zu einer wichtigen zahl an neuen Medien und Vermittlungs- Figur für die Operationen des Pädagogi- formen im Blick, wenn er die Kontingenz schen wird und über die Anwendung des der Programme erkennt, bringen eben Codes (mit-)entscheidet. diese Medien auch eine Vielzahl neuer subjektiver Perspektiven auf und subjek- 2.4. Aneignen! Die Autonomisierung der tiver Ansprüche an die Programme mit Adressaten sich. Personen als Kondensationspunkte der (pädagogischen) Kommunikation sind Somit obliegt die ‚Kontrolle‘ den Adres- eben nicht nur Gegenstand pädagogi- saten und die Autonomie des Pädagogi- scher Programme, sondern als Subjekt schen gründet zugleich in der Autonomie oder Individuum auch Teil dieser.14 der Adressaten, ob sie Vermittlung zulas- sen oder nicht, ob sie Aneignung anstre- 2.3. Vermitteln! Das Programm des Päd- ben oder nicht. Damit ist der ‚Erfolg‘ des agogischen Pädagogischen Systems bezüglich seiner gesellschaftlichen Funktion Kultur zu ver- Ob Schulentwicklungsberatung15 gelingt, mitteln – und damit (auch) den Ansprüchen oder ob Konzepte „Neuer Steuerung“16 anderer Teilsysteme gerecht zu werden – im Schulwesen Effekte zeitigen ist für den eben nicht in der Reproduktion des

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 67

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Systems, sondern in der Aktualisierung Systemwechsels, ohne daß das päd- der verschiedenen Systemprogramme agogische System dies beobachten im Modus des Pädagogischen bei den könnte. Sonst müsste es sich noch Teilnehmern begründet. Die im Pädago- einmal von sich als System unter- gischen interpenetrierenden Kommuni- scheiden können. Aus der Beob- kationsmedien – Wissen, Macht, Recht, achterperspektive zweiter Ordnung, Eigentum, Glaube – erhöhen lediglich nämlich der des Wissenschaftssys- die Wahrscheinlichkeit, dass Subjekte an tems bzw. der Erziehungswissen- diese Kommunikationsmedien anzuschlie- schaft als einem Teil von ihm, kann ßen bereit sind und sich die dazu nötigen man allerdings beide Systeme aufei- Kompetenzen aneignen.17 Diese Erkennt- nander beziehen […].“21 nis gewinnt besondere Relevanz im Kon- Operationen der Vermittlung und Aneig- text der (inklusiven) Schulentwicklung,18 nung finden immer in getrennten Systemen wenn die qua Profession als Vermittler statt und sind entsprechend kontingent – tätigen nun selbst zu Adressaten werden also verkürzt gesagt: immer nur in ihrem und sich zudem der Zumutung absichts- Verhältnis zueinander als Operationen der voller Erziehung im Sinne der Verbesse- Vermittlung oder Aneignung bestimmbar, rung ihrer Vermittlungstätigkeit ausgesetzt niemals für sich allein.22 Als Teilnehmer sehen. Das Aneignen als die der Vermitt- werden die Adressaten als Teil des päda- lung komplementäre Operation rückt die gogischen Systems bezeichnet: „Der Teil- Adressaten ins Zentrum der Betrachtun- nehmer ist das psychische System – und gen. Als für das psychische System spe- das ist das Paradox – aus der Sicht des zifische Operation wird Aneignung vor pädagogischen Systems.“23 allem biografisch gelenkt: Die individuellen Der Adressat wird also aus der Be- Erlebnisse und Bedürfnisse, (Lern-)Er- obachterperspektive des pädagogischen fahrungen und Interessen der Adressaten Systems als Teilnehmer konstruiert, was bestimmen maßgeblich, was angeeignet bedeutet, dass jeder Adressat – neben wird.19 Die Unterscheidung von Vermitteln seinem immer auch Nicht-Teilnehmer-Sein und Aneignen macht das Verhältnis des – von den Akteuren des pädagogischen pädagogischen Systems zu seinen Adres- Systems in Bezug auf seine Teilnehmer- saten als Differenz von Systemen erkenn- rolle konstruiert wird, wobei – und das bar: der Differenz von pädagogischem und ist der Wiedereintritt der Differenz von biographischem System.20 Die Bedeutun- Pädagogischem und Psychischem auf gen des persönlichen Erlebens und der der Seite des Akteurs – das biografische Erfahrungen im je eigenen Werdegang System des Akteurs die Umwelt der Ein- bestimmen das Verhältnis zum pädagogi- ordnung des psychischen Systems sei- schen System und damit die Auslegung, nes Adressaten bildet. Das psychische Ausführung und Aneignung der pädagogi- System konstruiert das Pädagogische schen Programme. ebenfalls aus seiner Sicht. Das Wissen um diese Differenz gehört gleichsam 3. Gesellschaft des zum pädagogischen System und spiegelt Pädagogischen sich in der wissenschaftlichen Reflexion wieder, aber nicht nur dort: Auch in den „Die Figur des Teilnehmers indi- subjektiven Theorien der Akteure und Ad- ziert also innerhalb des pädagogi- ressaten werden entsprechende Konst- schen Systems die Möglichkeit eines ruktionen wirksam.

68 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 3.1. Erkennbar? Die Teilnehmer als Wis- in seiner Kooperativität überhaupt erst senschaftler wahrscheinlich macht.29 In Bezug auf pä- dagogische Programme vermitteln sie Die Perspektiven, die jeder einzelne auf Vermittlung und Aneignung als vermittel- sich selbst, andere, Menschen im Allge- bar oder nicht-vermittelbar aufgrund der meinen und seine Umwelt einnimmt, kön- Erwartbarkeit von Verhältnissen der Er- nen wir einerseits als Resultate individueller fahrungen und Interessen der als Subjekte Erlebnisse, die in Erfahrungen geordnet beschriebenen Teilnehmer (Akteure und werden, betrachten;24 andererseits ist es Adressaten) sowie – auf der Reflexions- möglich, sie als Zeichen der Äußerung ebene subjektiver Theorien über subjektive individueller Bedürfnisse zu deuten, die in Theorien – die Erwartbarkeit von Erwar- Interessen ihren Ausdruck finden;25 diese tungen. Antizipationen von Operationen scheinbar ‚naiven‘ Betrachtungen und auf der Interaktionsebene bilden die Basis Deutungen stellen letztlich – analog zu der Beschreibung individuell erstellter Teil- dem je Betrachteten und Gedeuteten – als programme des Vermittelns, Interpretatio- Kommunikationen über Deutungen und nen der Operationen auf Programmebene Betrachtungen, wirkliche Verhältnisse dar, bilden die Basis der Beschreibung ihrer die wiederum zu Grundlagen von Entschei- individuellen Umsetzung in der Interaktion. dungen und Handlungen werden (können), Als Teilnehmer werden unter der die Teil des (subjektiven – also: als subjek- kommunikativen Subjektannahme alle tiv erlebten) Erlebens sind. Das komplexe, gleichermaßen füreinander ‚erkennbar‘ argumentative Denken von Alltagstheoreti- – Adressaten wie Akteure. Und je nach kern erfüllt die gleichen Funktionen wie die Blickwinkel, oszilliert das Dual Vermitteln/ wissenschaftliche Theoriebildung: (Welt- Aneignen ebenfalls zwischen Akteur und und Umwelt-)Verhältnisse wollen erkannt, Adressat: Die Autonomie der Adressa- erklärt, vorhergesagt und gegebenenfalls ten und die Autonomie des Pädagogi- verändert werden.26 schen lösen Asymmetrien auf, die nun In diesem Sinne können ‚Subjekte‘ nur noch außerhalb der Systemgrenzen sich und andere als Wissenschaftler er- des Pädagogischen – über Macht, Recht, kennen und beobachten, die die eigenen Eigentum30 etc. – (re-)aktualisiert werden sowie die Erlebnisse und Bedürfnisse an- können. Der Adressat als psychisches derer in Verhältnisse setzen.27 Aus dieser System ist zu komplex als von einem Ak- Perspektive betrachtet, sind es einzelne teur angemessen verkraftet, bearbeitet Subjekte, die Entscheidungen treffen, um und in seiner interaktionsbezogenen Kon- Interessen zu wahren, je vor dem Hinter- sequenz, angeeignet werden könnte.31 grund von Erfahrungen bezüglich der Er- Das gilt natürlich entsprechend für die folgswahrscheinlichkeit ihres Handelns.28 Perspektive des Adressaten auf den Ak- Diese Annahmen über ‚Menschen‘ und teur und macht auf allen Seiten den Ein- ‚menschliches‘ Verhalten als zentraler Be- satz von Heuristiken notwendig. standteil im doppelten Sinne ‚subjektiver‘ Theorien – Subjekte kommunikativ hervor- 3.2. Nicht-Erkennbar? Zur Notwendigkeit bringend und beschreibend – generieren von Heuristiken Erwartungen, kalkulieren Erwartbarkeiten und fungieren somit als Komplexitätsre- Die Berücksichtigung aller Perspektiven duktionsmechanismen und Vertrauensge- der Beteiligten Akteure und deren Re- neratoren, die den alltäglichen Umgang levanz wäre nötig, ist aber (noch) nicht miteinander überhaupt erst möglich und möglich. Ein entsprechender Algorithmus

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 69

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 müsste gleich einem Pascal´schen Dämon der im Wechselspiel mit der Entwicklung das Erleben aller Akteure beobachten und der subjektiven Theorien involvierter Ak- untereinander sowie zu deren je individu- teure von statten geht: Den Subjekten – ellen Bedürfnissen in Verhältnisse setzen, als Akteure wie als Adressaten – wurden um absolute Erwartbarkeit von Interaktio- und werden in diesem Prozess immer all- nen bei bestimmten Entscheidungen ge- gemeiner, konsistenter und konsequenter, nerieren zu können. Folglich wird es wohl gleichermaßen besondere Eigenschaften, immer notwendig bleiben, heuristisch vor- Fähigkeiten, Kompetenzen und Rechte zu- zugehen. Zunächst gilt es, die Bestandtei- gesprochen; damit einhergehend wächst le unseres begrenzten, aber zugänglichen das Interesse, dem gerecht zu werden. Wissens zu identifizieren, die geeignet Die erfolgreiche Entwicklung inklusiver sein können den Einfluss aller für den und inkludierender Strukturen in Schule ‚Forschungszusammenhang‘ relevanten und anderswo, so ist demzufolge anzu- Erlebnisse, Bedürfnisse und Verhältnisse nehmen, steht in direktem Zusammenhang als beobachtbare Merkmalsausprägungen zu den subjektiven Theorien der Akteure zu symbolisieren. Es stellt sich dem Heu- und deren (Weiter-)Entwicklung sowie der ristiker also vordergründig die Frage: Was Übereinstimmung persönlicher mit insti- sind die zentralen Persönlichkeitsmerkma- tutionalisierten Annahmen, welche die im le von Akteuren für eine – aus welcher Ak- Entwicklungsprozess angestrebten Ziele teur- oder Systemperspektive auch immer begründen. bestimmte – ‚erfolgreiche‘ Schulentwick- lung; und entsprechend ‚hintergründig‘: 4.1. Vermittlung aneignen! Schulentwick- für Entwicklung von Entwicklung über- lung als Zumutung? haupt? Solange das Pädagogische (und damit vor- nehmlich – die Schule) auf Selektion und 4. Die Entwicklung des damit auf Exklusivität abstellen konnte, war Pädagogischen Aneignung eine Selbstverständlichkeit: Der Prozess des Vermittelns begründete Subjektive Annahmen der Akteure über die Aneignung des vermittelten Wissens, sich selbst, ihre Interaktionspartner aber solange es einer Auswahl gelingen konnte. auch ‚den Menschen‘ im Allgemeinen Alle anderen waren dann als Teilnehmer wirken sich im Rahmen von Schulentwick- des Angebots nicht vermittelbar, da sie lung auf die konkreten Entscheidungen der Zumutung nicht gewachsen waren. der Akteure in den organisationsspezi- Je komplexer die Gesellschaft, desto viel- fischen Interaktionsmustern aus. Konst- fältiger die Inhalte, Teilnehmer, Methoden, rukte, deren Ausprägung für den Erfolg Strukturen und Ansprüche an das Päda- von Entwicklungsprozessen strategisch gogische: Lernen wird nicht mehr zwangs- relevant werden können, ergeben sich läufig als Folge des Lehrens erkannt, aus den vielfältigen Annahmen, die der sondern wird in Abhängigkeit von der Ge- angestrebten Struktur zugrunde liegen. staltung der Vermittlung beobachtet. Es Die Entscheidung zur (inklusiven) Schul- wird zunehmend auch in der Schule An- entwicklung selbst resultiert aus einer gebot statt Zumutung. Lehren, Unterricht Entwicklung der subjektiven Theorien Ein- und Schule, Lehrkräfte müssen sich selbst zelner vor dem Hintergrund kollektiv orga- an der erfolgreichen Aneignung durch die nisierter Erwartungen. Das Organisieren Teilnehmer im Code besser/schlechter der Erwartungen ist selbst ein Prozess, (und ggf. geeignet/ungeeignet) messen

70 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 lassen; und nicht mehr nur die Teilnehmer oder nicht, ändert nichts daran, dass sie bezüglich ihrer Fähigkeit erzieherische Zu- nun selbst (autonome) Adressaten sind. mutung aneignend zu ertragen.32 Ihre Fähigkeit zur Aneignung dessen, was Die Pädagogik vermittelt was sie pro- von schulfremden Institutionen und Akteu- grammatisch für vermittelbar hält und die ren im pädagogischen System als vermit- psychischen Systeme können dies nun telbar kommuniziert wird, kann nun auch aneignen oder nicht. Durch diese Ent- von diesen Akteuren im sekundären Code koppelung von Vermittlungsanspruch und besser/schlechter bewertet und zum An- Aneignungsleistung lässt sich an das pä- lass von Selektion genommen werden. dagogische System letztlich kein (exter- Diese Selektion wiederum kann Kommuni- ner) Maßstab anlegen, außer im eigenen kationen in Medien anderer Systeme aus- Code vermittelbar/nicht-vermittelbar.33 lösen, die über Zuteilung von Ressourcen Andere Teilsysteme können aber durch- und Privilegien entscheiden. Das Privileg aus die pädagogischen Programme in des Beamten ist zugleich seine Verpflich- ihrer Wirkung auf die für sie und Ihre Re- tung zur Duldung von Zumutungen: die produktion wichtigen Umwelten im Code Autonomie des Adressaten gegenüber der Selektion besser/schlechter bewer- dem System des Pädagogischen bedeu- ten. Diese Umwelten sind vornehmlich die tet eben nicht zugleich auch Autonomie psychischen Systeme der Adressaten, die des Adressaten gegenüber anderen Teil- zugleich zukünftige Arbeitnehmer, Kon- systemen der Gesellschaft, deren Akteure sumenten und Bürger sind. So wird die Ansprüche an Reproduktionskompeten- Zumutung an das pädagogische System zen im pädagogischen System als Pro- wieder ein Teil seiner Operationen, wenn gramminhalte kommunizieren und damit es gilt zu entscheiden, ob Erfolg bzw. aktualisieren. Misserfolg pädagogischer Programme (besser/schlechter, geeignet/ungeeignet) 4.2. Aneignung vermitteln! Schulentwick- im Verhältnis zu gesellschaftlichen Anfor- lungsberatung als Angebot? derungen vermittelbar sind oder nicht. Die Zumutung der Selbstorganisa- Rolff stellt den „Systemzusammenhang tion, die Kade für den Adressaten de- von pädagogischer Schulentwicklung“36 klamiert, lässt sich vor dem Hintergrund als Wechselwirkung von Organisationsent- der erzieherischen Absicht gegenüber wicklung, Unterrichtsentwicklung und Per- schulischer Vermittlung in der Schulent- sonalentwicklung dar. In allen Bereichen wicklungstheorie resp. Ihrer Methodik - des Systemzusammenhanges konnten Stichwort: ‚Schulentwicklungsberatung‘ seines Erachtens bereits wichtige Erkennt- - wiederfinden, wenn die Einzelschule als nisse gewonnen werden, wie Schulent- selbsttätiger Motor der Schulentwicklung wicklung ‚erfolgreich‘ vorangetrieben bezeichnet wird.34 Es stellt sich die Frage, werden kann. Hohen Forschungsbedarf ob die ‚Adressaten‘ von Neuer Steuerung sieht er jedoch bezüglich der Ursachen und Schulentwicklungsberatung sich in für die in Entwicklungsprozessen häufig dieser autonomen Rolle nicht überfordert auftretende „Implementationslücke“: Or- sehen. Auch die Schulen und Lehrkräfte ganisationsentwicklung erreicht häufig können hier als „Selbstverbesserungssub- nicht den Unterricht, Prozesse brechen jekte“35 betrachtet werden – ob sie wollen ab, oder können nicht alle Akteure glei- oder nicht, ob es ihnen nun vermittelt wer- chermaßen einbinden. Rolff stellt sich die den kann oder nicht, ob sie die nötigen Frage, weshalb dies so häufig geschieht Selbstevaluationskompetenzen aneignen und wo die Steuerungsmöglichkeiten

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 71

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 liegen, dem vorzubeugen. Die von ihm Theoriebildung.43 Über die Erkenntnis, in diesem Zusammenhang geforderte dass Einzelschulen als Gestalter von Re- „organisationstheoretische Präzision“37 formmaßnahmen zu gelten haben hinaus, kann möglicherweise durch eine sozial- rückt nun der Einzelne Akteur – z.B. die psychologisch orientierte Einbindung Lehrkraft – in den Fokus des erkenntnis- subjektiver Theorien der an Organisation leitenden Interesses und fand auch bereits beteiligten Akteure und dem von diesen in großangelegten Studien zu Qualität im Theorien bestimmten Entscheidungsver- Unterricht Bestätigung.44 halten geleistet werden. Wenn man dem ‚Menschliches‘ Handeln beruht auf systemtheoretischen Ansatz folgt, dass dem Sinn, den jeder Mensch seinem Han- Organisationen aus Kommunikationen deln gibt und damit auf den Entscheidun- über Entscheidungen bestehen und sich gen der einzelnen Akteure: Es sind niemals durch Kommunikationen über Entschei- Handlungen eines Kollektivs auch wenn dungen reproduzieren, wird deutlich, dass sie so dargestellt werden. Die subjektiven sich die Kommunikation bisher unbewuss- Theorien sind es, die diesem Handeln Sinn ter oder unausgesprochener Entschei- verleihen – umgekehrt sind diese Theorien dungsprozesse direkt in der Reproduktion auch das Resultat des Erlebens mensch- von Organisation niederschlägt.38 Dadurch licher Handlungen und deren Konsequen- ließe sich möglicherweise auch klären, wo zen: Fend spricht vom „Wechselspiel der die Grenzen der Organisation Schule lie- Dynamik von Epistemen (Weltanschauun- gen,39 falls sie denn innerhalb der Gesell- gen), sozialen Ordnungen (Institutionen) schaft überhaupt Grenzen haben kann, da und faktischen Lebensverhältnissen (Le- sie sich als Grenze für andere Organisa- benspraxis).“45 Geschichte als Resultat tionen organisiert. Auf dem Weg zu einer der Einzelhandlungen ihrer Akteure lässt solchen Präzisierung befindet sich Fends sich entsprechend auf die Geschichte von „Neue Theorie der Schule“, diese Weiter- Bildungssystemen übertragen. – Wichtige entwicklung seiner „Theorie der Schule“ Grundlage für das Verstehen von Schul- erweitert den institutionstheoretischen entwicklung ist folglich das Wissen um die Blick, um Perspektiven, die verstärkt den subjektiven Theorien der Akteure. Dieses Akteur in den Blick nehmen.40 Wissen birgt möglicherweise Antworten Rolff bezeichnet das Schulsystem darauf, welche konkreten Handlungen in als „gesellschaftlich-historisch struktu- bestimmten sozialen Ordnungen aufgrund riert, wie auch (als) handelnd-veränder- individueller Anschauungen der Akteure bar“.41 In dieser grundlegenden Aussage erwartet werden können.46 Kade sieht ent- scheint die Bedeutung von persönlichen sprechend in der „… Interaktionsebene die – gesellschaftlich geprägten und Gesell- ‚Achillesferse‘ des pädagogischen Sys- schaft zugleich verändernd beeinflussen- tems, weil hier die Probleme ‚ausagiert‘ den – Annahmen der konkreten Akteure werden, die sich aus der Systembildung für die Gestaltung und Entwicklung des für die Akteure gerade ergeben und die zu- Schulsystems auf. Das ursprüngliche Ver- gleich die operative Schließung des päda- ständnis von Schulentwicklung als Sys- gogischen Systems empirisch erschweren tementwicklung wurde dementsprechend oder gar unmöglich machen.“47 Er dreht die erweitert und die „Einzelschule als Hand- herkömmliche Sichtweise, dass Profession lungseinheit“42 rückte als institutioneller und Organisation des Pädagogischen das Akteur in den Fokus. Fend führte die Be- pädagogische System hervorbringen und deutung der einzelnen Akteure und deren steuern, um: Das pädagogische System konkrete Handlungen zurück ins Feld der mit seinem Code reguliert die Programme,

72 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 welche die Organisationen und Professio- zugleich Formen einer Methodik in quasi nen bestimmen. Letztere sind nur noch erzieherischer Absicht dar, um bestimm- mögliche Formen der Gestaltung der Ver- te Einstellungen und Haltungen sowie hältnisse des pädagogischen Systems zu die Wichtigkeit ihrer Anerkennung und seiner Umwelt. Die Betrachtungen im Rah- Aneignung zu vermitteln, um den Her- men der Erforschung subjektiver Theorien ausforderungen an Schulentwicklung ge- von Lehrkräften fallen somit in den Bereich recht werden zu können. Dieser Prozess der „Reflexion des pädagogischen Sys- zeichnet das ‚Pädagogische‘ schon immer tems auf sich als System in Differenz zur aus, tritt aber angesichts der immer um- Umwelt.“48 Es stellt sich also die Frage, wie fassenderen Vermittlungsnotwendigkeit arrangiert sich Gesellschaft „… mit dem im Rahmen (inklusiver) Schulentwicklung durch die Autonomisierung des pädagogi- immer deutlicher zu Tage: Konkurrieren schen Systems erzeugten Machtverlust pä- doch zahlreiche andere Wissensbereiche dagogischer Handlungssubjekte, was die mit den hergebrachten Institutionen der an normativen Kriterien von Selbstbestim- Bildung und Erziehung – und verfügen mung und Selbstorganisation, individueller doch diese und andere Organisationen und gesellschaftlicher Zukunft orientierte über wesentlich mächtigere und einfluss- Bestimmung der zu vermittelnden Inhalte reichere Techniken zur Generierung von angeht?“49 Wissen und dessen Verbreitung; auch und Für Kade steht fest, dass die Aus- gerade über Wissen, dass die Subjekte wahl der pädagogisch relevanten Inhalte, als Personen in ihrer systemischen Vernet- vormals die Funktion der pädagogischen zung betrifft und hochgradig daran teilhat Professionen und Organisationen, bevor oder haben kann, ob sie – als Akteure oder sich ein System ausdifferenzierte – nun Adressaten – als vermittelbar angesehen der Öffentlichkeit überantwortet und damit werden oder nicht (Stichworte: Soziale von allen gesellschaftlichen Teilsystemen Netzwerke, Big Data Mining, Künstliche mitbestimmt wird. – Womit wir diesbezüg- Intelligenz). Entsprechend müssen die lich wieder am Anfang einer Entwicklung ‚klassischen‘ pädagogischen Institutionen angelangt sind, die zur Entstehung von reagieren, – besser noch: agieren und Schule und Pädagogik führte: Eine Kultur, vorausschauend operieren – was die Ge- die sich selbst reproduziert. nerierung und Nutzung von Wissen über die eigene Genese angeht. Es gilt Trans- parenz und Konsequenz bezüglich der 5. ‚Pädagogische‘ Forschung? Vermittelbarkeit der eigenen Kompeten- zen herzustellen. Welche Einstellungen Am Beispiel der Inklusionsprozesse zeigt von Lehrkräften sind in einem inklusiven sich besonders deutlich, wie das pädago- (Schul-)System noch vermittelbar, wel- gische System sich über den Code ‚ver- che Methoden, Sozialformen, Strukturen mittelbar/nicht-vermittelbar‘ reproduziert. und Praktiken sind es? Die Instrumente Zahlreiche empirische Studien befassen Neuer Steuerung und deren Einsatz haben sich mit den Bedingungen der (inklusiven) bereits damit begonnen Schule(n) und Schulentwicklung.50 Ein besonderer Fokus Lehrkräfte selbst zum Gegenstand von liegt dabei auf den Einstellungen und Erziehung zu machen und den pädagogi- Einschätzungen der Lehrkräfte51– denn schen Codes zu unterwerfen: Die Instru- diese entscheiden offenbar maßgeblich mente der Schulentwicklungsforschung (mit) darüber, was als vermittelbar wahr- und -beratung stellen Programme der Ver- genommen wird. Diese Studien stellen mittlung und Aneignung dar.

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 73

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Die Auseinandersetzung mit subjek- niederschlagen können. Was geschieht tiven Theorien (über ‚menschliches‘ Ver- nun, wenn Einzelschulen und Lehrkräfte halten) kann folglich auch und gerade da zum Adressaten von Akteuren werden, einen Beitrag leisten, wo es darum geht, die im Auftrag anderer gesellschaftlicher zu klären „welches die Entwicklungsbedin- Teilsysteme pädagogisch kommunizieren, gungen in dieser Gesellschaft sind, welche Programme erstellen, Vermittlung anbie- Interessen Schulentwicklung lenken“52, ten, Aneignung fordern und außerdem indem sie die bestehenden Strukturen of- Schulen und Lehrkräfte – im Sekundär- fenlegt, die dem individuellen, habituellen, code: besser/schlechter und im Tertiär- strategischen Handeln – als strukturierte code: geeignet/nicht-geeignet – in Hinblick und strukturierende Struktur53– zugrunde auf die Fähigkeit bewerten, das als vermit- liegen, die bisher noch nicht explizit im telbar erkannte auch tatsächlich vermitteln Rahmen von Entscheidungsfindung im zu können: z.B. inklusiven Unterricht, Digi- Prozess der Organisationsentwicklung talisierung, Berufsorientierung. kommuniziert wurden. Möglicherweise ist die vorliegende In unterschiedlichen Kontexten der Ent- Darstellung eine Zumutung und vielleicht wicklung speziell von Schulen aber auch (auch) ein Angebot. Es wird sich zeigen, Organisationen allgemein, lassen sich ei- ob es vermittelbar ist, dies autonomen Ak- nige Merkmale subjektiver Annahmen von teuren und Adressaten zuzumuten oder ob und über die beteiligten Akteure erkennen, diese von sich aus bereit sind das Angebot die offenbar immer eine Rolle spielen (sol- anzunehmen. ‚Erkennbar‘ wird dies aber len) z.B. Vertrauen(-swürdigkeit), Koope- letztlich allein einem Subjekt sein, da es rativität, Selbstbestimmung, Motivation, nur für sich allein tatsächlich wissen kann, Entscheidungsfreude, Lern- und Leistungs- ob es hinter dem Angebot eine erzieheri- bereitschaft, Ressourcenorientierung.54 sche Absicht erkennt und die verlangte An- Diese Merkmale finden sich entsprechend eignung als Zumutung empfindet oder ob regelmäßig in präskriptiven Konzepten es diese Zumutung als ein Angebot wahr- und Entwürfen für Change-Management, nimmt, dass es sich zu eigen machen gilt. Unternehmensführung, Organisations-­ und Das ‚Schulsystem‘ ist nun erkenn- natürlich: (inklusiver) Schulentwicklung.55 bar als ‚Begegnungsstätte‘ in doppeltem Und das gilt wiederum in beiderlei Hin- Sinne: Es organisiert die Begegnung der sicht: bezüglich der ‚subjektiven Theorien‘ Akteure und Adressaten – und es organi- über die Teilnehmer und bezüglich der Be- siert die Begegnung der Kommunikatio- deutung dieser subjektiven Theorien bei nen unterschiedlicher Funktionssysteme; den Akteuren – also den subjektiven Theo- diese Begegnungen können hier in Bezug rien über subjektive Theorien – für deren zueinander gesetzt werden – und zwar un- Aneignung der Programme zur Vermitt- abhängig von jeglicher Intentionalität aber lung. Die Figur des Teilnehmers (Adressat nicht unabhängig von der (gesellschaft- wie Akteur) ist zentral, da sich in Ihr die lichen) Intention, dass dies geschehen strukturelle Kopplung von pädagogischem soll. Folglich können Kommunikationen in und psychischem System biographisch der Schule pädagogisch sein, müssen es aktualisiert: Sie können sich gegensei- aber nicht. Andererseits können pädago- tig als jeweilige Umwelt irritieren und gische Kommunikationen von außen an perturbieren und damit Entwicklungen, Schule herangetragen werden, da auch Bildungsprozesse und Innovationen (auf andere Institutionen Begegnungsstätten beiden Seiten) befördern, die sich auf Pro- darstellen, in denen Kommunikationen auf- grammebene sowie auf Interaktionsebene einander bezogen werden, wodurch die

74 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Systeme interpenetrieren. Das Resultat Yvonne; Lenzen, Dieter (Hrsg.): Beobach- können klare pädagogische Anforderun- tungen des Erziehungssystems. System- gen sein: was Schule denn zu vermitteln theoretische Perspektiven. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2006. S. hat, wer in Schule zu vermitteln ist, wel- 13 – 25), die Intelligenz (Baecker, Dirk: Er- che Methoden dazu vermittelt werden soll- ziehung im Medium der Intelligenz. In: Eh- ten – an die angehenden Lehrkräfte zum renspeck, Yvonne; Lenzen, Dieter (Hrsg.): Beispiel. Dazu gehört auch die Bewertung Beobachtungen des Erziehungssystems. der bereits zurückliegenden Vermittlungs- Systemtheoretische Perspektiven. VS Verlag prozesse: was ist unter welchen Vermitt- für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2006. lungsbedingungen besser oder schlechter S. 26 – 66). 4 Kade, Jochen: Vermittelbar/nicht-vermittel- in Bezug auf die Aneignungsleistung der bar: Vermitteln: Aneignen. Im Prozeß der Sys- Adressaten? Zu den Vermittlungsprozes- tembildung des Pädagogischen. In: Lenzen, sen im Pädagogischen gehören natürlich Dieter; Luhmann, Niklas (Hrsg.): Bildung und entsprechend auch alle Kommunikatio- Weiterbildung im Erziehungssystem. Suhr- nen die in seinen Medien (z.B. Kind, Wis- kamp, Frankfurt 1997. S. 30 – 71. S. 37. sen, Intelligenz, Lebenslauf) den Codes 5 „Die Absicht zu Erziehen bildet die Einheit des unterworfen werden: Die Ausbildung von Erziehungssystems“ (Luhmann, Niklas: Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Suhr- Lehrkräften, deren Fortbildung, deren kamp, Frankfurt am Main 2002) – schließt Kompetenzen, deren Persönlichkeitsmerk- aber damit offenbar reine Bildungsangebote male, deren zum Ausdruck gebrachten aus. Haltungen und Einstellungen. – Und auch 6 Dazu gerne Luhmann 1987 a.a.O.; Kurtz, die Entscheidung ob diese Codierungen Thomas: Erziehung, Kommunikation, Per- selbst (an Akteure wie Adressaten) ver- son. Zur Stellung des Erziehungssystems in einem besonderen Quartett gesellschaft- mittelbar sind, besser sind, geeignet sind. licher Funktionen. In: Ehrenspeck, Yvonne; Dort sind die Bedingungen zu suchen und Lenzen, Dieter (Hrsg.): Beobachtungen des zu finden, die Erwachsenen das Erdulden Erziehungssystems. Systemtheoretische Per- von Zumutungen als Angebote vermitteln spektiven. VS Verlag für Sozialwissenschaf- können und dazu beitragen, dass sie diese ten, Wiesbaden 2006. S. 113 – 131.) wahrnehmen, annehmen, anerkennen. 7 „Im Entgrenzungsdiskurs bleibt noch unge- klärt, wie die durch zunehmende Pluralität, ja, Beliebigkeit pädagogischer Ziele, durch thematisch-inhaltliche Ausdehnung, massen- Anmerkungen mediale Erweiterung der Reichweite und die umfassende soziale Inklusion der Bevölke- 1 Lenzen, Dieter; Luhmann, Niklas (Hrsg.): rung gewachsene Komplexität des Pädago- Bildung und Weiterbildung im Erziehungssys- gischen theoretisch wieder unter Kontrolle tem. Suhrkamp, Frankfurt 1997. S.2. gebracht werden kann.“ (Kade 1997, a.a.O. 2 Zur Differenzierung gesellschaftlicher Funk- 32). Im Jahr 2018 betrug laut Statista) die tionssysteme siehe bspw. Luhmann, Niklas: tägliche Internetnutzung bei Jugendlichen Soziale Systeme. Grundriss einer allgemei- 214 Minuten, das entspricht ca. 1300 Stun- nen Theorie. Suhrkamp, Frankfurt am Main den jährlich (Statista: https://de.statista. 1987. S. 37f und 261f. com/statistik/daten/studie/168069/umfrage/ 3 Oder vielleicht besser in den Medien, da taegliche-internetnutzung-durch-jugendliche/ es hierfür mehrere Angebote gibt: z.B. das (aufgerufen am 12.03.2019)). Rechnet man Kind (Luhmann, Niklas: Das Kind als Me- mit durchschnittlich sechs Unterrichtsstun- dium der Erziehung. Suhrkamp, Frankfurt am den á 45 Minuten pro Schultag, dann bleiben Main 2006), der Lebenslauf (Kade, Jochen: nach Abzug der Ferien für 40 Schulwochen Lebenslauf – Netzwerk – Selbstpädagogi- ca. 200 Schultage á 4,5 Stunden: 900 Stun- sierung. Medienentwicklung und Strukturbil- den. Beliebige Inhalte, die von den Interes- dung im Erziehungssystem. In: Ehrenspeck, sen der Schüler sowie den Interessen der

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 75

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Internetanbieter gemeinsam gestaltet, vermit- 16 Exemplarisch: Altrichter, Herbert; Maag- telt und angeeignet werden nehmen also fast Merki, Katharina (Hrsg.): Handbuch Neue 50% mehr Aufmerksamkeit in Anspruch als Steuerung im Schulsystem. Springer VS, schulischer Unterricht. Wiesbaden 2016. 8 Kade 1997, a.a.O. S.35. 17 Vgl. dazu auch Kurtz 2006, a.a.O. 9 Dies wirkt sich nicht nur auf die Kommuni- 18 Angesichts der bisherigen Ausführungen und kationen im Pädagogischen System aus, im Kontext systemtheoretischer Betrachtun- sondern auch und gerade in den anderen gen erscheint der Ausdruck ‚inklusive Schul- Funktionssystemen (Religion, Recht, Ge- entwicklung‘ als Pleonasmus. sundheitswesen), die bisher nicht über ein Er- 19 Es ließe sich ein in doppelter Richtung an- folgsmedium sondern über ihre Professionen wendbarer Code von ‚geeignet/nicht-ge- die Wahrscheinlichkeit der (erwünschten) eignet‘ einsetzen, der auf den Adressaten in systeminternen Kommunikation erhöhen (vgl. Bezug auf die Vermittlung, sowie auf die Ver- Kurtz 2006, a.a.O. S. 121ff).Der Begriff des mittlung (und die Vermittler) in Bezug auf den Individuums sowie auch des Subjekts stellt Adressaten operieren kann: eine Drittcodie- in diesem Zusammenhang keine – in wissen- rung, die möglicherweise den Code ‚besser/ schaftlichem Sinne – ‚erkennbare‘(siehe hier schlechter‘ fruchtbar ergänzt und zudem die unten Endnote 10) Realität dar, sondern le- Oszillation des Pädagogischen zwischen so- diglich eine kommunikative Wirklichkeit: Die zialen und psychischen Systemen markiert. Annahme der Existenz von Individuen, resp. 20 Vgl. Kade 1997, a.a.O. S.50. Subjekten und ihre kommunikative Reproduk- 21 Kade 1997, a.a.O. S.51f. tion wirkt sich fundamental auf die pädagogi- 22 Zum systemtheoretischen Begriff der Kon- sche Kommunikation aus – und entscheidet tingenz ausführlich: Luhmann 1987, a.a.O. darüber, was, wer und wie vermittelbar ist. S.148ff. 10 Kade 1997, a.a.O. S.38ff; dazu auch Luh- 23 Kade 1997, a.a.O. S.51. Im Zusammenhangt mann 2002, a.a.O. S.73. „Der Code (…) von biologischer und sozialer Evolution dazu markiert Grenzen innerhalb des in der Gesell- auch Scheunpflug 2006, a.a.O. schaft unterschiedslos zirkulierenden Wis- 24 Vgl. z.B. Husserl, Edmund: Erfahrung und sensstromes. Er gibt dem gesellschaftlichen Urteil. Meiner, Hamburg 1972. §10. Vermittlungsmedium Wissen eine eigene, 25 Vgl. z.B. Maslow, Abraham H.: Motivation nämlich pädagogische Form, etwa als Bil- und Persönlichkeit. Walter, Olten 1977.; Ha- dungs- bzw. Lehr-/Lerninhalt.“ (Kade 1997, bermas, Jürgen: Erkenntnis und Interesse. 39f) Analog bemerkt Kade ähnliche Schwie- Suhrkamp, Frankfurt am Main 1973. rigkeiten bezüglich des Codes der Wissen- 26 Vgl. u.a. Laucken, Uwe: Naive Verhaltens- schaft „wahr/unwahr“ – den er zugunsten des theorie: ein Ansatz zur Analyse des Kon- (Primär-)Codes von „erkennbar/nicht erkenn- zeptrepertoires, mit dem im alltäglichen bar“ einer ähnlichen Öffnung in Bezug auf die Lebensvollzug das Verhalten der Mitmen- Selbstanwendung zuführen möchte – (ebd.; schen erklärt und vorhergesagt wird. Klett, Fußnote 23). Dies wird weiter unten in Bezug Stuttgart 1974.; Scheele, Brigitte; Groeben, auf subjektive Theorien der Akteure noch eine Norbert: Dialog-Konsens-Methoden zur Re- Rolle zu spielen haben. konstruktion subjektiver Theorien. Francke, 11 Luhmann (2002, a.a.O. S.59) bezieht den Marburg 1988. Code in diesem Sinne auf „Themen“ und 27 Vgl. z.B. Kelly, George: The psychology of „Zöglinge“. personal constructs, W. W. Norton, New 12 Zum Beispiel durch das Propagieren kommu- York 1955. nikativer Wirklichkeiten wie bspw. Individuum 28 Vgl. z.B. Dewey, John: Experience and Edu- und Subjekt mit den entsprechend resultie- cation. Collier-Macmillan, London 1938. Be- renden Vermittlungsnotwendigkeiten! sonders S.36ff 13 Kade 1997, a.a.O. S.41. 29 Subjektive Theorien leisten offenbar das, was 14 vgl. Scheunpflug 2006, a.a.O. S.242f. alles „wissenschaftlich gesicherte Wissen“ 15 Exemplarisch: Buhren, Claus G.; Rolff, Hans- über den Menschen aufgrund des „Fehlen[s] Günter (Hrsg.): Handbuch Schulentwick- interdisziplinär tragfähiger Theorievorstel- lung und Schulentwicklungsberatung. Beltz, lungen“ nicht zu leisten vermag, da „all dies Weinheim 2017. Wissen nicht zur Vorhersage menschlichen

76 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Verhaltens taugt, sondern im Gegenteil: die 43 Fend 2006, a.a.O. S.137ff; Fend 2008, prinzipielle Unvorhersehbarkeit zu begründen a.a.O. S.26ff; vgl. auch Hameyer, Uwe: Blo- scheint.“ (Luhmann 2002 a.a.O. S.22) ckaden im Inklusionsprozess – Ein erwei- Dazu auch Rollka, Bodo: Menschenbilder als tertes Zürcher Modell als Referenzrahmen Grundlage und Zielvorstellung gesellschaft- systemischer Schulentwicklungsanalyse. In: licher Kommunikation. In: Rollka, Bodo; Journal für Schulentwicklung (3). Studienver- Schultz, Friederike (Hrsg.): Kommunikations- lag, Insbruck u.a. 2013. S. 52–60. instrument Menschenbild. Zur Verwendung 44 Vgl. u.a. Hattie, John A.: Visible Learning. A von Menschenbildern in gesellschaftlichen synthesis of over 800 meta- analyses relating Diskursen. VS, Verlag für Sozialwissenschaf- to achievement. Routledge, London & New ten, Wiesbaden 2011. S. 11–72.; Oerter, Rolf York 2008.; Fend, Helmut. Qualität im Bil- (Hrsg.): Menschenbilder in der modernen dungswesen. Juventa, Weinheim 2001. Gesellschaft. Konzeptionen des Menschen 45 Fend 2006, a.a.O. S.139. Vgl. zu diesem Ab- in Wissenschaft, Bildung, Kunst, Wirtschaft satz ebd. S.138ff. und Politik. F. Enke Verlag, Stuttgart 1999.; 46 Vgl. dazu auch Rolff 2013, a.a.O. S.33ff. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Ge- 47 Kade 1997, a.a.O. S.63, FN 73. Kade sieht sellschaft. 2 Bde. Suhrkamp, Frankfurt am eine Chance der eindeutigen Grenzziehung Main 1997. S.134ff.; Luhmann, Niklas: Ver- in den Möglichkeiten der modernen Massen- trauen. ein Mechanismus der Reduktion so- medien, da diese Vermittlung unabhängig von zialer Komplexität. Enke, Stuttgart 1968. Interaktion unter Anwesenden ermöglichen 30 Zur Einordnung der (Kommunikations-)Me- könnten. – Die Ansprüche an Digitalisierung dien ausdifferenzierter gesellschaftlicher von Schulen (Stichwort: Digitalpakt) scheint Funktionssysteme z.B. Luhmann 1997, aber paradoxerweise eher dazu zu führen, a.a.O. 316ff. dass die Vermittlung unter Abwesenden 31 Kade 1997, a.a.O. S.52. wieder in die Anwesenheit (professioneller) 32 Ebd. S.54ff. Akteure und deren Adressaten rückgeführt 33 Ebd. S.57f. werden soll. 34 Ebd. S.60ff. Exemplarisch: Rolff, Hans-Gün- 48 Ebd. S.67. ter: Schulentwicklung kompakt. Modelle, 49 Ebd. S.69. Instrumente, Perspektiven. Beltz, Weinheim 50 Exemplarisch: Lütje-Klose, B./ Miller, S./ 2013.; Fend, Helmut: Schule gestalten. Schwab, S./ Streese, B. (Hrsg.): Inklusion: Systemsteuerung, Schulentwicklung und Profile für die Schul- und Unterrichtsent- Unterrichtsqualität. VS Verlag für Sozialwis- wicklung in Deutschland, Österreich und der senschaften, Wiesbaden 2008. Schweiz. Beiträge zur Bildungsforschung. 35 Kade 1997, a.a.O. S.61 Band 2. Waxmann, Münster und New York 36 Rolff, Hans-Günther: Manual Schulentwick- 2017. lung. Handlungskonzept zur pädagogischen 51 Exemplarisch: Seyfried, Stefanie: Einstellun- Schulentwicklungsberatung. Beltz, Weinheim gen von Lehrkräften zu Inklusion und deren 2011. S.16. Bedeutung für den schulischen Implementie- 37 Rolff 2013, a.a.O. S.25ff. rungsprozess – Entwicklung, Validierung und 38 Luhmann, Niklas (2000): Organisation und strukturgleichungsanalytische Modellierung Entscheidung. Westdeutscher Verlag, Opla- der Skala EFI-L. Dissertation, Pädagogi- den u.a. 2000. S.63ff. sche Hochschule Heidelberg 2015.; Winkler, 39 Vgl. Rolff 2013, a.a.O. S.28. Cornelia: Merkmalsbezogene Einstellungen 40 Fend, Helmut: Theorie der Schule. Urban & von Lehrkräften zur schulischen Inklusion in Schwarzenberg, München u.a. 1981. Fend, Sachsen –eine empirische Analyse. Disserta- Helmut: Neue Theorie der Schule. VS Ver- tion, Universität Leipzig 2016. kag, Wiesbaden 2006. 52 Rolff 2013, a.a.O. S.18. 41 Rolff 2013, a.a.O. S.12. 53 Vgl. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschie- 42 Fend, Helmut: "Gute Schulen - schlechte de. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Schulen". Die einzelne Schule als pädago- Suhrkamp, Frankfurt am Main 1987. S.174ff. gische Handlungseinheit. In: Die deutsche 54 Zu Vertrauen z.B.: Osterloh, Margit; Weibel, Schule 78, 3. Münster, Waxmann 1986. Antoinette: Investition Vertrauen. Prozesse S. 275-293. der Vertrauensentwicklung in Organisationen.

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 77

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Gabler Verlag, Wiesbaden 2006. Zu Koope- Edward L.; Ryan, Richard M.: Die Selbst- rativität z.B.: Ackermann, Heike; Rahm, Sybil- bestimmungstheorie der Motivation und ihre le (Hrsg.): Kooperative Schulentwicklung. VS Bedeutung für die Pädagogik. Zeitschrift für Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden Pädagogik 39, 2. Beltz Juventa, Weinheim 2014.; Bätz, Roland; Wissinger, Jochen: Die 1993. S. 223 -238. Zu Entscheidungsfreude: Schule lässt sich nicht von oben her regie- Axelrod, Robert M. (Hrsg.): Structure of De- ren: Schulentwicklung durch Kooperation. cision. The Cognitive Maps of political Elites. Beiträge zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung Princeton University Press, Princeton 1976. 10, 1. Schweizerischen Gesellschaft für Zu Lern- und Leistungsbereitschaft, Res- Lehrerinnen- und Lehrerbildung 1992. S. 20 sourcenorientierung z.B. Schwer, Christina; – 27.; Axelrod, Robert M.: The evolution of Solzbacher, Claudia (Hrsg.): Professionelle cooperation. Basic Books, New York 1984. pädagogische Haltung. Historische, theoreti- Zu Selbstbestimmung und Motivation bspw. sche und empirische Zugänge zu einem viel Aktas, Ulas; Gläßer, Thomas (Hrsg.): Kultu- strapazierten Begriff. Klinkhardt, Bad Heil- relle Bildung in der Schule. Kulturelle Schul- brunn 2014. entwicklung, Selbstbestimmung im Unterricht 55 Der Index für Inklusion ist ein Paradebeispiel und Inklusion. Beltz, Weinheim 2019.; Ber- für eine vom erwünschten Ziel her gedachte man, Paul; Pauly, Edward: Federal Programs Heuristik in erzieherischer Absicht: Booth, Supporting Educational Change. Vol. II. Fac- Tony; Ainscow, Mel: Index für Inklusion. tors Affecting Change Agent Projects. Rand Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Corporation, Santa Monica CA 1975. Deci, 2003.

78 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 PR 2020, 74. Jahrgang, S. 79-88 © 2020 Sabine Seichter - DOI https://doi.org/10.3726/PR012020.0005

Sabine Seichter

Thomas Bernhard als Zeuge nationalsozialistischer Kindheit

Oder: „Die Ursache“ als Gedenkstättenpädagogik

1. Das Vergessene in die ein wissendes Gedächtnis mehr und mehr Sprache zurückholen geschröpft und bereits erworbenes (his- © 2020 torisches) Wissen nicht nur negiert, son- Es ist ein großes Verdienst der Kultur- dern geradewegs eliminiert. (Historische) wissenschaftlerin Aleida Assmann, die Ereignisse werden – und diese kulturelle gesellschaftlich und historisch bedingte Beobachtung kann man bis auf die frühen Verschränktheit von „Erinnern“ und „Ver- Erkenntnisse der Psychoanalyse zurückver- gessen“ sowohl generell als auch exem- folgen - durch vergessenheitsaffine Prak- plarisch immer wieder ins Gedächtnis zu tiken aus dem (kollektiven) Gedächtnis rufen. Im Gegensatz zu den kulturell kom- verdrängt und schließlich verbannt. Durch plexen Praktiken des Erinnerns geschehe einen dadurch erzeugten virulenten „Ent- 3 das kollektive Vergessen „einfach“, es sei zug von Aufmerksamkeit“ verschwindet zudem „kostenlos“ und vollziehe sich äu- das einmal bereits im Medium der Sprache ßerst „schnell“ und meist „unbewusst“. Erkannte und Gewußte oder es kommt zu- Nicht das Erinnern, so die kapitale These mindest zum Verstummen. Es sei hier nur von Assmann, gehöre zum „Grundmodus am Rande erwähnt, dass diesem Zustand menschlichen und gesellschaftlichen Le- des Nichtmehr-Wissens, verstärkt durch bens“1, sondern gerade sein Gegenteil: die posttechnologischen Entwicklungen das Vergessen. Vergessen ist der „Normal- im Umkreis von Big Data und einem ver- fall in Kultur und Gesellschaft“2 und damit, meintlich „postfaktischen Zeitalter“, inzwi- so kann bereits an dieser Stelle resümiert schen eine neue Forschungsrichtung, die werden, die sozio-kulturelle Regel. Zu den sog. Agnotologie, im Kontext eines gesell- „Techniken des Vergessens“ zählt Aleida schaftlich beeinflussten Aufrechterhaltens Assmann im einzelnen das Löschen, das von Nichtwissen Rechnung trägt. Verbergen, das Schweigen, das Über- In den hier angestellten Überlegungen schreiben, das Ignorieren, das Neutralisie- soll jener (politisch sehr bedenklichen) ren, das Leugnen und das Verlieren. Mit Mixtur aus Schweigen und Ignorieren diesen sowohl individuellen als auch kollek- eine Praxis des Erinnerns qua (literari- tiven Handlungen bzw. Haltungen werde scher) Sprache entgegensetzt werden.

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 79

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Aktuell bilden die vorliegenden Ergebnis- „Deutsche Reich“ als eine wirtschaftliche se einer empirisch-quantitativen Studie Notwendigkeit, 73,3% bewerteten ihn als „Zum Umgang mit Nationalsozialismus, einen rechtmäßigen Akt, und 19,1% der Holocaust und Erinnerungskultur“ unter Schülerinnen und Schüler meinten, dass 283 befragten Schülerinnen und Schülern dieser von den Österreichern freiwillig an Salzburger Neuen Mittelschulen (das vollzogen wurde.5 Zu den insgesamt 46 Durchschnittsalter betrug 14,3 Jahre) aus Fragen wurden jeweils standardisierte dem Jahr 2015 konkreten Anlass, sich Antwortmöglichkeiten vorgegeben. dem in den 1970er Jahren vor allem durch Uns interessiert hier weniger das Dieter Baacke und Theodor Schulze pos- durch diese quantitative Studie ermittelba- tuliertem Paradigma „Aus Geschichten re faktische Kompetenzniveau Salzburger lernen“ erneut zuzuwenden. Der Grund Schülerinnen und Schüler im Bereich ihres für die Notwendigkeit, Geschichten – hier: historischen Wissens, sondern vielmehr, eine autobiographisch-literarische Erzäh- unter Rückbezug auf Aleida Assmann, die lung des österreichischen Autors Thomas kümmerlichen Formen des Erinnerns bzw. Bernhard – im Kontext des Erinnerns her- die von den Schülerinnen und Schülern anzuziehen, kann aber auch in den (nüch- praktizierten Techniken des Vergessens. ternen bzw. ernüchternden) Befunden im Auf die Frage „In welchen Fächern habt Hinblick auf das abfragbare „Basiswissen“ Ihr schon über das Thema ‚Holocaust‘ zum Themenfeld „Nationalsozialismus“ im gesprochen?“ konnten sich 87,2% der Kontext besagter Studie gesehen werden. Befragten daran erinnern, im Fach Ge- In den Schülerantworten kam ein erschre- schichte und Politische Bildung/Sozial- ckendes Unwissen der Befragten zum Vor- kunde über den Holocaust schon einmal schein. 64,1% der Befragten konnten die diskutiert zu haben (12,8% noch nicht). Frage nicht beantworten, was die „Reichs- 20,6% der Schülerinnen und Schüler kristallnacht“ war. 41,7% konnten nicht erinnerten sich an Gespräche zum Holo- die (historische) Zeitspanne des National- caust im Deutschunterricht (79,4% nicht), sozialismus in Österreich angeben. Auf 19,1% im Religionsunterricht (80,9% die Frage, was die NSDAP war, blieben nicht). 1,5% der Befragten gaben an, in 35,4% der befragten Schülerinnen und anderen Fächern über den Themenkom- Schüler eine Antwort schuldig. 20,5% plex diskutiert zu haben.6 Während ein beantworteten die Frage, wer Adolf Hitler vages thematisches Erinnern durchaus war, falsch.4 Der nach Beendigung des nachgewiesen werden konnte, fielen die Zweiten Weltkriegs in Österreich hartnä- Antworten zum konkreten Wissensstand ckig und über Jahrzehnte tradierte „Opfer- verhältnismäßig dürftig aus. Wünschens­ mythos“ zeichnete sich selbst noch in den wert wäre in der Folge dieser Erkenntnis- Schülerantworten aus dem Jahr 2015 auf se eine, wenngleich methodisch höchst erstaunliche Art und Weise ab: Zu diesem anspruchsvolle, empirische Untersuchung Fragekomplex (Frage 15) antworteten über die Gründe des Vergessens, ge- 42,9% der Schülerinnen und Schüler, dass nauer: über das Vergessen als Tätigkeit der „Anschluss“ gegen den Willen der einerseits und als Prozess andererseits. überwältigenden Mehrheit der österreichi- Eine solche Erhebung müsste es sich zur schen Bevölkerung stattgefunden habe. Aufgabe machen, die (zum Beispiel bio- 39,2% der Befragten sahen Österreich graphischen, sozialen oder schulischen) als das erste Opfer der nationalsozialisti- Kontexte und Rahmungen, in denen ver- schen Außenpolitik an. Dabei betrachteten gessen wurde und vergessen wird, zu 29,4% den Anschluss Österreichs an das rekonstruieren, um von hier aus dann

80 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 einen erneuten Versuch des Erinnerns zu ihre Bewohner hineingeboren und hinein- wagen. gezogen werden, […] gehen direkt oder indirekt langsam und elendig auf diesem im Grunde durch und durch menschen- 2. Der autobiographische Roman feindlichen architektonisch-erzbischöflich- als pädagogische Gedenkstätte stumpfsinnig-nationalsozialistisch-katho­ lischen Todesboden zugrunde.“10. In den Während in den letzten Jahrzehnten Reflexionen Bernhards, in denen dieser vermehrt Orte des Verbrechens und die auf ihn zerstörerisch wirkenden Kräfte Denkmäler zur Mahnung an die natio- der Stadt Salzburg drastisch beschreibt, nalsozialistische Barbarei pädagogisch konnte bzw. wollte man – und dies be- zugänglich gemacht und jene räumlich trifft so gut wie sämtliche gesellschaftli- begehbaren Gedenkstätten zu außer­ chen Institutionen der Stadt – nicht nur ein schulischen Orten des historisch-politi- autobiographisch-literarisches Dokument schen Lernens erschlossen wurden,7 soll eines Zeitzeugen sehen. Als Protest und hier eine andere „Gedenkstätte“ betrach- Gegenreaktion auf Bernhards „Die Ursa- tet werden, und zwar eine literarische. che“ wurde im Jahr 1975 ein „Arbeitskreis Wenngleich einen Roman als Gedenk- zum Schutz und zur Wahrung des interna- stätte zu benennen auf den ersten Blick tionalen Ansehens der Stadt Salzburg“ ge- befremdlich anmuten mag, so eröffnet die gründet. Gerichtsprozesse um Textstellen literarische Beschäftigung mit jener in der und angebliche Verleumdungen im Roman genannten empirischen Studie ins Auge thematisierter Figuren, spiegeln die Salz- gefassten nationalsozialistischen Macht- burger Rezeption des Buches auf beson- herrschaft eine nicht minder eindrückliche dere Art und Weise. Nicht nur war man Möglich­keit des Aufklärens und Erinnerns. dort auf Schadensbegrenzung bedacht, In seinem 145 Seiten umfassenden sondern vor allem auch um eine Art Wi- Roman „Die Ursache“ schildert der öster- derherstellung eines „reinen“ bzw. „saube- reichische Schriftsteller Thomas Bernhard ren“ Ansehens der Stadt bemüht. Doch (1931-1989) auf teils autobiographische, das nur am (bedenkenswerten) Rande.11 teils fiktionale Art und Weise (s)eine erleb- Wenn hier die These vertreten wird, te Kindheitsgeschichte in Salzburg zu Zei- dass der (autobiographische) Roman ten des nationalsozialistischen Regimes.8 als literarische Form einer Gedenkstät­ Seit dem ersten Erscheinen im Jahr 1975 tenpädagogik angesehen werden kann, wurde dieses Buch, welches das Leben dann ist an dieser Stelle die formale eines Salzburger Internatsschülers in der und inhaltliche Relevanz von Literatur Schrannengasse 4 und dessen lebens- im Kontext von Lern- und Bildungspro- weltliche Verstrickungen im Umkreis der zessen zu reflektieren. Für das in der Mozartstadt narrativ aufarbeitet, von vielen Gedenkstättenpädagogik anvisierte Leserinnen und Lesern nicht als reflek- Ziel einer kritischen Bewusstseinsbil- tierend und aufklärend, sondern vielmehr dung stellen literarische Erzählungen (oder gar ausschließlich als) „imagebe- Erkenntnisquellen eigener, weil anderer schädigend“ befunden, und zwar nicht nur Art dar. Gerade in der Vermengung von in fremdenverkehrspolitischer Hinsicht. Realität und Fiktion liefert der Roman Nur ungern wollte man Bernhards provo- neben einer sachlich-empirischen Be- kative „Städtebeschimpfungen“9 wie etwa schreibung einer­seits bewusst erzeug- diese lesen: „Meine Heimatstadt ist in te Irritationen und Perspektivwechsel Wirklichkeit eine Todeskrankheit, in welche andererseits. Romane sind, folgt man

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 81

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 dem Erziehungswissenschaftler Hans- sich aus der Lektüre des Romans (z.B. im Christoph Koller über Möglichkeiten zu Kontext von Schule, genauer im Fokus his- Erkenntnispotentialen literarischer Quel- torisch-politischen Lernens) daraus weit len, „aufgrund ihrer sprachlichen Diffe- weniger ein objektiv standardisierbares renziertheit oft genauer, nuancenreicher Kompetenzwissen gewinnen, wohl aber und detailreicher (…) als die in der qua- das produktive Erzeugen einer kritischen litativen Sozialforschung verwendeten Auseinandersetzung bzw. Bewusstwer- Daten wie z.B. Interviews oder Beob- dung mit und durch Erzählung. achtungsprotokolle (von den Daten stan- Der Trias von Autobiographizität, dardisierter Erhebungsverfahren ganz zu Fiktionalität und Narrativität Rechnung schweigen)“.12 In ihren dichten bzw. ver- tragend, geht es hier also nicht um ein Er- dichteten Beschreibungen vermag die Li- klären-Können im engeren, sondern um teratur auf eigentümliche Art und Weise ein Verstehen-Wollen im weiteren Sinne. Erfahrungen, Emotionen und Gescheh- Nimmt man Bernhards Roman „Die Ursa- nisse auf eine besonders eindringliche che“ im Sinne eines Gedenkens und Er- Art und Weise zur Sprache zu bringen. innerns zur Hand, so muss man sich – vor Mit diesem autobiographisch Versprach- allem auch in einem schulpädagogischen lichten bzw. mit diesem versprachlichten Setting – der spezifischen Eigenart jenes Autobiographischen kann die Literatur Genres immer bewusst bleiben. Diesem gegen das ungesagt Gebliebene, das Verständnis folgend, bildet ein Roman im Tabuisierte und Verdrängte – sowohl im Gegensatz zu einer wissenschaftlichen Kontext einer (historischen) Bildungsfor- Studie nicht nur Faktizität ab, sondern schung allgemein als auch einer (histo- nimmt durch seine je eigentümliche Weise rischen) Kindheitsforschung besonders selbst teil an einer bestimmten Form von – erhellende Quellen der Aufklärung und „Wirklichkeit“ und folgt – kontrastierend zu des Erkennens liefern. einer Logik der sachlichen Argumentation So ist es vor allem die Literatur, „in – einer Logik der Narration. Der bildungs- der wir fündig werden, wenn es um die theoretische Mehrwert dieser literari- Wunden des Kindes und ihre Geschich- schen Erkenntnisquelle könnte wohl eher ten, um kindliche Gefühle angesichts der darin liegen, unterschiedliche Formen des Ohnmacht in der generationalen Ordnung, Wissens – also sowohl auf Empirie bzw. um Schutz oder aber physische und see- Faktizität gründendes als auch aus Narra- lische Obdachlosigkeit, um Gegenwehr tion hervorgehendes – zu unterscheiden, und Erleiden geht.“13 Gegen die „Tech- zu beachten, zu reflektieren und miteinan- niken des Vergessens“ anschreibend, der in einen konstruktiven Erinnerungsdis- können – freilich nicht zwangsläufig und kurs in Beziehung zu setzen. So gesehen uneingeschränkt – Romane neue Möglich- kann der Roman ein Gegenstand der keitsräume der Interpretation bieten und kritischen Auseinandersetzung und des damit die Möglichkeit des Anders-Sehens konstruktiven Dialogs werden. Es geht eröffnen. Es geht also nicht um ein lineares dann weniger – wie im Falle Bernhards beziehungsweise statisches Gedenken, rezeptionsgeschichtlich geschehen – um welches ein Roman im Sinne von einer das Verteidigen einer angeblich durch „Gedenkstättenpädagogik“ evozieren den Roman erzeugten Stadtbeschädi- könnte, sondern um den Ermöglichungs- gung oder um das (gerichtliche) Abwei- raum der Konfrontation mit und eines sen von Schuldzuweisungen, sondern Einblicks in gelebte und erzählte Erfah- vielmehr um das Verstehenwollen einer rungs- und Gefühlswelten. Freilich lässt situativ konkreten Zeitzeugenaussage,

82 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 kontrastierend zu und sich reibend mit an- Die von Bernhard im Roman ver- deren Wissensbeständen. gegenwärtigte (individuell erfahrene) seelische Verletzbarkeit und die schmerz- lich erlittene Einsamkeit prägen das Bild 3. Eine (Salzburger) Kindheit seiner Kindheit und dominieren es. „Die im Nationalsozialismus Ursache“ ruft Leid- und Zerstörungs- erfahrungen aus dem Blickwinkel eines „Die Ursache“ kann als eine literarische Kindes wach, welche das Kind in seiner Auseinandersetzung mit einer gelebten freien und selbstbestimmten Entwicklung Kindheit zu Zeiten des Nationalsozialis- auf brutal einschneidende Art und Weise mus (in Salzburg) gelesen werden. Damit behindern. Kurz: Kindheit ist in Bernhards ist dieser Roman als eine (autobiographi- Roman eine macht- und gewaltdurchtränk- sche) Aufarbeitung dieser Zeit zu verste- te Kriegskindheit. hen und mithin Teil einer kollektiven und Getragen von einer Atmosphäre ab- historischen Erinnerungskultur.14 Unter soluten Gehorsams, reflektiert Bernhard Rückgriff auf einen möglichen Erkennt- seine Kindheit im Umkreis von National- nisgehalt autobiographischen Erzählens, sozialismus (und Katholizismus) im Modus welche einen durch und durch subjekti- von Zerstörung und Vernichtung. Seine ven Blickpunkt des Narrativen einnimmt Kindheitserinnerungen, vor allem im Um- und damit prototypisch die (selbstmord- feld seiner Familie und seines Internats, durchtränkte) Erfahrungswelt eines sind keine Erinnerungen an eine behutsame kindlich-jugendlichen Internats- und Gym- „Geistes- und Empfindungs- und Gefühls- nasialschülers erzählt, spiegeln sich in entwicklung“ kindlichen Aufwachsens17. dieser (scheinbar nur individuellen) Schil- In schroffem Gegensatz dazu schaut derung zugleich allgemeine gesellschaft- Bernhard vielmehr auf Erfahrungen eines liche und klassenbezogene Erfahrungen „staatlich-faschistisch-sadistischen Erzie- einerseits und kollektive Deutungsmuster hungsplan(s)“18 (s)einer Kindheit zurück, andererseits innerhalb des nationalsozia- der vor allem eines in ihm hervorgebracht listischen Systems wider.15 Es sind das habe: das ständige Verlangen, seinem vor allem die schonungslosen Schilde- aussichts- und hoffnungslosen sowie rungen der kindlichen Vulnerabilität an- fremdbestimmten Leben ein selbstbe- gesichts autoritärer Unterdrückungs-, stimmtes Ende zu setzen. Der Gedanke an Gewalt- und Machtstrukturen, das ver- Selbstmord nimmt in Bernhards Kindheits- gebliche und immer wieder enttäuschte erinnerungen eine ungemein zentrale und Hoffen auf feste und tragfähige interge- damit höchst bedeutsame Stelle ein, die nerationale Fürsorgebeziehungen (welche den Autor auch in seinem gesamten auto- bei Bernhard nur sein Großvater zu leisten biographischen Erzählwerk begleitet. vermag), die am eigenen Leib und Geist Zugleich fasziniert und schockiert vom spürbaren Versuche der Schule, ihre „In- Tod, ist das Erleben kindlichen Aufwach- sassen“ (mit Hilfe – so die subjektive Wahr- sens nicht gegenwarts- oder zukunftsorien- nehmung Bernhards – eines Gemischs tiert, sondern stets auf das Lebensende aus Nationalsozialismus und Katholizis- hin fokussiert. Dabei ist es nicht allein die mus16) für politische und/oder religiöse konkrete Angst vor der in Salzburg und Zwecke zu manipulieren und zu instru- Umgebung spürbaren „Anschluss“-Be- mentalisieren, die Angst des Kindes vor geisterung und danach vor dem wüten- dem herannahenden Krieg und den Bom- den Krieg, sondern der fiktiv-dominante benangriffen auf Stadt und Städter. Wunsch, aus eigener Kraft seinem Leben

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 83

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 in dieser das Individuum missachtenden von Macht und Herrschaft. Sie markieren Lebensumwelt ein Ende zu setzen. Und mit in der kindlichen Lebenswelt deutlich die diesem brutal zerstörerischen Gedanken Unterscheidung von Oben und Unten, von steht das Bernhardsche Kind nicht allein. Unterdrückern und Unterdrückten, von Tä- Vielmehr ist es umzingelt von selbstmord- tern und Opfern. gefährdeten und selbstmordpraktizieren- Bernhards Erinnerungen an die „Aus- den Internatsmitschülern. Sie alle prägen löschung der Individualität in der Volks- ähnliche Leid- und Angsterfahrungen, und gemeinschaft“ und die damit assoziierte diese lassen den Selbstmord zu einer „totale Erziehung“ des NS-Regimes, wie Option, mindestens aber zu einem domi- sie auch auf Salzburgs Gassen und Plät- nanten Thema der kindlichen (Internats-) zen praktiziert wurde23, erlebte Bernhard Lebenswelt werden. „Wahrscheinlich ist in vor allem in seinem Internat, das er mar- Internaten und vornehmlich in solchen unter kant als „Verstümmelungsmaschinerie“ be- den extremsten menschensadistischen zeichnet. Dazu wörtlich: „Noch waren wir und naturklimatischen Bedingungen wie im Tagraum zum Anhören der Nachrichten in der Schrannengasse das Hauptthema gezwungen gewesen und hatten die Son- unter den Lernenden und Studierenden, dermeldungen von den Kriegsschauplätzen unter den Zöglingen kein anderes als das stehend anhören müssen, noch waren wir Selbstmordthema (…). Das Zusammen- an den Sonntagen verpflichtet, die HJ- sein mit den Mitzöglingen ist immer ein Zu- Uniform anzuziehen und die HJ-Lieder zu sammensein mit dem Selbstmordgedanken singen (…).“24 Sowohl in den Gleichschal- gewesen, in erster Linie mit dem Selbst- tungsversuchen mittels uniformierter Klei- mordgedanken, erst in zweiter Linie mit dung, musikalischer Betätigung im Kollektiv dem Lern- oder Studierstoff.“19 als auch in der sportlichen Leibesertüchti- Nicht Erfahrungen der Anerkennung gung erkennt Bernhard – rückblickend und begleiten das kindliche Aufwachsen, son- mit den Augen des Kindes gesehen – ein- dern ihr Gegenteil. Aberkennung der kind- prägsame Rituale der Unterordnung und lichen Individualität und die tagtäglich zu Anpassung. Beide Praktiken, das Singen erduldenden (nationalsozialistisch gefärb- und der Sport, sind – Bernhards Interpre- ten) Praktiken psychischer und physischer tation folgend – weniger an den rationalen Gewalt versetzen das Kind in Lethargie Intellekt der individuell Ausübenden, son- und Todessehnsucht. dern vielmehr an deren emotional-kollekti- Beeinflusst von den zerstörerischen ver und vergemeinschaftender Haltung und Kräften des Krieges einerseits und den Nachahmung orientiert. Sie spiegeln jene nationalsozialistisch infiltrierten Lehrern „Züchtigungsmethoden des nationalsozia- des Internats andererseits, setzt Bernhard listischen Regimes“25, denen sich Bernhard seine am eigenen Körper und Geist er- tagein tagaus in einem Internat ausgesetzt lebte Erziehung mit einer „Menschenver- sah. Vor allem die Rituale der (militärisch nichtungskunst“20 gleich. Das auch noch getränkten) Leibesertüchtigung erfuhr Jahre später wache Bild eines Lehrers in Bernhard als Mechanismen der (politisch der Rolle eines „Muster-SA-Offiziers“21, intendierten) Gleichmachung, wie sie nicht seiner Angst weckenden SA-Uniform und zuletzt in der Hitler-Jugend massenhaft und seinen „gewichsten SA-Stiefeln“22 lösen in medial wirksam zelebriert wurden. So heißt Bernhard traumatische Erinnerungen der es bei Bernhard: „Dem Sport ist zu allen (schulischen) Demütigung und (generatio- Zeiten und vor allem von allen Regierungen nalen) Hilflosigkeit aus. Uniform und Stiefel aus gutem Grund immer die größte Be- fungieren hier als angstbesetzte Symbole deutung beigemessen worden, er unterhält

84 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 und benebelt und verdummt die Massen, Zeugenerzählungen. Die dabei bei Bern- und vor allem die Diktaturen wissen, warum hard zur Sprache gebrachten Phänomene sie immer und in jedem Fall für den Sport der Verletzlichkeit, des Ausgesetztseins sind. Wer für den Sport ist, hat die Massen und der Einsamkeit sind gewiss nicht nur auf seiner Seite, wer für die Kultur ist, hat Modi einer Kindheit in nationalsozialistisch sie gegen sich, hat mein Großvater gesagt, geprägten Zeiten, sondern diese kindlichen deshalb sind immer alle Regierungen für Erfahrungen sind bis heute latent vorhan- den Sport und gegen die Kultur.“26 den.28 Die dem Kindsein prinzipiell inhä- rente „anthropologische Angewiesenheit auf Zugewandtheit, Responsivität, Pflege 4. Aus Geschichten lernen und Schutz“29 bleibt in den Erinnerungen Bernhards nicht nur nicht verborgen, son- In Sonderheit aus einer kindheitshisto- dern wird auf geradezu missbräuchliche rischen Perspektive heraus scheint die Art und Weise erlitten. Soziale und per- pädagogische Lektüre des Bernhard- sönliche Kälte, hilfloses Ausgeliefertsein schen Romans „Die Ursache“ sehr auf- und emotionale Distanz zählen zu den All- schlussreich zu sein, verschmelzen doch tagsbedingtheiten seines Aufwachsens in dort historische Zeitzeugenaussagen aus einer höchst fragilen bisweilen sogar dest- den lebensweltlichen Erfahrungen eines ruktiven Umwelt. Unter dieser Perspektive Kindes mit systematischen Erkenntnissen vermag die Analyse des Romans, weit hinsichtlich allgemeiner anthropologisch- über die historische Zeitgenossenschaft struktureller Phänomene von Kindheit wie hinaus, auch die aktuellen Diskussionen Verletzlichkeit, Macht und Gewalt. über kindliches Aufwachsen heute30 und Man könnte daher versucht sein, – in die erziehungswissenschaftliche Erfor- enger Anlehnung an Walter Benjamins in schung von Verletzlichkeit, Macht und Ge- den 1930er Jahren entstandenen Entwür- walt in Erziehungs- und Bildungskontexten fe, die dann postum 1950 in seinem (auto- anzuregen und wach zu halten. „Die sozial- biographischen) Werk „Berliner Kindheit wissenschaftliche Kindheitsforschung und um neunzehnhundert“ (2010) mündeten die Erziehungswissenschaft scheinen Ver- – das Buch Bernhards als „Salzburger letzlichkeit als mögliches, oder vielleicht Kindheit“ zu betiteln. Ähnlich wie bei Bern- sogar unausweichliches Phänomen von hard, so sind auch Benjamins Berliner Kindheit heute eher zu meiden (…)“31. Das Kindheitserinnerungen – wie Theodor W. Tabuisieren und Verdecken jener impliziten Adorno in seinem erhellenden Nachwort (nicht selten sogar pädagogisch legitimier- festgestellt hat – alles andere als „idyl- ten) Macht- und Gewaltstrukturen hält bis lisch“ oder „kontemplativ“, denn: über den in unsere heutigen Tage an; von einer auf- Bildern seiner Erinnerung „liegt der Schat- geklärten und zur Sprache gebrachten Er- ten des Hitlerschen Reichs“27. Beide Kind- ziehung und Bildung kann bis heute immer heiten – die Berliner Benjamins wie die noch nur sehr bedingt die Rede sein. Salzburger Bernhards – sind zutiefst von Das Erzählen eröffnet die Möglichkeit, der nationalsozialistischen Machtergrei- die Verletzlichkeiten eines Kindes zur Spra- fung geprägt und spiegeln (retrospektiv) che zu bringen und den (autobiographi- zur Sprache gebrachte und damit wieder schen) Kampf um Anerkennung in seiner lebendig gemachte Erinnerungen an die- sozialen Eingebundenheit und historischen sen Zeitkontext. Hier wie dort bilden das Bedingtheit verständlich zu machen. Die Medium des Erinnerns nicht empirische Analyse des (autobiographischen) Ro- Berichterstattungen, sondern kindliche mans kann so innerhalb der (historischen)

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 85

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Bildungs- bzw. Kindheitsforschung eine 3 Ebd., S. 24. weitere Ebene – neben der derzeit über- 4 Kühberger, Christoph/Neureiter, Herbert mäßig dominanten empirischen – zur (2017): Zum Umgang mit Nationalsozialis- mus, Holocaust und Erinnerungskultur. Eine Erforschung kindlicher Lebenswelten ein- quantitative Untersuchung bei Lernenden beziehen. Es wäre dann die Logik der und Lehrenden an Salzburger Schulen aus Narration, die sich neben anderen Logiken geschichtsdidaktischer Perspektive. Schwal- – wie beispielsweise der empirischen – in bach/Ts.: Wochenschau, S. 49. das Feld erziehungswissenschaftlicher 5 Ebd., S. 51. Analytik einreihen könnte. Das wäre dann 6 Ebd., S. 48. weniger nur eine Frage nach dem „Mehr- 7 Siehe dazu kritisch beispielsweise: Haug, Ve- rena (2015): Am „authentischen“ Ort. Para- wert“ des (biographisch) Narrativen, son- doxien der Gedenkstättenpädagogik. Berlin: dern vielmehr eine ergänzende Sichtweise Metropol. zu anderen methodischen Erhebungen. 8 Siehe zur Art des Genres bei Bernhard: Mar- Was Michel Foucault in seinem Artikel quardt, Eva (2011): ‚Ist es ein Roman? Ist es „Über sich selbst schreiben“ vor allem eine Autobiographie?‘ „Erfinden“ und „Er- für die Aussagekraft und den Erkenntnis- innern“ in den autobiographischen Büchern wert von geschriebenen Briefen analysiert Thomas Bernhards. In: Knape, Joachim/Kra- mer, Olaf (Hrsg.): Rhetorik und Sprachkunst hat, kann ebenso auf die kommunikative bei Thomas Bernhard. Würzburg: Könighau- Intention von autobiographischen Roma- sen & Neumann, S. 123-133. nen übertragen werden: „Schreiben heißt 9 Bernhard, Thomas (2016): Städtebeschimp- also sich zeigen, sich sehen lassen, sein fungen. Berlin: Suhrkamp. eigenes Gesicht vor dem des anderen 10 Ebd., S. 11. erscheinen lassen.“32 Von Angesicht zu 11 Vgl. dazu ausführlich: Huber, Martin (1987): „Romanfigur klagt den Autor“. Zur Rezeption Angesicht – wenn man es so formulie- von Thomas Bernhards „Die Ursache. Eine ren möchte – könnte der Roman dann in Andeutung“. In: Schmidt-Dengler, Wendelin/ dem Sinne als „Gedenkstätte“ fungieren, Huber, Martin (Hrsg.): Statt Bernhard. Über als er auf seine eigentümlich narrative Art Misanthropie im Werk Thomas Bernhards. und Weise Gewesenes, Erlebtes und Er- Wien: Österreichische Staatsdruckerei, S. duldetes wach hält, um dem Schweigen 59 -110. und Tabuisieren kindlicher „Hilflosigkeit“33 12 Koller, Hans-Christoph (2014): Bildung als Textgeschehen. Zum Erkenntnispotential aktiv zu widerstehen. Denn: „Die Gesell- literarischer Texte für die Erziehungswissen- schaft als Gemeinschaft findet immer den schaft. In: Zeitschrift für Pädagogik, 60(3), S. Schwächsten und setzt ihn skrupellos 333-349, hier: S. 347. ihrem Gelächter und ihren immer neuen 13 Andresen, Sabine/Koch, Claus/König, Julia und immer fürchterlicheren Verspottungs- (2015): Kinder in vulnerablen Konstellationen. und Verhöhnungstorturen aus, und im In: Andresen, Sabine/Koch, Claus/König, Erfinden von immer neuen und immer ver- Julia (Hrsg): Vulnerable Kinder. Interdiszipli- näre Annäherung. Wiesbaden: Springer VS, letzenderen Erfindungen solcher Verspot- S. 7-19, hier: S. 8. tungs- und Verhöhnungstorturen ist sie die 14 Möchte man sich einer umfassenden Erfor- erfinderischste.“34 schung der Bernhardschen Kindheits- und Jugenderfahrungen im Sinne einer histori- schen Sozialisations- und Bildungsforschung widmen, so gehören neben „Der Ursache“ Anmerkungen (1975) ebenso die zyklischen Bände „Der Keller. Eine Entziehung“ (1976), „Der Atem. 1 Assmann, Aleida (2016): Formen des Ver- Eine Entscheidung“ (1978), „Die Kälte. Eine gessens. Göttingen: Wallstein, S. 30. Isolation“ (1981) sowie „Ein Kind“ (1982) 2 Ebd. dazu.

86 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 15 Vgl. dazu: Uitz, Helmut (2014): Jugend Weidenholzer, Thomas/Kramml, Peter F. unterm Hakenkreuz. Hitlerjugend und Bund (Hrsg.) (2015): Gauhauptstadt Salzburg. Deutscher Mädchen in Salzburg. In: Emba- Stadtverwaltung und Kommunalpolitik. Salz- cher, Helga/Weidenholzer Thomas (Hrsg.): burg: Stadtgemeinde Salzburg, (7) Pinwink- Machtstrukturen der NS-Herrschaft. NSDAP ler, Alexander/Weidenholzer, Thomas (Hrsg.) – Polizei/Gestapo – Militär – Wirtschaft. Salz- (2016): Schweigen und erinnern. Das Pro- burg: Stadtgemeinde Salzburg, S. 120-155. blem Nationalsozialismus nach 1945. Salz- 16 Siehe hierzu: Mautner, Josef P. (2008): „Die burg: Stadtgemeinde Salzburg. Zeit macht aus ihren Zeugen immer Verges- 24 Bernhard, Thomas (2013): Die Ursache. Eine sen“: Nationalsozialismus und Katholizismus Andeutung (2. Aufl.). München: dtv, S. 63. im Werk von Thomas Bernhard. In: Maut- 25 Ebd., S. 96. ner, Josef P.: Nichts Endgültiges: Literatur 26 Ebd., S. 70f. und Religion in der späten Moderne. Würz- 27 Benjamin, Walter (2010): Berliner Kindheit burg: Königshausen & Neumann, S. 83-120; um neunzehnhundert. Mit einem Nachwort ebenso: Langer, Renate 2009): Hitlerbild und von Theodor W. Adorno. Frankfurt a.M.: Kreuz. Nationalsozialismus und Katholizis- Suhrkamp, S. 111. mus bei Thomas Bernhard. In: Huber, Mar- 28 Siehe dazu: Andresen, Sabine/Koch, Claus/ tin/Judex, Bernhard/Mittermayer, Manfred/ König, Julia (Hrsg.) (2015): Vulnerable Kinder. Schmidt-Dengler, Wendelin (Hrsg.): Thomas Interdisziplinäre Annäherungen. Wiesbaden: Bernhard Jahrbuch 2007/08. Wien: Böhlau, Springer VS; ebenso: Burghardt, Daniel/De- S. 21-35. derich, Markus/Zirfas, Jörg/Dziabel, Nadine/ 17 Bernhard, Thomas (2013): Die Ursache. Eine Höhne, Thomas/Lohwasser, Diana/Stöhr, Andeutung (2. Aufl.). München: dtv, S. 24. Robert (2017): Vulnerabilität. Pädagogische 18 Ebd., S. 25. Herausforderungen. Stuttgart: Kohlhammer. 19 Ebd., S. 19. 29 Andresen, Sabine/Koch, Claus/König, Julia 20 Ebd., S. 25. (2015): Kinder in vulnerablen Konstellationen. 21 Ebd., S. 26. In: Adresen, Sabine/Koch, Claus/König, Julia 22 Ebd., S. 62. (Hrsg): Vulnerable Kinder. Interdisziplinäre 23 Vgl. dazu die historischen Forschungen Annäherung. Wiesbaden: Springer VS, S. zur Stadt Salzburg in sieben Bänden: (1) 7-19, hier: S. 8. Kramml, Peter F./Hanisch, Ernst (Hrsg.) 30 Andresen, Sabine/Neumann, Sascha/Kantar (2010): Hoffnungen und Verzweiflung in der Public (2018): Kinder in Deutschland 2018. Stadt Salzburg 1938/39. Salzburg: Stadt- 4. World Vision Kinderstudie. Weinheim: gemeinde Salzburg, (2) Kramml, Peter F./ Beltz. Hanisch, Ernst (Hrsg.) (2011): Inszenierung 31 Andresen, Sabine/Koch, Claus/König, Julia der Macht. Alltag, Kultur, Propaganda. Salz- (2015): Kinder in vulnerablen Konstellationen. burg: Stadtgemeinde Salzburg, (3) Weiden- In: Adresen, Sabine/Koch, Claus/König, Julia holzer, Thomas/Lichtblau, Albert (Hrsg.) (Hrsg): Vulnerable Kinder. Interdisziplinäre (2012): Leben im Terror. Verfolgung und Annäherung. Wiesbaden: Springer VS, S. Widerstand. Salzburg: Stadtgemeinde Salz- 7-19, hier: S. 8. burg, (4) Veits-Falk, Sabine/Hanisch, Ernst 32 Foucault, Michel (2005): Über sich selbst (Hrsg.) (2013): Herrschaft und Kultur. In­ schreiben. In: Foucault, Michel: Schriften strumentalisierung, Anpassung, Resistenz. in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. IV: 1980- Salzburg: Stadtgemeinde Salzburg, (5) Em- 1988. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 503- bacher, Helga/Weidenholzer, Thomas (Hrsg.) 521, hier S. 515. (2014): Machtstrukturen der NS-Herrschaft. 33 Bernhard, Thomas (2013): Die Ursache. Eine NSDAP, Polizei/Gestapo, Militär, Wirtschaft. Andeutung (2. Aufl.). München: dtv, S. 134. Salzburg: Stadtgemeinde Salzburg, (6) 34 Ebd., S. 136.

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 87

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0

PR 2020, 74. Jahrgang, S. 89-94 DOI https://doi.org/10.3726/PR012020.0006

Buchbesprechung Bachelor-Arbeiten zu bestimmten Teil- aspekten und bestimmten Auflagen des „Wörterbuchs der Pädagogik“. 1. Allgemeines zur Entwicklung des Böhm, Winfried / Seichter, Sabine: Wörterbuchs: Das Wörterbuch ist durch- Wörterbuch der Pädagogik, schnittlich gesehen (Schwankungen 17. Auflage, Paderborn (Schöningh) inbegriffen) ca. alle 6 Jahre und damit ei- 2018, 522 Seiten, 34,99 Euro. nigermaßen kontinuierlich immer wieder neu aufgelegt worden; die elf Auflagen aus den Jahren 1931, 1941, 1942, 1953, In der deutschsprachigen Erziehungs- 1957, 1960, 1964, 1967 und 1971 (in wissenschaft gibt es m.W. kein anderes diesem Jahr hat es drei identische Auf- Wörterbuch, das seit so langer Zeit er- lagen gegeben) hat Wilhelm Hehlmann scheint wie das 2018 in der 17. Auflage vorgelegt (dazu später mehr); Winfried von Winfried Böhm und Sabine Seichter Böhm hat die 12. bis zur 16. Auflage vorgelegte „Wörterbuch der Pädagogik“: (1982, 1988, 1994, 2000, 2005) über- Es ist erstmals 1931 (die drei ersten Auf- nommen; mit der aktuellen 17. Auflage lagen noch unter dem Titel „Pädagogi- von 2018 ist Sabine Seichter als Co-Au- sches Wörterbuch“) erschienen und hat torin dazugekommen. Das Vorwort dieser im Zeitraum von 87 Jahren (drei politische Auflage lässt erkennen, dass sich Böhm Systeme in Deutschland und) die „päda- und Seichter mit Artikeln weiterer Auto- gogische Landschaft“ begleitet bzw. das ren zu bestimmten Sachgebieten haben pädagogische Wissen (i.w.S.) seit den unterstützen lassen (was auch schon Epen Homers bis zur jeweiligen Gegen- Hehlmann und Böhm in ihren Auflagen wart dargestellt. getan haben), denn es ist selbstverständ- Angesichts dieser Kontinuität ist es er- lich, dass zwei Personen das Arbeits- staunlich, dass man Rezensionen zu die- pensum eines solchen umfangreichen sem Wörterbuch an den Fingern zweier Wörterbuchs unmöglich allein bewältigen Hände abzählen kann, und es ist ebenfalls können. Eine Co-Autorin ist nicht die ein- erstaunlich, dass das Genre „Wörter- und zige mit der aktuellen Auflage verbundene Handbücher“ bzw. „Lexika“ aus erzie- Neuerung: Während alle bisherigen Auf- hungswissenschaftlicher Perspektive fast lagen im Kröner-Verlag erschienen sind, gar nicht beforscht worden ist bzw. wird. ist die aktuelle Auflage im Schöningh-Ver- Deshalb geht die folgende Rezension lag publiziert worden. nicht nur im engeren Sinn auf die aktuel- 2. Zu Aufbau und Umfang: Der seit le 17. Auflage ein, sondern bespricht sie der 1. Auflage 1931 dreiteilige Aufbau stellenweise auch im Kontext aller bishe- – Vorwort, Wörterteil A-Z, bibliographi- rigen Auflagen und mit Blick auf frühere scher Anhang (mit Listen zu einschlägigen Herausgeber und verwendet dabei zusätz- Bibliographien, Lexika, Hand- und Wör- liche eigene empirisch-quantitative und terbüchern, pädagogischen Hauptwer- -qualitative Forschungsergebnisse sowie ken, Zeitschriften usw.) – ist auch in der Hinweise aus mehreren Diplom- bzw. 17. Auflage beibehalten worden (dass

1 /2020 Pädagogische Rundschau 89

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 zwischen den Anhängen von Hehlmann versucht). Allerdings gibt das Vorwort der und denen von Böhm graduelle Unter- aktuellen Auflage – anders als in der ers- schiede bestehen – eine Zeittafel gibt es ten von Böhm verantworteten Auflage von ab der 12. Auflage 1982 nicht mehr –, 1982 – keinen Einblick in den „Lemmata- kann vernachlässigt werden); der Wör- Baukasten“ bzw. in die ordnungsstruk- terteil bietet zusätzlich zu den meisten, turelle Zusammensetzung der Lemmata aber nicht zu allen, Lemma-Texten spezi- nach Bereichen, was andere Lexika – lei- fische Literaturangaben, die in der aktu- der, und das kann man als Einbuße von ellen Auflage erstmals nicht mehr (wie in wissenschaftlicher Nachvollziehbarkeit allen Auflagen zuvor) in einer verkleinerten verstehen – auch nicht tun. Schrifttype gedruckt sind. Das seit der 15. Böhm und Seichter nennen im Vorwort Auflage eingeführte „größere Buchformat“ drei Absichten, die mit dem Wörterbuch ist im Unterschied zur bis dato verwende- erfüllt werden sollen: (1.) Das Wörterbuch ten „Taschenbuchausgabe“ beibehalten ist gegenüber der vorherigen Auflage ak- worden (s. Vorwort zur 15. Auflage). tualisiert worden: es handelt sich um eine Im Umfang (Anzahl der Seiten, Anzahl „völlig überarbeitete Neuauflage“ (S. 5) der Lemmata insgesamt und pro Seite) gegenüber dem zwölf Jahre zuvor (2005) liegt die aktuelle 17. Auflage im Rahmen erschienenen Band; die Kriterien für „völ- der bisherigen Auflagen: Sie umfasst 522 lig überarbeitet“ bzw. für „vollständig über- Seiten (die seitenstärkste Auflage ist mit arbeitet“ (so Titelblatt) werden allerdings 759 Seiten die 14. Auflage von 1994 ge- nicht genannt. (2.) Böhm und Seichter ist wesen, die „dünnste“ mit 230 Seiten die bewusst, dass mit der „Aktualisierung“ 1. Auflage von 1931), bietet 1.533 Lem- eine „im weiten Sinne geistes- und kul- mata-Einträge (die meisten, 1.896, sind in turwissenschaftlichen Profilierung“ (S. 5) der 9., 10. und 11. Auflage von 1971 zu bzw. Positionierung verbunden ist – man finden, die wenigsten, 1.230, gibt es in der mag bei dieser (nicht sehr klaren) Aus- 2. Auflage von 1941), und bei den Lemma- sage und angesichts der Arbeitsschwer- ta pro Seite kommt die aktuelle Auflage auf punkte von Böhm und Seichter vermuten, 3,0 (der höchste Wert von 5,9 betrifft die dass das Wörterbuch die Perspektive der 1. Auflage von 1931, der niedrigste Wert erziehungs- und bildungsphilosophischen von 2,4 gilt für die 14. Auflage von 1994). Tradition der Erziehungswissenschaft in – Die auf dem Umschlag genannte Angabe modifiziert-aktueller Form einnimmt und von „1.500 Einträgen“ (angesichts von tat- sich damit teils als Gegengewicht zur Er- sächlichen 1533) trifft nun tatsächlich fast ziehungswissenschaft als qualitativ und genau zu, während die Angaben auf den quantitativ forschende empirische Sozial- Umschlägen der 13. Auflage („2.300“) bis wissenschaft und teils als Gegengewicht zur 16. Auflage (je „2.500“) um 600 bis einer Vernachlässigung des Historischen 800 zu hoch angesetzt gewesen sind. zu verstehen scheint. (3.) Dass die Vermu- 3. Zum Anspruch: Mit der aktuellen tung zum Rückgang des Historischen für Auflage wird erneut – wie von Böhm 1982 die Absicht(en) des Wörterbuchs zutrifft, begonnen – ein Vorwort gegeben, das er- wird deutlich, wenn Böhm und Seichter heblich länger und v.a. viel aussagereicher sagen, dass sie ausgewählte Lemmata ist als die vielen Vorworte von Hehlmann in doppelter Perspektive, „sowohl in ihrer (ausgenommen das Vorwort der Aufla- historischen Genese als auch in ihrer sys- ge von 1941, mit dem Hehlmann die In- tematischen Bedeutung“ (ebd.), darstellen Dienst-Stellung des Wörterbuchs in die möchten. Folglich engen sie das Wörter­ Weltanschauung des NS zu legitimieren buch nicht auf Tagesaktualität ein, sondern

90 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 folgen – vielleicht angelehnt an Marquards die Profession“ (ebd.) und haben damit Wort „Zukunft braucht Herkunft“ – dem „sowohl für Wissenschaftler und Prakti- Doppel von Historik und Systematik. Wie ker, aber vor allem auch für Studierende wichtig ihnen das ist, wird daran deutlich, der Disziplin Erziehungswissenschaft ge- dass sie mit der Darstellung der Lemmata schrieben“ (ebd.). Eine so differenzierte nicht allein „den aktuellen Stand der er- Adressierung hat Hehlmann hingegen ziehungswissenschaftlichen Forschung nicht vorgenommen (er schreibt nur von und ihre Konsequenzen für die pädagogi- „dem Benutzer“), und ähnlich undifferen- sche Praxis“ zeigen wollen, sondern eben- zierte Adressierungen findet man in den falls „ausdrücklich [...] das historische gegenwärtigen Konkurrenzwerken von Gedächtnis der Disziplin wachzuhalten“ Schaub/Zenke, von Keller/Nowak und von (ebd.) beanspruchen. Köck/Ott, die jeweils nur eine Adressie- 4. Zur Auswahl der Lemmata: Es rung an professionell pädagogisch Tätige liegt nahe, dass die im Vorwort der aktu- (incl. allerdings Studenten) vornehmen. ellen Ausgabe formulierten Absichten für 6. Mit diesen Informationen zu Umfang, die Auswahl der Lemmata eine Rolle ge- Anspruch, Lemmata-Auswahl und Adres- spielt haben: Denn zum ersten wird an- satenkreis liegen einige Parameter vor, die gekündigt, zusätzlich zu theoretischen, prüfend an die aktuelle 17. Auflage ange- praktischen, institutionellen und weiteren legt werden können, zusätzlich werden an Fachbegriffen auch „historische Epochen“ Beispielen ausgeführte Vergleiche mit der (S. 5) zu erläutern; wenn – zum zweiten 16. Auflage angestellt (bei gelegentlichen – die Bewussthaltung des Historischen Rekursen auch auf frühere Auflagen). wichtig ist, dann liegt es ebenfalls nahe, Dass ein Wörterbuch mit einer jeweils dass bestimmte „Helden und Denker“ (wie neuen Auflage aktualisiert wird, ist zum J. Dolch es 1931 genannt hat) Lemmata Nachweis seiner Existenzberechtigung erhalten haben, d.h. „VertreterInnen der zwingend nötig (außer wenn mehrere Auf- Disziplin, die theoriebegründende und/ lagen im gleichen Jahr erscheinen). Solche oder Hauptwerke der Pädagogik vorge- Aktualisierungen sind beim „Wörterbuch legt oder Herausragendes in Erziehung der Pädagogik“ bis zur gegenwärtigen und Bildung geleistet haben“ (ebd.). Auflage fast immer vorgekommen. Dass Und schließlich – drittens – werden „Bil- dabei der Grad der Aktualisierung von Auf- dungs- und Erziehungssysteme“ (ebd.) lage zu Auflage schwankt bzw. mal mehr, anderer Länder vorgestellt und damit die mal weniger neue Begriffe aufgenommen internationale Dimension von Erziehungs- und bisherige entfernt worden sind, mag wissenschaft nicht vernachlässigt. Aber teils an zeithistorischen Umständen liegen, dass Epochen, Personen und Länder in teils am Wechsel des Verfassers wie im Form von Lemmata vorkommen, ist be- Falle von Böhm 1982 oder von Böhm und reits Teil der „Standard-Ausrüstung“ des Seichter für die aktuelle Auflage von 2018, Wörterbuchs von Anfang an gewesen, die gelegentlich neue Akzente als in vori- und Böhm/Seichter halten daran fest und gen Auflagen setzen, und es mag auch an sind sie darin alternativen Wörterbüchern der Kumulation von zehn oder mehr Jahren wie denen von Schaub/Zenke, von Keller/ (so bei der 2., der 4., der 11. und der 17. Nowak oder von Köck/Ott (jeweils in meh- Auflage) und damit einhergehenden Verän- reren Auflagen erschienen) überlegen. derungen der Disziplin Erziehungswissen- 5. Zum Adressatenkreis: Böhm und schaft liegen. In besonders starkem Maß Seichter wenden sich mit dem Wörter- jedenfalls – so kann quantitativ ergänzt buch „sowohl an die Disziplin als auch an werden – kommen viele Lemmatilgungen

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 91

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 und neue Lemmata vor in der 2. Auflage Erziehungswissenschaft hin. Schließlich 1941, in der 4. Auflage 1953, in der 12. (c) gibt es Lemmata, bei denen man er- Auflage 1982 und in der aktuellen Auflage staunt sein kann, warum sie nicht bereits 2018. in der Vorgängerauflage von 2005 (z.B. Zum Nachweis, dass die aktuelle 17. „Diskurs“, „Habitus“, „Migration“, „Resi- Auflage stärker als einige vorangegan- lienz“) oder in noch früheren Auflagen zu gene Auflagen aktualisiert worden ist, ist finden sind (z.B. „Laborschule Bielefeld“, anzuführen, dass z.B. sich in der 13. Auf- „Moderne“, „Moral“, „Neuhumanismus“, lage 78 neue Lemmata befunden haben, „Prävention“, „Sexualität“, „Sozialwissen- während nur sechs aus der Vorgängerauf- schaft“, „Systematische Pädagogik“). Es lage nicht übernommen worden sind, für ist aber nahezu selbstverständlich, dass es die 14. Auflage sind es 93 neue und 13 immer Lemmata gibt, die irgendjemand als entfernte, für die 15. Auflage 58 neue und fehlend moniert, während es m.E. wichti- fünf entfernte, für die 16. Auflage 63 neue ger ist, dass sie irgendwann überhaupt in und sechs entfernte. Die aktuelle Auflage den Bestand aufgenommen werden (das bietet gegenüber der 16. Auflage sowohl Lemma „DGfE“ z.B. liegt erst ab der Auf- 30 Lemmata, die zu mehr als 50 % ak- lage von 2005 vor, also rund 40 Jahre nach tualisiert worden sind (z.B. „Beratung“, ihrer Gründung; „Laborschule Bielefeld“ „Schule“, „Bildungsforschung“), als auch hat in der aktuellen Auflage den überhaupt 24 ganz neu abgefasste (z.B. „Identität“, ersten Eintrag; Lemmata zu „Schelsky“, „Schwerhörigenpädagogik“, „Behinde- „Picht“ oder „Dahrendorf“ und Überblicks- rung“, „Sonderpädagogik“) sowie 89 neu lemmata zu „Teildisziplinen“ und zu „Nach- aufgenommene Lemmata. Hingegen sind bardisziplinen“ fehlen). Am Rande bemerkt 432 (!) Lemmata der Vorgängerauflage gibt es auch Lemmata (z.B. „Eros“, „Wis- entfernt worden, darunter 216 Personen- sen“ oder das Lemma „Ruhloff“), die in frü- lemmata und 16 Regionalartikel. Insge- heren Auflagen berücksichtigt sind, dann samt sind nur fast 30,0 % der Lemmata in einer oder mehreren Auflagen gefehlt der 16. Auflage ohne jede Veränderung in haben und schließlich wieder vorkommen. die 17. Auflage übernommen worden; das Der v.a. für Studierende wertvolle bedeutet, dass die neue Auflage zu etwa Anhang mit Literaturangaben zu Lexika, 70,0 % (teils zu mehr, teils zu weniger als Hand- und Wörterbüchern, zu Einführun- der Hälfte des früheren Lemmatextes) ver- gen in die Pädagogik, zu laufenden Zeit- ändert worden ist. schriften, zur Geschichte der Pädagogik Sieht man sich die gegenüber der Vor- (nach Epochen unterdifferenziert) und zu gänger-Auflage von 2005 neu aufgenom- „Hauptwerken der internationalen Päda- menen Lemmata an, dann sind (a) etliche gogik“ ist ebenfalls, wie die Lemma-Tex- den Veränderungen im Kontext des Bolog- te, aktualisiert worden und, verglichen na-Prozesses zuzuschreiben (z.B. „Akkre- mit früheren Auflagen, im Aufbau nahezu ditierung von Studiengängen“, „Diploma gleichgeblieben. Supplement“, „ECTS“, „Exzellenzinitia- Insgesamt gesehen wird die neue Auf- tive“, „Hochschulranking“, „Steuerung“, lage den drei erklärten Absichten (s.o.) „Workload“); andere Lemmata (b) wie z.B. gerecht: Das Wörterbuch ist durchweg „Blended Learning“, „Diversity“, „Gerech- aktualisiert worden, die historisch-syste- tigkeit“, „Geschlecht“, „Informationsgesell- matische Akzentuierung ist ebenso stark schaft“, „Inklusion“, „Missbrauch“ weisen erkennbar wie eine „im weiten Sinne geis- auf neu aufgekommene und intensiv disku- tes- und kulturwissenschaftlichen Profilie- tierte Themen und Problemstellungen der rung“ (S. 5). Den Adressaten kann es einen

92 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 guten ersten und allgemeinen Überblick „Verdrängung“, „Verleugnung“ ...), aber, geben, ohne teildisziplinäre Hand- und wie bereits gesagt, die „optimale“ von allen Wörterbücher (etwa solche der Sozialen Seiten begrüßte Auswahl bei Wörter­ Arbeit oder der Berufspädagogik) ersetzen büchern wird es wohl nicht geben (selbst zu können bzw. zu wollen, die man in Aus- einem ggf. vollständigen Lexikon würde wahl im Anhang auch noch gelistet findet. dann der schiere Umfang zum Vorwurf ge- 7. Einwände: Vier Aspekte halte ich bei macht werden). Zum Vierten schließlich der 17. Auflage des Wörterbuchs für prob- sind mir einige normative Wendungen z.B. lematisch: Zum Einen verfolgen Böhm und in den Lemmata „Didaktisches Dreieck“ Seichter zwar die o.a. „geistes- und kultur- (z.B. „trivial anmutend“), „Evidenzbasiert“ wissenschaftlichen Profilierung“, aber da (z.B. „seines philosophischen Sinngehalts (vielleicht aus Platz- und Kostengründen?) entleerter Begriff“), „Historisch-systema- 216 Personenlemmata der Vorgängerauf- tische Methode“ (z.B. „als ein Verlust zu lage getilgt worden sind und wenn darauf verbuchen“) aufgefallen, deren Fehlen ich im Vorwort nicht hingewiesen wird, dann begrüßen würde. – Dass nicht alle Leser scheint unter der Hand noch eine weitere jedem Lemmatext ohne Vorbehalte zustim- Akzentuierung vorzuliegen, die überwie- men, ist nicht erwarten (ich bin nicht zufrie- gend (längst) verstorbene und vielleicht den z.B. mit dem Eintrag zur „Goldenen nicht mehr sehr bekannte Personen (z.B. Regel“, weil der distanzierende Vergleich Gansberg, Kupffer, Thaulow ...) betrifft, zum „Kategorischen Imperativ“, zu dem es allerdings sind auch die Lemmata zu In- übrigens kein Lemma gibt, nicht herstellt genkamp, Koch, Lenzen, Prange, Specht, wird, und aus welchem Grund die Lemma- Terhart, Thiersch, Wagenschein, Winkler ta „Allgemeine Pädagogik“ und „Systema- ... und sogar zu Herder, Lessing, Reich- tische Pädagogik“ nicht zu einem Artikel wein in der aktuellen 17. Auflage nicht zusammengefasst worden sind, ist mir mehr zu finden: Das scheint mir nur noch nicht deutlich geworden). bedingt mit dem Anspruch vereinbar zu 8. Das Objektivitätsproblem – ein sein, „ausdrücklich [...] das historische Rückblick: Ich will Böhm und Seichter aus- Gedächtnis der Disziplin wachzuhalten“ drücklich vor dem möglichen Kritikpunkt (S. 5). Überdies kann ich mir die ent- der Positionalität in Schutz nehmen: Ohne sprechenden Kriterien für Tilgungen nicht eine Position ist ein solches Wörterbuch schlüssig erklären, während Einträge zu nicht zu erstellen, und dieses Objektivi- Adler, Erikson, Freud, Foerster und Krieck tätsproblem ist (s.o.) Böhm und Seichter nach wie vor zu finden sind. – Zum Zweiten bewusst, wenn und weil sie die Leitlinien sind die verbliebenen Personenlemmata ihrer Arbeit im Vorwort (S. 5 f.) offenlegen. fast ausnahmslos umgeschrieben worden; Wie anders und Objektivität gar nicht hier ist eine seit der 1. Auflage von 1931 erst anstrebend das aussehen kann, hat bestehende Struktur aufgegeben wor- der oben bereits erwähnte Hehlmann mit den, insofern die berufsbiographischen seinen Auflagen aus den Jahren 1941 und Angaben (s. z.B. den Eintrag zu Petzelt) 1942 auf höchst ungute Weise demons- fortgefallen sind. Das mögen manche triert und als NS-Karrierist (s. den ent- Leser nicht bedauern, aber für mich (be- sprechenden Eintrag bei wikipedia) das reits als Student) sind diese Angaben oft Wörterbuch gefügig in den Dienst des Na- sehr hilfreich gewesen, und aus Sicht der tionalsozialismus gestellt (kurioserweise Wissenschaftsforschung ist ihr Fehlen be- kommt das Lemma „Gewissen“, das noch dauerlich. – Zum Dritten scheinen manche in der 1. Auflage enthalten war, in der 2. Lemmata überflüssig (z.B. „Midlife-crisis“, und 3. Auflage nicht vor, so dass man fast

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 93

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 sagen kann, diese Auflagen Hehlmanns (ab dieser Auflage sind Lemmata zum NS sind „gewissenlos“): Diese beiden Aufla- eingebaut und der von Hehlmann stark gen umfassen, gegeneinander verrechnet, verfolgte psychologische Einschlag wird durchschnittlich ca. 1.242 Lemmata, die deutlich zurückgenommen, zahlreiche Hehlmann zu ca. 80,0 % (= ca. 990 Lem- Personen- und Länder-Lemmata kommen mata) mit nationalsozialistischen Begriffen hinzu u.a.m.). In dieser von Böhm seit und Personen durchsetzt hat, während an- 1982 begründeten humanistischen und dere Personenlemmata, die noch in der 1. personalistischen Tradition steht erfreuli- Auflage von 1931 enthalten gewesen sind, cherweise auch die aktuelle Auflage des getilgt worden sind (z.B. Adler, Blüher, „Wörterbuchs der Pädagogik“. A. Fischer, Freud, Litt, Scheler, Stern), 9. Fazit: Insgesamt schätze ich die- aber dem NS verpflichtete Personen (z.B. ses Wörterbuch überaus, weil es (fast Bäumler, Chamberlain, Rosenberg, Rust, immer) einen jeweiligen Begriff zuverläs- Schemm, Sturm) eigene Lemmata erhal- sig und präzise darstellt, weil es erneut ten haben. Außerdem hat Hehlmann gar um wichtige neue Begriffe für die Erzie- nicht erst damit begonnen, die in der 2. hungswissenschaft ergänzt ist und weil und 3. Auflage zu findenden nationalso- die Literaturangaben (wie auch in früheren zialistisch einschlägigen Lemmata (z.B. Auflagen) erneut aktualisiert sind. „Nationalsozialismus“, „Hitlerjugend“, Ich empfehle das „Wörterbuch der Pä- „Bund deutscher Mädel“ oder „Rasse“) dagogik“, ausdrücklich auch den Literatur- ab der 4. Auflage umzuschreiben, sondern anhang, nachdrücklich, aber bedaure, dass er hat sie in alle folgenden Auflagen alle- viele Studierende es nicht nutzen (wohl samt gar nicht aufgenommen und damit auch deshalb, weil es nicht online verfügbar ignoriert (selbst noch in der 11. Auflage ist) und deshalb nicht wissen, wie schnell 1971 kommt der NS, außer mit ein paar sie einen literaturgestützten Überblick über Andeutungen in der „Zeittafel“, mit keinem einen Begriff erhalten. Sie könnten im An- Wort vor), so, als hätte es all das gar nicht hang auch rasch herausfinden, welche wei- gegeben (Genaueres kann man in der Re- teren Lexika, Zeitschriften, Einführungen in zension von F. W. Hossbach in der „Neuen die Pädagogik und ihre Geschichte es gibt, Sammlung“, Jg. 1968 nachlesen). Ent- die ihnen bei der Anfertigung ihrer schrift- sprechend hat Hehlmann mit der 2. Auf- lichen Arbeiten überaus nützlich wären. Für lage von 1941 eine tendenziöse Revision Studierende insbesondere im BA- und MA- der Auflage von 1931 vorgenommen, und Hauptfachstudium Erziehungswissenschaft er hat mit der 4. Auflage 1953 eine zweite halte ich dieses Wörterbuch (vielleicht tiefgreifende und ebenfalls problematische noch ergänzt um das von Schaub/Zenke, Revision folgen lassen (ohne sie jemals re- die einige andere Akzente setzen als Böhm/ vidiert zu haben). Erst mit der Übernahme Seichter), wenn man ernsthaft studieren durch Böhm 1982 erscheint das „Wörter- und die jeweilige Struktur (und ihre Veräste- buch der Pädagogik“ als „Neufassung“ lungen) sowie die aktuelle Literaturlage der (so das damalige Vorwort) und ist als neue Erziehungswissenschaft im Blick behalten gründliche, nötige und wohltuende Re- will, für völlig unentbehrlich. vision der editorisch verfälschenden und verstellenden Arbeit Hehlmanns zu lesen Peter Kauder

94 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 PR 2020, 74. Jahrgang, S. 95-98 DOI https://doi.org/10.3726/PR012020.0007

Buchbesprechung der pädagogischen Erneuerung das Kind zum Hoffnungsträger einer ‚neuen Gesell- schaft‘, während sie sich selber als Heiler einer erkrankten Welt verstanden. Aller- Skiera, Ehrenhard: Erziehung und dings propagierten die meisten unter ihnen Kontrolle. Über das totalitäre Erbe allenfalls eine ‚konservative Revolution‘, in der Pädagogik im ‚Jahrhundert indem sie eine lediglich ‚regressive Moder- des Kindes‘, 240 S., nisierung‘ befürworteten, was erst nach- Bad Heilbrunn (Klinkhardt) 2018. träglich evident wurde. Neben Siegfried Bernfeld (1925) fragten nach dem Ersten Weltkrieg auch andere Skeptiker entgren- Das Dilemma jedes pädagogischen Han- zender Wirkungsannahmen gegenüber delns besteht darin, dass die Handelnden pädagogischem Handeln nach den gro- die pädagogischen Prozesse charakteri- ßen Hoffnungen in erzieherische Prozes- sierenden Kontingenzen nicht überwinden se und nach den Prämissen einer ‚neuen können, so sehr sie dies vielleicht auch Erziehung‘. Im späteren 20. Jahrhundert wünschten. Angesichts der Schwierig- finden sich in Europa für diese skeptische keit, nicht zu wissen, wie ‚bei dem Zwan- Position weitere Beispiele: Der törichte ge zur Freiheit zu erziehen‘ sei, behilft Glaube totalitärer Staatspädagogiken in sich die pädagogische Praxis entweder die Macht der Erziehung oder die über- mit der Negation des Dilemmas, seiner bordenden und überbürdenden Wünsche Elimination oder dem Hinweis, es gelte, an pädagogisches Handeln beim Aufbau eine unmittelbare Zweck-Mittel-Relation einer ‚neuen Gesellschaft‘ nach 1945, auszuschließen und die jedem erzieheri- nach 1968, nach 1989 – nach allen ge- schen Handeln inhärenten Mehrdeutigkei- sellschaftlichen Krisen. Bezogen auf den ten zu bearbeiten. Dass dieser Ratschlag schulischen Unterricht lassen sich weitere selber eine erziehungsreformorientierte, Sachverhalte heranziehen, etwa das Ver- glänzend-euphorisch daherkommende trauen der kybernetischen Didaktik und die Vorderseite, aber eben auch eine oft ver- von ihren Exponenten uneingelösten Ver- steckte, manchmal gar negierte oder igno- sprechen in den Erfolg kleinschrittig und rierte Rückseite mit sich trägt, beschreibt kontrolliert verlaufenden Lernens oder die Ehrenhard Skiera in seinem gut zu lesen- ungebrochene Zuversicht in den Gang von den Band worin er das ‚totalitäre Erbe‘ Schulentwicklung mit dem Ziel, die Schu- in der Pädagogik zu Beginn des 20. Jahr- len seien zu autonomisieren. hunderts thematisiert. Solche Beispiele illustrieren, dass die Die Reformbestrebungen der vorletz- Erziehungs- und Bildungspolitik den pä- ten Jahrhundertwende und die damaligen dagogischen Sektor immer wieder als Schulerneuerer stehen exemplarisch für ‚trouble-shooter‘ instrumentalisiert, indem euphorisierende, ausufernde Aspiratio- sie ihn dazu verpflichtet, soziale Notlagen nen, die der Pädagogik eine Reihe von zu entschärfen. Was die Gesellschaft Machbarkeitsszenarien beschert haben. politisch beschäftigt, soll die ‚Pädagogik‘ So stilisierten die damaligen Protagonisten bearbeiten. Damit sind pädagogische

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 95

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Institutionen zum Krisenmanagement ge- Nachdem er (2. Kapitel) auf die exis- rufen, denn sie sollen nicht erfolgte oder tentiellen Verlusterfahrungen und die sie fehlgeschlagene politische Interventionen hervorrufenden Rettungsvisionen, die sich pädagogisch begleitet nachholen – mit- in pädagogischen, lebensreformerischen tels institutioneller, administrativer, bau- und politischen Sinnkonstruktionen des licher, schulpädagogischer, didaktischer beginnenden 20. Jahrhunderts manifes- und sozialpädagogischer Interventionen. tieren, verwiesen hat, schärft Skiera die Eine dieser ‚Hochzeiten‘ pädagogischer Fragen seiner Studie und die sie leitenden Reformbestrebungen (nicht nur in schu- Aspekte (S. 35 ff.): Es geht ihm um die lischen Kontexten) ist die Epoche nach theoretische Begründung erzieherischer 1900. Ehrenhard Skiera leuchtet sie unter Kontrolle und die korrigierenden Zwangs- dem spezifischen Fokus, den der Autor einwirkungen in exemplarisch herangezo- auf die pädagogische Praxis richtet, in- genen Erziehungskonzeptionen, die mit formativ und detailliert aus, indem er das dem Begriff ‚Regierung‘ (Herbart) oder Verhältnis von Erziehung und Kontrolle dem Terminus ‚Disziplinierung‘ charakte- in den Blick nimmt, dabei aber nicht nur risierbar sind. Die These: Vielfach binden den Druck von außen auf die Erziehung (entgegen ihrem Selbstverständnis und schildert, sondern auch auf die selbstini- ihrer Rhetorik) Erziehungs- und Schulkon- tiierten Angleichungsvorgänge innerhalb zepte implizit oder explizit ihre Legitima- der Pädagogik verweist. Wie geht der tionsstrategien und Handlungsmaximen an Autor vor? die «vermeintlich absolute Gültigkeit ihrer Der Band weist elf Kapitel auf. Nach epistemologischen Prämissen und des da- gut nachvollziehbaren einleitenden Be- raus generierten Wissens» (S. 36). Im fol- merkungen (1. Kapitel) zur Frage der Aus- genden Abschnitt (3. Kapitel) beschreibt prägung totalitären Denkens und ihren der Autor, gleichsam als ersten Beleg für Transzendenzbezügen in damaligen Er- seine These, den Reiz und die Folgen ziehungskonzeptionen und dem Hinweis einer ‚maximal optimierten‘ Kontrolle in darauf, dass trotz des Fokus‘ auf totalitäre erzieherischen Prozessen, deren Verlauf Strukturen, Tendenzen und Ideologeme sich auf einem Kontinuum zwischen ge- in der Pädagogik es nicht darum gehe, sellschaftlicher Anpassungsforderung und die Indienstnahme/Indienststellung der individueller Widerständigkeit bestimmen Pädagogik/von Pädagogen in totalitären lässt. In diesem Teil des Bandes umreisst politischen Systemen zu erörtern (S. 15), er auch den panoptisch angelegten, tota- verweist Skiera auf den Sachverhalt, dass litären Kontrollraum in seiner Funktion als die Pädagogik selbst und oft «‚ohne Not‘ eine ‚heilende Vision‘ (S. 46). Im nächs- oder innere Notwendigkeit, darum auch ten Teil (4. Kapitel) zieht Skiera Pico della die Theorie von der Erziehung bis hinein Mirandola als den Mitschöpfer eines leib- in praktische Massgaben eine totalitäre fernen Erkenntnissubjekts heran und ver- Signatur ausgebildet» habe. Tendenziell weist auf die Schwierigkeit, in neueren sei damit immer ein unbedingtes Macht- Erziehungstheorien totalitäre Ideologeme verhältnis etabliert worden, das «letztlich überhaupt zu erkennen, bevor er die oft die unumstössliche Unterordnung des Be- kaum bemerkbare Macht des Konstrukts sonderen» (ebd.), also des heranwachsen- eines ‚grandiosen Erkenntnissubjekts‘, den Individuums, unter die strikten Gebote dessen pädagogische Effekte und die eines «angeblich Allgemeinen oder Höhe- ‚martialischen Implikationen‘ solcher Prä- ren» (ebd.) verlangt habe. missen schildert.

96 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Den materialreichen und informativen etabliert, Kontrollräume als Visionen Hauptteil der Studie machen die fünf ex- einer guten Zukunft beschrieben und als emplarisch herangezogenen Konzepte überheblich (‚grandios‘) konzipierte Er- aus: Die Bearbeitung der Ideologeme, kenntnissubjekte und grenzennegierende Reformmotive und Impulse in Ellen Keys ‚richtige Wege‘ der Erziehung’ hervorge- ‚Das Jahrhundert des Kindes (5. Kapitel), hoben werden – sowohl, was ‚alte‘ Erzie- der Hinweis auf die Standpunkte, Konflikt- hungspraxen des 19. Jahrhunderts betrifft, zonen und Widersprüche der Geistes- als auch mit Blick auf die damals als ‚neu‘ wissenschaftlichen Pädagogik und der proklamierte Erziehung. Reformpädagogik (6. Kapitel), die Dar- Nach der Lektüre lässt sich fragen, ob stellung einer Erziehung als Einfügung in die Perspektive auf das Verhältnis von Er- das kosmisch-göttliche Entwicklungsge- ziehung und Kontrolle, was die Zeit nach setz als Normalisationsprozess bei Maria 1900 angeht, nicht erweiterbar wäre – was Montessori (7. Kapitel), Rudolf Steiners zu einem hinsichtlich des pädagogischen Erziehung im Licht der ‚Vergeistigung des Handelns generalisierten erziehungswis- Menschen‘ (8. Kapitel) und die Analyse senschaftlichen Forschungsansatz führen von Pavel P. Blonskijs Weg zu einer pä- würde. Skieras anschauliche Beispiele dagogischen und soziobiologischen ‚An- (‚Jahrhundert des Kindes‘, Geisteswis- thropotechnik‘ mittels einer industriellen senschaftliche Pädagogik, Maria Montes- Arbeitsschule (9. Kapitel). Im abschlie- sori, Rudolf Steiner, Pavel P. Blonskij) zur ßenden Teil (10. Kapitel) zieht der Autor Konstruktion des ‚Grandiosen Erkenntnis- die ausgelegten Fäden unter dem Blick- subjekts‘ und damit zur Funktion des ‚ab- winkel seiner These zusammen, wenn er soluten Wissens‘ in Pädagogik und Politik die damalige Ansicht über die Erziehung bilden einen gehaltvollen Ansatz aufgrund des Kindes als ‚Werkzeug der Evolution‘ eines theoretisch versiert abgesicherten beschreibt und nochmals auf die totalitä- Rahmens, den zeitlich auszudehnen sich ren Implikate der herangezogenen Erzie- sicher lohnt. hungsmodelle verweist, wo Kontingenzen eliminiert, direkte Zweck-Mittel-Relationen Hans-Ulrich Grunder

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 97

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0

PR 2020, 74. Jahrgang, S. 99-104 DOI https://doi.org/10.3726/PR012020.0008

Selbstanzeige historisch und kulturell determinierten Si- tuationen. Welche Struktur dieser Hand- lungshintergrund hat und wie absichtliches Handeln vor einem Hintergrund der nicht- Kobow, Beatrice Sasha: intentionalen, überindividuellen Strukturen Der Sprung in die Sprache möglich ist, dem wird in der Arbeit theore- oder Denken als-ob, Paderborn tisch nachgegangen. (Mentis) 2019, 390 Seiten, € 69, Meine Arbeit stellt die Ergebnisse mei- zugleich Habilitationsschrift, ner Studien zur Konstitution des handeln- den Ich vor, wie es für eine bestimmte Art Universität Leipzig. der Analyse, die sozialontologische Analy- se, relevant wird. Ich versuche zu zeigen, Der Teppich unserer Kultur und Sprache, dass eine Konzeption des handelnden der Praxen und Normen, der Ideen, Ge- Ich in dieser Analyse sich aufspannt zwi- schichte und Wissenschaften, der den schen einem kulturellen Hintergrund, der Hintergrund unserer Gegenwart bildet, das Handeln ermöglicht, und dem selbst- ist an vielen Stellen zerschlissen und in reflexiven Cogito, das die Sozialontologie einem Zustand der Auflösung begriffen. in Folge einer bestimmten sprachphilo- Unser Handeln ist darauf ausgerichtet, sophischen Wendung als kartesianisches diesen Teppich zu restaurieren. Wenn ein Erbe angenommen hat. Damit ist zunächst Einzelner handelt, so ist es, als zöge er der Rahmen für das, was die Arbeit leisten einen Faden aus dem Gewebe des gro- möchte, gesteckt – geht es mir darin doch ßen Teppichs und knüpfte diese Stelle des in erster Linie um eine aus meiner Sicht Teppichs neu. So entsteht das Bild des notwendige Ergänzung und partielle Revi- Teppichs an allen Stellen jeweils neu und sion des Paradigmas der gegenwärtigen anders, jedoch nach der Vorlage und als Sozialontologie. Das inhaltliche Anliegen Bearbeitung der alten Muster, unter Ver- der Arbeit ist es, zu zeigen, wie ein kul- wendung des vorhandenen Materials. turell-kontingenter Handlungshintergrund Mit dieser Gobelin-Metapher soll ver- dem einzelnen Handelnden gegenwärtig anschaulicht werden, wie das absicht- ist, wie er handelnd beeinflusst und ge- liche Handeln des Einzelnen vor einem formt wird und wie der Sprache dabei als komplexen, kulturell geformten, kontin- Ermöglichungsstruktur des Handlungshin- genten Handlungshintergrund stattfindet tergrundes zentrale Bedeutung zukommt. und möglich wird. Die analytische Philo- Methodisch verbindet die Arbeit syste- sophietradition stellt die These von einem matische Überlegungen mit der Exegese Handlungshintergrund auf, um einen Re- ausgewählter historischer Quellen, um gress bei der Erklärung des absichtlichen die Problemstellung in einer historischen Handelns zu vermeiden. Die phänomeno- Genese zu verankern, die die Desiderate logische Tradition kommt zu der gleichen der Theorie klarmacht. Die Ergebnisse der These aus anderem Grund – über die Arbeit sind die Rehabilitation der Fiktion Frage nach der persönlichen Autonomie nach Hans Vaihinger, die Ergänzung der des Individuums und seiner Situiertheit in Erklärung der deontischen Strukturen der

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 99

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Gesellschaftlichkeit (nach John R. Searle) und Sprache als Ermöglichungsstruktur um das mentale Als-ob als Voraussetzung für das einzelne Handeln sieht. Soziales von Deklarationen und die Einführung der Verstehen und Wir-Gefühl sind viel rudi- Geist-auf-Geist-Passrichtung in diese Er- mentärere Phänomene als intentionales klärung, die Überwindung des ‚Sprach- kommunikatives Handeln. Was uns aber schreck’ für eine Rekonstruktion unserer zur gesellschaftlichen Deontik hinführt, sprachlichen Werkzeuge als Schlüssel zur ist das spezifische kommunikative Ko- Schaffung eines Handlungshorizontes und operieren mit dem (einzelnen) Anderen in das Nachzeichnen des Bildes des Han- einer konkreten Situation. Das Kommuni- delns in der Vorstellung des Handelnden kations-Verstehen (nach Paul Grice und mit besonderem Augenmerk auf Selbstbe- Georg Meggle) unter Einbeziehung von züglichkeit und Haltung. Gemeinschaftlichkeit als Voraussetzung Die Grenze des traditionellen Hand- sind weitere Bausteine einer sozialonto- lungsbegriffes, das ein sich selbst Ziele logischen Erklärung des Handelns. Aus- setzendes und Mittel wählendes Subjekt gehend von diesen existentialistischen und zum Autor der Handlungsabsichten und kommunikationstheoretischen Überlegun- zum Träger von Verantwortung macht, liegt gen und unter der Annahme der sprach- in der (semantischen) Krise dieses Sub- philosophischen Prämisse, dass dem jektes. Ausgehend von der Frage nach Sprachhandeln eine besondere Stellung dem Handeln mit Gewalt wird die Schlüs- für die Schaffung eines Handlungshorizon- selunterscheidung der ‚analytischen’ Ge- tes zukommt, rekonstruiere ich, welches sellschaftstheorie bei Searle diskutiert, der Bild des Handelns in der Vorstellung von zwischen roher und deontischer Gewalt Handelnden und Sprechern angenommen eine kategorische Grenze zieht. Weitere werden muss, um ein erfolgreiches Han- Momente einer (existentialistisch informier- deln zu erklären. ten) Handlungsanalyse sind die Rolle der Im Sprachschreck, wie wir ihn bei Selbstreflexion für das Handeln und das Friedrich Nietzsche, Fritz Mauthner und Nachdenken über die Möglichkeit eines auch Ludwig Wittgenstein sehen, der ‚acte gratuit’, das die Unfreiheit des Ein- sich aus einem Kulturpessimismus zu Be- zelnen und damit das Paradox der Verant- ginn der Moderne speist, sehen wir ein wortlichkeit für das Handeln zeigt. Diese Ursprungsmoment der heutigen Sozial- Aspekte werden besonders in Auseinan- ontologie. Die Beschäftigung mit diesem dersetzung mit Hans Bernhard Schmids Ursprung kann uns helfen, eine Strategie Arbeiten vorgenommen, in der Diskus- zur Überwindung des Sprachschrecks zu sion seiner Auslegung der Milgramschen entwickeln, die die Aporie der Sprach- Lernexperimente als Kritik am Konstrukt kritik überwindet, die Gesellschaft als Er- der ‚moralischen Integrität’ und in der Dis- möglichungsstruktur begreift und damit kussion seiner Einschätzung der Bedeu- den Kulturpessimismus überkommt. Die tung des ‚sub specie boni’-Prinzips. Dem Sprachkritik der Proto-Sozialontologen ist ‚nostrischen’ Projekt Schmids, das eine in erster Linie eine Fiktionskritik. Die Reha- kritische Neukonstitution des zerbroche- bilitation der Fiktionen ist darum ein Weg nen Wir und wechselweise eine Kritik am aus der semantischen Krise. Eine Aufgabe ontologischen Individualismus versucht, der Sprache ist es, unseren persönlichen stelle ich eine Rekonstruktion des Ich als Einfluss gegenüber überpersönlichen Be- konstituiert durch dieses Wir zur Seite, langen und Werten zu garantieren, wie die den methodologischen Individualis- dies William James in seiner Darstellung mus einschränkt und die Gemeinschaft der ‚Varieties of Religious Experience’

100 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 als grundlegende Forderung des Indivi- Form des Als-ob-Urteils, das Gesetz der duums an die es erschaffende Ordnung Ideenverschiebung, das beschreibt, wie formuliert. Eine pragmatische Wende zur eine Idee dem Denker entweder dogma- Überwindung des Sprachschrecks, wie tisch, hypothetisch oder im Modus des sie meine Arbeit vorschlägt, rückt diese Als-ob erscheint, und die unterliegenden Aufgabe ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Prämissen der Theorie wichtig. Verschie- Bei Hans Vaihinger finden wir den Ver- dene Aspekte der erkenntnistheoretisch- such einer Erklärung der Denkfigur des pragmatischen Theorie Vaihingers werden Als-ob, die diese aus der Perspektive des diskutiert, z.B. die Funktion des Begriffs Erkenntnistheoretikers als psychische ‚Wahrheit’ in einem doppelten Erklärrah- (organisch-biologische) Reaktion auf die men, eine Einordnung der Theorie in die Reize der Umwelt zeigt, zugleich aber Rezeption ihrer Zeit und die Darstellung das Augenmerk auf die Selbstreflexivität der heutigen, bisher eher bescheidenen der gedanklichen Figur richtet, d.h. der Vaihinger-Renaissance in wissenschafts- besonderen Wissbarkeit der Rolle und philosophischen Kontexten, sowie eine Funktion unserer logischen Denkwerk- kurze Darstellung der Auffassung Vaihin- zeuge Rechnung zu tragen versucht. Die gers von Kant und Nietzsche, als deren Charakterisierung der Voll-Fiktion als vor- ‚Vervollständiger’ sich Vaihinger versteht. läufig, zielgerichtet, selbstwidersprüchlich Meine These ist die, dass die positive und bewusst-falsch geht auf die funktio- Rekonstruktion eines heuristischen Fik- nale Analyse des Denkens zum Handeln tionsbegriffs zur Erklärung des Handlungs- zurück. Vaihingers Position zusammen- hintergrundes unerlässlich ist: erstens, gefasst ist etwa diese: Die Denkfigur des weil das Als-ob als mentaler Zustand einen Als-ob bezeichnet eine besondere Form Teil der Gelingensbedingungen von Dekla- der Selbst-Erkenntnis. Auf allgemeiner rationen ausmacht; zweitens, weil Teile der Ebene drückt die Denkfigur des Als-ob ein sozialontologischen Rekonstruktion nach Verständnis der Natur des Denkens aus. Searle selbst als Fiktionen in Vaihingers Die Als-ob-Haltung gegenüber Gedanken Sinn verstanden werden können und dies und Ideen einzunehmen, bedeutet, zu er- das Verständnis der Erklärung vertieft; drit- kennen, dass mentale Repräsentationen tens, weil wir mit Hilfe von heuristischen Fiktionen sind – der Denker räumt damit Denkwerkzeugen wie dem Als-ob und der den Unterschied zwischen der mentalen Fiktion die Struktur des Handelns verste- Repräsentation und dem abgebildeten hen und uns dieses Verstehen zu Handeln- Zustand der Welt ein. Vaihingers Modell den macht. Unser ‚logisches Gewissen’ erlaubt, die historische Genese von Wis- (nach Vaihinger) führt uns die wesentli- sen sowohl für die gesamte Menschheit, chen Kategorien unserer Verfasstheit als als auch für individuelle Denker zu be- Handelnde und als Sprecher vor Augen. schreiben. Seine Grenzen sind in der Be- Dieses Begreifen ermöglicht uns das Han- schränkung auf erkenntnistheoretische deln, und es stellt zugleich auch sicher, Fragestellungen und auf der Nichtthema- dass wir als Einzelne nicht nur Rädchen im tisierung der Konventionalität von Wissen Getriebe des Gesellschaftlichen sind, son- in Wissensgemeinschaften und der Ab- dern dass unsere Belange Bestand haben wertung der Sprache als Ort der Fiktion und wir kausal wichtig werden. (im Unterschied zu Bentham) zu sehen. Der vielleicht wichtigste, aber zugleich Zunächst wird Vaihingers Position rekons- auch evidenteste Begriff, den meine Arbeit truiert. Dabei sind vor allem die spezifische dem Status Quo der Diskussion hinzu- Definition der Fiktion als eine besondere fügt, ist die Idee einer Geist-auf-Geist

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 101

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Passrichtung. Sie basiert auf der Beob- nicht-intentionalistischer Erklärungsele- achtung, dass wir uns auf Wirklichkeit mente, wie dem Handlungshintergrund, erkennend und handelnd beziehen, dass und der intentional-normativen Regel- aber die Beziehung zum anderen Geist struktur der Deklarationen hat, können (mit seinen mentalen Inhalten, die uns ver- vielleicht auf Vaihingersche Weise gelöst äußerlicht als abgeleitete Intentionalität werden. Status-Funktions-Deklarationen begegnen) genauso wesentlich ist und wir sind regelgeleitete Sprechakte; in der Pra- dies in einer neuen Passrichtung ausdrü- xis müssen solche Deklarationen jedoch cken können. Ein Handeln richtet sich aus niemals wirklich formuliert werden, son- an diesen drei Formen des Passens – es dern sie sind selbst eine nützliche Fiktion, hängt ab von der Repräsentation des Sta- die eine Erklärleistung bringt und sich so tus Quo der Welt, von der Intention, die bewährt. Diese selbstbezügliche Gedan- diesen Status Quo handelnd verändern kenfigur hat für die Erklärung gesellschaft- will und von der Anerkennung der ande- licher Wirklichkeit besondere Bedeutung ren, die das Handeln (das sich im Bereich – zeigt sie doch, wie im Handeln unsere der Deontik, d.i. in einem Bereich des Kenntnis von ‚natürlichen’ und ‚nicht-na- Dürfens und Müssens bewegt) als sym- türlichen’ Zeichenbedeutungen, d.h. das bolisches Unterfangen unterstützen. Wird Erkennen einer Absichtlichkeit und Hand- das Als-ob in die Erklärung der deonti- lungskompetenz vom Anderen behauptet schen Beziehungen zwischen Handeln- und von mir anerkannt wird, und wie dies den mit einbezogen, so kann sowohl eine den Horizont des Handelns eröffnet. Dis- phänomenologische Beschränkung über- kutiert werden Konkreta des Vorschlags, wunden, als auch eine bloße numerische wie die Richtung des Passens und die Aneinanderreihung von Einzelwillen bei Sprachabhängigkeit von Deklarationen, der Darstellung einer Wir-Perspektive ver- die selten genau untersuchten Grenzen in- mieden werden. So wird Vaihingers men- dividueller Intentionalität in Searles Modell tales Verständnis von Fiktionen wiederum und die Bedeutung des Selbstbewusst- auf Sprache angewandt, aber nicht wie seins des Einzelnen für die Theorie, z.B. bei Bentham als Reduktion auf Sprache, anhand der grammatischen vierten Per- sondern als Erklärung einer mentalen Vor- son, der Vorstellung eines ‚en nous’ und aussetzung für Teilnahme an Gesellschaft. des Perspektivenkönnens. Mit Blick auf die Deklaration von Status- Dem Handelnden stellt sich nicht nur Funktionen sollen sowohl deren agentiv-in- die Frage: ‚Was tust Du?’, sondern eben- tentionaler Aspekt, als auch ihre Gründung falls die Frage:‚Wer bist Du?’ Der Horizont in sozialen Praxen erklärt werden. Dies ge- des Handelns kann verstanden werden als lingt, wenn das Zusammenspiel von Dekla- das Bild des Handelns in der Vorstellung rationen und dem kulturellen Hintergrund, des Einzelnen; dieses Verständnis kann den sie konstituieren und der sie ermög- auch als Meta-Poiesis beschrieben wer- licht, klar wird. Dies erklärt auch, wie das den. Dies wird diskutiert anhand einer ers- institutionelle Gefüge sowohl verbindlich, ten Gegenüberstellung des Buches ‚Sinn’ als auch wandelbar ist. von Pirmin Stekeler-Weithofer, als Beispiel Dargestellt wird einerseits das Als-ob für eine sinnkritische Philosophie, und ‚All als mentale Voraussetzung der Deklaratio- Things Shining’ von Hubert Dreyfus und nen und andererseits wie die Vorstellung Sean D. Kelly, als Beispiel einer neuen von heuristischen Fiktionen John Searles phänomenologisch-existentialistischen Phi- Theorie selbst erklären hilft. Probleme, losophie. Beide Ansätze haben Aspekte die Searles Theorie mit der Mediation eines neuen Pragmatismus, setzen sich

102 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 jedoch verschiedentlich von einander und (sprachanalytisch verwurzelten) Sozialon- von anderen Vertretern dieser Schule (wie tologie. Meine Arbeit trägt zur Bewusst- z.B. von Robert Brandom) ab. Die Ansätze werdung und damit möglichen Diskussion werden vor allem auf die konstatierte Not- dieser Aspekte bei. Perspektivismus, Kon- wendigkeit und Erklärung einer Meta-Ebe- ventionskritik, der Begriff der Ähnlichkeit ne der Selbst-Reflexion außerhalb des ‚en und das leidenschaftliche Herz sind an- soi’ eines erlebten Sinns hin untersucht und dererseits Merkmale einer manchmal als verglichen. Im Anschluss wird der argumen- ‚kontinental’ verstandenen Tradition der tative Schachzug einer Meta-Poiesis, den Philosophie. Dass diese beiden eigent- ich bei Stekeler-Weithofer überzeugend lich am gleichen Projekt arbeiten, das finde, in den Kontext der Arbeit gestellt: zeigt nicht nur die Gemeinsamkeit des Wollen wir die Antinomie zwischen Bruch Handlungshintergrundes als Prämisse der oder Kontinuum in der Rekonstruktion des Theorie, sondern auch die Fundierung in Selbst überwinden, so kann uns eine Er- den Aspekten des Sprachschrecks. Die klärung des Handlungshintergrundes dabei Figur der Retorsion ist seit Descartes dort weiterhelfen. Das Mise-en-Abyme der Als- präsent, wo sich das denkende Individu- ob-Figur nach Vahiniger wird als positive um als denkend begreift und sich aufgrund Gegenfigur zum Regressargument für den dieser Gedanken als Autor einer Ordnung Handlungshintergrund formuliert und kann versteht. Die Retorsion wird in der vorlie- als Entsprechung einer Selbst-Reflexion als genden Arbeit pragmatisch überwunden Meta-Poiesis gesehen werden. Mit Blick in einem Verständnis der Selbst-Reflexion auf Wittgenstein erscheint Gewissheit nun als Meta-Poiesis und als Frage nach der für den Einzelnen als ein Prozess der Revi- Konstruktion gesellschaftlicher Wirklich- sion von Fiktionen als Denkwerkzeuge im keit. Die Fragestellung wird pragmatisch handelnden Umgang mit der Welt. verstanden als Anspruch des Einzelnen Im Laufe der Untersuchung, die nach an die es konstituierende Ordnung nach einer konstruktiven Erklärung des Hand- möglicher Einflussnahme und Geltung. lungshintergrundes als einem wichtigen, Mein Text möchte einen Beitrag leisten bisher noch nicht ausreichend dargestell- zum Verstehen vom möglichen gemein- ten Theoriebereich der gegenwärtigen samen Handeln, er spricht von Fiktionen, Sozialontologie fragt, werden verschie- die uns beim Handeln helfen, und vom Ur- dene Annahmen einer Handlungstheorie sprung des Handelns in der Sprache. Die problematisiert. Diese entsprechen zent- Vorläufigkeit und Skizzenhaftigkeit dieser ralen Aspekten des Sprachschrecks und Studien sind mir wohl bewusst. Der Text können als sein Erbe angesehen werden. kann daher nur als eine Dokumentation Die Sehnsucht nach dem Außerhalb der des Status Quo bestehen, der der Ver- Sprache, z.B. als vor-sprachliche, unver- besserung bedarf. Er ist meinen Kindern mittelte Wahrheit der Naturwissenschaf- gewidmet. Vielleicht kann er Anregungen ten, die Forderung nach Autonomie des geben zu einem weiteren Nachdenken Einzelnen und die Vorstellung der Hand- über ›Eudaimonia‹ als einem gemeinsa- lungsverantwortung dieses Einzelnen, men Unterfangen. die so weit geht, dass fiktive Personen, z.B. Korporationen in der Theorie als solche Einzelne vorgestellt werden, und Beatrice Kobow die Idee der Freiheit als Freiheit-von sind Quermatenweg 98 noch immer zentrale und meist nicht ein- 14163 Berlin mal reflektierte Prämissen der heutigen [email protected]

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 103

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0

PR 2020, 74. Jahrgang, S. 105-106 DOI https://doi.org/10.3726/PR012020.0009

Autorenspiegel am Department Erziehungswissen- schaft der Universität Potsdam. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Historischen Bildungsforschung. Insbe- Hans-Ulrich Grunder, Prof. em. Dr. phil. I sondere erforscht er die historische Re- habil., geb. 1954, Sekundarlehrerstudium formpädagogik, die Erziehungsverhältnisse und Unterrichtstätigkeit; Gründung einer im Nationalsozialismus sowie Schulreform- alternativen Schule (1978); Zweitstudium prozesse in Geschichte und Gegenwart. (Pädagogik, Ethnologie Journalismus); Er ist Vorstandmitglied des Vereins "Ro- Assistent am Pädagogischen Institut der chow-Museum und Akademie für bildungs- Universität Bern, Promotion, Habilitation; geschichtliche und zeitdiagnostische Vizedirektor der Sekundarlehrerausbildung Forschung" an der Universität Potsdam. an der Universität Bern; Ordinarius für Kontaktadressen: Schulpädagogik an der Universität Tübin- Universität Potsdam gen (D) (1995-2005); Professor für Päda- Department Erziehungswissenschaft gogik an der Pädagogischen Hochschule Karl-Liebknecht-Str. 24-25 FHNW und der Universität Basel (2005- 14476 Potsdam 2014); Direktor ad interim des Instituts für [email protected] Bildungswissenschaften der Universität Basel (ab 1.1.2015); Direktor des Instituts für Bildungswissenschaften der Universität Andreas Pehnke, geb. 1957 in Greifs- Basel (1.1.2017, bis 31.1.2019). wald, in Wismar aufgewachsen, 1977-81 Kontaktadressen Lehrerstudium in Leipzig, sodann For- Thürlacker 41 schungsstudium (Leipzig) und Habilita- CH-3033 Wohlen bei Bern tionsaspirantur (Berlin). 1984 erfolgte die [email protected] Promotion und 1990 die Habilitation mit Reformpädagogik-Themen. Er war als PD Dr. Anke Lindemann ist Wissenschaft- Erziehungswissenschaftler zunächst in liche Mitarbeiterin am Deutschen Institut Leipzig, Berlin und Halle/S. tätig, bevor er der Gutenberg Universität Mainz und Pri- 1993 auf den Lehrstuhl (Gründungspro- vatdozentin für Erziehungswissenschaft fessur) für Allgemeine Erziehungswissen- mit dem Schwerpunkt Bildungsgeschichte schaft (Systematische, Historische und an der Universität Potsdam. In der Histori- Vergleichende Pädagogik) an die Univer- schen Bildungsforschung forscht sie ins- sität seiner Geburtsstadt berufen wurde. besondere zum Philanthropismus und zur Forschungs- und Publikationsschwer- Volksaufklärung. punkte: Historische Reformpädagogik, Kontaktadressen: Reformpädagogik-Rezeption in den inter- Jägerweg 8 nationalen Schulreformbestrebungen, 35091 Cölbe Friedenspädagogik und Maßregelungen [email protected] demokratischer Schulreformer in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts (siehe Dr. Jörg-W. Link, Lehrer für Geschichte Buchreihe im Sax-Verlag Beucha, Mark- und Deutsch, ist Akademischer Mitarbeiter kleeberg).

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 105

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Kontaktadressen: Verschwinden eines pädagogischen Deu- Universität Greifswald tungsmusters, 2011 Habilitation an der Institut für Erziehungswissenschaft Goethe-Universität Frankfurt a.M.: Erzie- Ernst-Lohmeyer-Platz 3 hung und Ernährung. Ein anderer Blick auf 17487 Greifswald Kindheit, Venia legendi: Erziehungswis- [email protected] senschaft. Nach Vertretungsprofessuren für Allgemeine Erziehungswissenschaft Annedore Prengel ist Erziehungswissen- an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. schaftlerin. Sie ist Professorin im Ruhe- und an der Friedrich Alexander Univer- stand an der Universität Potsdam und sität Erlangen-Nürnberg seit 2014 als Seniorprofessorin am der Goethe-Uni- ordentliche Universitätsprofessorin für versität Frankfurt am Main. Ihre Schwer- Allgemeine Erziehungswissenschaft an punkte sind: Pädagogik der Vielfalt, der Paris Lodron Universität in Salzburg. didaktische Diagnostik in inklusiven Lern- Forschungsschwerpunkte: Theorie- und gruppen, Pädagogische Beziehungen, Diskursgeschichte von Erziehung und ethische Pädagogik, pädagogisches kul- Bildung, Geschichte und Systematik per- turelles Gedächtnis. Sie ist Co-Initiato- sonalistischer Konzepte in Anthropologie rin der „Reckahner Reflexionen zur Ethik und Bildungstheorie, Kulturwissenschaft- pädagogischer Beziehungen“ (vgl. www. liche Zugänge zu Erziehung und Bildung paedagogische-beziehungen.eu) Kontaktadressen: Kontaktadressen: Paris Lodron Universität Salzburg Im Bogen 15 c Fachbereich Erziehungswissenschaft 14471 Potsdam Erzabt-Klotz-Str. 1 [email protected] A -5020 Salzburg [email protected] Ernst Daniel Röhrig, Diplom-Pädagoge, Jahrgang 1979. Wissenschaftlicher Mit- Prof. Dr. Hanno Schmitt, 1993-2008 Pro- arbeiter in den Bildungswissenschaften fessur für Geschichte der Pädagogik, an der Universität Trier, mehrjährige prak- Geschichte des Erziehungs- und Bildungs- tische Tätigkeit als Schulsozialarbeiter wesens a. d. Universität Potsdam. Leitung und Jugendpfleger. Aktuelle Forschungs- mehrerer DFG Forschungsprojekte. For- schwerpunkte: Subjektive Theorien, Ein- schungsschwerpunkte: Entwicklung von stellungen und Professionsverständnisse Erziehung und Bildung in der Spätaufklä- von Lehrkräften, Soziale Komplexität in rung. Philanthropismus, insbesondere Joa- Bildungsprozessen chim Heinrich Campe (1746- 1818) und Kontaktadressen: Friedrich Eberhard von Rochow (1734- Universität Trier 1805). Im brandenburgischen Reckahn, Fachbereich I – Bildungswissenschaften dem Gedächtnisort von nationaler Bedeu- Universitätsring 15 tung, betreut er das Rochow-Museum und 54296 Trier Forschungsvorhaben zum kulturellen Ge- rö[email protected] dächtnis. Kontaktadressen: Sabine Seichter, Dr. phil., 2007 Promo- Im Bogen 15c tion an der Universität Würzburg: Päd- 14471 Potsdam agogische Liebe. Erfindung, Blütezeit, [email protected]

106 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 PR 2020, 74. Jahrgang, S. 107-116 DOI https://doi.org/10.3726/PR012020.0010

Rundschau zum Ziel, als Alternative zum traditionel- len, dreigliedrigen Schulsystem, eine Schule für alle Schülerinnen und Schü- ler zu begründen. Neben der Einrichtung „Haben die Inhalte der Lehrpläne des Ganztagsbetriebs, der Ersetzung unserer Schulen noch die des unzureichenden und ungerechten lernmotivierende Kraft, die sie Notensystems durch eine lern- und leis- einst hatten?“ tungsfördernde Lerndiagnostik, sowie einer veränderten Differenzierungspraxis, hatte auch die Curriculumrevision einen Diese Frage ist wohl so alt, seit es hohen Stellenwert. Die Zusammenfas- Schule als gesellschafts-institutionalisierte sung von traditionellen Unterrichtsfächern Einrichtung gibt. Die „Entrümpelung der zu Fachbereichen, wie z. B. Geografie, Lehrpläne“ wird gefordert. Die kritischen Geschichte und Politik zu „Gesellschaft“, Nachfragen, ob das, was in der Schule Kunst, Musik, Theater zu „Ästhetischer vermittelt wird, auch den Gegenwarts- und Erziehung“, Religion zu „Werte und Nor- Zukunftsanforderungen der Lernenden men“, Biologie, Physik und Chemie zu gerecht wird, steht mit den Herausforde- „Naturwissenschaft“, sollte ein fächerü rungen an die Curriculum-Revision auf bergreifendes Lernen ermöglichen; fächer­ 1 dem Prüfstand . Die Lernorganisation der bezogene und althergebrachte Lern- fächerbezogenen Schule, zudem orien- methoden, wie z. B. Frontalunterricht, tiert an dem dreigliedrigen, überholten wurden durch fächerübergreifendes, Schulsystem – Hauptschule, Realschule, projektorientiertes, Partnerschafts- und Gymnasium – missachtet die lernpsycho- Gruppenlernen ergänzt; die traditionellen logischen und anthropologischen Erkennt- Klassenorganisationen wurden aufgelöst nisse, dass Lernen mehr sein muss als die und durch Teams und Stammgruppen er- Aneignung von Faktenwissen; dass die setzt4, und die Leitungsaufgaben in der Lernorganisation in der Schule immanent Schule wurden als Zeitfunktionen (4 – 9 zusammenhängt mit den Lerninhalten; und Jahre) vom jeweiligen Kollegium bestimmt. dass die Lernprozesse abhängig sind von Tritt eine Initiative an, für die schuli- der „Motivierung für das Lernen aus der sche Bildung einen Perspektivenwechsel Situation, Aufgabe, Sache selbst abzu- herbeiführen zu wollen, braucht es Mut, leiten (ist), aus dem Gewinn, den sie aus Kraft und Ausdauer. Die argumentativen sich selbst zu bieten vermögen“2. Es ist und faktischen Begründungen, warum die Schul(system)kritik, die anmahnt, dass und dass es Änderungen im traditionellen Bildung kein akkumulierbares, kapitalisier- Schulsystem bedarf, brauchen wissen- bares, in Besitz zu nehmendes Produkt schaftlich ermittelte Beweise. So war es sein kann, sondern ein Menschenrecht selbstverständlich, dass bei jeder Gesamt- darstellt3. schulgründung eine wissenschaftliche Die Einrichtung von Integrierten Ge- Begleitung zur Seite stand5. Die Gesamt- samtschulen seit den 1960er Jahren in schulentwicklung in Deutschland voll- der Bundesrepublik Deutschland hatte zog sich in den einzelnen Bundesländern

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 107

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 unterschiedlich, und zwar sowohl in der Soziales Lernen sind längst dem pädago- Anzahl, als auch in der Organisations- gischen Bewusstsein gewichen, dass Ler- form. Neben den eigentlichen Integrierten nen ein ganzheitlicher Prozess ist8. Gesamtschulen (IGS) wurden Kooperati- Der erziehungswissenschaftliche und ve Gesamtschulen (KGS) aufgebaut, die pädagogische Diskurs darüber, wer, wie, in ihrer Organisationsform Verbindungen wo, was lernt, orientiert sich immer auch zum differenzierten, dreigliedrigen Schul- an den Aktivitäten und Initiativen der Bil- system aufweisen. Die Statistik weist für dungspolitik in anderen Ländern. Die das Schuljahr 2017/18 insgesamt 2099 internationalen Schulvergleichsuntersu- IGS nach. Die Anzahl der Gesamtschulen chungen (PISA u.a.) haben das scheinbar in den Bundesländern differiert. So gibt es unerschütterliche Beharren auf den Fun- z. B. in NRW 251, in Niedersachsen 128 damenten des traditionellen Schulsystems Gesamtschulen, während in Bayern nach ins Wanken gebracht. Und nicht wenige Beendigung des landesweiten Schul- Theoretiker und Praktiker der schulischen versuchs 1994 noch zwei IGS (Hollfeld Bildung sind davon überzeugt, dass sich und München) und ebenfalls zwei KGS auch in Deutschland längerfristig die Ein- (Treuchtlingen und Nürnberg) übrig ge- sicht durchsetzt: Wir brauchen Eine Schu- blieben sind. le für alle Kinder, in der nicht mehr nach Im Gegensatz zur Anfangszeit der Ge- dem Konzept der traditionellen (Haupt- samtschulgründungen in (West-)Deutsch- und Neben-)Fächer unterrichtet wird und land, in der die Widerstände gegen diese die Lerninhalte dadurch entstehen, dass alternative Schulform erheblich waren und sie von Curricula abgeschrieben werden, nicht selten mit Fake News, verleumdend die von Curricula abgeschrieben werden. und mit Argumentationen „unter der Gür- Die Frage, ob der Kanon der klassischen tellinie“ geführt wurden6, sind heute IGS Unterrichtsfächer heute noch zeitgemäß und KGS in der öffentlichen Wahrnehmung sei und Lernen noch mit den hergebrach- als erfolgreiche Schulen anerkannt. Bei ten Methoden des Educador / Etucandus den Anmeldungen zum 5. Schuljahr muss stattfinden könne9. bei den meisten Gesamtschulen das Los Die finnischen Erziehungswissen- entscheiden, weil sich mehr Schülerinnen schaftler, Pädagogen und Bildungspoli- und Schüler bewerben als die Schule auf- tiker wagen den Schritt, die Taktung des nehmen kann. Ein Blick auf die Homepage schulischen Lernens – in der ersten Stun- der Initiative „beste Schule Deutschlands“ de Mathe, in der zweiten Bio, in der drit- zeigt, dass der Anteil der Gesamtschulen ten … - aufzuheben und stattdessen eine bei den prämiierten Schulen hoch ist7. ganzheitliche Lernauseinandersetzung Eine der wichtigen Zielsetzung der anhand von Aspekten, Sachen, Themen- deutschen Gesamtschulentwicklung, bereichen und Phänomenen zu initiieren. nämlich das dreigliedrige Schulsystem ab- Das Modell „Phänomenunterricht“ er- zulösen, ist bisher nicht erreicht worden. innert an die didaktischen Initiativen des Ohne Zweifel jedoch haben die Gesamt- fächerübergreifenden, projektorientierten schulen auch beim traditionellen Schul- und interdisziplinären Lernens10. Die ge- system Veränderungen sowohl bei Fragen sellschaftlich eingerichtete Anstalt Schu- der Schulorganisation (Ganztagsschule), le unterliegt immer wieder der Kritik, und als auch bei der Vermittlung des Lernstoffs zwar populär und wissenschaftlich11, (Lernmethoden) beeinflusst. Die anfangs biographisch12 und emanzipatorisch13, massiv und aggressiv geäußerten Wider- antinomisch14, verteidigend15 und ankla- stände gegen Projekt-, emotionales und gend16. Der Anspruch, Bildung als ein

108 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 allgemeingültiges, nicht relativierbares 4 Hartmut von Hentig, Cuernavaca oder: Alter- Recht für alle Menschen durchzusetzen17, nativen zur Schule? 1971 machen einen Perspektivenwechsel not- 5 z. B.: Helmut Fend, Gesamtschule im Ver- gleich: Bilanz von 10 Jahren wissenschaftli- wendig, wie dies die Vereinten Nationen cher Begleitforschung, 1987 mit der Inklusionsrechtskonvention 2008 6 Der Autor, der von 1971 bis in die 1980er 18 fordern . Im curricularen, didaktischen Jahre Lehrer an der IGS (RBG) Hildesheim und methodischen, theoretischen und arbeitete, von 1974 – 1978 die Zeitfunktion praktischen Diskurs setzt sich nur zöger- als Didaktischer Leiter und Mitglied der kol- lich und zurückhaltend die Erkenntnis legialen Schulleitung ausübte, in der Lehrer- durch, dass „Vielfalt“ und „Diversity“ die fortbildung und als Lehrbeauftragter an der Grundpfeiler eines gerechten, gleichbe- Universität tätig war, kann ein Lied von den verbalen und diskriminierenden Angriffen auf rechtigten humanen Zusammenlebens die Schule berichten der Menschen darstellen. Es bedarf also 7 Michael Schratz, u.a., Hrsg., Was für Schu- einer engagierteren Auseinandersetzung len! Deutscher Schulpreis 2015, http://www. und Einsicht, dass Inklusion nur möglich socialnet.de/rezensionen/20114.php ist, wenn es gelingt, die historische und 8 Gerhard Fatzer, Ganzheitliches Lernen. Hu- gesellschaftspolitische Bedeutung dieses manistische Pädagogik und Organisations- humanen Anspruchs zu erkennen und entwicklung, 1993, 344 S. 9 Alex Aßmann, Erziehung als Zumutung und durchzusetzen19 . Emanzipationsvorhaben. Eine kleine Einfüh- Inklusion braucht den Perspektiven- rung in die Pädagogik, 2008, http://www. wechsel. Für humane, gleichberechtigte socialnet.de/rezensionen/13846.php. Bildungsprozesse ist auch ein Wandel bei 10 Julis Kerber, „Weg mit den alten Hüten“, bil- der curricularen Vermittlung von Lerninhal- dungsspezial 1/2017 ten notwendig. Die Initiative der finnischen 11 David Richard Precht, Anne, die Schule und Bildungspolitik, anstelle des traditionellen der liebe Gott, 2013, http://www.socialnet. de/rezensionen/14980.php Fächerlernens einen „Phänomen-Unter- 12 Oskar Negt, Philosophie des aufrechten richt“ einzuführen, ist zu begrüßen und Gangs. Streitschrift für eine neue Schule, auch in den theoretischen und prakti- 2014, http://www.socialnet.de/rezensio- schen, deutschen „Kanon“-Diskurs hinein nen/16273.php zu nehmen! 13 Julian Nida-Rümelin, Philosophie einer huma- nen Bildung, 2013, http://www.socialnet.de/ Dr.Jos Schnurer rezensionen/14556.php 14 Jörg Schlömerkemper, Pädagogische Pro- Immelmannstr. 40 zesse in antinomischer Deutung: Begriffliche 31137 Hildesheim Klärungen und Entwürfe für Lernen und Leh- [email protected] ren, 2017, http://www.socialnet.de/rezensio- nen/23095.php 15 Joachim Bauer, Lob der Schule. 7 Rezepte für Schüler, Lehrer und Eltern, 2007, http:// Anmerkungen www.socialnet.de/rezensionen/4957.php 16 Sabine Czerny.,Was wir unseren Kindern in 1 Saul B. Robinsohn, Bildungsreform als Revi- der Schule antun. ...und wie wir das ändern sion des Curriculums, 1967 können, 2010, http://www.socialnet.de/re- 2 Heinrich Roth, Hrsg., Begabung und Lernen. zensionen/10326.php Ergebnisse und Folgerungen neuer For- 17 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte schungen, Stuttgart, 4. Aufl. 1969, S. 32 vom 10. Dezember 1948, Art. 26 3 Karl-Josef Pazzini, Hrsg., Lehren bildet? Vom 18 Eiko Jürgens / Susanne Miller, Hrsg., Ungleich­ Rätsel unserer Lehranstalten, 2010, http:// heit in der Gesellschaft und Ungleichheit in der www.socialnet.de/rezensionen/10560.php Schule. Eine interdisziplinäre Sicht auf

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 109

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Inklusions- und Exklusionsprozesse, 2013, kommen Theorie und Praxis als praktische http://www.socialnet.de/rezensionen/14423. Organisiertheit der Forschung und wis- php sensgenerierende forschende Praxis der 19 Frank J. Müller, Hrsg., Blick zurück nach vorn sogenannten „Praxis“ in den Blick und – Wegbereiter der Inklusion, Bd. 1, 2018, http://www.socialnet.de/rezensionen/23830. lassen sich als beobachtungsabhängige php; sowie: ders., Bd. 2, 2018, http://www. Größen fassen. Klassisch wurde die Frage socialnet.de/rezensionen/25049.php . nach Theorie und Praxis als institutionelle Frage entlang des Verhältnisses von Wis- senschaft und Praxis diskutiert. So fächer- Jahrestagung der Sektion ten etwa Dewe, Ferchhoff und Radtke (1992) bereits früh das Spektrum der Ver- Organisationspädagogik hältnisbestimmungen auf, das auch für die Organisation zwischen Theorie organisationspädagogische Frage nach und Praxis Theorie und Praxis in, von und zwischen 27./28.02.2020 Organisationen von Interesse sein kann. Universität Kiel Klassische, wissenschaftszentristische Positionen eines Wissenschaft-Praxis- Pre-Conference für Transfers sind demnach zum Scheitern ver- urteilt. Wissenschaftliches Wissen werde Wissenschaftler in der lediglich hochselektiv von Praxis genutzt, Qualifikationsphase nicht selten aber auch abgelehnt oder um- „Forum Pädagogische gedeutet, so dass bestehende Praktiken Organisationsforschung“ am bestätigt werden und eine gewünschte 26.02.2020 ‚produktive Auseinandersetzung ́ zwi- schen Wissenschaft und Praxis nur in den seltensten Fällen stattfinde (ebd., S. 76). Organisationen sind in vielfacher Hinsicht Organisationspädagogisch resultiert hie- sowohl Entitäten als auch soziale Prozesse, raus nicht zuletzt die Notwendigkeit einer die sich aus theoretischer, empirischer und Reflexion des Umgangs mit 2 unterschied- praxisbezogener Perspektive – vor allem lichen Wissensformen und damit verbun- mit Blick auf das Wechselspiel zwischen dener Ungewissheit. Neuere Positionen im diesen drei Zugängen – verstehen lassen. erziehungswissenschaftlichen Diskurs, die Jenseits eines dichotomen Verhältnisses die Situiertheit und Kontextualität des Ver- der aus der griechischen Philosophie stam- hältnisses von Wissenschaft und Praxis als menden Begriffe „Theorie“ und „Praxis“ ist Frage nach dem Umgang mit differenten Theorie nicht als Wissenschaft (Pädagogik und prekären Wissensformen bearbeiten bzw. Erziehungswissenschaft, spezifischer (etwa Helsper et al. 2004; Wrana 2012; Organisationspädagogik) eng zu führen Thompson 2017), können hier interessante und Praxis nicht auf die Anwendung eines Anschlussmöglichkeiten bieten. Methodo- in der Theorie generierten Wissens redu- logische Perspektiven verweisen hier bei- ziert. Praxis agiert nicht theorielos, sondern spielsweise auf Grenzbearbeitung mittels (re)produziert ihre eigenen, häufig implizit Dialogik (Hörster & Müller 2013). Aber bleibenden Theorien, womit Theoretiker auch partizipative und gestaltungsorientier- und Forscher nicht das Denken über Or- te methodische Ansätze und transdiszipli- ganisation, Praktiker nicht das Handeln näre Kooperationen zwischen Forschung und Gestalten in Organisationen überlas- und gesellschaftlichen Akteuren (wie bei- sen bleibt (vgl. Heid 2004). Stattdessen spielsweise Design Based Research oder

110 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Community Based Research) zählen zum neuer Theorie-Praxis-Relationierungen aus Spektrum organisationspädagogischer organisationspädagogischer Perspektive Forschungsstrategien, die oftmals Diffe- aus. Sie fragt nach Ansprüchen an organi- renz systematisch zum Strukturprinzip er- sationspädagogische Theorieentwicklung, heben (Göhlich, Weber, Schröer 2018). empirische Forschung und Transferideen. Organisationspädagogen müssen mit der Welchen Stellenwert haben demnach Differenz zwischen den vielfältigen theo- Praxisdiskurse für den organisationspäda- retischen und empirischen Angeboten gogischen Diskurs? Welche methodisch- der Wissenschaft und dem häufigen Vor- methodologischen Herausforderungen wurf an diese Angebote, sie seien in der stellen sich, wenn wir von einem einfachen organisationalen Praxis folgenlos bzw. Transfer wissenschaftlichen Wissens in nicht umsetzbar, ebenso wie mit der zu- die organisationale Praxis (und umgekehrt) weilen etablierten ‚Theoriefeindlichkeit‘ nicht ungebrochen ausgehen können? oder ‚Unbelehrbarkeit‘ organisationaler Welche ‚Übersetzungsleistungen‘ braucht Praxis umgehen können. Die Tagung setzt es und wie können ‚blinde Flecke‘ ange- sich daher zum Ziel, den komplexen Re- messen bearbeitet und spezifisch organi- lationen zwischen Theorie und Praxis der sationspädagogisches Wissen generiert Organisation, zwischen Wissen und Kön- werden, das den Blick auf das ‚Dazwi- nen, Regelerwartungen und -praktiken etc. schen‘ relationaler Perspektiven lenkt? sowohl theoretisch-konzeptionell, metho- Vorläufige Struktur der thematischen disch-methodologisch, als auch empirisch Schwerpunkte der Tagung: Im Rahmen und praxisreflexiv nachzugehen. Dabei der Jahrestagung bieten sich folgende sollen – mit Blick auf das Theorie-Praxis- Schwerpunkte zur Bearbeitung des The- Problem in der Erziehungswissenschaft mas an: – die unterschiedlichen Erwartungen der I.Theoretische Verhältnisbestimmungen Praxis an wissenschaftliche Theorie und von Organisation zwischen Theorie und Empirie (etwa nach Aufklärung, Orientie- Praxis: In diesem Schwerpunkt werden rung, Reflexion) bzw. der Wissenschaft grundlegende Beiträge versammelt, die an die Praxis (etwa nach Erfahrung, An- sich mit der Konzeptualisierung von Orga- regung, Korrektur der Theoriebildung) und nisationen zwischen Theorie, Empirie und die erforderlichen multiplen ‚Übersetzungs- Praxis aus organisationspädagogischer leistungen‘ zwischen beiden fokussiert und weiterer subdisziplinärer bzw. interdis- werden (vgl. Benner 1980, Schmied-Ko- ziplinärer Perspektive auseinandersetzen. warzik 2008), so dass Anregungen zum Hierbei sollen die komplexen Relationen, Weiterdenken sowohl aus dem fachwis- Ambivalenzen und Herausforderungen zwi- senschaftlichen Diskurs als auch dem schen Theorie und Praxis der Organisation, Praxisdiskurs gewonnen werden können. zwischen Wissen und Können etc. theore- Somit wird der Blick auf die organisations- tisch-konzeptionell ausgelotet und disku- pädagogische Gestaltung und Begleitung tiert werden. Interessante Fragen in diesem organisationaler Lern-, Bildungs- und Ver- Kontext sind z.B.: Wie lassen sich organi- änderungsprozesse und auf organisa- sationale Praktiken zwischen Theorie und tionspädagogisches Handeln und dessen Praxis und deren Veränderung theoretisch Erforschung jenseits dieser ‚einschnap- erfassen? Welche organisationspädago- penden Reflexe‘ gelenkt. Die Tagung geht gischen Herausforderungen der Fokus- den komplexen Relationen, Ambivalenzen sierung auf das Theorie-Praxis-Verhältnis und Widersprüchen nach und lotet Chan- stellen sich aus theoretisch-systematischer cen und (bisher ungenutzte) Optionen und theoretisch-konzeptioneller Sicht?

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 111

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Welche sozial- und kulturwissenschaftli- Interesses. Praxis ist hier sowohl Aus- chen (Meta-)Theorien bieten konstruktive gangspunkt für die zu untersuchenden Anschlüsse für die organisationspädago- Forschungsfragen als auch – insbeson- gische Betrachtung des Verhältnisses von dere im Anschluss an Evaluations- und Theorie und Praxis der Organisation? konstitutiv für Beratungsprojekte – Ziel- II. Empirische Verhältnisbestimmun- punkt der Veränderung und Weiterent- gen I – Praxeologische bzw. praxisbezo- wicklung organisationaler Praxis. Dabei gene Forschung in, von bzw. zwischen werden die Forschungsergebnisse nach Organisationen: ihrem unmittelbaren Nutzen für die Pra- Praxeologische bzw. praxisbezogene xis befragt, so dass sich Forschung und Forschung in, von bzw. zwischen Orga- Praxis hierbei in besonderer Weise nahe nisationen: Praxeologische bzw. praxisbe- zu kommen scheinen. Im Rahmen dieses zogene Forschungsarbeiten zeichnen sich Schwerpunktes gibt es die Möglichkeit, durch eine Fokussierung auf organisatio- u.a. folgende Fragen zu diskutieren: Wel- nale Praktiken, die Rekonstruktion des che empirischen Ergebnisse erhellen das Verhältnisses von formaler, informaler und Verhältnis von Theorie und Praxis in Orga- ‚Schauseite‘ der Organisation aus (vgl. nisationen? Inwiefern müssen auf Basis Kühl 2011). Organisationale Praxis bzw. der Forschungsergebnisse organisations- organisationale Praktiken sind für entspre- pädagogische Annahmen überdacht bzw. chende Forschungsarbeiten der zentrale in neuem Licht interpretiert werden? Mit Bezugspunkt. Für die Organisationspäd- welchem Verständnis von Praxis bzw. agogik ist diese Verschränkung insofern Praktiken wird in Evaluations- bzw. Bera- interessant, da sowohl die Strukturen von tungsprojekten gearbeitet? Organisationen als auch die Praktiken IV. Methodologische und methodische der Akteure (Organisationsmitglieder und Verhältnisbestimmungen von Theorie und Organisationen selbst) fokussiert werden Praxis der Organisation: können. Dieser Schwerpunkt bietet den Stereotypen Annahmen zufolge agie- Raum, u.a. folgende Fragestellungen zu ren Forscher und Praktiker oft losgelöst diskutieren: Welche expliziten vs. impli- voneinander und mit differierenden Re- ziten Theorien von Praktikern lassen sich ferenzpunkten – die Wissenschaftler im rekonstruieren? Woran orientieren sich ‚Elfenbeinturm‘, die Praktiker ‚wissen- organisationale Akteure bei ihren Ent- schaftsfeindlich‘ oder ‚beratungsresistent‘ scheidungen bzw. in ihrem Handeln und ohne expliziten Bezug auf Theorie und wie lernen sie aus den Konsequenzen or- neueste Forschungsergebnisse und/oder ganisationaler Praxis? Wie werden orga- unter mangelnder Reflexion ihrer impli- nisationale Strukturen durch Praktiken (re) zit bleibenden theoretischen Annahmen. produziert bzw. modifiziert? Zudem erfordert Forschung in Organi- III. Empirische Verhältnisbestimmun- sationen eine selbstreflexive Haltung der gen II – Evaluations- und Beratungsfor- Forschenden, die normative wie politische schung als Beitrag zu Theorie und Praxis Aspekte thematisiert und nach ihren eige- von Organisationen: nen ‚Eingriffen‘ in organisationale Praxis Auch für angewandte Forschungs- fragt. Dieser Schwerpunkt bietet Raum arbeiten und Projekte der Evaluations- dafür, die wechselseitigen Erwartungen bzw. Beratungsforschung stehen Aspekte von Wissenschaft und Praxis unter me- des Verhältnisses zwischen organisationa- thodologisch-methodischen Gesichts- ler Theorie und Praxis im Mittelpunkt des punkten zu diskutieren. Leitende Fragen

112 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 können dabei sein: In welchem metho- Der Haupttagung wird im Rahmen des disch-methodologischen Verhältnis stehen 6. Forums pädagogischer Organisa- Forschung und Praxis in der Organisa- tionsforschung eine Pre-Conference mit tionspädagogik zueinander? Welche Fol- Werkstattcharakter vorangestellt, die Wis- gen hat die theoretische Konzipierung des senschaftler in der Qualifikationsphase die Gegenstandes Organisation für das For- Möglichkeit bietet, eigene Projekte und schen in Organisationen, die gewählten Vorhaben vorzustellen und zu diskutieren. Erhebungs- u. Auswertungsstrategien? Weitere Informationen: hunold@pae- Welche methodologisch-methodischen dagogik.uni-kiel.de Herausforderungen stellen sich ange- sichts des Theorie-Praxis-Problems or- ganisationspädagogischer Forschung in OPTIMIERUNG Organisationen? Wie verändert organisa- tions-pädagogische Forschung organisa- 27. DGfE-Kongress 15.-18. März tionale Praktiken? 2020 in Köln V. Forschungs-Praxis-Transfer bzw. Praxis-Forschungs-Transfer als organisa- OPTIMIERUNG gehört zu den zentralen tionspädagogische Herausforderung: Signaturen der Gegenwart, die viele ge- In letzter Zeit werden einerseits sellschaftliche Bereiche bestimmt, etwa verstärkt Erwartungen des Transfers die Entwicklung technischer Infrastruk- wissenschaftlichen Wissens in die orga- turen, die Funktionalität von Institutionen nisationale Praxis bzw. der Begleitung organisationaler ‚Verwertungsprozesse‘ oder die Verbesserung menschlicher von Forschungsergebnissen in Organi- Leistungsfähigkeit. Gleichzeitig ist OP- sationen artikuliert. Andererseits suchen TIMIERUNG in verschiedenen begriff- Organisationen Kontakt zu Forschern, lichen Spielarten zu einem bedeutsamen um sich von ihnen bei aktuellen Frage- Topos der Erziehungswissenschaft ge- stellungen wissenschaftlich begleiten zu worden, der eine Fülle theoretischer und lassen. Hier stellen sich vor allem Fra- praktisch bedeutsamer Fragen aufwirft. gen der wechselseitigen Anschlussfähig- Diese betreffen beispielsweise die Be- keit: Unter welchen Bedingungen können arbeitung individueller und kultureller Aus- diese Transferprozesse gelingen? Wo gangslagen von Bildungsprozessen, die enden Verantwortung und Mitwirkung von politischen und gesellschaftlichen Ziele Forschenden, die Verwertung ‚ihrer‘ For- pädagogischen Handelns sowie die dafür schungsergebnisse in den untersuchten eingesetzten Mittel, die Weiterentwick- Organisationen zu begleiten? Wie kann lung des Bildungssystems, die Nutzung dieser wechselseitige Transfer reflek- vorhandener Ressourcen oder die erzie- tiert bzw. professionalisiert werden? Wie hungswissenschaftliche Überprüfung pä- kann das zuweilen schwierige Verhältnis dagogischer Sachverhalte. zwischen Forschern und Praktikern ge- Pädagogische Theorien und Praktiken staltet werden und welche Konsequenzen sind in der Moderne mit unterschiedlichen hat dies für organisationspädagogische Optimierungsdiskursen und gesellschaft- Transferprozesse? lich sanktionierten Optimierungspraktiken Die Tagung findet in deutscher Spra- konfrontiert, die (wissenschaftliche) Päd- che statt, englischsprachige Beiträge sind agogen nicht unberührt lassen. Die Opti- jedoch ebenfalls herzlich willkommen. mierungsdispositive sickern gleichermaßen

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 113

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 in die Pädagogik wie in die Erziehungswis- institutionalisierter Lehr- und Lernpro- senschaft ein und setzen einen Transforma- zesse abzielt. Diese Maximierung be- tionsprozess des Pädagogischen in Gang. trifft auch die Professionalisierung der Es setzt sich die optimistische Idee einer Pädagogen selbst. Hierbei lässt sich auf individuellen und kollektiven Praktiken etwa an forschendes oder medienge- aufruhenden, im Prinzip unbegrenzten Stei- stütztes Lernen denken; gerungs- und Entwicklungsfähigkeit (von • ein erziehungswissenschaftliches Menschen, Institutionen, Gesellschaften Programm, das auf eine methodi- etc.) durch. OPTIMIERUNG ist aber nicht sche und methodologische Verbes- nur ein positiv unterfütterter Begriff, der im serung in Theorien und Begriffen, pädagogischen Denken und Handeln eta- Erhebungs- und Messmethoden bliert ist, sondern selbst Gegenstand der sowie in Auswertungsverfahren ab- Kritik. Diese weist darauf hin, dass ein ein- hebt (vgl. evidenzbasierte Forschung, seitiger Fokus auf OPTIMIERUNG Grenzen Design-based-Research); der Verbesserbarkeit und des pädagogisch • eine Darstellungs- und Bewertungs- Machbaren, ja auch die Möglichkeiten des matrix erziehungswissenschaft- Scheiterns und der Verschlechterung aus licher Folgenabschätzung und dem Blick rücken würde. Risikoforschung, die die positiven Diese wenigen Hinweise zeigen, dass wie negativen Effekte pädagogischer OPTIMIERUNG ein erziehungswissen- Maßnahmen und Entwicklungen fest- schaftliches Querschnittsthema ist, das in hält und beurteilt. Hierbei geht es um viele zentrale Problemfelder in den unter- die Haupt- und Nebenfolgen pädago- schiedlichen pädagogischen Institutionen gischer Verbesserungsmaßnahmen, und Teildisziplinen hineinreicht. die u.a. auch durch Beobachtungen Sie ist etwa zweiter Ordnung generiert werden können; • eine anthropologische Figur, wie sie • eine Leitformel für pädagogisches beispielsweise im erziehungswissen- Denken und Handeln, das an zentra- schaftlichen Begriff der Perfektibilität, len Zielen moderner bzw. spätmoder- oder, ökonomisch gewendet, in den ner Gesellschaften orientiert ist, wie pädagogischen Debatten um human z.B. Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, In- ressources und Resilienz anklingt; klusion, Selbstständigkeit, Fortschritt • eine organisationale und institutionelle etc. Praxis, die die möglichst umfangreiche und reibungsarme Nutzung verfügba- OPTIMIERUNG ist in der Erziehungs- rer Ressourcen für die Erreichung von wissenschaft ein noch nicht ausreichend Zielen bezeichnet, beispielsweise die diskutierter Topos mit einer Fülle von in- Verbesserung organisatorischer und härenten Spannungen und Problematiken, struktureller Aspekte von Arbeitsabläu- der vielfach pädagogisch unhinterfragt fen mit dem Ziel der Maximierung von und implizit mitgedacht wird. Es handelt Produktivkräften bzw. Produktivität (Ef- sich um einen häufig ungebrochen positiv fizienz und Effektivität durch neue Me- unterfütterten Begriff, der im Mainstream dien, Digitalisierung, Flexibilisierung pädagogischen Denkens und Handels des Lernens, mobiles Lernen); etabliert erscheint, der aber auch als Be- • eine pädagogisch-didaktische Stra- griff der Kritik heftige Kontroversen aus- tegie, die auf die Verbesserung oder löst. Doch ohne eine Auseinandersetzung Maximierung des messbaren Outputs mit der Idee der OPTIMIERUNG im Feld

114 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 der Bildung lässt sich eine moderne Erzie- sowie AdHoc Gruppen sind zwei Stunden hungswissenschaft wohl nicht konzipieren. vorgesehen. Für den Kongressabschluss am 18. Konzeption und Gestaltung März ist ein neues Format im Programm. In 90 Minuten sind drei Wissenschaftsper- Im Blick auf den Ablaufplan sind im Ver- sönlichkeiten aus Bezugsdisziplinen der gleich zu vorangegangenen Kongressen Erziehungswissenschaft eingeladen, ihr leichte Veränderungen vorgenommen, zu- Verständnis und ihren Blick auf das Thema gleich sind bewährte Elemente und Struktu- Optimierung zu entfalten. Zu je 30-minü- ren fortgeschrieben worden. Am Sonntag, tigen Vorträgen haben Ulrich Bröckling, den 15. März 2020, werden wie bisher Christian Doeller und Maren Lorenz zuge- Methodenworkshops angeboten, die zur Er- sagt. Wir versprechen uns hiervon einen weiterung und zum Austausch forschungs- inspirierenden Ausklang des Kongresses, methodischer Expertise einladen. Die der Diskussionsanlässe jenseits der erzie- Workshops verbinden Methodenfragen mit der Erforschung je spezifischer Gegenstän- hungswissenschaftlichen Befassung mit de. Sie sind während der Kongressanmel- dem Thema Optimierung bietet. dung über ConfTool gesondert zuzubuchen. Der DGfE Kongress 2020 an der Die Workshops sind für Doktoranden ge- Universität zu Köln sucht ferner im Hin- dacht, die am Kongress teilnehmen, ordent- blick auf Umwelt und Nachhaltigkeit neue lichen DGfE-Mitgliedern werden sie bei der Standards zu setzen. Vor diesem Hinter- Anmeldung nicht angezeigt. grund haben wir uns entschlossen, kein Ebenfalls am Sonntag findet eine Kongressprogramm zu drucken, sondern Podiumsdiskussion zum Thema „Optimier- mittels einer App sowie der Kongress- te Bildung durch Evidenzbasierung“ statt. Homepage über das Programm zu in- Das Podium ist mit Mareike Kunter, Sabine formieren. Sofern Teilnehmende auf ein Reh, Eckhard Klieme sowie Harm Kuper gedrucktes Programm nicht verzichten besetzt. Die Veranstaltung ist öffentlich möchten, sollte dies vor der Anreise ent- und stellt damit einen wichtigen Baustein sprechend vorbereitet werden. Des Wei- dazu dar, den Kongress auch für die Stadt- teren wird auch keine Kongresstasche gesellschaft Kölns zu öffnen. mit Verlagsprospekten u.ä. zur Verfügung Die feierliche Kongresseröffnung fin- gestellt. Die Verlage werden ihre Program- det am 16. März von 10-12 Uhr in der Aula me wie gewohnt auf einer zentralen Aus- der Universität zu Köln statt. Den Festvor- stellungsfläche präsentieren. Blöcke und trag wird Helga Kelle halten. Stifte liegen in begrenzter Menge bei der Als Formate bleiben Parallelvorträge, Anmeldung bereit. Symposien, Arbeitsgruppen, Forschungs- foren, AdHoc-Gruppen sowie die Poster- session erhalten, allerdings ändern sich Dr. Ulrich Salaschek die Zeiten für die Formate. Zugunsten der Kongressbüro Postersession, der nunmehr zwei Zeit- Innere Kanalstr. 15 stunden gewidmet wird, verkürzen sich Triforum die Symposien auf zweieinhalb Stunden. 50823 Köln Für Arbeitsgruppen, Forschungsforen [email protected]

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 115

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0

PR 2020, 74. Jahrgang, S. 117-120 DOI https://doi.org/10.3726/PR012020.0011

Neuerscheinungen Jaster, Romy / Lanius, David: Die Wahrheit schafft sich ab. Wie Fake News Politik machen, Ditzingen Grüner, Stefan / Raasch, Markus (Reclam) 2019. (Hrsg.): Zucht und Ordnung. Ge- walt gegen Kinder in historischer Warum gibt es Fake News? Und warum Perspektive, Berlin (Duncker-Hum- fallen viele auf sie herein? Weil der Mensch leider nicht so rational ist, wie blot) 2019. er sich selbst gern sieht. Das Phänomen ist dabei alles andere als neu. Neu ist nur Die weitgehende soziale Ablehnung und das Ausmaß, das mit der Funktionslogik die rechtliche Ächtung von Gewalt gegen der sozialen Netzwerke zu tun hat. Inhal- Kinder, wie sie etwa in der UN-Kinder- te werden vorschnell geteilt, weil man zu rechtskonvention von 1989/90 zum Aus- einer Gruppe gehören möchte oder weil druck kommt, stellen zugleich historisch sie ganz einfach zu dem passen, was wir junge, wie offenkundig immer noch fragile ohnehin schon glauben. Die Autoren des Errungenschaften moderner Gesellschaf- Bandes bieten Lösungsmöglichkeiten ten dar. So deuten die Ergebnisse einer an, wie man aus dieser Falle entkommen im Jahr 2003 veröffentlichten Studie von kann. UNICEF darauf hin, dass allein in den OECD-Ländern jährlich etwa 3500 Kin- Keil, Geert: Wenn ich mich nicht der unter 15 Jahren aufgrund von Miss- handlung oder Vernachlässigung zu Tode irre. Ein Versuch über die mensch- kommen. liche Fehlbarkeit, Ditzingen (Re- Der Sammelband geht den geschicht- clam) 2019. lichen Wurzeln und Erscheinungsformen von Gewalt gegen Kinder in systemati- Jeder Mensch irrt. Ausgenommen der schem und epochenübergreifendem An- Papst, wenn er Glaubenssätze verkün- satz für die Zeit seit der Antike nach. In det, So jedenfalls befand es das erste 15 Beiträgen thematisieren deutsche, Vatikanische Konzil. Allerdings waren die schweizerische und US-amerikanische Kardinäle, so bemerkt Keil frech, selbst Autorinnen und Autoren soziale Praxis, ja keineswegs Träger der päpstlichen Un- Rechtfertigungsstrategien und wissen- fehlbarkeit, »Woher wussten sie dann, schaftliche Deutungsmuster, aber auch dass der Papst unfehlbar ist?<< Konzepte zur Eindämmung von kindge- Die Schwierigkeit ist also: Niemand richteter Gewalt. Dabei wird deutlich, dass weiß vorher, wann und wo er sich irren sich deren Geschichte weder als quasi- wird. Das gilt auch für die Philosophie. naturhaft gegebenes intergenerationelles Geert Keils kluger Essay hilft dabei, Irrwe- Verhaltensmuster noch als Erfolgshistorie ge zu minimieren: »Man muss eine Nase modernen Kinderschutzes hinreichend er- dafür entwickeln, wann man sich verrannt fassen lässt. hat.«

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 117

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Lessau, Mathis / Zügel, Nora dem er nicht alleine war. Heine verspot- (Hrsg.): Rückkehr des Erlebnisses­ tet sie als die „wahren Peter Schlemihle" in die Geisteswissenschaften? Phi- (die bekanntlich mit dem Teufel im Bund sind) und „weiß nicht, was soll es bedeu- losophische und literaturwissen­ ten", als ihn die urdeutsche Sage von der schaftliche Perspektiven, Würzburg Lorelei „traurig" stimmt. Der Philosoph (Ergon) 2019. Kant beurteilt sie „anthropologisch" als Spezialisten fürs Herrschen und Gehor- Während der Begriff „Erlebnis" in chen und benennt ein Muster; das dann alltagssprachlichen Kontexten all- Fromm, Adorno, Horkheimer psycholo- gegenwärtig ist, hat er in der Wissen- gisch vertiefen. schaftsgeschichte eine sich wandelnde Um die „Deutsche Seele" dreht sich Konjunktur durchlebt. Die im Band ver- ein Großteil der Literatur in diesem Land. sammelten Beiträge zeichnen die Ge- Aber erst als aus Goethes Faust in den schichte des Erlebnisbegriffs mit Blick Vernichtungslagern der Nazis der Tod als auf produktions- und rezeptionsästheti- „Meister aus Deutschland" (Celan) auftritt, sche wie auch auf empirische Kontex- wird klar, welche Brisanz der,,zerrißnen" te nach und zeigen seine Nutzbarkeit Seele innewohnt. Der Ruf nach Bewusst- für heutige Debatten auf. Die einzelnen sein wurde Teil der sogenannten Aufarbei- Untersuchungen setzen sich beispiels- tung und damit die Frage: Wer oder was weise mit dem Konzept der „Erlebnis- ist die „Deutsche Seele"? Worin wurzelt lyrik" auseinander oder hinterfragen die sie? Was bedingt sie? Was macht sie Erlebnishaftigkeit des Lesens, aber auch aus? des Bergsteigens oder Forschens. Sie Dieses Buch ordnet sich nicht nur in fragen, was sich durch Literatur für das die Aufarbeitung von Geschehenem ein, Leben lernen lässt oder wie Erleben und sondern beschreibt deutsche Eigenschaf- Schreiben miteinander zusammenhän- ten, wie sie uns im Alltag der Gegenwart gen. Die Frage, wer welche Geschichte begegnen, sei es in der Erziehung, im erzählen darf, wird mitunter sogar juris- Beruf, in der Kunst, den Medien, der Frei- tisch relevant. Werke von Johann Wolf- zeit usw. Es will wissen: Gibt es ihn noch, gang v. Goethe, Wilhelm Dilthey, Walter jenen „spleen germanique", den Visconti in Benjamin und Edmund Husserl bilden Romy Schneider verkörpert sah, wie sieht für mehrere Beiträge die gemeinsamen er aus, birgt er die alte Brisanz - oder hat Ausgangspunkte. er sich gewandelt?

Oberlin, Gerhard: Ich weiß nicht, Oberlin, Gerhard:,,Nun muss sich was soll es bedeuten ... Deutsche alles; alles wenden". Perspektiven Seele. Ein Psychogramm, Würz- der Zukunft, Würzburg (Königs- burg (Königshausen & Neumann) hausen & Neumann) 2019. 2019. Erstmals in der Geschichte der Mensch- Wenn Hölderlin über ihre „gottverlaß- heit stehen wir vor Umwälzungen, die ne Unnatur" klagt und sie für „zerri- tief in die Natur des Menschen und des ßen",,,dumpf und harmonielos" hält, ist Planeten einschneiden und die, so oder das ein Befund über die Deutschen, mit so, bald alle betreffen, ob sie in Burundi,

118 Pädagogische Rundschau 1 / 2020

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Bangladesh oder im Baltikum leben. Skudlarek, Jan: Die ganze Wahr- Die Tragweite der sozioökonomischen, heit und andere Lügen. Wie wir er- technologischen, ökologischen und kennen, was echt und wirklich ist, geomorphologischen Veränderungen Ditzingen (Reclam) 2019. könnte nicht größer sein. Das Zeitalter des Anthropozän wirkt in einer Weise und in einem Maß auf das Leben des Pippi Langstrumpfs amüsante Verkehrung Einzelnen, wie das bisher mangels der der Wirkmacht menschlicher Einflüsse auf -· Welt macht heutzutage Schule - in der großen Politik, in der öffentlichen Umwelt und anthropologische Substanz Diskussion, in den sozialen Medien. Jan nicht geschehen konnte. Von welcher Skudlarek diskutiert anhand illustrierender der Umwälzungen wir auch sprechen: Beispiele die damit verbundenen Bedro- jede von ihnen macht uns klar, dass hungen und Probleme. Er liefert eine drin- unser gesellschaftliches und privates gend notwendige Orientierungshilfe und Leben sich in praktisch allen Aspekten Anleitung zum Selber-Denken, um sich grundlegend ändern wird. Ausgehend in dem Minenfeld aus Fake News, False von einer sozialpsychologischen Be- Flaggs, Verschwörungstheorien und ver- schreibung der postindustriellen Gesell- giftendem Zweifel zu behaupten. schaften, skizziert dieses Buch die sich Denn immer mehr Menschen pflegen anbahnenden Umwälzungen im Zeichen ihre eigene, private Wahrheit. Und man des demographischen Wandels, der kann zwar seine eigene Meinung haben, neuen Technologien und der medizini- aber nicht seine eigenen Fakten. schen Errungenschaften. Es zeigt An- Eine funktionierende Gemeinschaft sätze für neue Gesellschaftsmodelle, braucht den Glauben an die Möglich- die in der Lage sind, auf die Verände- keit, zusammen im Austausch Wahrheit rungen zu antworten. Und es entwickelt zu erkennen. Und, hält Skudlarek fest, ein Szenario des Jahres 2084, das uns sie braucht Zivilcourage: Die Wahrheit diese veränderte Welt anschaulich vor zu lieben bedeutet, Unwahrheiten zu Augen führt. widersprechen.

1 / 2020 Pädagogische Rundschau 119

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0

PÄDAGOGISCHE RUNDSCHAU

Begründet von Joseph Antz und Bernhard Bergmann Herausgegeben von: Volker Bank · Renate Hinz · Eckard König · Rudolf Lassahn · Andreas Nießeler Birgit Ofenbach · Sabine Seichter · Takahiro Tashiro

Schriftleiter: Prof. Dr. Rudolf Lassahn und Prof. apl Dr. Birgit Ofenbach Universität Koblenz-Landau, Fortstr. 7, 76829 Landau [email protected], www.uni-koblenz-landau.de/de/paed-rundschau/

Inhaltsverzeichnis

73. Jahrgang 2019

Anschriften der Mitarbeiter Prof. Dr. Volker Bank, Institut für Pädagogik, Reichenhainer Str.41, 09126 Chemnitz Prof. Dr. Renate Hinz, Institut für Allgemeine Didaktik und Schulpädagogik, Emil-Figge-Str.50, 44227 Dortmund Prof. Dr. Eckard König, Universität Paderborn, Neuhäuser Str.108, 33102 Paderborn Prof. Dr. Rudolf Lassahn, Fortstr.7, 76829 Landau Prof. Dr. Andreas Nießeler, Institut für Pädagogik, Wittelsbacherplatz1, 97074 Würzburg Prof. apl. Dr. Birgit Ofenbach, Institut für Bildung im Kindes- und Jugendalter, August-Croissant-Str.5, 76829 Landau Prof. Dr. Sabine Seichter, Fachbereich Erziehungswissenschaft der Paris-Lodron-Universität Salzburg Erzabt-Klotz-Straße 1, 5020 Salzburg Prof. Dr. Takahiro Tashiro, Mito-City, Kawada 1-2462-6, 311-4152 Japan

Peter Lang GmbH, Internationaler Verlag der Wissenschaften Fehlerstrasse 8, 12161 Berlin Homepage http://www.peterlang.com

Beiträge und Berichte

Heft-Nr. S.

Stine Albers: Selbst-Reflexion im Lehramtsstudium: Auslegung – Bedeutung – Umsetzung 6 603 Rolf Arnold: Erziehungswissenschaftliche Theoriebildung in der Weiterbildung ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 2 109 Ulrich Binder / Johannes Drerup: Religion und Religiosität als Stabilisator von freiheit- lichen Gesellschaftsordnungen? Eine erziehungswissenschaftliche Reflexion �������������������� 5 487 Simone Bloem: Fort- und Weiterbildung frühpädagogischer Fachkräfte in der internationa- len OECD-Fachkräftebefragung in der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung �� 2 155 Christina Buschle / Tina Friederich / Nathalie Herrmann: Professionalisierungstrends in Weiterbildungen für Kita-Fachkräfte am Beispiel der Sprachlichen Bildung ������������������������ 2 125 Johannes Drerup: Tagungsbericht: Wonder, Education and Human Flourishing ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 4 411 Christian Ebner / Sabrina Edeling / Matthias Pilz: Master statt Meister: Warum nehmen Abiturienten mit abgeschlossener Berufsausbildung ein Studium auf? ������������������������������� 4 375 Franziska Egert / Nesiré Kappauf: Wirksamkeit von Weiterbildungen für pädagogische Fachkräfte – ein schwieriges Unterfangen? ����������������������������������������������������������������������� 2 139 Regula Fankhauser / Angela Kaspar: Wenn Gesten stören: Zur Wahrnehmung und Interpretation widerständiger Gesten im Unterricht ������������������������������������������������������������ 3 241 Tina Friederich: Weiterbildung als zentrales Element einer nachhaltigen frühpä- dagogischen Professionalität? Eine professionstheoretischerwachsenenpädagogische Reflexion ��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 2 165 Valentin Halder: Die Schwierigkeit, eine Art und Weise weiterzugeben. Zum Vermittlungsbegriff bei Wittgenstein, Polanyi und Bourdieu ������������������������������������������������ 3 215 Manuela Heindl / Michael Nader: Forschendes Lernen in den naturwissenschaftlichen Fächern in der Pflichtschule gegenüber dem traditionellen Unterricht – eine Metaanalyse �� 1 19 Katharina Kärgel / Frederic Vobbe: 7 Thesen zu sexualisierter Gewalt mit digitalem Medieneinsatz gegen Kinder und Jugendliche ������������������������������������������������������������������� 4 391 Johannes König / Kristina Gerhard / Kai Kaspar / Conny Melzer: Professionelles Wissen von Lehrkräften zur Inklusion: Überlegungen zur Modellierung und Erfassung mithilfe stan- dardisierter Testinstrumente ���������������������������������������������������������������������������������������������� 1 43 Tillmann F. Kreuzer: Zur Entwicklung einer psychoanalytischpädagogischen Haltung im Lehramtsstudium �������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 6 613 Dietmar Langer: Personale Welt- und Selbstbezüge. Zum Verhältnis von Natur, Geist, Gründe und normativer Wirklichkeit und seine Bedeutung für die Pädagogik ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 4 331 Dietmar Langer: Vernünftige Selbstbestimmung und religiöser Glaube? Zur Frage, ob und wie Pädagogik und Religion einander brauchen ������������������������������������ 5 451 Dietmar Langer: Zweifel gehören zur vernünftigen Selbstbestimmung – auch zur Religion? Zur Frage, ob religiöser Glaube nur auf Dogmen beruht und ihrer Bedeutung für die Pädagogik ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 5 523 Rudolf Lassahn: Ist Bildung lehrbar? Über die Unordnung der Wissenschaft, die Grenzen der Erziehung und die Offenheit der Bildung ��������������������������������������������������������������������� 4 317 Julia Lipkina: Passung zwischen Besonderem und Allgemeinem – identitäts- und bildungs- theoretische Reflexionen zum individuellen Habitus und zum Theorem der Passung ����������� 3 225 Tanja Mayer / Thomas Koinzer: Schulwahl und Bildungsungleichheit – Ein holistisches Modell zur Erklärung von Segregation und Bildungsdisparitäten bei der Einzelschulwahl ��� 3 265 Heft-Nr. S.

Matthias Pilz / Christian Hofmeister: Lehrerbildung durch E-Learning: Eine Untersuchung zur Wahrnehmung durch Lehrkräfte ���������������������������������������������������������������������������������� 6 573 Carsten Rathgeber: Denken, Logik, Informationstechnik – Fragen an die Pädagogik ��������� 4 359 Benedikt Sanders / Klaus Zierer: Schulisches Feedback: Welche Formen von Feedback verwenden Lehrende und als wie lernwirksam schätzen Lernende diese ein? ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 6 589 Christoph Sänger: Romane mit krimineller Energie bevorzugt. Pädagogische Überlegungen in Anschluss an einen Roman des norwegischen Dichters Knut Hamsun �������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 6 629 Jos Schnurer: Aufruf zur Interkulturellen Bildung ��������������������������������������������������������������� 1 65 Jos Schnurer: Echo. Die Reziprozität menschlicher Beziehungen. Ein Essay ���������������������� 3 281 Jos Schnurer: Mensch Lehrer! Aus der Erinnerung geplaudert und sich umgeschaut. Eine Replik zum Weltlehrertag am 5.Oktober 2019 ������������������������������������������������������������������� 6 653 Friedrich Schweitzer: Mündigkeit durch religiöse Bildung? ������������������������������������������������ 5 471 Tania Stoltz / Angelika Wiehl: Das Menschenbild als Rätsel für jeden. Anthropologische Konzeptionen von Jean Piaget und Rudolf Steiner im Vergleich ������������������������������������������ 3 253 Teresa Tillmann / Sabine Weiß / Andreas Hillert / Ewald Kiel: Wie erleben Lehrkräfte ihren Arbeitsalltag? Eine empirische Überprüfung von Merkmalen des Lehrerberufs in der Wahrnehmung von Lehrerinnen und Lehrern ��������������������������������������������������������������������� 1 27 Hermann Vortmann: Konfessionelle Schulen in säkularisierter Gesellschaft: Das Beispiel der Katholischen Schulen in Hamburg ������������������������������������������������������������������������������� 5 503 Jürgen Wiechmann / Günter Becker: Liebe zu Volk und Heimat – die Erkundung einer problematischen Zielvorgabe für unser allgemeinbildendes Schulwesen ���������������������������� 1 3 Elisabeth Zwick†: Religion und Glaube, Bildung und Vernunft: Überlegungen zu ihrer Verhältnisbestimmung ������������������������������������������������������������������������������������������������������� 5 461

Buchbesprechungen

Heft-Nr. S.

Florian Bernstorff: Turner, George: Hochschulreformen. Eine unendliche Geschichte seit den 1950er Jahren ������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 1 81 Hans-Ulrich Grunder: Konrad, Franz-Michael / Knoll, Michael (Hrsg.): John Dewey als Pädagoge ������������������������������������������������������������������������������������������������ 3 294 Wolfgang Hinrichs: Wilson, W. Daniel: Der faustische Pakt. Goethe und die Goethe-Gesellschaft im Dritten Reich �������������������������������������������������������������������������� 3 287 Thomas Kesselring: Steinherr, Eva: Werte im Unterricht. Empathie, Gerechtigkeit und Toleranz leben ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 6 667 Thomas Kesselring: Schärer, Hans-Rudolf / Zutavern, Michael (Hg.): Das Professionelle Ethos von Lehrerinnen und Lehrern. Perspektiven und Anwendungen ������������������������������� 6 672 Dietmar Langer: Bieri, Peter: Wie wäre es, gebildet zu sein? �������������������������������������������� 1 75 Dietmar Langer: Halbeis, Wolfgang: Das Gewissen als pädagogisches Problem. Gewissensanregungen als Chancen und Risiken für Bildungsprozesse ����������������������������� 2 177 Dietmar Langer: Dreyfus, Hubert / Taylor, Charles: Die Wiedergewinnung des Realismus ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 4 417 Dietmar Langer: Beckermann, Ansgar: Glaube ����������������������������������������������������������������� 5 545 Hermann Vortmann: Ladenthin, Volker: Mach’s gut? Mach’s besser! Eine kleine Ethik für den Alltag ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 2 182 Hermann Vortmann: Ladenthin, Volker: Was wir wissen können, und was wir glauben müssen. Eine kleine Erkenntnistheorie für den Alltag ��������������������������������������� 2 188

Selbstanzeigen

Heft-Nr. S.

Kempka, Andreas: Die disziplinäre Identität der Erziehungswissenschaft – ein bibliometrischnetzwerkanalytischer Zugang ����������������������������������������������������������������� 4 425 Markus Deimann: Open Education – Gegenstand, Theorie und Diskurs ���������������������������� 1 88 Gutbrod, Johannes: Schule und Gemeinschaft. Eine problemhistorische Rekonstruktion ��� 3 298 Schütz, Julia: Pädagogische Berufsarbeit und soziale Anerkennung. Ergebnisse kompara- tiver Berufsgruppenforschung ������������������������������������������������������������������������������������������� 6 679 Anke Redecker: Das kritische Selbst. Bildungstheoretische Reflexionen im Anschluss an Hugo Gaudig, Marian Heitger, Käte Meyer-Drawe und Immanuel Kant ������������������������������� 2 196 Mayer, Sina Maren: Die Reformpädagogik in der aktuellen Kontroverse. Eine Metaperspektive �������������������������������������������������������������������������������������������������������� 4 429