FRIEDENSZEITUNG NR. 31 DEZEMBER 2019

3 Neu erschienen: Das Buch über den Zürcher Gartenhof 14 Der Nobelpreis 2019 für Frieden mit Eritrea 4 Wehrpflicht: Zwangsrekrutierung auf der Krim 16 Frauen, Sicherheit und Gewaltprävention 8 Nachruf Oskar Bender: Im europäischen Friedensdialog 24 Bürgerdienst: Alter Wein, neue Schläuche? 10 Vor 30 Jahren: Abschied von einer Geschlechterordnung 28 Rezensionen zu neuen Büchern

Vor einem ereignisreichen friedenspolitischen neuen Jahr Weichenstellungen im 2020

Während diese Ausgabe der FRIE- kastriert werden». So sollen etwa alle greifen. Sollte die Vorlage noch Ende Jahr DENSZEITUNG in den Druck ging, trat Zivildienstpflichtigen ein Minimum von im Bundesblatt publiziert werden, läuft das am 20. Oktober neugewählte Par- 150 Diensttagen absolvieren müssen, das Referendum ab Anfang Jahr, die Ab- lament zur Wintersession zusammen. egal, ob sie zuvor bereits Dienst in der stimmung wird im Sommer oder Herbst Hoffnungen, dass nach dem Wahler- Armee geleistet haben. Damit sollen 2020 stattfinden. folg der grünen Parteien nicht nur in insbesondere die sogenannten Abschlei- ökologischen Fragen, sondern auch cher (was für eine Wortwahl) zurückge- Kriegsgeschäfte- und Korrektur- bei friedenspolitischen Anliegen Bewe- halten werden, die bereits Armeedienst Initiative ante portas gung entsteht, sind aber, mindestens geleistet haben, bevor sie in den Zivil- Eine zweite Referendumskampagne zu Beginn der Legislatur, noch recht dienst wechseln wollen. steht ebenfalls bereits fest. Denn in der gedämpft. Denn wichtige friedenspoli- Zwar hat die ständerätliche (nicht Wintersession dürfte auch die Beschaf- tische Anliegen hat noch die alte Par- aber die nationalrätliche) Sicherheits- fung neuer Kampfflugzeuge im Betrag lamentsmehrheit zu verantworten, die kommission die achte vorgesehene von sechs Milliarden Franken beschlos- solche unisono abgelehnt hat. «Massnahme», die vom Bundesrat vor- sen werden. Auch hier steht ein breites geschlagen wird, nicht aufgenommen, die Bündnis in den Startlöchern für eine Re- / Peter Weishaupt / Einsätze von Zivildienstlern im Ausland ferendumskampagne, die Abstimmung künftig verbieten will. Doch auch wenn wird dementsprechend auch nächstes So ist es ziemlich unsicher, ob die vom die Bundesversammlung diesen Punkt Jahr stattfinden. Bundesrat und den sicherheitspoliti- weglassen und es keine weiteren Ein- Nachdem der Bundesrat am 14. Juni schen Kommissionen der Räte aufge- schränkungen geben wird, wird die Zivil- 2019 die Volksinitiative «Für ein Verbot gleiste «Revision» des Zivildienstgeset- dienst-Lobbyorganisation Civiva und mit der Finanzierung von Kriegsmaterial- zes, die im Dezember vom Nationalrat ihr ein breites Bündnis das Referen­dum produzenten» ohne einen Gegenvor- behandelt wird, von der Mehrheit der gegen die Zivildienstverschärfungen er- schlag durchs Band weg zur Ablehnung bestimmenden CVP-Frak- empfiehlt, werden abseh- tion zurückgewiesen wird. bar auch die eidgenössi- Weil angeblich die militä- schen Räte nachziehen, rischen Verbände gefähr- weshalb auch hier darüber det sind, weil der Wech- nächstes Jahr abgestimmt sel in den Zivildienst zu werden könnte. Die Initia- einfach und attraktiv sei, tive verlangt, dass jegliche sehen Regierung und Mili- Art von Finanzierung von tärlobby eine Vielzahl von Kriegsmaterialproduzen- Zulassungsverschärfun- ten durch die Schweizeri- gen zum Zivildienst vor. sche Nationalbank (SNB) Wir berichteten in Nr. 28 und Institutionen der vom März 2019 ausführ- staatlichen und berufli- lich über die bedenkliche chen Vorsorge verboten «Revision» unter dem Ti- tel «So soll der Zivildienst Fortsetzung Seite 2 Editorial Viola Amherd setzt kleine Zeichen

Die Landesregierung hat Ende November ein SCHWEIZERISCHER FRIEDENSRAT Abkommen zwischen der Schweiz und der 75 Jahre v 1945 – 2020 UNO genehmigt, das eine vertiefte Ausbil- dungszusammenarbeit im Rahmen der in- ternationalen Friedensförderung ermöglicht. Fortsetzung von Seite 2 Rückzug der Initiative infrage kommt. Bereits bisher hat die Schweiz weitreichende Dies bedeutet: Reformanstrengungen der Vereinten Natio- wird. Der Bundesrat befürchtet da, dass – Die Kriterien für Kriegsmaterialex- nen bei ihren Friedensmissionen unterstützt. der ganze Finanzplatz Schweiz infrage porte müssen mindestens auf der Stu- Da hier noch einiges Potenzial besteht, so in gestellt wird. fe eines Bundesgesetzes geregelt wer- einer verbesserten Ausbildung von Soldaten, Noch nicht ganz klar ist, ob es nächs- den, um die demokratische Basis von die in solchen Missionen eingesetzt werden, tes Jahr auch noch zu einer Ratsdebatte Waffen­exporten zu verbreitern und so- will die UNO mit gezielten Massnahmen das und Abstimmung über die sogenannte mit die Mitsprache des Parlaments zu Personal von truppenstellenden Staaten bes- Korrektur-Initiative kommt, die Waf- ermöglichen (wie es eine BDP-Motion ser auf ihre Aufgaben vorbereiten. Konkret fenlieferungen in Bürgerkriegsländer vorgesehen hatte). will sie solche Ausbildungskurse gemeinsam grundsätzlich unterbinden will. Nach- – Der Export von Kriegsmaterial an mit Staaten durchführen, die die entspre- dem Wirtschaftsminister Guy Parmelin Länder, die systematisch und schwer- chende Infrastruktur zur Verfügung stellen. den Bundesrat dazu überreden wollte, wiegend die Menschenrechte verletzen, den Vorstoss ohne Gegenvorschlag ab- ist ohne Ausnahmen zu verbieten. Mit dem Kompetenzzentrum SWISSINT in zuschmettern, stellten sich seine Kolle- – Dem Export von Kriegsmaterial an Stans verfügt die Armee über ein Trainings- gInnen mehrheitlich dagegen und ver- Bürgerkriegsländer oder an undemo- zentrum, das vollumfänglich den UNO-­ langen einen Gegenvorschlag von ihm. kratische Länder, die in (Bürger-)Kriege Anforderungen entspricht und deshalb als Die Allianz gegen Waffenexporte in oder interne oder internationale bewaff- Standort für die Ausbildung zur Verfügung Bürgerkriegsländer begrüsst dies. Für nete Konflikte verwickelt sind, muss de- gestellt werden kann. Im Gegenzug erhält die sie ist klar: Ein direkter Gegenentwurf finitiv ein Riegel geschoben werden. Armee direkten Zugang zum Know-how der oder ein indirekter Gegenvorschlag Ausserdem dürfte es nächstes Jahr UNO und den aktuellsten Ausbildungsinhal- müsste die drei Grundideen der Kor- definitiv zur Abstimmung über die Kon- ten. Ein erster Pilotkurs für Stabsoffiziere in rektur-Initiative aufnehmen, damit ein zernverantwortungsinitiative kommen, UNO-Friedensmissionen aus verschiedenen auch wenn das Hin und Her in den Räten Staaten wurde im vergangenen Februar im um sie noch nicht beendet ist. Ein Anlie- Stanser Trainingszentrum erfolgreich durch- FRIEDENSZEITUNG gen, das grosse Unterstützung in unseren geführt. Dabei ist deutlich geworden, dass Kreisen gefunden hat und wir uns stark weitere Kurse sowohl im Interesse der UNO Herausgegeben vom Schweizerischen engagieren werden. Leider ist dies auch als auch der Schweiz liegen, wie der Bundes- Friedensrat SFR, Gartenhofstr. 7, 8004 bei der SVP-Initiative «Für eine mass- rat das neue Abkommen begründet. Zürich, Telefon +41 (0)44 242 93 21, volle Zuwanderung» nötig, die von den [email protected], www.friedensrat.ch Räten in der vergangenen Herbstsession Gleichzeitig schlägt der Bundesrat mit einer PC-Konto 80-35870-1 SFR Zürich. mit allen Parteien gegen die SVP abge- Botschaft ans Parlament vor, den Einsatz Redaktion/Layout: Peter Weishaupt. lehnt worden ist. Deren Kernforderung der Armee zugunsten der multinationalen Mitarbeit: R. Friedrich, Diana Hryzyschy- ist eindeutig: Die Personenfreizügigkeit Kosovo Force (KFOR) zu verlängern und den na, Laura Huonder, Elisabeth Joris, Nadia wird verboten. Zum einen dürfte die Maximalbestand des Swisscoy-Kontingents Ben Said, Ruedi Tobler, Andreas Zumach. Schweiz mit anderen Ländern keine Zu- ab April 2021 von 165 auf 195 Militärange- Korrektur: Liliane Studer. wanderungsregime mehr vereinbaren, hörige zu erhöhen. Das bisherige Mandat in Bilder: Seite 4/5: Kichka; Seite 6: die den freien Personenverkehr vorsehen. Kosovo ist vom Parlament, das solche Ein- Connection; Seite 7/8: Handicap; Seite Zum anderen würde die Annahme der sätze, die länger als drei Wochen dauern und 9: zVg; Seite 10/11: SFR, Tabellen 12/13: Initiative das Ende des bestehenden Frei- TA-Grafik; Seite15: Niklas Elmehed; Sei- mehr als 100 Armeeangehörige umfassen, zügigkeitsabkommens mit den EU-Staa- genehmigen muss, letztmals bis Ende dieses ten 17-19 und 32: Street Art by Swoon; Seite 23: Bildarchiv Familie Ragaz; Seiten ten bedeuten. Die Abstimmung dürfte im Jahres bewilligt worden. Der Bundesrat be- 26/27: SFR; Seiten 28/29: Roter Hunger. Sommer oder Herbst 2020 erfolgen. gründet die Verlängerung des Kosovo-Ein- Druck: gdz AG, Zürich Ein reichlich mit wichtigen Referen- satzes und die Aufstockung des Personals den, Abstimmungen und Volksinitia- Auflage: 2000 Ex., Dezember 2019 damit, dass sich in den letzten Jahren das tiven befrachtetes Jahr 2020 steht also FRIEDENSZEITUNG Verhältnis zwischen Belgrad und Pristina Die erscheint vor uns. Wir wünschen allen Leserinnen verschlechtert statt verbessert habe, was zu vierteljährlich jeweils im März, Juni, und Lesern einen guten Rutsch. September und Dezember. Sie geht an erneuten Spannungen und beidseitig provo- Und last but not least: Der Schweize- zierten Zwischenfällen führte. die Mitglieder des SFR, der Abopreis ist im Mitgliederbeitrag inbegriffen. Einzel­ rische Friedensrat wird nächstes Jahr 75 abo: Fr. 50.–. ISSN 1664-4492 Jahre alt – er wurde im Dezember 1945 VBS-Chefin Viola Amherd setzt damit positi- aus der Taufe gehoben. ve Zeichen, das internationale Engagement im Rahmen der kollektiven statt ausschliess- PERFORMANCE lich nationalen Sicherheitspolitik nicht zu Korrigendum: Der Beitrag über Radio Hirondelle neutral in Myanmar («Journalismus in Myanmar») in der vernachlässigen. Drucksache letzten Ausgabe stammt von Nicolas Boissez. Eva No. 01-19-795947 – www.myclimate.org Peter Weishaupt © myclimate – The Climate Protection Partnership M. Holl-Boelsterli hat ihn lediglich übersetzt.

FRIEDENSZEITUNG 31-19 2 Soeben erschienen: Friedenszentrum, Treffpunkt für Frauen und Flüchtlinge

1938: Ganz Zürich bleibt nachts verdunkelt,

Ruedi Brassel, Ruedi Epple, Peter Weishaupt um Fliegerbomben kein Ziel zu liefern. Eine Haus Gartenhof Luftschutzübung des Militärs bereitet auf in Zürich den Krieg in Europa vor. Nur ein Haus im Raum für vernetzte Friedensarbeit Arbeiterquartier Zürichs sticht aus der Dun- kelheit heraus. Die Liegenschaft des religiös- soialen Theologen und seiner Frau Clara bleibt hell beleuchtet – aus Protest gegen die passive Einstimmung auf den Krieg. Der Zürcher Gartenhof bildete von den Zwi- Haus Gartenhof in Zürich schenkriegs- bis in die Nachkriegsjahre das Zentrum schweizerischer Friedensaktivitäten.

Das Haus an der Gartenhofstrasse 7 in Zürich-Aussersihl war ein Knotenpunkt in einem dichten Netzwerk sozialer Bewegungen mit lokaler, regionaler und internatio- Ruedi Brassel naler Ausstrahlung. Der Gartenhof war einerseits Teil der internationalen Historiker. Leiter Sekretariat Settlement bewegung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch die Schweiz Ina Boesch SP Baselland. Kulturwissenschaftlerin, erreichte. Durch Sozial-, Bildungs- und Nachbarschaftsarbeit sollte die Lage Publizistin und KuratorinRuedi Epple der arbeitenden Bevölkerung verbessert werden. Andererseits entwickelte Historiker. Bis 2017 Lektor am StudienbereichRuedi Brassel Soziologie, Sozial­ sich der Gartenhof nach dem Ersten Weltkrieg zu einem radikalpazifistischen Historiker, Autor, Leiter politik und Sozialarbeit an der Zentrum. Prägend wirkte Clara Ragaz-Nadig, die im Frühjahr 1919 zusam- SP-Sekretariat Baselland Universität Freiburg i. Ü. men mit der späteren amerikanischen Nobelpreisträgerin eine Ruedi Epple Sozialwissenschaftler,Peter Weishaupt grosse Frauenfriedenskonferenz auf neutralem Boden in Zürich organisierte. Journalist.Historiker, Langjähriger Lektor Geschäfts­ Schliesslich dokumentieren die Autoren die Fluchthilfe der Auskunftsstelle leiter des Schweizerischen Friedens­ Peter Weishaupt für Flüchtlinge in den Jahren vor und während des Zweiten Weltkriegs, die rates undGeschäftsleiter verantwortlicher SFR, Redaktor Redaktorder Friedenszeitung «Friedenszeitung». ebenfalls vom Gartenhof aus tätig war.

Rezension, Reminiszenzen, Buchvernissage u.a. auf den Seiten 20–23 und 27 November 2019 Ina Boesch, Ruedi Brassel, Ruedi Epple, Peter Ab sofort für 38 Franken erhältlich Weishaupt: Haus Gartenhof in Zürich. Raum für vernetzte Friedensarbeit. Chronos Verlag, im Buchhandel, beim Chronos-Verlag Zürich 2019. Gebunden, 192 Seiten, zahlreiche Abbildungen s/w., Fr. 38.–. oder beim Friedensrat, [email protected]

3 November 2019 Ruedi Brassel, Ruedi Epple, Peter Weishaupt FRIEDENSZEITUNG 31-19 Gebunden. ca. 240 Seiten, ca. 40 Abbildungen s/w. Haus Gartenhof in Zürich ca. CHF 38 / ca. EUR 38 Raum für vernetzte Friedensarbeit ISBNISBN 978-3-0340-1552-3 978­3­0340­1552­3 Herausgegeben vom Schweizerischen Friedensrat, mit einer Einleitung von Ina Boesch

9 783034 015523

12 Wehrpflicht durch Russland verletzt internationales Recht Zwangsrekrutierung auf der Krim

Die Krim, eine Halbinsel im nördlichen Behörden dort nach Angaben des russi- Die UNO-Mission zur Menschen- Schwarzen Meer, war 1954 der Ukraini- schen Verteidigungsministeriums zwi- rechtsbeobachtung in der Ukraine hat schen Sowjetischen Sowjetrepublik an- schen 18’000 und 18’900 Männer einbe- wiederholt die rechtswidrige Wehr- gegliedert worden und verblieb nach rufen. Mindestens 3300 Männer wurden pflicht durch die russischen Behörden Auflösung der UdSSR als Autonome Re- während der Einberufungskampagne im auf der Krim verurteilt. Die Mission er- publik Krim innerhalb des ukrainischen Frühjahr 2019 einberufen. Dies ist ein klärte, dass Zwangsrekrutierungen auch Staates. 2014 wurde die mehrheitlich deutlicher Anstieg im Vergleich zu der «die Wahrnehmung der Menschenrech- von russischer Bevölkerung bewohn- ersten Kampagne 2015, als 500 Männer te potenzieller Wehrpflichtiger beein- te Krim im Verlauf der Krimkrise nach einberufen wurden. Für Herbst 2019 pla- trächtigen, weil sie deren Freizügigkeit einer Volksabstimmung gegen den nen die russischen Behörden insgesamt und den Zugang zu Ausbildung und Willen der Ukraine von Russland über- 135’000 Männer einzuberufen, unter ih- Beruf einschränken». Die ukrainische nommen. Seitdem ist die völkerrecht- nen 2600 aus der Krim. Regierung hat wiederholt gegen die von liche Zugehörigkeit der Halbinsel um- Nach dem russischen Gesetz kann Russland ausgeübte Wehrpflicht auf stritten. Nach internationalem Recht Militärdienstentziehung mit einer Geld- der Krim protestiert. In ihren 2014 und gilt die Krim als besetzt. Russland sieht strafe oder mit bis zu zwei Jahren Gefäng- 2016 verabschiedeten Resolutionen be- die Halbinsel aber als Teil des eigenen nis bestraft werden. Mit Änderungen des kräftigte die UN-Generalversammlung Staatsgebietes an und versucht, die Wehrpflicht- und Militärdienstgesetzes ihr Bekenntnis zur «Souveränität, po- Wehrpflicht durchzusetzen. im September 2019 wurden neue Ver- litischen Unabhängigkeit, Einheit und pflichtungen für wehrpflichtige Männer territorialen Integrität der Ukraine in- / Human Rights Watch / eingeführt. Sie müssen sich nun nicht nur nerhalb ihrer international anerkannten an ihrer Wohnadresse melden, sondern Grenzen» und forderte Russland auf, Russische Behörden unterwerfen Männer auch an ihrem Arbeits- oder Studien­ort. seine völkerrechtlichen Verpflichtungen auf der besetzten Krim der Wehrpflicht, Männer, die dieser Verpflichtung nicht als Besatzungsmacht einzuhalten. um sie in die Streitkräfte Russlands ein- nachkommen, riskieren Schwierigkeiten zuberufen, hält die Menschenrechtsorga- bei der Suche nach einer Arbeitsstelle. Umfangreiche Abklärungen von HRW nisation Human Rights Watch (HRW) in Einwohner der Krim wie auch Bürger Die Staatsanwaltschaft der Krim, eine einem aktuellen Report fest. Internatio- Russlands haben nur die Wahl zwischen ukrainische Regierungsbehörde mit Sitz nales humanitäres Recht untersagt Russ- Einberufung oder dem realen Risiko ei- in Kiew, teilte Human Rights Watch mit, land jedoch ausdrücklich, die Männer ner strafrechtlichen Verfolgung. dass sie regelmässig Daten über Zwangs- der Krim zum Militärdienst zu zwingen. Seit 2016 entsendet das russische Mi- rekrutierungen auf der Krim sammle. Sie Die Behörden sind gegen Personen, die litär Wehrpflichtige aus der Krim an an- nimmt diese Informationen in ihre Berich- sich der Einberufung verweigern, straf- dere Militärstützpunkte der Russischen te an den Internationalen Strafgerichtshof rechtlich vorgegangen. Die Zahl der be- Föderation. So wurden zum Beispiel 85 auf. Obwohl die Ukraine kein Mitglied straften Männer ist im Laufe der Jahre Prozent der im Frühjahr 2019 einbe- des Strafgerichtshofes ist, hat sie die Zu- gestiegen. Russland sollte diese Praktiken rufenen Männer in solche Stützpunkte ständigkeit des Gerichts für mutmassliche unverzüglich einstellen, alle auf der Krim entsandt. Die Behörden haben auch eine Straftaten in ihrem Hoheitsgebiet seit No- lebenden Personen, die zum Dienst in die umfangreiche Werbekampagne zur Ein- vember 2013 anerkannt. Derzeit wird von russischen Streitkräfte gezwungen wur- berufung in Sewastopol, Simferopol und der Staatsanwaltschaft des Strafgerichts- den, freilassen und seinen Verpflichtun- anderen Städten der Krim durchgeführt. hofes geprüft, ob eine Untersuchung der gen als Besatzungsmacht nachkommen. Zudem wurde für Schulen Militärpropa- während des bewaff- ganda zur Verfügung gestellt. neten Konfliktes be- Bis zu zwei Jahre Haft für gangenen Übergriffe Militärverweigerung Schwerwiegender Verstoss gegen in Betracht gezogen Human Rights Watch überprüfte Dut- die vierte Genfer Konvention wird. zende Urteile von Gerichten auf der Nach der Vierten Genfer Konvention, die Human Rights Krim zu Militärdienstentziehung. Zwi- Russland ratifiziert hat, darf eine Besat- Watch erinnert da­ schen 2017 und 2019 gab es 71 Fälle, 63 zungsmacht die Einwohner des besetzten ran, dass Russland von ihnen endeten mit einer Verurtei- Gebietes nicht zum Dienst in den bewaff- nach internationa­ lung. Die wahre Zahl ist wahrscheinlich neten oder in unterstützenden Kräften lem Recht seit höher, da nicht alle Fälle und Urteile öf- zwingen. Es verbietet auch ausdrücklich min­destens Ende fentlich gemacht wurden. In den meisten jeglichen «Druck oder Propaganda, die Fe­bruar 2014 Besat- Fällen wurden die Angeklagten zu Geld- auf eine freiwillige Einberufung zielt». zungsmacht auf der strafen zwischen 5000 und 60’000 Rubel Diese Verbote gelten unbeschränkt. Ihre Krim ist, und be- (70 bis 900 €) verurteilt. Seit der Beset- Verletzung stellt einen schwerwiegenden wertet die Massnah- zung der Krim durch Russland haben die Verstoss gegen die Konvention dar. men Russlands nach

FRIEDENSZEITUNG 31-19 4 internationalem humanitären Recht in Kaserne einfanden. In den meisten Urtei- alle Verurteilungen öffentlich gemacht Bezug auf eine Besatzung. Um Fälle von len forderten die Gerichte, dass die Wehr- wurden. Sedov sagte auch, dass die Zahl strafrechtlicher Verfolgung wegen Mili- pflichtakten des Angeklagten wieder der der Verurteilungen wegen Militärdienst­ tärdienstentziehung auf der Krim zu prü- lokalen Einberufungsbehörde überstellt entziehung seit 2015 stetig angestiegen fen, sah Human Rights Watch verschie- werden, offensichtlich um eine erneute sei. Bei jeder Einberufungskampagne dene online vorhandene Register von Einberufung durchzuführen. habe sich die Zahl um 20 bis 30 Verur- russischen Gerichten ein, die auch Urteile Am 12. September 2019 befasste teilungen erhöht. Die UN-Mission zur der Gerichte auf der Krim enthalten. sich zum Beispiel das Stadtgericht Su- Beobachtung der Menschenrechte auf Human Rights Watch überprüfte dak mit dem Fall eines Verkaufsleiters, der Krim fand 29 Verurteilungen gegen auch Urteile, die auf Webseiten einzel- der wegen Militärdienstentziehung an- Bürger der Krim wegen Militärdienstent- ner Gerichte auf der Krim verfügbar geklagt war, weil er sich trotz offizieller ziehungen von 2017 bis 2019. sind. Diese Daten erheben keinen An- Vorladung wiederholt nicht zur Muste- spruch auf Vollständigkeit, da nicht alle rung eingefunden hatte. Der Angeklagte Zweifelhafter alternativer Dienst Gerichtsverfahren und Entscheidungen bekannte sich schuldig und wurde zu Das russische Recht sieht einen alter- online veröffentlicht werden. Human einer Strafe von 20’000 Rubel (282 €) nativen Dienst für Personen vor, die aus Rights Watch sprach auch mit Experten verurteilt. Gewissensgründen die Ableistung des von nichtstaatlichen Organisationen wie Militärdienstes verweigern. In der Pra- der Menschenrechtsgruppe Krim, die «Kriminelle Handlungen» xis kann es in Russland jedoch schwierig die Wehrpflicht und andere Menschen- Im September 2017 verurteilte ein Ge- sein, die Genehmigung zur Ableistung rechtsverletzungen auf der Krim beob- richt in Evpatoria den Manager einer eines alternativen Dienstes zu erhalten. achten. Zudem traf sich Human Rights lokalen Firma wegen Militärdienstent- Sergey Krivenko, Vorstandsmitglied des Watch mit VertreterInnen der Staatsan- ziehung zu einer Geldstrafe von 20’000 Zen­trums für Menschenrechte Memo- waltschaft Krim in Kiew. Rubel, weil er nach einer Vorladung rial und Vorsitzender der Menschen- nicht bei der Rekrutierungskommissi- rechtsgruppe Bürger und Armee, berich- Strafen für Militärdienstentziehung on erschienen war. In der Gerichtsver- tete Human Rights Watch: Russland führt zweimal im Jahr, im Früh- handlung erklärte der Mann, ihm sei es «In Russland sind Gesetz und Um- jahr und im Herbst, Einberufungskampa- nicht möglich gewesen, zu erscheinen, setzung zwei sehr verschiedene Dinge. gnen durch. Seit der Besetzung der Krim da er sich von einer Genitaloperation Gesetzlich ist es nicht erforderlich, Be- im Jahr 2014 gab es dort neun solcher erholt habe. Die Operation fand angeb- weise vorzulegen. Es ist nur notwendig, Kampagnen. Am 1. Oktober 2019 begann lich nach seiner Musterung statt, in der deine Überzeugung bekannt zu geben die zehnte, die bis zum 31. Dezember er für tauglich befunden wurde, aber vor und gegenüber der Wehrpflichtkom- 2019 fortgeführt wird. Die Wehrpflicht dem Termin bei der Kommission. mission zu erklären, warum diese Über- gilt für Männer im Alter zwischen 18 und Das Gericht verurteilte ihn und er- zeugung im Widerspruch zum Militär- 27 Jahren, die die russische Staatsbürger- klärte, dass er zur Ableistung des Diens- dienst stehen. Es geht um jede beliebige schaft angenommen und noch keinen tes verpflichtet sei, da er während der Überzeugung, sei sie nun pazifistisch, Militärdienst in einem anderen Land ab- Musterung keine Beschwerde einge- politisch, religiös. Leider machen die geleistet haben. Nach russischem Recht reicht habe. Die Untersuchung und Be- Kommissionsmitglieder in der Praxis wird die Militärdienstentziehung nach handlung, der er sich unterzogen hatte, sehr oft die Anhörung zu einer Ge- Artikel 21 Abs. 5 bis 7 des Ordnungswid- hätten in einer privaten Klinik und nicht richtsverhandlung, beschämen den An- rigkeitengesetzes und nach Art. 328 des in einem staatlichen Krankenhaus statt- tragsteller oder beschuldigen ihn, sein Strafgesetzbuches verfolgt. Als Straftat gefunden. Er habe auch der Kommission Mutterland nicht genug zu lieben usw.» ist die Militärdienstentziehung mit einer keine medizinischen Unterlagen über Da Russland seine Verpflichtungen Geldstrafe oder bis zu zwei Jahren Haft seine Operation vorgelegt. Bezüglich als Besatzungsmacht durch die Wehr- belegt. Personen, die ihre Strafe wegen des Versäumnisses, bei der Kommission pflicht für Männer auf der Krim verletzt, Militärdienstentziehung verbüsst haben, zu erscheinen, behauptete das Gericht, sollten die Einwohner der Halbinsel, die sind weiter zum Dienst in den bewaff- dass er «sich vollständig der öffentlichen keinen Dienst in den russischen bewaff- neten Streitkräften Gefahr seiner kriminellen Handlung be- neten Streitkräften leisten wollen, auch verpflichtet. wusst gewesen ist und voraussah, dass nicht dazu gezwungen sein, einen An- Die meisten Ur- (seine Handlungen) zwangsläufig ge- trag auf Ableistung eines alternativen teile wegen Militär- fährliche soziale Konsequenzen in Form Dienstes zu stellen oder diesen Dienst dienstentziehung­ einer Militärdienstentziehung zur Folge abzuleisten. besagten, dass die haben werde». Angeklagten in «kri- Die Menschenrechtsgruppe Krim Vorgehen gegen Krimtataren mineller Absicht zur berichtete Human Rights Watch, dass Nach Angaben eines weiteren Experten Vermeidung des Mi- sie zwischen 2015 und dem 8. Oktober der Menschenrechtsgruppe Krim be- litärdienstes» gehan- 2019 insgesamt 76 Verurteilungen do- steht Russland darauf, dass Bewohner der delt hätten, indem kumentiert habe. Sie habe Kenntnis von Krim, die den Militärdienst aus religiösen sie entweder nicht weiteren zwei Fällen, die vor Gerichten Gründen ablehnen und einen Antrag auf zur Musterung er- auf der Krim anhängig sind. Der Experte Ableistung eines alternativen Dienstes schienen seien oder der Gruppe, Olexander Sedov, bestätigte, stellen, aufgefordert werden, Dokumente sich zum Beginn des dass die tatsächliche Zahl der Fälle und Dienstes nicht in der Urteile wahrscheinlich höher sei, da nicht Fortsetzung Seite 6

5 FRIEDENSZEITUNG 31-19 Fortsetzung von Seite 5 schüchtert, weil sie die russische Staats- wie russischen. So dürfen zum Beispiel bürgerschaft nicht annahmen. Unter nur InhaberInnen­ eines russischen Passes ihrer religiösen Gemeinschaft vorzule- diesen Umständen war die Auferlegung Arbeitsstellen bei Regierung oder lokalen gen, die beweisen, dass ihre Überzeu- der russischen Staatsbürgerschaft auf der Behörden ausüben. Voraussetzung für die gung in Widerspruch zur Ableistung des Krim eine Zwangsmassnahme. Mehr als Krankenversicherung ist ein russischer Militärdienstes steht. fünf Jahre später hat die Mehrheit der Pass oder eine unbefristete Aufenthalts- Bewohner der Krim sehen sich auch BewohnerInnen der Krim einen russi- erlaubnis. BewohnerInnen der Krim, die anderen Schwierigkeiten bei der Ableis- schen Pass. Während viele diesen wirk- sich dazu entschieden, ihre ukrainische tung eines alternativen Dienstes gegen- lich haben wollten, akzeptierten andere Staatsbürgerschaft nicht aufzugeben, wer- über. Im Oktober 2018 befand beispiels- die russische Staatsbürgerschaft nur aus den diskriminiert und gelten als auslän- weise das Bezirksgericht Nizgnegorsky der Zwangslage heraus, weil sie sonst kei- dische MigrantInnen ohne garantiertes einen Krimtataren für schuldig, sich dem ne medizinische Versorgung bekommen Bleiberecht auf der Krim. alternativen Dienst entzogen zu haben, konnten oder Schwierigkeiten bei der Human Rights Watch: Crimea – Conscription Viola- und verurteilte ihn zu 240 Stunden ge- Jobsuche hatten. tes International Law, 1. November 2019. Überset- meinnütziger Arbeit. Der Mann legte Be- Ukrainischen StaatsbürgerInnen wer- zung: Rudi Friedrich. Aus: Rundbrief KDV im Krieg, rufung gegen die Entscheidung ein und den nicht die gleichen Rechte zugestanden Nr. 5/2019, Hrsg. von Connection, D-Offenbach. machte geltend, dass er den Dienstort des alternativen Dienstes aufgrund der dort vorherrschenden extrem schlech- ten Lebensbedingungen verlassen habe. Nach russischem Recht sind die lokalen Behörden, die Alternativdienstleistende beschäftigen, dazu verpflichtet, Unter- kunft zur Verfügung zu stellen sowie die alltäglichen Bedürfnisse zu befriedigen. Im November 2018 bestätigte das Beru- fungsgericht das Urteil.

Russischer Staatsbürgerschaftszwang Die russischen Behörden berufen auf der Krim Personen ein, die die russi- sche Staatsbürgerschaft angenommen Ukrainische Pazifisten protestierten gegen Wehrpflicht-Grausamkeiten haben. Nach der Besatzung 2015 hat die russische Regierung rasch Massnahmen Am 9. August 2019 versammelten sich menschlichen Behandlungen und des ergriffen, um den BewohnerInnen der Friedensaktivisten vor dem Werchowna Machtmissbrauchs während der soge- Krim die russische Staatsbürgerschaft Rada (Parlament) und dem Präsidialamt nannten Jagd nach Wehrpflichtigen ein- und Pässe zu geben. Nach dem Gesetz in Kiew und forderten, die grausame Jagd zuleiten. über die Aufnahme der Republik Krim in nach Wehrpflichtigen einzustellen. Sie Nach Ankündigung der Friedensakti- die Russische Föderation vom März 2014 trugen eine Flagge mit einem Friedens- on wurde die Seite der ukrainischen pa- verlangte Russland von allen ständigen zeichen, Transparente der ukrainischen zifistischen Bewegung auf Facebook von BewohnerInnen der Krim, die die uk- pazifistischen Bewegung und Porträts pro-militärischen Hassern massiv ange- rainische Staatsbürgerschaft hatten und von Yehor Potamanov, einem jungen griffen. Die Kundgebung wurde jedoch diese beibehalten wollten, diese Absicht Mann, der zuvor auf der Strasse in Char- ohne Zwischenfälle abgehalten. Im nahe- in einem Verfahren zu erklären. Russland kow entführt worden war und einen Hun- gelegenen Präsidentenbüro in der Banko- hat den BewohnerInnen der Krim nicht gerstreik begonnen hatte. Laut Dmytro vastrasse übergaben DemonstrantInnen­ einfach (zusätzlich) die russische Staats- Tyshchenko, dem Bruder von Yehor, der eine Petition, mit der sie die Abschaffung bürgerschaft angeboten, sondern sie ge- ebenfalls an der Aktion teilnahm, wurden der Wehrpflicht und die Einstellung der nötigt, sich zwischen der ukrainischen in diesem Sommer Hunderte von Wehr- grausamen Jagd nach Wehrpflichtigen und der russischen Staatsbürgerschaft zu pflichtigen auf die gleiche Weise auf den forderten. Ähnliche Online-Petitionen er- entscheiden. Jene, die sich für die Beibe- Stras­sen von Charkow entführt. Drei von hielten Tausende von Unterschriften, da haltung der ukrainischen Staatsbürger- ihnen schnitten sich die Adern auf, einer die Wehrpflicht ein veraltetes und gefähr- schaft entschieden, sahen sich direkten erhängte sich in dem verzweifelten Ver- liches Erbe der Weltkriege sei, erklärte und indirekten nachteiligen Konsequen- such, wegen psychischer Störungen von Yurii Sheliazhenko, Geschäftsführer der zen ausgesetzt. Darüber hinaus gab es in der Wehrpflicht befreit zu werden. ukrainischen pazifistischen Bewegung. dem Verfahren für die Beibehaltung der Anträge entführter Wehrpflichtiger, Das Ukrainian Pacifist Movement ist eine ukrainischen Staatsbürgerschaft ernst- ihre Verwandten zu treffen, wurden ab- nichtstaatliche, gemeinnützige, unpartei- hafte Mängel. gelehnt, da die Behörden versuchten, ische Organisation, die 2019 gegründet Einigen ukrainischen Staatsbürgern beim gewaltsamen Transport zum Mili- wurde und das Recht auf Frieden, Abrüs- war es nicht möglich, ihre Staatsbürger- tärkommissariat entstandene Blutergüs- tung, Abschaffung der Wehrpflicht, ge- schaft beizubehalten. Ihnen wurde die se und Verletzungen zu verheimlichen. waltfreie Beilegung von Konflikten und russische Staatsbürgerschaft auferlegt. Die Polizei versäumte es, strafrechtliche demokratische zivile Kontrolle über mili- Andere wurden schikaniert und einge- Untersuchungen der Entführungen, un- tärische Angelegenheiten fördert.

FRIEDENSZEITUNG 31-19 6 Der Landminen-Monitor 2019: Das vierte Jahr in Folge vermeldet besonders hohe Opferzahlen Alarmierender Rückschritt

Vom 25. bis 29. November 2019 trafen Zahlreiche Opfer wurden nicht erfasst, Obwohl sie hauptsächlich von nicht- sich die Vertragsstaaten zur Landmi- da es in einigen Gegenden Schwierigkei- staatlichen bewaffneten Gruppen ein- nen-Konferenz in Oslo, um die Fort- ten gab, die Daten zu ermitteln. gesetzt werden, fallen improvisierte schritte beim weltweiten Verbot der Antipersonenminen in den Geltungsbe- besonders grausamen Waffen zu dis- Alarmierender Anstieg reich des Ottawa-Vertrages mit seinen kutieren. Der im Vorfeld der Tagung Im Jahr 2018 wurden die meisten neuen Verboten und Stigmatisierungen unter- am 21. November veröffentlichte Opfer von (fabrikgefertigten oder selbst- schiedslos wirkender Waffen. Ein Dialog Landminen-Monitor 2019 weist darauf gebauten) Antipersonenminen und mit einigen nichtstaatlichen bewaffne- hin, dass trotz dem totalen Verbot seit explosiven Kriegsresten in folgenden ten Gruppen, der sie überzeugen soll, Inkrafttreten des Ottawa-Vertrages Ländern registriert: Afghanistan (2234), auf solche Waffen zu verzichten, kann am 1. März 1999 (siehe Kasten) Minen Myanmar (430), Syrien (1465), Ukraine ebenso möglich sein wie ihr Beitritt zum nach wie vor jährlich Tausende von To- (325) und Jemen (596). Weltweit wurden Vertrag. Die Minenräumung ist eine desopfern und ein Vielfaches an Ver- in fünfzig Staaten und Gebieten Minen- Verpflichtung aus dem Ottawa-Vertrag letzten und Verstümmelten fordern. opfer registriert. Der Landminen-Moni- und bietet die Chance, bewaffneten tor bestätigte den erneuten Einsatz von Gruppen den Zugang zu Waffen und / Nadia Ben Said / Antipersonenminen durch Regierungs- Munition zu versperren, da sie viele kräfte in Myanmar zwischen Oktober improvisierte Minen aus entsorgten Der Bericht des Landminen-Monitors 2018 und Oktober 2019. Auch nicht- Sprengstoffen oder Überresten herstel- 2019 zeigt, dass die Zahl der neuen Op- staatliche Gruppen setzten in mindes- len. Da die Zahl der Opfer in den letzten fer von fabrikgefertigten oder selbstge- tens sechs Ländern Antipersonenminen, Jahren erheblich zugenommen hat, for- bauten Antipersonenminen und explo- einschliesslich selbstgebauter Minen, dert Handicap International die Staaten siven Kriegsresten im vierten Jahr in ein: in Afghanistan, Indien, Myanmar, auf, ihre Anstrengungen zu verstärken, Folge hoch bleibt (6897 im Jahr 2018, Nigeria, Pakistan und im Jemen. um den Opfern jetzt und in Zukunft 7253 im Jahr 2017, 9439 im Jahr 2016 «Der Ottawa-Vertrag ist vor 20 Jah- Hilfe zu leisten. Handicap International und 6971 im Jahr 2015). Die Anzahl der ren in Kraft getreten und hat dazu ge- ruft die Staaten zudem auf, Programme Opfer hat sich zwischen 2014 und 2018 führt, dass der Einsatz von Landminen zur Aufklärung über Minengefahren, nahezu verdoppelt (6897 neue Opfer im und die Anzahl der Opfer stark zurück- zur Minenräumung und zur Unterstüt- Jahr 2018 gegenüber 3998 im Jahr 2014). gegangen sind. Aber in den letzten Jah- zung der Opfer zu fördern. Diese sind Die meisten Menschen, die durch An- ren erleben wir einen alarmierenden für die betroffenen Länder und Gebiete tipersonenminen getötet oder verletzt Anstieg bei der Verwendung von Mi- absolut notwendig. werden, stammen aus der Zivilbevöl- nen, was zu einer nicht hinnehmbaren Nadia Ben Said ist Medienverantwortliche bei kerung: 71 Prozent der Opfer 2018 wa- Opferzahl geführt hat. Unsere Arbeit Handicap International Schweiz. Siehe auch FRIE- DENSZEITUNG Nr. 28 vom März 2019 zum Stand ren Zivilisten, davon 54 Prozent Kinder. gegen Landminen ist noch nicht been- der Antiminenkampagne. det. Wir müssen die Anwendung des Ottawa-Vertrags verteidigen, uns für die Der Vertrag von Ottawa 1997 Unterstützung der Opfer einsetzen und Der Ottawa-Vertrag verbietet den uns angesichts improvisierter Landmi- Erwerb, die Herstellung, die Lage- nen neuen Herausforderungen stellen», rung und den Einsatz von Antiper- erklärt Anne Hery, Direktorin Advocacy sonenminen. Der Vertrag wurde am bei Handicap International. 3. Dezember 1997 zur Unterzeich- nung freigegeben. Er ist am 1. März Improvisierte Minen: Neue Heraus- 1999 in Kraft getreten. Insgesamt forderung für die Minenräumung 163 Staaten haben ihn bis heute un- In diesem Jahr verzeichnete der Land- terzeichnet, davon haben ihn 162 minen-Monitor auch die höchste An- Staaten ratifiziert. Der Bericht des zahl von Opfern selbstgebauter Minen Landminen-Monitors 2019 erfasst seit der Veröffentlichung seines ersten die Wirkung des Ottawa-Vertrags Jahresberichts im Jahr 2000: 3789 Men- im Jahr 2018, der den Einsatz, die schen wurden 2018 durch solche Minen Herstellung, den Handel und die getötet oder verletzt. Das entspricht 54 Lagerung von Antipersonenminen Prozent der vom Monitor insgesamt er- verbietet. Die Erhebungen erstre- fassten neuen Opfer (6897). Im Jahr 2018 cken sich zum Teil bis November wurden in 18 Staaten Opfer aus selbst- 2019, soweit Daten verfügbar waren. gebauten Minen gezählt, hauptsächlich in Afghanistan (1586) und Syrien (1076).

7 FRIEDENSZEITUNG 31-19 Nachruf auf Oskar Bender Im europäischen Friedensdialog

Am 6. November 2019 ist Oskar Bender aus der Konfrontation zu lösen, Entspan- Hubacher zu verdanken. Als Sekretär nach langer Krankheit im Alter von 76 nung zwischen den Vereinigten Staaten des Basler Gewerkschaftsbundes hatte Jahren in Basel gestorben. Er hat sich und der Sowjetunion durchzusetzen er sich schon im Frühjahr dafür enga- mehr als vier Jahrzehnte im Schweize- und schliesslich die grossen Machtblö- giert, dass wir dessen Infrastruktur für rischen Friedensrat engagiert. cke aufzulösen.» Und: «Wir müssen die Durchführung des Ostermarsches gemeinsam darauf hinarbeiten, das ge- benutzen konnten. Wir brauchten aber / Ruedi Tobler / samte Territorium Europas, von Polen auch die lokale Abstützung in der Bas- bis Portugal, von atomaren Waffen, von ler Wiwonito-Gruppe, zu der Oskar den Ende der 1970er-Jahre schwappte die Luft- und U-Boot-Stützpunkten und von Kontakt sicherstellte. Schon da zeigte Anti-Nachrüstungsbewegung aus der allen Einrichtungen freizumachen, die sich, dass er lieber im Hintergrund aktiv BRD zu uns in die Schweiz herüber. Be- mit der Erforschung oder Herstellung war, als im Rampenlicht zu stehen. Der sonders angesprochen fühlten wir uns von Atomwaffen beschäftigt sind.» Ostermarsch im Dreieckland konnte vom «Aufruf zum Ausbruch aus dem sich bis 1991 als Tradition halten, getra- Irrenhaus», den wir auf die Schweizer Friedenskongress im Basler Münster gen durch ein sehr breites Bündnis. Das Gegebenheiten anpassten. An dieser Ar- Dies führte zur weitreichendsten in- hiess aber nicht, dass die Zusammenar- beit beteiligten sich Leute aus verschie- ternationalen Zusammenarbeit in der beit reibungslos klappte. Je bedeutender denen Regionen. Ich glaube, da bin ich Geschichte des Friedensrates, wieder die unabhängige Friedensbewegung in Oskar Bender zum ersten Mal begegnet. mit Basel als Ort des Geschehens. Zum Osteuropa wurde, umso heftiger wurden Und er beteiligte sich wohl auch in der 70-Jahr-Jubiläum des Friedenskongres- die Auseinandersetzungen darum, ob die Arbeitsgruppe «Atomwaffen nein», die ses der Sozialistischen Internationale von Solidarität mit ihr ein Thema sein solle. die wegweisende Broschüre «Wir wol- 1912 im Basler Münster, wo sie gelobte, Denn überhaupt nicht alle Gruppierun- len nicht zu Tode verteidigt werden! den sich abzeichnenden Krieg in Europa gen standen hinter dem END-Appell. Für ein atomwaffenfreies Europa» er- zu verhindern, führte sie 1982 ihren Kon- Insbesondere für die dem Weltfrie- arbeitet hat und vom Friedensrat 1981 gress in Basel durch, unter der Leitung densrat angehörige Schweizerische Frie- pu­bliziert wurde. Der Titel lieferte das von Willy Brandt. Gemeinsam mit dem densbewegung waren dies subversive Kürzel Wiwonito, das zum Namen einer END und dem Interkirchlichen Friedens- Kreise, die die ihres Erachtens legitime Kampagne wurde, an der sich vielerorts rat aus den Niederlanden (IKF) erreich- Atombewaffnung der Sowjetunion und spriessende lokale Gruppen und Initia- ten wir, dass die Friedensbewegung in die sozialistischen Staaten unterminie- tiven beteiligten. Für die Basler Gruppe die Jubiläumsfeierlichkeiten vom 2. bis 6. ren wollten. Die Auseinandersetzungen übernahm Oskar die Verbindung zum November 1982 einbezogen wurde. wurden so mühsam, dass wir im Frie- Friedensrats-Sekretariat in Zürich. So beteiligte sie sich am 3. November densrats-Vorstand beschlossen, uns an der Gedenkveranstaltung im Münster nach einem alternativen Ort für einen Ostermarsch im Dreyeckland 1982 mit Rosmarie Kurz. Am 4. November Ostermarsch umzusehen und schliess- In diesem Rahmen wuchs die Idee, die folgten ein Workshop der Frauen für den lich in der Bodensee-Region fündig Tradition der Ostermärsche von Atom- Frieden zur Friedenserziehung und ein wurden, wo es auch möglich war, einen waffengegnerInnen wiederzubeleben, die Dialog zwischen Vertretern der Sozial- Dreiländeranlass zu organisieren. in der Schweiz 1967 ein abruptes Ende demokratie und der Friedensbewegung gefunden hatte. Basel bot sich als Drei- in Europa zum Thema «Entspannung Unterstützung für die unabhängige ländereck geradezu an, da der Marsch und Rüstung oder Friedensbewegung?», Friedensbewegung in Osteuropa international sein sollte. Umso mehr, als wofür wir Mary Kaldor von END und 1988 fand der erste Bodensee-Oster- die Lokalgruppe nicht nur Kontakte hat- Mient Jan Faber vom IKF gewinnen marsch in Bregenz statt, der mit Un- te, sondern noch so gern bereit war, orga- konnten. Am 5. November folgten eine terbrüchen und in unterschiedlicher nisatorische Verantwortung zu überneh- Frauenveranstaltung zum Friedens- Art immer noch durchgeführt wird, men. Da war Oskar eine Schlüsselperson. kongress 1912, an der wiederum­ Mary an Ostern 2020 in Überlingen. Mit Tatsächlich fand an Ostern 1982 der ers- Kaldor beteiligt war, und parallel dazu dieser Umorientierung haben wir die te Dreyeckland-Ostermarsch statt, mit ein Workshop «Gewaltfreie Verteidi- kleiner gewordene Basler Gruppe und über 20’000 TeilnehmerInnen. gung – eine Alternative zum Militär» insbesondere Oskar ziemlich im Stich Grundlage für die Weiterarbeit zum mit Ruedi Epple. Gemeinsam mit END gelassen, was ihn aber nicht davon ab- Thema wurde der «Aufruf für ein atom- und IKF publizierten wir die Broschüre gehalten hat, weiterhin aktiv im Frie- waffenfreies Europa» des European Nuc- «Die Friedensbewegung und die Zukunft densrats-Vorstand mitzuarbeiten. lear Disarmement (END) der britischen Europas – Neue Wege für Europa». Die Unterstützung für die unabhän- Russel-Friedensgesellschaft von 1980 – gige Friedensbewegung in Osteuropa mit den folgenden Kernaussagen: «Wir Die Basler Wiwonito-Gruppe beschränkte sich nicht auf Solidaritätspa- wollen weder der NATO noch dem War- Dass dieser Dialog möglich wurde, ist rolen am Ostermarsch und andere Frie- schauer Vertrag Vorteile verschaffen. wesentlich der Offenheit des damaligen denskundgebungen. Etwa 1983 bildete Vielmehr muss es unser Ziel sein, Europa Präsidenten der SP Schweiz, Helmut sich die Arbeitsgruppe Ost-West des Frie-

FRIEDENSZEITUNG 31-19 8 densrates, die von Anfang an am Europäi- schen Netzwerk für den Ost-West-Dialog beteiligt war, das 1984 gegründet wurde. Zusätzlichen Auftrieb erhielt das Netz- werk 1985 durch den von der Charta 77 herausgegebenen «Prager Appell». So entstand ein realer Austausch, wobei die Besuchsmöglichkeiten einseitig von West nach Ost erfolgen konnten. Allerdings musste dies zumeist dis- kret behandelt werden, um nicht Per- sonen zu gefährden. Ich weiss deshalb nur, dass Oskar aktives Mitglied dieser Arbeitsgruppe war. Inwieweit er auch an Besuchen in osteuropäischen Län- dern beteiligt war, weiss ich nicht. Die NGO-Konferenz war Oskar selbstver- statt. Vor allem aber hatte er das Amt Arbeitsgruppe war beteiligt an der Aus- ständlich beteiligt. Und wiederum wie des Finanzverantwortlichen inne und arbeitung und Herausgabe des Memo- in den Achtzigerjahren stand die Soli- kümmerte sich über viele Jahre sorg- randums «Das Helsinki-Abkommen mit darität mit den NGOs aus Osteuropa sam um unsere Finanzen, errechnete die wirklichem Leben erfüllen», das sich – im Zen­trum, insbesondere durch die Beiträge an die Sozialversicherungen 1986 herausgegeben vom Europäischen Zusammenarbeit mit der Civic Solidari- und übernahm einiges mehr. 2013 wur- Netzwerk für den West-Ost-Dialog – «an ty Platform, in der russische Aktivisten de auch die NGO-Plattform Menschen- Bürgerinnen und Bürger, an gesellschaft- trotz massiver Repression eine Schlüs- rechte gebildet, in der uns von Anfang an liche Gruppen und an die Regierungen selrolle spielen. Oskar vertreten hat, bis er die Mitarbeit aller KSZE-Staaten» richtete. Die Ar- aus gesundheitlichen Gründen aufgeben beitsgruppe stellte ihre Tätigkeit mit dem Breit gefächertes Interesse musste. Seither sind wir nicht mehr in Mauerfall und dem Zusammenbruch des Im Übrigen fand dreissig Jahre nach dem der Kerngruppe vertreten. Ostblocks nicht ein. So besuchten meh- erwähnten Friedenskongress der Sozia- rere ehemalige Dissidentinnen und Dis- listischen Internationale, nämlich am 24. Stiller Schaffer im Hintergrund sidenten nach 1989 die Schweiz. November 2012, im Basler Münster eine Es waren diese für eine Organisation weitere Gedenkveranstaltung sowie ein unabdingbaren kleinen Dinge im Hin- OSZE und Plattform Menschenrechte wissenschaftlicher Kongress zum 100. tergrund, um die er sich mit Ausdauer Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks Jubiläum statt, an dem der kürzlich ver- gekümmert hat. Das lag ihm mehr als wurde die KSZE nicht hinfällig, son- storbene deutsche SP-Politiker Erhard öffentliche Auftritte. Doch wenn etwas dern umgebaut zur OSZE. 1996 konnte Eppler die Hauptrede hielt. Oskar trug in Basel stattfand, war Oskar dort anzu- die Schweiz mit Aussenminister Flavio auch hier zur Vernetzung bei und inte- treffen. Ich erinnere mich beispielsweise Cotti ein erstes Mal das Präsidium über- ressierte sich für die wissenschaftliche an das zweite OSZE-Präsidialjahr der nehmen. Da es bereits seit einiger Zeit Auswertung an der Uni Basel im Vorfeld Schweiz mit Bundespräsident Burkhalter, regelmässige Austausche mit den inte­ der Gedenkfeier. als das Aussenministertreffen der OSZE-­ ressierten NGOs zur Aussenpolitik gab, Oskars Interessen waren breit gefä- Staaten im Dezember 2014 in Basel war. war es ein Leichtes, ein NGO-Forum chert und er war nicht nur im Friedens- An der für die NGO-Leute zugänglichen zur Begleitung des OSZE-Präsidiums rat aktiv, sondern beispielsweise auch Sitzung war Oskar selbstverständlich mit zu bilden. Für uns war Oskar mit dabei. im Basler Appell gegen Gentechnologie grossem Interesse mit dabei. Während wir uns ein dauerhaftes Forum (heute: Biorespect – Wir hinterfragen Und dann kam vor zweieinhalb Jahren gewünscht hatten, erlosch das Interesse Biotechnik). Da hat er 1991 eine gemein- die Schreckensmeldung, Oskar liege im das EDA allerdings nach dem Präsidial­ same Publikation eingefädelt, die heu- Spital und müsse eine Operation wegen jahr. Darum musste 2013 im Hinblick te noch lesenswert ist: «Krieg aus dem Lungenkrebs über sich ergehen lassen. auf das zweite Schweizer Präsidialjahr Genlabor – Neue Rüstungsspirale bei den Eine zweite Operation folgte. Mich hat der OSZE 2014 eine neue NGO-Arbeits- biologischen Waffen?» Die da­rin vor bald das umso mehr betroffen gemacht, als gruppe gebildet werden, bei der Oskar dreissig Jahren aufgestellten Forderungen ich zu dieser Zeit ebenfalls wegen einer wiederum aktiv mitmachte. sind nach wie vor beängstigend aktuell. Krebserkrankung im Spital lag. Während Wir hatten bei Bundesrat Didier Wann genau Oskar SFR-Vorstands- ich die Krankheit überstanden habe, ver- Burkhalter zwar noch darauf gedrängt, mitglied geworden ist, konnten wir schlechterte sich Oskars Gesundheitszu- dass es nun eine ständige NGO-Gruppe nicht mehr eruieren. Es muss in den stand zunehmend, sodass er 2018 seinen sein solle und sie hat dann tatsächlich Achtzigerjahren gewesen sein. Und er Rücktritt aus dem Friedensrats-Vorstand etwas länger funktioniert. Aber unter blieb dies über Jahrzehnte, reiste regel- einreichen musste. Ein letztes Mal haben dem Spardiktat von Finanzminister Ueli mässig, meistens einmal monatlich von er und seine Frau Susanne Nager uns am Maurer wurde die finanzielle Unterstüt- Basel nach Zürich oder , teilweise 19. November 2018 zu sich nach Hause zung reduziert und dann gestrichen. auch Olten, an unsere Vorstandssitzun- zu einer Vorstandssitzung eingeladen und Das OSZE-Aussenministertreffen fand gen und engagierte sich zusätzlich in uns fürstlich verköstigt. Diese Zusam- 2014 in Basel statt; an der Vorbereitung Arbeitsgruppen. Eine Vorstandsretrai- menkunft wird uns Vorstandsmitgliedern und Durchführung der internationalen te fand auch einmal bei ihm zu Hause noch lange in guter Erinnerung bleiben.

9 FRIEDENSZEITUNG 31-19 30 Jahre Abstimmung über die Abschaffung der Armee

Vor dreissig Jahren, am 26. November chotomie aus, in der einerseits die Haus- auch seiner öffentlichen Aufgaben, zu der 1989, knapp drei Wochen nach dem frau und Mutter in Kriegssituationen für eben die Wehrpflicht und der Schutz der Fall der Berliner Mauer, kam die von der das Innere zuständig ist und gleichzeitig Familie – auch mit der Waffe – gehören, GSoA lancierte Armeeabschaffungs­ des Schutzes bedarf, der Mann ander- das Oberhaupt der Familie, die Frau ist initiative zur Abstimmung. Das Resul- seits für den Bereich des Öffentlichen auf das Innere verwiesen und ihm als sei- tat war ein Schock für die eta­blierte sowie des Erwerbs zuständig ist und als ne Schutzbefohlene untergeordnet. Schweiz, ein Drittel der Stimmberech- Soldat an der Grenze Heimat und Haus Die unhinterfragte Akzeptanz der tigten sprach sich für das radikale beschützt. Dazu gibt es seit dem Ersten Verbindung von Wehrpflicht und Staats- Volksbegehren aus. Zum 30-jährigen Weltkrieg eine Fülle von Bildern: von bürgertum ist nicht alt, sondern geht auf Jubiläum sprach in Bern die feminis- Postkarten über politische Werbe- und die 1930er-Jahre zurück. Insbesondere tische Historikerin Elisabeth Joris, die Jugendbroschüren bis zu Standfotos aus die Arbeiterbewegung stellt die Armee sich mit dem damaligen «Abschied ei- Schweizer Filmproduktionen. Da steht als Waffe des Bürgertums lange infrage. ner Geschlechterordnung» befasst. der Soldat mit Helm und Gewehr auf Ebenso zeigen sich junge Männer aus den dem Grat einer Alpenkette, seine ländlichen Gebieten mit der von Gene- / Elisabeth Joris / Silhouette hebt sich vom Himmel ab: die ral Wille gepuschten Position der Ar- emblematische In-eins-Setzung von Al- mee als Schule der Männlichkeit wenig Das Diktum des Bundesrates in der Bot- pen, Wehrwille und Männlichkeit. begeistert, erfahren sie diese doch oft als schaft von 1988 zur GSoA-Initiative, Das Recht spiegelt dieses männlich Schikane arroganter Offiziere. Auch die «die Schweiz hat keine Armee, sie ist geprägte schweizerisch-republikanische Haltung der bürgerlichen Frauenorga- eine Armee», verweist geradezu para- Verständnis, in dem zwar viel von Demo- nisationen und Frauenrechtlerinnen ist digmatisch auf die Exklusion der Frauen kratie geredet wird, aber in dem nicht der äusserst ambivalent. aus dem männlich pa­triarchal konzi- Rekurs auf Menschenrechte, sondern auf pierten Bild der Schweiz. Das Ergebnis die Wehrpflicht den staatsbürgerlichen Ambivalente Haltung der der GSoA-Abstimmung im November Status bedingt. Als stimm- und wahlbe- Frauenorganisationen 1989 markiert seinerseits das Ende die- rechtigt sind nur Männer gedacht. Die- So entzweit die Verknüpfung von Wehr- ses Konzeptes, das auf einem geschlech- ses patriarchale Verständnis spiegelt sich pflicht und Stimmrecht die Frauenor- terspezifischen Modell der Verknüpfung ebenso im ersten gesamtschweizerischen ganisationen nach Ausbruch des Ersten von Rechten und Pflichten basiert. Es ist Zivilgesetzbuch (ZGB) von 1912, gegen Weltkrieges: Da Männer Ende August das Modell einer Geschlechterordnung dessen Ausgestaltung Frauen – insbe- 1914 zum Militärdienst aufgeboten wer- schweizerisch-republikanischer Prägung sondere auch bürgerliche Frauenorga- den, initiiert die Frauenrechtlerin Emma schlechthin. nisationen – bereits um 1900 klar und Graf aus Bern eine grosse Sammelaktion deutlich Einspruch erheben, da es ver- unter den Frauen, im Sinne eines Beitrags Die Verknüpfung von Wehrpflicht heiratete Frauen der Vormundschaft des an die Mobilisierung. Der Vorschlag wird und Staatsbürgertum Ehemannes unterstellt. Der Mann ist qua von der Mehrheit im gesamtschweizeri- Das Modell geht von der Geschlechterdi- seiner Zuständigkeit für den Erwerb wie schen Frauenstimmrechtsverein unter

FRIEDENSZEITUNG 31-19 10 der Führung der Genferin Emilie Gourd Gustav Däniker von 1938: «Soldatentum dienst leistender Mann im Rahmen des klar abgelehnt: Das Stimmrecht ist ein ist höchst potenzierte Männlichkeit.» Im Kalten Krieges enormen Aufwind. Es Menschenrecht und braucht daher keine selben Jahr setzt der katholisch-konser- unterfuttert den Mythos des Verschont- Vorleistung. vative Bundesrat Philipp­ Etter in einem seins im Krieg dank der schweizerischen Begeistert zeigt sich dagegen der Artikel die Wehrhaftigkeit mit männli- Wehrbereitschaft, dank also auch des Schweizerische Gemeinnützige Frauen- cher Zeugungskraft gleich: «Wenn die Modells Männer schützen Frauen. Und verein, der Grafs Vorschlag unter dem Zeugungskraft eines Volkes erlahmt, er- das entgegen den Erfahrungen im Krieg, Titel Nationale Frauenspende höchst lahmt auch seine Mann- und Wehrhaf- als Angehörige der Oberschicht ihren erfolgreich umsetzt. 1915 wird dem tigkeit, erlahmen mit der Zeit der Wider- Wohnsitz in die Innerschweiz verlegten Bundesrat mehr als eine Million unter standswille und die Kraft leiblicher und und die Réduit-Vorstellungen von Gui- Schweizerinnen gesammelten Franken geistiger Selbstbehauptung.» Auch wenn san die meisten Familien schutzlos dem übergeben, zur freien Verfügung. Diese sich Sozialdemokratinnen skeptischer Feind ausgeliefert hätten. Summe dient dann primär unter dem zeigen als ihre Genossen, lassen auch Das Szenarium der «Roten Gefahr» Titel Wehrmannsfürsorge der Unter- sie sich in diese Geistige Landesvertei- aus dem Osten erweist sich als stärker. stützung armer Familien von eingezoge- digung einbinden und stützen damit Gleichzeitig werden wegen dieser he- nen Soldaten, die wegen der Mobilisie- implizit das Bild der wehr- und mann- raufbeschworenen Bedrohung Pläne rung grosse Not erleiden. haften Schweiz unter der Führung der zum Einbezug der Frauen in die Lan- Das Motto der Initiantin Emma Armee. Nach Jo Lang macht das trans- desverteidigung geschmiedet. Im März Graf, «Pflichten erfüllen heisst Rechte portierte «Männer- und Bürgerbild des 1957 kommt der Artikel für ein Zivil- begründen», impliziert, dass den Frau- ‹wehrhaft gleich ehrhaft›, die ‹wehrlo- schutz-Obligatorium für Frauen vors en als Dank für ihre Übernahme von sen› Frauen politisch ‹ehrlos›». Volk. Doch diesmal ist die Ablehnung Pflichten das Frauenstimmrecht gege- durch die Frauenrechtlerinnen und die ben werde. Die Enttäuschung ist gewal- Männer schützen Frauen Mehrheit der Frauenorganisationen tig: Ihrer voreiligen Pflichterfüllung ist Dennoch werden Frauen im Zweiten einhellig, nicht nur in der Westschweiz: keinerlei Erfolg beschieden, ihnen geht Weltkrieg in die militärische Verteidi- Ohne uns! Keine Pflichten ohne Rechte. es nicht besser als den Streikenden vom gung einbezogen: 1940 ruft General Gui­ Das impliziert kein Nein zur Landes- November 1918 mit ihrer Forderung san zur Bildung des Frauenhilfsdienstes, verteidigung, kein Nein zur Armee, es nach Einführung des Frauenstimm- kurz FHD, auf. Die Initiative dazu ist von heisst schlicht Frauenstimmrecht jetzt. rechts. Sie werden zwar nicht wie diese den Präsidentinnen nationaler und kan- Die Zivilschutzvorlage wird abgelehnt, von der Armee in die Knie gezwungen, tonaler Frauenverbände ausgegangen, obwohl die Frauen nicht stimmen konn- vielmehr von dieser für ihren Einsatz ge- unter ähnlichen Grundannahmen wie lobt, mehr aber nicht. Und neue Rechte im Diktum von Emma Graf von 1914/15: Fortsetzung Seite 12 oder Gleichstellung schon gar nicht. «Pflichten erfüllen heisst Rechte begründen.» Wie- Rückschlag durch die «Geistige der werden die Erwartun- Landesverteidigung» gen der Befürworterinnen Dennoch lassen sich Frauenrechtlerin- militärischer Verteidigung nen in den 1920er-Jahren nicht unter- auf Gleichstellung funda- kriegen. Sie fordern das Frauenstimm- mental enttäuscht. recht an der von ihnen mitorganisierten 1946 lehnt das Eidge- Schweizerischen Ausstellung für Frau- nössische Militärdeparte- enarbeit SAFFA 1928 in Bern – u.a. mit ment ihr Begehren ab, für dem Symbol der Schnecke, das zahlrei- die Mitarbeit der Frau in che Demonstrantinnen durch die Stras­ der Armee einen selbst- sen Berns ziehen – und der Lancierung ständigen Dienstzweig zu der Petition von 1929, die nun, dank schaffen und die Militäror- auch der aktiven Unterstützung durch ganisation in dem Sinn die Sozialdemokratinnen, von rund zu ergänzen. Der Status 250’000 Personen unterzeichnet wird, der Frauen in der Armee und das bei einer Bevölkerung von nur bleibt weiterhin ein Frau- drei Millionen. Wirkungslos. enhilfsdienst. Ebensowenig Die einsetzende Wirtschaftskrise und ist das Frauenstimmrecht insbesondere die Geistige Landesvertei- nach dem Krieg ein vor- digung läuten den erneuten Rückschlag dringliches Thema, trotz ein. Er bekräftigt das dichotome Bild Eingaben von sozialdemo- des Mannes an der Grenze und der Frau kratischer Seite und des im Innern, das in unzähligen Bildern Ehemanns von Iris von Ro- und Texten ihren Niederschlag findet. ten, dem Nationalrat Peter Jo Lang zitiert zu der darin implizierten von Roten. Geschlechtervorstellung in seiner Tages-­ Nach 1948 erhält viel- Anzeiger-Kolumne «History Reloaded» mehr das Modell Haus- den Ausspruch von Generalstabsoberst frau/Mutter versus Wehr-

11 FRIEDENSZEITUNG 31-19 Fortsetzung von Seite 11 zeichnet wird, das eine obligatorische schlechter in der Verfassung verankert. Ausbildung und eine allgemeine Dienst- Das dient vielen Armeebefürwortern ten. Doch viele der Neinstimmen kom- pflicht der Frauen im Reservesystem und vor allem Armeebefürworterinnen men von Männern, nicht weil diese den vorsieht. – wie schon die Einführung des Frauen- Frauen Rechte geben möchten, sondern 1976 erhält die FHD-Chefin Andrée stimmrechts 1971 – als Legitimation für weil sie die Frauen ungeteilt und unbe- Weitzel vom EMD den Auftrag, eine den Einbezug der Frauen in die Gesamt- zahlt zu Hause haben wollen. Studie zur «Stellung der Frau in allen verteidigung. Was sich allerdings gleich- Das zeigt sich zwei Jahre später mit Gebieten der Gesamtverteidigung» zeitig als ein nicht zu unterschätzender der Zwei-Drittel-Ablehnung des Frau- auszuarbeiten, die 1979 unter dem Ti- Faktor erweist: Die Friedensbewegung ist enstimmrechts an der Urne mit aller tel «Mitwirkung der Frau in der Ge- auch in der Schweiz im Aufwind, die Pa- Deutlichkeit. Und die Abstimmung samtverteidigung» 18 Vorschläge prä- role widerständiger Frauen ist Ausdruck markiert erneut einen Graben. In den sentiert mit verschiedensten Varianten der anarchistisch geprägten 1980er-Pro- Westschweizer Kantonen Genf, Waadt von Obligatorium bis Freiwilligkeit. Der teste: «Wir passen unter keinen Helm». und Neuenburg wird das Frauenstimm- Berichtsentwurf des Bundesrates der Vor diesem widersprüchlichen Hin- recht angenommen. Erst 1971 schliess- Studiengruppe «Frau in der Gesamtver- tergrund erfolgt 1983 gemäss Auftrag lich sagen zwei Drittel der stimmenden teidigung» kommt 1982, obwohl nicht des Bundesrates die Empfehlung der Männer Ja zum Frauenstimmrecht, vorgesehen, an die Öffentlichkeit, wie- Berner Soziologin Ruth Meyer: Weil in wenn auch nicht in allen Kantonen. der mit verschiedensten Varianten. Wie den modernen Kriegen die Zivilbevöl- die obligatorische Grundlageninforma­ kerung stärker betroffen sei als die Ar- Geplanter Einbezug der Frauen tion und -ausbildung von Mädchen im 9. mee, müssten Frauen auf diesen Notfall in die Gesamtverteidigung Schuljahr oder verteilt auf mehrere Jahre obligatorisch vorbereitet werden. Der Der Bund Schweizerischer Frauenorgani- und die für alle Frauen allgemeine Aktiv­ Einbezug der Frauen in die Gesamt- sationen (BSF) ist weiterhin gefangen in dienst- und Instruktionspflicht im Rah- verteidigung sei in diesem Sinn als eine der Vorstellung der schweizerischen Ver- men der Gesamtverteidigung. Oder ein verstärkte Chance der Zivilbevölkerung knüpfung von staatsbürgerlichen Rechten wahlobligatorischer Frauendienst mit zum Überleben in Notzeiten zu verste- und Wehrpflicht. Er geht also nicht vom einer Instruktionspflicht für alle Frauen, hen. Solange die allgemeine Wehrpflicht Frauenstimmrecht als bedingungsloses die sich nicht freiwillig in Dienste im Ge- für Männer bestehe, sei nur für eine Recht aus, sondern im Chor mit ande- samtverteidigungsbereich einteilen las- Minorität von Frauen der Dienst in der ren bürgerlichen Frauenorganisationen sen, mit einwöchiger Grundausbildung Armee vorgesehen, doch könnte diese spricht er von Pflichten der Frauen, die mit 18 Jahren und dreimal drei Tagen Variante später durch eine Gesamtver- sie nun zu erbringen haben. Wiederholungskurs in etwa zehnjähri- teidigungspflicht für Männer und Frau- Schon 1971, also bevor noch die ers- gem Abstand bis zum 50. Lebensjahr. en abgelöst werden, die nicht nur den ten Frauen im Parlament sitzen, setzt Militärdienst impliziere. der BSF eine Studiengruppe ein, die in Wir passen unter keinen Helm Zusammenarbeit mit dem EMD einen Was hier allerdings zum historischen Das neue Ehegesetz als Nagelprobe Bericht mit vier Modellen vorstellt, von Kontext zu bemerken ist: Seit Kurzem, Dass nicht mehr alles beim Alten blei- denen jenes als besonders geeignet be- 1981, ist die Gleichstellung der Ge- ben wird, das zeigt die massive Verän- derung der Einstellung der Jugend zur Armee seit 1968 und – weit mehr noch – seit den 1980er-Unruhen. Junge Frau- en geben sich weder gesittet noch brav, demonstrieren auf der Strasse ebenso provokativ wie die Männer und pfeifen auf alle männlichen Autoritäten. Mit lo- sen Kleidern und langen Haaren pfeifen auch Männer auf die Vorstellung einer Armee als «Schule der Männlichkeit». Auch gemässigter kündigt sich das Erschlaffen dieser Vorstellung an, wenn auch gegen hartnäckigen Widerstand. Neben der Verankerung der Gleich- stellung in der Verfassung von 1981 markiert das neue Eherecht, das vom Parlament 1985 verabschiedet wird, den Wandel. Christoph Blocher lan- ciert das Referendum – sein erster ge- samtschweizerischer Auftritt. Das neue auf Gleichstellung von Ehefrau und Ehemann ausgerichtete, als partner- schaftlich verstandene Gesetz impliziert die Ablehnung der alten patriarchalen

Grafik: dca, Quelle: VBS, 25.11.2019) Armeeauszählung 2019 (Tages-Anzeiger Ordnung, der auch die Vorstellung von

FRIEDENSZEITUNG 31-19 12 Friedenskalender 2020 Gleichsetzung von Wehrpflicht und ist da, die alten Bedrohungsszenari- zu Myanmar staatsbürgerlichen Rechten entspricht. en erscheinen obsolet. Die kurz zuvor Doch offensichtlich geniesst diese ausgerufene «Diamantfeier» zur Er- Vorstellung immer noch breite Unter- innerung des Ausbruchs des Zweiten stützung. Mehr als die Hälfte der an der Weltkrieges – gleichsam als Auftakt des Abstimmung teilnehmenden Männern Abstimmungskampfes gegen die GSoA-­ 2020 lehnt das neue Gesetz ab, das heisst: die Initiative – zeigt die doppelte Blindheit Mehrheit der Männer in der deutschen des rein männlichen Bundesrates für Friedenskalender Schweiz, auf dem Land, nicht aber in der die empörende Unangemessenheit einer Westschweiz, nicht in der Stadt. Trotz- solchen Veranstaltung. Eine Feier zum dem wird das neue Eherecht vom Volk Kriegsausbruch! Und dazu eine Feier, angenommen: dank dem Frauenstimm- in der nur der rein männlich gedachten recht. Die Stimmen der Frauen wiegen «Aktivdienstgeneration» erinnert wird, das Nein der Männer auf. bei vollkommener Exklusion der Frau- Und in diesem Jahrzehnt des auf- en: das völlig unreflektierte Geschlech- gebrochenen Geschlechtermodelles termodell aus der Mottenkiste. lancieren junge Linke die GSoA-Initia- Der Protest von Frauen lässt nicht tive zur Abschaffung der Armee. Doch auf sich warten, der bürgerlichen Frau- unter Armeebefürwortern ist weiterhin en zum einen, die auf den Einbezug der ein zentrales Argument verbreitet, das Leistung der Frauen pochen, und deut- von der Selbstverständlichkeit männ- lich stärker, der Friedens- und linken licher Gewalt gegen Frauen, die des Frauen zum andern, die sich grundsätz- SCHWEIZERISCHER FRIEDENSRAT männlichen Schutzes bedürfen, durch- lich gegen eine solche Feier verwehren. tränkt ist: «Was machst du dann, wenn Ein unmissverständlicher Ausdruck der der Feind ins Haus kommt und deine Haltung, wie kraftvoll Frauen sich vom Schon zum 24. Mal ist der Postkarten- Frau vergewaltigt? Schaust du einfach Status der Dienenden ebenso wie des kalender des Friedensrates erschienen, wehrlos zu statt zu schiessen?» Ehrlos schutzbedürftigen Opfers verabschie- fürs kommende Jahr 2020 zu Myanmar. der wehrlose Mann! Wie zu Zeiten der den, markiert der Frauenstreik knapp Zwölf abtrennbare farbige Postkarten Geistigen Landesverteidigung. zwei Jahre später. Gleicher Lohn für enthalten u.a. Sujets von einer Reise gleiche Arbeit, subito! Frauen leisten Francine Perrets in diesem Frühjahr. 1989 – ein unwiderrufliches Zeichen Gratisarbeit zur Genüge, was soll da das Darüber hinaus enthält der Kalender Dass die Abstimmung der GSoA-­ Reden über gleiche Rechte und gleiche wie immer die internationalen Tage der Initiative fast zeitgleich mit dem Fall der Pflichten? UNO sowie die wichtigsten Friedens- Mauer zusammenfällt, ist zwar nicht Dieses alte Reden erscheint in seiner termine des nächsten Jahres. Er ist allen geplant, aber rückblickend ein Fanal. Reduktion auf die Verknüpfung von Mi- Mitgliedern sowie den Abonnentinnen Das Ende des Kalten Krieges, das sich litärdienst und rechtlicher Gleichstel- und Abonnenten der FRIEDENSZEI- schon seit einigen Jahren abzeichnet, lung als absurd. Die Berufung auf die TUNG Mitte Oktober zugestellt worden und kann für 25 Franken unter info@ friedensrat.ch nachbestellt werden. Wir haben in der September-Ausgabe Nr. 30- 19 der FRIEDENSZEITUNG das Thema des Kalenders mit Hintergrundinforma- tionen zu Myanmar ergänzt.

Euro­päische Menschenrechtskonven- tion (EMRK) hat schon 1969 die Ein- führung des Frauenstimmrechts voran- getrieben. Der Menschenrechtsdiskurs gewinnt nun nach dem Fall der Mauer deutlich an Fahrt. Grundrechte kom- men Menschen zu, ganz ohne Pflichten – eben: als Menschenrechte. So wie der Fall der Mauer ein Fanal einer Zeiten- wende ist, ist die breite Unterstützung der GSoA-Abstimmung ein Fanal auch des Endes einer Geschlechterordnung, die Frauen diskriminiert, unterordnet und ausschliesst.

Elisabeth Joris ist Historikerin mit Forschungs-

Grafik: 25.11.2019) dca, ETH Quelle: VBS, 2019, (Tages-Anzeiger Sicherheit schwerpunkt Frauen- und Geschlechtergeschichte.

13 FRIEDENSZEITUNG 31-19 Abiy Ahmed Ali, Regierungschef Äthiopiens, steht vor grossen Herausforderungen Nobelpreis für Frieden mit Eritrea

Äthiopiens Ministerpräsident Abiy Ah- «Zu Hunderttausenden jubelten damals hiess verfolgte ExilantInnen zurück in med Ali wurde in diesem Jahr mit dem Eritreer in Asmara dem äthiopischen der Heimat willkommen. Zudem unter- Friedensnobelpreis für seine «Bemü- Premierminister zu und Äthiopier in nahm Ahmed wichtige erste Schritte zur hungen um Frieden und internationa- Addis Abeba dem eritreischen Präsi- Beilegung der zahlreichen und blutigen le Zusammenarbeit» ausgezeichnet. denten. Die emotionale Betroffenheit inneren Konflikte des Vielvölkerstaats Insbesondere erhalte Ahmed den Preis der Menschen, mehr noch als feierli- Äthiopien mit seinen 110 Millionen Ein- für «seine entschlossene Initiative zur che Unterschriften und Bekenntnisse wohnerInnen und setzte die politische Lösung des Grenzkonflikts mit dem der Mächtigen, machte Hoffnung, dass und wirtschaftliche Liberalisierung des Nachbarland Eritrea», erklärte das No- der neue Frieden am Horn von Afri- Landes auf die Tagesordnung. belkomitee in seiner Begründung für ka unumkehrbar ist. Und das ist von Der Friedensnobelpreis für den äthi- die Preisvergabe. unschätzbarer Bedeutung in einer der opischen Ministerpräsidenten wurde in explosivsten Regionen der Welt, zwi- seiner Heimat mit Freude aufgenom- / Andreas Zumach / schen den schier unlösbaren Konflikten men. Der Bürgermeister der Hauptstadt von Jemen, Somalia und Südsudan mit Addis Abeba, Takele Uma, nannte den Im Juli 2018, nur drei Monate nach sei- ihrem unermesslichen menschlichen Preis eine Anerkennung für «Frieden, nem Amtsantritt im April, hatte Abiy Leid.» Mit diesen Worten kommentierte Versöhnung und harte Arbeit». Abiy gemeinsam mit dem eritreischen Präsi- Dominic Johnson, Auslandredaktor der Ahmed selbst hält die Auszeichnung denten Isaias Afewerki ein Abkommen Berliner tageszeitung und einer der bes- für eine Ehre für den gesamten afrika- unterzeichnet, das den zwanzig Jahre an- ten Afrikakenner im deutschsprachigen nischen Kontinent. «Das ist ein Preis, dauernden Grenzkonflikt zwischen den Journalismus, im Juli 2018 den Versöh- der Afrika verliehen wird, der Äthiopien beiden Ländern mit über 80’000 Todes­ nungsprozess und das Friedensabkom- verliehen wird», erklärte er. opfern beendete. «Das Nobel-Komitee men zwischen Äthiopien und Eritrea. hofft, mit seiner Entscheidung den Frie- Erstmals ein Oroma als Präsident densprozess in Äthiopien und Eri­trea zu Versöhnungs- und Reformbestreben Selbst seine Kritiker in Äthiopien zoll- stabilisieren», hiess es in der Begründung. Über seinen Beitrag zu diesem Abkom- ten dem Preisträger Respekt und An- «Frieden erreicht man nicht durch die Ta- men hinaus erhielt der 43-jährige Abiy erkennung. «Trotz unserer grossen ten einer einzelnen Person. Abiy Ahmed Ahmed den Friedensnobelpreis auch für politischen Differenzen gratuliere ich bekommt den Preis, weil er eine Hand in seine Vermittlungsbemühungen in an- Ministerpräsident Abiy Ahmed», gab Richtung von Eritreas Präsidenten Isaias deren Konflikten auf dem afrikanischen sein politischer Gegner Desta Haile­ Afewerki ausgestreckt hat», erklärte die Kontinent sowie für seine innenpoliti- selassie in den sozialen Medien bekannt. Vorsitzende des Nobelkomitees, Berit schen Versöhnungsbemühungen und «Er liess alle Journalisten frei, er besetz- Reiss-Andersen, bei der Bekanntgabe des Reformanstrengungen in Äthiopien, mit te sein Kabinett zur Hälfte mit Frauen diesjährigen Preisträgers am 10. Oktober. über 100 Millionen EinwohnerInnen das und ernannte eine grossartige Frau als bevölkerungsreichste Land Afrikas nach Präsidentin, er schloss Frieden mit Eri­ Positives Signal für ganz Afrika Nigeria. Der Ministerpräsident entliess trea», schrieb der in Äthiopien geborene «Der Versöhnungsprozess zwischen tausende Regimegegner aus der Haft, Dichter Lemn Sisay und ergänzte: «Er ist Äthiopien und Eritrea, der zu der Unter- verwandelte das grosse Foltergefäng- Äthiopiens Ministerpräsident und hat zeichnung des Friedensabkommens vom nis der Hauptstadt in ein Museum und heute den Friedensnobelpreis erhalten Juli 2018 führte, war ein positives Signal – ich bin baff.» Der prominente Aktivist nicht nur für den afrikanischen Konti- Jawar Mohamed erklärte: «Das ist eine nent, sondern für die ganze Welt. Zwei wohlverdiente Anerkennung für den Nationen, die sich mehrfach erbittert be- Ministerpräsidenten.» Inzwischen ist kriegt haben – erst in Eritreas jahrzehn- der Burgfrieden zwischen Abiy Ahmed telangem Befreiungskampf gegen die und seinem innenpolitischen Kontra- äthiopische Besatzung, danach in einem henten Jawar Mohamed allerdings lei- völlig sinnlosen Wüstenkrieg um den der vorbei. Jawar hatte im vergangenen Grenzverlauf –, fanden nun wieder zu- Jahr Proteste unterstützt, die schliess- sammen. Nicht nur besuchten sich Abiy lich zum Rücktritt des damaligen Regie- Ahmed und Isaias Afewerki, die starken rungschefs Hailemariam Desalegn führ- Männer der beiden Länder, gegenseitig ten und Abiy an die Macht brachten. in ihren Hauptstädten Asmara und Ad- In jüngster Zeit kam es dann zum Zer- dis Abeba und schlossen Frieden. Noch würfnis zwischen den beiden Männern. wichtiger war, dass die Bevölkerungen Andreas Zumach ist UNO-Korrespondent ver- Ende Oktober, zwei Wochen nach beider Länder sich die Verbrüderung der schiedener Zeitungen in Genf und regelmässiger Bekanntgabe des Friedensnobelpreises Mächtigen zu eigen machen.» FRIEDENSZEITUNGS-Autor. 2019, warf Jawar Mohamed dem Minis-

FRIEDENSZEITUNG 31-19 14 terpräsidenten in einem Interview mit der französischen Nachrichtenagentur «autoritäre Tendenzen» vor. Der Mi- nisterpräsident versuche, seine Kritiker einzuschüchtern, «sogar seine sehr en- gen Verbündeten, die ihm an die Macht verholfen haben», sagte Jawar. «Ein- schüchterung ist der Beginn autoritärer Herrschaft.» Jawar betonte, er erwä- ge eine Kandidatur gegen Abiy bei der für kommenden Mai geplanten Parla- mentswahl. Beide Männer gehören der ethnischen Gruppe der Oromo an, der grössten Volksgruppe in Äthiopien. Es waren wütende Oromo, die Abiy nach jahrelangen verlustreichen Protesten im April 2018 ins Amt brachten. Bis Abiy kam, hatten die Oromo im Vielvölkerstaat Äthiopien wenig zu sa- gen. Tigrayer, eine kleine Volksgruppe aus dem Norden, dominierten. Dagegen protestierten zornige Oromo und Am- harer selbst dann noch anhaltend, als die Diktatur sie jagte, verhaftete, tötete. Um den Druck zu senken, wurde Abiy von der Vierparteiendiktatur EPRDF Anfang April 2018 zum Premier ernannt. Als Notlösung machte die Machtclique mit ihm erstmalig einen Oromo zum Chef.

Gegen äthiopische Separatisten Was dann kam, schien vielen Äthiopiern mitten im äthiopischen Kernland liegt reissen und den Weizen pflegen. Und wunderbar. Abiy entliess die Spitzen und Addis Abeba umschliesst. Noch be- wir werden den Weizen nicht aufgeben von Militär und Geheimdienst, die den liess es Jawar bei seinem Ruf nach mehr zugunsten des Unkrauts.» So verschick- Staatsterror verantwortet hatten. Er liess Rechten für die Oromo. Vielmehr hetzte te es Abiys Pressestelle – allerdings nur politische Gefangene frei, erlaubte Kri- er gegen andere Ethnien. Wie leicht die in amharischer Sprache – nach den Ge- tik am Staat und holte selbst ehemalige Lage mittlerweile eskalieren kann, de- waltexzessen. In dem Statement ist auch Staatsfeinde heim. Darunter auch den monstrierte der Agitator Mitte Oktober. von Kriminellen die Rede, die Äthiopiens oppositionellen Internetaktivisten Jawar Er hatte die Qeerroo zu einem Protest vor Einheit gefährdeten. Verbrecher würden Mohammed, Anführer radikaler Oromo, sein Haus gerufen – angeblich, weil die Gotteshäuser niederbrennen, Geschäf- den sogenannten Qeerroo. Seit 2005 hat- Polizei es umstellt hatte und ihn verhaf- te verwüsten und andere Äthiopier von te Jawar aus dem US-Exil Proteste diri- ten wollte. Das Gerücht genügte – und ihrem Land vertreiben. Immerhin: Die giert und die Brutalität der Machthaber schnell bildete sich ein wütender Mob. Es Kriminellen würden «ordentliche Ver- kritisiert. Dem Guardian sagte Jawar: kam zu blutigen Ausschreitungen. fahren» bekommen, so Abiy, damit «die «Wir haben Social Media und klassi- Rechtsstaatlichkeit gewahrt bleibt». sche Medien so effektiv benutzt, dass der Ein langer Weg zum inneren Frieden Aber der Oromo-Machtkampf ist Staat damit völlig überfordert war.» Im Mindestens 86 Tote zählten Behörden nicht Abiys einzige Sorge: Es gibt weitere Sommer 2018 kehrte Jawar – amnestiert binnen wenigen Tagen bei Unruhen in Gruppen, denen die neue Freiheit nicht von Abiy – zurück nach Äthiopien. Die Oromia und in der Hauptstadt – also im genügt. Sie wollen sich von Äthiopien Qeerroo waren ausser sich. Mit Abiy und Zentrum von Abiys Macht. «Nieder, nie- abspalten und andere Ethnien mit Ge- Jawar würden sie, so die Hoffnung, mehr der mit Abiy», skandierten die Qeerroo walt vertreiben. Seit Mitte 2018 haben Macht bekommen, mehr Chancen – und und lieferten sich Strassenschlachten bewaffnete Separatisten so Millionen endlich Land und Jobs, die es ausserhalb mit Sicherheitskräften und Amharern, in die Flucht gedrängt und Hunderte der Stadtgrenzen von Addis kaum gab. der zweitgrössten Volksgruppe Äthio- getötet. Abiy schickte die Armee gegen Doch sie verkannten: Abiy war zuerst piens. Dann, plötzlich, beschwichtigte sie, noch mehr Menschen starben. «Vor einmal Äthiopier. Die Einheit des Landes Jawar seine Truppen: Es sei «nicht die dem Friedensnobelpreisträger Abiy Ah- ist sein oberstes Ziel. Zeit, sich gegenseitig umzubringen». med liegt noch ein langer Weg und eine Bald wurde zudem deutlich: Jawar Eine geschickte Machtdemonstration. Menge Arbeit», hatte die Vorsitzende will nicht, was Abiy will. Weder sprach In dieser angespannten Situation liess des Nobelkomitees, Reiss-Andersen, sich Jawar gegen Separatismusforderun- Ministerpräsident Abiy ein Statement­ bereits Anfang Oktober bei der Verkün- gen der radikalsten Oromo aus – einer mit fragwürdiger Wortwahl verbreiten: dung der Preisvergabe an den äthopi- kaum durchführbaren Idee, weil Oromia «Wir werden weiterhin das Unkraut aus- schen Ministerpräsidenten erklärt.

15 FRIEDENSZEITUNG 31-19 Konferenz zu Frauen, Frieden, Sicherheit und die Prävention von Gewalt Der Einbezug von Frauen bei der Extremismus-Prävention

Der Christliche Friedensdienst (CFD), schiedung der UNO-Resolution 1325 ist erarbeitet. Zurzeit läuft der vierte Akti- PeaceWomen Across the Globe (PWAG) somit die logische Konsequenz aus der onsplan, der für 2018 bis 2022 gültig ist. und die Schweizer Plattform für Frie- langjährigen Arbeit hartnäckiger Femi- Der Schweizer Aktionsplan hält densförderung KOFF luden am 18. Sep- nistinnen. fest, dass «die Schweiz aufgrund ihrer tember 2019 nach Bern zu einer Konfe- eigenen Geschichte davon überzeugt renz zum Thema Frauen, Frieden und Was will die UNO-Resolution 1325? ist, dass die Förderung von politischen Sicherheit ein, die ExpertInnen aus der Die Resolution 1325 verlangt von den Prozessen, an denen sich alle Bevöl- Zivilgesellschaft, der Wissenschaft und Vereinten Nationen, den Regierungen kerungsgruppen beteiligen können, staatlichen Institutionen zusammen- der Mitgliedstaaten und von nicht- ein wirksames Mittel zur Vorbeugung brachte, um den «Nationalen Aktions- staatlichen Kriegsparteien umfassende von gewaltsamen Konflikten ist. Eine plan für Frauen, Frieden und Sicherheit» Massnahmen zur Gewaltprävention gewisse ökonomische Sicherheit ist (NAP 1325) zu diskutieren. Die Hauptfra- und Strafverfolgung der Täter. Darüber Voraussetzung für die Beteiligung an ge war: «Was bedeutet es, Frauen, Frie- hinaus bildet sie einen Rahmen für die politischen oder Friedensprozessen. den und Sicherheit miteinander zu ver- Berücksichtigung einer Geschlechter- Wirtschaftliche Unsicherheit ist in be- binden und gewalttätigen Extremismus perspektive in Friedensprozessen. Hier- waffneten Konflikten, besonders für zu verhindern?» Ein Hintergrundbericht. zu zählen die verbesserte Partizipation Frauen, die kein Recht auf Landbesitz von Frauen an Friedensverhandlungen. haben oder durch Hausarbeit absorbiert / Diana Hryzyschyna / Der Kern der Resolution kann wie sind, oft eine unüberwindbare Hürde.» folgt zusammengefasst werden: 1. Ein- Der UNO-Sicherheitsrat hatte mit der bezug von Frauen bei Friedensprozes- Weiterhin gültige Schwerpunkte am 31. Oktober 2000 einstimmig ver- sen; 2. Prävention von Kriegen und 3. Folgende Schwerpunkte gelten auch im abschiedeten, völkerrechtlich verbind- Schutz vor geschlechtsspezifischer Ge- vierten Aktionsplan: lichen Resolution 1325 zum ersten Mal walt. Bereits 2005 forderte der damalige 1. Wirkungsvoller Einbezug von Frauen anerkannt, dass Frauen im Kontext von UNO-Generalsekretär Kofi Annan die in die Konfliktprävention; 2. Mitwir- Krieg und Frieden andere Erfahrungen Mitgliedstaaten auf, nationale Aktions- kung und Einfluss von Frauen bei der machen als Männer. Die Resolution pläne (NAP) zur Umsetzung der Reso- Konfliktbeilegung und in Friedenspro- verlangte deshalb die gleichberechtigte lution 1325 zu erarbeiten. Jedes Land zessen; 3. Schutz vor sexueller und ge- Teilnahme von Frauen in Friedenspro- kann seinen Plan nach den landesspezi- schlechtsspezifischer Gewalt in Kon- zessen und eine Gender-Perspektive fischen Gegenheiten ausrichten. Hinge- flikt-, Flucht- und Migrationskontexten; in allen friedens- und sicherheitspoli- gen sollten die einzelnen Aktionspläne 4. Beteiligung von Frauen an Friedens­ tischen Initiativen. Ziel der Resolution einen Zeitrahmen, in dem die gesetzten einsätzen und in der Sicherheitspolitik; war es zudem, dass Frauen und Mäd- Ziele erreicht werden sollen, sowie kon- 5. multi- und bilaterales Engagement der chen während und nach Gewaltkonflik- krete Massnahmen umfassen. Schweiz zu Frauen, Frieden und Sicher- ten besser geschützt werden und sexua- heit. Im Aktionsplan zeigt die Schweiz lisierte Gewalt verhindert wird. Die Umsetzung der Resolution auf, welche Massnahmen sie für die Jah- Die Geschichte des feministischen Bis August 2019 haben 81 UNO-Mit- re 2018 bis 2022 plant, um die gleich- Engagements begann indes lange vor der gliedstaaten Aktionspläne verabschie- berechtigte Teilnahme von Frauen an Verabschiedung der UNO-Resolution det. Der Aktionsplan 1325 ist ein wich- Friedensverhandlungen sicherzustellen. 1325. Bereits im Mai 1919 tagte die neu tiges innen- und aussenpolitisches So ist unter anderem die gezielte För- gegründete Internationale Frauenliga Instrument für die Behörden, da er die derung von weiblichen Mitgliedern in für Frieden und Freiheit (IFFF) von Cla- Grundlage für eine geschlechterge- Verhandlungsteams und von Schweizer ra Ragaz in Zürich und fasste eine Reihe rechte Friedenspolitik bilden soll. Der Mediatorinnen in Konfliktsituationen von Beschlüssen zur Gleichstellung der Bundesrat publizierte 2007 den ersten vorgesehen. Auch wird die Stärkung von Frau, zu Abrüstung und Abschaffung schweizerischen Aktionsplan. Damit Frauen in der Schweizer Armee, Polizei, des Rechts auf Kriegserklärung sowie verpflichtete sich die Schweiz als einer Militär, Justiz, Sicherheitspolitik und in zur Wehrpflicht. Die Frauenaktivistin- der ersten UNO-Mitgliedstaaten, die Friedenseinsätzen angestrebt. nen setzten im 20. Jahrhundert die Dis- Rechte von Frauen und Mädchen in Weiterhin aktuell sind die Forde- kussionen fort und engagierten sich für Konflikt- und Postkonfliktsituationen rungen nach Beendigung sexueller und die Anerkennung von Frauen als zen- zu schützen. In den Jahren 2010 und geschlechtsspezifischer Gewalt in Kon- trale Friedensakteurinnen. Die Verab- 2013 wurden zwei weitere Aktionspläne flikten. Die Schweiz fördert präventi-

FRIEDENSZEITUNG 31-19 16 ve Massnahmen, die Ausbeutung und die erwähnte Konferenz zu Gewaltprä- perspektive in Strategien zur Prävention Missbrauch verhindern sollen, indem vention in Bern am 18. September 2019. von gewalttätigem Extremismus und sie Friedensmissionen und humanitäre Im Rahmen der zweiten Projektpha- zur Terrorismusbekämpfung einzube- Einsätze auch personell unterstützt. Zu- se soll das Sicherheitskonzept diskutiert ziehen›, aus und empfahl der Schweiz dem verspricht sie die Gewährleistung werden. Sicherheit umfasst bekanntlich ‹eine Verstärkung der Bemühungen, einer effektiven Strafverfolgung, wobei nicht nur körperlichen Schutz für Frau- die Genderperspektive in Strategien zur der Schutz der Opfer im Rahmen von en, sondern ebenso individuellen und Prävention von gewalttätigem Extremis- Strafprozessen zentral sein muss. kollektiven Zugang zu Bildung, Gesund- mus einzubeziehen und die Fähigkeit heitsversorgung, Einkommen, Informa- von Frauen und Mädchen – darunter Einbezug von NGOs tionen sowie Teilnahme an politischen auch Frauen aus zivilgesellschaftlichen Im Rahmen einer öffentlichen Konsul- Prozessen. Um ein erweitertes Sicher- Gruppen – zu fördern, sich an der Ter- tation Anfang 2018 wurden Nichtre- heitskonzept zu erarbeiten, werden die rorismusbekämpfung zu beteiligen›.» gierungsorganisationen in den Prozess, sozioökonomischen Bedingungen, die In der Folge wurde die CEDAW-For- den neuen Aktionsplan 1325 zu gestal- eine substanzielle Beteiligung von Frau- derung aufgegriffen, dass Terrorismus- ten, einbezogen. Fünfzehn NGOs haben en an Friedensprozessen ermöglichen bekämpfung und Verhinderung von sich verpflichtet, dessen Umsetzung kri- oder einschränken, untersucht. gewalttätigem Extremismus in den Ak- tisch zu begleiten. Daraus entwickelte tionsplan aufzunehmen seien. Dabei sich das Projekt «Ziviler Beitrag der Ge- Extremismusbekämpfung als umfasse Verhinderung und Bekämp- sellschaft zur Umsetzung des Schwei- Priorität des vierten Aktionsplans fung von gewalttätigem Extremismus zerischen NAP 1325», das gemeinsam Eines der Hauptziele der Agenda zu «Massnahmen, Programme und Inter- von PeaceWomen Across the Globe, Frauen, Frieden und Sicherheit (WPS) ventionen, die verhindern sollen, dass KOFF/Swisspeace und vom CFD getra- im vierten nationalen Aktionsplan ist Einzelpersonen im Zusammenhang mit gen wurde. In der ersten Projektphase die Prävention von gewalttätigem Ex­ radikalen politischen, sozialen, kulturel- (2018 bis 2019) stand die Konfliktprä- tremismus. Damit kommt die Schweiz len und religiösen Ideologien und Grup- vention im Mittelpunkt mit einem kri- einer Empfehlung des Ausschusses für pen Gewalt ausüben». Als Ursachen tischen Blick auf die Bemühungen, die die Beseitigung der Diskriminierung der von Terrorismus und gewalttätigem Geschlechtergleichstellung sowie die Frau (CEDAW-Ausschuss) nach, «die Extremismus werden soziale, politische Stärkung der Frauen zu sichern. Neben dieser in seiner Betrachtung des dritten und wirtschaftliche Marginalisierung dem Dialog zwischen Zivilgesellschaft NAP 1325 der Schweiz (2013 bis 2016) von Menschen, schwache Beziehungen und staatlichen Akteuren ging es auch ausgesprochen hatte», wie Swisspeace zwischen Staat und Gesellschaft, fehlen- um Forschung, die dazu beiträgt, aus im Friedensmagazin «à propos» vom de Rechtsstaatlichkeit und Menschen- den Erfahrungen von NGOs in heraus- September 2019 ausführt. «Der Aus- rechtsverletzungen aufgeführt. fordernden Kontexten zu lernen. Den schuss drückte Sorge über die ‹unzu- Abschluss dieser Projektphase bildete länglichen Anstrengungen, die Gender- Fortsetzung Seite 18

17 FRIEDENSZEITUNG 31-19 Fortsetzung von Seite 17 ebenfalls zum fragilen Sicherheitsum- die emotionalen und psychischen Aus- feld bei, in dem die Sicherheit von Frau- wirkungen – etwa das Leben in ständi- Im vierten Schweizer Aktionsplan 1325 en stark gefährdet ist. Kommt hinzu, ger Angst vor Gewalt, sexueller Gewalt, sollen die Sicherheit von Frauen und der dass die Bedrohung der Sicherheit von Stigmatisierung ihrer Gemeinschaften, Einbezug von Frauen in der Terroris- Frauen in Kenia mit der langjährigen ge- Belästigung durch Sicherheitskräfte, musprävention stärker gewichtet wer- schlechtsspezifischen Diskriminierung Zerstörung von Familien und wirt- den. Dadurch sei die Rolle von Frauen in verbunden ist, die vor 2010 strukturell schaftliche Benachteiligung. Glückli- Präventionsbemühungen zu fördern so- in der Politik verankert war. Einige kul- cherweise arbeiten in Kenia zahlreiche wie anzuerkennen, dass Frauen sowohl turelle und traditionelle Praktiken dis- NGOs, die sich mit Frauen-, Friedens- Opfer als auch Ermittlerinnen von Ge- kriminieren Frauen, was zur Folge hat, und Sicherheitsfragen befassen. Die walt sein können. Bereits mit der Ver- dass ihr Zugang zu sozioökonomischen Frauen haben durch eigene Ansätze er- abschiedung der Resolution 2242 des Rechten eingeschränkt ist. heblich zur Friedenskonsolidierung und UNO-Sicherheitsrates im Jahr 2015 er- Konfliktbewältigung beigetragen. hielt die geschlechtsspezifische Dimen- Feldforschung in Kenia sion von Gewalt mit der Bezeichnung Während der Feldforschung, die eine Empfehlungen an die Politik «Terrorismus » und «gewalttätiger Ex- Arbeitsgruppe in Kenia durchführte, Dank den umfangreichen Untersuchun- tremismus» mehr Aufmerksamkeit. Es wurde das Thema Rückkehrer aus isla- gen und Recherchen, die auch ausserhalb folgten vermehrt Forderungen nach Be- mistischen Kriegsgebieten in fast jedem der Schweiz durchgeführt wurden, liegt teiligung von Frauen an der Verhütung Interview angesprochen. Es gibt keine heute der ausführliche NGO-Bericht gewaltsamer Konflikte. umfassenden rechtlichen und sicher- «Frauen, Frieden und Sicherheit und die heitspolitischen Regelungen für Rück- Prävention von Gewalt – Überlegungen Exkurs: Ein Blick auf Kenia kehrer. Umso wichtiger ist die transpa- der Zivilgesellschaft zum vierten Schwei- Frau Fauziya Abdi Abdi, die Gründerin rente Arbeitsweise, auch als Mittel gegen zer Nationalplan 1325», verfügbar nur und Präsidentin von «Women in Inter- die Angst vor Repressalien seitens der auf Englisch, vor. Dabei werfen die Auto- national Security» in Kenia und Vorsit- Regierung oder der Sicherheitskräfte. rinnen einen Blick auf verschiedene Län- zende von «Sisters without Borders», Interessant sind die Ausführungen von der und haben zahlreiche Interviews mit einem Netzwerk kenianischer Organi- Hassan Abdille, dem Exekutivdirektor Frauen aus den Philippinen, der Schweiz, sationen, die sich der Prävention von der in Mombasa ansässigen Organisati- aus Afghanistan, Kirgistan, Indien, gewalttätigem Extremismus widmen, on Human Rights Agenda, der erklärte, Grossbritannien, Palästina, Bangladesh, wurde auch zur Tagung in Bern eingela- dass viele Organisationen sich fürchten, Mali oder Kenia geführt. Er geht unter den. Fauziya setzt sich seit Langem für mit Rückkehrern zusammenzuarbei- anderem auf folgende Fragen ein: das Engagement von Frauen für Frieden ten, da sie als «terroristische Sympathi- und Sicherheit ein. An der Konferenz im santen» eingestuft werden könnten. In – Wie sieht der Einbezug von Frauen zur September 2019 in Bern sprach sie über ihrer Arbeit werden sie immer wieder Prävention von gewalttätigem Extremis- die Situation in Kenia. eingeschränkt durch staatlich verübte mus in der Praxis aus? Die grösste Bedrohung für den Gewalt, Islamophobie sowie die Stig- – Welche Auswirkungen hat Prävention Frieden und die Sicherheit Kenias sind matisierung und Marginalisierung von auf zivilgesellschaftliche Organisationen grenz­überschreitende Netzwerke terro- Rückkehrern und ihren Familien. und insbesondere auf Frauenorganisati- ristischer Gruppen, die im benachbarten Insgesamt sind Frauen mit einer onen? Somalia operieren. Die Terrorgruppen Vielzahl von Problemen konfrontiert, – Welche Rolle spielen Frauen bei der Al-Kaida und Al-Shabaab haben verhee- die sich aus ihrer Nähe (oder Zugehö- Prävention gewaltsamer Konflikte, so- rende Angriffe in Kenia gestartet. Die rigkeit) zu nichtstaatlichen bewaffneten wohl innerhalb als auch ausserhalb der Verbreitung illegaler kleiner und leich- Gruppen und staatlichen Sicherheits- Präventionsagenda? ter Waffen sowie von Menschen- und akteuren ergeben. Dazu gehören die Daraus ergeben sich folgende Empfeh- Drogenhandel und von Wilderei tragen Gefährdung der physischen Sicherheit, lungen an die Schweizer Politik:

FRIEDENSZEITUNG 31-19 18 – Die Finanzierung und Förderung der Neue Gewaltpräventionsgelder Agenda für Frauen, Frieden und Sicher- heit erhöhen; – Gender-Analysen fördern und fordern; Der Bundesrat will die Massnahmen Informations- und Sensibilisierungs- – verantwortungsbewusstes Spenderver- gegen Gewalt an Frauen und gegen kampagnen, Bildungsmassnahmen für halten verbessern; häusliche Gewalt verstärken. Er hat Fachpersonen und Präventionsprojekte – negative Zusammenhänge und Auswir- an seiner Sitzung vom 13. November für gewaltbetroffene oder für Gewalt kungen der Terrorbekämpfungs-Agenda 2019 dazu eine neue Verordnung ver- ausübende Personen. Auch die Zusam- ansprechen; abschiedet, die vermehrt Gelder für menarbeit und Koordination zwischen – einen ganzheitlichen Ansatz in Bezug die Gewaltprävention freimachen soll: öffentlichen und privaten Akteuren soll auf den Rückzug, die Rehabilitation und Für 2021 werden drei Millionen Finanz- gefördert werden. Die Verordnung tritt die Wiedereingliederung fördern; hilfe beantragt. auf den 1.1.2020 in Kraft. Das Parlament – keine Waffen verkaufen, mit denen zu wird über den vorgesehenen Finanzhil- irgendeinem Zeitpunkt nach dem Kauf Die Regierung begründet die neue fekredit von drei Millionen Franken im Menschenrechtsverletzungen begangen Massnahme damit, dass die Gewalt ge- Rahmen des Voranschlags­ 2021 befin- werden können. gen Frauen und häusliche Gewalt auch den. Für die Vergabe der Gelder ist das in der Schweiz weit verbreitet seien und Eidgenössische Büro für die Gleichstel- grosses Leid verursachten: «In der poli- lung von Frau und Mann zuständig. zeilichen Kriminalstatistik wurde 2018 Im Rahmen des Übereinkommens mit 18'522 Straftaten ein neuer Höchst- des Europarats zur Verhütung und Be- Material stand im Bereich der häuslichen Gewalt kämpfung von Gewalt gegen Frauen – www.unesco-vlaanderen.be/media/84650/tea- registriert, das sind 1498 Straftaten und häusliche Gewalt, der sogenann- cher_guide_prevention_violent_extremism.pdf mehr als im Vorjahr (+ 8,8 Prozent). Jede ten Istanbul-Konvention, die 2018 in – http://koff.swisspeace.ch/fileadmin/ user_upload/koff/Documents/20190827report- Woche ist eine Person Opfer eines Tö- Kraft getreten ist, hat sich die Schweiz nap1325.pdf tungsversuchs. Letztes Jahr starben 27 bereits zu einem umfassenden Engage- – http://koff.swisspeace.ch/fileadmin userupload/ Personen, davon 24 Frauen.» ment gegen physische, psychische und koff/Documents/20190827reportnap1325.pdf sexuelle Gewalt gegen Frauen wie auch Bilder Gelder für Gewaltprävention ab 2021 gegen Stalking, Zwangsheirat, weibliche Street Art by Swoon. Creative Commons Mit der nun verabschiedeten neuen Ver- Genitalverstümmelung und Zwangs- Friedenszeitung Siehe auch unsere Beiträge zum Thema in ordnung schafft der Bundesrat die recht- abtreibung verpflichtet. Im Bereich der der FRIEDENSZEITUNG Nr. 25 vom Juni 2018 liche Grundlage für Massnahmen zur häuslichen Gewalt gilt der Schutz allen (UNO-Resolution 1325) sowie in der Nr. 27 vom Verhütung von Gewalt gegen Frauen. betroffenen Personen, unabhängig vom Dezember 2018 (Istanbul-Konvention). Gefördert werden sollen zum Beispiel Geschlecht. (pw)

19 FRIEDENSZEITUNG 31-19 Buchvernissage vom 1. November 2019 wickeln. Darum war mir, wie eingangs erwähnt, die ganze Familie Ragaz von klein auf vertraut und habe ich mich Gastrecht am Gartenhof am Gartenhof immer wie zuhause ge- fühlt. Etwa seit Mitte der Sechziger- jahre ging ich dank Aktivitäten im Service Civil International SCI, in der Rund 80 Personen fanden sich am 1. zur Schweiz als AG – zu seiner zentralen Internationale der Kriegsdienstgegner November 2019 am Gartenhof ein, Idee. Um nicht im Theoretischen ste- IdK und etwas später vor allem für die um das Erscheinen des Buches «Haus cken zu bleiben, wurde die Gründung Waffenausfuhrverbots­initiative im Frie- Gartenhof in Zürich» zu feiern. Die drei einer Produktionsgenossenschaft an densrat im Gartenhof ein und aus. Ich Autoren Ruedi Epple, Ruedi Brassel und die Hand genommen. Die Wahl fiel auf habe mir denn auch eingebildet, dass ich Peter Weishaupt stellten das Buch vor, eine Schreinerei – die heute noch beste- ihn durch und durch kennen würde. Laura Huonker lieh Clara Ragaz ihre hende Genossenschaft Hobel –, da sich Stimme, Hans-Jakob Ragaz trat mit sei- mein Vater als Berufsmann für die Lei- Widerstand gegen aufkeimenden ner Klezmerband auf, und Eva Ragaz er- tung zur Verfügung stellte. Nationalsozialismus zählte sehr persönlich von ihren Gross- Trotz Älterwerden, Familiengrün- Bei der Lektüre des Buches «Haus Gar- eltern. Nachfolgend bringen wir eine dungen, beruflichen und teilweise politi- tenhof in Zürich» musste ich feststellen, Gartenhof-Reminiszenz von SFR-Präsi- schen Karrieren hielt sich der Escherbund dass dem nicht so war. Ich hatte bei- dent Ruedi Tobler, einen Bericht über als Gemeinschaft. Drei Aktivitäten mach- spielsweise schon von der Verweige- die Vernissage von Laura Huonker, ei- ten dies möglich. Jedes Jahr an Pfingsten rung der Verdunkelung gehört, aber erst nen Nachtrag von Ruedi Strahm sowie gab es ein Treffen, das jeweils auf dem durch das Buch ist mir bewusst gewor- eine Rezension von Liliane Studer. «Herzberg», dem vom Vater der Volks- den, dass dies Teil einer vielfältigen Wi- bildung in der Schweiz, Fritz Warten- derstandskultur gegen den aufkommen- weiler, gegründeten Volksbildungsheim den Faschismus war, die zu dieser Zeit Ruedi Tobler am Jurasüdhang ob durchgeführt ebenso notwendig wie riskant war. Eine wurde. Wartenweiler hat den Escherbund tragende Säule dieses Widerstandes war stark mitgeprägt, der das lebenslange die religiös-soziale Bewegung, ein zen­ Lernen auf einmalige Art gelebt hat. Je- traler Ort der Gartenhof. Das Haus an der Gartenhofstrasse 7 war des Treffen hatte ein Thema, das schon Der nach dem Krieg konstruierte für mich von klein auf «der Gartenhof». im Voraus in der Zeitschrift – dem Neuen Mythos vom wehrhaften Igel, der sich Ich kann nicht sagen, wann ich zum ers- Bund – eingeleitet worden war. Selbst- todesmutig gegen den die Schweiz um- ten Mal dort gewesen bin. Die Familie verständlich trafen sich nicht nur die er- zingelnden Faschismus gewehrt habe, von Trudi und Jakob Ragaz war mir seit fahrenen ‹Politfüchse›, sondern die ganze diente nicht nur zur Ablenkung von den jeher vertraut, beide gehörten wie meine Familie war mit von der Partie. Für uns weit verbreiteten Sympathien für Hit- Eltern zum Escherbund. Entstanden war Kinder gab es nicht einfach einen Hüte- ler und den Nationalsozialismus, son- dieser in den 1930er-Jahren als Wider- dienst; wir hatten ein eigenes Programm, dern auch von der offiziellen Politik, die standsgruppe gegen den aufkommenden das uns stark in Anspruch nahm. durch Anpassung an die Achsenmäch- Faschismus, auch in der Schweiz. Davon te (z.B. Pressezensur, Verdunkelung, ist fast nichts überliefert; etwas Weniges Kinder waren kein Beigemüse Rückweisung jüdischer und politischer habe ich von meinen Eltern erfahren, vor Ähnlich gelagert waren die alle zwei Jah- Flüchtlinge) und Nützlichkeit für die- allem von der Mutter. Erst als klar wur- re stattfindenden Herbstlager an unter- se (z.B. Goldwäsche, Offenhaltung der de, dass die Achsenmächte von den Alli- schiedlichen Orten. Auch sie befassten Nord-Süd-Transportachse, Kriegsmate- ierten militärisch besiegt werden, haben sich mit einem im Neuen Bund vorbe- riallieferungen) geprägt war.1 meine Eltern geheiratet, nicht etwa im reiteten Thema, liessen aber auch Zeit Kreis der Verwandtschaft, sondern im für Ausflüge. Besonders in Erinnerung Der Mythos der Wehrhaftigkeit Rahmen des Escherbundes mit einem geblieben ist mir ein Sonnenaufgang auf Die im Nachhinein beschworene Einig- gemeinsamen Wochenende im «Mösli» dem Brienzer Rothorn. Etwas anders keit in der Abwehr der äusseren Bedro- (dem Kinderfreundeheim auf der Albis- gelagert waren die alternierend zu den hung machte den antifaschistischen Wi- kette in der Nähe von Zürich). Herbstlagern stattfindenden Ausland­ derstand unsichtbar und beanspruchte reisen, sie waren keine Familienanlässe, das Monopol für dessen nationalistische Der Escherbund am Gartenhof aber immer Bildungsreisen, mit Vor- Deutung. Dabei war beispielsweise Fritz Für den Escherbund rückte die Ausei­ und Nachbereitung. Wartenweiler während dem Zweiten nandersetzung um Selbstverständnis Sowohl an den Pfingsttreffen wie Weltkrieg mit über 6000 Vorträgen für und Rolle der Schweiz in der Nach- in den Herbstlagern waren wir Kinder, die Sektion Haus und Heer unermüd- kriegsordnung und ihre Stellung in der wie gesagt, nicht einfach ‹Beigemü- lich unterwegs, die ihm als Plattform für Welt ins Zentrum. Der Escherbund war se›, das beschäftigt werden musste, um die Volksbildung diente. Auch wurde im denn auch eine der Gründungsorganisa- den Erwachsenen ungestörte Vorträge Nachhinein das Engagement vieler anti- tionen des Friedensrates. Und weil er ei- und Diskussionen zu ermöglichen. Die militaristischer Sozialisten, die sich noch nige Ökonomen in seinen Reihen hatte, Programme waren miteinander verwo- in der Zwischenkriegszeit möglichst so auch Jakob Ragaz, wurde eine genos- ben, wir gehörten dazu und konnten dem Militärdienst zu entziehen versuch- senschaftliche Schweiz – im Gegensatz so auch ein Gemeinschaftsgefühl ent- ten, aber im Kampf gegen den Faschis-

FRIEDENSZEITUNG 31-19 20 mus bereitwillig Aktivdienst leisteten, haben. Dass sie schon lange vor uns ge- faktisch unter den Tisch gewischt.2 lebt wurde, dokumentiert das Garten- Bis in die Gegenwart hi­nein wirkt der hof-Buch. Etwas von dieser ganzheitli- Mythos der Wehrhaftigkeit als Legiti- chen Grundidee der Friedensarbeit und mation für eine überdimensionierte Ar- Vielfalt im Haus ist am Gartenhof auch mee, die eine «autonome Verteidigung» heute noch anzutreffen. Ein Enkel von gegen einen nicht vorhandenen Feind Clara und Leonhard Ragaz wohnt im ermöglichen soll. In seinem Beitrag gibt Haus, das im dritten Stock zudem eine Peter Weishaupt eine kleine Rundschau Wohngemeinschaft beherbergt. Das zu den Aktivitäten des Friedensrates seit Anwaltsbüro im ersten Stock erbringt seinem Einzug im Gartenhof. Dienstleistungen weit über das Quartier hinaus. Grosszügiges Gastrecht Als nach dem Auszug des SCI-Sekretari- 1 Siehe dazu beispielsweise Markus Heiniger: Drei- ates der Gartenhof zu meinem Arbeits- zehn Gründe – Warum die Schweiz im Zweiten Weltkieg nicht erobert wurde. Limmat Verlag, Zü- platz für das Waffenausfuhrverbot wurde, rich 1989, 266 Seiten. wunderte ich mich, zu welch unterschied- 2 Siehe dazu: In Gedenken an Arthur Villard, FRIE- lichen Zwecken der Saal benutzt wurde. DENSZEITUNG Nr. 23, Dezember 2017, Seite 14. Dass er nicht nur für Sitzungen diente, hatte ich schon gewusst, das machten Die Frauen vergessen auch die zwei Klaviere deutlich, die dort ihren Standort hatten. Das Gastrecht der «Haus Gartenhof in Zürich. Raum für des Schweizerischen Friedensrats und sozialen Musikschule schien mir nahelie- vernetzte Friedensarbeit» heisst der Titel sie wirkte still und im Hintergrund als gend. Ebenso dass Trudi Ragaz sich für des historischen Buchs zur Geschichte stabilisierende Kraft neben dem Präsi- die Mütterberatungen einen Arbeitsweg des Familiensitzes von Leonhard Ragaz denten Hansjörg Braunschweig, der als ersparen konnte. Welche Schachgruppe und Familie und des langjährigen Netz- Amtsvormund und Nationalrat häufig sich am Samstagnachmittag zum Spielen werk-Zentrums des Schweizerischen nicht verfügbar war. Berti Wicke wirk- traf, ist mir nie klar geworden. Der Saal Friedensrats an der Gartenhofstrasse te ab Mitte der 1960er-Jahre auch als strahlte sowieso etwas Sakrales aus; mit 7 in Zürich. Es ist verdienstvoll, dass Präsidentin des Schweizer Zweigs der den schweigenden Schachspielern wurde die Geschichte dieses historisch be- Internationalen Frauenliga für Frieden er auch noch unzugänglich. deutsamen Ausstrahlungszentrums der und Freiheit (IFFF) in einer wichtigen Ob es damals regelmässige Sitzun- schweizerischen Friedensbewegungen Verbindungsstelle, die früher von Clara gen am Abend gab, kann ich heute nicht aufgearbeitet worden ist. Doch es gehört Ragaz betreut worden war. mehr sagen; sehr häufig waren solche sich, hier zu erwähnen, dass in diesem Berti Wicke und Helen Kremos wa- jedenfalls nicht. Damals mussten wir fast zweihundertseitigen Band zwar un- ren während Jahrzehnten wichtige Spon- jeweils noch Reservationsanfragen ma- zählige Protagonisten und ihre Verdiens- sorinnen der Gartenhofstrasse und der chen. Für den Abstimmungskampf zum te aufgezählt werden, aber die beiden verschiedenen friedenspolitischen und Waffenausfuhrverbot erhielten wir eine wichtigen Friedensfrauen Berthe Wicke religiös-sozialen Gruppierungen. Auch generelle Erlaubnis, den Saal zu benüt- (1905–1996) und ihre Freundin Helen der Ostschweizer Escherbund gehörte zen, wenn er frei war. Erst einige Zeit Kremos (1905–1996) mit keinem Wort zu den Nutzniessern. 1979 gründete Ber- später erhielt der Friedensrat – gewis- Erwähnung und Würdigung finden. ti Wicke eine Stiftung für die Förderung sermassen als Nachfolgeorganisation Berti Wicke war ab 1956 jahrelang von Friedens- und Entwicklungsprojek- von Arbeit und Bildung, die formell «Schriftleiterin» (so nannte man die ten mit Schwerpunkt Frauenförderung. aufgelöst wurde – einen Mietvertrag für Redaktorin) der Neuen Wege. Auch ihre Die Vermögen von Wicke und Kremos das gesamte Parterre. Lebenspartnerin Helen Kremos wirkte sowie ihre Liegenschaft wurden nach ih- bei der Redaktion mit. Die Zeitschrift rem Tod der Berti Wicke-Stiftung über- Der mehrdimensionale Ansatz hätte nach der Spaltung der Bewegung tragen. Diese Stiftung finanzierte mit Auch da ist mir bei der Lektüre des von 1948 ohne Berti Wicke nicht über- 30’000 Franken auch das erwähnte Buch Buchmanuskripts ein Licht aufgegan- lebt. Sie besorgte (zuerst noch mit Paul «Haus Gartenhof in Zürich». gen. Die Nutzung des Saales entsprach Furrer, dann allein) nicht bloss die Re- Die beiden Frauen hätten in diesem dem ganzheitlichen und mehrdimensio- daktion und teilweise die Administra- Geschichtsbuch eine Erwähnung ver- nalen Ansatz – der vom Engagement in tion gänzlich ehrenamtlich, sondern dient. Ich habe mich gefragt, ob eine der Quartierarbeit bis zum weltumspan- steckte aus ihrem Lohn als Sprachleh- Frau als Verfasserin des betreffenden nenden Friedensnetz in der Frauenliga rerin und Dr.phil. an der Handelsschule Zeitabschnitts in dieser Schrift auch für Frieden und Freiheit IFFF reichte. Da KVZ recht viel an eigenen Mitteln in das zum Schluss gekommen wäre, das Wir- war die Mütterberatung ebenso logisch Überleben der Zeitschrift. Im Vergleich ken der beiden Friedensfrauen Berti Wi- Bestandteil wie die soziale Musikschule, zu den Neuen Wegen ist das Blatt Der cke und Helen Kremos so gänzlich zu oder eben auch ein Schachclub. So wie Aufbau, das nach 1948 von der Gruppe ignorieren. im Haus Flüchtlinge und später Studie- um die Ragaz-Nachkommen gegründet Rudolf Strahm rende Aufnahme gefunden haben. worden war, bald eingegangen. Präsident der Berti Wicke-Stiftung Nach 1968 glaubten wir Jungen, die Berti Wicke war in den 1960er- und Idee der Ganzheitlichkeit erfunden zu 1970er-Jahren auch Vize-Präsidentin

21 FRIEDENSZEITUNG 31-19 Besprechung des Buches «Haus Gartenhof in Zürich» Offene Türen – der Gartenhof in Zürich Die Zeitschrift Neue Wege Das Haus an der Gartenhofstrasse im «Im letzten Viertel des 19. und zu Beginn Die Redaktion der Neuen Wege wurde Zürcher Kreis 4 fällt auf. Umgeben von des 20. Jahrhunderts waren in zahlrei- vom Höngger Pfarrer Paul Trautvetter grauen Betonbauten ändert es, von chen Armenquartieren europäischer, übernommen, der seit Jahrzehnten zu Wilden Weinreben überwachsen, die amerikanischer und asiatischer Gross- den treuesten Unterstützern von Leon- Farbe der Aussenwände mit den Jah- städte sogenannte Settlements entstan- hard Ragaz gehörte. Hinzu kam der ur- reszeiten. Am Gartenhof – so die Re- den. Diese Siedlungen waren Nieder- sprünglich aus Deutschland stammende deweise – befindet sich seit 1972 die lassungen wohlhabender und gebildeter und in der Romandie lebende Journalist Geschäftsstelle des 1945 gegründeten Frauen oder Männer, die in ihrer neuen Hugo Kramer. «Diese beiden Personen, Schweizerischen Friedensrates. Auch Nachbarschaft ‹ein anderes Land›, das Trautvetter und Kramer, beide stark die FRIEDENSZEITUNG wird hier pro- Proletariat, kennenlernen und dieses verwurzelt in der religiös-sozialen Be- duziert. mit Jugend-, Bildungs- und Sozialarbeit wegung, standen dann, nur wenige Jah- unterstützen und beeinflussen wollten.» re später, im Mittelpunkt des Konfliktes, Liliane Studer (Ruedi Epple) Am Gartenhof gab es etwa der sich um die Haltung der Religiös-­ Nähkurse für Frauen und einen Hort, Sozialen im aufkeimenden Kalten Krieg damit die Kinder während der Zeit, in entspann und der schliesslich zu einer der die Mütter die Kurse besuchten, be- Spaltung dieser Bewegung führen sollte. 2020 wird der Schweizerische Friedens- aufsichtigt waren. Dass sich dieser Konflikt 1947 um den rat 75 Jahre alt. Dieses Jubiläum nimmt Kurs der Zeitschrift Neue Wege entzün- die friedenspolitische Organisation, in Die Friedensarbeit von Clara Ragaz dete, war kein Zufall. der sich kurz nach dem Zweiten Welt- und Jane Addams Die Neuen Wege waren für den Kreis krieg verschiedene Organisationen Clara Ragaz und Jane Addams fühlten der Religiös-Sozialen im weiteren Um- zusammenschlossen, um einer aussen- sich, lange bevor sie sich persönlich feld wie auch für die im und um den politischen Öffnung des Landes mehr kennenlernten, verwandt, sie verteidig- Gartenhof in Zürich aktiven Menschen Gewicht zu verleihen, zum Anlass, die ten dieselben Grundhaltungen, sei es von herausragender Bedeutung, nicht vielfältigen politischen Aktivitäten, die bezüglich Friedenspolitik oder Frauen­ allein weil die Neuen Wege in den Sta- vom Gartenhof ausgegangen sind, ge- emanzipation, und nachdem sie sich tuten der Religiös-sozialen Vereinigung nauer zu untersuchen. im Frühjahr 1919 persönlich begegnet als deren Organ verankert waren. Die Im Buch «Haus Gartenhof in Zürich. waren, tauschten sie sich über Jahr- Neuen Wege waren mehr als das. Sie Raum für vernetzte Friedensarbeit», das zehnte vor allem in Briefform aus und waren insbesondere das Symbol für die ausgeht vom Ehepaar Clara und Leon- erzählten sich auch manches aus dem Eigenständigkeit, aber auch für die Wi- hard Ragaz-Nadig – die beiden haben persönlichen Alltag, wobei beide Frauen derständigkeit einer Bewegung, die sich das Haus 1922 mit Geldern von Claras politische Arbeit und Privatleben kaum an der damals bereits mehr als vierzig- Frauengut gekauft –, wird zum einen die trennten. Clara Ragaz und Jane Addams jährigen Geschichte dieser Zeitschrift Bedeutung der Frauen in der friedens- engagierten sich gemeinsam in der In- festmachte, einer Bewegung, die sich politischen Arbeit nachgezeichnet. Hier ternationalen Frauenliga für Frieden im religiösen Bereich gegen das Aufge- stehen vor allem Clara Ragaz und de- und Freiheit IFFF. Hier fand Clara Ragaz hen in kirchlichen Institutionen ebenso ren Tochter Christine Ragaz im Fokus. Gleichgesinnte, mit ihnen gemeinsam verwahrte wie im politischen Bereich Zum anderen ist nachzulesen, wie die verfolgte sie auf internationaler Ebene gegen die Linientreue eines Parteisozia- religiös-soziale Haltung das Wirken von frauenfriedenspolitische Ziele – nicht lismus.» (Ruedi Brassel) Leonhard Ragaz und dessen Nachfolger immer zur Freude ihres Ehemannes. geprägt hat und bis heute prägt. Leonhard Ragaz wiederum widmete Der Bruch in der Bewegung sich nach dem Rücktritt von seiner Pro- Zum offenen Bruch innerhalb der Reli- Versuchsphase Settlement fessur an der Universität Zürich 1921 giös-sozialen Bewegung kam es 1948 in Der Historiker Ruedi Epple folgt den ganz seinen publizistischen Aufgaben. der Frage, wie der Einmarsch der Sow- Spuren insbesondere Clara Ragaz’ bis in Bereits 1906 war er Mitbegründer und jetunion in die Tschechoslowakei zu be- die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Namensgeber der Zeitschrift Neue Wege urteilen sei. Paul Trautvetter distanzier- Dass im Zürcher Kreis 4 ein Settlement und wohl deren profiliertester Redak- te sich als Neue Wege-Redaktor von der entstehen sollte nach den Vorbildern in tor. Ab April 1924 bis zu seinem Tod im Aussage des Kolumnisten Hugo Kramer, London und Chicago, dürfte bis anhin Dezember 1945 war Leonhard Ragaz der in seiner regelmässig erscheinenden wenig bekannt gewesen sein. Clara Ra- alleiniger Redaktor der Zeitschrift und Kolumne «die westliche Reaktion auf gaz kannte diese Form eines Gemein- prägte diese wesentlich. Sein Tod führ- den Umsturz in Prag ‹als an Panik gren- wesens, die von Jane Addams, Friedens- te denn auch zu Streitigkeiten innerhalb zende Erregung› bezeichnete» (Brassel). nobelpreisträgerin von 1931, entwickelt der Redaktion, wie der Basler Histori- In der Folge kam es zur Gründung der wurde und in der Angebote für Frauen ker Ruedi Brassel in seinem Beitrag zur «Neuen sozial-religiösen Bewegung», und für Kinder tragende Elemente wa- «Nach-Leonhard-Zeit» detailliert aus- deren Publikationsorgan die Zeitschrift ren. führt. Aufbau wurde. Neben Paul Trautvetter

FRIEDENSZEITUNG 31-19 22 Leonhard und Clara Ragaz (Bildarchiv Familie Ragaz) schlossen sich die am Gartenhof woh- von Leonhard und Jakob Ragaz unter- für hitzige Diskussionen genutzt, hier nenden Mitglieder der Familie Ragaz stützt, die Sozialarbeit für Flüchtlinge entstand nicht nur die Friedenszeitung an, unter ihnen insbesondere Christine auf, die sich zahlreicher und öfter an in kreativer Nachtarbeit, sondern ab den und Jakob, der auch Redaktor des Auf- den Gartenhof wandten.» (Ruedi Epple) späten 1970er-Jahren auch der virus, bau wurde. Es ist eindrücklich zu lesen, mit welch das antimilitaristische Monatsmagazin, Doch kehren wir nochmals zurück beispiellosem Engagement, das Mutter oder die zahlreichen themenbezoge- zu den vielfältigen Aktivitäten von und Tochter Ragaz immer wieder an nen Broschüren, die der Schweizerische Clara Ragaz und Christine Ragaz in den Rand der Erschöpfung brachte, Cla- Friedensrat über Jahre regelmässig ver- den 1930er-Jahren und während des ra und Christine die Türen am Garten- öffentlichte. Zweiten Weltkrieges. «Im Laufe der hof für Flüchtlinge öffneten, sie bei der Das Buch über den Gartenhof in 1930er-Jahre mutierte der Gartenhof Flucht unterstützten, sie mit Dokumen- Zürich gibt einen spannenden Einblick vom Settlement als Volkshochschule zur ten ausstatteten und ihnen auch finanzi- in die Geschichte dieses Hauses und Auskunftsstelle für Flüchtlinge (Aus- ell unter die Arme griffen. vor allem in die vielfältigen Aktivitäten kunftsstelle). (…) Die Flüchtlingsarbeit friedens- und frauenpolitischer Aktivi- drängte sich dem Gartenhof deshalb auf, Die Nach-68er-Aktivitäten täten, die bis heute andauern. Die un- weil in Italien und Deutschland politi- Der dritte Teil über die Geschichte des terschiedliche Herangehensweise der sche Kräfte im Vormarsch waren, die auf Hauses Gartenhof in Zürich widmet sich drei Autoren Ruedi Epple, Ruedi Brassel Gewalt setzten und denen gegenüber er den Jahren nach 1968, als dort eine jün- und Peter Weishaupt erweist sich als und seine Verbündeten sowohl auf nati- gere Generation Fuss fasste, die Themen Bereicherung, legen sie doch, bedingt onaler als auch auf internationaler Ebe- wie Militärdienstverweigerung, Waffen- durch ihren je eigenen Bezug zu Frie- ne in die Defensive geraten waren. Mit ausfuhrverbotsinitiativen, Militär und denspolitik, ihre persönlich gefärbten dieser Neuorientierung verbanden sich Ökologie sowie Kampf gegen die Nach- Schwerpunkte vor. Die anregende Ein- Verschiebungen im Netzwerk, das den rüstung mit atomaren Mittelstrecken- leitung von Ina Boesch führt stimmig Gartenhof umgab. Zudem kristallisier- raketen einbrachte. Die Geschäftsstelle in den Band ein und macht Lust, sich te sich innerhalb des Gartenhofs eine des Schweizerischen Friedensrates, der intensiver mit dem Haus und seinen deutlichere geschlechtsspezifische Ar- seit 1972 an der Gartenhofstrasse 7 be- Bewohner­Innen zu beschäftigen. beitsteilung heraus. heimatet war, erwies sich als geeigne- Ina Boesch, Ruedi Brassel, Ruedi Epple, Peter Leonhard Ragaz, von der ersten ter Ort, um zu koordinieren, Aktionen Weishaupt: Haus Gartenhof in Zürich. Raum für Phase eher enttäuscht, konzentrierte auszuhecken, Kräfte zu bündeln und vernetzte Friedensarbeit. Chronos Verlag, Zürich sich zunehmend auf die Arbeit für die Streithähne an einen Tisch zu bringen 2019. 192 Seiten, ca. CHF 38.–. Zeitschrift Neue Wege und später auf (wobei Letzteres nicht immer gelang). Erstmals erschienen in Neue Wege, November 2019 sein mehrbändiges Bibelwerk. Clara Wie auch in den vorangegangenen Jahr- und Christine Ragaz hingegen bauten, zehnten wurde der Saal im Erdgeschoss Bericht von der Buchvernissage auf Seite 27

23 FRIEDENSZEITUNG 31-19 Vor der Lancierung der Service-Citoyen-Volksinitiative: Zukunftsvision – oder holt uns die Vergangenheit ein? «Bürgerdienst» – alter Wein in neuen Schläuchen

Seit 2011 ist eine Gruppe junger Leu- te ist der einzelne junge Schweizer des Freie Dienstwahl. Im zweiten Absatz, te aus der Westschweiz mit der Idee 21. Jahrhunderts unzähligen Reizen jeg- erster Satz wird der Grundsatz der freien eines allgemeinen Bürgerdienstes be- licher Art ausgesetzt; die rasche Globa- Dienstwahl erläutert. Jeder Bürger und schäftigt und möchte im Frühling 2020 lisierung der Wirtschaft, das schnellere jede Bürgerin wird die freie Wahl haben, eine entsprechende Volksinitiative Reisen, die Informationsflut, die zuneh- zwischen den verschiedenen Möglichkei- lancieren. Im Wesentlichen fordert sie, mende Abhängigkeit von der Techno- ten des Bürgerdienstes zu wählen. An sich «die militärische und männliche Wehr- logie und die Massenunterhaltung, die ist der Bürgerdienst nicht neu; er vereint pflicht zu einem allgemeinen Dienst Explosion des Konsums und Werten und erweitert das System der Wehrpflicht an der Gemeinschaft umzuwandeln», des kurzfristigen Genusses. In einigen und koordiniert die Verteilung der Bürge- sprich die Dienstpflicht auf Frauen und Fällen fehlen die Bezugspunkte, um sich rinnen und Bürger in den verschiedenen AusländerInnen auszuweiten. Nachfol- in der Gesellschaft eine stabile Identität Strukturen des öffentlichen Allgemein- gend eine Einschätzung und Kritik die- aufzubauen, bis zu dem Punkt, dass die wohls. Der Begriff des ‹gleichwertigen ser nicht gerade neuen Idee. Isolation und der Mangel an sozialer In- Dienstes› impliziert, dass neue Dienste tegration heutzutage eine ernsthafte Be- im öffentlichen Interesse durch das Ge- / Ruedi Tobler / drohung für die Jugend darstellt.» setz anerkannt werden können, so wie zum Beispiel die freiwillige Feuerwehr, In einem 2015 veröffentlichten «Mani- Kritik an der «Wehrungerechtigkeit» der Samariterbund oder auch kommuna- fest für einen Bürgerdienst» analysiert Gleichzeitig kritisiert das Manifest «die le Mandate. Im Idealfall könnten gleich- die in Genf domizilierte Gruppe «Ser- unzureichende Umsetzung der Wehr- wertige Dienste auch durch die Kantone vice Citoyen» ihr Anliegen wie folgt: pflicht in der Praxis: In der Altersgrup- oder Gemeinden organisiert werden; die- pe von 18 bis 25 Jahren erfüllen heut- se müssten allerdings noch vom Bund ko- «Eine Gesellschaft im Wandel. Eine zutage schätzungsweise nur einer von ordiniert und anerkannt werden.» Reihe von Veränderungen wie die Glo- vier Schweizern tatsächlich ihre Dienst- balisierung, die digitale Revolution, die pflicht, ob militärisch, zivil oder im Zi- Warum sollen jetzt die Frauen ran? alternde Bevölkerung und der Rück- vilschutz. Die Hälfte eines Jahrgangs ist Der Einbezug der Frauen in eine allge- gang der Geburten sind ein Aufruf zu zurzeit verleitet oder gar genötigt, eher meine Dienstpflicht wird so begründet: handeln. Die Veränderungen des 21. die Ersatzabgabe zu begleichen, anstatt Jahrhunderts sind brutal sowohl für die einen nützlichen Dienst an der Gemein- «Bürgerschaft ohne Ausnahmen. His- Gesellschaft als auch für die Einzelper- schaft auszuüben. Diese Ungleichbe- torisch gesehen ist die Schweiz ein Land, sonen, die sie ausmachen. Auf der einen handlung unter den jungen Bürgern das sich die Zeit gelassen hat, die staats- Seite erfordern die neuen Herausforde- stellt das Prinzip der allgemeinen Wehr- bürgerliche Gleichstellung von Männern rungen der sozialen und ökologischen pflicht in Frage.» Daher spreche «alles und Frauen zu gewährleisten. Doch wie Entwicklungen eine Verbesserung der zugunsten des bürgerschaftlichen En- das jüngste Beispiel des frauendominier- sozialen Trägereinrichtung und zum gagements, welches der nationalen An- ten Bundesrats zeigt, macht die Diskrimi- anderen fordert die verwirrende Hyper­ strengung in allen seinen Formen dient nierung zwischen Schweizerinnen und aktivität des modernen Lebens zu einer und die Inte­gration von jedem Einzel- Schweizern in der Ausübung der Rechte Stärkung der Institutionen mit einer nen fördert». und Pflichten in unserer heutigen Zeit Förderung des Zusammenhalts und der keinen Sinn mehr. Die freie Dienstwahl sozialen Integration auf. Die Ziele des «Bürgerdienstes» im Rahmen des Bürgerdienstes unterbin- Das auf nächstes Jahr angekündigte det das Argument der Diskriminierung Das Individuum und die Gesellschaft. Volksbegehren hat folgende Ziele (siehe aufgrund von körperlicher Leistungsfä- Die Harmonie und der soziale Zusam- Kasten «Volksinitiative Bürgerdienst»): higkeit oder angeblichen Schwachstellen menhalt leiden an den Ausmassen und des weiblichen Geschlechts. Es handelt der Geschwindigkeit dieses Wandels. «Einer für alle, alle für einen. Der erste sich hierbei um eine vollständige Integ- Der traditionelle Familienkern zerfällt, Absatz des neuen Artikels 59 der Bun- ration der Frauen in die aktive Bürger- ethnische Gemeinschaften klammern desverfassung stellt den Grundsatz einer schaft und darum, ihnen die gleichen sich an ihre Identitäten und die interge- bürgerlichen Dienstpflicht dar; jeder ein- Chancen zu bieten. Daher steht der Bür- nerationellen Beziehungen laufen ausei- zelne Schweizer Bürger wird die Pflicht gerdienst für eine materielle Gleichheit nander. Auf der einen Seite kommt es zu haben, sich in einem anerkannten Dienst der Chancen und Pflichten zwischen einem Zerfall der Beziehungen, die un- für das Gemeinwohl zu engagieren. Der Schweizerinnen und Schweizern.» sere ganz eigene Willensnation ausma- Dienst wird sich ohne Diskriminierung chen mit einem gleichzeitigen Rückgang an Männer und Frauen der aktiven Bür- Kritik an der Wehrpflichtausweitung des Bewusstseins für den demokrati- gerschaft richten. Das Alter der Stel- In einem Papier zuhanden des Vorstan- schen Raum und der Bedeutung der lungspflicht (18 bis 25) wird in seinem des des Schweizerischen Friedensrates im Staatsbürgerschaft; auf der anderen Sei- aktuellen Zustand beibehalten werden. Oktober 2019 habe ich, Ruedi Tobler, aus-

FRIEDENSZEITUNG 31-19 24 len Fragen verlangt, die dieser gemäss seiner befürwortenden Antwort in ei- Volksinitiative Bürgerdienst nem bereits 2017 in Auftrag gegebenen Die Bundesverfassung der Schwei- Bericht zur «Alimentierungssituation zerischen Eidgenossenschaft vom «Bürgerdienst» – alter Wein in neuen Schläuchen von Armee und Zivilschutz» prüfen 18. April 1999 wird wie folgt geän- könnte. Die Initianten halten das für dert: eine neue zukunftsweisende Idee. Art. 59 Bürgerdienst führlich Bedenken an diesem Volksbe- 1. Jede Schweizerin und jeder gehren geäussert, die ich hier aufnehme: Eine uralte, aber wohl untote Idee Schweizer leistet einen Bürger- Schon bevor ich den provisorischen Einer solchen Idee kann ich gar nichts dienst zugunsten von Gesellschaft Initiativtext und das «Manifest für einen abgewinnen, es handelt sich bestenfalls und Umwelt. Bürgerdienst» gesehen habe, war mir um alten Wein in neuen Schläuchen. 2. Der Bürgerdienst wird als Mili- der Grundgedanke der Initiative mehr Das Jammern über die Probleme mit tärdienst oder in Form eines im Ge- als nur suspekt. Dabei hat das Mani- dem Milizsystem ist nicht neu. So woll- setz vorgesehenen gleichwertigen fest meine schlimmsten Befürchtungen ten Bundesrat und Parlament 1939 nach Milizdienstes geleistet. übertroffen. Offenbar haben die jungen dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges 3. Der Bürgerdienst ist so auszuge- Leute keine Ahnung davon, welche Aus- das Obligatorium für den militärischen stalten, dass der Sollbestand der Ar- einandersetzungen um die allgemeine Vorunterricht einführen: «Ohne Zwang mee garantiert ist. Der Bund schafft Dienstpflicht es seit Jahrzehnten in der ist die notwendige Härte für die Landes- die notwendigen Anreize dafür. Schweiz gegeben hat. Ihr historisches verteidigung leider nicht zu erreichen», 4. Das Gesetz bestimmt, inwie- Gedächtnis reicht gerade mal zurück bis so argumentierte damals die BGB. Reli- fern Personen ohne schweizerische zur GSoA-Initiative für die Aufhebung giöse Kreise ergriffen jedoch das Refe- Staatsbürgerschaft Bürgerdienst der Wehrpflicht, die 2013 in der Volks- rendum und bodigten die Gesetzesvor- leisten dürfen. Sie sind vom Militär- abstimmung klar abgeschmettert wurde lage am 1. Dezember 1940 deutlich mit dienst ausgeschlossen. (73,2 Prozent Nein). 55,7 Prozent Nein-Stimmen. 5. Personen, die keinen Bürger- Es ist nicht nötig, hier die Geschich- dienst erbringen, schulden eine Ab- «Die Armee ist das Volk» – reloaded te der – zum Glück erfolglosen – Bemü- gabe, ausser das Gesetz sieht eine Dieses Bekenntnis zur Wehrpflicht hungen um die Einführung einer allge- Ausnahme vor. Diese Abgabe wird nehmen sie als Grundlage für ihr Vor- meinen Dienstpflicht darzustellen. In vom Bund erhoben und von den haben, und sie sehen ihren Vorstoss als dieser FRIEDENSZEITUNG rekapituliert Kantonen veranlagt und eingezo- «Wiederaufwertung der Wehrpflicht», Elisabeth Joris im Beitrag «30 Jahre Ab- gen. durchaus nicht als Relativierung, was stimmung über die Abschaffung der Ar- 6. Der Bund erlässt Vorschriften ein Bürgerdienst ja auch sein könn- mee» (Seite 10) nicht nur die Geschichte über den angemessenen Ersatz des te. Überhaupt scheint ihnen kritisches des versuchten Einbezugs der Frauen in Erwerbsausfalls. Denken fremd zu sein und der Mythos die Gesamtverteidigung, sondern ana- 7. Personen, die Bürgerdienst leisten des Rütlischwurs dürfte ihr Geschichts- lysiert auch die ideologischen Hinter- und dabei gesundheitlichen Scha- wissen zugeschüttet zu haben, wollen sie gründe – von denen sich der Service den erleiden oder ihr Leben verlie- doch tatsächlich ihre Initiative mit dem Citoyen zwar verbal absetzt, ohne aber ren, haben für sich oder ihre Ange- Motto: «Die Willensnation blüht immer diese Ideologien hinter sich zu lassen. hörigen Anspruch auf angemessene noch» darauf abstützen. Was ist das für Unterstützung des Bundes. ein Wille, der durch Zwang abgesichert Totalitärer Zugriff auf die Jugend werden muss? Bereits 1985 hat Peter Hug ein Papier Und wer gemeint hat, die totale Über- verfasst unter dem Titel «Mit der all- aus der DDR und einem nationalsozia- höhung der Armee sei mit dem Ende des gemeinen Dienstpflicht in den helve- listischen Buch zu «Wehrgedanke und Kalten Krieges begraben worden, sieht tischen Totalitarismus», das 1986 Ein- Schule» aufgezeigt. Im Zusammenhang sich getäuscht: «Die Armee steht nicht gang gefunden hat in das «Handbuch mit den sogenannten Diamantfeiern im Dienste des Volkes, sie ist das Volk.» Frieden Schweiz». Den Versuch des 1989 gelang es den Gesamtverteidigern, Soll das die ideologische Grundlage des Militärs, die Schweizer Schulen militä- das schon im 1979 öffentlich gemachten Bürgerdienstes sein? Von den Menschen- risch zu indoktrinieren, haben wir mit Bericht der Kommission «Jugend und rechten hat die Initiativgruppe offenbar der Zeitschrift virus und gemeinsam Landesverteidigung» vorgesehene Lehr- noch nichts gehört, und sie sind ihr auch mit drei anderen Alternativzeitschriften mittel «Die Schweiz und der 2. Welt- keine Überlegung wert, insbesondere das im Dezember 1979 an die Öffentlichkeit krieg» zu publizieren. Verbot der Zwangsarbeit, das aus sehr gebracht in der Broschüre «Lehrer, vor- Den Zugriff auf die Jugend, spezi- guten Gründen Eingang sowohl in die wärts marsch! Militärs greifen nach der ell die Mädchen, sucht die Armee auch Europäische Menschenrechtskonvention Schule». Der Bericht wurde von einer heute wieder, wie Armeechef Philippe (Artikel 4) wie den UNO-Zivilrechtspakt Kommission «Jugend und Landesvertei- Rebord offenherzig bekennt, der keine (Artikel 8) und zuvor schon in verschie- digung» erarbeitet, zu der fast alle Stan- Gelegenheit auslässt, den Zivildienst als dene Konventionen der Internationalen desvereine der Lehrerschaft gehörten. In Gefahr für das Militär zu dämonisieren. Arbeitsorganisation (ILO), gefunden hat. einem Beitrag hat virus im Januar 1980 Ziel sei es, die jungen Frauen früher ab- Am 9. September 2019 hat der Stän- anhand von Zitaten eine erschrecken- zuholen. Orientierungsveranstaltungen derat ein CVP-Postulat angenommen, de Parallellität des Gedankenguts des das vom Bundesrat Abklärungen zu vie- EMD-Berichts mit Wehrkundebüchern Fortsetzung Seite 26

25 FRIEDENSZEITUNG 31-19 Fortsetzung von Seite 25 Bevor eine Frauendienstpflicht seriös- erweise zur Diskussion gestellt werden Netzwerk «freiwillig engagiert» für 17- oder 18-Jährige seien oft zu könnte, müsste die Geschlechtergleich- Die sinnvolle Alternative zu einer spät. Darum habe die Armee – wieder stellung vom Verfassungsauftrag zur ge- allgemeinen Dienstpflicht bildet das einmal, muss man sagen – ein Projekt sellschaftlichen Realität geworden sein Netzwerk «freiwillig engagiert», das in Arbeit, in die Schulen hineinzukom- und müssten sich auch die Rollenbilder im Dezember 2012 von 14 national men. Erste Pilotversuche seien gemacht von der Prägung durch das Geschlecht ge- tätigen Organisationen gegründet worden, «mit guten Erfahrungen». Und löst haben. Und bevor vom Einbezug der wurde. Es fördert den Dialog über wörtlich: «Das Problem: Es gibt Tausen- AusländerInnen die Rede sein kann, muss Freiwilligenarbeit und schafft Ver- de von Schulen – wir brauchen eine gute endlich das Bürgerrecht modernisiert netzungsmöglichkeiten. Es bietet Organisation.» Immerhin muss das Pro- werden – als schweizerisches Recht auf den Organisationen eine Plattform jekt vom Parlament genehmigt werden. der Grundlage des ius soli. Weiter muss für den Austausch von Ideen und auch die politische Mitsprache der ansäs- Best Practices und ermöglicht das Wehrpflicht zur Debatte sigen AusländerInnen gewährleistet sein. gegenseitige Nutzen von Dienstleis- Nach dem Ende des Kalten Krieges und tungen. Ein Memorandum of Un- der Blockkonfrontation ist die Wehr- Freiwilligkeit statt Zwangsdienst derstanding regelt die Zielsetzung pflicht in vielen Ländern in Europa un- Aber selbst dann stellt sich grund- und die Art der Zusammenarbeit. ter Druck gekommen bzw. abgeschafft sätzlich die Frage, ob eine allgemeine Weitere Informationen unter: oder zumindest suspendiert worden. Im Dienstpflicht sinnvoll und nicht letzt- www.netzwerkfreiwilligengagiert. Sommer 2004 wagte es VBS-Vorsteher lich eine Form der – menschenrecht- ch/de/netzwerk Samuel Schmid, diese Frage auch für die lich verbotenen – Zwangsarbeit ist. Der Schweiz aufzuwerfen, wurde aber vom Friedensrat hat sich schon 1969 in einer Gesamtbundesrat zurückgepfiffen. Im Vernehmlassung zur (nicht zustande Weiter sollten die Reisekosten, die bei Januar 2005 waren wir an der Organisa- gekommenen) Totalrevision der Bun- Freiwilligenarbeit anfallen, durch die öf- tion einer breit abgestützten Fachtagung desverfassung grundsätzlich gegen die fentliche Hand reduziert oder ganz über- über «Alternativen zur Wehrpflicht» Dienstpflicht ausgesprochen. Ich halte nommen werden. Solche Fördermassnah- beteiligt. Zur Vorbereitung darauf hat- das immer noch für richtig. men können Freiwilligenarbeit nachhaltig ten wir die Broschüre «Wehrpflicht zur Statt eine allgemeine Dienstpflicht fördern, ohne sie von oben zu steuern, wie Debatte» herausgegeben, die weiterhin einzuführen, sollten Bund, Kantone und das bei einem Zwangsdienst der Fall wäre. aktuell ist. Es finden sich darin die un- Gemeinden Freiwilligenarbeit erleich- Das Initiativprojekt von Service Citoyen terschiedlichsten Positionen, die auch tern und fördern. Da gibt es eine ganze ist ein obrigkeitlicher Irrweg. heute noch vertreten werden. Im Früh- Palette von möglichen Massnahmen. jahr 2007 folgte die Militärakademie an Das beginnt bei der Schaffung von gu- Neuauflage eines freiwilligen der ETH Zürich mit ihrer Tagung: «All- ten Rahmenbedingungen. So ist es für zivilen Friedensdienstes? gemeine Dienstpflicht – Leitbild oder überregional arbeitende NGOs zumeist Es ist noch daran zu erinnern, dass es Schnee von gestern?» schwierig, mehrsprachig zu arbeiten. Es bereits einmal eine Volksinitiative für wäre hilfreich, wenn die öffentliche Hand einen freiwilligen zivilen Friedensdienst Übersetzungsdienste anbieten oder fi- (ZFD) gegeben hat, die 1999 eingereicht nanzieren würde. Koordinationsarbeit worden ist. Da die Gruppe zu schwach ist für NGOs aus Spendengeldern sehr war, um selbstständig eine Volksinitia- schwierig zu finanzieren, auch dort, wo tive zu lancieren, musste sie Unterstüt- es öffentliche Projektfinanzierungen gibt. zung bei der GSoA holen. Das hat dazu 7EHRPmICHT geführt, dass es keine wirkliche Diskus- Freiwilligenarbeit unterstützen sion um den ZFD gegeben hat und die ZUR $EBATTE Bei Projektfinanzierungen geht es zu- Initiative als Anhängsel der Armeeab- meist am Anstossfinanzierungen, was schaffung (es war ja eine ‹Doppeliniti- den NGOs Probleme bei längerfristi- ative› mit der zweiten Armeeabschaf-

:*/>,0A,90:*/,9&2)%$%.32!4 gen Projekten bereitet. Es gibt in der fungsinitiative) abgetan wurde. Schweiz sehr grosse Zurückhaltung Eine Neuauflage einer solchen Ini- gegenüber Förderung von NGO-Ar- tiative wäre durchaus sinnvoll, hat sich beit durch öffentliche Gelder, weil die- dieser Dienst in der BRD doch bewährt se dadurch in ihrer Eigenständigkeit und funktioniert mit staatlicher Unter- beeinträchtigt werden könnten. Dem stützung. Sein Vorbild dürfte das Peace liesse sich jedoch durch entsprechende Corps in den USA sein, das zu Beginn der Rahmenbedingungen entgegenwirken. 1960er-Jahre gegründet worden ist. Dazu

-ILITËRDIENSTPmICHT Eine andere Ebene ist die Unterstützung hat der Friedensrat 2014 zusammen mit "ERUFSARMEE &REIWILLIGENHEER von Freiwilligen, beispielsweise durch dem SCI und dem Zivildienstverband Ci- FREIWILLIGER ZIVILER $IENST Anrechnung ihres Freiwilligeneinsatzes viva ein Positionspapier und ein Grund- ODER ALLGEMEINE $IENSTPmICHT bei den Sozialversicherungen, etwa der lagendokument «Freiwilliger Zivildienst AHV (nach dem Vorbild der Betreu- – Visionen und Umsetzung» herausgege- [VS8FISQnJDIU ñ ungsgutschriften) oder bei der Arbeits- ben. Das sind zukunftsweisende Perspek- losenversicherung und der SUVA. tiven, im Gegensatz zum Service Citoyen. $IENSTPFLICHT 5MSCHLAGINDD    FRIEDENSZEITUNG 31-19 26 Buchvernissage vom 1. November 2019 Jetzt will das Buch gelesen werden

«Haus Gartenhof in Zürich. Raum für vernetzte Friedensarbeit» – so heisst das neue Buch des Schweizerischen Friedensrates, erschienen im Novem- ber 2019 im Chronos-Verlag mit einer Einleitung von Ina Boesch. Die Autoren Ruedi Brassel, Ruedi Epple und Peter Weishaupt verfassten eine «Biogra- phie» des Hauses an der Gartenhof- strasse 7 in Zürich-Aussersihl – «ein Knotenpunkt in einem dichten Netz- werk sozialer Bewegungen mit lokaler, regionaler und internationaler Aus- strahlung» (Klappentext).

Laura Huonker

Die gutbesuchte Buchvernissage fand am Freitag, 1. November 2019 im be- Ruedi Brassel, Ruedi Epple, Eva Ragaz und Markus Heiniger an der Vernissage nachbarten Saal der SP Zürich Kreis 4 statt, mit anschliessendem Apéro im dert Ruedi Epple, Sozialwissenschaftler der Friedensbewegung, die ursprüng- historischen Haus. Jakob Tanner und und ehemaliges Vorstandsmitglied des lich aus der religiös-sozialen Bewegung Markus Heiniger führten im Verlauf des Friedensrates, die Jahre 1922 bis zum entstanden ist.» Abends Gespräche mit den anwesenden Ende des Zweiten Weltkrieges – vom Leonhard Ragaz sah im Gartenhof Autoren zu wesentlichen Erkenntnissen Hauskauf und Umzug der Familie Ragaz ursprünglich eine Urchristen-Gemein- ihrer Forschungsbeiträge. vom Zürichberg in das Arbeiterquar- de und hielt das Projekt für geschei- Mit Enkelin Eva Ragaz sprach Mar- tier Zürich-Aussersihl mit besonderem tert, wogegen das «Haus des Friedens» kus Heiniger über ihre persönlichen Augenmerk auf die langjährige Flücht- (Jakob Tanner) in den Augen der rea- Erinnerungen an die legendären Gross- lings- und Friedensarbeit im Rahmen listischeren Clara Ragaz eine Erfolgs- eltern Leonhard und Clara Ragaz. Eine einer inoffiziellen Alternativinstitution geschichte sei, betont Brassel. «Der Klezmerband umrahmte die Veranstal- «zwischen ‹Settlement› und Volkshoch- Gartenhof verlor in diesen Jahren zwar tung mit musikalischen Beiträgen – am schule». Die Impulse, so Epple, lieferten an Bedeutung eines Zentrums, dem spä- Kontrabass Hans-Jakob Ragaz, ein En- Leonhard und Clara Ragaz gleichermas- ter allerdings wieder ein Aufschwung kel mit Kindheitserinnerungen an den sen – Leonhard aus Sicht des Zivildiens- folgte». Peter Weishaupt, langjähriger Gartenhof und die Musikschule für Ar- tes und der Kriegsdienstverweigerung, Geschäftsleiter des Friedensrates und beiterkinder im Erdgeschoss. Zwischen Clara aus Sicht der Abrüstung im Ein- Redaktor der FRIEDENSZEITUNG, gab den Musik- und Gesprächsbeiträgen klang mit den Zielen der Frauenliga für einen Einblick in die konkrete Arbeit am wurden Texte («Gegen die Verdunke- Frieden und Freiheit. Gartenhof seit 1968. Er erinnerte daran, lung. Bericht und Erklärung» von Leon­ was es für ein Drama war, als Ruedi Tob- hard und Clara Ragaz 1937 und Aus- Das Haus des Friedens lers kleine tragbare Schreibmaschine schnitte aus «Die Frau und der Friede» Ruedi Brassel, Historiker, untersuchte den Geist aufgab, was beinahe zur Ein- von Clara Ragaz 1915) sowie deren Ge- im zweiten Beitrag die Friedensjahre der stellung aller Aktivitäten geführt hätte. dicht «Parpan 1915» gelesen (Spreche- 40er-, 50er- und 60er-Jahre im Umfeld Die Redaktionswochenenden, an denen rin Laura Huonker). einer starken «Nie wieder Krieg»-Be- man und frau schrieb (auf Macintoshs, wegung nach dem Tod von Leonhard die nur eine externe HD hatten mit 4 Ki- Zusatzinformationen der Autoren Ragaz (1868–1945) und Clara Ragaz lobytes Speicher), layoutete (am Leucht- An diesem Abend erfuhr man Persönli- (1874–1957). «Dies wirkte sich darum pult), verzweifelt nach Titeln suchte und ches und Hintergründe zum Buch «Haus besonders aus, weil sich in der Friedens- über Artikel stritt, werde er wohl nie Gartenhof in Zürich» und dessen Ge- bewegung dann auch die Frage nach der vergessen. schichte, aufgearbeitet anhand von histo- Orientierung gestellt hat mit dem Auf- Bei einem reichen Apéro im Saal am rischen Quellen, Tagebucheinträgen und brechen des Kalten Krieges», analysiert Gartenhof, wo auch das Buch gekauft Briefwechseln. Im ersten Beitrag schil- Brassel. «Das führte zu einer Spaltung werden konnte, klang der Abend aus.

27 FRIEDENSZEITUNG 31-19 Rezension: «Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine» Der furchtbare Angriff einer Regierung

In ihrem umfangreichen Werk «Roter sionen beschreibt oder bewertet, ist es völkerung auf dem Lande lebten, gab es Hunger. Stalins Krieg gegen die Uk- wichtig, zunächst zu begreifen, was ei- zwei grosse Hungersnöte. Bei der ersten raine» setzt sich die amerikanische gentlich geschah.» von 1921 starben – in erster Linie als Fol- Historikerin und Journalistin Anne ge der Agrarpolitik der Bolschewiki und Applebaum, die 1988 als Korrespon- Der Holodomor in der Ukraine nicht wegen klimatischer Extreme – etwa dentin des «Economist» in Warschau In der «Sternstunde Philosophie» im fünf Millionen Menschen. Gut zehn Jahre ihre Karriere begann und sich seither Schweizer Fernsehen SRF vom 5. Mai später fielen erneut etwa fünf Millionen intensiv mit Russland und den Ost- 2019 lässt Anne Applebaum keine Zwei- Menschen dem Hunger zum Opfer, dies- blockländern beschäftigt hat, auf rund fel offen, dass es sich beim Hungermord mal lagen die Gründe in Stalins forcierter 550 Seiten mit der Geschichte der Uk- (Holodomor, eine Zusammensetzung der Kollektivierung der Landwirtschaft, mit raine seit 1917 bis heute auseinander, ukrainischen Wörter holod = Hunger der er eigentlich die dramatischen Ver- beginnend also mit der ukrainischen und mor = Tötung, also wörtlich: Tötung sorgungsengpässe beseitigen wollte. Revolution und der ukrainischen Na- durch Hunger), bei dem gegen vier Milli- tionalbewegung und endend in der onen Menschen in der Ukraine 1932/33 Systematische Aushungerung Gegenwart mit einem Blick auf die ak- starben, um ein Verbrechen gegen die Anne Applebaum legt das Hauptgewicht tuelle Erinnerungspolitik. Menschlichkeit handelt, und zwar ver- ihres Buches auf diesen «Roten Hunger» antwortet von Stalin und seiner Entoura- Anfang der 1930er-Jahre, in der Ukraine / Liliane Studer / ge: «Zunächst muss man verstehen, was starben 1932/33 3,9 Millionen Menschen. der ‹Holodomor› war. Er war nicht eine Die hohe Opferzahl in der Ukraine erklärt Ein grosses Verdienst von Anne Apple- zufällige Folge der Kollektivierung, der sich mit der systematischen Aushunge- baum ist es denn auch, mit ihrem Werk Zwangsenteignung der Bauern. Er wurde rung der Bevölkerung und der gleichzei- Hintergründe und Zusammenhänge vielmehr vorsätzlich herbeigeführt. Grup- tigen Unterdrückung der ukrainischen aufzuzeigen und zum Verständnis der pen von Parteiaktivisten gingen von Haus Elite, die die Moskauer Führung gezielt Beziehungen zwischen der Ukraine und zu Haus und beschlagnahmten Nahrungs- und gnadenlos durchführte. Diese zwei- Russland heute beizutragen. So hält die mittel. Und es ist wichtig zu wissen, dass te Hungersnot betraf neben der Ukraine Autorin bereits im Vorwort fest: «Die das Geschehen danach vertuscht wurde. auch das zentralasiatische Kasachstan, Hungersnot und ihre Hinterlassenschaft Der sowjetische Staat sorgte dafür, dass wo etwa ein Drittel der Bevölkerung, das spielen eine gewaltige Rolle in aktuellen man nicht öffentlich über die Hungersnot waren rund 1,5 Millionen Menschen, ums russischen und ukrainischen Diskussi- sprach und dass auch keine ausländischen Leben kam. Weitere betroffene Regionen onen über ihre Identität, ihr Verhältnis Journalisten darüber schrieben.» waren an der Wolga, im Nordkaukasus und ihre gemeinsame sowjetische Er- In der Sowjetunion, wo nach der Re- oder in Teilen Sibiriens, auch hier starben fahrung. Bevor man aber diese Diskus- volution 1917 etwa 80 Prozent der Be- Menschen, weil sie in die Kolchosen ge- zwungen wurden, weil sie Getreide und Vieh abgeben mussten oder weil sie als sogenannte Kulaken, also Grossbauern, verdächtigt und umgebracht wurden. In der Ukraine kam neben Entkulaki- sierung und Kollektivierung hinzu, dass hier nach den schlechten Ernten in den oben genannten Regionen der Druck er- höht wurde, noch mehr zu produzieren. «Die Ukrainer und andere Bewohner der westlichen UdSSR mussten daher nicht nur ihr ursprüngliches Getreidesoll ab- liefern, sondern auch einen Teil ihres Saatguts, das in anderen Regionen für die Frühjahrsaussaat verwendet werden sollte. Anders formuliert: Zum unerfüll- baren Soll hatte der Staat eine noch uner- füllbarere neue Forderung hinzugefügt.»

Stalins systematisches Vorgehen Die von Stalin bewusst provozierte Hun- gersnot war Teil eines umfassenderen Hungersnot in Charkiw, Frühjahr 1933 (Dözesanarchive Wien, aus dem Buch). Planes, bei dem zum einen die Bauern

FRIEDENSZEITUNG 31-19 28 auf dem Land starben, zum anderen aber schen. Sie zitiert aus oft gleichzeitig die geistigen und politischen im Geheimen geführten Eliten in der Ukraine angegriffen werden Tagebüchern, aus Briefen sollten. So starben am meisten Menschen an Angehörige oder auch in den Regionen der Ukraine, in denen das solchen direkt an Stalin. ukrainische Bewusstsein am stärksten war. Die Zitate stehen für sich, Verdächtig waren alle, die künstlerisch es sind die Worte der Be- tätig waren, die sich für die ukrainische troffenen und sie gehen Sprache, Geschichte oder Kultur einsetz- unter die Haut. Opfer ten, die Verbindungen mit der Ukraini- werden zu Menschen mit schen Volksrepublik von 1917 hatten. Sie Namen, und dort, wo die alle konnten öffentlich beleidigt, gefangen Autorin keinen ausma- genommen, in ein Arbeitslager verschickt chen konnte, weist sie oder gleich hingerichtet werden. auch darauf hin. Hungersnot in der Provinz Charkiw, Frühjahr 1933, Doch auch, wenn sich ein Parteimit- Bei der Lektüre werden wir damit hungernde Familie auf einer Brache (Dözesanar- glied oder ein Mitglied des Geheimdiens- konfrontiert, dass es hier auf beiden Sei- chive Wien, aus dem Buch) tes erlaubte, darauf hinzuweisen, dass ten um Menschen geht, und zwar um die Forderungen nach Getreideabgaben jene, die den Tod von Millionen in Kauf der Ukraine auswirkte, prägt sie wei- nicht erfüllt werden könnten, weil es das nehmen oder bewusst herbeiführen, und terhin das Denken von Ukrainern und Getreide gar nicht gab, wurde sie oder er um jene, die hungers sterben. Applebaum Russen über sich selbst und übereinan- der Sabotage bezichtigt und von seinem führt aber auch in aller Deutlichkeit vor der – sowohl auf offensichtliche wie auf oder ihrem Posten entfernt, verschickt Augen, dass hungernde Menschen vor indirekte Weise. Die Generation, die die oder zum Tode verurteilt. «Verzweifelt nichts zurückschrecken, nicht vor Dieb- Hungersnot erlebte und überlebte, trug schickte ein KP-Mitglied aus Winnyzja stahl, Verletzungen, Denunziationen die Erinnerungen auf ewig mit sich, aber im Herbst 1932 einen Hilferuf an Stalin: oder Mord, und oft auch nicht vor Kan- auch Kinder und Enkel von Überleben- ‹… Es ist unmöglich, die Saatkampagne nibalismus. Und sie zeigt, dass hungern- den und Tätern sind weiterhin durch die durchzuführen, weil die wenigen Bauern, de Menschen irgendeinmal auch keinen Tragödie geprägt.» die dableiben, vor Hunger dahinsiechen.›» Widerstand mehr zu leisten imstande Anne Applebaum: Roter Hunger. Stalins Krieg Doch es gab kein Zurück, Moskaus Pläne sind. Maria Dsjuba aus der Provinz Pol- gegen die Ukraine. Siedler Verlag, München 2019. 544 Seiten, Fr. 47.90. standen und mussten erfüllt werden. tawa sagte 1933: «Wie konnten wir Wi- derstand leisten, wenn wir keine Kraft Opfern einen Namen gegeben hatten, nach draussen zu gehen?» Blauwal der Erinnerung Anne Applebaum zeichnet umfangreich Im neuen Roman «Blauwal der Er- und detailliert «Stalins Krieg gegen die Auswirkungen bis heute innerung» von Tanja Maljartschuk, Ukraine» nach, sie schildert das Handeln Im Epilog «Die Wiederaufnahme der erschienen im Frühjahr 2019, geht der Täter, sie hält Fakten fest, sie schafft ukrainischen Frage» setzt sich Apple- es ebenfalls um ukrainische Identität Zusammenhänge und wirft einen aus- baum auch ausführlich damit auseinan- und die Wichtigkeit von Erinnerung. führlichen Blick auf die Geschichtsschrei- der, ob die Hungersnot 1932/33 als Ge- Im Mittelpunkt steht der Geschichts- bung vor und nach dem Zusammenbruch nozid zu bezeichnen sei, ob man sie «ein philosoph und Politiker Wjatsches- der Sowjetunion. Was ihr Buch jedoch Verbrechen gegen die Menschlichkeit law Lypynskyj (1882–1931), ein heute darüber hinaus und vor allem lesenswert oder einfach einen Akt des Massenter- vergessener ukrainischer Volksheld. macht, sind die zahlreichen Originalzeug- rors nennt. Egal wie man es definiert, es Er entstammte einer polnischen nisse der Opfer, der betroffenen Men- war der furchtbare Angriff einer Regie- Adelsfamilie, die in der Westukraine rung gegen das eigene Volk. Es war ei- lebte, und identifizierte sich schon ner von mehreren Angriffen dieser Art früh mit der Ukraine. Politisch und im 20. Jahrhundert, von denen nicht alle historisch befasste er sich mit dem in klar abgegrenzte Kategorien passen. zwischen Polen und Russland zer- Dass die Hungersnot stattfand, dass sie rissenen Land und setzte sich mit beabsichtigt war und dass sie zu einem Leidenschaft und unter persönlichen politischen Plan gehörte, die ukraini- Opfern für die Unabhängigkeit der sche Identität zu untergraben, wird in Ukraine ein. Dieses Leben verknüpft der Ukraine wie im Westen zunehmend die in der Ukraine geborene und heu- akzeptiert, egal ob ein internationaler te in Wien lebende Autorin geschickt Gerichtshof es bestätigt.» mit jenem der Erzählerin, die ihrer- Ebenso deutlich wird bei der Lektü- seits nach einer persönlichen Krise re, dass die Hungersnot bis heute Aus- in der Beschäftigung mit Lypynskyj wirkungen hat auf die Identität beider Orientierung und Halt findet. lst Nationen und das Verhältnis zueinan- Tanja Maljartschuk: Blauwal der Erinnerung. der. «Weil die Hungersnot so verhee- Roman. Aus dem Ukrainischen von Maria Weis­ rend war, so umfassend verschwiegen senböck. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. wurde und sich so tiefgreifend auf De- 288 Seiten, Fr. 30.90. mographie, Psychologie und Politik in

29 FRIEDENSZEITUNG 31-19 Mohandas Karamchand Gandhi (1872– Professionelle Friedensarbeit heute: Alice Grünfelder, seit Langem in der 1948) und seine gewaltfrei-revolutionä- Was tun Menschen, die etwa im Auftrag Schweiz lebende Lektorin, Autorin und ren Massenkampagnen in Indien gegen der UNO oder des EDA für Konfliktbe- Übersetzerin asiatischer Literaturen, ist die britische Kolonialmacht sind noch wältigung arbeiten? Vor welchen Her- zwar in Schwäbisch Gmünd im Osten immer eine weltweite Inspirationsquel- ausforderungen stehen sie, um grosse Baden-Württembergs aufgewachsen, le und ein Gegenpol zu gewaltverherr- Hindernisse in oft kleinen und kleinsten war aber im heissen Herbst 1983 nicht lichenden Tendenzen. In diesem Buch Schritten zu überwinden, Rückschläge dabei, als die auf der Mutlanger Heide werden staatskritische Stellungnahmen inklusive? Anne Gloor, die seit 20 Jahren am Rand der Schwäbischen Alb ganz Gandhis in Texten aus drei Jahrzehnten für Friedens- und Menschenrechte tätig in der Nähe agierenden gewaltfreien dokumentiert und auch auf die Vorwür- ist und die Stiftung PeaceNexus gegrün- Widerstandsaktionen, ausgehend von fe, so von der indischen Schriftstellerin det hat, führte Gespräche mit Leuten einem Friedenscamp in Mutlangen, ih- Arundhati Roy, eingegangen, Gandhi sei aus dem EDA, dem VBS, mit UNO-Mit- ren Höhepunkt fanden. Die Kampagne Rassist oder ein Verteidiger des Kasten- arbeitern und Expertinnen, die in der in- gegen die aufgrund des Nato-Doppel- systems gewesen. Dass diese Vorwürfe ternationalen Friedensarbeit tätig sind. beschlusses geplante Stationierung von haltlos sind, wird durch die hier vorlie- Die sechs Aufzeichnungen, die die Au- US-Mittelstreckenraketen – von den genden Texte deutlich. torin im Buch versammelt, geben einen 108 Pershing-II-Atomraketen sollten 36 Sie zeigen, wie sich Gandhis Posi- Einblick in das Tätigkeitsfeld und in die in Mutlangen aufgestellt werden –, die tionen entwickelten: bereits ab 1908 in Alltagsrealitäten von Friedensförderern. damals weltweite Beachtung fand, war Südafrika im Kollektiv mit jüdischen Ge- Die Porträtierten erzählen, wie sie kon- an ihr vorbeigegangen. waltfreien, ganz besonders aber während kret arbeiten, wann Fortschritte möglich Grünfelder fragt sich heute, «warum der drei Jahrzehnte des anti-kolonialen sind, wann es schwierig wird und welche kann ich mich nicht an Demonstrati- Kampfes in Indien. Besonders interes- Momente für sie prägend waren. Die Be- onen, Menschenketten und Schweige- sant sind die Ausführungen über Gand- richte lassen uns in fremde Welten ein- kreise erinnern, an erste Blockaden und his Konflikt mit seinem langjährigen Ge- tauchen. So erfährt man etwa, weshalb Ostermärsche, kann keine Antworten genspieler in der Kongresspartei, Subhas lauwarmes Wasser zu einer diplomati- geben, wenn ich neuerdings immer wie- Chandra Bose (1897–1945). Gandhis schen Krise führen kann, was es mit den der gefragt werde, wie es damals im Frie- universalistischer Antikolonialismus er- belegten Brötchen von Robert Mugabe denscamp und auf der Mutlanger Heide wies sich da viel klarer als der antibriti- auf sich hatte und wie man es anstellt, dass war. Warum habe ich das alles ausge- sche Radikalismus Boses, der ihn mehr- Soldaten aus verfeindeten Armeen in ei- blendet, vergessen, nicht wahrgenom- mals ins nazistische Deutschland pilgern nem Team zusammenarbeiten. Unter an- men?» Grünfelder­ nahm die Frage zum liess. Ebenfalls spannend ist der Beitrag deren kommt auch Markus Heiniger, der Anlass, zurück in ihre Heimatstadt zu ge- über die Gandhi-Mörder Godse und Autor des Rückblicks über die Schweizer hen, dort im Stadtarchiv zu stöbern, u.a. Savarkar, deren Wurzeln im Hindu-Na- Friedensaussenpolitik in der letzten FRIE- in den Ausgaben der alternativen Zeit- tionalismus fussten – in Zeiten des na- DENSZEITUNG, zu Wort. Das Vorwort schrift Gegendruck, und zu einem 140 tionalistischen Premiers Narendra Modi von Alt-Bundesrat Didier Burkhalter er- Seiten umfassenden Essay auszuholen. hochaktuell. (pw) gänzt die spannenden Porträts. (pw) Sie geht dabei weit in die Geschich- Lou Marin, Horst Blume: Gandhi – «Ich selbst bin te des deutschen Pazifismus und An- Anarchist, aber von einer anderen Art». Verlag Anne Gloor: Frieden bauen. Geschichten von der timilitarismus zurück, beschreibt die Graswurzelrevolution, Heidelberg 2019, 136 Sei- Arbeit in Krisengebieten. Zytglogge Verlag, Basel Vorgeschichte des US-Stützpunktes in ten, Fr. 17.90. 2019, 142 Seiten, Fr. 21.90. Schwäbisch Gmünd wie es zum Na-

FRIEDENSZEITUNG 31-19 30 to-Doppelbeschluss und zu den ersten Protesten der 1981 gegründeten Gmün- „Versailles 1919 – der Friedensinitiative gegen die Statio- nierung der Raketen kam. Sie berichtet, Return of the Dangerous Women“ dass es nach dem Einmarsch der UdSSR in Afghanistan zu einem regelrechten Einladung zur Filmvorführung, Premiere CH Bunkerbau-Boom in der Gegend kam – nicht ohne einen Exkurs auf das noch viel eindrücklichere Bunkerprogramm im südlichen Nachbarland. Die Autorin beschreibt die Höhe- punkte des heissen Herbstes 1983 mit der Blockadeaktion von prominenten

Schriftstellern (wie Heinrich Böll und Konferenz im Glockenhof Zürich, 15.5.1919 Clara Ragaz Laura Huonker als Clara Ragaz Zürich, 11.5.2019 Günter Grass), Wissenschaftlern (wie Ro- bert Jungk) und Schauspielern (wie Diet- Women Vote Peace mar Schönherr) und ihren weiblichen Pendants (wie Petra Kelly). Doch «nach 1919/2019 den vergeblichen Demonstrationen 1981, Vom 12. bis 15. Mai 1919 tagte die Interna�onale Frauenli- Filmvorführung Premiere CH 1982 und erst recht 1983 sassen die Ent- ga für Frieden und Freiheit in Zürich, im Zürcher Glocken- täuschungen tief, besonders bei den hof. Dies war die zweite grosse Konferenz der bedeutenden Women�s Interna�onal League for Peace and Freedom Donnerstag, 12. Dezember 2019, 20 Uhr, Roter Raum, Jugendlichen, da ihnen klar aufgezeigt �WILPF�, die heute die wohl gr�sste Frauenorganisa�on für Frauen im Zentrum, Bremgartnerstrasse 18, 8003 Zürich wurde, wie wenig ihr Protest bewirkte». den Frieden weltweit ist. WILPF Schweiz, die Frauen*für den Frieden Schweiz und Die Konferenz erinnerte an die poli�sche und gesellscha�li- der Schweizerische Friedensrat laden ein zur Premiere. Ausführlich widmet sie sich denn auch che Situa�on nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, wo Wir zeigen exklusiv den Film und weitere Highlights zum mu�ge Frauen sich für die gleichberech�gte poli�sche �eil- Projekt Women Vote Peace, in dem die Arbeit der Frie- den immer wieder aufkommenden De- habe von Frauen an der �berwindung der Ursachen kün�i- densfrauen nach dem Zweiten Weltkrieg um den Versail- batten unter den Widerständlern über ger Kriege eingesetzt haben. Am 11. Mai 2019 wurde die ler Vertrag herum eindrücklich dargestellt wird. Konferenz am Originalschauplatz nachgespielt und über 150 Im Anschluss an den Film disku�eren wir die Forderungen eine potenzielle Gewaltanwendung, die Frauen aus 21 Ländern arbeiteten Friedensforderungen für der Frauenfriedenskonferenz vom 11. Mai 2019. allerdings nie Gestalt annahm. Zu entde- das 21. Jahrhundert aus! Zum Abschluss laden wir ein zum Apéro. cken ist ein gut lesbarer Essay mit Fragen zu heutigen Widerstandspraktiken. (pw)

Alice Grünfelder: Wird unser MUT langen? Ziviler Ungehorsam für den Frieden. Ein Essay. Edition Die nächste Ausgabe erscheint Weite Felder, Zürich 2019, 140 Seiten, Fr. 16.90. Mitte März 2020

Abonnieren Sie den Freiwilligeneinsätze weltweit Newsletter des SFR Seit drei Jahren versenden wir unseren elektronischen Newsletter an interes- sierte Abonnentinnen und Abonnenten, uns nahestehende Organisationen sowie an Medien. Er erscheint viermal im Jahr, jeweils kurz vor der neuen FRIEDENS- ZEITUNG. Neben einem Hinweis auf Schwerpunkte der aktuellen Ausgabe machen wir auch auf interessante Ver- anstaltungen und Themen, die uns am Herzen liegen, aufmerksam. Der Newsletter hat ein gutes Echo gefunden. Wir würden ihn gerne allen Interessierten zustellen. Wenn Sie ihn künftig erhalten möchten, melden Sie Entdecke die Welt von einer anderen Seite. uns doch Ihre E-Mail-Adresse. Sie wird garantiert nur für den Newsletter und nur alle drei Monate verwendet, da- mit Sie sich auf die neuste Ausgabe der FRIEDENSZEITUNG freuen können. www.scich.org Bestellungen an [email protected] Freiwilligeneinsätze weltweit seit 1920 31 FRIEDENSZEITUNG 31-19 FRIEDENSZEITUNG DIE FRIEDENSPOLITISCHE ZEITSCHRIFT

Die einzige friedenspolitische FRIEDENSZEITUNG FRIEDENSZEITUNG NR. 29 JUNI 2019 NR. 30 SEPTEMBER 2019

6 Israel: Endgültiges Aus für die Zweistaatenlösung? 18 Mindanao: Ein Schritt näher zum Frieden 6 Ein Rückblick auf die Schweizer Friedensaussenpolitik 22 Myanmar: Die Wurzeln des Unfriedens 9 Frauenfriedenskongress in Zürich: Nachinszenierung 20 Friedensregion Bodensee bis 2030? Zeitschrift der Schweiz, die 12 Konfliktpotenzial Wasser am Indus und Nil 26 Myanmar durch die Linse seiner Menschen 12 Islam und Gewaltfreiheit 3: Mahmut Taha, Sudan 24 INF-Vertrag: Globalisieren statt aufkündigen 14 Ein leeres Versprechen? 70 Jahre 4. Genfer Konvention 24 Myanmar: Die Tragödien der Rohingya 16 Karte der weltweiten UNO-Friedenseinsätze 2017 28 Kolumbien: Wie einen Bürgerkrieg beenden? 18 Dossier Myanmar: Unrechtsstaat oder Shangri La? 32 Klima-Demo am 28. September in Bern FRIEDENSZEITUNG Nach der Abstimmung über die Übernahme der revidierten EU-Waffenrichtlinie ins eidgenössische Waffenrecht Nach dem Ende des INF-Abkommens: Implikationen für die Rüstungskontrolle jenseits des Vertrages Die Erfolgsgeschichte des Der Stand der Verbreitung Waffengesetzes weiterschreiben Aktuell, hintergründig, informativ, von Mittelstreckenwaffen Die eidgenössische Schützen- und die vom Staat grosszügig gesponserten gestimmt haben, Zug sogar mit 67 Pro- Kaum drei Wochen nach dem sang- Bestandsaufnahme ist zudem wichtig, feration von Mittelstreckenwaffen den Waffenlobby, sekundiert von der SVP, Schiesssportverbände als auch passio- zent. Aber auch in sonst waffenfreundli- und klanglosen Auslaufen des Vertra- um möglichst passgenaue Empfehlun­ INF­Vertrag schon länger unter Druck. hat sich gründlich verrechnet. Am 19. nierte Waffensammler, geschäftstüchtige chen Kantonen wie Aargau und Thurgau, ges über atomare Mittelstreckensys- gen für ein Rüstungskontrollregime jen­ Denn das Abkommen hat einen be­ Mai 2019 haben sich gerade mal 36,3 Büchsenmacher oder spezialisierte Vor- in Appenzell-Ausserrhoden und sogar teme INF am 2. August 2019 haben die seits des INF­Vertrages zu entwickeln. grenzten Verbotstatbestand. Es verbietet Prozent der Abstimmenden gegen die derladerschützen, unterstützt von den im Wallis haben sich unmissverständli- USA eine Mittelstreckenrakete getes- Washington hat den Ausstieg aus nur die Erprobung, Produktion und den Verschärfung des Waffenrechts und Verbänden der Unteroffiziere und der che Mehrheiten für die «antischweize- tet – die erste seit 30 Jahren. Nach der dem Vertrag am 2. Februar 2019 ange­ Besitz landgestützter Mittelstreckenwaf­ das vom Referendumskomitee herauf- ehrwürdigen Offiziersgesellschaft, es für rische» Gesetzesänderung entschieden. über schweizerische und internatio- Aufkündigung des Abkommens durch kündigt und begründet diesen Schritt fen. Dies hat dazu geführt, dass die USA beschworene «Entwaffnungsdiktat der dringend nötig befunden, diesmal Wider- Und dass sich die SVP mit nicht gerade Donald Trump im Frühling fanden kei- damit, dass Moskau das Abkommen seit und Russland vermehrt auf see­ und luft­ EU» ausgesprochen. Die bundesrätli- stand gegen eine bessere Waffenkontrolle grossem Engagement im Abstimmungs- ne Verhandlungen über seine Rettung, Jahren durch die Entwicklung und Sta­ gestützte Mittelstreckenwaffen setzen. che Vorlage erhielt ihrerseits eine Zu- zu leisten. Obwohl die von Mitglieder- kampf zeigte, war dem Ergebnis ebenfalls geschweige denn über seine Globali- tionierung des landgestützten Marsch­ stimmung von nicht weniger als 63,7 schwund geplagten Schützenverbände förderlich. sierung statt (siehe Andreas Zumach flugkörpers vom Typ 9M729 unterlau­ Keine Ausweitung von einem bilate- Prozent, und auch sämtliche Kantone, von der Vorlage sogar tüchtig profitie- in der FRIEDENSZEITUNG vom Juni fe. Russland zog einen Monat später ralen zu einem multilateralen Vertrag mit Ausnahme des Tessins, haben Ja ren, weil jeder, der eine halbautomatische «Das klarste Bekenntnis zu Europa 2019). Damit ist die Gefahr eines neu- nach. Moskau beschuldigt die USA, Zudem bindet der INF­Vertrag nur die gesagt. Ein Debakel für die von den Waffe erwerben will, Mitglied in einem seit Jahrzehnten» nale Friedensthemen und -arbeit en unkontrollierten und gefährlichen den INF­Vertrag zu unterlaufen, unter USA und Russland. Der Kreml erhebt Schützen beschworene «einzigartige Schützenclub werden muss oder inner- Denn schon bald im anlaufenden Ab- Wettrüstens und das Ende der atoma- anderem durch den Aufbau von Rake­ die Forderung nach einer Multilaterali­ Gun-Kultur» der Schweiz. halb von fünf Jahren fünfmal schiessen stimmungskampf zeigte sich, dass das ren Abrüstung weltweit eingetreten. tenabwehrbasen in Rumänien, Polen sierung des 1987 geschlossenen Abkom­ und nach fünf bzw. zehn Jahren erneut Hauptargument des Bundesrates ein- Nachfolgend eine Übersicht über den und Japan, auf denen nach russischer mens schon seit Mitte der 2000er­Jahre. / Peter Weishaupt / einen Nachweis erbringen sollte. schlug, dass bei einem Nein die Mitglied- Stand der Weiterverbreitung von ato- Darstellung auch offensive Mittelstre­ Russland verweist unter anderem auf Besonders schmerzen dürfte die ver- schaft beim Schengener Polizeiabkom- maren Mittelstreckenwaffen. ckenwaffen stationiert werden könnten. die zunehmende Proliferation von Mit­ Immer wieder haben sie es angekündigt, einigten Waffenfans, dass auch sämtliche men und der Dubliner Asylvereinbarung Jenseits der aktuellen Vorwürfe über telstreckenwaffen, insbesondere an den / Yannick Arnold und Oliver Meier / bei jeder Revision des Waffengesetzes der Innerschweizer Kantone der Vorlage zu- gefährdet wäre (die Schengen-Staaten viermal jährlich vierfarbig Vertragsverletzungen setzt die Proli­ südlichen und östlichen Grenzen des letzten Jahre, und das wa- hätten sich dann inner- Landes. Die USA seien aufgrund ihrer ren nicht wenige, droh- halb von 90 Tagen ein- Eine Analyse des Stands Lage zwischen zwei Oze­ ten Schützenverbände stimmig für den Verbleib der Proliferation (Wei­ anen keiner äquivalenten und Waffenlobbyisten, der Schweiz im Vertrags- terverbreitung) von Mit­ Bedrohung ausgesetzt, das Referendum gegen werk aussprechen müs- tel streckenwaffen ist der INF­Vertrag sei da­ stärkere Kontrollen des sen). Im Gegensatz zur dring lich, denn am 2. her aus russischer Sicht in Waffenbesitzes zu er- eher knappen Zustim- August 2019 ist das Ende Bezug auf die sicherheits­ greifen, haben es dann mung des Volkes zu den des INF­Vertrages einge­ politischen Implikationen aber doch unterlassen. bilateralen Schengen/ troffen, der den Vertrags­ für beide Länder unausge­ Ausgerechnet bei einer Dublin-Abkommen am staaten die Erprobung, wogen. wenig einschneidenden 5. Juni 2005 mit 54,6 Pro- q die Produktion und den Die USA schlossen Anpassung des Gesetzes zent hat selbiges inzwi- Jetzt abonnieren: 50 Franken im Jahr Besitz von landgestütz­ sich der Forderung nach an die revidierte Waffen- ten Mittelstreckenwaf­ Fortsetzung Seite 2 richtlinie der EU haben Fortsetzung Seite 2 fen verbietet. Eine solche q Jetzt schnuppern: 3 Ausgaben gratis

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