Die Beziehungen Der Deutschsprachigen Pädagogik Und Erziehungswissenschaft Zum Institut Jean-Jacques Rousseau in Genf (1912-1932)
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PR 2020, 74. Jahrgang, S. 17-38 © 2020 Hans-Ulrich Grunder - DOI https://doi.org/10.3726/PR012020.0002 Hans-Ulrich Grunder Die Beziehungen der deutschsprachigen Pädagogik und Erziehungswissenschaft Zum Institut Jean-Jacques Rousseau in Genf (1912-1932) Die Beziehungen zwischen deutschspra- der vorletzten Jahrhundertwende in der chigen Pädagogen und Erziehungswis- öffentlichen Diskussion allmählich Gehör senschaftlern und Mitarbeitenden des verschafft haben. Ich verzichte auf eine Instituts Jean-Jacques Rousseau in Genf Netzwerkanalyse, zu deren Verfertigung © 2020 sind – das zeigt die Recherche in dieser ich jedoch anregen will. erstmals eingenommenen Perspektive – beiderseitig vielfältig, verzweigt, un- programmatisch und weitgehend zufällig. 1. Die Fragen, der Zeitraum, die Die hier zwischen ihnen als interessierte Quellenlage, die Quellen Zurückhaltung beurteilte Position wirft Fragen nach der Existenz und der Qualität Die Kontakte zwischen deutschsprachigen persönlicher Beziehungen und den daran Pädagogen und Erziehungswissenschaft- Beteiligten auf. lern und den Mitarbeitern des Institut Ich präsentiere das quellengestützte1 Jean-Jacques Rousseau2 sind verzweigt, Ergebnis einer institutionengeschichtli- unprogrammatisch, pragmatisch ausge- chen und personengeschichtlichen Re- staltet und weitgehend arbiträr. Dieser cherche in der spezifischen Literatur Sachverhalt irritiert insbesondere ange- zur deutschsprachigen Schulreformbe- sichts der Stellung des Instituts als über wegung sowie in den Archives Institut die Grenzen der Schweiz hinaus allmäh- Jean-Jacques Rousseau und eines dar- lich bekanntgewordenes Zentrum für die auf vorgenommenen Abgleichs mit den Erforschung des Kindes und seiner Lern- Listen externer Dozierender, Lehrbeauf- prozesse3 und seines in der Schweiz ein- tragter und Gastreferenten am Institut zigartigen Bestrebens, eine akademisierte Jean-Jacques Rousseau. Damit will ich, Lehrerbildung anzubieten, insbesondere, personenbezogen, das Verhältnis der was die Zeitspanne zwischen 1912 und deutschsprachigen Pädagogik und Erzie- 1932 betrifft4. hungswissenschaft zur Genfer Pädagogik Wenngleich die Genfer Erziehungs- und Erziehungswissenschaft zwischen wissenschaftler die Arbeiten deutsch- 1912 und 1932 illustrieren, nachdem ich sprachiger Kollegen zur Kenntnis nahmen, skizziert habe, wie sich in der Schweiz und obwohl die deutschsprachigen Erzie- die schulreformorientierten Kräfte kurz vor hungswissenschaftler und Pädagoginnen 1 / 2020 Pädagogische Rundschau 17 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 es ihnen gleichtaten, wirft die zwischen Die Exponentinnen und Propagan- ihnen dominierende Zurückhaltung Fragen disten der neuen Erziehung, die im auf: Welche Beziehungen existierten? Wer Nachhinein als Reformpädagogik, éduca- war beteiligt? Wie waren sie ausgestaltet? tion nouvelle, progressive education oder Die hier zu illustrierende These lautet: Man scuola attiva etikettiert wurde, visierten nimmt sich zwar gegenseitig zur Kenntnis, mit beträchtlichem Werbeaufwand Ziele bewahrt aber eine interessiert-reservierte an, welche die Historiographie der Erzie- Zurückhaltung – mit wenigen aufschluss- hung gebündelt hat: Geistige Mündigkeit reichen Ausnahmen5. des Kindes, Menschenbildung (weniger Einleitend ist auf die schulreformeri- Wissensvermittlung), Förderung von Inter- schen Initiativen in der Schweiz anfangs esse, Selbsttätigkeit und Selbstbestim- des 20. Jahrhunderts zu verweisen, kurz mung, Lernen durch praktisches Tun, bevor in Genf 1912 das Institut Jean- Ablösen von Spezialistentum zugunsten Jacques Rousseau als universitätsnahes einer allgemeinen Bildung, Einsicht in die Lehrerausbildungs- und Weiterbildungs- Grenzen der Lernschule, Überwinden institut gegründet worden ist6. der Kluft zwischen Schule und Leben. Zu den übergreifenden Begehren traten auf den Unterricht bezogene: Man sprach 2. Schulreformmotive zu Beginn von einer veränderten Lehrerrolle und den des 20. Jahrhunderts weitgespannten Ansprüchen an den mo- dernen Lehrer angesichts der reinterpre- Unter dem Jahre später von Herman Nohl tierten Funktion des Educanden. geprägten Begriff Reformpädagogische Setze man radikal auf das Kind und Bewegung7 firmieren ideelle und praxis- seine kognitiven, seelischen und sozialen wirksame, schulerneuernde, bildungs- Bedürfnisse, so unterstellten die reform- reformerische Initiativen, die zu Beginn orientierten Publizisten, würde sich der des 20. Jahrhunderts mit erheblicher schwelende gesellschaftspolitische Kon- propagandistischen Verve in die bildungs- flikt zu Beginn des 20. Jahrhunderts all- politische Landschaft vor allem der euro- mählich entschärfen. Mündige Menschen päischen Staaten eingedrungen sind. Ihre – vermöge einer neuen Erziehung und Wurzeln reichten ins 19. Jahrhundert zu- einer neuen Schule dazu befähigt – soll- rück. Ihre Protagonisten diskreditierten ten die zu erwartenden Krisen kraft ihres das Schulsystem des 19. Jahrhunderts, Wissens, selbständigen Entscheidens das sie selber durchlaufen hatten, nun sowie entschlossenen Handelns meistern. aber als nicht kindgemäße Lern-, Buch-, In ihrem engagierten Impetus unterschied Pauk- und Drillschule. Bis heute ist nicht sich diese Perspektive wenig von anderen eindeutig geklärt, wie die weitverzweigten hohen Zeiten der Pädagogik: Regressiv Reformkräfte bildungshistorisch einzustu- modern und konservativ revolutionär, war fen sind, zumal wohl noch nicht alle ihnen sie, als Rezept aufgefasst, die Antwort der zuzuschreibenden Phänomene erforscht Erziehung auf die als drohender Zerfall ge- zu sein scheinen. Unbestritten ist: Wer deutete Erosion der Werte am Ende des heute schulreformerisch tätig ist, bezieht 19. Jahrhunderts – insofern also die Re- sich in der Regel auch auf Konzepte, die in aktion der Pädagogik auf gesellschaftliche der Epoche reformpädagogischer Schul- Modernisierungsprozesse. Darum ver- erneuerung, also etwa zwischen 1880 und sprach man sich von einer pädagogisch 1930 vorgestellt und oft auch realisiert begründeten Reformintention, obschon in worden sind. sich widersprüchlich, uneinheitlich und in 18 Pädagogische Rundschau 1 / 2020 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Flügelkämpfe verstrickt, auch wichtige so- Die schulreformerischen Postulate ver- ziopolitische Anstöße mit Blick auf die ge- breiteten sich kurz nach der Jahrhundert- sellschaftliche Entwicklung. Der Ausbruch wende auch in der Schweiz. Ich schildere des Ersten Weltkriegs verunsicherte diese sie hier verkürzt, entlang einer zwar gängi- hoffnungsvolle Perspektive und ihre Re- gen, jedoch oft kritisierten Einteilung der präsentanten zutiefst. einzelnen Stränge der Bewegung, deren Verlangten die schulreformerischen Charakteristika es nahelegen, die Entwick- Kräfte zwar mehr als eine didaktische Re- lung in der Schweiz in den europäischen form hin zum differenzierenden Unterricht8, Kontext zu stellen. verwiesen ihre grundlegenden Postulate auch auf gelockerte didaktische Formen: Kinder seien von der Tyrannei des Stoffs 3. Kultur- und Schulerneuerung und des Lehrers, von der Stoffhuberei, in der Schweiz wie es hieß, zu befreien. Handelndes Ler- nen, arbeitendes Handeln seien zentral. Was die Aktivität des Wandervogels an- Die neue Erziehung empfahl, im Unter- belangt, sind in diesem Bereich die weit- richt seien die sozialen Formen nach- reichendsten Aktionen zu verorten9. In haltiger zu gewichten. Schüleraktivität der Schweiz formiert sich nach der Jahr- und selbstgesteuertes Lernen wurden zu hundertwende eine Jugendbewegung und unterrichtsdidaktischen Maximen und zum jugendbewegte Zeitschriften werden ver- pädagogischen Prinzip, was Lehr- und breitet. Sozialistische Jugendorganisatio- Lernprozesse anging. Deshalb galten das nen entstehen und zu Beginn des zweiten Kind und seine Interessen als die Basis Jahrzehnts fassen die Pfadfinder Fuß. Der schulischen Lernens und Lebensgemäß- schweizerischen Jugendbewegung lässt heit wurde zur Devise der Unterrichtenden, sich jedoch nicht (schon was die Zahlen die sich in ihrer Rolle als Lernbegleiter neu anbelangt) auch nur annähernd ein so definierten. Weil das Schulzimmer für Ein- großes Gewicht beimessen wie der deut- flüsse von außen zu öffnen war, sollten die schen. Ein Beobachter konzediert, man Kinder so oft wie möglich zum Lernen in könne nur bedingt von einer Jugendbe- die Natur geführt werden. wegung in der Schweiz sprechen, zumal Die Postulate der neuen Erziehung der Wandervogel als Altersklassenbewe- waren Teil einer kulturerneuernden Bewe- gung nie große Massen ergriffen habe. gung zu Beginn des Jahrhunderts – neben Die Gründe erkennt er darin, dass damals den Vegetariern, den Lebenskünstlern, die sozialen Gegensätze in der Schweiz Dadaisten, Naturisten, Abstinenzlern und nicht annähernd stark ausgebildet waren weiteren, insbesondere kunsterneuernden wie in anderen europäischen Staaten, Motiven. Was viele pädagogisch Handeln- dass Großstädte und eine elementare de unter den Reformern auszeichnete, war Natursehnsucht fehlten, die als tragende ihr oft kritikloser Rousseauismus, der den Basis für die Jugendbewegung vonnöten Impuls zur gesellschaftlichen Erneuerung seien. Zudem sei die höhere Schule keine als der Pädagogik inhärent begriff. Außer- Standesschule und die schweizerische dem schien der Glaube an das Kind und Bereitschaft, sich