PR 2020, 74. Jahrgang, S. 17-38 © 2020 Hans-Ulrich Grunder - DOI https://doi.org/10.3726/PR012020.0002

Hans-Ulrich Grunder

Die Beziehungen der deutschsprachigen Pädagogik und Erziehungswissenschaft Zum Institut Jean-Jacques Rousseau in Genf (1912-1932)

Die Beziehungen zwischen deutschspra- der vorletzten Jahrhundertwende in der chigen Pädagogen und Erziehungswis- öffentlichen Diskussion allmählich Gehör senschaftlern und Mitarbeitenden des verschafft haben. Ich verzichte auf eine Instituts Jean-Jacques Rousseau in Genf Netzwerkanalyse, zu deren Verfertigung © 2020 sind – das zeigt die Recherche in dieser ich jedoch anregen will. erstmals eingenommenen Perspektive – beiderseitig vielfältig, verzweigt, un- programmatisch und weitgehend zufällig. 1. Die Fragen, der Zeitraum, die Die hier zwischen ihnen als interessierte Quellenlage, die Quellen Zurückhaltung beurteilte Position wirft Fragen nach der Existenz und der Qualität Die Kontakte zwischen deutschsprachigen persönlicher Beziehungen und den daran Pädagogen und Erziehungswissenschaft- Beteiligten auf. lern und den Mitarbeitern des Institut Ich präsentiere das quellengestützte1 Jean-Jacques Rousseau2 sind verzweigt, Ergebnis einer institutionengeschichtli- unprogrammatisch, pragmatisch ausge- chen und personengeschichtlichen Re- staltet und weitgehend arbiträr. Dieser cherche in der spezifischen Literatur Sachverhalt irritiert insbesondere ange- zur deutschsprachigen Schulreformbe- sichts der Stellung des Instituts als über wegung sowie in den Archives Institut die Grenzen der Schweiz hinaus allmäh- Jean-Jacques Rousseau und eines dar- lich bekanntgewordenes Zentrum für die auf vorgenommenen Abgleichs mit den Erforschung des Kindes und seiner Lern- Listen externer Dozierender, Lehrbeauf- prozesse3 und seines in der Schweiz ein- tragter und Gastreferenten am Institut zigartigen Bestrebens, eine akademisierte Jean-Jacques Rousseau. Damit will ich, Lehrerbildung anzubieten, insbesondere, personenbezogen, das Verhältnis der was die Zeitspanne zwischen 1912 und deutschsprachigen Pädagogik und Erzie- 1932 betrifft4. hungswissenschaft zur Genfer Pädagogik Wenngleich die Genfer Erziehungs- und Erziehungswissenschaft zwischen wissenschaftler die Arbeiten deutsch- 1912 und 1932 illustrieren, nachdem ich sprachiger Kollegen zur Kenntnis nahmen, skizziert habe, wie sich in der Schweiz und obwohl die deutschsprachigen Erzie- die schulreformorientierten Kräfte kurz vor hungswissenschaftler und Pädagoginnen

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Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 es ihnen gleichtaten, wirft die zwischen Die Exponentinnen und Propagan- ihnen dominierende Zurückhaltung Fragen disten der neuen Erziehung, die im auf: Welche Beziehungen existierten? Wer Nachhinein als Reformpädagogik, éduca- war beteiligt? Wie waren sie ausgestaltet? tion nouvelle, progressive education oder Die hier zu illustrierende These lautet: Man scuola attiva etikettiert wurde, visierten nimmt sich zwar gegenseitig zur Kenntnis, mit beträchtlichem Werbeaufwand Ziele bewahrt aber eine interessiert-reservierte an, welche die Historiographie der Erzie- Zurückhaltung – mit wenigen aufschluss- hung gebündelt hat: Geistige Mündigkeit reichen Ausnahmen5. des Kindes, Menschenbildung (weniger Einleitend ist auf die schulreformeri- Wissensvermittlung), Förderung von Inter­ schen Initiativen in der Schweiz anfangs esse, Selbsttätigkeit und Selbstbestim- des 20. Jahrhunderts zu verweisen, kurz mung, Lernen durch praktisches Tun, bevor in Genf 1912 das Institut Jean- Ablösen von Spezialistentum zugunsten Jacques Rousseau als universitätsnahes einer allgemeinen Bildung, Einsicht in die Lehrerausbildungs- und Weiterbildungs- Grenzen der Lernschule, Überwinden institut gegründet worden ist6. der Kluft zwischen Schule und Leben. Zu den übergreifenden Begehren traten auf den Unterricht bezogene: Man sprach 2. Schulreformmotive zu Beginn von einer veränderten Lehrerrolle und den des 20. Jahrhunderts weitgespannten Ansprüchen an den mo- dernen Lehrer angesichts der reinterpre- Unter dem Jahre später von Herman Nohl tierten Funktion des Educanden. geprägten Begriff Reformpädagogische Setze man radikal auf das Kind und Bewegung7 firmieren ideelle und praxis- seine kognitiven, seelischen und sozialen wirksame, schulerneuernde, bildungs- Bedürfnisse, so unterstellten die reform- reformerische Initiativen, die zu Beginn orientierten Publizisten, würde sich der des 20. Jahrhunderts mit erheblicher schwelende gesellschaftspolitische Kon- propagandistischen Verve in die bildungs- flikt zu Beginn des 20. Jahrhunderts all- politische Landschaft vor allem der euro- mählich entschärfen. Mündige Menschen päischen Staaten eingedrungen sind. Ihre – vermöge einer neuen Erziehung und Wurzeln reichten ins 19. Jahrhundert zu- einer neuen Schule dazu befähigt – soll- rück. Ihre Protagonisten diskreditierten ten die zu erwartenden Krisen kraft ihres das Schulsystem des 19. Jahrhunderts, Wissens, selbständigen Entscheidens das sie selber durchlaufen hatten, nun sowie entschlossenen Handelns meistern. aber als nicht kindgemäße Lern-, Buch-, In ihrem engagierten Impetus unterschied Pauk- und Drillschule. Bis heute ist nicht sich diese Perspektive wenig von anderen eindeutig geklärt, wie die weitverzweigten hohen Zeiten der Pädagogik: Regressiv Reformkräfte bildungshistorisch einzustu- modern und konservativ revolutionär, war fen sind, zumal wohl noch nicht alle ihnen sie, als Rezept aufgefasst, die Antwort der zuzuschreibenden Phänomene erforscht Erziehung auf die als drohender Zerfall ge- zu sein scheinen. Unbestritten ist: Wer deutete Erosion der Werte am Ende des heute schulreformerisch tätig ist, bezieht 19. Jahrhunderts – insofern also die Re- sich in der Regel auch auf Konzepte, die in aktion der Pädagogik auf gesellschaftliche der Epoche reformpädagogischer Schul- Modernisierungsprozesse. Darum ver- erneuerung, also etwa zwischen 1880 und sprach man sich von einer pädagogisch 1930 vorgestellt und oft auch realisiert begründeten Reformintention, obschon in worden sind. sich widersprüchlich, uneinheitlich und in

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Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Flügelkämpfe verstrickt, auch wichtige so- Die schulreformerischen Postulate ver- ziopolitische Anstöße mit Blick auf die ge- breiteten sich kurz nach der Jahrhundert- sellschaftliche Entwicklung. Der Ausbruch wende auch in der Schweiz. Ich schildere des Ersten Weltkriegs verunsicherte diese sie hier verkürzt, entlang einer zwar gängi- hoffnungsvolle Perspektive und ihre Re- gen, jedoch oft kritisierten Einteilung der präsentanten zutiefst. einzelnen Stränge der Bewegung, deren Verlangten die schulreformerischen Charakteristika es nahelegen, die Entwick- Kräfte zwar mehr als eine didaktische Re- lung in der Schweiz in den europäischen form hin zum differenzierenden Unterricht8, Kontext zu stellen. verwiesen ihre grundlegenden Postulate auch auf gelockerte didaktische Formen: Kinder seien von der Tyrannei des Stoffs 3. Kultur- und Schulerneuerung und des Lehrers, von der Stoffhuberei, in der Schweiz wie es hieß, zu befreien. Handelndes Ler- nen, arbeitendes Handeln seien zentral. Was die Aktivität des Wandervogels an- Die neue Erziehung empfahl, im Unter- belangt, sind in diesem Bereich die weit- richt seien die sozialen Formen nach- reichendsten Aktionen zu verorten9. In haltiger zu gewichten. Schüleraktivität der Schweiz formiert sich nach der Jahr- und selbstgesteuertes Lernen wurden zu hundertwende eine Jugendbewegung und unterrichtsdidaktischen Maximen und zum jugendbewegte Zeitschriften werden ver- pädagogischen Prinzip, was Lehr- und breitet. Sozialistische Jugendorganisatio- Lernprozesse anging. Deshalb galten das nen entstehen und zu Beginn des zweiten Kind und seine Interessen als die Basis Jahrzehnts fassen die Pfadfinder Fuß. Der schulischen Lernens und Lebensgemäß- schweizerischen Jugendbewegung lässt heit wurde zur Devise der Unterrichtenden, sich jedoch nicht (schon was die Zahlen die sich in ihrer Rolle als Lernbegleiter neu anbelangt) auch nur annähernd ein so definierten. Weil das Schulzimmer für Ein- großes Gewicht beimessen wie der deut- flüsse von außen zu öffnen war, sollten die schen. Ein Beobachter konzediert, man Kinder so oft wie möglich zum Lernen in könne nur bedingt von einer Jugendbe- die Natur geführt werden. wegung in der Schweiz sprechen, zumal Die Postulate der neuen Erziehung der Wandervogel als Altersklassenbewe- waren Teil einer kulturerneuernden Bewe- gung nie große Massen ergriffen habe. gung zu Beginn des Jahrhunderts – neben Die Gründe erkennt er darin, dass damals den Vegetariern, den Lebenskünstlern, die sozialen Gegensätze in der Schweiz Dadaisten, Naturisten, Abstinenzlern und nicht annähernd stark ausgebildet waren weiteren, insbesondere kunsterneuernden wie in anderen europäischen Staaten, Motiven. Was viele pädagogisch Handeln- dass Großstädte und eine elementare de unter den Reformern auszeichnete, war Natursehnsucht fehlten, die als tragende ihr oft kritikloser Rousseauismus, der den Basis für die Jugendbewegung vonnöten Impuls zur gesellschaftlichen Erneuerung seien. Zudem sei die höhere Schule keine als der Pädagogik inhärent begriff. Außer- Standesschule und die schweizerische dem schien der Glaube an das Kind und Bereitschaft, sich zu verständigen und zu in die hohe Qualität seiner Lernprozesse vertragen, wirke sich aggressionsmildernd die erst zwanzig Jahre später, insbeson- aus. Trotzdem sei die Jugendbewegung dere von Siegried Bernfeld beschworene an der Schweiz nicht spurlos vorüber- Grenze pädagogischer Einwirkung vorerst gegangen. Dies belegen die Quellen im auszublenden. Sozialarchiv (Zürich), wo sich das Archiv

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Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 des Wandervogels befindet. Sie lassen Lehrkräfte, die sich um die Schrift-, Zei- den Schluss zu, dass nie mehr als 2000 chen- und Singreform bemühten. Jugendliche eingeschriebene Wandervö- Bedeutend gewichtiger war die Kont- gel waren. Insoweit deute ich den Wan- roverse um die Arbeitsschule12, die ein Vor- dervogel als Gruppierung zwischen den trag Kerschensteiners vor Zürcher Lehrern Polen eines solitären Kuriosums und einer entfachte13. Der Sekundarlehrer und späte- abgerundeten Gestalt. Gemessen an der re Pädagogikdozent an ETH und Universi- Mitgliederzahl fand diese Gruppe jedoch tät Zürich sowie Schweizer Parlamentarier damals eine überproportionale öffent­ Robert Seidel bezichtigte den Münchner liche Resonanz. Die Idee des Jugendwan- Stadtschulrat des Plagiats bezüglich des derns war nach der Jahrhundertwende Begriffs Arbeitsschule14. In der Folge ent- von Deutschland her über Basel (1914: spann sich eine öffentliche­ Diskussion um 65 Mitglieder) und Zürich in die Nordost- Vor- und Nachteile der Arbeitsschule und schweiz eingedrungen, wo sie allmählich des Handarbeitsunterrichts für Knaben Wurzeln schlug und sich gegen Westen und Mädchen. An der Debatte, die sich und Süden ausdehnte. In der Romandie auch in Lehrerzeitschriften niederschlug, und der Südschweiz vermochte sie al- beteiligten sich Seminardirektoren, Univer- lerdings nicht zu wachsen. In der West- sitätspädagogen, Politiker und Lehrkräfte. schweiz existierte, abgesehen von jener Die Kontrahenten trugen den offen ausge- in Neuchâtel, nur noch je eine Wander- brochenen Streit bis in die Niederungen vogelgruppe in Le Locle (1915: 43 Mit- der Unterrichtsmethodik: So publizierte glieder) und Genf (1913: 21 Mitglieder). die Lehrerpresse als Lektionsvorbereitun- Die Berner Gruppe war klein, bestehend gen explizit auf arbeitsschulpädagogischer aus unter hundert eingeschriebenen Mit- Basis gründende Präparationen – was die gliedern; in Genf schlossen sich einige Gegnerschaft heftig kritisierte. Obschon Deutschschweizer Wandervögel (1914: die Arbeitsschulidee schon in der Mitte 21 Mitglieder) zusammen und – eine Ku- des 19. Jahrhunderts in der Schweiz pro- riosität – eine Ortsgruppe bestehend aus pagiert worden war, in den achtziger Jah- Studierenden bildete sich auch in Paris ren auch von Robert Seidel, fasste erst (Gründung: 1914, Mitgliederzahl: 5). der Genfer Adolphe Ferrière die bürger- Diese Zahlen legen es nahe, den Schwei- liche Version der Arbeitsschulidee syste- zer Wandervogel als deutschschweize- matisch zusammen15, als er gegen Seidels risches Phänomen zu interpretieren. Das sozialdemokratisch-marxistischen Ansatz Ende der Bewegung trat leise ein: 1955, das arbeitspädagogische Motiv des frü- anlässlich seiner Landsgemeinde löste ein hen Kerschensteiner zum umfassenderen nunmehr kleines Grüppchen von Mitglie- einer Tatschule, einer École active, erwei- dern den Schweizer Wandervogel unwi- terte. Schon 1883 waren in einigen Kanto- derruflich auf10. nen erste Handfertigkeitskurse für Knaben Ähnliches mag für die kunsterzieheri- eingerichtet worden. Aus dem zweiten schen Bemühungen gelten, deren Verlauf Berner Handfertigkeitskurs für Lehrer von allerdings noch unzureichender erforscht ist 1883 erwuchsen Thesen, die belegen, als der Schweizer Wandervogel. Zu erwäh- wie weit sich die Kontroverse akzentuiert nen sind jedoch der Genfer Musikpädago- hatte, und die illustrieren, wie die Ver- ge und Rhythmiker Émile Jaques-Dalcroze11 treter der Arbeitsschule argumentierten: sowie Mimi Scheiblauer, die sich um die Der Arbeitsunterricht diene allein erzie- Einführung der Rhythmik als Schulfach herischen Zwecken und solle die formale engagierten. Zu nennen sind außerdem Bildung fördern, liest man in einem der

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Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Kursprotokolle. Überdies entschied sich den Landerziehungsheimen nicht festzu- 1924 die Mehrheit der Lehrerschaft der stellen18. Dafür ist die Zahl dieser écoles Romandie anlässlich ihres vierten Jahres- nouvelles à la campagne zu klein und ihre kongresses dafür, die Maximen der École pädagogische Relevanz zu schwach. Trotz- activ seien einer künftigen staatlichen dem sind die schweizerischen Landerzie- Regelschule zugrunde zu legen. Infolge- hungsheime im Rückblick pädagogische dessen sollte zunächst die Primarstufe (1. und didaktische Anreger der staatlichen bis 9. Klasse) zu einer Tatschule werden. Schulen, potentiell verunsicherndes schul- Dieses kräftige schulreformerische Votum reformerisches Korrektiv zur damals domi- hinterliess allerdings in den Publikationen nierenden didaktisch-methodischen Praxis der folgenden Jahre erstaunlicherweise an den Schulen. keine Spuren. Die von den Schulerneuerern in der Ebenso konturiert zeigte sich in der Schweiz ins Zentrum gerückten Begriffe Schweiz die Bewegung Vom Kinde aus. (Anschauung, Selbsttätigkeit, Selbstän- Sie lehnte sich an jene der Landerzie- digkeit, dazu: Arbeitsschule, harmonische hungsheime, zumal deren Exponenten die Bildung) bilden die Brennpunkte der da- Postulate ersterer in ihren privaten Interna- maligen Argumentation. Allerdings waren ten zu realisieren versuchten. die den Termini Anschauung, Selbsttätig- In Genf entwickelte sich die Bewe- keit und Selbständigkeit zugrundeliegen- gung Vom Kinde aus zu einer die päda- den Maximen bereits während des 19. gogische Argumentation strukturierenden Jahrhunderts schulreformerische Slogans Kraft. Daraus ergab sich eine der wenigen gewesen. Sie verwiesen auf jene Kon- Folgen schulerneuernder Aktivität, die bis zepte, worauf vorwiegend die Lehreraus- in die Gegenwart reicht: Die 1927 von bildung nach 1870 abstellte. Zielvorgaben einem der Genfer Schule nahestehenden und methodische Absicht in einem, um- Politiker geforderte Gesamtschule / Ein- schrieben Selbsttätigkeit und Selbstän- heitsschule heute der Cycle d’ Orientation digkeit dort den Zweck einer erfolgreich (Orientierungsstufe). abgeschlossenen Ausbildungszeit des Der Genfer Adolphe Ferrière akzentu- künftigen Lehrers. Dass selbsttätiges Ler- ierte die für ihn zentrale Position der Hand- nen einen Beitrag zur Entwicklung eines arbeit in den Landerziehungsheimen als dereinst selbständigen Menschen leiste, moralische Erziehung in praktischer Ab- bekräftigten alle, die sich mit der Frage sicht zugunsten der realen Autonomie der des schulischen Lernens beschäftigten. Landerziehungsheim-Schüler16. Entstanden Die Schwierigkeit des Umgangs mit den aus den Erlebnissen ihrer späteren Grün- Worthülsen der an der Debatte Beteiligten der als Lehrer in Abbotsholme (Reddie), liegt zweifellos in der unterschiedlichen Bedales (Badley), Ilsenburg (Lietz) oder Interpretation ihres Inhalts. Roches (Demolins), nahmen die Landerzie- Anschaulich zu unterrichten war in hungsheime in der Schweiz einen gesamt- dieser Kontroverse eine Forderung des europäischen Impuls auf und führten ihn methodischen Repertoires, das jeder jahrzehntelang weiter, bis sie – nach dem Lehrkraft geläufig sein sollte. Der Begriff Kriegsende 1945 – ihren Selbstanspruch wurde in seinem didaktischen Gehalt als Reformschulen weitgehend aufgaben17. einem traditionell-klassenzimmerorien- Eine weitreichende Bewegung weg tierte, lehrerzentrierten, am Lehrbuch von den staatlichen Institutionen und hin haftenden Lehrstil entgegengesetzt, den zu den privaten Schulen ist in der Schweiz es zu überwinden gelte, wie die Refor- zu Beginn des Jahrhunderts aber auch mit mer monierten. Darum verlangten sie von

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Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 jedem Unterricht, dass er anschaulich sei. Naturlehre, das Unterrichten gemäß dem Anschauung, bezogen auf die damalige Arbeitsprinzip zu vermitteln.19 Lehrerbildung in der Schweiz, setzte den didaktischen Anspruch an einen schüler- gerechteren, weder über- noch unterfor- 4. Das Institut Jean- dernden Unterricht fest. Anschaulich, also Jacques Rousseau, sein am Objekt, an der Sache, erarbeitend, Patronatskomitee, die sollte diese Perspektive praktische, die Kinder beschäftigende Fragen aufgreifen. Publikationen, die Schüler, Bereits in den 70er Jahren des 19. die Briefpartner, die Jahrhunderts wurde die traditionelle Buch- eingeladenen Referenten schule mit der Forderung konfrontiert, man möge anschaulich unterrichten. In Insbesondere am Genfer Institut Jean- der Ausbildung der Lehrkräfte engagierten Jacques Rousseau20 wurden die schul- sich einige Seminardirektoren für eine Se- erneuernden Konzepte erörtert und in minarreform, die auf Stoffabbau und ver- schulreformerisches Handeln umgesetzt. tiefendes Lernen setzte, den Seminaristen Das Institut wurde so zur Drehscheibe der beim Erarbeiten der Inhalte vermehrt Frei- Schulreform in der Romandie. Die Durch- heiten gewährte und dabei die methodi- sicht der Akten in den Archives fördert die sche Komponente nachhaltiger hervorhob. Namen jener Personen zutage, welche dort Die Ausbildner der künftigen Lehrkräf- angehende Lehrkräfte (in der damals und te, die Seminarlehrer, verstanden die Idee lange Zeit danach einzigen nachmaturitären der Anschauung jedoch keineswegs als Lehrerbildung in der Schweiz) unterrichtet ein allein auf die Lehrerbildung bezogenes haben. Ich lege den Akzent auf jene Dozie- Reform­instrument, sondern als Transmis- renden aus dem deutschsprachigen Raum, sionsriemen jeder Schul- und Unterrichts- welche die Verantwortlichen des Instituts reform, als umgreifendes Reformkonzept. als Referenten, als Lehrbeauftragte und als Darum wiesen die seminaristischen Lehrer- Gäste in Diskussionen einluden21. ausbildner ausgangs des Jahrhunderts den Anspruch, den die selbsternannten Schuler- 4.1. Das Comité international de Patrona- neuerer mit dem Hinweis auf einen anschau- ge: Support lichen Unterricht erhoben, indigniert zurück. Die Begriffe Anschauung, Selbsttä- Das zentrale Gremium in der Trägerschaft tigkeit und Selbständigkeit waren in der des Instituts war sein Comité internatio- Schweiz also lange vor der Jahrhundert- nal de Patronage22. Unter den dort ge- wende geläufig. Folgten die einen dabei nannten sechsundsechzig Mitgliedern der in der zweiten Jahrhunderthälfte gän- finden sich die Namen bekannter auslän- gigen Pestalozzi-Interpretation, zählten an- discher und schweizerischer Erziehungs- dere die drei Termini zum Vokabular, das wissenschaftler und Pädagoginnen, z.B. sich gegen eine als verkrustete Institution Georges Bertier (École des Roches), qualifizierte Schule einsetzen ließ. Eng Ferdinand Buisson (Paris/Wien), Gabriel verknüpft mit Konzepten zur Handarbeit, Compayré (Paris), Ovide Decroly (Brüs- Handfertigkeit und zur Arbeitsschule tra- sel), Karl Groos (Tübingen), Stanley Hall ten sie später im Reformdiskurs wieder (Worcester), Ellen Key (Alvastra), Georg auf. Einige Lehrerausbildner bemühten Kerschensteiner (München), August Lay sich allerdings schon vor der Jahrhundert- (München), Ernst Meumann (Hamburg), wende, etwa in den Fächern Deutsch oder Maria Montessori (Rom), Wilhelm Ostwald

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Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 (Leipzig), Wilhelm Rein (Jena), Medard aus 49 Ländern haben die Lehrveranstal- Schuyten (Anvers), William Stern, (Berlin). tungen frequentiert, darunter 216 Männer Zu den sechzehn Mitgliedern aus und 555 Frauen, 318 Schweizer und 435 der Schweiz23 zählen: Érnest Briod (Lau- Ausländer; 160 Diplome sind verliehen sanne), De Cristiani (Genf), Eugène worden, nebst 214 Certificats d’étude26. Dévaud (Fribourg), Dr. Dubois (), Sucht man in den Listen der élèves27, Théodore Flournoy (Genf), Friedrich Wil- der Studenten, nach deutschschweizer helm Foerster (Zürich), Friedrich Fritschi Namen, fallen zu Beginn (1912) lediglich (Zürich), René Guisan (Lausanne), Philip- einige Studierende aus der deutschspra- pe-Auguste Guye (Genf), Émile Jaques- chigen Schweiz und noch weniger aus Dalcroze (Genf/Hellerau), Carl Gustav dem deutschsprachigen Raum auf. Im Jung (Zürich), Jean Larguier Bancel (Lau- Studienjahr 1918/1919 sind es bereits sanne), Édouard Quartier-La-Tente (Neu- mehr, und im Studienjahr 1920/1921 stam- châtel), Dr. Schmid (Bern), Émile Yung men über 50% der Studierenden aus der (Genf), Friedrich Zollinger (Zürich). deutschsprachigen Schweiz – ein Phäno- Unter diesen sechzehn Personen fin- men, das sich bislang nicht erklären lässt. den wir sechs Deutschschweizer oder Nur wenige Hörer in dieser Zeitspanne Deutsche: Dr. Dubois (Professor an der stammen aus dem nichtschweizerischen Universität Bern), Friedrich Wilhelm Förs- deutschsprachigen Raum. ter (Professor an der Universität Zürich), Carl Gustav Jung (Privatdozent an der 4.4. Die Correspondants: Briefpartner Universität Zürich), Dr. Schmid (Direktor und Briefpartnerinnen des eidgenössischen Gesundheitsbü- ros), Dr. Friedrich Zollinger (Sekretär des Die Korrespondenzliste28 weist etliche Unterrichtsdepartements des Kantons Briefpartner mit deutschsprachig klingen- Zürich). den Vornamen und Namen auf. In die- ser Liste sind insbesondere verzeichnet: 4.2. Die Publications: Veröffentlichungen Marthe Bruppacher, Sigmund Freud, Carl Gustav Jung, Carl Albert Loosli, Elisabeth Geht es um Publikationen aus dem Insti- Rotten, Sabine Spielrein-Scheftel, neben tut24, verweist Bovet auf Werke zahlrei- Ovide Decroly und Maria Montessori, cher Protagonistinnen und Vertreter der In einer weiteren Liste, dem Index des Schulreform, die unter der Ägide des In- correspondants, finden sich Hinweise auf stituts publiziert worden sind (Montessori, deutschsprachig klingende Namen. In die- Dewey, Baden-Powell). Ebenfalls erwäh- ser Liste sind insbesondere verzeichnet: nenswert findet er Texte von Absolventen Dr. Binswanger, Eugen Bleuler, C. Buol, der Kurse am Institut (Dottrens, Gunning, Eva Cassirer (Odenwaldschule), Jean- Walther, Anderson, Petre-Lazar), nebst Pierre Egger, Franz Hilker, Ernest Jouhy, dem Verweis auf zwei Periodika (L’Inter- Gabriel Mutzenberg, Ida Somazzi, William médiaire des éducateurs, Archives de G. Stern, neben Célestin Freinet und Mar- Psychologie), an deren Erscheinen das tinus J. Langeveld.29 Institut maßgeblich beteiligt war. 4.5. Die Conférenciers: Referentinnen, 4.3. Die élèves: Studierende Referenten und Lehrbeauftragte

Was die Absolventen25 betrifft, gibt der Mit Blick auf die bereits kurz nach der Grün- Autor Zahlen bekannt: 818 Studierende dung eingeladenen Referenten erwähnt

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Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Bovet30 Kurse, Wochenendseminare­­ und dem deutschsprachigen Raum, ergibt sich zufällige Lektionen als Gespräche, die in folgendes Bild. den Lehrprogrammen oft nicht erwähnt seien31. Doch eine Liste aller Namen würde 4.6.1 Personen aus Deutschland Bovet zufolge Seiten füllen. Der Chronist konzediert, dass von den in den ersten Unter jenen knapp zehn Personen Jahren Lehraufträgen32 von Gästen etliche aus Deutschland, die das Institut zwi- Themen allmählich in das Curriculum inkor- schen 1912 und 1932 zu einem Referat poriert worden seien. Später sei es dabei nach Genf einlud, greife ich die in der eher um delikate oder kontroverse Fragen deutschsprachigen Bildungsgeschichte 34 gegangen, welche Spezialisten dargestellt wichtigsten Figuren heraus. hätten – etwa um die religiöse oder die sexuelle Erziehung, die Nationalerziehung Friedrich Wilhelm Foerster (1869-1966) und die staatsbürgerliche Erziehung sowie, Gastreferent, zwei Mal maliziös: um „…praktische Lektionen in Foerster studiert Philosophie in Freiburg 33 Schweizerdeutsch“ , neben Vortrag­ i.Br. und Berlin und habilitiert sich (1898) sreihen über Philanthropie und Erziehung an der Universität Zürich für Ethik und Pä- oder zeitgenössische französische Psy- dagogik. Nach einer kurzen Zeit als Pri- chologie. Erwähnenswert findet Bovet hier vatdozent (Universität Zürich: 1899-1901, den Hinweis auf Wolfgang Köhlers (Berlin) ETH: 1901-1912), ist er Professor (1913- Referat mit dessen Film über die Schim­ 1914) für Ethik und Sozialwissenschaften pansen. an den Universitäten Wien (1913/1914) Eine Reihe von Personen hat improvi- und München (1914-1920). Erst 1917 sierte Vorträge gehalten: Adolphe Ferriè- gibt er seine kriegsverherrlichende Posi- re, Paul Geheeb, Ovide Decroly, Marietta tion auf und wandelt sich zum Pazifisten. Johnson, António de Sena Faria de Va- Von Eisner zum Bayerischen Minister in sconcellos, Elisabeth Rotten, Karl Wilker, der Schweiz ernannt, vom Bundesrat Wilhelm Paulsen, Maria Boschetti-Alberti aber nicht anerkannt, überträgt Foerster und Célestin Freinet. Heinrich Hansel- Deutschland die Verantwortung in der mann hat über Heilpädagogik gesprochen. Kriegsschuldfrage und setzt auf einen Dazu kommen Romain Rolland, Emma Friedensvertrag. Von 1920 bis 1926 lebt Pieczynska (1921) und der Inder Rabin- er im Exil in Zürich, dann (1926-1936) in dranath Tagore. Paris und Hochsavoyen. Nachdem 1933 Fazit: Die Angaben Bovets stimmen die Nationalsozialisten seine Schriften ver- mit den Einträgen auf der Liste der Refe- brannt hatten, emigriert er (1940) nach renten nicht überein. Sich ein Bild zu ma- New York. 1963 kehrt er in die Schweiz chen, fällt infolgedessen schwer. zurück.

4.6. Deutschsprachige externe Dozie- rende, Lehrbeauftragte und Gast- Hugo Gaudig (1860-1923) Gastreferent referenten am Institut Jean-Jacques Nach Studium (Theologie, Philosophie; Rousseau: Personen, biographische Halle) und Promotion (1883) arbeitet Gau- Hintergründe dig als Lehrer an den Franckeschen Stiftun- gen in Halle/Saale und am Realgymnasium Sucht man nach den vom Institut in Gera. Als Direktor der höheren Mäd- zwischen 1912 und 1932 eingeladenen chenschule und des Lehrerseminars kehrt Lehrbeauftragten und Vortragenden aus er 1896 an die Franckeschen Stiftungen

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Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 zurück und wechselt (1900) nach Leipzig Ecole d’Humanité in Goldern/Hasliberg im an die Städtische Höhere Schule für Mäd- Kanton Bern als internationales, koeduka- chen. Seine neuen Lehrmethoden (Freie tiv geführtes Internat mit einem markanten geistige Schularbeit, Selbsttätigkeit) las- pädagogischen Profil ins Leben. sen die Anmeldezahlen hochschnellen. Schulrat und Professor, lehnt er eine Be- Wolfgang Köhler (1887-1967) Gastreferent rufung ins Sächsische Kultusministerium Köhler, mit Max Wertheimer und Kurt und die Nachfolge auf Sprangers Pro- Koffka später der Begründer der Ge- fessur für Erziehungswissenschaft an der staltpsychologie und -theorie, studiert Universität Leipzig ab. Seine Schule wird Philosophie, Naturwissenschaften und zu einem Kristallisationspunkt der deut- Psychologie in Tübingen, Bonn und Berlin, schen Schulreform. Er stellt das Training promoviert (1909) in Psychoakustik und der Lernmethoden der höheren Töchter arbeitet am Psychologischen Institut in ins Zentrum: Arbeitsteilung, Gruppen- Frankfurt am Main, wo er Wertheimer und arbeit, Projektlernen35. Gaudig verbreitet Koffka kennenlernt. Zwischen 1914 und seine Sicht der Didaktik und der Unter- 1920 führt er auf Teneriffa seine wegwei- richtsmethodik 1922 im Baltikum – just zu senden Studien zum Werkzeuggebrauch jener Zeit, als Ernst Schneider an der Uni- und Problemlöseverhalten von Schimpan- versität in Riga lehrt. sen durch. In der Ära des Behaviorismus wurden seine Arbeiten ignoriert. Nachdem Paul Geheeb (1870-1961) Gastreferent die Anthropoidenstation auf Teneriffa ge- Nach dem Abschluss seiner langdauern- schlossen worden war, kehrt Köhler als den Studien (zwanzig Semester in vielerlei Professor (Göttingen) zurück, bevor er an Fächern (1899), einer Tätigkeit als Lehrer der heutigen Humboldt Universität (1922- an den Trüper’schen Anstalten für sonder- 1935) als Direktor des Psychologischen pädagogisch zu betreuende Kinder in Jena, Instituts arbeitet. Während der 1920er einem kurzen Engagement im Kindersana- Jahre gilt Köhler international als einer der torium Wyk auf Föhr, arbeitet er (ab 1902) bekanntesten Psychologen, bevor er nach als Mitarbeiter von Hermann Lietz im Deut- erfolglosen Protesten gegen die Repres- schen Landerziehungsheim Haubinda in salien der Nationalsozialistischen 1935 Thüringen, ab 1904 als dessen Direktor. seine Emeritierung verlangt, Deutschland Infolge persönlicher, politischer und päd- verlässt und als Hochschullehrer in Penn- agogischer Differenzen trennt er sich von sylvania tätig ist. Lietz, gründet 1906 mit Gustav Wyneken die Freie Schulgemeinde Wickersdorf und Wilhelm Paulsen (1875-1943) Gastrefer- schliesslich 1910 mit Edith Geheeb-Cassi- ent, zwei Mal rer die Odenwaldschule in Ober-Hambach Paulsen, Schulreformer und Mitglied des (Hessen). Bis 1930 baut das Paar mit den Bundes Entschiedener Schulreformer Mitarbeitenden das Landerziehungsheim (ab 1919), entwickelt als Berliner Ober- kontinuierlich auf. Aufgrund nationalsozia- stadtschulrat (ab 1921) die Pädagogik listischer Drohungen emigrieren sie 1934 der Lebensgemeinschaftsschulen (gutes mit einigen jüdischen Kindern über den Lernklima, Vermittlung von Inhalten ent- Bodensee (unter Mithilfe von Schohaus lang den aktuellen gesellschaftlichen Be- und Ferrière) in die Schweiz. Nach mehre- dürfnissen – und dies Vom Kinde aus). ren Ortswechseln und Umzügen (Grunder 1920 wird Paulsen erster Schulleiter der 1987c), einem erniedrigenden Hin- und Versuchsschule Tieloh Süd, bevor er kurz Her, rufen er und Edith Geheeb 1946 die später Oberstadtschulrat in Berlin wird.

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Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 1924 tritt er aus politischen Gründen zu- Hof Oberkirch ist (1934-1937). Die letzte rück. Zu Beginn der 1930er Jahren zwin- Phase seines beruflichen Lebens verbringt gen ihn die Nationalsozialisten, seinen er in Südafrika und Transvaal, ist Head- Lehrauftrag in Hannover abzugeben. Sein master des Adam College (1937-1955) Buch zur Überwindung der Schule und zur und nach dessen Schließung ab 1956 Grundlegung der Gemeinschaftsschule als Psychologe und Psychotherapeut am sollte ein Jahr später – von Adolphe Fer- Meyrick Bennett Children’s Centre der rière übersetzt und mit einem Vorwort ver- University of Natal, Durban, tätig. 1964 sehen – unter dem Titel L’Ecole Solidariste kehrt Wilker in die BRD zurück. 1975 ver- in französischer Sprache erscheinen. leiht ihm die Universität Frankfurt am Main die Ehrendoktorwürde. Karl Wilker (1885-1980) Gastreferent, mehrmals 4.6.2 Personen aus der deutschspra- In Jena und Göttingen studiert Wilker Na- chigen Schweiz turwissenschaften und Pädagogik, wird bei Wilhelm Rein promoviert und legt Das Institut, v.a. Pierre Bovet, laden zwi- (1909) das Staatsexamen für das Höhere schen 1912 und 1932 rund ein Dutzend Lehramt (Botanik, Zoologie, Mineralogie, Erziehungswissenschaftler und Pädagogin­ Geologie, Pädagogik) ab. Teilzeitlehrer, nen aus der deutschsprachigen Schweiz Vertreter der Abstinenzbewegung (ab zu Vortrag und Diskussion nach Genf ein. 1906), Mitglied des Wandervogels und Einige der bekanntesten Persönlichkeiten Journalist, schließt er 1914 ein Zweit- greife ich heraus. studium (Medizin und Psychologie) ab. Aufgrund dieser personengeschichtli- Nach seinem Einsatz als Arzt für das Rote chen Herangehensweise wird bald einmal Kreuz übernimmt er (1917) die Direktion klar, dass die zu Referaten und Diskussio- der Zwangserziehungsanstalt Berlin-Lich- nen eingeladenen Personen zumindest in tenberg (umgangssprachlich: Lindenhof), einem der vier Beziehungen gestanden die er zu einem Modell für eine humanere haben, die sich zwischen einer Person Fürsorgeerziehung macht. Nach Streit mit und einer Institution ausbilden können: Vorgesetzten und Mitarbeitern beendet er persönliche Freundschaft, wissenschaft- den Versuch (1920) unter Protest und gro- liche Neugier, wissenschaftliche Affinität, ßer öffentlicher Anteilnahme. Nach einer Karriererunterstützung. Ausbildung zum Silberschmied (in Helle- rau) hält er mehrere Vorträge im Institut Carl Albert Loosli (1877-1959) Gastreferent und ist als Pädagoge Mitarbeiter in den Mit dem autobiographisch grundierten Volkshochschulen Thüringens und Sach- Pamphlet über die damaligen KInderver- sens. Mit Elisabeth Rotten gründet er die wahranstalten und seiner radikalen An- deutschsprachige Sektion des Weltbunds staltskritik ist der Berner Kulturkritiker für Erneuerung der Erziehung (New Edu- und Journalist Carl Albert Loosli in der cation Fellowship) (1922) und ediert die deutschsprachigen Schweiz Mitte der Zeitschrift Das Werdende Zeitalter (1923- 1920er Jahre schlagartig bekannt und mit 1933). Die französischsprachige Ausga- seiner klaren und sachlichen Replik auf be verantwortet Adolphe Ferrière. 1933 die Einwände seiner Gegner auch für (so- emigriert Wilker endgültig in die Schweiz, zial)pädagogische Fachkreise interessant wo er zwei Jahre lang an der Schweizer geworden. 1927 nimmt Loosli am Institut Erziehungs-Rundschau mitarbeitet und als Referent an der zweiten Konferenz Co-Direktor des Landerziehungsheims über schwererziehbare Kinder teil: „Das

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Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Wort erhielt auch Carl Albert Loosli, der in der Minderjährigen – Polemiken und der Deutschschweiz eine engagierte Kam- Ergebnisse. pagne für die Reform der Heimerziehung führt.“36 Ernst Schneider (1878-1957) Lehr- Als Jugendfreund Bovets steht Loosli beauftragter; drei Jahre häufig in Verbindung zum Institut. Er hatte Nach der Ausbildung zum Primarlehrer im Waisenhaus der Familie Bovet (einer am Lehrerseminar Muristalden in Bern guten Anstalt, wie er sagen wird) in Grand- ist Ernst Schneider bis 1899 Lehrer in champ (Kanton Neuenburg) drei Jahre Innerberg (Gemeinde Wohlen) bei Bern, seiner Kindheit verbracht (1889-1892) studiert dann an der Universität Bern Pä- und dort auch perfekt Französisch gelernt. dagogik, Philosophie, Geographie und Pierre Bovet, der Sohn des Heimleiter- Geschichte und promoviert 1904 in Päda- paars, ein Jahr jünger als Loosli, ist fortan gogik37. Als Lehrer und Oberlehrer wirkt er ein sehr enger Freund. Dies ermöglicht es an der Übungsschule des Pädagogischen ihm, sowohl mündlich als schriftlich in Fran- Universitätsseminars. Gegen den Protest zösisch zu argumentieren. Für Anstalts- der Lehrerschaft und der Freisinnigen Par- leben sollte das Kuratorium der Stiftung tei wählt die zuständige Kommission den Lucerna, in dem neben Bleuler, Schohaus 27jährigen Pädagogen 1905 zum Direktor und Binswanger auch Piere Bovet sitzt, des staatlichen Lehrerseminars des Kan- 1932 Loosli mit einem Preis ehren (Preis- tons Bern. Hier führt er Doppelstunden, summe: sFr. 1000.-). Zwischen 1933 und Schulreisen, Unterrichtspraktika, freie Auf- 1936 wird Loosli gemeinsam mit Pierre sätze und neue Prüfungsformen ein. Nach Bovet und Pierre de Mestral auf die Ju- dem Berner Seminarhandel und einer gendrechtsgesetzgebung im Kanon Genf Hetzkampagne – Schneider wurde vor- einwirken, was Genf 1937 ein fortschritt- geworfen, während des Unterrichts Psy- liches Jugendgesetzt bringt. choanalyse38 betrieben zu haben – wird er Die Pädagogen in der Romandie ver- 1915 trotz massiver Proteste seiner Schü- standen sich mit Loosli gut. Schon 1924 ler und vieler Seminarabsolventen suspen- möchte die in Genf ansässige deutsch- diert. Aufgrund der Einladung von Bovet sprachige Schriftstellerin Lisa Wenger und Claparède hält er am Institut akade- Anstaltsleben ins Französische überset- mische Übungen ab: Zwischen 1916 und zen. Leider scheut der Verlag Payot das 1919 erteilt er insbesondere einen 14täg- Risiko – das Projekt kommt nicht zustan- lichen Kurs über ausgewählte schulprak- de. Auch Alice Descoeudres und Adolphe tische Themen, Unterrichtstechniken, das Ferrière hatten Loosli zu seinem Pamphlet Thema Unterricht und Erziehung und Fra- beglückwünscht. gen der Psychoanalyse. Bovet stellt fest, 1929 diskutiert Loosli, eingeladen von sein Freund bekunde, anders als Loosli, Bovet, an einem Tafelgespräch am Insti- Mühe, sich französisch auszudrücken – tut Themen der Anstalts- und Familiener- darum sei der Kurs nicht ganz geglückt. ziehung. Nachdem er im Mai 1932 in der Erminio Solari, einer seiner damaligen Schweizerischen Erziehungsrundschau Studenten, schreibt, Schneider trage in (S.E.R.) einen Aufsatz mit dem Titel An- ungeschicktem, aber klar verständlichen staltserziehung veröffentlicht hatte, hält Französisch vor, behandle aber seine The- er, kein Jahr danach, wiederum von Bovet men auf eindrücklich Art. 1918 kündigt initiiert, institutsintern in Genf Referate Schneider die Gründung eines Instituts zu den Themen Jugenderinnerungen, Die in Bern an, das dem Institut Jean-Jacques Strafkolonie zu Trachselwald, Das Recht Rousseau nachempfunden sein würde

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Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 – eine Idee, die er nicht realisiert. Ende Bundesparlament, dem Nationalrat (1911- 1919 fragt Bovet Schneider, ob dieser 1917). Seidel zählt vom ausgehenden 19. eine Berufung an die Universität Riga an- Jahrhundert an zu den Führern des linken nehmen würde. Bovet war von der Fakul- Flügels der Arbeiterbewegung. Währen tät beauftragt worden, „einen Schweizer, des 1. Weltkriegs polemisiert er gegen der die westeuropäische Pädagogik kennt, seine Partei. Als linker Sozialpädagoge ausfindig zu machen und vorzuschlagen“39. vertritt er, gegen Kerschensteiner, das Nach einer Erkundungsreise nach Lettland Konzept einer Produktions- und Arbeits- sagt dieser zu und übernimmt im März den schule. Als Referent tritt der im Institut erst Lehrstuhl für Kinderpsychologie und päd- nach seiner Pensionierung auf. agogische Pathologie an der dort kürzlich eingerichteten pädagogischen Abteilung Walter Guyer (1892-1980) Gastreferent der Philosophischen Fakultät. In seinen Nach dem Abschluss am Lehrerseminar Briefen aus Riga diskutiert er in den Jahren Küsnacht (ZH) unterrichtet Walter Guyer, bis 1928 (als er die Stelle verlassen muss) während er in Zürich und Paris Pädagogik, aktuelle pädagogische Fragen in der Zeit- Psychologie, Philosophie und Geschichte schrift Die Schulreform. studiert (1916-1920), promoviert (1920), und wiederum als Sekundarlehrer arbei- Robert Seidel (1850-1933) Gastreferent, tet (1925-1928), bevor er bis 1941 als zwei Mal Hauptlehrer für Pädagogik am Seminar Nach einer Tuchmacherlehre und kurzer Rorschach tätig und schließlich Direktor Tätigkeit als Buckskinweber (Sachsen) des kantonalen Oberseminars in Zürich wird Robert Seidel aktiver Sozialdemokrat ist (1942-1958). Er publiziert über Pesta­ und flieht 1870 nach Zürich, wo er als Ge- lozzi, zum Thema Schule und Nation in Be- schäftsführer der Unternehmungen des drängnis, zu allgemeinpädagogischen und Arbeiterbunds (1876-1879) tätig ist, sich lernpsychologischen Fragen. Gemäßigt berufsbegleitend zum Primar- (1880), dann schulreformerisch eingestellt, vertritt er an der Zürcher Universität zum Sekundar- eine Schule auf werktätiger Basis und for- lehrer (1881-1883) ausbildet. Sechs Jahre dert eine philosophisch begründete Leh- unterrichtet er an der Sekundarschule rerbildung. Guyer sollte Hans Aeblis von Mollis (1884-1890), bevor er die politisch Jean Piaget betreute Genfer Dissertation linksstehenden Publikationen Arbeiterstim- am Rand begleiten. me (1890-1898), Volksrecht (ab 1898) und Grütlikalender (1900-1926) redigiert. Bis Fritz Wartenweiler (1989-1985) 1912 ist er wiederum Sekundarlehrer, quali- Gas­treferent fiziert sich aber auch wissenschaftlich (Pro- Zwischen 1909 und 1911 studiert Fritz motion, Habilitation): Zunächst Privatdozent Wartenweiler Philologie und Philosophie in für Pädagogik an der ETH (ab 1905), dann Berlin und Kopenhagen. In Dänemark liest an der Universität Zürich (ab 1908, wo er er N.F.S. Grundtvigs Publikationen zur bis 1929 als Hochschullehrer wirkt). Volksbildung – das Thema Erwachsenenbil- Wie seine journalistische und päda- dung sollte fortan seine wissenschaftliche gogische Laufbahn, ist auch seine poli- und persönliche Biographie dominieren. tische Karriere bemerkenswert: Für die 1913 wird er an der Universität Zürich Sozialdemokratische Partei sitzt er im mit seiner Studie über den Gedanken der Großen Stadtrat von Zürich (1898-1916; Volkshochschule bei Grundtvig promo- 1919-1921), im Zürcher Kantonsrat (1893- viert. Wartenweiler amtet drei Jahre (1914- 1896; 1899-1917; 1920-1923) und im 1917) als schulreformerisch engagierter

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Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Direktor des Solothurner Lehrerseminars, am Heilpädagogischen Seminar macht. bevor er seine Stelle aufgrund des Dis- Mit dem Begriff Entwicklungshemmung puts über eine Prüfungsnote unter Protest umreisst er ein neues heilpädagogisches verlässt. Er wird Gründer (1919) und bis Konzept und weist damit der Sonderpäda- 1926 Vorsteher des Volksbildungsheims gogik die Aufgabe zu, präventiv oder korri- Nussbaumen bei Frauenfeld. Zudem wirkt gierend auf die Entwicklungshemmungen er, weil immer zu Fuß unterwegs, als wan- von Kindern einzuwirken. Bis heute wird dernder Volksbildner und Vortragsred- Hanselmanns Einführung in die Heilpäda- ner. Neben seinen Veröffentlichungen zu gogik (1930) zitiert. Fragen der Volksbildung, zu Konzepten dänischer Volkshochschulen und zum Ver- Eduard Oertli (1861-1950) Gastreferent hältnis von Schule und Familie, verfasst er Nach der Ausbildung am Lehrerseminar Biographien von Politikern und Philoso- Küsnacht (Kanton Zürich; 1877-1881) phen (Ben Gurion, Gandhi, Nansen, Ein- ist Eduard Oertli neununddreißig Jahre stein). 1940 gehört er zu den Mitgründern Primarlehrer in Riesbach (1890-1929). der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft Neben dieser Tätigkeit wird er zu einem für kriegsgeschädigte Kinder. der Hauptvertreter der Handarbeit in der Schule – auch als langjähriger Redaktor Heinrich Hanselmann (1885-1960) der Schweizerischen Blätter für Knaben- Gastreferent handarbeit (1896-1925). Oertli versucht, Nach seiner Ausbildung am Lehrerseminar den Arbeitsschulgedanken in den deutsch- (Schiers, Kanton Graubünden) ist Hein- schweizer Schulen praktisch umzusetzen. rich Hanselmann Gehörlosenlehrer in St. So führt er, neben der Publikation zahl- Gallen, bevor er in Zürich Psychologie stu- reicher kleiner Schriften zu Handarbeit, diert (Studienaufenthalte in München und Volksschul- und Erziehungsfragen, als Berlin), 1911 promoviert wird, kurzzeitig Präsident des Schweizerischen Vereins Assistent am Psychologischen Institut des für Knabenhandarbeit und Schulreform Senckenbergianums in Frankfurt am Main jeweils im Sommer Lehrerweiterbildungs- wird, die Beobachtungsanstalt für verhal- kurse mit ursprünglich manuellen, ab 1909 tensgestörte Jugendliche Steinmühle nahe zusätzlich didaktisch-methodischen Pro- Frankfurt am Main (1911-1916) leitet und grammakzenten durch. 1932 verleiht ihm 1916 kriegsbedingt nach Zürich zurück­ die Universität Zürich für sein Wirken in kehrt. Bis 1923 wirkt er als Sekretär von diesem Bereich den Titel eines Doktors Pro Juventute, habilitiert sich (1924) an ehrenhalber. der Universität Zürich mit einer Studie über Die psychologischen Grundlagen der Max Oettli (1879-1965) Gastreferent Heilpädagogik und initiiert die Gründung Oettli studiert am Eidgenössischen Poly- des Heilpädagogischen Seminars an der technikum in Zürich Naturwissenschaften, Universität, dessen erster Leiter er wird. erwirbt das Diplom als Fachlehrer (1902) Ein Jahr danach (1925) unterstützt ihn und promoviert an der Universität Zürich der Winterthurer Mäzen Alfred Reinhart mit einer Arbeit über die Ökologie der bei der Gründung des Landerziehungs- Felsflora des Alpsteins. Bis 1921 ist er heims Albisbrunn in Hausen am Albis (für Lehrer im Landerziehungsheim Glarisegg, heilpädagogisch zu betreuende Kinder) wo er Ferrière und von Greyerz kenneng- – in diesem Kontext muss Adolphe Fer- lernt haben muss, bevor er sein Lebens- rière ihn kennengelernt haben –, das er thema, den Kampf gegen den Tabak- und zur Übungsschule für die Studierenden Alkoholmissbrauch, auch zu seinem

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Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 beruflichen Schwerpunkt macht: als Leiter sowie Lehrer an der Kantonsschule der Schweizerischen Zentralstelle zur Be- (1893-1995) und entwickelt als theologisch kämpfung des Alkoholismus (Lausanne; liberaler Geistlicher einen Sinn für soziale 1921-1947), Gründer der Geschäftsstel- Fragen. 1906 beteiligt er sich an der Ent- le der Vereinigung zur Aufklärung über stehung der religiös-sozialen Bewegung die Tabakgefahren und als Präsident des sowie an der Gründung der Zeitschrift Alkoholgegner-Bundes. Oettli proagiert Neue Wege, die er als Hauptredaktor be- Schülerexperimente im naturwissenschaft- treut (1921-1945). Professor für systema- lichen Unterricht und gehört der Jugend- tische und praktische Theologie an der schriftenkommission des Schweizerischen Universität Zürich (ab 1908), nähert sich Lehrervereins an. Ragaz der Arbeiterbewegung an, indem er sich 1903 in Basel mit den streikenden Clara Ragaz (1874-1957) Gastreferentin Bauarbeitern solidarisiert und später in Zü- Nach dem Abschluss des aargauischen rich den Generalstreik unterstützt. In der Lehrerseminars (1892) arbeitet Clara internationalen Bewegung des religiösen Nadig als Hauslehrerin in England, Frank- Sozialismus’ eine zentrale Figur gewor- reich und im sowie als Lehrerin den, kämpft er gegen marxistische und in Zürich. Kurz vor ihrem Mann, Leonhard staatszentrierte politische Modelle und en- Ragaz, tritt sie 1913 in die Sozialdemokra- gagiert sich für einen föderalistisch-genos- tische Partei ein. Ragaz zählt 1902 zu den senschaftlich-pazifistischen Sozialismus. Gründerinnen des Schweizerischen Bun- 1921 tritt er von seiner Professur zurück des abstinenter Frauen in Basel. Nach dem und geht in die Bildungsarbeit im Zürcher Beitritt zur Union für Frauenbestrebungen Arbeiterquartier Aussersihl und in die re- (1907), engagiert sie sich in der Sozialen ligiös-soziale Bewegung. Als Präsident Käuferliga (1908-1915), leitet 1909 die der Schweizerischen Zentralstelle für Frie- Schweizerische Heimarbeitsausstellung in densarbeit ist er zwischen 1918 und 1939 Zürich, neben ihrem sozialen Engagement einer der Exponenten der antimilitaristi- für die Arbeiterinnen in Aussersihl. Als Do- schen Friedensbewegung in der Schweiz. zentin an der Sozialen Frauenschule prä- Als die Sozialdemokratische Partei 1935 sidiert sie (1929-1946) als Vizepräsidentin die militärische Landesverteidigung befür- die Internationale Frauenliga für Frieden wortet, tritt Ragaz aus. Gegen Antisemitis- und Freiheit, deren Schweizer Sektion sie mus und Nationalsozialismus engagiert, 1915 mitgründet. Damit zählt Clara Ragaz lässt er die Neuen Wege illegal erschei- zu den bedeutendsten Schweizer Pazifis- nen (1941-1944), weil er die verordnete tinnen und Feministinnen der ersten Hälfte Vorzensur verweigert. Mit seiner Reich- des 20. Jahrhunderts. Das Gebot christ- Gottes-Theologie, die verbunden ist mit licher Ethik impliziert für sie das Engage- politischem Engagement, liegt er nahe an ment für eine gerechte Gesellschaft, für den nachmaligen befreiungstheologischen den Frieden und für das Recht der Frauen Konzepten. auf politische Beteiligung. Elisabeth Rotten (1882-1964) (1868-1945) Gastreferent Gastreferentin Ragaz studiert Theologie in Basel, Jena In einer Berliner Familie aufgewachsen, und Berlin, wird Pfarrer am Heinzenberg studiert Rotten Germanistik, Philosophie (Kanton Graubünden; 1895-1902), in und neuere Sprachen an deutschen Uni- Chur und am Basler Münster (1902-1908) versitäten, promoviert (1912), engagiert

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Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 sich, zur Pazifistin geworden, während des bei Bern ein Erziehungsheim und wirkt als 1. Weltkriegs in der Kriegsgefangenenhil- Seminarlehrer in Rorschach (1925-1928), fe und wird Mitgründerin der Auskunfts- bevor er 1928 als Direktor und Lehrer für und Hilfsstelle für Deutsche im Ausland Psychologie und Pädagogik an das thur- und Ausländer in Deutschland (1914). gauische Lehrerseminar in Kreuzlingen Nach dem Krieg setzt sie ihre Arbeit im berufen wird, wo er bis 1962 arbeitet. pädagogischen Bereich fort und arbeitet Wichtig für Schohaus ist die These, wo- international mit Friedensaktivisten und Ex- nach die Qualität der Schule nicht von äu- ponentinnen der Schulreformbewegung ßeren Reformen, sondern vom Geist des zusammen. Mit Adolphe Ferrière und Beat- Lehrers abhänge. Er setzt auf eine Erzie- rice Ensor gründet sie den Weltbund für Er- hung in bildender Kunst, Musik und Litera- neuerung der Erziehung (World Education tur. 1933 erregt sein Buch Schatten über Fellowship (WEF); 1921), ist Mitglied des der Schule ebenso Aufsehen wie 1936 die Gründungsvorstands und ab 1949 dessen Pressekampagne gegen die Zustände in Vizepräsidentin. Nachdem sie bis 1933 der aargauischen Erziehungsanstalt Aar- an mehreren pädagogischen Reformver- burg. suchen in Deutschland mitgearbeitet hatte (u.a. an der Odenwaldschule), emigriert Leo Weber (1876-1969) Gastreferent sie 1934 in die Schweiz und lebt in Saa- Weber absolviert an der Pädagogischen nen (Kanton Bern), wo sie sich nach 1945 Abteilung der Kantonsschule Solothurn am Aufbau des Kinderdorfs Pestalozzi in die Lehrerausbildung (Lehrerpatent: Trogen beteiligt. Referentin in ganz Euro- 1895), wird Lehrer in Breitenbach und pa, verfasst sie pazifistische und pädagogi- Deitingen, lässt sich an den Universitä- sche Werke, arbeitet bei Fachzeitschriften ten Bern und Paris zum Sekundarlehrer und ediert die deutschsprachige Version ausbilden (1897-1900), versieht Stellen der Publikation des World Education Fel- in Biberist (1901-1908), an der Töchter­ lowship, Das werdende Zeitalter (1922- schule St. Johann in Basel (1908-1911) 40 1932) . Sie ist mit Claparède, Bovet und und studiert berufsbegleitend Pädagogik Ferrière Gründerin des Internationalen und Psychologie an der Universität Basel. Erziehungsbüros (Bureau Internationale Weber ist Lehrer (Deutsch, Geschichte) 41 d’Education; 1925) in Genf , ab 1919 Mit- an der Solothurner Kantonsschule (1911- glied des Präsidiums der Deutschen Liga 1914), Schulinspektor und schließlich So- für den Völkerbund, wo sie die Erziehungs- lothurner Seminardirektor (1918-1946), abteilung leitet), 1937 Vizepräsidentin der also der Nachfolger von Fritz Wartenwei- Associazione Montessori Internazionale ler auf diesem Posten. Weber organisiert und 1948 Mitgründerin der Fédération Bildungskurse für Arbeitslehrerinnen und internationale des communautés d’enfants. Kindergärtnerinnen, verfasst Lesebücher und Studien zur Schulgeschichte und ist Willi Schohaus (1897-1981) Gastreferent Redaktor pädagogischer Periodika. Nach deutschen Kriegsdienst (1917-1918) und einer Mitgliedschaft im Spartakusbund­ und am Spartakusaufstand in Berlin 5. Zusammenfassung und Fazit (1919), studiert Schohaus Theologie in Zürich und Basel sowie Philosophie, Päd- Zunächst scheinen es verstreute deutsch- agogik und Psychologie in Bern, wird zum sprachige Pädagoginnen und Erziehungs- Dr. phil. promoviert (1922), gründet in Muri wissenschaftler zu sein42, deren Bezug

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Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 zum Institut Jean-Jacques Rousseau hier gegenseitiger Hilfe, was die Karriere an- zu erörtern ist. Bei näherem Hinsehen fällt geht. Politisch betrachtet, entstammen die aber auf: Es handelt sich bei den deutsch­ Gäste des Instituts weitgehend der bürger- sprachigen Gästen des Instituts um eine lichen Schicht, außer etwa Seidel, Loosli größere Gruppe teilweise langjähriger oder Ragaz. Pädagogisch besehen sind es Freunde und Kämpfer und Kämpferin­ ausnahmslos reformerisch, insbesondere nen für eine Lebensreform und eine pä- schulreformerisch engagierte Personen, dagogische Reform – hier Deutsche und nebst den erwähnten Exoten, deren Einla- Schweizer. Daneben sind wichtige zeit- dung ans Institut illustriert, dass die Genfer genössische Wissenschaftler eingeladen – trotz der eingeschränkten und unsyste- worden, die nicht zu dieser eher engen matischen Auswahl der wenigen Referen- Gruppe von Gesinnungsfreunden zählen. tinnen und zahlreicheren Referenten – ein Sie alle lehren, präsentieren und disku- gutes Gespür gehabt haben für interes- tieren in Genf. Sind die Dozierenden aus sante Außenseiter, wie etwa Wartenweiler, Deutschland (wie jene aus anderen Län- den Volkshochschulpropagandisten und dern der Welt) einflussreiche Pädagogen Wanderprediger in Sachen Erwachse- oder Exoten, welche sich mit einer Einla- nenbildung, oder Carl Albert Loosli, den dung zum Vortrag am Institut schmücken Freund Bovets aus Neuenburger Tagen dürfen, profiliert sich das Genfer Institut und radikalen Jugendanstaltsreformer. mit diesen illustren Namen als Pionierin Einige Beispiele: einer neuen Erziehung43. Was die Gruppe der deutschsprachi- – Bovet holt seinen Freund aus den Kin- gen Lehrbeauftragten und Conférenciers der- und Jugendtagen in Grandchamp betrifft, sind deren zentrale Referenz Pierre zum Referat, wohl zu einer Causerie, Bovet, Edouard Claparède und Adolphe nach Genf. Loosli kennt Schneider, den Ferrière. Die drei Protagonisten einer 1915 verjagten Direktor des Berner neuen Erziehung definieren die Gruppe Lehrerseminars sicher schon seit 1905. der Personen aus der deutschsprachigen – Bovet arrangiert für Ernst Schneider Schweiz, die in Genf zwischen 1912 und eine Teilzeitstelle als Lehrbeauftragter 1932 tätig sind. Es sind ihre Weggenos- in Genf, bevor er dem Berner zu einer sen, Freunde, Mitstreiter, die sie nach Professur an der Universität in Riga Genf einladen – und es sind durchwegs verhilft. schulreformerisch engagierte Personen, – Heinrich Hanselmann gründet das die sie nach Genf holen. Dass diese unter heilpädagogische Landerziehungs- sich auch bekannt sind und vermutlich den heim Albisbrunn (1925), was ihn mit einen oder anderen ihrer Freunde in Genf Ferrières dokumentarischer Arbeit empfehlen, liegt nahe. im Bureau International des Écoles Man kann also von einem Klüngel spre- Nouvelles (B.I.E.N.) in Kontakt bringt. chen, von Personen, die sich gut kennen, Hanselmanns zentraler Begriff der dann weitere alte oder jüngere Bekannte Entwicklungshemmung dürfte Clapa- involvieren, aber keine Gegner oder gar rèdes entwicklungspsychologisches unbekannten Personen mitrekrutieren. Die Interesse geweckt haben. Motive, jemanden aus dem deutschsprachi- – Aus dem Umfeld Ferrières, jenem gen Raum zum Vortrag einzuladen, liegen der écoles nouvelles à la campagne, demzufolge sowohl in dessen fachlich-wis- stammt auch Max Oettli, der über senschaftlicher Kompetenz als auch in der Glarisegg schreibt, wo er damals Förderung guter Freunde, gelegentlich in unterrichtet.

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Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 – Das Ehepaar Clara und Leonhard Werdende Zeitalter, dessen franzö­ Ragaz engagiert sich in der Friedens- sischsprachige Variante (Pour l’Ère bewegung, was die Affinität zu Bovets Nouvelle) in den Händen Ferrières Ansätzen der moralischen Erziehung liegt. und der Friedenspädagogik (und – Friedrich Wilhelm Foerster, nach einer damit auch zur diesbezüglich proble- rund dreijährigen Begeisterungspha- matischen Person Friedrich Wilhelm se für den 1. Weltkrieg, mutiert zum Försters) illustriert. späteren Friedenpädagogen, was ihn – Über Ernst Schneider, der sich nach Bovet, der zuvor schon friedenspäda- 1916 auch linkspolitisch engagiert hat gogisch aktiv ist, nahebringen muss. (und über die Idee eines religiösen, – Hugo Gaudig engagiert sich für das pazifistischen Sozialismus), nach- tätige Handeln im Unterricht, er ist ein dachte, müsste Bovet auf Leonhard bekannter Arbeitsschulpädagoge, geht Ragaz und über das Thema Frauen also konzeptuell mit Ferrière konform. und der Friede auf Clara Ragaz auf- – Paul Geheeb steht den Genfern, v.a. merksam geworden sein. Ferrière, der ihn und seine Schule – Eduard Oertli ist mit seinen in Deutsch während Jahrzehnten stützt und för- erschienenen Publikationen zur dert, sehr nahe. Arbeitsschule und zur Knabenhand- – Wilhelm Paulsens Sicht der Schul- arbeit Ferrière sicher aufgefallen reform entspricht jener der Genfer – Elisabeth Rotten gehört in den Kreis Pädagogik, v.a. wenn es um die Ein- der Pazifistinnen, der international be- heitsschule geht (in Genf: Cycle gründeten Konzepte von Bildung und d’Orientation). Ausbildung, der Landerziehungsheime – Robert Seidel, der jahrelang mit Ker- und des Weltbunds für Erneuerung schensteiner um die Deutungshoheit der Erziehung – ihre Beziehungen zum des Begriffs Arbeitsschule streitet44, ist Institut sind eng. ein in die Schweiz immigrierter sächsi- – Willi Schohaus, Kämpfer gegen die scher Weber und nun politisch aktiver Anstaltserziehung (Aarburg) wie Loos- Sekundarlehrer, später habilitierter Er- li, Freund Schneiders und Organisa- ziehungswissenschaftler, Zürcher Kan- tor der Flucht der Geheebs und ihrer tonsparlamentarier und schliesslich Schule über den Bodensee in die Nationalrat für die Sozialdemokratische Schweiz (1934), kennt Ferrière, der die Partei – und zeitlebens einer der vehe- Geheebs in der Schweiz jahrelang be- mentesten Exponenten der Arbeits- gleiten sollte (1933-1946). Die wohl er- schule. Mit Ferrière und Claparède heblichen weltanschaulich-politischen muss er seinen Ansatz erörtert haben. Differenzen zwischen Schohaus und Ferrière scheinen irrelevant zu sein. Soweit der Versuch der Vernetzung der ans Institut in Genf Eingeladenen anhand Dasselbe gilt im Übrigen für die aus einiger Beispiele. Es bleibt, einen Blick Deutschland stammenden Referenten – auf eine besondere Person, einen Schüler, die Bezüge dieser Personen zum Institut einen élèven des Instituts, zu werfen. sind thematisch und persönlich zuweilen Annex: Jakob Robert Schmid stark ausgeprägt: oder der Maître camarade und die Freiheitspädagogik – Karl Wilker, der Jugendstrafreformer, Auf einen deutschschweizer Stu- redigiert mit Elisabeth Rotten Das denten des Instituts ist im Sinn eines

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Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 rezeptionshistorischen Ausblicks einzuge- wichtigen Hinweisen unterstützt hat. hen: auf Jakob Robert Schmid (1909-1977), 2 Ab hier: Institut Jean-Jacques Rousseau: dessen Dissertation über den Maître- Institut. Archives de l‘lnstitut Jean-Jacques Rousseau: Archives. camarade et la pédagogie libertaire45 (be- 3 Grunder, Hans-Ulrich 1986: Von der Kritik zu treut von Piaget und Claparède), über den Konzepten. Aspekte einer Geschichte der die Hamburger Lebensgemeinschafts- Pädagogik der französischsprachigen Schweiz schulen, und insbesondere aufgrund des im 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main: quellenbezogen äußerst unsorgfältig ana- Haag&Herchen; Grunder, Hans-Ulrich 1987a: lysierten Tagebuchs eines der Schulleiter Die École Nouvelle in der französischsprachi- einer der Lebensgemeinschaftsschulen, gen Schweiz. Schulkritik und Schulreform zu 46 Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Pädagogi- William Lottigs , 1937 in der Reihe des sche Rundschau, 6, S. 721- S. 745. Instituts bei Delachaux&Niestlé in Neu- 4 Hofstetter, Rita/Schneuwly, Bernard (Hrsg.) châtel erschienen ist. 1973, im Gefol- 2011: Zur Geschichte der Erziehungswissen- ge der 68er-Jahre, sollte Schmid seinen schaften in der Schweiz. Bern: hep, S. 363. Band auf Deutsch übersetzt und mit den 5 Zum forschungsmethodologischen Ansatz: alten Fehldeutungen behaftet unter dem Es geht hier um eine biographisch-realge- Titel Freiheitspädagogik nochmals pub- schichtliche Betrachtung. Allerdings verzichte ich an dieser Stelle darauf, die sozialhistori- lizieren. Schmid hatte nach seinem Stu- schen Hintergründe und die mentalitätsge- dium der Pädagogik in Zürich, Berlin und schichtlichen Aspekte der Situation in der Basel 1936 in Genf promoviert und wurde deutschsprachigen Schweiz zu Beginn des 1948 (bis 1976) Professor für praktische 20. Jahrhunderts auszuleuchten, während­ Pädagogik an der Universität Bern. Zeit- dem ich institutionengeschichtliche Aspekte lebens setzte er sich mit seinem Genfer anspreche. Zum Verhältnis von Reformpädagogik und Promotionsthema, also dem, was er anti- pädagogischer Reform: Hansmann, Otto autoritäre Pädagogik nannte, auseinander. 2005: Reformpädagogik oder pädagogische Allerdings schrieb er in einer seltsamen Reform. Aachen: Shaker; Grunder, Hans-Ul- Fehldeutung den sozialdemokratischen rich 2015: Schulreform und Reformschulen. Schulerneuerungen im Hamburg liber- Bad Heilbrunn: Klinkhardt; s.a. Schneiders täre, anarchistische Züge zu47, die diese zeitgenössischen Beitrag zur Positionierung gar für sich reklamiert haben. Schließlich der historischen Pädagogik, eines seiner bevorzugten Themen am Lehrerseminar: vertrat er erziehungstheoretisch und er- Schneider, Ernst 1956: Aus meinen Lern- und ziehungspraktisch einen pädagogischen Lehrjahren. Bern: Pestalozzi-Fellenberg-Haus Mittelweg, der wenig mit seiner Gen- und Schneider, Ernst 1907: Die historische fer Erfahrung zu tun gehabt haben kann Pädagogik am Seminar. In: Schweizerische und den er autoritative Erziehung nannte. Pädagogische Zeitschrift, 17, S. 275 - S. Schmid war während fast dreißig Jahren 284. Schneiders schulhistorische Disserta- als Professor für Pädagogik, wie später tion ist bis heute lesenswert: Er wertet darin unter einer architekturhistorischen und mo- Hans Aebli (ebenfalls ein Schüler Piagets) dernitätstheoretischen Perspektive die Frage innerhalb der Ausbildung der Lehrkräfte 15 (a bis d) zum Schulhausbau der Stapfer- im Kanton Bern sehr einflussreich. Enquête von 1800 aus: Schneider, Ernst 1905: Die bernische Landschule am Ende des 19. Jahrhunderts. Bern: G. Grunau. 6 Zum Verhältnis von damaliger Lehreraus- Anmerkungen bildung und Reformpädagogik: Grunder, Hans-Ulrich 1993: Seminarreform und Re- 1 Ich bedanke mich bei Elphège Gobet, Archi- formpädagogik. Bern: Peter Lang. varin an den Archives Institut Jean-Jacques 7 Zum Forschungsstand zur europäischen Rousseau, die mich bei der Recherche mit Reformpädagogik, insbesondere zu den

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Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 zahlreichen Variationen erziehungs-, bil- von Stadtschulrat Dr. Kerschensteiner aus dungs- und schulreformerischen Denkens München. Zürich: Orell Füssli. und Handelns: 14 Seidel, Robert 1885: Der Arbeits-Unterricht Barz, Heiner (Hrsg.) 2018: Handbuch Bil- eine pädagogische und soziale Notwendig- dungsreform und Reformpädagogik. Wies- keit zu gleich eine Kritik der gegen ihn erho- baden: Springer VS; Mayer, Sina Maren benen Einwände. Tübingen: Laupp; Seidel. 2018: Die Reformpädagogik in der aktuellen Robert 1910: Der Arbeitsunterricht, eine Kontroverse: eine Metaperspektive, Disserta- soziale und pädagogische Notwendigkeit. tion Universität Augsburg; Skiera, Ehrenhard Zürich: Orell Füssli. 2018: Reformpädagogik in Geschichte und 15 Ferrière, Adolphe 1928: Tatschule. Weimar: Gegenwart: eine kritische Einführung. Berlin, H. Böhlau (fr. Original: École Active, Neu- Boston: Oldenbourg (reprint); châtel: Delachau&Niestlé 1921); Grunder Zur Definition, zu Charakteristika und zu Im- 1986; Grunder 1987a. plikationen des Begriffs Reformpädagogik: 16 Erst 1946 sollten Edith und Paul Geheeb Oelkers, Jürgen 2005: Reformpädagogik: in Goldern, im Berner Oberland, die École eine kritische Dogmengeschichte. 4. vollst. d’Humanité gründen, nach ihrem zwölf Jahre überarb. Aufl. München: Juventa. Grunder dauernden Exil in der Schweiz – das einzige 2015, S. 83 ff.; Ullrich, Heiner, Idel, Till-Se- Landerziehungsheim in jenem reformpädago- bastian (Hrsg.) 2017: Handbuch Reformpäd- gischen Sinn, das heute in der Schweiz noch agogik. Weinheim: Beltz. existiert: Grunder, Hans-Ulrich 1987c: Paul Zur Internationalität der Reformpädagogik: Geheeb und die École d’ Humanité in der Helmchen, Jürgen 1987: Die Internationalität Schweiz. In: Bildung und Erziehung 4, S. 379 der Reformpädagogik: vom Schlagwort zur - S. 392; vgl. Grunder, Hans-Ulrich 1995a: historisch-vergleichenden Forschung. Olden- Qui étaient les fondateurs des Landerzie- burg: Universität Oldenburg. hungsheime suisses? In: Hameline, Daniel/ 8 Bovet, Pierre 1925: Différenciation ou indivi- Helmchen Jürgen/Oelkers, Jürgen (Hrsg.): dualisation. In: Éducateur, 12, S. 177- S. 181. L’éducation nouvelle et les enjeux de son his- 9 Grunder, Hans-Ulrich 1995b: Schulreform toire. Bern: Peter Lang, S. 197 - S. 205. und Jugendkultur: Wandervogel und Mäd- 17 Grunder, Hans-Ulrich 1987b: Das schwei- chenwandervogel in der Schweiz. In: Päda- zerische Landerziehungsheim. Frankfurt am gogische Rundschau, 53, S. 269 - S. 293. Main: Peter Lang. 10 Zu einer damals als modern eingestuften 18 Die erste Generation von Landerziehungs- Geistesströmung, jener der Aktivisten auf heimen in der Schweiz umfasst sechs dem Monte Verità im Tessin, hat der Wander- Gründungen: vogel meines Wissens keine Beziehung ge- 1899 Institut Grünau, Looser, Wabern, Kan- knüpft. Was eine verwandte Institution, die ton Bern Ferienkolonien betrifft, waren diese bereits 1902 Schloss Glarisegg, Frei/Zuberbühler, eingeführt – und überdies vor einem durch- Steckborn, Kanton Thurgau aus unterschiedlichen sozialen Hintergrund 1906 Schloss Kefikon, Bach, Islikon, Kanton zu sehen, so dass sich die Wandervögel Thurgau damit nicht beschäftigten. 1907 Hof Oberkirch, Tobler, Kaltbrunn, Kan- 11 Grunder, Hans-Ulrich 1994: Émile Jaques- ton St. Gallen Dalcroze (1865-1950) - Reformpädagoge, 1907 École Nouvelle de la Suisse Romande, Musikerzieher, Rhythmiker. In: Pädagogi- Vittoz, Chailly, Kantont Waadt sches Forum, 1, S. 25 - S. 35. 1908 La Châtaigneraie, Schwartz, Coppet, 12 Grunder, Hans-Ulrich 1997: Zukunftsschule Katon Waadt - Arbeitsschule. Ein Lehrstück aus der Ge- Nach 1910 kommen die École-Foyer (Kanton schichte pädagogischer Kontroversen. In: Waadt), die École Nouvelle (Kanton Waadt) erziehen/unterrichten, 3, S. 49 - S. 53. und der Schlosshof Hallwil (Kanton Aargau) 13 Kerschensteiner, Georg 1908: Die Schu- dazu. le der Zukunft eine Arbeitsschule. In: Der 19 Zu thematisieren wäre hier auch die Stadt Saemann, 2, S. 36 - S. 50; Seidel, Robert Genf als ein Zentrum der Erziehungsreform 1908: Die Schule der Zukunft, eine Arbeits- um 1900, das mit den Namen T. Flournoy, É. schule. Kritik und Ergänzung des Vortrages Claparède, P. Bovet, A. Ferrière, J. Piaget,

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Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 R. Dottrens oder L. Meylan verbunden war correspondants (A-Z), ohne Datum. (Grunder 1987a; Soler i Mata, Joan 2009: 30 Bovet 1932, S. 138 - S. 143. The Rousseau Institute of Geneva’s influence 31 „…leçons occasionelles (des causeries dont on and presence in Catalan pedagogy in the on ne retrouvera pas toujours la mention dans first third of the 20th century. Catalan soci- nos programmes“ (Bovet 1932, S. 138). al sciences review, 1. 58-87 (2012) (DOI: 32 „leçons séries“, Bovet 1932, S. 138. 10.2436/20.3000.02.5 http://revistes.iec. 33 … „des leçons pratiques de Schwyzer- cat/index/CSSr. dütsch“, Bovet 1932, S. 140. Erwähnenswert sind zwei Alternativen zum 34 Zu den biographischen Angaben: vgl. www. gängigen Schulwesen, wie sie einige Lau- hls.ch (Historisches Lexikon der Schweiz), sanner Anarchisten und zwei Neuenburger Zugriff: 7.5.2019. Lehrer praktiziert haben – die École Ferrer 35 Gaudig, Hugo 1909: Didaktische Präludien. (1910-1919) und die École des Terreaux, eine Leipzig: Teubner, Gaudig, Hugo 1917: Die Freinet-Schule in Neuchâtel (1929-1939). Schule im Dienste der werdenden Persön- Zur Reformpädagogik in der deutschspra- lichkeit. 2 Bde. Leipzig: Quelle & Meyer, Gau- chigen Schweiz: Criblez, Lucien 1995: dig, Hugo 1923: Was mir der Tag brachte. Reformpädagogik in der Krise: Krise der Re- Leipzig/Berlin: Teubner, Gaudig, Hugo 1925: formpädagogik. In: Bildungsforschung&Bil- Freie geistige Schularbeit in Theorie und dungspraxis, 2, S. 194 - S. 209; Grunder, Praxis. Breslau: Hirt; Zigmunde. Alida 2010: Hans-Ulrich 2007: Anarchistische Erziehung Hugo Gaudig. Pädagogische Konzeption als libertäre Reformpädagogik. Baltmanns- und sein Besuch im Baltikum 1922. Eine his- weiler: Schneider; Grunder 2015; Gronert, torische Momentaufnahme. Riga: Verlag der Maren, Schraut, Alban (Hrsg.) 2018: Hand- Technischen Universität. buch Vereine der Reformpädagogik, über- 36 „On donna la parole à M. Carl Albert Loosli, regional arbeitende reformpädagogische qui mène avec vigeur et courage une cam- Vereinigungen sowie bildungsentwicklerisch pagne pour la réforme des Anstalten de la initiative Einrichtungen mit Brückenfunktion in Suisse allemande.“ (Bovet 1932, S. 89); vgl. Deutschland, Österreich, der Schweiz, Süd- Marti, Erwin 1999: C.A. Loosli (Bd. 2). Zü- tirol und Liechtenstein. Baden-Baden: Ergon. rich: Chronos, Marti, Erwin 2009: C.A. Loosli 20 Die Geschichte des Instituts ist umfassend (Bd. 3.1.). Zürich: Chronos, S. 213. dokumentiert: Hofstetter, Rita 2010: Genève: 37 Grunder 1993, s.a. Grunder, Hans-Ulrich creuset des sciences de l’éducation (fin du 2013: Die Kraft der Persönlichkeit im Feld XIXe siècle - première moitié du XX siècle. der Erziehung: Das Beispiel Ernst Schneiders Genève: Droz. Deswegen verzichte ich hier (1887-1957), Pädagoge, fortschrittlicher Er- auf vertiefende Erläuterungen. zieher, früher Verlierer – und später Gewinner 21 Vgl. Programmes de cours avec noms des (unveröffentlichtes Manuskript, beim Autor); enseignants: http://www.unige.ch/archi- Weber, Kaspar 1999: „Es geht ein mächti- ves/aijjr/sourcesenligne/institutionnelles/ ges Sehnen durch unsere Zeit“. Bern: Peter programmes/. Lang; Schneider 1956. 22 Hofstetter 2010, S. 648. 38 Als Hinweise zur damaligen Debatte um den 23 Hofstetter 2010, S. 648. Einfluss der Psychoanalyse auf die Erneue- 24 Bovet, Pierre 1932: Vingt ans de vie (1912- rung der Erziehung: Bühler, Patrick 2013: 1932). Neuchâtel: Delachaux&Niéstle, S. Unterrichten mit Gefühl – Psychoanalytische 178 -S. 185. Pädagogik zu Beginn des 20. Jahrhunderts. 25 Bovet 1932, S. 191- S. 196. In: Jahrbuch für historische Bildungsfor- 26 Studienzertifikat. schung, 19, S. 247 - S. 261, Bühler, Patrick 27 Insbesondere im Livre d’or des étudiants: 2014: Der „letzte Zufluchtsort für Stürmer http://cms.unige.ch/AIJJR/livredor/. und Dränger“? Psychoanalytische Pädago- 28 Index 1912-1947; s.a.: Listes des étudiants gik in den „Berner Seminarblättern“ und der et auditeurs: http://www.unige.ch/archi- „Schulreform“ 1907-1930. In: Schweizeri- ves/aijjr/sourcesenligne/institutionnelles/ sche Zeitschrift für Bildungswissenschaften, etudiants-et-auditeurs/. 1, S. 51- S. 65, Bühler, Patrick 2018: Neue 29 Vgl. Index de la correspondance alphabéti- Formen des Heils und der Heilung. Zur Psy- que de la direction (1912-1947), Index des chopathologie des Schullebens am Anfang

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Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 des 20. Jahrhunderts. In: Bühler, Patrick, nouvelle au XXe siècle: Itinéraires et conne- Bühler, Thomas (Hrsg.): Sakralität und Päda- xions. Grenoble: Presses universitaires de gogik. Bern: Haupt, S. 173 - S. 193. Grenoble. 39 Weber 1999, S. 281; Schneider 1956, S. 86. 44 Seidel 1885, Seidel 1908, Seidel 1910; Ker- 40 Die englischsprachige Version edierten Beat- schensteiner 1908. rice Ensor und Alexander S. Neill, die franzö- 45 Genau übersetzt: Der Lehrer als Kamerad sischsprachige gab Adolphe Ferrière heraus. und die libertäre Pädagogik. 41 Das Piaget später während vierzig Jahren 46 Schmid, Jakob Robert 1937): Le maître- leiten sollte; vgl. Grunder, Hans-Ulrich 1992: camarade et la pédagogie libertaire. Neuchâtel: Jean Piaget als Reformpädagoge. Piaget Delachaux&Niestlé (Thèse de doctorat, Uni- und die éducation nouvelle zu Beginn des versité de Genève) (Neuauflage: s. Schmid 20. Jahrhunderts: vergessene Kontexte und 1973), Schmid, Jakob Robert 1973: Frei- systematische Bedeutung. In: Pädagogische heitspädagogik. Schulreform und Schulre- Rundschau, 5, S. 541 - S. 563. volution. Deutschland 1919-33. Reinbek b. 42 Hofstetter, Rita Schneuwly, Bernard (Hrsg.) Hamburg: Rowohlt; Grunder, Hans-Ulrich 2011: Zur Geschichte der Erziehungswissen- 2014: Kämpfen gegen Windmühlen und schaften in der Schweiz. Bern: hep. reale Mächte: William Lottigs Tagebuch 43 Zu Bezügen der deutschsprachigen Schul- (1919-1921) als Ausdruck der politischen, reformer in der Schweiz zu den Vertretern pädagogischen und schulinternen Macht- der Education nouvelle in Genf zu Beginn verhältnisse in einer Hamburger Gemein- des 20. Jahrhunderts: Grunder 1987a, schaftsschule zu Beginn der 1920er Jahre. In: S. 201; Hofstetter 2010; Hofstetter, Rita/ Paedagogica Historica: International Journal Schneuwly, Bernard 2011; Go, Henry- of the History of Education, 50, 4, 1-9 (DOI: Louis/Hofstetter, Rita/Riondet, Xavier 10.1080/00309230.2014.927512). (éds.) 2018: Les acteurs de l‘éducation 47 Grunder 2007.fff

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