Auf den Spuren von Clara Ragaz
Autor(en): Roy, Tula
Objekttyp: Article
Zeitschrift: Neue Wege : Beiträge zu Religion und Sozialismus
Band (Jahr): 91 (1997)
Heft 10: Zum 40. Todestag von Clara Ragaz
PDF erstellt am: 03.10.2021
Persistenter Link: http://doi.org/10.5169/seals-144067
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http://www.e-periodica.ch Clara Ragaz war eine derjenigen Frauen, suche sowie systematisch erhobene Sozial- die professionelles Vorgehen in der Sozialen Enqueten und Armutsstudien. Arbeit forderten und auch praktizierten. - Die Suche nach strukturellen Ursachen Ihre Anliegen haben auch in unserer heutigen der Not muss klar und eindeutig im Unterschied Zeit immer noch die gleiche Aktualität zur moralischen Bewertung von und Berechtigung: abweichendem Verhalten stehen. - Soziale Arbeit soll in einer sehr grossen - Sozialarbeit und internationales Bandbreite betrachtet werden, die nicht nur Engagement gehören zusammen. die individuellen Nöte erfasst, sondern In diesem Sinn kann Soziale Arbeit einen zusätzlich nach deren Ursachen fragt, um wichtigen Beitrag für eine gewaltfreiere, Lösungen auf überindividueller Ebene via gerechtere und friedlichere Welt leisten, Gewerkschaften, Schulen, Kirche, Politik die Menschen das Zusammenleben auf der und Öffentlichkeitsarbeit einleiten zu können. Basis der Gleichberechtigung, der gegenseitigen Achtung und der partnerschaftlichen - Wichtige Mittel dazu sind nach wie vor wie fürsorglichen Zusammenarbeit Türschwellenarbeit, Haus- und Quartierbe¬ ermöglicht.
Tula Roy
Auf den Spuren von Clara Ragaz
Die Autorin desfolgenden Artikels, Tula Roy, hat 1993 eine Filmtrilogie über politisch aktive Frauen in der Schweiz des 20. Jahrhunderts geschaffen. Der Film, der auch am Fernsehen DRS ausgestrahlt wurde, trägt den Titel «Eine andere Geschichte» und enthält ein Porträt von Clara Ragaz, das 1990 im Gespräch mit Trudi Ragaz, der Schwiegertochter von Clara und Leonhard Ragaz, entstanden ist. Wir haben Tula Roy gebeten, uns über ihre Spurensuche im Leben von Clara Ragaz zu berichten. Die Anmerkungen hat die Redaktion hinzugefügt. Red.
Kein Geld für die Frau des berühmten Clara berichten. Schade, dann eben kein Ehemannes? Geld! Kein Geld für eine Frau, die schon 1915 Die Idee, einen Film über politisch in einem Vortrag aufmerksam gemacht aktive Frauen des 20. Jahrhunderts zu hatte auf die Haltung der Frauen zu den realisieren, kostet noch keinen Rappen. Die Themen Politik, Militarismus und Frieden: Recherchen kann ich aus der eigenen Tasche «Dass die Frau, schwach und politisch bezahlen. Aber bevor der Film entstehen rechtlos, mangelhaft orientiert und organisiert, kann, muss Geld auf dem Konto liegen. wie sie ist, in die mächtigen Speichen Um dieses Geld zu beschaffen, kontaktierte des Weltgeschehens nicht einzugreifen ich unter anderem auch den damaligen vermochte, das ist ihr gewiss nicht zu verargen; Kirchenrat des Kantons Zürich. Ich erzählte aber dass sie diesem Weltgeschehen von Clara Ragaz, und man fragte mich gegenüber im allgemeinen nicht eine höflich, warum gerade ein Film mit Clara andere Stellung eingenommen hat, das ist tief und nicht mit Leonhard Ragaz. Dies wäre betrübend... Die Mehrzahl der führenden doch interessanter. Nein, ich wollte über Frauen und die breiten Massen der Frauen 294 der kriegführenden Länder machen mit röschens auftauchten. Sollte ich hier den oder haben mitgemacht in Kriegsbegeisterung, Geist dieser scharfsinnigen, kritischen in Bewunderung der Kriegstechnik Frau antreffen? Dass das Schlafen und Kriegsorganisation, in Hass und beziehungsweise das Nichtschlafen in diesem Verachtung gegenüber dem Gegner... Gewiss Haus eine wichtige Rolle spielte, erfuhr ich haben die Frauen Grossartiges geleistet an schon beim ersten Gespräch. Hilfsarbeit, an Pflegedienst, an Und dann kam sie mir entgegen. Nein, Opferbereitschaft; aber sie haben ihre Männer nicht Clara Ragaz, sondern ihre Schwiegertochter und ihre Söhne nicht nur ziehen lassen, Trudi Ragaz, die den Sohn Jakob nein, sie haben sie zum Hinausziehen geheiratet hatte und seit 1949 in dem Haus aufgefordert; sie haben zuhause freiwillig oder lebte. Trudi Ragaz lebte also acht Jahre mit durch die Verhältnisse gezwungen, aber auf Clara Ragaz unter einem Dach und bekam jeden Fall ohne Murren, harte Entbehrungen ihre Arbeit aus nächster Nähe mit. auf sich genommen,... aber sie haben es Sie erzählte mir: «Als ich hierher kam, geleistet für den Krieg, nicht gegen den merkte ich als erstes, dass hier vor allem Krieg.»1 nachts gearbeitet wurde. Dies, weil tagsüber Bei den Recherchen zu Clara Ragaz kam soviel Lärm und soviel Besuch war ich oft ins Sinnieren bei Angaben und Zeichen, die sich widersprachen. Auch mein Entschluss, den berühmten Ehemann - von ihr liebevoll «mein lieber Leu» genannt - auf die 3* Seite zu schieben, wollte nicht recht gelingen, weil er wie ein & Stehaufmännchen immer wie- wSSmm U*. der auftauchte: Mal wegen pii*¦< Socken oder Hemdkragen, die er nach Parpan2 geschickt bekommen wollte, wo er an einer grösseren Arbeit schrieb; ein andermal, wenn er ihr verbot, an einen wichtigen Kongress zu reisen, an dem ihr so viel gelegen war. S&Si
Ein Berg von Arbeiten V Aber gehen wir doch mal an ¦ '¦'y\ den Anfang unserer Bekanntschaft zurück. Auf meinem Weg zu ihr wuchsen meine Wunschvorstellungen ins Un- ermessliche. Dann stand ich vor dem von Efeu völlig überwucherten Haus an der Gartenhofstrasse.3 Es sah so klassisch romantisch aus, dass in mir sofort Kindheitserinnerungen an das verwunschene Schloss des schlafenden Dom¬ Clara Ragaz mit Jakob und Christine, ca. 1907. 295 mit allem Drum und Dran. Deswegen «November in Basel arbeiteten alle nachts. Es machte mir wohin ich schau, einen unauslöschlichen Eindruck: diese Ringsum, Bleiernes Wintergrau. Übermüdung, die alle riesige gegen ständig Hecke und Busch und Baum Ich nahm mir mich und kämpften. vor, Stehen in trübem Traum meine Familie nicht davon einnehmen zu Zwischen Tod und Schlaf. lassen. - Die einen, die schliefen am Tisch, dass sie beim Aufwachen sofort wieder an Wind, der sie sanft umkost, ihrem Arbeitsplatz waren. Clara machte es Sturm, der sie wild durchtost gescheiter. Sie hielt einen sogenannten Lachendes Himmelsblau, Vormitternachtsschlaf, d.h. sie legte sich Labender Morgentau, hin und stand wieder auf, um weiterzuarbeiten. Goldener Sonnenstrahl, Ich fand das verrückt, aber mit der Wo seid ihr hin zumal? Zeit, als ich Einsicht in diesen Berg von Ach, war' es Eis und Schnee, verschiedenen Arbeiten bekam, habe ich es Frost täte nicht so weh, verstanden. Sie müssten eben all die Wie dieses Alltagsgrau, verschiedenen Sachen, die sie angefangen hatten Ringsum, wohin ich schau.»4 und die in diesem Haus zusammenliefen, auf irgendeine Art erledigen.» Ein Gedicht voller Wehmut, Einsamkeit und Unbehagen. Das Gedicht einer jungen «November in Basel» Frau, die sich da, wo sie ist, nicht wohl fühlt, um sie nur bleiernes Grau und trüber Ob wohl Clara Ragaz schon vor der Ehe Traum. ahnte, was für ein Berg von Belastungen auf sie zukommen sollte? Leonhards Frauenpolitische Arbeit Werbung um die junge Clara Nadig war hartnäckig und dauerte recht lange. Clara war Als sie 1908 nach Zürich umziehen, weil aus England, wo sie als Hauslehrerin ihr Mann einen Lehrstuhl an der Universität gearbeitet hatte, nach Chur zurückgekommen angeboten bekommt, hat Clara Ragaz ab und konnte sich lange nicht entschliessen, sofort keine Verpflichtungen mehr als seinem Drängen nachzugeben. In ihren Pfarrfrau und kann vermehrt frauenpolitische Brautbriefen kommt die Befürchtung zum Arbeit übernehmen. Mir kommt es Ausdruck, dass sie ihm trotz grosser Zuneigung vor, als ob Clara in der Zürcher Zeit nicht das sein könne, was er sich aufblühte. Ihr Leben ist voller Aktivitäten erhoffe. Nach einem dramatischen verschiedenster Art, ihre Haltung zu Frauenfragen, Briefwechsel, vor allem seinerseits, kam dann zu Politik und Pazifismus ist doch die Verlobung am 19. April 1901 klar und deutlich. Ihre pazifistische zustande, und im Juni heirateten sie. Erst Überzeugung greift über auf Leonhard, den lebten sie in Chur, 1902 wurde er nach früheren Kadettenoffizier und Feldprediger. Basel berufen, wo sie etwa sechs Jahre Daneben findet sie Zeit für blieben. Buchübersetzungen aus dem Englischen und Basel war für die junge Clara Ragaz erzieht ihre beiden Kinder. nicht einfach. Die Pflichten als Pfarrfrau «Zum Kongress der Frauen für den waren neu für sie. Aber viel mehr als eine dauernden Frieden in Den Haag 1915 wäre sie Aufzählung ihrer verschiedenen Tätigkeiten gerne hingegangen», erzählt Trudi Ragaz, in Basel, die alle nachzulesen sind in «aber ihr Mann liess sie nicht gehen wegen Lebensrückblicken und kirchengeschichtlichen der Reise durch Deutschland, das sich im Proseminararbeiten, hat mich ein Krieg befand. Im Gegensatz zu ihr war er Gedicht aus dem Jahr 1905 - Clara war 31 immer ein bisschen ängstlich...» Im Jahre alt und hatte die zwei Kinder Jakob Lebensrückblick, den Helen Kremos 1995 und Christine geboren - beeindruckt: schrieb, lese ich allerdings, dass «die weit- 296 verbreitete Meinung, Leonhard hätte Clara mung, als wir zum Beispiel die Aufnahmen nicht reisen lassen wollen, revidiert werden mit Claras Ehering und ihrem Lorgnon müsse». Ich verlasse mich dagegen gerne machten, wog vieles auf. Natürlich würden auf meine Tonbänder von 1990. die Zuschauerinnen und Zuschauer nicht Wichtig ist für mich, dass nach Den merken, dass es die Originalgegenstände aus Haag Clara Ragaz mit Gertrud Woker5 und Claras Leben waren, aber wir wussten es. anderen Frauen einen Kongress unter der Leitung von Jane Addams61919 in Zürich Briefwechsel mit Leonhard organisierte, aus dem später die Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit Was mir besonders gefiel an Trudis IFFF entstand. Erzählungen, war, wie sie mir, ohne Clara Ragaz zu verklären, ihre auffallenden «Familienbetrieb für das Reich Gottes» Eigenschaften vermittelte. So erzählte sie von Claras Briefwechseln mit Leonhard: Claras Tochter Christine war damals ein «Er hat sehr viel mit ihr brieflich erörtert. Teenager von 14 Jahren. Ich weiss aus eigener Als er zum Beispiel an der Universität Erfahrung, dass das Leben als demissionieren wollte, da schrieb er ihr lange Heranwachsende neben einer politisch tätigen Briefe. Die Entgegnungen von Clara sind Mutter nicht einfach ist. Dass Christine und nicht im Briefwechsel. Wahrscheinlich hat auch ihr Bruder Jakob beide Nationalökonomie sie mündlich geantwortet. Aber aus seinen studierten - vielleicht als Abgrenzung? Antworten kommt heraus, dass sie ihn sehr - verstehe ich sehr gut. realistisch auf Für und Wider aufmerksam Trudi sagt dazu: «Zu Hause half Christine gemacht hat. Wenn es um Gewissensfragen schon als Kind in diesem - wie ich ging, so riet sie immer, dass er seinem sagen möchte - Familienbetrieb für das Gewissen folgen müsse. Diese Beratungen Reich Gottes, indem sie einfach immer haben einen grossen Stellenwert in vielen gedanklich mit den Eltern mitgegangen ist ihrer Briefe, wenn sich auch immer wieder und vor allem bei administrativen Arbeiten ganz reale lebensnahe Informationen mitgeholfen hat. Zu beiden Eltern hatte sie einfügten, wie der Wäschekorb, den er eine intensive Beziehung. Und so wie es in schicken solle, die Krawatte, die er anziehen Familienbetrieben immer läuft, da müssen solle, aber dann wieder ein Ratschlag alle helfen, sonst geht gar nichts.» für Themen zum Programm von
Im Zweiten Band «Leonhard Ragaz in seinen Briefen» lese ich zwar: «Leonhard Ragaz lernte Trotzki im Herbst 1914 in Zürich kennen und leistete ihm einen Dienst, in dem er eine von Trotzki damals verfasste Schrift
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