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Masarykova univerzita Filozofická fakulta

Ústav germanistiky, nordistiky a nederlandistiky

Německá literatura

Mgr. Miroslav Urbanec

Jürgen Fehlings, Wieland Wagners und Götz Friedrichs Tannhäuser - Inszenierungen als kritischer Spiegel der (deutschen) Gesellschaft

Disertační práce

Vedoucí práce: PhDr. Jaroslav Kovář, CSc.

2009

1

Prohlašuji, že jsem disertační práci vypracoval samostatně s využitím uvedených pramenů a literatury.

2 Inhaltsverzeichnis

Einleitung ...... 4

Erstes Kapitel Richard Wagners Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg : Sein Gedankengut, seine Lesarten, seine Inszenierungsgeschichte ...... 9

Zweites Kapitel Jürgen Fehling und die Gesellschaft an der Grenze zwischen „Abendland“ und „westlicher“ Zivilisation ...... 19 Die (Vor) Geschichte der Lebens und Kulturauffassung der Weimarer Republik ...... 24 Jürgen Fehlings „Versuch(e) über “ ...... 82

Drittes Kapitel Wieland Wagners „Neubayreuth“ in der Welt des „nachtotalitären Biedermeier“...... 108 Die Lebens und Kulturauffassung der Adenauerschen Gesellschaft ...... 116 Wieland Wagner, der „Theaterumstürzler“ ...... 149

Viertes Kapitel Götz Friedrich – ein „Ostdeutscher“ gegen die Wohlstandsgesellschaft ...... 178 Die „westdeutsche“ Gesellschaft nach Adenauer ...... 178 Götz Friedrichs Bayreuther Tannhäuser Inszenierung von 1972 ...... 200

Zusammenfassung ...... 228 Shrnutí ...... 243

Anhang : Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg . Die Handlung ...... 257

Bibliographie ...... 262

3 Einleitung

Richard Wagners Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg zählt ohne Zweifel zu den schwierigsten Werken der Opernliteratur. 1 Das Dreieck TannhäuserElisabethVenus, das Tannhäusers Zerrissenheit zwischen Himmel und Erde, Spiritualität und Sexualität zum Vorschein bringt, erscheint uns nicht nur psychologisch, sondern auch gesellschaftlich interessant: Indem sich Tannhäuser der Elisabeth zuwendet, wird er an Wartburgs Hof, der in Wagners Oper die Gesellschaft darstellt, willkommen geheißen – was allerdings eine gewisse Beschränkung seiner künstlerischen Freiheit zur Folge hat (die WartburgGesellschaft hat ihre eigenen Vorstellungen über die Kunst und erwartet von jedem Künstler eine bedingungslose Anpassung – deren zeigt sich Tannhäuser nicht fähig, wie es nicht zuletzt seine Beziehung zur Venus demonstriert, die hier eine verpönte Lebens und Kulturauffassung versinnbildlicht). Folglich bewegt sich der Sänger zwischen Anpassung, die den Selbstverrat bedeutet, und Widerstand, dessen Konsequenz der Verstoß aus der übrigen Menschengemeinschaft ist. Also ist Tannhäuser kein schönes Märchen, wo schöne Menschen agieren und wo einer die Regeln nicht einhält (weswegen er von seinen Nächsten verstoßen wird, bis er Buße getan und der Schreckgestalt der Venus den Rücken gekehrt hat), sondern ein Werk von unangefochtener Brisanz. Wagners steht nicht Eichendorffs Marmorbild nahe (wo Florio von Fortunato an den Minnesänger erinnert wird), sondern Koeppens oder Walsers zeitkritischen Romanen, wo sich derselbe Kampf zwischen Anpassung und Verweigerung abspielt – nur, mancher Zuschauer zeigt sich dessen nicht bewusst. Es gibt in der Geschichte der Wagnerschen Interpretation einige Tannhäuser Inszenierungen, deren Regisseure das Wagnis eingingen, die „schöne Oberfläche“ aufzugeben und ein durchaus zeitgenössisches Drama eines zwischen Anpassung und Verweigerung stehenden Menschen sowie eine ganz konkrete Gesellschaft mit ganz konkreten (Kunst) Erwartungen auf die Bühne zu bringen. Diese Konzeption ließ die Bühne zum Spiegel des Zuschauerraums werden, wobei die Regisseure oft die Rolle des Tannhäuser, die Zuschauer dagegen diejenige der WartburgGesellschaft übernahmen. Die meisten Inszenierungen, denen die Abneigung gegen die Vereinnahmung Wagners durch die jeweils maßgebende Lebens und Kulturauffassung zu Grunde lag, wurden allerdings verrissen – zum Kult avancieren sollten meist nur diejenigen, die auf der Anpassungsfähigkeit (um nicht zu sagen: Anpassungsfreudigkeit) fußten. Nachdem sich aber die Gesellschaft (samt ihren (Kunst)

1 Was den Inhalt von Wagners Tannhäuser betrifft, siehe den Anhang.

4 Erwartungen) verändert hatte und die Umjubelten von gestern zu den Verdammten von heute geworden waren, rief man sich „plötzlich“ die alten Störenfriede wieder einmal ins Gedächtnis und passte ihr Werk an das neue System an. Das Verpönte von gestern rückte also zum „Sakrament“ von heute auf, wogegen zu verstoßen der Verbannung würdig erschien. Das war auch der Fall Jürgen Fehlings, Wieland Wagners und Götz Friedrichs, deren Tannhäuser Inszenierungen von den Zeitgenossen zunächst abgelehnt wurden, um später um so heftiger gepriesen zu werden. Jürgen Fehlings Versuche einer wahrhaftigen Auslegung von Wagners Werk – neben dem Tannhäuser von 1933 war es seine Holländer Inszenierung von 1929 – sollten exemplarisch bleiben: „Fehling und Strnad (Fehlings Bühnenbildner – Anm. M.U.) wichen von dem Bildmuster ab, nach dem Tannhäuser bis jetzt gespielt wurde, sie zeigten nicht das schöne Mittelalter, sondern eine bestimmte Gesellschaft mit bestimmten Ansichten zum Künstlertum. Und darin lag die Aktualität dieser Deutung. Unangepasste werden nicht geduldet. Härte, Düsternis und Tragik, dieser eigentliche Gehalt des Tannhäuser, wurde freigelegt, und nicht die schöne Oberfläche gezeigt. Von seiten der Herrschenden war das Verbot nur logisch.“ 2 Die InSzeneSetzung eines Unangepassten Dramas durch einen „unangepassten“ Regisseur wurde hier von einem Regime verboten, das eine Anpassung unter allen Umständen zu fordern pflegte. Fehling selbst wurde hier sozusagen zum Tannhäuser, ließ sich (scheinbar) eines „Besseren“ belehren, sollte allerdings noch in der Nachkriegszeit mit seinem „Nonkonformismus“ Furore machen. Nach dem Zweiten Weltkrieg erschien die Situation einerseits völlig unterschiedlich, andererseits mutete sie aber völlig identisch an. Die neue Gesellschaft verband zwar mit der Kunst andere Erwartungen als die alte, nicht einmal sie zeigte sich allerdings in der Lage, irgendwelche Verstöße gegen diese Erwartungen hinzunehmen. Wieland Wagners Kampf um eine „werkgetreue“ WagnerInterpretation wurde daher zu einem Kampf gegen das konventionelle WagnerVerständnis, an dem die damalige Gesellschaft noch festhalten wollte. Der Wagnerenkel blieb stur – und der Sieg blieb ihm vorbehalten. Zuerst hatte er jedoch manche Angriffe sowohl gegen seine Inszenierungen als auch gegen sich selbst zu überstehen und sich jener „Altwagnerianer“ zu erwehren, die einen „Denkmalschutz für Wagner“ fordern zu müssen glaubten. Dennoch sollte sich die Gesellschaft erst nach Wieland Wagners Tod völlig vergegenwärtigen, was für einen Regisseur sie mit dem Wagnerenkel verlor. Als Götz Friedrich nach kam, um dort den Tannhäuser zu inszenieren, sah er sich mitten in einer Welt, die von ihm eine Wielandsche Inszenierung erwartete. Er wollte

2 Müller, Wapnewski 1986, S. 665666.

5 sich aber nicht anpassen – und wurde (zumindest im Premierenjahr) ausgebuht. Friedrichs Tannhäuser Verständnis unterschied sich von dem Wielandschen so markant, wie sich Wieland Wagners Tannhäuser Interpretation von der Fehlingschen und diese wiederum von den früheren Interpretationen unterschieden hatten. Friedrich wurde unter diesen Umständen zum dritten Tannhäuser Regisseur nach Fehling und Wieland, dem vorbehalten blieb, das TannhäuserLos zu teilen: Die Gesellschaften kamen und gingen, doch keine von ihnen zeigte sich in der Lage, irgendwelche Verstöße gegen ihre Erwartungen hinzunehmen (auch die Regisseure kamen und gingen, einige von ihnen – z.B. die drei Genannten – stellten sich als Revolutionäre heraus, ihr Erbe war freilich so mächtig, dass es einer neueren Revolution beinahe zum Verhängnis werden sollte). Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist eine Analyse von Fehlings, Wielands und Friedrichs Tannhäuser Inszenierungen und zugleich eine Analyse der Gesellschaften, die Zeugen dieser Inszenierungen waren. In erster Linie halte ich für notwendig, die Arbeit der drei genannten Regisseure zu erläutern – womit sie sich auseinander setzen wollten oder mussten, was für ein WagnerVerständnis ihre Arbeit kennzeichnete, inwieweit dieses ihr WagnerVerständnis „Geschichte machend“ war und, nicht zuletzt, was für Reaktionen es auslöste. Des weiteren will ich die Gesellschaft selbst analysieren – welche Erwartungen sie mit dem Theater oder der Kunst im allgemeinen verband, was für eine Kunsteinstellung für sie charakteristisch war, inwieweit sich in dieser Kunsteinstellung die politischen Verhältnisse widerspiegelten und, nicht zu vergessen, wie sich diese Kunsteinstellung verändern sollte. Von Bedeutung wird natürlich auch die Frage nach der Rolle Richard Wagners in der deutschen Kultur und Ideologiegeschichte: Warum rief ausgerechnet das Wagnersche Werk so große Kontroversen hervor, warum bedienten sich seiner so viele sozialkritische Regisseure so gern und, um das Tannhäuser Thema nicht zu vergessen, wer ist eigentlich dieser Tannhäuser, dessen Lebensgeschichte so explosiv dargestellt werden kann, wie sie Fehling, Wieland und Friedrich darzustellen vermochten? Was die Struktur der vorliegenden Arbeit betrifft, gilt es, sie den gegebenen Aufgaben entsprechend zu gestalten: 1. Richard Wagners Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg : Sein Gedankengut, seine Lesarten, seine Inszenierungsgeschichte 2. Jürgen Fehling und die Gesellschaft an der Grenze zwischen „Abendland“ und „westlicher“ Zivilisation (I. Die (Vor) Geschichte der Lebens und Kulturauffassung der Weimarer Republik; II. Jürgen Fehlings „Versuch(e) über Wagner“)

6 3. Wieland Wagners „Neubayreuth“ in der Welt des „nachtotalitären Biedermeier“ (I. Die Lebens und Kulturauffassung der Adenauerschen Gesellschaft; II. Wieland Wagner, der „Theaterumstürzler“) 4. Götz Friedrich – ein „Ostdeutscher“ gegen die Wohlstandsgesellschaft (I. Die „westdeutsche“ Gesellschaft nach Adenauer; II. Götz Friedrichs Bayreuther Tannhäuser Inszenierung von 1972) Also besteht jedes Kapitel aus zwei Subkapiteln, von denen das eine die ausgewählte Tannhäuser Inszenierung sowie die Arbeit des jeweiligen Regisseurs analysiert, während das andere um die Analyse der jeweiligen Gesellschaft samt deren Kunst und Wagnereinstellung bemüht ist. (Da alle drei Regisseure mehrere Inszenierungen kreierten, unter denen es oft einen Zusammenhang gab, müssen ihre Tannhäuser Inszenierungen immer im Kontext ihrer gesamten Theaterarbeit analysiert werden. Auch die einzelnen Gesellschaften müssen unter der Beachtung der historischen Entwicklung dargestellt werden, um der Entwicklung des WagnerTheaters die Entwicklung der „deutschen“ Gesellschaft gegenüber stellen zu können.) Die vorliegende Arbeit ist eine Intensivierung meiner Beschäftigung mit der Interpretation der Operntexte, mit dem und dessen Beziehung zur gesellschaftlichen Entwicklung, der meine auch hier zitierte Magisterarbeit ( „Die provokative Konzeption von Wieland Wagners Bayreuther NibelungenringInszenierung 1965“ ) zugrunde liegt – was ich anstrebe, sind Kontinuität und Weiterentwicklung in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit einem kulturgeschichtlich und kulturpolitisch relevanten Gegenstand. Darüber hinaus ist diese Arbeit gemeint als Beitrag zur bisher noch unzureichenden Wagner Literatur in der Tschechischen Republik. Abgesehen von einigen Übersetzungen zählt diese noch heute nur wenige Titel, deren Verfügbarkeit für Studium und Theaterbetrieb recht begrenzt ist. Dabei stehen die tschechischen Bühnen dem Wagnerschen Werk näher als gedacht. Gemeint sind nicht nur die viel beachteten Tristan und Nibelungenring Inszenierungen, mit denen das Prager Nationaltheater seine WagnerProduktion erneuerte bzw. bereicherte ( Tristan kehrte ins Nationaltheater nach 75 Jahren zurück, die gesamte NibelungenTetralogie wurde auf dieser Bühne bis dahin noch nicht aufgeführt); nicht nur die Produktionen des ehemaligen SmetanaTheaters (deren Qualität außer Frage steht), sondern auch die älteren Aufführungen, die man sowohl den deutschen Bühnen (in erster Linie dem denkwürdigen Neuen Deutschen Theater in Prag und dessen Direktor Angelo Neumann 3) als

3 Vgl. Macek 1996, S. 144ff.

7 auch den tschechischen Häusern verdankt. Prag war am 25. Februar 1854 die erste Stadt der österreichischen Monarchie, deren Bühne (konkret das Ständetheater) Wagners Oper gab – nämlich den Tannhäuser (siehe in diesem Kontext das Thema der vorliegenden Arbeit). Verdient um dieses denkwürdige Ereignis machte sich vor allem der Tscheche František Škroup, Dichter der heutigen Nationalhymne der Tschechischen Republik und ein augenscheinlicher Patriot. Um der gefürchteten KulturProvinzialität vorzubeugen, ging er jedoch das Wagnis ein, das nationalistisch gesinnte tschechische Publikum des 19. Jahrhunderts mit dem Werk des „allerdeutschesten“ Dichterkomponisten zu konfrontieren – mit einem spektakulären Erfolg. 4 Auf Škroup, der in Prag auch uraufführte, sollten bald andere Dirigenten und Intendanten folgen, dank denen man auf den tschechischen Bühnen fast alle Theaterwerke Wagners (oft in hochkarätigen Inszenierungen) sehen konnte – leider ist das im öffentlichen Bewusstsein viel zu wenig präsent. Um an diese Tradition anknüpfen und das Wagnersche Werk in Tschechien in einer modernen Gestalt wiederbeleben zu können, bedarf es u.a. eines Vergleichs mit verwandten Bestrebungen im Ausland, mit denen sich die das Thema behandelnde Fachliteratur auseinander zu setzen hat. Wie oben erwähnt, beschränkt sich die zeitgenössische tschechische WagnerLiteratur auf wenige (meist allgemein gefasste) Titel. Erst seit den letzten Jahren nimmt das Interesse am Wagnerschen Werk in Tschechien wieder zu. Dies vor allem wegen der Aktualität dieses Werks, in dem, wie es der deutsche Botschafter in Prag Dr. Michael Libal anlässlich der oben erwähnten Prager Uraufführung des gesamten Nibelungenrings formulierte, das Drama der modernen Gesellschaft zum Vorschein kommt. Diese „Dramatik“ findet man in der NibelungenTetralogie ebenso wie im Tannhäuser . Wie dieser zu inszenieren ist und mit welchen Reaktionen der Regisseur zu rechnen hat, das zeigten mehrere ausländische Bühnenproduktionen der jüngeren Vergangenheit (von denen einige tatsächlich „Geschichte machten“, dem tschechischen Publikum aber beinahe gänzlich verborgen blieben). Auf einige der vorbildlichsten zu sprechen zu kommen, setzte sich die vorliegende Arbeit zum Ziel.

4 Vgl. Kučera 1995, S. 124ff.

8 Erstes Kapitel Richard Wagners Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg : Sein Gedankengut, seine Lesarten, seine Inszenierungsgeschichte

In Anbetracht der Quellen, die dem Wagnerschen Tannhäuser zu Grunde liegen, erscheint uns selbstverständlich, Volker Mertens ohne weiteres Recht zu geben, der glaubt, in dieser Oper (oder „Oper“) Wagners „mittelalterlichstes Werk“ erkannt zu haben. 5 Folglich meint er zusammenfassen zu können: „Wagners spätere eigene Interpretation: „Wenn (im Tannhäuser) ein poetischer Grundzug ausgedrückt ist, so ist es die hohe Tragik des Entsagens, der wohlmotivierten, endlich notwendig eintretenden, einzig erlösenden Verneinung des Willens“ (Brief an August Röckel 23.8. 1856) zitiert Schopenhauer – sie wird dem Werk nicht gerecht. Nicht die „Tragik des Entsagens“, sondern die Erlösung durch die Liebe ist der „poetische Grundzug“ – daß diese Erlösung nicht im irdischen Leben, sondern erst im als real vorgestellten Jenseits wirksam wird, ist ganz im Sinne einer mittelalterlichen Büßerlegende.“ 6 Allerdings ist dieses Tannhäuser Verständnis kein einzig gültiges. Wie es um Wagners Tannhäuser , dem der Dichterkomponist die Bezeichnung einer „romantischen Oper“ schließlich absprechen sollte, um dessen fast ständig verändertem Charakter gerecht zu werden, bestellt ist; wie es um dieses Werk, das zu den interpretatorisch schwierigsten, zu den vielschichtigsten in der gesamten Opernliteratur zählt, auch stehen kann, lässt sich inzwischen einer ganzen Reihe von Interpretationsmodellen entnehmen, die über das Mertenssche weit hinausgehen – zumal sie größtenteils dem „modernen“ Regietheater verpflichtet bleiben, das hinter aller „Geschichte“ nur Bildmetaphern für die „Zeitgeschichte“ wittert. Von den Regisseuren, denen das Regietheater seinen Glanz verdankt, war es z.B. Götz Friedrich (dessen Bayreuther Versuch, den Tannhäuser ohne jegliche „Mystifizierung“ in Szene zu setzen, jenen drei Inszenierungen angehört, die zu analysieren sich die vorliegende Arbeit zum Ziel setzte), der diesem scheinbar historischen Stoff stets die höchste Modernität zuerkannte: „Auch diese Oper, auf besondere Weise ein Werk des revolutionären Vormärz, kann mittels Entmystifizierung und Erhellung viele neuartige Wirkungen vermitteln“ , erklärte Friedrich in einem Interview. „Die Titelfigur hat Dimensionen, die an Goethes Faust und Brechts Galilei gemahnen. Erzählt wird die Geschichte von einem Künstler, der auf der Suche ist. In der sich „heil“ dünkenden Welt findet er keinen Halt, kein „Heil“. Die Zerrissenheit,

5 Zu den Quellen und Vorlagen, von denen Richard Wagner Gebrauch machte, siehe u.a.: Bermbach 2003, S. 91ff.; Buschinger 2007, S. 39ff.; Erfen 1999, S. 37ff.; Müller, Wapnewski 1986, S. 251ff. 6 Müller, Wapnewski 1986, S. 2526.

9 deren er denunziert wird, ist nichts anderes als die seelische Spiegelung des Zustandes der ihn umgebenden Welt, wie er sie sieht, wie er sie durchschaut. Nicht sein Geist ist gestört, wie manchen glauben gemacht werden soll – gestört ist die Grundbeziehung zwischen humaner Existenz und herrschender Ideologie. [...] Eine wesentliche Rolle für die Entschlüsselung des Werkes spielt sicherlich der Eindruck einer autoritären feudalgroßbürgerlichen Gesellschaft, wie sie in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts den Künstler Wagner in Unruhe versetzte. Die direkten gesellschaftlichen Beziehungen aus der Entstehungszeit des Werkes sollten immer als regulativ benutzt werden, wenn man sich in ideologischen Normzeiten bewegt. Alle Ebenen und Polaritäten zusammengenommen, ergibt sich m. E. als zentraler Konflikt der TannhäuserGestalt der große Widerspruch zwischen der Glückssehnsucht des Menschen und der gesellschaftlichen Ordnungsstruktur – ein Konflikt, der ein Hauptthema der fortschreitenden Menschheitsgeschichte geworden ist.“ 7 Wie berechtigt es ist, die vermutlich mittelalterliche Geschichte zu einem Spiegel zu erklären, den Richard Wagner (nicht nur) seinen Zeitgenossen vorhielt; von welcher Aktualität, von welcher Brisanz der Inhalt dieses Werks (das zu den wohl „bekanntesten“ in der Opernliteratur gehört) sein kann, brachte Friedrichs Inszenierung von 1972 (ebenso wie die darauf folgende Reaktion des Festspielpublikums) überzeugend zum Vorschein. „Das aber heißt, daß es Wagner nicht um irgend einen beliebigen historischen Stoff für eine neue Oper ging“ , resümiert Udo Bermbach. „Er wollte vielmehr eine historische Vorlage, die sich explizit in politischen Bezug zu seinem eigenen Denken wie zur politischen und gesellschaftlichen Lage in Deutschland setzen ließ. Mit dem Tannhäuser zielte er – wie mit allen seinen Opern und Musikdramen – entschieden auf die eigene Zeit und die in ihr sichtbaren grundlegenden politisch gesellschaftlichen Probleme, und die scheinbar weit abliegende Geschichte dieser Figur wie auch des mittelalterlichen Sängerstreits war für ihn [...] eine Allegorie der Gegenwart.“ 8 Folglich sieht man sich gezwungen, dem Tannhäuser Dichter doch Recht zu geben, diesem hochbrisanten Werk den harmlosen Beinamen einer „romantischen Oper“ aberkannt zu haben. Von Bedeutung erscheint dann aber die Frage, wie eine „Allegorie der Gegenwart“ in Szene gesetzt werden soll – um die Aktualität des Tannhäuser zu erkennen, bedarf man einer entsprechenden Inszenierung. Kommen wir zunächst auf die Produktionen zu sprechen, an denen Richard Wagner selbst beteiligt war, und fragen wir nach den Grundsätzen, die er beachtet wissen wollte.

7 Friedrich 1986, S. 12. 8 Bermbach 2003, S. 93.

10 Als Wagners „Mäzen“ Ludwig II., König von Bayern, eine neue Tannhäuser Aufführung wünschte, deren Bühnenbild der (rekonstruierten) WartburgRealität nachgebildet worden wäre, lehnte sich der Dichterkomponist auf. Richard Wagner hielt an jenen „Decorationen“ fest, die er unter seiner persönlichen Überwachung für die Pariser Tannhäuser Premiere vom Anfang der 1860er Jahre hatte anfertigen lassen und denen er – obwohl sie von der historischen Wirklichkeit meilenweit entfernt waren – nach wie vor die Mustergültigkeit zuerkannte: „Unter meiner Anleitung wurden seiner Zeit in die Decorationen zu Tannhäuser in einer so sorgfältigen Weise motivirt, entworfen und ausgeführt, wie dis gewiss sonst in der Welt noch nicht geschehen ist. Wir benutzten auch die von Berlin erbetenen Skizzen des Wartburgsaales, welcher dort eigens nach Anordnung des Allerhöchstseligen Königs von Preussen treu nach der auf der Wartburg selbst ausgeführten Restauration copirt war. Dieser Saal war im höchsten Grad unschön, und zu meinem Zweck völlig untauglich: dennoch benutzten wir zu einer idealen Bildung des von mir Gewollten alle in der getreuen Copie vorherrschenden Stylistischen Eigenthümlichkeiten auf das sorgfältigste, um dem idealen Raume zugleich den getreuen Duft der Zeit zu geben. Diess wurde auf das geistreichste ausgeführt, und die daraus entstandene Decoration stelle ich als einzig nachahmungswürdiges Muster hin.“ 9 Was Richard Wagner anstrebte, waren also keine sterilen, obwohl historisch präzisen Bühnenbilder, sondern ideale Räume, Traumräume, in denen er (nicht nur) seinen Tannhäuser sich abspielend wissen wollte. Dem Tannhäuser Drama zuliebe zeigte sich der Tannhäuser Dichter bereit, sowohl von historisch korrekten Bühnenbildern als auch von historisch korrekten Charakteren der agierenden Personen abzuweichen; folglich mussten manche Figuren, nicht zuletzt Tannhäusers Rivalen Wolfram von Eschenbach und Walter von der Vogelweide, aller (belegten) „Progressivität“ verlustig gehen, um dem Wagnerschen Konzept einer politischideologisch ebenso wie künstlerisch gespaltenen Welt Genüge zu tun 10 (wenn es also in der vorliegenden Arbeit auf die „biederen“ Wolframs oder „braven“ Walters zu sprechen kommt, so müssen diese Anspielungen nur im Kontext des zu behandelnden Wagnerschen Musikdramas verstanden werden). Vor allem die „Sängerhalle“, der es vorbehalten blieb, dem eigentlichen Drama, dem Zusammenstoß zweier unversöhnlichen Welten einen entsprechenden Raum zu geben (d.h. sich den agierenden Personen zur Verfügung zu stellen, wenn es galt, die Brisanz der „Allegorie der Gegenwart“ zum Vorschein zu bringen), rückte zum zentralen Topos des Werks auf – vom Tannhäuser Dichter skizziert, vom französischen Bühnenbildner Edouard Desire Joseph Desplechin

9 Erfen 1999, S. 211. 10 Vgl. Buschinger 2007, S. 4041.

11 gestaltet, avancierte die „Sängerhalle“ mit ihrer romanischbyzantinischen, in den späteren Aufführungen der Gotik entnommenen Pracht zu jenem „geistigen Raum“, in dem Wieland Wagner „szenische Aktion“ und „musikalischen Ablauf“ miteinander korrespondierend sehen sollte 11 . Das es nicht die Geschichtsforschung war, was hier Pate stand, liegt auf der Hand: „Jedem auch nur halbwegs historisch Unterrichteten mußte klar sein, daß ein Saal auf der Wartburg um 1207 (als der „Wartburgkrieg“ stattgefunden haben dürfte – Anm. M.U.) niemals so ausgesehen haben konnte. Es ging nicht um das historisch Richtige, sondern um die festliche Vergegenwärtigung eines hohen Stiles der eigenen kulturellen Vergangenheit, eine edle Halle, in der Kunst und Frieden weilen. Der Raum ist theatralisch gedacht und angelegt, das Historische ist nur in den Schmuckelementen – und selbstverständlich in den Kostümen – gegenwärtig.“ 12 Um Fazit ziehen zu können, machen wir noch einmal von Oswald Georg Bauers Worten Gebrauch, dessen aufschlussreichem Aufsatz Nicht das Historische, sondern das Charakteristische. Bemerkungen zum Bühnenbild des „Tannhäuser“ wir bereits die zwei vorstehenden Zitate zu verdanken haben: „Wagner verstand Tannhäuser nicht als historische Oper, obwohl er mit dem Einzug der Gäste im 2. Akt selbst eines ihrer effektvollsten Wirkungsmittel, den „grand cortege“ einsetzt, wie übrigens auch im 2. Akt des Lohengrin. Später allerdings, im Jahr 1873, bei einer Diskussion über den Bühnenstil, in dem der Ring zu inszenieren sei, bekennt er, daß ihm diese äußere Pracht im Tannhäuser und im Lohengrin jetzt nicht mehr entspreche; er habe sich davon entfernt, um den Menschen „ohne jede konventionelle Zutat vorzuführen“. Der Mensch und sein Drama, der Konflikt Tannhäusers, die Tragik der Elisabeth: dies ist für Wagner das eigentliche und zentrale Thema im Tannhäuser, und dies gilt es zu inszenieren. Der Schauplatz, das Bild sind dagegen zweitrangig, sie liefern den Rahmen für das Drama, wobei die Zeit, das christliche Mittelalter, nur als Atmosphäre, als „Duft“ in Erscheinung treten soll. Daß diese Theorie nicht ganz aufgehen konnte, gerade bei Tannhäuser, daß diese Überlegungen in der Aufführung heftig kollidieren mit den Schauwerten des Werkes, dessen war sich auch Wagner bewußt. Der Tannhäuser ist ihm auch aus diesem Grunde sein Leben lang problematisch geblieben.“ 13 Dagegen glaubte die Nachwelt, sämtliche Probleme gelöst zu haben, indem sie sich über Wagners Wünsche und Regieanweisungen (die sie andernfalls strengstens einzuhalten

11 Vgl. unten, S. 157. 12 Erfen 1999, S. 203. 13 Ebenda, S. 213214.

12 verlangte) stillschweigend hinwegsetzte. 14 Was der Tannhäuser Dichter hätte missbilligen müssen, nämlich die Bebilderung des Bühnengeschehens mit äußerst phantasielosen (um nicht zu sagen: hohlen, künstlerisch impotenten), obwohl historisch möglichst präzisen Dekorationen (um dem Geschmack der geschichtsinteressierten Dilettanten vom Range eines Ludwig II. oder Wilhelm II. bzw. um der Eitelkeit der Historiker, wenn nicht vom Range, dann zumindest vom Schlag eines Heinrich von Treitschke Genüge zu tun); was zu Wagners Regiekonzept in krassem Widerspruch stand, nämlich die Ersetzung der „Vergangenheitsverklärung“ 15 mit einer Vergangenheitsabbildung, wurde nun mit Wagners Namen verbunden; das ganze „schöne Mittelalter“, wie es sich der Geist des ausgehenden 19. und einsetzenden 20. Jahrhunderts (der sich im Fortschrittsglauben ebenso wie in der Vergangenheitsverpflichtung manifestierte, der durch den nationalen Stolz ebenso wie durch den nationalistischen Hochmut zum Ausdruck kam) ausdachte, dieses harmlose, verfälschte Mittelalter galt es nun als WagnerTheater zu präsentieren. Der ideologisch begründeten Verfälschung des Wagnerschen Werks (an der Wagners Bayreuther „Erben“ nicht unbeteiligt waren) ein Ende zu bereiten; mit sämtlichen (auch musikalischen) Konventionen und Tabus zu brechen, die diesem Werk seit Jahrzehnten anhafteten, sollte erst das moderne Regietheater bestrebt sein. Es waren die Produktionen des Regietheaters, die Leistungen der jungen Dirigenten vom Schlag eines Otto Klemperer, unter deren Einfluss Carl von Ossietzky zurückblickend schrieb: „Wagner wird heute anders kreiert als vor Jahrzehnten. Man muß sich die großen Wagneraufführungen vorstellen, wie sie noch vor zwanzig Jahren waren, diese weiche sinnliche Zerdehnung der Tempi, dieses Waten in Tönen. Und dazu diese Kammersänger, wie sie sich auf fahl gewordenen Rollenbildern präsentieren, diese Tristane und Lohengrine mit Doppelkinn und Bierbauch, und dazu diese Sängerinnen mit flachsgelben Perücken, das Auge verzückt erhoben, Wogebusen und Wackelpopo durch ein rotumbordetes, urtümlich deutsches Nachthemd wirkungsvoll unterstrichen...“ 16 Auf der Suche nach den vorbildlichsten Wagner Leistungen des Regietheaters erscheint uns unmöglich, Wieland Wagners Inszenierungen unbeachtet zu lassen – zumal hier eine deutliche Analogie zu Richard Wagners ursprünglichem Regiekonzept vorliegt: Der Tannhäuser Dichter wünschte keine Vergangenheitsabbildung, er wünschte keine Bühnenbilder, die bloße Kopien der Realität gewesen wären, er wünschte stattdessen ideale Räume, die mit den „geistigen Räumen“

14 Vgl. Müller, Wapnewski 1986, S. 629ff. 15 Vgl. ebenda, S. 204. 16 Ossietzky 1994, S. 481482.

13 weitgehend kongruierten, in denen der Wagnerenkel die agierenden Personen wissen wollte; allerdings bedienten sich der Großvater und der Enkel verschiedener Mittel, wenn es galt, die Visionen in Szene zu setzen – Richard Wagner hielt an den prachtvollen (seinerzeit allerdings hochmodernen) Bühnenbildern, an den pathetischen Gesten fest, die ihn an der Pariser Oper beeindruckt hatten; dagegen sollte Wieland Wagner von jenen Mitteln Gebrauch machen, die dem Theater des 20. Jahrhunderts (nicht zuletzt der Bühne der expressionistischen Theatermacher 17 ) entsprangen. Wie unterschiedlich, ja gegensätzlich die Bühnenbilder des Großvaters und des Enkels auch anmuten können, handelt es sich nur um eine äußere Gegensätzlichkeit, die den verschiedenen Mitteln zuzuschreiben ist, deren sich die beiden Wagners bedienten. Die Idee, „den Menschen ohne jede konventionelle Zutat vorzuführen“, blieb unverändert, weswegen das Wielandsche Konzept „werktreuer“ erschien, als es bei manchem von Wielands Antipoden der Fall war. 18 Allerdings war es nicht nur Wieland Wagner, dem das Verdienst zugeschrieben werden muss, einer durch ideologisch begründete bzw. uninspirierte Inszenierungen eingeleiteten Verfälschung des Wagnerschen Werks ein Ende bereitet zu haben. Wie oben angedeutet, war es das expressionistische Theater, dem er manche „Neuerung“ zu verdanken hatte: Die „entrümpelte“ Wielandsche Bühne – die es dem Zuschauer möglich machte, sich auf den Theaterbrettern (die jetzt mehr als je zuvor die Welt bedeuteten 19 ) wieder zu finden; die dem Publikum ermöglichte, die agierenden Personen als Archetypen, als Vorwegnahmen seiner selbst zu erkennen (womit heftige Kontroversen verbunden sein sollten) – erkannte ihre eigenen Vorwegnahmen in den (nicht nur) KlassikerInszenierungen der 20er und einsetzenden 30er Jahre. Hier waren es vor allem Jürgen Fehlings WagnerInszenierungen, die Furore machten. Zunächst war es Der fliegende Holländer , mit dessen Inszenierung der Lübecker Regisseur die „Gralshüter“ irritierte – nicht umsonst bat Otto Klemperer, der diese Produktion der berühmtberüchtigten Krolloper musikalisch betreute, den angereisten, sein Büro besuchenden Wagner, „er möge sich entsetzen“. 20 „Jürgen Fehling war ebenfalls der Regisseur des neuen Tannhäuser an der Berliner Staatsoper im Februar 1933, einer Inszenierung zum 50. Todestag Wagners. Oskar Strnad hatte das Bühnenbild entworfen, der Dirigent war wieder Otto Klemperer. Diese Inszenierung mußte nach vier Aufführungen auf den starken Druck des Kampfbundes hin abgesetzt werden. Es war der letzte Versuch einer modernen WagnerDeutung vor der allgemeinen Gleichschaltung im Dritten Reich.

17 Vgl. Spotts 1994, S. 263. 18 Zu Wielands Beziehung zu Wagners Regieanweisungen siehe unten, S. 163164. 19 Vgl. Heldt 1994, S. 188. 20 Vgl. Heyworth 1988, S. 318.

14 Man spielte auch hier die Urfassung (was bereits bei dem Fliegenden Holländer der Fall gewesen war – Anm. M.U.) , die sogenannte Dresdner. Fehling und Strnad wichen von dem Bildmuster ab, nach dem Tannhäuser bis jetzt gespielt wurde, sie zeigten nicht das schöne Mittelalter, sondern eine bestimmte Gesellschaft mit bestimmten Ansichten zum Künstlertum. Und darin lag die Aktualität dieser Deutung. Unangepaßte werden nicht geduldet. Härte, Düsternis und Tragik, dieser eigentliche Gehalt des Tannhäuser wurde freigelegt, und nicht die schöne Oberfläche gezeigt. Von seiten der Herrschenden war das Verbot nur logisch.“ 21 Sich auf der Bühne wieder zu finden, statt sich an der „schönen Oberfläche“ ergötzen zu können (ohne aus dem Gesehenen irgendwelche Konsequenzen ziehen, ohne sich zur Selbstreflexion aufgefordert fühlen zu müssen); ein politisches Drama statt einer „schönen“ (märchenhaften) Oper anzusehen zu bekommen, blieb ein Grund für Kontroversen auch später. Was Götz Friedrich (dessen moderne Ansicht zum TannhäuserDrama wir bereits ansprachen) Anfang der 70er Jahre in Bayreuth erlebte, entsprach fast haargenau Fehlings Erfahrungen (sowie denjenigen des älteren Wagnerenkels) – nur mit dem Unterschied, dass die Absetzung der Friedrichschen Inszenierung unterbleiben sollte: „Selten, wenn überhaupt je hat es in der Geschichte des Theaters ein derartig verblüffendes Beispiel dafür gegeben, wie das Leben die Kunst nachahmt, eine so perfekte Übertragung dessen auf das Publikum, was gerade auf der Bühne aufgeführt worden war. Innerhalb eines Nachmittags hatte sich Friedrich in Tannhäuser verwandelt, während das deutsche Establishment von 1972 zum Thüringer Establishment des dreizehnten Jahrhunderts geworden war. Friedrich wurde als ein gefährlicher Roter gebrandmarkt, der eine Bedrohung für die Bundesrepublik darstelle und zurück in die DDR geschickt werden solle.“ 22 In Anbetracht des Zitierten kommt auch das Ziel der vorliegenden Arbeit deutlich zum Vorschein, nämlich die Überprüfung, inwieweit diese und ähnliche Vergleiche Fehlings und Friedrichs (gegebenenfalls auch Wielands, über dessen Leistung wir uns nicht einfach hinwegsetzen dürfen) mit dem Wagnerschen Tannhäuser berechtigt sind; inwieweit das Publikum, das ihre Inszenierungen ausbuhte (über die Mord und Bombendrohungen gar nicht zu reden) mit demjenigen gleichgesetzt werden kann, das im zweiten Aufzug des Tannhäuser über den „Unruhestifter“ herzufallen droht. 23 Um dieses Ziel zu erreichen, erscheint uns jedoch unumgänglich, über die zwei wichtigsten Lesarten ins Klare zu kommen, die der „modernen“ Wagner und Tannhäuser Forschung zu Grunde liegen. Zuerst ist es diejenige

21 Müller, Wapnewski 1986, S. 665666. 22 Spotts 1994, S. 310. 23 Vgl. oben, S. 7ff.

15 Bermbachs, Mayers (oder auch Friedrichs), deren Interesse dem Konflikt zwischen einem Einzelgänger und dessen gesellschaftlicher Umgebung gilt: „In keinem seiner anderen Werke, ausgenommen den Ring, hat Wagner den Konflikt zwischen dem Individuum und den gesellschaftlichpolitischen Institutionen so unzweideutig und direkt zum Inhalt eines Dramas gemacht und in dessen Zentrum gerückt, wie hier, und in keinem anderen Werk, wiederum mit Ausnahme des Ring, hat er diesen Konflikt in solcher Schärfe und Brutalität entwickelt, um am Ende zu zeigen, daß im Widerstand um Kampf des Einzelnen gegen die Institutionen die Institutionen stets Sieger bleiben. In diesem Sinne handelt Tannhäuser vom Konflikt des Individuums mit den machbesetzten, repressiven Institutionen der Gesellschaft, der Kirche und der Politik; er handelt von der Vergeblichkeit des Versuchs eines „existenziellen“ Außenseiters, die eingeregelten Routinisierungen und Verkrustungen überlieferter Verhaltensformen zu ändern; er handelt auch von der Unmöglichkeit, die unbewußt und deshalb so problemlos funktionierende Internalisierung konventioneller Normen infragezustellen und aufbrechen zu können. Und natürlich handelt das Stück auch von der Intoleranz gesellschaftlicher Kollektive gegenüber einem anpassungsunwilligen Menschen und Künstler, handelt von der Unerbittlichkeit, mit der eine sich moralisch im Recht glaubende Mehrheit den Versuch eines Abweichlers unterbindet, jenseits der herrschenden Normen ein selbstbestimmtes Leben führen zu wollen, das sich ausschließlich an den selbstformulierten und selbstgesetzten Bedürfnissen orientiert.“ 24 Alles in allem handelt es sich hier um eine Interpretation, die die Versuche rechtfertigt, Wagners Tannhäuser als ein Produkt des Vormärz in Szene zu setzen, dem man nur mit politischen Begriffen gerecht werden kann – zumal Bermbach vermutet, bei dem Tannhäuser Dichter selbst eine Bestätigung dieses Interpretationsmodells gefunden zu haben: „[...] Wagner versteht seinen Tannhäuser als eine politische Parabel mit aktuellen Bezügen, als eine Oper wider den vorherrschenden Zeitgeist und wider Strukturen, die er revolutionär zu verändern wünschte. Deshalb auch der Selbstkommentar: „Mit diesem Werke schrieb ich mir mein Todesurteil: vor der modernen Kunstwelt konnte ich nun nicht mehr auf Leben hoffen“.“ 25 Allerdings ist ein solches Verständnis nur eine der Möglichkeiten, die uns dieses komplizierte Werk zur Verfügung stellt; ein Zeugnis davon legen die Überlegungen der Wagnerurenkelin ab, denen analogische Betrachtungen Friedrich Dieckmanns zu Grunde liegen – ohne die Zeitbezogenheit des Wagnerschen Tannhäuser in Frage stellen zu wollen, glauben die beiden Interpreten, über den Konflikt zwischen einem Außenseiter und

24 Bermbach 2003, S. 99100. 25 Ebenda, S. 94. Wie es um dieses „Todesurteil“ bestellt ist, siehe u.a.: Erfen 1999, S. 47ff.

16 der übrigen Gesellschaft hinaus noch einen anderen erkannt zu haben: „Ein Kunstwerk erlaubt viele Ansichten. Bedenkt man jedoch, daß der Tannhäuser eine ganze Weile vor der Dresdner Revolution von 1848 geschrieben worden ist – die eher auf die SiegfriedTragödie extrapolierbar ist, so scheint uns, wenn es schon das historische Interpretationsmodell sein soll, der Blick auf eine andere Polarität ergiebiger. Daß vor allem der Venusberg eine mythologische Bildmetapher ist, die man dechiffrieren kann, liegt auf der Hand. Die Venuswelt erwächst aus dem „ekelhaften Boden der modernen Sinnlichkeit“, die Wagner in Paris mit Widerwillen kennengelernt haben will, sie repräsentiert, da bin ich etwa mit Friedrich Dieckmann einig, nicht so sehr die christliche Negativprojektion einer Lusthölle, sondern ein französisches „paradis artificiel“. Der Venusberg bedeutet „Paris, Europa, den Westen“ – jene luxurierende, frivole, kommerzialisierte und verderbte Welt, in der „die Freiheit, aber auch die Entfremdung“ weiter fortgeschritten sind als in der „deutschen Provinz mit ihrer anheimelnden Zurückgebliebenheit“ (Dieckmann).“ 26 (Was dagegen die Wagnersche Wartburg bedeutet, was für eine Welt hier dem französischen „paradis artificiel“ gegenüber steht, mutet ebenso eindeutig an: War es der „Westen“, der Wagners Vision des Venusbergs zu Grunde lag, so war es „das wahre, echte, unpolitische Deutschland: das Deutschland der Kunst, der Musik“, dem Wagners Wartburg das Gesicht gab – was für Begriffe, was für Attribute der Tannhäuser Dichter mit diesem Deutschland zu verbinden pflegte, glaubt Ernst Hanisch unmissverständlich aus Wagners Schriften herausgelesen zu haben: „Provinz“, „Kultur“, „Innerlichkeit“, „unpolitisch“, „konservativ“, „Autorität“, „Idealismus“, „gemütliche Tiefe“, „schöpferischoriginell“, „Moral“; es war nur konsequent, diese sehr deutsche WartburgWelt, der man auch mit der Bezeichnung des „Abendlandes“ begegnen sollte, gegen diejenige auszuspielen, die – durch Paris versinnbildlicht – mit den Begriffen der „Großstadt“, der „Zivilisation“, der „Demokratie“ sowie des „Materialismus“ charakterisiert wurde.) 27 Um das jeweilige Zeitalter zu untersuchen, dessen Gesellschaft Fehlings, Wielands und Friedrichs Wagner, vor allem aber deren Tannhäuser Inszenierungen beiwohnte; um auf die gegebenen Fragen Antworten finden zu können, gehen wir von den beiden vorstehenden Interpretationsmodellen aus: Fragen wir nach der Beziehung der genannten Künstler zur Gesellschaft, der sie entstammten; fragen wir nach der Beziehung dieser Gesellschaft zu den Kultur und Kunstschaffenden, fragen wir nach den Auspizien, unter denen Kultur und Kunst getrieben wurden – beschäftigen wir uns jedoch auch mit den jeweiligen Beziehungen

26 Wagner 1999, S. 4344. 27 Vgl. Müller, Wapnewski 1986, S. 631.

17 zwischen den einzelnen Kulturkreisen, zwischen dem „Westen“ und der „deutschen Provinz“, die wir hinter Wagners „Venusberg“ und „Wartburg“ erkannten.

18 Zweites Kapitel Jürgen Fehling und die Gesellschaft an der Grenze zwischen „Abendland“ und „westlicher“ Zivilisation

Um die Frage beantworten zu können, ob die Gesellschaft, die die Rolle des Publikums von Jürgen Fehlings Tannhäuser Inszenierung spielte, irgendwelche Parallelen mit der Gesellschaft aufwies, die Richard Wagner in seiner Oper dem künstlerischen Außenseiter Tannhäuser gegenüber gestellt hatte, muss man sich zuvor folgende Fragen stellen: Welche Erwartungen verband diese Gesellschaft mit dem Theater oder der Kunst im allgemeinen; was für eine Kunsteinstellung war für sie charakteristisch; inwieweit spiegelten sich in dieser Kunsteinstellung die politischen Verhältnisse wider; wie sollte sich diese Kunsteinstellung verändern? Formulieren wir zunächst eine negative Antwort, die dann durch die Analyse des zur Verfügung stehenden Studiumsmaterials zu widerlegen ist. Betrachten wir den Spiegel, den Richard Wagner mit seinem Tannhäuser der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts vorgehalten hatte, als falsch im Fall der Gesellschaft der Weimarer Epoche: Die kulturelle Spaltung der Gesellschaft der Wagnerschen Oper – eine deutschnationalabendländische „Gemeinschaft“ auf der Wartburg und eine kosmopolitischwestliche „Gesellschaft“ im Hörselberg; eine standesbewusste, sittenstrenge, auf den (vermeintlich) besten Traditionen beruhende Menschengemeinschaft hier und eine freie, dekadent anmutende, die überlieferten (nicht nur) künstlerischen Werte als Engstirnigkeit verachtende dort – gelte uns in Bezug auf die Realität der ersten deutschen Demokratie als verfehlt. Nämlich: Die Gesellschaft der Weimarer Republik erschien zwar sozial nach wie vor geschichtet, kulturell war sie jedoch homogen. Unter dem Einfluss der im Ersten Weltkrieg siegreich gebliebenen „westlichen“ Zivilisation, deren Kontrahent, die AbendlandIdeologie des wilhelminischen Kaiserreichs, in den Schützengräben vor Verdun und an der Somme untergegangen war; unter dem Einfluss der großen westlichen Demokratien Frankreich, England und Amerika entfaltete sich in Deutschland eine progressive prowestliche Kultur. Der Kaiser hatte abgedankt, er und seine Freunde waren verschwunden samt allem Alten und Morschen, das Neue, die deutsche Republik, nahm jetzt ihre Stelle ein, glaubte (nicht nur) Philipp Scheidemann 1918 – ein Zeugnis davon sollte der kulturelle Boom des nachfolgenden Jahrzehnts ablegen. Die „Goldenen Zwanziger“, die Gottfried Benn die „Pariser Jahre“ der Republik zu nennen pflegte, brachten all das zum Ausdruck, was Wagners Tannhäuser in der Welt der Venus erlebt. Die sittenstrenge bis engstirnige WartburgGemeinschaft gab es nicht

19 mehr, der „entdämonisierte“ Hörselberg wurde dagegen zu einem allgemein angenommenen Maßstab. Niemand mehr nahm an den Künstlern Anstoß, die mit den bisher untersagten Früchten liebäugelten, statt die „heiligsten Güter“ des Vaterlandes zu besingen. Der Mensch von „Masse“ wollte sich in erster Linie unterhalten, sich nicht mehr geistig bevormunden lassen. Vom Künstler wurde konsequenterweise erwartet, diesem Wunsch Folge zu leisten – und zu unterhalten (sollte er den Trend trotzdem nicht erkennen, gab es hier auch andere Möglichkeiten, die Freizeit zu gestalten – Sechstagerennen, Boxkämpfe oder Motorsport hieß jetzt das geförderte Spektakel). Erst als die unheilvolle Weltwirtschaftskrise kam und mit ihr die Demagogen, die voller Hass gegen die aus dem „Westen“ importierte Demokratie und deren Lebensweise die Not der Gesellschaft ausspielten, um „der Freude Götter“ zu verjagen; erst als die verstaubte AbendlandIdeologie wiederbelebt wurde und mit ihr die prüde, kalte Monumentalitätssucht der alten „WartburgZeit“ samt deren Kunsttotalitarismus, der kein Außenseitertum mehr duldete, erst dann waren die „Pariser Jahre“ der Republik zu Ende. Erst jetzt entstand eine deutliche Parallele mit dem TannhäuserDrama. Die Künstler, mochten sie Reinhardt, Jessner oder Fehling heißen, sahen sich nun vor der Wahl, entweder sich dem neuen Regime zu fügen oder das allmählich „wartburgisierte“ Land zu verlassen (und die Zuflucht dort zu suchen, von woher der Hörselberg einst nach Deutschland gebracht worden war). Die davon abzuleitenden Thesen sind wie folgt: 1. Die Gesellschaft der Weimarer Republik, sozial differenziert, kulturell aber homogen, identifizierte sich im Großen und Ganzen mit der aus dem „Westen“, nämlich aus Frankreich, England, in erster Linie jedoch aus den USA eingeführten Lebens und Kulturauffassung, deren Merkmale u.a. die Industrialisierung der Unterhaltung und Politisierung von Literatur, Theater und bildenden Künsten waren. Dieses Modell entsprach dem, was das zu Grunde gegangene „abendlandgläubige“ Kaiserreich „Wilhelms des Letzten“ unter der Dekadenz der „westlichen“ Zivilisation verstanden und was Richard Wagner als Vorbild für seinen Venusberg empfunden hatte. 1933, im Jahre der Bücherverbrennungen, schrieb Will Vesper in Anlehnung an das große „Reinemachen des Hörselbergs“ 28 : „Es ist nicht damit getan, daß man zwölf Sündenböcke 29 , die ohnedies niemand mehr kauft, in die Wüste schickt und die andere deutschfeindliche und kulturbolschewistische Literatur verhökert! Es bedarf einer

28 Vgl. Roth 1990, S. 393. 29 Gemeint sind: Lion Feuchtwanger, Ernst Glaeser, Arthur Holitscher, Alfred Kerr, Egon E. Kisch, Emil Ludwig, Heinrich Mann, Ernst Ottwald, Theodor Plivier, Erich M. Remarque, Kurt Tucholsky, Arnold Zweig (Vgl. Wulf I 1983, S. 63).

20 ernsten und gewissenhaften, und nicht von heute auf morgen zu erledigenden gründlichen Prüfung des gesamten deutschen und antideutschen Schrifttums der letzten 15 Jahre , einer ehrlichen Reinigung auch des gesamten Buchhandels. Wenn dabei manche Buchhändler feststellen müssen, daß ihr Lager im wesentlichen aus literarischer Schundliteratur besteht, so darf uns das nicht davon abhalten, den deutschen Buchhandel immer wieder zum rücksichtslosesten Kampf gegen den Kulturbolschewismus zu zwingen.“ 30 2. Die neue Lebens und Kulturauffassung fand ihren Ausdruck im Boom der 20er Jahre, dessen führende Idee in der Annäherung der bisherigen Lebensweise der Deutschen an diejenige des französischangelsächsischen Vorbilds bestand. Ein Beispiel dafür war das stark „verwestlichte“ Berlin, dem die anderen größeren Städte nacheiferten: „Soweit das ein einzelner sagen kann, möchte ich behaupten, daß Berlin in vielen mindern und einigen guten Gebieten der äußeren Zivilisation die deutsche Provinz sehr stark beeinflußt, zum mindesten geht die Entwicklung der Hauptstadt und der Provinzstädte parallel. Die Bar, das dumme RevueTheater, der AmüsierBetrieb, die „Aufmachung“ – das alles findet sich in den größern Provinzstädten fast überall wieder, und sie sind auch noch sehr stolz darauf. Wo aber bleibt, wie man so schön sagt, die Eigenart der Länder?“ 31 , fragte Kurt Tucholsky 1928. Das, was Richard Wagner als Vorbild für die WartburgWelt gegolten hatte, nämlich die sittenstrenge bis engstirnige, provinzielle, deutschnationale Gesellschaft des (nach) romantischen Deutschland und des späteren Kaiserreichs, schien nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Spenglerschen Abendland endgültig untergegangen zu sein. 3. Dieser kulturelle Boom erwies sich als völlig abhängig von der politisch wirtschaftlichen Lage der Weimarer Republik. Mit dem durch die Weltwirtschaftkrise hervorgerufenen politischen und wirtschaftlichen Niedergang des Weimar Deutschland gelangte der kulturelle Aufschwung ebenfalls zu Ende. Zwischen der „Großstadt“ auf der einen und der „Provinz“ auf der anderen Seite öffnete sich eine Kluft, die es zwar schon seit dem Anfang des Industrialisierungsprozesses gegeben hatte, die jedoch die Weimarer Republik mit ihrer neuen Ideologie überwinden zu können glaubte. Folglich kam es in der konservativ geprägten Provinz zu immer heftigeren Äußerungen gegen die „landesfremde“, aus dem „Westen“ importierte „Zivilisation“. Geschürt wurden diese Äußerungen durch die rechtsgerichteten

30 Wulf I 1983, S. 63. 31 Tucholsky (Bd.6) 1975, S. 70.

21 Demagogen, die mit der alten Ideologie des „Abendlandes“ mit Deutschland als dem Verfechter der abendländischen „Kultur“ operierten und deren Ziel der Wiederaufbau einer geistigen Wartburg war. Auf der historischen Wartburg hielten dann die Repräsentanten dieser Richtung ihre Reden, die an sich eine vollständige Leugnung der gesamten Weimarer Epoche waren: „Wo sind sie hin, die nach dem Umsturz eine neue Literatur aufzutun sich vermaßen? Die meisten leben heute noch und sind nicht mehr“ , donnerte z.B. Erwin Guido Kolbenheyer am Vorabend des Untergangs des WeimarDeutschland. Und er fuhr fort: „Es gebührt den Männern dieses Wartburgkreises, die hellhörig das Werden der Stunde verstanden haben, unser aller Dank, daß sie durch diese Tagung und durch die Stiftung der Wartburgrose ein erstes Zeichen errichtet haben: das Zeichen einer Rückverjüngung unseres Volkes auch in der Dichtkunst – Zeichen zugleich einer Reformationsbewegung, die heute ähnlich wie ehedem, da Junker Jörg uns hier die Bibel übersetzte, aus unserem Volke auflebt.“ 32 In den Großstädten waren es dagegen die linksorientierten Aktivisten, die eine den Bedürfnissen des Proletariats zur Verfügung stehende, nach dem sowjetischen Vorbild ideologisch gesteuerte Kunst forderten. Hitlers Machtergreifung bedeutete dann den Anfang der „Wartburgisierung“ von Deutschlands Gesellschaft. Im Mai 1933 brannten in Deutschland die Bücher. Auf einem dieser vielen „Wartburgfeste“ (sic!), wie die kulturelle Barbarei jetzt – nicht ganz berechtigt 33 – halboffiziell genannt wurde, leistete der nationalsozialistische Reichstagsabgeordnete Karl Holz den Eid: „Wir schwören es bei diesen Flammen: Wir werden nicht ruhen, bis das letzte volkszersetzende und landesverräterische Buch den Flammen übergeben ist. In Deutschland soll für die Zukunft keiner mehr ein Buch schreiben, der nicht schreibt für Deutschlands Freiheit, Größe und Ehre!“ 34 Ebenso wie im Tannhäuser , wo die HeilRufe die Ansprache des Landgrafen schließen 35 , gingen auch die nationalsozialistischen „Wartburgfeste“ mit zahlreichen HeilRufen, dem Deutschland und HorstWesselLied zu Ende. Die neuen „Tannhäuser“ sahen sich nun vor die Wahl gestellt, entweder der neuen „Wartburg“ Folge zu leisten oder nach „Westen“, d.h. in die Welt der wieder einmal zu verdammenden „Zivilisation“ zu flüchten – nach Frankreich, England oder in die USA. Und erst in dieser „Flucht in den Venusberg“ fand die Tannhäuser Problematik einen neuen Ausdruck.

32 Kolbeheyer 1978, S. 239240. 33 Vgl. Sauder 1983, S. 17ff. 34 Wulf I 1983, S. 61. 35 „Heil! Heil! Thüringens Fürsten Heil!/ Der holden Kunst Beschützer Heil!“ Tannhäuser , 2.Aufzug.

22 Fazit: Den Streit zwischen einem (künstlerischen) Außenseiter und einer (kultur) totalitären Gesellschaft; den Streit zwischen zwei Welten bzw. zwischen zwei Kulturkreisen (so, wie er in Wagners Tannhäuser zum Vorschein kommt), gab es in Deutschland ohne Zweifel, allerdings erst seit dem Ausgang der „Pariser Jahre“ der Weimarer Republik. Die „Goldenen Zwanziger“ brachten dagegen eine kulturelle Symbiose zwischen Deutschland und dem „Westen“ mit, die dem alten Wagnerschen Schema „Hier Wartburg – dort Hörselberg“ keineswegs gerecht werden konnte. Die vorstehenden Thesen sind allerdings partiell falsch. Im Gegenteil sind in der ganzen Geschichte der Deutschen nur wenige Epochen zu finden, die von so gewaltigen Widersprüchen geprägt worden wären, wie sie die Epoche von 19181933 kennzeichneten. Statt von einer reibungslosen kulturellen Symbiose Deutschlands mit dem „Westen“ zu sprechen, wie sie der Boom der 20er Jahre hätte andeuten können, ist man gezwungen, ein hartes Aneinanderstoßen zweier Kulturwelten zu konstatieren, dessen Ergebnis die Spaltung der Gesellschaft der Weimarer Republik in zwei gegenüberstehende Lager war. Deswegen spielte Fehling die Rolle des Tannhäuser bereits 1929, als er seinen skandalösen Fliegenden Holländer auf die Bühne der Krolloper brachte – die zu behandelnde Tannhäuser Inszenierung von 1933, die schon der nationalsozialistischen Epoche angehörte, sollte als eine Frucht des in den Weimarer Jahren einsetzenden Regietheaters nur eine Bestätigung dieser Rolle sein. Die „Wartburgisierung“ Deutschlands samt all dem Hass gegen die „nonkonformistischen“ Künstler nahm bereits in den tiefen 20er Jahren ihren Anfang. (Übrigens erinnerte schon der zitierte Erwin Guido Kolbenheyer 1932 seine Zuhörer an die Männer, „die dieses Zeichen (also das der sog. „Rückverjüngung unseres Volkes“ – Anm. M.U.) zum Leben weckten und in Wirkung gesetzt haben. Vor zehn Jahren wurde der Bund der „Freunde der Wartburg“ gegründet, möge er in diesen Tagen neubesiegelt und weithin bekräftigt worden sein“ 36 . Das TannhäuserDrama setzte also unmittelbar nach der Ausrufung der neuen Republik ein und in den Ereignissen der HitlerZeit sollte es nur seinen Höhepunkt finden.) Betrachten wir nun die gesellschaftlichkulturelle Entwicklung der Weimarer Republik näher und suchen wir nach grundlegenden Parallelen zwischen dieser Entwicklung und dem TannhäuserDrama, das Jürgen Fehling am Anfang der Hitlerschen „WartburgZeit“ so herausfordernd inszenierte.

36 Kolbenheyer 1978, S. 240.

23 I. Die (Vor-) Geschichte der Lebens- und Kulturauffassung der Weimarer Republik

Stellen wir uns zunächst die Frage, wo Richard Wagner das Vorbild für seinen Venusberg gefunden hatte und ob dieses Vorbild nicht nur zu Wagners Lebzeiten, sondern auch in der von uns zu behandelnden Epoche berechtigt war, d.h. ob dieses Vorbild auf Fehlings Zeitgenossen denselben Einfluss ausübte wie einst auf Wagner und seine Umgebung, ob die reale Welt, die sich hinter der Wagnerschen Bildmetapher „Venusberg“ verbirgt, in der Zwischenkriegszeit noch jener Welt ähnelte, die der Tannhäuser Dichter im 19. Jahrhundert erlebt hatte. Es war, wie gesagt, die französische Hauptstadt Paris (oder genauer gesagt: das französische „paradis artificiel“ 37 ), die dem Tannhäuser Dichter die Bilder einer sich in der „Genusssinnlichkeit“ ergehenden Welt geliefert hatte. Frankreichs Metropole war zur Zeit von Wagners Aufenthalt ebenso wie zur Zeit von Fehlings Tannhäuser Inszenierung der unbestrittene Mittelpunkt der „westlichen“ Zivilisation und eine der kulturellsten Städte der Welt – sie war allerdings auch eine Stadt, die die Menschen lockte (weil sie ihnen unerhörte Möglichkeiten eines raschen Durchbruchs anbot), um ihnen zugleich Furcht einzujagen (weil nicht jeder sich dem lateinischkosmopolitischen Geist dieser Stadt gewachsen zeigte). Am allerwenigsten zeigten sich ihm die Besucher aus dem zersplitterten Deutschland gewachsen, die darin noch Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ihren französischen Gastgebern (von denen sie sich nach 1918 über die „Zivilisation“ „belehren“ lassen mussten) nachstehen sollten: „Ein Volk, politisch uneins, ohne Tradition und ohne Geschmack für das Innere der Tradition, eine etwas amorphe Masse, jahrhundertelang unter Kartoffelnrittern. Die Nobilität – wo wären Namen von internationaler Klasse, etwas weiche, von den Jahrhunderten angebrochene, vielleicht sagenartige Namen, die eine Stellung hätten in der Fremdenliste von Vichy oder La Negresse? Ein schmuckloses Volk, große Gedanken, aber das ganze abnorm und hyperboräisch, keine Klarheit, keine runde Sache, keine Latinität. Was sie schreiben, ist so unverbindlich, entzieht sich der Kontrolle, es ist unhistorisch und ejakulativ; eigentlich, wenn man ehrlich ist, abgesehen von der Musik, hat uns nur Goethe innerlich berührt, alles andere ist mehr Schwelgerei als Bildung, mehr Orakel als Stil; auch herrscht drüben die Sprache der Astrologen, bei und der Schwung und die Woge der Advokaten, drüben singt der Einsame, hier ist es die Nation, die sich der Wendungen bedient“ 38 , erklärte Gottfried Benn

37 Vgl. oben, S. 1617. 38 Benn 1987, S. 229230.

24 lange nach Wagners Tod, warum es seine Volksgenossen nach wie vor so schwierig fanden, für die Welt „dort drüben“ genug Verständnis aufzubringen. (Darüber hinaus maß er den dunklen, von Wotans Schatten beherrschten Wäldern, in denen die (angeblichen) Vorbilder von Wagners Bühnenhelden dem lateinischen Geist widerstanden hatten 39 , sowie den melancholischen, von allen möglichen (und unmöglichen) Kriegern zerstampften Ebenen unterhalb der selbstgefälligen (Wart) Burgen bei, das Gemüt der Deutschen anders geformt zu haben, als es im Fall der Franzosen die offenen, gastfreundlichen Gegenden Frankreichs getan hatten.40 ) Die Emotionen, die diese so unterschiedlichen Landschaften auszulösen vermochten, waren ebenfalls anders – sahen sich Wagners Anbeter, die den deutschnationalen Kreisen entstammten, am Rhein (oder unterhalb der Wartburg) zu den Tränen gerührt 41 , ließen sich die Pilger, die an Paris vorbeizogen, von den verführerischen Stimmen der Wagnerschen Sirenen ergreifen: „Naht euch dem Strande! Naht euch dem Lande, wo in den Armen glühender Liebe selig Erbarmen still’ eure Triebe!“ 42 Diesem Sirenenruf folgend, wagten nach wie vor Abertausende von Pilgern eine Reise (nicht nur) über den ganzen Kontinent, um an der Seine auf die Erfüllung sämtlicher (nicht nur Liebes) Träume hoffen zu dürfen – der alte „Venusberg“ schien auch lange Jahrzehnte nach Wagners Tod kaum etwas von seiner Attraktivität verloren zu haben. Die Hauptstadt der Franzosen machte nach wie vor Anstalten, zur Hauptstadt aller Nationen aufrücken zu wollen (um sich dadurch in den Augen jener deutschnationalen Provinzler zu desavouieren, für die Lion Feuchtwanger in einer bösen Vorahnung die Bezeichnung der „Wahrhaft Deutschen“ erfand – wohl weil diese nur unterhalb der Wartburg zu den Tränen gerührt werden sollten): „Paris wimmelte von Ausländern aller Rassen und Nationalitäten“ , sollte sich später Klaus Mann erinnern, „aus allen Teilen Europas, aus Nord und Südamerika, Asien, Afrika und Australien kamen sie herbeigereist und brachten Valuta mit. Weshalb sie denn auch von den Parisern mit einer allerdings leicht ironisch gefärbten Ehrerbietung behandelt wurden. Die

39 Gemeint ist hier die sog. Hermannschlacht. 40 Vgl. Benn 1987, S. 229230. 41 Vgl. Wagner 1999, S. 4445. 42 Tannhäuser , 1.Aufzug.

25 großen Cafes an den Grands Boulevards und den ChampsElysees, die Nachtlokale von Montmartre und Montparnasse, die Coiffeurs, die Restaurants, die Buchhandlungen, die Dampfbäder, sogar der Louvre waren überlaufen von schaulustigem, lernbegierigem, vergnügungssüchtigem Volk aus Tokio und Birmingham, Detroit und Tunis, Breslau und Rio de Janeiro, Schanghai, Stockholm und Kansas City. Es war eine veritable Invasion – friedlich, aber überwältigend – von lärmenden Babbits, smarten Gigolos, Damen der Welt und Halbwelt, Künstlern mit und ohne Talent, Originalen mit und ohne Originalität, Säufern, Millionären, Hochstaplern, Spielern, grimmigen Lesbierinnen, geschminkten Lustknaben, verängstigten Provinzlern, Abenteurern, Modistinnen, Hochzeitsreisenden, Studenten, politischen Flüchtlingen, Poeten, Abbés, Journalisten, alten Jungfern, Weltberühmtheiten und verkannten Genies. Mir kommt es vor, als ob ich nie wieder in meinem Leben so viele Menschen kennengelernt hätte [...] wie damals in Paris.“ 43 (Ein Haufen von steinreichen Snobs, millionenschweren Juden und luxuriösen Huren sowie von allerlei Pseudokünstlern, die sich bei den Letztgenannten die Inspiration zu holen pflegten, hätten da Wagner und jene „Wagnerianer“, denen die zwei „WartburgZeiten“ zu „verdanken“ waren, wohl gekontert.) Paris schien sich auch aller Reichtümer zu bedienen, die die „Zivilisation“ anzubieten hatte, zu deren Mittelpunkt es avanciert worden war. Alles mutete an, auf der Welt zu sein, um die Revuen zu sättigen, deren Dimensionen (nicht nur) Gottfried Benn bewogen hatten, an den Möglichkeiten seines Heimatlandes zu zweifeln: „Ich glaube nicht, daß das Budget des preußischen Staats genügt, um diese Revue zu finanzieren“ , schrieb Benn, nachdem er mit dem Pariser Glamour konfrontiert worden war. „Alle Erdteile sind ausgeraubt. Der Mann aus Chinatown hat die fremden Bewegungen, und das Land des Geheimnisses tut sich auf. Der Irokese zischt sonderbare Laute, der Tomahawk flirrt und Musik und Melancholie des Indian Territory. Und Tanz, Tanz, Tanz; unerträglich allmählich im übrigen Europa, hier erregend, unflätig und elegant: buck dance, flicher dance, peacock’s mirror dance, jazz dance, Leopard dance, danse des gigolettes, danse des candelabres. – Und Bilder, Erdteile, Kulturschichten; Aufsteigendes aus Falltüren, Niedergleitendes aus Bonbonschachteln, Reitendes, Fahrendes, Sprünge in den Nil, Familienszenen, schwarze Messen, Ball auf dem Dachgarten der Astors, Versuchungen des heiligen Antonius, Pantherzug der Königin von Saba: Apachen, Magier, Standartenschwinger, Lotosträgerinnen, Lustknaben, Amazonen und „ah, viens dans mes bras“ – der Sklave.“ 44 Die Welt, die sich hier auftat, war eine Welt voller Glanz, den es in diesem Maße nirgendwo anders zu geben schien. Dieser Glanz tat übrigens mehreren

43 Mann 1989, S. 190191. 44 Benn 1987, S. 140141.

26 Deutschen an als nur Gottfried Benn bzw. ein paar weiteren Schriftstellern wie z.B. Joseph Roth oder Walter Hasenclever. Dem französischen Dramatiker Giraudoux nach war es gerade die Sehnsucht nach dieser (verpönten) VenusWelt, die 1914 die Deutschen in die Schützengräben gebracht hatte 45 , denn: „Entzückend sind die Wunder deines Reiches, die Zauber aller Wonnen atm’ ich hier; kein Land der weiten Erde bietet gleiches, was sie besitzt, scheint leicht entbehrlich dir.“ 46 Was damals nicht einmal der mutigste Regisseur gewagt hätte, was erst Wieland Wagner wagen sollte (nämlich eine schwarze Venus auf die Bühne zu bringen), bot dieser „real existierende“ Venusberg an, ohne einen einzigen Augenblick zu zögern. Drei Jahrzehnte vor der amerikanischen Starsängerin 47 war es die ebenfalls amerikanische Startänzerin Josephine Baker, die hier die Bezeichnung einer schwarzen Venus in Anspruch nehmen konnte. In Paris, wo Bakers Karriere den Anfang genommen hatte, lagen ihr (ebenso wie später in Wagners Heimatland) Abertausende von Anbetern zu Füßen, denen die Sinnlichkeit ihres Tanzes angetan hatte. Das „Mädchen im Bananenrock“ (dem es vorbehalten blieb, es im Land „unterhalb der Wartburg“ bis zum Bühnenverbot zu bringen – dank jenen „Biedermännern“, die auch den Fehlingschen Tannhäuser mit einem Bühnenverbot belegen sollten) schien in den Pariser Revuen über den Geist zu triumphieren, den die Deutschnationalen jenseits des Rheins hysterisch beschworen (um ihm später um so grausamer einen Garaus zu machen): „Der Welterfolg der Josephine Baker ist nicht nur der Triumph einer großen Tänzerin“ , erklärte Walter Hasenclever, der die rauschenden Erfolge der schwarzen Diva in Berlin erlebte. „Er bedeutet den Sieg des Triebs über den Intellekt, den Einbruch eines Temperaments in die sterile Wüste gymnastischer Tanzschulen“ 48 , spielte der WahlPariser auf die Kreationen einer Mary Wigman an, die auch nach dem Anbruch der neuen „WartburgZeit“ ein (dankbares) Publikum finden sollten. Die (schwarze) Venus wurde zwar gezwungen, wieder einmal in ihr (Pariser) „Exil“ zurückzukehren 49 (wohin ihr in kurzer Frist mehrere ihrer deutschen Bewunderer folgen sollten), zu bereuen brauchte sie ihre Vertreibung allerdings nie. Paris war und blieb – ungeachtet oder trotz der immer „dichter“ werdenden europäischen Atmosphäre – jener Ort, den Gottfried Benn mit der antiken Palmyra, der unsterblichen Stadt der Königin Zenobia, mit

45 Vgl. Koeppen 1986, S. 157. 46 Tannhäuser , 1.Aufzug. 47 Vgl. unten, S. 174. 48 Hasenclever 1996, S. 168. 49 Vgl. Borchmeyer 1982, S. 197198.

27 dem Hafen Sluys oder mit Brügge, diesem Juwel in der Krone von Brabants Regenten, zu vergleichen pflegte 50 . Nicht umsonst sprach Kurt Tucholsky der Stadt an der Seine den liebevollen Beinamen „unser aller Heimat“ zu 51 (und setzte sich dadurch einem ungestümen Angriff seitens der „WartburgPresse“ aus, für deren Herausgeber die französische Hauptstadt vor allen Dingen eine Heimat von obskuren TannhäuserFiguren war, die dem Vaterland den Rücken gekehrt hatten, um sich in diesem „Venusberg“ den untersagten Freuden hinzugeben; nicht darüber zu reden, dass Paris den meisten Deutschnationalen als Bollwerk eines fremden Geistes galt, von dem aus selbst nach Deutschlands militärischer Niederlage ein Kampf gegen Deutschlands „Kultur“ geführt wurde). Ein Zuhause von obskuren TannhäuserFiguren, die dem Vaterland den Rücken gekehrt hatten? Vielmehr ein Zufluchtsort derer, denen das Vaterland grollend den Rücken gekehrt hatte: „Wir stoßen dich von uns – bei uns darfst du nicht weilen; schmachbefleckt ist unser Herd durch dich, und dräuend blickt der Himmel selbst auf dieses Dach, das dich zu lang schon birgt.“ 52 Gestoßen wurden letzten Endes manche, nicht nur während der neuen „WartburgZeit“, sondern auch während der alten – für den deutschen Nationalisten Wagner um einen Grund mehr, die Stadt an der Seine mit einem Venusberg gleichzusetzen, wo sich die Karrieristen um des Erfolgs willen dem Teufel einer unmoralischen, „undeutschen“ Kunst zu verschreiben und wohin alle möglichen „Versager“ zu flüchten pflegten. In der Menge von Künstlern mit und ohne Talent, über die Klaus Mann sprach, gab es auch Deutsche – meistens sogar talentierte oder sehr talentierte Deutsche. Häufig allerdings solche, denen man in ihrem Heimatland das „Deutschtum“ nicht glauben wollte – Deutsche wie Christoph Willibald Gluck (den Wagner zu schätzen wusste), (den Wagner verhimmelte, um ihn nach einer Reihe von eigenen Misserfolgen um so mehr zu hassen) oder Heinrich Heine (von dessen Werk Wagner gelegentlich Gebrauch machte, ohne sich zu vergegenwärtigen, in was für eine Verlegenheit er dadurch seine deutschnationalen Exegeten bringen würde). Die Abhängigkeit der Rezeption dieser drei (zumindest vorübergehenden) WahlPariser von der momentanen politischgeistigen Lage Deutschlands ist exemplarisch: Standen die „Pariser Jahre“ der deutschen Republik den WahlParisern geradezu wohlwollend gegenüber, ließen

50 Vgl. Benn 1987, S. 228. 51 Weyergraf 1995, S. 578. 52 Tannhäuser , 2.Aufzug.

28 sie zugleich jene Stimmen sich zum Wort melden, denen nach dem Ende dieser Jahre endgültig das Sagen obliegen sollte (und die aus ihrer Abneigung gegen die Stadt an der Seine samt deren „Belegschaft“ keinen Hehl machten). So nannte Richard Eichenauer den „Ritter Gluck“, eigentlich einen Vorläufer Wagners, dem E.T.A. Hoffmann eine seiner bekanntesten Novellen gewidmet hatte, einen „rassischen Bastard“, dem er neben der Vorliebe für die französischen und italienischen Texte das Streben nach einer übernationalen Musiksprache vorhielt, die den Völkern in einer gegenseitigen Verständigung geholfen hätte (nicht darüber zu reden, dass es nicht zuletzt Paris war, das Gluck rauschende Erfolge vorbereitet hatte). 53 Um den Komponisten Giacomo Meyerbeer war es schon wegen seiner jüdischen Abstammung schlecht bestellt. Was ihm die Deutschnationalen jedoch nie zu vergeben vermochten, waren die Erfolge, über die er sich in Paris hatte freuen können, während Wagner zu derselben Zeit alle Hoffnungen auf einen raschen Durchbruch in die Pariser Welt hatte aufgeben müssen. Die (allesamt ungerechten) Vorwürfe Wagners gegen den momentan erfolgreicheren Kollegen fanden bei den deutschnationalen „Wagnerianern“ und Antisemiten einen lärmenden Widerhall, in dem sich zugleich die Abneigung gegen die „ungerechte“ (weil unter dem angeblichen „jüdischen Einfluss“ stehende) Stadt an der Seine widerspiegelte: „Was machte doch Meyerbeer aus der schönen altfranzösischen Sage von „Robert dem Teufel?!“ , fragte Friedrich Baser. „Oft wird seinem Librettisten Eugene Scribe die Schuld in die Schuhe geschoben. Doch ist es einwandfrei erwiesen, daß Meyerbeer selber die ärgsten Greuel in die bereits fertigen Texte einmixte, allen Protesten Scribes zum Trotz! So das berüchtigte Nonnenballett in der Klosterruine. Durch Geilheit galvanisierte Leichen der einst in ihrem Leben sündigen Nonnen tanzen ihre obszönen Tänze, um Robert und mit ihm alle Zuschauer zu verführen. Diese Scheußlichkeit weckte seit je heftige Proteste, fand aber in Paris vor der Judenrevolution 1830 und seitdem immer im SeineJerusalem verjudete Massen, die ihr zujubelten.“ 54 Sollten schon die Deutschnationalen auf dieses „SeineJerusalem“ zu sprechen (d.h. zu schimpfen) kommen, sollten sie unmöglich finden, jenen Mann unbeschimpft zu lassen, der der Stadt an der Seine mit dieser Bezeichnung ebenfalls zu begegnen pflegte: „…die Freiheit ist eine neue Religion, die Religion unserer Zeit… Die Franzosen sind das auserlesene Volk der neuen Religion, in ihrer Sprache sind die ersten Evangelien und Dogmen verzeichnet, Paris ist das neue Jerusalem, und der Rhein ist der Jordan, der das geweihte Land der

53 Vgl. Wulf II 1983, S. 241. 54 Ebenda, S. 441.

29 Freiheit trennt von dem Lande der Philister“ 55 , schrieb Heinrich Heine (um damit sämtliche „teutschgesinnten“ Philister aufzubringen). Um den „Literaten“ Heine sollte es, ebenso wie in Meyerbeers Fall, schon wegen des jüdischen Blutes miserabel stehen – zumindest Heinrich von Treitschkes Ansicht nach hinderte ihn dieses daran, das Wesen des „Deutschen“ zu begreifen: „War er doch schlechthin der einzige unserer Lyriker, der niemals ein Trinklied gedichtet hat; sein Himmel hing voll von Mandeltorten, Geldbörsen und Straßendirnen; nach Germanen Art zu zechen, vermochte der Orientale nicht.“ 56 Was für Konsequenzen daraus für Heine zu ziehen waren, sollte Treitschke genau einsehen – schließlich gab es hier Hagens Worte aus Wagners Götterdämmerung , die dem deutschtümelnden Historiker unmöglich unbekannt blieben: „Das Trinkhorn nehmt von trauten Frau’n, mit Met und Wein wonnig gefüllt. [...] Rüstig gezecht, bis der Rausch euch zähmt [...] .“ 57 Hätte der Autor von Deutschland. Ein Wintermärchen „nach Germanen Art“ gezecht, hätte er wahrscheinlich anders geschrieben – was bestimmt nicht ohne Auswirkungen auf dessen Rezeption durch seine „vollblütigen“ deutschen Mitbürger geblieben wäre. Heine sollten in erster Linie jene Schriften zum Verhängnis werden, in denen er nicht nur das „Allerheiligste“ der Deutschnationalen, nämlich die deutsche Romantik, zu kritisieren wagte (ohne ihr allerdings ihre „Verdienste“ absprechen zu wollen), sondern auch die Zurückgebliebenheit des Deutschland der Restaurationszeit bloßstellte – was einen endgültigen Bruch mit den damaligen deutschen „Bieder und Ordnungsmännern“ zur Folge hatte: „Grade dies Gedicht (Deutschland. Ein Wintermärchen – Anm. M.U.), eines der geistreichsten und eigenthümlichsten aus Heines Feder, mußte den Deutschen zeigen, was sie von diesem Juden trennte. Die arischen Völker haben ihren Thersites, ihren Loki; einen Ham, der seines Vaters Scham entblößt, kennen nur die Sagen der Orientalen.“ 58 Nicht zuletzt war es Heines Venus Anbetung (!), die ihm (zusammen mit seinem politisch motivierten Werk) „unterhalb der Wartburg“ nicht vergeben werden sollte. Nur der „Venusberg“ an der Seine sah voller Verständnis zu, als Heine – in den Jahren seiner vollen Manneskraft ebenso wie zur Zeit des

55 Piereth 1997, S. 245. 56 Ebenda, S. 247. 57 Götterdämmerung , 2.Aufzug. 58 Piereth 1997, S. 247.

30 anbrechenden Siechtums – der im Louvre residierenden Liebes und Schönheitsgöttin huldigte: „Es war im Mai 1848, an dem Tage, wo ich zum letzten Male ausging, als ich Abschied nahm von den holden Idolen, die ich angebetet in den Zeiten meines Glücks. Nur mit Mühe schleppte ich mich bis zum Louvre, und ich brach fast zusammen, als ich in den erhabenen Saal trat, wo die hochgebeneidete Göttin der Schönheit, Unsere liebe Frau von Milo, auf ihrem Postamente steht. Zu ihren Füßen lag ich lange, und ich weinte so heftig, daß sich dessen ein Stein erbarmen mußte.“ 59 (Noch an der Schwelle zur „Matratzengruft“ schien also Heinrich Heine Tannhäusers (zu verdammende) „böse Lust“ 60 zu teilen, die ihm bei den deutschnationalen „Biedermännern“ den Ruf eines Pornographen bringen sollte: „Charakteristisch für seine jüdischorientalische Natur“ , schrieb beispielsweise Otto Klein, „ist seine erotische Phantasie, die ihn besonders für die Idee der Rehabilitierung des Fleisches empfänglich machte, eine Idee, die ihm aus dem SaintSimonismus des Prosper Enfantin zugewachsen war [...] und vor allem eine krankhafte Übersteigerung des Geschlechtlichen förderte. Josef Nadler war es vor allem, der ihn „den Meister des schmutzigen Jargons der Gasse“ nannte und die „Entsittlichung Deutschlands“ als Heines eigentliches Werk hinstellte.“ 61 ) Die Stadt an der Seine ließ sich Ähnliches gefallen. Schließlich war sie nicht nur die Metropole der Künste, sondern auch die der Liebe – wie es bei einem Vorbild für den Wagnerschen Hörselberg nicht anders sein konnte. Was Wagner seiner Göttin der Liebe in den Mund gelegt hatte, schien die Hauptstadt der Liebe noch in der Zwischenkriegszeit zu versprechen: „Geliebter, komm! Sieh dort die Grotte, von ros’gen Düften mild durchwallt! Entzücken böt’ selbst einem Gotte der süß’sten Freuden Aufenthalt.“ 62 Das Nachtleben von Paris faszinierte noch lange Jahrzehnte nach Wagners Tod Joseph Roth, der in den zahlreichen Nachtlokalen den „Engeln“ aller Rassen zu begegnen glaubte, die anmuteten, aus dem Himmel herabgestiegen zu sein, um den Männern sämtlicher Hautfarben „Entzücken zu bieten“.63 Sollte Roth in seinem Bericht aus dem Pariser Paradies noch über die Engel sprechen, sah sich Walter Hasenclever auf einem Pariser Negerball einer „Ellenbogenfreiheit“ ausgesetzt, die den wildesten Vorstellungen über die Geschehnisse

59 Gössman, Windfuhr 1990, S. 152. 60 Vgl. Tannhäuser , 3.Aufzug. 61 Wulf I. 1983, S. 466. 62 Tannhäuser , 1.Aufzug. 63 Vgl. Roth 1990, S. 558559.

31 mitten in der Lusthölle zu entsprechen schien – blonde Pariserinnen in den Armen der dunkelhäutigen Gepäckträger, Tellerwäscher und Kolonialsoldaten, schwarze Frauen, die sich von ihren Tanzpartnern abtasten ließen oder sich aller Verführungskünste bedienten, um von irgendjemand abgetastet zu werden, sowie die traurigen Figuren der Polizisten, die hier die „ordnende Staatsmacht“ repräsentierten, indem sie sich möglichst unsichtbar zu machen wünschten.64 Eine wahrhaftige Orgie der Triebe, in der sich freilich Klaus Manns Meinung nach die Reife der „Zivilisation“ manifestierte, die in der Stadt an der Seine das Zentrum gefunden hatte: „Das Nachtleben in Kairo, Chicago, Budapest, Neapel ist „abenteuerlich“, will sagen, schmutzig und kriminell, aber das Pariser Nachtleben ist ein natürlicher und integraler Bestandteil des Pariser Lebens. Gibt es in Paris eine „Unterwelt“? Vielleicht; aber sie spielt keine auffallende Rolle. Jedenfalls würde niemand es sich einfallen lassen, eine brave Prostituierte oder ihren emsigen Zuhälter zur „Unterwelt“ zu rechnen. Die Sphäre des Geschlechtlichen, mit all ihren Aspekten und noch in ihren ausgefallensten Manifestationen, wird in dieser Stadt mit einer Mischung aus heiterem Realismus und fast religiöser Andacht behandelt, die für das Verhältnis jeder reifen Zivilisation zum Eros charakteristisch ist.“ 65 So war es in den Jahren gewesen, als Wagner die Boulevards entlang gegangen war, so war es auch lange Jahrzehnte nach seinem Tod, als Klaus Mann, Walter Hasenclever, Gottfried Benn oder Joseph Roth hier weilten. Das Vorbild des Wagnerschen Venusbergs blieb im Großen und Ganzen unverändert. Kurz gefasst: Paris lockte, zog Tausende von Erfolgs, Liebes und Ausschweifungshungrigen an – sowohl zu Wagners Lebzeiten als auch nach jenen Tagen, als die alte „WartburgZeit“ des wilhelminischen Kaiserreichs in den Schützengräben vor Verdun gestorben und in Deutschland eine Republik ausgerufen worden war, die in ihren besten, in den sog. „Pariser“, Jahren den Künstlern wie Fehling die Möglichkeit gab, Experimente zu wagen und die Bühne in ein Laboratorium umzuwandeln, wo die Charaktere in aller Nacktheit zum Vorschein gebracht wurden (bis der Anbruch einer neuen „WartburgZeit“ der politischen sowie künstlerischen Freiheit den Garaus machen sollte). Die Stadt an der Seine blieb nach wie vor „der Erde wärmender Schoß“, wohin man zu fliehen pflegte, um „der Freude Götter“ anzubeten, statt in „blödem, trübem Wahn“ 66 verbleibend die zu leeren Floskeln degradierten Parolen von „Tugend“ und „holden Sitten“ zu schreien – ohne dabei auf die Warnung (und Drohung zugleich) seitens all der „Wolframs“ zu achten:

64 Vgl. Hasenclever 1996, S. 165ff. 65 Mann 1989, S. 180. 66 Vgl. Tannhäuser , 1.Aufzug.

32 „Zu mir! Es ist um dich getan!“ 67 Paris verstand nach wie vor geradezu meisterhaft, aus diesen NeuAngekommenen Nutzen zu ziehen: Die Stadt an der Seine war im 19. ebenso wie im 20. Jahrhundert einer der Mittelpunkte der „westlichen“ Zivilisation, nicht wenige hielten sie sogar für die Weltstadt schlechthin. Die wimmelnde Menge, der man an der Seine begegnete, wurde zum Garant, dass die Mittelmäßigkeit hier nicht einmal in der Zwischenkriegszeit trotz einigen Exzessen die Oberhand gewinnen konnte: „Das Paris von 1925 war schöpferisch und lächerlich zugleich. Es war ein schöner Stern zwischen zwei dunklen Kriegen, und noch leuchtet er von fern“ 68 , sollte sich mit einem langen Abstand (nicht nur) Wolfgang Koeppen erinnern. In der Tat: Die Stadt an der Seine leuchtete, ließ die anderen Zentren (oder „Zentren“) verbleichen, vermochte tolerant zu sein – was sie nach wie vor zu einem Objekt der Kritik machte; einer Kritik, die sogar einen Weg in die Lehrbücher finden sollte: „Es läßt sich nicht in Abrede stellen, daß die französische Kunst trotz mannigfacher Schwächen tonangebend in der Welt geblieben ist. [...] Es kann aber auch nicht in Abrede gestellt werden, daß Paris mehr als andre Millionenstädte ein Ausgangspunkt sittlicher Zersetzung ist.“ 69 Kurt Tucholsky schienen vor allen Dingen die Worte über die anderen Millionenstädte angetan zu haben, als er (schon nach dem angeblichen Triumph der „westlichen“ Zivilisation im Ersten Weltkrieg) resümierte: „„Mehr als andre Millionenstädte“ – das ist Berlin.“ 70 Doch bevor wir auf die Frage zu sprechen kommen, wie es um die deutsche Reichshauptstadt zur Zeit bestellt war, als Tucholsky in jenem berüchtigten Lehrbuch blätterte, beschäftigen wir uns mit der Frage nach der Vorgeschichte. Fragen wir, welche Wege die Kultur des wilhelminischen Kaiserreichs ging, ob es hier schon vor dem Einbruch der „westlichen“ Zivilisation irgendwelche Anzeichen gab, die die Entwicklung nach dem Ende der alten, von den Hohenzollern geprägten „WartburgZeit“ vorweggenommen hätten. Wenn wir Klaus Mann beim Wort nehmen möchten, der die Reife der Zivilisation, in unserem Fall der in Paris hochkonzentrierten „westlichen“ Zivilisation, im Nachtleben sich manifestieren sah, würden wir eine solche Vorwegnahme direkt in der Residenzstadt der Hohenzollern finden. Als Thomas A. Edison 1911 Berlin besuchte, meinte er voller Zuversicht: „Nachtleben und Stupidität vertragen sich nicht miteinander. Die wachsende Neigung zum Nachtleben bedeutet daher auch wachsende geistige Frische… Elektrisches

67 Tannhäuser , 3.Aufzug. 68 Koeppen 1986, S. 158. 69 Tucholsky (Bd.6) 1975, S. 260. Siehe auch: Michael Geistbeck – Alois Geistbeck, Geographie für höhere Lehranstalten , München, Oldenburg 1925. 70 Ebenda, S. 260.

33 Licht aber bedeutet Nachtleben. Nachtleben bedeutet Fortschritt. Berlin ist auf dem besten Wege, die fortschrittlichste Stadt in Europa zu werden.“ 71 Dennoch war der deutschen Hauptstadt nicht beschieden, unter dem Regiment der Hohenzollern das zu werden, was sie unter Stresemann werden sollte: „Die große Stadt war früher eingeengt in den eisernen Gürtel Militarismus“ , sollte Heinrich Mann erklären. „Die Monarchie stand Wache vor ihrer „guten Stadt“, die große Stadt lebte scheinbar von Gnaden der Monarchie.“ 72 Berlin, das Bollwerk des Wilhelminismus, war die Hauptstadt eines Landes, dessen Eliten sich längst „im Schatten der Wartburg“ eingerichtet hatten und wo nun tagtäglich jenes Spektakel „zelebriert“ wurde, das der heiteren Welt an der Seine unbekannt bleiben sollte – ein Klamauk von militärischer Größe und Gloria, „Tugend“ und „holden Sitten“ (die schließlich mit dem „Deutschtum“ selbst gleichgesetzt wurden). Die Hohenzollern (allen voran jener, der die deutschpreußische Krone als Letzter tragen sollte) schienen dabei – gewollt oder nicht – den Landgrafen Hermann zu karikieren, wenn sie an „ihre“ Künstler Ansprachen hielten, in denen sich Lob und Mahnung, Kunst und Kampf verflochten: „Der Anmut und der holden Sitte, der Tugend und dem reinen Glauben erstrittet ihr durch eure Kunst gar hohen, herrlich schönen Sieg.“73 Wilhelm II. prahlte, „daß eine Kunst, die „über die von mir bestimmten Gesetze und Grenzen“ hinausging, überhaupt keine Kunst war“ 74 . Folglich wagten die Künstler, die sich zu Wilhelms Reich bekannten, diese „Grenzen“ (die mit den von Wagners Wartburg gesetzten zu korrespondieren schienen) nicht zu verletzen und richteten sich allmählich ein. War Paris die Metropole der Künste, so mutete das Hohenzollernsche Berlin an, die Hochburg der (einzig lobenswerten) „Kunst“ 75 zu sein. In der Literatur spukte der Geist Schillers, der den Wilhelminismus sogar überdauern sollte, um später nochmals zur Geltung zu kommen: „„Willst du in meinem Himmel mit mir leben, so oft du kommst, er soll dir offen sein!“, so dichtete der selige Schiller, und er hat damit namenloses Unheil angerichtet. Denn unsre Klassiker, deren Geist so hoch flog, waren im Leben durchweg arme verprügelte Untertanen, die sich in den reinen griechischen Äther schwangen, um zu vergessen, daß sie schließlich von der Laune eines Gönners oder von einem tristen Professorengehalt existieren mußten. Deshalb war Schiller nur konsequent,

71 Glaser 2002, S. 71. 72 Mann 1960, S. 440. 73 Tannhäuser , 2.Aufzug, siehe auch unten, S. 62. 74 Craig 1980, S. 411. 75 Vgl. unten, S. 35.

34 wenn er den Künstler endgültig aus der Welt verbannte, in der die Prozente verteilt werden. Und deshalb gibt es immer ein so großes und peinliches Erstaunen, wenn der Künstler plötzlich wie ein hungriger Spatz aus dem Blauen geflattert kommt und sich ein Stück Torte vom Tisch holt“ 76 , sollte sich z.B. Carl von Ossietzky noch 1932 beklagen. Jeder Schriftsteller, der sich mit den aktuellen Themen zu beschäftigen schien (statt die Welt „von oben herab“ zu beobachten, um zu einem „Dichter“ gekrönt werden zu können), riskierte als ein „Literat“ verhöhnt, wenn nicht verachtet zu werden – in der alten ebenso wie in der neuen „WartburgZeit“. In Paris, Heines Zufluchtsort, erregte sich niemand darüber – hier pflegten die „Literaten“ seit Jahrzehnten „aus dem Blauen geflattert zu kommen“, um „Neues vom Tage“ (um Paul Hindemith zu paraphrasieren) in Angriff zu nehmen. 77 Nicht so in der Stadt an der Spree oder in anderen Städten „unterhalb der Wartburg“, wie davon eine Klage aus der Zeit nach dem Ende des pariserischen „Weimarer Zwischenspiels“ Zeugnis ablegen sollte, deren Autor, nämlich Wilhelm Stapel, sich diese „Zeit der Schande“ (so die Originalbezeichnung) aufs Korn nehmen sollte: „In der „Weltbühne“, in dem „TageBuch“ [...] , in der „Neuen Rundschau“, die sich sehr seriös gab, verbanden sich Literatur und Politik: Der Literat machte Politik, als ob er in Deutschland wie in Paris wäre.“78 An der Spree glaubte man in der alten sowie in der neuen „WartburgZeit“ an „Geist“ statt an Politik, an „Kunst“ statt an „Literatur“, wie es z.B. Thomas Mann in den Betrachtungen eines Unpolitischen erklärte (und dadurch auch den Unterschied zwischen der Welt „unterhalb der Wartburg“ und jener im „Westen“ darlegte): „Der Unterschied von Geist und Politik enthält den von Kultur und Zivilisation, von Seele und Gesellschaft, von Freiheit und Stimmrecht, von Kunst und Literatur; und Deutschtum, das ist Kultur, Seele, Freiheit, Kunst und nicht Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht, Literatur.“ 79

76 Ossietzky 1994, S. 350351. 77 Vgl. z. B. Walser 1997, S. 235ff. 78 Wulf I 1983, S. 448. 79 Glaser 2002, S. 168. Statt von der Zivilisation zu sprechen, pflegten die Ideologen des wilhelminischen Kaiserreichs von der Kultur zu sprechen, wobei sie diese Kultur nicht nur mit dem „Deutschtum“, sondern auch mit dem sog. Abendland gleichzusetzen suchten. Houston S. Chamberlain und nach ihm z. B. der führende NS Ideologe Alfred Rosenberg, der seine Schrift Der Mythus des 20. Jahrhunderts als eine Ergänzung von Chamberlains Grundlagen des 19. Jahrhunderts verstand, sahen nämlich in der abendländischen Kultur ein Resultat der schöpferischen Kraft der „Arier“, unter denen ihrer Ansicht nach die Germanen, allen voran die Deutschen, die Spitzenposition einnahmen. Ohne die Germanen glaubten sie diese Kultur unhaltbar: „Daß alle Staaten des Abendlandes und ihre schöpferischen Werte von den Germanen erzeugt wurden, war zwar schon lange allgemeine Redensart gewesen, ohne daß vor H. St. Chamberlain daraus die notwendigen Folgerungen gezogen worden wären. Denn diese begreifen in sich die Erkenntnis, daß beim vollständigen Verschwinden dieses germanischen Blutes aus Europa die gesamte Kultur des Abendlandes mit untergehen müßte“ (Wulf I. 1983, S.441), schrieb Rosenberg in seinem Mythus des 20. Jahrhunderts . Das „Zweite Reich“ ließ sich durch diese Art von Ideologen, denen sowohl der Berliner Hof der Hohenzollern als auch das sich mit diesem Reich identifizierende deutsche Bildungsbürgertum Gehör schenkten, zu einem Bollwerk dieser abendländischen Kultur erklären, was nicht ohne Folgen für die Republik nach 1918 bleiben sollte.

35 Die Autoren, die sich über das NahezuSchmähwort „Literat“ hinwegzusetzen vermochten, sowie jene Künstler, die den „Nonkonformismus“ nicht scheuten, gab es in der alten „WartburgZeit“ auch, jedoch nicht unbedingt in Berlin. Die Reichshauptstadt, Sitz der Hohenzollern, Hochburg einer romantisierenden Kulturauffassung, konnte unter den gegeben Umständen kaum zu einem Vorposten der verpönten Welt von der Seine werden, obwohl sie in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht den Metropolen des „Westens“ keineswegs nachstand. Die ersten Anzeichen einer kulturellen Revolution kamen aus der Provinz (wenn man allerdings das München der Jahrhundertwende eine Provinz nennen darf). War Berlin erst „auf dem besten Wege“, die fortschrittlichste Stadt Europas (wenn nicht der ganzen Welt) zu werden, schien das München der letzten Wittelsbacher dieses Ziel zumindest partiell erreicht zu haben. Nicht nur Thomas Manns Erzählung Gladius Dei ließ die Stadt an der Isar leuchten, sondern auch zahlreiche Berichte von Manns Zeitgenossen, die hier ein Athen gefunden zu haben glaubten, als (nicht nur) Berlin noch voller obskuren Wartburg Figuren vom Schlag eines Houston S. Chamberlain oder Adolph Stöcker war. „Diese späteren neunziger Jahre sahen alles, was auf dem Felde der Kunst jung und hoffnungsvoll war und seine Flügel regen wollte, beinahe wie auf Verabredung sich in München versammeln. [...] Was war es denn anderes, was alle diese jungen Leute, alle diese vom Dämon der Kunst Besessenen nach München trieb, als eben diese Atmosphäre der Ungezwungenheit, der gesellschaftlichen Freiheit und Lässigkeit, des unbefangenen Nebeneinander der Stände? So kamen sie. Kamen alle aus Nord und West und Ost. Kamen, weil sie mussten, weil sie es gar nicht anders kannten, als dass es eben nur München gebe, wenn man zur Kunst wolle, dies eine München und keine andere Stadt neben ihm“ 80 , sollte sich Max Halbe erinnern. Auch Thomas Mann sollte sich zu seiner Liebe zur Stadt an der Isar bekennen und manche anderen – wurde Paris von Gottfried Benn „Palmyra“ genannt, mutete München an, das Athen der Deutschen zu sein. Es blieb ihm auch vorbehalten, die erste deutsche Residenzstadt zu werden, die, der Stadt an der Seine ähnlich, den König stürzte, um nicht nur ein Zentrum der Künste zu sein, sondern auch zu einem Zentrum der Freiheit aufzurücken – wäre Heinrich Heine noch am Leben gewesen, hätte er nicht mehr gebraucht, nach Paris zu ziehen, denn Paris schien nach Bayern gekommen zu sein. „Weh böser Zauber tut sich auf! Die Hölle naht mit wildem Lauf“ 81 ,

80 Ebenda, S. 68. 81 Tannhäuser , 3.Aufzug.

36 schraken jedoch sämtliche „Wolframs“ zurück, als sie da eine Welt kommen sahen, gegen die sie schon seit Jahrzehnten Hass hegten: Dank dieser Angst vor „der Nymphen tanzender Menge“ 82 blieb Bayerns Landeshauptstadt auch das kaum zu beneidende „Privileg“ vorbehalten, zu Deutschlands erstem großem „wartburgisierten“ Ort zu werden und die Geschehnisse vorwegzunehmen, dank denen die „Pariser Jahre“ der Republik nur eine kurze Episode bleiben sollten. Als Wolfgang Koeppen, der München noch hatte leuchten sehen, in die Stadt nach der Niederwerfung der Räterepublik kam, verband sich dort die Vergangenheit mit der Zukunft. Der junge Schriftsteller wurde hier Zeuge des Paktes zweier „Wartburg Welten“, wobei die neue schon Anstalten machte, das Verhältnis ZentrumProvinz zu verändern, d.h. die Provinz, den ehemaligen Vorposten einer neuen Kulturauffassung, gegen das liberalisierte Zentrum auszuspielen. Ein Verhältnis, das sich für die kommende Epoche der deutschen Geschichte von größter Bedeutung zeigen sollte. „Als ich als junger Mann nach München kam, paradierten Gespenster. Gespenster der Vergangenheit und Gespenster der Zukunft. Ich brauchte den Totenkopf nicht mitzubringen; die Totenköpfe gingen um. Ich sah vor den Fassaden der Biergemütlichkeit und der italienischen Sehnsucht Generale in königlich bayerischer und kaiserlich deutscher Uniform [...] . Die Herren sahen nicht forsch, wie sie meinten, sie sahen geschlagen aus, sie hatten den Krieg ihres Lebens verloren, und sie rührten mich, wie alle Verlierer. Aber neben diesen Erstarrten schritten andere, jüngere Gestalten, verbissenen, einsichtslosen Gesichtes. In einer Tracht provozierend betonter Häßlichkeit aus grünen Wickelgamaschen, grauen Windjacken und rauhaarigen Filzhüten [...] , ein Edelweiß aus Blei, ein Hakenkreuz aus Blech angesteckt, und in einem Stadtviertel, das die verklärte, die von Professoren gedeutete Antike noch rührend liebte, sich der Ideen der Weisheit, der Freiheit, der Menschlichkeit noch bewußt war und mit Glypthothek und Propyläen und dorischen Säulen ein bayerischgriechisches Königtum ehrte, war schon das Braune Haus erworben und befestigt [...], und im Teeraum der gehobenen Prostitution und im italienischen Restaurant der über die Alpen gewehten GiovinezzaKlänge sah ich schon das bekannte und noch nicht ernst genommene Plakatgesicht mit dem jüdischen Chaplinbärtchen, den irren Augen, der Gestik des Hypochonders und dem Maul des Stammtischphraseurs sitzen, von den ältesten und angesehensten Familien der Stadt umschmeichelt und finanziert und vom Volk zur Bierkellergaudi und zu den Schlawinern gezählt. [...] München wurde die Hauptstadt der Bewegung, und das politisch träge, das national raunzende Bürgertum ernannte Bayern zur Ordnungszelle der Weimarer Republik.“ 83

82 Vgl. Tannhäuser , 3.Aufzug. 83 Koeppen 1986, S. 121122.

37 Kurz gefasst: Sollte Paris noch in den 20er Jahren jenes „paradis artificiel“ sein, das schon seit Jahrzehnten Tausende von Ausländern an die Seine lockte, so spielte Berlin, die Hauptstadt des wilhelminischen Reichs, die Rolle der Wagnerschen Wartburg, wo die Künstler nicht aus dieser Welt anmuteten, wo es geradezu als „unkünstlerisch“ galt, das Alltagsleben und dessen Unzulänglichkeiten darstellen zu wollen. Deutschlands Künstler, Deutschlands gepriesenste Dichter (diese „armen verprügelten Untertanen“, wie sie Carl von Ossietzky nennen sollte) nicht ausgenommen, zeigten sich statt am Alltag am Heroischen, am Großen und Ruhmvollen interessiert – nicht zuletzt um mit einer „Obrigkeit“ zurechtzukommen, die sich auch in der Kunst das Sagen anmaßte. Nicht wenige dieser Künstler sollten selbst die Monarchie überleben – um in der darauf folgenden Epoche die Gesellschaft der neuen Republik spalten zu helfen (d.h. in jener Epoche, die die „Pariser Jahre“ genannt werden sollte, um ihren Unterschied von derjenigen zu betonen, die wohl die alte „WartburgZeit“ genannt werden konnte). Diese Epoche sollte nicht nur politisch gespalten sein, sondern auch kulturell – letzen Endes dank jenen „Wolframs“ und „Biterolfs“, deren künstlerische Anfänge in der Zeit Wilhelms II. lagen. Dennoch gab es in der alten „WartburgZeit“ auch „Nonkonformisten“, „Nonkonformisten“ vom Schlag des Wagnerschen Tannhäuser. Von Berlin abgestoßen, fanden sie einen Zufluchtsort in München, das sich – die Entwicklung in der Zwischenkriegszeit vorwegnehmend – dem Geist der „westlichen“ Zivilisation geöffnet hatte. Diese Vorwegnahme galt jedoch auch dem Ende der „Pariser Jahre“: Die bayerische Hauptstadt wurde zur ersten deutschen Metropole, wo der weiße Terror den Geist des „Westens“ erdrosselte und die Stadt zurück in den Schatten einer „Wartburg“ warf, wo die „Zivilisation“ ersticken sollte. Viele namhafte Künstler flüchteten nachher in den „Venusberg“, der damals noch Berlin hieß und eine Stadt war, die mit dem „feindlichen Ausland“ synonym werden sollte. Eine folgenschwere Entwicklung – während es in der alten „WartburgZeit“ die Provinz gewesen war, von woher die ersten Impulse einer sich nähernden „Umwertung aller Werte“ gekommen waren (um von Berlin aus misstrauisch beäugelt zu werden), war es jetzt die Reichshauptstadt, wo ein pariserisches Leben (nicht nur das Nachtleben) florierte, das vom „platten Lande“ aus kritisch beobachtet wurde. Fragen wir daher, wie es in dieser Epoche um die deutsche Reichshauptstadt bestellt war, um die Stadt, wo Jürgen Fehling mit seinen Inszenierungen, nicht zuletzt mit seinen WagnerInszenierungen, das Publikum herausforderte. Als wir andeuteten, dass die Weimarer Epoche jenen in der Geschichte der Deutschen angehörte, die von den tiefen Widersprüchen gekennzeichnet waren, so dass wir über eine Spaltung der damaligen Gesellschaft sprechen können, so blieb der Reichshauptstadt Berlin, wenn wir uns des Tannhäuser Sujets bedienen

38 wollen, die Rolle des Venusbergs vorbehalten. Nur selten in der Geschichte der Deutschen wurde eine Stadt so umjubelt und zugleich so verteufelt, wie es in der zu behandelnden Zeit bei der Stadt an der Spree der Fall war. Betrachten wir jetzt die Entwicklung, die diese Stadt nach dem Ende der alten „WartburgZeit“ durchmachte, um das zu werden, worüber die folgenden Zeilen zu berichten haben. 1927 schrieb Walter Hasenclever: „[...] Berlin, wie hast du dir verändert! Was ist in zwei Jahren aus dir geworden! Eine Weltstadt entstand, wo früher ein vergrößertes Magdeburg schlummerte. Es gibt sogar ein Nachtleben…“ 84 In jenen Jahren, die Gottfried Benn die „Pariser“ zu nennen pflegte, schien Edisons Prophezeiung Realität geworden zu sein. Hatte sich die Stadt an der Spree 1913, d.h. zur Zeit des Besuches des Amerikaners, noch auf dem „besten Weg“ befunden, zur fortschrittlichsten Stadt Deutschlands, wenn nicht ganz Europas zu avancieren, mutete sie bereits in den 20er Jahren an, mit der Stadt an der Seine, d.h. mit dem Mittelpunkt der „westlichen“ Zivilisation, gleichgezogen zu haben. Wäre Wagner zu dieser Zeit noch am Leben gewesen, hätte er gar keine Reise nach Paris zu wagen brauchen, um ein Vorbild für seinen Venusberg zu finden. Das „paradis artificiel“ der Franzosen schien samt aller Frivolität und Ausschweifungslust an der Spree angekommen zu sein. In der Stadt, die noch vor wenigen Jahren das Bollwerk der deutschen Spießerkultur hätte genannt werden können, spukte jetzt der Geist der Venus: „„Schaut mich nur an!“ schmetterte die deutsche Kapitale, prahlerisch noch in der Verzweiflung. „Ich bin Babel, die Sünderin, das Ungeheuer unter den Städten. Sodom und Gomorra zusammen waren nicht halb so verderbt, nicht halb so elend wie ich! Nur hereinspaziert, meine Herrschaften, bei mir geht es hoch her, oder vielmehr, es geht alles drunter und drüber. Das Berliner Nachtleben, JungeJunge, so was hat die Welt noch nicht gesehen! Früher mal hatten wir eine prima Armee; jetzt haben wir prima Perversitäten! Laster noch und noch! Kolossale Auswahl! Es tut sich was, meine Herrschaften! Das muß man gesehen haben!““ 85 Die Liebes und Schönheitsgöttin, deren Bild jetzt viele Schaufenster schmückte, schien an der Spree eine dankbare Anhängerschaft gefunden zu haben. Verdient machte sich darum nicht zuletzt die neue Jugend, deren Einstellung zur Liebe der junge Sebastian Haffner erklärte: „Wir hatten schon nicht einmal mehr verächtliche Überlegenheitsgefühle, sondern nur noch staunendes Mitleid für jene Generationen, die in ihrer Jugend nur unerreichbare Jungfrauen zum Anschwärmen und Huren zum Abreagieren vorgefunden hatten.“ 86

84 Hasenclever 1996, S. 50. 85 Mann 1989, S. 144145. 86 Haffner 2001, S. 78.

39 Wenn wir die Antwort auf die Frage finden wollen, wie es so weit kommen konnte, müssen wir auf Klaus Mann zurückkommen. Prahlerisch noch in der Verzweiflung nannte er die frivol gewordene Stadt an der Spree – um dies zu verstehen, ist es notwendig, auf die Ursache für diese Verzweiflung zu sprechen zu kommen. 1918 war der Erste Weltkrieg zu Ende gegangen. „Der große Krieg der weißen Männer“, wie ihn Arnold Zweig nennen sollte, hatte die Deutschen verzweifeln lassen. Das Land „unterhalb der Wartburg“, das Jahrzehnte lang an seine vermeintliche, nicht nur politischwirtschaftliche, sondern auch kulturelle Überlegenheit geglaubt hatte, musste nun die Niederlage in einem Krieg hinnehmen, der viel mehr gewesen war als einer jener imperialistischen Konflikte, denen „nur“ politischwirtschaftliche Interessen zu Grunde gelegen hatten. Thomas Mann erkannte die Ausmaße dieses Krieges genau, als er sagte: „[...] der Krieg war nicht nur gemein oder er wollte nicht nur gemein sein; er wollte auch im Geistigen spielen und tat es bis zu einem gewissen Grade; es wurde auch um Ideen gekämpft, auf beiden Seiten, und diese Ideen ließen sich, in ein wenig primitiver und populärer Weise, auf diese Gegensatzformel „Kultur und Zivilisation“ zurückführen.“ 87 Die Niederlage hatte dabei jene Partei erlitten, die der Buddenbrooks –Dichter „Kultur“ nannte und die die Ideologen vom Schlag eines Houston S. Chamberlain mit der Kultur des gesamten Abendlandes zu identifizieren pflegten (weswegen sich das wilhelminische Kaiserreich 1914 hatte anmaßen können, für die ganze abendländische Kultur ins Feld zu ziehen). Den Hof der Hohenzollern, wo diese „Kultur“ beschworen worden war, gab es nach der Niederlage nicht mehr, die alte „WartburgZeit“ war vorüber; was übrig blieb, waren Verzweiflung und Versuche, sich selbst zu belügen: „Der Krieg ging verloren“ , erklärte Thomas Mann später. „Was aber das deutsche Gemüt am tiefsten zerrüttete und quälte, war nicht die physische Niederlage, der Ruin, der ungeheure Sturz in staatliches Elend von der Höhe äußerer Macht. Es war eine schrecklichere Beirrung: das Zuschandenwerden seines Glaubens, das ideelle Besiegtsein, der Zusammenbruch seiner Ideologie, die Katastrophe des Kraftzentrums dieser Ideologie, seiner Kulturidee, welche in diesem Krieg mit überwältigt worden war – von der ideellen Gegenwelt, der Welt der demokratischen Zivilisation. Viel zu ernsthaft hatte Deutschland den Krieg auch dialektisch, auch im Ideellen geführt, als daß es ihm nicht entsetzlich ernst hätte sein müssen mit der Auffassung, daß es auch ideell geschlagen sei; und wenn es verzweifelte Versuche machte, die Niederlage zu leugnen und sich selbst beteuerte, es sei „im Felde unbesiegt“, so geschah es [...] namentlich aus ideologischen Gründen: um

87 Mann 1984, S. 226.

40 zugleich die geistige, ideelle, sozusagen philosophische Niederlage leugnen zu können.“ 88 Nur einige zeigten sich zuversichtlich. Paul Ernst z.B. schrieb: „Unsere Zeit ist zu Ende! Gott sei Dank! Sie ist zu Ende. Es zieht eine neue Zeit herauf, die wird eine andere sein.“ 89 Die neue Republik durfte sich allerdings nicht erlauben, die Niederlage der alten Ordnung zu leugnen, wenn sie die Zweifel an der eigenen Legitimität nicht hervorrufen wollte. Konsequenterweise fand sie unmöglich, an der Ideologie festzuhalten, die mit dieser Ordnung eng verbunden war. Stattdessen begann sie Anstalten zu machen, sich jener Lebens und Kulturauffassung zu öffnen, die sich als überlegen gezeigt hatte. Behilflich wurde ihr paradoxerweise die schwankende Nachkriegswirtschaft, deren Instabilität Anfang der 20er Jahre das deutsche Bildungsbürgertum, d.h. den eigentlichen Träger der abgewirtschafteten „WartburgIdeologie“, verarmen, die letzten überlieferten Wertvorstellungen allmählich als unzeitgemäß in Vergessenheit geraten und die alte Lebensweise einer neuen weichen ließ. Während die deutsche Währung im wahrsten Sinne des Wortes tanzte, so dass die Reichsbank sich nicht mehr in der Lage sah, die Lieferungen von neuen Banknoten an den sich von Tag zu Tag verändernden MarkDollarKurs anzupassen, glaubten viele plötzlich Arm oder Reichgewordene, die Emotionen nicht länger verborgen halten zu können, und machten mit. Wie von einer „JazzInfektion“ (um von Klaus Manns Vokabular Gebrauch zu machen) ergriffen, sämtlicher Gedanken an „Tugend“ und „holde Sitten“ der vergangenen Epoche verlustig gegangen, schwangen die „Nachkriegsdeutschen“ das Tanzbein, um der neu angebrochenen Zeit, in der es drunter und drüber zu gehen schien, einen Ausdruck zu verleihen: „Millionen von unterernährten, korrumpierten, verzweifelt geilen, wütend vergnügungssüchtigen Männern und Frauen torkeln und taumeln dahin im JazzDelirium. Der Tanz wird zur Manie, zur ideé fixe , zum Kult. Die Börse hüpft, die Minister wackeln, der Reichstag vollführt Kapriolen. Kriegskrüppel und Kriegsgewinnler, Filmstars und Prostituierte, pensionierte Monarchen (mit Fürstenabfindung) und pensionierte Studienräte (völlig unabgefunden) – alles wirft die Glieder in grausiger Euphorie. Die Dichter winden sich in seherischen Konvulsionen; die „Girls“ der neuen Revuetheater schütteln animiert das Hinterteil. Man tanzt Foxtrott, Shimmy, Tango, den altertümlichen Walzer und den schicken Veitstanz. Man tanzt Hunger und Hysterie, Angst und Gier, Panik und Entsetzen.“ 90 Immer neue Tanzstuben schossen aus der Erde wie Pilze nach dem Regen, wobei die Gesellschaft, die dort den Negerkapellen zuzuhören pflegte, diejenige war, der Joseph Roth, Walter

88 Ebenda, S. 262263. 89 Craig 1980, S. 411. 90 Ebenda, S. 143.

41 Hasenclever oder Klaus Mann auch in Paris begegneten bzw. begegnen sollten. Die Wagnersche Welt der Venus, wo das Körperliche über das Geistige triumphiert, war nun auch unterhalb der Wartburg angekommen. Die Überreste der alten Ideologie schienen an der „JazzInfektion“ gestorben zu sein (lediglich schienen, wie sich bald herausstellen sollte). In Deutschland schlug nun jene Welt die Wurzeln, über die Thomas Mann als über die „Zivilisation“ zu sprechen pflegte (und die er noch vor kurzem scharf angegriffen hatte – zusammen mit jenen 93 Gelehrten, die 1914 den deutschen Militarismus mit der Verteidigung der deutschen – d.h. in diesem Kontext „abendländischen“ – Kultur zu rechtfertigen gesucht hatten). Während das wilhelminische Kaiserreich das „Abendland“ beschworen hatte, bekannte sich die Republik zum sog. „Amerikanismus“. Rudolf Kayser, der sich mit diesem neuen Schlagwort beschäftigte, glaubte darin eine „neue Methode“ entdeckt zu haben: „[...] Amerikanismus ist eine neue europäische Methode. Wieweit diese Methode von Amerika selbst beeinflußt worden ist, das scheint mir recht gleichgültig zu sein. Sie ist eine Methode des Konkreten und der Energie und völlig eingestellt auf geistige und materielle Realität. [...] Überhaupt gehört es zur Methode des Amerikanismus, daß er sehr stark im Körperlichen sich ausprägt, daß er Körperseele besitzt. Das bedeutet keineswegs Äußerlichkeit, sondern nur deutliche Abwendung vom Abstrakten und vom Sentimentalen und Umsetzung auch unserer edelsten Vermögen in jene Konkretheit und wache Lebendigkeit, die der Körper am stärksten offenbart [...] . Amerikanismus ist Schwärmerei für das Leben, für seine Diesseitigkeit und seine heutigen Formen.“ 91 (Also bedeutete die Zuwendung zum „Amerikanismus“ eine Abwendung von der Romantik, von dem „Allerheiligsten“ der Deutschnationalen und Konservativen, die darin einen weiteren Beweis für den angeblichen moralischen und kulturellen Verfall Deutschlands sahen.) Der Ort, wo sich dieser „Verfall“ am deutlichsten manifestierte, war, wie oben angedeutet, die Reichshauptstadt Berlin. Die Stadt an der Spree, ein buchstäbliches Bollwerk des „Amerikanismus“ in Deutschland, wenn nicht in ganz Europa, schien Thomas A. Edison Recht gegeben zu haben, als dieser sie vor dem Ersten Weltkrieg auf dem besten Weg zur fortschrittlichsten Stadt des alten Kontinents geglaubt hatte. In jenen Jahren der deutschen Geschichte, die von der Weltoffenheitspolitik Gustav Stresemanns geprägt wurden, mutete Berlin am Ziel an. Dasselbe „paradis artificiel“, das man bis vor kurzem nur an der Seine hatte finden können, bot sich jetzt an der Spree an – nicht nur den geborenen Berlinern,

91 Longerich 1992, S. 370371.

42 sondern auch den neu angekommenen WahlBerlinern. Von der Spree schien nun derselbe Sirenenruf zu ertönen, den man bisher nur von der Seine kannte: „Naht euch dem Strande! Naht euch dem Lande, wo in den Armen glühender Liebe selig Erbarmen still’ eure Triebe!“ 92 Ebenso wie Paris wimmelte auch das Berlin der „Pariser Jahre“ von Ausländern aller Rassen und Hautfarben, die hier ihre (nicht nur „fleischlichen“) Triebe – und mochten diese so kühn sein, wie sie wollten –, zu stillen trachteten. Was die „Pariser Jahre“ in Deutschland an Gedanken und materiellem Reichtum, an Glanz und Fülle brachten, konzentrierte sich an der Spree. Als hätte man in Berlin die Jahre der Isolation und des kulturellen Hochmuts wiedergutmachen wollen, brachte man hier den neu Angekommenen einen wahrhaftigen „FremdenEnthusiasmus“ entgegen. Sebastian Haffner sollte sich später erinnern: „Wieviel interessanter, schöner und reicher wurde das Leben, dadurch, daß es nicht nur Deutsche gab! Unsere Gäste waren uns alle willkommen, gleichgültig ob sie freiwillig kamen, wie die Amerikaner und Chinesen, oder als Vertriebene, wie die Russen. Es herrschte Aufgeschlossenheit, liebevollneugieriges Wohlwollen, ein bewußter Vorsatz, gerade das Fremdeste verstehen und lieben zu lernen [...] .“ 93 Auf dem Kurfürstendamm gab man sich, wie Joseph Roth beobachtete, in den Gasthäusern amerikanisch, in den Cafes französisch und in den unzähligen, stets überfüllten Nachtlokalen international. In den Revuetheatern klatschte man jenen „Girls“ Beifall, deren Kunst in Amerika ihren Anfang genommen hatte. Die Berliner Vergnügungsindustrie – von jener in Paris, oder New York kaum mehr zu unterscheiden – schien ohne die erprobten Weltstars nicht mehr auskommen zu können (wie es der Berliner Erfolg von Josephine Baker ebenso wie die Beliebtheit der HollywoodFilme, die nun die Säle der zahlreichen Kinos füllten, beweisen sollten): Ohne die Lehárs, Abrahams, Taubers und Alpars, deren Wurzeln außerhalb Deutschlands lagen, ohne die Russen, Skandinavier, Franzosen, Angelsachsen oder Asiaten, die hier alle ein Zuhause gefunden zu haben glaubten, wäre der Glanz der Stadt an der Spree ziemlich unvollständig geblieben. Es war daher konsequent, dass Berlin nicht nur nach außen, sondern auch nach innen an Bedeutung zunahm. Während die Stadt an der Seine, eigentlich immer noch ein großes

92 Tannhäuser , 1. Aufzug. 93 Haffner 2001, S. 7879.

43 Vorbild, die Rolle eines politischwirtschaftlichkulturellen Zentrums des eigenen Landes seit Jahrhunderten spielte, näherte sich die Stadt an der Spree dieser Rolle erst jetzt, nach dem Ende der alten „WartburgZeit“. Golo Mann erklärte: „[...] Berlin war etwas wie ein Reich für sich und gleichzeitig des Reiches Hauptstadt, wie sie es vor 1871 nie, unter Wilhelm II. auch nur in Grenzen gewesen war; für letztere sorgte Bismarcks Föderalismus, sorgten die vielen Dynastien, von den größeren bis zu den geringsten. Jetzt aber zog Berlin Talente aus allen deutschen Gegenden an sich; Wissenschaft, Literatur, Musik, Kunst, Theater, Presse – Berlin war wirklich die Zeitungsstadt, die Zeitungen im Lande, mit Ausnahme der Frankfurter und Kölnischen, provinziell, allenfalls regional –, ebenso die Politik und Finanz.“ 94 Auch Carl Zuckmayer, der – Heinrichs IV. Einmarsches in Paris eingedenk – Berlin „eine Messe wert“ gefunden hatte, beobachtete, wie sich die Stadt an der Spree der Zuwanderer bediente, die sie angezogen hatte: „Diese Stadt fraß Talente und menschliche Energien mit beispiellosem Heißhunger, um sie ebenso rasch zu verdauen, kleinzumachen und wieder auszuspucken. Was immer in Deutschland nach oben strebte, saugte sie mit TornadoKräften in sich hinein, die Echten wie die Falschen, die Nullen wie die Treffer…“ 95 Folglich wimmelten die Berliner Straßen nicht nur von Ausländern, sondern auch von Deutschen, die hier „auf ihre Kosten zu kommen“ glaubten – nicht zu reden über den Einfluss, den die Stadt an der Spree auf das übrige Deutschland hatte. Beneidet oder direkt gehasst – ungeachtet dessen ließ sie die Provinzstädte wetteifern, welche von ihnen die Berliner Revuetheater, Nachtlokale oder Kinopaläste am überzeugendsten zu kopieren vermochte. Heinrich Mann glaubte sogar in dieser Hinsicht, in Berlin einen Wegbereiter einer neuen deutschen Einheit unter dem „Banner“ der „Zivilisation“ erkannt zu haben: „Berlin wird Verherrlicher finden, die es wohl niemals kannte. Das Heldengedicht Berlins wird erst in der jetzt kommenden Epoche zu schreiben sein. Die große Stadt wird unwiderstehlich für sich werben im ganzen Reich, wie bisher mit ihren zeitgemäßen Eigenschaften: nur daß es andere, bessere sein werden als vordem. Die Länder, die sie nachahmen, werden das Vorbild nicht, wie wohl früher, mit Abneigung betrachten, sondern mit Stolz. Die ungeheure Menschenwerkstatt Berlins wird das kommende Geschlecht Deutschlands an sich ziehen in nie gesehenem Maße, und die nach seinem Geist Geformten bis in die entfernten Reichsteile zurückschicken. Die Vereinheitlichung Deutschlands wird, sicherer als durch Gesetze, durch die werbende Kraft des Zivilisationsherdes geschehen, der das zu sich selbst hineingewachsene Berlin ist. Ja, Berlin wird, so wenig es sich dies je träumen ließ, die

94 Mann 1986, S. 231. 95 Sternburg 1994, S. 302.

44 geliebte Hauptstadt sein.“ 96 (Heinrich Mann sollte sich allerdings irren; dem „Zivilisationsherd“ an der Spree war nicht vorbehalten, durch ein Heldengedicht verherrlicht zu werden. Für die deutsche Provinz, für das „platte Land“ „unterhalb der Wartburg“, dem sie die Demokratie beizubringen hatte, sollte die Stadt an der Spree mit der Vorstellung einer Lusthölle, eines Venusbergs verbunden bleiben. Eines Venusbergs, für den die verführerischen Stimmen der (amerikanisierten) Sirenen warben.) Nicht zuletzt folgten diesem Ruf die Münchner, die der Umwandlung ihrer Heimatstadt aus einem „IsarAthen“ in eine „Wartburg“ nicht hatten gerecht werden können. Während es in der alten „WartburgZeit“ die „Härte“ der Berliner Luft gewesen war, die manchen „Nonkonformisten“ veranlasst hatte, ein milderes Klima an der Isar zu suchen, war es jetzt die bayerische Landeshauptstadt, deren Atmosphäre „einer gewissen Menschenfeindlichkeit nicht entbehrte“ 97 . Bei der Eröffnung der „Münchner Gesellschaft“ hielt Thomas Mann 1926 eine Rede, in der er auf den Vorkriegsglanz Münchens zu sprechen kam. Hätte er dabei nicht vor einer Münchner, sondern vor einer Berliner Gesellschaft gesprochen und hätte er die Gegenwart Berlins ansprechen wollen, statt die Vergangenheit Münchens zu beschwören, hätte er das Vokabular größtenteils nicht zu verändern brauchen – was für die Stadt an der Isar vor dem Ersten Weltkrieg gegolten hatte, traf nach diesem Krieg auf die Atmosphäre der Stadt an der Spree beinahe vollkommen zu: „Es war eine Atmosphäre der Menschlichkeit, des duldsamen Individualismus, der Maskenfreiheit sozusagen, eine Atmosphäre von heiterer Sinnlichkeit, von Künstlertum; eine Stimmung von Lebensfreundlichkeit, Jugend, Volkstümlichkeit, jener Volkstümlichkeit, auf deren gesunder, derber Krume das Eigentümlichste, das Zarteste, das Kühnste, exotische Pflanzen manchmal, unter wahrhaft gutmütigen Umständen gedeihen konnte.“ 98 Im Berlin der „Pariser Jahre“ gediehen exotische Pflanzen sogar dermaßen gut, dass die Deutschnationalen daran Anstoß nehmen „mussten“. Was Sebastian Haffner und seine Freunde enthusiastisch begrüßten, nämlich den internationalen Charakter der Stadt, deren Weltoffenheit sowie den unversiegbar anmutenden Zufluss von Ausländern aus der ganzen Welt, das reizte den Deutschnationalen Christoph Langmut. Er sah sich sogar gezwungen, sich über das „mangelnde Deutschtum“ der Berliner zu beklagen: „Wie sie sich kleiden, wie sie reden und schreiben, und wie sie sich vergnügen. Vom Deutschtum ist da nicht mehr viel zu spüren. Sie reden sich mit dem „kosmopolitischen Charakter der Weltstadt“ heraus. Aber

96 Mann 1960, S. 442. 97 Mann 1984, S. 238. 98 Ebenda, S. 237.

45 Paris und London sind doch auch gewiß „Weltstädte“: sind die deswegen so abhängig vom Ausland, laufen sie so den Fremden nach wie ihr „Balina“?“ 99 Langmut fand dieses „Nachlaufen den Fremden“ schließlich nur lächerlich. Andere glaubten jedoch „dunkle Kräfte“ am Werk und witterten hinter dem Berliner Internationalismus die Juden. So schrieb Karl Engelbrecht (allerdings erst 1933, als der Weltstadtcharakter Berlins nur noch eine Erinnerung war): „Was heißt international eigentlich? Es heißt: Zwischenvölkisch, zwischen den Nationen, den Volkschaften bestehend. Was an sich schon für ein Blödsinn in diesem Begriff steckt, wird uns ganz klar, wenn wir ihn verbildlichen. Wer dächte bei diesem Bilde nicht an die ZwischenExistenz der Juden unter den Nationen der Erde! Sie haben sich denn auch früh zu Trägern der erhabenen Gedanken der Menschheitsseele, Menschheitsrechte, allgemeinen Menschenliebe, zu Pflegern jeder Art von Kosmopolitismus, Universalismus, Oekumenik [...] , Humanität [...] und Internationalismus [...] aufgeworfen.“ 100 Die Deutschnationalen waren überzeugt, an der Spree dieselben Kräfte entdeckt zu haben, die in Paris Wagners Hoffnungen auf einen Durchbruch vereitelt (Meyerbeer), den „Abtrünnigen“ (Heine) eine Zuflucht gewährt und aus der Stadt an der Seine einen „Venusberg“ gemacht hatten, den zu fliehen alle Deutschen verpflichtet waren. Dass sie es in den „Pariser Jahren“ nicht taten, lag den Deutschnationalen nach an der Republik, die, selbst eine Schöpfung der judenfreundlichen „westlichen“ Zivilisation, unter dem angeblichen jüdischen Einfluss stand. Unter den (Wahl) Berlinern befanden sich ohne Zweifel viele Juden. Die Republik, deren Hauptstadt Berlin war, ermöglichte ihren jüdischen Bürgern, was das wilhelminische Kaiserreich ihnen verweigert hatte – nämlich Erfolg und gesellschaftliche Anerkennung zu erreichen. Konsequenterweise hatten jetzt jüdische Professoren Lehrstühle an den deutschen Universitäten inne und jüdische Wissenschaftler, oft von den jüdischen Mäzenen gefördert, begründeten neue Forschungsinstitute mit, wo man sich mit Marxismus, Psychoanalyse oder Soziologie beschäftigte; jüdische Architekten bauten neue, oft architektonisch kühne Gebäude und jüdische Künstler – Dichter, Dramatiker, Komponisten, Regisseure, Sänger oder Schauspieler – freuten sich über den Beifall des Publikums wie nie zuvor. Am dichtesten konzentrierten sich diese Juden natürlich in Berlin, in der Hauptstadt der demokratischen Republik, der sie vieles zu verdanken hatten (nicht darüber zu reden, dass sie nur in diesem kulturellen Zentrum Deutschlands ihre Talente völlig entfalten konnten). Was die Deutschnationalen der Stadt an der Seine nicht zu vergeben vermochten, nämlich die Toleranz gegen die Juden wie Meyerbeer oder Heine, das konnten sie keinesfalls der Stadt vergeben,

99 Longerich 1992, S. 374. 100 Wulf I 1983, S. 151.

46 wohin nun die jüdischen Intellektuellen, Künstler und Wissenschaftler aus der ganzen Welt, nicht zuletzt aus Frankreich, zu pilgern pflegten und wo sich die Juden wie Kurt Weill, Max Reinhardt oder Leopold Jessner über eine gesellschaftliche Anerkennung freuen durften. Wilhelm Stapel glaubte sogar Gewalt im Spiel, als er im Hinblick auf diese Anerkennung voller Hass schrieb: „In der literarischen Innenpolitik scheute man sich nicht die Polizei einzusetzen, um die Bordellszenen des „Reigens“ von Arthur Schnitzler den Deutschen aufzuzwingen. Es ist tatsächlich in Berlin vorgekommen, daß diese jüdische Dekadenzliteratur dem widerspenstigen, protestierenden deutschen Volke mit dem Gummiknüppel der Polizei unter der Anführung des jüdischen Polizeipräsidenten, Dr. Bernhard Weiß, eingeprügelt wurde. Man machte auch literarische Außenpolitik: Jüdische Franzosen kamen zu Vorträgen, gleichsam zu literarischen Staatsbesuchen nach Berlin, deutsche Juden und ihre Stellvertreter zu eben solchen Besuchen nach Paris. Und ein Feuilletonist wie Alfred Kerr konnte erreichen, vom amerikanischen Staatspräsidenten Coolidge empfangen zu werden, wobei dem Präsidenten von den Veranstaltern verschwiegen worden war, was für ein Schnorrer vor ihm kroch, um sich daheim im Judenblatt mit der amerikanischen Audienz ein Rühmchen anzufachen.“ 101 Der „Feuilletonist“ Alfred Kerr zeigte sich hier allerdings besser beraten als Stapel, als er die Ursache für die Erfolge eines Weill, Reinhardt oder Jessner einerseits in dessen Leistung, andererseits in der Leistung der Berliner Kritiker sah, zu denen er selbst zählte. Diese Kritiker, unter denen es natürlich mehrere Juden gab, waren es Kerrs Ansicht nach, die den (in den meisten Fällen gar nicht protestierenden) Berlinern auch ohne die Gummiknüppel der Polizei beigebracht hatten, wie sie die jeweilige künstlerische oder „künstlerische“ Produktion zu beurteilen hatten: „Berlin [...] hat… nicht eine bloß gebildete, sondern eine sehr innerliche Hörerschaft bekommen, dank seiner Kritik. Die Zuschauer haben jenen Blick für Einzelheiten (auch im Technischen), der einem Auftritt wegen schwacher Begründung verhöhnt, wegen eines anfechtbaren Abganges zischt, wegen eines morschen Charakterbaues ulkt. Das Publikum der ersten deutschen Stadt war bis vor kurzem das beste, nicht aller möglichen, doch aller wirklichen Schauspielhäuser – seit Ibsen, seit Hauptmann, seit Brahm… und seit uns. Zur Schärfe durch Schärfe der Kritik erzogen. Zugleich aber sucherisch und gewillt, WertvollKühnes anzuerkennen. Eine Kritik, die mit Hauptmann und Ibsen wuchs (oder Hauptmann und Ibsen mit wuchsen ließ), hat an der schoflen Spree das ihrige getan, ein Werk vollbracht.“ 102 (Es war daher kein Wunder, dass diese Kritik sofort

101 Ebenda, S. 448449. 102 Kerr 1991, S. 307308.

47 nach dem Anbruch der neuen „WartburgZeit“ zum Schweigen gebracht werden sollte und Kerrs Kritiken die Flammen der „Wartburgfeste“ verschlingen sollten.) Um den wohl berühmtesten Kritiker Berlins (mit dem vielleicht nur Herbert Ihering gleichziehen konnte) war es konsequenterweise nicht nur wegen seiner jüdischen Abstammung schlecht bestellt, sondern auch und vor allem wegen seiner Zugehörigkeit zu jener Gruppe von Intellektuellen, die, in den weltoffenen Großstädten, in erster Linie dann in Berlin konzentriert, die kleinbürgerlichen, provinziellen Deutschnationalen im wahrsten Sinne des Wortes das Fürchten lehrten. Denn mochten diese in der Provinz, d.h. „unterhalb der Wartburg“ ihr (Un) Wesen treiben, wie sie wollten, ohne sich über den Mangel an Zuhörerschaft beschweren zu müssen, begegneten sie an der Spree einem Feind, dem sie sich mit ihrer Anpassungsunfähigkeit an die moderne Zeit nicht gewachsen zeigten. Man hätte natürlich falsch gelegen, hätte man Berlin frei von allen Reaktionären geglaubt, denn schließlich war es die Reichshauptstadt der gespaltenen Weimarer Republik, über deren Beamtentum Kurt Tucholsky zu klagen pflegte: „Ihr habt alle in der Klasse einen sauren, etwas humorlosen, nicht so wunderschön gewaschenen Mitschüler gehabt, der meist unter den ersten zehn zu finden war – ihr könnt darauf schwören, daß er heute dasitzt und euch regiert. Er ist die unleserliche Unterschrift unter den amtlichen Verfügungen; er begeht die gradezu unverständlichen Schikanen der Verwaltung; er und kein anderer. Auch in Berlin.“ 103 . Doch diese Kräfte schienen (zumindest) an der Spree in der Masse von Fremdenenthusiasten, Liberalen und kritischen Intellektuellen aufgegangen zu sein. Wäre Heine zu dieser Zeit noch am Leben gewesen, hätte er ohne Zweifel nicht mehr nach Paris überzusiedeln brauchen, um verwandte Seelen für den Kampf gegen das deutsche Spießbürgertum zu finden. Erst die Katastrophe der Weltwirtschaftskrise sollte die Stadt an der Spree zum Schwanken bringen, bis dahin blieb sie jedoch ein Hort jener Mächte, die sie zu einer der fortschrittlichsten Städte Europas gemacht hatten, jener Mächte, die die deutschnationale, abendlandgläubige Gesellschaft von der „Wartburg“ zu fürchten hatte. Kurz gefasst: Nachdem die alte „WartburgZeit“ 1918 ihr blutiges Ende genommen hatte, ging die neue Republik das Wagnis ein, von der AbendlandIdeologie, von der „Kultur“ des wilhelminischen Kaiserreichs Abschied zu nehmen und sich jener Lebens und Kulturauffassung zuzuwenden, die ihre Überlegenheit während der vier Kriegsjahre zum Vorschein gebracht zu haben schien. Der Ort, wo diese Lebens und Kulturauffassung, unter den deutschen Intellektuellen „Zivilisation“ genannt, die meisten Anhänger erwarb, war die

103 Tucholsky (Bd.6) 1975, S. 7273.

48 Reichshauptstadt Berlin. Aus einer Hochburg der „Kultur“ zu einem Bollwerk der „Zivilisation“ von gesamteuropäischer Bedeutung geworden, schien die Stadt an der Spree mit dem Vorbild an der Seine gleichgezogen zu haben. Berlin leuchtete, wie Paris seit Jahrhunderten leuchtete und wie München vor dem Ersten Weltkrieg geleuchtet hatte; es mutete an, den deutschnationalen „Wagnerianern“ Recht geben zu wollen, die an der Spree dieselbe Welt entdeckt zu haben glaubten, die der Tannhäuser Dichter in die Bildmetapher „Venusberg“ verschlüsselt hatte. Ob dies positiv oder negativ zu beurteilen war, lag in der Regel an der politischideologischen Überzeugung des Beurteilenden, doch der Städte, die, mochten sie vor der Welt auf ihre Autonomie pochen, wie sie wollten, der Stadt an der Spree nacheiferten, gab es in den erfolgreichen Jahren der Republik eine ganze Reihe. Als wären es nicht dieselben Berliner gewesen, die 1914 geglaubt hatten, für die deutschabendländische „Kultur“ ins Feld ziehen zu müssen, bekannten sich jetzt die Einwohner der Reichshauptstadt haufenweise zum „Amerikanismus“, der das Abendland in der Liste der Schlagworte abgelöst hatte. Wer nicht bereit war, der alten Schlagworte zu entsagen, fand in München einen Zufluchtsort, doch an der Spree ließ man die Rufe nach „Tugend“ und „holden (sprich deutschen) Sitten“ allmählich verhallen. Eine neue Generation wuchs hier heran, deren Enthusiasmus den unzähligen Ausländern aus aller Welt gegenüber keine Grenzen zu kennen schien; eine Welle von Toleranz brach hier aus, die nicht einmal vor den Juden Halt machte; eine Welt manifestierte sich hier, die den Künstlern wie Fehling die Chance gab, sich um die Gunst des Publikums zu bewerben, ohne dabei auf die althergebrachten Schablonen achten zu müssen. Hätte Wagner diese Welt erlebt, hätte er in Berlin jenes Paris sehen müssen, das ihn zum Venusberg inspiriert hatte (hätte er es nicht selbst gesehen, hätten ihn darüber seine deutschnationalen Exegeten belehrt, die die Stadt an der Spree von der Provinz aus misstrauisch beäugelten und an dem zu behandelnden Tannhäuser Drama der Weimarer Republik wesentlich mit beteiligt waren). Um über ein Tannhäuser Drama sprechen zu können, ist es notwendig, der Welt der Venus noch die der Wartburg gegenüber zu stellen. Während die Rolle des Venusbergs der Weimarer Republik der Reichshauptstadt Berlin zufiel, blieb der deutschen Provinz, jenem „platten Land“, über dessen kulturelle Reaktion sich Alfred Döblin stets ärgern musste, vorbehalten, die Rolle der Wagnerschen Wartburg zu spielen. Berlin, eine weltoffene Großstadt und Bollwerk des „Amerikanismus“ in Deutschland sowie in Europa, galt vielen (vor allem geistigen) Provinzlern als Vorort der (Lust) Hölle, als jene Welt, vor deren Dekadenz ganze Generationen von deutschen AbendlandIdeologen gewarnt hatten. Dagegen profilierte sich die Provinz, d.h. in unserem Fall die Welt außerhalb Berlins, die von der neuen

49 Lebens und Kulturauffassung vielerorts unberührt oder fast unberührt blieb, als jenes Land, das den Tannhäuser Dichter bei der Rückkehr aus Paris zu den Tränen gerührt hatte. „Was den republikanischen Gedanken in jener abgeschwächten Form angeht, in der er bei uns hergestellt wird, so ist zu sagen, daß draußen im Lande nur fleckweise etwas von ihm zu merken ist. Östlich der Elbe sieht es damit faul aus, rechts der Oder oberfaul“ 104 , beschwerte sich z.B. Kurt Tucholsky. Das romantische, weimarfeindliche Deutschland schien hinter den Toren der Reichshauptstadt zu beginnen. „Die Zeit, die hier ich verweil’, ich kann sie nicht ermessen. Tage, Monde – gibt’s für mich nicht mehr, denn nicht mehr sehe ich die Sonne, nicht mehr des Himmels freundliche Gestirne; den Halm seh’ ich nicht mehr, der frisch ergrünend den neuen Sommer bringt; die Nachtigall hör’ ich nicht mehr, die mir den Lenz verkünde. Hör’ ich sie nie, seh’ ich sie niemals mehr?“ 105 Um der eigenen Abneigung gegen die blendende Welt von Paris Ausdruck zu verleihen, hatte Wagner seinen Tannhäuser veranlasst, sich mitten im „paradis artificiel“ der Venus nach der „grünen Aue“ unterhalb der Wartburg zu sehnen. Von denselben Worten, mit denen der von einer „deutschen Landschaft“ träumende Minnesänger die Liebesgöttin um die Freilassung bittet 106 , hätte allerdings auch Ernst Wiechert Gebrauch machen können, als er seinen Thomas Orla das „paradis artificiel“ der Berliner verlassen und mitten in den Wäldern des Ostens den Rummel, die „Geschwätzigkeit“ sowie die blendenden Lichter der Stadt an der Spree vergessen ließ. 107 Wiechert schloss sich mit der Geschichte eines ehemaligen Offiziers jener Gruppe von Antimodernisten an, an deren Wiege Julius Langbehn gestanden hatte, dessen Werk unter den zivilisationsfeindlichen, kleinbürgerlichen Deutschnationalen viele Anhänger gefunden hatte. Neben Ernst Wiechert war es z.B. Rudolf Borchardt, der seine Zuhörer ermahnte, dem Leben der Weltstadt an der Spree, d.h. all dieser „fremden“ Lebensweise, all dieser

104 Ebenda, S. 70. 105 Tannhäuser , 1. Aufzug. 106 Vgl. Mayer 1978, S. 61ff. 107 Vgl. Weyergraf 1995, S. 363364.

50 „undeutschen“ Kultur, Frivolität und Ausschweifung, den Rücken zu kehren: „Der Mensch ist ja nicht von Gott und der Natur dazu geschaffen, in den Formen des heutigen Lebens die Arbeitervorstädte von Berlin und die Prostitutionsvorstädte des Berliner Westens, den prostituten Kurfürstendamm und seine Anhänge zu bewohnen. Wird er dennoch dazu gezwungen, so muß seine Entartung, die Anpassungsform, zu anderen Entartungen und Anpassungsformen des Menschengeschlechtes in aufweisbaren Beziehungen stehen, sie muß endlich in der Nähe derjenigen enden, die keineswegs, wie Ihnen vorgelogen wird, jemals ein hoffnungsvoller Urzustand des Menschengeschlechtes gewesen ist, mit Urariern, Urinkas, Urasiaten auf gleicher Stufe, sondern vielmehr die hoffnungslose und geschichtsunfähige Degeneration des Menschengeschlechtes durch jahrtausendlange Anpassung an unmenschliche Lebensbedingungen; in vielen, in fast allen charakteristischen Zügen kann eine solche Individual und MassenEntartung sich unter allen Klimaten und zu allen Zeiten wiederholen, und es liegt vor aller Augen, soweit diese Augen sich öffnen und nicht beiseite sehen wollen, daß der Menschentypus der Großstädte Deutschlands unter diesen Einflüssen sich in zwanzig Jahren fast ethnologisch gewandelt – aber warum das Wort vermeiden? – ja, daß er sich bestialisiert hat, und daß es nicht befremden sollte, ihn halbnackt nach der Trommel des Niggers tanzen zu sehen.“ 108 Derselben Ansicht sollten sich nur wenig später die Blut und BodenIdeologen der neuen „WartburgZeit“ vom Schlag eines Richard W. Darré oder Alfred Rosenberg zeigen, die in der allmählichen Verstädterung Deutschlands, die durch die Aufnahme der „westlichen“ Zivilisation nur noch forciert wurde, eine der größten „Sünden“ der Weimarer Epoche zu sehen pflegten. Nicht zuletzt griffen sie zur in der Provinz nach wie vor lebendigen AbendlandIdeologie, um ihre Zuhörer vor die Wahl zu stellen: „Entweder steigen wir durch Neuerleben und Hochzucht des alten Blutes, gepaart mit erhöhtem Kampfwillen, zu einer reinigenden Leistung empor, oder aber auch die letzten germanischabendländischen Werte der Gesittung und Staatenzucht versinken in den schmutzigen Menschenfluten der Großstädte, verkrüppeln auf dem glühenden, unfruchtbaren Asphalt einer bestialisierten Unmenschheit oder versickern als krankheitserregender Keim in Gestalt von sich bastardisierenden Auswanderern in Südamerika, China, HolländischIndien, Afrika.“ 109 Es war nur konsequent, dass die Künstler, die sich nach dem Anbruch der neuen „WartburgZeit“ zu den Geförderten zählen durften, von diesem Vokabular Gebrauch machten. Ein Zeugnis davon legte z.B. Hans Zöberlein ab, dessen Roman Befehl des Gewissens Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts paraphrasierte: „Die Großstädte

108 Borchardt 1955, S. 243. 109 Wulf I. 1983, S. 441442.

51 stumpfen den gesunden Instinkt ab und machen das Blut träge und lüstern und schlammig. Die Menschen werden morsch, das Leben in der stickigen Enge zerfrisst ihnen das Rückgrat und Herz.“ 110 Die Provinz, das „platte Land“, war allerdings nicht nur die Blut und BodenIdylle, die die Künstler oder „Künstler“ der neuen „WartburgZeit“ gegen das Großstadtleben ausspielen sollten. Das „platte Land“ umfasste auch jene Stätten, die sich einer kulturellen Tradition rühmten, die kleinen „Wartburgen“, die Jahrzehnte lang dem deutschen Bildungsbürgertum als Pilgerstätten gedient hatten und die auch in der Weimarer Epoche Tausende von diesen traditionellen Hauptträgern der deutschabendländischen „Kultur“ zu locken vermochten. Wie es dabei um die Einstellung dieses Bildungsbürgertums zur neuen Republik stand, darüber machte sich Kurt Tucholsky keine Illusionen und glaubte im Fall manches Weimar, Bayreuth oder MarbachPilgers Angst und eine aus der alten „WartburgZeit“ überlieferte Untertänigkeit im Spiel: „Die Angst dieses Bürgertums vor den Mächten von gestern ist groß; es ist, als fühlten sie, es seien diese wiederum die Kräfte von morgen, und da von den Druckereibesitzern der kleineren Zeitungen nicht viel Charakter zu erwarten ist und ihre Redakteure kaum zählen, so kann man sich das Zittern und Zagen vorstellen, das da ausbricht, wenn der „Nationalverband Deutscher Offiziere“ oder sonst irgend eine Emanation deutscher Stalluft und gottesfürchtiger Dreistigkeit protestiert. Bestenfalls ersticken solche Streitigkeiten im Kompromiß.“ 111 In der Weimarer Epoche „avancierte“ zunächst die bayerische Landeshauptstadt München zur Hochburg der deutschabendländischen „Kultur“, zum Bollwerk verschiedenster „Emanationen deutscher Stalluft“ sowie zum Zentrum des verängstigten deutschen Spießbürgertums: „München war vor dem Krieg ein europäisches Zentrum; es ist im Begriff, eine deutsche Provinzstadt zu werden“ 112 , nahm die Zeitung Münchner Post die Entwicklung an der Isar vorweg. Wie es um die Stadt an der Isar, wie es um den ehemaligen Hort der weltfreundlichen „Nonkonformisten“ der alten „WartburgZeit“ nach der Niederschlagung der kurzlebigen Räterepublik bestellt war, schilderten mehrere Autoren. Neben Wolfgang Koeppen, deren Worte wir uns bereits bedienten, war es auch der damals noch junge „Weltbürger“ Klaus Mann, der uns eine unschmeichelhafte, allerdings wahrheitsgetreue Charakteristik der Atmosphäre an der Isar hinterließ: „Ich hielt München für die dümmste, langweiligste und provinziellste Stadt der Welt, wahrscheinlich, weil es die einzige war, die

110 Glaser 2002, S. 160161. 111 Tucholsky (Bd.7) 1975, S. 75. 112 Sternburg 1994, S. 242.

52 ich kannte. Außerdem hatte die bayerische Kapitale zu jener Zeit in liberalen Kreisen eine schlechte Presse. München galt als die Hochburg der Reaktion, das Zentrum antidemokratischer Strömungen und Intrigen. Der Herausgeber einer Berliner linken Wochenschrift präsentierte alle Nachrichten aus der Isarstadt unter der Schlagzeile: „Aus dem feindlichen Ausland“. Die Münchener ihrerseits waren davon überzeugt, daß Berlin von einer Bande jüdischer Schieber und bolschewistischer Agitatoren regiert werde.“ 113 Heinrich Mann, der seinem Neffen zustimmte, fasste sich kurz: „Ich habe die Überzeugung, daß München derzeit die von der gesamten deutschen Bildung und anständigen Gesinnung verachtetste Stadt ist.“114 Die letzten Überreste der Weltstadt zu beseitigen, war man an der Isar seit dem Bürgermeister Karl Scharnagl bemüht. Die „Hochhaltung alter Bräuche“ fordernd 115 , ging man rasch auf Provinzialitätskurs – nicht zuletzt in Begleitung von allerlei „Emanationen deutscher Wartburgluft“: „Blick ich umher in diesem edlen Kreise, welch hoher Anblick macht mein Herz erglühn! So viel der Helden, tapfer, deutsch und weise, ein stolzer Eichwald, herrlich, frisch und grün“ 116 , hätte Wagners Wolfram anstimmen müssen, wäre er in den ScharnaglJahren an der Isar angekommen. Nicht zufällig blieb dem ehemaligen „IsarAthen“ vorbehalten, jenen Kräften ein Zuhause zu gewähren, die unter der Führung des Kleinbürgers Hitler der Weimarer Republik samt deren Gedankengut einen entschlossenen Kampf angesagt hatten. München avancierte allmählich zur „Keimzelle“ der nächsten „WartburgZeit“, ohne dabei auf den Ruf einer Kulturstadt verzichten zu wollen. Im Gegenteil – man pflegte an der Isar vor ebenso wie nach dem Anbruch dieser neuen „WartburgZeit“ auf die Kultur zu pochen. Doch es handelte sich dabei um jene „Kultur“, über die Thomas Mann als über einen Gegensatz zur „Zivilisation“ sprach und unter deren Banner das wilhelminische Kaiserreich, diese alte „Wartburg“, 1914 ins Feld gezogen hatte. Nur zwanzig Jahre später sollte die Stadt an der Isar unmissverständlich demonstrieren, was für eine Kulturauffassung hier schon seit dem Anfang der Weimarer Epoche – der Stadt an der Spree zum Trotz – die Wurzeln schlug: „In einem größeren Münchner Lichtspieltheater entstand am vergangenen Samstag während der

113 Mann 1989, S. 96. 114 Sternburg 1994, S. 242243. 115 Vgl. ebenda, S. 240. 116 Tannhäuser , 2.Aufzug.

53 Abendvorstellung ein Tumult, da das Publikum den vorgeführten Film „Ein Mädel aus Wien“ energisch ablehnte. Ein Augenzeuge berichtet uns folgendes: „ [...] Einzelne Szenen des Films waren so widerlich und undeutsch, daß das Publikum seiner Entrüstung offen Ausdruck gab; eine Anzahl von Theaterbesuchern verließ die Vorstellung bereits vorzeitig. Das übrige Publikum konnte schließlich nicht mehr an sich halten und erhob sich ostentativ unter lauter Zurufen. Aus der Menge hörte man rufen: „Deutsche, raus aus dem Judenfilm!“ – „Zeigt deutsche Filme!“ – „München ist Kunststadt und will keinen Kitsch sehen!“ usw. Die Vorführung mußte abgebrochen werden [...] .““ 117 Ebensolcher Skandale sah die Stadt an der Isar eine ganze Reihe (und letzten Endes nicht nur sie), seitdem hier die „Weißen“ ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatten. (Um der Fairness willen darf man allerdings jene „Übergangsperiode“ nicht unbeachtet lassen, die Bayern und München den „Schwarzen“ zu verdanken hatten. Nannte Golo Mann Bayern das „Land der extremen Rechten“, München dann ein „Zentrum des bayerischen Widerstandes, wie einer gesamt deutschen Verschwörung gegen die Berliner Demokratie“, so tat er das in Bezug auf die Wirren der unmittelbaren Nachkriegszeit sowie auf die Geschehnisse der ScharnaglJahre. 118 Hinsichtlich der Zeit von Hitlers „Machtergreifung“ sah er sich jedoch gezwungen zu schreiben: „Die stärkste Opposition kam aus Süddeutschland, vor allem aus Bayern. Hier hatte die regionale Abart des Zentrums, die „Bayerische Volkspartei“, seit neun Jahren ein gemäßigtes, zunehmend vernünftiges Regiment geführt, und hier war der Widerstand ein zugleich staatlich und religiös akzentuierter [...]. So hatten die Dinge seit 1923 sich umgekehrt. Berlin war damals bereits unter der Diktatur des Österreichers eine Höhle des Unrechts, München aber noch ein Hort der Ordnung.“ 119 In Anbetracht der Rolle, die die bayerische Landeshauptstadt in der Entstehungszeit von Hitlers Partei spielte; in Anbetracht der Rolle, die ihr während der neuen „WartburgZeit“ beschieden sein sollte, erscheint uns dennoch unmöglich, sie nicht die „Wartburg der Wartburgen“ zu nennen – ohne falsch generalisieren zu wollen.) Doch es war nicht nur München, das zu einer „Wartburg“ avancieren bzw. zu einer Provinzstadt „unterhalb der Wartburg“ degenerieren sollte. Beinahe wortwörtlich blieb dieses Los der Goethe und SchillerStadt Weimar vorbehalten (wenn wir uns ihre ziemliche Nähe zu Eisenach vergegenwärtigen). Die Hochburg der deutschen Klassik, wo nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg Deutschlands erste Demokratie den Anfang genommen hatte, galt nach wie vor als eine der Kultstätten des

117 Wulf III. 1983, S. 430431. 118 Vgl. Mann 1992, S. 682 ff. 119 Ebenda, S. 817.

54 deutschen Bildungsbürgertums. Die Väter der neuen Republik, deren Name mit demjenigen von Weimar verbunden bleiben sollte, hatten sich hier seinerzeit an der Quelle jener Ideale gefühlt, die das Regiment der Hohenzollern hatte in Vergessenheit geraten lassen. Doch sie hatten vergessen, die (tatsächliche sowie sinnbildliche) Nähe der Goethe und SchillerStadt zur Wartburg in Betracht zu ziehen. An der Spree, wo man der „westlichen“ Welt Tür und Tor geöffnet hatte, konnte man zumindest in den Erfolgsjahren der Republik auf eine Wiederbelebung der halbvergessenen Ideale hoffen (Sebastian Haffner sollte sich erinnern: „Bei den Besten der deutschen Jugend von 19251930 bereitete sich damals in aller Stille etwas sehr Schönes, sehr Zukunfsträchtiges vor: ein neuer Idealismus jenseits des Zweifels und der Enttäuschung; eine zweite Liberalität, die weiter, umfassender und reifer war als der politische Liberalismus des 19. Jahrhunderts; ja, vielleicht sogar die Grundlagen einer neuen Vornehmheit, einer neuen Aristie, einer neuen Ästhetik des Lebens. Das alles war noch weit davon entfernt, Wirklichkeit und Macht zu werden; es war noch kaum Gedanke und Wort geworden, als die Quadrupeden kamen und alles zertrampelten.“ 120 ); nicht so in Weimar bzw. in der thüringischen Provinz, wo die „Quadrupeden“ bald das Sagen hatten. Nicht von Anfang an, wie es z.B. Walter Gropius’ BauhausProjekt belegte, das unmittelbar nach dem Ende der alten „WartburgZeit“ dank dem Beistand der thüringischen Unabhängigen Sozialdemokraten Wirklichkeit geworden war. Doch nicht einmal unter einer linksorientierten Regierung wurde die Goethe und SchillerStadt jene deutschnationalen Kleinbürger los, die sie einst zu einer Kultstätte der deutschabendländischen „Kultur“ gemacht hatten, die sich auch jetzt skrupellos sowohl Goethes und Schillers als auch Herders bedienten und die das GoetheJubiläum von 1932 in einen „Sängerkrieg auf der Wartburg“ umwandeln sollten: „Wir danken dir, das du warst, wie du warst; wir lieben dich, weil du warst, wie du warst; wie folgen dir, weil du warst, was du warst, was du für immer sein wirst: Mittler menschlicher Größe, Güte, Weisheit und Gerechtigkeit, Mittler ewig lebendiger Natur, Mittler zu Gott in der reinsten, in der demütigsten und zugleich selbstbewußttätigsten und damit in der wertvollsten Form und Fülle, die sich je der uns zeitnahe Menschengeist in edelstem Ringen mit sich selbst erkämpft hat“ 121 , besang Hans Wahl den Faus tDichter. Übertroffen wurde er nur von Julius Petersen, zu dessen Rede sich Thomas Mann, fast ein Tannhäuser unter lauter Wolframs und Biterolfs, äußern sollte: „Ich hörte die Rede des Prof. Julius Petersen, des Germanisten und Literaturhistorikers der Berliner Universität. Das

120 Haffner 2001, S. 77. 121 Winkler, Camman 1997, S. 219.

55 Erfreulichste war der Gesang der Thomaner aus Leipzig. Ich habe sie zum ersten Mal gehört in ihrer Reinheit und Nuanciertheit. Ihr Gesang war mir lieber als die ganze Rede.“ 122 Was der Buddenbrooks Dichter über den Gefeierten zu sagen hatte, sollte er vor den Berliner (Kunst) Akademikern formulieren – um dafür prompt mit dem Lohn eines Tannhäuser belohnt zu werden: „Zum Höllenpfuhl zurückgewandt Sei er gefehmt, sei er gebannt!“ 123 Thomas Mann blieb vorbehalten, das TannhäuserLos erst nach dem Anbruch der neuen „WartburgZeit“ zu teilen; dagegen musste Walter Gropius mit seinen Bauhäuslern bereits 1925 der Goethe und SchillerStadt den Rücken kehren (nachdem hier die „Wartburg Parteien“ die Oberhand gewonnen hatten). Aus Weimar vertrieben, wo es für die „Nonkonformisten“ keinen Platz mehr gab, hoffte Gropius in Dessau eine Zuflucht gefunden zu haben, doch auch hier sollte er falsch liegen. In Dessau war es um die Kultur ebenso bestellt wie in den anderen Provinzstädten: „Im Augenblick, wo eine künstlerische Institution von den Kommunalbehörden in der Provinz oder Landesbehörden in der Provinz abhängt, ist es mit ihr aus: sie gerät widerstandslos in den reaktionären Muff engstirniger Kleinbürger; freiheitliche Männer werden gekündigt, herausgeekelt, herausgeworfen, und weil der manchmal großzügig denkende Fürst fehlt, der so oft Schöpfer der Landes oder Städtekultur gewesen ist, so herrscht der kleinliche Provinzler absolut“ 124 , erläuterte Kurt Tucholsky. Er gab zwar die Existenz der Ausnahmen zu, doch die schienen weder in Dessau, noch in Weimar von Bedeutung. Die Goethe und SchillerStadt, wo Deutschlands erste Demokratie ihren Anfang genommen hatte, wurde unter dem Regiment der deutschnationalen Kleinbürger zu einer Stadt der biederen „Wolframs“ und kämpferischen „Biterolfs“, von woher kein „Segen“ mehr kam (wie Gerhart Hauptmann noch 1928 glauben wollte 125 ), sondern nur noch die Botschaft jener Kleinlichkeit und Mittelmäßigkeit, die die neue „WartburgZeit“ mit prägen sollten. Wie „gut“ es um Weimar, die Stadt, wo Thomas Mann eine „Vermischung von Hitlerismus und Goethe“ beobachtete 126 , in jenen Jahren stand, die an der Spree die „Zivilisation“ florieren ließen, und von welcher Bedeutung diese Stadt für die Deutschnationalen war, als sie gegen diese „Zivilisation“ einen Kampf führten, das sollte die neue „WartburgZeit“ selbst erklären: „Weimar ist mit dem Führer und der Geschichte der

122 Ebenda, S. 219. 123 Tannhäuser , 2.Aufzug. 124 Tucholsky (Bd.6) 1975, S. 71. 125 Vgl. Hauptmann 1996, S. 796 ff. 126 Winkler, Camman 1997, S. 220.

56 Bewegung aufs engste verbunden. Hier wurde das sogenannte krampfhaft aufgerichtete „Weimarer System“ der Novemberdemokratie mit am schnellsten und gründlichsten überwunden. Schon im Jahre 1924 nimmt die Bewegung Adolf Hitlers entscheidend Einfluß auf die Regierungsgesetze. Seit der Neugründung der Partei im Jahre 1926 gewann der Nationalsozialismus in Thüringen seine Vormachtstellung. Am 3. Juli 1926 fand hier der erste Reichsparteitag statt. 1930 wurde der jetzige Reichsminister Parteigenosse Dr. Frick thüringischer Innen und Volksbildungsminister. 1932 konnte bereits auf Grund eines überwältigenden Wahlergebnisses eine rein nationalsozialistische thüringische Regierung aufgestellt werden.“ 127 Es waren natürlich nicht nur München und Weimar, wo die Deutschnationalen das Lager aufschlugen. Als er in Frankfurt am Main mit dem GoethePreis gekrönt wurde, sprach Gerhart Hauptmann über mehrere Stätten, die ihm (ebenso wie den Deutschnationalen) als deutsche „Nationalheiligtümer“ galten – neben der Geburtsstadt des Faust Dichters nannte er Eisenach, Marbach und Bonn, die sich der Namen von Bach, Schiller und Beethoven rühmen konnten. Hauptmanns Vokabular unterschied sich hier kaum vom Vokabular des deutschen Bildungsbürgertums, das diese Stätten einst vereinnahmt hatte und das 1918 selbst das wilhelminische Kaiserreich überdauerte, um sich allmählich jenen Kräften zu fügen, die vom Begriff des „Nationalheiligtums“ ebenfalls viel Gebrauch zu machen pflegten. Es war in den meisten Fällen gerade dieses Bildungsbürgertum, das Hauptmann im GoetheHaus zuhörte. Kurt Tucholsky machte dieser Gesellschaftsschicht den Vorwurf, sich einer vergangenen Epoche verschrieben zu haben, zu den „Kleinstädtern der Zeit“ geworden zu sein: „Die Welt ist erfüllt von Kleinstädtern der Zeit, von Leuten, die nie aus ihrer Zeit herausgekommen sind, die nichts andres gesehen haben als ihre kümmerlichen siebzig Jahre.“ 128 Wie es um die Einstellung dieser in der Zeit Erstarrten zum Neuen stand, daran zweifelte Tucholsky nicht: „Kleinstädter sind unduldsamer, härter, unnachgiebiger als die Leute in der City. Kleinstädter wissen alles ganz genau, aber wenig von der Relativität, halten zäh fest an dem, was sie einmal für richtig erkannt haben, und lassen nichts außerhalb ihrer Mauern gelten. Kleinzeitler desgleichen. Befangen sind sie im Wahn ihrer alleinseligmachenden Zeit.“ 129 Es waren diese Kleinbürger und „Kleinzeitler“, die seit Jahrzehnten nach Weimar, Eisenach, Marbach oder Bonn zu pilgern pflegten, um sich hier dem Glauben an die Überlegenheit der deutschabendländischen „Kultur“ hinzugeben und zugleich gegen die Stadt an der Spree zu

127 Wulf I 1983, S. 390391. 128 Tucholsky (Bd.10) 1975, S. 183. 129 Ebenda, S. 184.

57 hetzen, wo man diese Kultur zugunsten der „Zivilisation“, den Geist zugunsten des Körpers, die Dichtung zugunsten der Literatur, die Volksgemeinschaft zugunsten der Gesellschaft „verraten“ zu haben schien. Um Richard Wagner nicht unbeachtet zu lassen – nicht zuletzt versammelten sich diese antizivilisatorischen Mächte in Bayreuth, wo die Kunst ebenfalls zum Kultus und Kunststätte zur Kultstätte umfunktioniert worden waren. Während auf der Festspielhausbühne der Landgraf die Minnesänger lobte, „Tugend“ und „holde Sitten“ gepriesen zu haben, Hans Sachs für die „heilige deutsche Kunst“ plädierte und die GibichMannen aufmunterte, „nach Germanen Art zu zechen“ 130 , bildete sich im Zuschauerraum unter der Mitwirkung der Ideologen wie Houston S. Chamberlain oder Dietrich Eckart, die sich in der Villa die Klinke in die Hand zu geben pflegten, eine (Volks) Gemeinschaft, die sich für einen Gegensatz zur Gesellschaft der „undeutschen“, „verjudeten“, „kulturbolschewistischen“ Stadt an der Spree hielt. „Ein Volk in der Masse ohne bestimmte Form des Geschmacks, im ganzen unberührt von der moralischen und ästhetischen Verfeinerung benachbarter Kulturländer, philosophisch von konfuser idealistischer Begrifflichkeit, prosaistisch dumpf und unpointiert, ein Volk der Praxis mit dem – wie seine Entwicklung lehrt – alleinigen biologischen Ausweg zur Vergeistigung durch das Mittel der Romanisierung oder der Universalisierung [...] “131 , äußerte sich Gottfried Benn zu dieser Gemeinschaft, die bereits 1924 ihrer Überzeugung Ausdruck verliehen hatte, als sie Wagners Lobgesang an die deutschen Meister aus dem Finale der Meistersinger von Nürnberg um das Deutschlandlied „erweitert“ hatte. 132 Die WagnerStadt schien übrigens eine „Wartburg“ par excellence zu sein – keine andere Stätte in Deutschland sollte nach dem Anbruch der neuen „WartburgZeit“ dem neuzeitigen „Landgrafen“ eine bessere Bühne zur Selbstdarstellung anbieten als jenes Haus auf dem „Grünen Hügel“, wo die „Volksgemeinschaft“ (natürlich aber nicht nur sie) zusehen konnte, wie die wütende Wartburg über den sich zu einem Aufenthalt im Venusberg, im „paradis artificiel“ der Franzosen, bekennenden Tannhäuser herzufallen drohte: „Er hat der Hölle Lust geteilt, im Verbrechen hat er geweilt! – Entsetzlich! Scheußlich! Fluchenswert! In seinem Blute netzt das Schwert!“ 133

130 Vgl. oben, S. 30. 131 Glaser 2002, S. 158. 132 Vgl. unten, S. 8384. 133 Tannhäuser , 2.Aufzug.

58 Kurz gefasst: Die deutsche Provinz, außer dem eigentlichen Lande auch jene kleineren und kleinen Städte, die sich einer kulturellen Tradition zu rühmen pflegten, blieb von der Welle der „Verwestlichung“, der „Amerikanisierung“, wie sie seit dem Anfang der 20er Jahre Berlin oder andere Großstädte (ausgenommen München) erlebten, vielerorts fast unberührt. Während man sich an der Spree der „Zivilisation“ samt deren Begleiterscheinungen wie Demokratie, Toleranz gegen die Andersdenkenden und „Ellenbogenfreiheit“ zuwandte, wurde in Weimar oder Bayreuth nach wie vor die „Kultur“ beschworen, die mit der alten „Wartburg Zeit“ verbunden war und die auch mit der künftigen, diese Bezeichnung zu verdienenden Epoche im Einklang stehen sollte. Zwar gab es auch in diesen Städten Ausnahmen, die um eine „Verwestlichung“ dieser Kultstätten des deutschen Bildungsbürgertums bemüht waren, doch über den Ausgang ihrer Mühsal machte sich z.B. Kurt Tucholsky keine Illusionen: „Wie da gerungen wird; wie da versucht wird, das Gute von außerhalb zu adoptieren und das Eigne zu bewahren – und wie aussichtslos das alles ist, wie uneinheitlich, wie durchsetzt mit Romantik, Phrase, verhülltem Katholizismus (der gefährlicher ist als der offene) – machtlos verbluten diese kleinen Gruppen unter den Mächtigen der Stadt und der Provinz.“ 134 Dank diesen „Mächtigen“ gelang es der Weimarer Republik nicht, durch die Einführung einer einigenden demokratischen Ideologie den Abgrund zwischen der Großstadt und der Provinz zu überbrücken, der sich am Anfang des Industrialisierungsprozesses geöffnet hatte und im Laufe der Zeit nur noch tiefer geworden war. Vielmehr nahm die traditionelle Abneigung der Provinzler gegen die (Groß) Städter damals markanter denn je die Gestalt der Abwehr einer von außen aufgezwungenen, „undeutschen“ Lebens und Kulturauffassung. Während man in der Großstadt, in erster Linie in Berlin, vergessen zu haben schien, was die „Kultur“ war, um deren willen sich das wilhelminische Kaiserreich gezwungen gesehen hatte, gegen die ganze (vom „Westen“ gesteuerte) Welt kämpfen zu müssen; während man an der Spree dieselbe „Luft“ wie in Paris zu atmen schien, pochte man in der Provinz auf die traditionellen Werte der deutschabendländischen Welt. Es war konsequenterweise diese Landschaft „unterhalb der Wartburg“, von woher jene „Quadrupeden“ kamen, die, wie sich Sebastian Haffner erinnern sollte, (nicht nur) die pariserische Welt der Reichshauptstadt Berlin zertrampelten 135 – unter anderem unter der Berufung auf die Wiederherstellung der deutschen „Kultur“, der deutschen Sitten und des deutschen Stolzes. Zusammenfassend können wir wohl sagen, dass die gesellschaftliche Spaltung, die in der Weimarer Republik zum Vorschein kam, solcher Art war, die eine deutliche Parallele mit

134 Tucholsky (Bd.6) 1975, S. 7172. 135 Vgl. oben, S. 55.

59 der gespaltenen Welt von Wagners Tannhäuser erkennbar machte. Bei dem Tannhäuser Dichter geht es zuerst um einen Konflikt zweier miteinander unvereinbaren Welten, wobei die erste von ihnen, nämlich die Welt der Venus, negativ zu beurteilen, während die zweite, d.h. die Welt der Wartburg, als eine Darstellung des Positiven, in Wagners Fall des Deutschen, anzusehen ist. Sich der Welt der Venus zuzuwenden, bedeutet für Tannhäuser die Gefahr einer allgemeinen Verachtung, schlimmstenfalls sogar eines gewaltsamen Endes zu laufen; sich für die Welt der Wartburg zu entscheiden, verspricht ihm dagegen die Anerkennung zu bringen. Da diesem Wagnerschen Drama eine reale Welt zu Grunde liegt, können wir eine solche Auseinandersetzung zweier gegenüberstehenden Welten auch auf die Weimarer Epoche, d.h. auf Fehlings Zeitalter projizieren: Während der Tannhäuser Dichter unter der Bildmetapher „Venusberg“ das „paradis artificiel“ der Franzosen verstanden hatte, das er bereits 1839 bei seinem ersten Besuch in Paris kennen gelernt hatte (wobei diese Stadt noch Jahrzehnte nach Wagners Tod die Gültigkeit eines VenusbergVorbilds behielt, wie es die zahlreichen Berichte von Fehlings Zeitgenossen belegten), bot die Welt der Reichshauptstadt Berlin, wo Fehling seine WagnerInszenierungen dem Publikum vorstellte, zumindest in den erfolgreichen Jahren der Weimarer Republik, in deren sog. „Pariser Jahren“, ein Bild an, das man aus Wagners Oper zu kennen glaubte. Was der Tannhäuser Dichter in seinen Venusberg verschlüsselt hatte, nämlich die mondäne Lebensweise der Stadt an der Seine (bzw. diejenige der ganzen französischen Welt), das sahen die 20er Jahre an der Spree florieren. Ebenso wie im Tannhäuser , wo den Befürwortern dieser Lebensweise, d.h. denjenigen, die im Venusberg die Zuflucht suchen, ihre erbitterten Gegner gegenüber stehen, gab es auch in der Weimarer Republik nicht nur diejenigen, die der Welt der „westlichen“ Zivilisation Tür und Tor weit geöffnet hatten, um auf ein Leben außerhalb sämtlicher Konventionen hoffen zu können, sondern auch jene, die an der „Kultur“ der alten „WartburgZeit“ nach wie vor festhielten. Während in Wagners Oper die Gemeinschaft, die sich der Welt der „Zivilisation“ verweigert, auf der Wartburg den Hof führt, bauten sich die Abendlandgläubigen der Weimarer Epoche ihre kleinen „Wartburgen“ in der Provinz auf, in den Städten wie München, Weimar oder Bayreuth, um dort eben jene Werte zu beschwören, über die man sich in Berlin hinwegsetzte. Von der Provinz aus wurde dann gegen die „verwestlichte“ Reichshauptstadt jener Kampf geführt, den bei Wagner die Wartburg dem Venusberg ansagt. An den Höfen der kleinen Landgrafen, mochten sie Scharnagl oder anders heißen, klatschte die Volksgemeinschaft, über deren Gesinnung sich z.B. Gottfried Benn keine Illusionen machte, jenen Künstlern, jenen braven „Wolframs“ und „Biterolfs“ Beifall, deren Kunst ein Lobgesang an „Tugend“ und „holde Sitten“ war, während für die „Literaten“ aus Berlin, wenn sie von sich hören ließen,

60 lediglich Verachtung und Vorwürfe des „Kulturbolschewismus“ übrig blieben. Was unter der „Kultur“ zu verstehen war, darüber stritt Berlin mit dem „platten Land“ ebenso heftig wie darüber, welche Ideologie, welche Kulturauffassung die richtige war. Wenn wir also auf die Frage aus dem Anfang dieses Subkapitels zurückkommen, ob Jürgen Fehling in seiner Zeit die Rolle des Wagnerschen Tannhäuser spielen konnte, müssen wir bestätigen, dass ihm die innerlich gespaltene Weimarer Republik dafür die bestmöglichen Voraussetzungen schuf. Doch Wagners Oper schildert nicht nur eine Auseinandersetzung zweier geistigen Gegenwelten, die in der Weimarer Epoche durch den Konflikt zwischen den Anhängern der „Kultur“ auf der einen und denjenigen der „Zivilisation“ auf der anderen Seite versinnbildlicht wurde, sondern auch eine Auseinandersetzung eines Künstlers mit einer (totalitären) Gesellschaft. Kommen wir jetzt, bevor wir uns mit Fehlings Tannhäuser Inszenierung von 1933 beschäftigen werden, auf die Problematik der Kunstrezeption in der Weimarer Republik sowie unmittelbar nach dem Anbruch der neuen „WartburgZeit“ zu sprechen. Fragen wir, ob es hier eine Spaltung gab, die mit der Spaltung der Gesellschaft dieser Republik vergleichbar gewesen wäre, und wenn schon, welcher Partei Fehling zuzuordnen gewesen wäre. Stellen wir uns daher die Frage, was die Gesellschaft der Weimarer Epoche und was die Gemeinschaft der darauf folgenden NSZeit vom Künstler erwarteten, was sie von ihm verlangten, um das Bild eines zwischen zwei Welten zerrissenen Tannhäuser zu Ende bringen zu können. * Womit Tannhäuser auf der Wartburg nichts anzufangen weiß, ist jener Sittenkodex, den er für verlogen hält, den jedoch einzuhalten, für den sogar in den Kampf zu ziehen, der Landgraf, diese Verkörperung der „ordnenden, gebietenden sowie verbietenden Staatsmacht“, die Wartburger Gemeinschaft verpflichtet. Nicht zuletzt fordert er die Minnesänger, hier die Repräsentanten der (Dicht) Kunst, auf, sich zu den gegebenen Werten zu bekennen. Zwar tut er es unter vielen Lobsprüchen, wenn er etwa auf „Tugend“ und „holde Sitten“ zu sprechen kommt, um deren Sieg sich diese bereits verdient machten, doch zugleich legt er ihnen die Erwartung nahe, dass sie den genannten Werten auch in der Zukunft „einen herrlich schönen Sieg“ erkämpfen werden. Was die Macht von den Künstlern erwartet, das erwarten von ihnen auch diejenigen, die dieser Macht hörig sind. Von der festgelegten Linie abzuweichen, bedeutet für den Abweichler konsequenterweise nicht nur dem Zorn der Wartburg preisgegeben zu werden, sondern auch dem Groll der gesamten Gemeinschaft, die unterhalb dieser Wartburg angesiedelt ist. Mehr noch – von der gegebenen Linie abzuweichen, bringt dem Abweichler die Gefahr, einer Fahnenflucht bezichtigt zu werden. Dieses Verbrechen

61 einem Künstler vorzuwerfen, setzt voraus, das Künstlertum mit dem Soldatentum, die Kunst mit dem Dienst gleichgesetzt zu haben. Das tut der Landgraf ganz offensichtlich, wenn er in seiner Ansprache, die das Sängerfest auf der Wartburg einleitet, den Sieg im Kampf für „des deutschen Reiches Majestät“ mit dem Sieg der „Tugend“ und der „holden Sitten“, der „Anmut“ und des „reinen Glaubens“ (also mit dem Sieg einer als verbindlich gesehenen Ideologie) gleichsetzt. Die Minnesänger, denen das Letztgenannte zu verdanken ist, spielen hier dieselbe Rolle wie ihre geharnischten Zuhörer (nur mit dem Unterschied, dass sie sich dabei einer Harfe statt eines Schwertes zu bedienen pflegen – ohne jedoch das Schwert völlig in Vergessenheit geraten zu lassen, wie davon insbesondere Biterolfs säbelrasselndes Lied Zeugnis ablegt) – sie stehen an Wartburgs Hof mit denjenigen „in Reih’ und Glied“ 136 , die das Schwert der Harfe vorzuziehen pflegen: „Wenn unser Schwert in blutig ernsten Kämpfen stritt für des deutschen Reiches Majestät, [...] so ward von euch nicht mindrer Preis errungen. Der Anmut und der holden Sitte, der Tugend und dem reinen Glauben erstrittet ihr durch eure Kunst gar hohen, herrlich schönen Sieg.“ 137 Wenn den Künstlern dieselben Verdienste wie den Soldaten zugesprochen werden, obliegt ihnen auch dieselbe Pflicht, nämlich für die Macht zu streiten, der sie die Anerkennung zu verdanken haben. Die „WartburgZeit“, die 1933 mit Hitlers „Machtergreifung“ den Anfang nahm, stand ihren Künstlern ebenso gegenüber, wie es bei dem Wagnerschen Landgrafen der Fall ist, d.h. sie billigte ihnen denselben Status, dieselbe Rolle zu wie denjenigen, die „für des deutschen Reiches Majestät“ auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs Blut vergießen sollten. „Mit seinen Soldaten schafft der Führer das Reich, mit seinen Baumeistern meistert er den gewonnenen Raum – und mit Euch, durch Eure Wortgewalt, ist er gewillt, in die Geschichte einzugehen“ 138 , erklärte Hanns Johst diese neue Rolle den Schriftstellern, die sich (nicht

136 Siehe unten, S. 5960. 137 Tannhäuser , 2.Aufzug. 138 Wulf I 1983, S. 285.

62 zufällig) in der Goethe und SchillerStadt Weimar unweit von Eisenach versammelt hatten. Hans Schwarz fasste sich in dieser Hinsicht kurz: „Dichter muß in Reih’ und Glied wie Soldaten wandern.“ 139 Was daraus für den einzelnen Künstler resultierte, legte in Bezug auf das Theater Wilhelm von Schramm nahe: „Schon der Parteigrundsatz „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ bedingt ja eine völlige Stiländerung des gesamten deutschen Theaterlebens. [...] Er fordert Selbstlosigkeit und Gemeinsinn, der auch in den Theatern wirksam werden und eine neue Spielgemeinschaft bringen muß. [...] Denn jeder einzelne Künstler, und selbst der größte, tritt nach nationalsozialistischen Grundsätzen wieder in Reih und Glied und fügt sich der Körperschaft und Gemeinschaft, der er verpflichtet ist, ein, damit er dort seine Aufgabe und seinen Auftrag zum Besten des großen Ganzen erfüllen kann.“ 140 Selbstlosigkeit und Gemeinsinn – woran Wagners Tannhäuser scheitert (nämlich an seinem Unwillen, sich selbst zugunsten der WartburgGemeinschaft und deren Kunstauffassung zu verweigern), daran scheiterten nach 1933 viele deutsche Künstler, nicht zuletzt viele Schriftsteller, die den kategorischen Erfordernissen der neuen „ordnenden, gebietenden, in erster Linie jedoch verbietenden Macht“ nicht gerecht werden konnten. Wie es um das Künstlertum nach dem Anbruch der neuen „WartburgZeit“ bestellt war, hatte bereits in der Weimarer Epoche Erwin Guido Kolbenheyer vorweggenommen – einer der Schriftsteller aus dem „platten Land“, die bis dahin auf den kleinen „Wartburgen“ in der Provinz ihr Wesen getrieben hatten und, wie Alfred Döblin später schrieb, nach Berlin lediglich darum gereist waren, um hier, vor der Preußischen Akademie der Künste, Hetzreden gegen die an der Spree angesiedelten „Zivilisation“ zu halten: „Wie der einzelne Soldat überall dort, wo er im Angriffe steht und kämpft, nicht sein eigenes Dasein schützt – diesen Schutz würde er besser im Unterstande haben –, sondern für seines ganzen Volkes Schutz sein Leben einsetzt, ebenso hat jeder Mensch im Augenblick des Schaffens für sein Volk und durch sein Volk für die ganze Menschheit einzustehen. [...] Auch der Dichter ist nur ein Funktionsexponent seines Volkes, er hat seine biologische Aufgabe wie jeder andere Mensch zu erfüllen. Erfüllt er sie nicht, dann mißbraucht er das Talent, das ihm aus dem Lebenskampfe seiner Vorfahren als ein verpflichtendes Erbe überkommen ist.“ 141 Bereits die innerlich gespaltene Weimarer Epoche hatte also Reden über Soldaten und Kämpfe erfahren, die nicht der Reichswehr, sondern den Künstlern bestimmt gewesen waren – die neue „WartburgZeit“ machte diese Reden lediglich salon oder vielmehr hoffähig.

139 Ebenda, S. 285. 140 Wulf III 1983, S. 143. 141 Kolbenheyer 1978, S. 242243.

63 Ähnlich dem Wagnerschen Vorbild brachte sie nämlich eine „Wartburg“ mit, einen „Hof“, der die Künstler in „Reih’ und Glied“ zu zwingen hatte. 142 Die Weimarer Epoche, jetzt mit den Schmähworten wie „Systemzeit“ überhäuft“, war das Wagnis eingegangen, den Künstlern, vor allem aber den Schriftstellern, mehr Autonomie zu gewähren, als es bisher der Fall gewesen war. Im Unterschied zur alten „WartburgZeit“, wo sich Wilhelm II., vielmehr eine Karikatur des Wagnerschen Landgrafen als dessen neuzeitige Wiederbelebung, das Recht hatte anmaßen können, nicht nur über die Grenzen der Kunst zu entscheiden, sondern auch über die Künstler selbst zu verfügen, hatte sich die Weimarer Republik , in erster Linie aber das Land Preußen, ideologisch stark genug geglaubt, um den Schriftstellern – sowohl den geachteten „Dichtern“ als auch den geächteten „Literaten“ – den Status einer Institution zu verleihen. Wie mutig dieser Schritt, dessen Resultat die Sektion für Dichtkunst an der Preußischen Akademie der Künste dargestellt hatte, gewesen war, hatte Heinrich Mann sofort eingesehen: „Wenn [...] der Staat gerade Schriftsteller in seine Organisation aufnimmt und sie mit manchen Befugnissen einer Behörde ausstattet, dann übt er sogar einige Selbstentäußerung. Denn er weiß doch, daß Schriftsteller zumeist innerlich aufsässige Menschen sind, es immer waren und sich kaum werden ändern können. Gerade weil er dies einsah, hat der alte preußische Staat sich gehütet, es mit einer sogenannten Dichterakademie aufzunehmen. Der neue war mutiger.“ 143 Konsequenterweise war es nach dem Anbruch der neuen „WartburgZeit“ um die Sektion für Dichtkunst (sowie um die ganze Akademie) getan – zumindest im Fall deren Autonomie und praktischen Bedeutung. Die neue Macht, die sich zum Ziel gesetzt hatte, jede Institution, jedes Individuum der Unabhängigkeit zu berauben, jegliche Kritik zum Schweigen zu bringen, machte vor der Akademie, an deren Anfang der Ehrgeiz des ersten Preußenkönigs gestanden hatte, nicht Halt. Nachdem Heinrich Mann mit Käthe Kollwitz anlässlich der (allerletzten) Reichstagswahlen für die Auflehnung gegen die „WartburgParteien“ geworben hatte, machte die neue Macht Anstalten, die Preußische Akademie der Künste, in erster Linie jedoch deren literarische Sektion, endgültig loswerden zu wollen. 144 Doch dieser Schritt erübrigte sich, nachdem die Akademie – durch den Ausschluss bzw. Abgang ihrer namhaftesten Mitglieder jeglichen Prestiges verlustig gegangen – zum Hort jener „Dichter“ degeneriert hatte, über deren künstlerischen Werdegang der Heinesche Tannhäuser, aus Rom über Deutschland in den Venusberg zurückgekehrt, seine Gefährtin unterrichtet hatte:

142 Vgl. in dieser Hinsicht z.B. TrevorRoper 1995, S. 53ff. 143 Mann 1960, S. 318319. 144 Vgl. Craig 1980, S. 568 ff.

64 „In Schwaben besah ich die Dichterschul, Gar liebe Geschöpfchen und Tröpfchen! Auf kleinen Kackstühlchen saßen sie dort, Fallhütchen auf den Köpfchen.“ 145 Statt Akademien zu fördern, baute die neue „WartburgZeit“ einen Hof aus; statt „Akademiker“ auszuzeichnen, überhäufte sie jene „Höflinge“ mit Preisen, die Alfred Döblin desselben „Feudalismus“ bezichtigte, den man mit der Wagnerschen Wartburg zu verbinden pflegte: „Diese Autoren haben eine Problematik und wählen Stoffe, welche bestimmt nicht aus dem scharfen und nahen Heute stammen. Feudalität geht viele Jahrhunderte zurück in die Zeit des frühen und späten Mittelalters, [...] in eine Zeit, wo man höfisch gebunden auf strenge Klassenstufung achtete. Solcher Vergangenheit hingen und hängen noch heutige deutsche Schreiber an, oder: solche Vergangenheit hängt ihnen an. Sie gefallen sich darin, bewegen sich hier und fühlen sich hier mehr zu Hause als in der Zeit, die ihnen ihr Kalender ansagt. Sie sind damit nicht Ritter und Minnesänger, [...] aber man neigt dazu, so zu denken und zu schreiben.“ 146 Zwar gab es unter all diesen eingebildeten Wolframs und Biterolfs, zu denen Döblin z.B. Rudolf Borchardt oder Stefan George zählte, in Bezug auf die neue Macht auch Bedenken (schließlich war eines der Schlagworte dieser Macht die sog. Volksgemeinschaft, für die die hierarchisch denkenden, einer vergangenen Epoche verschriebenen „Feudalen“ nichts übrig haben konnten), doch letzten Endes zeigten sie sich empfänglich genug, um Will Vesper Gehör zu schenken, als dieser für eine feste Verbindung von Kunst und Staat warb: „Gewiß, wir brauchen schleunigst und endlich eine berufene und umfassende Organisation des deutschen Schrifttums, in der jeder deutsche Schriftsteller Mitglied sein muß, nicht nur zur Wahrung seiner Interessen und der seines Standes, sondern zum gemeinschaftlichen Dienst an Volk und Staat.“ 147 Über „Dienst“ und „Dienen“ zu reden, war man unter den „Rittern“ und „Minnesängern“ gewohnt; nicht einmal die Pickelhaube, dieses Symbol der alten „WartburgZeit“, das Alfred Döblin bereits in der Weimarer Epoche hinter den Rufen nach der Wiederherstellung der deutschabendländischen „Kultur“ gewittert hatte, war hier „in diesem edlen Kreise“ (um Wagners Wolfram zu paraphrasieren) in Vergessenheit geraten. Es war nur konsequent, dass viele Geförderte der neuen „Wartburg Zeit“ von eben diesem Kreis her kamen, der sich natürlich auch darüber freute, das Ende der verhassten „Zivilisation“ in Deutschland erlebt zu haben. Nicht zuletzt fanden sich unter

145 Heine 1992, S. 226. 146 Döblin 1989, S. 427. 147 Wulf I 1983, S. 158.

65 diesen Geförderten auch diejenigen vor, die sich unpolitisch zu geben pflegten und es ziemlich gleichgültig fanden, ob sich die Macht das Haupt mit einer Pickelhaube oder mit einem Zylinder deckte (während jene Schriftsteller, denen Döblin das Attribut „progressiv“ vorbehielt – und denen er selbst angehörte –, der „behelmten“ Macht meistens feindlich gegenüber standen: „[...] es finden sich nur wenige unter ihnen, die sich den Machthabern anschließen. Warum? Nicht der Idee wegen, nicht des Abenteuers wegen, sondern weil sie, die an dem morgigen Utopischen, ja sogar Biologischen Gefallen finden könnten, die preußische Pickelhaube auf dem Kopf des neuen Herrenmenschen entdecken und weil sie den Schritt seines Kommißstiefels marschieren hören – und damit verbinden sie die Vorstellung des preußischen Polizeistaates, der sie alle mit Abscheu erfüllt. Diese Gruppe ist im übrigen städtischkosmopolitisch und daher für die Nationalideen selbst in neuer Aufmachung nicht zu haben.“ 148 ) Nicht nur wegen ihres „städtischkosmopolitischen“ Charakters, der zur kleinbürgerlichen Gesinnung der meisten der neuen Machthaber in krassem Widerspruch stand, sondern auch wegen der Art und Weise, in der diese „Progressiven“ mit der Kunst, selbst mit den „allerklassischsten“ Kunstwerken umzugehen pflegten, blieb ihnen das Los der Außenseiter vorbehalten (das demjenigen von Wagners Tannhäuser ähnlich war). Während die Weimarer Epoche den Experimenten freundlich gegenüber gestanden hatte, so dass die Brechts, Feuchtwangers oder Kaisers (die Döblin unter den „Progressiven“ verstand) mit Hilfe von überlieferten Gattungsformen wie Drama, Roman oder Gedicht verschiedene politischgesellschaftliche Themen hatten in Angriff nehmen können und die Interpreten wie Piscator, Jessner oder Fehling (denen die „Pariser Jahre“ eine herausragende Rolle gebracht hatten) die als „klassisch“ gesehenen Werke neu zu deuten versucht hatten; während die Weimarer Epoche jenen Stimmen Gehör geschenkt hatte, die über die „Wirksamkeit“ der Kunst statt über deren „Heiligkeit“ gesprochen hatten 149 , bestand die neue „WartburgZeit“ auf der „Ehrfurcht“, die der Kunst entgegenzubringen war. Jeder Versuch, diesen obligatorischen Respekt zu verweigern, gab den Künstler jener Reaktion preis, die auch Tannhäuser auf der Wartburg erleben muss: „Die Wiederaufrichtung des deutschen Volkes zu der ihm entsprechenden Lebenswirksamkeit innerhalb der Kulturvölker kann sich nur vollziehen, wenn Deutschland aller seiner kulturellen Kräfte mächtig bleibt. Zu ihnen gehört die Ehrfurcht vor seiner Kunst. Ein schöpferischer Mensch, der diese Bindung aus inneren Gründen nicht zu fühlen vermag oder aus äußeren Gründen nicht anerkennen will, steht oder

148 Döblin 1989, S. 435. 149 Vgl. Döblin 1989, S. 245ff.

66 stellt sich unzeitgemäß außerhalb der erhöhten Verantwortlichkeit der Gegenwart, damit aber liefert er sich selbst allen Reaktionen des Gemeinschaftslebens aus, die für ihn stellvertretend die Verantwortung übernehmen, um den Bestand aller aufbauenden Kulturkräfte des Volkes zu wahren. Es wird ein lebenskräftiges Volk seine Ehrfurcht vor der Kunst auch dem schöpferischen Menschen gegenüber zu verteidigen haben, der durch sein Werk dieses tragende Kulturgefühl verletzt.“ 150 Hätte also ein Künstler einen Mangel an „Ehrfurcht vor der Kunst“ erwiesen, war die Gemeinschaft da, um ihn zu maßregeln. Es war nur konsequent, dass es unter der Macht, die Kolbenheyers vorstehende Auffassung teilte, keinen Platz für die „Progressiven“ gab, die sich mit dem „Materialwert“ (um hier von Brechts Terminologie Gebrauch zu machen) jedes einzelnen Werks zu beschäftigen pflegten, statt sich mit einem „schönen Schein“ 151 zufrieden zu geben. Nichts schien der neuen „Wartburg“ mehr am Herzen zu liegen, als sicherzustellen, dass die „anständigen Werke“ auch „anständig“ präsentiert wurden. Neben der „Werktreue“ (die noch dem Regietheater der Nachkriegszeit Schwierigkeiten bereiten sollte) waren es die „holden Sitten“, deren Einhaltung überwacht wurde – auch mit Hilfe der Zensur. Hier konnte die neue Macht allerdings an die „Vorarbeit“ anknüpfen, um die sich ihre Bahnbrecher „verdient“ gemacht hatten. Bereits in der Weimarer Epoche gab es nämlich Tendenzen, Zensur (bzw. Kontrolle) auszuüben, wie davon insbesondere die Geschichte jenes Gesetzes Zeugnis ablegte, das der sog. „Schund und Schmutzliteratur“ Einhalt zu gebieten hatte (über die Bevormundung der modernen Massenmedien wie Rundfunk oder Film gar nicht zu reden). Als die „progressiven“ Künstler den „Materialwert“ der Kunstwerke in Angriff nahmen, ließen manche von ihnen die Schranken fallen, die bisher als unantastbar gegolten hatten – auch im Bereich der Liebe und Gefühle. War die Liebe für all die eingebildeten „Wolframs“ noch „ein Wunderbronnen“, den zu „trüben“ oder sogar „mit frevlem Mut zu berühren“ sie nie gewagt hätten152 , meldeten sich nun viele neue „Tannhäuser“ zum Wort, die für solches Verständnis der Liebe nichts übrig hatten. „Die Verachtung der physischen Liebe muß bekämpft werden, statt dessen muß die Verhimmelung der seelischen Liebe der Verachtung preisgegeben werden“ 153 , forderte z.B. Bertolt Brecht kompromisslos. Was auf diese und ähnliche Aufrufe folgte, glich den Geschehnissen aus dem Tannhäuser beinahe haargenau. Während in Wagners Oper die WartburgGemeinschaft nach den Schwertern greift, um den verwegenen Tabubrecher an der Stelle zu exekutieren, griffen die „Biedermänner“ unter Brechts Zeitgenossen zur Legislative,

150 Kolbenheyer 1966, S. 234235. 151 Vgl. in diesem Kontext Reichel 1991. 152 Vgl. Tannhäuser , 2.Aufzug. 153 Brecht 1992, S. 259.

67 um den neuzeitigen Tabubrechern Einhalt zu gebieten – übrigens kannte die Weimarer Verfassung den Artikel 118, von dem die Empörten ausgehen konnten: „Eine Zensur findet nicht statt, doch können für Lichtspiele durch Gesetz abweichende Bestimmungen getroffen werden. Auch sind zur Bekämpfung der Schund und Schmutzliteratur sowie zum Schutze der Jugend bei öffentlichen Schaustellungen und Darbietungen gesetzliche Maßnahmen zulässig.“ 154 Als der ZentrumAbgeordnete Schreiber für solche Maßnahmen plädierte, bediente er sich eines Vokabulars, von dem auch die spätere „WartburgZeit“ hätte Gebrauch machen können: „Niemals ist die Sorge, daß wir von düsteren Erscheinungen unseres Volkslebens überflutet werden, so aktuell gewesen wie heute und wie jetzt. Es steht in unserem Volke so, daß die Verbreitung von Schmutz und Schund mit einer Zügellosigkeit und auch mit einem gewissen Zynismus so verteidigt worden ist wie in den letzten Jahren, wie in den schweren Erlebnissen der Nachkriegszeit. Es sind leider Kräfte in unserem Volke vorhanden, die die Macht des Erotischen von allen Schranken und sittlichen Hemmungen befreien wollen. Wer so handeln will – das sprechen wir offen aus –, versündigt sich am Wesen des deutschen Geistes und am Wesen deutschen Volkstums. [...] Wir legen gegen diese und andere bedauernswerte Verirrungen in unserem Volke Verwahrung und Einspruch ein. Wir betrachten das ganze düstere Kapitel von Schmutz und Schund als eine Schwächung der deutschen Willenskraft und als abträglich für die deutsche Lebensenergie.“ 155 So donnerte Schreiber, so donnerten viele anderen „Biedermänner“ der Weimarer Epoche, denen die neue „WartburgZeit“ auch zu verdanken war. „Die Leute von gestern“ nannte sie Alfred Döblin abwertend. Was sie anstrebten, war seiner Ansicht nach keine Zensur, für die er unter Umständen Verständnis aufzubringen vermochte (weil er sie für eine Gesamtheit von Maßnahmen hielt, deren Ziel in der Eliminierung des „Feindlichen“, des „Lebens oder Wachstumsgefährlichen“ bestand 156 ), sondern eine bloße Kontrolle, der er lediglich Verachtung entgegenbrachte: „Es ist ein Unterschied zwischen Zensur und Kontrolle. Kontrolle ist die Karikatur der Zensur. [...] Kontrolle ist die Verschwörung der Leute von gestern gegen die von heute und morgen. Es ist nicht die Sache der Konservativen, sie möchten gerne konservativ heißen, sind und bleiben aber gestrige, vorgestrige, weniger als das, nicht vorhandene, Masken des Lebens.“ 157 Wessen sie sich schuldig machten, war nach Döblin das Verbleiben in einer vergangenen Epoche und deren Wertvorstellungen, war die Unfähigkeit, jenes „Kleinzeitlertum“ los zu werden, über das Kurt Tucholsky zu sprechen

154 Longerich 1992, S. 110. 155 Ebenda, S. 378. 156 Vgl. Döblin 1985, S. 294ff. 157 Döblin 1985, S. 294295.

68 pflegte 158 : „Langsam aber deutlich verändern sich in den Tiefen der Völker die sittlichen Begriffe. Unter Krisen, schrecklichen Häufungen von Neurosen, Hysterien und Zwangsvorstellungen bricht sich die Notwendigkeit geänderter sittlicher Vorstellungen Bahn: man will da Barrieren bauen! Man glaubt da Barrieren bauen zu können. Man glaubt die Quelle des Rheins mit der Hand verstopfen zu können. Die Männer der Kontrolle schreiben, sie wollten ja nicht der wirklichen Produktivität an den Leib, sondern nur gegen die Verführer vorgehen und gegen die Profitmacher der Geilheit.“ 159 Die neue „WartburgZeit“ sollte mit ihrem Hof von „Gestrigen“ und „Vorgestrigen“ diese Tendenzen nur zur Vollkommenheit bringen, wobei sie nicht nur der „Geilheit“ an den Leib wollen sollte, sondern auch jeder Form der künstlerischen Autonomie, nicht zuletzt jeder Form einer mangelnden „Ehrfurcht vor der Kunst“. Erst diese neue „WartburgZeit“ sollte sich jedoch stark genug glauben, um eine der bedeutendsten Quellen der „undeutschen“, vom Westen her gebrachten „Zivilisation“ zu verstopfen, nämlich dem als eine „revolutionäre Anstalt“ 160 gesehenen Theater der Weimarer Epoche (d.h. jenem Theater, das den Regisseuren vom Range eines Piscator, Jessner oder Fehling die Möglichkeit gewährte, ihre revolutionären Ideen in (Bühnen) Wirklichkeit umzusetzen 161 ) ein Ende zu bereiten. Dabei hatten es die genannten Theatermacher keineswegs leicht, wenn es darum ging, dem Theater seine Anziehungskraft zu retten. Die Weimarer Epoche erfuhr einen wahren Hunger nach Unterhaltung, die den Intellekt des „Konsumenten“ nicht in Anspruch genommen hätte. Der Mensch von „Masse“, ermüdet, wenn nicht aufgerieben von den schweren Kriegs und unmittelbaren Nachkriegsjahren sowie von der problematischen politischgesellschaftlichen Lage der (viel zu oft als aufgezwungen gesehenen) Republik, wünschte sich mehr denn je zu amüsieren. Er verlangte mehr denn je zum Lachen gebracht zu werden oder – von einer Schnulze ergriffen – in Tränen ausbrechen zu dürfen, ohne sich geistig „anstrengen“ zu müssen. Im Großen und Ganzen schien sich die „Masse“, der er entstammte, nur wenig von derjenigen zu unterscheiden, zu deren Kunstauffassung sich Alfred Döblin schon vor dem Ersten Weltkrieg geäußert hatte: „Der kleine Mann, die kleine Frau kennen keine Literatur, keine Entwicklung, keine Richtung. Sie pendeln abends durch die Straßen, stehen schwatzend unter den Eisenbahnbrücken, sehen sich einen gestürzten

158 Siehe oben, S. 57. 159 Döblin 1985, S. 295. 160 Vgl. Glaser 2002, S. 94ff. 161 Was Fehling und die Unterschiede betrifft, die es unter diesen „ganz Großen“ (natürlich) gab, vgl. z.B. Theater heute , Heft 8, 1968, S. 176.

69 Gaul an; sie wollen gerührt, erregt, entsetzt sein; mit Gelächter losplatzen.“ 162 Nun kam dieser unterhaltungssüchtigen Masse eine Industrie entgegen, deren Möglichkeiten diejenigen der alten „WartburgZeit“ weitaus übertrafen. Die Unterhaltungsindustrie der Weimarer Epoche zeigte sich in der Lage, dem „kleinen Mann“, der jetzt über eine zu vertreibende Freizeit verfügte, mehrere Möglichkeiten anzubieten, auf seine Kosten zu kommen – Filme von einheimischer sowie ausländischer (in erster Linie amerikanischer) Produktion, an denen man sich sowohl in den billigsten Sälen als auch in den modernsten, häufig Kinopaläste genannten Theatern der neuen Zeit berauschen konnte, Revuen, die dem Zuschauer „Amerika“ sowie „Exotik“ zu vermitteln vermochten (weil sie neben jenen „Girls“, die Alfred Polgar eines heimlichen Militarismus verdächtigte 163 , auch Josephine Baker mit ihrem Bananenrock auf die Bühne brachten), unzählige Tanzstuben und, nicht zu vergessen, den Sport. Statt sich von den Heroen der vergangenen Epochen begeistern zu lassen, denen man in der alten „WartburgZeit“ zu huldigen gepflegt hatte, statt für „heroische Leidenschaften“ eines Erwin Guido Kolbenheyer zu schwärmen oder mit den Wagnerschen Rittern Biterolf Beifall zu klatschen, nachdem sich dieser bekannt hatte, für die „Unbeflecktheit der hohen Liebe“ mit dem Schwert kämpfen zu wollen 164 , strömte man in die Sportpaläste, um sich dort einer zeitgemäßeren Schwärmerei hinzugeben. Was das Theater betrifft, zeigte man sich insbesondere für jenes Genre empfänglich, das Bertolt Brecht das „mittlere“ zu nennen pflegte – ohne ihm jedoch ein hohes Niveau absprechen zu wollen: „In diesem mittleren Genre, also der Operette, der Gesellschaftskomödie, den Starstücken, wird scharf gearbeitet, es ist ein internationales Gewerbe, das beim Publikum einzig und allein auf die Qualität seiner Ausführung angewiesen ist, und es gibt hier auch einen internationalen Stil, den man in der Berliner Aufführung des Stückes „Die Gefangene“ und in der Hollywooder Inszenierung des Filmes „Die Großfürstin und ihr Kellner“, in Reinhardts „Regen“ und in Kings „Sterne im Spiegel des Sumpfes“ sieht.“ 165 Warum sich die „leichtere Muse“ einer solchen Beliebtheit erfreuen konnte, erklärte Heinrich Mann am besten: „Ein Geschlecht muß, um Tragödien ungestraft zu genießen, sehr sicher im Leben stehen und von Grund auf heiter sein. Das ist nicht ganz der Fall dieses unerhört geprüften, ruhelosen Geschlechtes von 1926. Es hat eine überlebensgroße Faust an der Kehle, und wenn es auch mit ihr scherzt und keß tut, ihm wäre lieber, zu wissen, daß es morgen noch atmen wird. Niemand soll von solchen Menschen noch

162 Weyergraf 1995, S. 72. 163 Vgl. Peukert 1987, S. 180ff. 164 Vgl. Tannhäuser , 2.Aufzug. 165 Brecht 1992, S. 184.

70 mehr starken Mut verlangen, als diese Tage – und die vorigen und seit langen Jahren alle Tage – schon fordern.“ 166 Was für Konsequenzen daraus zu ziehen waren; was man auf der Bühne zu geben hatte, wusste der Romancier (und Dramatiker) Mann genau: „Laßt sie doch lachen! Spielt Komödien!“ 167 , riet er den Theatermachern. Doch ungeachtet dessen blieb die ausschlaggebende Rolle dem „ernsten“, dem „klassischen“ Theater vorbehalten (dessen künstlerisches Niveau dem „mittleren“ Genre keineswegs nachstand). So schrieb Carl von Ossietzky, nach dem Anbruch der neuen „WartburgZeit“ mehr denn je des regen Theaterlebens der jetzt zu diffamierenden Weimarer Epoche eingedenk, voller Bewunderung: „Es ist nicht wahr, daß das deutsche Theater sich heute wieder aus einer Epoche von Ruin und Verfall zu erholen beginnt. Diese letzten vier Jahrzehnte von Hauptmann bis Brecht, von Rittner bis Krauß, von der Sorma zur Bergner, waren eine Zeit unerhörter Blüte, auf die Deutschland mit bestem Recht stolz sein kann. In dieser Zeit hat das deutsche Theater einen Rang behauptet, der in der Welt einzig war.“ 168 Einer solchen Ansicht zeigte sich Alfred Kerr ebenfalls – 1930 erklärte er in seiner „Spanischen Rede“ , wer sich um diese „unerhörte Blüte“ ganz besonders verdient gemacht hatte: „Die neuen großen Dramatiker sind noch nicht da… wohl aber die neuen starken Inszenatoren. Ihre Kunst ist sehr entwickelt. In Deutschland sind die neuen Regisseure stärker als die neuen Dramatiker. (Die Experimente der Einüber sind wertvoller als ihre Anlässe.)“ 169 Der Aufschwung des Theaters der Weimarer Epoche lag also weniger an der Leistung der Autoren als an derjenigen der Interpreten. Die „Daseinskraft“ der deutschen, in erster Linie der Berliner Theater (um sich der Kerrschen Terminologie zu bedienen) war jenen Männern zu verdanken, die 19181919 tüchtig mitgemacht hatten, als es gegolten hatte, die politischgesellschaftliche Revolution mit einer künstlerischen gleichzusetzen. Die Weimarer Epoche, an deren Anfang der Zusammenbruch einer abgewirtschafteten Welt, nämlich jener des wilhelminischen Kaiserreichs, gestanden hatte, erfuhr da neben dem Boom der Unterhaltungsindustrie, dem ein allgemeiner Hunger nach Unterhaltung zu Grunde lag, auch einen Aufschwung des Theaters, dessen Gründe ebenso revolutionär anmuteten wie diejenigen der Republik. Als Philipp Scheidemann das Ende der alten „WartburgZeit“ proklamierte; als man sich in Deutschland erhob, um den Schritt nach Westen zu wagen, d.h. die obrigkeitliche Monarchie mit einer Demokratie und die Volksgemeinschaft mit einer Gesellschaft zu

166 Mann 1960, S. 278. 167 Ebenda, S. 278. 168 Ossietzky 1994, S. 489. 169 Kerr 1991, S. 147.

71 ersetzen, aus der Gefangenschaft der AbendlandIdeologie auszubrechen, der „Zivilisation“ Tür und Tor zu öffnen und, nicht zuletzt, aus dem „Untertanen“ von gestern einen „Bürger“ von heute zu machen, glaubte man auch unter Deutschlands Theatermachern sich erheben zu müssen, um mit der Theaterpraxis der vergangenen Epoche fertig zu werden, die (nicht nur) Herbert Ihering unheilvoll fand: „Man brachte es fertig, revolutionäre Werke wie „Räuber“ und „Kabale und Liebe“ in eine ungefährliche Ideologie umzulügen. Der Spießer entgiftete alle rebellischen Gedanken, indem er sich mit ihnen identifizierte. Der Banause usurpierte die Revolution und konnte deshalb im Leben um so selbstzufriedener auf sie verzichten. Man plünderte den Inhalt und nutzte die Klassiker ab. Es gab keine Tradition, nur Verbrauch. Aber dieser ganze Verbrauch war nur der Ausdruck für eine falsche, geistig unfruchtbare, konservative Verehrung.“ 170 Wie es um die Autoren dieser Werke, um die äußerlich so gefeierten Klassiker, früher bestellt gewesen war, brachte Ihering treffend zum Ausdruck: „Die Klassiker wurden als literarischer Naturschutzpark gepflegt. Jede Berührung war verboten; jede Grenzregulierung verpönt; jede Umpflanzung wurde bestraft.“ 171 Jetzt galt es, den „Schutz“ zu lockern. Vorgearbeitet worden war bereits vor dem Ersten Weltkrieg, nach diesem Krieg suchte man die veränderte politischgesellschaftliche Lage in Deutschland auszunützen, um der Bühne jenen Status zurückzugeben, den ihr der Räuber Dichter zugebilligt hatte – nämlich den einer „moralischen Anstalt“ 172 . Da es vor allen Dingen darum ging, das „Umgelogene“ zu korrigieren, „einer falschen, geistig unfruchtbaren, konservativen Verehrung“ ein Ende zu bereiten, blieb weniger den Autoren als den Interpreten, allen voran den Regisseuren, vorbehalten, das Theater mit der neuen Lebens und Kulturauffassung in Einklang zu bringen. Zuerst galt es, das überlieferte Kulturgut in Angriff zu nehmen und von den Konventionen zu befreien, die ihm anhafteten. Wie sich die Bahnbrecher des Regietheaters dieser Aufgabe entledigten, beschrieb z.B. Alfred Döblin (allerdings nicht ohne gewisse Vorbehalte): „Wie Hellenisten, Alexandriner fallen die Regisseure über den vererbten Reichtum her, analysieren ihn, bearbeiten ihn, treten ihn breit, kauen ihn vor.“ 173 Doch nicht einmal er bezweifelte das handwerkliche Können dieser neuzeitigen „Hellenisten“: „Ich habe gestaunt. [...] Die Gesamterfassung des geschriebenen Stücks für die Aufführung auf einem Bühnenraum: das war die Hauptsache. Das wird versucht, und – ich habe gestaunt – gekonnt.“ 174

170 Brecht 1992, S. 310. 171 Ebenda, S. 311. 172 Vgl. Craig 1980, S. 412413. 173 Döblin 1985, S. 362. 174 Ebenda, S. 337338.

72 Worum es den Regisseuren eigentlich ging, sprach Bertolt Brecht an, als er in einem Gespräch mit Herbert Ihering über die „Rettung der Klassiker“ redete. 175 Beispielhaft fand er in dieser Hinsicht die (leider ausgebuhte) Räuber Inszenierung, um die sich Erwin Piscator verdient gemacht hatte. Dieser Regisseur war allerdings nicht der einzige, der mit seinen „rettenden“ Produktionen Furore machte. „[...] Piscator ist nicht allein der aktivistische Spielwart“ , erklärte Alfred Kerr seinem spanischen Auditorium. „Wir sind überhaupt nicht arm an Regisseuren. Ich sprach schon von Jessner (anfangs Expressionist, heut realistischer). Karlheinz Martin (vormals Expressionist, heut in mehreren Stilen zu Haus). Erich Engel (Reinhardtspross modernisiert; im Realismus nicht unphantastisch; sehr begabt). Fehling (zwischen Wirklichkeitswelt und Puppenwelt). Reinhardt selber schwebt über den Wassern [...] .“ 176 Kerr machte hier eindeutig klar, welcher Seite der zu behandelnde Fehling angehörte – nämlich jener, die bemüht war, mit der Theaterpraxis der alten „WartburgZeit“ fertig zu werden. Wenn man seinen sowie den Piscatorschen oder Jessnerschen Versuchen zusah, sich mit den überlieferten Werken auseinander zu setzen und den alten, in diesen Werken verschlüsselten Botschaften einen neuen Ausdruck zu verleihen, ohne dabei auf die althergebrachten Regieanweisungen Rücksicht zu nehmen, fand man es unmöglich, sich nicht an Hans Sachsens Worte zu erinnern: „Kein’ Regel wollte da passen, und war doch kein Fehler drin.“ 177 Statt die Bühnenwerke zu zelebrieren, suchte man sie zu deuten. Statt sich des Theaters zu bedienen, um dem Zuschauer ein beinahe pseudoreligiöses Erlebnis zu vermitteln, um ihn sogar glauben zu lassen, nicht einer Theaterproduktion sondern einem „Gottesdienst“ beizuwohnen (man denke hier an die „Zelebrierung“ des im „Altbayreuth“), machte man von den Bühnenwerken Gebrauch, um (im Einklang mit der Anfang der 20er Jahre einsetzenden „Neuen Sachlichkeit“) Tatsachen zum Vorschein zu bringen und zu diesen Tatsachen Stellung zu nehmen. Man zeigte sich bemüht, die Bühne in eine „Werkstatt“ umzufunktionieren, in der die Werke immer neu bearbeitet worden wären; man zeigte sich zugleich bestrebt, für Zukunft ohne all die äußeren Effekte auszukommen, von denen z.B. Max Reinhardt nie Abstand zu nehmen vermochte. So schrieb Alfred Döblin nach dem Erlebnis der Jessnerschen Fiesko Inszenierung: „Jeßner reduziert immer. Er läßt weg, abstrahiert. Er unterscheidet Hauptsachen, Nebensachen. Mit Nebensachen – den schönen,

175 Vgl. Brecht 1992, S. 311312. 176 Kerr 1991, S. 159160. 177 Die Meistersinger von Nürnberg , 2.Aufzug.

73 blühenden, lebendigen, fleischigen Nebensachen – befaßt er sich nicht.“ 178 Woran den Regisseuren (nicht nur dem genannten Jessner) wirklich lag, war Alfred Kerrs Ansicht nach eine möglichst genaue Umsetzung der „neusachlichen“ Philosophie ins Bühnengeschehen: „Die neue Sachlichkeit herrscht zeitweilig auch in der Inszenierung von historischen Stücken. Ein Beispiel. Jessner, Herr der Staatsbühne [...] , gibt „König Johann“ von Shakespeare. Er läßt hier die Leute mit… betonter Gleichgültigkeit reden. Warum? Nicht auf Gefühle kommt es an, sondern auf Tatsachen. [...] Sogar das Außenbild soll neusachlich um jeden Preis werden. König Johanns Palast wird zur Telephonzelle. Die Gärten und Terrassen symbolisiert eine Bahnbrücke mit Telegraphendräthen. Offenbar sagt sich der Spielmeister: „Nicht belangvoll ist die Wohnstatt geschichtlicher Persönlichkeiten; wenig belangvoll sind ihre Worte; belangvoll sind Tatsachen.“ 179 Bemüht, die Ideen der „Neuen Sachlichkeit“ auf die Bühne zu bringen, die überlieferten Werke politisch zu sehen, sie in Anbetracht der politischgesellschaftlichen Lage in Deutschland zu deuten, war Jessner ebenso wie die anderen Regisseure, für die diese „Neue Sachlichkeit“ kein leeres Wort darstellte. Doch das Theaterleben wurde (und wird) nicht nur von den Theatermachern gestaltet. Alfred Kerr erwähnte in dieser Hinsicht noch ein Element, das er für die Theaterarbeit von größter Bedeutung fand, nämlich das Publikum: „Jeder Schauspieler hat einen Partner: den Mann im Sperrsitz. Oder die Frau im Sperrsitz. Oder die Schar auf den Rängen. [...] Der Schrittmacher, der Anpeitscher, der Partner sitzt unten im Parkett. Er guckt von der Galerie. Er steht im Seiteneingang.“ 180 Wie es um die Einstellung dieser „Männer und Frauen im Sperrsitz“, also der Gesellschaft, der sie entstammten, zum neuen Theater bestellt war, davon legten auf der einen Seite die Skandale Zeugnis ab, die von Anfang an eine Begleiterscheinung von Piscators, Jessners sowie Fehlings Inszenierungen waren, auf der anderen Seite brachte die Anwesenheit mancher führenden Persönlichkeiten der Weimarer Epoche auf diesen Vorstellungen unmissverständlich zum Vorschein, was für eine Stellung Stresemanns Republik (nicht also jenes Deutschland, das „unterhalb der Wartburg“ immer noch den Traum vom „Abendland“ träumte) genommen hatte. So schrieb z.B. Golo Mann in seiner Autobiographie, wie selbstverständlich sich die Profiteuere der StresemannZeit Piscators bedienten, von dem sie sich, zumindest aus den ideologischen Gründen, fernzuhalten gehabt hätten und an dessen frühen Produktionen sie einst voller Gleichgültigkeit vorüberzugehen gepflegt hatten: „Nur an eines der Dramen kann ich mich

178 Döblin 1985, S. 338. 179 Kerr 1991, S. 150. 180 Ebenda, S. 300.

74 erinnern, weil es mich noch tiefer ärgerte als das andere: Es hieß „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“, nach einem bekannten amerikanischen Buchtitel, und stellte Lenins Oktoberrevolution dar, zusamt dem Vorher und Nachher. [...] Zuletzt wird das Winterpalais gestürmt, Kerenskij rollt für immer davon in Schmach und Schande, und alle Russen werden für immer frei, gleich und glücklich sein… Brausender Beifall der Zuschauer, welche danach zu einem guten Essen am Kurfürstendamm schritten, wenn sie es nicht schon im Magen hatten; „Proletarier“ waren gewiß nicht anwesend, denn die Preise gepfeffert. Das ganze erschien mir als hohle Snobberei, an der Berliner Bourgeoisie sich delektierte, um darüber reden zu können.“ 181 Dieses Los zu teilen, blieb nicht nur dem Begründer des „proletarischen Theaters“ vorbehalten. Die angebliche Elite der Weimarer Epoche, die sich mit Stresemanns Republik verbunden sah, arrangierte sich im Großen und Ganzen mit den neuen Theatermachern (oder: die neuen Theatermacher arrangierten sich allmählich mit der angeblichen Elite der Weimarer Epoche, die sich mit Stresemanns Republik verbunden sah), wessen Folge das gesellschaftlich ebenso wie wirtschaftlichfinanziell verwertbare Prestige war, über das sich mancher der „ganz Großen“ unter den Theatermachern freuen konnte – und über das sich mancher Autor, der sich nicht stark genug zeigte (um auf Alfred Kerrs Bemerkung hinsichtlich der fehlenden „starken Dramatiker“ zurückzukommen), ärgerte. So beklagte sich (nicht nur) Gottfried Benn: „Wie sieht der Etat, wie die Kunstleistung eines Stadttheaters aus? Zweiundzwanzig Schöne mit Dauerverträgen und noch mehr männliche Bretterbetreter, damit „Charlys Tante“ und das „Weiße Rößl“ monatelang dem preußischen Volke nahegebracht wird (Benn spielte hier zwar auf das „mittlere Genre“ an, doch nicht einmal die „Revolutionäre“ vom „ernsten Fach“ zeigten sich bereit, ohne die erprobten Stars auszukommen, und gestalteten dementsprechend den Etat ihrer Theater – Anm. M.U.) ; an der Spitze Intendanten und Regisseure, die nebenberuflich Filme in ihre Tasche drehen; Kapellmeister mit ihren langjährigen enormen Verträgen, fortwährend auf Gastspielen zu ihrem eigenen Ruhm und für ihr eigenes Bankkonto; Stars, fünftausend Mark Fixum monatlich in Berlin und die Hälfte des Jahres auf privaten Tournéen : Intendanten, Regisseure, Tenöre, Kapellmeister, also Bearbeiter, Vermittler, geistigwirtschaftlich betrachtet: Ausbeuter, Produktive dritter, vierter Hand – die erhält der Staat mit großem Train.“ 182 (Nicht umsonst liest man also bei Hermann Glaser: „Von allen Musen lag Thalia dem Herzen Weimars am nächsten; das Theater brachte den Zeitgeist am getreuesten zum

181 Mann 1986, S. 237238. 182 Benn 1987, S. 174.

75 Ausdruck, die Bühne wurde nahezu zu einer nationalen Institution [...]. “183 Stresemanns Republik verstand sich mit „ihrem“ Theater zu schmücken, stellte also, sämtlichen Buh Rufern zum Trotz, „ihren“ Theatermachern mehr Raum zur Verfügung, als dem Wagnerschen Tannhäuser auf der Wartburg zur Verfügung steht (und als all den neuzeitigen „Tannhäusern“ in der neuen „WartburgZeit“ zur Verfügung stehen sollte).) Dagegen glaubten die Bahnbrecher der neuen „WartburgZeit“ in Piscators, Jessners sowie Fehlings Inszenierungen jenen „Kulturbolschewismus“ erkannt zu haben, dem sie ein Ende zu setzen trachteten. Bereits 1919, als Jessner mit seinem Wilhelm Tell einen der ersten Versuche wagte, der „entrümpelten“ Bühne 184 die Gültigkeit einer „moralischen Anstalt“ zu verleihen, wo man sich mit den politischgesellschaftlichen Problemen hätte auseinander setzen können, riefen sie einen Tumult hervor, durch den sie ihre Abneigung gegen diese Art des Theaters unmissverständlich zum Vorschein brachten. Statt Jessners Versuch, dem Schillerschen Werk die Glaubwürdigkeit zurückzugeben, Beifall zu klatschen, warfen sie dem Regisseur seine jüdische Abstammung vor, indem sie unter den Schmähworten, mit denen die Inszenierung überhäuft wurde, dasjenige des „jüdischen Schwindels“ betonten. 185 Als sich die Weimarer Epoche, deren Elite sich – im Unterschied zu den Wegbereitern der NSZeit – das von einer Revolution hervorgegangene Theater zunutze zu machen wusste (indem sie sich alle Assoziationen einfach verbot 186 ), ihrem Ende näherte, nahm diese Abneigung gegen das politischgesellschaftlich interessierte Theater an Aggressivität zu. Zum Schlagwort der Schlagworte avancierte der „Kulturbolschewismus“, von dem die Kritiker der Stresemannschen Republik jetzt mehr denn je Gebrauch machten: „Unter den Ausgrabungen, welche die neuen politischen Archäologen Deutschlands auf den wüsten Friedhöfen der verstorbenen Phrasen zu veranstalten beginnen, fand sich als erste, wie man weiß, das längst vermoderte Wort vom „Kulturbolschewismus“. In einer Zeit, in der die Leichen munter lustwandeln und sogar marschieren, Mumien ihre eigenen Ausgrabungen leiten, Gespenster das aktive wie das passive Wahlrecht ausüben, ist es freilich kein Wunder, wenn auch die Kadaver der moralisierenden Phrasen auferstehen“ 187 , schrieb Joseph Roth 1932 (und näherte sich mit seiner Charakteristik der ausgehenden Weimarer Epoche derjenigen, die Wolfgang Koeppen dem „weißbraunen“ München widmen sollte 188 ).

183 Glaser 2002, S. 94. 184 Siehe auch unten, S. 151ff. 185 Vgl. Craig 1980, S. 412. 186 Vgl. Glaser 2002, S. 9798. 187 Roth 1991, S. 418. 188 Siehe oben, S. 37.

76 Was unter diesem „Kulturbolschewismus“ zu verstehen war, wie absurd dieser Begriff in Wirklichkeit war, stellte Carl von Ossietzky bloß, als er schrieb: „Wenn der Kapellmeister Klemperer (dessen Name auch mit Fehlings Tannhäuser Inszenierung verbunden war – Anm. M.U.) die Tempi anders nimmt als der Kollege Furtwängler, wenn ein Maler in eine Abendröte einen Farbton bringt, den man in Hinterpommern selbst am hellen Tage nicht wahrnehmen kann, wenn man für Geburtenregelung ist, wenn man ein Haus mit flachem Dach baut, so bedeutet das ebenso Kulturbolschewismus wie die Darstellung eines Kaiserschnitts im Film. [...] Kulturbolschewismus ist der Demokratismus der Brüder Mann, Kulturbolschewismus ein Musikstück von Hindemith oder Weill und genau so einzuschätzen wie das umstürzlerische Verlangen irgend eines Verrückten, der nach einem Gesetz schreit, das gestattet, die eigne Großmutter zu heiraten.“ 189 „Kulturbolschewistisch“ war auch das Theater, wo man die Werke zu interpretieren suchte, statt sie zu zelebrieren, wo man die Vernunft des Zuschauers in Anspruch nahm, statt ihm das Bekenntnis zur „Gläubigkeit der Kulturfrommen“ 190 zu entlocken. Als „Kulturbolschewiken“ galten die Regisseure, denen dieses Theater zu verdanken war, die das Primat der Aktualität des Werks demjenigen der vom Autor gegebenen Zeit, demjenigen des vom Autor gegebenen Ortes vorzuziehen pflegten. Konsequenterweise war nach dem Anbruch der neuen „WartburgZeit“, deren Bahnbrecher sich die Bekämpfung jeder Form vom „Kulturbolschewismus“ zum Ziel gesetzt hatten, um dieses Theater geschehen. Das Schicksal von Fehlings Tannhäuser , der einer der letzten Versuche war, dem Zuschauer einen Spiegel vorzuhalten, legte davon Zeugnis ab, was die „Wartburger“ Gemeinschaft, etwa im Unterschied zur Weimarer Gesellschaft, nicht hinzunehmen vermochte – nämlich auf der zu einer „moralischen Anstalt“ gewordenen Bühne bloßgestellt zu werden: „Diese Inszenierung mußte nach vier Aufführungen auf den starken Druck des Kampfbundes hin abgesetzt werden. Es war der letzte Versuch einer modernen WagnerDeutung vor der allgemeinen Gleichschaltung im Dritten Reich. [...] Fehling und Strnad wichen von dem Bildmuster ab, nach dem „Tannhäuser“ bis jetzt gespielt wurde, sie zeigten nicht das schöne Mittelalter, sondern eine bestimmte Gesellschaft mit bestimmten Ansichten zum Künstlertum. Und darin lag die Aktualität dieser Deutung. Unangepaßte werden nicht geduldet. Härte, Düsternis und Tragik, dieser eigentliche Gehalt des „Tannhäuser“, wurde freigelegt, und nicht die schöne Oberfläche gezeigt. Von seiten der Herrschenden war das Verbot nur logisch.“ 191

189 Ossietzky 1994, S. 85. 190 Vgl. Roth 1991, S.285. 191 Müller, Wapnewski 1986, S. 665666.

77 Zusammenfassend können wir wohl sagen, dass die Kulturpolitik, die Hitlers Regime trieb bzw. zu treiben versuchte (wenn wir die Kompetenzstreitigkeiten in Betracht ziehen, die es bekanntlich unter den NaziGrößen gab – insbesondere unter denjenigen, die sich für den kulturellideologischen Bereich zuständig glaubten), im Wesentlichen jener Politik entsprach, der wir in Wagners Tannhäuser auf der Wartburg begegnen. Das Erfordernis, sich der herrschenden Macht bedingungslos zur Verfügung zu stellen, das man dem Künstler in Hitlers Reich ebenso wie auf der Wagnerschen Wartburg stellte; die Gleichsetzung des Künstlertums mit dem Soldatentum, die einem Künstler weder unter Hitler noch unter Wagners Landgrafen ermöglichte, sich über die gegebene Linie hinwegzusetzen, ohne dabei eine Strafe zu riskieren, lässt uns mehrere Parallelen finden. In diesem Sinne verdiente Hitlers Epoche ohne Zweifel die Bezeichnung einer „WartburgZeit“, zumal sie sich außer den Aktivisten vom Schlag eines Johst oder Blunck mit jenen Autoren umgab, denen Alfred Döblin den Vorwurf machte, in einer vergangenen Welt, nämlich in derjenigen des deutschen Mittelalters (die Wagner das Tannhäuser Thema geliefert hatte), zurückgeblieben zu sein. 192 In Anbetracht der gesellschaftlichen Spaltung der Weimarer Epoche, wo der mit Wagners Hörselberg gleichzusetzenden Welt Berlins diejenige des „platten Landes“ gegenüber stand, die eine real gewordene Wagnersche Wartburg anmutete, können wir allerdings nicht zum Schluss gelangen, dass diese Kulturpolitik ausschließlich ein Produkt von Hitlers Regime war. Ohne Zweifel war seinem Regime zu „verdanken“, die Welt der Wagnerschen Wartburg in deren engbrüstigsten, intolerantesten Form in Wirklichkeit umgesetzt zu haben, doch die Tendenzen, dieser Welt zumindest teilweise zum Durchbruch zu verhelfen, gab es bereits in Stresemanns Republik. Die Geschichte des sog. „Schund und SchmutzGesetzes“, die Kontrolle, der Rundfunk und Film unterzogen wurden, nicht zuletzt die von der Bühne genommenen Produktionen, um deren amtlich verfügte Absetzung sich durch ihre Ausschreitungen die Wegbereiter der neuen „WartburgZeit“ „verdient“ machten, legten noch vor dem Ende der Weimarer Epoche vom Streben Zeugnis ab, der Autonomie des Künstlers Schranken zu setzen. Dagegen blieb erst der neuen Macht vorbehalten, mit jenem Theater fertig zu werden, um das sich Piscator, Jessner, Fehling sowie andere Regisseure verdient machten. Obwohl das Piscatorsche, Jessnersche oder Fehlingsche Theater eine Frucht der Revolution war, die sich im Bereich der Kultur zu einem der Ziele gesetzt hatte, der Bühne den allmählich verloren gegangenen Status einer „moralischen Anstalt“ zurückzugeben und dabei jenen „Tannhäusern“ zum Durchbruch zu verhelfen, denen die vorhergehende Epoche

192 Vgl. Döblin 1989, S. 426ff.

78 die anpassungsfähigeren „Wolframs“ und „Biterolfs“ vorzuziehen gepflegt hatte, scheute Stresemanns Republik dieses Theater nicht, vielmehr suchte sie sich mit „ihrem“ Piscator, „ihrem“ Jessner, „ihrem“ Fehling zu schmücken – ohne sich von den revolutionären Wurzeln deren Inszenierungen in Verlegenheit bringen zu lassen. Die Abneigung, die die Bahnbrecher der neuen „WartburgZeit“ gegen das politischgesellschaftlich interessierte Theater der Weimarer Epoche hegten, konnte daher erst dann in eine reale Politik umgesetzt werden, als es diese Epoche nicht mehr gab. Beispielhaft wurde dabei das Schicksal von Fehlings Tannhäuser Inszenierung, deren Analyse die Sache des folgenden Subkapitels ist. Was Fehling selbst betrifft, ließ er sich im Unterschied zu Jessner oder Piscator scheinbar eines „Besseren“ belehren – ohne allerdings „Buße“ getan zu haben (er inszenierte während der neuen „WartburgZeit“ einige Stücke des NSRepertoires, ohne jedoch seiner Auffassung der Bühne als eines dem jeweiligen Zeitalter, der jeweiligen Gesellschaft vorzuhaltenden Spiegels zu entsagen, ohne auf den Inszenierungsstil zu verzichten, der den „Provinzlern“ als Symbol des verpönten Weimarer Regietheaters galt). 193 Und Richard Wagner? Wie war es um den Dichterkomponisten bestellt, dessen Werk diesem Drama den Namen verlieh? Nachdem die alte „WartburgZeit“ verschwunden war, die unter der Obhut der Wagnerwitwe Cosima aus dem Wagnerschen Werk ein Objekt pseudoreligiöser Anbetung gemacht hatte 194 , zeigte sich die Weimarer Gesellschaft nicht nur der AbendlandIdeologie überdrüssig, sondern auch jenes Dichterkomponisten, den Cosimas Hausideologen zu einem vorbildlichen Künstler der deutschabendländischen „Kultur“ erklärt hatten (d.h. den sie vereinnahmt hatten). Carl von Ossietzky schrieb: „Wagner sank schnell im Kurs. Zu unbegrenzt war der Anspruch gewesen, und jetzt waren überall Unbefriedigte. Es kam eine neue Musik, die frisch und ohne viel Umstände auf ihr Ziel losging. Wenn Strawinskys Soldatenballade vor ein paar bunten Leinwandfetzen mitreißt und erschüttert – wozu dann der Kolossalpomp? Was braucht Musik, die durch die Ewigkeit rauschen will, solche Szenerie? Das Theater machte damals eine kleine Revolution durch. Plötzlich wurde das Bühnenbild wieder einfach – mit dem Verruf der Guckkastenbühne kam auch die Wagneroper in Mißkredit. Der alte Zauberer schien für immer ausgespielt zu haben. Vor zehn Jahren gehörte eine gewisse Courage dazu, sich als perfekter Wagnerianer zu bekennen.“ 195 Allerdings lernte die gespaltene Weimarer Epoche neben den Ossietzkys auch deren Gegenspieler kennen, die, wie wir schon wissen, im „platten Land“ ihr (Un) Wesen trieben.

193 Vgl. Rühle 2007, S. 742ff. 194 Vgl. Hilmes 2007, S. 277ff. 195 Ossietzky 1994, S. 480.

79 „Der Kaiser ging, die Generäle blieben“, beklagte sich Theodor Plievier. Einer von ihnen (nämlich Erich Ludendorff, einst der mächtigste Mann Deutschlands, jetzt nur noch eines jener Gespenster, die Wolfgang Koeppen im „weißen“ München paradieren sah) wohnte den ersten Bayreuther Nachkriegsfestspielen (genauer gesagt: der Generalprobe) bei, als das Publikum, entzückt von den Meistersingern von Nürnberg , von diesem „unglaublich frohmütigen Geschwisterwerk des Tristan, dem überdimensionierten Lustspiel einer urplötzlich von letzter Todestrunkenheit auf das CDur strahlender Lebenslust, promphaft deutscher Biederkeit und Schalkheit sich perfekt umstellenden Genieseele“ 196 , das Deutschlandlied anstimmte. Ludendorff war nicht zufällig dabei, als die Festspiele in eines jener „Wartburgfeste“ umgedeutet wurden, die neun Jahre später in ganz Deutschland gefeiert werden sollten. Wagners Haus öffnete seit Jahrzehnten den Politikern und Philosophen Tür und Tor, die sich nicht mit dem Ende der alten „WartburgZeit“ abgefunden hatten und die sich bald um eine neue „verdient“ machen sollten. Im Festspielhaus pflegten sich jene „Wagnerianer“ an Wagners Werk zu berauschen, die mit dem Österreicher Max von MillenkowichMorold einer Meinung waren, der nach dem Anbruch von Hitlers Epoche schreiben sollte: „Wenn wir heute Constantin Frantz und Paul de Lagarde zu den geistigen Mitbegründern unserer Lebensauffassung zählen, wenn wir uns die klare Erfassung des völkischen Gedankens und den politischen Wiederaufbau ohne die grundlegenden und richtungweisenden Arbeiten von Gobineau, Chamberlain, Schemann nicht mehr denken können, so war es Wagner, der diese Geister entdeckt oder von sich aus befruchtet hat, und eine Geschichte der WagnerBewegung ist zugleich die Darstellung der deutschen Wiedergeburt und des werdenden Nationalsozialismus. Heute schreibt man auch nicht mehr nur über Wagner den Künstler oder gar etwa nur den Musiker; heute werden schon Doktorarbeiten und gründliche Untersuchungen dem politischen Denker und geistigen Führer Wagner gewidmet.“ 197 Dass Wagners Haus auch dem zukünftigen „Führer“ Tür und Tor öffnete, war nur konsequent. Übrigens nahm Carl von Ossietzky diese Situation zur Kenntnis, als er zu dem „alten Zauberer“ bemerkte, nur scheinbar ausgedient zu haben. Bemüht, der Tatsache auf den Grund zu gehen, wie es dazu gekommen war, erinnerte sich der baldige Märtyrer an Elsas Traumerzählung aus dem Lohengrin – und erkannte in dem Ritter, an dessen Brust sich die Prinzessin geflüchtet hatte, den tot geglaubten deutschen Imperialismus, dessen Bedeutung für die Rezeption des Wagnerschen Werks er selbst derjenigen vorzog, von der hier Cosimas

196 Mann 1982, S. 826. 197 Wulf II 1983, S. 317.

80 und Winifreds „Gastfreundlichkeit“ war: „Ein Phänomen, in der Tat. Eine neu aufstrebende Bewegung hüllte sich in die Klänge einer bankrotten Kunst. Diese selbst, die sich bisher, wenigstens in der Kassengebarung streng kosmopolitisch gezeigt und dem polnischen Juden, wenn er nur zahlungsfähig war, gern einen Logenplatz im Festspielhaus reserviert hatte, klammerte sich an eine Bewegung, die den Racismus auf ihre Fahne geschrieben hatte. Es darf in diesem Zusammenhang nicht überschätzt werden, daß im Bayreuther Kreise zuerst die Rassentheorien Gobineaus gepflegt wurden, daß Houston Stewart Chamberlain, der Schwiegersohn Richard Wagners, in einer konfusen Theorie die These von der schöpferischen Überlegenheit des reinen Ariertums entwickelte, und er, der Sohn eines englischen Admirals, im Kriege der lärmendste Herold der Alldeutschen war. Wichtiger ist, daß Wagners Musik die Blütezeit des Bürgertums und des Imperialismus in Töne bannte und ihr den blendenden szenischen Hintergrund verlieh.“ 198 Diese „Blütezeit des Bürgertums und des Imperialismus“ beschworen die „Wagnerianer“ vom Schlag eines Erwin Guido Kolbenheyer oder Siegmund von Hausegger (der 1933, als Thomas Manns Aufsatz „Leiden und Größe Richard Wagners“ erschien, glaubte, dem Buddenbrooks Dichter den Vorwurf machen zu müssen, „Wagners Bild zur verzerrten Fratze verwandelt zu haben“ 199 ) seit dem Anfang der Weimarer Republik, wobei ihnen die „Demokraten“ wie Thomas Mann gegenüber standen. 200 Das Drama um Fehlings Tannhäuser Inszenierung von 1933 erschien konsequenterweise nur als einer der Höhepunkte des TannhäuserDramas der ganzen Gesellschaft der Weimarer Republik. Wer war Jürgen Fehling eigentlich? Und was wollte er mit seinem Tannhäuser dem Publikum sagen? Womit wollte oder musste er sich auseinander setzen, welches WagnerVerständnis kennzeichnete seine Arbeit? Inwieweit war diese seine Arbeit „Geschichte machend“? Beschäftigen wir uns jetzt mit diesen Fragen näher.

198 Ebenda, S. 480. 199 Vgl. Wulf II 1983, S. 314316. 200 Vergleiche in diesem Kontext Thomas Manns Ansicht aus dem genannten Aufsatz Leiden und Größe Richard Wagners : „Der Erdball ist, fünfzig Jahre nach des Meisters Tode, allabendlich in diese Musik eingehüllt. Imperialistisch weltunterwerfende, gewaltig agacante, despotische, aufwiegelnd demagogische Elemente sind enthalten in dieser Kunst des Theaters und der Massenerschütterung, die auf Ehrgeiz, ungeheuren cäsarischen Machtwillen als auf ihr eigentliches Agens schließen lassen könnten. Die Wahrheit sieht anders aus. „So viel sage ich Ihnen“, schreibt Wagner aus Paris an die Geliebte, „nur das Gefühl meiner Reinheit gibt mir diese Kraft. Ich fühle mich rein : ich weiß in meinem tiefsten Inneren, daß ich stets für andere, nie für mich wirkte; und meine steten Leiden sind mir das Zeugen.“ Wenn das nicht wahr ist, so ist es doch dermaßen wahrhaftig, daß jede Skepsis verstummt. Er weiß von keinem Ehrgeiz. „Aus Größe, Ruhm und Volksherrschaft“, versichert er Liszt, „mache ich mir gar nichts.““ (Mann 1982, S. 767768.)

81 II. Jürgen Fehlings „Versuch(e) über Wagner“

Um sich die Bedeutung zu vergegenwärtigen, die Fehlings Tannhäuser Inszenierung beschieden sein sollte, lohnt es, mit jener Tannhäuser Produktion Vergleich anzustellen, die man nur wenige Jahre zuvor in Bayreuth erleben konnte – in einem Theater, das seit Jahrzehnten glauben machen wollte, das WagnerTheater schlechthin zu sein. Um sich die Bedeutung zu vergegenwärtigen, von der diese Bayreuther Produktion war, erscheint uns allerdings unumgänglich, auf die Rolle zu sprechen zu kommen, die zu spielen dem Haus auf dem „Grünen Hügel“ (ebenso wie der Stadt Bayreuth selbst) in der bisherigen (Kultur) Geschichte Deutschlands vorbehalten blieb – um über diese Rolle ins Klare zu kommen, macht sich „bezahlt“, auf die (oben angesprochene) Problematik der „nationalen Heiligtümer“, auf die „geistige Geographie der Deutschen“ zurückzukommen: „Es gibt im Reich der Geister wundersame Lebensvorgänge: um ein Genie herum verdichtet sich eine Welt des Schönen, Guten, Großen und lebt als selbständiges Gebilde weiter. So ballt sich auch in den Namen „Richard Wagner“ und, von ihm ausstrahlend, in den Namen „Bayreuth“ eine Welt der Schönheit, ein künstlerischer Schatz, und geht in das Besitztum der Nation über. Diese geistige Geographie der Deutschen deckt sich in ihren Hauptstädten keineswegs mit den Hauptstädten der politischen Welt. Es sind kleine Orte, was den Umfang betrifft, Stätten der Besinnlichkeit, Winkel der deutschen Welt, aber fruchtbar und geweiht durch das wirkende Genie. So sind Kulturstätten wie Wartburg, Weimar, Bayreuth Heiligtümer der Nation.“ 201 Statt eines bloßen Theaters glaubte (nicht nur) Friedrich Lienhard, dem die vorstehenden Worte zu verdanken sind, auf dem „Grünen Hügel“ einen „Tempel“ gefunden zu haben. Wie es allerdings um die „Gemeinde“ bestellt war, die in diesem „Tempel“ die (vermeintliche) „Welt des Schönen, Guten, Großen“ zu beschwören pflegte; wie es um die Besucherschaft (um nicht zu sagen: „Pilgerschaft“) stand, die in Wagners (Festspiel) Haus ein und auszugehen pflegte, darüber machte sich Paul Bekker bereits 1921 keine Illusionen: „Um den engsten Kreis der Auserwählten, denen streng orthodoxes Kunstbekenntnis Gewissenspflicht war – es hat kaum je in Deutschland ein derart hochmütiges und engherzig verbohrtes Kunstpfaffentum gegeben, wie die Bayreuther Hierarchie – gruppierte sich eine beträchtliche Anzahl befreundeter Laienbrüder und –schwestern, die durch irgendwelche

201 Zelinsky 1976, S. 172.

82 persönlichen Bande dem intimen Wahnfriedzirkel verbunden waren. Den großen Zustrom bildeten schließlich die Neugierigen und Schaulustigen aus allen Weltgegenden, denen die mehr und mehr ins dekorative Pathos gesteigerte innere und äußere Aufmachung steten Anreiz gab. Der ethisch religiöse Nimbus, aus einer falschen Ableitung der Kunst Wagners entwickelt, gab diesem Betrieb die für die ganze Zeit charakteristische Maske. Theaterspiel wurde religiös verbrämt, wer keine Kraft mehr fand zum Glauben, log sich in Parsifal Erschütterungen hinein, Komödie galt als Gottesdienst und eine immer schlechtere und armseligere Romantik meinte in der Pflege bombastischen Opernpathos’ eine nationale Kraftäußerung zu erblicken.“ 202 Selbst die gespannt erwartete Wiederaufnahme der Bayreuther Festspiele muss sämtlichen Bekkers in deren Abneigung gegen den Festspielbetrieb Genüge getan haben – es waren ja lauter „Kunstpfaffen“, lauter „befreundete Laienbrüder“ und „Laienschwestern“, die an diesem 22. Juli 1924 das Haus auf dem „Grünen Hügel“ in Besitz genommen zu haben schienen: „Ein Blick auf die diesjährige Besucherschaft“ , schrieb Karl Holl, „zeigt gegen früher eine starke Abnahme des ausländischen Zustroms und eine entsprechende Stärkung des deutschen Elements, die durchaus zu begrüßen wäre, wenn man dabei nicht entdeckte, daß auch von den Deutschen die geistig Freiheitsbedürftigen aus dem Wagnertempel fast gänzlich verschwunden sind. Das gesellschaftliche Bild zeigt eine breite Bürgerlichkeit, in der Vertreter der Großindustrie und des Feudalismus den Ton angeben und das Bayreuth hörige engere Akademikertum als kulturelles Bindemittel erscheint. Dazu ein paar ehemalige Herrscher und (in den Proben) der ehemalige Feldherr Ludendorff.“ 203 Was für ein Wagner Verständnis dieses „schwarzweißrote“ Publikum prägte, sollte Holl unmittelbar nach der Wiedereröffnung der Festspiele erleben – war das Theaterspiel im Vorkriegsbayreuth „nur“ religiös verbrämt worden, hatte die Komödie einst als Gottesdienst gegolten (um von Paul Bekkers Vokabular nochmals Gebrauch zu machen), so „avancierte“ nun dieses Theaterspiel zu einer Kundgebung, „avancierte“ die Bühne zu einer Tribüne: „Wenn am Schluß der „Meistersinger“ (mit deren Wiederaufnahme die Bayreuther Festspiele wiedereröffnet wurden – Anm. M.U.) die ganze Hörerschaft sich erhebt und Hans Sachsens Ansprache stehend entgegennimmt, wird der vom Werk Erfüllte spontan in die Kundgebung mithinbezogen. Wenn dann nach dem ergreifenden Schauspiel, das dem wirklich Hörenden die Rede verschlägt, das Deutschlandlied mehrstrophig abgesungen wird, weicht Begeisterung einem gelinden Erstaunen. Die anschließenden, auch bei späteren Aufführungen

202 Ebenda, S. 159. 203 Gebhardt 1998, S. 60.

83 immer wiederholten oder doch versuchten Heilrufe aber öffnen im Zusammenhang mit den genannten politischen Momenten dem kritischen Beobachter vollends die Augen. Das also hat man aus dem Erbe des Länder und Herzen umspannenden Genies gemacht! Dies die gesinnungsmäßige Umstellung, die Bayreuth seit 1914 an sich vorgenommen hat.“ 204 Kein Wunder, dass sich (nicht nur) Karl Holl die heikle Frage stellen musste, ob es für einen „Ungläubigen“ überhaupt noch lohnte, eine „Walfahrt“ nach Bayreuth zu unternehmen.205 Bernhard Diebold, der Wagner den Status eines „unklassifizierbaren Phänomens“, den Beinamen eines „liberalen Denkers“, sogar den eines „Märtyrers des liberalen Gedankens“ zuzusprechen wagte, glaubte diese Frage dennoch bejahend beantworten zu müssen. Ende der 20er Jahre in Bayreuth zugegen, sah er sich (mitten in einer Welt angekommen, deren Gesicht mit den Gesichtern der „RechtserDeutschen“ verschmolzen, deren Geist mit dem Ungeist der anzubrechenden „WartburgZeit“ verbunden anmutete) einerseits gezwungen, die „Unzeitgemäßigkeit“ seiner „Walfahrt“ zuzugeben, andererseits meinte er jedoch all die Deutschtümelei, der er auf dem „Grünen Hügel“ begegnete, als eine Herausforderung verstehen zu müssen, die es „bei den Hörnern zu packen“ galt: „Ich war in Bayreuth. Es ist unzeitgemäß. Ich weiß. Eben darum war ich in Bayreuth.“ 206 Nicht zuletzt war es ein Irrtum, was Diebolds Meinung nach der Bayreuther Deutschtümelei zu Grunde lag: „Unglaubliches ist geschehen! Das politisch rechts stehende Bildungspublikum hat seit dem Kriege Richard Wagner zu seinem speziellen Kunst und Kulturgott erhoben. In Ermangelung eigener schöpferischer Kulturgeister erwählten die Mannen von rechts den Revolutionär, den Flüchtling und jahrzehntelang Verbannten von 1848/49 zum Erfüller ihrer nationalistischen Bedürfnisse. Dürfen sie das? Gewiß hat Wagner seine republikanische Leidenschaft später neutralisiert – ähnlich wie Schiller. Einfluß von 1870/71. Aber seine Schöpfungen sind im revolutionären Geiste entstanden und ihre Theorien sind liberal. Doch die Leute von rechts werden von diesen Schriften nichts wissen wollen. Sie stecken den Kopf in den Sand vor dem Verfasser der Abhandlungen über „Kunst und Revolution“, dem Pazifisten von „Religion und Kunst“ und des „Parsifal“; vor dem ersten Künstler (Goethe und Schiller mitgerechnet), der, von der Hoftheateratmosphäre abrückend, für sein Werk ein demokratisches „Volk“ fordert als „die bedingende Kraft für das Kunstwerk“.“ 207 Allerdings waren es nicht nur die „Mannen von rechts“, die Diebold falsch liegend fand; es waren auch die „Linksparteiler“, denen er den Vorwurf machen zu müssen glaubte, Wagner und dessen Werk missverstanden

204 Ebenda, S. 6061. 205 Vgl. ebenda, S. 61. 206 Zelinsky 1976, S. 190. 207 Ebenda, S. 190.

84 zu haben: „Aber wir fragen zugleich: Wo blieb die Weisheit der Linksparteiler? Warum duldeten sie diese Verschiebung (nämlich nach rechts – Anm. M.U.) ? Wer hat die größte Schuld an dem politischen Verlust der populärsten Hochkunst der vergangenen Jahrzehnte? Gedankenlosigkeit der Rechtser?.. Aber die Linkspresse hat vor dem geistpolitischen Phänomen Wagners eine nicht weniger fatale Gedankenlosigkeit bewiesen. Sie hat in der Verärgerung über die Epigonen von „Haus Wahnfried“ und Herrn Chamberlain die Hauptsache selber aus dem Auge verloren. Sie hat auf den ungeheuren KulturKredit dieses weltberühmten Namens verzichtet. Sie wollte diesmal „ohne Meister selig sein“ – nennt aber bei dem Datum 1848 jederzeit mit Stolz den heute klanglos gewordenen Namen Uhlands und vergißt den mächtigen Propagandawert des größten Kunstrevolutionärs, der zugleich Märtyrer des liberalen Gedankens war.“ 208 (Wie denkwürdig es unter diesen Umständen war, zumindest Wagners Fliegenden Holländer in Fehlings Regie an der Krolloper aufzuführen, die sämtlichen „WartburgParteien“ als das Opernhaus der ungeliebten Weimarer Republik galt, liegt auf der Hand.) Folglich meinte Udo Bermbach (dem weder Holls noch Diebolds Erfahrungen unbekannt blieben) zusammenfassen zu können: „Die Entwicklung war unumkehrbar. In dem Maße, wie in den zwanziger Jahren der engere „Bayreuther Kreis“ die Exegetenfunktion des Wagnerschen Werkes monopolisieren und die Festspielleitung, also Siegfried und (Siegfrieds Frau und Nachfolgerin an der Spitze der Festspiele – Anm. M.U.) , ideologisch einbinden konnte, wurde die gleichgestimmte ideologische Ausrichtung des Festspielpublikums zu einem gleichsam „stillen“, aber doch entscheidenden Selektionskriterium. Während aus der politischen Führungsschicht der demokratischen Parteien der Weimarer Republik niemand nach Bayreuth ging und die künstlerische Avantgarde die Festspiele ebenfalls mied, wiesen die Gästelisten der Stadt schon früh die Namen später führender Nazis auf – so Röhm, Himmler, Ley und Frank. Die Vereinnahmung der Festspiele durch den Nationalsozialismus konnte so ungebremst und mangels Präsenz der Demokraten aus den verschiedenen politischen Lagern der Weimarer Republik ingang gesetzt und vollzogen werden.“ 209 Der geistigen „Verflachung“ des Bayreuther Publikums (die – in Anbetracht der Gesellschaftsschichten, denen dieses Publikum größtenteils entstammte – mit dessen „Verkleinbürgerlichung“ gleichgesetzt werden konnte 210 ) war bereits in der Vorkriegszeit eine

208 Ebenda, S. 191. 209 Bermbach 2005, S. 317318; vgl. auch Gebhardt 1998, S. 6162. 210 Vgl. Gebhardt 1998, S. 6263.

85 allmähliche inszenatorischinterpretatorische „Verflachung“ des Bayreuther Repertoires vorausgegangen; statt von Wagners „revolutionärem“ Gedankengut herausgefordert zu werden, hatte man auf dem „Grünen Hügel“ lediglich „äußere Blendeffekte“, „Massenwirkungen“, „dekorativen Aufputz“, „RegieKunststücke“ und „Spezialwirkungen“, kurzum ein Theater nach dem schlechtesten Geschmack des wilhelminischen Kaiserreichs zu bestaunen bekommen. Kein Wunder, dass sich Paul Bekker nach dem Anbruch der „neusachlichen“ Weimarer Zeit die Frage stellen musste, ob es überhaupt ratsam war, die Bayreuther Festspiele wieder ins Leben rufen zu wollen: „Man fragt: was verlieren wir damit? Wie stand Bayreuth zum deutschen Kunstleben? Was haben wir von dort empfangen, was hätten wir zu erwarten? [...] Die künstlerischen Werte der Festspiele lagen zuletzt hauptsächlich in der einzigartigen Chor und Orchesterleistung, der vorzüglichen materiellen Durchbildung des Ensembles. Das geistige Element, die persönliche Ausgestaltung der Einzelleistung war demgegenüber auffällig zurückgetreten, man sah und hörte viele mittelmäßige Solisten und die einstige Bayreuther Tradition, die auf Erweckung der Persönlichkeit im darstellenden Künstler ging, hatte sich in ihr Gegenteil: in das Streben nach systematischer Unterdrückung der Individualität, in öde und trockene Schematisierung der Auffassungs und Darstellungsart verkehrt. Auch die Art der szenischen Darbietung unterschied sich nur durch die besser gerundete einheitliche Formung von der anderwärts üblichen. Grundsätzlich war sie gleich dieser auf äußere Blendeffekte, Massenwirkungen, dekorativen Aufputz, RegieKunststücke und szenische Spezialwirkungen eingestellt. Was Bayreuth mit seiner Neueinstudierung des „Lohengrin“, der „Meistersinger“, des „Fliegenden Holländers“ bot, war im Prinzip nichts anderes, als was Hülsen in Berlin mit seinem „Sardanapal“, seiner assyrischen „Zauberflöte“ und seiner MeyerbeerRenaissance zuwege brachte: große Oper in technisch und musikalisch materiell hochkultivierter Aufmachung. Es fehlte in Bayreuth gerade so wie an unseren anderen großen Opernbühnen der ideale Auftrieb. Veräußerlichung jeder Wirkung in sauberster technischer Durchbildung unter Mißachtung und gewaltsamer Herabdrückung persönlicher Werte, unfruchtbare Traditionspflege bei völligem Mangel produktiven Vermögens – das war das Ergebnis.“ 211 All diesen Prunk, all dieses Elend vor Augen, glaubte Bekker dem Streben nach der Wiedereröffnung der Bayreuther Festspiele äußerst skeptisch entgegensehen zu müssen: „Es ist nicht anzunehmen, daß in diesen Dingen (siehe oben – Anm. M.U.) heute eine Wendung zum Besseren eintreten würde.“ 212

211 Zelinsky 1976, S. 158. 212 Ebenda, S. 158.

86 Schließlich war es , dieser „prachtvoll unmoderne Mensch“ 213 , der auf dem „Grünen Hügel“ nach wie vor das Sagen hatte; was er zu sagen pflegte, wenn er nach dem Bayreuther Inszenierungsstil gefragt wurde, ließ er auch sämtliche Festspielbesucher wissen: „Für gewisse hypermoderne Moden ist Bayreuth nicht da, das widerspräche dem Stile der Werke, die ja nicht kubistischexpressionistischdadaistisch gedichtet und komponiert sind.“ 214 Diesem Grundsatz blieben alle Produktionen verpflichtet, für die der Wagnersohn verantwortlich zeichnete. So auch die Tannhäuser Inszenierung von 1930, der (nicht nur) Winifred Wagner den Status von Siegfrieds „größter künstlerischer Leistung“ 215 zusprechen zu müssen glaubte: Gewiss gab es hier Abweichungen von der Cosimanischen Produktion von 1891 (vor allem in der Ausgestaltung der Chorszenen); gewiss gab es hier Anzeichen, das TannhäuserDrama als ein KünstlerDrama in Szene zu setzen; gewiss gab es hier den Choreographen Rudolf von Laban, dessen BacchanalChoreographie Hans Heinz Stuckenschmidt noch zwei Jahrzehnte später den Kreationen von Wieland und Gertrud Wagner entgegenhalten sollte (und dessen Schaffen Oscar Fritz Schuh mit demjenigen von Jürgen Fehling im Einklang wusste 216 ), doch der Grundgedanke dieser Produktion, wie ihn Siegfried in einem Brief an Kurt Söhnlein formulierte, war keineswegs innovativ – aus Italien zurückgekehrt, wo er sich in der Scala an der Ausstattung einer Wilhelm Tell Inszenierung („Wirklich prachtvolle Landschaftsmalerei á la Thoma!“ ) ebenso wie am Bühnenbild der dortigen Nibelungenring Produktion ( „Auch der Ring war schön, wohltuend altmodisch und nichts von [...] SaladinSchmitterei!“ ) „gefreut“ hatte, verlangte der Wagnersohn von seinem Tannhäuser Ausstatter nur das, „was zur Romantik und Poesie des Werkes [...] beiträgt“ .217 „Wohltuend altmodisch“ wirkten konsequenterweise auch die meisten Tannhäuser Szenen (die VenusbergSzene wohl ausgenommen). Die „Sängerhalle“, d.h. den zentralen Ort des Dramas, wünschte Siegfried zwar nicht den Wartburger Moritz von SchwindSzenerien nachzubilden 218 , der Anhängerschaft Saladin Schmitts wollte er dadurch allerdings nicht Genüge tun – zumal es zugegeben die „mittelalterlichen goldgrundierten Gemälde“ waren, an denen es ein Beispiel zu nehmen galt: „Der WartburgSängerhalle galten diese Wünsche Siegfrieds: Symmetrische Form anstelle der perspektivischschrägen von 1891 und 1904. Dem Podest für Landgraf und Elisabeth rechts vorn gegenüber ein genau gleiches links vorn für die Minnesänger, die Gäste dahinter auf amphitheatralisch halbrundem Stufenbau. Ein

213 Vgl. Gebhardt 1998, S. 61. 214 Spotts 1994, S. 167. 215 Vgl. ebenda, S. 173. 216 Vgl. Ahrens 1987, S. 138. 217 Mack 1976, S. 99. 218 Vgl. ebenda, S. 32.

87 großes Mitteltor rückwärts auf der obersten Stufung, Durchblick auf Thüringer Waldberge. Grundton: Gold in Gold, vor welchem die starkfarbigen Gewänder wie auf mittelalterlichen goldgrundierten Gemälden lebhaft sich abheben sollten. Dazu Elfenbeintöne in einiger Ornamentik, mildes Braun mit Gold im Deckengebälk, und tief bordeauxroter Bodenteppich kamen hinzu.“ 219 (Der Wagnersohn zeigte sich hier paradoxvoll bis zu einem gewissen Punkt mit dem Wagnerenkel einig; auch Wieland Wagner sollte für seinen Tannhäuser viel „Gold“ wünschen – an ClausHenning Bachmann sollte er u.a. sagen: „Der christliche und mittelalterliche Raum ist für mich einfach golden. Der goldene Hintergrund hat die Transzendenz um den Menschen geschaffen.“ 220 –; der Abstraktion von Wielands Bühnen räumen blieben Siegfrieds Bühnen bilder allerdings fern.) Da die Landschaftsszenerien größtenteils (d.h. von einigen „modernistisch“ aufgefassten Details und einer gewissen, durch die Art und Weise der angewandten Malerei bedingten äußeren „Modernität“ abgesehen) der Konvention verpflichtet blieben (über die Pferde und Jagdhunde, die der Wagnersohn – wohl um Bekkers schlimmsten Vorwürfen gerecht zu werden – auf die Bühne brachte, gar nicht zu reden 221 ), sah sich (nicht nur) Alfred Einstein gezwungen, Siegfrieds Tannhäuser Inszenierung „einen Kompromiß, oder sagen wir deutlich und derb: ein Stilungeheuer“ 222 zu nennen. Den Vorwurf, eine SowohlalsauchInszenierung auf die Bühne gebracht zu haben, griff auch Heinrich Simon auf, der eine klare Entscheidung für unumgänglich hielt: „Diese sogenannte traditionelle Aufmachung ist darum keine echte Tradition, weil die Malerei nicht gut ist. Sie ähnelt zeitgenössischer mittelmäßiger Kunst [...] viel mehr als der Kunst im WagnerZeitalter. Auch die Kostümierung ist aus dem gleichen Grund nicht gut. Eine Anilinfarbenorgie. Es gibt also nur zweierlei, und beides ist möglich: entweder die gute Tradition, von pietätvollen, handwerklich auf der Höhe befindlichen Kopisten und Einfühlern in das Alte ausgeführt, oder mit bedeutenden Gegenwartskünstlern das Wagnis des Neuen.“ 223 Siegfried Wagner war allerdings nicht beschieden, hier eine klare Entscheidung zu treffen – ohne dem schließlich doch erzielten Erfolg persönlich beiwohnen zu können, der seinem Tannhäuser (vor allem von seiten der „Altwagnerianer“) zuteil wurde, starb er nur wenige Tage danach. Diese Tannhäuser Produktion (die bald mit dem „Toscaninischen

219 Ebenda, S. 100. 220 Ebenda, S. 111. 221 Vgl. Spotts 1994, S. 172173. 222 Ebenda, S. 173. 223 Mack 1976, S. 32.

88 Tannhäuser “ gleichgesetzt wurde 224 ) sollte „Altbayreuths“ letzte sein – erst zwei Jahrzehnte später sollte der Wagnerenkel (und Siegfriedsohn) Wieland das „Drama der Ekstasen von Rausch und Askese“ 225 von neuem auf die Festspielhausbühne bringen und jene Entscheidung fällen, der man bei dem Wagnersohn entbehrte. Orientieren sollte sich Wieland allerdings nicht an den Produktionen von Siegfrieds „Altbayreuth“, sondern an jenen Inszenierungen, die außerhalb des „Grünen Hügels“ kreiert wurden – häufig mit der Absicht, das Bayreuther „Kunstpfaffentum“ herauszufordern. Nicht zuletzt waren es die zwei (aller Tradition spottenden) WagnerProduktionen des Tandems FehlingKlemperer, die – nicht nur Emil Preetorius’ und Heinz Tietjens Aussage nach – den Wielandschen Inszenierungen als Vorbild gelten sollten.226 Übrigens meinte bereits der mehrmals zitierte Paul Bekker, neue Anregungen für das „künftige Werden“ des WagnerTheaters außerhalb der von einer kleinbürgerlich geprägten Gemeinde von lauter „Zeit und Raumprovinzlern“ (um von Kurt Tucholskys Vokabular wieder einmal Gebrauch zu machen) vereinnahmten Bayreuther Festspiele suchen zu müssen: „Werden wir noch Festspiele in Bayreuth haben? (Geschrieben 1921 – Anm. M.U.) Vielleicht gelingt es, der äußeren Schwierigkeiten Herr zu werden, in absehbarer Zeit wieder Aufführungen zu veranstalten, Künstler und Publikum zu gewinnen. Der Besuch wird auch dann zweifellos ebenso lebhaft sein, wie früher, selbst bei erheblich erhöhten Preisen. Wohin gingen die Menschen heutzutage nicht, um sich zu zerstreuen? [...] Aber über den Kulturwert dieser Veranstaltungen können wir uns keiner Täuschung hingeben. Noch weit weniger als das Bayreuth vor dem Kriege wird das etwa wiedererstehende noch als leben und kraftspendender Faktor im deutschen Geistesleben mitzählen. Es wird, solange es im Besitz der jetzigen Führer bleibt, immer mehr die Hochburg der Reaktion, das Symbol des Stillstandes und Nichtwollens, der Verneinung von Gegenwart und Zukunft bedeuten, oder es wird möglicherweise dereinst in die Hände eines geschickten Unternehmers abgleiten. Aus Gründen der Pietät wäre diese zweite Möglichkeit menschlich zu bedauern, künstlerisch wäre sie so belanglos wie die erste. Bayreuth als Genietat ist ein Gewesenes, Vergangenes, es ist abgestorben und versunken mit der Zeit, aus der es geschaffen wurde. [...] Was übrig blieb und jetzt abstirbt, sind nur noch mumifizierte Reste. Als Erinnerungswerte mögen sie uns im Gedächtnis bleiben – die Wege des gegenwärtigen und künftigen Werdens führen weitab von dem verfallenden Gralstempel.“ 227

224 Siehe unten, S. 225 Vgl. Mack 1976, S. 33. 226 Vgl. Hamann 2006, S. 575. 227 Zelinsky 1976, S. 160.

89 Hätte Bekker Anfang der 20er Jahre gewusst, dass es lediglich drei Jahrzehnte waren, die den „jetzigen Führern“ übrig blieben (bis 1949), hätte er die Worte über das „Gewesene“, „Vergangene“ wohl unterlassen; im Großen und Ganzen sollte er allerdings Recht behalten – es war in der Tat nicht der „verfallende Gralstempel“, der für neue „Genietaten“ da stand. Um diese zuwege zu bringen, um auch dem ganzen „Theater vor dem Theater“ (wie Bernhard Diebold die Deutschtümelei um Wagner und dessen Erbe zu nennen pflegte 228 ) überlegen zu bleiben, brauchte man keinen „Tempel“, kein Festspiel Haus, sondern ein Haus, wo man sich zum Ziel setzte, „gutes Theater “ zu machen. Dieses Haus glaubte man nicht umsonst am Platz der Republik (bzw. am Tiergarten) in Berlin gefunden zu haben (das unter dem Namen Krolloper weltberühmt, aber auch verkannt und verschrien werden sollte). Nach der „Philosophie“ der 1927 geöffneten Staatsoper am Platz der Republik gefragt, brachte sie Otto Klemperer, dieser „Experimentator maximus des internationalen Musiklebens“ 229 , der in seiner Eigenschaft als „Opernvulkan am Tiergarten“ 230 für die künstlerische Gesamtleitung des Hauses verantwortlich war, auf einen Nenner: „Gute Aufführungen zu machen.“ 231 Was darunter zu verstehen war, erklärte Klemperer unmissverständlich: „Wir gaben klassische Opern ohne Engstirnigkeit. Wir gaben Werke von lebenden Komponisten. Wir waren nicht interessiert an Pomp und Spektakel.“ 232 Vor die Aufforderung gestellt, die Bedeutung der Krolloper gebührend zu würdigen, fasste sich Thomas Mann kurz: „Wenn das Problem der Oper heute noch oder wieder eine geistige Angelegenheit und Gegenstand geistiger Auseinadersetzung ist, so ist das in erster Linie das Verdienst dieser Institution.“ 233 Allerdings war diese Einstellung nicht die einzig stichhaltige – mit der Herausforderung ringend, die (nicht nur) für ihn die Produktionen dieses „Ortes und Instruments auch einer ästhetischen Utopie“, dieses „antibürgerlichen Theaters“ 234 bedeuteten, fasste sich Thomas Manns zeit und raumprovinziell gesinnter Volksgenosse Paul Schwer ebenso kurz: „[...] künstlerischer Volksbetrug wird auf dieser sogenannten „Experimentierbühne“ am Tiergarten systematisch verübt, seitdem der fanatische, verbohrte, in unfruchtbare Ideologien verrannte Klemperer dort nach Gutdünken mit den Geldern des Staates und den ihm anvertrauten künstlerischen Mitteln wirtschaften kann… Der Betrieb in der Staatsoper am Tiergarten schadet dem Ruf Berlins als Kunststadt ungemein… man

228 Vgl. Barth 1973, S. 110. 229 Vgl. Schreiber 2005, S. 162. 230 Vgl. ebenda, S. 162. 231 Heyworth 1974, S. 119. 232 Ebenda, S. 119. 233 Eckert 1995, S. 22. 234 Vgl. Schreiber 2005, S. 161.

90 ändere die Methode oder man schließe dieses… Haus so bald wie möglich.“ 235 Als er später nach dem Grund für die nur vierjährige Existenz der Krolloper gefragt wurde, wusste ihn Klemperer – wohl auch in Erinnerung an die vorstehende Kritik, der nicht zufällig Fehlings Holländer Inszenierung zu Grunde lag – sofort zu nennen: „Kroll wurde nicht aus finanziellen, sondern aus politischen Gründen zugemacht. Den Mächtigen paßte unsere Richtung nicht. Sie mochten uns nicht. Als ich mich 1933 von Tietjen (der für die Staatsoper Berlin als Intendant verantwortlich war – Anm. M.U.) verabschiedete, sagte ich: Natürlich sind die Nazis sehr gegen mich, weil ich Jude bin.“ „Nein“, antwortete er, „das ist nicht so wichtig. Ihre politische und künstlerische Richtung wollen sie nicht. Das ist der Grund, weshalb die Krolloper geschlossen wurde.““ 236 Als eine der brisantesten KrollProduktionen zeigte sich die Neuinszenierung des Fliegenden Holländers , die Jürgen Fehling (mit Klemperer am Dirigentenpult) künstlerisch verantwortete. Wie oben erwähnt, blieb dem Tandem FehlingKlemperer nur zweimal vorbehalten, ein musikdramatisches Werk in Szene zu setzen – beide Male handelte es sich um ein Werk Wagners ( Der fliegende Holländer , Tannhäuser ), beide Male war seiner Produktion beschieden, Schule zu machen. Die Bedeutung insbesondere der heftig umstrittenen Holländer Inszenierung steht außer Frage: Nicht umsonst sollte Wielands und Wolfgangs „Neubayreuth“ mit einem „Patenkind“ der Krolloper gleichgesetzt werden ( „In mancher Hinsicht war die KrollOper Vorläufer von NeuBayreuth nach dem zweiten Weltkrieg, von all dem, was Wieland Wagner an szenischvisueller Neudeutung, „Entrümpelung“, geleistet hat. Der Fliegende Holländer von dem genialen Regisseur Jürgen Fehling bedeutete die szenische Revolution: Die Musik Wagners, wie Klemperer sie verstand, erschuf groß, kantig und visionär ein unerbittliches Drama.“ 237 ); nicht umsonst sollte sich Wieland Wagner drei Jahrzehnte später bemüht zeigen, Klemperer für die Bayreuther Festspiele zu erwerben – zumal das WagnerVerständnis des Wagnerenkels mit demjenigen des „Piscator der Opernbühne“ (um hier von Hanns Eislers nicht unumstrittener Bezeichnung Klemperers Gebrauch zu machen 238 ) weitgehend übereinstimmend anmutete: „Nichts liegt mir ferner, als eine erstarrte, trockene, ängstliche Befolgung der Vorschriften zu verlangen. Im Gegenteil: Eine freie, phantasievolle, mutige Behandlung dieser Vorschriften wird, so scheint es mir, stets die Wagnerischste sein.“ 239 ; nicht umsonst sollte man glauben, zwischen

235 Heyworth 1988, S. 321. 236 Heyworth 1974, S. 118. 237 Schreiber 2005, S. 162. 238 Vgl. Eckert 1995, S. 22. 239 Ebenda, S. 22.

91 dem Inszenierungsstil des „Neubayreuth“ und demjenigen der Krolloper, d.h. zwischen dem Wagnerenkel und Ewald Dülberg (der auch für die Ausstattung von Fehlings Holländer Inszenierung sorgte) eine „Wahlverwandtschaft“ erkannt zu haben: „Wieland Wagner befreite „das Werk“ (gemeint ist Wagners Werk – Anm. M.U.) aus den Verkrustungen und Überwucherungen jahrzehntelanger Regietraditionen. Seine Überzeugung war es, daß die Ehrfurcht vor Richard Wagners Werken gebiete, die darin enthaltenen Ideen zu verwirklichen. Jede Zeit müsse sie aus der Partitur heraus neu sehen und neu gestalten. Die ursprünglichen Bühnenanweisungen seien für das Hoftheater des Spätbiedermeier und der Spätromantik gemacht, für ein Theater mit gemalten Kulissen und Gasbeleuchtung, für Sänger, die im Hoftheaterstil agierten. So abwegig es heute sei, Spielvorschriften für das Theater des Jahres 2050 zu machen, so unmöglich sei es jetzt, sich nach Angaben zu richten, die für das Theater der Zeit zwischen 1830 und 1870 gemacht worden seien. Einzig darauf komme es an, „das von aller Konvention losgelöste ReinMenschliche“ der Kunst Richard Wagners zu zeigen.“ 240 (Dülberg zeigte sich ebenso tabubrecherisch, wenn es galt, das Überlieferte neu auf die Bühne zu bringen – vor Augen, aller Tradition spottend, kreierte er, dem Wagnerenkel gleich, einen als zeitbedingt gesehenen „KrollStil“, dessen Grundgedanken diejenigen des Neubayreuth waren. 241 ) Nicht zuletzt sind es die Vorwürfe, die, gegen die Inszenierungspraxis des „Neubayreuth“ ebenso wie gegen diejenige der Krolloper erhoben, auf eine „Verwandtschaft“ schließen lassen: Die „Altwagnerianer“, die – in der sog. Vereinigung für die werktreue Wiedergabe der Dramen Richard Wagners versammelt – 1953 gegen Wielands Inszenierungen auf den Plan gerufen werden sollten, gingen – nicht nur im sog. Wagnerverein deutscher Frauen organisiert – bereits gegen Fehlings „Versuch über Wagner“ 242 auf die Barrikaden. Nach der Wirkung dieses „Versuchs“ gefragt, meinte Otto Klemperer trotzdem über einen Erfolg sprechen zu dürfen: „[...] Wir begannen die nächste Spielzeit, 1928/29 mit dem „Fliegenden Holländer“, und das war wirklich ein großer Erfolg. Moje Forbach war Senta, und sie war prachtvoll – heute ist sie Schauspielerin. Wir machten die Oper mehr oder weniger in gegenwärtiger Kleidung. Senta trug Sweater und Rock, die Seeleute waren im Matrosenanzug, und der Holländer hatte ein Cape. Das hat die Leute furchtbar empört. Der Wagnerverein deutscher Frauen protestierte über diese Verhohnepipelung Wagners, und vor der zweiten Aufführung rief uns die Polizei an, um uns zu sagen, daß die Nazis eine

240 Schostack 1998, S. 294295. 241 Vgl. Eckert 1995, S. 2223. 242 Versuch über Wagner benannte Theodor W. Adorno seinen tabubrecherischen WagnerAufsatz.

92 Demonstration planten; die braunjackigen Leute waren ja schon da. Ich bat um Polizeischutz. Zehn Zivilbeamte saßen in der ersten Reihe, und zweihundert andere waren rundum im Zuschauerraum postiert, und so ist es zu nichts gekommen.“ 243 Der Empörung, über die Klemperer sprechen sollte, lag neben der Inszenierung selbst (Fritz Steges Meinung nach einer „Kulturfratze einer bis heute unerhörten künstlerischen Schamlosigkeit, die mit hämischem Grinsen ein deutsches Kulturdenkmal in Trümmer schlug“ 244 ) Ernst Blochs Aufsatz Rettung Wagners durch Karl May (bzw. Rettung Wagners durch surrealistische Kolportage ) zu Grunde. Über die Bedeutung dieses Aufsatzes (nicht nur) für Fehlings Holländer zeigte sich Theodor W. Adorno (der ebenso wie Bloch selbst den geistigen Paten des „Neubayreuth“ angehören sollte) durchaus gut beraten, als er resümierte: „Rascher, als die denken konnten, die Bloch Abstraktheit seiner Forderungen vorwarfen, hat sich konkretisiert, was er konkret genug dachte. Er hat nicht in die Luft geblasen, sondern eine Realität getroffen, die gestern oder morgen explodieren mußte.“ 245 Was er forderte, fasste Ernst Bloch treffend unter dem Begriff des „Raffinierens“ zusammen: „Verstünde man [...] zu raffinieren, so dürfte nicht nur der Bienenstock wirklicher alter Kultur, sondern auch Wagners Wachsfigurenkabinett noch manchen seltsamen Honig enthalten. In dem Tohuwabohu von Kitschschemen steckt unter anderem eine Pseudomorphose, deren Tage buchstäblich nicht gezählt sind, und eine Hieroglyphe, die auf Deutung wartet.“ 246 Ernst Bloch beim Wort nehmend, „raffinierte“ Fehling aus dem Fliegenden Holländer ein Drama, bis (nicht nur) Oscar Fritz Schuh nichts anderes übrig blieb, als dem Erlebten den Status eines bisher noch nicht Dagewesenen zuzuerkennen: „Das hatte man auf der Opernbühne bis dahin noch nicht gesehen.“ 247 Wessen man auf der KrollBühne Zeuge wurde, glaubte Theodor W. Adorno nur mit einer Mobilisierung vergleichen zu können: „Die Neuaufführung (des Fliegenden Holländers – Anm. M.U.) ist durchaus Mobilisierung. Die Gespenster, die ohnehin bei Wagner undicht, nämlich symbolisch durchlöchert und weltweit entfernt von denen Webers etwa sind, wurden abgebaut. Nicht mehr mit naturalistischen Schauern gestartet, sondern gleich in der Kahlheit ihrer Symbolbedeutungen eingesetzt, womit zwar die Schauer, die längst verflüchtigten, endgültig fortfallen, dafür aber die Intentionen endlich faßlich werden. Das Schiff kommt also gleich als transzendentes Fahrzeug, täuscht nicht vor, ein Schiff zu sein, und die Verklärung

243 Heyworth 1974, S. 108109. 244 Heyworth 1988, S. 320. 245 Adorno 1984, S. 270. 246 Bloch 1962, S. 375. 247 Heyworth 1988, S. 319.

93 am Schluß fällt wegen Mangels an Beteiligung aus; Senta springt ins Meer, ein gelber Lichtball, eine eher bedrohliche Sonne erscheint darüber, das ist alles.“ 248 Anders als Adorno (der keine drei Jahrzehnte später dem Wagnerenkel beistehen sollte, wenn es galt, die „WagnerOrthodoxie“ zu verletzen, das „Falsche“, „Brüchige“, „Antimonische“ zu zeigen 249 ) hatte Paul Schwer für diese Vorwegnahme des „Neubayreuth“ nur eine schroffe Abfuhr übrig; mochte sich der „Denker“ freuen, dem Ende der „deutschen Renaissance“, der „Aufräumung mit Busen und Busenlatz“ 250 beigewohnt zu haben (was, wie sich Hans Mayer ausdrücken sollte, dem „Entsetzen über die Masse in einem ganz modernen Sinne“ 251 Tür und Tor öffnete), sah sich der „Schwärmer“ ( „Im Grunde denken sie hier ja überhaupt nicht allzu viel, sondern sie schwärmen. Berauschen sich am Klang der Namen Wotan und Siegfried!“ 252 , schrieb Bernhard Diebold über die reaktionären, auf dem „Grünen Hügel“ allerdings gern gesehenen „Altwagnerianer“ von Schwers Schlag.) böse provoziert und witterte einen „Volksbetrug“ (um nicht zu sagen: einen „jüdischen Schwindel“ 253 ): „Der natürlich bartlose Holländer schaut aus wie ein bolschewistischer Agitator, Senta wie ein fanatisch exzentrisches Kommunistenweib, Erik… wie ein Zuhälter; die Dalandmanschaft gleicht einer Horde neuzeitlicher Hafenvagabunden, die kümmerliche Spinnstube einer Arbeitsszene weiblicher Strafgefangener… das, was Klemperer mit seinen Helfern hier bot…, gleicht einer völligen Zertrümmerung des Wagnerschen Kunstwerks, einer Verfälschung der künstlerischen Absichten des Schöpfers von Grund auf. [...] Dieser proletarisierte UrHolländer… (ist)… ein künstlerischer Volksbetrug…“ 254 Der Mann, der für diesen „proletarisierten UrHolländer“ verantwortlich zeichnete, hieß, wie bereits gesagt, Jürgen Fehling. Warum ihn Otto Klemperer zu einem seiner „Helfer“ machte, liegt auf der Hand – 1948 für eine Inszenierung von Sartres Fliegen mit dem Kritikerpreis der Zeitschrift Athena ausgezeichnet, charakterisierte sich der geborene Lübecker selbst als einen „Unbequemen“ und „Kostspieligen“, dem man die „aufrührerischen“ Fliegen ebenso wie den „aufrührerischen“ Holländer oder Tannhäuser mit voller Selbstverständlichkeit zumuten musste: „Ich bin der älteste aller Regisseure Berlins: Ich habe als Jurastudent 1904 Otto Brahms Meisterschaft und Reinhardts Frühzeit gesehen. Ich habe mit immanentem, noch nicht bewußtem Theatersehnen die Gefahr in Berlin

248 Adorno 1984, S. 269. 249 Siehe unten, S. 151. 250 Vgl. Adorno 1984, S. 270. 251 Vgl. Ahrens 1987, S. 123. 252 Zelinsky 1976, S. 190191. 253 Siehe oben, S. 76. 254 Heyworth 1988, S. 320321.

94 herannahen gefühlt, aus der humanistischen Strenge, aus der kräftigen, klaren Luft Otto Brahms und Mommsens in ein schwüleres und kulturgefährdendes Klima der schmucksüchtigen und ismenneugierigen Halbbildung und des unsicheren Neureichtums hinüberzuwechseln. Ich habe das Vordringlichwerden des Kommerziellen im Reinhardt Konzern und die Erschlaffung des Reinhardtschen Stils im Dekorativen und gesellschaftlich Gestrigen als junger Regisseur der Volksbühne empört und beschämt mitgesehen. Ich habe Jessners Pranke bewundert und zugleich seine auf der Treppe erstarrende Bilderschrift bekämpft und mit eigenen prinzipiellen Arbeiten ausgeglichen. [...] Ich habe die Überwindung des illusionistischen Bühnenbildes erzwungen, habe den Bühnenraum aus den bürgerlichen Fesseln der Drehbühne erlöst, ich habe die Reinhardtsche Buntheit und Holdheit zu maskuliner Leidenschaft aufgereizt und eine dramatischere Sprache auf der Berliner Bühne gelehrt.“ 255 Dass es neben Sartres Fliegen und Wagners Fliegendem Holländer auch Wagners Tannhäuser war, dem Fehling mit einer „dramatischeren Sprache“, mit seiner Abneigung gegen das „Dekorative“ und „gesellschaftlich Gestrige“, mit seinem „Nonkonformismus“ (den Gustaf Gründgens „das genaue Gegenteil zum Nonkonformismus um jeden Preis“ nennen zu müssen glaubte 256 ) zu einer skandalgebeutelten Neuinszenierung (diesmal an der Staatsoper Unter den Linden) verhalf und noch einmal Wielands „Neubayreuth“ vorwegnahm, erscheint uns nur logisch; nicht umsonst sollte Kurt Kreiler (der seinem Aufsatz über das Fehlingsche Theater der 20er Jahre den Titel Vom Aufstieg des Titanen gab) schreiben: „Insgesamt bevorzugt dieser Regisseur Stücke, in denen schicksalhaft bindende und trennende Mächte, große seelische Affekte, irrationale Wendungen, phantastische Visionen sinngebend wirken. Er macht das Dämonische transparent, kontrastiert dem Pathos die Komik, schafft den sinnlichrealen Untergrund für das poetische Drama.“ 257 Siegfried Wagners Tannhäuser Inszenierung von 1930 mangelte es wohl an stilistischer Einheit ebenso wie an Überzeugungskraft; Fehlings Tannhäuser lag dagegen eine klare Entscheidung zu Grunde, nämlich diejenige, nicht minder als in der oben erwähnten Holländer Inszenierung mit aller (falschen) „deutschen Renaissance“, mit „Busen und Busenlatz“ aufzuräumen und von neuem jenes Wagnis einzugehen, das nur vier Jahre zuvor in der Umwandlung des Fliegenden Holländers in eine „düstere, in Nebel gehüllte Meeresballade ohne alle konventionelle Opernschönheit“258 bestanden hatte. Galt schon der Wagnersohn für einen „vorsichtigen Umgestalter“, der das Los eines „revolutionären

255 Ahrens 1987, S. 28. 256 Vgl. ebenda, S. 152. 257 Ebenda, S. 112. 258 Vgl. Geitel 1981, S. 102.

95 Neugestalters“ scheute 259 (wie es nicht zuletzt seine eher ablehnende Einstellung zu Fehlings Holländer Inszenierung zum Vorschein brachte: „Nu, Ihr seht ja alle zum Piepen aus“ 260 , begrüßte er Otto Klemperer bei der Generalprobe), erschien Fehling – dem der Vorwurf, alles Überlieferte neu gestalten, mit sämtlichen Traditionen, sämtlichen Tabus brechen zu müssen, nicht umsonst gemacht wurde – als der beinahe ideale Mann, um jene Entscheidungen zu treffen, die man auf dem „Grünen Hügel“ nicht fällen konnte (bzw. nicht zu fällen wünschte). Während es Siegfried Wagner sein Leben lang unmöglich bleiben sollte, über Cosimas ebenso wie über den eigenen Schatten, d.h. über „Altbayreuths“ Schatten zu springen (und das Wagnersche Werk, in dessen Geschichten die Zeitgeschichte verschlüsselt war, seiner Brisanz entsprechend in Szene zu setzen), nahm Jürgen Fehling Wieland Wagner vorweg, der – bekämpft ebenso heftig wie umjubelt – die Bezeichnung eines „Theaterumstürzlers“ in Anspruch nehmen sollte.261 Die Parallelen, die es zwischen dem Fehlingschen und Wielandschen (Wagner) Theater gibt, erscheinen uns geradezu erstaunlich; zu dem Zeitpunkt, als der Wagnerenkel selbst noch dem Stil des „Altbayreuth“ verpflichtet war (wohl um ihn gegen die behutsamen Reformen des ungeliebten Tandems TietjenPreetorius ausspielen zu können 262 ), legte Fehling in Berlin den Grundstein des „Neubayreuth“. Oscar Fritz Schuh sollte ganz genau wissen, wen er unter der „jüngeren Generation“ meinte, die er an Fehlings „neuer Bühnenform“ eines der Beispiele nehmen sah: „Fehlings Weg, den ihn zuerst mit romantischen und verspielten Komödien verband, führte konsequent zur großen Tragödie. Und in „Richard III.“ ist es ihm gelungen, eine vollständig neue Bühnenform zu finden, die auch heute noch unvergessen ist und von der die jüngere Generation profitiert. Es ist der tiefe, völlig kahle, weiße Spielraum, Wände, Decke und Boden kalkig weiß, der Boden als Schräge nach hinten stark ansteigend, so daß eine perspektivische Wirkung erzielt wird, wie dies auf den Bildern de Chiricos zu sehen ist.“ 263 (Über Giorgio de Chirico sollte auch Hans Heinz Stuckenschmidt sprechen, als er der Herausforderung gegenüber stand, die Wielands Bayreuther Tannhäuser Inszenierung darstellte. Übrigens hätte der Wagnerenkel Fehling nur zustimmen müssen, als dieser die Leere – genauer gesagt: die scheinbare Leere – seines Bühnenraums mit dem Sieg des „Wunders des redenden, schweigenden aufrechtwandelnden Menschen“ übereinstimmend glaubte: „Deutsche Theaterleute, wenn sie richtig sind, sind nichts als Diener der Dichter,

259 Vgl. Spotts 1994, S. 169. 260 Heyworth 1988, S. 318. 261 Siehe unten, S. 149. 262 Vgl. Hamann 2006, S. 446 ff. 263 Ahrens 1987, S. 138.

96 Fleisch gewordenes, aus dem Fleische tönendes Wort. Die Kulissen müssen fortschmelzen vor der Glut ihrer Rede. Karl Moor hat die böhmischen Wälder in der Kehle. Macbeth muß die Heide und die Hexen in seiner Kopfhaltung und in der Spannung seines Körpers geben. Es muß endlich das eindeutige und vieldeutige Primat des Menschen, das Wunder des redenden, schweigenden aufrechtwandelnden Menschen über alle Dekorationen siegen in der Blüte seiner Leidenschaft. Große Geister lieben den Raum, sie haben keine Wohnung, sie sind unmöbliert. Alles Milieu chargiert die Gesetze des Elements. Wir brauchen nichts als die Bretter der Bühne, klares Licht und eine gute Akustik.“264 ) Über das bereits Gesagte hinaus war es das Verständnis der Bühne als eines dem Publikum (d.h. der Gesellschaft) vorzuhaltenden Spiegels, was die Parallelen zwischen dem Fehlingschen und Wielandschen Theater sich bemerkbar machen ließ. Sollte Wieland Wagner während der Proben zu seiner Bayreuther Nibelungenring Inszenierung von 1965 (einem der denkwürdigsten Versuche des damals immer noch nicht „richtig“ vergangenen Adenauer Zeitalters, sich mit der letzten „großen Zeit“ auseinander zu setzen, statt sie – wie so oft – unverarbeitet zu verdrängen) die WaltrauteDarstellerin beraten, an den „Führer“ und dessen Lage unmittelbar vor dem Zusammenbruch zu denken, um Waltrautes Mahnung an Brünnhilde die erforderliche Eindringlichkeit zu geben 265 , wusste sich Fehling ebenso Rat, als er (bereits nach dem Anbruch der neuen „WartburgZeit) am Staatstheater Berlin der Herausforderung gegenüber stand, Hanns Johsts Propheten auf die Bühne zu bringen – Bernhard Minetti, der in dieser Inszenierung mitwirken durfte, sollte sich später erinnern: „Die Aufführung war radikal und bildnerisch unerhört kühn. Zadek oder Neuenfels könnten heute nicht radikaler sein. Jürgen Fehling, der ja zehn Jahre zuvor Tollers „Masse Mensch“ inszeniert hatte, entfesselte noch einmal ekstatische Szenen. Man sah Menschenmassen, die einer hysterischen Stigmatisierten zuschrien, Bilderstürmer, die einem Prior folgten, Verurteilte, die zum Scheiterhaufen gezogen werden, der Pestkarren rollte über Traugott Müllers (Fehlings Bühnenbildner – Anm. M.U.) Knüppeldamm. Dumpfe, verzückte Bilder des „finsteren Mittelalters“, mit der ganzen Gefährlichkeit dieser Atmosphäre. [...] Fehlings künstlerisches Verhältnis zu Johsts Stück war sicher in der Vision begründet: Hier kann ich Mittelalter abbilden, Massenszenen mit ihrer ganzen Unheimlichkeit und Brutalität machen, die ich doch eben noch auf den Straßen gesehen habe. Er machte das ganz, und es hatte etwas Furchtbares. Ich kann mir vorstellen, daß er mit dem Schluß, an dem er George (einen der Hauptdarsteller – Anm. M.U.) die Glocken läuten und rufen ließ „Deutschland stürmt sich

264 Ebenda, S. 2425. 265 Vgl. Skelton 1971, S. 182.

97 seinen Himmel. Schlagt zu, brecht ein, Euch schlägt ein Herz, ein Herz schlägt Euch entgegen!“ noch etwas anderes losgeworden ist. – Wenige Monate vor der Premiere von „Propheten“ hatte der Reichstag gebrannt, war der angebliche „Röhmputsch“ mit seinen brutalen Morden bekanntgeworden. Fehling hatte in solchen Bildern gedacht, wie später seine Inszenierung von „Richard III.“ mit dem Chor der Gehängten noch deutlicher gezeigt hat. Einem Schauspieler, einem SAMann [...] , sagte er bei der Probe, als er die Toten auf den Pestkarren zerren sollte: „Weißt du, das machst du dann halb Rabauke, halb SA.“ Fehling scheute sich nicht vor Deutlichkeit.“ 266 Die Deutlichkeit nicht scheuend (wohl dem eigenen Grundsatz getreu „Wir Theaterleute fürchten die Talentlosigkeit, sonst nichts in unserer – zaubervollen – Welt!“ , den er, ganz der „Eiserne Kanzler“, in Bezug auf den Skandal um seine Münchner Blaubart Inszenierung formulieren sollte 267 ), an jeder Möglichkeit interessiert, wieder einmal das „Mittelalter abbilden“, die „Massenszenen mit ihrer ganzen Unheimlichkeit und Brutalität machen“ zu können, nahm Fehling (auch diesmal Seite an Seite mit Otto Klemperer) Wagners Tannhäuser in Angriff. Seit langem geplant, kam das VenusbergWartburgDrama gerade rechtzeitig auf die Bühne, um der kaum angebrochenen „WartburgZeit“ einen Spiegel vorzuhalten – weswegen sich nicht nur Klemperers Biograph Peter Heyworth der Meinung zeigen sollte, Tietjens Intendanz hätte es ohne Zweifel manches gekostet, wäre Hitler mit seiner Entourage momentan nicht in Leipzig gewesen, um den dortigen WagnerFeiern beizuwohnen: „Angesichts der Ereignisse konnte Tietjen sich nur dazu gratulieren, daß der neue Machthaber sich nicht für den Besuch der Lindenoper entschieden hatte.“ 268 Hatte die Staatsmacht 1929, als Fehlings Holländer Inszenierung an der Krolloper die „Altwagnerianer“ und Deutschnationalen auf die Barrikaden getrieben hatte, noch an der Seite der beiden „Tannhäuser“ (nämlich Fehling und Klemperer) gestanden, so schenkte sie nun – von Deutschlands „WartburgPartei(en)“ gerade „ergriffen“ – der tobenden „Wartburg Gemeinschaft“ Gehör, die „Tannhäusers“ (d.h. Fehlings bzw. Klemperers) an der Staatsoper Unter den Linden zur Schau gestellter „Kühnheit“ ein Ende bereitet wissen wollte: „Lasst ihn nicht enden! – Wehret seiner Kühnheit!“ 269 Betrachten wir jetzt diese Produktion näher. Auch Fehlings Tannhäuser Inszenierung, „die den schlimmsten Exzessen der Krolloper nicht nachstand“ 270 , nahm das künftige „Neubayreuth“ weitgehend vorweg. Wenn

266 Ahrens 1987, S. 144. 267 Ebenda, S. 80. 268 Heyworth 1988, S. 461. 269 Tannhäuser , 2. Aufzug. 270 Heyworth 1988, S. 462.

98 wir zwischen Fehlings Tannhäuser und demjenigen, den Wieland Wagner Mitte der 50er Jahre (bzw. im Laufe der 60er Jahre) auf die Bayreuther Festspielhausbühne bringen sollte, Vergleich anstellen, können uns die Parallelen unmöglich verborgen bleiben: „So lag [...] Wielands Konzeption der Gedanke zugrunde, daß ein leidenschaftlicher Mensch zwischen sinnlicher Ausschweifung und religiöser Ekstase zerrieben wird. Die Tragödie des Tannhäuser vollzieht sich zwischen VenusbergOrgie und frommen Pilgergesängen. Das Publikum sollte auf diese Grundidee konzentriert werden, weshalb auf die Wartburg Landschaft, auf Frühling und Herbst verzichtet wurde, ebenso auf einen realistischen Wartburgsaal und auf die herkömmliche Venusgrotte. Die stilisierenden Absichten zielten auf die „künstlerische Vorwegnahme der tristanischen Idee“ und „auf die Vorausahnung des Erlösungsgedankens im „Parsifal““, also: Rausch und Askese als die zwei möglichen Ausdrucksformen der Ekstase.“ 271 Der Fehlingschen Inszenierung lag ein Konzept zu Grunde, dessen Gedankengut (im Großen und Ganzen) auch bei Wielands Regiekonzeption Pate stehen sollte: „Jürgen Fehlings Berliner „Tannhäuser“Inszenierung läßt sich ansehen als das Ergebnis insistierender geistiger Auseinandersetzung mit den ineinandergelagerten Bedeutungsschichten der Künstlertragödie und des Erlösungsspiels. Wagner selbst hat sich den Sinnzusammenhang seines Frühwerkes mit den „Meistersingern“ einerseits und andererseits mit „Tristan“ und „Parsifal“ rückschauend vergegenwärtigt. Fehling unternimmt es, den romantischen Aspekt von Kunst und Weltdeutung zu entflechten, wobei auftretende Widersprüche nicht überspielt, sondern deutlich akzentuiert werden (vergleiche in diesem Kontext Wielands Inszenierungsgrundsätze, denen Theodor W. Adornos „Ratschläge“ zu Grunde liegen sollten – Anm. M.U.). Nicht mehr inszeniert hier ein Regisseur „vom Blatt“, wie es bislang in allermeist gedankenlosem Befolg Wagnerscher Regievorschriften geschah. Die Bühne bestätigt sich als Instrument scharfsichtiger Analyse, die das musikalischdramatische Kunstwerk nicht billig reproduziert, sondern dem gewandelten gesellschaftlichen Selbstverständnis als provozierendes Modell anbietet.“ 272 (Allerdings galt Fehlings Interesse in erster Linie dem „Künstlerdrama TannhäuserWagners“ 273 , während sich Wieland zum Ziel setzen sollte, die Tragödie Tannhäusers als diejenige „des Mannes im christlichen Zeitalter überhaupt, der im Bewußtsein seiner inneren Gespaltenheit in Geist und

271 Bronnemeyer 1970, S. 136. 272 Ahrens 1987, S. 135136. 273 Siehe unten, S. 98.

99 Trieb den Weg zurück zur ursprünglichen göttlichmenschlichen Einheit sucht“ 274 , in Szene zu setzen.) Parallelen gibt es nicht zuletzt in der Personenregie: Mochte sich Kurt Söhnlein über die „individuelle Führung der Eintretenden“ freuen, die Siegfried Wagner 1930 im zweiten Aufzug seiner Tannhäuser Inszenierung zur Schau gestellt hatte ( „Die WartburgSängerhalle erlebte ihren Gipfelpunkt natürlich im Einzug der Gäste. Einfallsreich in vielen Einzelheiten, in individueller Führung der Eintretenden, welche alles andere denn als uniforme Masse darstellten!“ 275 ); mochten (nicht nur) die „Bayreuther“ glauben, nur durch dieser „individuellen Führung“ angepasste Kostümierung dem Geist der Szene gerecht werden zu können, so ging Fehling, dem Wagnerenkel gleich, das Wagnis ein, an diesem Glauben zu rütteln: „Solisten sind uniform in Violett und Weiß gekleidet, differenziert werden nur die sozialen Gruppen des Klerus, der Ritterschaft und der Frauen“ , beschrieb Dietrich Steinbeck Fehlings „Innovation“. „Der historische Aspekt ist jedoch keineswegs eliminiert. Fehling schwelgt nur nicht in historisierendem Prunk, sondern verknappt den Geschichtsraum zu prägnanten Zeichen. Auch das Prinzip der individualisierten Gruppe, das in Bayreuth bis zum Extrem namentlicher Kennzeichnung jedes Choristen geführt worden war, lehnt Fehling ab. Nicht länger hat der Landgraf die ankommenden Ritter einzeln zu begrüßen; der Chor tritt in strenger choreographischer Ordnung auf und nimmt ohne private „Spielastik“ seinen Platz ein.“ 276 (Was für Gedanken diesem Konzept zu Grunde lagen, ist offensichtlich: Fehlings Vorliebe für die Massenszenen, bei deren Darstellung ebenso wie bei der Darstellung deren Brutalität, Unheimlichkeit, Verbohrtheit und geistiger Uniformität er sich die Inspiration „auf der Straße“ zu holen pflegte – wie davon die Erinnerungen eines Minetti ebenso wie die Rezensionen manches Kritikers Zeugnis ablegten –, fand bei der InSzeneSetzung des Wartburger Sängerkriegs einen gewaltigen Ausdruck: „Bewußt ist [...] das Zeremoniell, der „tote“ Ritus, die determinierende Macht der Sitte betont. Fehling preßt seinen Chor nachgerade in die drangvolle Enge der Tribünen, die schon optisch das freie Leben zur vorherbestimmten, konformistischen Reaktion nivelliert. Gleiche Tendenz verrät die Führung der Solisten. Bewegungslos verharren die Sänger an ihren Plätzen. Erst das „Stichwort“ bringt Leben in diese gesellschaftlichen Marionetten, und nur der Singende kommt jeweils zu charakteristischer Aktion. Bezeichnend ist schließlich, daß Fehling noch die streitenden und in der Erregung einander von der Harfe wegdrängenden Sänger strikte Spielregeln befolgen

274 Wessling 1997, S. 240. 275 Mack 1976, S. 100. 276 Ahrens 1987, S. 135.

100 läßt. So etwa hat jeder einzelne, bevor er zu „sprechen“ beginnt, die Handschuhe zu wechseln.“ 277 ) Eine der Parallelen mit Wielands Bayreuther Tannhäuser Inszenierung(en) gibt es bei der Darstellung des Venusbergs: Sollte der Wagnerenkel die Gegenwelt zur Wartburg als einen „von Tannhäuser geträumten irrealen Raum“ 278 in Szene setzen, mutete Fehlings Entscheidung, hier einen „geistigen Ort“ auf die Bühne zu bringen, so an, als hätte sie dem damals noch unvermuteten „Neubayreuth“ direkt vorausgehen wollen ( „Dieser Venusberg ist empirisch nicht mehr zu identifizieren“ , schrieb Dietrich Steinbeck. „Fehling mag auch dieses Bild als „geistigen Ort“ begriffen haben; denn selbst die Orgiastik des Bacchanals steht nicht für sich, es manifestiert sich darin kein mögliches Leben. Venus spielt ihr imaginäres Reich als Argument gegen Tannhäusers Todessehnsucht aus, ein Argument jener Glücksimago, die sich der „Unordnung“ eines alle Besinnung zernichtenden Genußrausches anheimgibt.“ 279 ) Eine Parallele zwischen dem Wielandschen und Fehlingschen Tannhäuser lässt sich sogar in einem behutsamen Gebrauch von „Verfremdungseffekten“ entdecken, zu denen Fehling bei der Darstellung des eigentlichen Sängerkriegs griff – indem er den Minnesängern eine einzige Harfe zur Verfügung stellte, die, um Oscar Fritz Schuh zu zitieren, den Eindruck eines „Konzertflügels bei einem PianistenWettbewerb“ 280 suggerierte: „Letzlich ist es diese mächtige Standharfe, mittels welcher auch die dramatischen Ereignisse im Sängerkrieg zur epischen Demonstration ihrer selbst gleichsam „verfremdet“ werden.“ 281 Schließlich ist es der abstrakte Bühnenraum selbst, der die beiden Regisseure als geistig verwandt erscheinen lässt: Zwar scheute Fehling einen gewissen Realismus nicht ( „Es war das Merkwürdige an Jürgen Fehling“ , sollte Oscar Fritz Schuh erklären, „daß er dem Realismus ebenso verhaftet war, wie er partiell das abstrakte Theater in seine Inszenierungen einbezog.“ 282 ), doch gerade seine Tannhäuser Inszenierung, in der er – scheinbar unlogisch, um nicht zu sagen: die im Fall der übrigen Bilder angewandte Stilisierung verratend – das WartburgTal als „beinahe Natur, nicht mehr Dekoration“ 283 gestaltete, legte davon Zeugnis ab, wie vorsichtig er mit dem „Realismus“ umzugehen, wie ausgeklügelt er von den „realistischen“ Bildern Gebrauch zu machen pflegte: „Fehlings Inszenierung formuliert

277 Ebenda, S. 135. 278 Mack 1976, S. 32. 279 Ahrens 1987, S. 134. 280 Vgl. ebenda, S. 139. 281 Ebenda, S. 136. 282 Ebenda, S. 138. 283 Ebenda, S. 134.

101 primär das Künstlerdrama TannhäuserWagners. Die antagonistischen Möglichkeiten schöpferischer Selbstverwirklichung, Venusberg und Wartburg, konfrontiert er hart und unvermittelt: dort Rausch und Askese, nackte Leiber in ewig schmerzloser Entzückung, hier Vollzug selbstgesetzter Ordnung und reflexive Geistigkeit, die, auf die Tat verzichtend, in reinem Erkennen Bestätigung sucht. Diese Alternative, der Tannhäuser zweifelnd sich ausliefert und in die er frevlerisch Elisabeth hineinzieht, entspannt Wagner in jenen Bildern, die das Geschehen in die Außenwelt verlegen und zweifellos als szenische Metaphern einer unberührten Natur als reinmenschlicher Lebenslandschaft gedacht sind. Folgerichtig lässt auch Fehling hier seinen Bühnenbildner Naturszenen in fast illusionistischer Manier verwirklichen, die der zeichenhaften Stilisierung von Venusberg und Wartburg betont widerspricht. Er schärft jedoch die symbolische Ansicht dieser Bilder dadurch, daß er sie auf „die Höhe“ verlegt und im III. Akt gar die als Irrwege gebrandmarkten Extreme zusammenfallen läßt.“ 284 (Übrigens waren diese Naturszenen so weit von Wagners Regie und Bühnenanweisungen entfernt, dass die „Altwagnerianer“ ihnen nur achselzuckend gegenüber stehen konnten; folglich fühlte sich Paul Schwer, der bereits Fehlings Holländer Inszenierung einen „Volksbetrug“ vorgeworfen hatte, von neuem betrogen – und um die Wartburg gebracht, deren Silhouette dem Fehlingschen WartburgTal ebenso fehlte, wie Nürnbergs Silhouette den Wielandschen „Meistersingern ohne Nürnberg“ fehlen sollte: „Es erschien unter Vollmondbeleuchtung eine Landschaft, die man etwa im Goetheschen Sinne als freie Gebirgsgegend bei Elend und Schierke bezeichnen könnte. Von der Wartburg war natürlich keine Rede.“ 285 ) Die Kritik, der neben dem verfehlt geglaubten Gesamtkonzept gerade das Bühnenbild ausgesetzt war, erscheint uns als die letzte Parallele, die bei dem Vergleich von Wielands und Fehlings Tannhäuser Inszenierungen unmöglich unbeachtet bleiben darf – nicht umsonst meint man, in Anbetracht des Vokabulars, mit dessen Hilfe sowohl der Berliner als auch der Bayreuther Tannhäuser (oder „Tannhäuser“, wenn man gewillt ist, diesen Namen den beiden Regie führenden „Nonkonformisten“ zuzusprechen) verrissen wurden, dieser Parallele den Status einer „besonders aufschlussreichen“ zusprechen zu müssen.286 Anders als dem Wagnerenkel blieb Fehling allerdings nicht vorbehalten, sein WagnerVerständnis durchzubringen: den Prunk der (nicht nur) von Paul Bekker beklagten „Hoftheater Produktionen“, den Prunk des von (Alt) Bayreuth „geweihten“ Inszenierungsstils, nicht

284 Ebenda, S. 136. 285 Ellwanger 1983, S. 17. 286 Vgl. ebenda, S. 15 ff.

102 zuletzt den Prunk von Siegfried Wagners eigener Tannhäuser Inszenierung vor Augen, kam es dem Publikum der ausgehenden Weimarer Zeit größtenteils unmöglich vor, für Fehlings und Strnads abstrakte Bühnenräume genug Verständnis aufzubringen – hatte der Wagnersohn für seine „Sängerhalle“ einen „Durchblick auf Thüringer Waldberge“, viel „Gold“ und der „Manessischen“ Liederhandschrift nachgebildete Gewänder gewünscht 287 , erinnerte die Fehlingsche Bühne weitestgehend an die Bühne eines Jessner: „ Strnad [...] hatte ein Durch und Übereinander von Treppen und Türen errichtet. Auf die Schenkel eines unregelmäßigen Dreiecks, dessen Grundlinie die Rampe markiert, baute er zwei verschieden hohe Tribünen: links das enge Gestühl für die Damen, rechts weitläufigere Bankreihen für die Ritter. Oberhalb der Damentribüne befindet sich der Thron für Elisabeth und den Landgrafen, auf der anderen Seite eine Trompeterempore. In ihrem Schnittpunkt werden die Tribünen von zwei mächtig ausladenden Rundbögen überspannt. Von der Decke hängen bunte Fahnen. [...] Den durch die Winkelung des Chorgestühls freien Platz in der Bühnenmitte nimmt ein Podest ein, auf dem eine hohe Pedalharfe steht. Um die offenen Seiten dieses Podestes sitzen auf niedrigen Bänken die Sänger.“ 288 (Nur ganz wenige verstanden dieses „Durch und Übereinander von Treppen und Türen“, in dem es in Wirklichkeit so gut wie kein Durcheinander gab, richtig, nämlich als einen jener „geistigen Räume“, mit deren Hilfe Fehling – dem Wagnerenkel ähnlich – die Innenwelt sowohl jedes Einzelnen als auch der gesamten agierenden Gemeinschaft sichtbar machte: „Das Liebes und (Kunst) Ideal, das Wolfram im Sängerkrieg vertritt, spricht schon aus dem gebauten Bild: lebensferne Reflektion auf das Leben. Hier wirkt Tannhäuser auch sichtbar als Fremdkörper. Seine Thesen über der Liebe wahrstes Wesen rütteln in wirklicher Wortbedeutung an den Grundfesten dieser Gesellschaft. Die Halle, mit ihrem verwinkelten, ja scheinbar verbauten Gestühl, droht zu zerbersten, als die Frauen vor der Beschwörung des VenusIdeals fluchtartig den Saal verlassen, die Männer erregt nach vorn stürmen. Mit der gesellschaftlichen Ordnung ist auch die räumliche Proportion zerbrochen. Das szenische Arrangement von Dekoration und Personal evoziert die geistige Bedeutung.“ 289 ) Sollte Fehlings Inszenierungsstil beschieden sein, Schule zu machen, so zeigte sich ihm das zeitgenössische Publikum (über die Bahnbrecher der neuen „WartburgZeit“ gar nicht zu reden) größtenteils nicht gewachsen. Die Kritik, mit der Fehling, Strnad und Klemperer überhäuft wurden, war enorm: Von einem „neuen dreisten Anschlag gegen Wagner und die

287 Vgl. Mack 1976, S. 99100. 288 Ahrens 1987, S. 135. 289 Ebenda, S. 135.

103 deutsche Kultur“, von einer „Frechheit“ bzw. einem „Faustschlag ins Gesicht aller noch irgendwie gesund empfindenden Menschen“ 290 war die Rede; selbst die „Wohlgesonnenen“ hatten für den Fehlingschen Tannhäuser ebenso wenig übrig wie für den Fehlingschen Holländer („Wenn man die Kritiken liest, die zwei wagemutige WagnerInszenierungen Jürgen Fehlings an der Berliner Staatsoper [...] gefunden haben, so fällt auf, daß die Wohlwollenden letzten Endes zu der gleichen Ablehnung kamen wie die reaktionären Heißsporne.“ 291 ). Nicht zuletzt war es Tietjens Intendanz, die dieser „wagemutigen Wagner Inszenierung“ kritisch gegenüber stand – wohl weil sie ihr kritisch gegenüber stehen musste (die Entrüstung nicht nur Fritz Steges oder Paul Zschorlichs, die sich verwundert zeigten, dass „eine derartige Kunstverfälschung in einer Zeit deutscher Geisteserneuerung“ 292 überhaupt noch möglich war, galt ganz offensichtlich auch Tietjen – zumal sich dieser selbst wegen seiner Bayreuther WagnerInszenierungen unter Druck fühlte); in einem Gespräch mit Peter Heyworth sollte sich Otto Klemperer an diese Ereignisse wie folgt erinnern: „Dann zum Schluß dirigierte ich „Tannhäuser“. Das war besonders bemerkenswert, weil die Premiere am 12. Februar 1933 war, am Vorabend von Wagners fünfzigstem Todestag. Zu Anfang ging alles ruhig, aber als ich zum dritten Akt ans Pult kam, begann ein törichter Lärm, meine Anhänger klatschten, und die anderen pfiffen und schrien. Es dauerte mindestens zehn oder fünfzehn Minuten. Ich saß ganz ruhig, und dann fing ich an. Die Reaktion der Presse war entsetzlich, ich weiß nicht warum. Fehling hatte eine streng stilisierte Inszenierung gemacht, ganz im Einverständnis mit mir. Oskar Strnads Bühnenbilder waren sehr gut. [...] Tietjen war in einer merkwürdigen Position, weil er in Bayreuth etwas Ähnliches nicht wagen konnte. Er sagte zu mir: „Ich kann doch nicht hier etwas gestatten, was ich da verurteile.“ Sag ich: „Allerdings nicht.“ Na, dann hatte ich Urlaub und ging nach Italien und Ungarn, und als ich zurückkam, war „Tannhäuser“ zwar noch im Repertoire, aber in einer alten Inszenierung mit Dekorationen von irgendeinem xbeliebigen Theatermaler.“ 293 Vor die Aufgabe gestellt, den „momentanen“ (weil nur zeitbedingten) Misserfolg des Fehlingschen Tannhäuser zu ergründen, sollte sich Dietrich Steinbeck im Vergleich mit Klemperer besser beraten zeigen: „Fehlings Inszenierung bewirkt beim Publikum keine Illusionen durch und keine über das dramatische Geschehen. Weder feierte der Regisseur das Fest musikalischer Verklärung einer vorgetäuschten Wirklichkeit, noch verfiel er als Bedeutungsapostel in Demonstration weltanschaulicher Thesen, die das Kunstwerk zum

290 Vgl. Heyworth 1988, S. 462463. 291 Ellwanger 1983, S. 15. 292 Vgl. Heyworth 1988, S. 462. 293 Heyworth 1974, S. 122123.

104 Pamphlet deformieren. Er nahm das Theater als ein legitimes Mittel der Erkenntnis beim Wort, einer Erkenntnis jedoch, die zugleich das Werk selbst und seine Geschichte betrifft. Durch Verweis und Bildzitate hielt Fehling einen geistigen Raum parat, in dem ebenso das musikalischdramatisch gestaltete Schicksal Tannhäusers wie das geschichtliche Schicksal dieser Gestaltung anwesend war. Auf der Bühne „begegneten“ sich die in Partitur und Theaterkunstwerk objektivierten Anschauungen Wagners und Fehlings über den Problemgehalt und die ästhetische Potenz des Dramas.“ 294 Was die anbrechende neue „WartburgZeit“ allerdings erwartete, war eben die InSzeneSetzung einer „vorgetäuschten (historischen) Wirklichkeit“, eines ideologisch auszubeutenden „schönen Mittelalters“, ja, um sich Steinbecks Vokabular zu bedienen, eine „Demonstration (einzig richtiger) weltanschaulicher Thesen“ – da Fehlings Tannhäuser Inszenierung gewollt nicht in der Lage war, diesen Erwartungen Genüge zu tun, da sie bei der Darstellung einer in lauter Ritualen erstarrten, jeglicher Individualität beraubten Welt eine Inspiration „aus der Straße“ nicht scheute, wurde sie abgesetzt, um nur ins Gedächtnis gerufen zu werden, wenn es galt, dem verpönten Regietheater der Weimarer Zeit eine reale Gestalt zu verleihen. Dass es ihr dennoch vorbehalten blieb, in der Geschichte des WagnerTheaters die Rolle eines Meilensteins und nicht etwa eines Stolpersteins zu spielen, davon sollten (nicht nur) die Produktionen des „Neubayreuth“ Zeugnis ablegen, die es – in Bezug auf Tannhäuser – im nächsten Kapitel zu behandeln gilt. Zusammenfassend können wir wohl sagen, dass Jürgen Fehling genau der Mann war, dessen Richard Wagners Werk dringend bedurfte, um nach dem Zusammenbruch des „Alten“ und „Morschen“, d.h. nach dem Zusammenbruch des wilhelminischen Kaiserreichs, um nach dem Anbruch des „Neuen“, nämlich der „neusachlichen“ Weimarer Zeit, nicht „alt“ und „morsch“ da zu stehen: Während man in Bayreuth, auf dem „Grünen Hügel“ also, den Weg einer unproduktiven (um nicht zu sagen: kontraproduktiven) Traditionspflege weiterhin zu gehen wünschte und – der nächsten „großen Zeit“ zusteuernd – einer bis dahin unerhörten Provinzialisierung, einer „Verkleinbürgerlichung“ sowohl des Festspielpublikums als auch des Festspielmanagements Tür und Tor öffnete (genauer gesagt: aufriss, wohl um Carl von Ossietzkys (An) Klagen vom Februar 1933 gerecht zu werden: „Wir leben jetzt wieder im Traum der bürgerlichen Renaissance, und als klingender Herold dieser Sehnsucht tritt Richard Wagner wieder auf. Nicht mehr so exklusiv wie früher, im Gegenteil, sehr kleinbürgerlich geworden. Der Bürger ist pleite, seine Ideale wehen zerfetzt in allen Winden,

294 Ahrens 1987, S. 136137.

105 nur seine Parvenuansprüche sind geblieben. Bei Wagner ist nicht nur das ganze Inventar des nationalistischen Schwertglaubens enthalten, sondern auch, immer neu variiert, die angenehme Vorstellung, von allen Übeln erlöst zu werden, ohne daß man dafür etwas zu tun braucht. Es erübrigt sich, näher auszuführen, was für eine Rolle in Deutschland der Wunderglaube spielt und das Verlangen nach einem Hexenmeister, der mit einem Hokuspokus Verschwindibus alle Kalamitäten für ewig beseitigt.“295 ), holte man in Berlin für die Holländer Produktion der „neusachlich“ veranlagten und der Antibürgerlichkeit verschriebenen Krolloper (nach deren Zumachung dann für die Tannhäuser Produktion der Lindenoper) den aus Lübeck gebürtigen „Tabubrecher“ Jürgen Fehling, in Anbetracht (auch) dessen Theaterarbeit Carl Zuckmayer schreiben sollte: „Im allgemeinen wird ein Regisseur, der den Theaterstil seiner Epoche in den Fingerspitzen hat, der dem Drama seiner Zeit gerecht werden kann, auch den Klassiker für seine Generation lebendiger und unverfälschter darstellen als der Eklektiker oder Traditionalist.“ 296 Fehling wusste „dem Drama seiner Zeit“ ebenso wie dieser Zeit selbst gerecht zu werden. Keine Deutlichkeit scheuend, brachte er jene Welt auf die Bühne, von der er sich umgeben sah (ohne dabei ein ausgesprochen „politisches Theater“ machen zu wollen) – so auch Anfang 1933, als er der Aufgabe gerecht werden musste, anlässlich von Wagners fünfzigstem Todestag den Tannhäuser neu in Szene zu setzen, dessen hochbrisanter Inhalt ihm nicht verborgen blieb. Was Fehling – aller Traditionen spottend – schließlich auf die Bühne brachte, glich einer Reflektion der Realität, glich einem Spiegel, in dem sich all die „Gleichschaltung“ der Kultur und des gesellschaftlichen Lebens, all die Anfeindungen jeglicher Form des „Nonkonformismus“ abzeichneten, in deren Kontext auch die baldige Absetzung dieser Inszenierung selbst verstanden werden muss. Nicht nur Fehlings legendäre Richard III. Inszenierung, nicht nur seine Propheten Einstudierung, nicht nur die anderen Produktionen, die von beinahe erschreckender Zeit und (Un) Geistbezogenheit da standen, sondern auch Fehlings Tannhäuser schrak nicht davor zurück, dem Zuschauer ebenso wie dessen Zeitalter die Möglichkeit zur Verfügung zu stellen, sich auf der Bühne wieder zu finden – nicht zuletzt mit Hilfe eines Bühnen raums , der, denjenigen von Wieland Wagner vorwegnehmend, das Geistige, das Innere „nach außen kehrte“. Anders als die beiden Wagnerenkel, die für die Produktionen des „Neubayreuth“ verantwortlich zeichnen sollten, war Fehling allerdings nicht beschieden, mit seinem „Welttheater“ (um von Oscar Fritz Schuhs Terminus Gebrauch zu machen) die Welt zu erobern: „Es ist die große Tragik Fehlings, daß viele seiner besten

295 Ossietzky 1994, S. 482. 296 Zuckmayer 1995, S. 163.

106 Inszenierungen in der NSZeit entstanden sind. Sie konnten vom Ausland nicht zur Kenntnis genommen werden.“ 297 Das Los eines allmählichen InVergessenheitGeratens blieb auch den zwei Fehlingschen „Versuchen über Wagner“ vorbehalten; dennoch ist es, Anfang der 80er Jahre (als der Sammelband Wagners Werk und Wirkung. Festspielnachrichten, Beiträge 1957 bis 1982 erschien, dem die nachstehenden Zeilen entnommen sind) ebenso wie heute kaum möglich, sich über diese Fehlingschen WagnerInszenierungen hinwegzusetzen, vor allem wenn es gilt, das Streben nach einem sämtliche Konventionen und Tabus los gewordenen (Wagner) Theater zu dokumentieren: „Den meisten Widerstand hatte diesen Bestrebungen das Musiktheater entgegengesetzt. Man hatte zwar schon seit längerem, etwa seit 1909, versucht, das Bühnenbild aus den Fesseln naturalistischer Tradition zu befreien, und Männer wie Wildermann, Sievert und andere vermochten in dieser Richtung Bedeutendes zu leisten, aber dabei war es zunächst geblieben. Was anfangs noch fehlte, war die Selbständigkeit des Inszenators gegenüber dem Werk selbst, seine Unabhängigkeit von vorgedachten Leitbildern, das Durchdringen der Werke mit der Geistigkeit einer neuen Gegenwart. All dies wurde verhältnismäßig spät erst gewonnen, auf jeden Fall nicht vor dem Ersten Weltkrieg; zum eigentlichen und bestimmten Beuwußtsein gelangte es erst ab 1952 mit dem neuen Bayreuth der WagnerEnkel. Vor ihnen war Jürgen Fehling mit den beiden erwähnten Berliner Inszenierungen einer der ersten, die ihren Weg mit Konsequenz beschritten. Man dankte es ihm mit Zischen und Pfeifen.“ 298

297 Ahrens 1987, S. 139. 298 Ellwanger 1983, S. 15.

107 Drittes Kapitel Wieland Wagners „Neubayreuth“ in der Welt des „nachtotalitären Biedermeier“

Um auf die Frage eine Antwort zu finden, inwieweit es Wieland Wagner mit seinen Bayreuther Tannhäuser Inszenierungen gelang, dem Festspielpublikum der 50er und halben 60er Jahre (d.h. der Gesellschaft der Adenauerschen Republik) einen Spiegel vorzuhalten; um die Frage zu beantworten, ob es zu dieser Zeit überhaupt noch möglich war, mit Hilfe von Wagners Schemen den bestehenden Verhältnissen gerecht zu werden, können wir nicht über die Frage hinwegkommen, mit welchem Gedankengut dieses Publikum bzw. diese Gesellschaft „hausieren“ gingen, was für eine Lebens und Kulturauffassung für sie charakteristisch war. Die Notwendigkeit, die Frage zu lösen, wie es um das Festspielpublikum der zu behandelnden Epoche politischideologisch bestellt war, inwieweit die Besucher der Nachkriegszeit denjenigen ähnelten (oder nicht ähnelten), die als eine Gemeinde der „Kulturfrommen“ 299 den „Grünen Hügel“ in der letzten bzw. vorletzten „WartburgZeit“ bevölkert hatten, liegt auf der Hand. Ähnlich wie im vorstehenden Kapitel, wo wir uns der Zeugnisse von Jürgen Fehlings (mehr oder weniger) namhaften Zeitgenossen bedienten, um diese Fragen in Bezug auf die Gesellschaft der Weimarer Republik beantworten zu können, lohnt es auch hier, von den Erinnerungen und Berichten Gebrauch zu machen, die uns Wieland Wagners (nicht nur) Volksgenossen hinterließen, um darüber ins Klare zu kommen, was für eine Lebens und Kulturauffassung, was für eine WagnerEinstellung die gesamte Gesellschaft prägte, der sie entstammten. Ähnlich wie oben macht sich auch hier „bezahlt“, nach Zeitungsartikeln, Reden und Briefen zu greifen, die uns davon Zeugnis ablegen, wie stark die Lebens und Kulturauffassung der damaligen Bonner Republik von deren politischer Entwicklung abhängig war, wie sie sich im Laufe der Zeit veränderte (falls sie sich veränderte) und was für eine Rolle hier den Künstlern von Wielands Schlag vorbehalten blieb. Formulieren wir im Hinblick auf den Gedankengang des vorstehenden Kapitels zuerst eine zu widerlegende Antwort. Betrachten wir den Spiegel, den Richard Wagner „seinem“ Jahrhundert vorgehalten hatte (und von dessen Relevanz in der Zeit von Fehlings Wagner Versuchen wir uns bereits überzeugen konnten), als verfehlt im Fall der jetzt zu behandelnden Epoche. Nämlich: Um über eine Widerspiegelung der Tannhäuser Welt in einer real existierenden Gesellschaft sprechen zu dürfen, muss ein Zusammenstoß zweier unvereinbaren Welten, ein Konflikt zweier entgegensetzten Kulturkreise vorliegen. In der Stresemannschen

299 Vgl. Roth 1991, S. 285.

108 Republik kam zu einem solchen Zusammenstoß, als die bisher verpönte Welt der „Zivilisation“ an der Spree Wurzeln zu schlagen begann, während die „Provinz“ (hier in erster Linie jene Stätten, denen nicht nur Gerhart Hauptmann den Status der Nationalheiligtümer zusprach 300 ) nach wie vor für die überlieferte deutschabendländische „Kultur“ plädierte. Aus der Tatsache, dass im großstädtischen Milieu (insbesondere in der Reichshauptstadt Berlin) jene Werte beschworen wurden, denen der Tannhäuser Dichter in Paris begegnet war (ohne für sie Sympathien zu verspüren), während das „platte Land“ 301 weiterhin der „Tugend“ und den „holden Sitten“ huldigte (die den „Wagnerianern“ aus der Wagnerschen Wartburg wohlbekannt waren), ergab sich schließlich eine gesellschaftlich kulturelle Spaltung, die mit derjenigen in Wagners Oper weitgehend übereinstimmte. Dagegen mutete die Adenauersche Republik politisch ebenso wie ideologisch und kulturell homogen an – allerdings als Hort jener Kräfte, die in der Weimarer Zeit das Gesicht der „Provinz“ geprägt hatten. Das Bewusstsein einer „Trutzburg“ des Antikommunismus (der unter den Schlagworten dasjenige der „Kultur“ abgelöst zu haben schien); die Selbstverständlichkeit des Wunsches, der Katastrophe von 1945 zum Trotz „wieder wer zu werden“ (zumindest aus wirtschaftlichen Gründen); die Beschwörung des Überlieferten (für das sich wieder einmal der Begriff der „besten Tradition“ vorfand) ebenso wie die Konjunktur der konservativen oder politikfeindlichen Künstler (über die Konjunktur der deutschnationalen Kunstschaffenden gar nicht zu reden), die zur Ratlosigkeit (um nicht zu sagen: zur Abneigung) der altneuen Eliten gegenüber manchen Emigranten in krassem Widerspruch stand, ließen wenigstens im ideologischkulturellen Bereich den Anschein entstehen, das problematische Gedankengut der jüngsten Vergangenheit nicht ohne weiteres aufgeben zu wollen. Es sah beinahe so aus, als hätte die letzte „WartburgZeit“ kein Ende nehmen wollen, als hätte sie – obwohl in einer kümmerlichen Form und demokratisch angestrichen – noch in den Aufbaujahren der Bonner Republik fortgewährt – von den Westmächten, dem Geburtsort der „Zivilisation“, nicht nur geduldet, sondern planmäßig gefördert. Als hätte Hitlers Niederlage nicht nur dem Kommunismus Tür und Tor nach Ostmitteleuropa samt einem beträchtlichen Teil Deutschlands aufgerissen, sondern auch der „harten“ Luft 302 der Wagnerschen Wartburg (die im zusammengebrochenen Reich immer noch spürbar war) den Weg nach Frankreich, England, vor allem jedoch nach Amerika

300 Vgl. Hauptmann 1996, S. 865. 301 Vgl. Weyergraf 1995, S. 44. 302 Vgl.Mann 1984, S. 238.

109 anzutreten geholfen, schien man in diesen Ländern allmählich denselben „kalten Menschen“ zu begegnen, vor deren „blödem, trübem Wahn“ 303 man früher aus dem „wartburgisierten“ Deutschland hatte fliehen müssen. Die Menschen, die Wolfgang Koeppen unter der südfranzösischen Sonne ebenso wie an der Seine (d.h. im historischen Vorbild von Wagners Venusberg) traf 304 , denen Thomas Mann die Mitschuld an der (schmerzlichen) Entscheidung zusprach, seiner amerikanischen WahlHeimat den Rücken zu kehren 305 (und die Alfred Döblin bald nach der Proklamation der neuen Republik wieder am Werk witterte), muteten an, den Bahnbrechern der beiden „WartburgZeiten“ nachmachen zu wollen. Die Integration der Bonner Republik in die euroatlantischen Strukturen, zu der es innerhalb von nur wenigen Jahren kam (ohne der Missbilligung dieses Schritts durch den größten Teil der Emigranten Gehör zu schenken), schien unter solchen Auspizien kaum unproblematisch. „Wir wissen, daß in den vergangenen Jahren, akzeleriert, seit dem Jahre 1949, in dem das „deutsche Wirtschaftswunder“ sich zu manifestieren begann, Personen und Interessen dort neuerdings an Macht gewannen, die rechtens und de facto „abgewirtschaftet“ hatten mit dem Zusammenbruch des HitlerRegimes“ , schrieb Thomas Mann 1954. „Wenn aber diesmal Schlechtes nach oben kam, so waren es nicht fanatisierte Massen breiter Volksschichten, von denen es getragen war. Und nicht, wie in den Jahren vor 1933, etablierte das Übel sich aus eigener Kraft und gegen den – übrigens schon damals geteilten und teilweise gelähmten – Willen der demokratischen Welt, die sich außerstande wähnte, irgend zu intervenieren. Vielmehr waren es diesmal mächtige Repräsentanten ebendieser Welt, die, zur schockhaften Verwirrung der nunmehr friedwilligen westdeutschen Majorität, dem Todfeind von gestern den Rücken stärkten, in der Irrmeinung, er tauge zum KronAlliierten gegen den designierten Todfeind von morgen. Und wie, wenn der Gestrige nun seine [...] Kräfte alsbald einer Allianz zur Verfügung stellte, von der allein er sich die Zurückgewinnung verlorenen Besitzes erhoffen könnte –, es sei denn, daß er es vorzöge, Gewalt anzuwenden und so einen Krieg zu entfesseln, den „präventiv“ zu nennen, dem Verblendetsten nicht mehr beifallen würde? – Gleichviel: festzustellen war, daß, anders als vor 33, Einflüsse von außen wirkten und fortwirkten. Auch nahm ja die „Unterwanderung“ des politischen Lebens in der DBR möglichst versteckte Wege und wurde dem Gros der Bevölkerung erst deutlich, als sie – in ihren Grenzen – bereits vollzogen war.“ 306 Auch Alfred Döblin, dessen Werk (ebenso wie das Werk vieler anderen Emigranten) in der Bonner Republik seines Publikums allmählich

303 Vgl. Tannhäuser , 1.Aufzug. 304 Vgl. Koeppen 1986, S. 518519. 305 Vgl. Mann 1986, S. 804805. 306 Mann 1986, S. 821.

110 verlustig ging, glaubte die „abgewirtschafteten Personen und Interessen“ am Werk, woraus er schließlich keinen anderen Ausweg sah, als von neuem ins „Exil“ zu gehen. 307 Die davon abzuleitenden Thesen sind wie folgt: 1. Die Bonner Republik war nicht jenes Deutschland, von dem die (häufig exilierten) Gegner von Hitlers „WartburgRegime“ geträumt hatten – ein Deutschland, in dem die „Zivilisation“ endgültig die Oberhand gewonnen hätte, um sich nicht mehr von einer Staatsmacht bevormunden lassen zu müssen, hinter deren Staatsräson politische Rigorosität und Militarismus, hinter deren „Kultur“ Kleinbürgerlichkeit, Provinzialismus und Engstirnigkeit am Werk gewesen wären. Vielmehr hießen die Hauptmerkmale dieser Republik: Unterwanderung des politischwirtschaftlich kulturellen Lebens durch die ehemaligen Bahnbrecher oder Nutznießer der letzten „WartburgZeit“, „Kaltstellung“ der „unbelasteten“ Emigranten, dieser Tannhäuser von Beruf, die ehemals eine Reise ins Unbekannte bevorzugt hatten, statt mit den Anpassungsfähigeren in „Reih’ und Glied“ die „Tugend“ und „holden Sitten“ zu besingen (und deren Werk jetzt viel zu oft mit der Gefahr des (Kultur) Bolschewismus gleichgesetzt wurde), Unfähigkeit mancher (nicht nur emigrierten) Antifaschisten, sich im Land des „Wirtschaftswunders“ zurechtzufinden, wo man – nicht mehr aus rassischen, sondern aus wirtschaftlichen Gründen – nach wie vor den Gedanken hegte, den Status von „Salz der Erde“ in Anspruch nehmen zu können, Fortsetzung bzw. Wiederbelebung der (klein) bürgerlichen Lebens und Kulturauffassung, Förderung jener Künstler, in deren Werk noch immer der „selige Schiller“ geisterte 308 , und nicht zuletzt die Konjunktur, über die sich die alten „Wolframs“ und „Biterolfs“ freuten, nachdem der Antifaschismus (mit dem ihr Gedankengut kaum übereinstimmte) unerwünscht worden war. „Antifaschismus ist nicht nur unmodisch, er ist auch verdächtig und moralisch unwillkommen, denn er lenkt ab von dem einzig vorschriftsmäßigen Haß“ 309 , beklagte sich Thomas Mann über das schwindende Gewissen der Adenauerschen Gesellschaft (deren demokratische Fassade allerdings nach wie vor prangend da stand). 2. Die Kulturpolitik, die unter solchen Auspizien getrieben wurde, schien derjenigen, auf die z.B. Alfred Döblin gehofft hatte, nur wenig zu entsprechen. Als sich einer von Döblins Briefpartnern beschwerte, die Gesamtausgabe seines Werks sei am

307 Vgl. Döblin 1980, S. 512513. 308 Vgl. oben, S. 3435. 309 Mertz 1985, S. 208.

111 mangelnden „schönen Papier“ gescheitert, machte der Romancier, dessen eigene Romane der Bonner Republik „zur Last zu fallen“ drohten, aus seiner Enttäuschung keinen Hehl: „ Was zeigt uns dieser Fall?“ , fragte er. „Es geht um das schöne weiße Papier, ohne welches die Öffentlichkeit nach Auffassung des Verlegers und vielleicht auch des Buchhandels nicht leben kann. Sie wollen kein graues, sie brauchen unbedingt weißes Papier und schöne Einbände. Es wird hier so dargestellt, als gäbe es kein Publikum und keine Öffentlichkeit, die geistige Nahrung verlangt, die in der allgemeinen Unruhe Ruhe, in der Lethargie eine Aufregung wünschen. Man sucht angeblich keine Gesinnung, keine Atmosphäre und keinen neuen Antrieb, man sucht schönes und weißes Papier, sofern man der Phalanx der Verleger und Buchhändler Glauben schenken kann. Was ist aber damit? Was hemmt hier das geistige Leben? Es liegt eine deutsche Torheit, ja ein Unfug vor, mit dem man endlich Schluß machen müßte. Alle Welt weiß, daß in Frankreich die gesamte gute und neue Literatur, die sich doch wohl mit der deutschen messen kann, auf billigem holzhaltigem Papier gedruckt wird, fast durchweg ohne Einband, und da erscheinen dann die Werke auch in einer ganz anderen, schöneren, mächtigeren Auflagenhöhe als hier. Und das liegt einfach daran, daß die Werke durch ihre wesentlich verbilligten Preise einem viel größeren Teil des Volkes zugänglich gemacht werden. Dies aber zu erreichen ist keine Privatsache der Verlage, ist eine Aufgabe der allgemeinen Kulturpolitik. Müßte hier nicht ein energischer Zugriff erfolgen?“ 310 Ein „energischer Zugriff“ sollte hier allerdings ausbleiben. Wie sehr sich das „nachtotalitäre Biedermeier“ 311 , das die Bonner Republik im Bereich der Kultur kennzeichnete, die (vor allem äußere) „Schönheit“ angelegen sein ließ, dokumentierte sowohl die Beliebtheit der Zeitschriften wie Das Schönste oder die Monatsschrift für alle Freunde der schönen Künste als auch die Relevanz des Slogans „Hässlichkeit verkauft sich schlecht“. 312 3. Dieser Zustand, der mit einem späten „WartburgIdyll“ gleichgesetzt werden kann, nahm erst durch die Ereignisse von 1968 sein Ende, als neben den bisher unantastbaren politischwirtschaftlichen Dogmen auch diejenigen in Frage gestellt wurden, die die Bonner Republik im Bereich der Kultur hatte formulieren lassen. Statt dem Geschmack der (klein) bürgerlichen „Wohlstandsgesellschaft“, den althergebrachten Klischees und ideologisch begründeten Rufen, dem „Nihilismus“

310 Döblin 1992, S. 296297. 311 Vgl. Thränhardt 1996, S. 140. 312 Vgl. Glaser 2002, S. 258.

112 (der unter den Schlagworten dasjenige des „Kulturbolschewismus“ abgelöst zu haben schien) energisch Einhalt zu gebieten, Folge zu leisten; statt nach wie vor in der Gefangenschaft eines falschen Biedermeier zu verbleiben (aus dessen Vorstellungen über „Tugend“ und „holde Sitten“ lediglich ein neues „Schund und Schmutzgesetz“ zu resultieren schien 313 ), gingen vor allem die jüngeren Künstler das Wagnis ein, das Los der Störenfriede (sprich das TannhäuserLos) auf sich zu nehmen, d.h. der „Hoffähigkeit“ die „Hofwidrigkeit“ vorzuziehen. Anders als die „Funktionsexponenten“ (um von Erwin G. Kolbenheyers Vokabular nochmals Gebrauch zu machen) des berüchtigt gewordenen „nachtotalitären Biedermeier“, die zwei Jahrzehnte lang mit ihrer „Biederkeit“ „hausieren“ gingen, nahmen sich die neuzeitigen „Tannhäuser“, aller „Artigkeit“ zum Trotz, die beschworenen Traditionen, das geförderte Gedankengut sowie sämtliche „holden Sitten“ aufs Korn, um deren Verlust an Glaubwürdigkeit zum Vorschein zu bringen. Im Unterschied zur Weimarer Republik, die von Anfang an von ideologischkulturellen Konflikten gekennzeichnet worden war (an denen sich die bestehende Relevanz des Wagnerschen Tannhäuser als eines gesellschaftskritischen Spiegels bemerkbar gemacht hatte), setzte das Drama der Bonner Republik erst in den ausgehenden 60er Jahren ein (als die problematische Herkunft der Adenauerschen Eliten durch Kurt G. Kiesingers Kanzlerschaft markanter denn je zum Vorschein kam). Obwohl es der Revolte von 1968 nicht gelang, der bundesdeutschen Politik ein neues Gesicht zu geben, erzielte sie doch einen Erfolg, als sie dem „Biedermeier der Aufbaujahre“ ein Ende setzte (während in der Weimarer Republik der „WartburgPartei“, d.h. den Antimodernisten und „Kultur“Beschwörern vorbehalten geblieben war, sich für die nächsten Jahre durchzusetzen). Um sich kurz zu fassen: Die Bonner Republik, der Konrad Adenauer bereits in der Anfangsphase ihrer Geschichte sein autoritäres Gesicht verlieh, blieb trotz dem demokratischen Grundgesetz, trotz den Entnazifizierungs und Verwestlichungswellen ein standesbewusster Staat, dessen Existenz von verschiedenen Reminiszenzen der vorigen „WartburgZeit“ gekennzeichnet wurde. Häufig nahmen diese Reminiszenzen die Gestalt von Hitlers ehemaligen Mitstreitern oder Mitläufern, deren Anwesenheit innerhalb der politischen ebenso wie gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen den Anschein eines mangelnden Abstands vom zusammengebrochenen Reich erweckte, zu dessen Nachfolger man sich erklärte. Die Ideologie, die der Bundesrepublik (die sich bald als ein „Frontstaat“ des Kalten

313 Vgl. Döblin 1980, S. 500501.

113 Krieges verstand 314 ) ermöglichte, sich in der „antikommunistischen“ „westlichen“ Welt zurechtzufinden, schien unter diesen Umständen nur wenig von derjenigen abzuweichen, die die letzte „WartburgZeit“ geprägt hatte. Alexander Mitscherlich bemerkte in diesem Kontext: „Er (der Antikommunismus – Anm. M.U.) ist die offizielle staatsbürgerliche Haltung, und in ihm haben sich ideologische Elemente des Nazismus mit denen des kapitalistischen Westens amalgamiert. Mindestens, was den Bolschewisten betrifft, ist das Bild, das von ihm im Dritten Reich entworfen wurde, in den folgenden beiden Jahrzehnten kaum korrigiert worden.“ 315 Das Kulturleben dieser „folgenden beiden Jahrzehnte“, die Konrad Adenauer ebenso wie Hans Globke kennen zu lernen hatten, sah sich einer Engstirnigkeit ausgesetzt, die nur durch die Wagnersche Wartburg versinnbildlicht werden konnte – die Beschwörung der (angeblich) „besten Traditionen“, der Hang zur äußeren Schönheit, die Biederkeit der geförderten Lebens und Kulturauffassung gestalteten das Bild einer (klein) bürgerlichen Gesellschaft mit, die sich nicht einem gewissen Snobismus zu erwehren vermochte. Erst das Ende der 60er Jahre brachte eine Korrektur, als ein Tannhäuser Drama einsetzte, wo die bisherige Lebens und Kulturauffassung in Frage gestellt wurde. Die vorstehenden Thesen bedürfen allerdings einiger Korrekturen. Ebenso wie die Weimarer Republik lernte auch die junge Bonner Republik neben den vielen „Wolframs“ und „Biterolfs“, die sich mit aller „Biederkeit“ um eine hoffähige Kunst versuchten (weswegen sie zu den Geförderten zählen durften), mehrere „Tannhäuser“ kennen, für die die Adenauersche Prominenz nichts übrig hatte. Bei den Honoratioren, die sich im Bereich der Kunst gern großzügig gaben, um sich mit dem Glanz der Kunstwerke schmücken zu können, größtenteils erfolglos geblieben, war den „Außenseitern“ dennoch vorbehalten, sich im Kulturleben der Bonner Republik allmählich durchzusetzen. Schließlich wurde der neue Staat nicht nur von den Globkes und Vialons, Kiesingers und Seebohms personifiziert, nicht mehr von der Ausspielung der einheimischen „Kultur“ gegen die importierte „Zivilisation“ geprägt, nicht mehr von der Blut und BodenIdeologie all der langsam in Vergessenheit geratenden deutschnationalen Ideologen gekennzeichnet (wie es bei der Weimarer Republik der Fall gewesen war und wie es die oben genannten Namen auch hier hätten suggerieren können) und selbst der mehrfach enttäuschte Alfred Döblin, der sich in der Adenauerschen Gesellschaft nie wirklich zu Hause fühlte, sah sowohl einer Verdrängung der Vergangenheit zu, als auch den Versuchen, sich mit dieser Vergangenheit auseinander zu setzen: „In Oberammergau will man nächstes Jahr wieder Passionsspiele geben. [...] Da hat man nun zum Hauptdarsteller,

314 Vgl. Mertz 1985, S. 205. 315 Ebenda, S. 209.

114 nämlich für die Figur des Christus, einen Mann gewählt, der, wie die Zeitungen melden, von der Spruchkammer als Mitläufer eingestuft wurde, und ein Antrag auf die Wiederaufrollung des Verfahrens wurde abgelehnt. Es soll also ein Mitläufer des Nazismus vor dem großen in und ausländischen Auditorium in Ammergau, ein Mitläufer des Nazismus, als Christus auftreten. [...] Gewiß kann niemals und unter keinen Umständen die Person des Schauspielers, des Darstellers, mit dem Dargestellten vermengt werden, und nun gerade in diesem Fall. Aber es bleibt doch, selbst wenn man dem hier gewählten Schauspieler eine hervorragende Begabung verspricht, eine peinliche Angelegenheit, eine Störung des Gefühls. [...] Dann aber kam ich zu einem anderen Gedanken. Ich sah zuerst hier einen symbolischen Vorgang: Christus scheint auf der Bühne zu stehen, er spricht die heiligen Worte, handelt und leidet, aber es ist der böse Widersacher, der sich höhnend diese Maske angelegt hat, ein schreckliches Ding. Dann aber bekam der Vorgang ein anderes Gesicht. Dieser Schauspieler, ehemals Mitläufer der Nazis, steht jetzt nicht zufällig so auf der Bühne. Er spielt den Christus nicht als Widersacher, sondern als einer, als ehemaliger Sünder, der besser weiß als andere, wer Christus ist. Der Schauspielermensch hat diese Gestalt an sich gerissen, und das ist ein persönliches Erlebnis, eine echte, wahre Auseinandersetzung. Er leidet das Unrecht, das er selber hat antun wollen. Er sühnt und bekennt: Nicht dies Unrecht triumphiert und soll triumphieren. Freuen wir uns, einen solchen menschlichen Vorgang in Deutschland auf der Bühne zu sehen, auch vor dem Ausland.“ 316 Auch Wieland Wagner sollte das Wagnis eingehen, mit Hilfe der Kunst die eigene Vergangenheit aufzuarbeiten (wie es insbesondere bei seiner zweiten Bayreuther Ring Inszenierung der Fall war). 317 Bevor es jedoch zum Beifall kam, bevor zumindest einige der „Hofwidrigen“ mit Preisen und Ehren überhäuft werden konnten, wurde ihnen von seiten der altneuen Eliten der Bonner Republik, deren Geschmack in einer Art „WartburgIdyll“, in einem „nachtotalitären Biedermeier“ den Ausdruck fand, viel Unverständnis zuteil. Folglich setzte das Tannhäuser Drama bereits in den Gründungs und Aufbaujahren der Bonner Republik ein, als diese scheinbar kulturell homogen, d.h. (klein) bürgerlich gesinnt war, nicht erst in den ausgehenden 60er Jahren, die der bisherigen Kulturpolitik ein endgültiges Ende bereiten sollten. Betrachten wir nun die gesellschaftlichkulturelle Entwicklung der Bonner Republik näher und suchen wir nach grundlegenden Parallelen zwischen dieser Entwicklung und dem Tannhäuser Drama, das Wieland Wagner in jenen Jahren auf die Bühne brachte, denen die Persönlichkeit Adenauers das Gesicht (sowie den Beinamen) verlieh.

316 Döblin 1992, S. 263264. 317 Vgl. Spotts 1994, S. 268ff.

115 I. Die Lebens- und Kulturauffassung der Adenauerschen Gesellschaft

Um Parallelen zu finden, lohnt es auch hier, die politischideologischkulturelle Entwicklung in Paris in Betracht zu ziehen, d.h. von der Entwicklung in jener Stadt auszugehen, deren Lebensweise noch in der Zwischenkriegszeit den Vorstellungen über ein Vorbild des Wagnerschen Venusbergs (ebenso wie den kleinbürgerlichen Vorstellungen über eine „sittenlose“ Welt von Abenteurern und Hochstaplern) hatte gerecht werden können. Wenn wir uns die Frage stellen, ob die Stadt an der Seine, auf deren Boulevards man in Wagners (ebenso wie in Fehlings) Zeitalter einer „Herde von närrischen Bacchantinnen“ 318 hatte begegnen können, nach der Katastrophe von 19391945 noch jener Hörselberg war, dessen Name (um von Thomas Manns Worten Gebrauch zu machen) auch den „Nazis“ nur als Synonym fürs „Nachtleben“ gegolten hatte 319 , lohnt es sich die Beinamen ins Gedächtnis zu rufen, mit denen sich dieser Ort einst geschmückt hatte. Gottfried Benn hatte seinerzeit geglaubt, in Paris eine Weltstadt gefunden zu haben, in deren Mentalität (ebenso wie in der Mentalität der Nation, die die Pariser Straßen, Kaffe und Warenhäuser, Theater und Revuen bevölkert hatte) „kriegerischer Ruhm“ und „religiöse Glut der Kreuzzüge“ nicht minder als „geistige Eroberungen“, „moralische Verfeinerung“ und „Aufklärung“ zur Geltung gekommen waren 320 , deren Reichtum derjenige der „westlichen“ Zivilisation, deren Ruf derjenige der berühmtesten Metropolen der Menschheitsgeschichte gewesen waren: „Paris ist Palmyra, in der der Purpur wuchs, der Hafen Sluys, in den sich 150 Kauffahrteischiffe in einer Stunde drängten, das Brügge jenes Brabant, in das die Mütter aus den umliegenden Provinzen in der Woche ihrer Niederkunft zogen: für das Kind ein Teil am Reichtum dieser Stadt. Es ist der Stapel der Welt und die Messe der Nationen; es hat in seinen endlosen Komplexen Schätze angehäuft, die sich mit nichts vergleichen lassen; es hat in seinen angeschwärzten Straßen einen Atem der Welt, den ich berauschender fand als in New York.“ 321 Zwei Jahrzehnte nach Walter Hasenclever, der in diesem „Stapel der Welt“ (nicht nur auf den Negerbällen 322 ) den Tänzern zugesehen hatte, deren Vorgänger wohl Vorbilder für Wagners „tanzende Menge“ 323 gewesen waren, sah sich auch Max Frisch, der hier zur Zeit der JuliFeier weilte, mitten in einem Tumult, dessen Atmosphäre derjenigen aus den 20er

318 Vgl. Koeppen (Bd.4) 1986, S. 597. 319 Vgl. Mann 1986, S. 541. 320 Vgl. Benn 1987, S. 227. 321 Ebenda, S. 141. 322 Vgl. Hasenclever 1996, S. 165ff. 323 Vgl. Tannhäuser , 3.Aufzug.

116 Jahren keineswegs nachstand: „Am Abend gibt es ein Feuerwerk, Tanz auf der Concorde, Menschen, was man an Menschen nur erfinden mag: Kleinbürger, Großstädter, Familien, Außenseiter, Mütter mit Kind, Kokotten, Töchterchen mit Offizier, Fremde, Soldaten von der Marine, alles tanzt. Vagabunden mit buntem Trikot hocken auf ihrem Rad, einen Fuß auf den Randstein gestemmt. Kann man sagen, daß die Leute sehr fröhlich sind? Immerhin wird getanzt, und es strahlen die Bogenlampen, von Faltern und Mücken umwimmelt, Lautsprecher jazzen aus nächtlichen Bäumen. Sterne sind auch da. Man schleckt ein Eis, der behände Verkäufer hat alle Hände voll zu tun.“ 324 Der Ruf der Wagnerschen Sirenen, dem bereits Abertausende von Lebens und Liebeshungrigen an die Seine gefolgt waren, schien noch nicht verhallt zu sein – zumal auch Hans Erich Nossack (freilich in Bezug auf das ganze Land, dessen Haupt die Stadt an der Seine war) in einem Brief an Denise Naville zugeben musste: „Welch ein erstaunliches Land, dies Frankreich! Das alles ist gar nicht auszuschöpfen.“ 325 Die Verse, die Heinrich Heine seinerzeit der Metropole an der Seine gewidmet hatte, um die Ahnungslosen vor einer „Hölle der Engel“, einem „Paradies der Teufel“ zu warnen, schienen in der „leuchtenden Hauptstadt der Welt“ 326 nichts von ihrer Aktualität verloren zu haben. Dagegen glaubte Wolfgang Koeppen in einer anderen Welt als Heine (und Wagner) angekommen zu sein. Zunächst sah sich auch der wohl bissigste „Nonkonformist“ der Adenauerschen Republik in einer Stadt, an deren Wiege der Lieb und Ehrgeiz der Frauen gestanden hatte; in einer Stadt, die nach wie vor eine „Stadt des Fiebers“, eine „Stadt des Traums“ 327 genannt werden zu dürfen schien: „[...] die zwanzig bunten Arrodissements, eingezwängt in den Gürteln der alten Festungswälle, die achtundfünfzig geschleiften oder noch zu bewundernden Kasemattentore, die den Endstationen der Untergrundbahn die alten Namen und noch immer die PucciniPhantasie, die romantische Opernkulisse der Bannmeile geben, die zwanzig grellen Farbschuppen erinnern an eine blinkende, lachende Austernschale, in deren Mitte zwei schöne Perlen liegen, die Ile de la Cité und die Ile Saint Louis. Aus dem Muschelbett erhebt sich die Göttin, Aurora, die Morgenröte, die Fluß und Brücken und alle Dächer umarmt, die ernste hausfrauliche Venus im Louvre, die nacktjagende Diana von Poitiers, hochmütige Herzogin von Valentionas, auf dem durch Liebreiz und Ehrgeiz bezwungenen Hirsch, die kopflose Nike von Samothrake, der immer noch für etwas anrüchig gehaltene Genius der Freiheit unter der phrygischen Mütze, die

324 Frisch (Bd.2) 1976, S. 582. 325 Nossack 2001, S. 588. 326 Vgl. Heine 1992, S. 603. 327 Vgl. Benn 1987, S. 228.

117 strenge kurzsichtige Gloriole der Vernunft, die Epiphania Pascals, Balzacs Mädchen mit den Goldaugen, Prousts reifenspielende Gilberte aus den geschwätzigen Salons, das rotschopfige Mannequin des Dernier cri und die hübsche Kuh der Küchenreklame, la vache qui rit. Immer sind es Träume, die an die Seine führen.“ 328 Doch anders als Heinrich Heine oder Joseph Roth, der seinen Bericht aus dem Pariser Paradies vor keinen vier Jahrzehnten publik gemacht hatte, begegnete Wolfgang Koeppen weder den Engeln noch den Teufeln 329 . Das Volk, das der Treibhaus Autor die Boulevards entlang gehen, die Kaffe oder Warenhäuser beleben und die Theatersäle mit Beifall füllen sah, mutete an, als hätte es nicht demjenigen angehören wollen, von dessen „friedlicher, aber überwältigender Invasion“ Klaus Manns Lebensaufzeichnungen Zeugnis ablegten. 330 Statt sich mitten in einem Strom von Pilgern zu befinden, die hier ihren Lebens, Liebes bzw. Vergnügungshunger zu stillen getrachtet hätten, statt einem Spektakel beizuwohnen, das dem Tannhäuser Dichter als Vorbild für seinen Venusberg gegolten hatte, sah Wolfgang Koeppen lediglich den „Orgien“ des modernen Tourismus zu. Anstelle von „Pilgern“, die dem Ruf der Sirenen gefolgt wären, begegnete er den Touristen, die an der Seine (ebenso wie unterhalb der Pyramiden) eine bloße (Reise) Pflicht zu erfüllen hatten. 331 Um den Erwartungen der „Pflichtbewussten“ gerecht zu werden – zumal sich unter ihnen auch Koeppens Mitbürger aus dem Land des „Wirtschaftswunders“ befanden, die, die „Bieder und Gemütlichkeit“ eines „Wartburg Idylls“ gewohnt, für das profane „paradis artificiel“ nichts übrig hatten – gab man sich in der (ehemals) „leuchtenden Hauptstadt der Welt“ bieder. Den alten „Göttern der Freude“ blieb vorbehalten, in den Tanz oder Likörstuben Zuflucht zu suchen, deren Rolle diejenige der „weggeworfenen Bonbonnieren“ war: „Kompanien von Rauschgoldnymphen glitzern auf einem Exerzierplatz aus buntem Scheinwerferlicht und werfen gar preußisch die Beine. Die lockeren, die wogenden Sitten in den Wandelgängen sind allein noch in alten Romanen, ihr Licht auf dem Bilde von Manet aus den FoliesBergere zu finden. Vielleicht wird der Verkehr nach den Wünschen ins Parlament gewählter Damen sittenpolizeilich überwacht; wahrscheinlich ist das Geschäft unrentabel geworden. Die Moralisten dürfen frohlocken. Die Freude, von der Flaubert sprach, das Laster, das die Entrüsteten meinten, hat sich zu altmodischen Herren und in kleine arme, wenn auch nicht ungemütliche Säle geflüchtet.“ 332 Hätte ein „Pilger“ in diesem Paris einen Venusberg finden wollen, wäre er unverrichteter

328 Koeppen (Bd.4) 1986, S. 590. 329 Vgl. ebenda, S. 597. 330 Vgl. Mann 1989, S. 190ff. 331 Vgl. Koeppen (Bd.4) 1986, S. 597. 332 Ebenda, S. 597598.

118 Dinge nach Hause zurückgekehrt – vielmehr hätte er sich mit einer „ordnenden, gebietenden sowie verbietenden Staatsmacht“ konfrontiert gesehen, der General de Gaulle bald das Gesicht verleihen sollte und die beinahe Anstalten zu machen begann, der Wagnerschen Wartburg für Zukunft nicht nachstehen zu wollen. Wie es um das Land „unterhalb der Wartburg“ (bzw. um dessen westlichen Teil) selbst bestellt war (das sich bald auf der Bühne des Bayreuther Festspielhauses wieder finden sollte), lässt sich den Berichten und Lebensaufzeichnungen von Wielands Zeitgenossen entnehmen. Was in die Augen besonders stechen sollte, war der Abgrund, der sich allmählich zwischen der Wielandschen und der Adenauerschen Welt auftat – während der Wagnerenkel das Wagnis einging, den Oberammergauern nachzumachen (d.h. von der Kunst, in diesem Fall vom Wagnerschen Werk, Gebrauch zu machen, um sich mit der eigenen Vergangenheit auseinander zu setzen) 333 und in der WagnerInterpretation einen Neuanfang zu versuchen, glaubte die neu gegründete Bonner Republik keinen solchen Neuanfang wagen zu müssen. Das „WartburgIdyll“ schien kein Ende nehmen zu wollen. Die kleinen „Wartburgen“, die die Wegbereiter der letzten „großen Zeit“ in der „Provinz“ auf und ausgebaut hatten, standen, stark an Zahl, immer noch da und machten glauben, weder nach dem Zusammenbruch von 1945 noch nach der Entstehung der Bonner Republik abgewirtschaftet zu haben. Hatte sich Kurt Tucholsky seinerzeit über das „Rascheln der Soutanen“ beklagt, das er im Süden „durch alle Rayons hindurch“ gehört hatte 334 , glaubte sich Wolfgang Koeppen im Norden in einer Welt angekommen, wo er den Lärm der (Auf) Märsche „durch alle Rayons hindurch“ zu hören wähnte: „Reinfeld (in Holstein – Anm. M.U.) war auch noch nach dem ersten Weltkrieg ein Ort, zu verschlafen und zu vergessen. Man verschlief hier die Revolution von 1918, verschlief den verlorenen Krieg, verschlief Weimar und die Republik, vergaß aber nicht die gute alte Zeit der Spitzen der Gesellschaft, der Hierarchie und der Uniformen, und so kamen auch nach Reinfeld die neuen Fahnen, meinte man auch in seinen Straßen marschierend zu erwachen, durften sich die verborgenen Kreuze und die Sirenen wie fette Unglücksvögel auf seine alten Dächer setzen, und bald sah man vom Ufer der träumenden Teiche das türmereiche Lübeck brennen, von Osten eilten Flüchtlinge, der zweite Weltkrieg wurde in Reinfeld noch lange weitergeführt [...] und so wurden Verhältnisse offenbar, die jahrhundertelang unter Schindeldach und Lindenlaub und zwischen Urväterhausrat verschlafen und vergessen, doch nicht gestorben waren, Haß, Gier, Neid, die Habsucht und die Herzensträgheit. [...] Selbst in Reinfeld wurde der zweite verlorene Krieg nicht so leicht zu

333 Allerdings sollte diese Verbindung auch die Schattenseiten nicht entbehren, vgl. unten, S. 202203ff. 334 Vgl. Tucholsky (Bd.7) 1975, S. 74.

119 verschlafen, aber vielleicht gelingt es, ihn zu vergessen. [...] Ich sah wie die Teiche abgelassen, wie sie ihres poetisierenden Wassers entblößt wurden. [...] Die freiwillige Feuerwehr spielte zum Karpfenfest die alten Märsche. Ich aß im Hotel Stadt Hamburg den fetten Karpfen [...] und am Teich erinnerte man sich der Versammlungen, der Fahnen und der großen Zeit. [...] Eine neue große Zeit wird ihre Begeisterten und ihre Mörder finden.“ 335 Die potentiellen „Begeisterten“ witterte der Treibhaus Autor allerdings nicht nur im verschlafenen Holstein, sondern auch (und vor allem) in den ehemaligen Hochburgen der deutsch abendländischen „Kultur“, wo die vergangene „WartburgZeit“ ihren Anfang genommen hatte. Vorbildlich fand er in dieser Hinsicht München, dessen „Gespenster“ 336 er nie vergessen sollte. Als Max Frisch zu Ostern 1946 die bayerische Landeshauptstadt besuchte, befand er sich – mitten in Schutt und Asche – nach wie vor unterhalb jener Sockel, die einst den „Funktionsexponenten“ (um sich nochmals des Kolbenheyerschen Vokabulars zu bedienen) von irgendwelchen „großen Zeiten“ aufgerichtet worden waren: „Sonderbar anzusehen: Ein Eroberer zu Pferd, der immer noch in die Leere eines vergangenen Raumes reitet, stolz und aufrecht auf einem Sockel von Elend, umgeben von Stätten des Brandes, Fassaden, deren Fenster leer sind und schwarz wie die Augenlöcher eines Totenkopfes; auch er begreift noch nicht. Aus einem Tor, das unter grünenden Bäumen steht, kommt eine erstarrte Kaskade von Schutt; es ist ein Tor von bezauberndem Barock, anzusehen wie ein offener Mund, der erbricht, der mitten aus dem blauen Himmel heraus erbricht, das Innere eines Palastes erbricht – und die bröckelnden Schwingen eines Engels darüber, einsam wie alles Schöne, fratzenhaft; das Schweigen ringsum, das Erstorbene, wenn es von der helllichten Sonne beschienen wird, das Endgültige. „Death is so permanent.““ 337 Überrascht zeigte sich der Andorra Autor nicht. In Anbetracht der Rolle, die dem einstigen „IsarAthen“ nach dem Untergang der kurzlebigen Räterepublik zuteil geworden war (als man sich eingebildet hatte, ein Vorposten der überlieferten „Kultur“ zu sein – mitten in einer Welt, die sich an den „Westen“, an die Franzosen, Engländer und Amerikaner „verkauft“ hatte), konnte sich der Schweizer unmöglich überrascht zeigen. 338 Kaum überrascht war auch Wolfgang Koeppen. Mit dem Bewusstsein, dass nicht die Keetenheuves 339 das Sagen hatten, als es galt, der zertrümmerten Landeshauptstadt ihr altes Gesicht zurückzugeben, dass es die Schlagfertigen,

335 Koeppen (Bd.4) 1986, S. 910. 336 Siehe oben, S. 37. 337 Frisch (Bd.2) 1976, S. 367368. 338 Vgl. ebenda, S. 312. 339 Vgl. Koeppen, Treibhaus .

120 die Bewährten – die „Restauratoren“ – waren, denen der Wiederaufbau (nicht nur Münchens) oblag, machte er sich keine Illusionen: „Die Stadt hatte gelitten, aber bald zeigte sie sich blind für die Möglichkeit der Erneuerung, die in der Zerstörung verborgen lag. Die Menschen waren durch ein Fegefeuer gegangen, doch man wußte nicht, ob sie geläutert und gerettet waren. Sie richteten sich ein. Auch die Kirche war verfolgt worden; sie sprach ihre Märtyrer selig, und die nicht Gemarterten nahmen die Zügel der Führung straff in die erfahrene Hand. Man besann sich auf die Feste, die Kirche auf die im ehrwürdigen Kalender festgelegten religiösen, das Bürgertum auf die bierstädtisch deftigen, die überlebenden Schwabinger auf die Legende von der Kunststadt, den Budenzauber der Ateliers, und alle förderten den Umsatz der Brauereien. Irgend jemand mußte die Zeche bezahlen. Die Kirche hielt sich an den Staat, die Bürger profitierten von der Konjunktur, einer glücklichen Rechnung mit einer schwarzen Unbekannten, die Schwabinger verkauften ihren Nonkonformismus weit unter Wert an die konformistischen Geschäftsleute, und alle, ob sie nun säten oder ernteten, ernährte Gott der Herr. So blühte neues Leben aus den Ruinen!“ 340 Sich des Vorhabens bewusst, das Zerstörte möglichst treu zu restaurieren, das „schon verloren Geglaubte“ wiederherzustellen, kurzum: das „Alte“ dem „Neuen“ vorzuziehen; der Tendenz gewiss, das neu angekurbelte Kulturleben wieder im Dienst des (Bildungs) Bürgertums wissen zu wollen, glaubte der Treibhaus Autor den „bürgerlichen Saturnalien“ beizuwohnen. 341 Nicht einmal den Berlinern, die, ihren Großvätern ähnlich, an der Isar angekommen waren, um hier ein „Athen“ zu suchen, blieb vorbehalten, aus der „Wartburg“ von gestern eine Weltstadt von morgen zu machen, die die Nachfolge Berlins hätte in Anspruch nehmen können. Vielmehr sollten sie zu denjenigen zählen, die sich, um von Koeppens Worten Gebrauch zu machen, einrichteten, d.h. den „religiösen“ oder „bierstädtisch deftigen“ Festen (die hier allmählich gang und gäbe wurden) hingaben. Was Berlin selbst betrifft, dem die in München Neuangekommenen den Rücken gekehrt hatten, machte die ehemalige Reichshauptstadt glauben, als Zentrum des politischwirtschaftlichen ebenso wie kulturellen Lebens ausgedient zu haben. Zunächst lagen auch hier die meisten Straßen und Plätze in Schutt und Asche – Alfred Döblin, dem die Stadt der „Pariser Jahre“ eine Verewigung (obwohl keine Verherrlichung) zu verdanken hatte, fand sich auf dem Kurfürstendamm (wo Joseph Roth seinerzeit den „Orgien des Internationalismus“ beigewohnt, wo er beobachtet hatte, wie man sich in den noblen Restaurants, Kaffe und Warenhäusern französisch, englisch oder amerikanisch gegeben hatte, um dem Ruf der internationalsten – sowie der

340 Koeppen (Bd.5) 1986, S. 123124. 341 Vgl. ebenda, S. 124125.

121 mondänsten – Straße der internationalsten deutschen Stadt gerecht zu werden; wo sich die Deutschnationalen am häufigsten genötigt gesehen hatten, den Berlinern ihr „mangelndes Deutschtum“ zum Vorwurf zu machen) mitten in einer Welt der Gespenster: „[...] der Kurfürstendamm. Er war eine breite Straße, mit Bäumen bepflanzt, ein Boulevard, der sich bis nach Hallensee hinzog, mit Prunk und Protzhäusern, mit Kinos und Bars. Wer bewegt sich jetzt hier? Der Reichtum ist verjagt. In den Wracks der Häuser Läden, Parfümerien, Blumengeschäfte. Ein Laden nennt sich Raumkunst, man sieht in den Schaufenstern sorgfältig und geschmackvoll angeordnet Schachteln, Lampenschirme, auch Armbänder. Ab und zu stößt man auf eine Bar. [...] Elegant sehen die Gäste nicht aus, und was sie trinken soll kein Kaffee sein, und was sie Schorle nennen, wird nicht viel mehr als gefärbtes Selterwasser sein. Manche Passanten, denen wir begegnen, scheinen aus der früheren Epoche zu stammen und gespenstern hier herum.“ 342 Über die allgegenwärtigen Trümmer und Gespenster der vergangenen (Wartburg) Epoche hinaus war es die politischideologisch problematische Lage der viergeteilten (eigentlich halbierten) Stadt, die eine Rückkehr zur Bedeutung der „Pariser Jahre“ der Stresemannschen Republik schier unmöglich machte. Statt sich an der Spree wie in einem der Zentren des „Westens“ vorzukommen, wusste sich (nicht nur) Max Frisch nicht der Vorstellung zu erwehren, in einer der Kolonialstädte, in einem der Mittelpunkte des berühmtberüchtigten „Ostens“, in Shanghai etwa, angekommen zu sein (wobei den Berlinern das Los der Kolonialisierten zuteil geworden war). 343 Wie es um die Position der einstigen Reichshauptstadt innerhalb Deutschlands bestellt war, vergegenwärtigte sich z.B. Gottfried Benn, als er in Bühlerhöhe weilte (wo er Gründgens’ und Preetorius’ Arbeit zusah): „Tragisch war der Eindruck, den Berlin von da aus machte: fremd, fern, ausserhalb der Welt, absterbend und nicht mehr mitredend.“ 344 Die Kulturpolitik, die unter solchen Auspizien getrieben wurde, schien zunächst kaum derjenigen nachmachen zu wollen, der die Reichshauptstadt der Stresemannschen Republik in deren „Pariser Jahren“ ihren VenusbergRuf zu verdanken gehabt hatte – zumal sie zunehmend in der Hand jener „Schatten“, jener „Gefangenen“ der vergangenen („Wartburg“) Epoche anmuten sollte, die (nicht nur) auf dem Kurfürstendamm (nicht nur) an Alfred Döblin vorüber gespensterten. Während es in Ostberlin die Diktatur des „real existierenden Sozialismus“ war, die der Welt der „westlichen“ Zivilisation ein jähes Ende bereiten sollte, ließ sich die Nonkonformismusfeindlichkeit in den westlichen Sektoren der geteilten Stadt als

342 Döblin 1980, S. 399. 343 Vgl. Frisch (Bd.2) 1976, S. 577. 344 Benn 1980, S. 201.

122 „Antikommunismus“ feiern (dessen Genese mit derjenigen der Adenauerschen Republik weitgehend übereinstimmte). Nachdem sich die Republik am Rhein zu einem „Frontstaat“ des Kalten Krieges hatte schlagen lassen, fand man es an der Spree unmöglich, im einsetzenden OstWestKonflikt den Status einer „Frontstadt“ nicht in Anspruch zu nehmen. Folglich sah sich nicht nur Peter Huchel gezwungen, die Einheit sämtlicher Kulturverantwortlichen, sämtlicher Kunstschaffenden Berlins zu beschwören, um einer immer weniger verborgen gehaltenen „Wartburgisierung“ vorzubeugen, der dieser ehemalige „Stapel der Welt“, diese einstige „Messe der Nationen“ (um nochmals von den Attributen Gebrauch zu machen, mit denen Gottfried Benn seinerzeit das Vorbild an der Seine begegnet war) zum Opfer zu fallen drohte: „Die Geistesschaffenden Berlins müssen zusammenhalten, besonders in einer Zeit, in der eine gewisse verderbte und zynische Lebenshaltung die sittliche Substanz unseres Volkes bedroht. Der schaffende, erkennende Geist darf sich nicht isolieren lassen und darf nicht die Diskrepanz zwischen seinen Erkenntnissen und dem Verhalten einer herrschenden Gesellschaft nur schmerzhaft empfinden. Er muß handeln! Selbst gegen eine Welt, die ihm im tiefsten zuwider ist. Diese Welt schlägt heute an jedem Westberliner Kiosk frech ihre Blätter auf, Sensationen, Gangstertum, Erinnerungen an Nazigrößen und Nazigenerale – und preist auf hundert Titelseiten das an, was einem früher nur in dunklen Winkeln heimlich angeboten wurde. Es ist die Welt, in der man in Westberliner Nachtlokalen jungen Studentinnen begegnet, die sich als Taxigirls vermieten müssen, die Welt, in der ein großer Teil der bildenden Künstler von einer kleinen Sozialunterstützung leben muß und in welcher der Westberliner Senat den Malern Marktstände anbietet, wo sie ihre Bilder feilhalten können. Es ist die Welt, in der der junge Pianist Schimmelpfennig verzweifelt aus dem Leben ging, weil er für seine Weiterbildung kein Stipendium mehr erhielt. Niemand nahm von ihm Notiz. Erst sein Tod machte ihn bekannt.“ 345 Dieser ebenso wie allen ähnlichen Mahnungen zuwider, deren Urheber sich zum Ziel gesetzt hatten, der fortschreitenden politischideologischkulturellen Spaltung (und Provinzialisierung) der Stadt an der Spree entgegenzuwirken, sämtlichen Huchels zum Trotz, waren es nicht sie, sondern die Tiburtius 346 , denen es beiderseits vorbehalten blieb, sich durchzusetzen und den früheren „Venusberg“ in zwei entgegen gesetzte „Wartburgen“ umzuwandeln – die westlichere von ihnen öffnete bald den „Restauratoren“ der Adenauerschen Epoche, den altbewährten Verfechtern von „Tugend“ und „holden Sitten“ Tür und Tor, um sich mit dem Glanz des „nachtotalitären Biedermeier“ schmücken zu können (während Ostberlin allmählich zur Hochburg jener Kräfte avancierte,

345 Huchel 1984, S. 276. 346 Vgl. ebenda, S. 430.

123 denen die WartburgGesellschaft aus Götz Friedrichs Berliner Tannhäuser Inszenierung das Gesicht verleihen sollte – zumal schon Friedrichs Bayreuther Versuch von 1972, das TannhäuserDrama in Szene zu setzen, glauben machte, König Heinrichs Worten gerecht werden zu wollen: „[...] ob Ost, ob West, das gelte allen gleich!“ 347 ). Konsequenterweise mutete die Stadt, der Thomas A. Edison ebenso wie Heinrich Mann eine grandiose Zukunft prophezeit hatte 348 , so an, als wäre sie jenem Konformismus, jenem „biederen“ Provinzialismus verfallen, dem Wolfgang Koeppen in der „wahlverwandten“ Metropole an der Seine begegnete. Man hätte sich hier kaum einem tiefen Seufzer erwehren können, wären einem die Parallelen sichtbar geworden, in Anbetracht derer der Treibhaus Autor – den verwehten Prunk der „Goldenen Zwanziger“ vor Augen – schreiben sollte: „Die Manifeste von 1925 nähren die Literaten von 1962. Und die Moral? Der Franzose predigt sie [...] für Frankreich: „Für uns heute, die wir die Rückkehr zu einem sehr drückenden Konformismus erleiden, die wir überall und ununterbrochen die Verstümmelungen der Freiheit sehen, für uns, die wir nicht die Zeichnungen und Artikel veröffentlichen können, die 1925 frei erscheinen durften, wir, die erneut die schlimmsten sozialen und politischen Tabus ertragen müssen, während eine moralische Ordnung wiederkehrt, die sich selbst nicht anerkennen kann, wir können das Paris von 1925, trotz seiner Auswüchse, nur mit Sehnsucht betrachten.“ Wer denkt in Deutschland bei solcher Predigt nicht an Berlin? Auch in Berlin brannte ein Feuer, bevor die Nacht kam. Heute freilich drohen wir, am Provinzialismus zu ersticken; denn zum Biedermeier gibt es kein Zurück!“ 349 Zusammenfassend können wir wohl sagen, dass es nicht nur Berlin war, das (um Wolfgang Koeppen zu zitieren) „der Krieg vielleicht endgültig geschlagen hatte“ 350 . Max Jacobs Worte eingedenk, der die „Orgie“ am Montparnasse geglaubt hatte; die Sirenenstimmen ins Gedächtnis rufend, deren Verlockungen (noch) in den „Goldenen Zwanzigern“ eine Unmenge von „Pilgern“ – Genies, Bilderstürmern, Propheten ebenso wie zweifelhaften Charakteren sämtlicher Sprachen und Hautfarben – frohlockend zum Opfer gefallen war, um den Bennschen Visionen einer neuzeitigen Palmyra Gestalt zu geben, sah sich (nicht nur) Wolfgang Koeppen mitten in einer Welt, die von „einer bösen Fee“ in einen „Schlaf der Zeitlosigkeit“ verzaubert anmutete. Statt den Pilgern Tür und Tor zu öffnen, sie in einer der berühmtberüchtigten Bars, einem der Tanzlokale Platz nehmen und „in den Armen

347 Vgl. Christians 1995, S. 236; Zitat aus: Lohengrin , 1.Aufzug. 348 Vgl. oben, S. 3334 und 4445. 349 Koeppen (Bd.5) 1986, S. 159. 350 Vgl. ebenda, S. 124.

124 glühender Liebe“ 351 ihren Trieben Genüge tun zu lassen; statt dem Ruf eines Venusbergs gerecht werden zu wollen, dem der Tannhäuser Dichter die Vorlage für den ersten Aufzug seines Musikdramas verdankt hatte, stellte sich die Stadt an der Seine den Touristen zur Verfügung, die – massenweise aus dem Land des „Wirtschaftswunders“ kommend – der unbeschwerten Barwelt (deren Atmosphäre von „Ellenbogenfreiheit“ 352 , deren Luft von Parfüm und Latrinengeruch geprägt worden war) die geregelte, streng hygienische Welt der internationalen Hotels und Restaurants vorzogen. 353 Was Gottfried Benn seinen Landsleuten zum Vorwurf machte, hätte er auch deren französischen Nachbarn vorwerfen können: „[...] die Moral war nach 1918 weit libertiner, heute ist alles muckerisch u. selbst der coitus der Jugend stumpfsinniger u. phantasieärmer als in jenen Jahren; die Mechanisierung des Sozialdaseins hat auch diese Sphäre völlig maschinell gemacht.“ 354 Was das Geburtsland des „Wirtschaftswunders“ selbst betrifft (dessen Grundgesetz nicht vorbehalten blieb, sich mit der ursprünglich vorgeschlagenen Präambelformulierung „Bewegt von der Hoffnung aller Deutschen“ schmücken zu können 355 ), machte es glauben, nach wie vor „im Schatten der Wartburg“ verbleiben zu wollen – zumal manche Karriere, vor der es „den Hut abzunehmen“ galt, in der kaum vergangenen „WartburgZeit“ ihren Anfang genommen hatte. Selbst die ehemalige Reichshauptstadt Berlin, die das Los des ganzen Landes, nämlich dasjenige einer politischideologischen Spaltung, zu teilen hatte, mutete an, als hätte sie sich jenem Provinzialismus verschrieben, dem sie einst entgegengewirkt hatte: „Der Krieg (gemeint ist der Erste Weltkrieg – Anm. M.U.) war verloren, die Toten wurden vergessen, die Niederlage geleugnet, die Historiker lehrten, daß nicht sein kann, was nicht sein darf, der Staat, die Republik wurde gehaßt, ein geschlagener General an ihre Spitze gestellt, die Atmosphäre war weithin vergiftet, die Inflation hatte vor allem die kleineren Vermögen verzehrt, das eingebildete bürgerliche Selbstverständnis war angegriffen, Arbeitslosigkeit raubte den Arbeitern das Brot, die Provinz muffte, sie blickte zurück und wartete auf den Retter, nur in der Hauptstadt, allein in Berlin waren Geist und Gesellschaft von alten Fesseln befreit, die Künste nützten ihre Chance, neue Ideen wurden produziert, neue Techniken entwickelt, die Literatur korrespondierte mit der Welt, nach einem Wort von Gottfried Benn fanden die abendlichen Kulissenverschiebungen statt, glanzvolle Aufführungen, eine neue Moral wurde diskutiert, Berlin war liberal und provokant, ich wollte teilhaben, ich atmete diese Luft, Berlin

351 Vgl. Tannhäuser , 1.Aufzug. 352 Vgl. oben, S. 3132. 353 Vgl. Koeppen (Bd.4) 1986, S. 621ff. 354 Benn 1979, S. 96. 355 Vgl. Glaser 2002, S. 240241.

125 entzückte den Kopf, aber es füllte den Magen nicht.“ 356 Nun „muffte“ auch Berlin, während das „Wirtschaftswunder“ – am Rhein ebenso wie an der Spree – das Vermögen vermehrte, das „eingebildete bürgerliche Selbstverständnis“ ernährte und den Magen füllte. Allerdings war es nicht nur das „Wirtschaftswunder“, nicht nur das Bewusstsein, ein „Frontstaat“ des Kalten Krieges zu sein, was die Kultur und Lebensauffassung der Adenauerschen Republik prägen sollte; es waren nicht nur die „Bilder“, die, dem „autoritären Bereich“ entnommen, Theodor W. Adorno den Anlass gaben, der Bewunderung, die er den Leistungen der „Nachkriegsdeutschen“ entgegenbrachte, auch Kritik hinzuzufügen: „Die Welt ist aus den Fugen, aber die Fugen sind mit träger Masse ausgefüllt; die Kultur ist in Trümmern, aber die Trümmer sind weggeräumt, wo sie noch stehen, sehen sie aus, als wären sie ehrwürdige Ruinen.“357 Ohne den Verlust an Glanz leugnen zu wollen, der sich an der Seine ebenso wie am Rhein (über die Spree gar nicht zu reden) allmählich bemerkbar machte; ohne Koeppens, Benns oder Döblins Zeugnisse in Frage zu stellen, die Skepsis zu verharmlosen, mit der die Genannten der politischgesellschaftlichkulturellen Entwicklung beiderseits des Rheins zusahen (insbesondere wenn es galt, einen Vergleich mit der Zeit zwischen den Weltkriegen anzustellen), erscheint uns dennoch unmöglich, die Anzeichen eines neuen „Nonkonformismus“, eines neuen „Tannhäusertums“ mitten in der Flut von „Tugend“ und „holden Sitten“ unbeachtet zu lassen – zumal dieser „Nonkonformismus“, wieder mal dem „Westen“, d.h. der französischenglischamerikanischen Welt entsprungen, auch „unterhalb der Wartburg“ langsam Wurzeln schlagen sollte, um der normierten sowie deformierten Welt des „Wirtschaftswunders“ eine Gegenwelt gegenüber zu stellen, die die Rolle des Venusbergs hätte in Anspruch nehmen können. War die Weimarer Epoche von einer harten Auseinandersetzung zweier unversöhnlichen Welten, zweier Kultur und Lebensauffassungen gekennzeichnet gewesen (in der sich das Wagnersche Schema des WartburgVenusbergKonflikts widergespiegelt hatte), erlebte das Adenauersche Zeitalter ebenfalls einen ideologischkulturellen Konflikt, der, obwohl in einer abgeschwächten Form, dem Grundriss des TannhäuserDramas entsprechen sollte. Nicht umsonst hatte der Tannhäuser Dichter, hatten die „Biedermänner“ aller „WartburgZeiten“ die Stadt an der Seine mit dem Venusberg gleichgesetzt; nicht umsonst glaubten sich die „Biedermänner“ des „WartburgIdylls“ im Recht, die angebliche moralische „Zersetzung“ eine „Französisierung“ zu nennen; nicht umsonst belegte man am Rhein Sartres Fliegen zunächst mit einem Bühnenverbot (das allerdings bereits 1947 an Bedeutung verlor) – Paris galt, allen seinen

356 Koeppen (Bd.5) 1986, S. 311. 357 Glaser 2002, S. 241.

126 „Muckern“ zum Trotz, immer noch für einen „Start und Sattelplatz“ der Unruhestifter, der Tabubrecher und Bilderstürmer, die sich (nicht zuletzt in der „biederen“ Adenauerschen Republik) zum Ziel gesetzt hatten, die beschworene „heile“ Welt von Ordnung, Anstand und Schönheit der Sterilität zu überführen. 358 Folglich waren es nicht nur die „Restauratoren“, die das Gesicht Frankreichs sowie der benachbarten Bonner Republik prägten. An der Seine war es JeanPaul Sartre, an dem die Ordnungs, Anstands und Schönheitshüter Anstoß nahmen; an der Isar, mitten in der Welt der „bürgerlichen Saturnalien“, sorgte der altbewährte „Tannhäuser“ Jürgen Fehling für Skandal und Empörung, als er die Münchner mit einer TieckInszenierung konfrontierte, die die Erinnerungen an seinen Berliner Tannhäuser von 1933 ins Gedächtnis rief – was ihn schließlich nicht daran hinderte, der Zukunft des einstigen „IsarAthens“ voller Zuversicht entgegenzusehen.359 Was die Stadt an der Spree betrifft, konnte sich z.B. Wolfram Schwinger kaum der Bewunderung erwehren, wenn er den Versuchen beiwohnte, zumindest das Theater und Musikleben neu anzukurbeln: „Für theater und musikbesessene Menschen war das Berlin der fünfziger Jahre die ideale Stadt. Sie war offen, noch von keiner Mauer durchtrennt. Die vier Alliierten konkurrierten mit den besten Kunstereignissen, die ihre Länder überhaupt nur zu bieten hatten. Wir begeisterten uns an französischen Filmen wie Carnés „Kinder des Olymp“ oder Cocteaus „Orphée“. Wir erlebten David Oistrachs erstes Auftreten in Deutschland [...] ; kein Geringerer als Hermann Abendroth dirigierte das (Ost) Berliner RundfunkSinfonieOrchester, und die (West) Berliner Philharmoniker saßen nahezu geschlossen im Parkett. Deren Heimstätte war seinerzeit der Steglitzer TitaniaPalast, ein großer Kinosaal – aber wie gleichgültig war uns dieses Ambiente, wenn wir dort Furtwänglers Konzerte erleben durften oder zum erstenmal in unserem Leben Strawinskys „Sacre“ – von Markevitch so elektrisierend dirigiert, daß wir vor Begeisterung auf die Stühle sprangen. Und schließlich: welche Theatervielfalt! Langhoff [...] im Deutschen Theater, Barlog im Steglitzer Schloßparktheater, Grandseigneur Carl Ebert in der Städtischen Oper. [...] Ja, und dann die beiden Galionsfiguren Theaterberlins, nur einen Kilometer voneinander entfernt: Bertolt Brecht am Schiffbauerdamm, Walter Felsenstein in der Behrenstraße, der Komischen Oper! 360 Ohne den Glanz (freilich auch den kontroversen Ruf) der „Pariser Jahre“ der Stresemannschen Republik, ohne die Bedeutung zurück zu gewinnen, die der ehemaligen Reichshauptstadt einst zuteil geworden war, gab es dennoch Anlässe genug, der Stadt an der Spree dieselben Vorwürfe zu machen, die ihren Werdegang

358 Vgl. ebenda, S. 260ff. 359 Vgl. Ahrens 1987, S. 31. 360 Christians 1995, S. 116.

127 bereits unter Stresemann begleitet hatten: „Berlin ist z. Z (.) so international, dass man deutsch kaum zu sprechen u (.) zu schreiben wagt“ , 361 rief sich (nicht nur) Gottfried Benn die alten Vorwürfe ins Gedächtnis. Dass in diesem Milieu, das anders als in der Weimarer Epoche nicht auf eine „Weltstadt“ beschränkt bleiben sollte, Sartres umstrittene, weil die beschworenen Werte in Frage stellende Philosophie ein (dankbares) Publikum von „existenziellen Außenseitern“ 362 fand, war nur konsequent: „Ich bin weder Herr noch Knecht, Jupiter, ich bin meine Freiheit!“ , formulierte der Sartresche Orest der „ordnenden, gebietenden sowie verbietenden Staatsmacht“ gegenüber diese Philosophie. „Kaum hast du mich erschaffen, so habe ich auch schon aufgehört, dein eigen zu sein… Deinen Befehlen sich fügend, stand meine Jugend vor meinem Blick, flehend wie eine Verlobte, die man verlassen will; ich sah meine Jugend zum letzten Mal. Aber plötzlich ist die Freiheit auf mich herabgestürzt, und ich erstarrte, die Natur tat einen Sprung zurück, und ich hatte kein Alter mehr, und ich habe mich ganz allein gefühlt, inmitten deiner kleinen, harmlosen Welt, wie einer, der seinen Schatten verloren hat, und es war nichts mehr am Himmel, weder Gut noch Böse, noch irgendeiner, um mir Befehle zu geben… Ich werde nicht unter dein Gesetz zurückkehren: ich bin dazu verurteilt, kein anderes Gesetz zu haben als mein eigenes… Denn ich bin ein Mensch, Jupiter, und jeder Mensch muss seinen Weg erfinden.“ 363 (Nicht zuletzt war es Wieland Wagner, der Sartres Gedankengut manche Idee zu verdanken hatte – nicht umsonst meinte Walter Erich Schäfer, den Fliegen Dichter einen der „Mitkämpfer“ des Wagnerenkels nennen zu dürfen.) 364 Kommen wir jetzt auf die Künstler zu sprechen, deren Werk den Werdegang der Adenauerschen Gesellschaft begleitete. Stellen wir uns die Frage, welchen Weg diese Künstler antraten, wem sie ihren „Zoll zahlten“, ob, den braven „Wolframs“ und „Biterolfs“ ähnlich, den Beschwörern des „WartburgIdylls“, den patriarchalisch denkenden Ordnungs, Anstands und Schönheitssüchtigen, oder, dem Tannhäuser gleich, jener Kultur und Lebensauffassung, die nicht von der „kleinen, harmlosen Welt“ des „Wirtschaftswunders“ sein wollte. Versuchen wir das Problem zu lösen, ob es noch berechtigt war, der neuen Gesellschaft (und deren Künstlern) den Spiegel vorzuhalten, den Jürgen Fehling seinerzeit so unbarmherzig der Gesellschaft der ausgehenden Weimarer Republik vorgehalten hatte. *

361 Benn 1980, S. 43. 362 Vgl. oben, S. 16. 363 Glaser 2002, S. 261. 364 Vgl. Schäfer 1970, S. 1415.

128 Carl von Ossietzky hatte, wie oben erwähnt, seinerzeit geglaubt, den deutschen Künstlern – die berühmtesten von ihnen nicht ausgenommen – mit den „Untertanen“ gleichsetzen zu müssen. Dagegen glaubte (nicht nur) Golo Mann, den Deutschen der „späten fünfziger Jahre“ keine Untertänigkeit mehr vorwerfen zu können 365 ; ob es auch die deutschen Künstler waren, die den „alten Respekt vor der Obrigkeit nicht mehr hatten“, lohnt es (in Anlehnung an die bereits angewandte Methode, zu widerlegende Thesen zu formulieren) zunächst in Frage zu stellen – zumal die Auspizien, unter denen (West) Deutschlands Kunstschaffende die Kunst zu schaffen hatten, anfangs nicht unbedingt verändert anmuteten: Wenn wir Hans W. Richter glauben wollen, war es lediglich die „Obrigkeit“, nicht das „System“, was nach dem „Zusammenbruch“ gewechselt hatte 366 ; die „Eliten“ dieses „Systems“ (die, um Richter zu zitieren, mit der „kleinbürgerlichen Créme de la Créme“ gleichgesetzt werden konnten) pflegten sich dabei – den noch kleinbürgerlicheren Repräsentanten der neuen bzw. den adeligen und großindustriellen Spitzenexponenten der alten „WartburgZeit“ ähnlich – in derselben „WagnerManier“ und unter fast denselben Marsch und Weiheklängen in Szene zu setzen (obwohl es nun Giuseppe Verdi war, der zu Hilfe gerufen wurde), so dass sich (nicht nur) Alfred Döblin – durch das dementsprechende Pathos der Berichterstattung zusätzlich herausgefordert – einer gewissen „Übelkeit“ nicht zu erwehren vermochte ( „Die Kommentatoren im Radio bereiten mir Übelkeit. Wie selbstgefällig sich das alles gibt“ , beschwerte er sich anlässlich jenes „Wartburgfestes“, das Adenauers Partei nach dessen Heimkehr aus Amerika veranstaltet hatte. „Nun ist der Chef der Regierung aus Amerika zurückgekehrt, stürmische Ovationen wurden ihm zuteil auf einer Kundgebung in Hamburg. Eine Zeitung hier schreibt: „Die Angaben über die Zahl der Teilnehmer in der riesigen Ernst Merckhalle schwanken zwischen 7000 und 12000. Tagelang waren alle Eintrittskarten ausverkauft. In der Halle hatte ein riesiges Aufgebot von Angehörigen der Jungen Union, deren Armbinden das Symbol des Parteitages zeigten, den Ordnerdienst übernommen. Hamburg hatte einen ganz großen Tag gegen den sich der kümmerliche Versuch von Angehörigen der Freien Deutschen Jugend durch Aufmärsche im Zentrum der Stadt und Sprechchöre zu stören kläglich ausnahm. Der äußere Ablauf der Kundgebung zeigte deutlich, daß die größte Regierungspartei dabei ist, einen neuen Stil für solche propagandistischen Veranstaltungen zu entwickeln, bis zu den scheppernden Sammelbüchsen nach Beendigung der Kundgebung. Aufforderungen, die Gänge des Saales frei zu halten, kündigten den Einmarsch der Fahnengruppen der Jungen Union an. Er vollzog sich unter

365 Vgl. Mann 1992, S. 1029. 366 Vgl. Richter 1962, S. 14.

129 Marschklängen in zwei Kolonnen. Kräftige junge Männer im weißen Hemd trugen die Fahnen auf das eigens errichtete einzige Podium. Triumphmarsch aus Aida. Händeklatschen begleitete jeweils die Ankunft der Prominenz, bis unter den Klängen des Triumphmarsches aus Aida der Kanzler selber mit seiner Tochter und den Herren seiner Begleitung die Halle betrat. Jubel umbrauste ihn. Die Menschen stiegen auf die Stühle und klatschten Beifall, während Adenauer mit beiden Händen nach allen Seiten winkte. Ein kleines Mädchen in Althamburger Tracht überreichte ihm einen Strauß gelber Tulpen, während Lotte Adenauer aus der Hand eines Bübchens in Zimmermannstracht einen Strauß weißer und roter Nelken, die Farben Hamburgs, empfing. – Wie sehr der Kanzler in diesen Gedankengängen lebt (er hatte am Nachmittag ein Flüchtlingslager besucht und mit dem Zuruf an die anwesenden Flüchtlinge „Ihr werdet eines Tages in eure Heimat zurückkehren“ ein tausendfaches beifälliges Echo ausgelöst) wie sehr der Kanzler in solchen Gedankengängen lebt, mag eine kleine Episode erläutern. Als er den Empfang durch die Staatsbehörden in Kanada schildern wollte, begann er mit den Worten: „Der Bundeskanzler des deutschen Reiches“, um dann, sich korrigierend fortzufahren, „das ist noch ein bißchen verfrüht, sagen wir Deutschland“.““ 367 ) Hatte Max Frisch im zerstörten Berlin den Eindruck gehabt, eine „Dreigroschenoper ohne Songs“ 368 zu erleben, konnte sich Döblin bald nach dem Anfang der AdenauerZeit nicht dem Eindruck erwehren, trotz Verdis Musik einer WagnerAufführung beizuwohnen. Wahrlich: Selbst Jürgen Fehling hätte an dem besagten, nicht vereinzelt gebliebenen WartburgKlamauk lernen können, wie die Welt von Wagners Wartburg möglichst (bühnen) wirksam in Szene zu setzen sei. Mochte Adenauers Partei auch bemüht sein, „einen neuen Stil für solche propagandistischen Veranstaltungen zu entwickeln“, so konnte (und wollte) sie sich unmöglich über den Geschmack ihrer Anhängerschaft hinwegsetzen – über den Geschmack, den noch viel zu oft jene „Kultur“ und „Abendland“Deuter prägten, über die sich die Döblins, Manns und Tucholskys bereits vor zwei Jahrzehnten geärgert hatten. In Bezug auf die Literaturforschung und –vermittlung schrieb nun Walter Jens: „Wieviel antizivilisatorischer Hochmut und wie viel deutsches KulturPathos, verstaubte Houston StewartChamberlainLitaneien, Tiraden, die von wirrer Nietzsche und SpenglerLektüre zeugen, epigonales AntiWestlertum (so, als lebten wir im tiefen 19. Jahrhundert, zu Zeiten, als Wagner sich in seinem Essay über Deutsche Kunst und deutsche Politik auf Constantin Frantz berief!), wie viel Verketzerung intellektueller Redlichkeit, wie viel DichterPreis und

367 Döblin 1980, S. 514515. 368 Vgl. Frisch (Bd. 2) 1976, S. 526.

130 LiteratenVerachtung, welch ein Geschwätz von zeitlosen Werten und welche Verachtung des echten Engagements finden sich da!“ 369 (Hatte sich Kurt Tucholsky seinerzeit über die Studienräte geärgert, deren Lehrbücher auch in den besten WeimarJahren dem Geist, den Vorurteilen und den Tabus der wilhelminischen Zeit verpflichtet geblieben waren – so, als hätte Philipp Scheidemann den Zusammenbruch des „Zweiten Reiches“ samt allem „Alten“ und „Morschen“ nie verkündet; als wäre es nicht Berlin gewesen, das, um Thomas A. Edisons Prophezeiung gerecht zu werden, als „Bollwerk des Amerikanismus“ der „Zivilisation“, d.h. dem „Westen“ Tür und Tor nach Deutschland und Mitteleuropa geöffnet hatte –, so ärgerte sich Jens nun über die „Literaturbetrachter“ Georg Ried und Heinz Otto Burger, deren Handbücher Wesen und Werden deutscher Dichtung sowie Annalen der deutschen Literatur seiner oben zitierten Entrüstung zu Grunde lagen. Als hätte es kein 1945 gegeben, behauptete Ried – allen Mahnungen der Geschichte zum Spott, sämtlichen „Modernisierungsschüben“, sämtlichen „Neuanfangsversuchen“ zum Trotz – in alt gewohnter „WartburgManier“: „Zivilisation hat den Menschen entseelt und lieblos gemacht.“ 370 ; behauptete Heinz Schwerte – in Burgers Annalen für die „moderne“ Literatur zuständig –, dass Heinrich Manns Welt, übrigens „eine tote WortWelt“, nur reizen und zerstören, nicht aber heilen und gesunden wolle, dass es die Welt eines Kolbenheyer sei, die selbst derjenigen von Thomas Mann vorzuziehen sei: „Dichtung als Volksdienst: dieser Ruf tönt aus dem Werk von Paul Ernst, von Wilhelm Schäfer, von Kolbenheyer [...] .“ 371 ) War von „zeitlosen Werten“, ja von „Dichtung als Volksdienst“ die Rede, so waren es (selbstverständlich) die „Altbewährten“, diese „Wolframs“ und „Biterolfs“, nicht die „Tannhäuser“, die sich da von neuem „gebraucht“ wussten – bevorzugt durch die (ebenfalls „altbewährten“) Literatur, Kunst und Kulturbetrachter ( „Ried zum Beispiel widmet Musil 7, Waldemar Bonnels hingegen 35 Zeilen; Heinrich Mann erhält 4, Ernst Wiechert 119 (!) Zeilen; Hermann Broch 26, Bergengruen dagegen 104 Zeilen; Joseph Roth wird nicht erwähnt, während Kolbenheyer, aus der Tiefe der deutschen Volksseele dichtend, 73 Zeilen erhält… wundert man sich da, daß Karl Kraus, Rudolf Borchardt und Kurt Tucholsky gleichfalls nicht erscheinen, daß vom Essay keine Rede ist, das jüdischrationale Element – man denke an den „kaltverstandesmäßigen“ Heine – in der deutschen Literatur offenbar keine Rolle spielt und daß Else LaskerSchüler, Nelly Sachs und Gertrud Kolmar weiterhin verschwiegen werden, während man Wilhelm Schäfers „gemütlichen Erzählstil“ um so

369 Richter 1962, S. 346. 370 Ebenda, S. 346. 371 Vgl. ebenda, S. 347348.

131 nachdrüklicher preist?“ 372 ); bevorzugt auch von der Kritik, der Franz Schonauer nur mit der Bezeichnung eines „literaturvermittelnden Zwischenhandels“ gerecht zu werden glaubte 373 , belieferten sie wieder die Buchverlage – mit einem unvermuteten Erfolg (wohl um nicht nur Alfred Döblin eines Besseren zu belehren, der sich kurz nach dem Kriegsende die Fragen gestellt hatte: „Und wie steht es heute um die alten Bildungsautoren, die humanistischen, die komfortabel Bürgerlichen, die bürgerlich Konservativen von 1933? Wo findet sich in dem zerbrochenen, von Trümmern bedeckten Land bürgerlichkonservativer Boden? Wer wagt es, zu hoffen, hier sein altes bürgerliches Leben fortzusetzen? Wer sieht nicht, daß in jeder Hinsicht die Türen der verschlossenen Bürgerstuben gesprengt sind?“ 374 ). Für den „bürgerlichkonservativen Boden“ sollte das „Wirtschaftswunder“, sollte Adenauers Keine ExperimentePolitik sorgen – doch bereits vor diesem „Wirtschaftswunder“ hatte sich Horst Lange gezwungen gesehen, seiner Enttäuschung Luft zu machen: „Bücher nach dem Krieg [...] – wie haben wir darauf gewartet, wie ungeduldig sind wir gewesen, mit welcher Erregung und Unruhe haben wir nach ihnen gegriffen! Wir waren nicht darauf gefaßt so vielen Bekenntnissen schöner Seelen zu begegnen, so viele retrospektive Talente und Pansflötenbläser zu finden – wenn schon die Zukunft unserer Literatur in die Vergangenheit verlegt werden muß, so hofften wir doch wenigstens darauf (um nur ein naheliegendes Beispiel zu nennen!), etwas von der Besessenheit und der Intensität Strindbergs wiederzufinden – dessen Werk zu großen Teilen viel moderner ist als das meiste von dem, was heutzutage in Deutschland geschrieben und publiziert wird! Bücher nach dem Krieg – es scheint, als seien die Städte umsonst zerstört, die Hekatomben umsonst geopfert worden, als sei das Gefüge der europäischen Ordnung umsonst zerborsten. Alles umsonst – sie dudeln weiter, als befänden sie sich immer und ewig in Arkadien, sie können die Tonleiter, auf der sie auf und ab schweben, nicht verlassen, ohne zu Fall zu kommen.“ 375 Sah sich (nicht nur) Alfred Döblin einem „regelrechtem Boykott“ ausgesetzt 376 , musste der ReEmigrant neben einer „feindseligen Kritik“ die Interesselosigkeit von seiten des Publikums ebenso wie von seiten der „ordnenden, gebietenden sowie von neuem auch verbietenden (man denke nur an das „Schund und SchmutzGesetz“ von 1952!) Staatsmacht“ hinnehmen, erfreute sich mancher „innere Emigrant“ (zusammen mit manchem der einstigen „Blut und BodenAutoren“ – man lese nur Huchels Interview mit Johannes R. Becher von

372 Ebenda, S. 345346. 373 Vgl. ebenda, S. 489. 374 Döblin 1989, S. 447. 375 Richter 1962, S. 481. 376 Vgl. Döblin 1980, S. 506.

132 1948! 377 ) einer Hochkonjunktur. Anders als die Döblins passten all die Wiecherts, Bergengruens, Carossas und – solange sie der Adenauerschen (Rüstungs) Politik konform gingen – Schneiders zum „nachtotalitären Biedermeier“ der AdenauerZeit ganz und gar – nicht nur dank ihrer Kunstauffassung, die den erwünschten apolitischen Grundsätzen eines Rudolf A. Schröder gerecht werden konnte ( „Das innerste Wesen aller Kunst ist Trost über die Vergänglichkeit des Daseins. [...] Sein und Ziel aller Kunst ist Erhebung aus dem Vergänglichen, ist Rettung des Vergänglichen ins Unvergängliche, ins Bleibende.“ 378 ); nicht nur wegen ihrer „tadellosen“ (d.h. in diesem Fall gutbürgerlichen, konservativen – sprich antikommunistischen) Gesinnung; nicht nur dank der seitens der altneuen „Eliten“ angestrebten, zwischen der Weimarer und Bonner Republik herzustellenden Kontinuität 379 , sondern auch – und nicht zuletzt – wegen ihrer Fähigkeit, mit den Tabus zurechtzukommen, die von der AdenauerZeit bald nicht wegzudenken schienen: „Kirche, Gewerkschaften, Verbände, Vereine versuchen mehr und mehr, sich mit einer Tabuzone zu umgeben und die Mitglieder auf ihre Tabus zu verpflichten: wenn du… dann…“ , sollte Paul Schallück schreiben. „Wer es zum Beispiel wagt, die Berechtigung des Proporzes anzuzweifeln, der ein Ausdruck tabuierter Konfessionen und Verbände ist, verletzt ein Tabu. Wer es wagt, die Tabus zu verletzen, mit denen sich verschiedene Wirtschaftsbranchen und ihre Manipulationen umgeben, kann mit Prozessen rechnen, die ihn an den Rand der Existenz zu drängen vermögen, so geschehen mit der Zeitschrift Deutsche Mark, die verschiedene Geschäftsgebaren auf den Tisch der Öffentlichkeit legte.“ 380 Mochte Schallück auch zugeben, dass es nicht mehr die „uralten, archaischen Tabus des Sexus und der Liebe, der menschlichen Verirrungen des Geschlechtstriebes, der Homosexualität, des Inzests“ 381 waren, die von größerer Bedeutung gewesen wären; mochte er zugeben, dass der Bedeutungsverlust bei den Letztgenannten nicht zuletzt der Literatur zu verdanken war, hielten die Adenauerschen „Eliten“ – der sich „so stark im reinen Glauben“ wähnenden WartburgGemeinschaft ähnlich 382 – nach wie vor an jenen Tabus fest, die mit der Religion, mit dem Glauben verbunden waren. Wie unheilvoll sich hier – der Welt der Wagnerschen Wartburg gleich – Bekenntnisse mit Lippenbekenntnissen, Glaube mit „Glauben“ überschnitten, fasste Günter Eich zusammen: „Am heftigsten ist bei uns die Reaktion, wenn es einer wagt, der abscheulichsten Sprachlenkung zu widersprechen, der

377 Vgl. Huchel 1984, S. 364365. 378 Fischer 1986, S. 226. 379 Vgl. Mertz 1985, S. 222ff. 380 Richter 1962, S. 441. 381 Vgl. ebenda, S. 443. 382 Vgl. Tannhäuser , 2. Aufzug.

133 religiösen. Gott zu sagen, wo der Teufel gemeint ist, ist eine fast selbstverständliche Übung geworden. Das so von aller Wahrheit entleerte Wort bleibt als Dekoration brauchbar und machte die Fassade gefällig. Schiebt aber jemand die Papierblumen ein wenig beiseite und entdeckt dahinter das zum Abfall Geworfene, das Gute, das Wahre, das Schöne, Glaube, Hoffnung und Liebe, geschunden und im Schmutz, entdeckt er das und fragt, was da vor sich gehe, so ist er destruktiv, ein Nihilist und wühlt im Unrat. Wenn man das Wort Nihilismus durchaus verwenden will, so trifft es das Verfahren der Macht, die leere Worthülse für die Wahrheit auszugeben. Von Gott kann man nicht sprechen, wenn man nicht weiß, was Sprache ist. Tut man es dennoch, so zerstört man seinen Namen und erniedrigt ihn zur Propagandaformel.“ 383 (Was den „Nihilismus“ betrifft, schien er – wieder in bester „WartburgManier“ gebraucht: man erinnere sich nur an den „Kulturbolschewismus“, dessen „Ausgrabung“ Joseph Roth den „politischen Archäologen“ der Weimarer Epoche zum Vorwurf gemacht hatte 384 – die älteren, durch die zu verdrängende (jüngste) Geschichte profanierten Schlagworte ersetzt zu haben, um das althergebrachte Schema einer „guten“, sprich förderungswürdigen, und einer „bösen“, d.h. zu verfemenden Kunst bzw. Lebens und Kulturauffassung weiterhin am Leben zu erhalten. So schrieb Max Frisch bereits 1947: „Das Wort, womit man zur Zeit am meisten Unfug treiben kann, heißt Nihilismus – man muß nur unsere Zeitungen blättern, und schon haben sie wieder einen! Sartre ist einer, Wilder ist einer, Jünger ist einer, Brecht ist einer… Wahrlich, ein verbindendes Wort! Ich sehe sie förmlich, unsere Rezensenten zweiten Ranges, sie stöbern wie mit einer Flitspritze umher, und kaum erschreckt sie etwas Lebendiges, spritzen sie mit geschlossenen Augen: „Nihilismus, Nihilismus.“ Nihilist in diesem Sinn, wie unsere Presse es meint, ist auch der Arzt, der mich heute geröntgt hat, statt daß er meine Wange schminkt; denn was zum Vorschein kommt, wenn er röntgt, wird nicht schön sein –. Was sie positiv nennen: Die Angst vor dem Negativen.“ 385 ) Um sich kurz zu fassen: Gefördert (sowie befördert) schien nur, wer an der Etablierung des „schwitzenden Idylls“ 386 der AdenauerZeit, d.h. auch an der Etablierung aller davon nicht wegzudenkenden Tabus mit arbeitete; wer – dem heimlichen Bayreuther „Chefdirigenten“ der 50er Jahre gleich 387 – an der Neuetablierung der alten Gemeinschaft der „Kulturfrommen“ mit beteiligt war; nicht derjenige, der sich gegen

383 Eich 1991, S. 623624. 384 Vgl. oben, S. 76. 385 Frisch (Bd. 2) 1976, S. 518519. 386 Vgl. Glaser 2002, S. 261. 387 Vgl. unten, S. 203204.

134 diese „Gemeinde“ abzugrenzen suchte, der sich nicht für die, um Günter Eich nochmals zu zitieren, „Papierblumen“ zu begeistern vermochte, mit denen sich das „nachtotalitäre Biedermeier“ schmückte (um damit die nackte Wahrheit wie mit einem Feigenblatt zu tarnen). Gefördert (und befördert) wurde kaum, wer, mit dem „WartburgIdyll“ konfrontiert, Joseph Roth nachmachen wollte, der – bereits ohne seinen „alten jungen Respekt“ einer technisch wohl gelungenen Tannhäuser Inszenierung in Halberstadt beiwohnend – gerne Fragen gestellt hätte: „Ach, hätte ich ihn doch wieder, meinen alten jungen Respekt! Mir behagt diese Blasiertheit nicht, mit der ich den Sängern auf der Wartburg lausche, die Verstocktheit nicht, mit der sich meine Phantasie den Vorstellungen des Hörselbergs verschließt, diese kalte Abgefeimtheit meines Herzens, das nicht schneller schlägt, wenn hart vor meinen Augen ein verdammter Mann zusammenbricht unter der schweren Last eines Fluches, diese falsche Unerbittlichkeit meines Blicks, der sich immer einbildet, die papierene Beschaffenheit der Kulisse zu dekuvrieren, und die hartnäckige Unbestechlichkeit meiner Vernunft, die bereit ist, jeden Schmerz als Opernrequisit zu entlarven. Ich möchte mich gern vom Melodramatischen bestechen lassen können, vom Klassischen, vom Gut der Nation und von der Phrase, von Wagners Stabreimen und seinen Posaunen. Umsonst! Mein Interesse gehört den fallenden papiernen Herbstblättern im letzten Akt, die so schön sanft und regelmäßig herunterwirbeln, und ich wüßte gern, wer sie so fürsorglich verstreut. Aber nicht einmal das werde ich erfahren!“ 388 Gefördert (sowie befördert) schienen in erster Linie all die nicht fragenden „retrospektiven Talente“, all die „Pansflötenbläser“, über die sich der oben zitierte Horst Lange mokierte; „gebraucht“ sahen sich zunächst die alten „Wolframs“ und „Biterolfs“ (denen allerdings ein wichtiges Verdienst nicht abgesprochen werden darf, nämlich dasjenige um eine vorsichtige „Versöhnung“ der „Kultur“ mit der Welt des „Westens“: „Es wäre [...] zu einseitig, die Bedeutung konservativer Autoren der Nachkriegszeit auf eine „restaurative“ Rolle zu reduzieren. Denn nicht zuletzt durch die konservativen Schriftsteller und Intellektuellen ist auch die Überführung einer gefährlichen deutschen Denktradition in eine „entschärfte“, mit den Prinzipien der liberalen Demokratie grundsätzlich kompatible Spielart des Kulturkonservatismus möglich gewesen. Ehemalige konservative Revolutionäre wie der Schriftsteller und Literaturkritiker Friedrich Sieburg [...] zogen, ohne einen Grundbestand deutschen kulturkonservativen Denkens aufzugeben, aus der nationalsozialistischen Katastrophe die Konsequenz, daß sich der „deutsche Geist“ der Humanität und Liberalität der westlichen Welt (und das bedeutet im Falle Sieburgs vor allem

388 Roth 1990, S. 285.

135 Frankreichs) öffnen müsse. So trugen konservative Autoren auch zur kulturellen Integration der Bundesrepublik in die demokratische Zivilisation des Westens bei.“ 389 ) Gefördert sah sich auch mancher „altbewährte“, den „zeitlosen Werten“ verpflichtete Theatermacher, denn an den Traditionen zu rütteln, Tabus zu verletzen, dem „Gebot der Stunde“ (nämlich demjenigen, die Gemüter durch keinerlei Anspielungen auf das kaum Vergangene, durch keinerlei „LevitenLesen“ zu rühren) nicht hörig zu sein, galt auf dem Theater ebenfalls als undenkbar. Hatte man 1918 über eine Revolution sprechen können, so blieb dem NachHitlerTheater eine solche Revolution zunächst verweigert – waren die Theatermacher der Weimarer Jahre bemüht, die vergangene Epoche auf die Bühne zu bringen, d.h. sich mit ihr auseinander zu setzen (man denke nicht nur an die vielen Uraufführungen der „modernen“ Autoren, sondern auch – und vor allem – an all die „entrümpelten“, zeitbezogenen, die Gemüter häufig rührenden KlassikerInszenierungen), galten jetzt die Versuche, das Vergangene (und zu Verdrängende) auf der Bühne zu thematisieren, als unerwünscht, als „unkünstlerisch“ 390 . Der Fall Kortner erschien hier symptomatisch: „Die „Don Carlos“Inszenierung 1950 [...] wird zu Kortners erstem Mißerfolg. [...] Was war geschehen? Kortner folgte nur den Spuren seines Meisters Jessner, der einst mit „Richard III.“ und „Hamlet“ die gerade untergegangene Hohenzollern Monarchie angegriffen hatte. 1950 kommt es Kortner darauf an, ebenfalls gerade untergegangene Machtmechanismen auf der Bühne darzustellen, teilweise sogar zu karikieren. Der König als der Gefangene seines eigenen Machtapparates, die Inquisition als eine Vorform der Geheimpolizei in Diktaturen, der Königshof als modernes Gefängnis mit Gittern, Maschendraht und Eisentreppen. Da war nichts gewohnt Glattes, keine spanischen Hallen, keine weiten Gänge, kein königlicher Glanz in den Kostümen. Der Großinquisitor als Schlüsselfigur. Walther Karsch berichtet: „Ihm nahm Kortner radikal alles Mythische, er machte ihn zum zwar höchsten, aber immerhin zum Funktionär eines Systems. (Hans) Hessling war ein Alp, ein gekrümmter Gnom, der seinen Triumph über den vor ihm auf den Knien rutschenden König auskostet und der plötzlich in einer weit ausladenden Geste die unbezweifelbare Autorität der Kirche in einer Weise demonstriert, die jedes Gefühl erstickt, auch das des Vaters für den Sohn.“ Das trifft. Das erinnert an jüngst Vergangenes. Das sieht man nicht gerne.“ 391 Sowohl das Publikum ( „Im Theater sitzen Herr und Frau Delikateßhändler, sie haben ihre Steuern gezahlt, von diesen Steuern wird das Theater

389 Glaser 1997, S. 478. 390 Vgl. Hoffmeister 1980, S. 310. 391 Mertz 1985, S. 240.

136 subventioniert, sie glauben also vom Intendanten verlangen zu können, „gebildet“ unterhalten zu werden“ 392 , schrieb Hans E. Nossack nach dem Skandal um seine Hauptprobe an Heinz Risse.) als auch „unsere nicht zu rühmende Kritik“ (um Hans H. Jahnn zu zitieren 393 ) fühlten sich damals größtenteils eher vom „Reichskanzleistil“ eines Gustaf Gründgens 394 angesprochen, dessen KlassikerInszenierungen eine tiefe Abneigung gegen „Willkürliche Interpretation der Dichtung durch ungerechtfertigte Experimente, die sich zwischen Werk und Zuhörer drängen“ 395 zu Grunde lag (auch Wieland Wagner sollte diese Vorliebe des Publikums für eine angebliche „Werktreue“, für ein repräsentatives Theater noch zu schaffen machen – zumal die Bayreuther Festspiele, für die er zusammen mit seinem Bruder Wolfgang verantwortlich zeichnete, bald wieder als ein „Silbertablett für soziale Visitenkarten“ 396 missverstanden zu werden drohten). Dennoch: Mochte die Gründgenssche Klassikerpflege, mochte der Spielplan mancher Bühne nicht unumstritten sein, mochte Christian Ferber auch Recht haben, als er resümierte: „Unser Theater, imponierend, funktionierend, diese Nelke in den Knopflöchern der Kommunalverwaltungen, dieses große, blühende, achtbare Kunst und Bildungsinstitut – es ist treffliches Öl geworden; Öl im Getriebe der großen Kulturmaschine. Da knirscht nichts mehr – und wenn irgendwo ein wackerer Einzelgänger für sich rebelliert und Auf Gegenkurs geht (so heißt die Reihe eines Hamburger Kleintheaters) – dann rebelliert er mit dem Dialekt der zwanziger Jahre. Neun von zehn „Diskussionsbeiträgen“ deutscher Bühnen sind heute Museumsbeiträge – Bildungsbereicherungen.“ 397 , so gelang diesem „großen, blühenden, achtbaren Kunst und Bildungsinstitut“ Beispielhaftes – ohne eine Revolution zu wagen, ohne auf die „altbewährten“ Künstler vom Range und Schlag eines Gründgens (oder auch Fehlings) verzichten zu wollen, ging man auf dem Theater das Wagnis ein, die Emigranten zu Hilfe zu rufen, denen anderswo nur die Vorwürfe zuteil wurden, ihres „Deutschtums“ verlustig gegangen zu sein und nach dem „Zusammenbruch“ von 1945 kläglich versagt zu haben 398 , deren Werk üblicherweise einem Boykott ausgesetzt, deren Leidensweg sogar relativiert wurde: „Den ins Ausland geflohenen Schriftstellern verlieh ihr Schicksal einen Auftrieb, ein Ungestüm, dem die im Lande verbliebenen, zu vorsichtigem Gebrauch des Wortes genötigten, nichts Gleichartiges an die Seite zu setzen hatten“ , schrieb beispielsweise Hans Carossa.

392 Nossack 2001, S. 534. 393 Vgl. Jahnn 1994, S. 408. 394 Vgl. Glaser 1997, S. 496; Mertz, S. 238239. 395 Fischer 1986, S. 508. 396 Vgl. Richter 1962, S. 506. 397 Ebenda, S. 516. 398 Vgl. Benn 1979, S. 175.

137 „Das tiefe Gefühl erlittenen Unrechts machte in ihnen Kräfte frei, die sonst vielleicht niemals erwacht wären, und mancher gelangte weit über seine früheren Leistungen hinaus. Wir bedauerten und beneideten sie. Was sie bewegte und erbitterte, sie durften es laut hinausrufen; die ganze Welt hörte zu und stimmte bei, während wir andern unser Denken und Fühlen nur sehr wenigen anvertrauen durften und von vorneherein die guten Geister aller Nationen gegen uns gerichtet wußten.“ 399 (Max Frisch glaubte neben viel Neid auch viel schlechtes Gewissen im Spiel, als er – den Fall Thomas Mann heranziehend – über die außerhalb der „Theaterlandschaft“ unterbliebene „Versöhnung“ mit den Emigranten, d.h. mit jenen „ins Ausland geflohenen Schriftstellern“, die einst das Exil der „Volksgemeinschaft“ vorgezogen hatten, nachdachte: „Der Fall, scheint mir, hat etwas TragischGroteskes: ein deutscher Zeitgenosse, ein Weltmann, dem es vergönnt war, die Weltachtung der deutschen Sprache durchzuhalten, kommt nach Deutschland, aber nur wenige schauen ihm ins Gesicht, die andern glotzen auf seine Füße, warten darauf, daß er stolpere. Was werden sie dabei gewinnen? Eine Emigration ist fruchtbar geworden; das ist für jene, die diese Emigration verhängt haben, ein leidiger Anblick, und nichts ist begreiflicher als ihr wildes Bedürfnis, die Fehler dieses Mannes aufzuzeigen. Wer möchte leugnen, daß er sie hat? Auch die bekannten, von ihm selbst gepflegten, nicht immer mit Ironie gepflegten Anbiederungen an den alten Goethe, wer würde ihm einen Vorwurf daraus machen, wenn Thomas Mann nicht sonst so unbequeme Dinge geschrieben und gesprochen hätte? Für viele seiner Landsleute, selbst wenn sie sein Werk kaum kennen, ist er etwas wie eine Innenfigur geworden; sie lechzen nach Weltachtung, er hat sie, aber sie können sich nicht mit ihm verbrüdern, ohne daß sie etliches zugeben müßten, was er zu ihrem Unbehagen gesagt hat – so begnügen sich jetzt die meisten mit dem Versuch, ihm die Weltachtung abzukratzen: als könnten sie dabei gewinnen.“ 400 ) All diesen ungünstigen Bedingungen (nicht umsonst schrieb Hans E. Nossack über den sich ständig verengenden Raum, der den „unverbesserlichen NonKonformisten“, diesen „schwerverdaulichen Bengeln“ zur Verfügung stand 401 ; nicht umsonst machte Gottfried Benn der abendländischen Intelligenz den Vorwurf, vor „politischen Begriffen hündisch zu kriechen“ 402 ), allem Neid und allem schlechten Gewissen zum Trotz waren es dennoch die „schwerverdaulichen Bengel“, die den „Längeren“ ziehen sollten. Den wolfram und biterolfartigen Galionsfiguren des „schwitzenden (Wartburg) Idylls“ – mochten sie durch die oben besprochenen Auspizien auch begünstigt werden – blieb nicht vorbehalten, das Gesicht

399 Carossa 1979, S. 711. 400 Frisch (Bd. 2) 1976, S. 696. 401 Vgl. Nossack 2001, S. 554. 402 Vgl. Benn 1979, S. 137138.

138 von (West) Deutschlands „Kulturlandschaft“ länger als nur vorübergehend zu prägen. Die Integration (West) Deutschlands in die Welt des „Westens“, mochten sie daran auch mit beteiligt sein, sollte diesen abendlandverpflichteten „Wolframs“ und „Biterolfs“ keinen längerfristigen Erfolg gönnen – dagegen wirkte die Realität des „nachtotalitären Biedermeier“, wirkte all der „schöne Schein“ der Adenauerschen Republik (man erinnere sich nur an das oben zitierte Motto „Hässlichkeit verkauft sich schlecht“, man denke an die „Nihilismus“Hetze, der Max Frischs berechtigter Ansicht nach vor allem die Angst vor dem „Hässlichen“, vor dem „Negativen“ zu Grunde lag) auf manchen Emigranten, auf manchen jungen „Bengel“ dauerhaft wie ein rotes Tuch. Dass es nur eine Frage der Zeit war, bis diese „Bengel“ – in einer wahren TannhäuserManier – mit ihren „Provokationen“ vor die bestürzte Gesellschaft traten, liegt also auf der Hand. Nimmt Wagners Tannhäuser mit seinem Lied all das gewusste „Unschöne“, all das Geheimgehaltene in Angriff, was sich hinter Wartburgs prangender Fassade verbirgt („Tannhäuser [...] kompromittiert die Gefühlswelt einer Gesellschaft und entlarvt indirekt bürgerliche Wünsche und heimliche Sehnsüchte.“ 403 ), so entlarvte Wolfgang Koeppen mit seinen Tauben im Gras jene Wünsche und Sehnsüchte, die der anbrechenden AdenauerZeit zu Grunde lagen – die Bestürzung, die beinahe mit derjenigen der Wartburger Gemeinschaft vergleichbar erschien, beschrieb er selbst wie folgt: „Meinem Buch „Tauben im Gras“ ist die Ehre widerfahren, den Klatsch kleiner Kreise zu beleben, die wähnen, die Welt zu sein. Ich höre, lese und staune, daß ich den und jenen beschrieben und manche Innenseite nach außen gestülpt haben soll. [...] Dieses Geschehen bliebe privat und nicht erwähnenswert, wenn sich nicht eine Zeitung, die den Roman in ihrer Literaturbeilage sehr freundlich begrüßte, zum Sprachrohr der Gekränkten gemacht hätte, der angeblich und ganz gegen meinen Willen Gekränkten. In einer mir gewidmeten Polemik schreibt das Blatt den schönen, oben zitierten Satz über das schriftstellerische Gewerbe: „Es geht vielmehr darum, ob es sittlich vertretbar sei…“ [...] Da haben wir’s. Der elende Skribent ist ein Astlochgucker! Mich stattet dazu noch die Zeitung mit einer Miniaturkamera im Knopfloch aus, und in einem Gespräch soll man ernsthaft vermutet haben, ich schleiche in der Nacht mit einem Scherenfernrohr um die Häuser, denn sonst könne ich es doch nicht wissen, ich sei doch nicht dabeigewesen. Nein, ich war nicht dabei! Ich besitze keine Kamera und kein Scherenfernrohr, ich muß die Herrschaften enttäuschen und leider auch erschrecken: der Vorgang ist viel einfacher und viel, viel unheimlicher. Der Skribent sitzt zu Hause an seinem Tisch, er saugt sich’s aus den Fingern, er richtet seinen Blick ins Leere oder

403 Jaeger 1983, S. 5253.

139 ins Schwarze oder Helle, und sein Blick durchdringt die Türen, die Mauern, die geschlossenen Jalousien, er dringt durch die Kleidung, er dringt ins Herz, und er sieht in Herzen der Menschen die Wahrheit, die Süße und die Bitternis des Lebens, sein Geheimnis, seine Angst, seinen Schmerz, seinen Mut. Gegen diese Durchleuchtung kann man sich nur wehren, indem man die Bestie wieder in den Kindergarten einer „Schrifttumskammer“ sperrt, um sie dort mit bukolischem Salat oder völkischem Kraut zu füttern. Solange wir aber noch nicht wieder eingepfercht sind, werden wir uns, werde ich mich auf der Weide des Lebens, im Umkreis der Welt bummeln.“ 404 Jeglichen „bukolischen Salat“ sowie jegliches „völkische Kraut“ verachtend, sollte nicht nur Koeppen, sollten nicht nur die Prosaiker die „Weide des Lebens“ dem „Kindergarten einer Schrifttumskammer“ vorziehen – hatte sich Max Frisch kurz nach dem Kriegsende infolge einer WiechertLektüre über einen „blonden Edelkitsch“ beklagt, hatte der Schweizer seiner Enttäuschung Luft gemacht, einen „vollkommen veränderten Ton“, einen „Ton der tiefen Ernüchterung, ohne Hymnik, ohne die verfängliche Ehrfürchtigkeit vor allem Unklaren, die sich auch überall dort, wo man die Dinge durchaus beim Namen nennen kann, im Ahnungshaften begnügt und berauscht, ein (en) Ton ohne die Ausflucht in den Nebel, die Ausflucht ins Gemüthafte“ 405 erwartet zu haben; hatte Günter Eich nur wenig später zugeben müssen, das „Vokabular der Lyrik“ nah einem „Naturschutzpark“, die „Begriffe wie Poesie und Schönheit“ „unerträglich“ geworden zu wissen 406 , sah sich Peter Huchel bereits Anfang der 50er Jahre – nachdem er mit Herbert Lestiboudois’ Klage über die „eingebildete Exklusivität“ von (West) Deutschlands Schriftstellern und über deren Unfähigkeit, die alten „Elfenbeintürme“ zu verlassen, konfrontiert worden war 407 – gezwungen, das Bild der westdeutschen Kultur und Literaturlandschaft zu korrigieren: „Ich bin mir gewiß, daß es auch heute noch in einem weit größeren Maße, als Sie es annehmen, in Westdeutschland die Offenheit und Bereitschaft des Geistes gibt, die wir zur Lösung der brennenden Lebensfragen benötigen. Diese Gewißheit kann mir Ihr Brief nicht nehmen, wenn ich an einen großen Kreis von westdeutschen Intellektuellen denke, die zwar keine Kommunisten sind (Huchel war damals noch ein DDRBürger – Anm. M.U.), es aber strikt ablehnen, sich mit Ortega y Gasset „in den Hintergrund der sozialen Landschaft und in die Katakomben zurückzuziehen“.“ 408 (Alfred Andersch sollte sich noch Jahre später fest überzeugt zeigen,

404 Koeppen 1986, S. 233235. 405 Frisch (Bd. 2) 1976, S. 304. 406 Vgl. Eich 1991, S. 476. 407 Vgl. Huchel 1984, S. 434. 408 Ebenda, S. 290.

140 Westdeutschlands Schriftstellern selbst in der „allerrestaurativsten“ Zeit „eine erhebliche kritische Bedeutung“ nicht absprechen zu können 409 – zumal es nicht ausschließlich die jungen „Bengel“ waren, die an dem „Unantastbaren“ zu rütteln wagten: Hatte Hans E. Nossack, eigentlich einer jener „Älteren“, mit deren Werk sich die AdenauerZeit in der Regel zu schmücken pflegte, bereits mit seiner oben erwähnten Hauptprobe „einen deftigen Theaterskandal“ erregt – und manchen Vorwurf einschließlich desjenigen des „Nihilismus“ hinnehmen müssen 410 –, ging er nur wenige Jahre danach das Wagnis ein, das anzupreisende „Wirtschaftswunder“ anzuzweifeln: „Es ist natürlich ein unmoralisches Buch“ , ließ er Peter Suhrkamp über den Roman Spätestens im November wissen. „Der „Rheinische Merkur“ wird gewaltig zetern, zumal das Deutsche Wirtschaftswunder auf leichtfertige Weise angezweifelt wird. Insofern bin ich mir treu geblieben.“ 411 Treu sollte sich auch Reinhold Schneider bleiben – etwa als er sich gegen die Adenauersche Rüstungspolitik aussprach –, während Gottfried Benn dem siegreich geglaubten „Primat des „Edlen“, des „Seraphischen“ u. in der Lyrik des Schulbuchfähigen, Präsidentengefälligen, mit anderem Wort: des alten Augiasgemüts, in dem sich der Unrat unzähliger lyrischer Herdentiere staute“ 412 , voller Skepsis gegenüber stand.) Nehmen wir auch all die zeitbezogenen Gedichte in Betracht, die die Enzensbergers, Meckels und Frieds bereits damals dem „alten Augiasgemüt“ gegenüber stellten; nehmen wir all die noch zu besprechenden Hochhuths, Kipphardts, nehmen wir Peter Weiss in Betracht, müssen wir zusammenfassend sagen: Die AdenauerZeit brachte – um es mit Wagners Tannhäuser Schema zum Ausdruck zu bringen – sowohl ihre „Wartburgen“, sie brachte sowohl ihre „Wolframs“ und „Biterolfs“ als auch ihre „Tannhäuser“, sprich „Außenseiter“, denen dabei allerdings – anders als bei Wagner – schließlich doch beschieden sein sollte, im „Wettkampf“ mit den Erstgenannten den „Längeren“ zu ziehen. Mochte die Lebens und Kulturauffassung des „nachtotalitären Biedermeier“ den, um von Alfred Döblins Vokabular Gebrauch zu machen, „alten Bildungsautoren, den humanistischen, den komfortabel Bürgerlichen, den bürgerlich Konservativen“ Vorzug geben; mochte es die ganze Adenauer Zeit hindurch nicht an Autoren mangeln, die – Wagners braven Wolfram und Biterolf ähnlich – all der Ordnungs, Anstands und Schönheitssucht, all den von dieser Zeit bald kaum wegzudenkenden Tabus verpflichtet waren; mochten noch weit über 1945 hinaus jene Kunstbetrachter, deuter und vermittler den „Geschmack“ überwachen, die ihn auch unter

409 Vgl. Glaser 1997, S. 287. 410 Vgl. Nossack 2001, S. 540541. 411 Ebenda, S. 579. 412 Benn 1980, S. 145.

141 Hitler überwacht hatten, so sollten sich – durch Westdeutschlands Annäherung an den „Westen“ begünstigt – jene „schwerverdaulichen Bengel“ durchsetzen, deren Raum Hans E. Nossack noch um die Hälfte der 50er Jahre verengt wusste, denen er (in einem Brief an Paul Celan) dennoch riet, sich „nicht verfälschen zu lassen“ 413 , und deren Leistung Günter Eichs nur ein Jahrzehnt später gezogenem Fazit zu Grunde lag: „Was an neuen sprachlichen Möglichkeiten in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts aufgetaucht ist, vor allem im französischen und spanischen Sprachgebiet, das ist auch bei uns akzeptiert worden. Dazu kommt das immer stärkere Eindringen des zivilisatorischen Vokabulars. Wörter wie Aktienkurse, Fußballmanschaft, Verstärkeramt trifft man nicht nur in Zeitungen, sondern auch in Gedichten. Aus diesem Vokabular ist schon hörbar, daß der Themenkreis sehr groß ist, wobei die skeptische Betrachtung der Welt, vor allem der eigenen Welt, überwiegt. Begeisterung ist selten, das Lob und Preisgedicht ist selten geworden, nationale Töne fehlen ganz und gar, Gott sei Dank. Der Glaube an Antworten ist gering, das Einverständnis fehlt, die Beurteilung der Lage reißt nirgends zur Freude hin.“ 414 Eine „skeptische Betrachtung der Welt, vor allem der eigenen Welt“ sollte auch in (West) Deutschlands Theaterlandschaft den „Längeren“ ziehen: Mochte die Bühne zunächst fast ausschließlich der Gründgensschen Klassikerpflege, mochte sie einer (um Hans E. Nossack zu zitieren) von „Herrn und Frau Delikateßhändler“ verlangten „gebildeten“ Unterhaltung gehören, so gehörte sie bereits Ende der AdenauerZeit auch den Hochhuths und Kipphardts, so gehörte sie (hier allerdings schon seit 1951) Wieland Wagner, diesem „positiven Skeptiker“, der, nachdem er in den 50er Jahren das Wagnersche Werk weitgehend entpolitisiert hatte, in den Sechzigern das Wagnis einging, mit Hilfe desselben Werks der Adenauerschen Gesellschaft ebenso wie dem ganzen „Westen“ („Walhall ist Wall Street!“) einen Spiegel vorzuhalten; der es wagte, sich mit Hilfe von Wagners Stabreimen mit jener Geschichte auseinander zu setzen, die der AdenauerZeit unmittelbar vorausgegangen war. Und Richard Wagner selbst? Wie war es zu dieser Zeit um den Tannhäuser Dichter bestellt, dessen Werk sich nicht nur für den (die) Wagnerenkel von so enormer Bedeutung zeigte? Wie stand es um die Festspiele, auf deren Bühne Wieland Wagner den musikdramatischen Nachlass seines Großvaters, nicht zuletzt gerade den Tannhäuser , so herausfordernd neu deuten sollte? In Anlehnung an meine Magisterarbeit Die provokative

413 Vgl. Nossack 2001, S. 542543. 414 Eich 1991, S. 502.

142 Konzeption von Wieland Wagners Bayreuther NibelungenringInszenierung 1965 415 , deren Forschungsobjekt mit demjenigen dieses und nächsten Subkapitels thematisch weithin übereinstimmt, können wir wohl sagen, dass die Antwort auf die vorstehenden Fragen nur in Anbetracht der politischgesellschaftlichen Lage Deutschlands nach dem Zusammenbruch von Hitlers Reich formuliert werden kann. 1945 war es endgültig aus mit der neuen „WartburgZeit“. Den „unglücklichsten aller Kriege“ (um von Ludwig Erhards Worten Gebrauch zu machen) verloren zu haben schienen damals die Lebenden ebenso wie die „Seligen“, Politiker und Militärs ebenso wie Dichter und Komponisten – die Spitzenexponenten der (deutschabendländischen) „Kultur“ nicht ausgenommen. Folglich erschienen (direkt oder indirekt, physisch oder nur symbolisch) auf der Anklagebank des Nürnberger Tribunals nicht nur die Görings und Rosenbergs, sondern auch die Nietzsches und Wagners (diese auch direkt und physisch, wenn man Winifred Wagners Verfahren vor der sog. Spruchkammer in Betracht zieht). Vor das Gericht zitiert wurde hier mit Hitlers Paladinen die Elite des deutschen Geisteslebens, deren Repräsentanten (einschließlich der vorbildlichsten) Carl von Ossietzky seinerzeit vorgeworfen hatte, die „Untertanen“ einer selbstgefälligen (und nicht immer säuberlich vorgehenden) Obrigkeit gewesen zu sein. 416 Wagner selbst schien da nur um eine Haaresbreite einem Urteil entgangen zu sein, dessen Worte ihm kaum unbekannt gewesen wären: „Ein furchtbares Verbrechen ward begangen. [...] Wir stoßen dich von uns – Bei uns darfst du nicht weilen; Schmachbefleckt ist unser Herd durch dich, und dräuend blickt der Himmel selbst auf dieses Dach, das dich zu lang schon birgt.“ 417 Wie schlecht es um den Tannhäuser Dichter nach dem Zusammenbruch von Hitlers Reich bestellt war, liegt auf der Hand. Als hätte es dem Hause Wahnfried 418 nicht genügt, den Ideologen der beiden „WartburgZeiten“ eine reibungslose Vereinnahmung von Wagners Werk und Namen ermöglicht zu haben; als hätten sich die Wahnfriedler nicht mit dem Status einer „Wartburg“ zufrieden geben können, hatten sie sich geradezu zu einer Hochburg der

415 Urbanec, Miroslav, Die provokative Konzeption von Wieland Wagners Bayreuther Nibelungenring Inszenierung 1965 , Opava 2005. (Magisterarbeit) Im Fall der folgenden Passage (ebenso wie im Fall des darauffolgenden Subkapitels) handelt es sich um eine freie Wiedergabe des ursprünglichen Textes. 416 Vgl. oben, S. 3435. 417 Tannhäuser , 2.Aufzug. 418 Wagners Villa in Bayreuth, heute ein Museum.

143 neuen „Weltanschauung“ schlagen lassen und den Wegweisern der „WartburgEpochen“ die Ehrenplätze auf dem „Wahnfriedhof“ 419 zur Verfügung gestellt (so z.B. Hitlers „Lehrer“ Houston S. Chamberlain, der Wagners Tochter Eva geheiratet hatte). 1945 lag diese Hochburg in Trümmern. Neben dem ausgebombten Wahnfried war es der Dichterkomponist selbst, der (nicht nur im götterdämmerungsartigen Inferno der ausgehenden „WartburgZeit“) den größten Schaden genommen hatte. Nach dem Zusammenbruch des wilhelminischen Kaiserreichs hatte sich noch ein Thomas Mann gefunden, um für den Tannhäuser Dichter ein Plädoyer zu halten: „Und doch verbietet jedes Gefühl für die eigentliche und wahre Natur dieses durch und durch auf Neuerung, Änderung, Befreiung gestellten Künstlertums es aufs strikteste, seine Sprache und Ausdrucksweise wörtlich zu nehmen und nicht als das, was sie ist: ein Künstleridiom eben sehr uneigentlicher Art, mit dem auf Schritt und Tritt ganz anderes, vollkommen Revolutionäres gemeint ist. Diesen bei aller seelischen Schwere und Todesverbundenheit lebengeladenen und stürmischprogressiven Schöpfergeist, den Verherrlicher des aus freiester Liebe geborenen Weltzertrümmerers; diesen verwegenen musikalischen Neuerer, der im „Tristan“ mit seinem Fuß schon auf atonalem Boden steht und dessengleichen man heute ganz sicher einen Kulturbolschewisten nennen würde; diesen Mann des Volkes , der Macht, Geld, Gewalt und Krieg sein Leben lang innig verneint hat und sein Festtheater, was auch die Epoche daraus gemacht haben möge, einer klassenlosen Gemeinschaft zu errichten gedachte: ihn kann kein Geist des frommen oder brutalen Zurück – es darf ihn jeder zukünftig gerichtete Wille für sich in Anspruch nehmen.“ 420 Nach dem Untergang von Hitlers Reich schien sich dagegen kaum jemand zu finden, der für Wagner hätte plädieren wollen. Es handelte sich damals nicht nur um Die Meistersinger von Nürnberg , die, durch Benno von Arent als Regisseur und Goebbels als „artistic supervision“ an das Getümmel der Nürnberger Reichsparteitage angenähert, zu einem Stolperstein geworden waren. Es war auch das übrige Wagnersche Werk, das all jenes zu suggerieren schien, was über Hitlers Reich, was die „EndeSetzer“ der neuen „WartburgZeit“, vor dem Nürnberger Tribunal wissen wollten. 421 Wieland Wagner war dennoch entschlossen, für seinen Großvater einzutreten. Was er beabsichtigte, war eine Neudeutung des Wagnerschen Werks, die mit der pangermanischen Schwärmerei um Wagner fertig geworden wäre. Die Familie, der er entstammte, mutete jedoch hoffnungslos kompromittiert an. Über ihre Zukunft ebenso wie über die Zukunft des

419 Siehe die Bedeutung dieses Wortspiels bei: Wagner, Nike, Wagner Theater, Frankfurt am M. 1999. 420 Mann 1982, S. 778. Siehe auch unten, S. 421 Vgl. Kučera 1995, S. 253ff.

144 „Grünen Hügels“ hatten nun die Sieger, später die Bayreuther Stadtväter zu verfügen. Insbesondere die Letztgenannten zeigten sich dabei Hitlers Bayreuther „Wahlverwandtschaften“ äußerst abhold – zumal ihnen offiziell immer noch Winifred Wagner vorstand (bis 1949). Folglich spielte der Wagnerenkel mit dem Gedanken, das Hauptquartier der „Wagnerianer“ außerhalb Deutschlands – etwa in der Schweiz – aufzuschlagen (paradoxerweise war es der schweizerische Wagnerspross Franz W. Beidler, der die Festspieltradition auf dem „Grünen Hügel“ weiterhin fortsetzen wollte, allerdings nicht unter der Leitung von Winifreds Söhnen, sondern unter der Obhut einer neu zu gründenden WagnerStiftung, an deren Spitze er Thomas Mann wünschte). Doch dieser Schritt erübrigte sich. Schließlich gab es hier seit 1949 die Adenauersche Republik, deren Anfang mit demjenigen des Neubayreuth verblüffend übereinstimmte (wie dort, so hier wurden die prominenten Exponenten der vergangenen „WartburgZeit“ – im Bayreuther Fall Winifred Wagner – kaltgestellt, um den „Minder“ oder „Unbelasteten“ in den Vordergrund zu helfen und, den Bruch mit der jüngsten Geschichte beschwörend, das „goldene Kalb“ der Kontinuität, der „besten“ Traditionen umschwärmend, auf Restaurationskurs gehen zu können; wie dort, so hier wurden die zufälligen Gewissensbisse dem „Wirtschaftswunder“ geopfert, um „wieder wer“ werden zu können). Obwohl es falsch gewesen wäre, Wieland eine Identifizierung mit den überheblichen „Wirtschaftswundereliten“ vorzuwerfen (ein Zeugnis davon legten seine zeitkritischen Theaterproduktionen ebenso wie sein Leiden unter der eigenen Vergangenheit), zog er aus dieser Entwicklung Nutzen. Weder Franz W. Beidler, noch Thomas Mann war vorbehalten, bei der „Wiederauferstehung“ der Festspiele mitwirken zu dürfen. Sich dieser Aufgabe zu entledigen, fiel nur Winifreds Söhnen zu – damals in erster Linie dem älteren von ihnen, dessen Theaterarbeit den kompromittierten Großvater wirklich „freisprechen“ half (und alle Beidlers endgültig in Vergessenheit geraten ließ). 422 Das Wagnis, dass Wieland einging, war allerdings enorm. Walter Eichner sollte nach den ersten Bayreuther Nachkriegsfestspielen schreiben: „ Man brauchte in jenen Sommertagen 1951 noch lange kein Prophet zu sein, um voraussagen zu können, daß der Bayreuther Wiederbeginn in aller Welt eine Hochflut der Diskussionen und des künstlerischen Meinungsaustausches auslösen würde, kreisend um die Fragen, ob es nach den Erschütterungen der jüngsten Vergangenheit noch sinnvoll sei, Richard Wagners Festspielidee zu erneuern, ob man sein noch als zeitgemäß ansprechen, ob und wie man ihm eine neue, uns Gegenwartsmenschen überzeugende Gestalt verleihen

422 Vgl.Wagner 1999, S. 322ff.

145 könne.“ 423 Die Fragen, um die „in aller Welt eine Hochflut von Diskussionen und des künstlerischen Meinungsaustausches“ kreiste, waren also klar: Bedarf man noch des Wagnerschen Werks? Ist mit Wagners Gedankengut noch ein Staat zu machen? Wie steht es um das Politische, das vom Bayreuther Dichterkomponisten und dessen musikdramatischen Nachlass nicht wegzudenken ist? Und: Wie ist es um die Festspiele politisch bestellt, lässt sich deren Publikum nicht zur alten „Schwärmerei“ hinreißen, die die Wiedereröffnung des Festivals nach dem Ersten Weltkrieg gekennzeichnet hatte? Konsequenterweise sah sich der Wagnerenkel zunächst gezwungen, die Politik vom „Grünen Hügel“ zu verbannen (die Erinnerungen an die Geschehnisse von 1924 waren da präsenter denn je): „ Im Interesse einer reibungslosen Durchführung der Festspiele bitten wir von Gesprächen und Debatten politischer Art auf dem Festspielhügel freundlichst absehen zu wollen. „Hier gilt’s der Kunst“.“ 424 Die Fragen, ob mit Wagners Gedankengut noch ein Staat zu machen und was mit dessen Politikbezogenheit anzufangen war, versuchte Wieland direkt auf der Festspielhausbühne zu lösen – mit einem spektakulären Erfolg. Seinen Großvater vor der Geschichte freizusprechen, gelang ihm gerade durch die Wiedereröffnung der Festspiele, wo das Wagnersche Werk in einem völlig neuen Licht erschien. sollte dazu sagen: „ Die Konzeption unserer Arbeit war aus folgender Erkenntnis entstanden: Richard Wagners Werk ist allen Zeiterscheinungen zum Trotz lebendig geblieben, und hat unserer Generation so viel zu sagen wie den Menschen des vergangenen Jahrhunderts. Es wird dieser Aussage aber nur dann gerecht, wenn sich das „WagnerBild“ aus den heute wirksamen Elementen und Strömungen unseres eigenen Lebensinhaltes neu formt. Das bedeutet eine Verknappung des äußeren Aufwandes zugunsten des inneren Wesenskernes, eine Rückführung von überzüchteter TheaterSchaulust zum Innenbild, zur Seele der Werke Wagners, der Weg vom Schein zur Wahrheit, von der Unzulänglichkeit der sinnlichen Illusion zum Symbolwert und der inneren Spannung.“ 425 Der „Weg vom Schein zur Wahrheit“ wurde um so erforderlicher, um so mehr Leser Emil Ludwigs Wagnerfeindliche Schrift Wagner oder die Entzauberten fand und um so mehr Ernüchterte Theodor W. Adorno Gehör schenkten, wenn dieser behauptete: „ Der Gold raffende, unsichtbaranonyme, ausbeutende Alberich, der achselzuckende, geschwätzige, von Selbstlob und Tücke überfließende Mime, der impotente intellektuelle Kritiker HanslickBeckmesser – all die Zurückgewiesenen in Wagners Werk sind Judenkarikaturen. Wie sie den ältesten deutschen Judenhaß aufrühren, so scheint zuweilen

423 Zelinsky 1976, S. 253. 424 Ebenda, S. 251. 425 Mack 1976, S. 6769.

146 die Romantik der Meistersinger im Klang Schmähverse vorwegzunehmen, die erst sechzig Jahre später auf den Straßen gellten: Edler Täufer, Christs Vorläufer, nimm uns gnädig an, dort am Fluß Jordan.“ 426 Es braucht wohl nicht besonders hervorgehoben zu werden, wie schwer dieses Kaliber nach dem AuschwitzErlebnis war – das Wagnersche Werk als Vorwegnahme des Ungeheuersten aller Völkermorde? Kompromittiert stand hier neben den Meistersingern von Nürnberg insbesondere . In der Auslegung eines Felix Gross, dessen pseudoreligiöse Wagner Exegesen an der Umwandlung von Wagners Haus in eine „Kultstätte“ wesentlich mitbeteiligt gewesen waren, nahm die Tetralogie einen Vernichtungskampf vorweg, den man während des Zweiten Weltkriegs an der Ostfront kennen gelernt hatte. Gross und seinen Anhängern hatte sie als der „große Kampf zwischen edlem und unedlem Menschentum“ gegolten, „der in der Weltgeschichte als Kampf zwischen phoenikischkarthagischer Zivilisation und griechisch römischer Kultur begann, der nach dem Verschwinden der Griechen und Römer unter aegyptischsyrischer Mestizenherde gegen diese sowie ihre Verbündeten Rom und Juda von den Germanen weitergeführt wird, und dem es vielleicht bestimmt ist, in ferner Zukunft zwischen Weissen, Gelben und Schwarzen zur endgültigen Entscheidung zu kommen“ 427 . Auf dem „Grünen Hügel“ geradezu als ein heidnischer Götzendienst zelebriert, von den Nazis zur Rechtfertigung der ungeheuersten Verbrechen vereinnahmt und durch ihre Rolle in den Ritualen der neuen „WartburgZeit“ profaniert, schien nun die Tetralogie denjenigen Recht zu geben, die das „alte“ (d.h. imperialistische) Deutschland samt dessen als Anstiftung zum Vernichten gelesenen Literatur und Theaterfundus von der Welt verschwunden wissen wollten. Victor Gollancz z.B. fasste sich kurz: „Ich lehne den Ring ab, nicht weil Wagner faschistische Züge aufweist, sondern weil das ganze Werk randvoll mit Faschismus ist. Der Ring verherrlicht das Böse. Es ist das Werk eines Heiden im unsympathischsten Sinne. Man könnte es sogar antichristlich nennen ... “428 Dagegen sah der Wagnerenkel ein, wie menschlich der Nibelungenring war und wie menschlich sein Dichter sein musste. Von den „Wagnerianern“ der beiden „WartburgZeiten“ beinahe unbeachtet, manifestierte sich hier eine Analogie zu den Tragödien der altgriechischen Meister, von deren humanistisch engagiertem Werk sich Wieland stichhaltige Anregungen für Wagners Neudeutung versprach. 429 Im WotanBrünnhildeKonflikt spiegelte sich dann auf der Wielandschen

426 Ellwanger 1983, S. 189. 427 Bermbach 2001, S. 9. 428 Ellwanger 1983, S. 189. 429 Vgl. Mack 1976, S. 115.

147 Drehscheibe der KreonAntigoneKonflikt wider 430 , Siegmunds und Sieglindes Los wurde zu demjenigen von Ödipus und Iokaste 431 und Wielands Regie ließ den Zusammenbruch eines Staates zum Vorschein kommen, der sich (um von Wagners Worten Gebrauch zu machen) die Laster der Menschen zunutze gemacht hatte (um sich dadurch zu einem unaufhaltsamen Nieder und Untergang zu verurteilen): „Hier sehen wir den Staat, der unmerklich aus der Gesellschaft hervorgewachsen war, aus der Gewohnheit ihrer Anschauung sich genährt hatte und zum Vertreter dieser Gewohnheit insofern wurde, daß er eben nur sie, die abstrakte Gewohnheit, deren Kern die Furcht und der Widerwille vor dem Ungewohnten ist, vertrat. Mit der Kraft dieser Gewohnheit ausgestattet, wendet der Staat sich nun vernichtend gegen die Gesellschaft selbst zurück, indem er die natürliche Nahrung ihres Daseins in den unwillkürlichsten und heiligsten sozialen Gefühlen ihr verwehrt.“ 432 Was der Wagnerenkel auf der Bühne zum Vorschein brachte, war also kaum ein Plädoyer für eine totalitäre Macht, wie sie Deutschland insbesondere in der neuen „WartburgZeit“ erlebt hatte. Folglich sollte sich nicht nur Wolfgang Koeppen bekennen, falsch gelegen zu haben: „Wagner ließ viel Blut in die Kulissen fließen, aber er war kein Blut und BodenAutor primitiver Glaubenssätze. Doch täuschten seine Verse den kleinen Verstand und langweilten die auch nicht klugen Gescheiten. Ich erkannte das zu spät. Die Deutschtümelei mit Wagner hatte mir das Auge und das Ohr für ihn getrübt. Erst nach der Diktatur, an der der mißverstandene Wagner nicht unschuldig war, als der Wald und Waldesangst und Waldeslust im Festspielhaus zu Bayreuth einem klareren Bühnenbild wichen, wurde ein neues Verständnis für Wagner öffentlich möglich, faszinierte und erschreckte wieder der große, der raffinierte Dramaturg, vielleicht ein Seher, ein Endzeitkünstler, verwandt dem Baudelaire und den „Blumen des Bösen.“ 433 Doch Wieland wagte noch mehr, als er den heidnischen Götzendienst von gestern und die altgriechische Tragödie von heute zum „bürgerlichen Parabelspiel“ 434 von morgen erhob, die er als Spiegel der eigenen Vergangenheit (sowie derjenigen der Adenauerschen Gesellschaft) entgegenhielt. Neben der Tetralogie waren es auch andere, mehr oder weniger „belastete“ Werke, denen der Wagnerenkel nicht nur ihre fast schon verloren gegangene Glaubwürdigkeit, sondern auch die Gültigkeit eines gesellschaftskritischen Spiegels (zurück) gab. Wagners Tannhäuser , dessen spektakuläre Neudeutung durch Fehling dem Wagnerenkel

430 Vgl. Spotts 1994, S.268; Kühnel 1991, S. 104105. 431 Vgl. Borchmeyer 1982, S. 233. 432 Borchmeyer 1982, S. 235. 433 Koeppen 1986, S. 215. 434 Nach Hans Mayer, vgl. Barth 1980, S. 195ff.

148 unmöglich unbekannt bleiben konnte 435 und den Hitler nach dem siegreichen Krieg als Eröffnungsoper der sog. „Friedensfestspiele“ gewünscht hatte 436 , fiel da eine herausragende Rolle zu. Betrachten wir jetzt die Geschichte der Wielandschen Tannhäuser Inszenierung(en) näher.

II. Wieland Wagner, der „Theaterumstürzler“

Wieland Wagner wurde von seinem Bruder Wolfgang ein „Theaterumstürzler“ genannt. 437 Mit Recht, wenn man in Betracht zieht, mit welcher Radikalität der Ältere der Wagnerenkel mit der Tradition der Wagnerschen Interpretation brach bzw. welchen Anstoß die „Altwagnerianer“ an seinem Bemühen nahmen, alle überlieferten Lesarten des Wagnerschen Werks aufzugeben. In Wielands Fall handelte sich von Anfang an um keine bloße szenische Reform, um die sich seit Ende des 19. Jahrhunderts mehrere Regisseure und Bühnenbildner bemüht zeigten, sondern um eine gründliche geistige Auseinandersetzung mit Richard Wagner schlechthin, der in der Geschichte (den oben behandelten Fall Krolloper wohl ausgenommen) kaum etwas vorausgegangen war. 438 Gewiss gab es hier den berühmtberüchtigten Adolphe Appia – doch dieser Appia inszenierte 1925 am Theater in Basel noch einen an das nordischgermanische Erzählgut angelehnten Nibelungenring , keine Aischylaische Orestie , keinen Sophokleischen König Ödipus , wie es drei Jahrzehnte später der Wagnerenkel auf dem „Grünen Hügel“ tun sollte (obwohl sein Experiment neu genug war, um heftige Kontroversen zu entfesseln und die geplante Aufführung der letzten zwei TetralogieTage zu verhindern). 439 Die antiken Wurzeln dieses kolossalen, nur scheinbar mit dem Germanentum verbundenen Werks blieben Appia noch verborgen – ebenso wie dem Bayreuther Tandem TietjenPreetorius, das sich in den 30er Jahren bemüht zeigte, das gesamte Repertoire der Festspiele vorsichtig zu erneuern. Gewiss nahm Tietjen den meisten Figuren ihre Vollbärte (woran die „Altwagnerianer“ nicht Anstoß zu nehmen vergaßen); gewiss wurde Preetorius’ Walkürenfelsen zum Symbol einer Epoche, doch auf der Bühne agierten nach wie vor blonde Skandinavier, deren sich das NS

435 Vgl. Spotts 1994, S. 266. 436 Vgl. Wagner 1999, S. 313. 437 Vgl. Bartels 2000, S. 127. 438 Vgl. Schäfer 1970, S. 2627. 439 Vgl. Eckert 2001, S. 127ff.

149 Regime als eines Vorbilds seiner selbst bedienen konnte.440 Gewiss sollte sich Wieland Jahrzehnte später gezwungen sehen, den Verleumdungen Einhalt zu tun, auf der Bühne nichts tatsächlich Eigenes zum Vorschein gebracht, sondern nur die von Tietjen, Preetorius, Appia und Craigh entlehnten Bilder weiterentwickelt zu haben; doch der Wagnerenkel sollte beweisen, dass es nicht Winifred Wagners Team war, wer hier Pate stand: „ Meiner Überzeugung nach habe ich von Preetorius wenig oder gar nichts gelernt. Mein Vorbild waren Alfred Roller und dessen kühne szenische Neuerungen an der Wiener Staatsoper. Es ist heute vergessen, daß Wien in den dreißiger Jahren unter Roller sehr viel moderner gearbeitet hat als Bayreuth (wo der Wiener Bühnenbildner an der Parsifal Inszenierung von 19341936 arbeitete und dabei den jungen Wieland beriet, wie die Laufbahn eines professionellen Theatermachers anzutreten sei – Anm. M.U.) und daß die entscheidenden Schlachten um einen zeitgemäßen WagnerStil längst stattgefunden hatten: in Berlin durch Klemperer und seine Mitarbeiter . [...] Was aber Gordon Craigh und Appia betrifft, so gebe ich gerne zu, daß ich, besonders von Craigh, viele Anregungen erhalten habe. Wie wäre es auch anders möglich? Aus dem Nichts kommt nichts. Man ist immer Erbe eines Vorfahren; und Gordon Craigh, den großen Theoretiker, zu meinen Vorfahren rechnen zu dürfen, erfüllt mich mit besonderem Stolz.“ 441 Um die Festspiele nach dem Zusammenbruch von 1945 überhaupt wiedereröffnen zu dürfen, blieb Wieland nichts anderes übrig, als eine neue Idee zu finden, d.h. Bayreuth und das Wagnersche Erbe von all dem nordischgermanischen, in der jüngsten Geschichte völkisch verbrämten Kitsch zu reinigen (was nicht wenige für schier unmöglich halten sollten), die Wagnerschen „Heroen“ allen Heroismus zu entheben (was nicht nur die „Altwagnerianer“ irritieren sollte 442 ) und, nicht zuletzt, den Wagnerschen „Tempel“ auf dem „Grünen Hügel“ in eine „Werkstatt“ umzuwandeln (was viel zu laut mit einem Sakrileg gleichgesetzt werden sollte 443 ). Allerdings mutete dies nicht einfach an, denn Wielands Inszenierungen gingen lediglich „ehrwürdige“ Produktionen des „Altbayreuth“ voraus, an die anzuknüpfen er keineswegs vorhatte; des weiteren schien das Wagnersche Werk mit der imperialistischen Vergangenheit Deutschlands zu eng verbunden (wie darauf insbesondere Marcel ReichRanicki nicht hinzuweisen vergaß: „[ ... ] ist es überhaupt möglich, jener „geistigen Aussage“ der Wagnerschen Werke [...] mit den Mitteln des Theaters gerecht zu

440 Vgl. Spotts 1994, S. 202ff. 441 Goléa 1968, S. 3233. Zu Wielands Beziehung zu Preetorius oder auch Tietjen siehe: Hamann 2006, S. 446ff. und 432ff. 442 Vgl. Wessling 1997, S. 382383. 443 Vgl. unten, S. 151ff.

150 werden, wenn der Regisseur die in ihnen enthaltenen extrem nationalistischen und eindeutig präfaschistischen Elemente zu verdrängen oder gar auszuklammern versucht?“ 444 ). Wieland, dem dieser LiteraturKritiker lebenslang vorhalten sollte, um die „Quadratur des Kreises “445 zu kämpfen, versuchte es trotzdem – ungeachtet der Kritik von seiten der „Altwagnerianer“, die sich von Wielands Hinwegsetzen über die Traditionen verletzt fühlten. Dem Wagnerenkel an der Seite stand in diesem Moment auch der sich aller im Wagnerschen Werk enthaltenen Widersprüche bewusste Theodor Adorno: „ Gilt schon Wagner gegenüber, daß man, wie man es macht, es falsch mache, so hilft am ehesten, wenn man das Falsche, Brüchige, Antimonische selbst zur Erscheinung zwingt, anstatt es zu glätten und eine Art von Harmonie herzustellen, der das Tiefste an Wagner widerstreitet. Darum sind heute nur experimentelle Lösungen gerechtfertigt, wahr nur das, was die WagnerOrthodoxie verletzt. [...] die Wut, die solche Eingriffe auslösen, bezeugt, daß sie Nervenpunkte treffen, genau die Schicht, in der über die Aktualität Wagners entschieden wird.“ 446 1951 eröffnete die Bayreuther Festspiele der auf revolutionäre Weise erneuerte Parsifal wieder – das von Richard Wagner speziell für den „Grünen Hügel“ gedichtete Bühnenweihfestspiel konfrontierte den Zuschauer zum ersten Mal mit der Wielandschen Inszenierungspraxis, der die ursprüngliche Wagnersche Prämisse zu Grunde lag, „den Menschen ohne jede konventionelle Zutat darstellen“ zu wollen. 447 Zum Symbol dieser neuen Inszenierungspraxis (die den historisch getreuen Bühnenbildern die „idealen Räume“ vorzog) avancierte allmählich der eher nur angedeutete Gralsdom ebenso wie die zur inszenatorischen Notwendigkeit gewordene Scheibe, „ die die Welt bedeutet. [...] Zur Welt wird sie [...] durch die Art, mit der Wieland Wagner auf ihr die Menschen führt. Keine Bewegung, die seine Menschen machen, ist zufällig, jede geschieht in der Spannung, die aus dem Bewußtsein kommt: Wir, die Menschen auf dieser Scheibe, stellen die Welt dar. Und Wieland Wagner stellt sie dar dadurch, daß er diese Menschen aneinanderbindet, wie durch Gummiseile, die sich ausdehnen und zusammenziehen, die aber niemals reißen oder brechen, so daß diese Gestalten aneinandergebunden bleiben, daß sie in Liebe und Haß, in Zuneigung und Abneigung, in Triebhaftigkeit und in Haltung zueinander gehören, durcheinander leben und aneinander zugrunde gehen. [...] Es sind nicht einzelne Sänger, die sich auf der Bühne bewegen, sondern es ist ein Konnex, der ein Sinnbild der Welt ist und [...] damit selbst auf der

444 Barth 1973, S. 204. 445 Ebenda, S. 204. 446 Ebenda, S. 204. 447 Vgl. Spotts 1994, S. 267268.

151 Bühne die Welt schafft“. 448 Unter Wielands Hand verlor das Bühnenweihfestspiel jeglichen, seit dessen Uraufführung überlieferten pseudoreligiösen Charakter und wurde zum Drama von menschlichen Charakteren in deren prototypischer Form. An seinen langjährigen Parsifal Dirigenten Hans Knappertsbusch (der paradox genug eher den „Altwagnerianern“ angehörte) schrieb Wieland: „ Strenggenommen sind die Bühnenbilder im Parsifal nichts anderes als Ausdruck der wechselnden Seelenstimmungen .“ 449 Denselben Weg hatte unter Wielands Regie der Nibelungenring zu gehen. Da sich aber der aus drei Tagen und einem Vorabend bestehende Riese nicht so schnell völlig neu inszenieren ließ wie das interpretatorisch zwar mehrdeutige, doch inszenatorisch viel einfacher realisierbare Gralsritterdrama, sollte der Wagnerenkel mehrerer Jahre bedürfen, um die behutsame, durch TietjenPreetorius eingeleitete Stilisierung gegen die Umwandlung des Nibelungenrings in einen Mythos von altgriechischen Dimensionen Zug um Zug zu tauschen. Eines Tages sollte die Parole vom in Griechenland liegenden Bayreuth geboren werden, aber noch in den 60er Jahren beklagte sich der französische „Altwagnerianer“ Ferdinand de Liocourt über die angebliche Verfälschung Richard Wagners: „ Wagner verwendet eine Rheinlegende als Thema seiner Tetralogie und wollte ein nationales Werk daraus machen. Wenngleich er diese Sagen frei bearbeitete, hat er sie doch im Rahmen des alten germanischen Polytheismus belassen, dessen Gottheiten wie bei den meisten primitiven Völkern Naturkräfte waren [...]. Ihr Anführer Wotan war ein Kriegsgott, der über die dunklen Herzynischen Wälder gebot. [...] Die Walküren, die göttlichen Kriegerinnen, die ihn bei seinen Kämpfen zu Pferd begleiteten, waren eine Art Amazonen, bewaffnet und gepanzert. Aus all diesen Gottheiten wurden nun solche der verfeinerten Kultur des alten Griechenland, die fünf Jahrhunderte vor Christus auf ihrem Höhepunkt angelangt war. Niemals mehr werden sie inmitten der Felsen und Tannen gezeigt, welche den Rahmen ihrer Existenz bildeten. Kein einziges Mal erscheint in den vier Stücken der Tetralogie die Rheinlandschaft, die doch nach Wagners genauen Angaben (auf die wir noch zu sprechen kommen – Anm. M.U.) manchmal zu sehen sein müßte. [...] Aus Wotan ist eine Art olympischer Zeus geworden, mit lockigem Haar und in eine Art Toga gehüllt. [...] Das einzige kriegerische Attribut, welches ihm in diesem Anzug zugebilligt wird, ist eine Lanze, die er dauernd waagrecht hält, wie eine Angel. Die Walküren [...] sind ohne Panzer, ohne Waffen, ohne Schild. Man hat sie wie Chinesinnen angezogen, mit hohen kegelförmigen Frisuren, im

448 Heldt 1994, S. 188. 449 Spotts 1994, S. 267.

152 Nachthemd oder in einer Eidechsenhaut. [...] Wie in einem Salon treten Götter und Göttinnen auf, neutral gekleidet, ihrer charakteristischen Merkmale beraubt.“ 450 In der Tat: Auf Wielands Bühne agierten allen Germanentums verlustig gegangene Olympier, deren an das alte Griechenland erinnernde Gewänder, gekräuselte Lockenperücken sowie fehlende Instrumente Anstoß erregen konnten – das Geschehen auf der Bühne wurde nun allerdings viel überzeugender, als es bei den älteren Bayreuther Produktionen der Fall gewesen war. „ Uns interessieren keine germanischen Götter mehr, sondern nur der Mensch“ 451 , wies der Wagnerenkel die nicht unterbliebenen Klagen der „Altwagnerianer“ zurück. Statt den selbst ernannten „Gralshütern“ Genüge tun (d.h. ein „nationales Märchen“ in Szene setzen) zu wollen, erzählte er dem Zuschauer einen Mythos von Urcharakteren, dessen „zeitlosahistorische Natur“ mit dem „Abstraktionismus“ auf der Bühne korrespondierte. Wieland wandte sich diesem „Abstraktionismus“ in den 50er Jahren immer mehr zu, wobei er teilweise szenische Elemente seiner expressionistischen Vorgänger übernahm, teilweise seine Phantasie das alte Griechenland durchschweifen ließ (weil seine einfache Scheibe u.a. einen Ersatz der für die altgriechischen Dramen charakteristischen Orchestra darstellte). In einem Gespräch mit Walter Panofsky verglich er diese seine Neuentdeckung mit dem Kothurn des antiken Schauspielers und erklärte, er habe versucht, „im Ring alles Darstellerische durch die Konzentration auf einen kleinen Raum – die RingScheibe – größer zu machen und im Raum um diese Spielfläche die Natur zu stilisieren“ 452 .453 Der Weg zu dieser „geometrischen Periode “454 war weder leicht noch geradlinig. Als Wieland nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Wiedereröffnung der Festspiele vorbereitete (wobei ihm als unumgänglich galt, sich nicht nur mit dem schriftlichen Nachlass seines Großvaters, sondern auch mit demjenigen seiner Großmutter zu beschäftigen, deren langjährige Herrschaft über dem „Grünen Hügel“ zur erwähnten überholungsbedürftigen künstlerischen Erstarrung im Wesentlichen beigetragen hatte), stieß er in Cosimas unveröffentlichtem Tagebuch auf eine private Klage des an seinem letzten Werk arbeitenden Richard Wagner: „ Ach es graut mir vor allem Kostüm und Schminkewesen! Und wenn ich daran denke, daß diese Gestalten wie Kundry nun sollen gemummt werden, fallen mir gleich die ekelhaften Künstlerfeste ein, und nachdem ich das unsichtbare Orchester geschaffen,

450 Liocourt 1967, S. 6667. 451 Spotts 1994, S. 264. 452 Mack 1976, S. 115. 453 Vgl. Kühnel 1991, S. 104105. 454 Vgl. Schäfer 1970, S. 27.

153 möchte ich auch das unsichtbare Theater erfinden!“ 455 Dem Enkel blieb vorbehalten, den Großvater sieben Jahrzehnte später beim Wort zu nehmen 456 Richard Wagners Enttäuschung über die Inszenierungspraxis des 19. Jahrhunderts ebenso wie dessen Bewusstsein des eigenen Versagens (nämlich der von ihm selbst geleiteten, künstlerisch eher verunglückten Uraufführung des gesamten Nibelungenrings von 1876) sollten ihm den Weg erleichtern. Der Tannhäuser Dichter, dessen Werk mit Recht zeitübergreifend genannt werden darf, hatte sich als Regisseur – sämtlichen Vorsätzen zum Trotz – dem 19. Jahrhundert verpflichtet gezeigt, „doch was der Künstler selber nicht konnt’, des Lehrlings Mute mußt’ es gelingen“ 457 : Wieland realisierte – nicht zufällig kurz nach dem Zusammenbruch der letzten „Wartburg Zeit“ – die Idee eines visionären Theaters, von dem Richard Wagner geträumt hatte, an dessen Verwirklichung er jedoch seinerzeit hatte scheitern müssen. 458 Die Anfänge von Wielands Tendenz, konventionelle Bühnenbilder schrittweise zu beseitigen, bis auf der allmählich leer gewordenen Bühne nur der SängerDarsteller mit seiner Figur und deren Sorgen übrig blieb, hatten sich freilich noch vor diesem Zusammenbruch (nämlich während des Zweiten Weltkriegs) entdecken lassen: 1943 hatte der junge Wagnerenkel an einem Provinztheater unweit von Leipzig seinen ersten Nibelungenring inszeniert – da das NSRegime keine Experimente gefördert hatte, vermutete zwei Jahrzehnte später Wielands Gesprächspartner Antoine Goléa dieser Inszenierung zutrauen zu dürfen, äußerst konventionell gewesen zu sein (insbesondere wenn man die übliche Finanzlage der kleineren Bühnen in Betracht zog); Wielands Antwort war jedoch verblüffend: „ Ganz im Gegenteil: Da ich nichts Eigenes hinstellen konnte, begnügte ich mich damit, immer mehr von dem Bestehenden wegzunehmen. Ich ging pragmatisch vor, mit einiger Vorsicht. Bei jeder Probe vereinfachte ich das Bild. Am letzten Tag blieb dann gar nichts mehr übrig, und siehe da, es ging auch so. Man ließ mich gewähren.“ 459 Trotz einem relativen Erfolg wagte Wieland 1951 allerdings noch nicht, alle dieser Erfahrungen gleich auf dem „Grünen Hügel“ anzuwenden (denn „ zuviel auf einmal brächte Reu!“ 460 ). Er begnügte sich damit, dem Zuschauer lediglich den „säkularisierten“ Parsifal anzubieten; der Nibelungenring stand zwar auf dem Programm, doch seine antiken Wurzeln blieben noch ziemlich unklar – der „Abstraktionismus“ des Bühnenweihfestspiels (dem eine sehr konservative Meistersinger Inszenierung gegenüberstand) ließ sich im Fall der Tetralogie

455 Panofsky 1964, S. 15. 456 Vgl. Eckert 1995, S. 34. 457 Götterdämmerung , 3. Aufzug. 458 Vgl. Panofsky 1964, S. 1415. 459 Goléa 1968, S. 27. 460 Die Meistersinger von Nürnberg , 1. Aufzug.

154 nur in einigen ausgewählten Szenen erkennen: „ Auf einem trapezförmigen Grundriß werden mit naturalistischen Versatzstücken und Requisiten überraschend konventionelle Räume gebaut. [...] Doch in einzelnen Bildern – vor allem der zweite Akt der Walküre erregt Unwillen: ein schmaler, von zwei schwarzen Mauern eingeengter Raum, kein Naturbild sondern ein Symbolraum für den unausweichlichen Konflikt, in dem sich Wotan befindet –, im Kostüm und in der Darstellung wird der neue Stil sichtbar, der alle Reminiszenzen an eine altgermanische Heldenoper ablegen und sich immer stärker an der griechischen Tragödie orientieren wird.“ 461 In der Götterdämmerung , namentlich in deren drittem Aufzug, „ kommt der Gegensatz zwischen der gestrigen und der heutigen Generation deutlich zum Ausdruck. Wurde hier ein Bild geschaffen, das in seiner farbenfrohen, überreifen Herbststimmung noch einmal die Natur in ihrer ganzen Schönheit nach dem seinem Schicksal entgegenstürmenden Siegfried auftut, so ist es hier ein fesselndes kaltes Loch, das die Spätnachmittagssonne nicht mehr recht erwärmen kann, [...] beleuchtungstechnisch hervorragend gelöst“ 462 . An Abstraktion (und Reminiszenzen an das alte Griechenland) nahm Wielands erste Bayreuther Ring Inszenierung erst 1954 sichtbar zu. Bis 1958, als diese Inszenierung von der Bühne genommen werden sollte, rückte der Nibelungenring zu jener der Antike entsprungenen weltgeschichtlichen, psychologisierenden Tragödie auf, an der die „Altwagnerianer“ den heftigsten Anstoß zu nehmen pflegten – ihren Aufrufen an alle „wahren“ WagnerFreunde, Sabotageakten auf der Bühne sowie Gerichtsklagen gegen Wieland persönlich blieb jedoch nicht vorbehalten, diesen Prozess zu verhindern. Als der Wagnerenkel seinen ersten Bayreuther Nibelungenring von der Bühne nahm, tat er das durchaus in der Überzeugung, an Stelle von kürzlich aufgegebenen alten Traditionen keine neuen entstehen zu lassen; für ihn war Bayreuth in erster Linie eine Werkstatt, in der das Wagnersche Werk immer wieder neu bearbeitet werden sollte. 463 Konsequenterweise ermöglichte Wieland Anfang der 60er Jahre seinem Bruder, die Tetralogie zu inszenieren, bevor er sich von neuem an die Arbeit machen sollte. 1965 kam er dann mit einer vervollkommneten Interpretation des Nibelungenrings , der nun zur politischen Parabel gehoben wurde: Nach wie vor „ beschränkt sich der Bühnenboden auf eine [...] Scheibe, von den Franzosen der „Champignon“ genannt, von den Deutschen der „Suppenteller“, auf welchem man sich versammelt, sich verliebt, sich beschimpft, Eide leistet,

461 Bartels 2000, S. 124. 462 Ebenda, S. 125. 463 Vgl. ebenda, S. 126127; vgl. auch Goléa 1968, S. 4041.

155 zum Abendmahl geht und sich ermordet“ 464 , beklagten sich die enttäuschten „Altwagnerianer“ – an der weiteren Anwendung seines szenischen Grundelements zweifelte Wieland keineswegs: „Das den Kothurn ersetzende Spielpodest werde ich auch in Zukunft beibehalten, da es sich gerade für den Ring theatralisch bewährt hat.“465 Die massive, in monumentale Symbole der Vorzeit eingebettete Scheibe von 1965 war der antiken Orchestra sogar ähnlicher denn je; der Wagnerenkel veränderte außerdem die Kostüme, fügte die mächtigen Standbilder hinzu – hatte damit jedoch keineswegs vor, sein bisheriges Bemühen zugunsten der „Altwagnerianer“ aufzugeben (d.h. die Nibelungen wieder ins skandinavische Flair zurückzuversetzen), sondern die Ring Produktion der 50er Jahre weiterzuentwickeln und dem Nibelungenring dessen politischen Inhalt zurückzugeben. 466 Der Nibelungenring ist allerdings nicht das einzige Werk, dessen Inhalt von höchster politischer Brisanz anmutet – wenn wir uns Udo Bermbachs Worte ins Gedächtnis rufen, mit denen er Wagners Tannhäuser begegnet, erscheint uns unumgänglich, sich die Frage zu stellen, wie es im Wielandschen Bayreuth um dieses Musikdrama stand. Zugleich ist jedoch notwendig, sich an jene Inszenierungspraxis zu erinnern, der insbesondere Tannhäuser beinahe zum Opfer fiel (als es noch galt, das „schöne Mittelalter“, die „schönen Menschen“ zu zeigen) – bevor wir auf Wielands Bayreuther Tannhäuser Inszenierung(en) zu sprechen kommen, müssen wir also zunächst die Frage beantwortet wissen, wie der Ältere der Wagnerenkel den früheren (nicht nur) Bayreuther Produktionen gegenüber stand, wie er Richard Wagner gegenüber stand und wie es in seinen Inszenierungen um die „Werktreue“ bestellt war (auf die sich bereits Fehlings Kritiker berufen hatten, als sie (mit Recht) geglaubt hatten, von diesem „Theaterumstürzler“ bloßgestellt worden zu sein). Es gehörte den Vorwürfen gegen die Wielandsche Inszenierungspraxis an zu behaupten, der Wagnerenkel habe keinerlei Interesse an der Wagnerschen Musik, sondern er inszeniere die Musikdramen seines Großvaters als Schauspiele, wodurch insbesondere die Personenführung mit den aus dem Orchestergraben aufsteigenden Tönen gar nichts zu tun habe, ja ihnen widerspreche: „Der grundlegende Fehler – und vielleicht ist es der schlimmste, den ein Opernregisseur begehen kann – scheint darin zu liegen, daß er die sichtbare Aufführung vor die Musik stellt: Er hat seine eigenen Bilder der Musik aufgedrängt und diese Bilder passen einfach nicht [...]. Es ist Richard Wagner, der uns nach Bayreuth zieht; sein Enkel hat keine andere Aufgabe, als sich als demütiger Diener des Komponisten zu

464 Liocourt 1967, S. 60. 465 Mack 1976, S. 115. 466 Vgl. Bartels 2000, S. 127ff; Kühnel 1991, S. 105ff.

156 erweisen.“ 467 Da Wieland seinen Großvater in erster Linie für einen Dramatiker hielt, dessen kompositorische Leistung ohne Zweifel großartig, vom Bühnengeschehen jedoch untrennbar ist, stellte er das Dramatische dem Musikalischen gleich: „Am Anfang steht bei allen Meistern, die für das Operntheater geschrieben haben, nicht die Musik, sondern die theatralische Werkidee. Die Musik ist sekundär, weil sie ohne die dramatische Idee nie geschrieben worden wäre. Erst die Idee erzeugte die Musik, die darum nur eine Komponente, nicht aber die Dominante ist, nach der sich etwa der gestische Ablauf zu richten hat. Das Szenische steht nicht im Verhältnis von Ursache und Wirkung zur Musik. Die Szene, die Idee ist das Primäre: szenische Aktion und musikalischer Ablauf sind nicht in einem vordergründigen Sinne parallel geschaltet, sondern sie korrespondieren in einem geistigen Raum miteinander“.468 Konsequenterweise ging er das Wagnis ein, sämtliche Szenen zu streichen, die mit der dramatischen Idee nicht im Einklang standen (bzw. nicht im Einklang zu stehen schienen), wie es beispielsweise bei der Gutrunenszene im dritten Aufzug der Götterdämmerung der Fall war.469 Wielands Strichen entging mit Ausnahme von (und Parsifal ) kein Wagnersches Stück – bis zu einem gewissen Punkt machten diese Striche sogar glauben, Theodor Adornos „Rat“ gefolgt zu haben, sich durch die Eingriffe in die Partitur mit all den „heute anstößigen Exzentrizitäten des Wagnerschen Komponierens“ 470 auseinander zu setzen (zwar meinte Adorno unter diesen Exzentrizitäten Wagners angeblichen „Hang zu musikalischer Geschwätzigkeit“, während Wielands Striche ausschließlich den das dramatische Gefälle abschwächenden bzw. kompositorisch „schwächeren“ Stellen in den Partituren galten – ein Zeugnis davon sollte Wielands radikal gekürzter, aber dramatisch hochgesteigerter Stuttgarter ablegen –, doch dieser Unterschied erschien nicht nur Johannes Jacobi belanglos: „Die Adornos würden nach Durchsicht der Partitur eliminieren, was ihnen heute, musikzünftlerisch betrachtet, schwach an Richard Wagner erscheinen mag. Es würden, fürchte ich, von manchem Stück nur anderthalb Stunden bestehen – Richard Wagner gekürzt für den Normalverbraucher. [...] Die Wielands hingegen kürzen und kompilieren, weil es ihre „Inszenierungsidee“ verlangt. Sie bedrängen schwächere Dirigenten, in Tempo und Dynamik Richard Wagner so zu modifizieren, daß sie selber, die neunmalklugen Inszenatoren, möglich – und nicht vor dem Genie des omnipotenten

467 Spotts 1994, S. 259. 468 Panofsky 1964, S. 1819. 469 Vgl. Bronnemayer 1970, S. 189190. 470 Vgl. Barth 1973, S. 203.

157 Musikdramatikers Richard Wagner zuschanden – werden.“ 471 ). Obwohl sich der Wagnerenkel stets bemüht zeigte, durch zu rücksichtslos geführte Striche verursachte Ungereimtheiten zu meiden, sollte es den „Altwagnerianern“ (denen die Unantastbarkeit von Wagners Nachlass dem „höchsten Gebot“ glich), größtenteils verborgen bleiben: „ Viele Szenen gleichen den lebenden Bildern in Musik. Die Regie müßte folglich zur Dienerin der Musik werden, zu einer ebenso treuen wie aufmerksamen Dienerin, vor allem wenn es sich um ein Genie von solchem Format handelt. Dem entgegen wird es augenblicklich in Bayreuth zur Regel, dauernd Neues schaffen und Überraschungseffekte erzielen zu wollen“472 , formulierte Ferdinand de Liocourt die Auffassung, die unter den Gegnern des (Wielandschen) Regietheaters als stichhaltig galt. Das Bemühen um immer etwas Neues stimmte bei Wieland ganz offensichtlich, irgendwelchen Überraschungseffekten um deren selbst willen galt dieses Bemühen allerdings nie: Womit der Wagnerenkel brechen wollte, war eine tautologische, d.h. eine möglichst genaue szenische Umsetzung der Musik 473 ; zwar arbeitete er mit den Wagnerschen Partituren sehr intensiv (insbesondere bei der Arbeit an seiner zweiten Bayreuther Ring Inszenierung studierte er die Nibelungenring Partitur gründlicher denn je), doch zugleich vertrat er (immer) die Meinung, die Musik selbst sei in der Lage, dem ZuschauerZuhörer eine Geschichte zu erzählen. Ganz offensichtlich maß er dadurch dem Orchester die Rolle eines Erzählers bei, die auch das epische Theater kennzeichnete – die Rolle eines Erzählers, der „überall anwesend und nirgends sichtbar“ ist 474 , der die Fähigkeit des Menschen in Anspruch nimmt, sich das Erzählte einzubilden und dasjenige, was auf der Bühne nicht zum Vorschein kommt, durch das innere Auge zu erblicken. Wieland fühlte sich hier direkt an Richard Wagner angelehnt, der das Orchester mit dem Chor der altgriechischen Dramen verbunden gesehen hatte: „ Ich habe einen großen Chor komponiert, aber einen Chor, der gleichsam vom Orchester gesungen wird. [...] Es wird Siegmunds Thema erklingen, als ob es der Chor sagte, das war sein Vater, dann das Schwertmotiv, endlich sein eigenes Thema [...].“475 Nur was sich den Leitmotiven nicht direkt entnehmen ließ, was den aller Feinheiten der Wagnerschen Tonart Symbolik unkundigen Zuschauern verborgen geblieben wäre, musste nach Wielands Auffassung durch die Bühnenbilder zum Ausdruck gebracht werden: „Wenn man Wagners Musik nach den Gesetzen eines Ballettmeisters gleichsam austanzt, so banalisiert man sie. Sie

471 Ebenda, S. 207. 472 Liocourt 1967, S. 59. 473 Vgl. Kühnel 1991, S. 98ff. 474 Vgl. Barth 1980, S. 356. 475 Ebenda, S. 356.

158 kann und sollte nur dazu dienen, die Psyche einer Bühnengestalt resp. ihren Zustand sichtbar zu machen, den psychologischen Hintergrund aufzuzeigen“.476 Damit der Zuschauer nicht zu einem bloßen Zuhörer wurde (wie es bei der Tautologie oft der Fall war), provozierte der Wagnerenkel dessen Aufmerksamkeit durch ein mit der Musik scheinbar nicht korrespondierendes (um nicht zu sagen: durch ein dieser Musik widersprechendes) Bühnengeschehen und zwang ihn folgerichtig zur beständigen Konzentration auf das durch völlig autonom erscheinende Mimik, Gestik und Bühnenbilder zum Vorschein gebrachte Drama von archetypischen Charakteren. 477 Statt die Partituren ohne weiteres in Bilder umzusetzen, tendierte Wieland von Anfang an, die Bühne vom Orchestergraben zu emanzipieren, sie eine selbständige, das Schauspiel jedoch nicht unbedingt nachahmende Rolle spielen zu lassen – wird dieser Inszenierungstyp als Auslegung, als Interpretation bezeichnet, so wird diese Bezeichnung dem Wielandschen Konzept ganz und gar gerecht: Seit 1951 avancierte zur „Neubayreuth“ charakterisierenden Parole Wielands Ausspruch „ Inszenieren heißt heute interpretieren“ 478 ; der Wagnerenkel spürte dem Dasein der Wagnerschen Figuren nach, zeigte sich bemüht, dieses Dasein von Anfang bis zum Ende auf Grund der psychoanalytischen Beobachtung zu analysieren, das Los der einzelnen Figuren herauszupräparieren, zu erklären und schließlich alle Gestalten an einen ihrer eigenen Innenwelt entsprungenen Ort anzubringen – diesen Ort von jeglichem historischen Bezug (sei es von demjenigen auf den durch das Werk dargestellten Zeitraum, sei es von jenem auf die Entstehungsgeschichte des Werks) zu befreien, erschien ihm ebenso wichtig. 479 Konsequenterweise löste der Wagnerenkel das Konglomerat des Wagnerschen Musikdramas auf (dem Begriff des Gesamtkunstwerks abgeneigt, diesem Gesamtkunstwerk aber dennoch Genüge tuend), machte die einzelnen Elemente leserlich und ließ sie – durch den Zuschauer vergegenwärtigt – in einer neuen Harmonie wieder verschmelzen. 480 Durch die Herausforderung des Zuschauers zur Stellungnahme ähnelte das Wielandsche Konzept dem Brechtschen. Doch anders als Brecht konfrontierte Wieland den Zuschauer mit einem Werk, dessen Fähigkeit, die Emotionalität in Anspruch zu nehmen, nach wie vor unumstritten blieb: Sich der imaginativen Kraft der Wagnerschen Musik bewusst, provozierte der Wagnerenkel nicht nur den Verstand (wie es bei Brecht der Fall war), sondern auch Gefühle. „Der Verstand

476 Panofsky 1964, S. 19. 477 Vgl. Bartels 2000, S. 122123. 478 Panofsky 1964, S. 16. 479 Vgl. Kühnel 1991, S. 100. 480 Vgl. Schäfer 1970, S. 65ff.

159 sagt uns: so ist es erst, wenn uns das Gefühl gesagt hat: so muß es sein“481 , erinnert Brigitte Heldt an die Wagnersche Prämisse, die nicht einmal dem „Neubayreuth“ verborgen blieb – Richard Wagner hatte hinreißen, den Zuschauer ins Bühnengeschehen einbeziehen wollen 482 ; konsequenterweise sollte auch unter Wieland der Zuschauer (dem durch Mitleid wissend gewordenen tumben Toren Parsifal ähnlich) durch Einfühlung das Geflecht von Archetypen entflechten, die darin verschlüsselte Botschaft entschlüsseln und sich selbst auf der Bühne finden; nicht umsonst ließ der Wagnerenkel sämtliche (analysierten) Komponenten des Wagnerschen Musikdramas wieder verschmelzen, statt sie wie Brecht voneinander getrennt weiter bestehen zu lassen (um dadurch das Theater von der Wirklichkeit eindeutig zu unterscheiden). Außerdem zeigte sich der Wagnerenkel des Unterschieds zwischen dem Brecht und WagnerTheater bewusst, der in dem Anspruch an die Gültigkeit von dargestellten Phänomenen besteht: Das Wagnersche Musikdrama, so Wieland, basiert auf Archetypen, denen zu begegnen von der Steinzeit bis zum 20. Jahrhundert möglich ist. 483 Dagegen machte Brecht bei seinen Figuren eine Bindung an eine bestimmte Situation plausibel und präsentierte die Welt in einem beständigen Veränderungsprozess, dessen Produkt die in einer bestimmten Situation lebenden gesellschaftlichen Formationen waren. Dennoch wäre es falsch gewesen zu glauben, Wieland distanzierte sich vom durch Brecht repräsentierten epischen Theater – ganz im Gegenteil (wie es bereits sein Verständnis der Funktion des Wagnerschen Orchesters belegte). Walter Panofsky erklärte er: „ [...] schauen Sie nur einmal die „Walküre“ an – das ist doch episches Theater par excellence. Nur wird immer ein dramatischer Vorgang gleichsam aufgepfropft, Wagners genialer „Arbeitstrick“. Ein Schwert wird aus dem Stamm gezogen. Ein Gott tötet seinen Sohn. Ein Schlag mit dem Speer gegen den Felsen läßt Flammen auflodern. Aber wo sind sonst unverfremdete (Anspielung auf das Brechtsche Prinzip der Verfremdung – Anm. M.U.) dramatische Aktionen im Ring? Auch die anderen Werke sind dem epischen Theater sehr nahe. Nur: kein Zuschauer wird sich der Epik bewußt.“ 484 Insbesondere während der Arbeit am Nibelungenring von 1965 nahmen die Hinweise auf Brecht ersichtlich zu. Allerdings zeigte sich Wieland zugleich überzeugt, die Innenwelt der Wagnerschen Figuren – durch die Psychoanalyse herauspräpariert und nach außen gekehrt – kaum anders inszenieren zu können als durch Traumbilder, die er mit dieser Welt von Traumbildern korrespondierend wusste; zwar wandte er sich dem Realismus nicht völlig ab, doch im Fall

481 Heldt 1994, S. 191. 482 Vgl. Barth 1980, S. 357. 483 Vgl. Eckert 2001, S. 218219. 484 Panofsky 1964, S. 54.

160 des Wagnerschen Werks glaubte er sich dieses Realismus nicht bedienen zu müssen: „Wagner habe ich nie realistisch inszeniert und werde auch keines seiner Werke realistisch inszenieren.“485 Auf der einen Seite stand diese Auffassung zu derjenigen der realistischen Interpreten vom Schlag eines Walter Felsenstein, Patrice Chéreau, oder Götz Friedrich im Widerspruch, 486 auf der anderen Seite brachte sie sämtliche „Altwagnerianer“ auf, deren WagnerVisionen den zwei „WartburgZeiten“ verpflichtet blieben – folglich sollte dem Wagnerenkel seit 1951 beschieden sein, mit den Erst ebenso wie Letztgenannten einen nicht unbeachtet gebliebenen Kampf um eine „werkgetreue“ Inszenierung Richard Wagners auszufechten. Von Bedeutung wurde unter diesen Umständen die Frage, ob der Wagnerenkel an einer „werkgetreuen“ Wiedergabe des Wagnerschen Werks überhaupt interessiert war, inwieweit er mit der Werktreue im traditionellen Sinn brach und warum er das eigentlich tat – um nur die „Altwagnerianer“ (bzw. seine „Theaterkollegen“) zu irritieren, sich selbst bemerkbar zu machen oder weil er unter der Verfälschung Richard Wagners durch dessen bisherige Exegeten litt? 487 Es waren nicht nur die Einzelgänger (wie der mehrmals zitierte Ferdinand de Liocourt), die sich über die angebliche Verfälschung des Wagnerschen Werks durch Wieland zu beklagen pflegten. Die Erzkonservativen (deren Zorn Ende des 19. Jahrhunderts auch zu spüren bekommen hatte – nämlich als man sie im Begriff geglaubt hatte, das Wagnis einer vorsichtigen Bühnenreform einzugehen), die sich vorgenommen hatten, die bereits von Siegfried Wagner angetretene und von Winifred Wagners Regieteam fortgesetzte Verjüngung des Bayreuther Repertoires zu verhindern, gründeten 1953 um die Bayreuther Musikbriefe (eine Tribüne des unversöhnlichsten „Altwagnerianertums“) die sog. Vereinigung für die werktreue Wiedergabe der Dramen Richard Wagners : In Erinnerung an Hans Pfitzner (dessen Schatten noch dem Wagnerenkel zur Last zu fallen drohte 488 zumal Pfitzners Worte vom „Kulturbolschewismus“, denen es in der letzten „WartburgZeit“ vorbehalten geblieben war, den Status der „Schlagworte“ in Anspruch nehmen zu können, in der Atmosphäre des „WartburgIdylls“ keineswegs in Vergessenheit gerieten) kamen die Vereinigungsmitglieder auf die Pfitznersche Idee zurück, das Wagnersche Werk per Gesetz zu schützen, obwohl sie nun – Pfitzners Misserfolgs eingedenk – von einer Überwachung aller Wagner gebenden Theater von unten träumten: „ Da aber seine (d.h. Richard Wagners – Anm. M.U.) Werke

485 Goléa 1968, S. 113. 486 Vgl. Eckert 1995, S. 33. 487 Was Wieland Wagners ablehnende Beziehung zum Realismus betrifft, meinte z.B. Erich Rappl den Wagnerenkel teilweise korrigieren zu müssen: Vgl. Ellwanger 1983, S. 194195. 488 Vgl. Panofsky 1964, S. 22ff.

161 weder Privatbesitz noch Staatseigentum sind, sondern ein dem deutschen Volk anvertrautes Kulturgut darstellen, so hat dieses Volk auch die heilige Verpflichtung, diese Werke zu schützen und sich einzusetzen für ihre unverfälschte, schöpfertreue Wiedergabe.“ 489 Unter dieser „schöpfertreuen Wiedergabe“ verstanden die Vereinigungsmitglieder größtenteils eine bloße Rückkehr vor den „Großen Krieg“, d.h. zu den Bühnenbildern von Hans Thoma, Paul von Joukowski und anderen Meistern (oder „Meistern“) der Historienmalerei des 19. Jahrhunderts. 490 Folglich glaubte sich Wieland in seinem auf den durch diese „Altwagnerianer“ geforderten „Denkmalschutz für Wagner“ anspielenden Essay von 1962 im Recht, sämtliche Dogmatiker als Attentäter schelten zu dürfen, denn „ es ist ein unzulässiges Attentat gegen den Komponisten Wagner, sein mythisches Werk leichthin mit der notorischen Mittelmäßigkeit und dem impotenten Pseudonaturalismus einer zeitgenößischen Malerei zu identifizieren“ 491 . Nicht nur die Impotenz des „Pseudonaturalismus“ des 19. Jahrhunderts, sondern auch die veränderten Erwartungen des Zuschauers der Nachkriegszeit sollten Wielands Überzeugung von der Unmöglichkeit einer bloßen Rückkehr zu den Bayreuther Produktionen von 1914 Recht geben: In seinem Brief an die Wagnerenkel wies auf diese Tatsache Albert Schweitzer hin, der den Festspielen Ende des 19. Jahrhunderts zugesehen hatte : „Die so großartig einfache Inszenierung des Rings von 1896, die auf die Uraufführung zurückging, habe ich noch gut im Gedächtnis, auch die des „Parsifal“ aus den achtziger Jahren. Aber man kann sie nicht einfach reproduzieren (hervorgehoben von A. Schweitzer – Anm. M.U.). Der moderne Hörer bringt andere Forderungen des Anschauens mit sich, auf Grund einer Gewöhnung des Anschauens von Bühnen und Filmhandlung. Es handelt sich darum, das Alte und das Neue in der rechten Weise miteinander zu versöhnen. Die Hörer sind sich über das Problem nicht klar. Sie stellen miteinander unvereinbare Anforderungen. “492 Um das Alte mit dem Neuen zu versöhnen, wagte Wieland einen denkwürdigen Versuch, das von den „Altwagnerianern“ ebenso beschworene wie missverstandene „Gesamtkunstwerk“ möglichst überzeugend auf der Bühne zu realisieren – eine solche Verwirklichung des als Begriff profan gewordenen Gesamtkunstwerks mit der von den Konservativen gewünschten Beachtung von Richard Wagners Bühnenanweisungen in Einklang zu bringen, konnte sich der Wagnerenkel allerdings nie vorstellen.493

489 Zelinsky 1976, S. 252. 490 Vgl. Spotts 1994, S. 257258. 491 Barth 1973, S. 200. 492 Zelinsky 1976, S. 253. 493 Vgl. Spotts 1994, S. 260.

162 Um das Wagnersche Werk, dessen Zeitlosigkeit er immer wieder betonte, richtig szenisch umzusetzen, studierte Wieland die Partituren, in denen er sich allmählich hervorragend auszukennen wusste: Sein Ziel bestand nicht in äußeren Effekten; sein Streben galt nicht dem Illusionismus, sondern dem geistigen Einklang zwischen dem Orchestergraben und der von ihm emanzipierten Bühne; da er die bisherige Deutung der Wagnerschen Motivik als verfehlt ablehnte, untersuchte er von neuem deren Beziehung zum eigentlichen Drama, zur dramatischen Situation im Gesamtkunstwerk: „ Die sogenannten Leitmotive sind alles andere als Illusion. Sie sind melodisches Arbeitsmaterial, Chiffren für metaphysische Vorgänge, „Klang und Tonarchetypen“. Ernst Bloch sagt mit Recht, daß das, was das Leitmotiv ausdrücke, oft noch unterhalb der Bewußtseinsschwelle liege. Jedenfalls reizt das Irrationale im Leitmotiv zu immer neuen Untersuchungen und zu neuen Erkenntnissen [...]. “494 Ebenso intensiv wie mit der Leitmotivik beschäftigte sich der Wagnerenkel mit der Wagnerschen TonartSymbolik 495 : Im Unterschied zu den auf eine tautologische Umsetzung der Musik ins Bühnengeschehen ausgerichteten WagnerInterpreten maß er den einzelnen Tonarten dieselbe archetypische (d.h. die psychische Lage zum Ausdruck bringende) Rolle bei wie den Leitmotiven und dem Wagnerschen Mythos schlechthin. Den tief liegenden Sinn von Wagners musikalischer Sprache zu entdecken und diesem Sinn entsprechend das gesamte Bühnengeschehen zu gestalten, sollte Wieland sein Leben lang suchen. Mimik, Gestik, Beleuchtung – um nur die wichtigsten Elemente der Wielandschen Inszenierungspraxis zu nennen – leitete er von der Musik ab, wodurch seine Interpretationen viel wahrhaftiger, überzeugender und, nicht zuletzt, werkgetreuer erschienen als die Interpretationen vor bzw. neben ihnen. Völlig unbeachtet blieben dagegen Richard Wagners Bühneanweisungen, auf die zu achten (oder noch besser: an denen sich zu orientieren) die „Altwagnerianer“ nach wie vor wünschten. Anders als diese betrachtete Wieland die in den Partituren enthaltenen Vorschriften als lediglich literarisch interessant und maß ihnen nur eine Funktion bei: „ Sie sollen dem Interpreten helfen, die „Zeichen“ der Partitur zu dechiffrieren und dem Leser des Textbuches verdeutlichen, wie sich der Dramatiker die „vollendete Aufführung“ gedacht hat.“ 496 Während das Thema eines jeden Wagnerschen Werks Wielands Überzeugung nach weder zeit noch raumgebunden war (weswegen der Wagnersche Mythos die Allgemeingültigkeit in Anspruch nehmen konnte), gehörten Wagners Bühnenanweisungen

494 Panofsky 1964, S. 5253. 495 Vgl. Panofsky 1964, S. 19ff. 496 Barth 1973, S. 200.

163 der Theaterpraxis des 19. Jahrhunderts an, waren also nicht vom zeitlosen Charakter – in Bayreuth waren sie zwar durch Cosima Wagner zum unantastbaren Gesetz erhoben worden, das zu brechen ein „Attentat“ gegen den Dichterkomponisten Wagner (um sich der oben zitierten Worte Wielands nochmals zu bedienen) bedeutet hätte, doch eine noch größere Versündigung am Wagnerschen Werk hatten sie zur Folge: Eine genaue Anwendung aller Vorschriften, wie der Nibelungenring , Parsifal oder die Meistersinger richtig zu inszenieren seien, bedeutete nämlich, diese Vorschriften als einen integralen Bestandteil des Werks schlechthin anerkannt, sie der Partitur sowie dem Libretto gleichwertig gemacht zu haben. An der Verbindlichkeit dieser Bühnenanweisungen für alle Zukunft zweifelnd, meinte Wieland einwenden zu müssen: „Einen verbindlichen „letzen Willen“ in dieser Beziehung gibt es nicht. Ein Genie ist weder doktrinär noch philiströs.“ 497 Des weiteren glaubte er das Prinzip der Interpretation nur in einer sich ununterbrochen erneuernden, verjüngenden Auslegung des Werks, in einer Suche nach neuen Zusammenhängen, im Bemühen um das Erkennen des Unerkannten gefunden zu haben: „ Genauso wie es an der Zeit ist, die gesamte musikalische Interpretation [...] dem Lebensgefühl des 20. Jahrhunderts anzupassen [...], bedarf alles Optische und Darstellerische einer ununterbrochenen Neuformung. Die Ideen des Wagnerschen Werkes sind zeitlos gültig, da sie ewig menschlich sind. Wagners Bild und Regievorschriften jedoch gelten ausschließlich dem zeitgenößischen Theater des 19. Jahrhunderts. Ihre „werktreue“ Erfüllung ist, wenn sie überhaupt jemals theoretisch denkbar gewesen wäre, nicht mehr Kriterium einer heutigen WagnerAufführung.“ 498 Kurz gefasst: Um der Zeitlosigkeit der „Ideen des Wagnerschen Werkes“ Genüge zu tun, schloss Wieland die überlieferten Bühnenanweisungen aus dem Gefüge des Gesamtkunstwerks aus (wohin sie Jahrzehnte früher durch die WagnerExegeten von Pfitzners Schlag hinein montiert worden waren), seinen sämtlichen Kritikern zurufend: „ Der Buchstabe tötet den Geist!“ 499 Doch nicht wenige verstanden Wielands Bemühen richtig – zur inoffiziellen Tribüne des Wielandschen Bayreuth wurde vor allem die Gesellschaft der Freunde von Bayreuth e. v. (die sich allerdings verbot, in den Betrieb der Festspiele einzugreifen). Auch ein zu Wieland übergelaufener „Altwagnerianer“ musste zugeben: „ Bayreuth ist heute Theater . Es ist keine Kultstätte (hervorgehoben vom Autor des Beitrags – Anm. M.U.) mehr, in der man die Werke zelebriert und dem Geist des Meisters „huldigt“. [...] Zum Applaus wird heute der Vorhang geöffnet, wenn geklatscht wird. Es wäre kein Sakrileg mehr, wenn jemand pfiffe. [...] Der

497 Ebenda, S. 200. 498 Ebenda, S. 201. 499 Spotts 1994, S. 260.

164 Bann einer von vielen betrauerten, vergangenen Tradition ist gebrochen. Damit hat sich jeder alte Wagnerianer abzufinden.“ 500 Womit sich die alte Bayreuther „Gemeinde“ erst abzufinden hatte, damit identifizierte sich das auf dem „Grünen Hügel“ neu angekommene „Publikum“ ganz und gar. Das Bürgertum der neu entstandenen Bonner Republik sollte nicht zufällig gerade den Älteren der Wagnerenkel als einen maßgebenden, vorbildlichen Künstler ansehen (ohne zu erkennen, dass ihm Wielands Inszenierungen einen Spiegel vorhielten), dem es (scheinbar) zu verdanken war, die Schrecken der im Prinzip antibürgerlichen „Wartburg Zeit“ auch in der Welt der Kunst endgültig vergessen zu dürfen; es war nicht zuletzt die strenge Entpolitisierung des Wagnerschen Werks (die insbesondere in den einsetzenden 50er Jahren augenscheinlich wurde, die aber Wieland schließlich doch noch verlassen sollte – etwa in seiner skandalumwitterten Meistersinger Inszenierung von 1963), wovon sich dieses Bürgertum kräftig angesprochen fühlte. 501 „Auch darf man nicht vergessen, daß es die Zeit des kalten Krieges ist“ , sollte Wielands Tochter Nike in Bezug auf die ersten Wielandschen Meistersinger von Nürnberg resümieren, deren Wiederhall exemplarisch war. „Das hatte nicht nur politische Konsequenzen, sondern eben auch Konsequenzen für die Kunst und Geistesrichtungen, die sich durchsetzten, Konsequenzen auch für Bayreuth. Jost Hermand beschreibt in seinem materialreichen Band „Kultur im Wiederaufbau“, wie es für die kulturkonservative Richtung immer schwieriger wurde, sich gegen den Modernismus – etwa der Abstraktionstendenzen in der Malerei – zu behaupten. Man benötigte sie geradezu zur Selbstabgrenzung gegen den „primitiven Allgemeinverständlichkeitsanspruch des östlichen Realismus“. Deshalb fand man sich auf kulturkonservativer Seite denn auch bald mit Wieland Wagners abstraktem Stil ab. Sogar die vox populi in Gestalt der Frau General Speidel milderte bald ihre ästhetischen Verdammungsurteile gegen Wieland. Dieser machte in den folgenden Jahren ohnehin einige ironische Konzessionen ans Realitätsbedürfnis seines Publikums, fügte ein paar Gitter, Dächer, Büsche und ein Nürnberg auf goldenem Gobelin in sein MeistersingerNiemandsland ein. Den Grund aber für den schließlich riesigen Erfolg dieser ungewöhnlich lange im Spielplan beibehaltenen Meistersinger hat man in ihrer Synchronizität mit dem von den damaligen politischen Bedingungen gefärbten Kulturklima der jungen Bundesrepublik zu suchen.“ 502 Allerdings sollte auch das neu angekommene „Publikum“ (der alten „Gemeinde“ ähnlich) tendieren, Richard Wagner als jemand viel größeren denn als einen bloßen Dichterkomponisten anzusehen, ihn eher als einen Propheten

500 Zelinsky 1976, S. 257. 501 Vgl. Ellwanger 1983, S. 192. 502 Wagner 1999, S. 179180.

165 zu betrachten (um den Wagnerenkel dadurch glauben zu machen, gegen die „Windmühlenflügel“ anzukämpfen 503 ). Im Unterschied zu den „Altwagnerianern“, in deren Fall es um eine Lebenseinstellung ging, sich zu Wagner zu bekennen (weswegen sie nach wie vor keinen Veränderungen gönnten), wurden jedoch die „Neuwagnerianer“ der Adenauerschen Epoche zu passiven Konsumenten, deren Zorn in der Regel nicht von langer Dauer sein sollte (den angesprochenen Meistersinger Fall von 1963 wohl ausgenommen). Die neue Generation der Kritiker (z.B. Marcel ReichRanicki) gab zwar zu, das Romantische schmerzlich zu entbehren, das Wieland aus Bayreuth vertrieben hatte, doch sie warf ihm nicht vor, Richard Wagner zu verfälschen oder sogar zu schänden; die Süddeutsche Zeitung äußerte sich symptomatisch: „Die von Jahr zu Jahr vollkommener gewordene RingInszenierung Wieland Wagners hat nunmehr eine solche Geschlossenheit erreicht, daß sie als Prototyp des heutigen WagnerBildes gelten kann. Es ist irrig zu glauben, das Genie von Bayreuth habe auch einen für alle Epochen gültigen Aufführungsstil vorzuprägen vermocht. Jede Epoche wird sich ihr eigenes WagnerBild schaffen; jeder Stil ist mit seiner letzten Ausprägung bereits an der Schwelle des Untergangs angelangt, hinter der eine Neugeburt wartet. Gerade in diesem Wechsel liegt die überzeitliche Gültigkeit jedes theatralischen Kunstwerks beschlossen. Wagner war gewiß in vielem ein Mensch seiner Zeit und bediente sich ihrer Mittel. Aber er war auch das in außerzeitliche Dimensionen denkende Genie, das selbst verwarf, was es (als Regisseur des ersten Bayreuther Ring) realisiert hatte. [...] Sein Traum von der Wiedererweckung der Antike reichte weit aus seiner Epoche in eine Zukunft, die für uns Gegenwart geworden ist. Unsere Zeit, von der Spätromantik durch eine Welt getrennt, ist dem von Wagner aufgerufenen UrMythos [...] näher, als es die Zeit Wagners sein konnte. Aus solchen Erkenntnissen empfing die RingInszenierung Wieland Wagners ihre Impulse und ihre Wirkungen.“ 504 Theodor W. Adornos Ratschlägen zu folgen, nämlich „das Falsche, Brüchige, Antimonische selbst zur Erscheinung zu zwingen, anstatt es zu glätten und eine Art von Harmonie herzustellen“, schien der Wagnerenkel nicht zuletzt um die Mitte der 50er Jahre, als er das TannhäuserDrama in Angriff nahm (Wieland sollte den Tannhäuser in Bayreuth zweimal in Szene setzen, nämlich 1954/1955 und 19611967. Da die „zweite“ Bayreuther Tannhäuser Inszenierung, die er künstlerisch verantwortete, ohne die erste undenkbar erscheint – trotz allen Veränderungen, die in den 60er Jahren insbesondere dem Bühnenbild und der Personenregie/Personenchoreographie zuteil wurden, blieb die „Grundidee des sich in

503 Vgl. Zelinsky 1976, S. 283. 504 Bartels 2000, S. 127

166 einem geistigen Raum vollziehenden Dramas der Ekstasen von Rausch und Askese“ 505 nach wie vor erhalten – ist es ratsam, über die Tannhäuser Inszenierung(en) zu sprechen, statt eine von der anderen streng unterscheiden zu wollen.). Folglich meinte (nicht nur) Hans Mayer – sämtliche „Ungereimtheiten“ von Wagners Tannhäuser vor Augen – zusammenfassen zu können: „Die Widersprüche sind [...] : kaum geglückte Verschmelzung heterogener Sagenstoffe vom Sänger Tannhäuser und vom Sängerkrieg auf der Wartburg, artistisches Spiel eines Nichtchristen mit christlichen Symbolen; Ambivalenz zwischen Künstlertragödie und Mysterienspiel. Der Textdichter Wagner entscheidet sich für Elisabeth, aber der Musiker Wagner für Frau Venus. Kunstvoll aufgebaute dreifache Menschentragödie von Tannhäuser, Wolfram und Elisabeth, die aber durch Symbolspielerei immerfort verdeckt wird. Die ungelöste Tragödie Tannhäusers, der weder als Sünder noch als Sänger, noch als Büßer zur Ruhe kommt, wird durch die sancta ex machina recht gewaltsam beendet. Dies eben war und ist zu inszenieren. Nimmt man die christliche Symbolik allzu ernst, so verfälscht man die wirkliche Tragödie. [...] Nimmt man die Mannen und Edeldamen der Wartburggesellschaft allzu ernst, so verkennt man, daß Wagner den Sängerkrieg wahrhaftig nicht zugunsten von Wolframs „hoher Liebe“ und des landgräflichen Literaturgeschmacks entscheidet. (Wie es mit Wolframs Kunst in Wahrheit steht, sagt – zitierend – der Musiker Wagner im Nachspiel zum Gebet der Elisabeth.) Da gibt es Züge einer sublimen Kritik und sogar Satire, die kaum verdeckt werden dürfen, soll nicht die spießige Konvention den Sieg davontragen über Tannhäusers tragisches Künstlertum. Widersprüche über Widersprüche; man muß sie aufdecken, nicht vertuschen. Wieland Wagner ist eben dies im zweiten und vor allem im dritten Akt weit besser gelungen als noch vor zwei Jahren (Anspielung auf Wielands ununterbrochene „Verbesserungsarbeit“ an dessen Tannhäuser Inszenierung(en), deren Regie ebenso wie das Bühnenbild durch das Abwechseln der einzelnen „Perioden“ des Wielandschen Inszenierungsstils gekennzeichnet war – Anm. M.U.) . Das Ringen der beiden Männer, Freunde und Künstler – Tannhäusers und Wolframs – im dunklen Wald wirkt erschütternd. Tragödie hat auf der Szene das letzte Wort. Alles andere – Erlösung, Heil, Wunder – überließ man, mit Recht, der Musik. Auch der Sängerkrieg ist gut dargestellt. Das „Shocking“ der entrüsteten Hofgesellschaft mit panischer Flucht der Damen und Raufstimmung der deutschen Ritter ist ergötzlich, und soll es auch sein…“506 Statt einer „großen Oper“ zum Ausdruck zu verhelfen, statt Wagners „christliche Symbolik“, seine „Mannen und Edeldamen der Wartburggesellschaft“ ohne weiteres auf die

505 Vgl. Mack 1976, S. 33. 506 Barth 1984, S. 197200.

167 Bühne zu bringen, um dem Geschmack der diese Symbolik, diese Mannen und Edeldamen AllzuernstNehmenden Genüge zu tun, galt Wielands Interesse jener „kunstvoll aufgebauten dreifachen Menschentragödie von Tannhäuser, Wolfram und Elisabeth“, der das neuzeitige Regietheater nur mit einer psychologischen Deutung gerecht zu werden glaubte: „Alle Register der modernen Psychologie werden gezogen, um aus der Großen Oper ein Drama des Eros zu machen“ 507 , beschrieb Berndt Wessling das Wielandsche Regiekonzept. Hervorzuheben galt es dabei Tannhäusers Schicksal, d.h. das Schicksal eines Mannes, der sich zwei Frauengestalten zugleich verpflichtet sieht: Die eine steht „keineswegs mehr unwissend da“, wenn es darum geht, „der Liebe wahrstes Wesen zu ergründen“ ( „Das wahre Wesen der Liebe ist verantwortungsvolle, gläubige und selbstlose Hingabe an das Du des Geliebten…“ 508 ), der anderen ist nicht vorbehalten, als „Verkörperung des ewigen Eros“, als „Gegensatz zum Weib“ (also als Gegensatz zur ersteren, der der Wagnerenkel die „wissende Liebe einer werdenden Frau“ zusprach) aufzutreten, sondern als „dessen natürliche Ergänzung“, „Mutter der Wollust“, sogar „Mutter des Menschengeschlechts“ zu erscheinen. 509 Hervorzuheben galt es folglich das Schicksal eines Mannes, in dessen Dasein ebenso wie in dessen Werden sich die vorstehenden zwei Frauengestalten samt ihren „Welten“ ununterbrochen überschneiden: „Aus der Welt der universalen Wollust gerät Tannhäuser in die Welt der katholischen Keuschheit. Die erste verläßt er, weil sie ihn, wie das immer so ist, auf die Dauer anekelt. Die zweite ist scheinheilig; wie schon gesagt, versteckt sich etwas ganz anderes unter der Keuschheit (Vgl. Mack 1976, S. 112 – Anm. M.U.) . Tannhäuser aber ist ein Dichter, er lebt in der Wahrheit seiner Phantasie, und was er erblickt, wird ihm zur Wahrheit, weil es seine dichterische Phantasie, der seelischen Einstellung gemäß, verarbeitet. Er liebt Elisabeth, wie man eine Heilige liebt. Im entscheidenden Augenblick aber, als er die Liebe lobpreisen soll, verwirren sich seine Gefühle. Das erotische Begehren, das bisher nur Venus gegolten hatte, sieht sich plötzlich vor ein neues Ziel gestellt. Elisabeth erscheint ihm plötzlich in einem neuen Licht. Sie wird ihm zum Weibe, während er dichtet, während er singt.“ 510 Um die Anfangsworte des vorstehenden Zitats (das einem detaillierten Gespräch des Wagnerenkels mit Antoine Goléa von 1966 entnommen ist) aufzugreifen: Auch hier war es die Entgegenstellung zweier Welten (von denen eine der „universalen Wollust“, während die andere der „Scheinheiligkeit“ verpflichtet anmutete), die von größter Bedeutung erschien. Da

507 Wessling 1997, S. 242. 508 Ebenda, S. 240. 509 Vgl. Mack 1976, S. 111112. 510 Ebenda, S. 112.

168 der Wielandsche Venusberg aber (dem Fehlingschen und Friedrichschen ähnlich) nur Tannhäusers Phantasie vorbehalten blieb 511 , kam es zum obligaten Konflikt lediglich innerhalb von Tannhäusers Herz – nicht umsonst rief sich Walter Panofsky, wenn es galt, den nicht unterbliebenen Vorwürfen eines AmHaarHerbeigezogenen ein Ende zu bereiten, Baudelaires Worte ins Gedächtnis: „Tannhäuser bedeutet den Kampf zweier Prinzipien, die sich das menschliche Herz als Kampfplatz erwählten: Kampf zwischen Fleisch und Geist, Hölle und Himmel, Satan und Gott.“ 512 Folglich erschien es unmöglich, Wagners Tannhäuser nur als ein KünstlerDrama in Szene zu setzen, sondern der Wagnerenkel musste eine Gestalt auf die Bühne bringen, deren von einem inneren Konflikt gekennzeichnetes menschliches Herz mit demjenigen des Menschen (oder des Mannes) schlechthin gleichgesetzt werden konnte: „Die Tragödie Tannhäusers ist die des Mannes im christlichen Zeitalter überhaupt, der im Bewußtsein seiner inneren Gespaltenheit in Geist und Trieb den Weg zurück zur ursprünglichen göttlichmenschlichen Einheit sucht“ , klärte Wieland das Festspielpublikum über die Grundlagen der neuen Bayreuther Tannhäuser Produktion auf. „Es ist sein ihm auferlegtes „Kreuz“, daß er irrtümlich glauben muß, sein Heil in der jeweiligen Verabsolutierung der Daseinspole „Rausch“ und „Askese“ finden zu können. Statt der ersehnten Erlösung in dem Ausleben dieser Extreme trifft ihn jedoch der „Fluch“ der beiden getrennten Welten. Venus: „Suche dein Heil und find’ es nie!“ Papst: „So bist auf ewig du verdammt!“ – Erst durch die Erkenntnis seiner furchtbaren Schuld Elisabeth gegenüber (Tannhäuser versagt in der entscheidenden Begegnung mit ihr, der „wahren Liebe“) wird er fähig, den „Heilsweg durch die Liebe“, der dem Manne nach Wagners Weltanschauung einzig durch die noch in der ursprünglich menschlichgöttlichen Einheit lebende Frau offensteht, zu finden. Es scheint bezeichnend, daß Tannhäusers Erlösung mit seinem Tode zusammenfällt, ja geradezu mit dem Tode an sich identifiziert wird. Dies bedeutet in diesem Übergangswerk eine künstlerische Vorwegnahme der tristanischen Idee, eine Vorausahnung des Erlösungsgedankens im Parsifal (Kundry).“513 Es war unter diesen Umständen nur konsequent, dass dem Wielandschen Tannhäuser dieselbe „Entrümpelung“ zuteil wurde, die bereits den Parsifal und Tristan in Dramen umgewandelt hatte, deren Geschehnisse „von zeitloser Gültigkeit“ 514 anmuteten – Wielands Verständnis des Tannhäuser als einer „Vorwegnahme der tristanischen Idee“, sogar einer „Vorausahnung“ des Parsifal (was durch die Musik der allerdings beiseite gelassenen

511 Vgl. ebenda, S. 33. 512 Wessling 1997, S. 246. 513 Ebenda, S. 240. 514 Vgl. ebenda, S. 240.

169 „Pariser“ Fassung noch unterstrichen worden wäre 515 ); sein Versuch, die „große romantische Oper“ in „Wort und Schrift“ (d.h. interpretatorisch ebenso wie bühnenbildnerisch) an das Parsifalsche „Bühnenweihfestspiel“ anzunähern, muteten jedoch den meisten Festspielbesuchern mehr Auffassungsfähigkeit zu, als es schließlich der Fall sein sollte: „Wieland Wagners Inszenierung ist großartig in der Konzeption, packend in der Wirkung, im Detail oft befremdend, bisweilen geradezu schockierend. Hervorragend gelungen ist das Innere des Venusberges, ein muschelartiges Gewölbe voll geheimer Freudscher Symbolik. In qualvoller Unruhe liegt Tannhäuser im Vordergrund. Wie eine fieberhafte Vision zieht an ihm das Geschehen im Venusberg vorüber. Aufreizend schwül und doch edel in der Gestik ist der Pas de deux eines nackt wirkenden Paares. Weniger befriedigen die Gruppentänze, die wenig von dem Beschwingten, Schwelenden und Züngelnden der Musik widerspiegeln, sondern starr und unsensibel bleiben, an Gymnastik erinnern.“ 516 Während Helmut SchmidtGarre, dem wir diese Zeilen zu verdanken haben, noch lobte, wenn es galt, auf die „Freudsche Symbolik“ zu sprechen zu kommen, die Wielands Darstellung von Tannhäusers (Venusberg) Visionen zu Grunde lag, sahen sich viele Kritiker, allen voran Hans Heinz Stuckenschmidt, gezwungen, dem Wagnerenkel einen „methodischen Irrtum“ 517 vorzuwerfen: „Der Begriff der „romantischen Oper“ ist ad absurdum geführt durch die Mathematik und Uniformität. Das geschieht mit einer Konsequenz ohnegleichen. Nur ein Hochbegabter wie dieser Wagner Enkel kann so radikal daneben treffen.“ 518 Neben Wielands „Liebe zur Geometrie“, die die 50er Jahre prägte (so dass, wie oben angedeutet, Walter E. Schäfer in seiner WielandBiographie über eine „geometrische Periode“ sprechen zu müssen meinte); neben den Bühnenräumen, bei deren Entstehung wohl Paul Klee 519 mit Giorgio de Chirico 520 Pate gestanden hatte, war es eben die „Uniformität“, war es die „geometrisch bedingte“ Entindividualisierung sämtlicher Agierenden, die – in den Gruppenszenen zum Ausdruck kommend (d.h. überall dort, wo es galt, den „Chor eines europäischen Opernhauses“ in denjenigen eines „griechischen Dramas“, die Chordamen und Chorherren in einen „soliden Block von Skulpturen“ umzuwandeln, oder genauer gesagt: umzufunktionieren 521 ) – zu einem Stolperstein zu werden drohte. So glaubte Hans Heinz Stuckenschmidt, dem wir bereits manche Bemerkung zu Siegfried Wagners Bayreuther

515 Vgl. ebenda, S. 241. 516 Bronnemayer 1970, S. 137. 517 Vgl. Mack 1976, S. 33. 518 Wessling 1997, S. 242. 519 Vgl. Spotts 1994, S. 244. 520 Vgl. Wessling 1997, S. 244. 521 Vgl. Spotts 1994, S. 245246.

170 Tannhäuser Inszenierung verdanken, außer Lob auch Tadel aussprechen zu müssen: „Die Inszenierung beginnt mit einer Monstrosität. [...] Auf der großen, rampenförmig fallenden Bühnenfläche erscheint das Corps de ballet, eine Ansammlung von Frauen, die eine kollektive Kniebeugung ausführen. Die Bewegung wird lebhafter, wollüstiger, leidenschaftlicher, wird zur Schaustellung eines erotischen Massenvorgangs, bei dem der Partner fehlt. Nichts gegen Erotik auf der Bühne. Rudolf von Laban hat 1930 in der berühmten Toscaninischen TannhäuserAufführung gewagteste Szenen tanzen lassen [...] . Aber wenn solche Dinge massenhaft und in geometrischer Gleichförmigkeit vorgeführt werden, verlieren sie den künstlerischen Sinn. Man kann die Sexualität nicht mathematisieren. [...] Der Pilgerchor zieht starr, monumental vorüber [...]. In geometrischen Anordnungen, schräg, rechtwinklig und wieder schräg, nehmen die Sänger vor Tannhäuser Stellung. Abermals wechselt die Szenerie. Wir sehen das Gefälle eines Schachbrettfußbodens, auf dem sich romanische Bögen erheben. Seitlich, im rechten Winkel zum Orchester, die Tribünen für die Gäste. Die marschieren auf wie die Riegen eines Turnerfestes: sechzehnmal neun, abwechselnd Männer und Frauen. Zweiundsiebzig Gäste tragen die violette Kardinalsuniform, zweiundsiebzig Gastinnen die gleiche Damentracht. Alles geschieht in voller, starrer Symmetrie, rechts neun, links neun, bis die – so wenig symmetrische – Musik zu Ende ist und die Tribünen besetzt sind.“ 522 Um Wielands Tannhäuser mit den vorhergehenden oder parallelen Wielandschen Inszenierungen in Zusammenhang zu bringen; um dem Wagnerenkel das Streben zu bezeugen, auch dieses Werk (dessen Urfassung die „große romantische Oper“ geheißen hatte) in einem Atemzug mit Parsifal , Tristan oder dem Nibelungenring nennen zu dürfen (zumindest was die InSzene Setzung betrifft), glaubte Stuckenschmidt seine Beschreibung dieses „Kardinalfalls methodischen Irrtums“ 523 mit der Klage abschließen zu müssen, „die Gefahr der Überstilisierung, vor der wir schon nach der RingInszenierung warnten, ist nun ganz akut geworden“ 524 . (Die beklagte Entindividualisierung der agierenden Personen sollte in den 60er Jahren, als Wieland einen neuen „Versuch über Tannhäuser “ unternahm, allerdings wieder aufgegeben werden – ohne die uniforme Kostümierung des Chors fallen zu lassen, gestaltete der Wagnerenkel sämtliche Figuren nicht mehr „soldatisch“ als InReih’undGliedGehende, sondern individuell.525 Trotzdem sollte nicht nur Walter Panofsky „durchaus verwandtschaftliche Beziehungen“ 526 zwischen den beiden Wielandschen Tannhäuser

522 Wessling 1997, S. 243244. 523 Vgl. ebenda, S. 242. 524 Ebenda, S. 244. 525 Vgl. Spotts 1994, S. 252; Mack 1976, S. 33. 526 Vgl. Wessling 1997, S. 248.

171 Kreationen feststellen – zumal das Bühnenbild von Wielands „zweiter“ Bayreuther Tannhäuser Inszenierung (den von Schäfer beschriebenen Weg von der „geometrischen Periode“ zur „Periode der Signale/Symbole“ reflektierend 527 ) aus demjenigen der „ersten“ resultierte. 528 ) Welche Szenen dieser angeblichen „Überstilisierung“ am markantesten zum Opfer gefallen zu sein schienen, liegt auf der Hand: Mochten die schlichten Landschaften des ersten und dritten Aufzugs (die Welt der Venus ausgenommen), mochten all diese „hochstilisierten Tableaus“ 529 (deren Raum und Zeitungebundenheit bereits im Parsifal Gurnemanz’ rätselhaften Worten „Du siehst, mein Sohn, /zum Raum wird hier die Zeit“ 530 Genüge zu tun suchte und die jetzt eine „nüchterne, disziplinierte Welt“ 531 suggerierte) manches Gemüt noch ungerührt lassen – vor allem wenn es galt, mit den prunkvollen Szenerien von Cosimas oder Siegfrieds Produktionen Vergleich anzustellen –, so erwiesen sich die zwei Gegenwelten, d.h. der Venusberg und die Wartburg, als die Problemfälle, an deren InSzeneSetzung etliche Festspielbesucher einschließlich der „erprobtesten“ Kritiker zu stolpern drohten. Was die Darstellung des Sängerkriegs betrifft, war es die bereits erwähnte Symmetrie, die Anstoß erregte. Zugleich sah man sich – in Anbetracht der „Signale“ bzw. „Symbole“, zu denen der Wagnerenkel die Bühnenbilder hatte werden lassen – allerdings gezwungen, zumindest hier Hans Hauptmann Recht zu geben, als dieser (freilich in Bezug auf die gesamte Inszenierung) schrieb: „Der einzelne muß sich mit dieser Inszenierung auseinandersetzen. Er muß sie hinnehmen, indem er seine Erinnerungen als hier nicht anwendbaren Maßstab überwindet und sich der ihm fremden Auslegung und ihrer farbenreichen Bedeutung ergibt. In der Größe des Raumes und der davon ausgehenden monumentalen Bildwirkung muß er die Redaktion des modernen Spielleiters auf das Kunstwerk Richard Wagners erkennen.“ 532 Der Skandal, der hier Tannhäusers Bekenntnis zur Venus zur Folge hatte, ließ jedoch manchen Zuschauer (der sich schon beinahe „in Sicherheit“ glaubte) sich jenen nicht so ohne weiteres zu verkraftenden „Skandal“ ins Gedächtnis rufen, zu dem das eigene Erlebnis des Wielandschen Venusbergs avancierte. Diesen Skandal zu begreifen, setzt u.a. voraus, dem Wagnerenkel den Erfolg zuzuschreiben, aus der wohlbekannt geglaubten „großen romantischen Oper“ doch noch ein Drama von bestehender Aktualität „herausgeschält“ zu haben: „Das Entsetzen der Wartburggäste im zweiten Akt wäre heute nicht mehr glaubhaft,

527 Vgl. Schäfer 1970, S. 27 ff. 528 Vgl. Wessling 1997, S. 247. 529 Vgl. Spotts 1994, S. 244. 530 Parsifal , 1. Aufzug. 531 Vgl. Spotts 1994, S. 245. 532 Bronnemayer 1970, S. 138.

172 wenn es im Venusberg nicht tatsächlich kriminell zuginge. Ist aber das Entsetzen des Publikums identisch mit dem Entsetzen der Gesellschaft auf der Bühne, dann stimmen die Relationen, dann ist der Ablauf des Dramas heute noch so aktuell wie ehedem.“ 533 Zunächst glaubte man die Vorgänge im Venusberg als eine „Monstrosität“ abtun zu können (siehe oben); das Bacchanal, das Wielands Frau Gertrud choreographisch verantwortete (und dem der Wagnerenkel bühnenbildnerisch zum Ausdruck verhalf), ließ noch zu wünschen übrig – aus der Sicht von Wielands Befürwortern ebenso wie aus derjenigen von seinen Kritikern vermochte die „Muschel der Unzucht“ 534 , die der Wagnerenkel in den 50er Jahren kreierte, noch nicht die „Kombination aus Wagner, Place Pigalle und Henry Miller“535 erahnen zu lassen, mit der das „über die Szene ejakulierende Bacchanale“536 in den 60er Jahren gleichgesetzt werden sollte: „Wieland ging vom Bild aus“ , sollte Renate Schostack in ihrer Gertrud WagnerBiographie schreiben (deren Verlässlichkeit in Bezug auf die Rolle der WielandFrau allerdings nicht unumstritten blieb – siehe Bartels 2000, S. 123). „Er sah die Muschel, Symbol des weiblichen Genitals, das zu abstrahieren war, die Farbe kein Rot, sondern ein mystisches Dunkelblau, die Formen geometrische Windungen. Von „Ellipsenbögen“ sprach später die Kritik. Die sexuelle Ekstase setzte Gertrud in minimalistische Bewegungen um. Sie wollte „kein Herumgerenne“, sondern einen rhythmischen Fluß von Frauenleibern, die in ihren fleischfarbenen Trikots nackt wirkten. Aus den Windungen der Muschel sollte sich wie aus einem Strudel ein zweigeteilter Strom von Bacchantinnen ergießen, die eine entfesselte Sexualorgie feierten. Manche Kritiker fühlten sich an eine Walpurgisnacht erinnert. Daran hatte Gertrud nicht gedacht. Sie sprach von einem „Coitus interruptus“, der in der Musik vorgegeben sei.“ 537 Allerdings blieb erst Wielands „zweiter“ Bayreuther Tannhäuser Inszenierung (d.h. der umgearbeiteten Wiederaufnahme des TannhäuserDramas aus den 60er Jahren), wo der Venusberg statt an eine „Muschel“ eher an eine „von Gonorrhöe zerfressene Klitoris“ 538 erinnern sollte, vorbehalten, Wielands Publikum an jenen Satz denken zu lassen, mit dem sich Otto Klemperer seinerzeit an Siegfried Wagner gewandt hatte: „Bitte, Herr Wagner, ent setzen Sie sich.“ 539 Hatte sich früher (nicht nur) Walter Bronnemayer noch gezwungen gesehen, die Leistung Gertrud Wagners als einen „schwachen Punkt in dieser

533 Ebenda, S. 171. 534 Vgl. Wessling 1997, S. 246. 535 Vgl. ebenda, S. 248. 536 Vgl. ebenda, S. 248. 537 Schostack 1998, S. 313. 538 Vgl. Wessling 1997, S. 248. 539 Heyworth 1988, S. 318.

173 zukunftweisenden Inszenierung“ 540 zu bezeichnen, glaubte er jetzt der Kreation Maurice Bejarts nur Anerkennung entgegenbringen zu müssen: „Die VenusbergSzene, wie sie Maurice Bejart mit seiner Truppe gestaltet hatte, deckte sich mit Wielands Intentionen. Die Bühne war in dämmrigfahles Licht getaucht, während im Hintergrund ein traubenähnlich herabhängendes Gebilde Rätsel aufgab: ein Zellensystem oder abstrahiertes Götzenbild? Zwischen der statuarischen Venus und Tannhäuser war ein riesenhafter Abstand gewahrt, so daß sich das Auge des Betrachters voll auf das höllische Treiben konzentrieren konnte. In entfesselter Nacktheit entfachte Bejart einen sexuellen Taumel, einen infernalischen Tanz ums Goldene Kalb. Mit brünstigen Schreien stürzten Bacchanten und Bacchantinnen auf die Bühne und exerzierten in mythischer Orgie den Zeugungsvorgang. Die Erregung wurde noch gesteigert, als am Höhepunkt der Ekstase sich eine riesige Glocke oder Muschel, angefüllt von Menschenleibern, herabsenkte, in deren Maschen sich wiederum die Paare fanden. Dieser Massengeschlechtsakt wirkte aber auf die Dauer ernüchternd, gewiß nicht ohne Absicht, denn jetzt begriff man Tannhäusers Sehnsucht nach der Welt draußen, nach Licht und frischem Grün.“ 541 Um dem Vergleich mit „Place Pigalle“542 , d.h. jenem „paradis artificiel“, wo der Tannhäuser Dichter einst die Inspiration, seine deutschnationalen Beschwörer dagegen die Bestätigung ihrer antifranzösischen, „antizivilisatorischen“ Einstellung gesucht hatten; um einem solchen Vergleich gerecht zu werden, brachte Wieland schließlich eine schwarze Diva auf die Bühne, die – ganz Josephine Baker – in diesem „Garten der Lüste“ 543 für Auf und Erregung sorgte. Neben den Deutschnationalen, die sich im Festspielpublikum immer noch bemerkbar zu machen suchten (und deren Einstellung zu Grace Bumbry, der Venus Darstellerin, diejenige zu Josephine Baker war), machte auch mancher andere „Wagnerianer“ aus seinem Unverständnis keinen Hehl – nicht zuletzt der „altbewährte“ Ferdinand de Liocourt: „Venus, die Göttin der Schönheit, wird im Tannhäuser durch eine Negerin, Grace Bumbry, dargestellt. Es kann möglich sein, daß sie dem ausgesprochenen Geschmack der ChamRasse entspricht, wie man ihn in Zentralafrika versteht. Obwohl sie eine sehr schöne Stimme besitzt und man ihr ein goldgetöntes Makeup gemacht hat, kann sie nicht das europäische Schönheitsideal darstellen, welches wir seit den bewundernswerten Leistungen der griechischen Antike gewohnt sind.“ 544

540 Vgl. Bronnemayer 1970, S. 137. 541 Ebenda, S. 171. 542 Vgl. Spotts 1994, S. 252. 543 Vgl. Mack 1976, S. 33. 544 Liocourt 1967, S. 73.

174 Ohne über „Entwürdigung“ 545 , ohne über „schockierende Geschmacksverirrungen“ 546 zu sprechen, vermochte auch Marcel ReichRanicki für dieses „formal virtuose paradis artificiel“, für dieses „Höllenbild, aus dem die Lust vertrieben ist“ (unter dem nach Bejart wiederum Gertrud Wagner und später Birgitt Culberg unterzeichnet waren) keinerlei Verständnis aufzubringen: „Ekstase im Orchester, Askese auf der Bühne. Wenn jedoch der Venusberg nicht anziehend und verführerisch, sondern abstoßend ist und wenn es sich herausstellt, daß Venus und Elisabeth nicht ausgesprochene Kontrastgestalten und ihre Welten keine augenscheinlich zueinander kontrastierenden sind – dann verliert die Geschichte vom Ritter Tannhäuser, der sündigt und schließlich doch erlöst wird, ihren fundamentalen Sinn.“ 547 Ohne den Beifall leugnen zu wollen, den das Festspielpublikum dem Wagnerenkel und dessen Tannhäuser Inszenierung(en) schließlich doch noch klatschen sollte (insbesondere in den späteren Jahren, als Wielands (Neu) Deutung des Wagnerschen Werks beinahe als „klassisch“, auf jeden Fall als nicht mehr „schockierend“ anerkannt werden sollte 548 ), sah sich Hans Heinz Stuckenschmidt dennoch gezwungen, in Anbetracht all der vorgebrachten Kritik (die nie gänzlich verstummen sollte) den Erfolg dieser Inszenierung(en) zu relativieren: „Ein mächtiger Erfolg. Und dennoch kein Glückstag für Bayreuth. Denn er hat den Gegnern der Erneuerungstendenz, den Verteidigern des Bartes und der Illusionsbühne die Waffen geschärft. Schade.“ 549 Letzten Endes zeigte sich auch Wieland selbst unzufrieden, wenn es galt, aus seinen Versuchen, den Tannhäuser von allen Klischees zu befreien, die ihm seit Jahrzehnten anhafteten, ein Fazit zu ziehen. Hans Mayer sollte – die Reihe der Bayreuther Tannhäuser Produktionen vor Augen – resümieren: „Mit Richard Wagners „Großer Romantischer Oper“ hatte Siegfried Wagner im Jahre 1930 seine Bayreuther Theaterarbeit gleichzeitig gekrönt und beendet. Der Sohn Wieland unternahm zwei Versuche, die ihn selbst nicht befriedigten. Wolfgang Wagner kam zur Entscheidung, dies in der Realisierung vielleicht schwierigste Werk des Bayreuther Meisters einem Spielleiter anzuvertrauen, dem die Bayreuther Tradition so fernzustehen schien wie nur denkbar.“ 550 Wenden wir uns daher im nächsten (und letzten) Kapitel der vorliegenden Arbeit jenem „Spielleiter“ zu, „dem die Bayreuther Tradition so fernzustehen schien wie nur denkbar“; wenden wir uns Götz Friedrich zu, dessen Lesart (nicht nur) des Tannhäuser diejenigen krönen sollte, die den oben behandelten Produktionen zu Grunde lagen.

545 Vgl. Spotts 1994, S. 252. 546 Vgl. Liocourt 1967, S. 73. 547 Mack 1976, S. 33. 548 Vgl. Bronnemayer 1970, S. 138. 549 Wessling 1997, S. 246. 550 Mayer 1978, S. 406.

175 „Treue und Wandel, das Bewahrende und das Fortschreitende sind die Pole alles Lebendigen. In weisem Verstande Tugenden, müssen sie, über sich selbst hinausgesteigert, zwangsläufig zur Erstarrung oder zur Auflösung führen. Ihr Bestand ist unerläßlich; nur das Maß ihrer Wirksamkeit entscheidet über Untergang oder Weiterentwicklung“ 551 , ließ Wieland die Bayreuther Besucherschaft bereits 1951 wissen. Um all das Vorstehende zusammenzufassen, können wir wohl sagen, dass er, mit der „Erneuerung“ des Bayreuther Inszenierungsstils „beauftragt“, mit einer auf dem „Grünen Hügel“ bis dahin kaum gesehenen Genauigkeit jenes Maß zu treffen wusste, das den Status des Optimalen für sich in Anspruch nehmen durfte: Was der Wagnerenkel auf die Festspielhausbühne brachte, glich einem Umsturz (so dass er nicht umsonst ein „Theaterumstürzler“ genannt wurde und werden sollte), einer „Wiedergeburt“ des Bayreuther Inszenierungsstils aus dem tiefsten Verständnis der Problematik von (Werk) „Treue“ und „Wandel“ – hatte noch Siegfried Wagner, Wielands Vater also, Fehlings Holländer Inszenierung an der Krolloper „zum Piepen“ gefunden; hatte sich noch Winifred Wagner, d.h. Wielands Mutter und unmittelbare Vorgängerin an der Festspielspitze, nicht in der Lage gesehen, trotz Roller, trotz Tietjen und Preetorius über den Schatten des „Altbayreuth“ zu springen; hatte sich noch der „junge“ Wieland selbst, nämlich derjenige des Parsifal von 19371938 sowie derjenige der Meistersinger von 19431944, der „Treue“ verpflichtet gefühlt, so wagte der „reife“ Wieland, der Wieland des „Neubayreuth“, einen „Wandel“, dem er allerdings stets Schranken gesetzt wusste ( „Richard Wagners Werk in seiner innersten Fassung duldet keinerlei Wechsel. Wie jedes elementare Kunstwerk ruht es unangreifbar und wertbeständig in sich selbst. Es wird vielleicht einmal nur noch eine großartige Erinnerung sein, niemals jedoch umgedeutet oder umgegossen werden können. Das hat es mit der Ilias, der Göttlichen Komödie, den Dramen Shakespeares gemein. Aber dieses „einmal“ liegt noch in weiter Ferne. Bis dahin wird es noch unzählige Male wiedergeboren, d. h. in der Art aller Kunstwerke „in der Zeit“ aufgeführt und neu gestaltet werden. Diese Neugestaltung – und nur sie – unterliegt dem Wandel. Ihm ausweichen zu wollen, hieße die Tugend der Treue zum Laster der Erstarrung machen. Eine solche Erstarrung aber würde es töten. Wer ihr das Wort redet, wird zum Totengräber am Werk.“ 552 ) Um sich des „Lasters der Erstarrung“ nicht schuldig zu machen, entriss der Wagnerenkel Wagners Werk planmäßig jeglicher Konvention, brach mit sämtlichen überlieferten Regiegewohnheiten, brach – nicht zuletzt – mit Wagners eigenen Regie und Bühnenanweisungen. Tannhäuser , für dessen bisher letzte Bayreuther Inszenierung Siegfried

551 Mack 1984, S. 178. 552 Ebenda, S. 178.

176 Wagner verantwortlich gezeichnet hatte, konnte unmöglich beiseite gelassen werden – zuerst um die Mitte der 50er, dann im Laufe der 60er Jahre nahm Wieland auch diese „Oper“ (buchstäblich) in Angriff, um ihr die Gestalt eines Dramas zu geben, das er als Drama, als „Tragödie des Mannes im christlichen Zeitalter überhaupt“ interpretierte. Ohne mit dem Ergebnis je wirklich zufrieden zu sein, brachte er – mit Hilfe von starken (Bühnen) Bildern ebenso wie mit Hilfe von provokantester Choreographie eines Maurice Bejart – eine Geschichte auf die Bühne, deren Aussagekraft recht verblüffend erschien. Die Grenze zwischen einem Meilen und einem Stolperstein schien dabei allerdings gefährlich nahe zu liegen – nicht wenige sollten glauben, den „entrümpelten“ Tannhäuser Wielands interpretatorischinszenatorischen Ausrutscher nennen zu müssen; im Unterschied zu Fehlings Berliner Tannhäuser Inszenierung, der bis zur bitteren Absetzung lediglich vier (größtenteils ausgebuhte) Aufführungen beschieden gewesen waren, blieb derjenigen des Wagnerenkels – allen Zweiflern zum Trotz – dennoch vorbehalten, sich schließlich doch noch mit dem Beinamen des „klassischen“ schmücken zu dürfen. Götz Friedrich, 1972 auf dem „Grünen Hügel“ angekommen, um den Wielandschen Tannhäuser mit einem Friedrichschen zu ersetzen, sollte keine zu beneidende Ausgangsposition haben.

177 Viertes Kapitel Götz Friedrich – ein „Ostdeutscher“ gegen die Wohlstandsgesellschaft

I. Die „westdeutsche“ Gesellschaft nach Adenauer

Um die Frage zu beantworten, ob die Tannhäuser Inszenatoren Jürgen Fehling und Wieland Wagner auch persönlich mit Wagners „kühnem Sänger“ verglichen werden konnten, stellten wir uns oben die Frage, ob die Welt, von der sie umgeben waren, ob die Menschen und Institutionen, mit denen sie zu tun hatten, zumindest partiell mit jenen Menschen und Institutionen gleichgesetzt werden konnten, die unter den Wienerischen Bildmetaphern „Wartburg“ und „Venusberg“ zu verstehen sind. Wie gesagt, war es eine sehr deutsche und sehr provinzielle Welt, die der Tannhäuser Dichter hinter Wartburgs Mauern sich entfalten ließ; wie oben erwähnt, lieferten Paris, Frankreich, bzw. der „Westen“ schlechthin dem deutschen Dichterkomponisten das Vorbild für dessen Hörselberg, der – obwohl unweit der Wartburg, d.h. mitten in Deutschland liegend 553 – all das zum Ausdruck bringt, was der „deutschen“ WartburgWelt widerspricht. Weder dem Lübecker Regisseur noch dem Wagnerenkel blieb erspart, die beiden Welten kennen zu lernen. Mochte die Realität, deren Teil sie waren, die Weimarer oder die (frühe) Bonner Republik heißen, machte sie glauben, sowohl der Wagnerschen Wartburg als auch Wagners Venusberg, sowohl dem „Abendland“ (der „Kultur“) als auch dem „Westen“ (d.h. der „Zivilisation“) Gesicht(er) gegeben zu haben – neuzeitige TannhäuserDramen sollten unter diesen Umständen nicht unterbleiben. Vor Götz Friedrich, der 1972 den „Grünen Hügel“ zum ersten Mal betrat, schien sich dagegen eine viel übersichtlichere Welt zu erstrecken. Vor dem damals „NochDDRStaatsbürger“ Friedrich lag ein (West) Deutschland, das vom „Westen“ kaum mehr wegzudenken war, keine „weiße Enklave“ auf den NATO und EWGKarten (wie es z.B. bei der neutralen Schweiz der Fall war 554 ), sondern ein integraler Bestandteil der „westlichen“, sprich transatlantischen Welt, einer Welt, die bar aller „Wartburgen“ anmutete. Dem Ostberliner war dennoch vorbehalten, durch seine Tannhäuser Inszenierung (auch) mit jener Gesellschaft konfrontiert zu werden, die er im zweiten Tannhäuser Aufzug auf die Festspielhausbühne brachte – der „Westen“ warf immer noch („Wartburg“) Schatten, die an Fehlings und Wielands Erfahrungen erinnerten. Um sich über diesen „Westen“ ein Bild zu machen, lohnt

553 Vgl. Wagner 1999, S. 4445. 554 Vgl. Frisch (Bd.5) 1976, S.378.

178 es, sich Tannhäusers RomErzählung ins Gedächtnis zu rufen. Spricht Wagners Tannhäuser lediglich über Rom und „Italiens holde Auen“, fasst sich der Heinesche Tannhäuser nicht so kurz, wenn er seine Rückreise von Rom in den Venusberg schildert. Von Frau Venus nach dem Begegneten gefragt, erzählt er von Rom, von Italien, der Schweiz und – recht ausführlich – von Deutschland, erzählt also von einem beträchtlichen Teil der „westlichen“ Welt (zumal man Paris, das eigentliche Vorbild des Wagnerschen Venusbergs in Betracht zieht; zumal man Frankreich in Betracht zieht, dessen Haupt die Stadt an der Seine ist). Fragen wir daher, was wohl Heines Tannhäuser der Venus berichtet hätte, mit was für einer Welt er Bekanntschaft gemacht hätte, wäre er zur Zeit von Friedrichs skandalösem BayreuthDebüt nach Rom gepilgert. Beginnen wir in Frankreich, von dem bei Heine nicht die Rede ist, das wir allerdings in Anbetracht dessen Bedeutung für die vorliegende Analyse nicht außer Acht lassen dürfen. Fragen wir, ob dieses (immer noch „klischeeumwobene“) Land, ob die Metropole an der Seine immer noch glauben machte, das Vorbild von Wagners Venusberg Visionen zu Recht gewesen zu sein. Wie angedeutet, war Frankreichs Bild jenseits des Rheins noch in Friedrichs Zeit nicht frei von Klischees. Zwar meinte Jean Améry, in den „gestanzten Vorstellungen eine gewisse Wandlung“ erkannt zu haben, doch einige der althergebrachten „Legenden“ sah er nach wie vor präsent: „Frankreich ist für den Deutschen nicht ausschließlich das Land, wo man in den FoliesBergéres befederte Damenhinterteile angenehm wippen sieht. Der Franzose ist kein spitzbärtiger „Lebemann“ wie einst. Die Französin nicht, wie vordem, ein auf alle Fälle leichtes Frauenzimmer in schwarzer Reizwäsche. Hingegen erhält sich gegen alle Evidenzen hartnäckig die stupide Vorstellung, daß Frankreich schmutzig sei (über den realen Dreck in Irland zu schreiben wäre schlechter Ton!); daß es romantischchaotisch zuginge, daß Frankreich industriell veraltet sei, wissenschaftlich nicht auf der Höhe, allenfalls literarisch interessant. Man weiß von der Concorde und der (in meinen Augen nicht eben der französischen Nation zur Ehre gereichenden) hochmodernen Waffenindustrie. Man fährt seinen Renault oder Peugeot. Man hörte von französischen Nobelpreisträgern wie Jacques Monod, André Lwoff, Alfred Kastler. Aber nichts da! Man will Frankreich so, wie eine längst durch die Realität außer Kraft gesetzte Tradition es dem deutschen Zeitgenossen übergab.“555 Mochte (nicht nur) Améry das überlieferte Frankreich (und Paris) Bild „durch die Realität außer Kraft gesetzt“ wissen; mochte Wolfgang Koeppen bereits vor Améry beteuern, selbst an der Seine eine „Sauberkeit“ (um nicht zu sagen: „Biederkeit“) gefunden zu haben, die mit

555 Améry 2005, S. 239240.

179 derjenigen jenseits des Rheins hätte verglichen werden können; mochte Hans E. Nossack noch vor Koeppen erleben, dass die „ordnende, gebietende sowie verbietende Macht“ an der Seine ebenso hart, ebenso wenig „romantischchaotisch“ wie am Rhein zu schaffen und zu walten verstand („Was für ein komisches Erlebnis hatten wir am letzten Nachmittag mit einem Nordalgerier, den wir auf dem Bod. Clichy aufpickten, damit er uns die Straße zur Sacré Coeur hinauflotste. Er wurde gleich oben von einem Polizisten verhaftet, der uns noch väterliche Vorhaltungen machte, weil wir uns mit so einem Kerl abgegeben hatten. Wahrscheinlich war er ein „Schlepper“ oder dergleichen. Er hatte ein Glas mit einem armseligen Goldfisch in der Hand, weiß der Himmel, an wen er das verkaufen wollte [...] . Kurz, es gibt also auch in Paris Dinge, die der Polizei mißfallen.“556 ), zeigten sich nicht wenige nach wie vor überzeugt, von der Seine den alten Sirenengesang zu hören. So auch Max Frisch, der Paris mit einer „frühen Geliebten“ verglich, die sich nie „mit Barbaren eingelassen“ hatte (und der glaubte, an der Seine eine „Stadt mit jungen Gesichtern“ gefunden zu haben, „die müde ist von Erinnerung an ihre Größe“ 557 ). So auch Martin Walser, der mit Frankreich und Paris wenn nicht Venusberg und Sündenbabel, so doch wenigstens Kuchen und Champagner, sogar Glück verbinden sollte: „Wenn ich [...] an Frankreich denke, denke ich an eine glückliche Familie. Am Sonntag. Mit Kuchen und Champagner. Alles ist gutgegangen. Man ist noch unter einem Dach, und das Dach ist dicht und glänzt in der Sonne blau und weiß und rot. Die Jahrhunderte haben dem Hause Frankreich nichts anhaben können. Wie leicht ist der Ton in der großen Nachbarfamilie drüben. Erstaunlich, wieviel jeder sagen kann. Offenbar ist die Sprache so ausgebildet, daß sie schon selber spricht. Jedem steht ihre Präzision zur Verfügung. Kurzum: beneidenswertes Frankreich.“ 558 (Kuchen und Champagner – wäre Walser Heines Tannhäuser in den Venusberg gefolgt, so hätte er diese seine Assoziation kaum zu korrigieren brauchen: „Der Ritter legte sich ins Bett,/ Er hat kein Wort gesprochen./ Frau Venus in die Küche ging,/ Um ihm eine Suppe zu kochen.“ , hatte Heine seinerzeit gedichtet. 559 ) Sollte nicht nur Martin Walser Frankreich beneidenswert, sollte nicht nur er dieses Land glücklich, glücklicher als (West) Deutschland nennen, sah sich Jean Améry mehrmals gezwungen, seiner Enttäuschung über die Vorgänge an der Seine Luft zu machen. Nachdem das von General de Gaulle dirigierte „historische Kostümstück“ (um Günter Grass zu

556 Nossack 2001, S. 572573. 557 Frisch (Bd. 6) 1976, S. 118119. 558 Walser 1997, S. 235. 559 Wagner 1979, S. 103.

180 zitieren 560 ) seinen Lauf genommen hatte; nachdem man in Paris den Beschluss gefasst hatte, an dem von Erhards Bonner Regierung erklärten „heiligen Krieg“ gegen die Beatniks, gegen die „langhaarigen Individuen“ (um von der Amtssprache des französischen Innenministeriums Gebrauch zu machen) teilzunehmen (wobei dieser, wie Améry es formulierte, „heilige Krieg“ beiderseits des Rheins in bester „WartburgManier“ geführt wurde – gilt es nämlich als unumstritten, dass einer der Gründe, warum Tannhäuser auf der Wartburg so unbarmherzig behandelt wird, das schlechte Gewissen von Wartburgs Gemeinschaft ist, die sich größtenteils allzu gern der Macht von Frau Venus hingegeben hätte – hätte sie dazu den notwendigen Mut gefasst –, witterte Améry, als er nach dem Grund für das harte Vorgehen der deutschen und französischen Staatsmacht gegen die langhaarigen Außenseiter fragte, ebenfalls viel schlechtes Gewissen im Spiel: „Die Beatniks und Gammler [...] sind das fleischgewordene schlechte Gewissen einer Gesellschaft, der nicht ganz wohl ist in ihrem Fett. Ein deutscher Publizist hat kürzlich in einem von der Wochenschrift „Die Zeit“ veröffentlichten Aufsatz die BeatnikGesellschaft als eine „Gesellschaft ohne Statussymbole“ bezeichnet. Hinzuzufügen wäre noch: es ist eine Gesellschaft ohne Produktionsziffern, ohne KarriereIntrigen, ohne Profitbesessenheit, ohne den Seitenblick auf „das, was einer vorstellt“ (Schopenhauer). [...] Wollte man es hegelianischmarxistisch formulieren, könnte man von der brüderlichen BeatnikSozietät auch als einer „Welt ohne Entfremdung“ sprechen. Es wird ihnen das alles nicht verziehen von jenen, die gerne auch mal aufbrechen möchten aus dem Gefängnis der Status, Profit und Produktivitätsanforderungen, aber das Risiko nicht eingehen wollen. Die Hexenjagd auf die harmlosen Außenseiter wird am wildesten von denjenigen betrieben, denen in ihrer Haut am wenigsten wohl ist. [...] Kein Wunder, daß der straff und stramm (faktisch oder im übertragenen Sinne) Uniformierte sich rächt an dem Mitmenschen, der zwei verschiedenfarbige Socken trägt.“ 561 ); nachdem das Jahr 1968 zu einem „Trauma mit Sog“ 562 geworden war, glaubte Améry die langen „WartburgSchatten“ selbst an der Seine erkannt zu haben – wenn es galt, Deutschlands Kriegsschuld zu relativieren, meinte er die „besten Verbündeten“ der lautstärksten „WirsindwiederwerIdeologen“ gerade in Frankreich gefunden zu haben: „In diesem Lande, wo schon dem Präsidenten Pompidou die Résistance ein Ärgernis war – „La résistance m´agace“, sagte dieser Mann – und wo ohne Zweifel demnächst der sinistre Pétain sein Ehrengrab in Verdun haben wird, ist man „geschichtlicher Objektivität“ wegen und weil bekanntlich Veteranen etwas notorisch Lächerliches sind,

560 Vgl. Grass 2007, S. 641. 561 Améry 2005, S. 267268. 562 Vgl. Grass 2007, S. 642.

181 inständig bemüht, dem mächtigen Nachbarn im Osten zu versichern, daß man nicht nachträgerisch sei, vielmehr gesonnen, vor der eigenen Tür so viel Staub aufzuwirbeln, daß kein Auge mehr die Sachverhalte von damals auszunehmen vermag“ , schrieb Améry 1976 (als die „teutschgesinnten“ „Wagnerianer“ gegen die Bayreuther, vom französischen Team ChéreauBoulez betreute Nibelungenring Inszenierung Sturm liefen und der Hass gegen die Franzosen wieder einmal Schlagzeilen machte: „Seit dem „Ring“ des Jahres 1976 in Bayreuth habe ich Frankreichs Nation und die Franzosen wieder abgrundtief hassen gelernt.“ 563 ). „Hierbei verliert diese Nation, die Ernst Jünger zu feiern nicht müde wird, während sie Heinrich Mann souverän ignoriert, alle politischmoralischen, alle ästhetischen Maßstäbe. Man wählt in Frankreich, trotz belgischer Proteste, den in Brüssel in contumaciam zu Kerkerstrafe verurteilten CollaborateurAutor Félicien Marceau in die Académie Francaise. Dank des feierlichöden und im Masurensumpf des eigenen grundfalschen Lyrismus erstickenden Romans „Der Erlkönig“ wurde der Germanist Michel Tournier zum quasioffiziellen Interpreten der Deutschheit in Frankreich. [...] Ungefähr zur selben Zeit machte man sich an die Säuberung daheim. Der zwar an den Grenzen des Genialischen sich bewegende, sie aber ständig in den Bereich des Wahnsinns hin überschreitende Ferdinand Céline mit seinem paranoiden Wortsalat wurde wiederentdeckt und in seine Rechte eingesetzt. Von seinem buchstäblich zum GeneralPogrom auffordernden Buch „Bagatelle pour un massacre“ spricht man nicht mehr, aus Taktgründen. Der Blut und Bodendichter Jean Giono, ein zweideutiger „Pazifist“ und entschiedener Befürworter des Münchener Abkommens, wurde und wird gehätschelt, so herzlich, daß allen Ernstes eine „Gesellschaft der Freunde Gionos“ Anstrengungen macht, sein Haus in der Provence unter Denkmalschutz stellen zu lassen.“ 564 (Um der Fairneß willen muss man jedoch hinzufügen, dass es nicht nur diese „besten Freunde“ waren, die Frankreichs Bild mit prägten: Gerade in Frankreich wurde das „Komitee gegen eine deutsche Vormachtstellung in Europa“ begründet, dem ausgerechnet Améry – wie oben belegt kein Verharmloser der politischgesellschaftlichideologischen Lage jenseits sowie diesseits des Rheins – den Vorwurf machen musste, in der Gefangenschaft von Einbildungen zu leben, die nicht minder als das Vorstehende verfehlt waren. 565 ) Trotzdem: Man wollte, um auf Amérys Worte zurückzukommen, Frankreich so, „wie eine längst durch die Realität außer Kraft gesetzte Tradition es dem deutschen Zeitgenossen übergab“. Nicht nur Frankreichs, sondern auch Italiens Bild war jedoch nördlich der Alpen

563 Ellwanger 1983, S. 40. 564 Améry 2005, S. 9394. 565 Vgl. ebenda, S. 237238.

182 mit Klischees und „Legenden“ belastet, die es nun mehr denn je zu widerlegen galt. Der Heinesche Tannhäuser hatte Frau Venus berichtet, in Rom Geschäfte gehabt zu haben 566 , dagegen meinte die Münsteranerin Gisela C., die in der Toskana Zurückgezogenheit suchte, sich gerade in Italien von jenen „geordneten deutschen Verhältnissen“ befreien zu können, die sie – auf den gesamten „Norden“ bezogen – mit dem „Terror des Geldes“, „Terror der Technik“, „Terror der Disziplin“ gleichgesetzt „wusste“: „Hier ist das Leben einfacher, natürlicher, menschlicher. Nicht so anonym, nicht so kalt – und das ist durchaus nicht nur eine Frage des Klimas. Ich kümmere mich um den Garten, ich treffe auf der Piazza die Leute aus dem Dorf… Ich bin einfach glücklicher hier.“ 567 , schrieb sie an Hans M. Enzensberger, wohl um ihn in dessen Überzeugung zu erhärten: „[...] die ahnungslosen Ausländer! Solange ihnen nicht die Handtasche vom Leib gerissen und das Auto aufgebrochen wird, sind sie begeistert.“ 568 . Hatte bereits Wolfgang Koeppen angesichts der TouristenGruppen (um nicht zu sagen: Truppen), unter deren Einmarsch er in Rom – ebenso wie in Paris – alles Historische zum Musealen, allen Ruhm zur billigen Popularität hatte verkommen sehen, über ein „Babel nach dem Einsturz des Turmes der Hoffnungen“ gesprochen ( „Das Colosseum leidet unter seinem Ruhm. Es wurde zu oft gemalt, zu viel photographiert, um noch Erwartungen zu wecken. Vielleicht ist es auch zu unwirklich, um ganz begriffen zu werden. Alte Maler, die holländischen Primitiven, spürten noch das Unheimliche, das hier vermauert wurde, und nahmen den Bau voll frommer Scheu als Modell für ihre Darstellung des Turms zu Babel. Heute verrichtet fast jedermann seine Notdurft an diesem Ort. Ein Priester erläutert einer geistlichen Reisegesellschaft die Leiden der Märtyrer. Japaner knipsen das Kreuz in der Arena. Deutsche, amerikanische, skandinavische, englische, holländische, französische Reisegruppen mit ihren durch Megaphone schreienden Sehenswürdigkeitserklärern, die russischen und chinesischen Gäste des kommunistischen Parteitages, schwarze Soldaten vom Mississippi aus ihrer Münchener Garnison gekommen, ein Babel, ein Babel nach dem Einsturz des Turmes der Hoffnungen.“569 ), sprach Enzensberger, den Brief von Gisela C. noch vor Augen, unverhohlen über eine „MilliardenIndustrie“, über das Geschäft, das von der ItalienSehnsucht kaum mehr wegzudenken war. Mochte man sich auch einbilden, am Mittelmeer eine Zuflucht vor der „Habgier des Nordens“ gefunden zu haben; mochte man von Arkadien träumen, dessen Wärme – um Gisela C. zu paraphrasieren – „durchaus nicht nur eine Frage des Klimas“ war, zeigte sich Enzensberger über das Geschäft im Klaren, das

566 Vgl. Wagner 1979, S. 103. 567 Enzensberger 1988, S. 106. 568 Ebenda, S. 106. 569 Koeppen 1986, S. 246.

183 bereits Heines Tannhäuser angesprochen hatte: „Die große Liebe zu Italien hat sich im empfindsamen Gemüt einzelner Besucher um die Mitte des 18. Jahrhunderts entzündet. Seither ist sie zur Geschäftsgrundlage einer MilliardenIndustrie geworden. Unerwidert war sie von Anfang an. Kein Italiener käme auf die Idee, freiwillig, ohne zwingenden praktischen Grund, nach Münster in Westfalen oder nach Trelleborg oder nach Hoek van Holland zu ziehen… [...] Du beschwerst dich (adressiert an Gisela C. – Anm. M.U.) über den Reichtum und die Habgier des Nordens – aber wehe, wenn der monatliche Scheck ausbliebe, der aus der Kälte kommt, und wenn du dir dein Brot in Poggibonsi verdienen müßtest! Die Leute aus der Gegend meinen es gut mit dir, solange du zahlen kannst. Sie tolerieren dich, so wie das ganze Land die permanente Invasion aus dem Norden hinnimmt, und ich bewundere ihre Geduld. [...] “570 (Was die Gründe für diese „permanente Invasion“ betrifft, stellte sich Enzensberger als bestens beraten heraus – zumal er selbst nicht unbeteiligt da stand: „Übrigens verstehe ich dich nur allzu gut, denn ich teile deine hartnäckige Liebe zu Italien“ , schrieb er an Gisela C. „Wir kommen ohne diesen Zufluchtsort nicht aus. Er ist unsere LieblingsProjektion, unser Freilichtkino, unser AllerweltsArkadien. Hier können wir, heute wie vor zweihundert Jahren, unsere Defekte kompensieren, hier haben wir Illusionen, hier stochern wir in den Trümmern einer alten, halbvergessenen Utopie herum.“ 571 ) Hinsichtlich der politischgesellschaftlichen Lage Italiens zeigte sich Enzensberger ebenso im Klaren, als er dieses „AllerweltsArkadien“ in einem Atemzug mit Frankreich und (West) Deutschland, sogar mit Nordeuropa, kurzum mit der übrigen „westlichen“ Welt nannte. 572 Hätte er dabei noch die Schweiz genannt, so hätte er ebenfalls nicht falsch gelegen. Lügende, allerdings gut zu vermarktende Legenden prägten nämlich nicht nur das Frankreich oder das ItalienBild. „Sagenumwoben“ stand auch die Schweiz da – war von der „unbewältigten Vergangenheit“, von „Überfremdungsängsten“, von „Ruhe und Ordnung“ die Rede, war (für manchen Europäer) nicht unbedingt von der Eidgenossenschaft die Rede. Das „Welschland“ über Florenz und Mailand verlassen und die Schweiz „hinaufgeklomen“, hatte Tannhäuser – auf dem Sankt Gotthard stehend – seinerzeit nur Deutschlands Schnarchen gehört. Wäre er jedoch in der von uns zu behandelnden Zeit durch die Schweiz gezogen, hätte er neben diesem Schnarchen auch jenes Klagen gehört, dem er in Heines Ballade erst in Weimar begegnen sollte: „Zu Weimar, dem Musenwitwensitz,

570 Enzensberger 1988, S. 107. 571 Ebenda, S. 107. 572 Vgl. ebenda, S. 108109.

184 Da hört ich viel Klagen erheben, Man weinte und jammerte: Goethe sei tot, Und Eckermann sei noch am Leben!“ 573 Nun war es Max Frisch, der Klagen erhob. Die Themen der „unbewältigten Vergangenheit“ der Schweizer 574 oder einer nicht unvoreingenommenen Behandlung der AsylSuchenden (je nach der politischen Einstellung der Flüchtlinge) von seiten der schweizerischen Behörden 575 nicht scheuend, die Vorwürfe und Schmähungen seitens der eigenen Mitbürger in Kauf nehmend ( „Sind Sie denn überhaupt ein Schweizer?“ bzw. „Sauhund! Sie sind ein verreckter Sauhund! Mit Ihrem Schwanz soll man beim Globus die Möwen füttern! Sie ekelhafter Idiot, aber Ihre Hütte wird bald in Flammen stehen! Sauhund!“ 576 ), sprach er, nachdem ihm nach Emil Staigers vielbeachteter Züricher Rede endgültig der Kragen geplatzt war, über die „Sprache Eckermanns“, die nicht zuletzt in der Eidgenossenschaft auf manches offene Ohr gestoßen war: „Morgenfeier im Schauspielhaus, es spricht der Gefeierte (nämlich Emil Staiger – Anm. M.U.) – ein Bekenntnis, das mit Ehrfurcht angehört wird, dann mit Beifall bestätigt. Endlich darf man es wieder sagen, daß es eine entartete Literatur gibt. Welche Schriftsteller gemeint sind, wird nicht gesagt; der Germanist von Zürich, würdevoll im Bewußtsein seines Mutes und nicht unbesonnen, sondern gediegenentschlossen, heute und hier einmal die schlichte Wahrheit zu sagen in der Sprache Eckermanns, fragt sich: In welchen Kreisen verkehren sie? Die Schriftsteller nämlich…“ 577 Mochte sich der Wahl Schweizer Wolfgang Hildesheimer von dem internationalen, nicht „mehrsprachigen“, sondern „vielsprachigen“ (um von Hildesheimers eigener Terminologie Gebrauch zu machen) Flair des Puschlav und dessen Zentrums Poschiavo (Hildesheimers Wahlheimat) begeistert zeigen; mochte er angesichts all der „Halbpuschlaver“, „Viertelpuschlaver“, „Dreiviertelspanier“ und „Viertelengländer“ in seiner Wahlheimat einen Hauch von Babylon spüren 578 , sah sich Max Frisch gezwungen, sich die Befürchtungen des „kleinen Herrenvolks“, von den zahlreichen „Gastarbeitern“ allmählich „überfremdet zu werden“, aufs Korn zu nehmen: „Ein kleines Herrenvolk sieht sich in Gefahr: man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen.“ 579 Mochte sich Hildesheimer auch überzeugt zeigen, seiner Wahlheimat alles „Kleinkarierte“ und „Spießbürgerliche“, alles „Engherzige“, „Hosenträgerische“ und

573 Wagner 1979, S. 105. 574 Vgl. Frisch (Bd.5) 1976, S. 371ff. 575 Vgl. Frisch (Bd.6) 1976, S. 520. 576 Ebenda, S. 196. 577 Ebenda, S. 5455. 578 Vgl. Hildesheimer 1991, S. 657ff. 579 Frisch (Bd.5) 1976, S. 374.

185 „Hemdsärmlige“ absprechen zu können 580 , meinte der Andorra Autor dieselben Erfahrungen gemacht zu haben, die Günter Grass nördlich der Alpen machen sollte: „Der Druck übler Nachrede zwingt den Bürger, hinter vorgehaltener Hand zu reden, als sei man sonstwo, als sei Vergangenheit gegenwärtig, als dürfe man nicht“ , sollte Grass nach seinem Engagement für die bayerische Wählerinitiative rückblickend schreiben. „Jeweils nach kleinstädtischen Veranstaltungen kamen Rechtsanwälte, Ärzte, Lehrer, Kaufleute zu mir, baten um Nachsicht: Man könne leider nicht, wie man wollte, das schwarze Milieu lasse freie Meinung zum Risiko werden, man müsse um Karriere, Familie und guten Ruf besorgt sein. Selbst junge Menschen sprachen so, sprechen schon so.“ 581 Günter Grass schrieb die vorstehenden Zeilen, denen er die Überschrift Wie frei wird in Bayern gewählt? geben sollte, Ende 1970 nieder, nur zwei Jahre vor Friedrichs Bayreuther Debüt. Als der damals „NochOstberliner“ den „Grünen Hügel“ betrat, lag, wie oben gesagt, ein Land vor ihm, das ein fester Bestandteil des „Westens“ war. Wie es um diesen „Westen“ zu dieser Zeit auch bestellt war, wie umstritten die „Zivilisation“ selbst in den Zentren der „westlichen“ Welt geworden war (insbesondere wenn man hier mit der oben behandelten Zwischenkriegszeit einen Vergleich anstellt), können wir dem Vorstehenden entnehmen. Fragen wir nun, um Tannhäusers Rückreise aus Rom in den (Pariser) Venusberg zu Ende zu führen, wie es mit (West) Deutschland stand, das – um sich das bereits Gesagte wieder ins Gedächtnis zu rufen – in einem „WartburgIdyll“ verbleibend „bürgerliche Saturnalien“ zelebrierte, dem (um von Wolfgang Hildesheimers Terminologie nochmals Gebrauch zu machen) „Hemdsärmligen“ huldigte 582 und das „Altbewährte“ (die „Altbewährten“) sich von neuem bewähren ließ, um vor die Welt tretend sagen zu können: „Wir sind wieder wer!“ In seinem Brief an einen Bürger der Bundesrepublik Deutschland (geschrieben 1969, ein Jahr nachdem Günter Grass in seiner Hildesheimer Rede über die Unruhe gesprochen hatte, die, die „gestern noch wohlerzogene und allen Ordnungsprinzipien angepaßte Jugend“ bewegend, die „neobiedermeierliche, zwischen emsigem Fleiß und politischer Lethargie Ruhe, Ordnung und Sicherheit pflegende Gesellschaft“ der Bundesrepublik hatte erbeben lassen: „Das beschwichtigende Schulterklopfen der Väter – „Ihr wißt ja gar nicht, wie gut ihr es habt“ – will nicht mehr verfangen, denn offen liegt der Widerspruch zwischen Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit zutage, und keines der üblichen Mäntelchen ist groß genug, ihn zu

580 Vgl. Hildesheimer 1991, S. 662663. 581 Grass 2007, S. 612; vgl. Frisch (Bd.6) 1976, S. 230ff. 582 Vgl. Koeppen 1986, S. 358.

186 verhängen.“ 583 ), sah sich Jean Améry gezwungen, hinsichtlich dieses wieder an die bundesrepublikanische Gesellschaft mahnend zu appellieren, die er im Begriff glaubte, durch eine unheilvolle Verbindung der „Butzenscheiben“ mit „kybernetischen Einsichten“ und „spätkapitalistischen human relations“ die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen 584 : „Wer wollen Sie sein? Und dazu: Wer wollen Sie wieder sein? Gerade dieses Wieder ist es, das eine Unruhe hervorruft, bei Ihren Nachbarn im Osten und – geben Sie sich keiner Täuschung hin – auch im Westen (Vgl. in diesem Kontext Walser 1997, S.237 – Anm. M.U.) . Denn es kann das Wieder sich ja nur beziehen auf jene beschworenen Epochen falscher Größe, in denen Sie in der Tat wer waren: auf das von Bismarck begründete zweite Kaiserreich und auf ein anderes, ein drittes Reich, das eine Heimsuchung war für weniger von Katastrophendynamik bewegte Völker. [...] Seien Sie wer, aber um Himmels willen nicht wieder wer, da doch, wie gesagt, dieses Wieder unerträgliche Bezüge hat.“ 585 Um wieder wer zu werden, lernte man – den „beschworenen Epochen falscher Größe“ beinahe zum Trotz – gerade vom „Westen“. Anders als noch während der letzten „WartburgZeit“ wurde nun der Internationalismus groß geschrieben – allerdings nicht ohne Vorbehalte: „Internationalismus ist in Ost und in Westdeutschland ein gleichermaßen forcierter Wert“ , sollte Martin Walser resümieren. „Daß der Internationalismus jeweils nur einer Himmelsrichtung gehorcht, wird, wegen der sonst drohenden blamablen WortKomik, streng verschwiegen.“ 586 Am Rhein entschied man sich also für den „Westen“ (samt dessen Vor und Nachteilen). Wie diese Entscheidung zum Vorschein kam – in einem Land, das nur wenige Jahrzehnte zuvor, zwischen dem „Westen“ und „Abendland“, zwischen der „Zivilisation“ und „Kultur“ wählend, dem Letztgenannten den Vorzug gegeben und selbst noch nach dem Zusammenbruch von 1945 manchen „AbendlandGläubigen“ zu Hilfe gerufen hatte, um wiederaufgebaut werden zu können –, davon legte u.a. die Situation in den sog. „Ballungsgebieten“ Zeugnis ab. Sollte man Heinrich Böll Glauben schenken, so handelte es sich bei diesen „Ballungsgebieten“ um Wohngegenden, wo den Hunden mehr Freiheit als den Kindern gegeben wurde und wo sich der Konsummüll ballte. 587 So z.B. in Hamburg, in der Stadt mit der „sündigsten Meile der Welt“, die nun mehr denn je einen, um Günter Kunert zu zitieren, „KonsumismusEindruck“ machte. 588 Hatte Wolfgang Koeppen einst beobachten können, wie das Paris der Venus, der Sirenen, der Teufel und Engel (siehe oben, S.) , kurzum das Paris, das

583 Grass 2007, S. 321. 584 Vgl. Walser 1997, S. 235. 585 Améry 2005, S. 220223. 586 Walser 1997, S. 226. 587 Vgl. Böll 1973, S. 207. 588 Vgl. Kunert 1994, S. 42ff.

187 der Tannhäuser Dichter in seine Bildmetapher „Venusberg“ verschlüsselt hatte, dem Paris von Touristen, Kunden und Geschäftsleuten, d.h. dem Paris von peinlichster Sauberkeit, Geschäft und leer gewordener Monumentalität hatte weichen müssen, sah Kunert in Hamburg einer allmählichen Umwandlung eines „Sündenbabels“ in einen „Liebessupermarkt“ zu.589 Hätte man an der Elbe einen Venusberg gesucht, hätte man hier – ebenso wie an der Seine – „ein formal virtuoses paradis artificiel“ gefunden, „ein Höllenbild, aus dem die Lust vertrieben ist“ (um Marcel ReichRanickis vorstehende Bemerkung zu Wielands Bayreuther Bacchanal von 1961 nochmals zu zitieren). Nicht anders als an der Seine, nicht anders als im übrigen, von der Wohlstandsgesellschaft geprägten „Westen“ war es das perfektionierte Geschäft und nicht die Lust, was an der Elbe (ebenso wie am Rhein) nunmehr den „Längeren“ zog. Hans Eppendorfer sah sich sogar gezwungen, über eine „Zerstörung“ der „sündigsten Meile der Welt“ zu sprechen: „Womöglich noch rascher zerstört wird St. Pauli durch die zunehmende Perfektion, Verapparatung, Technisierung im Vergnügungsgeschäft. Da drängt sich eine technische Kulisse vor, sie verdrängt die Vielfältigkeit und schiebt sich zwischen die Menschen, so daß immer weniger Bewohner von St. Pauli persönlich mit den Touristen, den Kunden, den Gästen zu tun haben.“ 590 Perfektion, Verapparatung, Technisierung: Der Venus von seiner Reise durch Deutschland erzählend, hatte Tannhäuser, als er auf Hamburg zu sprechen gekommen war, auch den Gestank nicht unerwähnt gelassen, der ihm auf den Straßen der Hansestadt aufgefallen war: „Zu Hamburg frug ich: warum so sehr/ Die Straßen stinken täten?/ Doch Juden und Christen versicherten mir,/ Das käme von den Fleeten.“ 591 Hätte er mit Kunert die Hansestadt besucht, hätte er nur in den Seitenstraßen so fragen müssen – ähnlich wie an der Seine wären solche Fragen selbst auf der Reeperbahn als unangebracht erschienen, unangebracht in einem Heute, „das sich um seine Gesundheit, sein Image, seine hygienischsterile Erscheinungsweise sorgt (e) “592 . Wurde (nicht nur) St. Pauli durch eine fortgesetzte Perfektionierung der eigenen Welt zerstört, schien Berlin regelrecht „gemordet“.593 Zwang man an der Elbe das „Sündenbabel“ in einen „Liebessupermarkt“, zwang man hier den „Hörselberg“ in die Schaufenster, um ihn all den „sich aus den Bussen ergießenden Besucherhorden von Provinzonkeln und Provinztanten“ zur Verfügung zu stellen, die angekommen waren, um „die Prostituierten, Stadtstreicher, Heilsarmisten, Transvestiten, Homosexuellen als Mittel zur Steigerung des

589 Vgl. ebenda, S. 43. 590 Ebenda, S. 4445. 591 Wagner 1979, S. 105. 592 Kunert 1994, S. 46. 593 Vgl. Ebenda, S. 184.

188 eigenen Selbstwertgefühls zu mißbrauchen“ 594 , so machte man aus der geteilten Stadt an der Spree selbst zwei Schaufenster der jeweils herrschenden politischgesellschaftlichen Ordnung, die sich hier stärker als woanders glaubte präsentieren zu müssen.595 Neben einer Unmenge von „künstlichen Sonnen“ 596 (Kurfürstendamm) war es die altbewährte Monumentalität (Alexanderplatz), die in Berlin zu Hilfe gerufen wurde – wohl um zu demonstrieren, dass nicht einmal mitten in diesem neuen „paradis artificiel“ die „WartburgSchatten“ völlig verschwunden waren (im Westen wie im Osten). Hätte der Heinesche Tannhäuser, der um Berlin seinerzeit einen Bogen gemacht hatte (allerdings ohne an ihm taub vorbeizuziehen: „Zu Potsdam vernahm ich ein lautes Geschrei –/ Was gibt es? Rief ich verwundert./ „Das ist der Gans in Berlin, der liest/ Dort über das letzte Jahrhundert.““ 597 ), die einstige Reichshauptstadt zu der von uns behandelten Zeit besucht, hätte er das ehemalige Bollwerk des „Amerikanismus“ besichtigt, der z.B. Günter Kunert mehr als jede andere „westliche“ Metropole mit dem Geist von Amerika im Einklang wusste 598 , hätte er Günter Grass zustimmen müssen, der – obwohl in Berlin gern lebend – den westlichen Teil auf „Schonkost“ angewiesen und einer provinziell gewordenen Gesellschaft preisgegeben sah: „Ohne Hinterland lebt Berlin schon seit Jahren von seiner Substanz. Eine auf Schonkost gesetzte Stadthälfte. Einst rigorostüchtige Schnoddrigkeit schlug um in knatschige Wehleidigkeit. Zwar wurde die Stadt wiederaufgebaut (großzügig und durchlüftet), aber außer seiner Ansehnlichkeit hat Berlin nur eine in sich verstrickte, parteipolitisch muffig gewordene, dort, wo sie laut wird, großmäuligprovinzielle und im „revolutionären Bereich“ so infantile wie zerstrittene Gesellschaft zu bieten. Warum machen sich seine Universitäten zum Gespött? Warum produzieren seine Theater so weit unter ihren Möglichkeiten? Warum sind viele seiner Zeitungen auf den Springer gekommen?“ 599 Was sich an der Spree (ebenso wie am Rhein, an der Seine und Themse) bemerkbar machte, war – trotz all der Unmengen von gerufenen „Arbeitskräften“, trotz all dieser Italiener, Griechen, Türken etc., die gekommen waren, um die „künstlichen Paradiese“ des „Westens“ aufbauen zu helfen und den Konsummüll dieser „künstlichen Paradiese“ zu entsorgen 600 , und in deren Anwesenheit nicht nur Günter Grass auch gesellschaftlich ein Aufbruchssignal erkannt zu haben glaubte 601 – ein Hauch von Provinz (wobei sich z.B. Hans M. Enzensberger über die Ambivalenz dieses

594 Ebenda, S. 42. 595 Vgl. ebenda, S. 183. 596 Vgl. Koeppen 1986, S. 272273. 597 Wagner 1979, S. 105. 598 Vgl. Kunert 1994, S. 181. 599 Grass 2007, S. 632633. 600 Vgl. Böll 1973, S. 208209. 601 Vgl. Grass 2007, S. 632ff.

189 Begriffs in der für uns relevanten Zeit durchaus im Klaren zeigte – an der Existenz eines „zentralen Platzes“ zweifelnd, der, dem Paris oder Berlin der „Goldenen Zwanziger“ ähnlich, die „Rolle als Schiedsgericht in allen geistigen Fragen“ hätte in Anspruch nehmen können, und selbst den Metropolen an der Seine und Themse den Status von bloßen „Umschlagplätzen“ zusprechend, meinte er zusammenfassen zu müssen: „Mit unserer historischen Situation, in der selbst die mächtigen Ballungskräfte der politischen Ideologien nicht mehr ausreichen, um ein neues Rom zu kanonisieren, und in der kein „Block“ mehr seiner monolithischen Struktur sicher sein darf, ist die Scheidung von Provinz und Kapitale nicht mehr zu vereinbaren, und die Rede von Provinzialismus nimmt einen neuen Sinn an. Provinz ist überall, weil das Zentrum der Welt nirgends mehr zu finden ist, oder umgekehrt: weil ihr omphalos prinzipiell überall angenommen werden kann.“ 602 ) Um sich kurz zu fassen: (West) Berlin glich Hamburg, wie Hamburg Paris, London oder anderen Zentren der „westlichen“ Welt glich. Nachdem der Unterschied zwischen „Kapitalen“ und „Provinz“ relativiert worden war (d.h. nachdem selbst die größten und geschichtsträchtigsten Städte zu bloßen „Umschlagplätzen“ verkommen waren und die „alte Ferne zwischen Stadt und Land“ wenn nicht verschwunden, so doch wesentlich „geschrumpft“ war 603 ), bot sich dem Besucher „von außen“, dem Besucher wie Götz Friedrich das Bild einer integrierten, d.h. politisch, wirtschaftlich und – nicht zuletzt – kulturell vereinheitlichten, perfektionierten, „verapparateten“ und durchaus säkularisierten Welt an, das insbesondere in den sog. „Ballungsgebieten“ (wo sich, um Heinrich Böll zu zitieren, der meiste von der neuen Wohlstandsgesellschaft produzierte Konsummüll ballte) der Vorstellung eines „formal virtuosen paradis artificiel“ entsprach, der Vorstellung eines Venusbergs, wo alle Lust dem Geschäft, alle Bacchanten und Bacchantinnen, Satyrn und Sirenen den Kunden und Klienten gewichen waren, wo Frau Venus selbst einer neuen „Gottheit“ hatte weichen müssen, die (nicht nur) Böll „Profit“ zu nennen pflegte. 604 Wieland Wagners BacchanalVision von Anfang der 60er Jahre, der Marcel ReichRanicki mit der vorstehenden Bezeichnung eines „formal virtuosen partadis artificiel“ begegnet war, schien weitgehend in Erfüllung gegangen zu sein – an der Spree ebenso wie an der Elbe oder Seine. Gerade so relativ wie die Grenze zwischen „Zentrum“ und „plattem Land“ mutete allerdings auch die Grenze zwischen „Venusberg“ und „Wartburg“ an. Gegen die profitorientierte Lebens (und Kultur) Auffassung der bald etablierten Warengesellschaft protestierend, riefen

602 Enzensberger 1984, S. 1920. 603 Vgl. Kielmansegg 2007, S. 418. 604 Vgl. Böll 1973, S. 212.

190 die „NichtkonformGehenden“, mochten sie auch heißen, wie sie wollten, öfters Reaktionen hervor, die die Welt der Wagnerschen Wartburg suggerierten (nicht nur in Götz Friedrichs Darstellung des Sängerwettstreits, wo Tannhäuser mit seinem „Nonkonformismus“ Furore macht, wirkte die Wirklichkeits und Zeitnähe des Dargestellten geradezu unheimlich: „Der Wettstreit der Sänger, Reaktionen im WartburgChor, die Elisabeths und des Landgrafen werden minutiös analysiert und im Ensemble erarbeitet. Die Damen von damals reagierten nicht viel anders als unsere heutigen Cocktailladies und das feudalmännliche Verhalten spiegelt einen bekannten Chauvinismus unserer Tage. Zwei Menschen brechen in diesem Rahmen die historischbürgerlichen Konventionen, wobei sich ihre Liebe und Unbedingtheit über den traditionellen Standard erhebt. Tannhäuser provoziert ein zweites Mal und irritiert dabei als anders Denkender das schon institutionelle Ritual, kompromittiert die Gefühlswelt einer Gesellschaft und entlarvt indirekt bürgerliche Wünsche und heimliche Sehnsüchte.“ 605 ). Ohne sich mit Hans M. Enzensbergers düsterer Vision eines neuen, eines, wie Enzensberger sagte, „italianiesierten“ (West) Europa von „verluderten Parteien“ und „parasitären Verwaltungen“, von „Subventionsbetrug“, „Patronagegefilz“, „Schwarzarbeit“ und „Immobilismus“ unbedingt identifizieren zu müssen 606 ; ohne den integrierten „Westen“ nur mit vermarkteten Traditionen, Snobismus und (nicht selten auch künstlerischem) Opportunismus zu verbinden, sieht man sich dennoch gezwungen, die Existenz der „WartburgSchatten“ anzuerkennen – es steht außer Zweifel, dass die Wohlstandsgesellschaft durchaus ungestüm, durchaus „wartburgisch“ reagieren konnte, wenn sie in ihrem Wohlstand, in ihrem „Fett“ (um Jean Améry zu paraphrasieren) gestört wurde; wenn sie sich, der Gemeinschaft von Wagners Wartburg ähnlich, durch die Herausforderung der eigenen (geheim gehaltenen) Wünsche und Gefühle – sei es durch die „ohne die Statussymbole“ lebenden Beatniks, sei es durch Künstler – bloßgestellt wusste. Unter diesen Auspizien war es durchaus möglich, neuen „Tannhäusern“ zu begegnen, die selbst im „paradis artificiel“ des neuzeitigen „Westens“ ihre „Wartburgen“ finden sollten – dem Fall Götz Friedrich blieb nicht vorbehalten, der einzige zu sein. Stellen wir uns daher die Frage, wie es in diesem „Westen“, in erster Linie jedoch in (West) Deutschland um jene Künstler bestellt war, die der Lebens (und Kultur) Auffassung der Wohlstandsgesellschaft nicht konform gingen, die es wagten, dieser Lebens (und Kultur) Auffassung einen Spiegel vorzuhalten. *

605 Jaeger 1983, S. 5253. 606 Vgl. Enzensberger 1988, S. 108109.

191 Nachdem das „paradis artificiel“ in die (Liebes) Supermärkte, nachdem es in die Schaufenster der Kaufhäuser hineingezwungen worden war, um der hygienischsterilen Lebens (und Kultur) Auffassung der sich durchsetzenden Wohlstandsgesellschaft zur Verfügung gestellt werden zu können; nachdem selbst die berüchtigsten „Hörselberge“ – von jeglicher „bösen Lust“ gründlichst gereinigt – marktgängig gemacht worden waren (und Frau Venus dem Profit hatte weichen müssen), drohten – so mutete es jedenfalls an – auch die schlimmsten „Nonkonformisten“, auch die vermutlichen oder tatsächlichen „Tannhäuser“ allmählich vermarktet zu werden. Ohne diese nicht konform gehenden „Literatoren“ eindeutig zu wollen, ohne sie eindeutig nicht zu wollen (um Martin Walsers Skizze zu einem Vorwurf von Anfang der 60er Jahre zu zitieren 607 ), ließ man sie Reden halten – ohne ihnen Gehör zu schenken –, stellte man sie zur Schau, wie man auch all die Prostituierten, Stadtstreicher, Heilsarmisten, Transvestiten und Homosexuellen zur Schau zu stellen pflegte, an deren „Anderssein“ sich zu delektieren nicht nur Günter Kunert (z.B. in Hamburg) Unmengen von schau und, nicht zu vergessen, kauflustigen „Provinzonkeln“ und „Provinztanten“ beobachten konnte. Riet Peter Rühmkorf 1963 den „Poeten“, die „Marktlage zu erkennen“ („Stellen wir uns nicht unbefangen. Wir wissen doch genau, daß Bücher gehandelt werden, und es wäre auch wirklich einzigartig, wenn ein Zeitalter, das in jeglichem Ding die Ware würdigt und das die Literaritäten der Saison auf Sellertellern herumreicht, nun gerade die Poesiekritik als autonomen geistigen Ordnungsfaktor erkennen ließe. Sie ist es gewißlich nicht. Als Instanz zwischen dem Markt und den Musen ist sie mit einbezogen in den Bannkreis viel schlichterer Wertschätzungen und Vorbehalte als nur ästhetischer, und wenngleich man nicht leugnen kann, daß da gelegentlich einem Autor durch einen Rezensenten zu seinem idealischen Recht verholfen wird, bleibt kaum bestreitbar, daß Poesie soviel gilt, wie mit ihr zu verdienen ist.“ 608 ), sollte man nur ein Jahrzehnt später, als die Vermarktung der („konformistischen“ ebenso wie „nonkonformistischen“) Literatur nahezu vollkommen anmuten sollte, Schwarz auf Weiß lesen: „Wer spricht da noch vom Lesen – Käufer sind gefragt; wer spricht da noch von der Literatur – Bestseller heißt das Thema.“ 609 Dennoch: Nicht einmal den 60er Jahren blieben Konflikte erspart, die an Wagners Tannhäuser und den Sängerkrieg denken ließen. Schließlich war Emil Staiger da, der, die „Sprache von Eckermann“ sprechend (wie es, wie oben angedeutet, Max Frisch formulieren sollte), gegen die „heute über die ganze westliche Welt verbreitete Legion von Dichtern“

607 Vgl. Fischer 1986, S. 95. 608 Rühmkorf 1978, S. 181182. 609 Barner 1994, S. 597.

192 wetterte, „deren Lebensberuf es ist, im Scheußlichen und Gemeinen zu wühlen“ 610 , und angesichts deren Werke er meinte, die Geister der Vergangenheit zitieren zu müssen (d.h. jene „Dichter“ herbeizurufen, denen Carl von Ossietzky seinerzeit den Vorwurf gemacht hatte, Untertanen einer mit der Wagnerschen Wartburg zu identifizierenden Obrigkeit gewesen zu sein: „„Willst du in meinem Himmel mit mir leben, so oft du kommst, er soll dir offen sein!“, so dichtete der selige Schiller (auf den sich zu berufen der Zürcher Germanist nicht müde wurde – Anm. M.U.) , und er hat damit namenloses Unheil angerichtet. Denn unsre Klassiker, deren Geist so hoch flog, waren im Leben durchweg arme verprügelte Untertanen, die sich in den reinen griechischen Äther schwangen, um zu vergessen, daß sie schließlich von der Laune eines Gönners oder von einem tristen Professorengehalt existieren mußten.“ 611 ): „Wenn uns die Dichter unserer Zeit verlassen, rufen wir den Beistand der Dichter vergangener Tage herbei und lassen uns von ihnen sagen, was der Mensch ist und vermag, was er auch heute noch vermag, sofern er stark und innig will.“ 612 Schließlich fand sich hier eine ganze Meute von „deutschen Vorstehhunde (n) , die den Parteifunktionären die Bewachung des Fernsehens und der Theater, auch des Funks, vor rebellierenden Künstlern (abnahmen) “613 ; schließlich gab es hier die Presse vom Schlag eines Bild , so dass sich (nicht nur) Heinrich Böll, nachdem er mit seinem heiß umstrittenen Aufsatz Will Ulrike Gnade oder freies Geleit? den „reinen griechischen Äther“ verlassen hatte, gezwungen sah, sich zu beklagen: „Das ist die betrüblichste Erfahrung der vergangenen Wochen, daß man kaum die Hand über die Grenze halten kann, und man hat schon einen Schuß drin.“ 614 . Ohne Martin Walsers Einsicht in Frage stellen zu wollen, man werde selbst in einer Kanzlerdemokratie nicht gerade gezwungen, sich in ein inneres oder äußeres Exil zu versetzen 615 ; ohne Peter Rühmkorfs Behauptung mit Misstrauen begegnen zu müssen, in der Tat lasse sich ja von einer Lenkung der Kunst und ihrer Ausrichtung im Sinne des Systems nur sehr vorbehaltlich sprechen. Unsinnig zum Beispiel anzunehmen, es wären die staatstragenden Parteien, die sich der Poesie auf dem Befehlswege zu versichern suchten, so etwas gebe es ganz entschieden nicht 616 (schließlich standen hier die oben erwähnten „deutschen Vorstehhunde“, stand hier diese, um von Peter Rühmkorfs Terminologie Gebrauch zu machen, „machtvolle Schar von Programmgestaltern und Geschmacksbildnern, Interessenveredlern und Entrückungsstrategen“ zur Verfügung, um

610 Weninger 2004, S. 71. 611 Ossietzky 1994, S. 350. 612 Weninger 2004, S. 71. 613 Hoffmeister 1980, S. 304. 614 Barner 1994, S. 588. 615 Vgl. Fischer 1986, S. 95. 616 Vgl. Rühmkorf 1978, S. 70.

193 die Musentempel und Massenmedien zu überwachen 617 ), fanden sich nach wie vor Menschen genug, die – auf die Schriftsteller vom Rang und Schlag eines Wolfgang Koeppen oder Erich Kästner zu sprechen gekommen – über „Verschwörung“ und „kommunistische Untergrundarbeit“ sprachen 618 , die, sich auf die Kunst allein berufend, selbst einen Günter Grass vor der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften zu wissen wünschten 619 – wohl weil sie, Emil Staiger gleich, bei Grass „nur die Schweinigeleien gelesen (hatten) “620 und zu der Überzeugung gelangt waren, wieder einmal für „Tugend“ und „holde Sitten“ eintreten zu müssen –, die, gegen die Zensur jenseits des „Eisernen Vorhangs“ (der Berliner Mauer) ihre Stimmen erhebend, an die Praxis des Kreml (oder der Wagnerschen Wartburg) denken ließen: „Sie zensieren wie der Kreml, der ja Solschenizyn niemals dadurch verketzert hat, daß er ihm nachsagte, er beunruhige Rußland als Sowjetbürger und durch den Inhalt seiner Bücher. Der Kreml ließ vielmehr verlauten, als Künstler, als Epiker, formal, ästhetisch sei dieser Autor leider nicht würdig, als Mitglied der sowjetischen Akademie oder im Moskauer Fernsehen zugelassen zu werden.“ 621 Rolf Hochhuth (dem wir die vorstehenden Zeilen zu verdanken haben), vom Bundeskanzler Erhard höchstpersönlich aufs Korn genommen und wegen seines kontroversen KlassenkampfAufsatzes als „ganz kleiner Pinscher“ diffamiert 622 , sah die Schranken genau ein, die jeder „aufsässigen Kunst“ gesetzt werden sollten – gesetzt von jenen „Majestäten“, denen der Tannhäuser Dichter mit seiner WartburgMetapher Gestalt verliehen hatte und denen nun der Autor des Stellvertreters den Vorwurf machte, anstelle von Gebaren die „Erscheinungsformen“ verändert zu haben: „Im Grundgesetz wird bekanntlich die Wettbewerbsfreiheit garantiert, die Chancengleichheit. Wo aber Länder und Gemeinden ihre Theater [...] mit Hunderten Millionen an Subventionen füttern, während sie gleichzeitig von privaten Theatermachern neben anderen Abgaben fünfzehn Prozent Vergnügungssteuer pro verkaufter Karte eintreiben, da werden die Privattheater liquidiert. Mit Absicht, denn natürlich wissen Parteien und Gewerkschaften, daß im Deutschland Wilhelms des Letzten wie auch in der Weimarer Republik alle aufsässige Kunst allein von Privatleuten riskiert und finanziert wurde: Wedekind hätte wie Kleist nie ein Stück von sich auf einer Bühne gesehen, wäre er auf obrigkeitsfromme Staats und Stadttheater angewiesen gewesen. Kein früher Hauptmann oder Sternheim wurde dort je uraufgeführt, und auch die Dreigroschenoper

617 Vgl. ebenda, S. 71. 618 Vgl. Barner 1994, S. 343. 619 Vgl. ebenda, S. 344. 620 Frisch (Bd. 5) 1976, S. 457. 621 Hoffmeister 1980, S. 310. 622 Vgl. ebenda, S. 88.

194 mußte noch von Privatleuten riskiert werden. [...] Der Irrtum der Intellektuellen war, mit dem Verschwinden der Monarchie sei auch der Absolutismus beseitigt worden. Der aber ist geblieben und wechselt nur die Erscheinungsformen. Nicht mehr die Hohenzollern und Wittelsbacher, sondern die Banken, die Großindustrie, die Parteien und die Gewerkschaften sind heute Eigentümer des Staates, und so wachen halt sie darüber, daß „ihre“ Kunstinstitute die Majestät der Machthaber nicht verletzen. Solche Majestäten können heute Kluncker heißen oder Flick, Wehner oder Strauß, CDU oder Bundeswehr, das Fernsehehen selbst oder die Stadtverwaltung von X oder der Ministerpräsident von Y…“ 623 (Was diese „Majestäten“, was das Zeitalter, dem sie Gesichter gaben, von den Kunstschaffenden erwarteten, war – wenn wir Stefan Heym Glauben schenken – primär die Unterhaltung: „[...] im Westen gilt Literatur allgemein als Unterhaltung; man erwartet vom Schriftsteller nicht, daß er dazu beiträgt, das Denken der Menschen zu formen und zu verändern“ 624 , schrieb der Ex Amerikaner 1964, um die Beweggründe klarzustellen, sich nicht im „Westen“, sondern jenseits der Berliner Mauer niedergelassen zu haben.) Trotzdem: Hatte Peter Rühmkorf Anfang der 50er Jahre die Frage nach der Existenz einer „jungen deutschen Polemik“ noch verneinend beantworten müssen ( „Gibt es eine junge deutsche Polemik? Also nicht. Es gibt Lyrik. In einer Zeit wo Besen benötigt werden, streut man Gänseblümchen. Lyrinde und Lyringel gehen camping in die schöne weite Kultur, halten sich fest an die üblichen Denkrouten, an die amtlich festgesetzten Tauchtiefen, ängstlich besorgt um Irrtum und Fehltritt, Fährnis und Untergang.“ 625 ); hatte er sich damals gezwungen gesehen, den „Kunstküpern und Avantgardetöpfern von 1950 und so weiter“ den Ratschlag zu geben, sich „begraben zu lassen“ 626 ; mochte Wolfgang Hildesheimer in seiner Umgebung noch Mitte der 60er Jahre keinen Büchner, „wohl aber genug Georgis – und Schlimmere“ sehen („um einen potentiellen Büchner zu verfolgen“ 627 ), machte sich auch in (West) Deutschlands Kulturlandschaft spätestens seit den ausgehenden 50er Jahren eine Reihe von Künstlern, nicht zuletzt von Schriftstellern und Theatermachern bemerkbar, die den Namen wenn nicht eines Büchner so doch zumindest eines Tannhäuser, eines im Widerstand gegen eine steril gewordene Lebens und Kulturauffassung begriffenen, den Ruf eines Außenseiters bewusst in Kauf nehmenden „Revolutionärs“ hätten in Anspruch nehmen können. Schließlich sprach Emil Staiger, wie oben gesagt, über eine ganze „Legion von

623 Ebenda, S. 305. 624 Heym 1985, S. 250. 625 Rühmkorf 1984, S. 110. 626 Vgl. ebenda, S. 111. 627 Hildesheimer 1991, S. 42.

195 Dichtern (sic!)“, deren ungenannt gelassenen Mitgliedschaft er glaubte den Vorwurf machen zu müssen, „im Scheußlichen und Gemeinen zu wühlen“ 628 – zwar sollte Max Frisch behaupten, diese „Legion“ nie gesehen zu haben, doch die Namen, die er „aufs Tapet“ brachte (um sie vor Staiger und dessen applaudierender Zuhörerschaft rechtfertigen zu können 629 ), diese Namen – u.a. Wolfgang Koeppen, Heinrich Böll oder Günter Grass – „stimmten“ offensichtlich: „[...] es war kein Geringerer als der schweizerische Germanist Emil Staiger, für den im „Zürcher Literaturstreit“ von 1966/67 gerade Günter Grass ein Hauptrepräsentant der „Scheußlichkeiten“ und des „Kranken“ in der Gegenwartliteratur war“ 630 , heißt es in der heutigen Literaturwissenschaft (insbesondere in Anbetracht des Katz und Maus Falls, wo sich die „deutschen Vorstehhunde“ die Frage stellten, „ob das Buch im Sinne des einschlägigen Gesetzes (Fassung vom 29. April 1961) „der Kunst dient“.“ 631 ). Der Spiegel ließ, nachdem Ludwig Erhard nach Hochhuths „Polemik“ (um auf Peter Rühmkorfs Frage von Anfang der 50er Jahre zurückzukommen) der Kragen geplatzt war, bereits ein Jahr vor dem besagten „Zürcher Literaturstreit“ mehrere Namen fallen, die Emil Staiger, hätte er seine Zuhörer nicht im Unklaren lassen wollen, bei der Verurteilung der oben erwähnten „Legion“ ebenfalls hätte nennen können – der Spiegel Leser bekam da allerdings neben den Namen auch eine Assoziation zu bedenken, die nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen schien: „Der Kaiser – so fabulierte schon der Pennäler Kurt Tucholsky – hatte eine Flöte. Wenn man durch die Löcher dieser Flöte schaute, so sah man viele bunte Bilder von Thoma und Böcklin, Meunier und Zille. Kurzum, darinnen war die ganze moderne Richtung. Und was tat der Kaiser mit der Flöte? Er pfiff darauf. Was dem Kaiser die Flöte, ist dem Kanzler die Blechtrommel. In ihr sieht er sie alle versammelt: den Günter Graß, den Martin Walser, den Uwe Johnson und den Rolf Hochhuth. Kurzum, die ganze Richtung. Und was tut der Kanzler mit der Trommel? Er drischt mal drauf.“ 632 Es war jedoch nicht „unser KunstKanzler“ (wie den Bundeskanzler Erhard apostrophieren sollte 633 ); es waren nicht die Staigers, die die „Dichter vergangener Tage“ herbeiriefen, um sie mit deren zu leeren Floskeln degradiert zu werden drohenden Ideen gegen die „Literaten“ von heute auszuspielen, sondern es waren eben diese „Literaten“, die – mit „Besen“ hantierend statt „Gänseblümchen“ zu „streuen“ – den „Längeren“ ziehen sollten; es waren diese keine Polemik scheuenden Koeppens, Bölls und Hochhuths, denen es

628 Weninger 2004, S. 71. 629 Vgl. Frisch (Bd. 5) 1976, S. 456ff. 630 Barner 1994, S. 345. 631 Ebenda, S. 344. 632 Hoffmeister 1980, S. 91. 633 Vgl. Ebenda, S. 89.

196 vorbehalten blieb, (West) Deutschland auch künstlerischliterarisch in den „Westen“ zu integrieren und, nachdem sie „Arkadien“ mit der Realität der Gegenwart bzw. der jüngsten Vergangenheit ersetzt hatten, (West) Deutschlands Kunst und Literatur jeder Harmlosigkeit, jeglichem nur kulinarischen Genießen zu entreißen (und denen letzten Endes auch beschieden sein sollte, mit der Literatur, der sie weltweit Ansehen bringen sollten, von jener Wohlstandsgesellschaft vermarktet zu werden, der sie einen Spiegel vorzuhalten suchten). Die Gesellschaft, das Publikum betroffen zu machen, statt es – wie so oft – zu lassen, sich an (äußerer) „Schönheit“ zu delektieren: Das gelingt Wagners Tannhäuser auf der Wartburg; das gelang den besagten Koeppen, Böll und Grass in (West) Deutschland; das gelang Rolf Hochhuth mit dessen oben angesprochener „Studie“ (um von Hochhuths eigener Terminologie Gebrauch zu machen) Der Klassenkampf ist nicht zu Ende („Hochhuth hat ein Tabu gebrochen. Erhard hat – nicht einmal ohne Erfolg – schimpfend das Schweigen wieder hergestellt (sic!) . Er hat geschimpft, weil er sich getroffen fühlte“ 634 , sollte in diesem Kontext Ulrike Meinhof schreiben), das gelang ihm bereits mit dem Stellvertreter , diesem nicht minder kontroversen Tabubruch; das gelang auch Heinar Kipphardt und Peter Weiss (dessen Viet Nam Diskurs zu einem Skandalon werden sollte; Peter Stein, dem damals die Regie oblag, zeichnete übrigens auch für die nächste betroffen machende Produktion verantwortlich, nämlich für Goethes Torquato Tasso , dessen Zürcher Aufführung Max Frisch mit der Bezeichnung der „klügsten und erhellendsten Aufführung seit einigen Jahren“ begegnen sollte: „Am Abend des 13. Dezember sah ich im Schauspielhaus Zürich eine Torquato Tasso Collage, die eigentlich das Problem der subventionierten Kunst klassisch analysiert; meines Erachtens – niemand wird vom andern das gleiche KunstUrteil fordern – meines Erachtens die klügste und erhellendste Aufführung seit einigen Jahren; zwar ein Gastspiel aus Bremen; Regisseur, Peter Stein, und Darsteller sind aber die Leute, die Peter Löffler eben nach Zürich gebracht hat und die mit ihm ausscheiden.“ 635 … die mit ihm ausscheiden. Der Andorra Autor sollte seine Leser wissen lassen, warum Peter Löffler, der den Spielplan des Zürcher Schauspielhauses verantwortete, zusammen mit Klaus Völker nach nur drei Monaten neuer Spielzeit „ausscheiden“ musste – der Steinsche Tasso wurde hier zum sprichwörtlichen letzen Nagel in den Sarg eines Theaters, dessen Produktionen man „eine konstante und monoton wirkende Überbetonung der in den ausgewählten Stücken enthaltenen gesellschaftskritischen Komponenten“ sowie „die hartnäckige Verfolgung dieser Linie, mit welcher der Versuch

634 Ebenda, S. 93. 635 Frisch (Bd. 6) 1976, S. 500.

197 einer politischen Gleichschaltung des Ensembles einherging…“ 636 vorwarf.). Das Publikum betroffen zu machen: Das gelang nicht zuletzt Götz Friedrich, dessen Los bald demjenigen ähneln sollte, das die Bayreuther Festspielbesucherschaft von der Bühne des Festspielhauses zu kennen glaubte und für dessen InSzeneSetzung 1972 gerade Friedrich verantwortlich zeichnen sollte. Erschütterte (West) Deutschlands (Theater) Landschaften in den 60er Jahren eine Revolution (bzw. „Revolution“: „Die Deutschen waren nie imstande, ihre Revolutionen zu vollenden. Sie haben keine Revolution. Was sie haben, sind Revolutionsdramen (an denen es ihnen gerade in den 60er Jahren nicht fehlen sollte – Anm. M.U.) .“ 637 ), so schienen diese Erschütterungen vor dem „Grünen Hügel“ zunächst Halt gemacht zu haben (abgesehen von einigen Studenten, die vor dem Festspielhaus mit den Parolen „Bonzen raus – Volk rein“ und „Make art not publicity“ für Aufsehen sorgten 638 ). Der Festspielhügel sollte erst nach Friedrichs Ankunft, erst durch die Friedrichsche Tannhäuser Inszenierung erschüttert werden. Obwohl es (nicht nur) in Deutschlands Westen eigentlich nicht an Theatermachern mangeln sollte, die sich mutig genug gezeigt hätten, selbst die „allerklassischsten“ Werke der (von Staiger so beschworenen) „Dichter vergangener Tage“ neben die hochaktuellen Stücke eines Hochhuth oder Kipphardt zu stellen, um das Publikum von heute betroffen zu machen (zumal das von Gründgens ins Leben gerufene, eine „werkgetreue“ Klassikerpflege beschwörende „Düsseldorfer Manifest“ mit Gründgens’ Tod an Bedeutung verloren hatte; zumal die „kampferfahrenen“ Theatermacher vom Rang und Schlag eines Erwin Piscator immer noch da waren, um mit ihren Inszenierungen Furore zu machen 639 ), erschien der damals „Noch Ostberliner“ Friedrich als nahezu prädestiniert, um auf dem immer noch (bzw. wieder einmal) „sagenumwobenen“, „traditionsschwangeren“ „Grünen Hügel“ die Brisanz von Wagners Tannhäuser geradezu erschütternd zum Vorschein zu bringen: „Den Theaterautoren, Regisseuren und Schauspielern der DDR, ob sie nun aus der Tradition Brechts oder Friedrich Wolfs, ob vom epischen oder vom Einfühlungstheater her kamen, war der Nur Kunststandpunkt immer verdächtig. Sie machten Theater mit der Absicht, in die schlechten Verhältnisse verändernd einzugreifen, in den meisten Fällen mit dem Fluchtpunkt der Utopie eines besseren Sozialismus“ 640 , sollte Wolfgang Emmerich erklären. Waren es Ende der 60er Jahre lediglich „ein paar“ Studenten, die das Festspielpublikum mit ihren Plakaten irritierten,

636 Ebenda, S. 500. 637 Barner 1994, S. 481. 638 Vgl. Gebhardt 1998, S. 73. 639 Vgl. Barner 1994, S. 465; 670ff. 640 Glaser 2002, S. 292293.

198 so sollte es 1972 mit Friedrichs Hilfe Richard Wagner selbst sein, der – von dem Ostberliner endgültig und unwiderruflich „entrümpelt“ und „entromantisiert“ – für „Shocking“ sorgen sollte – ohne dabei Gefahr zu laufen, als „ganz kleiner Pinscher“ abgetan zu werden. Um sich kurz zu fassen: Die Wohlstandsgesellschaft verstand es geradezu meisterhaft, die Kunst und Kunstschaffenden zu vermarkten – selbst manchem „Nonkonformisten“ bot sie die Möglichkeit an, in der Taschenbuchreihe eines prestigeträchtigen Verlags zu reüssieren und sogar mit einem jener Literaturpreise ausgezeichnet zu werden, die nun – größtenteils aus den ReklameGründen – wie Pilze nach dem Regen aus dem Boden schossen. 641 Die „WartburgSchatten“ waren allerdings nach wie vor da. Sich auf die Kunst allein berufend, scheute diese Gesellschaft, scheuten all die (um von Peter Rühmkorfs Terminologie Gebrauch zu machen) „Programmgestalter“ und „Geschmacksbildner“, die sich für das Kulturleben dieser Gesellschaft zuständig fühlten, selbst die Zensurmaßnahmen nicht: „Wenn in zwei renommierten Buchverlagen, bei Hanser in München, bei Fischer in Frankfurt, innerhalb eines Vierteljahres zwei dicke Bücher mit zahllosen Belegen erscheinen (Frühjahr 1980), um die Zensur in der BRD zu dokumentieren; wenn diese Bücher auch in Magazinen wie dem Stern – den sogar unsere notorisch büchermeidenden Politiker „lesen“ – auf mehreren Seiten (von Jürgen Kesting) besprochen und abgebildet werden: so regt das gleichwohl keinen Politiker, keinen Staatsanwalt in der BRD einmal dazu an, anhand dieser Bücher den Verfassungsbruch – „eine Zensur findet nicht statt“, Artikel 5 – zum Anlaß für wenigstens eine kleine parlamentarische Anfrage zu nehmen: So sehr ist halt in dieser BRD die Zensur zur Tages„Ordnung“ gehörend“ 642 , sollte Rolf Hochhuth zusammenfassend schreiben. Fühlte sich die Wohlstandsgesellschaft, fühlten sich ihre (um den Stellvertreter Autor zu zitieren) „Vorstehhunde“ bloßgestellt – sei es durch ein literarisches oder dramatisches Werk, sei es durch einen Aufsatz oder Zeitungsartikel, sei es, nicht zuletzt, durch eine provokativ innovative KlassikerInszenierung –, so war wieder einmal von „Verschwörung“ und „(kommunistischer) Untergrundarbeit“ die Rede – nicht zuletzt im „Fall Friedrich“ von 1972. Hätte Carl von Ossietzky die Möglichkeit gehabt, Friedrichs Bayreuther Tannhäuser Inszenierung beizuwohnen, hätte er seine in Bezug auf die unfreundlich angenommene, weil irritierende Berliner Egmont Produktion von Anfang der 30er Jahre formulierte Vermutung (er selbst hatte diese Vorstellung nicht gesehen) ohne weiteres paraphrasieren können: „Es muß ein seltsamer Theaterabend gewesen sein. Im Parkett saß befrackt und bebändert der

641 Vgl. Barner 1994, S. 364; 598599. 642 Hoffmeister 1980, S. 319.

199 Staat, oben auf der Szene geisterte sein Bild.“ 643 Beschäftigen wir uns jetzt mit dem Friedrichschen Tannhäuser näher; fragen wir jedoch auch nach der Situation auf dem „Grünen Hügel“, fragen wir nach den Motiven, die der Bayreuther Einladung des damals noch Ostberliners zu Grunde lagen.

II. Götz Friedrichs Bayreuther Tannhäuser -Inszenierung von 1972

Um sich die Bedeutung völlig zu vergegenwärtigen, von der Götz Friedrichs Tannhäuser Inszenierung von 1972 (nicht nur) für die Bayreuther Festspiele sein sollte; um über die Bedeutung ins Klare zu kommen, von der Wolfgang Wagners Entscheidung war, Friedrich nach Bayreuth einzuladen, erscheint uns unumgänglich, auch auf das Bayreuther Publikum einen Blick zu werfen, d.h. auf jene Festspielgäste zu sprechen zu kommen, die den „Grünen Hügel“ seit der Wiederaufnahme der Festspiele allsommerlich bevölkerten – der Frage nach der Nationalität bzw. nach der sozialen Herkunft sei dabei diejenige nach der Kultur und Kunsteinstellung, nicht zuletzt nach der diese Gäste kennzeichnenden Wagner Einstellung vorgezogen. Zunächst sei jedoch auf die „Politik“ aufmerksam gemacht, die Wolfgang Wagner nach dem Tod seines Bruders Wieland „trieb“, und in Anbetracht derer die Einladung an Friedrich verstanden werden muss. Wolfgang Wagners Entscheidung, das „Hausgemachte“, d.h. die eigenen (bzw. die abzusetzenden Wielandschen) Inszenierungen mit denjenigen von „hausfremden“ Regisseuren zu ergänzen (wohl um den geahnten, nicht nur von Fritz Schleicher eingesehenen „Verkrustungen“ vorzubeugen: „Wieland Wagner, das Genie der ersten Stunde Neubayreuths, war 1966 gestorben; der Stil, den die Enkel 1951 revolutionär kreierten, hatte Furore und Geschichte gemacht, war jedoch nun selbst Geschichte geworden“ 644 ), lag u.a. das Streben nach einem neuen Gesicht zu Grunde, mit dem die Festspiele vor die Öffentlichkeit treten sollten: War die „Werkstatt Bayreuth“ bis dahin eine „Zunftwerkstatt“, wo ein „genialer Meister“ das Sagen hatte, so galt es sie jetzt in einen „modernen Dienstleistungsbetrieb mit diversifizierter Produktpalette“ umzufunktionieren; konnte man bis dahin über einen Bayreuther Stil, über eine mit den Festspielen zu identifizierende (und manches andere Theater beeinflussende) „Mode“ sprechen, so sollte jetzt das Festspielhaus selbst den „jeweiligen Moden des modernen Kulturbetriebs“ Tür und Tor öffnen – folglich

643 Ossietzky 1994, S. 347. 644 Christians 1995, S. 172.

200 wurde es für die Wolfgangsche Festspielleitung unmöglich, an jener „Mode“ teilnahmslos vorüberzugehen, die seit den ausgehenden 60er Jahren das (Musik) Theater erschütterte: „Die erste „Modewelle“, der sich Bayreuth – wenn auch mit Verspätung – öffnete, war die im Gefolge der 68erBewegung auftretende „Repolitisierung der Kunst“. Zwar betonte Wolfgang Wagner noch 1975 in einem Zeitungsinterview, daß er sich keine politischen Motive untermischen lassen wolle und betonte: „Seit 1951 ist die Politik hier im Festspielhaus weggewischt!“; der Tatsache freilich, daß sich unter den jüngeren Kunstschaffenden immer mehr der Wille ausbreitete, dem Musiktheater wieder eine kritische, aufklärerische Funktion zuzusprechen, konnte auch er sich nicht verschließen.“ 645 Um Wagners Werk „zeitverständlich“ und „spannungsvoll“ in Szene zu setzen, um dem „Zeitgeist“ (der damals offensichtlich links stand 646 ) Genüge zu tun, verfiel Wolfgang Wagner auf den Gedanken, Walter Felsensteins „Schüler“ Götz Friedrich einzuladen: „Es bleibt Bayreuth ja gar nichts anderes übrig, als die Aktualität des Wagnerischen Werkes unter den sich ständig verändernden gesellschaftlichen Verhältnissen zu überprüfen und zu Neudeutungen zu kommen. Ich persönlich bin überzeugt, daß hierfür Götz Friedrich besonders wichtige und günstige Voraussetzungen hat. … Ich bin fest davon überzeugt, daß die Arbeit von Götz Friedrich die Möglichkeit und vielleicht sogar die Notwendigkeit einschließt, weiterhin mit ihm zu arbeiten.“ 647 (In seinem Brief, den er an Friedrich anlässlich dessen 65. Geburtstags schickte, sollte der Festspielchef erklären, Anfang der 70er Jahre vor allem an Friedrichs „Originalität“, nicht so an dessen Zugehörigkeit zu Felsensteins „Schule“ interessiert gewesen zu sein: „Lieber Götz, Du kamst von einer renommierten, international anerkannten Theaterstätte zu uns, aber ausschlaggebend dafür, daß ich Dich nach Bayreuth berief, waren weder jene „Schule“ noch deren besonderer „Stil“. Vielmehr resultierte Deine Verpflichtung aus meinen Hoffnungen, die ich in Deine ganz eigene, unverwechselbare Persönlichkeit setzte. Ich war also weniger an dem FelsensteinSchüler, um so mehr jedoch an dem originären Künstler Götz Friedrich interessiert, von dem ich mir für die Festspiele und Wagners Werk eine profunde, zeitverständlichspannungsvolle Aussage erwartete.“ 648 ) Was für ein Mut dabei gefasst werden musste, liegt auf der Hand – abgesehen von Friedrichs damaliger DDRStaatsbürgerschaft (die selbst Unruhe stiftend genug erschien: „Ich habe keine Ahnung, welcher Jahrgang dieser Ostberliner Regisseur ist“, schrieb nach der Premiere von Friedrichs Bayreuther Tannhäuser Inszenierung einer der vielen „Entrüsteten“, „aber

645 Gebhardt 1998, S. 71. 646 Vgl. Thränhardt 1996, S. 142. 647 Christians 1995, S. 68. 648 Ebenda, S. 6465.

201 wenn er zu den jüngeren Jahrgängen gehört, wird er selbstverständlich im Sinne seines Regimes versuchen, unsere Deutschesten Festspiele kommunistisch zu unterwandern.“ 649 ), war es auch die Art und Weise, in der mancher „ostdeutsche“ Regisseur – nicht zuletzt gerade Friedrich – die überlieferten Werke (die „allerklassischsten“ nicht ausgenommen) auf die Bühne zu bringen pflegte, was zu einem Stolperstein zu werden drohte: „Ostdeutsche Regisseure folgten einem Ansatz, der zweifellos stark durch die politische Situation beeinflußt war, unter der sie arbeiteten. Sie neigten dazu, Menschen und Situationen zu demaskieren, und behandelten den sozialen und historischen Kontext eines Werks als nicht weniger wichtig als die theatralische und musikalische Form. Das zeigte sich in ihrer dynamischen Inszenierung, in der nüchternen Charakterisierung der Figuren und in exakten Anweisungen an die Sänger. Die Inszenierungen waren häufig hart, kalt und karg. Die Regie stand so sehr im Mittelpunkt, daß dieser Ansatz als „Regietheater“ bekannt wurde. Das waren auch die Arbeitsmethoden, nach denen sich Friedrich, sein Bühnenbildner Jürgen Rose und der Choreograph John Neumeier richteten.“ 650 Die Frage, ob das Bayreuther Publikum der einsetzenden 70er Jahre (bzw. ob das Bayreuther Publikum schlechthin) in der Lage war, für Härte, Kälte und Kargheit dieses demaskierenden, sozial und historisch interessierten „Regietheaters“ das erforderliche Verständnis aufzubringen, machte allerdings glauben, eher verneinend beantwortet werden zu müssen – schließlich meinte Horst Seeger, der Leiter der Dresdner Staatsoper, in Bezug auf den ausgebuhten Chéreauschen „JahrhundertRing “ von 1976 schreiben zu müssen: „Das Bayreuther Publikum ist ein eigenes Kapitel, für uns eigentlich uninteressant, aber doch insofern zu erwähnen, als es sich in seiner Reaktion zeigte, daß es für neue Vorschläge absolut keinen verläßlichen Partner abzugeben vermag.“ 651 Um über dieses Publikum (dem Seeger eine „Kenntniseitelkeit“, d.h. die Einbildung, „seinen“ Wagner am besten zu kennen und am besten zu verstehen, zum Vorwurf machte); um über die WagnerEinstellung (bzw. über die Kultur und Kunsteinstellung schlechthin) dieses Publikums ins Klare zu kommen, lohnt es, auf die oben erwähnten Worte Wolfgang Wagners ( „Seit 1951 ist die Politik hier im Festspielhaus weggewischt!“ ) zurückzukommen. Nicht unbeachtet darf dabei jene Aufforderung bleiben, die die beiden Wagnerenkel anlässlich der Wiedereröffnung der Festspiele an die gesamte Besucherschaft richteten, nämlich diejenige, „von Gesprächen und Debatten politischer Art auf dem Festspielhügel

649 Zelinsky 1976, S. 262; vgl. Ellwanger 1983, S. 43. 650 Spotts 1994, S. 306. 651 Ellwanger 1983, S. 42.

202 freundlichst absehen zu wollen“ 652 . Hartmut Zelinsky fand diesen Anschlag „aus mehreren Gründen aufschlußreich. Einmal weil er vorgibt, man könne sich bei den Bayreuther Festspielen und bei dem dabei aufgeführten Werk Richard Wagners einzig und allein auf den Aspekt der Kunst beschränken und als sei der „Festspielhügel“ ein Gelände außerhalb aller Realität, das heißt tatsächlich ein heiliges Gelände, ein „Erlösungszentrum“. Für diese These scheint die immerhin erstaunliche Tatsache zu sprechen, daß in dem 1952 erscheinenden Heft „Weltdiskussion um Bayreuth“, das von der „Gesellschaft der Freunde von Bayreuth e. V.“ herausgegeben wird, ein Foto zu finden ist, auf dem die Begrüßung des Bürgermeisters von Oberammergau durch Wolfgang Wagner zu sehen ist und das durch die Postierung der beiden vor dem offiziellen Festspielschild des Jahres 1951 einen durchaus offiziösen Anstrich hat. Wenn der antisemitische Hofprediger August Stöcker nach der ersten Parsifal Aufführung 1882 schrieb: Sucht man zu Bayreuth und Parsifal eine Parallele, so kann man nur an Oberammergau und das Passionsspiel denken“ [...] , so bezeugt diese Bemerkung nicht nur, daß Stöcker befangen in seinem fanatischen Antisemitismus zu gar keinem anderen Urteil gelangen kann, sondern auch, daß er zu genau der ParsifalAuffassung gekommen ist, die Wagner beabsichtigt hat. Stöcker urteilt also als „Bayreuther Idealist“. Doch dieselbe Auffassung im Jahre 1951 zumindest zu unterstützen, kann nur heißen, daß man dem Parsifal und Bayreuth immer noch irgendeine Art von Erlösungsfunktion oder zumindest religiösen Charakter zubilligt. Zweifellos war auch das Nachkriegspublikum anfällig für Erlösungshoffnungen solcher Art und der enorme Erfolg der Wieland’schen Parsifal Inszenierung von 1951/52, die nicht zufällig zu der repräsentativen Inszenierung von Neu Bayreuth wurde, scheint das zu bestätigen“653 . Obwohl Wieland Wagner in seinen letzen Jahren eine allmähliche „Repolitisierung“ des Wagnerschen Werks (d.h. dessen Umwandlung in, um von Hans Mayers Vokabular Gebrauch zu machen, „bürgerliche Parabelspiele“) in Angriff nahm, obwohl er sich bemüht zeigte, dieses Werk, nicht zuletzt den besagten Parsifal , gründlich zu „säkularisieren“, blieb ihm nur ein partieller Erfolg vorbehalten – immerhin war Hans Knappertsbusch da, der Parsifal Dirigent des „Neubayreuth“, Ende der 50er Jahre von Wieland selbst der „Chefdirigent der Bayreuther Festspiele seit 1951“ 654 genannt, dem der Wagnerenkel – den überlieferten Floskeln noch nicht ganz abgeschworen – das zweifelhafte „Verdienst“ zusprach, bei der Neuetablierung der von demselben Wagnerenkel später so bitter beklagten „Gemeinschaft der Gläubigen“ kräftig mitgearbeitet zu haben: „Sein Geheimnis ist

652 Zelinsky 1976, S. 281. 653 Ebenda, S. 281. 654 Vgl. Voss 1976, S. 58.

203 sein zweifelsfreier, unbedingter Glaube an das Werk. Diesen Glauben überträgt er magisch auf Musiker und Zuhörer gleichermaßen und schafft so eine Gemeinschaft der Gläubigen…“ 655 (Nur wenige Jahre später sollte Wieland – die Licht und Schattenseiten des KnappertsbuschDirigats inzwischen eingesehen – in einem Brief an den neu erworbenen Parsifal Dirigenten zugeben, „es habe sich durch das bisherige Tempo viel ZeitlupenHeiligkeit in die Inszenierung eingeschlichen, die ursprünglich nicht beabsichtigt gewesen sei“656 .) Die „Gemeinschaft der Gläubigen“ sollte sich bald als langatmiger erweisen als Wielands (um von Hartmut Zelinskys Vokabular nochmals Gebrauch zu machen) „Selbstverstrickung in dieses religiöse BayreuthVerständnis“ 657 , dem der Wagnerenkel (für sich ) vor seinem Tod doch noch ein Ende zu setzen wusste; anders als die Festspielleitung, anders als die beiden WagnerBrüder, die – „Altbayreuths“ Vokabular hin oder her – von 1951 an bemüht waren, einen wirklichen Neuanfang zu wagen, d.h. mit den bisherigen Tabus zu brechen, die Festspiele ebenso wie die WagnerForschung selbst „von den politischen Hypotheken ihrer Vergangenheit“ zu befreien, verblieb mancher Festspielbesucher (viel zu oft auch gewollt) bei den althergebrachten Klischees: „Mit den Leistungen des Neuen Bayreuth haben Wieland und Wolfgang Wagner die Festspiele von den politischen Hypotheken ihrer Vergangenheit befreit. Eine ähnliche Vergangenheitsbewältigung hat unter Teilen des Bayreuther Publikums noch nicht stattgefunden. Nur so ist es möglich, daß die Rede von Bundespräsident Walter Scheel beim Festakt zum 100. Jubiläum der Bayreuther Festspiele (d.h. vier Jahre nach der Premiere von Friedrichs Bayreuther Tannhäuser Inszenierung – Anm. M.U.) vielfach helle Empörung provoziert hat. Scheel hatte nämlich den europäischen und nicht den deutschen Ton angeschlagen, hatte Wagner nicht über die großen europäischen Künstler gestellt, sondern in deren Mitte, hatte die politische Geschichte Bayreuths in Zusammenhang gebracht mit der politischen Geschichte Deutschlands und die Fehler Bayreuths als Fehler der Nation herausgehoben. Dinge beim Namen zu nennen vor Bayreuthianern in Bayreuth wie diese: „Wurde nicht nach 1933 Bayreuth von den Nationalsozialisten okkupiert? Niemand kann das leugnen. Schuld daran waren hauptsächlich die für Bayreuth Verantwortlichen, die immer noch meinten, in Bayreuth werde nur Kultur gepflegt, ohne zu merken, daß man in Bayreuth schon lange üble Politik machte…“ – derlei ausgesprochen konnte nur jene treffen, die sich betroffen fühlen mußten,

655 Zelinsky 1976, S. 283. 656 Voss 1976, S. 60. 657 Vgl. Zelinsky 1976, S. 283.

204 und das waren leider nicht wenige zu dieser Stunde. Solche Haltung charakterisiert den harten Kern des Bayreuther Publikums. Dreißig Jahre nach dem Zusammenbruch gelten noch die alten Tabus.“ 658 (An die Bilder „wie aus der Ferne längst vergangener Zeiten“, um Wagners Fliegenden Holländer zu paraphrasieren, sollte sich übrigens noch Wolfgang Koeppen erinnert sehen, als er Anfang der 80er Jahre den „Grünen Hügel“ besuchte – um einem Parsifal beizuwohnen, für dessen Inszenierung niemand anders als Götz Friedrich verantwortlich zeichnete: „Jetzt stechen mir Kommilitonen aus meiner Jugendzeit ins Auge“ , sollte der Treibhaus Autor berichten. „Oh Gott, sie sehen wie von damals aus: rote Mützen auf kurzgeschorenem Haar, Korporationsbänder über die geschwollene Brust gespannt, und siehe da, sie stürzen, ganz wie zu Wilhelms Zeiten, an die Balustrade der Terrasse, wo unten der Landesvater ankommt, der Bayerische Ministerpräsident (nämlich Franz J. Strauß, der bereits 1972 bei der skandalumwitterten Premiere des Friedrichschen Tannhäuser eine Rolle spielte, wie davon unten Zeugnis abgelegt wird – Anm. M.U.). Viel Polizei. Die Polizisten bilden Spalier. Die Studenten recken den Arm, schwenken ihre roten Kappen, rufen hoch, hoch, alles wie einst.“ 659 ) Sollten Scheels Worte von 1976 eine „helle Empörung“ provozieren, so löste Friedrichs (Regie) Tat einen „regelrechten“ Skandal aus. Die 1972er Tannhäuser Produktion („Friedrich hatte die „sozialistischste“ Inszenierung geliefert, die je auf der Bayreuther Bühne gezeigt worden war“ 660 , schrieb Frederic Spotts in seinem Aufriss der Bayreuther Festspielgeschichte.) muss vom (Premieren) Publikum wie ein Faustschlag ins Gesicht empfunden worden sein – an dem offensichtlich missverstandenen, zur leeren Floskel, schlimmer noch: zur propagandistisch verwertbaren Parole gewordenen („Zauber“) Spruch „Hier gilt’s der Kunst“ festhaltend, glaubte mancher Festspielbesucher immer noch, auf einem „heiligen Gelände“ zu weilen, glaubte, dem Tonmagier Wagner eine „Verehrung“ schuldig zu sein, nicht jedoch, sich vom hochbrisanten (durch die Friedrichsche Regie in aller Härte gezeigten) Theater des politischsozial interessierten, für einige Zeit sogar steckbrieflich gesuchten Revolutionärs Wagner betroffen machen zu lassen.661 Folglich, nachdem diesem Festspielbesucher nicht Genüge getan worden war, kam es bis zu Mord und Bombendrohungen („Ich suche jemanden, der mit mir den Regisseur umbringt!“ 662 schrie eine Festspielbesucherin – ohne sich zu vergegenwärtigen, Friedrichs Regiekonzept oder

658 Ellwanger 1983, S. 41. 659 Koeppen 1986, S. 219. 660 Spotts 1994, S. 310. 661 Vgl. Zelinsky 1976, S. 284. 662 Ellwanger 1983, S. 40.

205 zumindest dessen WartburgDeutung dadurch die höchste Authentizität, anders gesagt: die höchste „Werktreue“ zuzuerkennen: „Die Wartburgschaft wurde gleichzeitig archaisch und höchst modern inszeniert. Einerseits als Satire auf das Festspielgetue am Grünen Hügel von Bayreuth, andererseits als bigottes Ritterspektakel, bei welchem es um Leib und Leben geht. Da werden die Wartburgfrauen roh weggejagt (sic!) . Nun zieht man die Schwerter. Der Sünder soll totgeschlagen werden.“ 663 ); folglich drohten die „Freunde von Bayreuth“ (d.h. die „Gesellschaft der Freunde von Bayreuth e. V.“) ebenso wie die übrigen Festspielförderer, allen voran die politisch Tätigen, die mit dem Wagnerschen Landgrafen „wahlverwandten“ Repräsentanten der „ordnenden Staatsmacht“, ihre bisherige Förderung neu zu überlegen: „Seit Mitte der fünfziger Jahre schloß sich der Eröffnungspremiere aller Festspiele ein Empfang des Bayerischen Ministerpräsidenten an [...] , so auch 1972“ , sollte Wolfgang Wagner in seiner LebensAkte schreiben. „Diesmal allerdings begleitete den Einzug der Gäste, vor allem als man des so unbarmherzig geschmähten Götz Friedrich ansichtig wurde, eine eigenartig beklommene Stimmung. Es war, als ob die Gäste unmittelbar zuvor dem Abgesang an die zivilisierte Welt, ja einer Art Untergang des Abendlandes hatten beiwohnen müssen. Eine furchtbar gedrückte Atmosphäre herrschte – zwischen Peinlichkeit und Empörung über die kulturelle Barbarei auf dem Grünen Hügel. An einem Tisch wurde getuschelt, wenn der Wolfgang Wagner einen solchen Erzbolschewiken wie den Friedrich in Bayreuth wirksam werden lasse, müsse man ihm eigentlich die Zuschüsse der öffentlichen Hand kürzen, am besten gleich entziehen.“ 664 (Wie es um den Bayerischen Ministerpräsidenten und dessen Gefolge bestellt war, sollte Dietrich Steinbeck zusammenfassen: „Als Götz Friedrich am 21. Juli 1972 vor den Vorhang trat, um sich für die Begeisterung des „Tannhäuser“Premierenpublikums zu bedanken, da mischten sich in diese Begeisterung, wie zu erwarten, Rufe unverblümten Hasses. Würdige Herren in Schwarz drohten mit der Faust zur Bühne herauf, das schlimme Vokabular des Kalten Krieges auf der Zunge; da war von „Rache“, ja von „Schande“ die Rede, hieß es nicht nur „Buh“, sondern „Pfui“. In den Logen der geladenen Gäste trugen CSU und SPDVertreter den Sängerkrieg gleich noch einmal aus! Franz Josef Strauß verließ demonstrativ seinen Platz; Alfons Goppel hingegen, der freistaatliche Ministerpräsident, glaubte sich beteiligen zu müssen an dieser bösen, chauvinistisch getrübten Demonstration gegen einen „DDRRegisseur“, hinter der die bayrische Ablehnung der OstVerträge als eigentliches Motiv stand. Strauß’ und Goppels Verachtung für die nicht minder demonstrativ applaudierenden Bundesminister Genscher und

663 Christians 1995, S. 62. 664 Wagner 1994, S. 251252.

206 Dohnányi stand der des Landgrafen Herrmann für den Rebellen Tannhäuser in nichts nach. Wolfgang Wagner mußte endlich selbst auf die Bühne, um sich mit seinem beschimpften, politisch verunglimpften Regisseur zu solidarisieren. Und auch später noch hatte er all jenen zu wehren, die amtlicherseits einen „Entzug der Subvention“, ja ein „Verbot der Inszenierung“ in Wort und Schrift forderten.“ 665 ) Kurz gefasst: Ein „bigottes Ritterspektakel“ (um sich der Worte von Hans Mayer zu bedienen) auf der Bühne – und ein ebenso bigottes „Spektakel“ im Zuschauerraum; ein Faustschlag des Regisseurs ins Gesicht des (Premieren) Publikums – und drohende Fäuste zur Bühne herauf; Politik auf dem Theater, viel mehr noch aber im Theater – ausgerechnet in jenem Theater, vor dessen Betreten man von den „Gesprächen und Debatten politischer Art“ abzusehen forderte. Wer war der Mann, der dies zustande brachte; wer war dieser Götz Friedrich, der es schaffte, jenes Publikum betroffen zu machen, das sich als eine „Gemeinschaft der Gläubigen“ sah und das sich auf dem „Grünen Hügel“ zu versammeln pflegte, um zu „verehren“, nicht um sich „betroffen“ machen zu lassen? Beschäftigen wir uns mit dem Friedrichschen (Wagner) Theater näher. Götz Friedrich selbst gab, als er den Tannhäuser in Angriff nahm, zu wissen, nicht als „Bilderstürmer“ nach Bayreuth gekommen zu sein 666 – allerdings sollte sich das Bayreuther Publikum, Friedrichs Worten kaum Gehör schenkend, von Anfang an voller Misstrauen zeigen (zumal der Regisseur keinen Hehl daraus machte, dem Wagnerschen Werk, das er bis dahin gemieden hatte, nicht immer fasziniert gegenüber gestanden zu haben – bei einem Theatermacher, der auf dem „Grünen Hügel“ die Regie „anvertraut“ bekam, etwas bis vor kurzem nur schwer Vorstellbares: „Wenn man den Weg zum Musiktheater vor allem durch die Werke Mozarts, Verdis, Puccinis, Janáčeks fand, überrascht es sicher nicht, daß anfangs eine gewisse Abwehr oder Ratlosigkeit gegenüber Wagner vorhanden war“ , sollte Friedrich in einem Interview sagen. „Mich ärgerte immer der kunstideologische Totalitätsanspruch, der mit seinem Werk verbunden war, ehe ich zu begreifen begann, daß dieser Zug von anderen in seiner Nachfolge mehr hochgespielt wurde, als es dem suchendem, nach Neuem strebenden, dabei auch irrenden, aber immer imposanten Künstlertum Wagners entsprach. Freilich hat mich stets objektivierende, allgemeingültige, ins Erhellende strebende Kunst mehr fasziniert als der bloße Umschlag von Subjektivismen ins Metaphysische. Das Gesamtwerk Richard Wagners jedoch ist so überreich – auch an Widersprüchen –, daß man gerade aus diesen Widersprüchen die weite Menschlichkeit, die gesellschaftliche Relevanz und die progressiven

665 Christians 1995, S. 6869. 666 Vgl. ebenda, S. 179.

207 Visionen entwickeln kann, durch die Wagners Werk auch heute, vielleicht erst recht heute, erstaunlich universell, Kopf und Gefühl bewegend, wirken könnte.“ 667 ). Sollte Wolfgang Wagner zugeben, an Friedrichs Herkunft nur ganz wenig, wenn überhaupt interessiert gewesen zu sein, so galt das Interesse des größten Teils des Festspielpublikums gerade dieser Herkunft – über die bereits erwähnte DDRStaatsbürgerschaft hinaus, die schon manchen Festspielbesucher misstrauisch machte (man denke hier nicht nur an den Kommunismus Verdacht, mit dem man dem Regisseur begegnete, sondern auch und vor allem an die Art und Weise, in der die „ostdeutschen“ Regisseure – diejenigen vom Musiktheater nicht ausgenommen – die „klassischen“ Werke in Szene zu setzen pflegten), war es Friedrichs künstlerische „Heimat“, nämlich die Komische Oper in (Ost) Berlin, die ebenfalls manchem Vorurteil zu Grunde lag. Wie es um die Beziehung dieses Hauses (bzw. dessen Inszenierungspraxis) zum WagnerTheater bestellt war, legte Hans Mayer nahe: „Der Regisseur Götz Friedrich wirkte im Augenblick, da er die Einladung erhielt, den neuen Tannhäuser in Bayreuth zu inszenieren, an Walter Felsensteins „Komischer Oper“ in Ostberlin. Das repräsentierte ein Programm. Übereinstimmend mit Richard Wagner und der Bayreuther Überlieferung insofern, als auch Felsenstein mit seinen Schülern, aus ähnlichen Erwägungen wie Richard Wagner in seinen theoretischen Schriften, den Begriff der höfisch bürgerlichen Oper ablehnte und ersetzen wollte durch den Terminus „Musiktheater“. Andererseits unterschied sich Felsensteins Konzept von jenem Richard Wagners durch einen entschiedenen Rationalismus. Den Kreislauf von Mythos und Aufklärung lehnte man ab in der „Komischen Oper“. Auch der Mythos sei Gegenstand der realen Interpretation: der Aufklärung. Hier öffnete sich ein Konflikt zwischen den ästhetischen Maximen der Bayreuther Tradition und jenen des realistischen Musiktheaters. Felsenstein selbst war redlich genug, in seiner eigenen Theaterarbeit das Werk Richard Wagners auszuklammern. Man spielte Verdi, Offenbach, Mozart und den „Freischütz“, vieles andere noch, durchaus nicht immer Lustspielhaftes, doch nicht Richard Wagner. Eine Ausnahme wurde mit dem Fliegenden Holländer gemacht, allein auch dieses Werk übergab der Begründer der „Komischen Oper“ einem Mitarbeiter. Er selbst versagte sich sogar noch diesem Frühwerk.“ 668 (Friedrich versagte sich dem Wagnerschen Werk nicht – allerdings tat er das keinesfalls aus mangelnder „Redlichkeit“, sondern weil er sich im Klaren war, dass man von einem guten „Schüler“ außer dem obligatorischen Dank an seinen „Meister“, außer der Fortsetzung der gelernten Ideen auch deren Überprüfung erwartet: „Wir wären schlechte Schüler, wenn wir dem Trend

667 Jaeger 1983, S. 9. 668 Mayer 1978, S. 406407.

208 zur Isolierung der Arbeitsleistung Felsensteins in methodischer Hinsicht schweigend zusähen“ , sagte er, wie sich Heinz Josef Herbort erinnern sollte, bereits 1965 in Leipzig. „Wir, seine Schüler, sind aufgefordert, auf eigene Weise und nicht nur an der Komischen Oper zu erproben, ob die Ausnahme zur Regel werden kann, ob die Gedanken des Musiktheaters wirklich revolutionierend sind, qualitativ und quantitativ – sich also auch durch andere anderswo und Bisheriges verändernd fruchtbar auswirken.“ 669 Dass man von einem guten „Schüler“ auch erwarten darf, über das von dem „Meister“ gepflegte Repertoire zu springen, lag für Friedrich ebenso auf der Hand.) Mit welchen Vorsätzen auch immer Götz Friedrich nach Bayreuth kam, mit welchen Vorurteilen auch immer er von der Bayreuther Besucherschaft empfangen wurde, schließlich war es nur die Leistung, die zählte – und Friedrichs Leistung, d.h. in diesem Fall seine Bayreuther Tannhäuser Inszenierung, glich in der Tat einem „Bildersturm“. Der Nachsage Genüge tuend, ebenso wie die übrigen „ostdeutschen“ Regisseure auf „Demaskierung“ erpicht zu sein; der eigenen Überzeugung eingedenk, „Wagner gehört weder ins Museum noch in den Gral“ 670 , nahm er sich manches bis dahin für sakrosankt Gehaltene aufs Korn – so z.B. die WartburgGesellschaft, so z.B. den Landgrafen selbst, der, wie sich Walter Bronnenmeyer ausdrücken sollte, mit seinem ganzen Ambiente für „eine Art mathematisch gegebener Größe“ gehalten wurde, „die keine Veränderung zuließ“671 . (Wie es um diese „mathematisch gegebenen Größen“, wie es um all die Landgrafen, Könige und Götter, an denen auch Wieland seinerzeit zu rütteln gesucht hatte – ohne sie allerdings endgültig „vom Podest“ holen zu können –, auf dem „Grünen Hügel“ noch in den 70er Jahren bestellt war, sollte nach Götz Friedrich auch Patrice Chéreau mit seinem Nibelungenring Team kennen lernen: „Es stellte sich [...] in den Diskussionen heraus, daß die Gegner des Jahrhundert„Rings“ sich am meisten an Chéreaus Wotan und SiegfriedCharakterisierung rieben. Ein recht ungöttlicher Gott und ein ziemlich unheldischer Held wurden zum Ärgernis. Mit anderen Worten: Kritik ist nicht erlaubt, wo es um Wagnersche Götter und Helden geht. [...] Es drängt sich die Vermutung auf, daß dabei noch guterhaltener Obrigkeitsrespekt mitschwingt, etwas von der Untertanengesinnung, die auch heute noch gegenüber gewählten Volksvertretern vom Landesvater oder vom Stadtoberhaupt spricht. Wotan ist der Oberste. Er darf folglich, was andere nicht dürfen. Ihm wird Immunität zugebilligt, seine Vergehen werden bagatellisiert, weil er sie mit imposanter Geste ausführt. Einer kritischen Generation kann das verklärende

669 Förderkreis der Deutschen Oper Berlin (FDOB) 1991, S. 13. 670 Jaeger 1983, S. 13. 671 Christians 1995, S. 179.

209 WotanBild nicht genügen, eben jener, die sich schlecht zum Untertan eignet. Diese Generation – Patrice Chéreau (ebenso wie Götz Friedrich – Anm. M.U.) gehört dazu – gibt in der Bayreuther Publikumsresonanz noch nicht den Ton an.“ 672 ) Friedrich wagte hier dagegen eine grundlegende Veränderung, indem er – von lauter „wahren Bildern jenseits von Apotheose und Verklärung“ 673 Gebrauch machend, die seine gesamte Theaterarbeit kennzeichneten – den Landgrafen, diese Verkörperung der „ordnenden, gebietenden bzw. auch verbietenden Staatsmacht“, die (Hof) Gesellschaft, die Sänger sowie die Soldatenschar möglichst realitätsnah, d.h. mit aller Borniertheit, mit sämtlichen Licht und Schattenseiten einer realen Gesellschaft in Szene setzte. Nicht zuletzt war es die Bayreuther Besucherschaft selbst, war es die nach Bayreuth geladene politische Prominenz der Bonner Republik und des Bayerischen Freistaats, der auf der Friedrichschen Bühne ein keineswegs verklärender Spiegel vorgehalten wurde: „Wirklich und zutiefst getroffen fühlte sich das orthodoxe Wagner Publikum durch die präzise Korrespondenz von Innen und Außenwelt, von szenischer und gesellschaftlicher Wirklichkeit in dieser Aufführung“ , sollte Dietrich Steinbeck Friedrichs herausfordernde Veränderungen auf einen Nenner bringen. „Als im zweiten Akt hinter dem hölzernen Spielpodium die Fahnen gehißt wurden, zur Feier der landgräflichen Macht, als bewaffnete Knechte in den Saal drangen, über Recht und Sitte, Ruhe und Ordnung im Krieg der Sänger zu wachen, da war auch Bayreuth selbst anwesend mit all seinem repräsentativen Rummel und seinen ebenfalls polizeibewachten gesellschaftlichen Ritualen.“ 674 Unverändert, „Undemaskiert“ sollte keine jener Szenen bleiben, an denen zu rütteln bis vor kurzem undenkbar erschien; trotzdem kann man dem Regisseur nicht vorwerfen, nicht „werkgetreu“ inszeniert zu haben – nicht umsonst sollte ihm einer seiner SängerDarsteller, nämlich der Tenor René Kollo, anerkennend nachsagen: „Er hält sich noch an das Stück, und er fährt sehr gut damit.“ 675 Was Friedrichs Bayreuther Tannhäuser Inszenierung, vor allem deren provozierende WartburgDarstellung (oder auch die ebenso „demaskierende“, d.h. ebenso kontroverse „Jagdszene“ im ersten Aufzug) betrifft, so meinte (nicht nur) Hans Mayer, dem Regisseur bessere Kenntnisse von Wagners Werk (und dessen Quellen) zusprechen zu müssen, als es bei seinen „kenntniseitlen“ (um von Horst Seegers Terminus nochmals Gebrauch zu machen) Kritikern oft der Fall war: „[...] der Tannhäuser ist weder Große Oper der MeyerbeerNachfolge, wie wenige Jahre vorher der Rienzi, noch gemüthafte Weiterführung der deutschromantischen Tradition des von Wagner bewunderten Freischütz

672 Ellwanger 1983, S. 4243. 673 Vgl. Christians 1995, S. 188. 674 Ebenda, S. 70. 675 Ebenda, S. 179.

210 Komponisten. Alle bewährten Rezepte und Zutaten werden beachtet. Tieck und Heine beim Venusberg, E.T.A. Hoffmanns serapiontische Erzählung vom „Kampf der Sänger“, die Wagner sehr genau las, Götz Friedrich auch; kaum taten es die meisten Kritiker, sonst hätten sie entdeckt, daß der Auftritt der Jagdgesellschaft im ersten, die Attitüde der landgräflichen Leibgarde im zweiten Akt von Hoffmann präzis beschrieben, von Wagner im Libretto nachvollzogen wurde. Bei Hoffmann spricht der Landgraf so zu Ofterdingen: „Ihr habt mit Euren wahnsinnigen Liedern mich, Ihr habt die holden Frauen an meinem Hofe schwer beleidigt. Euer Kampf betrifft also nicht mehr die Meisterschaft allein, sondern auch meine Ehre, die Ehre der Damen… Einer von meinen Meistern, das Los soll ihn nennen, stellt sich Euch gegenüber, und die Materie, worüber sie singen, mögt Ihr dann beide selbst wählen. – Aber der Henker soll mit entblößtem Schwerte hinter Euch stehen und wer verliert, werde augenblicklich hingerichtet.“ Das spürte man diesmal im Wartburgakt in Friedrichs Inszenierung. Erst dadurch wird evident, was Wagner unter dem Gegensatz der Gedanken und Empfindungsweisen verstand: die Antithetik von affirmativer und negierender Kunstauffassung.“ 676 Nicht einmal die am eigenwilligsten anmutenden Regieeingriffe, die Friedrich (hier ebenso wie in seinen anderen Inszenierungen) wagte, bedeuteten also einen Bruch mit der (eigentlichen) „Werktreue“, wohl aber einen Bruch mit dem, was man mit dieser „Werktreue“ vielerorts immer noch verwechselte – hatte Wieland Wagner seinerzeit gegen eine falsche „Werktreue“ gewettert, hatte er einst mit seiner Abneigung gegen eine „tautologische“ Umsetzung der Musik ins Bühnengeschehen, hatte er mit seinen „Ausleihen“ bei dem Brecht Theater Furore gemacht, ohne dadurch das Wagnersche Werk zu verfälschen oder es der Glaubwürdigkeit bzw. des „Reizes“ zu berauben, so setzte nun Götz Friedrich diese Inszenierungspraxis fort. Folglich sprach er sich in einem Interview nicht nur gegen die Tautologie, nicht nur für die Suche nach dem „Epischen“, dem „Brechtschen“ bei Wagner aus, sondern auch für die Berücksichtigung aller mit dem Musiktheater gemachten Erfahrungen (d.h. gegen die Abgrenzung des Wagnerschen Werks gegen die übrigen „Meisterwerke der Opernliteratur“): „Die dialektische Einheit von Gesang und Darstellung kann und muß zweifellos bei der aktuellassoziativen Profilierung der Figuren stärker realisiert werden. Dabei macht die Wagnersche Musiksprache ein neues Verhältnis zum Begriff „Handlung“ erforderlich. Sie ist am allerwenigsten als sich nur optisch veräußernde Aktion zu begreifen. Wenn Wagner ausgerechnet den „Tristan“ als „Handlung in drei Akten“

676 Mayer 1978, S. 409410.

211 bezeichnet, weist das darauf hin, daß der Musik eine Erzählfunktion zugewiesen wird, deren bewegende Größe sich nicht jedes Mal und schematisch in szenischen BewegungsAufwand widerzuspiegeln hat. Was mich in der Arbeit an Monteverdis „Heimkehr des Odysseus“ beschäftigte, scheint mir in besonderer Weise auch bei Wagner nötig: Handlungen zu Haltungen verdichten – Haltungen begriffen im Brechtschen Sinne als Verhaltensweisen sowohl gesellschaftlicher und individueller wie ästhetischer Art. Eigentümlicherweise verstellt der von Wagner selbst initiierte Begriff des „Musikdramas“ bisweilen den Blick auf den eigentlichen Charakter der DarstellFunktion seiner Musik. Sie ist vorwiegend episch – also erzählend, mit der dramatischen Situation zugleich auch ihre Auslegung liefernd, schildernd und kommentierend in einem. Hier sehe ich reizvolle, notwendige Ansatzpunkte für die weitere Erprobung von Einsichten, die gerade in den letzten Jahren gewonnen wurden hinsichtlich der kontrapunktischen Korrespondenz zwischen Szene und Musik, Gesang und Instrumentarium, Handlung und Klangbild. Die an anderen Meisterwerken der Opernliteratur gewonnen Erfahrungen sollten dabei nie über Bord geworfen werden. Eher denke ich, daß genau so, wie solche Erfahrungen der WagnerInterpretation nützen können, umgekehrt eine starke Beschäftigung mit dem Gesamtwerk Richard Wagners auch der Ausreifung der MusiktheaterMethode, wie wir sie verstehen, zugute kommt.“ 677 Ohne sich je zu einem bloßen „Arrangeur“ degradieren zu lassen, dessen Aufgabe in der Bebilderung der musikalischen Abläufe besteht; ohne je in diktatorischer Manier über die ihm zur Verfügung stehenden Werke herzufallen, um sich diese Werke, um sich ihr Gedankengut zunutze zu machen, setzte sich Friedrich zum Ziel, „zwischen den Extremen beharrender Bequemlichkeit und publicitysüchtiger Waghalsigkeit, also zwischen pfleglicher Musealität und modernistischen Eskapaden“ souverän manövrierend, die „Werktreue“ mit der „Zeitnähe“ in Einklang zu bringen, „denn Werktreue ohne aktuelle Wirkungsfähigkeit scheint im Sinne der lebendigen Kunstfunktion von Oper ebenso wertlos zu sein wie modische oder politische Aktualisierung unter Verletzung des Originals“ 678 . Dieser seiner Überzeugung, die er bereits Ende der 60er Jahre formuliert hatte, blieb er auch in Bayreuth (wo er nach dem Tannhäuser auch Lohengrin und Parsifal auf die Bühne bringen sollte) verpflichtet – nicht umsonst sollte Peter FischerAppelt Friedrichs Bayreuther Tannhäuser in einem Atemzug mit der Friedrichschen „Werktreue“ nennen. 679 Beschäftigen wir uns jetzt mit dieser denkwürdigen Produktion näher, kommen wir auf jenen Tannhäuser zu sprechen, dessen Tragödie in

677 Jaeger 1983, S. 10. 678 Friedrich 1986, S. 34. 679 Vgl. Christians 1995, S. 272.

212 Friedrichs Regie einer Parabel der „Reise eines Künstlers durch innere und äußere Welten, auf der Suche nach sich selbst“ 680 glich. Hatte sich Wieland Wagner seinerzeit vergeblich bemüht, den Tannhäuser (für ihn, den Wagnerenkel selbst) befriedigend auf die Bühne zu bringen, so mutete Götz Friedrich erfolgreicher an – zumal ihm kaum jemand den Vorwurf machen konnte, den der ältere Wagnerenkel nicht nur von Friedrich Dieckmann hatte hinnehmen müssen, nämlich das hochbrisante Künstler und KunstverständnisDrama „zu einer Art TristanVariation privatisiert“ zu haben: „Götz Friedrich nimmt diese Warnung vor einer totalen Verinnerlichung ernst und inszeniert 1972 Tannhäuser als eine rebellische Oper des Vormärz, die sich nicht mehr im mystifizierenden Stil der Wagnerschen Spätwerke spielen läßt“ , sollte Dietrich Mack in seinem dem Bayreuther Inszenierungsstil gewidmeten Band resümieren. „Erstmals werden die drei Schichten der Spiel, Entstehungs und Aufführungszeit in ein Spannungsverhältnis gesetzt.“ 681 (Was Friedrich mit dieser Inszenierung „im Schilde“ führte, der, wie bereits erwähnt, eine gründliche WagnerLektüre, ein tiefes Verständnis für Wagners Visionen, nicht zuletzt eine wirkliche, durch keinerlei Traditionen (oder „Traditionen“) beschwerte „Werktreue“ zu Grunde lagen – weswegen sich ohne Zweifel nicht nur Hans Mayer gezwungen sehen sollte, dem Friedrichschen Regiekonzept die höchste Authentizität zuzusprechen: „Der Tannhäuser mußte lange warten, bis auf der Bühne, und ausgerechnet in Bayreuth, freigesetzt werden konnte, was Wagner im Vormärz, in einer vorrevolutionären Lage [...] , konzipiert hatte. Götz Friedrich hatte sehr genau gelesen und inszeniert, so daß man bei diesem Tannhäuser im Festspielhaus nichts hörte, was Wagner nicht komponiert hat, nichts sah, was man nicht, beim Lesen des Textes, als authentisch ansehen muß. Es bedurfte keiner Manipulation durch den Spielleiter. Manipuliert war jahrzehntelang jener StadttheaterTannhäuser.“ 682 –, bezeichnete er selbst als eine „UnruheVermittlung“, deren Ziel darin bestand, den Zuhörer zu einem nachdenkenden Zuschauer zu machen: „Ich wäre glücklich, wenn der Einsatz und die Meinung aller, die daran mitgearbeitet haben, zu dem Ergebnis führt, daß der „Tannhäuser“ heute etwas von der Unruhe vermittelt, die das Werk 1845 und später gehabt hat, wenn es etwas von der schönen Unruhe vermittelt, die Wagner selbst ein ganzes Leben gegenüber diesem Kind empfand, und wenn wir alle von diesem „Tannhäuser“ bewegt werden, es nicht einfach nur kulinarisch schön finden, sondern nachdenken und uns darüber streiten, wie wir

680 Vgl. Spotts 1994, S. 307. 681 Mack 1976, S. 33. 682 Mayer 1978, S. 409.

213 es hier 1972 in Bayreuth vertreten.“ 683 Unruhe zu vermitteln, glich in diesem Fall einem EndeSetzen dem bisherigen Verständnis des Tannhäuser als eines „Weihespiels“ 684 , einem EndeSetzen all dem überlieferten – allerdings verfälschten – Mittelalter (eigentlich „Mittelalter“), dessen InSzeneSetzung der Grundgedanke jener Regisseure war, denen der von Hans Mayer in Erinnerung gerufene „StadttheaterTannhäuser “ zu „verdanken“ war; ein „Polittheater“, dessen Dulden auf dem „Grünen Hügel“ man in Bezug auf Friedrichs Tannhäuser Wolfgang Wagner vorwerfen sollte 685 , hatte der Regisseur allerdings nie im Sinn – im Hinblick auf das Bühnenbild, für das bei Friedrich Jürgen Rose verantwortlich zeichnete, sollte es Dietrich Steinbeck sofort einsehen: „Wenn Götz Friedrichs „Tannhäuser“ Inszenierung von 1972 eine politische Inszenierung gewesen ist, dann war sie’s nun freilich keineswegs im Sinne plumpen Agitprops, sondern im Sinne einer szenischen Untersuchung – einer Untersuchung in Bildern, in menschlichen Haltungen, in gesellschaftlichen Ritualen. Schon Jürgen Roses Bühnenkonstruktion ließ da keinen Zweifel: Ein aus Brettern roh gezimmertes Spielpodest, umgeben von einem GlasfolienAushang, der – in wechselnder Beleuchtung – zur Imagination der VenusWelt ebenso taugte wie des Tals vor der Wartburg und selbst noch als deren prunkende Sängerhalle, charakterisiert durch wenige realistische Versatzstücke und das sozusagen „dramaturgische“ Kostüm der Singschauspieler, beinahe nur von oben beleuchtet – ein epischer Ansatz, der nicht auf irgendeine historische Wirklichkeit zielte, sondern auf die konkrete Wirklichkeit heutigen Theaters.“ 686 ) Nach der Beziehung zu den „religiösphilosophischen Aspekten“ gefragt, die nicht nur der Interviewer LeoKarl Gerhartz (1972) den „gesellschaftlichpolitischen Momenten“ dieser sehr politischen Inszenierung zum Opfer gefallen glaubte, meinte Friedrich jedoch ein zu vereinfachendes Verständnis seines Tannhäuser korrigieren zu müssen: „Ich bin überhaupt nicht gegen die religiösen und philosophischen Aspekte, die das Werk beinhaltet“ , erklärte er Gerhartz. „Im Gegenteil. Ich finde sie immens und groß und voller Geheimnisse. Nur begreifen wir diese Geheimnisse doch wohl eher, wenn wir die Phänomene auf die gesellschaftlichen Situationen beziehen, aus denen heraus sie erwachsen oder an die sie gebunden sind. Ohne das kann ich keine Inszenierung von einem Stück machen, dessen Hauptthema mir zu sein scheint: die Position des Künstlers in oder gegenüber einer bestimmten, hier ja historisch konkret zu erfassenden Gesellschaft; ohne das kann ich nicht eine Oper inszenieren, deren Thema es ist, herauszufinden, wie der Künstler sich auf der

683 Jaeger 1983, S. 4243. 684 Vgl. FDOB 1991, S. 81. 685 Vgl. Zelinsky 1976, S. 262. 686 Christians 1995, S. 71; vgl. Jaeger 1983, S. 27.

214 einen Seite befreien kann von Normen, die er als etabliert nicht mehr anerkennt, aber gleichzeitig als Künstler weiß, daß er nicht arbeiten, nicht schaffen kann, ohne Kommunikation, daß heißt ohne Bindung, als auch ohne neue Bindung. Aber Bindung an was, Bindung an wen? An etwas, was bereits existiert, oder an etwas, was noch kommt? Eigentlich die biographische Frage des ganzen Lebens und Schaffens Wagners, aber auch eine existentielle Grundfrage meines Erachtens von Künstlern damals und heute.“687 Folglich sah sich Friedrich zwei Herausforderungen gegenüber: Erstens galt es von jener Auffassung des Tannhäuser als eines durch die „Verkündigung eines tatsächlich vollzogenen Wunders“ (ab) geschlossenen Dramas Abstand zu nehmen, die den meisten bisherigen Inszenierungen zu Grunde gelegen hatte („Das negative Signum solchen Verfahrens ist die unkritische Sicht der Wartburgwelt, die deren Vertreter – bewußt oder unbewußt – zum moralischen Gradmesser der Vorgänge macht. Von da ist es dann nicht mehr weit, denjenigen, der sich auflehnt und der sich nicht anpassen mag, als krank, als schizophren zu denunzieren, um das eigene Kranksein, die Denaturalisierung der Gesellschaft zu kaschieren, ehe man die dem anderen in seinem Streben beschiedene Gnade noch für sich selbst okkupiert.“ 688 ); zweitens erschien es notwendig, das TannhäuserDrama von dem ihm anhaftenden Verständnis als einer bloßen Auseinandersetzung zwischen der „irdischen“ und „himmlischen“ Liebe zu befreien – an Ernesto Grassi sollte der Regisseur, die vorstehenden, diesem Gespräch ebenfalls entnommenen Worte noch im Ohr, sagen: „Wichtiger noch scheint mir, erkennbar zu machen, daß die Vielschichtigkeit und Differenziertheit der Phänomene, mit denen sich Tannhäuser in seiner Suche nach dem Wesen seiner Existenz und des künstlerischen Tätigseins auseinanderzusetzen hat, nicht simplifiziert werden kann zu den jeweiligen Gegensatzpaarungen „irdische“ und „himmlische“ Liebe, Venus und Elisabeth, Venusberg und Wartburgwelt. Die „Stimmigkeit“ solcher Dualismen stützt heute wie damals bequeme moralische und ideologische Schemata und widerspricht der Breite und der Vielfalt der Spannungsfelder, in denen Richard Wagner sein Thema auf der Musikszene darlegt.“ 689 Es war unter diesen Umständen nur konsequent, dass die beiden Symbole der zwei Liebesauffassungen (der zwei Lebens und Kultureinstellungen), nämlich Elisabeth und Venus, von einer Sängerin dargestellt wurden (weil, wie der Regisseur LeoKarl Gerhartz sollte wissen lassen, „eine solche Antithese VenusElisabeth für mich und für viele von uns zu

687 Friedrich 1986, S. 130131. 688 Mack 1976, S. 122. 689 Ebenda, S. 122.

215 schnell dieses ideologische Schema hier Venusberg, dort WartburgWelt, hier Schwarz, dort Weiß unterstreichen würde“ 690 ); es war auch undenkbar, den Venusberg als eine real existierende (Gegen) Welt auf die Bühne zu bringen, zwischen der und derjenigen der Wartburg Tannhäuser hin und her gerissen worden wäre – hatten hier schon, wie oben gesagt, Jürgen Fehling und Wieland Wagner „vorgearbeitet“, indem sie von einem geographisch lokalisierbaren Hörselberg abgelassen hatten (d.h. indem sie die Welt der Venus und die Venus selbst Tannhäusers Vorstellungswelt hatten entspringen lassen), so war Götz Friedrich der erste, der dieses Entspringen, diese, um von Friedrichs Worten Gebrauch zu machen, Entstehung des Venusbergs „aus arbeitender Phantasie und von Phantasie beflügelter Arbeit“ 691 auch visuell gestaltete: „Götz Friedrich hatte, wie ich meine, einen ausgezeichneten Einfall, als er die TannhäuserOuvertüre bei offenem Vorhang im Festspielhaus aufführen ließ“, sollte sich Hans Mayer erinnern. „Als die VenusbergMusik heranrückt und die frommen Klänge verstummen macht, erscheint Tannhäuser mit der Harfe. Hier wird in der Tat eine Exposition geliefert, die Wagner unbeachtet gelassen hatte. Bei ihm finden wir Tannhäuser bereits im Venusberg. Doch wie konnte er dahin gelangen? Die tiefsinnige Deutung durch Götz Friedrich zeigt es uns: mit Hilfe der Harfe, mit dem Gesang, also mit der Poesie.“ 692 Was das Bacchanal (laut Friedrich „nur das Sinnbild von Träumen und Traumata eines Künstlers“ 693 ) betrifft, das mitten in den „kahlen, mysteriösen, bedrohlichen und häßlichen“ 694 VenusbergBühnenbildern John Neumeier „entfesselte“, so blieb von den überlieferten Bildern so gut wie nichts erhalten – statt die drei Grazien auf die Bühne zu bringen (bei deren Kostümierung einst Daniela Thode, Siegfried Wagners Halbschwester, „Homers Erwähnung der silberdurchwobenen Schleier seiner Göttinnen“ gefolgt war 695 ), brachte Friedrich mit Neumeier drei Hermaphroditen (bzw. Transvestiten) auf die Bühne; statt eine „Solograzie“ (in der Cosimanischen Tannhäuser Inszenierung von Isadora Duncan dargestellt) ihr Solo tanzen zu lassen, erschienen drei überdimensionale Skelette auf der Bühne (bis man sich Salvador Dalis VenusbergVisionen ins Gedächtnis rufen musste, denen ähnlich irritierende Bilder zu Grunde lagen: „Schließlich werden sie drei Grazien sehen, an deren Skeletten soviel Grazie herunterhängt, daß man seinen Augen nicht traut.“ 696 ); statt einer „Lusthölle“ bekam man nur

690 Friedrich 1986, S. 134. 691 Vgl. Mack 1976, S. 123. 692 Christians 1995, S. 6162. 693 Vgl. Friedrich 1986, S. 132. 694 Vgl. Spotts 1994, S. 308. 695 Vgl. Mack 1976, S. 99. 696 Jaeger 1983, S. 59.

216 eine „Hölle“, nämlich ein bedrohliches, steriles „paradis artificiel“ zu sehen ( „Der Reiz hat zugleich seine Schrecken“ , sollte Götz Friedrich an Ernesto Grassi sagen. „Die Überfülle birgt Leere. Richard Wagners choreographische Anweisungen lassen selbst in ihrer Verhaftung im Zeitgeschmack eine überraschende Konsequenz der Dramaturgie erkennen. Der Aufbau der Bilder jugendlichnaiver Liebe und die Vision von der Möglichkeit der Erfüllung der Liebe zwischen Mann und Frau steigern sich zum Rausch und schlagen um in den zerstörerischen Orgasmus, in der sicher nicht zufällig von „Verwundeten“ die Rede ist. Die Ekstase verkehrt sich in Barbarei, in Brutalität. Verdrängung sexueller Komplexe in Kampf und Krieg? Danach, jedenfalls: allgemeine Ermattung. Und endlich – „Leda mit dem Schwan“ wie „Europa mit dem Stier“ – Bilder einer sterilen Sinnlichkeit, Reminiszenz einer bezuglosentleerten Antike. Faust bei Helena? Tannhäusers erste Artikulation, sein „Zuviel“, ließe sich umkehren in ein „Zu wenig“. Indem der Venusberg von der Verführung durch das Sinnliche erzählt, stellt er auch dessen Zerstörungskraft dar und zeigt die „Leere“ des Bodenlosen. Der Traum wird zum Trauma.“ 697 ); statt einer Venus, einer Göttin oder eines Dämons, stand „nur“ eine Verkörperung von Tannhäusers Vorstellungen (die eigentlich Elisabeth galten) auf der Bühne: „Als ich die Einladung für diese Produktion erhielt“ , sollte sich später erinnern, die den beiden Frauengestalten Gesicht und Stimme verlieh, „erfuhr ich zu meiner Überraschung, daß ich nicht nur Elisabeth, sondern auch Venus singen sollte, die in der Konzeption von Götz Friedrich zwei Seiten der gleichen Frau in Tannhäusers Gedankenwelt darstellen, wobei Venus die innersten Wünsche in seinen Träumen repräsentiert.“ 698 Das letzte Gesicht, das diese „innersten Wünsche und Träume“ anhatten, die letzte Maske, die diese Venus (oder „Venus“) anlegte, war – in Übereinstimmung mit Friedrichs Idee einer sich zwischen Verführung und Zerstörung bewegenden Sinnlichkeit, einer sich in Barbarei und Brutalität, kurzum: in Untergang verkehrenden Ekstase – diejenige des Todes (während „der Nymphen tanzende Menge“, die unter den Fittichen dieser Schreckgestalt auf der Bühne erschien, mehr denn je Wolframs Worten „Weh’, böser Zauber tut sich auf!/ Die Hölle naht in wildem Lauf.“ 699 Genüge zu tun suchte700 ). Allerdings blieb in dieser Inszenierung nicht nur der Venus und deren Welt vorbehalten, von einem „Traum“ in ein „Trauma“ umzuschlagen – immerhin war die WartburgWelt da, war die Wartburg selbst da, dieses „Zentrum des Regimes“ (um von Friedrichs Terminologie Gebrauch zu machen), wo

697 Mack 1976, S. 123. 698 Christians 1995, S. 66. 699 Tannhäuser , 3. Aufzug. 700 Vgl. Jaeger 1983, S. 55.

217 Tannhäuser seine „Natur“ ebenfalls finden zu können glaubte 701 und wo er ebenfalls scheitern musste (denn hier wie dort überschnitten sich Träume mit Traumata, Kunst mit Gewalt, Barbarei und Brutalität – etwa als die Schwerter gezogen wurden und Tannhäusers Integrationsversuch zum Flop wurde: „Er muß scheitern“ , sollte Friedrich diesen Misserfolg erklären, „weil Tannhäuser nicht der Protestler ist, nicht der Rebell um des anarchistischen Protestes willen. Er ist nur der Wahrheitsfanatiker und der, der es nicht ertragen kann, wenn Formeln und veraltete oder sterile Normen gesetzt werden für die Suche nach dem, was er als Wahrheit begreift. Der Landgraf stellt als Thema des Sängerwettstreites: „Der Liebe wahrstes Wesen sollt Ihr mir ergründen.“ Tannhäuser ahnt nicht, daß eigentlich geplant war, so wie es auch in vielen „Tannhäuser“Aufführungen stattfindet, daß einer nach dem anderen wohlgeordnet seine Meinung sagt, sondern er begreift den Wettstreit, sehr naiv zunächst, als Meinungsstreit. Er muß viel später erst, mehr verblüfft als gewollt, feststellen, daß, wenn er von der lebendigen Liebe, von der Liebe des Genusses und der lebenserzeugenden Liebe spricht, die anderen das Schwert zücken, daß diese Gesellschaft, die sich für Kunst und Frieden versammelt hat, in dem Moment, wo ein falsches Wort ertönt oder ein Wort, das ihr nicht passen kann oder passen mag, die Schwerter zieht.“ 702 ) Hatte bereits Jürgen Fehling in seiner Tannhäuser Inszenierung eine überdimensionale, fast bedrohliche Harfe den Sängern zur Verfügung gestellt, die, die ganze Szene des Sängerwettstreits dominierend, als ein gewaltiges Symbol einer in die Schranken gewiesenen (Künstler) Individualität auf der Bühne gestanden hatte, so beherrschte dieses Instrument auch vier Jahrzehnte später den zweiten Aufzug des Friedrichschen Tannhäuser , um – einen zumindest musikalisch „vereinheitlichten“, ja „gleichgeschalteten“ Ton versinnbildlichend – Tannhäusers Traum von einem wirklichen Sängerwettstreit zu einem Trauma werden zu lassen. Auch der „Einzug der Gäste“, von Götz Friedrich wie immer „werkgetreu“ (d.h. Wagnertreu 703 ) inszeniert, oder die „Begrüßung“ der Minnesänger durch diese Gäste zeigte eindeutig genug, wie wenig die versammelte WartburgGesellschaft an einem Meinungsaustausch zwischen den Künstlern interessiert war: „Arrogant die hereinkommenden Minnesänger ansehen“ , rief Friedrich den Choristen unterweisend zu: „Künstler dürfen zu Euch kommen, vielleicht ladet Ihr einen mal auf euer Schloß ein [...] .“ 704 Anders formuliert: Nicht der Wahrheit, sondern der „Salonfähigkeit“ (um nicht zu sagen: der „Einladungswürdigkeit“) galt das Interesse dieser Gesellschaft; nicht einem Meinungsstreit,

701 Vgl. Mack 1976, S. 122. 702 Friedrich 1986, S. 133. 703 Vgl. Jaeger 1983, S. 48ff. 704 Ebenda, S. 50.

218 einem im wahrsten Sinne des Wortes begriffenen „Sängerkrieg“, sondern einer durch und durch geregelten „Sängerparade“ wünschten die Versammelten beizuwohnen, einem „Vortrag von ausgetüftelten Einzelgesängen“ 705 , der zu einem sterilen Ritual geworden war – für einen „Wahrheitsfanatiker“ wie Tannhäuser ein mit der kaum ausgeträumten VenusbergVision vergleichbares Trauma. Wäre Elisabeth nicht da gewesen, hätte die Sängerhalle (hier ein „ödes und abschreckendes Podium, das aus vierzehn steil ansteigenden Stufen bestand“ 706 ) für den „kühnen Sänger“ beinahe zu einem Schafott werden können: „Der Landgraf beschwört alle: „Zurück die Schwerter“, Wolfram beschwört den Frieden der Halle, doch da dreht Tannhäuser durch. Seine letzte Strophe, die er singt, das sogenannte Preisliedthema noch einmal an die Venus – das ist so etwas wie eine Marseillaise in einer solchen Gesellschaft; da attackiert er nun wirklich und ganz bewußt das Tabu und liefert sich damit den Schwertern dieser Gesellschaft aus, die plötzlich aus einer friedlichen (d.h. sich an einer steril gewordenen, harmlosen Kunst delektierenden – Anm. M.U.) in eine sehr kämpferische umschlägt.“ 707 (Wäre Elisabeth nicht da gewesen… Der Nichte des Landgrafen wurde unter Friedrichs Regie die größtmögliche „Säkularisierung“ zuteil – statt eine Heilige auf die Bühne zu bringen, statt den Chor aus dem zweiten Aufzug beim Wort nehmen zu wollen: „Ein Engel stieg aus lichtem Äther…“ 708 , brachte Götz Friedrich, dem Älteren der Wagnerenkel ähnlich, eine liebende Frau , eine sehr feminine Gestalt auf die Bühne, wie es nicht zuletzt der zweite Aufzug deutlich zum Vorschein brachte: „Das mit ausgebreiteten Armen strahlende Hineinrennen in die Halle – wie ein vom Bogen der Natur abgeschossener Pfeil, das glückliche Wiederberühren der Bänke und des Altares des Gesangs, die erfüllt sind von der Erinnerung an frühere Begegnungen mit Tannhäuser, der jubelnde Ausbruch „Dich teure Halle…“, die scheue Begegnung mit Tannhäuser, die zarten, liebevollen Gesten mit den Händen, den Augen und dem ganzen Körper im Duett, und die opferbereite, dramatische Wut, mit der sie Tannhäuser vor den angreifenden Männern schützt, mit gefalteten Händen hoch über der Stirn, den Körper sinken lassen, bis der Kopf den Boden zum knienden Gebet berührt – das alles waren wunderbare Gesten, die Götz Friedrich ersann, sehr feminin und modern und gleichzeitig den mittelalterlichen Charakter der Rolle beinhaltend“ 709 , sollte sich Gwyneth Jones erinnern. Ebenso wie bei Wieland Wagner, der seinerzeit in einem Gespräch mit Antoine Goléa in Bezug auf Elisabeth gesagt hatte, sie habe den Idealisten Wolfram satt,

705 Vgl. ebenda, S. 51. 706 Spotts 1994, S. 308. 707 Friedrich 1986, S. 133. 708 Tannhäuser , 2. Aufzug. 709 Christians 1995, S. 66.

219 sie liebe Tannhäuser, sie wolle sich mit ihm fleischlich vereinen 710 , hatte auch die Friedrichsche Elisabeth, „ein amazonenhafter Kontrast zur „hold und tugendhaft“ angepaßten weiblichen und männlichen WartburgWelt“ 711 , für die Ideale eines Wolfram, für die Ideale eines Biterolf und dessen Wartburger Brotgeber nichts übrig: „Schon längst hat Elisabeth das Hohle und Überflüssige dieser galanten Gesellschaft und des schöngeistigen „Künstlerpotentials“ durchschaut.“ 712 Von Tannhäuser verkannt ( „Tannhäuser freilich sieht in ihr einmal die wiedererstandene Liebesgöttin, einmal das „sprachlose“ Mitglied des verhaßten Establishments und verkennt so das wahre Wesen der „himmlischen“ Geliebten, der „Heiligen“ und das in oder mit ihr zu vitalisierende UtopiePotential“ 713 , wie es Dietrich Steinbeck ausdrücken sollte), blieb ihr schließlich nichts anders übrig, als – alles „Himmlischen“ bar „das Sterben einer tief leidenden und todeswilligen Frau wirklich demonstrierend“ 714 – im wahrsten Sinne des Wortes von der Bühne zu kriechen (was nicht ohne Kopfschütteln von seiten des Publikums auskommen sollte). Letzten Endes waren es jedoch nicht Friedrichs (bzw. Tannhäusers) Venusberg Visionen, war es nicht seine WartburgDarstellung, was hier zum größten Stolperstein werden sollte. Hätte das Festspielpublikum (oder genauer gesagt: das Premierenpublikum) die „Barbarisierung“ der VenusWelt größtenteils noch hingenommen; hätte mancher Festspielbesucher auch noch die „Säkularisierung“ der ElisabethGestalt, sogar die „Demaskierung“ der WartburgWelt verkraftet (übrigens hatte hier bereits der Ältere der Wagnerenkel vorgearbeitet – über Jürgen Fehling gar nicht zu reden), so fühlten sich die meisten Festspielgäste von Friedrichs Auffassung des Tannhäuser Schlusses doch böse herausgefordert (weil intellektuell überfordert). Als auf der Bühne die merkwürdig untheatralisch kostümierten Choristen erschienen – Dietrich Steinbeck z.B. sollte hier rückblickend über einen „Akt epischer Distanzierung, ja Verfremdung“ sprechen, „womit sich die Grenzen der dargestellten Handlung ins Publikum, in die Gesellschaft hinein öffneten“ 715 –, witterten nicht wenige in Anbetracht von Friedrichs (Noch) DDRStaatsbürgerschaft eine Provokation: „Friedrich will eine Utopie zeigen, den Glauben an eine bessere, veränderbare Zukunft: und deshalb hat der Chor am Schluß keine Kostüme mehr an (wenn man so will: er hat seine Büßerkette abgeworfen), er steht im nackten Arbeitslicht da, in Zivil. Das war der Schock fürs Publikum, der die unwahrscheinlichsten Gedankenblüten trieb: „Arbeiter und

710 Mack 1976, S. 112. 711 Vgl. Jaeger 1983, S. 53. 712 Ebenda, S. 53. 713 Christians 1995, S. 72. 714 Vgl. Mayer 1978, S. 408. 715 Christians 1995, S. 70.

220 Bauern aus der DDR“, ja sogar: „Oktoberrevolution im Tannhäuser!“ 716 , schrieb Wolfram Schwinger zusammenfassend für die Stuttgarter Zeitung (wobei er selbst meinte, „ein Brechtsches Verfremdungsmittel“, ein „Heraustreten aus dem Spiel“ gesehen zu haben). Wolfgang Wagner, neben Götz Friedrich die Zielscheibe der Entrüsteten, sollte sich später erinnern: „Ein inzwischen verblichener Politiker (nämlich Franz J. Strauß – Anm. M.U.) verließ protestierend den Zuschauerraum und stellte wenige Tage später in einem geharnischten Leserbrief an eine große Sonntagszeitung die entscheidende Frage: „Quo vadis?“ Bei ihm rief der Schlußchor „zwangsläufig die Vorstellung hervor, daß er trotz seiner hervorragenden gesanglichen Leistung den BetriebskampfGruppenchor des volkseigenen Betriebs „Rote Lokomotive“ in Leipzig darstellen sollte“.“ 717 Was Friedrich mit dieser kontroversen SchlussAuffassung (die das „Wunder“, die „Erlösung“ Tannhäusers durch „der Gnade Heil“ als „Glaubensleistung eines großen Suchenden an der Schwelle zum Tode“ 718 begriff), was er mit diesem „Menschenchor“ (bzw. „MenschenChor“) 719 , den er auf die Bühne brachte, wirklich zum Ausdruck bringen wollte, erklärte er noch vor der Premiere in einem Gespräch mit Fritz Schleicher (der seinerseits über „ein provokatives Halleluja der Humanitas“ 720 sprechen sollte): „Tannhäuser weiß um die Notwendigkeit religiöser Kommunikation. Aber die Töne, die der Sterbende vernimmt, sind Vision. Der Schluß ist als Appell zur humanen Toleranz dem „Sünder“ gegenüber und als Aufruf zu interpretieren, gesellschaftliche Verhältnisse zu schaffen, in denen sich Verketzerungen dieser Art ausschließen. Ohne zu mystifizieren.“721 Vision statt Wunder, Appell statt Opernschluss – und von seiten des Publikums Missverständnis und falsche Konkretisierung statt Einsicht. Als in den nächsten Vorstellungen die Choristen nicht mehr auf der Bühne erschienen, bedeutete es kein Zugeständnis, keine Konzession der mangelnden Einsicht der meisten Festspielbesucher, kein Nachgeben des Regisseurs ( „Ich sehe im „Tannhäuser“ keine Notwendigkeit, etwas zu ändern“ , sollte Götz Friedrich noch fünf Jahre später an Walter Bronnenmeyer sagen. „Ich könnte höchstens einen neuen „Tannhäuser“ machen, wüßte aber nicht wie. Auch habe ich das Werk absichtlich seit 1972 nicht mehr inszeniert, und nach der Pause von drei Jahren gibt es keinen Anlaß, am Grundkonzept etwas zu ändern.“ 722 ), sondern die Rückkehr zur ursprünglichen Idee – die nicht nur Hans Mayer

716 FDOB 1991, S. 80. 717 Wagner 1994, S. 251; vgl. FDOB 1991, S. 81. 718 Vgl. Mack 1976, S. 123. 719 Vgl. Friedrich 1986, S. 137. 720 Vgl. Mack 1976, S. 34. 721 Zelinsky 1976, S. 261. 722 Friedrich 1986, S. 136.

221 „sachlich“ richtiger fand 723 . Wie es auch der Bayreuther Chorleiter Norbert Balatsch bestätigen sollte 724 , war der umstrittene „MenschenChor“ eigentlich eine aus der Not gemachte Tugend – Friedrich gab ganz offen zu, den Schluss ursprünglich anders gestalten wollen zu haben: „Ursprünglich wollte ich Tannhäuser allein auf der Bühne haben, der Chorklang sollte aus dem Zuschauerraum kommen, so wie es beim „Miserere“ im Berliner „Troubadour“ war, wo der Chor im Umgang hinter dem 2. Rang der Komischen Oper sang. Aber solche Plazierung ließ die Architektur des Bayreuther Festspielhauses nicht zu. Der Versuch, den Chor unsichtbar hinter der Horizontfolie singen zu lassen, gab akustisch ein zunächst unbefriedigendes Resultat. Als die Entscheidung fiel, den Chor auf die Bühne zu stellen, reichte die Zeit in den Kostümwerkstätten nur noch zu nahezu improvisierten Kostümen von bewußt einfacher Prägung.“ 725 (Auch im Fall der heiß umstrittenen „Uniformen“, die der landgräfliche Dienstadel anhatte und die, um von den Worten des „inzwischen verblichenen Politikers“ Strauß nochmals Gebrauch zu machen, an die „Mitglieder des SSD in „Ausgehuniform““ 726 erinnern sollten, handelte es sich eigentlich um eine Notlösung. Friedrich ließ sich auch hier überzeugen, von der ursprünglichen Idee, einen reduzierten Chor auf die Bühne zu bringen, aus akustischen Gründen abzulassen – „da jedoch für diese insgesamt 24 Mitglieder des Herrenchors (die neu auf die Bühne gebracht werden sollten – Anm. M.U.) Kostüme weder geplant noch gar vorhanden waren, mußten sie schnellstens angefertigt werden. Für Neueinkäufe von Materialien konnte keinesfalls noch Geld bereitgestellt werden. Doch ein glücklicher Umstand – der sich später freilich als recht unglücklich herausstellen sollte – ergab, daß von dem Material eines Lederimitats zuviel gekauft worden und noch genügend vorhanden war, um daraus die benötigten Kostüme herzustellen.“ 727 ) Wer sich allerdings in der Lage zeigte, sich einer falschen Konkretisierung zu erwehren, konnte all diese „Notlösungen“ (an denen Friedrich in den nächsten Jahren noch feilen sollte – wobei er, zumindest seinem Gespräch mit Walter Bronnenmeyer nach, insbesondere in der Kostümierung des Schlusschors „eines der schrecklichsten Probleme“ 728 sehen sollte –, bis die ganze Inszenierung Ende der 70er Jahre reif genug erschien, um als eine Videoaufnahme mitgeschnitten zu werden: „Der „Tannhäuser“ wurde als erste Bayreuther Aufführung 1978 in voller Länge für das Fernsehen aufgezeichnet – mit dem nun wieder in

723 Vgl. Mayer 1978, S. 411. 724 Vgl. Christians 1995, S. 74. 725 FDOB 1991, S. 82. 726 Vgl. ebenda, S. 81. 727 Wagner 1994, S. 250. 728 Vgl. Friedrich 1986, S. 137.

222 einem Schlaglicht auf der Bühne stehenden Schlußchor“ , sollte Wolfgang Wagner in seiner Autobiographie zusammenfassen. „Auf der ganzen Welt ist man erfreut, diese Inszenierung auf solche Weise nach wie vor zur Verfügung zu haben. Damals ein Skandal – heute ein Meilenstein.“ 729 ) ohne Probleme für einen „Akt epischer Distanzierung, ja Verfremdung“ halten, wie es auch die oben zitierten Steinbeck und Schwinger tun sollten – immerhin war Jürgen Rose da, dessen Bühnenbild (Bühnenraum) solche Überlegungen nicht nur zuließ, sondern auch herausforderte: „Im Bühnenraum des Bayreuther „Tannhäuser“ finden wir eine graphische Addition von Podesten. Verschiedene Bretterstrukturen bilden ein Muster, und in der Darstellung des unterteilten Bodens, einer unkonventionell aufgebrochenen Struktur, läßt sich die Welt als geborsten betrachten. Wolfgang Wagner, der zur gleichen Zeit seinen „Ring“ zeigte, benutzte als Bühnenboden eine Scheibe, die sich ähnlich wie bei Friedrich in verschiedenen Segmenten hob und senkte, die aber keine ShakespeareBühne darstellte wie noch bei Wieland Wagners „Meistersingern“ [...] . Die Spielfläche bei Friedrich wird im WartburgAkt vierzehnstufig hochgefahren: Kennzeichen einer sich selbst erhöhenden Gesellschaft. Tannhäusers eigentlicher Ort befindet sich ganz vorne rechts auf der Rampe, die der Regisseur als „epische ProtestMinibühne“ bezeichnet. Letzten Endes bleibt Tannhäuser unten, von der Treppe heruntergestoßen, auf der markierten Position des Außenseiters. Die manieristische Verschiebung bei Götz Friedrich fügt bestimmte Elemente an eine Grundstruktur; zusammengesetzt entsteht das Prinzip der Collage.“ 730 Um auf die „manieristische Verschiebung“ (die neben der besagten Collage nicht ohne Verfremdung und Überhöhung auskommt 731 ) zu sprechen zu kommen: Bereits mit seinem Tannhäuser wollte Götz Friedrich eine Antwort auf die Frage geben, wo dieses Stück (ebenso wie die übrigen WagnerStücke) eigentlich angesiedelt ist, ob im Mittelalter, in Wagners oder in Friedrichs eigener Gegenwart – Friedrichs Ansicht nach ist es das Theater, ist es die Bühne selbst, wo der „kühne Sänger“ die irritierende Fahrt durch die äußeren und inneren Welten, d.h. durch Wartburg und Venusberg unternimmt. 732 Ebenso wie bei Felsenstein (und Brecht) sollte sich der Zuschauer die Tatsache seines TheaterBesuchs vergegenwärtigen, sollte sich nicht dem „Realen“ (RealExistierenden), sondern dem „Theatralischen“ gegenüber wissen („Dieses Beispiel zeigt deutlich, daß dem „Theatraliker“ Götz Friedrich jede vordergründige Illustration ein Greuel ist“ , sollte der Bühnenbildner Peter Sykora, der mehrere Friedrichsche Inszenierungen ausstattete, im Hinblick auf die gemeinsame Produktion von Hindemiths

729 Wagner 1994, S. 253. 730 Jaeger 1983, S. 5658. 731 Vgl. ebenda, S. 56. 732 Vgl. ebenda, S. 24.

223 Mathis der Maler schreiben, der allerdings dieselben Bühnebild (Bühnenraum) Überlegungen wie dem Bayreuther Tannhäuser zu Grunde lagen. „Seine glücklichsten Momente auf der Bühne sind die der gelungenen Umwandlung, der Verwandlung – weg vom „Realen“ hin zum „Theatralischen“.“ 733 ). „Reales“ gab es lediglich in Details – z.B. um die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht bemerkbar zu machen. 734 Seine (und natürlich Roses) wohl beeindruckendsten Bühnenbilder/ Bühnenräume brachte Götz Friedrich in der Venusberg und in der WartburgSzene auf die Bühne. Hatten bereits Jürgen Fehling und Wieland Wagner versucht, den Geist der jeweiligen Szene bzw. die Psyche der jeweils agierenden Person nach außen zu „kehren“, d.h. für den Zuschauer sichtbar zu machen, hatten sich schon die beiden oben behandelten Regisseure bemüht gezeigt, die Kämpfe, Wünsche und Geheimnisse der einzelnen Figuren sowie der gesamten Kollektive in die Bühnenrealität umzusetzen (man erinnere sich hier z.B. an Fehlings „Sängerhalle“, deren Gestühl ebenso „verbaut“ wie der Geist deren Belegschaft angemutet hatte 735 ), so brachten die vielen, Nerven und Harfenseiten zugleich suggerierenden Bänder im Friedrichschen Venusberg die Tatsache zum Vorschein, dass es diesen Venusberg nur in Tannhäusers Kopf, in dessen Phantasie gab und dass er nur mittels der Kunst zu erreichen war; so brachten die hohen Stufen, die Tannhäuser auf dem Weg in die „Sängerhalle“ hinaufsteigen musste, den Hochmut der WartburgWelt zum Vorschein ( „Die Hallenszene spielt auf dem bereits nach oben ausgefahrenen Bühnenbretterboden. Ein vierzehn Stufen hohes Podest symbolisiert die Wartburg, wo in traditioneller Manier das gesellschaftliche Ereignis stattfinden wird. „Hier gilts der Kunst, dem Frieden!“ Jürgen Rose zeigt präzise das Peinliche des Konkurrenzortes. Durch eine hohe Treppe, hier symbolisierende Herrschaftsarchitektur, erhöht sich eine Gesellschaft; hohl und fragwürdig soll sie dadurch erscheinen.“ 736 ). Nicht umsonst also forderte ein über Friedrichs Bayreuther Tannhäuser Inszenierung Entrüsteter ( „Ein Besucher der Festspiele, dessen Name Ihnen nichts sagt und verschwiegen wird, weil er eine Diskussion mit Ihnen ablehnt“ ) in seinem Brief an Wolfgang Wagner, den Weg zu verlassen, an dessen Anfang (in Bayreuth) er den gestorbenen Wieland Wagner wusste 737 , der sich seinerzeit an den Produktionen der Krolloper, nicht zuletzt an der Fehlingschen Holländer Inszenierung orientiert hatte.

733 Christians 1995, S. 178. 734 Vgl. Jaeger 1983, S. 30; vgl. Mack 1976, S. 34. 735 Siehe oben, S. 103. 736 Jaeger 1983, S. 48. 737 Vgl. Zelinsky 1976, S. 262.

224 Zusammenfassend kann man wohl sagen, dass die Tannhäuser Inszenierung, mit der der (Ost) Berliner Regisseur Götz Friedrich 1972 die Bayreuther Festspielbesucher im wahrsten Sinne des Wortes herausforderte, als ebenso stilbildend angesehen werden muss wie die zwei oben behandelten Produktionen, für die Jürgen Fehling und Wieland Wagner verantwortlich gezeichnet hatten. Auf dem „Grünen Hügel“, wo man Wieland und Wolfgang Wagners „Vorsorgemaßnahme“ von 1951, nämlich den Appell an die Besucherschaft, „von Gesprächen und Debatten politischer Art absehen zu wollen“, als eine vollständige und endgültige Entpolitisierung von Wagners Werk missverstand, auf diesem „Grünen Hügel“ kaum angekommen, sah sich der damals noch DDRStaatsbürger Friedrich einer Phalanx von „Wagnerianern“ gegenüber, die ihm nicht nur seine „ostdeutsche“ Staatszugehörigkeit „übel nahmen“, sondern auch – und nicht minder – die Zugehörigkeit zur Komischen Oper in (Ost) Berlin, deren Begründer (Friedrichs „Meister“) Walter Felsenstein Bertolt Brecht bereits Anfang der 50er Jahre das (unter den Bayreuther Traditionalisten ebenso wie unter den meisten, auf einen „kulinarischen Operngenuss“ erpichten Bayreuther Premierengästen höchst problematische) Lob ausgesprochen hatte: „Felsenstein hat gezeigt, wie man die Oper säubern kann – von der Tradition, wo sie Denkfaulheit, und von der Routine, wo sie Faulheit des Gefühls bedeutet. Felsenstein nimmt nicht, wie das üblich und übel ist, Unnatur „in Kauf“ – „der Musik wegen“. Er weiß, daß die Musik auf der Bühne nicht ohne Wahrheit leben kann.“ 738 Die „Befürchtungen“, die in dieser Hinsicht dem NochOstberliner entgegengebracht wurden, sollten sich als begründet erweisen – hätte Felsenstein nicht alles billigen können, was sein „Schüler“ auf die Bühne brachte und auch in Zukunft bringen sollte (schließlich zeigte sich Friedrich immer der Meinung, über die Grenzen gehend, die der „Meister“ selbst nicht zu überschreiten gewagt hatte, den Erwartungen von einem „Schüler“ am besten Genüge tun zu können), so hätte er zugleich erkennen müssen, dass in der Sache der „Wahrheit“ (d.h. der Glaubwürdigkeit, der Wirklichkeitsnähe) dem „Schüler“ nichts vorzuwerfen war: „Was ist vom Opernregisseur zu verlangen [...] ?“ , stellte sich Friedrich Ende der 60er Jahre die Frage. „Erstens: Die Erkenntnis, daß Musiktheater eine Kunstform ist, die auf spezifische Weise Wirkliches abbildet oder transformiert und die dabei in höchstem Maße Ratio und Sensus, Logik und Phantasie, Reales und Irreales verbindet, um auf eigene, unverwechselbare Art Modellentwürfe menschlicher Existenz zu geben – Modellentwürfe, die ihren Sinngehalt und ästhetischen Reiz jeweils neu zu offenbaren haben.“ 739 So auch Anfang der 70er Jahre in Bayreuth – seinen Prinzipien treu, den

738 Brecht 1993, S. 178. 739 Friedrich 1986, S. 35.

225 Prinzipien von Felsensteins „Schule“ ebenso wie dem Ruf der „ostdeutschen“ Regisseure (der ihnen nicht umsonst einen Hang zum Demaskieren, zum VomPodestHolen nachsagte) folgend, auf die Erwartungen der seit „Neubayreuths“ frühesten Jahren auf dem „Grünen Hügel“ wieder etablierten „Gemeinschaft der Gläubigen“ (an deren Entstehung die beiden Wagnerenkel nicht ganz ohne Schuld waren) nicht im geringsten achtend, setzte er mit seiner Auffassung des TannhäuserDramas einen so wirklichkeitsnahen „Modellentwurf menschlicher Existenz“ in Szene, dass ihm der Sturm der Entrüstung von seiten aller Betroffenen unmöglich erspart bleiben sollte. Stand die Friedrichsche Wartburg als Modell einer hochkonservativen, nur wenig (wenn überhaupt) toleranten, sich in erstarrten Ritualen ergehenden Gesellschaft auf der Bühne, so fand sich dieselbe Gesellschaft nicht zuletzt vor dieser Bühne, in und vor dem Bayreuther Festspielhaus ein ( „Würdige Herren in Schwarz drohten mit der Faust zur Bühne herauf, das schlimme Vokabular des Kalten Krieges auf der Zunge; da war von „Rache“, ja von „Schande“ die Rede, hieß es nicht nur „Buh“, sondern „Pfui“. In den Logen der geladenen Gäste trugen CSU und SPDVertreter den Sängerkrieg gleich noch einmal aus!“ 740 ); Hans Mayer sollte resümieren: „Was war geschehen? Die realistische und verfremdende Deutung der TannhäuserGeschichte hatte Gleichzeitigkeit hergestellt zwischen diesem Werk und diesem Publikum vom Jahre 1972. Das war geplant worden.“ 741 Dabei war nicht nur die Wirklichkeitsbezogenheit, war nicht nur die Zeitnähe da, sondern auch die „Werktreue“. Nicht unbeachtet darf jedoch die Tatsache bleiben, dass Friedrichs Bayreuther Tannhäuser Inszenierung keineswegs mit einem „Polittheater“ zu verwechseln war, dass die „Repolitisierung“ des besagten Werks keinesfalls dessen Instrumentalisierung zugunsten eines politischen Systems bedeutete (was allerdings mancher Premierengast nicht zur Kenntnis zu nehmen bereit war) – was der Regisseur vorhatte, war, sein Publikum betroffen zu machen: „Diese Inszenierung zwang zur Stellungnahme, zur ideologischen Positionsbestimmung – sie verweigerte sich unkritischem Konsum, jenem bayreuthischen „Wähnen“ über ausschließlich Liebes und Kunsttaten. Und indem sie die Gegner von Kunst und Meinungsfreiheit zur Demaskierung nötigte, hat sie politische Wirkung erzielt, für die Wolfgang Wagner später den beschönigenden Begriff von der „Werkstatt Bayreuth“ fand.“ 742 Die Rechnung der Wolfgangschen Festspielleitung, mit Hilfe von geladenen GastRegisseuren die bestehende Modernität sowohl des Wagnerschen Werks als auch der Bayreuther Festspiele selbst (deren Produktionen seit Wieland Wagners Tod

740 Christians 1995, S. 68. 741 Mayer 1978, S. 408. 742 Christians 1995, S. 69.

226 allmählich zu wünschen übrig ließen – zumindest auf dem interpretatorischen Gebiet) zum Vorschein zu bringen, ging auf.

227 Zusammenfassung 743

1. Die gesellschaftliche Spaltung, die in der Weimarer Republik zum Vorschein kam, war solcher Art, die eine deutliche Parallele mit der gespaltenen Welt von Wagners Tannhäuser erkennbar machte. Bei dem Tannhäuser Dichter geht es zuerst um einen Konflikt zweier miteinander unvereinbaren Welten, wobei die erste von ihnen, nämlich die Welt der Venus, negativ zu beurteilen, während die zweite, d.h. die Welt der Wartburg, als eine Darstellung des Positiven, in Wagners Fall des Deutschen, anzusehen ist. Sich der Welt der Venus zuzuwenden, bedeutet für Tannhäuser die Gefahr einer allgemeinen Verachtung, schlimmstenfalls sogar eines gewaltsamen Endes zu laufen; sich für die Welt der Wartburg zu entscheiden, verspricht ihm dagegen die Anerkennung zu bringen. Da diesem Wagnerschen Drama eine reale Welt zu Grunde liegt, können wir eine solche Auseinandersetzung zweier gegenüberstehenden Welten auch auf die Weimarer Epoche, d.h. auf Fehlings Zeitalter projizieren: Während der Tannhäuser Dichter unter der Bildmetapher „Venusberg“ das „paradis artificiel“ der Franzosen verstanden hatte, das er bereits 1839 bei seinem ersten Besuch in Paris kennen gelernt hatte (wobei diese Stadt noch Jahrzehnte nach Wagners Tod die Gültigkeit eines VenusbergVorbilds behielt, wie es die zahlreichen Berichte von Fehlings Zeitgenossen belegten), bot die Welt der Reichshauptstadt Berlin, wo Fehling seine WagnerInszenierungen dem Publikum vorstellte, zumindest in den erfolgreichen Jahren der Weimarer Republik, in deren sog. „Pariser Jahren“, ein Bild an, das man aus Wagners Oper zu kennen glaubte. Was der Tannhäuser Dichter in seinen Venusberg verschlüsselt hatte, nämlich die mondäne Lebensweise der Stadt an der Seine (bzw. diejenige der ganzen französischen Welt), das sahen die 20er Jahre an der Spree florieren. Ebenso wie im Tannhäuser , wo den Befürwortern dieser Lebensweise, d.h. denjenigen, die im Venusberg die Zuflucht suchen, ihre erbitterten Gegner gegenüber stehen, gab es auch in der Weimarer Republik nicht nur diejenigen, die der Welt der „westlichen“ Zivilisation Tür und Tor weit geöffnet hatten, um auf ein Leben außerhalb sämtlicher Konventionen hoffen zu können, sondern auch jene, die an der „Kultur“ der alten „WartburgZeit“ nach wie vor festhielten. Während in Wagners Oper die Gemeinschaft, die sich der Welt der „Zivilisation“ verweigert, auf der Wartburg den Hof führt, bauten sich die Abendlandgläubigen der Weimarer

743 Entnommen den einzelnen Subkapiteln.

228 Epoche ihre kleinen „Wartburgen“ in der Provinz auf, in den Städten wie München, Weimar oder Bayreuth, um dort eben jene Werte zu beschwören, über die man sich in Berlin hinwegsetzte. Von der Provinz aus wurde dann gegen die „verwestlichte“ Reichshauptstadt jener Kampf geführt, den bei Wagner die Wartburg dem Venusberg ansagt. An den Höfen der kleinen Landgrafen, mochten sie Scharnagl oder anders heißen, klatschte die Volksgemeinschaft, über deren Gesinnung sich z.B. Gottfried Benn keine Illusionen machte, jenen Künstlern, jenen braven „Wolframs“ und „Biterolfs“ Beifall, deren Kunst ein Lobgesang an „Tugend“ und „holde Sitten“ war, während für die „Literaten“ aus Berlin, wenn sie von sich hören ließen, lediglich Verachtung und Vorwürfe des „Kulturbolschewismus“ übrig blieben. Was unter der „Kultur“ zu verstehen war, darüber stritt Berlin mit dem „platten Land“ ebenso heftig wie darüber, welche Ideologie, welche Kulturauffassung die richtige war. 2. Die Kulturpolitik, die Hitlers Regime trieb bzw. zu treiben versuchte (wenn wir die Kompetenzstreitigkeiten in Betracht ziehen, die es bekanntlich unter den NaziGrößen gab – insbesondere unter denjenigen, die sich für den kulturellideologischen Bereich zuständig glaubten), entsprach im Wesentlichen jener Politik, der wir in Wagners Tannhäuser auf der Wartburg begegnen. Das Erfordernis, sich der herrschenden Macht bedingungslos zur Verfügung zu stellen, das man dem Künstler in Hitlers Reich ebenso wie auf der Wagnerschen Wartburg stellte; die Gleichsetzung des Künstlertums mit dem Soldatentum, die einem Künstler weder unter Hitler noch unter Wagners Landgrafen ermöglichte, sich über die gegebene Linie hinwegzusetzen, ohne dabei eine Strafe zu riskieren, lässt uns mehrere Parallelen finden. In diesem Sinne verdiente Hitlers Epoche ohne Zweifel die Bezeichnung einer „WartburgZeit“, zumal sie sich außer den Aktivisten vom Schlag eines Johst oder Blunck mit jenen Autoren umgab, denen Alfred Döblin den Vorwurf machte, in einer vergangenen Welt, nämlich in derjenigen des deutschen Mittelalters (die Wagner das Tannhäuser Thema geliefert hatte), zurückgeblieben zu sein. 744 In Anbetracht der gesellschaftlichen Spaltung der Weimarer Epoche, wo der mit Wagners Hörselberg gleichzusetzenden Welt Berlins diejenige des „platten Landes“ gegenüber stand, die eine real gewordene Wagnersche Wartburg anmutete, können wir allerdings nicht zum Schluss gelangen, dass diese Kulturpolitik ausschließlich ein Produkt von Hitlers Regime war. Ohne Zweifel war seinem Regime zu „verdanken“, die Welt der Wagnerschen Wartburg in

744 Vgl. Döblin 1989, S. 426ff.

229 deren engbrüstigsten, intolerantesten Form in Wirklichkeit umgesetzt zu haben, doch die Tendenzen, dieser Welt zumindest teilweise zum Durchbruch zu verhelfen, gab es bereits in Stresemanns Republik. Die Geschichte des sog. „Schund und Schmutz Gesetzes“, die Kontrolle, der Rundfunk und Film unterzogen wurden, nicht zuletzt die von der Bühne genommenen Produktionen, um deren amtlich verfügte Absetzung sich durch ihre Ausschreitungen die Wegbereiter der neuen „WartburgZeit“ „verdient“ machten, legten noch vor dem Ende der Weimarer Epoche vom Streben Zeugnis ab, der Autonomie des Künstlers Schranken zu setzen. Dagegen blieb erst der neuen Macht vorbehalten, mit jenem Theater fertig zu werden, um das sich Piscator, Jessner, Fehling sowie andere Regisseure verdient machten. Obwohl das Piscatorsche, Jessnersche oder Fehlingsche Theater eine Frucht der Revolution war, die sich im Bereich der Kultur zu einem der Ziele gesetzt hatte, der Bühne den allmählich verloren gegangenen Status einer „moralischen Anstalt“ zurückzugeben und dabei jenen „Tannhäusern“ zum Durchbruch zu verhelfen, denen die vorhergehende Epoche die anpassungsfähigeren „Wolframs“ und „Biterolfs“ vorzuziehen gepflegt hatte, scheute Stresemanns Republik dieses Theater nicht, vielmehr suchte sie sich mit „ihrem“ Piscator, „ihrem“ Jessner, „ihrem“ Fehling zu schmücken – ohne sich von den revolutionären Wurzeln deren Inszenierungen in Verlegenheit bringen zu lassen. Die Abneigung, die die Bahnbrecher der neuen „WartburgZeit“ gegen das politisch gesellschaftlich interessierte Theater der Weimarer Epoche hegten, konnte daher erst dann in eine reale Politik umgesetzt werden, als es diese Epoche nicht mehr gab. Beispielhaft wurde dabei das Schicksal von Fehlings Tannhäuser Inszenierung, deren Analyse die Sache eines der Subkapitel ist. Was Fehling selbst betrifft, ließ er sich im Unterschied zu Jessner oder Piscator scheinbar eines „Besseren“ belehren – ohne allerdings „Buße“ getan zu haben (er inszenierte während der neuen „WartburgZeit“ einige Stücke des NSRepertoires, ohne jedoch seiner Auffassung der Bühne als eines dem jeweiligen Zeitalter, der jeweiligen Gesellschaft vorzuhaltenden Spiegels zu entsagen, ohne auf den Inszenierungsstil zu verzichten, der den „Provinzlern“ als Symbol des verpönten Weimarer Regietheaters galt). 745 3. Jürgen Fehling war genau der Mann, dessen Richard Wagners Werk bedurfte, um nach dem Zusammenbruch des „Alten“ und „Morschen“, d.h. nach dem Zusammenbruch des wilhelminischen Kaiserreichs, um nach dem Anbruch des „Neuen“, nämlich der

745 Vgl. Rühle 2007, S. 742ff.

230 „neusachlichen“ Weimarer Zeit, nicht „alt“ und „morsch“ da zu stehen: Während man in Bayreuth, auf dem „Grünen Hügel“ also, den Weg einer unproduktiven (um nicht zu sagen: kontraproduktiven) Traditionspflege weiterhin zu gehen wünschte und – der nächsten „großen Zeit“ zusteuernd – einer bis dahin unerhörten Provinzialisierung, einer „Verkleinbürgerlichung“ sowohl des Festspielpublikums als auch des Festspielmanagements Tür und Tor öffnete (genauer gesagt: aufriss, wohl um Carl von Ossietzkys (An) Klagen vom Februar 1933 gerecht zu werden: „Wir leben jetzt wieder im Traum der bürgerlichen Renaissance, und als klingender Herold dieser Sehnsucht tritt Richard Wagner wieder auf. Nicht mehr so exklusiv wie früher, im Gegenteil, sehr kleinbürgerlich geworden. Der Bürger ist pleite, seine Ideale wehen zerfetzt in allen Winden, nur seine Parvenuansprüche sind geblieben. Bei Wagner ist nicht nur das ganze Inventar des nationalistischen Schwertglaubens enthalten, sondern auch, immer neu variiert, die angenehme Vorstellung, von allen Übeln erlöst zu werden, ohne daß man dafür etwas zu tun braucht. Es erübrigt sich, näher auszuführen, was für eine Rolle in Deutschland der Wunderglaube spielt und das Verlangen nach einem Hexenmeister, der mit einem Hokuspokus Verschwindibus alle Kalamitäten für ewig beseitigt.“ 746 ), holte man in Berlin für die Holländer Produktion der „neusachlich“ veranlagten, der Antibürgerlichkeit verschriebenen Krolloper und für die spätere Tannhäuser Produktion der Lindenoper den aus Lübeck gebürtigen „Tabubrecher“ Jürgen Fehling, in Anbetracht (auch) dessen Theaterarbeit Carl Zuckmayer schreiben sollte: „Im allgemeinen wird ein Regisseur, der den Theaterstil seiner Epoche in den Fingerspitzen hat, der dem Drama seiner Zeit gerecht werden kann, auch den Klassiker für seine Generation lebendiger und unverfälschter darstellen als der Eklektiker oder Traditionalist.“ 747 Fehling wusste „dem Drama seiner Zeit“ ebenso wie dieser Zeit selbst gerecht zu werden. Keine Deutlichkeit scheuend, brachte er jene Welt auf die Bühne, von der er sich umgeben sah (ohne dabei ein ausgesprochen „politisches Theater“ machen zu wollen) – so auch Anfang 1933, als er der Aufgabe gerecht werden musste, anlässlich von Wagners fünfzigstem Todestag den Tannhäuser neu in Szene zu setzen, dessen hochbrisanter Inhalt ihm nicht verborgen blieb. Was Fehling – aller Traditionen spottend – schließlich auf die Bühne brachte, glich einer Reflektion der Realität, glich einem Spiegel, in dem sich all die „Gleichschaltung“ der Kultur und des gesellschaftlichen Lebens, all die

746 Ossietzky 1994, S. 482. 747 Zuckmayer 1995, S. 163.

231 Anfeindungen jeglicher Form des „Nonkonformismus“ abzeichneten, in deren Kontext auch die baldige Absetzung dieser Inszenierung selbst verstanden werden muss. Nicht nur Fehlings legendäre Richard III. Inszenierung, nicht nur seine Propheten Einstudierung, nicht nur die anderen Produktionen, die von beinahe erschreckender Zeit und (Un) Geistbezogenheit da standen, sondern auch Fehlings Tannhäuser schrak nicht davor zurück, dem Zuschauer ebenso wie dessen Zeitalter die Möglichkeit zur Verfügung zu stellen, sich auf der Bühne wieder zu finden – nicht zuletzt mit Hilfe eines Bühnen raums , der, denjenigen von Wieland Wagner vorwegnehmend, das Geistige, das Innere „nach außen kehrte“. Anders als die beiden Wagnerenkel, die für die Produktionen des „Neubayreuth“ verantwortlich zeichnen sollten, war Fehling allerdings nicht beschieden, mit seinem „Welttheater“ (um von Oscar Fritz Schuhs Terminus Gebrauch zu machen) die Welt zu erobern: „Es ist die große Tragik Fehlings, daß viele seiner besten Inszenierungen in der NSZeit entstanden sind. Sie konnten vom Ausland nicht zur Kenntnis genommen werden.“748 Das Los eines allmählichen InVergessenheitGeratens blieb auch den zwei Fehlingschen „Versuchen über Wagner“ vorbehalten; dennoch ist es, Anfang der 80er Jahre (als der Sammelband Wagners Werk und Wirkung. Festspielnachrichten, Beiträge 1957 bis 1982 erschien, dem die nachstehenden Zeilen entnommen sind) ebenso wie heute kaum möglich, sich über diese Fehlingschen WagnerInszenierungen hinwegzusetzen, vor allem wenn es gilt, das Streben nach einem sämtliche Konventionen und Tabus los gewordenen (Wagner) Theater zu dokumentieren: „Den meisten Widerstand hatte diesen Bestrebungen das Musiktheater entgegengesetzt. Man hatte zwar schon seit längerem, etwa seit 1909, versucht, das Bühnenbild aus den Fesseln naturalistischer Tradition zu befreien, und Männer wie Wildermann, Sievert und andere vermochten in dieser Richtung Bedeutendes zu leisten, aber dabei war es zunächst geblieben. Was anfangs noch fehlte, war die Selbständigkeit des Inszenators gegenüber dem Werk selbst, seine Unabhängigkeit von vorgedachten Leitbildern, das Durchdringen der Werke mit der Geistigkeit einer neuen Gegenwart. All dies wurde verhältnismäßig spät erst gewonnen, auf jeden Fall nicht vor dem Ersten Weltkrieg; zum eigentlichen und bestimmten Beuwußtsein gelangte es erst ab 1952 mit dem neuen Bayreuth der WagnerEnkel. Vor ihnen war Jürgen Fehling mit den beiden erwähnten

748 Ahrens 1987, S. 139.

232 Berliner Inszenierungen einer der ersten, die ihren Weg mit Konsequenz beschritten. Man dankte es ihm mit Zischen und Pfeifen.“ 749 4. Es war nach 1945 nicht nur Berlin, das (um Wolfgang Koeppen zu zitieren) „der Krieg vielleicht endgültig geschlagen hatte“ 750 . Max Jacobs Worte eingedenk, der die „Orgie“ am Montparnasse geglaubt hatte; die Sirenenstimmen ins Gedächtnis rufend, deren Verlockungen (noch) in den „Goldenen Zwanzigern“ eine Unmenge von „Pilgern“ – Genies, Bilderstürmern, Propheten ebenso wie zweifelhaften Charakteren sämtlicher Sprachen und Hautfarben – frohlockend zum Opfer gefallen war, um den Bennschen Visionen einer neuzeitigen Palmyra Gestalt zu geben, sah sich (nicht nur) Wolfgang Koeppen mitten in einer Welt, die von „einer bösen Fee“ in einen „Schlaf der Zeitlosigkeit“ verzaubert anmutete. Statt den Pilgern Tür und Tor zu öffnen, sie in einer der berühmtberüchtigten Bars, einem der Tanzlokale Platz nehmen und „in den Armen glühender Liebe“ 751 ihren Trieben Genüge tun zu lassen; statt dem Ruf eines Venusbergs gerecht werden zu wollen, dem der Tannhäuser Dichter die Vorlage für den ersten Aufzug seines Musikdramas verdankt hatte, stellte sich die Stadt an der Seine den Touristen zur Verfügung, die – massenweise aus dem Land des „Wirtschaftswunders“ kommend – der unbeschwerten Barwelt (deren Atmosphäre von „Ellenbogenfreiheit“ 752 , deren Luft von Parfüm und Latrinengeruch geprägt worden war) die geregelte, streng hygienische Welt der internationalen Hotels und Restaurants vorzogen. 753 Was Gottfried Benn seinen Landsleuten zum Vorwurf machte, hätte er auch deren französischen Nachbarn vorwerfen können: „[...] die Moral war nach 1918 weit libertiner, heute ist alles muckerisch u. selbst der coitus der Jugend stumpfsinniger u. phantasieärmer als in jenen Jahren; die Mechanisierung des Sozialdaseins hat auch diese Sphäre völlig maschinell gemacht.“ 754 Was das Geburtsland des „Wirtschaftswunders“ selbst betrifft (dessen Grundgesetz nicht vorbehalten blieb, sich mit der ursprünglich vorgeschlagenen Präambelformulierung „Bewegt von der Hoffnung aller Deutschen“ schmücken zu können 755 ), machte es glauben, nach wie vor „im Schatten der Wartburg“ verbleiben zu wollen – zumal manche Karriere, vor der es „den Hut abzunehmen“ galt, in der kaum vergangenen

749 Ellwanger 1983, S. 15. 750 Vgl. ebenda, S. 124. 751 Vgl. Tannhäuser , 1.Aufzug. 752 Vgl. oben, S. 3132. 753 Vgl. Koeppen (Bd.4) 1986, S. 621ff. 754 Benn 1979, S. 96. 755 Vgl. Glaser 2002, S. 240241.

233 „WartburgZeit“ ihren Anfang genommen hatte. Selbst die ehemalige Reichshauptstadt Berlin, die das Los des ganzen Landes, nämlich dasjenige einer politischideologischen Spaltung, zu teilen hatte, mutete an, als hätte sie sich jenem Provinzialismus verschrieben, dem sie einst entgegengewirkt hatte: „Der Krieg (gemeint ist der Erste Weltkrieg – Anm. M.U.) war verloren, die Toten wurden vergessen, die Niederlage geleugnet, die Historiker lehrten, daß nicht sein kann, was nicht sein darf, der Staat, die Republik wurde gehaßt, ein geschlagener General an ihre Spitze gestellt, die Atmosphäre war weithin vergiftet, die Inflation hatte vor allem die kleineren Vermögen verzehrt, das eingebildete bürgerliche Selbstverständnis war angegriffen, Arbeitslosigkeit raubte den Arbeitern das Brot, die Provinz muffte, sie blickte zurück und wartete auf den Retter, nur in der Hauptstadt, allein in Berlin waren Geist und Gesellschaft von alten Fesseln befreit, die Künste nützten ihre Chance, neue Ideen wurden produziert, neue Techniken entwickelt, die Literatur korrespondierte mit der Welt, nach einem Wort von Gottfried Benn fanden die abendlichen Kulissenverschiebungen statt, glanzvolle Aufführungen, eine neue Moral wurde diskutiert, Berlin war liberal und provokant, ich wollte teilhaben, ich atmete diese Luft, Berlin entzückte den Kopf, aber es füllte den Magen nicht.“ 756 Nun „muffte“ auch Berlin, während das „Wirtschaftswunder“ – am Rhein ebenso wie an der Spree – das Vermögen vermehrte, das „eingebildete bürgerliche Selbstverständnis“ ernährte, den Arbeitern das Brot gab und den Magen füllte. 5. Nehmen wir allerdings all die zeitbezogenen Gedichte in Betracht, die in der jungen Bonner Republik die Enzensbergers, Meckels und Frieds dem alten lyrischen „Augiasgemüt“ gegenüber stellten; nehmen wir all die Hochhuths, Kipphardts, nehmen wir Peter Weiss in Betracht, müssen wir dennoch zum folgenden Schluss gelangen: Die AdenauerZeit brachte – um es mit Wagners Tannhäuser Schema zum Ausdruck zu bringen – sowohl ihre „Wartburgen“, sie brachte sowohl ihre „Wolframs“ und „Biterolfs“ als auch ihre „Tannhäuser“, sprich „Außenseiter“, denen dabei – anders als bei Wagner – schließlich doch beschieden sein sollte, im „Wettkampf“ mit den Erstgenannten den „Längeren“ zu ziehen. Mochte die Lebens und Kulturauffassung des „nachtotalitären Biedermeier“ den, um von Alfred Döblins Vokabular Gebrauch zu machen, „alten Bildungsautoren, den humanistischen, den komfortabel Bürgerlichen, den bürgerlich Konservativen“ Vorzug geben; mochte es

756 Koeppen (Bd.5) 1986, S. 311.

234 die ganze AdenauerZeit hindurch nicht an Autoren mangeln, die – Wagners braven Wolfram und Biterolf ähnlich – all der Ordnungs, Anstands und Schönheitssucht, all den von dieser Zeit bald kaum wegzudenkenden Tabus verpflichtet waren; mochten noch weit über 1945 hinaus jene Kunstbetrachter, deuter und –vermittler den „Geschmack“ überwachen, die ihn auch unter Hitler überwacht hatten, so sollten sich – durch Westdeutschlands Annäherung an den „Westen“ begünstigt – jene „schwerverdaulichen Bengel“ durchsetzen, deren Raum Hans E. Nossack noch um die Hälfte der 50er Jahre verengt wusste, denen er (in einem Brief an Paul Celan) dennoch riet, sich „nicht verfälschen zu lassen“ 757 , und deren Leistung Günter Eichs nur ein Jahrzehnt später gezogenem Fazit zu Grunde lag: „Was an neuen sprachlichen Möglichkeiten in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts aufgetaucht ist, vor allem im französischen und spanischen Sprachgebiet, das ist auch bei uns akzeptiert worden. Dazu kommt das immer stärkere Eindringen des zivilisatorischen Vokabulars. Wörter wie Aktienkurse, Fußballmanschaft, Verstärkeramt trifft man nicht nur in Zeitungen, sondern auch in Gedichten. Aus diesem Vokabular ist schon hörbar, daß der Themenkreis sehr groß ist, wobei die skeptische Betrachtung der Welt, vor allem der eigenen Welt, überwiegt. Begeisterung ist selten, das Lob und Preisgedicht ist selten geworden, nationale Töne fehlen ganz und gar, Gott sei Dank. Der Glaube an Antworten ist gering, das Einverständnis fehlt, die Beurteilung der Lage reißt nirgends zur Freude hin.“ 758 Eine „skeptische Betrachtung der Welt, vor allem der eigenen Welt“, sollte auch in (West) Deutschlands Theaterlandschaft den „Längeren“ ziehen: Mochte die Bühne zunächst fast ausschließlich der Gründgensschen Klassikerpflege, mochte sie einer (um Hans E. Nossack zu zitieren) von „Herrn und Frau Delikateßhändler“ verlangten „gebildeten“ Unterhaltung gehören, so gehörte sie bereits Ende der AdenauerZeit auch den Hochhuths und Kipphardts, so gehörte sie (hier allerdings schon seit 1951) Wieland Wagner, diesem „positiven Skeptiker“, der, nachdem er in den 50er Jahren das Wagnersche Werk weitgehend entpolitisiert hatte, in den Sechzigern das Wagnis einging, mit Hilfe desselben Werks der Adenauerschen Gesellschaft ebenso wie dem ganzen „Westen“ („Walhall ist Wall Street!“) einen Spiegel vorzuhalten; der es wagte, sich mit Hilfe von Wagners Stabreimen mit jener Geschichte auseinander zu setzen, die der AdenauerZeit unmittelbar vorausgegangen war.

757 Vgl. Nossack 2001, S. 542543. 758 Eich 1991, S. 502.

235 6. „Treue und Wandel, das Bewahrende und das Fortschreitende sind die Pole alles Lebendigen. In weisem Verstande Tugenden, müssen sie, über sich selbst hinausgesteigert, zwangsläufig zur Erstarrung oder zur Auflösung führen. Ihr Bestand ist unerläßlich; nur das Maß ihrer Wirksamkeit entscheidet über Untergang oder Weiterentwicklung“ 759 , ließ Wieland die Bayreuther Besucherschaft bereits 1951 wissen. Wir können wohl sagen, dass er, mit der „Erneuerung“ des Bayreuther Inszenierungsstils „beauftragt“, mit einer auf dem „Grünen Hügel“ bis dahin kaum gesehenen Genauigkeit jenes Maß zu treffen wusste, das den Status des Optimalen für sich in Anspruch nehmen durfte: Was der Wagnerenkel auf die Festspielhausbühne brachte, glich einem Umsturz (so dass er nicht umsonst ein „Theaterumstürzler“ genannt wurde und werden sollte), einer „Wiedergeburt“ des Bayreuther Inszenierungsstils aus dem tiefsten Verständnis der Problematik von (Werk) „Treue“ und „Wandel“ – hatte noch Siegfried Wagner, Wielands Vater also, Fehlings Holländer Inszenierung an der Krolloper „zum Piepen“ gefunden; hatte sich noch Winifred Wagner, d.h. Wielands Mutter und unmittelbare Vorgängerin an der Festspielspitze, nicht in der Lage gesehen, trotz Roller, trotz Tietjen und Preetorius über den Schatten des „Altbayreuth“ zu springen; hatte sich noch der „junge“ Wieland selbst, nämlich derjenige des Parsifal von 19371938 sowie derjenige der Meistersinger von 19431944, der „Treue“ verpflichtet gefühlt, so wagte der „reife“ Wieland, der Wieland des „Neubayreuth“, einen „Wandel“, dem er allerdings stets Schranken gesetzt wusste ( „Richard Wagners Werk in seiner innersten Fassung duldet keinerlei Wechsel. Wie jedes elementare Kunstwerk ruht es unangreifbar und wertbeständig in sich selbst. Es wird vielleicht einmal nur noch eine großartige Erinnerung sein, niemals jedoch umgedeutet oder umgegossen werden können. Das hat es mit der Ilias, der Göttlichen Komödie, den Dramen Shakespeares gemein. Aber dieses „einmal“ liegt noch in weiter Ferne. Bis dahin wird es noch unzählige Male wiedergeboren, d.h. in der Art aller Kunstwerke „in der Zeit“ aufgeführt und neu gestaltet werden. Diese Neugestaltung – und nur sie – unterliegt dem Wandel. Ihm ausweichen zu wollen, hieße die Tugend der Treue zum Laster der Erstarrung machen. Eine solche Erstarrung aber würde es töten. Wer ihr das Wort redet, wird zum Totengräber am Werk.“ 760 ) Um sich des „Lasters der Erstarrung“ nicht schuldig zu machen, entriss der Wagnerenkel Wagners Werk planmäßig jeglicher Konvention,

759 Mack 1984, S. 178. 760 Ebenda, S. 178.

236 brach mit sämtlichen überlieferten Regiegewohnheiten, brach – nicht zuletzt – mit Wagners eigenen Regie und Bühnenanweisungen. Tannhäuser , für dessen bisher letzte Bayreuther Inszenierung Siegfried Wagner verantwortlich gezeichnet hatte, konnte unmöglich beiseite gelassen werden – zuerst um die Mitte der 50er, dann im Laufe der 60er Jahre nahm Wieland auch diese „Oper“ (buchstäblich) in Angriff, um ihr die Gestalt eines Dramas zu geben, das er als Drama, als „Tragödie des Mannes im christlichen Zeitalter überhaupt“ interpretierte. Ohne mit dem Ergebnis je wirklich zufrieden zu sein, brachte er – mit Hilfe von starken (Bühnen) Bildern ebenso wie mit Hilfe von provokantester Choreographie eines Maurice Bejart – eine Geschichte auf die Bühne, deren Aussagekraft recht verblüffend erschien. Die Grenze zwischen einem Meilen und einem Stolperstein schien dabei allerdings gefährlich nahe zu liegen – nicht wenige sollten glauben, den „entrümpelten“ Tannhäuser Wielands interpretatorischinszenatorischen Ausrutscher nennen zu müssen; im Unterschied zu Fehlings Berliner Tannhäuser Inszenierung, der bis zur bitteren Absetzung lediglich vier (größtenteils ausgebuhte) Aufführungen beschieden gewesen waren, blieb derjenigen des Wagnerenkels – allen Zweiflern zum Trotz – dennoch vorbehalten, sich schließlich doch noch mit dem Beinamen des „klassischen“ schmücken zu dürfen. Götz Friedrich, 1972 auf dem „Grünen Hügel“ angekommen, um den Wielandschen Tannhäuser mit einem Friedrichschen zu ersetzen, sollte keine zu beneidende Ausgangsposition haben. 7. Anfang der 70er Jahre glich schon (West) Berlin Hamburg, wie Hamburg Paris, London oder anderen Zentren der „westlichen“ Welt glich. Nachdem der Unterschied zwischen „Kapitalen“ und „Provinz“ relativiert worden war (d.h. nachdem selbst die größten und geschichtsträchtigsten Städte zu bloßen „Umschlagplätzen“ verkommen waren und die „alte Ferne zwischen Stadt und Land“ wenn nicht verschwunden, so doch wesentlich „geschrumpft“ war 761 ), bot sich dem Besucher „von außen“, dem Besucher wie Götz Friedrich das Bild einer integrierten, d.h. politisch, wirtschaftlich und – nicht zuletzt – kulturell vereinheitlichten, perfektionierten, „verapparateten“ und durchaus säkularisierten Welt an, das insbesondere in den sog. „Ballungsgebieten“ (wo sich, um Heinrich Böll zu zitieren, der meiste von der neuen Wohlstandsgesellschaft produzierte Konsummüll ballte) der Vorstellung eines „formal virtuosen paradis artificiel“ entsprach, der Vorstellung eines Venusbergs, wo alle Lust

761 Vgl. Kielmansegg 2007, S. 418.

237 dem Geschäft, alle Bacchanten und Bacchantinnen, Satyrn und Sirenen den Kunden und Klienten gewichen waren, wo Frau Venus selbst einer neuen „Gottheit“ hatte weichen müssen, die (nicht nur) Böll „Profit“ zu nennen pflegte. 762 Wieland Wagners BacchanalVision von Anfang der 60er Jahre, der Marcel ReichRanicki mit der Bezeichnung eines „formal virtuosen partadis artificiel“ begegnet war, schien weitgehend in Erfüllung gegangen zu sein – an der Spree ebenso wie an der Elbe oder Seine. Gerade so relativ wie die Grenze zwischen „Zentrum“ und „plattem Land“ mutete allerdings auch die Grenze zwischen „Venusberg“ und „Wartburg“ an. Gegen die profitorientierte Lebens (und Kultur) Auffassung der bald etablierten Warengesellschaft protestierend, riefen die „NichtkonformGehenden“, mochten sie auch heißen, wie sie wollten, öfters Reaktionen hervor, die die Welt der Wagnerschen Wartburg suggerierten (nicht nur in Götz Friedrichs Darstellung des Sängerwettstreits, wo Tannhäuser mit seinem „Nonkonformismus“ Furore macht, wirkte die Wirklichkeits und Zeitnähe des Dargestellten geradezu unheimlich: „Der Wettstreit der Sänger, Reaktionen im WartburgChor, die Elisabeths und des Landgrafen werden minutiös analysiert und im Ensemble erarbeitet. Die Damen von damals reagierten nicht viel anders als unsere heutigen Cocktailladies und das feudalmännliche Verhalten spiegelt einen bekannten Chauvinismus unserer Tage. Zwei Menschen brechen in diesem Rahmen die historischbürgerlichen Konventionen, wobei sich ihre Liebe und Unbedingtheit über den traditionellen Standard erhebt. Tannhäuser provoziert ein zweites Mal und irritiert dabei als anders Denkender das schon institutionelle Ritual, kompromittiert die Gefühlswelt einer Gesellschaft und entlarvt indirekt bürgerliche Wünsche und heimliche Sehnsüchte.“ 763 ). Ohne sich mit Hans M. Enzensbergers düsterer Vision eines neuen, eines, wie Enzensberger sagte, „italianiesierten“ (West) Europa von „verluderten Parteien“ und „parasitären Verwaltungen“, von „Subventionsbetrug“, „Patronagegefilz“, „Schwarzarbeit“ und „Immobilismus“ unbedingt identifizieren zu müssen 764 ; ohne den integrierten „Westen“ nur mit vermarkteten Traditionen, Snobismus und (nicht selten auch künstlerischem) Opportunismus zu verbinden, sieht man sich dennoch gezwungen, die Existenz der „WartburgSchatten“ anzuerkennen – es steht außer Zweifel, dass die Wohlstandsgesellschaft durchaus ungestüm, durchaus „wartburgisch“ reagieren

762 Vgl. Böll 1973, S. 212. 763 Jaeger 1983, S. 5253. 764 Vgl. Enzensberger 1988, S. 108109.

238 konnte, wenn sie in ihrem Wohlstand, in ihrem „Fett“ (um Jean Améry zu paraphrasieren) gestört wurde; wenn sie sich, der Gemeinschaft von Wagners Wartburg ähnlich, durch die Herausforderung der eigenen (geheim gehaltenen) Wünsche und Gefühle – sei es durch die „ohne die Statussymbole“ lebenden Beatniks, sei es durch Künstler – bloßgestellt wusste. Unter diesen Auspizien war es durchaus möglich, neuen „Tannhäusern“ zu begegnen, die selbst im „paradis artificiel“ des neuzeitigen „Westens“ ihre „Wartburgen“ finden sollten – dem Fall Götz Friedrich blieb nicht vorbehalten, der einzige zu sein. 8. Die Wohlstandsgesellschaft der ausgehenden 60er und einsetzenden 70er Jahre verstand es geradezu meisterhaft, die Kunst und Kunstschaffenden zu vermarkten – selbst manchem „Nonkonformisten“ bot sie die Möglichkeit an, in der Taschenbuchreihe eines prestigeträchtigen Verlags zu reüssieren und sogar mit einem jener Literaturpreise ausgezeichnet zu werden, die nun – größtenteils aus den ReklameGründen – wie Pilze nach dem Regen aus dem Boden schossen. 765 Die „WartburgSchatten“ waren allerdings nach wie vor da. Sich auf die Kunst allein berufend, scheute diese Gesellschaft, scheuten all die (um von Peter Rühmkorfs Terminologie Gebrauch zu machen) „Programmgestalter“ und „Geschmacksbildner“, die sich für das Kulturleben dieser Gesellschaft zuständig fühlten, selbst die Zensurmaßnahmen nicht: „Wenn in zwei renommierten Buchverlagen, bei Hanser in München, bei Fischer in Frankfurt, innerhalb eines Vierteljahres zwei dicke Bücher mit zahllosen Belegen erscheinen (Frühjahr 1980), um die Zensur in der BRD zu dokumentieren; wenn diese Bücher auch in Magazinen wie dem Stern – den sogar unsere notorisch büchermeidenden Politiker „lesen“ – auf mehreren Seiten (von Jürgen Kesting) besprochen und abgebildet werden: so regt das gleichwohl keinen Politiker, keinen Staatsanwalt in der BRD einmal dazu an, anhand dieser Bücher den Verfassungsbruch – „eine Zensur findet nicht statt“, Artikel 5 – zum Anlaß für wenigstens eine kleine parlamentarische Anfrage zu nehmen: So sehr ist halt in dieser BRD die Zensur zur Tages„Ordnung“ gehörend“ 766 , sollte Rolf Hochhuth zusammenfassend schreiben. Fühlte sich die Wohlstandsgesellschaft, fühlten sich ihre (um den Stellvertreter Autor zu zitieren) „Vorstehhunde“ bloßgestellt – sei es durch ein literarisches oder dramatisches Werk, sei es durch einen Aufsatz oder Zeitungsartikel, sei es, nicht zuletzt, durch eine provokativinnovative Klassiker

765 Vgl. Barner 1994, S. 364; 598599. 766 Hoffmeister 1980, S. 319.

239 Inszenierung –, so war wieder einmal von „Verschwörung“ und „(kommunistischer) Untergrundarbeit“ die Rede – nicht zuletzt im „Fall Friedrich“ von 1972. Hätte Carl von Ossietzky die Möglichkeit gehabt, Friedrichs Bayreuther Tannhäuser Inszenierung beizuwohnen, hätte er seine in Bezug auf die unfreundlich angenommene, weil irritierende Berliner Egmont Produktion von Anfang der 30er Jahre formulierte Vermutung (er selbst hatte diese Vorstellung nicht gesehen) ohne weiteres paraphrasieren können: „Es muß ein seltsamer Theaterabend gewesen sein. Im Parkett saß befrackt und bebändert der Staat, oben auf der Szene geisterte sein Bild.“ 767 9. Die Tannhäuser Inszenierung, mit der der (Ost) Berliner Regisseur Götz Friedrich 1972 die Bayreuther Festspielbesucher im wahrsten Sinne des Wortes herausforderte, muss als ebenso stilbildend angesehen werden wie die zwei oben behandelten Produktionen, für die Jürgen Fehling und Wieland Wagner verantwortlich gezeichnet hatten. Auf dem „Grünen Hügel“, wo man Wieland und Wolfgang Wagners „Vorsorgemaßnahme“ von 1951, nämlich den Appell an die Besucherschaft, „von Gesprächen und Debatten politischer Art absehen zu wollen“, als eine vollständige und endgültige Entpolitisierung von Wagners Werk missverstand, auf diesem „Grünen Hügel“ kaum angekommen, sah sich der damals noch DDRStaatsbürger Friedrich einer Phalanx von „Wagnerianern“ gegenüber, die ihm nicht nur seine „ostdeutsche“ Staatszugehörigkeit „übel nahmen“, sondern auch – und nicht minder – die Zugehörigkeit zur Komischen Oper in (Ost) Berlin, deren Begründer (Friedrichs „Meister“) Walter Felsenstein Bertolt Brecht bereits Anfang der 50er Jahre das (unter den Bayreuther Traditionalisten ebenso wie unter den meisten, auf einen „kulinarischen Operngenuss“ erpichten Bayreuther Premierengästen höchst problematische) Lob ausgesprochen hatte: „Felsenstein hat gezeigt, wie man die Oper säubern kann – von der Tradition, wo sie Denkfaulheit, und von der Routine, wo sie Faulheit des Gefühls bedeutet. Felsenstein nimmt nicht, wie das üblich und übel ist, Unnatur „in Kauf“ – „der Musik wegen“. Er weiß, daß die Musik auf der Bühne nicht ohne Wahrheit leben kann.“ 768 Die „Befürchtungen“, die in dieser Hinsicht dem NochOstberliner entgegengebracht wurden, sollten sich als begründet erweisen – hätte Felsenstein nicht alles billigen können, was sein „Schüler“ auf die Bühne brachte und auch in Zukunft bringen sollte (schließlich zeigte sich Friedrich immer der

767 Ossietzky 1994, S. 347. 768 Brecht 1993, S. 178.

240 Meinung, über die Grenzen gehend, die der „Meister“ selbst nicht zu überschreiten gewagt hatte, den Erwartungen von einem „Schüler“ am besten Genüge tun zu können), so hätte er zugleich erkennen müssen, dass in der Sache der „Wahrheit“ (d.h. der Glaubwürdigkeit, der Wirklichkeitsnähe) dem „Schüler“ nichts vorzuwerfen war: „Was ist vom Opernregisseur zu verlangen [...] ?“ , stellte sich Friedrich Ende der 60er Jahre die Frage. „Erstens: Die Erkenntnis, daß Musiktheater eine Kunstform ist, die auf spezifische Weise Wirkliches abbildet oder transformiert und die dabei in höchstem Maße Ratio und Sensus, Logik und Phantasie, Reales und Irreales verbindet, um auf eigene, unverwechselbare Art Modellentwürfe menschlicher Existenz zu geben – Modellentwürfe, die ihren Sinngehalt und ästhetischen Reiz jeweils neu zu offenbaren haben.“ 769 So auch Anfang der 70er Jahre in Bayreuth – seinen Prinzipien treu, den Prinzipien von Felsensteins „Schule“ ebenso wie dem Ruf der „ostdeutschen“ Regisseure (der ihnen nicht umsonst einen Hang zum Demaskieren, zum VomPodestHolen nachsagte) folgend, auf die Erwartungen der seit „Neubayreuths“ frühesten Jahren auf dem „Grünen Hügel“ wieder etablierten „Gemeinschaft der Gläubigen“ (an deren Entstehung die beiden Wagnerenkel nicht ganz ohne Schuld waren) nicht im geringsten achtend, setzte er mit seiner Auffassung des TannhäuserDramas einen so wirklichkeitsnahen „Modellentwurf menschlicher Existenz“ in Szene, dass ihm der Sturm der Entrüstung von seiten aller Betroffenen unmöglich erspart bleiben sollte. Stand die Friedrichsche Wartburg als Modell einer hochkonservativen, nur wenig (wenn überhaupt) toleranten, sich in erstarrten Ritualen ergehenden Gesellschaft auf der Bühne, so fand sich dieselbe Gesellschaft nicht zuletzt vor dieser Bühne, in und vor dem Bayreuther Festspielhaus ein ( „Würdige Herren in Schwarz drohten mit der Faust zur Bühne herauf, das schlimme Vokabular des Kalten Krieges auf der Zunge; da war von „Rache“, ja von „Schande“ die Rede, hieß es nicht nur „Buh“, sondern „Pfui“. In den Logen der geladenen Gäste trugen CSU und SPDVertreter den Sängerkrieg gleich noch einmal aus!“ 770 ); Hans Mayer sollte resümieren: „Was war geschehen? Die realistische und verfremdende Deutung der TannhäuserGeschichte hatte Gleichzeitigkeit hergestellt zwischen diesem Werk und diesem Publikum vom Jahre 1972. Das war geplant worden.“ 771 Dabei war nicht nur die Wirklichkeitsbezogenheit, war nicht nur die Zeitnähe da, sondern auch die

769 Friedrich 1986, S. 35. 770 Christians 1995, S. 68. 771 Mayer 1978, S. 408.

241 „Werktreue“. Nicht unbeachtet darf jedoch die Tatsache bleiben, dass Friedrichs Bayreuther Tannhäuser Inszenierung keineswegs mit einem „Polittheater“ zu verwechseln war, dass die „Repolitisierung“ des besagten Werks keinesfalls dessen Instrumentalisierung zugunsten eines politischen Systems bedeutete (was allerdings mancher Premierengast nicht zur Kenntnis zu nehmen bereit war) – was der Regisseur vorhatte, war, sein Publikum betroffen zu machen: „Diese Inszenierung zwang zur Stellungnahme, zur ideologischen Positionsbestimmung – sie verweigerte sich unkritischem Konsum, jenem bayreuthischen „Wähnen“ über ausschließlich Liebes und Kunsttaten. Und indem sie die Gegner von Kunst und Meinungsfreiheit zur Demaskierung nötigte, hat sie politische Wirkung erzielt, für die Wolfgang Wagner später den beschönigenden Begriff von der „Werkstatt Bayreuth“ fand.“772 Die Rechnung der Wolfgangschen Festspielleitung, mit Hilfe von geladenen Gast Regisseuren die bestehende Modernität sowohl des Wagnerschen Werks als auch der Bayreuther Festspiele selbst (deren Produktionen seit Wieland Wagners Tod allmählich zu wünschen übrig ließen – zumindest auf dem interpretatorischen Gebiet) zum Vorschein zu bringen, ging auf.

772 Christians 1995, S. 69.

242 Shrnutí

1. Společenský rozkol, jenž se projevil v době Výmarské republiky, byl takového rázu, že se zde objevila zřetelná paralela s rozpolceným světem Wagnerova Tannhäusera . U Wagnera jde v první řadě o konflikt dvou vzájemně neslučitelných světů, z nichž první, totiž svět Venušin, je třeba posuzovat negativně, zatímco na druhý, tj. na svět Wartburgu, je nutno pohlížet jako na ztělesnění pozitivna, jež ve Wagnerově případě splývá s němectvím. Přiklonit se na Venušinu stranu tak pro Tannhäusera znamená riskovat všeobecné opovržení, v nejhorším případě dokonce násilný konec; rozhodnout se ve prospěch Wartburgu mu naproti tomu slibuje přinést úspěch. Jelikož se toto wagnerovské drama zakládá na realitě, můžeme si takový konflikt dvou navzájem nepřátelských světů promítnout i na epochu Výmarské republiky, tj. na dobu Fehlingovu: Zatímco Wagner rozuměl pod metaforou „Venusberg“ (Venušina hora) francouzský „paradis artificiel“ (umělý ráj), s nímž se seznámil již v roce 1839 během svého prvního pobytu v Paříži (jež si, jak o tom podaly svědectví četné zprávy Fehlingových současníků, uchovala platnost předlohy Venusbergu ještě desetiletí po Wagnerově smrti), skýtal svět Berlína, hlavního města Říše, v němž Fehling představil publiku své wagnerovské inscenace, přinejmenším v úspěšných, v tzv. „Pařížských“ letech Výmarské republiky obrázek připomínající Wagnerovu operu. To, co Wagner zašifroval do své Venušiny hory, totiž mondénní styl pařížského respektive francouzského světa, spatřila dvacátá léta rozkvétat na Sprévě. Stejně jako v Tannhäuserovi , kde proti stoupencům tohoto životního stylu, tj. proti těm, jež hledají útočiště ve Venušině hoře, stojí jeho zarytí odpůrci, poznala Výmarská republika nejen ty, kdož otevřeli dokořán dveře „západní“ civilizaci, aby mohli doufat v život mimo všech konvencí, ale také ty, jež stále ještě lpěli na „kultuře“ („Kultur“) „wartburského věku“. Zatímco ve Wagnerově opeře sídlí společenství odmítající „civilizaci“ („Zivilisation“) na Wartburgu, vybudovali si stoupenci „Abendlandu“ ve výmarské době své malé „Wartburgy“ v provincii, ve městech jako Mnichov, Výmar či Bayreuth, aby zde vzývali právě ty hodnoty, jež berlínský svět ignoroval. Z provincie tak byl proti „pozápadněnému“ hlavnímu městu Říše veden boj srovnatelný s bojem wagnerovského Wartburgu proti Venušině hoře. Na dvorech malých „lankrabat“, ať už se jmenovala Scharnagl či jinak, aplaudovalo „národní společenství“ („Volksgemeinschaft“), o jehož smýšlení si např. Gottfried Benn nedělal nejmenší iluze, těm umělcům, těm přizpůsobivým „Wolframům“ a „Biterolfům“, jejichž umění

243 bylo chvalozpěvem na „ctnost“ a „dobré mravy“, zatímco „literátům“ z Berlína, pokud o sobě dali vědět, zbylo pouze opovržení a výtky „kulturního bolševismu“. O to, co bylo možno chápat pod pojmem „kultura“, se přel Berlín s „plochým venkovem“ stejně prudce jako o to, která ideologie, které pojetí kultury bylo to správné. 2. Kulturní politika, kterou sledoval Hitlerův režim (respektive kterou se pokoušel sledovat, vezmemeli v úvahu kompetenční spory, jež se jak známo vyskytovaly mezi nacistickými špičkami – zvláště pak mezi těmi, jež se považovaly za odpovědné za kulturní a ideologickou oblast), odpovídala v podstatě politice, s níž se ve Wagnerově Tannhäuserovi setkáváme na Wartburgu. Požadavek bezpodmínečné poslušnosti vůči vládnoucí moci, jenž byl na umělce kladen jak v Hitlerově říši, tak také na Wagnerově Wartburgu; postavení umělcova poslání na roveň vojenskému, jež umělci ani pod Hitlerem, ani pod Wagnerovým lankrabětem nedovolilo opustit stanovenou linii, aniž by tento umělec neriskoval potrestání, nám umožňují nalézt nejednu paralelu. V tomto ohledu si Hitlerova epocha bezpochyby zasluhuje označení za „wartburský věk“, zvláště když se kromě aktivistů Johstova či Blunckova ražení obklopila právě těmi autory, jimž Alfred Döblin vyčetl, že se upsali době dávno minulé, konkrétně době německého středověku (v níž Wagner nalezl téma svého Tannhäusera ). 773 S ohledem na společenský rozkol výmarské doby, kdy proti berlínskému světu srovnatelnému s Wagnerovým Hörselbergem stál svět „plochého venkova“ jevící se jako realizace wagnerovského Wartburgu, však nemůžeme dospět k závěru, že by tato politika byla výhradně produktem Hitlerova režimu. Je nepochybné, že tomuto režimu „vděčíme“ za uskutečnění Wagnerova Wartburgu v jeho nejomezenější a nejnetolerantnější podobě, první příznaky tohoto světa se však objevily již ve Stresemannově republice. Historie tzv. „Zákona proti braku a špíně“, kontrola, jíž byly podrobeny rozhlas i film, a v neposlední řadě divadelní představení, o jejichž úředně nařízené stažení z programu se svými kravály „zasloužili“ průkopníci „wartburského věku“, podaly ještě před koncem výmarské doby svědectví o snaze omezit umělcovu autonomii. Teprve nové moci však bylo předurčeno skoncovat s divadlem, o něž se zasloužili Piscator, Jessner, Fehling a další režiséři. Třebaže bylo Piscatorovo, Jessnerovo či Fehlingovo divadlo plodem revoluce, jež si na poli kultury položila za cíl navrátit divadelní scéně téměř ztracený status „morální instituce“ a napomoci přitom k úspěchu právě těm „Tannhäuserům“, před nimiž předchozí doba upřednostňovala

773 Srov. Döblin 1989, s. 426 atd.

244 přizpůsobivější „Wolframy“ a „Biterolfy“, Stresemannova republika se jej nijak neobávala a spíše se pokoušela dodat si „svým“ Piscatorem, „svým“ Jessnerem, „svým“ Fehlingem lesku – aniž by se přitom nechala uvést do rozpaků revolučnímu kořeny jejich inscenací. Nevole, s níž politicky a společensky angažované divadlo výmarské doby sledovali pionýři budoucího „wartburského věku“, tak mohla být proměněna v praktickou politiku teprve po pádu Výmarské republiky. Za příklad nám může posloužit osud Fehlingovy inscenace Tannhäusera , jejíž analýza je předmětem jedné z podkapitol. Co se týče Fehlinga, nechal se na rozdíl od Jessnera či Piscatora zdánlivě „poučit“ – aniž by ovšem učinil jakékoliv pokání (během následujícího „wartburského věku“ inscenoval několik děl národněsocialistického repertoáru, aniž by se přitom zřekl svého pojetí divadelní scény jako zrcadla nastavovaného příslušné době a společnosti; aniž by se přitom vzdal režijního stylu, jenž byl pro „provinciály“ symbolem zavrženého výmarského režijního divadla). 774 3. Jürgen Fehling byl přesně tím mužem, jehož Wagnerovo dílo potřebovalo, aby tu po zhroucení „starého“ a „ztrouchnivělého“, tj. po zhroucení vilémovského císařství, a po příchodu „nového“, to znamená po začátku „věcné“ (neusachlich) výmarské doby, samo nestálo jako „staré“ a „ztrouchnivělé“: Zatímco si Bayreuth, tj. „Zelený vršek“, i nadále přál jít cestou neproduktivního (abychom nemuseli říci: kontraproduktivního) tradicionalismu a – směřuje vstříc další „velké době“ – otevřel dokořán dveře dosud nebývalému provincialismu a maloměšťáctví jak u festivalového publika, tak také u festivalového managementu (snad aby dal za pravdu stížnosti Carla von Ossietzkého z února roku 1933: „Wir leben jetzt wieder im Traum der bürgerlichen Renaissance, und als klingender Herold dieser Sehnsucht tritt Richard Wagner wieder auf. Nicht mehr so exklusiv wie früher, im Gegenteil, sehr kleinbürgerlich geworden. Der Bürger ist pleite, seine Ideale wehen zerfetzt in allen Winden, nur seine Parvenuansprüche sind geblieben. Bei Wagner ist nicht nur das ganze Inventar des nationalistischen Schwertglaubens enthalten, sondern auch, immer neu variiert, die angenehme Vorstellung, von allen Übeln erlöst zu werden, ohne daß man dafür etwas zu tun braucht. Es erübrigt sich, näher auszuführen, was für eine Rolle in Deutschland der Wunderglaube spielt und das Verlangen nach einem Hexenmeister, der mit einem Hokuspokus Verschwindibus alle Kalamitäten für ewig beseitigt.“ 775 ), povolal Berlín

774 Srov. Rühle 2007, s. 742 atd. 775 „Žijeme nyní opět ve snu měšťanské renesance a v roli halasného herolda této touhy opět vystupuje Richard Wagner. Již ne tak exklusivně jako dříve, naopak, velmi maloměšťácky. Měšťák je finančně na dně, z jeho

245 pro inscenaci Bludného Holanďana na scéně „věcné“ a protiměšťácké Krollovy opery jakož i pro pozdější inscenaci Tannhäusera ve Státní opeře Pod lipami lübeckého „obrazoborce“ Jürgena Fehlinga (jehož práce natolik ovlivnila Carla Zuckmayera, že napsal: „Im allgemeinen wird ein Regisseur, der den Theaterstil seiner Epoche in den Fingerspitzen hat, der dem Drama seiner Zeit gerecht werden kann, auch den Klassiker für seine Generation lebendiger und unverfälschter darstellen als der Eklektiker oder Traditionalist.“ 776 ). Fehling věděl, jak učinit zadost nejen „dramatům vlastní doby“, ale i této době samotné. Nevyhýbaje se žádné jednoznačnosti přivedl na scénu svět, jímž se cítil obklopen (aniž by přitom usiloval o divadlo vyloženě politické) – tak tomu bylo i na počátku roku 1933, kdy se musel vypořádat s úkolem vytvořit u příležitosti padesáti let Wagnerova úmrtí novou inscenaci Tannhäusera , o jehož vysoce explozivním obsahu věděl. To, co Fehling pohrdaje všemi tradicemi představil na scéně, se rovnalo zrcadlu, v němž se odráželo všechno to „zglajchšaltování“ kultury a společenského života, všechny ty útoky na jakoukoliv formu „nonkonformismu“, v jejichž kontextu je nutno chápat i brzké stažení samotné této inscenace z programu. Nejen Fehlingova legendární inscenace Richarda III. , nejen jeho nastudování Proroků , nejen všechna ostatní představení, jež tu stála s až děsivou aktuálností, ani Fehlingův Tannhäuser se nebál dát divákovi a jeho době možnost najít se na divadelní scéně – v neposlední řadě s pomocí jevištního prostoru, jenž, předjímaje scénu Wielanda Wagnera, „obracel vně“ ducha a nitro. Na rozdíl od obou Wagnerových vnuků, jež měli nést odpovědnost za inscenace „Nového Bayreuthu“, však Fehlingovi nebylo dopřáno, aby se svým „světovým divadlem“ (Oscar F. Schuh) dobyl svět: „Es ist die große Tragik Fehlings, daß viele seiner besten Inszenierungen in der NSZeit entstanden sind. Sie konnten vom Ausland nicht zur Kenntnis genommen werden.“ 777 Osud postupného upadnutí v zapomnění byl předurčen i oběma Fehlingovým „pokusům o Wagnera“ – přesto bylo počátkem 80. let (kdy se objevil sborník Wagners Werk und Wirkung. Festspielnachrichten, Beiträge

ideálů zbyly cáry vlající ve větru, jen jeho povýšenectví zůstalo. U Wagnera je po ruce nejen celý inventář nacionalistické víry v meč, ale ve stále nových variacích i příjemná představa o vykoupení od všeho zlého, aniž by pro to člověk musel cokoliv udělat. Je zbytečné blíže rozvádět, jakou roli hraje v Německu víra v zázraky a touha po nějakém čaroději, jenž by svým hokuspokusem jednou pro vždy odstranil všechny potíže.“ Ossietzky 1994, s. 482. 776 „Obecně lze říci, že režisér mající v malíčku divadelní styl své doby a schopný postavit se dramatu své doby dokáže své generaci představit i klasika životněji a pravdivěji než eklektik či tradicionalista.“ Zuckmayer 1995, s. 163. 777 „Je velkou Fehlingovou tragédií, že mnohé z jeho nejlepších inscenací vznikly v době národního socialismu. Nemohly tak být zahraničím vzaty na vědomí.“ Ahrens 1987, s. 139.

246 1957 bis 1982 , z něhož pocházejí následující řádky) stejně nemyslitelné jako dnes Fehlingovy wagnerovské inscenace ignorovat, především pokud se jedná o zdokumentování úsilí o prosazení (Wagnerova) divadla zbaveného všech konvencí a tabu: „Den meisten Widerstand hatte diesen Bestrebungen das Musiktheater entgegengesetzt. Man hatte zwar schon seit längerem, etwa seit 1909, versucht, das Bühnenbild aus den Fesseln naturalistischer Tradition zu befreien, und Männer wie Wildermann, Sievert und andere vermochten in dieser Richtung Bedeutendes zu leisten, aber dabei war es zunächst geblieben. Was anfangs noch fehlte, war die Selbständigkeit des Inszenators gegenüber dem Werk selbst, seine Unabhängigkeit von vorgedachten Leitbildern, das Durchdringen der Werke mit der Geistigkeit einer neuen Gegenwart. All dies wurde verhältnismäßig spät erst gewonnen, auf jeden Fall nicht vor dem Ersten Weltkrieg; zum eigentlichen und bestimmten Bewußtsein gelangte es erst ab 1952 mit dem neuen Bayreuth der WagnerEnkel. Vor ihnen war Jürgen Fehling mit den beiden erwähnten Berliner Inszenierungen einer der ersten, die ihren Weg mit Konsequenz beschritten. Man dankte es ihm mit Zischen und Pfeifen.“ 778 4. Po roce 1945 to nebyl jen Berlín, kdo si (abychom citovali Wolfganga Koeppena) „z války odnesl zřejmě definitivní porážku“ 779 . Vzpomínaje na slova Maxe Jacoba, jenž věřil v „orgie“ na Montparnassu; vybavuje si v paměti hlasy sirén, jejichž svodům ještě ve „Zlatých dvacátých letech“ s radostí padaly za oběť celé zástupy „poutníků“ – géniů, obrazoborců, proroků stejně jako pochybných existencí všech jazyků a barev pleti –, aby daly podobu vizím Gottfrieda Benna o novodobé Palmyře, připadal si (nejen) Wolfgang Koeppen v poválečné Paříži jako ve světě začarovaném nějakou „zlou vílou“ ve „spánek mimo hranice času“. Místo aby dokořán otevřelo brány a dveře poutníkům, jež by zaujali místo v některém ze slavně i neslavně proslulých barů a tanečních lokálů a „v náruči horoucí lásky“ 780 učinili zadost svým touhám; místo aby dostálo pověsti Venušiny hory, jíž Wagner vděčil za předlohu prvního dějství svého

778 „Největší odpor kladlo těmto snahám hudební divadlo. Pokusy osvobodit scénu od naturalistické tradice tu sice byly již delší dobu, asi od roku 1909, a muži jako Wieldermann, Sievert a další dosáhli v tomto směru významných úspěchů, ale u toho nejdřív zůstalo. Čeho se zpočátku nedostávalo, byla režisérova autonomie vůči dílu samotnému, jeho nezávislost na předem daném vodítku, proniknutí děl duchem nové přítomnosti. Toho všeho bylo dosaženo až poměrně pozdě, v každém případě ne před První světovou válkou; do vlastního a konkrétního povědomí se to dostávalo teprve od roku 1952 s novým Bayreuthem Wagnerových vnuků. Před nimi byl s oběma svými zmíněnými berlínskými inscenacemi Jürgen Fehling jedním z prvních, kdož důsledně kráčeli svou cestou. Poděkováno jim za to bylo syčením a pískáním.“ Ellwanger 1983, s. 15. 779 Srov. Koeppen (svazek 5) 1986, s. 124. 780 Srov. Tannhäuser , 1. jednání.

247 hudebního dramatu, dalo se město na Seině k dispozici turistům, jež – přicházejíce masově ze země „hospodářského zázraku“ – před bezstarostným světem barů (s atmosférou poznamenanou „svobodou loktů“ 781 a vzduchem vanoucím pachem parfémů a latrín) dávali přednost uspořádanému, přísně hygienickému světu mezinárodních hotelů a restaurací. 782 Výtky, jež Gottfried Benn vmetl do tváře svým krajanům, mohl nyní vytknout i jejich sousedům: „[...] die Moral war nach 1918 weit libertiner, heute ist alles muckerisch u. selbst der coitus der Jugend stumpfsinniger u. phantasieärmer als in jenen Jahren; die Mechanisierung des Sozialdaseins hat auch diese Sphäre völlig maschinell gemacht.“ 783 Co se týče samotné kolébky „hospodářského zázraku“ (jejíž ústavě nebylo předurčeno ozdobit se ve své preambuli původně navrženými slovy „Pohnuti nadějí všech Němců“ 784 ), budila dojem, jako by i nadále chtěla zůstat „ve stínu Wartburgu“ – zvláště když leckterá kariéra, před níž se slušelo „smeknout“, vzala svůj počátek v sotva uplynulém „wartburském věku“. Dokonce i někdejší hlavní město Říše Berlín, jemuž přišlo sdílet osud celé země, tj. osud politického a ideologického rozdělení, se zdálo upsat právě tomu provincialismu, jehož vliv se kdysi snažilo vyvažovat: „Der Krieg (gemeint ist der Erste Weltkrieg – Anm. M.U.) war verloren, die Toten wurden vergessen, die Niederlage geleugnet, die Historiker lehrten, daß nicht sein kann, was nicht sein darf, der Staat, die Republik wurde gehaßt, ein geschlagener General an ihre Spitze gestellt, die Atmosphäre war weithin vergiftet, die Inflation hatte vor allem die kleineren Vermögen verzehrt, das eingebildete bürgerliche Selbstverständnis war angegriffen, Arbeitslosigkeit raubte den Arbeitern das Brot, die Provinz muffte, sie blickte zurück und wartete auf den Retter, nur in der Hauptstadt, allein in Berlin waren Geist und Gesellschaft von alten Fesseln befreit, die Künste nützten ihre Chance, neue Ideen wurden produziert, neue Techniken entwickelt, die Literatur korrespondierte mit der Welt, nach einem Wort von Gottfried Benn fanden die abendlichen Kulissenverschiebungen statt, glanzvolle Aufführungen, eine neue Moral wurde diskutiert, Berlin war liberal und provokant, ich wollte teilhaben, ich atmete diese Luft, Berlin entzückte den Kopf, aber es füllte

781 Viz výše, s. 30. 782 Srov. Koeppen (svazek 4) 1986, s. 621 atd. 783 „(…) morálka byla po roce 1918 daleko svobodomyslnější, dnes je všechno pobožnůstkářské, dokonce i koitus mládeže je tupější a co do fantazie chudší než v oněch letech; zmechanizování společenského bytí učinilo i tuto sféru mechanickou.“ Benn 1979, s. 96. 784 Srov. Glaser 2002, s. 240241.

248 den Magen nicht.“ 785 Nyní páchl zatuchlinou i Berlín, zatímco „hospodářský zázrak“ – na Rýně stejně jako na Sprévě – rozmnožoval majetek, živil „měšťáckou domýšlivost“, dával dělníkům chléb a plnil žaludek. 5. Vezmemeli ovšem v úvahu všechny ty básně, jež reflektovaly dobu svého vzniku a jež v mladé Bonnské republice Enzensbergerové, Meckelové a Friedové postavili proti starému „Augiášovu chlévu“ panujícímu v poezii; vezmemeli v úvahu všechny ty Hochhuthy, Kipphardty, vezmemeli v úvahu Petera Weisse, musíme přesto dospět k závěru, že Adenauerova doba s sebou nepřinesla jen své „Wartburgy“, své „Wolframy“ a „Biterolfy“ (abychom se vyjádřili terminologií Wagnerova Tannhäusera ), ale také své „Tannhäusery“, rozuměj „outsidery“, jimž bylo – jinak než u Wagnera – předurčeno, aby v „zápase“ s prvně jmenovanými tahali „za delší konec provazu“. Ačkoliv životní styl a kultura „posttotalitního biedermeieru“ dávala přednost „starým učeneckým autorům, těm pohodlným, humanistickým měšťanům, těm měšťanským konzervativcům“ (Alfred Döblin); ačkoliv Adenauerova doba nikdy nepoznala nedostatek autorů, jež se – podobně jako u Wagnera Wolfram a Biterolf – upsali vší té pořádkumilovnosti, počestnosti a kráse, všem těm tabu, jež si od této doby brzy nebylo možno odmyslet; ačkoliv ještě dlouho po roce 1945 střežili „vkus“ vykladači a zprostředkovatelé umění, jež nad ním bděli již v Hitlerově době, prosadili se nakonec právě oni – propojením „západního“ Německa se „západním“ světem zvýhodnění – „obtížně stravitelní výrostci“, jejichž možnosti viděl Hans E. Nossack ještě v polovině padesátých let jako omezené, jimž však (v jednom dopise Paulu Celanovi) přesto radil, aby se „nenechali zfalšovat“ 786 , a na jejichž výkonu se měly zakládat závěry Güntera Eicha formulované o pouhé jedno desetiletí později: „Was an neuen sprachlichen Möglichkeiten in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts aufgetaucht ist, vor allem im französischen und spanischen Sprachgebiet, das ist auch bei uns akzeptiert worden. Dazu kommt das immer stärkere Eindringen des zivilisatorischen Vokabulars. Wörter wie Aktienkurse, Fußballmanschaft,

785 „Válka byla prohraná, mrtví byli zapomenuti, porážka popřena, historikové učili, že nemůže být to, co být nesmí, stát, republika byla terčem nenávisti, do jejího čela byl postaven jeden z poražených generálů, atmosféra byla široko daleko otrávená, inflace pohltila především menší majetky, měšťácká domýšlivost byla nahlodána, nezaměstnanost brala dělníkům chléb, provincie páchla zatuchlinou, ohlížela se zpět a čekala na zachránce, jen v hlavním městě, jen v Berlíně byly duch a společnost vysvobozeny ze starých pout, umění využívalo svých šancí, rodily se nové myšlenky a vyvíjely nové techniky, literatura korespondovala se světem, po jednom slově Gottfrieda Benna se konaly večerní změny kulis, blyštivá představení, byla diskutována nová morálka, Berlín byl liberální a provokativní, chtěl jsem se toho účastnit, dýchal jsem tento vzduch, Berlín motal hlavu, ale neplnil žaludek.“ Koeppen (svazek 5) 1986, s. 311. 786 Srov. Nossack 2001, s. 542543.

249 Verstärkeramt trifft man nicht nur in Zeitungen, sondern auch in Gedichten. Aus diesem Vokabular ist schon hörbar, daß der Themenkreis sehr groß ist, wobei die skeptische Betrachtung der Welt, vor allem der eigenen Welt, überwiegt. Begeisterung ist selten, das Lob und Preisgedicht ist selten geworden, nationale Töne fehlen ganz und gar, Gott sei Dank. Der Glaube an Antworten ist gering, das Einverständnis fehlt, die Beurteilung der Lage reißt nirgends zur Freude hin.“ 787 „Skeptické posuzování světa, především toho vlastního“, mělo tahat „za delší konec provazu“ i v německém divadelnictví: Třebaže divadelní scéna patřila zpočátku téměř výlučně Gründgensovým klasikům, třebaže tehdy patřila „učené zábavě“ požadované „panem a paní Lahůdkářovými“ (abychom citovali Hanse E. Nossacka), náležela již na konci padesátých let také Hochhuthům a Kipphardtům, náležela (zde ovšem již od roku 1951) Wielandu Wagnerovi, tomuto „pozitivnímu skeptikovi“, jenž se – po důkladném odpolitizování Wagnerova díla v padesátých letech – v šedesátých letech odvážil nastavit s pomocí téhož díla zrcadlo adenauerovské společnosti stejně jako celému „Západu“ („Valhala je Wall Street!); jenž se odvážil vypořádat se s pomocí Wagnerových veršů právě s tou minulostí, jež Adenauerově době bezprostředně předcházela. 6. „Treue und Wandel, das Bewahrende und das Fortschreitende sind die Pole alles Lebendigen. In weisem Verstande Tugenden, müssen sie, über sich selbst hinausgesteigert, zwangsläufig zur Erstarrung oder zur Auflösung führen. Ihr Bestand ist unerläßlich; nur das Maß ihrer Wirksamkeit entscheidet über Untergang oder Weiterentwicklung“ 788 , poučil Wieland návštěvníky bayreuthského festivalu již v roce 1951. Můžeme říci, že tento Wagnerův vnuk, „pověřený“ „obnovením“ bayreuthské režie, dokázal s jistotou na „Zeleném vršku“ do té doby nevídanou odhadnout přesně tu míru, jež si mohla nárokovat označení za optimální: To, co Wieland realizoval na scéně festivalového divadla se rovnalo převratu (Wieland byl ne nadarmo nazýván „divadelním převratníkem“), „znovuzrození“ bayreuthské režie z nejhlubšího

787 „Nové výrazové prostředky, jež se v první polovině našeho století objevily především ve francouzsky a španělsky mluvícím prostředí, byly akceptovány i u nás. K tomu je třeba připočíst i stále silnější pronikání civilizačního slovníku. Se slovy jako akciové kurzy či fotbalové mužstvo se setkáváme nejen v novinách, ale i v básních. Již z tohoto slovníku je zřejmé, že okruh témat je velice široký, přičemž převažuje skeptické posuzování světa, především vlastního světa. Nadšení se stalo vzácným, chvalozpěv se stal řídkým jevem, nacionální tóny chybí úplně, díky Bohu. Víra v odpovědi je malá, shoda chybí, posuzování situace nikde nestrhává k radosti.“ Eich 1991, s. 502. 788 „Věrnost (tradici) a změna, ochranářství a pokrokářství, to jsou póly všeho živého. Tyto v rozumné míře ctnosti musejí, jsouli dovedeny ad absurdum, nutně vést k ustrnutí či k rozkladu. Jejich existence je nezbytná; o zániku či dalším vývoji rozhoduje pouze míra jejich účinnosti.“ Mack 1984, s. 178.

250 porozumění problematice „věrnosti (tradici)“ a „změny“ – zatímco Siegfried Wagner, Wielandův otec, shledal Fehlingovu inscenaci Bludného Holanďana „směšnou“; zatímco Winifred Wagnerová, Wielandova matka a bezprostřední předchůdkyně v čele festivalu, nedokázala navzdory Rollerovi, navzdory Tietjenovi a Preetoriovi překročit stín „Starého Bayreuthu“; zatímco se sám „mladý“ Wieland, tj. Wieland Parsifala z let 19371938 stejně jako Mistrů pěvců z let 19431944, ještě cítil zavázán „tradici“, odvážil se „zralý“ Wieland, tj. Wieland „Nového Bayreuthu“, uskutečnit „změnu“, jíž ovšem vždy dokázal stanovit hranici („Richard Wagners Werk in seiner innersten Fassung duldet keinerlei Wechsel. Wie jedes elementare Kunstwerk ruht es unangreifbar und wertbeständig in sich selbst. Es wird vielleicht einmal nur noch eine großartige Erinnerung sein, niemals jedoch umgedeutet oder umgegossen werden können. Das hat es mit der Ilias, der Göttlichen Komödie, den Dramen Shakespeares gemein. Aber dieses „einmal“ liegt noch in weiter Ferne. Bis dahin wird es noch unzählige Male wiedergeboren, d.h. in der Art aller Kunstwerke „in der Zeit“ aufgeführt und neu gestaltet werden. Diese Neugestaltung – und nur sie – unterliegt dem Wandel. Ihm ausweichen zu wollen, hieße die Tugend der Treue zum Laster der Erstarrung machen. Eine solche Erstarrung aber würde es töten. Wer ihr das Wort redet, wird zum Totengräber am Werk.“ 789 ) Aby se neprovinil „neřestí strnulosti“, vyrval Wagnerův vnuk plánovitě Wagnerovo dílo veškerým konvencím, skoncoval se vší dochovanou režií, skoncoval – v neposlední řadě – i s Wagnerovými vlastními režijními a scénickými pokyny. Tannhäuser , za jehož do té doby poslední bayreuthskou inscenaci nesl odpovědnost Siegfried Wagner, nemohl v žádném případě zůstat stranou – nejprve na počátku padesátých, a pak v průběhu šedesátých let vzal Wieland také tuto „operu“ (doslova) útokem, aby jí dal podobu dramatu, jež interpretoval jako „tragédii muže křesťanské doby vůbec“. Aniž by byl kdy spokojen s výsledkem, představil na scéně s pomocí silných (scénických) obrazů jakož i s pomocí provokativní choreografie Maurice Bejarta příběh zarážející výpovědní hodnoty. Od milníku ke kameni úrazu se tu však zdálo být až nebezpečně blízko – našlo se nemálo těch, kdož se domnívali, že na tohoto ode všech konvencí oproštěného

789 „Dílo Richarda Wagnera nesnese ve své nejvnitřnější rovnováze žádnou změnu. Jako každé elementární umělecké dílo spočívá nenapadnutelně a s neměnnou hodnotou v sobě samém. Jednou z něj možná bude jen velkolepá vzpomínka, nikdy jej však nebude možno překroutit nebo přetavit. To má společné s Iliadou, Božskou komedií, Shakespearovými dramaty. Ale tohle „jednou“ leží ještě v daleké budoucnosti. Do té doby se ještě nesčíslněkrát obrodí, to znamená bude po způsobu všech uměleckých děl uváděno „v čase“ a nově inscenováno. Toto nové inscenování – a pouze to – podléhá změně. Chtít se mu vyhnout by znamenalo udělat ze ctnosti věrnosti neřest ustrnutí. Takové ustrnutí by ho však zahubilo. Kdo se za něj přimlouvá, stává se hrobařem díla.“ Tamtéž, s. 178.

251 Tannhäusera je třeba pohlížet jako na Wielandovo interpretační a režijní klopýtnutí; na rozdíl od Fehlingova berlínského Tannhäusera , jemuž byla až do trpkého stažení z programu vyhrazena pouze čtyři (většinou vypískaná) představení, bylo Wielandově inscenaci – navzdory všem pochybovačům – přesto předurčeno, aby se ozdobila přívlastkem „klasická“. Götz Friedrich, jenž na „Zelený vršek“ přišel v roce 1972, aby zde Wielandova Tannhäusera nahradil svým vlastním, neměl mít záviděníhodnou výchozí pozici. 7. Na počátku sedmdesátých let se již (Západní) Berlín rovnal Hamburku, tak jako se Hamburk rovnal Paříži, Londýnu či jiným centrům „západního“ světa. Poté co se rozdíl mezi „hlavními městy“ a „provincií“ stal relativním (tj. poté co dokonce i největší a historicky nejvýznamnější města upadla na úroveň pouhých „překladišť a „stará vzdálenost mezi městem a venkovem“ se podstatně „smrskla“ – pokud přímo nezmizela 790 ), naskytl se návštěvníkovi „zvenčí“, návštěvníkovi jako Götz Friedrich, pohled na integrovaný, tj. politicky, hospodářsky a – v neposlední řadě – i kulturně unifikovaný, technicky dokonalý, vzájemně propojený a veskrze sekularizovaný svět, jenž zvláště v tzv. „spádových oblastech“ (v nichž se, abychom citovali Heinricha Bölla, soustředila většina odpadu vyprodukovaného blahobytnou společností) odpovídal představě „po formální stránce virtuózního umělého ráje“, představě Venušiny hory, v níž touha ustoupila byznysu, bakchanti a bakchantky, satyrové a sirény zákazníkům a klientům, v níž samotná Venuše musela ustoupit novému „božstvu“, jež měl nejen Heinrich Böll ve zvyku nazývat „Profit“. 791 Wielandovy bakchanálie z počátku šedesátých let, jež Marcel ReichRanicki označil za onen „po formální stránce virtuózní paradis artificiel“, se zdály stát skutečností – na Sprévě stejně jako na Labi či Seině. Právě tak relativní jako hranice mezi „centrem“ a „plochým venkovem“ se ovšem jevila i hranice mezi „Venušinou horou“ a „Wartburgem“. Protestujíce proti ziskuchtivému životnímu stylu (a kultuře) konzumní společnosti vyvolávali „nonkonformisté“ všeho druhu opakovaně reakce, jež asociovaly svět Wagnerova Wartburgu (nejen ve Friedrichově ztvárnění zápasu pěvců, v němž Tannhäuser svým „nonkonformismem“ způsobí skandál, působila aktuálnost scény až děsivě: „Der Wettstreit der Sänger, Reaktionen im WartburgChor, die Elisabeths und des Landgrafen werden minutiös analysiert und im Ensemble erarbeitet. Die Damen von damals reagierten nicht viel anders als unsere heutigen

790 Srov. Kielmansegg 2007, s. 418. 791 Srov. Böll 1973, s. 212.

252 Cocktailladies und das feudalmännliche Verhalten spiegelt einen bekannten Chauvinismus unserer Tage. Zwei Menschen brechen in diesem Rahmen die historischbürgerlichen Konventionen, wobei sich ihre Liebe und Unbedingtheit über den traditionellen Standard erhebt. Tannhäuser provoziert ein zweites Mal und irritiert dabei als anders Denkender das schon institutionelle Ritual, kompromittiert die Gefühlswelt einer Gesellschaft und entlarvt indirekt bürgerliche Wünsche und heimliche Sehnsüchte.“ 792 ). Aniž bychom se museli bezpodmínečně identifikovat s Enzensbergerovou ponurou vizí nové, „poitalštěné“ (Západní) Evropy plné „zpustlých politických stran“ a „parazitujících administrativ“, plné „podvodů se subvencemi“, „klientelismu“, „práce na černo“ a „immobilismu“793 ; aniž bychom integrovaný „Západ“ spojovali pouze se zkomercionalizovanými tradicemi, snobismem a (nezřídka i uměleckým) oportunismem, musíme si přesto přiznat existenci „wartburských stínů“ – je mimo vší pochybnost, že i blahobytná společnost dokázala zareagovat velmi prudce, velmi „wartbursky“, jestliže se ve svém blahobytu, ve svém „sádle“ (abychom parafrázovali Jeana Améryho) cítila vyrušena, jestliže se cítila vyprovokována atakem na vlastní (utajovaná) přání a pocity – ať už ze strany Beatniků žijících „bez statutárních symbolů“ či ze strany umělců. Za těchto okolností bylo dost dobře možné setkat se s novými „Tannhäusery“, jež dokonce i v „umělém ráji“ novodobého „Západu“ měli nalézt své „Wartburgy“ – případu Götze Friedricha nebylo předurčeno, aby zůstal ojedinělým. 8. Blahobytná společnost konce šedesátých a počátku sedmdesátých let dovedla přímo mistrovsky komercializovat jak umění, tak i samotné umělce – dokonce i řadě „nonkonformistů“ nabídla možnost uspět v kapesní edici některého z prestižních vydavatelství či být vyznamenán jednou z oněch literárních cen, jež se nyní – většinou z reklamních důvodů – objevovaly jako houby po dešti. 794 „Wartburské stíny“ tu však stále byly. Odvolávajíc(e) se výhradně na umění se tato společnost, se všichni ti „programoví ředitelé“ a „tvůrci vkusu“ (abychom citovali Petera Rühmkorfa), jež se za kulturní život cítili zodpovědní, nezalekli ani cenzurních zásahů: „Wenn in zwei renommierten Buchverlagen, bei Hanser in München, bei Fischer in Frankfurt,

792 „Zápas pěvců, reakce ve wartburském chóru, reakce Alžběty i lankraběte jsou do poslední minuty analyzovány a souborem rozpracovány. Tehdejší dámy se ve své reakci příliš nelišily od dnešních Cocktailladies a chování leníkůmužů odráží známý šovinismus našich dnů. Dva lidé poruší na tomto pozadí historickou a měšťanskou konvenci, přičemž se jejich láska a nepodmíněnost vystupňují nad tradiční standart. Tannhäuser provokuje podruhé a irituje coby jinak smýšlející již institucionalizovaný rituál, kompromituje emoce společnosti a nepřímo odhalí měšťácká přání a tajná toužení.“ Jaeger 1983, s. 5253. 793 Srov. Enzensberger 1988, s. 108109. 794 Srov. Barner 1994, s. 364; 598599.

253 innerhalb eines Vierteljahres zwei dicke Bücher mit zahllosen Belegen erscheinen (Frühjahr 1980), um die Zensur in der BRD zu dokumentieren; wenn diese Bücher auch in Magazinen wie dem Stern – den sogar unsere notorisch büchermeidenden Politiker „lesen“ – auf mehreren Seiten (von Jürgen Kesting) besprochen und abgebildet werden: so regt das gleichwohl keinen Politiker, keinen Staatsanwalt in der BRD einmal dazu an, anhand dieser Bücher den Verfassungsbruch – „eine Zensur findet nicht statt“, Artikel 5 – zum Anlaß für wenigstens eine kleine parlamentarische Anfrage zu nehmen: So sehr ist halt in dieser BRD die Zensur zur Tages„Ordnung“ gehörend“ 795 , napsal později Rolf Hochhuth. Kdykoliv se konzumní společnost, kdykoliv se její „hlídací psi“ (abychom citovali Rolfa Hochhutha) cítili odhaleni – ať už literárním či dramatickým dílem, odborným či novinovým článkem nebo, v neposlední řadě, nějakou provokativně inovativní inscenací některého z klasiků –, mluvilo se zase jednou o „spiknutí“ a „(komunistické) infiltraci“ – v neposlední řadě ve Friedrichově případě v roce 1972. Kdyby měl Carl von Ossietzky možnost navštívit Friedrichova bayreuthského Tannhäusera , mohl by bez dalšího parafrázovat domněnku, již vyslovil počátkem třicátých let ve vztahu k jedné nevlídně přijaté, iritující inscenaci Egmonta v Berlíně (on sám se tehdy tohoto představení nezúčastnil): „Es muß ein seltsamer Theaterabend gewesen sein. Im Parkett saß befrackt und bebändert der Staat, oben auf der Szene geisterte sein Bild.“ 796 9. Na inscenaci Tannhäusera , s níž v roce 1972 (východo) berlínský režisér Götz Friedrich v pravém slova smyslu vyzval na souboj návštěvníky bayreuthského festivalu, je třeba pohlížet jako na stejně přelomovou, jako byly obě výše pojednané produkce, za něž nesli odpovědnost Jürgen Fehling a Wieland Wagner. Sotva dorazil na „Zelený vršek“, kde bylo „preventivní opatření“ Wielanda a Wolfganga Wagnerových, totiž jejich apel k návštěvníkům festivalu, aby „upustili od hovorů a debat politického charakteru“, dávno dezinterpretováno jako výzva k úplnému a definitivnímu odpolitizování Wagnerova díla, ocitl se Friedrich, tehdy ještě občan NDR, tváří v tvář falanze „wagneriánů“, jež mu „zazlívali“ nejen jeho

795 „Když se ve dvou renomovaných vydavatelstvích jako je Hanser v Mnichově a Fischer ve Frankfurtu během jednoho čtvrt roku (začátek roku 1980) objeví dvě tlusté knihy, aby četnými doklady dokumentovaly cenzuru v SRN; když jsou tyto knihy obšírně diskutovány (Jürgenem Kestingem) a vyobrazeny také v magazínech jako je Stern – který „čtou“ dokonce i naši politici, jež se knihám notoricky vyhýbají –, nepřiměje to v SRN žádného politika, žádného státního zástupce ani k tomu, aby na základě těchto knih inicioval malou parlamentní interpelaci ohledně porušení ústavy – „cenzura se nekoná“, článek 5 –: Cenzura už v této SRN holt patří k dennímu „pořádku“. Hoffmeister 1980, s. 319. 796 „Musel to být podivný divadelní večer. V parketu seděl ve fraku a se stužkami stát, nahoře na scéně strašil jeho portrét.“ Ossietzky 1994, s. 347.

254 „východoněmeckou“ státní příslušnost, ale i – a nemenší měrou – jeho příslušnost ke Komické opeře ve (východním) Berlíně, jejímuž zakladateli (Friedrichovu „Mistru“) Walteru Felsensteinovi věnoval Bertolt Brecht již na počátku padesátých let pochvalná, mezi bayreuthskými tradicionalisty a většinou premiérových, „kulinářského operního požitku“ žádostivých návštěvníků nanejvýš problematická slova: „Felsenstein hat gezeigt, wie man die Oper säubern kann – von der Tradition, wo sie Denkfaulheit, und von der Routine, wo sie Faulheit des Gefühls bedeutet. Felsenstein nimmt nicht, wie das üblich und übel ist, Unnatur „in Kauf“ – „der Musik wegen“. Er weiß, daß die Musik auf der Bühne nicht ohne Wahrheit leben kann.“ 797 „Obavy“, jež byly v tomto ohledu se stále ještě Východoberlíňanem Friedrichem spojovány, se měly ukázat jako oprávněné – ačkoliv by Felsenstein nemohl souhlasit se vším, co jeho „žák“ na scéně předvedl (Friedrich se ostatně vždy domníval, že očekáváním kladeným na „žáka“ nejlépe učiní zadost, jestliže překročí hranice, jež se „Mistr“ sám překročit neodvážil), musel by zároveň poznat, že ve věci „pravdy“ (tj. věrohodnosti, reálnosti) nebylo „žákovi“ co vytknout: „Was ist vom Opernregisseur zu verlangen [...] ?“ , ptal se Friedrich sám sebe koncem šedesátých let. „Erstens: Die Erkenntnis, daß Musiktheater eine Kunstform ist, die auf spezifische Weise Wirkliches abbildet oder transformiert und die dabei in höchstem Maße Ratio und Sensus, Logik und Phantasie, Reales und Irreales verbindet, um auf eigene, unverwechselbare Art Modellentwürfe menschlicher Existenz zu geben – Modellentwürfe, die ihren Sinngehalt und ästhetischen Reiz jeweils neu zu offenbaren haben.“ 798 Tak tomu bylo i v sedmdesátých letech v Bayreuthu – věren svým principům, principům Felsensteinovy „školy“ stejně jako pověsti „východoněmeckých“ režisérů (jež jim ne nadarmo přičítala sklony k demaskování a obrazoborectví), nedbaje ani v nejmenším na očekávání „obce věřících“, na „Zeleném vršku“ opět etablované již od raných let „Nového Bayreuthu“ (přičemž zde oba Wagnerovi vnuci nezůstali bez viny), přivedl Friedrich svým pojetím tannhäuserovského dramatu na scénu tak reálný „model lidské existence“, že nemohl zůstat ušetřen vlny rozhořčení ze strany všech potrefených. Stálli Friedrichův Wartburg na scéně jako model arcikonzervativní, jen málo (pokud

797 „Felsenstein předvedl, jak lze operu očistit – od tradice, jestliže znamená lenost myšlení, a od rutiny, jestliže znamená lenost emocionální. Felsenstein neriskuje „kvůli hudbě“ nepřirozenost, jak je to špatným zvykem. On ví, že se hudba na scéně nemůže obejít bez pravdy.“ Brecht 1993, s. 178. 798 „Co lze žádat od operního režiséra (…) ? Zaprvé: Poznání, že hudební divadlo je forma umění, jež specifickým způsobem zobrazuje nebo transformuje skutečnost a přitom vrchovatou měrou spojuje ratio a sensus, logiku a fantazii, realitu a irealitu, aby vytvořila vlastní, nezaměnitelný druh modelů lidské existence – modelů, jež nám svůj smysl a estetickou přitažlivost musí odkrývat vždy nově.“ Friedrich 1986, s. 35.

255 vůbec) tolerantní společnosti libující si ve strnulých rituálech, nacházela se taková společnost v neposlední řadě před touto scénou, v a před bayreuthským festivalovým divadlem ( „Würdige Herren in Schwarz drohten mit der Faust zur Bühne herauf, das schlimme Vokabular des Kalten Krieges auf der Zunge; da war von „Rache“, ja von „Schande“ die Rede, hieß es nicht nur „Buh“, sondern „Pfui“. In den Logen der geladenen Gäste trugen CSU und SPDVertreter den Sängerkrieg gleich noch einmal aus!“ 799 ); Hans Mayer později rekapituloval: „Was war geschehen? Die realistische und verfremdende Deutung der TannhäuserGeschichte hatte Gleichzeitigkeit hergestellt zwischen diesem Werk und diesem Publikum vom Jahre 1972. Das war geplant worden.“ 800 Dosaženo přitom bylo nejen aktuálnosti, ale i „věrnosti dílu“. Opomenut však nesmí zůstat fakt, že Friedrichova bayreuthského Tannhäusera nelze v žádném případě zaměnit za nějaké „politické divadlo“ sloužící agitaci, že „repolitizace“ zmíněného díla v žádném případě neznamenala jeho instrumentalizaci ve prospěch nějakého politického systému (což ovšem nemálo premiérových hostů nebylo ochotno vzít v úvahu) – režisérovým záměrem bylo nenechat publikum chladně nezúčastněné: „Diese Inszenierung zwang zur Stellungnahme, zur ideologischen Positionsbestimmung – sie verweigerte sich unkritischem Konsum, jenem bayreuthischen „Wähnen“ über ausschließlich Liebes und Kunsttaten. Und indem sie die Gegner von Kunst und Meinungsfreiheit zur Demaskierung nötigte, hat sie politische Wirkung erzielt, für die Wolfgang Wagner später den beschönigenden Begriff von der „Werkstatt Bayreuth“ fand.“ 801 Kalkul Wolfgangova festivalového vedení, že modernitu jak Wagnerova díla, tak i samotného bayreuthského festivalu (jehož inscenace od Wielandovy smrti upadaly – minimálně v oblasti interpretace) lze nejlépe demonstrovat s pomocí hostujících režisérů, byl správný.

799 „Důstojní pánové v černém hrozili pěstí směrem ke scéně, zlý slovník Studené války na jazyku; řeč byla o „pomstě“, dokonce o „hanbě“, to znamenalo nejen „bů“, ale i „fuj“. V lóžích pro pozvané hosty sváděli zástupci CSU a SPD ještě jednou zápas pěvců.“ Christians 1995, s. 68. 800 „Co se stalo? Realistický a (brechtovsky) odcizující výklad Tannhäuserova příběhu nastolil mezi tímto dílem a tímto publikem z roku 1972 současnost. To bylo naplánováno.“ Mayer 1978, s. 408. 801 „Tato inscenace nutila k zaujetí stanoviska, k ideologickému vytyčení pozic – vzpírala se nekritickému konzumu, onomu bayreuthskému „hloubání“ nad výlučně milostnými a uměleckými počiny. A tím, že nutila odpůrce umělecké a myšlenkové svobody, aby se odhalili, dosáhla politického účinku, pro nějž Wolfgang Wagner později nalezl přikrášlující pojem „Bayreuthská dílna“.“ Christians 1995, S. 69.

256 Anhang Richard Wagner: Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg Die Handlung

Der Scheinheiligkeit der WartburgWelt und des Opportunismus deren Sängerschaft überdrüssig, hofft der Minnesänger Tannhäuser im Hörselberg, im unterirdischen Zauberreich von Frau Venus eine neue (nicht nur) künstlerische Heimat gefunden zu haben („Die strahlende antike Venus, die aus dem Schaum geborne Aphrodite ist durch die grausigen Finsternisse des Mittelalters nicht ungestraft hindurchgegangen. Nicht mehr bewohnt sie den Olymp noch die Gestade des düftereichen Archipelagus. Sie hat sich zu tiefst in eine Höhle zurückgezogen, die wohl prächtig ist, aber wo andere Flammen leuchten als die des freundlichen Phoebus. Indem sie sich in die Unterwelt begab, hat sich Venus der Hölle genähert, und bei gewissen schauerlichen Feierlichkeiten versäumt sie es sicher niemals, dem Erzdämon, dem Fürsten des Fleisches und Herrn der Sünde ihre Ehrfurcht darzubringen“, schrieb Charles Baudelaire 1861 in seinem Aufsatz „Richard Wagner und der „Tannhäuser“ in Paris“802 ). Tannhäuser fühlt sich allerdings nicht einmal hier, in einem „Zaubereich der Minne“, wirklich „frei“; er wird nicht einmal in den Armen der Venus seine alten Sehnsüchte los: „Im Venusberg fühlt er sich als Künstler durch eine andere Unfreiheit und Sterilität bedroht, aus deren menschlicher Erscheinungsform – der leeren Konventionalität der WartburgPoeten – er gerade in den Venusberg geflüchtet war. Hier wie dort sehnt er sich nach dem durch nichts verstellten elementaren Gefühl. War es ihm innerhalb der abgezogenen Empfindungswelt der Wartburggesellschaft verwehrt, zu genießen, so hindert ihn nun der Genuß, zu leiden. Beides aber, Leiden wie Genuß in ihrer ganzen Tiefe, ist der Inhalt seines Dichtertums.“ 803 Von Frau Venus, die für die Sehnsüchte ihres „Geliebten“ nichts übrig hat („Ha! Was vernehm’ ich? Welche törge Klage!/ Bist du so bald der holden Wunder müde,/ die meine Liebe dir bereitet? – Oder/ wie? Reu’t es dich so sehr, ein Gott zu sein?/ Hast du so bald vergessen, wie du einst/ gelitten, während jetzt du dich erfreu’st?“), von seiner „Königin“ und „Göttin“ aufgefordert, die Harfe zu ergreifen und die Liebe zu „feiern“, singt Tannhäuser drei Loblieder, in denen er sich zu einem „kühnen Streiter“ der Venus erklärt, die er allerdings mit einer immer dringlicheren Bitte zu Ende bringt, aus dem Hörselberg fliehen zu dürfen. Zutiefst gekränkt gibt Frau Venus Tannhäusers Bitten schließlich doch nach, warnt jedoch den Ritter, sich etwas vortäuschen zu wollen:

802 Wagner 1979, S. 122123. Vgl. auch Borchmeyer 1982, S. 197ff. 803 Borchmeyer 1982, S. 200.

257 „Zieh’ hin, Betörter! Suche dein Heil, suche dein Heil – und find’ es nie! Die du bekämpft, die du besiegt, die du verhöhnt mit jubelndem Stolz, flehe sie an, die du verlacht, wo du verachtest, jamm’re um Huld! Deiner Schande Schmach blüht dir dann auf; gebannt, verflucht, folgt dir der Hohn: zerknirscht, zertreten seh’ ich dich nah’n, bedeckt mit Staub das entehrte Haupt.“ (Für die WartburgGesellschaft ist es nicht der Freiheitswille, sondern eine „böse Lust“, was Tannhäuser in die Arme der Venus trieb, eine Lust, die ihm noch der Papst in Rom zum Vorwurf machen soll – mit verheerenden Folgen: „Hast du so böse Lust geteilt,/ dich an der Hölle Glut entflammt,/ hast du im Venusberg geweilt:/ so bist nun ewig du verdammt!/ Wie dieser Stab in meiner Hand/ nie mehr sich schmückt mit frischem Grün,/ kann aus der Hölle heißem Brand/ Erlösung nimmer dir erblüh’n!“) Dem Hörselberg entflohen, will Tannhäuser, vom Gesang der durch das WartburgTal ziehenden Pilger ergriffen, zunächst büßen, sich „gern Müh’ und Plagen wählen“, kommt aber nicht dazu: „In brünstigem Gebete“ liegend, wird er von der heimkehrenden Jagdgesellschaft des Landgrafen Hermann gefunden, in der sich auch seine „Kollegen“ (und Rivalen) Wolfram von Eschenbach, Walther von der Vogelweide, Biterolf, Heinrich der Schreiber und Reinmar von Zweter befinden (denen allen er einst grollend den Rücken kehrte). Tannhäuser beteuert sie zwar, nicht zum Kampf mit ihnen gekommen zu sein und bittet um Versöhnung, wünscht jedoch „weiter zieh’n“ zu dürfen. Weder der Landgraf noch die Sänger haben nun allerdings vor, diesem Wunsch des „WiederunserGewordenen“ stattzugeben: „Du darfst nicht zieh’n“, sagt Walther dem Zurückgekehrten. „Wir lassen dich nicht fort“, fügt Biterolf hinzu („Das einzige Anliegen [...], das Tannhäuser hat, ist: „Seid mir versöhnt und laßt mich weiterziehn.“ Er will nicht zu ihnen, er will neue Erfahrungen sammeln in einer Welt, die er nicht kennt, die wir auch nicht kennen. Und da setzt das ein, was Sie eben genannt haben: das Bemühen, der Wunsch, der Versuch all der Anwesenden, des Landgrafen und der Minnesänger, Tannhäuser wieder einzubeziehen in die Wartburg Welt, in den neu bevorstehenden Sängerwettstreit, den großen Tannhäuser der Gesellschaft

258 wieder vorweisen zu können“ 804 , erklärte Götz Friedrich, der Bayreuther Tannhäuser Regisseur von 1972, seinem Gesprächspartner LeoKarl Gerhartz.) Doch erst Wolframs Beschwörung, Tannhäuser solle bei Elisabeth bleiben, „denn, ach! als du uns stolz verlassen,/ verschloß ihr Herz sich unsrem Lied;/ wir sahen ihre Wang’ erblassen,/ für immer unsren Kreis sie mied.“; erst die Erinnerung an die Nichte des Landgrafen bewegt den Minnesänger, seinen nunmehr WiederKollegen auf die Wartburg zu folgen. Von Elisabeth in Wartburgs Sängerhalle freudig begrüßt („Gepriesen sei die Stunde,/ gepriesen sei die Macht,/ die mir so holde Kunde/ von eurer Näh’ gebracht!/ Von Wonneglanz umgeben/ lacht mir der Sonne Schein;/ erwacht zu neuem Leben,/ nenn’ ich die Freude mein!“), nimmt Tannhäuser, der von der WartburgGesellschaft „so ungern lang’ Vermisste“, an dem Sängerfest teil, zu dessen Thema „der Liebe Wesen“ erklärt wird – ein Stolperstein für den „kühnen Sänger“, der noch vor kurzem bei Frau Venus die Liebe „feierte“: „Das Subjekt kann nicht immer wieder Kunst bloß aus dem Zustand unerfüllter Sehnsucht destillieren“, erklärte Hans Mayer. „Auch Tannhäuser vermag es nicht, wenn er den Wolfram und Walther und Biterolf zuzuhören gezwungen ist. So kommt es zum Preisgesang auf die künstlichen Paradiese, an die Hölle, an Venus, die Herrscherin über die künstlichen Paradiese. („) Wer dich mit Glut in seinen Arm geschlossen,/ was Liebe ist, kennt er, nur er allein: / Armsel’ge, die ihr’ Liebe nie genossen,/ zieht hin, zieht in den Berg der Venus ein!(“)“ 805 Tannhäusers Bekenntnis zur Venus ruft einen Tumult hervor – während die Damen Flucht ergreifen, sind es bei den Herren die Schwerter, nach denen nun gegriffen wird (um den „Verruchten“ an der Stelle zu exekutieren). Droht jedoch die Wartburger Ritterschaft dem „schändlichen Verräter“, in dessen Blut das „Schwert zu netzen“ („Zum Höllenpfuhl zurückgesandt,/ sei er gefehmt, sei er gebannt!“), bittet Elisabeth, bittet die Tiefgekränkte für dessen Leben: „Wollt ihr des Sünders Hoffnung rauben, so sagt, was euch er Leides tat? Seht mich, die Jungfrau, deren Blüte mit einem jähen Schlag er brach, die ihn geliebt tief im Gemüte, der jubelnd er das Herz zerstach: ich fleh’ für ihn, ich flehe für sein Leben, zur Buße lenk’ er reuevoll den Schritt!

804 Friedrich 1986, S. 132. 805 Mayer 1978, S. 196.

259 Der Mut des Glaubens sei ihm neu gegeben, daß auch für ihn einst der Erlöser litt!“ Seine Schuld eingesehen, beschwört nun Tannhäuser die „GottGesandte“, sich seiner zu erbarmen – mit Erfolg, denn „natürlich kann und darf die romantische Oper nicht mit dem Sieg der Venus enden. Das ließ der Ausgang der TannhäuserSage nicht zu. Kirchliche und weltliche Orthodoxien der WagnerZeit hätten diese Lösung nicht zugelassen. Auch das Liebesglück des Geschwisterpaares Siegmund und Sieglinde durfte keinen Bestand haben. Goethes Faust endete nicht mehr, wie in aller früheren Tradition, mit der Höllenfahrt. Grabbe freilich hatte sechzehn Jahre vor Wagners Tannhäuser den Don Juan wie den Faust zur Hölle fahren lassen, ohne selbst die Verdammten am Schluß noch poetisch zu verdammen. Tannhäuser aber wird erlöst, wie Goethes Faust. Durch das EwigWeibliche, durch die Heilige, durch Elisabeth. Buchstäblich an der Schwelle zum künstlichen Paradies wird Tannhäuser durch die Gnade von außen und von oben gerettet. Der Sieg der Hölle findet nicht statt.“ 806 Zunächst muss Tannhäuser jedoch nach Rom pilgern, sich vor dem Papst „darnieder stürzen“ und ihn, „durch den sich Gott verkündigt“, um Gnade bitten. Zunächst muss er, vom Papst schroff zurückgewiesen, unverrichteter Dinge zurückkehren; muss, von der Welt „mit Acht und Bann“ geschlagen, ins WartburgTal zurückkommen, um – von Wolfram nach seinem Vorhaben gefragt – Frau Venus herbeizurufen: „Ach, laß mich nicht vergebens suchen, / wie leicht fand ich doch einstens dich!/ Du hörst, daß mir die Menschen fluchen, / nun, süße Göttin, leite mich!“ Zunächst muss der Verzweifelte an Elisabeth und deren Leidensweg erinnert, zunächst muss er vom Erlebnis von Elisabeths Opfertod überwältigt werden, um der bereits angekommenen Venus endgültig den Rücken zu kehren und am Sarg der „frommen Dulderin“ sterbend niederzusinken: „Heilige Elisabeth, bitte für mich!“ Wies der Papst Tannhäuser mit dem Hinweis auf seinen „nie mehr sich mit frischem Grün schmückenden“ Stab zurück, so bringen nun die aus Rom heimkehrenden Pilger die Kunde von einem Wunder: „Heil! Heil! Der Gnade Wunder Heil! Erlösung ward der Welt zuteil! Es tat in nächtlich heil’ger Stund’ der Herr sich durch ein Wunder kund: den dürren Stab in Priesters Hand

806 Ebenda, S. 196197.

260 hat er geschmückt mit frischem Grün: dem Sünder in der Hölle Brand soll so Erlösung neu erblüh’n! Ruft ihm es zu durch alle Land’, der durch dies Wunder Gnade fand! Hoch über aller Welt ist Gott, und sein Erbarmen ist kein Spott!“

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