. .

Udo Bermbach Die Entnazifzierung Richard Wagners

Die Programmhefte der Bayreuther Festspiele 1951–1976

J. B. Metzler Verlag Der Autor Udo Bermbach, emeritierter Professor für Politikwissenschaf an der Universität Hamburg, Gründungsherausgeber der Zeitschrif wagnerspectrum, ist einer der führenden -Experten.

.

ISBN 978-3-476-05117-2 ISBN 978-3-476-05118-9 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-05118-9

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografe; detaillierte bibliografsche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufar.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature, 2020

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Ver- wertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigun- gen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverflmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unter- nehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jeder- mann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten.

Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröfent lichung voll- ständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Heraus- geber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografsche Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröfentlichten Karten und Institu- tionsadressen neutral.

Typografe und Satz: Tobias Wantzen, Bremen Umschlagabbildung: Proteste beim »Ring« von P. Chéreau © Museum

J. B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaf Springer- Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrif der Gesellschaf ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany Doris, die meine Wagner-Leidenschaf ein Leben lang geteilt hat, in Liebe und Dankbarkeit gewidmet. Inhalt

Vorwort 3

Der Anfang – eine erschreckende Kontinuität 7

Bayreuther Neubeginn 14 Wieland Wagners ästhetische Position 17 Antiken-Rezeption statt Germanenkult 19 C. G. Jungs Archetypen 20 Lichtregie – 23 Die Bayreuther Bühne 26 Gründung der Gesellschaf der Freunde von Bayreuth 29 Weltdiskussion um Bayreuth 31 Unerfreuliche Kontinuitäten 33 Zdenko von Kraf 33 Otto Strobel 36 Hans Grunsky 38 Curt von Westernhagen 45 Die Mitläufer 51 Erste Ansätze eines neuen Wagner-Bildes 55

Langsamer Wandel 60

Rahmenbedingungen und neue Autoren 60 Rückkehr zur Religion ? 66 Bayreuther Wagner-Bewältigung 79 Erste Konturen eines neuen Wagner-Bildes 83

Volkmann-Schluck und andere 83 Teodor W. Adorno, Hans Mayer, Ernst Bloch 88 Ludwig Marcuse und andere 96 Wolfgang Schadewaldt – ein Grieche in Bayreuth 97 Debatte über Bayreuth 108

Umbrüche – das neue Wagner-Bild der sechziger Jahre 113

Jahre der Unruhe 113 Kritische Fragen zu 116 Eine neue Wagner-Bühne im Westen und Osten 118 Hans Mayer 121 Die Festspiele ab 1961 und die Razumovsky-Debatte 124 Teodor W. Adorno 130 Ambivalenzen 136 Ernst Bloch 139 Die Programmhefte ab 1960 151 Werbung in eigener Sache 154 Noch einmal : Hans Mayer 159 Bekenntnis 161 Vor dem Ziel 162 Antoine Goléas Gespräche mit Wieland Wagner 170

Vor dem Chéreau-Ring von 1976 173

Gesellschaftliche Rahmenbedingungen 173 Die Programmhefte vor dem Chéreau-Ring 180 Carl Dahlhaus 187 Noch einmal zurück : die frühen siebziger Jahre 197

VIII Inhalt Der Chéreau-Ring 206

Vorarbeiten 206 Der Festakt : Einhundert Jahre Bayreuther Festspiele 219 100 Jahre Richard-Wagner-Festspiele – das Programmhef 222 Der Chéreau-Ring – Tendenzen der Interpretation 224 Mythologie und Ideologie. Gespräch über den Ring zwischen Carlo Schmid, und Patrice Chéreau (1977) 226 Ring-Notizen von Pierre Boulez 234 Ring-Notizen von Patrice Chéreau 237 Öfentlicher Widerhall – Zustimmung und Protest 240 Die organisatorische Spaltung der Wagnerianer 244 Kritik aus der gemäßigten Wagner-Gemeinde 245 Publikumsresonanzen 248 Der Ring von 1976 – ein Drama der Moderne 249

Epilog 252

Anmerkungen 259 Literaturverzeichnis 291 Personenregister 297

Personenregister IX »Die Musik der Nazis ist nicht das Vorspiel ­ ­zu den Meistersingern, ­ ­sondern das Horst-Wessel-Lied ; ­ ­andere Ehre haben sie nicht, ­ ­andere kann und soll ihnen nicht gegeben werden.« Ernst Bloch

Inhalt 1 Vorwort

ie Literatur über Richard Wagner und seine Werke hat inzwischen eine ‌Dfast unüberschaubare Fülle erreicht. Man könnte denken, es sei alles ge- sagt. Doch es gibt noch immer Neues zu entdecken wie die Programmhefte der Bayreuther Festspiele, in denen eine jahrzehntelange Auseinandersetzung um Richard Wagner und seine Werke geführt wurde und die als ein wichtiger In- dikator der kulturpolitischen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland betrachtet werden müssen. Nach dem Ende des Dritten Reiches blieb es zunächst ofen, ob die Bay- reuther Festspiele in der überkommenen Form auch weiterhin existieren wür- den. Nachdem Richard Wagners erster Enkel, Franz Beidler, der Sohn von Isolde und deren Mann, dem Dirigenten Beidler, aus der Schweiz angesichts der engen Verstrickung Bayreuths mit dem NS‑Regime gegen eine rasche Wiedereröfnung der Festspiele Einspruch erhob, schienen die Schwierigkei- ten für eine baldige Wiederaufnahme der Festspiele beträchtlich. Doch schon 1951 war es so weit : hatte die Festspielleitung an ihre bei- den Söhne Wieland und Wolfgang übergeben, und diesen – vor allem dem organisatorisch begabten Wolfgang – gelang es sehr bald, alle Hindernisse zu überwinden und die nötige Finanzierung sicherzustellen. Mit der Gründung der ­Gesellschaf der Freunde von Bayreuth 1949 gab es überdies plötzlich einen fnanzkräftigen Mäzenatenverein, der wesentlich zur Wiederaufnahme der Festspiele beitrug. Im Unterschied zu den Zeiten des Kaiserreiches, der Weimarer Republik­ und auch des Dritten Reiches gaben Wieland und mit der Eröfnung der Festspiele 1951 auch Programmhefte zu allen Inszenierungen he- raus, die auf der Bühne des Festspielhauses gezeigt wurden. In diesen Heften, die sehr häufg Beiträge von einem erstaunlich hohen intellektuellen Niveau druckten, wurde von Anfang an die Debatte über Person und Werke Richard Wagners geführt, nicht unbeeinfusst von dem, was sich gleichzeitig in der neugegründeten Bundesrepublik an Selbstverständigungsdiskursen ereignete.­

Vorwort 3 ­Ganz wesentlich trugen diese Beiträge, sofern sie von neu gewonnenen Mit- arbeitern nach Bayreuth geliefert wurden, zum allmählichen Wandel des über- kommenen, vielfach höchst problematischen Wagner-Bildes bei. Es ist sicher- lich nicht übertrieben festzustellen, dass von vielen Autoren der Bayreuther Programmhefte entscheidende Anstöße für ein modernes, d. h. allen völkisch-­ nationalistischen Traditionen entsagendes Wagner-Verständnis ausging, das sich durchaus in Spannung mit Tendenzen und Entwicklungen der Zeit be- fand, zunehmend aber auch in Übereinstimmung damit. Nach den ersten Jahrgängen, in denen fast ausschließlich die alten NS‑belasteten Autoren noch schrieben, errangen Ende der fünfziger Jahre führende Linksintellektuelle der deutschen Kulturszene wie Teodor W. Adorno, Ernst Bloch oder auch Hans ­Mayer mehr und mehr Einfuss in Bayreuth. Sie legten mit ihren Aufsätzen die Grundlagen für das Bild eines revolutionären, utopisch-sozialistischen Kom- ponisten frei – ein gleichsam von der Festspielleitung abgesegneter Abschied von prekären Traditionen und Rezeptionsverfälschungen der Vergangenheit und zugleich auch schon subtile Vorarbeit zu jenem Jahrhundert-Ring, mit dem Patrice Chéreau und Pierre Boulez den Durchbruch eines weltanschau- lich neuen Wagner-Verständnisses erreichten, das seither von den Bühnen der Welt und aus der weltweiten Wagner-Debatte nicht mehr verschwunden ist. Bis zu diesem Jahrhundert-Ring von 1976 gab es einen langen Vorlauf der Wagner-Interpretationen in den Bayreuther Programmheften. Dass diese Hefte, verantwortet von Wieland Wagner, nach dessen Tod von Wolfgang Wagner, bisher noch nie Gegenstand der Darstellung und Analyse waren, muss ange- sichts der Bedeutung Bayreuths für die moderne Wagner-Pfege der Nach- kriegszeit und seiner allgemeinen, auch internationalen kulturpolitischen Be- deutung für die Bundesrepublik einigermaßen erstaunen. Die vorliegende Monographie bemüht sich, erstmals an einem Großteil der Beiträge zu zei- gen, wie und trotz welcher ideologischen Rückfälle Bayreuth es in seiner pro- grammatischen Arbeit unternahm, Richard Wagner aus dem Dunstkreis der NS‑Vereinnahmung herauszuführen und als einen Komponisten der Mo- derne zu etablieren. Diese Darstellung wird eingebettet in die abbreviativ dar- gestellten gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Kontexte der Bundes- republik, in denen und mit denen Bayreuth leben, auf die es auch reagieren musste. In der eher im Hintergrund ablaufenden, reaktiven Kommunikation von Bayreuth mit dem kulturellen und politischen Geschehen in der Bundes- republik wird ein weiteres Mal deutlich, dass dieses Bayreuth niemals ein Ort gewesen ist, an dem ausschließlich Kunst um der Kunst willen gemacht wurde, auch wenn das dem Selbstverständnis der die Festspiele leitenden Mitglieder der Wagner-Familie weithin entsprach. Das berühmte, 1924 und 1951 im Fest-

4 Vorwort spielhaus ausgehängte Meistersinger-Motto »Hier gilt’s der Kunst« war im bes- ten Falle eine Selbsttäuschung, vermutlich eher die bewusst verschleiernde Re- aktion darauf, dass die Beteiligten es besser wussten. Denn in Wahrheit war Bayreuth stets ein Seismograph deutscher Befndlichkeit gewesen, hat die Ge- schichte dieses Landes mit beeinfusst, mit durchlebt und mit durchlitten. Ri- chard Wagner hatte sein Festspielhaus einst konzipiert als einen Ort morali- scher und gesellschaftlicher Selbsterneuerung. Das wollten die Festspiele auch immer sein, doch das ist ihnen schon in den Jahren vor dem Zivilisations- bruch kaum gelungen, in der Zeit des Dritten Reiches gründlicher missraten denn je zuvor. Die Analyse der Programmhefte, die im Folgenden an exemplarisch erach- teten Aufsätzen vorgenommen wird, zeigt, ein wie mühseliger und langer Weg von der Vergangenheit eines verfehlten in die Gegenwart eines zeitgemäßen Wagner-Verständnisses gegangen werden musste, um dort anzukommen, wo der Wagner-Diskurs heute steht. Die hier vorgelegte Darstellung umfasst da- bei nur einen Teil der Programmhef-Jahrgänge von 1951 bis 1976. Sie endet mit dem Chéreau-Ring, weil mit dieser epochalen Inszenierung ein säkularer Durchbruch der Wagner-Deutung gelang : Die Tetralogie wurde in die Welt der Menschen geholt, der Ring erschien, in die Zeit seiner Entstehung versetzt, als ein Stück Zeit- und Gegenwartsgeschichte, in dem die gravierenden poli- tisch-gesellschaftlichen Probleme verhandelt wurden, Problemkonstellatio- nen, in denen sich die Zuschauer wiedererkennen konnten. So umstritten die- ser Jubiläums-Ring auch zu Beginn sein mochte, viele seiner Kernaussagen wie die Verbindung von bürgerlicher Gesellschaf und Kapitalismus, die Behand- lung grundlegender politischer Probleme in diesen Systemen und die Tenden- zen zur Selbstzerstörung wurden später von vielen Wagnerianern nicht mehr bestritten und wirkten als Forschungsanregungen auf die zuständigen Wag- ner-Experten ein. Nach dieser Inszenierung, die weltweit alle Wagner-Insze- nierungen nachhaltig beeinfusst hat und bis heute beeinfusst, war das Wag- ner-Bild neu konturiert : Wagner war nicht mehr der Autor fern gerückter ger- manischer Mythen, sondern ein Zeitgenosse, der die Gegenwart in starken Texten und Bildern kritisierte und dem man seine Sympathien mit den demo- kratischen Revolutionen des 19. Jahrhunderts abnahm. Was nach dieser um- stürzenden Inszenierung von 1976 in den Programmheften an Beiträgen wei- terhin gedruckt wurde, war zum einen die immer genauer vorangetriebene Feinanalyse der Wagnerschen Werke, zum anderen die Pluralisierung der aus ihnen ablesbaren Weltanschauung, also auseinanderliegender Deutungen. Das heißt nicht, dass es von 1951 an eine linear verlaufende und zielstrebige Arbeit an einem neuen Wagner-Bild gegeben hat ; dagegen sprechen schon

Vorwort 5 die NS‑afnen Autoren, die Wieland Wagner für die Programmhefte des ers- ten Jahrzehnts und teils darüber hinaus engagiert hatte, auch wenn diese mit neuen thematischen Akzenten ihre ehemals gepfegten Temen, die gänzlich der NS‑Ideologie verpfichtet gewesen waren, hinter sich ließen und sich an- ders zu schreiben bemühten. Und doch waren jene neuen Temen, die nun im Vordergrund der Darlegung standen, bereits Hinweise darauf, wohin sich die Auseinandersetzung mit Richard Wagner und seinen Werken entwickeln würde. Deutlich setzte die Arbeit an einem Wagner, der sich nicht mehr um- standslos der völkisch-nationalistischen Tradition einordnen ließ, in dem Mo- ment ein, da führende Linksintellektuelle zum Kreis der Autoren hinzustie- ßen und die letzten Reste eines nationalistisch verstaubten Komponisten mit guten Argumenten hinwegfegten. Die auf der Bühne des Festspielhauses 1976 von Chéreau und Boulez geleistete linke Interpretation des Ring hat das ideo- logische Spektrum möglicher Wagner-Exegesen um eine entscheidende ideen- historische Dimension erweitert. Denn mit ihr waren alle theoriegeschichtli- chen Varianten der Wagner-Interpretation gleichsam durchgespielt und nun zu einer neuen, sozialkritischen Verbindlichkeit getrieben. Von nun an war es daher auch nicht mehr nötig, Wagner immer wieder aus dem Dunkel der Ver- gangenheit zu befreien, um einen zeitgemäßen Zugang zu erhalten ; Wagner – und mit ihm Bayreuth – waren in der pluralistischen Demokratie mit ihren so- zialen und politischen Differenzen und Koinzidenzen angekommen.

6 Vorwort