stachlige argumente

Nr 176 / Dezember 2009 Zeitschrift des Landesverbandes

TITEL Grüne Optionen © Wolfgang Jargstorff © Wolfgang

PARTEILEBEN MENSCHEN UND ZEITEN DEBATTE Frank Henkel als Die grüne WeinkönigIn Stadtentwicklung Ole von Beust? auf Berlinerisch Inhalt Editorial

10 Titelthema

4 Keine lagerübergreifenden Debatte Machtoptionen von Prof. Richard Stöss 28 Stadtentwicklung auf Berlinerisch weiter von Nicole Holtz 8 "Wir vertreten die linke, bürgerliche " 32 Wohnen in der Berliner Mischung Gespräch mit Renate Künast von Andreas Otto 18 angestachelt ! 10 DIe "Neue Mitte" zurückgewinnen 34 S-Bahn ausquetschen, Fahrgäste von Andreas Schulze einquetschen? Nicht mit uns! Auf dem Weg zur Volkspartei und kleinste Oppositions- von Claudia Hämmerling partei im Bundestag – selten klangen Befunde aus dem 12 Berlin 2011: selben Wahlergebnis widersprüchlicher. Und dennoch Rot-rot-grün? Jamaika? 36 Was hat dich bloß so ruiniert? – stimmt wohl beides. Mit 17,4 Prozent bei der Bundes- von Michael Schäfer und Zur Krise der SPD und ihrer tagswahl in der Stadt Berlin sind die Grünen keine reine Anja Schillhaneck Bewältigung Korrektivpartei mehr. Der Anspruch an die Partei geht von Anne Knauf längst darüber hinaus, nur einige Projekte voranzutreiben 14 Über linke Lager und Mehrheiten und ansonsten als Korrekturfaktor für die großen Partei- von Micha Wendt en CDU und SPD zu fungieren. Unsere Debatten müs- Antje Kapek zeigt auf, wie es in Friedrichshain-Kreuzberg Menschen und Zeiten sen sich am Gesamtinteresse messen lassen – und die gelingt, als Regierungspartei erfolgreich, die Gratwande- 16 Grüne als innerstädtische Stachligen Argumente wollen dabei auch in Zukunft ihre rung zwischen Real-und Graswurzelpolitik zu meistern. Regierungspartei 38 Der Wahlkampf in Bildern Rolle spielen. von Antje Kapek Aber: Auch der Blick auf die Konkurrenz lohnt in diesen 40 Kopf des Quartals - Wo stehen die Grünen nach der Bundestagswahl? Und Tagen. Ein alter Weggefährte schwächelt und eine jung- 18 Ein trojanisches Pferd Guido Westerwelle wo soll die Reise hingehen? Dieses Heft beschäftigt dynamische Kraft nimmt Anlauf auf das Abgeordneten- für direkte Demokratie von Katrin Langenbein sich mit der Strategiedebatte – auch im Hinblick auf die haus. Wie die SPD aus ihrer Krise findet – das geht auch Gespräch mit Tina Gerts anstehenden Wahlen zum Abgeordnetenhaus 2011. Über- uns Grüne an. Wir sind stolz, dass die Juso-Vorsitzende und Florian Bischof 41 Hört auf zu Heulen! lagert wird alles Nachdenken von einer sicher historisch Berlin, Anne Knauf, die Stachligen Argumente als Platt- von Dennis Parchernegg zu nennenden Entscheidung im fernen Westen: Jamaika form nutzt, um den innerparteilichen Diskurs in der SPD 20 Neustart im Netz 28 an der Saar. „Keine lagerübergreifende Machtoption“ sieht voranzutreiben. Ganz anders ist die Lage bei der Piraten- von Julia Seeliger 42 Trauer um Barbara Oesterheld Professor Stöss in unserem Leitartikel für die Grünen. Im partei. Mit einem Achtungserfolg bei der Bundestagswahl Interview mit den Stachligen Argumenten rät Renate Kün- im Rücken gibt man sich selbstbewußt. „Ein trojanisches 38 43 Trauer um Annette Schwarzenau ast dazu, die „Mitte“ zu besetzen – ohne das eigene Profil Pferd für direkte Demokratie“ will man sein, wie Florian Parteileben von Thomas Birk zu verwässern. Bischof vom Landesvorstand der Piratenpartei verkündet. Im Streitgespräch mit Tina Gerts spricht er über Fehler 22 "Frank Henkel ist kein Ole von Beust" 44 Die grüne WeinkönigIn der und strategische Partnerschaft mit den Grünen. Gespräch mit Ramona Pop Tine Hauser-Jabs Die Debatte ist eröffnet! 25 Europawahl 2009: 14 aus 55 46 Kolumne Grüner Leben von Polit-Piraterie von Holger Michel 26 Neues aus dem Abgeordnetenhaus 27 Neues aus der Kommandantur 47 Buchvorstellung Christine Dörner, Katrin Langenbein und Ronald Wenke Neues aus der Dirschauer Termine/Impressum Redaktion Stachlige Argumente

2 3 Titel Thema Strategie nach der Bundestagswahl

Keine lagerübergreifenden Machtoptionen

Bei der Bundestagswahl 2009 handelte es sich keineswegs um eine „historische“ Wahl. Vielmehr hat ein Wechsel von einem Ausnahmezustand zur Normalität stattgefunden. Die Große Koalition als zeitlich begrenzte „Zwangsehe“ ist durch eine kleine Koalition abgelöst worden. In der Regel werden der Bund und die Länder durch kleine Koalitio- nen regiert, Einparteienregierungen und Große Koalitionen sind eher selten. Das Fünf-Parteien-System hat sich also als funktionsfähig erwiesen.

ür die Analyse des Bundestagswahlergebnisses ist Die Lagertheorie gilt weiterhin die „Lagertheorie“ hilfreich. Entscheidend sind drei FTatsachen: Erstens finden Wählerwanderungen pri- Charakteristisch für das Fünf-Parteiensystem der Bun- mär innerhalb eines Lagers statt. Zweitens folgt das Stim- desrepublik ist, dass die Parteien des linken Spektrums mensplitting zumeist der Lagerlogik und drittens bilden auf der nationalen Ebene eine Machtperspektive nur un- Lager übergreifende Koalitionen seit Bestehen des Fünf- ter Einbeziehung der Linkspartei haben. Keine der drei Parteiensystems die Ausnahme. Parteien verfügt über eine eigene Machtoption. Von der SPD erwartet man diesbezüglich – noch mehr als von Beide Lager unterscheiden sich im Bund weniger hin- den Grünen und der Linkspartei – ein überzeugendes sichtlich ihrer Größe. Der gravierende Unterschied be- Konzept. Sie kann auf eine rot-grüne Mehrheit hoffen (ist steht in der Binnenstruktur beider Lager. Dabei geht es derzeit illusorisch) oder als Juniorpartner einer Großen vor allem um die Asymmetrie zwischen den beiden ihr Koalition fungieren (was nicht absehbar ist und ihr erfah- Lager dominierenden Volksparteien. rungsgemäß auch nur Nachteile bringt).

Seit Bestehen der Bundesrepublik ist ein gewaltiges Die Grünen könnten darauf spekulieren, dass sie von Machtungleichgewicht zugunsten der Unionsparteien der Union an Stelle der oder zusätzlich zur FDP ins Boot zu konstatieren. Während die Dominanz der CDU/CSU geholt werden. Beides ist in Anbetracht der gegenwärti- im rechten Spektrum unangefochten ist, hat es die SPD gen Stärke der FDP wenig realistisch. Die Linkspartei hat in ihrem Lager mit zwei Parteien zu tun, die mittlerweile alleine überhaupt keine Machtperspektive. Eine „Ampel“- zusammen fast genauso stark sind wie sie selbst. Von Do- Koalition ist auf mittlere Sicht nicht zu erwarten. Voraus- minanz kann unter diesen Bedingungen kaum noch die setzung wäre, dass die FDP ihre neoliberale Prägung auf- Rede sein. Darüber hinaus sind die beiden Parteien des gibt – nur warum sollte sie das tun? Lagerübergreifende rechten Spektrums miteinander uneingeschränkt koaliti- Koalitionen dürften mithin auf absehbare Zeit nicht auf onsfähig, während im linken Spektrum – jedenfalls bisher der Tagesordnung der Bundespolitik stehen. – eine Partei als nicht koalitionsfähig gilt. Binnenstrukturell ist es um das linke Lager also deutlich schlechter bestellt Das Lagerdenken bestimmte die Wahlkampfstrategie von als um das rechte Lager, das mithin über wesentlich bes- CDU/CSU und FDP. Beide gaben als hauptsächliches Ziel sere Wettbewerbsbedingungen verfügt. aus, einen Machtwechsel zugunsten des linken Lagers - fotolia © eyewave

4 5 Titel Thema Strategie nach der Bundestagswahl

zu verhindern. Die Liberalen hatten aus früheren Kampa- Prozent, 2005/09 dann aber 37 Prozent aus. Dabei han- konnte. Nun befinden wir und aber wieder im Zustand und dass sie kaum zu abrupten Änderungen der politi- gnen gelernt, dass der Verzicht auf eine Festlegung auf delt es sich um eine Mobilisierungsreserve der SPD, weil der Normalität. Das Wechselspiel zwischen Regierung schen Verhältnisse neigen. die Union („Äquidistanz“ gegenüber CDU/CSU und SPD) sich diese Nichtwähler nicht für andere Parteien – etwa und Opposition, das während der Großen Koalition nahe- kaum zur Mobilisierung ihrer Anhänger führt und sich des rechten Spektrums – entschieden haben. zu außer Kraft gesetzt war, dürfte seine Wirkung wieder Handlungsrahmen für das linke Lager entwickeln 2005 und erst recht 2009 auf ein Bündnis mit der Union entfalten, die Wahlbeteiligung erhöhen und den sich aller festgelegt. Das gilt entsprechend für die CDU/CSU. Die Normalität kehrt zurück Wahrscheinlichkeit nach reprofilierenden Volksparteien Ein Machtwechsel auf Bundesebene erscheint nur un- zu neuer Integrationsfähigkeit verhelfen. ter den Bedingungen einer gemäßigten Polarisierung Das Dilemma der SPD Nach der Bundestagswahl schwärmten FDP, Grüne zwischen dem linken und dem rechten Parteienspektrum und Linkspartei siegestrunken von neuen Wachstums- Für die Zukunft des nationalen Parteienwettbewerbs ist möglich, die auf konkreten und praktikablen politisch- Umgekehrt wollten SPD, Linkspartei und Grüne unbe- chancen. Ein Blick auf die Bundestagswahlergebnisse von einer dauerhaft stabilen Regierungskoalition auszu- programmatischen Alternativen beruht. SPD, Linke und dingt eine schwarz-gelbe Koalition verhindern. Sie hatten seit 1990 lehrt, dass dazu überhaupt kein Anlass besteht. gehen, die entgegen mancher Prognosen keinen That- Grüne haben derzeit nur gemeinsam eine realistische allerdings keine überzeugende Antwort auf die Frage, Ein Gesetz der Serie existiert nicht. FDP und Grüne haben cherismus betreiben wird. Die Oppositionsparteien wer- Machtperspektive. Sie müssen sich entscheiden, ob sie worin die Alternative dazu besteht und wie sie realisiert ihren großen Sprung nach vorn erst während der Gro- den keinen leichten Stand haben, erst recht dann nicht, den Blick nach hinten richten, die Schlachten der Ver- werden kann. Besonders verwirrend war die Haltung der ßen Koalition, also während eines Ausnahmezustands, wenn die Regierungsparteien ihre Mehrheit im Bundesrat gangenheit fortführen und damit die konservativ-liberale SPD, die einerseits im Sinne der Lagertheorie das Schreck- vollzogen. Dies gilt auch für die Linkspartei, die allerdings behalten. Mit Blick auf die Chancen eines Machtwechsels Vorherrschaft über 2013 hinaus zementieren oder ob sie gespenst einer konservativ-neoliberalen Koalition an die bereits 2005 – in Folge der Kooperation von PDS und ist weiterhin zu bedenken, dass die Deutschen Kontinui- nach vorne blicken und das Land gemeinsam im Sinne Wand malte, andererseits aber eine Zusammenarbeit mit WASG – das PDS-Resultat von 2002 mehr als verdoppeln tät und Stabilität ebenso lieben wie Ruhe und Ordnung eines Politikwechsels regieren wollen. beiden Parteien des rechten Spektrums für möglich hielt. Die drei Oppositionsparteien sollten daher auf ein Der Sieg von Schwarz-Gelb war seit langer Zeit abseh- Bündnis für die nationale Ebene hinarbeiten, das min- bar. Beide Parteien erreichten gemeinsam in den Umfra- Wer wählte schwarz-gelb? 2,1 Millionen Nichtwähler der SPD erheblich ge- destens auf einen gemeinsamen Handlungsrahmen für gen der vergangenen zwei Jahre zumeist Werte knapp schwächt. Ein wichtiger Grund ist die Nichtun- die Bundestagswahl 2013 zielt: Die Oppositionsarbeit unterhalb der 50-Prozent-Marke. Dass dies für eine Man- terscheidbarkeit der Volksparteien: Nur noch 30 während der Legislaturperiode muss den WählerInnen datsmehrheit im Bundestag reicht, zeigte sich auch bei Prozent der Wähler sagten 2009, dass sich die Par- verdeutlichen, dass ein Machtwechsel notwendig und vergangenen Bundestagswahlen. 1994 brachten es CDU/ Die Ergebnisse der letzten Bundestagswahl sind teipositionen deutlich unterscheiden, 2005 waren möglich ist und dass dafür eine kompetente und solide CSU und FDP nur auf 48,3 Prozent der Zweitstimmen, für bekannt: CDU/CSU 33,8 Prozent, SPD 23,0, FDP 14,6, es immerhin noch 57 Prozent. Alternative zur Verfügung steht. Notwendig sind weiterhin den rot-grünen Machtwechsel 1998 reichten 47,6 Prozent Linke 11,9, B90/Grüne 10,7 und Andere 6,0 – darun- eine gemeinsame Koalitionsaussage und möglichst viele und 2002 konnten SPD und Grüne ihre Koalition mit nur ter der Achtungserfolg für die Piratenpartei mit 2,1 Mehr als eine Million der Unions-Wähler stimmten Wahlkreisabkommen zur Sicherung eines Maximums an 47,1 Prozent fortsetzen. Vor allem aber war für 2009 ein Prozent. Weniger bekannt ist: Obwohl die CDU/CSU bei der letzten Bundestagswahl für die FDP. 70 Pro- Direktmandaten. Denkbar wären auch gemeinsame Akti- deutlicher Erststimmenvorsprung der Union gegenüber bundesweit 1,4 Prozent verloren hatte, legte sie in zent davon gaben als Grund an, „um eine bestimm- vitäten gegen einzelne Maßnahmen der schwarz-gelben der SPD zu erwarten. Denn die beiden Parteien des rech- den neuen Bundesländern um 3,9 Prozent zu. te Koalition zu ermöglichen bzw. zu verhindern“. Koalition. Dies setzt Bereitschaft aller drei (!) Parteien vo- ten Spektrums würden sich gegenseitig – wie auch schon Der Wechsel war somit taktisch begründet, nur 30 raus, aufeinander zuzugehen und sich auf „gleicher Au- bei früheren Bundestagswahlen – durch Stimmensplitting Doch woher kommen die Stimmen für die Prozent sagten, dass sie die FDP stärken wollen. Die genhöhe“ zu begegnen. Dabei ist in Rechnung zu stellen, unterstützen. „Tigerentenkoalition“? FDP gewann bei allen sozialstrukturellen Gruppen, dass ein Machtwechsel nur erreicht werden kann, wenn besonders aber bei den Selbständigen mit einem das linke Lager Stimmen aus dem rechten Spektrum (zu- Der Niedergang der SPD setzte bereits nach der Bundes- Der wesentliche Grund für dieses Wahlergebnis Zuwachs von 26 Prozent. Ebenfalls legten sie in der rück) gewinnt. Radikale Forderungen und erst recht Fun- tagswahl 1998 ein. Seither büßte die Partei rund 10 Millio- ist die Schwäche der SPD. Sie verlor mehr als zwei berufsaktiven Gruppe der 35-44-jährigen stark zu. damentalismus sind also nicht angesagt. nen Wähler ein: zwischen 1998 und 2002 1,7 Millionen, zwi- Millionen Wähler an das Nichtwählerlager, wäh- schen 2002 und 2005 2,3 Millionen und zwischen 2005 rend Union und FDP ihre Anhänger mobilisierten Die jetzige Regierung ist nicht durch Überhang- Fazit: Angesichts der zu vermutenden Stabilität der und 2009 noch einmal 6 Millionen. Der eigentliche Absturz konnten. Darüber hinaus musste die SPD an alle an- mandate ermöglicht worden. Dennoch: Stimmen- schwarz-gelben Koalition sind Lager übergreifende erfolgte also während der Großen Koalition und bestätigt deren Parteien in erheblichem Umfang abgeben: splitting fand bei den jetzigen Regierungsparteien Machtoptionen derzeit nicht erkennbar. Als einzige, mo- einmal mehr, dass ihr aus der Rolle als Juniorpartner in 1,1 Millionen an die Linke, 860 000 an die Grünen. in erheblichem Umfang statt, 47 Prozent der FDP- mentan aber eher skeptisch zu beurteilende, Möglichkeit einer Großen Koalition (auf Bundes- und Landesebene) Aber auch ca. 870 000 SPD-Wähler wechselten zur Wähler wählten mit ihrer Erststimme die Union. bleibt ein Machtwechsel zugunsten des linken Parteien- eher Nachteile erwachsen. Die Wählerwanderungsbilan- Union und noch einmal 520 000 Wähler zur FDP. spektrums. zen weisen aus, dass die SPD in alle Richtungen verloren Das sogenannte „bürgerliche Lager“ wuchs somit Christine Dörner Prof. Richard Stöss hat, allerdings mit unterschiedlichen Schwerpunkten: Die bei der Bundestagswahl 2009 um 1,3 Millionen Alle Zahlen aus: FU Berlin, Otto-Suhr-Institut Verluste ins Nichtwählerlager machten 2002/05 nur 16 Stimmen an, das „linke Lager“ wurde durch die ARD-Wahlberichterstattung/Infratest dimap. Dieser Text ist eine gekürzte Fassung eines Vortrags, der am 5.10.09 bei der Heinrich-Böll-Stiftung gehalten wurde.

6 7 Titel Thema Strategie nach der Bundestagswahl

"Wir vertreten die linke, bürgerliche Mitte" Renate Künast über die ökologische Umstrukturierung der Gesellschaft, die Grünen als Volkspartei und das gute Leben

dern. Dass das nicht geklappt hat, vertreten nur wir Grüne. Wir müs- vertreten wir – hier haben wir gute Themen zu kümmern. Brauchen her, auch zunehmend eine Frage des lag nicht an uns, sondern an dem sen klarmachen: Dieses Land muss Ergebnisse. wir nicht mehr Kompetenz auch in Inneren. Wir müssen alle einbezie- Erosionsprozess der SPD. Jetzt strukturell neu ausgerichtet werden. Feldern wie Wirtschaft oder Innere hen – wir haben dazu ein Modell. halte ich es wie beim Fußball: Nach Die Leitindustrien, die Arbeit und Stachlige Argumente: Sicherheit? dem Spiel ist vor dem Spiel. Es geht Steuereinnahmen schaffen – Auto, „Bürgerliche, linke Mitte“, was bedeu- Stachlige Argumente: darum, mit unserem auf die Zukunft Chemie, Maschinenbau – drohen tet das für unsere Richtung bei den Renate Künast: Nämlich? ausgerichteten Angebot – dem Green von anderen bei der ökologischen Wahlen 2011 in Berlin? Ja, genau das meine ich und die New Deal für Jobs und Bildung – zu Ausrichtung überholt zu werden. haben wir auch. Die 20 Prozent Renate Künast: überzeugen. Und auch die vierte Leitindustrie, die Renate Künast: fordern uns noch einmal richtig Berlin hat die Chance zu zeigen, wie wir Grünen etabliert haben, die Um- Das ist keine Frage von Farbenspie- heraus. Daraus erwächst der Auftrag, eine solche Stadt aussehen kann: mit Stachlige Argumente: welt- und Energiebranche, steht im len. Sondern: Wer sind wir Grünen ein Gegenmodell zu entwickeln. öffentlichen Räumen zum Begegnen, Als kleinste Oppositionspartei ste- verstärkten Wettbewerb mit Firmen und wessen Interessen vertreten Nicht nur gegenüber den anderen wo Freizeitgestaltung nicht immer hen wir auch in Konkurrenz zu SPD aus Indien, China – aber auch den wir? Wir dürfen den Konservativen Parteien, sondern auch zu diesem mit Eintrittspreis verbunden ist, © Bundestagsfraktion B90/Grüne © Bundestagsfraktion und Linkspartei. USA und Japan. die Begriffe Bürgertum und Mitte Gesellschaftsbild, das auf immer wo das Gemeinsame gelebt wird. Wie groß ist die Sorge, dass wir mit nicht überlassen! Ganz selbstbe- mehr Verbrauch aufbaut und nicht Wenn jetzt in so vielen Staaten Renate Künast unseren Themen nicht mehr durch- Stachlige Argumente: wusst sage ich: Wir haben als grüne nachhaltig ist. 20 Prozent heißt auch, CO2-freie Modellstädte aus dem dringen? In Berlin liegen wir in Umfragen bei Bewegung – über die Partei hinaus dass die Menschen uns nicht mehr Boden gestampft werden – in China, Stachlige Argumente: ungefähr 20 Prozent – gleichauf mit – dieses Land verändert. Das heißt, nur als kleinen Koalitionspartner in Saudi-Arabien – dann müssen Zunächst einen herzlichen Glück- Renate Künast: den Sozialdemokraten. Ist man mit die Mitte dieser Gesellschaft ist nicht sehen. Sie wollen Vorschläge für die wir hier in Berlin zeigen, wie man wunsch zur erneuten Wahl als Lasst uns das Glas nicht immer solchen Ergebnissen Volkspartei? mehr die konservative, nicht-plura- gesamte Stadt – und die kommen eine Metropole, die schon existiert, Vorsitzende der bündnisgrünen leerer machen als es ist. 10,7 Prozent listische Mehrheit, die wir vor zehn, nur von uns. Wenn sich heute in umbaut für das 21. Jahrhundert: wo Fraktion im Bundestag! Aber: Kann – soviel hatten wir im Bund noch nie. Renate Künast: zwanzig Jahren bekämpft haben. diesem Senat einige dafür auf die die gesellschaftliche Blockaden in man sich richtig freuen, wenn wir Wir können ganz selbstbewusst sein. Volkspartei ist eine Umschreibung Viele in der Mitte der Gesellschaft Schultern klopfen, dass sich im den Schulen nicht mehr existieren, nun doch wieder nur die kleinste Wir müssen uns den 4,6 Millionen dafür, dass man eine große Breite denken grün und versuchen grün zu Bereich Energie- und Umwelttechno- wo die die modernsten Technolo- Fraktion stellen – noch dazu in der geliehenen Wählerstimmen würdig der Gesellschaft vertritt und viele leben. Sie fragen: Wo ist es, das Öko- logie was tut, dann wissen wir doch, gien genutzt werden, wo intelligent Opposition? erweisen. Zukunft und Glaubwürdig- Strömungen und Bedürfnisse unter auto? Wo ist das Biosiegel? Wie kann dass das Ergebnis grüner Politik ist! von Wärme und Energie Gebrauch keit sind unsere Stärken. einen Hut bringen muss – das ergibt ich wegkommen von Vattenfall, von Wir sagen doch längst, wie es mit der gemacht wird. Wir brauchen eine Renate Künast: oftmals nur den kleinsten gemeinsa- Atom und Kohle? Diese Menschen Wirtschaft weitergehen soll, wo neue Stadtpolitik, die sich an Lebensquali- Ich freue mich über 10,7 Prozent und Alle reden über Grün, andere Partei- men Nenner. Ich glaube nicht, dass denken grün – und wir wollen sie Arbeitsplätze herkommen in unter- tät für alle ausrichtet. Lebensqualität über 800 000 hinzugewonnene en, aber auch viele Unternehmen. wir in diesem Sinne Volkspartei wer- vertreten. schiedlichen Qualifikationsebenen. ist mehr, als das Bruttoinlandspro- Stimmen – so viel Plus hatten wir Die haben sich jedoch nur grüne den sollten. Wir vertreten die linke, Ansonsten weise ich darauf hin: dukt misst. Die Frage der Zukunft noch nie. Diesen Erfolg sollten wir Punkte ins Gesicht gemalt – daraus bürgerliche Mitte. Das drückt mehr Wer mit wem wo regiert hängt auch Und wenn wir aufzeigen, wie es zu heißt: „Gibt es das gute Leben für alle nicht klein reden, zumal wir mit der erwächst noch lange keine grüne aus als nur eine Verortung im politi- davon ab, wofür man eine gesell- schaffen ist, dass in dieser Stadt jedes in dieser Stadt?“ Finanz- und Wirtschaftskrise ein Politik. Wir müssen unsere Gesell- schen Koordinatensystem. Dadurch schaftliche Mehrheit findet. Die Kind die gleichen, guten Chancen Thema auf der Agenda hatten, bei schaft umstrukturieren: Bei der Art sind wir Volkspartei in bestimmten gesellschaftliche Mehrheit ist mehr hat, dann ist das am Ende doch auch Stachlige Argumente: dem die Angst um Arbeitsplätze wie wir leben und arbeiten, wie wir Stadtteilen und Städten, in denen es als die Addition einer parlamenta- eine Frage von Innerer Sicherheit Herzlichen Dank für deine Zeit! und die wirtschaftliche Entwicklung produzieren und transportieren, wie tatsächlich eine Vorherrschaft einer rischen Mehrheit. Es ist immer klug, und einem friedlichen Zusammen- die Debatte für die Grünen nicht wir unsere Lebensmittel und wie wir bestimmten Lebensweise gibt – übri- die Mitte zu haben. leben in Berlin. Wenn so viele Kinder automatisch einfacher gemacht hat. Industriegüter herstellen. Wir dürfen gens unabhängig vom Einkommen. von Wedding über Neukölln bis Mar- Sicher, wir wären gerne drittstärkste nicht länger auf Kosten von anderen Das sind Menschen, die eine Verant- Stachlige Argumente: zahn frühzeitig ausgegrenzt werden, Kraft geworden und wollten eine leben! wortung fürs Ganze fühlen und nicht Aber 20 Prozent geben doch auch dann ist das eine Gerechtigkeitsfrage, Das Interview führte schwarz-gelbe Mehrheit verhin- Diesen grundsätzlichen Wandel auf Kosten anderer leben wollen. Die einen Auftrag, sich um andere aber wenn es so weiter läuft wie bis- Ronald Wenke

8 9 Titel Thema Strategie nach der Bundestagswahl

Die "Neue Mitte" zurückgewinnen

Wir freuen uns über ein Rekordwahlergebnis bei strategischen Partnerschaften für uns Grüne berührt. der Bundestagswahl und darüber, dass wir mit Denn es ist nicht erkennbar, wo es einen Ansatz zur Kom- dem „Grünen Neuen Gesellschaftsvertrag“ ein Pro- pensation geben könnte. Ihre besten Ergebnisse erzielt gramm vorgelegt haben, mit dem wir genau auf die SPD ja bei Älteren und bei Hauptschulabgängern. Die der Höhe der politischen Auseinandersetzungen eine Gruppe ist in permanenter Abwanderungsgefahr, die um Klimaschutz, Gerechtigkeit und Freiheit sind. andere Gruppe wird kleiner.

ber: Man ist ja wieder nur Fünfter und wieder Die heutigen Jungwähler begleiten die Parteien aber ohne Option. Man hat ja gar nicht alle Stimmen noch sehr lange. Gewiss, Parteibindungen haben heute Aauffangen können, die die SPD über ihre elf Re- nicht mehr die Bedeutung vergangener Zeiten, aber es gierungsjahre verloren hat, wird geschrieben. Da würde reicht schon der Trend, um zu erkennen, welche Debatte man ja sehen, dass die Grünen dieses und jenes wieder auf die grüne Partei zukommt, die auf einen starken stra- tun müssten, sich diesem oder jenem wieder annähern tegischen Partner zur Mehrheitsbildung angewiesen ist. müssten. Nach einer langen und erfolgreichen Kampa- Angenommen, die programmatische Nähe zur SPD bleibt gne mag die Nörgelei nerven, aber es wäre falsch, das auch weiterhin die größte: Welchen Wert hat das für uns Sandler © CC_Eran grüne Wahlergebnis nur von der schönen Seite aus zu Grüne, wenn die SPD nicht strukturell mehrheitsfähig ist? beleuchten. Insofern haben alle Haare in der Suppe ihren Warten wir dann mit unserer Klimaschutzpolitik und einer Nutzen. gerechteren Bildungspolitik und all den anderen Themen bis die Sozialdemokraten ein paar Generationen weiter auf 45,6 Prozent. Die einen gewinnen 4,4 Prozent, die schen Auseinandersetzungen um Klimaschutz, soziale Der Rostocker Parteitag hat gezeigt, dass die Deutung wieder zu einer gewissen Stärke finden? Diese Debatte anderen verlieren 5,4. Dazu Infratest dimap: „Überdurch- Gerechtigkeit und Freiheit im Blick zu haben? Das Zurück- des Wahlergebnisses in alle Richtungen geht und tatsäch- wird nicht leichter, indem wir sie verdrängen oder mit schnittliche Einbußen muss sie (die SPD) in der zahlen- gewinnen der „Neuen Mitte“ ist die einzige Möglichkeit, lich für alle etwas dabei ist. Da es bei der Mehrheitsbil- merkwürdigen Parteitagsbeschlüssen zuzukleistern ver- mäßig großen Gruppe der Angestellten hinnehmen, aber schwarz-gelb die Mehrheit streitig zu machen und somit dung letztlich um wenige Prozentpunkte geht, lohnt der suchen. auch bei den traditionell ihr zugewandten Arbeitern“, also den Raum für Machtoptionen überhaupt erst wieder zu Blick auf vermeintlich kleinere Auffälligkeiten. Ein Beispiel: bei zwei völlig unterschiedlichen Gruppierungen in der eröffnen. Etwas anderes ist schon rechnerisch nicht zu In den rot-grünen Jahren hieß es, „der Osten“ und „die evor die Farbkarten allzu schnell gezogen werden, Arbeitnehmerschaft. machen, geschweige denn politisch mit einer starken Frauen“ hätten die SPD gerettet. Damit ist es vorbei: Im Bsollten wir es noch einmal mit den schlichten Zahlen grünen Partei. Osten gewann die CDU 4,5 Prozent hinzu, bei den Ost- versuchen: Sollte es wirklich ein linkes Lager geben, so enn wir heute wissen, dass drei von fünf Arbeitneh- Frauen sogar 8 Prozent (bundesweit +1). Zahlen, die man hatte dieses Lager zwischen 1998 und 2009 immer eine Wmern Angestellte oder Beamte sind, ist die These, Wir reden über das am Gemeinwohl orientierte Bür- sich merken sollte. rechnerische Mehrheit. Dass SPD und Grüne zwischen wonach das vermeintlich „linke Lager“ seine rechnerische gertum, über Facharbeiter und Schichtleiterinnen, über 1998 und 2005 zweimal zur Regierungsbildung kamen, Mehrheit verloren hat, indem die „Neue Mitte“ sich von junge Unternehmer, gutverdienende und kreative Akade- Ein anderes Beispiel: Bei den 18-29-jährigen wurde die lag nach allgemeinem Diskussionsstand vor allem daran, ihm abgewandt hat, zumindest noch nicht widerlegt. Die mikerinnen, die ihre ökonomischen Interessen hinter die SPD halbiert (!) und erreicht gerade noch 17 Prozent (-19), dass es der SPD gelungen war, über ihre eher proletarisch Summe der Stimmabflüsse an die Parteien „rechts“ der Erfordernisse einer gesellschaftlichen Modernisierung was sich bei den Abiturienten zur Katastrophe auswächst: geprägte Stammwählerschaft weit hinaus zu mobilisieren. SPD – 520 000 an die FDP und 870 000 an die Union – und dem Bedürfnis nach sozialer Gerechtigkeit zu stellen Nur noch 14 Prozent erreichte hier die SPD (-21). Zur Ein- „Neue Mitte“ („Innovation und Gerechtigkeit“) war das An- und dann noch einmal 860 000 Stimmen an die Grünen, bereit sind. Diese Menschen sollen wir nicht kennen?! Die- ordnung: Bei den Erstwählern verzeichnete die Union gebot an eine in der Frage nach wirtschaftlicher Dynamik die möglicherweise auch nicht links von der SPD zu ver- se Menschen sollen uns fremd sein?! Ist „Innovation und durchschnittliche Verluste, Grüne gewannen auf hohem eher konservative Gruppe, die aber in den Fragen nach orten sind, ergibt 2 290 000 Stimmen, die die SPD zumin- Gerechtigkeit“ – also die Ansprache jener „Neuen Mitte“ – Niveau ein klein wenig hinzu, während FDP und Linke kultureller Modernität und nach sozialer Gerechtigkeit in dest nicht nach links abgegeben hat. ... Gegenargumente etwa nicht genau der „Grüne Neue Gesellschaftsvertrag“, deutlicher hinzugewonnen haben. Rot-Grün ein echtes Angebot sah. Wo ist diese Gruppe sind willkommen. mit dem wir so erfolgreich für grüne Politik geworben ha- heute? ben? Ein Angebot: Wenn es nur um den Begriff geht, fin- Es gibt ein Generationsproblem der SPD mit langfristi- Angenommen, es finden sich keine Zahlen, die etwas den wir statt „Neue Mitte“ einen aktuelleren Begriff, bevor gen Auswirkungen auch auf die grüne Strategiebildung. Noch 2005 hatte das vermeintlich „linke Lager“ zusam- anderes belegen, als den Verlust der „Neuen Mitte“ an wir den Kampf aufnehmen. Wir sollten uns darauf einstellen, dass der SPD über einen men 51 Prozent, während Merkel/Westerwelle zusammen Merkel und Westerwelle. Welchen anderen Weg hätten längeren Zeitraum eine wichtige Alterskohorte bei ihren auf 44 Prozent kamen. Vier Jahre später kommen Merkel/ wir Grünen – und das ist das Plädoyer dieses Artikels – Wählerinnen und Wählern fehlen wird, was die Frage der Westerwelle auf 48,4 und der vermeintliche „linke Block“ als genau diese Wählerinnen und Wähler in den politi- Andreas Schulze

10 11 Titel Thema Wahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin 2011

Immer wenn in Berlin über künftige Koalitionen geredet wird, stehen wir Bündnisgrüne im Mittelpunkt der Debatte Berlin 2011: Rot-rot-grün? Jamaika? Warum wir uns darüber nicht streiten wollen.

hat klare Grenzen. Schon beim größeren Teil von Zöllners Ressort, der Schul- Weil Koalitionsdebatten nicht nur die Medien, sondern auch die Partei politik, stehen Grüne einerseits und CDU und FDP andererseits ohnehin auf bewegen, hat die Redaktion der Stachligen Argumente uns gebeten, völlig verschiedenen Seiten. Die Berliner CDU von heute ist nicht reif für eine uns ein wenig über Koalitionsoptionen nach der Abgeordnetenhaus- Koalition mit uns Grünen. Wenn sie das bis 2011 ändern will, muss sie sich wahl 2011 zu streiten. Wahrscheinlich, weil wir bei inhaltlichen Auseinan- kräftigst auf grüne Inhalte zubewegen. dersetzung innerhalb der Partei oft unterschiedliche Positionen haben. Aber über Koalitionsfragen wollen wir uns gar nicht streiten. Weil so Rot-Rot-Grün: „Wenn es 2011 für Rot-Rot nicht reicht, nehmen wir halt die eine Auseinandersetzung – im Gegensatz zu einem guten inhaltlichen Grünen dazu“, ist eine verbreitete Haltung bei den Genossinnen und Genos- Streit – uns als Partei nicht voranbringt. Deshalb schreiben wir lieber mal sen jeglicher roter Couleur. Aber wenn die Berlinerinnen und Berliner den auf, worauf wir uns in der Koalitionsfrage einigen können. rot-roten Senat bei der Abgeordnetenhaus hoffentlich abwählen, sollten wir dann einen gescheiterten Senat um weitere fünf Jahre verlängern helfen? Immer wenn in Berlin über künftige Koalitionen geredet wird, stehen Wären wir gut beraten, mit zwei Parteien zu regieren, die dann zehn Jahre wir Bündnisgrüne im Mittelpunkt der Debatte. Während SPD und Links- lang gut eingespielt, deren Akteure persönlich befreundet und heftig in die partei uns als Reservearmee ihrer zunehmend schwächelnden rot-roten Verwaltungen verdrahtet sind? Und immer der Buhmann sein, immer nur Koalition vereinnahmen wollen, fordern CDU und FDP, wir müssten uns der widerwillig mit dazugelassene Mehrheitssicherer? Wir denken, dass zu einem Jamaika-Bündnis bekennen. Wir nutzen diese Situation derzeit das nicht unser Ziel sein kann. ganz gut, messen die anderen Parteien daran, ob sie zu einer ökologi- schen und sozialen Modernisierung Willens und in der Lage sind. Wenn SPD und Linke sich eine rot-rot-grüne Perspektive erhalten wollen, Damit lenken wir den Blick auf Grüne Inhalte. müssen sie viel dafür tun – nicht nur inhaltlich, auch im Politikstil. Für eine Fortsetzung der rot-roten Politik, die ihre Ideenlosigkeit mit Basta-Attitüde Jamaika in Berlin? Die Berliner CDU hat selbst innerhalb der Union einen kompensiert, stehen wir sicher nicht zur Verfügung. schlechten Ruf – und das nicht nur wegen ihrer ewigen Personalquerelen. Auch inhaltlich ist sie in den letzten Jahren kaum voran gekommen. Partei- Wir sind zu selbstbewusst, um uns als Anhängsel irgendeiner Koali- und Fraktionschef Frank Henkel hat trotzdem vor kurzem die „Erneuerung“ tionsoption zu verstehen. Wir sollten deshalb keinen Bindestrich-Wahl- der Berliner CDU für beendet erklärt – bevor sie überhaupt angefangen hat. kampf machen, sondern mit einem grünen Wahlkampf neue Mehrhei- Groß ist die Berliner CDU nur im Geldausgebenwollen, prüft aber bis heute ten möglich machen. Wenn wir 2011 eine Wunschkoalition benennen nicht ihre Parlamentsanträge auf die Finanzierbarkeit. müssen, hätten wir da einen Vorschlag: Grün-Rot. Damit könnten wir aber nur glaubhaft ins Rennen gehen, wenn wir weiter besser und Das hindert uns nicht daran, gerade in der Opposition in Sachfragen zu- stärker werden, wenn wir noch mehr Menschen mit noch mehr gut sammenzuarbeiten. So funktioniert die Abstimmung auf der fachpolitischen durchdachten und durchgerechneten grünen Konzepten begeistern Ebene zum Beispiel in der Wissenschaftspolitik aktuell ganz gut – gemeinsa- können. mer Feind eint halt. Zöllners destruktive Wissenschaftspolitik ist uns gemein- Darauf sollten wir uns konzentrieren. sam ein Dorn im Auge. Aber die Zusammenarbeit mit Studiengebührenbe- fürworterInnen und VertreterInnen der Idee vom „Unternehmen Hochschule“ Michael Schäfer und Anja Schillhaneck

12 fotolia - C © 13 Über linke Lager und Mehrheiten Titel Nachdem der grüne Zuwachs am Wahlabend noch heftig be- klatscht wurde, hörten sich viele Kommentare am nächsten Tag differenzierter an. Sagen wir es mal so: Wir haben zwar eins un- serer drei Wahlziele erreicht, nämlich zweistellig zu werden und so das bisher beste Bundestagswahlergebnis zu erzielen, aber – so kann mit ein wenig Kraft zur Selbstironie auch formuliert werden: Wir sind nun die einzige Bundestagspartei, die weni- ger als halb soviel Stimmen wie die SPD hat.

Wenn eine Partei wie die SPD in elf Jahren von etwa 20 Millio- nen Stimmen zehn Millionen verliert, dann geht es aber auch um mehr als nur ein einzelnes Wahlergebnis. Da auch manch grünes Herz „links“ schlägt, ist die Forderung aus „Rot-Rot-Grün“ ein linkes Lager zu formieren, leicht erhoben. Wenn die SPD aber bei der Arbeiterschaft die Führungsrolle an die CDU und bei den Arbeitslosen an die Linkspartei abgibt, dann gibt es eben ein ech- tes Problem, das auch nicht einfach mit dieser oder jener Koalitionsaussage gelöst werden kann. Unsere Idee eines „Green New Deal“ ist zwar grundsätzlich geeignet, in diesem Milieu zu mobilisieren, allerdings bisher nur zu einem geringen Teil. Der „Green New Deal“ fordert die Bereitschaft zur Veränderung und konkurriert mit dem Es gibt es durchaus „linke“ Wertemodelle. Deren genauere Betrachtung führt aber zu teilweise überra- konservativen Angebot vom Strukturerhalt. Das hat die CDU längst begriffen und schafft sich einen „Arbeiterführer Jür- schenden Ergebnissen. So stellte Infratest/DIMAP beispielsweise dem Wahlvolk die Frage: Solidarität oder gen Rüttgers“, der im Zweifel sein Nokia-Handy in die Ecke wirft und wenn dann gar die Symbole der guten alten Zeit Leistung: Für welche der beiden Werte sollte sich die Politik stärker einsetzen? Das Ergebnis ist bezogen auf in Gefahr geraten, dann finanziert ein Horst Seehofer zur Not auch den Quelle-Katalog. die parteipolitische Orientierung bemerkenswert, jedenfalls wenn „Solidarität“ nach wie vor für eine klassisch linke Wertekategorie gehalten wird. Im Ergebnis stehen die Grünen (84 Prozent Solidarität und 7 Prozent Leis- Wir haben es bei der Arbeitnehmerschaft heute mit einer eher defensiven Haltungen zu tun. Ökonomische und ge- tung) hier nämlich am weitesten „links“, gefolgt von der SPD (70:22), den „Linken“ (68:18) und dann mit Abstand sellschaftliche Veränderungen stehen bei der Masse der Arbeitnehmerschaft für die Bedrohung von Status und Wohl- FDP (47:45) und CDU (40:43). stand. Heute werden Abwehrkämpfe geführt, egal ob um Karstadt oder Opel. Wer sich heute aber gezwungen sieht, ständig für die Bewahrung irgendwelcher Strukturen zu kämpfen, ist auch für konservative Politikmodelle empfänglich, Ein „linkes Lager“ funktioniert wohl weder allein über die soziale Lage noch allein über die Wertekategorien. Die politi- zumindest solange sie sich in die Form einer „sozialdemokratisierten“ CDU kleiden. sche Definition eines linken Lagers kann aber auch weder theoretisch noch praktisch allein über die schlichte Addition von Parteien sinnvoll erfolgen. Es erscheint notwendig, sich von der Orientierung auf die Parteien zu lösen und umgekehrt Egal, ob wir die aktuellen Probleme der SPD mit Spott oder Mitleid betrachten, es sind Probleme, zu deren Lösung es erst die verschiedenen gesellschaftlichen Milieus daraufhin zu untersuchen, welche Erwartungen, Hoffnungen und Be- mehr bedarf, als den Austausch einiger Personen oder der Erklärung, sich nunmehr nach „links“ zu öffnen. Die SPD hat fürchtungen sie prägen und welche Einstellungen daraus entstehen – oder: Warum erreichen wir die gesellschaftlichen nicht nur ein desaströses Wahlergebnis hinter sich, sondern auch die Drohung des Schicksals der italienischen und Milieus so wenig, in denen die SPD verliert? französischen Sozialisten vor Augen.

Unter dem Motto „Teilhabegerechtigkeit“ werden in der Diskussion unserer Partei seit einigen Jahren die Bereiche Derweil sollten wir uns daran machen, unsere eigenen Probleme zu lösen. Da hat uns die Bundestagswahl mindestens Bildung und Soziales zusammengeführt. Unstrittig daran ist, dass Bildung bereits heute und in der Zukunft zwei schwerwiegende hinterlassen: Bildung als unser zentrales Angebot zur sozialen Teilhabe greift bei den von sozia- wohl noch stärker die soziale Stellung des oder der Einzelnen, aber auch die Möglichkeiten der Gesellschaft ler Ausgrenzung besonders Betroffenen kaum und der „Green New Deal“ wird von der klassischen Arbeitnehmerschaft insgesamt bestimmen werden. Bildung dürfte auch oder gerade für die Kinder sogenannter „bildungsferner nur in geringem Umfang als ein Projekt zur Zukunftssicherung angenommen. Lösen wir als Grüne diese Probleme, Schichten“ der Schlüssel für künftige soziale Teilhabe sein. Unser Problem besteht hier in der subjektiven haben wir für eine linke Mehrheit in der bundesdeutschen Gesellschaft mehr getan, als es die Mathematik durch die Sicht der „Betroffenen“. Sie nehmen „Bildung“ häufig als Selektionshebel wahr, der sie in die Chancen- Addition von Wahlergebnissen einzelner Parteien zu leisten vermag. losigkeit hinein sortiert hat. Bildung bedeutet für sie infolgedessen das Erlebnis des Scheiterns, des Micha Wendt Nicht-Mithalten-Könnens und der Fremdbestimmung durch andere.

Solange die Betroffenen selbst Bildung nicht als Chance sehen, wird es uns nur schwer gelingen, Bildung zum Schlüssel grüner „Sozial- kompetenz“ zu machen. Der Berliner Landeswahlleiter formulierte dies in seiner Kommentierung des Bundestags-Wahlergebnisses so: „GRÜNE (sind) nicht die Partei der benachteiligten Gebiete“.

Die SPD hat aber nur weniger als die Hälfte ihrer Verluste nach links abgegeben. Ihr Problem besteht eben auch in den Verlusten bei der recht gut qualifizierten Facharbeiterschaft in den klassischen Industrien. Hier war die SPD immer Garant für die Sicherung von Einkommen und Status, allerdings auch immer um den Preis gigan- tischer Finanztransfers und ökologischer Ignoranz, von den Stein- kohlesubventionen aus den 60er Jahren bis zur Abwrackprämie des Jahres 2009. Hier ist ein gesellschaftliches Milieu entstanden, das sich in der Verteidigung der klassischen Industrien gegen den 14 Globalisierungsdruck sieht. 15 Titel © Domo_Fotolia

In Friedrichshain-Kreuzberg ist das Phänomen Grüne als erschärfend kommt hinzu, dass dem politischen derswo Übliche praktiziert. Das zeigen besonders die Be- Grüne als stärkste Partei nicht neu. Bereits seit 2006 sind sie stärks- VHandlungsspielraum auf Bezirksebene durch EU- spiele Bürgerhaushalt und Beteiligung unter dem Stich- te Fraktion im Bezirk und stellen mit dem Bürgermeister Recht, Bundes- und Landesgesetze enge Grenzen ge- wort Stadtentwicklung von unten. innerstädtische und zwei Stadträtinnen die Mehrheit im Rathaus. Diese setzt sind. Außerdem hat die Berliner Finanz-Systematik Regierungsverantwortung führt schon heute zu unge- die Bezirke von den Zuweisungen des Landes abhängig Zur erfolgreichen Bürgerbeteiligung gehört auch die öf- wohnter Inanspruchnahme. Das zeigt beispielsweise der gemacht. Dank des rot-roten Senats sind jedes Jahr we- fentliche Diskussion bei Veranstaltungen oder an Ständen Regierungspartei Konflikt um die Admiralsbrücke. Anders als beim Streit niger Gelder frei verfügbar; die Rahmenbedingungen auf der Straße. Das ermöglicht es den Grünen, die eigene um Atomkraft oder die A 100, stehen hier auf beiden Sei- verschlechtern sich damit drastisch. Die Bezirkspolitik Politik stets durch die Augen der Bevölkerung kritisch zu Die Grünen sind in den Berliner Innenstadtbezirken ten des Konfliktes die klassischen Grünen-WählerInnen. muss sich dafür von der Bevölkerung vor Ort strafen las- hinterfragen. Und wie das Beispiel um die geplante Sanie- inzwischen stärkste Partei, wie die vergangenen Links-alternatives Studi-Milieu vs. alternative junge Fami- sen. Denn es hilft auch die beste Aufteilung des Kuchens rung des Luisenstädtischen Kanals zeigt, muss eine ge- Wahlen zeigten. Doch wie gehen sie erfolgreich lien mit Kindern. Die einen beschweren sich als Anwoh- nichts, wenn der Kuchen nun mal nicht für alle reicht. fällte Entscheidung dann gegebenenfalls auch verändert mit der Gratwanderung zwischen Graswurzelpar- nerInnen über den Lärm, der vom beliebten Party-Treff- werden. tei und Regierungsverantwortung um? punkt an Sommerabenden ausgeht. Die anderen wollen Ein Spannungsfeld aus gestiegenen – sich teilweise sogar sich die einmalige Ausgeh-Location auf der Brücke nicht widersprechenden – Erwartungen der WählerInnen, un- ie wohl bekannteste Bewegung der Stadt ist derzeit uropa- und Bundestagswahl haben gezeigt, dass kaputt machen lassen. Und beide Seiten üben als Lobby- seren politischen Positionen und den engen Rahmenbe- Ddie Initiative „Mediaspree versenken“. Nach ihrem Bündnis 90/Die Grünen in den Innenstadtbezirken Initiativen starken Druck auf die Grünen aus. dingungen, ist die Folge. So ist es im politischen Alltags- erfolgreichen Bürgerentscheid zum Spreeufer ist sie nun Einzwischen stärkste Kraft sind. 46,8 Prozent (+3,5) geschäft besonders wichtig, die Prozesse transparent zu aktiv an der Arbeit im Sonderausschuss beteiligt. Ein gu- der Friedrichshain-KreuzbergerInnen wählten Christian Neben dieser Vielzahl an unterschiedlichen Ansprüchen gestalten und die Bevölkerung an Entscheidungen zu ter Ansatz, um bürgerschaftliches Engagement und Be- Ströbele zum dritten Mal direkt in den Bundestag. Mit 27,4 aus den eigenen Reihen müssen die Grünen darüber beteiligen. Nur so wird verständlich, warum welche Ent- zirkspolitik zusammenzubringen. Erst dies führte zu Ver- Prozent holten die Berliner Grünen im Wahlkreis 84 das hinaus als Regierungspartei in Friedrichshain-Kreuzberg scheidungen sinnvoll sind – und vor allem, welche Rah- ständnis und später zu gemeinsamen Erfolgen. bundesweit beste Zweitstimmen-Ergebnis. Für den Bezirk auch für vernachlässigte Kinder, Obdachlose oder Dro- menbedingungen der Bezirkspolitik Grenzen setzen. Friedrichshain-Kreuzberg (ohne Prenzlauer Berg Ost) er- genabhängige Verantwortung übernehmen, also für reichten die Grünen sogar ein Plus von 5,7 und kamen Menschen, die keine eigene Lobby haben. Das führt, wie Auch aus diesem Grund hat direkte Bürgerbeteiligung in auf 29,2 Prozent. Auch in Mitte lagen die Grünen bei den die Diskussionen um den Druck-Raum am Kottbusser Tor Friedrichshain-Kreuzberg eine lange Tradition und wird Zweitstimmen vorn. zeigt, selbst in tiefgrünen Kiezen zu heftigen Reaktionen. hier weit über das gesetzlich Vorgeschriebene oder an- Antje Kapek

16 17 Titel Thema Piratenpartei

Ein trojanisches Pferd für direkte Demokratie 3,4 Prozent holte die Piratenpartei bei der Bundestagswahl. Grund genug für die Stachligen Argumente im Streitgespräch von Tina Gerts (Landesvorstand Bündnis 90/Die Grünen) und Florian Bischof (Landesvorstand und Spitzenkandidat der Piratenpartei) nach Fehlern der Grünen, Gemeinsamkeiten und strategischer Partnerschaft zu fragen. © Piratenpartei umzugehen und es haben immer Stachlige Argumente: Thema ist hier so wichtig, dass es man sich zu allem äußern muss. Es Möglichkeiten des Informationszeit- gische Gegner oder Partner? Wer noch zu viele Menschen gar keinen Herzlich Willkommen Tina, Florian. einigen schwer erträglich ist, wenn ist nicht wahrscheinlich, dass wir die alters auch bei der innerparteilichen möchte zuerst? Zugang zum Netz. Wir müssen dann Es gibt viele Menschen die behaup- es in einer Partei eben nur eines von absolute Mehrheit bekommen. Wir Demokratie nutzen. Klar, die Grünen auch über fehlende Medienkompe- ten, die Piratenpartei sei „Fleisch vielen ist. Wir Grünen müssen ein haben ein Kernprogramm, das ist sind größer und haben manche – si- Tina: Fang Du mal an! tenz sprechen. Ihr lasst – auch bei vom Fleische der Grünen“. breites Themenspektrum abdecken für uns unverhandelbar. Für andere cher auch schmerzhafte – Erfahrung Fragen der Bildung – die ältere Gene- Was meint ihr dazu? – die Piratenpartei kann sich kon- Themen geben wir Präferenzaus- machen müssen in Sachen Basis- Florian: Ich arbeite gern mit den zentrieren. Wir haben ja festgestellt, sagen ab – sagen aber auch ehrlich, demokratie. Ich halte aber z.B. ein ration völlig aussen vor! Die Rent- Grünen zusammen, die sich mit un- ner haben euch mit Null Prozent Florian: Es ist Aufgabe jeder Gene- dass viele netzpolitische Themen dass wir diese Themen nicht für Delegiertensystem für falsch. seren Themen auseinandersetzen gewählt, das zeigt, dass die ganze ration, die drängendsten Themen von uns und der Piratenpartei gleich so wichtig erachten, dass wir dafür und sehe sie da schon als Partner. Frage ein Generationenanliegen ist. ihrer Zeit in die Politik zu tragen. behandelt werden, dass wir ähnliche unsere Kernanliegen aufgeben wür- Stachlige Argumente: Wobei ich das natürlich nicht auf die Das ist aber ein gesamtgesellschaft- Das war bei der Umweltbewegung Thesen aufstellen und zu gleichen den. So laufen wir nicht Gefahr, die Ihr wollt für die Berliner Wahlen Grünen eingrenzen darf. Unser aller liches Problem. Die digitale Spaltung mit den Grünen vor einigen Jahren Forderungen kommen. Es ist Aus- Glaubwürdigkeit zu verlieren, indem antreten und ein Erfolg – zumindest Ziel sollte sein, dass möglichst viele ist schon heute auch eine Frage von so. Wir sind jetzt in das Informati- druck des Gefühls einer Generation, wir die Menschen enttäuschen. auf Bezirksebene – ist da ja möglich. Politiker unsere Themen endlich Chancengerechtigkeit. onszeitalter gestartet und damit ist die sich im Netz zu Hause fühlt – kein Meinst Du nicht, dass die Menschen ernst nehmen. Ich bin schon stolz es an der Zeit, eine neue politische genuin grüner Fehler. Tina: Wir leben aber nun mal im dann wissen wollen, ob ihr in den auf die kleine Lawine, die wir da aus- Ich kann dich da beruhigen Kraft zu etablieren. „Fleisch vom Parlamentarismus. Wäret ihr in den Senat wollt oder nicht? Florian: gelöst haben. Selbst in der CDU gibt – da arbeiten wir ganz intensiv dran. Fleische der Grünen“ – das kann ich Florian: Das glaube ich im Übrigen Bundestag gekommen – oder schafft es auf einmal bekennende Piraten. Hier liegt auch ein Grund, warum ihr nicht unterschreiben. Sicher gibt es auch nicht. Diese Bündelwahl, es 2011 in Berlin – müsstet ihr euch Florian: Ich sage ganz offen: Viele Wenn auch sicher nicht so viele wie Grünen das nicht so offensiv umset- auch einige frustrierte Grüne, die zu die unser System vorsieht, bringt doch mit allen Themen befassen. Ich kommunalpolitische Fragen lassen bei den Grünen! zen könntet. Wenn eure Basis nicht uns gewechselt sind. Aber unsere Probleme mit sich. Die Welt, in der habe viel Sympatie für eure Posi- sich aus unserem Kernprogramm so internetaffin ist, ist es natürlich Mitglieder und Wähler kommen aus wir leben, wird immer komplexer; tionen in der Netzpolitik und den nicht beantworten. Wir wollen aber Tina: Im Punkto Netzpolitik sind die schwierig entsprechende Instru- ganz unterschiedlichen Lagern – von mehr Themen sind relevant; das Anspruch, das Thema nach vorn zu für eine strukturelle Systemände- Piraten auf jeden Fall Partner. Was mentarien einzusetzen. den Liberalen, von der SPD, von der Rechts-Links-Schema verschwimmt. treiben. Wir jungen Grünen – auch rung eintreten und Entscheidungen für mich entscheidend sein wird ist Linken – und vor allem auch viele Die Menschen haben aber nur bei uns ist das eine Generationen- an die Basis tragen. Eine Art trojani- aber, wie ihr euch in den anderen Gibt es denn bei euch keinen junge Menschen, die noch gar nicht zwei Stimmen und können damit frage – kommen vielleicht langsam sches Pferd für direkte Demokratie. Tina: Themen aufstellt. Im Parlament ist Anspruch, sich auch den Älteren zu politisiert waren. Es ist keine Kan- schlecht gewichten. Wenn man die voran. Ihr versprecht den schnellen Wir wollen einen virtuellen Diskurs- es nun mal so, dass viele Themen öffnen? nibalisierung bei den Grünen – wir Grünen wählt, weiß man eben nicht, Erfolg, seid dafür aber auf den ande- raum schaffen und die Piraten mit zu bearbeiten sind und da muss ich sind eigenständig und bewegen uns ob ihnen im Zweifelsfall der Atom- ren Augen blind. ihrer IT-Kompetenz haben auch die wissen, mit wem ich es zu tun habe. Viele Themen gehen auch nicht nur im grünen Terrain. ausstieg wichtiger ist als der Abbau technischen Möglichkeiten dazu. Im Florian: Ihr könnt euch dann schlecht in ei- ältere Menschen an. Meine Oma ist des Überwachungsstaates. Als Wäh- Florian: Wir sind eine junge Partei. Übrigen sind wir als Piraten natürlich ner Haushaltsdebatte hinstellen und auch „Raubkopiererin“ – wenn sie Stachlige Argumente: ler kann ich das nicht beeinflussen. Wir wollen auch nicht riskieren, auch froh über jeden, der uns dann sagen: „Wartet mal, bis wir das aus- beim Stricken mit geklauten Mus- Es fällt auf, dass die Piraten dort Durch den Erfolg der Piratenpartei unser Programm zu verwässern. nacheifert und stellen Euch die diskutiert haben!“ Ich bin gespannt tern arbeitet. Aber du hast recht: besonders gut abgeschnitten haben, wird unserem Kernthema mehr Uns ist es wichtig, dass wir ein klares Technik gern zur Verfügung. zu beobachten, wir ihr den Prozess Wir müssen diese Fragen auch der wo auch die Grünen stark sind: Gewicht verliehen. Signal setzen für die Netzpolitik und durchlauft, den wir schon durch- älteren Generation zugänglich ma- Friedrichshain, Kreuzberg, Mitte, die Wahrung von Bürgerrechten. Tina: Wir haben da durchaus schon laufen haben: Nämlich wie man chen – und auch sozial schwächeren Prenzlauer Berg. Sicherlich erreich- Stachlige Argumente: Mit einem Vollprogramm hätten wir unsere Erfahrungen. Die Grünen aus einer Bewegung kommend im Menschen! Ich finde es unglaublich, bare WählerInnen. Was haben die Deine These kann man aber auch das nicht geschafft. Für die nächsten waren die erste Partei, die einen Parlamentarismus sich bewegt. Das dass man bei Hartz IV noch immer Grünen falsch gemacht? umdrehen: Die Piraten sind eine Wahlen wollen wir unser Programm virtuellen Parteitag durchgeführt ha- ist dann die Entdeckung der Lang- den Fernseher bezahlt bekommt – „Ein-Punkt-Partei“ und die Men- erweitern – auch für Berlin. Wir ben. Letztendlich sind wir aber auch samkeit und des Kompromisses. aber keinen Internetzugang! Tina: Ich glaube nicht, dass wir un- schen wollen vielleicht auch wissen, wollen ein System schaffen, online auf bedeutende Probleme gestoßen: bedingt etwas falsch gemacht haben. was ihr zum Thema Energie oder zu jedem Thema schnell ein Votum Es ist ein gesamtgesellschaftliches Stachlige Argumente: Ich stimme Florian zu: Die Anliegen Soziale Sicherheit zu sagen habt! abzugeben. Nicht nur alle vier Jahre Problem, dass der digitale Gap grö- Stachlige Argumente: Ich danke Euch für Eure Zeit. der Netzpolitik sind vor allem in der mitzuentscheiden, sondern bei jeder ßer wird. Zu wenig Menschen sind in Sind Grüne und Piraten – etwa im jungen Generation verwurzelt. Das Florian: Zunächst kritisiere ich, dass Einzelentscheidung! Wir wollen die der Lage mit dem Internet souverän Blick auf 2011 – eigentlich strate- Das Interview führte Ronald Wenke

18 19 Titel Thema Internet

Fraktionsvorsitzende Matthias Güld- ner entblödete, die versammelte Netz- community mit einer Polemik auf Neustart im Netz Welt Debatte als hirnlos zu beleidigen, schlus dem Fass den Boden aus. Das jahrelange, mühsame und nicht im- Eine „kritische Masse für grüne Netz- Im Umgang mit den Themen der mer erbauliche Engagement war von politik“ könnte bald erreicht sein: Seit Informationsgesellschaft wurde bei Die Fraktion war auch nicht in der ein paar wenigen Netz-Ignoranten erst kurzem nennt sich die BAG Medien den Grünen langfristig eine Menge Lage, die gravierenden Folgen antizi- einmal zunichte gemacht. „BAG Medien und Netzpolitik“. In richtig gemacht, jedoch nicht mit der pieren. Die Führung wies nicht auf die der Bundestagsfraktion soll es in der gebotenen Intensität. Digital- bzw. Brisanz dieser Abstimmung hin. Bis Denn schon seit den Zeiten der „New kommenden Legislatur eine eigene Netzpolitik war ein Expertenthema. auf eine Person kündigten die Abge- Economy“ hatten sich einige weni- Arbeitsgruppe zu netzpolitischen Weder in der Bundestagsfraktion ordneten ihr parteischädigendes Ab- ge Grüne mit Netzpolitik intensiv Fragen geben, außerdem wurde erst- noch in den zuständigen Gremien stimmungsverhalten nicht vorher an. auseinandergesetzt. Dies mündete mals mit ein wurde dieses Querschnittsthema Zwar wurde ein Fraktionsbeschluss in Beschlüsse wie „Informationsge- netzpolitischer Sprecher benannt. ausreichend berücksichtigt. gefasst, dieser scheint aber weder als sellschaft – greenIT“ und in differen- Viele junge und alte Politiker, die das bindend noch als irgendwie relevant zierte Wahlprogramm-Kapitel. Die Netz selbstverständlich benutzen, Im Jahr 2009 wurde bei der Abstim- angesehen worden zu sein. Noch am Heinrich-Böll-Stiftung hatte ein „Re- sind in den Bundestag und anderswo mung über die Netzsperren von der Tag der Abstimmung hatte ich mit ferat für Neue Medien“, das bis zu in verantwortungsvolle Positionen grünen Bundestagsfraktion ohne Not einem Abgeordnetenbüro massive seiner Auflösung im Jahr 2004 viel gelangt. Das sind hoffnungsvolle Neu- viel Porzellan zerschlagen. Gut ein Streitigkeiten, weil ich mit dem Argu- auf die Beine stellte. Diese Initiati- anfänge. Drittel enthielt sich bei der Frage, ob ment „Es könnte peinlich werden“ die ven waren jedoch weder massen- Webseiten, auf denen sich Kinderpor- Veröffentlichung dieses Beschlusses tauglich, noch betteten es sie grüne Schade ist, dass Grün seine Vorrei- nografie befinden sollte, durch eine in meinem Blog ablehnte. Netzpolitik nachhaltig in das grüne terrolle in der Digital- und Netzpolitik geheime BKA-Sperrliste unzugäng- Gesellschaftsbild ein. Netzpolitik lief erst einmal verloren hat. Kompetenz lich gemacht werden sollten. Tech- Die Quittung bekamen wir netzpo- irgendwie so nebenher, da gab es so in diesem Bereich wird – unabhängig nisch unsinnig: Derartige Sperren las- litisch Engagierten bei den Grünen „Nerds“, die das bearbeiteten, aber ein von der wirklichen Kompetenz – der sen sich mit einigen wenigen Klicks postwendend serviert: Als klar wurde, wirklicher Bezug zu grüner Politik Piratenpartei zugeschrieben. Es ist in den Computer-Einstellungen um- dass sich rund ein Drittel der Fraktion wurde nicht hergestellt. Sache der gesamten Partei zu ent- gehen. Rechtsstaatlich ist das Gesetz enthalten hatte, ergoss sich kübelwei- scheiden, ob sie der Piratenpartei die- äußerst bedenklich, es ist fraglich, se Spott über uns. Die Otto-Kataloge Das hat sich bereits jetzt schon geän- se Vorreiterrolle wieder abjagen will. ob es eine Verfassungsbeschwerde und das Luftsicherheitsgesetz wur- dert. Vielleicht durch den heute nicht Es wäre den Grünen zu wünschen,

überstehen wird. Zudem ist es in fast den uns sofort wieder unter die Nase mehr zu übersehenden Aufstieg der dass ihnen das gelingt. - fotolia © Xbarneyboogles allen Fällen möglich, kinderporno- gerieben. Auf die Grünen sei eben Piratenpartei, vielleicht auch, weil Julia Seeliger grafische Inhalte direkt löschen zu beim Thema bürgerliche Freiheiten sich parallel zur gesellschaftlichen lassen, anstatt sie nur zu sperren. Es doch kein Verlass mehr, hieß es. Entwicklung auch bei den Grünen Julia Seeliger (30) ist Redakteurin bei gab also kein Argument, sich in der das Bewusstsein für die Relevanz des taz online. Vorher war sie zwei Jahre Opposition bei diesem Gesetz zu ent- Als verkürztes, aber doch zutreffen- Netzes für Gesellschaft, Wirtschaft im grünen Parteirat, sowie Schatzmeis- halten. des Argument wurden dabei stets und Politik schärfte. terin der Grünen Jugend. Seit 2004 „die grünen Enthaltungen“ angeführt. befasst sie sich mit den Themen der Dass sich dann auch noch Bremer Informationsgesellschaft.

20 21 Parteileben Thema Gespräch mit Ramona Pop

nachlegen. Rot-Rot hat hier keine zent einsparen: die privaten Haus- Menschen zugehen und nicht in den „Frank Henkel ist kein Ole von Beust“ Ideen und Konzepte. Sie lassen die halte, die öffentlichen Unternehmen, Büros und Geschäftsstellen sitzen- Entmischung der Kieze zu, statt zu die BVG usw. Das ist eine Politik, die bleiben. Im Vergleich zu Rot-Rot Ramona Pop ist neugewählte Fraktionsvorsitzende im Abgeordnetenhaus. fragen, was man tun kann, um die wir anders machen werden – für den können wir mit unserer Dialogpolitik Im Gespräch mit den Stachligen Argumenten spricht sie über grünen Führungsanspruch, soziale Mischung zu erhalten: von Klimaschutz statt für Vattenfall. die Menschen ansprechen. Deren künftige Koalitionen und Flügelstreit in der Fraktion den Familien mit Kindern über die Ein zweites Thema, das Rot-Rot nicht Umgang insbesondere mit der direk- Normal- und Gutverdienenden – die angeht, ist die Frage der energeti- ten Demokratie zeigt, dass sie nicht gehören auch dazu! – bis hin zum schen Sanierung. Momentan haben bereit sind, mit den Menschen dieser Stachlige Argumente: dürfen, muss sich noch zeigen. Hartz-IV-Empfänger. Da müssen wir wir Glück mit den gesunkenen Stadt Politik zu machen, sondern sich Ramona, einen herzlichen Glück- Eines ist klar: Die 17,4 Prozent bei der stärker rein. Energiepreisen. Diese werden aber lieber im roten Rathaus einmauern. wunsch zur Wahl als neue Frakti- Bundestagswahl sind ein großartiges wieder steigen. Dann wird es zu onsvorsitzende. Sprechen wir jetzt Ergebnis, begründen aber noch kei- Wir haben eine gute und breite Auf- einer sozialen Frage, wie wir unse- Stachlige Argumente: eigentlich mit der nächsten Regie- nen Anspruch auf den Posten des/ stellung, wir sind in Berlin ja immer ren Gebäudebestand so sanieren, Was die Volksparteien groß gemacht renden Bürgermeisterin von Berlin? der Regierenden BürgermeisterIn. schon stärker als etwa in einem dass das Geld nicht zum Fenster hat, war die Verankerung in den Das wäre heute eher ein Zeichen von Flächenland. Etwa bei der Frage, wie hinaus verfeuert wird. Und dass die Kiezen und in jedem Kleingärtner- Ramona Pop: Größenwahn. wollen wir grüne Jobs schaffen: Hier Mieten trotz energetischer Sanie- verein, über die Handelskammer bis Ihr sprecht mit der neugewählten können wir dieser Stadt richtig was rung bezahlbar bleiben. Das ist eine zu den Gewerkschaften. Das erlebt Fraktionsvorsitzenden, die sich über Stachlige Argumente: anbieten. Rot-Rot setzt einzig auf den Herausforderung, die genau an der man bei den Grünen weniger. das große Vertrauen der Fraktion Verbunden mit dem Anspruch auf Dienstleistungssektor mit schlech- Schnittstelle zwischen Ökologie und freut und einen guten Job machen den Posten wäre ja auch ein An- ten Arbeitsbedingungen und mieser Gerechtigkeit liegt – und hier sind wir Ramona Pop: will. spruch auf inhaltliche Führung. Sind Bezahlung. Berlin ist für uns nicht gefordert, Antworten zu liefern. Die Was ich aber durchaus sehe, ist eine

© Barbro Dreher © Barbro wir wirklich so breit aufgestellt oder nur Dienstleistungsstadt, sondern Sozialdemokraten können es nicht. gute Verankerung der Grünen in Stachlige Argumente: bleiben wir nicht Projektpartei und muss die Stadt der Green Economy der Stadt, da wo es Initiativen gibt, Ramona Pop Es gibt in der Partei schon die Über- Korrektiv? werden: mit grüner Industrie, mit Stachlige Argumente: wo vor Ort Dinge bewegt werden. legung, ob man nicht 2011 mit einer neuen Technologien, mit Innovation. Mit 20 Prozent – ist man da eigent- Nicht unbedingt als Partei – aber mit oder einem KandidatIn für den Pos- Ramona Pop: Wenn wir bis 2011 als die Reform- lich Volkspartei? Wir haben 4000 grünen Einzelpersonen sind wir ten des Regierenden Bürgermeisters Die Zeiten sind vorbei, wo die werkstatt der Stadt in diese Richtung Mitglieder in Berlin und wir müssen erkennbar und vertreten. Und wir in die Wahl gehen sollte. Grünen nur bei der Umweltpolitik weiterarbeiten, dann habe ich keine mehr Menschen ansprechen. sind angeschlossen an das groß- und wenigen anderen Themen Bange. Dann kommt an uns keiner Wie soll das gelingen? städtische Milieu, also diejenigen, Ramona Pop: als kompetent wahrgenommen mehr vorbei. die für ihre Kinder eine gute Bildung 2011 wird entschieden, wie wir in die wurden. Unser Markenkern ist Ramona Pop: wünschen, aber auch die sozialen Wahl gehen, ob wir eineN eigeneN natürlich die Ökologie. Wir sind aber Stachlige Argumente: Wir sind keine Volkspartei. Volkspar- Konflikte nicht übersehen. Sie erken- KandidatIn aufstellen. Und entschie- inzwischen mit unseren Konzepten Die Themen sind für dich Wirt- teien im klassischen Sinn wird es nen bei uns, dass die Fragen unserer den wird es von einem Parteitag breit aufgestellt: In der Bildungspo- schaft, Soziales, Umwelt? wohl auch nicht mehr geben, dafür Zeit nicht mehr im Gegensatz von und nicht von der frischgewählten litik, aber auch bei der Sozial- und ist die Gesellschaft zu vielfältig und Ökologie und Ökonomie, auch nicht Fraktionsvorsitzenden in den ersten Arbeitsmarktpolitik, sind wir ein Ramona Pop: individualistisch geworden. Wir im Gegensatz von Ökonomie und Arbeitswochen. Wir sehen aber, dass Gegengewicht zu Rot-Rot – mit einem Ja, Klimaschutz und die ökologische sind eine Inhaltepartei und können Gerechtigkeit gelöst werden können. sich das Parteiensystem in Berlin Ansatz, der von einem ermutigen- Erneuerung der Stadt liegen bei Rot- damit viele Menschen ansprechen Sie trauen uns zu, dass wir diese ändert. Wir haben vier mittelgroße den Sozialstaat ausgeht. Rot völlig brach. Klaus Wowereit hat und gewinnen. Wir bieten eine breite Dinge zusammen denken. und eine kleine Partei. Ob es dann mit Vattenfall vereinbart, dass der Politikpalette mit klarer Zukunftsori- eine Selbstverständlichkeit bleibt, Natürlich gibt es auch Felder, wo Großkonzern bis zum Jah 2020 nur entierung. Stachlige Argumente: Die Presse dass zwei Parteien Bürgermeister- wir noch Lücken füllen müssen: 15 Prozent CO2 einsparen muss. Und bezeichnet uns als die „linke, bürger- kandidaten stellen und die anderen In der Frage der sozialen Stadtent- alle anderen sollen die Zeche dafür Und letztlich das gute grüne Cre- liche Partei“. Gehen wir 2011 in eine drei Parteien diese nur wählen wicklungspolitik müssen wir noch zahlen und durchschnittlich 24 Pro- do: Mann und Frau sollen auf die linke oder eine bürgerliche Koalition?

22 23 Parteileben Thema Gespräch mit Ramona Pop

Europawahl 2009:

© nina g - fotolia 14 aus 55

it einem betont pro-europäischen Kurs und dem Europäisches Klima: Die Klimakanzlerin MGreen New Deal als Priorität haben wir Europäi- hat abgedankt! schen Grünen in vielen EU-Ländern unser bisher bestes Ergebnis erreicht. Nicht die Volkspartei, die Sozialisten, Merkel selbst gibt schon lange nicht mehr die „Klimakanz- Liberalen oder Linken haben dazu gewonnen, sondern lerin“. Die Autokanzlerin verhinderte ambitionierte CO2- wir. Dank 12,1 Prozent bundesweit und sagenhaften 23,6 Grenzwerte für PKW. Die Industriekanzlerin erreichte im Prozent in Berlin stellen wir 14 von 55 Abgeordneten der Emissionshandel viel für Eon, RWE und Vattenfall, für die Fraktion Greens/EFA im EP. Dieses Ergebnis fiel nicht Stahl- und Chemieindustrie, aber wenig fürs Klima. Beim vom Himmel, sondern ist Resultat unermüdlicher und EU-Gipfel blockierte ausgerechnet sie eine europäische überzeugender Arbeit. Danke dafür besonders an euch Einigung für den Internationalen Klimafonds. Jüngst ver- Berliner Grüne! glich einer ihrer Unterhändler die Vorverhandlungen mit einem Pokerspiel. Als Spieleinsatz fungiert dabei die Kli- Europa nach dem Drahtseilakt zum mafinanzierung der Entwicklungsländer. Dabei ist dieser Vertrag von Lissabon Fonds die Voraussetzung für ein erfolgreiches Klimaab- Ramona Pop: – wie etwa die Schulreform in der Fraktion unterschiedliche kommen in Kopenhagen. Ab 2020 sollten den Entwick- In den Bundesländern in Hamburg – brauchen wir Gruppen – übrigens mehr als zwei –, Die Iren haben endlich „Ja“ gesagt zum Lissabon-Vertrag. lungsländern nach Schätzung der EU-Kommission 100 gibt es unterschied- einfach eine breitere poli- doch ich erkenne nicht die großen Dem Querulanten in Prag, Präsident Vaclav Klaus, wurde Milliarden Euro jährlich zur Verfügung stehen. Die EU liche Antworten auf tische Mehrheit, als sie nur inhaltlichen Fragen, die uns ausein- die Unterschrift abgerungen. Nun wird der Vertrag zur müsste davon rund 30 Milliarden als Anteil übernehmen, diese Frage. Das hängt durch ein Lager abzusichern ander treiben. Flügel sind sinnvoll, Reform der EU endlich in Kraft treten. Um Europa aus damit Anpassungs- und Klimaschutzmaßnahmen mög- offenbar auch mit den ist. In Berlin ist Frank Henkel wenn sie Diskussionen strukturieren dem Krisen-Feeling herauszubringen, muss aber mehr lich sind. Im Vergleich zum Bankenrettungspaket oder Inhalten und Personen kein Ole von Beust und wird es und inhaltliche Fragen konträr und passieren: An der Spitze brauchen wir neue Köpfe, die zur nutzlosen Abwrackprämie wäre der deutsche Anteil vor Ort zusammen. wohl auch nicht mehr werden. konstruktiv diskutieren. Wenn Flügel pro-europäisch denken. Den Streit um Barroso haben wir daran Kleingeld. Trotzdem bestimmen jetzt neben den Für uns in Berlin ist es Die CDU hat sich in der Opposition sich aber – wie bei der SPD – nur als dank Angela Merkel verloren. Aber auch ohne direkten Pokerstrategen aus Berlin die Kleinkrämer die Verhand- wichtig, Offenheit zu bis heute wenig weiterentwickelt, Personalfindungskommissionen Einfluss bei Personalentscheidungen setzen wir uns als lungen. signalisieren, wenn un- die zaghaften Versuche die es gab, verstehen, dann ist mir das zu mager. Grüne Fraktion für starke Frauen und eine Vertretung der sere Inhalte wie skizziert wurden nicht fortgesetzt. Ich wurde als Fraktionsvorsitzende neuen Mitgliedstaaten ein: Die Irin Mary Robinson, die Let- Das Scheitern der Europäischen Staats- und Regierungs- durchsetzbar sind und für die ganze Fraktion gewählt, darin tin Vaira Vike-Freiberga oder die Finnin Tarja Halonen sind chefs beim EU-Gipfel hat die schlechten Vorzeichen für uns keinen Koalitionen Stachlige Argumente: sehe ich die Verantwortung, auch hervorragende und geeignete Politikerinnen. Merkel, die den UN-Klimagipfel in Kopenhagen verstärkt. In Zeiten zu verwehren. Ich meine Es gibt in der Fraktion ein in der Inhalte und Positionen mitzuneh- ihre Rolle der ersten Kanzlerin gerne annimmt, wimmelt der globalen Krisen um Klima- und Ressourcenknappheit, aber, dass zur Offenheit dazugehört, öffentlichen Wahrnehmung durch- men und zu vertreten, die vielleicht diese Vorschläge aber ab und betont, dass Geschlecht um Finanzmärkte und Wirtschaftssysteme hat sich neues zu wissen, wo man verortet ist. „Wir aus streitbares Verhältnis zwischen nicht immer meine sind. So will ich der Kandidaten spiele keine Rolle. Denken noch immer nicht durchgesetzt. Der Green New sind nicht links, nicht rechts, sondern Linken und Reformern. Wie möch- arbeiten: Gerne kontrovers in der Deal bleibt deshalb für die Grünen im Europäischen Par- vorne“ – das ist ein Bild, das ich nicht test Du als Fraktionsvorsitzende da Sachdiskussion, aber geschlossen Stattdessen schickt sie mit Günther Oettinger einen Mann lament der Grüne Faden unserer Politik. Daher werden teile. Wir sind eine Partei der linken verbindend wirken? in der Vertretung der Dinge, die wir in die Kommission, der mit seiner skandalösen Filbinger- wir in Kopenhagen für ein starkes Abkommen arbeiten Mitte. gemeinsam beschlossen haben. Rede, zweifelhaften Freunden und alkoholseligen Män- und demonstrieren und hoffen, viele von euch aus Berlin Ramona Pop: nerabenden von sich reden macht. Frisch nominiert fällt zu treffen. Es kann auch charmant sein, als Ich bin – so habe ich es wahrge- Stachlige Argumente: dem Loser aus Baden-Württemberg nichts anderes ein Partei der linken Mitte bestimmte nommen – als Ramona Pop gewählt Herzlichen Dank für Deine Zeit! als anzukündigen, den Einfluss der Umweltpolitik in Brüs- Projekte mit den Schwarzen, der worden, mit ihren Kompetenzen sel zu beschneiden. Wer weiter Wirtschaftspolitik gegen CDU, zu machen. Für manche Fragen und Erfahrungen. Es gibt natürlich Das Interview führte Ronald Wenke Umweltinteressen setzt, der gehört nicht nach Brüssel! Rebecca Harms

24 25 Parteileben Thema Neuigkeiten

Neues aus der © André Stephan © André Kommandantur

Gemeinsam durchstarten für ein grünes Berlin Neues aus der © Grüne Jugend Dirschauer Nach dem fulminanten Bundestagswalkampf mit vielen Freiwilligen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, kehrte nur kurz Ruhe in die Landesgeschäftsstelle ein. Die vielen Obwohl unsere Aktiventreffen eine Sommerpause ein- Wahlkämpfenden hatten zuvor eine Atmosphäre stän- legten, hatten wir mit der Vorbereitung des Bundestags- dig in Bewegung geschaffen. Nun stand erst einmal das wahlkampfs viel zu tun. Mit zwei junggrünen Kandidaten ganz banale Aufräumen, die Auswertung und finanzielle in den Bezirken und Brausepulver in den Taschen warben Abwicklung der Kampagne im Vordergrund. Und natür- wir vier Wochen lang für den Atomausstieg, die Legalisie- lich die Koordinierung von Gremiensitzungen, Terminen, rung von Cannabis und kostenlose Bildung für Alle. Der Veranstaltungen. Wahlkampf hat uns tolle Zeiten auf der Straße und viele Neues aus dem neue, junge Mitglieder beschert. Besonders an Schulen Bundes- und Landespolitik bescheren uns immer wieder waren wir mit Infoständen und bei Podiumsdiskussionen © CC_Li_Refugee Abgeordnetenhaus neue Themen. Kaum hat sich der Senat im Angesicht gut vertreten und stampften die anderen Jugendorgani- einer drohenden Niederlage zum Kita-Volksbegehren in sationen mit Material und Argumenten in den Boden. die richtige Richtung bewegt, kommt das Dauerthema Volle Kraft voraus! maschädlichem Kohlendioxid durch Berliner Gebäude "A 100" wieder zum Vorschein. Unsere gute Vernetzung Natürlich blieb auch unsere inhaltliche Arbeit nicht auf deutlich verringern. Eine gute Idee – aber bei der Um- mit Aktiven in den Bezirken, Abgeordnetenhausfraktion der Stelle und wir haben gemeinsam mit den Jusos Berlin Das Wahljahr 2009 geht zu Ende und die teilweise recht setzung hakt es. Zum Beispiel kramt Katrin Lompscher sowie Bürgerinitiativen und Verbänden hat sich bewährt. eine neue SchülerInnenzeitung gegen Rechtsextremis- hohen Wogen sind geglättet. Am Horizont ist schon das einen CO2-Sparvorschlag nach dem anderen aus ihrem Wir haben es geschafft, gemeinsam den Senat vor uns mus herausgegeben. Der neue „Platzverweis“ kann sich nächste Ziel zu erkennen: die Abgeordnetenhauswahl Seesack, nennt aber kein konkretes Einsparziel. Niemand her zu treiben. sehen lassen und wird seit einigen Wochen an Berliner 2011. Der Kurs dorthin muss sorgsam geplant werden – hat ausgerechnet, ob mit diesen Maßnahmen wirklich so Schulen verteilt. Durch unsere große Präsenz auf De- eine der Hauptaufgaben des neuen Fraktionsvorstands. viel CO2 gespart wird, wie nötig, oder ob es die richtigen Doch nach der Wahl ist vor der Wahl – das heißt für uns, monstrationen konnten wir unseren antifaschistischen Seit Oktober sind Ramona Pop und Volker Ratzmann die Stellschrauben sind, an denen gedreht wird. So ist das jetzt gemeinsam die grünen Leitlinien für die Wahl 2011 Anspruch immer besser nach außen präsentieren und neuen Fraktionsvorsitzenden. Zusammen mit ihren Stell- Scheitern des Gesetzes vorprogrammiert. zu entwickeln. Kurz aber intensiv war die Diskussion zur wir werden auch die kommenden Nazi-Aufmärsche zu vertreterInnen Anja Schillhaneck, Felicitas Kubala und Mi- Entwicklung unseres Leitantrages zum Landesparteitag verhindern versuchen. chael Schäfer werden sie Bündnis 90/Die Grünen sicher Wer auf seinem Weg nicht auf Grund laufen will, muss auch am 21. November 2009. Unser Beschluss „Grün bricht auf zum nächsten Wahlsieg lotsen. nach verborgenen Klippen suchen. Deswegen setzen wir – für Berlin“ hat uns zu einem ersten programmatischen Nachdem wir ausführlich über Entwicklungspolitik in ver- uns intensiv mit der deutsch-deutschen Geschichte aus- Einstieg in die Diskussion zu unserem Wahlprogramm schiedenen Aktiventreffen diskutiert haben, beschäftigen Auch die Stammbesetzung der Fraktion hat sich seit der einander – übrigens als einzige Fraktion im Abgeordne- gebracht, und wurde auch in der Presse vielfach zitiert. wir uns nun mit der Wirtschaft. Wir freuen uns auf große Bundestagswahl verändert. ist über die Landes- tenhaus. Mit der zehnteiligen Reihe „Schön war die Zeit...?“ Die rot-rote Regierungskoalition trägt sich ohne Idee und Debatten zu Privatisierungen, Verstaatlichung und den liste in den Bundestag eingezogen – herzlichen Glück- haben wir nicht nur an den Mut der DDR-Widerstands- handwerklich mangelhaft von einer Schlappe zur nächs- Mindestlöhnen. Auf unserer letzten Landesmitglieder- wunsch! Neu an Bord ist Astrid Schneider. Sie hat einen kämpferInnen erinnert, sondern auch an das Unrecht im ten. Wir sind die Alternative - wir wollen und können un- versammlung debattierten und beschlossen wir einen Sitz im Bauausschuss des Abgeordnetenhauses und ver- SED-Staat. Es wurde unter anderem über den Einfluss der sere Stadt sozial, ökologisch und ökonomisch nachhaltig Antrag, der sich für die stärkere Trennung von Staat und tritt dort die grünen Interessen. Stasi auf Westparteien und über Literatur als Kampfmittel verbessern. Anders wirtschaften, sozialer Zusammenhalt, Kirche stark macht und erkannten drei neue Fachforen im Sozialismus diskutiert. Das Motto der Reihe: „Aufklären Bildung, Mobilität, Ökologie - mit diesen Themen werden an. Da Dorothée und Carla den Landesvorstand leider Einer der nächsten Einsätze für die grüne Mannschaft statt verklären“. Das gilt auch für unsere Politik. wir in den Programmprozess einsteigen. vorzeitig verlassen mussten, wählten wir zwei Beisitzerin- ist schon jetzt abzusehen: die Rettung des Klimaschutz- Wir laden Euch alle zum Mitmachen, zum Schreiben und nen nach. Mit Madeleine Richter und Juliana Wimmer ist gesetzes. Bislang ist es vor allem viel Wind um nichts Und nun – volle Kraft voraus! 2011 ist Schluss mit der rot- Diskutieren ein. Berlin hat diesen Aufbruch klar nötig! unser LaVo nun wieder vollzählig. und wenn es nach dem Senat geht, bleibt es auch bei roten Mehrheit! einem nie umgesetzten Lippenbekenntnis ohne Wirkung Ramona Pop & Volker Ratzmann Irma Franke-Dressler & Armin Feistenauer und Meike Berg für Berlin. Das Gesetz soll angeblich den Ausstoß an kli- Fraktionsvorsitzende Landesvorsitzende SprecherInnen der Grünen Jugend Berlin

26 27 Debatte Thema Stadtentwicklung

Stadtentwicklung auf Berlinerisch: Warum auch Einfaches manchmal Luxus ist

erlin ist super, hier ist alles so billig. Und wenn ich rig ist und der Durchschnittsberliner nur 83 Prozent von „Bmal zwei, drei Wochen im Urlaub war, ist danach dem verdient, was der Durchschnittsdeutsche mit nach plötzlich schon wieder alles günstiger geworden.“ So hat Hause bringt. mir vor einigen Jahren meine zum Studieren nach Berlin gezogene Schulfreundin die Vorzüge der Stadt angeprie- Ein besonderes Problem ist, dass Mieten bei Neuvermie- sen. Wenn man die regelmäßig erscheinenden Statistiken tungen frei festgesetzt werden können; ortsübliche Ver- zu den Lebenshaltungskosten in deutschen Großstädten gleichsmieten haben dabei keinen verbindlichen Einfluss. betrachtet, scheint dies sogar zu stimmen. Im Vergleich Gerade in beliebten Gegenden wirkt sich dies aus. Denn zu München, Hamburg und Frankfurt ist Berlin eher geld- die meisten Vermieter wissen um die Attraktivität der beutelschonend – im internationalen Vergleich mit Lon- Wohnlagen und langen kräftig zu. Auch zulässige Miet- don, New York und Tokio sowieso. erhöhungen bei bereits bestehenden Mietverhältnissen können in den „In-Vierteln“ leichter bis zur maximal zu- Doch hat sich in Berlin in den letzten Jahren einiges ver- lässigen Grenze durchgesetzt werden, da die Vermieter ändert. Gerade bei Neuvermietungen sind die Mieten kaum befürchten müssen, dass Ihre Mieter deswegen ziemlich angestiegen. Ein sensibler Punkt: Schließlich gleich in Scharen davonlaufen. Schließlich wollen sie ja in kann man auf abendliche Kneipentouren, Kino oder The- genau dieser Gegend wohnen bleiben. Trotzdem ist der ater zur Not verzichten. Eine Wohnung braucht man aber Anstieg der Mieten kein Problem, das sich auf einzelne in jedem Fall. Außerdem, so der Berliner Mieterverein, ist Stadtteile beschränkt, sagt Reiner Wild vom Berliner Mie- zu beachten, dass das Lohnniveau in Berlin ziemlich nied- terverein. Die Mieten in einfacheren Wohngegenden sind © Nicole Holtz © Nicole

zwar weiterhin günstiger, als zum Beispiel in den Szene- gestrichen und aufgehübscht, statt dass sinnvollerweise vierteln Mitte oder Prenzlauer Berg. Allerdings steigen die gleichzeitig auch noch die Wärmedämmung verbessert Mieten auch dort kräftig an. würde. Wobei ALG II Bezieher vermutlich froh sind um jede Sanierung, die ihnen erspart bleibt. Sie sind dabei Auch wenn der Begriff „Luxussanierung“ immer wieder besonders schnell rauswurfgefährdet, erklärt Reiner Wild. durch die Medien geistert und vor allem von linken Grup- Die Mieten würden dann einfach nicht mehr den Richtlini- pierungen gerne aufgegriffen wird: Der Umbau einfacher en des Jobcenters entsprechen. Wohnungen zu echten Luxusobjekten ist eher selten. Oft reicht schon eine normale Sanierung aus, die innerhalb auswurfgefährdet ist derzeit auch der Wagenplatz des gesetzlichen Rahmens auf die Mieter umgelegt wird, R„Schwarzer Kanal“, der in Mitte ein Gelände bewohnt, damit eine Wohnung für die aktuellen Mieter zu teuer das zu Beginn des nächsten Jahres bebaut werden soll. wird. Nachdem der Schwarze Kanal vor einiger Zeit schon ein- mal ein Gelände räumen musste, kämpfen sie nun wie- Bei all den Sanierungen, die in Berlin durchgeführt wer- der um den Erhalt ihrer Wagenburg, in der übrigens nicht den, nehmen die energetischen Sanierungen leider im- nur gewohnt wird: Von Open-Air Konzerten bis zu kleinen mer noch einen sehr geringen Anteil ein, bedauert Rei- Filmfestivals gibt es ein buntes kulturelles Programm. Ein

© Nicole Holtz © Nicole ner Wild. Gerade Fassaden würden zum Beispiel oft nur Ersatzgelände ist ihnen zwar angeboten worden, aber re-

28 29 Debatte Thema Stadtentwicklung

lativ weit draußen – in Marzahn. Ist es tatsächlich nicht Die Bewohner des Schwarzen Kanals greifen zum Ab- möglich, einen solchen alternativen Lebensstil direkt in schluss ihrer Aktionstage noch auf altbewährte Protest- der Stadt zu führen? Der Schwarze Kanal will dies nicht formen zurück: Mit einem Demonstrationszug mit fast akzeptieren. Um gegen ihre Situation zu protestieren, ver- 600 Unterstützern und einer bunt kostümierten Samba- anstalten die Bewohner Aktionstage mit Workshops, Dis- gruppe ziehen sie durch die Stadt. Vorübergehend wird kussionsrunden und gemeinsamem Brunchen. außerdem ein leerstehendes Schulgebäude besetzt. Das soll deutlich machen, dass es durchaus verfügbare ine ganz andere Aktionsform gegen Umstrukturierun- Grundstücke in der Innenstadt gibt, hoffen die Bewohner. Egen in Großstädten ist das „Guerilla Gardening“. Wobei Schwierigkeiten oder Randale gibt es in dieser Zeit nicht, Studentin Luzie, mit der ich über ihre diesbezüglichen Er- bestätigt auch der Einsatzleiter, der wenige Tage später fahrungen spreche, sofort protestiert: Der Begriff „Gueril- den Abzug aus dem besetzen Gebäude überwacht. la“ klingt für sie zu radikal und zu sehr nach Terrorismus. Und das ist definitiv nicht das, was sie mit ihrer Garten- Trotz der für sie immer noch problematischen Situation arbeit verbindet. Das Phänomen ist nicht unbedingt neu. ziehen die Wagenburg-Bewohner ganz entspannt wieder Laut der Magisterarbeit „Eine Bestandsaufnahme zum ab und machen sich unter lauter Musikbegleitung mit globalen Phänomen Guerilla Gardening“ von Julia Jahn- einigen ihrer Wagen auf zum nächsten Gesprächster- ke – selbst aktive Guerilla Gardenerin – wurde der Begriff min mit dem Liegenschaftsfonds. Dort scheint tatsäch- bereits in den 70er Jahren in New York das erste Mal ver- lich noch Bewegung in die Angelegenheit zu kommen. wendet, als Anwohner dort begannen, heruntergekom- Plötzlich ist von sechs verschiedenen Grundstücken die mene Viertel durch Pflanzen zu verschönern. Rede, welche in Frage kommen könnten. Noch ist nichts sicher, „man werde prüfen“, so eine Sprecherin des Lie- Derzeit ist es wieder sehr aktuell. Der Begriff „Guerilla Gar- genschaftsfonds, aber immerhin eine Hoffnung. dening“ umfasst dabei die unterschiedlichsten Aktionen: Teilweise werden sie wirklich im Dunkel der Nacht ausge- n ihrer ersten Gartensaison hat Luzie hauptsächlich Ge- führt, von einer kleinen Gruppe, die sich verabredetet hat, Imüse angebaut. Was äußerst lecker geschmeckt hat. um heimlich, still und leise Grünflächen auf Kreuzungen Der Müll und die Heroinspritzen haben sie dann trotzdem oder an Straßenrändern zu verschönern. Zum Teil wer- umdenken lassen, denn mit einem Mal wurde ihr klar, den auch sogenannte „Seedbombs“ eingesetzt – kleine dass der Boden womöglich Schadstoffe enthalten könn- © solylunafamilia Beutel mit einer Erde-Samen-Mischung, die aus dem Auto te, die von den Pflanzen mit aufgenommen werden. Im oder aus fahrenden Zügen auf brach liegende Flächen nächsten Jahr soll es daher erst mal nur Blumen geben. Guerilla Gardening in den Straßen geworfen werden. Gemüse wäre eher geeignet, wenn man das Gelände wirklich längerfristig haben könnte, vielleicht mit einem Alles das ist nichts für Luzie. Sie hatte einfach Lust zum Zwischenmietvertrag, meint Luzie. Dann würde es sich ein großes Schild, das es als Teil des Mediaspree-Projekts Beim Schwarzen Kanal ist einige Tage später von den Gärtnern, aber leider ein schmales Studentenbudget, das auch lohnen, den Boden entsprechend aufzubereiten. So kennzeichnete. Was daraus geworden ist, weiß sie nicht, sechs potenziellen Grundstücken nur noch eines im Ge- einen regulären Schrebergarten bereits zu einem Luxus- wie es im Moment ist, weiß sie ja noch nicht einmal, ob sie nur dass das Schild irgendwann verschwunden war. Dass spräch. Die Bewohner zeigen sich trotzdem zuversichtlich: gut macht. Die riesige Brachfläche bei ihr um die Ecke war im nächsten Frühjahr überhaupt noch mal in den Garten ihr kleiner Garten es nicht schaffen wird, ein Projekt wie „Einen Schritt weiter“, betiteln sie die Pressemitteilung, die dagegen viel preiswerter verfügbar – nämlich gänzlich kommt. Mediaspree zu stoppen, ist ihr durchaus klar. „Die Immo- sie auf Ihrer Homepage veröffentlichen und hoffen, dass kostenfrei. Also fing sie im Frühjahr an, eine Ecke davon zu bilienfirma hat schließlich legalerweise einen Anspruch man sich noch rechtzeitig einig wird, während der offiziel- beackern. Nicht heimlich, sondern frei und offen hat sie mit Obwohl sie sich gegen den Guerilla-Begriff wehrt, ihr auf das Gelände“, sagt sie und fährt fort: „Trotzdem finde le Räumungstermin Ende Dezember immer näher rückt. einigen Freunden und Bekannten gepflanzt, umgegraben Gärtnern ist für Luzie schon ein bisschen Protest gegen ich, macht das Sinn.“ Durch das Gärtnern würde schließ- und gegossen. Was sich als gar nicht so leicht herausgestellt den Neubau von zu glatten und langweiligen Bürokom- lich was Schönes geschaffen, an dem sich auch andere hat: Der Boden war sehr steinig und regelmäßig mussten plexen und den Anstieg der Mieten, durch die sie eine Leute erfreuen könnten. Und man könnte ja versuchen, sie Müll wegräumen, der auf dem Gelände entsorgt wurde. Verdrängung der alteingessenenen Leute fürchtet. Auch Nachbarn mit ins Boot zu holen und daraus ein richtiges Sogar Heroinspritzen waren immer mal wieder dabei. an dem Gelände von Luzies Garten stand bereits einmal soziales Projekt machen. Nicole Holtz

30 31 Debatte Thema Wohnen

Wohnen in der Berliner Mischung

Alle drei Initiativen sind von Rot-Rot wird die Berliner Debatte leider oft noch belächelt. Des- Wohnungspolitik in Berlin ist spannend: Vom abgelehnt worden. Und das, ob- halb liegt ein Schwergewicht in der Landespolitik. Wir set- Mietrecht über Kommunalwohnungen bis Wa- wohl ähnliche Forderungen ge- zen auf die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften. genburg. Die Mieten in Berlin sind niedriger rade auch von SPD- und Linke- als in anderen Großstädten. Das Problem: Politikern in Berlin mehrfach Sie müssen drei Zielen dienen: Einer sozialen Woh- Die Einkommen sind vergleichsweise noch erhoben wurden. nungspolitik, einer vorbildlichen energetischen Gebäu- geringer. Je nach Berechnungsmethode er- desanierung und einer wirtschaftlichen Arbeitsweise geben sich Mietbelastungsquoten bis zu 40 als kommunale Gesellschaften. Durch Verkäufe ganzer Prozent Bruttomiete in Relation zum Haus- Unternehmen – zuletzt 2004 unter Rot-Rot die GSW mit haltsnettoeinkommen. 65 000 Wohnungen – sind die verbliebenen Bestände der landeseigenen Gesellschaften territorial ungünstig Wir wollen nicht, dass man Armut an der verteilt. Wir wollen, dass sie ihre Bestände in den Berei- Postleitzahl ablesen kann. Wer soziale Se- chen der Stadt erweitern, wo die Mieten zu stark angestie- gregation begrenzen will, muss die weniger gen sind. Dafür könnten Wohnungen in anderen Stadt- begehrten Gebiete der Stadt so attraktiv ma- teilen abgegeben werden. An die Mieter direkt oder an chen, dass dort ärmere und reichere Men- Genossenschaften. schen heimisch werden können. Daneben gilt es, Bewohnern mit wenig Einkommen die Ein besonders leidiges Thema in Berlin sind die ca. Chance zu geben, trotzdem in ihrem Quartier 170 000 Sozialwohnungen. Das alte Westberliner Förder- zu bleiben und ggf. auch mal die Wohnung zu modell hat versagt. Milliarden an öffentlichen Mitteln sind wechseln. Um das zu erreichen müssen wir an Eigentümer geflossen. Trotzdem sind die Wohnungen auf allen Ebenen aktiv werden. Auf der Bundes- teurer als der freie Markt, im Durchschnitt 5,34 gegen- ebene, um das Mietrecht zu verbessern. Dazu über 4,83 Euro pro m² nettokalt. Unser Drängen hat den haben wir im Abgeordnetenhaus drei Anträge Senat veranlasst, jetzt Vorschläge für eine Beendigung gestellt, die Bundesratsinitiativen zum Ziel ha- der Förderung der rund 170 000 Sozialwohnungen zu ben: machen. Den Ausstieg wollen wir dafür nutzen, durch die Parallel dis- landeseigenen Gesellschaften einen Teil der Wohnungen 1. Wir wollen die enormen Mietsteigerungen kutieren wir in der Bundesar- zu übernehmen. Ob das gelingt ist Verhandlungssache. bei Neuvermietungen begrenzen. Auch solche beitsgemeinschaft Bauen, Woh- Verträge sollen sich endlich an der ortsüblichen nen, Planen ein gemeinsames Aber nicht jeder will zur Miete leben. Ob Baugruppe oder Vergleichsmiete ausrichten und diese um höchstens nach der Wohnwertverbesserungen mit Vorgehen der Bundestagsfrak- Wagenburg – selbstbestimmtes Wohnen braucht Räume. 15 Prozent überschreiten dürfen. Heute liegen die Auf- 11 Prozent der Kosten auf die Jahresmie- tion und der Länder. Ob aus Wir wollen den Berliner Liegenschaftsfonds so ausrich- schläge in manchen Stadtteilen bei 50 Prozent. te umgelegt werden können, auf solche der Opposition im Bund ten, dass nicht mehr der maximale Erlös, sondern die Maßnahmen konzentrieren, die im Sinne heraus tatsächlich Verbes- Stadtentwicklung Priorität hat. Ein definierter Anteil der 2. Die Kappungsgrenze für die dreijährlich möglichen der aktuellen Energiegesetzgebung zur serungen gelingen, hängt Grundstücke soll als Gestaltungsvermögen dienen. Das

Erhöhungen – 20 Prozent Aufschlag bis maximal zur Einsparung von Primärenergie dienen. © Neubauwelt von der gesellschaftlichen gilt besonders für Wohnprojekte – und zwar nicht nur in ortsüblichen Vergleichsmiete – wollen wir auf höchs- Dafür haben wir das Modell der Klima- Debatte und der Situation in Mitte, sondern in der ganzen Stadt. tens 15 Prozent weiter absenken. schutzumlage anderen Großstädten erarbei- ab. Von München 3. Außerdem wollen wir die Modernisierungsumlage, tet. oder Stuttgart aus Andreas Otto

32 33 Debatte Thema S-Bahn

S-Bahn ausquetschen, Fahrgäste einquetschen? Nicht mit uns!

Drei Mal hat die S-Bahn 2009 ihre Fahrgäste über verantwortlichen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt schon. einen längeren Zeitraum verprellt. Mittlerweile nähern Wenn ein erneutes S-Bahn-Chaos verhindert werden soll, sich Takt und Länge der Züge wieder dem Zustand an, geht kein Weg an einer Neuausschreibung des S-Bahn- der einer Hauptstadt würdig ist, und die S-Bahn hat verkehrs vorbei. Im Moment hat der Senat zum Beispiel InhaberInnen von Zeitkarten-Abos für den Dezember keine Möglichkeit, die Zuwendungen an die S-Bahn zu entschädigt. Also Schwamm drüber? Nicht mit uns! kürzen, wenn sie statt kompletten Zügen nur halbe oder S-Bahnvertrag und Bahnkurs müssen sich grundlegend Viertelzüge einsetzt, die natürlich deutlich weniger Fahr- ändern, sonst ist das nächste Chaos vorprogrammiert, gäste transportieren können. Selbst bei gravierenden meint Claudia Hämmerling. Sie ist verkehrspolitische Mängeln bei Pünktlichkeit und Qualität, die übrigens von Sprecherin der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen im der Bahn selbst ermittelt werden, können maximal fünf Abgeordnetenhaus. Prozent der Zuwendungen gekürzt werden. Das ist nicht nur Steuerverschwendung, sondern ein Verstoß gegen Die drei Totalausfälle der S-Bahn haben nicht nur wert- das Europäische Beihilferecht. volle Lebenszeit der Fahrgäste auf zugigen Bahnhöfen und in verstopften Zügen verschwendet, sondern auch S-Bahnvertrag verstößt möglicherweise gegen EU-Recht täglich einen wirtschaftlichen Schaden von etwa zwei Mil- Stuttmann © Klaus lionen Euro verursacht. Außerdem hat die S-Bahn sehen- Im Beihilferecht ebenfalls festgelegt: Finanzielle Verlus- den Auges die Sicherheit der Berlinerinnen und Berliner te, die bei der Personenbeförderung entstehen, dürfen aufs Spiel gesetzt und dem Image der Hauptstadt nach- durch öffentliche Zuwendungen an ein Verkehrsunter- sondern hat auch eine Gesetzeslücke aufgedeckt: Es gibt konzern macht, was ihm lukrativ erscheint. Das Privatisie- haltig geschadet. nehmen höchstens ausgeglichen, nicht aber überkom- keine unabhängigen Sicherheitskontrollen bei Bahnunter- rungsziel muss endgültig vom Tisch. Mit Steuergeldern pensiert werden. Genau das ist bei der S-Bahn aber der nehmen – im Unterschied zu anderen technischen Anla- darf kein international agierendes Logistikunternehmen In den Chefetagen von DB und S-Bahn ermittelt man Fall. Sie hat im letzten Jahr 230 Millionen Euro an Zuwen- gen wie Autos, Karussells oder Feuerlöschern. Bei Zügen aufgebaut werden, sondern sie sollen dafür eingesetzt aber im Schneckentempo, statt Konsequenzen zu ziehen. dungen erhalten und davon 56 Millionen Euro als Gewinn sind Hersteller und die Unternehmen selbst für die Sicher- werden, dass hier im Land die Mobilität auf Schienen als Kein Wunder, wenn dieselben Manager das S-Bahnchaos an den Mutterkonzern Deutsche Bahn abgeführt. Für das heit verantwortlich. Daseinsvorsorge zu sichern. Gleiches gilt für die S-Bahn. aufklären sollen, die für den harten Sparkurs bei Personal, kommende Jahr hatte die Deutsche Bahn sogar geplant, Deshalb sollte der Senat endlich die Ausschreibung des Material und Wartungskapazitäten verantwortlich sind. 125 Millionen Euro von der Berliner S-Bahn abzuziehen. Wettbewerb darf nicht auf Kosten der Sicherheit gehen! S-Bahnvertrages vorbereiten. Das ist aufgrund der im De- Ziel des Sparkurses: gute Bilanzen für den geplanten Bör- Das wären mehr als die Hälfte der Zuwendungen. zember in Kraft tretenden Dienstleistungsrichtlinie unaus- sengang der Deutschen Bahn. Das kann nicht klappen. Das hat funktioniert, so lange die Infrastruktur in staatli- weichlich. Genauso gut könnte man Erich Mielke die Aufklärung Deshalb hat die Grüne Abgeordnetenhaus-Fraktion bei cher Hand war und mit ihr kein Geld verdient wurde. Unter Claudia Hämmerling über die Stasimachenschaften übertragen. der Europäischen Kommission eine Beihilfebeschwerde Wettbewerb mit Kostendruck klappt das nicht mehr. We- eingereicht. Die EU-Kommission hat schon mit der Über- gen dieser Kontrolllücke konnte die S-Bahn jahrelang auf Für einen besseren und sichereren Strafanzeige gegen Bahnverantwortliche prüfung des Vertrags begonnen. Damit wird die schwache Verschleiß fahren, ohne dass jemand die defekten Brem- S-Bahnverkehr brauchen wir Verhandlungsposition des Senats gegenüber der S-Bahn sen und Räder gemeldet hat. Die Sicherheit der Fahrgäste DB-Chef Grube und S-Bahnaufsichtsrat Homburg üb- gestärkt, denn es ist zu erwarten, dass der schlechte S- darf aber nicht dem Zufall überlassen werden. Deswegen ten sich im November in brutalstmöglicher Aufklärung Bahnvertrag, an dem Rot-Rot so hilflos festhält, für nichtig brauchen wir eine unabhängigen Prüfinstanz für Bahnen, – einen neuen S-Bahnvertrag, nach dem die Verkehrs- in einem Gespräch mit den verkehrspolitischen Spre- erklärt wird. Dann ist der Weg frei für einen neuen Ver- eine Art Bahn-TÜV. Es ist höchste Zeit, dass sich der Senat leistungen klar definiert und abgerechnet werden können, cherInnen des Abgeordnetenhauses. Sie behaupteten trag. Ein schöner Nebeneffekt: Die S-Bahn müsste dann gegenüber der Bundesregierung für eine entsprechende – eine schnellstmögliche Ausschreibung des wortreich, das Eisenbahnbundesamt und die Hersteller die rechtswidrig erhaltenen Beihilfe-Millionen an das Land gesetzliche Regelung stark macht. S-Bahnvertrags, seien für das S-Bahn-Desaster verantwortlich. Profitgier Berlin zurückzahlen. – eine unabhängige Kontrollinstanz für und Börsengang schlossen die Manager als Ursache für Generell ist bundespolitisch ein hartes Kontrollmanage- Eisenbahnunternehmen und das Desaster aus. Echte Aufklärung geht anders. Deshalb Die S-Bahnmisere hat nicht nur zu Tage gebracht, wie ment der Bahn unumgänglich. Die Infrastruktur darf nicht – einen Verzicht auf den Börsengang der Deutschen Bahn. gibt es auch von uns eine Strafanzeige gegen die Bahn- schlecht der Senat den S-Bahnvertrag ausgehandelt hat, länger vergammeln, weil ein verrückt gewordener Staats-

34 35 Debatte Thema SPD

* © Neubauwelt sPDeinen sinnvollen Umgang damit zu finden. Dazu gehört, die Sozialdemokratie?/ den Erwartungen ihrer WählerInnen innerparteiliche Diskussion zu gestalten! und sie einem Was hat dich bloß so ehrlich die politischen Fehlentscheidungen zu benennen, und Mitglieder widersprochen und gegen ihre ureigene Kompromiss zuzuführen, hinter dem sich weite Teile der die auch in der rot-grünen Ära getroffen wurden. Für die Klientel Politik gemacht. Große Teile der WählerInnen so- Partei versammeln können. Hier stellt sich die Frage nach ruiniert? – Zur Krise Sozialdemokratie sind die verheerendsten ganz sicher im wie der Parteimitglieder haben diesen Kurs nicht mittra- den Strukturen der Partei, die bestimmte Meinungs- und Bereich Arbeit und Soziales zu suchen. gen können und der SPD den Rücken gekehrt. Hier stellt Willensbildungsprozesse nach sich ziehen oder auch ver- der SPD und ihrer sich die Frage, wie sozialdemokratische Politik aussehen hindern. Hinter den Arbeitsmarktreformen stand ein Menschen- muss, um gesellschaftlichen Aufstieg in Kombination mit Bewältigung bild, das nicht als sozialdemokratisch bezeichnet wer- sozialer Sicherheit im 21. Jahrhundert zu organisieren. chlussendlich muss ebenfalls darüber nachgedacht den kann. Arbeitslosen Menschen wurde die individuelle Swerden, mit welchen PartnerInnen sozial gerechte Po- Schuld an ihrer Situation zugewiesen, anstatt die struktu- m Wahlkampf wurde deutlich, dass die Menschen zwar litik durchgesetzt werden kann. Die Dämonisierung der Seit der historischen Wahlniederlage vom 27. Septem- relle Dimension von zu wenigen Arbeitsplätzen und einer Idas sozialdemokratische Wahlprogramm begrüßten, Linkspartei war in der politischen Auseinandersetzung ber beschäftigt SozialdemokratInnen auf allen Ebenen unausgewogenen Verteilung von Arbeitszeit zu diskutie- jedoch jedes Vertrauen in die handelnden Spitzenpoliti- kontraproduktiv. Schon im Umgang mit den Grünen in und in allen Gliederungen der Partei die Frage nach ren. Fortan wurden diejenigen, die auf gesellschaftliche kerInnen der SPD verloren hatten, dieses Programm tat- den 80er Jahren hat sich die Politik des Ignorierens und den Gründen und dem richtigen Umgang mit dieser Solidarität und Unterstützung angewiesen waren, auch sächlich umzusetzen. Ein unüberbrückbares Glaubwür- Diffamierens als nicht zielführend erwiesen. Seit der Ent- schallenden Ohrfeige. von führenden SozialdemokratInnen als Sozialschmarot- digkeitsproblem zwischen Personal und Programmatik scheidung für eine Jamaika-Koalition im Saarland ist klar, zer diffamiert. Sie sollten durch Androhung von Sankti- tat sich auf. Nun wird auf dem Parteitag in Dresden eine dass die Grünen keine selbstverständlichen PartnerInnen ie Bilanz der vergangenen Jahre fällt dramatisch onen im ALG II dazu gezwungen werden, jede „zumut- neue Parteiführung gewählt, die zumindest das Potenzi- mehr für die SPD und eine linke Mehrheit darstellen. Hier aus. Innerhalb von zwanzig Jahren hat sich die bare“ Beschäftigung anzunehmen. Der Niedriglohnsektor al hat, dieses Defizit zu beseitigen. Sie steht jedoch vor wird zu klären sein, wie sich die Grünen weiter entwickeln DMitgliederzahl der SPD halbiert; ebenfalls halbiert sowie Leiharbeit wurden massiv ausgeweitet, ohne einen der Herkulesaufgabe, eine systematische Aufarbeitung und inwieweit sie für eine rot-rot-grüne Koalition auf Bun- hat sich die Zahl der WählerInnenstimmen allerdings in gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, der das Schlimms- zu Fragen des Inhalts, der Strukturen sowie der Strategie desebene zur Verfügung stehen werden. nur elf Jahren. Darüber hinaus konnte sich eine bundes- te hätte verhindern können. zu organisieren. Denn eine kritische innerparteiliche De- weit agierende Partei links der SPD etablieren. batte – insbesondere zu den Arbeitsmarktreformen der Ähnliches gilt für die weitere Entwicklung der Linkspartei. Darüber hinaus wurde mit der Verkürzung der Bezugs- Schröder-Regierung – ist bislang systematisch verhindert Insgesamt muss es Ziel der SPD sein, der schwarz-gelben Eine selbstkritische Reflexion der Politik der vergange- dauer des Arbeitslosengeldes (heute ALG I) auf die so- worden. Regierung zum nächsten Bundestagswahlkampf eine nen Jahre ist für eine sinnvolle Neuausrichtung der SPD genannte Mitte der Gesellschaft zunehmend Druck auf- glaubwürdige Alternative entgegenzustellen. Dies kann unerlässlich. Hierbei wird im nun angestoßenen Aufar- gebaut. Das kleine Einfamilienhäuschen war auch nach Aus Sicht der Regierungsmitglieder war dies verständ- nur gemeinsam mit den hierfür relevanten parlamenta- beitungsprozess die Trias aus Inhalt, Struktur und Stra- jahrzehntelanger Erwerbstätigkeit damit eben nicht mehr lich. Für die Partei hat sich diese Debattenkultur jedoch rischen aber auch außerparlamentarischen Bündnispart- tegie zu beleuchten sein. Keine leichte Aufgabe für eine sicher. als fatal erwiesen. Besteht der Anspruch Volkspartei – und nerInnen gelingen. Um dies zu gewährleisten, ist eine Partei, die noch heute unter der Verwundung durch die damit auch Mitgliederpartei – zu sein, kann es kein „Wei- strategische Neuorientierung der SPD unumgänglich. Agenda 2010 leidet. Das Dogma der Unantastbarkeit des Diese Politik ebnete die Wege für den gesellschaftlichen ter so“ geben. Eine vitale SPD lebt von der Kontroverse, Goldenen Agenda-Kalbs muss überwunden werden, um Abstieg, nicht jedoch die Wege für den Aufstieg. Damit hat dem Widerstreit der Flügel. Die Kunst besteht darin, die Anne Knauf Landesvorsitzende der Jusos in Berlin

36 37 Menschen und Zeiten

Der Wahlkampf in Bildern © Christian Könneke

Mehr als 10.000 grüne Plakate in Berlin - hier zwei davon © Christian Könneke © Christian Könneke

Wahlkampfauftakt im ehrwürdigen Pfefferberg Auftaktdemo zur Bundestagswahl: Mit der Tram von Steglitz bis zum Alex!

Mit WUMS ging es nach Europa. 23,6 Prozent in Berlin waren der Lohn

Wahlkampfabschluss auf dem Winterfeldplatz © Christian Könneke © Christian Könneke

© Christian Könneke 3-Tage-Wach im Endspurt

38 39 Kopf des Quartals Glosse

Hört auf zu Heulen! Es wird nicht alles schlecht im Kapitalismus Glosse von Dennis Parchernegg - Guido Westerwelle Herzensgrüner, der aber kein Parteiamt anstrebt und deshalb holzen darf, wie er will.

Guido Westerwelle wird am 27. Dezember 48 Jahre alt und ist er den führenden Köpfen einer/unserer Partei vor der Wahl zu lange zuhört, gerät in im dritten Anlauf in diesem Jahr endlich Bundesaußenminister Wdie Gefahr, die Sachen, die behauptet, unterstellt und für möglich gehalten werden, und Vizekanzler in einer schwarz-gelben Koalition geworden. allen Ernstes und wirklich zu glauben. Verteufelung, absichtliches Missverstehen und grob vereinfachte Darstellung der politischen Ziele des Gegners gehören anscheinend zum Er hat es mit allen Methoden probiert, 2002 im Guidomobil und guten Ton. Leider machen auch die Grünen davor nicht halt. auf 18%-Sohlen, 2005 mit Merkel und schwarz-gelben Projekt im Cabrio, und nun mit Freiheit, Leistung, Steuersenkung. Das mag daran liegen, dass Wahlen letztendlich von den Doofen entschieden werden. Da Ein Lebenstraum ging damit für den Rechtsanwalt in wird mit Negalativen um sich geworfen, dass es nur so kracht: Regierungserklärungen Erfüllung, und die BILD vergleicht ihn am 21.11. gleich mal werden reflexartig als „Bankrotterklärungen“ tituliert, Abbau und Umbau werden zu „Raub- mit Obama: „Ihre Begeisterung für eine neue, bessere Welt bau“. Und selbst die ach so bürgernahe Formulierung des „seine Hausaufgaben machens“, die die Intelligenz des Zuhörers ungefähr auf dem Niveau eines 13-Jährigen verortet, wird klingt vielleicht manchmal ein bisschen schwärmerisch. an ergrauten Haaren aus der Mottenkiste des Politsprechs gezogen und in die Mikrofo- Aber sie stehen für einen neuen weltweiten Geist ne der Journaille gehe(u)chelt. Auf Parteitagen mag solch hysterisches Gekreische gut in der Politik.“ ankommen. Außenstehende widert es nur an.

Westerwelle ist mit Blick auf den Langen Eu- Was dabei nämlich auf der Strecke bleibt sind Differenziertheit, gesunder Menschen- gen in der Umgebung von Bonn groß geworden, verstand und nicht zuletzt die Authentizität – die Kohärenz zwischen „Äußerung und im Jahr seines Abiturs 1980 der FDP beigetreten Innerung“, wie Friedemann Schulz von Thun es in seinem Klassiker „Miteinander Reden“ und hat auch umgehend die Julis mitgegründet. Drei so treffend formulierte. Jahre später wurde er Bundesvorsitzender der Julis und schrieb dann 1994 nach seinem Jurastudium in Nein, ich habe weder CDU noch FDP gewählt. Und ich freue mich auch nicht über die neue Regierung. Aber ich bin nicht der Meinung, dass Westerwelles Englisch ihn für irgend- Bonn seine Dissertation über das Parteienrecht und die was disqualifiziert außer als Englischlehrer, dass Schäubles wegen der Spendenaffäre kein politischen Jugendorganisationen. Im gleichen Jahr Finanzminister sein darf, dass ein Stufentarif in der Steuer automatisch unsozial ist oder wird er Generalsekretär der FDP, 1996 rückt er in den dass eine Kopfpauschale im Gesundheitswesen nicht auch gerecht gestaltet werden kann. Bundestag nach. 2001 wird er Parteivorsitzender und 2006 auch Fraktionsvorsitzender. Guido Westerwelle Ich bin beruhigt, dass die Konsolidierung durch die Schuldenbremse in die Verantwortung ist ein vielbeschäftigter und fleißiger Mann, der in der ver- von Schwarz-Gelb fällt, froh, dass das Bahnmonopol für Fernreisen gestrichen wird, ge- gangenen Legislaturperiode 35 Vorträge für je mindestens 7000 spannt, ob mehr Wettbewerb zwischen den Krankenkassen Einsparungen bringt. Ich finde Euro hielt und in drei Beiräten und einem Aufsichtsrat saß. es richtig, dass die Förderung von Photovoltaik gestutzt, bin neugierig, wie die Steuerent- lastungen gegenfinanziert wird, wie mehr Wettbewerb auf der Schiene sich auf die Preise Westerwelle ist ein streitbarer Geist, der Morgenpost sagte er auswirkt oder ob die Ausgaben für Bildung und Forschung tatsächlich steigen. "Mindestlohn ist DDR pur ohne Mauer, und bei Anne Will "Ich habe Ich wünsche mir von uns Grünen, dass wir die Regierung kritisch begleiten, nicht bei jedem nicht für die deutsche Einheit gekämpft, damit heute Kommunisten Fliegenfurz Zeter und Mordio rufen, alle unserer Forderungen im Geiste gegenfinanzieren und Sozialisten was zu sagen haben!". Der BAMS sagte er, dass er in und bei der Einhaltung der Schuldenbremse nicht nur die Sparvorschläge kritisieren, son- einer „Villa Kunterbunt“ groß geworden sei und „auch persönlich dern sagen, wo wir statt dessen gespart hätten. in meinem privaten Umfeld Chaos und Unordnung nicht so gut vertragen“ könne. In seinem Facebook-Profil gibt er Und letztendlich, dass wir frei heraus und ehrlich sagen, wenn wir eine Entscheidung der Pipi Langstrumpf als sein Lieblingsbuch an. Regierung gut finden. Das ist nämlich auch ein erheblicher Teil politischer Glaubwürdigkeit. Und wenn uns dabei ein Zacken aus der Krone fällt? Egal, wir leben schließlich in einer Katrin Langenbein Demokratie.

41 Menschen und Zeiten

Wir trauern um Barbara Oesterheld

Unbestechlich, Kreuzberg, grün

Unbestechlich, Kreuzberg, grün – so stand es auf einem ihrer Wahlplakate und so war Barbara Oesterheld tatsächlich. Es mag abgedroschen klingen, aber Barbara machte Politik, um für mehr Gerechtigkeit zu sorgen. In Kreuzberg, in Berlin und in der Welt. Die große Politshow war ihre Sache nicht. „Ich versuche, durch Inhalte zu überzeugen, nicht durch Spek- takel“, hat sie einmal gesagt. Mit dieser Haltung wurde Barbara dreimal direkt ins Abgeordnetenhaus gewählt, sie war die erste direkt gewählte grüne Abgeordnete bundesweit. Wir trauern um Annette Schwarzenau Dass ihr das gelingen konnte, lag auch an ihrer ganz besonderen Verbundenheit mit ihrem Bezirk, mit Kreuzberg. Hätte man Barbara Oesterheld als gebürtige Berlinerin bezeichnet, sie hätte mit einem Lächeln widersprochen. Sie war durch Am 3. November ist Annette Schwarzenau im Alter von 66 Jahren gestorben. „Ich bin dann mal weg“, schrieb sie in ihrer und durch Kreuzbergerin, in Kreuzberg geboren und bis zu ihrem Tod dort zu Hause. Die Soziologin liebte die Kreuzber- selbst verfassten Todesanzeige. Und tröstet uns mit der Botschaft: „Ich habe soviel gelebt und erlebt, dass für mich das ger Mischung, die Offenheit und Toleranz, die durch den Zuzug von MigrantInnen, von „westdeutschen“ Wehrdienstleis- Sterben keine Katastrophe ist.“ tenden, von Studierenden, von Lesben, Schwulen und KünstlerInnen entstanden ist und die den Bezirk weit über Berlin hinaus bekannt und berühmt gemacht hat. Deshalb fühlte sich Barbara Oesterheld in Kreuzberg wohl und kämpfte Tatsächlich war Annettes Leben so ereignisreich, dass hier nur ein kursorischer Rückblick möglich ist. Aufgewachsen dafür, dass Kreuzberg für alle lebens- und liebenswert bleibt. in Westfalen arbeitete sie als Krankenschwester in Tübingen und stieß dort auf die AktivistInnen des SDS. 1968 zog sie nach Berlin, mischte sich begeistert in die Unruhen, engagierte sich in der ÖTV und wurde Personalrätin im damaligen Barbara Oesterheld saß für die bündnisgrüne Fraktion von 1995 bis 2006 im Berliner Abgeordnetenhaus. Sie war Krankenhaus Wilmersdorf. Sie organisierte ein „Kinderkacke-Attentat“ auf das Berliner Pressehaus, nachdem der Stern zuständig für die Bau- und Wohnungspolitik, IT und Verwaltungsreform. Es ist ihr zu verdanken, dass der Berliner über Kinderläden hergezogen hatte. Bankenskandal aufgedeckt wurde. An seiner Aufarbeitung war sie maßgeblich beteiligt. Ihre profunden Kenntnisse zeigte sie regelmäßig in ihren kritischen Zeugenbefragungen im Banken-Untersuchungsausschuss, dem sie von 2001 Nach drei Jahren Aufenthalt in Hamburg, wo sie sich in der GAL und beruflich für eine bessere Pflege engagierte, kam bis 2006 angehörte. Zu den Wahlen 2006 trat sie nicht mehr an. Als Landesvorsitzende setzte sie ihr Engagement für 1985 der Ruf zurück nach Berlin. Annette wurde Charlottenburgs erste Grüne Gesundheitsstadträtin und blieb es (spä- grüne Politik jedoch fort, bis die Krankheit sie zur Aufgabe dieses Amtes zwang. ter auch für Umwelt) bis 1995. Sie prägte dabei einen neuen, auf Prävention ausgerichteten Gesundheitsbegriff. „Wer nur verwalten will, der sollte nicht Stadtrat werden“, schrieb sie später über diese Zeit. Barbara Oesterheld war eine beherzte Kämpferin. Ihren letzten Kampf gegen den Krebs konnte sie nicht mehr gewinnen. Sie ist nur 57 Jahre alt geworden. Nach Tschernobyl ließ sie Trockenmilch für die Kitas aus den Notfalldepots plündern. Als Ideenwerkstatt richtete sie die erste Plan- und Leitstelle ein. Charlottenburg wurde erster Bezirk im „Gesunde Städte-Netzwerk“. Sie eröffnete das Wir sind sehr traurig. „Haus des Säuglings“. Sie startete das Projekt „4 Wochen ohne Auto“ und einen Minimüll-Wettbewerb für den Einzelhan- del. Sie förderte innovative Konzepte der Aids-Prävention, Drogenpolitik und psychiatrischen Versorgung. Sie initiierte die erste Altenberatungsstelle, Vorläuferin der „Koordinierungsstellen Rund ums Alter“ und machte aus dem Max-Bür- ger-Zentrum einen modernen Geriatrie-Standort.

Nach ihrer Zeit als Stadträtin engagierte sie sich parteipolitisch in ihrem Wohnbezirk Schöneberg und in der LAG Ge- sundheit. Sie ließ sich in den Seniorenbeirat wählen, um für eine alternative Altenarbeit zu streiten.

Ihre besondere Liebe galt Menschen mit Demenz. 2001 bis 2008 war sie Vorsitzende des Vereins für selbstbestimmtes Wohnen im Alter (SWA), der sich die Qualitätssicherung von Wohngemeinschaften für Menschen mit Demenz zum Ziel gesetzt hat. Sie wurde gefragte Expertin für diese Wohnform bundesweit.

Annette war eine außerordentliche Persönlichkeit. Jedes Gespräch mit ihr war ein Erlebnis. Wunderbar ihre Erzählun- gen aus der APO-Zeit, gespickt mit Humor und Selbstironie, nachzulesen in Ute Kätzels „Die 68erinnen“. Ihre Warmher- zigkeit, ihr Mut und ihr Einfallsreichtum steckten an und nahmen ein. © Mit ihrer Krebserkrankung ging sie offen um. Annette Schwarzenau, die sich immer für alte Menschen eingesetzt hatte, durfte selbst nicht alt werden. Wir trauern um Annette mit ihrem Mann Heinz Kappei und ihrem Sohn Philipp und blei- Nachdruck mit freundlicher ben ihr mit tiefem Dank verbunden. Genehmigung des Neuköllner Stachels Thomas Birk

42 43 Menschen und Zeiten Thema Wein

3 Fragen an Steffi I. von Kreuz-Neroberger, Die Grüne WeinkönigIn erste WeinkönigIn Kreuzbergs: Ein (noch) kleines schräges Heimatfest mit Wachstumstendenzen Herzlichen Glückwunsch der ersten Grünen a Toleranz Orte und Gelegenheiten braucht, woll- Diversity und Ökologie in ihrem Amt. Das erfordert Hin- Lieben, es ist nun wirklich Schluss! Das Fest ist aus! Es war Weinkönigin! ten wir in Friedrichshain-Kreuzberg nicht sinnlos gabe und Mut. Der Regenbogen ist bunt und solange es schön mit Euch! Kommt doch bitte im nächsten Jahr wie- Hat sich Herr Brüderle Din die Ferne schweifen, sondern bei uns selbst ei- uns gibt, wird es beispielsweise keinen Streifen nazibraun der! Dann machen wir's im Sonnenschein! Versprochen! eigentlich schon gemeldet? nen solchen Ort und eine solche Gelegenheit schaffen. darin haben. Nach einigen lebhaften Diskussionen entschied sich die Auf dem Heimweg war man erheitert und über eigene Bisher gab's vom ehemaligen Pfälzer Bezirksgruppe in Friedrichshain-Kreuzberg daher für ein Stefan Bolz übertraf alle Erwartungen und damit alle Defizite gutartig belehrt: Wie erstellt man eigentlich eine Weinminister noch kein Kuss-Angebot. vollkommen neues Amt: Das der Grünen WeinkönigIn externen und internen BewerberInnen. Mit seinem Fach- persönliche H2O-Bilanz? Und was zum Kuckuck sind ei- So liberal ist der dann wahrscheinlich doch nicht – vielleicht lockert ihn ja etwas (unabhängig von Geschlecht und Herkunft). wissen zu beiden Themen (Diversity und Ökologie) und gentlich „Öchsle“, von denen der Nero-Kreuzberger in die- Kreuzberger Wein auf?! einer charmanten Performance eroberte er sich in die- sem Jahr bis zu 100 hatte? Kann ich unsere WeinkönigIn Immerhin haben wir in Kreuzberg ein kleines, aber sem Jahr das Krönchen. fragen. Die weiß das! feines Weinanbaugebiet mit einem Output von 400 bis Die Konkurrenz war hart. 600 Flaschen Kreuz Neroberger, der dank Klimakatastro- Liebe Steffi I. von Kreuz-Neroberger, wir gratu- P.S. Wichtig: Ohne Euch, Was, glaubst Du, macht Dich zur phe die Qualität von Balsamico-Essig schon lange hinter lieren Dir hiermit noch einmal zu Deinem tollen die Ihr als HelferInnen ein- idealen Kreuzberger Weinkönigin? sich gelassen hat. Zudem haben wir BVV-FraktionärInnen Theorieteil und Deiner wunderbaren Kür! gesprungen seid, die Ihr den Antrag an das Bezirksamt gestellt, zu prüfen, ob das über Nacht Weinhänd- Ist's das Kleid? Der Bart? Als Pfälzer Kreuzberger Weinanbaugebiet auf EU-zertifizierten öko- Die vier anderen BewerberInnen waren jedoch auch lerIn, GläserspülerIn, spielt die Herkunft aus einem Wein- logischen Weinanbau umgestellt werden kann. nicht ohne! Besonders nicht ohne Mut, nicht ohne En- DekorateurIn, FahrerIn, anbaugebiet sicher eine Rolle – der gagement, nicht ohne Glauben an die gute Sache, nicht EventmanagerIn, Gut- Migrationshintergrund macht sich Während andere Weinanbaugebiete ihr „Heimatgefühl“ ohne Charme und Esprit. Das alles gab es nämlich im zurednerIn geworden aber nur nach übermäßigem Ge- nuss von Saumagen und Riesling ausschließlich an einer weibliche Weinkönigin festma- Überfluss und machte gute Laune. seid, ohne dem Wein- bemerkbar ... chen, auch am Boden in dem ihr Wein wächst, der Boden- laden „Rebgarten“ aus Im Ernst: Mir sind die Themen ständigkeit ihrer Weinkönigin, ist bei uns Grünen in Frieke Die Wahl der Grünen WeinkönigIn 2009 am 11.Oktober der Bergmannstrasse, wichtig, für die die WeinkönigIn steht: der „Boden“ als solches nicht gerade das, was unser Blut war ein tolles Fest! Dabei war es furchtbar kalt, es gab und dem Weinladen Ca- Vielfalt und Toleranz im Leben, damit in Wallung bringt. Auch das Geschlecht und die Herkunft jedoch eine Regenpause, die glücklicherweise während vatapi, dem Weinladen am sich keiner verbiegen oder verstecken unserer KandidatInnen ist uns von daher natürlich nicht des gesamten Festes andauerte, zudem fünf wunderbare Südstern, ohne den Frauen muss. Und bei Umwelt und Ernährung: so wichtig. KandidatInnen aller Geschlechter und sexueller Ausrich- des Projekts „Gräfewirtschaft“, Wer will schon Gentech aufm Teller? Oder tungen dieser Erde und diverser Abstammungen, eine ohne Wolf und seinen Boxhage- im Glas? Wir wollen unser „Heimatgefühl“ eher an der Vielfalt der der Aufgabe entsprechend engagierte und gelassene ner Musikanten, ohne „Die kleine Ka- Menschen und ihren Kulturen in unserem Bezirk vertre- Jury, die Rede des gutgelaunten Bürgermeisters, ein hin- pelle“, ohne unsere hochkarätige Jury, Wie politisch wirst Du Deine Amtszeit ten wissen. Gläubige aller Religionen, Ungläubige, philoso- gerissenes Publikum und einen fröhlichen Christian Strö- ohne Hilfe der LAG QueerGRÜN, ohne H. anlegen? phisch Orientierte, Arme und Reiche, Familienversessene bele, der die WeinkönigIn so beherzt küsste, dass ihr so- C. Ströbele und vor allem auch ohne Boris Gibt es etwas politischeres als diese und Alleinerziehende, Menschen aus 180 Herkunftsnati- wohl Perücke, als auch Krönchen wackelte. Jarosch hätte es eine Umsetzung der Idee Themen? Das Ziel ist: Mehr Öko ins Essen, onen, Menschen unterschiedlicher sexuellen Identitäten ins wirkliche Leben nicht gegeben. Und weil es die Umwelt schont und schmeckt. und auch die sogenannten Stinknormalas leben in unse- Es gab viele (auch auf den letzten Drücker einspringen- ohne tolle KandidatInnen und wetterfeste Und mehr Regenbogen auf die Straßen, rem Bezirk relativ friedlich miteinander. Das ist Reichtum de) HelferInnen, tolle Bands, gutes Essen, gutes Trinken Gäste nun schon gleich gar nicht! weil bunt besser aussieht als braun. und auch Reibung in einem, welches jene vielbeschwo- und ein aufs Feiern geradezu versessenes Publikum, das Herzlichen Dank! rene Toleranz dringender denn je braucht. Von daher in dicken Jacken und Mäntel nach Stunden in der Kälte vertritt unsere WeinkönigIn ein Jahr lang die Themen immer noch tanzte, so dass wir ihnen sagen mussten: „Ihr Tine Hauser-Jabs Die Fragen stellte Ronald Wenke

44 45 Grüner Leben Buchvorstellung /Termine

BUCHVORSTELLUNG: Polit-Piraterie Der lange Schatten des Prometheus Über unseren Umgang mit Energie

Als Prometheus den Göttern das Feuer stahl, brachte er der Menschheit unge- 12./13. Januar 2010 Freundinnen und Freunde, ahnte Entfaltungsmöglichkeiten. Seit der Antike ist die Beherrschung von Feuer 30-jähriges Um besonders zu sein, müssen sie ein Stück zurück zu und Energie für uns gleichbedeutend mit Macht und Lebensqualität. Erst durch Gründungsjubiläum der Grünen wir haben es geschafft! Ganz ohne Quote gibt es eine ihren Wurzeln, zurück zur Realutopie, ohne Anti-Parteien- die Zügelung der Naturgewalten wurde der moderne Mensch geboren. Bis zum Minderheitenregierung: Eine Frau an der Spitze der Partei zu werden. Nicht Macht, sondern Wandel muss das heutigen Tag ist ein Leben ohne ständige Zufuhr von Energie undenkbar. MI 20.1.2010 Macht, hinter ihr eine Truppe aus Behinderten, Schwulen, Leitbild sein. Nicht dritte Kraft, sondern Drei-Liter-Motor Die Grünen: Von der Protest- Migranten und einem ur-arischen Bayern, der das macht, für eine gesellschaftliche Erneuerung werden muss der Hartwig Berger bricht in seinem Buch mit dieser Sichtweise. Er fordert nicht nur bewegung zur etablierten Partei - was Adelige schon immer am besten konnten. Anspruch sein. Nicht Schwarz-Gelb verhindern, sondern das Ende des fossilen Zeitalters, sondern eine Wende zum Weniger. Er kritisiert Eine Bilanz Start einer ökologisch-sozialen Revolution muss das Ziel damit auch eine bis in die Reihen der Grünen Bewegung verbreiteten Annahme, Buchvorstellung mit Ludger Volmer Die Sache hat nur einen Schönheitsfehler: Die vornehm- sein. Nicht Kompromisse selbstverleugnerisch als Riesen- dass die Solarenergie den momentan benötigten Energiebedarf abdecken kann. 19:30 bis 22 Uhr lich anderen Protagonisten der Tigerente sind das Tou- erfolge feiern, sondern als das, was sie sind: gute Kom- Und Berger hinterfragt anschaulich mit vielen Beispielen, wo bis heute Energie- Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin rettesyndrom der Bundesrepublik, alter Wein in neuen promisse. verschwendung mit Prestige und Macht verbunden ist. Der Umgang mit Energie Schläuchen. Merkel hat zwar mit Botox ihre Schönheits- ist für ihn auch eine Frage von sozialer Sprengkraft – international und hier in MO 25.01.2010 fehler in Ansätzen behoben, sie bleibt aber trotzdem ein Deswegen ist der Weg in die Opposition gesund. Sicher, Deutschland. Berger plädiert in seinem Buch dafür, sich statt am heute verbreite- Neujahrsempfang Stück Trockenobst, emotional wie ein Nanoteilchen, das Opposition ist Mist. Aber Mist ist Scheiße und aus Schei- ten „Lebensstil-Ansatz“, besser an klassen- bzw. schichtspezifischen Lebenslagen Bündnis 90/Die Grünen Tempelhof- – um ja nicht vom Thron emanzipatorischer Allmacht ge- ße macht man Gold; wer weiß das besser, als die grünen zu orientieren. Schöneberg stoßen zu werden – es allen recht machen möchte, vor al- Chefpropagandisten der Biogasanlagen? Alles rein in die 19 Uhr lem den mächtigen weißen Männern. So rächt sich eben Tonne, Deckel drauf, in Ruhe vergären lassen und mit der Der Autor – den aufmerksamen Leserinnen und Lesern der Stachligen Argumente Rathaus Schöneberg manchmal die Geschichte, nur weil sie Frau ist bleibt sie neu gewonnenen Energie die Herzen erwärmen, mit dem durch viele Beiträge gut bekannt – legt den Finger auch in eine weitere Wunde: trotzdem machtbesessen männlich. Gärrest die Sonnenblumen von morgen düngen. Die verbreitete Ablehnung von Windkraftnutzung als „Verspargelung“ der Land- DI 26.01.2010 schaft. Er analysiert treffend, dass der Energieverbrauch auch deswegen so hoch "Green New Deal am Ende? - Bei der Margit Honecker, der dogmatischen Radikallibe- Personaldebatten sind an dieser Stelle peripher, nicht nur, ist, weil die Energiegewinnung unsichtbar sei. Die Windkraft sei nun ein Stein des Finanzen, Steuern und Sozial- ralen, Guido Westerwave, dem Fremdsprachenlegasthe- weil sie in basisdemokratischen Hinterzimmern geführt Anstoßes – ein weithin sichtbares Zeichen des Energiebedarfs und seiner Kosten. systeme unter schwarz-gelb" niker, dem Che-Plakat der Yuppiebourgeoisie, dem „Klin- werden müssen, sondern auch, weil die in den letzten mit Dr. , MdB gelton der Besserverdienenden“ (W.C. Ulrich), fröstelt es Jahren mit Klüngelsteroiden offizierslaufbahnartig aufge- Hartwig Berger will einen gesellschaftlichen Wandel befördern: Energieautonomie Bündnis 90/Die Grünen Pankow einen angesichts der asozialen Kälte, er ist und bleibt ein pumpten Zuchtfohlen erst einmal beweisen müssen, dass und Dezentralisierung. Für ihn ist dies eine „regulative Idee“, die es sich zur Auf- 19:30 Uhr inhaltsloser Steuerantipath: Außen Minister, innen blöd. sie aus der Vergangenheit die Zukunft machen wollen. gabe setzt, dass jeder – von der Familie bis zum Staat – die Eigenverantwortung Kolle 37, Kollwitzstraße 37 Man wünscht sich die guten alten Zeiten zurück, als Guido Nur sollen sie bitte nicht wie Rot-Grün zwei rotweintrin- für eine bestmögliche Nutzung energetischer Erzeugungs- und Einsparpotenziale noch auf dem Schulhof verprügelt wurde, Michael Jack- kende Toscanamachos aus ihren Lenden pressen, die wahrnimmt. MI 27.1.2010 son noch schwarz und lebendig und Angela noch nicht sich – nachdem der Kampf um „wer hatte mehr Ehefrau- Was ist der deutsche Traum? „die Mutti“ war. Die Zeit, in der die Grünen noch die Grü- en“ 5 zu 4 gewonnen wurde – heute an die Gegner von Die Rache der Götter für den Verlust der Macht über Vom Einwanderungsland zur nen waren. gestern vernutten und darum streiten, wer die größere das Feuer war im Übrigen schrechlich: Zeus schickte die Aufsteigerrepublik? Pipeline hat. „Büchse der Pandora“ und mit ihr Tod, Krankheit und Mit Cem Özdemir Denn was für die Tigerente gilt, gilt eben auch für die Grü- alle Übel dieser Welt. Die Zeit des Müßiggangs für die 19 bis 22 Uhr nen. Wenn Originalfrau, Originalschwuler, Originalmigrant Als alter Pessimist blicke ich voll Optimismus in die Zukunft: Menschheit war ein für alle Mal verloren. Allerdings: Auch Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin und Originalbehinderter nur ihrer Originalität wegen Ori- Die Grünen Konzepte sind gut, das Personal ist es auch, die Hoffnung kam durch Pandora auf die Welt. Und so ginale sind, dann stellt sich die Frage, wie originell und rele- es muss nur Bewegung rein. Bis dahin wird die Tigerente ist es der durchweg hoffnungsvolle Stil Hartwig Bergers, FR-SA, 5.-6.2.10 vant der Verweis auf Originalgrün ist. Er ist nichtig. Die ori- glitternd durch die Legislatur rollen, „the Aufschwung ist der den Optimismus anfacht, dass unsere Gesellschaft Landesfrauenkonferenz ginalgrünen Kerninhalte sind inzwischen abgeschrieben da“ rufen, uns mit dem Stadtschloss ein Disneyland für aus dem langen Schatten des Prometheus entfliehen Bündnis 90/Die Grünen Berlin und kopiert, aber Kopien sind nicht automatisch schlech- Arme bauen und Guido als gelbe Nacktschnecke durch kann und den Weg zu einem maßvollen, selbstgenüg- GLS Campus ter, Kopien sind politisches Filesharing. Das Original hat die Welt schleimen und darauf warten, von samen Umgang mit Energie findet. nur dann einen originären Wert, wenn es besonders ist, einem Igel gefressen zu werden. Ronald Wenke wenn es anders ist. Die Grünen hingegen sind immer we- niger anders. Sie sind eine ParteiPartei geworden, die sich In diesem Sinne, tut ihm diesen in das System der Parteimassen gewurstelt haben. Gefallen, revitalisiert euch. Impressum: Stachlige Argumente 31. Jahrgang Heft 4/2009 Nr. 176 • Herausgeber: Bündnis 90/Die Grünen Landesverband Berlin Redaktion (V.i.s.d.P): Christine Dörner, Katrin Langenbein, Ronald Wenke Holger Michel Freie MitarbeiterInnen: Djuke Nickelsen, Holger Michel, Oliver Münchhoff, André Stephan, Nicole Holtz, Dennis Pachernegg • Ständige Mitarbeiterin: Petra Sonnenstuhl Chef vom Dienst: Ronald Wenke • Freie Mitarbeit ist jederzeit möglich, bitte einfach zu den Redaktionssitzungen kommen (i.d.R. Montags, 18:30 Uhr) e-mail: [email protected] • Redaktionsanschrift: Kommandantenstrasse 80, 10117 Berlin • fon: 615 005 0 (Zentrale) Wir bitten, die Beiträge per e-mail an uns zu senden • Redaktionsschluss der nächsten Ausgabe ist der 29. Januar 2010 Satz/Layout: Stephanie Heising • Druck: Oktoberdruck 46 Bezug: Die Stachligen Argumente erscheinen viermal jährlich. Der Preis ist für Mitglieder im Mitgliedsbeitrag enthalten. Für Nichtmitglieder Einzelpreis 2,10 Euro Postgirokonto Berlin Nr. 524 66 - 103, BLZ 100 100 00 • Gedruckt auf 100% Recyclingpapier © Almut Müller - fotolia

Die Stachligen Argumente wünschen allen erholsame Feiertage und einen guten Rutsch ins neue Jahr !