Sendung vom 5.10.2015, 20.15 Uhr

Hansjörg Albrecht Dirigent, Organist und Cembalist, Leiter des Münchner Bach-Chores und Bach- Orchesters im Gespräch mit Jürgen Seeger

Seeger: Willkommen zum heutigen alpha-Forum, zu dem ich sehr herzlich hier im Studio Hansjörg Albrecht begrüße. Er ist Organist, Cembalist und Dirigent und er ist Leiter des Münchner Bach-Chores und des Münchner Bach-Orchesters. Sie sind 1972 in Freiberg in Sachsen geboren, die erste musikalische Ausbildung haben Sie bei den Kruzianern, also beim Dresdner Kreuzchor erfahren. Sie haben mir im Vorgespräch erzählt, dass das mit der Musik bei Ihnen eigentlich schon mit vier Jahren losging. Damals wollten Sie unbedingt Konzertpauker werden. Schuld daran war . Albrecht: Ja, schuld daran war Johann Sebastian Bach. Meine Mutter sang nämlich in einem Weihnachtsoratorium und ich saß als Vierjähriger vorne auf der ersten Kirchenbank und schaute die ganze Zeit völlig gebannt dem Pauker zu. Ich war fasziniert von diesen typischen Schlägen der Pauke. Diese Schläge habe ich dann zu Hause auf dem Kochtopf nachzumachen versucht. Und als ich dann in den Kreuzchor kam, habe ich immer gehofft, dass der Pauker in der Probe irgendwie krank wird und ich die Pauke spielen darf. Seeger: Sie hätten dann also das Schlagzeug übernommen. "Jauchzet, frohlocket" ist ja auch ein schönes Motto, ein schönes Lebensmotto. Ihre Mutter war Sängerin? Albrecht: Semiprofessionell, und zwar im Erzgebirge bei vielen Kantoren. Aber dort gab es auch einen unglaublichen Bedarf an Sängerinnen und in diesem "Biotop" bin ich groß geworden. Seeger: Die Orgel hatten Sie ja zunächst einmal gar nicht im Sinn, oder? Albrecht: Die hat man als Kind in der Dorfkirche immer nur von Weitem gesehen und wunderte sich über die vielen Pfeifen. Wir hatten einen alten Kantor, also einen alten Organisten, der kaum spielen konnte. Aber er hatte unglaubliche Akkordverbindungen drauf – noch so aus der alten Leipziger Schule der 30er Jahre. Ich spürte, dass da etwas ist. Der älteste Bruder meines Vaters war Kirchenmusiker in Pirna, in einer großen dreischiffigen gotischen Hallenkirche in der Nähe von . Dort habe ich dann die ersten Male richtig Orgel gehört. Und von da an faszinierte mich dieses Instrument. Seeger: Johann Sebastian Bach ist ja so eine Art Fixstern für Sie, für Ihren musikalischen Lebensweg von damals bis heute, denn heute leiten Sie das Bach-Orchester und den Münchner Bach-Chor. Was ist Bach für Sie? Wie würden Sie ihn bezeichnen, beschreiben? Welche Bedeutung hat er für Sie ganz persönlich? Albrecht: Wenn ich jetzt sagen würde, Bach ist der bedeutendste Komponist, dann wäre das eine Plattitüde. Bach ist für mich eigentlich wie ein Lebensfreund. Ich habe ihn als Kind ganz unbefangen kennengelernt, ich habe ihn, wie man so schön sagt, quasi mit der Muttermilch aufgesogen. Im Kreuzchor haben wir – obwohl wir in Dresden natürlich nicht die Thomaner waren und viel Schütz und Scheidt singen mussten, weil das die dortige Tradition war – sehr viele Bach-Kantaten, alle Bach-Motteten, alle großen Werke von Bach gesungen. Ohne dass man sich das irgendwie ausgesucht hätte, kommt man mit der Musik von Bach immer wieder in Verbindung – zumal sich ja Mitteldeutschland mit Recht als die Wiege von Bachs Musik bezeichnet. Das ist gelegentlich sogar ein bisschen negativ behaftet, weil man deswegen halt nicht über den Tellerrand schaut. Aber das ist ein anderes Thema. Bach ist jedenfalls für mich jemand, zu dem ich immer wieder zurückkehren kann, voller Freude zurückkehren kann. Zu Bach kann man sich an schlechten Tagen auch mal in den Arm legen und wieder zur Ruhe kommen. Seeger: Das sagen ja viele Musiker: Sie spielen morgens Bach, und wenn's auch nur etwas Kurzes ist, um sich einzunorden, um sozusagen eine Struktur zu bekommen für den Tag. Kennen Sie das auch so? Albrecht: Das kenne ich auch, aber ich kenne es etwas anders. Ich zelebriere Bachs Musik sehr gerne, aber ich muss nicht jeden Tag mit Bach beginnen. Für mich wird es gerade dann interessant, wenn ich nach einer intensiven Phase der Beschäftigung mit Bach manchmal Bach nicht mehr hören kann und zu ganz anderen Komponisten komme. Da ist dann die Beschäftigung mit diesen Komponisten angesagt und Bach über Wochen hinweg weit, weit weg. Wenn ich dann wieder zurückkehre zu Bach, genügen schon ein paar Takte eines Stückes, das ich mir wieder erarbeiten muss. Am besten, ich übe selbst, ich spiele selbst – und schon bin ich nach diesen ersten paar Takten wieder ruhig, als wäre ich im Kloster. Seeger: Lassen Sie uns über den Kreuzchor sprechen. War das auch so eine Art Kloster? Albrecht: Ja, natürlich, und zwar gerade zu den Lernzeiten. Das war ganz wichtig. Viele Leute denken ja, der Dresdner Kreuzchor und die Thomaner in Leipzig wären reine Kirchenchöre. Das stimmt aber nicht, denn sie waren von Anfang an die Chöre der Stadt. Dass halt 40 Jahre lang ein anderes System herrschte und Dresden und Leipzig eben auch dem Sozialismus verpflichtet waren, ist eine andere Geschichte. Früher, also bis zum Zweiten Weltkrieg, waren Kirche und Staat jedoch de facto sehr eng miteinander verbunden. Schon in der vierten Klasse – da weiß man ja schon ein bisschen, wie das System drum herum ist – haben wir es, als wir in diesen Chor kamen, als wohltuend empfunden, dass wir damit zwar nicht unbedingt an einen Ort der Geborgenheit, aber doch der Abgeschirmtheit kamen. Es war so, dass damals natürlich das ganze Direktorat mit Leuten besetzt war, die alle das Parteiabzeichen trugen. In der Zeit, als ich im Kreuzchor war, also bis kurz vor der Wende, waren im Chor sehr viele Kantoren- und Pfarrerssöhne und Söhne von Leuten aus diesem Umfeld, die aus dem Erzgebirge nach Dresden kamen und die eben sehr kirchlich geprägt waren. Natürlich hat der Staat im Internat über Erzieher, die der sozialistischen Gesinnung anhingen, versucht, da auch immer wieder Keile reinzutreiben. Aber das Gute ist ja gerade bei jungen Menschen, dass denen relativ schnell klar wird, wie der Hase läuft. Wir haben uns daher quasi selbst organisiert, d. h. es war immer eine ältere Klasse für eine jüngere zuständig, und die Erzieher wurden möglichst rausgehalten. Diese Erzieher waren ja z. T. recht nette Leute, aber sie hatten eben eine ganz bestimmte Aufgabe. Für uns wiederum galt es zu verhindern, dass sie diese Aufgabe umsetzen konnten. Ja, wir haben uns quasi wie im Kloster wirklich nur auf eine Sache konzentriert, nämlich auf die Musik. Seeger: Sie sagten soeben, dass natürlich die Stadt Dresden dem Sozialismus verpflichtet war und die Kreuzschule in gewisser Weise eben auch. Was hat das denn konkret bedeutet? Denn das muss ja doch ein ziemlicher Spagat gewesen sein, wenn man so viel geistliche Musik gesungen hat. Welche Rolle hat denn da z. B. der Religionsunterricht gespielt? Gab es überhaupt Religionsunterricht? Denn wenn man so viel geistliche Musik singt, dann muss man sich ja wohl auch mit den Inhalten dieser Musik auseinandersetzen. Albrecht: Es gab für uns Jungen, die in der vierten und fünften Klasse dort Unterricht hatten und im Chor gesungen haben, den Christenlehre- Unterricht. Dieser wurde von der Kreuzkirche angeboten. Man hatte da ein Agreement zwischen Staat und Kirche gefunden, weil man genau wusste, dass das notwendig ist bzw. weil zumindest die künstlerische Leitung, also Professor Martin Flämig, das als wichtig empfand. Er war ja zu Ostzeiten zum einen der künstlerische Leiter des Dresdner Kreuzchores und zum anderen für die Kirche der Kreuzkantor. Eigentlich war das ein Spagat, der kaum zu vermitteln war. Das hat sich aber bis heute so gehalten, obwohl die äußeren Bedingungen nun andere sind. Wir hatten also Christenlehre-Unterricht und damit Religionsunterricht: Allerdings haben wir, wie alle anderen auch, die Briefe von Paulus an die Römer, an die Korinther, an die Galater, an die Epheser, an die Kolosser usw. nur komplett lustlos auswendig gelernt. Wir hielten davon überhaupt nichts. Aber der stärkste Christenlehre-Unterricht war von der ersten Probe an einfach nur die Musik. Das heißt, mein erstes großes Oratorium – wir hatten ja drei große Aufnahmeprüfungen mit Blattsing-Übungen, die z. T. heute für den BR-Chor als Einstiegsprüfung gelten – war "Paulus" von Mendelssohn. Dafür gab es einen Monat Probenzeit, neben allem anderen. Das heißt, man lernt Woche für Woche für die Vesper ein Dreiviertelstundenprogramm. Wir hatten Schütz mittels einer alten Ausgabe zu lernen, in der die Sachen noch in altem Deutsch geschrieben waren. Das heißt, man musste altes Deutsch lesen können. Und parallel dazu galt es, den "Paulus" zu lernen. Solche Sachen wie "Steiniget ihn! Steiniget ihn!" oder dieser Wandel vom Saulus zum Paulus merkt man sich als Kind sehr, sehr schnell: Da braucht man dann zum Glück keinen Unterricht mehr. Seeger: Die Kreuzschule war ja auch so etwas wie eine musikalische Kaderschmiede und hatte auch eine besondere Rolle inne, denn ihre Schüler durften auch im Westen auftreten. Mich würde dieser Gedanke einer Kaderschmiede noch ein wenig interessieren: War das so etwas Ähnliches wie ein Leistungssportzentrum für Musik, wie man das heute z. B. aus Russland auch noch kennt? Albrecht: Für uns war das so nicht spürbar, weil das ohnehin in diesem System drin war. Das heißt, für uns war es eine große Auszeichnung, dort aufgenommen zu werden. Denn es war wirklich eine riesengroße Hürde, dort überhaupt hineinzukommen. Wenn man dann dort drin gewesen ist, dann wäre ein Ausscheiden fast schon einem sozialen Tod gleichgekommen. Man hätte dann nämlich wieder zurück ins Dorf gemusst, in die alte Klasse. Das wäre das Aus gewesen. Also musste man sich anstrengen, dass man überhaupt reinkam, und dann, um drinzubleiben. Von außen kann man natürlich sagen, dass der gesamte Ostblock zwei Dinge hatte, mit denen er renommieren konnte, das waren der Leistungssport und die Musik. Nur damit wurde er im Ausland wahrgenommen. Es gibt ja genügend Beispiele wie meinetwegen Sofia Gubaidulina oder Arvo Pärt, deren Musik trotz aller Widerstände irgendwie in den Westen gelangte und dort gehört wurde. Das gesamte kommunistische System im Ostblock hat das für sich natürlich ausgenutzt, das ist klar. Für die Betroffenen ist das zum einen ein Käfig und zum anderen ein Biotop bzw. ein Gewächshaus. Es ist wirklich beides. Das Allerbeste ist, wenn man nicht spürt, was mit einem passiert, und man nur mit Lust und Feuereifer bei der Sache ist. Musik hilft dabei natürlich extrem. Was wir als Kinder aber schon gespürt haben, war, dass wir einen Freiraum hatten, den andere nicht hatten. Seeger: Lassen Sie uns noch darüber sprechen, was Sie als sangesfreudiger Schüler bzw. Jugendlicher dort erlebt haben. Das war ja beides, das war auf der einen Seite eine Bürde und auf der anderen Seite schon auch eine Auszeichnung. Albrecht: Ja, ganz klar. Seeger: Eine Bürde war das auch deswegen, weil Sie ja bis zu 100 Konzerte pro Jahr singen mussten – oder auch singen durften. Eine Auszeichnung war es, weil man dadurch natürlich im Rampenlicht stand und sich zeigen konnte, sich auch mit seinen musikalischen Qualitäten zeigen konnte. Und man durfte in den Westen reisen. Albrecht: "Mathematisch" gesehen, würde ich sagen, war das alles so. Schöner wird es freilich – es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, es war nur so –, wenn man das mit diesem Erlebnis der Musik verbindet. Nehmen wir als Beispiel eine Matthäus-Passion: Damals wurde die ja noch mit zwei richtig großen Orchestern zelebriert, mit drei bis vier Kontrabässen im spätromantischen Stil. Wenn man da zuschauen und vielleicht sogar mitmachen darf, dann packt einen das. Wir haben ja vorhin über das Weihnachts-Oratorium gesprochen: diese Begeisterung am Klang! Wenn die kommt, dann vergisst man ganz viel. Dann nimmt man es auch überhaupt nicht mehr wahr, wenn man zu wenig geschlafen hat. 1985, im Bach-Händel-Schütz-Jahr, hatten wir z. B. regulär 150 Stunden Unterrichtsausfall. Das heißt, über die Schule und die damit zusammenhängenden Probleme müssen wir gar nicht reden. Das war für all diejenigen im Chor, die hinterher nicht Musik studieren wollten, ein noch viel größeres Problem, denn sie mussten ja schauen, wie sie mit diesen massiven Lücken aufgrund von Unterrichtsausfall klarkommen konnten. Das war eine extrem harte Zeit, weil der Druck innerhalb dieses Jungs-Gefüges groß war. Das hatte noch nicht einmal etwas mit den schulischen Belastungen und dem Chor zu tun, sondern hatte einfach auch mit der Brutalität von Kindern untereinander zu tun. Das muss man einfach so sagen, und es sind Leute daran auch zerbrochen. Alle diese Dinge, die man von der NVA gehört hat – wie z. B., dass Menschen über den Gang geschleift wurden –, hat es bei uns gegeben. Gewalt unter Jugendlichen gab es auch bei uns im Internat damals, aber das Ganze wurde unter dem Deckel gehalten, wurde im Haus gehalten, weil es möglichst niemand von draußen mitbekommen sollte. Wer da mal über ein, zwei Jahre mit verstrickt war, und ich hatte dieses Pech, musste seine Glückseligkeit eben woanders finden. Aber die gab es eben in der Musik. Die Musik war wirklich übermächtig. Wenn man neben fünf bis sechs Stunden Schule pro Tag als Junge auch noch drei, vier Stunden Probe hat, dann hat man diese Musik quasi wie einen Ohrwurm permanent im Kopf, weil man wirklich jede Woche ein neues Programm erarbeiten muss. So war das Leben dort. Seeger: Erinnern Sie sich vielleicht an ein bestimmtes Konzert, das für Sie prägend und ganz wichtig gewesen ist, an das Sie sich besonders gerne erinnern? Albrecht: Das waren sogar mehrere Konzerte, nämlich die Konzerte an dieser Sollbruchstelle, als Martin Flämig dann gehen musste. Er war einfach zu alt und sein Verhalten war unerträglich geworden. Wir waren damals schon Männerchoristen und Chorpräfekten. Er hatte einen Stil drauf – wirklich wie ein Offizier. Das war für die Knaben unerträglich. Er hatte einen Diplomatenpass und war die Hälfte der Woche in der Schweiz beim Berner Rundfunkchor und kam dann immer erst am Donnerstag oder Freitag nach Dresden – unvorbereitet. Wenn er bei der Probe mal aufschaute und es schaute jemand nicht zu ihm in diesem Moment, dann hat er ihn angeschrien. Das waren wirklich ganz despotische Zeiten. Und trotzdem gab es genau in diesem Jahr Konzerte, die wirklich gigantisch waren. Wir haben unter ihm Sachen gesungen, die wirklich großartig waren. Ich erinnere mich z. B. an ein Konzert, bei dem zusammen mit dem Staatsopernchor und dem Philharmonischen Chor und einem riesengroßen Orchester Karol Szymanowskis 3. Sinfonie aufgeführt wurde. Das war das einzige Mal, dass ich es erlebt habe, dass sich selbst Schlagzeuger, die ja wirklich viel Krach gewöhnt sind, die Ohren zugehalten haben. Das waren noch zu Ostzeiten Aufführungen von Francis Poulenc, also "Gloria" und "Stabat Mater": Für so ein Programm hatten wir gerade mal eine Woche Zeit zum Proben! Noch gigantischer war vor der vollen Kreuzkirche mit über 4000 Leuten die Aufführung der großen Motetten von Richard Strauss. Flämig hat damals diese Sachen noch selbst mit uns einstudiert. Wir haben das aus handgeschriebenen Stimmen mit alten Schlüsseln lernen müssen. Er saß da und korrepetierte wie einst Richard Strauss in alter Kapellmeistermanier. Er sagte: "Jungs, wir sind zwar nur 120 und nur 100 von euch können jetzt noch die Konzerte mitsingen, denn 20 von euch sind in der Mutation. Aber Strauß schreibt für jeden der vier Chöre mindestens 100 Leute vor!" Der BR-Chor unter der Leitung von Peter Dijkstra hat diese Motetten ja jetzt vor ein paar Jahren aufgenommen. Das ist Wahnsinnsmusik! Und wenn man das als Knabe singen kann, dann gehen dabei zwar die Stimmen zu Bruch, aber dafür ist die Musik absolut unglaublich. Das waren Konzerte, die ich nie vergessen werde – vor allem auch deshalb, weil das eben Sachen sind, die nicht Knabenchor-spezifisch sind. Das Einzige, was wir nicht gemacht haben, waren das Verdi-Requiem und die Carmina Burana. An das hat sich Flämig nicht herangetraut. Aber wir machten eine "Missa solemnis" – danach hatten wir eine Woche chorfrei, weil keiner mehr singen konnte. Das sind Erlebnisse, die man nicht vergisst. Seeger: Wie haben Sie denn die Reisen in den Westen erlebt? Das muss ja für Sie doch etwas ganz Besonderes gewesen sein. Einerseits waren Sie und ihre Mitschüler in diesem DDR-Staat massiv politisiert und andererseits haben Sie bei diesen Auslandsreisen in den Westen plötzlich eine ganz andere Welt erlebt. Was ist da mit Ihnen passiert? Hat sich da bei Ihnen etwas im politischen Denken bewegt? Albrecht: Es passierte sehr viel. Unsere Familie hatte leider keine Westverwandtschaft, weswegen sie nicht in den Genuss kam, auch mal Westpakete zu bekommen. Aber das hat man einfach akzeptiert, das war halt so. Mein Vater, als Sohn aus einem Pfarrhaus, war auf dem Dorf Musiklehrer und musste in die Ost-CDU eintreten, um nicht in die SED zu müssen. Man lebte einfach damit und man wusste, dass der Umkreis gerade mal vom Erzgebirge und dem Harz bis zur Ostsee reicht. Und wenn man Glück hat und ein bisschen mehr Geld, dann kann man auch mal nach Tschechien fahren oder nach Polen. Das war's. Und dann plötzlich diese Westreisen! In der fünften Klasse war ich zum ersten Mal in Italien. Es brach gerade der Ätna aus und die Busse streikten. Als Kind steht man dann da und kann das alles gar nicht fassen. Ich war ja auch zum ersten Mal überhaupt geflogen! Im Bus zum Hotel habe ich geschlafen, habe diese Fahrt also nicht mitbekommen. Aber am nächsten Morgen bin ich im Hotel in meinem Einzelzimmer aufgewacht und im Zimmer war alles stockdunkel. Aber ich habe gemerkt, dass es da Fensterläden gibt. Die habe ich aufgemacht – und war überwältigt. Strahlend blauer Himmel und Blick auf das Mittelmeer! Wir waren nämlich in Messina. Das ist ein unbeschreibliches Gefühl – vor allem, wenn man weiß, dass es zu Hause ganz anders ist und nach zwei Wochen diese Reise wieder vorbei sein wird. Das heißt, man inhaliert das ganz tief ein. Das Schlimme ist daher nicht die Reise, sondern die Woche danach. Glücklicherweise sind wir Menschen ja so gepolt, dass wir alles, was gewesen ist, relativ schnell wieder vergessen, sodass man immer im Hier und Jetzt leben kann. Aber eine Woche haben wir dafür immer gebraucht. Das Schlimmste waren aber die Reisen in die sogenannte BRD, also nach Westdeutschland, denn dort hat man ja auch noch die gleiche Sprache gesprochen. Wenn man von so einer Reise zurückgekommen ist, war es wirklich schwierig, in dieses Grau, in diese Einheitsödnis zu kommen. Aber auch hier war die Musik wieder unglaublich hilfreich. Wenn wir anschließend nur normalen Schulunterricht gehabt hätten, dann wären wir wahrscheinlich irgendwann daran zerbrochen. Aber wenn man am ersten Tag nach der Rückkehr gleich wieder eine Probe hat und es geht auf die nächste Vesper, auf den nächsten Gottesdienst, auf das nächste Konzert zu, dann vergisst man das alles doch wieder relativ schnell. Ich kann aber auch die Gefühlslage von drei meiner Mitschüler aus meiner Klasse nachvollziehen. Wir waren auf einer Konzertreise in Japan, als sie ganz cool den Koffer genommen haben und gegangen sind. Natürlich war auch auf dieser Reise die Staatssicherheit mit dabei. Aber in diesen zwei Minuten im Foyer dieses Hotels in Tokio war niemand von denen anwesend. Und so sind diese drei einfach durchs Hotelfoyer gegangen und mit dem Taxi zur bundesdeutschen Botschaft gefahren. Und anschließend sind sie von Japan aus in die Bundesrepublik gereist. Seeger: Das heißt, sie sind geflüchtet. Albrecht: Ja, sie sind zuerst nach Gießen gekommen und dann in den Windsbacher Knabenchor. Dann wurden Elternteile von der DDR aus in den Westen geschickt, um sie zurückzuholen. Aber der eine Vater blieb gleich im Westen. Man hat dann letztlich vom Westen aus auf Familienzusammenführung geklagt. Aber bevor das alles durchgestanden war, kam ja relativ plötzlich die Wende. Der Schritt von diesen dreien war wirklich ein gewaltiger. Ich glaube, gegen Ende der 60er Jahre ist sogar mal eine ganze 12. Klasse von einer BRD-Reise nicht wieder zurückgekommen. Seeger: Wie wurde das dann im Chor aufgearbeitet? Was hat man Ihnen gesagt, als plötzlich drei Schüler fehlten? Albrecht: Bei uns war es so, dass abends alle zusammengeholt wurden. Die Leute von der Staatssicherheit mussten sich dabei natürlich notgedrungen outen. Uns gegenüber hatte man sie vorher ja als Presseleute ausgegeben. Aber wir wussten selbstverständlich, dass das Leute von der Staatssicherheit waren. Es gab eine ganz ernsthafte Ansprache von ihnen und es wurde natürlich darum gebeten, dass diejenigen, die darüber etwas wussten, dies sagen sollten. Aber es haben selbstverständlich alle dichtgehalten. Das blieb dann einfach so. Und die Leitung hatte auch keine Chance für eine Handhabe gegen uns – glücklicherweise. Seeger: Gegen Ende Ihrer Zeit beim Dresdner Kreuzchor kam dann die Wende. Das war die Öffnung auch für Sie und Ihr Weg führte Sie zunächst einmal nach Hamburg. Albrecht: Ja, aber das habe ich zunächst einmal gar nicht geglaubt, weil ich ja einen Studienschein für Weimar in der Tasche hatte, für ein Orgelstudium. Ich wollte nämlich unbedingt Orgel studieren, Konzertfach Orgel. An eine Region im Westen habe ich damals noch überhaupt nicht gedacht und es hatte auch geheißen, dass alle Leute, die im Kreuzchor und im Thomanerchor wären, eh nicht Klavier spielen könnten, weil sie vor lauter Singen keine Zeit zum Üben auf dem Klavier gehabt hätten. Da wollte ich es dann aber doch wissen! Ich war nämlich parallel zum Chor auch zwei Jahre lang Assistent beim Organisten der Kreuzkirche gewesen. Und dann registrierte ich dem Organisten des Hamburger Michel. Wir beide verstanden uns sehr gut und er sagte eines Tages zu mir: "Kommen Sie doch nach Hamburg." Das ging bei mir aber zuerst einmal rechts beim Ohr rein und links beim Ohr wieder raus, weil ich mir dachte: "Nein, das ist doch alles komplett unwirklich. Das kann gar nicht sein!" Ein halbes Jahr später rief er dann an und fragte: "Wollen Sie nun kommen?" Ich habe ihm geantwortet, ob er das denn wirklich ernst meinen würde. "Natürlich meine ich das ernst!", hat er mir erwidert. Und so kam ich nach Hamburg. Seeger: Das war dann zunächst einmal der Schub für die Orgel. Albrecht: Ja, das war der Schub für die Orgel. Heutzutage lachen die Studenten über so etwas, weil die Möglichkeiten und Optionen für sie breit gefächert vor ihnen liegen. Diese Umbruchzeit damals war wirklich eine verrückte Zeit. Unmittelbar nach der Wende gab es ja ungefähr ein Jahr lang Wildwest-Verhältnisse, denn alles Mögliche wurde ausprobiert. Es war nämlich keineswegs so, dass alle Leute in der DDR in den Westen wollten. Die DDR war unsere Heimat und man wollte einfach bleiben. Nur die Bedingungen, die mussten sich ändern, das war klar. Das heißt, man blieb auch im Kopf, wie ich heute sagen würde, in gewisser Weise in diesem Klein-Klein-Denken stecken, in dieser Kleinstaaterei aus, was weiß ich, der Gotik, der Renaissance, dem Barock, dem Klassizismus in Sachsen und Sachsen-Anhalt und Thüringen und Mecklenburg und auch Preußen. Das blieb einfach in den Köpfen der Leute drin und meines Erachtens ist das bei vielen Leuten auch heute noch drin. Ich jedoch bin eigentlich sehr dankbar für die Möglichkeiten, die sich damals ergeben haben. Man geht zwar heute viel zu nonchalant darüber hinweg, aber das, was da in Europa passiert ist und geschaffen wurde in den letzten Jahrzehnten, ist einfach gigantisch. Denn da ist ja nicht nur diese Mauer gefallen, diese Trennung mitten in Europa. Heute wird viel über das "Haus Europa" gesprochen und über das Für und Wider und dass da auch Fehler gemacht worden sind. Aber aufgrund meiner Erfahrungen in der damaligen Zeit – ich war damals gerade in der zehnten Klasse – muss ich sagen: Das ist das einzig Richtige! Als die Mauer fiel, interessierten uns die Bananen nicht, denn die kannten wir ja bereits. Auch die D-Mark, die dann irgendwann kam, kannten wir ja, denn wir waren ja in der privilegierten Situation gewesen, dass wir auch vorher schon in den Westen hatten reisen können. Aber dieser Gedanke, dass man nun ganz unbeschwert und unbefangen dorthin reisen konnte, wo auch schon Schiller und Goethe hatten hinreisen können, war toll! Ich hatte ja mit dem Organisten der Wiesbadener Marktkirche noch zu Zeiten der DDR eine Brieffreundschaft angefangen. Das war zwar eigentlich verboten, aber mit Postkarten ging das. Briefe aus dem Westen hingegen wurden aufgemacht. Ich hatte ihm irgendwann geschrieben, dass ich leider nie nach kommen werde, dass ich ihn nie werde besuchen können. Wir hatten uns nur einmal gesehen bei einer unserer Westreisen und diese Begegnung war so schön, dass wir halt eine Brieffreundschaft anfingen. So, und plötzlich fiel die Mauer. Das war ein unbeschreibliches Gefühl. Seeger: Sie sagten gerade, dass man damals unmittelbar nach der Wende viel ausprobieren und neue Wege gehen konnte. Sie persönlich haben das so gemacht und Sie sind ja auch überhaupt ein Mensch, der gerne etwas Neues ausprobiert und neue Wege geht. Bleiben wir doch mal bei der Orgel. Sie gehen da sehr, sehr deutlich neue Wege, indem Sie z. B. bekannte Kompositionen hernehmen und sie transkribieren, also bearbeiten, für dieses, wie Sie das Instrument mal genannt haben, "Raubtier Orgel". Welche Kompositionen sind Ihnen denn da über den Weg gelaufen, die Sie dann umgearbeitet haben zu riesigen sinfonischen Werken – aber eben nur auf einem Instrument von einem Mann gespielt, nämlich von Hansjörg Albrecht? Albrecht: Ich wollte zu Studienzeiten eigentlich das gesamte französische Repertoire spielen, bin aber dann nach ersten Aufnahmen von Kammermusik und Orchesterwerken dieser französischen Komponisten wie z. B. Louis Vierne oder Charles-Marie Widor relativ schnell darauf gekommen, dass diese Orgelsinfonien zwar interessant sind, dass sie ganz schön klingen, dass das aber nicht wirklich erste Garde ist. Das ist meine persönliche Meinung. Wenn jetzt Kollegen von mir zuhören, werden sicherlich einige sagen: "Was erzählt der dann da?" Ich bleibe aber bei dieser Meinung. Es gibt zwei Komponisten, die als Komponisten das Orchester, den Chor, die Singstimme, die Kammermusik, alle möglichen Einzelinstrumente, das Gesamtgefüge und eben auch die Orgel gleichwertig behandelt haben. Das sind Johann Sebastian Bach und Olivier Messiaen. Ich habe mich z. B. immer gefragt, warum gerade die drei Komponisten Wagner, Strauss und Rachmaninow, obwohl sie eine unglaubliche und je eigene Harmonik besaßen, nichts für die Orgel geschrieben haben. Als ich Wagner aufgenommen habe und dabei Ouvertüren und Vorspiele von ihm zu einer großen Sinfonie geordnet habe, habe ich auch ein Booklet geschrieben. Darin schrieb ich, dass Wagner eben die damaligen Orchester gekannt hat, die den damaligen Orgeln aus dem 19. Jahrhundert weit überlegen waren. All diese Schattierungen, die heute mit technischen Hilfsmitteln wie Setzeranlage und Vorprogrammieren und Einspeichern usw. möglich sind, konnte man damals natürlich nicht spielen. Franz Liszt, der ja ein großer Freund und Förderer von Wagner gewesen ist, hat für die Merseburger Domorgel drei gewaltige Orgelwerke geschrieben. Viele heutige Kollegen sagen: "Nur so muss es klingen!" Wenn man diese Orgelwerke jedoch mit den Orchesterwerken von Liszt vergleicht, dann stellt man fest, dass diese sehr, sehr viel differenzierter sind und an manchen Stellen sogar schon über Wagner hinausreichen. Wenn man das weiß, dann wird einem vielleicht klar, warum Wagner, Strauss und Rachmaninow nicht für das Instrument namens Orgel geschrieben haben. Aber! Sie haben an einigen ausgewählten Stellen die Orgel sehr wohl eingesetzt. Nehmen wir das Zarathustra-Vorspiel: Wenn dieser C-Dur-Akkord einer hoffentlich gestimmten Orgel nach dem großen Orchester crescendo einsetzt, dann ist das gewaltig. Wenn das fehlt, dann fehlt wirklich etwas ganz Gewaltiges. Oder nehmen Sie die Auferstehungssymphonie von Mahler: Wenn am Ende bei diesem großen Fortissimo mit Glocken usw. die Orgel fehlen würde, dann wäre das alles quasi nichts, denn sie ist in dem Moment das Königsinstrument. Die Komponisten wussten das, aber vielleicht konnten sie mit diesem Instrument nicht umgehen, vielleicht gab es damals aber auch nicht die Virtuosen, die das hätten spielen können. Heute ist das möglich dank der technischen Anlage. Und das reizt mich einfach. Das ist allerdings verdammt viel Arbeit, weil man wirklich die gesamte Partitur bis ins kleinste durchgehen muss. Bei der CD- Aufnahme von Rachmaninows "Toteninsel" gibt es ja z. T. pro Takt sogar drei Kombinationen. Man hört natürlich in einem Orchester ein Crescendo, aber ob Rachmaninow meinetwegen die Flöte in tiefer Lage spielen lässt oder das Saxophon oder ein Kontrafagott eine Oktave höher, das bekommt man nicht mit. Aber es macht unglaublich viel Freude, das umzuschreiben. Nein, das ist eigentlich nicht korrekt ausgedrückt: Man ist wirklich in der Kompositionsstube drin und orchestriert das Stück quasi ein zweites Mal neu. Seeger: Und man erlebt es auch als Hörer neu, denn es klingt dann wirklich ungeheuer effektvoll, dieses Brausen und die Möglichkeit der Orgel ausgelotet zu hören. Es gibt ja inzwischen einige CDs von Ihnen in dieser Richtung. Es gibt auch CDs mit Werken, die Sie bearbeitet haben, wie z. B. das Oratorium "Saul" von Händel: Sie haben das für Orchester bearbeitet. Damit sind wir jetzt beim Dirigenten angekommen. Sie sind zwar auch noch Musikforscher und Bearbeiter von Werken, aber mich interessiert jetzt der Dirigent. Was hat Sie denn zum Dirigieren gebracht? Albrecht: Einfach der Klang, einfach die Musik. Es ging mir nicht darum, irgendwie als Dompteur dort vorne stehen zu wollen, sondern ich habe schon als Kind gemerkt, dass ich mit Leuten, dass ich mit Gruppen etwas machen möchte. Wenn man als Kind dasitzt und nicht nur den Pauken und Kontrabässen und der Harfe fasziniert zuschaut und zuhört, sondern wenn dann auch noch so etwas wie die Musik von Szymanowski oder einfach große Chorsinfonik dazukommt, dann packt einen das als Kind. Da Flämig damals ja in der Schweiz war, haben wir sehr viel Frank Matin und Arthur Honegger gesungen, also Sachen, die zumindest in deutschsprachigen Landen heutzutage kaum mehr eine Chance haben, gehört zu werden. Wenn man als Kind mal diese Orchestrierung gehört hat, dann bekommt man eine Sehnsucht. Das wird wirklich wie eine Sucht. Und speziell bei mir war es so, dass ich kaum ein Stück hören konnte, ohne dass mir nicht noch irgendwelche Ideen gekommen wären, was da noch "fehlt". Nehmen wir die berühmte Kammersinfonie von Schostakowitsch. Obwohl ich bis dahin noch nie eine Sinfonie von Schostakowitsch gehört hatte, merkte ich, dass da eigentlich die kleine Trommel fehlt, dass da, um den Marschrhythmus zu unterstreichen, etwas fehlt. So habe ich eigentlich schon zu Schulzeiten damit angefangen – damals gab es natürlich noch keine Computer –, alles mit der Hand mit der Kalligraphiefeder aufzuzeichnen. Ich habe sehr schnell geschrieben und ich besitze diese Aufzeichnungen alle noch. Wenn ich sie mir heute anschaue, dann muss darüber schmunzeln, denn das ist natürlich alles de facto für den Papierkorb. Aber ich habe mich damals mit der Musik anders beschäftigt, als wenn man heute eine Partitur in der Hand hat und der Verlag bereits die Arbeit übernommen hat. Das, was ich damals gemacht habe, war sozusagen alte Schule, alte Kapellmeisterausbildung, sehr umfassend. Man musste sich das Ganze halt auf dem Klavier selbst durchspielen. Es gab damals nur sehr wenige Schallplatten, und CDs sowieso nicht. Oder man hat das halt bearbeitet. Auf jeden Fall hat man sich anders mit dem Stück beschäftigt, als das heute der Fall ist. Seeger: Heute dirigieren Sie ja in vielen Musikzentren, Kirchen und Kathedralen rund um den Globus und Sie dirigieren unterschiedlichste Ensembles. Ihre Heimat ist natürlich München mit dem Bach-Orchester und dem Bach-Chor, worüber wir gleich noch sprechen werden. Aber wie ist das eigentlich als Musiker heute, wenn man so breit aufgestellt ist? Sie sind Organist und haben sich auch einen guten Namen gemacht als solcher. Auch als Bearbeiter von sinfonischen Werken für die Orgel haben Sie einen guten Namen. Sie sind Cembalist, was aber im Moment vielleicht eine etwas untergeordnete Rolle spielt, und Sie sind Dirigent. Ist es nicht gefährlich, wenn man sich als Musiker heute so breit aufstellt, in einer Zeit, in der man auch auf dem Klassikmarkt durch ein klares Profil präsent sein muss? Albrecht: Das ist es, das ist auf alle Fälle gefährlich und das weiß ich auch. Aber ab einem bestimmten Punkt hört man einfach auf, zu zweifeln. Es gibt ja auch diesen schönen Satz: Ist der Ruf erst ruiniert, dann lebt sich's völlig ungeniert! Ich nehme mir einfach die Freiheit, zu sagen: Ich mache das so, selbst wenn das eine Engagement dadurch nicht kommt – oder noch nicht kommt, weil es Veranstalter oder Intendanten nicht zusammenbekommen, dass man Barock und Sinfonik macht oder Cembalo spielt und Organist ist. Ich habe, das gebe ich zu, sehr lange damit gerungen und ich muss auch bis heute bei manchen Sachen sehr darum kämpfen. Als wir letztes Jahr mit dem Bach-Orchester in Japan waren und alle Brandenburgischen Konzerte gespielt haben, spielte ich natürlich im Fünften Konzert selbst. Den Cembalisten würde ich dabei von der Wertigkeit her als kleinsten Punkt einschätzen … Seeger: … obwohl im Fünften Brandenburgischen Konzert das Cembalo sozusagen die Hauptrolle spielt unter den Soloinstrumenten. Albrecht: Genau, als große Kadenz – eigentlich die Vorstufe zu den Cembalo- Konzerten und dann den Klavierkonzerten von Mozart. Das ist wahnsinnig virtuos und für das Cembalo braucht man wirklich eine eigene Technik. Aber es ist eben nicht nur das Cembalo-Spiel allein, sondern für das Leiten – ich sage bewusst nicht "Dirigieren" – von barocker und frühklassischer Literatur halte ich das für absolut überlebensnotwendig: Auch wenn das völlig gegen den heutigen Trend geht, stehe ich bei diesen Stücken nicht mit dem Taktstock dort vorne, sondern sitze eben am Cembalo. Denn das ist keine Musik, die dirigiert werden muss. Ich finde, dass das bis zu Beethovens Erster Sinfonie Affekte, Bilder sind. Wenn man Generalbass spielen kann und vom Cembalo, von der Orgel oder vom Hammerklavier aus und ohne großes Dirigat ein ganzes Orchester plus Chor nicht nur führen kann, sondern auch beeinflussen kann durch die Art des Spielens, dann trifft man damit genau den Punkt. Beim Generalbass muss man ja einfach die Grammatik beherrschen. Aber das ist wie beim Jazz: Das ist quasi freie Improvisation. Wenn die Sänger, die neben einem stehen, einfach nur die Ohren aufmachen und die Orchestermusiker ebenfalls offen genug sind, dann kann man durch ganz unterschiedliche Arten des Spielens auf dem Cembalo den Fortgang des Stücks wesentlich bestimmen. Da muss man nicht irgendwann einmal hart reinhauen, da muss man nicht extra darauf hinweisen, wann etwas weich zu spielen ist. Das kann man alleine mit seinem Körper machen. Das ist eigentlich die alte Schule und das ist für mich im universellen Sinne des 18. Jahrhunderts auch die alte Kapellmeisterausbildung. Vielleicht sollte man hier den Kapellmeister sogar mit "C" am Anfang schreiben, weil das einfach mit einem grundsätzlichen Musikverständnis zu tun hat. Nun komme ich zurück auf Ihre Frage nach der Spezialisierung. Sie ist gefährlich. Aber ich habe für mich ganz klar entschieden: Ich würde unglaublich viel vermissen, wenn ich sagen würde, ich mache nur noch Bach bis Mozart. Ich hätte dann vielleicht schon Orchester dirigieren können, bei denen ich bis heute nicht gewesen bin. Aber ich würde ganz extrem etwas vermissen. Und dann halt eine CD reinzulegen, um sich auch mal andere Sachen anhören zu können, ist nicht mein Lebensweg. Seeger: Und das geht Ihnen auch so, wenn Sie sagen würden, ab jetzt nur mehr Dirigent oder Organist oder Cembalist sein zu wollen. Albrecht: Ich muss gar nicht unbedingt solistisch spielen beim Cembalo, denn das ist einfach eine eigene Spieltechnik. Ich würde mich daher nicht als Cembalist im Konzertfach bezeichnen, aber als Cembalist im alten Sinne. Was ich persönlich für unglaublich notwendig erachte, ist dieses Hin- und Herwechseln, wie das meinetwegen Leonard Bernstein regelmäßig gemacht hat mit seinem Wechsel zwischen Dirigieren und Klavier spielen, wie das Daniel Barenboim macht, wie das André Previn macht usw. Es gibt dafür wirklich ganz viele Beispiele. Man hat einfach einen ganz anderen Zugang zu den Musikern, wenn man selbst auch spielt. Denn wenn man weiß, wie es sich anfühlt, wenn man als Musiker in einem großen Konzertsaal spielt, dann hilft einem das als Dirigent. Ich habe z. B. im Januar in der Moskauer Tschaikowsky Hall gespielt: Da sitzen eineinhalb Tausend Leute drin und da muss man wirklich auf allerhöchstem Niveau spielen. Es gibt ja nun einmal genügend internationale Leute, ich nenne jetzt nur mal die Speerspitze: Cameron Carpenter! Ich bin nicht Cameron Carpenter, aber wenn man auf diesem oder einem ähnlichen Level spielen will, dann muss man extrem viel investieren. Aber ich brauche das Cembalospielen einfach für mich. Bruckner als Komponist hat z. B. als Organist auch improvisiert. Und seine Orgelschreibweise hat er aufs Orchester übertragen. Ich weiß zwar nicht, ob er selbst auch dirigiert hat, aber wenn man als Dirigent beim Dirigieren weiß, wie das Stück alleine auf der Orgel klingt, wenn man ein Stück durch das eigene Spielen und vielleicht auch durch Transkriptionen noch einmal ganz anders kennengelernt hat, dann hat man diesen Stücken gegenüber einen anderen Respekt. Da steht meinetwegen bei einem Geiger an einer Stelle im Tutti ein "presto". Als Dirigent steht man dann vorne und sagt: "Eins, zwei, drei, vier …" Und dann setzt der Solist ein. Man kann dann z. B. zu ihm sagen: "Das dritte Sechzehntel muss ein Fis sein, denn das muss ein bisserl höher gespielt werden." Es gibt beim Dirigieren so viele Kollegen, die irgendwann ihr Instrument an den Nagel gehängt haben, dass sie gar nicht mehr wissen, wie das ist, wenn man öffentlich spielt. Sie wissen auch nicht mehr, was für eine Lust das ist, aber auch nicht mehr, was das für eine Last sein kann. Ich will gar nicht vom Wort "Aufregung" sprechen, aber es gibt einfach eine Spannung und in dieser Spannung kann eben auch mal ein Fehler passieren. Damit muss man leben können. Denn grundsätzlich ist es ja zumindest bei einem Großteil der Literatur so, dass es erst einmal viel leichter ist, als Dirigent mit dem Taktstock einfach nur die Luft zu zerteilen, wie man so schön böse sagt. Denn spielen tun ja die anderen – das ist das Handicap des Dirigenten. Seeger: Sie sind ein durch und durch reflektierter Musiker, wie ich den Eindruck habe, der seine Sache absolut ernst nimmt. Sie haben vorhin den Namen Cameron Carpenter genannt. Das ist ja so eine Art bunter Vogel in der Orgelwelt: Das ist gewissermaßen schon Pop, was er spielt. Er ist ein hervorragender Organist, der sich aber auch wie ein Popstar kleidet und verhält und Glitter und Glamour um sich verbreitet. Was halten Sie denn von einem Kollegen wie Carpenter? Albrecht: Es ist toll, dass es solche Leute gibt. Was die Masse nicht sieht, ist aber Folgendes: Wir haben nach einem Konzert mal kurz miteinander gesprochen und ich weiß auch von anderen Leuten, die länger Zeit hatten, mit ihm zu sprechen, dass das, was man bei ihm sieht, nur das eine ist. Ich finde es verrückt, was er macht, ich selbst wäre auch gar nicht der Typ dafür. Bei mir wäre es einfach nur daneben, wenn ich mir einen Irokesenhaarschnitt verpassen würde. Aber um dieses eingeschlafene Image der Orgel aufzuwecken, ist das fantastisch. Carpenter ist sehr klug, wie ich glaube, und weiß daher vermutlich sehr genau, was er macht. Ich hoffe, dass er – ich sage das jetzt als Musiker, als Künstler – die Kurve schafft, dass er sein immenses Können einsetzt, um z. B. den Menschen auch Bach näher zu bringen. Er spielt jetzt wohl auch in Konzerten Trio-Sonaten und diese selbstverständlich anders, denn er benutzt einfach sämtliche Musik als einen Steinbruch. Aber selbst wenn sich heute viele Leute über seine Musik aufregen oder mokieren, kann ich nur sagen: War das nicht schon immer so? Alle Komponisten haben das, was vor ihnen geschrieben wurde und wenn sie es in die Hände bekamen, bearbeitet. Gustav Mahler hat Schubert bearbeitet, hat Bach bearbeitet. Deren Musik kam dann in einem völlig neuen Gewand daher. Insofern ist er einfach ein Phänomen. Carpenter hat es geschafft, dass hier in München die Philharmonie voll war, als er gespielt hat. Alle anderen müssen sich mühen, sie wenigstens einigermaßen zu füllen. Es bleibt für uns andere auch in Zukunft eine Mühe, weil es bei diesem Instrument Orgel, das ja für mich das Pendant zum Orchester ist, leider so, dass es nicht so sinnlich wie das Klavier ist, obwohl es auch Tasten hat. Und als Pendant zum Orchester ist die Orgel einfach in einer Falle: Das ist die Falle der Kirchenmusik und der Verflachung und Ausnutzung in Messe und Gottesdienst. Sie hat selbst in größten Kathedralen als Begleitmusik zu erscheinen. Es ist ganz klar, dass das geistliche Wort und der Priester obenan stehen. Ich sage das ganz ohne Wertung: Die Musik ist dabei, egal wie sie dargeboten wird, immer nur die Nummer zwei. Wenn Menschen zu Hochzeiten und zu Beerdigungen und beim Gottesdienst schlechte oder noch schlechtere Musik zu hören bekommen, dann färbt das ab. Und wenn das über Jahrzehnte geht, dann weiß man nicht mehr, dass z. B. noch in den 20er Jahren Leute wie Edwin Henry Lemare, einer der großen englischen Orgelvirtuosen, der z. B. sehr viel Wagner transkribiert hat, in den USA in Sälen vor 10000 Leuten gespielt hat. Unsere Säle sind voller Orgeln, aber das sind alles quasi nur verstaubte Schauschränke. Seeger: Wobei Sie ja oft in der Philharmonie in München, also im Gasteig auftreten, an dieser Klais-Orgel. Albrecht: Wir benützen diese Orgel auch bei großen Barocksachen, damit dieses Instrument auch wirklich mal eingesetzt wird. Seeger: Damit wären wir jetzt wieder in München gelandet und endlich beim Bach-Chor und beim Bach-Orchester, die ja Anfang der 50er Jahre gegründet wurden und die eng mit den Namen und Hanns- Martin Schneidt verbunden sind, die Ihre Vorgänger waren. Wie würden Sie denn die Entwicklung und den Stand der Dinge heute beim Bach- Chor beschreiben? Denn die Geschichte des Bach-Chors ist ja verknüpft mit der Geschichte der historischen Aufführungspraxis. Albrecht: Das war bis jetzt eine spannende Zeit mit allen Höhen und Tiefen. Ich habe die Notenbibliothek von Richter ein halbes Jahr bei mir gehabt, als ich in München angefangen habe. Es war unglaublich interessant zu sehen, wie akribisch er für die Aufnahmen mit der Deutschen Grammophon das Orchestermaterial eingerichtet hat: mit rot und blau und verschiedenen anderen Anweisungen, auch die Striche waren genau eingeteilt. Das ist dieser Mythos Karl Richter, der einfach zur richtigen Zeit am richtigen Platz gewesen ist. Gerade in München musste es wahrscheinlich auch so sein: München, die Stadt von Wagner, von Bruckner, von Mahler, von Mozart – aber Mozart natürlich in einem anderen Klanggewand. Richter kam plötzlich mit Bach in einem sehr pastosen, großen, flächigen Stil mit viel Vibrato an, einer Art, wie man sie heute unter Musikern eigentlich nicht mehr unbedingt hören kann. Aber man muss dazu sagen, dass das eine Seelentiefe hatte, die man heutzutage fast vergeblich sucht. Die Entwicklung in den letzten Jahrzehnten war dann so, dass Richter Kontakt z. B. zu Harnoncourt in Wien gesucht hat. Harnoncourt, Gustav Leonhardt und Jürgen Jürgens vom Monteverdi-Chor in Hamburg waren ja die ersten Pioniere der Szene namens "Alte Musik". Auf der anderen Seite hat er Kontakt gesucht zu Jean Guillou, dem heute gut 80-jährigen Grand Maître an St. Eustache in Paris. Guillou stellt ja die Musik quasi auf den Kopf und ist, um hier noch mal eine Kurve zu machen, quasi das Vorbild von Carpenter. Richter hat sich damit intensiv auseinandergesetzt. Aber ich glaube, er konnte gar nicht mehr zurück, er war einfach auch schon zu sehr festgelegt. Auch die Medien, die Presse legten ihn fest. Ich habe gehört, dass wohl angedacht gewesen sei, dass er auch mal in Bayreuth dirigieren solle. Aber darüber ist er dann leider 1981 gestorben. Danach kam die Phase, in der man sich gefragt hat, ob man diese beiden Ensembles auflösen soll, denn der "Gott" ist ja nicht mehr da. Ich weiß nicht, ob es bei den Philharmonikern nach Celibidaches Tod bzw. Weggang diese Überlegungen auch gegeben hat. Wahrscheinlich doch nicht so extrem. Aber beim Bach-Chor muss man einfach sagen, dass er Deutschlands Kulturbotschafter Nummer 1 gewesen ist. Das Auswärtige Amt hat sich damals auch finanziell in seine Reisen eingeklinkt, in Reisen, die heute unvorstellbar und leider auch nicht mehr kopierbar sind. Aber man muss einfach weitermachen und die Sache weiterdenken. Hanns-Martin Schneidt wurde dann nach ungefähr vier Jahren gewählt: Er war Kapellmeister und kam auch aus der Schule des Thomaner-Chors. Richter war aus der Schule des Kreuzchores gekommen. Seeger: Wie hat Schneidt den Chor weiterentwickelt? Wie haben dann Sie das in dessen Nachfolge gemacht? Albrecht: Schneidt hat dann versucht, auf diese historischen Aufführungspraxismöglichkeiten einzugehen. Ich glaube aber, dass er vielleicht auch an München gescheitert ist: am Desinteresse an der historischen Aufführungspraxis und an Alter Musik überhaupt, die es zumindest in den 90er Jahren gegeben hat. Seeger: Man sagt ja auch, München sei keine Stadt für Alte Musik. Ist es so? Ist es nach wie vor immer noch so? Albrecht: Ja, es ist nach wie vor immer noch so. Es gibt ja ganz viele Bemühungen in dieser Richtung, es gibt Barockorchester, es gibt Neugründungen und etliche Ensembles, die diese Musik praktizieren. Aber ich glaube, dass diese Szene hier in München nicht mit Köln, Berlin und anderen Zentren zu vergleichen ist. Ich weiß nicht, woran das liegt, denn eigentlich ist das ja absurd, weil München von seiner Kulisse her einfach genau passend wäre. Man muss sich ja nur einmal die Ludwigstraße vom Odeonsplatz aus anschauen: Schöneren Pseudo-Barock gibt es ja nicht. Und wenn man das "pseudo" weglässt, dann muss man sagen: Wir leben hier in einer Stadt, die eine unglaubliche Kulisse bietet. An diese Kulisse könnte man anknüpfen. Aber in den Köpfen und vielleicht auch in den Herzen und in der Mentalität der Münchner ist irgendwie das 19. Jahrhundert nicht vorhanden: Das ist einerseits ein Glück und andererseits im Hinblick auf die Alte Musik auch schade. Seeger: Dennoch, der Bach-Chor hält an dieser Tradition fest und pflegt diese Tradition: gerade auch durch die großen Oratorien von Bach an Weihnachten mit dem Weihnachtsoratorium, mit der Johannes-Passion und der Matthäus-Passion usw. Wie haben Sie denn das Repertoire erweitert? Da gibt es zwar den Fixstern Bach, aber um ihn herum auch viel Neues. Albrecht: Als ich gekommen bin, habe ich es aufgrund meiner eigenen Kindheit und Jugend im Kreuzchor für unabdingbar gehalten, aus diesem wahnsinnig großen Becken, in dem es eben nicht nur einen Komponisten oder nur ein paar Komponisten gibt, mehr herauszufischen. Ich fand, dass die Sänger des Chores einfach mehr wissen müssten – nicht vom Schulwissen her, sondern einfach nur im Hinblick darauf, dass sie Querverbindungen herstellen können. Wenn man kein Spezialensemble ist, und der Bach-Chor ist kein Spezialensemble, obwohl das Kernrepertoire ja aus Bach, Händel, Mozart usw. besteht, muss man meiner Meinung nach auch Rachmaninow, Tschaikowsky, Leonard Bernstein und auch zeitgenössische Musik in der Kehle haben. Es muss nicht sein, dass man das total auswalzt und ausweitet, aber ich hielt es einfach für unabdingbar, dass alle Leute sich mal damit beschäftigen. Ich mache, solange es die Zeit zulässt, auch eine Einführung in das jeweilige Projekt, sodass diese Musik nicht erst in den Proben mit dem Orchester klar wird, weil ich das für wahnsinnig wichtig erachte. Wenn ich mich selbst längere Zeit mit einem Werk beschäftige, warum soll man davon nicht anderen Menschen etwas abgeben? Die Veranstalter wollen – der Name Bach-Chor und Bach-Orchester sagt es ja schon – natürlich in erster Linie Bach und alles, was darum herum ist, hören. Ich persönlich versuche, das immer wieder aufzubrechen mit Querverbindungen. Wir hatten jetzt im Januar z. B. ein Konzert, bei dem wir Bach mit Enjott Schneider kombiniert haben. Damit sind wir auch gleich beim Vorteil und bei der Problematik des Orchesters. Wir haben das Problem, das wir zu Spezialfestivals, zu Festivals mit Alter Musik oft nicht eingeladen werden, weil es heißt, dass die Musiker bei uns im Orchester mit modernen Instrumenten spielen. Wir haben sehr lange überlegt und ich habe mit verschiedensten Leuten darüber gesprochen: Wenn man sich die Erfolgsgeschichten der Ensembles wie "Akademie für Alte Musik" oder "Freiburger Barockorchester" anschaut, dann stellt man fest, dass sie halt einfach Zeit hatten. Gerade die "Akademie für Alte Musik" hat in den 80er Jahren in einem kleinen Kreis begonnen. 1985, zum Bach-Jahr, ging man dann mit ersten Konzerten an die Öffentlichkeit. Man hat sich dann damit beschäftigt, wie es ist, einen Barockbogen zu führen, wie es ist, wenn man wirklich mit Feuer non- vibrato spielt. Denn diese Sachen sind ja mit einer ganz anderen Technik verbunden, mit einem ganz anderen Wissen: Man spielt da eher Bilder und nicht schwarze Noten, wie es viele Orchester zu tun pflegen. Ich habe daher gesagt: Ich gehe den Weg zumindest in München konsequent weiter, und zwar mit den besten Leuten, die hier vor Ort sind. Und die besten Leute sitzen halt nun einmal z. B. im Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks oder in der Oper oder bei den Philharmonikern. Es hat sich inzwischen so herauskristallisiert, dass wir meistens mit dem Symphonieorchester zu tun haben. Aus meinem Musikverständnis heraus sage ich daher: Ich habe lieber Leute, die sich einerseits mit historischer Musik beschäftigen, die aber auch wissen, was es heißt, bei Wagner, bei Strauss, bei zeitgenössischer Musik mal so richtig Gas zu geben. Seeger: Aber das gibt es ja bei vielen Orchestern inzwischen: Das nennt man historisch informierte Praxis. Das ist sozusagen der goldene Mittelweg, den man gehen kann, wenn eben die anderen Möglichkeiten nicht gegeben sind. Ich denke, Sie erleben das ja auch als Dirigent, denn Sie dirigieren ja auch unterschiedlichste Ensembles und haben möglicherweise Anforderungen an die Aufführungspraxis, nämlich die Annäherung an den Originalklang, die manche Ensembles manchmal zunächst gar nicht erfüllen können. Das heißt, hier muss der Dirigent wohl schon auch ein bisschen lehrend eingreifen. Albrecht: "Lehrend" wäre mir fast schon wieder zu abstrakt-schulisch. Aber ich weiß, was Sie meinen. Man hat dabei einfach eine Wahnsinnsaufgabe. Wenn man z. B. bei einer Mahlersinfonie in den Proben wirklich bis ins Detail gehen kann, dann kann man auch darauf achten, dass z. B. nicht alle gleichzeitig das Crescendo machen, sondern dass das Blech damit später anfängt als die Streicher. Diese ganze Binnendynamik ist von enormer Bedeutung. Interessant ist ja die Arbeit mit Sinfonieorchestern in Tschechien oder Italien. Italien, das Land des Barock! Aber Italien ist so absolut stehengeblieben, dass es wirklich absurd ist. Man kann sich eigentlich nur wundern: Sie sind bei Puccini, Rossini, Verdi stehengeblieben. Das heißt … Seeger: Es gibt also weiterhin Aufgaben für Sie. Wir müssen leider schon zum Schluss kommen. Eine allerletzte Frage, die ich gerne Musikern stelle: Was bedeutet Ihnen Stille? Albrecht: Da könnte ich jetzt schweigen und einfach nur Stille erzeugen. Nein, im Ernst, Stille ist wahnsinnig wichtig, vor allem Stille zwischen allem, was gesprochen wird und was klingt. Denn die ganze Musik kommt aus der Stille und geht wieder in die Stille. Sie fragten vorhin nach meinem schönsten Konzerterlebnis. So ein Konzert hat einen Anfang und ein Ende: Davor ist es still und danach ist es auch wieder still. Und nach dem Konzert ist quasi vor dem Konzert. Stille ist notwendig, um zur Ruhe zu kommen, um sich auf neue Dinge konzentrieren zu können, um offen zu sein für vieles. Dafür ist Stille wahnsinnig wichtig. Seeger: Herr Albrecht, herzlichen Dank für dieses Gespräch und weiterhin viel Freude bei der Arbeit und viel Erfolg! Bei Ihnen, verehrte Zuschauer, bedanke ich mich für ihr Interesse.

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