Eine Initiative des Kunstfördervereins Kreis Düren e.V.

LASS 4H. LANGE ONRACHT DEER PNOESIE Schirmherrschaft: HAUS DER STADT DÜREN Thomas Rachel Staatssekretär im Bundesministerium SAMSTAG 24. NOVEMBER 2012 18.30 UHR für Bildung und Forschung HeVg`VhhZc";^cVco\gjeeZ

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Grußworte ...... 4

Programm ...... 7

Hajo Steinert: Gedichte sind von Natur aus still ...... 8

Die Autoren ...... 11

Nora Bossong ...... 12 Manfred Peter Hein ...... 14 Doris Runge ...... 16 Nancy Hünger Stipendiatin 2012 ...... 18 Günter Kunert Ehrengast 2012 ...... 20 Marion Poschmann ...... 24 Jan Volker Röhnert ...... 26

Michael Braun: „Überseezungen“ Zur Weltsprache der Poesie ...... 30

LASS HÖREN 2010 3. Lange Nacht der Poesie ...... 33

Kunstförderverein Kreis Düren e.V. . . . 38

Dank an die Sponsoren Impressum ...... 39 ersten Mal vergeben. Gerade junge Lyrikerinnen und Lyriker sind es, die eine kleine Finanzspritze benötigen. Denn von Lyrik – bekanntermaßen die umsatzschwächste aller literari - schen Gattungen – können junge Künstler nicht einmal ihre monatlich wiederkehrende Miete bezahlen. Die Zeiten, da ein Robert Gernhardt oder Peter Rühmkorf uns mit ihren lichten Versen voller Sprachwitz in Bann schlu - gen, waren wunderbar – und bleiben es, dank der Auflagen - zah len ihrer Bücher. Sie sind Klassiker der modernen Lyrik. Liebe Freundinnen und Freunde der Poesie, Und nur wenige junge Lyrikerinnen können, an Auflagen zah - herzlich Willkommen in Düren zum 4. Poesie-Festival len gemessen, Schritt halten mit einer Ulla Hahn. Aber es ist „LASS HÖREN – Lange Nacht der Poesie“ im Haus der Stadt! immer wieder spannend zu sehen, wie die junge, aufstreben - de Lyrik mit neuen Gedichtformen experimentiert und neue, Die Besucher unserer Lyrik-Matineen „Der Lyrik eine Gas - eigene Wege geht. Die heutige Lyrik junger Autorinnen und se“ oder früherer Poesienächte wissen, dass der Kunstförder - Autoren spiegelt auf ganz eigene Weise das Zeitgeschehen. ver ein Kreis Düren e.V. in seinem Arbeitsbereich Literatur der Digitale Medien spielen bei der Findung neuer, ungewohnter zeitgenössischen Lyrik einen besonderen Stellenwert bei - und spielerischer Ausdrucksformen eine auffällige Rolle. Die misst. Neben dem weit über Deutschland hinaus bekannten Lebendigkeit einer zeitgemäßen, jungen Lyrik zu fördern – das Kammermusikfest „Spannungen: Musik im Kraftwerk Heim - ist ein wesentliches Anliegen des Arbeitsbereiches Literatur im bach“ ist die Lyrik zu einer wichtigen Säule der kulturellen Kunstfördervereins Kreis Düren. Arbeit des Vereins geworden. Bedeutende Autoren wie Hilde Unsere Besuche in den weiterführenden Schulen und das Domin oder Sarah Kirsch, Lars Gustafsson, Ulla Hahn, Durs Angebot von Autorengesprächen für Leistungskurse Deutsch Grünbein, Raoul Schrott, Jan Wagner und Wolf Wondratschek werden gerne angenommen und sind ein wichtiger Schritt, die – um nur einige zu nennen – haben in Düren aus ihren Werken Lyrik auch der jüngeren Generation nahe zu bringen. Lyrik gelesen und das Publikum begeistert. nervt nicht, wie Hans-Magnus Enzensberger feststellte – wenn Mit „LASS HÖREN“ geben wir Leserinnen und Lesern von sie an der unmittelbaren Gegenwart nicht vorbei schreibt. Im zeitgenössischer Lyrik die Gelegenheit, an einem Abend, von Gegenteil – sie bereichert unsere Gegenwart und inspiriert Musik umrahmt und live eine Reihe von zeitgenössischen zum Denken gegen den Strom. Autoren zu erleben. Die von uns ausgewählten Dichter aus ver - schiedenen Generationen stehen für die Ausdrucksvielfalt und Im Namen des Vorstandes des Kunstfördervereins Kreis Düren Lebendigkeit deutscher Dichtkunst. In diesem Jahr ist der e.V. wünsche ich Ihnen einen unterhaltsamen, kurzweiligen 83jährige Günter Kunert unser Ehrengast. Manfred Peter Hein und nachhaltigen Abend mit Gedichten aus unserer Zeit. kommt aus Finnland zu uns. Außerdem – nicht zum ersten Mal – Doris Runge und Marion Poschmann. Ihr Als Vertreter der jungen Generation begrüßen wir Nora Bossong und Jan Volker Röhnert sowie unsere Stipendiatin Nancy Hünger voller Freude. Das Förder-Stipendium für Lyrik Gerhard Quitmann hat der Kunstförderverein Kreis Düren e.V. in diesem Jahr zum Kunstförderverein Kreis Düren e.V. – Arbeitsbereich Literatur

4 Der Lyriker Kurt Drawert, den wir vor einem Jahr auf Einladung des Kunst - fördervereins Kreis Düren auf Schloss Burgau erleben durften, schreibt in sei ner Rezension des Gedichtbandes „Nacht vorstellung“ von Günter Ku- nert, des Ehrengastes der vierten Dürener Langen Nacht der Poesie: „In den Koordinaten von Mythos und Moderne, Sehnsucht und Vergeblichkeit, Geschichte und Schuld be - wegen sich die Gedichte in einer Schönheit, die ihr eigent - licher Entwurf ist, ihr Anliegen an sich.“ Dieser Satz weist über die Texte Günter Kunerts hinaus auf Charakteristika des lyrischen Schaffens seit antiker Zeit: Gedichte thematisieren Urgründe des Seins ebenso wie heu tiges Weltgeschehen. In der Dichtung spiegeln sich tragende Hoffnungen und auch niederschmetternde Ent - täuschungen wider. Historie und bleibende Verantwor- tung werden angesprochen. Dies alles geschieht in der Ästhetik von Sprachformen, die uns als Zuhörer- und Le - ser schaft fasziniert.

Deshalb freuen wir uns in Düren auf das Ereignis eines abendlich-nächtlichen Poesiefestivals mit weiteren profi - lierten Lyrikerinnen und Lyrikern der Gegenwart. Ich dan - ke dem Kunstförderverein Kreis Düren für sein nachhalti - ges Engagement, der aktuellen Dichtkunst in unserer Stadt ein Forum zu geben und wünsche uns allen einen spannen - den langen Abend des Zuhörens, der Begegnung und des Gespräches im Haus der Stadt!

Allen ein herzliches Willkommen!

Ihr

Paul Larue Bürgermeister der Stadt Düren

5 Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde der Poesie,

mit einem großartigen Programm für das Poesiefest „LASS Lyrik ist ein Kommunikationsmittel, das sich lohnt, gerade HÖREN – Lange Nacht der Poesie“, welches der Kunst för der - an die junge Generation weiterzugeben. Mit seiner Lyrik-Ini - ver ein des Kreis Düren e.V. bereits zum vierten Mal ausrichtet, tia tive hält der Kunstförderverein Düren diesen wichtigen Be - bereichert er den Kreis kulturell und begeistert Düren. reich der deutschen Literatur lebendig. Es finden Autoren ge - „Macht, Gedichte“ titelte die Wochenzeitung „Die Zeit“ im spräche zwischen Schülern und den anwesenden Lyrike rinnen März des vergangenen Jahre bei der Vorstellung eine neue und Lyrikern statt. Darüber hinaus wird den Dürener Schüle - Serie. Nicht im Teil für Literatur, sonder im Politikteil der rin nen und Schülern die Gelegenheit gegeben, sich in Bei trä - „Zeit“ erscheint seitdem jede Woche ein Gedicht. Auch zwei gen oder Beilagen zum Thema Lyrik zu äußern. Lyriker, die wir heute Abend hier live erleben werden, schrei - Den ehrenamtlichen Organisatoren sowie den Spendern ben für „Die Zeit“ und versuchen „das Politische und die Poli - und Sponsoren des Poesiefestes gerade aus unserer Region ti ker auf eine neue Weise wahrzunehmen“. Die politische Lyrik danke ich sehr herzlich. Ohne Sie würde die Veranstaltung hat es heute nicht leicht. Das Zeitalter der ideologischen nicht funktionieren. Grabenkämpfe in der Politik, die es Dichtern leicht gemacht hat, die klaren Muster der Politik zu durchbrechen, wie sie es Im Umkehrschluss zu Horaz meine ich: Carpe Noctem! mit der Sprache auch tun, scheint vorbei zu sein. Aber stirbt Es erwartet uns eine spannende lange Nacht der Poesie. deswegen das politische Gedicht? Die „Zeit“-Reihe zeigt, dass dem nicht so ist. Vielmehr ermöglicht das Gedicht einen Ihr neuen, einen anderen Zugang zum Politischen. Der Erfolg der Serie spricht hier eine klar Sprache. Der Ehrengast des diesjährigen Poesiefestes hat seine eige nen Erfahrungen mit der Politik gemacht. Kunst braucht Thomas Rachel Freiheit! Eine Freiheit, die für einen Teil Deutschlands noch vor Bundestagsabgeordneter des Kreises Düren 25 Jahren nicht selbstverständlich war. Ich freue mich, dass Schirmherr von LASS HÖREN 4. Lange Nacht der Poesie wir mit Günter Kunert als Ehrengast auch einen renommierten und international anerkannten Künstler mit einer einzigarti - gen Biographie unter uns haben.

6 Programm

18.30 Uhr Begrüßung Gerhard Quitmann Thomas Rachel Paul Larue

Lesungen

ca. 19.00 – 21.00 Uhr Nora Bossong Moderation: Michael Braun Manfred Peter Hein Moderation: Hajo Steinert Doris Runge Moderation: Hajo Steinert Nancy Hünger Stipendiatin In den Pausen können Sie Moderation: Gerhard Quitmann die Angebote der Gastronomie nutzen, den Büchertisch besuchen Pause oder sich von den Autoren ein Buch signieren zu lassen. ca. 21.30 – 23.00 Uhr Günter Kunert ...außerdem: Ehrengast 2012 JAZZAFFAIRS Moderation: Hajo Steinert Sönke Pelzer – Saxophon Marion Poschmann Martin Büsen – Guitar Moderation: Michael Braun Stephan Schönen – Piano Jan Volker Röhnert Martin Löhrer – Bass Moderation: Michael Braun Leonard Gehlen – Drums

Schlusswort Gerhard Quitmann

7 Hajo Steinert Er war mal wieder unterwegs, zu Fuß, hinein in den Thü- rin ger Fichtenwald, die Steigung hinauf, immer höher, eine Gedichte gute Sicht wurde ihm versprochen, die heiße Phase des Sturm und Drang lag längst hinter ihm, unten im Tal, in den Wirts - sind von Natur aus häusern, in den Gassen. Der Gefühlslärm in seiner Brust war endlich ein paar Dezibel schwächer, wiewohl sein Herz noch still immer von einer süßen melancholischen Stimmung beseelt. So kam er an eine hübsche Jagdaufseherhütte, auf einer Höhe von 861 Metern, ihre Wände aus glattem, wohl duftendem Holz, Lust überkam ihn, die Lust, hier in der Stille, etwas Ver - bote nes zu tun, die Lust auf ein Graffiti, und so zückte er sei - nen Bleistift, schloss kurz die Augen, entsann sich eines klei - nen, selbst verfassten Verses, das ihm im Kopf schlummerte (vielleicht auch rumorte, wer kann das heute wissen?), da öff - nete er wieder die Augen, schaute nach links und nach rechts, ob ihn auch keiner erwischt, und ritzte, hier oben auf dem schö nen, weite Sicht bietenden Kickelhahn bei Ilmenau, ein weiches Gedicht neben das südliche Fenster ans hölzerne Bau - werk, das zu den schönsten und stillsten, gleichwohl bedroh - lichsten Gedichten gehört, die jemals in deutscher Sprache geschrieben wurden. Gerade noch lag ein Zwitschern in der Luft, doch der Windhauch des Todes lässt sich nicht so leicht über stimmen:

Über allen Gipfeln ist Ruh, In allen Wipfeln spürest du Kaum einen Hauch. Es schweigen die Vöglein im Walde; Warte nur, balde Ruhest Du auch

Goethes am 7. September 1780, gut eine Woche nach sei - nem 31. Geburtstag an die Wand einer Hütte geschriebenes (erst 1815 in seiner Werkausgabe übernommenes, leicht bear - beitetes) Gedicht ist der Anfang aller Lyrik, die herauf be - schwört, was keine andere literarische Gattung so kann wie sie: die Stille, das Schweigen, die Ruhe, den Tod. Goethe selbst war von seinen eigenen Zeilen so erschüttert, dass ihm

8 noch Jahre später, am 27. August 1831, einen Tag nach seinem Die Spannung zwischen Stille und ihrer Vertonung ist nicht 72. Geburtstag, ein dreiviertel Jahr vor seinem eigenen Tod, nur eine ungeheure Herausforderung für die Dichter, sondern wie Berginspektor Johann Christian Mahr in seinen Erin ne run - auch für uns, die ihnen erwartungsvoll zurufen: „Lasst hören!“ gen festhielt, die Tränen über die Wangen flossen. „Ganz lang - Allein ein Blick auf die Namen der Lyrikerinnen und Lyriker, die sam zog er sein schneeweißes Taschentuch aus seinem dunkel - in diesem Jahr nach Düren ohne Schellen und Posaunen, ohne braunen Tuchrock, trocknete sich die Thränen und sprach in Trommeln und Pistolen im Gepäck angereist sind, stimmt uns sanftem, wehmütigen Ton: Ja warte nur balde ruhest du auch, auf eine akustische Wanderung ein, die eine Höhe erreicht, die schwieg eine halbe Minute, sah nochmals durch das Fenster in mindestens bei Goethes 761 Metern über dem Meeresrauschen den düstern Fichtenwald und wendete sich darauf zu mir, mit liegt. Wie laut stille Gedichte, und wie still laute Gedichte klin - den Worten: Nun wollen wir wieder gehen.“ gen – das wird uns beschäftigen, noch lange nachdem die Was ist in dieser halben Minute Schweigen Goethe durch Lich ter im Saal verloschen und die Regler an der Laut spre cher - den Kopf gegangen? Hat er nur dem gegenwärtigen Vogel ge - anlage herunter gezogen sind. zwitscher gelauscht? Hat er den Lärm seiner Jugend wieder gehört? Sind ihm die Stimmen seiner Lieben durch den Kopf gegangen? Die Stimmen der verpassten, verlorenen, vergebli - chen Lieben zumal? Ganz gleich, was es war, als er seine Zeilen noch einmal las, las er nicht still für sich, sondern laut oder besser, wie sein Begleiter berichtet, in einem „sanften, weh - mütigen Ton“. Goethe war nicht danach, sein Gedicht nur still für sich zu lesen, er wollte, dass man ihm zuhört, auch wenn er im Moment, da er vorlas, nur einen Zuhörer hatte, den Berg inspektor. Was in uns Heutigen, die Gedichte nicht nur still lesen, sondern bei Gelegenheit, und immer häufiger, auch laut hören wollen – in Vortragssälen mit hunderten von Gesin - nungs genossen um uns herum – mithin die Frage aufwirft: wie laut darf man ein Gedicht, das die Stille, die Ruhe, das Schwei - gen, den Tod herauf beschwört, eigentlich lesen? Darf man es überhaupt vorlesen? Ist nicht selbst leisestes Flüstern zu laut? Sollte man Gedichte, die nicht den Lärmstress der Großstadt, die Schnittfolge harter Musik, den Kriegsdonner oder den all - täglichen Terror der Lautsprecherdurchsagen in Versen ban - nen, überhaupt in einen Saal tragen, in ein Mikrofon spre - chen, auf einem Tonträger elektronisch bannen, im Radio über tragen? Ein stilles Gedicht mittel Lautsprecher verstärkt – ist das nicht ein Widerspruch in sich? Ja, es ist. Und es ist auch und erst recht eine Zumutung für

Lyriker, die ihre Gedichte nicht nur für sich, sondern auch für Dr. Hajo Steinert ist Abteilungsleiter Kulturelles Wort einen Markt schreiben, auf dem es naturgemäß laut zugeht. beim Deutschlandfunk in Köln

9

Die Autoren in der Reihenfolge ihrer Lesung

Nora Bossong

Manfred Peter Hein

Doris Runge

Nancy Hünger Stipendiatin 2012

Günter Kunert Ehrengast 2012

Marion Poschmann

Jan Volker Röhnert

11 NORA BOSSONG * 9. Januar 1982 in Bremen u.a. Wolfgang-Weyrauch-Förderpreis 2007 Kunstpreis Literatur der Akademie der Künste 2011 Peter-Huchel-Preis 2012 Lebt und arbeitet in Berlin

„Es ist Sonntag ich denke daran Gott zu Alte Tante Politik beweisen“ , so beginnt ein Gedicht von r e h c Nora Bossong. Sie beruft sich darin auf s i

F Sie wohnt feudal, doch im Nebenraum: n i t s

r den Gottesbeweis des Oxforder Philo so - e K

: Nationalgalerie, zweiter Stock links. Dort o t

o phen Robert Swin burne. Und das ausge - F rechnet in Rom, im nächtlichen Park der Villa Borghese. Doch steckt sie fest in einem Bild von sich selbst, wer beweist ihr, was es genau für Vögel sind, die dort in den kommt nicht heraus, nicht vor, nicht zurück, Bäumen sitzen? ein Porträt, das versucht zu gehen, Öl ohne Feuer. Nora Bossong hat ein Ohr für die religiös musikalische Mo - der ne und ist ihr doch nicht hörig. Geboren 1982 im norddeut - Ihre Nahrung Tee und lang getunkte Kekse, das Licht schen „Protestantenland“, greift sie gerne Motive aus katho - der Wächter, die sichern, dass sie keiner stiehlt. lischen Bildwelten auf, um sie neu zusammenzusetzen. Ihre Ge - Ihre Zeit streckt sich maßlos, dieses graue Tier dichte sind Mosaikporträts mit Madonnen und Ministran ten. Aus gewählten Porträts der 265 Päpste in der römischen Basilika mit elastischem Rücken und ein Kratzen im Hof San Paolo fuori le Mura ist der Titelzyklus „Sommer vor den hält sie wach, sie ist alt, sie ist endlos müde, träumt Mauern“ gewidmet: Betrachtungen über Glauben und Wis sen, vom Rücktritt, würde gern in den Farben untergehen. über die Religion und die Medien. Etwa über Paul VI., der, als die Fabriken nicht zur Kirche kamen, die Kirche in Form eines Doch sie bleibt und da hängt sie: Raum zwölf, zweite helikoptergetragenen Kreuzes zu den Fabriken brin gen ließ. von rechts. Das ist ihr Aufstand nach Vorschrift. Nora Bossong hat, neben zwei Romanen, die Gedichtbände „Reg lose Jagd“ (2007) und „Sommer vor den Mauern“ (2010) geschrieben. Darin kommen auch die Mutterstadt Bremen (im Rolandslied und den Stadtmusikanten) und die „Neuen Alten Welten“ in New York vor (etwa die „Obduktionskajüten“ der Wall Street-Banker). Die Dichterin, die am Deutschen Litera tur - in sti tut in Leipzig, an der Berliner Humboldt-Universität und an der römischen Università La Sapienza studiert hat, bleibt uns also im Gedicht – natürlich – den Gottesbeweis schul dig. Doch die Gedichte zeigen, dass es mehr Dinge zwischen Him - mel und Erde gibt, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt. Michael Braun

12 Unde malum Ach Europa,

Ich muss Ihnen sagen, es kommt nicht, es ist. auch nur dieses kleine, gerüttelte Wiesending, Königstochter Hockt im Garten. Lebt sein Leben. Ich sah es, mit einer panischen Angst vor Stieren, wer nimmt ihr das übel es lief mir schräg durch den Sinn, nahm sich nach all dem. Kriege hatte sie wie andere Leute Erkältungen. die Gedanken, die nur noch am Drehen sind. Eine Schürze voller Länder über die Ebene geschüttelt, Babel Wer hätte behauptet, die Welt sei gemacht, an jedem Grashalm errichtet, Verwaltungschaos drapiert in uns zu gefallen? - Sie ist nur da, sagt es, um uns Brüsseler Spitze. Ein Panoptikum aus Irren und Ehrenbürgern, unsre Freiheit heimzuzahlen. Es liegt drüben, Bagatellen und bösen Geistern. Die Sumpfdotterblume wäre liegt mir zu Füßen, ist ich, ist ihr, bestellt Eiscreme, die sichere Wahl, doch irgendetwas liegt uns an ihr, Europa, gibt Trinkgeld. Es folgt uns oder verkehre ich hier dieser verschreckten Zwergin am Ende der Welt. Wir muntern die Konstanten? Ich laufe ihm nach, fass es, schon sie auf und beteuern, dass es einmal gut ausgeht mit ihr. ist es fort, war nur gespiegelt, sucht einen neuen Ort. Wir haben es bis zuletzt nicht gestellt, doch stellt es den Einen, das Alle von uns, umstellt uns, stellt uns um und um. Drehen Sie sich, verehrtes Publikum. Das Böse gibt es nicht, es gibt nur uns.

Alle Texte: Erstveröffentlicht in DIE ZEIT 2011

13 MANFRED PETER HEIN * 25. Mai 1931 in Darkehmen/Ostpreußen u.a. Literaturpreis Lettlands 2004 Rainer-Malkowski-Preis 2006 Ehrendoktorwürde Johannes Gutenberg Universität Mainz 2011 Lebt und arbeitet in Karakallio/Finnland

„Hein schreibt nicht leicht (…), aber an einer Tagung der Gruppe 47 in Saulgau und 1964 an der in e k r

e seine Sprache möchte durchaus verstan - Sig tu na/Schweden teil. Sein lyrischer Werdegang zeichnete i W k n a den werden, sich verbreiten, etwas be - sich mit den Jahren durch eine zunehmende formale Askese r F

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F wirken“, sagte Adolf Muschg 2006 zur und Hermetik aus. „Ich schreibe um der Gegenwirkung der Verleihung des Rainer-Mal kows ki-Preises in der Bayrischen Spra che, um ihrer Obertöne willen, die, auf die Figur ge - Aka demie der Schönen Küns te. Eine Beobachtung, die jeder, bracht, die Absurdität der Wirklichkeit ad absurdum führen“, der einmal dem in Finnland lebenden Dichter zugehört hat, schrieb er, nach einer Selbstauskunft be fragt, in der von Hans bestätigen kann. Manfred Peter Hein sind zeitgenössische Bender 1961 herausgegebenen Antho lo gie „Widerspiel“. Schock erfahrungen wie der Zusammensturz der beiden Türme Ein Widerspieler ist Manfred Peter Hein noch heute, ein des World-Trade-Centers ge nau so einer lyrischen Beschwö - lyrischer Zeitzeuge und exzeptioneller Poet unserer Jahr zehn - rung wert wie etwa die Be schießung der Buddha-Statuen in te zumal. Bamijan durch den Taliban. Manfred Peter Heins politische Warngedichte zehren vom Hajo Steinert Ges tus der expressionistischen Lyrik wie vom Pathos der Auf - klä rung. Und doch ist ihnen alles Appellative und Aufrüttelnde fern. Als im Wallstein-Verlag 2011 eine Sammlung mit Gedich - ten der Jahre 2008 bis 2010 erschien, schrieb der Kritiker und Schriftsteller Walter Hinck, kürzlich neunzig Jahre alt gewor - den, in der FAZ, anlässlich des Erscheinens von „Weltrandhin“ und anlässlich des achtzigsten Geburtstages von Hein: „In mythischer Schau hofft man aus dem Flug der Vögel den Wil - len der Götter zu erfahren.“ Manfred Peter Hein wurde am 25. Mai 1931 in Ostpreu ßen geboren, nach dem Studium in Marburg, München und Hel sin - ki arbeitete er Anfang der fünfziger Jahre als Land arbeiter in Ost- und Mittelfinnland. Als Lyri ker debütierte er 1960 mit der Sammlung „Ohne Geleit“. Die Kritik sah in ihm einen glän - zenden Vertreter der literarischen Moderne in der Tradition eines Johannes Bobrowski und Paul Celan. 1963 nahm Hein

14 WÜSTUNG STARI RAS

Steingewordenes Saatgut Aus dem Marktbrunnen flammende Schwärze

Sieben Jahrhunderte sah Traumsaat Wiederkehr überm Grund ich HANDBREITE UNTER DEM KIEL dich hängen – Der Fall durch die Jahrhunderte Aus dem Museum In Zell an der Mosel faucht von Novi Pazar trug ich mich die schwarze Katz an die Saat zum Gedicht –

Traum vom versteinerten Korn Strandlichter nachts lauern am Fluß das wo hier zum Keimen kam Augen Würfelaugen im Einst und Jetzt ALEA IACTA EST Sprache ein dunkles Reden Wieviel Handbreit unterm Kiel SUOMENLINNA fallen und steigen die Wasser des Binnenschiffers auf Fahrt Aus leerer Ecke zur offenen See – Aufgeschreckt Anonymus Dein Anderes Ich – Hier wo die Rebe ausschlägt und die Traube reift am Hang Erweckt in aufgelassner ist der Würfel gefallen Kasematte Festungsspuk neigt sich das letzte Jahrzehnt Hol deine Namen Zurück von den Strandfelsen Eigenhandgeritzt – Russisch Finnisch Deutsch Aufgehoben Luftgepaust Granit Warum nicht unveröffentlicht unveröffentlicht Alle Rechte beim Autor Alle Rechte beim Autor

15 DORIS RUNGE * 15. Juli 1943 in Carlow u.a. Friedrich-Hölderlin Preis 1997 Landeskulturpreis Schleswig Holstein 1998 Poetik Professur an der Otto-Friedrich Universität Bamberg Ida-Dehmel-Literaturpreis der GEDOK 2007 Ernennung zur Professorin des Landes Schleswig-Holstein 2009 Lebt und arbeitet in Cismar/Schleswig-Holstein i k s w o k n i B

. B r e n i Doris Runges Romantik zeugt von einem Acht Lyrikbände hat die 1943 geborene, in einem alten e R

: o t o scharf gezogenen Lidstrich, ihre Verfüh - Kloster zu Cismar, wenige Fahrradminuten vom Ostseestrand F rungskunst von einer Wimperntusche, die deutlich schwärzer entfernt wohnende Dichterin schon veröffentlicht. Bei aller ist als die anderer Liebeslyrikerinnen auf wei ter Flur. Vor Melancholie, die ihr geblieben ist, lässt sich eine zunehmende allem: sie braucht nicht viel Worte, um anzudeuten, worin die Munterkeit in ihren Büchern nicht übersehen. „Was da auf - Geheimnisse der Liebe und des Begehrens heute liegen; die taucht“, so der Titel ihres 2010 veröffentlichten, an Zauber - Geheimnisse der Erotik liegen zwischen den Zeilen. Alles was haf tig keit kaum zu übertreffenden Buches, sorgt nicht nur direkt daherkommt und nach sofortiger Um setzung drängt, unter Runge-Fans mitunter für eine regelrecht aufgekratzte hat mit einer ‚ars erotica’ nichts gemein. Lakonie ist das Stimmung. Aphro disiakum ihrer zarten und, wenn es die Gelegenheit zu - lässt, diskret draufgängerischen Texte. Hajo Steinert Jemand, der ein Gedicht „Blind Date“ nennt, muss wissen, wie es heute mit der Liebe und ihren tollkühnen Anbah nungs - verfahren aussieht. Wer so was noch nicht erlebt hat: „Blind Date“ ist die prickelnde Form eines mit erotischen Absichten eingegangenen Rendezvous’ von Zweien, die sich vor der leib - haftigen Begegnung nur vom Telefon oder von Emails oder von echten Briefen her kannten. Und doch verliert Doris Runge bei aller Umstandslosigkeit, die ihre Texte auf den ersten Blick auszeichnen, das Diskrete, das Zögerliche, das Abwartende, das Schüchterne nicht aus den Augen. Nichts geht hier zwi - schen „Tür und Angel“, der „Quickie“ hat in ihren Versen keine Chance, keiner landet hier, huschhusch, im Bett mit dem oder der Anderen. Gewisse Bedürfnisse lassen sich nicht schnell befriedigen, die Poesie der Liebe liegt im reinen Begehren, im Sinnen, in der Einsamkeit, im Traum, manchmal ganz altmo - disch im Schmachten, und die Schönheit des Gedichts liegt im einzelnen Wort.

16 blind date bernsteinkette schlemihls schatten es muß ja nicht die eingefangene ich sah gleich sein rollende zeit wie er ihn abtrennte nicht hier sein das vergangene von meinen füßen zwischen tür und blut blatt blühen einsammelte aufrollte engel abflug leuchtet in seinem schwarzen und ankunft tiefe diplomatenkoffer in zugigen höfen stille verstaute es könnte legt sich und abhob im sommer sein um meinen hals in die lüfte wenn man ein schöner den schatten liebt würgeengel ich sah es wird keine sagt mir seinen schatten liebe sein wie jung zu meinen füßen jedenfalls keine wie vergänglich fliegen fürs leben ich bin

aus: Doris Runge, was da auftaucht aus: Doris Runge, die dreizehnte (unveröffentlicht) © DVA 2010 © DVA 2007 Alle Rechte bei der Autorin

17 STIPENDIATIN 2012 NANCY HÜNGER * 1981 in Weimar u.a. Hermann-Lenz-Stipendium 2008 Stadtschreiberin in Jena 2011 Förderstipendium Lyrik des Kunstfördervereins Kreis Düren e.V. 2012

Das Staunen steht am Anfang des Kamelit Denkens. In den Gedichten von Nancy Hünger ist es stets verbunden mit dem mein Vater war einer von euch von vielen Erschrecken über das Bekannte, uns allzu Bekannte, das plötz - mit milchsaurem Atem von Hopfen und Korn lich fremd wird. Nicht mit Anschauung aber, sondern durch zwischen den Hochöfen schlief er im Ruß Deutung kommt sie schreibend den Dingen nahe. Es gilt, nach die kratzenden Wangen schlief ins Silber innen zu lauschen und einen eigenen poetischen Zugang zur Welt zu finden, gegen „Ersatzgespräche, Gefühlsprothesen“. Nancy Hünger wurde 1981 in Weimar geboren und studier - der Schläfen ein niemand der rief mich te an der Friedrich Schiller Universität Jena sowie an der in den Guss der Fabrik ich trug ein weißes Kleid Bauhaus-Universität Weimar. 2005 erschien ihr Debütband von dem rote Tupfen in die nassen Augen „Aus blassen Fasern Wirklichkeit“ in der Dresdner Edition Azur. schwammen als er mich Bündel durch das Feuer Von der Form der lakonischen Kurzgedichte hat sie sich später abgewandt. Die Gedichte in dem Band „Deshalb die Vögel“ (2009) nei - zog zu den schweren den schwitzenden Männern gen zur epischen Ausbreitung und Mehrteiligkeit. Der Unter - die sich in Schwielen, Hornhaut puppten titel „Instabile Texte“ zeigt eine Suchbewegung der Texte an, und den Filz tagein durch ihre Nüstern sogen die wahrgenommene Bilder in poetische Rede mit raumver - lungenfein fiel ein Regen ins innere Leuchten wandelnder Kraft bringen. Das gilt auch für das Reisen mit und in Gedichten: Neben der „Heimsuchung“ in Thüringen – wo der Schafhusten meines Bruder im Gewölbe 2011 war sie Stadtschreiberin in Jena – führen die Gedichte seiner Knochen keuchte ihm pfiff der Berkaer nach Israel, in die Ukraine und nach Rumänien. „Ich habe keinen großen Entwurf, keinen Plot, und keinen Wind durch die Brust dort lauscht vernäht Sonettenkranz, was ich habe, ist der gegebene Moment in seiner mein Muschelohr ein Leben lang die Flügel ab vollen Präsenz und ihm überlasse ich meinen Text mit voller In - ten sität“ , sagte Nancy Hünger in einem Interview 2011. Ihre Ge dichte sprechen den Leser intensiv an und lehren das Stau - nen. unveröffentlicht Michael Braun Alle Rechte bei der Autorin

18 Bei Tisch Wo ich schlafe

Wir lauschen nach innen und fahren die Betten hinein in den Abgrund werfen Münzen in den Schacht, der sieht aus wie ein Zimmer gewöhnlich da nichts fällt und nichts klingt. die rückenden Wände und was alles darin gehört ins Inventar meiner Augen es tropft Wie ausgeräumt wir sind. Wer weiß, aus den Hähnen fliegen die Motten und wer spricht? Es war ein anderes Leben, fressen was nötig und warm hält im Winter als wir unsere Zungen im Takt bewegten. die Hände gefrieren ich kann nichts mehr halten die Gläser zerbrechen meine Füße Wir bergen die Jahre vom Grund in Scherben ich erzähle dir Märchen und die Fotos erleichtern die Arbeit. vertreib dir die Sorgen die Tür sei verschlossen Wir waren schon einmal vorhanden, alles nicht wahr und wie immer gelogen nur die Fenster bedenk doch sind offen. nur bleicher, uns schliffen die Farben von den Wangen. Ich erkenne niemanden wieder die Gesichter drehen zum Mond und Sicheln fahren darüber. Die Zeit weiß nicht weiter, geht unter in uns drehen die Gestirne. Ist jeder allein.

unveröffentlicht unveröffentlicht Alle Rechte bei der Autorin Alle Rechte bei der Autorin

19 Ehrengast 2012 GÜNTER KUNERT * 6. März 1929 in Berlin Auszeichnungen u.a. Heinrich-Heine-Preis 1985 Friedrich-Hölderlin-Preis 1991 Georg-Trakl-Preis 1997

g Präsident des P.E.N. Zentrums 2005 a l r e V

Ehrendoktorwürden in USA und Italien r e s n a Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache H l r a

C und Dichtung, Darmstadt

Spätestens seit der Ausbürgerung Wolf Biermann 1976 – / t r e Ausstellungen eigener Bilder und Plastiken n h Kunert gehörte zu den Erstunterzeichnern des Protestbriefes o P

in Berlin und Hamburg e t t e gegen die Ausbürgerung des Liedermachers – stand Kunert n Lebt und arbeitet n A

: o t in Kaisborstel/Schleswig-Holstein auf der schwarzen Liste der Verfolgungsbehörden. „Abtö - o F tungs verfahren“ – so der bezeichnende Titel eines 1980 veröf - fentlichten Gedichtbandes, ein Jahr nach seiner Übersiedlung Vor genau fünfzig Jahren ist der 1929 in Berlin geborene 1979 in die Bundesrepublik. Seine Bücher konnten fortan nur Günter Kunert zum ersten Mal mit einem Literaturpreis ausge - noch in diesem Teil Deutschlands erscheinen. zeichnet worden. Ein Jahr nach dem Bau der Mauer – es waren Dank seiner Gast professuren in den USA und in England schon einige Gedichtbände und Erzählungen von ihm seit sei - genießt Kunert bis heute einen ausgezeichneten internatio - nem Debüt 1950 in der DDR erschienen – erhielt er den Hein - nalen Ruf. Für die einen ein „kreuzfideler Pessimystiker“ oder rich-Mann-Preis. „heiterer Melancholiker“, für die anderen, in Anspielung an „Wegschilder und Mauerinschriften“ hieß sein erster Ge - seine norddeutsche ländliche Heimat seit den siebziger Jah - dicht band, der wie die nachfolgenden Lyrikbände deutliche ren, schlichtweg die „Kassandra von Kaisborstel“, erlangte er Spuren eines Dichters offenbarte, den Kunert noch selbst per - vor allem mit seinen durchaus in der Tradition eines Nikolaus sönlich kennenlernen konnte: Bertolt Brecht. Lenau stehenden Gedichtbänden einen singulären Rang in Kunert, als Sohn eines Kaufmanns geboren, war Lehrling unserer jüngeren Literaturgeschichte. Ein schelmisches Au - in einem Bekleidungsgeschäft, studierte ab 1946 Grafik an der gen zwinkern ist ihm zeitlebens nicht abhanden gekommen: Hochschule für angewandte Kunst in Berlin-Weißensee und „Der Dichter öffnet seinen Mund / uns mitzuteilen, was schrieb erste Gedichte für die satirische Zeitschrift „Uhlen - gesund / und einfach wäre: das Lavieren / Ach Brecht, wir wol - spie gel“. Entdeckt und zunächst gefördert vom ersten Präsi - len uns nicht zieren / Und sagen: Dabei kommt nichts raus / den ten des Kulturbundes der DDR, Johannes R. Becher, wich Nicht Fisch noch Fleisch – so geht das aus / Und kostet auch Kunert in den sechziger Jahren immer mehr von den ebenso noch Selbstvertrauen / Deshalb auf keinen Dichter bauen!“ kunstfeindlichen wie lächerlichen Dogmen des Literatur be - Worauf wir bauen: seine Stimme, in 83 Lebensjahren kaum triebs in der DDR ab. Seine Texte zeichneten sich fortan von rauer geworden, schlägt sie uns nimmermüden Lesern und einer zunehmenden Skepsis gegenüber jedwedem Fort - Zuhörern seiner Gedichte seit Jahrzehnten in Bann. schritts glauben ab. Seine pessimistische, mit den Jahren Züge Hajo Steinert der Melancholie annehmende Weltsicht wurde für die Zensoren der DDR-Kulturbürokratie immer unerträglicher.

20 Requiem I IM VORÜBER

Hier lebt die Menschenleere Ab und an Stumm ihr eignes Sein. Kein Blick von fern, begegnet man dieser alten Frau von nah, kein Rufen „Kehre bis sie einem bekannt vorkommt. wieder !“ Ein erloschner Stern. Nornengleich verborgen in verdämmernden Cafès und plaziert auf einer Parkbank. Die Luft steht still, als sei es anbefohlen. Gedächtnisstütze einst gelebter Der graue Himmel deckt den grauen Ort. Gemeinsamkeit. Der Blick ähnlich Von hier kann keiner dich nach Hause holen, der Blinden ins Vergangene gerichtet, denn wer verblieb, ist längst schon fort wo alles ganz anders ist als es war. Altmodischer Kleidung entsteigt und tief vergraben in verblichnen Akten: das Parfüm der Vergeblichkeit. das Einst ein ominöses Monument Der Gruß eines Vorbeigehenden aus Zahlen und verdrängten Fakten Verklingt wie alle anderen Geräusche. und Namen, die kein Mund mehr nennt. Aber das Endgültige bleibt unausgesprochen, weil es längst bekannt ist und längst stimmlos.

18. September 2011 25. Juni 2012 Alle Rechte beim Autor Alle Rechte beim Autor

21 FUNDSTÜCK AM SEE VON PLAGEN

Wie anfangen und wie aufhören? Schlaffes Schwappen des Wassers Die Sprache täuscht sich stets selber, weil der Wind eingeschlafen war. sobald ihr die Wahrheit zu nahe rückt So träge am Schreibtisch und ergreift die Flucht wenn die müden Wellen der Wortreihen ins wörtlich Verwerfliche. nichts ans Ufer brachten. Unter all den Dächern unglaubhafter Städte Ich ging doch immer an der Kante versteckt sich das serielle Schicksal. zwischen Himmel und Erde entlang Drum und herum und immer wieder absturzbereit. Und verlor den Glauben bersten Mauern und verfallen, was an einen Horizont. sie stützen, die Skulpturen Buchstaben schleimige Algen aus verstorbenem Fleisch und Bein. Verse nur Kiesel aus dunkler Tiefe. Wie beginnen und wie enden? Dumpfer Klang des Nebelhorns Und was bleibt übrig? aus der Ferne im Dunst Im Schutt der Geschichte ein Blinklicht. ein paar verstreute Wahrheiten Und trotzdem gestrandet und bereits stark vergilbt. an der Insel der Unseligen von einem tückischen Kompaß verlockt.

25. Juni 2012 17. Juli 2012 Alle Rechte beim Autor Alle Rechte beim Autor

22

MARION POSCHMANN * 15. Dezember 1969 in Essen u.a. Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen 2007 Literaturstipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung 2009 Peter-Huchel-Preis 2011 Lebt und arbeitet in Berlin

Was bringt das Gedicht ans Licht? Die Parzen-Parzelle r e l d Welt, das Ich, die Sprache, einen Spuk? ä M k n a r Für Marion Poschmann, die 1969 in Essen Altweiber-Fehlleistung, an diesem Herbsttag F

: o t o

F geborene Lyrikerin und Romanautorin, saß ich versunken in fast nur geht es um das Unsichtbare im Sichtbaren, um die Unschärfe - gedachten Gespinsten, ein Hauch relationen der Dinge im Licht lyrischen Sprechens. Weil das schimmernder Schmiegsamkeit, Beinahe-Nichts Sichtbare uns so oft die Sicht verbirgt, lässt Marion Posch - voller Sendungsbewußtsein und flirrender mann durch ihre Lyrikbände Dunst, Nebel, Wolken, Schleier, Fernwirkung, Spinnen schwebten Schall und Rauch wehen. Sie heißen „verschlossene Kam - um mich, in klebrigen Feinstfäden mern“ (2002), „Grund zu Schafen“ (2004) und „Geistersehen“ saß ich, in einem Kokon aus weiser Brillanz, (2010). Wir finden darin virtuose Verse über das Ungesehene, ich dachte an Zukunft, so fiebrig erwartend, über das unzuverlässige Nah-Sehen und das täuschende Fern- als tröste ein Kind sich selbst mit Sehen, über vage Aus- und Einsichten. Allerorten das Schei - zuckrigem Funkeln, dem Glanz der Vernunft tern der Blicke. Aber auch die Zuversicht des alten Goethe: „Wär nicht das Auge sonnenhaft, / Die Sonne könnt’ es nie erblicken.“ Zu Marion Poschmanns schönsten Gedichten gehören ihre Oden und Idyllen: freundliche Gedichte einer Naturmagie und Technik verbindenden Nachmoderne, in der „fossile Farne“ den „Trugbildern“ aus dem Herbarium und den „Testbildern“ aus Fußgängerzonen gegenüberstehen. So sorgt sie für eine „Normalverteilung der Ereignisse“. Kein Zweifel, Marion Posch manns Gedichte leuchten aus sich selbst: Es sind „Kraftwerke / die ständig Licht erzeugen“ und zugleich „Wertgegenstände / für Leute die selten zuhause sind“.

Michael Braun

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24 niedere Arbeiten divenhaft ausgeführt sieh den beiliegenden Ort, was hältst du davon?

Negation oder Landschaft. Pflanzen, die es nicht geben kann. eine kabelartige Pflanze, die uns mit der grünen Lunge verbindet: sie beugt sich von ihrem Schalterpult weit hinunter, sie läßt sich herab mit verlängertem Hals, eine Schlange, Jülich – Grevenbroich – Erkelenz die uns kurz Auskunft gibt. jede Information gerät s-förmig wie in den Ratgebern aus den 50er Jahren. ein energisches Dreieck, farblos und flach aus der Luft „gestatten Sie, daß ich Ihnen nichts sage.“ gegriffen, breitete sich auf dem Boden aus. beängstigend blau kontrastierten dazu Attribute der Arbeit, der Freilichthimmel, ockergelbe Felder, ockergelber Himmel, kreiselnde Fernsicht. die Overalls, die kommenden Seen (die größten Europas). die politische Idee des Industriegebiets, dessen Bodenbelag Absetzer schoben das Erdreich zur Seite. die Unveräußerliche, von weitem wie Teppich wirkt, wäre ganz Innenraum: die Leere, gähnte gelangweilt. wir standen am Rand bar jeden Wetters, bar jeder Obdachlosigkeit: wo es vor vernichteten Flächen, vor der Gewaltenteilung in allen Lagerhallen ebenso aussieht wie außerhalb. in Bagger und Bänder (die größten der Welt). dazu kommen Automobile, auf Teppichen ausgestellt, hoher Komfort für Geräte, die lediglich über geliehene machtvolle Kohleflöze noch einmal in Hoheitspose: Intelligenz verfügen. Gerät, dessen Bilder verbreitet werden was Wald war im Tertiär, stand schwarz und schwieg. wie Herrscherporträts. alarmbereit wir, die kurz eingeglitzerten Sedimente Lochkartensysteme, frühe Computer. auch wilde Tiere spielen. der Erdgeschichte, wir atmeten Staub, fraßen Staubgardinen, die in den Geisterdörfern noch immer hinter vernagelten wir besetzen die Treppen am Bahnhofsportal, eine Handlung, klar Fenstern hingen, wir wanderten langsam die Abbruchkante entlang vorgestanzt. sind ein Getränk, das exakt in die runde Vertiefung auf einem Klapptablett paßt. wir wagen jetzt wieder zu werten. wie die umgesiedelten Friedhöfe. aus neuen Schläuchen stieg starke Meinungen. Zorn. der totale Tisch. wir verzichten weißer Niesel, beschwichtigende Berieselung – Mondlandschaft auf Fertigsalate in Plastikschalen. wir verzeihen Gebäudefehler, verschlang uns die Sprache. das Loch hinter Schleiern nur halb jene Eingänge, die rein aus Fußmatte bestehen, verwegen zu sehen, während wir selbst den Prozeß der Inkohlung durchliefen, betreten wir sie. ich brauche noch eine zusammenfaltbare Wanne für meine Reise. unter dem täglichen hohen Druck stille Kammern voll schwarzer Sonne, leicht zu verheizen, Waldkonzentrat.

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25 JAN VOLKER RÖHNERT Die weiten Parks * 19. November 1976 in Gera u.a. Harald-Gerlach-Stipendium des Freistaates Thüringen 2010 oder Kälberherden am Abend, Wiesenlicht, Heyne Juniorprofessur am Germanistischen Institut Maiskolben, Erlwipfel – Savannenhimmel der TU Braunschweig 2011 am Fluss: die Kartoffeln Lebt und arbeitet in Braunschweig

verdämmern, diesiger Juli, zählen Was hat die Schönheit im Gedicht zu kannst du jede Blüte im Morgenrot. suchen, in einer Zeit der nicht mehr Schö - Die Tiere sind dieser Park, nen Künste? Der 1975 verstorbene Kölner Poet Rolf Dieter Brinkmann hat sie in „einen jener klassischen Bäume die Götter des Parks, schwarzen Tan gos“ verwandelt. Einer seiner gelehrigsten Schü - Vögel die Nymphen des Parks, ler, der 1976 in Gera geborene Jan Volker Röhnert, vertraut sie in denen kein Mensch sich bewegt – einer jungen Schönen in einer Genueser Cappuc ci nobar an, nicht ohne eine gewisse Ironie und elegische Weh mut. Sauerampfer, das norddeutsche Sommermotiv „Momentane Phantasien“ und Tagträume sind die Auslöser bringt uns bis an den Horizont, bis seiner Gedichte, die in den Bänden „Burgruinenblues“ (2003) das schattige Grün in den Rahmen fließt, und „Metropolen“ (2007) vorliegen. Sie dokumentieren den „aus gesonderten Bestand“, den der immer noch seine Ge - sandgrau gebeizt wie bei Ebbe dichte mit Schreibmaschine schreibende Dichter der Welt und die See: die Stimmen versickern seiner thüringischen Herkunftswelt abgewonnen hat. Die Ge - im Graben, im Bach, in den Acker- dichte sind in einem „narrativen Sagestil“ gehalten, „in dem es um eine neue Welterklärung mit Alltagsmaterial“ geht (Wulf Schachtelhalmen leise Kirsten). Sie sind intensiv, elastisch – und stark beteiligt an wie Grillengezirp, nächtlicher Taubenschlag. den Orten, an denen sie entstehen. New York, Sofia, Jena sind Keine Farbe ist ausgegangen (wenn solche Metropolen, in denen das Gedicht seine ästhe tischen Fühler ausstreckt. Und, zum Beispiel, im Saaletal auf den es so war, hat sie dein Aug’ übersehn): „Som mer im Paradies“ stößt: in 33 Haiku, die den kunst vollen Das Rot aus den Ebereschen, Zeilensprung nicht verschmähen: aus Kamille und Beifuß das Gelb, „Schau / Hin der ganze Sinn“. Der Lyriker Jan Volker Röhnert, der auch Germanistik pro - aus Disteln den Silberstaub, fessor an der Technischen Universität Braunschweig ist und vom Himmel das Tintenblau eine wunderbare Anthologie über „100 Jahre Film und Kino im lässt Sonne durch, du glaubst es kaum. Gedicht“ (2009) ediert hat, gibt den Worten Augen. Und macht dadurch die Sprache sehend. Lyrische Schönheit ist keine Dekoration, sondern Liebe zum Wort, irdisches Ver gnü - gen im Gedicht. Michael Braun Alle Rechte beim Autor

26 Uccello und seine Nachfolger

Weshalb öffnest du das Tagesblatt? Unsre Andacht darfst du nicht mit hohem Stil verwechseln. Im Aufmacher die Dame mit Hermelin, Uns scheuchen die Kanuten nur aus einer Ruhe auf, „Krönung des Porträts der Renaissance“, die wir ohnehin verlassen hätten, um Geliebte des Marquis La Sforza, die neue Zeit in unser Reich zu lassen. die wieder nach Urbino ging, als Die gute Nachricht: Es kann sich nur zum Raum erweitern. „er die Wände seines Kellerlochs mit Fresken übermalte, Inbegriff des Adels, der sich im eignen Grab verewigt“ – Jetzt werden die Fächer wichtig und die Aufschrift, dazu Schrapnells, Mörserschüsse, Staatsanleihen unter der du die Lichtstrahlen archivierst. als Streitobjekt, im Reiseteil Südfrankreich, Jede Spätzeit tat nichts anderes – aber die Nordkapspitze, Hendaye im Baskenland es ist nicht spät, nur die Oberfläche kräuselt sich. und die Bergsteigerin „ohne Sauerstoff auf dem K2“ Weck mich nicht durch Worte auf. Die Ventile sind Bleisatz auf dem Wasserspiegel: Nur das Papierweiß schillert sind stabil genug, diese Art Geräusche an der Oberfläche fort. von den Bildersälen fernzuhalten. Das Museum ist so eingerichtet, dass alle Du musst die Tage für die Lichtreflexe nehmen, Kopfhörer am Eingang abzugeben sind. die sie sind: Kontrast von Hell- und Dunkelstoff Sonst verzögen die Madonnen das Gesicht. mit verworrener Dynamik in den Formen, die allein das Auge bremst, das sich nicht von den Nuancen Ihnen konnte nicht entgehen, dass wir uns ihretwegen trennt. Im Holzschatten der Ufermole unterhielten. Seit Erfindung des Rads die Weltgeschichte schrieben wir am liebsten neu die Blessrallen verneigen sich zum Nachmittagsgebet, nach jedem Antlitz, jedem Paar von Augenblicken um. selbstredend wie eine Nachricht, die in keiner Zeitung steht: Der Bootsmaat auf der Anmut holt die Segel Vor allen Kulissen, aller Druckerschwärze, allem Wehgeschrei, mit den bunten Wappen der Enklave ein – Zeit dass es jeder übersehen muss, der an dieser Küste für den Nachmittagskaffee, reizende Gespräche nur nach Vermissten und Überresten sucht. ohne Inhalt, den Wetterteil.

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27 Kleine Unruhe

Die Natur hat Arabesken nötig, damit Etwas ihr entspringt. die Mädchen ist es immer Zeit, in ihren Farben Verästelungen, Gewebemuster, Knollenrauten, auszugehen, keiner verübelt ihnen zuviel die mitwirken am reinen Blau. Buntstifte, Weichzeichner, das Baden im Dekor. Solange die Textur sich ändert, darfst du den Ort Sie wissen, es ist am besten, zweimal nicht wechseln – er bildet seine Ableger, mit demselben Fuß die Wiese zu betreten – Kolonien, Neopoli am Küstenrand einmal für die Linse, einmal fürs Gefühl, des gelben Flecks. Stille Buchten, den grünen Teppich zu berühren, dem manchmal nur minutenlang bevölkert, die Webfehler des Schöpfers nicht anzusehen sind. denen wir von unsren weißen Segeln aus Dein Vorwurf abzuschweifen, während ich die Chance sich zu entfalten geben: doch nur den Kern umkreisen will, Das Logbuch verzeichnet Blütenstände, Niederschlag, ist nicht auszuhalten. Die Vögel sind am Steg Giftgewächse, wilde Tiere, Gipfelformen; versammelt, ziehen die Konzentrik was im Innern vorgeht, bietet selten ungeschützt des Wassers der eignen Unrast vor. sich dar: solange sich das Wasser Sie tanken Strahlen, tauchen ab nicht über deinem Kopf ergießt, be- in trübe Strömung, trocknen das Gefieder ziehst du die Wolken nicht auf dich. Für im Flug. Was du siehst und was sie tun –

das Schwärmen um die Mitte, die es nur in Arithmetik und Gedankenspielen gibt, die Genauigkeit der Bögen, die rund sind nur im Wort „Kreis“ – bleibt unversehrt.

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Michael Braun „Überseezungen“: So heißt kein exotisches Fischgericht, sondern ein Buch von Yoko Tawada. Als Neunzehnjährige kam „Überseezungen“ sie 1979 aus Tokio nach Deutschland. Mit der „Zunge“ aus Übersee hat sie seither ebenso viele Gedichtbände in japani - scher wie in deutscher Sprache geschrieben, sich selbst über - Zur Weltsprache der Poesie setzt und dabei die Welt für die deutsche Sprache geöffnet. Sprachwelt als Weltsprache: Das ist kein Einzelfall in der Lyrikszene hierzulande. Deutsch ist immerhin die am meisten gesprochene Muttersprache in Europa. Doch viele Schrift - steller haben eine andere Sprache im Gepäck, wenn sie deut - sche Gedichte zu schreiben beginnen. Sie kommen aus einer anderen Sprachheimat. Etwa aus Südosteuropa, wie Marica Bodroˇzi´c, deren „Ankunft in Wörtern“ schon Stoff fürs Zen - tralabitur ist. Oder aus Spanien, wie José F.A. Oliver, der sein „andalusisches Schwarzwalddorf“ besingt. Die Gedichte dieser Sprachmigranten haben oft zwei Muttersprachen, die sich wechselseitig inspirieren. Zum Beispiel bei Zehra Çirak. Sie kam Anfang der 1960er Jahre aus Istanbul nach Deutschland.

deutsche sprache gute sprache oder die denen ihnen die dienen ihnen jenen dienen die denen dienen denen die dienen die dienen ihnen die verwirr mal nicht

Çiraks Gedicht spielt mit der deutschen Sprache, die mit 300.000 bis 400.000 Wörtern zu den wortreichsten europäi - schen Sprachen gehört. Das liegt an der Vielfalt von Pro no mi - nal bildungen und Komposita und hat bekanntlich zur Folge, dass die deutsche Sprache gar nicht so einfach zu lernen ist. Das grammatische Feingefühl sträubt sich freilich gegen den Eindruck, hier könne die schwere Fremdsprache zu einer guten Muttersprache werden. Ordentlicher Satzbau und klare Seman - tik sind den Versen fremd, obwohl sie grammatikalisch korrekt

30 sind, sie wirken zunächst sinnlos. Durch leichte Vokal er gän - an die nationalen Literaturen befreit“. So ist ein Gedicht in zungen im Schriftbild schafft die Autorin Verwirrung: „ihnen“ deutscher Sprache heute weit mehr als ein deutsches Gedicht. wird zu „dienen“. Der Autor kann aus Budapest oder Buenos Aires kommen, zwi - Auf den zweiten Blick sieht man neben diesen Wortspielen schen Paris und Prag pendeln, in deutsch und in dänisch auch Endreime. Dienen die Sprecher der Sprache oder umge - schrei ben. Kein Zweifel, in Gedichten mehrsprachiger Dichter kehrt? Und wozu dient die Sprache den Zweitsprachlern? Mit sind viele Sprachen unterwegs zum Hause des Nachbarn. diesen Fragen lässt uns das Gedicht nicht ganz allein. Sein Der Weltsprache der Poesie kann kein Duden, keine Natio - letzter Vers gibt einen guten Rat: Wir sollen uns nicht verwir - nal versammlung vorschreiben, wie sie das, was sie sagt, zu ren, sondern bereichern lassen von der deutschen Sprache. sagen hat. Deshalb lässt sie sich gerne auf die „Abenteuer mit Das Gedicht unterstreicht die Distanz zwischen Deutsch als der deutschen Grammatik“ (Yoko Tawada) ein: Erst- und als Zweitsprache. Diese Differenz macht zugleich eine interkulturelle Qualität aus. Sie bewahrt uns vor Berüh - „Ich liebe dich“ heißt auf Japanisch rungs ängsten mit dem Fremden. Längst Vergangenheit ist der „watashi wa anata ga suki desu“. fremdsprachenfeindliche Purismus der barocken Sprach ge sell - Wenn man diesen Satz wiederum ins Deutsche wörtlich zurück - schaften, die das „Fenster“ durchs „Windauge“ und die „Nase“ übersetzt, heißt er: durch den „Gesichtserker“ ersetzt sehen wollten. Das ,Kiez - Was mich betrifft, bist du begehrenswürdig. deutsch’ ist in der Lyrik der Migranten längst angekommen. Ein wichtiger Weltsprachteilnehmer der Poesie war Gott - fried Benn. „Morgue“ hieß die erste Gedichtsammlung, mit der der Dichter-Arzt vor hundert Jahren am Leib der Sprache herumexperimentierte. Der „Zersprenger / mittels Gehirn prin - zip“ machte Wörter miteinander bekannt, die sich sonst nie kennengelernt hätten, etwa die „neurogene Leier“. Mit der Moderne sind so die Fachsprachen der Naturwissenschaften ins Gedicht eingewandert, mit der Postmoderne dann die Dia - lekte und mit der Globalisierung die Übersetzungen. Was die eine Sprache nicht kann, offeriert die andere – und umge - kehrt; manchmal kann es gar zu einer „Errettung des Dichters am Ufer der anderen Sprache kommen“ (Sarah Kirsch). Schon Paul Celan hat allein aus sieben Sprachen übersetzt. Poesie ist also nicht das, was „lost in translation“ (Robert Frost) ist. Im Babylonwald der poetischen Sprache gehört das übersetzte Wort dem Übersetzer wie dem Übersetzten. Die Sprache der Lyrik ist kein unantastbares Heiligtum, sondern „Luftfracht“ (Harald Hartung). Sie überfliegt Ländergrenzen und findet Heimat auch in der Fremde. Ihr Ort ist die Welt, Prof. Dr. Michael Braun ist Leiter des Referats Literatur ihre Sprache polyglott. Das Besondere dieser modernen Poe - der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. in St. Augustin sie, meint Hans Magnus Enzensberger, wird „aus der Bindung und apl. Prof. an der Universität zu Köln.

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Rückblick LASS HÖREN 2010 3. Lange Nacht der Poesie

Das nachhaltige Interesse an der zeitgenössischen Lyrik ver - anlasste den Kunstförderverein Kreis Düren e.V. am 27.11.2010 die „3. Lange Nacht der Poesie“ durchzuführen.

Als Autoren waren eingeladen: Jürgen Becker Bas Böttcher Michael Lentz Monika Rinck Thomas Rosenlöcher Lutz Seiler als Ehrengast 2010 Ulla Hahn

Die Presse schrieb: Lyrik voller Leidenschaft und Kraft. Dritte „Lange Nacht der Poesie“ mit Ulla Hahn, Michael Lentz und anderen klangvollen Namen ... Fünf beeindruckende Stunden im „Haus der Stadt“ (Dürener Zeitung) Die „Lange Nacht der Poesie“ hält Düren wach. 500 Zuhörer lassen sich von sieben Autoren verzaubern … Die „Lange Nacht der Poesie“ hat sich schon fast zu einem Litera - turfestival allererster Güte entwickelt (Dürener Nachrichten)

Auf den folgenden Seiten finden Sie diese Veranstaltung mit Fotos dokumentiert.

33 Diskussion mit Schülern Ein (fast) volles Haus der Stadt Düren

Gerhard Quitmann (rechts) verabschiedet die Gäste von links: Prof. Dr. Michael Braun, Michael Lentz, Thomas Rosenlöcher, Bas Böttcher, Lutz Seiler, Jürgen Becker, Monika Rinck, Ulla Hahn Ulla Hahn, Ehrengast 2010

... trug sich in das Goldene Buch der Stadt Düren ein

34 Jürgen Becker

Prof. Dr. Michael Braun

Michael Lentz Dr. Hajo Steinert

Thomas Rosenlöcher

von links: Monika Rinck Prof. Dr. Michael Braun Bas Böttcher

Lutz Seiler

35 Thomas Rosenlöcher Lutz Seiler

Dr. Hajo Steinert

Monika Rinck

Gedränge am Büchertisch

Bürgermeister Paul Larue (2. von links) und die Autoren

Pause im Bistro

36 Bas Böttcher von links: Ulla Hahn Gerhard Quitmann Thomas Rosenlöcher Michael Lentz von links: Jürgen Becker Lutz Seiler Musikalische Ulla Hahn Umrahmung Gerhard Quitmann Jazzaffairs Dr. Hajo Steinert

37 Der ”Kunstförderverein Kreis Düren e.V.”wurde im Sep tem- ber 1986 gegründet. Er hat z. Zt. etwa 500 Mitglieder. Vereinszweck ist, die Arbeit von und mit Künstlern, insbe - sondere auch der jüngeren Generation, zu fördern und das Interesse an Kunst, sei es Musik, Litera tur, Architektur oder Bildende Kunst zu wecken.

Auf Initiative des Pianisten Lars Vogt brachte der Kunst - förderverein 1998 mit SPANNUNGEN: Musik im Kraftwerk Heim bach sein bisher anspruchsvollstes und umfangreichstes Projekt auf den Weg. Von Anfang an erfreut sich jeweils im Juni eine begeisterte Hörerschaft aus nah und fern an den Konzerten im Heimbacher RWE-Jugendstilkraftwerk. Ein in kur zer Zeit ausverkauftes Haus ist die Regel. In einer weiteren ambitionierten Reihe des Kunst för der - vereins werden Veranstaltungen mit literarischer Thematik, insbesondere Lyrik angeboten. Unter dem Motto „Der Lyrik eine Gasse“ finden jährlich mehrere Lesungen statt. In den Jahren 2006, 2008 und 2010 veranstaltete der Ver - ein unter dem Titel „LASS HÖREN – Lange Nacht der Poe sie“ jeweils einen Lyrik-Marathon, in dem zeitgenössische Autoren aus ihren Werken vortrugen. Am 24.11. 2012 findet dieses in seiner Art einmalige Poesiefest zum 4. Mal statt. Der Deutsch - landfunk widmet den Veranstaltungen jeweils eine eigene Sen dung. Neben den beiden Hauptaktivitäten Kammermusik und Lite ra - tur gibt es noch zwei weitere Bereiche mit den Reihen: „Aktion für Gutes Bauen“, die sich mit der Architektur der Region be - schäf tigt und „art-up! – Junge Kunst aus deutschen Akade - mien“. Seit 2007 stellen Studenten deutscher Kunstaka de mien in Schloss Burgau ihre Werke aus und geben einen Ein blick in die junge deutsche Kunstszene. Museumsfahrten und Vorträge ergänzen das anspruchs - volle und vielseitige Veranstaltungsprogramm.

Werden Sie doch einfach auch Mitglied im Kunstförderverein Kreis Düren e.V. Junge Kunst aus deutschen Akademien Nähere Informationen: www.kunstfoerderverein-dn.de

38 LASS HÖREN Der Kunstförderverein Wir danken den Verlagen Kreis Düren e.V. Hanser Verlag München, 4. LANGE NACHT DER POESIE dankt für die Unterstützung Wallstein Verlag Göttingen, Idee und Organisation: Gerhard Quitmann des Lyrikprojektes LASS HÖREN – 4. Lange Nacht der Poesie Deutsche Verlags-Anstalt München, Schirmherrschaft den nachfolgenden Partnern, Suhrkamp Verlag Berlin Thomas Rachel Sponsoren und Spendern: Staatssekretär im Bundesministerium und edition AZUR Dresden für Bildung und Forschung für ihre Unterstützung.

Gefördert durch: Medienpartner:

Sponsoren: Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen

Gesellschaft für Industrieforschung mbH

Spender:

Stiftung Sammlung Hofmann-Schmitz, Euskirchen

Der Kunstförderverein Kreis Düren e.V. IMPRESSUM: bedankt sich herzlich bei allen, die anlässlich des Redaktion: 70. Geburtstages von Herrn Gerhard Quitmann Prof. Dr. Michael Braun Veranstalter: LASS HÖREN – 4. Lange Nacht der Poesie – Gerhard Quitmann Dr. Hajo Steinert Kunstförderverein mit einer Spende unterstützt haben. Kreis Düren e.V. Gestaltung: Müllejans Grafik-Design, Düren Geschäftsstelle: Schumannweg 6 Fotos: Sylvia Dietl 52349 Düren Illustrationen: Telefon 0 24 21-40 71 60 Martina Siefert, Münster Telefax 0 24 21-40 71 61 Druck: Pecks-Druck, Düren www.lass-hoeren-poesie.de Veranstaltungspartner:

Email-Kontakt: Stadt Herausgeber: [email protected] Düren Kunstförderverein Kreis Düren e.V.

39 Energie für Körper Lass hören! Geist und Seele. Abschalten, eren.de den Worten der Autoren -du rke lauschen – Liebe, Schmerz, Spannung. we dt Energie und Leidenschaft versprühen, ta eigene Phantasien erleben und die Welt .s um uns herum für einen Moment vergessen. w w Lass hören! w