In: Blohmke, Maria u.a. (Hrsg.): Handbuch der Sozialmedizin in drei Bänden. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag, 1976. S. 385-492

D. Krankenversicherung

1 Sozialgeschichte der Sozialversicherung*

Florian Tennstedt

1 Die gesetzliche Krankenversicherung Reich als einewohltätige Institutionanzusehen". Das geschah mittels der Stabilisierungsmethode 1.1 Die Krankenversicherung im Deutschen der staatlichen Sozialpolitik. "Sie bildet:e die Kaiserreich (1871-191'3) Innenseite einer Politik, deren Außenseite die Die Sozialgesetzgebung des Deutschen Reichs ökonomische und koloniale Expansion waren" von 1871 ist auf dem Hintergrund der Tat­ (H. U. Wehler) und war mit Repressivmaß• sache zu sehen, daß dieses Reich ein labiles, nahmen wie dem sog. Sozialistengesetz (1878­ von starken Kräften der gesellschaftlichen und 1890) gekoppelt. Die Sozialpolitik versuchte, politischen Veränderung bedrohtes System dar­ die "sozialen Schäden" aufzufangen, beugte stellte. Die "soziale Frage", die bis in die erste ihnen aber nicht vor, etwa durch Arbeiter­ Hälfte des vorigen Jahrhunderts zurückreicht, schutzgesetzgebung. hatte eine neue Qualität bekommen durch: Die konkrete Konzeption des "Gesetzes betref­ fend die Krankenversicherung der Arbeiter" 1. die Folgen der Agrarrevolution und den über• von 1883 lag bei 1heodor Lohmann (1831 bis gang zur Fabrikindustrie und die Herausbildung des Systems der modernen industriellen Groß• 1905), für Bismarck war es ein "untergescho­ unternehmen seit den siebziger Jahren, wodurch benes Kind", sein Interesse galt dem Unfall­ ein Industrieproletariat entstand, das sich in den versicherungsgesetz, das 1884 verabschiedet Städten und industriellen Ballungsregionen (u. a. wurde. Vorläufig beendet wurde die Sozial­ Ruhrgebiet, Saargebiet, Oberschlesien und Sachsen) konzentrierte und sich in der sozialdemokratischen versicherungsgesetzgebung durch das Gesetz Arbeiterbewegung emanzipativ organisierte, betr. die Invaliditäts- und Altersversicherung 2. die mit dem "Gründerkrach" von 1873 begin­ (1889), das in eine Periode industriellen Auf­ ne~den, durch die "Große Depression" (1873 bis schwungs (1886-1890) fiel. Für die reale Wirk­ 1895) gekennzeichneten Wachstumsstörungen, die samkeit der Sozialgesetzgebung ab 1895 muß mit Lohnsenkungen (bis 1879 wurden die Berg­ arbeiterlöhne halbiert!), massenweisen Entlassun­ beachtet werden, daß hier eine durch "indu­ gen und Existenzangst auf seiten des Industrie­ strielle Hochkonjunktur und subventionierte proletariats verbunden waren. Agrarwirtschaft" (H. U. Wehler) gekennzeich­ Der Reichskanzler Duo von Bismarck ver­ nete Periode bis 1913 einsetzte, in deren Folge suchte nun, die sich nicht nur von der kapi­ der Reallohn allerdings - vor allem infolge talistischen Wirtschaftsverfassung, sondern auch des Bülowschen Zolltarifs - nur gering anstieg. von dem neugegründeten Reich, das keine inte­ Das durchschnittliche jährliche Arbeitseinkommen grierende nationale Tradition aufwies, poli­ in Industrie und Handwerk stieg nach den Schät• tisch abwendenden Arbeiter zu lehren, "das zungen von walter G. Hoffmann von 622 M im Jahre 1885 (1875: 669 M, 1880: 565 M) auf '. Aufgrund der besonderen Zielsetzung des Hand­ 1163 M im Jahre 1913. Gerhanl Bry schätzt, daß buchs werden nur die Geschichte der Kranken-, Un­ der Index der wöchentlichen Realeinkommen fol­ fall- und Rentenversicherung behandelt. gendermaßen stieg: 1875: 84, 1880: 70, 1885: 83,

25 Sozialmedizin, Bd. III 386 Florian Tennstedt

1913: 100.1885 waren in Industrie und Handwerk Leistungen stand der Ausgleich des durch die 6,0 Mio. Arbeitnehmer beschäftigt, 1913 waren es Krankheit bedingten Lohnausfalls, die Arzte 10,8 Mio. 1907 gliederten sich nach den "Erhe­ wurden durch die Industriearbeiterschaft kaum bungen von Wirtschaftsrechnungen minderbemit­ telter Familien ce die privaten Ausgaben folgender­ in Anspruch genommen. maßen: Nahrungsmittel: 42,6 v. H., Genußmittel: Das Krankenversicherungsgesetz trat 1884 in 6,7 v. H., \Vohnung: 16,8 v. H., Möbel, Hausrat, Kraft und erfaßte mit Versicherungszwang fast Heizung und Beleuchtung: 8,4 v. H., Bekleidung, ausschließlich in Gewerbebetrieben beschäftigte textiler Hausrat, Lederwaren: 13,0 v. H., häus• liche Dienste: 0,7 v. H., Bildung, Erholung: 6,1 Arbeiter sowie die Gehilfen der Rechtsberufe v. H., Verkehr: 1,5 v. H., Gesundheits- und Kör• und Versicherungseinrichtungen (Angestellte!), perpflege, Reinigung: 4,2 v. H. die unselbständig gegen Entgeltbeschäftigt wa­ Die durchschnittliche Jahresmiete in der Einkom­ ren. Bei einzelnen Personengruppen hörte die lnensklasse 900-1200 M betrug 1890: 218 M, 1900: 211 M. 1908 erhielt man für 1 M folgende Lebens­ Versicherungspflicht mit einer bestimmten Ein­ mittelmengen : 16,6 kg Kartoffeln, 4,1 kg Erbsen, kommenshöhe auf. Für weitere Personenkreise 5,0 kg Grünkohl, 6,2 kg Rote Rüben, 5,0 kg Ka­ war Versicherungsberechtigung vorgesehen. rotten, 1,4 kg Wirsingkohl, 2,0 kg Blumenkohl, Insgesamt hatte das Gesetz schon die Struktur­ 2,0 kg Apfel, 2,1 kg Weißbrot, 5,3 kg Schwarzbrot, prinzipien, die auch heute noch die Sozialver­ 1,1 kg Zucker, 11,1 kg Magermilch, 5,0 kg Voll­ milch, 0,3 kg Butter, 1,2 kg Pferdefleisch, 0,7 kg sicherung von der Fürsorge (Sozialhilfe), der billiges Rindfleisch, 0,6 kg gutes Rindfleisch, 0,3 Versorgung und der Privatversicherung ab­ kg Schinken, 0,7 kg Eier, 6,8 kg Reis, 1,1 kg ge­ grenzen: Versicherungszwang und Vorleistung trocknete Äpfel, 0,8 kg frische Heringe, 1 kg Pflau­ in Form von Zwangsbeiträgen, Rechtsanspruch men, 0,3 kg Marzipan, 2,0 kg Spinat, 2,0 kg Kopf- salat. . auf Leistungen aufgrund dieser Beiträge (keine Bedürftigkeitsprüfung, kein Nachrang), Ab­ Da die Sozialversicherungsgesetzgebung in hängigkeit der Beitragshöhe vom Bruttoarbeits­ ökonomischer und organisatorischer Hinsicht entgelt (sozialer Ausgleich) und nicht vom Ri­ ein "Sprung ins Dunkle" war, knüpfte 7heo­ siko (bestimmte Krankheiten, Alter und Ge­ dor Lohmann mit dem Krankenversicherungs­ schlecht), keine Rückzahlungsverpflichtung ge­ gesetz fast durchweg an bereits bestehende Ein­ währter Leistungen, Träger der Krankenver­ richtungen und Konzeptionen an. sicherung sind besondere juristische Personen Die Vorläufer der gesetzlichen Krankenver­ des öffentlichen Rechts, und über Streitfälle sicherung waren einmal die Hilfseinrichtungen entscheidet eine (besondere) Verwaltungsge­ der Innungen und Zünfte, die sich mittels ein­ richtsbarkeit. Der weitere Ausbau des sozialen zelstaatlicher Gewerbegesetzgebung gegenüber Ausgleichs - die Leistungen an Familienange­ ihren ursprünglichen Trägereinrichtungen weit­ hörige - war möglich durch entsprechende Kas­ gehend verselbständigt hatten, wie von Un­ sensatzungen, die durch die Selbstverwaltungs­ ternehmern gegründete Fabrikkrankenkassen, organe zu beschließen war'en. 1885 waren 10 Selbsthilfeeinrichtungen der Arbeiter auf ge­ v. H. der Bevölkerung des Deutschen Reichs nossenschaftlicher Basis, die teilweise mit be­ (4,29 Mio.) Mitglieder der gesetzlichen Kran­ rufsgewerkschaftlichen Organisationen ver­ kenversicherung. 1913 hatte diese 13,9 Mio. knüpft waren, und schließlich die gemeind­ Mitglieder, und damit waren rund 25 v. H. der lichen Armenkrankenkassen. Der größte Teil Bevölkerung des Deutschen Reiches kranken­ dieser Einrichtungen war durch das ebenfalls versichert. Mit dieser Mitgliederzahl ist aber von 7heodor Lohmann konzipierte Hilfskas­ der "betroffene" Personenkreis nur unzuläng• sengesetz von 1876 - das erste Reichsgesetz lich erfaßt, man muß die Familienangehörigen auf diesem Sektor - in sog. freie Hilfskassen in doppelter Weise berücksichtigen: umgewandelt worden. Um 1880 waren etwa 5 v. H. der Bevölkerung des Deutschen Reichs 1. im Hinblick auf die Barleistungen: der von in irgendeiner derartigen Kasse versichert oder ihnen ausgehende sozialpolitische Effekt - die wurden von ihr erfaßt. Im Mittelpunkt der Sicherung gegen die ökonomischen Folgen der Sozialgeschichte der Sozialversicherung 387

Krankheit (Lohnausfall) - erstreckte sich auch Hungerzustand (Status familicus). Manche dieser auf die Familienangehörigen. Dieser stand im Fälle erinnern an leichte Formen des Typhus; aber nirgends wurde eine Ansteckung beobachtet." Im Vordergrund des Gesetzes, Hauptausgabe­ Ersten Weltkrieg mit seiner Hungersnot entwickelte gruppe der Krankenkassen sind anfänglich die sich die Mortalität der Gesamtbevölkerung - bei Geldleistungen: Krankengeld (nach einer Ka­ Ausschaltung der Todesfälle durch gewaltsame Ein­ renzzeit von 3 Tagen in Höhe von mindestens wirkung - folgendermaßen (bezogen auf 1000 der 50 v. H. des ausgefallenen Lohnes, nach dem mittleren Bevölkerung): 1913: 14,69; 1914: 15,66; 1915: 15,81; 1916: 14,44; 1917: 16,70; 1918: 19,49; auch die Beiträge bemessen wurden), Sterbe­ 1919: 14,73). Zwischen dem Kaloriengehalt der geld sowie Wöchnerinnenunterstützung. 1913 rationierten Nahrungsmittel und Tuberkulosemor­ wurden auf ein Krankenkassenmitglied 2-3 talität ergab sich ein Korrelationskoeffizient von Familienangehörige gerechnet, demzufolge war fast -1. Dabei ist aber zu bedenken, daß bei der chronisch verlaufenden Tuberkulose es sich primär die durch Krankheit "an sich" auftretende um ein schnelleres Absterben der bereits vorhan­ finanzielle Not für etwa 62,5 v. H. der Reichs­ denen Kranken gehandelt haben dürfte. Die Schä• bevölkerung gemildert. Sofern Familienmit­ den hinsichtlich erhöhter Dispositionen dürften sich glieder erkrankt'en, die nicht in einem Beschäf• bei Tuberkulose erst nach Jahren gezeigt haben ­ tigungsverhältnis standen (also keinen Lohn­ anders als bei der Grippeepidemie 1917/18. Allge­ mein wurden als Folgen der Unterernährung ange­ ausfall hatten), gab es diese Geldleistung nicht. sehen: geschwächte Widerstandsfähigkeit gegen In­ Diese Sicherung verhinderte einmal die Inan­ fektionskrankheiten, Schädigung der psychischen spruchnahme der diskriminierenden Armenfür• Funktionen und Verschlechterung der Konstitution, sorge (Verlust des Wahlr'echts, kein Rechtsan­ vor allem bei Kindern und Jugendlichen. Im übri• gen traten außer bei Krankheit im Fall von Ar­ sp.ruch, sondern nur Gewährung als Reflex des beitslosigkeit erhebliche Fälle von akuter Unter­ Polizeirechts), und zum anderen war sie auch ernährung auf, vor allem in den Jahren 1891-1894 gesundheitspolitisch relevant, weil eine weitere und 1900-1902 gab es "Scharen Arbeitsloser, wie Einschränkung der sowieso niedrigen Lebens­ man sie bisher nicht gekannt hatte" (G. Schmoller). haltung (insbesondere Ernährung) dadurch ge­ 1892 wurde ihre Zahl auf 1,4-2,1 Mio geschätzt, wovon ein Viertel bis ein Drittel Kranke gewesen mildert wurde. sein dürften. In diesem Fall bestand keine soziale Sicherung, doch: "die neueren Krankenkassen wer­ Die Wirkung komplexer Ursachen auf die Morbi­ den in der Arbeitslosenzeit über alle Maßen in An­ dität und Mortalität wurde in der deutschen So­ spruch genommen, verzehren dabei ihre Reserven" zialhygiene vor 1933 ausgiebig erforscht und er­ (G. Schmoller). Nach der einzigen zuverlässigen örtert, der Forschungsstand von 1912 ist in dem Arbeitslosenstatistik waren im Juni 1895 299352 von Max Mosse (1873-1936) und Gustav Tugend­ (1,89 v. H. der Gesamtarbeiterschaft) Personen ar­ reich (1876-1948) herausgegebenen Sammelwerk beitslos, ausschließlich der arbeitsunfähigen waren über "Krankheit und soziale Lage" zusammen­ es 179004 (1,1 v. H.), im Dezember 1895 waren es gefaßt. Von den vielen Forschungsergebnissen sei 771005 (4,88 v. H.) bzw. 553640 (3,43 v. H.). Im hier nur erwähnt, daß sich im Säuglingsalter und Sommer dauerte die Arbeitslosigkeit in 55 v. H. der Kleinkindesalter eine sehr große übersterblichkeit Fälle 1-28 Tage, in 45 v. H. 29 Tage und darüber, der ärmeren Schicht zeigte (Todesfälle auf 1000 im Winter betrugen diese Zahlenanteile 66,4 v. H. Lebende im Alter 0-1: Wohlhabende: 59,8; Mittel­ bzw. 33,6 v. H. Von den Befragten waren im Som­ stand: 80,4; Armere: 301,8; im Alter 1-5: Wohl­ mer 33,34 v. H. und im Winter 39,77 v. H. ver­ habende: 3,1; Mittelstand: 6,5; Armere: 27,7; heiratet. Die Kinderzahl der Arbeitslosen war ge­ Bremen 1901-1910). Die Wirkung isolierter Ur­ ring: "Es ist denn auch sehr naheliegend, daß Ar­ sachen - etwa allseitige oder einseitige Unterernäh• beitnehmer mit starken Familien ganz besonders rung, unregelmäßige Ernährung - war weniger gut darauf bedacht sind, ständig Arbeit und Verdienst erforscht, weil diese nur unter quasi-experimentel­ zu haben" Ausgehend von diesen Zahlen in einem len Bedingungen aufgrund außerordentlicher na­ guten Konjunkturjahr und einer Fülle von weniger türlicher oder politischer Ereignisse ermittelbar exakten Arbeitslosenstatistiken wurde geschätzt, waren. Rudolf Virchow hatte in seiner klassischen daß vor 1914 jährlich etwa 500000-600000 Arbei­ Arbeit über "die Not im Spessart" als Folgen der ter, also 2-3 v. H. der gesamten Arbeiterschaft, natürlichen Hungersnot 1851 festgestellt: "Ein arbeitslos waren. eigentümlicher Zustand von Erschöpfung, Schwäche und Eingenommenheit des Kopfes, meist ohne fie­ 2. im Hinblick auf die Sachleistungen (freie berhafte Erregung; ich bezeichnete denselben als ärztliche Behandlung, Arznei, Brillen, Bruch- 388 Florian Tennstedt

bänder und andere kleinere Heilmittel). Die gebrauchten Begriffe "Arzt" und "ärztliche Be­ Krankenkassen mit Selbstverwaltung waren handlung" nach sächsisch-bundesrätlicher Auslegung sich nicht nur auf approbierte Arzte bezogen. Die befugt, durch entsprechende Satzungsbestim­ Gewerbeordnung (1869) gab die Ausübung der mungen die Sachleistungen auch auf die nicht Heilkunde ohne Approbation frei (Kurierfreiheit), der Versicherungspflicht unterliegenden Fami­ verboten war nur das unbefugte Führen des ärzt• lienangehörigen der Mitglieder auszudehnen lichen Titels und die Impfung durch Kurpfuscher, (im folgenden werden die Mitglieder und diese außerdem durften sie (seit 1883) nicht umherziehen, (seit 1905) ihrer Klientel keine unbegründeten unmittelbar und partiell einbezogenen Fami­ Versprechungen machen und in ihren Anzeigen lienangehörigen als "Versicherte" bezeichnet). nicht gegen die guten Sitten verstoßen. 1900 wa­ Der somit durch die Sachleistungen "betrof­ ren im Deutschen Reich etwa zwischen 12000 und fene", über die Mitglieder hinausgehende Per­ 13000 Kurpfuscher tätig (gegenüber 31 864 Arzten! und 2422 Zahnärzten 1). Theoretisch waren - außer sonenkreis der Versicherten dürfte 1913 rd. in Bayern, Hessen und Baden - die Krankenkassen 50 v. H. der Reichsbevölkerung umfaßt haben, befugt, auch von diesen kurierenden Laien aus­ war also eine Teilmenge gegenüber den von gestellte Atteste, Honorarforderungen und sonstige Barleistungen "betroffenen" Personen. durch die Krankenbehandlung auflaufenden Ko­ sten anzuerkennen bzw. zu bezahlen. Faktisch 1904 wurde im Reg.-Bez. Köln eine Sondererhe­ wirkte sich das vor allem dort aus, wo die Kran­ bung durchgeführt, die folgende Ausdehnung der kenkassen die kassenärztliche Versorgung durch un­ Mitversicherung von Angehörigen ergab: keine Fa­ beschränkt freie Arztwahl zuließen, weniger dort, milienunterstützung gewährten 316 reichsgesetz­ wo festbesoldete Arzte als Kassenärzte fungierten liche Krankenkassen mit 168906 Mitgliedern, Fa­ oder die sog. beschränkte freie Arztwahl eingeführt milienunterstützung gewährten 36 reichsgesetzliche war. Die Honorierung erfolgte überwiegend durch Krankenkassen mit 56967 Mitgliedern. In der Un­ Pauschsummen je Mitglied, seltener nach Einzel­ gleichheit - ein Zehntel der Kassen und ein Viertel leistung. der Mitglieder - zeigt sich, daß vorwiegend grö• 1891 wurden bei der Ortskrankenkasse für Leipzig ßere Kassen die Familienunterstützung mit Sach­ und Umgebung die ersten "Revisionsärzte" ange­ leistungen eingeführt hatten. stellt, nur zögernd folgten die anderen größeren Versucht man, die sozialmedizinische Bedeu­ Krankenkassen, 1913 dürften höchstens 3000 Kas­ tung von Barleistungen und Sachleistungen ab­ sen mit rd. 5 Mio. Mitgliedern einen "irgendwie" zuwägen, dann ist zu beachten, daß angesichts tätigen Vertrauensarzt gehabt haben, der Schwer­ punkt der richtigen Vertrauensarztsysteme lag von der ärztlichen Kunst in dieser Zeit 1899 ein Anfang an im Bereich der Unfall- und Renten­ Ausschuß der preußischen Ärztekammer fest­ versicherung (nähere Ausführungen darüber S. 429, stellte: "Weitaus der größte Teil der jetzt in 451). ärztliche Behandlung tretenden Mitglieder der Der Begriff "Krankheit" war im Gesetz nicht Kranken- und der Unfallversicherungskassen definiert, wurde vielmehr 1889 vom Preuß. hat früher kaum jemals einen Arzt in An­ Oberverwaltungsgericht als Zustand, "welcher spruch genommen, ohne daß ihnen dadurch ärztliche Behandlung, Arznei oder Heilmittel eine dauernde Gesundheitsschädigung erwach­ notwendig macht" beschrieben: "Ob ein sol­ sen wäre" (ÄV 1899, 366). cher Zustand besteht, bestimmt sich nach ob­ Im übrigen hinderten vielfach vom Arbeitgeber dik­ jektiven, von Sachverständigen festzustellen­ tierte Arbeitsvertragsbedingungen die Arbeiter, den Merkmalen, nicht nach der Ansicht oder ohne Lohnverlust oder gar Gefahr des Arbeitsplatz­ Handlungsweise des Kassenmitglieds." (PrO­ verlustes rechtzeitig bzw. werktags den Arzt aufzu­ suchen. § 616 BGB wurde häufig abgedungen, Kran­ VGE 18, 355). 1902 erweiterte das Gericht kengeld gab es erst nach 3 Tagen! Die Kassenärzte die Tatbestandsdefinition: "Der Begriff der wurden deshalb angehalten, ihre Sprechstunden in Krankheit ist für das Krankenversicherungs­ die Mittagspausen der Arbeiter oder auf den Sonn­ gesetz einheitlich gegeben, und zwar im Sinne tag zu legen. 1901 taten das von 202 Kassenärzten eines anormalen körperlichen und geistigen im Stadtbezirk Frankfurt/M. auch 169, 14 jüdische Arzte hielten sogar Sonntagnachmittag Sprech­ 1 Auf diese wird wegen der besonderen Zielsetzung stunde ab. Von den 193 Kassenärzten des Außen• des Handbuchs nicht eingegangen, vgl. zur Ergän• bezirks waren es allerdings nur 33. zung: Maretzky, K., und R.17enter: Geschichte des Hinzu kam, daß die im Krankenversicherungsgesetz deutschen Zahnärzte-Standes, Köln 1974. Sozialgeschichte der Sozialversicherung 389

Zustandes, dessen Eintritt entweder lediglich Sieht man schließlich auf die absoluten Beträge, die Notwendigkeit der Heilbehandlung des dann ergeben sich für 1885 Gesamtausgaben in Höhe von 57,9 Mio. M, 1914 betrugen sie 548,1 Menschen oder zugleich oder gar ausschließlich Mio. M. Diesen steigenden Ausgaben mußten die seine Erwerbsunfähigkeit zur Folge hat. Mit Einnahmen angepaßt werden. Zwar hatte sich der einer Krankheit im Sinne des Gesetzes ist, wie Mitgliederbestand bis 1914 auf fast das Dreiein­ bei dessen Feststellung anerkannt worden ist, halbfache gegenüber 1885 erhöht (16,9 Mio. = insbesondere auch dann zu rechnen, wenn die 24,95 v. H. der Gesamtbevölkerung), aber die sich daraus und aus dem Nominallohnanstieg ergebende Erwerbsunfähigkeit besteht, ohne daß ,es der Erhöhung der Beitragseinnahmen hielt von Anfang Heilbehandlung, weil sie keinen Erfolg haben an nicht Schritt mit dem rapiden Anwachsen der kann, noch bedarf" (PrVBl. 23, 602). Ausgaben. So wurden die Beitragssätze fast stän• dig heraufgesetzt, durchschnittlich betrugen sie 1885 Sieht man auf die reale Wirksamkeit, dann ergibt 1,92 v. H. der Grundlöhne und 1913 2,44 v. H. sich folgendes Bild: Die Krankheitshäufigkeit (mit Arbeitsunfähigkeit) ließ bis zur Jahrhundertwende Die äußere Organisation baute auf Selbstver­ keine bestimmte Tendenz erkennen. Erst 1899 waltung auf und war von Anfang an recht wurden für lange Zeit die Werte von 1886 über• schritten. Die durchschnittliche Dauer der Arbeits­ komplex, weil der Gesetzgeber an die bereits unfähigkeitsfälle stieg hingegen von Anfang an bestehenden Einrichtungen anknüpfte. 1885 erheblich. 1885 dauerten die mit Arbeitsunfähigkeit waren 17511 Versicherungsträger tätig, 1890 verbundenen Krankheiten durchschnittlich 14,2 waren schon rund 21200 Kassen tätig, und Tage, 1913 waren es schon 20,2 Tage. Diese Steige­ 1909 waren es rund 23200 Kassen. Dies resul­ rung dürfte zum größten Teil auf während der Hochkonjunkturperiode eingeführte statuarische tierte daraus, daß die Krankenversicherung in­ Verbesserungen der Kassenleistungen zurückzufüh• nerhalb einer ortsmäßig abgegrenzten Region ren sein, die 1904 gesetzlich verankert wurden: das an das tradierte berufsmäßige Organisations­ Krankengeld durfte nicht mehr ganz oder teilweise prinzip anknüpfte. 1885 gab es z. B. in Leip­ versagt werden, wenn die Krankheit auf "ge­ schlechtliche Ausschweifungen" zurückzuführen zig 18 »besondere" Ortskrankenkassen: je eine war; die Mindestdauer der gesetzlichen Kranken­ für Metallarbeiter, für Verfertigung von Mu­ hilfe wurde von 13 auf 26 Wochen erhöht. Mög• sikinstrumenten, für Buchbinder, für das Buch­ lich ist auch eine krankheitsbedingende Verstär• gewerbe usw. Daneben gab es noch 41 (Fa­ kung der Arbeitsintensität im industriellen Groß• brik-)Betriebs- und (Bau-)Betriebskranken­ betrieb. Im Laufe der Jahre sind die Ausgaben und Ein­ kassen. Weitere Krankenkassentypen waren nahmen stärker als der Mitgliederbestand (1885 Innungskrankenkassen (Beitrittszwang bis Einbeziehung der Angehörigen des Transportge­ 1892 nur durch Arbeitsvertrag), Gemeinde­ werbes, 1900 der Hausgewerbetreibenden) und er­ krankenversicherung (als subsidiärer »Ausfall­ heblich stärker als die Zahl der Arbeitsunfähig• keitstage gestiegen. Nimmt man 1885 als Aus­ bürge" für die Personen, die keiner anderen gangspunkt, dann ergeben sich folgende Meßzif• Kasse angehören mußten, keine Selbstverwal­ fern: tung) und Knappschaftskassen, die in Preußen auf das Allg. Berggesetz von 1865 zurückgin• Jahr 1885 1900 1913 gen. Mitgliederbestand 100 218 312 Die »freien Hilfskassen" waren - sofern sie Krankheitstage 252 455 100 gleiche Leistungen gewährten - als »Ersatz­ Ausgaben 100 326 821 Einnahmen 100 300 750 kassen" zugelassen, die von der Mitgliedschaft in einer Zwangskasse befreiten. Sie waren an­ Die Leistungen im Einzelfall sind durch Satzung fangs beliebter als die gesetzlichen Zwangs­ und Gesetz wiederholt erhöht, neue Leistungen kassen: bei den Arbeitgebern, weil hier ihr sind eingeführt worden. Die Kosten der Sachlei­ Ein-Drittel-Beitragsanteil entfiel, bei den Ar­ stungen sowie der Löhne - und damit auch der beitnehmern, weil hier eine volle Selbstver­ Geldleistungen - stiegen. Gleichzeitig verschob sich waltung und häufig aufgrund von ärztlichen die Bedeutung der einzelnen Leistungsgruppen im Rahmen der Gesamtversicherung (vgl. Tab. 1, Aufnahmeuntersuchungen, also Risikoauslese, S.403). eine günstige Beitrags-Leistungs-Relation be- 390 Florian Tcnnstedt stand. In den größeren Städten des Reichs ver­ elmge Dutzend bureaukratischer Zöpfe ins einigten sich bald die "besonderen" Ortskran­ Wanken gerieten. In einem Staatswesen, in kenkassen zu einer leistungsfähigen "allgemei­ dessen öffentlichen Verwaltungen der Mann nen" Ortskrankenkasse, die das Berufsprin­ ohne Rang und Examina nichts ist, besteht ein zip aufgab, und nahmen dann den Kampf Zweig, wo die Beteiligten ohne Federlesen gegen die freien Hilfskassen auf, der von Ver­ einen Schlosser, Tischler usw. als Beamten hin­ waltungsbehörden, Gerichten und Gesetzgeber setzen dürfen" (Dt. Krankenkassen-Zeitung (1892) unterstützt wurde. Daraufhin beginnt 1906, 121). Die ersten Verwaltungsprüfungen die in überwiegend sozialdemokratischen und führte die Dresdener Ortskrankenkasse 1897 etwa gleichzeitig vom Berufsprinzip abgehen­ ein, ihr folgte 1906 die Leipziger. Erst zwi­ den Gewerkschaften organisierte Arbeiterschaft schen 1925 und 1930 wurden aufgrund landes­ sich von der Gründung und Verwaltung der ministerieller Anordnungen Krankenkassen­ Hilfskassen zugunsten der Mitgliedschaft und prüfungen allgemein eingeführt. Selbstverwaltung bei den Ortskrankenkassen Von den führenden Sozialdemokraten der Weima­ abzuwenden 1". rer Republik, die in der Krankenkassenverwaltung So beginnt die von allen tragenden Kräften des "begonnen" hatten, sei hier nur der preußische Mini­ Kaiserreichs heftig befehdete "Herrschaft der sterpräsident (1920-1932) Otto Braun (1872-1955) Sozialdemokratie in der Krankenversiche­ genannt, der von 1899-1911 Direktor der Königs• berger Ortskrankenkasse war. rung": Sozialistengesetz und Sozialgesetzge­ bung hatten sich - gemessen an den Absichten Vom Gesetzgeber nicht vorgesehen war die Ouo von Bismarcks - als Fehlschlag erwiesen: überregionale Organisation der Krankenver­ die SPD ging aus der 12 Jahre währenden sicherung, die aus der Selbstverwaltung heraus Verfolgung als stärkste Reichstagsfraktion her­ entwickelt und in der Folgezeit immer wich­ vor, und die Selbstverwaltung in der Kran­ tiger wurde. Die Kassenvereinigungen, die kenversicherung brachte-anstatt ihr Anhänger "hinter" oder "über" den einzelnen Kassen zu nehmen und die Arbeiter in das herrschende standen, die ihre Selbständigkeit behielten, bil­ System zu integrieren - Einfluß auf die ihr an­ deten bald mit diesen ein untrennbares Gan­ sonsten strikt verschlossene (mittelbare) Staats­ zes. Dieses war dadurch bedingt, daß die verwaltung. Die vielbeschriebenen Mißstände kleinen Kassen, die Selbstverantwortung und in der Verwaltung waren gering, langfristig Selbstkontrolle der Versicherten gewährleisten sozialpolitisch bedeutsamer waren die zielstr,e­ sollten, sich nur eine "angemessene", billige big verfolgten Leistungsverbesserungen im Rah­ Verwaltung leisten konnten. Sofern sie über• men der Selbstverwaltung sowie die Aufstiegs­ haupt einen hauptamtlichen Geschäftsführer möglichkeiten oder zumindest die "Unter­ hatten, waren selbst diese meist nicht in der schlupfmöglichkeiten" für gewerkschaftlich Lage, die verschiedensten, im Verlauf der Jahre organisierte Arbeiter, die bei Staat und Indu­ herangewachsenen Probleme ohne Unterstüt• strie "schwarzgeschrieben" waren. Dieses hält zung von dritter Seite (Spezialisten) zu bewäl• prinzipiell bis 1933 an. Mit aus diesem Grund tigen. In der Regel hatten nur die größeren waren die Ortskrankenkassen - mit Ausnahme Ortskrankenkassen hauptamtliche Geschäfts• der sächsischen - auch gegen Prüfungen für führer und evtl. Spezialisten für einzelne Auf­ Kassenbeamte: "Wie oft hat es uns gefreut, gabengebiete. Die kleinen Ortskrankenkassen wenn über irgendeine Anstellung bei Kassen und die berufsständischen Krankenkassen wä• ren nun vermutlich - angesichts der "an sich" a 1 Die Hilfskassen werden später von den Ange­ erforderlichen Verwaltungskosten - zusam­ stellten wieder aktiviert: erst 1903 werden die mengebrochen, hätten sie nicht in ihren Spit­ Handlungsgehilfen in die Sozialgesetzgebung ein­ zenverbänden einen fachmännischen Rückhalt bezogen (Angestelltenanteil an den Erwerbsperso­ nen: 1882: 1,9 v. H., 1895: 3,1 v. H., 1907: 5,2 gehabt. Die Grundaufgabe der Spitzenver­ v.H.). bände war also Vereinfachung der Geschäfts- Sozialgeschichte der Sozialversicherung 391

führung und Verbesserung der Wirtschaftlich­ den Gründungsaufruf für die 1909 gegründete keit, mit Stolz konnten die Krankenkassen "Deutsche Gesellschaft für Soziologie". Albert auch immer auf ihre sehr niedrigen Verwal­ Kohn (1857-1926), 1914-1925 Direktor der tungskosten bei fehlendem "Bürokratismus" AOK Berlin und seit der ]ahrhundertwende hinweisen. In späterer Zeit wurden allerdings "Spiritus rector" der sozialhygienischen Be­ die Spitzenverbände, die gegenüber den Ver­ strebungen der Ortskrankenkassen - die Be­ sicherten überhaupt nicht in Erscheinung tra­ triebskrankenkassen waren in die betrieblich­ ten, mehr als bloße "Hilfsorgane" der Kassen­ patriarchalische Sozialpolitik integriert - gab verwaltungen, wenngleich ihre freiwillige pri­ 1919 folgenden Rückblick: vatrechtliche Organisationsform bis 1937 er­ "Als das Krankenversicherungsgesetz 1883 in Kraft halten blieb. trat, haben begreiflicherweise die meisten Kassen Schon ab 1885 hatten sich einzelne Kranken­ die Mindestleistungen kaum überschritten und im kassen innerhalb von Regierungsbezirken, Pro­ reichlichen Maße von den Beschränkungen Gebrauch vinzen und Ländern zwecks Meinungs- und gemacht, die der § 6a des Gesetzes ihnen einräumte. Lange Jahre war das Bestreben des überwiegenden Erfahrungsaustausch zu losen Vereinigungen Teils der deutschen Krankenkassen darauf gerichtet, zusammengeschlossen oder hielten gemeinsame mit möglichst geringen Beiträgen die vorgeschrie­ Tagungen ab. 1894 erreichte diese Entwicklung benen Rücklagen zu ermöglichen. Nach dieser Rich­ mit der Gründung des "Centralverbandes von tung wurde die Situation am besten durch die Tat­ Ortskrankenkassen im Deutschen Reich" ihren sache gekennzeichnet, daß noch 1913 verschiedene Ortskrankenkassen nur tt/2 Prozent des durch­ vorläufigen Abschluß. Die "Constituierende schnittlichen Tageslohns an Beiträgen erhoben. Von Versammlung zwecks Gründung eines Central­ den fakultativen Leistungen wurde nach und nach verbandes von Krankenkassenvereinigungen eine um die andere eingeführt. Unseres Wissens im Deutschen Reich" hatte die im gleichen Jahr existierte keine Kasse, welche sie alle in vollem Umfange gewährte. All das erscheint um so ver­ durch den Wiesbadener Verleger und Orts­ ständlicher, wenn wir berücksichtigen, daß es an krankenkassenvorsitzenden Carl Schnegelber­ jedem großen Vorbild fehlte. Weder die Dienstbo­ ger (1854-1900) gegründete "Freie Vereini­ tenversicherung in Bayern, noch die Knappschafts­ gung von Krankenkassen im Regierungsbezirk kassen, noch die freien Hilfskassen waren über die Wiesbaden" einberufen. Seit der Jahrhundert­ notwendigsten Leistungen hinausgekommen und die vorgesetzten Behörden haben nach keiner Richtung wende erweiterte sich das Tätigkeitsfeld dieses anregend gewirkt, sondern im Gegenteil noch jahr­ ersten Spitzenverbandes dadurch, daß er ver­ zehntelang eine hemmende Tätigkeit auf diesem suchte, 1. Einfluß auf die sozialpolitische Ge­ Gebiete entfaltet. So war annähernd ein Jahrzehnt setzgebung zu nehmen und 2. sozialhygienische vergangen, bis ein frischerer Zug sich in den Kas­ senverwaltungen geltend machte, besonders in den und vorbeugende Maßnahmen der Ortskran­ allgemeinen Ortskrankenkassen, die zuerst im Kö• kenkassen zu initiieren. Hierbei waren der nigreich Sachsen gebildet wurden. Darauf ist es Arbeiterbewegung aus verschiedenen Motiven wohl zurückzuführen, daß auch dort in Leipzig und in verschiedener Hinsicht nahestehende 1889, in Dresden 1894 die ersten Genesungsheime Arzte wie Raphael Friedeberg (1863-1940), entstanden. In Leipzig war das hauptsächlich dem Wirken des weitsichtigen Kassenvorsitzenden, Dr. Friedrich Landmann (1864-1931) und Ignaz Wilmar Schwabe 2, zu danken, der zuerst die Heim­ Zadek sen. (1858-1931) direkte oder mittel­ stätte Gleesberg bei Neustädtel im Erzgebirge und bare Ratgeber. Später übernahmen diese Rolle das Rittergut Förstel im Erzgebirge stiftete und führende Sozialmediziner wie Al/red Blaschko 1898 auch das Augustusbad bei Radeberg, Bezirk Dresden, der Kasse schenkungsweise überließ. Zehn (1858-1922), Al/ons Fischer (1873-1936), Jahre verflossen auch, bis bei den Kassen die Ein­ Al/red Grotjahn (1869-1931) und Hermann sicht durchbrach, daß es im Interesse der Versicher­ U7eyl (1866-1925). Von ihrem Fach aus ko­ ten außerordentlich nützlich sei, sich, zunächst in operierten diese Sozialmediziner auch mit anderen Sozialwissenschaftlern, 1909 unter­ 2 Wilmar Schwabe (1839-1917), Pharmazeut, In­ haber der "Homöopathischen-Central-Officin" in zeichnete Al/red Grotjahn mit dem Medizinal­ Leipzig, 1895-1903 Vorsitzender des "Centralver­ statistiker Friedrich Prinzing (1859-1938) auch bandes". 392 Florian Tennstedt kleinen Bezirken, zu vereinigen und jährliche Ta­ 3. Die Krankenkassen Deutschlands sollen für einen gungen abzuhalten, in welchen die gegenseitigen bestimmten Zeitabschnitt des Jahres 1899 eine ein­ Erfahrungen und Wünsche zum Austausch kommen heitliche Tuberkulosestatistik aufnehmen, zu deren könnten. Daß damals noch vielseitig Angstlichkeit Schema ein von der Zentralkommission der Kran­ und Rückständigkeit überwog, mag die Tatsache kenkassen Berlins unter Mitwirkung bewährter bekunden, daß bei der Tagung der Freien Vereini­ Statistiker ausgearbeiteter Fragebogen benutzt gung von Krankenkassen im Regierungsbezirk wird. Wiesbaden im Jahre 1894 ein Antrag Wiesbaden bezüglich Errichtung von Heilstätten für Lungen­ 4. Die Krankenkassen sollen alljährlich eine Reihe kranke noch mit dem Einwand bekämpft wurde, von Mitgliederversammlungen veranstalten (6-8) die Kassen könnten sich mit "Annahme dieses Pro­ mit einem Zyklus unentgeltlicher populärer hygie­ jektes etwas auferlegen, zu dem sie gesetzlich nicht nischer Vorträge, für deren Bekanntgabe an alle verpflichtet sind" und es sei den Krankenkassen Kassenmitglieder die Krankenkasse zu sorgen hat unmöglich, noch mehr zu leisten, als sie gesetzlich und deren Kosten ihr zur Last fallen. zu leisten verpflichtet sind. Es wurde, trotz gegen­ 5. Die Krankenkassen sollen eine enge Fühlung mit teiliger Bemühungen von Frankfurt, damals Ab­ den Gewerbeinspektoren unterhalten. setzung bzw. Vertagung beschlossen. Erst bei der Tagung des damaligen Zentralverbandes 1897 in 6. Bei sämtlichen Krankenkassen sollen Aufnahme­ Cöln hat Graef3 mit beredten Worten die Forde­ untersuchungen stattfinden, auch bei den Ortskran­ rung gestellt, daß die Invaliditäts- und Altersver­ kenkassen, namentlich in allen Fällen, wo es sich sicherung für alle chronischen Krankheiten, die um jugendliche, erst in einen Beruf eintretende In­ Invalidität nach sich ziehen, einzutreten habe. dividuen handelt. 1898 bei der Tagung in Weimar gelangte bereits ein Antrag Frankfurt auf Einführung einer ein­ Von damals ab wuchs das Interesse an den Tagun­ heitlichen Statistik über die Leistungen der Mitglie­ gen des Zentralverbandes bei den deutschen Kassen der und über die von den Kassen gewährten Unter­ weiter. 1899 bei der Tagung in Hannover machte stützungen, über Krankheitsdauer und Krankheits­ sich dies schon an der Zahl der Anträge geltend, erscheinungen zur Annahme. In dieser Versamm­ die nicht nur auf die Erweiterung der Leistungen lung hat der großzügig angelegte Vortrag von Dr. abzielten, sondern auch erkennen ließen, daß die R. Friedeberg 4, Berlin, wohl für zahlreiche Teil­ Erkenntnis Platz griff, wie notwendig es für die nehmer den Gesichtskreis wesentlich erweitert und Kassen sei, soziale Bestrebungen aller Art mit größ• den Anstoß gegeben, daß von da ab immer mehr ter Aufmerksamkeit zu verfolgen und, wo dies deutsche Krankenkassen sich der ihnen obliegenden irgend im Interesse der Versicherten läge, auch zu sozialen Pflichten völlig bewußt wurden. Die fol­ unterstützen. So wurde ein Antrag auf Zulassung genden Leitsätze bilden einen Markstein in der Ge­ der Frauen zum medizinischen Studium an sämt• schichte der deutschen Krankenkassenbewegung : lichen Landesuniversitäten sowie Zulassung zum ärztlichen Beruf an den Bundesrat gerichtet... , 1. Die Krankenkassen verpflichten sich in all den Ein Antrag, in dem ausgesprochen wurde, daß eine Fällen, in denen Mitglieder von der bezüglichen endgültige und dauernde Beseitigung der übel• Invaliditätsversicherungsanstalt zwecks eines Heil­ stände, wie sie durch die Tuberkulose und die Ge­ verfahrens in eine Lungenheilstätte übernommen schlechtskrankheiten hervorgerufen werden, nur sind, während der Dauer der Kassenzugehörigkeit durch eine allgemeine Hebung der Lebenslage der des Heilstättenpfleglings das volle Krankengeld Bevölkerung, besonders der Arbeiterschaft, möglich an denselben, d. h. an seine Familie zu zahlen. sei, wurde auf den Rat zurückgezogen, ,eine prin­ 2. Es sind die Arzte der Krankenkassen aufzufor­ zipielle Stellung hierzu nicht einzunehmen, weil dern, in entsprechender Weise zu verfahren und dies nicht korrekt sein dürfte'. '" die für eine solche Heilstättenbehandlung geeigne­ Der Verband der Ortskrankenkassen von Sachsen­ ten Tuberkulösen der Krankenkasse namhaft zu Anhalt beantragte, bei den gesetzgebenden Kör• machen, möglichst frühzeitig, lange bevor dieselben perschaften durch eine Eingabe dahin zu wirken, arbeitsunfähig werden. daß durch Gesetz festgelegt wird, bei Aufnahme von Lehrlingen ein ärztliches Gutachten darüber 3 Eduard Gräf (1870-1936), Lithograf, 1896-1920 beizubringen, ob sich dieselben für den von ihnen Vorsitzender der AOK Frankfurt/M., 1899-1920 gewählten Beruf eignen. Dieser Antrag ist als der Vorstandsmitglied des "Centralverbandes", Sozial­ erste Schritt zu begrüßen, die Berufsberatung so­ demokrat und Freigewerkschaftler. wohl im Interesse der dabei in Betracht kommen­ 4 Raphael Friedeberg (1863-1940), sozialdemokra­ den jungen Leute wie der Krankenkassen zu för• tischer Arzt in Berlin (1895-1911), 1907 SPD-Aus­ dern. schluß wegen anarchistischer Wendung, danach Von besonders einschneidender Wirkung war der Kurarzt in Bad Kudowa und Ascona. Vortrag, der gelegentlich der Jahresversammlung Sozialgeschichte der Sozialversicherung 393

1903 in Breslau von Professor Dr. Neißer 5 gehal­ lung, Höhensonne eingerichtet; eigene zahnärztliche ten wurde und dessen Thema lautete: "Inwieweit Institute sind besonders in den letzten Jahren viel­ können die Krankenkassen zur Bekämpfung der fach errichtet worden. Der neue Geist, der sich Geschlechtskrankheiten beitragen?" Der Vortra­ immer mehr geltend macht, zeigt sich ganz beson­ gende stellte sehr weittragende Forderungen: Ver­ ders auch in der Art, wie bei Errichtung neuer Ver­ breitung von Aufklärung und Belehrung durch waltungsgebäude nicht mehr nur auf Schaffung Wort und Schrift, Schutz der heranwachsenden Ju­ möglichst günstiger Büroräume geachtet, sondern gend, Beseitigung des Schlafgängerwesens, Erbauung mit dem Bau die Einrichtung verschiedenster Eigen­ von Ledigenheimen, Ausbau der Krankenkontrolle, betriebe verbunden wurde. Als ein besonderes besonders auch nach der Richtung, um festzustellen, Denkmal des Fortschritts ist der Bau zu bezeichnen, ob unter den häuslichen Verhältnissen die Behand­ den die Ortskrankenkasse Dresden vor einigen Jah­ lung zum Vorteil der Kranken ohne Nachteil für ren ausgeführt und in Betrieb gesetzt hat und der deren Umgebung durchgeführt werden kann, obli­ in bisher unübertroffener Ausführung ein großes gatorische Einführung der Familienversicherung zahnärztliches Institut, eine hydro-therapeutische und Einführung einer regelmäßig jährlich ein- bis Abteilung, mediko-mechanische Einrichtungen usw. zweimal stattfindenden ärztlichen Untersuchung enthält. Zwischendurch sind hier und dort man­ aller Kassenmitglieder, weil eine solche nic..l,.t nur cherlei Maßnahmen getroffen worden, die von wei­ zur Aufdeckung von Herz-, Lungen-, Nierenkrank­ terer Bedeutung waren und Nachahmung fanden. heiten, Zuckerleiden, sondern auch zur Erkenntnis Die Zahl der Kassen, welche nach dem Muster Ber­ sehr vieler, dem Kranken ganz unbekannter von lins durch ihre Krankenbesucher die Aufenthalts­ ihm falsch gedeuteter Erkrankungen führen würde. räume der erkrankten Mitglieder prüfen ließen, hat zugenommen; hier und dort, wenn auch noch in Unverkennbar ging von den Jahresversammlungen sehr mäßigem Umfange, wird die Krankenstatistik ein neuer, frischer Zug durch die Ortskrankenkas­ auf Schlußdiagnosen aufgebaut, und zwar wird sen. überall war man bestrebt, vorwärts zu kom­ dabei in der Weise verfahren, daß nach Beendigung men, und so sind sichtlich in den 25 Jahren des der Arbeitsunfähigkeit bei dem behandelnden Arzt gemeinschaftlichen Wirkens außerordentliche Fort­ um Angabe der präzisen wissenschaftlichen Diagnose schritte nachzuweisen. Die Krankenkassen erwei­ gebeten wird und gleichzeitig um Mitteilung, ob die terten ihre Leistungen, nicht nur dadurch, daß sie Krankheit auf gewerbliche Vergiftung, Unfall, Tu­ diesbezügliche Bestimmungen in ihre Satzung auf­ berkulose, Geschlechtskrankheiten oder Alkoholis­ nahmen, sondern noch weit mehr, indem sie be­ mus zurückzuführen ist. An verschiedenen Orten strebt waren, die Wiederherstellung ihrer kranken hat man es verstanden, eine Verbindung zwischen Mitglieder tunlichst zu fördern, auch dann, wenn den Krankenkassen und den bestehenden Fürsorge• dazu größere Aufwendungen nötig waren. Wir stellen zu schaffen, so daß von der Kasse bzw. finden heute bei sehr zahlreichen Kassen direkte durch die Krankenbesucher den zuständigen Für• Abgabe von Heilmitteln aller Art. Eine große Reihe von Kassen hat Genesungsheime, Lungenheil­ sorgestellen Mitteilung über sie interessierende stätten usw. errichtet und im großen Umfange wer­ Krankheitsfälle gemacht wird. den erkrankte Mitglieder denselben überwiesen Einige Krankenkassen, wie in Berlin, Leipzig und oder ihnen Landaufenthalt, Badekuren usw. be­ anderen Orten, sind dazu übergegangen, Kranken­ willigt. Verschiedene Verwaltungen sind zur Er­ kost zu bewilligen oder haben, wo der behandelnde richtung eigener Badeanstalten geschritten. Die in Arzt das für angebracht hielt, Speisemarken für Berlin in der Zentralkommission der Krankenkas­ die öffentlichen Speiseanstalten kostenlos verab­ folgt; bei Einführung der Kriegswochenhilfe haben sen 6 seit Jahrzehnten vereinigten Kassen haben ein großes hydro-therapeutisches Institut mit mediko­ verschiedene Verwaltungen Verbindung mit den mechanischer Abteilung, Röntgen-, Tiefenbestrah- Säuglingsfürsorge- und Mütterberatungsstellen ge­ schaffen und den Müttern die Verpflichtung auf­ 5 Albert Neißer (1855-1916), Mediziner, Entdecker erlegt, sich die zur Erhebung der Stillgelder nötige des Gonococcus (1879), gründete 1902 die "Deut­ Bescheinigung dort zu verschaffen. In sehr großem sche Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechts­ Umfange wurden Merkblätter und andere Druck­ krankheiten". schriften zur Bekämpfung der Tuberkulose, der 6 Die "Zentralkommission der Krankenkassen Ber­ Geschlechtskrankheiten, des Alkoholismus, des lins", die die Kassenzersplitterung überwinden Krebses usw. verabfolgt und allgemeine Gesund­ sollte, wurde 1896 auf Anregung von Raphael heitsrnaßregeln den Kassenmitgliedern ausgehän• Friedeberg durch das Vorstandsmitglied der Ber­ digt. In Berlin werden seit 19 Jahren in jedem liner OKK für das Maurergewerbe, den Sozial­ Winter hygienische Vortragskurse veranstaltet, die demokraten Eugen Simanowski (1858-1922), ge­ sich großen Zuspruchs erfreuen, und in den Ab­ gründet und geleitet, nach 1918 entstand aus ihr fertigungsstellen der Kassen gelangten vielfach Pla­ der "Verband der Krankenkassen Berlins". kate, die gleichfalls zur Bekämpfung der großen 394 Florian Tennstedt

Volkskrankheiten bestimmt sind, zum Aushang. tierten Ärzten (Hausarzt) einen weitgehend neuen Häufig sind derartige Fortschritte entgegen dem und "unbekannten" Patientenkreis zu. Willen der Aufsichtsbehörden gemacht worden, so z. B. in Weißensee, wo die Kasse in kommissarische Insoweit milderte die Krankenversicherung Verwaltung genommen wurde, weil der Kassenvor­ durch ihre Existenz an sich die soziale Frage stand 500 Broschüren zur Alkoholbekämpfung an­ der Arzteschafl. In den Beziehungen zwischen geschafft hatte, um sie kostenlos unter den Mitglie­ Krankenkassen und Arzten wurde aber bald dern zu verbreiten, Remscheid und andere Orte und der preußische Handelsminister hat, entgegen mehr entscheidend, daß die Arzthonorare zu den Entscheidungen der unteren Verwaltungsbehör• den relativ wenigen variablen und beeinfluß• den und des Oberpräsidenten der Provinz Bran­ baren Ausgabeposten der Krankenkassen ge­ denburg, im Jahre 1908 der damaligen Ortskran­ hörten und es häufig für die Arzte apriori kenkasse für den Gewerbebetrieb der Kaufleute, unwürdig war, mit Krankenkassenvorstand Handelsleute und Apotheker zu Berlin die Ver­ wendung von Kassengeldern für die Zwecke der und -rendant aus Arbeiterkreisen um Honorar­ Wohnungsenquete bei Vermeidung von Ordnungs­ höhe und Zulassungsfragen zu verhandeln. Zu­ strafen für die Zukunft untersagt. Allerdings hat dem war durch die Kassen die Honorarfrage auf Beschwerde des Kassenvorstandes dann der relativ autonom gegenüber der persönlichen Bezirksausschuß dahin entschieden, daß die Verfü• gung außer Kraft zu setzen sei und das Oberver­ Hilfeleistung des Arztes geworden, ihrer an­ waltungsgericht hat dies Urteil am 6. Januar 1910 geblich nichtökonomischen Momente entklei­ bestätigt. Es gereicht den Kassenverwaltungen zur det. So beginnen dann in den neunziger Jahren Ehre, daß sie entgegen diesen Widerständen den die ständigen ökonomischen Auseinanderset­ einmal für richtig erkannten Weg weiter fortsetz­ zungen zwischen Krankenkassen und Arzten, ten und sich bewußt waren, daß jede anerkannte Krankheit, wie jeder übelstand im allgemeinen die 1900 zur Gründung des "Verbandes der doppelt zu bekämpfen ist: vorbeugend und dann Arzte Deutschlands" (Hartmannbund, Leip­ heilend." ziger Verband) durch Hermann Hartmann (1863-1923) führten. Dadurch wurden die Diese Beispiele positiver Zusammenarbeit zwi­ Streitigkeiten aber nicht beendet, sondern tra­ schen Arzten und Krankenkassen wurden ten nur in ihr massiv und hochgradig organi­ überlagert durch das "Kassenarztproblem", siertes Stadium mit heftigem Feldgeschrei, V'er­ das in Angriff zu nehmen mehr und m'ehr die quickung von Standes- und Wirtschaftsinteres­ dominierende Verbandsaufgabe wurde. sen, über 700 wirtschaftlichen Kämpfen (Streiks Von seiten des Gesetzgebers war der gesund­ und Boykott) und reichsgerichtlich als sitten­ heitspolitische Zweck der Krankenversicherung widrig attestiertem Verhalten des Hartmann­ unbeachtet geblieben: bei den Hilfskassen wa­ bundes. Insgesamt gelang es dem Hartmann­ ren die Arzt- und Arzneikosten regelmäßig im bund (Mitglieder: 1913: 25452 Arzte von Krankengeld enthalten gewesen, das Kranken­ 34 136 insgesamt), die gesamte soziale Frage versicherungsgesetz regelte ebenfalls nicht die der Arzteschaft auf die Krankenversicherung Beziehungen zwischen Arzten und Kranken­ als Sündenbock zu projizieren, wobei aller­ kassen, den Kassen oblag einfach die Sicher­ dings die amtlichen Stellen mehr auf "Kassen­ steIlung der ärztlichen Versorgung im Rahmen seite" standen. Hauptstreitfragen waren: Kol­ des Sachleistungsprinzips. Anfangs schien es lektiv- oder Einzelvertrag, freie Arztwahl keine Schwerigkeiten zu machen, daß die Kas­ oder beschränkte Arztauswahl, später kam sen dadurch existentiell auf die Mitarbeit der noch das Honorarsystem als Problem hinzu: Arzte angewiesen waren, denn Pauschale oder Bezahlung nach Einzelleistun­ 1. hatte infolge der sich auch auf die Ärzte er­ gen. 1913 - kurz vor einem mit Kriegsrufen streckenden Gewerbefreiheit (1869) und der Fort­ vorbereiteten ärztlichen Generalstreik - wurde schritte der medizinischen Wissenschaft deren Zahl dann aber von den Spitzenverbänden das von überproportional zur Bevölkerung zugenommen, Otto Heinemann (1864-1944), dem Geschäfts• und 2. führte die Krankenversicherung den bis dahin führer des 1908 gegründeten "Verbandes zur überwiegend an Mittelstand und Oberschicht orien- Wahrung der Interessen der deutschen Be- Sozialgeschichte der Sozialversicherung 395 triebskrankenkassen"- hinter dem die Schwer­ sicherung, die zudem im Laufe der Jahre ihr industrie stand -, entworfene "Berline.r Ab­ einziges "zuverlässiges" Definitionskriterium kommen" unterzeichnet. Dieses beseitigte u. a. wurde. die Anstellungsautonomie der Krankenkassen, Infolge des fehlenden einheitlichen sozialpoli­ förderte dadurch indirekt die freie Arztwahl tischen Konzepts brachte die Reichsversiche­ und erkannte den kassenärztlichen Kollektiv­ rungsordnung - auf seiten de.r Ministerialbüro• vertrag faktisch an. Dadurch wurden die Aus­ kratie (Reichsamt des Innern) waren an ihr einandersetzungen zwischen Arzten und Kran­ führend beteiligt Franz Caspar (1849-1927) kenkassen etwas gedämpft und der Hartmann­ - dieser, 1901-1917 Direktor der sozialpoliti­ bund - seit 1903 als wirtschaftliche Abteilung schen Abteilung im Reichsamt des Innern in den Deutschen Arztevereinsbund (1873 bis wurde als "Schöpfer der RVO" bezeichnet ­ 1936), die Zentrale sämtlicher deutscher ärzt• und Walter Spielhagen (1857-1930), vom reak­ lichen Standesvereine, 'eingegliedert - war als tionären preußischen Ministerium für Handel die für die Vertragsgestaltung der Arzte zu­ und Gewerbe lieferte Franz Hoffmann (1864 ständige Stelle anerkannt worden. bis 1931) einige "Anregungen" -nur ein verein­ So alt wie die Sozialversicherungsgesetzgebung heitlichtes G,esetz und ein vereinheitlichtes Ver­ sind auch die Reformbestrebungen und -vor­ fahren (Zuständigkeit und Versicherungsbe­ schläge dazu. In der Periode der industriellen hörden, vor allem das Reichsversicherungsamt Hochkonjunktur wurden auch die gesetzlichen wurde oberste Beschluß- und Spruchinstanz für Sicherungen etwas ausgebaut: 1891 Sonntags­ die Krankenversiche,rung), keine nach erfaß• ruhe und Lohnschutz, 1903/05 der Kinder­ tem Personenkreis, Leistung und Organisation arbeitsschutz, 1908 Ausdehnung des Arbeits­ strukturell aufeinander abgestimmte und inso­ schutzes u. a. Die gegen die Sozialdemokratie weit vereinheitlichte Sozialversicherung. Für und "ihre" Kassen gerichteten Interessen der die Arbeiterschaft gehörte es, wie es der ADGB­ Großagrarier und der Schwerindustrie verhin­ Sozialpolitikexperte Hermann Müller-Lichten• de.rten sogar eine auf stärkere Vereinheit­ berg (1868-1932) formulierte, zu den "größten lichung ausgerichtete Sozialversicherungsre­ Enttäuschungen", daß die RVO lediglich ein form, wie sie 1904 vom Reichstag gefordert einheitliches Gesetz war, "ein Gesetz, in dem und 1905 von Arthur Graf von Posadowsky­ noch immer die verschiedenen Versicherungs­ Wehner (1845-1932) für vernünftig erklärt träger nebeneinander aufmarschierten". worden war. Hier hätten nämlich die Orts­ Der 1. Entwurf einer RVO (1909) wurde vom All­ krankenkassen eine stärkere Stellung bekom­ gemeinen Deutschen Sprachverein überarbeitet. Im men müssen. Rahmen dieser gründlichen Umgestaltung entstan­ Bezeichnender- und ausgesprochenerweise war den u. a. folgende Begriffe: Sachleistung, Kranken-, aber die 1911 vom Reichstag - gegen die Stim­ Familienhilfe, Kranken-, Haus-, Wochen-, Still­ geld und Versicherungspflichtiger. men der Sozialdemokratie - verabschiedete Reichsversicherungsordnung (RVO) darauf ge­ Das Buch "Krankenversicherung" trat am richtet, den Einfluß de,r Sozialdemokratie in 1. 1. 1914 in Kraft. Mit ihm wurde vor allem der Sozialpolitik "zurückzudämmen". Ebenso­ die Versicherungspflicht auf die Dienstboten, wenig berücksichtigt waren die Interessen der die unständig Beschäftigten, die des Wander­ Arzte. Explizit bevorzugt wurden - entgegen gewerbes und Hausgewerbebetriebes und dem Grundprinzip des sozialen Ausgleichs ­ schließlich auf die Beschäftigten in der Land­ die Angestellten: ihretwegen wurden die freien und Forstwirtschaft, die zuvor (seit 1886) nur Hilfskassen weiter als "Ersatzkassen" zugelas­ teilweise - durch Ortsstatut und Landesrecht ­ sen, und außerdem erhielten sie durch das Ver­ in die Versicherung einbezogen waren, ausge­ sicherungsgesetz für Angestellte (1911) auch dehnt. Damit verbunden war die Errichtung noch eine, ihre soziale Identität und ihr,e von Landkrankenkassen. Die Gemeindekran­ "Standesehre" bestärkende eigene Rentenver- kenversicherung (8500 Kassen) wurde zugun- 396 Florian Tennstedt sten der allgemeinen Ortskrankenkasse aufge­ die zu radikale Forderungen stellte. Voraus­ hoben, auch die Bau- (Betriebs-)krankenkassen gegangen war die Gründung des "Haupt­ wurden abgeschafft. Für die anderen I<.ranken­ verbandes deutscher Innungskrankenkassen" kassentypen wurden (relativ niedrige) Min­ (1910). 1914 gründete der deutschnationale destmitgliederzahlen eingeführt. Das Selbst­ Rittergutsbesitzer ]oachim von Oppen (1879 verwaltungsrecht der Arbeiter wurde erheblich bis 1948) den "Allgemeinen Verband deutscher reduziert. Landkrankenkassen". Die Angestellten-Ersatz­ Dieses geschah weniger mittels Ausweitung des kassen gründeten 1912 den "Verband kauf­ Aufsichtsrechts als dadurch, daß einzelne, wichtige männischer eingeschriebener Hilfskassen (Er­ Zweige der Geschäftsführung der Krankenkassen satzkassen)", ihn und die angeschlossenen Er­ eingehend geregelt und der Einfluß der Arbeit­ satzkassen zeichnete - im Gegensatz zu allen geber auf die Verwaltung, ohne an ihrem Beitrags­ sog. RVO-Kassen - ein gutes Verhältnis zur anteil etwas zu ändern, gestärkt wurde. Man muß außerdem sehen, daß die Krankenkassenselbstver­ deutschen Ärzteschaft aus. Aufgrund ihrer be­ waltung, die in der Frühzeit am ehesten mit der sonderen rechtlichen und finanziellen Situation eines heutigen kleinen, lokalen Vereins verglichen nahmen sie manche Regelung vorweg, die bei werden kann, Ansätze zur Bürokratisierung ent­ den gesetzlichen Krankenkassen erst später ein­ wickelt hatte. geführt wurden. Im übrigen dürfte das In­ Volle Selbstverwaltung hatten weiterhin die teresse der Angestellten an "ihrer" Kasse (wie Ersatzkassen, die als private Versicherungsver­ an allen Sonderversiche.rungen) relativ hoch eine auf Gegenseitigkeit eine andere Struktur gewesen sein und eine "echte" Selbstverwal­ hatten. Infolge dieser organisatorischen Ände­ tung bewirkt haben. rungen stieg die durchschnittliche Mitglieder­ zahl je gesetzliche Kasse von 685 (1913) auf 1.2 Die Krankenversicherung im Ersten Welt­ 1662 (1914). krieg und in der Weimarer Republik Im Zuge der parlamentarischen und außerpar• lamentarischen Diskussion um die Rva sta­ Die Sozialpolitik der Weimarer Republik ist zu­ bilisierten sich die bestehenden Spitzenverbände nächst auf dem Hintergrund der Folgen des Ersten Weltkriegs zu sehen. Dieser kostete das Deutsche der Ortskrankenkassen und der Betriebskran­ Reich das Doppelte des Volkseinkommens von kenkassen. Der erstgenannte stand der sozial­ 1913, er wurde durch Aufhebung der Golddeckung demokratie nahe, seine Vorstellungen standen der Währung mit theoretisch unbegrenzter Geld­ "in diametralem Gegensatz zu den diesbezüg• schöpfung des Reiches finanziert: am Ende stand eine Reichsschuld von 150 Mrd. M. Allein hierdurch lichen Vorschlägen der Reichsleitung und dem entstand ein starkes Inflationspotential. Hinzu Willen der bürgerlichen Parteien" (F. Behrens), kan1, daß das internationale \Vährungs-, Finanz­ der Betriebskrankenkassenverband fungierte und Kapitalverflechtungssystem erheblich gestört u. a. als informeller "Sprecher" für die Ände­ und die Leistungsfähigkeit und die materiellen Res­ rungswünsche des Zentralverbandes deutscher sourcen aller beteiligten Nationen überspannt wa­ ren. Industrieller und hatte die besten Kontakte Die Sozialversicherungsträger (vor allem die der zur Konservativen Partei. 1912 wurde von Unfall- und Rentenversicherung) trugen mit 2,394 dem Reichstagsabgeordneten Franz Behrens Mrd. M Kriegsanleihen (etwa 2,5 v. H. der Gesamt... (1872-1943) und weiteren christlichen Ge­ summe) zur Kriegsfinanzierung bei. werkschaften als ein dem Zentrum naheste- Für die meisten Krankenkassen brachte der hender Ortskrankenkassenverband der "Ge­ Krieg schwere Belastungen: die "günstigen Ri­ san1tverband deutscher Krankenkassen" ge­ siken" der Männer in mittleren Jahren waren gründet. Ihnen war der 1894 gegründete"Cen­ ersetzt worden durch Frauen, Jugendliche und tralverband" unter dem Einfluß von ]ulius stark Bejahrte, die teilweise berufsfremde Tä• Fräßdorf (1857-1932), Eduard Gräf (1870 bis tigkeiten verrichteten, hinzu kamen Unterer­ 1936) und Albert Kohn (1857-1926) eine zu nährung infolge Nahrungsmittelknappheit ab starke Stütze der Sozialdemokratie geworden, 1916 sowie Grippeepidemien. Arznei- und Sozialgeschichte der Sozialversicherung 397

Heilmittelpreise waren erheblich gestiegen und eingeführt worden. Reichszahlen für diese Zeit die Krankenhäuser überfüllt. An Mehrbela­ liegen nicht vor, statt dessen wird auf die An­ stungen war im wesentlichen nur eine Kriegs­ gaben der Kruppschen Betriebskrankenkasse wochenhilfe auf Kosten des Reichs noch 1914 zurückgegriffen:

Jahr 1913 1918 Durchschnittlicher Krankenstand 4,4 v. H. d. Mitgl. 8,4 v. H. d. Mitgl. Krankheitstage pro Mitglied 11,5 Tage 19,5 Tage Heilmittelkosten je Mitglied 4,13 M 8,83 M

Im Versailler Vertrag ging die Tendenz der Alliier­ (1868-1939), maßgeblich vertreten durch Mi­ ten dahin, dem Deutschen Reich allein sämtliche nisterialdirektor Andreas Grieser (1868-1955), Kosten des Weltkriegs aufzuerlegen (ursprüngliche verhindert werden. Speziell auf dem Gebiet Reparationsforderungen: 300 Mrd. M), hinzu ka­ men Belastungen der Zahlungsbilanz durch Ge­ der Krankenversicherung wurden zunächst bietsabtretungen, Ablieferung der Handelsflotte und (1918) einige durch die RVO eingeführte Re­ Verlust des Auslandsvermögens. Bedenkt man noch striktionen gegenüber der Selbstverwaltung die Kriegszerstörungen und die Heimkehrer- und aufgehoben. 1919 wurde die Wochenhilfe all­ Flüchtlingsprobleme, dann wird deutlich, vor wel­ chen sozialökonomischen Schwierigkeiten die Wei­ gemein eingeführt, die RVO gewährte ur­ marer Republik mit ihrer aus der Revolution her­ sprünglich als Pflichtleistung nur Wochengeld. vorgegangenen demokratischen Staatsform in der 1923 wurden weitere Angestellte pflichtver­ ersten Phase (1919-1924) stand: das fehlende sichert, die Schlechterstellung der in der Land­ Gleichgewicht zwischen realem Produktionsvermö• und Forstwirtschaft Beschäftigten beseitigt, die gen und Geldumlauf endete in der Inflationszeit von 1921-1923, in deren Verlauf der Vorkriegs­ Errichtung neuer Betriebskrankenkassen war wert der Mark auf ein Billionstel herabsank. an die Zustimmung des Betriebsrates gebunden Innerhalb dieses Rahmens blieb zunächst we­ u. a. Die vielen Änderungen machten eine nig Spielraum für eine Realisierung von Art. grundlegende Neufassung der RVO im Jahre 161 Weimarer Verfassung (1919), der wesent­ 1924 erforderlich. lich auf das Erfurter Programm der SPD von Im übrigen hatten die ökonomischen Folgen 1892 zurückging: "Zur Erhaltung der Gesund­ des Ersten Weltkrieges das Verhältnis zwischen heit und Arbeitsfähigkeit, zum Schutz der Krankenkassen und Ärzten verschlechtert. Die Mutterschaft und zur Vorsorge gegen die wirt­ inflationäre Entwicklung hatte einen 1920 mit schaftlichen Folgen von Alter, Schwäche und den Ortskrankenkassen abgeschlossenen, über• Wechselfällen des Lebens schafft das Reich ein regionalen Tarifvertrag ebenso durchlöchert umfassendes Versicherungswesen unter maß• wie das 1923 auslaufende Berliner Abkommen. gebender Mitwirkung der Versicherten." Die­ Da eine freiwillige Verständigung aller Kran­ sem Programm stand eine tradierte Sozialver­ kenkassenspitzenverbände mit den Ärzteor­ sicherung gegenüber, deren Vermögen gekürzt, ganisationen nicht zu erreichen war, verordnete deren Versichenenbestand verringert und de­ das Reichsarbeitsministerium mittels Notver­ ren Rentenversicherung mit beitragslosen An­ ordnung den wesentlichen Inhalt des Berliner wartschaften und einer hohen Zahl von Renten Abkommens (1923). Dem folgte eine Kranken­ für die Kriegsopfer belastet war. So stand zu­ hilfeverordnung, die den Ärzten auferlegte, die nächst statt Ausbau mehr und ernsthaft zur wirtschaftlichen Verhältnisse und die Leistungs­ Debatte, die Sozialversicherung weitgehend fähigkeit der Krankenkassen zu berücksichti• durch ein Fürsorgesystem zu ersetzen. Dieser gen. DieÄrzte erklärten das für standesunwür• Schritt konnte aber selbst in der ärgsten In­ dig (sie befürchteten offiziell, daß die Kassen­ flationszeit durch das 1919 errichtete Reichs­ verwaltungen, die durch die Notverordnung arbeitsministerium unter Heinrich Brauns die Vollmacht bekommen hatten, solche Ärzte 398 Florian Tennstedt aus der Kassentätigkeit auszuschließen, die deIn für den gegebenen Fall der geeignete ist, besteht Grundsatz der Sparsamkeit und Wirtschaftlich­ weiter nur eine geringe Gewähr für eine richtige Verteilung der Patienten unter die Ärzteschafl. Das keit zuwiderhandelten, daran gehen bzw. die­ Ambulatorium faßt den in seine Spezialfächer auf­ ses benutzen würden, um die kassenärztliche gesplitterten ärztlichen Beruf zunächst einmal räum• Tätigkeit von "arztfremder" Stelle aus zu be­ lich zusammen und ermöglicht ein Hand-in-Hand­ einflussen) und traten von November 1923 bis Arbeiten der verschiedenen Fachärzte, wie man es Januar 1924 in einen Generalstreik, in Berlin bisher nur an den allgemeinen Krankenhäusern großen Stils finden konnte" (J. Cohn). dauerte er sogar bis Juni 1924. Das führte zur Einschränkung der entsprechenden Vorschrif­ 2. Der Verband der Berliner Krankenkassen rich­ ten und zur vermehrten Gründung von Am­ tete die Ambulatorien erst ein, als im Dezember 1923 die Arbeitsniederlegung der frei praktizieren­ bulatorien der Krankenkassen in Großstädten, den Arzte eintrat, zuvor bestanden aufgrund der die vor allem für die Sachleistungen an Fami­ Verträge mit den Ärzteorganisationen keine Mög• lienmitglieder zuständig waren. lichkeiten dazu. Bis März 1924 wurden 33 Am­ bulatorien errichtet. Nach dem ersten "Waffenstill­ Die ersten, allerdings unvollkommenen "Beratungs­ standsabkommen" (April 1924) wurden die Ambu­ stellen" hatte die Ortskrankenkasse Leipzig 1905 latorien auch für die Familienfürsorge (Behand­ während des Arztestreiks geschaffen. Im gleichen lung von Familienangehörigen) zugelassen. Nach Jahr hatte Albert Kohn ähnliche Einrichtungen bei dem endgültigen "Friedensvertrag" (April 1928) der Arbeiterkrankenkasse in Budapest kennenge­ wurde der zur Behandlung zugelassene Patienten­ lernt, wo sie sich schon längere Zeit bewährt hatten. kreis ausschließlich auf die Familienangehörigen Seit 1916 hatte dann Albert Kohn diese Beratungs­ beschränkt, und die mit festem Vertrag beschäf• stellen und Untersuchungsstellen mehr und mehr tigten Ärzte (1929: 148), bis dahin die Regel, verstärkt bei verschiedenen Verbänden gefordert wurden durch im sechsmonatigen Turnus und im und offen entsprechende Pläne für eine "Familien­ Einverständnis mit der organisierten Ärzteschaft versicherung" konzipiert. beschäftigte Arzte "ergänzt" (1929: 65). Die Bei­ Im Hinblick auf Entstehungsgeschichte und Funk­ träge zu den Ambulatorien wurden durch die be­ tion der Ambulatorien ist demnach festzuhalten : teiligten Krankenkassen mittels einer pro Kopf des Versicherten berechneten Pauschale aufgebracht 1. Schon vor ihrer faktischen Einrichtung hatten (1929: 0,40 RM pro Kopf/Monat). An der Spitze namhafte Sozialhygieniker und Kassenvertreter des für die Ambulatorien zuständigen Kuratoriums Ambulatorien befürwortet: "Ich bin der Ansicht, stand ]ulius Cohn (1871-1941), 1925-1933 Direk­ daß die Aufrechterhaltung des privatwirtschaft­ tor der AOK Berlin. lichen Kleinbetriebes nicht im Wesen der ärztlichen Der besondere Anteil des Judentums an dieser fort­ Berufsausübung gelegen ist. Ist es notwendig und schrittlichen Einrichtung, die von einigen auch als wirtschaftlich, daß jeder Arzt sich ein umfangreiches Vorstufe zur Sozialisierung des Heilwesens aufge­ und kostspieliges Instrumentarium anschafft, von faßt wurde, zeigt sich auch darin, daß der Chefarzt dem manches wenig gebraucht wird, nutzlos daliegt Kurt Bendix (1880-1942) und sein Stellvertreter und sich nicht verzinst? Warum muß der Arzt seine Walter Axel Friedeberger (1898-1967) ebenfalls so­ Sprechstunde in der Privatwohnung abhalten?" zial eingestellte Juden waren. Letzterer entwickelte (R. Lennhoff 1919). Außer dem technischen Fort­ nach der Rückkehr aus der Emigration (1947) in der schritt wurde auf die gewandelte Berufsausübung SBZ wieder die Ambulatorien und Polikliniken, hingewiesen (von der vor allem die Unfallversiche­ 1959 wurde er Stellvertreter des Ministers für Ge­ rung "profitierte", die ihre Konzepte durchführen sundheitswesen der DDR. Im übrigen überwog aber konnte, weil sie sich eine bestimmte Facharztgruppe beim Personal der "Ambus" keine politische oder "herausgreifen" konnte, weniger Rücksicht auf die religiöse Richtung. Direktor des die "Ambus" tra­ Allgemeinmediziner nehmen mußte, die vor allem genden Verbandes der Krankenkassen im Bezirk des "hinter" der organisierten Interessenvertretung OVA Groß-Berlin war der Freigewerkschafter standen): "Dem praktischen Arzt von früher ist Adolf Bendig (1876-1943). das Spezialistentum von heute gefolgt. Wir sehen über die Großstadt eine ungeheure Zahl von Spe­ 3. Außer Apparaturen zur Sicherung der Diagnose­ zial- oder besser gesagt von Organärzten verteilt, stellung (z. B. 14 Röntgen-Apparaturen) wurde be­ deren Zusammenarbeit infolge der Entfernungen sonderer Wert auf die Einrichtung von elektro­ oder Inanspruchnahme sehr erschwert und in praxi physikalischen Stationen (Höhensonne, Heißluft, dann auch kaum vorhanden ist. Da die Mehrzahl Diathermie, Galvanisation und Faradisation, Rönt• der Kassenmitglieder nicht über die notwendige Er­ gen- und Radium-Therapie) gelegt, wodurch vor fahrung und Kenntnis verfügt, welcher Arzt gerade allem dem ständig steigenden Arzneimittelver- Sozialgeschichte der Sozialversicherung 399 brauch Einhalt geboten werden sollte: Ausgaben des bereits 1918 einsetzenden Währungsver• der AOK Berlin für Arznei und kleine Heilmittel: falls, an dessen Ende eine völlige Vernichtung bei Mitgliedern: 6,943 Mio. RM, bei Familien­ des Kassenvermögens stand, diesen Zeitraum angehörigen: 0,628 Mio. RM; behandelt wurden 3,100 Mio. im Jahre 1927. übergehen. Der Gesundheitszustand der Mit­ glieder scheint sich ab 1920 wieder gebessert 4. Die allgemeine sozialhygienische Wirksamkeit zu haben. war relativ bescheiden: 17 Beratungsstellen für Schwangeren-Fürsorge, außerdem Beratungsstellen Auf die Inflation folgte bis 1928/29 ein Jahrfünft für psychopathische Kinder, für Sportler, Gebur­ des Aufschwungs, eine Phase wirtschaftlicher Re­ tenregelung, Sexual- und Eheberatung sowie ortho­ konstruktion, gekennzeichnet durch Stabilisierung pädisch-gymnastische Turnkurse und Kurse für der Währung mittels Rentenmark, Beschränkung sprachbehinderte Kinder. der Geldumlaufmenge und restriktiv gehandhabte Kreditpolitik einerseits, Dawesplan (Reparationen 1930 hatte der"Verband der Krankenkassen Groß• eingeschränkt) und Zufluß (meist kurzfristig ange­ Berlin" mit 1,163 Mio. Versicherten 38 Ambula­ legten) ausländischen Kapitals andererseits. Letzte­ torien, in denen Familienangehörige behandelt wur­ res wurde zu einer Finanzierungsquelle für kom­ den. Beschäftigt waren 186 Ärzte und 536 Pflege­ munale und industrielle Investitionen, die die Kon­ und Hilfskräfte. Im übrigen Reich bestanden bei junktur bestimmten. Dieser Zeitraum ist weiter da­ den Ortskrankenkassen weitere 10 Ambulatorien durch gekennzeichnet, daß inzwischen das über• oder Behandlungsstellen, 137 Zahnkliniken, 125 kommene Gesellschafts- und Wirtschaftssystem wie­ Röntgen- und Lichtbehandlungsinstitute, 9 Kran­ der weitgehend restauriert war: die Vorschläge der kenhäuser, 4 Lungenheilstätten (411 Betten) 123 Sozialisierungskommissionen hatten spätestens ab Badeanstalten, 19 Kurheime (Durchführung von 1920 keine praktische Relevanz mehr, statt dessen Heilkuren bei chronisch Leidenden, 1280 Betten), konnten z. B. selbst die weder konkurrenzfähigen 123 Genesungs- und Erholungsheime (6894 Betten), noch umstellungsbereiten Großlandwirte erreichen, 8 Tageserholungsstätten, 25 Untersuchungsstellen daß 1925 der Bülowsche Zolltarif wieder eingeführt für Gewerbekrankheiten u. a. Diese Zahlen bezie­ wurde. hen sich nur auf die dem "Hauptverband" ange­ Auf diesem ökonomischen Hintergrund setzte nun schlossenen Ortskrankenkassen. die aktive, weitgehend vom Zentrum initiierte staatliche Sozialpolitik ein, die Sozialstruktur und Die wichtigste Neuerung, die die Notverord­ Wirtschaftssystem "korrigierte" - ohne es grund­ nung über Arzte und Krankenkassen ab 1924 sätzlich in Frage zu stellen oder zu ändern -: brachte, war der Reichsausschuß für Arzte und durch Sozialproduktumverteilung sollte primär die Krankenkassen, eine Zwangsarbeitsgemein­ Existenz des Arbeiters verbessert und gesichert wer­ den. Von 1913-1928 verdoppelte sich der Anteil schaft der Spitzenverbände derselben, dessen der öffentlichen Ausgaben am Sozialprodukt, von wichtigste Befugnis im Erlaß von Richtlinien den 3512 Mio. RM, über die das Reich nach dem für angemessene vertragliche Vereinbarungen Haushalt von 1929 verfügte, entfiel mit 871 Mio. zwischen den Kassen und den Arzten bestand, RM auf das "Wohlfahrtswesen" der größte Anteil. außerdem wurde zur Schlichtung ihrer Streitig­ Im Vordergrund dieses Wohlfahrtsinterventionis­ mus standen Arbeitsrecht, Wohnungs- und Si~d­ keiten beim Reichsversicherungsamt ein Reichs­ lungswesen sowie Bildungsinvestitionen. Im Bereich schiedsamt errichtet. Die Spitzenverbände wa­ der tradierten Sozialversicherung wurden quanti­ ren durch beide Institutionen erstmals gesetz­ tativ neue Akzente gesetzt: von 1913 bis zum Jahre lich "anerkannt", ihre Geschäftsführer - vor 1929 vervierfachten sich die Ausgaben, 1927 war die Arbeitslosenversicherung und Arbeitslosenver­ allem Helmut Lehmann (1882-1959) von dem mittlung reichsgesetzlich und reichsunmittelbar orga­ 1924 in "Hauptverband deutscher Kranken­ nisiert eingeführt worden. Die Versicherung gegen kassen" umbenannten "Centralverband" und durch Einflüsse des Marktes bedingte Arbeitslosig­ Otto Heinemann sowie später Karl Haeden­ keit war auf lange Zeit die letzte grundsätzliche kamp (1889-1955) vom Hartmannbund ­ Risikoerweiterung, die die Sozialversicherung auf­ nahm. wurden einflußreiche informelle "Gesprächs• partner" des Reichsarbeitsministeriums. Für die Selbstverwaltung in der Krankenver­ Eine Darstellung der finanziellen Entwicklung sicherung wurde die Gewerkschaftsentwicklung der Krankenversicherung von 1919-1923 ist entscheidend. Die Gewerkschaften hatten 1922 nicht möglich, weil sämtliche Statistiken wegen mit über 13 Mio. Mitgliedern rd. zwei Drit- 400 Florian Tennstedt tel der deutschen Arbeitnehmer (9,67 Mio. zur Bürokratisierung der Arbeiterbewegung Arbeiter, 1,69 Mio. Angestellte, 1,93 Mio. Be­ beigetragen zu haben, laut Eduard Heimann amte) organisiert, danach setzte ein Mitglieder­ soll sogar das wichtigste Moment an ihr "die rückgang ein. Politisch entscheidend war, daß Aufstiegsmöglichkeit für Zehntausende von sie durch das Hilfsdienstgesetz (1917) und das Menschen aus der Arbeiterschaft in die Selbst­ Stinnes-Legien-Abkommen über die Zentral­ verwaltungsbürokratie der Sozialversicherung arbeitsgemeinschaft (1918) durch Staat und gewesen sein". Man wird zwar konzedieren Großbürgertum "anerkannt" wurden, damit müssen, daß auch die wirtschaftlichen Verhält• wurden ihre gesellschaftsverändernden Ziele nisse im Aufschwungjahrfünft den Kranken­ absorbiert. Mit der Konsolidierung der Staats­ kassen keine großen Möglichkeiten etwa zu macht erstarkten die "anerkannten" gegneri­ aktiver Sozialhygiene boten, aber die "Ver­ schen Kräfte und ihre rechtspolitische Antriebs­ bundenheit" der Krankenkassen bei ihren Mit­ kraft. Die Gewerkschaft'en erreichten - vor gliedern dürfte vor 1914 vergleichsweise stär• allem im Bereich des kollektiven Arbeitsrechts ker gewesen sein. Sichtbaren Erfolg im Eigen­ - wesentliche, unter der Situation des Kaiser­ interesse erlangten die Angestelltengewerk­ reichs fixierte pragmatische Ziele (z. B. Ur­ schaften, als 1927 kurzfristig Neuzulassungen laubsgewährung für Handarbeiter - die wö• von Ersatzkassen möglich waren, die vermut­ chentliche Arbeitszeit im Bergbau und in Indu­ lich dem Gesamtinteresse der Arbeitnehmer­ strie und Handwerk betrug 1890/95 64 Stun­ schaft nicht dienten. Die Ersatzkassen erlangten den, 1919/23 48 Stunden 6" -, Tarifvertragsver­ seit der Zeit der Weimarer Republik immer ordnung 1918, Betriebsrätegesetz 1920) und größere Bedeutung als Nebenversicherungsträ• erhielten ein reiches Betätigungsfeld in der ger (Anteil der Angestellten an den Erwerbs­ "täglichen Arbeit". Damit verbunden war eine personen: 1925: 10,9 v. H., 1933: 12,7 v. H.). tendenzielle Verselbständigung der (politisch Für die Sozialhygiene entscheidend wurden die konkurrierenden) Gewerkschaftsbürokratien staatlichen Ausgaben für Wohnungs- und Sied­ von der Arbeitnehmerbasis. 1914 fanden noch lungswesen: dieser Etat war doppelt so hoch bei rd. 66 v. H. der Ortskrankenkassen echte wie der Verteidigungsetat. 1909 wurden 60 861 Ausschußwahlen (mit Stimmabgabe) mit einer Wohnungen erstellt, 1927 waren es 306834, Wahlbeteiligung von etwa 31 v.H. statt, 1927/ 1920 bis zum ersten Halbjahr 1928 wurden 28 waren es nur noch 27,2 v. H. echte Wah­ über 1,5 Mio. Wohnungen gebaut. len mit einer Beteiligung von etwa 24,3 v. H. Die dritte Phase der Weimarer Republik (1929 bis Insgesamt scheint in der Weimarer Republik 1932) wurde verursacht durch ein strukturelles die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung Ungleichgewicht: Die Gesamtnachfrage war inter­ national dem Arbeits- und Produktionspotential nicht adäquat. Dieses führte zu einem Abzug aus­ ländischen Kapitals aus Deutschland (ab Ende 6" 1910 erhielten von 235 von der "Zentralstelle für 1927), wo es andererseits infolge von Inflation, Volkswohlfahrt" befragten Fabriken nur 21 v. H. Reparations- und Anleihepolitik an Substitutions­ der Arbeiter Urlaub, dagegen wurde schon 1901 möglichkeiten mittels eigener Kapitalbildung fehlte. vom Kontorpersonal bei 13 673 Betrieben 39 v. H. Daraus resultierte in Deutschland ab 1929 eine mit regelmäßig und 8 v. H. "auf Wunsch" Urlaub ge­ Finanz-, Kredit- und Bankenkrise verbundene Wirt­ währt. 1922 erhielten dann schon 92,7 v. H. aller schaftskrise, die bis 1932 einen nominalen Rück• tariflich erfaßten Arbeiter Urlaub. Allerdings be­ gang des Sozialprodukts auf beinahe die Hälfte trug die so abgesicherte Mindestdauer bei 53,8 v. H. bewirkte. Für die Sozialpolitik und allgemeinpoli­ nur bis zu 3 Arbeitstage und bei 38,6 v. H. der Ar­ tisch war vor allem die damit verbundene Arbeits­ beiter zwischen 3 und 6 Arbeitstage. Der Achtstun­ losigkeit folgenreich : Am 15. März 1932 waren in dentag, eine der wichtigsten Forderungen der Ar­ Deutschland von 18,12 Mio. Arbeitnehmern beiterbewegung, die gleichermaßen auf Christoph 6129173, also ein Drittel, arbeitslos. Im Bereich Wilhelm Hufeland wie Rohert Owen zurückgeht, der (ostdeutschen) Landwirtschaft herrschte ähnliche wurde 1918 in Deutschland eingeführt, später je­ Massenarmut, 1931 wurden 177 000 ha Land ver­ doch wieder - ebenso wie die Samstagnachmittags­ steigert. Der Mittelstand neigte schon seit der In­ ruhe - eingeschränkt. flation zu Radikalismus. Sozialgeschichte der Sozialversicherung 401

Politisch enthüllte die ökonomische Krise die Brü• geführt, auß,erdem wurde eine Selbstbeteili­ chigkeit des demokratischen Staatsbewußtseins in gung bei Arznei- und Stärkungsmitteln auf­ der Weimarer Republik. Der "sparsame Hausvater" erlegt. Die nach 1924 verstärkt einsetzende H einrieh Brüning verschärfte durch seine Defla­ tionspolitik (Kürzung der Staatsausgaben, Abbau vorbeugende und nachfolgende Anstaltsbe­ der Sozialausgaben und Einkommenskürzungen) handlung der Mitglieder (Krankheitsverhü• die wirtschaftliche Krise und verlagerte ihre Folgen tung, Genesendenfürsorge) wurde am stärksten weitgehend auf die Arbeitnehmerschaft. H einrieh von den Leistungsbeschränkungen betroffen. Brüning und die beiden nachfolgenden Präsidial• kabinette regierten mit Notverordnungen, von Die Nachuntersuchung der Erkrankten wurde denen einige auch die Krankenversicherung ent­ den Krankenkassen zur Pflicht gemacht. Die scheidend betrafen und bei deren Zustandekommen Kassen mußten entweder ärztliche Prüfstellen die Spitzenverbände mehr informellen Einfluß ge­ bilden oder Vertrauensärzte zu diesem Zweck habt zu haben scheinen als die Gewerkschaften und anstellen. Allerdings waren schon seit der ahr­ Parteien bei parlamentarischen Gesetzen. J Die Krankenversicherung hatte 1929 Einnahmen hundertwende (der Schwerpunkt der Ver­ von 2,109 Mrd. RM und Ausgaben in Höhe von trauensarztsystem·e lag allerdings von Anfang 2,008 Mrd. RM gehabt. Die Ausgaben je Mitglied an im Bereich der Unfall- und Renten versiche­ waren von 51,50 RM im Jahre 1924 auf 95,84 RM rung, vgl. die Ausführungen unter 2.1 und im Jahre 1929 angestiegen. Angesichts der ökono• mischen Gesamtsituation schien es nicht möglich, die 3.3) die größeren Krankenkassen selbständig Beiträge, die von 1924 von 6,00 v. H. des Grund­ zu Vertrauensarztsystemen übergegangen, und lohnes auf durchschnittlich 6,43 v. H. im Jahre 1929 1925 waren sie schon in den Richtlinien des gewachsen waren, zu erhöhen. Diese Lage führte "Reichsausschusses" vorgesehen. 1927 hatten zu einer mit den Verbänden abgesprochenen, ur­ die 1600 Mitgliedskassen des "Hauptverban­ sprünglich als parlamentarisches Gesetz vorgesehe­ nen Notverordnung des Reichsarbeitsministerium5 des" schon 1200 Vertrauensärzte, davon 250 vom 26. Juli 1930. Dies brachte eine als Rationali­ hauptamtliche Kräfte. Im übrigen griff die sierungsmaßnahme gedachte fühlbare Einschrän• Verordnung in das Kassenarztrecht ein: sie kung der K,assenleistungen. regelte die Arztzulassungen (Verhältniszahl Hinzuweisen ist darauf, daß seit 1924 die In­ 1:1000 als gesetzliche Richtschnur) und den In­ anspruchnahme der Kassen ständig gestiegen haIt der ärztlichen Dienstverträge der Kassen. war. "Ein heftiger Kampf um die Klarlegung Die Oberversicherungsämter wurden ermäch• der Ursachen dieser Entwicklung entbrannte. tigt, einen Abbau freiwerdender Arztstellen Nach der Erklärung der Kassen lag die allei­ oder Zulassungssperren zu v'erhängen u.a.m. nige Schuld bei den Arzten. Diese wiesen dar­ Schließlich wurde der Höchstbeitrag für die auf hin, daß nicht sie die Steigerung verursach­ Krankenversicherung auf 5 v. H. des Grund­ ten, sondern die immer höher getriebenen frei­ lohnes festgesetzt - ihre Schlechterstellung willigen Leistungen der Kassenverwaltungen, wurde nur formal durch die Einführung der die einander im Wettbewerb überboten, fer­ Krankenpflege an versicherungsfr'eie Familien­ ner die von den Gewerkschaften betriebene angehörige verbessert: faktisch wurde diese Aufklärung der Versicherten über ihr'e An­ Leistung bis dahin von fast sämtlichen Kran­ sprüche und Rechte, der allgemeine Zeitgeist, kenkassen freiwillig gewährt. Die Versicherten der nicht auf Dienst zum gemeinen Nutzen, nahmen die Notmaßnahmen relativ ruhig auf, sondern auf Ausnutzung der Gemeinschaft ab­ indessen beg'ehrten die Arzteorganisationen ge­ gestellt war und schließlich eine mit kurpfu­ gen die Anderungen des Kassenarztrechts und scherischen Methoden betriebene hygienische der Vertragsverhältnisse der Kassenärzte hef­ und gesundheitliche Aufklärungsepidemie" tig auf. (G. Gassert). Ihre Bedenken richteten sich gegen das Ver­ Vor allem sollte durch diese Notverordnung trauensarztsystem, weil die Kassen durch Ver­ von 1930 die Inanspruchnahme der Kassen in trauensärzte unmittelbare Anweisungsbefug­ den sog. Bagatellfällen eingeschränkt werden: nisse gegenüber den Kassenärzten erhalten soll­ Kranken- und Kurscheingebühr wurden ein- ten, bei denen man hemmungslose Willfährig-

26 Sozialmedizin, Bd. III 402 Florian Tennstedt

keit gegenüber den Wünschen der Versicherten wurde auf 600:1 herabgesetzt, die Zulassung vermutete, jedenfalls bei den maßgebenden erhielt die Bedeutung eines subjektiven Rechts Stellen der Regierung und der Parteien des auf Kassenpraxis, die ärztlichen Leistungen Reichstags. wurden durch I(opfpauschale abgegolten, die überwachung der kassenärztlichen Tätigkeit "Die ärztliche Selbstherrlichkeit sollte endgültig zerbrochen werden. Ihre Beseitigung hätte gleich­ wurde der kassenärztlichen Vereinigung über• zeitig das Ende der ärztlichen Selbstverantwortung tragen. Diese war Körperschaft des öffentlichen und damit das Ende des ärztlichen Berufsideals ge­ Rechts, alle Kassenärzte gehörten ihr zwangs­ bracht. Zur Abwendung dieser Gefahr entschloß weise an. Die Verquickung dieser öffentlich• sich die Ärzteschaft 1931, einen ganz kühnen r'echtlichen Institution mit dem privaten, wirt­ Sprung zu wagen. Sie erklärte sich bereit, die ge­ samte ärztliche Behandlung einschließlich ärztlicher schaftliche Interessen verfolgenden Hartmann­ Sachleistungen und Wegegebühren gegen überlas• bund war perfekt: der Vorstand des örtlichen sung eines bestimmten Prozentsatzes der wechseln­ Hartmannbundes wurde Vorstand der jewei­ den Einnahmen der Kassen zu übernehmen. Das ligen kassenärztlichen Vereinigung. Außerdem ganze Risiko der unvorhersehbaren Entwicklung der Krankenversicherung sollte also auf die Ärzte hatte 1930 der Hartmannbund 41490 Mitglie­ übergehen, soweit es sich um den für ärztliche Lei­ der, die Gesamtzahl der Ärzte im Deutschen stungen bestimmten Teil handelte. Um im Bilde zu Reich betrug 49974, wovon 37246 frei prak­ bleiben: Die Ärzte schlugen vor, ihnen im Geld­ tizierten. schrank der Kassen ein Fach zur alleinigen Ver­ Die kassenärztlichen Vereinigungen der ein­ waltung zu überlassen, das zur Abgeltung der Ho­ norare der Ärzte bestimmt war. Sie verpflichteten zelnen Bezirke schlossen die Kassenarztver­ sich dagegen, alle Handlungen der Ärzte so einzu­ träge ab und nahmen die Honorare zur Ver­ richten, daß dem Grundsatz der Wirtschaftlichkeit teilung an die Kassenärzte von den Kassen ent­ und Sparsamkeit der Krankenversicherung Genüge gegen. getan war" (G. Gassert). Für die einzelnen Krankenkassen bedeutete das Auf dem Kölner Ärztetag 1931 wurden ent­ neue Kassenarztrecht eine weitgehende Auf­ sprechende Vorschläge zur Regelung der Be­ hebung ihrer bisherigen Selbstverwaltung in ziehungen zwischen Kassen und Arzten auf der ärztlichen Versorgung ihrer Mitglieder. Die der Grundlage der sog. kassenärztlichen Selbst­ wesentlichen Beschlüsse hierüber waren nun­ verwaltung gemacht. In den folgenden Ver­ mehr bei den Spitzenverbänden zentralisiert. handlungen zwischen den Spitzenorganisatio­ Der Organisationsgrad der einzelnen Kran­ nen der Krankenkassen und der Arzte lehnten kenkassen war sehr hoch: 1919 waren von die Betriebs-, Innungs- und Landkrankenkas­ 9017 Krankenkassen mit 17,24 Mio. Mitglie­ senverbände unter Führung von Otto Heine­ dern etwa 6349 Kassen mit etwa 13,77 Mio. in mann diese ab, während die beiden Ortskran­ Verbänden organisiert, 1931 waren es schon kenkassenverbände im Einvernehmen mit dem 6940 gegenüber 6983 Kassen bzw. 18,17 Mio. Reichsarbeitsministerium zustimmten. Der gegenüber 20,61 Mio. Mitg:iedern insgesamt. "Gesamtverband deutscher Krankenkassen" Die Spitzenverbände sowie ihre Landes- und und das Reichsarbeitsministerium, die beide Provinzialverbände waren aber noch auf rein zentrumsorientiert waren, stimmten zu, weil privatrechtlicher Basis organisiert. Mit Hilfe Reichskanzler H einrieh Brüning (Zentrum) von Zeitschriften, Rundschreiben, eigenen Ge­ auf Tolerierung durch die ärztlichen Stimmen setzeskommentaren, Vorträgen, Verwaltungs­ im Reichstag angewiesen war. Die N otverord­ und R'echnungsprüfung u. a. "steuerten" die nung vom 8. Dezember 1931 stieß die Rege­ Spitzenverbände die einzelnen Kassen ebenso lung vonl 26. Juli 1930 wieder weitgehend zu­ wie durch Richtlinien des Reichsausschusses. gunsten der Arzte um, führte aber zu einer Be­ friedung des Verhältnisses zwischen Arzten Sieht man nun auf die Gesamtwirksamkeit der Krankenversicherung zwischen 1914 und 1932 (vgl. und Krankenkassen. Folgende grundlegende Abb. 1-3, Tab. 1, S. 403, 404), dann muß zunächst Änderungen brachte sie: die Verhältniszahl beachtet werden, daß die Rva durch Auflösung der Sozialgeschichte der Sozialversicherung 403

Tabelle 1 Die gesetzliche Krankenversicherung in den Jahren 1885-1932'~

1885 1913 1919':":":' 1924 1929 1932 Zahl der Krankenkassen 18776 21342 9203 7777 7521 6578 Mitglieder (in Mio.) 4,29 13,9 15,84 17,28 20,17 16,50 Familienangehörige (in Mio.) *,~ 0,50 10,0 12,0 14,32 22,0 20,00 Versicherte insgesamt (in Mio.)*'~ 4,80 23,0 27,84 31,6 42,17 36,50 Vers.lGesamtbevölk. (v. H.)~"~ 11 50 45 50 68 55 AU-Fälle je 100 Mitglieder 42,9 42,1 ? 43,2 58,5 31,4 durchschnitt!. Dauer der AU (Tage) 14,2 20,6 ? 25,1 23,6 29,3 AU-Tage je 100 Mitglieder 589,2 865,6 ? 1084,5 1 378,9 918,2 Einnahmen (in Mio. M/RM) 63,2 539,3 1 384,2 951,7 2058,5 1020,8 durchschnitt!. Beitragssatz 2,0 3,0 4,0 6,0 6,45 5,44 Ausgaben (in Mio. M/RM) 57,9 515,7 1125,1 864,7 1 889,0 1 005,4 Anteil der Hauptausgabengruppen an den Gesamtausgaben (v. H.) A. Barleistungen, davon: 51,4 41,0 45,6 38,6 41,3 37,9 1. Krankengeld 45,4 35,9 37,4 31,8 33,8 21,0 2. Haus- und Taschengeld 0,5 1,5 1,2 1,4 1,9 1,1 3. Wöchnerinnenunterstützung 1,3 1,7 4,8 4,2 4,5 7,5 4. Sterbegeld 4,2 1,9 2,2 1,2 1,1 8,3 B. Sachleistungen, davon: 39,4 49,3 42,5 52,0 51,9 52,8 1. Krankenbehandlung 17,4 21,7 18,8 28,7 24,6 24,1 2. Arznei und sonst. Heilmittel 13,5 14,0 13,1 10,7 12,3 10,9 3. Krankenhauspflege, Kur 8,5 13,6 10,6 12,6 15,0 17,1 C. Verwaltungskosten 6,5 6,0 10,5 7,3 6,3 9,3 Anzahl der Ärzte insgesamt 16200 34136 31602 43900 49974 51785 Ärzte mit freier Praxis ? ? ? ? 37246 38343 Ärztel100000 Einwohner 35,0 51,0 51,5 70,1 77,2 78,8

* ohne Knappschaftsversicherung und Ersatzkassen ,:.,:. geschätzte Werte ,~*~ entsprechende Zahlen fehlen Quellen: Statistik des Deutschen Reichs, N. F., Bd. 24, 277, 298, 331, 389, 443; Reichsmedizinal-Kalender, Teil II, 1889ff. RT-Drucks. 1909/11, Nr. 340 (Anhang).

Gemeindekrankenversicherung und Mindestmitglie­ gliederzahl wieder herab. Der Anteil der Frauen derzahlenvorschriften eine große Anzahl von Zwerg­ am Mitgliederbestand erhöhte sich von Jahr zu Jahr kassen beseitigt und die Kassenzahl auf9854 herab­ (1885: 16,9 v.H. der Mitglieder, 1918: 18,6 v.H. gedrückt hatte. Außerdem waren 1914 noch 146 und 1932: 37,8 v. H.). knappschaftliche Krankenkassen (im Zuge des 1924 Die Krankheitshäufigkeit (mit Arbeitsunfähigkeit) in Kraft getretenen Reichsknappschaftsgesetzes er­ wies besonders nach der Inflation bis 1929 eine folgten hier Änderungen) und 67 Ersatzkassen vor­ stark steigende Tendenz auf: 1922 gab es 34,1 handen, insgesamt also 10067 Krankenkassen. 1919 Arbeitsunfähigkeitsfälle je 100 Mitglieder, 1929 waren insgesamt 9203 Kassen (davon 58 Ersatz­ gab es 59,3 Arbeitsunfähigkeitsfälle je 100 Mit­ kassen) tätig, von der Inflationszeit bis zum Jahre glieder. 1932 gingen die Arbeitsunfähigkeitsfälle 1932 sank die Zahl kontinuierlich weiter bis auf stark zurück und erreichten mit 31,4 (einsch!. Er­ 6789 Kassen (mit 47 Ersatzkassen). satzkassen nur 30,4) Arbeitsunfähigkeitsfällen je Gestiegen war demgegenüber die Mitgliederzahl, 100 Mitglieder die niedrigsten bis dahin fest­ und zwar erheblich stärker als die deutsche Ge­ gestellten Werte. Die durchschnittliche Dauer der samtbevölkerung: von 100 Einwohnern waren 1885 Arbeitsunfähigkeitsfälle betrug nach der Inflation 10,0, im Jahre 1924 30,8 und 1932 29,7 bei den bis zum Beginn der Krise etwa 24,6 Tage, lag also reichsgesetzlichen Krankenkassen Mitglied. Bezieht bedeutend über dem Vorkriegsniveau. Die Entwick­ man die Mitgliederentwicklung auf das Jahr 1885, lung von 1924 bis 1929 - stark zunehmende Krank­ dann lag bis 1929 eine Steigerung auf 448,6 v. H. heitshäufigkeit und zugleich lange Krankheitsdauer vor. Die Wirtschaftskrise drückte dann die Mit- - ist wohl primär auf die Not und die Entbehrun- 404 Florian Tennstedt

Krankheitshäufigkeit in den reichsgesetzlichen Krankenkassen Krankheitstage in den reichsgesetzlichen Krankenkassen 1885 bis 1934 ~ 1885 bis 1934 Arbeitsunfähigkeitsfälle-~ Auf je 100 männliche oder weibliche Mitgfieder kamen Auf je 100 mannirehe oder weibliche MItglieder kamen Krankheitstage: ro ro 1600 1600

1400 1400

1200 -.------.---- 1200

'1000 -_.------

800 800

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400 400 20 ------~ 20

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Abb.l Abb.2

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80 -"- Leistungen der reichsgesetzlichen Krankenkassen je Mitglied ---­ 1885 bfs193q.

70 - -. ------. - --- _. ------

~ ------

---Sterbegeld --- Wochenhilfe 50 ------_. ------.------Arznei u. Heilmittel

40 ------Anstaltspflege

30 ------~ ------

20 ------_. ------_

10

---Barleistungen

-0 1885 90 95 1900 05 10 15 30 St.R.A.36

Abb.3 Sozialgeschichte der Sozialversicherung 405

gen in der Kriegs- und Inflationszeit zurückzufüh• lung wieder einen Aufschwung signalisierten. Hin­ ren, welche insbesondere die versicherten Bevölke• zu kam, daß Heinrich Brüning auf der Konferenz rungsschichten trafen und sie für Krankheiten an­ von Lausanne ein faktisches Ende der Reparations­ fälliger machen mußten. Hinzu kam, wie später zahlungen bewirkt hatte. Die nationalsozialistische noch gezeigt und erörtert werden wird, daß mit Wirtschaftspolitik schloß mit ihrem Arbeitsbeschaf­ wirtschaftlichem Aufschwung und zunehmendem Be­ fungsprogramm hier an, dieses bedeutete in quanti­ schäftigungsgrad die Krankheitsrate steigt. Für den tativer und qualitativer Hinsicht ein bis dahin Zeitraum von 1924 bis 1929 fehlen allerdings ent­ noch nicht dagewesenes ökonomisches Eingreifen sprechend vergleichbare Zahlenangaben. Von 1923 des Staates. Bis Ende 1934 wurden für Arbeits­ bis 1925 sank die Zahl der Arbeitslosen, um ab beschaffung 5 Mrd. RM bereitgestellt, das Zehn­ 1927/28 wieder rapide anzusteigen. In den Jahren fache der entsprechenden Ausgaben der Kabinette 1930 bis 1932 trat zugleich mit einer bedeutenden Papen und Schleicher. Die dadurch bedingten Maß• Abnahme der Arbeitsunfähigkeitshäufigkeit eine nahmen lassen sich aufgliedern in: starke Steigerung der durchschnittlichen Krank­ 1. die unmittelbare Arbeitsbeschaffung durch Ertei­ heitsdauer ein (27,3 Tage, 28,7 Tage und 29,3 lung zusätzlicher öffentl. Aufträge von Ländern Tage). Infolge der schlechten Arbeitsmarktlage mel­ und Kommunen (u. a. auch Wohnungsbau u. Haus­ deten sich die Erkrankten (Arbeitslose wie auch sanierung), Beschäftigte) mehr als sonst nur in schweren Fällen 2. Aktivierung der privaten Wirtschaftstätigkeit bzw. verspätet arbeitsunfähig krank. Außerdem durch Steuererleichterungen und indirekte Zu­ wurden die Notverordnungen wirksam. schüsse, Wie von Anfang an stiegen auch in der Weimarer 3. Förderung des Austausches von Arbeitskräften. Republik die Arbeitsunfähigkeitstage, Ausgaben Dadurch sank die Zahl der Arbeitslosen von und Einnahmen stärker als der Mitgliederbestand: 6013612 (31. Jan. 1933) auf 2019887 (31. Mai 1935), 1937 wurde die Grenze zur Vollbeschäfti• gung überschritten. Dieses erfolgreiche Arbeitsbe­ Jahr 1885 1924 1929 1932 schaffungsprogramm samt paralleler Aufrüstungs• Mitgliederbestand 100 389 449 423 politik war zumindest im Anfang ein entscheiden­ Krankheitstage 100 733 1055 586 der Faktor für die Massenloyalität gegenüber dem Ausgaben 100 1615 3467 2391 NS-Regime und für die Sozialpolitik. Einnahmen 100 1600 3218 2642 Die ökonomische Stabilisierung hatte vor allem Gleichfalls fortgesetzt wurde die Bedeutungsver­ zur Folge, daß Ende 1933 durch das sog. Sa­ schiebung der einzelnen Leistungsgruppen : Von 100 nierungsgesetz die Erhaltung der Leistungsfä• RM Gesamtausgaben entfielen 1929 auf Kranken­ geld, die wichtigste Barleistung, 34,0 RM, auf higkeit der Rentenversicherungsträger erfolg­ Krankenbehandlung durch approbierte Ärzte inel. reich eingeleitet werden konnte. Im Bereich der Zahnbehandlung 24,5 RM, auf Krankenhauspflege Krankenversicherung kam es zunächst zu or­ 13,6 RM. ganisatorischen Änderungen. Diese fanden vor Auf die Entwicklung der Gesamtausgaben, -einnah­ men und Beiträge wurde schon hingewiesen: 1932 dem Hintergrund einer in der Weimarer Re­ waren die Einnahmen auf 1,078 Mrd. RM und die publik bereits begonnenen "Reformdiskus­ Ausgaben auf 1,064 Mrd. RM herabgesunken. sion" von"Versicherungsarchitekten" statt, die Unter dem doppelten Einfluß der Bewegung der Vorschläge reichten vom "Zwangssparsystem" Löhne und der Beitragssätze stiegen die Einnahmen über 'eine stärker berufsständische Versicherung durch Beiträge je Mitglied von 13,38 M im Jahre 1885 auf 98,23 RM im Jahre 1929, um 1932 bis bis zum Versorgungssystem, genaue und dif­ auf 59,66 RM abzusinken. ferenzierte Vorschläge fehlten. Ende 1933 wurde die Diskussion amtlich verboten. Entscheidend wurde zunächst, daß durch das 1.3 Die Krankenversicherung im national­ Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeam­ sozialistischen Staat (1933-1945) tenturns etwa 30 v. H. der Ortskrankenkassen­ Die wirtschaftliche Krisenbekämpfung wurde erst angestellten, insgesamt etwa 6000 Personen, durch die Präsidialkabinette Papen und Schleicher wegen ihrer politischen Einstellung entlassen wirksam angegangen: durch Arbeitsbeschaffungs­ wurden, in der AOK Berlin wurde über 95 programme und Steuergutscheine wurde die volks­ wirtschaftlicheNachfrage so ausgeweitet, daß abMitte v. H. des Personals gekündigt. Vom "Haupt­ 1932 die Indikatoren der wirtschaftlichen Entwick- verband deutscher Krankenkassen" wurde das 406 Florian Tennstedt

Personal (27 Pers.) entlassen, teilweise sogar in Reihen auf, womit "zugunsten des schaffenden "Schutzhaft" genommen und, wie sein neuer Volkes" der Klassenkampf im Deutschen Reich Leiter, der nationalsozialistische "Aufräumer" offiziell beendet wurde. Von den Angestellten Ludwig Brucker (1888-1948) offen verkün• der freien Gewerkschaften wurden über 4000, dete, "alle freigemacht,en Stellen (wurden) nur von denen der christlichen über 500 entschädi• mit alten Kämpfern besetzt". Parallel dazu gungslos entlassen, führende Funktionäre wur­ war in die Besetzung der Vorstände und Aus­ den verhaftet, mißhandelt und - so in Duis­ schüsse eingegriffen worden, vermutlich bei burg JuliusBirk, Reinhold Büttner, EmilRent­ über 50 v. H. der Ortskrankenkassen. Für 103 meister, Michael Rodenstock und Jean Schlös• einzelne Krankenkassen und für 41 Kranken­ ser - unmittelbar erschlagen. kassenverbände bestellte der Reichsarbeitsmi­ Sämtliche Spitzenverbände wurden der Auf­ nister staatliche Kommissare, die Ortskranken­ sicht des Reichsarbeitsministers unterstellt, der kassen waren mit 91 Kommissaren hesonders "Hauptverband" und der "Gesamtverband" stark betroffen. In Thüringen, Bremen, Bayern wurden zum "Reichsverband der Ortskranken­ und Baden erfolgte die Kommissariatsbestel­ kassen" zusammengelegt. Die Ministerialbüro• lung für das ganze Land. Sinn dieser massiven kratie im Reichsarbeitsministerium war, da Ausschaltung der Selbstverwaltung der Kran­ vorwiegend mit Zentrumsangehörigen besetzt, kenversicherung war offiziell die "Aufräu• durch die NS-Gesetze in ihrer personellen Zu­ b mung" mit angeblichen "Mißständen" und sammensetzung kaum gestö,rt worden 6 , mit "Bonzentum", faktisch war es aber ein Arbeits­ ihrem neuen Staatssekretär ]ohannes Krohn beschaffungsprogramm für meist stellenlose (1884-1974) an der Spitze widersetzte sie sich SA-, NSBO- und NSDAP-Mitglieder. Da die­ mit Mut, Kontakten zu den der tradierten sen Parteibuchleuten die Fachkenntnisse fehl­ Sozialversicherung geneigten NS-Führern (u. a. ten, führten teilweise erst sie Mißstände ein, zum Stabe Rudolj Heß?) und Fachkenntnis eine Senkung des Anteils der Verwaltungsko­ weitgehend allen spezifischen NS-Reformver­ sten an den Ausgaben, wie er vor allem bei den suchen. Die Zerschlagung der Selbstverwaltung Ortskrankenkassen eingesetzt hatte (1930: 8,2 wurde dadurch allerdings nicht aufgehalten, v.H., 1931: 8,35 v.H., 1932: 7,60 v.H.), erst Ende 1933 bremste es die überführung der fand ihr Ende (1933: 7,32 v. H., 1934: 7,41 Eigenbetriebe und Eigeneinrichtungen der v. H.). Im Sommer wurde Ludwig Brucker Ortskrankenkassen (Ambulatorien, Selbstab­ wegen Auseinandersetzungen zwischen Deut­ gahestellen von Arzneien usw.) zugunsten des scher Arbeitsfront (DAF) und "revolutionä• "Mittelstandes" und der Ärzte. 1935 wurden rer" NSBO seiner Posten enthoben, womit u. a. die (relativ bedeutungslosen) Arbeiterersatz­ eine Phase relativer Konsolidierung in der kassen und 1937 die Angestelltenersatzkassen Krankenkassenorganisation einsetzte. Die Aus­ in Körperschaften des öffentlichen Rechts um­ schaltung der Selbstverwaltung in der Kran­ gewandelt. kenversicherung war allerdings letztlich nur Innerhalb der Ärzteorganisation erfolgte eben­ möglich, weil die hohe Arbeitslosenziffer der falls eine "Gleichschaltung": der Reichsärzte• Weltwirtschaftskrise die Kampfbereitschaft der führer Gerhard ~gner (1888-1939) setzte in Gewerkschaften gemindert hatte und ihre büro• allen Untergliederungen des Hartmannbundes kratische Führung in seltsamer Legalitätspoli• und des Ärztevereinsbundes Beauftragte des tik und Kapitulationsbereitschaft verharrte, so NS-Deutschen Ärztebundes ein. Die Mitglied­ daß sie am 2. Mai 1933 aufgelöst (Gewerk­ schaft in letzterem wuchs schnell, 1935 gehör• schaftshäuser und -büros besetzt, Verbands­ ten ihm schon 14500 Ärzte an, fast ein Drittel vorsitzende undBezirkssekretäre verhaftet, das

Millionenvermögen beschlagnahmt) und durch b 6 Allerdings dürften aus dem gesamten Geschäfts• die DAF unter Robert Ley "ersetzt" werden bereich des Reichsarbeitsministeriums etwa 400 Be­ konnten. Diese nahm auch Arbeitgeber in ihre dienstete entlassen worden sein. Sozialgeschichte der Sozialversicherung 407 der nichtjüdischen deutschen Arzte. Darüber revolutionären Umgestaltungspläne der Sozial­ hinaus begann eine sinngemäße Anwendung versicherung folgendes: des Berufsbeamtengesetzes auf die Arzteschaft, "Infolge der polar gegensätzlichen Stellung­ diese Aktion richtete sich vor allem gegen die nahm>en sachverständiger und weniger sach­ jüdischen Kassenärzte (die "privaten" Ersatz­ verständiger Kreise entstand die Auffassung, kassen konnten sie länger unter Vertrag neh­ die Krankenversicherung sei ein überaus heik­ men als die gesetzlichen I(assen), nach NS­ les Problem und eine besondere Art von hei­ Maßstäben gab es 1933 im Deutschen Reich ßem Eisen. Es anzufassen, sei mit Gefahr>en 6480 jüdische Arzte (13 v. H.). In Berlin wa­ und Enttäuschungen verbunden" (0. Kauff­ ren 70-80 v. H. aller Arzte Juden. Von den mann). insgesamt 3481 Kassenärzten, die am 1. Okto­ Dies begünstigte ebenso wie die Rivalitäten ber 1933 in Berlin gezählt wurden, waren der NS-Parteiführer untereinander, daß sich 2077, also fast 60 v. H., Juden. Da die ärzt• die Ministerialbürokratie mit ihren auf Fort­ liche Versorgung der Bevölkerung nicht ge­ entwicklung des bisherigen Systems gerichteten fährdet werden durfte, ging man hier etwas Plänen durchsetzen konnte, die sich im "Auf­ weniger schnell vor als bei den Krankenkassen, baugesetz" vom 5. Juli 1934 niederschlugen. erst das Jahr 1938 brachte die "vollkommene Damit blieb die bisherige Gliederung der So­ Ausschaltung der jüdischen Arzte". In den Jah­ zialversicherung erhalten, sog. Gemeinschafts­ ren danach starben viele in Konzentrations­ aufgaben der Krankenversicherung (die vorher lagern, genannt werden soll hier der sozial­ teilweise durch die Spitzenverbände und ihre demokratische Arzt ]ulius Moses (1868-1942), Einrichtungen erledigt worden waren, z. B. der für die den Krankenkassen geneigten vorbeugende Gesundheitsfürsorge, Prüfung der Arzte in der Wein1arer Republik die Zeitschrift Krankenkassen, hinzu kamen u. a. eine dem "Der Kassenarzt" gegründet und herausgege­ Risikoausgleich zwischen den verschiedenen ben hatte. Für die Honorarverhältnisse der von Krankenkassentypen dienende "Gemeinlast" den "Säuberungen" nicht betroffenen Arzte und die Durchführung des vertrauensärztlichen war zunächst die Bes>eitigung der Ambulato­ Dienstes, Näheres unter 3.3) wurden bei rien wirkungsvoller, vor allem in Berlin. Die den Landesversicherungsanstalten zusammen­ dort beschäftigten jüdischen Arzte emigrierten gefaßt. Die diesem Rahmengesetz folgenden ins Ausland und leisteten in Argentinien, In­ Verordnungen nutzten aus, daß die zur Durch­ dien, Israel, China, Türkei, USA u. a. Ländern setzung erforderliche Konsensbildung infolge teilweise Hervorragendes (z. T. als Regierungs­ der Machtstruktur geringer war als in der plu­ berater). Der Geschäftsführer der Ambulato­ ralistischen Konkurrenzdemokratie, waren rien, der Sozialdemokrat und Freigewerk­ aber ansonsten nicht spezifisch nationalsozia­ schafter Max Ebel, wurde von der SA zum listisch. Hervorzuheben ist, daß 1937 die Selbstmord getrieben. "Reichsverbände" der einzelnen Krankenkas­ Für das Verhältnis von Krankenkassen und sen in Körperschaften des öffentlichen Rechts Arzten wurde entscheidend, daß am 2. Au­ umgewandelt und ihre Aufgaben gesetzlich gust 1933 die Kassenärztliche Vereinigung festgelegt wurden, ausgenomn1en davon blie­ Deutschlands (KVD) der alleinige Träger aller ben die Ersatzkassenverbände. Beziehungen zwischen Kassenärzten und den Schon 1935 war - vom Reichsministerium des Krankenkassen wurde. Laut ihrer Satzung lag Innern - die Reichsärzteordnung erlassen wor­ die kassenärztliche Versorgung als eine Ge­ den, in deren Folge 1936 der 1873 gegründete samtleistung in den Händen der deutschen Deutsche Arztever'einsbund und der seit 1928 Arzteschaft: somit waren die Krankenkassen mit ihm auch einen gemeinsamen Vorsitzenden und ihre Verbände endgültig davon ausge­ habende Verband der Arzte Deutschlands schaltet. (Hartmannbund) samt Untergliederungen auf­ Im Jahre 1934 geschieht im Hinblick auf die gelöst wurde, Rechtsnachfolger wurden die auf 408 Florian Tennstedt

Pläne aus der Weimarer Republik zurück• Gesundheit verfügten. Die freiwillig oder durch die gehende, neugegründete Reichsärztekammer, Arbeitslosenversicherung versicherten Mitglieder waren keinen berufsbedingten Krankheitsgefahren als staatlich privilegierte Standesorganisation, mehr ausgesetzt. Die Krankmeldungen der beschäf• und die Kassenärztliche Vereinigung Deutsch­ tigten Personen in der I(rise waren selten, weil lands, beide Körperschaften des öffentlichen diese Personen sich nicht der Gefahr aussetzen woll­ Rechts. Hingewiesen werden muß darauf, daß ten, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Die arbeits­ die von den nationalsozialistischen Arztefüh• losen Versicherten konnten leichtere Krankheiten ausheilen, ohne sich "arbeitsunfähig" melden zu rern angestrebte Vereinheitlichung des Gesund­ müssen. Demgemäß stieg die durchschnittliche Dauer heitswesens nicht erfolgt'e, 1934 erfolgte nur der Arbeitsunfähigkeitsfälle. Genau umgekehrt aber eine Vereinheitlichung im Bereich der inneren verlief die Krankheitsentwicklung im Zuge der Verwaltung (738 staatliche und kommunale wirtschaftlichen Prosperität: Auch die weniger Gesundheitsämter, 1935), wo die Aufgaben der widerstandsfähigen Personen, die aus dem Arbeits­ prozeß und infolge anhaltender Arbeitslosigkeit hygienischen Gesundheitsfür- und -vorsorge auch aus der Krankenversicherung ausgeschieden konzentriert waren. Der Kompetenzbereich des waren, .erhielten Beschäftigung und wurden ver­ Reichsarbeitsministeriums wurde dadurch nicht sicherungspflichtig. Die lange Arbeitsentwöhnung berührt, außerdem bestanden laufende Kon­ erhöhte das Krankheitsrisiko für diesen Personen­ flikte mit dem Amt für Volksgesundheit der kreis ebenso wie die inzwischen durch Rationalisie­ rung gestiegene Arbeitsintensität. Mit der Voll­ NSDAP, das mehr Aufgaben als Kompetenzen beschäftigung verminderten sich dann entsprechend hatte und bis 1939 fast völlig in der DAF auch die einer Krankmeldung aus Angst um Arbeits­ aufging (Näheres unter 3.3). platzverlust entgegenstehenden Gründe. Infolge der gestiegenen Arbeitsunfähigkeitsfälle bzw. Krank­ Die statistischen Angaben zur Krankenversicherung, meldungen war aber durchschnittlich schnellere Hei­ die über diese Zeit vorliegen, reichen bis zum Jahre lung infolge rechtzeitiger Behandlung möglich. Die 1939, teilweise auch bis 1941. Aus ihnen ergibt sich Arbeitsunfähigkeitsdauer fiel demgemäß von 25,6 zunächst, daß die Zahl der Krankenversicherungs­ Tagen im Jahre 1933 auf 22,2 Tage im Jahre 1936 träger weiter erheblich sank: von 6427 im Jahre (Tiefststand seit 1924), stieg 1937 aber wieder auf 1933 auf 4436 im Jahre 1939, am stärksten war der 22,6 Tage. Rückgang bei den Ortskrankenkassen (von 1985 auf 890) und den Ersatzkassen (von 49 auf 14). Außerdem muß gesehen werden, daß aufgrund 1939 waren 24,37 Mio. versichert (die ab 1938 er­ rüstungspolitischer Erfordernisse und des Arbeits­ folgten "Gebietseingliederungen" sind dabei aus­ kräftemangels die Tätigkeit der vertrauensärzt• geschaltet!). Sinnvolle Vergleiche sind aber nur für lichen Dienststellen verschärft wurde (Näheres unter den Zeitraum von 1933 bis 1937 möglich, weil da­ 3.3). Bei der BKK der Fa. Krupp wurden von 2 nach österreich und Sudetenland einbezogen sind. oder 3 Vertrauensärzten untersucht: 1937: 9569 1937 existierten noch 4625 Krankenversicherungs­ (65,1 v. H.), 1938: 9327 (59,2 v. H.), 1939: 18718 träger mit 22,348 Mio. Versicherten. Damit waren (52,9 v. H.), 1940: 19623 (49,7 v. H.) arbeits­ 32,9 v. H. der Reichsbevölkerung freiwillig oder unfähig geschriebene Kranke (in Klammer: Anteil pflichtversichert (1933: 28,4 v. H. == 18,54 Mio.), der nach dem Untersuchungsergebnis weiter Arbeits­ hinzu kamen noch die mitversicherten Familien­ unfähigen). Im Krieg verschärfte sich diese Ten­ angehörigen. Infolge der wirtschaftlichen Priori­ denz: 1942 wurden pro Vertrauensarzt 40 Nach­ täten der Rüstungspolitik hatten die Knappschaft­ untersuchungen je Tag gefordert. Die Klagen über lichen Krankenkassen den größten Aufschwung "in großzügiger Weise" ausgestellte Krankheits­ (1936 zu 1937: 9,2 v. H.) zu verzeichnen, ihnen bescheinigungen und Bumme1antentum rissen aber folgten die Betriebskrankenkassen (7,8 v. H.). Die nicht ab, 1944 hatten deshalb im Elsaß Vertrauens­ Ausdehnung während des Krieges zeigen folgende ärzte, die unbegründete Krankheitsbescheinigungen Zahlen: 1. 1. 1939: 20,92 Mio. und 1. 5. 1944 entdeckten, ihre Kollegen der Sicherheitspolizei und 32 Mio. Mitglieder in der gesetzlichen Krankenver­ der Arztekammer zu melden (wobei u. a. ein Straf­ sicherung. verfahren wegen Feindbegünstigung drohte), "bum­ 1937 kamen auf 100 Mitglieder 39,7 Arbeitsunfähig• melnden Gefolgschaftsmitgliedern" wurden die keitsfälle (1933: 34,8). Die Steigerung der Arbeits­ Schwer- oder Langarbeiterzulagen für jeweils vier unfähigkeitsfälle dürfte größtenteils mit dem wirt­ Wochen entzogen. schaftlichen Aufschwung zusammenhängen: in der Im Hinblick auf die nationalsozialistischen Vor­ Krise waren überwiegend nur die in Arbeit Stehen­ sorgepläne ist es interessant zu sehen, daß in diesem den versichert, die über eine verhältnismäßig gute Zeitraum die Zahl der zur Krankheitsverhütung Sozialgeschichte der Sozialversicherung 409 und Genesendenfürsorge verschickten Personen nie Dieses konnte jedoch durch Rückdrängung der pri­ den Stand vor den Notverordnungen von 1930 er­ vatenNachfrage (mittels Lohn- und Preisstop - vor reichte: 1930: 89613, 1931: 43367, 1932: 8584, allem auf dem Lebensmittelsektor -, Rohstoffkon­ 1933: 7186, 1934: 12087, 1935: 24374, 1936: tingentierung - "güterwirtschaftliche Zuteilung" -, 27014, 1937: 27000, die Zunahme seit 1934 ist auf Freizügigkeitseinschränkungen, Investitionskon­ das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses trolle und staatliche Produktionsauflagen) zugun­ zurückzuführen, die Kosten waren unter "Krank­ sten der staatlichen Nachfrage erfolgreich ver­ heitsverhütung und Genesendenfürsorge" zu bu­ schleiert werden. Dadurch blieben die finanziellen chen. Verhältnisse in der Sozialversicherung zunächst sta­ Die Ausgaben der reichsgesetzlichen Krankenver­ bil, ab 1938 wurden die Arbeitskräfte sogar knapp. sicherung stiegen von 1933 bis zum Jahre 1937 wie­ Andererseits war aber die Riesenorganisation DAF der stärker als die Mitgliederzahl, vor allem be­ mit KdF-Reisen, Rechtsberatung, Berufserziehungs­ dingt durch die gestiegenen Grundlöhne. Nimmt maßnahmen, Arbeiterbank sowie genossenschaft­ man als Basiszahl (= 100) das Jahr 1924, dann stie­ lichem Siedlungswesen durch die rüstungswirtschaft• gen die Ausgaben bis 1937 auf 159,7 v. H., gegen­ lichen Aktivitäten an den Rand der Aufgaben ge­ über 1929 waren sie aber auf 74,1 gefallen (1933: drängt, die die Gewerkschaften vor 1933 wahr­ 65,1). In ähnlicher Weise kann man die Einnahme­ nahmen. So blieb - von den wirtschaftspolitischen steigerung auf 1924 (= 100) oder 1929 (= 100) be­ Setzungen ausgehend - nur die Sozialversicherung ziehen. Dann erhält man Steigerungsraten von als potentielles "großes" Arbeitsfeld der DAF, und 146,7 v. H. bzw. 71,6 v. H. Die durchschnittlichen so setzen ab 1938 verstärkte Aktivitäten von Robert Beitragssätze betrugen 1937 5,18 v. H. des Grund­ Ley ein, um die Sozialversicherung umzugestalten. lohnes. 1939 legte er einen dilettantischen Plan "Der deut­ Deutlich fortgesetzt wurde die Verschiebung des sche Volksschutz" vor, der einmal den Vorsorge­ Verhältnisses von den Barleistungen zugunsten der gedanken betonte und zum anderen vorsah, durch Sachleistungen bei den Ausgaben für Krankenhilfe Unterbringung von allen sich arbeitsunfähig krank in der gesetzlichen Krankenversicherung: 1928 be­ meldenden Personen in sog. Gesundheitshäusern trug es noch 41,9 v.H.: 58,1 v.H., 1937: 28,2 v.H.: '(Ausstattung nach Art von Revierstuben!) den 71,8 v. H. Die Verschiebung der einzelnen Lei­ Krankenstand zu reduzieren. Dieser Plan löste nach stungsgruppen blieb im wesentlichen auf dem Stand seinen Worten "eine unerhörte Aufregung und von 1934: Von 100 RM Gesamtausgaben entfielen ziemlich allgemeine Ablehnung" aus, wobei sich am auf Krankengeld 18,60 RM, auf Krankenbehand­ meisten als sein "Gegner der Staatssekretär Krohn lung durch Arzte und Zahnärzte 31,10 RM und auf hervortat". So wurde dieses Vorhaben fallengelas­ Krankenhauspflege 17,70 RM. sen. Die Gesamtausgaben betrugen 1933 1,180 Mrd. RM, Inzwischen hatte das nationalsozialistische Re­ 1937 1,622 Mrd. RM, die Gesamteinnahmen betru­ gen 1933 1,185 Mrd. RM und 1937 1,660 Mrd. RM. gime den vorbereiteten Krieg begonnen, und Schließlich ist noch auf die Zahl der Arzte hinzu­ der Reichsärzte- und Reichsgesundheitsführer weisen. 1935 kamen auf 66,045 Mio. Einwohner Leonardo Conti (1900-1945) war am 1. Sep­ 52342 Arzte, davon 38 068 frei praktizierend, also tember 1939 zum Leiter des staatlichen Ge­ auf 10000 Einwohner insgesamt 7,9 Arzte. 1937 sundheitswesens und Staatssekretär im Reichs­ kamen auf 67,105 Mio. Einwohner 55259 Arzte, ministerium des Innern ernannt. Dieser war ein davon 37525 frei praktizierend, also eine Arzt­ dichte von 8,2. ebenso alter und skrupelloser Kämpfer wie Die Jahre von 1938 bis 1945 der Krankenversiche­ Robert Ley und ebenfalls auf der Suche nach rung sind unter dem Gesichtspunkt der rapide an­ Kompetenzen. Zunächst arbeiteten sie noch zu­ gestiegenen Rüstungswirtschaft und des Zweiten sammen, Anfang 1941 kam es zu 'einer Pla­ Weltkrieges zu betrachten. Von Anfang an dienten nungskonferenz über ein Gesundheitswerk, in die wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen des Reiches auch der Rüstung, dies trat aber erst dessen Mittelpunkt die vorbeugende und ver­ durch den Vierjahresplan (1936) in den Vorder­ hütende Gesundheitsvorsorge stand und das grund. Die Rüstungspolitik - ihre Kosten werden starke Versorgungselemente ,enthielt. Die Ver­ auf 10-15 v. H. des Volkseinkommens geschätzt wirklichung dieses Planes hätte das Ende der (45-70 Mrd. RM) - schuf ein mit den "Mefo-Wech­ bisherigen Krankenversicherung bedeutet. über seIn" begonnenes, durch "Lieferschätze", Aushöh• die Einzelheiten - vor allem über die St'ellung lung der Befugnisse des Reichsfinanzministers und der Reichsbank fortgesetztes und verstärktes Infla­ des Reichsgesundheitsführers und die Rolle der tionspotential (Reichsschuld 1945: 380 Mrd. RM). Ärzteschaft - konnten sich Robert Ley und 410 Florian Tennstedt

Leonardo Conti nicht einigen, Hitler stützte vorstaatlichem Zustand anheimgab. Gesetzgebungs­ keinen von beiden, sondern sagte zu Robert organ war der Alliierte Kontrollrat, im übrigen lag Ley: "Bringen Sie alles mit den beteiligten In­ die oberste Gewalt faktisch bei den Zonenbefehls­ habern und den von ihnen gebildeten Militärregie• stanzen ins reine." Als sich diese beiden Macht­ rungen. Innerhalb der einzelnen Besatzungszonen haber dadurch selbst "neutralisiert" hatten, erfolgte bald eine territoriale Gliederung, wobei die griff das Reichsarbeitsministerium wi,eder stär• alten deutschen Landes- und Provinzgrenzen mit ker ein, und zwar - nicht zuletzt infolge der berücksichtigt wurden. Innerhalb dieser Besatzungs­ zonen wurden ab 1946 deutsche Regierungs- und weiteren, vor allem auf die Alterssicherung be­ Verwaltungsstellen eingerichtet, deren Kompeten­ zogenen Versorgungspläne der DAF - mit zen beschränkt waren. Die ökonomische Situation mehreren Vereinfachungs- und Vereinheitli­ war gekennzeichnet durch Arbeitslosigkeit, sich ver­ chungsverordnungen, wobei auf die Kriegser­ schlechternde Ernährungslage (850-1550 Kalorien fordernisse abgestellt wurde. Schon 1941 hatte pro Tag), Desorganisation des Wirtschaftsprozesses, es den I(rankenversicherungsschutz für Sozial­ Demontagen, gestörte Verkehrsverbindungen, Roh­ stoffknappheit sowie wirtschaftliche Kontrollen rentner eingeführt, außerdem wurde Kranken­ durch die Alliierten, u. a. Lohn- und Preisstop, die pflege ohne zeitliche Begrenzung gewährt (fak­ verhinderten, daß das riesige Inflationspotential tisch waren davon aber Krankengeldgewäh• von Aufrüstung und Krieg unmittelbar wirksam rung und Krankenhausaufenthalt ausgenom­ wurde. Die realen Arbeitnehmereinkommen sanken (1945-1948 um etwa 30 v. H.), die Forderungstitel men). Die entscheidendsten Veränderungen der Arbeitnehmerschaft waren nicht realisierbar, brachte die Verordnung vom 17. März 1945. während zur Realvermögensvermehrung gute Mög• Sie brachte u. a. eine völlige Neuabgrenzung lichkeiten bestanden. Die Gewerkschaften durften des Kreises der Versicherungspflichtigen (schon sich nur teils zonenweise organisieren. Sie überwan• 1938 war eine Erweiterung erfolgt) und sah den ihre vor 1933 bestehenden politischen und welt­ anschaulichen Differenzen zugunsten einer Orga­ ab 1. Mai 1945 den Wegfall der Kranken­ nisation, die nach dem "Industrieprinzip" struk­ scheingebühr vor. Geplant war auch eine Auf­ turiert war, nur die Angestellten organisierten sich lösung der Ersatzkassen, wie sie von fast allen zu einem großen Teil getrennt davon, nach dem polykratischen Instanzen (vor allem den un­ "Berufsprinzip". Die gewerkschaftlichen Vorstel­ mittelbaren K,riegsinstanzen) des Dritten Rei­ lungen zur ökonomischen Neuordnung konnten sich gegenüber alliierten und/bzw. großindustriellen In­ ches gefordert worden war. Sie scheiterte nur teressen nicht durchsetzen. Der gewaltige Anteil der am Einspruch des durch den SS-Gruppenführer Arbeitnehmerschaft am Wiederaufbau blieb ohne Leonardo Conti entscheidend beeinflußten verteilungsmäßige Konsequenzen. Reichsführe.r-SS und Reichsinnenminister H ein­ Für die Sozialversicherung, die von Anfang an rieh Himmler, der als Generalbevollmächtigter reichseinheitlich organisiert war und deren für die Reichsverwaltung ein Vetorecht hatte. "R'eichsausrichtung" in der Zeit des national­ sozialistischen Regimes noch verstärkt worden 1.4 Die Krankenversicherung im besetzten war, bedeutete das Kriegsende einen Verlust Deutschland und der Bundesrepublik an zentraler Orientierung sowie eine gestie­ Deutschland (1945-1974) gene Inanspruchnahme, besonders betroffen waren die Rentenversicherungsträger. Heilbe.. Die vollständige Niederlage des Deutschen rufe und -anstalten, die überdurchschnittlich Reichs im Zweiten Weltkrieg bedeutet zunächst frequentiert wurden, hatten keinen sicheren Gebietsverluste mit einem starken Zustrom Kostenträger mehr, Seuchengefahren drohten. von Flüchtlingen, Heimkehrern und Vertrie­ In dieser Situation des Ausfalls der staatlichen benen (von 17 Mio. vertriebenen Deutschen er­ Bürokratie bewährten sich die selbständigen reichten rd. 7,7 Mio. Personen das Gebiet der Krankenkassen, die den Neuaufbau und die BRD) in ein relativ desorganisiertes und hun­ Koordination des Leistungswesens schnell or­ gerndes Land. ganisierten, daß - von örtlichen Ausnahmen Anstelle eigener Staatlichkeit trat die Besatzungs­ abgesehen - eine generelle Störung in der Ver­ herrschaft, die Deutschland zunächst einer Art von sichertenbetreuung nicht eintrat. Sozialgeschichte der Sozialversicherung 411

Dabei muß beachtet werden, daß im Rahmen der 16 v. H. und für Zahnbehandlung um 7 v. H. "Entnazifizierung" bei den Sozialversicherungsträ• von 1937-1948. gern wieder eine Entlassungswelle gegenüber NS­ Während auf Kassenebene durch die über• Parteibuchbeamten einsetzte, deren quantitativer Umfang aber nicht mehr abschätzbar ist. Im Bereich kommenen Regelungen (inkl. Führerprinzip) der LVA Rheinprovinz wurden von 44 AOK-Lei­ und persönlicher Initiative alles "lief", nahmen tern 25 entlassen, überaus hohe Entlassungsquoten sich unter Mitwirkung deutscher Fachkräfte die wies auch der Vertrauensärztliche Dienst auf. Die Alliierten einer Sozialversicherungsreform an, in Berlin ansässigen Spitzenverbände der Sozialver­ wobei zunächst cum grano salis an gewerk­ sicherungsträger waren stillgelegt, in den Westzonen organisierten sie sich aber wieder relativ schnell, schaftliche Reformpläne aus der Weimarer Re­ wenn auch nicht einheitlich. publik, die damals aber noch recht undifferen­ ziert waren, angeknüpft wurde. Statistische Angaben liegen erst ab 1947 vor, Die Reform der Sozialversicherung begann in und zwar für ein begrenztes Gebiet: 1947 für Berlin, das kurzfristig unter der alleinigen Be­ die britische Zone, 1948 für die Bizone, für den satzungsverwaltung der UdSSR stand. Unter Vergleich mit 1937 (Deutsches Reich) sind da­ dem KPD-Stadtrat für Sozialwesen Ottomar her nur wenige Angaben aussagekräftig. Die Geschke (1882-1957) baute Ernst Schellenberg durchschnittliche Mitgliederzahl aller gesetz­ (geb. 1907), der bis dahin in der Kranken­ lichen Krankenkassen (1760) betrug 7514 kassenbewegung noch nicht hervorgetreten war, (1937: 4831), der Mitgliederanteil der Orts­ die Versicherungsanstalt Berlin (VAB) auf. krankenkassen (62,5 v. H.) hatte sich auf Ko­ Diese trat an die Stelle von 156 privaten und sten der Landkrankenkassen erhöht (1937: 59,0 öffentlichen Versicherungsträgern und war eine v. H.). Rechnet man Mitglieder (inkl. Rentner) einheitliche Versicherungsanstalt, die Leistun­ und Familienangehörige zusammen, dann wa­ gen bei Krankheit, Schwangerschaft, Geburt, ren 70,7 v. H. der Bevölkerung versichert. über Unfällen, Invalidität, Alter und Tod ge­ die Entwicklung der Anzahl der Arbeitsunfä• währte. Im Rahmen dieser spezifischen Form higkeitsfälle je 100 Mitglieder, die durchschnitt­ von Einheitsversicherung wurde der Kreis der liche Dauer der Arbeitsunfähigkeitsfälle sowie versicherungspflichtigen Personen erheblich er­ die durch beide Komponenten beeinflußten weitert, er umfaßte vor allem auch Beamte und Arbeitsunfähigkeitstage unterrichtet folgende freie Berufe (u. a. Ärzte). Sie stand sofort im übersicht: Kreuzfeuer bestimmter Interessengruppen. Die ersten "zonalen" Reformen gingen von 1937 1947 1948 der sowjetischen Zone aus. Das Berliner Mo­ Arbeitsunfähig- dell diente als Vorbild, eine direkte Verbin­ keitsfälle 39,7 52,9 45,6 dung zu ihm bestand aber nicht. Hier war der (= 100) (= 133,2) (= 114,9) Dauer der AU- aus NS-Haft entlassene "Krankenkassenkönig" Fälle 22,8 Tage 23,8 Tage 24,2 Tage der Weimarer Republik, Helmut Lehmann, Arbeitsunfähig- bei der SPD (ab 1946: SED) führend tätig keitstage 903 1257,9 1104,5 und erhielt von SPD/KPD sowie dem neu­ (= 100) (= 139,2) (= 122,2) gegründeten FDGB und der sowjetischen Mi­ Krankenhilfe je Mitglied 58,21 RM 82,71 RM 82,03 RM litärregierung (SMAD) den Auftrag, die So­ zialversicherung zu reorganisieren. Diese gab ihm mehr "Bewegungsfreiheit als jemals zu An der Steigerung der Ausgabensätze für Kran­ Zeiten der Reichsversicherungsordnung (H. kenhilfe waren die Arznei- und Heilmittel am Lehmann). Mit ehemaligen, gleichfalls 1933 stärksten beteiligt (Steigerung um 120 v. H. entlassenen Mitarbeitern vom "Hauptverband gegenüber 1937), die Kosten für Krankenhaus­ deutscher Krankenkassen" - Fritz Bohlmann pflege stiegen um 53 v. H., die für Kranken­ (1890-1953), Carl Litke (1893-1962) und Er­ geld um 41 v. H., die für Arztbehandlung um win Fischer (geb. 1903) - baute er maßgebend 412 Florian Tennstedt die "Deutsche Verwaltung für Arbeit und So­ In der französischen Zone (Württemberg-Ho• zialfürsorge" auf und entwarf eine Sozialver­ henzollern, Baden und Rheinland-Pfalz) schuf sicherungsordnung. In Verhandlungen mit der die Militärregierung auch bald vollendete Tat­ SMAD (die ihrerseits im Alliierten Kontroll­ sachen: am 1. Juni 1946 wurden die verschie­ rat entsprechend tätig wurde), dem FDGB, denen Kassenarten zugunsten der Ortskran­ der SPD/KPD und - ab 1946 - der SED und kenkassen aufgelöst, auch wurde ein Landes­ den (inzwischen organisierten) Sozialversiche­ verband der Ortskrankenkassen gebildet. rungsanstalten der Länder und Provinzen der In der US-Zone (Bayern, Hessen und Würt• damaligen sowjetischen Besatzungszone ent­ temberg-Baden) sowie der britischen Zone stand daraus die Grundlage für den sowjeti­ wurde - abgesehen von Bremen - die Reform schen Militärbefehl Nr. 28 vom 28. Januar der Sozialversicherung zunächst nur geplant, 1947, der fortan die Sozialversicherung in der wobei die Anstöße einmal vom Länderrat der sowjetischen Zone und weitgehend auch der US-Zone und zum anderen vom Alliierten DDR bestimmte. Die gegliederte Krankenver­ Kontrollrat ausgingen, der anfänglich eine ein­ sicherung war damit ebenso endgültig aufge­ heitliche Sozialversicherung für ganz Deutsch­ löst wie die verschiedenen Versicherungszweige, land anstrebte. In der US-Zone waren die wenngleich im Hinblick auf letztere einige eifrigsten Reformbefürworter der damalige Grundstrukturen erhalten geblieben waren. hessische Ministerpräsident Christian Stock Parallel dazu reorganisierten Paul Konitzer (1884-1967), der von 1922-1933 in der sozial­ 1894-1947 (erschossen?) SPD/SED, Barbara demokratischen Krankenkassenbewegung tätig von Renthe-Fink (geb. 1901), Karl Linser (geb. gewesen war, der spätere DGB-Vorsitzende 1895, SPD/SED), Alfred Beyer (1885-1961, (1956-1962) Willi Richter (1894-1972), da­ SPD/SED) und Maxim Zetkin (1883-1965, mals Vorsitzender des Freien Gewerkschafts­ KPD/SED) das Gesundheitswesen in diesem bundes Hessen, und Horst Schieckel (geb. 1896), Gebiet Deutschlands. Schließlich muß bemerkt damals Leiter der Abteilung Sozialversicherung werden, daß spätestens ab 1947 fenny Matern und Arbeitsfürsorge im Bayer. Arbeitsmini­ (1904-1960), seit 1923 KPD-Mitglied, 1925 bis sterium. Parallel zu diesen Reformbestrebun­ 1937 Tätigkeit in der "Roten Hilfe Deutsch­ gen entfaltete sich eine aktive Antireform­ lands", 1941-1944 Schulung in der Sowjet­ kampagne, die vor allem von den privaten union, seit 1936 (?) Ehefrau von Hermann Krankenversicherungen, den Angestellten-Er­ Matern (1893-1971), seit 1946 ununterbrochen satzkassen und Ärztevereinen getragen war, Spitzenführer der SED, den Aufbau der sozia­ deren Interessen das "Berliner Modell" am mei­ listischen Sozialversicherung und des soziali­ sten geschädigt hatte. Sie kumulierte in der stischen Gesundheitswesens bestimmte. (Auf 1947 gegründeten "Gesellschaft für Versiche­ die weitere Entwicklung wird nicht eingegan­ rungswissenschaft und -gestaltung" und fand gen, weil 1949 die eigene staatliche Entwick­ eifrige Befürworter in ehemals leitenden Be­ lung der DDR beginnt.) 7 amten aus der Ministerialbürokratie des Reichs­

7 Vgl. P. Mitzscherling: Soziale Sicherung in der arbeitsministeriums, vor allem fosef Eckert DDR, Berlin 1968 (Lit.); Materialien zum Bericht (1889-1970) und Maximilian Sauerborn (1889­ zur Lage der Nation 1971 und 1974; H. Neuhof: 1963), die nach Bildung einer CSU-Regierung Die neue Sozialversicherung, Dresden 1949; Vor­ in Bayern (1946) dort mit Andreas Grieser den stand der SPD (Hrsg.): Das Sozialversicherungs­ wesen in der Sowjetzone, 0.0., o. J. (Bonn 1952?); alten, zentrumsgeprägten sozialpolitischen Kurs K. Winter: Das Gesundheitswesen in der Deutschen wieder restaurierten. In gleicher Weise aktiv Demokratischen Republik, Berlin 1974. W. Weiß: waren Margot Kalinke (geb. 1909), später Das Gesundheitswesen in der sowjetischen Besat­ eine der einflußreichsten DP- bzw. (ab 1960) zungszone, Bonn 1952; H. Rolf: Sozialversicherung oder staatlicher Gesundheitsdienst, Berlin 1975; zur Entwicklung und Stand der Sozialversicherung in Vorgeschichte des Befehls Nr.28 am besten (neben der sowjetischen Besatzungszone, in: ]b. Arbeit und H. Lehmann, Lit.-Verz.); F. Bohlmann u. E. Fischer: Sozialfürsorge, Bd. 1, Berlin 1947, 206. Sozialgeschichte der Sozialversicherung 413

CDU-Sozialpolitikerinnen, und der Arbeit­ Reichsarbeitsrninisteriums fortsetzte. Staats­ geberverbandsgeschäftsführer Heinrieb N epke sekretär wurde Maximilian Sauerborn, Mini­ (geb. 1909). Diese Protestbewegung, verbun­ sterialdirektor für Sozialversicherung Josef den mit einer gleichfalls ablehnenden Haltung Eekert. Diese gingen davon aus, daß die bis­ der G,ewerkschaften in der britischen Zone ge­ herige Sozialversicherung, die sich grundsätz• genüber diesen Reformplänen, führte dazu, lich bewährt habe, keine strukturellen Refor­ daß der bereits verabschiedungsreife Kontroll­ men, sondern nur ad-hoc-Korrekturen erfor­ ratsentwurf eines "Gesetzes über die Sozial­ dere. Die in der ehern. französischen Zone, in versicherung für Arbeiter und Angestellte", Bremen und in (West-)Berlin eingeführten For­ der u. a. eine territoriale Einheitsversicherung men der Einheitsversicherung wurden sukzes­ vorsah, durch die westlichen Militärbefehlsha• sive rückgängig gemacht, 1954 erhielten die ber so lange "blockiert" wurde, bis der Alliierte Angestellten auch wieder ihre eigene Renten­ Kontrollrat am 20. März 1948 infolge allge­ versicherungsanstalt: die Bundesversicherungs­ meinpolitischer Differenzen seine Arbeit ein­ anstalt für Angestellte. Im übrigen standen stellte. die Probleme der Arbeitslosen, Flüchtlinge, Für die Sozialversicherungsreform in West­ Kriegsbeschädigten, Vertriebenen, Fürsorge• deutschland wurde nun vorwiegend der "Wirt­ empfänger und Sozialrentner im Vordergrund. schaftsrat für das Vereinigte Wirtschaftsgebiet" zuständig. Dieser führte mit dem "Sozialver­ Die Sozialpolitik in der neugegründeten BRD - ein sicherungsanpassungsgesetz" 1949 die Halbie­ Verfassungsauftrag zur Sozialversicherung fehlte ­ rung der Beiträge zwischen Arbeitgebern und ist aber nur zum geringeren Teil durch ihre vor­ geburtlichen Daten zu verstehen. Man muß sehen, V'ersicherten ein, paßte die Leistungen an das daß diese so zunächst vor allem durch das mit der veränderte Lohn-und Preisgefüge an, glich Währungsreform 1948 einsetzende ökonomische die Leistungsvoraussetzungen in der Renten­ Wachstum ermöglicht wurde, das bereits 1950 die versicherung für Arbeiter denen für Angestellte Realverdienste der Industriearbeiter über das Ni­ an und anderes mehr. Fertig und verabschiedet veau von 1938 und damit auch über den Stand von 1913/14 steigen ließ. (Andererseits beginnt mit der war auch ein Gesetz zur Wiederhe.rstellung der Währungsreform eine starke Verteilungsproblema­ Selbstverwaltung in der Sozialversicherung, tik: aufgrund der alliierten Politik [Lohnstop das aber im Hinblick auf die bevorstehende 5 Monate beibehalten, Preisstop sofort aufgehoben] Gründung der Bundesrepublik Deutschland stand 6 Monate nach der Währungsreform der von den Alliierten nicht mehr genehmigt Index der Stundenlöhne bei 143 (1938: 100), der Index der Industriepreise bei 192). Dafür sind fol­ wurde. gende Faktoren bestimmend gewesen: die Spaltung 1949 endet die Zeit grundlegender Reform­ Deutschlands und die Integration der BRD in das bestrebungen unter gewerkschaftlich-sozial­ westliche Bündnissystem beendeten die Demontage­ demokratischem Einfluß, die gewerkschaftliche und Reparationspolitik der Alliierten (Zeitwert der Mitwirkung bei sozioökonomischen Entschei­ Demontagen in den Westzonen und Berlin: rd. 5 Mrd. RM, hinzu kamen Zwangsexporte, beschlag­ dungen wird zurückgedrängt (1951 waren von nahmte Auslandsvermögen, Patente und Gebrauchs­ 17,08 Mio. Erwerbstätigen 6,25 Mio. Gewerk­ muster) und ersetzten sie durch eine auf Steigerung schaftsmitglieder). Mit der Gründung der Bun­ des europäischen Produktionspotentials gerichtete desrepublik Deutschland (BRD) und der CDU­ USA-Wirtschaftshilfe, die als Initialzündung wirkte Regierung - Bundesminister für Arbeit wurde (im Rahmen des Marshallplanes erhielten die west­ lichen Besatzungszonen bzw. die BRD von 1948 (1892-1975), vor 1933 in der bis 1951 1,3 Mrd. $, hinzu kam eine primär zur Christlichen Gewerkschaftsbew'egung tätig, Vermeidung von Hungersnot und Seuchen be­ 1946-1948 Leiter der Sozialpolitischen Abtei­ stimmte GARIOA-Hilfe in Höhe von 1,6 Mrd. $). lung des DGB, britische Zone - steigt in der Gleichfalls gefördert wurde der Expansionsprozeß durch den sukzessiven Abbau der Außenhandels• Sozialpolitik der Einfluß der Ministerialbüro• schranken. Die externen Faktoren wirkten zusam­ kratie, die zumindest im Bereich der Sozialen men mit "internen" materiellen Ausgangsbedingun­ Sicherung die behutsam'e Ausbaupolitik des gen: die Infrastruktur hatte den Krieg relativ un- 414 Florian Tennstedt

zerstört überstanden und die verfügbaren indu­ weil Wiederaufbau und Schaffung von Arbeitsplät• striellen Kapazitäten betrugen schon 1948 etwa zen den Vorrang behielten und die Reallöhne ja 110 v. H. des Vorkriegsstandes. Durch geringe In­ stiegen. Die strukturelle Arbeitslosigkeit infolge der vestitionen zur Wiederinstandsetzung wurden die Flüchtlinge und Zerstörungen (1950: 2,07 Mio. Ar­ Kapazitäten überproportional ausgeweitet ("Repa­ beitslose, Arbeitslosenquote 12,2 v. H.) verringerte ratureffekt"). Das Potential an qualifizierten Ar­ sich relativ langsam, erst 1954 wurde mit 830000 beitnehmern und Unternehmern war groß und Arbeitslosen (Arbeitslosenquote 4,7 v. H.) die sog. wurde durch Flüchtlinge aus der sowjetischen Zone Vollbeschäftigtenquote (5,0 v. H.) unterschritten, bzw. DDR (1945-1969 rd. 3,6 Mio. Personen) lau­ noch 1959 bestand eine Arbeitslosenquote von fend ergänzt. Das Schwergewicht der Industrie­ 2,5 v. H. Die Zahl der Erwerbstätigen stieg von struktur der BRD lag in Bereichen für Grundstoffe, 20,365 Mio. im Jahre 1950 auf 25,330 Mio. im Investitions- und hochwertige Konsumgüter, Pro­ Jahre 1960, also um etwa ein Viertel. dukte, für die in den fünfziger Jahren ein Welt­ marktnachfrageboom herrschte bzw. die auf eine In dieser Zeit relativen Wohlstands durch ste­ Nachfrage mit hoher Einkommenselastizität trafen. tiges Wirtschaftswachstum stiegen die Sozial­ Die Exportorientierung wurde durch die relativ konservative, neoliberale Währungs-, Finanz- und ausgaben nur geringfügig schneller als das BSP, Wirtschaftspolitik der Bundesregierung mit den Zie­ nämlich von 15,7 Mrd. DM im Jahre 1950 len Preisstabilität, positive Zahlungsbilanz und auf 46,7 Mrd. DM im Jahre 1960, also auf jährlicher Haushaltsausgleich begünstigt. fast genau das Dreifache. Ihr Anteil an den Mit Hilfe steuerlicher Anreize (vor allem: degres­ gesamten Staatsausgaben fiel sogar von 16,0 sive Abschreibungen für Unternehmensinvestitionen und künstlich hohe Abschreibungssätze für den v. H. auf 15,5 v. H. Der Index der L'eistun­ Wohnungsbau) sowie sichtbaren Investitionshilfen gen je Mitglied in der gesetzlichen Kranken­ forcierte die Bundesregierung einerseits die aus der versicherung hielt sich an die Sozialausgaben­ Lohn-Preis-Schere resultierende Selbstfinanzierung steigerung. Da die Arbeitnehmerrealeinkom­ der Unternehmen (noch 1959 entfielen von 14,4 Mrd. men sich aber im gleichen Zeitraum noch nicht DM unsichtbaren und sichtbaren Subventionen auf einmal verdoppelt hatten, wuchs deren relative die Wirtschaftsbereiche Ernährung, Landwirtschaft und Forsten 2,85 Mrd. DM, auf die gewerbliche Belastung. Dieses wurde aber anfänglich noch Wirtschaft 2,7 Mrd. DM, auf den Verkehr 0,75 Mrd. nicht gesehen, vielmehr wurden finanzielle DM, auf die freien Berufe 58 Mill. DM, auf den Probleme vor allem bei den durch Kriegs- und Wohnungsbau 1,75 Mrd. DM, der Rest bestand vor Währungsumstellungsfolgen besonders betrof­ allem aus Zuschüssen zur Sozialversicherung für die fenen Rentenv,ersicherungsträgern gesehen und Kriegsfolgen). Dieses zusammen verschaffte der Ex­ portgüterindustrie einen Vorteil auf dem Welt­ korrigiert. Die ersten gesetzgeberischen Maß• markt: der Anteil der Exporte am Bruttosozialpro­ nahmen in der Krankenversicherung beinhal­ dukt (BSP) betrug bis 1955 etwa 15 v. H., um da­ teten vorwiegend organisatorische und verfah­ nach auf 21 v. H. zu steigen. Von 1950 bis 1960 ver­ rensmäßige Regelungen. Leistungserweiterun­ dreifachte sich das BSP zu Marktpreisen (302,3 Mrd. gen betrafen den durch Krieg, NS-Regime und DM inkl. Berlin und Saarland), 1967 hatte es sich verfünffacht (494,6 Mrd. DM). Die Wachstumsrate Vertreibung geschädigten Personenkreis. war mehr als doppelt so hoch wie im Deutschen 1951 wurde mittels eines zunächst unprakti­ Reich zwischen 1871 und 1913 und die höchste in kablen Gesetzes die Selbstverwaltung in der Europa. Der sog. Reallohnindex verdoppelte sich Sozialv'ersicherung wiederhergestellt. Abgese­ von 1950 bis 1964 (nach Schätzung des Sachver­ hen von der Knappschaftsve.rsicherung wurde ständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirt­ schaftlichen Entwicklung erhöhte er sich auf nur in allen Versicherungszweigen die Parität (glei­ 40 v. H.), die Lohnquote blieb aber relativ kon­ cher Stimmenanteil) zwischen Arbeitgeber- und stant, d. h. die Löhne (Bruttoeinkommen aus un­ Arbeitnehmervertretern hergestellt. Damit war selbständiger Arbeit je durchschnittlich beschäftigter die von 1883-1934 gesetzlich verankerte Ar­ Arbeitnehmer) erhöhten sich fast gleichlaufend mit beitnehmermehrheit in der Krankenkassenver­ der Produktivität (Volkseinkommen je durchschnitt­ waltung beendet. Mit der Recuktion gewerk­ lich beschäftigter Arbeitnehmer) von 1950 bis 1967 auf 355 v. H. Die daraus sich ergebende hohe Ge­ schaftlichen Einflusses in der Krankenversiche­ winnquote und ungleiche Einkommensverteilung rung führten CDU/CSU und FDP, flankiert wurde nicht als politisches Problem thematisiert, von der Vereinigung der Arbeitgeberverbände, Sozialgeschichte der Sozialversicherung 415 ein, was der Zentralverband Deutscher Indu­ gen in Körperschaften des öffentlichen Rechts strieller schon zur RVO (1911) gefordert und umgewandelt (wie erstmals 1937) und damit das kaiserliche Reichsamt des Innern auch ge­ staatlicher Aufsicht unterstellt (wie erstmals plant hatte, was damals aufgrund massiven 1933). Im gleichen Jahr wurden die Beziehun­ Protestes der Krankenkassen, Gew,erkschaften gen zwischen Ärzten, Zahnärzten und Kran­ und SPD aber unterblieb. Der von Willi Rich­ kenkassen sowie ihren Verbänden, die infolge ter angekündigte "Kampf um die Selbstver­ der Nachkriegsereignisse unübersichtlich ge­ waltung" nach Verabschiedung des Gesetzes worden waren, neu geordnet und vereinheit­ unterblieb jedoch, die "Sozialpartner" arran­ licht, und zwar auf den zwischen 1930 und giert1en sich recht gut. 1952 erlitten die Ge­ 1935 entwickelten Grundlagen. Das Kassen­ werkschaften in der Betriebsverfassungs- und arztrecht wurde in die RVO "eingebaut", die Mitbestimmungsfrage eine ähnliche Niederlage, Kassenärztlichen Vereinigungen wurden wie­ eine gewaltige Welle von Massendemonstra­ der als Körperschaften des öffentlichen Rechts tionen stoppte der DGB, weil er nicht bereit errichtet. Maßgeblich daran beteiligt waren war, "den in den Rhein zu jagen" neben Maximilian Sauerborn und Karl Hae­ (V. Agartz). denkamp vor allem Ludwig Sievers (1887 bis Durch diese restriktiven Regelungen und durch 1968) von seiten der Arzteschaft und Georg die neue G'ewerkschaftsstruktur wurde vollen­ Glock (1891-1959) von seiten der (Orts-) det, was 1933 begonnen worden war: die so­ Krankenkassen. ziale Selbstverwaltung verlor ihre politische Die nationalsozialistische Reichsärztekammer wurde Komponente, insbesondere zur Arbeiterbewe­ nicht neugegründet, nur die auf das vorige Jahr­ gung, die "Sozialpartner" beschicken seitdem hundert zurüCkgehenden (Baden: 1864, Preußen: quasi autonom, d. h. ohne echte Wahl mit 1887) Landesärztekammern wurden als Körper• Stimmabgabe, die Organe der Versicherungs­ schaften des öffentlichen Rechts errichtet. Diese bil­ deten 1947 eine freiwillige Arbeitsgemeinschaft auf träger: 1959 fanden nur noch bei 2 Ortskran­ "privater Basis", die sich seit 1955 - einen öffent• kenkassen, 3 Betriebskrankenkassen und 4 An­ lich-rechtlichen Status suggerierend - Bundesärzte• gestelltenersatzkassen Wahlen mit Stimmab­ kammer nennt und als zentrale Standesorganisation gabe statt, die Beteiligung schwankte zwischen fungiert. 23,4 und 55,5 v. H. 1974 wurde bei 12 Orts­ Durch das installierte öffentlich-rechtliche Sy­ krankenkassen, 19 Betriebskrankenkassen stem von Vertragsbeziehungen von formal und 5 Angestelltenersatzkassen echt gewählt, gleichberechtigten und gleichstarken Vertrags­ infolge der neuen Briefwahl wurde bei den partnern und gesetzlich festgelegten inhalt­ Ortskrankenkassen eine Wahlbeteiligung zwi­ lichen Mindestvorschriften erhoffte sich der Ge­ schen 22,9 v. H. und 40,9 v. H. erreicht, bei setzgeber eine Befriedung des Verhältnisses den Betriebskrankenkassen zwischen 38,47 von Kassen und Ärzteschafl:. Dieses wurde im v. H. und 80,29 v. H. großen und ganzen ebenso erreicht wie ver­ Die aus der Selbstverwaltung entstandenen mutlich ein übergewicht der in der Kassenärzt• Verbände der Krankenkassen und Ärzte hat­ lichen Vereinigung "monopolisierten" Ärzte ten sich inzwischen auf freiwilliger Basis re­ gegenüber den untereinander konkurrierenden organisiert, die Reichsverbände hatten 1945 Krankenkassen und ihren Verbänden, insbe­ ihre Tätigkeit eingestellt. Die Verbände der sondere bei den Honorarverhandlungen (bei Ortskrankenkassen in Deutschland führten denen die Ersatzkassen den "Honorarführer" personell und sachlich überwiegend die Tra­ spielen). Seitdem bestehen keine gesetzlich vor­ dition des Reichsverbandes bzw. des ehern. gesehenen unmittelbaren Beziehungen mehr "Gesamtverbandes" fort, d. h. allgemeinpoli­ zwischen den einzelnen Krankenkassen und tisch waren sie weitgehend "neutralisie.rt". 1955 den einzelnen Ärzten, die Kontakte laufen im­ wurden die Landesverbände der gesetzlichen mer über die jeweiligen Verbände. Daneben Krankenkassen und ihre (Bundes-)Vereinigun- existieren etwa 50 ärztliche (Intere')sen-)Ver- 416 Florian Tennstedt bände, die "Ausdruck der inneren Differenzie­ Bundessozialgerichten erledigten Klagen, Beru­ rung der Spannungen und Konflikte der Ärzte­ fungen und Revisionen auf dem Gebiet des schaft" (F. Naschold) sind. Damit hat der von Krankenkassen- und Kassenarztrechtes : 1900 bis 1933 dominierende, 1949 wieder be­ gründete Hartmannbund (1964 : rd. 19 000 1955 1960 1972 Mitglieder) seine einzigartige Vorrangstellung eingebüßt, außerdem existieren noch der Ver­ Klagen (SG) 6222 5071 5662 Berufungen (LSG) 822 688 band der niedergelassenen Ärzte (rd. 16000 790 Revisionen (BSG) 32 111 220 Mitglieder) und der Marburger Bund (rd. 16000 Mitglieder) als Berufsorganisation der angestellten Ärzte; vergleichbare spezifische Vergleiche zu früheren Zeiten sind aufgrund private Organisationen auf Krankenkassen­ fehlender Statistiken über die Entscheidungen oder Versichertenebene fehlen. der Versicherungs- und Oberversicherungs­ Die Gesamteinstellung der Arzteschaft zur gesetz­ ämter sowie des anderen Verfahrens kaum lichen Krankenversicherung versuchte Frieder möglich. 1914 waren beim Reichsversicherungs­ Naschold folgendermaßen zu umreißen: amt 114 Revisonen anhängig, wovon 69 er­ ,,1. Die Arzte sehen im Aufbau des Gesundheits­ ledigt wurden, 1925 waren es (inkl. Reichs­ sicherungssystems eine ihnen aufgezwungene Um­ schiedsamt) 228 bzw. 158, und 1934 waren formung ihrer Marktlage und Arbeitssituation, die sie als Bedrohung ihres gesellschaftlichen Status be­ es (inkl. Reichsschiedsamt) 689 bzw. 558 Re­ trachten und mit einer konstanten Protesthaltung visionsentscheidungen, hinzu kamen noch Be­ beantworten ... schlüsse und Entscheidungen in Beschwerdefäl• 2. Die Arzte sehen sich in einem andauernden Kon­ len. Selbst wenn man sieht, daß die Anzahl der flikt mit den ihnen gegenüberstehenden Institutio­ Entscheidungen bezogen aufdie jährlichen Ver­ nen des Gesundheitssicherungssystems. Der Konflikt verlagert sich jedoch im Laufe der vorangetriebenen waltungsentscheidungen in der Krankenversi­ Vergesellschaftung des Arztberufes von den Kassen cherung gering ist, darf man doch nicht die zu­ auf das politische System. nehmende Verrechtlichung übersehen. Für die 3. Neben der konstanten Protesthaltung entwickelt Fortentwicklung des Rechts ist qualitativ die sich die Einstellung der Akzeptierung eines Mini­ Rechtsprechung des BSG unter seinem Senats­ malprogramms der sozialen Krankenversicherung, die der Protestintensität eine obere Grenze setzt präsidenten walter Bogs (geb. 1899) am wirk­ und ein Umschlagen in revolutionäre Einstellungen samsten gewesen. Vor allem ist hier zu nennen verhindert. die Veränderung des im Gesetz nicht definier­ 4. Die sich über knapp 50 Jahre hinziehende Pro­ ten Krankheitsbegriffs, der also Produkt des testhaltung gegen die für die Arzte negativen Aus­ Richterrechts ist. Der Krankheitsbegriff wurde wirkungen der gesetzlichen Krankenversicherung hat somit das ,politische Erinnerungsbild' der Kas­ u. a. explizit an die "Fortschritte der medizi­ senärzte formiert und ihre spezifische Identität her­ nischen Erkenntnis" (BSG 28, 116) gekoppelt, ausgebildet." 8 und die Anforderung an die Dringlichkeit einer Heilbehandlung wurden herabgesetzt, es ge­ 1954 wurde auch noch eine besondere - im nügt, daß ein Zustand der ärztlichen Behand­ Gegensatz zu früher und dem Rechtsstaats­ lung "zugänglich" ist (BSG 26, 243). Richt­ prinzip entsprechende - dreistufige Sozial­ wert des BSG wurde das "Leitbild des gesun­ gerichtsbarkeit eingeführt. Darüber, wie stark den Menschen". Außerdem bezog es die "Früh• das "ganze soziale Geschäft" einen "juristischen behandlung" in den Pflichtenkreis der gesetz­ Charakter" (H. Achinger) erhalten hat, unter­ lichen Krankenversicherung ein (BSG 13, 136; richtet die folgende übersicht über die von den 30, 153). Damit verließ das BSG das starre Sozialgerichten, Landessozialgerichten und Versicherungsprinzip, nach dem nur geleistet werden darf, wenn der Versicherungsfall be­ 8 Vgl. außerdem W. Safran: Veto-group politics; the case of health-insurance reform in West Ger­ reits eingetreten ist und nicht dann, wenn many. San Francisco, Chandler Pub. Co. 1967. die Heilbehandlung die geringsten Beschwer- Sozialgeschichte der Sozialversicherung 417 den verursacht und den größten Erfolg ver­ hafter Anstieg der Zulassungszahlen auf nahezu das spricht. Unmittelbar auf die Versorgung der Vierfache des Vorjahresergebnisses zu verzeichnen, Versicherten mit Zahnersatz wirkte sich aus, der im Zusammenhang mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 23. März 1960 zu daß das BSG Zahnlosigkeit als Krankheit an­ sehen ist. Der Anteil der größeren Städte (50000 erkannt hat und die Versorgung mit Zahn­ und mehr Einwohner) an der Gesamtzahl der Zu­ ersatz grundsätzlich zur kassenzahnärztlichen lassungen war 1960 wesentlich höher, der der klei­ Versorgung gehört (BSG 25, 116; 35, 105; neren Gemeinden (bis unter 10000 Einwohner) 37, 74). In ähnlicher Weise ist der Begriff der wesentlich niedriger als in den Jahren vor- und nachher. Der Zulassungsboom des Jahres 1960 hat Arbeitsunfähigkeit ausgeweitet worden (BSG sich in den Folgejahren zwar wieder deutlich ab­ 33, 202). geschwächt, auch ist die Verteilung des Zugangs an Fast noch stärker beeinflußte das Bundesver­ Arzten auf kleinere, mittlere und größere Gemein­ fassungsgericht die Entwicklung der ärztlichen den wieder gleichmäßiger geworden, er wirkt sich Versorgung, allerdings höchst negativ. Im Hin­ jedoch auf die Verteilungsstruktur des Ärztebestan­ des noch lange aus" (Thesen und planungsgrund­ blick auf Art. 12 GG (Berufsfreiheit) erklärte sätze). 1972 entfielen in Baden-Württemberg auf es 1960 die bis dahin bestehende kassenärzt• Gemeinden mit unter 2000 Einwohnern (Bevölke• liche Versorgung, die durch das ausbalancierte rungsanteil1970: 22,09 v.H.) 10,57 v.H. der prakt. Zusammenspiel der Elemente Verhältniszahl Arzte und 0,30 v. H. der Fachärzte, auf Gemeinden (1 :500), Kassenarztsitz, Ausschreibung und Zu­ mit 100000 und mehr Einwohnern (Bevölkerungs• anteil 1970: 16,88 v. H.) 17,59 v. H. der prakt. lassung nur eines Arztes auf einen Kassenarzt­ Arzte und 37,39 v. H. der Fachärzte. sitz gekennzeichnet war, für nichtig (BVerfG 11, 48) und nahm damit (in fast unv,erant­ Mit an der"Verrechtlichung" beteiligt sind die wortlicher Weise) der Kassenärztlichen Ver­ Bundes- und Landesverbände der I<.rankenkas­ einigung ihr entscheidendes "Steuerungsinstru­ sen und Arzte. Sie nehmen mittels eigener ment" zur ärztlichen Verteilung und zur Si­ Fachzeitschriften, Gesetzeskommentare, Rund­ cherstellung einer gleichmäßigen ärztlichen schreiben und P\.echtsauskünfte, die nur teil­ Versorgung, vor allem in dünn besiedelten, weise veröffentlicht werden, sowie bestellter ländlichen Gebieten, die schon immer pro­ Rechtsgutachten massiv'en Einfluß auf die blembehaftet war. Die Zulassung ist nun "herrschende Meinung" und Rechtswirklich­ grundsätzlich jedem, der die subjektiven Vor­ keit, vor allem aber auf das alltägliche Ver­ aussetzungen erfüllt, zu erteilen und darf nicht waltungshandeln des Krankenkassenpersonals. örtlich bestimmt sein. Da somit durch die freie Da sich die "häufig angestrebte Reform der Zulassung zur Kassenpraxis und durch die freie Krankenversicherung schon seit Jahrzehnten Wahl des Kassenarztsitzes die ärztliche Ver­ in eine permanente Gesetzesänderung in Stük• sorgung der Versicherten in ländlichen Bezir­ ken aufgelöst" hat (H. Peters) - konkret: seit ken und Stadtrandgebieten gefährdet ist, wird der Neubekanntmachung der RVO (1924) bis es nun aber eine zulässige Einschränkung der 1973 ergingen 205 Gesetze, die die Kranken­ Berufsfreiheit sein, wenn eine Zulassungssperre versicherung betrafen (seit 1950: 92), dadurch gemäß § 15 der Zulassungsordnungen für erfolgten über 600 Paragraphenänderungen in Arzte und Zahnärzte ausgesprochen wird, falls diesem Bereich -, ist die Rechtsinterpretation in die 1974 von den kassenärztlichen Vereinigun­ eigener Sache besonders effizient. Mögliche gen begonnenen Maßnahmen zur Sicherstellung restriktive Interpretationen können infolge der der ärztlichen Versorgung aufgrund langfri­ langwierigen Gerichtsverfahren erst nach Jah­ stiger regionale.r Planung nicht ausreichen ren korrigiert werden (von 1914-1945 bestan­ sollten. Im gleichen Jahr wurde ein Regie­ den in dieser Hinsicht bessere Verfahr'ensmög• rungsentwurf eines Gesetzes zur Weiterent­ lichkeiten), während die Krankenkassen und wicklung des Kassenarztrechts vorgelegt. ihre Verbände sofort reagieren (müssen). Man Eine Sondererhebung in Baden-Württemberg brachte muß dabei bedenken, daß "die Rechtsanwen­ folgendes Ergebnis: "Im Jahr 1960 war ein sprung- dung nicht auf die mechanisch-logische Sub-

27 Sozialmedizin, Bd. III 418 Florian Tennstedt sumtion 'eines Sachverhalts unter einen Geset­ gestellt'en 1950 = 1000:300, 1969 = 1000: zestatbestand beschränkt" ist, vielmehr "die 596) sollten für ihre Weiterversicherten ein­ Skala unterschiedlicher Interpretation eines Ge­ kommensgerechte Beiträge fordern. setzestextes" (W. Ecker) recht breit sein kann, Vorangegangen war 1957 mit dem Arbeiter­ z. B. der Tatbestand "derselben l<.rankheit" krankheitsgesetz eine weitgehende Gleichstel­ i. S. von § 183 RVO. Hinzu kommt eine lung der Arbeiter mit den Angestellten hin­ eklatante Vernachlässigung des Sozialrechts sichtlich ihrer wirtschaftlichen Sicherung wäh• seitens der Gewerkschaften und der Wissen­ rend der ersten 6 Wochen des Krankheitsfalles: schaft. durch eine Kombination von Leistungen zu Gleichzeitig mit den verabschiedeten Gesetz,en der gesetzlichen Krankenversicherung und beginnen größere Reformbestrebungen in der einem aufgestockten Krankengeldzuschuß des Sozialversicherung von seiten der Bundesregie­ Arbeitgebers (sog. zweispurige Regelung) rung, die mit der Ernennung des Nachfolgers wurde faktisch eine Nettolohnzahlung von 90 von fosef Ecleert, Kurt fantz (geb. 1908) zum v. H. (ab 1961: 100 v. H.) erreicht. (Die An­ "Generalsekretär für die Sozialreform" und gestellten haben seit 1930 generell einen An­ einer bis dahin nicht üblichen Hinzuziehung spruch auf 6wöchige Bruttogehaltsfortzahlung von Wissenschaftlern samt ebenso gründlichen durch den Arbeitgeber, in der Weltwirtschafts­ vvie kontroversen Denkschriften eingeleitet krise sollten die Krankenkassen dadurch ent­ wurden. Ihr wesentliches Ergebnis war zu­ lastet werden). Diesem Arbeiterkrankheitsge­ nächst die Aufrechterhaltung des bisherigen setz folgt'e eine ungeahnte Grippewelle, in Sozialleistungssystems, hinzu kamen die Neu­ deren Folge der durchschnittliche I(rankenstand regelung der Krankenversicherung der Rent­ im Oktober 1957 auf 7,8 v. H. gegenüber 4,2 ner im Jahre 1956 (Sozialrentner echte Mit­ v. H. im Oktober 1956 stieg, der gesamte Jah­ glieder der Krankenkassen, als Hauptkosten­ reskrankenstand betrug 5,38 v. H. (1956: 4,77 träger wurden die Rentenversicherungsträger v. H., 1959: 5,49 v. H.). Die Arbeitgeber und vorgesehen) und vor allem die 1957 einset­ Krankenkassen sprachen von Ausnutzung der zende Rentenrefo,rm, die die Rente dynami­ neuen B'estimmungen bzw. "Mißbrauch" durch sierte, d. h. sie an die steigende Lohnentwick­ "I(rankfeiern", die Gewerkschaften sprachen lung anhing. Für letzteres war nicht die Mini­ von "Nachholbedarf". Die Selbstbeteiligung sterialbürokratie mit ihren Kommissionen ent­ sollte nun u. a. diesen erhöhten Krankenstand scheidend, sondern der Zugang zum Macht­ reduzieren. Der Entwurf war damit gegen die haber, nämlich zu , den der vorherrschende gesellschaftliche Tendenz ge­ Vater des Planes, Wilfried Schreiber (1904 bis richtet und löste soziale Konflikte aus, die zu 1975), damals Geschäftsführer des Bundes ka­ einer opponierenden interfraktionellen Koali­ tholischer Unternehmer, zu finden wußte (vgl. tion der Arbeitnehmervertreter von SPD und 3.4). CDU führten, die sich gegen den "Abbau" 1958 trug der damals neue Bundesarbeits­ des sozialen Besitzstandes der Arbeitnehmer minister 7heodor Blank (1905-1972) ,erstmals wandte und statt dessen den Ausbau des Ge­ die Grundzüge einer Reform der gesetzlichen sundheitssicherungssystems befürwortete. Im Krankenversicherung vor. Das intendierte Ziel öffentlich-politischen Raum wurde mit Auswir­ war es, den Trend zum "Versorgungsstaat" kungen auf die anstehende Bundestagswahl ge­ aufzufangen, im einzelnen wurde eine V,erla­ droht. Mit anderen, z. T. gegensätzlichen Be­ gerung der Leistungen von den leichten auf die weggründen, aber dem gleichen Ziel - Abwen­ schweren, langdauernden Krankheitsfälle mit­ dung der Reform - schalteten sich die Ärzte tels Selbstbeteiligung angestrebt, jede weit,ere mit einer eigens gegründeten, finanziell gut Ausdehnung der gesetzlichen Krankenversiche­ ausgestatteten "Aktionsgemeinschaft" in die rung wurde abgelehnt, und die E.rsatzkassen heterogene Gegenkoalition ein: statt Selbst­ (Zahlenverhältnis zwischen Arbeitern und An- beteiligung sollten freiwillig Versicherte mit Sozialgeschichte der Sozialversicherung 419 höherelTI Einkommen von der freien Behand­ rungen ausgeschlossen) "Gewinnfortschritte" nur lung auf Krankenschein ausgeschlossen und mehr durch Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer erfolgen (1970: fast 1,8 Mio. Personen), die im nach Maßstäben der Privatpraxis behandelt Vergleich zu den Flüchtlingen aber relativ unquali­ werden. An dieser Frage des "Klassenkampfes fiziert waren und deren "Integration" mit schwer­ im Wartezimm'er" scheiterten im Frühjahr 1961 wiegenden sozialen Kosten und Problemen verbun­ die Beratungen im sozialpolitischen Ausschuß den ist. (Ihre dauernde Einbeziehung in die Lei­ des Bundestages endgültig. Eine der längsten stungen der Sozialversicherung, vor allem der Ren­ und härtesten sozialpolitischen Auseinander­ tenversicherung, wurde durch zahlreiche inter- und supranationale Abkommen bewirkt.) Außerdem setzungen seit Bestehen der BRD war damit war möglich der übergang von der extensiven zur vorläufig beendet. Man kann rückblickend intensiven Produktionssteigerung, die jedoch er­ einen ganzen Katalog von Ursachen des Schei­ schwert war durch Mängel in der Infrastruktur, terns aufstellen, grundsätzlich scheint beach­ unzureichende Forschungs- und Ausbildungsinvesti­ tenswert zu sein, daß es nicht gelang, die mit tionen sowie durch den Anstieg der Ersparnis der privaten Haushalte (Sparquote 1950: 3,2 v. H., dem ungesteuerten Wirtschaftsaufschwung ent­ 1960: 8,3 v. H., 1965: 12,2 v. H.), die Fremdfinan­ standenen bzw. verstärkten Verteilungsrela­ zierung aber schmälerte die eingespielten Gewinn­ tionen und die von Arbeitnehmern und Arzten raten. für zentral gehaltenen Statusprobleme mit de­ Hinzu kam, daß seit 1955 der Preisindex für die mokratisch-parlamentarischen Mitteln zu kor­ Lebenshaltung ununterbrochen gestiegen ist, seit 1959 gilt das auch für die Erzeugerpreise indu­ rigieren. strieller Produkte, und zwar mit beschleunigter Spätestens seit Anfang der sechziger Jahre zeigen Tendenz, nur 1967 wurde noch einmal ein stabiles bzw. leicht sinkendes Preisniveau erreicht. 1963 stie­ sich in der Bundesrepublik Deutschland strukturelle gen die Inflationsraten auf das in den Partnerlän• Schranken des Wirtschaftswachstums. Schon seit Er­ reichen der Vollbeschäftigung (1955) stieg der Kapi­ dern "übliche Niveau", der Preisvorsprung der taleinsatz pro Arbeitsplatz sprunghaft an, die Pro­ Exporte verringerte sich, die Zahlungsbilanz wurde duktivität der Investitionen ging zurück, lag aber zeitweise negativ. 1966 verfolgte die Bundesbank im internationalen Vergleich noch relativ hoch. 1960 einen restriktiven Kurs mit dem Ziel, den Fiskus standen 468 396 offene Stellen 225 051 Arbeitslose zu einer Ausgabenkürzung (1965 war Wahljahr mit gegenüber, die Arbeitslosenquote betrug 1,1 v. H., entsprechender Ausgabenwelle) zu zwingen und um 1970 gab es 846431 offene Stellen, denen 120550 die Stabilität wiederherzustellen, gleichzeitig ging Arbeitslose gegenüberstanden. Verschiedene Fakto­ die Binnennachfrage zurück. Die Folge war eine ren bedingten, daß das inländische Arbeitspotential heftige Rezession im Jahre 1967: die Zuwachsrate erschöpft war: seit 1955 ist die Erwerbsquote ins­ des Bruttosozialprodukts sank auf 0,8 v. H. und gesamt und vor allem bei jüngeren Altersgruppen 501 303 Personen wurden arbeitslos, die Kapa­ rückläufig (1955: 48, 2 v. H., 1969: 43,8 v. H.), was zitätsauslastung der Industrie sank teilweise auf auf die ungünstige Altersstruktur und die verlän• unter 80 v. H. Rentendynamik und Arbeitslosen­ gerte Ausbildungszeit zurückzuführen ist; die Ge­ versicherung milderten die unmittelbaren Folgen. werkschaften hatten mit Erfolg das Ziel der Ar­ Dieser heftige Abschwung erzwang eine Umorien­ beitszeitverkürzung und Urlaubsverlängerung an­ tierung der staatlichen Wirtschaftspolitik, neben das gestrebt: die durchschnittliche tariflich vereinbarte bisherige Ziel der Geldwert- bzw. Preisniveaustabi­ Wochenarbeitszeit für Arbeiter sank in der Indu­ lität traten "im Rahmen der marktwirtschaftlichen strie und im öffentlichen Dienst von 1959 bis 1969 Ordnung" gleichzeitig: hoher Beschäftigungsstand, um 3,5 Stunden auf durchschnittlich 41 Stunden, außenwirtschaftliches Gleichgewicht sowie stetiges und da die DDR 1961 ihr Gebiet militärisch ab­ und angemessenes Wachstum. Durch das sog. Sta­ sperrte, gelang es 1962-1967 nur etwa 20000 Per­ bilitätsgesetz, das diese Ziele festlegte, erhielt die sonen, die jünger als 65 Jahre waren, aus der DDR Bundesregierung eine Reihe von Kompetenzen und in die BRD zu kommen. U. a. die "Beschäftigungs• Instrumenten zur globalen Wirtschaftssteuerung (vor schranke" reduzierte die wirtschaftliche Expansion allem Steuer- und Haushaltsmaßnahmen). Mit Hilfe auf die Höhe des Produktivitätsfortschritts. Die von expansiven fiskalischen und geldpolitischen durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des realen Maßnahmen sowie gestiegener Exportnachfrage und Bruttosozialprodukts, die zwischen 1950 und 1960 maßvoller gewerkschaftlicher Lohnpolitik erfolgte 7,88 v. H. betragen hatte, fiel von 1961 bis 1968 ein unerwartet heftiger Aufschwung, der die Netto­ auf 6,32 v. H. einkommen aus Unternehmertätigkeit und Ver­ In dieser Situation konnten (Produktionsverlage- mögen um 22 v. H. steigen ließ, während im glei- 420 Florian Tennstedt

chen Jahr (1968) die Arbeitnehmereinkommen nur die nur beschränkt zentral koordiniert sind. Im um 5,2 v. H. stiegen. Diese Situation führte u. a. Herbst 1961 (vor der Bundestagswahl) wurden in der Hochkonjunktur im Herbst 1969 zu einer die "Rosinen" aus dem alten Gesetzentwurf Welle spontaner Streiks. Dadurch wurde erstmalig die Verteilungsproblematik in das allgemeine poli­ verabschiedet: das bei Arbeitsunfähigkeit zu tische Bewußtsein gehoben, außerdem wurde deut­ zahlende Krankengeld wurde für die Dauer lich, daß die Erfahrung von fast 20 Jahren Voll­ von 78 Wochen innerhalb von 3 Jahren ver­ beschäftigung und steigenden Reallöhnen (Anstieg längert (zuvor: 26 Wochen) und wurde damit des Reallohnindex von 1950 bis 1969 von 100 auf zu einer Art Zeitrente, für den gleichen Zeit­ 240) zu stabilen Anspruchserwartungen geführt hat, die in den vorangegangenen, durch Kriegs- und raum wurde (komplementär) Krankenhaus­ Krisenerfahrungen geprägten und "disziplinierten" aufenthalt gewährt. Die neue Bundesregierung Arbeitergenerationen der deutschen Geschichte so brachte wieder die alte CDU/CSU- und FDP­ nicht vorhanden waren. Allgemeinpolitisch traf Koalition, wurde wieder Bun­ diese sozioökonomische Entwicklung auf eine SPD/ desarbeitsminister. 1963 legte dieser dem Bun­ FDP-Regierungskoalition, die 1. sich anschickte, das "Reformdefizit der Bundesrepublik" (W. Bes­ destag einen neuen Krankenversicherungs­ san) zu überwinden und 2. sich scheute, die 1971 refo.rmentwurf vor, der mit einem erweiterten sich abzeichnende konjunkturelle Rezession zur Ent­ Lohnfortzahlungsgesetz und einem neucn Kin­ faltung kommen zu lassen, statt dessen ermöglichte dergeldgesetz zu einem "Sozialpaket" ver­ sie einen neuen Aufschwung auf der Basis eines zu­ schnürt war. Die Gesetze sollten aber nur ge­ nächst ungebrochenen Inflationstrends, der verstärkt wurde durch einen auf Reformen ausgerichteten, meinsam verabschiedet werden. Das "Sozial­ ausgedehnten öffentlichen Haushalt, dessen stabili­ paket" sah vor: tätskonforme Finanzierung in dem Zielkonflikt stand, einerseits die Gewinnerwartung der U nter­ 1. Reform der gesetzlichen Krankenversicherung, nehmer nicht durch entsprechende Steuern zu brem­ prinzipiell wie 1958, doch mit einer anderen Form sen, damit angesichts des verengten Wachstums­ der Selbstbeteiligung und einer Anhebung der Ver­ potentials nicht weitere Investitionseinschränkungen sicherungspflichtgrenze für Angestellte, erfolgten, und andererseits aber auch möglichst nicht 2. volle 6wöchige Lohnfortzahlung für Arbeiter den Konsumanteil der Arbeitnehmer anzutasten, durch den Arbeitgeber, weil dadurch die politische Loyalität gefährdet 3. Erhöhung des Kindergeldes und Verlagerung der werden konnte. Hinzu kamen und kommen die Kosten dafür von den Arbeitgebern auf den Bund. wachsenden Energie- und Umweltprobleme. So sind durch die ökonomisch-politische Konstellation die Faktisch war das "Sozialpaket" vor allem ein tradierten "erprobten Spielregeln" (W. Brandt) im Finanzierungsve.rlagerungspaket: den Arbeit­ Verhältnis des Staates zu Arbeitnehmern, Unter­ gebern sollten für die Lohnfortzahlungskosten nehmern, Gewerkschaften und unter diesen gefähr• die Kosten der Kindergeldzahlung genommen, det. Die Spielräume für eine aktive Sozialpolitik, ihre Bedenken im Hinblick auf "Krankfeiern" die auch Verteilungs- und Statusprobleme berühren muß, dürften erst dann wieder vorhanden sein, durch Selbstbeteiligung der Versicherten und wenn mittels Wirtschaftspolitik und ökonomischer strenge.re ärztliche Kontrolle zerstreut werden. Entwicklung ein besserer Ausgleich zwischen Frei­ In der parlamentarischen Beratung profilierten heit und Gerechtigkeit gefunden worden ist als er sich wieder (wie schon 1960) vor allem der sich gegenwärtig, gerade durch den gestiegenen CDU-Abgeordnete fasel Stingl (geb. 1919), Wohlstand, zeigt. der "zwischen Katzer und Kalinke" steuerte, Für die Sozialpolitik bedeutete der aufgezeigte und Ernst Schellenberg, der nach der Spaltung ökonomische Umschwung und Strukturwandel Berlins der SPD beigetreten und 1952 Bundes­ zunächst keine Änderung, etwa durch "Pro­ tagsabgeordneter geworden war. Im Frühjahr duktionsorientierung" in dem Sinne, wie das 1964 war dann auch das "Sozialpaket" wieder in der Leistungsgestaltung der Sozialversiche­ aufgeschnürt: die Verbesserung des Kindergel­ rung der DDR der Fall ist. Diesem staatlich des und seine Zahlung durch den Staat wurde zentral gesteuerten Globalziel gegenüber zeich­ getrennt durchgesetzt. Außerdem erhöhten net sich die staatliche Sozialpolitik in der BRD SPD und FDP 1965 gemeinsam noch die Ver­ mehr durch gradualistische Maßnahmen aus, sicherungspflichtgrenze für Angestellte (bis Sozialgeschichte der Sozialversicherung 421

1949: 3600 DM, 1949: 4500 DM, 1952: 6000 ab 1. 1. 1970 ergaben. Diese setzte den Schluß• DM, 1957: 7920, 1965: 10800, 1969: 11 880, stein zu der 1957 in dieser Richtung begon­ 1970: 14400), wodurch den Krankenkassen nennen Angleichung von Arbeitern und An­ aus ihrer akuten finanziellen Notlage heraus­ gestellten. Für die Krankenversicherung war geholfen werden sollte (in Kombination mit dieses in doppelter Hinsicht bemerkenswert: einer Heraufsetzung der Höchstbeiträge). 1. 1885 war die Sicherung gegen den mit 1965 wurde Hans Katzer (geb. 1919), zum Krankheit verbundenen Lohnausfall durch sog. linken CDU-Flügel gehörend, Bundes­ Barleistung (Krankengeld) dominierend, das arbeitsminister. Dieser legte die weitere Kran­ Verhältnis von Ausgaben für Krankenflege zu kenkassenreform zunächst ad acta, um auf denen für Krankengeld betrug 0,6:1, 1925 be­ diese Weise eine "Denkpause" zu ermöglichen, stand schon ein Verhältnis von 1:1,1968 war die bis zur Fertigstellung der bei mehreren der Umschlag auf 4,5:1 angewachsen. Durch Wissenschaftlern in Auftrag gegebenen Sozial­ die Lohnfortzahlung erhielten endgültig die enquete anhalten sollte. Grundsätzlich bedeut­ Sachleistungen den Vorrang, die infolge ihrer samer war, daß mit seinem Amtsantritt eine Unabhängigkeit von der Höhe des Arbeits­ systematisch langfristig geplante Sozialver­ entgelts (geleisteter Beitrag) keine typisch ver­ sicherungssteuerungs- und -planungspolitik be­ sicherungsmäßig gestaltete Leistung der Kran­ ginnt. Dadurch sollte die Problemerkennungs­ kenversicherung sind. und -verarbeitungskapazität des Staates auf 2. Seit 1969 versichert die Krankenversiche­ dem Sektor der Sozialen Sicherung gesteigert rung faktisch ein neues Risiko. Inl Rahmen werden. 1968 erschien das erste Sozialbudget, eines Ausgleichsverfahrens für Betriebe, die das einen qualitativeren Fortschritt gegenüber nicht mehr als 20 Arbeitnehmer beschäftigen, den Sozialberichten darstellte, die ab 1958 er­ bildet sie eine "Vertragshaftpflichtversiche­ schienen und im wesentlichen Rentenanpas­ rung« (H. Möller). So gilt der Versicherungs­ sungsberichte waren. schutz auch einem unternehmerischen Risiko 1967 wurde die Mutterschaftshilfe neu geord­ (Belastung mit Lohnkosten ohne entsprechende net und - infolge der ökonomischen Rezession Arbeitsleistungen), demgemäß können auch - der Krankenversicherungsbeitrag für Rent­ juristische Personen "Versicherte« sein. Für ner (2 v. H. der Rente bis 1969) eingeführt. dieses atypische Risiko gelten entsprechende Im Zuge der Rezession gingen, wie schon in Sonderregelungen. früheren ökonomischen Krisen, die Arbeits­ 1971 wurden Vorschriften für Früherkennungs• unfähigkeitsfälle je 100 Mitglieder auf 71,5 maßnahmen und Vorsorgehilfe bei Kindern v. H. zurück (1966: 82,3, 1968: 83,6), wäh• sowie für Frauen und Männer für bestimmte rend die durchschnittliche Dauer auf 24,0 Tage Krebserkrankungen wirksam. Die "Ansprüche stieg. ohne Versicherungsfall« (W. Bogs) betreffen 1966 erschien die Sozialenquete; aufgrund der nicht mehr primär Krankheitsheilung, sondern wohlwollenden Behandlung, die die Selbstbe­ die Gesundheitssicherung. 1972 wurde die teiligung darin gefunden hatte, wurde diese in Krankenversicherung für selbständige Land­ verdeckter Form eingeführt, vor allem in der wirte eingeführt, und zwar mit besonderen, Weise, daß für nicht verwendete Kranken­ berufsständischen, mit den Trägern der land­ scheine eine Rückvergütung gewährt wurde. wirtschaftlichen Unfallversiche.rung organisa­ Die dadurch erhoffte Kostensenkung blieb je­ torisch verbundenen landwirtschaftlichen Kran­ doch aus, weshalb die Rückvergütung zum 1. 1. kenkassen. (Die Arbeitnehmer in der Landwirt­ 1974 wieder abgeschafft wurde. schaft wurden nach Auflösung der Landkran­ Strukturell wichtiger war, daß 1969 die Bemü• kenkassen Mitglieder der Allgemeinen Orts­ hungen um 'eine Reform der Krankenversiche­ krankenkassen!). Mit dem Jahre 1974 traten rung die Einführung der vollen, arbeitsrecht­ folgende Leistungsverbesserungen in Kraft: lichen Lohnfortzahlung an erkrankte Arbeiter Gewährung der Krankenhauspflege als Rechts- 422 Florian Tennstedt anspruch und Beseitigung ihrer zeitlichen Be­ zialdatenbank, ein Arbeitskreis "Soziale Indi­ grenzung, Gewährung einer Haushaltshilfe, katoren" legte Ende 1973 erste Ergebnisse vor. wenn wegen Krankenhaus- oder Kuraufent­ Schließlich ist seit 1970 ein Sozialgesetzbuch halt der Haushalt nicht weitergeführt werden in Arbeit, das das gesamte Sozialrecht zusam­ kann, und schließlich Zahlung von Kranken­ menfassen, überschaubarer und verständlicher geld und Anspruch auf unbezahlte Freistellung machen soll. Fertiggestellt wurde zunächst der von der Arbeit, wenn der Versicherte wegen Entwurf eines Allgemeinen Teils, der rechts­ Erkrankung eines Kindes der Arbeit fernblei­ technisch an sich am schwierigsten ist, jedoch ben muß. Durch das Rehabilitationsanglei­ weniger Schwierigkeiten der politischen Durch­ chungsgesetz (1974) wurden die Krankenkas­ setzung bringt als überarbeitete Vorschriften sen in den Kreis der Rehabilitationsträger ein­ de.r einzelnen Sozialleistungsbereiche. 1975 bezogen und das Krankengeld dynamisiert. wurde er vom Bundestag verabschiedet. Damit wurde der Versicherungscharakter der Einen überblick über die Gesamtwirksamkeit Krankenversicherung weiter eingeschränkt, der Krankenversicherung im beschriebenen denn diese Leistungen setzen nicht den Eintritt Zeitraum vermittelt die nachstehende Ta­ eines mit dem Risiko "Krankheit" verbunde­ belle 2. nen Versicherungsfalles voraus. Die übersicht zeigt, daß von allen Posten die Unter (geb. 1925), seit 1969 Ausgaben und EInnahmen die größte Steige­ Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung rung aufzuweisen haben, je Mitglied haben sie (SPD), wurden die 1965 eingeleiteten grund­ sich von 1949 bis 1959 fast verdreifacht, bis legenden Planungen fortgeführt und erweitert. 1969 mehr als versiebenfacht. Lief die Ent­ 1970 wurde eine Sachverständigenkommission wicklung bis 1959 noch etwa parallel zur BSP­ zur Weiterentwicklung der sozialen Kranken­ Entwicklung, so hat sie diese seitdem knapp versicherung gebildet, der Wissenschaftler und "überholt". Sie stiegen 'erheblich stärker als die Verbandsvertreter angehören (mit entspre­ Reallöhne, der Preisindex für die Lebenshal­ chenden Selbstblockierungen), das Sozialbudget tung und andere ähnliche Indikatoren. Die wurde inhaltlich und methodisch weiterent­ Ursachen - u. a. medizinischer Fortschritt, ver­ wickelt, vorgesehen ist der Aufbau einer So- änderte Arbeits- und Lebensbedingungen so-

Tabelle 2 Die gesetzliche Krankenversicherung in den Jahren 1941-1971

1949 1959 1969 1971 Zahl der Krankenkassen 1825 2033 1837 1789 Mitglieder (inkl. Rentner) 19 Mio. 26,3 Mio. 29,8 Mio. 31,9 Mio. Familienangehörige (inkl. Rentner) 14,5 Mio. 19,5 Mio. 23,9 Mio. ca. 24,1 Mio. Versicherte insgesamt (inkl. Rentner) 33,5 Mio. 45,8 Mio. 53,7 Mio. ca. 55,5 Mio. Versicherte/Gesamtbevölkerung 72v.H. 85v.H. 88v.H. ca.90v.H. durchschnittlicher Beitragssatz 5,8v.H. 8,4v.H. 10,6 v. H. 8,25 v. H. AU-Fälle je 100 Mitglieder 44,3 75,5 89,5 94,8 durchschnittliche Dauer der AU 24,1 24,1 22,5 ca. 19,6 AU-Tage je 100 Mitglieder 1172,9 1566,7 1976,1 1720,3 Ausgaben (inkl. Rentner), DM 1,91 Mrd. 8,26 Mrd. 23,9 Mrd. 31,1 Mrd. Einnahmen (inkl. Rentner), DM 2,07 Mrd. 8,50 Mrd. 23,6 Mrd. 31,2 Mrd. Anzahl der Arzte insgesamt 72 785 93934 103910 Arzte mit freier Praxis 45124 50379 51159 Arzte/l00 000 Einwohner 137,2 153,5 169,0

Quelle: Die soziale (gesetzliche) Krankenversicherung im Jahre 1949, 1959, 1969, 1971. Bonn o. J. (bis 1973), Arbeits- und sozialstatistische Mitteilungen 1973, 87 ff., Statistisches Jahrbuch für die BRD, 1963 ff., Stuttgart 1963 ff. Sozialgeschichte der Sozialversicherung 423 wie Veränderungen des Altersaufbaus der Be­ sein, bietet bei der komplexen Materie Kranken­ völkerung - können hier nicht im einzelnen versicherung mit ihrer antagonistischen Interessen­ verquickung wenig Möglichkeiten zu grundsätzli• erörtert werden. Im Hinblick auf die wichtig­ chen Änderungen. sten Faktoren der Krankenhilfe ist interessant, Diese allgemeinen Gesichtspunkte müssen zusam­ daß deren Relationen im wesentlichen unverän• men gesehen werden mit den im wesentlichen fünf dert blieben: Die Ausgaben für ä,rztliche Be­ Wandlungen, die die Krankenversicherung seit handlung blieben mit einem Anteil von rd. 23 ihrem Bestehen erfahren hat und die ehr. von Fer­ ber folgendermaßen gekennzeichnet hat: v. H. am konstantesten, am stärksten stieg der Anteil der Krankenhauskosten: von 17,75 1. Der Personenkreis der Versicherten ist bis an die v. H. im Jahre 1949 auf 24,15 v. H. im Jahre Grenze einer Volksversicherung erweitert worden, der persönlich und wirtschaftlich abhängige Arbei­ 1969. Die Kosten der Krankenhausbehandlung ter prägt die Krankenversicherung kaum mehr als je Tag sind auch von 6,50 DM im Jahre 1950 Angestellte, die Arbeitgeberfunktionen haben kön• auf 39,50 DM im Jahre 1968 angestieg,en. nen, kleine Selbständige sowie Rentner. Die Grenze zwischen Sozialversicherten und Nichtsozialver­ Insgesamt zeigen sich in der Zeit nach 1949 andere sicherten wird zunehmend bedeutungslos. Damit ökonomische Probleme der Krankenversicherung als hat sich die öffentliche, gesundheitspolitische Bedeu­ in den vergangenen Abschnitten ihrer Geschichte. tung der Krankenversicherung verstärkt: ist sie im Infolge des Wirtschaftswachstums war ihre Finan­ wesentlichen immer noch eine nach dem Versiche­ zierung niemals mehr grundsätzlich so gefährdet rungsprinzip arbeitende Finanzierungseinrichtung wie früher, vor allem in der Weimarer Republik. oder besitzt sie einen umfassenden Auftrag für den Statt dessen hat sich die verteilungspolitische Pro­ Gesundheitsschutz der Bevölkerung (inkl. allgemeine blematik mit ihrem Wandel von einer sozialpoli­ Gesundheitsvorsorge)? tischen zu einer gesundheitspolitischen Institution 2. Die das Leistungsangebot beherrschende Rolle der verändert: sind Grenzen des steigenden, zwangs­ Sachleistungen hat den ursprünglichen Auftrag der weisen Eingriffs in die Realeinkommensentwicklung Krankenversicherung, mittels Barleistungen Ein­ absehbar, die verhindern, daß die ständige Lei­ kommenssicherung für einkommensschwache Be­ stungserweiterung in sachlicher und personenmäßi• völkerungskreise durchzusetzen, grundlegend ge­ ger Hinsicht (unter weitgehender Vernachlässigung wandelt. Die arbeitsrechtliche Lösung der Lohn­ wissenschaftlicher Effizienzkontrollen sowie partiell fortzahlung hat diese Strukturwandlung endgültig veralteter Organisationsstrukturen und eines vor­ deutlich gemacht. Die Krankenversicherung ist heute herrschenden Desinteresses der Versicherten an primär eine Einrichtung für die Verteilung von "ihrer" Krankenkasse u. a.) wie bisher "immer und Sachleistungen bzw. Sozialgütern, d. h. Leistungen, sofort positiv beantwortet" wird (H. Achinger)? die nach Bedarfsgesichtspunkten der Bevölkerung Die dann anstehenden Probleme werden nicht mehr gewährt werden. Die Grenzen des Bedarfs an ge­ mit Hinweisen wie - "das in der Bundesrepublik sundheitlichen Leistungen sind nicht prinzipiell fest­ Deutschland geschaffene System der sozialen Siche­ legbar. Daraus folgt ein Konflikt zur Finanzierung, rung hat sich in seinen Prinzipien wie auch in einer die, etwas gen1ildert durch das Prinzip des sozialen Fülle von Einzelregelungen bewährt" (K. ] antz) ­ Ausgleichs, nicht an den Bedarf der Versicherten an­ verdeckt werden können. Die dann evtl. notwen­ knüpft, sondern - wie problematisch auch immer ­ digen Reformen und Umorientierungen stoßen auf an ihr durch das Leistungsprinzip bestimmtes Ar­ divergierende Ansprüche und verfestigte Inter­ beitseinkommen. essen, die nicht dadurch leichter veränderbar gewor­ den sind, daß seit Bestehen der Krankenversiche­ 3. Der Zusammenhang, der zwischen der Weiter­ rung der Einfluß des Staates - gesetzliche Anderun­ entwicklung der Sozialversicherung und einem um­ gen, Aufsichtsbefugnisse, Rechtsprechung - ständig fassenden Gesellschaftsprozeß, der Arbeiterbewe­ gestiegen ist und somit nicht mehr primär die Pro­ gung, bestand, hat sich schrittweise mit dem be­ blemverarbeitungskapazität relativ kleiner Selbst­ schriebenen Ausbau der Sozialversicherung und mit verwaltungseinheiten gefordert ist, sondern die des dem Wandel der Arbeitereinkommenssicherung ge­ demokratischen und sozialen Rechtsstaats. Das löst. Die Krankenkassen waren ein politisches In­ Grundmuster der Reformstrategie, das in einer strument und hatten ein politisches Interesse aus Demokratie gekennzeichnet sein muß "durch Maß• verschiedenen Richtungen, vor allem aber der Ar­ nahmen allgemeiner Kompensation, gezielter Kon­ beiterbewegung, weil ihre Mitglieder sich in einer zession und Veränderungen der Einstellungen ..., gesellschaftlichen Ausnahmesituation befanden, die um mit einem Minimum an Unterdrückung auszu­ arbeitslohnabhängige Bevölkerung allgemein poli­ kommen" (F. Naschold) und um "erfolgreich" zu tisch und gesellschaftlich eklatant benachteiligt war 424 Florian Tennstedt und der gesellschaftliche Konflikt als Einkommens­ versicherung - einen unmittelbaren reichsge­ verteilungskonflikt definiert war. Der Ausbau der setzlichen Vorläufer: das Reichshaftpflichtge­ Krankenversicherung, die Stärke ihrer Selbstver­ setz (1871). Dieses betraf aber nicht alle Un­ waltung und die Leistungsfähigkeit ihrer Organisa­ tion bildete daher einen Gradmesser für die politi­ fälle, sondern nur solche, die der Unternehmer sche Emanzipation der Arbeiterklasse und ihre oder sein Bevollmächtigter verschuldet hatte. Handlungskompetenz im staatlichen Raum. Heute Die Beweislast - "Beweislast ist halber Prozeß• haben die Sozialversicherung und ihre Selbstver­ verlust" (Ad. Stoelzel) - für das Verschulden vlaltung ihre Rolle als Aktionsfeld einer gesell­ hatten die Arbeiter. Davon abgesehen waren schaftlichen Bewegung eingebüßt, ihre Leistungen sind zu einer Selbstverständlichkeit geworden, ihre aber nur 10-40 v. H. aller Unfälle auf Ver­ politische Vergangenheitsdimension ist nahezu er­ schulden des Unternehmers oder seines Beauf­ folgreich verdrängt worden. tragten im privatrechtlichen Sinne zurückzu• führen. Hinzu kam, daß die Arbeiter infolge 4. Die Hereinnahme vorbeugender Maßnahmen, Zahlungsunfähigkeit des Unternehmers (vor Früherkennung von Krankheiten und gesundheits­ fördender Leistungen nach bereits eingetretener Ge­ allem bei Massenunglücken) selbst dann keine sundheitsschädigung aufgrund gesetzlicher Vor­ Entschädigung erhielten, wenn sie im (lang­ schrift hat die Beziehungen zu den Mitgliedern ge­ wierigen) Prozeß obsiegt hatten. 1879 waren wandelt: neben den Versicherten werden die mit­ in den industriellen Gegenden nur etwa 10-17 versicherten Familienangehörigen als Zielpersonen der Aufklärung und Beratung wichtig. Die damit v. H. aller Fabrikarbeiter gegen sämtliche Un­ verbundene Einflußnahme auf das Sozialverhalten fälle versichert und 35-40 v. H. gegen haft­ der Mitglieder zeigt die Grenzen der bisherigen pflichtige Unfälle. sozialpolitischen Grundprinzipien, die Hans Achin­ Diese allgemein als schlecht angesehenen Fol­ ger als Monetarisierung, Verrechtlichung und Büro• gen der Haftpflicht bildeten - auf dem all­ kratisierung gekennzeichnet hat. Hier könnten neue Funktionen für eine Selbstverwaltung sein, die sich gemeinen Hintergrund des die Großindustrie nicht als Machtfaktor von sich selbst stabilisieren­ begünstigenden und die Arbeiterschaft benach­ den, organisierten Verbänden gegenüber der Mini­ teiligenden Schutzzolles (1878) und dem So­ sterialbürokratie versteht, sondern die das Verhält• zialistengesetz - den konkreten Anlaß für den nis von Verwaltung und diese zwangsweise finan­ Ersatz der Haftpflicht durch eine allgemeine zierendem Publikum neu definiert und aktiviert. Unfallversicherung von Staats wegen. Mit ihr 5. Von den Faktoren des wissenschaftlich-technischen beginnt die direkte Mitwirkung der Industrie Fortschritts ist innerhalb der Krankenkassen vor an der staatlichen Sozialpolitik. allem die EDV wirksam geworden. Mit ihrer Hilfe konnten nicht nur Verwaltungsvorgänge rationali­ Im einflußreichsten Unternehmerverein des kaiser­ siert und erleichert werden, sondern sie führte die lichen Deutschland, dem "Zentralverband Deutscher Krankenkassen zu gemeinsamer Planung und Stan­ Industrieller" (1876-1919) waren große Berg- und dardisierung ihrer Verwaltungsabläufe zusammen. Hüttenwerksunternehmer zu der Einsicht gekom­ Darüber hinaus hat sie der Krankenversicherung men, "daß sie ihre Werke nur fördern, ihre Ziele eine Schlüsselstellung bei der Datenerhebung für nur erreichen konnten mit gutgeschulten, kräftigen den gesamten Bereich der Sozialversicherung ein­ und zufriedenen Arbeitern. Nur mit solchen konnte geräumt und sie damit in die überlegungen zu einem eine der wesentlichsten, grundlegenden Bedingungen umfassenden sozialpolitischen Informationssystem für das Gedeihen der Industrie, und besonders für einbezogen. Dieser Prozeß steht noch ganz am An­ angemessene Verwertung der nach Milliarden in ihr fang seiner Möglichkeiten. angelegten Kapitalien, einigermaßen sichergestellt werden, d. i. die erforderliche Kontinuität der Be­ triebe" (H. A. Bueck). Daher trat der Verband in 2 Die gesetzliche Unfallversicherung den achtziger Jahren "für gewisse, aber streng be­ grenzte Fortschritte in der Sozialpolitik" (H. Nuss­ baum) ein, wobei er vor allem Arbeiterausschüsse 2.1 Die Unfallversicherung im Deutschen und -schutzgesetze ablehnte. Statt dessen favorisierte Kaiserreich (1871-1918) er unter dem Einfluß von Karl Ferdinand von Stumm-Halberg (1836-1901) die Einführung von Die gesetzliche Unfallversicherung im Deut­ Altersversorgungs- und Invalidenkassen. Doch Bis­ schen Reich hatte - ebenso wie die Kranken- marck wandte sich zunächst den Plänen zu einer Sozialgeschichte der Sozialversicherung 425

allgemeinen Unfallversicherung zu, die dann auch wurde aber bald darauf auch auf Transport­ letztlich die Grundlage für das Unfallversicherungs­ und Verladungsbetriebe ausgedehnt. Die Bei­ gesetz wurde. 1879 hatte ein anderes Gründungs• träge zur Unfallv>ersicherung wurden allein mitglied des Zentralverbandes, der erste General­ direktor des Bochumer Vereins für Bergbau und von den Unternehmern aufgebracht. "Durch Gußstahlfabrikation, Louis Baare (1821-1897), im die Unfallversicherungsgesetze wurde die zivil­ preußischen Abgeordnetenhaus auf die Ungerechtig­ rechtliche Haftpflicht des einzelnen Unterneh­ keiten des Haftpflichtgesetzes hingewiesen. Darauf­ mers abgelöst und eine auf öffentlich-rechtli• hin forderte ihn der preußische Handelsminister chem Zwang beruhende Gesamthaftung aller Karl von Hofmann (1827-1910) zu einer Denk­ Unternehmer begründet. In Erscheinung trat schrift auf. Das von Louis Baare 1880 angefertigte "Promemoria" war von dem Bestreben geleitet, "die diese Gesamtheit der Unternehmer in den Be­ unumgängliche Erweiterung der Haftpflicht... in rufsgenossenschaften, die als Zwangsgenossen­ eine den Interessen der Industrie erwünschtere Rich­ schaften des öffentlichen Rechts die Aufgaben tung zu bringen" (W. Vogel). Dieses wurde die der Unfallversicherung übernahmen" (H. Lau­ Grundlage der Unfallversicherungsgesetzgebung des terbach). Die materiell-rechtliche Genese der Deutschen Reiches. Die Hauptelemente dieser Denkschrift ließ Bismarek Unfallversicherung bedingte schon 1884 einige in den Regierungsentwurf für ein Unfallversiche­ grundsätzliche Besonderheiten dieser Versiche­ rungsgesetz (1881) eingehen, verstärkte aber, um rung gegenüber den anderen Sozialversiche­ die Arbeiter am Staat zu interessieren, den vor­ rungszweigen, die sich bis heute erhalten ha­ gesehenen Reichszuschuß. Das Zentrum aber sah im ben: Reichszuschuß "ein sehr gefährliches Stück Kommu­ nismus" (F. Hitze), weshalb der Reichstag den Ent­ 1. Die Versicherungsleistungen sind kausal (und wurf nur ohne Reichszuschuß verabschiedete. Dar­ nicht final) bestimmt. Dieses ist u. a. der durch die aufhin ließ Bismarck über den Bundesrat das Gesetz Rechtsprechung entwickelten Unfalldefinition zu scheitern. Die Reichstagswahlen 1881 brachten keine entnehmen: ein körperlich schädigendes, zeitlich eng für Bismarck. günstigere Mandatsverteilung. "Doch begrenztes Ereignis, das mit einer versicherten Tä• der Fürst verzweifelte auch jetzt noch nicht. Was tigkeit in rechtlich wesentlich ursächlichem Zusam­ die Wahlen nicht gebracht hatten, das glaubte er menhang steht. Gefordert ist eine sog. doppelte nun durch eine besondere Maßregel erreichen zu Kausalität: können, durch den moralischen Eindruck eines feier­ a) muß durch eine versicherte Tätigkeit ein Unfall­ lichen Eintretens des ehrwürdigen, vierundachtzig­ ereignis eingetreten sein (haftungsbegründende K.), jährigen Kaisers für das Werk seiner Wünsche" (K. b) muß durch dieses Ereignis eine Körperverletzung, Lampreeht). Doch da Wilhelm J. am 17. November Tötung oder Beschädigung eines Körperersatzstückes 1881 "unpäßlich" war, mußte Bismarek die weit­ usw. (haftungsausfüllende K.) herbeigeführt wor­ gehend von ihm - neben dem damaligen Direktor den sein. im Reichsamt des Innern, Robert Bosse (1832-1900) und dem Staatssekretär des Amtes, Karl H einrieh 2. Die \lersicherungsleistungen haben "zwei Schutz­ von Boettieher (1833-1907) - verfaßte "Kaiserliche funktionen sehr verschiedener Art zu erfüllen: sie Botschaft" selbst verlesen. Sie hatte aber nicht die gleichen den - abstrakt berechneten - Schaden des erhoffte Wirkung: der 2. Entwurf des Gesetzes Verletzten (insbesondere durch ärztliche Behand­ (1882) kam nicht einmal über die Kommissionsbe­ lung und Rentenzahlungen) oder der Hinterbliebe­ ratungen hinaus, es wurde nur das ursprünglich da­ nen (Rentenzahlungen) aus, und sie haben zur Fol­ mit gekoppelte Krankenversicherungsgesetz verab­ ge, daß Unternehmer und Mitarbeiter von Scha­ schiedet. densersatzansprüchen weitgehend befreit sind" (\\7. Bogs). Der 3. Entwurf des Gesetzes, den der Reichstag 1884 annahm, unterschied sich von seinen Vorgän• 3. Die Selbstverwaltung in der gewerblichen Un­ gern im Hinblick auf Finanzierung und Organisa­ fallversicherung war bis 1951 eine reine Selbstver­ tion, ausgearbeitet hatte ihn - nach neuen Richt­ waltung der Unternehmer, die auch heute noch die linien Bismareks - TOnio Bödiker (1843-1907), seit Beiträge allein zu entrichten haben, für die Beitrags­ 1881 vortragender Rat im Reichsamt des Innern. höhe sind Größe des Unternehmens (Lohnsumme) und die Unfallgefahr in demselben (Gefahrtarif) 1885 Das in Kraft getretene Unfallversiche­ ausschlaggebend. rungsgesetz galt zunächst nur für besonders ge­ fährdete Bereiche der Industrie (Bergbau, Sa­ Von den heutigen Aufgabengebieten der Un­ linen, Steinbrüche, Werften, Hüttenwerke), fallversicherung - Unfallverhütung und Erste 426 Florian Tennstedt

Hilfe, Heilverfahr'en, Berufsfürsorge und Un­ sensregelung wurde nun zweierlei 'entschei­ fallentschädigung durch Geldleistung - sind für dend: das als oberste Rechtsprechungs- und die Sozialmedizin die drei erstgenannten am Aufsichtsinstanz neu errichtete Reichsversiche­ relevantesten. rungsamt und die berufsgenossenschaftliche Schon 1880 hatte das Reichsamt des Innern Selbstverwaltung. Erster Präsident des Reichs­ einen "Entwurf von Vorschriften betreffend versicherungsamtes (RVA) wurde Tonio Bö• den Schutz gewerblicher Arbeite.r gegen Gefah­ diker (1884-1897). ren für Leben und Gesundheit" ausgearbeitet, "In einer langen Reihe von Jahren wurde ihm nun der aber nicht Gesetz wurde. Der"Verein deut­ das für einen Beamten seltene Glück zuteil, was er scher Ingenieure" (geg.r. 1856) hatte sich da­ im Gesetz theoretisch gedacht und formuliert hatte, mals gegen dies,e Vorschriften erklärt, da diese auch praktisch zu verwirklichen. Dank seiner rast­ "lählnend und schädigend auf die Entwicklung losen Energie und seines persönlichen Verhandlungs­ geschicks gelang es Bödiker bald, das Reichsversiche­ der Industrie und Existenz der Arbeiter wir­ rungsamt aus kleinen Anfängen - es begann mit ken n1üssen", dem hatte sich der "Verein zur drei höheren Beamten - zu einer großen, angesehe­ Beförderung des Gewerbefleißes" (1821-1945) nen Behörde zu machen. Die Arbeiter gewannen zur angeschlossen. Noch 1887 hatten in Bismarcks Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes all­ Holzpflasterfabrik die Sägen usw. keine mählich Vertrauen. Mit der Unfallversicherung wa­ ren sie um so eher zufrieden, als sie keine Beiträge Schutzvorrichtungen, "weil unser Holz keine zu zahlen brauchten und doch in den Spruchbehör• Schutzvorrichtungen verträgt". den bis zum Reichsversicherungsamt vertreten wa­ ren. Das Vertrauen der Industrie war schwerer zu In dieser Zeit war der Arbeiterschutz noch sehr be­ erwerben ... Bödiker versuchte es in persönlicher schränkt: 1854 wurden in Preußen- nach englischem Fühlungnahme, indem er die Industriegebiete be­ Vorbild - die ersten drei Fabrikinspektoren ange­ reiste und mit den Reichstags- und Landtagsvertre­ stellt, die ausschließlich den Jugendschutz zu über• tern sprach. Es gelang ihm, sie für den ihnen unge­ wachen hatten. In dem zugrundeliegenden Gesetz wohnten ,Kleinkram', der mit der Feststellung der von 1853 waren sie nur fakultativ vorgesehen, und Ursachen der Verletzung, dem Genesungsverlauf, hierbei blieb es auch in der für den Norddeutschen der Unfallverhütungsmittel usw. nun einmal ver­ Bund erlassenen Gewerbeordnung (1869). Erst 1878 bunden war, zu interessieren" (W. Vogel). wurden diese staatlichen Beamten mit ortspolizei­ lichen Befugnissen und jederzeitigem Revisionsrecht Er leitete fast alle Genossenschaftsversamm­ der Betriebe zu einer obligatorischen Einrichtung lungen persönlich und gewann genügend Un­ für das ganze Reichsgebiet. Man übertrug ihnen ternehmer, die gern "als selbständige Beamte in nun auch noch die überwachung des Gefahrenschut­ eigener Sache ehrenamtlich tätig" waren: 1908 zes. 1891 wurde durch das Arbeiterschutzgesetz ihr Aufgabenkreis erweitert und ihre Zuständigkeit auf waren über 50 v. H. der 5820 Mitglieder des alle Gewerbebetriebe ausgedehnt: aus den Fabrik­ Genossenschafts- bzw. Sektionsvorstandes mehr inspektoren wurden Gewerbeinspektoren. Insgesamt als 10 Jahre bei den gewerblichen BG tätig. konnten diese Fabrikinspektoren aber nur die gröb• Im übrigen sah er die Unfallverhütung als den sten Mißstände verbieten, es fehlte ein einheitlich wichtigsten Teil der Tätigkeit der BG an. Des­ systematisches Vorgehen gegen Gewerbegefahren. halb hatte er zunächst Franz Reichel (1847 bis So war es von besonderer Bedeutung, daß das 1911), der 1875 Fabrikinspektor und 1879Do­ Unfallversicherungsgesetz einige Gedanken aus zent an der TH Aachen für "gewerbliche Ge­ dem Gesetzentwurf von 1880 aufgriff und den sundheitslehre" geworden war, als ständiges Berufsgenossenschaften (BG) die Befugnis er­ Mitglied in das RVA (1885-1893) geholt. Mit teilte, unter Strafandrohung "über die von den Hilfe seiner Fachkenntnisse wirkte nun das Mitgliedern zur Verhütung von Unfällen in RVA ständig auf die Berufsgenossenschaften ihren Betrieben zu treffenden Einrichtungen" ein, Unfallverhütungsvorschriften zu erlassen. und "über das in den Betrieben von den Ver­ Auch in der Folgezeit blieben die BG das sicherten zur Verhütung von Unfällen zu be­ "Lieblingskind" des RVAes und seiner Präsi• obachtende Verhalten" Vorschriften zu erlas­ denten. sen. Für die rasche Wirksamkeit dieser Ermes- Die auf Unfallverhütungsvorschriften gerich- Sozialgeschichte der Sozialversicherung 427 teten Bemühungen wurden aber erst dann er­ 1898 forderte die SPD im Reichstag die Einstellung folgreich, als sich 1885 unter der Führung des von Ärzten in den Gewerbeaufsichtsdienst, ihnen Verlegers Oskar (von) Hase (1846-1912) 32 folgten Zentrum und Freisinnige. Doch erste 1906 wurde - zum erstenmal in Deutschland - ein Arzt gewerbliche BG zum "V'erband der Deutschen in die Gewerbeinspektion eingestellt: Friedrich Berufsgenossenschaften" zusammenschlossen. Holtzmann (1876-1948) in Baden. Dieser Ausschluß Ihm folgte im gleichen Jahr der "Verband der der Ärzte von der Gewerbeaufsicht führte in Deutschen Baugewerks-Berufsgenossenschaf­ Deutschland "zu einem Zurückbleiben sowohl der Forschung als auch der Praxis auf bestimmten Ge­ ten" unter dem Kgl. Baurat Bernhard Felisch bieten der Gewerbehygiene, vor allem auf dem Ge­ (1839-1912) und 1895 der "Verband der Ei­ biete der Erforschung und der Verhütung gewerb­ sen- und Stahlberufsgenossenschaften" unter licher Erkrankungen" (L. Teleky). dem bayerischen Fabrikanten rlugo Ritter von Maffei (1836-1921). Vor allem der erstge­ Mit einer "Phasenverschiebung" (M. N eldner) nannte Ve,rband arbeitete auf dem Gebiet der erfolgt'e - auf Verlangen des Reichstags und Unfallverhütung mit dem RVA zusammen: des Deutschen Landwirtschaftsrates - die Un­ 1886 hatten erst 6 BG Unfallverhütungsvor• fallversicherung in den land- und forstwirt­ schriften erlassen, Ende 1887 waren es 32 schaftlichen Betrieben, das entsprechende Ge­ (und 21 hatten insgesamt 57 mit der über• setz von 1886 trat in den einzelnen Bundes­ wachung der Durchführung beauftragte Perso­ staaten zu verschiedenen Zeitpunkten in Kraft nen angestellt). 1889 waren es schon 50 der und galt erst ab 1. 5. 1889 im ganzen Deut­ 64 gewerbl. BG. Erwähnt werden muß hier sechn Reich. Da diese Unfallversicherung ins­ vor allem das sozialpolitische Wirken des gesamt das Berufsprinzip zur Grundlage hatte, Reichstagsabgeordneten und Direktors der erfolgte die berufsgenossenschaftliehe Gliede­ Schultheiß-Brauerei, Richard Roesicke (1845 bis rung nicht "qualitativ", sondern r'egional bzw. 1903) 1890-1898 Vorsitzender des"Verbandes territorial (in der gewerblichen Unfallversiche­ der deutschen Berufsgenossenschaften" - zu­ rung waren nur einige BG zusätzlich territo­ gunsten der Arbeiterschaft. Von 1891 bis 1896 rial aufgegliedert, so bei den Holz-BG, den arbeitete der Verband unter der Initiative des Baugewerks-BG u. a.). So entstanden land­ Direktors der BG der chemischen Industrie, wirtschaftliche BG, deren Zuständigkeitsbereich Otto Wenzel (1840-1929), Normal-Unfallver­ teils Provinzen oder sogar Bundesstaaten (Kö• hütungsvorschrift'en aus, die Betriebsanlage, nigreich Sachsen) umfaßte. Neben dieser Zer­ -führung und die Fürsorge für Verletzte be­ splitterung wurde auch durch die reichsgesetz­ trafen. Diese wurden von den angeschlossenen lich vorgesehene starke Einschaltung der Lan­ Einzelberufsgenossenschaften übernommen. desgesetzgebung eine fehlende Einheitlichkeit 1900 hatten 53 BG schon 233 Beauftragte an­ installiert, was lange Jahre einer planmäßigen gestellt, im gleichen Jahr erhielten die BG die Entwicklung der Entschädigungsfeststellung, gesetzliche Ve,rpflichtung dazu. 1910 waren insbesondere des Heilverfahrens, entgegen­ 339 technische Aufsichtsbeamte tätig, die fast stand. Vor allem wirkte sich aus, daß die 300000 Revisionen vornahmen. Mittlerweile Selbstverwaltung, also eine aktive Mitwirkung war aus der 1884 noch fast unbekannten Un­ der Landwirtschaft, zugunsten von mehr oder fallverhütung fast eine neue Technik und ein minder starkem Anschluß an mit Verwaltungs­ neuer Gewerbezweig entstanden; die Unfälle, beamten besetzte P,rovinzial- oder Staatsbe­ die aufMangel an Schutzvorrichtungen zurück• hörden weitgehend ausgeschaltet war; am voll­ zuführen waren, gingen stark zurück. ständigsten geschah dieses in Bayern, in Preu­ ßen ersetzt,en kommunale und provinzielle Die Unfallverhütung war im wesentlichen das Werk Selbstverwaltungsorgane die eigene Selbstver­ von Geheimräten, Kommerzienräten und Ingenieu­ waltung, nur Sachsen und andere kleinere Bun­ ren, Ärzte waren daran nicht beteiligt. Das gleiche gilt - im Gegensatz etwa zu England und der desstaaten hatten fr'eie Selbstverwaltung zu­ Schweiz - für die staatliche Gewerbeaufsicht. Schon gelassen. Die überregionale Selbstverwaltung 428 Florian Tennstedt auf Verbandsebene entwickelte sich so nur Daraus resultierte, daß 1901 erst 15 (klei­ langsam: Seit 1889 lud das RVA zu jährlichen nere) landwirtschaftliche BG Unfallverhü• bzw. halbjährlichen Konferenzen, 1893-1894 tungsvorschriften erlassen hatten. Erst nach und 1897-1899 wurde eine auch zwischenzeit­ umfangreichen Vorarbeiten und Bemühun• lich tagende ICommission eingerichtet, die 1900 gen im R VA, hier vor allem durch K onrad in einen ständigen Ausschuß umgewandelt Hartraann (1853-1927), dem Nachfolger wurde. Schließlich wurde 1902 formell ein Franz ReicheIs, und des ständigen Ausschusses "Konferenz-Verband" gegründet, der aber der landwirtschaftlichen BG, hier vor allem keine Satzung hatte. So war fast alles der Ini­ durch den Ackenhäuser Gutsbesitzer Ernst tiative des damaligen"Vorsitzenden", dem un­ Frieke (1850-1926) sowie einer ,entsprechenden gelnein tatkräftigen Posener Landesrat H ein­ Gesetzesnovellierung (1900) erkannte 1905 rieh Noetel (1861-1946), überlassen. In dieser das "Preußische Okonomie-Kollegium" an, Situation gestaltete sich der Erlaß von Unfall­ "daß der Erfolg von Unfallverhütungsvor• verhütungsvorschriften für die Landwirtschaft schriften den Interessen der Landwirtschaft ent­ schwieriger als in der gewerblichen Unfallver­ spreche". 1903 hatte die Detmolder Konferenz sicherung. Hemmend wirkte vor allem Preu­ der Deutschen landwirtschaftlichen Berufsge­ ßen, während insbesondere einige süddeutsche nossenschaften erstmalig Unfallverhütungsvor• Staaten positiv vorangingen. Insofern hatten schriften für landwirtschaftliche Maschinen an­ die mit spezifisch landwirtschaftlichen Proble­ genommen. In den folgenden Jahren wurden men weniger vertrauten preußischen Landes­ diese ausgebaut und auf den gesamten land­ räte der Provinzialverwaltungen besondere wirtschaftlichen Betrieb erweitert. Daraufhin Schwierigkeiten, den preußischen Landwirten zeigten sich endlich Fortschritte: 1908 hatten zu zeigen, daß die Unfallverhütung im eigenen die landwirtschaftlichen BG schon 37 technische Interesse liege und wie man sie bewerkstelligen Aufsichtsbeamte angestellt (die gewerblichen könne. Im "Preußischen Landesökonomie• BG zur gleichen Zeit 315!). 1910 hatten 43 Kollegium" (1842-1921 stand dieses in Preu­ landwirtschaftliche BG Unfallverhütungsvor• ßen an der Spitze des landwirtschaftlichen tech­ schriften erlassen, es fehlten nur noch die 4 nischen Vereinswesens und diente dem Preußi• württembergischen landwirtschaftlichen BG schen Landwirtschaftsministerium als techni­ und die landwirtschaftliche BG für Mecklen­ scher Beirat) hatte schon 1890 Gustav Sehmoller burg-Schwerin. N ormal-Unfallverhütungsvor• darauf hingewiesen, daß die (seit 1853) beste­ schriften, die für das ganze Deutsche Reich henden, den Unfallschutz an Landmaschinen gültig waren, wurden 1923 verabschiedet. betreffenden Polizeiverordnungen nicht aus­ Gegenüber der Unfallverhütung entwickelten reichten, weil die Hauptzahl derlandwirtschaft­ sich die Heilverfahrensmaßnahmen der BG vor lichen Unfälle durch Tiere, Herabfallen von dem Ersten Weltkrieg relativ langsam. Das Böden, vom \Vagen usw. verursacht werde. Die besondere Problem der Heilmaßnahmen be­ landwirtschaftlichen Großgrundbesitzer scheu­ stand darin, daß vom Gesetzgeber die Heil­ ten aber eine entsprechende überwachung der behandlungszuständigkeit bei Unfällen grund­ Betriebe und begnügten sich mit der unzurei­ sätzlich geteilt war: In den ersten 13 Wochen chenden polizeilichen überwachung, zumal sie nach dem Unfall war die Krankenversicherung zur Polizeileitung meist gute Beziehungen hat­ leistungspflichtig, erst nach dieser "Wartezeit" ten. Sie forderten zuerst Strafbestimmungen begann die Zuständigkeit der Unfallversiche­ gegen Arbeitnehmer - Unfallverhütungsvor• rung. Einzelne gewerbliche BG hatten nun schriften, wie sie vor allem Tonio Bödiker und schon von Anfang an erkannt, daß die Schäden Heinrich N oetel forderten, seien ohne diese dieser Zweiteilung nur dadurch auszugleichen zwecklos. Im übrigen seien die Verhältnisse in waren, daß man möglichst sofort nach dem der Landwirtschaft komplizierter als in der Unfall eingriff, und zwar mittels Behandlung Industrie! durch einen Facharzt ("Spezialarzt", z. B. bei Sozialgeschichte der Sozialversicherung 429

Augenverletzungen, schweren Brüchen usw.); die Möglichkeit der Arztauswahl für den Versicher­ langfristig war das sowohl für die Gesundheit ten (häufiger war dieses schon bei den landwirt­ schaftlichen BG der Fall). Die meisten gewerblichen des Unfallverletzten als auch für die Finanzen BG hatten seit 1886 an ihrem Geschäftssitz einen der BG sinnvoller. Diese Praxis griff das RVA Vertrauensarzt, der die eingegangenen Sachen auf und empfahl per Rundschreiben den übri• prüfte und Ratschläge erteilte. Im Hinblick auf die gen BG (erstmals 1887) "im eigenen Interesse" Heilverfahren bei Unfallverletzten bildeten sich für ein "von Anfang an möglichst intensives zwei verschiedene Richtungen aus: der kleinere Teil der BG stand mit bestimmten Ärzten ("Vertrauens­ Heilverfahren ... unter Umständen Sorge zu ärzte" i. e. S.) - meist Leiter größerer Krankenhäu• tragen", ihre Bemühungen sollten die BG aber ser oder beamtete Ärzte, die besondere Erfahrungen mit den Krankenkassen koordinieren. Dieses in der Unfallheilkunde hatten oder sich dadurch an­ Vorgehen wurde dann vom Gesetzgeber 1892 eigneten - in festen umfassenden Vertragsverhält• und 1900 expressis verbis "legalisiert". 1905 nissen. Diese Vertrauensärzte bildeten außerdem hatten von 114 BG bereits 93 das Heilverfah­ den "Ärztlichen Beirat" oder die "Ärztlichen Be­ rater" der jeweiligen BG. Der größte Teil der BG ren vor Ablauf der ersten 13 Wochen über• hatte mit einem größeren Kreis von Ärzten Ver­ nommen, doch machte nur eine kleine Gruppe träge über Honorar für Heilbehandlung und Begut­ davon auch ausgedehnten Gebrauch. achtung abgeschlossenen und entschied dann die Ärztezuständigkeit von Fall zu Fall. Solch ein spe­ Man muß dieses Handeln auf dem Hintergrund der zifiziertes Ärztesystem konnten die allgemein zu­ verschiedenen Arztsysteme der beiden Institutionen ständigen Krankenkassen nicht entwickeln, abge­ sehen. In der Krankenversicherung herrschte vor sehen von ihrer Zersplitterung und finanziellen allem die "begrenzt freie Arztwahl", besondere Situation. "Spezialärzte" für bestimmte Krankheitsfälle hat­ Im einzelnen bildeten sich auf dem Hinter­ ten die Krankenkassen nicht. Die"Vertrauensärzte" waren hier fast unbekannt und hatten andere Funk­ grund dieses spezifischen Vertrauensarztsystems tionen: 1887 hatte der 1871 gegründete "Verein zur - insgesamt allerdings nur bei einer Minder­ Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Inter­ zahl aller gewerblichen BG - bis 1910 noch essen in Rheinland und Westfalen" (sog. Langnam­ besondere Unfallheilverfahren aus, durch die verein) im Interesse der Schwerindustrie die erste die BG die sachverständige Behandlung von Anregung gegeben, bei Krankenkassen einen "Ver­ trauensarzt" anzustellen, der die Frage der Arbeits­ Unfallverletzungen institutionell sicherten: unfähigkeit "besser" als der behandelnde Arzt be­ 1. In Berlin galt die besondere berufsgenossenschaft­ urteilen sollte. Als erste Kasse verwirklichte 1891 liche Fürsorge den minder schweren Unfallverlet­ die Ortskrankenkasse für Leipzig und Umgebung zungen : sofort nach der Krankmeldung wurden diese Anregung durch Anstellung zweier nebenbe­ spezialisierte Vertrauensärzte zu Rate gezogen. schäftigter "Revisionsärzte". Diese dienten aber 1894 wurde deren Tätigkeit durch ein auf die Ini­ nicht nur der überwachung der Kassenärzte und tiative von Max Schlesinger (1840-1907), Geschäfts• Versicherten, sondern auch zur Beratung der Kasse führer der (preußischen) Sektion der Brauerei- und in medizinischen Angelegenheiten. 1892 schufen die Mälzerei-BG, gegründetes Kuratorium für Unfall­ Ortskrankenkassen in Barmen und Remscheid ­ stationen, das selbst 4 Unfallstationen (mit 4 Chirur­ unter dem Einfluß von Friedrich Landmann - eine gen als Chefärzten und je 20-30 Betten) unterhielt, ähnliche Einrichtung, primär zur N achprüfung der koordiniert und unterstützt. Getragen wurde es zu­ Apothekenrechnungen und der Art und Weise der nächst nur von den jeweiligen Sektionen der Braue­ kassenärztlichen Verschreibungen. 1894 stellte die rei- und Mälzerei-BG, der BG der chemischen In­ Ortskrankenkasse Leipzig den ersten hauptberuf­ dustrie' der Norddeutschen Holz-BG sowie der Spe­ lichen Vertrauensarzt an, der die Untersuchungs­ ditions-, Speicherei- und Kellerei-BG. Nach Be­ und Beratungstätigkeit der bisherigen "Revisions­ suchen der Stationen durch TOnio Bödiker und ent­ ärzte" übernahm. Gleichzeitig und in den folgenden sprechenden RVA-Rundschreiben schlossen sich wei­ Jahren wurden dann, teils neben-, teils hauptamt­ tere BG an. Hierdurch (und mittels Telefon!) war lich, Vertrauensärzte bei der Allgemeinen Ortskran­ Tag und Nacht bei Unfällen ärztliche Hilfe gewähr• kenkasse Frankfurt/M. und mehreren Berliner leistet, auf Anforderung eilte je einer der Chirurgen Krankenkassen und danach bei der Mehrzahl der an den Unfallort zu Hilfeleistungen. Die Zusam­ größeren Kassen angestellt. Anders war die Situa­ menarbeit mit den Krankenkassen war gut, sie hat­ tion bei den gewerblichen BG. Hier bestand von ten sogar ein gewisses Belegrecht für die Klinik­ Anfang an nur in verschwindend wenigen Ausnah­ betten. Daraus entwickelte sich später das Durch­ men - und auch hier nur in den leichtesten Fällen - gangsarztverfahren. 430 Florian Tennstedt

2. Im Rheinland und in Westfalen standen schwerere der Verletzte eine Arbeit hätte finden können, die und kompliziertere Unfallverletzungen (offene Kno­ den verbliebenen Fähigkeiten adäquater war als chenbrüche, Sehnenverletzungen, schwere Augenver­ Tütenkleben. Das Bestreben der unternehmerisch ge­ letzungen, infektiöse Vorgänge mit Milzbrandge­ leiteten BG, möglichst günstige Rechnungsabschlüsse fahr) im Vordergrund der berufsgenossenschaft­ zu erzielen, führte nicht nur zu Unfallverhütungs• lichen Praxis. Die jeweiligen Krankenkassen waren vorschriften, sondern auch zu "Rentendrückereien" durch Abkommen verpflichtet, in allen schweren und "Rentenquetschereien"! So wurde ein Zusam­ Verletzungsfällen die Unfallverletzten unmittelbar menhang zwischen Unfallfolgen und Krankheit im nach dem Unfall in die von der BG bestimmten, je­ Falle von Lungenblutungen und sich daran anschlie­ weils spezialisierten Krankenhäuser zu bringen. ßenden Lungenerkrankungen, traumatischen Neuro­ Daraus entwickelte sich später das Verletzungs­ sen, Eingeweidebrüchen usw. häufig bestritten; akute artenverfahren. Dieses System wurde mit Hilfe von und chronische Berufskrankheiten waren überhaupt "Freien Vereinigungen berufsgenossenschaftlicher noch nicht anerkannt. Die Rentenfeststellungen Verwaltungen" auf örtlicher Basis, deren erste 1909 dauerten teilweise länger als in der Invalidenver­ unter der Geschäftsführung von Paul Lohmar (1872 sicherung, nicht zuletzt deshalb, weil sich noch keine bis 1946) im Rheinland auf Anregung von Paul allgemein anerkannten "MdE-Taxen" eingespielt Kaufmann (1856-1945; 1906-1923 Präsident des hatten und die Zuständigkeitsfragen strittig waren, Reichsversicherungsamts) gegründet worden war, jahrelang wurde um kleine Renten prozessiert. Au­ bis 1915 im Rheinland, Westfalen und Norddeutsch­ ßerhalb der von Chirurgen geleiteten Unfallstatio­ land verbreitet. nen und -krankenhäuser unternahmen Vertrauens­ Im übrigen bauten in dieser Zeit einzelne gewerb­ ärzte in "medico-mechanischen Instituten" ebenso liche BG für ihre Unfallverletzten eigene Kranken­ abschreckende wie untaugliche Rehabilitationsver­ häuser - so die Knappschafts-BG in Bochum, Hal­ suche : "Da ist der verschüttete Bergmann, dessen leiS. und Schkeuditz, die Norddeutsche Holz-BG in gequetschtes Rückenmark mit aller Gewalt wieder (Berlin-)Wilhelmshagen - oder beteiligten sich fi­ funktionstüchtig gemacht werden soll; der hochbe­ nanziell am Bau von Krankenhäusern. tagte Arbeitsinvalide, dessen lahme Knochen mit Die Kosten der Heilverfahren pro Kopf der Ver­ Medico-Mechanik - natürlich vergebens - bearbeitet sicherten verzehnfachten sich von 1885-1908, die werden; der Verletzte mit kontraktem Fußgelenk, entsprechenden Gesamtausgaben in diesem Zeitraum der vom Arzt gezwungen wird, auf Leitern zu klet­ betrugen 72,3 Mio. M. tern, bis er hinunterstürzt; die hochgradig nervöse Frau, deren ganzes Leben in solch medico-mecha­ Man muß - nach der Schilderung der positiven nischem ,Heilinstitut' durch gewissenlose Arzte für Grundstrukturen, die sich zunächst bis etwa zum alle Ewigkeit zerrüttet wird usw. In manchen dieser Ersten Weltkrieg nur bei einer Minderzahl der BG ,Heilstätten für Verletzte', in welche der kranke bemerkbar machten und heute vor allem wegen Arbeiter evtl. zwangsweise gebracht wird, hat das ihrer "Fernwirkungen" interessant sind - folgende Unternehmerinteresse die Folterkammern des Mit­ Punkte berechtigter sozialdemokratischer und ge­ telalters wieder erstehen lassen" (J. Zadek). werkschaftlicher Kritik erwähnen: Die einseitige Feststellung der Entschädigung durch die nur von Die weitere Geschichte der Unfallgesetzgebung Unternehmern beschickten BG begegnete dem Miß• im Kaiserreich ist gekennzeichnet durch fast trauen der Arbeiter, einige BG machten dem RVA ständige Erweiterung des in die Unfallversiche­ eine "übertriebene Begünstigung" von Entschädi• gungsansprüchen der Verletzten zum Vorwurf. Auch rung einbezogenen Personenkreises. Vor allem Bismarck fand die Rechtsprechung des RVA zu ar­ zu nennen sind das Bau-Unfallversicherungs­ beiterfreundlich - 7Onio Bödiker wollte in ihr den gesetz (1887), das aus Anlaß des Baues des ,,friderizianischen Gedanken einer von den Fesseln Nord-Ostsee-Kanals die Arbeiter bei gewerbs­ des Formalismus befreiten väterlichen Verwaltung mäßig ausgeführten Tiefbauten versicherte, das des Rechts" zur Geltung bringen -, weshalb er Karl See-Unfallve.rsicherungsgesetz (1887) und das H. von Boetticher sogar einmal fragte, "ob man die ganze Gesellschaft nicht absetzen könne", worauf sog. Gewerbeunfallversicherungsgesetz (1900), dieser ihn über die Unabsetzbarkeit der Mitglieder durch das auch Verbesserungen der Entschädi• des RVA informieren mußte. TOnio Bödiker ge­ gungsleistungen eingeführt wurden und das brauchte für ihn das Bild des seine Kinder fressen­ RVA das Recht erhielt, die BG im Aufsichts­ den Kronos. Die Höhe der Rente im Fall völliger wege zum Erlaß von Unfallverhütungsvor• Erwerbsunfähigkeit war z. T. niedriger als die Ent­ schädigung, die man nach dem Haftpflichtgesetz er­ schriften anzuhalten. langen konnte. Die Teilrenten waren ungenügend, Die Reichsversicherungsordnung (1911) faßte weil noch keine Berufsfürsorge existierte, durch die vor allem die bis dahin selbständigen Unfall- Sozialgeschichte der Sozialversicherung 431 versicherungsgesetze in ihrem Dritten Buch zu­ des Todes und ein ursächlicher Zusammenhang zwi­ sammen und erweiterte wiederum die Versi­ schen beiden Geschehnissen. Im Hinblick auf das cherungspflicht. Eine Mitwirkung der Arbeiter strittigste dieser drei Tatbestandsmerkmale, der Frage des ursächlichen Zusammenhangs, entwickelte bei der berufsgenossenschaftlichen V,erwaltung das Reichsversicherungsamt folgenden Grundsatz: bzw. der Durchführung der Unfallverhütung Ein Ereignis, das zusammen mit anderen mitwir­ konnten der"Verband der Deutschen Berufs­ kenden Umständen schließlich zu einer Gesundheits­ genossenschaften" und die Großindustrie er­ schädigung geführt hat, kann nur dann als Ursache folgreich verhindern. Von den materiell-r'echt­ im Sinne des Gesetzes angesehen werden, wenn es zum Eintritt der Schädigung wesentlich beigetragen lichen Anderungen war bedeutsam, daß die hat und bei regelmäßigem Lauf der Dinge die Schä• Krankenkassen zum Kostenersatz an die BG digung nicht außer Verhältnis zu dem Ergebnis für das von diesen während der Wartezeit den steht. Diese Fragen der "wesentlich mitwirkenden Versicherten gewährte H'eilverfahren verpflich­ Bedingung" wurden zunächst vor allem auf dem tet waren. Unterblieben war aber ein gesetz­ Gebiet der Leistenbruchschäden (AN 1912, 930) und der Herzerkrankungen relevant. Das Reichs­ licher Zwang gegenüber den BG zur Durch­ versicherungsamt erkannte nun bald, daß die mit führung der Heilverfahren von Anfang an. den drei Tatbestandsmerkmalen zusammenhängen• Durch die Gesetzesänderungen wurde jedoch den Fragen nicht allein nach juristischen Konstruk­ den mehrheitlich noch zögernden BG die Be­ tionen zu entscheiden waren - obwohl rein recht­ lich die Entscheidung darüber bei der Berufsgenos­ teiligung am Frühheilverfahren erleichtert. In­ senschaft oder den rechtsprechenden Versicherungs­ soweit hatte der Gesetzgeber die Anr'egungen behörden lag -, sondern vielfach die medizinische aus der Selbstverwaltungspraxis aufgegriffen Kompetenz gefordert war. Dadurch ergab sich im und anerkannt. Diese Tendenz wurde dadurch Laufe der Jahre für die Ärzte auf dem Gebiet der verstärkt, daß Ende 1911 das RVA "Leit­ Unfallversicherung ein besonders weites Tätigkeits• feid (auf gutachterlichem Gebiet, das bisher fast sätze für das Heilverfahren während der ausschließlich das Strafverfahren bestimmte!), wo­ Wart'ezeit" exließ, die auf den beschriebenen durch auch die Entwicklung der Unfallmedizin ge­ Modellen und dreijährigen wiederholten, ein­ fördert wurde. Das RVA hatte aber - im Gegen­ gehenden Verhandlungen mit Vertretern der satz zu den BG und den ihm unterstehenden Ver­ BG, der Versicherten und der Arzte, auch der sicherungsämtern (auf Landesebene) keine eigenen "Vertrauensärzte", sondern vergab Aufträge für Kassenärzte, beruhten. In diesen wurde u. a. Obergutachten von Fall zu Fall. Die Aufträge rich­ festgestellt: "Ambulante Behandlung ist zu­ teten sich vor allem an "ärztliche Autoritäten" an lässig, wenn Dauer und Ergebnis des Heil­ Universitäten und großen Kliniken. Die Obergut­ verfahrens durch eine solche Behandlung nicht achten wurden in den amtlichen Nachrichten ver­ nachteilig beeinflußt werden", und im Vor­ öffentlicht und so freier wissenschaftlicher Kritik ausgesetzt. wort hattePaul Kaufmann ausgeführt: "Rasche Hilfe ist förderlicher als langes Besinnen. Nicht Über die Entwicklung der gewerblichen und Geldunterstützung der durch Unfall Verletz­ landwirtschaftlichen Unfallversicherung im ten ist die höchste Aufgabe der Berufsgenos­ Kaiserreich unterrichten die Tabellen 3 und 4 senschaften. Diese sollen vielmehr den Verletz­ (s. S. 432). ten die verlorene Leistungsfähigkeit und da­ Die Statistiken der Unfallversicherung sind - wie mit die Arbeitsfreudigkeit möglichst bald und alle Statistiken der Sozialversicherungsträger - vor­ möglichst vollkommen zurückgeben." sichtig zu interpretieren. Sie beruhen auf den Rech­ Gleiche Bedeutung wie die Aufsichtstätigkeit nungsabschlüssen der BG, ihre sozialmedizinische Aussagekraft ist beschränkt. Da der Kreis der ver­ des RVA erlangte die in den Jahren vor 1914 sicherten Betriebe und Personen verschieden weit von diesem ex ovo entwickelte Rechtsprechung gezogen war, kann man nicht auf die tatsächlich be­ zur Unfallversicherung, nicht zuletzt für die stehenden Betriebe und vorhandenen Arbeiter Unfallmedizin. schließen. Da einzelne Arbeiter mehrere versicherte Tätigkeiten ausübten und daher bei mehreren BG Für die Leistungen der Unfallversicherung entwik­ versichert waren, ist die Summe der Versicherten kelte es drei besondere Tatbestandsmerkmale: Be­ keine echte Kopfzahl (deshalb wurde später die triebsunfall, Eintritt einer Körperverletzung bzw. statistische Kunstfigur "Vollarbeiter" eingeführt). 01>- Tabelle 3 Hauptdaten der gewerblichen Unfallversicherung 1886-1913 <..J N

1886 1890 1900 1910 1913 'Tj ....0' Zahl der gewerblichen Berufsgenossenschaften 62 64 65 66 68 ;:;' l:l Zahl der Betriebe (in Tsd.) 269,1 390,6 478,7 725,1 828,3 >-l <> Zahl der Versicherten (in Tsd.) 3473,4 4926,6 6928,8 9381,8 10630,4 l:l ~ angezeigte Betriebsunfälle (in Tsd). 92,3 149,1 310,1 484,0 581,2 <> p.., angezeigte Betriebsunfälle/1000 Versicherte 26,91 30,28 44,76 51,60 54,67 ... erstmals entschädigte Betriebsunfälle 9723 26403 51697 69311 74978 davon tödliche Betriebsunfälle 2422 3597 5108 5292 6573 Ausgaben: Unfallverhütung (in Tsd. M) 69,9 341,5 1 186,8 2002,5 2422,6 Ausgaben: Entschädigungen (in Tsd. M) 1 711,6 16330,3 58587,1 115175,9 125551,3

Tabelle 4 Hauptdaten der landwirtschaftlichen Unfallversicherung 1886-1913

1888 1890 1900 1910 1913

Zahl der landw. Berufsgenossenschaften 42 48 48 48 49 Zahl der Betriebe (in Tsd.) 3046,0 4843,6 4711,0 5434,1 5485,8 Zahl der Versicherten (in Tsd.) 5576,7 8088,6 11189,0 17179,1 17403,0 angezeigte Betriebsunfälle (in Tsd). 5,1 32,1 106,9 131,6 139,4 angezeigte Betriebsunfällell000 Versicherte 1,28 3,98 9,56 7,66 8,02 erstmals entschädigte Betriebsunfälle 808 12573 50311 56525 58251 davon tödliche Betriebsunfälle 354 1877 2662 2788 2872 Ausgaben: Unfallverhütung (in Tsd. M) 0,1 3,8 100,0 203,8 237,9 Ausgaben: Entschädigungen (in Tsd. M) 42,8 1 878,4 19492,2 32815,4 33467,8

Quelle: Amtliche Nachrichten des RVA 1887-1915, Berlin 1887ff. Sozialgeschichte der Sozialversicherung 433

Sie haben also nur bedingten Vergleichswert mit an­ als "graue Eminenz" fungierte der westfäli• deren, nach anderen Grundsätzen durchgeführten sche Landesrat Hermann Stahl (1875-1969). Untersuchungen. Insgesamt kann man aber doch Diesem Beispiel eines hauptamtlichen Syndikus feststellen, daß die Zahl der angezeigten Betriebs­ unfälle "pro Versicherter" im beschriebenen Zeit­ folgte der "Verband der deutschen Berufsge­ raum zugenommen hat. Demgegenüber stieg die nossenschaften", der seit 1910 unter dem Vor­ Zahl der (schweren) entschädigten Unfälle "pro sitz von Friedrich Albert Spiecker (1854-1936), Versicherter "nur um knapp ein Drittel, die Anzahl Vorsitzender der BG für Feinmechanik und der tödlichen Unfälle sank sogar. Als Gründe für Elektrotechnik, stand, als Gustav Roewer die steigende Gesamtzahl der Unfälle wurden in der zeitgenössischen Literatur genannt: "der Auf­ (1876-1934) angestellt wurde. Diese partielle schwung von Industrie und Gewerbe, der damit in Abkehr von de.r rein ehrenamtlichen V·erbands­ Zusammenhang stehende gesteigerte Betrieb, die organisation stärkte diese und half, die Schwie­ Vermehrung der Großbetriebe und die Akkordar­ rigkeiten der Nachkriegs- und Inflationszeit beit; der Mangel an geschulten Arbeitern (der Ar­ besser zu überwinden. beiterwechsel), die zunehmende Zahl fremder Ar­ beiter und die mangelnde Kenntnis zweckentspre­ Vor allem aber wurden Frühheilverfahren und chender Schutzmaßnahmen, Frauenarbeit; die im­ Unfallve.rhütung ausgebaut sowie die Grund­ mer größer werdende Maschinengeschwindigkeit; lagen für Berufsfürsorge geschaffen. das unzulängliche Interesse der Arbeiter für die Un­ Die Rva hatte für alle diese Aufgaben bes­ fallverhütung; die verschärfte Kontrolle und die Erweiterung des Begriffes ,Betriebsunfall' durch die sere Möglichkeiten geschaffen als sie zuvor be­ Arbeiter und die Rechtsprechung des Reichsver­ standen hatten. Der sich dadurch abzeichnende sicherungsamtes" (A. BenderJ. Interessant ist, daß Ausbau des besonderen Frühheilverfahrens die meisten Unfälle bei "traditionellen" Gewerben hatte schon 1913 die organisierte Arzteschaft eintraten, nämlich: Fuhrwerk, Müllerei, Spedition, auf den Plan gerufen. Durch die Frühheilver• Speicherei, Kellerei, Knappschaft, Steinbruch, Tief­ bau und Schiffahrt. Insgesamt gesehen dürften für fahren wurden in1mer mehr Unfallverletzte die steigende Unfallquote primär sozioökonomische den Allgemeinmedizinern entzogen, und des­ Faktoren (Arbeitsorganisation und -intensität) ver­ halb wurden auf dem Elberfelder Arztetag antwortlich sein, weniger die "rein" technische Ent­ "unerhörte Bestrebungen aufgedeckt", eine wicklung, etwa steigender Maschineneinsatz (der ganze Anzahl von BG standen "demnach split­ Eisen"verbrauch" pro Kopf stieg von 47,2 kg im Jahre 1886 auf 129,2 im Jahre 1913), wie sich an­ ternackt, ohne Feigenblatt vor den Augen der hand weiterer, hier nicht aufgeführter "Rechnungs­ Arztewelt und der Offentlichkeit"; sie hatten ergebnisse" der BG feststellen läßt. Die "Abnahme" "sich imm,er stärker in ein auf die weitere der schweren Verletzungen und Todesfälle dürfte Dauer schlechterdings unerträgliches Verhalten auf den gestiegenen Unfallschutz (inkl. Erste Hilfe) den Arzten gegenüber hineingelebt". Sie hatten und auf die verbesserte ärztliche Unfallversorgung im Rahmen der Frühheilverfahren zurückzuführen das "Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und sein. Patient" gefährdet, und darüber hinaus fraß damit "ein Schädling am Hause des Reiches, der dieses stolze Gebäude in gefahrvoller 2.2 Die gesetzliche Unfallversicherung in der Stunde dem Zusammenbruch preisgeben kann: Weimarer Republik (1919-1932) wenn die deutschen Arzte so aus aller leben­ In der Weimarer Republik setzte zunächst eiLe digen Heiltätigkeit herausgedrängt werden, Stärkung der Verbandsorganisation ein. 1919 daß sie eines bösen Tages auf dem Schlacht­ wurde der "Reichsverband der deutschen land­ felde versagen müssen". "Demokratisierung wirtschaftlichen Berufsgenossenschaften" ge­ ringsum, Abg,raben der Grundlagen des freien gründet, Vorsitzender wurde Theodor Schroe­ Berufes" - damit war für den Hartmann­ der (1860-1951), der auch Vorsitzender des bund "die schwerste Gefahr im Verzuge" (AM ebenfalls von ihm 1919 gegründeten "Reichs­ 1913, 586). Fast sah es aus, als würden sich verbandes der deutschen Landesversicherungs­ die Auseinandersetzungen von den Kranken­ anstalten" war, 1921 wurde als Geschäftsfüh• kassen auf die BG verlagern. Dieses wurde je­ rer Hermann Schrader (1885-1968) angestellt, doch durch den Ersten Weltkrieg und daran

28 Sozialmedizin, Bd. III 434 Florian Tennstedt

anschließende V'erhandlungen mit den Arzte­ land mit einem N'etz großer Unfallkranken­ funktionären abgewendet, 1921 kam es zum häuser überzogen und die I(rankenbeförderung Abschluß eines "Reichsärzteabkommens". Vor ausgebaut wurde. Statt dessen wurde in dem diesem Hintergrund entfaltete sich die Wirk­ Abkommen vereinbart, nicht mehr als 20-30 samkeit von Paul Lohmar (1872-1946), 1899 v. H. aller Unfallverletzten in eigene, berufs­ bis 1945 Geschäftsführer der rheinischen Sek­ genossenschaftlich-fachärztliche Behandlung zu tion der Steinbruch-BG. Seiner Initiative sind nehmen. Für schwere Unfallverletzungen wur­ die maßgeblichen Fortschritte des Heilverfah­ den rd. 1100 Krankenhäuser zugelassen, die rens der BG in der Weimarer Republik zu ver­ mit berufsgenossenschaftlicher Hilfe ausgebaut danken: wurden. Von den besonderen Heilverfahr'en 1. Entwicklung und Klarlegung der rechtlichen und wurden drei Typen festgelegt. verwaltungsmäßigen Grundlagen des Heilverfah­ 1. Für schwere Unfälle war das Verletzungsarten­ rens und der sie maßgeblich beeinflussenden unfall­ verfahren vorgesehen: mehrere, entsprechend denl medizinischen Gesichtspunkte, rheinischen Vorbild von 1909 örtlich zusammenge­ 2. den bisher nur wenig, dazu unterschiedlich an­ schlossene BG mußten einheitlich bestimmte Ver­ gewendeten allgemeinen Heilverfahrensmaßnah• letzungsarten als solche bezeichnen, die stets berufs­ men - Verletzungsartenverfahren, Durchgangsarzt­ genossenschaftlicher Krankenbehandlung durch be­ verfahren sowie dem Augen- und Ohrenarztverfah­ stimmte Arzte und/oder bestimmte Heilverfahren ren - wurde in einheitlicher und vertiefter Durch­ bedurften. Dann waren Krankenkasse, Betrieb so­ bildung ein breiter Gebrauch verschafft, wie der zunächst in Anspruch genommene Arzt ver­ pflichtet, dafür zu sorgen, daß die Unfallverletzten 3. Sonderstationen zur Heil- und Berufsfürsorge für unverzüglich den vorgeschriebenen Behandlungs­ Schwerunfallverletzte wurden eingeführt. stellen überwiesen wurden. Dieses Verfahren war am verbreitetsten. 4. Für die beiden Reichsverbände der BG wurde eine ärztliche Beratung in der Person erstrangiger, 2. Im Durchgangsarztverfahren hielt die Kranken­ unfallmedizinisch erfahrener Arzte geschaffen. kasse auf Verlangen einer oder mehrerer BG die Unfallverletzten an, sofort nach der Krankmeldung 1925 konnten die gewerblichen und landwirt­ einen bestimmten Facharzt (D-Arzt) zu Rate zu schaftlichen BG gemeinsam "Richtlinien für die ziehen, der durch die BG bestimmt war. Dieser berufsgenossenschaftliche HeilfÜIsorge" erlas­ hatte dann die Kompetenz für die erforderlichen Maßnahmen. Gemäß dem Abkommen durfte der sen. Der Gesetzgeber begünstigte die Entwick­ D-Arzt nur etwa jeden 4. Unfallverletzten in be­ lung wieder dadurch, daß er 1925 die \Varte­ rufsgenossenschaftliche Heilbehandlung überweisen. zeit bei Krankenbehandlung grundsätzlich be­ Da es schwierig war, entsprechend qualifizierte und seitigte (unabhängig von der Frage der Ersatz­ (von kollegialen oder eigenen) materiellen Interes­ ansprüche): vom Augenblick des Unfalls an sen unbeeinflußbare sowie jederzeit erreichbare D­ Arzte zu finden, kam das D-Arzt-Verfahren zu­ trug die BG die volle und alleinige Verantwor­ nächst nur für dicht besiedelte Regionen in Betracht. tung für das Heilverfahren, Ausnahmen be­ 1927 hatte es seine Schwerpunkte in Berlin, Bremen standen praktisch nur in leichteren Fällen. Die und in der Provinz Brandenburg. seit 1913 mit den Krankenkassen bestehenden 3. Am beliebtesten bei Allgemeinärzten und orga­ Schwierigkeiten wurden durch ein Ende 1926 nisierter Ärzteschaft war das Beratungsarztverfah­ abgeschlossenes Abkomm'en ebenso beseitigt wie ren. Hier lag es in der Initiative des praktischen durch die "Bestimmungen des RVA über die Arztes, die Unfallverletzten, bei denen sie zu irgendeiner Zeit die Einholung fachärztlichen Rats Unterstützungspflicht der Krankenkassen und für richtig hielten, dem D-Arzt zur Untersuchung Unternehmer gegenüber den Trägern der Un­ vorzustellen. Dieses Verfahren war für größere, fallversicherung". Materiell fast wichtiger war landwirtschaftliche oder kleingewerbliche Bezirke das im gleichen Jahr neu geschlossene Abkom­ vorgesehen, langfristig hatte es vor allem in West­ men mit der organisierten Arzteschaft. Um falen-Lippe Bestand. Konflikte mit dies,er zu vermeiden, wurde der Damit die Unfallheilverfahren einheitlich und Plan aufgegeben, die hochwertige Unfallfür• lückenlos durchgeführt werden konnten, bilde­ sorge dadurch sicherzustellen, daß ganz Deutsch- ten sich rasch örtliche Vereinigungen der BG, Sozialgeschichte der Sozialversicherung 435 die sich bald über ganz Deutschland ausge­ gehende Erhaltung der Arbeitsfähigkeit im breitet hatten. Dabei fand eine enge Koopera­ alten Beruf und auf eine beschleunigte Zurück• tion zwischen gewerblichen und landwirt­ führung zur Arbeit nach abgeschlossenem Heil­ schaftlichen BG statt. verfahren oder wo angängig, im Rahmen ar­ In gleicher Weise wurde die Unfallverhütung beitstherapeutischer Heilbehandlung zu ach­ ausgebaut. 1920 gründeten die gewerblichen ten ... Die Wiederaufnahme bei dem früheren BG eine Zentralstelle für Unfallverhütung, die Arbeitgeber empfiehlt sich an erster Stelle. Man in den folgenden Jahrzehnten durch Wilhelm soll daher sofort, nachdem sich die verbliebene Michels (1877-1956) geprägt wurde; ihnen Arbeitsfähigkeit überblicken läßt, mit diesem schlossen sich 1925 die landwirtschaftlichen BG in Verbindung treten. Der Schwerunfallver­ mit einer Hauptstelle für landwirtschaftliche letzte soll nur in Ausnahmefällen einem ande­ Unfallverhütung an. 1921 wurde eine "Ar­ ren Beruf zugeführt werden." Dank der fach­ beitsgemeinschaft für Unfallverhütung" ge­ lichen Gliederung der BG war die Durchfüh• gründet, die der Ausgestaltung des Maschinen­ rung dieser Richtlinien so gut möglich, daß schutzes diente. Eine 1924 gegründete Unfall­ 1925 dem UnfaHverletzten ein gesetzlicher An­ verhütungs-GmbH betrieb mittels Preisaus­ spruch auf Berufsfürsorge zugebilligt wurde. schreiben und Ausstellungen Offentlichkeits­ 1928 wurden die BG durch eine Durchfüh• arbeit. Auf Anregung des RVA wurden Un­ rungsverordnung des Reichsarbeitsministeriums fallvertrauensmänner in den Betrieben bestellt, zu Berufsberatung, Berufsausbildung und Ar­ außerdem stellten die BG zur überwachung beitsvermittlung verpflichtet. Waren für die der Unfallverhütungsvorschriften verstärkt Ar­ bisherige fortschrittliche Entwicklung der Un­ beite.rkontrolleure an. fallversicherung die Selbstverwaltung und das Fast im Gegensatz zu diesen Unfallverhütungs• Reichsversiche.rungsamt initiativ tätig gewesen, bemühungen, die aus der Selbstverwaltung re­ so wurde es 1925 das Reichsarbeitsministerium sultierten, stand die ablehnende Haltung der unter dem Referenten ]ohannes Krohn, das Verbände der BG zu vom Reichsarbeitsministe­ 1925 gegen den Widerstand der Verbände ­ rium 1922 und 1926 vorgelegten Gesetzesent­ mit Ausnahme der BG der chemischen Indu­ würfen zum Maschinen- bzw. Arbeitsschutz. strie, denn die ökonomische Prosperität der bei Offiziell wurde dagegen eingewandt, daß da­ ihr versicherten Unternehmen stand im Gegen­ durch die Unfallverhütung übermäßig büro• satz zu den besonders schweren "schleichenden kratisiert und unflexibel werde und die BG Gefahren", denen die in ihnen tätigen "Gift­ zurückgedrängt würden. arbeiter" ausgesetzt waren - die Unfallver­ Fast neu entwickelt wurde in der Weimarer sicherung auf zunächst 11 Berufskrankheiten Republik die Berufsfürsorge. Die RVO hatte ausdehnt'e. Dieses war schon bei Erlaß der die BG befugt, zur Beschaffung von Arbeits­ Rva von den Gewerkschaften gefordert wor­ gelegenheit für Unfallverletzte und zur Schaf­ den, es wurde aber wegen der damit verbun­ fung von Einrichtungen für BerufsfürsorgeMit­ denen Abgrenzungsschwierigkeiten nur eine tel der BG zu verwenden. 1920 erhielten die Befugnis für den Bundesrat zu einein entspre­ BG Sitz und Stimme im Beirat der 1919 ge­ chenden Beschluß aufgenommen. Während des gründeten HauptfürsorgesteIlen der Kriegsbe­ Krieges ergingen zwei Berufskrankheitsverord­ schädigten- und -hinterbliebenenfürsorge, so­ nungen, die aber nicht auf der Rva beruhten. fern sie am "Gesetz über die Beschäftigung 1919 ging die Befugnis auf die Reichsregierung Schwerbeschädigter" durchführungsgemäß be­ über. Seit 1924, nach Beendigung des Wäh• teiligt waren. 1922 erließ der "Verband der rungsverfalls, wurde - unter Berücksichtigung deutschen Berufsgenossenschaften" Richtlinien der berufsmedizinischen Forschungen - eine berufsgenossenschaftlicher Fürsorge für Schwer­ Berufskrankheitenverordnung ausgearbeitet. unfaHverletzt'e. Hierzu hieß es u. a.: "Schon Von seiten der BG wirkte im wesentlichen bei Beginn des Heilverfahrens ist auf eine weit- nur der Mediziner Fritz Curschmann (1876 bis 436 Florian Tennstedt

1961) mit, Vorstandsmitglied der sächsischen Beseitigung der sog. kleinen Renten (Minde­ Sektion der BG der chen1ischen Industrie. In rung der - abstrakt festgesetzten - Erwerbs­ Verhandlungen mit dem Vorläufigen Reichs­ minderung um unter 20 v. H.), da deren hohe wirtschaftsrat (1920-1933) und dem Reichsrat Verwaltungskosten in keinem Verhältnis zum erfuhr der Entwurf gewisse Modifikationen. Nutz'en stehen sollten. Das geschah durch eine Danach waren u. a. als gewerbliche Berufs­ Notverordnung 1932: 132000 Verletztenren­ krankheiten anerkannt: Erkrankungen, die ten und 13 000 Kinderzulagen fielen weg, 12 durch Blei, Phosphor, Quecksilber, Arsen oder v. H. der Entschädigungen bzw. 10 v. H. der ihre Verbindungen, Benzol oder seiner I-Iomo­ Gesamtausgaben konnten eingespart werden. logen sowie durch Nitro- und Amidoverbin­ Außerdem wurde durch Rentensenkungen um dungen der aromatischen Reihe und Schwefel­ 7,5-15 v. H. die allgemeine Lohnminderung kohlenstoff hervorgerufen waren, sofern Ver­ berücksichtigt. Dadurch war es u. a. möglich, sicherte aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit daß die BG die Krise besser überstanden als regelmäßig'er Einwirkung dieser Stoffe unter­ die anderen Versicherungsträger. lagen. Hinzu kamen u. a. Grauer Star bei über die Entwicklung der gewerblichen und Glasmachern, Erkrankungen durch strahlende landwirtschaftlichen Unfallversicherung in der Energie und Schneeberger Lungenkrankheit Weimarer Republik unterrichten die Tabellen (vgl. die Übersicht im Anhang zu 2.4). 5 und 6 (s. S. 437). Schließlich wurden 1925 durch das Gesetz, das Im Hinblick auf die quantitativen Angaben auch die Heilfürsorge und andere L'eistungen ist zu bemerken, daß für das Jahr 1920 die erweiterte sowie die Berufsfürsorge einführte, Inflationsentwicklung berücksichtigt werden sog. Wegeunfälle (Unfälle auf dem direkten muß. Der Gesamtrückgang der Unfälle im Weg von und zur Arbeitsstätte) in die Unfall­ Jahre 1932 ist auf Minderbeschäftigung in den versicherung einbezogen, wieder gegen den Wi­ versicherten Betrieben zurückzuführen (Welt­ derstand der Industrie und der Verbände der wirtschaftskrise!). Der deutlichste Indikator BG. Gefürchtet war die dadurch entstehende dafür sind die angezeigten Betriebsunfälle, finanzielle Belastung: 1926 betrug sie 80 000 während die Entschädigungsfälle auch durch RM, 1930 687000 RM, der Anteil an den Ge­ Gesetzesveränderungen beeinflußt wurden. Die samtentschädigungen stieg von 1,19 v. H. auf gewerblichen Unfallanzeigen auf 1000 Versi­ 6,63 v. H., 8 v. H. der lentschädigten Unfälle cherte betrugen: 1928: 87,94, 1929: 85,05, waren tödliche Unfälle. 1930: 71,62,193159,98,1932: 55,76,1933: 1928 wurde unte.r bestimmten Voraussetzun­ 58,78,1934: 67,73,1935: 74,68. gen der Unfallrisikoschutz auch auf den kauf­ In den Ausgaben für Entschädigungen und Un­ männischen und verwaltenden Teil des Unter­ fallverhütung sind ab 1926 die Gesamtleistun­ nehmens ausgedehnt und aufgrund der Bera- gen berücksichtigt, während die anderen Sta­ tungsergebnisse im Vorläufigen Reichswirt­ tistiken sich nur auf Betriebsunfälle i. e. S. be­ schaftsrat wurden weitere 11 Berufskrankhei­ ziehen. 1926 wurden 3845 Berufskrankheits­ ten neu der Unfallversicherung unterstellt (In­ fälle angezeigt, 1929: 21499 und 1932: 5892. krafttreten: 1929). Die Kosten für Berufskrankheitenverhütung Mit dem Einbruch der Wirtschaftskrise wurde stiegen von 11117 RM 1926 auf 14680 RM der Ausbau der Unfallversicherung beendet: 1932, die für entsprechende Entschädigungen die Lohnsummen gingen zurück, die Leistungs­ im gleichen Zeitraum von 200706 RM auf verpflichtungen blieben bestehen. Der "Ver­ 9370872 RM. 1926 wurden 3845 Wegeunfälle band der deutschen Berufsgenossenschaften" gemeldet, 1929 21499, 1932 5892 (alle An­ und die Arbeitgeber, die sich schon in der Ver­ gaben beziehen sich auf die gewerblichen BG). gangenheit "aus sozialer Erkenntnis heraus Im Hinblick auf die allgemeine Unfallentwick­ mancher überspannung der Sozialpolitik" (F. lung wurden in etwa die in der Statistik 1886 Tänzler) widersetzt hatten, forderten nun die bis 1913 ablesbaren Tendenzen fortgesetzt. 'Tabelle 5 Hauptdaten der gewerblichen Unfallversicherung 1920-1932

1920 1924 1925 1926 1929 1932

Zahl der gewerblichen Berufsgenossenschaften 68 68 68 68 69 69 Zahl der Betriebe (in Tsd.) 804,7 794,9 837,6 875,8 1 077,1 1124,6 Zahl der Versicherten (in Tsd.) 9537,3 9969,7 10854,0 9918,2 12159,9 8280,0 angezeigte Betriebsunfälle (in Tsd.) 433,0 495,0 652,8 753,6 1034,2 461,6 angezeigte Betriebsunfälle/l000 Versicherte 45,41 49,65 60,15 75,98 85,05 55,76 erstmals entschädigte Betriebsunfälle 53476 77 654 56054 59904 66494 24070 davon tödliche Betriebsunfälle 5961 4519 5285 4873 4913 2311 Ausgaben: Unfallverhütung (Mio. M/RM) 10,10 2,61 3,88 4,45 7,61 6,23 Ausgaben: Entschädigungen (Mio. M/RM) 203,07 73,65 119,46 188,98 243,25 194,22

'Tabelle 6 Hauptdaten der landwirtschaftlichen Unfallversicherung 1920-1932 Vl 0 .,1:! • ~ 1920 1924 1925 1926 1929 1932 g.ro g: Zahl der landw. Berufsgenossenschaften 49 50 50 54 54 54 ...ro P- Zahl der Betriebe (in Tsd.) 5079,7 4614,2 4601,9 4605,2 4605,3 4605,3 ro.. Vl Zahl der Versicherten (in Tsd.) 16015,0 14232,4 14246,7 14053,9 14054,0 14054,0 0 N angezeigte Betriebsunfälle (in Tsd.) 95,2 92,8 122,4 214,1 263,7 248,7 Oi' 5,95 6,52 8,60 15,24 18,77 17,70 <'ro angezeigte Betriebsunfälle/l000 Versicherte ;;l erstmals entschädigte Betriebsunfälle 40,3 36,6 46,0 67,8 84,4 49,4 g: ro davon tödliche Betriebsunfälle 2219 2198 2238 2620 3033 2647 s::.. Ausgaben: Unfallverhütung (Mio. M/RM) 0,72 0,38 0,59 0,72 1,04 0,83 crq=' Ausgaben: Entschädigungen (Mio. M/RM) 45,36 25,14 37,05 56,63 67,12 52,99 .....~ Quelle: Amtliche Nachrichten des Reichsversicherungsamtes 1922-1933, Berlin 1922ff. 'J 438 Florian Tennstedt

2.3 Die gesetzliche Unfallversicherung in der bewährte Organisation zerschlagen wurde" Zeit des nationalsozialistischen Staates (BG 1966, 328). Die "Freien Vereinigungen", (1933-1945) die das Heilverfahren trugen, wandelte er in Landesverbände des "Hauptverbandes" um. Die Geschichte der Unfallversicherung in der Die gute Zusammenarbeit mit dem Reichsar­ Zeit des nationalsozialistischen Staates ist zu­ beitsministerium war selbstverständlich. über• nächst dadurch gekennzeichnet, daß die Selbst­ griffe der DAF-Reformer wurden durch BG­ verwaltung durch das Führerprinzip ("Leiter") Leiter "abgewehrt", die zur NS-Parteipromi­ abgelöst wurde. Dadurch ergab sich aber kein nenz gehörten. grundsätzlicher Strukturwandel, die personel­ 1939 wurde dem Y,erletzten auch ein Anspruch len Konsequenzen waren - im Vergleich zu an­ auf Wiederherstellung oder Erneuerung be­ deren Versicherungszweigen - nicht erheblich. schädigter Körperstücke gegeben, während bis Bei den gewerblichen Berufsgenossenschaften dahin die Unfallversicherung nur einen Scha­ wurden mindestens 20 Angestellte und 12 Arzte densersatz für Körperverletzung und Tod entlassen, etwa 100 Inhaber von Ehrenämtern kannte. N'eben weiteren Verbesserungen wurde der Selbstverwaltung mußten diese niederlegen. vor allem in der landwirtschaftlichen Unfall­ In beiden Fällen geschah das fast ausschließlich versicherung die Pflichtversicherung der Unter­ deshalb, weil sie "Nichtarier" waren. Die pri­ nehmer und der mit ihnen in häuslicher Ge­ vatrechtliche Struktur der beiden Spitzenver­ meinschaft lebenden Ehegatten, die bisher nur bände blieb erhalten. durch Satzung vorgesehen werden konnte, ge­ 1936 wurden die in der Selbstverwaltung der setzlich vorgeschrieben. Außerdem wurde sie auf BG entwickelten Heilverfahren durch Bestim­ die den landwirtschaftlichen Betrieben wesent­ mungen des RVA - sie betrafen Durchgangs­ lich dienenden Haushaltungen sowie auf vor­ arzt-, Verletzungsarten-, Beratungsfacharzt-, übergehende Tätigkeiten, die zur Sicherung, Augenarzt- sowie Hals-, Nasen- und Ohren­ überwachung, Förderung oder Erhaltungland­ a.rzt-V'erfahren - quasi staatlich abgesichert. und forstwirtschaftlicher Erzeugnisse und Be­ Im gleichen Jahr wurde die Unfallversicherung triebseinrichtungen ausgeübt wurden, ausge­ auf weitere Berufskrankheiten (Hauterkran­ dehnt. kungen, Staublungenerkrankungen in allen Be­ trieben u. a.) ausgedehnt und die Beziehungen "Die im Laufe der Entwicklung eingetretene Aus­ zwischen den Krankenkassen und den BG neu dehnung der Unfallversicherung auf immer weitere Betriebe, Tätigkeiten und Einrichtungen führte geregelt (Krankenkassen trugen die Kosten der schließlich dazu, daß der Kreis der nicht von der Heilverfahren für die ersten 45 Tage). Unfallversicherung erfaßten Unternehmensarten 1937 wurden die Besucher von "Lehrwerkstät• immer kleiner wurde und man nicht mehr sagen ten, Fachschulen, Schulungskursen u. ä. beruf­ konnte, die Auswahl der versicherten Betriebe hänge von der Höhe der Unfallgefahr ab. Die Erkenntnis, lichen Ausbildungen dienenden Einrichtungen" daß die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Fol­ in den Versicherungsschutz einbezogen. 1938 gen eines Unfalls für den Betroffenen die gleichen wurde Herbert Lauterbach (geb. 1901, 1934 bis sind, mag sich der Unfall in einem gefährlichen oder 1938 Referent im Reichsarbeitsministerium) weniger gefährlichen Betrieb ereignet haben, setzte aufgrund des Drängens von Johannes Krohn sich immer mehr durch. Insbesondere schien es nicht mehr vertretbar, die rein büromäßig betriebenen Hauptgeschäftsführer des Hauptverbandes der Unternehmen ohne den Schutz der Unfallversiche­ gew'erblichen BG. Ihm gelang es, "das seit dem rung zu lassen, nachdem bereits im Jahre 1928 das Tode Gustav Roewers gelockerte innere Gefüge 3. Anderungsgesetz den kaufmännischen und ver­ des Yerbandes neu zu ordnen, ihn wieder zum waltenden Teil innerhalb der versicherten Betriebe Mittelpunkt und zum wirklichen Instrument weitgehend in die Unfallversicherung einbezogen hatte. Hinzu kam, daß auf dem Wege nach und von der gewerblichen BG zu machen, ihn insbe­ der Arbeitsstätte alle Arbeitnehmer unabhängig von sondere gegen Übergriffe des damaligen Regi­ der Art ihrer betrieblichen Tätigkeit den Verkehrs­ mes abzuschirmen und zu verhindern, daß die gefahren in gleicher Weise ausgesetzt waren. Mit Sozialgeschichte der Sozialversicherung 439

der Ausdehnung der Unfallversicherung auf Lebens­ fahrtspflege, Theater, Laboratorien, Feuerwehren, retter, Hilfeleistung bei Unglücksfällen, Tätigkeiten Hilfeleistungsbetriebe usw.). 1942 wurde dann auch im Gesundheitsdienst, in der Wohlfahrtspflege usw. bei den Gemeinden "der rechtspolitische Grundsatz waren außerdem seit dem Jahre 1928 in zunehmen­ verwirklicht, daß öffentliche Verwaltungen bei der dem Maße Tätigkeiten und Einrichtungen dem sozialen Betreuung ihrer Gefolgschaftsmitglieder Schutze der Unfallversicherung unterstellt worden, eine von den Privatunternehmern verschiedene Stel­ auf die der Gedanke der Betriebsgebundenheit nicht lung einnehmen und diese Aufgabe im Rahmen mehr paßte. ihrer gesamten übrigen Verwaltung erfüllen kön• Aus der Erkenntnis, daß es bei dieser Rechtslage nen, ohne Mitglieder (,Berufsgenossen') von Ver­ nicht mehr gerechtfertigt sei, zwischen versicherten bänden (Berufsgenossenschaften) zu werden, die und unversicherten Beschäftigungsverhältnissen zu fast ausschließlich private Betriebe umfassen" unterscheiden, wandelte das 6. Gesetz über Ande­ (Knarr). rungen in der Unfallversicherung vom 9.3.1942 das bisherige System der Betriebsunfallversicherung Die Unfallversicherung der staatlichen und in eine Versicherung gegen Arbeitsunfälle um. An die Stelle des bisherigen Katalogs der versicherten kommunalen Körperschaft'en unterschied sich Betriebe, Tätigkeiten und Einrichtungen traten ver­ von Anfang an von der gewerblichen und sicherte Personengruppen. Damit war der übergang landwirtschaftlichen Unfallversicherung. Waren von der Betriebsversicherung zur Personenversiche­ für diese besondere Versicherungsträger mit rung vollzogen. Er hat sich entscheidend auf die Er­ Selbstverwaltung (BG) die Regel, so hatten das weiterung des Versichertenstandes ausgewirkt, wäh• rend in der Organisation der Versicherungsträger Reich, die Länder, die Städte mit über 500000 und in der Aufbringung der Mittel die betriebs­ Einwohnern und (1934-1945) die ebenfalls for­ gebundene Struktur der Unfallversicherung erhalten mell in eine Körperschaft umgewandelte NS­ blieb" (H. Lauterbach). DAP keine Eigenversicherungsträger mit selb­ Danach gab es keinen Arbeitnehmer mehr, der ständiger Rechtspersönlichkeit und Selbstver­ nicht dem Schutz der Unfallversicherung unter­ waltung, sondern im Rahm'en der gesamten stellt war. Die Reform der Entwicklung des öffentlichen Verwaltung waren nur besondere materiellen deutschen Unfallversicherungsrechts Dienststellen ("Ausführungsbehördence) einge­ war damit weitgehend abgeschlossen. Der Be­ richtet, die die Unfallversicherung durchzufüh• griff "Betriebsunfall" wurde durch den Begriff ren hatten. Von dieser bürokratischen Staats­ "Arbeitsunfall" 'ersetzt, ohne daß sich dadurch verwaltung sind keine Impulse zur Fortent­ inhaldiche Abweichungen ergaben. wicklung der Unfallversicherung ausgegangen. Mit diesem Gesetz von 1942 wurde schließlich Daneben bestanden Gemeindeunfallversiche­ der Grundsatz der unbeschränkten gemeind­ rungsverbände, zu denen sich die Gemeinden lichen Eigenunfallversicherung verwirklicht. und Gemeindev'erbände unter 500000 Ein­ wohnern für den Vollzug der Gemeindeunfall­ Die Gemeinden und Gemeindeverbände waren bei versicherung zusammengeschlossen hatten. Diese der Errichtung der sozialen Unfallversicherung Zweckverbände mit eigener Rechtspersönlich• ebenso wie das Reich und die damaligen Bundes­ staaten (Länder) mit ihren Betrieben zunächst Mit­ keit unterstanden der Aufsicht des RVA, sie glied der BG. Aber schon unmittelbar danach (1885) waren am ehesten mit den BG vergleichbar, wurde dem Reich und den Bundesstaaten das Recht waren aber nicht wie diese (und die "Ausfüh• der Eigenunfallversicherung (Selbstversicherung) rungsbehördence) echte Selbstversicherer, denn eingeräumt, während die Eigenunfallversicherung hier war von vornherein der zwischengemeind­ der kommunalen Körperschaften erst 1887, und Zwar beschränkt auf Bauarbeiten, eingeführt wurde. liche Lastenausgleich der Mitglieder unterein­ 1911 wurde sie auf die nicht gewerbsmäßige Fahr­ ander vorgesehen. Diese Doppelnatur der Ge­ zeug- und Reittierhaltung ausgedehnt. 1923 erhiel­ meindeunfallversicherungsverbände als kom­ ten Reich und Länder das Recht der unbeschränk• munale Körperschaften mit 'einer einzigen Son­ ten Eigenunfallversicherung. 1928 wurde das Selbst­ deraufgabe einerseits und als sozialrechtlicher versicherungsrecht der Gemeinden wiederum erwei­ tert, und zwar im Hinblick auf die damals der Un­ Versicherungsträger andererseits bedingte zahl­ fallversicherung neu unterstellten Betriebe (insbe­ reiche Sondervorschriften; im übrigen unter­ sondere Krankenhäuser, Gesundheitsdienst, Wohl- scheiden sie sich selbstverständlich von den son- 440 Florian Tennstedt stigen Verbänden der anderen Sozialversiche­ den Westzonen paßtlen die Unfallversicherung rungsträger, die regelmäßig aus der Selbstver­ der besonder'en Nachkriegssituation an. In waltung ,hervorgegangene überregionale (Spit­ einem Folgegesetz zum Sozialversicherungs­ zen-)Vereinigungen sind! Anpassungsgesetz von 194:) dem sog. Verbes­ 1943 wurde erneut eine Reihe von Erkrankun­ serungsgesetz, wurden die Renten aus Unfäl• gen in die Zahl der entschädigungspflichtigen len und Berufskrankheiten dem verändert'en Berufskrankheiten einbezogen. Lohn- und Preisgefüge angepaßt, außerdem 1944 wurde eine Vereinigung von BG vorge­ wurden (erstmals) Mindestrenten eingeführt sehen, diese Verordnung erlangte aber keine und die Möglichkeit beseitigt, bei selbstver­ praktische Bedeutung mehr. schuldeten Wegeunfällen den Schadenersatz zu verweigern u. a. m. Die verfügbaren Statistiken reichen im wesentlichen bis 1938. In diesem Jahr gab es 63 gewerbliche BG 1951 wurde die Selbstverwaltung wieder hergestellt. mit 160 Sektionen und Bezirksverwaltungen. Sie So wie in der Krankenversicherung die Mehrheit erfaßten 1,33 Mio. Unternehmen und 15,70 Mio. der Arbeitnehmervertreter beseitigt wurde, so wur­ Versicherte. 1,40 Mio. Arbeits(Betriebs-)Unfälle de in der Unfallversicherung die alleinige Selbstver­ wurden angezeigt, außerdem 107951 Wegeunfälle waltung der Arbeitgeber abgeschafft. Statt dessen und 19364 Berufskrankheiten, auf 1000 Versicherte wurden die Organe bei diesen Versicherungsträgern entfielen insgesamt also 97,77 Anzeigen. Erstmals je zur Hälfte aus Vertretern der Versicherten und entschädigt wurden 48511 Arbeitsunfälle, 5416 der Arbeitgeber besetzt. In der landwirtschaftlichen Wegeunfälle und 3881 Berufskrankheiten. Davon Unfallversicherung wurde Drittelparität eingeführt, waren tödlich: 4875 Arbeitsunfälle, 805 Wegeun­ d. h. gleichberechtigte Vertretung der Gruppen der fälle und 517 Berufskrankheiten. Für Entschädi• versicherten Arbeitnehmer, der Selbständigen ohne gungsleistungen wurden 239,01 Mio. RM ausgege­ fremde Arbeitskräfte und der Arbeitgeber (ab 1974 ben, für Unfallverhütung 10,04 Mio. RM. Im Ver­ aufgehoben für die Gartenbau-BG). Im Rahmen der gleich zu den Angaben über die Weimarer Republik damit erstmalig institutionell antizipierten "Sozial­ muß die Ausdehnung des persönlichen und sach­ partnerschaft" wurde die bis 1933 wesentliche Kom­ lichen Geltungsbereichs beachtet werden. ponente dieser Sozialversicherungsträger - die Kon­ Die 57 landwirtschaftlichen BG erfaßten 5 Mio. Be­ kurrenzsituation zwischen Krankenkassen und BG triebe mit 13,5 Mio. Versicherten. 312481 Arbeits­ als jeweilige sozialpolitische"Vorhut" von Gewerk­ (Betriebs-)Unfälle wurden angezeigt, also 23,12 auf schaften bzw. Unternehmern, der wesentliche Inno­ 1000 Versicherte. Wegeunfälle gab es 3416. Erstmals vationen zu verdanken sind - durch eine "konkur­ entschädigt wurden 37865 Betriebsunfälle und 445 renzlose" Parität ersetzt, wodurch bei den Gewerk­ Wegeunfälle. 2947 Betriebsunfälle und 51 Wegeun­ schaften auf einmal die langjährige Gegnerschaft fälle waren tödlich. zu den BG entfiel! 1952 wurden die Mindestleistungen und Zu­ 2.4 Die gesetzliche Unfallversicherung in der lagen in der gesetzlichen Unfallversicherung er­ Nachkriegszeit und in der Bundesrepublik höht, weitere Krankheiten als Berufskrankhei­ Deutschland (1945-1972) ten anerkannt (40 gegenüber 26 im Jahre 1936), und bei einigen bereits anerkannten Be­ In der Nachkriegszeit erfolgten - entsprechend rufskrankheiten wurde der Umfang des Ver­ der Entwicklung in der Krankenversicherung­ sicherungsschutzes weiter ausgedehnt. In West­ einige Sonderentwicklungen der Unfallversi­ berlin wurde die Unfallversicherung aus der cherung, die aber - abges'ehen von der Rechts­ durch Ernst Schellenberg installierten Einheits­ entwicklung in Berlin und in der DDR - nicht versicherung gelöst, die BG führten die Unfall­ von längerer Dauer waren. Die Einbeziehung versicherung wieder nach RVo-Vorschriften der Unfallversicherung in die Einheitsversiche­ durch. rung nach dem Berliner Modell wurde von 1956 wurde ein Abkommen zwischen dem fast allen Seit'en abgelehnt, erwähnt werden Hauptverhand der gewerblichen BG, dem muß hier die Agitation des ehemaligen SPD­ Bundesverband der landwirtschaftlichen BG Reichsarbeitsministers (1928-1930) RudoljWis­ sowie der Bundesarbeitsgemeinschaft der ge­ seI (1869-1962). Die Gesetzesänderungen in meindlichen Unfallversicherungsträger einer- Sozialgeschichte der Sozialversicherung 441 seits und der Kassenärztlichen Bundesver­ sind" (H. N eubertlR. Pittroff). Dieser Tendenz und einigung andererseits abgeschlossen, das das einer Empfehlung des Europarates folgend wurde 1963 in der BRD als erstem Land im europäischen 1921 abgeschlossene, 1929 und 1932 neuge­ Rechtsbereich das bisherige Enumerativprinzip er­ faßte "Reichsärzteabkommence ablöste. Dies gänzt durch eine Generalklausel. Die Entschädigung war trotz zeitweiliger Kündigungen durch die von Berufskrankheiten nach der Generalklausel be­ organisierte Arzteschaft seither praktisch un­ schränkt sich aber "auf besonders gelagerte Aus­ unterbrochen in Kraft gewesen. Im gleichen nahmefälle, in denen wegen des außergewöhnlichen Tatbestandes mit einer Rechtsetzung des Verord­ Zeitraum wurden - neben 1100 als Unfallkran­ nungsgebers nicht gerechnet werden kann, die aber kenhäuser anerkannten Krankenhäusern - (bis andererseits bei fehlender Entschädigungsmöglich• 1968) 14 eigene Unfallkrankenhäuser (Mur­ keit eine besondere Härte darstellen würde" (H. nau, Hannover, Duisburg, Tübingen, Ham­ N eubertlR. Pittroff). burg, Frankfurt/M., Ludwigshafen) und Son­ Die Regelung mit der Generalklausel wurde derstationen errichtet. 1968 gab es über 2500 durch das Unfallversicherungs-Neuregelungs­ Durchgangsärzte und nahezu 1000 an der gesetz vom 30. April 1963 eingeführt, das fast Heilbehandlung beteiligte Arzt'e. das gesamte 3. Buch der Rva neu faßte, je­ Im gleichen Jahr (1956) wurde auch - anstelle doch die tradierten Grundsätze der Unfallver­ des RVA- das Bundesversicherungsamt als sicherung (Ablösung der Haftpflicht, alleinige selbständige Bundesbehörde mit Sitz in Berlin Beitragspflicht der Unternehmer, Leistungsge­ errichtet. Ihm wurden die verwaltungsmäßi• währung ohne Rücksicht darauf, ob der Unfall gen Aufgaben der Sozialversicherung, sow'eit schuldhaft herbeigeführt wurde, abstrakte Scha­ sie Bundesangelegenheiten waren, übertragen. densberechnung usw.) beibehielt. Die rechtsprechenden Funktionen des RVA waren schon 1954 auf das Bundessozialgericht "Die gesetzliche Unfallversicherung bedurfte ähn• übergegangen. Der Anteil beider - stellen­ lich tiefgreifender Veränderungen, wie sie die Ren­ kegelmäßig gut ausgestatteten - Institutionen tenversicherung durch die Reformgesetze vom 23.2. an der Weiterentwicklung der Unfallversiche­ 1957 erfahren hatte, weil sie sich im Laufe der Jahrzehnte ihres Bestehens fortlaufend der gesell­ rung und der Sozialversicherung überhaupt schaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung ange­ dürfte erheblich geringer einzuschätz'en sein als paßt hatte. Die bisherigen Grundlagen der gesetz­ der des RVA unter 7Onio Bödiker, der Präsi• lichen Unfallversicherung wurden sowohl hinsicht­ dent im Range eines Oberregierungsrates war. lich des versicherten Personenkreises als auch grund­ sätzlich hinsichtlich der Art und Berechnung der 1957 wurden die Geldleistungen der Unfall­ Geldleistungen sowie der Sachleistungen beibehal­ versicherung den inzwischen veränderten Ver­ ten. Der versicherte Personenkreis wurde auf Zwi­ hältnissen der erwerbstätigen Bevölkerung an­ schenmeister, Spender körpereigener Gewebe, auf gepaßt und weitere Leistungsverbesserungen Personen, die aus Gründen des Arbeitsschutzes oder durchgeführt. 1961 wurde der Versicherungs­ der Unfallverhütung untersucht oder behandelt schutz bei Berufskrankheiten erneut ausge­ werden, ferner auf Personen, die für den Bund, ein Land, eine Gemeinde oder eine andere Körperschaft dehnt. des öffentlichen Rechts ehrenamtlich tätig sind und auf Zeugen, die von einem Gericht, einem Staats­ "Diese allgemeine Tendenz zur Ausdehnung des anwalt oder einer sonst dazu berechtigten Stelle Versicherungsschutzes beruht im wesentlichen auf herangezogen wurden, ausgedehnt. Die Gefangenen zwei Faktoren: Entsprechend dem Fortschritt der wurden hinsichtlich des Unfallschutzes den freien wissenschaftlichen Erkenntnis nimmt die Zahl der Arbeitern gleichgestellt, soweit sie unfallversichert Fälle zu, in denen eine Kausalbeziehung zwischen tätig wurden. Die Unfallverhütung wurde als wich­ beruflicher Tätigkeit und bestimmten Erkrankun­ tigste Aufgabe der Unfallversicherung in den Vor­ gen nachgewiesen werden kann. Außerdem ent­ dergrund der Leistungen gestellt. Die die Unfall­ stehen mit dem Fortschreiten der technischen und verhütung betreffenden Vorschriften wurden ver­ industriellen Entwicklung und der Anwendung schärft, insbesondere die Ordnungsstrafbestimmun­ neuer Fabrikationsmethoden sowie neuer Stoffe gen, und es wurden Sicherheitsbeauftragte für Un­ neue Schädigungsmöglichkeiten, die bisher noch ternehmen von einer bestimmten Größe an einge­ nicht vorgelegen haben oder bekannt geworden setzt. Als Arbeitsunfall wurde auch der erstmalige 442 Florian Tennstedt

Weg eines Versicherten zur Bank bezeichnet, um das der Erwerbsunfähigkeit um 50 oder mehr v. H. ver­ dorthin überwiesene Gehalt abzuholen. Eine sehr ursachen. Das Merkmal der Schwere wurde auch wichtige Ausdehnung erfuhr die Vorschrift über Be­ beibehalten, als der Anwendungsbereich 1936 auf rufskrankheiten. Neben der Berufskrankheiten-Ver­ alle Unternehmen ausgedehnt wurde. 1929 erfolg­ ordnung wurde in dem neuen § 551 Abs. 2 eine ten insgesamt 14482 Anzeigen wegen Silikose und abgemilderte Generalklausel für beruflich erworbe­ 1209 Entschädigungen, danach sank die Anzahl ne Krankheiten eingeführt. Anstelle des Kranken-, kontinuierlich bis 1934 (1268 Anzeigen, 522 Ent­ Familien- und Tagegeldes trat das neugeordnete schädigungen), um dann wieder anzusteigen: 1936: Verletztengeld. Die Bedeutung der medizinischen, 1919 Anzeigen, 780 Entschädigungen. 1949 war in­ beruflichen und sozialen Rehabilitation wurde folge der Rüstungsproduktion (Sektor Bergbau), durch entsprechende Verstärkung der gesetzlichen der Kriegs- und Nachkriegszeit die Zahl der Sili­ Verpflichtungen auf diesem Gebiet besonders her­ koseanzeigen rapide angestiegen: 27435 (6175 Ent­ ausgestellt. Im Recht der Verletzten- und Hinter­ schädigungen) im Gebiet der BRD ohne West-Ber­ bliebenenrenten wurde eine Reihe von Vorschriften lin, sie sank bis 1951 auf 20520 ab (6074 Entschädi• eingefügt, die eine Erhöhung der Leistungen be­ gungen). Seit 1952 war eine Silikose auch dann zu wirkten. Der normale Höchstjahresarbeitsverdienst entschädigen, wenn die Minderung der Erwerbs­ wurde auf 36 000 DM festgesetzt. Die schon in der fähigkeit 20 oder mehr v. H. betrug. Daraufhin Rentenversicherung geltende Aktualisierung der stieg wieder die Zahl der Anzeigen bis zum Jahre Renten (sog. Dynamisierung), durch die eine An­ 1954 auf 30936 (7123 Entschädigungen), seitdem passung an das veränderte Lohn- und Preisgefüge ist sie nahezu kontinuierlich gesunken: 1959 erfolg­ vorgesehen war, wurde auch für die Unfallversiche­ ten 7272 Anzeigen und 4413 Entschädigungen, 1969 rung Gesetz (§ 579 RVO)" (H. Lauterbach). waren es 5814 Anzeigen und 1396 Entschädigungs• fälle (Bestand: 80092 Berufskranke durch Silikose). Aus der Selbstverwaltung heraus wurde (seit Dieser Rückgang läßt sich nur teilweise mit dem Be­ 1950) die wissenschaftliche Forschung vorange­ schäftigungsrückgang im Bergbau (1950: 629576, trieben: die Bergbau-BG errichtete das Sili­ 1961: 572371,1970: 289751) erklären, der sich zu­ kose-Forschungsinstitut in Bochum, der Haupt­ dem nicht"unmittelbar" auswirkt, auf den Bergbau verband der gewerblichen BG ein Staubfor­ entfallen zwischen zwei Drittel und vier Fünftel aller Silikoseerkrankungen. Dieses ist insgesamt ein schungsinstitut in Bonn. Die BG der kerami­ eindrucksvoller Erfolg der Verhütung von Berufs­ schen und Glas-Industrie errichtete in Bad Rei­ krankheiten. In ihrer Bekämpfung ist man soweit chenhall eine Klinik für Berufskrankheiten. fortgeschritten, daß heute die Lebenserwartung der Bei der Süddeutschen Eisen- und Stahl-BG Silikoseerkrankten fast so hoch ist wie die Lebens­ wurde ein Institut für Lärmbekämpfung er­ erwartung gleicher, nichterkrankter Gruppen von Versicherten. richtet. "Gerade auf dem Gebiet der Berufs­ krankheiten konnten die Ursachen imm,er bes­ In diesem Zusammenhang ist auch auf das ser erforscht, der Arbeitsplatz entsprechend "Gesetz über technische Arbeitsmittel ce , das sog. ,sauberer' gestaltet, der Schutz der arbeitenden Maschinenschutzgesetz, hinzuweisen, das in Menschen durch technische Absicherung und sy­ ähnlicher Form schon in der Weimarer Repu­ stematische überwachung gefährdeter Arbeits­ blik geplant war. Hiernach dürfen nur solche plätze immer mehr verstärkt werden" (H. N eu­ technischen Arbeitsmittel für alle Gebiete (inkl. bert/ R. Pittroff). Außerdem existiert eine Bun­ Sport, Freizeit und Haushalt) in den Verkehr desanstalt für Arbeitsschutz und Unfallfor­ gebracht oder ausgestellt werden, die nach den schung, die vor allem Unfallschwerpunkte er­ allgemein anerkannten Regeln der Sicherheits­ mittelt und analysiert. technik sowie den Arbeitsschutz- und Unfall­ Die Erfolge lassen sich anhand der "klassi­ verhütungsvorschriften so beschaffen sind, daß sehen" Berufskrankheit Silikose verdeutlichen. Benutzer oder Dritte bei deren bestimmungs­ 1929 wurde die Quarzstaublungenerkrankung in die gemäßen Verwendung gegen Gefahren aller Liste der entschädigungspflichtigen Erkrankungen Art für Lieben und Gesundheit geschützt sind. eingefügt. Sie war als Berufskrankheit zunächst nur Die Unfallverhütungsvorschriften der BG, ihre anerkannt für Betriebe der Sandsteingewinnung, Durchführungsregeln, Richtlinien, Sicherheits­ -verarbeitung und -bearbeitung, in Metallschleife­ reien, in Porzellanbetrieben und im Bergbau. Zu­ regeln usw. sind verschiedentlich in das Gesetz dem mußte sie "schwer" sein, d. h. eine Minderung einbezogen, so daß sie auch über den Bereich Sozialgeschichte der Sozialversicherung 443 der Mitglieder der Unfallversicherungsträger beitssicherheit weit'er erhöht werden, als Richt­ hinaus wirksam sind. Die drei Spitzenver­ linien dienen dabei die Unfallverhütungsvor• bände der Unfallversicherungsträger sind als schriften der BG. Prüfstellen zugelassen, von 1968-1972 prüf• Schon 1968 war eine neue Berufskrankheiten­ ten allein die landwirtschaftlichen BG etwa verordnung erlassen worden, die die seit 1936 5000 Maschinen und Geräte. in Kraft getret'enen Verordnungen außer Kraft setzte. Die Liste der Berufskrankheiten wurde Als konkretes Beispiel seien die von den Selbstver­ waltungsorganen beschlossenen Vorschriften über auf 47 Erkrankungen erweitert und einige Lei­ die Ausrüstung neu in den Verkehr kommender stungsverbesserungen vorgenommen, außerdem Schlepper mit Umsturzschutzvorrichtungen und kör• wurde der Präventionsgedanke stärker be­ pergerechten Sitzen genannt. In ihrem bisherigen tont. Geltungszeitraum (1970-1973) wurde mit Aus­ Die Fortentwicklung auf dem Gebiet der Re­ nahme von einigen Fällen mit besonderen Kompli­ kationen (mehrere Personen auf einem Schlepper) habilitation, also der Heilbehandlung und de,r kein Fall bekannt, bei dem der Fahrer eines ent­ Berufshilfe, vollzog sich weitgehend in Ar­ sprechend ausgerüsteten Schleppers sein Leben ver­ beitsgenleinschaften und durch neue oder ab­ lor. Damit wurden - nach den bisherigen Unfall­ geändert'e Vereinbarungen mit der Ärzteschaft, erfahrungen - vermutlich weit über 100 Menschen­ den Krankenkassen, Masseuren, Krankengym­ leben erhalten. nasten und anderen Be,rufen sowie dem Ver­ Im Rahmen der gesetzlichen Unfallversiche­ sehrtensportverband. Außerdem ging man ­ rung insgesamt waren 1969 986 Beamte und im Bereich der gew'erblichen BG - seit 1962 Angestellte im Technischen Aufsichtsdienst tä• daran, die Ergebnisse der medizinischen und tig. 778 109 Besichtigungen in 492 124 Betrie­ beruflichen Rehabilitation nach einem einheit­ ben wurden durchgeführt, in 101406 größe• lichen Schema zu erfassen, bei dem der Ver­ ren Betrieben waren 268 869 Sicherheitsbeauf­ lauf der Rehabilitation über die Minderung tragte tätig; Unternehmer, Hersteller und der Erwerbsfähigkeit und die einzelnen Be­ Handwerker wurden über die unfallsichere rufshilfemaßnahmen bis zum Ergebnis ver­ Ausrüstung von Maschinen und Geräten bera­ folgt werden konnte. Damit sollten die BG in ten. Ihre Aufsichtstätigkeit wurde unterstützt die Lage versetzt werden, ihre zukünftigen durch 1597 B,eamte der staatlichen Gewerbe­ Arbeitsschwerpunkte festzustellen, weil ohne aufsicht und 1109 Sachverständige des Techni­ eine entsprechende wissenschaftliche Dokumen­ schen Überwachungsvereins für die Prüfung tationsbasis eine Prioritätensetzung nicht mög• technischer Anlagen. Die Gewerbeaufsicht lich war. "Es waren also die Grundlagen für führte 1968 in 349447 Betrieben (= 26 v. H.) eine Datenbank zu schaffen, aus der alle im insgesamt 582017 Besichtigungen durch. Sinne der m'edizinischen und beruflichen Re­ 1971 wurde die Verordnung über gefährliche habilitation relevanten Fragen beantwortet Arbeitsstoffe erlassen, die sich mit dem Inver­ werden können" (W. NickI). Die ursprüngliche kehrbringen und der Abgabe zum Gebrauch topische Systematik erwies sich dazu als unzu­ von gefährlichen Arbeitsstoffen einschließlich reichend, so daß 1969 - nach Vorschlägen von Zubereitungen, über den Umgang mit gefähr• Walter NickI (geb. 1912), Geschäftsführer der lichen Arbeitsstoffen sowie Vorsorgeuntersu­ Süddeutschen Holz-BG - bei den gewerblichen chungen u. a. befaßt, erlassen. In dieser Ver­ BG ein neues geschlossenes System der Doku­ ordnung werden ebenfalls die Unfallverhü• mentation eingeführt wurde. Dieses dokumen­ tungsvorschriften herangezogen. tiert die medizinische und berufliche Rehabili­ 1974 wurde das Gesetz über Betriebsärzte, Si­ tation integriert, da sie zusammengehören, sich cherheitsingenieur'e und andere Fachkräfte voll wechselseitig bedingen und fördern. "Besonders wirksam, wodurch die Arbeitgeber verpflichtet bei den schweren Fällen kann man das Heil­ sind, diese Fachkräfte für Arbeitssicherheit für verfahren nicht ohne Rücksicht auf die Be­ ihre Betriebe zu bestellen. Dadurch soll die Ar- rufshilfe durchführen und umgekehrt. Auch 444 Florian Tennstedt

kann das Ergebnis der medizinischen Rehabili­ habilitationsträger und zur Abwehr einer tation letztlich nur daran gemessen werden, "Bundesanstalt für Rehabilitation" von den ob das Ziel, nämlich den Unfallverletzten wie­ Verbänden der Unfallversicherungsträger, dem der voll in das Erwerbsleben einzugliedern, er­ Verband Deutscher Rentenversicherungsträg·er, reicht worden ist" (W. NickI). den Spitzenverbänden der gesetzlichen Kran­ kenversicherung, der Bundesanstalt für Arbeit, Daraus ergab sich z. B. für 1970 folgende "Bilanz" den Spitzenorganisationen der Sozialpartner, der Rehabilitation. Die Rehabilitationsmaßnahmen dem Bund, den Ländern, der Arbeitsgemein­ der gewerblichen BG auf dem Gebiete des Heilver­ fahrens bewirkten, daß von 68 625 Rehabilitations­ schaft der Deutschen Hauptfürsorgestellen, der fällen rund vier Fünftel (= 79,11 v. H.) der Rehabi­ Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen litanten ohne besondere Berufshilfe die Arbeit wie­ Träger der Sozialhilfe und der Krzteschaft ge­ der aufnehmen konnten, und zwar zu 94,71 v. H. schaffen wurde. Diese stellt·e 1970 "Grundsätze in dem Betrieb, in dem sie vor dem Unfall beschäf• für die Rehabilitation als gemeinsame Aufgabe tigt waren. Bei 8772 (= 12,78 v. H.) der Rehabili­ tanten wurden nach der medizinischen Rehabilita­ ihrer Träger" auf. Für die Durchführung dieser tion Berufshilfemaßnahmen durchgeführt, um die Grundsätze wurde 1971 in Frankfurt eine Ver­ Betroffenen auch wieder in das Erwerbsleben ein­ einbarung beschlossen, die die Bildung von gliedern zu können. Etwa ein Drittel dieser Rehabi­ Auskunfts- und Beratungsstellen, die Veran­ litanten stammte aus der Gruppe der gleichen lassung von Maßnahmen der Arbeits- und Be­ Fälle. In 2063 Fällen (= 3,01 v. H. war die Berufs­ hilfe nicht durchführbar oder erfolgversprechend. rufsförderung durch Arzte, die Beratung und Die Struktur der "negativen Fälle" ist komplex, in die Gewährung von Vorleistungen betrifft. etwa der Hälfte der Fälle war die ausgebliebene Quantifizierbare Erfolge stehen noch aus. Sie Wiederbeschäftigung eine Folge des Unfalls und/oder dürften erst dann zu erwarten sein, wenn sich unfallabhängiger Leiden. das 1974 verabschiedete Gesetz zur Anglei­ chung der Leistungen der Rehabilitation er­ Insgesamt läßt sich feststellen, daß die Selbst­ gänzend auswirkt. Dieses sieht u. a. vor: ein­ verwaltung der gewerblichen Unfallversiche­ heidiche Sachleistungen für die medizinischen rung im Laufe ihrer Geschichte auf dem Gebiet und beruflichen Maßnahmen der Rehabilita­ der Heilverfahren und Rehabilitation "mit tion, einheitliches übergangs- oder Kranken­ allen geeigneten Mitteln" in einem Maße ini­ geld, einheitliche Bemessung der Geldleistun­ tiativ (nicht zuletzt im Hinblick auf Schaffung gen u.a.m. Außerdem wird die gesetzliche und Anwendung geeignet>er wissenschaftlicher Krankenversicherung in den Kreis der Reha­ Erkenntnisse) und erfolgreich tätig war, wie es - aus verschiedenen Gründen - bei ande­ bilitationsträger einbezogen. ren Sozialversicherungsträgern nie der Fall Ober die allgemeine Rechtsentwicklung schließ• war. lich ist zu erwähnen, daß 1971 der versicherte Personenkreis der Unfallversicherung auf Schü• 1969 trat das Arbeitsförderungsgesetz in Kraft. ler, Studenten und Kinder in Kindergärten Dieses stellte die bisher innovationsarme ausgedehnt wurde. Dafür sind in erster Linie bürokratisierte Bundesanstalt für Arbeit als die Länder, die Gemeinde-Unfallversicherungs­ zentrale Stelle für die berufliche Rehabilitation verbände sowie die Eigenunfallversicherungs­ heraus, ließ aber "sicherheitshalber" die Zu­ träger der Großstädte zuständig. Wegen des ständigkeit und Verantwortlichkeit der Träger umfassenden und altersmäßig nunmehr anders der gesetzlichen Unfallve,rsicherung für die be­ als bisher zusammengesetzten Personenkreises rufliche Rehabilitation unangetastet, allerdings de.r Unfallversicherung wurden von den zu­ wurde das Zusammenwirken der beiden Insti­ ständigen V·ersicherungsträgern besondere Heil­ tutionen geregelt. verfahren entwickelt, die auch durch Abkom­ Außerdem wurde eine Bundesarbeitsgemein­ men mit den Ärzten gesichert werden. schaft für Rehabilitation gegründet, die zum Sieht man nun auf die Gesamtwirksamkeit der Zwecke der Koordinierung der Arbeit der Re- gewerblichen und landwirtschaftlichen Unfall- Tabelle 7 Hauptzahlen der gewerblichen Berufsgenossenschaften 1950-1972

1950 1960 1965 1970 1972 Zahl der gewerblichen Berufsgenossenschaften 36 36 36 36 36 Zahl der Unternehmen (in Mio.) 1,40 1,65 1,66 1,59 1,56 Zahl der Versicherten (in Mio.) 11,01 17,85 19,59 20,17 19,63 angezeigte Arbeitsunfälle (in Mio.) 0,87 2,26 2,22 2,01 1,86 angezeigte Wegeunfälle (in Tsd.) 69,14 248,47 217,14 215,69 181,80 angezeigte Berufskrankheiten (in Tsd.) 35,26 31,50 25,60 22,82 27,42 angezeigte Arbeitsunfälle/1000 Versicherte 79,99 127,70 113,80 100,00 95,30 erstmals entschädigte Arbeitsunfälle 45257 57490 56880 51496 49326 erstmals entschädigte Wegeunfälle 5386 15545 14416 14773 12569 erstmals entschädigte Berufskrankheiten 9622 7445 5924 4494 4744 davon tödliche Arbeitsunfälle 3564 3021 3018 2696 2706 davon tödliche Wegeunfälle 696 1536 1602 1608 1614 davon tödliche Berufskrankheiten 482 254 228 147 177 tödliche Arbeitsunfälle insges.: 1000 Versicherte 0,43 0,27 0,25 0,23 0,23 Entschädigungsleistungen (in Mio. DM) 388,69 1284,48 2392,01 3 036,15 3628,71 Kosten der Unfallverhütung (in Mio. DM) 11,74 33,68 62,25 101,62 129,205

Quelle: übersicht über die Geschäfts- und Redmungsergebnisse der gewerblichen Berufsgenossenschaften im Jahre 1972, Bonn 1973. [JJ o N lii' dQ 'Tabelle 8 Hauptzahlen der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften 1950-1972 g." 1950 1960 1965 1970 1972 g: "0- Zahl der landwirtschaft!. Berufsgenossenschaften 18 18 19 19 19 ".... [JJ Zahl der Unternehmen (in Mio.) 3,07 2,59 2,79 2,97 2,88 o N Zahl der Versicherten (in Mio.) 8,96 7,09 4,28 ? ? lii' angezeigte Arbeitsunfälle (in Tsd.) 244,41 277,27 249,77 228,89 210,94 <' angezeigte Arbeitsunfälle/1000 Versicherte 27,41 39,01 59,28 ? ".... erstmals entschädigte Arbeitsunfälle 46175 37234 26309 21662 18372 '"g: davon tödliche Arbeitsunfälle 2222 1664 1511 1321 1 133 .... <=" I:l Entschädigungsleistungen (in Mio. DM) 72,24 175,16 335,99 377,03 455,93 Oll Unfallverhütungskosten (in Mio. DM) 0,96 2,90 6,12 10,92 14,66

Quelle: Die gesetzliche Unfallversicherung im Jahre 1950 ff. in der Bundesrepublik Deutschland. Statistischer und finanzieller Bericht, Bonn 1953 ff., Nach­ weisung der Geschäfts- und Rechnungsergebnisse der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften für das Jahr 1970 (ff.), Kassel 1971 ff. 446 Florian Tennstedt versicherung zwischen 1950 und 1972, dann den anderen Sozialversicherungsträgern - am ergibt sich das in den Tab. 7 und 8 (S. 445) wie­ eindeutigsten nachweisen läßt. In diesem Rah­ dergegebene Bild. men sind die nachfolgenden Ausführungen von ]ohannes Krohn aus dem Jahre 1946 noch 1969 wurde die bisher verwendete Bezugsgröße "Versicherte" durch die Bezugsgröße "geleistete Ar­ aktuell: beitszeit" in der gewerblichen Wirtschaft ergänzt. Danach zeigt die Häufigkeit der angezeigten Ar­ "Die Bedeutung und Stärke der Reichsunfallver­ sicherung liegt beitsunfälle ebenfalls eine schwach rückläufige Ten­ denz: 1969 und 1970 kamen auf 1 Mio. geleistete 1. in der genialen Verbindung zwischen Unterneh­ Arbeitsstunden 54 Arbeitsunfälle, 1971: 52 und merhaftpflicht und Schutz des Versicherten, 1972: 50. Am höchsten war diese Quote im Bereich der Bau-BG (96), der Bergbau-BG (90) sowie der 2. in der ebenso genialen Vereinigung der Aufgaben BG Steine und Erden sowie Holz und Schnitzstoff von Entschädigung, Wiederherstellung und Vorbeu­ (jeweils 80). gung in einer Hand. Die Gesamtzahl der 1971 angezeigten Unfälle und Berufskrankheiten betrug 2,586 Mio., davon waren Zu 1. Es kann nicht darauf verzichtet werden daß 90,4 v. H. Arbeitsunfälle, 8,6 v. H. Wegeunfälle der Betrieb für die durch ihn verursachten Schäden und 1,0 v. H. Berufskrankheiten. Erstmals entschä• der Beschäftigten haftet. Also muß sich der Unter­ digt wurden 983000 Unfälle und Berufskrankhei­ nehmer gegen die Folgen der Haftpflicht durch eine ten, davon waren 78,2 v. H. Arbeitsunfälle, 16,3 v. Versicherung schützen. H. Wegeunfälle und 5,5 v. H. Berufskrankheiten; Der im Betrieb Beschäftigte braucht andererseits in 6,8 v. H. der Fälle verliefen die Unfallverletzun­ einen Versicherungsschutz gegen Schäden auch in gen und Berufskrankheiten tödlich. den Fällen, in denen er die Haflpflicht des Unter­ Beschränkt man sich auf die Arbeitsunfälle im enge­ nehmers nicht ,in Anspruch nehmen kann. Die ren Sinn, d. h. ohne Wegeunfälle und Berufskrank­ Reichsunfallversicherung leistet den doppelten Ver­ heiten, dann ereigneten sich am Arbeitsplatz 1971 sicherungsschutz in einer Organisation, während durchschnittlich: alle 13 Sekunden ein (angezeigter) ohne sie zwei erforderlich werden. Sie bietet in ihr Arbeitsunfall, alle 7 Minuten ein (entschädigter) außerdem die zu 2. erörterten Vorteile. Arbeitsunfall und alle 2 Stunden ein tödlicher Ar­ Zu 2. Der Unternehmer hat ein Interesse an Mei­ beitsunfall. Die Träger der Unfallversicherung dung oder Minderung seiner Entschädigungslast. wandten 1971 insgesamt fast 5,2 Mrd. DM auf, die Die Unfallversicherung nutzt dieses Interesse für Gesamtunfallkosten (inkl. Folgekosten für die Un­ die Verhütung und Beseitigung von Schäden aus. ternehmen) wurden für 1971 auf rd. 10 Mrd. DM Diese Verquickung führte zu dem ungeheuren Auf­ geschätzt. schwung des Unfallschutzes und des Unfallheilver­ Selbst wenn im Hinblick auf "Humanisierung fahrens in Deutschland. Nur eine Sonderorganisa­ der Arbeitswelt" (1974 veröffentlichten der tion, hinter der ein starker, immer wieder durch das Interesse gestärkter Wille stand, konnte solche Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung Erfolge erzielen. Einen Beweis dafür lieferte in und der Bundesministe.r für Forschung und jüngster Vergangenheit die Ausdehnung der Un­ Technologie ein "Aktionsprogramm" für ent­ fallversicherung auf Berufskrankheiten. Sie führte sprechende Forschungen) noch zahlreiche Auf­ zu geringen Entschädigungsleistungen, aber zu wesentlicher Verbesserung der Vorbeugung und des gaben zu bewältigen sind - die Unfallhäufig• Heilverfahrens. keit im Bergbau, im Baugewerbe, in der Holz­ verarbeitung sowie in der Eisen- und Stahl­ Würde man die jetzige Verbindung zwischen Un­ industrie liegt um mehr als 50 v. H. über dem fallversicherung und Unternehmerhaftpflicht lösen, Durchschnitt der gewerblichen Wirtschaft, mehr so würden die Haftpflichtprozesse mit ihrer verbit­ ternden Wirkung wieder aufleben und die Unter­ als 2 Mio. Arbeitnehmer sind täglich einem nehmer müßten die bisherige Organisation zur gesundheitsschädlichen Lärm von mehr als 90 Durchführung ihrer eigenen Haftpflichtversicherung Phon ausgesetzt (1972 gehörten Lärmschw'er• fortsetzen. Würde die Verbindung zwischen Ent­ hörigkeit und -taubheit zu den häufigsten Be­ schädigung, Heilung und Vorbeugung getrennt wer­ rufskrankheiten) u. a. -, muß man sagen, daß den, so müßte der Wegfall der Impulse für stete Verbesserung des Heilverfahrens und der Vorbeu­ sich bisher die praktische Effizienz der beson­ gung zu einer schweren Verschlechterung heider deren Organisationsform - im Vergleich zu Aufgaben führen." Sozialgeschichte der Sozialversicherung 447

Anhang: Die nach der 7. Berufskrankheiten-Va erkrankung sind, die durch Aufnahme der schä• (1968) entschädigungspflichtigen Berufskrankheiten* digenden Stoffe in den Körper verursacht wer­ den oder gemäß Nummer 46 zu entschädigen Lfd. sind. Nr. Krankheiten A. Durch chemische Stoffe verursamte B. Durch physikalisme Einwirkungen Krankheiten verursachte Krankheiten Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere 22 Chronische Erkrankungen der Schleimbeutel Neubildungen der Harnwege durch aromati­ durch ständigen Druck (1952) sche Amine (1936) 23 Drucklähmungen der Nerven (1952) 2 Erkrankungen durch Arsen oder seine Verbin­ 24 Erkrankungen durch Arbeit in Druckluft (1943) dungen (1925) 25 Erkrankungen durch Erschütterung bei Arbeit 3 Hornhautschädigungen des Auges durch Benz­ mit Preßluftwerkzeugen oder gleichartig wir­ ochinon (1952) kenden Werkzeugen oder Maschinen sowie bei 4 Erkrankungen durch Benzol oder seine Homo­ der Arbeit an Anklopfmaschinen (1929) logen (1925) 26 Lärmschwerhörigkeit und Lärmtaubheit (1929) 5 Erkrankungen durch Nitro- oder Aminover­ 27 Erkrankungen durch Röntgenstrahlen, durch bindungen des Benzols oder seiner Homologen die Strahlen radioaktiver Stoffe oder durch oder deren Abkömmlinge (1925, 1936) andere ionisierende Strahlen (1925) 6 Erkrankungen durch Blei oder seine Verbin­ 28 Grauer Star durch Weirmestrahlung (1925) dungen (1925) 7 Erkrankungen durch Chrom oder seine Verbin­ c. Durch gemischte (chemisch-physika­ dungen (1936) Iisme) Einwirkungen verursamte 8 Erkrankungen durch Fluor oder seine Verbin­ Krankheiten dungen (1952) 9 Erkrankungen durch Halogenkohlenwasser­ 29 Erkrankungen der tieferen Luftwege und der stoffe oder halogenierte Alkyl-, Aryl- oder Lungen durch Aluminium oder seine Verbin­ Alkylaryloxyde oder -sulfide (1936) dungen (1943) 10 Erkrankungen durch Kadmium oder seine Ver­ 30 Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose) bindungen (1952) (1936) 11 Erkrankungen durch Kohlenoxyd (1929) 31 Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose) In 12 Erkrankungen durch Mangan oder seine Ver­ Verbindung mit Lungenkrebs (1943) bindungen (1929) 32 Erkrankungen durch Beryllium oder seine Ver­ 13 Erkrankungen durch Methanol (Methylalkohol) bindungen (1943) (1961) 33 Erkrankungen an Lungenfibrose durch Metall­ 14 Erkrankungen durch Phosphor oder seine Ver­ stäube bei der Herstellung oder Verarbeitung bindungen (1925) von Hartmetallen (1961) 15 Erkrankungen durch Quecksilber oder seine 34 Quarzstaublungenerkrankung (Silikose) (1929) Verbindungen (1925) 35 Quarzstaublungenerkrankung in Verbindung 16 Erkrankungen durch Salpetersäureester (1943) mit aktiver Lungentuberkulose (Siliko-Tuber­ 17 Erkrankungen der Zähne durch Säuren (1952) kulose) (1929, 1936) 18 Erkrankungen durch Schwefelkohlenstoffe 36 Erkrankungen der tieferen Luftwege und der (1925) Lungen durch Thomasmehl (Thomasphosphat) 19 Erkrankungen durch Schwefelwasserstoff (1929) (1929) 20 Erkrankungen durch Thallium oder seine Ver­ bindungen (1961) D. Durch Infektionserreger oder Parasiten 21 Erkrankungen durch Vanadium oder seine Ver­ verursamte Krankheiten bindungen (1961) 37 Infektionskrankheiten, wenn der Versicherte Zu den Nummern 2, 4-8, 10-21: Ausgenom­ im Gesundheitsdienst, in der Wohlfahrtspflege men sind Hauterkrankungen. Diese gelten als oder in einem Laboratorium tätig oder durch Krankheiten im Sinne dieser Anlage nur in­ eine andere Tätigkeit der Infektionsgefahr in soweit, als sie Erscheinungen einer Allgemein- ähnlichem Maße besonders ausgesetzt war (1929) * Die in Klammer eingefügte Zahl gibt das Jahr 38 Von Tieren auf Menschen übertragbare Krank­ der erstmaligen Aufnahme in den Katalog der Be­ heiten (1943) rufskrankheiten an, bei zwei Zahlen war die Krank­ 39 Wurmkrankheit der Bergleute, verursacht durch heit zunächst nur bei bestimmten Betrieben an­ Ankylostoma duodenale oder Anguillula inte­ erkannt. stinalis (1925) 448 Florian Tennstedt

E. Durch nicht einheitliche Einwirkungen verdient haben (1908). Ein Arbeiter mit einem Jah­ verursachte Krankheiten resarbeitsverdienst von 1200 M zahlte jährlich rd. 40 Augenzittern der Bergleute (1961) 9 M Beitrag, gleich hoch war der Arbeitgeberbei­ 41 Bronchialasthma, das zur Aufgabe der beruf­ trag. Im Invaliditätsfalle hatte er dann rd. 210 M lichen Beschäftigung oder jeder Erwerbsarbeit Jahresrente zu erwarten, sofern er 10 Jahre lang gezwungen hat (1961) Beiträge entrichtet hatte, bei 20jähriger Beitrags­ 42 Meniskusschäden nach mindestens dreijähriger entrichtung 270 M. Sofern er im Alter von 70 Jah­ regelmäßiger Tätigkeit unter Tage (1952) ren noch erwerbsfähig war, hatte er eine Alters­ 43 Erkrankungen der Sehnenscheiden oder des rente von 230 M zu erwarten. Die Angaben über Sehnengleitgewebes sowie der Sehnen- oder die durchschnittliche Rentenhöhe (vgl. Tab. 10) er­ Muskelansätze, die zur Aufgabe der beruf­ geben, daß eine Invaliditätsrente von 210 M vor lichen Beschäftigung oder jeder Erwerbsarbeit 1914 fast schon eine Höchstrente war. Man muß gezwungen haben (1952) nun weiter sehen, daß bei den Arbeiterfamilien 44 Tropenkrankheiten, Fleckfieber, Skorbut (1929) zwischen 52 und 54 v. H. der Gesamtausgaben auf 45 Abrißbrüche der Wirbeljortsätze (1952) die Nahrung entfielen, 15-17 v. H. auf die Woh­ nung. Vor diesem Hintergrund muß man fragen, F. Hauterkrankungen ob nicht die Schutzzollpolitik die "Effekte" der cc 46 Schwere oder wiederholt rückfällige H aut­ Rentenzahlungen mindestens "aufhob , denn "in­ erkrankungen, die zur Aufgabe der beruflichen folge der erhöhten Schutzzölle einerseits und der Beschäftigung oder jeder Erwerbsarbeit ge­ zunehmenden Industrialisierung andererseits stiegen zwungen haben (1929) dann im 20. Jahrhundert die Lebenskosten in 47 Hautkrebs oder zur Krebsbildung neigende Deutschland außerordentlich, und zwar weit mehr Hautveränderungen durch Ruß, Rohparaffin, als in England'( (C. v. Tyszka), der Index der Le­ Teer, Anthrazen, Pech oder ähnliche Stoffe benshaltungskosten in Preußen stieg von 1896/1900 (1925) = 100,0 auf 1906/1912 = 127,2. Al/ans Fischer ver­ trat darüber hinaus die "Ansicht, daß die im Deut­ schen Reich vor dem Kriege durchgeführte Wirt­ 3 Die gesetzliche Rentenversicherung schaftspolitik mit ihren hohen Getreidezöllen ... die Lebenshaltung verteuert und dadurch die Gesund­ 3.1 Die Rentenversicherung im Deutschen cc heit erheblich geschädigt hat • Kaiserreich (1889-1918) Paul Kau/mann allerdings gewann auf Dienstreisen Die Rentenversicherung bildete den vorläufi• für das Reichsamt des Innern den Eindruck, "daß gen Abschluß der staatlichen Sozialgesetzge­ die Invaliden- und Altersrenten trotz ihrer gerin­ gen Höhe unter den damaligen Verhältnissen der bung im Deutschen Reich, sie betraf die Risi­ überwiegenden Zahl der alternden Arbeiter ein ken Invalidität und Alter. Unter dem Ein­ gegen Wohnungs- und Nahrungssorgen geschütztes druck seiner staatspolitischen Mißerfolge ge­ Dasein sicherten und daß im kleineren Haushalt genüber der Arbeiterbewegung nahm Bismarck auch die bescheidene Rente einen verhältnismäßig hohen Wert hatte. Es war uns nicht entgangen - die "kein Interesse mehr an der ganzen Versiche­ allmählich wachsende Höhe der Einlagen bei den rungssache". So kam neben Karl Heinrich von Sparkassen und die große Verbreitung der sog. Boetticher vor allem dem Referenten im Reichs­ Volksversicherung haben es später bestätigt -, daß amt des Innern, Ministerialdirektor Erich von die Invaliden- und Altersversicherung durch Anleh­ Woedtke (1847-1902), das Hauptverdienst um nung an andere lebendige Gemeinschaften (Ge- .werkschaften?! - der Verf.) die Selbsthilfe der Ar­ die Ausarbeitung des Gesetzentwurfes zu. Das beiterschaft steigerte." (Die Zentralverbände der "Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Al­ freien Gewerkschaften gaben 1891-1913 aus: für tersversicherung" wurde 1889 mit knapper Arbeitslosenunterstützung: 65,803 Mio. M, für Mehrheit im Reichstag angenommen und trat Krankenunterstützung: 80,289 Mio. M, für Inva­ 1891 in Kraft. lidenunterstützung: 5,175 Mio. M, für Umzugs­ kosten und Beihilfen in Not- und Sterbefällen: Die Höhe der Renten läßt sich folgendermaßen ver­ 17,022 Mio. M.) deutlichen: Aus der (für Bayern, Sachsen und Baden Infolge der niedrigen Renten war die erhoffte Er­ so verfügbaren) Einkommensklassenstatistik ergibt leichterung der "öffentlichen Armenpflege" - offi­ sich, daß nur etwa 40-50 v. H. der Steuerzahler zielle Begründung des Reichszuschusses gegenüber ein Jahreseinkommen hatten, das den Betrag von manchesterlicher Argumentation - statistisch nicht 1200 M überstieg. Der größte Teil der Industrie­ nachweisbar. Für die geringe Rentenhöhe war ur­ arbeiterschaft dürfte also nicht viel mehr als 1200 M sächlidl, daß einmal den Arbeitern kein großer Sozialgesmichte der Sozialversimerung 449 finanzieller Beitrag zugemutet werden konnte, an­ sehen Arbeitgebern und Arbeitern geteilt, hin­ dererseits Bismarck auf ein Besitzbürgerturn Rück• zu kam der Reichszuschuß. sicht zu nehmen hatte, das mit der autoritären Staatsführung im Kaiserreich nur höchst unstet "zu­ frieden" war und seinen sozialpolitismen Intentio­ Um die Wirksamkeit einschätzen zu können, ist nen kaum Verständnis entgegenbrachte. Die Aus­ darauf hinzuweisen, daß nach der allgemeinen dehnung der Sozialversicherungsgesetzgebung sah Sterbetafel 1891-1900 von 100000 Geborenen es als staatlime Bevormundung und Behinderung männlichen Geschlechts nur 23 195 das 70. Lebens­ industriellen Unternehmergeistes an und "fürch• jahr erreimten, 7330 das 80. Lebensjahr (50. Lebens­ tete" ein "Pensionsspekulantenturn" bei den Arbei­ jahr: 49002,60. Lebensjahr: 38308). Für das Deut­ tern. Selbst Louis Baare gehörte 1890 zu den Indu­ sme Reim fehlen braumbare Angaben über die Be­ striellen, die behaupteten, die Wirtsmaft könne die rufssterblichkeit. Im übrigen liefern aber die nam "sozialen Lasten" nimt tragen, und glaubten, "drin­ theoretischen ("Zur Psychophysik der industriellen gend vor übertreibung der Menschenfreundlimkeit Arbeit") und methodologismen Vorarbeiten von warnen" zu müssen. Im übrigen hatte JohannFried­ Max weber durmgeführten Erhebungen des Ver­ rieb Jencke (1843-1910), Generaldirektor der Fa. eins für Sozialpolitik über "Auslese und Anpassung Krupp und sozialpolitischer Fammann des Zentral­ (Berufswahlen und Berufssmicksal) der Arbeiter­ verbandes deutsmer Industrieller, den maßgeblim• schaft der geschlossenen Großindustrie" einige nütz• sten Anteil an der internen Diskussion des Gesetzes liche Hinweise. Al/red weber, der mit Heinrich 9 im Preußischen Volkswirtschaftsrat • Herkner und Gustav Sebmoller den "Arbeitsplan" Für die aus unterschiedlichen Motivationen heraus ausgearbeitet hatte, gab 1912 u. a. folgende Dar­ allseits unbeliebte Rentenversimerung war nun ver­ stellung der Ergebnisse: "Immer smon bald nach mutlich mit entscheidend der Sturz Bismarcks (1890), seinem 40. Jahre tritt eine Situation ein, die ihn in dessen Verlauf er sim zu Unremt von Karl Hein­ aus diesem Posten (,besser bezahlte Stellen') wieder rich von Boettieber distanzierte. Dadurm fehlte die­ herauszudrängen sucht: - er beginnt, in den hom­ sem Versicherungszweig insgesamt ein kontinuier­ bezahlten Stellen weniger zu leisten und weniger liches, spezifisches staatlimes Interesse (im Gegen­ zu verdienen, er fängt infolgedessen an, auf diesen satz etwa zur Unfallversimerung!), darüber hinaus Stellen gewissermaßen lockerer zu sitzen, so daß konnte man die Verwaltung nicht bei vorhandenen irgendein Simschütteln der kapitalistismen Wirt­ sozialen Institutionen einrichten, man gründete des­ smaft ihn sehr leimt abwirft. Wirft es ihn hinaus, halb im Anschluß an das Gebiet der Bundesstaaten, so läßt eine Entlassung ihn im ganzen nicht wieder Provinzen und Regierungsbezirke neue Träger, die in eine gleimgute Stellung wie die verlassene ge­ Landesversicherungsanstalten (LVAen, insgesamt 31, langen. Er ist in Gefahr, zu sinken, und in den mei­ hinzu kamen nom 10 "besondere Kasseneinrimtun­ sten Fällen sinkt er tatsämlich von da an aum. Wir gen"). Hier war von Anfang an der sonst üblime wissen bisher nicht genau, wohin diese mehr oder Einfluß von "Praktikern" in der Selbstverwaltung weniger morbid gewordenen über 40jährigen Ar­ zurückgedrängt zugunsten von staatlimen Beamten, beitskräfte kommen. Es smeint, sie sinken zum Teil die meist wohl "aufsimtsfromm" waren. in die peripheren Außensmläge des Apparats zu­ rück, also zu den Taglöhnerarbeiten, zum Packen, Kehren, Fahren und ähnlimen Dingen. Sie sinken, Das Gesetz erfaßte mittels Versicherungspflicht wenn die Fabrik auf dem Lande liegt, zum Teil alle Lohnarbeiter und unteren Betriebsbeam­ aum in dieses zurück und werden von irgendwel­ ten vom 16. Lebensjahr an. (Von 62,98 Mio. chen Häuslerwohnungen mit Armen- und Aliment­ der Gesamtbevölkerung im Deutschen Reich nutzung, vielleimt im besten Fall von ihren alten waren 1908 versichert: 13,18 Mio. bei der heimatlichen Häusern aufgenommen... Was aber aum gesmieht, aum wenn die Arbeitskraft irgend­ Krankenversicherung, 23,67 Mio. bei der Un­ wie und sogar in Aufsichtsstellen in der Fabrik fall- und 15,23 Mio. bei der Invalidenversiche­ gehalten wird, immer verschlemtert sim ihre rung.) Altersrente wurde nach einer grund­ Lage ... Und das Arbeitersmicksal hat also hier den sätzlichen Wartezeit von 30 Beitragsjahren Smeitel, an dem es bricht und von dem an es in vom 70. Lebensjahr an vorgesehen (1916 wurde eine Tiefe steigt." Als Möglimkeit, das Berufs­ smicksal der Industriearbeiter "zu einem mensm­ die Altersgrenze vom 70. auf das 65. Lebens­ lim erträglimen" zu erheben, sah er "den Ausbau jahr herabgesetzt). Die Beiträge waren zwi- unserer schon bestehenden staatlichen Zwangsver­ sicherung an, mit dem ausgespromenen Zweck, die 9 Vgl. für die Anfänge der Invalidenversicherung smmähliche Situation zu beseitigen, durch die der die sehr interessante Smilderung von Hermann Alt­ ältere, nicht mehr vollwimtige Arbeiter ,ad nutum' hoff (Lit.-Verz.). des Unternehmers gestellt wird, eine Rente, die ihm

29 Sozialmedizin, Bd. III 450 Florian Tennstedt einfach aconto eines bestimmten Alters zufließen, Staat nicht bereit war, das Risiko der Arbeits­ und die ihm gegenüber der Eventualität der Ent­ losigkeit in irgendeiner Form zu versichern, Rü~grat lassung ein stärkeres und bei dem Hinaus­ behaupteten die Referenten im Reichsamt des gedrängtwerden aus den besseren Stellen eine Er­ gänzung seines verminderten Einkommens bieten Innern einfach (ebenso unbegründet wie falsch), würde, eine Rente, sagen wir zunächst vom 55., daß die größere oder geringere Gelegenheit zur besser vom 50. Jahre an, ergänzt für ftühere Jahr­ Arbeit "mit der körperlichen oder geistigen gänge, soweit es geht, durch freie Privatinitiative ... Fähigkeit zur Fortsetzung der Erwerbstätig• Man wird mir vorhalten und man hat mir vor­ keit begrifflich nichts zu tun habe". Diese an­ gehalten, wie gerade ich sie vertreten kann, der ich gegen ,die Pensionsversicherung des Lebens' zu Feld gebliche "begriffliche" Verschiedenheit ist nun gezogen sei. Gewiß: aber es ist ein Unterschied, ob im Zusammenhang mit der geringen Renten­ man Schichten, die sich selber helfen können, zur höhe zu sehen: erst dann kann man die Acs­ Gedankenlosigkeit und Bequemlichkeit erzieht, oder wirkungen des Gesetzes richtig einschätzen. Die ob man andere vor der Zerreibung ihres Daseins schützt. Wer gegen die krankhaften ,Sekuritätsten• Rente sollte "nur für den notdürftigen Lebens­ denzen' der mittleren und oberen Schichten der unterhalt an billigem Orte" ausreichen - ihrem heutigen Gesellschaft ankämpft, tut etwas anderes, Betrag nach wurde sie dann faktisch nur halb wenn er auf Mittel sinnt, die die unteren vor dem so hoch wie hierbei (1887) noch vorgesehen!-, Versinken schützen." Daraus ergibt sich, daß die und dieses sollte dazu führen, daß die "Ren­ Altersrente viel zu spät einsetzte, um adäquat wirk­ sam zu sein, und auch die Invaliditätsrente konnte tenempfänger tunlichst auf dem Lande ihre diesem Mangel nicht abhelfen. Wohnung nehmen, dadurch die Bevölkerung des platten Landes vermehren und letzterem Die meisten Schwierigkeiten und Probleme neben dem Reste ihrer Arbeitskraft auch ver­ brachte die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit mehrten Geldumsatz zuführen" (Grundzüge, (Invalidität) 10. Abgesehen von ihrer Höhe 1887). waren ihre Tatbestandsmerkmale denkbar re­ striktiv definiert: der Versicherte erhielt diese Ihrer absoluten Zahl nach waren die meisten Inva­ Rente erst dann, wenn er infolge seines kör• liditätsrentner ehemalige gewerbliche Arbeiter, be­ perlichen oder geistigen Zustandes nicht mehr zogen auf die Zahl der Versicherungspflichtigen wies jedoch die Landwirtsmaft weit mehr Invalidi­ imstande war, durch eine ihn in seinen Kräften tätsrentner auf: 16,3 Promille gegenüber 11,7 in und Fähigkeiten nicht überfordernde Tätigkeit der Industrie und 9,8 in Handel und Verkehr. einen Lohnbetrag zu verdienen, dessen Höhe Altersrentner gab es in der Landwirtschaft viermal gleichkam mit der Summe aus einem Sechstel soviel wie in der Industrie (27,3: 7,3). Betrachtet seines eigenen Lohnsatzes in den vergangenen man außerdem, daß auf die Altersgruppe ab 50 Jahre 80,5 v. H. der Invaliditätsrenten entfielen, dann ist fünf Jahren und einem Sechstel des "ortsübli• auf den Altersaufbau in den einzelnen Berufsgrup­ chen Tagelohns gewöhnlicher Tagearbeiter des pen als wesentlimer Faktor der Invaliditätsvertei• letzten Beschäftigungsorts". Diese sog. Ein­ lung hinzuweisen: 1895 waren 19,3 v.H. der männ• Drittel-Invaliditätsgrenze war, wie der be­ lichen Lohnarbeiter in der Landwirtschaft 50 Jahre deutendste Sozialpolitiker der SPD, Hermann und älter, in der Industrie waren es 9,7 v. H. Molkenbuhr (1851-1927), 1899 ausführte, "so Insgesamt gesehen führten die mannigfachen gelegt, daß ein Arbeiter nicht eher zu Rente Restriktionen dazu, daß die Zahl der bewillig­ kommt, als bis er so weit herunter ist, daß er ten Invaliditätsrenten stark hinter den Erwar­ längst Alumne einer Armenanstalt geworden tungen zurückblieb und die gesamte Invaliden­ ist". Hinzu kam, daß die bei der Anspruchs­ versicherung Gegenstand zahlreicher Proteste, voraussetzung ursprünglich (Entwurf 1887) "Anklagen" und Petitionen wurde. Deshalb vorgesehene Bezugnahme auf die "vorhandene wurde in dem 1899 verabschiedeten "Invali­ Arbeitsgelegenheit" weggefallen war. Da der denversicherungsgesetz" der Invaliditätsbegriff etwas günstiger gefaßt. Danach war erwerbs­ 10 Vgl. die ausführliche Darstellung bei F. Tenn­ stedt: Berufsunfähigkeit im Sozialrecht, Frankfurt unfähig, wer infolge vonAlter, Krankheit oder 1972. anderer Gebrechen nicht mehr imstande war, Sozialgeschichte der Sozialversicherung 451 durch eine ihn nicht überfordernde ("entspre­ gliedern ernannt. Die Anzahl der "echten" (haupt­ chende") Tätigkeit, die ihm unter billiger Be­ amtlichen) Vertrauensärzte vor Ort war aber ge­ ring gegenüber der Zahl der Vertrauensärzte, die rücksichtigung seiner Ausbildung und seiner man auf vertraglicher Basis zur Begutachtung der bisherigen Tätigkeit zugemutet werden konnte, Rentenbewilligungen und Heilverfahren angestellt "ein Drittel desjenigen zu erwerben, was kör• hatte, weil sie dem Vorstand besonders vertrauens­ perlich und geistig gesunde Personen derselben würdig erschienen und nur so die "Versorgung" Art mit ähnlicher Ausbildung in derselben Ge­ ihres mitunter recht großen Zuständigkeitsbereiches (neben - 1909 - 408 Kontrollbeamten insgesamt), gend durch Arbeit zu verdienen" pflegten. die LVAen hatten keinen örtlichen "Unterbau", ge­ Diese Definition war etwas besser als die vor­ währleistet war. angegangenen, wenngleich sie die Ein-Drittel­ Grenze ebensowenig aufgab wie die abstrakte Die aufgrund des massiven staatlichen Eingriffs Betrachtung im Hinblick auf wirklich vorhan­ erfolgte "Rentendrückerei" war folgenreich : dene Arbeitsgelegenheit. fortan unterblieben alle Versuche von seiten der LVAen, ihre Rentenleistungen kunden­ Die Folgen des 1900 in Kraft getretenen Gesetzes orientiert auszubauen, wie es bei den Kranken­ waren unerwartet: 1899 waren 96665 Renten fest­ kassen und - in bezug auf das Heilverfahren gesetzt worden, 1900 waren es schon 125759, also und die Berufsfürsorge - auch bei den BG, die eine Steigerung um 30,1 v. H., bei der LVA West­ preußen stieg die Zahl sogar um 44,5 v. H. Von dadurch auch dem Gesetzgeber neue Modelle diesen Steigerungen war nur etwa die Hälfte auf gezeigt hatten, der Fall gewesen war. Die Be­ konkrete Gesetzesverbesserungen zurückzuführen. mühungen von SPD und Zentrum um eine Auf Veranlassung des Reichsamts des Innern muß• Leistungsverbesserung durch Gesetzesnovellie­ ten nun Beamte des RVA, begleitet durch Paul Kaufmann (1906-1923 Präsident des RVA!) als rung scheiterten an konservativen Stimmen, Kommissar des Reichsamts des Innern, die "eine die hinsichtlich von vermuteten "Fehlbeträgen" besonders hohe Zunahme aufweisenden Versiche­ bei den LVA feststellten: "So schwer die rungsanstalten" bereisen, "um an Ort und Stelle deutsche Bürgerschaft schon an den bisherigen die Ursachen dieser Erscheinung zu erforschen" und Lasten der Sozialreform zu tragen hat, genügt um auf die "Beseitigung der ermittelten Mängel hinzuwirken" (AN 1906, 370). Von 1901 bis 1911 doch das alles bei weitem noch nicht, um die wurden insgesamt 19 Landesversicherungsanstalten Kosten der Arbeiterv1ersorgung zu decken. Eine (LVA) ein- oder mehrmals "bereist": unmittelbar noch drückendere B,esteuerung scheint unver­ danach ging die Zahl der Rentenbewilligungen je­ meidlich. Zu den sittlichen Mißständen, den weils um 30-35 v. H. zurück, bei der LVA West­ sozialen Schäden, finanziellen Opfern und po­ preußen sogar um 61,4 v. H. Als Hauptursachen wurden festgestellt: einmal eine "falsche" Tatbe­ litischen Gefahren des Krankenkassenwesens standsinterpretation (Annäherung des Erwerbs­ kommt noch die ernste Sorge um die für die unfähigkeitsbegriffs an Berufsinvalidität und vor­ Invaliditätsversicherung zu beschaffenden Mit­ handene Arbeitsgelegenheit - vermutlich entspre­ tel, welche unsere Bürgerschaft vollends zu er­ chend dem Ausruf eines Beisitzers der LVA Rhein­ schöpfen drohen ... Es steigen hier Fragen provinz: "Ja, mein Gott, das sieht doch jeder halb­ wegs vernünftige Mensch, daß der Mann invalide auf, von deren Lösung der wirtschaftliche und ist"), und zum anderen hatten "die zu den Renten­ soziale Bestand, das Wohl oder Wehe des Rei­ anträgen beigebrachten Atteste größtenteils nicht ches abhängt" (Schles. Ztg. 26. 6. 1904). den Anforderungen entsprochen, die an sie gestellt Diese Klagen ergingen während eines glänzen• werden müssen, waren vielmehr dürftig, oA: un­ den ökonomischen Wachstums mit entsprechen­ genau und wenig geeignet, den Verwaltungsbehör• den und Schiedsgerichten ein Urteil darüber zu er­ den industriellen Gewinnen. Von 1907 bis 1913 möglichen, ob Invalidität gegeben sei oder nicht" wurde die Steinkohlenförderung um ~in Drit­ (MBl. Med. Angel. 1906, 31). tel von 143 auf 191 Mio. t erw'eitert, die als Hierzu muß gesagt werden, daß die LVA teilweise staatstreu geltenden Knappschaftsältesten des einen oder mehrere Vertrauensärzte als Hilfsarbei­ Niederschlesischen Knappschaftsvereins aber ter des Vorstandes angestellt hatten, teilweise hat­ ten sie Arzte als Landesmedizinalräte verbeamtet sandten 1907 eine Petition an den Reichstag. und evtl. sogar zu stellvertretenden Vorstandsmit- In dieser, eine unter vi'elen ähnlichen, führten 452 Florian Tennstedt sie aus: der Anspruch auf Reichsrente sei kolos­ rung, die die Angestellten als "Privatbeamtece sal erschwert, weil der Antragsteller nach ärzt• den "Staatsbeamten" annähern sollte, hatte sich lichem Gutachten meistens noch ein Drittel sei­ seit 1900 'eine glänzend organisierte und nahe­ nes früheren Jahr,esverdienstes verdienen zu einheitliche Angestelltenbewegung entfaltet, könne; aber weder die Vertrauensärzte der die die zuvor bestehende Zersplitterung, Be­ LVA noch die LVA selbst "können sagen, wie fehdung und Gruppierung der rd. 50 "Ange­ und wo sich der Antragsteller noch ein Drittel stelltence_ver'eine überwand und deren überge• seines früheren Jahresverdienstes verdienen ordnetes Ziel ein "Angestelltenklassengefühlce kann ... Warum zahlen wir noch Beiträge zur war. Reichsinvalidenkasse, wenn wir, im bittersten Die Vorteile der Angestelltenversicherung (ver­ Elend und unverschuldeter Not sitzend, de.r sichert waren zunächst nur Angestellte mit Wohltat dieser Reichsversiche.rung nicht teilhaf­ einem Jahresgehalt bis 5000 M) waren im tig werden können, weil wir noch eine leichte wesentlichen dreifacher Art: Arbeit sollen verrichten können". Die Referenten im ReichsaInt des Innern stell­ 1. Altersruhegeld wurde schon mit Vollendung des ten 1910 zufrieden fest: "Infolge der amtlichen 65. Lebensjahres gezahlt. Bereisungen sind in den bereisten Bezirken 2. Hinterbliebenenbezüge für Witwen waren nicht auf invalide Witwen beschränkt, weil Angestellten­ wieder normale Verhältnisse eingetreten" (RT­ witwen "wegen mangelnder Ausbildung nach dem Drucks. 1909/11, Nr. 340, S. 399). Tode des Mannes in vielen Fällen schwer eine ge­ Von dieser Perspektive aus lehnte die Reichs­ eignete Berufstätigkeit finden oder sich beliebigen regierung auch kategorisch ab, durch die Rva Erwerbsformen nicht so leicht anpassen können wie eine günstigere Invaliditätsdefinition einzu­ Arbeiterwitwen. Hierzu kommt, daß die höheren Aufwendungen für die Ausbildung und Erziehung führen: wenn dies geschehe, "so wäre zu be­ der Kinder gegenüber dem Arbeiterstande die Not­ fürchten, daß wiederum ein bedenkliches lage noch verschlimmern ... Man kann deshalb nicht Schvlanken in der Handhabung eintret'en bestreiten, daß ein ernstes und allgemeines sozial­ könnte. Es würden sich voraussichtlich dieselben politisches Bedürfnis vorliegt" (RT-Drucks. 1909/11, Nr. 1033, S. 68). Schwierigkeiten und Unzuträglichkeiten wie 3. Statt Erwerbsunfähigkeitsrente wurde für die nach dem Inkrafttreten des Invalidenversiche­ Angestellten eine Berufsunfähigkeitsrente geschaf­ rungsgesetzes, die Unsicherheit in der Recht­ fen, die in den Voraussetzungen angeblich der sprechung, viele unberechtigte Rentenbewilli­ Dienstunfähigkeit in der Beamtenversorgung ent­ gungen, eine erhebliche Zunahme der Berufun­ sprach. Von der allgemeinen Erwerbsunfähigkeit (Invalidität) unterschied sich die Berufsunfähigkeit gen und Revisionen wiederholen" (ebenda). folgendermaßen: Invalidität setzte zwei Drittel Statt dessen wurde "inder Hoffnung, die An­ Verminderung der Arbeitskraft voraus, Berufs­ gestellten von dem gefürchteten Abschwenken unfähigkeit war aber schon bei mehr als der Hälfte ins rote Lager abhalten zu können" (0. Melt­ Verminderung der Arbeitskraft gegeben. Im Hin­ zing), für diese eine Sonderversicherung ge­ blick auf die verbliebene Erwerbsfähigkeit war bei der Invalidenversicherung eine Verweisung auf schaffen: 1911 wurden durch das "Versiche­ den allgemeinen Arbeitsmarkt möglich, während in rungsgesetz für Angestellte" "Versicherte erster der Angestelltenversicherung die Verweisbarkeit und zweiter Klasse" (W. Kaskel) geschaffen. ungleich stärker eingeschränkt war, die abstrakte Präsident der neugegründeten Reichsve.rsiche­ Betrachtungsweise galt aber auch hier. rungsanstalt für Angestellte (RfA) wurde der Für die Versicherung der Angestellten entfiel aller­ dings der Reichszuschuß, man glaubte, ihnen und Referent aus der sozialpolitischen Abteilung den Arbeitgebern eine entsprechend höhere Bei­ im Reichsamt des Innern, Wilhelm Koch (1863 tragslast zumuten zu dürfen, war ihnen doch "in bis 1942), der das Gesetz - neben dem Statisti­ gewissem Sinne die Führung der deutschen Arbeiter ker Adolph Beckmann (1859-1925), der Vize­ anvertraut" (RT-Drucks. 1909/11, Nr.1035, S. 80). präsident wurde - vor allem konzipiert hatte. So wie die Mitwirkung in der Selbstverwaltung der Krankenversicherung die reformistische Tendenz in Sie traten 1922 bzw. 1924 in den Ruhestand. den freien Gewerkschaften und der SPD förderte ­ Im Kampf für diese besondere Rentenversiche- "die praktische Mitarbeit in der socialen Versiche- Sozialgeschichte der Sozialversicherung 453 rung hat tatsächlich schon in Tausenden das Ver­ Hier setzte sich nun Herman Gebhard (1843-1906), ständnis für die Grenzen des wirtschaftlich Mög• 1891-1906 Direktor der LVA der Hansestädte, lichen erweckt" (Dt. Krankenkassen-Zeitung 1906, schon Ende 1891 über diesen Gesetzeswortlaut hin­ S. 259) -, so ist "die Differenzierung unserer moder­ weg und schuf Vereinbarungen mit den Kranken­ nen Arbeitnehmerschaft auch in politischer und ge­ kassen, in deren Folge die LVA die Heilbehand­ seIlschaftspolitischer Hinsicht durch diesen Akt der lung contra legern schon im frühen Stadium über• Versicherungspolitik entscheidend beeinflußt wor­ nahm. Diese Möglichkeiten der vorbeugenden Ge­ den; die im ganzen konservative Orientierung brei­ sundheitsfürsorge unterstützte TOnio Bödiker sofort ter bürgerlicher Wählerschichten auch nach dem Zu­ und rief deshalb im Frühjahr 1893 die Vorstände sammenbruch des Kaiserreiches hat hier eine ihrer der LVA zu einer Konferenz in das RVA, doch Ursachen" (C. fantke). diese waren "über den Nutzen dieser netten Er­ mächtigung sehr geteilter Meinung und wollten nur Im Gegensatz zu den Pflichtleistungen der In­ zögernd an sie herantreten" (P. Kaufmann). 1894 validenversicherung fanden deren freiwillige verfaßte Herman Gebhard aufgrund der bisherigen Leistungen mehr Anklang. Vor allem wurde Erfahrungen eine Denkschrift und trat für die Heil­ sie führend auf dem Gebiet der Heilverfahren behandlung Lungenkranker auf Kosten der Inva­ lidenversicherung ein. 1894 wurden 145 Lungen­ für Tuberkulose und andere Volkskrankhei­ kranke auf Kosten der LVA der Hansestädte ver­ ten, weil sie - im Gegensatz zu den Kranken­ schickt. 1895 eröffnete die LVA Hannover ihre erste kassen - vor dem Ersten Weltkrieg über rela­ eigene Heilstätte in Königsberg bei Goslar. 1897 tiv umfangreiche finanzielle Mittel verfügt,e. errichtete auch die LVA der Hansestädte eine eigene Die entsprechenden Aktivitäten wurden - ohne Heilstätte in Oderberg bei St. Andreasberg (1903 hatte diese LVA zwei Heilstätten und drei Heime). staatlichen Beistand - aus der Selbstverwaltung Damit hatten die Invalidenversicherungsanstalten heraus entwickelt. die auf Herrmann Brehmer (1826-1889) zurück• gehende Heilstättenbewegung auch auf Arbeiter­ In den Jahren 1887/91 starben im Deutschen Reich kreise ausgedehnt (die erste "Volksheilstätte" mit von 10000 Einwohnern 30,4 an Lungenschwind­ 25 Betten hatte der Frankfurter Verein für Rekon­ sucht, 1897/1901 waren es 21,8, 1907/11 waren es valeszenten-Fürsorge 1892 in Falkenstein im Tau­ 18,4, die an Tuberkulose starben. Die Tbc-Sterb­ nus eröffnet). Sie wurden darin bestärkt durch die lichkeit in den Städten Preußens betrug 1905/06 1896 erfolgte Gründung des "Deutschen Zentral­ 22,76. Auf 1000 männliche versicherungspflichtige komitees zur Errichtung von Heilstätten für Lun­ Mitglieder der Leipziger Ortskrankenkasse kamen genkranke", das unter dem Patronat des Reichs­ 1887/1906 durchschnittlich 27,67 durch Tbc ver­ kanzlers Chlodwig von H ohenlohe-Schillingsfürst ursachte "Krankmeldungen" mit 1272,4 Krank­ stand und sich vor allem der Propaganda des Heil­ heitstagen. 1896/99 wurden 16 v. H. aller männ• stättengedankens und der Unterstützung des Heil­ lichen Invalidenrentner durch Tbc invalide, bei stättenbaues widmete. Frauen waren es 10,5 v. H. Die Tuberkulose war die bedeutendste Volkskrankheit: sie nahm in jeder Fortschritte in dieser Richtung brachte dann Krankenkassen-, Invaliditäts- oder Sterblichkeits­ das Invalidenversicherungsgesetz. "Es gelang statistik den ersten oder zweiten Platz ein. Um im § 18 dieses Gesetzes, die inzwischen, nicht 1900 kam auf 2-3 v. H. der städtischen Bevölke• zuletzt dank dem unermüdlichen Treiben des rung aktive Tbc. RVAmts, auf dem Boden der Selbstverwal­ Bei der Beratung des Gesetzes über Invalidi­ tung ausgebildeten Grundsätze über eine Heil­ täts- und Altersversicherung im Reichstag war fürsorge der LVA gesetzlich zu verankern" dort eine fast als nebensächlich betrachtete Be­ (P. Kaufmann). (Präsident des RVA war von stimmung aufgenommen worden, wonach die 1897-1906 Otto Gaebel [1837-1906]). Hier Versicherungsträger das Recht hatten, die wurde den LVA die Befugnis g,egeben, wenn Krankenfürsorg'e "für einen erkrankten, der "ein Versicherter dergestalt erkrankt, daß in­ reichsgesetzlichen Krankenfürsorge nicht (!) folge der Krankheit Erwerbsunfähigkeit zu unterliegenden Versicherten ... zu überneh• besorgen ist, welche einen Anspruch auf reichs­ men, sofern als Folge der Krankheit Erwerbs­ ges'etzliche Invalidenrente begründet", zur Ab­ unfähigkeit anzusehen ist, welche einen An­ wehr dieses Nachteils "ein Heilverfahren in spruch auf reichsgesetzliche Invalidenrente be­ dem ihr geeignet erscheinenden Umfange ein­ gründet". treten zu lassen". Die Krankenkassen wurden 454 Florian Tennstedt begrenzt ierstattungspflichtig. Den Angehöri• Für die Statistik der Erfolge der LVA-Heilverfah­ gen des Pfleglings war eine Angehörigenunter• ren auf diesem Hintergrund gilt nun, was seither ein Kennzeichen sämtlicher Heilverfahren der LVAen stützung zu zahlen. Außerdem wurde be­ ist, daß sie trotz umfangreichen Zahlenmaterials stimmt, daß die LVA ihr Vermögen bis zur kaum etwas über den Wert der Heilstättenbehand• Hälfte "für solche Veranstaltungen, welche lung aussagen. Aus kleineren, einzig brauchbaren ausschließlich oder überwiegend der versiche­ Statistiken ist ersichtlich, daß von den Nichtheil­ stättenbehandelten nach Verlauf von vier Jahren rungspflichtigen Bevölkerung zugute kommence, ungefähr ebensoviel starben wie bei den Heilstät• anlegen durften (bis dahin: ein Viertel, sonst tenbehandelten nach Verlauf von sechs Jahren. mündelsichere Papiere). Unter bestimmten Auch abgesehen von den Todesfällen zeigten die Voraussetzungen konnten auch die überschüsse Heilstättenbehandelten durchweg günstigere Zah­ des Sondervermögens "zu anderen als im Ge­ len. Daraus wurde gefolgert, daß die Heilstätten• setz vorgesehenen Leistungen aus wirtschaft­ behandlung jeder anderen Behandlungsweise über• legen ist; "der Nutzen aber, den sie stiftet, ist gleich lichem Interesse der der Versicherungsanstalt weit entfernt von jenen überschwenglichen Hoff.. angehörenden Rentenempfänger, Versicherten nungen, die die Bahnbrecher der Heilstättenbewe• sowie ihrer Angehörigen verwendet werden". gung gehegt hatten ... und von jener vollständigen Die Rva löste die vorbeugenden Heilverfah­ Ablehnung, die zu Beginn dieses Jahrhunderts als ren von der Voraussetzung, daß andernfalls Reaktion gegen diese übertreibungen und gegen die Einseitigkeit der Heilstättenbewegung gerade von eine Rentenzahlung zu befürchten sein müßte. sozialhygienischer Seite erfolgte" (L. Teleky). Dadurch konnte vo.r allem bei Versichert'en mit weniger als 200 Beitragswochen (500 bei Aus der Erkenntnis, daß die Heilstätten, die freiwillig Versicherten) ein Heilverfahren ein­ primär die Wiederherstellung der Erwerbs­ geleitet werden. fähigkeit zum Ziele hatten und daher die Prophylaxe bei der Gesamtbevölkerung a Von den 1903 bestehenden 80 Lungenheilstätten für Erwachsene mit 6998 Betten waren die LVA Eigen­ priori nicht betreiben konnten, also "für die tümer bei 13 mit 1378 Betten, 1915 bestanden 158 Bekämpfung der Tuberkulose als Volkskrank­ Anstalten mit 16053 Betten, die LVA hatten 41 mit heit - für die Verhütung stets wiederkehren­ 5494 Betten. In ständiger Behandlung wegen Lun­ der neuer Erkrankungen - kaum in Betracht" gen-Tbc auf I(osten der Invalidenversicherung kamen (A. Grotjahn), bahnte sich nach der waren 1915 24634 Erwachsene. Die durchschnitt­ lichen Kosten für eine Person betrugen etwa 400 M. Jahrhundertwende in der allgemeinen Bekämp• Da es Schwierigkeiten machte, die "richtigen" Pa­ fung der Tuberkulose ein Wandel an. Auf­ tienten, also im geeignetsten Tbc-Stadium, zu be­ fälligster Indikator dafür war, daß das "Zen­ kommen, wurden zur Beobachtung Vor- und Durch­ tralkomitee zur Er.richtung von Lungenheil­ gangsstationen eingerichtet und durch Angehörigen• stättence sich 1906 in "Deutsches Zentralkomi­ unterstützung die materielle Lage der Familie ver­ bessert. So wurden 1913 für 34170 wegen Tbc be­ tee zur Bekämpfung der Tuberkulose" umbe­ handelte Männer 14,404 Mio. M gezahlt, davon nannte und sich in den Mittelpunkt der Tu­ entfielen 3,056 Mio. M auf Familienunterstützung. berkulosefürsorge stellte. 1911 gründete es eine Im Hinblick auf die Erfolge der H'eilstätten• besondere Kommission für den Ausbau des bewegung ist zunächst grundsätzlich festzu­ Auskunfts- und FürsorgesteIlenwesens für Lun­ stellen, "daß die Verbreitung der Tbc aufs genkranke, 1913 schuf es das "Tuberkulosefür• engste mit wirtschaftlichen, sozialen, beruf­ sorgeblatt" und veranstalt'ete von diesem Jahr lichen Verhältnissen zusammenhängt, ja, daß ab Fürsorgestellentage, die dem Erfahrungs­ allein diesen Verbesserungen und Maßnahm'en austausch dienten. die Hauptbedeutung zukommt" (L. TelekyJ. Die Idee der Fürsorgestellen in ihrer vollkommenen SO wird der Verlauf der Tbc-Kurve primär Ausgestaltung geht vermutlich auf den französischen von den "sozialen Verhältnissen" bestimmt, Bakteriologen Albert Calmette (1863-1933) zurück, demgegenüber kam den besonderen Heilver­ der 1899 über seine Pläne zu den Fürsorgestellen (Dispensaires antituberculeux) ausgeführt hatte: "In fahr'en von vornherein nur sekundäre Funk­ allen Städten, vor allem in den Industriestädten, tion zu. soll man FürsorgesteIlen einrichten, ausschließlich Sozialgeschichte der Sozialversicherung 455 bestimmt zur Prophylaxe der Tbc durch hygienische kulose und Heilverfahren in den Selbstver­ Belehrung der Bevölkerung und durch häuslichen waltungsgremien der LVA zurückzuführen Beistand für jene zahlreichen Tuberkulösen, die we­ sein, die gegenüber kompetenter sozialmedi­ der in Spitälern noch in Heilstätten aufgenommen werden." 1901 eröffneten er und seine Freunde das zinischer Kritik immuner waren als gegenüber entsprechende "Dispensaire Emile Roux" in Lille. den - an sich berechtigten - Erholungswün• Ansätze für FürsorgesteIlentätigkeit, auf denen schen der erkrankten Versicherten. Hinzu kam, "aufgebaut" werden konnte, waren an mehreren daß die Heilstätten den LVA zu einer gewis­ ürten Deutschlands bereits früher vorhanden (im sen Popularität verholfen hatten und fast einzelnen besteht Prioritätenstreit) 11, die umfassen­ de Fürsorgetätigkeit mit dem Mittelpunkt Fürsorge• schon Prestigeobjekte geworden waren. In die­ steIle, die hygienisch-prophylaktische Aufgaben mit ser Hinsicht bildeten vor dem Ersten Welt­ wirtschaftlicher Fürsorge verband, ging aber von krieg nur die LVA Thüringen (seit 1906; 1910 LilIe aus. 1903 wurden die belgisch-französischen erstmalige Aufstellung fester Beihilfegrund­ Modelle auf einer Tagung des engeren Rats des In­ sätze für FürsorgesteIlen, Vorstandsvorsitzen­ ternationalen Zentralbureaus zur Bekämpfung der Tbc in Paris bekannt. Daraufhin veranlaßte Fried­ der war GottholdElle [1851-1910]) undGroß• rieh Altho/f (1839-1909) eine entsprechende Stu­ herzogtum Hessen eine Ausnahme. Vor allem dienreise des Vortragenden Rats in der Abteilung letztere sorgte unter ihrem Vorsitzenden Au­ für Medizinalwesen des preußischen Kultusministe­ gust Dietz (1854-1920) dafür, daß ein relativ riums, Martin Kirdmer (1854-1924), einem ehema­ engmaschiges Netz von FürsorgesteIlen im ligen Mitarbeiter von Robert Koch, der ihre Bedeu­ tung im Kampf gegen die Tuberkulose erkannte. Großherzogturn Hessen aufgebaut wurde, in Demgemäß empfahl noch 1903 der preußische Kul­ besonders stark von der Tbc heimgesuchten tusminister die Einrichtung entsprechender"Wohl­ Bezirken (z. B. Heubach) wurden systematische fahrtsstellen für Lungenkranke". Ende 1904 exi­ Sanierungsversuche angestellt. August Dietz stierten dann schon 26 Polikliniken und Fürsorge• stellte außerdem ein Tuberkulose-Wandermu­ steIlen für Lungenkranke (Dispensaires), 1918 gab es 818 Auskunfts- und FürsorgesteIlen für Lungen­ seum zusammen, das selbst in der kleinsten kranke in Deutschland, außerdem existierten noch Gemeinde vorgeführt und erläutert wurde, 538 Bezirks- und ürtsausschüsse des Badischen u.v.a;m. Gegenüber der Tbc-Bekämpfung tre­ Frauenvereins. ten die Maßnahmen der LVA gegen andere An dieser allgemein anerkannten Tuberkulose­ Krankheiten (rheumatische Erkrankungen, Ge­ prophylaxe und -bekämpfung durch Fürsorge• schlechtskrankheiten, Herzleiden, Diabetes, steIlen beteiligten sich die LVA nur in gerin­ Krebs, Nervenleiden, Alkoholismus u. a.) nu­ gem Maße. Von den 1913 bestehenden 776 merisch zunächst zurück, weshalb hier auf eine FürsorgesteIlen betrieben Vereine 350, Städte, eingehende Darstellung verzichtet wird. Kreise usw. 412, Krankenkassen 1, LVAll, Hinzuweisen ist auf die systematische Bekämp• Privatpersonen 2. Selbst wenn man berücksich• fung der Geschlechtskrankheiten, die seit den tigt, daß Zuschüsse zu den FürsorgesteIlen ge­ internationalen Konferenzen in Brüssel 1899 leistet wurden, war ihr Interesse allgemein und 1902 intensiviert wurde. 1902 wurde die gering. Dieses dürfte u. a. auf die "festgefah­ Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Ge­ rene Ideenverbindung" (H. Grass) von Tuber- schlechtskrankheiten gebildet. 1901 hielt das RVA die Träger der Invalidenversicherung an, 11 Häufig genannt wird vor allem die 1899 gegrün• mehr als bisher und zusammen mit den Kran­ dete Tuberkulose-Fürsorgestelle in Halle/S., die der kenkassen der Heilbehandlung der Geschlechts­ Stadtrat Ernst A. Pütter (1864-1942) aus der Für• sorge für Heilstättenentlassene entwickelt hatte. In krankheiten ihre besondere Aufmerksamkeit Großbritannien gab es schon zu Beginn des 19. Jh. zuzuwenden. Anfangs bestanden noch gewisse Vorläufer der Tbc-Fürsorgestellen (Phthisical Di­ gesetzliche Beschränkungen, § 1276 Rva er­ spensaries), die erste straffe Durchorganisierung er­ öffnete dann aber endgültig ein unbegrenztes folgte aber erst 1887 bei dem "Dispensary for Tätigkeitsfeld. Da die Aufgaben und Befug­ Diseases of the ehest" in Edinburgh/Schottland. Schöpfer war Sir Robert William Philips (1857 bis nisse der verschiedenen Sozialversicherungsträ• 1939). ger hier aber - wie auf dem Gebiet der Ge- 456 Florian Tennstedt sundheitsfürsorge überhaupt! - neben- und ser Unterschied auch in ihrem übrigen Leben her­ durcheinander gingen, regte das RVA seit vortreten, weil sonst leicht der erforderliche Gehor­ 1911 für diesen speziellen Bereich Abkommen sam der Geführten leiden kann. Eine gemeinsame Heilstätte während der Krankheit, eine gleichartige an, blieb aber zunächst erfolglos. Erst 1914 g'e­ Behandlung bei Gewährung einer Rente müssen aber schah ein Schritt vorwärts: aufgrund einer Ini­ auf die Subordination schädlich einwirken, und sie tiative von Paul Kaufmann und Alwin Biele­ müssen die Führer in ihrem gesellschaftlichen Emp­ feldt (1857-1942), dem Nachfolger von Her­ finden herabdrücken, die Geführten anspruchsvoll und aufsässig machen. Das wäre für eine erfolg­ man Gebhard, wurde am 1. 1. 1914 in Ham­ reiche Arbeit eine große Störung und kann unter burg die erste Beratungsstelle für Geschlechts­ Umständen die Erträge unserer Industrie so wesent­ kranke eröffnet. Infolge des Ersten Weltkrieges lich beeinträchtigen, daß die Allgemeinheit davon wuchs die Gefahr durch Geschlechtskrankhei­ einen namhaften Schaden haben müßte." Tatsäch• ten; damit stieg die "Einsicht" der beteiligten lich waren selbst tbc-kranke SPD-Mitglieder im Heilverfahren politisch aktiv: 1913 gingen bei der Stellen, und 1915 verabschiedeten unter dem LVA Berlin Beschwerden ein, "daß für das Lesen Vorsitz des RVA die LVA, Krankenkassen, die und Halten des ,Vorwärts' eine lebhafte Agitation ärztlichen Organisationen und die "Deutsche entfaltet wird, daß ferner Pfleglinge, welche den Gesellschaft" Leitsätze über die Einrichtung ,Vorwärts' nicht lesen, gehänselt und beschimpft von Beratungsstellen, von denen dann 1916 werden". Die Tuberkulosesterblichkeit der Arbeiter war zwei-bis dreimal so hoch wie die der Angestell­ bereits 93 in B'etrieb waren 12. - Seit Ende ten. 1913 die ärztlichen Erfolge bei der Behandlung von Krebskranken mit radioaktiven Stoffen Sieht man auf die Gesamtwirksamkeit der Ar­ zunahmen und das "Deutsche Zentralkomitee beiterrentenversicherung vor dem Ersten Welt­ zur Erforschung und Bekämpfung der Krebs­ krieg, dann ergibt sich folgendes Bild (s. Tab. 10, krankheit" (1900-1933) dieses in einem Gut­ S. 457). Diese Zahlen sind wiederum nur schwer achten, dem sich das Kaiserliche Gesundheits­ interpretierbar, weil eine exakte Feststellung amt anschloß (AN 1914/532), unt,erstützte, be­ der Versicherten insgesamt nach Altersklassen, fürwortete das RVA, daß die LVA den grö• Berufen usw. nicht möglich ist. 1903 erreichte ßeren Krankenhäusern und Universitätsklini• die Zahl der bewilligten Invaliditätsrenten ken Mittel zum Ankauf entsprechender Stoffe ihren Höhepunkt, dann machte sich die amt­ bereitstellten, was auch geschah. liche "Rentendrückerei" bemerkbar. "Trotzdelll Einen quantitativen überblick über den we­ mußten 1907 bereits doppelt soviel Renten be­ sentlichsten B'ereich der Gesundheitsfürsorge willigt werden wie 1895, während sich die der LVA gewähren die nachfolgenden Stati­ über 20 Jahre alten Versicherten innerhalb die­ stiken über den Gesamtumfang der ständigen ser Zeit nur um 26 v. H. vermehrt haben. Seit (== planmäßige Heilverfahren und länger 1907 ist die jährliche Anzahl der Invaliditäts• dauernde ambulante Behandlung) und "nicht­ fälle ständig gestiegen. Wenn auch in Betracht ständigen"( == Gewährung von Arzneien, zu ziehen ist, daß in den ersten Jahren mit dem Zahnersatz, künstlich,en Gliedern usw.) Heil­ Bestehen der Invalidenversicherung von dem verfahren (s. Tab. 9, S. 457). Rechte, Renten zu verlangen, weniger Ge­ brauch gemacht wurde als später, so kann auf Die Reichsversicherungsanstalt für Angestellte ge­ währte 1913 an 6892 Personen ständige und nicht­ diese Tatsache allein der starke Anstieg der be­ ständige Heilverfahren. Ihr ärztlicher Referent, willigten Renten nicht zurückgeführt werden ce Conrad Beerwald (1857-1922), hatte "vom ärzt• (A. Fischer). 1915 wurde selbst durch das RVA lichen Standpunkt" aus das besondere Heilverfah­ festgestellt: "Es ist eine mehrfach beobachtete ren für Angestellte folgendermaßen gerechtfertigt: "Wenn die einen Versicherten während der Arbeit Erscheinung, daß dieWahrscheinlichkeit, inva­ Führer und die anderen Geführte sind, so muß die- lide zu werden, im Laufe der Jahre gestiegen ist" (RT-Drucks. Nr. 144 v. 10.11.1915). 12 Vgl. darüber und die Involvierung der Sozial­ versicherung in den Ersten Weltkrieg die aufschluß• Aufgrund weiterer Daten kam Alfons Fischer zu reiche Schilderung von P. Kaufmann (Lit.-Verz.). folgender Feststellung: "Aus der Verminderung der 1abelle 9 Hauptdaten der Heilbehandlung bei den Trägern der Invalidenversicherung 1897-1913

1897 1900 1905 1913

Behandelte Personen 10564 27427 56420 153636 Gesamtkosten der Heilbehandlung (in Mio. M.) 1,831 5,262 11,627 26,104 Allgemeine Maßnahmen § 1274 RVO (in Mio. M.) 0,225 1,359 Anzahl der versicherten aktiv Tbc-Kranken (geschätzt) 240000 240000 280000 320000

Quelle: Amtl. Nachrichten des RVAes 1899-1914, Berlin 1899ff.

Tabelle 10 Hauptdaten der gesetzlichen Rentenversicherung 1891-1912 (ohne Sonderkasseneinrichtungen)

1891 1899 1900 1903 1905 1912

Versicherte (in Mio) * 9,93 12,65 12,16 13,38 14,39 16,99 neu bewilligte Invaliditäts-Renten 31 96665 117141 143141 116522 117255 Ausgaben für Invaliditäts-Renten (in Mio.M) *" 42,36 53,57 92,79 114,28 durchschnittliche jährliche Höhe der IR 113,49 132,40 140,38 150,57 157,05 183,49 neu bewilligte Altersrenten 132926 17320 19109 11 746 10188 11642 Ausgaben für Alters-Renten (in Mio. M) "" 15,29 28,82 26,22 22,11 19,47 durchschnitt!. jährliche Höhe der Alters-Renten 123,55 141,57 144,54 154,22 158,01 165,27 Ausgaben für Heilverfahren (in Mio. M) 4,016 5,57 9,90 12,15 22,21 durchschnitt!. Höhe des Wochenbeitrages (M) 0,20 0,21 0,22 0,23 0,24 0,35

* Errechnet aus der Zahl der verkauften Wochenbeitragsmarken geteilt durch 43, d. h. durch die Zahl der für einen Versicherten durchschnittlich jährlich verwendeten. Beitragsmarken, die tatsächliche Zahl der Versicherten dürfte etwas niedriger gewesen sein. ':.* Ab 1900 ink!. Sonderkasseneinrichtungen (pensionskassen bei staatI. Eisenbahn und Knappschaft). Quelle: Amtliche Nachrichten des Reichsversicherungsamts 1893 ff. 458 Florian Tennstedt

Sterblichkeitsziffern der Gesamtbevölkerung darf rung mit veränderlichen, durch gesellschaftliche Ein­ nicht geschlossen werden, daß sich auch die Mortali­ richtungen geschaffenen, und daher auch durch ge­ tät in allen Schichten der Lohnarbeiter, namentlich sellschaftliche Einrichtungen abwendbaren Gefah­ jenseits des 50. Lebensjahres, verringert hat. Der ren, mit sozialen Erscheinungen." Friedrieh Nau­ Altersaufbau der Erwerbstätigen zeigt keineswegs, mann bemerkte: "Was helfen unsere neuen, peinlich daß sich die gesundheitliche Lage der Lohnarbeiter sauberen Lungenheilstätten, solange wir die Ernäh• im allgemeinen gebessert hat. Man muß sogar eher rung der Proletarier erschweren? Der Bazillus weicht annehmen, daß die Arbeiter in den letzten Jahren dem besseren Brote." Konnten derartige Feststel­ vor dem Kriege mehr als ehedem Gefahr liefen, lungen noch als "linksradikale Gedanken" denun­ frühzeitig invalide zu werden. Daß aber hierfür ge­ ziert werden, so fiel dies schwerer bei Karl Helffe­ rade die Erwerbstätigkeit und insbesondere die rieh, der die Industrie vor sich sah "in Gestalt eines Tätigkeit in bestimmten Berufen als Ursache im all­ wirklichen, lebendigen Industriearbeiters, dem das gemeinen anzusehen ist, läßt sich aus dem vorlie­ Zentnergewicht der Lebensmittelzölle auf den Rük• genden Zahlenstoff nicht immer sicher nachweisen." ken gelegt ist". Die vorwiegend großagrarischen In­ Hier müssen zusätzlich die sich primär in Ernährung teressen dienende Schutzzollpolitik (in ganz Baden und Wohnung manifestierenden Lebensverhältnisse bauten nur 14,7 v. H. aller Familien mehr Brot­ herangezogen werden. Diese wiederum waren be­ frucht an als sie für den eigenen Bedarf benötigten, stimmt durch die Reallöhne, bei deren Entwicklung eine entsprechende Erhebung über den Nutzen des zwischen 1870 und 1914 die deutschen Arbeiter un­ Kornzolles für die Kleinbauern lehnte die Reichs­ ter den westeuropäischen Industrienationen weitaus regierung ständig ab!), der geringe Arbeiterschutz am schlechtesten abschnitten 12". So hebt die primär (fehlender Achtstundentag!) und das Wohnungs­ aufindustrielle Hochkonjunktur und subventionierte elend wirkten somit mit ihren Nachteilen vermut­ Agrarwirtschaft gerichtete staatliche Wirtschaftspoli­ lich schwerer als die "an sich" positive Rentenver­ tik im Deutschen Kaiserreich die Folgen der Sozial­ sicherung. versicherung wohl nahezu auf, sie erscheint von da­ her erst unter dem Aspekt der Fernwirkungen inter­ Schließlich seien noch die Bestrebungen der essant. Allons Fischer machte - im Gegensatz vom großbürgerlichen Gerede über die "unerwünschten LVA zur Besserung der Wohnungsverhältnisse Folgen der deutschen Sozialpolitik" (L. Bernhard)­ erwähnt, die sich allerdings quantitativ und mit Recht auf die "vermißten Folgen der Sozial­ in ihrer Bedeutung für die Gesundheit nur versicherung" aufmerksam, nämlich darauf, "daß schwer abschätzen lassen. Vor dem Ersten Welt­ ein ziffernmäßiger Beweis für die Verbesserung der krieg wurde die Wohnungsfrage vielfach als Gesundheitszustände in den Kreisen der Arbeiter­ schaft fehlt, ja daß eher Merkmale für eine fort­ das wichtigste sozialhygienische Problem be­ schreitende körperliche Verelendung wahrzunehmen zeichnet. Allerdings war ein exakter Nachweis, sind". Die englische Freihandelspolitik sah er als daß gerade die Wohnung zu Krankheiten entscheidenden Faktor für ein Phänomen an, auf führt oder ihre Entstehung begünstigt, oft das nicht zuletzt Robert Koch selbst aufmerksam schwer zu führen, weil schlechte Wohnungsver­ gemacht hatte: die niedrigere Tuberkulosesterblich­ keit in England. hältnisse in der Regel mit vielen sonstigen Er­ Der sozialdemokratische Arzt Ignaz Zadek hatte scheinungen des sozialen Elends verbunden schon 1895 auf folgendes hingewiesen: "Die priva­ waren. Immerhin konnte als sicher gelten, daß te Versicherung in der Assekuranz gegen elementäre die hohe Dichte der Wohnungsbelegung Schäden, in gewissem Sinne auch in der Lebensver­ (»Mietskaserne") für die Krankheitsübertra• sicherung, hat es mit unvorhergesehenen und unab­ änderlichen Gefahren, mit natürlichen und fest­ gung bzw. -disposition noch mehr entscheidend stehenden Gefahren zu tun, die Arbeiterversiche- war als die Wohnungsbeschaffenheit (Feuchtig­ keit, Lichtarmut, hohe Lage). Die große Wohn­ 12" Diese seit 1914 wohl unbestrittene Aussage ist dichte wirkte sich vor allem auf die Verbrei­ jüngst von Thomas J. Drsagh (Löhne in Deutsch­ land 1871-1913: Neuere Literatur und weitere Er­ tung der akuten Infektionskrankheiten, Schar­ gebnisse, Ztschr. für die gesamte Staatswissenschaft, lach, Diphtherie, Ruhr, Typhus usw., aber auch 1969, 483) in ihrer Richtigkeit für das Verhältnis Tuberkulose und Geschlechtskrankheiten, för• Deutschland/Großbritannien und Frankreich ange­ dernd aus. Robert Koch beschäftigte sich noch zweifelt worden. Es sei nur darauf hingewiesen, da in seiner letzten, posthum veröffentlichten Ar­ auf das schwierige Problem der Globalindexbildung (und seine Sinnhaftigkeit!) hier nicht näher ein­ beit mit der Frage»Wohnung und Tuberku­ gegangen werden kann. lose", wobei er darlegte, daß nicht die»Woh- Sozialgeschichte der Sozialversicherung 459 nung im ganzen" die Gefahr der Ansteckung dessen schritt man ein gegen die Wohnungsenqueten scham, sondern ein enger Schlafraum, in dem der Ortskrankenkassen. In der typischen Mietska­ die Bewohner "bei Nacht dicht zusammenge­ serne gab es je Stockwerk 3 Vorderwohnungen und 10 Hofwohnungen, 6 Wohnungen bestanden nur aus drängt" sein müssen. Stube und Küche. Belichtung und Lüftung waren unzureichend, im Sommer kam überhitzung dazu. Für den Industriearbeiter, bei dem Wohnung und Infolge der hohen Grundstückspreise waren diese Arbeitsstätte getrennt waren, wurde seit der Mitte \Vohnungen relativ teuer, was wiederum - zusam­ des vorigen Jahrhunderts die sog. Kleinwohnung men mit dem niedrigen Familieneinkommen der typisch. Hieß es 1793 noch über Berlin: "Die Häu• Arbeiterschaft - zur Wohnungsüberfüllung führte. ser sind geräumig und die Menschen nicht so, wie in Amtlicherseits wurde eine Wohnung erst dann als anderen großen Städten, darin zum Ersticken zu­ überfüllt angesehen, wenn für 6 oder mehr Personen sammengepreßt" (Formey), so änderte sich das durch nur ein heizbares Zimmer bzw. für 11 oder mehr die industrielle Revolution: die Innenflächen der Personen 2 heizbare Zimmer vorhanden waren! Grundstücke wurden mit "Kleinwohnungen", meist Diese Voraussetzungen trafen 1905 zu in Berlin auf mehr Schuppen und Ställe, vollgebaut, in denen die 24440 = 4,6 v. H. der Wohnungen, Königsberg Arbeiter wohnen mußten. 1872 hatte Berlin 60000 4630 = 9,30 v. H., Breslau 6876 = 6,02 v. H. (1900: übervölkerte Wohnungen, in 171 Wohnungen 28277,5426,7256); im gleichen Jahr gab es in Ber­ kamen 10-20 Personen auf ein Zimmer, 67000 sog. lin 104081 Schlafleute (= 5,55 v. H. der Bevölke• Schlafgänger hatten gar kein eigenes Gemach, nur rung). eine Schlafstätte in anderen Familien, ihre Zahl war Der Wohnungsmangel wurde nur äußerst langsam seit 1867 um 55 v. H. gestiegen. überall waren "die verringert, weil der Staat sich weitgehend jeder In­ Wohnungen der ärmeren Klassen mehr oder weni­ tervention enthielt und für das Privatkapital die ger versteckt und aus Sonne, Luft, Wind gerückt" industrielle Investition regelmäßig höhere Rendite (Fr.Oesterlen). abwarf. In dieser Situation kam zwei Faktoren eine Für die Wohnverhältnisse seit der Reichsgründung vvesentliche Bedeutung zu: der Genossenschaftsbewe­ wurde dreierlei entscheidend: gung und der Invalidenversicherung. c 1. "Jene verhängnisvolle ,Gründerperiode , in deren Die auf Hermann Schulze-Delitzsch zurückgehende Verlauf die ganze Symptomatik einer mit häßlichen Genossenschaftsbewegung hatte zunächst den Bau und abstoßenden sozialen Begleiterscheinungen ver­ von Eigenheimen gefördert und wenig Erfolg ge­ bundenen unternehmerischen Erwerbsgier und eines habt; erst 1878 ging der Flensburger Arbeiterbau­ hemmungslosen Spekulantenturns hervortrat" (C. verein - nach dänischem Vorbild - dazu über, Spar­ ]antke), gelder zur Kapitalbeschaffung zu werben und auf 2. das Bevölkerungswachstum und die Stadt-Land­ den Bau einzelner Eigenheime zu verzichten. Diese Mobilität: 1871 lebten auf dem Reichsgebiet 41,060 Richtung wurde durch das Genossenschaftsgesetz Mio. Personen, 1910 waren es 64,926. 1871 lebten (1889) entscheidend begünstigt, sie ging parallel mit fast 64 v. H. der Bevölkerung auf dem Land, 1910 der Bodenreformbewegung. waren es nur noch 40 v. H. Der Einwohneranteil der Städte verdoppelte sich nahezu, der der Groß• Schon in der Regierungsbegründung des Ge­ städte mit mehr als 100000 Einwohnern stieg von setzes von 1889 wurde als Beispiel einer nicht 4,8 auf 21,3 v. H. Die Bevölkerungszunahme in Ber­ mündelsicheren Vermögensanlage der Bau oder En betrug von 1871 bis 1905 146,9 v. H., der Erwerb von Arbeiterwohnungen für Rech­ 3. die Einführung der Städtehygiene in Deutschland nung der LVA angeführt. Im Laufe der Reichs­ (zuerst: England 1848 Public Health Act, dann Frankreich), in deren Folge breite Straßen mit Pfla­ tagsverhandlungen wurde dann vor allem auf ster, Trinkwasserleitungen und Kanalisation (1793 die Unterstützung gemeinnütziger Unterneh­ hieß es: "Berlin würde jährlich 200 Menschen weni­ mungen hingewiesen, wofür die Wohnungs­ ger auf seiner Totenliste haben, wenn man aufhörte, und Siedlungsgenossenschaften ein Modellfall die Nachteimer in die Spree auszuleeren") angelegt waren. bzw. vorgeschrieben wurden. Dadurch entstanden hohe Straßenkosten, was - zusammen mit dem spe­ Die Selbstverwaltung der Invalidenversiche­ kulativen Anstieg der Bodenpreise - dazu führte, rungsträger nahm sich dieser Aufgabe anfangs daß die verbleibenden, anliegenden Grundstücke bis zögernd an. Den Beginn mit der Gewährung zum äußersten genutzt werden. von Baudarlehen machten 1891 die Anstalten Behördlicherseits wurde der breite und kostspielige Braunschweig und Sachsen. Ihnen folgten 1892 Straßenbau gefördert, gegen das Zusammendrängen der Bevölkerung in hohen Stockwerkshäusern mit Schleswig-Holstein, Württemberg und Hanno­ Seiten- und Hintergebäuden wurde nichts getan, in- ver. Letztere wurde in der Folgezeit mit ihrem 460 Florian Tennstedt

Vorsitzenden Wilhelm Liebrecht (1850-1925) akzeptiert beim Bau von Wohnkolonien durch zum relativ größten Förderer des Kleinwoh­ große Industrieunternehmungen, z. B. "AI­ nungswesens durch Landesversicherungsanstal­ fredshof" der Fa. Krupp (Arbeitgeber erhiel­ ten. Die anderen Anstalten zögerten noch, bis ten bis 1909 11,87 Mio. M zum Bau von Ar­ eine 1893 vom RVA einberufene Konferenz beiterwohnungen), und den Arbeitern selbst der Vorstände der Versicherungsanstalten zwar (bis 1909: 54,34 Mio. M). von der eigenen Bautätigkeit abriet, aber die Der Gesamterfolg läßt sich schwer abschätzen, Hergabe von Darlehen an die verschiedensten da eine Statistik der Bautätigkeit in Deutsch­ Stellen empfahl. Dabei wurden den Anstalten land aus der Zeit von vor 1914 fehlt. (Für die auch Richtlinien für Zinsfuß, Beleihungsgrenze Jahre 1910-1913 wird ein jährlicher Reinzu­ und Kündigung gegeben. 1897 waren bereits gang von 200000 Wohnungen geschätzt. 1914 19 Anstalten der Anregung gefolgt mit einer bis 1918: 180000.) Insgesamt dürfte er nur Gesamtsumme von 21,412 Mio. M. 1900 wa­ recht gering gewesen sein, jährlich hätten rd. ren alle Anstalten an den Ausleihen für den 296000 Wohnungen gebaut werden müssen, Wohnungsbau beteiligt. Die Darlehensumme um den Bedarf zu decken. Die 1910 bestehen­ war auf 243,799 Mio. Mangewachsen, d. h. den 1056 Genossenschaften hatten nur 196 751 auf durchschnittlich 18 v. H. des Vermögens. Mitglieder. So kann man schätzen, daß insge­ Obenan stand Hannover mit 56 v. H. samt bis 1914 kaum mehr als 300000-400000 Ende 1911 waren für Arbeiterwohnungen an­ Wohnungen durch die LVA finanziert wurden, gelegt 362,0 Mio. M, für Heilanstalten, Erho­ die teilweise noch mit propagandistischen Ti­ lungs- und Genesungsheime, Volksbäder, Blin­ teln ausgestattet wurden, so ,die Posadowsky­ denheime, Kindergärten usw. 547,0 Mio M Wehner-Häuser in Dresden. und für landwirtschaftlichen Kredit 114,0 Mio. M. 3.2 Die Rentenversicherung in der Weimarer Der größte Teil der Gelder ging zu den Bau­ Republik (1919-1932) genossenschaften und ähnlichen gemeinnützi• gen Baugesellschaften, die teilweise erst durch Die Geschichte der Invalidenversicherung in die Versicherung ins Leben gerufen wurden, der Weimarer Republik ist zunächst durch die fast alle aber durch Darlehen seitens der LVA unmittelbaren Kriegsfolgen - Witwenrenten (Zinsfuß bis 1910: 3 v. H., dann - aufgrund 1913: 12000, 1924: 200000, Waisenrenten einer Intervention des RVA - 3,5 v. H.) we­ 1913: 40000, 1924: 1300000 - gekennzeich­ sentlich unterstützt wurden. Ihre Zahl nahm net, dann aber überwog die inflationäre Ent­ dementsprechend zu: 1889: 38, 1893: 101, wicklung, die durch wiederholte, aber immer 1900: 361, 1914: 1346. Die gemeinnützigen verspätete und unzulängliche Teuerungszula­ Baugesellschaften hatten darum den größten gen - die erste erfolgte Anfang 1918 -, die all­ Anteil an den Darlehen der LVA, weil diese mählich die eigentliche Rente völlig beiseite sich nicht auf die Hergabe von billigem Bau­ drängten, nicht aufgefangen werden konnten. kapital beschränkten. Sie beanspruchten einen Im übrigen erfolgten die Beitragserhöhungen maßgebenden Einfluß auf die Bauausführung, erst nach den Leistungsverbesserungen, was das Einrichtung der Wohnungen, Höhe der Miet­ finanzielle Gebaren der LVA zusätzlich be­ preise. Sie traten dem spekulativen Hausver­ hinderte. Mit dem Einsetzen der galoppieren­ kauf entgegen, verlangten, daß der Bauunter­ den Inflation konnte es aber - trotz fortlaufen­ nehmer sich mit einem mäßigen Gewinn be­ der Ermächtigungen durch den Reichsarbeits­ gnügte und den überschuß zur Herstellung minister - nicht gelingen, die Beiträge und Lei­ von Brausebädern, Kinderspielplätzen usw. stungen einigermaßen vor Entwertung zu be­ verwendete. Diese Form der vom Geldgeber wahren, bis sie auch nur in die Hand der An­ beeinflußten Wohnungsfürsorge lehnten die stalten bzw. Versicherten kamen. Der Betrieb privaten Bauunternehmer ab, sie wurde jedoch konnte lediglich mit Hilfe von Darlehen auf- Sozialgeschichte der Sozialversicherung 461 rechterhalten, die gesetzlichen Aufgaben konn­ durchschnittliche Höhe des Wochenbeitrags ten nur nominal durchgeführt wer,den, real stieg in diesem Zeitraum von 0,58 RM auf waren sie wertlos. 1,42 DM. Andererseits hatte der Währungs• verfall nicht nur den fast vollständigen Ver­ Der Wert einer Invalidenrente, die 1913 monatlich lust des Versicherungsvermögens gebracht: auch 17,50 M erbrachte, betrug - in Goldmark - am die Versicherten hatten durch die Inflation ihre 1. 1. 1923 nur noch 0,80 M, am 19. 8. 1923 0,005 M Ersparnisse im allgemeinen vollständig verlo­ (= jeweils 1388 Papiermark). Danach wurden die Papiermarkbeträge erhöht: vom 20.8.1923 bis 1.11. ren, infolgedessen sie bei Eintritt der Versiche­ 1923 von 10700 M auf 1,001 Mrd. M, doch ihr rungsfälle in viel größerem Umfang auf die Goldmarktwert bewegte sich in diesem Zeitraum Versicherungsleistungen angewiesen waren als nur zwischen 0,04 und 0,03 M. Die Rente hatte in in der Vorkriegszeit. Die offizielle Regierungs­ dieser Zeit nur noch Bedeutung als Ausweis für die Beihilfen der Wohlfahrtsämter an Rentenempfän• maxime von 1891 - Rentenleistungen als Zu­ ger. Die freiwilligen Aufgaben, insbesondere die schuß zu einem "an sich" durch Ersparnisse Heilverfahren, mußten nahezu eingestellt werden. und/oder verbliebene (Rest-)Erwerbsfähigkeit Die grundsätzliche "Rettung" brachte erst die Mit­ gesicherten Lebensunterhalt -, die schon vor te November 1923 einsetzende Rentenmark, die be­ 1913 weitgehend Fiktion war, konnte also schriebene Rente erreichte danach eine Höhe von nicht aufrechterhalten werden. Schon aus die­ 2 RM (= 2 Goldmark). sem Grunde war es unumgänglich, die Ver­ Das Gesamtvermögen der Arbeiterrentenver­ sicherungsleistungen im Vergleich zu 1913 zu sicherungsträger, das 1913, 2,105 Mrd. M be­ erhöhen. Hinzu kam, daß die Lebenshaltungs­ trug (davon: Wertpapiere und Darlehen 1,97 kosten stark angestiegen waren und allgemein­ Mrd. M, Grundstücke 96,5 Mio. M), wovon politisch der vorwiegend von Zentrum und 1,2 Mrd. M gemeinnützig angelegt waren, war SPD praktizierte Wohlfahrtsinterventionismus auf 253 Mio. RM (davon: Wertpapiere und vorherrschte. Gleichzeitig hatte sich aber ­ Darlehen: 124,5 Mio. RM, Grundstücke 103,6 gegenüber 1913 - die Altersstruktur der ver­ Mio. RM) gesunken. sicherten Bevölkerung erheblich verändert Die deutsche Invalidenversicherung hatte vor (1910 waren 34 v. H. der Reichsbevölkerung dem Krieg nach Kapitaldeckungs- bzw. An­ unter 15 Jahre alt, 1925 waren es nur noch wartschaftsdeckungsgrundsätzen gearbeitet. 26 v. H.), was zur Folge hatte, daß sich die Nach dem Verlust des Deckungskapitals wäre Schadenshäufigkeit erhöhte und die Leistungs­ eine Rückkehr zu diesem Grundsatz nur unter empfänger zunahmen. Insgesamt stieg von Preisgabe von rd. 2 Mio. entwerteter alter Ren­ Ende 1924 bis Ende 1929 die Zahl der Sozial­ ten möglich gewesen. Um dieses zu vermeiden, rentner von 3,9 Mio. auf 4,85 Mio., die Zahl wurde ein Prämiendurchschnittsverfahren nach der Ausgaben von 1,66 Mrd. RM auf 4,37 Umlagegrundsätzen eingeführt. Dadurch hatte M,rd. RM. Allerdings stiegen - als Resultat der 1924 die Invalidenrente, die Ende 1923 2 RM ökonomischen Rekonstruktionsperiode - auch betrug, schon wieder eine Höhe von 14 RM. die Einnahmen: von 1,93 Mrd. RM auf 4,30 Dieses Umlageverfahren setzte aber voraus, Mrd. RM, am größten war die relative Steige­ daß durch Versicherungszwang, ökonomische rung bei den Reichsmitteln (1913: 58,5 Mio. Entwicklung und Bevölkerungsaufbau ständig M), sie erhöhten sich von 105,6 Mio. RM auf für den Zufluß neuer, jüngerer, beitragszahlen­ 516,7 Mio. RM. der Mitglieder gesorgt wurde. Unter dieser Von der Gesetzgebungsarbeit muß zunächst erwähnt versicherungstechnischen Voraussetzung wurde werden, daß 1922/23 die Doppelversicherung in der 1924 die Sozialversicherung - entgegen von Invaliden- und Angestelltenversicherung aufgehoben Plänen für eine Staatsbürgerversorgung bzw. wurde. Kranken-, Invaliditäts- und Altersrente als solche wurden 1922 beseitigt und in einheitliche In­ -fürsorge - "gerettet". validenrente umgewandelt (ab 1923 läßt sich des­ Tatsächlich stieg die ~ahl der Wochenbeiträge halb - bis 1935 - der Anteil der Invaliditätsrenten Von 625,7 Mio. 1924 auf 766,5 Mio. 1929, die nur schätzen !). 1922 wurden verschiedene Anderun- 462 Florian Tennstedt

gen in der Angestelltenversicherung vorgenommen, Dem "Reichsverband" gehörten, mit Ausnah­ vor allem wurde das RVA oberste Spruchbehörde, me von Berlin, fast sämtliche LVA an, 1923 1924 wurde das"Versicherungsgesetz für Angestell­ folgte die LVA Grenzmark Posen-Westpreu­ te" als "Angestelltenversicherungsgesetz" neu ge­ faßt. 1923 war das Reichsknappschaftsgesetz verab­ ßen, 1924 die LVA Freie Stadt Danzig, 1925 schiedet worden, das das Knappschaftswesen im die LVA Berlin und die LVA Saarland sowie Reichsknappschaftsverein zusammenfaßte (auf die 1927 die LVA Memelgebiet, die aufgrund einer Geschichte der Sozialversicherung im Bergbau kann Intervention der Republik Litauen aber wieder hier nicht näher eingegangen werden, hingewiesen austreten mußte. 1929 umfaßte der Verband sei auf die Darstellung von H. Thielmann). Im üb• rigen ist der Zeitraum zwischen 1924 und 1929 ge­ sämtliche Träger der deutschen Invalidenver­ kennzeichnet durch fast alljährliche Knderungen sicherung, also auch Reichsknappschaft, Reichs­ der Grund- und Steigerungsbeträge sowie Kinder­ bahnarbeiterpensionskassen und Seekasse. und Reichszuschüsse, in deren Folge jeweils fast der gesamte Rentenbestand umgerechnet werden mußte. Albert Dietl (1867-1946) konnte 1929 mit Recht fragen: "Wer könnte heute noch glauben, daß der Für die Tatsache, daß "die Verhandlungen, die Wiederaufbau der Invalidenversicherung in einer mit dem Reichsarbeitsministerium, dem Reichs­ Zeitspanne von wenigen Jahren ohne die Mitwir­ versicherungsamt, dem sozialpolitischen Aus­ kung des Verbandes und des Ständigen Ausschusses schuß des Reichstags und vielen anderen Stel­ sich hätte vollziehen lassen?" Allerdings mußte er einräumen: "Entscheidend für die Gestaltung der len" in dieser Zeitspanne "in großer Zahl nö• Sozialversicherung sind vielfach politische Macht­ tig waren", von seiten der Versicherungsanstal­ verhältnisse, denen gegenüber Verband und Ständi• ten geführt werden konnten und kaum eine ger Ausschuß ohne Einfluß sind. Daraus erklärt es Entscheidung ohne ihre Anhörung erging, war sich, daß manche auf sachlichen und fachlichen Er­ entscheidend, daß schon 1919 der "Reichsver­ wägungen beruhende Stellungnahme des Verbandes zu einzelnen Fragen der Sozialpolitik unbeachtet band Deutscher Landesversicherungsanstalten ce geblieben ist." Im Gegensatz zu den anderen Inter­ unter dem Vorsitz von Theodor Schroeder ge­ essen- bzw. Spitzenverbänden der Sozialversiche­ gründet worden war, Verbandssyndikus war rungsträger stand hinter dem Verband keine ein­ Augustin Düttmann (1857-1934), ihm folgte flußreiche sozialpolitische Gruppe, was sicher mit der relativ starken Verbeamtung der Anstaltslei­ 1922 Heinz Görling (1886-1937). tungen zusammenhängt. Die Vorsitzenden der LVA (ab 1926: Präsidenten) gehörten verschiedenen Par­ 1891 entstand in Hamburg auf Anregung von Her­ teien an: der "grand old man" des Verbandes, Theo­ mann Gebhard in Lübeck eine gemeinsame Ge­ dor Schroeder, Präsident der LVA Hessen-Nassau, schäftsstelle der Versicherung für Seeleute, die ge­ war DDP-Politiker, während der Vorsitzende der tragen wurde von den LVA, die mit seemännischer LVA Sachsen (1919-1923), der sich vor 1914 vor al­ Bevölkerung zu tun hatten. Daraus entwickelte sich lem bei den Ortskrankenkassen profiliert hatte, Ju­ der sog. Nordwestdeutsche Konferenzverband, dem lius Fräßdorf, ein ebenso bekannter SPD-Politiker aber auch LVA aus dem Osten oder Südosten war wie OUo Grotewohl (1894-1964), der 1925 bis Deutschlands beitraten. Im gleichen Jahr noch lud 1933 Präsident der LVA Braunschweig war. Peter Klausener (1845-1904), Leiter der Invalidi­ täts- und Altersversicherungsanstalt Rheinprovinz, 1929 die Dezernenten der benachbarten Anstalten zu ei­ betrug die Invalidenrente nahezu das ner Besprechung nach Düsseldorf ein. Daraus ent­ Zweieinhalbfache, die Witwenrente das Drei­ stand der sog. Südwestdeutsche Verband, der vor einhalbfache und die Waisenrente das Fünf• allem mitteldeutsche Versicherungsanstalten umfaß• fache der Vorkriegszeit. Diese Leistungssteige­ te. Faktisch waren diese "Verbände" aber nur lose rung war zum größten Teil real: Der G,esamt­ Vereinigungen der jeweiligen Vorsitzenden der An­ stalten, die nur sporadisch, meist auf Einladung des lebenshaItungskostenindex (berechnet nach dem RVA, zusammenkamen. Erst 1911 kam es dann zur Monatsbedarf einer fünfköpfigen Arbeiter­ Gründung eines alle Versicherungsanstalten umfas­ familie) stieg von 100 im Jahr 1913 auf 151,7 senden Konferenzverbandes, außerdem wurde auf im Jahr 1928 (Ernährung: 152,3, Wohnung: Anregung von Theodor Schroeder nach dem Vor­ 125,7). Trotzdem waren 1928 noch rd. 70 v. H. bild der deutschen landwirtschaftlichen BG ein stän• diger Ausschuß gebildet, die Geschäfte führte Wil­ der Invalidenrentner gleichzeitig Empfänger helm Liebrecht. von Fürsorg,eunterstützung und die Invaliden- Sozialgeschichte der Sozialversicherung 463 versicherung weithin die unpopulärste Sozial­ wird deutlich, daß die Leistungsverbesserungen der versicherung. Sozialversicherung die allgemeine Lohneinkom­ mensentwicklung übertrafen und sie damit eine wesentliche Umverteilungsinstitution geworden Im einzelnen ergibt sich folgendes Bild: Geht man war. wieder von dem Industriearbeiter mit einem Jahres­ lohn von 1200 RM aus, dann ergeben sich zwei Möglichkeiten: entweder er entrichtete 10 Jahre Gegenüber den ständigen Leistungsverbesse­ lang Beiträge für die Lohnklasse 4 (Jahreslohn 900 rungen wurde an den Anspruchsvoraussetzun­ bis 1200 RM) oder für die Lohnklasse 5 (Jahreslohn gen der jeweiligen Versicherungsfälle wenig ge­ 1200-1500 RM). Dann hatte er eine Jahresrente ändert: 1927 wurde der Witwenrentenbezug von 360 RM bzw. 390 RM zu erwarten, bei 20jäh• riger Beitragsentrichtung waren es 480 bzw. 540 RM. erleichtert: die 65jährige Witwe eines Arbeiters Hinzu kam noch ein Kinderzuschuß von 120 RM erhielt die Rente nunmehr - wie die Angestell­ für jedes zu versorgende Kind. Verhältnismäßig tenwitwe seit 1913 - auch ohne Invalidennach­ war die Rente am höchsten in den unteren Lohn­ weis. In der Angestelltenversicherung erfolgten klassen, während die besser entlohnten Facharbeiter in diesem Zeitraum keine gesetzgeberischen weiterhin »unterversichert" blieben. .Anderungen, die über Angleichungen an den 1930 betrug die Rente im Verhältnis (in v. H.) zum vorher bezogenen Arbeitslohn: Kaufkraftschwund hinausgingen. Statt dessen setzt ab 1926 eine Rechtsprechung des RVA ein, die bei den Renten wegen geminderter Er­ Beitragsjahre werbsfähigkeit die Kluft zwischen Arbeiter­ Jahreslohn 10 20 30 50 renten- und Angestelltenversicherung noch ver­ bis 300 RM mind.90 100 110 130 tiefte. 1911 war das Reichsamt des Innern noch 300- 600RM 50-100 60-120 70-140 90-180 davon ausgegangen, daß jeder erwerbsgemin­ 600- 900RM 37- 55 47- 70 57- 85 77-115 derte Angestellte sich grundsätzlich auf jede 900-1200RM 30- 40 40- 53 50- 67 70- 93 andere Angestelltentätigkeit verweisen lassen 26- 33 1200-1500 RM 36- 45 46- 58 66- 83 müsse, die er mit seinen "körperlichen und 1500-1800 RM 23- 28 33- 40 43- 52 63- 76 über 1800RM höch.25 36 48 69 geistigen Kräften" noch ausführen konnte, be­ vor er - sofern außerdem seine Verdienstmög• lichkeiten um mehr als die Hälfte gesunken Walter G. Hoffmann schätzt, daß das durchschnitt­ waren - Berufsunfähigkeitsrente beziehen liche jährliche Arbeitseinkommen in Industrie und konnte. 1919 hatte dann das Oberschieds­ Handwerk von 1924: 1332 RM auf 2131 RM im gericht für Angestelltenversicherung (damals Jahre 1929 stieg (nur Arbeiter), von 1931 an fiel es wieder bis auf 1586 RM im Jahre 1933. noch oberste Sprechinstanz) festgestellt, daß es Geht man von jährlich 50 Arbeitswochen aus (was nicht angängig sei, eine ehemals königliche sicher häufig das Maximum wad), dann betrug 1928 Tänzerin "auf eine Beschäftigung im Büro der durchschnittlicheBruttojahresverdienst vonFach­ oder in der Hauswirtschaft zu verweisen", arbeitern in der Textilindustrie: 2221,50 RM, in der vielmehr kämen für sie nur solche Angestell­ Bau- und Möbeltischlerei: 2670,00 RM, in der Far­ benindustrie: 2954,50 RM, in der metallverarbei­ tentätigkeiten in Betracht, "die ihrer bisherigen tenden Industrie: 2838,00 RM, von Maschinen­ Berufsstellung im wesentlichen gleichartig und setzern (über 24 J) 4489,50 RM, von Maurern in gesellschaftlich annähernd gleichwertig sind". Groß-Berlin 5451,00 RM, von Maurern in Ober­ Die hierzu angelegteTendenz wurde dann vom schlesien 2667,00 RM. Hilfsarbeiterlöhne waren je­ RVA unter der "Federführung" und .Agide weils etwa ein Drittel, Frauenlöhne jeweils um die Hälfte niedriger. Im Vergleich zur Vorkriegszeit von Hermann Dersch (1883-1961, 1913-1918 (1913/14 = 100) waren die Nominalwochenver­ Regierungsrat in der Reichsversicherungsanstalt dienste in den genannten Industriegruppen auf In­ für Angestellte, 1923-1929 Senatspräsident, dizes zwischen 149 und 208 gestiegen, die Real­ 1929-1945 Direktor im RVA) verstärkt, der nettowochenverdienste waren zwischen 1928 und zur Feststellung der Berufsunfähigkeit die 1931 etwa auf dem Vorkriegsstand. Selbst wenn Hilfskonstruktion des sog. Verweisungskreuzes man berücksichtigt, daß die erhöhten Sozialversiche­ rungsbeiträge den ReaJnettoverdienst beeinflußten, einführte, wonach ein Angestellter 1. "hori- 464 Florian Tennstedt zontal" nur auf "innerlich benachbarte Be­ Dementsprechend griffen die Richter, als sie wieder rufe" und (danach!) 2. "vertikal" "auf mehr im RVA waren, erneut auf ihre Urteile aus der Jahrhundertwende zurück. Die mit der Weltwirt­ oder weniger qualifizierte Tätigkeitsarten in­ schaftskrise einsetzenden Finanzschwierigkeiten der nerhalb dieses Kreises" verweisbar war, d. h. Rentenversicherung dürften ihre restriktiven Ent­ einem Oberbuchhalter war z. B. Budthalter­ scheidungen bei Arbeiterrenten "bestätigt" haben. tätigkeit zumutbar, nidtt aber Abschreibarbeit im Büro. Dieses"Verweisungskreuz" war an Soweit feststellbar, blieb ein weiteres Problem sim praktikabel und vernünftig, kritisdt anzu­ der Invaliditätsrenten in der Weimarer Repu­ merken ist nur, daß dadurm die Privilegierung blik undiskutiert. 1891 war die "begriffliche" der Angestellten in der Sozialversidterung aus­ Differenz zwismen abstrakter Fähigkeit zur gebaut wurde, denn in der Arbeiterrentenver­ Fortsetzung der Erwerbstätigkeit gegenüber sicherung blieb die Verweisung auf den "all­ der konkreten Gelegenheit zur Arbeit festge­ gemeinen Arbeitsmarkt" erhalten. stellt und institutionalisiert worden. 1927 war der Staat bereit, audt das Risiko der Arbeits­ Vor allem von Gewerkschaftsseite wurde beklagt, losigkeit zu versimern und die Arbeitsvermitt­ daß in der Invalidenversicherung ein Zimmermann lung generell zu übernehmen (auf die Ge­ z. B. auf Holzfällerarbeiten oder ein Tischler z. B. schidtte dieses Versicherungszweiges wird hier auf Korbflechten verwiesen werden konnte (und erst dann, wenn sie auch hier weniger als zwei Drittel nicht eingegangen, vgl. dazu die empfehlens­ ihres vorherigen Verdienstes erreichen konnten, er­ werte Darstellung von M. Wermel und R. Ur­ hielten sie die InvaliditätsrenteI). 1928 versuchte ban). Hier wäre es nun an sidt möglich gewe­ auch das Reichsarbeitsministerium, diese qualitati­ sen, die Probleme der Invalidität bzw. Berufs­ ven, durch die Rechtsprechung geschaffenen Unter­ schiede zwischen Berufsunfähigkeits- und Invalidi­ unfähigkeit zusammen mit der "vorhandenen tätsrente zugunsten der Arbeiter zu beseitigen. An­ Arbeitsgelegenheit" (so die ursprüngliche Re­ dreas Grieser glaubte, daß es möglich sei, "ohne gierungsvorlage 1887!) gemeinsam zu sehen l\nderung des Gesetzes, im Wege der Praxis und der und institutionell zu regeln, denn "der ein­ Rechtsprechung bei dem Begriff der Invalidität den zelne Versicherte ist nimt in der Lage, den veränderten Wirtschaftsverhältnissen auf dem Ar­ beitsmarkt Rechnung (zu) tragen" und lud 1928 die Untersdtied zwischen Erwerbsunfähigkeit und Herren vom RVA - Präsident war (1924-1943) Erwerbslosigkeit zu verstehen. Und dem Arzt Hugo Schäffer (1875-1945) - zu Besprechungen ins wird es unmöglich und ersdteint es unsinnig, Reichsarbeitsministerium ein. Vor dem Ministerial­ diese Untersmeidung in der praktisdten Be­ direktor, der gerade zu seinem 60. Geburtstag als gutachtung konsequent durmzuführen" (W. "Retter der Sozialversicherung" (und damit auch des RVA!) gefeiert worden war, waren sich dann Hollmann). Aber die "begriffliche" Verschie­ "alle Herren darüber einig, daß zwischen Invalidi­ denheit der Risiken der (angeblim nur "sub­ tät im Sinne der Invalidenversicherung und Be­ jektiv bedingten") Erwerbsunfähigkeit von de­ rufsunfähigkeit im Sinne der Angestelltenversiche­ nen der (angeblim nur "objektiv bedingten") rung kein begrifflicher Unterschied besteht". Aber: Arbeitslosigkeit gehörte infolge etablierter es waren "unverbindliche Besprechungen, die die Rechtsprechung nicht binden", demzufolge machte Rechtspremung und Verwaltungspraxis zu je­ das RVA, das willig der vom kaiserlichen Reichsamt nen Selbstverständlidtkeiten, die nidtt mehr des Innern ausgegangenen "Rentendrückerei" ge­ hinterfragt wurden. folgt war, die vom demokratischen Reichsarbeits­ ministerium angeregte "Rentenheberei" nicht mit: Abgesehen vom Reichstag und Reichsarbeitsministe­ die Richter des RVA waren unabhängig geworden, rium ist hierzu vor allem ein Versagen der (relativ schon seit 1896 war es mit dem "starken Einfluß stark bürokratisierten) Selbstverwaltung der Ren­ Bödikers auf eine von ängstlichem Formalismus tenversicherung zu sehen, die in ihrer ganzen Ge­ freie, wahrhaft ausgleichende Rechtsprechung" (P. schichte diesbezüglich keine Initiativen ergriffen hat Kaufmann) mehr und mehr zu Ende gegangen 13. (möglicherweise ist für die LVA Meddenburg eine

13 1901-1911 war allerdings das RVA primär als gleich ist aber gerechtfertigt, weil das RVAals Aufsichtsinstanz tätig geworden, während es jetzt Spruchinstanz nicht anders entscheiden konnte als um seine Funktion als Spruchinstanz ging. Der Ver- als Aufsichtsinstanz. Sozialgeschichte der Sozialversicherung 465 gewisse Ausnahme zu machen), die an Wirkung der Vorinflationszeiten nach und nach aus der und Vernünftigkeit denen der durch Unternehmer Rentenberechnung ausschieden. geführten gewerblichen BG im Hinblick auf das Heilverfahren vergleichbar gewesen wären (an sich Um die Personalverhältnisse bei den LVA selbst lassen sich die Probleme parallelisieren: die BG war es in dieser Krisenzeit vermutlich recht gut übernahmen aus ökonomischen überlegungen her­ bestellt. Jedenfalls beanstandete das RVA 1931 aus und im Interesse der Verletzten das Heilver­ u. a., "daß bei den Landesversicherungsanstalten im fahren von Anfang an, obwohl "an sich" die Kran­ allgemeinen zuviel Beamte vorhanden und daß kenkassen zuständig waren und, kurzfristig (!) ge­ diese zum Teil zu günstig eingestuft sind, ferner, sehen, dadurch mehr Kosten entstanden, die LVA daß die Zahl der Stellen des schwierigen im Ver­ hätten sich entsprechend zumindest mit der Arbeits­ hältnis zu denen des einfachen Bürodienstes zu hoch losenvermittlung befassen müssen usw.). Anderer­ ist" (AN 1932, 146). Der "Reichsverband" wies seits darf nicht verkannt werden, daß die LVA diese Feststellungen als "unrichtig" und "unzuläng• lich" bzw. als "Eingriff in die Selbstverwaltung" 1. keinen örtlichen Unterbau hatten, zurück. 2. sie durch die permanenten Rentenumstellungen und Inflationsfolgen "vollbeschäftigt" waren und Da gesamtwirtschaftlich keine staatlichen Maß• nahmen gegen die Rezession erfolgten, war es 3. das massive Eingreifen der Aufsichtsbehörden - unter dem Gesichtspunkt der Versicherungs­ zwischen 1901 und 1911 möglicherweise "nach­ wirkte". finanzen betrachtet - nur konsequent, daß man auch hier zu den - gesamtwirtschaftlich Die 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise gesehen - "falschen" - Sparmaßnahmen griff. machte sich von allen Sozialversicherungszwei­ Gemäß dem fortgeschrittenen Abbau des par­ gen am stärksten in derArbeiterrentenversiche­ lamentarischen Systems geschah das durch die rung bemerkbar. (Die Angestelltenversicherung bereits erwähnten Notverordnungen. war weniger stark betroffen, weil relativ we­ niger Angestellte als Arbeiter entlassen wur­ Die Notverordnung von 1931 sah im Entwurf eine den. Auf dem Höhepunkt der Arbeitslosigkeit allgemeine Rentenkürzung vor, brachte dann aber doch nur eine Kürzung in bestimmten Fällen, z. B. - Anfang 1933 - waren von den rd. 6 Mio. Ruhen der Invalidenrenten (und Angestelltenren­ Arbeitslosen nur 0,6 Mio. Angestellte. 1933 ten) sowie Hinterbliebenenrenten neben Kranken­ gab es 4,1 Mio. Angestellte und 16,16 Mio. geld, Verletztenrente aus der Unfallversicherung, Arbeiter.) Ein Arbeitsloser bedeutete durch­ Beschäftigten- und Dienstzeitrenten sowie Ruhe­ schnittlich 50 RM Beitragsverlust/Jahr. Seit gehältern oder Wartegeldern (sog. Luxusrenten). Die allgemeine Wartezeit wurde von 200 auf 250 1930 sanken die Beitragseinnahmen infolge Beitragswochen erhöht. Kinderzuschuß und Waisen­ Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit und Lohnsenkun­ renten wurden nicht mehr über das 15. Lebensjahr gen fast ständig. 1930 wurden 697,0 Mio. hinaus gezahlt u. a. Dadurch fielen u. a. rd. 130000 Wochenbeiträge entrichtet (durchschnittliche Witwen- und 190000 Waisenrenten weg, rd. 160 Höhe 141,5 RM), 1932 waren es nur noch Mio. RM wurden jährlich eingespart, 30 Mio. RM kamen davon dem Reich zugute. 1932 wurden die 519,2 Mio. (durchschnittliche Höhe 123,ORM). laufenden Invalidenrenten um6 RM, die Witwen­ (1929: 766,3 Mio. RM.) Andererseits war aber renten um 5 RM und die Waisenrenten um 4 RM keine Entlastung auf der Ausgabenseite abzu­ monatlich gekürzt, bei den neu festzusetzenden In­ sehen: die Anzahl der Renten stieg ständig, validenrenten wurde der Grundbetrag um 7 RM außerdem machte sich die mehrfache Erhöhung monatlich gekürzt. Dadurch wurden jährlich rd. 250 Mio. RM gespart. (Für die Beurteilung der der Rentensätze durch den Gesetzgeber zwi­ Auswirkung dieser Maßnahmen müssen die sinken­ schen 1925 und 1929 ebenso bemerkbar wie den Reichsindexziffern für die Lebenshaltungskosten die Berechnungsart der Renten, durch die die beachtet werden: 1928: 151,7; 1929: 145,0; 1930: durchschnittlich zur Anrechnung gelangende 148,1; 1931: 136,1; 1932: 130,6; 1933: 118,0). Zahl der Wochenbeiträge weiter stieg und in Die Finanzschwierigkeiten der LVA waren trotz­ dem beträchtlich, denn von ihrem noch vorhandenen immer größerem Umfange die höheren Stei­ Vermögen (1932: 4,603 Mrd. RM) war nur ein gerungsbeträge für die Nachinflationszeit ge­ kleiner Teil liquide. Schwierigkeiten hatten vor währt wurden, während die Beitragszeiten allem die Anstalten, die sich besonders stark mit

30 Sozialmedizin, Bd. III 466 Florian Tennstedt

Hypotheken und Darlehen für Wohnungsbau, Heil­ Abgesehen von der Tradition wirkte hier die staat­ anstalten, Heime usw. betätigt hatten. Eine Not­ liche Solidarzollpolitik "anregend": 1925 wurde gemeinschaft unter den Anstalten einerseits, stärkere die unter Bismarck eingeleitete, durch Bülow ver­ Einschränkung der Heilfürsorgeleistungen anderer­ stärkte Zollpolitik fortgesetzt: die Verbraucher­ seits sollten helfen. 1929 hatte das Reichsarbeits­ interessen wurden zugunsten der Großagrarier ver­ ministerium für die Jahre 1929 bis 1933 mit etwa nachlässigt (allerdings wurden die Gelder nicht zum 1 Mrd. RM überschuß gerechnet. Schlachtflottenbau verwendet). Von den aus der über die Leistungsentwicklung der Rentenversiche­ Erhöhung (!) der Lebensmittelzölle (die letzte er­ rungsträger in der Weimarer Republik unterrichten folgte 1906, "betroffen" waren: Korn, Mehl, Vieh, die Tabellen 11 und 12 (5. 466, 467). Fleisch und Speck) resultierenden Mehreinnahmen Diese Tabellen machen deutlich, daß quasi überwies das Reich der Invalidenversicherung jähr• gleichschnell wie der Aufbau der Renten auch lich 40 Mio. RM (1930-1933: 20 Mio. RM) und 10 Mio. RM für Wohlfahrtsrenten zugunsten der der Aufbau der freiwilligen Leistungen der Anstalten der freien Wohlfahrtspflege, weitere Be­ LVA, der durch die Selbstverwaltung geregel­ träge wurden für wissenschaftliche Forschung und ten Heilfürsorge, erfolgte. Ausbildung ausgegeben. Der Reichsarbeitsminister

Tabelle 11 Hauptdaten der Invalidenversicherung 1913-1932

1913 1919 1925 1929 1932 Versicherte (in Mio.) * 17,49 14,75 17,5 18,0 17,5 neu bewilligte Invalidenrenten 126607 130547 157985 173627 148635 durchschnitt!. jähr!. Höhe der IR (M/RM) 191,84 206,84 ca. 275,0+ durchsdmitt!. jähr!. Höhe der 413,28 400,56 AR (MlRM) 166,09 179,30 ca. 258,0+ neu bewilligte Altersrenten 11472 41343 112048 95676 80072 durchschnitt!. Höhe des Wochen- beitrags (M/RM) 0,35 0,43 0,72 1,42 1,23 Lungenheilstätten 42 45 51 63 59 darin: Anzahl der Betten 5075 5690 7161 9899 8083 darin: Anzahl der Verpflegten 26322 ? 38370 43101 28269 sonstige Heilanstalten ** 42 49 47 59 61 darin: Anzahl der Betten 4088 4961 5808 7430 6995 darin: Verpflegte 33522 ? 50409 62792 28987 Heilbehandlungsfälle: 1. Tuberkulose und Lupus 53114 31605 47889 41172 27454 2. Geschlechtskrankheiten 7880 11630 23433 14 712 3. Rheumatische Krankheiten 100522 ? ? 20772 6979 4. Krebs 61 97 97 5. andere Krankheiten 124400 150959 304342 66407 davon Zahnersatz *~.* 49500 94546 103776 225270 40166 Ausgaben Heilverfahren 24,91 53,62 32,86 97,73 38,6 Darlehen Arbeiterwohnungen 11,45 6,18 33,25 95,00 2,6 (in Mio. M/RM) Darlehen für allg. Wohlfahrts- maßnahmen (in Mio. M/RM) 5,17 6,8 30,2 8,1

* Anzahl der Wochenbeiträge: 43 (für die Zeit von 1925 an wird teilweise auch von 40 durchschnitt!. verkauften Beitragsmarken ausgegangen) ** Sanatorien, Genesungsheime, Krankenhäuser ,:,*,~ nur zur Abwehr drohender Invalidität + geschätzte Zahlen durch "Fortschreibung" der Werte von 1913, an sich gab es keine Differenzierung mehr, Durchschnittsangaben der Invalidenrente fehlen. Quelle: Amtliche Nachrichten des Reichsversicherungsamtes, 1915 ff.; Heilfürsorge (Gesundheitsfürsorge) in der Invalidenversicherung, 1925 ff. Sozialgeschichte der Sozialversicherung 467

Tabelle 12 Hauptdaten der Angestelltenversicherung (1913-1932)

1913 1919 1925 1929 1932 Versicherte (in Mio.) 1,7 2,0 2,4 3,6 3,4 neu bewilligte Berufsunfähigkeitsrenten 606 7820 2005 28940 neu bewilligte Altersrenten 6118 11485 4915 durchschnittI. jährliche Rentenhöhe 638,52 753,00 729,84 (M/RM) Lungenheilstätten 31 54 47(2) 60(3) 73(3) Sanatorien und Kurpensionen 39 28 32(2) 57(5) 63(6) bewilI. ständ. Heilverfahren 4929 18841 28963 45221 36871 davon: 1. Lungenheilstätten 2031 5314 10211 12650 9825 2. Sanatorien 1394 4542 6636 31697 3. Kur in Badeorten 815 7290 11438 874 27047 4. spezialärztl. Behandlungen 689 620 930(?) bewilligte Zahnbehandlungen 1963 6994 19038 40773 ca. 45 000 bewilligte größere Heilmittel 440 1048 1963 ca. 2000 Ausgaben Heilverfahren (Mio. M/RM) 4,31 19,71 11,84 18,95 21,9 Darlehen Wohnungsbau (Mio. MlRM) ? ? ? ? 62

Quelle: Mitteilungen der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte 1923 Nr.4, 1930 Nr.9, 1933 Nr.5; Fünfundzwanzig Jahre Angestelltenversicherung 1913-1937, Berlin 1937 gewährte von diesen 40 Mio. RM den LVA Beihil­ staatlicher und kommunaler Förderung erfreu­ fen für Einrichtungen zur Volksgesundheitspflege. ten: 1919 gab es 1269 Fürsorgestellen in Von allen Krankheiten stand wieder die Tu­ Deutschland, 1925 waren es 1901, hinzu ka­ berkulose im Vordergrund der gesundheits­ men rd. 1500 Hilfsfürsorgestellen. 1928/29 war fürsorgerischen Maßnahmen der Invalidenver­ eine Rationalisierung im Tuberkulosefürsorge• sicherung. stellenwesen eingetreten: die kleineren, weni­ Die Tuberkulosesterblichkeit in Deutschland war bis ger leistungsfähigen FürsorgesteIlen waren zu­ zum Kriegsausbruch um die Hälfte zurückgegangen sammengelegt worden, es existierten rd. 1500 und hatte einen Durchschnittsstand von 12,2 auf Fürsorgestellen. In ihren Bezirken befanden 10000 Lebende. Während des Krieges stieg sie wie­ sich rd. 90 v. H. der Einwohner des Deutschen der an und erreichte im Jahr 1918 ihren Höhepunkt Reiches. Träger waren zu rd. 80 v. H. Städte, (23,0), um dann - mit Ausnahme von 1923 - wie­ der rasch zu fallen. 1932 erreichte sie mit 7,5 Todes­ Kreise, Amtshauptmannschaften und zu rd. 15 fällen den tiefsten Stand. Noch 1913 war die Tuber­ v. H. Vereine und Verbände. Insgesamt waren kulose vor allen Krankheiten der Kreislauforgane rd. 2400 A.rzte tätig, davon rd. 350 hauptamt­ die verbreitetste Todesursache, 1925 war sie bereits lich. Ober die Inanspruchnahme der Fürsorge• an die dritte Stelle gerückt, 1925 stand sie unter stellen geben folgende - auf 10000 Einwohner den Infektions- und örtlichen Krankheiten erst an vierter Stelle. Da in der Weimarer Republik ins­ bezogene - Durchschnittsziffern Auskunft: gesamt gesehen gegenüber 1913/14 sich die Lebens­ 1925: 88,0, 1926: 82,6, 1927: 75,1,1928: 76,1. lage der Arbeitnehmer nicht wesentlich verbesserte, 1931 existierten rd. 1400 FürsorgesteIlen, deren dürfte die Senkung der Tuberkulosesterblichkeit in Bezirke rd. 94 v. H. der Bevölkerung erfaßten. dieser Zeit überwiegend auf die durchgeführten sozialhygienischen Maßnahmen zurückzuführen sein. Von den LVA erfolgte - wie schon vor dem Ersten Von den in der Weimarer Republik ergangenen Weltkrieg - auf diese umfassenden sozialhygieni­ Gesetzen zur Vorbeugung gegen Tuberkulose ist das schen Maßnahmen generell wenig Resonanz. Die Preußische Gesetz zur Bekämpfung der Tuberkulose allseits gerühmte, vorbildliche Ausnahme stellte die (1923) zu nennen. LVA Thüringen dar. Schon 1916 forderte diese LVA in einer Denkschrift über die Tbc-Bekämpfung Im Mittelpunkt der Tuberkulosebekämpfung in Thüringen bei den damaligen acht Regierungen standen die Fürsorgestellen, die sich eifriger (Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach, Her- 468 Florian Tennstedt zogtum Sachsen-Meiningen, Sadlsen-Gotha, Sach­ übrigen errichtete die LVA in diesem Zeitraum auch sen-Altenburg, Fürstentümer Schwarzburg-Rudol­ zwei Lungenheilstätten und ein Thermal- und Sol­ stadt, Schwarzburg-Sondershausen, Reuß ä. L. und bad in Colberg. Reuß j. L.) hauptamtliche Fürsorgeärzte für Tbc und Aufteilung des Landes in acht Bezirke zur Tbc­ Abgesehen von Thüringen war auch in ande­ Bekämpfung. Da die LVA fast die einzige Thürin• ren Ländern versucht worden, den "unverhält• ger Gesamtbehörde war, fand sie hierbei Resonanz. nismäßigen Kräfte- und Zeitverbrauch und das Die allgemeinen Verhältnisse verhinderten aber die Gegeneinanderwirken, das den Wert und Er­ initiierte einheitliche Tbc-Bekämpfung. In der N ach­ folg der Leistung erheblich herabdrücken muß" kriegszeit setzte dann die LVA ihre Heilstätten• ärzte zu Vorsorgeuntersuchungen am Sitz größerer (R. Unger), der durch die gegliederte Sozial­ FürsorgesteIlen ein, bildete Fürsorgeärzte fort usw. versicherung bei der Gesundheitsfürsorge ent­ und regelte die Beihilfen für etwa 50 Fürsorgestel• standen war, zu überbrücken. Einzelne Vor­ len. Im übrigen versuchte sie, die Anstellung haupt­ kriegsabkommen zur Bekämpfung der Tuber­ amtlicher Fürsorgeärzte zu betreiben, stieß dabei kulose, der Geschlechts- und Zahnkrankheiten aber - wie allgemein - auf den Widerstand der waren wenig erfolgreich. "Es erhoben sich im organisierten Ärzteschaft, so daß erst 1925 erstmalig ein hauptamtlicher Arzt in Gera angestellt werden Jahre 1918 gewichtige Stimmen 13a, die darauf konnte. hinwiesen, daß Abkommen zwischen einzelnen Ludwig Teleky (1872-1957), einer der führenden Versicherungsträgern nur Stückwerk liefern Sozialhygieniker der Weimarer Republik, nennt für könnten und daß nur in der Zusammenfassung die Tatsache, daß allgemein das Verhältnis der aller zur Verfügung stehenden sachlichen, per­ Ärzteschaft zur Fürsorgestelle "oftmals kein gerade sönlichen und finanziellen Kräfte in Arbeits­ erquickliches" war, folgende Gründe: 1. ihre Befürchtung, durch die Fürsorgestelle sowohl gemeinschaften oder Zweckverbänden das er­ ein Stück ihrer Autorität, ihres Einflusses auf den strebte Ziel zu erreichen sei. Der Gedanke Patienten zu verlieren als auch eine Schmälerung fand auch nahezu allgemeinen Beifall. Sehr ihres Einkommens hinnehmen zu müssen und bald begann man an seine Durchführung zu 2. "die allzusehr rein individual-therapeutische Ein­ gehen. Voran mit der Gründung der Arbeits­ stellung und Gleichgültigkeit vieler Ärzte in Fragen der öffentlichen Gesundheitspflege". gemeinschaften gingen die Rheinprovinz und 1925 faßte die LVA Thüringen - Präsident war Groß-Berlin im März 1920" (R. Unger). von 1917-1932 Albert Dietl - unter Auswertung Im gleichen Jahr folgten noch Westfalen und eigener und fremder Erfahrungen sowie unter Mit­ Baden. Im Dezember 1920 wurde durch die hilfe des "Deutschen Zentralkomitees" ihre Grund­ "Arbeitsgemeinschafl: der Sozialversicherung sätze für die Fürsorgestellenunterstützung neu, die und Wohlfahrtspflege für Hessen-Nassau und vor allem auf die Anstellung hauptamtlicher Tuber­ kulosefachärzte ausgerichtet wurden. 1926 wurden Waldedt" die erste Arbeitsgemeinschafl: gegrün• die Grundsätze gebilligt, und im gleichen Jahr det, die auch die Wohlfahrtspflege miteinbe­ wurde auf diesen Grundsätzen die "Thüringer Ge­ zog. Diesem Beispiel folgte zunächst nur noch meinschaft zur Bekämpfung der Tuberkulose" ge­ Schlesien. gründet, der sich nach überwindung vieler Schwie­ rigkeiten das Land, fast alle Stadt- und Landkreise, "Die Reichsregierung, gleichfalls von der Zweck­ alle gesetzlichen Krankenkassen (außer Ersatzkas­ mäßigkeit, ja Notwendigkeit der Arbeitsgemein­ sen!), alle Rentenversicherungsträger, Hauptver­ schaften überzeugt, glaubte nun diesem Gedanken sorgungsamt, Wohlfahrtsverbände, Arbeitnehmer­ am besten durch gesetzgeberische Unterstützung und Arbeitgeberorganisationen usw. anschlossen, weiterhelfen zu können. Sie bereitete deshalb im mit der Universität Jena wurde eng zusammenge­ Jahre 1920 ein Gesetz über den Zusammenschluß arbeitet. Die Koordination lag bei der LVA Thü• von Trägern der Reichsversicherung zum Zwecke ringen, 1927 waren schon 12 Land- und Stadtkreise gemeinsamer Wohlfahrtspflege und über Regelung hauptamtlich versorgt, 1928 erfaßte die Tuber­ kulosegemeinschaft mit hauptamtlichen Fachärzten Isa Die erste Anregung (1917) zu derartigen Abkom­ rd. 70 v. H. der Thüringer Bevölkerung. Auf die men und Arbeitsgemeinschaften ging von dem spä• weiteren Einzelheiten dieser "jahrelang in Deutsch­ teren Ministerialdirektor, damaligen Verwaltungs­ land mustergültigen" (R. Griesbach) Tuberkulose­ sekretär bei einer bayerischen BG, fosef Eckert, aus! organisation im Land Thüringen unter Führung der Sie wurde vom RVA und seinem Präsidenten, Paul LVA kann nicht weiter eingegangen werden. Im Kaufmann, aufgegriffen. Sozialgesmichte der Sozialversicherung 469

des Heilverfahrens vor. Danach sollte der Reichs­ Krankenfürsorge" in Stettin und die "Arbeits­ arbeitsminister ermächtigt sein, Träger der Reichs­ gemeinschaft der Sozialversicherung und Wohl­ versicherung zwangsweise zu Arbeitsgemeinschaften fahrtspflege für die Provinz Grenzmark Posen­ zusammenzuschließen und deren Tätigkeit durch bindende Richtlinien zu regeln. Die Aufnahme, die Westpreußen" 14. dieser Entwurf bei den Versicherungsträgern fand, Die "Richtlinien über Gesundheitsfürsorge in war eine ablehnende. Man sah in dem Zwang zum der versicherten Bevölkerung" ergingen An­ Zusammenschluß einen Eingriff in das Selbstver­ fang 1929. über die "Arbeitsgemeinschaft für waltungsrecht der Versicherungsträger, der ihre Ar­ beitsfreudigkeit lahmlegen würde. Ersprießliches Gesundheitsfürsorge" wurde darin ausgeführt: könne nur aus einem freiwilligen Zusammenschluß folgen. Die Reichsregierung gab dem Gehör. Sie "Zur Förderung der gemeinsamen Zwecke in der glaubte sich der weiteren freiwilligen Entwiddung Gesundheitsfürsorge sollen sich die Versicherungs­ einstweilen nicht in den Weg stellen zu sollen und träger untereinander und mit den Trägern der verzichtete deshalb zunächst auf die Weiterverfol­ öffentlichen und kommunalen Gesundheitsbehör• gung des Gesetzentwurfs. den, mit der Krzteschaft und anderen beteiligten Diese Entwicklung blieb hinter den Erwartungen Stellen in Arbeitsgemeinschaften, Zwedwerbänden zurück. Es lag dies hauptsächlich daran, daß bei oder ähnlichen Vereinigungen verbinden. Aufgabe den Versicherungsträgern infolge der Inflation, des der Arbeitsgemeinschaften ist das Zusammenwirken Verlustes ihrer Vermögen, des geringen Zuflusses ihrer Mitglieder zur Erreichung einer umfassenden von Geldmitteln und der Sorge um die eigene Exi­ und planmäßigen, zusammenhängenden und mög• stenz Unternehmungsgeist und Verantwortungslust lichst wirksamen Gesundheitsfürsorge für die für• erheblime Einbuße erlitten hatten" (R. Unger). sorgebedürftige Bevölkerung, unbeschadet der be­ sonderen Aufgaben, die den Gemeinschaftsmitglie­ dern nach Gesetz oder Satzung obliegen. Durch 1925 - als auf den Protest keine Taten gefolgt Arbeitsgemeinschaften werden die Ausgaben für waren - ermächtigte der Reichstag die Reichs­ unnötige Doppelleistungen vermieden und Mittel regierung zu einer Richtlinienkompetenz "be­ zur Steigerung der notwendigen Leistungen frei­ treffend das Heilverfahren in der Reichsver­ gemamt, die Gesundheitsfürsorge im ganzen wird dadurch einfamer und wirtsmaftlicher. sicherung und die allgemeinen Maßnahmen der Verfassung und Geschäftsführung, Arbeitsgebiet Versicherungsträger zur Verhütung des Ein­ und Arbeitsweise, Aufbringung und Verwendung tritts vorzeitiger Berufsunfähigkeit oder Inva­ der Mittel regeln die Beteiligten durch Verein­ lidität oder zur Hebung der gesundheitlichen barung. Dabei wird auf das gesmimtlich Gewordene Verhältnisse der versicherten Bevölkerung. und das örtliche Kräfteverhältnis die gebotene Rücksimt zu nehmen sein. Bestehende Arbeits­ Diese Richtlinien sollen ferner das Zusammen­ gemeinschaften sind zu fördern und auszubauen. wirken der Träger der Reichsversicherung un­ Die Bildung einer Reimsarbeitsgemeinschaft ist an­ tereinander und mit den Trägern der öffent• zustreben." lichen und freien Wohlfahrtspflege auf dem Gebiete des Heilverfahrens und der sozialen Damit war der Gedanke einer Zwangsarbeits­ Hygiene regeln." gemeinschaft verlassen worden. Unter Führung Diese Befugnis - sie bedurfte der Zustim­ des "Reichsverbandes Deutscher Landesver­ mung des Reichsrats und eines besonderen sicherungssanstalten" schlossen sich bald darauf Reichstagsausschusses, Spitzenverbände der die insgesamt 13 Spitzenstellen der Sozialver­ Arzte und Versicherungsträger mußten nur ge­ sicherungsträger zu einer "Reichsarbeitsgemein­ hört werden - war relativ weitgehend. Um schaft der Sozialversicherungsträger" zusam­ dieser "Gefahr" zu entgehen, wurden noch men. Die Bildung einer "Reichsarbeitsgemein­ 1925 8 Arbeitsgemeinschaften "freiwillig" ge­ schaft" aller an der Gesundheitsfürsorge betei­ gründet, so daß insgesamt 14 vorhanden wa­ ligten Stellen glückte nicht. Hier dürften die ren. 1930 bestanden insgesamt 31, so z. B. die "Arbeitsgemeinschaft zur Förderung eines er­ 14 Vgl. zum Gesamtkomplex aus sozialmedizinischer Simt: F. Goldmann, Arbeitsgemeinschaften für Ge­ sprießlichen Zusammenarbeitens der Landes­ sundheitsfürsorge. In: Ergebnisse der sozialen Hy­ versicherungsanstalt und der Krankenkassen giene und Gesundheitsfürsorge, Bd. 1. Leipzig 1929, der Provinz Pommern auf dem Gebiet der 204. 470 Florian Tennstedt

Gegensätze zwischen den Sozialversicherungs­ ten. Vorbildlich war wieder die LVA Thürin• trägern einerseits und den Kommunen, staat­ gen, auf deren Anregung und Vorarbeit hin lichen Instanzen und freien Verbänden (die auch eine "Gemeinschaft zur Bekämpfung der untereinander auch keine Einheit bildeten!) Geschlechtskrankheiten im Lande Thüringen" andererseits bestimmend gewesen sein, aufmini­ gegründet worden war. sterieller Ebene herrschte weiter der Dualismus "Die Leistungen dieser Arbeitsgemeinschaften waren zwischen Reichsinnenministerium, Preuße Mini­ z. T. ausgezeichnet. Allerdings krankte diese Art sterium für Volkswohlfahrt (beide hatten ­ von Arbeitsgemeinschaften daran, daß die Beteili­ ursprünglich von der Gesundheitspolizei aus­ gung in ihnen, wie auch der Umfang der Betätigung gehend! - die eigentliche Kompetenz für das in ihnen im freien Belieben der in Frage kommen­ den Stellen stand, die nicht alle geneigt waren, im Gesundheitswesen) und dem Reichsarbeitsmini­ Interesse des allgemeinen Volkswohls gewisse Be­ sterium, das seine Kompetenz "mittels" der einträchtigungen für sich in Kauf zu nehmen. Die Sozialversicherung erhalten hatte. Folge davon war, wenigstens in einigen Bezirken, Soweit sich feststellen läßt, wurde das Beispiel daß die Hauptlast, um nicht zu sagen die Gesamt­ last, sowohl hinsichtlich der Betätigung wie der Thüringen nirgends wieder erreicht, wenngleich Aufbringung der Mittel auf den Schultern der Lan­ ähnliche "Tuberkulosegemeinschaften" auch desversicherungsanstalten ruhte, die sich im Inter­ anderswo gegründet worden waren, so z. B. in esse des Volksganzen auch vorbildlich dieser Auf­ Baden und Hannover, Bayern (1910), Würt• gabe unterzogen. In diesen Verhältnissen brachten temberg (1911), Pommern (1913), Sachsen auch die am 27. 2.1929 erlassenen Richtlinien der damaligen Reichsregierung keine wesentlichen An­ (1913), Mecklenburg (1917), Ostpreußen (1918) derungen. Vor allem waren es aber folgende Punkte, u. a., hier lag das Schwergewicht auf der Ko­ die einen vollen Erfolg auf dem Gebiet der Ge­ ordination staatlicher, städtischer und provin­ schlechtskrankheiten hinderten. Zunächst der Um­ zieller Tätigkeit untereinander und mit den stand, daß die Arbeitsgemeinschaften allgemeiner starken privaten Organisationen, die Sozial­ Natur waren, d. h. alle oder doch mehrere Krank­ heitsgebiete umfaßten, und der Bekämpfung der versicherungsträger waren hier unparteiisch Tuberkulose, die sich ihnen bei ihrer Gründung als integriert, und ein einheitliches gesundheitsfür• Hauptaufgabe darstellte, traditionsgemäß ihr be­ sorgerisches Vorgehen gelang selten. Ausnah­ sonderes Augenmerk zuwandten, während sie die men bestanden wohl nur dort, wo die LVA Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, wenn auch mittels ihrer finanziellen Zuwendungen - so in sicher nicht bewußt, etwas in den Hintergrund tre­ ten ließen. Des weiteren, daß nicht alle erkrankten Hessen-Nassau, Hannover, Westfalen, Unter­ Volksgenossen, sondern nur die von den jeweils in franken und vor allem in der Rheinprovinz den Arbeitsgemeinschaften vertretenen Gruppen und in Berlin - Einfluß auf den Betrieb der nach dem Gesetz zu Betreuenden der Fürsorge FürsorgesteIlen nahmen. unterworfen wurden, endlich, daß sich Arzte wie Abgesehen von der Tuberkulose regelten die Kranke nicht immer der ihnen zukommenden Stel­ lung und Verantwortung im Kampf gegen die Ge­ quasigesetzlichen Richtlinien auch die "Ge­ schlechtskrankheiten bewußt waren. Persönliche Be­ sundheitsfürsorge für geschlechtskranke Ver­ weggründe waren hier vielfach maßgebend, mit sicherte" besonders. Die Folgen des Ersten denen man sich hinter den Schlagworten von der Weltkrieges für die Bekämpfung der Ge­ ,persönlichen Freiheit' und der ,Freiheit des ärzt• schlechtskrankheiten waren erheblich: Ende lichen Handeins' zu verschanzen suchte" (R. Unger). 1916 waren bereits 93 Beratungsstellen in Be­ Im übrigen muß erwähnt werden, daß 1927 in trieb. 1929 waren es über 200. Diese gehörten Deutschland das erste und einzige sozialhygie­ überwiegend der LVA oder wurden zumindest nische Reichsgesetz verabschiedet worden war, geldlich gestützt. Betreut wurden im Jahre das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechts­ 1924: 48000, 1927: 82000, 1930: 133000. krankheiten. Mit ihm hatte sich das Prinzip 1927 kamen auf 10000 Einwohner rd. 4,0 Ge­ der Fürsorge reichseinheitlich durchgesetzt auf schlechtskranke. Die Bekämpfung der Ge­ einem Gebiet, das die klassische Domäne me­ schlechtskrankheiten gehörte auch zum Auf­ dizinalpolizeilicher Zwangsmaßnahmen war. gabengebiet der genannten Arbeitsgemeinschaf- Eine wesentliche Veranlassung zu dieser N eu- Sozialgeschichte der Sozialversicherung 471 orientierung war die Erkenntnis, daß das Sy­ gesundheitsfürsorgerischen Maßnahmen insge­ stem der Reglementierung und des Zwanges samt stark beeinträchtigte. bei der Bekämpfung sich als unwirksam erwie­ Die Kontrolle der Heilerfolge selbst blieb auch sen hatte, und weiterhin die soziologische Ein­ in der Weimarer Republik dilettantisch, sie be­ sicht, daß dieses System wegen des sozialen schränkte sich auf die prestigemäßig günstigen Wandels nicht aufrechterhalten werden konnte. "Anfangserfolge", die bei Lungen- und Kehl­ "Modell" waren schließlich in gewisser Weise kopftuberkulose 81 v. H., bei Knochen- und die vom heilenden und fürsorgenden Prinzip Gelenktuberkulose 73 v. H., bei Lupus 94 v. H., getragenen Einrichtungen der Sozialversiche­ bei Geschlechtskrankheiten 97 v. H. und ande­ rungsträger. ren Krankheiten (inkl. Zahnkrankheiten, Heil­ Von den weiteren gesundheitsfürsorgerischen verfahren bei Verlust von mindestens 5 Zäh• Maßnahmen sind die bei rheumatischen Krank­ nen) 93 v. H. der Behandelten (jeweils Män• heiten zu erwähnen. Die Erkenntnis, daß die ner, 1929) betrugen. rheumatischen Erkrankungen der Muskeln und Im Hinblick auf den Wohnungsbau erreichte Gelenke mit ihren Folgeerscheinungen sich jähr• die Tätigkeit der Rentenversicherungsträger lich häuften und ständig steigende erhebliche nicht mehr die Bedeutung, die sie in der Vor­ Heilbehandlungs- und Rentenkosten verur­ kriegszeit hatte. sachten, ließ die LVA dazu übergehen, diesen Hierfür waren neben den direkten Folgen der Infla­ Krankheitserscheinungen besondere Aufmerk­ tion entscheidend: samkeit zu schenken. Insbesondere waren die 1. daß nach Einführung des Umlageverfahrens die industrialisierten Gebiete der westlichen LVA Kapitalrücklagen relativ bescheiden waren, einige sowie Schlesien und Sachsen von rheumatischen LVA beschränkten sich darauf, den Wohnungsbau Erkrankungen betroffen. Die frühzeitige Ein­ zu unterstützen und diesem Mietzuschüsse zu zah­ leitung des Heilverfahrens schien gute Erfolge len, zu sichern. Anfänglich verfügte aber nur die 2. war die Erstellung von Wohnungen nicht mehr LVA Rheinprovinz über eine eigene Heilstätte, - wie vor dem Kriege - grundsätzlich der Initiative privater Bauherren überlassen (Finanzierung und das Landesbad Aachen (seit 1912 in ihrem technische Gestaltung, für eigenen und fremden Be­ Eigentum) bei dem 1927 die "Arbeitsgemein­ darf inkl. spekulativer Wohnungsbau), vielmehr schaft von Reichsversicherungsträgern der wurde - aus wirtschafts- und sozialpolitischen Grün• Rheinprovinz" ein "Rheumaforschungsinstitut" den - der Wohnungsbau überwiegend durch Heran­ errichtet hatte (ein weiterervon ihr gegründeter ziehung öffentlicher Mittel finanziert. Verein war Träger des "westdeutschen Tuber­ Der "Stellenwert" der Tätigkeit der Renten­ kuloseforschungsinstituts"). Bei der LVA Schle­ versicherungsträger bei der Finanzierung des sien, Westfalen,Schleswig-Holstein undHanse­ Wohnungsbaues wird aus folgender übersicht städte fiel die Gründung von Rheumaheilstät• über die Finanzierungsquellen des Wohnungs­ ten in die Zeit der Weltwirtschaftskrise, die die baues deutlich (jeweils in Mio. RM):

1924 1925 1926 1927 1928 Hauszinssteuermittel 365,4 601,2 742,9 800 800 Anleihen und Darlehen 82,6 242,6 410 425 300 Haushaltsmittel 103,4 120,6 135 120 100 öff.-rechtliche Kreditanstalten 8,1 30 80 370 400 Hypothekenbanken 17 45 100 200 580 Sparkassen ? 300-400 ? 600 750 Reichsvers.-Anst. für Angestellte ? 27,6 33,6 74,4 120 Landesversicherungsanstalten ? 30,8 19,9 39,2 100 Reichspost und Reichseisenbahn 50,9 55,6 ?? 22

Quelle: Handwörterbuch des Wohnungswesen, Jena 1930, S. 243 472 Florian Tennsteclt

Die ersten drei Posten sind der öffentlichen gen, der der über 15 Jahre war um 21,3 v. H. Hand unmittelbar zuzurechnen, die Hauszins­ gestiegen. Deshalb gab es mehr Erwachsene steuer war 1924/26 eingeführt worden. Mit als vor dem Krieg, weshalb die Zahl der Haus­ ihrer Hilfe wurde ein Teil der Mieterhöhung halte um 19,5 v. H. stieg. Ihre Kopfstärke war weggesteuert, die zur überleitung aus der allerdings von 4,5 auf 4,0 Personen gesunken. Wohnungszwangswirtschaft in die freie Wirt­ 1925 bezifferte Alfons Fischer die Anzahl der schaft zugelassen worden war. Die Zahl der fehlenden Wohnungen auf über 1 Million. Wohnungs- und Baugenossenschaften im Deut­ Der Reinzugang an Wohnungen erreichte erst schen Reich stieg von 2545 (1921) auf 4390 1926 wieder den Vorkriegsstand (1919: 56714, (1930). 1922: 146615,1926: 205793,1930: 310971, 1932: 141265). Für die entscheidenden Epo­ Eine Sonderstellung im Angestelltenwohnungsbau nahm die 1918 durch die Reichsversicherungsanstalt ehen der Weimarer Republik ergeben sich fol­ und die nichtfreigewerkschaftlichen Angestellten­ gende Gesamtziffern: 1919-1923: 558977, verbände gegründete "Gemeinnützige Aktiengesell­ 1924-1928: 1 089622, 1929-1932: 1 003 566. schaft für Angestellten-Heimstätten" (Gagfah) ein, Nach der Reichswohnungszählung waren 1927 auf die der größte Teil des Angestelltenwohnungs­ 490000 Wohnungen (= 5,6 v. H.) wegen Be­ baues entfiel: Finanzierung, Planung und Baustoff­ beschaffung waren zentralisiert. 1919-1923 wurden legung mit mehr als 2-3 Personen je Wohn­ etwa 3200 Wohnungen errichtet, 1924-1927 waren raum überfüllt. In mehr als 5 v. H. dieser es rd. 6000, insgesamt wurden in der Weimarer Wohnungen (= 37361, 188947 Bewohner) ka­ Republik durch sie etwa 20000 Wohnungen errich­ men mehr als 4 Personen (also mindestens 4 tet. Neben der "Gagfah" bestanden noch die frei­ Erwachsene, 1 Kind) auf einen Wohnraum. Im gewerkschaftliche "Gehag" und die "Heimat A.G.", wesentlich getragen durch den "Gewerkschaftsbund übrigen machen die Daten über die mit mehr der Angestellten". als 5 Personen/Wohnraum belegten Wohnun­ gen (1927) - Berlin: 403 (2946 Personen), Abschließend sei noch auf das Wohnungswesen Breslau: 651 (4495 Personen), Königsberg: 130 in der Weimarer Republik hingewiesen. Mit (1044 Personen) - trotz aller Misere deutlich, dem Ersten Weltkrieg hatte die zivile Bau­ daß durch den staatlichen Wohlfahrtsinterven­ tätigkeit fast ganz aufgehört. Von 1,76 Mio. tionismus sich in der Weimarer Republik ge­ Bauarbeitern (1914) waren 1920 nur noch rd. genüber dem Deutschen Kaiserreich ein beacht­ 1 Mio. tätig, von 18 000 Ziegeleien arbeiteten licher Fortschritt angebahnt hatte (vgl. S.459). nur noch 700, die Baukosten waren auf das Sechsfache gestiegen (Anfang 1919), mit der Inflation ging es entsprechend sprunghaft wei­ 3.3 Die gesetzliche Rentenversicherung in der ter. Infolge der gewaltigen Baukosten war der Zeit des nationalsozialistischen Staates Hausbau vollkommen unrentabel geworden. (1933-1945)

Unter den 22307 Kranken, die 1920 von den Kon­ In der gesetzlichen Rentenversicherung z'eigte trolleuren der Berliner AOK besucht wurden, litten sich der Herrschaftsantritt des Nationalsozia­ 4619 an Tuberkulose, 2841 an sonstigen anstecken­ den Krankheiten. Von den Tuberkulösen schliefen lismus zunächst dadurch, daß das "Gesetz zur 897 allein, die übrigen mit 1-7 Personen zusam­ Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" men, von den Personen mit sonstigen ansteckenden wirksam angewendet wurde, u. a. wurden die Krankheiten teilten 2352 mit 1-7 Personen den der SPD angehörenden Präsidenten der LVA Schlafraum. amtsenthoben, Martin Frommhold (geb. 1880) Für die Wohnungsnot war neben den ökono• von der LVA Hannover nahm sich das Leben. mischen Faktoren entscheidend, daß sich die Sein Nachfolger wurde der Major a. D. Sieg­ Altersstruktur der Bevölkerung geändert hatte: fried wagner (1887-1955), Reichshauptstellen­ von 1910-1925 wuchs die Bevölkerung um leiter der NSDAP, Hauptamt für Volks­ 8,0 v. H., dabei war der Anteil der Personen wohlfahrt. Theodor Schroeder, der liberale unter 15 Jahren um 17,9 v. H. zurückgegan- Vorsitzende des "Reichsverbandes Deutscher Sozialgeschichte der Sozialversicherung 473

Landesversicherungsanstalten", trat zurück. ten in der Zukunft zu vermeiden" (j. Krohn). Eine Weitere Möglichkeiten, die einflußreichen Prä• Rente der Lohnklasse I, die nach alter Berechnung sidenten- bzw. Vorsitzendenpositionen mit eine monatliche Höhe von 18 RM gehabt hatte, be­ trug nach neuer Berechnung 12,60 RM, eine der NSDAP-Angehörig'en zu besetzen, ergaben sich Lohnklasse VII betrug 48 RM bzw. 42,60 RM; aus der Tatsache, daß in den Jahren 1932 und 1933 relativ viele der "alten Garde" aus Alters­ 3. die vorgesehenen Beitragserhöhungen wurden gründen ihr Amt niederlegten oder verstarben. nicht realisiert, statt dessen wurden die Möglich• keiten zur Entziehung einer Rente ohne Feststel­ Soweit sich heute noch feststellen läßt, gaben 14 lung einer wesentlichen Änderung in den Verhält• LVA-Präsidenten ihr Amt im Zusammenhang mit nissen des Rentenberechtigten geschaffen. Dieses dem politischen Machtwechsel ab oder wurden dazu ging auf ein Gutachten des Reichssparkommissars gezwungen. Infolge des Gesetzes zur Wiederherstel­ (eine 1922-1934 existierende Einrichtung, Friedrich lung des Berufsbeamtentums wurden bei den LVA Sämisch, Präsident des Rechnungshofs des Deut­ mindestens 150 Beamte, Angestellte und Arbeiter schen Reichs) zurück, der 1933 festgestellt hatte, entlassen, bei der LVA Berlin allein 29 Ärzte. Bei daß 1927 47,14 v. H. aller Invalidenrentner jünger der Reichsknappschaft waren es 106 Angestellte und als 65 Jahre waren, 1931 es aber schon 66,79 v. H. Arbeiter sowie 25 leitende Angestellte und Ärzte. waren. Dieses führte er auf eine "Dehnung des Be­ griffs der Invalidität" zurück. Der quasioffizielle Mehr noch der Weimarer R,epublik zuzurech­ Kommentar besagte dazu, daß durch die leichtere nen sind die Sanierungsmaßnahmen für die Entziehung der Renten "die Versicherungsmoral ge­ stärkt und der Rentenbestand gesäubert" (H. Pfundt­ Rentenversicherung, die Ende 1933 wirksam ner und R. N eubert) werden sollte; wurden, die Pläne waren schon 1932 vom Reichsarbeitsministerium ausgearbeitet worden, 4. wurde eine neue Lohnklasse VIII zur Beseitigung ihre rasche R'ealisierung verhinderte eine radi­ der Unterversicherung und zwei Beitragsklassen für die freiwillige Höherversicherung eingeführt. kaIe Reform der Versicherung nach national­ sozialistischen Gesichtspunkten. Durch das "Aufbaugesetz" von 1934 wurden ]ohannes Krohn und der Chefmathematiker die Landesversicherungsanstalten die Träg,er des Reichsarbeitsministeriums, Wilhelm Dob­ der Krankenversicherung für die Gemein­ bernack (1902-1965), hatten die Rückkehr zum schaftsaufgaben. 1935 wurde dafür als gemein­ Anwartschaftsdeckungsverfahren empfohlen, schaftliches Organ sämtlicher LVA die Gemein­ w'eil das Umlageverfahren versagt hatte: die schaftsstelle der LVA beim RVA gebildet, ihr im Konjunkturaufschwung entstandenen Ren­ Leit'er wurde Gottlieb Storck (1885-1949), tenlasten trafen in der Rezession auf eine zu­ Präsident der LVA der Hansestädte. Geschäfts• sammengeschrumpfte Lohnsumme, was zu den führer wurde der aus der Krankenkassenbe­ genannten Fehlbeträgen führte. Die Sanierung wegung kommende Karl Falk (1880-1944). auf der Grundlage des Anwartschaftsdeckungs­ Damit ging - neben den eigenen Gesundheits­ v'erfahrens erforderte erhebliche finanzielle fürsorgeeinrichtungen - auch der Betrieb von Mittel zur Stärkung des angegriffenen Vermö• Heilanstalten, Erholungs- und Genesungshei­ gens der Rentenversicherung. Das "Sanierungs­ men usw. der Krankenkassen sowie ihre vor­ gesetz" schuf dafür folgende Voraussetzungen: beugende Gesundheitsfürsorge organisatorisch auf die LVA über. Von besonderer Bedeutung 1. Ein konstanter jährlicher Reichszuschuß von 200 Mio. RM löste die bisherigen Reichsbeiträge war aber die Verlagerung der Organisation des bzw. -zuschüsse sowie die "Zollgelder" ab; vertrauensärztlichen Dienstes (VäD) der Kran­ kenversicherung auf die LVA (entgegen dem 2. für die laufenden Renten blieben die Kürzungen Wunsch derNS-Arzteführung, die ihn der Kas­ durch Notverordnungsmaßnahmen in Kraft, für die neu bewilligten Renten wurde der Grundbetrag senärztlichen Vereinigung eingliedern wollte). erheblich gesenkt und der Steigerungsbetrag stärker Dafür entscheidend waren die Schwierigkeiten, gestaffelt. Das führte zu folgender Differenzierung: die der VäD bei den Krankenkassen hatte. "Die Renten sollen für hoch bezahlte Arbeiter weni­ ger gekürzt werden als diejenigen für niedriger Der "Aufschwung" des Vertrauensarztsystems be­ entlohnte, um eine ungerechte Nivellierung der Ren- ginnt in den ökonomischen Krisensituationen der 474 Florian Tennstedt

Weimarer Republik, die den Krankenkassen nur ein OUo Walter in Berlin das "Mülheimer System" ein­ "Durchstolpern" ermöglichten. Von dorther prägte führte, bedeutete das faktisch eine "Koppelung" sich sein "Revisionsarzt"-Image: 'Gewerkschaften der Aufgaben des "alten" VäD mit den sozialhygie­ und Versicherte apostrophierten ihn als "Gesund­ nischen Aufgaben und diagnostischen Einrichtun­ schreiber", Kassenärzte als unkollegialen und stan­ gen (!) der Ambulatorien (deren Stillegung im Hin­ desunwürdigen Kontrolleur. Manche Kassenverwal­ blick auf Behandlung erhalten blieb). Der VäD er­ tung betrachtete ihn als "kostenfressende Einrich­ hielt - neben einem Beobachtungskrankenhaus ­ tung" und erwartete, daß die Zahl der Gesund­ auch besondere Zentralstellen für Tbc, Krebs, Dia­ schreibungen "im rechten Verhältnis zu den durch betes, Rheuma und Erbkrankheiten. 1934-1941 den Dienst erwachsenden Unkosten" stand. Durch wurden hier über 40 v. H. der Berliner Tbc-Fälle diese "geradezu verderbliche Auffassung" (M. Sauer­ erstmalig erkannt, 86,7 v. H. aller Zuckerkranken born) entstanden große Unterschiede in der Hand­ blieben arbeitsfähig. Die Krankenbesucher wurden habung der Aufgaben. Der Dienst als Vertrauens­ weiter durch geschulte Fürsorgerinnen ersetzt. arzt war nicht attraktiv, wodurch "auch ungeeig­ nete Elemente, aus Mangel an besseren, Eingang in Das "Berliner Modell" wurde auch auf die Be­ den vertrauensärztlichen Dienst fanden und seinen zirke der LVA Hansestädte und Rheinprovinz Ruf weiter schädigten, insbesondere auch durch übertragen. (Eine weitere Verbreitung unt"er­ Taktlosigkeiten, die die Ärzteschaft vor den Kopf blieb vermutlich deshalb, weil anderenorts die stießen" (M. Sauerborn). An dieser Situation änderte sich auch 1930 nichts, als der VäD gesetzlich ein­ "sozialistischen Ambulatorien" fehlten, die geführt wurde: als Aufgabe war weiter nur die man bequem neu etikettieren konnte!) Im Be­ Begutachtung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigun• zirk der LVA Hansestädte waren schon zuvor gen und Verordnungen der Kassenärzte definiert, die Begutachtungen für die Krankenversiche­ gesundheitspolitische und -fürsorgerische Aufgaben rung, die Invalidenversicherung und das Ar­ nahmen im Rahmen der Selbstverwaltung die grö• ßeren Krankenkassen und -verbände freiwillig "da­ beitsamt zu einem sozialmedizinischen Dienst neben" wahr, mittels Ambulatorien, Gesundheits­ zusammengefaßt worden. Darüber hinaus wochen, Aufklärungsschriften usw. setzte sich die Neukonzeption trotz parteioffi­ zieH1er Förderung nicht durch: Inhaltlich wurden die Aufgaben des VäD auf das gesundheitsfürsorgerische Gebiet erweitert, Mit dem Aufschwung der Wirtschaft hatte sich die quasi als logische Konsequenz aus der Tatsache, Vlohnungsnot vergrößert, geeignete Dienststellen­ daß die eigenen sozialhygienischen und diagno­ räume waren schwer zu finden, ebenso fehlten ge­ eignete fachärztliche Bewerber und Hilfspersonal, stischen Maßnahmen und Einrichtungen der denn einmal hatte die NS-Ärztepolitik den poten­ Krankenkassen durch die NS-Verordnung zu­ tiellen Bewerberkreis aus politischen Gründen ver­ gunsten des Mittelstandes und der Arzteschaft ringert und zum anderen (gleichzeitig) die ökono• stillgelegt bzw. aufgelöst worden waren. Per­ mische Situation der frei praktizierenden Arzte ver­ bessert, außerdem bestanden die alten negativen sonell wurde diese "Neuordnung" durch Otto Stereotype weiter, von den "wirklichen Aufgaben Walter (1891-1964) eingeleitet und repräsen• des vertrauensärztlichen Dienstes" war manchem tiert. Der Reichsarbeitsminister hatte ihn - im Kassenleiter "noch kein Licht aufgegangen" Einvernehmen mit dem Reichsärzteführer ­ (M. Sauerborn). Deshalb wurden 1936 durch Be­ nach Berlin berufen, damit er die vertrauens­ stimmungen des Reichsarbeitsministers die Auf­ gaben des VäD expressiv verbis auf das gesund­ ärztliche Tätigkeit bei den durch die NS-Poli­ heitsfürsorgerische Gebiet erweitert. Für die ver­ tik am stärksten betroffenen Berliner Kranken­ trauensärztlichen Dienststellen wurden "die erfor­ kassen "neu ordne". derlichen diagnostischen Einrichtungen, und zwar vor allem Röntgeneinrichtungen, ein Laboratorium Duo Walter war bis dahin Vertrauensarzt der AOK für Untersuchungen sowie Hilfspersonal in der er­ Mülheim/Ruhr gewesen. Hier hatte er - aufgrund forderlichen Zahl" gefordert. Für die Untersuchten seiner vorangegangenen Tätigkeit als Fürsorgearzt ­ mußte eine Untersuchungskarte angelegt werden, seine vertrauensärztlichen Untersuchungen mit ge­ die diese bei Wohnungswechsel usw. begleitete und sundheitsfürsorgerischer und wissenschaftlicher Tä• den anderen Versicherungsträgern, Versorgungs­ tigkeit, vor allem auf dem Tbc-Sektor, erfolgreich und Gesundheitsbehörden zur Einsichtnahme zur verknüpft. 1925 hatte er außerdem eine Frühform Verfügung stand. Der Vertrauensarzt wurde Be­ des heutigen Hausarztsystems eingeführt, um die amter der LVA. Mittelpunkt des VäD wurde die Brüskierung des Kassenarztes zu vermeiden. Als Gemeinschaftsstelle, deren ärztlicher Berater Otto Sozialgeschichte der Sozialversicherung 475

Walter wurde. Diese hatte die LVA in Fragen des derbeauftragten für den vertrauensärztlichen VäD zu beraten, ihr oblag die Schulung und Fort­ Dienst" berufen. Im Rahmen der Mitwirkung bildung der Vertrauensärzte und die Auswertung an der "Sicherstellung eines vollwertigen Ar­ der Ergebnisse des dezentralisierten VäD. Der sozialmedizinische Dienst der Hansestädte wurde beitseinsatzes" arbeitet'e der VäD verstärkt mit nicht allgemein eingeführt, weil man glaubte, ein Arbeitsämtern und Betrieben zusammen, au­ einigermaßen gleichmäßiges Niveau der Einrichtun­ ßerdemwurden"bewegliche Dienststellen" ein­ gen im Reich nur erreichen zu können, wenn der gerichtet, die dort "eingesetzt" wurden, wo VäD zunächst auf die Krankenversicherung be­ sich ein "unnatürlich überhöht'er Krankenbe­ schränkt werde. stand" zeigte! 1940 wurde der VäD auch auf Infolge der Arbeitskräftesituation durch die die Ersatzkassen ausgedehnt, doch war er dort forcierte Rüstungspolitik des Dritten Reiches weniger "effizient". 1943 war die Leistungs­ - seit 1937 war die Arbeitslosigkeit "überall kontrolle so weit gediehen, daß eine Arbeits­ in das Gegenteil, einen teilweise katastropha­ unfähigkeitsbescheinigung erst dann r'echtsgül• len Mangel an Arbeitskräften, umg'eschlagen" tig wurde, wenn der Vertrauensarzt sie be­ (Deutsche Sozialpolitik) - wurde aber bald stätigt hatte. wieder der Krankenstand als "Mittelpunkt der Die arbeitsmarktpolitische Instrumentalisie­ Probleme" des VäD gesehen, und die gesund­ rung zeigte sich auch bei den "eig'entlichen" heitsfürsorgerische Arbeit wurde nur noch in­ Vertrauensärzten der Rentenversicherung, die soweit durchgeführt, wie sie das Arbeitskräfte• die Rentengutachten anzufertigen hatten. Per­ potential erhöhte. Der ursprüngliche versiche­ sonelle Verknüpfungen zu den Vertrauens­ rungstechnische Zweck des VäD wurde prak­ ärzt,en, die im Rahmen der Gemeinschaftsauf­ tisch massiv reaktiviert, nur war er in einen gaben tätig wurden, bestanden nur bei eini­ partei- und staatspolitischen "aufgehoben". gen LVA: die Landesvertrauensärzte waren Dafür liefern die monatlichen Deutschlandbe­ zugleich die ä.rztlichen Berater der Renten­ richte des lemigrierten Parteivorstandes der SPD abteilung, und es bestand Personalunion zwi­ einige Indizien: schen Vertrauensarzt der Abteilung Kranken­ versicherung und der Abteilung Invalidenver­ "In den seltensten Fällen kann ein Kranker zwei Wochen lang zu Hause bleiben. Bereits nach acht sicherung. Konkret konnte sich dieses vor allem Tagen wird er gewöhnlich zum Vertrauensarzt be­ bei den Invaliditätsrenten auswirken. stellt, und der schreibt den Patienten fast immer Seit 1930 betonte das RVA wieder stark die gesund, mag er noch so schlecht aussehen und noch restriktive Interpretation des Invaliditätsbe• bei weitem nicht wiederhergestellt sein", und: "In griffs, und zwar mittels Kommentaren und allen Orten wird sehr darüber geklagt, daß die Ver­ trauensärzte immer mehr bestrebt sind, die Leute Entscheidungen. 1936 weist es darauf hin, daß einfach gesund zu schreiben. Jeder, der sich dagegen "die Gr,enze zwischen reichsgesetzlicher Invali­ wehrt, wird als Kassenmarder hingestellt" (Sopade, dität und Berufsinvalidität" nicht verwischt 1937, Bd.2, Nr.III, S. 119 A f.). Bei der Anzahl werden dürfe, sicherheitshalber druckte ,es in der Arbeitsunfähigkeitstage je Arbeitsunfähigkeits• der von ihm herausgegebenen Entscheidungs­ fall, der am ehesten durch den VäD zu beeinflus­ senden Größe, zeigte sich folgende Entwicklung bei sammlung seine Entscheidung aus dem Jahre den Mitgliedern der Pflichtkrankenkassen im Deut­ 1900 noch einmal ab (EuM 40, 328). Dem­ schen Reich (Zahlen für AOK Berlin): 1933: 25,6; gemäß verringerten sich bis 1936 die Neuzu­ 1934: 24,6 (26,3); 1935: 22,9 (25,8); 1936: 22,2 gänge an Invalidenrent'en ständig, gleichfalls (24,6); 1937: 22,6 (25,0); 1938: 21,7 (24,4); 1939: 20,9 (23,7). rückläufig war auch die Zahl der Rentenemp­ fänger unter 65 Jahre. Das RVA begründete Diese Tendenzen wurden verstärkt durch die das folgendermaßen: "Denjenigen Personen, hohen Krankenstände der Grippewinter 1936/ deren Zustand nahe an Invalidität grenzt, 37 und 1938/39 sowie die Kälteperiode An­ dürfte es heute, nachdem auch für sie wieder fang 1940. Mit Kriegsbeginn wurde Otto Wal­ eine Verdienstmöglichkeit besteht, nicht mehr ter vom Reichsarbeitsministerium zum "Son- wünschenswert erscheinen, den Rentenantrag 476 Florian Tennstedt

vor Erreichung der Altersgrenze zu stellen" abzusinken (1943: 29670). Dabei ging der (Die deutsche Sozialversicherung 1937). Mit Wohnungsbau durch öffentliche Körperschaf• Hilfe der ärztlichen Begutachtung wurde seit ten kontinuierlich zurück (1934: 13,6 v. H., 1936 der 1933 aus finanzpolitischen Gründen 1937: 4,7 v. H.), der durch gemeinnützige Bau­ erleichterte Rentenentzug verstärkt durchge­ vereinigungen nahm zu (1934: 15,9 v. H., führt: 1937: 29,7 v. H.) und der durch private Bau­ herren blieb etwa gleich (1934: 70,5 v. H., Aus Sachsen wurde berichtet: "Es amtieren als Ver­ trauensärzte nur noch junge Ärzte, die von echtem 1937: 65,6 v. H.). 1938 gaben die LVA 61,708 Nazi-Front-Geist beseelt sind. überall finden jetzt Mio. RM und die R'eichsversicherungsanstalt Nachuntersuchungen der Rentner statt zwecks Fest­ für Angestellte 40,211 Mio. RM an gemein­ stellung ihrer Erwerbsfähigkeit. Meist werden die nützige Wohnungsunternehmen und Heimstät• Rentner ,tauglich zu leichter Arbeit' befunden. Die Folge ist der Entzug der Rente. Oder sie wird sehr ten für fertiggestellte Wohnungen, das waren fühlbar gekürzt" (Sopade, 1936, Bd., 1, Nr. V, 15,9 bzw. 10,4 v. H. ihrer gesamten Darlehns­ S. 110 A). In Südwestdeutschland wurde der Nach­ summe. Geht man davon aus, daß die Renten­ untersuchungsrhythmus auf sechs Monate verkürzt, versicherungsträger den Hauptteil ihrer Finan­ in einem Bericht aus Bayern hieß es: "Die all­ zierungsmitel für den Wohnungsbau im ge­ gemeine Rentenverkürzung hat unter den Betroffe­ nen eine Verzweiflungsstimmung ausgelöst. Mit meinnützigen Wohnungsbau anlegten, dann brutalem Terror wird jede Unwillensäußerung er­ zeigt sich, welche relativ bescheidenen Dimen­ stickt" (Sopade, 1937, Bd.2, Nr. 111, S. 110 A). sionen die Wohnungsfürsorge der Rentenver­ sicherungsträger ang'enommen hatte. Die Indienstnahme der Sozialversicherung für Dieser Rückgang bzw. Stagnation im Wohnungsbau die Aufrüstung zeigte sich noch direkter in der ist wieder primär aus der Dominanz rüstungsför• Entwicklung der Kapitalanlagen der Ange­ dernder oder direkt strategischer Bauvorhaben zu stellten- und Invalidenversicherung. Durch das erklären: "Die Inangriffnahme der verschiedensten Anwartschaftsdeckungsverfahren und den öko• gewaltigen Bauvorhaben zu gleicher Zeit wirkte nomischen Aufschwung hatten die Rentenver­ sich in einer immer drückender werdenden Knapp­ heit der Rohstoffe, Arbeitskräfte und Kapitalien sicherungsträger wieder ein ansehnliches V,er­ aus. Diese Knappheit bei gleichzeitig dringender mögen bekommen. Dieses wurde jedoch nicht Nachfrage von allen Seiten drohte zu einem Kampf mehr, wie in der Weimarer Republik und im aller gegen alle um den letzten Bauarbeiter und Deutschen Kaiserreich, vorwiegend "sicher" Ziegelstein auszuarten" (E. Knoll). Im gleichen Jahr angelegt bzw. in Wohnungsbau und sonstige (1938) mußte die DAF feststellen: "Nach den Schät• zungen des Sozialamtes der Deutschen Arbeitsfront Wohlfahrtszwecke investiert, sondern unmit­ sind heute etwa 35 v. H. aller deutschen Menschen telbar dem Reich zugeführt, das diese Mittel ohne zureichende Wohnung, während etwa 25 v. H. hauptsächlich zur Kriegsrüstung und zum stra­ aller vorhandenen Wohnungen abbruchreif sind. tegischen Straßenbau einsetzte. 1938 wurde be­ Das Arbeitswissenschaftliche Institut der Deutschen stimmt, daß das Vermögen der Sozialve.rsiche­ Arbeitsfront hat bei seinen Untersuchungen fest­ gestellt, daß etwa 400000 Wohnungen im Reiche rungsträg,er bis zur Hälfte in verbriefte Forde­ abbruchwürdig und bisher nicht ersetzt sind. Dar­ rungen gegen das Reich oder in Forderungen, über hinaus sind etwa 750000 Wohnungen je vor­ die in das Schuldbuch des Reichs eingetragen handenem Wohnraum einschließlich Küche mit mehr sind, anzulegen sei. Vorher (seit 1923) war als 2 Personen belegt ... Vor allem sind die Arbei­ lediglich die Anlage eines Viertels des V'ermö• terwohnungen zu einem sehr großen Teil unge­ nügend ausgestattet. 14 v. H. besitzen keinen elek­ gens beim Reich oder (!) einem Land verlangt. trischen Anschluß, 40 v. H. keinen Gasanschluß, Die allgemeine Politikwirkte sich auch auf den 23 v. H. keinen Wasseranschluß und sogar 96 v. H. Wohnungsbau aus: der Reinzugang an Woh­ keine Bade- oder Brausegelegenheit usw." (Deutsche nungen entsprach nicht dem ökonomischen Auf­ Sozialpolitik). Im übrigen wurde seit Kriegsbeginn schwung. Erst 1937 wurde mit 320057 Woh­ die Zuständigkeit des Reichsarbeitsministeriums für das Wohnungs- und Siedlungswesen mehr und mehr nungen die Zugangsquot,e von 1929 (317682) eingeschränkt. 1940 ging die Zuständigkeit für den überschritten, um dann bis 1939 auf 206226 sozialen Wohnungsbau auf die DAF über, 1942 Sozialgeschichte der Sozialversicherung 477 wurde Robert Ley per "Führererlaß" als "Reichs­ Mit den ab 1938 erfolgten Gebietseingliede­ wohnungskommissar" oberste Reichs- und preußi• rung'en wurde auch die Reichsversicherung in sche Landesbehörde für den Wohnungsbau. starkem Maße ausgedehnt. Der Anfang wurde Von den allgemeinen gesetzlichen Maßnahmen in österreich gemacht, wo der Altparteigenosse ist zu erwähnen, daß 1936 den deutschen Reinhard Jakob (1899-1964) als Leiter der Staatsangehörigen im Ausland die Möglichkeit Abteilung Sozialversicherung im Ministerium der Selbstversicherung eingeräumt wurde. 1938 für Wirtschaft und Arbeit in Wien eine parti­ wurde durch das "Ausbaugesetz" das R'echt zur elle Einheitsversicherung durchführte, deren ge­ freiwilligen Versicherung in der Invaliden­ plante Einführung in Deutschland selbst durch und Angestelltenversicherung auf alle sonst das Reichsarbeitsministerium und später vom nicht rentenversicherungspflichtigen deutschen Reichsinnenministerium blockiert wurde. Im Staatsangehörigen im In- und Ausland unter übrigen wurden dort bestehende bessere Rege­ 40 Jahren ausgedehnt, außerdem wurde unter lungen aufgehoben. Paradoxerw'eise wurde die vorwiegend bevölkerungspolitischen Gesichts­ Sonderstellung der Angestellten, seinerzeit punkten ein Leistungsausbau vorgenommen Vorbild für die RVO, bes'eitigt: "Am ein­ (Erhöhung des Kinderzuschusses für Kinder­ schneidendsten wirkte jedoch die ~nderung für reiche u. a.). Durch das "Gesetz über die Al­ die Angestellten, die sich überhaupt mehr und tersversorgung für das Deutsche Handwerk" mehr mit dem nationalsozialistischen Grund­ (1938, es war ein "übliches" Sozialversiche­ gedanken vertraut machen müssen, daß inner­ rungsgesetz, die Namensnennung stellt eine halb der Schaffenden Großdeutschlands keiner Konzession an NS-Versorgungspläne dar) Gruppe eine Sonderstellung zugebilligt werden wurde die große Gruppe der selbständig täti• kann" (Deutsche Sozialpolitik). Danach folg­ gen Handwerker in die Rentenversicherung der ten die Eingliederungsverordnungen für Sude­ Angestellten einbezogen. tengau, Memelland, Danzig, die Ostgebiete, 1938 - nach dem Beitritt der Reichsversicherungs­ Elsaß-Lothringen, Luxemburg, Eupen-Mal­ anstalt für Angestellte und der Sonderanstalten ­ medy und später die übrigen besetzten Ge­ änderte der "Reichsverband Deutscher Landesver­ biete: von bestimmten Stichtagen an galt die sicherungsanstalten" seinen Namen in "Reichsver­ band Deutscher Rentenversicherungsträger". Im Reichsversicherung; die in den fremden Versi­ gleichen Jahr übertrug der privatrechtliche "Reichs­ cherungen erworbenen Leistungen und An­ verband" dem Reichsarbeitsminister die Befugnis, wartschaften wurden auf Träger der Reichs­ den Verbandsleiter zu berufen, der daraufhin den versicherung überführt. Die einzige Ausnahme aus der Arbeitsverwaltung kommenden NSDAP­ bildete das Protektorat Böhmen und Mähren, Parteigenossen Martin Möbius (1888-1966) er­ nannte. Schon 1937 hatte der "Reichsverband" in wo ausschließlich bei den unmittelbaren Herbert E. Liebing (geb. 1906) einen Verbands­ Reichsbehörden die Reichsversicherung einge­ syndikus angestellt, der auch noch nach 1945 (bis führt wurde. 1973) entscheidender Geschäftsführer war. Im übri• In der gesamten Konsolidierungsphase waren gen hatte der Verband die traditionell guten Be­ die durch die Weltwirtschaftskrise bedingten ziehungen zum Reichsarbeitsministerium und RVA um solche zur Fachgruppe Banken und Versicherun­ und während derselben 'eingeführtenLeistungs­ gen der DAF und zu den Gaudienststellen der DAF restriktionen bestehen geblieben, erst unter erweitert. Leiter von Verbandsanstalten arbeiteten dem Eindruck des unmittelbaren Kriegsaus­ dort teilweise mit. Außerdem bestand mit der NS­ bruchs ging die Reichsregierung im Rahmen Volkswohlfahrt ein Abkommen über gemeinsame Arbeit auf dem Gebiet der Tuberkulosehilfe. Auf einer Strategie der Konfliktvermeidung zur dem Gebiet der Erholungsfürsorge arbeitete man Sicherung der Massenloyalität dazu über, die mit "Kraft durch Freude" zusammen, und im Rah­ Leistungen in der Sozialversicherung zu ver­ men der "Adolf-Hitler-Spende" wurde nichtver­ bessern. 1939 wurden - aus Anlaß des 50. Ge­ sicherten (!) NSDAP-, 5S-, SA- u. ä. Führern ein burtstages von Adolf Hitier! - Ruhensvor­ kostenloser Kuraufenthalt, vornehmlich in den Hei­ men der "Reichsversicherungsanstalt für Ange­ schriften aus der Notverordnungsgesetzgebung stellte", bewilligt. beseitigt oder gemindert, wodurch Verbesse- 478 Florian Tennstedt rungen eintraten. Anfang 1941 wurde es ver­ für die Kriegszeit die eingehenden Beträge der boten, eine Invaliditäts- bzw. Berufsunfähig• Kriegsfinanzierung bzw. der Konsolidierung der staatlichen Schulden ebenso nutzbar gemacht wer­ keitsrente deshalb zu entziehen, weil der Be­ den, wie schon bisher die Beträge der Sozialver­ rechtigte während des Krieges erneut 'eine Tä• sicherung und Arbeitslosenversicherung." Am 15. De­ tigkeit aufgenommen hatte. Selbst die Rentner, zember 1940 erteilte Adolf Hitler Robert Ley einen die nach scharfer vertrauensärztlicher N ach­ entsprechenden Auftrag zur Ausarbeitung einer prüfung noch eine Rente bezogen, sollten da­ "umfassenden und großzügigen Altersversorgung des deutschen Volkes". Die Pläne von Robert Ley mit zur Arbeitsleistung "angeregt" werden. scheiterten dann aber einmal an dem Widerstand Am 27. Juli 1941 wurden die Rentenkürzun• der Ministerialbürokratie im Reichsarbeitsministe­ gen von 1932 beseitigt, die entsprechenden rium und zum anderen deshalb, weil er diese Pläne Höherbezüge blieben bei Fürsorgeleistungen mit denen für ein Gesundheitswerk verquicken anrechnungsfr'ei. Außerdem wurde die Kran­ wollte, wodurch er sich innerhalb der Partei selbst erhebliche Gegnerschaft zuzog. kenversicherung der Rentner eingeführt, die Kosten trug überwiegend die Rentenversiche­ über die allgem'eine Entwicklung der Renten­ rung (bis dahin mußten die Rentner sich selbst versicherung vor Kriegsbeginn informieren die versichern oder Fürsorgeleistung in Anspruch Tabellen 13 und 14 (s. S. 479). nehm,en). 1942 wurden die Kinderzuschüsse er­ Im Hinblick auf die Gesundheitsfürsorge der höht, "denn wir alle wissen, daß zur sieghaften Rentenversicherung ist festzustellen, daß ihre Kriegführung ein Volk gehört, das trotz aller im Rahmen der Selbstverwaltung auf freiwil­ Kriegslasten und Opfer unverwüstlich bleibt" liger Basis und größtenteils eigener Initiative (H. Engel). geschaffenen Einrichtungen im wesentlichen Von sei~en der Ministerialbürokratie am Reichs­ weiterbestanden. Dieses ist an sich erstaunlich, arbeitsministerium waren diese Leistungsver­ weil die Gesundheitsfürsorge von Selbstver­ besserungen vor allem dadurch motiviert, daß waltungseinrichtungen, die weder Staat noch damit der Ley-Plan einer allgemeinen Alters­ Partei direkt zuzuordnen waren, nicht dem versorgung abgewehrt werden sollte. nationalsozialistischen Konzept entsprach. Ob­ wohl die "Förderung der Volkskraft" und die Diese war im NSDAP-Parteiprogramm gefordert "Abwehr der Krankheitsgefahren" zu den worden, und die DAF arbeitete (verstärkt ab 1938) an entsprechenden Plänen, um ihre Kompetenzen obersten propagandistischen Geboten gehörten, zu erweitern. Ideologisch war dabei in gewisser fand eine allgemeine systematische Gesund­ Weise ein Rückgriff auf Bismarcks Intentionen einer heitsvorsorge und -fürsorge doch nicht statt, Staatsbürgerversorgung möglich. Faktische Rele­ bei der versicherten (!) Bevölkerung dürften vanz bekamen diese Pläne durch den Kriegsaus­ sogar die Maßnahmen der Rentenversicherung bruch, denn die Kriegsfinanzierung hätte noch ver­ bessert werden können, wenn - bei Einführung überwogen haben, "auch w'enn ihnen die An­ eines Altersversorgungswerkes - die gesamten Ver­ erkennung aus unsachlichen Gründen versagt" mögensbestände der Rentenversicherung hätten "ein­ wurde (M. Möbius). Dafür waren insgesamt gesetzt" werden können. (Inwieweit diese Beträge mehrere Faktoren entscheidend. noch entscheidend waren - abgesehen davon, daß 71,1 v. H. des Gesamtvermögens der Sozialversiche­ Im Parteiprogramm der NSDAP hieß es: "Der rung [= 14,5 Mrd. RM] bei Kriegsende sich anlage­ Staat hat für die Hebung der Volksgesundheit zu mäßig auf Anleihen an Reich, Länder und Gemein­ sorgen durch den Schutz der Mutter und des Kin­ den verteilte - sei dahingestellt, bedacht werden des, durch Verbot der Jugendarbeit, durch Herbei­ muß die inflationäre Finanzpolitik, die 1938/39 ver­ führung der körperlichen Ertüchtigung mittels ge­ stärkt einsetzte und ein "Angewiesensein" des Reichs setzlicher Festlegung einer Turn- und Sportpflicht, auf die restlichen rd. 6 Mrd. RM der Sozialver­ durch größte Unterstützung aller sich mit körper• sicherung zumindest stark abschwächte.) Am 28. De­ licher ]ugendausbildung beschäftigenden Vereine." zember 1939 schrieb Robert Ley an Adolf Hitler: Ein ideenmäßig auch nur in großen Linien aus­ "Den besten Weg zur Kaufkrafteinschränkung neben gearbeitetes und organisatorisch vorbereitetes Pro­ dem freiwilligen Sparen sehe ich in einer Aktion zur gramm bestand aber nicht. In der Phase der Macht­ Einführung der im Parteiprogramm vorgesehenen ergreifung, wo zunächst noch am stärksten die be­ allgemeinen Altersversorgung... Zugleich können stehenden Institutionen geändert wurden, stand Sozialgesdtidtte der Sozialversidterung 479

Tabelle 13 Hauptdaten der Invalidenversidterung 1935-1938

1935 1938

Versidterte (in Mio.) 17,17 ca. 18,5 neu bewilligte Invaliditätsrenten 123449 127491 durdtsdtnittlidte jährlidte Höhe der IR 384,92 371,64 durdtsdtnittlidte jährlidte AR } neu bewilligte Altersrenten 81755 111 981 durdtsdtnittlidte Höhe des Wodtenbeitrags 1,34 1,52 Lungenheilstätten 58 60 darin: Anzahl der Betten 9674 11 030 darin: Verpflegte 38299 46576 sonstige Heilanstalten 58 57 darin: Anzahl der Betten 7483 6252 darin: Verpflegte 42398 53026 Heilbehandlungsfälle 1. Tuberkulose und Lupus 29171 39947 2. Gesdtledttskrankheiten 7857 10014 3. Rheumatisdte Krankheiten 11842 16340 4. Krebs 98 134 5. andere Krankheiten 97474 248202 davon: Zahnersatz 52762 125900 Ausgaben Heilverfahren (Mio. RM) 44,20 63,1 Darlehen Arbeiterwohnungsbau (Mio. RM) 13,0 73,8 Darlehen Allg., Wohlfahrtsmaßnahmen (Mio. RM) 1,7 5,4

Quelle: Die deutsdte Sozialversidterung 1935 (Beilage zu den Amtlidten Nadtridtten des RVA), und 1938, Die Gesundheitsfürsorge in der Invalidenversidterung 1935 und 1938

Tabelle 14 Hauptdaten der Angestelltenversidterung 1935-1938

1935 1938

Versidterte (in Mio.) 4,0 4,7 neu bewilligte Berufsunfähigkeitsrenten 19152 neu bewilligte Altersrenten 6686 } 28157 durdtsdtnittlidte jährlidte Rentenhöhe 684,48 877,82 Lungenheilstätten (eigene) 3 Sanatorien (eigene) 7 } 16 bewilligte ständige Heilverfahren 47542 57576 davon: 1. Lungenheilstätten 10827 11 516 2. Sanatorien 3. Kur in Badeorten } 36078 45380 4. Klinik 637 680 bewilligte Zahnbehandlungen ca. 40 000 ca. 75 000 bewilligte größere Heilmittel ca. 4500 ca. 4000 Ausgaben Heilverfahren (Mio. RM) 23,6 29,4

Quelle: Die Deutsdte Sozialversidterung 1935 (Beilage zu den Amtlidten Nadtridtten des RVA) und 1938 480 Florian Tennstedt noch die ärztliche Standespolitik, die in der Schaf­ »unbehelligt". Im übrigen war das Gesundheits­ fung der Kassenärztlichen Vereinigung Deutsch­ wesen keineswegs insgesamt vereinheitlicht: 1939 lands und der Reichsärztekammer kulminierte, im waren an der Tbc-Bekämpfung ressortmäßig noch Vordergrund der Tätigkeit der führenden NS­ insgesamt neun Reichsministerien beteiligt (Kultus­ Arzte, hinzu kamen »Reinigung" und »Disziplinie­ minister: medizin. Wissenschaft und Forschung, rung" des Berufsstandes, Rassenpolitik, Sanitäts• Arztausbildung, Wirtschaftsminister: Arzneimittel­ dienst bei SA, SS usw. Im Bereich der Gesundheits­ wesen, private Krankenversicherung, gesundheit­ politik verlief alles so unkoordiniert und konzep­ liche Aufsicht im Bergbau, Reichsarbeitsministerium: tionslos, daß im Grunde die aus der Weimarer Sozialversicherung, Gewerbeärzte usw.). Wie kon­ Republik vorhandenen Rivalitäten staatlicher, kom­ zeptionslos die allgemeine Planung auf dem Ge­ munaler sowie sonstiger öffentlicher Stellen "ver­ sundheitssektor war (abgesehen von verbrecherischer sehentlich" noch durch einen Dualismus Partei und Rassenpolitik und dann vor allem der Medizin ohne Staat ergänzt wurden. Von seiten der Partei wurde Menschlichkeit zwischen 1939 und 1945 15), zeigt die 1933/34 das Hauptamt für Volksgesundheit ge­ Tatsache, daß noch 1938 die teilweise besseren Ver­ schaffen, das mittels eines besonderen "Arztkorps" hältnisse in österreich (Krankenanstaltengesetz, die Gesundheitsvorsorge und -fürsorge durchführen Kurierfreiheit- bzw. Heilpraktikerregelungen, Arz­ sollte. Fast durchweg in Personalunion mit diesen neimittelgesetz, Spezialitätenordnung, Facharztaus­ besetzt waren die Amter für Gesundheit der NS­ bildung) gegenüber den schlechteren in Deutschland Volkswohlfahrt. Hinzu kamen die der DAF und einfach »gleichgeschaltet" wurden, worüber Leo­ Hitlerjugend sowie das einflußreiche rassenpoliti­ nardo Conti lamentierte, als es »zu spät" war. sche Amt der NSDAP. Gleichzeitig erhielt aber ­ Um die Koordination der verschiedenen Maß• unter maßgeblichem NSDAP-Einfluß im Reichs­ und Preußischen Ministerium des Innern - durch nahmen voranzutreiben, griff man auf das Mo­ das "Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesund­ dell der Arbeitsgemeinschaften zwischen staat­ heitswesens" die innere Verwaltung umfassende lichen Stellen und Sozialversicherungsträgern Kompetenzen für die Aufgaben, mit denen »par­ zurück. Diese wurden 1935 auf der Grundlage teiamtlich" die Amter für Gesundheit bzw. Volks­ gesundheit betraut waren! Damit waren ab 1. April einer Verordnung zum "Vereinheitlichungsge­ 1935 in den Stadt- und Landkreisen in Anlehnung setz" teils neu geschaffen, teils in ihrer früheren an die untere Verwaltungsbehörde Gesundheits­ Arbeitsweise den neuen Verhältnissen ange­ ämter zur Schaffung des öffentlichen Gesundheits­ paßt. Teilweise erstrednen sie sich auch bis auf dienstes eingerichtet worden. Diesen oblag die örtliche Ebene und hatten ihre Hauptauf­ 1. die ärztliche Feststellung und Begutachtung (nicht gabenkreise bei der Bekämpfung der Tuber­ Durchführung der vorgeschlagenen Maßnahmen) in kulose, Krebs, Lupus, Geschlechtskrankheiten, Fragen der Gesundheitspolizei, Erb- und Rassen­ Gemeindepflege, Krankenversorgung, Belegung pflege einschließlich Eheberatung, der gesundheit­ von Bädern und Kurorten u. a., teilweise wur­ lichen Volksbelehrung, der Schulgesundheitspflege, der Mütter- und Kinderberatung, der Fürsorge für de auch die entsprechende medizinische Uni­ Tuberkulöse, Geschlechtskranke, körperlich Behin­ versitätsforschung unterstützt. Solche Arbeits­ derte, Sieche und Süchtige, gemeinschaften funktionierten vor allem in der 2. die ärztliche Mitwirkung bei Maßnahmen zur Rheinprovinz, in Thüringen, in Westfalen, Förderung der Körperpflege und Leibesübungen, Hessen-Nassau und im Bereich einiger süd• deutscher LVA. 3. die amts-, gerichts- und vertrauensärztliche Tätig• keit, soweit sie bisher landesrechtlich den Amtsärz• Darüber hinaus hatten aber »die Neugründungen ten übertragen war. der Arbeitsgemeinschaften in den letzten Jahren nicht immer die auf sie gesetzten Erwartungen er­ Die Hauptarbeit der Vorsorge und Fürsorge ver­ füllt. Wohl strebte man bei diesen eine Regelung lagerte sich dann praktisch dorthin, und fortan be­ und Abgrenzung der Zuständigkeiten und damit gannen Kompetenzstreitigkeiten zwischen diesen die Vermeidung der Zersplitterung von gleichge­ staatlichen Behörden und den kompetenzlosen Par­ richteten Arbeitskräften an, doch konnte infolge des teidienststellen mit den gleichen Aufgaben, die da­ Fehlens gesetzlicher Unterlagenfür die autoritative durch verstärkt wurden, daß die staatlichen Ver­ waltungsgrenzen nur teilweise mit den politischen 15 Daran beteiligt waren nach heutigen Forschungs­ Gaugrenzen kongruent waren. Im »Schatten" dieser ergebnissen etwa 350 Arzte. Die Anzahl der durch Auseinandersetzungen blieb die intakte Gesund­ Medizinverbrechen dieser Arzte vernichteten Men­ heitsfürsorge durch die Sozialversicherung relativ schen beträgt etwa vier Millionen. Sozialgeschichte der Sozialversicherung 481

Stellung der Arbeitsgemeinschaft nicht vermieden schaft der Tuberkulosebekämpfung ihre Lei­ werden, daß immer wieder leidige Prestigefragen stungen und das Verfahren der Durchführung unter den beteiligten Kostenträgern auftraten, wel­ relativ einheitlich und eindeutig festgelegt che häufig Ursache dafür waren, daß die vielgeprie­ sene Einheitlichkeit und Zentralisierung der Tuber­ wurden. Danach wurde die Tuberkulosebe­ kulosebekämpfung nach Gründung einer solchen kämpfung nur noch von zwei "Säulen" getra­ Arbeitsgemeinschaft zerrissener waren als vorher. gen: Sozialversicherung und Gaufürsorgever• Nicht nur der alte Leitsatz: ,Wer zahlt, will auch band, wobei letzterer subsidiär leistete. Für die zu bestimmen haben!', sondern auch rein formale Sozialversicherung gab der "Reichsverband" Fragen eines traditionellen Anspruches auf ,maß• gebliche Einflußnahmen' veranlaßten gelegentlich dann 1943 die "Richtlinien über das Tuber­ einige früher in der Tuberkulosebekämpfung sehr kuloseversorgungswerk der Rentenversiche­ aktive Kostenträger, sich ganz aus der Arbeits­ rung" heraus. Diesen zufolge gehörten - vom gemeinschaft zurückzuziehen" (R. Griesbach). Umfang her - alle Maßnahmen, die von der Infolgedessen blieb die Hauptlast der Tuber­ Fesstellung der Erkrankung bis zur Heilung kulosebekämpfung (weniger der Prophylaxe) der Tuberkulose oder bei Unheilbarkeit bis bei der Rentenversicherung. Die"traditionel­ zum Tod zur totalen Bekämpfung erforderlich len" Heilverfahren wurden ergänzt durch Ar­ waren, zum Tuberkuloseversorgungswerk, zu­ beitstherapie, Absonderung, Verbesserung der vor war das Heilverfahren nur so lange ge­ Wohnungen und der Ernährung von Tuber­ währt worden, wie Aussicht bestand, daß mit kulösen, Umschulungen, Röntgenreihenunter• der Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit zu suchungen, Tbc-Forschung sowie verstärkte rechnen war. Die Tuberkulosesterblichkeit sank finanzielle Unterstützung der Tbc-Fürsorge• zwischen 1933 und 1940 relativ gering, was steIlen. Außerdem errichteten die LVA Klini­ zunächst darin begründet liegt, daß sie 1932 ken zur chirurgischen Behandlung der Tbc, so bereits einen relativ niedrigen Stand erreicht in Beelitz, Buchwald-Hohenwiese, Heidelberg­ hatte (7,5 Tbc-Gestorbene auf 10000 Lebende) Rohrbach, Lindenhof-Coswig und Tönsheide. und die Reallöhne der Arbeiter je Stunde erst In Zusammenarbeit mit den NSDAP-Wohl­ 1938 den Stand von 1929 erreichten und dann fahrtsorganisationen wurde Kindererholungs­ auch nicht mehr wesentlich stiegen (Höchst• fürsorge durchgeführt und ein Sozialerholungs­ stand 1940: 109,2; 1929 = 1938: 104,7, 1936 = werk gegründet (1942). Der Kreis der betreu­ 100), die Wochenlöhne stiegen - infolge Ar­ ten Personen wurde über die allgemeinen Ver­ beitszeitverlängerung! - etwas stärker (1941: sicherten hinaus allmählich erweitert, vor allem 116,0, 1929: 103,6, 1936 = 100). 1939 erreichte wurden die vom "Reichsverband" 1935 verab­ die Tuberkulosesterblichkeit mit 6,0 den nie­ schiedeten "Saarbrücker Richtlinien" durchge­ drigsten Stand, 1940 betrug sie schon wieder führt, nach denen durch die Rentenversiche­ 6,8. rung Heilverfahren zur Tbc-Bekämpfung über• nommen wurden für alle Personen, die An­ Abschließend muß bemerkt werden, daß die Kritik an den Gesundheitsfürsorgemaßnahmen der Ren­ sprüche an die Rentenversicherung hatten oder tenversicherung in der Zeit des Nationalsozialismus mit denselben im Haushalt lebten. nicht mehr von wissenschaftlich-sozialhygienischer Für den nichtversicherten Personenkreis waren Seite ausging, diese "Richtung" selbst war ja auf­ die Tbc-Hilfswerke der NS-Volkswohlfahrt, grund der antisemitischen und antisozialistischen Politik vernichtet worden (wenngleich manche Me­ des NS-Beamtenbundes, des NS-Lehrerbun­ thoden und Forschungsergebnisse in eigene Planun­ des, des NS-Rechtswahrerbundes usw. zustän• gen eingingen), sondern primär von der Parteipoli­ dig. Die Rentenversicherung umfaßte aber den tik, die ihren eigenen Wirkungskreis dadurch ge­ größten Teil der Bevölkerung, etwa 80 v. H. fährdet sah. Andererseits hatte man hier die ent­ Wohl aus diesem Grunde blieb die relative scheidenden. Stellen vorschnell mit "Parteibuch­ beamten" besetzt, die nun die Eigeninteressen Selbständigkeit der Rentenversicherungsmaß• "ihrer" Institutionen vertraten, so daß die Partei­ nahmen erhalten, als 1942 durch die Verord­ politik sich selbst blockierte. Um die Eigenständig• nung über die Tuberkulosehilfe die Träger- keit zu sichern (nur deshalb?), griffen deshalb die

31 Sozialmedizin, Bd. III 482 Florian Tennstedt

Rentenversicherungsträger und ihr "Reichsverband" die LVA die Rentenumrechnungen vornahm zu quasi Parteipropagandamethoden, um ihre und die Rente am Wohnort auszahlte, nicht "Funktionalität" im Sinne des nationalsozialisti­ mehr als entsprechende Zentralinstanz fungie­ schen Staates zu beweisen. 1942 schrieb der Präsi• dent der LVA Sachsen, Martin Möbius, seit 1938 ren. In der Zeit der allierten und zonalen Ver­ der parteitreue Leiter des Reichsverbandes Deut­ waltung versuchte man, durch übergangsrege• scher Rentenversicherungsträger: "Die Rentenver­ lungen der Situation gerecht zu werden. 1949 sicherung gehört ... zu den kriegswichtigen Verwal­ erging für die britische und amerikanische Zone tungszweigen, deren reibungslose Arbeit in ganz das "Sozialversicherungsanpassungsgesetz". besonderem Maße dazu beiträgt, die innere Front zu stärken... Wir geloben, auch im kommenden Dieses führte u. a. das Gemeinlastverfahren Jahre unsere ganze Kraft für das einzige Ziel ein­ wieder ein, brachte Mindestrenten (Invaliden­ zusetzen, das uns allein beseelen darf, den End­ rente 50 DM/Monat) und führte in der Ar­ sieg." Es soll erwähnt werden, daß zur gleichen beiterrentenversicherung die "Halbinvalidi­ Zeit in den östlichen Ländern, vor allem der Sowjet­ tätsgrenze" und die unbedingte Witwenrente union, die Sanatorien und Erholungsheime syste­ matisch vernichtet oder ausgeraubt und beschädigt ein, wie si'e in der Angestelltenversicherung wurden (allein in Jaha 31 , davon 19 völlig ver­ schon von Anfang an existierten. nichtet). Von den allgemeinen Folgen des Zweiten Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Weltkriegs müssen genannt werden: allein von Deutschland enthielt keinen Gestaltungsauf­ Deutschland wurden durch Kampfhandlungen etwa trag für die Sozialversicherung wie Art. 161 4,5 Mio. Personen getötet und etwa 12 Mio. Men­ schen durch unmittelbare Auswirkungen des Krieges WRV, es finden sich in ihm lediglich organisa­ vertrieben. (Die Zahl der Kriegstoten erreichte also torische Kompetenzregelungen. Die ersten ge­ fast die Zahl der Arbeitslosen 1932/33.) Ende 1945 setzgeberischen Maßnahmen des neuen Staates wurden gezählt: 1,6 Mio. Kriegsbeschädigte, 1,2 Mio. waren Vereinheitlichungsverordnungen und Kriegerwitwen, 1,4 Mio. Halb- und 60000 Voll­ -gesetze. Im übrigen zeigte sich bald ein waisen (bis zum 21. Lebensjahr). Die Gesamtver­ luste anderer Länder an Menschenleben betrugen Grundproblem: wieweit war die Sozialver­ 55 Mio. Tote, wovon auf die Sowjetunion etwa sicherung in der Bundesrepublik Deutschland 20,6 Mio. und auf Polen 4,5 Mio. Tote entfallen. identisch mit der Reichsversicherung oder doch ihr Rechtsnachfolger?

3.4 Die gesetzliche Rentenversicherung "Den Anlaß dazu gaben die ersten Verträge über in der Nachkriegszeit und der Bundesrepublik irgendwelche Wirtschaftsfragen mit den Nachbar­ Deutschland (1945-1974) staaten, die dann auch die Rechnung präsentierten, was nun aus den Renten der Sozialversicherung werde. Diese ersten Verträge, die mit Frankreich, Die Rentenversicherung war von den Kriegs­ der Schweiz, den Niederlanden und österreich in folgen stark betroffen: der "Ausdehnung" den Jahren 1951 und 1952 abgeschlossen wurden, ihrer territorialen Zuständigkeit stand ein den gingen alle davon aus, daß die Bundesrepublik und territorialen Veränderungen des besiegten ihre Versicherungsträger diese Leistungen nur in sehr beschränktem Umfang zu übernehmen hatte. Deutschlands folgender "Schrumpfungsprozeß" Die alten Schulden wurden also nicht ganz über• gegenüber, dessen Folgen durch Evakuierung, nommen, sondern es gingen auf die Versicherungs­ Flucht und Vertreibung einerseits, Aufgabe von träger der Bundesrepublik nur über die Renten und Versicherungsträgern und Verlust von Unter­ Anwartschaften aus solchen Zeiten der Reichsver­ lagen andererseits verschärft wurden. Auf­ sicherung, die erworben waren im heutigen Gebiet der Bundesrepublik. Das Londoner Schuldenabkom­ grund einer Anordnung des BerlinerMagistrats men von 1953 klammerte ebenfalls die Sozialver­ wurde die Reichsversicherungsanstalt für An­ sicherung aus und wies sie besonderen Verträgen gestellte stillgelegt, ihre Aufgaben übernahmen zwischen den Gläubigerstaaten und der Bundes­ besondere Abteilungen der LVA in den West­ republik zu, soweit die Bundesrepublik die Last zonen. Die 1924 eingeführte Gemeinlast zwi­ nach ihren Gesetzen übernimmt. Die Verträge, die geschlossen wurden, konnten natürlich die Verhält• schen den LVA fiel weg. Auß,erdem konnte nisse nur mit den Vertragsstaaten regeln" (]. Schnei­ die Post, die nach der Rentenfeststellung durch der). Sozialgeschichte der Sozialversicherung 483

Mit dem Fremdrenten- und Auslandsrenten­ die Einkommens- und Lebensverhältnisse in gesetz wurde 1953 erstmalig durch innerstaat­ immer rascherem Tempo, dem sich die Renten­ liches Recht eine Klärung dieser Rechtsfragen vtersicherung trotz mehrerer Gesetze nurschlecht vorgenommen. Fremdrenten sind Leistungen anzupassen vermochte. Dieses Problem konnte aus Versicherungsverhältnissen bei nicht mehr nur durch eine grundsätzliche Strukturreform bestehenden, stillgelegten oder außerhalb des gelöst werden, die dann im Jahre 1957 er­ Bundesgebiets und des Landes Berlin befind­ folgte, sie war das Kernstück der Rentenre­ lichen Trägern der gesetzlichen Unfallversiche­ formgesetzgebung. rung und Rentenversicherung an Berechtigte Mit der Reformgesetzgebung wurde das tra­ im Bundesgebiet und im Lande Berlin, Aus­ dierte System der Rentenberechnung aus Grund­ landsrenten sind Leistungen an Bertechtigte im betrag, Steigerungsbeträgen, Kinderzuschuß, Ausland. Diese Gesetzgebung hatte verschie­ Zuschlägen und Zulagen, Grundbetragserhöh• dene Eigentümlichkeiten, die als echte Rechts­ ungen und Rentenmehrbeträgen aufgegeben. probleme R,echtsprechung und Verwaltung Sie wurde durch eine Rentenformel ersetzt, die stark beschäftigten. 1960 wurde dieser Kom­ das Ziel hat, den Lebensstandard, den sich ein plex neu geregelt, wobei das bisherige Entschä• Mensch in seinem Berufsleben erworben hat, digungsprinzip durch das Eingliederungsprin­ nach Möglichkeit für alle Zukunft zu wahren. zip ersetzt wurde. Seit der Integration der Bundesrepublik Deshalb wurde die Rente erstmals von dem Nenn­ Deutschland in die westliche Gemeinschaft und wert des alten Beitrags unabhängig gemacht und mittels der sog. Dynamisierung an die allgemeine der seit 1960 verstärkt einsetzenden Beschäf• Lohn- und Gehaltsentwicklung "gekoppelt". Die tigung ausländischer Arbeitnehmer sind - quan­ grundlegende, auf Wilfried Schreiber zurückgehen• tativ gesehen - die Probleme des Fremdrenten­ de Rentenformel hat 4 Hauptfaktoren: rechts gegenüber denen des - auf Verträgen 1. für den neuesten Stand der jeweiligen Löhne und und EWG-Verordnungten beruhenden - wenig Preise steht die alljährlich neu festzusetzende all­ systematischen und einheitlichen zwischen- und gemeine Bemessungsgrundlage: das Bruttodurch­ schnittseinkommen aller Versicherten im Verlaufe überstaatlichen Rechts zurückgetreten. Danach der letzten drei Jahre vor dem Rentenanfall (1973: ergeben sich auf dem Gebiet des materiellen Durchschnittsverdienst aller Versicherten 1969, 1970, Rechts und der Zuständigkeit zahlreiche ab­ 1971 = 40 113 DM : 3 ergibt die allgemeine Bemes­ weichende und komplexe Regelungen gegen­ sungsgrundlage 13371 DM; über dem RVO- Recht, nicht zuletzt durch die 2. für den individuellen, einkommensmäßigen Ver­ lauf des Berufslebens, sofern er sich in geleisteten eigenständige Rechtsprechung des Europäischen Beiträgen zur Rentenversicherung "niederschlug", Gerichtshofes. Innerhalb des EWG-Rechts sind steht die persönliche Bemessungsgrundlage. Hier einzelne deutsche LVA als "zuständige Trä• werden die jährlichen Beiträge bzw. der Arbeits­ ger" bzw. "Verbindungsstelle" genannt, die verdienst des Versicherten jeweils dem durchschnitt­ für das Rentenrecht vonWanderarbeitnehmern lichen Verdienst aller Versicherten im gleichen Zeit­ raum (= 100) gegenübergestellt, wobei das prozen­ aus den einzelnen Ländern spezifische und aus­ tuale Verhältnis des Individualverdienstes zum all­ schließliche Zuständigkeiten haben. gemeinen, durchschnittlichen Verdienst ausgerechnet Im übrigen stellte sich auch nach 1945 das wird. Dieser persönliche Beitragsdurchschnitt ergibt Problem der zu niedrigen Rentten, schon durch - bis zu 200 v. H. - als Prozentsatz der allgemeinen Bemessungsgrundlage genommen und dadurch auf das Sozialversicherungsanpassungsgesetz en t­ die gegenwärtige Verdienstverhältnisse übertragen fiel über 30 v. H. der Last der öffentlichen Für• (= 1. Dynamisierung!) die persönliche Bemessungs­ sorge. 1953 bezogen nur noch 3,2 v. H. der grundlage; Rentner der Invalidenversicherung und 1,3 3. für die Dauer des Arbeitslebens steht die Zahl der v. H. der Rentner der Ang'estelltenversiche­ anrechnungsfähigen Versicherungsjahre, der Regel­ fall sind Beitragszeiten, die voll angerechnet wer­ rung Fürsorgeunterstützung als zweite Sozial­ den, unter bestimmten Voraussetzungen werden leistung. Durch das Wirtschaftswachstum bis­ auch beitragsfreie Zeiten in Form von Ersatzzeiten her ungekannten Ausmaßes änderten sich auch (Minderung an der Beitragsentrichtung durch be- 484 Florian Tennstedt

sondere Ereignisse: Krieg, Wehrdienst, politische 1969 ein Umlageverfahren mit eIner hohen Verfolgung, Flucht), Ausfallzeiten (Minderung Liquiditätsreserve folgte. durch "persönliche" Gründe: Krankheiten, Schwan­ gerschaft, Heilverfahren, Arbeitslosigkeit, Ausbil­ Als weitere entscheidende Anderung der Ren­ dungszeit usw.) oder Zurechnungszeit (Eintritt der tcnreformgesetzgebung ist zu erwähnen, daß Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit vor Vollendung die Begriffsbestimmungen (Tatbestandsvoraus­ des 55. Lebensjahres); setzungen) der Invalidität und Berufsunfähig• 4. für die jeweilige Rentenart steht ein Steigerungs­ keit für alle Versicherungszweige einheidich satz. Je nach Art der zu erwartenden Rente erhält der Versicherte für jedes anrechenbare Versiche­ und gleichlautend durch neue Definitionen von rungsjahr 1 Prozent (bei Berufsunfähigkeit) oder "Berufsunfähigkeit" und "Erwerbsunfähigkeit" 1,5 Prozent (bei Erwerbsunfähigkeit und bei Alters­ ersetzt wurden. Damit sollte "Arbeitern und ruhegeld) von seiner persönlichen Bemessungsgrund­ Ang'estellten die im wesentlichen gleiche Siche­ lage angerechnet. Die durch diese Faktoren bei ihrer rung zur Verfügung gestellt" werden, eine Feststellung bestimmten Versichertenrenten werden nun während ihrer Laufzeit alljährlich durch Gesetz "Angleichung von Arbeitern und Angestell­ um den einen Prozentsatz angepaßt, der der Ent­ ten" sollte dadurch erfolgen, "daß die Leistun­ wicklung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, gen für Arbeiter an diejenigen für die Ange­ der Produktivität und den Veränderungen des stellten ang'ehoben wurden" (Regierungsbe­ Volkseinkommens je Erwerbsfähigen Rechnung tra­ gründung, BT-Drucks., 2. Wahlper. 1953, Nr. gen soll (= 2. Dynamisierung!). Zur Versicherten­ rente wird für jedes Kind ein Kinderzuschuß ge­ 2437). zahlt, dessen jährliche Höhe 10 v. H. der jeweils geltenden allgemeinen Bemessungsgrundlage aus­ Ging die Anregung zur "dynamischen Rente" schon macht. von einem außenstehenden Intellektuellen aus, so Durch diese Dynamisie.rung wurde erreicht, zeigt sich auch bei den Renten wegen geminderter Erwerbsfähigkeit, daß eine durchorganisierte "Mi­ daß das durchschnittliche Rentenniveau, gemes­ nisterialbürokratie" eher pragmatische "interoffice sen am Nettoarbeitsentgelt, relativ konstant compromises" (H. ](issinger) als kühne neue Metho­ blieb (1957: 59,2, 1965: 52,6, 1970: 56,8, den und Ideen produziert. Hinzu kam, daß die SPD 1973: 60,0 v. H.). und die Gewerkschaften keinen kompetenten Kriti­ ker der Ministerialbürokratie mehr hatten, der ei­ Die monatliche, durchschnittliche Rentenhöhe nem Hermann M olkenbuhr (der seit seinem 11. Le­ entwickelte sich bei den Versichertenrenten bensjahr nur noch die "Abendschule für in Fabriken folgendermaßen (Angestelltenversicherung): arbeitende Kinder" besucht hatte) an Scharfsinn, 1950: 60,50 DM (92,90 DM), 1955: 89,70 Kompetenz und kritischer Initiative nahegekom­ DM (137,30 DM), 1958: 144 DM (288,60 men wäre. Die falsche Grundlage der Ministerialbürokratie lag DM), 1960: 152 DM (244,50 DM), 1965: in dem Versuch, eine materielle Gesetzesänderung 198,80 DM (331,70 DM), 1970: 313,20 DM ohne organisatorische Konsequenzen durchzuführen. (534,20 DM), 1973: 377,40 DM (633,10 DM). Die Problemerkennungskapazität hingegen war zu­ Die Beitragssätze - in v. H. des beitragspflich­ nächst noch gut. 1955 wurde die Unzulänglichkeit tigen Entgelts - stiegen im gleichen Zeitraum der starren Halbinvalidität ("Lohnhälfte") klar er­ kannt: "Bei den Erörterungen in den in meinem von 10,0 v. H. im Jahre 1949 auf 14,0 v. H. Ministerium gebildeten Arbeitsausschüssen ist immer im Jahre 1957, 1968 wurde ein Beitragssatz wieder die Frage nach dem zutreffenden Invalidi­ von 18,0 v. H. erhoben. tätsbegriff aufgetaucht. Gegen den bisherigen Inva­ So wurde durch die Dynamisierung vor allem liditätsbegriff erscheint vor allem der Einwand verhindert, daß die schleichende "säkulare In­ durchschlagend, daß es eine Tätigkeit, durch die der Versicherte noch die Hälfte seines früheren Ver­ flation" (W. Hofmann) die Rentner als Bezie­ dienstes erwerben könnte (§ 1254 RVO), in der her von "an sich" festen Einkommen so stark sozialen Wirklichkeit kaum gibt. Wer überhaupt trifft wie in anderen, "statischen" Renten­ noch arbeiten kann, verdient - auch aufgrund der systemen. Um das zu erreichen, wurde - wie Minderleistungsklausel in Tarifverträgen - in der schon 1924 - das Anwartschafts-(Ganzheits-) Regel mehr als die Hälfte dessen, was körperlich und geistig gesunde Personen derselben Art mit deckungsverfahren aufgegeben, an seine Stelle ähnlicher Ausbildung in derselben Gegend durch trat 'ein Abschnittsdeckungsverfahren, dem Arbeit zu verdienen pflegen 'c (Grundgedanken). Sozialgeschichte der Sozialversicherung 485

1956 aber empfahl dann das gleiche Ministerium Die Abstraktion von den realen Verhältnissen des wieder die angeblich "hinreichende klare Bezugs­ Versicherten war doppelt: größe der Lohnhöhe" (Grundentwurf), die nicht aufgegeben werden könne. Ahnlich paradox verlief 1. wurde bei der Tatbestandsvoraussetzung keine die "Angleichung" zwischen Arbeitern und Ange­ Rücksicht darauf genommen, was der Versicherte stellten im Hinblick auf die Berufsunfähigkeitsrente denn nun konkret noch arbeitete bzw. ob ihm eine ~ bereits 1954 hatte man zwecks Differenzierung zumutbare Verweisungstätigkeit auch real zu ver­ die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte er­ schaffen sei (dies wurde als Aufgabe der von ande­ richtet. In diesem speziellen Fall setzte nun die Ren­ ren Maßstäben her handelnden Arbeitsverwaltung tenabteilung des Bundesministeriums für Arbeit ein­ definiert!), fach die Definition der Invalidität in § 1254 RVO 2. wurde die Rentenhöhe relativ starr vom "Regel­ a. F. (= § 1246 Abs. 2 S. 2. RVO n. F.) unter die der fall" Altersruhegeld her definiert (Steigerungssatz), Berufsunfähigkeit in § 27 AVG a. F. (= § 1246 Abs. also ebenfalls ohne Rücksicht auf die konkrete Er­ 2 S. 1 RVO n. F.), wobei also die RVO-Formulie­ werbsminderung. Die Feststellung und Abgrenzung rung, aus der die höchstrichterliche Rechtsprechung des Kreises der jeweils zumutbaren Verweisungs­ bislang das Fehlen einer qualitativen Verweisungs­ tätigkeiten wurde als durch die Verwaltung zu ent­ grenze (zumutbare Tätigkeiten) gefolgert hatte, als scheidendes Rechtsproblem definiert, wobei man be­ Erläuterung der qualitativen Verweisbarkeit i. S. merken muß, daß die berufskundlichen Kenntnisse des AVG angegeben wurde. der Verwaltung mehr auf Phantasie als auf Fakten Außerdem wurde eine neue, "schärfere Form beruhen und sich mehr autoritativ als argumentativ der Invalidität definiert, die in etwa der vor durchsetzen. 1949 in der Arbeiterrentenversicherung übli• Die daraus vorhersehbaren Schwierigkeiten chen Zwei-Drittel-Invalidität 'entsprach (wie wären nun korrigierbar gewesen, wenn noch sie heute auch noch in der DDR gilt), so daß möglich gewesen wäre, was Hermann Althoff sich seitdem für einen infolge von Krankheit (1860-1948), 1899-1925 Vorsitzender der oder anderen Gebrechen oder durch Schwäche LVA Westfalen, über die Anfänge der Inva­ seiner körperlichen oder geistigen Kräfte ,er­ lidenversicherung berichtet: we.rbsgeminderten Versicherten insgesamt 4 Möglichkeiten ergeben: "Es ist klar, daß das ohne jedes Beispiel und ohne Erfahrungen lediglich nach theoretischen Erwägun• 1. er kann noch erwerbstätig sein, und zwar in sei­ gen ausgeklügelte Gesetz in der Praxis manche Män• nem "bisherigen Beruf" selbst oder in einem ihm in gel zeigte ... So haben denn die Versicherungs­ Hinblick auf diesen zumutbaren Verweisungsberuf. anstalten bei Durchführung des Gesetzes undurch­ Hierbei kann er noch mindestens die Hälfte eines führbare oder unzweckmäßige Bestimmungen oft ihm vergleichbaren Versicherten verdienen. In die­ unbeachtet gelassen, Gesetzeslücken in der prakti­ sem Fall erhält er - trotz evtl. Lohnverlustes um schen Durchführung ausgefüllt und sogar, wo es 50 v. H. - keine Rente; nötig schien, bewußt gegen Gesetzesvorschriften verstoßen oder sie in anderer Weise ausgelegt und 2. er kann noch eine ihm im Hinblick auf seinen "bis­ ausgeführt. Sie glaubten handeln zu dürfen, wie der herigen Beruf" zumutbare Berufstätigkeit ausüben, Gesetzgeber handeln würde, wenn er die näheren verdient aber weniger als die Hälfte eines ihm ver­ Umstände und ihre Auswirkung schon bei der Be­ gleichbaren Versicherten. In diesem Fall erhält er ratung des Gesetzes gekannt hätte. Es ist ein großes Berufsunfähigkeitsrente; Verdienst der Aufsichtsbehörden, daß sie dieses still­ 3. er kann noch erwerbstätig sein, nicht aber in einem schweigend geduldet haben." ihm im Hinblick auf seinen "bisherigen Beruf" zu­ mutbaren Beruf. In diesem Fall erhält er Berufs­ 70 Jahre später stand diesem aber eine fort­ unfähigkeitsrente, und zwar grundsätzlich ohne geschrittene "V'errechtlichung" und "Monetari­ Rücksicht darauf, ob er einen Lohn- oder Gehalts­ sie,rung" des Systems der sozialen Sicherung verlust hatte oder nicht; gegenüber und eine innovationsträge, mangel­ 4. er kann auf nicht absehbare Zeit irgendeine Er­ haft demokratisch legitimierte Selbstverwaltung werbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt der Rentenversicherung, die "einseitig di'e pu­ in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder blikumswirksamen Aufgabenbereiche der nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Er­ werbstätigkeit erzielen. In diesem Fall erhält er Er­ Pflicht- und Kannleistungen in den Vorder­ werbsunfähigkeitsrente. grund stellt" (v. Altrock). 1973 mußte der ehe- 486 Florian Tennstedt malige Abteilungspräsident der Bundesversi­ Parallel dazu wurde das "Halbinvaliditäts• cherungsanstalt für Angestellte, Albrecht von problem" als 'Teilzeitarbeitsproblem umdefi­ Altrock (geb. 1908), feststellen, daß auf dem niert und versucht, das Verhältnis von "ab­ Gebiet der Renten wegen geminderter Er­ strakter Verweisung" und konkret vorhande­ werbsfähigkeit die Rentenve,rsicherungsträger nen Arbeitsmäglichkeiten im Rahmen der in­ "nach den Erfahrungen ce nichts zu verlieren stitutionellen Trennungen zu lösen, und zwar haben: mit weiteren künstlich g,esetzten Grenzwerten, "Wer viel mit Rentenakten zu tun hat, wird trotz durch die - nähme man sie ernst - die Recht­ der jahrzehntelangen Erziehungsarbeit der Recht­ sprechung sich selbst ad absurdum geführt sprechung immer wieder feststellen, daß der ärzt• hätte. So ist die Entwicklung der Fragestellung liche Gutachter im Verwaltungsgang beauftragt "in eine Sackgasse geraten" (F. W. Adam). wird, ehe die Rechtsfrage nach den zumutbaren Ver­ weisungsberufen gewissenhaft geklärt ist. Im Gegen­ Das Ziel der Rentenreform wurde auf diesem Sek­ teil hat die wachsende Mechanisierung, also die N ei­ tor nicht erreicht: das Versagen der Ministerialbüro• gung, das Massengeschäft der Rentensachen als ,Pro­ kratie wurde durch Selbstverwaltung und Recht­ duktion' aufzufassen, bei den Trägern der Renten­ sprechung nicht korrigiert. Die Rentenversicherung versicherung dazu geführt, die Angaben zur Ver­ konnte sich nicht dazu entschließen, die Stellenver­ weisbarkeit in weitem Umfang untergeordneten mittlung erwerbsgeminderter Personen selbst zu Kräften zu überlassen, mit deren stereotypen An­ organisieren (etwa über eine Erweiterung ihres ver­ gaben der gewissenhafte Gutachter wenig anfangen trauensärztlichen Dienstes) und ihre finanziellen kann. Wenn die wichtigen Fragen der sozialen und Leistungen sofort entsprechend zu variieren, statt arbeitsmarktgerechten Verweisbarkeit allenfalls im sich auf "ihre" Aufgaben zu berufen und sich von Prozeß vertieft werden, so spricht das nicht für eine der Bundesanstalt für Arbeit abzugrenzen. Ein Vor­ angemessene Verwaltungsökonomie." bild wäre hier das Handeln der gewerblichen BG Die hier noch freundlich apostrophierte Recht­ im Hinblick auf das Heilverfahren gewesen, das diese im Interesse der Sache und der Verunglückten sprechung war realiter aber nicht viel positiver von Anfang an selbst übernahmen, obwohl "an wirksam. Das Bundessozialgericht gab die ein­ sich" zuerst die Krankenkassen zuständig waren. zig sinnvolle Tradition in dieser Hinsicht, das Aber: "Zuversichtlich außerhalb der vertrauten sog. Verweisungskreuz von Hermann Dersch, Fahrrinne zu navigieren und diesen Widerstand zu überwinden, verlangt Fähigkeiten, die nur in einem auf, verallgemeinerte es also nicht für die Ar­ kleinen Teil der Bevölkerung vorhanden sind und beiterrentenversicherung, sondern ignorierte die sowohl den Unternehmertyp wie auch die Un­ das Problem der Berufsverwandtschaften, der ternehmerfunktion ausmachen" (]. A. SchumpeterJ. horizontalen Verweisbarkeit, zugunsten des SO mußte 1970 die Bundesregierung denn auch ein­ Ausbaues der vertikalen Verweisbarkeit ("we­ gestehen: "Die sich aus dieser Entwicklung abzeich­ nenden Folgen werden als nicht befriedigend an­ sentlicher sozialer Abstieg", der so gar nicht im gesehen. Eine Lösung des Problems setzt eine grund­ Ges,etz genannt ist!) mittels einer artifiziellen sätzliche Erörterung der Abgrenzung der Renten sog. Drei-Stufen-Theorie (gelernter oder ihm wegen geminderter Erwerbsfähigkeit voraus. Dar­ gleichgestellter Arbeiter darf auf angelernte über hinaus wird möglicherweise auch das Verhält• Tätigkeiten verwiesen werden, Verweisung auf nis der Rentenversicherung zur Arbeitslosenver­ sicherung neu überdacht werden müssen." (BT­ ungelernte Tätigkeiten ist unzumutbar), die Drucks., 6. Wahlper., 1969/72, Nr. 1126, S.31.) die Angestellten weiter p.rivilegiert und die 1974 schlug Gerhard Dapprich eine neue Renten­ soziale Situation der erwerbsgeminderten Ar­ formel vor, die aber nur einem Teil der Probleme beiter ebenso verfehlt wie sie Rehabilitations­ "gerechter" wird. Festgehalten werden muß das bemühungen auß,erordentlich erschwert. In eklatante Versagen der Gewerkschaften auf diesem Sektor der Sozialpolitik, in dem es um eminente letzter Zeit ging die Rechtsprechung dazu über, Arbeiterinteressen geht. das starreDrei-Stufen-Schema durch den Rück• griff auf tarifliche Einstufungen zu modifizie­ Die aus der Selbstverwaltung entstandene Tä• ren.Dominierend wurde die Rechtsprechung tigkeit der Rentenversicherung auf dem Gebiet des 5. Senats unter Gerhard Dapprich (geb. der Gesundheitsfürsorge wurde 1957 ebenfalls 1909). auf eine neue Grundlage gestellt. Die Maß- Sozialgeschichte der Sozialversicherung 487 nahmen zur Erhaltung, Besserung undWieder­ zeichneten Rehabilitationsmaßnahmen ("Ku­ herstellung der Erwerbsfähigkeit sollen (als ren") ansetzen, die zu weitgehend unspezifisch Ermessensleistungen!) den Vorrang vor den ausgelesenen und behandelten Patienten führen Rentenleistungen (Pflichtleistungen!) haben, und die die Nachwirkung im familiären und die Bekämpfung der Tuberkulose wurde dabei beruflichen Sozialverhalten nicht sichern. zu einer Pflichtaufgabe. über den Umfang derGesundheitsmaßnahmen Dieser Grundsatz des Rehabilitationsvorrangs der Rentenversicherungsträgr unterrichtet die verkennt die normative Kraft des Faktischen: folgende Tabelle: die Befolgung von Normen ist keine Selbst­ verständlichkeit. Man muß zunächst sehen, daß Tabelle 15 Gesundheitsmaßnahmen der gesetzlichen die Rentenversicherungsträger die Chance zu Rentenversicherung 1972 einer allgemeinen aktiven Gesundheitspolitik nicht 'ergriffen haben. Sie waren dazu von al­ Arbeiter- Angestell­ rentenver- tenver­ len Versicherungsträgern an sich am ehesten sicherung sicherung in der Lage, denn bewilligte Anträge 827 000 338000 1. erfaßten sie den größten Teil der erwerbstätigen durchgeführte Heilbehand- Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland, lungen: 1. wegen allgemeiner Er- 2. hatten sie noch die sog. Gemeinschaftsaufgaben krankungen 428 000 235000 der Aufbaugesetzgebung von 1934 und 2. wegen Tuberkulose 34 000 11 000 3. erhielten sie nun noch den allgemeinen Rehabili­ Berufsförderungsmaßnahmen 37000 6000 tationsauftrag. Reinausgaben für Gesund- 1,802Mrd. 0,836 Mrd. heitsmaßnahmen DM DM Statt einer umfassenden und koordinierten Ge­ sundheitsvorsorge führten die Rentenversiche­ Quelle: Statistik der deutschen gesetzlichen Renten­ rungsträger vor allem nurgesundheitliche Maß• versicherung, Bd. 40. nahmen in Form vonHeilbehandlungen durch. Diese im Rahmen der Tuberkulosebekämpfung Zur Durchführung der Heilbehandlungen ste­ entwickelten (aber schon hier nicht die effek­ hen 170 eigene Einrichtungen mit 30000 Bet­ tivste Bekämpfungsform!) medizinischen Maß• ten zur Verfügung. Die Maßnahmen der Be­ nahmen, insbesondere die Behandlung in Kur­ rufsförderung umfassen vor allem Umschulung und Badeorten sowie in Spezialanstalten, wur­ und Beratungen sowie übergangsgeld für die den "übertragen" auf: Erkrankungen der At­ Dauer der Maßnahmen. Hier wirkt sich nega­ mungsorgane, Erschöpfungskrankheiten, Frau­ tiv aus, daß die Rentenversicherung per Selbst­ enleiden, Herz- und Kreislauferkrankungen definition keinen Kontakt zum konkreten Ar­ der oberen Luftwege, Nervenerkrankungen, beitsmarkt hat (anders als z. B. die gewerb­ rheumatische Erkrankungen und Stoffwechsel­ lichen BG) und die Höhe der Renten wegen krankheiten. Dabei verknüpften sich die insti­ geminderter Erwerbsfähigkeit vom Altersruhe­ tutionalisierten Interessen der Versicherungs­ geld bestimmt ist und nicht vom realen Ver­ bürokratie mit denen der "herrschenden" natur­ dienstausfall (die in vielem fragwürdige Min­ wissenschaftlich orientierten kurativen Medi­ derung-der-Erwerbsfähigkeits-Regelung in der zin. So ist die vorherrschende Orientierung Unfallversicherung hat immerhin den Vorteil, "Krankheiten zu heilen statt Gesundheit zu daß sie den Tatbestand entproblematisiert und ermöglichen" (von Ferber), deshalb ist auch der Verletzte Rentenleistung und Rehabilita­ die schon vor dem Ersten Weltkrieg geäußerte tion bzw. Arbeitsleistung als relativ unabhän• Kritik der progressiven deutschen Sozialhy­ gige, keinesfalls aber gegenläufige Prozesse se­ gieniker an der "Heilstättenbewegung" wieder hen kann); der eigentlich erforderlichen "sozia­ aktuell geworden. "Sie mußte heute bei den len Therapie" (W. Hol/mann) sind also enge durch das herrschende Zugriffssystem" gekenn- Grenzen gesetzt. 488 Florian Tennstedt

Hinzuweisen ist darauf, daß aus der früheren droht. Die Qualität der von dort kommenden Volksseuche Tuberkulose eine "nur" noch spo­ Gutachten ist entsprechend, den unklaren und radisch auftretende Infektionskrankheit ge­ fragwürdigen Berentungskriterien dürften sich worden ist: 1951 betrug die allgemeine Sterbe­ die meisten Mediziner widerspruchslos ange­ ziffer für Tuberkulose insgesamt (bezogen auf paßt haben, solide Kenntnisse über konkrete 10000 Einwohner) 3,76, 1961: 1,46 und 1971: Berufsanforderungen fehlen. So kam der Arzt­ 0,71. liche Dienst der Bundesanstalt für Arbeit in An aktiver Tuberkulose waren am 31. 12. Stuttgart, der 1275 Rentengutachten für"Teil­ 1971 krank: 172093 Personen, das sind 280 zeitarbeitskräft'e" nachzuprüfen hatte, zu dem auf 10000 Einwohner. Auß,erdem zeigt sich, Ergebnis, daß in 1208 (!) Fällen die Einschrän• daß die Tuberkulose sich immer mehr auf die kung der zumutbaren Arbeitszeit zu einseitig älteren Jahrgänge beschränkt, Kindertuberku­ und isoliert gewertet wurde. "Bei Männern lose ist praktisch bedeutungslos geworden. So­ und Frauen, die nur noch ,zweistündig bis mit ist die Tuberkulose auch kein typisches unter halbschichtig' arbeiten können, mußten Rentenleiden mehr: fast in allen Fällen glückt bis zu neun, überwiegend vier zusätzliche Ein­ hier die Wiedereingliederung vor der Renten­ schränkungen ausgesprochen werden, bei den zahlung. Von 276831 im Jahre 1972 zugegan­ Personen, die noch ,halbschichtig bis unter voll­ genen Versichertenrenten wegen Berufs- oder schichtig' zu arbeiten in der Lage sind, waren Erwerbsunfähigkeit entfielen nur 3644 auf Tu­ es sogar bis zu dreizehn, überwiegend sechs" berkulose. Statt dessen haben die Kreislauf-, (J. F. Scholz). Im Rahmen dieses Kompetenz­ Stoffwechsel- und Atmungskrankheit'en rapide vorrates und der Zunahme der Zahl der Ver­ zugenommen, also Krankheiten, die gut diag­ sicherten je Vertrauensarzt konnte auch nicht nostizierbar, "letztlich unheilbar, dafür aber durchschlagen, daß mit dem Lohnfortzahlungs­ wenigstens zu einem großen Teil verhütbar" gesetz die Massenvorladungen früherer Zeiten (H. Schaefer) sind. abgeschafft wurden und dekretiert wurde, daß Außer den Heilmaßnahmen für zum größten die vertrauensärztliche Tätigkeit sich auf die Teil unheilbare Krankheiten gewähren die Sicherung des Heilerfolges, die Beseitigung be­ Rentenversicherungsträger weiter Beihilfen zu gründeter Zweifel an Diagnosen und die Ein­ Zahnersatz und zu größeren Heil- und Hilfs­ leitung von Rehabilitationsmaßnahmen kon­ mitteln. Zuschüsse werden gewährt für For­ zentrier,en soll. Von dieser Situation aus for­ schung, Gesundheitsvereine usw.; Arbeitsge­ de.rn die Gewerkschaften die Schaffung eines meinschaften zur Prophylax1e von Kreislauf­ gemeinsamen sozialärztlichen Dienstes aller So­ und Stoffwechselkrankheiten - etwa nach dem zialversicherungsträger, wie er nach 1933 schon Modell der "Tuberkulosegemeinschaft Thürin• einmal kurzfristig im Bereich der LVA Hanse­ gen" vor 1945 - fehlen. städte und Rheinprovinz v'erwirklicht war. Der Rentenversicherung unterstehen 413 Ver­ Im Bereich der LVA Hessen wurde 1952 der trauensärztliche Dienststellen der Krankenver­ VäD der Krankenversicherung durch die Ein­ sicherung mit 1100 Arzten und 88 eigene Ren­ beziehung der Begutachtungen für die Renten­ tengutachterstellen der Arbeiterrentenversiche­ versicherung der Arbeiter zu einem sozialärzt• rung mit 450 Arzten, in den Eigeneinrichtun­ lichen Dienst erweitert. Im Land Berlin führt gen (Sanatorien usw.) sind 870 Arzte beschäf• die Allgemeine Ortskrankenkasse den VäD tigt. In jeder Dienststelle findet sich ein eige­ durch, im Regierungsbezirk Südwürttemberg• nes Labor, Röntgen- und EKG-Apparate sind Hohenzollern wird der VäD nicht von der nur in der Hälfte aller Dienststellen vorhan­ LVA Württemberg, Abt. Krankenversicherung, den. Die Zusammenarbeit der verschiedenen sondern von den Krankenkassen selbst durch­ ärztlichen Dienste, u. a. mit dem Arbeitsamt geführt. Möglich ist, daß darüber hinaus die oder den Werksärzten, ist beschränkt, diese Gewerkschaften, nachdem 1974 der Ausgang sind von überalterung und Auszehrung be- der Sozialwahlen zu den Selbstverwaltungs- Sozialgeschichte der Sozialversicherung 489 organen dort, wo gewählt wurde, ihnen ge­ nen. Die Altersgrenze ist hier auf das 63. Le­ zeigt hat, daß ihre Positionen gefährdet sind, bensjahr vorgezogen worden. über die Mög• wo sie diese konzeptionslos als »Machtpfrün• lichkeiten der "frühen Renten" insgesamt un­ den" verwalten und die Versicherten sich nicht terrichtet das folgende Schema: bedingungslos mit dem identifizieren, was mit Die allgemeine staatliche Sozialpolitik und der öko• ihnen geschieht, sich auch auf andere, vorbild­ nomische Aufschwung haben die Bedeutung der liche Traditionen besinnen, die sie in Sozialver­ Rentenversicherung auf dem Sektor des Wohnungs­ sicherungspolitik und Sozialmedizin haben. wesens weiter verringert: »Ende 1972 gab es in der Die quantitativen Folgen dieser Fehlentwick­ Bundesrepublik Deutschland rd. 22 Mio. Wohnun­ gen. Gegenüber September 1950 hat sich der Woh­ lungen auf dem Renten-, Rehabilitations- und nungsbestand mehr als verdoppelt. Da die Zahl der Gesundheitssektor sind bisher durch die »frü• Wohnungen (+ 114 0/0) erheblich schneller zunahm hen Renten" gemildert worden, von denen die als die der Bevölkerung (+ 23 0/0), konnte die Woh­ letzte, das Altersruhegeld aufgrund der sog. nungssituation entscheidend verbessert werden: flexiblen Altersgrenze, 1973 eingeführt wurde. während noch 1950 für 495 Einwohner nur 100 Wohnungen zur Verfügung standen, verbesserte sich Sie wurde 1973 durch rd. 280000 Versicherte dieses Verhältnis bis 1972 auf 282: 100. Der starke beantragt, das sind etwa 70 v. H. jener, die Zugang an neuen, in Verbindung mit dem Abgang von dieser Möglichkeit Gebrauch machen kön- von alten Wohnungen hat bis Ende 1972 zu einer

Personen­ Alters­ Voraussetzungen für Weiterarbeit Wahlmöglich• gruppe grenze Altersrente keit Frauen 60 15 Beitrags- und Ersatz­ Vor dem 65. Lebensjahr Neben­ Weiterarbeit jahre sowie 121 Pflicht­ verdienst bis zu 350,00 DM mo­ ohne Alters­ beiträge in den letzten natlich oder unbegrenzt bei Be­ rente bis zum 20 Jahren schäftigung von 3 Monaten bzw. 65. Lebensjahr 75 Tagen im Jahr. Bei Schwer­ - anschließend Arbeitslose 60 15 Beitrags- und Ersatz­ beschädigten erhöht sich vom 62., höhere Alters­ jahre sowie ein Jahr bei allen übrigen vom 63. Lebens­ rente arbeitslos in den letzten jahr an die Nebenverdienstgrenze 11/2 Jahren auf 840 DM monatlich, wenn 35 anrechnungsfähige Versicherungs­ jahre nachgewiesen werden Schwerbeschä- 62 35 anrechnungsfähige Ver­ Beschränkung der Weiterarbeit digte und Berufs­ sicherungsjahre, davon auf höchstens 3 Monate oder 75 oder Erwerbs­ 15 Beitrags- und Ersatz­ Arbeitstage im Kalenderjahr oder unfähigkeits• jahre auf einen Nebenverdienst von rentner höchstens 750 DM monatlich Alle Versicherten 63 (flexible Alters­ grenze) Alle Ver­ 65 15 Beitrags- und Ersatz­ ohne Einschränkung möglich Weiterarbeit sicherten jahre ohne Alters­ rente - an­ schließend höhere Alters­ rente mit zu­ sätzlichen Zu­ schlägen

Quelle: Gestaltet nach: übersicht über die Soziale Sicherung, 9. Auf!., Bonn: Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975. Die Nebenverdienstgrenzen beziehen sich auf das Jahr 1975 und werden jährlich »dynamisiert". 490 Florian Tennstedt relativ günstigen Altersstruktur geführt: rd. 57 0/0 Literatur ::. aller Wohnungen stammen aus der Zeit nach und Achinger, H.: Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik, nur noch 43 % aus der Zeit vor 1948" (Gesellschaft­ 2. Aufl. Frankfurt/M. 1971. liche Daten 1973). Die durchschnittliche Wohnfläche Adam, F. W.: Einkommenshilfe eigener Art ... aller 1968 gezählten Wohnungen betrug 1968 71 qm, Rente für Berufsunfähige neuer Art. In: Sozialpoli­ mindestens jede Person konnte einen Raum für sich tik und persönliche Existenz. FG Hans Achinger in Anspruch nehmen. Ober eine Minderausstattung zum 70. Geburtstag, Berlin 1969, 11. in sanitärer Hinsicht verfügen nur noch 21 v. H. Agartz, V.: zit. nach Th. Pirker: Die blinde Macht, (= 4,07 Mio.) Wohnungen. 1972 wurden 660 000 Bd. 1. München 1960, 282. Wohnungen fertiggestellt, auf den sozialen Woh­ Althoff, H.: Erinnerungen aus den Anfängen der nungsbau entfielen davon 23,2 v. H. Die Anteile der Invalidenversicherung. Zentralblatt für Reichsver­ sicherung und Reichsversorgung 1940, 181. Rentenversicherungsträger lassen sich nicht genau Altrock, A. v.: Selbstverwaltung, Grundgesetz und aufschlüsseln. Angesichts dieses allgemeinen "Woh­ Rentenreform. Arbeit und Sozialpolitik 1973, 29. nungswohlstandes" hindert - außer einer "abge­ Beerwald, C.: Der Begriff der Berufsunfähigkeit ­ schwächten Empfindlichkeit ... gegenüber allen an­ eine soziale Notwendigkeit. Zentralblatt der Reichs­ dersartigen Situationen ihrer Umgebung, die ihrer versicherung 1917, 494. Erfahrung verschlossen bleiben" (von Ferber) - die Behrens, F.: Der Gesamtverband der Krankenkas­ Selbstverwaltung der Rentenversicherung eigentlich sen Deutschlands, eine nationale Vereinigung der Krankenkassen. Die Krankenversicherung 1933, nichts, gezielte Darlehen zur Verbesserung der Woh­ 133. nungssituation der rcl. 2,3 Mio. ausländischen Ar­ Bender, A.: Art. Unfallverhütung. In: Grotjahn, beitnehmer sowie der rd. 500000-800000 Obdach­ A., J. Kaup (Hrsg.): Hwb. der Sozialen Hygiene, losen zu geben. Man muß hierbei aber auch das seit Bd. 2. Leipzig 1912, 659. 1969 eingeführte Umlageverfahren in seinen Wir­ Bernhard, L.: Unerwünschte Folgen der deutschen kungen auf die Kapitalbilclung bedenken. Sozialpolitik. Berlin 1913. Besson, W.: Engagierte Wissenschaft. Offene Welt Abschließend ist noch hervorzuheben, daß mit 1962, 37. der flexiblen Altersgrenze die Rentenversiche­ Boetticher, K. H. v.: Volkswirtschaftsrat, 2. Sitzung rung auch für Selbständige und Hausfrauen des permanenten Ausschusses, Session 1887, 17. Bogs, W.: Die rechtliche Ordnung, Rechtsprinzipien wieder geöffnet wurde (eine ähnliche Möglich• sozialer Sicherung. In: Soziale Sicherung in der keit der Volksversicherung hatte es schon von Bundesrepublik Deutschland, Sozialenquete. Stutt­ gart 1966, 52. 1937 bis 1956 gegeben. Geschätzt wurde, daß Bogs, W.: Entwicklungstendenzen im neueren Recht etwa 50 v. H. der betroffenen 375000 Selb­ der gesetzlichen Krankenversicherung. In: Sozial­ ständigen und etwa 10 v. H. der betroffenen politik. Ziele und Wege. Köln 1974,319. Brandt, W.: Fernsehansprache. Bulletin des Presse­ 7 Mio. Frauen diese Berechtigung nutzen wür• und Informationsamtes der Bundesregierung 1973, den). Außerdem wurde die Rente nach Min­ 1009. desteinkommen eing,eführt, d. h. wenn minde­ Brucker, L.: Die SA als Garant der Zukunft. Der SA-Mann, 17. Februar 1934, 1. stens 25 Versicherungsjahre vorlagen, wurden Bry, G.: Wages in Germany 1871-1945. Princeton die Renten so angehoben, daß von einem per­ University Press 1960. Bueck, H. A.: Der Zentralverband Deutscher Indu­ sönlichen Beitragsdurchschnitt von 75 v. 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(Durchschnittserhöhungsbetrag wir eine Gesundheitspolitik? Stuttgart 1971. 53 DM). ::. Eine »Quellenkunde zur Geschichte der Sozial­ versicherung", die über alle benutzten Quellen Aus­ (Die 3 Abbildungen wurden mit freundlicher Ge­ kunft gibt, ist in der "Zeitschrift für Sozialreform" nehmigung des Statistischen Bundesamtes Wiesba­ 1975, S. 225, 358, 422 erschienen, hier wird nur die den übernommen.) zitierte Literatur aufgeführt. Sozialgeschichte der Sozialversicherung 491

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