Sozialgeschichte Der Sozialversicherung*

Sozialgeschichte Der Sozialversicherung*

In: Blohmke, Maria u.a. (Hrsg.): Handbuch der Sozialmedizin in drei Bänden. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag, 1976. S. 385-492 D. Krankenversicherung 1 Sozialgeschichte der Sozialversicherung* Florian Tennstedt 1 Die gesetzliche Krankenversicherung Reich als einewohltätige Institutionanzusehen". Das geschah mittels der Stabilisierungsmethode 1.1 Die Krankenversicherung im Deutschen der staatlichen Sozialpolitik. "Sie bildet:e die Kaiserreich (1871-191'3) Innenseite einer Politik, deren Außenseite die Die Sozialgesetzgebung des Deutschen Reichs ökonomische und koloniale Expansion waren" von 1871 ist auf dem Hintergrund der Tat­ (H. U. Wehler) und war mit Repressivmaß• sache zu sehen, daß dieses Reich ein labiles, nahmen wie dem sog. Sozialistengesetz (1878­ von starken Kräften der gesellschaftlichen und 1890) gekoppelt. Die Sozialpolitik versuchte, politischen Veränderung bedrohtes System dar­ die "sozialen Schäden" aufzufangen, beugte stellte. Die "soziale Frage", die bis in die erste ihnen aber nicht vor, etwa durch Arbeiter­ Hälfte des vorigen Jahrhunderts zurückreicht, schutzgesetzgebung. hatte eine neue Qualität bekommen durch: Die konkrete Konzeption des "Gesetzes betref­ fend die Krankenversicherung der Arbeiter" 1. die Folgen der Agrarrevolution und den über• von 1883 lag bei 1heodor Lohmann (1831 bis gang zur Fabrikindustrie und die Herausbildung des Systems der modernen industriellen Groß• 1905), für Bismarck war es ein "untergescho­ unternehmen seit den siebziger Jahren, wodurch benes Kind", sein Interesse galt dem Unfall­ ein Industrieproletariat entstand, das sich in den versicherungsgesetz, das 1884 verabschiedet Städten und industriellen Ballungsregionen (u. a. wurde. Vorläufig beendet wurde die Sozial­ Ruhrgebiet, Saargebiet, Oberschlesien und Sachsen) konzentrierte und sich in der sozialdemokratischen versicherungsgesetzgebung durch das Gesetz Arbeiterbewegung emanzipativ organisierte, betr. die Invaliditäts- und Altersversicherung 2. die mit dem "Gründerkrach" von 1873 begin­ (1889), das in eine Periode industriellen Auf­ ne~den, durch die "Große Depression" (1873 bis schwungs (1886-1890) fiel. Für die reale Wirk­ 1895) gekennzeichneten Wachstumsstörungen, die samkeit der Sozialgesetzgebung ab 1895 muß mit Lohnsenkungen (bis 1879 wurden die Berg­ arbeiterlöhne halbiert!), massenweisen Entlassun­ beachtet werden, daß hier eine durch "indu­ gen und Existenzangst auf seiten des Industrie­ strielle Hochkonjunktur und subventionierte proletariats verbunden waren. Agrarwirtschaft" (H. U. Wehler) gekennzeich­ Der Reichskanzler Duo von Bismarck ver­ nete Periode bis 1913 einsetzte, in deren Folge suchte nun, die sich nicht nur von der kapi­ der Reallohn allerdings - vor allem infolge talistischen Wirtschaftsverfassung, sondern auch des Bülowschen Zolltarifs - nur gering anstieg. von dem neugegründeten Reich, das keine inte­ Das durchschnittliche jährliche Arbeitseinkommen grierende nationale Tradition aufwies, poli­ in Industrie und Handwerk stieg nach den Schät• tisch abwendenden Arbeiter zu lehren, "das zungen von walter G. Hoffmann von 622 M im Jahre 1885 (1875: 669 M, 1880: 565 M) auf '. Aufgrund der besonderen Zielsetzung des Hand­ 1163 M im Jahre 1913. Gerhanl Bry schätzt, daß buchs werden nur die Geschichte der Kranken-, Un­ der Index der wöchentlichen Realeinkommen fol­ fall- und Rentenversicherung behandelt. gendermaßen stieg: 1875: 84, 1880: 70, 1885: 83, 25 Sozialmedizin, Bd. III 386 Florian Tennstedt 1913: 100.1885 waren in Industrie und Handwerk Leistungen stand der Ausgleich des durch die 6,0 Mio. Arbeitnehmer beschäftigt, 1913 waren es Krankheit bedingten Lohnausfalls, die Arzte 10,8 Mio. 1907 gliederten sich nach den "Erhe­ wurden durch die Industriearbeiterschaft kaum bungen von Wirtschaftsrechnungen minderbemit­ telter Familien ce die privaten Ausgaben folgender­ in Anspruch genommen. maßen: Nahrungsmittel: 42,6 v. H., Genußmittel: Das Krankenversicherungsgesetz trat 1884 in 6,7 v. H., \Vohnung: 16,8 v. H., Möbel, Hausrat, Kraft und erfaßte mit Versicherungszwang fast Heizung und Beleuchtung: 8,4 v. H., Bekleidung, ausschließlich in Gewerbebetrieben beschäftigte textiler Hausrat, Lederwaren: 13,0 v. H., häus• liche Dienste: 0,7 v. H., Bildung, Erholung: 6,1 Arbeiter sowie die Gehilfen der Rechtsberufe v. H., Verkehr: 1,5 v. H., Gesundheits- und Kör• und Versicherungseinrichtungen (Angestellte!), perpflege, Reinigung: 4,2 v. H. die unselbständig gegen Entgeltbeschäftigt wa­ Die durchschnittliche Jahresmiete in der Einkom­ ren. Bei einzelnen Personengruppen hörte die lnensklasse 900-1200 M betrug 1890: 218 M, 1900: 211 M. 1908 erhielt man für 1 M folgende Lebens­ Versicherungspflicht mit einer bestimmten Ein­ mittelmengen : 16,6 kg Kartoffeln, 4,1 kg Erbsen, kommenshöhe auf. Für weitere Personenkreise 5,0 kg Grünkohl, 6,2 kg Rote Rüben, 5,0 kg Ka­ war Versicherungsberechtigung vorgesehen. rotten, 1,4 kg Wirsingkohl, 2,0 kg Blumenkohl, Insgesamt hatte das Gesetz schon die Struktur­ 2,0 kg Apfel, 2,1 kg Weißbrot, 5,3 kg Schwarzbrot, prinzipien, die auch heute noch die Sozialver­ 1,1 kg Zucker, 11,1 kg Magermilch, 5,0 kg Voll­ milch, 0,3 kg Butter, 1,2 kg Pferdefleisch, 0,7 kg sicherung von der Fürsorge (Sozialhilfe), der billiges Rindfleisch, 0,6 kg gutes Rindfleisch, 0,3 Versorgung und der Privatversicherung ab­ kg Schinken, 0,7 kg Eier, 6,8 kg Reis, 1,1 kg ge­ grenzen: Versicherungszwang und Vorleistung trocknete Äpfel, 0,8 kg frische Heringe, 1 kg Pflau­ in Form von Zwangsbeiträgen, Rechtsanspruch men, 0,3 kg Marzipan, 2,0 kg Spinat, 2,0 kg Kopf- salat. auf Leistungen aufgrund dieser Beiträge (keine Bedürftigkeitsprüfung, kein Nachrang), Ab­ Da die Sozialversicherungsgesetzgebung in hängigkeit der Beitragshöhe vom Bruttoarbeits­ ökonomischer und organisatorischer Hinsicht entgelt (sozialer Ausgleich) und nicht vom Ri­ ein "Sprung ins Dunkle" war, knüpfte 7heo­ siko (bestimmte Krankheiten, Alter und Ge­ dor Lohmann mit dem Krankenversicherungs­ schlecht), keine Rückzahlungsverpflichtung ge­ gesetz fast durchweg an bereits bestehende Ein­ währter Leistungen, Träger der Krankenver­ richtungen und Konzeptionen an. sicherung sind besondere juristische Personen Die Vorläufer der gesetzlichen Krankenver­ des öffentlichen Rechts, und über Streitfälle sicherung waren einmal die Hilfseinrichtungen entscheidet eine (besondere) Verwaltungsge­ der Innungen und Zünfte, die sich mittels ein­ richtsbarkeit. Der weitere Ausbau des sozialen zelstaatlicher Gewerbegesetzgebung gegenüber Ausgleichs - die Leistungen an Familienange­ ihren ursprünglichen Trägereinrichtungen weit­ hörige - war möglich durch entsprechende Kas­ gehend verselbständigt hatten, wie von Un­ sensatzungen, die durch die Selbstverwaltungs­ ternehmern gegründete Fabrikkrankenkassen, organe zu beschließen war'en. 1885 waren 10 Selbsthilfeeinrichtungen der Arbeiter auf ge­ v. H. der Bevölkerung des Deutschen Reichs nossenschaftlicher Basis, die teilweise mit be­ (4,29 Mio.) Mitglieder der gesetzlichen Kran­ rufsgewerkschaftlichen Organisationen ver­ kenversicherung. 1913 hatte diese 13,9 Mio. knüpft waren, und schließlich die gemeind­ Mitglieder, und damit waren rund 25 v. H. der lichen Armenkrankenkassen. Der größte Teil Bevölkerung des Deutschen Reiches kranken­ dieser Einrichtungen war durch das ebenfalls versichert. Mit dieser Mitgliederzahl ist aber von 7heodor Lohmann konzipierte Hilfskas­ der "betroffene" Personenkreis nur unzuläng• sengesetz von 1876 - das erste Reichsgesetz lich erfaßt, man muß die Familienangehörigen auf diesem Sektor - in sog. freie Hilfskassen in doppelter Weise berücksichtigen: umgewandelt worden. Um 1880 waren etwa 5 v. H. der Bevölkerung des Deutschen Reichs 1. im Hinblick auf die Barleistungen: der von in irgendeiner derartigen Kasse versichert oder ihnen ausgehende sozialpolitische Effekt - die wurden von ihr erfaßt. Im Mittelpunkt der Sicherung gegen die ökonomischen Folgen der Sozialgeschichte der Sozialversicherung 387 Krankheit (Lohnausfall) - erstreckte sich auch Hungerzustand (Status familicus). Manche dieser auf die Familienangehörigen. Dieser stand im Fälle erinnern an leichte Formen des Typhus; aber nirgends wurde eine Ansteckung beobachtet." Im Vordergrund des Gesetzes, Hauptausgabe­ Ersten Weltkrieg mit seiner Hungersnot entwickelte gruppe der Krankenkassen sind anfänglich die sich die Mortalität der Gesamtbevölkerung - bei Geldleistungen: Krankengeld (nach einer Ka­ Ausschaltung der Todesfälle durch gewaltsame Ein­ renzzeit von 3 Tagen in Höhe von mindestens wirkung - folgendermaßen (bezogen auf 1000 der 50 v. H. des ausgefallenen Lohnes, nach dem mittleren Bevölkerung): 1913: 14,69; 1914: 15,66; 1915: 15,81; 1916: 14,44; 1917: 16,70; 1918: 19,49; auch die Beiträge bemessen wurden), Sterbe­ 1919: 14,73). Zwischen dem Kaloriengehalt der geld sowie Wöchnerinnenunterstützung. 1913 rationierten Nahrungsmittel und Tuberkulosemor­ wurden auf ein Krankenkassenmitglied 2-3 talität ergab sich ein Korrelationskoeffizient von Familienangehörige gerechnet, demzufolge war fast -1. Dabei ist aber zu bedenken, daß bei der chronisch verlaufenden Tuberkulose es sich primär die durch Krankheit "an sich" auftretende um ein schnelleres Absterben der bereits vorhan­ finanzielle Not für etwa 62,5 v. H. der Reichs­ denen Kranken gehandelt haben dürfte. Die Schä• bevölkerung gemildert. Sofern Familienmit­ den hinsichtlich erhöhter Dispositionen dürften sich glieder erkrankt'en, die nicht in einem Beschäf• bei Tuberkulose erst nach Jahren gezeigt haben ­ tigungsverhältnis standen (also keinen Lohn­ anders als bei der Grippeepidemie

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