Helmut Gollwitzer als Theologe des Dialogs

Andreas Pangritz

Überarbeitete Fassung eines Gedenkvortrags auf dem „Dies academicus“ der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn am 3. Dezember 2008

Helmut Gollwitzer, der von 1950-1957 an der Universität Bonn und dann bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1975 an der Freien Universität Systematische Theologie lehrte, gehörte zu den einflussreichsten evangelischen Theologen des 20. Jahrhunderts – und scheint doch heute weitgehend vergessen zu sein. Am kommenden 29. Dezember wäre Gollwitzer 100 Jahre alt geworden, – Anlass, an die bleibende und in der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise ganz neue Aktualität seines Theologisierens zu erinnern.

In Nachrufen aus Anlass seines Todes im Jahr 1993 wurde Gollwitzer im allgemeinen als ein „streitbarer“ Theologe bezeichnet; diese Charakterisierung, so viel an ihr dran sein mag, verdeckt doch eher den dialogischen Charakter seiner Theologie, die ihn zu einem Brückenbauer in vielerlei Hinsicht werden ließ: zwischen Theologie und Politik, zwischen Christen und Juden, zwischen bekennenden Christen und Marxisten. Sein Genie der Freundschaft bewährte sich nicht zuletzt in Vermittlungsversuchen über die politischen Fronten hinweg zwischen den Regierenden und der aufbegehrenden jungen Generation der sog. „Achtundsechziger“.

Wie kaum ein anderer evangelischer Theologe hat Helmut Gollwitzer sich in den 40 Jahren westdeutscher Bundesrepublik als ein politischer, und das hieß für ihn je länger je mehr, ein sozialistisch engagierter Mensch verstanden. Die frühe Mahnung seines Lehrers , wonach ein Christ auf die „äußerste Linke“ gehöre, wurde für ihn schließlich wegweisend. Um so größer war das Erstaunen der Gebildeten unter den Verächtern der Religion, wenn sie wahrnahmen, auf welch scheinbar konservativem lutherisch-theologischen Fundament sein gesellschaftliches Engagement ruhte. Modische Ketzereien wie die „Theologie nach dem Tode Gottes“ der Sechziger Jahre waren seine Sache nicht. Dass Gott existiert, besser: dass er lebt und dass nicht der Tod des sündigen Menschen, sondern dessen Umkehr zum Leben Gottes Wille sei, war Ausgangspunkt von Gollwitzers „politischer“ Theologie. Für ihn beinhaltete gerade die dogmatische Tradition den schärfsten Widerspruch gegen gesellschaftliche Ungerechtigkeit. Gollwitzer war ein „Reich-Gottes-Theologe“. „Kernbegriff seiner Theologie“ war der „Begriff der Verheißung“ als „Vorgriff der

1 Hoffnung auf die im Evangelium erklärte Wirklichkeit Gottes“ und „Angriff auf jede theologische und kirchliche Trägheit und falsche Beharrlichkeit“. Alle traditionellen Themen der Theologie gerieten bei ihm in den „Horizont der Weltveränderung“. Denn: „Die Hoffnung ist das Thema der Bibel.“ Die „Reich-Gottes-Gemeinde“ sei daher „Vortrupp des Lebens“, der von Gott für „Veränderungen im Diesseits“ verantwortlich gemacht wird (F.-W. Marquardt).

Schüler Karl Barths

Der 1908 geborene Sohn einer bayerischen Pfarrersfamilie war in der Weimarer Zeit nicht zuletzt durch die „Jugendbewegung“ geprägt worden. Seit 1928 studierte er Theologie und Philosophie in München, Erlangen und Jena, seit 1930 mit Unterbrechungen in Bonn, wo Karl Barth sein wichtigster theologischer Lehrer wurde. Aus dieser ersten Bonner Zeit ist u.a. von der Episode zu berichten, als im Juli 1931 der junge Berliner Privatdozent Dietrich Bonhoeffer nach der Rückkehr von seinem Studienjahr in New York für zwei Wochen in Bonn auftauchte, um Karl Barth persönlich kennenzulernen. Auf Gollwitzers Studentenbude traf Bonhoeffer mit dem engsten Kreis der Bonner Barth-Schüler zusammen, von denen er einen eher zwiespältigen Eindruck empfing: „Man hat hier scharfe Witterung für Vollblütler. Da geht kein Neger durch ‚for white’, man inquiriert auch seine Fingernägel und Fußsohlen.“ Andererseits seien es „doch jedenfalls Leute, die sich wirklich interessieren und was verstehen …“

Unter dem Eindruck Karl Barths „rutschte“ dessen Lieblingsschüler Gollwitzer in den Bonner Studienjahren politisch „mehr nach links“; überliefert ist die Anekdote, dass Barth eines Tages „wohlgefällig“ zu seinem bayrischen Studenten sagte: „Herr Gollwitzer, man hat mir erzählt, Sie hätten gestern abend in einer Versammlung die Internationale mitgesungen. Sie machen gewaltige Fortschritte!“ Nach Barths Vertreibung aus Bonn und seiner Rückkehr in die Schweiz promovierte Gollwitzer 1937 bei Barth in Basel mit der bereits in Bonn begonnenen Dissertation Coena Domini (Mahl des Herrn) über die altprotestantische Abendmahlslehre. Nach Martin Niemöllers Verhaftung wurde Gollwitzer 1937 faktisch dessen Nachfolger in der Bekennenden Gemeinde Berlin-Dahlem.

Gollwitzer und die Bonner Republik

Nach seiner Rückkehr aus der russischen Kriegsgefangenschaft am 31. Dezember 1949 wurde Gollwitzer, um den sich noch während seiner Gefangenschaft die Berliner Humboldt-Universität vergeblich bemüht hatte, auf die Professur für

2 Systematische Theologie nach Bonn berufen, nachdem Barth sich nicht mehr aus der Schweiz hatte zurückberufen lassen wollen. Eine besondere Nähe verband ihn in den Bonner Jahren mit zwei ihm bereits aus den Zeiten der Bekennenden Kirche her vertrauten Theologen: Hans-Joachim Iwand und Walter Kreck, beide seit 1951 Kollegen in der Systematischen Theologie.

In Bonn avancierte Gollwitzer zu so etwas wie einem „Hoftheologen“ der Bonner Republik. Er stand in regem Austausch mit dem Bundespräsidenten und schloss Freundschaft mit Gustav Heinemann, der nach Gollwitzers Urteil damals wegen seines Kampfes gegen die von Adenauer und der CDU betriebene Westintegration der Bundesrepublik und die damit verbundene Remilitarisierung „in seiner Kirche ebenso wie bei den Politikern ein verfemter Mann“ geworden war. Auch Gollwitzer warnte Ende Januar 1955 auf der Paulskirchen-Versammlung in Frankfurt a. M. vor der Wiederbewaffnung, da sie „die unaufhaltsame Sowjetisierung von 18 Millionen Deutschen“ im Osten zur Folge haben werde. Gemeinsam mit Heinemann rückte Gollwitzer erneut nach links, indem er sich 1957 gegen den Militärseelsorgevertrag wandte und in einem stark beachteten Vortrag über Die Christen und die Atomwaffen gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr protestierte: Im Zeitalter der Massenvernichtungsmittel könne kein „gerechter Krieg“ mehr geführt werden; so sei schon die Drohung mit atomaren Waffen Unrecht.

Die Freundschaft mit Heinemann hielt auch in Gollwitzers Berliner Jahren an; über viele Jahre verbrachten Heinemanns und Gollwitzers regelmäßig ihren Urlaub in unmittelbarer Nachbarschaft im Hotzenwald, wobei Gollwitzer den inzwischen zum Bundespräsidenten gewählten Freund mit den aufbegehrenden Berliner Studenten und Studentinnen ins Gespräch brachte. Seit den Siebziger Jahren bildeten die drei theologischen Emeriti Heinrich Albertz, der ehemalige Regierende Bürgermeister, Altbischof Kurt Scharf und Gollwitzer eine „Dreierbande“, eine Art demokratisches Gewissen , das die Politik der Bonner Republik kritisch begleitete. Im Mai 1976 hielt Gollwitzer die Begräbinsrede für – auch ein „Kind Gottes“ – auf dem Dreifaltigkeitsfriedhof in Berlin-Mariendorf; im Juli desselben Jahres hatte er seinen Freund Heinemann, der nach dem Tod seiner Frau eine Zeitlang bei Gollwitzers in Dahlem gelebt hatte, in Essen zu begraben.

Ein Bonner Nachspiel war die Friedensdemonstration für Abrüstung und Entspannung in Europa und gegen die von der NATO beschlossene Nachrüstung mit atomaren Mittelstreckenraketen im Bonner Hofgarten am 10. Oktober 1981, auf

3 der Gollwitzer noch einmal eine flammende politische Rede hielt: „Wir rücken ihnen jetzt auf den Leib, hier in Bonn …“

Gollwitzer und der christlich-jüdische Dialog

Eine Woche nach der sog. „Reichskristallnacht“ vom 9. auf den 10. November 1938 bekannte Gollwitzer in seiner Dahlemer Bußtagspredigt voller Scham die christliche Mitverantwortung Schuld am Pogrom und rief zu praktischer Solidarität auf. In der Folgezeit war er an der illegalen Hilfe für bedrohte Judenchristen und Juden beteiligt. Ich kann auf diesen entscheidenden Ausgangspunkt für Gollwitzers späteres Theologisieren in der Nachkriegszeit jetzt nicht näher eingehen, will aber in diesem Zusammenhang auf ein persönliches Moment von Gollwitzers Biographie hinweisen.

Im August 1940 hat Gollwitzer im Haus von Jochen Klepper in Berlin-Nikolassee die Schauspielerin Eva Bildt kennengelernt, mit der er sich im Januar 1941 verlobte. Eva Bildt galt wegen ihrer jüdischen Mutter als „jüdischer Mischling“, weshalb eine Heirat nur mit Sondergenehmigung der NS-Behörden möglich gewesen wäre, – eine Hoffnung, die sich nicht erfüllte. Überliefert ist aus der Zeit von Gollwitzers Kriegseinsätzen – als Sanitäter zunächst in Frankreich, dann an der Ostfront – ein umfangreicher Briefwechsel mit seiner Braut, der jüngst in Auswahl als Buch erschienen ist. Der Versuch der Familie Bildt, in die Schweiz auszuwandern, scheiterte im September 1943 endgültig. Der Schauspielerkollege Gustav Gründgens bot der bedrohten Familie Asyl in seinem Schlösschen in Zeesen südöstlich von Berlin. Doch Eva Bildt wurde zur Zwangsarbeit bei Siemens & Halske in München verpflichtet. Nachdem ihre Mutter im März 1945 an Krebs gestorben war, beging Eva Bildt am 27. April 1945 gemeinsam mit ihrem Vater – einen Tag nach dem Einmarsch der Roten Armee in Zeesen – Selbstmord. Der Vater überlebte, die Tochter wurde neben ihrer Mutter auf dem kommunalen Friedhof von Zeesen begraben. Ein Jahr später erfuhr Gollwitzer mit der ersten Post, die er als russischer Kriegsgefangener aus der Heimat erhielt, vom Tod seiner Braut.

Nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft begegnete Gollwitzer Brigitte Freudenberg (1922-1986) wieder, Dahlemer Gemeindeglied jüdischer Herkunft und ehemalige Konfirmandin Niemöllers. Sie hatte sich mit ihrer Familie noch 1939 vor den Nazi-Verfolgern ins Schweizer Exil retten können und war 1945 nach Deutschland zurückgekehrt. Nach einem Jahr Bedenkzeit, das Gollwitzer sich ausbedungen hatte, heirateten die beiden im März 1951 in Frankfurt; Martin

4 Niemöller hielt die Traupredigt. Ohne die vorwärts drängende „Golla“, wie sie später genannt wurde, wäre aus Gollwitzer kaum der „Golli“ geworden, der sich angesichts der gesellschaftlichen Krisenerfahrungen politisch radikalisierte.

Noch vor Gollwitzers Entlassung aus der russischen Kriegsgefangenschaft war am 14. Mai 1948 der Staat Israel proklamiert worden. Theologisch bedeutsam wurde dieses Ereignis für Gollwitzer spätestens seit der Reise, die er – zusammen mit seiner Frau Brigitte und deren Eltern – im Frühjahr 1958 nach Israel unternahm. Ein Echo dieser Reise stellt die Festrede dar, die Gollwitzer am 10. Mai 1958 im Auditorium maximum der Freien Universität Berlin aus Anlass des zehnjährigen Jubiläums der Staatsgründung Israels hielt, – unter Abspielung der israelischen Nationalhymne. Er pries den Staat Israel – gerade im Gegensatz zur Bundesrepublik – als „das große Exempel eines nicht-restaurativen Gesellschaftsaufbaus“: im „Phänomen der Kibbuzim“ zumal hätten seine „Wandervogelträume von einer neuen Gesellschaft … Gestalt und reale Bedeutung gewonnen“. Er sah aber auch ein „moralisches Moment“ der Bedeutung Israels: „‚Das sind alles Überlebende, Entronnene!’ … Diese alle sollten nach dem erklärten Willen der Führung, der unser Volk jahrelang so begeistert zugejubelt hat, eigentlich nicht mehr leben.“ Und dieser „Mordgeist“ der Deutschen war auf dem Boden der „jahrhundertealten Verachtung der Juden von christlicher Seite“ erwachsen. Im übrigen müsse, „wer sich mit Israel beschäftigt, … nolens volens zum Theologen werden“. Anders könne niemand die Bedeutung erfassen, die darin liegt, „daß nun das auserwählte Volk und das verheißene Land sich wiedergefunden haben“. Und Gollwitzer beschloss seine Festrede mit einem Segensruf über Israel: „So geht dieses Israel uns alle an, und wir haben Anlaß, in Richtung Palästina zu sprechen: Schalom, Schalom, Schalom Israel!“

Zu den Folgen der ersten Israelreise zählte 1961 auf dem Kirchentag in Berlin Gollwitzers Beteiligung an der Gründung der Arbeitsgemeinschaft „Juden und Christen“ beim Deutschen Evangelischen Kirchentag, an der sich von jüdischer Seite u.a. der Rabbiner Robert Raphael Geis beteiligte. Wie revolutionär die in diesem Kreis vorgenommene Neubestimmung des christlich-jüdischen Verhältnisses zumal innerhalb der deutschen protestantischen Tradition war, kam nicht zuletzt auch darin zum Ausdruck, dass schwere Konflikte innerhalb der Arbeitsgemeinschaft nicht ausblieben. Erwähnung finden muss hier vor allem der sog. „Purim-Streit“ um das christliche Verständnis der „Judenmission“, den Gollwitzer im Nachhinein als ein „reinigendes Gewitter“ beschrieben hat.

5 Bezeichnenderweise entzündete sich der Konflikt an einem für Gollwitzer typischen Vermittlungsversuch: dem Versuch, die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft „Juden und Christen“ mit Vertretern der Judenmission ins Gespräch zu bringen. In diesem Zusammenhang hatte sich Gollwitzer zur bleibenden „Verpflichtung“ der Christen „zum Evangeliumszeugnis gegenüber dem Judentum“ bekannt. Geis sah in dieser Formulierung eine Relativierung von Gollwitzers bisheriger Ablehnung der Judenmission, worüber er sich in einer „Purimbetrachtung“ zur „Woche der Brüderlichkeit“ 1964 empörte: „Die Judenmission wird jetzt mit einem Mal von diesem Systematiker der evangelischen Theologie nicht mehr so strikt abgelehnt, sie soll nur nicht ‚von hohem Roß’ erfolgen, Infanterie ist die Buße für das Schweigen der Kirche bei der Ermordung von Millionen Juden. Es könnte einem speiübel werden. Aber es ist ja Purim. Einen Kognak bitte!“ Damit spielte Geis auf den Brauch an, sich am Purimfest zu betrinken, bis man Freund von Feind nicht mehr unterscheiden kann.

Gegenüber Gollwitzers erstaunter Reaktion insistierte Geis: „Einmal hatte die Kirche die Chance des Christusbekenntnisses gegenüber uns Juden: im Dritten Reich. Diese Chance ist nicht wahrgenommen worden, sonst hätten Tausende und Abertausende von Christen für uns und mit uns in den Tod gehen müssen. … Menschliche Scham sollte eine Benutzung des Ausdruckes vom Zeugnischarakter des Christentums gegenüber dem Judentum in dem von Ihnen gebrauchten Sinn verbieten.“ Zwanzig Jahre später räumte Gollwitzer im Rückblick ein, dass er sich im „Purimstreit“ „schuldig gemacht“ habe. Seine Argumentation sei von einer „Blindheit“ geprägt gewesen, „in der sich Herzenshärtigkeit verrät“.

Gollwitzer und der christlich-marxistische Dialog

Am 11. Mai 1945 war Gollwitzer in der Tschechoslowakei in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten, aus der er erst am 31. Dezember 1949 zurückkehrte. Nachdem er zeitweilig aus den Arbeitslagern in ein Sonderlager für kooperationswillige Wehrmachtsangehörige bei Moskau verlegt worden war, begann er mit großem Interesse Theorie und Praxis des Marxismus-Leninismus unter Stalins Herrschaft zu studieren, weigerte sich jedoch, im kommunistisch dominierten „Nationalkomitee Freies Deutschland“ mitzuarbeiten, was verschärftes Arbeitslager in Asbest zur Folge hatte. Über die Zeit seiner Gefangenschaft berichtete Gollwitzer später in dem Buch „… und führen, wohin Du nicht willst“, das zu dem theologischen Bestseller des Jahres 1951 wurde, der selbst Dietrich Bonhoeffers Briefe und

6 Aufzeichnungen aus dem Tegeler Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis (Widerstand und Ergebung) in den Schatten stellte. Gollwitzers Gefangenschaftsbericht wurde vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen in großen Mengen unter die Leute gebracht. In seinem Buch reflektiert Gollwitzer insbesondere die Frage der eigenen Schuld und Verantwortung als Kriegsteilnehmer, so dass ihm die Gefangenschaft als eine gerechte Strafe Gottes erscheint, – eine in der Zeit des Kalten Kriegs höchst provozierende Sicht der Dinge. Sie ist allerdings überlagert von einer kritischen Darstellung des Sowjetmarxismus und des Sowjetsystems als einer totalitären Gesellschaft. Gollwitzer galt von da an als der Marxismusexperte schlechthin innerhalb der evangelischen Kirche.

Nicht zuletzt deshalb wurde er im Jahr 1957 auf die neu eingerichtete Professur für Evangelische Theologie in der Philosophischen Fakultät der 1948 als Symbol des „freien Westens“ gegründeten Freien Universität Berlin berufen. Vergeblich warnte ihn Karl Barth vor einem Wechsel in die „Frontstadt“ des Kalten Krieges: „Vom Rheinland … aus beschwört man mich, ich solle dich beschwören, der Verlockung an die ‚freie’ Universität in Berlin doch ja nicht zu folgen, sondern in Bonn und so in der Mitte jenes ja in der Tat in so vieler Hinsicht wichtigen Bereiches zu bleiben. … Ich kann dir also nur ein wenig aufs Geratewohl wiederholen, was ich dir schon mündlich gesagt: dass ich es aufrichtig bedauern würde, wenn du, was ‚Berlin’ wohl unweigerlich mit sich bringen würde, aus dem Feld der theologischen Forschung (Forschung!) und Lehre ausscheiden und zu einer noch so verheissungsvollen Ausmünzungsarbeit übergehen würdest. … Dass man dich im Rheinland schätzt und liebt, wird man dir dort schon deutlich genug gesagt haben. … Dort und nicht in Berlin scheinen mir heute die Entscheidungen zu fallen. Ja, Berlin: solltest du dich dort und insbesondere im Rahmen jener so ausgesprochen ‚westlichen’ Universität nicht doch in eine Sackgasse begeben, von der aus du nicht mehr so recht glaubwürdig weil unabhängig weiterreden kannst?“ (K. Barth, Brief an Helmut Gollwitzer, Basel, 25. Juni 1956). Es dürfte insbesondere der sehnliche Wunsch von Brigitte Gollwitzer gewesen sein, aus dem Bonner „Treibhaus“ in die Stadt ihrer Jugend zurückkehren zu können, der den Ausschlag für Gollwitzers Entscheidung gab, nach Berlin zu gehen.

Zu seinen theologischen Hauptaufgaben zählte Gollwitzer in der Berliner Zeit das Gespräch mit dem Marxismus, zunächst in Form einer weltanschaulichen Auseinandersetzung mit dem Atheismus; daraus ist das Buch Die marxistische Religionskritik und der christliche Glaube (1962) entstanden. Doch der Akzent in

7 Gollwitzers Auseinandersetzung mit dem Marxismus verschob sich im Lauf der Jahre; er kam zu der Auffassung, Christen müssten Sozialisten sein, bis er schließlich seine eigene Position als die eines „christlichen Kommunisten“ bezeichnete. „Getrieben von der Reich-Gottes-Erwartung“ hat Gollwitzer sich „immer tiefer mit den gesellschaftlichen Mächten beschäftigt, die unsere Entwicklung in eine Unheilsrichtung treiben“ (F.-W. Marquardt). Befeuert wurde seine Radikalisierung nicht zuletzt durch gesellschaftliche Erfahrungen: Hier wäre auf seine kritisch- solidarische Beteiligung an den Protesten der Studentenbewegung der „Achtundsechziger“, insbesondere auch an deren Protest gegen die amerikanische Kriegführung in Vietnam, zu erwähnen, die zur Freundschaft mit und seiner Familie führte, denen Gollwitzers zeitweilig Asyl in ihrer Wohnung boten. Es wäre aber auch seine Beteiligung an internationalen ökumenischen Konferenzen zu erwähnen, auf denen er die schockierende Erfahrung machte, dass ein Delegierter aus Moçambique in dem europäischen Delegierten keinen Bruder in Christus mehr wiedererkennen konnte. Daraus entstand das aufrüttelnde Buch Die reichen Christen und der arme Lazarus (1968).

An die Stelle der ideologischen Auseinandersetzung mit dem Atheismus trat die Rezeption des Marxismus als ein Instrumentarium zur kritischen Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse unter dem Diktat des entfesselten Kapitalismus im Zeitalter der Globalisierung. Im September 1973 legte Gollwitzer unter dem Titel „Der Gang der internationalen Klassenkämpfe heute und die christliche Kirche“ einen „persönlichen Rechenschaftsbericht“ über das Ergebnis seiner analytischen Arbeit vor, der unter dem Titel Die kapitalistische Revolution 1974 veröffentlicht wurde.

Ihren dringlichen Ton erhielten Gollwitzers damalige Ausführungen nicht zuletzt durch den zeitgeschichtlichen Kontext: Am 11. September 1973 hatte – unterstützt vom US-amerikanischen Geheimdienst CIA – das chilenische Militär unter dem General Pinochet gegen die demokratisch gewählte Regierung des marxistischen Präsidenten Salvador Allende geputscht. Auf einer Kundgebung im Haus der Kirche in West-Berlin versuchte Gollwitzer die öffentliche Empörung über diesen barbarischen Akt zu schüren: „Spätestens jetzt kann jeder wissen, was Klassenkampf ist: immer zuerst der Klassenkampf von oben, der Klassenkampf der Privilegierten, zäh entschlossen zu jeder Brutalität, zu jedem Rechtsbruch, zu jedem Massaker, auch zur Abschaffung der Demokratie, wenn sie nicht mehr zur Sicherung der Klassenherrschaft taugt.“

8 Zehn Jahre nach 1968 – zum 30. Gründungsjubiläum der Freien Universität – fragte Gollwitzer skeptisch, ob es sich hier noch um „eine wirklich freie Universität“ handele, in der die Studierenden im demokratischen Entscheidungsprozess ein entscheidendes Wörtchen mitzureden hätten. Noch einmal dreißig Jahre später scheint die heutige Eliteuniversität von Gollwitzer und seiner Theologie nichts mehr wissen zu wollen. Überhaupt schien Gollwitzers Kapitalismuskritik wie seine ganze Theologie mit dem Zusammenbruch der Systems des „real-existierenden Sozialismus“ im Osten vor zwanzig Jahren erledigt zu sein, so dass seine Publikationen nach seinem Tod 1993 vom Markt verschwanden. Dies könnte aber voreilig gewesen sein. Zwar fand die Neuauflage der Schrift über Die kapitalistische Revolution durch einen Tübinger Kleinverlag vor zehn Jahren kaum ein Echo; die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise zeigt jedoch, dass Gollwitzers theologische Kapitalismuskritik und sein Aufruf an die Christen, sich in den katastrophischen Verlauf der Globalisierungsprozesse politisch einzumischen, heute aktueller sein dürfte denn je zuvor.

Fazit

Es ist gewiss kein Zufall, dass Gollwitzers theologisches Hauptwerk Krummes Holz – aufrechter Gang (1970) ein „Achtundsechziger“-Buch geworden ist, von Rudi Dutschke auf die zugespitzte Formel gebracht: „Gekrümmt vor dem Herrn – aufrecht im Klassenkampf“. Der Untertitel „Zur Frage nach dem Sinn des Lebens“ deutet darauf hin, dass es sich bei diesem „im Grunde lutherischen Gnadenbuch“ um ein Werk kritischer Solidarität mit der revolutierenden studierenden Jugend handelte: Die Frage nach dem Sinn gerade auch des individuellen Lebens wird durch den Kampf um eine neue Gesellschaft zwar verändert, aber nicht gelöst. In komprimiertester Form versucht Gollwitzer seine Erwägungen am Ende des Buches in Thesenform zu bringen: „Wir sind nicht allein. Wir sind nie allein. Dieses Leben ist ungeheuer wichtig. Die Welt ist herrlich – die Welt ist schrecklich. Es kann mir nichts geschehen – Ich bin in höchster Gefahr. Es lohnt sich, zu leben.“

9 Hinweise auf Publikationen von und über Gollwitzer

Nicht mehr im Buchhandel erhältlich ist die zehnbändige Ausgabe Ausgewählte Werke, die 1988 aus Anlass von Gollwitzers 80. Geburtstag von Mitarbeitern der FU Berlin veranstaltet worden ist. Auch sein theologisches Hauptwerk Krummes Holz – aufrechter Gang ist allenfalls noch in Antiquariaten erhältlich.

Noch lieferbare Titel von Helmut Gollwitzer:

Die kapitalistische Revolution. 3. Aufl., mit einer Einleitung von Andreas Pangritz, Tübingen: TVT Medienverlag, 1998.

„Ich werde nicht sterben, sondern leben.“ Über Helmut Gollwitzer, hg. v. Andreas Pangritz, Berlin: Orient & Okzident 1998 (eine Sammlung von Gedenkbeiträgen von Kollegen und Mitarbeitern der FU Berlin, die auch ein Radiointerview mit dem alten Gollwitzer über die Frage des Lebens nach dem Tod enthält).

Neuerscheinungen aus Anlass von Gollwitzers 100. Geburtstag:

„Ich will dir schnell sagen, daß ich lebe, Liebster.“ Briefe aus dem Krieg, 1940-1945. Mit einem Nachwort von Antje Vollmer, hg. v. Friedrich Künzel u. Ruth Pabst, München: C. H. Beck, 2008.

Ralph Ludwig, Der Querdenker. Wie Helmut Gollwitzer Christen für den Frieden gewann, Berlin: Wichern, 2008.

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