UNI 2007/01 00 U1-U4 31.03.2007 14:55 Uhr Seite 1

Das Wissenschaftsmagazin Forschung

■ Münze und Geld in der antiken Welt

■ Peter Suhrkamps Erbe ] ■ Globale Verfassungen – jenseits des Nationalstaats

ISSN 0175-0992 ■ Enzyme als Vorbild ][ für Katalysatoren 5 Euro ■ Jeder Fehler zählt – ] [ Lernsystem für Hausärzte 2007 ][ Geisteswissenschaften 25. Jahrgang [ 2007 1.

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Editorial

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

res Landes hängt entschei- Frankfurt« Ihnen einen Ein- dend vom Fortschritt in Wis- druck von der Breite dieses senschaft und Forschung Wissensgebietes an unserer ab. Doch was hilft diese Universität. Die Geisteswis- weithin konsensfähige Ein- senschaften sind Verste- sicht, wenn den öffentlichen hens- und Reflexionswissen- Haushalten seit Jahrzehnten schaften. Sie beschäftigen die Mittel fehlen, um die sich unter anderem intensiv Hochschulen angemessen mit den Unterschieden zwi- auszustatten? Trotz zusätzli- schen Kulturen, was wesent- cher Leistungen von Bund lich zum Verständnis des und Land, die in den ver- Neuen und auch Fremden gangenen Jahren aufge- beiträgt – das ist in unserer bracht wurden, bleibt die globalisierten Welt, in der Finanzdecke zu kurz! Noch Jahrhunderte alte Wertvor- ist es ein weiter Weg, bis stellungen ins Wanken gera- wir zu renommierten ameri- ten, eine lebenswichtige die Idee der Stiftungsuni- kanischen Universitäten und sehr komplexe Aufgabe. versität inspiriert Frankfur- aufschließen können. Dort ter Bürger sowie Wissen- sind die privaten Zuwendun- Diese Herausforderung neh- schaftler heute wie vor hun- gen und Erträge aus dem men unsere Wissenschaftler- dert Jahren; sie fordert uns Stiftungskapital doppelt so innen und Wissenschaftler heraus, eine wirklich tragfä- hoch wie die staatliche Un- an, davon können Sie sich hige Vision für die Universi- terstützung. bei der Lektüre der Beiträge tät der Zukunft zu entwi- überzeugen – beispielsweise ckeln. Dies ist eine Hoch- Wir spüren, dass die Ver- in dem Beitrag des Rechts- schule, die ihre akademi- bundenheit der Bürgerschaft soziologen Gunther Teubner sche Selbstgenügsamkeit und Unternehmen des Rhein- über »Globale Verfassungen als »höhere Bildungsan- Main-Gebiets mit ihrer jenseits der Nationalstaa- stalt« in staatlicher Träger- Universität wieder deutlich ten« oder aber in den Erläu- schaft mental überwindet zunimmt. 25 Stiftungspro- terungen zum beantragten und durch die gewonnene fessuren sind ein ebenso Exzellenzcluster »Herausbil- Autonomie ihre Zukunft markantes Indiz wie die dung normativer Ordnungen«. selbst gestaltet. überwältigende Resonanz auf eine Veranstaltung im Die Frankfurter Geisteswis- Diesen Wandel haben wir Casino des Campus Westend: senschaftler haben in den nun eingeleitet – wir befin- Auf Einladung der Freunde vergangenen Monaten in den uns auf dem besten Weg und Förderer kamen über verschiedenen Initiativen zur Stiftungsuniversität und 1000 Bürgerinnen und Bür- und Forschungsanträgen be- knüpfen damit an unsere ei- ger, um sich des großen wiesen, wie teamfähig und gene Geschichte als erste Frankfurter Mäzens Arthur kreativ sie sind, um ihre deutsche Stiftungsuniversi- von Weinberg und seines Chancen in der Konkurrenz tät wieder an. 1914 gegrün- Schicksals zu erinnern. Sein mit anderen selbstbewusst det und über ein Jahrzehnt Engagement – auch als Mit- zu nutzen. Ein hoffnungs- ausschließlich getragen von begründer der Universität – voller Aufbruch – wir werden Geldern der Frankfurter Bür- kann als vorbildhaft für ak- Sie auch in »Forschung gerschaft, war sie binnen tuelle Aktivitäten gelten, Frankfurt« auf dem Laufen- weniger Jahrzehnte eine das ließen die Redner und den halten! Universität von Weltruf und die große Resonanz des Au- von einer enormen Innova- ditoriums erkennen. In die- tionskraft, die sie für Leh- ser Ausgabe unseres Wissen- rende und Studierende zu schaftsmagazins können Sie Ihr einem überaus attraktiven den beeindruckenden Vor- Ort machte. trag des Rechtshistorikers Professor Michael Stolleis Bildung ist ein teures und nachlesen. wertvolles Gut und eine ent- scheidende Ressource im Vor dem Hintergrund des internationalen Wettbewerb; »Jahres der Geisteswissen- Präsident der Johann die Zukunftsfähigkeit unse- schaften« bietet »Forschung Wolfgang Goethe-Universität

Forschung Frankfurt 1/2007 1 UNI 2007/01 Teil 1 04.04.2007 11:47 Uhr Seite 2

Inhalt

Nachrichten Münze und Geld 10

4 Zwei von sieben Heisenberg- in der antiken Welt Professuren nach Frankfurt Wozu haben Griechen, Römer, Kel- ten und andere Völker Münzen ge- 5 Auf dem Weg nach vorne – prägt, und wie haben sie diese ge- zurück zur Stiftungsuniversität braucht? Wer Einsichten in staat- liches Handeln und ökonomisches 6 Entwicklung neuer Silizium- Denken, aber auch in Kultpraktiken Technologien und gesellschaftliche Vorstellungen gewinnen will, muss die Münzen, 6 Kuratorium des »House of Träger vielfältigster Informationen, heranziehen und ihre Verbreitung und Finance« hat sich konstituiert Verwendung studieren. Aus den zehn Jahrhunderten antiker Münzge- schichte gibt es Millionen an Fundmünzen. An der Universität Frankfurt 7Teilchen-Networker – Förderung forschen Numismatiker, Archäologen, Althistoriker und Mineralogen aus für Schwerionen-Forscher neun verschiedenen Ländern über Münze und Geld in der antiken Welt. Seit rund 50 Jahren wird in Frankfurt ein numismatisch-geldgeschichtlicher 8 Männerstimmen müssen Schwerpunkt gepflegt, der an deutschen Universitäten einzigartig ist. Prof. nicht tief sein Dr. Hans-Markus von Kaenel gibt einen Überblick über die aktuellen For- schungen seiner Arbeitsgruppe und stellt einzelne Projekte kurz vor. 9 Enzym-Hemmer drosselt Vermehrung des Aids-Erregers Annäherung an 20 Forsch Forschung intensiv Peter Suhrkamp beim Stöbern

Archäologie 10 Münze und Geld in der in seinen Korrespondenzen antiken Welt Wie entsteht Literatur nach 1945, und welche Wirkung entfaltet sie in Suhrkamps Erbe 20 Eine Annäherung an der jungen Bundesrepublik? Da- Peter Suhrkamp rüber geben die Quellen aus Peter Suhrkamps Nachlass und aus seinem Verfassungsrecht 30 Globale Verfassungen – jenseits Verlag beredt Auskunft. Sie belegen des Nationalstaats eindrucksvoll, wie Autoren von Brecht bis mit sich und ihrem Pilzforschung 38 Expeditionen ins Pilzreich Panamas Werk ringen, wie der erste Leser im Verlag das Manuskript aufnimmt und welche Schritte bis zum Druck zu- Katalysatorforschung 43 Enzyme als Vorbild für die rückgelegt werden. Doch trotz der Fülle des Materials bleibt zunächst ver- moderne Katalysatorforschung borgen, was die »Gabe« des Verlegers ausmacht. Suhrkamp wirkt im Stillen als Katalysator, er gibt Autoren die intellektuelle Heimat, in der entstehen Forsch Forschung aktuell kann, was zur literarischen Signatur Nachkriegsdeutschlands werden wird. Die Frage nach seinem Erfolgsrezept beantwortet der Literaturwissenschaft- ler Wolfgang Schopf und zitiert aus den Schätzen des »Archivs der Peter 48 Jeder Fehler zählt – Fehlerberichts- Suhrkamp Stiftung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität«. und Lernsystem für Hausarztpraxen 53 Der lichtgesteuerte Fadenwurm – Expeditionen 38 Das Nervensystem von C. elegans ins Pilzreich Panamas 56 Typisch männlich? – Wie Werbe- sprache Stereotype fortschreibt Panama besitzt eine außergewöhnlich hohe Artenvielfalt an Tieren, Pflan- zen und Pilzen. Doch obwohl die Pilze bei weitem am zahlreichsten sind, 59 Auf Umwegen zur Schrift – steckt ihre Erforschung noch in den Kinderschuhen. Die Mykologie ist in Arbeit mit lernschwachen Schülern Deutschland ein seltenes Fach, in Panama ist sie so gut wie gar nicht vertre- ten. Prof. Dr. Meike Piepenbring, die 63 Ahnenforschung unter sozialen seit 15 Jahren die Pilze der südame- Amöben rikanischen Tropen erforscht, will diese Wissenslücke schließen. Im 67 Die Flugschriftensammlung 1848 Rahmen einer Kooperation mit im Netz zwei Universitäten in Panama ent- stand die erste Checkliste der Pilze 71 Warum römische Kaiser ihre Panamas. Viele Arten sind durch Vorgänger in den Himmel lobten Waldrodung und Klimawandel vom Aussterben bedroht.

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Inhalt

Enzyme – Vorbild für die 43 Perspektiven

moderne Katalysatorforschung »Der intellektuelle Dialog lebt 75 Die Natur ist bei der Suche nach neuen Kata- von der Vielsprachigkeit« – lysatoren ein wichtiges Vorbild, denn die ef- Gespräch mit der DFG-Vize- fizientesten Katalysatoren sind Enzyme, präsidentin Luise Schorn-Schütte die aus Millionen Jahren Evolution her- vorgegangen sind. Durch moderne Der etwas andere Blick auf 78 Strukturaufklärungsmethoden lässt dynamische Prozesse bei der sich die Funktion vieler Enzyme erhel- Herausbildung normativer len und im Labor nachahmen. Prof. Dr. Ordnungen Magnus Rueping und Boris Nachtsheim berichten über den »Nachbau« des En- Was ist eigentlich Kultur? 83 zyms Glutamat-Dehydrogenase. Der robuste Neues Forum für kultur- und effiziente Katalysator vereinfacht die industrielle Synthese von Ami- wissenschaftliche Forschung nen – wichtigen Bausteinen für Naturstoffe und Pharmazeutika. Einen ähn- lichen Ansatz verfolgen sie zur Herstellung von Antibiotika. Blick über den Tellerrand – 86 Die Graduiertenschule für translationale Biomedizin FIRST Jeder Fehler zählt – 48 Fehlerberichts- und Lern- StifterStifter und und Sponsoren Sponsoren

system für Hausarztpraxen Ada Yonath und Harry Noller 89 erhalten Paul Ehrlich- und »Anderer Fehler sind gute Lehrer« – dies ist das Motto eines Internet-ba- Ludwig Darmstaedter-Preis 2007 sierten anonymen Fehlerberichtssystems für Hausarztpraxen, das am Insti- tut für Allgemeinmedizin unter der Leitung von Prof. Dr. Ferdinand Gerlach Aids – ein Unfall der viralen 91 entwickelt wurde. Vorbild dieses ersten freiwilligen Berichtsystems ist das Evolution? – Nachwuchspreis Risikomanagement sicherheitsorien- für Michael Schindler tierter Industrien wie der Luftfahrt. Aufgespürt werden damit weniger Geschichte schwerwiegende Fehler, als vielmehr Stadt- und Universitätsgeschichte die häufigeren Beinahefehler. Zu 80 Prozent sind diese auf Prozessfehler Wissenschaftler, Unternehmer, 94 zurückzuführen, die sich durch Ver- Mäzen, NS-Opfer – änderung von Routinen im Praxi- Zur Erinnerung an salltag dauerhaft vermeiden lassen. Arthur von Weinberg (1860 – 1943) Wie Menschen Normen 78 und Wertvorstellungen Gute Bücher mit beeinflussen Die Wüste lesen lernen Die Poesie des Wirklichen – 99 Wie bilden sich normative Ordnun- Neue Publikationen von gen, welchen Prozessen sind sie un- Klaus Reichert terworfen? In dem beantragten Ex- zellenzcluster »Die Herausbildung Ein kritisches Kompendium 100 normativer Ordnungen« richten die zur Gesundheitspolitik Geisteswissenschaftler ihren Fokus nicht so sehr auf die Einflüsse von Recht in den Spannungsfeldern 101 politischen und ökonomischen Sys- der Weltgesellschaft teme, sondern auf die Perspektive der agierenden Personen. Als Ak- »Den umgekehrten Weg Freuds 102 teure haben sie die Erwartung, dass gehen« – Kandel plädiert normative Ordnungen ihnen ge- für Biologie des Geistes genüber gerechtfertigt werden und dass die Rechtfertigungen sie überzeu- gen können. Historische Prozesse sollen ebenso untersucht werden wie die Was ist wirklich drin – 103 gegenwärtigen globalen Konflikte um eine gerechte Weltordnung, wie der Lebensmittelzusätze Rechtshistoriker Prof. Dr. Klaus Günther erläutert. Im Oktober fällt die Ent- scheidung, ob sich die Universität Frankfurt – neben den beiden bereits be- Vorschau/Impressum/ 104 willigten naturwissenschaftlichen Exzellenzclustern – auch mit einem geis- teswissenschaftlichen Cluster profilieren kann. Bildnachweis

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Nachrichten Zwei von sieben Heisenberg-Professuren nach Frankfurt DFG schafft »attraktive Karriereperspektiven« für zwei exzellente Naturwissenschaftler

Stellen bewilligt werden, die ein Die Untersuchung der Kometen- neues, am Standort bisher nicht vor- proben hat zwar gerade erst richtig handenes Wissenschaftsgebiet etab- begonnen, dennoch wartet Brenker lieren, geben sie den Universitäten schon heute gespannt auf die künf- die Möglichkeit, sich strukturell tigen Probenrücktransporte von As- weiterzuentwickeln. teroiden, vom Mond oder vom Brenkers Arbeitsgebiet sind Ster- Mars. Bis dahin steht ihm in gro- ne, Kometen, Asteroiden und das ßem Umfang meteoritisches Mate- Innere von Planeten: Bei der Erfor- rial zur Verfügung, das seinen Weg schung »planetarer und extraterres- aus dem Asteroidengürtel oder von trischer Prozesse auf der Nanoska- anderen Planeten zur Erde selbst la« arbeitet er eng mit der NASA, gefunden hat. Untersucht werden dem Max-Planck-Institut für Che- die kostbaren Proben inzwischen mie in Mainz und dem Naturmu- auch direkt im Institut für Geowis- seum und Forschungsinstitut Sen- senschaften. Erst vor wenigen Ta- ckenberg zusammen. Ihr Potenzial gen trafen weitere Pakete aus Hous- konnten Brenker und seine inter- ton ein. Die Proben des Kometen nationale Arbeitsgruppe für »Nano- Wild 2 werden dort am hauseigenen Geoscience« bereits im vergange- Transmissionselektronenmikroskop nen Jahr unter Beweis stellen, als untersucht. Internationale Arbeitsgruppe »NanoGeoscience« unter der Lei- die NASA sie ins Voruntersuchungs- Der Diplom-Chemiker Piehler tung von Heisenberg-Professor Dr. Frank Brenker (von links team zur Analyse der Proben des und seine Arbeitsgruppe, die er be- nach rechts): Dr. Christian Riekel und Dr. Manfred Burgham- Kometen Wild 2 der STARDUST- reits seit 2001 im Rahmen des Em- mer (European Synchrotron Radiation Facility ESRF, Greno- Mission berief. Die Gruppe arbeitete my-Noether-Programms der DFG ble), Dr. Frank Brenker, Laszlo Vincze (Gent, Belgien) und Dr. Bart Vekemans (Antwerpen, Belgien). Nicht auf dem Bild Syl- damals an der European Synchro- leitet, entwickeln biophysikalische via Schmitz (Frankfurt). ton Radiation Facility (ESRF), »ei- Methoden, um dynamische Inter- ner Art Röntgen-Supermikroskop«, aktionsprozesse zeitlich verfolgen er Geologe Dr. Frank Brenker, so Brenker, »mit dessen Hilfe man zu können. »Dies können wir nur D40, und der Chemiker Dr. Jacob zerstörungsfrei die chemische Zu- in einem interdisziplinären Team Piehler, 39, gehören zu den bundes- sammensetzung und die Struktur leisten«, so Piehler, der seit 2001 weit ersten drei Heisenberg-Profes- von Materie bis in den Nanometer- an der Universität Frankfurt forscht. soren in den Naturwissenschaften. Maßstab hinein exakt bestimmen »Neben hochempfindlichen spek- Die Chance, exzellente Wissen- kann«. (Ein Nanometer entspricht troskopischen Verfahren als Nach- schaftlerinnen und Wissenschaftler einem Millionstel Millimeter.) Ihre weismethode einzelner Moleküle durch die Aussicht auf eine Tenure- Ergebnisse erschienen zum Jahres- gilt es mit den neuen Möglichkeiten Track-Position zu gewinnen, hat die ende 2006 in zwei Übersichtsarti- der Nanobiotechnologie, biochemi- Johann Wolfgang Goethe-Universi- keln zur chemischen Zusammen- sche Prozesse an der Zellmembran tät in besonderem Maße genutzt: setzung des Kometen im Wissen- in vitro nachzustellen und so unter Sie richtete zwei der insgesamt sie- schaftsmagazin Science (Vol. 314). kontrollierten Bedingungen zu un- ben Heisenberg-Professuren ein. Die Heisenberg-Professuren der Heisenberg-Pro- Deutschen Forschungsgemeinschaft fessur für Dr. Jacob (DFG) bieten den Wissenschaftlern Piehler: Der Chemi- nicht nur eine fünf Jahre lang fi- ker und sein Team versuchen mit bio- nanzierte Stelle, sondern auch die physikalischen Me- Aussicht auf eine unbefristete an- thoden, Interaktio- schließende Weiterbeschäftigung. nen von Typ-I-Inter- In dieser ersten Bewilligungsphase feronen mit ihrem hatte die DFG über 33 Anträge zu Rezeptor auf der entscheiden, damit lag die Erfolgs- Oberfläche der Zell- quote nur bei ungefähr 20 Prozent. membran zu ent- schlüsseln. Die DFG möchte Wissenschaftlern mit dem Programm eine »attraktive Karriereperspektive im deutschen Wissenschaftssystem eröffnen«. Da Heisenberg-Professuren nur für

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Nachrichten

tersuchen.« Die Gruppe um den Die Interferone, die gegen das He- komplexen molekularen Mechanis- Heisenberg-Professor will die Inter- patitis-C-Virus (HCV), aber auch men aufklären können, die für die aktionen von Typ-I-Interferonen gegen verschiedene Tumore und Signalvermittlung durch die Plas- mit ihrem Rezeptor auf der Oberflä- Multiple Sklerose eingesetzt wer- mamembran der Zelle verantwort- che der Zellmembran entschlüsseln den, spielen eine wichtige Rolle in lich sind, dann schaffen wir damit und die Frage klären, warum ver- der Immunabwehr und können eine wichtige Grundlage, um maß- schiedene Interferone unterschied- durch die Bindung an den Rezeptor geschneiderte Wirkungen von In- liche Wirkung zeigen, obwohl alle gesunder Zellen diese vor Virenbe- terferonen zu erzielen«, prognosti- an den gleichen Rezeptor binden. fall beschützen. »Wenn wir die ziert Piehler. ◆ Auf dem Weg nach vorne – zurück zur Stiftungsuniversität Senat stimmte zu – Jetzt startet das Gesetzgebungsverfahren

ie Universität Frankfurt will ih- serung von Hochschulen nur zu er- Steinberg bezeichnete die beab- Dre Position als eine der führen- zielen ist durch ein Loslassen des sichtigten Veränderungen an der den Forschungsuniversitäten in Staates. Dies bedeutet ein Umden- Universität Frankfurt als die größte Deutschland ausbauen und festi- ken auf beiden Seiten.« Reform der letzten 50 Jahre. Die gen. Um dieses ehrgeizige Ziel zu Die Universität und das Land neue Universität werde ein Maß an erreichen, strebt sie einen Neuan- setzen mit dem ambitionierten Aus- Autonomie erhalten, von dem an- fang als »Stiftungsuniversität des bau der drei Campi klare Signale: dere Hochschulen in Deutschland öffentlichen Rechts« an, der mit Insgesamt fließt eine Milliarde Euro noch träumten. Die Wahl der deutlich größeren Spielräumen der in die Verbesserung der baulichen Rechtsform »Stiftung öffentlichen Gestaltung und Autonomie verbun- Infrastruktur. Auch die jüngst im Rechts« signalisiere der Bürger- den ist, aber auch eine intensivere Rahmen der beiden Runden der schaft das Angebot, sich wie bei der Zusammenarbeit mit Stiftern eröff- Exzellenzinitiative errungenen Er- Gründung der Universität vor 93 nen wird. Die Johann Wolfgang folge zeigen das Potenzial der Uni- Jahren an der Hochschule zu enga- Goethe-Universität wird diesen versität. »Doch solche Erfolge kön- gieren. So könne die Universität in Weg der Veränderung weiterhin als nen nicht über ein prinzipiell vor- einzigartiger Weise an ihre Grün- Volluniversität mit breitem Fächer- handenes, strukturelles Problem dung als Bürger- und Stiftungsuni- spektrum gehen; dies machte der hinwegtäuschen: Zur weiteren Stei- versität anknüpfen. ◆ Senat in seinem mit großer Mehr- gerung der Leistungen in For- heit gefassten Beschluss zur Stif- schung, Lehre und Weiterbildung tungsuniversität am 14. Februar ist die jetzige Struktur als ›Körper- deutlich. schaft des öffentlichen Rechts und Damit ist der Weg frei, ein Ge- staatliche Einrichtung‹ nicht opti- setzgebungsverfahren einzuleiten, mal«, so Steinberg. »Die Universität das die Umwandlung der staatli- benötigt einen modernen Rahmen, chen Hochschule zur Stiftungsuni- in dem sie sich entfalten und flexib- versität zum Ziel hat. Geht es nach ler als bisher agieren kann. Inter- den Wünschen der Senatoren und nationale Vorbilder im Hochschul- des Präsidiums der Universität, soll bereich wie Berkeley oder Michigan die Universität bereits zum 1. Janu- zeigen: Um wirklich signifikante ar 2008 neu aufgestellt sein. Die Verbesserungen zu erzielen, muss Entscheidung über das Gesetz liegt die Universität Frankfurt in Zukunft bei den Abgeordneten des Hessi- über wichtige Punkte ihrer künfti- schen Landtags. Ausdrücklich gen Entwicklung selbst entscheiden dankte Universitätspräsident Prof. können und dafür mehr Autono- Dr. Rudolf Steinberg der hessischen mie erhalten. Gleichzeitig muss sie Landesregierung und dem Landtag die Möglichkeit besitzen, sich in für die Bereitschaft, diesen Weg des höherem Maße als bisher privaten Gesetzgebungsverfahrens mitzuge- Geldgebern und Stiftungen zu öff- hen: »Die Politik in Hessen hat ver- nen. Als die dafür geeignetste Form standen, dass eine Qualitätsverbes- erscheint die Stiftungsuniversität.«

Der Vertrag zur Gründung der Frankfurter Stiftungsuniversität von 1914: Das Schmuckblatt, das Otto Linnemann von der Städelschule gestaltete, stellt Athene als Göttin der Wissenschaft zentral ins Bild. Der Bürgersinn der Frankfurter, der die Gründung der Universität erst ermöglichte, dokumentiert sich auch in diesem Bild: Die im Hintergrund dargestellte Leonhardskirche war die erste bürgerliche Kirche in der Geschichte der Stadt, den Domturm finanzierte überwiegend die Bürgerschaft.

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Nachrichten Entwicklung neuer Silizium-Technologien City Solar AG stiftet Chemie-Professur

ie erfolgreiche Zusammenar- gute Zusammenarbeit heraus. Der Das Kerngeschäft der City Solar Dbeit zwischen dem Solarener- zukünftige Inhaber der Stiftungspro- AG sind die Projektierung und der gieunternehmen City Solar AG, fessur soll sich Fragen der grundle- Bau von Photovoltaik-Großkraft- Bad Kreuznach, und Prof. Dr. Nor- genden Materialforschung widmen. werken. Aktuell errichtet das Un- bert Auner vom Institut für Anor- Den ersten Kontakt zwischen ternehmen in der spanischen Pro- ganische und Analytische Chemie dem Universitätsinstitut und City vinz Alicante den weltgrößten So- (IAAC) führte Ende 2006 zur Un- Solar stellte vor zwei Jahren der larpark. Bis Spätsommer 2007 terzeichnung eines Vertrags, der die ehemalige Vizepräsident Prof. Dr. werden dort auf einer Fläche von Einrichtung einer neuen Stiftungs- Jürgen Bereiter-Hahn her. Seitdem 500 000 Quadratmetern 200 Einzel- professur über ein Gesamtvolumen arbeiteten City Solar und Auner ge- anlagen à 100 Kilowattpeak Nenn- von 4,5 Millionen Euro ermöglicht. meinsam an einem weltweit neuen leistung installiert – und Solarstrom Parallel zu laufenden Kooperations- Verfahren zur Erzeugung von hoch- für mehr als 12 000 Haushalte lie- projekten mit verschiedenen Ar- reinem Silizium, das inzwischen pa- fern. Parallel investiert City Solar in beitsgruppen am IAAC unterstützt tentiert ist. Das neue Verfahren ver- die Forschung und bearbeitet mit City Solar mit dieser großzügigen braucht erheblich weniger elektri- Partnern ein breites Spektrum von Stiftung die Forschungsaktivitäten sche Energie als die üblichen Entwicklungsthemen. Die Palette des Instituts zunächst über einen Produktionsprozesse und steht ge- reicht von solarthermischen und Prof. Dr. Norbert Zeitraum von zehn Jahren. »Mit genwärtig vor der Übertragung in konzentrierenden photovoltaischen Auner erhielt eine dieser Stiftungsprofessur möchten die industrielle Nutzung. Nach Au- Kraftwerkskomponenten bis hin zu Stiftungsprofessur wir der Universität auch etwas zu- ners Einschätzung hat es das Poten- Anwendungen wie der siliziumba- der City Solar AG. rückgeben«, stellte der Generalbe- zial, »den internationalen Silizium- sierenden Wasserstofferzeugung vollmächtigte Steffen Kammler die markt zu revolutionieren«. und -speicherung. ◆ Offenes Forum für Kooperation von Wissenschaft und Praxis Kuratorium des »House of Finance« hat sich konstituiert

em Kuratorium des »House of nationale Bedeutung des Finanz- DFinance« (HoF), das sich im platzes Frankfurt gestärkt wird, und Februar konstituiert hat, gehören zwar in volksnaher Weise, damit führende Persönlichkeiten aus Poli- der Informationsstand und die Auf- tik, Finanzwirtschaft und Hoch- geschlossenheit der Bevölkerung schule an, darunter alle Kuratori- erhöht werden«, so Bundesfinanz- umsvorsitzenden der in das HoF in- minister Steinbrück. Er wünschte tegrierten Institutionen. In den sich zudem eine große Praxisnähe kommenden Jahren soll das Kura- der HoF-Forschung, beispielsweise torium die Entwicklung des inter- in Form der Entwicklung noch pra- disziplinären Forschungszentrums fördern und begleiten; zu seinem Vorsitzenden wurde einstimmig Prof. Dr. Otmar Issing gewählt, Prä- Der Vorsitzende des neu konstituierten sident des Center for Financial Stu- Kuratoriums: Prof. Dr. Otmar Issing, bis dies an der Universität Frankfurt. Mai 2006 Chefvolkswirt und ehemaliges »Für die Universität und den Fi- Direktoriumsmitglied der Europäischen Zentralbank. nanzplatz Frankfurt ist diese Kon- stituierung ein bedeutender Mei- lenstein auf dem Weg zum ›House die Bündelung von interdisziplinä- of Finance‹«, freute sich Universi- rer Forschung und Lehre wissen- tätspräsident Prof. Dr. Rudolf Stein- schaftliche Synergiepotenziale aus- berg bei der Begrüßung der Gäste, schöpfen und neue Initiativen und darunter Bundesfinanzminister Programme erarbeiten. Zugleich Peer Steinbrück, Bundesbankpräsi- soll es zum offenen Forum der Be- dent Axel Weber und der hessische gegnung und Kooperation von Wis- »Synergieeffekte durch Kompetenz-Bün- Ministerpräsident Roland Koch. senschaft und Praxis werden. »Da- delung« – eines der Ziele, die Prof. Dr. Im Bereich der Finanzwirtschaft bei ist es überaus wichtig, dass auch Paul Bernd Spahn als Direktor des soll das »House of Finance« durch die Kommunikation über die inter- »House of Finance« verfolgt.

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Nachrichten

xisnäherer akademischer Modelle Knotenpunkt im internationalen Themen bearbeiten. Sie gehören re- für die Politikberatung. Der Hessi- Netzwerk finanzbezogener Spitzen- nommierten Professuren und Ab- sche Ministerpräsident Koch wür- forschung zu machen«, bestätigte teilungen der Universität ebenso an digte das »House of Finance« als Universitätspräsident Steinberg den wie der Universität nahe stehenden Leuchtturmprojekt mit großen Vor- hohen Selbstanspruch der Instituti- Forschungsinstitutionen, vom Insti- teilen für Land, Stadt und Universi- on. Zudem soll durch die Aktivitä- tute for Law and Finance bis zum tät. Er sagte der Universität die ten des HoF die besondere, 2004 Center for Financial Studies. »An größtmögliche Unterstützung des auch vom Wissenschaftsrat attes- keiner anderen deutschsprachigen Landes zu: »Angesichts der Tatsa- tierte Forschungsstärke der Univer- Universität findet sich eine ver- che, dass in Frankfurt gerade die sität Frankfurt in den Bereichen Fi- gleichbare Konzentration an geld- modernste Universität Deutsch- nanzwirtschaft, Geld und Währung und finanzbezogener Forschung«, lands entsteht, ist Durchschnittlich- sowie Recht der Unternehmen und erläuterte HoF-Direktor Prof. Dr. keit bei einem solch innovativen Finanzen noch nachhaltiger be- Paul Bernd Spahn. Vom HoF ver- Vorhaben weder angebracht noch kannt gemacht werden. spricht er sich einen Treffpunkt in- erwünscht.« »Die Einheiten des Insgesamt sollen im »House of ternationaler Experten sowie den HoF haben sich zum Ziel gesetzt, Finance«, das zurzeit auf dem Cam- Ausbau von Netzwerken und die das ›House of Finance‹ zu einem pus Westend errichtet und im Früh- Schaffung von Synergieeffekten der führenden europäischen Zen- sommer 2008 bezogen werden soll, durch Kompetenz-Bündelung. Die tren im Bereich der Finanzwirt- etwa 130 Wissenschaftler in welt- Lehre soll zum Teil nach amerikani- schaft und zu einem wichtigen weiter Vernetzung finanzbezogene schem Muster organisiert werden.◆ Teilchen-Networker Frankfurter Schwerionen-Forscher punkten mit ALICE

ie Frankfurter Schwerionen- DPhysiker um Prof. Dr. Harald Appelshäuser und Juniorprofessor Dr. Christoph Blume sind aus der ersten Wettbewerbsrunde zur Aus- wahl der BMBF-Forschungsschwer- punkte (BMBF-FSP) erfolgreich her- vorgegangen. Ziel dieser Forschungs- schwerpunkte ist es, die besten Forscher in überregionalen Netzwer- ken zusammenzuschließen, um die optimale Nutzung von Großgeräten der naturwissenschaftlichen Grund- lagenforschung zu ermöglichen. Hierbei arbeiten Hochschulen, Max- Planck-Institute und Helmholtz- Zentren eng zusammen. Alle drei Sieger der ersten Wettbewerbsrunde sind Netzwerke deutscher Forscher- gruppen, die an den drei Experi- menten ALICE, ATLAS und CMS zusammengearbeitet haben. Diese Experimente werden derzeit am weltgrößten Teilchenbeschleuniger, dem Large Hadron Collider (LHC), im CERN bei Genf aufgebaut. Appelshäuser und sein Team sind am Experiment ALICE (A Lar- Bis zum letzten Moment wird an der Time Projection Chamber des ALICE-Experiments gearbeitet. Der De- ge Ion Collider Experiment) betei- tektor gehört zu den Kernstücken des Experiments, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung ligt und bilden nun gemeinsam mit (BMBF) als überregionaler Forschungsschwerpunkt gefördert wird. Forschern der Universitäten Darm- stadt, Heidelberg und Münster so- wurde, soll der Zustand der Materie ten noch keine Atome oder auch wie dem Helmholtz-Zentrum GSI am Anfang der kosmischen Ent- nur Atomkerne existieren. Viel- (Gesellschaft für Schwerionen-For- wicklung, etwa eine Mikrosekunde mehr handelte es sich um eine schung) in Darmstadt den neuen nach dem Urknall, erforscht wer- »heiße Suppe« (Plasma) aus Quarks BMBF-FSP 201. Bei ALICE, einem den. Bei den extrem hohen Tempe- und Gluonen, den kleinsten heute der größten Experimente, das je raturen, die in der Geburtsstunde bekannten Materiebausteinen. Um von der Menschheit aufgebaut des Universums herrschten, konn- mehr über die Prozesse bei der Ent-

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Nachrichten

Computersimula- vorherzusagen. Das liegt an der tionen helfen Teil- komplizierten Dynamik zwischen chenphysikern, Quarks und Gluonen gerade in je- geeignete Detekto- nem Energiebereich, der für die Er- ren für die tausen- de von neuen Teil- zeugung eines Quark-Gluon-Plas- chen zu planen, mas relevant ist. Die geplanten Ex- die bei der Kollisi- perimente sollen somit also zum on von Atomker- tieferen Verständnis der fundamen- nen im Beschleu- talen Naturkräfte beitragen. niger entstehen. Bis 2009 werden die BMBF-For- schungsschwerpunkte mit mehr als 32 Millionen Euro gefördert. Dabei entfallen auf das ALICE-Experiment stehung unseres Universums zu ler- Plasmas erforschen. Denn rein etwa 7,5 Millionen Euro, von de- nen, wird das Experiment ALICE rechnerisch ist das Verhalten des nen rund 1,5 Millionen Euro nach die Eigenschaften des Quark-Gluon- Quark-Gluon-Plasmas nur schwer Frankfurt gehen. ◆ Männerstimmen müssen nicht tief sein! Phonetische Studie zeigt, was in weiblichen Ohren attraktiv klingt

ännerstimmen müssen nicht klingen lassen«, fasst Vivien Zuta derweise beschrieben die Proban- Munbedingt tief sein, damit die Ergebnisse ihrer Studie zusam- dinnen das evozierte optische Bild Frauen sie als attraktiv empfinden. men. So darf die Sprechmelodie sehr ähnlich dem tatsächlichen In ihrer Magister-Arbeit am Institut nicht zu sehr von der Grundfre- Aussehen des Sprechers. So vermu- für Phonetik zeigte Vivien Zuta, quenz abweichen. Eine ebenso teten 70 Prozent der insgesamt Be- dass unterschiedliche Stimm-Eigen- wichtige Rolle spielen die Artikula- fragten, der Sprecher habe grüne schaften von einer Hörerin als tionsgeschwindigkeit, die Sprechge- Augen (was auch stimmte!), ob- angenehm empfunden werden. Zu- schwindigkeit und auch das Pau- wohl die Minderheit der Erdbevöl- sätzlich zu der Grundfrequenz sen- und Hesitationsverhalten, also kerung grüne Augen hat. Auch der (durchschnittlich um die 120 Hertz) die Häufigkeit, mit der die Rede Kleidungsstil, Größe und Bildungs- spielt die Sprechmelodie des Man- durch Laute wie »äh« und »ehm« grad stimmten weitgehend überein. nes eine entscheidende Rolle. Ein unterbrochen wird. Alle diese Ei- »Allerdings bedeutet das keines- Anstieg lässt den Sprecher attrakti- genschaften und noch einige mehr wegs, dass man generell von der ver erscheinen, während nasalier- sind ausschlaggebend für die At- Stimme auf die Augenfarbe oder te Laute als unangenehm empfun- traktivität einer Stimme, wie Zuta den Kleidungsstil schließen kann«, den werden. Allerdings gilt dies messtechnisch nachweisen konnte. betont Zuta, deren Forschungser- gebnisse ein großes Medieninteres- Eine attraktive Stimme se hervorriefen. hat Detlef Bierstedt, Ein Sprecher hingegen, der an- der deutsche Synchron- sonsten optisch stets als attraktiv sprecher von George bewertet wurde, erhielt für den rein Clooney. Rein vom Hör- akustischen Eindruck die Bewer- Eindruck her schreiben Frauen ihm ein attrakti- tung »weniger attraktiv«. Die Pro- ves Äußeres zu, wie er bandinnen vermuteten, er sei klein in der Sendung »Stern und habe wenig Haar, kleide sich TV« Günther Jauch und schmuddelig und habe deutliches der Frankfurter Phone- Übergewicht. Er entsprach also, den tikerin Vivien Zuta er- Befragungen nach, in keiner Weise zählte. dem gängigen Schönheitsideal. Demnach kann eine als attraktiv nur für deutsche Hörerinnen. Ihre Wie wichtig der stimmliche Ein- empfundene Stimme den Gesamt- französischen Geschlechtsgenossin- druck ist, zeigt ein weiterer Befund eindruck eines Menschen zum Posi- nen etwa stoßen sich nicht an den der Untersuchung. Zuta bat die Pro- tiven hin verändern. in ihrer Sprache üblichen nasalen bandinnen zunächst, einen Spre- Bleibt zu fragen, ob ein Mann Lauten. Die unterschiedliche Zu- cher nach dem Klang seiner Stim- mittleren Alters sein angewöhntes sammensetzung der Sprachen der me zu bewerten. Anschließend soll- Sprechverhalten noch derart umstel- Welt, ihre Melodieverläufe und ten sie Vermutungen über sein len könnte, dass ihm eine Bewer- Laute haben einen erheblichen Äußeres anstellen. Der Sprecher tung als attraktiver Sprecher sicher Einfluss auf die Bewertung eines mit der höchsten Stimme (134 Hz) wäre. Dies scheint zwar grundsätz- Sprechers. wurde von über 80 Prozent als lich möglich zu sein, müsste aber »Es gibt klar definierbare Eigen- stimmlich eindeutig attraktiv bewer- durch weitere Versuche ermittelt schaften, die eine Stimme attraktiv tet. Gleichzeitig und überraschen- werden. ◆

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Nachrichten Hoffnung bei fortgeschrittener HIV-Infektion Enzym-Hemmer drosselt Vermehrung des Aids-Erregers

ür Patienten, die bereits antire- vorbehandelten Patienten nicht Prof. Dr. Schlomo Ftroviral behandelt wurden, gab durch eine bestehende virale Resis- Staszewski ist an es bisher bei fortschreitender HIV- tenz beeinträchtigt. Der Integrase- zwei internationa- Infektion nur noch wenige Thera- Hemmer bereichert somit das the- len klinischen Stu- dien beteiligt, die pie-Optionen. Eine neue Substanz- rapeutische Arsenal bei der Therapie einen viel verspre- klasse, die in zwei multizentrischen, von Patienten, die mit den her- chenden Enzym- internationalen Phase-II-Studien – kömmlichen Medikamenten nicht hemmer testen. unter anderem auch am HIV-Cen- mehr ausreichend behandelt wer- ter des Frankfurter Universitätskli- den können. nikums – getestet wird, gibt neue Aber auch bei Patienten ohne Hoffnung. Der Integrase-Hemmer Vorbehandlung ist der Integrase-In- MK-0518 senkt die Viruskonzentra- hibitor bemerkenswert wirksam tion im Blut der Patienten innerhalb und verträglich. »Besonders beein- weniger Wochen unter die Nach- druckend ist, wie schnell MK-0518 weisgrenze, wie Prof. Dr. Schlomo die Virusmenge unter die Nachweis- Staszewski unlängst beim interna- grenze von 50 HIV-RNA-Kopien pro tionalen HIV-Kongress in Glasgow Milliliter Blut senkt«, sagt Staszews- berichtete. ki. Bei zwei Drittel der Patienten Die Hersteller von MK-0518, die Der Integrase-Hemmer verhin- konnte das HI-Virus bereits nach vier amerikanische Merck & Co. (in dert, dass die in DNA umgeschriebe- Wochen nicht mehr nachgewiesen Deutschland MSD), kündigten ein ne Erbsubstanz des HI-Virus in das werden. Das oral verabreichte Me- »Expanded Access Program« (EAP) Genom der Wirtszelle eingebaut dikament erwies sich in allen bisher für den Integrase-Hemmer an. Da- wird, so dass diese auch nach er- geprüften Dosierungen als gut ver- mit soll diese viel versprechende folgter Infektion das Virus nicht träglich. Im Unterschied zu den be- Substanz Patienten mit einge- mehr reproduzieren kann. Da es kannten Standardtherapien verän- schränkten Behandlungs-Optionen sich um eine neue Substanzklasse derten sich die Lipidwerte während vor der Zulassung verfügbar ge- handelt, wird die Wirksamkeit bei der 24-wöchigen Einnahme nicht. macht werden. ◆

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Forschung intensiv Münze und Geld in der antiken Welt Was Fundstücke aus zehn Jahrhunderten preisgeben

von Hans-Markus von Kaenel

Aus den zehn Jahrhunderten anti- ker Münzgeschichte gibt es Mil- lionen an Fundmünzen. Jedes Jahr kommen zahllose Neufunde hinzu. Wozu haben Griechen, Römer, Kelten und andere Völker Münzen geprägt, und wie haben sie diese gebraucht? Wer Einsichten in staatliches Handeln, gesellschaft- liche Vorstellungen und Verhal- tensweisen, ökonomisches Denken sowie Kultpraktiken gewinnen will, kommt am Studium von Mün- zen (Numismatik) und ihres Ge- brauchs als Geld (Geldgeschichte) nicht vorbei. An der Universität Frankfurt forschen Numismatiker, Archäologen, Althistoriker und Mi- neralogen aus neun verschiedenen Ländern über Münze und Geld in der antiken Welt.

Ein Münzschatz: Der 1855 in Muttenz bei Basel gefundene Münzhort umfasst weit über 5000 schlechte Prägungen aus dem späten 3. Jahrhundert n. Chr.

ls um 600 v. Chr. im Reich der lydischen Köni- ge, zu deren Territorium auch eine Reihe be- Adeutender griechischer Städte an der Westküste der heutigen Türkei gehörte, die ersten Münzen geprägt wurden, kannte man Geld in seinen unterschiedlichen Funktionen schon seit Jahrtausenden. Verschiedenste Güter, darunter auch Metall in Form von Barren oder Brocken, dienten als Tausch-, Zahlungs- und Hortungs- mittel. Die ältesten Münzen waren kleine, mit einem ■1 Eine der ältesten Münzen der Welt aus Elektron, geprägt Bild versehene Metallklümpchen aus Elektron, einer im Königreich Lydien in den ersten Jahrzehnten des 6. Jahr- Legierung aus Gold und Silber■1 . Die Münze, eine ent- hunderts v. Chr. Vorderseite: Löwenkopf (der Löwe ist das Tier wicklungsgeschichtlich späte Form von Geld, erwies des Königs); Rückseite: Zwei quadratische Stempelabdrücke. sich als praktisch, und ihr Gebrauch verbreitete sich im 6. Jahrhundert v. Chr. im Reich des persischen Großkö- Die frühen Münzen aus Elektron, Gold und Silber nigs und in der griechischen Welt. Schon die ältesten waren wertvoll und die Art ihrer Verwendung lässt da- Münzen wurden in einem bestimmten Metall und Fein- rauf schließen, dass sich Material- und Nominalwert gehalt nach einem Gewichtssystem in aufeinander be- entsprachen und die Münze zugleich eine Ware dar- zogenen Einheiten geprägt. stellte■2 . Bei der Kleinteiligkeit der griechischen Welt in

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Archäologie

der archaischen und klassischen Zeit war der Umkreis, in dem das Münzgeld einer Polis oder eines Herrschers akzeptiert wurde, in der Regel begrenzt. Einzelne Städte oder Herrscher erließen Gesetze, nach denen innerhalb ihres Territoriums nur mit eigenen Münzen bezahlt werden durfte. Daneben gab es Münzen wie diejenigen von Athen oder Korinth, die sich zu internationalen Währungen entwickelten. Politische Macht und der Besitz von Münzmetall

Eine sehr große Zahl an Gemeinwesen und Herrschern – nie Privatpersonen – haben in der griechisch-römi- schen Welt Münzen in Gold, Silber, Elektron, Bronze, Messing, Kupfer und weiteren Legierungen geprägt. Heute wachen Institutionen darüber, dass genügend Münz- und Papiergeld zur Verfügung steht; wir werden mit Münzen und Geldscheinen versorgt. Davon war die Antike weit entfernt. Wer Münzen prägte, tat dies, um zunächst und vor allem seine eigenen Verpflichtungen gegenüber Dritten einzulösen. Dafür zwei Beispiele: Als sich im Jahre 482 v. Chr. in der Staatskasse Athens eine große Geldsumme aus den Erträgen der im Besitz der ■2 Münzen als Ware: Kleiner Silberbarren, Silberblechstreifen Polis stehenden Silberminen im Gebiet von Laureion sowie ganze und zerhackte Münzen von Athen, Sinope und (Attika) angesammelt hatte, wurde vorgeschlagen, die- Segesta mit Prüfeinhieben. Ausschnitt aus einem um 420 v. ses Silber zu verteilen und jedem Bürger zehn Drach- Chr. verborgenen Silberhortfund vom Schwarzen Meer. men auszubezahlen. Der Athener Staatsmann Themis- tokles soll die Bürger jedoch überzeugt haben, auf die und Fohlen bezeichnet. In einer Zeit, die noch keine Verteilung dieser Gelder zu verzichten und damit Schif- Massenkommunikationsmittel kannte, erfüllten Mün- fe bauen zu lassen – eine Maßnahme, die in der siegrei- zen nicht nur Geldfunktionen: Vielmehr wurde die chen Auseinandersetzung der Griechen mit den Persern Münze durch Bild und Schrift sichtbarer Ausdruck von im Jahre 480 v. Chr. eine wichtige Rolle spielen sollte. Selbstverständnis und Souveränitätsanspruch der Präge- Der Unterhalt von Söldnerheeren im Hellenismus oder einer großen Berufsarmee in der römischen Kaiserzeit band dauerhaft große Geldsummen. Die Herrscher der Antike ließen für Soldzahlungen und Geldgeschenke an die Soldaten Massen an werthaltigen Gold- und Silber- münzen prägen. In Gold und Silber konnten am ein- fachsten große Geldmengen bewegt und die entspre- chenden Verpflichtungen eingelöst werden. Politische Macht und Besitz von Münzmetall waren oft miteinander verknüpft. So wären der Aufstieg Athens zur Hegemonialmacht in der griechischen Welt und die Entwicklung der Athener Währung mit ihren berühmten Eulen-Tetradrachmen (17,2 g Silber)■3 zur Leitwährung in weiten Teilen des Mittelmeerraumes im Verlaufe des 5. Jahrhunderts v. Chr. ohne die Erträge ■3 »Eulen nach Athen tragen …«. Vierdrachmenstück im Ge- aus den Silberminen von Laureion kaum möglich ge- wicht von rund 17 g Silber, geprägt um 430 v. Chr. in Athen. wesen. Die reichen Gold- und Silbervorkommen in Vorderseite: Kopf der Athena mit geschmücktem Helm (Oli- Nordgriechenland bildeten nach der Mitte des 4. Jahr- venblätter, Blütenranke); Rückseite: Eule, Olivenzweig und hunderts v. Chr. die Grundlage für die Ausrüstung und Mondsichel. Die drei griechischen Buchstaben sind in »Münze den Unterhalt der makedonischen Heere unter Phi- der Athener« zu ergänzen. Das Tier der Göttin Athena verkör- lipp II. und Alexander dem Großen. Folgerichtig nah- perte schon in der Antike die Klugheit und ist zu einem Sinn- bild für die Wissenschaften geworden. men später die römischen Kaiser wichtige Minengebie- te, darunter solche im westlichen Teil der iberischen Halbinsel, in ihren Besitz, um über das dort gewonnene herrschaft und damit zum Träger von Botschaften. So Gold, Silber, Blei und Kupfer zu verfügen. waren es beispielsweise die Millionen und Abermillio- Auf Vorder- und Rückseite tragen antike Münzen nen von Münzen, welche über Jahrhunderte Bildnis Bild und Schrift, die sie als Erzeugnisse derjenigen Ge- und Namen der römischen Kaiser■4 und ihrer Angehö- meinwesen oder Herrscher auswiesen, die ihre Prägung rigen im riesigen Römischen Reich verbreiteten, ver- veranlasst hatten. Nach den charakteristischen Münzbil- bunden mit bestimmten, über die Rückseitenbilder for- dern wurden schon in den zeitgenössischen Schriftquel- mulierten aktuellen Aussagen■5 . len bekannte Währungen wie etwa diejenigen von Münze und Geldgebrauch in der Antike lassen sich Ägina, Athen oder Korinth als Schildkröten, Eulen ■3 unter vielfältigen Aspekten erforschen. Die entscheiden-

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Forschung intensiv

gen, die in den letzten Jahrzehnten die Erforschung der Bildsprache antiker Münzen als Medium visueller Kom- munikation vorangebracht haben. Seit kurzem entwi- ckelt sich mit der auch in Frankfurt betriebenen Wirt- schaftsarchäologie ein neues, perspektivenreiches For- schungsfeld, das eng mit der Geldgeschichte verknüpft ist. Aus dem Frankfurter Institut sind schließlich die Im- pulse gekommen, durch eine systematische Verknüp- fung von Münze und archäologischem Kontext zu präzi- sen Aussagen über deren Funktion als Geld zu gelangen. Zwei Pionierarbeiten haben die entsprechenden Aus- wertungsverfahren entwickelt und neue Aussagemög- ■4 Die Münze als Träger kaiserlicher Botschaften: der Kron- lichkeiten aufgezeigt: Markus Peter untersuchte das prinz. Vorderseite: Bildnis des Kaisers Augustus (27 v. – 14 Münzgeld in der römischen Koloniestadt Augusta Rau- n. Chr.); Rückseite: Der Enkel und Adoptivsohn des Kaisers, rica und im Castrum Rauracense /1/, Fleur Kemmers das Caius Caesar, in Feldherrentracht nach rechts galoppierend, aus dem Legionslager und dem Lagerdorf von Nijme- dahinter drei Feldzeichen. Die Goldmünze (Aureus) wurde im gen /2/. Sie legen eine Fülle von neuen Erkenntnissen zu Jahre 8 v. Chr. in der Münzstätte Lugdunum/Lyon geprägt. In diesem Jahre begleitete der 12-jährige Caius den Kaiser nach Besonderheiten im lokalen Münzspektrum vor, eröff- Gallien. Augustus ließ den Prinzen dem Heer am Rhein vor- nen erstmals in enge Zeithorizonte gegliederte Einblicke stellen und aus diesem Anlass den Soldaten ein Geldgeschenk in dessen Entwicklung und präzisieren, wie in der römi- – vermutlich auch in solchen Münzen – auszahlen. schen Kaiserzeit eine große Stadt/Garnison mit Münz- geld beliefert worden ist. Ebenso kann nachgewiesen werden, dass bestimmte Münztypen aufgrund ihres Aus- sagegehaltes bevorzugt für Zahlungen an die Truppe verwendet worden sind. Die Mitglieder der Frankfurter Arbeitsgruppe for- schen in verschiedenen Teilen des Imperium Roman- um, in den beiden germanischen Provinzen, den Alpen- provinzen Rätien und Noricum, in Italien, auf der iberi- schen Halbinsel, in der Türkei, in Syrien und in Ägyp- ten. Sie untersuchen, wie der Münzgeldumlauf in einer römischen Provinz aufgebaut worden ist oder wie wir uns das Verhältnis von Gold-, Silber- und Kupfermün- zen an einem Ort in einem bestimmten Zeitabschnitt vorzustellen haben. Wie hat man Münzgeld im Alltag ■5 Der stets siegreiche Kaiser und sein Heer: Messing-Münze benutzt? Was floss an Münzgeld durch Steuern und Ab- (Sesterz) des Kaisers Trajan (98-117 n. Chr.). Vorderseite: gaben oder die Verwendung von Gold- und Silbermün- Bildnis des Kaisers in Feldherrentracht, darum herum Name zen als Ware aus einem Raum wieder ab, was kam und Titulatur des Kaisers; Rückseite: Der Kaiser, links, auf ei- durch staatliche Zahlungen zurück? Welche Faktoren nem Podium sitzend, wird im Jahre 114 n. Chr. von seinem bestimmten die Prägung von neuen Münzen, welche Heer zum achten Mal zum siegreichen Feldherrn (Imperator) ausgerufen. Hintergrund ist der Feldzug Trajans gegen die Rolle spielte dabei das Münzmetall und auf welche Art Parther. und wie schnell gelangten frisch geprägte Münzen in Umlauf? Welche Bedeutung kam der Münze als Träger de Quelle bildet dabei zunächst die Münze selbst: Me- von Botschaften zu? tall, Nominal, Gewichtssystem, Emissionszusammen- hang und -umfang, Bild und Schrift. Wichtig ist aber Spektakuläre Fundorte – ebenso, wie die Münzen auf uns kommen, wie wir sie »Pompeji der Alpen« in Siedlungszusammenhängen oder in Horten finden. Heranzuziehen sind selbstverständlich auch die antiken Grundlage der Analysen bilden stets die Münzen in ar- Schriftquellen, die aber Münze und Geld nur beiläufig chäologischen Kontexten, wie – um nur die spektaku- erwähnen. Vergeblich suchen wir nach Zeugnissen re- lärsten Neufunde zu nennen – die zahlreichen Gold-, flektierter Finanzpolitik oder nach Geldtheorien, ver- Silber- und Kupfermünzen aus dem Raume von Kalk- geblich nach Daten zum Umfang von Münzemissionen. riese bei Osnabrück. Sie sind mit größter Wahrschein- Auch das Bankgeschäft, das seine Bedeutung hatte, er- lichkeit im Zusammenhang mit der Niederlage eines rö- schließt sich uns nicht im erwünschten Ausmaße. mischen Heeres unter dem Kommando des Statthalters Q. Varus■6 im Jahre 9 n. Chr. in den Boden gekommen Münzen als wichtige Quelle und geben als Katastrophenfunde einen Einblick in die der archäologischen Forschung Zusammensetzung des Münzgeldes zum Zeitpunkt des Ereignisses. In ihrer geldgeschichtlichen Bedeutung sind Wenn der numismatisch-geldgeschichtliche Schwer- die Münzen aus Kalkriese /3/ nur mit den Münzen der punkt in Frankfurt heute am Institut für Archäologische beim Vesuvausbruch des Jahres 79 n. Chr. untergegange- Wissenschaften gepflegt wird, so spiegelt dies die Bedeu- nen Städte Pompeji und Herculaneum zu vergleichen. tung wider, welche die Archäologie dieser Quellengat- Ähnliches Gewicht kommt den Münzen aus den tung zuweist. Ausgräber werden regelmäßig mit Fund- Grabungen der Römisch-Germanischen Kommission münzen konfrontiert, und zugleich waren es Archäolo- des Deutschen Archäologischen Instituts Frankfurt und

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Archäologie

Frankfurt – ein bundesweit einmaliger Schwerpunkt zur Erforschung von Münze und Geld in der antiken Welt

Neun Länder – ein Forschungs- thema: Numis- matiker, Archäo- logen und Mine- ralogen aus neun verschiedenen Ländern forschen gemeinsam in der Frankfurter Arbeitsgruppe »Münze und Geld in der anti- ken Welt«.

An der Johann Wolfgang Goethe-Universität wird seit sammlung setzt sich aus einer für Bestimmungsübun- bald 50 Jahren ein numismatisch-geldgeschichtlicher gen verwendeten Lehrsammlung und einer Spezial- Schwerpunkt gepflegt, der an deutschen Universitä- sammlung von römischen Münzen mit Gegenstem- ten einzigartig ist und der für Studierende und junge peln zusammen. Hinzu kommt ein Bestand von rund Wissenschaftler aus dem In- und Ausland zur Spezia- 6000 Gipsabgüssen ausgewählter antiker Münzen. lisierung, Promotion und zum Postdoktoranden-Stu- Schwerpunkte bilden Porträtmünzen der römischen dium attraktiv ist. Bereits Ende der 1950er Jahre Kaiser und ihrer Angehörigen sowie die Prägungen machte Konrad Kraft (1920 –1970), Professor für der Städte Kleinasiens. Zu den weltweit größten Spe- Hilfswissenschaften der Altertumskunde (Numisma- zialsammlungen gehören die gut 400 000 Münzfotos, tik, Epigraphik, Papyrologie), Frankfurt zu einem die nach den in der Numismatik üblichen Kriterien Zentrum numismatischer Forschung und Lehrtätig- geordnet für Studienzwecke zur Verfügung stehen. keit. Durch die enge räumliche und personelle Ver- Die Frankfurter Fotothek gehört zu den von der inter- flechtung mit dem Akademieprojekt »Fundmünzen nationalen Forschung regelmäßig genutzten Ver- der Antike« gewinnt der Schwerpunkt auf nationaler gleichssammlungen. wie internationaler Ebene zusätzliches Gewicht. So forschen in der von Hans-Markus von Kaenel geleite- ten Arbeitsgruppe zurzeit wissenschaftliche Mitarbei- ter, Stipendiaten, Doktoranden und Gastwissenschaft- ler aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Frank- reich, den Niederlanden, England, Syrien, Neuseeland und den USA über unterschiedliche Aspekte von Münze und Geld in der griechisch-römischen Antike. Über universitäre Forschungsvorhaben und das Akademieprojekt bestehen Kooperationen mit Uni- versitäten, Museen und Institutionen der archäologi- schen Denkmalpflege des In- und Auslandes. Ge- meinsame Projekte werden unter anderem mit dem University College London, den Universitäten War- schau und Toulouse sowie den türkischen, ägypti- schen und jordanischen Antikendiensten verfolgt. Re- gelmäßig werden im Rahmen des Instituts für Archäologische Wissenschaften einführende und spe- zielle Lehrveranstaltungen zu Münze und Geld sowie numismatische Praktika /1/ angeboten. Voraussetzung für das Studium von Münze und Geld bilden eine Bibliothek und Vergleichssammlun- gen. Nachdem schon Kraft den Grundstock für einen wissenschaftlichen Apparat gelegt hatte, konnten Das Herstellen von Gipsabgüssen gehört zum Rüstzeug ei- über die Jahre eine sehr umfangreiche Spezialbiblio- ner angehenden Numismatikerin. thek sowie eine Gips- und Fotosammlung aufgebaut Anmerkung und damit Arbeitsbedingungen geschaffen werden, /1/ H.-Ch. Noeske et al., Historisches Museum Frankfurt a. M. wie sie nur an ganz wenigen anderen Orten existie- Die Münzen der Ptolemäer. Die Bestände des Münzkabinetts ren. Die von Helmut Schubert betreute Original- (Frankfurt a. M. 2000).

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Forschung intensiv

■6 »Varus, gib mir die Legionen wieder!«, soll Kaiser Augustus immer wieder entsetzt ausgerufen haben, als er in Rom vom Untergang seines Heeres im fernen Germanien erfahren hatte. Die Vorderseite der im letzten Jahrzehnt v. Chr. in Lugdunum/ Lyon geprägten Kupfermünze (As) des Augustus zeigt den nachträglich eingeschlagenen Gegenstempel VAR. Gemeint ist damit der römische Statthalter Publius Quinctilius Varus, der mit seinem Heer im Herbst des Jahres 9 n. Chr. von den Ger- manen vernichtend geschlagen worden ist. Viel spricht dafür, dass ein Teil des legendären Schlachtfeldes mit den bemer- kenswerten archäologischen Funden und Befunden bei Kalk- riese in der Nähe von Osnabrück zu identifizieren ist.

haupt in einem von Germanen besiedelten Raum, der vorher kein Münzgeld gekannt hatte. Den Münzen aus der Siedlung am Magdalensberg in des Landes Hessen in Waldgirmes im Lahntal zu, die Kärnten, die der guten Erhaltung wegen oft als »Pom- von David Wigg-Wolf bearbeitet werden. Die Römer peji der Alpen« bezeichnet wird, gilt die Studie, die der versuchten kurz vor Christi Geburt mit der Gründung Wiener Stefan L. Krmnicek im Rahmen seiner Frank- einer Stadt im Lahntal die urbane Infrastruktur, auf die furter Dissertation vorbereitet. Das in der ersten Hälfte sie ihre Herrschaft zu stützen gewohnt waren, auch im des 1. Jahrhunderts v. Chr. im Herzen des norischen Kö- Gebiet der Germanen aufzubauen. Schon nach wenigen nigreiches auf 1000 Meter Höhe angelegte Emporion Jahren, um 10 n. Chr., wurde dieses Experiment jedoch italischer Händler wurde zum Zentrum, von dem aus wieder abgebrochen. Die charakteristische Zusammen- die reichen Ressourcen Noricums (Gold, Eisen) für Rom setzung des Münzspektrums liefert nicht nur wichtige erschlossen wurden. Schon in den 40er Jahren des 1. Anhaltspunkte für die absolute Datierung von Anfang Jahrhunderts n. Chr. wurde die Stadt verlassen und in und Ende des römischen Waldgirmes, sondern die be- der Talebene neu gegründet. Das Nebeneinander von treffenden Münzen waren zugleich die ersten über- römischen und lokalen norischen Münzen in einem

Das Akademieprojekt »Fundmünzen der Antike« Als eines von mehreren an der Universität Frankfurt oder auf ihre besonderen Bedingungen zugeschnitten angesiedelten Forschungsunternehmen der Akademie übernommen. Seit Jahren übt das Projekt »Fund- der Wissenschaften und der Literatur Mainz ist das münzen der Antike« beratende und koordinierende Projekt »Fundmünzen der Antike« /1/ im Institut für Aufgaben auf europäischer Ebene aus. Zurzeit wird Archäologische Wissenschaften untergebracht; es die Einrichtung eines europäischen Internetportals für wird von Hans-Markus von Kaenel und Maria R.-Alf- zunächst acht verschiedene nationale Funddatenban- öldi geleitet. Ziel ist es, die keltischen, griechischen ken vorbereitet. Regelmäßig kommen junge Wissen- und römischen Münzen, die auf dem Territorium der schaftler aus dem Ausland nach Frankfurt, um sich Bundesrepublik Deutschland gefunden worden sind, hier im Rahmen der Tätigkeit des Akademieprojektes zu sammeln, nach den neuesten Standards zu bestim- mit den speziellen Techniken und Methoden der men, Fundumstände und -zusammenhänge kritisch Fundnumismatik vertraut zu machen; gegenwärtig zu überprüfen und nach einem einheitlichen Schema bilden wir einen Gast aus Syrien aus, demnächst er- vorzulegen. Dabei geht es um einen Fundbestand von warten wir einen aus Rumänien. über 400 000 Münzen, die in verschiedensten Mu- seen, in den Depots der Institutionen der archäologi- Nach der 2003 abgeschlossenen systematischen /3/ schen Denkmalpflege und in Privatbesitz aufbewahrt Vorlage der Fundmünzen aus Hessen werden – im werden oder nur noch in der älteren Literatur nach- Rahmen einer Vereinbarung mit dem Land Hessen – weisbar sind. In der nach modernen Verwaltungsein- in Frankfurt auch weiterhin die neu gefundenen anti- heiten gegliederten Publikationsreihe »Fundmünzen ken Münzen bestimmt und dokumentiert. der Römischen Zeit in Deutschland« sind bisher 38 Bände erschienen, weitere mit Funden aus den Bun- Im Internet unter: desländern Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen www.adwmainz.de/index.php?id=46 befinden sich in Vorbereitung. »Fundmünzen der An- tike« betreibt seit vielen Jahren eine Datenbank und Anmerkungen hat damit begonnen, diese schrittweise auch im Inter- /1/ M. R.-Alföldi, Vom »Antiken Münzfundkatalog« zu »Fund- net zugänglich zu machen. Mit den inzwischen 21 münzen der Antike«, in: R. Cunz (Hrsg.), Concordia ditat. 50 Bände zählenden »Studien zu Fundmünzen der Anti- Jahre Numismatische Kommission der Länder in der Bundesre- publik Deutschland 1950-2000 (Hamburg 2000), S. 165 – 179. ke« ist ein internationales Forum geschaffen worden, in dem neue Auswertungsmethoden erprobt, disku- /2/ C.E. King/D.G.Wigg (ed.), Coin Finds and Coin Use in the tiert sowie Beiträge zu verschiedensten Aspekten von Roman World. The thirteenth Oxford Symposium on Coinage Münze und Geld publiziert werden /2/. and Monetary History, 25. bis 27. März 1993. SFMA 10 (Mainz 1996). Mehrere europäische Länder haben Ziele und Sys- tematik der Frankfurter Quellenedition unverändert /3/ H. Schubert, FMRD V Hessen, Bd. 3 Kassel (Mainz 2003).

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Archäologie

■7 Satellitenbild mit den Anlagen auf dem Martberg (links) und Hüttenberg (rechts) hoch über der Mosel zwischen Pom- mern und Karden (Kreis Cochem-Zell). Gelb markiert die kelti- schen Befestigungsanlagen. Der gallische und gallo-römische Tempelbezirk, aus dem weit über 10 000 Münzen aus dem Zeitraum vom 1. Jahrhundert v. bis um 400 n. Chr. gefunden wurden, befindet sich innerhalb der ziegelrot markierten Flä- che der Siedlung. In Grün ist die römische Siedlung am Fuße des Plateaus gekennzeichnet.

nach den archäologischen und epigraphischen Quellen bedeutenden Verwaltungs-, Handels- und Gewerbezen- trum stellt den Schlüssel für die Charakterisierung des Monetarisierungsprozesses im gesamten Ostalpenraum dar. Kult- und Prägestätten: Die Treverer und ihre Münzen

Die Siedlung und der Tempelbezirk auf dem Martberg bei Pommern im unteren Moseltal■7 erweisen sich zur- zeit mit über 10000 Fundmünzen als die ergiebigste Quelle an keltischen und römischen Münzen in Deutschland /4/. Die systematische Verknüpfung von Münze und archäologischem Kontext im Heiligtum ■8 erlaubt präzise und in dieser Art bisher einmalige Aus- sagen zur Funktion von keltischen und römischen Münzen im Kultgeschehen /5/ ■9 . So wurden Münzen nicht nur an bestimmten Stellen im Heiligtum niederge- legt, sondern zum Teil auch durch kräftige Einhiebe als Gabe an die Gottheit gekennzeichnet■10 . Nachzuzeich- nen sind auch charakteristische Veränderungen in der Zusammensetzung der Münzopfer innerhalb einzelner Zeitabschnitte. Hans-Markus von Kaenel, David Wigg-

■9 Ein neuer Münztyp: Unter den Weihegaben im Heiligtum wurde dieser bislang völlig unbekannte keltische Münztyp aus Silber nachgewiesen. Vorderseite: Stilisierter Kopf von vorn; Rückseite: Kreuzförmiges Muster.

Wolf und wechselnde studentische Hilfskräfte sind mit Kollegen von der Universität Kiel und der Archäologi- schen Denkmalpflege Rheinland-Pfalz, Amt Koblenz, im Rahmen eines Langzeitprojektes der Deutschen For- schungsgemeinschaft an der Erforschung des Lenus- Mars-Heiligtums sowie der zugehörigen Siedlung auf dem Martberg beteiligt. Auf einem Hochplateau über der Mosel entwickelte sich hier in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr. ein Kultzentrum des gallischen Stammes der Treverer, das – vielfach umgebaut – wäh- rend der römischen Kaiserzeit weiterexistierte und um 400 n. Chr. aufgelassen wurde. Der reiche Bestand an treverischen Goldmünzen vom Martberg war zugleich Ausgangspunkt einer im Rahmen des Frankfurter Graduiertenkollegs Archäolo- gische Analytik von Chris Bendall erarbeiteten minera- logischen Spezialstudie, in der es gelang, nachzuweisen,

■8 Virtuelle Rekonstruktion des dem Lenus-Mars geweihten Tempelbezirks auf dem Martberg. Oben: Situation um Christi Geburt mit den von einem Bohlenzaun umgebenen Tempeln (Fachwerkbauten) und weiteren kultischen Einrichtungen. Un- ten: Situation im frühen 3. Jahrhundert n. Chr. mit Umgangs- tempeln (Steinbauten) und weiteren Gebäuden. Eine 60 auf 70 Meter messende Wandelhalle trennt den sakralen Bereich von der profanen Außenwelt.

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Forschung intensiv

High Tech-Analytik klärt die Herkunft des Münzkupfers Die Römer haben Kupfer bereits in industriellem Aus- Hans-Markus von Kaenel die Herkunft und Bedeu- maß verwendet. Aus Kupfer wurden nicht nur Mün- tung des Rohstoffes Kupfer in der römischen Kaiser- zen hergestellt, sondern Kupfer war der Hauptbe- zeit. Für die Untersuchung der Provenienz des Kup- standteil der für verschiedenste Zwecke verwendeten fers eignen sich Kupfermünzen /1/ besonders gut. Da Kupferlegierungen Bronze und Messing. So brauchte dieses Kupfer unlegiert ist und damit seine chemi- man Kupfer zur Herstellung von Bronzeplastik, Bron- schen und isotopischen Informationen nicht durch zegefäßen, Ausrüstungsgegenständen sowie Geräten andere Legierungspartner beeinflusst sind, verspre- chen Analysen gute Ergebnisse. Kupfermünzen ha- Bleiisotopensignaturen im Vergleich ben weiterhin den Vorteil, dass sie über die rund 208Pb/ 206Pb zweieinhalb Jahrhunderte, über die sie ausgeprägt 2,16 wurden, in der Regel durch das Kaiserbildnis und das zugehörige Formular genau datiert werden können. 2,14 Die zweite Gruppe von Objekten aus unlegiertem Kupfer bilden Kupferbarren, die in Schiffswracks im 2,12 Sardinien Spanien Mittelmeer gefunden wurden. 2,10 Im Rahmen der Studie sind bisher erstmals über Toskana 400 Kupfermünzen und 112 Kupferbarren beprobt 2,08 Kupfer worden. Während die Herkunft des Kupfers anhand Zypern Sardinien 2,06 Ägäis der Bleiisotope bestimmt wird, erfolgt die chemische Charakterisierung (Elementbestand, Reinheit) mit 2,04 Hilfe einer Elektronenstrahlmikrosonde. Die Reinheit der Kupfermünzen stieg nach der Einführung der 2,02 Kupferprägung auf 99 Gewichtsprozent Kupfer an Augustus Spanien 2,00 mit höchstens einem Prozent Beimengungen von An- 0,81 0,82 0,83 0,84 0,85 0,86 0,87 0,88 0,89 timon, Silber und Nickel. Dieser Standard blieb über 207Pb/ 206Pb lange Zeit konstant und sank im 3. Jahrhundert n. Chr. auf einen bis auf 80 Gewichtsprozent schwan- ■ 1 Bleiisotopendaten von Kupfermünzen (grüne Dreiecke) kenden Kupfergehalt ab. des Kaisers Augustus (27 v.-14 n. Chr.) vor dem Hintergrund der Isotopenfelder von in der römischen Zeit tätigen Berg- baurevieren.

aller Art. Vor diesem Hintergrund interessiert die Fra- ge, wo das Kupfer gewonnen wurde. Dabei geht es zugleich um die Geschichte der betreffenden Minen- gebiete, um Besitzverhältnisse und um den Handel mit Metallen im römischen Reich. Mit Hilfe modernster, im Institut für Geowissen- schaften mit einem Multikollektor-ICP-Massen- spektrometer durchgeführten Analytik der Blei- und ■2 Kupfermünze (As) des Kaisers Augustus (27 v.–14 n.Chr.). Kupferisotope lassen sich die Bleiisotopen-Daten mit Vorderseite: Kopf des Kaisers, darum herum Name und Titu- entsprechenden Referenzdaten von Erzen aus Lager- latur; Rückseite: Name des Münzmeisters und S(enatus) C(onsulto), das heißt: »auf Beschluss des Senats«. stätten in historischen Abbaugebieten im Römischen Reich vergleichen und so die Herkunft des Kupfers Im Laufe unserer Forschungen zur Herkunft des ermitteln. Wichtigster Kupferlieferant war danach römischen Kupfers hat sich eine gute Zusammenar- vom Beginn der Kaiserzeit bis in die Mitte des 3. Jahr- beit mit Kollegen von der Universität Toulouse (Clau- hunderts die iberische Halbinsel. Analytisch können de Domergue, Christian Rico) entwickelt. Gemeinsa- verschiedene Abbaugebiete unterschieden werden, me Projekte gelten der analytischen Erschließung der so im zentralen heutigen Südspanien das Gebiet der römischen Kupferbarren aus dem westlichen Mittel- Sierra Morena um Cordoba oder im Südwesten die meer /2/ und der Erarbeitung neuer Referenzdaten für Bergwerksregionen um Rio Tinto und Huelva. den römischen Kupferbergbau auf der iberischen Die Frankfurter Mineralogen Sabine Klein, Yann Halbinsel. Lahaye und Gerhard Brey erforschen gemeinsam mit Anmerkungen Die Autorin /1/ S. Klein/Y. Lahaye/G. Brey/H.-M.von Kaenel, The Early Ro- Dr. Sabine Klein, 45, studierte in Frankfurt Mineralogie. Seit man Imperial AES Coinage II: Tracing the Copper Sources by ihrer Doktorarbeit über die Charakterisierung frühmittelalter- Analysis of Lead and Copper Isotopes. – Copper Coins of Augus- licher Buntmetallschlacken aus dem westfälischen Höxter/ tus and Tiberius. Archaeometry 46,3, 2004, S. 469 – 480. Corvey ist sie auf dem Gebiet der Archäometrie tätig. Als Postdoktorandin engagiert sie sich besonders in dem Gradu- /2/ Chr. Rico/D. Domergue/M. Rauzier/S. Klein/Y. Lahaye/G. iertenkolleg »Archäologische Analytik«. Ihre archäometri- Brey/H.-M. von Kaenel, La provenance des lingots de cuivre ro- schen Forschungen am Institut für Geowissenschaften führt mains de Maguelone (Hérault, France). Étude archéologique et sie wechselweise als DFG-Forschungsstipendiatin oder als archéometrique. Revue Archéologique de Narbonnaise 38/39, wissenschaftliche Mitarbeiterin in befristeten Verträgen fort. 2005/2006, S. 459 – 472.

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Archäologie

Nachweis zu erbringen sowie die auf dem Castellberg in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr. geprägten lokalen Münztypen zu identifizieren■12 . Zudem liefer- ten die Untersuchungen konkrete Erkenntnisse zur Zu- sammensetzung der Legierungen einer Vielzahl galli- scher Münztypen sowie zur Herkunft der betreffenden Metalle. Darüber hinaus haben die in Frankfurt erarbei- teten Methoden neue und weiterführende Wege zur Rekonstruktion antiker Münzemissionen erschlossen und damit einen wichtigen Beitrag zur keltischen Nu- mismatik geliefert.

■10 Dem profanen Gebrauch entzogen: Zwei kleine Silbermün- zen (so genannter Martberger Typ) mit den charakteristischen Einhieben, die diese Münzen als Gaben an den im Heiligtum auf dem Martberg verehrten Gott Lenus-Mars kennzeichneten. Rückseiten: jeweils ein stilisiertes Pferdchen nach links.

über welch beträchtliche Entfernungen die Treverer ihr Münzmetall herangeschafft haben. Es stammte aus den Alpen, dem östlichen Mittelmeerraum, Sardinien und aus Spanien /6/. Nach dem Abschluss der Grabungen im Tempelbezirk wird nun die zugehörige gallische Sied- lung untersucht, deren erstaunliche Ausdehnung und Strukturierung anhand der geophysikalischen Prospek- tion gut zu überblicken ist. Auf dem Castellberg bei Wallendorf, an der Grenze zu Luxemburg, liegt ein weiteres Zentrum der Treve- ■11 Zwei Fundstücke vom Castellberg bei Wallendorf: Links: rer /7/. Zwischen 1994 und 2001 durchgeführte Grabun- Schrötling oder Schmelzrest aus Gold (5,5 g). Durch die Me- tallanalytik ist seine Zugehörigkeit zu den treverischen Gold- gen der Universität Kiel haben hier eine komplexe Sied- münzen vom »Augen-Typ« gesichert. Rechts: Ein Exemplar lungsabfolge dokumentiert, die um 400 v. Chr. beginnt dieses Typs vom Castellberg (6,10 g) – Vorderseite: Stark stili- und um 400 n. Chr. endet. Wiederum sind ein heiliger sierter Kopf mit großem Auge nach rechts. Bezirk und ein ausgedehnter Wohnbereich zu unter- scheiden. Mit der Katalogisierung und Auswertung der dort gefundenen rund 3000 keltischen und römischen Münzen hat die Frankfurter Arbeitsgruppe die Voraus- setzung geschaffen, um Fragen der Siedlungsgeschichte und zur Rolle von Münzen im Kultgeschehen sowie zum Castellberg als mögliche treverische Münzpräge- stätte zu klären. Eine Patrize zur Herstellung von Prä- gestempeln, unbeprägte Münzschrötlinge sowie Metall- ■12 Kleine treverische Silbermünze (Qui- schmelzreste aus Edel- und Buntmetall liefern wichtige nar, 1,87 g) vom Castellberg bei Wallen- dorf mit stilisiertem Kopf nach links. Indizien für die Existenz einer Münzstätte innerhalb des Der Fund einer entsprechenden Punze ■ Siedlungsareals11 . Doch erst durch die Verknüpfung zur Herstellung des Münzstempels si- von numismatischen Methoden mit modernster Metall- chert die Prägung dieses keltischen analytik gelang es Boris Kaczynski, den entsprechenden Münztyps auf dem Castellberg.

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Forschung intensiv

Zusammenhänge schaffen: genommen, aber noch nicht abschließend publiziert Vergleichsmünzreihen aus dem worden ist. In Zusammenarbeit mit verschiedenen gro- gesamten Imperium Romanum ßen internationalen Ausgrabungsprojekten und der An- tikenverwaltung Ägyptens hat Hans-Christoph Noeske Da die Auswertung von Münzreihen aus Siedlungen mehrere hunderttausend Münzen aus dem antiken der griechisch-römischen Antike zu einem guten Teil Ägypten vom Hellenismus bis in die früharabische Zeit auf Vergleichen beruht, kommt der Erschließung von erschlossen /11/. umfangreichen Referenzreihen in Zentren des römi- Wissenschaftsgeschichtliche Fragen verfolgen Hans- schen Reiches große Bedeutung zu. Diese Daten stellen Markus von Kaenel und Helmut Schubert mit der He- Eckwerte für die numismatisch-geldgeschichtliche Ana- rausgabe einer kommentierten Edition des umfangrei- lyse von Münzreihen und damit für die Erforschung chen Briefwechsels zwischen dem berühmten Berliner von staatlichem Handeln und der Wirtschaft antiker Altertumswissenschaftler und Wissenschaftsorganisator Staaten dar. Dazu beigetragen hat Joachim Gorecki Theodor Mommsen (1817 bis 1903) und dem Schwei- durch die Vorlage der Funde aus dem römischen Mo- zer Numismatiker Friedrich Imhoof-Blumer (1838 bis gontiacum/Mainz /8/, der mächtigen Garnisons- und 1920). Dabei geht es vor allem um die Entwicklung und Hauptstadt der Provinz Germania Superior. Kurz vor Umsetzung neuer Methoden in der Erforschung antiker dem Abschluss steht die Publikation der Münzfunde aus Münzen und um das Verhältnis zwischen Numismatik Trier/Augusta Treverorum, der als ehemaligen Kaiserre- und Geldgeschichte /12/. sidenz bedeutendsten römischen Stadt im heutigen Schon in der antiken Welt drehte sich sehr Vieles um Deutschland, durch Maria R.-Alföldi /9/. Die Trierer das Geld, das nach dem geflügelten Wort »pecunia non Münzreihe umfasst rund 70 000 Exemplare und stellt olet«, welches Kaiser Vespasian (69 bis 79 n. Chr.) in damit die umfangreichste dar, die bisher für einen einzi- den Mund gelegt wird, nicht stinkt. Über Münzen und gen Ort im ehemaligen Imperium Romanum erfasst Geld der Griechen, Römer und Kelten in Frankfurt zu worden ist. Noch größer wird nur die Münzreihe sein, forschen und zu lehren stellt nicht nur deshalb ein loh- die von der Frankfurter Arbeitsgruppe in Rom /10/ auf- nendes Ziel dar. ◆

Literatur /1/ M. Peter, Unter- parallèle critique telrhein und Mosel /6/ Ch. Bendall, The Germanische For- problema delle pro- Mommsen (1817– suchungen zu den des sources. Collo- 18 (Koblenz 2006); application of trace schungen 63 venienze. SFMA 14 1903) an der Jo- Fundmünzen aus que franco-alle- D. Wigg-Wolf et al., element and isoto- (Mainz 2006) (Berlin 1997). hann Wolfgang Augst und Kaiser- mand organisé par FMRD IV Rhein- pic analyses to Cel- Goethe-Universität augst. SFMA 17 l’École pratique des land-Pfalz, Bd. 4,1 tic gold coins and /8/ J. Gorecki, /11/ H.-Chr. Noes- Frankfurt am (Berlin 2001). Hautes Études, la Koblenz: Der Mart- their metal sources FMRD IV Rhein- ke, Münzfunde aus Main, 1. bis 4. Mai Römisch-Germani- berg bei Pommern (Frankfurt a. M. land-Pfalz, Bd. 1, Ägypten II. Die 2003 (Berlin /2/ F. Kemmers, sche Kommission (ehem. Kreis 2003, publiziert in Nachtrag 1, Stadt griechisch-römi- 2004). Coins for a legion. des Deutschen Ar- Cochem) I (Mainz http://www.mine- Mainz (Mainz schen Münzfunde An analysis of the chäologischen In- 2005). ralogie.uni-frank- 2006). aus dem Fayum. Anmerkungen coin finds of the stituts, l’Institut furt.de/petrologie- SFMA 22 (Mainz FRMRD = M. R.- Augustan legionary Historique Alle- /5/ D. Wigg-Wolf, geochemie/doktor- /9/ zuletzt M. R.- 2006). Alföldi/H.-M. von fortress and Flavian mand, Paris 18 et Coins and ritual in arbeiten/disscb/ind Alföldi/D. Wigg- Kaenel (Hrsg.), Die canabae legionis at 19 avril 2005 late Iron Age and ex.html). Wolf, FMRD IV /12/ H.-M. von Kae- Fundmünzen der Nijmegen. SFMA (Francia, im Druck). early Roman /7/ D. Krausse, Ei- Rheinland-Pfalz, nel/M. R-Alföldi/ Römischen Zeit in 23 (Mainz 2006). sanctuaries in the senzeitlicher Kul- Bd. 3/2 Trier, Die U. Peter/H. Kom- Deutschland (Ber- /4/ M. Thoma et al., territory of the Tre- turwandel und Ro- sog. Römerbauten nick (Hrsg.), Geld- lin/Mainz) /3/ H.-M. von Kae- Der gallorömische veri, in: C. Hasel- manisierung im (Mainz 2006). geschichte vs. Nu- nel, Die Fundmün- Tempelbezirk auf grove/D. Wigg- Mosel-Eifel-Raum. mismatik. Theodor SFMA = M. R.-Alf- zen aus Alesia und dem Martberg bei Wolf (ed.), Iron Die keltisch-römi- /10/ M. E. Bertoldi, Mommsen und die öldi/H.-M. von Kalkriese. Vergleich Pommern an der Age Coinage and sche Siedlung von Antike Münzfunde antike Münze. Kol- Kaenel (Hrsg.), und Bedeutung. In: Mosel, Kreis Ritual Practices. Wallendorf und ihr aus der Stadt Rom loquium aus Anlass Studien zu Fund- Alésia et la bataille Cochem-Zell. Ar- SFMA 20 (Mainz archäologisches (1870 –1902). Il des 100. Todesjah- münzen der Antike du Teutoburg. Un chäologie an Mit- 2005), S. 361–379. Umfeld. Römisch- res von Theodor (Berlin/Mainz)

Der Autor Prof. Dr. Hans-Markus von Kaenel, 59, studierte Klassische schen Provinzen sowie Hilfswissenschaften der Altertums- und provinzialrömische Archäologie, Vor- und Frühgeschichte kunde. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich sowie Alte Geschichte in Bern und Tübingen. Nach seiner Pro- der Landschaftsarchäologie sowie in der Münz- und Geldge- motion war er als Gebietsreferent in der archäologischen Denk- schichte der römischen Kaiserzeit. Als Wissenschaftler setzt malpflege in Bern tätig. Anschließend spezialisierte er sich in er sich aktiv für die Vernetzung von Archäologie und Natur- Numismatik und Geldgeschichte der Antike an der Oxford Uni- wissenschaften ein. So hat er das Frankfurter Graduierten- versity und in Archäologie in Rom. Von 1985 bis 1988 war kolleg »Archäologische Analytik« mit aufgebaut und koordi- von Kaenel Direktor des Istituto Svizzero di Roma; in diesen niert den Studiengang Archäometrie. Markus von Kaenel ist Jahren organisierte er zahlreiche kulturelle Veranstaltungen in ordentliches Mitglied des Deutschen Archäologischen Insti- Rom. Danach leitete er das Münzkabinett und die Antikensammlung der Stadt tuts, korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissen- Winterthur, lehrte gleichzeitig an der Universität Zürich und wurde in die Schwei- schaften und der Literatur Mainz, Vorsitzender der Archäolo- zerische UNESCO-Kommission berufen. 1992 folgte von Kaenel dem Ruf an die gischen Gesellschaft in Hessen und Mitglied des Hessischen Universität Frankfurt auf den Lehrstuhl für Archäologie und Geschichte der römi- Landesdenkmalrates.

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Forschung intensiv »... steht als schöpferische Persönlichkeit turmhoch über uns« Eine Annäherung an Peter Suhrkamp beim Stöbern in seinen Korrespondenzen von Wolfgang Schopf

Peter Suhrkamp und sein Verlag stehen für den kultu- rellen Wiederaufbau: Suhr- kamp erhält 1945 die erste Verlagslizenz, sein Programm prägt die geistige Identität der jungen Republik. Der Verleger wirkt im Stillen als Katalysator bei der Entste- hung von Werken, er gibt Autoren die intellektuelle Heimat, in der entstehen kann, was zur literarischen Signatur Nachkriegsdeutsch- lands werden wird. Die Fra- ge nach seinem Erfolgsre- zept beantwortet Wolfgang Schopf mit einem Blick auf die Schätze des »Archivs der Peter Suhrkamp Stiftung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität«.

Peter Suhrkamp auf dem Balkon des Verlagssitzes am Schaumainkai.

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Suhrkamps Erbe

m Vorabend eines Autorenbesuchs im Frankfur- vorbei an Dokumenten aus literarischen, wissenschaftli- ter Verlagshaus äußerten Lektoren ihre Vorstel- chen und ökonomischen Bereichen, die alle die Entste- Alung darüber, wie sie den jungen Autor in die hung und Wirkung von Literatur beeinflussen, zu Schranken weisen könnten. Peter Suhrkamp unterband einem kaum fassbaren Gegenstand: zu der Beziehung das, er forderte Respekt: Der Autor »steht als schöpferi- zwischen Autor und Verleger als Schlüssel für die Ent- sche Persönlichkeit turmhoch über uns«. Diese Szene stehungsgeschichte eines Werks. aus dem Januar 1953, von Siegfried Unseld überliefert, versinnbildlicht Suhrkamps Sensibilität gegenüber sei- Biographisches in Stichworten: nen Autoren./1/ Seine altmodische Noblesse weckte bei Suhrkamp über Suhrkamp den Zeitgenossen Erwartungen, die der Verleger erfüllte, sofern seine fragile Gesundheit dies zuließ. Suhrkamps Ein Deutungsversuch dieses Verhältnisses bleibt an die- Gabe, mit Gespür auch für die schlummernde Fähigkeit ser Stelle aus, stattdessen folgen nun Äußerungen der des Autors und dem Vertrauen in die eigene Urteilskraft Beteiligten selbst. Peter Suhrkamp über sich /6/: »Gebo- die Transformation eines Manuskripts in die »geheiligte ren 29. März 1891 als erstes Kind des Landwirts Fried- Ware« Buch zu bewirken, /2/ nährt viele Legenden. rich Suhrkamp im Dorf Kirchhatten/Oldenburg. Da er Historisch eindeutig ist der singuläre Platz, den Peter sich … mit 13 Jahren … für das Studium entschloß und Suhrkamp mit seinem Programm in der Literatur- und sein Vater jede Unterstützung ablehnte, muß er nach Geistesgeschichte der Bundesrepublik einnimmt. Einer der Absolvierung der Dorfschule 1905 seinen weiteren der Gründe dafür liegt in der Konstellation nach dem Weg völlig allein gehen. Dieser Weg wurde erschwert Sieg über den Nationalsozialismus, in der von Literatur einmal durch seine Herkunft, zum andern durch eine Sinnstiftung erwartet wurde. Die Presse sprach von doppelte Anlage in seiner Begabung, eine pädagogische Peter Suhrkamp als »Praeceptor Germaniae«; ihn, der und eine künstlerische.« Suhrkamp absolvierte Lehrer- »Interzonen- gegenüber den Nationalsozialisten für die geistige Inte- seminar und Staatsexamen und nahm am Ersten Welt- Reisegenehmi- grität seines Verlags seine physische Existenz riskierte, krieg teil, was zu seinem psychischen Zusammenbruch gung für das be- umgab eine Aura, die Hermann Hesse so beschreibt: mit darauf folgendem Sanatoriumsaufenthalt in König- setzte Deutsch- »Wenn ich irgendwo in Gespräch oder Lektüre der zum stein führte. Weiter: »1919 Lehrer an der Odenwald- land« – Unterwegs zwischen den Cliché gewordenen Phrase vom ›wahren‹ oder ›echten‹ schule … gleichzeitig Studium in Heidelberg … Fortset- Flughäfen Tempel- oder ›heimlichen‹ Deutschland begegne, dann sehe ich zung des Studiums in Frankfurt … 1920 – 21 Lehrer an hof und Rhein- Peters hohe, hagere Gestalt.«/3/ der Freien Schulgemeinde Wickersdorf … Herbst 1921 Main: Suhrkamp ans Hessische Landestheater in Darmstadt berufen, zu- auf der Suche Suche nach intellektueller Identität nächst als Dramaturg, dann als Schauspielregisseur … nach einer Bleibe 1925 Rückkehr nach Wickersdorf.« 1929 ging Suhr- in Westdeutsch- In pädagogischen, mentalitäts- oder mediengeschichtli- kamp nach Berlin, dort arbeitete er beim »Berliner Ta- land. Der Pass ist ausgestellt auf chen Kategorien ließe sich untersuchen, wie nach 1945 geblatt« und in der Zeitschriftenredaktion des Ullstein Suhrkamps Tauf- die Bücher, wie neue Bildung auf eine Generation von Verlags. Auf den 1. Januar 1933 datiert der eine Angel- namen Heinrich. Lesern wirkte, die Suhrkamp als »Ruinen von Men- punkt seiner Biographie: »Eintritt in den S. Fischer Ver- Genannt wurde er schen in den Trümmern« erlebte /4/. Und unter Anwen- lag, als Redakteur der Neuen Rundschau und Lektor. Im immer nur Peter. dung von literaturgeschichtlichem, philologischem, edi- tionstechnischem oder rezeptionsgeschichtlichem Hand- werkszeug verraten die Quellen aus Peter Suhrkamps Nachlass und aus seinem Verlag, wie die Literatur ent- stand und wirkte, die so viel zur intellektuellen Identität Nachkriegsdeutschlands beigetragen hat. Die Dokumen- te zeigen, wie die Autoren mit sich um ihr Werk ringen, wie der erste Leser im Verlag das Manuskript aufnimmt; sie machen die Vielzahl der Schritte nachvollziehbar, die es auf dem Weg zum Buch zurückzulegen hat, sie zei- gen den Einfluss von Literatur auf die »öffentliche Mei- nung«. Doch trotz der Fülle des Materials bleibt auf den ersten Blick verborgen, was jene »Gabe« des Verlegers ausmacht. Sie trägt keine Signatur, ist in keinem Zettel- kasten, in keiner Datenbank verzeichnet und dennoch spürbar, sowie man die Schuber der Archivkästen her- vorzieht. Sein verlegerisches Geschick bleibt ein »Ge- heimnis«, wie einer schreibt, der es wissen muss, näm- lich Peter Suhrkamps erster »junger« Autor, Max Frisch, und, so Frisch weiter, »das Geheimnis läßt sich nicht rühmen«. /5/ Zwischen den zigtausend Konvoluten und Einzeldo- kumenten, den staubigen Kladden und verwitterten Ordnern,■1 die im Archiv der Peter Suhrkamp Stiftung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität eintreffen, dort konservatorisch gesichert, archivarisch aufgearbei- tet und der Forschung zugänglich gemacht werden, schimmern Spuren des Geheimnisses durch. Sie führen,

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Forschung intensiv

Die Gründungsphase des Frankfurter Verlags Suhrkamp begann bald nach der Berliner Gründung von 1945 mit der Suche nach einem Verlagssitz in West- deutschland; im Jahr darauf erhielt er eine Lizenz für die amerikanische Zone. Ende der 1940er Jahre fand der Verlag sein Domizil im Haus des Börsenvereins, bevor er eigene Adressen in Frankfurt bezog.■5 Dort manifestierte sich der Bruch mit Gottfried Bermann Fi- scher; nach dessen Rückkehr aus dem Exil misslang es, an die frühere Zusammenarbeit anzuknüpfen. Die Tren- nung von S. Fischer und die Neugründung des Suhr- kamp Verlags ist verschiedenerorts dokumentiert; /7/ im Mittelpunkt der Trennung standen die Autoren: Wer von ihnen innerhalb Deutschlands von Peter Suhrkamp betreut worden war, bekam die Option zum Wechsel in den neu zu gründenden Verlag eingeräumt; die Autoren der Exilverlage blieben bei S. Fischer. Die Mehrheit der befragten Autoren entschied sich für Suhrkamp, wobei die beiden bedeutendsten Zusa-

Herbst 1933 in den Vorstand des S. Fischer Verlages be- ■3 »›Munderloh‹ ■1 »Proust Revisi- rufen. Ab 1. Januar 1936, nach erzwungenem Aus- ist ein Romanfrag- on«: Vor der Nach- scheiden des Schwiegersohnes von S. Fischer, alleiniger ment, das Dezem- auflage eines Ban- Leiter des Verlages, der am 1. Januar 1937 von einer zu ber 1944 und Ja- des von Marcel diesem Zweck gegründeten Kommanditgesellschaft er- nuar 1945 in ei- Prousts »Auf der ner Zelle des Suche nach der worben wurde, in der P.S. der einzige persönlich haften- Gestapogefängnis- verlorenen Zeit« de Gesellschafter war.■2 13. April 1944 auf Grund seiner ses Lehrterstraße werden kleinere Verlagsführung durch die Gestapo verhaftet, Anklage 3 zu Berlin ge- Fehler behoben. auf Hochverrat... Januar 1945 Überführung in das Kon- schrieben wurde.« zentrationslager Sachsenhausen.■3 8. Februar 1945 als (Aus der ›Nach- Todkranker entlassen…Oktober 1945 erhält er als erster bemerkung‹) Peter Verleger in Berlin die Verlagslizenz von der Britischen Suhrkamp, »Mun- derloh«, erscheint ■ Militärregierung.4 Wiederaufnahme der verlegerischen 1957 als Band 37 Tätigkeit unter der Firma ›Suhrkamp Verlag vormals der Bibliothek S. Fischer‹. April 1950 Rückgabe des ›Suhrkamp Verlags Suhrkamp. vormals S. Fischer‹ an die in die USA ausgewanderten Erben von S. Fischer. Gründung eines eigenen Verlages ›Suhrkamp Verlag Berlin und Frankfurt am Main‹. März 1951 Verleihung des Dr. h. c. der Philosophischen Fa- kultät der Universität Frankfurt [am] Main.«

gen lakonisch ausfielen, so Bertolt Brechts berühmter Einzeiler vom 21. Mai 1950: »natürlich möchte ich unter allen Umständen in dem Verlag sein, den Sie leiten« /8/; und eine handschriftliche Notiz Suhrkamps: »H. Hesse läßt am 7.5. telefonisch durch seine Frau mitteilen, daß er für Suhrkamp-Verlag optiert.« /9/ Mit den Rechten an den Werken seiner Autoren als einzigem Kapital startet im Juli 1950 das eigene Unternehmen. In seinem Dank für die Ehrenpromotion [siehe auch »Wobei ich mir be- wusst bin, das der Kreis … eine Elite darstellt«, Seite 25] erwähnt Suhrkamp den »Kreis« von Menschen, die ge- meinsam als Elite wirken, dreimal; derlei Wiederholun- gen sind in seinen Briefen sonst nicht zu finden. Er scheint die Auszeichnung als eine Art Einladung zum »Glasperlenspiel« zu verstehen, die er in einer Phase er-

■2 »Die alleinige Geschäftsführung des S. Fischer Verlages hat mit dem 15. April 1936 Herr Suhrkamp übernommen.« Die Anzeige im »Börsenblatt für den deutschen Buchhandel« vom 28. Mai 1936 verschweigt, dass so eine »Arisierung« des Verlags verhindert wird, sie verschweigt auch das erzwungene Exil der Familie Fischer.

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Suhrkamps Erbe

Beispiellose Sammlung zur Literatur nach 1945

Von der Übergabe »eines der bedeutendsten deut- ler Prof. Dr. Volker Bohn, das Archiv wird betreut von schen Literaturarchive der Moderne« an die Universi- dem Germanisten Wolfgang Schopf. Bohn fasst die tät Frankfurt berichteten die Medien, als im Dezember Ziele der Einrichtung so zusammen: »Der Fachbereich 2002 das Präsidium der Universität und der Vorstand und die Universität haben somit die Chance, das voll- der Peter Suhrkamp Stiftung mit der Nachricht an die ständige Archivmaterial aus der Gründungsphase Öffentlichkeit traten, das »Archiv der Peter Suhrkamp eines der bedeutendsten literarischen Verlage Europas Stiftung an der Johann Wolfgang in eigener Regie zu sichern, auszuwer- Goethe-Universität« zu gründen. ten und produktiv zu nutzen: durch Damit wechselte eine beispiellose Präsentationen und Publikationen, aber Sammlung geisteswissenschaftli- auch durch die Bereitstellung von For- cher Quellen aus der zweiten Hälf- schungsmöglichkeiten für eine gewiss te des 20. Jahrhunderts aus den große Zahl international interessierter Kellern des Suhrkamp Verlags in Nutzer.« der Lindenstraße auf den Campus In der Aufbauphase genießen die Westend der Johann Wolfgang konservatorische Sicherung und die Er- Goethe-Universität. schließung der Dokumente Priorität; Doch aus den nur grob geord- dennoch steht das Archiv bereits Besu- neten Materialien, die in Umzugs- chern offen. Zudem präsentiert das Ar- kisten zum Grüneburgplatz ge- chiv Teile des Bestands mit der Veran- bracht werden, wächst langsam staltungsreihe »Hauslesung«, die je- ein funktionsfähiges Archiv, auf weils am letzten Donnerstag des das Wissenschaftler aus dem In- Semesters stattfindet und sich inzwi- und Ausland zugreifen können. schen zu einem »Jour fixe« im kultu- Die Peter Suhrkamp Stiftung stell- rellen Leben Frankfurts erwickelt hat te der Universität in der ersten (»Ein Archiv zeigt, was es hat. Und eine Phase ein etwa 250 000 Blatt umfassendes Konvolut Universität, was sie kann, wenn sie nur will.«, FAZ). als Dauerleihgabe zur Verfügung, damit der Verbleib Im Mittelpunkt der Hauslesung standen bisher Walter des Bestandes in Frankfurt, seine wissenschaftliche Benjamin, Max Frisch, Hermann Hesse, Wolfgang Aufarbeitung und seine Erschließung für die For- Koeppen und Marcel Proust. Ergänzt wird das Ange- schung gewährleistet werden. Dazu gehören heute be- bot durch Ausstellungen (so in den Hermann Hesse- reits der Nachlass des Verlagsgründers Peter Suhrkamp sowie sämtliche Korrespondenzen des Verlags, die er- haltenen Manuskripte und Herstellungsunterlagen sowie die Rezensionen der Bücher aus dem ersten Verlagsjahrzehnt bis zur Übernahme der verlegeri- schen Verantwortung durch Siegfried Unseld im Jahr 1959. Hinzu kommt die Korrespondenz des Insel Ver- lags mit seinen Autoren von 1945 bis 1963. Der Großteil der Dokumente lässt sich in drei Gat- tungen gliedern: die Korrespondenz der Autoren mit dem Verleger oder den Lektoren, in der die Entste- hung von Literatur in Perspektive auf den Autor trans- parent wird, Herstellungsunterlagen (wie Druckfah- nen mit Autorenkorrekturen), in denen die vielen Schritte des Manuskripts auf dem Weg zum Buch deutlich werden, und zeitgenössische Rezensionen Museen in Montagnola/Tessin, Calw und Gaienhofen, sowie weitere Reaktionen meinungsbildender Instan- an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zü- zen, womit die Wechselwirkung von Literatur und öf- rich oder im Schauspiel Frankfurt) und Editionen, von fentlichen Diskursen nachvollziehbar wird. denen bisher drei bei Suhrkamp erschienen sind: »So Die Kooperation mit der Stiftung ist langfristig an- müßte ich ein Engel und kein Autor sein.« Theodor gelegt. Im Abstand von fünf Jahren wird die Peter W. Adorno und seine Frankfurter Verleger. Der Brief- Suhrkamp Stiftung dem Archiv Dokumente aus den wechsel mit Peter Suhrkamp und Siegfried Unseld, folgenden Dekaden aushändigen: Bis zum Ende dieses herausgegeben von Wolfgang Schopf, 2003; »Ich Bitte Jahres wird das gesamte Material aus den 1950er Jah- um ein Wort«. Wolfgang Koeppen, Siegfried Unseld, ren dem Archiv übergeben sein, von 2008 bis 2013 Der Briefwechsel, herausgegeben von Alfred Ester- folgen dann die Unterlagen aus den 1960er Jahren mann und Wolfgang Schopf, 2006; »Im Dienste der und so fort. gemeinsamen Sache«. Hermann Hesse und der Suhr- Das Archiv wird seit Anfang 2003 auf dem Campus kamp Verlag, herausgegeben von Regina Bucher und Westend aufgebaut; administrativ ist es dem Fachbe- Wolfgang Schopf, 2006. reich Neuere Philologien zugeordnet. Die wissen- schaftliche Leitung liegt bei dem Literaturwissenschaft- Im Internet: www.archiv-suhrkamp-stiftung.de

Forschung Frankfurt 1/2007 23 UNI 2007/01 Teil 1 04.04.2007 11:49 Uhr Seite 24

Forschung intensiv

■4 »is authorized in the following activities: PUBLICATION OF BOOKS ONLY« – Die erste nachkriegsdeutsche Verlagslizenz (Ausschnitt) wurde am 17. Oktober 1945 in Berlin an Peter Suhrkamp vergeben.

Mißhandlung … gebüßt, nur durch ein Versehen blieb er am Leben.« /10/ So verwundert es nicht, dass nach der Entgegennahme der Lizenz Suhrkamp seine Pläne vor- stellt, als erstes Werk Hesses »Glasperlenspiel« heraus- zugeben. Über die »feierliche Zeremonie« berichtet »Der Berliner« am 27. Oktober 1945 auf der vierten Seite mit einem Foto von Suhrkamp bei der Entgegennahme der Lizenz. /11/ Zeitgleich, auch im Oktober 1945, erhält Suhrkamp einen Brief aus Kalifornien, in dem mit wenigen Sätzen alle zeitliche und räumliche Distanz, die zwischen Absender und Empfänger liegt, überwunden wird /12/: »Lieber Suhrkamp, Ihr Brief ist der erste, der mich aus Deutschland erreicht, und Sie waren einer der letzten, die ich in D. sah – ging ich doch von Ihrer Wohnung an die Bahn am Tag nach dem Reichstagsbrand; ich habe Ihnen Ihre Hilfe bei meiner Flucht nicht vergessen. Fünf Jahre hielten wir uns in Dänemark auf, ein Jahr in Schweden, ein Jahr in Finnland, wartend auf Visa, und wir sind jetzt an vier Jahre in den USA, in Kalifornien. Natürlich schrieb ich eine Menge und ich hoffe, wir können einiges davon zusammen durchnehmen. (Ne- benbei: sagen Sie, wo immer Sie das können, das ich dringend bitte, keine grössere Arbeit von mir, alt oder neu, aufzuführen ohne daß ich dazu Stellung nehmen kann. Alles braucht Änderung.)…Wahrscheinlich ist es Ihnen unmöglich, zu korrespondieren? Wir sind sehr besorgt um Ihr Wohlergehen und das der anderen Freunde und hoffen, Ihnen Pakete zukommen lassen zu können, sobald das erlaubt sein wird. Und auf Wieder- sehen! Ihr brecht Oktober 1945« Die nahe liegende Frage, wie sich ein Verlag auf zwei so unterschiedliche literarische Säulen wie Brecht und Hesse stützen könne, wird durch die beiden letzten Pas-

■5 Die erste Frankfurter Adresse des Suhrkamp Verlags: Falkensteiner Straße 24.

hält, in der sich seine Lebensaufgabe erfüllt: die Autoren der Zeit in seinem eigenen Haus zu versammeln. Was Hesse und Brecht mit dem Verleger verbindet

Er unternimmt dies als einen Neubeginn, als Wieder- aufnahme dessen, was die Nationalsozialisten verfemt, verhindert und verfolgt hatten. Hermann Hesse erläu- tert in einem Brief vom Dezember 1948 anhand der ge- scheiterten Publikation des »Glasperlenspiels« die da- malige Situation■6 :»Es war … ein Versuch, den ich und mein tapferer Berliner Verleger Suhrkamp machten. Wir hatten den Wunsch, das in jedem Sinne gegen Hit- ler und das offizielle Deutschl[an]d gerichtete Buch mit- ten während des Krieges in Deutschland einzuschmug- geln … Suhrkamp hat seine tapfere Haltung und seine Treue für mich mit Gefängnis, Konz[entrations]lager,

■6 »Lieber Freund Peter ... Lieber Freund H. H.« – Karte von Hermann Hesse, die Peter Suhrkamps Arbeitszimmer als Erin- nerungsstück schmückte.

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Suhrkamps Erbe

sagen beantwortet: Es ging bei Brecht wie bei Hesse um die Nacht nicht und hatte gegen 6 Uhr früh selbst einen Leben oder Tod. Brecht und Suhrkamp blieb noch ein Herzkollaps, wollte aber auf jeden Fall den letzten Weg Jahrzehnt, um »einiges zusammen durchzunehmen«: mit B gehen, stand also um 7 auf, waschen und anzie- die »Versuche«, die erste Sammelausgabe, Brechts hen ging aber nur mit eingelegten Pausen und so kam Durchsetzung am Theater.■7 Nach dem Ablauf dieser ich erst um 1/2 9 Uhr fort. …Wir waren erst 1/4 nach 9 Zeit, im August 1956, schrieb Suhrkamp an Max Frisch am Friedhof und es war bereits alles geschehen. Hinter- über den letzten Gang zu Brecht /13/: »ich bin Donners- her erfuhr ich, dass B schon 3/4 9 von acht jungen Leu- tagnachmittag aus Berlin zurück. Sie warten gewiß auf ten des Ensembles hinausgetragen wurde. Ich weiss einen Bericht. Als ich Donnerstagabend ankam, erreicht nicht warum und ich habe auch sonst nie ein Verlangen mich bald ein Brief von der Weigel, in dem sie mitteilt, danach gespürt – bei Brecht hätte ich gerne selbst mit ei- dass die Beerdigung ohne Öffentlichkeit, nur unter genen Händen die Leichenwäsche gemacht. Dabei Freunden, am nächsten Morgen um 9 Uhr auf dem Do- waren wir im Leben beide sehr auf Distanz bedacht. Es rotheenstädter Friedhof stattfinden würde. …Ich schlief sind über 35 Jahre, dass wir uns kannten und – mit

»Wobei ich mir bewußt bin, daß der Kreis … eine Elite darstellt.«

»29+3+51 dpa + dem verleger peter suhrkamp, der »Dem uneigennützigen am 28 + (zwei acht) maerz das sechzigste lebensjahr Förderer junger deutscher vollendete, hat die johann-wolfgang-goethe-universi- Dichtung, dem Kämpfer taet die wuerde eines ehrendoktors der philosophie wider Ungeist und Gewalt in einem schmerzlichen verliehen +« Peter Suhrkamp lernte seine Universität, Abschnitt unserer Ge- deren Ehrenpromotion er 1951 entgegennahm und schichte und dem Mittler die heute seinem Erbe die wissenschaftliche Heimat europäischen Geistes an gibt, als Student kennen: Nach dem Ersten Weltkrieg einem neuen Beginn: waren Heidelberg, Frankfurt am Main und München dem vortrefflichen, Geist, die Stationen seines Germanistikstudiums. Ende der Menschlichkeit und Hin- 1940er Jahre kehrte er nach Frankfurt zurück, hier gabe an die Sache bei- spielhaft vereinigenden fand er den westdeutschen Standort für seinen Verlag, Verleger.« Am 28. März mit dem er 1945 in Berlin die Arbeit wiederaufgenom- 1951 verleiht die Philo- men hatte. Zu Peter Suhrkamps 60. Geburtstag am sophische Fakultät der 28. März 1951 sprach ihm die Philosophische Fakultät Johann Wolfgang Goethe- die Ehrendoktorwürde zu, was Hanns W. Eppelshei- Universität Peter Suhr- mer, Gründungsdirektor der Deutschen Bibliothek und kamp die Ehrendoktor- Suhrkamps ältester Frankfurter Freund, im Urkunden- würde. Der lateinisierte /1/ Name des unterzeichnen- text so begründete : den Dekans: Maximiliano »Dem uneigennützigen Förderer junger deutscher Horkheimer. Dichtung, dem Kämpfer wider Ungeist und Gewalt in einem schmerzlichen Abschnitt unserer Geschichte und dem Mittler europäischen Geistes an einem neu- en Beginn: dem vortrefflichen, Geist, Menschlichkeit und Hingabe an die Sache beispielhaft vereinigenden Verleger.« In seiner Antwort vom April 1951 spricht Suhr- wonnen und sich in der Wirkung abgezeichnet habe; Anmerkungen /1/ kamp gegenüber der Fakultät mehr als Dank aus. Er die Anerkennung durch den Kreis so ausgezeichneter Urkunde und stellt an die Professorenschaft wie an sich selbst höchs- und hervorragender Männer ist mehr als ein öffentli- Akte Ehrenpromo- tion Peter Suhr- te Ansprüche, die jenen ähneln, an denen sich seine cher Erfolg; sie bestätigt mir, daß ich Ideen nicht nur kamp, Universitäts- Buchproduktion zu messen hat: »dem wahren Bü- für meine Person huldige, sondern daß es mir auch archiv, Johann cherfreunde zugedacht, jener Leser-Elite, der anzuge- gelungen ist, ihnen Realität zu verleihen und sie in ge- Wolfgang Goethe- hören das Bedürfnis aller ist, denen das gute oder er- wissem Grade zu Ansehen zu bringen. Wobei ich mir Universität Frank- lesene Buch ein unentbehrliches Lebensgut geworden bewußt bin, daß der Kreis, in dem das der Fall ist, eine furt am Main, © ist.« /2/ Peter Suhrkamp an Max Horkheimer /3/: Elite darstellt. ebd. »Hochzuverehrender Herr Dekan! Ganz besonders aber bin ich durch die Tatsache be- /2/ Leporello zum Verehrter Herr Professor Horkheimer! schenkt, daß ich zu einer Zeit, in der jeder seinen Ort Erscheinen der Als mir an meinem Geburtstag die Verleihung des Eh- und Zusammenhang in der natürlichen Welt und ihrer Bibliothek Suhr- rendoktors durch die philosophische Fakultät der Jo- Gesellschaft verlor, in einen Kreis aufgenommen und kamp, 1951. hann Wolfgang Goethe-Universität mitgeteilt wurde, in ihm berechtigt worden bin, in dem jeder nach Kräf- war ich im Augenblick überrascht und ergriffen und ten einen Teil der Tradition abendländischen Geistes /3/ Peter Suhrkamp konnte nur als Antwort meine verwirrten Gefühle verkörpert ... Ich bitte Sie, verehrter Prof. Horkheimer, an Max Horkhei- aussprechen. Nun ich die Urkunde zugestellt erhalten den einzelnen Herren Professoren der philosophischen mer, 5. April 1951, Handschrift und habe, muß ich der Fakultät doch meinen Dank mit Fakultät meinen Dank für Ihre Zustimmung zu mei- Typoskript (Durch- Bedacht zum Ausdruck bringen. ner Arbeit auszusprechen. ... schlag), Archiv der Bisher hatte ich nicht geglaubt, daß die Richtung Mit Hochachtung und in Verehrung Peter Suhrkamp meiner verlegerischen Arbeit nach außen Gestalt ge- Ihr ergebener Peter Suhrkamp« Stiftung, © ebd.

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Forschung intensiv

■7 Kleines Schauspiel des Frankfurter Ensembles: Harry Buckwitz, Peter Suhrkamp und .

Ausnahme der Emigrationszeit – ständig in Verbindung waren. Ich ging am Freitagmorgen sofort in Brechts Wohnung hinauf. … [ich] fand um einen großen run- den Tisch Männer sitzend und in ihrem Kreis, der Tür, durch die ich kam, direkt gegenüber, Heli Weigel, sehr aufrecht und starr und sehr gelb im Gesicht, masken- haft. … Die Weigel kam mir entgegen und beugte sich in meine Arme. Ich zog mich sofort wieder ins Arbeitszim- mer zurück, ohne den Kreis der Männer zu beachten. Der Sohn Brechts, Stefan, kam zu mir. Er deutete auf die offene Tür zu einem kleinen Nebenraum. Es war die Schlafkammer Brechts, in der ich mich auf den einzigen Stuhl, einen Rohrstuhl, setzte. … Am Kopfende, in Höhe des Bettes, ein Brett zum Ablegen von Dingen. Die ganze Kammer … schmal. In der Wand, dem Bett gegenüber, zwei Fenster mit weissen Gardinen. Dorthin kam nach kurzer Zeit Heli Weigel zu mir. Und dort be- richtete sie mir über den letzten Tag. Am Mittag hatte

»Der Brief wurde ihm zur Form«

Was Theodor W. Adorno 1966 in seinem Vorwort zur Main kein Privatleben mehr, und er verbrachte einen ersten Ausgabe von Walter Benjamins »Briefen« beträchtlichen Teil seiner letzten Jahre in Sanatorien, schrieb, gilt für jeden Verleger großer Autoren: Er weshalb er sich persönlich meist nur noch im Brief muss eine Form für »Geschäftspost« finden, die ei- ausdrückte, der ihm andererseits zum Instrument der nem heiklen Gegenstand angemessen ist, nämlich Li- Unternehmensführung wurde. Peter Suhrkamp teratur in den kritischen Stadien ihrer Entstehung. wählte zu Beginn seiner Laufbahn den Lehrerberuf. Der Verleger antwortet oft als erster Leser eines neuen Den pädagogischen Habitus legte er als Verleger nicht Manuskripts, seine Kunst, Anerkennung und Kritik ab. Vielleicht am deutlichsten sichtbar wird er in ei- richtig zu dosieren, trägt viel zu Gedeih oder Verderb nem Essay von 1945, dem Suhrkamp diese Form und eines wachsenden Werks bei. diesen Titel gab: »Brief an einen jungen Freund.« Doch im Posteingang Peter Suhrkamps finden sich In dieser Konstellation entstand eine einzigartige nicht allein Autorenbriefe. Während des geistigen Briefkultur, deren Zeugnisse heute einen Hauptteil Wiederaufbaus Deutschlands nach 1945 wird intellek- des Archivbestands ausmachen. Von den Personen tuelle Autorität nicht nur von Literaten frequentiert, oder Institutionen, die von 1945 bis 1959 mit den Persönlichkeiten aus verschiedenen Bereichen korres- Verlagen Suhrkamp und Insel (der Insel Verlag wurde pondierten auf Augenhöhe über die Fragen der Zeit. 1963 von den Eignern des Suhrkamp Verlags gekauft) Die Alltagssituation Peter Suhrkamps machte ihn in Korrespondenz standen, sind bisher etwa 4000 ka- zu einem eigenwilligen Briefschreiber. Er führte seit talogisiert. Dazu gehören: der Gründung seines Verlags 1950 in Frankfurt am Hermann Abs, Theodor W. Adorno, Karl Altheim, Günther Anders, Alfred Andersch, Ruth Andreas- Friedrich, Ivo Andric, ´ Julius Bab, Ingeborg Bach- mann, Djuna Barnes, Georges Bataille, Rolf Becker, Samuel Beckett, Johannes R. Becher, Gottfried Benn, Max Bense, Eric Bentley, Werner Bergold, Ruth Ber- lau, Gottfried Bermann Fischer, Karen Blixen, Ernst Bloch, Hans Blumenberg, Gunter Böhmer, Heinrich Böll, Marie Luise Borchardt, Bernhard Böschenstein, Alain Bosquet, Willy Brandt, Bertolt Brecht, Arno Bre- ker, Bernard von Brentano, Carl Brinitzer, Hermann Broch, Max Brod, Martin Buber, Lothar-Günther Buchheim, Reinhard Buchwald, Harry Buckwitz, Carl J. Burckhardt, Friedrich Burschell, Elias Canetti, Hans Carossa, Eva Cassirer, Paul Celan, Oscar Walter Cisek, Eugen Claassen, Heinrich Cobet, Franz Cornelsen, Ernst Robert Curtius, Ralf Dahrendorf, Kurt Desch, Walter Dirks, Erich Doflein, Willy Droemer, Friedrich Der Bundespräsident bei der Lektüreberatung: Siegfried Un- Dürrenmatt, Jürgen Eggebrecht, Günter Eich, Wolf seld, Peter Suhrkamp und Theodor Heuss auf der Frankfur- von Einsiedel, T. S. Eliot, Hans Magnus Enzensberger, ter Buchmesse 1954. Hanns W. Eppelsheimer, Theodor Eschenburg, Otto

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Suhrkamps Erbe

die Schwäche, über die er die Tage vorher schon geklagt sachlich: Mit seinem Brief vom 30. Juni 1954 reagierte hatte, stark zugenommen. Es wurde ein EKG gemacht er auf Suhrkamps jüngsten Besuch bei ihm in der (warum da erst ist mir unbegreiflich) und es ergab sich, Schweiz, in dessen Verlauf größere Schwierigkeiten im dass er einen schweren Herzinfarkt hatte, der wenigs- Manuskript aufgelöst wurden, dies nur wenige Wochen tens drei Tage alt war. … Am Dienstagnachmittag, um 6 vor dem Drucktermin /14/: »Ich danke Ihnen noch ein- Uhr, verliess ihn das Bewußtsein. Er lag ruhig, nur im- mal für unser Gespräch über Stiller. Es hat mir viel und mer bemüht durchzuatmen, was ihm offensichtlich wichtigen Anstoss gegeben. Ich brauche ja Anstoss, al- schwer fiel. Gegen 3/4 12 Uhr nachts setzte der Atem aus. lein komme ich nie hindurch, nicht einmal zu dem mir Die Weigel sagte, dass er unmittelbar danach sehr ver- möglichen Punkt. Das ist das Übel all meiner Arbeiten, ändert aussah, aber besonders schön. … Ich kann Ihnen, Sie wissen’s, irgendwo vor dem erstrebten Gipfel lasse lieber Max Frisch, doch nur die Äusserlichkeiten wieder- ich mich nieder, raste, vergesse, erspare mir den Rest. … geben. Sie haben mich selbst über die Tage hinwegge- Nun also, ich bin hier in grosser Bauernstube, allein bracht. Der persönliche Verlust wird mir erst jetzt ganz klösterlich, draussen viel Regen und Nebel, aber Kachel- langsam bewusst. Wir haben uns wohl doch geliebt.« ofen im Zimmer. … Ich habe viel gearbeitet, nicht rauschhaft, eher angestrengt, aber gut, glaube ich … Sie Alle Zeit der Welt für bekommen das Manuskript auf Ende Monat. Dies ohne Max Frischs »Stiller« hysterische Hast. Sie haben Recht: entweder jetzt oder in Jahren. Ich bin froh und grüsse Sie in herzlicher Max Frisch wird später selbst die heikle Vokabel »lie- Dankbarkeit Ihr Max Frisch« ■8 ben« aufgreifen. Einstweilen bewertete er die Umstän- Frisch zeichnet indirekt ein ungeheuerliches Zitat de, unter denen sein Roman »Stiller« gedeiht, eher Suhrkamps auf: »entweder jetzt oder in Jahren«. Peter

Flake, Marieluise Fleißer, Leonhard Frank, Erich Fran- mann, Walter Leiske, Rudolf Leonhard, Friedrich Luft, zen, Erich Fried, Max Frisch, Adolf Frisé, Herbert Frit- David Luschnat, Thomas Mann, Alfred Marnau, Frans sche, Rainer Maria Gerhardt, Leonharda Gescher, Hart- Masereel, Hans Mayer, Peter de Mendelssohn, Yehudi mann Goertz, Albrecht Goes, Henry Goverts, Julien Menuhin, Friedrich Michael, Walter von Molo, Johan- na Moosdorf, Josef Mühlberger, Iwan Nagel, Harold Ni- » ... der erste Monat ist colson, Wolf von Niebelschütz, Martin Niemöller, Hans schon vorbei, es kommt mir Erich Nossack, Walter Oppenheimer, Hans Oprecht, kurz und lang vor, im gan- zen geht es sehr gut, die Carl Orff, Julius Overhoff, Hans Paeschke, Ernst Pen- Fremde tut ihre erhoffte zoldt, Hans Pflug, Werner Picht, Josef Pieper, Klaus Pi- Wirkung! ... Gar viel gele- per, Clemens Graf Podewils, Karl vom Rath, Eva Re- sen habe ich noch nicht, da chel-Mertens, Philipp Reemtsma, Ruth Rehmann, Willi ich, kaum hatte ich eine Reich, Benno Reifenberg, Georg Reinhart, Hans Wer- Ernst Penzoldt, Bude, ins Arbeit[en] gekom- ner Richter, Hermann Rinn, Luise Rinser, Ernst Ro- seit 1934 Autor men bin. Ich habe viel ent- wohlt, Walter Rüegg, Max Rychner, Nelly Sachs, Kurt Peter Suhrkamps, worfen, glaube bei aller Vor- Safranski, Hans Sahl, Monique Saint-Helier, Friedrich versieht seinen sicht sagen zu können, daß Brief zu Carl Sarre, Kurt Saucke, Hans von Savigny, Wolfgang der Roman zustande Suhrkamps kommt.« Max Frisch an Pe- Schadewaldt, Peter Schifferli, Heinrich Schirmbeck, 61. Geburtstag ter Suhrkamp, New York, 3. Carlo Schmid, Arno Schmidt, Lambert Schneider, Rein- mit einem Juni 1951. hold Schneider, Wolfdietrich Schnurre, Salomon Scho- Selbstbildnis. cken, Gershom Scholem, Rudolf Green, Will Grohmann, Gustaf Gründgens, Walter M. Alexander Schröder, Hans Schwab- Guggenheimer, Willy Haas, Rudolf Hagelstange, Carl Felisch, Anna Seghers, Friedrich Hanser, Ernst Harthern, Rudolf Hartung, Elisabeth Sengle, George Bernard Shaw, Hauptmann, Margarete Hauptmann, Manfred Haus- Friedrich Sieburg, Hilde Spiel, Edu- mann, Iwan Heilbut, Werner Helwig, Stephan Hermlin, art Spranger, Emil Staiger, Dolf Hermann Hesse, Theodor Heuss, Wolfgang Hildeshei- Sternberger, Hans Heinz Stucken- mer, Rudolf Hirsch, Kurt Hirschfeld, Walter Höllerer, schmidt, Peter Szondi, Frank Hans Egon Holthusen, Max Horkheimer, Ricarda Huch, Thiess, Elmar Tophoven, Siegfried Peter Huchel, Hans Henny Jahnn, Oskar Jancke, Wal- Trebisch, Jan Tschichold, Franz ter Janka, Gotthard Jedlicka, Uwe Johnson, Elisabeth Tumler, Thure Uexküll, Franz von Jungmann, Erich Kahler, Joachim Kaiser, Hermann Unruh, Johannes Urzidil, Werner Kasack, Marie Luise Kaschnitz, Rudolf Kassner, Erhard Vordtriede, Otto Vossler, Georg von Kästner, Erich Kästner, Friedhelm Kemp, Kurt Kersten, der Vring, Martin Walser, Helene Hermann Kesten, Henry Kissinger, Vittorio Kloster- Weigel, Wilhelm Weischedel, Peter mann, Wolfgang Koeppen, Oskar Kokoschka, Annette Weiss, Carl Friedrich von Weizsä- Kolb, Walter Kolb, Karl Korn, Siegfried Kracauer, Wer- cker, Erika Werckmeister, Benno ner Kraft, Karl Krolow, Stefan Lackner, Fritz Landshoff, von Wiese, Josef Witsch, Andreas Marianne Langewiesche, Melvin Lasky, Halldór Lax- Wolff, Kurt Wolff, Maxim Ziese, ness, Hanns Lefèbre, Gertrud von le Fort, Wilhelm Leh- Carl Zuckmayer.

Forschung Frankfurt 1/2007 27 UNI 2007/01 Teil 1 04.04.2007 11:49 Uhr Seite 28

Forschung intensiv

■9 »Gut zum Druck« – Max Frisch findet im Umbruch keinen Fehler mehr.

Suhrkamp setzte im Sommer 1954 das fünfte Herbst- programm seines Unternehmens aufs Spiel, als er sei- nem säumigen Autor suggerierte, er habe alle Zeit der Welt. Die beiden haben diese Zeit, Zeit für unbedingtes Vertrauen in Qualität, weshalb Peter Suhrkamp für den Autor all die Gesetze außer Kraft setzt, denen er doch selbst unterliegt. Peter Suhrkamp behält Recht: »Stiller« erschien im Herbst 1954, spät, aber vollendet, und zum 50-jährigen Jubiläum von »Stiller« liegt der Roman in einer deutschsprachigen Gesamtauflage von 2,3 Millio- nen Exemplaren vor (von der Weltauflage nicht zu sprechen).■9 Frisch wählt zum Schluss seines Nachrufs auf den Verleger, in dem er auch vom »Geheimnis« sprach, die stärkste Definition des Vertrauensverhältnis- ses /15/: »Ich habe Peter Suhrkamp geliebt.« Die Kostproben, zu denen die »Spuren« bisher führ- ten, fallen unerwartet emotional aus. Dem muss nicht so sein, wie eine theoretisierende, doch nicht minder herzliche Stimme zeigt. Theodor W. Adorno suchte in einem Brief an Suhrkamp nach rationalen Begriffen, mit denen er die Komponenten, die in die gemeinsame

■8 »An einigen Stellen kam ich um starke Eingriffe nicht he- rum, leider. Sie können versichert sein, dass Striche und Än- derungen immer mit Bedacht, ohne Panik, geschehen und je- desmal auch überschlafen werden.« Max Frisch unterlässt es in seinem Brief vom 22. August 1954, Peter Suhrkamp darauf hinzuweisen, dass er für seinen Roman »Stiller« wenige Tage vor der Drucklegung einen neuen Anfang geschrieben hat.

Anmerkungen /1/ Siegfried Unseld, /4/ Peter Suhrkamp, /7/ Die Dokumente Suhrkamp Verlag, 1945, siehe ders., Peter Suhrkamp«, Vorwort zu »In Brief an einen sind gedruckt im Hrsg. Regina Werke Bd. 29, S. 24. memoriam Peter Heimkehrer, siehe Anhang von: Her- Bucher und Wolf- Briefe 2, Suhrkamp Suhrkamp«, Privat- ders., Ausgewählte mann Hesse – Peter gang Schopf, Verlag Frankfurt /16/ Theodor W. druck Frankfurt am Schriften, Privat- Suhrkamp, Brief- Suhrkamp Verlag am Main 1998, Adorno an Peter Main 1959, S. 7f. druck Frankfurt am wechsel 1945 – Frankfurt am Main S. 365f. Suhrkamp, Main 1951, S. 55. 1959, herausgege- 2006, S. 12. 23. September /2/ Bertolt Brecht, ben von Siegfried /13/ Peter Suhrkamp 1953, siehe »So Leben des Galilei, /5/ Max Frisch, Unseld zum /10/ Hermann an Max Frisch, müßte ich ein En- siehe ders., Werke, Peter Suhrkamp, 31. März 1969, Hesse, an Siegfried 25. August 1956, gel und kein Autor Stücke 5 (Große siehe »In memori- Suhrkamp Verlag Unseld [Ende De- Typoskript (Durch- sein«. Adorno und kommentierte Ber- am Peter Suhr- Frankfurt am Main zember 1948], sie- schlag), Archiv der seine Frankfurter liner und Frankfur- kamp«, S. 19. 1969. he »Im Dienste der Peter Suhrkamp Verleger. Der Brief- ter Ausgabe, Hrsg. gemeinsamen Stiftung, © ebd. wechsel mit Peter Werner Hecht / Jan /6/ Peter Suhrkamp, /8/ Bertolt Brecht Sache«, S. 16. Suhrkamp und Knopf / Werner Lebenslauf, Hand- an Peter Suhrkamp, /14/ Max Frisch an Siegfried Unseld, Mittenzwei / Klaus- schrift und Typo- siehe ders., Werke /11/ Der Berliner, Peter Suhrkamp, Hrsg. Wolfgang Detlef Müller, Bd. skript, April 1951, Bd. 30, Briefe 3, 27. Oktober 1945, 30. Juni 1954, Ty- Schopf, Suhrkamp 5), Suhrkamp Ver- Archiv der Peter Suhrkamp Verlag S. 4, siehe »Im poskript, Archiv Verlag Frankfurt lag Frankfurt am Suhrkamp Stiftung Frankfurt am Main Dienste der ge- der Peter Suhr- am Main 2003, Main 1988, S. 282. an der Johann 1998, S. 26. meinsamen Sa- kamp Stiftung, © S. 118. Wolfgang Goethe- che«, S. 15. Max Frisch Archiv, /3/ Hermann Hesse, Universität Frank- /9/ siehe »Im Zürich. /17/ Siehe »Im Freund Peter, siehe furt am Main, © Dienste der ge- /12/ Bertolt Brecht Dienste an der ge- »In memoriam Pe- ebd. meinsamen Sa- an Peter Suhr- /15/ Max Frisch, Pe- meinsamen Sa- ter Suhrkamp«, che«. Hermann kamp, Oktober ter Suhrkamp, sie- che«, S. 104f. S. 33. Hesse und der he »In memoriam

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Suhrkamps Erbe

■10 »…und froh, auch am neuen Teilhaber des Verlags einen Freund meines Werks zu haben« – Siegfried Unseld trat zum Jahresbeginn 1952 in den Suhrkamp Verlag ein, zuständig für »Vertrieb, Werbung, Herstellung und gelegentlich Lektorat«, wie er im Silvesterbrief 1951 an Hermann Hesse schrieb. Der begrüßt gegenüber Siegfried Unseld die ab 1958 offizielle Nachfolgeregelung.

Im Herbst 2002, nach Siegfried Unselds Tod und dem Abschluss eines Lebenswerks von ganz eigenem Maß, versuchten die Feuilletonisten Unseld zu charakterisie- ren. Am weitesten wagte sich dabei die »Zeit« mit der Überschrift vor: »Der Mann, der die Bundesrepublik war.« Das Bild mag überzeichnet sein, doch bleibt man im Bild, dann stammen die »Spuren« von 1945 bis 1959 von Angehörigen des »Parlamentarischen Rats«, von der »Verfassungsgebenden Versammlung« jener li- terarischen Republik, deren Erbe an der Johann Wolf- gang Goethe-Universität angesiedelt ist. Von den ersten Zeugnissen aus Siegfried Unselds langer Ära wird be- richtet werden, nachdem die nächste Tranche der Do- kumente, die aus den Jahren 1960 bis 1969 stammen, ins Archiv gelangt ist. ◆

Beziehung hineinwirken, adäquat bestimmen kann. Er ■11 »Peter Suhr- fand diese: »Was mir Ihre Freundschaft und Solidarität kamps gedenkend bedeutet, muß ich Ihnen nach der Geschichte meiner grüssen wir nach Rückkunft nicht sagen – in unserer Beziehung verbin- Montagnola. Un- seld / Schröder / det sich die Neigung, das objektive Interesse und die Hermann Kasack / Realisierung im äußeren Leben so sehr, wie es einem Max Frisch / Hans nur ganz selten zuteil wird, und daß ich das in einem Erich Nossack / Alter, in dem sonst neue Freundschaften kaum mehr Hanns W. Eppels- sich bilden, erfahren durfte, erfüllt mich mit tiefer heimer / Ingeborg Dankbarkeit.« /16/ Ansorge / Helene Weigel Brecht / Karl Krolow / Wal- Von Suhrkamp zu Unseld ter Höllerer / Ted- die Adorno« – Te- Ein kleinformatiges Dokument zeigt sinnfällig den legrammentwurf Übergang der Ära Peter Suhrkamps zu der Siegfried Un- nach der Gedenk- selds.■10 Ein halbes Jahr nach Suhrkamps Tod im März feier für Peter 1959 wurde im Frankfurter Schauspiel eine Gedenk- Suhrkamp, feier ausgerichtet, nach deren Ende ein enger Kreis von 27. September 1959. Autoren gemeinsam mit Unseld ein Telegramm an den verhinderten Hermann Hesse schickte. Der handschrift- liche Entwurf lautet /17/: »Peter Suhrkamps gedenkend grüßen wir nach Montagnola / Unseld / Schröder / Hermann Kasack / Max Frisch / Hans Erich Nossack / Hanns W. Eppelsheimer / Ingeborg Ansorge / Helene Weigel Brecht / Karl Krolow / Walter Höllerer / Teddie Adorno« ■11

Der Autor

Wolfgang Schopf, 40, studierte Germanistik und Politikwis- mit Kunsthistorikern an der University of senschaft in Frankfurt. Zu seinen literaturgeschichtlichen Tulsa und der Washington University, um Forschungsschwerpunkten (»Nationale Identität«, Vormärz, nachgelassene Quellen zur Visualisierung Zensur, Literatur der Weimarer Republik, des Exils und der kulturellen Repräsentanz des Nachkriegsdeutschlands) spezialisierte er sich auf die Er- deutschsprachigen Exils in Frankreich zu schließung von Archivmaterial unter editorischen und kura- erschließen. Schopf baut seit 2003 das torischen Gesichtspunkten. 1997/98 gehörte er einem in- Archiv der Peter Suhrkamp Stiftung an terdisziplinären Forschungsprojekt an, das vatikanische Ge- der Johann Wolfgang Goethe-Universität heimarchive auswertete. Von 1998 bis 2001 kooperierte er auf.

Forschung Frankfurt 1/2007 29 UNI 2007/01 Teil 2 04.04.2007 11:50 Uhr Seite 30

Forschung intensiv Globale Verfassungen – jenseits des Nationalstaats

Wie Subsysteme der Weltgesellschaft ihre eigenen Rechtsnormen schaffen

von Gunther Teubner

Während in den Vereinten Nationen mit mä- ßigem Erfolg um eine international akzep- tierte Weltpolitik gerungen wird, haben sich in anderen gesellschaftlichen Bereichen längst globale vernetzte Strukturen entwi- ckelt. Ansätze für eine Vielzahl von autono- men Zivilverfassungen, die die Welt um- spannen, sind erkennbar – vom »cyberspa- ce« bis zur Weltwirtschaft. Lassen sich mit den Grundsätzen der nationalstaatlichen Verfassungen auch die Herausforderungen angehen, die sich aus den drei aktuellen Justitia in Ketten. Trends – Digitalisierung, Privatisierung und globaler Vernetzung – ergeben? Ging es im 18. und 19. Jahrhundert im Nationalstaat darum, die Rechte des Einzelnen gegenüber dem Staat zu stärken und die Politik durch ihre Bindung an das Recht zu disziplinieren, so dreht es sich heute um Freisetzung und Disziplinierung ganz anderer globaler Dynami- ken. Der Rechtssoziologe Prof. Dr. Gunther Teubner beschäftigt sich mit der Frage: Kann man die Traditionen der Nationalstaatsverfassung fruchtbar machen und sie zugleich so umdenken, dass sie den neuen Problemlagen gerecht werden?

ine Gruppe von Globalisierungsgegnern beruft »websites«, für die er das Prozessrisiko strafrechtlicher sich in einem spektakulären Prozess auf die Mei- oder zivilrechtlicher Natur als zu hoch einschätzt. Von Enungsfreiheit als Grundrecht und versucht, den der Sperre sind auch als radikal eingestufte politische Zugang zu einem kommerziellen »host provider« im In- Gruppierungen betroffen. Mit einer Zivilklage versucht ternet gerichtlich zu erzwingen. Sie verklagt den »host die Gruppe der Globalisierungsgegner nun, den Zugang provider«, der auf seinen vernetzten Rechnern »content zu den »websites« des »host providers« zu erzwingen. providers« die Möglichkeit anbietet, Webseiten aufzu- Der Fall bündelt wie in einem Brennglas eine Fülle bauen. Seit längerem war der »host provider« schon in von fundamentalen Fragestellungen, welche die Digita- das Fadenkreuz von Staatsanwälten und privaten Sam- lisierung der Kommunikation aufwirft. Im Zentrum melklägern geraten, da einige Webseiten Kinderporno- steht die Frage eines universalen politischen Zugangs- graphie und Nazipropaganda enthielten. Darauf sperrt rechts zur digitalen Kommunikation, letztlich das Pro- der »provider« mit elektronischen Mitteln alle die blem des Ausschlusses, der Exklusion aus globalen

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Verfassungsrecht

Kommunikationsvorgängen. Wie wirkt es sich auf die traditionelle staatsbezogene Grundrechte. Eine solche Gesellschaft – national wie international – aus, wenn Forderung, von der einen Staatsverfassung der Nation Gruppen von dieser Basiskommunikation ausgeschlos- auf die vielen Zivilverfassungen der Weltgesellschaft sen werden? umzustellen, wirft natürlich sofort die Frage auf, welche Umstände es rechtfertigen, das nationalstaatliche Mo- Entstehungsprozesse von dell einer exklusiv politischen Verfassung, das sich an- Zivilverfassungen scheinend über Jahrhunderte bewährt hat, für die Welt- gesellschaft zu verwerfen. In der jüngsten Entwicklung des transnationalen Rechts lässt sich beobachten, dass eine Vielzahl von Zivilverfas- Diagnose I: sungen entsteht. Die Verfassung der Weltgesellschaft Dilemma der Rationalisierung verwirklicht sich nicht exklusiv in den Stellvertreter-In- stitutionen der internationalen Politik, sie kann aber Der deutsche Soziologe Max Weber hat die Rationalisie- auch nicht in einer alle gesellschaftlichen Bereiche rungsprozesse der Moderne prägnant beschrieben: Ein- übergreifenden Globalverfassung stattfinden, sondern heit, Verbindlichkeit und Integrationskraft eines gesell- sie entsteht zunehmend in der Konstitutionalisierung schaftsweiten Wertesystems haben sich überlebt; an einer Vielheit von autonomen weltgesellschaftlichen deren Stelle ist ein neuer Polytheismus, eine Vielheit Teilsystemen. von partiellen Lebensbereichen und Wertordnungen, Die im Internet tobenden Kämpfe um »cyberanar- getreten, die den Individuen ihre eigenen Rationalitäten chy«, staatliche Regulierung und Kommerzialisierung und Kommunikationsformen aufzwingen. In Webers sind verfassungspolitische Konflikte ersten Ranges, in düsterer Prognose endet der Modernisierungsprozess deren chaotischem Verlauf nichts anderes als eine Digi- unausweichlich in einer Situation intensiver Konkur- talverfassung allmählich Konturen gewinnt. Nicht von renz um Machtpositionen und sozialen Einfluss, hoch- ungefähr benutzt die berühmt-berüchtigte »Declaration formalisierter sozialer Kontrolle und politischem und of the Independence of Cyberspace« das verfassungs- sozialem Autoritarismus. Der amerikanische Soziologe politische Pathos der Gründerväter und erklärt gegen- David Sciulli stellt in seiner »Theory of Societal Consti- über den »Governments of the Industrial World, you tutionalism« die Frage nach existierenden Gegenkräften weary giants of flesh and steel, I come from Cyberspace, zu Max Webers Rationalisierungstrend, dessen proble- the new home of Mind. …, the global social space we matische Folgen vor allem darin bestehen, dass: are building to be naturally independent of the tyran- nies you seek to impose on us. You have no moral right – sich in allen Lebensbereichen zunehmend formale to rule us nor do you possess any methods of enforce- hierarchisch strukturierte und mit Expertenwissen ment we have true reason to fear.« (»Regierungen der ausgestattete Organisationen als Träger der formalen industriellen Welt, ihr erschöpften Giganten aus Fleisch Rationalität durchsetzen, die an die Stelle der infor- und Stahl, ich komme vom Cyberspace, der neuen Hei- mell gepflegten Kontakte treten; mat des Geistes…, der globalisierte soziale Raum, den wir aufbauen, um verständlicherweise unabhängig von »Avaritia« – Geld- der Tyrannei zu sein, die ihr versucht, uns aufzudrän- gier, Geiz, eines gen. Ihr habt weder das moralische Recht, uns zu be- der Laster des herrschen, noch besitzt ihr irgendwelche Erzwingungs- »malgoverno« (schlechte Regie- methoden, die wir wirklich zu fürchten haben.«) rung) [siehe auch Zunehmend werden vor nationale Gerichte und in- »Zur Symbolik in ternationale Schiedsgerichte Streitfälle getragen, in Lorenzettis Fres- denen über die Geltung von Grundrechten im »cyber- ko«, Seite 34]. space« entschieden wird. Eines der vielen Grundrechts- probleme der Internet-Verfassung stellt sich in unserem Rechtsfall. Ob ein Zugangsanspruch gegenüber einem »host provider« im Internet besteht oder nicht, ist nach fundamentalen Grundsätzen digitaler Kommunikation zu entscheiden. Die offene Frage in unserem Ausgangs- fall ist, ob man es privaten Unternehmen überlassen darf, die Grenzen der Meinungsfreiheit im Internet zu definieren. Um die »Kampfzone auszuweiten«: Von Seattle bis Genua finden in den Konferenzsälen und auf der Straße Kämpfe um eine Weltwirtschaftsverfassung statt, deren Ergebnisse den internationalen Institutionen Weltbank, Internationaler Währungsfonds (IWF) und Welthan- delsorganisation (WTO) einen konstitutionellen Schub geben werden. Eine globale Wissenschaftsverfassung und eine Verfassung des globalen Gesundheitssystems formieren sich in den erregten wissenschaftsinternen und -externen Debatten über Embryonenforschung und reproduktive Medizin und sind auf der Suche nach wissenschafts- und medizinadäquaten Äquivalenten für

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Forschung intensiv

Tyrannei – die nisationen und Gruppen. Um Prozeduren von gesamt- Herrschaft im gesellschaftlicher Reflexion sozial zu institutionalisieren, »malgoverno«. bedürfe es »collegial formations«, spezifischer Organi- sationsformen, in denen gesellschaftliche Netzwerke, Professionen und Normen produzierende Institutionen zusammenwirken. Politische Konsequenz ist, die Auto- nomie solcher »collegial formations« öffentlich zu le- gitimieren, politisch zu garantieren und rechtlich abzusi- chern. Das Spektrum reicht von Forschungseinrichtun- gen über künstlerische und intellektuelle Netzwerke bis hin zu Gerichten, Kommissionen und Non-Profit-Orga- nisationen, um nur einige zu nennen. Diese Theorie des »societal constitutionalism« hatte ihre Vorläufer in den Ideen zum »private government« in den USA, die den hochpolitischen Charakter privater Organisationen he- rausarbeiteten, zur Mitbestimmung und zu anderen For- men der Demokratisierung gesellschaftlicher Teilberei- che in Europa beitrugen und die speziell formale Organi- sationen unter Konstitutionalisierungsdruck setzten. Welche Funktion können Verfassungen im Prozess der Modernisierung übernehmen? In der Festlegung autonomer Verfassungen, der Konstitutionalisierung, geht es darum, das Potenzial hochspezialisierter Dyna- miken durch ihre gesellschaftliche Institutionalisierung – besonders außerhalb der Politik in den gesellschaftli- freizusetzen. Zugleich bedarf es aber auch Mechanis- chen Bereichen die formale Organisierung des Han- men der Selbstbeschränkung, damit eine Teilrationalität delns zunimmt, dessen Auswirkungen zu einer um- sich nicht gesellschaftsweit ausdehnen und so die funk- fassenden Regelorientierung des Individuums führen, tionale Differenzierung der Gesellschaft unterlaufen wodurch der Einzelne reglementiert und gleichsam in kann. Solche Expansionstendenzen zeigten sich früher »Gehäuse der Hörigkeit der Zukunft« eingeschlossen hauptsächlich in der Politik, heute eher in der Wirt- wird; schaft, in der Wissenschaft, der Technologie und ande- ren gesellschaftlichen Sektoren. War es die zentrale Auf- Die einzige gesellschaftliche Dynamik, die diesem evolu- gabe politischer Verfassungen, neben der Organisation tionären Drift in der Vergangenheit effektiv entgegenge- des Staatswesens die Autonomie anderer Handlungs- arbeitet hat und in Zukunft Widerstand leisten kann, ist sphären gerade vor ihrer politischen Instrumentalisie- nach Sciulli in den Institutionen eines »societal consti- rung zu bewahren, so dürfte es in den heutigen Zivilver- tutionalism«, eines »Gesellschaftlichen Konstitutionalis- fassungen darum gehen, gegenüber dem dominanten mus«, zu finden. Während sich der herkömmliche Kon- gesellschaftlichen Rationalisierungstrend die Arti- stitutionalismus auf den Staat konzentriert und die kulationschancen anderer Handlungslogiken dadurch Rechte und Pflichten der Staatsgewalt und der Bürger zu sichern, dass Autonomieräume für gesellschaftliche in einer Verfassung festlegt, stellt Sciulli die Verfassungs- Reflexion in langwierigen Konflikten erkämpft und in- frage zugleich für gesellschaftliche Institutionen, Orga- stitutionell garantiert werden.

Versammlung der Seneser Bürger.

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Verfassungsrecht

Diagnose II: Vielheit von Vertrag zwischen zwei Kaufleuten – selbstständigen »global villages« »justitia commu- Die Entstehung der Weltgesellschaft findet nicht unter tativa« (Tauschge- rechtigkeit). der Führung der internationalen Politik statt, sondern wird von dieser – siehe Globalisierung des Terrorismus – allenfalls reaktiv begleitet. Sie kann auch nicht mit der globalen Vernetzung der Ökonomie gleichgesetzt wer- den, auf deren Veränderungen alle anderen Lebensbe- reiche nur reagieren. Vielmehr ist Globalisierung ein po- lyzentrischer Prozess, in dem unterschiedliche Lebens- bereiche ihre regionalen Schranken durchbrechen und autonome Globalsektoren konstituieren. Das Resultat sind eine Vielzahl von selbstständigen »global villages«, die als autonome Funktionsbereiche eine weltweite und von außen nicht kontrollierbare Ei- gendynamik entfalten. Globalisierung bedeutet also nicht einfach Globalkapitalismus, sondern die weltweite Realisierung funktionaler Differenzierung. Entschei- dend für unsere Frage ist nun, dass die Globalisierung des Politischen im Vergleich zu anderen Teilsystemen relativ zurückgeblieben ist und es wohl auf absehbare Zeit auch bleiben wird. Angesichts der notorischen Schwäche der Institutionen der Vereinten Nationen ist Weltpolitik im Kern immer noch internationale Politik, also ein Interaktionssystem von autonomen National- staaten, in das allmählich auch internationale Organisa- tionen hineingezogen werden, ohne dass diese die Staa- tenwelt ablösen oder auch nur auf den zweiten Rang (Juridifizierung) und Konstitutionalisierung herauszu- verweisen könnten. In dieser Asymmetrie von voll glo- stellen. Man muss sich den paradoxen Prozess vor balisierten Teilsystemen der Gesellschaft und bloß inter- Augen führen, in dem jede Rechtsbildung immer schon nationalisierter Politik ist der Konstellation der Boden rudimentäre Elemente ihrer Eigenverfassung voraus- entzogen, in der die politischen Institutionen mit ihrer setzt und diese zugleich erst in ihrem Vollzug konstitu- Eigenverfassung zugleich auch die Gesamtgesellschaft iert. verfassen könnten. Das problematische Verhältnis von Verrechtlichung und Konstitutionalisierung lässt sich heute nicht mehr Diagnose III: nur auf politische Gemeinwesen begrenzen. Grotius´ be- Schleichender Konstitutionalismus rühmter Satz »ubi societas ibi ius« (»wo Gemeinschaft ist, da ist Recht«) ist unter den Bedingungen funktiona- Besitzen die globalen Gesellschaftssektoren überhaupt ler Differenzierung des Globus umzuformulieren: Wo das Potenzial einer Eigenverfassung? Hier gilt es, einen immer sich autonome Gesellschaftssektoren entwickeln, wichtigen Zusammenhang zwischen Verrechtlichung werden zugleich eigenständige Mechanismen der

Literatur Amstutz, Marc/ gen globaler politi- schenrechte, Wei- sellschaft?, in: Multiple Modes of phie und Sozialphi- quenzen von Euro- Karavas, Vaios: scher Strukturbil- lerswist: Velbrück ders., Zwischen Na- Thought, Vortrag, losophie, 24. bis päisierung und In- Rechtsmutation: dung, Wiesbaden: 2005. turalismus und Re- Harvard März 29. Mai, Granada ternationalisierung, Zu Genese und VS 2007, S. 63 – ligion. Philosophi- 2005, abrufbar un- 2005, in: Der Staat in: Veröffentlichun- Evolution des 107. Grimm, Dieter: Die sche Aufsätze, ter www.valt.hel- 45 (2006), S. 161– gen der Vereini- Rechts im transna- Verfassung im Pro- Frankfurt/M. 2005, sinki.fi/blogs/eci/Pl 187. gung der Deut- tionalen Raum, in: Calliess, Gralf-Pe- zess der Entstaatli- Wiederabdruck in uralismHarvard.pdf schen Staatsrechts- Rechtsgeschichte ter: Grenzüber- chung, in: Brenner, KJ 3/2005. Teubner, Gunther: lehrer 63 (2004), Rg. 8 (2006), S. schreitende Ver- Michael/ Huber, Sciulli, David: Globale Zivilverfas- S. 41 – 70. 14 – 32. braucherverträge. Peter und Möstl, Kadelbach, Ste- Theory of Societal sungen: Alternati- Rechtssicherheit Markus (Hrsg.), phan/Kleinlein, Constitutionalism, ven zur staatszen- Walter, Christian: Brunkhorst, Hau- und Gerechtigkeit Der Staat des Thomas: Überstaat- Cambridge: Cam- trierten Verfas- Constitutionalizing ke: Die Legitimati- auf dem elektroni- Grundgesetzes – liches Verfassungs- bridge University sungstheorie, in: (Inter)national Go- onskrise der Welt- schen Weltmarkt- Kontinuität und recht. Zur Konsti- Press 1992. Zeitschrift für aus- vernance: Possibili- gesellschaft. Global platz, (Ius Privatum Wandel. Festschrift tutionalisierung im ländisches öffentli- ties for and Limits Rule of Law, Global 103) Tübingen: für Peter Badura, Völkerrecht, in: Ar- Teubner, Gunther: ches Recht und to the Develop- Constitutionalism Mohr Siebeck Tübingen: Mohr chiv des Völker- Die anonyme Ma- Völkerrecht 63 ment of an Inter- und Weltstaatlich- 2006. Siebeck 2004, S. rechts 44 (2006), S. trix: Menschen- (2003), S. 1– 28. national Constitu- keit, in: Albert, 145 – 167. 235 – 266. rechtsverletzungen tional Law, in: Ger- Mathias und Stich- Fischer-Lescano, durch »private« Vesting, Thomas: man Yearbook of weh, Rudolf Andreas: Global- Habermas, Jürgen: Koskenniemi, transnationale Ak- Die Staatsrechts- International Law (Hrsg.), Weltstaat verfassung. Die Eine politische Ver- Martti: Global Le- teure, Plenarvor- lehre und die Ver- 44 (2001), S. 170 – und Weltstaatlich- Geltungsbegrün- fassung für die plu- gal Pluralism. Mul- trag Weltkongress änderung ihres Ge- 201. keit. Beobachtun- dung der Men- ralistische Weltge- tiple Regimes and der Rechtsphiloso- genstandes: Konse-

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Forschung intensiv

»Il buon governo« – zur Symbolik in Lorenzettis Fresko Im Jahre 1338, in einer Zeit extremer politischer Tur- bolisiert so den Übergang vom horizontalen »ius pri- bulenzen, entwarf Ambrogio Lorenzetti, ein berühm- vatum« zum vertikalen »ius publicum«, um die Hand ter spätmittelalterlicher Künstler aus Siena, sein Meis- des Herrschers zu binden, die das Zepter hält, das terwerk »Il buon governo« (die gute Regierung) als Symbol effektiver Macht, das dem »vinculum iuris« Teil eines Freskenzyklus »Allegorie ed effetti del buo- verbindliche Kraft verleiht. no e cattivo governo in città ed in campagna« (Alle- Es gibt ein weiteres erhellendes Detail in der Dar- gorien und Wirkungen guter und schlechter Regie- stellung. Wie viele Körper hat Justitia? Das Fresko rung in Stadt und Land), das heute noch im Rathaus enthüllt, dass »Il buon governo« nicht nur die eine von Siena zu bewundern ist. Lorenzetti führte seinen Gerechtigkeit kennt, überraschenderweise hat Justitia Zeitgenossen im »malgoverno« (schlechte Regierung) in der perfekten Gesellschaft zwei Körper. Der eine – die Perversion politischer Macht vor Augen, aber links im Bilde – ist losgelöst von der Macht, unabhän- auch im »buon governo« den möglichen Weg zu ei- gig und souverän. Bemerkenswert sind die Subtilitä- ner guten republikanischen Gesellschaft. Im »malgo- ten der hierarchischen Positionen: Justitia ist deutlich verno« führt das Fehlen einer Verfassung dazu, dass unterhalb der politischen Herrschaft angeordnet, Justitia in Ketten liegt und die von allen möglichen während ihre himmlische Quelle, die engelhafte Sa- Lastern umgebene Tyrannei eine destruktive Gesell- pientia, sich etwas höher als die Herrschaft befindet. schaft produziert. Im Fresko des »buon governo« Gegenüber dem Reich der Macht autonom, isoliert zeigt sich eine Vision nicht nur des Rechts im allge- von politischen Einflüssen, löst Justitia Konflikte, lässt meinen, sondern – wie es für die Kaufmannsrepublik den Bürgern Tauschgerechtigkeit zukommen und schafft so Concordia zwischen den Bürgern. Es gibt aber noch eine zweite Justitia, eine allegori- sche Figur gleichen Namens, die nun aber nahe dem Zentrum der Macht – rechts im Bilde – residiert. Diese Justitia spielt eine politische Rolle als eine der Tugen- den (Berater des Herrschers), die die rohe Macht des Herrschers einschränken. Neben Justitia gehören da- zu: »pax« (Frieden), »fortitudo« (Tapferkeit), »pru- dentia« (Klugheit), »magnanimitas« (Großmut) und »temperantia« (Mäßigung). In dieser Doppelrolle der Justitia – modern ausgedrückt: in ihrer Autonomie gegenüber der Politik und ihrem Wiedereintritt in die Politik – sehen wir eine frühe Symbolisierung der Idee des Rechtsstaates, eine Vision der Unabhängig- keit des justiziellen Verfahrens des Straf- und Privat- rechts auf der einen Seite und auf der anderen Seite »Il buon governo« Siena zu erwarten ist – besonders auch des Privat- des öffentlichen Rechts als inhärente und effektive (die gute rechts und des Vertrages, also eine Vision einer Ver- Selbstverstärkung und Selbstbeschränkung der politi- Regierung). fassung, die sich nicht auf die Politik beschränkt, son- schen Macht. dern die gesamte Gesellschaft umgreift. Schaut man sich die Menschen am unteren Rand der Darstellung genauer an, erkennt man, dass ein geflochtenes Band durch die Hände aller läuft. Eine mütterliche Figur namens Concordia (Eintracht) flicht das Band aus den zwei Strängen der »iustitia distributiva« (Ver- teilungsgerechtigkeit) und »iustitia com- mutativa« (Tauschgerechtigkeit) – sym- bolisiert durch zwei Engel, die dem Volk Gerechtigkeit austeilen und Vertrags- schlüsse sanktionieren – und von einer majestätischen Justitia im Gleichgewicht gehalten werden. In der Tat ist das Seil das »vinculum iuris«, das Band des Rechts. Vom Himmel hoch, da kommt es »malgoverno« (schlechte Regierung). her, aus den Armen der göttlichen Sa- pientia (Weisheit), wird von der majestätischen Justi- Nicht umsonst gilt dieser Freskenzyklus als eine tia zu den zwei Strängen der aristotelischen Gerech- der kraftvollsten Symbolisierungen der Entstehung tigkeit geteilt, von Concordia zusammengeflochten, von Normativität [siehe auch Klaus Günther »Wie um schließlich die Hände der Seneser Bürger zu bin- Menschen Normen und Wertvorstellungen mit beein- den. Dann aber wendet sich das Band im Mittelteil flussen«, Seite 78] und der Verfassung von Staat und des Bildes unvermittelt wieder nach oben und sym- Gesellschaft.

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Forschung intensiv

nichtpolitischen gesellschaftlichen Konfliktlösungsin- stanzen, internationalen Organisationen, Schiedsgerich- ten, Mediationsinstanzen, Ethikkommissionen, Ver- tragsregimes. Das bedeutet freilich nicht, dass nun jeder Gesellschaftssektor seine konstitutionellen Normen aus- schließlich in Eigenregie produziert. Die Herausbildung von globalen Zivilverfassungen ist ein Prozess, an dem externe und interne Faktoren zusammenwirken. Stets ist das Rechtssystem beteiligt, denn diese Prozesse fin- den im gesellschaftlichen Subsystem und zugleich an der Peripherie des Rechts statt. Und in mehr oder min- der großem Ausmaß spielt die internationale Politik bei der Herausbildung von globalen Subverfassungen eine Rolle, indem sie diese mit politischen Verfassungsinter- ventionen irritiert. Insofern internationale Organisatio- nen, Nichtregierungsorganisationen, Medien, multina- tionale Unternehmen, globale Anwaltspraxen, globale Funds, globale Verbände, globale Schiedsgerichte den globalen Rechtsbildungsprozess vorantreiben, ist auto- nome Rechtssetzung auch an dem Formierungsprozess ihrer sektorialen Verfassung maßgeblich beteiligt. Schließlich ist hier ein merkwürdiges Latenzphäno- men zu beobachten. Elemente der Zivilverfassungen sind nicht in einem »big bang«, in einem spektakulären revolutionären Akt der Konstituente nach amerikani- schem oder französischem Vorbild entstanden. Ebenso wenig kennen die globalen Netzwerke der Wirtschaft, der Forschung, des Gesundheitswesens, der Erziehung, der Professionen den einen großen Urtext, der als Kodi- fikation in einem Verfassungsdokument niedergelegt wäre. Eher bilden sich Zivilverfassungen in untergrün- digen evolutionären Prozessen von langer Dauer he- raus, in denen sich im Zuge der Verrechtlichung von Gesellschaftssektoren auch zunehmend konstitutionelle Normen entwickeln, wobei sie im Ensemble der Rechts- normen eingebettet bleiben. Im Nationalstaat blendet der Glanz der politischen Verfassung so sehr, dass die Ei- »Pax« – die Rechtsproduktion herausgebildet, die in relativer Dis- genverfassungen der Zivilsektoren nicht sichtbar sind Schönste unter tanz zur Politik stehen. Rechtssetzung findet auch au- oder allenfalls als Resultat politischer Verfassungsgebung den Tugenden des ßerhalb der klassischen völkerrechtlichen Quellen statt, aufscheinen. Aber auch im globalen Maßstab sind sie »buon governo«. in Verträgen zwischen »global players«, in privater ebenso nur latent vorhanden, auf merkwürdige Weise Marktregulierung durch multinationale Unternehmen, unsichtbar. in internen Regelsetzungen internationaler Organisatio- Wie häufig lässt sich auch hier manches am Sonder- nen, in interorganisationalen Verhandlungssystemen fall England lernen. Wenn auch auf dem Kontinent gern und in weltweiten Standardisierungsprozessen, die sich das Vorurteil gepflegt wird, England habe keine Verfas- teils in Märkten, teils in Verhandlungsprozessen von Or- sung oder sei verfassungsrechtlich unterentwickelt, so ganisationen abspielen. sind die konstitutionellen Qualitäten des britischen Ge- Und Rechtsnormproduktion als Konfliktlösung voll- meinwesens und des »common law« immer wieder klar zieht sich nicht nur innerhalb von nationalen und inter- herausgearbeitet worden. Auf die soziale Institutionali- nationalen Gerichten, sondern auch innerhalb von sierung einer Verfassung kommt es an und nicht auf die

Der Autor

Prof. Dr. Gunther Teubner, 62, hat seit ford, Ann Arbor, Leyden und Toronto. Seine Forschungs- 1998 eine Professur für Privatrecht und schwerpunkte sind theoretische Rechtssoziologie, Privat- Rechtssoziologie an der Universität rechtstheorie, Vertragsrecht, das Recht transnationaler Re- Frankfurt inne, außerdem lehrt er als gime und Rechtsvergleichung. Im Jahr 2006 erschien bei Centennial Visiting-Professor an der Suhrkamp »Regime-Kollisionen: Zur Fragmentierung des London School of Economics (LSE). Weltrechts«. Im vergangenen Jahr wurde Teubner mit dem Nach seiner Habilitation in Tübingen Preis »Premio Capri di San Michele« ausgezeichnet, der lehrte er an der Universität Bremen, am jährlich für herausragende Beiträge verliehen wird, die sich Europäischen Hochschulinstitut Florenz mit Grundwerten der Gesellschaft beschäftigen. [siehe auch und an der LSE in London. Gastprofes- Buchtipp von Marcelo Neves »Recht in den Spannungsfel- suren führten ihn nach Berkeley, Stan- dern der Weltgesellschaft«, Seite 101]

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Verfassungsrecht

formelle Existenz einer konstituierenden Versammlung, duktion ausgedehnt. Das schließt, soweit der Internet- einer Verfassungsurkunde, von Normen explizit verfas- Code reicht, jegliche Interpretationsspielräume aus. sungsrechtlicher Qualität oder eines auf Verfassungsfra- Normative Erwartungen, die immer schon interpretiert, gen spezialisierten Gerichts. Mit den entsprechenden angepasst, manipuliert, umgebogen werden können, Änderungen (»mutatis mutandis«) gilt dies auch für die wandeln sich zu rigiden kognitiven Erwartungen von Zivilverfassungen der Weltgesellschaften. faktischen Zuständen der Teil- oder Nichtteilhabe (In- klusion/Exklusion). Argumente sind nur noch bei der Beispiel: Digitalverfassung Inkraftsetzung oder der offiziellen Änderung des Codes zugelassen, nicht mehr aber in der juristischen Dauer- In der Verfassung des Internet geht es um den berühmt- aufgabe der Auslegung, Anwendung, Durchsetzung von berüchtigten »Code«, die digitalisierte Verkörperung von Normen. Was im traditionellen Recht immer miterlaubt Verhaltensnormen in der Architektur des »cyberspace«, war, nämlich Ausnahmen vom Recht zu machen, Billig- der durch seine binäre Reduktion auf 0 und 1 jede keitserwägungen einzuschalten, das Recht schlicht zu Interpretationsmöglichkeit ausschließt. Dessen Entfesse- umgehen, oder einfach auf nicht-rechtliche Kommuni- lung und Zügelung ist das Generalthema der Digital- kation zu rekurrieren, funktioniert innerhalb des Inter- verfassung. Welche Gefährdungen individueller Auto- net-Codes nicht. Die Digitalisierung erlaubt keine infor- nomie ergeben sich aus der spezifischen Verhaltensre- melle Befreiung vom Code. Kein Wunder, dass in einer gulierung durch den »Code«? Und wie wird die Auto- solchen Situation, die auf »brauchbare Illegalität« ver- nomie gesellschaftlicher Institutionen vom »Code« ge- zichten muss, die Figur des Hackers, der den Code zu fährdet? brechen versteht, geradezu zum Robin-Hood-Mythos Die Wirkungen, welche die Juristen am herkömmli- wird. chen Formalrecht schätzen oder fürchten, sind ver- Es wird deutlich, dass bestimmte politische Forde- gleichsweise harmlos gegenüber der im Code gelunge- rungen an den Code konstitutionelle Qualität besitzen. nen Digitalisierung, die eine bisher ungekannte For- Prominentes Beispiel ist die »open-source«-Bewegung, malisierung von Normen erzwingt. Denn die strikte die bei jeder Vermarktung von Software strikt die Of- Binarisierung 0 – 1, die in der wirklichen Welt nur den fenlegung des Quellcodes fordert, damit die Kontroll- Rechtscode im systemtheoretischen Sinne, also die Dif- struktur der Programme jederzeit nachprüfbar ist, und ferenz Recht/Unrecht betraf, wird in der virtuellen Welt die dann nicht mehr bloß als eine Gruppe sympathi- auf die Rechtsprogramme, also die gesamte Rechtspro- scher Idealisten erscheint. ◆

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XXX Citigate Demuth

Die Universität Frankfurt auf dem Weg zur Spitze: „Ich bin ein Sherpa für die Uni. Werden Sie es auch!“

„Das Engagement für die Universität in Frankfurt ist mein Beitrag zur Zukunfts- sicherung junger Menschen, aber auch unserer Stadt und der Rhein-Main-Region“.

Hilmar Kopper Vorsitzender des Vorstandes der Freunde der Universität

Die Johann Wolfgang Goethe-Universität hat sich auf den Die Vereinigung von Freunden und Förderern der Johann Weg zur Spitze gemacht. Als eine der größten Universitäten Wolfgang Goethe-Universität sucht Gleichgesinnte, die die ist sie auf dem Weg, im internationalen Wettbewerb eine füh- Universität auf dem Weg zur Spitze begleiten, ideell und finanziell. rende Rolle zu spielen. Interdisziplinäre Forschungsverbünde Werden Sie Mitglied der Freunde, werden Sie ein Sherpa beim wie das Center for Membrane Proteomics in den Biowissen- Aufstieg zur Spitze, werden Sie Teil des Erfolgs der Universität! schaften, das House of Finance in den Bereichen Recht, Finanzen, Geld und Währung oder das Frankfurt Institute for Advanced Um mehr über die Freunde der Universität zu erfahren, Studies zur Grundlagenforschung in theoretischen Naturwissen- rufen Sie bitte Frau Lucia Lentes (0 69) 798-2 82 85 oder schaften stehen für ein hohes Niveau in Forschung und Lehre. Frau Petra Dinges (0 69) 910-4 78 01 an. E-Mail: [email protected] www.vff.uni-frankfurt.de

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Forschung intensiv

Als Bindeglied zwischen Nord- und Südamerika ist Pana- ma ein »Biodiversitäts-Hotspot« – es beherbergt eine außerordentlich hohe Artenvielfalt an Pflanzen, Tieren und Pilzen. Pilze übernehmen in tropischen Ökosystemen Expeditionen wichtige Aufgaben: Sie zersetzen totes organisches Ma- terial, helfen den Pflanzen bei der Aufnahme von Wasser und Mineralstoffen aus dem Boden, und sie leisten sogar ins Pilzreich als Parasiten einen Beitrag zum Erhalt einer großen Ar- tenvielfalt. Aufgrund einzelner Stichproben wissen wir, dass die Anzahl der Pilzarten in den Tropen diejenige Panamas der Pflanzen um ein Vielfaches übertrifft. Doch während für Panama zirka 9500 verschiedene Arten von Gefäß- pflanzen bekannt sind, zählt eine im Rahmen unserer Ar- beit erstellte Checkliste der Pilze nur zirka 1800 Arten. Pionierarbeit in Das zeigt, dass für die Erforschung der Pilze noch um- einer der fangreiche Pionierarbeit geleistet werden muss. Zwi- schen 2003 und 2006 geschah dies im Rahmen einer artenreichsten Universitätspartnerschaft der Universität Frankfurt mit der Universidad Autónoma de Chiriquí, die durch den Regionen Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) geför- dert wurde. Im Zentrum eines Projekts der Deutschen unserer Erde Forschungsgemeinschaft (DFG) steht die Erforschung der Vielfalt und Ökologie pflanzenparasitischer Pilze. Des Weiteren untersucht unsere Arbeitsgruppe Pilze an In- von Meike Piepenbring sekten sowie an menschlichen Haut- und Nagelläsionen.

or zirka 5,7 Millionen Jahren Vschloss sich die Landbrücke zwi- schen Nord- und Südamerika im Ge- biet des heutigen Panama. Anfang des 20. Jahrhunderts durchbrach sie der Mensch, indem er an der schmalsten Stelle des mittelamerikanischen Isth- mus (82 km) den Panama-Kanal bau- te. Da der Kanal jedoch nicht auf Meereshöhe liegt, sondern die Schiffe durch mehrere Schleusenkomplexe auf zirka 25 m über den Meeresspie- gel gehoben werden, stehen die Kari- bik und der Atlantik nicht in direkter Verbindung zueinander. Für den Bau des Kanals und zuvor für den Bau einer transisthmischen Ei- senbahn kamen Menschen aus aller Herren Länder in die damalige Provinz Panama in Kolumbien, damals La Gran Colombia. Panama war bis dahin nur sehr dünn, vor allem von ver- schiedenen Gruppen indigener Völker, besiedelt. Im Zusammenhang mit dem Bau des Kanals wurde Panama 1903 unabhängig. Heute sind die meisten Menschen Panamas Mestizen und zei- gen eine bunte Mischung indigener, afrikanischer, asiatischer und europäi- scher Einflüsse. Die Landessprache ist

Pilze können auf Kulturpflanzen große Schäden anrichten, wie dieser Pseudocer- cospora fijiensis (Imperfekter Pilz), der Er- reger der Sigatoka-Krankheit der Bananen.

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Pilzforschung

Spanisch, das an der Karibikküste mit Englisch kombi- A) niert wird. Auch die Sprachen mancher indigener Gruppen sind noch lebendig. Das Studium der Biodiversität in Panama ist von gro- ßem Interesse, da in diesem südlichsten Land Mittel- amerikas zwischen Costa Rica im Westen und Kolum- bien im Osten■1 vielfältige tropische Organismen mit Ursprung sowohl in Nord- als auch in Südamerika leben. Ihre Erforschung begann im Bereich der heuti- gen Kanalzone, in der sich tropischer Tieflandregenwald befindet, und wurde besonders im Zusammenhang mit dem Bau des Kanals durch US-amerikanische Wissen- schaftler intensiviert. Schon früh dehnten die Biologen ihre Arbeit auf den Westen Panamas aus, der über das weniger dicht bewaldete Tiefland auf der Pazifikseite vergleichsweise leicht erreichbar war. Heute ist diese Region weitgehend entwaldet und wird von der inter-

B) ■2 Pflanzenparasitische Pilze in Panama A) Im panamaischen Tiefland bildet der Brandpilz Leucocin- tractia scleriae seine schwarzen Sporenmassen um die Zweige des Blütenstands eines Sauergrases (Rhynchospora corymbo- sa) herum. B) Der Rostpilz Crossopsora byrsonimae lässt die Blätter sei- ner Wirtspflanze (Byrsonima crassifolia, Malpighiaceae) lokal anschwellen. Schließlich platzt das Pflanzengewebe auf, und die Sporen des Pilzes werden freigesetzt. C) Für diesen Pilz, der orange kugelförmige Fruchtkörper an abgestorbenen Blättern eines Süßgrases bildet, haben wir bis heute keinen Namen gefunden.

amerikanischen Landstraße durchzogen. Sie führt zu C) der Provinz Chiriquí auf der Pazifikseite, von wo die Provinz Bocas del Toro auf der Karibikseite erreichbar ist. Die im Westen Panamas zirka 100 bis 180 Kilometer breite Landbrücke wird von einer Gebirgskette mit Höhen bis über 3400 Metern über dem Meeresspiegel durchzogen. Während das Klima auf der Pazifikseite durch eine halbjährliche Trockenzeit geprägt ist, die die Ausbildung von Savannen und Trockenwäldern verur- sacht, ist das Klima in der Nordhälfte Panamas an der Karibikküste das ganze Jahr über mehr oder weniger feucht, und die Berge sind von Regenwäldern bedeckt. Ökosysteme auf verschiedenen Höhenstufen mit un- terschiedlichen klimatischen Bedingungen bieten bei ganzjährig relativ einheitlichen Temperaturen Lebens- raum für eine große Vielfalt von Lebewesen. Es handelt sich um einen Biodiversitäts-Hotspot, wie es ihn welt- weit nur an wenigen Orten gibt. Weitere Hotspots be- finden sich in Ostasien und Teilen des Pazifikraums, in Westafrika, Südafrika und Teilen Südamerikas. Wir ken- Karibik 2 nen für das zirka 75 000 km große Panama etwa 9500 Portobello Nombre de Dios ARCHIPIÉLAGO Ustupo Yantupo verschiedene Arten von Gefäßpflanzen – fast drei Mal DE BOCAS DEL TORO Mandinga Colón R R A N I A D E S S E A N B L A so viel wie für das ungefähr fünf Mal größere und we- Península Valiente S Chepo Laguna de sentlich besser erforschte Deutschland! Andere Organis- Chiriqui Chiriqui Golfo de los Mosquitos Balboa Panamá mengruppen wie zum Beispiel die Pilze sind ebenfalls Grande T La Chorrera o a Bahía de Panamá San Cristóbal b Volcan Barú S re sehr vielfältig, aber in Panama wesentlich schlechter be- E R R A Belén N E í A D E Chimán T A B A S A R A R A L kannt. E N T C O R D I L L E R A C Cerro Santiago Penonomé David ARCHIPIÉLAGO San Miguel P ANAMA Río Hato DE LAS PERLAS Isla del Rey

lo b S Aguadulce a an ta M Golfo de P aría Golfo de Paríta Isla S. José S. Miguel n

a

S Santiago ■1 Panama liegt zwischen Costa Rica im Westen und Kolum- Soná Chitré Garachiné Golfo de Chiriqui Golfo de Panamá bien im Osten. Während auf der Pazifikseite Savannen und Pocrí 050100 Kilometer Trockenwälder vorherrschen, sind die Berge im Zentrum der Pazifik Península de Azuero Landbrücke und die Nordhälfte Panamas an der Karibikküste Isla Coiba Isla Cebaco Tonosí von feuchten Regenwäldern bedeckt.

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Forschung intensiv

■ 3 Pilze an Insek- A) Pilze benennen ist Detektivarbeit ten in Panama A) Dieser orange- Der Mykologe David Hawksworth errechnete auf der farbene Pilz ist Grundlage relativ gut bekannter Pilzfloren Faktoren, mit ein Imperfekter Pilz der Gattung denen man für ein bestimmtes Gebiet die Artenzahl der Aschersonia. Er Pilze abschätzen kann, indem man die Anzahl der für befällt Schildläu- dieses Gebiet bekannten Pflanzenarten mit einem Fak- se, tötet sie ab tor multipliziert. Für Panama ergibt sich mit dem Faktor und nutzt die to- 5,3 und einer Artenzahl der Pflanzen von 9500 eine ge- ten Tiere als Nah- schätzte Anzahl von über 50 000 Pilzarten. In der rungsquelle (Auf- Checkliste sind also vermutlich weniger als vier Prozent nahme von T. Trampe). Zur Gat- der in Panama vorhandenen Pilze erfasst. Wir befinden tung Aschersonia uns bezüglich der Erforschung der Pilze in Panama entstand in unse- somit in einer Pionierphase, in der erst einmal Grundla- rer Arbeitsgruppe eine Revision im B) C) Rahmen einer Dis- sertation (Koch 2006). B) Hirsutella saus- surei (Imperfekter Pilz) hat diese Wespe getötet und bildet nun auf dem toten Insekt lang gestreckte Sporenträger. C) Dieser Schlauchpilz der Gattung Ascopoly- porus ist in sei- nem Inneren mit einer roten Galler- te und roter Flüs- sigkeit gefüllt. Die Pilzkunde in Panama D) Funktion der roten Farbe ist unbe- Die Pilzkunde oder Mykologie umfasst mit ihren ökolo- kannt. Erst kürz- gischen, systematischen und molekularen Ausrichtun- lich wurde festge- gen neben organismischer Grundlagenforschung zahl- stellt, dass dieser reiche Anwendungsgebiete in der Medizin, in der phar- Pilz auf Schildläu- mazeutischen Wirkstoffforschung (beispielsweise Anti- sen wächst. biotika), der Phytopathologie (»Pflanzenmedizin«) und D) Cordyceps sp. (Schlauchpilz) Lebensmitteltechnologie. Die Artenzahl der Pilze wird formt gestielte auf weltweit zirka eine Million Arten geschätzt, von Sporenbehälter denen allerdings erst 72 000 Arten bekannt sind. Damit an einer abgetöte- ist nur die Gruppe der Insekten artenreicher und ver- ten Ameise. gleichsweise schlecht bekannt. Eine Ursache für unsere unvollständige Kenntnis der Pilze ist die Tatsache, dass das Fach Mykologie in Europa genforschung geleistet werden muss, das heißt, Arten nur an wenigen Universitäten von Fachleuten unter- müssen gesammelt, beschrieben und benannt werden. richtet wird, in tropischen Ländern wie Panama im Die Benennung (Bestimmung) der Pilze ist außeror- Prinzip gar nicht, außer im Rahmen der Phytopatholo- dentlich schwierig, da für die meisten Pilzgruppen keine gie. Pilze wurden in Panama bisher nur von ausländi- Monografien vorliegen, in denen sämtliche weltweit be- schen Mykologen untersucht, die meist nur kurze Zeit kannten Arten einer Gruppe vergleichend und mit im Gelände verbrachten, die Pilze sammelten und mit- Schlüsseln versehen vorgestellt werden. Wir müssen nahmen. Im Ausland wurden die Belege bearbeitet, in also für eine Bestimmung in der Regel viele kleine, teil- vielen verschiedenen Herbarien hinterlegt und die Er- weise sehr alte Publikationen konsultieren. Die alten gebnisse in nicht panamaischen Zeitschriften publiziert. Beschreibungen sind häufig für eine genaue Bestim- So kam es, dass Wissen über Pilze Panamas sehr frag- mung unzureichend, weshalb wir alte Herbarbelege mentarisch und weltweit zerstreut in verschiedenen zum Vergleich studieren. Diese wiederum bestehen je- Zeitschriften publiziert worden ist. Um einen Überblick doch oft nur noch aus Fragmenten. Die Recherche über vorhandene Daten zu bekommen, begann ich vor gleicht einer Detektivarbeit! etwa drei Jahren, alle Nachweise von Pilzen in Panama Heute können wir anhand frischer Belege wesentlich zu sammeln. Mit Daten aus zirka 300 verschiedenen mehr Merkmale für die Beschreibung und systemati- Publikationen entstand so eine erste Checkliste der Pilze sche Einordnung der Arten ermitteln als früher. Neben Panamas, mit rund 1800 verschiedenen Arten bezie- der Lichtmikroskopie nutzen wir die Raster- und Trans- hungsweise Unterarten/Varietäten in 646 Gattungen missionselektronenmikroskopie sowie die Basensequen- (Piepenbring 2006). zen von ausgewählten DNA-Abschnitten. Um korrekte

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Pilzforschung

Namen zu vergeben, müssen wir jedoch der Frage nach- Natur bekannt sind, unter bestimmten Umständen den gehen: Hat in der Vergangenheit schon jemand genau Mensch als Substrat nutzen. Zu diesen Umständen zähl- diesen Pilz beschrieben und benannt? Bei entsprechen- ten das tropisch warme Klima, Verletzungen, häufiger der Recherche findet man unter Umständen sogar den- Kontakt mit Chemikalien, wie zum Beispiel Pestiziden, selben Pilz unter mehreren Namen! Nur der älteste kor- und Abwehrschwäche. Die meisten Pilze, mit denen wir rekt aufgestellte Name ist gültig, spätere Namen sind Sy- tagtäglich in Kontakt kommen, stellen für gesunde nonyme. In anderen Fällen kann trotz intensiver Suche Menschen keine Gefahr dar. kein Name für den Pilz gefunden werden, so dass wir den Pilz als neue Art mit einem Namen versehen■4 . Die Die mykologische Forschung Kunst der korrekten Namensgebung, die Taxonomie, ist in Panama fördern unverzichtbar für jegliche Forschung an Organismen. Nur wenn ein Pilz einen eindeutigen Namen hat und Im Rahmen der mykologischen Forschung gibt es in Pa- aufgrund der publizierten Beschreibung verlässlich wie- nama viel zu tun. Es gilt, zahlreiche offene Fragen zur dererkannt wird, können weitere Daten zu ihm recher- Diversität, Ökologie, Taxonomie, Systematik und An- chierbar publiziert und ausgewertet werden. Nur auf wendung zu beantworten. Viele interessierte Wissen- der Grundlage eines gut geordneten Systems können schaftler werden gebraucht, weshalb der Lehre zur My- wir Wissen zu den einzelnen Arten sammeln, übergrei- kologie eine entscheidende Rolle zukommt. Daher un- fende systematische Zusammenhänge erkennen und terrichte ich seit 1998 in Panama im Rahmen von stammesgeschichtliche Entwicklungen nachvollziehen. Kurzzeitdozenturen mit Finanzierung durch den DAAD Das Wissen zu jeder Pilzart umfasst unter anderem de- vor allem im Westen des Landes an der Universidad Au- taillierte Angaben zu ihrer Lebensweise und Informatio- tónoma de Chiriquí (UNACHI), aber auch in Panama nen bezüglich ihrer Inhaltsstoffe, die für die pharma- Stadt an der Universidad de Panamá. 2002 wurde ein zeutische Industrie von großem Interesse sein können. Kooperationsvertrag zwischen der UNACHI und der Universität Frankfurt unterschrieben, so dass zwischen 15 Jahre auf der Spur tropischer Pilze 2003 und 2006 Mittel des DAAD für Austauschmaß- nahmen im Rahmen der Universitätspartnerschaft zur Um tropische Pilze taxonomisch zu bearbeiten, ist es für Verfügung standen. Thematisch waren die Maßnahmen den einzelnen Wissenschaftler sinnvoll, sich auf eine schwerpunktmäßig ausgerichtet auf die Verbesserung systematische Gruppe zu konzentrieren. Ich selbst und Erweiterung der Lehre zur Biologie, insbesondere wählte vor 15 Jahren die Brandpilze ■2 , die ich vor allem der Mykologie und Botanik, im Rahmen einer an der in der Neotropis (tropische Regionen Mittel- und Süd- UNACHI erstmalig etablierten Maestría (Master) in Bio- amerikas sowie die Inseln der Karibik) sammelte (Pie- logie. Es wurden nicht nur mykologische Teilprojekte, penbring 2003). Im Rahmen dieser Arbeit besuchte ich sondern auch Projekte zu Höheren Pflanzen, zur klini- Panama erstmalig 1994. Inzwischen bearbeite ich mit schen Mikrobiologie, Ökologie, Zoologie, Ökophysiolo- meiner Arbeitsgruppe Pilze verschiedener systemati- gie und Mooskunde gefördert. scher Gruppen, und zwar überwiegend pflanzenparasi- Während der vier Jahre unserer Universitätspartner- tische Pilze und Pilze an Insekten, die wir insbesondere schaft wurden 47 Austauschreisen gefördert: Von deut- in Panama sammeln. Diese Pilze sind häufig Erstnach- scher Seite nahmen acht Studenten und neun Profes- weise für Panama, wir finden neue Arten und manch- soren beziehungsweise Hochschuldozenten teil. Im mal neue Gattungen. Auch die Entdeckung einer Wirts- Gegenzug besuchten zehn Studenten und fünf Hoch- pflanzenart, die für eine pflanzenparasitische Pilzart schullehrer aus Panama die Universität Frankfurt. Au- noch nicht bekannt war, ist ein wichtiges Ergebnis, da unsere Kenntnis der Wirtsspektren tropischer Pilze bis- her nur sehr fragmentarisch ist. Im Projekt »Pflanzenparasitische Mikropilze im Wes- ten Panamas« sammeln wir an ausgewählten Standor- ten pflanzenpathogene Pilze jeglicher systematischer Zugehörigkeit ■2 . Diese können wir zwar nicht alle be- stimmen, erhalten dafür aber Daten über das Vorkom- men der verschiedenen Gruppen in verschiedenen Ha- bitaten und die Ökologie der Pilze. Ein weiterer For- schungsschwerpunkt liegt bei Pilzen an Insekten ■3 . Manche Pilze töten Insekten und regulieren so in der Natur die Größe von Insektenpopulationen. Der Mensch kann ausgewählte, gut bekannte Pilzarten vermehren und zur biologischen Kontrolle von Schadinsekten nut- zen. Die Bearbeitung von Pilzen an menschlichen Haut- und Nagelläsionen ist von medizinischer Relevanz für die Dermatologie. Wenn der Erreger einer Krankheit ■4 Dieser Becherling (Schlauchpilz) auf einem Kuhfladen bekannt ist, kann er nämlich gezielter bekämpft wer- wechselt seine Farbe von dunkelbraun nach gelb, wenn er reif ist und austrocknet beziehungsweise angestoßen wird. Der den. Unsere Untersuchungen von Pilzen an Patienten in Farbwechsel geschieht dadurch, dass er seine dunklen Sporen Panama zeigen, dass neben den typischen Haut- und ausschleudert und so die jungen orange gefärbten Sporensä- Nagelpilzen (Dermatophyten), zu denen auch der Fuß- cke sichtbar werden. Wir haben noch keinen Namen für ihn pilz gehört, zahlreiche Pilzarten, die uns aus der freien gefunden.

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Forschung intensiv

■5 Workshop zur Mykologie in Panama 2005. Im Rahmen des Workshops wurde mykologisches Wissen von zwei deutschen Professoren der Mykologie (Prof. Dr. Gerhard Kost von der Universität Marburg ist auf dem Bild nicht zu sehen), und je- weils einem deutschen und einem brasilianischen Hochschul- dozenten der Mykologie zusammengeführt. Diese sowie pana- maische und deutsche Dozenten und Studenten hatten somit die Möglichkeit, bei Exkursionen, Laborarbeit und Seminaren viel voneinander zu lernen.

nerschaftsphase liegen 46 Bildbögen vor, zwölf zu Pil- zen, 32 zu Pflanzen und zwei zu Tieren im Westen Pa- namas (von der Autorin als CD erhältlich).

Bedrohte Vielfalt

Wie in anderen tropischen Ländern werden auch in Pa- nama jedes Jahr Urwälder großflächig und unwieder- bringlich zerstört. Dazu kommt seit mehreren Jahren eine deutliche Klimaveränderung. Regen- und Trocken- ßerdem wurden ein Frankfurter Doktorand aus der Do- perioden wechseln sich nicht mehr zu bestimmten Zei- minikanischen Republik und ein Hochschuldozent aus ten des Jahres ab, sondern beginnen und enden unvor- Brasilien einbezogen. Es wurden zwei internationale hersagbar. Die an einen geregelten Wechsel der Jahres- Workshops organisiert, einer zu Samenpflanzen (2004) zeiten angepassten Organismen werden nur schwer und einer zur Mykologie (2005)■5 . Deutsche Dozenten überleben können und von vergleichsweise wenigen lehrten an der UNACHI im Rahmen dieser Workshops, flexibleren Arten verdrängt werden. Durch Waldzerstö- führten drei Fortbildungskurse sowie neun Master-Mo- rung und Klimaveränderung verlieren zahlreiche Pilze, dule beziehungsweise Postgraduierten-Kurse durch. vor allem diejenigen, die wir bisher kaum oder noch gar Alle Reisen dienten der Sammlung und Analyse von nicht kennen, ihren Lebensraum. Arten, denen wir Daten, die für Abschlussarbeiten oder Publikationen ge- noch nicht einmal einen Namen gegeben haben und die nutzt wurden. Die Bilanz: Bis Ende 2006 wurden von uns vielleicht von großem Nutzen gewesen wären, ster- panamaischen Wissenschaftlern zwei Promotionen und ben aus. Für die Einheimischen ist die hohe Artenviel- sechs Licenciatura-Arbeiten abgeschlossen. Zwei Maes- falt auf dem Land alltäglich, den Menschen in den Städ- tría-Arbeiten werden 2007 beendet. An der Universität ten ist sie jedoch teilweise völlig unbekannt. Dadurch, Frankfurt flossen in Panama gewonnene Ergebnisse im dass wir als deutsche Wissenschaftler die Biodiversität Arbeitskreis Piepenbring ein in drei abgeschlossene und mit großer Begeisterung studieren, zeigen wir, welch vier laufende Promotionen, zwei Diplom-Arbeiten und große Reichtümer die Panamaer besitzen und zuneh- drei Staatsexamensarbeiten. Zehn Publikationen zu mend verlieren. ◆ Pilzen und Pflanzen Panamas sind bis Ende 2006 er- schienen, weitere sind in Vorbereitung. Panamaische Artenvielfalt stand im Zentrum von 21 Beiträgen zu in- Literatur ternationalen Tagungen. Ein weiteres Ergebnis der Zu- Piepenbring, M. Piepenbring, M., Piepenbring, M. sammenarbeit ist die Schaffung einer naturwissen- (2003), Smut fungi Inventoring the (2006), Checklist schaftlichen Zeitschrift »Puente Biológico«. (Ustilaginomycetes fungi of Panama – of fungi in Panama, Da für die tropische Artenvielfalt Panamas kaum il- p.p. and Microbo- Biodiversity and Puente Biológico tryales, Basidiomyco- Conservation (Revista Científica lustrierte Bestimmungsbücher existieren, haben wir be- ta), Flora Neotropica (elektronisch de la Universidad gonnen, digitale Bilder von Organismen mit mehr oder Monograph 86, New veröffentlicht). Autónoma de weniger sicherer Namensgebung auf so genannten Bild- York Botanical Gar- Chiriquí) 1: bögen zusammenzustellen. Zum Ende der ersten Part- den Press, New York. S. 1–195.

Die Autorin

Prof. Dr. Meike Piepenbring, 39, studier- schaft mit der Universidad Autónoma de Chiriquí (UNACHI) te Biologie in Köln mit einem Auslands- im Westen Panamas mit Finanzierung durch den DAAD. Sie studienjahr in Frankreich. Von 1991 bis leitet im Rahmen eines DFG-Sachmittelprojekts Forschungs- 2001 arbeitete sie am Lehrstuhl von Prof. arbeiten zu pflanzenparasitischen Mikropilzen im Westen Pa- Dr. Franz Oberwinkler in Tübingen mit Pil- namas. Ihre Ziele sind die Verbesserung der Lehre zur tropi- zen. 2001 erhielt sie einen Ruf an die schen Mykologie und die Förderung der mykologischen For- Universität Frankfurt, wo sie eine eigene schung von Nachwuchswissenschaftlern in Panama. Als Arbeitsgruppe zur Mykologie aufbaute. Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Mykologie setzt Seit 1992 reist sie regelmäßig in die Neo- sie sich auch in Deutschland dafür ein, dass Pilzen in Lehre, tropis, zur Forschung und Lehre zu Pilzen und Pflanzen. Von Forschung und öffentlicher Wahrnehmung die Rolle zugestan- 2003 bis 2006 koordinierte sie als Hauptverantwortliche die den wird, die ihnen aufgrund ihrer großen Artenvielfalt und Austausch-Aktivitäten im Rahmen einer Hochschulpartner- Schlüsselfunktionen im Ökosystem in der Natur zukommt.

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Katalysatorforschung Von der Natur lernen

Glutamat Enzyme als Vorbild Dehydrogenase für die moderne Katalysatorforschung BINOL-Phosphat Von Magnus Rueping und Boris J. Nachtsheim

Die Suche nach neuen Katalysato- ren ist einer der wichtigsten For- schungszweige der Chemie. Die effi- zientesten Katalysatoren – die Enzyme – wurden allerdings nicht von Wissen- schaftlern entwickelt, sondern sind aus Millio- nen Jahren Evolution hervorgegangen. Durch mo- derne Strukturaufklärungsmethoden lassen sich vie- le Enzyme in die Karten schauen und dienen Molekulare Masse: 50000 – 180000 Dalton 500 – 700 Dalton Chemikern als Blaupause für neue synthetische Ka- talysatoren. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie wesentlich besser zugänglich und robuster sind als ihr natürliches Vorbild. Mit diesem biomimetischen Ansatz gelang es uns erstmals, die Glutamat-Dehydrogenase nachzuahmen. Dadurch vereinfacht sich die industrielle Synthese von Aminen, die wichtige Bausteine für Naturstoffe und Pharmazeutika sind. Auch auf die Herstellung von Antibiotika lässt sich dieses Prinzip übertragen.

atalyse ist die Beschleunigung eines langsam Metallfreie Katalyse – Die Glutamat- verlaufenden chemischen Vorgangs durch die Dehydrogenase als Modellbeispiel KGegenwart eines fremden Stoffes.« Dieses ele- mentare Prinzip der Chemie wurde bereits 1894 von Obwohl bereits einige Verfahren existieren, die Enzyme dem späteren Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald er- gezielt für die industrielle Synthese von Grund- und kannt. Heute, rund hundert Jahre später, lassen sich Spezialchemikalien einsetzen, gestaltet sich der Umgang Chemiker bei der Suche nach neuen Katalysatoren mit den empfindlichen und hoch spezialisierten biologi- durch Enzyme inspirieren: Das sind Proteine, die in Le- schen Molekülen häufig als schwierig. Viele Enzyme bewesen biochemische Reaktionen katalysieren, und sind substratspezifisch, temperaturlabil und nur in Was- zwar zeitlich und mengenmäßig genau abgestimmt auf ser löslich, was deren großtechnischen Nutzen ein- den Bedarf des Organismus. Viele Enzyme sind dabei so schränken kann. Da ein synthetisch hergestellter Kata- effizient, dass die Geschwindigkeit, mit der eine be- lysator gezielt und effizient einen Stoff A in einen Stoff stimmte Reaktion katalysiert wird, nur davon abhängt, B umwandeln soll, werden weder die im Enzym enthal- wie schnell die jeweiligen Reaktionspartner in das akti- tenen regulatorischen noch die Struktur gebenden Un- ve Zentrum des Enzyms diffundieren (Diffusionskon- tereinheiten benötigt. Es sollte daher also in einem bio- trolle). Das aktive Zentrum ist dabei der Ort innerhalb mimetischen, den biologischen Prozess nachahmenden des Enzyms, in dem der katalytische Reaktionsschritt Ansatz möglich sein, ein Enzym durch einen nachge- stattfindet. Außer dem aktiven Zentrum besteht ein bauten synthetischen Molekülkatalysator zu ersetzen. Enzym aus weiteren Untereinheiten, die hauptsächlich Dieser Katalysator sollte die für den katalytischen Pro- der Strukturgebung und der Regulation dienen. Die zess benötigten funktionellen Gruppen beinhalten und Struktur gebenden Untereinheiten dienen im Enzym in der Lage sein, ein großes Substratspektrum zu tole- dazu, das aktive Zentrum zu formen und die für die Ka- rieren. Zudem sollte er unter optimalen Reaktionsbe- talyse benötigten funktionellen Gruppen (Aminosäu- dingungen höchste Effizienz aufweisen. ren) in die richtige räumliche Position zu bringen. Mit Wie ein natürlich vorkommendes Enzym funktio- den Regulationsuntereinheiten, die durch sekundäre niert, soll am Beispiel der Glutamatdehydrogenase Botenstoffe kontrolliert werden, ist es dem Enzym mög- (GDH) erläutert werden, die ein essenzieller Bestandteil lich, das aktive Zentrum je nach Bedarf ein- und auszu- des Stickstoffzyklus im menschlichen Körper ist. GDH schalten.

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Forschung intensiv

■1 Modell der im Funktionen des Enzyms GDH im Körper Das Prinzip der Händigkeit aktiven Zentrum der Glutamat-De- Glutamat -Dehydrogenase Der Begriff Chiralität stammt aus dem Griechischen und hydrogenase Co-Faktor NADH bedeutet wörtlich übersetzt Händigkeit. Trägt ein Mole- (GDH) ablaufen- kül ein Chiralitätszentrum, so trägt es an diesem Atom den Reduktion. vier verschiedene Reste. Hier gibt es zwei Möglichkei- Interessant ist die ten, wie sich diese vier Reste zueinander anordnen kön- Aktivierung des I Imins (C=NR) nen. Diese zwei möglichen Konformationen nennt man durch einen Proto- Enantiomere, sie verhalten sich wie Bild und Spiegelbild nenübertrag vom und sind durch Drehung nicht zur Deckung zu bringen. Aspartat D165, Chemisch sind die Enantiomere identisch, dennoch ohne die eine Hy- können sie sich – aufgrund ihrer unterschiedlichen Bin- dridübertragung dungseigenschaften an bestimmte Enzyme oder Rezep- vom NADH auf toren – in ihrer Wirkung auf den menschlichen Körper Ammonium-alpha- Ketogluterat nicht deutlich unterscheiden. So riecht das R-Enantiomer des stattfinden würde. Duftstoffes Limonen kräftig nach Orangen, während das Der anschließende S-Enantiomer einen zitronigen Duft hat■2 . Der Grund: Hydridtransfer R-Limonen bindet an einen anderen Rezeptor als das S- vom NADH ergibt Analoge. (Als Beispiel: Wenn sich zwei Menschen die die Aminosäure. Hand geben, dann können sie sich beide entweder die rechte oder die linke Hand geben; hält einer dagegen II die rechte und der andere die linke Hand hin, kann es zu keinem Handschlag kommen■3 .)

gehört zur Enzymklasse der Oxidoreduktasen. Dieses Enzym katalysiert die Reaktion von Ammonium-alpha- Ketogluterat und NADH zur Aminosäure Glutamat und NAD+. Der Cofaktor NADH dient dem menschlichen Körper hierbei als Wasserstoffquelle■1 . Im Zentrum des katalytischen Prozesses der GDH steht die Aktivierung des Imins (C=NR) durch einen Protonenübertrag von dem Aspartat D165 auf das Imin unter Ausbildung eines Iminium-Ions. Der anschließende Hydridtransfer vom NADH ergibt die Aminosäure. Ohne diese Aktivierung durch das Aspartat ist eine Hydridübertragung vom NADH auf Ammonium-alpha-Ketogluterat kinetisch gehemmt, die Reaktion fände nicht statt. Durch die ■3 Wenn sich zwei Menschen die Hand geben, dann können Ausbildung von weiteren Kontaktionenpaaren wird das sie sich beide entweder die rechte oder die linke Hand geben. Imin des alpha-Ketogluterates so in der chiralen En- Hält einer dagegen die rechte und der andere die linke Hand zymtasche positioniert, dass nur eine bestimmte Konfi- hin, so kann es zu keinem Handschlag kommen. Ebenso ist es bei der Synthese von Enantiomeren durch ein Enzym mit chi- guration der Aminosäure Glutamat entstehen kann, ralem Zentrum: Es kann entweder das Bild oder das Spiegel- nämlich das L-Enantiomer. bild des Moleküls entstehen.

■ 2 Darstellung der Das Prinzip der Händigkeit Ein anderes Beispiel ist die Aminosäure Phenylala- Händigkeit (Chira- nin, die in ihrer natürlichen L-Form bitter und in ihrer lität) am Beispiel S-Form süß schmeckt. Es ist daher essenziell für viele von (+) und (-)-Li- pharmazeutische Wirkstoffe, Agrochemikalien oder Le- monen. Das R-En- bensmittelzusätze, dass sie in enantiomeren-reiner Form antiomer riecht kräftig nach Oran- (das heißt ausschließlich das S- oder R-Enantiomere) gen, während das verwendet werden, was eine gezielte Synthese der En- S-Enantiomer ei- antiomere (asymmetrische Synthese) unbedingt not- nen zitronigen wendig macht. Duft hat. Der Die Synthese von Enantiomeren wird dadurch er- Grund: R-Limonen schwert, dass ihre chemischen Eigenschaften identisch bindet an einen sind. Befinden sich nicht chirale Ausgangssubstrate anderen Rezeptor als das S-Analoge. (prochirale Substrate, wie das Imin) allerdings in einem chiralen Medium, so kann dessen räumliche Struktur Chiralität-induzierend wirken, und nur eines der beiden Enantiomere wird hergestellt. In einem Enzym wird dies durch die chiralen L-Aminosäuren gewährleistet. Im Falle der GDH entsteht aus dem nicht chiralen Am- monium-alpha-Ketogluterat ausschließlich die chirale Aminosäure L-Glutamat. Hier wird die Bildung des L- Enantiomers durch das chirale aktive Zentrum des En- R-(+) Limonen R-(–) Limonen zyms induziert.

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Katalysatorforschung

Von der Natur abgeschaut: Strukturvergleich ■6 Strukturver- Die erste biomimetische, gleich zwischen den Reduktions- Säure-katalysierte Reduktion mitteln Hantzsch- Nimmt man sich die GDH zum Vorbild, so sollte es mög- Dihydropyridin und dem Enzym- lich sein, durch den Einsatz kleiner chiraler Säuren – Cofaktor, NADH. auf gleichem Weg wie das Aspartat in der GDH – Imine Der zu übertra- (C= NR-Funktionen) zu aktivieren. Hierbei gilt es aller- gende Wasser- dings, einige Dinge zu beachten. Zunächst muss die stoff ist hier rot Säure die richtige Säurestärke besitzen. Ist sie zu stark, gekennzeichnet. so kommt es zwar zu einer anfänglichen Aktivierung Hantzsch-Dihydropyridin des Substrats, allerdings ist die Bindung zwischen Sub- strat und Katalysator in diesem Fall so stark, das dessen NADH Regeneration nicht mehr möglich ist und keine weitere

■4 R-Binol Phosphat Struktur eines Die Aktivierung des Ketimins erfolgt in diesem Fall mit chiralen BINOL- Hilfe einer chiralen Säure als Katalysator und dem Phosphates. Hantzsch-Dihydropyridin, einem NADH-Analog, als Hy- dridquelle ■7 ./1,2/ Die so erhaltenen Amine sind wichti- ge Bausteine für Naturstoffe und Pharmazeutika. Der Katalysator erfüllt also eine ähnliche Funktion wie die GDH, ist jedoch wesentlich besser zugänglich und ro- buster als das Enzym. Bisher waren solche Hydridüber-

Reaktion mehr stattfinden kann. Ist die Säure zu Reduktion und Aktivierung des Imins schwach, so findet keine Protonierung (Aktivierung) statt, und das Imin ist für eine spätere Hydridübertra- gung nicht genügend reaktiv. Des Weiteren muss die Säure zusätzlich in eine chirale Umgebung eingebettet sein, um hohe Enantioselektivitäten (R- oder S-Selekti- vitäten) zu erreichen. Als ideale Kandidaten für die Lö- sung dieser Probleme erschienen uns BINOL-Phospha- BINOL-Phosphat te. Hierbei handelt es sich um Phosphorsäuren mit einem pKs-Wert (ein Maß für die Stärke einer Säure) von etwa 1.9, die in die axial chirale Umgebung eines BINOLs ((R)-1,1'-binaphthyl-2,2'-diol) eingebettet sind ■4 . Die Chiralität beruht hier nicht auf vier unterschied- lich substituierten Kohlenstoffatomen, sondern auf tragungen ausschließlich unter hohem Wasserstoff- ■7 Links: Phos- einer Rotationsbarriere zwischen dem oberen und dem druck und der Verwendung metallhaltiger Katalysato- phat-katalysierte unteren aromatischen Ringsystem■5 . ren möglich, welche aufgrund der toxischen Eigen- Reduktion eines Um ausreichend hohe Enantioselektivitäten zu er- schaften für die Wirkstoffsynthese bedenklich sind. Imins. Rechts: Ak- tivierung des halten, muss das BINOL-Gerüst ober- und unterhalb der Imins durch den Phosphorsäure mit sperrigen Resten versehen werden. Ein leichter Zugang zu Naturstoffen BINOL-Phosphat Der Hydridüberträger soll nur von einer Seite an das Katalysator. Ketimin »andocken« können. Daher muss die andere Aufbauend auf der Entwicklung dieses neuen Konzepts, Seite so gut wie möglich abgeschirmt werden. Als geeig- der ersten metallfreien Synthese von optisch aktiven neten Hydridüberträger haben wir in unserem biomi- Aminen, stellte sich die Frage, inwieweit das Prinzip der metischen Ansatz an Stelle des NADH in der natürli- Säure-katalysierten Transferhydrierung auf andere Sys- chen Reaktion das strukturell dem NADH sehr ähnliche teme übertragbar ist. Daher entschlossen wir uns, Chi- Hantzsch-Dihydropyridin gewählt■6 . nolin-Derivate zu untersuchen, da diese von großem Diesem biomimetischen Ansatz folgend gelang es uns Interesse in der Chemie, Pharmazie und den Material- erstmals, die Glutamat-Dehydrogenase nachzuahmen. wissenschaften sind. Prinzipiell sollte also auch hier, durch Protonierung des Heteroaromaten, eine Transfer- Axiale Chiralität des BINOL-Grundgerüsts hydrierung ermöglicht werden können. Bisher sind sol- che Systeme nur unter Verwendung langer Synthese- routen enantiomeren-rein zu erhalten. Eine direkte metallfreie Hydrierung würde demnach einen großen Fortschritt zum Erlangen der entspre- R-BINOL S-BINOL chenden Tetrahydrochinoline aufweisen. Tetrahydrochi- noline besitzen ein weit verbreitetes Strukturmotiv, welches in vielen Pharmazeutika, wie zum Beispiel in Flumequine und Levofloxacin, sowie vielen biologisch ■5 Die Chiralität des BINOLs beruht auf einer Rotationsbarrie- aktiven Alkaloiden, wie Galipinin, Cusparein und An- re zwischen dem oberen und dem unteren aromatischen Ring- gusturein, vorkommt. Tatsächlich konnten durch Ein- system. satz von lediglich zwei Mol-Prozent einer chiralen Phos-

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Forschung intensiv

■8 Bei der Reduk- Reduktion von Chinolin-Derivaten Wichtige Pharmazeutika und Naturstoffe tion entstehen die entsprechenden Flumequine Antibiotikum Tetrahydrochino- Hemmung der lin-Derivate. bakteriellen Topoisomerase II

2 mol% BINOL-Phosphat

X = C Chinolin Levofloxacin Antibiotikum X = O Benzoxazin Wirkung ähnlich X = S Benzthiazin dem Flumequine. Nur die S-Form zeigt antibakterielle phorsäure verschiedene Chinolinderivate in hohen En- Wirkung antioselektivitäten und guten Ausbeuten reduziert wer- den, wodurch ein schneller Zugang zu allen erwähnten Verbindungen möglich ist /3/. Ein naher Verwandter der Chinoline sind die Benzoxazine (X = O), ■8 . Hier ist ein Kohlenstoff im Grundgerüst durch ein Sauerstoff ausge- tauscht. (+)-Cusparein Interessanterweise konnten diese, genau wie deren Schwefelderivate, ebenfalls in guten Ausbeuten und Enantioselektivitäten synthetisiert werden. In diesem Fall konnte die Reduktion sogar mit einer sehr geringen Menge von 0.01 Mol-Prozent Katalysator durchgeführt werden, was einem Verhältnis von 10 000 Substrat- (+)-Galipinin Alkaloide isloiert aus Galipea officinalis Molekülen zu nur einem Katalysator-Molekül ent- (Angostura Baum) spricht. /4/ Dies ist bis heute die niedrigste Katalysator- Cytotoxisch; hohe anti-Malaria- Aktivität

■9 Struktur verschiedener Pharmazeutika und Naturstoffe mit einem Tetrahydrochinolin-Grundgerüst, die von großem Interes- (-)-Angusturein se in der Chemie, Pharmazie und den Materialwissenschaften sind. Ihre Synthese nach dem biomimetischen Ansatz ermög- licht es, die üblichen langen Syntheserouten abzukürzen und die Produkte in guter Ausbeute enantiomeren-rein zu erhalten.

■10 Struktur ver- schiedener Amino- Enantiomere und ihre unterschiedlichen Eigenschaften säure-basierter L-Aminosäure D-Aminosäure Wirkstoffe, bei de- L-Phenylalnain: D-Phenylalnain: nen die jeweiligen Bitterer Geschmack – Süßer Geschmack, Schmerzmittel Enantiomere völlig Zusammen mit der Aminosäure unterschiedliche Aspartat Bestandteil des physiologische Süßstoffs Aspartam Eigenschaften L-Penicillamin: D-Penicillamin: zeigen. Hochgiftig, mutagen Zur Behandlung rheumatischer Arthritis

L-Dopa: D-Dopa: zur Behandlung von verursacht Granulocytopenie Parkinson

L-Methyldopa: D-Methyldopa: Antihypertonika toxisch, Auslöser hämolytischer Anämie

Literatur /1/ M. Rueping, C. T. Theissmann, M. /3/ M. Rueping, A. the synthesis of al- lyzed transfer hy- /5/ M. Rueping, E. Azap, E. Sugiono, Bolte, Enantiose- R. Antonchick, T. kaloids, Angew. drogenations: En- Sugiono, C. Azap, T. Theissmann, lective Brønsted Theissmann, A Chem. Int. Ed. antioselective re- A highly enantiose- Brønsted acid cata- acid catalyzed highly enantiose- 2006, 45, S. 3683. duction of benzoxa- lective Brønsted lysis: Organocataly- transfer hydrogena- lective Brønsted zines, benzothia- acid catalyst for the tic hydrogenation tion: Organocataly- acid catalyzed cas- /4/ M. Rueping, A. zines, and benzoxa- Strecker reaction, of imines, Synlett tic reduction of imi- cade reaction: Or- P. Antonchick, T. zinones, Angew. Angew. Chem. Int. 2005, S. 2367. nes, Organic Letters ganocatalytic trans- Theissmann, Re- Chem. Int. Ed. Ed. 2006, 45, S. 2005, 7, S. 3781. fer hydrogenation markably low cata- 2006, 45, S. 6751. 2617. /2/ M. Rueping, E. of quinolines and lyst loading in Sugiono, C. Azap, their application in Brønsted acid cata-

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Katalysatorforschung

menge, die jemals in einer enantioselektiven Reduktion Strecker-Reaktion von Heterozyklen eingesetzt wurde, was das große Po- tenzial der chiralen BINOL-Phosphate, auch für indus- trielle Prozesse, verdeutlicht. BINOL-Phosphat Hydrolyse

Die Strecker-Reaktion – > 90% ee Aminosäure Direkter Zugang zu Aminosäuren Aminonitril

Enantiomeren-reine Aminosäuren finden breite An- wendung in der chemischen und pharmazeutischen In- dustrie für die Synthese neuer Wirkstoffe und Spezial- chemikalien■10 . Der einfachste Zugang zu Aminosäuren ist die seit über hundert Jahren bekannte Strecker-Re- aktion. Hierbei wird Blausäure (HCN) zu Aldiminen oder Ketiminen addiert. Nach Hydrolyse des so erhalte- Weiter in die Schule nen Aminonitrils gelangt man direkt zu der gewünsch- der Natur gehen ■11 BINOL-Phos- ten Aminosäure. Nachdem gezeigt werden konnte, dass phat katalysierte chirale Brønsted-Säuren in der Lage sind, verschiedene Es gibt zwar mittlerweile viele katalytisch enantioselek- Strecker-Reaktion. Iminderivate für eine Wasserstoffübertragung zu akti- tive Verfahren zur Herstellung von enantiomeren-rei- vieren, sollte es auch möglich sein, andere Nukleophile nen Verbindungen, jedoch verlaufen diese lange nicht als Wasserstoff (H–), beispielsweise das Cyanid-Anion so effizient, wie es uns die Natur seit Jahrmillionen vor- (CN–), an Imine anzulagern. macht. Zudem steigt nahezu täglich der Bedarf an chira- Durch geeignete Derivatisierung des Katalysators ist len Substraten, vor allem für die Synthese neuartiger es uns gelungen, Aldimine für den nukleophilen Angriff Wirkstoffe, so dass hier immer neue maßgeschneiderte von Cyanid-Anionen zu aktivieren und die gewünsch- Katalysatoren gefordert werden. Wie unser Beispiel der ten Aminonitrile und Aminosäuren in hohen Ausbeu- BINOL-Phosphate zeigt, können biomimetische Ansätze

■ Katalyse-Zyklus zur Imin-Aktivierung 12 Links: Zunächst wird das Imin (C = N) durch das Phosphat protoniert. Es bildet sich ein Katalysator-Imin-Komplex. Das hierbei gebildtete Iminium-Ion (C = NH+) ist für den Angriff eines Nukleophils (Nu) akti- viert. Nachdem das Nukleophil mit dem ak- tivierten Iminium-Ion reagiert hat, wird das Phosphat wieder freigesetzt, und der Zyklus beginnt von neuem. Rechts: Dreidimensionales Modell des An- griffs eines Nukleophils (Nu) an den Kata- – Nu lysator-Imin-Komplex.

ten und Enantioselektivitäten zu isolieren■11 . Der Kata- geeignete Lösungen für schwierige Probleme sein, mit lysemechanismus: Zunächst wird das Aldimin durch das denen täglich die Synthesechemiker in Wissenschaft BINOL-Phosphat protoniert. Es bildet sich in einer Zwi- und Industrie konfrontiert sind. So werden auch in der schenstufe ein chirales Ionenpaar zwischen Katalysator Zukunft die Lern- und Anwendungsprozesse, in denen und Iminium-Ion, welches für einen nukleophilen An- die Natur als Vorbild dient, nicht nur bei der Entwick- griff aktiviert ist. Daraufhin erfolgt der Angriff des Cya- lung weiterer neuer Katalysatorsysteme, sondern auch nid-Ions von der besser zugänglichen Seite, und es bil- beim Design und der Synthese von neuen Materialien det sich das gewünschte Aminonitril /5/ ■12 . eine entscheidende Rolle spielen. ◆

Die Autoren

Prof. Dr. Magnus Rueping, 34, studierte Boris Nachtsheim, 25, studierte von 2001 bis 2005 Chemie an der Technischen Universität Berlin, der an der Johann Wolfgang Goethe-Universität. Seine Diplomar- University of Dublin, Trinity College, und beit mit dem Thema »Entwicklung neuer Metall- und Organo- der Eidgenössischen Technischen Hoch- katalysatoren und deren Anwendung in der Organischen Syn- schule Zürich, wo er 2002 promovierte. these« fertigte er in der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Magnus Anschließend absolvierte er einen zwei- Rueping am Institut für Organische Chemische und Chemi- jährigen Forschungsaufenthalt an der Har- sche Biologie an. Für seine Studienleistung wurde er 2004 vard University und folgte 2004 einem mit dem Albert-Hloch-Preis für das beste Vordiplom und Ruf an die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt als 2006 mit dem Henkel-Förderpreis für den besten Studienabschluss Chemie aus- Degussa-Stiftungsprofessor für Organische Synthetik. For- gezeichnet. Ausgestattet mit einem Promotionsstipendium des Fonds der Chemi- schungsschwerpunkte umfassen die Entwicklung und An- schen Industrie beschäftigt Boris Nachtsheim sich in seiner Doktorarbeit mit der wendung neuer synthetischer Methoden zur Lösung chemi- Entwicklung neuer Brønsted-Säure-Katalysatoren und metallkatalysierten C-C scher, biologischer und physikalischer Fragestellungen. Knüpfungsreaktionen.

Forschung Frankfurt 1/2007 47 UNI 2007/01 Teil 3 31.03.2007 14:31 Uhr Seite 48

Forschung aktuell Jeder Fehler zählt Das Frankfurter Fehlerberichts- und Lernsystem für Hausarztpraxen

Montagmorgen in der Hausarztpraxis

nderer Fehler sind gute Leh- Schätzungen zufolge ist bis zu jeder tet werden sollen. Gerade die häufi- Arer« – so lautet ein nur wenig zehnte Patient in deutschen Kran- geren Beinahefehler, die eben noch bekanntes altes deutsches Sprich- kenhäusern von unerwünschten nicht zu Schäden geführt haben, wort. Für medizinische Fehler galt Ereignissen betroffen. Wie viele können offen diskutiert werden das die längste Zeit nicht: entweder Schäden im Rahmen der hausärztli- und so als Grundlage einer Fehler- totgeschwiegen oder als »Kunstfeh- chen Versorgung in Deutschland prävention wirken. ler« in das Licht der Öffentlichkeit auftreten, ist völlig unbekannt. Eine internationale Studie über gezerrt, entzogen sich ärztliche Feh- medizinische Fehler in der haus- ler einer systematischen Analyse. Beinahe-Fehler am häufigsten ärztlichen Versorgung (Primary Ca- Damit hat die Medizin lange eine Als eine Konsequenz wurde in den re International Study of Medical wichtige Chance vertan. Am Institut letzten Jahren neben verschiedenen Errors – PCISME), an der auch Prof. für Allgemeinmedizin der Universi- anderen Ansätzen zur Verbesserung Ferdinand Gerlach und seine Mitar- tät Frankfurt beschäftigt sich seit ei- der Patientensicherheit die Einrich- beiter (damals noch in Kiel) für nigen Jahren ein Team unter Lei- tung von Berichtssystemen für Feh- Deutschland teilnahmen, versuchte tung von Prof. Dr. Ferdinand Gerlach ler und unerwünschte Ereignisse erstmals unterschiedliche Fehlerty- intensiv mit der Fehlerforschung. gefordert. Nach dem Vorbild des Ri- pen zu definieren. Die Studie Den Themen »Patientensicher- sikomanagements sicherheitsorien- basierte auf freiwilligen, über eine heit« und »Fehler in der Medizin« tierter Industrien (zum Beispiel der Internetplattform eingegebenen wird nicht nur unter Ärzten, son- Luftfahrt) wurden in verschiedenen Fehlerberichten aus 100 Allgemein- dern auch in der Öffentlichkeit zu- Ländern, wie der Schweiz oder praxen in sieben Ländern (Austra- nehmende Aufmerksamkeit ge- Großbritannien, medizinische Feh- lien, Neuseeland, USA, Kanada, schenkt. Ausschlaggebend hierfür lerberichtssysteme etabliert. Dabei Niederlande, Großbritannien, war unter anderem der im Jahre herrscht allgemeine Übereinstim- Deutschland). Dabei zeigte sich, 1999 vom Institute of Medicine he- mung darüber, dass solche Systeme dass bei mehr als 80 Prozent der be- rausgegebene Bericht »To Err is Hu- nicht unbedingt für die Meldung richteten Fehler als Ursache Pro- man«, der das Problem vermeidba- und Aufklärung schwerwiegender zessfehler identifiziert wurden und rer Schäden durch medizinische Be- Fehler geeignet sind, sondern vor weniger als 20 Prozent als Kennt- handlungen thematisierte und ein allem kleinere Fehlerereignisse und nis- beziehungsweise Fertigkeits- großes Medienecho verursachte. so genannte »near misses« berich- fehler einzustufen waren. Damit

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Forschung aktuell

bieten sich durch die Identifizierung von fehleranfälligen Prozessen »Für dieses Forum bin ich unendlich dankbar!« Chancen, Fehler in hausärztlichen »Seit zwei Tagen kenne ich die Seite und war schon zig-mal drin. ... Praxen zu vermeiden. Durch Fehler (besser der anderen) lernt man.« Alle Fehlerberichtssysteme fol- gen dem gleichen Grundgedanken: »Bin heute zum ersten Mal auf diesen Seiten. Es sind »Fehler, die das Man muss nicht alle Fehler selbst Leben schreibt« und aus denen man viel lernen kann, um die eigene machen, um aus ihnen lernen zu Fehlerquote gering zu halten.« können. Über die wichtigsten Ei- »Habe die Seite zum ersten Mal durchgeschaut, sehr informativ und genschaften medizinischer Fehler- hilfreich, da ich sicher den einen oder anderen Fehler selbst kenne, berichtssysteme herrscht Einigkeit. werde ich wieder rein schauen und mitarbeiten, weiter so!« Anonymität ist eine unverzichtbare Quelle: Meinungsäußerungen von teilweise anonymen Nutzern Bedingung für offene, das heißt für alle zugängliche Systeme. Es wer- den keinerlei personenbezogene Austausch über Fehler ermöglicht. Die Anonymität der Berichte Daten abgefragt oder gespeichert, Hausärzte und Arzthelferinnen be- wird durch zwei Mechanismen ge- eine Re-Identifizierung des Berich- richten anonym über eine gesicher- währleistet: Zum einen wird die tenden darf nicht möglich sein. te Internetverbindung von Fehlern Adresse des Computers, von dem Durch die Anonymität des Berich- und kritischen Ereignissen in ihrer der Bericht abgesendet wurde, »ab- tenden wird eine weitere wesentli- Praxis. Als Fehler gilt jeder Vorfall, geschnitten«. So kann der Absen- che Bedingung garantiert: Es gibt von dem es heißt: »Das war eine der nicht zurückverfolgt werden. keine Sanktionen oder Bestrafun- Bedrohung für das Wohlergehen Zum anderen wird geprüft, ob die gen für Berichtende. Als weitere des Patienten und sollte nicht pas- Berichte Hinweise enthalten, durch wichtige Eigenschaften werden sieren. Ich möchte nicht, dass es die Beteiligte identifiziert werden Freiwilligkeit und Unabhängigkeit noch einmal passiert.« Auch wenn könnten. Das können neben Na- der Systeme angesehen. Sinnvoll kein Schaden für den Patienten men oder Orten auch detaillierte sind Analysen durch Experten, die entstanden ist, kann und soll über Schilderungen von Krankenge- sich vor allem mit den zugrunde lie- Fehler berichtet werden. Das Aus- schichten sein. Diese Berichte wer- genden Systemfehlern beschäftigen. füllen des Berichtsformulars ist ein- den dann durch kleinere Verände- fach und dauert zirka fünf bis zehn rungen »anonymisiert«, ohne dass Freiwillig und anonym Minuten. Wöchentlich wird ein Be- der für den Fehlerbericht entschei- Vor dem Hintergrund dieser Überle- richt ausgewählt und als »Fehler dende Inhalt verändert wird. Seit gungen wurde das erste freiwillige, der Woche« veröffentlicht, der von Beginn des Jahres 2006 wird den anonyme Fehlerberichts- und Lern- den Nutzern des Systems kommen- Berichtenden auch die Option ge- system für Hausärzte (www.jeder- tiert werden kann. Ein ebenfalls boten, nur für die interne Daten- fehler-zaehlt.de) konzipiert, das im online vorgestellter »Fehler des bank zu berichten, ohne dass ihr September 2004 in Frankfurt an Monats« erreicht über medizinische Bericht veröffentlicht wird. den Start ging. Das Institut für All- Fachzeitschriften nahezu alle Haus- Das Berichten eines Fehlers al- gemeinmedizin bietet damit eine arztpraxen in Deutschland und Ös- lein verhindert noch nicht unbe- Plattform an, die einen offenen terreich. dingt dessen Wiederholung, auch

Der Ehemann einer Patientin bittet um einen Haus- besuch, weil seine Frau Schmerzen hat. Die Arzthel- ferin vereinbart mit ihm einen Hausbesuch nach der Sprechstunde. Die Patientin war bis dahin nur als or- thopädische Schmerzpatientin bekannt. Zwei Stun- den später, als der Hausarzt gerade im Aufbruch zu der Patientin ist, ruft der Ehemann erneut an, seine Frau sei nicht mehr ansprechbar. Der sofort angefor- derte Notarzt versucht erfolglos, die Frau wiederzu- beleben. Als Todesursache wird ein akuter Herzin- farkt angenommen. Im Diskussionsforum von www.jeder-fehler-za- ehlt.de empfehlen verschiedene Ärzte/innen und Arzthelferinnen Checklisten, die bei telefonischen Anrufen eingesetzt werden, um die Dringlichkeit ei- ner Situation besser einschätzen zu können. Das In- stitut für Allgemeinmedizin verweist auf einen vom niederländischen Hausärzteverband entwickelten »Telefonwegweiser« für Arzthelferinnen, der eine Checkliste für 60 verschiedene Situationen bietet und für 80 Prozent aller telefonischen Anfragen ein- setzbar sein soll. Quelle: Fehler des Monats 2005

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Forschung aktuell

gänglich ist. Einige Ärzte äußerten Befürchtungen über mitlesende Pa- tienten, die es natürlich gibt und die sich auch im Diskussionsforum äußern. Dabei gab es bisher gerade auch von Patienten sehr positive Reaktionen, wie beispielsweise: »Ich möchte allen Ärzten, die sich hier so offen äußern, meinen gro- ßen Respekt aussprechen für ihre Offenheit. Und allen anderen Ärz- ten, die sich hier informieren, um ihre Patienten noch besser zu be- handeln, natürlich auch.« Die Frankfurter Allgemeinmediziner ar- gumentieren ähnlich: »Warum sol- len nicht auch Patienten die Mög- lichkeit haben, zu erfahren, dass man sich in Hausarztpraxen mit den eigenen Fehlern auseinander setzt?« Außerdem sind informierte Patienten besser vor Fehlern ge- schützt. Der bewusst freie Zugang soll die Hürden zur Nutzung des Systems möglichst gering halten. Eine vorherige Registrierung und Legitimationsprüfung würde unnö- tige Befürchtungen auslösen. wenn schon die Wahrnehmung rung eigener Fehler häufig auch ei- Inzwischen zusätzlich eingerich- von Fehlern anderer für entspre- ne entlastende Funktion zu, wie ei- tete geschlossene Nutzergruppen chende Situationen in der eigenen nige der eingegangenen Berichte kommen allerdings dem Bedürfnis Praxis sensibilisiert. »Könnte das und auch Kommentare zeigen. nach, die Fehlerberichte nur mit ei- bei mir auch passieren?« oder »Wie Aktiv berichtenden Nutzern von nem bestimmten Personenkreis zu kann ich so ein Ereignis in meiner »www.jeder-fehler-zaehlt.de« steht diskutieren. Dabei melden sich Praxis verhindern?« sind Fragen, eine Datenbank zur Verfügung, in hausärztliche Praxen als Praxis- die sich die Nutzer stellen. Letztlich der alle Berichte eingesehen wer- teams (Ärztinnen, Ärzte, Arzthel- kann aber erst eine Veränderung den können. Das Forscherteam fer/innen) zur Teilnahme an. Die von konkreten Routinen dauerhaft klassifiziert zuvor die Fehlerberichte angemeldeten Praxen erhalten Zu- eine Prävention von Fehlern er- nach Fehlertypen, Diagnosen, be- tritt zu einem eigenen Internetpor- möglichen. Da dies nicht von allein teiligten Medikamenten und tal und berichten dort nach dem passiert, werden alle Berichte syste- Schweregrad der Fehlerfolgen Vorbild von »www.jeder-fehler-za- matisch analysiert und ausgewertet, (Outcome). Die Nutzer können so ehlt.de« unter Ausschluss der Öf- um Erkenntnisse über Fehlerarten, gezielt nach bestimmten Problemen fentlichkeit anonym über Fehler. -häufigkeiten und ihre Ursachen zu und Fehlern suchen. Gemeinsames Ziel ist es, die eigene gewinnen. Viele Kollegen nehmen Praxis »fehlersicherer« zu machen. Patienten reagieren positiv auch die Gelegenheit wahr, Kom- In dem vertraulichen Rahmen sind mentare zu einzelnen Fehlern ab- Kontrovers diskutiert wird immer auch Rückfragen zu Fehlerberich- zugeben, die oft wertvolle Tipps zur wieder die Tatsache, dass das Sys- ten möglich. Das Experiment »Feh- Fehlervermeidung beinhalten. tem offen und damit für jeden zu- lerzirkel« ist das neueste Projekt des Übergeordnetes Ziel ist es, Strate- gien zur Vermeidung von Fehlern und zur Verbesserung der Patien- Bei einer 78-jährigen Frau wird wegen ihrer auffälligen Blässe Blut abge- tensicherheit in Hausarztpraxen zu nommen. Es zeigt sich eine deutliche Blutarmut (Hämoglobinwert entwickeln. 8,5 g/dl). Dieser Wert bleibt zwei Wochen ohne Konsequenz, da die Pa- Inzwischen sind mehr als 260 tientin nicht benachrichtigt wird. Fehlerberichte eingegangen, und Als Tipps zur Fehlervermeidung werden vorgeschlagen: die Seiten der Internetplattform – Jeder Laborwert wird vom Arzt kontrolliert. werden von etwa 6000 Besuchern – Bei krankhaften Laborwerten ruft der Arzt den Patienten persönlich an. im Monat genutzt. Die Resonanz ist – Bei gravierenden Befunden werden die notwendigen Schritte unmittel- sehr positiv, viele Ärzte haben im bar veranlasst. allgemeinen Diskussionsforum aus- – Zusammen mit dem Termin für die Blutabnahme vereinbart die Arzt- drücklich die Einrichtung dieser helferin auch einen Besprechungstermin. Seite und damit eine offenere Dis- – Auffällige Laborwerte werden vom Labor per Fax an die Praxis ver- kussion über medizinische Fehler schickt. Quelle: Fehler des Monats 2004 begrüßt. Dabei kommt der Schilde-

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Ethik und Medizin Zum Verhältnis von Ethik, Medizin und Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert

Öffentliche Vortragsreihe und Internationale Konferenz der Johann Wolfgang Goethe-Universität Stiftungsgastprofessur »Wissenschaft und Gesellschaft« ˇ, 2000, VG Bild-Kunst Bonn 2007 der Deutschen Bank AG © Geo Tattoos, Danica Dakic

Vorträge Die vier Vorträge finden donnerstags um 18.15 Uhr auf dem Campus Westend, Nebengebäude Raum 1.741b, Grüneburgplatz 1, Frankfurt am Main, statt.

2007 Do 26. April Marcus Düwell Universität Utrecht Medizinethik als Wissenschaftsethik

2007 Do 3. Mai Claudia Wiesemann Universität Göttingen Patientenorientierte Medizinethik

2007 Do 10. Mai Patricia Williams Columbia University Law, Culture, and Medical Ethics

Auftaktveranstaltung zur Internationalen Konferenz 2007 Do 31. Mai Thomas Pogge Columbia University Weltgesundheit: Erklärung und Verantwortung Internationale Konferenz Die Internationale Konferenz findet am 1. Juni von 9 bis 19.30 Uhr im Gästehaus der Goethe-Universität, Frauenlobstraße 1, Frankfurt am Main, statt.

2007 Fr 1. Juni Friedrich Breyer, Lisa Cahill, Donna Dickenson, Govert den Hartogh, Julian Kinderlerer, Dietmar Mieth, Thomas Pogge, Rolf Rosenbrock

Veranstalter: Professur für Moraltheologie/Sozialethik Fachbereich Katholische Theologie Prof. Dr. Hille Haker, Ursula Konnertz www.kaththeol.uni-frankfurt.de/moral/index.html [email protected] 51 UNI 2007/01 Teil 3 31.03.2007 14:31 Uhr Seite 52

Forschung aktuell

beirat zur Seite gestellt, bestehend aus fünf Hausärztinnen und -ärzten und zwei Arzthelferinnen. Sie un- terstützen das Institut für Allge- meinmedizin bei der Weiterent- wicklung des Fehlerberichtssystems und stärken die Verbindung zur Praxis. Wichtigstes Anliegen ist die weitere Verbreitung von »www.je- der-fehler-zaehlt.de« und dabei be- sonders die stärkere Teilnahme der Arzthelferinnen. Arzthelferinnen haben ihre eigene berufsspezifische Perspektive, die weniger auf eine verzögerte Diagnosestellung (ein bevorzugtes Thema für Hausärzte) gerichtet ist, sondern mehr auf Pro- zesse und Strukturen in der Praxis. Da gerade in diesen Bereichen die Mehrzahl aller Fehler auftritt, ist die Beteiligung des gesamten Pra- xisteams Voraussetzung für ein wirklich umfassendes Fehlermana- gement. Tipps zur Fehlervermeidung Immer weiter feilt das Team von »jeder Fehler zählt« an einer Ver- besserung und Erweiterung des Systems. Mit den »Tipps zur Fehler- vermeidung« ist vor kurzem eine neue Funktion entstanden. Dabei werden zu bestimmten Fehlertypen (etwa bei der Verschreibung, mit Laborbefunden) Tipps zusammen- gestellt und veröffentlicht. Diese entstammen vorwiegend den Kom- mentaren, die zu Fehlerberichten Instituts für Allgemeinmedizin, zur- bereits zahlreiche Berichte über von Kollegen aus der Praxis ge- zeit nehmen an diesem virtuellen »www.jeder-fehler-zaehlt.de« er- schrieben wurden. Qualitätszirkel 48 Praxen teil. schienen sind (unter anderem im In Zukunft soll das System von Manche Kollegen fürchten, dass »Stern«, der »Frankfurter Allge- »www.jeder-fehler-zaehlt.de« auch sich die Boulevardpresse der veröf- meinen Zeitung«, der »Financial Ti- anderen Nutzergruppen zur Verfü- fentlichten Fehler bedienen könnte: mes Deutschland«), kann man die- gung stehen, etwa Kinderärzten »Es dürfte nicht lange dauern ... se Sorge eigentlich nicht bestätigen. oder Internisten. Das Bundesge- dass ein findiger Schreiberling der Die Berichterstattung war vielmehr sundheitsministerium hat jetzt dem BILD-Zeitung oder ähnlicher Jour- anerkennend und konstruktiv. Die Kuratorium Deutsche Altershilfe nale diese Seite dafür benützt, uns Boulevardpresse hat sich bisher 570 000 Euro zur Verfügung ge- Ärzte ganz allgemein wieder durch nicht auf den Seiten »bedient«. stellt, damit nach dem Frankfurter den Dreck zu ziehen. Die Schlagzei- Seit April 2006 ist dem Fehlerbe- Vorbild auch für Pflegeeinrichtun- len sehe ich jetzt schon.« Nachdem richts- und Lernsystem ein Praxis- gen ein Fehlerberichtssystem ent- wickelt wird. Die Autoren Erreicht hat »www.jeder-fehler- Dr. Isabelle Otterbach, 42, ist Internistin/Pneumologin und ausgebildete Journalis- zaehlt.de« schon jetzt etwas sehr tin. Sie arbeitet seit Oktober 2004 im Institut für Allgemeinmedizin an den Arbeits- schwerpunkten Multimorbidität und Fehlerforschung. Wichtiges: In Deutschland etabliert Dr. Barbara Hoffmann, 43, ist Fachärztin für Anästhesie und beschäftigt sich seit sich eine längst überfällige Fehler- drei Jahren mit medizinischen Fehlerberichtssystemen und Fehlerprävention. Zur kultur. Es wird zunehmend »nor- Zeit betreut sie das Projekt www.jeder-fehler-zaehlt.de. mal«, dass auch Ärzte offen über Martin Beyer, 49, ist Medizinsoziologe. Er leitet den Arbeitsbereich Patientensicher- Fehler sprechen, nach Ursachen su- heit und Qualitätsförderung. Zusammen mit Ferdinand Gerlach hat er das Konzept chen und sich gemeinsam überle- von www.jeder-fehler-zaehlt.de entwickelt. gen, wie diese zukünftig vermieden Prof. Dr. Ferdinand M. Gerlach, MPH (Master Public Health), 46, ist Facharzt für Allgemeinmedizin und Gesundheitswissenschaftler. Er war von 2001 bis 2004 Di- werden können. Schließlich – so rektor des Instituts für Allgemeinmedizin am Universitätsklinikum Schleswig-Hol- besagt ein chinesisches Sprichwort stein, Campus Kiel. Seit August 2004 ist er Direktor des Instituts für Allgemeinme- – strauchelt der Kluge nicht am sel- dizin der Johann Wolfgang Goethe-Universität. ben Ort ein zweites Mal. ◆

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Forschung aktuell Der lichtgesteuerte Fadenwurm Einblicke in das Nervensystem von C. elegans

er Fadenwurm Caenorhabditis ten«. Selbst in einfachen Nerven- Delegans ist nur etwa einen Milli- systemen sind einzelne »Sub- meter lang und wird im Labor auf Schaltkreise« meist zu größeren Or- kleinen Kulturplatten gezüchtet■1 . ganisationseinheiten zusammenge- Trotz seines anatomisch relativ sim- schlossen, die dann entsprechend plen Nervensystems – bestehend kompliziertere Vorgänge kontrollie-

aus nur 302 Nervenzellen mit zirka ren können und zum Beispiel ein ■1 Lichtmikroskopi- 5000 chemischen Synapsen – ist bestimmtes Verhalten des Versuchs- sche Aufnahme von C. elegans, zirka das »Gehirn« des Tiers in der Lage, tieres auslösen. Daher ist es von 100-fach vergrößert. Das durchsichti- erstaunlich viele Funktionen zu er- großem Interesse zu verstehen, wie ge, ausgewachsene Tier ist im Origi- füllen und zahlreiche einfache Ver- einzelne Nervenzellen oder Grup- nal nur etwa einen Millimeter lang. haltensweisen zu regulieren. So pen von Nervenzellen innerhalb ei- Der Kopf mit dem Fressorgan („Pha- rynx“) ist oben links zu sehen, in der reagiert C. elegans auf Gerüche, Ge- nes neuronalen Netzwerks funktio- Körpermitte kann man etwa 15 Eier schmack, mechanische Reize sowie nieren, um durch ihre Aktivität erkennen, der Rest des Körpers ist die chemische Zusammensetzung, zum Auslösen eines bestimmten vom Darm ausgefüllt. die Temperatur und den Sauerstoff- Verhaltens (oder sonstigen neuro- gehalt seiner Umgebung. Der nalen »Outputs«) beizutragen. durchsichtige Fadenwurm bewegt Kleine Unterschaltkreise hat Umgekehrt führt Berührung am sich auf eine koordinierte und sehr man seitdem durch eine Kombina- Schwanz zu einer beschleunigten elegante Weise fort (daher der Na- tion von Anatomie und funktionel- Vorwärtsbewegung. me), und die Männchen zeigen ein len Experimenten aufklären kön- Eine genetische Anleihe aktives Sexualverhalten. Selbst ein- nen, indem man die einzelnen Zel- fache Formen von »Suchtverhal- len durch Laserbeschuss in einem bei der Grünalge ten« sowie rudimentäre Formen frühen Entwicklungsstadium zer- Um die volle Information über die von Lernen und Gedächtnis kön- stört. Dies erlaubt vor allem die Funktion einer beliebigen Nerven- nen unter geeigneten Bedingungen Aufklärung von Schaltkreisen, die zelle zu haben, muss man sie gezielt untersucht werden. Beispielsweise ein leicht zu beobachtendes Verhal- stimulieren können. Dies ist relativ reagieren die Tiere auf ein Ansto- ten steuern, wie etwa den Rück- einfach zu erreichen, wenn es sich ßen der Kulturplatte mit einem zugsreflex. So fand man, dass bei um ein sensorisches Neuron han- Rückzugsreflex, der jedoch nach Berührung der »Nase« des Wurms delt, da man dann den natürlichen häufiger Wiederholung ausbleibt. Zellen angesprochen werden, die Stimulus (chemische Substanz, Be- Sie lernen also, die Stöße zu igno- auf mechanische Reize reagieren. rührung, Temperaturänderung) rieren, weil sie keine Gefahr dar- Diese aktivieren stromab Komman- nutzen kann. Andere Zellen kann stellen. Interessanterweise kann do-Neuronen, die wiederum die man elektrisch stimulieren, jedoch dieses Verhalten auch trainiert wer- Motorneuronen dazu anregen, eine muß man dazu eine Glaselektrode den, so dass die Tiere selbst nach 24 Rückwärtsbewegung auszuführen. im mikroskopischen Maßstab in die Stunden noch weniger häufig auf den Stimulus reagieren. Anatomie des Fadenwurms C. elegans Das Nervensystem von C. elegans ist bis ins kleinste Detail seiner Ana- tomie durch hoch auflösende Elek- tronenmikroskopie aufgeklärt und Pharnyx (Mund) kartiert, und die 302 Zellen finden sich mit exakt den gleichen Ver- Muskeln schaltungen in jedem Individu- Eier um■2 . Somit hegten einige For- scher den Traum, dass man mit die- sem Wissen über die Struktur des Nervensystem »Schaltkreises« das gesamte Ner- vensystem von C. elegans im Com-

puter simulieren könnte, um des- ■2 Unter der Haut von C. elegans befinden sich Muskelzellen (grüne Streifen), die sen Funktionieren genau zu verste- sich entlang des ganzen Körpers erstrecken. Das Nervensystem des Tiers besteht hen. Jedoch stellte sich heraus, dass aus kleinen Nervenzellen mit langen Fortsätzen (rot, Zellkörper sind als Ovale darge- dies ohne Informationen über die stellt). Diese Fortsätze erstrecken sich von Kopf bis Schwanz, die meisten Nerven- Funktion der einzelnen Zellen nicht zellen befinden sich im Kopfbereich rund um das Fressorgan (»Pharnyx«), im möglich ist. Nun ist die isolierte Be- Schwanz und entlang der ventralen (»Bauch-«) Seite. Dort werden auch die meisten Körpermuskeln »innerviert« und so von den Nervenzellen in koordinierter Weise zu trachtung von Nervenzellen nicht Kontraktionen und Entspannungen angeregt. Dadurch entsteht die elegante wellen- ohne weiteres machbar, da sie sich förmige Bewegung des Körpers. Eingesetzt sind originale Fluoreszenzmikroskopi- untereinander in spezifischer Weise sche Aufnahmen von Neuronen (rot) und Muskelzellen (grün) gezeigt, die ChR2 in zu kleinen Schaltkreisen »verschal- ihrer Zellemembran enthalten.

Forschung Frankfurt 1/2007 53 UNI 2007/01 Teil 3 31.03.2007 14:31 Uhr Seite 54

Forschung aktuell

Nähe der entsprechenden Zelle durchlässige Membranen der Zelle dem legten sie manchmal Eier ab, bringen oder diese damit direkt eingebaut und öffnet, wenn es mit da auch die für die Eiablage not- kontaktieren. Dies ist aber in dem blauem Licht bestrahlt wird, eine wendigen Muskeln das ChR2-Pro- nur einen Millimeter langen C. ele- intrinsische Ionenpore. Gelangt tein enthielten. Wichtig ist hierbei gans (und im Übrigen auch in grö- ChR2 in die Außenmembran von zu erwähnen, daß C. elegans norma- ßeren Versuchstieren) ungemein Zellen, so lässt es nach Lichtabsorp- lerweise keine direkte Reaktion auf schwierig, insbesondere, da man die tion positiv geladene Ionen in die Licht zeigt, obwohl die Tiere intensi- Tiere dazu ruhig stellen und die Zel- Zelle einströmen, wodurch diese sie ves blaues (und vor allem ultravio- le »operativ« präparieren muß. In für die Reizleitung aktiviert (»depo- lettes) Licht vermeiden. Sie begin- dem kleinen Fadenwurm ist dies larisiert«) wird (siehe »Reizleitung nen sich dann schneller zu bewe- mit normalem Verhalten nicht ver- zwischen Nervenzellen«, S. 55). gen, um aus dem Lichtkegel einbar. Wie könnte man also auf ChR2 funktioniert nach einem ähn- herauszukommen. Kontraktionen andere Art einen Stimulus an eine lichen Prinzip wie die Lichtsensor- werden durch Licht unter normalen beliebige Nervenzelle übertragen? Proteine in unserer Retina: Es bin- Bedingungen jedoch nie ausgelöst. Da die Tiere vollkommen transpa- det ein kleines Molekül, Retinal, Zudem konnten wir durch eine rent sind, ist eine Möglichkeit die das bei der Absorption von Licht elegante Kontrolle zeigen, dass die Anregung mit Licht. Dies mag auf seine Struktur verändert. Im Falle Reaktionen streng auf dem Vorhan- den ersten Blick sehr ungewöhnlich von ChR2 überträgt sich diese Än- densein von funktionsfähigem ChR2 in den Zellen basiert: Ohne ■3 Ein genetisch das Retinal-Molekül kann sich der verändertes Tier, Ionenkanal nicht öffnen, und dieses das ChR2 in den Molekül kann C. elegans selbst nicht Körpermuskeln in ausreichendem Maße erzeugen, enthält, vor der Beleuchtung mit so dass wir es mit der Nahrung zu- blauem Licht geben müssen. In Tieren, die zwar (links), und eine das ChR2-Protein enthalten, jedoch halbe Sekunde ohne Retinal kultiviert wurden, tra- nach dem An- ten überhaupt keine lichtinduzier- schalten (rechts). ten Kontraktionen auf. Die lichtin- Der Körper ist duzierten elektrischen Ströme, die kontrahiert, wie sich anhand der erscheinen. Gelingt es aber, die nor- derung dann so auf das Protein, durch das Protein fließen, konnten Fixpunkte (Kreu- malerweise nicht lichtempfindli- dass sie eine Öffnung des ChR2-Ka- wir auch direkt durch elektrophy- ze) erkennen chen Zellen lichtsensitiv zu ma- nals in der Zellmembran bewirkt. siologische Methoden nachweisen, lässt. chen, so lassen sie sich durch Licht, und auch diese traten nur auf, Blaues Licht steuert ohne mechanischen Einfluss und wenn Retinal im Wachstumsmedi- »Operation« anregen. Muskel- und Nervenzellen um vorhanden war. Die Idee dazu ging von Arbeiten Für unsere Experimente zur geziel- Als nächstes brachten wir ChR2 unserer Kollegen am Frankfurter ten Anregung einzelner Zellen bau- in Nervenzellen ein, zuerst in me- Max-Planck-Institut für Biophysik, ten wir das Gen für ChR2 in den chanosensorische, also auf mecha- Prof. Dr. Ernst Bamberg und Prof. Fadenwurm C. elegans ein. Damit nische Reize reagierende Zellen. Dr. Georg Nagel (inzwischen Uni- die Synthese des kodierten ChR2- Hier konnten wir tatsächlich durch versität Würzburg), aus. Sie experi- Proteins nur in bestimmten Zellen Licht schnelle Fluchtreaktionen mentierten mit einem lichtsensiti- auftrat, stellten wir dem Gen regu- auslösen, die sonst durch eine Be- ven Ionenkanal-Protein aus einer latorische DNA-Sequenzen voran. rührung oder Erschütterung ausge- Grünalge (Nagel et al. 2003). Dieser Zunächst brachten wir das Gen in löst werden. Wiederum traten diese Sensor ermöglicht es der Alge, sich Muskelzellen des Wurms ein. Tat- nur auf, wenn die Tiere in Anwe- im Wasser optimal nach dem für sächlich zogen sich die Muskelzel- senheit von Retinal kultiviert wur- die Photosynthese benötigten Son- len nach Beleuchtung mit blauem den und die Mechanorezeptorzellen nenlicht auszurichten. Das Protein, Licht zusammen, und die Tiere ChR2 enthielten. Diese Arbeiten genannt Channelrhodopsin-2 schrumpften sofort entlang ihrer haben wir bereits 2005 veröffent- (ChR2), wird in normalerweise un- gesamten Körperlänge ein■3 . Zu- licht (Nagel et al. 2005). Weitere er- folgreiche Anwendungen waren die Literatur Stimulation erregender beziehungs- weise hemmender Motorneuronen, Bi, A., J. Cui, Y. P. Boyden, E. S., F. Miller, G. (2006). channelrhodopsin- Kateriya, N. Ad- Ma, E.Olshevskaya, Zhang, E. Bamberg, »Optogenetics. 2 in excitable cells eishvili, P. Bert- die entweder Kontraktionen oder M. Pu, A. M. Diz- G. Nagel and K. Shining new light of Caenorhabditis hold, D. Ollig, P. vollständige Entspannung der Mus- hoor and Z. H. Pan Deisseroth (2005). on neural circuits.« elegans triggers ra- Hegemann and E. keln auslösten. Auf diese Weise (2006). »Ectopic »Millisecond-time- Science 314 pid behavioral res- Bamberg (2003). können wir nicht nur untersuchen, expression of a mi- scale, genetically (5806): S. 1674 – 6. ponses.« Curr. Biol. »Channelrhodop- welche Nervenzellengruppen ein crobial-type rho- targeted optical 15 (24): S. 2279 – sin-2, a directly bestimmtes Verhalten auslösen, dopsin restores vi- control of neural Nagel, G., M. Brau- 84. light-gated cation- sondern auch die Funktionalität der sual responses in activity.« Nat ner, J. F. Liewald, selective membra- mice with photore- Neurosci 8(9): N. Adeishvili, E. Nagel, G., T. Szel- ne channel.« Proc. Synapsen in genetischen Mutanten ceptor degenerati- S. 1263 – 8. Bamberg and A. las, W. Huhn, S. Natl. Acad. Sci. charakterisieren, in denen die on.« Neuron 50 Gottschalk (2005). USA 100 (24): S. Kommunikation zwischen den Ner- (1): S. 23 – 33. »Light activation of 13940 – 5. venzellen gestört ist. Das Ausmaß

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des jeweils induzierten Kontrakti- Gelblicht blockiert Schwimmbewegungen ■4 In Falschfarben ons- oder Relaxationsverhaltens ist sind je fünf auf- Ohne Licht Mit Licht nämlich ein direktes Maß für die einander folgen- Menge an freigesetzten chemischen de Bilder der Signalstoffen aus den Neuronen. Schwimmbewegun- gen von C. elegans Entspannung durch aus einem Video- gelbes Licht film übereinander gelegt. Sie wurden Um nun Neuronen durch Licht im Abstand von je nicht nur aktivieren, sondern auch 80 Millisekunden hemmen (inhibieren) zu können, aufgenommen verwendeten wir kürzlich ein wei- (links). Hemmt teres in der Natur vorkommendes, man die Muskeln oder aktivierenden Licht-aktiviertes Protein. Es be- neuronen erzielen. Interessanter- kontrahieren und entspannen las- Motorneuronen von wirkt, dass negativ geladene Teil- weise liegt das Aktivierungsmaxi- sen. C.elegans durch chen in die Zelle einströmen (»Hy- mum dieses »Hyperpolarisators« in Dies erlaubt nun eine zeitlich Lichteinstrahlung, perpolarisation«, siehe Kasten un- einem Wellenlängenbereich, der sehr präzise Aktivierung und Inhi- hört das Tier sofort ten). Erste Versuche zeigten, dass gelbem Licht entspricht. Im Gegen- bition von Neuronen und ermög- auf zu schwimmen die Aktivierung dieses optischen satz dazu wird ChR2 mit blauem licht die Steuerung von Teilen (bis (rechts). »Hyperpolarisators« in Muskelzel- Licht maximal angeregt. Dies eröff- hinab zu einzelnen Zellen) von len zu sofortigem Stillstand der Tie- net die Möglichkeit, eine (Nerven-) Nervenschaltkreisen, um deren re und zu einer Entspannung aller Zelle, die beide Proteine gleichzeitig Funktion im Detail aufzuklären. Muskeln führt■4 , was sich auch in enthält, beispielsweise durch ab- Anwendungen, die wir in nächster einer Ausdehnung der Körperlänge wechselnde Beleuchtung mit blau- Zeit angehen wollen, sind die Auf- widerspiegelt. Zudem konnten wir em und gelbem Licht zu aktivieren klärung der Funktionen von einzel- die zugrunde liegenden Photoströ- und zu inhibieren. Tatsächlich ist nen Nervenzelltypen im lokomoto- me über die Muskelzellmembran uns genau dies gelungen: So konn- rischen System von C. elegans, wel- direkt messen. Vergleichbare Effek- ten wir die Muskelzellen (und so- che die Bewegung regulieren. te ließen sich auch in den Motor- mit das gesamte Tier) abwechselnd Dabei interessiert uns sowohl, wie

Anzeige Reizleitung zwischen Nervenzellen Die Funktion eines Nervensystems basiert auf einem Ge- flecht von Nervenzellen, die untereinander Signale austau- schen. Dabei setzt eine aktive Nervenzelle chemische Bo- tenstoffe frei, die dann in einer stromab gelegenen Nerven- zelle durch Rezeptoren wahrgenommen werden. Diese Verbindungen werden (chemische) Synapsen genannt. In der Folge strömen elektrisch positiv geladene Teilchen – Io- nen – in diese zweite Nervenzelle und verändern das elek- trische Potenzial über ihrer Zellmembran (Depolarisation), was wiederum eine Aktivierung dieser Zelle bedeutet. Es gibt neben dieser aktivierenden Neurotransmission auch eine inhibierende, die zu einer Inaktivierung der stromab gelegenen Zelle führt. In diesem Fall werden andere Bo- tenstoffe und Rezeptoren verwendet, es strömen negativ geladene Ionen in die Zellen ein, und dies führt zu einer Potenzialveränderung mit umgekehrten Vorzeichen (Hy- perpolarisation). Neuronale Endigungen, enthalten synaptische Vesikel mit chemischen Neurotransmittern (z.B. Acetylcholin, GABA)

Exzitatorische Inhibitorische Synapse Synapse

Neurotransmitter- Rezeptoren

post-synaptische Zelle (Neuron oder Muskel) Aktivierung Hemmung

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die Motorneuronen die wellenför- sichtig ist. Jedoch lassen sich winzi- Mausmodell), wurden im vergange- mige Bewegung des Körpers kon- ge Lichtleiterfasern auch tief in das nen Jahr von Zhuo-Hua Pan und trollieren, aber auch, wie andere Säugergehirn einpflanzen, wo sie Kollegen an der Wayne State Uni- übergeordnete Zellen komplizierte- dann mit einer gewissen Reichwei- versity in Detroit, USA, publiziert re Bewegungsabläufe wie Rich- te bestimmte Nervenzellen illumi- (Bi et al. 2006). Hier wurde das Pro- tungswechsel und Fluchtverhalten nieren können. Diese Methode tein in Neuronen in der Retina ein- koordinieren. Eine weitere Anwen- stellt auch eine schonende und spe- gebracht, die normalerweise den ei- dung ist die Aufklärung der Funkti- zifischere Alternative zur elektri- gentlichen Photorezeptorzellen on von sensorischen Zellen, die das schen Reizung von Nervenzellen im nachgeschaltet sind, aber deren Sig- Ausmaß der Körperbiegung wahr- Säugerhirn dar. Beim Menschen nale ans Gehirn weitergeben. Tat- nehmen und entsprechend »gegen- wird diese bei bestimmten Formen sächlich konnten in Mäusen, denen steuern« können. von Schizophrenie oder Depression die Photorezeptoren fehlen und die auch therapeutisch eingesetzt. Hier dadurch vollkommen blind sind, »Optogenetik«: ist natürlich noch viel Entwick- durch ChR2 wieder Lichtsignale in Vielseitige neurowissen- lungsarbeit nötig, insbesondere, da der Retina ausgelöst und durch den schaftliche Anwendungen man bestimmte Nervenzellen im Sehnerv in das Gehirn weitergelei- Diese neuen Methoden zur Analyse Gehirn künstlich, etwa durch so- tet werden. Momentan sind aber der Nervenzellfunktion (bereits als matische Gentherapie, erst einmal die hierfür benötigten Lichtintensi- »Optogenetik« bekannt) sind nicht dazu bringen muß, ChR2 herzustel- täten noch zu hoch, als dass unter nur für die Untersuchung des Fa- len. Auch erste Versuche, ChR2 als normalen Tageslichtbedingungen denwurms interessant, sondern ha- Heilungsmethode für bestimmte von einer nennenswerten Licht- ben breite Bedeutung und Anwend- Formen fortschreitender Erblin- empfindung ausgegangen werden barkeit für die Neurowissenschaften dung einzusetzen (zunächst im kann. ◆ im Allgemeinen. So wird ChR2 be- reits zu Untersuchungen im Ner- Der Autor vensystem der Maus eingesetzt Juniorprofessor Dr. Alexander Gottschalk, 37, ist seit Dezember 2003 am Institut (Boyden et al. 2005; Miller 2006). für Biochemie. Er studierte Chemie in Frankfurt und Marburg und promovierte über Deren Nervensystem ist dem Nukleinsäure-Protein-Komplexe, die an der Genexpression beteiligt sind. Seine Postdoktorandenzeit verbrachte er in San Diego, USA, mit Untersuchungen zur Wir- menschlichen sehr viel ähnlicher kung von Nikotin auf das Nervensystem von Caenorhabditis elegans. Dies und die als das des Wurms, wobei sich hier im Artikel beschriebenen Anwendungen zur Licht-vermittelten Steuerung von Ner- natürlich gewisse Schwierigkeiten venzellen sind die Forschungsschwerpunkte der Arbeitsgruppe, die er am Institut für auftun, da die Maus nicht durch- Biochemie leitet.

Typisch männlich? Eindeutig weiblich? Über die Wechselwirkung zwischen Wirklichkeit und Klischee – Wie Werbesprache Stereotype fortschreibt

■1 Die Werbekampagne »Women and Men Like Different Things« der Firma Sea- gram's stellt stereotypisch weibliche und männliche Vorlieben einander gegenüber, um so höhere Verkaufserfolge zu erzielen.

Toilette, auf dem rechten Bild ist die Klobrille hochgeklappt, auf dem lin- ken jedoch nicht; oder zwei Torten- bilder – aus einer Torte ragt eine leicht bekleidete Stripperin, das lin- ke Bild zeigt eine Hochzeitstorte mit Miniaturfiguren eines Brautpaars. Die Botschaft erschließt sich unmit- telbar: Männer klappen die Klobril- le nach oben, wenn sie die Toilette benutzen; Frauen wollen heiraten, Männer genießen ihr Junggesellen- it der Headline »Women and der Kampagne treu – lediglich die dasein. Mmen like different things« Bildillustration variiert von Anzeige Warum ist es spannend, diese wirbt die US-amerikanische Firma zu Anzeige. Jeweils zwei einander altbekannten Stereotype genauer Seagram's für ihre alkoholischen gegenübergestellte Bilder veran- zu betrachten? Dahinter steckt das, Erfrischungsgetränke■1 . Diesem schaulichen, was Frauen und was was Gender-ForscherInnen als »Er- Slogan bleibt die Firma im Laufe Männer »mögen«: ein und dieselbe gebnisse eines normativen Kon-

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struktionsprozesses« be- ■2 Die Cover der zeichnen: Die Werbespra- beiden untersuch- che produziert eindeutig ten Zeitschriften- identifizierbare Ge- titel visualisieren schlechterbilder und die beiden Rollen- wirkt mit ihrer Botschaft bilder »new wo- man« und »new gleichzeitig normierend man«, die viele auf die Selbsteinschät- Gemeinsamkeiten zung von Männern haben. Dennoch und Frauen. Wirklich- erweist sich die keit und Klischees werbesprachliche können sich so Textgestaltung in wechselseitig repro- den beiden Zeit- schriften als hoch- duzieren. Was die gradig ge- Werbung aus kom- schlechtsstereo- merziellen Gründen typ. verschweigt, ist übrigens die Tatsa- che, dass auch eine andere Wirklich- Män- keit existiert: So gibt es viele Män- ner und Frauen direkt ner, die die Toilette nicht grundsätz- angesprochen werden oder über sie lich im Stehen benutzen und Beide Zeitschriften gehören zu den geredet wird, immer wird vermit- Frauen, die ihr Junggesellinnenda- erfolgreichsten Lifestyle-Magazinen telt, dass Frauen so und Männer sein genießen. geschlechtlicher Ausrichtung. Ihr anders sind, zum Beispiel, wenn Die Headline »Women and men Themenspektrum ist relativ breit nicht von »Personen« die Rede ist, like different things« kann als pro- gefächert. »Men's Health« spricht sondern von weiblichen und grammatisch für die Werbung von schon im Titel das traditionell weib- männlichen Personen, auf deren heute gelten, in der geschlechtliche lich besetzte Thema Gesundheit an, spezielle Bedürfnisse das Produkt Unterschiede werbestrategisch be- variiert es allerdings im Heft auf angeblich abgestimmt sein soll. Die- tont werden. In einem weiteren spezifisch »männliche Art«: »He- se kommerziellen Praxen stehen im Beispiel werden ein Basketballspie- alth« reicht von Sport über Mode- Kontrast dazu, wie Geschlecht heu- ler und ein Balletttänzer gegen- tipps und Beziehungsratgeber bis te zunehmend in den Kultur- und übergestellt, was suggerieren soll, hin zu Kochrezepten. Das Zielpubli- Sozialwissenschaften begriffen dass der Balletttänzer an Männlich- kum beider Zeitschriften lässt sich wird: Die strikten Grenzen zweier keit nicht mit dem Basketballspieler als junge Mittelschicht charakteri- »naturgegebener« Geschlechter- mithalten kann. Diese Werbeanzei- sieren. Außerdem erscheinen beide klassen sind hier längst durchbro- ge illustriert in exzellenter Manier, Titel mit zahlreichen internationa- chen, und es ist stattdessen davon dass geschlechtliche Identitäten oft len Ausgaben und etablieren so die Rede, dass Geschlecht sich eher mehr Konstrukt als Fakt sind, denn zwei globale Communities von Le- über eine Tätigkeit vermittelt, die es handelt sich sowohl bei dem Bas- senden. Beide Zeitschriften machen mal mehr und mal weniger mit den ketballspieler als auch bei dem Bal- das eigengeschlechtliche Rollenbild ritualisierten Geschlechterstereoty- letttänzer um ein und denselben zum zentralen Thema, was für pen übereinstimmen kann. Ge- Mann in identischer Körperhaltung. Männerzeitschriften nicht selbstver- schlecht ist demnach nicht länger Lediglich die Utensilien, die der ab- ständlich ist, die sich traditionell etwas, das sich bei einem Baby ein- gebildete Mann an seinem Körper eher mit stereotypisch männlichen deutig an den Geschlechtsorganen trägt, lassen ihn auf dem einen Bild Interessengebieten wie Motorsport ablesen lässt und dann wie ein le- als eher femininen und auf dem oder heterosexueller Erotik be- benslängliches Urteil wirkt. anderen Bild als eher maskulinen schäftigen. »Body«: Was die Mann erscheinen. Die Accessoires Die Cover der beiden Zeitschrif- Werbesprache daraus macht bestimmen also die geschlechtliche ten■2 bilden stets idealtypische Ver- Note letztlich mehr als biologische körperungen der »new woman« Um ihre geschlechtlichen Norm- Charakteristika. oder des »new man« ab. Dabei ist und Wertvorstellungen zu konstru- es verblüffend, wie nahe beieinan- ieren, bezieht die Werbesprache »Cosmopolitan« und »Men’s der diese beiden Rollenbilder lie- häufig den Körper oder Körperpar- Health«: Festklammern an gen: Definiert »Cosmopolitan« tien ein. Dies wird beispielsweise Geschlechterstereotypen Weiblichkeit über traditionell eher deutlich, wenn man Komposita mit Geschlechtliche Differenz wird in männlich assoziierte Bereiche wie dem Bestandteil »body« im Werbe- der Werbung jedoch nicht nur vi- Berufsleben und Sex, so ist dem korpus untersucht. Stammt ein gro- sualisiert. Auch die Werbesprache Mann in »Men's Health« sein Aus- ßer Teil der Komposita in »Cosmo- leistet dazu einen entscheidenden sehen ein besonderes Anliegen, ein politan« aus dem Bereich der Kör- Beitrag. Dazu habe ich insgesamt klischeehaft eher weiblich besetztes perpflege (»body spray, body wash, 2000 Werbetexte aus den beiden Terrain. Doch dies kann nicht dar- body lotion«), so ist der Bereich Zeitschriften »Cosmopolitan« und über hinwegtäuschen, dass die Sport fast ausschließlich in »Men’s »Men’s Health« (britische und US- Werbetexte ihren Fokus auf ver- Health« vertreten (»body massage, amerikanische Ausgaben) im Zeit- meintliche Unterschiede zwischen body workout, bodybuilding«). Die raum 1999 bis 2001 untersucht. den Geschlechtern richten. Ob nun Botschaft, welche die Werbung so

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■ Teilwortfeld »Gliedmaßen« 3 Häufigkeitsver- tigt. Es gehört zu den gängigen Kli- teilung der Lexe- schees, dass nur Frauen Farbnuan- limbs [f1/m0] me des Wortfelds cen unterscheiden und beschreiben »Gliedmaßen« im können. Aus dem Munde eines arm(s) [f3/m5] leg(s) [f23/m8: F*] Werbekorpus: Fin- gerteile und Beine Mannes würde eine Äußerung wie spielen eine wich- »This wall is mauve« demnach Spe- wrist elbow [f1/m4] tigere Rolle für kulationen über seine Sexualität [f1/m6] thigh(s) kneepit knee(s) den idealen Frau- [f7/m3] [f1/m0] [f1/m11: M*] oder seinen Berufsstand hervorru- (arm)pit(s) [f2/m3] hand(s) enkörper, Bein- underarm(s) [f2/m3] [f42/m43] shin(s) fen, während sie für eine Frau als [f0/m4] und Fußteile für normal angesehen wird. Mit hoch- foot/feet den idealen Män- [f32/m103: M*] finger(s) [f3/ms] palm [f3/m4] nerkörper. (f = ab- differenzierten Farbpaletten wird in solute Häufigkeit der Kosmetik- und Modewerbung in »Cosmopoli- gearbeitet, und obwohl Farbnuan- thumb pointer pinkies middle forefoot toe(s) midfoot corns tan«, m = absolu- cen auch für die Auswahl eines Au- [f0/m4] finger [f1/m0] finger [f0/m8: M*] [f5/m7] [f0/m4] [f2/m0] te Häufigkeit in [f0/m1] [f0/m1] tos von entscheidender Bedeutung »Men's Health«; sind, finden sich derartige Hinweise arch heel F*/M* = signifi- [f0/m6: M*] [f1/m14: M*] kant häufiger in kaum in der Automobilwerbung. nail(s) (finger)tip(s) cuticles Vermutlich liegt es daran, dass es [f81/m0: F*] [f10/m2: F*] [f6/m1: F*] »Cosmopolitan/ Men's Health«) sich bei Autos um eine stereoty- pisch männlich assoziierte Produkt- vermittelt, ist klar: Sowohl für sicht (»face, lips, eyes«) und schließ- gruppe handelt. Frauen als auch für Männer ist der lich Körperpartien im Rumpfbereich, Wenn in »Cosmopolitan« über Körper ein wichtiges Mittel ge- die eine kurvenreiche Körpersilhou- Farbe gesprochen wird, so geschieht schlechtlicher Inszenierung, was in ette konstruieren (»hips, breasts, dies eindeutig differenzierter und der Wissenschaft mit »geschlechtli- butt«), werden ebenso weit häufi- assoziativer (»mauve, navy, hazel, cher Performanz« umschrieben ger thematisiert. Für den Männer- magenta«) als in »Men’s Health«, wird. Um dem geschlechtlichen körper in »Men’s Health« sind da- wo 64 Prozent der Farbnennungen Körperideal zu entsprechen, sollen gegen Beine (»knee, foot, heel, auf die umgangssprachlichen Frauen ihren Körper pflegen, Män- arch«)■3 , Bartbehaarung, innere Grundfarbwörter (»white, black, ner ihn trainieren. Die geschlecht- Organe, Bänder, Sehnen und Ner- red, green, yellow, blue, brown, liche Zuordnung verläuft im Werbe- ven, der Rücken (»back«) und ins- gray, pink, orange, purple«) be- text übrigens weniger über körperli- besondere das gesamte Wortfeld schränkt sind. Die Werbesprache ist che Geschlechtsmerkmale, sondern Muskulatur von Bedeutung. Das in der Farbnamenwahl äußerst über bestimmte Partien des Körpers, weibliche Ideal soll vor allem an der kreativ und schafft sich ihre eige- die zwar jeder Mensch besitzt, die oft unbekleideten Körperoberfläche nen Farbwörter (»idiosynkratische« aber dennoch stereotypisch mit dem den ästhetischen Ansprüchen ent- Farbwörter) wie »gunsmoke, einen oder anderen Geschlecht in sprechen, während der Männerkör- Shanghai Shimmer«. Diese finden Verbindung stehen. Dies wird mit per eher funktionale Aufgaben er- sich jedoch ausschließlich in »Cos- dem Begriff »sozial genderisierte, füllen soll. Männerzeitschriften wie mopolitan«. ■4 tertiäre körperliche Geschlechts- »Men’s Health« vermeiden es, äs- merkmale« umschrieben. thetisierend über den männlichen Kritische Reflexion So verwenden Anzeigen in Körper zu sprechen, um nicht ho- Diese Auswahl an sprachlichen »Cosmopolitan« wesentlich häufi- mosexuelle Verdachtsmomente zu Merkmalen, die nur einen kleinen ger Bezeichnungen wie »leg(s) und wecken. Ausschnitt des untersuchten Text- nails, fingertips, cuticles«■3 ; lange korpus von 2000 Werbetexten Die Nuancen Kopfbehaarung wird als positives darstellt, verdeutlicht bereits, wie und Körperbehaarung als negatives des Farbvokabulars hochgradig stereotyp werbesprach- weibliches Körperbild dargestellt; Auch mit dem Farbvokabular lässt liche Genderisierung in den beiden Haut (auch Hautmakel wie »ble- sich nachweisen, wie die Werbe- untersuchten Zeitschriften vonstat- mishes, cellulites, wrinkles«), Ge- sprache Geschlechtsstereotype fes- ten geht. Die Werbung orientiert

■4 Prozentanteile der Farbwortkatego- Farbnamenkategorien in »Cosmopolitan« und »Men’s Health« rien im Werbekorpus: Während in »Men's Health« zu 65 Prozent Grund- farbwörter verwendet werden, weist das basisch Farbvokabular in »Cosmopolitan« einen elaboriert weit höheren Differenzierungsgrad auf. modiziert Grundfarbwörter kommen hier nur zu 29 Prozent vor. Stark vertreten sind dane- basisch ben vor allem elaborierte Farbbezeich- modifiziert nungen (wie »mauve« oder »hazel«) oder elaboriert Modifizierungen derselben (wie »earthy idiosynkratisch mauve«). Idiosynkratische Farbbezeich- nungen (wie »gunsmoke« oder »Shang- hai Shimmer«), die von der Werbung gänzlich neu kreiert wurden, kommen Cosmopolitan Men’s Health ausschließlich in »Cosmopolitan« vor.

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sich so an vorherrschenden Weib- gisch motivierte Konstruktionen, tegorie Geschlecht vor Augen: Ge- lichkeits- und Männlichkeitsdiskur- die oft keinerlei nachweisbare Basis schlechtliche Identität kann hier sen, die sowohl einen hohen ge- haben oder die geschlechtliche Dif- gänzlich ohne das Gegebensein bio- schlechtlichen Wiedererkennungs- ferenz kommerziell verallgemei- logischer Körpercharakteristika von wert haben als auch normative nern und übersteigern. Die Werbe- Sprecherinnen und Sprechern er- Standards für erfolgreiche Weiblich- sprache der Zeitschriftenwerbung folgreich praktiziert werden, näm- keits- und Männlichkeitspraxen führt uns so ein Paradebeispiel für lich durch die sprachliche Genderi- setzen. Das Entscheidende ist hier- die sprachliche Herstellung der Ka- sierung des Werbetextes. ◆ bei nicht das erneute Ermitteln ge- schlechtlicher Differenz in einem Der Autor bestimmten Kontext, sondern das Dr. Heiko Motschenbacher, 30, studierte Anglistik und Klassische Philologie an den kritische Reflektieren über diese Universitäten Bamberg und Frankfurt. Seit 2006 lehrt er am Institut für England- sprachliche Differenz, wie es in der und Amerikastudien der Johann Wolfgang Goethe-Universität Englische Linguistik Kritischen Angewandten Linguistik mit den soziolinguistischen Schwerpunkten »Sprache & Geschlecht«, »Sprache & praktiziert wird. Es gilt, ein Be- Sexualität« und »Europäische Sprachpolitik«. Seine Dissertation »Women and Men wusstsein dafür zu wecken, dass Like Different Things? – Doing Gender als Strategie der Werbesprache« beschäftigt diese Unterschiede nicht von Natur sich mit der kritischen Hinterfragung der sprachlichen Herstellung geschlechtlicher aus in Frau und Mann angelegt Differenz am Beispiel der Werbung. Für diese Arbeit wurde Motschenbacher im De- zember 2006 mit dem Cornelia Goethe Preis der Universität Frankfurt ausgezeich- sind und nicht nur von der Wer- net. Sein aktuelles Forschungsprojekt trägt den Titel »Staging Linguistic and Sexual bung als Spiegel der Realität repro- Identities in the Eurovision Song Contest« und setzt sich mit sprachlich getragenen duziert werden. Im Gegenteil: Es Prozessen nationaler, paneuropäischer und sexueller Identitätsbildung auseinander handelt sich dabei um werbestrate- [siehe www.quinguistics.de].

Auf Umwegen zur Schrift Wenn Lernen zum Risiko wird – Neue Ansätze für pädagogische Arbeit mit lernschwachen Schülern

ahr für Jahr verlassen schät- Jzungsweise 100 000 Schülerin- nen und Schüler das deutsche Schulsystem, ohne richtig Lesen und Schreiben gelernt zu haben. Selbst einfachen Texten können diese Jugendlichen keinen Sinn entnehmen. Ein Beispiel aus der weltweiten PISA-Untersuchung: Den Schülern der neunten Jahr- gangsstufe wurde ein Text zur Qua- lität von Turnschuhen vorgelegt. In einer Zwischenüberschrift wurden die wichtigsten Anforderungen an einen guten Turnschuh bereits ge- nannt, und im Text wurde dies noch einmal ausgeführt. Trotzdem wussten in Deutschland 10 Prozent der untersuchten Jugendlichen auf die Frage »An einer Stelle im Arti- kel heißt es: ›Ein guter Turnschuh sollte vier Kriterien erfüllen.‹ Wel- che Kriterien sind dies?« keine Ant- »Was sollen wir machen? Lass uns gemeinsam schauen!« Wie lassen sich lese- und schreibschwache Schüler wort. animieren, sich trotz aller vorausgegangenen Misserfolge mit Geschriebenem zu beschäftigen? Im Gespräch Wir stehen sehenden Auges vor mit den Förderpädagogen Waltraud Bouda und Christian Wagner sucht der Schüler nach neuen Wegen. einer bildungspolitischen Katastro- phe, deren gesellschaftliche Auswir- zu erklären, dass die Vermittlung ei- ten sprachlichen Voraussetzungen. kungen noch gar nicht abzuschät- nes elementaren Bildungsguts in Natürlich gibt es unmotivierte und zen sind. Wie sollen diese Jugendli- der Schule massenhaft scheitert? Es wenig anstrengungsbereite Schüler. chen in einer Wissensgesesellschaft ist zu billig, das Problem einfach Natürlich gibt es Eltern, die ihrer ihren Platz finden, wenn ihnen die den Schülern oder ihren Eltern zu- Erziehungsverantwortung nur un- elementarsten Voraussetzungen da- zuschieben. Natürlich gibt es Schü- zureichend gerecht werden und die zu fehlen? Und vor allem: Wie ist lerinnen und Schüler mit schlech- ihren Kindern die nötige Unterstüt-

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und Medienkompetenz« versucht. ßerdem können wir daraus Hinwei- Wir haben uns dazu in den »Bil- se ableiten, welche Hilfen nötig dungskeller« – so der Pädagoge sind, damit alle Schülerinnen und Gotthilf G. Hiller in seinem gleich- Schüler den Anforderungen des namigen Buch – der Republik bege- Lernens dauerhaft und krisenfest ben und mit Kindern und Jugendli- gewachsen sind. chen gearbeitet, die bei der ganzen Türöffner: Individuelles Aufregung um PISA und die Folgen fast völlig vergessen wurden: Schü- Lernangebot und Einsatz ler, die Sonder- oder, wie es heute der Neuen Medien heißt, Förderschulen besuchen. Wir hatten es mit Schülerinnen und Dies sind, je nach Bundesland, im- Schülern zu tun, die im Laufe ihrer merhin 4 bis 8 Prozent eines Jahr- Schulbiographie schon eine ganze gangs. Diese Kinder und Jugendli- Reihe – erfolgloser – Alphabetisie- chen entstammen zumeist benach- rungsversuche hinter sich gebracht teiligten Lebenslagen. Armut und und eine entsprechend ausgeprägte Perspektivlosigkeit prägen ihr sozia- Misserfolgserwartung entwickelt les Umfeld. hatten. Bei dieser Ausgangslage war »Hier ist ein Gespenst« sollen die Schüler in der Hamburger Schreibprobe (HSP) für das zweite Schuljahr schreiben. Das Damit repräsentieren sie jenen es klar, dass ein Förderansatz, der Beispiel der 15-jährigen Susanna zeigt, wie ausgeprägt die Teil der Schülerschaft, dessen För- die schulischen Lehr-Lern-Muster Schwierigkeiten der Schüler waren. Sie schreibt zu Beginn der derung in Deutschland ganz beson- bloß variiert, aber nicht im Kern Förderung: »Hihi ist ein gestes«. ders schlecht gelingt. Bekanntlich verändert, wenig Erfolg verspricht.

zung nicht geben können oder wol- len. Nur: die Schule kann sich ihre Schüler und deren Eltern nun mal nicht backen. Man kann die Ver- hältnisse beklagen, wie Schule und Bildungspolitik es seit Jahr und Tag tun. Oder man kann nach Lösun- gen suchen, wie Lernen auch unter ungünstigen Voraussetzungen mög- lich wird. Projekt mit Jugendlichen aus dem »Bildungskeller der Republik« Dies haben wir in dem von der BHF-Bank-Stiftung großzügig un- terstützten Projekt »Soziale Be- Die PC-Tastatur als Türöffner zur Schriftkultur: Eigene Worte und Texte ausprobieren nachteiligung, Analphabetismus – ohne dass der Computer gleich zum Übungs- und Trainingsgerät wird.

ist in keinem der Teilnehmerstaaten Wir haben uns daher für zwei kon- der weltweiten PISA-Untersuchung zeptuelle Eckpunkte entschieden: der Zusammenhang zwischen Bil- Individualisierung des Lernangebots dungserfolg der Kinder und sozia- und Einsatz der Neuen Medien als lem Status der Eltern so eng ge- »Türöffner in die Schriftkultur«. knüpft wie in Deutschland. Wir ha- Individualisierung des Lernange- ben uns in dieser Gruppe der bots meint, dass wir nicht mit ei- Förderschüler noch einmal auf die nem fertigen Maßnahmenkatalog, besonders schwachen Leser kon- sei er papier- oder computerge- zentriert. Diese Jungen und Mäd- stützt, auf die Schüler zugegangen chen im Alter zwischen 10 und 17 sind. Vielmehr haben wir versucht, Jahren konnten nach vier, sechs, uns gemeinsam mit ihnen auf die manchmal neun Schuljahren allen- Suche nach den Gründen für ihre falls einzelne Buchstaben lesen und Schwierigkeiten zu machen. Und schreiben. An die Sinnentnahme gleichzeitig haben wir nach ihren eines Textes war nicht im Ansatz zu Interessen und Neigungen geforscht, denken. An den »Extremfällen« um Themen zu finden, die für sie lassen sich besonders deutlich die selbst so reizvoll waren, dass sie sich Der 14-jährige Önder hat mit Unterstüt- individuellen und institutionellen noch einmal auf das Wagnis des Le- zung durch die Förderpädagogin auf der Faktoren identifizieren, die die sen- und Schreiben-Lernens einlas- Internet-Plattform Primolo eine Selbst- darstellung erarbeitet. Nicht ohne Stolz Lern- und Entwicklungsprozesse sen konnten. präsentiert er sich als Junge, »mit guten von Kindern und Jugendlichen so Den Neuen Medien kam dabei Muskeln am Bauch«, der verliebt sei! nachhaltig beeinträchtigen, und au- eine ganz besondere Bedeutung zu.

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Computer wurden nicht nur als Die erste eigene Übungs- und Trainingsgerät einge- Web-Seite: Auch setzt, sondern vor allem als Werk- wer nicht richtig lesen und schrei- zeug zur Textproduktion. Wir ha- ben kann, schafft ben hier ein weites Verständnis von es mit Unterstüt- Text zugrunde gelegt und auch zung der Pädago- Zeichnungen und Fotos mit einbe- gen und diesem zogen. Dabei lernten die Schüler Software-Pro- auch das Internet als Informations- gramm selbst et- quelle kennen und konnten es als was Kreatives, wenn auch nicht Plattform für die Präsentation eige- Fehlerfreies aufzu- ner kleiner Projekte nutzen. bauen. Zudem eignet sich der Computer vorzüglich, das Verhältnis von Nähe und Distanz in der Beziehung zwi- schen Schüler und Pädagogen zu regulieren. Denn die von uns geför- derten Schüler waren wiederholt kränkenden und entwertenden Be- alltäglichen Unterrichtssituationen Schülern durchgängig Antworten ziehungserfahrungen im Kontext zu »überleben« und ihr Unvermö- wie »Weil meine Mama das will«, des schulischen Lernens ausgesetzt. gen dabei möglichst gut zu kaschie- »Weil die Lehrerin das will«, »Weil Daher kann (zu viel) Nähe von den ren. Insofern überrascht es nicht, man das in der Schule braucht« Pädagogen auf diese Jugendlichen dass wir den PISA-Befund bestäti- oder auch schlicht »Ich weiß nicht«. auch bedrohlich wirken. Den Com- gen konnten, wonach die Lehrer Die älteren verknüpften den Schrift- puter als Medium können die den Leistungsstand ihrer Schülerin- Sprach-Erwerb und die Verbesse- Schüler als etwas »Drittes« zwischen nen und Schüler nicht immer adä- rung ihrer schriftsprachlichen Fä- sich und den Pädagogen schieben. quat einzuschätzen wussten. Beob- higkeiten häufig mit konkreten – Die Interaktion mit dem Computer achtungen im alltäglichen Unter- wenn auch zuweilen illusionären – weist Eigenschaften zwischen- richtsgeschehen zeigten zudem, beruflichen Zielen. Trotz dieser kla- menschlicher Kommunikation auf, dass diesen Schülern häufig keine ren Motive dominiert aber auch bei ohne deren Risiken zu teilen. spezifischen Angebote auf ihrem Mit diesem – bewusst offen ge- Lernstand (mehr) gemacht wurden. haltenen – Förderansatz ist es uns »Was bringt’s mir, gelungen, die Gründe für das Schei- tern im Lese-Lern-Prozess indivi- wenn ich lesen kann?« dualbiographisch zu identifizieren Den subjektiven Sinn, den der und ein passgenaues Lernangebot Umgang mit der Schriftsprache für zu unterbreiten. Der wichtigste Be- den Einzelnen hat, versuchen wir fund unseres Projekts ist, dass die auf der zweiten Ebene zu ermitteln. Verbesserung der Unterrichtstechni- Die Aneignung der Schriftsprache ken allein nicht ausreicht, um den ist ein komplexer Vorgang; eine Lernerfolg insbesondere bildungs- Lernaufgabe eines solchen Ausma- benachteiligter Schülerinnen und ßes kann nur gelingen, wenn der Schüler zu sichern. Wir haben da- Lernende selbst dem Lerngegen- her ein ganzheitliches Verständnis stand, also in unserem Fall der entwickelt, mit dem wir auf drei Schrift, einen subjektiven Sinn bei- Ebenen – Passung, subjektiver Sinn messen kann, ihn also für sich und Lernwiderstände – Lernproble- selbst als bedeutungsvoll erlebt. Un- me angehen. sere Schülerinnen und Schüler wussten zwar, dass sie »eigentlich« Die Passung muss stimmen lesen und schreiben können müss- Auf der ersten Ebene, der Passung, ten. Aber keiner der Schüler konn- geht es darum, das Anspruchsni- te zu Beginn der Förderung einen veau des Lernangebots mit den Grund dafür angeben, warum es Lernvoraussetzungen des Schülers persönlich gewinnbringend sein in Übereinstimmung zu bringen, so könnte, diese eigentümliche Kunst dass der Schüler beim Erlernen der zu beherrschen. Direkt dazu befragt, Schriftsprache weder über- noch erhielten wir bei den jüngeren unterfordert ist. In der Schulpraxis stellt sich dieses Problem nicht so banal dar, wie es auf den ersten Bei einem Wortdiktat des 16-jährigen Marek fällt auf, dass er bestimmte or- Blick klingen mag; denn die meis- thographische Elemente zwar kennt, wie ten unserer Schüler hatten zwar »ck« in »Zucker«, diese aber übergene- nicht die Schriftsprache erlernt, da- ralisiert verwendet wie in »richtick« oder für aber vielfältige Strategien, um in in »Packet«.

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Der Besuch auf einem Reiterhof war der »Durchbruch« in der Förderung der zehn Jahre alten Tanja. Nach dem Ausflug schreibt sie – zum ersten Mal in ihrer Schul- karriere – einen längeren zusammenhängenden Text, auch wenn er nur sehr schwer zu entziffern ist: »Pferde haben Hufeisen an den Füßen / Es gibt kleine Pferde und die heißen Ponys / und es gibt sehr große Pferde / die fressen Äpfel, Karotten, Heu und Hafer. / Die Pferde kann man reiten / Vorher muss man den Sattel anziehen / die Pferde haben eine lange Mähne und einen Schweif / Tagsüber stehen sie in ei- ner Wiese / nachts im Stall.«

Schrift-Sprach-Erwerb hinter sich, außerschulische Nachhilfeinstitute und diese waren primär durch auf fachdidaktische Aspekte (Ebene Misserfolg, Beschämung, Scheitern I). Sozialpädagogische Angebote und Ausgrenzung geprägt. Die haben Fragen der Sinnfindung zum Schülerinnen und Schüler haben Gegenstand (Ebene II). Und Phäno- daher gute Gründe, sich den He- mene der Verweigerung und des rausforderungen des Lernens zu Widerstands werden wiederum verweigern – zu groß ist die Gefahr zum Anlass genommen, Erzie- des erneuten Scheiterns. Ein För- hungsberatungsstellen oder psycho- derkonzept, das die Bedeutung der therapeutische Dienste aufzusu- Lernstörung ignoriert, läuft hoch- chen (Ebene III). All diese Hilfen gradig in Gefahr, in einen aussichts- existieren, sie sind allerdings inhalt- losen »Förderkampf« zu münden. lich und institutionell kaum aufei- Wenn die Störung für den Schüler nander abgestimmt, und vor allem eine vitale Funktion erfüllt, wird er sind sie viel zu weit weg von Schule alles daran setzen, den Förderpäda- und Unterricht organisiert, um das gogen davon zu »überzeugen«, dass Lernen von Schülerinnen und er »wirklich und unveränderbar ge- Schülern wirksam zu unterstützen. stört« ist. Diese Prozesse verlaufen Erfolge eines ganzheitlichen häufig sehr subtil. So sah sich unser Team aus 24 Förderpädagoginnen Förderansatzes – Schulen und -pädagogen auch immer wie- müssen umdenken der mit unverhüllten Formen der Zudem werden die sozialpädagogi- offenen Verweigerung konfrontiert. schen und psychotherapeutischen Als stilles Gegenstück zur offenen Hilfen häufig von der Schule gleich- ihnen die defensive Lerneinstellung. Verweigerung begegnete uns bei ei- sam als »Reparaturmaßnahmen« Das Lernen dient nicht der expansi- ner anderen Gruppe immer wieder angesehen, die dazu dienen sollen, ven Erweiterung ihrer Eigenwelt, eine Form resignativer Passivität. dass die Schüler in einem ansons- sondern primär der Vermeidung Diese Schüler präsentierten sich als ten unverändert gebliebenen Un- (weiterer) Demütigungen. Die För- lustlos, offenbarten keine eigenen terricht wieder ordnungsgemäß derung konnte sich daher nicht da- Interessen und schienen schlicht funktionieren können. Dies führt in rauf beschränken, die Techniken abzuwarten, was ihnen von den der Praxis häufig dazu, dass die so- des Lesens und Schreibens zu ver- Förderpädagogen präsentiert wurde zialpädagogischen Dienste – wie die mitteln, sondern vielmehr den Sinn – um diese Angebote dann wieder- Schulsozialarbeit – sich von diesem des Lesens und Schreibens für die um als langweilig abzutun. Als be- Reparaturauftrag distanzieren, ei- Schülerinnen und Schüler erfahr- sonders verfestigte Form des Wider- nen eigenen Bildungsauftrag für bar zu machen. Und dies konnte stands ist uns schließlich die Selbst- sich reklamieren und sich die ver- wiederum nur an Themen und In- zuschreibung als krank oder schiedenen Hilfesysteme in unnüt- halten gelingen, denen sie selbst ei- behindert begegnet. zen Abgrenzungsdiskursen ver- ne Bedeutung beimessen. Mit diesem Konzept haben wir schleißen. bei 18 von 24 Schülerinnen und Wir haben indes gezeigt, dass der Lernwiderstände oft Schülern einen nachhaltigen Zu- Unterricht selbst verändert werden nur ein Selbstschutz wachs sowohl an schriftsprachli- muss. Es muss gelingen, individuel- Wir haben im Projekt gelernt, Lern- chen Kompetenzen als auch in der le Interessen und Neigungen im Die Studie widerstände als eine Form des Lern- und Leistungsmotivation er- Unterricht aufzugreifen und diesen im Detail Selbstschutzes zu verstehen. Diese zielen können – dies mit einem re- Raum zu geben. Es muss gelingen, Iben, G./Katzen- bach, D./Rössel, D. betrachten wir als dritte Ebene un- lativ bescheidenen Ressourcenein- Lernwiderstände als normale Be- (2006): Soziale Be- seres integrierten Förderkonzepts. satz: Studentische Lernbegleiter un- gleitphänomene einer erschwerten nachteiligung, An- Lernen besteht im Kern darin, eine terstützten die Schüler über ein Lernbiographie anzuerkennen und alphabetismus und Herausforderung zu bewältigen. Schuljahr zwei bis vier Stunden die diese zu bearbeiten und sie nicht Medienkompetenz. Für unsere Kinder und Jugendli- Woche. Wir führen diesen Erfolg vorschnell als Faulheit und/oder Universität Frank- chen stellt Lernen hingegen keine darauf zurück, dass es uns in der Dummheit zu denunzieren. Dies furt, Institut für Herausforderung, sondern ein Tat gelungen ist, einen die genann- kann allerdings nur gelingen, wenn Sonderpädagogik [Download unter: kaum kontrollierbares Risiko dar. ten Ebenen integrierenden Förder- die fachliche Expertise und die per- www.bhf-bank- Unsere Schüler hatten bereits lang- ansatz zu realisieren. Denn übli- sonellen Ressourcen in jeder einzel- stiftung.de/Anal- jährige Erfahrungen mit dem schu- cherweise beschränken sich schuli- nen Schule vor Ort vorgehalten phabetismus.pdf]. lischen Lernen, speziell mit dem sche Förderangebote wie auch werden. Im »PISA-Siegerland« ist

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es eine pure Selbstverständlichkeit, tigen die internationalen Erfahrun- hingenommen werden müssen. dass an jeder Schule neben Fach- gen, wonach die schulischen Miss- Das fachliche Know-how für ein lehrern auch Sonderpädagogen, erfolge bildungsbenachteiligter und gerechteres und effektiveres Bil- Sozialpädagogen und Psychologen problembelasteter Kinder und Ju- dungssystem ist vorhanden, es tätig sind. Dies hat in Finnland zu gendlicher nicht als naturwüchsig muss nur umgesetzt werden. ◆ einer neuen – uns Deutschen offen- bar schwer vermittelbaren – Schul- Die Autoren und Unterrichtskultur geführt: Fin- Prof. Dr. Dieter Katzenbach, 47, ist seit 2000 Professor am Institut für Sonderpäda- nische Lehrerinnen und Lehrer gogik. Seine Forschungsschwerpunkte sind der gemeinsame Unterricht behinderter wenden sich an die unterrichtsbe- und nichtbehinderter Kinder, die Zusammenhänge zwischen Emotion und Kognition gleitenden Dienste nicht, um pro- in der Entstehung von Lernstörungen und der Einsatz der Neuen Medien in der son- blematischen Schüler loszuwerden. derpädagogischen Förderung. Prof. em. Dr. Gerd Iben, 74, war von 1972 bis 1999 Professor am Institut für Son- Wir haben mit unserem Ansatz derpädagogik. Er leitet auch als Emeritus Projekte in der Benachteiligtenförderung, mit geringen personellen Ressour- in der Randgruppenarbeit und in der Armutsforschung. Einer seiner wissenschaftli- cen nachhaltige Erfolge erzielt. Die chen Schwerpunkte liegt in der Vermittlung sozialpädagogischer und schulischer Erfahrungen unseres Projekts bestä- Förderkonzepte. Ahnenforschung unter sozialen Amöben Die morphologische Taxonomie muss umgeschrieben werden

eit fast 150 Jahren forschen Wis- für biomedizinische Forschung ver- dass die Spezies mit azellulären Ssenschaftler aus aller Welt über liehen wurde. Obwohl wir inzwi- Stielen in ihren Fruchtkörpern phy- den faszinierenden Wechsel zwi- schen glauben, viel über die »sozia- logenetische Vorläufer der Vertreter schen Einzelligkeit und Vielzellig- len Amöben«, die sich bei Nah- mit zellulären Stielen sind, und dass keit im Lebenszyklus der »zellulä- rungsmangel von Einzellern zu die Vertreter mit verzweigten ren Schleimpilze«. Diese Forschung einem vielzelligen Verband zusam- Fruchtkörpern näher mit sich selbst war bisher so erfolgreich, dass ei- menlagern, gelernt zu haben, ba- als mit den anderen sozialen Amö- nem Vertreter der zellulären siert unser Wissen doch fast aus- ben verwandt sind. Diese Hypothe- Schleimpilze, Dictyostelium discoide- schließlich auf Arbeiten mit der ei- sen wurden nun durch aktuelle um, vom US-amerikanischen Ge- nen Art D. discoideum. Man kennt molekulargenetische Analysen wi- sundheitsministerium National In- allerdings heute mehr als 100 Arten derlegt. stitutes of Health (NIH) ganz offiziell sozialer Amöben. Alle bilden multi- der Status eines Modellorganismus zelluläre Fruchtkörper aus, die aus Stielen und Sporenpaketen beste- Lebenszyklus von Dictyostelium discoi- hen. Bisher ging man davon aus, deum. Fotomontage von rasterelektro- nenmikropskopischen Aufnahmen der verschiedenen morphologischen Stadien während der 24-stündigen Entwicklung von einzelligen Amöben zu einem multi- zellulären Fruchtkörper.

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Als der Botaniker Oscar Brefeld anhand morphologischer Merkmale 2005 publiziert /3/, und nicht zuletzt Mitte der 1860er Jahre in sein Mi- hat zur Klassifizierung der sozialen diese Arbeit hat die Stellung von kroskop schaute, fand er eine »Art Amöben in drei Gattungen geführt: Dictyostelium auf dem »Baum des von Sporen, die zwar wenig in ihrer Die Vertreter der Gattung Actyosteli- Lebens« manifestiert: Die sozialen Form, aber bedeutend in der Größe um besitzen azelluläre Stiele in ih- Amöben haben keinerlei enge Ver- von denen jener Mucorspecies [Mu- ren Fruchtkörpern, die Vertreter der wandtschaften mit den Protisten, cor mucedo] abwichen« /1/. Weiter Gattung Dictyostelium besitzen un- sondern sind als Vertreter der schrieb Brefeld: »Die enorme Mas- verzweigte zelluläre Stiele und die Amoebozoa erst nach den Pflanzen senhaftigkeit, mit der die kleinen Vertreter der Gattung Polysphondyli- divergiert und daher als Schwester- Sporen oft in dem Tropfen Wasser um sind durch verzweigte Frucht- Stamm der Metazoen und Pilze des Objectträgers zum Vorschein körper charakterisiert. Dass diese, (Opisthokonten) anzusehen /3/. kamen, zog vornehmlich meine auf den ersten Blick so klare, mor- Die einzelligen Amöben von D. Aufmerksamkeit an.« /1/ Auch heu- phologische Klassifizierung nicht discoideum leben in der obersten Hu- te noch gelten die Größe und die frei von Ungereimtheiten war, fiel musschicht unter Laubbäumen und Morphologie der Sporen der sozia- bereits einem der Pioniere der Dicty- fressen (phagozytieren) Bakterien. len Amöben als ein wichtiges ostelium-Forschung, Kenneth Raper, Wenn die Lebensbedingungen ein Merkmal für die taxonomische Ein- auf, der in einem unter Dictyoste- Wachstum nicht mehr unterstüt- ordnung der »Dictyosteliden«. Auch lium-Forschern berühmten Werk zen, da die Nahrung knapp wird, andere Merkmale wie die Größe darauf hinwies, dass einige Vertre- gehen die Amöben in ein vielzelli- und das Aussehen der Fruchtkörper ter aus der Gattung Dictyostelium ges Stadium über. Sie scheiden Bo- und die Nutzung unterschiedlicher auch Eigenschaften von Polysphon- tenstoffe, so genannte Acrasine, aus Moleküle zur interzellulären Kom- dylium haben und umgekehrt./2/ und »wandern« über Chemotaxis munikation (die so genannten D. discoideum ist der am inten- geleitet in Aggregationszentren. Der Acrasine) waren – soweit bekannt – sivsten untersuchte Vertreter der nun multizelluläre Organismus wichtige Parameter für die taxono- sozialen Amöben. Die Genomse- durchläuft charakteristische mor- mische Zuordnung. Die Taxonomie quenz von D. discoideum wurde phologische Umformungen, denen eine kontrollierte Differenzierung Lebenszyklus des Schleimpilzes D. discoideum in verschiedene Zelltypen – vor- nehmlich Stielzellen und Sporen – zugrunde liegt■1 . Soziale Amöben sind besonders Keimende Spore gut geeignet, die Evolution der Spore Multizellularität zu studieren. Auf der Basis einer ausschließlich mor- phologischen Taxonomie ging man Reifer bislang davon aus, dass die Bildung Fruchtkörper Wachstum azellulärer Fruchtkörper-Stiele, wie sie Vertreter der Gattung Actyosteli- um bilden, die simplere und damit ca. 24 h evolutionär ältere Form der Frucht- Aggregat körperbildung darstellt. Somit sollte sich Actyostelium an der Basis des Differenzierung Stammbaums befinden ■2 A. Weiter- hin ging man davon aus, dass sich die Vertreter von Polysphondylium Wanderndes mit ihren verzweigten Fruchtkör- Kulmination Pseudoplasmodium pern aus den Dictyostelium-Spezies (Slug) mit unverzweigten Fruchtkörpern „Mexikanischer entwickelt haben müssten. Auch Hut“ wurde das Argument angeführt, dass die interzelluläre Kommunika- ■1 Dictyostelium discoideum ist ein Modellorganismus, an dem sich der Übergang tion mit zyklischen Peptiden (Glo- vom Einzeller zum vielzelligen Organismus studieren lässt. In der Einzeller-Phase rin), wie es für Vertreter der Poly- bewegen sich einzelne Amöben in nährstoffreicher Umgebung und vermehren sich sphondylium-Gruppe bekannt ist, exponentiell, solange kein Nahrungsmangel herrscht. Sie fressen Bakterien und ver- komplexere metabolische Anforde- mehren sich durch Mitose (Zellkernteilung). Wenn die Hunger-Phase beginnt, sto- ßen die Zellen periodisch den Botenstoff cAMP aus, der sich in Wellen ausbreitet. rungen stelle als die Kommunikati- Die einzelnen Amöben bewegen sich, gesteuert durch Chemotaxis, in Richtung der on mit simplen Pterin-Derivaten ansteigenden cAMP-Konzentration. Es bildet sich ein Spiralmuster aus. Im Zentrum (Dictyostelium-Gruppe 1 in ■2 links) bilden sich Aggregate aus fest zusammenhaltenden Zellen, aus denen sich zunächst oder zyklischem AMP (Dictyostelium- eine »Schnecke« (englisch »Slug«) formt. Der Slug kann wandern und sucht nach Gruppe 2 in ■2 links). einer Umgebung, die für die Ausbildung eines Fruchtkörpers günstig ist. Es bildet Molekulargenetische Analysen sich zunächst ein »Finger«, der über die Form eines »mexikanischen Hutes« mit praktisch allen bekannten Ver- schließlich in einen Fruchtkörper übergeht. Der Fruchtkörper besteht im Wesentli- chen aus zwei Zelltypen: Stielzellen, die den Stiel bilden, und Sporen. Nur die Spo- tretern der sozialen Amöben, an ren bleiben lebensfähig und können unter geeigneten Bedingungen wieder zu Amö- denen die Autoren dieses Beitrags ben auskeimen. maßgeblich beteiligt waren, haben

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Phylogenetische Analyse der Dictyostelidae 1. Die Vertreter der Gattung Actyoste- lium sind nicht an der Basis des AB Stammbaums angesiedelt, son- 4 Dictyostelium (4) „Dictyostelium“ Polysphondylium dern hatten eindeutig einen ge- Dictyostelium (2) meinsamen Vorläufer mit Spe- Polysphondylium (2) zies, die zelluläre Stiele bilden. Dictyostelium (1) Die Ausbildung von Fruchtkör- 3 Dictyostelium (3) „Rhizostelium“ Actyostelium pern mit azellulären Stielen ist andere Amöben also nicht die »primitivste« Art Dictyostelium (2) der Fruchtkörperbildung, son- dern eine sekundäre Anpassung. 2 Polysphondylium (2) 2. Weder die Gattung Dictyostelium „Heterostelium“ noch die Gattung Polysphondylium 2 Actyostelium sind monophyletisch. Exempla- risch seien die ähnliche Morpho- 1 Dictyostelium (1) „Parvisporium“ logie von D. rosarium, P. violaceum andere Amöben und P. pallidum genannt, die alle verzweigte Fruchtkörper bilden ■2 A. Hypothese: Es wurde vermutet, dass Vertreter von Actyostelium, da sie Stiele ■3 . D. rosarium befindet sich in ohne Zellen ausbilden, die »primitivsten« sozialen Amöben darstellen, während die Gruppe 4 zusammen mit den Gattung Polysphondylium, die zum Teil reich verzweigte Fruchtkörper bildet, die Dictyostelium-Arten, die unver- evolutionär jüngsten Vertreter sind, die sich aus den Spezies mit zellulären, aber un- zweigte Fruchtkörper bilden. P. verzweigten Fruchtkörpern entwickelt haben. Außerdem wurde angenommen, dass violaceum und P. pallidum, deren die Kommunikation mit einem Peptid (Polysphondylium) als komplexer anzusehen sei als die Kommunikation mit dem einfachen Molekül cAMP. Fruchtkörper sich verblüffend äh- B. Experiment: Kernaussage der phylogenetischen Analyse ist, dass weder die Gat- neln, sind genetisch relativ weit tung Dictyostelium noch die Gattung Polysphondylium monophyletisch sind. Die Evo- voneinander entfernt; P. violaceum lution der sozialen Amöben scheint eher in Richtung einer Vergrößerung der Frucht- scheint eng mit Vertretern der körper orientiert zu sein als nach einer Erhöhung der Komplexität (Verzweigungen) Gruppe 4 verwandt zu sein, wäh- der Fruchtkörper. Die azellulären Stiele der Gattung Acytostelium sind sekundär ab- rend sich P. pallidum in der älte- geleitet. Die Abbildung ist eine simplifizierte Darstellung eines auf DNA-Sequenzen ren Gruppe 2 befindet (■2 rechts). der 17S-rRNA-Gene basierenden Stammbaums aus Schaap et al./4/. Die Zahlen deuten die neue Einteilung der sozialen Amöben in vier Gruppen an. Die gelb abge- 3. Fast alle untersuchten Polysphon- setzten Bezeichnungen sind die Vorschläge für Bezeichnungen in einer revidierten dylium-Arten – die Vertreter mit Taxonomie der Dictyostelidae. den vermeintlich komplexesten Fruchtkörpern – zeigen eine enge Verwandtschaft mit der Gruppe die morphologische Taxonomie die- wurden die DNA-Sequenzen des Actyostelium – den Vertretern mit ser Organismen auf den Kopf ge- Gens für die ribosomale 17S-RNA den vermeintlich simpelsten stellt und die oben erwähnten Hy- und des Proteins α-Tubulin. Die Fruchtkörpern. pothesen klar widerlegt./4/ Auch Analysen legen übereinstimmend Die überraschende molekulare Phy- wurde aus den Analysen klar, dass eine Klassifizierung der sozialen logenie der sozialen Amöben vor es nicht bei der heute gültigen Ein- Amöben in vier Gruppen nahe Augen, drängt sich die Frage auf, teilung der Dictyostelidae in Actyos- (skizziert in ■2 rechts). Überra- wie die neuen Erkenntnisse über telium, Dictyostelium und Polysphon- schend waren vor allem drei Ergeb- die molekulare Phylogenie mit der dylium bleiben kann. Untersucht nisse: traditionellen morphologischen Ta-

Glossar Die Taxonomie ist das Teilgebiet der Biologie, das gleichende Analyse dieser Formen und Strukturen so- sich mit der Beschreibung und Benennung der einzel- wie ihrer Veränderung im Laufe der Stammesge- nen Arten (Viren, Pflanzen, Pilze, Tiere) beschäftigt. schichte ist eine wichtige Grundlage für die Erstellung Die Arten werden auf der Grundlage dieser Ergebnisse von Klassifikationen. zu höheren Einheiten gemäß ihrer natürlichen Ver- Als Phylogenese bezeichnet man die stammesge- wandtschaft zusammengefasst, wozu die Taxonomie schichtliche Entwicklung der Lebewesen im Verlaufe auch die nötigen theoretischen Grundlagen liefert. der Erdgeschichte. Der Begriff umfasst alle Evolutions- Letztlich resultieren die Ergebnisse aller taxonomischen linien, sämtliche Klassifikations-Ebenen und ebenso Untersuchungen in einem hierarchisch organisierten den Ursprung und die Evolution früherer, heute aus- »System der Lebewesen« (Klassifikation). Dieser der gestorbener Organismengruppen. Er wird auch ver- Erstellung einer stammesgeschichtlichen Ordnung wendet, um die Evolution einzelner Merkmale im verpflichtete Ansatz wird häufig auch »Systematik« Verlauf der Entwicklungsgeschichte zu charakterisie- genannt; bei dieser Definition würde Taxonomie das ren. Eine Organismengruppe wird als monophyle- reine Beschreiben und Benennen bezeichnen. tisch bezeichnet, wenn sie alle Nachfahren einer Morphologie bedeutet wörtlich genommen »Ge- Stammart sowie diese Stammart selbst enthält, jedoch staltlehre« und bezeichnet die Wissenschaft von der keine Arten, die nicht Nachfahre der Stammart sind. Form und äußeren Struktur der Organismen. Die ver- Stephan M. Hübner

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■3 Aufnahmen von sein, an denen die viel gepriesene Fruchtkörpern von »Exzellenz« vorbei geht, weil sie D.rosarium (links), mit ihrer Forschung nicht in die P. violaceum (Mit- einschlägigen Cluster passen. te) und P. palli- dum (rechts). Dabei ist hervorzuheben, dass wir mit dem zellulären Schleimpilz Dicty- ostelium discoideum seit mehr als 15 Jahren auch sehr »kompetitive For- schung« betreiben. Dabei geht es vornehmlich um Fragen zur genom- ischen Instabilität durch transposa- ble und retrotransposable Elemente. D. discoideum besitzt sehr interes- sante Retrotransposons (die so ge- nannten TREs), die nach ihrer Mo- bilisierung mit hoher Spezifität in der Nähe von Transfer RNA-Genen in das Dictyostelium-Genom integrie- ren. Die extrem genaue Integration dieser Elemente könnte als Modell dienen, um heutige Vektoren für die somatische Gentherapie zu ver- bessern. Diese Vektoren haben der- xonomie zusammenpassen. Diese pen eine offene wissenschaftliche zeit den prinzipiellen Nachteil, dass Frage wurde systematisch unter- Frage bearbeitet haben. Die mehr sie in das Genom der therapierten sucht, indem man alle bekannten als 100 hier untersuchten Dictyos- Zelle ungerichtet eingebaut werden. morphologischen Merkmale in eine telium-Arten mussten auf der gan- Sie besitzen somit ein gewisses Po- Matrix eintrug und auf den mole- zen Welt zusammengesucht, aus ei- tenzial zur Insertionsmutagenese, kularen Stammbaum übertrug. Es nem tiefen Konservierungsschlaf was bedeutet, dass angesprungene stellte sich heraus, dass die mor- geweckt, sorgfältig aufgepäppelt Gene mutieren und ihre Funktion phologische Taxonomie nicht mit und taxonomisch bestimmt werden. verlieren können. Durch den Ver- der molekularen Phylogenie in Ein- Ein solches Projekt, an dem wir na- lust dieser Funktion könnte eine klang zu bringen war /4/. Es wird hezu acht Jahre gearbeitet haben, neue Erkrankung (beispielsweise daher nun daran gearbeitet, die Ta- passt in keines der großen »moder- eine Leukämie oder andere Tumo- xonomie der sozialen Amöben neu nen« Forschungsprogramme, die re) ausgelöst werden. zu schreiben. Maßgebend sind heute den naturwissenschaftlichen Ein pharmazeutisch relevanter dann die vier molekularphylogene- »Mainstream« definieren und die Aspekt in der Biologie der TREs ist tisch definierten Gruppen, die die bevorzugt von den großen öffentli- also mit der Frage verknüpft, ob Namen Parvisporidium, Heterostelium, chen Förderinstitutionen (Europäi- durch eine Kombination derjenigen Rhizostelium und Dictyostelium be- sche Kommission und Deutsche strukturellen Elemente der TREs, kommen sollen ■2 B. Forschungsgemeinschaft) finanziert die eine positionsspezifische Inserti- Diese Arbeit ist das Ergebnis ei- werden. Und dennoch wurde diese on vor tRNA-Genen ermöglichen, nes internationalen, interdisziplinä- Arbeit in einem der angesehensten mit heutigen Gentherapievektoren ren Forschungsvorhabens, in dem Wissenschaftsjournale (Science, vom Retrovirus-Typ ein Ausweg aus molekularbiologisch und morpho- 2006, 314: S. 661– 663) publiziert. dem Dilemma der Insertionsmuta- logisch ausgerichtete Arbeitsgrup- Dies mag Ansporn für all diejenigen genese gefunden werden könnte. ◆

Die Autoren Literatur Prof. Dr. Theo Dingermann, 58, studierte Pharmazie an der Universität Erlangen- /1/ Brefeld O. Dictyostelium mucoroides. Nürnberg. Nach seiner Promotion im Jahr 1980 ging er mit einem DFG-Stipendium Ein neuer Organismus aus der Verwandt- von 1980 bis 1982 als Postdoktorand an die Yale-University, New Haven, CT. 1999 schaft der Myxomyceten. Abhandlungen erhielt er den Ruf auf die Professur für Pharmazeutische Biologie an der Universität der Senckenbergischen Naturforschenden Frankfurt. Er war Präsident der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft (2000 – Gesellschaft Frankfurt,1869, 7: S. 85–107. 2004) und Vizepräsident der Universität Frankfurt (1998 – 2000). Ein Schwerpunkt /2/ Raper, KB. The Dictyostelids., Princeton seiner Forschung war die genomische Instabilität von Dictyostelium discoideum. Univ. Press, Princeton, NJ, 1984. Heute konzentrieren sich die Arbeiten des Instituts für Pharmazeutische Biologie /3/ (Prof. Dr. Rolf Marschalek und Prof. Dingermann) auf die molekularen Mechanis- Eichinger L., Pachebat J.A., Glöckner men bestimmter Leukämien, die durch chromosomale Translokationen verursacht G., et al. The genome of the social amoeba werden. Dictyostelium discoideum. Nature, 2005, Prof. Dr. Thomas Winckler, 46, studierte Biologie an der Universität Konstanz, wo er 435: S. 43–57. 1991 promovierte. Nach einem kurzen Forschungsaufenthalt am Institut Pasteur in /4/ Schaap P., Winckler T., Nelson M., Al- Paris wechselte er an das Institut für Pharmazeutische Biologie der Johann Wolf- varez-Curto E., Elgie B., Hagiwara H., Ca- gang Goethe-Universität. Dort habilitierte er sich unter der Anleitung von Prof. Dr. vender J., Milano-Curto A., Rozen D.E., Theo Dingermann im Fach Pharmazeutische Biologie. Im Juli 2005 folgte er einem Dingermann T., Mutzel R., Baldauf S.L. Ruf auf den Lehrstuhl für Pharmazeutische Biologie an der Friedrich Schiller-Uni- Molecular phylogeny and evolution of versität Jena. Forschungsschwerpunkt ist die gerichtete Integration von Retrotrans- morphology in the social amoebas. Sci- posons im Genom von Dictyostelium discoideum. ence, 2006, 314: S. 661–663.

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Forschung aktuell Demonstration, Straßenkampf und ein brutaler Mord Die Flugschriftensammlung 1848 im Netz

m 18. September 1849 de- des des Verrats am deutschen Volk. Amonstrierte eine tausendköpfi- Um eine geplante bewaffnete Ver- ge Menge radikaler Linker vor der sammlung in der Frankfurter In- Frankfurter Paulskirche. Bereits seit nenstadt zu verhindern, riefen der mehreren Monaten agitierten sie, Frankfurter Senat und die Regie- wie der Historiker Thomas Nipper- rung österreichische, preußische dey es ausdrückt, »gegen das Versa- und hessische Truppen zum Schutz cken der Paulskirche und der ande- der Abgeordneten herbei. Tatsäch- ren Parlamente in endlosen Bera- lich versuchten am 18. September tungen, Kompromissen, in 1849 Demonstranten, die Paulskir- Schwäche«. Den Radikalen ging die che zu besetzen, wurden aber Revolution der im Parlament wort- vom Militär daran gehindert. führenden Liberalen nicht weit Daraufhin entbrannten Straßen- genug. Sie entzogen der National- kämpfe, die in erbitterten Ge- versammlung das Vertrauen und fechten bis zum Abend vom Mi- wollten sie durch eine zweite Revo- litär niedergeschlagen wurden. lution entmachten. Die Situation 80 Tote waren zu beklagen, da- spitzte sich zu, als die Abgeordneten runter auch die konservativen des Paulskirchenparlaments im Abgeordneten Fürst Felix von preußisch-dänischen Streit um die Lichnowsky und General von Zugehörigkeit Schleswigs einen po- Auerswald. litischen Schlingerkurs fuhren: Zu- Flugblätter und nächst hatte die Versammlung den Waffenstillstand von Malmö abge- Flugschriften zu 1848 lehnt. Das Abkommen sah vor, dass Soweit die Geschichtsbücher. Wer Schleswig nach dem Beispiel Hol- sich einen lebendigen Eindruck der steins zu Dänemark überging. zeitgenössischen Wahrnehmung Knapp zwei Wochen später beugten der Ereignisse verschaffen möchte, sich die Abgeordneten aber dem in- sei auf die »Flugschriftensamm- ternationalen Druck und erkannten lung« (Flugblätter und Flugschrif- den Waffenstillstand an. ten im Zusammenhang der Ereig- In Frankfurt versammelten sich nisse um 1848) der Frankfurter »Ein Mann von Verdienst kann alles treiben, doch jeder ande- daraufhin empörte Volksmassen vor Universitätsbibliothek verwiesen. re laß es bleiben«, Karikatur auf die Geschäftstüchtigkeit des der Paulskirche und bezichtigten Die Sammlung ist überwiegend ei- insgesamt in vier Branchen tätigen Weinhändlers und (ehema- die Befürworter des Waffenstillstan- nem speziellen Forschungsinteresse ligen) Majors der Frankfurter Stadtwehr.

der Frankfurter Universität in den 1970er Jahren zu verdanken. Da- mals erwarb die Bibliothek die hier einschlägigen Stücke bewusst und gezielt, und sie beschränkte sich da- bei durchaus nicht auf die Literatur im Zusammenhang mit den Frank- furter Ereignissen und der Paulskir- che. Vielmehr stand damals zumin- dest auch die weitere Entwicklung in Frankreich mit im Vordergrund. Die Bibliothek erwarb aktiv die dor- tige Revolutionsliteratur, unter an- derem die Zeitschriften »Le Chari- vari« und »La Caricature«, und sie interessierte sich speziell auch für

Karikatur auf den Vizepräsidenten der Frankfurter Nationalversammlung Soi- ron, dessen »...wenig souveräne Leitung der Sitzungen ... stark kritisiert [wur- de]«.

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Forschung aktuell

»Die göttliche Komödie unserer Zeit die Orte der Ereignisse und um ein oder das jüngste Gericht…«, Satire mit längeres Incipit (Beginn des Flug- demokratischer Tendenz auf die Rolle blatttextes). Eine Besonderheit des der Fürsten, des Klerus und des Volkes Angebots ist, dass die einzelnen Do- während der Revolution. kumente auch zeitlich recherchiert werden können. nicht genrespezifisch, sondern the- matisch angelegt. Er beinhaltet Eine Fundgrube nicht nur Flugblätter und Flug- für Historiker schriften im engeren Sinne, son- Im Falle des Mordes an Felix von dern auch Monografien, mehrbän- Lichnowsky führt die Recherche zu dige Werke und, dies allerdings nur dem Band »Zeitgenossen in Biogra- in sehr kleinem Rahmen, Zeitschrif- phien und Porträts«, herausgege- ten. Das Material ist weltweit über ben von einem Dr. Günther, er- den HEBIS/PICA-Verbundkatalog schienen in zweiter Auflage 1849 in recherchierbar und kann – dank ei- Jena. Dem biografischen Porträt nes von der Deutschen Forschungs- Lichnowskys ist ein vierseitiger gemeinschaft geförderten Digitali- Nachtrag angefügt, der mit der fol- sierungsprojekts – am heimischen genden Mitteilung beginnt: »Bereits Computer gelesen werden. Eine war der Anfang vorstehender Le- Besonderheit sind die im Netz mit- bensskizze gedruckt, als uns die gelieferten Kommentare, die von Kunde von dem niederträchtigen dem Archivar Paul Wentzcke Meuchelmorde des Fürsten von (1879 – 1960), dem früheren Abtei- Lichnowsky [...] so schmerzlich den Bereich der Pariser Commune. lungsleiter im Bundesarchiv Heinz überraschte. Wir fügen derselben Die Ankäufe wurden bis in die spä- Boberach, seinem Mitautor Horst nachträglich die Schilderung des ten 1990er Jahre fortgesetzt, zuletzt Zimmermann und dem Bibliothe- letzten Lebenstags des Fürsten, wie insbesondere in österreichischen kar Bernhardt Welsch stammen. sie uns ein naher Augen- und Oh- Antiquariaten. Es finden sich Die bibliografischen Angaben zu renzeuge jener schwarzen That mit- Schrifttumsbeispiele aus allen euro- den einzelnen Flugschriften, Autor, theilt, ausführlich bei, da dieselbe päischen Revolutionsgebieten. Titel, Erscheinungsort und Erschei- von vielen Seiten her so mannich- »Die Materialien zu 1848«, wie nungsjahr wurden um Angaben zu fach entstellt in’s Publikum gekom- dieser Bereich in der Frankfurter den beteiligten oder erwähnten men ist.« [Auszüge aus dem Text Bibliothek auch oft benannt wird, ist Personen erweitert, weiterhin um im Kasten]

Der Mord an Lichnowsky

...nach 1 Uhr verläßt er [Lichnowsky] die [Pauls]Kir- den Chausseegräben entgegen. Statt nun en pleine che, geht auf die Zeil [...], hinter ihm eine Masse Bu- carrière vorwärts oder rückwärts zu reiten, sprengen ben und Schreier, begegnet dem Prinzen Felix zu Ho- sie quer in die Hecken, lassen ihre Pferde vor einem henlohe-Oehringen, steigt, um dem Gepfeif zu entge- Gartenthor laufen, springen in das Schmidt’sche Gärt- hen, mit ihm in eine Droschke, sie fahren die Zeil nerhaus, von Auerswald verkriecht sich oben unter entlang zum Thor, steigen aus, gehen links auf die das Bett, der Fürst in ein Faß im Keller.– Die meu- Promenade, als sich bald wieder ein Schwarm zischen- chelmörderische Bande ist ihnen nachgefolgt, und sie der Burschen hinter ihnen ansammelt. In dieser Zeit finden bald den ersteren, den sie aus dem Hause zie- tritt noch ein ehrbarer Bürgersmann an sie heran, bit- hen, auf grünem Rasen buchstäblich zu Tode prügeln tet sie, sich in die Stadt zu begeben, um dem Skandal und zuletzt einen Schuß geben. Dann suchen sie den zu entgehen.– Sie gehen darauf in das Eschenheimer jungen Fürsten wohl eine Viertel-Stunde, finden ihn Thor und da noch keine Barrikade dort errichtet ist, mit Hülfe von Licht in dem Keller, zerren ihn zu Au- so kommen sie glücklich in den Englischen Hof, dort erwald’s Leiche, [...] hauen ihm den Arm ein, schla- zu essen. Nach dem Essen gehen sie zu Lichnowsky’s gen ihn an anderen Stellen mit fürchterlichen Eisen- Hause, wo vor demselben ihnen mehrere Herren be- waffen, namentlich Sensen, das Fleisch von den Kno- gegnen, unter ihnen der General von Auerswald.– In chen, hacken ihn in den Nacken, schlagen ihn auf diesem Augenblicke verläßt ihn der Prinz Hohenlohe, den Kopf, und dann fangen sie an, nach ihm zu und nun muß zwischen dem Fürsten und Auerswald schießen, indem sie ihn, da er schon zusammenge- die Verabredung geschehen seyn, der hessischen Bat- knickt war, an einer Pappel aufrichten. So stürzt er terie, die in Friedberg stand, entgegenzureiten. So be- denn von dem ersten Schuß in den Unterleib getrof- stiegen beide gegen 6 Uhr das Pferd an der Hauptwa- fen ganz zusammen; die Kugel ging zum Rücken hi- che und sprengten zum Friedberger Thor hinaus; als naus, noch mehrere Schüsse wurden auf ihn abgefeu- sie in die Pappelallee, welche rechts von der Chaussee ert, und nun lassen sie ihn liegen. abführt, kommen, fallen mehrere Schüsse auf sie.– Man trifft aber nicht; eine Rotte, bewaffnet mit Knüt- Flugschriftensammlung 1848 im Netz: teln, Feuergewehr, Sensen, Degen, springt ihnen aus http://1848.ub.uni-frankfurt.de

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Dieses Zitat verdeutlicht den be- Der Abgeordnete der Frankfurter Pauls- sonderen Wert der Materialien zu kirche, Fürst Felix Lichnowsky, wurde 1848 für den Historiker. Sie zeich- am 18. September 1849 von Aufständi- nen sich zunächst durch die zeitli- schen brutal ermordet. Er hatte die radi- kale Linke im Parlament durch sein aris- che Nähe der Flugblätter zu den tokratisches Standesbewusstsein und Ereignissen aus, die sowohl das Ge- scharfzüngige Reden provoziert. schehene als auch in unterschied- lichsten Gruppierungen kursieren- de Gerüchte kolportieren. So ver- vozierte die äußerste Linke im Par- meldete wenige Tage nach dem lament nicht nur durch seinen aris- Frankfurter Blutbad ein Flugblatt in tokratischen und Legitimitätsan- Wien: »Das Deutsche Volk in spruch, sondern auch, indem er sei- Frankfurt hat gesiegt! [...] Schon ne »persönliche Geringschätzung in wurde bereits die sichere Nachricht der verletzendsten Weise fühlbar« mitgetheilt, daß das Militär die machte. Der Autor des biografi- Oberhand behalten, sämmtliche schen Eintrags, Franz Freiherr von Barrikaden erstürmt und die Ruhe Sommaruga, zählte Lichnowsky zu hergestellt habe, aber die neusten den größten Rednertalenten der Nachrichten lauten ganz anders. Nationalversammlung, »obwohl Der Kampf dauert fort [...] Heck- man deutlich fühlte, das ihm weni- scher, Auerswald, Lichnowski sind ger daran lag, zu überzeugen, als gefallen, und wenn man dem durch Effekte zu glänzen«. Es habe wahrhaft herrlichen, jeden Demo- kraten bis ins Innerste entzücken- den Gerüchte glauben schenken darf, so ist das hessische Militär zum Volke übergegangen.« Zum anderen spiegelt die Samm- lung auch ein großes Meinungs- spektrum, wie etwa aus der Lei- chenrede des Pfarrers von Ketteler am Grab der Ermordeten deutlich wird. Fassungslos fragt er die Trau- ergemeinde: »Wie konnte in unse- rem theueren Vaterlande, in unse- rem edelmüthigen Deutschland, an einem deutschen Volksvertreter ein so übergrausenhafter Mord began- gen werden? [...] Ihr [Lichnowskys und Auerwalds] ganzes Verbrechen hat nur darin bestanden, daß sie Männer waren, daß sie nach freier, unabhängiger Überzeugung geredet und gestimmt, daß sie in Ueberein- stimmung mit der Mehrzahl der deutschen Nationalversammlung gehandelt haben.« Freie Rede oder Provokation? In der Tat, so ist der Allgemeinen Deutschen Biographie zu entneh- men (die ebenfalls über die Online- Datenbank der Universitätsbiblio- thek recherchierbar ist), war der schlesische Fürst von Lichnowsky ein scharfzüngiger Redner. Er pro-

»Viehkongreß, oder approbirtes Assozia- tionsrecht…«, Karikatur auf den Verlauf der Revolution in Frankreich. Am Ende steht die faktische Restauration der al- ten politischen Zustände (mit veränder- ter personeller Besetzung), Zeitpunkt: 1848 (?).

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»Orgel-Galerie. gional federführend im Bereich der Des Vaterlands durch die VW-Stiftung geförderten Größe, des Vater- »Mikrofichierung historischer lands Glück…«, Buchbestände« tätig, in den 1990er Karikatur auf den Abgeordneten der Jahren erlebte man einen gewissen Frankfurter Natio- Umschwung vom Mikroplanfilm nalversammlung zum Rollfilm zurück, der zwar Lichnowsky, der schwieriger zu benutzen ist, aber als Schoßhünd- besser digitalisiert werden kann, chen vornehmer und dessen Produktion in größeren Damen auf der Mengen sich auch als kostengünsti- Zuschauertribüne dargestellt wird. ger erwies. Damals setzte sich der Gedanke durch, dass der Film zwar das bessere Langzeitmedium sei, das Digitalisat aber in jedem Fall das Hauptmedium der künftigen welt- weiten Nutzung sein wird. Der Film sollte also den Bereich »preservati- on« bedienen, das Digitalisat aber den Aspekt »access«. Man trug damit seinerzeit nicht nur der physischen Hinfälligkeit des historischen Materials Rechnung, sondern auch dem deutlichen An- stieg des Benutzerinteresses. Nicht nur die wissenschaftliche Nutzung stieg an, sondern auch die in den Bereichen Bildung und Fortbil- dung. So wurden beispielsweise Teile des Gesamtmaterials für die Produktion von CDs für die Schul- beziehungsweise Volkshochschular- beit bereitgestellt. Insgesamt wur- den um die 90 000 Seiten bearbeitet und ins Netz gestellt. Dies entspricht zirka 2000 Titeln von Flugblättern, Flugschriften und sonstigen revolu- tionsbezogenen Schriften. Ein Desi- derat bleibt die Vernetzung der Frankfurter Materialien zu 1848 daher nicht ausbleiben können, Sicherung hinfälliger mit anderen Sammlungen welt- dass die radikale Partei ihn hasste Dokumente weit, die aber aufgrund der unter- und sich dieser Hass auch durch Ar- schiedlichen Serverlösungen bisher tikel in radikalen Blättern und spöt- Das Porträt und die Lebensbeschrei- nicht möglich ist – im Unterschied tischen Flugschriften den untersten bung des mit 35 Jahren ermordeten zu dem ebenfalls digitalisierten Volksschichten mitteilte. Eine sol- Fürsten kann sich jeder Interessier- »Kolonialen Bildarchiv«. Hier ko- che spöttische Darstellung zeigt den te mittlerweile über das Datenban- operiert die Bibliothek inzwischen Fürsten Lichnowsky als Schoß- kenportal der Universitätsbibliothek mit amerikanischen Partnern. Si- hündchen der Damen auf der Or- ansehen. Das Projekt, die Flug- cherlich gibt es auch für die Mate- gelgalerie in der Paulskirche. Dass schriftensammlung 1848 zu digitali- rialien zu 1848 ein weltweites Inte- er bei den Damen gut ankam, lässt sieren und über das Internet ver- resse und einen weltweiten Markt. übrigens die Beschreibung des zeit- fügbar zu machen, wurde 1996 von Dies suggerieren jedenfalls die ein- genössischen Biografen vermuten: der Deutschen Forschungsgemein- schlägigen Anfragen. ◆ »Fürst Lichnowsky ist ein schö- schaft bewilligt. Am Anfang stand ner Mann im vollen Sinne des Wor- das Bewusstsein der Notwendigkeit, tes, von stattlicher Figur und unta- die historischen Informationsträger, Die Autoren deligem Wuchse; jugendlich strahlt insbesondere natürlich die auf Dr. Anne Hardy, 41, promovierte in Wis- sein volles Gesicht, feurig blitzt sein schlechtem Papier gedruckten Ein- senschaftsgeschichte. Sie ist Referentin Auge, und der schwarze Bart an heiten, die ja im 19. Jahrhundert für Wissenschaftskommunikation an der Kinn und Oberlippe gibt ihm ein auch nur für den aktuellen Ge- Universität Frankfurt. kriegerisches Aussehen. In seiner brauch und oft mit den einfachsten Dr. Wilhelm R. Schmidt, 59, Bibliotheks- direktor und stellvertretender Bibliothekar ganzen Erscheinung liegt der Aus- drucktechnischen Mitteln herge- der Universität Frankfurt, führte mehrere druck des Chevalleresken, daher stellt waren, physisch zu erhalten. internationale Digitalisierungsprojekte in denn auch sein Beiname ›der Husar Die Frankfurter Bibliothek war En- Zusammenarbeit mit der Deutschen For- des Parlaments‹.« de der 1980er Jahre bereits überre- schungsgemeinschaft durch.

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Forschung aktuell »Divi filius – mein Vater ist ein Gott!« Warum die römischen Kaiser ihre Vorgänger in den Himmel lobten

s ist Brauch bei den Römern, Edie Kaiser zum Gott zu ma- chen, die bei ihrem Tod Söhne als Nachfolger hinterlassen. Diese Ehrung nennen sie Apotheose (›Vergöttlichung‹).« So beginnt der Historiker Herodian /1/ seinen Bericht vom Begräbnis des römi- schen Kaisers Septimius Severus, das im Jahr 211 n. Chr. in der Hauptstadt des Reiches, Rom, stattfand. Nachdem die Bürger Roms das wächserne Abbild des Kaisers sieben Tage vor seinem Palast und dann auf dem Forum aufge- bahrt hatten – Severus war in Britannien verstorben; deshalb hatte man seinen Körper bereits dort eingeäschert – und den Ver- storbenen in Hymnen und Grab- rede gepriesen hatten, trugen sie sein Abbild in feierlicher Prozession Was Herodian hier als typisch rö- waren. Seine Ermordung durch Ad- Militärparade zum Marsfeld. Hier war bereits ein mischen Brauch darstellt, mag aus lige, die das System der Republik (»decursio«) zum mehrstöckiger, prachtvoll ge- heutiger und vor allem christlich retten wollten, konnte die Entwick- Begräbnis des Kaisers Antoninus ■1 schmückter Scheiterhaufen er- geprägter Sicht fremd erscheinen. lung Roms zur Alleinherrschaft ei- Pius (geboren 86, richtet worden. Unter den Augen Für die aus der Perspektive der rö- nes Mannes bekanntlich nicht auf- Kaiser 138 bis der versammelten Menge umkreis- mischen Nachwelt »guten« Kaiser halten. 161 n. Chr.). Die ten dann Reiter in militärischen war er gang und gäbe: 36 der 60 Augustus, sein Erbe und Adop- aufwändig gestal- Formationen den toten Kaiser. Wa- Kaiser von Augustus (27 v. Chr. bis tivsohn, setzte sich in den Macht- teten Begräbnis- gen mit Figuren berühmter römi- 14 n. Chr.) bis Konstantin (306 bis kämpfen nach Caesars Tod durch feiern der Kaiser scher Generäle und seiner verstor- 337 n. Chr.) wurden vergöttlicht. und begründete das römische Kai- machten alle An- wesenden zu Zeu- benen Vorgänger im kaiserlichen sertum. Er war es auch, der die Ver- Caesar, der erste gen der Vergöttli- Purpur zogen in einer Parade vor- göttlichung seines von vielen be- »Star« in Rom chung der Verstor- bei. Schließlich entzündeten die trauerten und geliebten Adoptiv- benen. Dieses beiden Söhne und Nachfolger des Begonnen hatte alles mit Gaius Iuli- vaters betrieb. Als während der Relief von der Ba- Septimius Severus, Caracalla und us Caesar: Er und andere führende mehrtägigen Begräbnisfeierlichkei- sis einer Säule für Geta, den Scheiterhaufen. »Vom Adlige des 1. Jahrhunderts v. Chr. ten für Caesar ein Komet am Him- Kaiser Antoninus höchsten und kleinsten Stockwerk hatten das senatorisch-aristokrati- mel erschien, verstand es Augustus, Pius befindet sich in den Vatikani- (des Scheiterhaufens) fliegt nun ein sche Herrschaftssystem der römi- den »Haarstern« als Zeichen zu in- schen Museen, Adler wie aus einem Wehrturm schen Republik aus den Angeln ge- terpretieren, dass Caesar nun unter Rom. empor und steigt zusammen mit hoben. So groß war Caesars Macht den Sternen den ihm gebührenden den Flammen in den Äther. Die Rö- im Jahr seines Todes 44 v. Chr., dass Platz gefunden habe■2 . Die Vorstel- mer glauben, dass er die Seele des man ihm schon zu Lebzeiten Ehren lung, dass Menschen, aber auch Kaisers von der Erde hinauf in den zugesprochen hatte, die Tiere und Gegenstände zu Sternbil- Himmel trägt. Von da an wird sonst den Göttern al- dern am Himmel werden konnten, er zusammen mit den an- lein vorbehalten war dem ganzen Altertum geläufig. deren Göttern ver- ehrt«, so Herodian über das Ende des ■1 Diese Münze aus dem Jahr 211 n. Chr. für den ver- Staatsbegräbnisses. storbenen Septimius Severus zeigt den Scheiterhau- Wie für einen fen, von dem aus der tote Kaiser seine Reise in den Gott üblich, er- Himmel antrat, er bestand aus mehreren Stockwer- richtete man dem ken. Die Umschrift »CONSECRATIO« bezeichnet den toten Kaiser Tem- öffentlichen Akt der Vergöttlichung. Münzen waren in der Antike das Medium überhaupt, das durch seine pel, weihte ihm Funktion als Zahlungsmittel eine breite Öffentlichkeit Priester und brach- auch in den Provinzen erreichte. Sie zeigen das ideologi- te ihm im ganzen sche Programm, mit dem der Kaiser um Akzeptanz warb Reich Opfer dar. und seine Herrschaft legitimierte.

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■2 Augustus macht Caesar zum »Star«. Tyrannen erwiesen hatten. Mit der Tiberius und Ururenkel des Staats- Die Münze aus dem Jahr 12 v. Chr. Zeit wurde die Praxis auch auf wei- gottes Augustus.« ■4 zeigt, wie er der Statue Caesars einen tere Familienmitglieder ausgedehnt. Und viele Untertanen antworte- Stern auf die Stirn setzt. Augustus Domitian ließ sogar seinen Sohn, ten mit offensichtlicher Anerken- nutzt damit diesen Prozess der göttli- der bereits als kleines Kind verstor- nung der so abgeleiteten Herrschaft. chen Verehrung aktiv, um seine Posi- tion als Herrscher zu stärken und zu ben war, auf Goldmünzen darstel- Auf der anderen Seite des Mittel- legitimieren. len■3 , auf einem Sternenglobus sit- meeres wiederholt der Statthalter zend, um ihn herum die sieben der Provinz Africa, der dem neuen Sterne des Großen Bären. Das ver- Herrscher Nero im Jahre 56 ein Sie fand ihren Niederschlag in zahl- anlasste den Dichter Martial dazu, Amphitheater weiht, dessen Ah- reichen Sagen, die bestimmte Kon- in einem an den Kaiser gerichteten nenliste gar in wörtlicher Überein- stellationen am Himmel erklärten Epigramm /2/ zu vermuten, dass der stimmung: »[[Neroni]] Claudio und die Sternbilder als Illustration Schnee, der einmal während eines d[ivi] Claudi f(ilio)/Germanici Ca- bekannter Mythen wie der Taten Aufenthaltes Domitians im Theater esaris nep(oti) Ti(beri) Caesaris des Herakles heranzogen. Da der auf das kaiserliche Haupt fiel, ein Aug(usti) pron(epoti)/divi Aug(us- Scherz seines Sohnes sei – entsandt ti) abn[ep(oti) Caes]ari Aug(usto) von den winterlichen Sternen, un- Germanico pont(ifici) max(imo) ■ 3 Das Kind auf ter denen er nun als Gott weilte. [t]rib(unicia) pot(estate) imp(erato- dem Sternglobus: ri) co(n)s(uli) desig(nato) II p(atri) Der jung verstor- »Wer wird denn p(atriae)/M(arcus) Pompeius Silva- bene Sohn des den als Gott verehren?« Kaisers Domitian nus Staberius Flavinus [XV]vir umringt von den Claudius, Kaiser von 41 bis 54 n. sac(ris) fac(iundis) proco(n)[s(ul)] sieben Sternen Chr., war der dritte Divus der römi- III dedic(avit)/ Q(uinto) Cassio Gra- des großen Bären schen Antike. Kurz nachdem er to pr(aetore) proco(n)s(ule) Cretae – Motiv einer von seiner vierten Gattin Agrippina Goldmünze aus mit einem Pilzgericht vergiftet wor- den Jahren 82 bis 84 n. Chr. den war, verkündeten die Reichs- münzen die Vergöttlichung. Diese hatte Claudius’ Adoptivsohn Nero Bereich des Himmels und der Ster- durchgesetzt: Aus »Nero Claudius ne von jeher als göttlich galt, konn- Caesar Drusus Germanicus« wurde te Augustus durch den Kometen daher in den offiziellen Dokumen- (»sidus Iulium«) untermauern, dass ten »Nero Claudius Caesar Augus- Caesar zum Gott (»divus«) und er tus Germanicus, Sohn des Staats- selbst zum Sohn eines Gottes (»divi gottes Claudius (›divi Claudi filius‹), filius«) geworden war – ein nicht Enkel des Germanicus, Urenkel des zu unterschätzendes politisches Ka- pital im Kampf um die Macht! ■4 »Divus Claudius«: Obwohl Kaiser Claudius bei Teilen der Oberschicht und sogar Dem Beispiel des Augustus folg- dem eigenen Adoptivsohn und Nachfolger Nero eher belächelt worden war, war ten alle späteren Kaiser, indem sie (s)eine Vergöttlichung ein kluger Schritt, der dem neuen Kaiser als »Gottessohn« die ihre Vorgänger vergöttlichten – zu- Zustimmung der Bevölkerung Roms verschaffen konnte. Und so wurde Claudius zum dritten Divus der römischen Antike, wie eine Goldmünze Neros zeigt, die dieser mindest wenn sie von ihnen ab- unmittelbar nach der vollzogenen »Statusänderung« seines verstorbenen Vorgängers stammten und diese sich nicht als prägen ließ (Aureus, Oktober bis Dezember 54 n. Chr.).

Diven und Stars

de die erste Diva: »Diva Drusilla«. Dass die Diva – die letzte antike war Mariniana im Jahre 253 – durchset- zungsfähiger war als ihr männliches Pendant, zeigt die Geschichte: So nannte der italienische Dichter und Philosoph Giordano Bruno (1548 bis 1600) Köni- gin Elisabeth I. von England bereits zu Lebzeiten eine Diva – und wurde dafür noch von der Inquisition an- geklagt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Diva je- doch eher bewundernswert als gefährlich, als sie im Schlepptau der Kunst ihren Siegeszug antrat: Frauen wie Greta Garbo verliehen der Diva Unsterblichkeit. Auch die Idee, eine große Persönlichkeit zum Stern Antike und moderne Diva – Drusilla und Greta Garbo und damit »unsterblich« zu machen, hat die Jahr- Als seine Lieblingsschwester Drusilla im Jahre 38 n. hunderte überlebt. Bis heute wird der Medienhimmel Chr. plötzlich starb, tröstete sich Kaiser Caligula mit von zahlreichen Stars bewohnt, um die sich Mythen einem neuen – ihrem – Stern. Aus Iulia Drusilla wur- ranken und Starkulte bilden.

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Forschen im internationalen Verbund Das Internationale Graduiertenkolleg »Politische ist bislang wenig verbreitet. Für die beiden Althistori- Kommunikation von der Antike bis ins 20. Jahrhun- ker Christian Bechtold und Vera Margerie-Seeboth be- dert« wird getragen von mehr als 20 Wissenschaftlern deutete diese Einbindung von Anfang an sowohl eine der Universitäten Frankfurt, Trient, Bologna und Schärfung ihres methodischen Instrumentariums als Innsbruck. Sprecherin des Kollegs ist die Vize-Präsi- auch eine intensive Auseinandersetzung mit der italie- dentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die nischsprachigen Forschung, die in Deutschland voll- Frankfurter Historikerin Prof. Dr. Luise Schorn-Schüt- kommen unzureichend rezipiert wird. Während ihrer te. Zwölf Stipendiaten werden seit Dezember 2004 Forschungsaufenthalte an der Universität Innsbruck, von je zwei Hochschullehrern unterschiedlicher Na- auf den jährlichen Klausurtagungen und in begleiten- tionalität betreut (»co-tutelle«). Ihre Promotion wird den Seminaren war bisher nicht nur ausreichend Ge- mit einem doppelten Doktordiplom abgeschlossen. Ei- legenheit, die eigene Arbeit zu reflektieren, sondern ne solch enge Vernetzung der Doktorandenförderung auch ganz »hautnah« die jeweils anderen Forschungs- auf europäischer und epochenübergreifender Ebene kulturen kennen zu lernen.

et Cyrenar(um) leg(ato) pro pr(ae- natoren bedeuteten wohl nicht nur recht grausamen Adoptivvaters Ha- tore) Africae III].« ■5 im »Göttersenat« der »Apocolocyn- drian hatte, zeigen deutlich, dass Aber nicht alle Zeitgenossen sind tosis« die postume Disqualifizie- der Status des Toten durchaus Ver- mit einem »Divus Claudius« ein- rung. handlungssache war: Antoninus’ verstanden. Der Politiker und Philo- Die Schwierigkeiten, die Kaiser Bewusstsein um das legitimierende soph Seneca besaß zu ihm zeitle- Antoninus Pius (138 bis 161 n.Chr.) Potenzial eines »Divus Hadrianus« bens ein gespanntes Verhältnis. bei der Vergöttlichung seines zuletzt erlaubte es ihm dennoch nicht, des- Nach Claudius’ Tod rechnet Seneca ab: Er bringt ein äußerst gehässiges Pamphlet in Umlauf, in dem er den Anzeige Verstorbenen mit all seinen geisti- gen Schwächen und körperlichen Gebrechen der Lächerlichkeit preis- gibt. Als grausamen, seinen Ehe- frauen und Freigelassenen ergebe- nen Wirrkopf lässt er Claudius an die Himmelspforte klopfen und sein Anliegen – die Aufnahme unter die Götter – vorbringen. Das Urteil des Göttersenates ist deutlich: untrag- bar. Der »Divus Augustus« ist es be- zeichnenderweise, der den ent- scheidenden Schlag führt: »Wer wird denn den als Gott verehren?« /3/ gibt er zu bedenken und sorgt dafür, dass Claudius schnurstracks vom Himmel in die Unterwelt be- fördert wird. Die »Apocolocynto- sis«, die »Verkürbissung« – so der Titel der kleinen Schrift – hat Sene- ca dem toten Herrscher zugedacht – ein bissiger Seitenhieb auf dessen offizielle »Apotheosis«. Vergöttlichung in der politischen Kommunikation Für den »Fall Claudius« haben uns die Quellen offenbar unterschiedli- che Diskurse bewahrt, die um die Vergöttlichung dieses Herrschers ge- führt wurden. Welches Anforde- rungsprofil weite Teile der politisch- gesellschaftlichen Führungsschicht an einen künftigen Divus hatten, lässt sich unschwer aus Senecas Pa- rodie der Senatssitzung herausle- sen: Charakterliche Mängel, vor al- lem aber die Tötung römischer Se-

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sen Vergöttlichung einfach anzu- musste sie immer wieder neu er- meisten offiziellen Zeugnissen da- ordnen. Und wer die besseren Ar- werben und dabei Rücksicht neh- rauf, diese auch zu präsentieren. gumente – sprich Soldaten – nicht men auf die Zustimmung wichtiger Ausnehmend häufig findet sich sei- von vornherein auf seiner Seite gesellschaftlicher Gruppen: von ne göttliche Ahnenreihe dagegen in hatte, der musste eben verhandeln. Senat, Heer und stadtrömischem den von den Untertanen gesetzten Nach Cassius Dio gelang es Antoni- Volk. Eine solche Herrschaftskon- Inschriften. Besonders Soldaten nus Pius schließlich, den Senat mit struktion kann man als »Akzeptanz- und militärische Verbände signali- folgenden Worten zu überzeugen: system« beschreiben. Und in diesem sierten ihrem Herrscher so, dass sie »Dann bin ich auch nicht euer Kai- »System« zählte vor allem eines: dessen göttliche Abstammung ser, wenn jener so schlecht und so »Sprache(n)« – Worte, Bilder, Ges- durchaus begrüßten. »Der in Stein gemeißelte ■5 Die komplette Ahnenliste des Glaube der kleinen Leute« Kaisers Nero Inschriften auf Stein, Bronze oder schmückte die Holz bilden für kaiserliche Erlasse Mauer eines Am- phitheaters in sowie für die Herrschertitulatur ei- Lepcis Magna, ne weitgehend zuverlässige Quelle. dem heutigen Doch transportierten sie nicht nur Labdah in Nord- das Selbstbild der Kaiser, sondern afrika [L'Année waren gleichfalls ein beliebtes Me- épigraphique feindlich gesinnt wider euch war. ten – verstehen und bedienen. dium, in dem auch jeder Untertan, 1968, 00549]. Ihr müsst dann alles, was er tat, für Solchen wechselseitigen Dialogen dem eigenen Geldbeutel entspre- ungültig erklären, und darunter ge- und kommunikativen Strategien chend, seine Botschaften formulie- hört auch meine Adoption.«/4/ auf die Spur zu kommen, haben ren konnte: »Der in Stein gemei- Die Vergöttlichung des Vorgän- sich die Arbeiten zum Ziel gesetzt, ßelte Glaube der kleinen Leute«./6/ gers hing also direkt mit der Aner- die im Rahmen des Internationalen Gerade die Weihinschriften an die kennung der getroffenen Nachfol- Graduiertenkollegs »Politische Götter und Göttinnen des antiken geregelung zusammen. Der Kaiser Kommunikation von der Antike bis Pantheons – zu denen auch die »di- hatte ganz handfeste politische Mo- ins 20. Jahrhundert« entstehen. Die vi«, »divae« und »divi filii« zählten tive, seinen Vorgänger in den Him- innerhalb des Kollegs intensiv dis- – werden immer wieder durch Neu- mel zu loben. Glaubten er und sei- kutierte Auffassung von Herrschaft funde vermehrt. Die Vorstellungen ne Zeitgenossen auch daran? Das als Gegenstand, aber eben auch als der Bevölkerung vom Jenseits spie- wäre nicht die richtige Frage! Wich- Produkt eines Diskurses lässt die geln die nicht weniger zahlreichen tig ist vielmehr, ob eine solche Be- Vergöttlichung des römischen Kai- Grabinschriften. Aus ihnen lässt sich hauptung Akzeptanz fand. In der sers in anderem Licht erscheinen. erkennen, dass die Versetzung des Tat entsprach es sogar den an den So analysieren unsere Projekte [vgl. Toten unter die Sterne ein durchaus Kaiser gerichteten Erwartungen, »Forschen im internationalen Ver- gängiger Trost war, den man sich dass er von der Göttlichkeit seines bund«, Seite 73] nicht nur die Seite zum Teil wohl von den Kaisern ab- Vorgängers aufrichtig überzeugt der Kaiser und ihre Äußerungen in geschaut hatte. Den Historikern er- war. Darauf lässt eine an den Kaiser der politischen Kommunikation. möglichen die Inschriften, auch die Trajan (98 bis 117 n. Chr.) gerichte- Denn die Wirkung der Vergöttli- Stimmen jener Menschen zu hören, te Lobrede schließen, in der es chung und ihre politische Signifi- die eine aus der Feder der römischen heißt: »Du aber hast deinen Vater kanz lassen sich nur einschätzen, Oberschicht stammende Geschichts- zu den Sternen erhoben, nicht um wenn man auch die Reaktionen der schreibung nicht bewahrt hat. ◆ die Bürger in Schrecken zu verset- Angesprochenen und deren Ver- zen, nicht um die Gottheiten zu ständnishorizont untersucht. Die Autoren verunglimpfen, nicht um deine ei- Ein abschließendes Beispiel mag Vera Margerie-Seeboth, 30, schreibt im gene Ehre zu erhöhen, sondern weil diesen spannenden Zugang einfan- Rahmen des Internationalen Graduier- /5/ du ihn wirklich als Gott siehst.« gen, die unterschiedlichen »Spra- tenkollegs »Politische Kommunikation chen« des Kaisers wie der Reichsbe- Herrschaft – Ein beständiges von der Antike bis ins 20.Jahrhundert« völkerung genauer in den Blick zu ihre Doktorarbeit zum Thema »Kaiserli- Werben um Akzeptanz nehmen: Die Inschriften aus dem che Selbstdarstellung im Kontext. Reli- Der von Augustus durchgesetzte beginnenden 3. Jahrhundert lassen giöse Sprache als Medium politischer Anmerkungen Prinzipat – wie das Kaisertum zu- erkennen, dass die offiziellen Vor- Kommunikation im 3.Jahrhundert (193 /1/ Herodian 4.2 bis 305)«. Die Dissertation wird betreut nächst vorsichtig genannt wurde – gaben des Herrschers auf öffentli- /2/ Martial 4.3 von Prof. Dr. Dr. Manfred Clauss (Frank- /3/ Seneca, war immer von potenzieller Instabi- chen Bauten, auf Meilensteinen furt) und Prof. Dr. Reinhold Bichler apocol. 11 lität geprägt: Zu keiner Zeit gab es oder in den Entlassungsurkunden (Innsbruck). /4/ Cassius Dio 70.1 in Rom eine allgemein anerkannte der Soldaten von der Bevölkerung Christian Bechtold, 30, thematisiert in /5/ Plinius, Panegy- Instanz, der es zukam, den Kaiser mit ungleicher Intensität angenom- seiner Dissertation »Astrologische Bot- ricus 11.2 zu erheben. Nachdem der Thron men wurden. So hatte sich Septimi- schaften und astrale Elemente in der /6/ Manfred Clauss, faktisch okkupiert worden war, war us Severus, von dessen Erhebung politischen Kommunikation der römi- Kaiser und Gott, schen Kaiserzeit«, ebenfalls im Rahmen die nötige Herrschaftsbefugnis nicht zum Gott eingangs die Rede war, Herrscherkult im des Internationalen Graduiertenkollegs. römischen Reich einfach da oder konnte »verord- durch konstruierte Adoption eine Betreut wird die Arbeit von Prof. Dr. Stuttgart/Leipzig net« werden. Wer sich Kaiser nen- stattliche Liste von sechs »divi« ver- Hartmut Leppin (Frankfurt) und Prof. 1999, S. 37. nen und Kaiser bleiben wollte, schafft, doch verzichtete er in den Dr. Reinhold Bichler (Innsbruck).

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Perspektiven »Der intellektuelle Dialog lebt von der Vielsprachigkeit«

»Deutsch plus« und andere Initiativen zur Stärkung der Geisteswissenschaften – Im Gespräch: Ulrike Jaspers mit DFG-Vizepräsidentin Prof. Dr. Luise Schorn-Schütte

? 2007 ist das Jahr der Geisteswis- nur unzureichend gefördert wer- senschaften – endlich! »Die den, deutet sich jetzt endlich ei- Geisteswissenschaften. ABC der ne Trendwende an? Menschheit« – ein griffiger Slogan für diese vom Bundes- Schorn-Schütte: Das Wehklagen war ministerium für Bildung und nach meiner persönlichen Einschät- Forschung ausgerufene Aktion. zung nicht sachlich begründet. Es Doch verbirgt sich dahinter hat aber sicher dazu geführt, gezielt mehr als nur ein Sammel- darüber nachzudenken, ob es sinn- surium an Einzelthemen – voll ist, alle Wissenschaftsbereiche Vielfalt, aber wenig Gemein- mit den gleichen Instrumenten zu samkeit? fördern. Und da hat in der Tat in- nerhalb der DFG-Gremien in den Schorn-Schütte: Bei aller Kritik, die vergangenen drei Jahren ein Um- geübt wird, es gibt durchaus eine denken begonnen. Geisteswissen- senschaftlichen Austausch und für Einheit der Geisteswissenschaften. schaftler brauchen vor allem For- das eigene Arbeiten. Was uns als Geisteswissenschaften schungszeit, um sich individuell in verbindet, ist einerseits die histori- ihre Themen vertiefen zu können. ? Nach der ersten Runde der Ex- sche Auseinandersetzung mit natio- Deshalb hat die DFG jetzt neue Pro- zellenzinitiative hagelte es Pro- nalen und internationalen Traditio- gramme entwickelt, wie zum Bei- teste: Die Geistes- und Sozialwis- nen und zum anderen der Umgang spiel die Kolleg-Forschergruppen, senschaften haben von den di- mit Sprache als Forschungsgegen- eine Exzellenzförderung speziell für cken Kuchen kaum etwas stand, von den historischen Spra- die Geisteswissenschaften. Eigene abbekommen. Ihre Anträge chen bis hin zu den aktuellen. Inso- forschende Tätigkeit soll innerhalb scheiterten mit einer fünfmal so fern ist es nicht ein Sammelsurium, von Forschungsinstrumenten er- hohen Wahrscheinlichkeit wie sondern eher ein gemeinsamer möglicht werden, die sich der For- die aus den Natur- und Technik- Kern, der sich in verschiedenen scher frei zusammenstellen kann: wissenschaften. In der zweiten Fächern kundtut. freie Zeit, Integration von Nach- Runde scheint sich das Blatt zu wuchswissenschaftlern, Graduier- wenden. Ist das auf die massive ? 17 Studienbereiche und 96 Fä- tenkollegs sowie Fellow-Program- Kritik zurückzuführen? cher werden vom Wissenschafts- me für Gäste aus dem In- und Aus- rat unter den Geisteswissen- land. Diese Kolleg-Forschergruppen Schorn-Schütte: Nein, das bestimmt schaften aufgeführt. Sehen Sie sollen Raum schaffen für den wis- nicht. Die Geistes- und Sozialwis- da verbindende Elemente? senschaften sind mit ihrer For- schungstätigkeit in erster Linie Schorn-Schütte: Dass sich die Geistes- nicht auf Gruppenarbeit ausgerich- wissenschaften so stark differenziert tet. Das ist eine spezifisch naturwis- haben, hat historische Gründe. Im senschaftliche Arbeitsweise. Die 19. Jahrhundert waren lediglich Geistes- und Sozialwissenschaftler Philosophie, Geschichte, Philologie arbeiten eigentlich eher allein, su- und Theologie die zentralen Wis- chen dann im kleineren Kreis, die senschaften; das ist auch heute Probleme weiter zu entwickeln. noch der Kern, aus dem sich die Und als nun das Programm zur Ex- anderen Wissenschaften entwickelt zellenzinitiative ausgeschrieben haben. Dann kamen im Zuge der wurde, mussten die Geisteswissen- kolonialen Auseinandersetzungen schaftler unter knappen Zeitvorga- die Sprachwissenschaften hinzu. ben ein kooperatives großes Pro- Und im 20. Jahrhundert hat sich gramm entwickeln. Das konnte so das Spektrum Richtung Sozial- und schnell nicht überall gelingen, des- Kulturwissenschaften weiter entwi- halb sind in der ersten Förderrunde ckelt. Wer eine gemeinsame Ge- die Geisteswissenschaften nicht so schichte hat, hat aber auch Verbin- erfolgreich gewesen. Doch jetzt ha- dendes! ben sie sich darauf eingestellt; sicht- bar ist dies ja auch bei der Fort- ? Jahrelang haben sich die Geistes- schreibung unseres Frankfurter An- wissenschaftler beklagt, dass sie trages.

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Perspektiven

Schorn-Schütte: Nachdem unser An- ? Die Geisteswissenschaften leben trag zunächst zurückgewiesen wor- von ihrer Sprache. Dagegen ni- den war und wir – in der Gewiss- velliere die »Schrumpfform des heit, dass wir uns sehr wohl mit der Englischen«, wie sie in interna- Konkurrenz messen können – ei- tionalen Zeitschriften dominiere, nen zweiten Anlauf gestartet ha- die geisteswissenschaftliche Ter- ben, war uns klar: Diese beiden be- minologie, so formulierte es Juli- schriebenen Gruppierungen – Poli- an Nida-Rümelin, Philosophie- tologen und Soziologen einerseits Professor in München. Was lässt sowie Historiker und Teile der Phi- sich unternehmen, um die reich- losophen andererseits – mussten haltigen und vielfältigen geistes- sich zunächst einmal in einem offe- wissenschaftlichen Landschaften nen Gespräch aufeinander zu be- in Europa zu erhalten? wegen. Dieser Prozess war sehr, sehr spannend. Es war eine wichti- Schorn-Schütte: Wenn Naturwissen- ge Erfahrung, die uns sehr moti- schaftler in einem wirklichen viert hat. Schrumpfenglisch zum Beispiel über chemische Formeln reden, ist ? »Wenn sich Geistes- oder Sozial- das kein Problem. Aber wenn wir ? »Herausbildung normativer Ord- wissenschaftler für einen Antrag etwa unseren Exzellenzantrag zur nungen« – so ist der Frankfurter einsetzen, geschieht dies selten Entwicklung normativer Struktu- Antrag für ein Exzellenzcluster in der gleichen Bedingungslosig- ren verfassen, dann lassen sich die betitelt und darf sich Hoffnun- keit wie bei Naturwissenschaft- Feinheiten der philosophisch-histo- gen auf eine Förderung in Höhe lern«, beschreibt der Politologe rischen Argumentation nicht so oh- von 6,5 Millionen Euro pro Jahr Michael Zürn, bis vor kurzem ne weiteres in einer fremden Spra- machen. Es ist der zweite An- Mitglied in der Auswahlkommis- lauf, nachdem die Frankfurter sion der Exzellenzinitiative, die Gruppe zunächst in der ersten andere Kultur. Gehören diese Runde gescheitert war. Wie ste- Prozesse zur Konfliktkultur der hen die Chancen? Geisteswissenschaften?

Schorn-Schütte: Ich denke, wir haben Schorn-Schütte: Frau Starzinski-Po- jetzt eine passable Chance. Selbst witz, meine Frankfurter Kollegin wenn wir mit dem Exzellenzcluster aus den Naturwissenschaften, hat nicht erfolgreich sein sollten, sind dies sehr anschaulich beschrieben: wir in Frankfurt einen wesentli- Geisteswissenschaftler diskutieren chen Schritt vorangekommen: Die am Anfang heftig, stampfen sich beiden unterschiedlichen Richtun- am ersten Tag in den Boden und gen, die es seit Jahrzehnten in den am zweiten Tag sind sie dann fit, Frankfurter Geistes- und Sozialwis- sich wieder »auszubuddeln«. Das senschaften gibt und die jeweils in trifft den Kern. Die Naturwissen- ihrem Kontext als wissenschaftlich schaftler sind da strategisch viel klü- exzellent anerkannt sind, haben ei- ger: Sie halten in der Antragsphase ne gemeinsame Initiative gestartet. zusammen, wenn es um das ge- In der Nachfolge der berühmten meinsame Geld geht. Wenn sie das Frankfurter Schule, die durchaus in haben, dann streiten sie sich genau- ihren methodischen Ansätzen um- so wie wir. che abbilden. Wir haben innerhalb stritten war, hat die jüngere Gene- der DFG lange über dieses Thema ration einen neuen eigenen Stand- ? Macht und Strategie – mit die- gestritten, inzwischen wird akzep- ort entwickelt, der nun auch an- sem Phänomen beschäftigen sich tiert: Die Geistes- und Sozialwissen- schlussfähig ist für andere doch gerade die Geistes- und So- schaftler reden in ihrer eigenen exzellente Disziplinen an der Jo- zialwissenschaftler. Warum kön- Sprache, denn dies ist Gegenstand hann Wolfgang Goethe-Universität nen sie die Kenntnisse nicht zum ihrer Forschungen. Wenn ich mit – unter anderem für die Historiker. eigenen Vorteil umsetzen? Historikerkollegen aus Italien, Und das ist ein großer Erfolg für Frankreich, England diskutiere, er- unsere Universität. Schorn-Schütte: Man sollte schon an- warte ich – und das klappt auch bei nehmen, dass das von der analyti- gut ausgebildeten Leuten –, dass sie ? Sie engagieren sich auch in die- schen Ebene der Betrachtung auf in ihrer Sprache mit mir reden und sem Kreis der Geisteswissen- die Handlungsebene übertragen sie erwarten, dass ich das umge- schaftler, die das Frankfurter Ex- werden könnte. Aber meine Erfah- kehrt mit ihnen auch tue, so dass zellenzcluster über die letzte rungen sind eher, dass zu wenig wir uns wechselseitig verstehen. So Hürde bringen wollen. Wie ha- strategisch gedacht wird. Doch die haben wir die Möglichkeit, unsere ben Sie die Gruppenprozesse in nachwachsende Generation scheint sehr differenziert strukturierten Ar- den vergangenen Monaten er- das deutlich besser zu beherrschen, gumente in unserer Sprache auszu- lebt? das zeichnet sich bereits ab. drücken. Geisteswissenschaftler

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müssen also unbedingt mehrere französischen Kollegen wichtige ständnis dafür wecken, dass es an- Sprachen in ihrer Ausbildung erler- Werke, die in deutscher Sprache er- dere Denkstile gibt, dass unter- nen. Von dieser Vielsprachigkeit schienen sind, nicht zur Kenntnis schiedliche Zugangsweisen der na- lebt auch der intellektuelle Dialog nehmen, weil sie diese nicht lesen tionalen Traditionen existieren; in den internationalen Graduierten- können. In Deutschland sehen wir eben diese Einsicht ist Bestandteil kollegs. es als selbstverständlich an, mehre- geistes- und sozialwissenschaftli- re Sprachen zu sprechen, doch die cher Forschung! Die Doktoranden ? Warum müssen denn die geistes- Angloamerikaner können selten aus dem Graduiertenkolleg gehen wissenschaftlichen Anträge für andere Sprachen, die Engländer dann als Multiplikatoren in ihre die Exzellenzinitiative trotzdem noch viel weniger. Und für diese Universitäten zurück und können in englischer Sprache vorgelegt Kollegen will die VolkswagenStif- ihrerseits die Vielfalt dieser menta- werden? tung mit ihrer Initiative zusätzliche len Zugänge vermitteln. Brücken bauen: Grundlegende geis- Schorn-Schütte: Das hat sich geän- teswissenschaftliche Werke sollen ? Ist denn die Vermittlung dieser dert, inzwischen gibt es einen DFG- ins Englische oder Französische Vielfalt überhaupt ein erklärtes Beschluss, dass diese auch in deut- übersetzt werden und die VW-Stif- europäisches Ziel? Oder domi- scher Sprache formuliert werden tung übernimmt die Übersetzungs- nieren nicht eher die national können, um die Feinheit der Argu- kosten. So kann die deutsche De- geprägten Kulturwissenschaf- mentation in allen Verästelungen battenkultur, die hoch entwickelt ten? vorzustellen. Wir können davon ist und internationales Ansehen ge- ausgehen, dass die internationalen nießt, auch im Ausland besser rezi- Schorn-Schütte: Die Einsicht, dass Gutachter das so gut verstehen, piert werden. man europäische Kulturstudien dass sie die Übersetzung ins Engli- machen muss, die auf nationalen sche gar nicht brauchen. Im Gegen- ? Einen Denkstil in die andere Traditionen beruhen, ist natürlich teil: Sie wollen sogar den ursprüng- Sprache zu übertragen, das ist eine Erkenntnis, die noch nicht so lichen deutschen Text haben. nicht trivial. Welche Erfahrun- sehr alt ist. Dieser europäische Ge- gen haben Sie zum Beispiel in danke der Notwendigkeit, eine ge- ? Die VolkswagenStiftung hat eine dem ersten Internationalen Geis- meinsame Wissenschaftskultur zu neue Förderinitiative aufgelegt: teswissenschaftlichen Graduier- vermitteln, ist sicherlich auch durch »Deutsch plus – Wissenschaft ist tenkolleg in Hessen gemacht, das den Bologna-Prozess zur Internatio- mehrsprachig.« Sie haben als Sie leiten? nalisierung des Studiums noch ein- Kuratoriumsmitglied der Volks- mal beschleunigt worden. Ein an- wagenStiftung daran mitgewirkt, Schorn-Schütte: Unsere Doktoranden derer Aspekt ist, dass die deutsche was steckt dahinter? sind Italiener, Österreicher, Deut- Wissenschaftskultur natürlich nach sche und Niederländer. Durch diese dem Zweiten Weltkrieg bis in sieb- Schorn-Schütte: Wir merken, dass die Kooperation können wir schon in ziger Jahre hinein höchst zurück- amerikanischen, englischen und der jungen Generation ein Ver- haltend war, wenn es darum ging,

Zur Person

Prof. Dr. Luise Schorn-Schütte, 58, stärkt seit September der Johann 2004 die Position der Geisteswissenschaften im Präsi- Wolfgang Goe- dium der Deutschen Forschungsgemeinschaft: Als Vi- the-Universität. ze-Präsidentin dieser Organisation und als Kuratori- Sie gehört zum umsmitglied der VolkswagenStiftung setzt sich die Kreis der Frank- Frankfurter Historikerin besonders für neue Konzepte furter Geistes- ein, die auf die spezifische Arbeitsweise der Geistes- und Sozialwis- und Sozialwissenschaftler zugeschnitten sind. Nach senschaftler, die drei Jahren – im Juli 2007 – endet ihre erste Amtszeit die erste Hürde als Vizepräsidentin, eine Wiederwahl ist möglich. im Wettbewerb In Frankfurt engagiert sich Schorn-Schütte als der Exzellenz- Sprecherin des internationalen Graduiertenkollegs initiative ge- »Politische Kommunikation von der Antike bis in das nommen haben 20. Jahrhundert«, an dem sich Wissenschaftler der und nun aufge- Universitäten Frankfurt, Trient, Innsbruck und Bolo- fordert wurden, gna beteiligen und das von der DFG und den vier ihren Antrag für ein Exzellenzcluster zum Thema Universitäten gefördert wird [siehe auch Vera Marge- »Herausbildung normativer Ordnungen« zu konkreti- rie-Seeboth, Christian Bechtold »Warum die römi- sieren. Die Entscheidung fällt im Oktober. schen Kaiser ihre Vorgänger in den Himmel lobten«, Wissenschaftlich beschäftigt sich Schorn-Schütte Seite 71]. Die Historikerin, die nach Rufen an die Uni- zurzeit mit einer Neuorientierung der historischen versitäten Basel und Potsdam von 1993 bis 1998 an Forschung im Sinne einer Wiederbelebung der histo- der neu gegründeten brandenburgischen Landesuni- rischen Politikforschung. Ende 2006 ist von ihr im versität einen Lehrstuhl für neuere allgemeine Ge- Verlag C. H. Beck erschienen: »Historische Politikfor- schichte inne hatte, vertritt dieses Gebiet seit 1998 an schung. Eine Einführung«.

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zenforschung. Die Universität wissenschaften an der Universität Frankfurt hat kürzlich das For- Frankfurt voranzubringen. schungskolleg Humanwissen- schaften gegründet. Welche Be- ? Zu den Eliteuniversitäten wird deutung messen Sie diesen »In- die Johann Wolfgang Goethe- stitutes for Advanced Studies« in Universität nun zunächst einmal den Geisteswissenschaften bei? nicht gehören – eine verpasste Chance? Schorn-Schütte: Dieses Programm ist eine parallele Aktivität des Ministe- Schorn-Schütte: Ich habe eigentlich riums zu den DFG-Kolleg-Forscher- gehofft, dass der Frankfurter Antrag gruppen. Die Ministerin wollte auf eine Chance hat, weil das Konzept diesem Weg auch ihr Engagement der Stiftungsuniversität aus meiner für die Geisteswissenschaften un- Sicht etwas Kreatives und Neues ist, terstreichen. Wenn in einer Univer- was an die Traditionen der Bürger- sität – wie nun in Frankfurt mit universität in den zwanziger Jahren zu sagen: Dieses ist unsere Wissen- dem Forschungskolleg Humanwis- des 20. Jahrhunderts anknüpft – schaftstradition, hinter der müssen senschaften – bereits ein institutio- jenseits der staatlich finanzierten wir uns nicht verstecken. Die neller Rahmen und eine Infrastruk- Universität. Die Idee, die Hochschule nächste Generation geht damit sehr tur aufgebaut werden, dann ist eine in eine öffentlich-rechtliche Stiftung viel unbefangener um und belebt gute Voraussetzung geschaffen, um umzuwandeln, bleibt eine Heraus- die europäische Debatte damit. in ein solches Förderprogramm des forderung – ganz unabhängig vom Ministeriums aufgenommen zu Ausgang dieses Auswahlprozesses. ? Bildungsministerin Annette werden. Wenn wir jetzt noch Glück Es wird vermutlich eine Fortsetzung Schavan will »Freiräume für die hätten, den Zuschlag für das Exzel- der Exzellenzinitiative geben, nach Geisteswissenschaften« schaffen lenzcluster zu bekommen und fünf Jahren werden dann die Karten und bis 2009 rund 64 Millionen eventuell auch mit einem Antrag neu gemischt. Dann werden nicht Euro bereitstellen. Dazu gehört für eine DFG-Kolleg-Forschergrup- alle weiter gefördert, die jetzt schon auch die Einrichtung internatio- pe erfolgreich zu sein, gäbe es her- dabei sind, und spätestens dann naler Forschungskollegs als Orte vorragende Strukturen, um die Pro- kann die Universität Frankfurt ihr geisteswissenschaftlicher Spit- filbildung der Geistes- und Sozial- Glück noch einmal versuchen. ◆

Wie Menschen Normen und Wertvorstellungen mit beeinflussen Der etwas andere Blick auf dynamische Prozesse bei der Herausbildung normativer Ordnungen – Fragestellungen für das geisteswissenschaftliche Exzellenzcluster

ormative Ordnungen legitimie- Wie bilden sich normative Ord- ten Systeme richten, sondern auf Nren die Entstehung und Aus- nungen, welchen Prozessen sind sie die Perspektive der Personen, die übung politischer Autorität, sie bil- unterworfen? Diese Fragen lassen an der Herausbildung normativer den aber auch die Grundstruktur, sich unter ganz verschiedenen Ge- Ordnungen beteiligt sind – Politiker, nach der Chancen und Lebensgüter sichtspunkten betrachten: Man Richter bis zu Ehrenamtlichen bei in einer Gesellschaft verteilt werden kann nach den ökonomischen Be- Umweltgruppen, aber auch Bürger, sollen. Sie lassen sich nicht per De- dingungen fragen, nach dem Ein- die ausschließlich von ihrem Wahl- kret unumstößlich fixieren, sondern fluss von anderen Faktoren wie den recht Gebrauch machen oder sich leben von den dynamischen Impul- Macht- und Gewaltverhältnissen öffentlich engagieren. Als Akteure sen aller Beteiligten. Solche Normen, oder nach überindividuellen Me- haben sie die Erwartung, dass nor- die innerhalb einer Gesellschaft all- chanismen, wie sie sich in hoch- mative Ordnungen ihnen gegen- gemeine Anerkennung beanspru- komplexen Gesellschaften entwi- über gerechtfertigt werden und dass chen und ihren Niederschlag zum ckeln und sich beispielsweise in den die Rechtfertigungen sie überzeu- Beispiel in Verfassungen finden Eigenrationalitäten des ökonomi- gen können. Solche Erwartungen können, müssen sich zudem kri- schen oder des politischen Systems und die Art und Weise ihrer Erfül- tisch mit der jeweiligen gesellschaft- widerspiegeln, die sich unabhängig lung lassen sich gewiss nicht von je- lichen Realität konfrontieren las- von den Absichten der Beteiligten nen anderen Faktoren trennen, sen. Oftmals gehen aus dieser Kon- selbst regulieren. In dem geplanten aber es wäre genauso falsch, sie nur frontation neue Konflikte hervor, Exzellenzcluster »Die Herausbil- als oberflächlichen Ausdruck ano- die zur Herausbildung einer ande- dung normativer Ordnungen« wol- nymer überindividueller Strukturen ren normativen Ordnung führen len wir unseren Fokus nicht so sehr zu untersuchen. In den geplanten können. auf die an diesen Prozessen beteilig- Projekten des Clusters sollen nicht

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nur historische Prozesse, sondern Überragt von der auch die gegenwärtigen globalen Weisheit, thront Konflikte um eine gerechte Welt- die Gerechtigkeit ordnung aus der Perspektive der über den Bürgern der Stadt. Mit die- agierenden Personen beleuchtet sen ist sie durch werden. ein Seil verbun- Das »andere Bild«: Aus der den, das von den Waagschalen der Perspektive der Beteiligten ausgleichenden An Lorenzettis Fresko der guten und der verteilen- und der schlechten Regierung [sie- den Gerechtigkeit über die Figur der he auch Gunther Teubner »›Il buon Einheit und durch governo‹ – zur Symbolik in Loren- den auf ihrem zettis Fresko«, Seite 34] kann man Schoß liegenden die unterschiedlichen Blickwinkel Hobel der bürger- auf normative Ordnungen vorzüg- lich-republikani- lich erläutern. Aus einer externen schen Gleichheit Perspektive lässt sich etwa fragen, führt. wie das Verhältnis zwischen den Kommunikationssystemen Recht und Politik dargestellt wird oder welche Annahmen zu ökonomi- schen Bedingungen sich dem Fres- ko über die Folgen des guten Regi- ments entnehmen lassen. Einen an- deren Standpunkt nimmt jedoch ein, wer herauszufinden sucht, wie die Beteiligten selbst ihre normative Ordnung wahrnehmen, wie sie sich zu dem von ihr erhobenen An- Gleichheit der Bürger einer Repu- schaft steht, die gerade nicht aus spruch auf Geltung und Befolgung blik – nicht nur die Gleichheit aller der Gleichheit ihrer Mitglieder her- verhalten – und wie sie selbst diese Rechtspersonen vor dem Gesetz, vorgeht, sondern durch die Un- Ordnung rechtfertigen oder kritisie- sondern auch die Gleichheit aller gleichverteilung von Privilegien ren. Wendet man sich dieser – für Staatsbürger, gleichberechtigt und und Lasten geprägt ist. Ähnlich wie das geplante Exzellenzcluster zen- aktiv partizipieren zu können. diese konträren Betrachtungswei- tralen – Perspektive zu, zeigen die Mit dem einigenden Band be- sen ein und desselben Gemäldes Fresken ein »anderes Bild.« schwört das Fresko einen Zustand, sind eben auch die Interpretations- Die Fresken befinden sich im der seit der Antike als größte Ge- möglichkeiten der Personen, die »Saal der Neun«, der damaligen fahr einer freien Gesellschaft galt: normative Ordnungen aus ihrer je- Regierung der Stadtrepublik Siena, die Furcht vor der Zwietracht, vor weiligen Perspektive beurteilen. also dem Zentrum einer republika- der Bildung von Fraktionen, die Allegorische Darstellung nischen Macht. Sie lassen sich da- einander bekämpfen und das Inte- her kritisch lesen als eine Art Spie- resse der eigenen Gruppe über das als Kontrastfolie der gel für die Regierungsmitglieder, Interesse der Gesamtheit, das Ge- individuellen Bewertung der sie ermahnen und ermutigen meinwohl oder »bonum commu- Anders als bei einem gelehrten poli- soll, tugendhaft und gerecht zu ne« stellen. Ein solcher, das Band tisch-juristischen Traktat – wie es handeln, um die drastisch darge- der Gerechtigkeit und Gleichheit Machiavelli zirka 200 Jahre später stellten schädlichen Folgen einer sprengender, Dissens wurde für die in Florenz schreiben wird – gelingt schlechten Regierung zu vermei- Hauptursache des Bürgerkriegs ge- es Lorenzettis Fresko, wie in einer den. Diese Sichtweise ermöglicht es halten, der wiederum den Nährbo- Erzählung mit sinnlichen, sinnfälli- dann auch denjenigen Bürgern, die den für die Tyrannis bildet – also gen und ästhetischen Mitteln ver- mit der Regierung nicht überein- genau das Gegenbild, das Lorenzetti ständlich zu machen, was normati- stimmen, kritisch auf diese Fresken mit dem guten Regiment konfron- ve Ordnung und Wertvorstellungen zu verweisen, um die Regierung zu tiert, mit ihren Schrecken, mit ihrer der Bürger in Siena ausmachen. Die gerechten Entscheidungen zu er- Korruption, mit Armut und Ver- zeitgenössischen Betrachter brauch- mahnen. Die Stadtrepublik Siena elendung und der allgegenwärtigen ten vermutlich nicht wie die meis- stellt sich so dar, wie sie sich selbst Unsicherheit und Angst. ten von uns heute eine Art Manual, versteht und wie sie zu sein bean- Aber auch die Fresken zur guten um die Bedeutungen der verschie- sprucht, also in einem faktischen Regierung lassen sich anders inter- denen Figuren und ihrer aufeinan- ebenso wie in einem idealisieren- pretieren: als ein Gegen-Bild zu den der bezogenen Tätigkeiten zu ver- den Sinne. Das Band, das die Bür- sonst geläufigen Darstellungen des stehen. Indem dieses Fresko von ger zusammenschließt, läuft durch guten Herrschers, der seine Macht den guten und schlechten Regie- einen Hobel, auf dem das Wort unmittelbar von Gott empfängt und rungen sowie ihren jeweiligen Fol- »Concordia« steht. Der Hobel lässt an der Spitze einer ständisch und gen erzählt, vollzieht es zugleich ei- sich deuten als Symbol für die hierarchisch gegliederten Gesell- ne Handlung, mit der die normative

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und die Erzählung verstehend Herrschaftsform oder eine bestimm- nachvollzogen, lieferte sie eine te Verteilung der Grundgüter einer Rechtfertigung ihrer eigenen nor- Gesellschaft legitimiert wird, nicht mativen Ordnung, die sie ihrerseits allein von den Gründen abhängt, akzeptieren, zurückweisen oder kri- die sich in einer öffentlichen dis- tisch mit Blick auf die Differenz kursiven Rede behaupten und be- zwischen dem im Fresko dargestell- streiten lassen. Vielmehr sind solche ten Anspruch und der Wirklichkeit Legitimationen stets eingebettet in der alltäglichen Regierung lesen Handlungen, Handlungsmuster, Er- konnten. Mit der ausführlichen zählungen und Rituale. Diese Schilderung der Folgen der schlech- schöpfen ihre Bedeutung aus den ten Regierung konnte das Fresko konkreten historischen Umständen, den Beteiligten, je nachdem, als aus den jeweiligen Erfahrungsräu- warnendes Beispiel bei der Kritik men und Erwartungshorizonten eines Entscheidungsvorschlags die- der Beteiligten und Betroffenen, ih- nen oder als Rechtfertigung für eine ren kulturellen Traditionen und Ri- gerade auf die Abwendung solcher tualen, ihren literarischen und my- Folgen zielenden Maßnahme. Es thologischen Überlieferungen, ih- handelt sich also um eine Erzäh- ren kollektiven, in langwierigen lung, welche für die Beteiligten und Auseinandersetzungen geformten, Betroffenen als Medium für die kri- von gemeinsamen oder kontrover- tische Rechtfertigung ihrer normati- sen Wertüberzeugungen geprägten ven Ordnung und der sie begrün- Identitäten und ihrem jeweiligen denden und erhaltenden politi- Wissen von sich und anderen wie schen Entscheidungen fungiert – von der sie umgebenden, durch ih- nicht unmittelbar durch Argumente re Handlungen mitgestalteten Welt. Der gute Herr- Ordnung der Republik Siena in der und Begründungen, sondern durch Die ganz unterschiedlich motivier- scher erscheint Mitte des 14. Jahrhunderts nicht die sinnliche Evidenz der bildlichen ten und historisch begründeten als Verkörperung bloß allegorisch repräsentiert, son- Darstellung. Faktoren bezeichnen wir als des Gemeinwohls, dern auch bekräftigt, bestätigt und »Rechtfertigungsnarrative«, um be- die Farben der Eingebettet in Stadtrepublik so idealisiert wird, dass sie als Kon- wusst den Horizont auf die histori- trastfolie für die Beurteilung und kulturelle Traditionen schen und lokalen, lebensweltli- Siena tragend und Handlungen und eingerahmt Bewertung ihrer eigenen Gegen- chen Kontexte der Rechtfertigun- von den aristoteli- wart taugt. An diesem Beispiel lässt sich zeigen, gen normativer Ordnungen zu schen sowie Für die Angehörigen der Repu- dass der Geltungsanspruch einer erweitern und die den Beteiligten christlichen blik, die das Fresko betrachteten normativen Ordnung, mit der eine unmittelbar präsenten kulturellen Tugenden.

Auf dem Weg zum Exzellenzcluster

Frankfurter Geisteswissenschaftler nehmen liegen. Im Oktober entscheidet sich, ob sich die Uni- erste Hürde – Entscheidung im Oktober versität Frankfurt – neben den beiden bereits bewillig- ten naturwissenschaftlichen Exzellenzclustern – auch »Erste Hürde genommen, aber weiter feilen am ge- mit einem geisteswissenschaftlichen Cluster profilie- meinsamen Antrag für das Exzellenzcluster« – die ren kann. Setzt sich das Frankfurter Wissenschaftler- Frankfurter Geistes- und Sozialwissenschaftler rea- Team, dem insgesamt 22 Forscher angehören, durch, gierten mit Erleichterung und gedämpftem Optimis- wird der Erfolg mit einer durchschnittlichen Förder- mus, als am 12. Januar bei der Deutschen For- summe von 6,5 Millionen Euro pro Jahr über fünf schungsgemeinschaft verkündet wurde, dass sie auf- Jahre honoriert. gefordert sind, das von ihnen gewählte Thema Die intensive interdisziplinäre Forschungsarbeit »Herausbildung normativer Ordnungen« zu präzisie- von Historikern, Philosophen, Politologen, Ökono- ren. Immerhin gehörte der Frankfurter Antrag damit men, Rechtswissenschaftlern und Kulturanthropolo- zu den 40 der 123 Projektvorschläge, die nun in die gen könnte sofort unter optimalen Bedingungen auch Endrunde um die 13 noch zu vergebenden Exzellenz- für den wissenschaftlichen Nachwuchs beginnen. Um cluster vorgerückt sind. Die bundesweite Konkurrenz von der internationalen Jury positiv bewertet zu wer- ist, insbesondere in den Geistes- und Sozialwissen- den, reicht es nicht aus, fächerübergreifende Koope- schaften, groß, da die Zahl der Anträge aus diesem rationen innerhalb der Universität zu initiieren. Ge- Fächerspektrum deutlich höher liegt als noch in der meinsam mit Wissenschaftlern der Hessischen Stif- ersten Runde. tung für Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), des Nach anstrengenden Wochen des Diskutierens und Instituts für Sozialforschung, des Max-Planck-Instituts Formulierens, in denen sich das spezifische Frankfur- für Europäische Rechtsgeschichte und der Techni- ter Profil immer klarer herauskristallisiert hat, muss schen Universität Darmstadt entwickelten die Uni- der mehr als 100 Seiten lange Antrag Mitte April auf Wissenschaftler in den vergangenen Monaten ein dem Tisch der internationalen Gutachter-Kommission feinmaschiges Kompetenz-Netz.

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Zusammenhänge mit in den Blick Gang setzen: Aus diesem Gegen- und Kirche die Religion privatisier- zu nehmen. Impuls kann sich, wenn die Dyna- te, eine universalistische Moral von Auch das lässt sich am Beispiel mik von einer zunehmenden An- einem positivierten Recht trennte, der selbstbewussten Stadtgesell- hängerschaft geschürt und von den Fragen der individuellen Lebens- schaft der Frühen Neuzeit exempla- sozialen und ökonomischen Ver- führung dem Einzelnen überant- risch verdeutlichen: So sind die hältnissen in einer Gesellschaft mit- wortete sowie Menschenrechte und Bürger Sienas geprägt vom Selbst- getragen wird, eine neue Macht Volkssouveränität in eine span- verständnis einer Stadtrepublik in entwickeln, die schließlich auch mit nungsreiche Balance brachte. Zwar der Inkubationszeit der Renaissan- den diskursiven Mitteln einer ratio- entwickelte sich so ein relativ hohes ce, sie rezipieren die Antike und in- nalen Rechtfertigung zur Herausbil- Maß an Stabilität, doch auch die terpretieren ihre Tugenden in neuer dung einer neuen normativen Ord- normative Ordnung der National- Weise, wenden sich von mittelalter- nung führt. staaten konnte nicht verhindern, lichen Vorstellungen und Ritualen Für den sienesischen Maler und dass sich in einigen Fällen die Ge- ab und entwickeln ein neues seine Zeitgenossen gab es eine ein- wichte verschoben und das kollek-

Selbstbewusstsein gegenüber den zige normative Ordnung, die ver- Die Folgen des guten Regiments zeigen sich an der Blüte des konkurrierenden Staaten in ihrer schiedene normative Teilordnungen öffentlichen Lebens sowie an der optimalen Verwirklichung Umwelt. Und auch gegenüber dem auf harmonische Weise zu integrie- menschlicher Fähigkeiten. Die Bürger gehen unbehelligt ihren Anspruch der Religion zeigen sie ren vermochte – die weltliche Herr- Gewerben nach, üben ihr Handwerk aus, widmen sich Wissen- schaft und Kunst, nehmen an öffentlichen Festen teil. mehr Distanz: Zwar sind in Loren- schaftsordnung mit der Religion, zettis Fresko die aristotelischen Tu- dem gemeinschaftlichen Selbstver- genden der Tapferkeit, Klugheit, des ständnis der Bürger, den Forderun- tive nationale Selbstverständnis Großmuts und der Mäßigung über- gen der Verteilungs- und Tauschge- plötzlich alle anderen normativen wölbt von den spezifisch christli- rechtigkeit sowie den ethischen Ansprüche zugunsten des Impera- chen Tugenden des Glaubens, der Maximen der individuellen Lebens- tivs einer zumeist aggressiven und Liebe und der Hoffnung – doch die führung. zerstörerischen nationalen Selbstbe- allegorische, das Kreuz tragende Fi- hauptung verdrängte, wie an den Globale Gegenwart: gur des Glaubens steht keineswegs nationalistischen Diktaturen des 20. so im Zentrum wie die Figuren der Demokratieexport und Jahrhunderts deutlich wird. Gerechtigkeit, des Friedens oder gar gerechte Verteilung der Der Kalte Krieg vermochte – zu- die das Wappen Sienas tragende Fi- Reichtümer mindest in einigen Teilen der Welt – gur des »bonum commune.« Springt man über viele Jahrhun- verschiedene Nationalstaaten in In solchen »Rechtfertigungsnar- derte hinweg in die unmittelbare den Gegensatz zwischen zwei gro- rativen« verbinden sich auf eine Gegenwart, zeigt sich, dass dieses ßen normativen Ordnungen einzu- noch zu entschlüsselnde Weise nor- harmonische Verhältnis zwischen binden, freilich um den Preis der la- mative, auf Überzeugung und Ein- den normativen Teilordnungen tenten Drohung eines Atomkriegs sicht zielende Gründe mit rhetori- nicht mehr besteht. Der National- und der erzwungenen Duldung schen, narrativen, ästhetischen und staat war einer der letzten Versu- massiver Menschenrechtsverletzun- performativen Elementen. Zumeist che, ein alle Teilordnungen über- gen. Im Zeitalter der Globalisierung ist es diese »narrative« Dimension greifendes, in einer nationalen büßt das nationalstaatliche Recht- normativer Ordnungen, an der sich Verfassung verkörpertes Recht- fertigungsnarrativ an Überzeu- auch die kritischen Gegen-Narrati- fertigungsnarrativ zu entwickeln, gungskraft ein – oder es wird zu ei- ve entzünden, die Umwälzungen in das mit der Trennung von Staat nem Instrument umfunktioniert,

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Die Gemeinschaft der durch das Seil der Gerechtigkeit, Einheit und Gleichheit verbun- denen Bürger bil- det keine unifor- me Masse, son- dern besteht aus Individuen, die der Maler ver- schieden gestaltet hat und in unter- schiedliche Rich- tungen blicken lässt.

mit dem autoritäre Regimes ihrer Weltöffentlichkeit skandalisiert, sie säkularisierte Prinzipien der Demo- Bevölkerung suggerieren, dass sie mobilisieren nationalstaatliche Re- kratie und der individuellen Frei- so den von der Globalisierung aus- gierungen zu humanitären Inter- heitsrechte eines anderen Teils pral- gehenden Bedrohungen widerste- ventionen, die wiederum die Ge- len oder wo dieser Konflikt zu hen könnten. Dort, wo der Natio- fahr neuer Menschenrechtsverlet- Spannungen innerhalb der ver- nalstaat nicht mehr als politischer zungen heraufbeschwören. schiedenen Kulturen selbst führt. Adressat normativer Forderungen Ob es um die Frage des Demo- Auch der wohlmeinende Transfer infrage kommt, ergibt sich ein hete- kratieexports oder um die gerechte von Demokratie und liberalen rogenes, teilweise widersprüchli- Verteilung der Reichtümer zwi- Rechtssystemen lässt sich nicht von ches Bild. Die aktuellen Konflikte schen den Ländern des Südens und Erfahrungen der Missachtung und um die Herausbildung einer gerech- des Nordens geht, um den Zugang der Ungleichbehandlung trennen, ten Weltordnung sind weder Sys- zu lebenswichtigen Medikamenten wo er in einer paternalistischen temkonflikte noch ideologische für Millionen HIV-infizierter Men- Haltung mit militärischen Mitteln Kämpfe um kollektive Identitäten, schen zu erschwinglichen Preisen – unter Inkaufnahme unschuldiger sondern sie werden von normati- in allen diesen Fällen scheint sich Opfer oder mit der Drohung vollzo- ven Forderungen getragen, die eine globale Rechtfertigungsord- gen wird, ansonsten vom Welt- höchst ambivalent als unmittelbare nung durchzusetzen, in der Men- markt oder bitter benötigten Kredi- Gerechtigkeitsansprüche von Men- schenrechte und Prinzipien der Ge- ten der Weltbank ausgeschlossen zu schen auftreten. Menschenrechts- rechtigkeit eine zunehmend wichti- werden. Menschen lassen sich nicht verletzungen werden selektiv und gere Rolle spielen. Dies gilt auch da, einfach unter eine normative Ord- durch Medien vermittelt und mit wo religiöse Wahrheiten und Über- nung subsumieren, sondern sie ver- moralischer Empörung vor der zeugungen eines Teils der Welt auf langen Rechtfertigungen, durch welche sie zugleich als Personen anerkannt werden. Im Mittelpunkt des Exzellenzclusters steht neben der historischen Dimension der He- rausbildung normativer Ordnungen vor allem die neue Situation, die sich gegenwärtig im Gefolge der Globalisierung entwickelt. ◆

Der Autor Prof. Dr. Klaus Günther, 50, ist Professor für Rechtstheorie, Strafrecht und Straf- prozessrecht am Institut für Kriminal- wissenschaften und Rechtsphilosophie im Fachbereich Rechtswissenschaft so- wie Mitglied des Forschungskollegiums am Institut für Sozialforschung. Ge- meinsam mit dem Historiker Prof. Dr. Johannes Fried ist er Koordinator des Vorantrags für das Exzellenzcluster und gegenwärtig Koordinator des Vollantrags, der im April bei der Deutschen For- schungsgemeinschaft eingereicht wer- den muss.

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Perspektiven Blick hinter die Kulissen: Was ist eigentlich Kultur? Neues Forum für kulturwissenschaftliche Forschung in Frankfurt

ur auf die schönen Künste Titelkupfer von Francis Bacons Buch Nwollen die Kulturwissenschaft- »Instauratio Magna« aus dem Jahre ler ihren Forschungsgegenstand 1620: Dass »Erfahrung« auf dem »Fah- nicht reduziert sehen; sie haben die ren«, also dem Verlassen des Gewohn- Hochkultur, wie sie sich in Kunst, ten und der Erkundung des Neuen, be- ruht, ist nicht nur das Thema dieses Musik und Literatur manifestiert, Frontispiz, sondern der Frühen Neuzeit ebenso im Blick wie die Alltagskul- insgesamt. Keine exemplarischen Ver- tur. »Wir untersuchen, wie sich so- suchsaufbauten, mit denen die Gesetz- ziale Energie in diesen – früher als mäßigkeiten der Natur erkundet werden getrennt empfundenen – Sphären könnten, schmücken Bacons Opus, kristallisiert«, ergänzt Dr. Gisela En- stattdessen kehren zwei Schiffe aus gel vom Zentrum zur Erforschung dem offenen Meer in die durch die Säu- len des Herkules angedeutete bekannte der Frühen Neuzeit, die gemeinsam Alte Welt zurück. Zuvor also hatten die- mit Prof. Dr. Susanne Scholz mit ei- se ihre Welt, ihre Traditionen und Denk- ner neuen Buchreihe ein innovati- muster verlassen, waren in die Neue ves Forum für die kulturwissen- Welt gezogen und kommen nun mit of- schaftlichen Aktivitäten an der Uni- fenbar reicher Beute wieder: »multi per- versität Frankfurt geschaffen hat. transibunt et augitur scientia« – »Viele »Wir versuchen, die historischen werden diese Grenze überschreiten und die Wissenschaft wird wachsen«. Mit und sozialen Prozesse aufzudecken, derartigen Repräsentationen von Welten indem wir die Kristallisationen wie- in Künsten und Wissenschaften der Frü- der verflüssigen, damit verstehbar hen Neuzeit beschäftigt sich eine inter- wird, welchen Sinn Menschen ei- disziplinäre Arbeitsgruppe Frankfurter nem ›Geronnenen‹ – zum Beispiel Kulturwissenschaftler. dem Eiffelturm, einem Theater- stück, einem Porträt der Königin Elisabeth der Großen, der Architek- tur von Sanssouci oder dem Habi- tus von Punks – zuschreiben und wie das ›Geronnene‹ in ihre Le- benspraxis hineinwirkt und umge- kehrt.« So behandeln diese Kulturwis- gruppe gebildet, die die »Frühneu- Lebenspraxis bei, in der Pluralität – senschaften – in Großbritannien zeitlichen Repräsentationen von im Umkehrschluss: Individualität – und den USA, aber auch an man- Welten in Künsten und Wissen- denk- und machbar wurde. In der chen deutschen Hochschulen hei- schaften« erforschen will. Dabei Folge wurden in der europäischen ßen sie »Cultural Studies« – Fra- geht es auch um die Frage, warum Kultur durch vielfältige Prozesse – gen, die notwendig inter- und und wie die Vorstellung einer Plu- auch diese sind zu untersuchen – die transdisziplinär erforscht werden ralität von Welten in der Frühen Pluralitätsvorstellungen und -pra- müssen. Ohne die historischen Pro- Neuzeit entsteht. »Kann es viele xen der Frühen Neuzeit teilweise zesse zu verstehen, die dazu führ- Welten geben?« Diese Frage erör- wieder zurückgenommen«, um- ten, dass beispielsweise der Eiffel- terten in der Frühen Neuzeit Theo- schreibt Kirchner das Forschungs- turm da steht, wo er steht, und dass logen, Philosophen und Naturfor- interesse der Gruppe, in der Kunst- er so da steht, wie er da steht, kann scher; Schriftsteller und bildende historiker, Historiker, Musikhistori- man das Phänomen »Eiffelturm« Künstler ließen sich von ihr inspi- ker, Literaturhistoriker, Philosophen nicht verstehen. Kenntnisse der Ar- rieren. Gleichzeitig erschlossen sich und Wissenschaftshistoriker koope- chitekturgeschichte und ihrer For- völlig neue Horizonte im Erleben rieren. Kenntnisse über die Prozes- mensprache sind bei dieser Be- der Menschen, die fremden Kultu- se, die sich am Beginn der europäi- trachtung ebenso unabdingbar wie ren bei Eroberungen begegneten, schen Moderne abgespielt haben, Kenntnisse der Technikgeschichte, die aber auch als Folge der Ent- öffnen zudem den Blick für alterna- der Politikwissenschaft und der wicklung von Ferngläsern und Mi- tive Denk- und Praxismodelle in Stadtplanung. kroskopen ganz ungeahnte Einbli- unserer Gegenwart. cke nehmen konnten. »Die Plurali- Ein zweites Beispiel: Ein interdis- Zwei Frankfurter Projekte tät der Welten wurde zu einem in ziplinäres Team um die Erziehungs- Am Zentrum zur Erforschung der vieler Hinsicht erlebbaren, gestalt- wissenschaftlerin Prof. Dr. Brita Frühen Neuzeit hat sich unter dem baren und denkbaren Raum, und Rang erforscht Formen und Funk- Vorsitz des Kunsthistorikers Prof. das Erleben, Gestalten und Denken tionen von Höflichkeit am Beginn Dr. Thomas Kirchner eine Forscher- trug zu einer Welterfahrung und der Moderne. Höflichkeit ist ein

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von jener Jahrhunderte, ja Jahrtau- Welche Strömungen prägen das sende alten Geschichtsschreibung, Konzept der in Frankfurt betriebe- die Kultur als einen Bereich neben nen Kulturwissenschaften? Mit anderen sozialen Bereichen wie dem »New Historicism« wandten Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und sich die Wissenschaftler vom nur Staat identifiziert – eine Auffassung, die innere Struktur literarischer die auch heute noch von vielen Texte analysierenden »New Criti- Historikern vertreten wird. Die Vor- cism« ab: Die literarischen Texte stellung der Frankfurter Kulturwis- wurden wieder in ihren kulturellen senschaftler umreißt Brita Rang so: Kontext gestellt und mit den zeit- »Wir verstehen Kultur als einen gleich erschienenen Texten und universalen Referenzkomplex, der kulturellen Praktiken in Verbin- den der Gesellschaft ablöst und dung gebracht. Deutlicher als der auch die diversen Geisteswissen- »New Historicism« beleuchtet der schaften und die historischen Sozi- »Cultural Materialism« die politi- alwissenschaften unter dem Begriff sche Dimension von Artefakten Kulturwissenschaften neu ordnet. und greift dabei ebenfalls auch auf Wird das Subjekt in der Deutung Positionen der Frankfurter Schule der Pluralität und Komplexität his- zurück. »Die Frauen- und Gender- torischer Entwicklungen, Prozesse, forschung spielte an unserer Uni- Strukturen so wichtig, dann sind versität schon seit den 1980er Jah- Sprach- und Deutungsmuster ganz ren eine herausragende Rolle; im- grundlegende Elemente kulturhis- merhin wurde hier mit Ute Gerhard Einblick in verborgene Welten: Der Erfinder dieses beleuchte- torischer Forschung.« Diese weite die erste Professorin für Frauenfor- ten Mikroskops, der Engländer Robert Hooke (1635 – 1703), begriffliche Fassung von Kultur schung an einer bundesdeutschen riet den Naturforschern, die Neugier für winzige Details bei macht das Feld unübersichtlicher; Hochschule berufen«, bemerkt En- den Menschen zu schüren und auch alltägliche Dinge wie au- die Grenzen der Problembereiche gel. Frauen- und Genderforschung ßergewöhnliche Raritäten in der Vergrößerung zu betrachten. Die Aufhebung des Neugierverbots gilt als eine der wichtigen sind nicht so einfach festlegbar, aber gehen davon aus, dass erst durch kulturellen Leistungen der Frühen Neuzeit. sie zwingt zu einer erheblich stärke- soziale und kulturelle Umstände das ren erkenntnistheoretischen, me- Geschlecht konstruiert wird; es be- thodischen und quellenbezogenen stehe danach kein ursächlicher Zu- tägliches Thema, aber worin besteht Reflexion. sammenhang zwischen dem biolo- sie eigentlich? Dazu Rang: »Höflich- keit kann verstanden werden als Gegenstand der gegenwärtig viel Lebhafte Debatte diskutierten ›Kulturgeschichte des um konkurrieren- Politischen‹. Sie stellt eine tenden- de Weltbilder: Ni- ziell universalistische Verkehrsform kolaus Kopernikus (1473 –1543) für den Umgang mit unterschiedli- (links stehend) chen Menschen, Sprachen und so- diskutiert mit dem zialen Kulturen dar. Höflichkeit dänischen Astro- zielt auf Vermittlung, Kommunika- nom Tycho Brahe tion, aber auch auf Selbstrepräsen- (1546 –1601) tation. Dies bezog und bezieht die (rechts). Johannes Geschlechter in unterschiedlicher Hevelius gestal- tete diese Szene Weise ein.« Wie verändern sich 1673 für das Sprache, Bildung und Unterricht? Titelbild der Dan- In welchen Schriften, Manieren- ziger Ausgabe und Anstandsbüchern wird Höflich- der »Machina keit auf welche Weise zum Thema? coelestis«. Und was besagen mögliche Einsich- ten im Blick auf die heutige Zeit? Diesen und ähnlichen Fragen wird das Team unter kulturwissenschaft- licher Perspektive auch bei einer In- ternationalen Konferenz im März 2008 nachgehen. Konturen der Kulturwissenschaften Die Konturen dieser neuen Kultur- wissenschaften erscheinen Außen- stehenden bisweilen ausufernd bis beliebig, doch das sehen die Exper- ten ganz anders: Sie grenzen sich ab

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Schon zu Lebzeiten wurden die außergewöhnlichen Leistungen der Künstlerin und Naturforscherin Maria Sibylla Merian hoch geschätzt. Auch sie eröffnete neue Hori- zonte, wie sie in den Projekten der Frankfurter Kulturwissenschaftler zur Pluralität von Welten am Beginn der Moderne erforscht werden sollen. Auf ihrer spektakulären Forschungsreise nach Surinam entdeckte die Frankfurterin, wie sich der Augenspin- ner vom Korallenbaum ernährt. Zudem zeichnete sie die Metamorphose der Schmet- terlinge: die Entwicklungsstadien Ei, Raupe, Puppe und Falter in modern erschei- nender Art und Weise.

gischen Geschlecht und der Rolle ben es die Literaturgeschichte und von Männern und Frauen in der Ge- die Geschichte der Geschichts- sellschaft. Mit den »Queer Studies«, schreibung, die so genannte Histo- die die heterosexuellen Prämissen riographiehistorie, wie die Erzähl- der Genderforschung kritisieren, forschung mit Fallgeschichten zu wird dieser Ansatz radikalisiert. tun. Ethnologie, Soziologie und Allen diesen Ansätzen ist die Psychoanalyse zählen Fallstudien Überzeugung gemeinsam, dass »sich zu ihren Gründungsurkunden.« in unterschiedlichen kulturellen Was sind Fallstudien eigentlich, Äußerungen eine gemeinsame kul- welchen Regeln gehorchen sie und turelle Logik manifestiert«, so Prof. was vermögen sie in ganz unter- Dr. Susanne Scholz, Institut für schiedlichen Disziplinen zu leisten? England- und Amerikastudien; und Derartige Fragen sind typisch für diese nicht auf den ersten Blick er- die kulturwissenschaftliche Per- kennbaren Logiken suchen die Kul- spektive. Dieser Band wird damit turwissenschaftler zu ergründen. selbst zu einem Fallbeispiel für die Diese Aspekte greifen die Frankfur- Komplexität solcher fächerübergrei- ter Kulturwissenschaftler im Jahr fend betrachteten Phänomene: Wie der Geisteswissenschaften auch mit verständigen sich Forscher über ei- einer Buchreihe auf, die von Dr. Gi- nen Gegenstand, der bislang nur in geschichte, Wien), Prof. Dr. Susan- sela Engel und Prof. Dr. Susanne verschiedenen Wissenschaftsspra- ne Komfort-Hein (Neuere Deutsche Scholz gegründet und herausgege- chen thematisiert wurde? »Über- Literaturwissenschaft, Frankfurt), ben wird. In den »Frankfurter Kul- setzbar sind diese Sprachen nicht. Prof. Dr. Andreas Kraß (Ältere turwissenschaftlichen Beiträgen« Die verschiedenen Herangehens- Deutsche Literatur, Frankfurt), Prof. werden fächerübergreifende Per- weisen sind eben auch Ausdruck Dr. Eckhard Lobsien (Anglistik, spektiven im Vordergrund stehen, von unterschiedlichen Interessen an Frankfurt), Prof. Dr. Alessandro No- um innerhalb der Geisteswissen- dem Gegenstand«, erläutert Engel. va (Kunstgeschichte, Frankfurt/ schaften die kulturwissenschaftliche Es geht den Kulturwissenschaftlern Florenz), Prof. Dr. Brita Rang (His- Position zu betonen. Die Reihe soll darum, die Unterschiedlichkeit der torische Pädagogik, Frankfurt), Pri- auch ein Forum für neue Forscher- Erkenntnisinteressen freizulegen. vatdozent Dr. Lorenz Rumpf (Klas- gruppen schaffen, die sich im Zuge Um über die Disziplinengrenzen sische Philologie, Frankfurt), Prof. der Stärkung der Geisteswissen- hinaus die eingereichten Publikatio- Dr. Margarete Schlüter (Judaistik, schaften bilden. nen kompetent beurteilen zu kön- Frankfurt), Prof. Dr. Siep Stuurman nen, stehen den Herausgeberinnen (Geschichte, Politikwissenschaft, »Fallstudien« – Der erste die Mitglieder des Beirats zur Seite: Rotterdam), Dr. Claus Zittel (Philo- Band der neuen Reihe Fritz Backhaus (Jüdisches Museum sophie, Frankfurt/Florenz). ◆ Der erste Band in der Reihe »Frank- Frankfurt), Prof. Dr. Susanna Burg- Die Autorin furter Kulturwissenschaftliche Bei- hartz (Geschichte, Basel), Prof. Dr. Ulrike Jaspers, 50, ist Referentin für träge« ist soeben erschienen: »Fall- Moritz Epple (Wissenschaftsge- Wissenschaftskommunikation und seit studien: Theorie – Geschichte – Me- schichte, Frankfurt), Prof. Dr. Da- 1988 Redakteurin dieses Wissen- thode«, den der Historiker Prof. Dr. niela Hammer-Tugendhat (Kunst- schaftsmagazins. Johannes Süßmann zusammen mit den Reihenherausgeberinnen edi- Band 1: Band 2: tiert hat. Dazu die Mitherausgebe- Johannes Süßmann, Gudrun Jäger und rin Engel: »Dieser Band betreibt ein Susanne Scholz und Liana Novelli-Glaab riskantes Unternehmen. Da treffen Gisela Engel (Hrsg.), (Hrsg.) Fallstudien: »... denn in Italien – das zeigt die bloße Nennung – Theorie – haben sich die Dinge Welten aufeinander: In der Recht- Geschichte – anders abgespielt«. sprechung und Medizin haben Fall- Methode Judentum und sammlungen eine lange Tradition. trafo verlag, Antisemitismus in Moralphilosophie und Theologie Berlin 2007, modernen Italien pflegten ein Denken in Fällen, das ISBN (10) trafo verlag, Berlin für Lehre und Predigt raffinierte 3-89626-684-5, 2007, ISBN 3- ISBN (13) 89626-628-4, Fallbeispiele hervorbrachte. Fabel 978-3-89626- zirka 300 Seiten, und Schwank, Anekdote und Ge- 684-2, zirka 28,00 Euro. schichtsschreibung gehören zu den 273 Seiten, (erscheint Frühjahr ältesten Erzählformen; dadurch ha- 17,80 Euro. 2007)

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Perspektiven Blick über den Tellerrand Die Graduiertenschule für translationale Biomedizin FIRST

IRST ist der Name einer neuen neimittelforschung und -entwick- sich um eine Summe von einer FGraduiertenschule an der Uni- lung gefährdet. Allzu oft verstehen Millionen Euro jährlich für die versität Frankfurt. Und dieser Name Chemiker oder Biologen wenig von Dauer von fünf Jahren, über deren ist Programm: Es ist nicht nur die der Forschung der Kliniker. Und die Bewilligung im Oktober dieses Jah- erste derartige Schule an der hiesi- wiederum können sich unter Wirk- res entschieden wird. Und die Uni- gen Universität. Ihre Absolventen stoffforschung oder chemischer versität hat gute Chancen, denn sie werden mit Sicherheit auch zu den Synthese kaum etwas vorstellen. wurde in der zweiten Runde aufge- ersten, sprich den besten Studien- Klinische Phase I, High Throughput fordert, ihren Antrag erneut einzu- reichen. »Offenbar sind die Juroren bei der Begutachtung der ersten Version unseres Antrages der Mei- nung gewesen, wir hätten uns zu viel vorgenommen«, erklärt Prof. Dr. Dieter Steinhilber, Sprecher von FIRST und geschäftsführender Di- rektor des Instituts für Pharmazeu- tische Chemie an der Universität Frankfurt. Deshalb hätten sie den Antrag noch einmal überarbeitet. »Wir werden FIRST in jedem Fall realisieren. Die Universität hat Mit- tel in Höhe von 200 000 Euro jähr- lich zugesagt. Und weil wir von un- serem Konzept überzeugt sind, ha- ben wir bereits im Frühjahr 2006 einen einjährigen Probelauf im Zentrum für Arzneimittelforschung, Prof. Dr. Dieter abgängern aus dem naturwissen- Screening oder EMEA sind Fremd- Entwicklung und Sicherheit (ZA- Steinhilber mit schaftlich-medizinischen Bereich worte, die nur von jeweils einem FES) durchgeführt – mit großem Doktoranden im gehören. Und nicht zuletzt steht Teil der an der Entwicklung eines Erfolg.« Ende März erhalten die Labor. Der Spre- FIRST als Abkürzung für »Frankfurt Medikamentes beteiligten Wissen- ersten Absolventen ihr Zertifikat cher von FIRST ist überzeugt: »Unser International Research Graduate schaftler verstanden werden. Jeder »FIRST Diploma in drug research, Konzept wird die School For Translational Biomedici- arbeitet sehr effektiv in seinem eng development and safety«, das inter- Spitzenforschung ne«, also Frankfurter Graduierten- abgesteckten Bereich – der Blick national als Zusatzqualifikation am Standort schule für translationale Biomedizin. über den Tellerrand gehört nicht anerkannt wird. Frankfurt weiter Ein schwieriger Name, hinter dem zur Standardausbildung. Wie sollen 33 Doktoranden und Post-Dok- stärken«. sich – wie so oft im Leben – eigent- junge Wissenschaftler lernen, effek- toranden der Fächer Chemie, Medi- lich etwas sehr nahe Liegendes ver- tiv zusammenzuarbeiten, wenn sie zin und Pharmazie konnten in birgt. Denn es geht FIRST darum, nicht dieselbe Sprache sprechen? zwölf eintägigen Veranstaltungen – die Entwicklung neuer Medikamen- Genau das soll und wird sich mit aufgeteilt in drei Ausbildungsblöcke te zu optimieren – vom Arzneistoff- FIRST ändern. Der interdisziplinäre während der vorlesungsfreien Zeit – molekül bis zur Therapie am Kran- dreijährige Promotionsstudiengang so unterschiedliche Dinge lernen kenbett. wird internationale Elite-Studieren- wie Patentrecht, Biostatistik, Leit- de in der translationalen Biomedizin struktur-Identifizierung, Pharma- FIRST schließt Lücken ausbilden – wobei hier mit »trans- Betriebswirtschaftslehre oder Quali- Neu ist die Idee von FIRST, alle re- lational« weniger die Übersetzung tätssicherung. Denn all diese Fragen levanten Aspekte der Arzneimittel- als vielmehr die Umsetzung wissen- sind wesentliche Elemente der Arz- forschung und -entwicklung bereits schaftlicher Erkenntnisse in wirksa- neimittelforschung und -entwick- in die Ausbildung der Doktoranden me Behandlungen für Patienten ge- lung. Zudem stehen bei FIRST zu integrieren – breit angelegt, fach- meint ist. Schwerpunkte sind Arz- deutsche, europäische und interna- bereichsübergreifend und langfris- neimittelforschung, -entwicklung tionale Zulassungsrichtlinien auf tig. Denn – so die allgemeine Er- und -sicherheit. dem Lehrplan. »Wir beobachten, kenntnis der FIRST-Gründer – die dass viele interessante Forschungs- Erfolgreicher Probelauf effektive Umsetzung innovativer ansätze über die sehr teuren Schrit- Erkenntnisse aus der biomedizini- Natürlich wäre den Frankfurter te der präklinischen und frühen kli- schen Grundlagenforschung in die Forschern eine Förderung ihrer nischen Entwicklung nicht hinaus- klinische Anwendung ist hierzulan- Graduiertenschule durch die Excel- kommen«, sagt Prof. Dr. Dr. Gerd de vor allem durch den Mangel an lenzinitiative der Deutschen For- Geisslinger, Vorstandssprecher des Wissenschaftlern und Ärzten mit schungsgemeinschaft (DFG) höchst ZAFES und Direktor des Instituts fundierten Kenntnissen in der Arz- willkommen. Schließlich handelt es für Klinische Pharmakologie. »Des-

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halb sollten sich auch aus ökonomi- kel.« So kann sich die Pharmazeu- schen Gründen Wissenschaftler mit tin, die seit zwei Jahren am Institut Fragen der Arzneimittelsicherheit für Klinische Pharmakologie über auskennen.« Und dies sollte schon die antikarzinogene Wirkung ausge- in der Ausbildung beginnen. suchter Schmerzmedikamente pro- moviert, dank der Weiterbildung Vielfältige Einblicke nun durchaus eine Arbeit im Be- »Der enorme Vorteil einer derarti- reich der Arzneimittelkontrolle, gen Ausbildung ist es, dass wir Ein- zum Beispiel in der pharmazeuti- blicke in viele verschiedene Berei- schen Industrie oder beim Regie- che bekommen haben, die während rungspräsidium, vorstellen. Etwas, des Studiums gar nicht vorkamen an das sie ohne die Ausbildung oder nur gestreift wurden«, meint wahrscheinlich kaum gedacht hätte. Am Institut für Klinische Pharmakologie der Universität Frank- Holger Kubas, einer der Teilnehmer Berufswünsche sind dagegen für furt untersucht Ivonne Wobst mögliche Arzneimittelwirkstoffe des Probelaufs. Der 29-jährige Phar- Laura Popescu klar – sie will in die mit Hilfe der hoch sensitiven Analysemethode LC-MS/MS, bei mazeut, der seit Anfang 2004 über Pharmaindustrie. Die gebürtige Ru- der die Flüssigkeitschromatographie (LC) mit einem Tandem- Massenspektrometer (MS/MS) gekoppelt ist. Mit dieser Me- ein Thema der medizinischen Che- mänin und heutige Kanadierin hat thode ist zum Beispiel die gleichzeitige Quantifizierung struk- mie bei Prof. Dr. Holger Stark vom nach ihrem Chemiestudium in Ru- turell sehr ähnlicher Stoffe in biologischen Proben wie Blut Institut für Pharmazeutische Che- mänien und Frankreich etliche Jah- oder Urin, aber auch die Strukturaufklärung von Substanzen mie promoviert, findet vor allem re in kanadischen Pharmafirmen in möglich. die direkten Kontakte zur che- der Qualitätskontrolle sowie For- misch-pharmazeutischen Industrie schung und Entwicklung gearbeitet, auch bei FIRST angeboten werden, im Rahmen einer derartigen Aus- bevor die Liebe sie nach Deutsch- waren die Nachwuchswissenschaft- bildung wichtig. »Dinge wie High land führte. Jetzt, kurz vor Ab- ler durchweg begeistert. Das Erar- Throughput Screening bekommt schluss ihrer Promotion am Institut beiten bestimmter Zusammenhänge man an der Uni nicht zu sehen – für Pharmazeutische Chemie, hat an konkreten Beispielen war für al- und wenn, dann nur in der Theorie sie ihren Job in Deutschland bereits le hilfreich. Noch mehr praktische und nicht in Realität.« Am meisten sicher. Auf die Frage, ob der FIRST- Beispiele aus der Industrie hätten gebracht hätten ihm fachfremde Probelauf zur problemlosen Jobfin- sie sich gewünscht, auch wenn ih- Themen wie Patentrecht und Be- dung beigetragen habe, kommt ein nen durchaus bewusst ist, dass dies triebswirtschaft. »Eine Ausbildung, klares »Jein«. »So eine Zusatzquali- auf dem Gebiet der Arzneimittel- entwicklung ein höchst sensibles Thema ist. Und ein wenig mehr Zeit für Diskussionen am Rande – »aber dazu wird es sicher im Rahmen der dreijährigen FIRST-Ausbildung mehr Gelegenheit geben«, wünscht Ku- bas seinen nachrückenden Kollegen. Auf dem richtigen Weg »Etwas wie FIRST hätte ich mir in meiner Ausbildung gewünscht«, meint Prof. Dr. Manfred Schubert- Zsilavecz vom Institut für Pharma- zeutische Chemie. »Wir müssen hier in Deutschland Ressourcen schaffen – eine exzellente Ausbil- dung anbieten«, betont der fünffa- che Familienvater. »Ich will jeden- falls nicht, dass Pharmaforschung und -entwicklung nach China und Arzneimittelentwicklung ist ein höchst komplexer Prozess. Die Graduiertenschule Indien abwandern! Und dass wir FIRST wird dazu beitragen, dass Wissenschaftler der beteiligten Disziplinen optimal mit FIRST auf dem richtigen Weg zusammenarbeiten können, wenn es darum geht, innovative Erkenntnisse aus der sind und wirklich Zukunftssiche- biomedizinischen Grundlagenforschung effektiv in die klinische Anwendung umzu- rung betreiben, zeigt sich nicht zu- setzen. letzt daran, dass viele Absolventen wie sie bei FIRST angeboten wird, fikation ist ein Türöffner – sie macht des Probelaufs bereits in der End- öffnet einem auch die Augen für deutlich, dass man bereit und wil- phase ihrer Doktorarbeit interessan- die vielfältigen Arbeitsmöglichkei- lens ist, über den Tellerrand hinaus- te und lukrative Stellenangebote er- ten innerhalb der Arzneimittelent- zublicken. Aber alles andere muss halten.« wicklung.« eben auch stimmen«, meint die Im Vordergrund der Ausbildung Das bestätigt auch Ivonne Wobst temperamentvolle 38-Jährige. innerhalb des dreijährigen FIRST- (30): »Durch die Ausbildung sehe Von den Vorlesungen der Exper- Programms steht die Vermittlung ich plötzlich mögliche zukünftige ten aus Hochschule, Behörden und von Schlüsselqualifikationen, die Jobs unter einem neuen Blickwin- Industrie, die in größerem Umfang für die unterschiedlichen Entwick-

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Perspektiven

Prof. Dr. Manfred kollegs wird die erste Graduierten- Schubert-Zsila- schule also auf mindestens 40 bis vecz im Gespräch 50 Teilnehmer kommen. Die FIRST- mit Holger Kubas Promo-tions-stellen laufen drei Jah- und Laura Popes- cu. Beide Dokto- re, sind mit rund 30000 Euro jähr- randen haben am lich dotiert und stehen exzellenten FIRST-Probelauf Doktoranden der Naturwissen- teilgenommen. schaften, Pharmazie, Medizin oder Biotechnologie zur Verfügung. Summer Academy 2007 »Eine zusätzliche Förderung von FIRST durch die DFG in der Excel- lenzinitiative wäre für uns eine weitere Bestätigung für die Tragfä- higkeit unseres Konzeptes – und die Mittel daraus das Sahnehäubchen obendrauf«, bemerkt Schubert-Zsi- lungsstadien eines neuen Arznei- schung mit den Bedürfnissen der lavecz nachdrücklich und verweist mittels benötigt werden – sei es an Pharmaindustrie. »Wir dürfen nicht auf weitere Aktivitäten von FIRST, der Hochschule, in der Klinik oder länger am Bedarf vorbei ausbil- die in der konkreten Planung sind. in der Industrie. Dabei nutzt die den«, betont Steinhilber, »mit Zum Beispiel die einwöchige Graduiertenschule die bestehenden FIRST schlagen wir eine Brücke »FIRST International Summer Aca- hervorragenden Strukturen der zum Job, und das geht nur im Ver- demy for Translational Biomedici- Universität im Bereich der Pharma- bund von Hochschule und Indus- ne« Anfang September 2007. »Der forschung. Schwerpunkte dieser trie – etwas, was wir in Deutsch- kleine Ort Aigen in der österrei- Forschung sind Entzündung und land noch nicht unbedingt alle ge- chischen Steiermark wird dann für Schmerz, kardiovaskuläre Erkran- lernt haben.« Von Seiten der eine Woche zum Zentrum der bio- kungen, Krebs und Biopharmazeu- Industrie ist dem Ausbildungspro- medizinischen Forschung. Wir tika. gramm von FIRST die Aufmerk- rechnen mit 200 Teilnehmern, da- samkeit jedenfalls sicher. »Mit gro- runter hochkarätige Referenten. So Industrie unterstützt FIRST ßem Interesse verfolgen wir die Ak- hat Nobelpreisträger Prof. Bengt Die beiden bestehenden Graduier- tivitäten zur Einrichtung der Samuelsson vom Karolinska Insti- tenkollegs der DFG »Roles of Eico- Graduiertenschule FIRST mit dem tut in Stockholm bereits zugesagt«, sanoids in Biology and Medicine« Schwerpunkt Arzneimittelentwick- bekräftigt Schubert-Zsilavecz das und »Biologicals« werden in FIRST lung und das Angebot fachübergrei- Engagement von FIRST. integriert, so dass jeder DFG-Sti- fender Kompetenz der Universität Alle Beteiligten sind sich sicher, pendiat in den Genuss der FIRST- Frankfurt«, sagt Dr. Jens-Oliver dass sie die Herausforderung meis- Ausbildung kommt. Zudem ist eine Funk, Vice President der Merck tern werden, wirklich gute Leute intensive Zusammenarbeit mit der KGaA. Sein Unternehmen sowie mit FIRST nach Frankfurt zu holen pharmazeutischen Industrie sicher- weitere wie Biotest, Degussa, evo- oder hier zu halten. In jedem Fall gestellt. Diese äußert sich nicht nur tec, Phenion, preventis oder Bayer wird die hervorragende Zusam- konkret in Euro und Cent oder in HealthCare haben bereits finanziel- menarbeit zwischen den einzelnen der Rekrutierung erfahrener Refe- le Mittel für insgesamt knapp 20 Fachbereichen der Universität und renten für das Vorlesungsprogramm, Doktorandenstipendien zugesagt – den beteiligten Professoren erhalten sondern auch in einer besseren Ver- gemeinsam mit den etwa 40 DFG- bleiben und die Kooperationen mit zahnung der akademischen For- Stipendiaten in den Graduierten- Leben füllen. ◆

FIRST-Programm Ausbildungsprogramm in translationaler Biomedizin – Qualitätssicherung und ihre Bedeutung in der Arz- mit Praxisbeispielen aus den Indika- neimittelentwicklung tionsgebieten Entzündungen, – Patentrecht Schmerz, kardiovaskuläre Erkran- – Präklinik (Tierversuche und Prinzipien von kungen und Krebserkrankungen. ADME/Tox) – Pharma-Betriebswirtschaftslehre und Personalmana- Zwölf zwei- bis dreitägige Module zu Themen wie: gement –Grundzüge der Entwicklung, Produktion und – Einführung in die Biostatistik Zulassung eines Medikaments –Projektmanagement – Bedeutung von Genomics, Proteomics und Pharma- –Grundzüge der Klinischen Prüfung (Monitoring, GCP, Die Autorin kogenetik für die Identifizierung von Targets Adverse Event Management, Data Management) Dr. Beate Meichs- –Grundzüge der Leitstruktur-Identifizierung – Regulatory Affairs ner, 51, arbeitet (Kombinatorische Chemie, Drugability, – Hintergründe und weltweite Trends in der Arzneimit- als freie Wissen- Modelling) telentwicklung schaftsjournalistin.

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Stifter und Sponsoren Ribosomen in Nahaufnahme Ada Yonath und Harry Noller erhalten Paul Ehrlich- und Ludwig Darmstaedter-Preis 2007

ibosomen stehen seit Jahren im dreidimensionalen Struktur von Ri- RMittelpunkt zahlreicher bioche- bosomen sind die 67-jährige Che- mischer, biophysikalischer und ge- mikerin und der gleichaltrige Bio- netischer Forschungsbestrebungen, chemiker soeben mit dem mit denn sie sind für das Leben von es- 100 000 Euro dotierten Paul Ehr- senzieller Bedeutung: An diesen lich- und Ludwig Darmstaedter- Zellorganellen findet die Proteinbio- Preis 2007 ausgezeichnet worden. synthese statt. Wie eine Fabrik Ribosomen sind komplexe Rie- empfangen die Ribosomen gene- senorganellen, die aus zwei Unter- tisch kodierte Produktionspläne in einheiten – einer großen und einer Form von Ribonukleinsäure (Bo- kleinen – zusammengesetzt sind. ten-RNS) aus dem Zellkern, nach Diese bestehen aus verschiedenen denen sie Aminosäure um Amino- RNA-Komponenten sowie insge- säure so zusammenfügen, dass samt rund 50 Proteinen und bilden funktionsfähige Proteine entstehen. gemeinsam einen RNS-Protein- Wird die Arbeit der Ribosomen ge- Komplex, in dessen Inneren die hemmt, stirbt die Zelle. Daher ist Proteinsynthese stattfindet. Dieser das Verständnis der Proteinbiosyn- Prozess ist außerordentlich kompli- these zentral für die Entschlüsse- ziert: Die Struktur des Ribosoms lung des Lebens, aber auch für das stellt sicher, dass entsprechend der Verständnis von Krankheiten. Ent- gerade »in Arbeit« befindlichen Bo- scheidend hierzu beigetragen haben ten-RNS Aminosäure für Amino- Prof. Dr. Ada Yonath, Direktorin säure in der richtigen Reihenfolge des Helen und Milton A. Kimmel- aneinandergeheftet wird, bis das man Zentrums für Biomolekulare neu zu synthetisierende Protein fer- Der Mensch besteht aus rund 100 Billionen Zellen (1014); ei- Struktur und Komplexe am Weiz- tig gestellt ist. Dann trennen sich ne jede davon enthält zirka eine Milliarde Proteine, die ihre mann Institut der Wissenschaften, die große und die kleine ribosomale verschiedenen Funktionen innerhalb der Zelle wahrnehmen. Rehovot, Israel, und Prof. Dr. Harry Untereinheit voneinander und Ein Ribosom – eine Zelle enthält hunderttausende dieser Orga- Noller, Direktor des Zentrums für »entlassen« das Protein und seine nellen – benötigt für die Synthese eines Proteins ungefähr eine Sekunde. In der Zeit, die für das Lesen dieses Artikels benötigt molekulare Biologie der RNA, Uni- Matrize, die die Bauanleitung ent- wird, haben unsere Ribosomen rund zehn Millionen Billionen versität von Kalifornien in Santa haltene Boten-RNS, ins Zellplasma. (1019) Proteine hergestellt. Das Bild zeigt die große Unterein- Cruz, USA. Für ihre herausragen- Während das Protein in der Zelle heit eines Ribosoms des Bakteriums Deinococcus radiodurans den Beiträge zur Aufklärung der seine ihm zugedachte Aufgabe (hellblau), an die das Antibiotikum Erythromycin bindet.

wahrnimmt, stehen die soeben »ar- beitslos« gewordenen ribosomalen Untereinheiten sofort wieder für die Proteinsynthese zur Verfügung. Fehler bei der Proteinsynthese kön- nen verheerende Konsequenzen für den Organismus haben, da falsch eingebaute Aminosäuren zu funktionell gestörten Proteinen führen können. Die Röntgenkristallografie eröffnet Proteinwelten Die Struktur eines Proteins ist für Proteinforscher weitaus aussage- kräftiger, als vielleicht auf den ers- ten Blick zu ahnen ist, denn sie lässt Rückschlüsse nicht nur auf die Pro- teinfunktion, sondern auch auf die dabei aktiven Stellen zu. Dies gelingt Für ihre herausragenden Beiträge zur Aufklärung der dreidimensionalen Struktur mit der Röntgenkristallografie. Seit von Ribosomen wurden Prof. Dr. Ada Yonath (rechts), Rehovot, Israel, und Prof. Dr. Harry Noller, Santa Cruz, USA, mit dem Paul Ehrlich- und Ludwig Darmstaedter- Max Perutz und John Kendrew für Preis 2007 ausgezeichnet. Der Preis gehört zu den international renommiertesten die Aufklärung der dreidimensiona- Auszeichnungen, die in der Bundesrepublik Deutschland auf dem Gebiet der Medi- len Struktur des Muskelproteins zin vergeben werden. Myoglobin 1962 mit dem Nobelpreis

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Weltberühmt wurde Prof. Dr. Ada Yonath mit ihren röntgenkristallografischen Un- tersuchungen an Ribosomen. Die Wis- senschaftlerin wurde am 22. Juni 1939 in Jerusalem geboren, studierte Chemie und Biochemie an der dortigen Hebräi- schen Universität und promovierte 1968 am Weizmann Institut der Wissenschaf- ten in Rehovot, Israel. Nach mehreren Aufenthalten in den USA kehrte sie 1970 an das Weizmann Institut der Wis- senschaften zurück und baute dort das erste Laboratorium für Proteinkristallo- grafie in Israel auf. Bis 2004 war sie zu- sätzlich zu ihrer Tätigkeit am Weizmann Institut der Wissenschaften auch Leite- rin der Forschungsgruppe für Molekular- biologie des Max-Planck-Instituts am DESY (Deutsches Elektronen Synchro- tron) in Hamburg. Für ihre Arbeiten er- hielt sie zahlreiche Auszeichnungen. Sie ist Mitglied mehrerer wissenschaftli- cher Fachgesellschaften und Mitheraus- geberin verschiedener wissenschaftli- cher Zeitschriften, darunter des EMBO Journal.

für Chemie ausgezeichnet wurden, ten neuen Methoden, insbesondere me« als Markierungen, die aufgrund sind die Strukturen zahlreicher Pro- der von Ada Yonath etablierten ihrer hohen Elektronendichte wie teine bestimmt worden. Insbeson- Methode der Cryo-Kristallografie Fähnchen aus der ribosomalen dere lösliche Proteine können im bei Temperaturen von –185° Celsi- Elektronendichtekarte herausste- Unterschied zu Membran-gebunde- us, gelang es der Wissenschaftlerin hen. Diese Markierungen erlauben nen Proteinen vergleichsweise leicht und ihren Mitarbeitern erstmals, ri- eine exakte Lagebestimmung be- gereinigt und kristallisiert werden. bosomale Komplexe in verschiede- stimmter Funktionseinheiten inner- Ihre röntgenkristallografische Ver- nen Phasen der Proteinsynthese zu halb des Ribosoms. Das entstehen- messung lässt dann auf die dreidi- kristallisieren und mit Hilfe von de Bild ermöglicht einen genaueren mensionale Struktur schließen. röntgenkristallografischen Metho- Einblick in die mikroskopische Welt Die Kristallisation von Riboso- den die genaue dreidimensionale des Ribosoms, indem es besonders men galt jahrelang als unmöglich – Struktur und Architektur der klei- hervorstechende Eigenschaften aufgrund ihrer ungeheuren Größe, nen ribosomalen Untereinheit zu deutlich macht. Dies ermöglichte Flexibilität, funktionellen Heteroge- bestimmen. So verwendeten Yo- neue Erkenntnisse über die Kataly- nität und Instabilität. Mit ausgefeil- nath und ihr Team »Schwere Ato- seprozesse und -wege in den Ribo-

Der Paul Ehrlich- und Ludwig Darmstaedter-Preis Der Paul Ehrlich- und Ludwig Vergeben wird die Auszeichnung von der 1929 Darmstaedter-Preis gehört zu von Hedwig Ehrlich eingerichteten Paul Ehrlich-Stif- den international renommier- tung, einer rechtlich unselbstständigen Stiftung der testen Auszeichnungen, die in Vereinigung von Freunden und Förderern der Johann Deutschland auf dem Gebiet der Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Eh- Medizin vergeben werden. Die renpräsident ist der Bundespräsident, der auch die ge- Preisverleihung findet traditio- wählten Mitglieder des Stiftungsrates und des Kurato- nell am 14. März, dem Geburts- riums beruft. Der Vorsitzende der Vereinigung von tag von Paul Ehrlich (1854 – Freunden und Förderern ist gleichzeitig Vorsitzender 1915), in der Paulskirche in des Stiftungsrates der Paul Ehrlich-Stiftung. Dieses Frankfurt statt. Mit dem Preis werden Wissenschaftle- Gremium, dem zwölf national und international re- rinnen und Wissenschaftler gewürdigt, die sich auf nommierte Wissenschaftler aus vier Ländern angehö- dem Forschungsgebiet von Paul Ehrlich besondere ren, entscheidet über die Auswahl der Preisträger. Der Verdienste erworben haben, vor allem der Immunolo- Präsident der Johann Wolfgang Goethe-Universität ist gie, Krebsforschung, Hämatologie, Mikrobiologie und qua Amt Mitglied des Kuratoriums der Paul Ehrlich- Chemotherapie. Seit 1952 erhielten mehr als 100 Wis- Stiftung. Finanziert wird der Preis, der seit 1952 ver- senschaftlerinnen und Wissenschaftler den Preis; 18 geben wird, vom Bundesgesundheitsministerium, von ihnen wurden auch mit dem Nobelpreis ausge- durch zweckgebundene Spenden von Unternehmen zeichnet, darunter die Paul Ehrlich- und Ludwig und dem Verband Forschender Arzneimittelhersteller. Darmstaedter-Preisträger des Jahres 2006 Prof. Dr. Craig Mello und Prof. Dr. Andrew Fire für ihre Arbei- Weitere Informationen im Internet: ten zur RNA-Interferenz. www.paul-ehrlich-stiftung.de

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Er entschlüsselte als erster weltweit die vollständige Struktur des Ribosoms von Thermus thermophilus: Prof. Dr. Harry Noller leitet seit 1992 das Zentrum für Mole- kularbiologie der RNA an der Universität von Kalifornien in Santa Cruz, USA. Er wurde am 10. Juni 1939 in Oakland, Kalifornien/USA geboren. Noller studierte Bio- chemie an der Universität von Kalifornien in Berkeley, USA, und promovierte in Chemie an der Universität von Oregon, USA. Nach Forschungsaufenthalten in Eng- land und der Schweiz kehrte er in die USA zurück, wo er seit 1968 an der Universi- tät in Santa Cruz arbeitet. Für seine Arbeiten auf dem Gebiet der RNA- und Riboso- menforschung wurde Noller ebenfalls mehrfach ausgezeichnet, darunter 2004 mit dem Massry-Preis für Ribosomen-Forschung (gemeinsam mit Ada Yonath). Er ist Mitglied verschiedener wissenschaftlicher Fachgesellschaften, darunter seit 1992 der Nationalen Akademie der Wissenschaften, USA.

somen, die zur Bildung funktionsfä- des Bakteriums Thermus thermophi- higer Proteine führen. lus. Darauf aufbauende Arbeiten Noller und seine Arbeitsgruppe führten Details zutage, wie ein Ri- hatten sich der Ribosomenstruktur bosom die genetische Information mehr als zwei Jahrzehnte zuvor zu- in Form von Boten-RNS in die Syn- nächst biochemisch genähert. Ihm these von Proteinen überführt. gelang es, die Struktur der riboso- Ausblick – Neue Generation malen RNS vorherzusagen, die an der Aneinanderreihung der Amino- von Antibiotika säuren bei der Proteinsynthese be- Ribosomen sind molekulare Ma- Bakterien mit Hemmstoffen, die teiligt ist. Seine Forschungsergeb- schinen, die die genetische Infor- nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip nisse deckten sich mit den Erkennt- mation in Form von Boten-RNS in exakt daran binden, zu blockieren. nissen, die Ada Yonath mit Hilfe der Proteine übersetzen. Die mit Hilfe Dies könnte zukünftig zur Entwick- Röntgenkristallografie gewinnen der Röntgenkristallografie gewon- lung einer neuen Generation von konnte. Noller und sein Team ent- nenen Erkenntnisse haben auch Antibiotika führen, die Bakterien Die Autorin schlüsselten zudem als erste For- dazu beigetragen zu verstehen, wie bereits auf der Ebene der Protein- Dr. Monika schungsgruppe weltweit die voll- dies geschieht. So ist es heutzutage synthese – an den Ribosomen – an- Mölders [siehe ständige Struktur eines Ribosoms möglich, die Ribosomen bestimmter greifen. ◆ Seite 93]

Aids – ein Unfall der viralen Evolution? Warum das Immunsystem infizierter Affen nicht zerstört wird – Nachwuchspreis für Michael Schindler

arum das humane Immun- tional beachteten und hochrangig Wdefizienzvirus Typ 1 (HIV-1) publizierten Arbeiten wurde Michael im Menschen Aids hervorruft, wäh- Schindler mit dem Paul Ehrlich- rend nahe verwandte Affen-Im- und Ludwig Darmstaedter-Nach- mundefizienzviren (SIV »Simian wuchspreis 2007 ausgezeichnet. Immunodeficiency Virus«) ihre na- Der Preis ist mit 60 000 Euro dotiert türlichen Affenwirte nicht krank und wurde gemeinsam mit dem re- machen, war lange Zeit nicht zu er- nommierten Paul Ehrlich- und klären. Dr. Michael Schindler (28), Ludwig Darmstaedter-Preis am Institut für Virologie des Universi- 14. März 2007, dem Geburtstag von tätsklinikums Ulm, hat gemeinsam Paul Ehrlich, in der Frankfurter mit einem internationalen For- Paulskirche überreicht. scherteam eine der Ursachen dafür Aids, eine der bedrohlichsten In- gefunden. In seiner Doktorarbeit, fektionskrankheiten unserer Zeit, betreut von Prof. Dr. Frank Kirch- ist das Ergebnis der Übertragung hoff, konnte der Biologe zeigen, von Affen-Immundefizienzviren dass die meisten SI-Viren – im Ge- auf den Menschen. HIV-1 M, der gensatz zu HIV-1 – die Aktivierung Haupterreger von Aids■1 , stammt von infizierten T-Helferzellen blo- ursprünglich aus Schimpansen der ckieren. Diese Eigenschaft ist wahr- Art Pan troglodytes ■2 und wurde erst scheinlich für beide Seiten von Vor- in der ersten Hälfte des vergange- teil: Das Virus kann einerseits im nen Jahrhunderts auf den Men- Affen lebenslang überdauern (per- schen übertragen. HIV-1 O, das sich sistieren) und sich vermehren, und weniger effektiv als HIV-1 M in der der infizierte Affe entwickelt ande- menschlichen Population ausge- ■1 Die HIV-1-Infektion führt beim Menschen fast immer zu ei- rerseits kein Aids. Für diese interna- breitet hat und ebenfalls Aids ver- ner chronischen, starken Aktivierung des Immunsystems.

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Mit dem Nef-Pro- munaktivierung ein aussagekräfti- tein und seiner gerer Marker sein, als es die Virus- Bedeutung für die menge in seinem Körper ist. Entstehung von So vermehren sich beispielsweise Aids beschäftigte sich Dr. Michael apathogene SI-Viren in ihren Affen- Schindler (Mitte) wirten sehr effektiv, die Tiere wer- bereits in seiner den jedoch nicht krank. Die Wis- Diplomarbeit; senschaftler erklären sich das damit, während seiner dass sehr viele T-Zellen in der chro- Promotion vertief- nischen Phase der Infektion zwar te er das Thema infiziert werden, diese aber geringe- weiter. Der Träger des Paul Ehrlich- re Virusmengen als HIV-1 beim und Ludwig Menschen produzieren, was sich Darmstaedter- allerdings durch ihre insgesamt Nachwuchspreises längere Lebensdauer wieder aus- baut im Institut gleicht. Durch das Ausbleiben der für Virologie des hohen Immunaktivierung wird Universitätsklini- das Immunsystem hierbei nicht ge- kums Ulm eine ei- gene Nachwuchs- schädigt. gruppe auf. Hier bei der Preisver- ursacht, ist eng mit einem aus Go- für ein Phänomen verantwortlich, leihung in der rillas isolierten SIV verwandt. Der das die Wissenschaftler als »aktivie- Paulskirche mit natürliche Wirt des zweiten huma- rungsinduzierten Zelltod« bezeich- Hilmar Kopper, nen Aids-Virus, HIV-2, ist die nen (AICD, »activation induced cell Vorsitzender des Rauchgraue Mangabe (Cercocebus death«). Im Immunsystem eines Stiftungsrats, und ■3 Prof. Dr. Jürgen atys). HIV-2 ist für weniger als ein Gesunden werden T-Helferzellen Bereiter-Hahn, Prozent aller HIV-Infektionen welt- durch Fremdstoffe oder Erreger Vorsitzender der weit verantwortlich und kommt (Antigene) aktiviert. Diese stimulie- Auswahlkommissi- vor allem in Ländern Westafrikas ren ihrerseits B-Lymphozyten, An- on (rechts). vor. Mittlerweile wurden SI-Viren tikörper zur Verteidigung zu bilden. in rund vierzig afrikanischen Affen- Danach sterben die T-Helferzellen arten nachgewiesen. Obwohl diese ab oder differenzieren zu Gedächt- Viren als »Immundefizienzviren« nis-T-Zellen, die bei einem erneu- bezeichnet werden, verursachen sie ten Kontakt mit dem Antigen – in ihren natürlichen Wirten meist auch Jahrzehnte später – sehr viel keine Erkrankung. Der wesentliche schneller mit dem Eindringling fer- Unterschied zwischen der asympto- tig werden. Eine Theorie zur Ent- matischen SIV-Infektion und der stehung von Aids ist, dass in der ■2 Aids ist das Ergebnis der Übertra- pathogenen HIV-1 Infektion ist, dass chronischen Phase der HIV-1-Infek- gung von Affen-Immundefizienzviren eine HIV-1-Infektion beim Men- tion ein Wettlauf zwischen Virus (SIV) auf den Menschen. Mittlerweile schen fast immer zu einer chroni- und Immunsystem stattfindet: HIV-1 wurden SIVs in rund vierzig afrikani- schen Affenarten nachgewiesen. Der schen, starken Aktivierung des Im- infiziert und aktiviert T-Helferzel- Haupterreger von Aids, HIV-1 M, munsystems führt. Dadurch er- len, um sich effektiv vermehren zu stammt ursprünglich aus Schimpansen schöpft sich nach mehreren Jahren können. Infizierte T-Zellen produ- der Art Pan troglodytes. dessen Regenerationsfähigkeit, und zieren große Mengen Viren und es entwickelt sich das Krankheits- sterben kurze Zeit später ab. Das Worauf die unterschiedliche Im- bild Aids. Im Gegensatz dazu zeigen Immunsystem muss diesen Verlust munaktivierung beruht, war aller- die natürlichen Affenwirte keine fortwährend ausgleichen. Nach ei- dings lange Zeit unklar. Bereits vor starke Immunaktivierung und kön- nigen Jahren ist dessen Regenerati- mehr als 15 Jahren rückte das Nef- nen lebenslang mit dem Virus le- onsfähigkeit erschöpft, die T-Zell- Protein, ein virales Eiweiß, in den ben, ohne dass das Immunsystem zahl fällt schnell ab, und es kommt Fokus der Wissenschaftler. Es gilt zerstört wird. zur Immundefizienz. So unterschei- als wichtiger Virulenzfaktor, der den sich Patienten mit hoch patho- entscheidend zur Entwicklung von Unterschiede zwischen gener HIV-1-Infektion von Men- Aids beiträgt■4 . So verstärkt das pathogenen und asymptoma- schen, die mit dem weniger gefähr- Nef-Protein von HIV-1 die Aktivie- tischen Infektionen lichen HIV-2 infiziert sind, nicht rung von infizierten T-Helferzellen, Patienten, die mit HIV-1 infiziert durch die Menge an Viren, die ih- während viele Nef-Proteine von Af- sind, erkranken ohne medikamen- ren Körper überschwemmt – diese fen-Immundefizienzviren (SIV) ge- töse Behandlung meist innerhalb kann in beiden Fällen hoch sein. nau das Gegenteil bewirken. »Um von sechs bis acht Jahren an Aids. Der Hauptunterschied ist vielmehr aktiviert werden zu können, benö- Hauptursache hierfür ist nicht die das Ausmaß der Hyperaktivierung tigen T-Helferzellen den T-Zellre- hohe Viruskonzentration im Blut, des Immunsystems. Um den Ge- zeptor«, erläutert Dr. Michael sondern wahrscheinlich eher eine sundheitszustand eines HIV-Infi- Schindler. »Die Nef-Proteine der chronische Überaktivierung des Im- zierten zu beurteilen, kann daher meisten SI-Viren entfernen einen munsystems. In Zellkultur ist hier- bei niedrigen T-Zellzahlen die Im- wesentlichen Bestandteil dieses Re-

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zeptors, das CD3-Molekül, von der Aids-Erregers HIV-2 das CD3-Mole- Zelloberfläche und blockieren da- kül von der Oberfläche der T-Hel- durch die Aktivierung und das vor- ferzellen herunter. Damit ›schützen‹ zeitige Absterben der Virus-infizier- diese Viren die T-Helferzellen für ten T-Helferzellen. Der Haupterre- ihre Zwecke: Sie sorgen dafür, dass ger von Aids, HIV-1 und dessen die T-Zellaktivierung nicht ›über- unmittelbare Vorläufer, haben diese schießt‹ und ihre eigene ›Brutstätte‹ Fähigkeit verloren.« Prof. Dr. Frank nicht abstirbt und können sich so Kirchhoff, Abteilung für Virologie ungestört vermehren.« des Universitätsklinikums Ulm und Damit wirken die Nef-Proteine Doktorvater von Michael Schindler, der meisten Viren wie ein »Ventil«. ergänzt: »Die Funktionsfähigkeit Sie lassen soviel T-Zellaktivierung des Nef-Proteins ist entscheidend zu, dass sich das Virus effektiv ver- für das Wohl und Wehe der T-Hel- mehren kann und die für den Wirt ferzellen. So reguliert das Nef-Pro- schädliche Aktivierung des Immun- Nef-Proteins ging im Laufe der Evo- ■3 Das zweite hu- tein von Affen-Immundefizienzvi- systems gleichzeitig verhindert wird. lution der Immundefizienzviren ge- mane Aids-Virus, ren und des weniger pathogenen Diese wichtige Schutzfunktion des nau in der Viruslinie verloren, die HIV-2, ist weit we- später vom Schimpansen auf den niger pathogen als HIV-1. Sein natür- Nef-Protein von HIV-1 Menschen übertragen wurde und licher Wirt ist die zur Aids-Pandemie geführt hat. Rauchgraue Man- Myristoyl Myristoyl »Wir hoffen, dass diese Forschungs- gabe (Cercocebus ergebnisse dazu beitragen werden, atys). neue Wege zu finden, die Zerstö- N-terminal rung des Immunsystems durch die PxxP loop PP-II felxible anchor HIV-1 Infektion und somit die Ent- α3 α2 wicklung von Aids zu verhindern«, α5 c unterstreicht Prof. Dr. Thomas Mer- α1 tens, Ärztlicher Direktor des Insti- tuts für Virologie des Universitäts- α6 klinikums Ulm, »doch der Weg da- α4 Core hin ist noch weit.« ◆ 1 2 domain 4 5 3 ■4 Das im Vergleich zu den Affenim- mundefizienzviren mutierte Nef-Protein C-terminal flexible loop von HIV-1 verstärkt beim Menschen die Aktivierung von infizierten T-Helferzel- len.

Der Paul Ehrlich- und Ludwig Darmstaedter-Nachwuchspreis Der im Jahr 2006 erstmals vergebene Paul Ehrlich- derung der wissenschaftlichen Arbeit und damit auch und Ludwig Darmstaedter-Nachwuchspreis wird von eine nachhaltige Ermutigung zu weiteren großen der Paul Ehrlich-Stiftung jährlich an einen Nach- Leistungen darstellt.« wuchswissenschaftler verliehen, der an einer For- Erste Preisträgerin des Paul Ehrlich- und Ludwig schungseinrichtung in Deutschland herausragende Darmstaedter-Nachwuchspreises war im vergangenen Die Autorin Leistungen auf dem Gebiet der biomedizinischen For- Jahr Dr. Ana Martin-Villalba, die am Deutschen Dr. Monika Möl- schung erbracht hat. Die Höhe des Preisgeldes beträgt Krebsforschungszentrum in Heidelberg arbeitet und ders, 41, ist Pres- bis zu 60 000 Euro. Das Preisgeld muss forschungsbe- dort derzeit eine eigene Nachwuchsgruppe aufbaut. sereferentin der zogen verwendet werden. Vorschlagsberechtigt sind Die Medizinerin untersucht die Rolle des CD95-Sig- Roche Diagnostics Hochschullehrer und Hochschullehrerinnen sowie nalsystems für physiologische und pathophysiologi- GmbH in Mann- leitende Wissenschaftler von Forschungseinrichtun- sche Prozesse im Nervensystem. Der CD95-Signalweg heim. Sie arbeitet gen in Deutschland. Die Nachwuchswissenschaftler steuert den programmierten Zelltod von Nervenzel- freiberuflich als Pressesprecherin dürfen das 40. Lebensjahr noch nicht vollendet ha- len. Martin-Villalba hat herausgefunden, dass eine der Paul Ehrlich- ben. Die Auswahl der Preisträger erfolgt durch den Blockade dieses Signalwegs, beispielsweise nach Rü- Stiftung und Me- Stiftungsrat auf Vorschlag einer Auswahlkommission, ckenmarksverletzungen oder Schlaganfällen, die Fol- dientrainerin. Die der acht deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissen- geschäden reduziert und die Heilung fördert. Nach Biologin war von schaftler angehören. Vorsitzender der Auswahlkom- dem Paul Ehrlich- und Ludwig Darmstaedter-Nach- 2000 bis 2005 mission ist Prof. Dr. Jürgen Bereiter-Hahn, ehemaliger wuchspreis erhielt sie im vergangenen Jahr zudem Referentin für Vizepräsident der Johann Wolfgang Goethe-Universi- den mit 16000 Euro dotierten Heinz Maier-Leibnitz- Wissenschafts- kommunikation an tät: »Mit dem Paul Ehrlich- und Ludwig Darmstaed- Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der der Universität ter-Nachwuchspreis hat die Paul Ehrlich-Stiftung ein Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswis- Frankfurt und in wichtiges Zeichen für den wissenschaftlichen Nach- senschaftler darin unterstützt, ihre wissenschaftliche dieser Zeit als Re- wuchs und seine hervorragenden Leistungen gesetzt. Laufbahn weiterzuverfolgen. dakteurin auch für Die Höhe des Preises ist so bemessen, dass der Preis Weitere Informationen im Internet: »Forschung Frank- über seinen ideellen Charakter hinaus eine echte För- www.paul-ehrlich-stiftung.de furt« verantwort- lich.

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Stadt- und Universitätsgeschichte Wissenschaftler, Unternehmer, Mäzen, NS-Opfer Zur Erinnerung an Arthur von Weinberg (1860 –1943)

türlichen Farbstoffe und Farbhölzer. Dann kamen ab 1856 aus England die synthetischen Farbstoffe hinzu. Fast gleichzeitig (1863 –1870) ent- standen nun in Deutschland Farben- fabriken in Höchst, in Elberfeld, in Biebrich, in Ludwigshafen und in Fechenheim. Die Geschichte der stufenweisen Verschmelzung von Hoechst und Cassella, der Kalle & Co. AG, der Bayer AG und der BASF führt schließlich zur I.G. Farben. Arthur Weinberg wird 1860 in Frankfurt geboren, evangelisch ge- tauft, macht mit 17 Jahren Abitur, wird brillanter Student der Physik, Chemie, Mathematik und der alten Sprachen, promoviert bei dem spä- teren Nobelpreisträger Adolf von Baeyer, tritt in die von seinem On- kel Leo Gans (1843 –1935) geleitete Leopold Cassella & Co., speziell in Als junger Chemi- m öffentlichen Bewusstsein sind in einem Gasthaus (Bassermann), die Frankfurter Anilinfarbenfabrik ker in seinem Ar- Idie Brüder Arthur und Carl von einer Kolonialwarenhandlung (Giu- Gans & Co. ein, stürzt sich in die beitszimmer bei Weinberg vielleicht wenig präsent. lini) oder Apotheke (Heraeus), in Farbsynthese, in enger Zusammen- Cassella: Arthur Aber bei den ehemaligen »Cassella- einer Feinmechanikerwerkstatt arbeit und Freundschaft mit einem von Weinberg, um 1895. nern«, in der Universität, im »Sen- (Siemens, Zeiss, Bosch), beim Näh- zweiten Nobelpreisträger, Paul Ehr- ckenberg«, im »Städel«, in der maschinen- und Fahrradbau (Opel), lich, erfindet eine synthetische Far- Frankfurter Gesellschaft für Handel, meist mit einem gezielt genutzten be nach der anderen und bekommt Industrie und Wissenschaft, bei den Kleinbetrieb, etwa bei der Impräg- zahlreiche Patente. Dank einer ge- Leitern von Zoo oder Palmengar- nierung von Eisenbahnschwellen schickten Arbeitsteilung mit seinem ten, auf dem Rennplatz in Nieder- mit Teer (Gebr. Rütgers) oder Edel- Bruder Carl Weinberg, dem Kauf- rad oder im dortigen Golfclub weiß metallverarbeitung für Münzprä- mann und Unternehmer, wächst man sehr wohl, wer die Brüder von gung (Degussa). Stets verbinden das Unternehmen rasant. Es gilt Weinberg waren. Es gibt auch aus- sich rastlose Erfindertätigkeit aus 1900 »als weltgrößter Hersteller reichend Literatur, in denen ihre dem Geist des Handwerks oder des synthetischer Azofarbstoffe«. Der Verdienste hervorgehoben werden. aufsteigenden Ingenieurswesens Erste Weltkrieg begünstigt dieses Anlässlich der Übergabe des mit systematisch herangezogenen Wachstum. Arthur von Weinberg, Schreibtischs von Arthur von Wein- Grundlagenforschungen (Carl Zeiss damals schon 54 Jahre alt, dient zu- berg an die Universität sei versucht, mit Ernst Abbe, Werner von Sie- nächst als Kavallerie-Major der Re- die Geschichte der Familie Wein- mens, Rudolf Diesel). Der empirisch serve, dann aber im Preußischen berg, insbesondere die von Arthur verfahrenden Gründergeneration Kriegsministerium, Referat Chemie. von Weinberg, aus fünf verschiede- folgte die nächste Generation, die Diese sehr typische Nähe von nen Perspektiven wenigstens anzu- Innovationen mit industrieller Ex- Großindustrie und kriegführendem deuten. pansion verband, dann die dritte Staat legte schon während des Krie- Generation, die das internationale ges einen Zusammenschluss der Von der Fechenheimer Geschäft betrieb, Kartelle, Groß- großen Farbenindustrien nahe. Farbenfabrik zum konzerne und Trusts bildete, um 1916 bildete sich auf Anregung von weltgrößten Chemie-Konzern schließlich das Familienunterneh- Carl Duisberg (Bayer Leverkusen) Der Aufstieg der Firma Leopold men in andere Hände zu geben die »Interessengemeinschaft der Cassella & Co. (genauer: Frankfur- oder in eine Stiftung umzuwandeln deutschen Teerfarbenfabriken«. ter Anilinfarbenfabrik Gans & Co.) (Zeiss, Krupp). Aus ihr entstand 1925 der Zusam- und der IG-Farben ist zunächst Teil Diesem Muster folgt auch die Fa- menschluss der acht größten Far- der deutschen Industriegeschichte. miliengeschichte der Gans und der benunternehmen zur IG-Farbenin- Es ist eine Geschichte, die typischer- Weinbergs. Die Firma Cassel & Reiss dustrie AG, jenem industriellen weise im 18. und 19. Jahrhundert begann um 1800 mit Gewürzen, Riesengebilde mit Marktteilung und im Milieu des Handwerks beginnt, Spezereien, Tee und Indigo zu han- weltweiten Rohstoffrechten und in einer Schmiede (Krupp, Borsig), deln. Ab 1838 dominierten die na- Produktionsstätten, wie sie nun

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Cassella Werk Mainkur in Fe- chenheim, um 1910.

auch ähnliche Firmen prägen. Art- mus, die Geschichte seiner wirt- lerieoffizier der Reserve gehörten hur von Weinberg, inzwischen 65 schaftlichen, sozialen, kulturellen dazu. Rennsport, Polo und Golf so- Jahre alt, wird Mitglied des Auf- und wissenschaftlichen Entfaltung, wie die gesellschaftliche Szene in sichtsrats und Verwaltungsrats. seiner Einmischung in die Politik, Bad Homburg wiesen in Richtung Die Geschichte dieser Imperien seiner Verbindungen zu Beamten- England. in der Weltwirtschaftskrise, in der und Landadel, aber auch seiner Mit dem erblichen preußischen vom NS-Staat durch das Zwangs- konfessionellen Bindungen. Im Fall Adel (1908) und der Ernennung kartellgesetz von 1933 geförderten der Gebrüder Weinberg lassen sich Arthur von Weinbergs zum Gehei- weiteren industriellen Verflechtung manche dieser Fragen exemplarisch men Regierungsrat (1913) wurde sowie vor allem mit der Einbindung beantworten. Wir sehen sie als rei- die enge Verbindung von neuem der Industrie in den Staatsaufbau che Fabrikherren, von persönlich Industrie- und altem Landadel be- durch den Vierjahresplan von 1936 durchaus preußischem, pflichtori- siegelt. Carl von Weinberg heiratete ist eine Geschichte von Komplizen- entiertem und sozial sensiblem eine Frau aus dem englischen schaft im großen Stil, Ausbeutung Charakter, als Bauherren gründer- Hochadel, Arthur von Weinberg ei- der Rohstoffe und Finanzen erober- zeitlicher Schlösser (Haus Buchen- ne verwitwete Holländerin, deren ter Länder, Menschenverbrauch rode, Villa Waldfried) mit Privatka- Töchter er adoptierte. So lebte man und Menschenvernichtung in ei- pelle, Kaminen, schweren Möbeln, vor und nach dem Ersten Weltkrieg nem – trotz aller Forschung – im- inmitten von Parkanlagen, als be- im großen Stil, mit Butler, Gärtner, mer noch unbegreifbaren Ausmaß. geisterte Reiter, Inhaber eines be- Pförtner, Chauffeur, französischem So führte die Geschichte der Leo- deutenden Gestüts, Golf und Polo Chefkoch und allem sonstigen pold Cassella & Co. von einer klei- spielend. Die Weinbergs zeigen Komfort. Arthur von Weinberg nen Fechenheimer Farbenfabrik in auch, wie sich dieses gründerzeitli- spielte in Haus Buchenrode auf sei- zwei Generationen zum weltgröß- che, leistungsorientierte Großbür- ner Orgel, es gab viele Musikaben- ten Chemie-Konzern der IG-Farben gertum mit dem deutschen und de, so etwa mit Heinrich Schlusnus, AG, von einem höchst honorigen englischen Adel verband. Das und festliche Essen mit industriel- und sozial eingestellten Familienbe- Corpsstudententum und der Kaval- ler, künstlerischer und wissen- trieb zu einem aus Industrie, Staat und SS zusammengesetzten euro- Ausfahrt der Fa- päischen Ausbeutungs- und Men- milie Arthur von schenvernichtungsnetzwerk. Weinberg vor dem Haus Buchenrode Bürgertum, alter in Niederrad, um und neuer Adel 1909. Man kann die Geschichte der Brü- der Arthur und Carl von Weinberg aber auch ganz anders erzählen, nämlich als Segment der Sozialge- schichte des Bürgertums vom letz- ten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der Weimarer Republik. Es ist die Geschichte des Bürger- tums schlechthin, von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs, vielleicht auch noch bis zum Nationalsozialis-

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Naturforschende Gesellschaft; die Ghetto, um Gewerbe- und Berufs- von Arthur von Weinberg finan- freiheit, Freizügigkeit, politische zierten Ausstellungsstücke können Rechte, Zulassung zur Ärzteschaft, heute noch bewundert werden; die Rechtsanwaltschaft, Richterschaft, Unterstützung des Physikalischen zum öffentlichen Dienst kann hier Vereins und des Zoos; die 1909 ge- nur erinnert werden. Er erstreckt gründete Arthur von Weinberg Stif- sich etwa von der Mitte des 18. bis tung zur Förderung der naturwis- zum Anfang des 20. Jahrhunderts. senschaftlichen Forschung; die ent- Die Familien Gans und Weinberg scheidenden Gründerspenden für folgen dieser Linie der Befreiung die Universität Frankfurt, eine Mil- von äußeren Hemmnissen und des lion Reichsmark von Leo Gans, sozialen Aufstiegs in sehr typischer 600 000 von Arthur von Weinberg, Weise, sowohl was den Konfessi- die Unterstützung des Historischen onswechsel vom Judentum zum Museums, sozusagen von der ers- Protestantismus als auch was den ten Stunde an, die Übernahme Sprung vom Großbürgertum in den wichtiger Funktionen im Städel- überwiegend katholischen Adel an- schen Museumsverein ab 1899, die geht. Der Vater der Brüder kam aus Mitarbeit im Vorstand der Theater dem jüdischen Milieu im nordhessi- AG und dem Patronatsverein der schen Breuna (Kreis Wolfshagen), Städtischen Bühnen, die Vizepräsi- und er heiratete Pauline Gans, aus dentschaft der Frankfurter Gesell- wohlhabender jüdischer Familie. schaft für Handel, Industrie und Ihre Kinder Arthur, Carl und Maria Wissenschaft, die vielfältigen Stif- ließen sie dann aber evangelisch tungen in Schwanheim und Nieder- taufen. Die teils eigenen, teils adop- tierten Kinder der Brüder Arthur Rennbahn-Be- schaftlicher Prominenz. Je mehr die und Carl heiraten durchweg katho- such: Arthur von Forschungs- und Führungsaufga- lisch und in Adel und Hochadel Weinberg mit ben in den Farbwerken delegiert (Markgraf Pallavicini, Graf zu Tochter Mary Grä- werden konnten, desto mehr verla- Münster, Baron von Szilvinyi, Graf fin von Spreti und gerten sich die immer noch stau- von Spreti, Graf von Montgelas, Enkelin Alexan- dra-Beatrix, Som- nenswert breiten Aktivitäten auf Prinz Lobkowitz). Sie integrierten mer 1933. die Verbandspolitik im Arbeitgeber- sich also völlig in jene großbürger- verband, auf Kunst und Musik, auf lich-adlige, aus Industrievermögen populärwissenschaftliche Vorträge, und altem Adel gemischte Welt, die auf die Vollblutzucht und den Nie- ihre Hochblüte vor 1914 hatte, aber derräder Rennsport. auch noch in den 1920er und 1930er Jahren eine bedeutende ge- Kultur und Wissenschaft: sellschaftliche Rolle spielte. Das Ju- Mäzenatentum Frankfurter dentum dieser Familien war längst Prägung verblasst. Man kann tatsächlich zö- Die dritte mögliche Perspektive ist gern, die Weinbergs als »jüdisch« deshalb auch die eines breit gefä- In seinem Arbeitszimmer im Haus Bu- zu bezeichnen. In konfessioneller cherten Mäzenatentums auf einem chenrode: Arthur von Weinberg, um Hinsicht waren sie es seit der Mitte Sockel von Reichtum, guter Ausbil- 1930. des 19. Jahrhunderts nicht mehr, in dung und menschlichen Qualitäten. kulturell-traditioneller Hinsicht Schon der Onkel, Leo Gans, hatte rad, insbesondere für die Schwan- ebenfalls nicht. Die Weinbergs wa- damit in den Cassella-Werken be- heimer Kirche, aber auch für die ren völlig integriert in Wissenschaft, gonnen, etwa mit Werkswohnun- Armenfürsorge, die Jugendarbeit, Industrie, geistiges und gesellschaft- gen, eigenen Renten- und Kranken- Weihnachtsbescherungen, Gesangs- liches Leben, sie waren geadelt und kassen, einer Diakonissenstation, vereine und einiges mehr. Schließ- mit allen nur denkbaren Ehrungen einer Badeanstalt, einem Cassella- lich: die Stiftung des Instituts für überschüttet worden – von Aus- Kinderheim, mit Begabtenstipen- Physikalische Chemie an der neuen grenzung keine Spur. dien für Betriebsangehörige und Frankfurter Universität. Rund vier Antisemitismus, Vertreibung anderem. Was er selbst und seine Jahrzehnte dauerte diese fast un- Neffen Weinberg taten, ging aber glaubliche mäzenatische Tätigkeit und Vernichtung weit darüber hinaus. Es bildete sich an, und sie erstreckte sich bis in den Erst die nationalsozialistische Ver- etwas, was es in dieser Verdichtung Oktober 1933. folgung und Vernichtung der »Ju- wohl nur in Frankfurt gab, eine en- den« bediente sich wieder der alten ge Verzahnung von Wissenschaft, »Jüdische Emanzipation« Klischees gegen »Juden«, gleich- Industrie und städtischer Kulturpo- Die vierte mögliche Perspektive be- viel, welcher Gemeinde oder Kirche litik, einschließlich des Sports. Bei- trifft die »Jüdische Emanzipation«. sie nun angehörten. Jener biologis- spielhaft seien genannt: Das intensi- An diesen seit der Aufklärung ge- tische Antisemitismus, ein seit etwa ve, geradezu leidenschaftliche En- führten Kampf um religiöse Gleich- 1890 heftig wucherndes Produkt gagement für die Senckenbergische berechtigung, Befreiung aus dem aus naturwissenschaftlich inspirier-

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ten Wahnideen, altem Anti-Judais- Carl von Weinberg wurden aus Das Ende ist besonders bedrü- mus, ökonomischen Interessen und dem Verwaltungsrat der IG-Farben ckend. Arthur von Weinberg, der Konkurrenzneid, eine Projektion verdrängt. Sie vereinsamten. Ihr wegen der Luftangriffe von Frank- von Krisenangst in einer kollabie- Onkel, Leo Gans, Ehrenbürger der furt nach Schloss Pähl am Ammer- renden bürgerlichen Welt auf eine Stadt, verstarb 1935, ihre Ehefrau- see gezogen war, wurde am 2. Juni verschwindend kleine Minderheit – en 1935 und 1937. Ebenfalls 1937 1942, er war nun 82 Jahre alt, von dieser Antisemitismus riss nun nach wurde der Name Cassella unter- der Gestapo abgeholt, nach Mün- 1933 alles ein, was an kulturellen, drückt. Alle Versuche der Wein- chen und von da nach Theresien- zivilisatorischen Sicherungen über bergs, in Ehren bleiben zu können, stadt gebracht. Die demütigenden Generationen aufgebaut worden wurden zurückgewiesen. Es halfen Einzelheiten seines Aufenthalts, die war. weder Verzicht auf Ämter noch Hin- er mit stoischer Haltung ertragen Schritt für Schritt fielen alle weise auf militärische und sonstige haben soll, sind überliefert. Wie Hemmungen: Nicht mehr das reli- Auszeichnungen. Die Liegenschaf- Hohn klingt es, wenn man erfährt, giöse Bekenntnis zählte, sondern ten Buchenrode und Waldfried, die dass der Vorsitzende des Aufsichts- das absurde Konstrukt einer »Ras- Parks und die Kunstsammlungen rats der IG-Farben, Prof. Krauch, se«. Dagegen schützte nicht mehr wurden den Weinbergs von der noch bei Himmler intervenierte und die Eigenschaft als Weltkriegsteil- Stadt zu einem lächerlichen Preis die Zustimmung zur Freilassung nehmer, als Arbeitgeber für Tausen- abgepresst. Im Haus Buchenrode von Arthur von Weinberg erreicht de, als Wohltäter, Stifter und Mä- wurde ein Musisches Gymnasium haben soll, aber die Genehmigung zen, als angesehenstes Mitglied der eingerichtet. Die Arthur von Wein- des Gauleiters von Mecklenburg, in Gesellschaft, schließlich auch nicht berg-Stiftung von 1909 verlor 1939 dessen »Gau« er wohnen sollte, mehr die schlichte Würde des alten den Namen ihres Stifters. Auch die stand noch aus. Es war zu spät. Die Menschen. Der Wahn ergriff alles, Carl-von-Weinberg-Schule in Brüder Weinberg verstarben fast und er immunisierte die Machtha- Schwanheim wurde umbenannt. gleichzeitig im März 1943, der eine benden gegen jedes rationale Argu- ment. Ja, die Mischung von Gelehr- Privatlazarett für samkeit, Großbürgertum und Adel, Verwundete des Reichtum und vielfältiger Wohltä- Ersten Weltkriegs: tigkeit, die zunächst noch wie ein Der Salon im Haus Buchenrode. schützender Mantel wirken mochte, reizte die aus Ehrgeizlingen, Auf- steigern, bürgerlichen Versagern ge- mischte Führungsschicht der Natio- nalsozialisten besonders. Nachdem Arthur von Weinberg am 4. Oktober 1933 sein fünfzigjähriges Berufsju- biläum gefeiert und noch einmal ei- ne neue große Stiftung für Lang- zeitarbeitslose und zur Linderung besonderer Notfälle eingerichtet hatte, setzten die Repressionen ein. Die Stadt verschwieg umgehend den Namen des Stifters. Arthur und

Literatur

H. G. Adler, Der J. Borkin, Die un- L. Gall, Bürgertum heim 1990. O. Köhler, …und G. Plumpe, Die I.G. mitismus. Studien verwaltete Mensch heilige Allianz der in Deutschland, heute die ganze Farbenindustrie AG zur »Judenfrage«, – Studien zur De- I.G. Farben – Eine München 1989. A. Hoffmann, Welt. Die Geschich- – Wirtschaft, Tech- Göttingen 1975. portation der Ju- Interessengemein- Im Wandel. 125 te der IG Farben nik und Politik den aus Deutsch- schaft im Dritten A. v. Gans – M. Cassella, Frankfurt und ihrer Väter, 1904 – 1945, Berlin R. Volhard, Ein fast land, Tübingen Reich, New York Groening, Die Fa- 1994. Hamburg-Zürich 1990. vergessener Wohl- 1974. 1978, Frankfurt milie Gans 1350 – 1986 (Köln 1989). täter, in: Für Frank- 1986. 1963, Ubstadt 2007. H.-D. Kirchholtes, H. Ritter-W. Zer- furt leben. Begeg- F. Battenberg, Das Cassella und die S. H. Lindner, weck, Arthur von nungen – Erfahrun- europäische Zeital- S. Friedländer, Das P. Hayes, Industry Weinbergs. Hoff- Hoechst. Ein I.G. Weinberg 1860 – gen – Perspektiven. ter der Juden, Dritte Reich und die and Ideology. I.G. nung und Tragik Farbenwerk im 1943. In Memori- Petra Roth zum 60. Darmstadt 1990. Juden, Bd. 1: Die Farben in the Nazi einer jüdischen In- Dritten Reich, am, in: Chemische Geburtstag, Frank- Jahre der Verfol- Era, 2. Auflage dustriellenfamilie, München 2005. Berichte 89 (1956) furt 2004, S. 332 ff. E. Bernstein, R. gung 1933 –1939, Cambridge 2001. Vortrag vom 18. XIX – XLI. Bake, B. Kiupel München 1998. Februar1997 für E. Mack, Die B. C. Wagner, IG (Hrsg.), Das Leben J. U. Heine, Vor- das Kuratorium Frankfurter Familie H. E. Rübesamen, Auschwitz. Zwangs- als Drama. Erinne- S. Friedländer, Die stand und Schicksal Kulturelles Frank- von Weinberg. Im Ein farbiges Jahr- arbeit und Vernich- rungen an There- Jahre der Vernich- – Die Männer der furt e.V. und Poly- Zeichen der Korn- hundert – Cassella, tung von Häftlingen sienstadt, Dort- tung. Das Dritte I.G. Farbenindus- technische Gesell- blumenblüten, Frankfurt 1970. des Lagers Mono- mund 1999. Reich und die Ju- trie AG (1925 – schaft e.V. Frankfurt 2000. witz 1941 –1945, den 1939 – 1945, 1945) in 161 Kurz- R. Rürup, Emanzi- Diss. phil. Frankfurt München 2006. biographien, Wein- pation und Antise- 2005.

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Stadt- und Universitätsgeschichte

Auf seinem letz- abwärts. Vielleicht haben die Wein- ten Weg zur Ar- bergs auch selbst dazu beigetragen, beitsstätte: Arthur dass es zunächst keinen Eklat gab, von Weinberg in weil sie hofften, der böse Traum der Eingangshalle würde bald vorübergehen. Die Hoff- des IG-Farben- Hauses, 1937. nung stirbt zuletzt. Damit war aber die Maschinerie der Großindustrie im NS-Staat nicht aufzuhalten. Das Programm hieß Expansion und Umsatzsteigerung. Dass es dabei menschliche »Kollateralschäden« gab, wurde hingenommen. Man wollte den eigenen Industrie-Koloss ungefährdet durch steuern. Deshalb wurde das anfängliche Ab- wiegeln vielleicht dankbar ange- nommen. Konnte man nicht sagen, es gehe sozusagen nur um alte Ru- heständler, denen die Nazis wohl persönlich nicht zu nahe treten würden? Als man erkannte, dass in Theresienstadt, der andere im tenden Herren der IG-Farben nicht das falsch war, starben die beiden italienischen Exil. schon zwischen 1934 und 1938 öf- Greise. Während der wissenschaftliche fentlich etwas gegen die Repressio- Wir können es vielleicht histo- Kopf der Cassella, der Mitbegründer nen gegenüber ihren Gründern ge- risch beschreiben und erklären, aber der IG-Farben, der Förderer und tan haben. Die Verdrängung aus wir können es moralisch nicht fas- Menschenfreund Arthur von Wein- Amt und Würden, die Löschung der sen. Die Brücke in die Vergangen- berg als Häftling in Theresienstadt Stifternamen, die Ächtung als Per- heit kann nicht wirklich betreten saß, betrieben gleichzeitig SS und sonen, die Quasi-Enteignung ihres werden. Es bleibt eine prinzipiell IG-Farben in Buna-Monowitz ein Besitzes haben jedenfalls keine unüberwindbare Distanz zur Ver- KZ, vernichteten Menschen und sichtbaren Proteste der mächtigen gangenheit, trotz aller Möglichkei- machten Kriegsgewinne. Man fragt IG-Farben hervorgebracht. Damit ten der Einfühlung in die menschli- sich rückblickend, warum die lei- aber ging es auf der schiefen Ebene che Psyche, in gesellschaftliche Kon- ventionen, wirtschaftliche Zwänge oder einfach in »Ängste«. Alle spä- Vortragsabend mit über 1000 Gästen teren Rechtfertigungen oder Ankla- Den Dienst-Schreibtisch Arthur von Weinbergs über- gen, letztlich auch die distanzierte gab der Vorsitzende der Geschäftsführung der Alessa Analyse des Historikers, müssen an Chemie, Dr. Karl-Gerhard Seifert (links), Anfang März dieser Grenze Halt machen. Aber an den Präsidenten der Universität, Prof. Dr. Rudolf wir können den Opfern unseren Steinberg. Der Chemiker, Industrie-Magnat und Mä- Respekt vor ihrer Lebensleistung zen Weinberg (1860 – 1943) gehörte 1914 zu den bezeugen – und unser Mitleid. Art- Gründungsstiftern der Universität Frankfurt und un- hur von Weinberg verehrte die Phi- terstützte diese auch in den Folgejahren: Er stiftete das losophie Schopenhauers. Er hätte Institut für Physikalische Chemie, war langjähriger verstanden, was mit diesem einfa- ◆ Vorsitzender der Vereinigung von Freunden und För- chen Wort »Mitleid« gemeint ist. derern der Universität sowie deren Ehrenbürger, -se- nator und -doktor. Der Schreibtisch – ein Geschenk Der Autor der Allessa-Chemie und somit des Nachfolgeunterneh- Prof. Dr. Michael Stolleis, 65, war von mens der einst von Weinberg geleiteten Cassella Farb- 1974 bis 2006 Professor für Öffentli- werke Mainkur in Fechenheim – wird gemäß Wein- ches Recht und Neuere Rechtsgeschich- te an der Johann Wolfgang Goethe-Uni- bergs akademischer Provenienz zunächst in der Mitar- versität und von 1991 bis 2006 Direk- beiter-Lounge der Chemischen Institute aufgestellt tor am Frankfurter Max-Planck-Institut werden. Später soll er einen Ehrenplatz im beabsich- für europäische Rechtsgeschichte. Für tigten Neubau der Chemie finden. Die Übergabe des seine Arbeiten zur Geschichte des öffent- Weinberg-Schreibtisches war eingebettet in einen öf- lichen Rechts in Deutschland, in deren fentlichen Vortragsabend, der das Leben des großen Zusammenhang er sich auch intensiv Frankfurter Stifters aus vielfältigen Perspektiven be- mit der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus auseinander setzte, leuchtete und den Renate von Metzler und Alexander wurde der Rechtshistoriker vielfach aus- Demuth von der Vereinigung der Freunde und Förde- gezeichnet. Sein Aufsatz zu Arthur von rer der Universität initiiert hatten. Mit über 1000 Be- Weinberg ist die gekürzte Fassung eines suchern, die ins Casino auf dem Campus Westend ge- Vortrags, den er am 5. März 2007 an- kommen waren, handelte es sich um die seit langem lässlich der Übergabe des Schreibtischs größte öffentliche Veranstaltung der Hochschule. von Arthur von Weinberg an die Univer- sität auf dem Campus Westend hielt.

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Gute Bücher Die Wüste lesen lernen Die Poesie des Wirklichen – Neue Publikationen von Klaus Reichert

er »Lesenlernen« liest und Diese abstrahierenden Deutungen Wdann zu den »Wüstentagen« werden vorbereitet durch die Wie- übergeht, weiß, mit welcher Welt dergabe so präziser Beobachtungen, Klaus Reichert im Herzen Klaus Reichert diesen dass auch ein an Searles »Konstruk- Lesenlernen Kamel-Ritt antritt. Schon die ersten tion der gesellschaftlichen Wirklich- Hanser Verlag, »Reisebilder« sind denn auch wis- keit« geschulter Blick die Dialektik München/Wien 2006, sensgeladene Phantasien über den zwischen Ursprünglichem und Ge- ISBN-10 3-446- Zauber des Metaphysischen. »Ein dachtem nicht entwirren kann, et- 20773-2, langer weißer Bergzug hat eigenar- wa bei der wiederholten Beschrei- 304 Seiten, tige vertiefte Muster, die wohl bung der Kamele: »Sie ertasten sich 21,50 Euro. durch jahrtausendlange Auswa- ihren Weg, scheinen ihn nicht mit schungen, bei denen der Wind kräf- den Augen zu suchen, sondern set- tigt mitgemischt hat, entstanden zen die kleinen, weichen Hufe erst sind. Sie sehen aber durchaus ›ge- vorsichtig probierend auf, dann fest, macht‹ aus, von einem Titanenwil- wobei der Huf breit und platt wird archaische Staben herübergeholt len hingeballt …« wie ein Pantoffel, als müsste er sich hatte.« Und so geht es weiter mit Sagenumwobene antike und für den Bruchteil von Sekunden am Shakespeare, deutschem Barock, biblische Texte sind schon für den Grund ansaugen.« Goethe. Die Sprachstudien werden Fünfzehnjährigen ein selbstver- Viele »Stellen« könnte man hier intensiver. »Es gab also auch Spra- ständlicher Umgang, und der Leser, aneinander reihen, man müsste chen, die über kein ausgeklügeltes der seinen Neid auf eine so gebilde- dann aber auch sagen, wie sie in ei- Tempus-System verfügten, keine te Kindheit und Jugend heuchle- nen somnambulen erzählerischen Zeitstufen kannten. Zu welchem risch in einen wohlfeilen Spott ver- Fluss eingebettet sind, eng verwo- Selbstverständnis mußte das füh- wandeln möchte, wird allmählich ben mit Assoziationen und Refle- ren?« Konsequent daher seine Lese- still, weil er spürt, wie unprätentiös xionen des von weit Hergekomme- technik: »Wort für Wort, ein ständi- diese Leseerlebnisse von vornherein nen. Dazwischen ganz Subjektives ges vor und zurück, wie beim La- waren und nunmehr präsentiert wie wir sie aus Joseph Brodskys tein, auf die Wortwörtlichkeit der werden. Lesen offenbart sich hier »Venedig« kennen (der Blick in den Motive achten, ihre Wiederkehr wie Klaus Reichert als Naturerlebnis – so wie der An- Leib des Fisches): »Verwunschene in der Musik nicht auf die unerheb- Wüstentage blick der Wüste. Wollte Reichert Städte, die aber dem profanen Auge liche Handlung, die direkten oder Insel Verlag, den Urtext entschlüsseln? Er gehört ihr Geheimnis nicht preisgeben und verkappten Zitaten finden, die An- Frankfurt am Main 2006, zu dem kleinen Kreise derer, die sich unter dem zudringlichen Blick spielungen verstehen, die Verbin- ISBN 978-3-458- sich der schwierigsten Philologie in bröckeliges Gestein verwandeln. dungen zur Odyssee merken.« Das 34992-1, verschrieben haben: dem Werk von Sie erinnern jetzt an die Säulen Sa- bezieht sich alles auf Joyce’ Ulysses. 91 Seiten James Joyce. Und nun findet er die lomos im Timma-Tal in der Negev- So schließt sich der Kreis. Die Ima- 6 Euro. unergründlichste der Naturen, de- Wüste«, und wenn wir lesen: »viel gination der aus dem Unendlichen ren »Formen – jede anders, alle Granit, Porphyr, schwarze langge- kommenden Harmonie von Text ähnlich ... in ihrer ›Gesuchtheit‹ zogene Einschlüsse, wie in arabi- und Natur entspringt einer an- und Nutzlosigkeit einfach schön« scher Schrift geschrieben, dann ge- spruchsvollen Erlebniswelt, gerade sind »wie moderne Plastiken, wie löscht wie ein Palimpsest«, wird weil sie im Elementaren wurzelt, Poesie«. Er sieht »im Hohenlied die klar, dass Reichert überall derselben und stellt den Autor vor die schwie- wüste Leere zwischen den Dörfern, Sache auf der Spur ist. rigsten Probleme der Entzifferung. die die Liebenden ... voneinander Bei Ovid erlebt er die Umwand- Kunst und Wissenschaft sind ge- trennt. Und dann die reine, bedeu- lung der »Natur in Poesie« und der fragt, wie soll das gehen? Nun, die tungsleere, bedeutungsschwere Ge- »Poesie in Natur«. Das antizipiert Kunst könnte die Fortsetzung der stalt der Stimme der Geliebten ... schon die Wüstengeschichte. Später Erkenntnis mit anderen Mitteln Nein, fragen wir nicht nach dem wird das Theater einbezogen, frem- sein, und die Wissenschaft ein be- gemeinsamen Wurzelgrund. Prei- de Sprachen kommen hinzu. Als sonders raffiniertes, die Ästhetik sen wir stattdessen die schroffe Siebzehnjähriger sieht er Pisa und herausforderndes Erlebnis. Wer das Schönheit des Nichtzusammenpas- Florenz. Es gibt gar keine Begren- erfahren möchte, lese die beiden Der Rezensent senden.« Das ist die äußerste Zu- zung der Spekulation, gar keine neuen Bücher von Reichert und Prof. Dr. Klaus spitzung dessen, was ihn die Wüste ängstliche Distanz zur Welt der »Bil- mag sich am Ende an Eichendorff Lüderssen ist seit lehrt, vergleichbar der Wahrneh- dung«. »Gotisch, althochdeutsch, erinnern: » ... wie ja auch ein Land- 1971 ordentlicher mung, dass sie »voll des Unverlas- altenglisch. Ich tat es gerne, weil die schaftsbild nur dadurch zum Kunst- Professor an der senen« sei, »der immer gleichen, Wortgeschichte, der Sprachwandel werke wird, dass es die Hierogly- Johann Wolfgang immer ungleichen Steine und Fel- mich immer interessiert haben … phenschrift, gleichsam das Lied oh- Goethe-Universität für die Fächer sen, von Wind, Sand und Sternen«. Endlich konnte ich verfolgen, wie ne Worte, und den Geisterblick Strafrecht, Straf- Ans Meer zurückgekehrt, beginnt kühn Ezra Pound den Seefahrer fühlbar macht, womit die verborge- prozessrecht er sich »schon zu sehnen nach der übersetzt, wie er ein modernes Ge- ne Schönheit jeder bestimmten Ge- und Rechtsphilo- Wüste als einer verlorenen Fülle«. dicht daraus gemacht und doch das gend zu uns reden möchte.« ◆ sophie.

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Gute Bücher Zwischen Beitragssatzstabilität und Versorgungsgerechtigkeit Ein kritisches Kompendium zur Gesundheitspolitik er Berliner Gesundheitsöko- Autoren ihre Analyse auf die »Ziel- um die »Gesundheitsreform« und Dnom und Hochschullehrer Rolf größe Gesundheit«. Folgerichtig bil- angesichts der noch gar nicht in Rosenbrock sowie Thomas Gerlin- den die gesundheitlichen Problem- Angriff genommenen Pflegeversi- ger, Leiter des Instituts für Medizi- lagen in der Bevölkerung und hie- cherungsreform nochmals aufge- nische Soziologie an der Universität raus resultierende (Versorgungs-) nommen wird. Frankfurt, bieten in ihrem Grundla- »Bedarfe« (Bedürfnisse) sowie die Einem künftig an Bedeutung ge- Versorgungsgerechtigkeit den Aus- winnenden Arbeitsfeld, den Aus- gangspunkt ihrer Betrachtungen. wirkungen der europäischen Inte- Dies wiederum setzt die zumindest gration auf die deutsche Gesund- Rolf Rosenbrock/ überblicksartige Darstellung sozial- heitspolitik, widmen sich die Thomas Gerlinger epidemiologischer, sozialmedizini- Autoren in ihrem ebenfalls neu Gesundheitspolitik. scher und medizinsoziologischer aufgenommenen abschließenden Eine systematische Zusammenhänge voraus. Darauf Kapitel. Sie zeigen, dass der (neo-) Einführung. 2., vollständig gehen die Autoren ebenso ein wie liberale Druck, der von den euro- überarbeitete und auf die voraussehbaren und mut- päischen Entwicklungen ausgeht, erweiterte Auflage maßlichen Konsequenzen des de- die politischen Debatten über die Verlag Hans Hu- mographischen Wandels für das Zukunft der nationalen Gesund- ber, Bern 2006, Gesundheitswesen und die Gesund- heitssysteme deutlicher als bisher ISBN 3-456- heitspolitik. beeinflussen dürfte. Dies werden 84225-2, An Problemen der Arbeitswelt Länder mit einem (noch) hohen 383 Seiten, 29,95 Euro interessierte Leserinnen und Leser Grad an sozialstaatlich regulierter werden das aktualisierte Kapitel Gesundheitsversorgung und nen- über Präventionspolitik zu schätzen nenswerten Resten einer durch Be- wissen. Auf knapp vierzig Seiten darfsgerechtigkeit und Solidarität genwerk eine umfassende Analyse gelingt es Rosenbrock und Gerlin- inspirierten Sozial- und Gesund- des Gesundheitswesens und der ger, Notwendigkeit, Sinnhaftigkeit, heitspolitik besonders zu spüren be- Gesundheitspolitik in Deutschland. strategische Ansätze, Reichweite kommen. Gegenüber der Erstauflage, die zwei und Instrumente von Prävention Insgesamt kann das vorliegende Jahre zurückliegt, ist der Umfang und Gesundheitsförderung als zen- Kompendium zur Gesundheitspoli- des Bandes um rund sechzig Druck- trale Bestandteile von Gesundheits- tik zu einem tieferen Verständnis seiten gewachsen; das Datenmateri- politik darzustellen und theoretisch der Strukturen und Funktionsweise al wurde aktualisiert, neue Ab- zu fundieren. Insbesondere das unseres Gesundheitssystems beitra- schnitte aufgenommen. Ganz in der hochgradig differenzierte Feld der gen – und zwar weit über andere Tradition einer kritischen Gesund- Primärprävention, bei der neben Veröffentlichungen hinaus, die das heitswissenschaft richten die Auto- der »klassischen« Gefahrenabwehr Thema auf ökonomische Sichtwei- ren ihren Blick auf das Gesund- und Belastungssenkung neue An- sen einengen. Seine Lektüre sollte heitssystem, die gesundheitspoliti- sätze der Gesundheitsförderung in- zur kritischen Analyse und Bewer- schen Akteure und Interessen tegriert werden müssen, steht hier- tung der historischen und aktuellen sowie Nutzen und Begrenzungen bei im Mittelpunkt des Interesses. Entwicklungen im deutschen Ge- der gewachsenen, teilweise über- In die Neuauflage des Buches wur- sundheitswesen befähigen. ◆ kommenen Strukturen des Kran- de zudem eine kritische Analyse kenversorgungssystems – und dies des Präventionsgesetzes eingefügt, disziplinübergreifend und integrativ das im Jahre 2005 den vorgezoge- ausgerichtet: Gesundheits- und Me- nen Neuwahlen des Bundestags dizinsoziologie, Politikwissenschaft zum Opfer fiel. Bei aller berechtig- und Gesundheitsökonomie werden ter Kritik an dem unvollendeten Der Rezensent in gesundheitswissenschaftlicher Gesetzeswerk resümieren Rosen- Prof. Dr. Klaus Priester ist Hochschul- Perspektive vereint. brock und Gerlinger, mit dem Prä- lehrer für Sozialmedizin, Medizinsoziolo- Im Mittelpunkt der Analyse ste- ventionsgesetz wäre »erstmals in gie und Gesundheitswissenschaft an der hen das Krankenversorgungssys- Deutschland ein Regelwerk für die Evangelischen Fachhochschule Lud- tem, und hier insbesondere der am- Primärprävention entstanden (...), wigshafen – Hochschule für Sozial- und bulant-ärztliche, der Krankenhaus-, das die Umsetzung moderner Kon- Gesundheitswesen, und Leiter des Stu- Arzneimittel- und Pflegesektor so- zepte primärer Prävention in einem diengangs Sozialgerontologie. Zu seinen wie Organisations-, Steuerungs- mehr als nur symbolischen Umfang aktuellen Forschungsschwerpunkten ge- hören die Auswirkungen des demogra- und Finanzierungsfragen rund um ermöglicht hätte«. Es bleibt abzu- phischen Wandels auf die Pflege- und dieses System. Im Unterschied zu warten, ob dieser Faden in der lau- Gesundheitspolitik sowie die arbeits- oftmals rein ökonomisch inspirier- fenden Legislaturperiode nach den weltbezogene Prävention und Gesund- ten Darstellungen fokussieren die nicht enden wollenden Querelen heitsförderung.

100 Forschung Frankfurt 1/2007 UNI 2007/01 Teil 5 03.04.2007 9:06 Uhr Seite 101

Gute Bücher Recht in den Spannungsfeldern der Weltgesellschaft Globale Vernetzungen erfordern neue Rechtsordnungen

ie funktional differenzierte um impliziert, dass die Binnendiffe- Eine Frage, die man an die Ver- DWeltgesellschaft erfordert frag- renzierung des globalen Rechts fasser stellen könnte, bezieht sich mentiertes globales Recht. Aber wie nicht nur territorial nach dem Recht auf das in der Einleitung des Bu- entstehen und entwickeln sich die der Nationalstaaten, sondern auch ches angeführte Zitat des Soziolo- neuen pluralen Rechtsordnungen und vor allem funktional – je nach gen Niklas Luhmann zum struktu- im globalen Kommunikationszu- den Anforderungen der verschiede- rellen Primat der Wirtschaft, Wis- sammenhang? Dieser Frage gehen nen Teilsysteme der Weltgesell- senschaft und Technologie in der Andreas Fischer-Lescano und Gunt- schaft – verläuft. Allerdings führt Weltgesellschaft. Ist die Vorstellung her Teubner in ihrem 2006 bei diese Verflechtung von segmentärer eines Primats der Wirtschaft, Wis- Suhrkamp erschienenen Buch »Re- und funktionaler Differenzierung senschaft und Technik als Funkti- gime-Kollisionen« nach. des globalen Rechts ihrerseits dazu, onssysteme der Weltgesellschaft – Gunther Teubner beschäftigt sich dass die Rationalitätenkonflikte wie- eine Idee, von der sich Luhmann seit den 1980er Jahren intensiv mit der in den rechtlichen Bereich ein- später entfernt hat – mit der radika- den Problemen pluraler Rechtsord- treten und durch diesen »re-entry« len, von den Verfassern vertretenen nungen im Zeitalter der Globalisie- die Regime-Kollisionen auslösen. Auffassung der Fragmentierung der rung. Seine Beiträge zur Lex Merca- Die zentrale Herausforderung für Weltgesellschaft und des globalen toria, Lex Digitalis und zu anderen das globale Recht ist es, die Ratio- Rechts vereinbar? Ich lasse diese globalen Rechtsordnungen sowie nalitätskonflikte angemessen in die Frage offen. Aber trotz der denkba- zu den pluralen Zivilverfassungen jeweils zu entscheidende Fallfrage der Weltgesellschaft waren bahn- zu übersetzen, dadurch ein Forum brechend für die Konstruktion einer für die friedliche Austragung des Rechtstheorie, die die Staatszentrie- Konflikts zur Verfügung zu stellen Andreas Fischer- rung hinter sich lässt. Andreas Fi- und so rechtsförmige Garantien Lescano/Gunther scher-Lescano knüpft mit seiner wechselseitiger Autonomie gegen Teubner Monographie »Globalverfassung« totalisierende Tendenzen und ein- Regime- Kollisionen: (Weilerswist 2005) auf originelle seitige Überwältigungen der Gesell- Zur Fragmentierung Art an Teubners Ansatz an und ent- schaftsfragmente zu liefern. des globalen wickelt einen viel beachteten Bei- Fischer-Lescano und Teubner ge- Rechts trag zur Theorie transnationaler hen über einen rein theoretischen, Suhrkamp Verlag, Menschenrechte. [siehe auch Teub- abstrakten Beitrag zur Fragmentie- Frankfurt am Main ner »Globale Verfassungen – jen- rung des globalen Rechts hinaus, 2006, seits des Nationalstaats«, Seite 30] indem sie sich auch mit rechtsprak- ISBN 3518294032, Die Verfasser gehen davon aus, tischen Beispielen der Regime-Kol- 230 Seiten, dass »die herkömmlichen national- lisionen auseinandersetzen: mit 10 Euro. staatlich geprägten Denkformen« Fragen des transnationalen Copy- nicht ausreichen, um mit den neu- rights, mit dem umstrittenen Pa- en Rechtskollisionen adäquat um- tentschutz auf Medikamente, mit gehen zu können. Hintergrund die- Problemen der Lex Constructionis, ren Einwände bietet das Buch ei- ser Rechtskollisionen sind »Ratio- des transnationalen Strafrechts, der nen originellen Beitrag zur Rechts- nalitätenkonflikte in der polyzentri- Lex Financiaria und des Transnatio- theorie der Weltgesellschaft, von schen Weltgesellschaft«. Diese trei- nalen Cybercrime. In diesen Fall- dem sich auch Auswirkungen auf ben »Regime-Kollisionen« zwischen studien machen die Autoren deut- die Praxis des globalen Rechts er- den verschiedenen weltgesellschaft- lich, dass es illusorisch wäre, dem warten lassen. Juristen und Sozial- lichen Funktionsbereichen, wie globalen Recht die Aufgabe zuzu- wissenschaftlern, die sich mit aktu- Wirtschaft, Wissenschaft, Gesund- weisen, als übergeordnete Instanz ellen Auswirkungen der Globalisie- heitswesen, Sport, Massenmedien, die kollidierenden Gesellschaftsbe- rung beschäftigen, ist die Lektüre Internet, Kunst, Mode und Militär, reiche zu integrieren oder zu har- dieses Werks anzuraten. Prädikat: hervor, da jeder Bereich seine Ei- monisieren: Das Recht könne »an- besonders empfehlenswert. ◆ genrationalität maximieren will, stelle einer illusorischen Integration was sich destruktiv auf die polyzen- der differenzierten Weltgesellschaft« trische Weltgesellschaft auswirkt. allenfalls Schadensbegrenzung leis- Als Gegengewicht zu den expansi- ten, daher könne es lediglich ven Tendenzen einiger globaler »Kompensation für wechselseitige Der Rezensent Funktionssysteme auf Kosten der Schädigungen und Eindämmungen Prof. Dr. Marcelo Neves ist Professor für Rechtstheorie und Rechtsphilosophie Autonomie anderer Teilbereiche be- von Schäden für die menschlichen am Institut für öffentliches Recht in darf es nicht nur der Juridifizierung und natürlichen Umwelten leis- Brasília, Brasilien. Er hat in globaler Regimes, sondern ihrer ten«, konstatieren Teubner und Fi- Fribourg/Schweiz habilitiert und wurde Konstitutionalisierung. Das wieder- scher-Lescano. in Bremen promoviert.

Forschung Frankfurt 1/2007 101 UNI 2007/01 Teil 5 03.04.2007 9:06 Uhr Seite 102

Gute Bücher »Den umgekehrten Weg Freuds gehen« Eric Kandel sucht die Erinnerung und plädiert für eine Biologie des Geistes

igenhändig ein realistisches Mo- ge auf packende Weise diesen Weg und handhabbare Experimente. Er Edell des Gehirns zu formen, das – und verdrillt dabei höchst gelun- lauscht zunächst als zellulärer Neu- gehörte Anfang der 1950er Jahre gen seine Autobiographie mit der rophysiologe den hörbar gemach- an der New York University zur Entwicklungsgeschichte der Neuro- ten Aktivitätssignalen von Neuro- Ausbildung der angehenden Ärzte. wissenschaften im 20. Jahrhundert. nen im Katzen-Hippocampus, stößt Der junge Medizinstudent Eric Die Schilderung seines Lebenswe- aber dann bei der Suche nach ei- Kandel meistert diese Aufgabe, aber ges beginnt am 9. November 1938 nem besser geeigneten Modellorga- es fällt ihm »schwer, das Gehirn – mit traumatischen Erlebnissen des nismus auf den »Seehasen«, die selbst wenn es sich um ein Tonmo- 9-jährigen Erich, als in seiner Hei- marine Schnecke Aplysia, die so- dell des Organs handelt – zu be- matstadt Wien die Nazi-Schergen wohl über ein überschaubares, gut trachten, ohne sich zu fragen, wo an die Wohnungstür hämmern. Die zugängliches Nervensystem als denn dort Freuds Ich, Es und Über- schrecklichen Erinnerungen an die auch über ein beobachtbares Lern- Ich angesiedelt seien.« Noch ist Reichspogromnacht werden ihn nie vermögen verfügt. Obwohl ihm der Kandel vom Wunsch beseelt, Psy- mehr verlassen. Nach der Vertrei- renommierte Neurowissenschaftler choanalytiker zu werden. Doch am bung seiner jüdischen Familie und John Eccles dringend rät, »die Ar- Ende des Studiums setzt ihn sein dem Neuanfang in New York ent- beit an dem prachtvollen Säuger- Mentor, dem er großspurig erzählt, wickelt sich das Kind Erich zum hirn nicht zugunsten einer schlei- jene drei psychischen Instanzen der vielseitig begabten Eric, der schnell migen hirnlosen Meeresschnecke Freudschen Strukturtheorie im Ge- die englische und hebräische Spra- aufzugeben«, verfolgt Kandel unbe- hirn lokalisieren zu wollen, auf die che lernt, gute Schulen besucht irrt seinen radikal reduktionisti- und ein Stipendium für Harvard ge- schen Ansatz, untersucht zunächst winnt. Bestärkt durch das Motto den Kiemenrückziehreflex und ver- der überlebenden Juden »Niemals blüfft schließlich Eccles und andere Eric Kandel vergessen!« findet er früh sein Le- »Säugetier-Chauvinisten« mit Auf der Suche bensthema – Gedächtnis und Erin- bahnbrechenden Erkenntnissen nach dem nerung – und geht beim Studium über zelluläre Lernvorgänge in neu- Gedächtnis. europäischer Geschichte und Lite- ronalen Schaltkreisen. Die Entstehung einer neuen ratur der Frage nach, wie es zu An- Doch Kandel will noch tiefer in Wissenschaft tisemitismus und Holocaust kom- die biologischen Mysterien der des Geistes. men konnte. Unter dem Einfluss Neuronen und Synapsen eindrin- Siedler Verlag, von Freunden, die in der tiefenpsy- gen, wechselt zu biochemischen München, 2006, chologischen Tradition Sigmund und schließlich zu molekulargeneti- ISBN-10: Freuds stehen, setzt er im Streben schen Methoden, tastet sich an die 3-88680-842-4, nach Aufklärung seine Hoffnung Genregulation heran – und verliert 524 Seiten, 24,95 Euro. zunächst auf die Psychoanalyse, doch nie sein Ziel aus den Augen, vermisst jedoch bald eine stringente die biologischen Grundlagen von wissenschaftliche Methodik und Lernen und Gedächtnis aufzuklä- Grundbausteine der neuronalen kritische Diskussion; enttäuscht ren. Für seine Erkenntnisse über Verarbeitung an: Er solle erstmal wendet er sich der naturwissen- die unterschiedlichen zellulären die Funktion einer Nervenzelle er- schaftlichen Hirnforschung zu: »Ich und molekularen Mechanismen forschen – ein Gebiet, das auch Sig- ging ans Harvard-College, um His- von Kurzzeit- und Langzeiterinne- mund Freud 1887 als Berufsanfän- toriker zu werden, verließ es, um rungen, die Identifizierung der bio- ger experimentell bearbeitet hatte, Psychoanalytiker zu werden, und chemischen Signalwege und der lange bevor er Patienten mit seeli- gab beide Pläne auf, weil mir meine beteiligten Moleküle erhält Eric schen Störungen behandelte. Kan- Intuition sagte, dass der Geist über Kandel, der seit 1974 Professor an del ist zunächst verwirrt, weil er die zellulären Signalwege des Ge- der New Yorker Columbia Universi- den forschenden Blick vom Men- hirns erschlossen werden muss.« ty ist, schließlich im Jahr 2000, zu- schen und seiner Psyche abwenden Bei der Schilderung der folgen- sammen mit Paul Greengard und muss, um ihn auf eine »simple« den fünf Jahrzehnte seines For- Arvid Carlsson, den Nobelpreis für Nervenzelle und ihre Physiologie scherdaseins, in denen er sich Medizin. Sein Buch sei allen emp- zu fokussieren; in der Rückschau höchst erfolgreich der Biologie des fohlen, die eine verständliche Ein- amüsiert es ihn: »Ich fand es be- Geistes widmet, macht er den Leser führung in die Neurowissenschaft merkenswert und einigermaßen vertraut mit der Ideengeschichte lesen möchten, kombiniert mit ei- ironisch, dass ich nun aufgefordert der Neurowissenschaft und stellt ner spannend erzählten Lebens- wurde, Freuds Weg in die umge- die wichtigsten Forscherpersönlich- und Wissenschaftsgeschichte. ◆ kehrte Richtung zurückzulegen.« keiten mit ihren Leistungen und Der Rezensent In seinem Buch »Auf der Suche Methoden vor. Für seine eigene Ar- Stefan Kieß, Diplom-Biologe, ist wissen- nach dem Gedächtnis. Die Entste- beit bricht er die großen Fragen schaftlicher Mitarbeiter am Institut für hung einer neuen Wissenschaft des nach Geist und Gedächtnis herun- Biochemie II des Universitätsklinikums Geistes« erzählt der heute 77-Jähri- ter auf überprüfbare Hypothesen Frankfurt.

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Gute Bücher Was ist wirklich drin? Eine Entschlüsselung der Hieroglyphen auf Zutatenlisten alltäglicher Produkte

iele Verbraucher stehen Zuta- Chemie in den letzten Jahrhunder- gen, auf deren Basis Zutatenlisten Vtenlisten eher ratlos gegenüber. ten ermöglicht wurden. erstellt werden. Unverständliche chemische Be- Beim Mittagessen der Familie Bei der Beschreibung der Pro- zeichnungen wecken zudem Miss- finden sich 16 Inhaltsstoffe mit vier dukte bleibt Georg Schwedt weitge- trauen, da Chemie eher mit negati- E-Nummern auf der Zutatenliste ei- hend neutral. Eine Bewertung oder ven Dingen wie Schadstoffen und nes Creme-Desserts. Georg Schwedt gesundheitliche Einschätzung der gesundheitsschädlichen Wirkungen entführt den Leser zunächst in die Zusatzstoffe erfolgt nicht. Nur auf verknüpft wird. Der Chemiker Ge- Geschichte des Begriffs Creme. nicht ganz unbedenkliche Zusatz- org Schwedt, Professor für Analyti- Dann erklärt er die Herstellung, den stoffe wie Farbstoffe in Kaviar oder sche und Anorganische Chemie an Verwendungszweck und zum Teil Lippenstift weist der Autor hin. der TU Clausthal, möchte seinem die lebensmittelrechtliche Grundla- Immer wieder macht Georg Leser die Zutatenlisten verständlich ge von modifizierter Stärke, Verdi- Schwedt neugierig auf weitere In- machen und auf spannende Art die ckungsmitteln, Stabilisatoren und formationen zu den behandelten Funktion der Inhaltsstoffe erklären. Süßstoffen. Literaturhinweise zur Themen oder Inhaltsstoffen. So er- Als Rahmenhandlung führt eine Entschlüsselung der E-Nummern klärt er, wie ein Rohrreiniger funk- kleine Familie den Leser vom Früh- stück bis zum Zähneputzen am Abend durch einen Tag mit vielen Produkten aus dem Supermarkt. Georg Schwedt, Tante Emma verwendet am liebsten Was ist wirklich drin? frische Produkte aus dem eigenen Produkte aus dem Supermarkt. Garten oder vom Bauern. Das Sor- Viley-VCH Verlag, Weinheim 2006, timent des kleinen Supermarkts an ISBN-10: 3-527-31437-7, der Ecke beäugt sie oft aufgrund 231 Seiten, 24,90 Euro. der langen, für sie unverständlichen Zutatenlisten sehr kritisch. Peter, von Beruf Chemiker, erläutert diese Begriffe, seine Frau Anna, eine His- torikerin und Wirtschaftsjournalis- tin, forscht nach meist historischen Quellen zu diesen Produkten. Ihre Tochter Claudia, die gerade die und der Lebensmittel-Zusatzstofflis- tioniert, lässt aber offen, welche 12. Klasse mit Chemie Leistungs- te machen neugierig und regen zu Wirkung das freigesetzte Chlor im kurs absolviert, interessiert sich be- weiteren Recherchen an. Abwasser entwickelt. Auch die his- sonders für die Herstellung und Georg Schwedt versteht es, durch torischen Quellen regen an, sich Warenkunde der Produkte. diese bunte Mischung aus Waren- weiter auf Forschungsreise zu ma- Bereits vor dem Frühstück ent- kunde, Chemiewissen und histori- chen. Dies unterstützen gut ausge- deckt die Familie im Bad die Inhalts- scher Entwicklung der Produkte wählte Hinweise zu Literatur und stoffe kosmetischer Produkte. Peter dem Leser auf unterhaltsame Weise Museen, die das jeweilige Thema erklärt chemische Begriffe und er- komplizierte chemische Bezeich- ergänzen oder vertiefen. läutert die Funktion der Inhaltsstof- nungen und E-Nummern zu erklä- Insgesamt ist das Buch eine ab- fe, während Anna unterhaltsame ren. Er zeigt, dass sich dahinter auch wechslungsreiche und informative Exkursionen in die historische Bad- ganz natürliche Produkte wie Vita- Lektüre, die es dem kritischen Ver- pflege und Rasur unternimmt. In min E verbergen können. Allgemei- braucher ermöglicht, viele Inhalts- gut verständlicher Weise werden nes chemisches Grundwissen er- stoffe ihrer chemischen oder biolo- später beim Einkauf der Familie die leichtert die Lektüre einiger Ab- gischen Funktion zuzuordnen. Der Wirkungen von Tensiden, Enzymen schnitte. Die Produkte sind so aus- Leser lernt etwa, einzuschätzen, oder Bleichmitteln in Wasch-, Rei- gewählt, dass möglichst viele Zu- welche kosmetischen Produkte für nigungs- und Pflegemitteln be- satzstoffe oder Zutaten behandelt ihn aufgrund der Zutatenliste viel- schrieben. Mit einer umfangreichen werden. leicht doch entbehrlich sind. Auch Warenkunde zeigt Georg Schwedt, Mit Exkursen in das LMBG (Le- verführen einige Zutatenlisten si- warum so viele verschiedene Pro- bensmittel- und Bedarfsgegenstän- cherlich dazu, sich wieder mehr Zeit dukte in den Regalen der Super- degesetz, seit September 2005 und Muße zum Kochen zu nehmen, märkte stehen. Die eingefügten Zi- LFGB), Erläuterungen zur Produkt- da frisch zubereitete Gerichte weni- tate aus historischen Zeitungen und kennzeichnung und der Erklärung ger Hilfsstoffe benötigen. ◆ älteren und jüngeren Chemielexika des INCI-Systems zur Kennzeich- Die Rezensentin verdeutlichen, welche oft positiven nung kosmetischer Produkte (Inter- Evelyn Langer ist Diätassistentin und Ökotrophologin und ar- Entwicklungen in der Wasch- und national Nomenclature Cosmetic beitet im Diabetes-Schulungszentrum Aschaffenburg. In den Reinigungsleistung der Produkte Ingredients) erhält der Leser einen Diabetes-Schulungen erreichen sie viele Fragen zu den Hiero- sowie im Umweltschutz durch die Einblick in die rechtlichen Grundla- glyphen der Zutatenlisten.

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Vorschau

Die nächste Ausgabe von »Forschung Frankfurt« erscheint Mitte September 2007.

Alternsforschung: Alzheimer-Demenz frühzeitig erkennen

eurodegenerative Erkrankungen, allen voran die rungen unterscheiden. Insbesondere für die vorbeu- NAlzheimer-Demenz, zählen bereits heute zu den gende und die angestrebte heilende Behandlung der häufigsten und schwerwiegendsten Erkrankungen des Alzheimer-Demenz ist die Optimierung der Frühdiag- höheren Lebensalters. Um die zugrunde liegenden nostik von großer klinischer Relevanz. Darüber hinaus funktionellen und strukturellen Gehirnveränderungen können die gewonnenen Erkenntnisse als Maßstab für zu untersuchen und besser zu verstehen, werden heute das Fortschreiten des Krankheitsprozesses herange- zunehmend bildgebende und moderne elektrophysio- zogen werden und somit auch der Verlaufsbeurteilung logische Verfahren eingesetzt. Wie Prof. Dr. Johannes in Therapiestudien dienen. Schließlich ist die systema- Pantel und Dr. Peter Ulhaas in der nächsten Ausgabe tische Analyse des Zusammenhangs von Veränderun- von »Forschung Frankfurt« berichten werden, bieten gen des Gehirns und definierten neuropsychologischen diese Verfahren unter anderem den Vorteil, dass sie Defiziten auch wichtig, um die neurobiologischen zeigen, wie klinische Beobachtungen und Verhaltens- Grundlagen aufzuklären, die zu einer Beeinträchtigung daten mit relevanten Hirnveränderungen zusammen- der kognitiven Funktion führen. hängen. Sobald es möglich ist, solche krankhaften Ver- änderungen bereits bei sehr leichtgradigen – möglicher- Mehr zum Thema »Altern« finden Sie im nächsten weise auch präklinischen – Formen der Alzheimer- Heft von »Forschung Frankfurt«, das den aktuellen Demenz festzustellen, lassen sie sich bei der Diagnose Stand der Alternsforschung in verschiedenen wissen- auch besser von »normalen« altersbedingten Verände- schaftlichen Disziplinen darstellt.

Wissenschaftsmagazin der Johann Wolfgang Goethe-Universität Forschung intensiv – Archäologie: Seite 10 Foto Kantonsmuseum Baselland, Liestal, Seite 10 Abb.1 Foto: Numismatische Bilddatenbank Eichstätt Nbe_105; Seite 11 Impressum Abb. 2 Foto: Ashmolean Museum, Oxford (Ch. Howgego); Abb. 3 Foto: Numismati- Herausgeber sche Bilddatenbank Eichstätt Nbe_92; Seite 12 Abb.4 Foto: Numismatische Bild- Der Präsident der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main datenbank Eichstätt Nbe_71/72; Abb. 5 Foto: Numismatische Bilddatenbank Eichstätt Nbe_62/63; Seite 13 Foto oben Institut für Archäologische Wissenschaf- Redaktion ten, Abt. II, Frankfurt (E. Kießling); Foto unten: Institut für Archäologische Wissen- Ulrike Jaspers, Diplom-Journalistin, Referentin für Wissenschaftskommunikation schaften, Abt. II (A. Heising); Seite 14 Abb. 6 Foto: Institut für Archäologische (Geistes- und Sozialwissenschaften), Senckenberganlage 31, Raum 1053, 60054 Wissenschaften, Abt. II (A. Heising); Seite 15 Abb. 7 Fotobearbeitung: Archäologi- Frankfurt am Main, Telefon (069)798-23266, Telefax (069) 798-28530 sche Denkmalpflege Rheinland-Pfalz, Amt Koblenz (M. Thoma); Abb. 8 Rekon- E-Mail: [email protected] struktion: Archäologische Denkmalpflege Rheinland-Pfalz, Amt Koblenz (M Tho- Dr. phil. Anne Hardy, Diplom-Physikerin, Referentin für Wissenschaftskommunika- ma); Abb. 9 Foto: Institut für Archäologische Wissenschaften, Abt. II (E. Kießling); tion (Naturwissenschaften und Medizin), Senckenberganlage 31, Raum 1059, Seite 16 Grafik: Institut für Geowissenschaften, Facheinheit Mineralogie, Petrolo- 60054 Frankfurt am Main, Telefon (069)798-28626, Telefax (069) 798-28530 gie und Geochemie, Frankfurt (S. Klein); Foto: Institut für Archäologische Wissen- E-Mail: [email protected] schaften, Abt. II (von Kaenel); Seite 17 alle Fotos: Institut für Archäologische Wis- senschaften, Abt. II (E. Kießling); Seite 18 Autorenfoto: E. Kießling. Vertrieb Ingrid Steier, Senckenberganlage 31, 60054 Frankfurt am Main, Forschung intensiv – Suhrkamps Erbe: Alle Abbildungen aus dem Archiv der Peter Raum 1052, Telefon (069)798-22472, E-Mail: [email protected] Suhrkamp Stiftung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität; Seite 26 unten Fo- to von Lutz Kleinhans, Frankfurt. Forschung Frankfurt im Internet www.muk.uni-frankfurt.de/Publikationen/FFFM/index.html Forschung intensiv – Verfassungsrecht: Seite 30 bis 36 alle Bilder aus Bildarchiv des Anzeigen und Verlag Kunstgeschichtlichen Instituts, Frankfurt; Seite 36 Autorenfoto von Dettmar. Universität Frankfurt, CAMPUSERVICE GmbH, Beethovenplatz 1–3, Forschung intensiv – Pilzforschung: S. 38 bis 42 alle Bilder von Meike Piepenbring 60325 Frankfurt, Birgit Wollenweber, Telefon (069) 71 58 57-15, mit Ausnahme der Bilder 3 A und 3 D auf Seite 40 von Tanja Trampe. Telefax (069) 71 58 57-10, E-Mail: [email protected] Druck Forschung intensiv – Katalysatorforschung: Seite 43 Rueping; Seite 44 oben Rueping, Frotscher Druck GmbH, Riedstraße 8, 64295 Darmstadt, Foto Mitte James Noble/Corbis, Fotos in der Grafik unten Dettmar (Orange) und Telefon (06151) 3906-0, Internet: www.frotscher-druck.de J.Carcia/photocuisine/Corbis (Zitrone); Grafiken S. 45 bis 47 Rueping, eingesetzte Fotos auf S. 46 unten Dettmar (Süßstoff) und Mediscan/Corbis (Penicillin-Kultur). Illustrationen, Layout und Herstellung schreiberVIS, Joachim Schreiber, Villastraße 9A, 64342 Seeheim, Forschung aktuell: Seite 48 bis 52 Karikaturen von Freimut Wössner, Berlin; Seite Tel. (06257) 962131, Fax (06257) 962132, ISDN-Leo (06257) 962133, 53 bis 55 alle Abbildungen von Gottschalk außer S. 54, Abb. aus Nagel et al., in E-Mail: [email protected], Internet: www.schreibervis.de Durr. Biol. 2005, 15 (24), S. 2279 –84; Seite 55 oben Foto von Bosch, Suttgart; Seite 57… Seite S. 63 M.J. Grimson & R.L. Blanton (Biological Sciences Electron Grafisches Konzept Microscopy Laboratory, Texas Tech University); Seite 56 unten Werbeagentur Devi- Elmar Lixenfeld, Büro für Redaktion und Gestaltung, to Verdi, New York; Seite 58 Grafiken von Heiko Motschenbacher; Seite 59 bis 63 Werrastraße 2, 60486 Frankfurt am Main alle Foto von Dettmar, alle anderen Illustrationen Grafiken von Dieter Katzenbach; Telefon (069) 7075828, Telefax (069) 7075829, E-Mail: [email protected] Seite 64 Grafik von I. Zündorf, Universität Frankfurt; Seite 65 Grafik von T. Winck- Bezugsbedingungen ler, Universität Jena; Seite 66 T. Winckler, Universität Jena; Seite 67 bis 70 Flug- »Forschung Frankfurt« kann gegen eine jährliche Gebühr von 15 Euro abonniert blattsammlung der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main; Seite 71 Foto oben werden. Das Einzelheft kostet 5 Euro. Einzelverkauf u.a. im Buch- und Zeit- von Christian Bechtold; Seite 71 und 72 alle Münzen aus Numismatischen Bildda- schriftenhandel in Uni-Nähe und beim Vertrieb. tenbank Eichstätt (Abb. 1: Revers von Objnr.: 2812; BMCRE: Caracalla 50, RIC: Für Mitglieder der Vereinigung von Freunden und Förderern der Johann Wolfgang Caracalla 490 b; Abb. 2 Revers von Objnr.: 4799, BMCRE: Augustus 124, RIC: Goethe-Universität Frankfurt am Main e.V. sind die Abonnementgebühren für Augustus 415; Abb. 3 Revers von Objnr.: 2854, BMCRE: Domitian 62, RIC: Domi- »Forschung Frankfurt« im Mitgliedsbeitrag enthalten. tian 213; Abb. 4 Avers von Objnr.: 4349; BMCRE: Nero 4, RIC: Nero 4); Seite 72 Foto unten (Drusilla) Münchner Glyptothek (cat. no. 316); Foto (Garbo) von ull- Hinweis für Bezieher von »Forschung Frankfurt« stein bild, Berlin; Seite 74 aus G. Di Vita-Evrard, Les dédicaces de l’amphithéâtre (gem. Hess. Datenschutzgesetz): Für Vertrieb und Abonnementverwaltung von et du cirque de Lepcis, pp. in: Libya Antiqua 2, 1965, 29 – 37, hier: Planche IX, »Forschung Frankfurt« werden die erforderlichen Daten der Bezieher in einer auto- No. a, L’Armée épigraphique 1968, 00549 matisierten Datei gespeichert, die folgende Angaben enthält: Name, Vorname, An- schrift, Bezugszeitraum und – bei Teilnahme am Abbuchungsverfahren – die Bank- Perspektiven: Seite 75 bis 78 alle Fotos von Dettmar; Seite 79 bis 82 aus Bildar- verbindung. Die Daten werden nach Beendigung des Bezugs gelöscht. chiv des Kunstgeschichtlichen Instituts, Frankfurt; Seite 83 Buchcover Francis Ba- con, Instauratio Magna; Seite 84 oben von akg-images, Berlin, unten: Johannis Die Beiträge geben die Meinung der Autoren wieder. Der Nachdruck von Beiträgen Hevelii, Macchina Collestis, 1673; Seite 85 oben von akg-images, Berlin; Seite 85 ist nach Absprache möglich. Foto von Christoph Boeckheler; Seite 87 Foto oben von Beate Meichsner; Foto un- ten und auf Seite 87 von Dettmar. Bildrechte Titelbild: Bildarchiv des Kunstgeschichtlichen Instituts, Frankfurt. Stifter und Sponsoren: Seite 89 Illustration oben, Seite 90 Foto oben von Ada Yo- nath; Fotos Seite 89 unten, Seite 92 oben von Uwe Dettmar; Seite 91 Foto oben Editorial: Foto von Uwe Dettmar, Frankfurt. von Harry Noller; Seite 91 unten Illustration von CROI Meeting 2007; Seite 92 un- Inhalt: Hinweise bei den jeweiligen Beiträgen. ten, Seite 93 oben Fotos von Michael Schindler; Seite 93 unten Illustration aus Geyer M et al, 2001, FASEB Journal; Seite 94 Foto Institut für Stadtgeschichte Nachrichten: Seite 4 oben Foto Brenker, unten Foto Dettmar; Seite 5 Archiv der Frankfurt am Main (Copyright Alessa-Chemie); Seite 95 und 96 oben Institut für Universität Frankfurt, Seite 6 oben Foto von Jan Jacob Hoffmann; Seite 7 CERN, Stadtgeschichte Frankfurt am Main; Seite 96 Mitte und Seite 97 Fotos Privatbesitz Genf; Seite 8 oben CERN, Genf; unten links Ullstein Bild; unten rechts: Agentur Peter-Janus Graf von Monteglas, Frankfurt; Seite 98 oben Institut für Stadtge- Stimmgerecht, Berlin; Seite 9 HIV Center; schichte Frankfurt am Main; Seite 98 unten von Kai Nedden, Frankfurt.

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