VIERTELJAHRSHEFTE FÜR Zeitgeschichte

Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München herausgegeben von KARL DIETRICH BRACHER HANS-PETER SCHWARZ HORST MÖLLER in Verbindung mit Rudolf v. Albertini, Dietrich Geyer, Hans Mommsen, Arnulf Baring und Gerhard A. Ritter Redaktion: Manfred Kittel, Udo Wengst, Jürgen Zarusky Chefredakteur: Hans Woller Stellvertreter: Christian Hartmann Assistenz: Renate Bihl Institut für Zeitgeschichte, Leonrodstr. 46b, 80636 München, Tel. 1268 80, Fax 123 1727, E-mail: [email protected]

50. Jahrgang Heft 2 April 2002

INHALTSVERZEICHNIS

AUFSÄTZE Horst Möller Karl Dietrich Bracher zum 80. Geburtstag 167 Gerhard A. Ritter Die DDR in der deutschen Geschichte 171 Carlos Collado Seidel In geheimer Mission für Hitler und die bayerische Staatsregierung. Der politische Abenteurer Max Neunzert zwischen Fememorden, Hitler-Putsch und -Krise 201 Bernhard Lorentz Die Commerzbank und die „Arisierung" im Altreich. Ein Vergleich der Netzwerkstrukturen und Handlungsspielräume von Großbanken in der NS-Zeit 237 Steffen Prauser Mord in Rom? Der Anschlag in der Via Rasella und die deutsche Vergeltung in den Fosse Ardeatine im März 1944 269 August H. und der Rücktritt Willy Brandts Leugers-Scherzberg am 7. Mai 1974 303 II Inhaltsverzeichnis NOTIZEN „Zum Stand der historischen Aufarbeitung kommunistischer Diktaturen". Internationale Arbeits­ tagung in der Berliner Außenstelle des Instituts für Zeitgeschichte München vom 29. November bis 1. Dezember 2001 (Christiane Künzel) 323 Zur Kontroverse über den Reichstagsbrand. Stellungnahme zu der in der Julinummer der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 2001 publi­ zierten Notiz (Hersch Fischler/Gerbard Brack) . 329 ABSTRACTS 335 MITARBEITER DIESES HEFTES 339

Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte im Internet: http://www.vierteljahrshefte.de Redaktion: http://www.ifz-muenchen.de

GESCHÄFTLICHE MITTEILUNGEN

© 2002 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München

Die Lieferung geschieht auf Kosten und Gefahr des Empfängers. Kostenlose Nachlieferung in Ver­ lust geratener Sendungen erfolgt nicht. Das Abonnement verlängert sich jeweils um ein Jahr, wenn es nicht spätestens zwei Monate vor Ablauf des Kalenderjahres gekündigt wird. Werbeanzeigen und Werbebeilagen besorgt der Verlag. Verantwortlich: Ulrike Staudinger. Hinweis gemäß §26 Absatz 1, Bundesdatenschutzgesetz: Die Bezieher der „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte" sind in einer Adreßdatei gespeichert, die mit Hilfe der automatisierten Datenverar­ beitung geführt wird. Gemäß unserer Verpflichtung nach §8 Abs. 3 PresseG i.V. m. Art. 2 Abs. 1c DVO zum BayPresseG geben wir die Inhaber und Beteiligungsverhältnisse wie folgt an: Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, Rosenheimer Str. 145, 81671 München. Alleiniger Gesell­ schafter des Verlages ist die R. Oldenbourg Verlag GmbH unter der gleichen Anschrift. Alleiniger Gesellschafter der R. Oldenbourg Verlag GmbH ist die R. Oldenbourg GmbH & Co. KG, ebenfalls unter der gleichen Anschrift.

Verlag und Anzeigenverwaltung: Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, Rosenheimer Straße 145, 81671 München. Für den Inhalt verantwortlich: Horst Möller; für den Anzeigenteil: Ulrike Staudinger. Erschei­ nungsweise: Vierteljährlich. Jahresabonnement: Inland €56,40 (€48, - + €8,40 Versandspesen); Ausland €59,60 (€48,- + €11,60 Versandspesen). Studentenabonnement (nur Inland) €44,40 (€36- + €8,40 Ver­ sandspesen); Einzelheft €16,- zzgl. Versandspesen. Die Preise enthalten bei Lieferung in EU-Staaten die Mehrwertsteuer, für das übrige Ausland sind sie Bruttopreise. Ermittlung der gebundenen Ladenpreise für die Schweiz: €-Preis x 1,63 = sFr-Preis (aufgerundet auf volle Franken). Bezieher der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte sind berechtigt, die der Zeitschrift angeschlossene Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (2 Bände im Jahr) im Abonnement zum Vorzugspreis von €33,- zuzüglich Versandkosten zu beziehen. Die in dieser Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Fotokopien für den per­ sönlichen und sonstigen eigenen Gebrauch dürfen nur von einzelnen Beiträgen oder Teilen daraus als Ein­ zelkopien hergestellt werden. Jede darüber hinausgehende Vervielfältigung bedarf der Genehmigung des Verlages und verpflichtet zur Gebührenzahlung. Satz und Druck: Sellier Druck GmbH, Angerstraße 54, 85354 Freising

Ein Teil dieser Auflage enthält folgende Beilage: Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München: Gesamtverzeichnis Institut für Zeitgeschichte 2002 HORST MÖLLER

KARL DIETRICH BRACHER ZUM 80. GEBURTSTAG

Am 13. März 2002 hat Karl Dietrich Bracher, emeritierter Ordinarius für Politische Wissenschaft und Zeitgeschichte an der Universität Bonn, sein 80. Lebensjahr voll­ endet. Karl Dietrich Bracher zählt zu den Pionieren der Zeitgeschichtsforschung, heute ist er ihr Alt- und Großmeister. Mit dem Institut für Zeitgeschichte ist er län­ ger verbunden als jeder andere Historiker außerhalb des Instituts: Seit 1962 gehört er dem Wissenschaftlichen Beirat an, weit länger als jedes andere Mitglied in der dreiundfünfzigjährigen Geschichte des Instituts. 1980 bis 1988 war er Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats, seit 1978 ist er einer der zunächst zwei, seit 1992 drei Herausgeber der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte sowie der Schriftenreihe der VfZ. Er hat diese auflagenstärkste und international verbreitetste deutsche geschichtswissenschaftliche Zeitschrift in den nahezu fünfzig Jahren ihres Bestehens fünfundzwanzig Jahre lang mitgeprägt - ein hochkompetenter, ebenso anregender wie humorvoller, im Urteil unbestechlicher Kollege und Freund. In diesen Jahrzehnten der Zusammenarbeit mit dem Institut hat er selbstlos der Zeitgeschichtsforschung gedient und Maßstäbe gesetzt, Tausende von Manuskripten beurteilt und viele hundert Gutachten verfaßt. Immer wieder hat er an Veranstaltun­ gen des Instituts teilgenommen und in zahlreichen Podiumsdiskussionen einen unverwechselbaren Part übernommen. Warum konnte Karl Dietrich Bracher über Jahrzehnte eine solch prägende Rolle für die Zeitgeschichtsforschung im allgemeinen, das Institut für Zeitgeschichte im besonderen spielen? Bracher wurde zum Protagonisten, weil er ein großer Gelehrter ist, der schon in jungen Jahren mehrere Pionierwerke geschrieben und maßgeblich zum internationalen Ruf der deutschen Zeitgeschichtsschreibung beigetragen hat; sein Oeuvre wirkt weit über den Kreis der Fachleute hinaus. Der Historiker und Politikwissenschaftler wurde außerdem zum politischen Lehrer, der Kontroversen in der Sache nicht aus dem Wege ging, wenn sie ihm notwendig erschienen; er hatte prinzipielle Lehren aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts gezogen, die aus wissen­ schaftlicher Analyse resultierten, und wurde so zum gesuchten Gesprächspartner für Politiker wie und , aber auch für Publizisten und Journalisten. Bracher zählte schließlich zu den ersten Historikern, die neben der Weimarer Republik und der nationalsozialistischen Diktatur über die Geschichte der Bundesrepublik schrieben. Ein frühes, bezeichnendes Beispiel ist sein Essay „Theo­ dor Heuss und die Wiederbegründung der Demokratie in Deutschland" (1965), der mit dem Satz über endet: „Sein Vermächtnis ist die lebendige Demo­ kratie: nicht nur als Institution, sondern als Lebensform".

VfZ 50 (2002) ® Oldenbourg 2002 168 Horst Möller

Karl Dietrich Bracher wurde nie müde, die Gefährdung der Demokratie durch totalitäre Bewegungen zu beschwören. Auch in Zeiten, als solche Mahnungen wenig populär waren, wies er beharrlich auf den fundamentalen und unaufhebbaren Gegensatz von Demokratie und Diktatur hin: Mit dem seit den 1960er Jahren gängi­ gen Gerede von einer angeblich „bloß formalen Demokratie", mit „dritten Wegen", räte- oder direktdemokratischen Alternativen oder mit der „außerparlamentarischen Opposition" hatte er nichts im Sinn: So wurde er zur wissenschaftlichen und politi­ schen Instanz und zum herausragenden Repräsentanten einer Generation, die die nationalsozialistische Diktatur erlitten hatte und - die kommunistische vor Augen - unentwegt für die junge Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland kämpfte, die seit ihrer Gründung 1949 und der durch ihren ersten Bundeskanzler maßgeblich betriebenen Grundentscheidung dezidiert west- und wertori­ entiert, entschieden rechtsstaatlich war. Bracher zählt damit zu den lebenden Wider­ legungen der Geschichtsklitterung, hier habe es sich um Errungenschaften der 1960er oder frühen 1970er Jahre gehandelt. So kam es auch zu dem zeitweiligen Mißverständnis, der in den 1950er und 1960er Jahren eher als „progressiv" einge­ schätzte Gelehrte sei nun „konservativ" geworden: Tatsächlich hatte nicht er, son­ dern der Zeitgeist sich geändert, tatsächlich hielt und hält er strikt an demokrati­ schen Grundprinzipien fest. Für Bracher ist es zweifellos eine Genugtuung gewesen, daß nach dem Zusam­ menbruch der meisten kommunistischen Diktaturen 1989/91 vergleichende Untersu­ chungen und Reflexionen über totalitäre Bewegungen und Diktaturen wieder auf die Tagesordnung kamen, nachdem eineinhalb Jahrzehnte das Totalitarismusmodell als Produkt des Kalten Krieges verteufelt worden war. Doch enthielt die damalige Kritik an diesem Modell nicht allein eine Verharmlosung des Kommunismus, son­ dern erstreckte sich auf grundsätzliche methodologische Probleme. In der Zeitge­ schichtsforschung gewann eine Interpretationsrichtung immer mehr an Boden, die Planmäßigkeit und Zielstrebigkeit der nationalsozialistischen Führerdiktatur in Frage stellte. Diese neuen Ansätze gingen von der Prämisse aus, die nationalsoziali­ stische Diktatur sei polykratisch und improvisiert gewesen. Diese grundlegende Ein­ schätzung betraf auch wesentliche Sektoren der Diktatur wie etwa die Interpretation des Holocaust und Einzelphänomene wie den Widerstand, der aus seiner präzisen politischen Definition gelöst und durch den Begriff der Resistenz ergänzt wurde. Auch am Institut für Zeitgeschichte gab es solche Tendenzen, die fruchtbare Zusammenarbeit mit Karl Dietrich Bracher schlossen sie aber nicht aus, solange sachadäquat argumentiert wurde. Und schließlich war es Bracher selbst gewesen, der schon mehr als ein Jahrzehnt zuvor gemeinsam mit Gerhard Schulz auf die poly- kratische Struktur der nationalsozialistischen Herrschaft hingewiesen, sie freilich nicht als ungewollt, sondern als geplant (divide et impera) gedeutet hatte. Sein 1956 in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte veröffentlichter Aufsatz „Stufen totalitärer Gleichschaltung: Die Befestigung der nationalsozialistischen Herrschaft 1933/34" ist nur ein Beispiel seiner ebenso differenzierten wie scharfsinnigen Inter­ pretation. Karl Dietrich Bracher zum 80. Geburtstag 169 Bracher war nie ein Gegner strukturanalytischer Interpretation in der Geschichts­ wissenschaft, wie anläßlich einer berühmt gewordenen Tagung über den „Führer­ staat. Mythos oder Realität?" behauptet worden ist: Ganz im Gegenteil hat er mit seinem ersten großen Werk über die Auflösung der Weimarer Republik 1955 die Strukturanalyse in die Zeitgeschichtsforschung eingeführt und zwar so entschieden, daß sie bei nicht wenigen Historikern - beispielsweise Werner Conze, der sich später aber selbst revidieren mußte - zunächst auf Unverständnis stieß. Was Bracher tat­ sächlich am Gerede vom „schwachen Diktator Hitler", aber auch bei der neomarxi­ stisch inspirierten Verwendung des Faschismusbegriffs beunruhigte, war die Verwi­ schung der Differenzen, die Gefahr also, das Wesen der nationalsozialistischen Dik­ tatur zu verkennen und so der Demokratie zu schaden. Bracher selbst hat sich aber nie damit begnügt, seine Positionen in Form von Essays oder kritischen Beiträgen zu vertreten: Zwar hat er auch dieses Genre immer wieder gewählt, doch basieren seine einschlägigen Artikel auf Fundamentalwerken, die noch nach Jahrzehnten Gültigkeit besitzen. Nur ganz wenige Historiker können auf eine solche Sequenz eindrucksvoller und wegweisender Bücher verweisen: „Die Auflösung der Weimarer Republik" (1955, 7. Aufl. 1989), „Die nationalsozialistische Machtergreifung" (mit Gerhard Schulz und Wolfgang Sauer, 1960, 3. Aufl. 1974), „Die deutsche Diktatur" (1969, 7. Aufl. 1997), „Die Krise Europas: 1917-1975" (1976, 3. Aufl. 1993), „Zeit der Ideologien. Eine Geschichte politischen Denkens im 20. Jahrhundert" (1982, 2. Aufl. 1984), „Geschichte und Gewalt" (1981), „Republik im Wandel" (mit Wolfgang Jäger und Werner Link, 1986). Besonderer Erwähnung bedarf eine Studie, die man normalerweise hier nicht suchen würde: „Verfall und Fortschritt im Denken der frühen römischen Kaiserzeit" (1987). Wenn es auch spät veröffentlicht wurde, so ist es doch sein erstes, auf die Tübinger Dissertation von 1948 zurückgehendes Buch - begann Bracher doch als Althistoriker: Diese wissen­ schaftliche Herkunft - für heutige Generationen leider nahezu ausgeschlossen, für damalige nicht ganz atypisch - erklärt nicht allein die historische Tiefendimension seiner zeitgeschichtlichen Werke, sondern auch ihre systematischen, kategoriengelei­ teten Fragestellungen. Sie haben, wie das Buch „Der Doppelstaat" seines zeitweili­ gen Berliner Kollegen Ernst Fraenkel, mit dem er höchst erfolgreiche Bände des Fischer-Lexikons „Staat und Politik" und „Internationale Beziehungen" herausgab, die Konzeptualisierung der Zeitgeschichtsforschung geprägt: Viele Historiker, die nie bei Bracher studiert haben, sind durch die Rezeption solcher Fragestellungen im weiteren Sinne seine Schüler geworden. Neben seinen Monographien, von denen mehrere auch in Übersetzungen erschie­ nen, steht eine ebenso stolze Reihe von Bänden mit Essays und gesammelten Aufsät­ zen: „Deutschland zwischen Demokratie und Diktatur" (1964), „Das deutsche Dilemma" (1971), „Zeitgeschichtliche Kontroversen" (1976, 2. Aufl. 1984), „Schlüs­ selwörter in der Geschichte" (1978), „Die totalitäre Erfahrung" (1987), „Wendezei­ ten der Geschichte" (1992) und zuletzt: „Geschichte als Erfahrung. Betrachtungen zum 20. Jahrhundert" (2001). Karl Dietrich Brachers Bibliographie dürfte inzwi­ schen an die 400 Titel umfassen. Dieses Riesenwerk kann an dieser Stelle nicht 170 Horst Möller gewürdigt werden, doch ist es aus der Wissenschaftsgeschichte des Fachs nicht weg­ zudenken, sowenig wie seine Beiträge zum Widerstand, etwa der eindrucksvolle, auf ein breiteres Publikum hin orientierte Band „Das Gewissen steht auf. 64 Lebensbil­ der aus dem deutschen Widerstand 1933-1945", den er gemeinsam mit Annedore Leber und Willy Brandt zuerst 1954 herausgab, als der Widerstand noch bei einem Teil der Deutschen umstritten war. Bei Bracher handelt es sich dabei nicht allein um wissenschaftliches Interesse, sondern auch um ein Zeugnis der ethischen Verantwor­ tung des Christen in der Welt und nicht zuletzt um ein Zeichen der Verbundenheit mit der Familie seiner Frau, zu der mit Dietrich Bonhoeffer und Rüdiger Schleicher Angehörige des Widerstands und Opfer der nationalsozialistischen Diktatur zählen. Auch Karl Dietrich Brachers zahlreiche Auszeichnungen können hier nicht aufge­ zählt werden, sie spiegeln die weltweite Anerkennung seiner Persönlichkeit und sei­ nes Lebenswerks, die zugleich dem Ansehen des Fachs zugute kommen. Erwähnt sei lediglich eine kleine Auswahl: Karl Dietrich Bracher ist Mitglied des Ordens pour le mérite für Wissenschaft und Künste, mehrerer in- und ausländischer Akade­ mien, er erhielt zahlreiche Rufe an in- und ausländische Universitäten, ist mehrfa­ cher Ehrendoktor und nahm wiederholt Gastprofessuren im Ausland wahr, er ist Träger des Großen Verdienstordens mit Stern und Schulterband der Bundesrepublik Deutschland, er erhielt zahlreiche Preise. Ohne Zweifel zählt Karl Dietrich Bracher weltweit zu den Großen des Fachs. Das Institut für Zeitgeschichte, seine Mitarbeiter und Gremien, insbesondere Her­ ausgeber und Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte gratulieren Karl Dietrich Bracher, dem großen Historiker, dem engagierten Demokraten, dem Kolle­ gen und Freund von ganzem Herzen zum 80. Geburtstag. Wir danken ihm für in Jahrzehnten bewährte Unterstützung des Instituts ebenso wie für die ertragreiche und menschlich erfreuliche Zusammenarbeit. GERHARD A. RITTER

DIE DDR IN DER DEUTSCHEN GESCHICHTE*

Mit der Konstituierung der DDR als zweitem deutschen Staat 1949 war die Etablie­ rung der SED-Diktatur im wesentlichen abgeschlossen1. Die Umgestaltung der Gesellschaft hatte mit der Bodenreform, der Verstaatlichung der Banken, des Groß­ handels und wichtiger Teile der Industrie begonnen. Noch immer gab es aber breite bürgerliche Mittelschichten, die unverzichtbare Funktionen in der Gesellschaft aus­ übten, eine von selbständigen Bauern betriebene Landwirtschaft und einen bedeu­ tenden privaten Wirtschaftssektor. In den fünfziger Jahren wurde die Veränderung der Gesellschaftsstruktur, die mit der Ausschaltung der sogenannten „Junker" und „Monopolkapitalisten" und mit der Instrumentalisierung der Entnazifizierung zur Eroberung von Schlüsselpositionen in Staat und Gesellschaft eingeleitet worden war, systematisch fortgesetzt, wurden immer weitere Bereiche der Gesellschaft gleichge­ schaltet und wurde der „Aufbau des Sozialismus" forciert. Am Ende der fünfziger Jahre, spätestens in den ersten Jahren nach dem Bau der Mauer, sind alle wesentlichen Kennzeichen des DDR-Systems vorhanden. Trotzdem bleibt die Frage nach der Reichweite der Diktatur, nach der Spannung zwischen dem totalen Steuerungsanspruch der SED-Führung und der Eigendynamik der Gesellschaft bzw. dem „Eigensinn" ihrer Bürger, die gegenüber dem Herrschaftsan­ spruch von Partei und Staat eine gewisse Autonomie zu bewahren versuchten. Die Geschichte der DDR ist im wesentlichen zwischen zwei Polen einzubetten. Den einen Pol bildet die Sowjetisierung2, die keineswegs nur von außen durch die Besatzungsmacht und die zunehmende Einbindung in den Ostblock aufgezwungen wurde, sondern gemäß dem Grundsatz „von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen" auch bewußt von wesentlichen Teilen der SED-Führung - vor allem soweit sie aus dem Moskauer Exil kam - betrieben wurde. Über den Marxismus, aber auch

* Erheblich erweiterte Fassung eines Vortrages, der unter dem Titel „Traditionen und Brüche. Die DDR in den fünfziger Jahren" zur Eröffnung eines Kolloquiums des Instituts für Zeitgeschichte über „Die DDR vor dem Mauerbau: Politik und Gesellschaft" am 24.10.2001 in Berlin gehalten wurde. Der dem Aufsatz gegebene neue Titel deutet an, daß - besonders bei der Behandlung der Vertretung von Arbeiterinteressen und der Erörterung der Sozialpolitik - auch Entwicklungen nach 1961 berücksichtigt wurden. Insgesamt liegt jedoch der Schwerpunkt auf den Jahren 1949- 1961. Der Verfasser dankt Ilko-Sascha Kowalczuk für die kritische Lektüre des Entwurfs dieses Aufsatzes. 1 Vgl. u.a. Dierk Hoffmann/Hermann Wentker (Hrsg.), Das letzte Jahr der SBZ. Politische Wei- chenstellungen und Kontinuitäten im Prozeß der Gründung der DDR, München 2000. 2 Vgl. die Artikel zur Sowjetisierung, in: Konrad Jarausch/Hannes Siegrist (Hrsg.), Amerikanisie­ rung und Sowjetisierung in Deutschland 1945-1970, Frankfurt a.M./New York 1997.

VfZ 50 (2002) ® Oldenbourg 2002 172 Gerhard A. Ritter über kommunistische Reformvorstellungen der Weimarer Republik, die von der Sowjetunion aufgegriffen worden waren, sind zudem auch ursprünglich deutsche Ideen indirekt über die Besatzungsmacht zurücktransportiert worden. Den anderen Pol bildeten deutsche Traditionen, vor allem die Vorstellungen der kommunistischen Arbeiterbewegung. Gerade die ältere Führungsgarde um Ulbricht und später um Honecker war stark durch ihre Erfahrungen in der kommunistischen Bewegung der Weimarer Republik und in der Weltwirtschaftskrise, die als Vorbote des unausweichlichen Zusammenbruchs des Kapitalismus gedeutet wurde, geprägt. Weiter hat die Konkurrenz mit der Bundesrepublik und die Auseinandersetzung mit dem Magnetfeld der westlichen Welt - seinem freiheitlichen System und seinen Konsumangeboten - die Politik der DDR entscheidend beeinflußt. Dabei gab es eine Magnettheorie nicht nur auf bundesdeutscher Seite; auch die DDR hat, vor allem bis zum Mauerbau, gehofft, daß ihr Staat und ihre Gesellschaft eine große Anziehungskraft besonders auf die Arbeiterschaft in Westdeutschland ausüben würde und es zu einer Wiedervereinigung auf der Grundlage ihres politisch-gesell­ schaftlichen Systems kommen könnte3. Der vorliegende Aufsatz wird nicht versuchen, den Charakter von Staat und Gesellschaft der DDR auf einen Begriff zu bringen oder die DDR mit dem totalitä­ ren NS-Staat, der Sowjetunion Stalins oder anderen ostmitteleuropäischen Satelliten­ staaten der Sowjetunion zu vergleichen, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Allerdings sei die Bemerkung erlaubt, daß in den bisher in der Forschung weitgehend vernachlässigten, aber besonders interessanten Vergleichen mit den Entwicklungen etwa in Polen und in Ungarn das Fehlen der nationalen Komponente in der DDR überhaupt nicht zu überschätzen ist. Wahrscheinlich hätte jede echte demokratische Selbstbestimmung notwendig zur deutschen Vereinigung geführt. Die Starrheit des Systems ist also auch wesentlich dadurch zu erklären, daß es mit jeder weitergehenden Reform seine weitere Existenz in Frage stellte.

I.

Das wichtigste Instrument, mit dem die in den fünfziger Jahren geradezu von einer Planungseuphorie erfaßte SED die Gesellschaft von Grund auf zu verändern ver­ suchte, war die Planwirtschaft, die immer erneuten Versuche, in Mehrjahresplänen gleichsam eine Blaupause für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung vorzugeben. Der Übergang zur Planwirtschaft 1947/48 bedeutete dabei einen quali­ tativen Wandel nicht nur der Wirtschaftspolitik der DDR4. Gleichzeitig entwickelte sich die bereits 1947 gegründete Deutsche Wirtschaftskommission seit ihrer Kompe-

3 Vgl. dazu Michael Lemke, Einheit oder Sozialismus? Die Deutschlandpolitik der SED 1949-1960, Köln/Weimar/Wien 2001. 4 Vgl. Dierk Hoffmann, Die Lenkung des Arbeitsmarktes in der SBZ/DDR 1945-1961. Phasen, Konzepte und Instrumente, in: Peter Hübner/Klaus Tenfelde (Hrsg.), Arbeiter in der SBZ-DDR, Essen 1999, S. 41-80, hier S. 57. Die DDR in der deutschen Geschichte 173 tenzerweiterung Anfang 1948 zu einem wichtigen Instrument zentraler Wirtschafts­ leitung, und die deutsche Verwaltung des Inneren übernahm immer mehr Kompe­ tenzen der Landesregierungen. Parallel zur nun auch offiziellen Selbstbezeichnung der SED nach stalinistischem Modell als eine „Partei neuen Typs"5 - eine Kaderpar­ tei mit Massenanhang - und der Gründung der von vornherein unter der Kontrolle der SED stehenden Demokratischen Bauernpartei Deutschlands6 und der National­ demokratischen Partei Deutschlands7 wurden die bestehenden bürgerlichen Parteien CDU8 und LDPD9 noch weiter zurückgedrängt und gleichgeschaltet und neue Instrumente zur besseren Einwirkung auf bisher nur unzureichend erfaßte Segmente der Bevölkerung geschaffen. Nach dem Vorläufer des Halbjahresplanes 1948 beschloß der Parteivorstand der SED, die damit ihren alleinigen Führungsanspruch unterstrich, den ersten Zweijah­ resplan für 1949/50, der für 1951-1955 nach sowjetischem Vorbild durch einen Fünfjahresplan fortgesetzt wurde. Der folgende zweite Fünfjahresplan wurde, noch bevor er abgelaufen war, in Anpassung an den sowjetischen Planungszyklus im Herbst 1959 durch einen Siebenjahresplan ersetzt. Die SED und der Staatsapparat, aber auch der FDGB sowie in geringerem Umfang die anderen Massenorganisatio­ nen, wurden zu Instrumenten, deren wichtigste Aufgabe nun die Durchsetzung der Vorgaben dieser Pläne war. Die Entwicklung der DDR zu einer von der SED durch­ herrschten Arbeitsgesellschaft, aber auch die ökonomischen Fehlentscheidungen, die schließlich wesentlich zum Zusammenbruch der DDR beitrugen, waren letztlich auch eine Konsequenz der wirtschaftlichen Weichenstellung zu einer straff zentrali­ sierten Planwirtschaft 1948/4910.

5 Andreas Malycha, Die SED. Geschichte ihrer Stalinisierung 1946-1953, Paderborn 2000. Die Selbstbezeichnung der SED als „Partei neuen Typs" 1948 war dabei auch eine taktische Maß­ nahme, eine Anpassung der Theorie an die bereits gegebene Realität. 6 Vgl. Theresia Bauer, Die Gründung der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands 1948 in Mecklenburg und die Entwicklung des Landesverbandes bis 1952, in: Damian van Melis (Hrsg.), Sozialismus auf dem platten Land. Tradition und Transformation in Mecklenburg-Vorpommern von 1945 bis 1952, Schwerin 1999, S. 281-319; dies., Politik für die Bauern? Geschichte der Demo­ kratischen Bauernpartei Deutschlands 1848-1963, Diss., München 1998. Vgl. generell zur Blockpo­ litik und zu den Blockparteien: dies., Krise und Wandel der Blockpolitik und Parteineugründun­ gen 1948, in: Hoffmann/Wentker (Hrsg.), Das letzte Jahr der SBZ, S. 65-83; Siegfried Suckut, Die DDR-Blockparteien im Lichte neuer Quellen, in: Jürgen Weber (Hrsg.), Der SED-Staat: Neues über eine vergangene Diktatur, München/Landsberg am Lech 1995, S. 99-197. 7 Vgl. Dietrich Staritz, Die National-Demokratische Partei Deutschlands 1948-1953. Ein Beitrag zur Untersuchung des Parteiensystems der DDR, Diss. Berlin 1968. 8 Vgl. Michael Richter, Die Ost-CDU 1948-1952. Zwischen Widerstand und Gleichschaltung, Düs­ seldorf 1990; Michael Richter/Martin Rissmann (Hrsg.), Die Ost-CDU. Beiträge zu ihrer Entste­ hung und Entwicklung, Weimar/Köln/Wien 1995. 9 Vgl. Ulf Sommer, Die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands. Eine Blockpartei unter Füh­ rung der SED, Münster 1996. 10 Vgl. zusammenfassend zur Wirtschaftsentwicklung der DDR Albrecht Ritschl, Aufstieg und Nie­ dergang der Wirtschaft der DDR: Ein Zahlenbild 1945-1989, in: Jahrbuch für Wirtschaftsge­ schichte 1995/2, S. 11-46. Dort auch Angaben über weitere Literatur. 174 Gerhard A. Ritter Die Herausbildung der sozialistischen Planwirtschaft der DDR ist bereits vor ihrem Zusammenbruch von Jörg Roesler, ihre weitere Entwicklung von ihm und einigen Mitarbeitern im Detail behandelt worden11. Die Schwächen der zentralisti- schen Planwirtschaft wurden dabei allerdings nicht thematisiert. Um nur einige auf­ zuzählen: die Politisierung der Ökonomie, die Spannung zwischen Politik und Sach­ verstand, die mangelnde Fachkompetenz der Entscheidungsinstanzen, die Tendenzen zur Autarkie und zur Abkoppelung von der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung und weitgehend auch vom technologischen Fortschritt, die mangelnde Flexibilität und Anpassungsfähigkeit, die Verwischung der Verantwortung für ökonomische Fehlent­ scheidungen, das hierarchische Prinzip der Willens- und Entscheidungsfindung, die mangelnde Differenzierung der Instrumente zur Lenkung der Wirtschaft sowie die Unterordnung der Wirtschaft unter das primäre Ziel der Machtbehauptung der SED. Gravierend war auch die Fehlentscheidung, nach stalinistischem Dogma den Ausbau der Schwerindustrie und der Schwermaschinenindustrie einseitig zu forcie­ ren. Die Alternative einer ökonomischen Arbeitsteilung innerhalb des RWG (Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe) wurde offenbar nicht einmal ernsthaft erwogen12. Die mangelnde Berücksichtigung der Konsumgüterindustrie führte in den fünfzi­ ger Jahren immer wieder zu Versorgungslücken, die man durch Korrekturen an den ursprünglichen Plänen zu schließen versuchte. Der Dienstleistungsbereich wurde aus ideologischen Gründen bis zum Ende der DDR stark vernachlässigt13. Die aus­ ufernde Planungsbürokratie mit der staatlichen Planungskommission an der Spitze ließ mit ihren detaillierten Vorgaben den einzelnen Betrieben kaum Handlungsfrei­ heit. Typisch war zudem die bereits von Roesler vorsichtig kritisierte extensive Wirt­ schaftsweise. Die Steigerung der Produktionsmengen, und nicht die Anpassung an den neuesten technologischen Stand und die Verbesserung der Qualität der Pro­ dukte, hatte eindeutige Priorität. Da man keine Konkurrenz auf dem Markt befürch­ ten mußte, spielten auch Rentabilitätsgesichtspunkte zunächst kaum eine Rolle14. Die extensive Wirtschaftsweise war trotz des ständigen Aderlasses durch die Flucht von qualifizierten Technikern und Facharbeitern in die Bundesrepublik zunächst deshalb möglich, weil das Erwerbspotential der Frauen sehr viel stärker als in der Bundesrepublik ausgeschöpft wurde. Das hängt mit dem allerdings in den fünfziger Jahren erst langsam einsetzenden Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen, dem gesellschaftlichen Druck auf Berufstätigkeit von Müttern mit kleinen Kindern und

11 Vgl. Jörg Roesler, Die Herausbildung der sozialistischen Planwirtschaft in der DDR. Aufgaben, Methoden und Ergebnisse der Wirtschaftsplanung in der zentralgeleiteten volkseigenen Industrie während der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus, Berlin (Ost) 1978; ders./ Renate Schwärzel/Veronika Siedt, Produktionswachstum und Effektivität in Industriezweigen der DDR 1950-1970, Berlin (Ost) 1983; Jörg Roesler/Veronika Siedt/Michael Elle, Wirtschafts­ wachstum in der Industrie der DDR 1945-1970, Berlin (Ost) 1986. 12 Vgl. Christoph Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945-1955, Göttin­ gen 1982, S. 269 f. 13 Vgl. Ritschl, Aufstieg, S. 13. 14 Vgl. Roesler, Herausbildung, S. 22 f., 79-84, 90, 123, 130, 320 f.; Roesler/Schwärzel/Siedt, Produk­ tionswachstum, S. 220-241; Roesler/Siedt/Elle, Wirtschaftswachstum, S. 264-268. Die DDR in der deutschen Geschichte 175 schließlich auch mit der miserablen Versorgung von Witwen, die keine langjährige eigene Erwerbstätigkeit nachweisen konnten, und dem Ungenügen einer Rente für ein Ehepaar im Alter zusammen. Die späteren Versuche, neben der weiteren Ausschöpfung der weiblichen Arbeits­ kraftreserve auch die Arbeitsproduktivität zu erhöhen, die Effektivität, Qualität und Rentabilität der Produktion zu verbessern und den Betrieben größere Freiräume gegenüber der zentralistischen Planung zu gewähren, die in den sechziger Jahren im NÖSPL, dem „Neuen Ökonomischen System der Planung und Leitung", ihren Nie­ derschlag fanden, sind letztlich am Widerstand der Traditionalisten in der SED und am Primat der Politik gegenüber der Ökonomie gescheitert15. Auch als Honecker versuchte, mit dem Ausbau der Sozialpolitik nicht nur die Bevölkerung enger an das Regime zu binden, sondern auch Anreize zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität zu geben, ließen sich keine dauerhaften Wirkungen erzielen. Das war auch eine Folge des trotz der ständigen Leistungswettbewerbe und des Prämiensystems aus ideologi­ schen Gründen - in Anlehnung an Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung - stark nivellierten Lohn- und Gehaltssystem. Die Erhöhung der Normen war zudem, wie der durch diese mitausgelöste, nicht aber verursachte Aufstand vom Juni 1953 gezeigt hatte, politisch gefährlich. Das gleiche galt nach den späteren Erfahrungen in Polen für einen Abbau der ökono­ misch unsinnigen Subventionen und damit für eine realistischere Gestaltung der Preise. Die DDR blieb dem überholten Bild einer traditionellen Industriegesellschaft verhaftet. Dem Strukturwandel der Wirtschaft, der in der Bundesrepublik bereits am Ende der fünfziger Jahre zum Abbau der Schwerindustrie führte, sowie dem Über­ gang zur Dienstleistungsgesellschaft und der Veränderung der Konsumbedürfnisse mit dem steigenden Wohlstand hat sie kaum Rechnung getragen. Sie geriet damit zunehmend in einen Modernisierungsrückstand. Hinzu kam, daß Prestigeobjekte, wie der von 1952 bis 1961 betriebene Aufbau einer eigenen zivilen Luftfahrtindus­ trie, an Selbstüberschätzung, aber auch an den Interessengegensätzen mit der Sowjetunion scheiterten16, die später totgeschwiegenen Versuche zur Weiterentwick­ lung von Druckwasserreaktoren in der Kernenergetik in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre17 oder der schließlich forcierte Aufbau einer nie am Prinzip der Wirt­ schaftlichkeit orientierten Mikroelektronik18, sich als Flops erwiesen, keine nachhal-

15 Vgl. zum NÖSPL und seinem Scheitern Theo Pirker/M. Rainer Lepsius/Rainer Weinert/Hans- Hermann Hertle, Der Plan als Befehl und Fiktion. Wirtschaftsführung in der DDR. Gespräche und Analysen, Opladen 1995. 16 Vgl. Gerhard Barkleit/Heinz Hartlepp, Die Geschichte der Luftfahrtindustrie der DDR 1952- 1961, Dresden 21995; Burghard Ciesla, Die Transferfalle: Zum DDR-Flugzeugbau in den fünfziger Jahren, in: Dieter Hoffmann/Kristie Macrakis (Hrsg.), Naturwissenschaft und Technik in der DDR, Berlin 1997, S. 193-211. 17 Vgl. Burghard Weiss, Kernforschung und Kerntechnik in der DDR, in: Hoffmann/Macrakis (Hrsg.), Naturwissenschaft, S. 297-315; Joachim Kahlert, Die Kernenergiepolitik in der DDR. Zur Geschichte uneingelöster Fortschrittshoffnungen, Köln 1988. 18 Vgl. Friedrich Naumann, Vom Tastenfeld zum Mikrochip - Computerindustrie und Informatik im „Schrittmaß" des Sozialismus, in: Hoffmann/Macrakis (Hrsg.), Naturwissenschaft, S. 261-281. 176 Gerhard A. Ritter tigen Modernisierungsschübe auslösten und an anderer Stelle dringend benötigte ökonomische Ressourcen abzogen. Auch innerhalb des Planungssystems hat es gravierende Fehlentscheidungen, bürokratische Inkompetenz und Überregulierungen gegeben. In der von Dierk Hoffmann als zentralem Element der Planwirtschaft untersuchten Arbeitskräftelen• kung19, die bis zum Mauerbau ohnehin mit starken Unsicherheitsfaktoren rechnen mußte, konnte die Spannung zwischen den Interessen von Staat und SED einerseits und den Bedürfnissen der Arbeitskräfte andererseits nie aufgelöst werden. Mit der Abschaffung der Arbeitsämter durch eine Verordnung vom 12. Juli 195120 hat sich die DDR zudem des effektivsten Instruments einer wirksamen Arbeitsmarktpolitik, das nach der Vereinigung mit westdeutscher Hilfe mühsam wieder aufgebaut werden mußte21, beraubt. Damit wurde auch die deutsche Tradition einer eigenständigen Arbeitsverwaltung, die sich mit Zustimmung der deutschen Arbeiterbewegung seit Ende des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatte, abgebrochen. Die Forcierung der Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft und die stär­ kere Angleichung an das sowjetische Modell - etwa durch die Verkündung des plan­ mäßigen „Aufbaus des Sozialismus" auf der zweiten Parteikonferenz der SED vom Juli 1952, die Durchsetzung der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft 1960 oder den verschärften Druck zur Vollendung sozialistischer Produktionsverhältnisse auch bei mittelständischen Betrieben 1972 - haben immer wieder zu Krisen der DDR geführt. Das zeigte sich in der Massenflucht von Bürgern, die erst durch den Bau der Mauer 1961 gestoppt werden konnte. Die Flucht von insgesamt etwa 3,5 Mio. Men­ schen aus der SBZ und DDR22 war ein politisches Mißtrauensvotum gegen das Regime. Mit der Ausschöpfung des Arbeitskräftepotentials in der DDR stellte der Exodus der im Durchschnitt jüngeren, aktiveren und beruflich gut qualifizierten Flüchtlinge, unter ihnen viele Ärzte, Professoren, Ingenieure, Techniker und Fachar­ beiter23, zunehmend auch einen ökonomischen Aderlaß dar, während die Flüchtlinge mit ihrem stark ausgeprägten Willen zum Aufbau einer neuen Existenz dem Wirt­ schaftsaufschwung der Bundesrepublik zusätzliche Impulse gaben.

19 Vgl. Hoffmann, Lenkung des Arbeitsmarktes; Dierk Hoffmann, Aufbau und Krise der Planwirt­ schaft. Die Arbeitskräftelenkung in der SBZ-DDR 1945-1963. Der Verfasser dankt Herrn Hoff­ mann für die Überlassung des Manuskripts, das in Kürze vom Institut für Zeitgeschichte veröf­ fentlicht werden wird. 20 Vgl. Hoffmann, Aufbau, S. 308-329, 594f. 21 Vgl. Heinrich Franke, Aufbau in den neuen Ländern, in: Bundesarbeitsblatt 1/1993, S. 5-9; Horst Kinitz, Aufbau der Arbeitsverwaltung in den neuen Bundesländern und die Entwicklung des Arbeitsförderungsrechts seit 1989, Opladen 1997. 22 Vgl. Helge Heidemeyer, Flucht und Zuwanderung aus der SBZ-DDR 1945/49-1961. Die Flücht- lingspolitik der Bundesrepublik Deutschland bis zum Bau der Berliner Mauer, Düsseldorf 1994. 23 Vgl. ebenda, S. 48-53; Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen (Hrsg.), Der Bau der Mauer durch Berlin. Die Flucht aus der Sowjetzone und die Sperrmaßnahmen des kommunistischen Regimes vom 13. August 1961 in Berlin. Nachdruck der 2. Auflage vom September 1961 im Januar 1964, S. 15-18. Die DDR in der deutschen Geschichte 177 Die am 17. Juni 1953 ihren Höhepunkt erreichenden Unruhen bilden eine mar­ kante Zäsur in der Entwicklung der DDR von 1949 bis 1961. Die Arbeiterschaft war die wichtigste soziale Trägergruppe der Streiks, Demonstrationen und Proteste, die aber fast alle sozialen Schichten und Gruppen der Bevölkerung und die Mehrheit der Städte und Landkreise erfaßten24. Bei diesem Volksaufstand, der eine lange Vor­ geschichte und starke Nachwehen hatte, wurde neben konkreten sozialen und politi­ schen Reformforderungen immer wieder auch der Ruf nach Wiedervereinigung laut25. Der Aufstand, der den Anspruch der DDR, ein Arbeiter- und Bauernstaat zu sein, als Propagandalüge entlarvte, war eine traumatische Erfahrung sowohl für die Träger des DDR-Regimes, denen die Legitimation gerade bei den Arbeitern entzo­ gen und deren Handlungsspielraum durch die Furcht vor einer Wiederholung der tiefen Erschütterung des Staates eingeengt wurde, wie für die Opponenten, die die brutale Niederschlagung des Aufstandes ohne ernste Versuche einer Intervention des Westens in ihrem weiteren Verhalten stets in Rechnung stellen mußten. Dabei grub sich in das kollektive Bewußtstein der Bevölkerung die Einsicht ein, daß nicht das Politbüro Ulbrichts, sondern die sowjetische Armee die Macht im Lande ausübte26. Die Tauwetterperiode des Krisenjahres 1956, nach den Enthüllungen Chruscht­ schows über den Terror und die Despotie Stalins auf dem XX. Parteitag der KPdSU, hat die DDR sehr viel weniger stark als Polen und Ungarn, wo im Oktober/Novem­ ber 1956 ein großer Volksaufstand von der Sowjetunion blutig unterdrückt wurde, erfaßt. Eine scharfe, auf die Abschaffung des gesamten Systems gerichtete Opposi­ tion und deren unnachgiebige Verfolgung blieben auch nach dem Juni 1953 weiter­ hin ein Kennzeichen der DDR. In den durch den XX. Parteitag der KPdSU und die Entwicklungen in Ungarn und Polen ausgelösten Diskussionen, die vor allem Stu­ denten und die „Intelligenz" erfaßten, standen jedoch konkrete Forderungen zur Entideologisierung des Studiums bzw. reformsozialistische Bestrebungen zur Umge­ staltung der DDR im Vordergrund. Tatsächlich gab es jedoch weder eine revolutio­ näre noch eine reformistische Option: Eine Revolution nach dem Vorbild Ungarns hätte wegen der Unnachgiebigkeit der Träger des Regimes, der überlegenen Macht­ mittel der intakten sowjetischen Streitkräfte und der Zurückhaltung des Westens in einem Blutbad geendet. Eine demokratische Reform von innen, die über einen Machtwechsel in der SED-Spitze hinausging, hätte wohl bald zum völligen Zusam­ menbruch der DDR geführt. Die Alternative eines nationalen humanitären Sozialis­ mus hatte in der DDR nie eine realistische Chance27.

24 Vgl. aus der Fülle der Literatur zum Aufstand vom Juni 1953 Ilko-Sascha Kowalczuk/Armin Mit­ ter/Stefan Wolle (Hrsg.), Der Tag X - 17. Juni 1953. Die „Innere Staatsgründung" der DDR als Ergebnis der Krise 1952/54, Berlin 1995. 25 Vgl. Armin Mitter/Stefan Wolle, Untergang auf Raten: Unbekannte Artikel der DDR-Geschichte, München 1993, bes. S. 124, 128 ff. 26 Zur großen Bedeutung der Präsenz der sowjetischen Armee und ihrer Rolle in der Entwicklung der SBZ/DDR vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk/Stefan Wolle, Roter Stern über Deutschland. Sowjeti­ sche Truppen in der DDR, Berlin 2001. 27 Vgl. zu den Auswirkungen des Krisenjahres 1956 auf die DDR und die Begründung dieser Ein­ schätzung Gerhard A. Ritter, Weder Revolution noch Reform. Die DDR im Krisenjahr 1956 und 178 Gerhard A. Ritter II.

Ein zentrales Kennzeichen der DDR der fünfziger Jahre war der Beginn einer sehr weitgehenden Militarisierung der Gesellschaft. Diese fand ihren Ausdruck einmal im Aufbau der Kasernierten Volkspolizei, der militärischen Vorläuferorganisation der 1956 gebildeten Nationalen Volksarmee, im hohen Grad der militärischen Rüstung, in der Aufblähung der Sicherheitsorgane des Staates und der Fülle bewaffneter Organe wie der Bereitschaftspolizei, der Grenzpolizei und den sog. Kampfgruppen der Arbeiterklasse. Zweitens zeigte sich diese Militarisierung von Staat und Gesell­ schaft, die weit über entsprechende Tendenzen im Kaiserreich hinausging, auch in der bedeutenden Rolle der Gesellschaft für Sport und Technik, die als eine der gro­ ßen sozialistischen Massenorganisationen die Wehrbereitschaft und Wehrfähigkeit der Bevölkerung durch vormilitärische Ausbildung erhöhen sollte28, in der sozialisti­ schen Wehrerziehung in den Schulen, im Schul- und Hochschulsport und in der zeitweisen Umfunktionierung der staatlichen Jugendorganisation FDJ zu einem Instrument zur Werbung von Freiwilligen für die Kasernierte Volkspolizei29. Fast 10 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung waren nach Schätzungen in irgendeiner Form - haupt- oder nebenamtlich, freiwillig oder dienstverpflichtet - in den militäri­ schen und paramilitärischen Organisationen, in den Schutz- und Sicherheitskräften und den Organen der Landesverteidigung beschäftigt30. Die Nettoausgaben für Ver­ teidigung und innere Sicherheit beliefen sich schließlich auf etwa 10 Prozent des produzierten Nationaleinkommens31. Für die Streitkräfte bildete die Sowjetunion, deren Militärdoktrin man übernahm und deren militärische Bildungseinrichtungen 1952-1989 von 4.500 Offizieren der DDR besucht wurden32, das Vorbild. Das zeigt sich auch in der besonders engen Verknüpfung der Armee mit der Staatspartei SED - ein wesentlicher Unterschied zum NS-System, in dem die Wehrmacht sich dem direkten Zugriff der Partei bei der Rekrutierung des Offizierskorps weitgehend entziehen konnte. 1961 stammten 79 Prozent der über 21.000 Offiziere aus der Arbeiterschaft und 95,6 Prozent waren

die Intellektuellen, in: Wolther von Kieseritzky/Klaus-Peter Sick (Hrsg.), Demokratie in Deutsch­ land. Chancen und Gefährdungen im 19. und 20. Jahrhundert. Historische Essays, München 1999, S. 336-362. 28 Vgl. Paul Heider, Die Gesellschaft für Sport und Technik (1952-1990), in: Im Dienste der Partei. Handbuch der bewaffneten Organe der DDR. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungs­ amtes hrsg. v. Torsten Diedrich, Hans Ehlert und Rüdiger Wenzke, Berlin 1998, S. 169-199. 29 Vgl. zur Militarisierung der FDJ Peter Skyba, Vom Hoffnungsträger zum Sicherheitsrisiko. Jugend in der DDR und Jugendpolitik der SED 1949-1961, Köln/Weimar/Wien 2000, bes. S. 180-198. 30 Vgl. Torsten Diedrich/Hans Ehlert/Rüdiger Wenzke, Die bewaffneten Organe der DDR im System von Partei, Staat und Landesverteidigung. Ein Überblick, in: Dies. (Hrsg.), Im Dienste der Partei, S. 1-67, hier S. 1. 31 Vgl. ebenda, S. 24. 32 Vgl. Rüdiger Wenzke, „Bei uns können Sie General werden...". Zur Herausbildung und Entwick­ lung eines „sozialistischen Offizierkorps" im DDR-Militär, in: Peter Hübner (Hrsg.), Eliten im Sozialismus. Beiträge zur Sozialgeschichte der DDR, Köln/Weimar/Wien 1999, S. 167-200, hier S. 183. Die DDR in der deutschen Geschichte 179 Mitglieder oder Kandidaten der SED33. Die nach sowjetischem Vorbild eingesetzten Polit-Offiziere - 1956 etwa 3.000 - waren sogar zu 100 Prozent Mitglieder der SED34. Die Militarisierung der Gesellschaft, die im Kontrast zu den Versuchen zur Instrumentalisierung der Friedensbewegung für die Zwecke der SED-Führung stand, hat später Gegentendenzen in den Kirchen und Teilen der Jugend, die sich zur Symbolik der „Schwerter zu Pflugscharen" bekannte, gefördert. Der Grad des Wandels und der Sowjetisierung der Gesellschaft war vor 1961 in den einzelnen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft unterschiedlich stark. Das offene Bekenntnis der SED zur straff disziplinierten und zentralisierten stalinisti­ schen Kaderpartei neuen Typs, die sich als bewußte und organisierte Vorhut der Arbeiterklasse ansah, war mit der Wendung gegen den „Sozialdemokratismus" und der Zurückdrängung früherer Sozialdemokraten aus der zentralen, regionalen und örtlichen Führung der Partei und dem Bruch mit den Traditionen der deutschen Gewerkschaftsbewegung, aber auch mit der Ausschaltung oppositioneller Kommu­ nisten verbunden35. Der Anteil früherer Sozialdemokraten an der Mitgliedschaft der SED sank von 52 Prozent nach der Vereinigung 1946 auf 6,5 Prozent im Jahr 195136. Als Instrument der innerparteilichen Kontrolle wurde im September 1948 eine zen­ trale Partei-Kontroll-Kommission mit entsprechenden Institutionen auf der Ebene der Länder und Kommunen errichtet37. Das Studium der Geschichte der KPdSU wurde zur Grundlage der Parteischulung gemacht. In Anpassung an die KPdSU wurde der demokratische Zentralismus zum Prinzip des Parteiaufbaus erklärt, die Fraktions- und Gruppenbildung untersagt und ein von Ulbricht geleitetes Zentralse­ kretariat als koordinierendes Machtzentrum für alle Bereiche von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft an die Spitze der Partei gesetzt. Besonders kennzeichnend für die Übernahme des sowjetischen Modells war der Aufbau eines Kadernomenklatursystems zur Sicherung der führenden Rolle der SED. In diesem wurden die für die zu vergebenden Positionen in Frage kommenden Personen mit genauen Angaben über ihre Herkunft, politische Orientierung und ihre Fähigkeiten verzeichnet38. Das System, das den Nomenklaturvorgesetzten und damit letztlich den Führungsgruppen der SED die Kontrolle bei der Besetzung aller

33 Vgl. ebenda, S. 185. 34 Vgl. ebenda, S. 181. 35 Vgl. Malycha, Die SED. Der Vorwurf des „Sozialdemokratismus" war dabei sehr umfassend und beschränkte sich keineswegs auf den Kampf gegen die Sozialdemokratie. Vgl. dazu besonders Beatrix Bouvier, Ausgeschaltet! Sozialdemokraten in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR 1945-1953, Bonn 1996. 36 Vgl. Karl Wilhelm Fricke, Vor- und Frühgeschichte der SED. Umschmelzung zur Kaderpartei, Austreibung des Sozialdemokratismus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 30.4. 1996. 37 Vgl. Hermann Weber, Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands 1946-1971, Hannover 1971, S. 14. 38 Vgl. Matthias Wagner, Gerüst der Macht. Das Kadernomenklatursystem als Ausdruck der führen­ den Rolle der SED, und Sabine Ross, „Karrieren auf der Lochkarte". Der Zentrale Kaderdaten­ speicher des Ministerrates der DDR, beide Aufsätze in: Arnd Bauerkämper u.a. (Hrsg.), Gesell­ schaft ohne Eliten? Führungsgruppen in der DDR, Berlin 1997, S. 87-108, und S. 109-130; Hart­ mann Zimmermann, Überlegungen zur Geschichte der Kader und der Kaderpolitik in der SBZ- 180 Gerhard A. Ritter wichtigen Positionen gab, war horizontal und vertikal gegliedert. Die Grundzüge dieses Systems entstanden zwischen 1950 und 1960. Es wurde zunächst von zwei Zentren, dem Ministerium des Inneren für den Staatsapparat und dem zentralen Par­ teiapparat der SED, aufgebaut und 1960/61 im Kadernomenklatursystem der SED vereinigt39. Kennzeichnend war die Ausweitung des Systems in immer weitere Berei­ che des gesellschaftlichen Lebens - außer den Kirchen - und die Ausdehnung auf Bezirke, Kreise und die Räte der Gemeinden. Es war ein wirksames Instrument zur Durchsetzung des Machtanspruchs der SED und trug wesentlich dazu bei, daß der Staatsapparat vollständig unter die Kontrolle der Partei geriet. Die Schwächen des Systems lagen in der einseitigen Abhängigkeit von einem in der Krise 1989/90 weit­ gehend paralysierten Zentrum, in der Erstickung eigenständigen flexiblen Handelns der mittleren und unteren Mitglieder der Nomenklaturkader sowie in der geringen Integrationsfähigkeit des immer stärker verkrusteten Systems durch den Ausschluß des Großteils der Bevölkerung von den Spitzenpositionen in Staat und Gesellschaft. Anfang 1968 hat der Soziologe Peter Christian Ludz, vor allem auf Grund einer Analyse der sozialen Zusammensetzung der Mitglieder und Kandidaten des Zentral­ komitees des SED von 1954, 1958 und 1963, eine vielbeachtete Studie zum Wandel der Parteielite der SED vorgelegt40. Seine Grundthese war, daß neben der alten „stra­ tegischen Führungsclique" der Partei in den vorrangig wissenschaftlich, technisch und wirtschaftlich spezialisierten Mitgliedern und Kandidaten des Zentralkomitees eine jüngere „institutionelle Gegenelite" entstanden sei. Diese sei weniger von der politischen Dogmatik als von den funktionalen Bedingungen der modernen Indus­ triegesellschaft geprägt. Damit verbunden vertrat Ludz die Auffassung, daß die DDR sich von einer totalitären zu einer „autoritär verfaßten Gesellschaft" wandelte, in der Fachleute in einem „konsultativen Autoritarismus" an Einfluß gewönnen, sowie die Hoffnung auf eine durch Sachzwänge bewirkte zunehmende Konvergenz westlich-demokratischer und östlich-kommunistischer Gesellschaften. Die Thesen von Ludz spiegeln vor allem die Tendenzen zur Flexibilisierung des wirtschaftlichen Systems in der Zeit des NÖSPL. Sie ordnen Ulbricht, der ja gerade eine gewisse Öffnung für Fachleute betrieb, als Mitglied der strategischen Clique aber falsch ein und übersehen, daß fachliche Kompetenz durchaus mit der politisch-ideologischen Prägung durch die SED und dem Primat der Machterhaltung der Partei Hand in Hand gehen konnte41. Faktisch war entgegen den Thesen von Ludz der Primat der Politik über der Ökonomie nie ernsthaft gefährdet.

DDR, in: Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka/Hartmut Zwahr (Hrsg.), Sozialgeschichte der DDR, 1994, S. 322-356. 39 Vgl. Wagner, Gerüst der Macht, S. 95. 40 Peter Christian Ludz, Parteielite im Wandel. Funktionsaufbau, Sozialstruktur und Ideologie der SED-Führung. Eine empirisch-systematische Untersuchung, Köln/Opladen 1968, bes. S. 324-327. 41 Zur Kritik der Thesen von Ludz vgl. u.a. die Rezension des Buches von Monika Kaiser, in: Bauer- kämper u.a. (Hrsg.), Gesellschaft ohne Eliten?, S. 253-264; Christoph Kleßmann, Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955-1970, Bonn 21997, S. 336-338. Die DDR in der deutschen Geschichte 181 Der SED-Staat hat eine neue, von der Spitze der SED eingesetzte und kontrol­ lierte, aus den Inhabern der Führungspositionen in Partei, Staat, Wirtschaft und Gesellschaft bestehende herrschende Klasse hervorgebracht, die ihrerseits von mitt­ leren Führungskadern und politisch zuverlässigen Fachleuten unterstützt wurde42. Den privilegierten Klassen ist es schließlich gelungen, ihren sozialen Status und die damit verbundenen Privilegien zu vererben, während der zunächst systematisch geförderte soziale Aufstieg von Arbeiterkindern immer schwieriger wurde43. Die neue Macht- und Funktionselite hat es aber nicht verstanden, eine eigene Kultur zu entwickeln, die für die Gesamtgesellschaft - wie das früher bei Adel und Bildungs­ bürgertum der Fall gewesen war - stilbildend wirkte44. Die DDR blieb eine Kleine- Leute-Gesellschaft, in der die nach dem Umbruch 1989 aufgedeckten Privilegien und Korruptionserscheinungen der Führung wesentlich zum völligen Zusammen­ bruch der Legitimität des Systems beitrugen. Eine der Schwächen des DDR-Systems war das Unvermögen, die Masse der Jugendlichen, in die die SED-Spitze so große Hoffnungen gesetzt hatte, innerlich für den Staat zu gewinnen. Die als einzige Jugendorganisation von der sowjetischen Besatzungsmacht im Februar 1946 zugelassene FDJ war zwar formell unabhängig, faktisch jedoch ein Instrument der SED, in dem die Vertreter der Blockparteien und der Kirchen spätestens ab 1948 ohne jeden Einfluß waren45. Der FDJ-Spitze, die sich zunehmend am sowjetischen Vorbild des Komsomol ausrichtete46, ist es nie gelungen, ein wirklich attraktives Freizeitangebot zu entwickeln. Der Mißbrauch der Mitglieder der FDJ als Akkordbrecher zur Aushebelung der Opposition älterer Beschäftigter gegen die Einführung des Leistungslohns, die bereits erwähnte umfas­ sende Militarisierung der FDJ, schließlich auch die groteske Verherrlichung Stalins47 haben die FDJ, die die Schulung der jungen Menschen im Marxismus-Leninismus und die Rechtfertigung der jeweiligen Politik der SED als ihre Hauptaufgaben ansah, in den Augen vieler Jugendlicher diskreditiert. Es kam hinzu, daß die Erfas­ sung der Mitglieder am Arbeitsplatz und nicht im Wohngebiet die Organisation von Freizeitaktivitäten erschwerte und die mangelnde Differenzierung des Angebots für die verschiedenen Altersgruppen von 14 bis 25 Jahren sich als Fehler erwies.

42 Zu den neuen Eliten der DDR vgl. Heike Solga, Auf dem Weg in eine klassenlose Gesellschaft? Klassenlage und Mobilität zwischen Generationen in der DDR, Berlin 1995; Arnd Bauerkämper/ Jürgen Danyel/Peter Hübner, „Funktionäre des schaffenden Volkes"? Die Führungsgruppen der DDR als Forschungsproblem, und Helga A. Welsh, Die kommunistischen Eliten als Gegenstand der Forschung. Ein Rück- und Ausblick, beide Aufsätze in: Bauerkämper u.a. (Hrsg.), Gesellschaft ohne Eliten?, S. 11-86 und S. 131-150. 43 Vgl. Solga, Auf dem Weg in eine klassenlose Gesellschaft?, S. 159-205. 44 Vgl. Wolfgang Engler, Die zivilisatorische Lücke. Versuche über den Staatssozialismus, Frankfurt a.M. 1991, S. 71. 45 Vgl. Peter Skyba, Schwierigkeiten mit der jungen Generation. Jugend und Jugendpolitik in der SED-Diktatur 1945 bis 1961, in: Theresia Bauer/Winfried Süß (Hrsg.), NS-Diktatur, DDR, Bun­ desrepublik. Drei Zeitgeschichten des Vereinigten Deutschland. Werkstattberichte, Neuried 2000, S. 151-180, hier S. 155. 46 Vgl. Skyba, Vom Hoffnungsträger zum Sicherheitsrisiko, bes. S. 110-117. 47 Vgl. ebenda, S. 159-163. 182 Gerhard A. Ritter Jugendliche waren unter den Flüchtlingen aus der DDR vor dem Mauerbau über­ proportional vertreten und spielten bei den Streiks und Protesten im Juni 1953 und bei den Unruhen an den Universitäten im Herbst 1956 eine wesentliche Rolle48. Ein erheblicher Teil der Jugend orientierte sich an der westlichen Jugendkultur49 und demonstrierte mit dem Tragen von Jeans, der anfangs mit Zuchthausstrafen bedroh­ ten Begeisterung für den (amerikanischen) Jazz und den (amerikanischen) Rock'n'­ Roll und schließlich in den siebziger Jahren mit der Übernahme der Symbole der westlichen Friedensbewegung seine Distanz zum Regime. In der staatlichen Verwaltung hat die SED, die nach dem Krieg sofort mit der Lei­ tung der Polizei und der Kontrolle der Personalämter die Schlüsselpositionen über­ nahm, einen fast völligen Austausch der Eliten und die Ausrichtung der Arbeit der Verwaltung auf ihre Politik erreicht50. Wie insbesondere neuere Untersuchungen durch Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte über die Umwandlung des Justizwe­ sens und die politische Instrumentalisierung der Rechtsprechung gezeigt haben51, hat sich trotz der im Zuge der Entnazifizierung vorgenommenen massenhaften Entlassung von Richtern und Staatsanwälten, die ganz überwiegend der NSDAP angehört hatten, und der forcierten Ausbildung von sog. Volksrichtern in Schnellkursen zur Schließung der Personallücke die Gleichschaltung, Zentralisierung und Sowjetisierung des Justiz­ wesens von 1947/48 bis 1952/53 hingezogen. Weder die SMAD noch die deutschen Kommunisten haben die Eroberung der Machtinstrumente der Justiz als vordringlich angesehen. Auch fehlte ihnen zunächst das entsprechend ausgebildete Personal. Zudem hat die sowjetische Besatzungsmacht mit ihren Militärtribunalen und Spezial- lagern alle Abweichungen von der herrschenden Linie und alle potentiellen politi­ schen Gegner rigoros ohne Einschaltung der deutschen Justiz unterdrücken können. Einen tiefen Bruch mit den deutschen Traditionen bedeutete die Abschaffung des Berufsbeamtentums und die 1952 vorgenommene Ersetzung der fünf bestehenden Länder, in deren Landtagen die SED bei den Wahlen vom 20. Oktober 1946 keine absoluten Mehrheiten der Sitze erringen konnte52, durch 15 Bezirke (einschließlich Ostberlin)53, denn dadurch wurden die noch vorhandenen geringen Einflußmöglich-

48 Vgl. ebenda, S. 250-257, 304-323, 331-338, 357-370. 49 Vgl. Gerhard A. Ritter, Über Deutschland. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte, München 22000, S. 178-180. 50 Vgl. ebenda, S. 132-134. 51 Vgl. Hermann Wentker, Justiz in der SBZ/DDR 1945-1953. Transformation und Rolle ihrer zen­ tralen Institutionen, München 2001; Petra Weber, Justiz und Diktatur. Justizverwaltung und politi­ sche Strafjustiz in Thüringen 1945-1961, München 2000; Dieter Pohl, Justiz in Brandenburg 1945- 1955. Gleichschaltung und Anpassung, München 2001; vgl. weiter Heike Arnos, Justizverwaltung in der SBZ/DDR. Personalpolitik 1945 bis Anfang der 50er Jahre, Köln 1996; Karl Wilhelm Fricke, Der Wahrheit verpflichtet. Texte aus fünf Jahrzehnten zur Geschichte der DDR, hrsg. von der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und vom Deutschlandfunk. Wissenschaftli­ cher Bearbeiter: Ilko-Sascha Kowalczuk, Berlin 2000, S. 253-348. 52 Vgl. Gerhard A. Ritter/Merith Niehuss, Wahlen in Deutschland 1946-1991. Ein Handbuch, Mün­ chen 1991, S. 149. 53 Vgl. Karl-Heinz Hajna, Länder-Bezirke-Länder. Zur Territorialstruktur im Osten Deutschlands 1945-1990, Frankfurt a.M. u.a. 1995. Die DDR in der deutschen Geschichte 183 keiten der bürgerlichen Blockparteien beseitigt und die letzten Reste regionaler Autonomie aufgehoben. Auch die Überbleibsel der körperschaftlichen Eigenständig• keit der Gemeinden und Kreise, die anfangs an die deutsche Tradition der kommu­ nalen Selbstverwaltung angeknüpft hatten, wurden nach vorangegangenen Eingriffen in die Kompetenzen der Gemeinden in Wirtschaft, Polizei und Schulwesen 1952/53 beseitigt54. Die Gemeinden und Kreise sanken dadurch - wie die Bezirke - zu nach­ geordneten territorialen Verwaltungseinheiten und Organen der Staatsgewalt ohne eigenständigen autonomen Kompetenzbereich herab. Während die erste Verfassung der DDR von 1949 in ihren Formulierungen noch vielfach an demokratische Grundsätze der Weimarer Reichsverfassung erinnerte, die allerdings im Widerspruch zur Realität der von der Besatzungsmacht kontrollierten Diktatur der Staatspartei der DDR standen, hatte die Verfassung von 1968, die den Führungsanspruch der SED verankerte und die DDR als sozialistischen Staat deut­ scher Nation und als die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land (Art. 1)55 bezeichnete, die sowjetische Verfassung von 1936 als Vorbild.

III.

Im Schulwesen, dessen Lehrerschaft durch die Entnazifizierung und die Ausbildung von Junglehrern in Schnellkursen fast völlig ausgetauscht und bald stark von der SED dominiert wurde56, knüpfte man mit der Einführung der „demokratischen Ein­ heitsschule", der Durchsetzung der Schulgeldfreiheit, der finanziellen Unterstützung der Kinder aus sozial schwachen Familien sowie der Verankerung einer für alle Schüler gemeinsamen achtklassigen Grundschule, auf die eine vierklassige Ober­ schule bzw. eine dreiklassige Berufschule aufbauten, an die schulpolitischen Vorstel­ lungen der KPD und SPD und an Konzepte der Reformpädagogik aus der Weimarer Zeit an. Auch waren die Lehrpläne zunächst noch keineswegs an kommunistischen Dogmen ausgerichtet, sondern betonten die Erziehung der Jugend zur Demokratie und wahren Humanität und den Geist des friedlichen Zusammenlebens der Völker57. Seit 1948/49 wurden jedoch die reformpädagogischen Konzepte zunehmend durch

54 Vgl. Dieter Marc Schneider, Kommunalverwaltung und -Verfassung, in: Martin Broszat/Hermann Weber (Hrsg.), SBZ-Handbuch. Staatliche Verwaltungen, Parteien, gesellschaftliche Organisatio­ nen und ihre Führungskräfte in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1945-1949, Mün­ chen 1990, S. 297-319. 55 Vgl. Herwig Roggemann, Die DDR-Verfassungen. Einführung in das Verfassungsrecht der DDR. Grundlagen und neuere Entwicklungen, Berlin 41989, S. 426. 56 Vgl. Helga A. Welsh, Revolutionärer Wandel auf Befehl? Entnazifizierung und Personalpolitik in Thüringen und Sachsen (1945-1948), München 1989, S. 87-109; dies., Antifaschistisch-demokrati­ sche Umwälzung und politische Säuberung in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, in: Klaus-Dietmar Henke/Hans Woller (Hrsg.), Politische Säuberung in Europa und die Abrech­ nung mit Faschismus und Kollaboration nach dem Zweiten Weltkrieg, München 1991, S. 84-107, bes. S. 98. 57 Vgl. Ritter, Über Deutschland, S. 143. 184 Gerhard A. Ritter die ideologische Orientierung am sowjetischen Modell ersetzt. Im Anschluß an die Zweite Parteikonferenz der SED 1952 forderte das Politbüro, daß die Schulen am Aufbau des Sozialismus mitwirken müßten und die Erziehung des neuen sozialisti­ schen Menschen zu ihrer zentralen Funktion gemacht werden müsse58. Immer ein­ deutiger wurden die Schulen schließlich auch als Instrumente zur Lenkung des Angebots an Arbeitskräften im Rahmen der Wirtschaftsplanung angesehen. Die Ent­ wicklung fand ihren Abschluß in der durch Gesetz vom 2. Dezember 195959 nach sowjetischem Vorbild geschaffenen zehnklassigen „polytechnischen Oberschule", die die enge Verbindung von Bildung und Erziehung mit der wirtschaftlichen Pro­ duktion betonte und für alle Kinder der DDR Regelschule war. Mit der Reform der Schulbildung wollte man die jungen Menschen nicht nur auf die Anforderungen der Wirtschaft vorbereiten, sondern auch die Bundesrepublik auf dem Bildungssektor überholen. Größere Freiräume und eine stärkere Anknüpfung an ältere deutsche Traditionen gab es vor allem bis zum Mauerbau im Hochschulwesen. Zunächst bedeuteten die Entnazifizierung, die Deportation führender Wissenschaftler in die Sowjetunion und die Abwanderung vieler Wissenschaftler in den Westen Deutschlands einen schwe­ ren Aderlaß für die Hochschulen60; auch wurde sofort damit begonnen, das weitge­ hende bürgerliche Bildungsprivileg an den Hochschulen durch die Erschwerung des Hochschulzugangs für Kinder aus dem Besitz- und Bildungsbürgertum und die gezielte Förderung von Studenten aus den Unterschichten - vor allem der Arbeiter­ schaft - zu brechen. Die Gründung von Vorstudienanstalten ab Frühjahr 1946, aus denen später die Arbeiter- und Bauernfakultäten hervorgingen, sowie die Errichtung pädagogischer Fakultäten zur methodischen Ausbildung von Lehrern dienten vor­ nehmlich diesem Ziel. Die ideologische Durchdringung der Universitäten wurde durch die Errichtung dreier gesellschaftswissenschaftlicher Fakultäten in Leipzig, Rostock und Jena, die direkt der SED unterstanden, gefördert. Die Entstehung hochschulartiger Institutionen etwa für Staats- und Rechtswissenschaft und Ökono­ mie, die unter der strikten Kontrolle der SED standen, sowie die zunehmende Verla­ gerung der Forschung auf die aus der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin hervorgegangene Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin (später Akademie der Wissenschaften der DDR) haben die Stellung der Universitäten weiter

58 Vgl. Oskar Anweiler, Das Bildungswesen, in: Eckhard Jesse (Hrsg.), Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik. Die beiden deutschen Staaten im Vergleich, Bonn 1980, S. 231-237; Udo Margedant, Bildungs- und Erziehungssystem der DDR - Funktion, Inhalte, Instrumentalisierung, Freiräume, in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", 12. Wahlperiode des Deutschen Bun­ destages, hrsg. vom Deutschen , Bd. III: Rolle und Bedeutung der Ideologie, integrativer Faktoren und disziplinierender Praktiken in Staat und Gesellschaft der DDR, Baden-Baden 1995, S. 1489-1529. 59 Abdruck des „Gesetz(es) über die sozialistische Entwicklung des Schulwesens in der Deutschen Demokratischen Republik" vom 2.12. 1959, in: Kleßmann, Zwei Staaten, eine Nation, S. 568-570. 60 Vgl. Ralph Jessen, Akademische Elite und kommunistische Diktatur. Die ostdeutsche Hochschul­ lehrerschaft in der Ulbricht-Ära, Göttingen 1999, S. 261-285. Die DDR in der deutschen Geschichte 185 wesentlich geschwächt61. Die Akademie wandelte sich dafür nach sowjetischem Vor­ bild von einer „bürgerlichen" Gelehrtengesellschaft zum wichtigsten Zentrum der Forschung mit großen, vor allem naturwissenschaftlich-technischen Instituten62. Stationen und wichtige Aspekte der Umwandlung und politischen Gleichschal­ tung der Hochschulen waren die zunehmende Verdrängung der bürgerlichen Gei­ steswissenschaftler seit 1945/46, die Verstaatlichung und Bürokratisierung der Hoch­ schulen und der steigende Einfluß der SED auf die Gremien der Universitäten. In der sog. Dritten Hochschulreform 1967/68 verloren schließlich die alten Ordinarien mit der Zusammenlegung jeweils mehrerer Institute, die traditionell von ihnen dominiert worden waren, zu Sektionen ihre letzte Bastion in den Hochschulen63. Schon vorher hatten sie die Kontrolle über den Zugang zum Beruf des Hochschul­ lehrers sukzessive verloren, in dem die Auslese nach wissenschaftlichen Leistungen zunehmend durch politische Kriterien und Kaderplanung ergänzt, in einigen Fächern sogar ersetzt wurde64. Allerdings verlief dieser Prozeß in den einzelnen Wissenschaftsdisziplinen in einem durchaus unterschiedlichen Tempo und mit einem unterschiedlichen Grad der Politisierung. Besonders die älteren Professoren der naturwissenschaftlichen Fächer und der medizinischen Fakultäten, in denen die Entnazifizierung 1945/46 für viele nur eine Episode blieb, konnten sich wegen der chronischen Personalknappheit bis in die frühen sechziger Jahre behaupten und an ihrem traditionellen Berufsethos zweckfreier unpolitischer Wissenschaft und der Auslese des Nachwuchses nach indi­ vidueller Leistung in einem Konkurrenzverfahren festhalten65. Die entscheidende Ursache für ihre starke Stellung war die Existenz eines gesamtdeutschen wissen­ schaftlichen Arbeitsmarktes und damit die Möglichkeit gerade der besonders angese­ henen Professoren einen Lehrstuhl an einer westdeutschen Universität oder eine führende Position in einem Max-Planck-Institut zu erhalten. Der Mauerbau 1961 bedeutete daher eine tiefe Zäsur im Hochschulwesen. Während eine neue Genera­ tion von bereits in der DDR sozialisierten und von der SED protegierten Nach­ wuchswissenschaftlern zur Übernahme der freiwerdenden oder neuen Stellen bereit-

61 Vgl. Marianne und Egon Erwin Müller, „... stürmt die Festung Wissenschaft!" Die Sowjetisierung der mitteldeutschen Universitäten seit 1945, Berlin-Dahlem 1953; Ernst Richert, „Sozialistische Universität". Die Hochschulpolitik der SED, Berlin 1967, bes. S. 59-76; Herbert Stallmann, Die Anfänge des Arbeiter- und Bauernstudiums in der SBZ/DDR, in: Manfred Heinemann (Hrsg.), Umerziehung und Wiederaufbau. Die Bildungspolitik der Besatzungsmächte in Deutschland und Österreich, Stuttgart 1981, S. 268-277; Jessen, Akademische Elite, S. 147-174. 62 Die Zahl der Mitarbeiter der Akademie stieg von 131 im Jahre 1946 auf 12.923 im Jahr 1967. Vgl. Peter Nötzoldt, Der Weg zur „sozialistischen Forschungsakademie": Der Wandel des Akademie­ gedankens zwischen 1945 und 1968, in: Hoffmann/Macrakis (Hrsg.), Naturwissenschaft, S. 125- 146, hier S. 125. Vgl. zur Entwicklung der Akademie auch Werner Hartkopf, Die Akademie der Wissenschaften der DDR. Ein Beitrag zu ihrer Geschichte, Berlin (Ost) 1975; Rudolf Landrock, Die Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1945-1971. Ihre Umwandlung zur soziali­ stischen Forschungsakademie, Bde.1-3, Erlangen 1977. 63 Vgl. Jessen, Akademische Elite, S. 193-206. 64 Vgl. ebenda, S. 51-134. 65 Vgl. ebenda, S. 432 f. 186 Gerhard A. Ritter stand, verloren die älteren Professoren auch der naturwissenschaftlichen Fächer und der Medizin die Alternative, nach Westdeutschland zu gehen, und mußten sich stär­ ker als zuvor dem herrschenden System anpassen. Die soziale Exklusivität des Hochschullehrerberufes nahm, nach der ersten Öff­ nung des Zugangs zur Professur für einzelne intellektuelle kommunistische Quer­ einsteiger, mit der zunehmenden Rekrutierung von Wissenschaftlern mit proletari­ schem Familienhintergrund ab. Die Entbürgerlichung66 erstreckte sich jedoch, vor allem in den ideologieneutralen Fächern, in der der Staat auf die Fachkompetenz der Professoren angewiesen war, über einen sehr viel längeren Zeitraum als in anderen Bereichen der Gesellschaft. Hier waren noch bis weit in die sechziger Jahre starke Kontinuitäten zu deutschen Traditionen und das Hochhalten bildungsbürgerlicher Ideale zu erkennen. Das gleiche gilt für die Ärzteschaft. Trotz des besonders hohen Anteils von Mit­ gliedern der NSDAP unter den Ärzten waren diese - mit Ausnahme der politisch belasteten Amtsärzte - bei der Entnazifizierung sehr glimpflich davongekommen67, da man sie angesichts der Seuchengefahr und der im Vergleich zu Westdeutschland gegebenen medizinischen Unterversorgung68 dringend benötigte. Auch hier hat die Existenz eines gesamtdeutschen Arbeitsmarktes - bis 1961 verließen 7.500 Ärzte oder die Hälfte des Ärztebestandes von 1946 die Sowjetzone bzw. die DDR69 - eine schnelle, radikale Transformation verhindert. Angesicht der traditionellen Distanz der Ärzte zu den Arbeiterparteien hat es auch eine starke Parteiärzteschaft - wie im Nationalsozialismus - nicht gegeben. Die den Berufsstand der Ärzte und das Gesundheitswesen betreffenden Verände­ rungen knüpften im wesentlichen an sozialdemokratische Reformkonzeptionen in der Weimarer Republik an, die z.T. über die Sowjetunion reimportiert und vom sowjetischen Vorbild überformt wurden70. Insgesamt kann man jedoch nicht von einer tiefgreifenden Sowjetisierung des Gesundheitswesens sprechen. Der Unter­ schied zu Westdeutschland lag einmal in der schärferen Betonung von Prävention

66 Vgl. ebenda, S. 372-427; Ralph Jessen, Vom Ordinarius zum sozialistischen Professor. Die Neu­ konstruktion des Hochschullehrerberufs in der SBZ/DDR, 1945-1969, in: Richard Bessel/Ralph Jessen (Hrsg.), Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft der DDR, Göttingen 1996, S. 76-102. 67 Vgl. Anna-Sabine Ernst, „Die beste Prophylaxe ist der Sozialismus". Ärzte und medizinische Hochschullehrer in der SBZ/DDR 1945-1961, Münster u.a. 1997, S. 143-206. 68 In der Ostzone hatte ein Arzt 1946 rund 1.400 Einwohner zu betreuen, in den Westzonen nur 800. Vgl. Anna-Sabine Ernst, Von der bürgerlichen zur sozialistischen Profession? Ärzte in der DDR 1945-1961, in: Bessel/Jessen (Hrsg.), Grenzen der Diktatur, S. 25-48, hier S. 27. 69 Vgl. Ernst, Prophylaxe, S. 54 f.; Die Zahlen, die primär anhand des Notaufnahmeverfahrens ermit­ telt wurden, schließen die Zahnärzte nicht ein und dürften noch zu niedrig gegriffen sein. Nach der Volkszählung in der Bundesrepublik 1961 stammten 8.740 der in der Bundesrepublik lebenden Ärzte aus der DDR. 70 Vgl. ebenda, S. 25 f.; Ernst, Von der bürgerlichen zur sozialistischen Profession?, S. 25; Philip Manow, Entwicklungslinie ost- und westdeutscher Gesundheitspolitik zwischen doppelter Staats­ gründung, deutscher Einigung und europäischer Integration, in: Zeitschrift für Sozialreform 43 (1997), S. 101-131. Die DDR in der deutschen Geschichte 187 und Früherkennung von Krankheiten sowie in der stärkeren Verzahnung von ambu­ lanter und stationärer Versorgung71. Hinzu kam, daß die Ausdehnung der Versiche­ rungspflicht faktisch das Ende der Privatpraxis bedeutete. Da neue Zulassungen bei der Niederlassung von Ärzten seit 1949 praktisch nicht mehr vergeben wurden72, wurde das Gesundheitswesen zudem sukzessive verstaatlicht. Der Anteil der Freibe­ rufler unter den Ärzten ging von über der Hälfte 1949 auf gut ein Fünftel 1960 zurück73. In der ambulanten Versorgung ersetzten Polikliniken, Ambulatorien und das Betriebsgesundheitswesen zunehmend die frei praktizierenden Ärzte74. Die ärzt­ lichen Standesorganisationen und kassenärztlichen Vereinigungen wurden liquidiert. Eine eigenständige Interessenvertretung der Ärzte, die sich schließlich mit den übri­ gen Heilberufen in die Gewerkschaft Gesundheitswesen des FDGB eingliedern mußten, wurde nicht zugelassen75. Eine Dequalifizierung der Ärzte fand jedoch nicht statt. Das zeitweise gefährdete, weitgehende ärztliche Behandlungsmonopol blieb gewahrt. In Abweichung von der deutschen Tradition, in der insbesondere bei der ambulanten Versorgung und der Versorgung mit Medikamenten und medizinischen Hilfsmitteln die privaten Anbie­ ter von Gesundheitsleistungen dominieren, wurde das Gesundheitswesen der DDR, trotz der Erhaltung eines minimalen privaten Sektors, auch als Konsequenz des Kampfes gegen die „bürgerlichen" Grundlagen der Gesundheitsberufe im Prinzip in allen Bereichen verstaatlicht, zumal die Erhaltung der Gesundheit als Aufgabe des Staates angesehen wurde. Es gab jedoch auch erhebliche Elemente der Kontinuität, die bis 1961 im gesamtdeutschen Ärztemarkt und in der Institution der Kliniken mit ihren hierarchischen Strukturen und ihrer Bedeutung für die Sozialisation der jungen Ärzte, aber auch im Berufsethos und im bürgerlichen Selbstverständnis vieler Ärzte in der DDR lagen76. Auch bei der Umgestaltung des Ingenieurberufes77 wurden die Grenzen der SED- Diktatur und starke Kontinuitäten zur Zeit vor 1945 deutlich. Der gesamtdeutsche Arbeitsmarkt für Ingenieure bis 1961 und der Mangel an hochqualifizierten Spezialisten, insbesondere im Maschinenbau, legten eine pflegliche Behandlung der älteren, erfahrenen Ingenieure nahe. Zur Kompensation der durch die „Republik-

71 Zu den Unterschieden und Gemeinsamkeiten der Gesundheitspolitik des NS-Systems, der Bun­ desrepublik und der DDR vgl. die scharfsinnige Studie von Winfried Süß, Gesundheitspolitik, in: Hans Günter Hockerts (Hrsg.), Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesre­ publik und DDR im Vergleich, München 1998, S. 55-100. 72 Vgl. Ernst, Prophylaxe, S. 33. 73 Vgl. ebenda, S. 34. 74 Vgl. ebenda, S. 28-36; vgl. auch Jürgen Wasem, Vom staatlichen zum kassenärztlichen System. Eine Untersuchung des Transformationsprozesses der ambulanten ärztlichen Versorgung in Deutsch­ land, Frankfurt a.M./New York 1997, S. 43-49. 75 Vgl. Ernst, Prophylaxe, S. 73-89. 76 Vgl. ebenda, S. 341-343. 77 Vgl. dazu Dolores L. Augustine, Frustrierte Technokraten. Zur Sozialgeschichte des Ingenieurbe­ rufs in der Ulbricht-Ära, in: Bessel/Jessen (Hrsg.), Grenzen der Diktatur, S. 49-75; Dolores L. Augustine, Zwischen Privilegierung und Entmachtung: Ingenieure in der Ulbricht-Ära, in: Hoffmann/Macrakis (Hrsg.), Naturwissenschaft, S. 173-191. 188 Gerhard A. Ritter flucht" entstandenen Verluste, aber auch aus ideologischen Gründen forcierte die SED-Führung den Aufbau einer proletarisierten und auch stärker feminisierten „neuen technischen Intelligenz". Der Einsatz der neu ausgebildeten Jungingenieure traf aber vielfach auf Widerstände in den Betrieben, die sich weigerten, ihre bisheri­ gen Mitarbeiter, die keinen Hoch- oder Fachschulabschluß hatten, zur Räumung von Planstellen zu zwingen. Wenn im Zusammenhang mit der stärkeren Akzeptanz der Bedeutung der wissen­ schaftlich-technischen Revolution im „Neuen Ökonomischen System" der zunächst starke ideologische und politische Druck auf die Ingenieure auch abgeschwächt wurde, erhielten die Ingenieure doch nicht die Schlüsselstellung in den Betrieben, die sie erwartet hatten. Zudem behinderten der Betriebsegoismus und die generatio­ nelle Spaltung des Ingenieurberufes die zentrale Steuerung des Arbeitsmarktes für die „technische Intelligenz". Die Einkommensnivellierung, auf Grund derer die Gehälter der Ingenieure meist kaum über den sehr viel stärker gestiegenen Fachar­ beiterlöhnen lagen, widersprach den Kriterien der Leistungsorientierung. Der histo­ risch tief verwurzelte Berufsethos der Ingenieure, die sich vielfach als unpolitische technische Spezialisten der modernen Industriegesellschaft verstanden, rieb sich mit den ideologischen Vorgaben der SED. Aufgrund der aus der täglichen Arbeit gewonnenen Einblicke in die Widersprüche des Systems der Planwirtschaft gingen viele Ingenieure auch auf Distanz zur Technik- und Wirtschaftspolitik des Regimes, das de facto die Idealvorstellung der SED von aus dem Proletariat kommenden, ideologisch im Marxismus-Leninismus wurzelnden Ingenieuren, die sich ganz dem Aufbau des Sozialismus verpflichteten, gegenüber dem überkommenen Berufsbild meist nicht durchsetzen konnte78. Die wohl stärkste Kontinuität zur Zeit vor 1945 - übrigens auch nach der Vereini­ gung 1990 zur DDR-Zeit - gab es bei den Kirchen und ihren Geistlichen. Von der Entnazifizierung waren die Kirchen trotz der vielen NSDAP-Mitglieder unter den protestantischen Pfarrern nur ganz am Rande betroffen worden, da die SMAD und unter ihrem Einfluß auch die deutschen Kommunisten das Prinzip der Selbstreini­ gung der Kirchen weitgehend akzeptierten79. Die katholische Kirche, die im Osten Deutschlands in einer Diaspora-Situation war, verblieb in bewußter Distanz zum Regime und konnte ihre Autonomie und ihre von der SED-Führung mit zunehmen­ der Schärfe abgelehnte Verbindung zum westdeutschen Katholizismus weitgehend behaupten80. Auch das protestantische Milieu blieb zunächst intakt. Die evangeli-

78 Vgl. Augustine, Frustrierte Technokraten, S. 68f. 79 Vgl. Christoph Kleßmann, Zur Sozialgeschichte des protestantischen Milieus in der DDR, in: Geschichte und Gesellschaft 19 (1993), S. 29-53, hier S. 34 f. 80 Vgl. Ulrich von Hehl/Hans Günter Hockerts (Hrsg.), Der Katholizismus - gesamtdeutsche Klam­ mer in den Jahrzehnten der Teilung? Erinnerungen und Berichte, Paderborn u.a. 1996; Ulrich von Hehl/Wolfgang Tischner, Die katholische Kirche in der SBZ/DDR 1945-1990, in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutsch­ land". 12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages, Bd. VI: Rolle und Selbstverständnis der Kir­ chen in den verschiedenen Phasen der SED-Diktatur, Baden-Baden 1995, S. 875-949. Die DDR in der deutschen Geschichte 189 schen Kirchen konnten ihren Grundbesitz trotz der Bodenreform behalten; die kirchlichen Ausbildungsstätten blieben bestehen. Die diakonische Arbeit vor allem in der Alten- und Behindertenpflege konnte, zumal die staatlichen Institutionen den Bedarf nicht decken konnten, fortgesetzt werden. In der Rekrutierung der Pfarrer gab es ein hohes Maß an Kontinuität. Über ein Drittel der Väter der Pfarrer hatten eine abgeschlossene universitäre Ausbildung, meist in Theologie, ein Viertel der Pfarrer waren Pfarrersöhne und ein Fünftel der Pfarrfrauen waren Töchter von Pfar­ rern81. Das spannungsgeladene wechselvolle Verhältnis des SED-Staates zu den evan­ gelischen Kirchen und die Beziehungen zwischen den west- und ostdeutschen Lan­ deskirchen, die in der Forschung intensiv behandelt worden sind82, können hier nur kurz angedeutet werden. In den fünfziger Jahren standen neben der scharfen Repres­ sion in einem heftigen Kirchenkampf, der sich vor allem gegen den Einfluß der Kir­ chen auf die Jugend richtete und die Bildungschancen christlicher Jugendlicher ent­ scheidend beeinträchtigte, die Versuche, über die ostdeutsche Landeskirche die 1948 in Eisenach konstituierte EKD (Evangelische Kirche Deutschlands) für die Deutsch­ landpolitik der DDR zu gewinnen. Nach der offiziellen Akzeptanz der Theorie von den zwei deutschen Staaten 1955 nahm die DDR den von der EKD mit der Bundes­ republik 1957 geschlossenen Militärseelsorgevertrag zum Anlaß, der EKD die Aner­ kennung als gesamtkirchliche Vertretung zu entziehen und zu versuchen, die ost­ deutschen Landeskirchen für ihren Kampf gegen den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik und für die internationale Anerkennung der DDR zu instrumentali­ sieren. Bis zu der von der SED-Führung 1969 schließlich mit der Gründung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR erzwungenen, auch formellen Loslö­ sung der Landeskirchen der DDR von der EKD war diese trotz ihrer zunehmenden Handlungsunfähigkeit in Ost-West-Fragen und inneren Angelegenheiten der DDR83 die wichtigste gesamtdeutsche Klammer. Unter dem Druck der SED, die einen militanten Atheismus propagierte und den Kampf gegen Kirchen und Religion als immanenten Teil des Klassenkampfes betrieb, aber auch auf Grund der langfristigen Tendenzen zur Säkularisierung kam es zur zunehmenden Einengung des protestantischen Milieus. Mit der aus der Tradition der deutschen Arbeiterbewegung kommenden Jugendweihe wurde gegen den vergebli­ chen Widerstand der Kirchen ein Ersatzritual für die traditionelle Konfirmation durchgesetzt84. Mit dem massenhaften Austritt aus den Kirchen, denen schließlich

81 Vgl. Kleßmann, Sozialgeschichte, S. 32. 82 Vgl. insbesondere das dreibändige Werk von Gerhard Besier, Der SED-Staat und die Kirche. Der Weg in die Anpassung, München 1993; Der SED-Staat und die Kirche (1969-1990). Die Vision vom „Dritten Weg", Berlin 1995; Der SED-Staat und die Kirche. Höhenflug und Absturz, Berlin 1995; vgl. weiter Martin G. Goerner, Die Kirche als Problem der SED. Strukturen kommunisti­ scher Herrschaftsausübung gegenüber der evangelischen Kirche 1945-1958, Berlin 1997, sowie die Beiträge in: Materialien, Bd. VI. 83 Vgl. Reinhard Henkys, Die Kirchen im SED-Staat zwischen Anpassung und Widerstand, in: Weber (Hrsg.), SED-Staat, S. 199-243, hier S. 214. 84 Vgl. Detlef Urban/Hans Willi Weinzen, Jugend ohne Bekenntnis? 30 Jahre Konfirmation und Jugendweihe im anderen Deutschland 1954-1984, Berlin 1984. 190 Gerhard A. Ritter nur noch eine Minderheit der Bevölkerung angehörte, verloren diese ihren Charak­ ter als Volkskirchen85 und wesentliche kulturelle Kraft. Immerhin gelang es aber den evangelischen Kirchen mit einer schwierigen Gratwanderung zwischen Anpassung und Resistenz ihre Gleichschaltung zu verhindern und einen erheblichen Grad an Autonomie zu bewahren. Sie bildeten so schließlich ein Dach, unter dem sich die Friedens-, Umwelt- und Bürgerrechtsbewegungen entwickeln konnten, die wesent­ lich an der Auslösung der friedlichen Revolution 1989 beteiligt waren. Diese Analysen der Grenzen der SED-Diktatur dürfen jedoch nicht darüber hin­ wegtäuschen, daß die Gesellschaft schon bis 1961 grundlegend verändert worden war. Der Adel verlor mit der Bodenreform seine ökonomische Basis und spielte keine eigenständige Rolle mehr. Das traditionelle Besitzbürgertum verschwand mit der Ver­ staatlichung von Industrie, Großhandel und Banken. Das Bildungsbürgertum konnte sich - wie erwähnt - in Restbeständen besonders bei Pfarrern, Ärzten und Teilen der Hochschullehrerschaft vor allem bis zum Mauerbau behaupten86, wurde aber margina- lisiert und verlor seine vorher für weite Kreise der Bevölkerung maßgebliche Vorbild­ funktion für Lebensweise und Wertvorstellungen. Die Auflösung der Beamtenschaft bedeutete den radikalen Abbruch einer tief verwurzelten, in starkem Maße verhaltens­ prägenden deutschen Institution. Die neue, sehr heterogene Schicht der „sozialisti­ schen Intelligenz" zeigte in der besonderen Nähe zum Staat Affinitäten zu dem frühe­ ren Bildungsbürgertum und der Beamtenschaft, wich aber in ihrer Ausrichtung am Sozialismus und der SED von älteren Wertvorstellungen und Verhaltensweisen völlig ab. Insgesamt bedeutete die weitgehende Verdrängung der alten Eliten in der DDR einen schweren Verlust an ökonomischem Potential und kulturellem Kapital, der bis zum Ende des Regimes nicht wettgemacht werden konnte. Das Kleinbürgertum der gewerblichen Selbständigen konnte sich trotz scharfer Ver­ folgungen etwa mittels Steuergesetzen in den fünfziger Jahren noch weitgehend hal­ ten. Später wurde ihm jedoch durch die weitere Verstaatlichung des Handels bzw. die genossenschaftliche Organisation des Handwerks die wirtschaftliche Basis entzogen. Da aber kleinbürgerliche Werte und Lebensweisen eine starke Anziehungskraft auch auf die Arbeiterschaft gehabt hatten, wurden sie in der DDR teilweise konserviert. Eine völlige Umwandlung erfuhr die ländliche Gesellschaft. Während die dörfli­ chen Sozialstrukturen und die ländlichen Verhaltensweisen sich in Westdeutschland ebenfalls stark veränderten, dies aber unter dem Einfluß der Einebnung der Unter­ schiede zwischen Stadt und Land durch Massenmotorisierung, Massenkonsum und Massenkommunikationsmittel, der schwierigen Integration der Flüchtlinge und der Abschwächung konfessioneller Differenzen geschah87, war der Wandel in der DDR

85 Vgl. Detlef Pollack, Von der Volkskirche zur Minderheitskirche. Zur Entwicklung von Religiosität und Kirchlichkeit in der DDR, in: Kaelble/Kocka/Zwahr (Hrsg.), Sozialgeschichte der DDR, S. 271-294. 86 Vgl. Christoph Kleßmann, Relikte des Bildungsbürgertums in der DDR, in: Kaelble/Kocka/ Zwahr (Hrsg.), Sozialgeschichte der DDR, S. 254-270. 87 Vgl. Paul Erker, Ernährungskrise und Nachkriegsgesellschaft. Bauern und Arbeiterschaft in Bay­ ern 1943-1953, Stuttgart 1993; ders., Revolution des Dorfes? Ländliche Bevölkerung zwischen Die DDR in der deutschen Geschichte 191 vor allem politisch bedingt. Mit der von der Sowjetunion mit Unterstützung der KPD durchgesetzten radikalen Bodenreform88 - der entschädigungslosen Enteig­ nung der Besitzer der gerade in weiten Teilen Ostdeutschlands die Landwirtschaft stark prägenden großen Güter - wurde die landwirtschaftliche Besitzstruktur wesentlich verändert und die traditionelle soziale und weitgehend auch politische Dominanz des sog. „Junker" beendet. Die an die Bodenreform geknüpften weiteren ökonomischen, sozialen und politischen Hoffnungen erfüllten sich jedoch nicht. Die agrarische Produktion ging stark zurück und trug wesentlich zur akuten Ernäh­ rungskrise der frühen Nachkriegszeit bei89. Es entstanden zudem massive Spannun­ gen zwischen Alt- und Neubauern, die vor allem auf der unzureichenden Ausstat­ tung der neuen Betriebe mit Vieh, Maschinen, Inventar und Gebäuden und der Abhängigkeit der Neubauern von der oft nur widerwillig oder gar nicht gegebenen Hilfe der alteingesessenen Landwirte beruhten90. Die Bodenreform leistete auch kei­ nen dauerhaften wesentlichen Beitrag zur Integration der Vertriebenen, die unter den Neubauern vielfach noch besonders benachteiligt wurden91. In den Dörfern und zunächst auch in der „Vereinigung der gegenseitigen Bauern­ hilfe" gaben meist die Großbauern mit einem Betrieb von mehr als 20 ha weiter den Ton an. Auch politisch ging die Rechnung der SED, mit den Neubauern eine starke eigene Klientel auf dem Land zu schaffen, nicht auf. Obwohl die SED bei den Gemeindewahlen vom September 1946 in den Dörfern Mecklenburgs, in denen der Großgrundbesitz stark verbreitet gewesen war und es daher besonders viele Neu­ bauern gab, überdurchschnittliche Erfolge erzielen konnte, blieb die Bindung an die SED prekär. Der Anteil der Landwirte an den SED-Mitgliedern blieb mit 5,8 Pro­ zent in der SBZ im Mai 1947 niedrig92. Viele Neubauern gaben ihr Land auch wieder auf und distanzierten sich desillusioniert von der SED, in deren Mitgliedschaft die

Flüchtlingszustrom und landwirtschaftlichem Strukturwandel, in: Martin Broszat/Klaus-Dietmar Henke/Hans Woller (Hrsg.), Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, München 1988, S. 367-425; Peter Exner, Ländliche Gesellschaft und Landwirtschaft in Westfalen 1919-1969, Paderborn 1997. 88 Vgl. Arnd Bauerkämper (Hrsg.), „Junkerland in Bauernhand"? Durchführung, Auswirkungen und Stellenwert der Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone, Stuttgart 1996. 89 Vgl. dazu am Beispiel Sachsen Ulrich Kluge, „Die Bodenreform ist in erster Linie eine politische Angelegenheit". Agrarstruktureller Wandel in Sachsen 1945/46, in: Bauerkämper, Junkerland, S. 103-117, hier S. 116 f. 90 Vgl. Arnd Bauerkämper, Auf dem Wege zum „Sozialismus auf dem Lande". Die Politik der SED 1948/49 und die Reaktionen in dörflich-agrarischen Milieus, in: Hoffmann/Wentker (Hrsg.), Das letzte Jahr der SBZ, S. 245-268, bes. S. 250 f.; Arnd Bauerkämper, Von der Bodenreform zur Kol­ lektivierung. Zum Wandel der ländlichen Gesellschaft in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands und der DDR 1945-1952, in: Kaelble/Kocka/Zwahr (Hrsg.), Sozialgeschichte der DDR, S. 119-143, bes. 122-125. 91 Vgl. Bauerkämper, Von der Bodenreform zur Kollektivierung, S. 125-128; Wolfgang Meinicke, Die Bodenreform und die Vertriebenen in der Sowjetischen Besatzungszone, in: Bauerkämper (Hrsg.), Junkerland, S. 133-151. Zur Vertriebenenpolitik der SBZ/DDR vgl. Dierk Hoffmann/Michael Schwartz (Hrsg.), Geglückte Integration? Spezifika und Vergleichbarkeiten der Vertriebenen-Ein- gliederung in der SBZ/DDR, München 1999. 92 Vgl. Bauerkämper, „Sozialismus auf dem Lande", S. 250. 192 Gerhard A. Ritter Landwirte einen erheblich geringeren Anteil stellten als in der LDPD und in der CDU oder gar in der z.T. als Reaktion auf die mangelnde Unterstützung der SED auf dem Lande gegründeten, allerdings von vornherein gleichgeschalteten Demokra­ tischen Bauernpartei Deutschlands93. Bereits 1948/49 wurde auch als Ausdruck des Klassenkampfes auf dem Lande die Agitation gegen die Großbauern verschärft, die Agrarpolitik der SED radikalisiert und der staatliche Sektor der Landwirtschaft ausgeweitet. Nach der Ablehnung der Stalin-Noten vom März/April 1952 erfolgte im Zusammenhang mit der Verkündi­ gung des Aufbaus des Sozialismus durch die zweite Parteikonferenz der SED vom Juli 1952 der Übergang zur Kollektivierung der Landwirtschaft. Die Ursachen dafür lagen offenbar weniger in der Strukturkrise der klein- und neubäuerlichen Betriebe als in dem machtpolitisch motivierten Ziel der Festigung der SED-Herrschaft auf dem Lande94. Nachdem als eine der Reaktionen auf den Schock des Aufstandes vom Juni 1953 der Druck zur Bildung von landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften zunächst verringert und von der SED eine weniger radikale Strategie zur Durchset­ zung des Sozialismus auf dem Lande verfolgt worden war, wurde schließlich in den ersten Monaten des Jahres 1960 durch eine vehemente Propagandakampagne und eine Mischung von Anreizen und massiven Druck- und Zwangsmitteln die Vollkol­ lektivierung der Landwirtschaft durchgesetzt. Schon Mitte 1960 bewirtschafteten die 19.000 landwirtschaftlichen Produktivgenossenschaften, die in ihrer weiteren Ent­ wicklung immer häufiger den Charakter spezialisierter Großbetriebe mit einer indu­ striemäßigen Produktionsweise annahmen, über 85 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche, während weitere sechs Prozent auf volkseigene Güter entfielen95. Im Zuge des Transformationsprozesses auf dem Lande verschwanden neben den Gutsbesitzern und den auf den Gütern beschäftigten Landarbeitern, die in der diffu­ sen Großgruppe der „Staatsangestellten" auf dem Lande aufgingen, bis auf wenige Ausnahmen auch die selbständigen Bauern und der bäuerliche Familienbetrieb, der die Landwirtschaft der Bundesrepublik prägt. Die traditionelle Dorfkultur und die überkommenen Lebensweisen wurden zerstört, die Herrschaft der SED wurde auch auf dem Lande fest verankert. Kennzeichnend für die DDR waren weiter die Angleichung der landwirtschaftlichen Arbeitsbedingungen an die in den Industrien und - ein Ausdruck des Modernisierungsrückstandes - der im Vergleich zu West­ deutschland sehr viel höhere, nach der Vereinigung 1990 radikal reduzierte Anteil der Beschäftigten der Landwirtschaft an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen96.

93 Vgl. ebenda, S. 252. 94 Vgl. Theresia Bauer, Sozialistische Formierung auf dem Land. Die Vollkollektivierung in der DDR 1957-1963, in: Bauer/Süß (Hrsg.), NS-Diktatur, S. 121-150, hier S. 129. 95 Vgl. Kleßmann, Zwei Staaten, eine Nation, S. 318. 96 Der Anteil der Erwerbstätigen in Land- und Forstwirtschaft, Tierhaltung und Fischerei an allen Erwerbspersonen war in der Bundesrepublik bis 1987 auf 3,2 % gesunken. Vgl. Statistisches Bun­ desamt, Bevölkerung und Erwerbstätigkeit, Volkszählung vom 25. Mai 1987, Fachserie 1, Heft 4, S. 84 f. In der DDR lag der Anteil 1989 noch bei 10,8 %, fiel aber nach der Vereinigung bis 1993 Die DDR in der deutschen Geschichte 193 Das klassische, proletarisch geprägte Arbeitermilieu bröckelte auch in der DDR langsam ab, konnte sich aber sehr viel länger behaupten als in der Bundesrepublik. Das hing mit der Industrialisierungspolitik der DDR, der Umwerbung der Fachar­ beiterschaft der Industrie als wichtigster Klientel der SED, der Förderung der Groß­ betriebe, der verzögerten Umsetzung des technologischen Wandels und dem weitge­ henden Verzicht auf den für moderne Gesellschaften typischen starken Ausbau des Dienstleistungssektors zusammen. Die DDR war so eine strukturkonservative Indu­ striegesellschaft. Die Arbeiterschaft hatte zwar nie die von der SED monopolisierte Macht im Staate. Dennoch war die offizielle Ideologie, nach der die DDR ein Arbeiter- und Bauernstaat unter der Führung der Arbeiterklasse war, auch für die Politik, das Arbeitsrecht und die Arbeits- und Lebenswelt von Bedeutung97. Die Berufung auf die Unterstützung der Arbeiterschaft, die aus der Sicht der Herrschenden die trei­ bende Kraft der Geschichte und ihrer „Gesetzmäßigkeiten" war, bildete die wichtig­ ste Legitimation des Staates. Die Arbeiterschaft zufriedenzustellen war daher, insbe­ sondere nach der traumatischen Erfahrung des Aufstandes vom Juni 1953, ein zen­ trales Anliegen der SED-Führung. Es bestimmte zunehmend die Ausrichtung der Sozialpolitik, verhinderte eine aus wirtschaftlichen Gründen wünschenswerte grö­ ßere Differenzierung der Löhne und Gehälter und ließ die Führung immer wieder vor effektiven Maßnahmen zur Produktivitätssteigerung durch Erhöhung der Arbeitsnormen, vor der Anhebung der Sozialversicherungsbeiträge und dem Abbau von ökonomisch unsinnigen Subventionen zurückschrecken. Die offizielle Hoch­ schätzung der Arbeiterschaft kommt auch darin zum Ausdruck, daß insbesondere die ältere Generation der SED-Führung ihre Herkunft aus der Arbeiterschaft betonte und daß in der Selbsteinschätzung neben den Arbeitern auch viele Ange­ stellte und Angehörige der „technischen Intelligenz" sich als Angehörige der Arbei­ terklasse bezeichneten, während in der Bundesrepublik die Mehrheit der Bevölke­ rung sich als Angehörige der Mittelschicht ansieht98. Mit der Verstaatlichung der Arbeiterbewegung verloren die Arbeiter ihre auto­ nome Interessenvertretungen. Die SBZ/DDR knüpften zwar in der Organisations­ kultur, im Habitus und in den Ritualen an die ältere Kultur insbesondere des kom-

auf nur noch 4,3 % (Doris Schwarzer, Arbeitsbeziehungen im Umbruch gesellschaftlicher Struktu­ ren. Bundesrepublik Deutschland, DDR und neue Bundesländer im Vergleich, Stuttgart 1996, S. 160). 97 Das betont zu Recht Christoph Kleßmann, Arbeiter im „Arbeiterstaat": Deutsche Traditionen, sowjetisches Modell und westdeutsches Magnetfeld, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B. 50/ 2000, S. 20-28. 98 Vgl. Alexander von Plato, Arbeiter-Selbstbilder in der DDR, in: Hübner/Tenfelde (Hrsg.), Arbeiter, S. 867-881, hier S. 873 f. Die Unterschiede in der Selbsteinschätzung in einem sozialen Schichtungs­ system im Osten und im Westen Deutschlands bestanden auch nach der Vereinigung weiter. So zähl­ ten sich 1993 in Westdeutschland nur 29 % der Befragten zur Unter- und Arbeiterschicht, 14 % zur oberen Mittel- und Oberschicht und eine klare Mehrheit von 58 % zur Mittelschicht. In Ostdeutsch­ land rechneten sich dagegen 59 % zur Unter- und Arbeiterschicht, 40 % zur Mittelschicht und nur 2 % zur oberen Mittel- und Oberschicht. Vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Datenreport 1994, Zahlen und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1994, S. 579-581. 194 Gerhard A. Ritter munistischen Flügels der Arbeiterbewegung in modifizierter Form - meist an Betrieb oder Gewerkschaften gebunden - an". Sie lehnte aber eine unabhängige organisatorische Vertretung von Arbeiterinteressen scharf ab. So wurden die Betriebsräte, die nach Kriegsende versuchten, das durch die Enteignung früherer Besitzer und die Ausschaltung der meisten Manager entstandene Machtvakuum aus­ zufüllen und die Betriebe von der Basis aus neu aufzubauen, in ihrer Arbeit behin­ dert und 1948 aufgelöst100. Auch die Einheitsgewerkschaft des FDGB wurde der Führung und engen Kon­ trolle der SED unterworfen und dabei nach sowjetischem Modell von einer Interes­ senorganisation der Arbeitnehmer zu einer Massenorganisation umgewandelt, deren Hauptaufgabe die Durchsetzung der SED-Politik bei ihren Mitgliedern war101. Die­ ser Prozeß war mit der Ausschaltung der ursprünglich aus der SPD kommenden Gewerkschaftsfunktionäre und der scharfen Wendung gegen „trade-unionistisches Bewußtsein" und „Sozialdemokratismus" verbunden102. Statt Tarifverträge auszu­ handeln und eine Steigerung der Löhne und Gehälter letztlich auch mit Streikdro­ hungen zu erzielen, wurden die Gewerkschaften zu Instrumenten, denen eine zen­ trale Rolle bei der Erfüllung der Wirtschaftspläne und der Steigerung der Produk­ tion zufiel. Die Gewerkschaftsorganisationen in den Betrieben haben aber vor allem seit den sechziger Jahren wieder verstärkt versucht, auch die Interessen ihrer Mit­ glieder zur Geltung zu bringen, so daß die Spannung zwischen dem sowjetischen Modell der Staatsgewerkschaft als Träger von Produktionskampagnen und der deut­ schen Tradition der Gewerkschaften als Interessenvertretung der Arbeitnehmer nie vollständig aufgehoben wurde103. Auch waren die Gewerkschaften als Träger der Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten, als wichtige Institutionen in der betrieblichen Sozialpolitik und Kulturarbeit sowie wegen ihrer Rolle bei der Gewährung von Prämien und der Zuteilung von Ferienplätzen in der Arbeits- und Lebenswelt der Menschen der DDR stark verankert. Die innere Bindung an die Gewerkschaften war jedoch offensichtlich gering und die Einschätzung ihrer Führung bei den Mitgliedern verheerend. Das zeigte sich

99 Vgl. Dieter Mühlberg, Warum sollten wir wissen, was Arbeiter sind und was sie in der Freizeit machen? Zur Bestimmung von Arbeiterkultur in der DDR, in: Wolfgang Kaschuba/Gottfried Korff/Bernd Jürgen Warneken (Hrsg.), Arbeiterkultur seit 1945 - Ende oder Veränderung? Tübin­ gen 1991, S. 71-84, hier S. 79f. 100 Vgl. Siegfried Suckut, Die Betriebsrätebewegung in der sowjetischen Besatzungszone Deutsch­ lands (1945-1948). Zur Entwicklung und Bedeutung von Arbeiterinitiative, betrieblicher Mitbe­ stimmung und Selbstbestimmung bis zur Revision des programmatischen Konzeptes der KPD/ SED vom „besonderen deutschen Weg zum Sozialismus", Frankfurt a.M. 1982. 101 Vgl. Ulrich Grill, FDGB. Die DDR-Gewerkschaft von 1945 bis zu ihrer Auflösung 1990, Köln 1991. Gegen eine zugespitzte Beurteilung der DDR-Gewerkschaften entweder als Erfüllungsge­ hilfen des Systems oder informeller Interessenvertretung wendet sich Heike Stadtland, Herrschaft nach Plan und Macht der Gewohnheiten. Sozialgeschichte der Gewerkschaften in der SBZ/DDR 1945-1953, Essen 2001. 102 Vgl. Detlev Brunner, Sozialdemokraten im FDGB. Von der Gewerkschaft zur Massenorganisa­ tion, 1945 bis in die frühen 1950er Jahre, Essen 2000. 103 Vgl. Kleßmann, Arbeiter, S. 24. Die DDR in der deutschen Geschichte 195 1989/90, als - im Unterschied zur teilweisen Fortführung der SED in der PDS - die Versuche, auch die Gewerkschaften über den Zusammenbruch der DDR zu retten und ihnen in der Regierungszeit Modrows über eine Verfassungsänderung und ein Gewerkschaftsgesetz sogar eine zentrale Machtstellung im Staate zu verschaffen104, kläglich scheiterten105. Nicht die Gewerkschaften, sondern die nach sowjetischem Vorbild auf betrieblicher Ebene als Zusammenschlüsse der Arbeitnehmer gebildeten Arbeitsbrigaden wurden die wichtigsten Instrumente einer allerdings begrenzten kollektiven Interessenvertretung der Arbeitnehmer106. Ihre Rolle ist vor allem von Peter Hübner, der die Felder und die Formen von Arbeitskonflikten und die Art ihrer informellen Regelung in der DDR intensiv untersucht hat107, hervorgehoben worden. Die SED-Führung hatte so einen ständigen, schwierigen Balanceakt zwischen ihren gesellschaftspolitischen Zielen und der sozialen Befriedung der Arbeiterschaft zu vollführen, der ihre Handlungsfreiheit gerade auch in der Wirtschafts- und Sozi­ alpolitik wesentlich einengte, während er der Arbeiterschaft allerdings eng begrenzte Freiräume eröffnete108. Trotz ihrer ideologischen Fixierung auf die Arbeiterschaft als führende Klasse des Staates und ihres Bemühens, den Arbeiterinteressen Priorität gegenüber den Interessen anderer sozialer Schichten einzuräumen, ist es der SED jedoch nicht gelungen, die Arbeiterschaft dauerhaft an sich zu binden. So ist es kennzeichnend, daß bei den ersten freien Wahlen in der DDR nach dem Fall der

104 „Gesetz zur Änderung der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik" vom 6.3. 1990, und „Gesetz über die Rechte der Gewerkschaften in der Deutschen Demokratischen Republik" vom 6.3. 1990, beide Gesetze in: Gesetzblatt (der DDR) 1990 I, S. 109 bzw. 110 f.; Das Gesetz, das den Alleinvertretungsanspruch der Gewerkschaften für die Arbeitnehmer vorsah, enthielt u.a. ein Initiativrecht der Gewerkschaften in der Gesetzgebung, den grundsätzlichen Ausschluß von Schadensansprüchen gegen Gewerkschaften bei Arbeitskämpfen, die Fortzahlung der Löhne und Gehälter bei mittelbar durch einen Arbeitskampf bedingten Produktionsstörungen und das Verbot von Aussperrungen, die Nichtberücksichtigung der als Konkurrenz der Betriebsgewerk­ schaftsleitungen angesehenen Betriebsräte und die materielle Absicherung des Funktionärsappa­ rats der DDR-Gewerkschaften. Die noch weitergehenden Vorschläge eines Gewerkschaftskon­ gresses vom 31.1.-1.2. 1990 sahen darüber hinaus ein Veto-Recht der Gewerkschaften bei allen Gesetzen und Rechtsvorschriften „zu den Arbeits- und Lebensbedingungen der werktätigen wie Entlohnung, Sozial- und Rentenrecht, Preise und Besteuerung, Arbeits- und Gesundheitsschutz, Umweltschutz" sowie das Recht zur Ausrufung eines Generalstreiks vor. Text der vom Kongress vorgeschlagenen Verfassungsänderungen und des Entwurfs eines Gewerkschaftsgesetzes, in: Schwarzer, Arbeitsbeziehungen, S. 477-484. 105 Vgl. Rainer Weinert/Franz-Otto Gilles, Der Zusammenbruch des Freien Deutschen Gewerk­ schaftsbundes (FDGB). Zunehmender Entscheidungsdruck, institutionalisierte Handlungsschwä­ che und Zerfall der hierarchischen Organisationsstruktur, Wiesbaden 1999. 106 Vgl. Peter Hübner, Konsens, Konflikt und Kompromiß. Soziale Arbeiterinteressen und Sozialpo­ litik in der SBZ/DDR 1945-1970, Berlin 1995, bes. S. 211-245; Jörg Roesler, Die Produktionsbri­ gaden in der Industrie der DDR, Zentrum der Arbeitswelt, in: Kaelble/Kocka/Zwahr (Hrsg.), Sozialgeschichte der DDR, S. 144-170; Jörg Roesler, Die Rolle des Brigadiers bei der Konfliktre­ gulierung zwischen Arbeitsbrigaden und der Werksleitung, in: Hübner/Tenfelde (Hrsg.), Arbeiter, S. 413-437. 107 Vgl. Hübner, Konsens, Konflikt und Kompromiß, bes. S. 178-210. 108 Vgl. Peter Hübner, Balance des Ungleichgewichts. Zum Verhältnis von Arbeiterinteressen und SED-Herrschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 19 (1993), S. 15-28. 196 Gerhard A. Ritter Mauer, den Wahlen zur Volkskammer am 18. März 1990, die Arbeiter weit überpro­ portional die CDU wählten, während ihr Anteil an den PDS-Stimmen tief unter dem Durchschnitt der Partei bei allen Wählern lag109.

IV.

In der Sozialpolitik hielten sich die Kontinuitäten und die Brüche mit der deutschen Tradition etwa die Waage. Die ursprüngliche Haltung der SED, die der Sozialpolitik als einer Art „Lazarettstation" des Kapitalismus in einem sozialistischen Staat nur eine marginale und zudem ständig abnehmende Bedeutung zuerkennen wollte, wurde allmählich aufgegeben und durch das Konzept einer spezifisch sozialistischen Sozialpolitik ersetzt. Seit Mitte der sechziger Jahre, vor allem aber in der Ära Honecker, in der die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" zum Leitprinzip erhoben wurde, wurde die Sozialpolitik die wohl wichtigste Legitimationsgrundlage des Staates110. Gleichzeitig wurden die „sozialen Errungenschaften" ein zentrales Element der Versuche, die Bundesrepublik im Wettbewerb der Systeme zu über­ trumpfen. Die DDR stand mit ihrer Sozialpolitik, in der der international übliche Begriff der „sozialen Sicherheit" zunehmend durch den der „sozialen Geborgenheit" ergänzt oder ersetzt wurde111, in der voremanzipatorischen deutschen Tradition einer obrigkeitsstaatlich-paternalistischen Sozialpolitik, die staatliche Fürsorge für den Preis des Gehorsams, der Loyalität und des Verzichts auf Konfliktfähigkeit gewährte. Ein Bruch mit älteren deutschen Traditionen - hier gab es deutliche Paral­ lelen zum NS-Regime - waren dagegen das weitgehende Angebotsmonopol sozialer Leistungen beim Staat, die große Bedeutung der Betriebe im System der sozialen Sicherheit sowie das Fehlen eines autonomen, im Rahmen staatlicher Gesetze sich selbst regulierenden Systems der Arbeitsbeziehungen durch vom Staat unabhängige Organisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Im Gegensatz zur Bundesrepublik, in der das Arbeitsrecht stark zersplittert ist und wesentlich auf bloßem Richterrecht beruht, ist es der DDR gelungen, nach Vor­ läufern im Gesetzbuch der Arbeit vom 12. April 1961112 das gesamte Arbeitsrecht zusammen mit dem Sozialrecht im Arbeitsgesetzbuch von 1977 zu kodifizieren113.

109 Vgl. Ritter/Niehuss, Wahlen, S. 259. 110 Vgl. Hans Günter Hockerts, Soziale Errungenschaften? Zum sozialpolitischen Legitimationsan­ spruch der zweiten deutschen Diktatur, in: Jürgen Kocka/Hans-Jürgen Puhle/Klaus Tenfelde (Hrsg.), Von der Arbeiterbewegung zum modernen Sozialstaat. Festschrift für Gerhard A. Ritter zum 65. Geburtstag, München u.a. 1994, S. 790-804, bes. S. 791-794. 111 Vgl. ebenda, bes. S. 791-793, 798 f. 112 Vgl. die Gesamtdarstellung des Arbeitsrechts der DDR in der Mitte der sechziger Jahre von Sieg­ fried Mampel, Arbeitsverfassung und Arbeitsrecht in Mitteldeutschland, Köln 1966. 113 Gesetzblatt (der DDR) 1977 I, S. 185-227. Vgl. dazu auch Johannes Frerich/Martin Frey, Hand­ buch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Bd. 2: Sozialpolitik in der Deutschen Demokratischen Republik, München/Wien 21996, S. 149-153. Die DDR in der deutschen Geschichte 197 Als zentrale, von der Bevölkerung sehr positiv aufgenommene „Errungenschaft"114, die zudem in den Verfassungen seit 1968 verankert war, wurde das Recht auf Arbeit angesehen. Dem entsprach, daß die schon vorher unbedeutend gewordene Arbeitslo­ senversicherung zum 1. Januar 1978 auch formell aufgelöst wurde. Die intensiven Versuche der DDR, bei den Verhandlungen zur Vereinigung 1990 das Arbeitsgesetz­ buch, das vorher durch die Beseitigung dirigistischer Regelungen und der am Prinzip der sozialistischen Planwirtschaft ausgerichteten Bestimmungen entschlackt worden war115, bis zur Kodifizierung eines neuen gesamtdeutschen Arbeitsrechts zu erhalten und das Recht auf Arbeit - zumindest als soziales Staatsziel - auch in das Grundge­ setz zu übernehmen, sind allerdings gescheitert. Den Kern des Systems der sozialen Sicherheit bildete in der DDR - gemäß den deutschen Traditionen seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts - die Sozialver­ sicherung. Dagegen stellte der Wegfall der Beamtenpensionen, die Abschaffung der Betriebspensionen116 und die Ersetzung der nach Risiken und Berufsgruppen geglie­ derten deutschen Sozialversicherung durch eine Einheitsversicherung der Arbeiter und Angestellten, die 1956 dem FDGB unterstellt wurde117, einen wesentlichen Bruch mit der bisherigen Entwicklung dar. Allerdings wurde der Grundsatz der Einheitsversicherung, mit der ältere Forde­ rungen der deutschen Arbeiterbewegung aufgegriffen wurden, durch den 1950 begonnenen Aufbau eines immer stärker ausgeweiteten Geflechts von Zusatz- und Sonderversorgungssystemen für die Leistungsträger und die mit dem System beson­ ders eng verbundenen Personengruppen durchbrochen. Schließlich wurde 1968/71 vor allem zur Abschöpfung von Kaufkraft und damit zur Eindämmung inflationärer Tendenzen auch noch eine freiwillige Zusatzrentenversicherung geschaffen118. In der allgemeinen Versicherung wurden die im deutschen System traditionell angelegten, in der Bundesrepublik noch verstärkten Versicherungselemente, die vor allem in der Rentenversicherung die Äquivalenz von Beiträgen und Leistungen betonen, immer mehr zugunsten des Fürsorge- und Versorgungsprinzips zurückgedrängt. Das hing auch damit zusammen, daß die SED sich aus Furcht vor der Opposition gerade der Arbeiter scheute, die einmal festgelegte, durch den späteren Anstieg der Löhne und Gehälter viel zu niedrige Beitragsbemessungsgrenze von monatlich 600 Mark anzu-

114 Vgl. Heinz Niemann, Meinungsforschung in der DDR. Die geheimen Berichte des Instituts für Meinungsforschung an das Politbüro der SED, Köln 1993, Dokument IX: Bericht über eine Umfrage zum Entwurf der Verfassung (28.2.1968), S. 277 f. 115 „Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Arbeitsgesetzbuches" vom 22. 6. 1990, in: Gesetzblatt (der DDR) 1990 I, S. 371-381. 116 Die Zusatzrente, die nach mindestens 20-jähriger Beschäftigungsdauer an die Arbeitnehmer der wichtigsten volkseigenen Betriebe auf Grund einer Verordnung vom 9. 3. 1954 gezahlt wurde (Frerich/Frey, Handbuch, Bd. 2, S. 358), wurde hier nicht als Betriebspension, sondern als Zusatz­ versorgung angesehen. 117 Vgl. Dierk Hoffmann, Sozialpolitische Neuordnung in der SBZ/DDR. Der Umbau der Sozialver­ sicherung 1945-1956, München 1996. 118 Vgl. zu den Abweichungen vom Prinzip der Einheitsversicherung Philip Manow-Borgwardt, Die Sozialversicherung in der DDR und der BRD, 1945-1990: Über die Fortschrittlichkeit rück­ schrittlicher Institutionen, in: Politische Vierteljahresschrift 35 (1994), S. 40-61. 198 Gerhard A. Ritter heben. Trotz der immer mehr erhöhten staatlichen Zuschüsse, die von 2,5 Prozent 1955 und 16,1 Prozent 1960 auf über 48 Prozent der Gesamtausgaben 1989 anstie­ gen119, lag das Niveau der Renten, die nicht dynamisiert und an die gestiegenen Lebenshaltungskosten angeglichen, sondern nur von Zeit zu Zeit durch Beschlüsse der Partei und der Staatsführung angehoben wurden, nicht nur im Vergleich zu den Renten in der Bundesrepublik, sondern auch zu den Löhnen und Gehältern in der DDR äußerst niedrig120. Die Alters-, Invaliden- und Hinterbliebenenversorgung war so die Achillesferse des Sozialversicherungssystems der DDR, die zudem aus politischen Gründen auf eine gesonderte Kriegsopferversorgung verzichtete. Ein weiterer Ausdruck der ein­ seitigen Produktionsorientierung des SED-Sozialsystems war die völlige Marginali- sierung der ideologisch als Relikt des Kapitalismus angesehenen Sozialfürsorge, die in der deutschen Tradition auch nach der Schaffung der Sozialversicherung weiterhin die wichtige unterste Stufe des sozialen Netzes bildete121. Auf Kontinuitäten und Brüche im System der Gesundheitsversorgung wurde bereits hingewiesen. Kennzeichnend für die DDR war die zentrale Rolle der Betriebe im System der Sozialpolitik. Die Betriebe hatten in erster Linie das Arbeits­ platzrisiko zu tragen und die faktisch, wenn auch nicht rechtlich fast unkündbaren Arbeitnehmer oft aus sozialen Gründen mitzuschleppen. Den Betrieben wurden zudem durch den Aufbau eines betrieblichen Gesundheitswesens, die Finanzierung von Kuren ihrer Mitarbeiter, die Unterhaltung betriebseigener Kinderbetreuungs­ stätten von der Krippe über Kindergärten bis zu Kinderhorten, durch den Bau und den Unterhalt von Betriebswohnungen, Erholungsheimen und Kulturhäusern sowie durch die Betreuung ihrer Rentner erhebliche zusätzliche Kosten aufgebürdet. Der rigorose Abbau dieser zusätzlichen Leistungen nach dem Übergang zur Marktwirt­ schaft im Gefolge der deutschen Vereinigung ist von vielen Menschen in Ost­ deutschland als Verlust an Lebensqualität und sozialer Geborgenheit empfunden worden. Auch für die starke Betriebsorientierung der Arbeitnehmer und die große Rolle betrieblicher Sozialleistungen gibt es allerdings Vorläufer in der deutschen Geschichte. Erinnert sei nur etwa an die patriarchalische Sozialfürsorge in den Großunternehmen von Krupp und des saarländischen Industriellen Stumm-Halberg oder die von Ernst Abbe gegründete, stärker von den Arbeitnehmern mitgestaltete

119 Vgl. Frerich/Frey, Handbuch, Bd. 2, S. 291f. 120 So erreichten die Renten 1988 nur knapp 38 % des Bruttoarbeitseinkommens. 1971 hatte das Ren­ tenniveau sogar bei nur 27 % der durchschnittlichen Arbeitseinkommen gelegen. Vgl. ebenda, S. 345. 121 Für einen Vergleich der Systeme öffentlicher Fürsorge im NS-Staat, der DDR und der Bundesre­ publik siehe Wilfried Rudloff, Öffentliche Fürsorge, in: Hockerts (Hrsg.), Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit, S. 191-229. Vgl. weiter Marcel Boldorf, Sozialfürsorge in der SBZ/DDR. Ursa­ chen, Ausmaß und Bewältigung der Nachkriegsarmut, Stuttgart 1998; Manfred Wienand/Volker Neumann/Iris Brockmann, Fürsorge, Opladen 1997. Die DDR in der deutschen Geschichte 199 Carl-Zeiss-Stiftung mit ihren relativ großzügigen statuarisch-rechtlich abgesicherten Sozialleistungen, wie sie weiter z.B. bei der Bosch GmbH in Stuttgart bestanden122. Auch im Nationalsozialismus ist es im Wettbewerb um Fachkräfte, z.T. auch unter dem Einfluß der DAF, vielfach zu einem starken Ausbau der betrieblichen Sozialpolitik gekommen. Die Sozialpolitik der DDR, vor allem die den Konsum för­ dernden hohen Subventionen für Güter des Grundbedarfs und die Arbeitsplatzga­ rantie, hat die Wirtschaft überfordert, notwendige Investitionen verhindert und wurde so eine der Ursachen für den schließlichen Zusammenbruch des Systems. In vielen Bereichen, vor allem im Fehlen von Institutionen zur effektiven Vertretung der Interessen der Arbeitnehmer und der Unternehmer und der geregelten Austra­ gung von Arbeitskonflikten, aber auch in der Versorgung der aus dem Produktions­ system herausgefallenen Teile der Bevölkerung - Rentner, Invaliden, Kriegsopfer, Behinderte, Witwen ohne eigene oder mit nur geringen eigenen Rentenansprüchen - blieb die DDR zudem weit hinter der Bundesrepublik zurück. Das gilt in besonders starkem Maße auch für den Konsum. Vor allem die ältere Generation der SED-Führer ging u.a. wegen der Erfahrungen des Massenelends in der Weltwirtschaftskrise, aber auch des Vorbildes der Sowjetunion von einer Vorstel­ lung aus, nach der die Befriedigung der elementaren Bedürfnisse der Bürger nach Nahrungsmitteln, Wohnung und Kleidung eine zentrale Aufgabe des Staates sei. Die Einführung von Mindestlöhnen und Mindestrenten ließ dem Leistungsprinzip wenig Raum, während die kostenlose ärztliche Versorgung und die immer größere ökono­ mische Ressourcen in Anspruch nehmende Subventionierung von Lebensmitteln des Grundbedarfs, von Mieten, Kinderkleidung und Kinderbetreuung, Kantinenessen und Schulspeisungen sowie des Urlaubs in Ferienheimen einen Abstieg unter die Armutsgrenze verhinderten123. Dieses System war nicht nur kostspielig und ökono­ misch ineffektiv; es trug auch dem steigenden Bedürfnis der Menschen nach gehobe­ nem und stärker auf die individuellen Interessen zugeschnittenen Konsum, für den die Bundesrepublik immer mehr zum Vorbild wurde, nur unzureichend Rechnung. All diese schon in den fünfziger Jahren einsetzenden Fehlentwicklungen verurteil­ ten das ehrgeizige, von Ulbricht auf dem 5. Parteitag der SED 1958 gesteckte Ziel, die Bundesrepublik bis 1961 im Pro-Kopf-Verbrauch an allen wichtigen Lebensmit­ teln und Konsumgütern einzuholen und zu überholen124, von vornherein zum Schei­ tern. Die SED und die DDR mit ihrer Orientierung an der ökonomisch und poli­ tisch rückständigen Sowjetunion und veralteten Leitbildern der kommunistischen

122 Vgl. Wolfram Fischer, Die Pionierrolle der betrieblichen Sozialpolitik im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, in: Betriebliche Sozialpolitik deutscher Unternehmen seit dem 19. Jahrhundert. Zeit­ schrift für Unternehmensgeschichte, Beiheft 12, Wiesbaden 1978, S. 34-51. Zu Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Jenaer Industriemanagement vgl. Rüdiger Stutz (Hrsg.), Macht und Milieu: Jena zwischen Kriegsende und Mauerbau, Jena 2000. Der Aufsatzband ist Teil des Projekts „Abbes Erben". Studien zum Elitenwandel in Technologieregionen des „Großdeutschen Reiches" und seiner Nachfolgestaaten. 123 Vgl. Stefan Merl, Sowjetisierung in der Welt des Konsums, in: Jarausch/Siegrist (Hrsg.), Amerika­ nisierung und Sowjetisierung, S. 167-194. 124 Vgl. ebenda, S. 180. 200 Gerhard A. Ritter Arbeiterbewegung der Weimarer Republik haben zwar Gesellschaft und Wirtschaft grundlegend verändert. Mit ihrem starren Festhalten an einer durch Sozialisierung und die Nivellierung der Einkommen veränderten Industriegesellschaft alter Prä­ gung wurden sie aber Opfer einer im Kern konservativen Haltung, die den Weg in die Moderne gerade nicht öffnete, sondern verbaute. Auch das, nicht nur der Mangel an Freiheit und demokratischer Selbstbestimmung, trug dazu bei, daß sie keine wirkliche Legitimation bei ihren Bürgern gewann. CARLOS COLLADO SEIDEL

IN GEHEIMER MISSION FÜR HITLER UND DIE BAYERISCHE STAATSREGIERUNG

Der politische Abenteurer Max Neunzert zwischen Fememorden, Hitler-Putsch und Berlin-Krise

Die Nacht vom 8. auf den 9. November 1923: Hitlers Putschversuch verläuft nicht nach Plan, sondern droht zu scheitern. In Sorge um die so nah geglaubten Pfründe erteilt der „Führer" am frühen Morgen seinem Vertrauensmann Max Neunzert eine dringliche Anweisung: „Fahren Sie so schnell wie möglich im Kraftwagen nach Berchtesgaden zu S. M. dem König und bitten Sie in meinem Namen, er möchte, nachdem die größte Gefahr bestünde, daß Nationale auf Nationale schießen, die Vermittlung übernehmen zwischen dem Kampfbund und Herrn von Kahr, der sich als Statthalter der Monarchie ausgegeben hat, damit das größte nationale Unglück verhindert wird [...]."1 Der als guter Automobilist bekannte Emissär2 fand der Überlieferung nach allerdings keinen Kraftwagen und mußte die Geheimmission vom Bürgerbräukeller aus an jenem naßkalten Tag zunächst zu Fuß antreten und am Münchner Ostbahnhof dann auf die nächste Zugverbindung in den oberbayerischen Ort am Fuße der Alpen warten. Als er fünf Stunden später beim Kronprinzen eintraf, war es zu spät3. Der Gang der Dinge war nicht mehr aufzuhalten gewesen,

1 Aussage Neunzerts im Ermittlungsverfahren am 18.4. 1924. Bericht des Landtagsausschusses zur Untersuchung der Vorgänge vom 1. Mai 1923 und der gegen Reichs- und Landesverfassung gerich­ teten Bestrebungen vom 26. September bis 9. November 1923, 16. Sitzung (19.12.1927), in: Bayeri­ sches Hauptstaatsarchiv München (künftig: BayHStA), MA 103476/3; zit. ebenfalls in: Georg Franz-Willing, Putsch und Verbotszeit der Hitlerbewegung. November 1923-Februar 1925, Preu­ ßisch Oldendorf 1977, S. 109, sowie in: John Dornberg, Hitlers Marsch zur Feldherrnhalle: Mün­ chen, 8. und 9. November 1923, München 1983, S. 251. Die Mission Neunzerts wird auch erwähnt in: Ernst Hanfstaengl, Zwischen Weißem und Braunem Haus. Memoiren eines politischen Außen­ seiters, München 1970, S. 140. 2 Vgl. Zeugenaussage Heinrich Zech vom 1.8. 1924, in: Staatsarchiv München (künftig: StAM), StAnw. Mü I,3081. 3 Neunzert selbst beschrieb detailliert die technischen Aspekte seiner Mission. Demnach nahm er am 9. 11. 1923 den um 8.35 Uhr am Münchner Ostbahnhof abfahrenden Schnellzug nach Berchtes­ gaden. Aufgrund einer Verspätung traf Neunzert erst gegen 13.30 Uhr in Berchtesgaden ein. Nach­ mittags gegen 16.30 Uhr trat er die Rückreise an und traf um 21.35 Uhr am Münchner Hauptbahn­ hof ein. Vernehmung von Max Neunzert vom 17.4. 1924, in: StAM, Pol.Dir. München 6712. Dornberg, Marsch, S. 376 und 250, nennt es eine „folgenschwere Fehlentscheidung", den Zug und nicht ein Automobil für die Fahrt genommen zu haben, da er damit viel zu spät in Berchtesga­ den angekommen sei. Unter Berücksichtigung der Wetterverhältnisse und des Zustands des Stra­ ßennetzes Mitte der zwanziger Jahre läßt sich dennoch nicht notwendigerweise ableiten, daß ein

VfZ 50 (2002) ® Oldenbourg 2002 202 Carlos Collado Seidel der Marsch zur Feldherrnhalle von Gewehrsalven der Landespolizei gestoppt worden. Neunzerts Mission war ins Leere gelaufen, und der Spuk hatte ein Ende gefunden. 25 Jahre später fand eine weitere kuriose Mission statt. Es waren die Tage der Ber­ lin-Krise 1948. Der Kalte Krieg steuerte auf einen neuen dramatischen Höhepunkt zu. Im Minutentakt landeten damals die Rosinenbomber in Berlin-Tempelhof. Überall war die Angst vor einem neuen Krieg zu spüren. Diese Angst brachte die bayerische Staatsregierung unter dem Ministerpräsidenten und späteren CSU-Vorsitzenden Hans Ehard auf eine ungewöhnliche Idee: Für den Fall, daß die Rote Armee tatsächlich die Demarkationslinie überschreiten sollte, wollte sich die bayerische Staatsregierung nach Spanien absetzen und in Madrid eine Exilregierung einrichten4. Der Vorstoß schien angesichts der ungeklärten staatlichen Verfaßtheit Deutschlands durchaus legi­ tim. Eiligst wurden nun streng geheime Kontakte zu offiziellen spanischen Stellen gesucht: Ein geheimer Emissär sollte als Verbindungsmann zwischen München und Madrid fungieren5. Die Wahl fiel erneut auf Max Neunzert. Neunzert genoß offen­ sichtlich das volle Vertrauen Ehards. Die Kontaktaufnahme sollte mittels der spani­ schen diplomatischen Vertretung in Bern stattfinden. Wenige Wochen zuvor war zwar das spanische Konsulat in Frankfurt wiedereröffnet worden, die Staatsregierung zog es aber vor, diese heikle Mission außerhalb des Einflußbereiches der Alliierten durch­ zuführen. Neunzert machte sich am 12. August auf die Reise, fuhr zunächst mit öster­ reichischen Ausweispapieren nach Salzburg, reiste dann quer durch Österreich und überschritt schließlich die österreichisch-schweizerische Grenze; ein Ersatzpaß der deutschen Interessenvertretung in Zürich sowie Schweizer Papiere sicherten ihm die Bewegungsfreiheit in der Eidgenossenschaft6. In Bern angekommen, eilte er umge­ hend zum spanischen Legationsleiter und übermittelte das Ansinnen aus München: 70 bis 100 Personen sollten im Ernstfall in Spanien Asyl finden; die Gemäldesammlung der Münchner Pinakothek sollte als „Staatsschatz" gleich mit ins Exil. Der Legations­ leiter wiederum informierte umgehend und mit dem höchsten Geheimhaltungsver­ merk den spanischen Außenminister über das bayerische Vorhaben7. Als Ende Sep­ tember die positive Reaktion aus Madrid in Bern eintraf8, hatte allerdings die gesamte

Automobil schneller am Ziel gewesen wäre. Auch andere Emissäre waren nicht wesentlich schnel­ ler in Berchtesgaden eingetroffen. 4 Die bayerischen Ministerratsprotokolle, das CSU-Archiv sowie der Nachlaß Ehard geben aller­ dings keinen Aufschluß über Vorbereitungen zu der Geheimmission vom August 1948. 5 Vgl. Carlos Collado Seidel, Zuflucht bei Franco, Die Pläne Bayerns, 1948 in Spanien eine Exilre­ gierung einzurichten, in: Bayerische Staatszeitung vom 20. 10. 1995, Nr. 42. 6 Die Reisedaten lassen sich aus Sichtzeichen in entsprechenden Reise- und Personenidentitätsdoku­ menten nachvollziehen. Nachlaß Neunzert, Privatbesitz. An dieser Stelle sei Robert und Jeanny Neunzert für die Zugänglichmachung des Nachlasses von Max Neunzert sowie die Bereitschaft, für ausführliche Gespräche zur Verfügung zu stehen, ausdrücklich gedankt. 7 Bericht Nr. 873, Luis Calderón (Legationsleiter Bern) an Alberto Martin Artajo (spanischer Außenminister), Bern, 20. 8. 1948, in: Archiv des spanischen Außenministeriums (künftig: AMAE), Leg. R/3036/148. 8 Telegramm Nr. 154 cifr. des spanischen Außenministers an den Legationsleiter in Bern, 29.9.1948, in: Ebenda. In geheimer Mission für Hitler und die bayerische Staatsregierung 203 Angelegenheit die ursprüngliche Brisanz verloren; die Blockade bestand zwar fort, ein Krieg schien allerdings nicht mehr bevorzustehen. Vor allem aber war mit dem Zusammentritt des Parlamentarischen Rates und dem zuvor fertiggestellten Ent­ wurf des Grundgesetzes das zentralstaatliche Machtvakuum verschwunden; die spon­ tanen Träume bayerischer Eigenstaatlichkeit waren allzu rasch von der Wirklichkeit eingeholt worden. Max Neunzert war also zwei Mal mit der Durchführung von Mis­ sionen betraut, die den Gang der Geschichte zwar nicht veränderten, denen aber im jeweiligen Moment allerhöchste Priorität eingeräumt wurde und die weitreichende politische Konsequenzen hätten nach sich ziehen können. Beide Male hat er dabei das volle Vertrauen seiner Auftraggeber genossen. Auch der „Stabschef der SA" Ernst Röhm hatte in seinen 1928 erschienenen Erinnerungen für seinen „Kampfgenossen" Neunzert ausschließlich lobende Worte parat: Neunzert liebe sein Vaterland heiß und innig und sei willig bereit, jeden Dienst und jede Anstrengung für „die große Sache" zu leisten9. Neunzert - ein Gewährsmann Hitlers, Röhms und des Christsozialen Hans Ehard. Wer war dieser Mann, der so unterschiedlichen Personen zutiefst ver­ trauenswürdig schien10?

I.

Max Neunzert, so beschreiben ihn Menschen, die ihn kannten, hatte zwei Leiden­ schaften: die Politik und die Jagd. Als Sohn eines Försters 1892 geboren, lernte er früh die Jagd kennen; in der Zeit nach 1902 war sein Vater Oberförster im Dienste des Grafen Ernst Moy in der Nähe von Salzburg. Max Neunzert wuchs somit im Umfeld des Adels auf und schloß auch Bekanntschaften mit Mitgliedern des bayeri­ schen Königshauses; mit Kronprinz Rupprecht und Erbprinz Albrecht pflegte er zeitlebens eine freundschaftliche Verbindung. So war Kronprinz Rupprecht bei der Heirat Neunzerts mit einer Tochter des Bezirksführers des Bundes Bayern und Reich, Leo Czermak, Ende August 1921 auf dessen Schloßgut in Ising bei Traun- stein zugegen, und John Dornberg stellt zu der Verbindung Neunzerts zu dem Chef des Hauses Witteisbach sogar fest: „Er war ein Trink- und Jagdkumpan Rupprechts [...]. Seine Freundschaft zu Rupprecht war so eng, wie die eines Bürgerlichen mit einem Prätendenten auf einem nicht mehr vorhandenen Thron sein kann."11 Das Umfeld, in dem er aufwuchs, scheint dem jungen Neunzert zugesagt zu haben, strebte er doch an, sich beruflich der Landwirtschaft zu widmen. Zu diesem Zweck praktizierte er auf dem Schloßgut des Grafen Moy in Anif und auf dem Klo­ stergut in Rottenbuch bei Schongau. 1912 meldete er sich als Einjährig Freiwilliger, wurde aber im Jahr darauf wegen Krankheit zur Ersatzreserve entlassen. Neunzert

9 Ernst Röhm, Die Geschichte eines Hochverräters, München 1928, S. 99; vgl. auch ebenda, S. 240. 10 Frau Dr. Heike Bretschneider war an der Konzeption dieses Aufsatzes, bei der Materialrecherche sowie bei der inhaltlichen Diskussion dieses Aufsatzes entscheidend beteiligt. Herrn Dr. Paul Hoser danke ich für wertvolle inhaltliche Anregungen. 11 Dornberg, Marsch, S. 250. 204 Carlos Collado Seidel trat daraufhin im Herbst 1913 zunächst in die landwirtschaftliche Akademie in Wei­ henstephan ein, ein Semester später studierte er dann an der landwirtschaftlichen Abteilung der Technischen Hochschule in München. Der Erste Weltkrieg unterbrach sein Studium. Aus bayerischem Patriotismus meldete sich Neunzert als Kriegsfrei­ williger. Während des Krieges leistete er zunächst Dienst in der Maschinengewehr- kompanie des I. Jägerbataillons, das an verschiedenen Frontabschnitten eingesetzt wurde. Vor Verdun erlitt er im Juni 1916 Prellungen durch einen Granatschuß und wurde nur wenige Stunden später durch einen Granatangriff verschüttet. Auf Grund dieses Erlebnisses erlitt Neunzert einen Nervenschock und wurde vorübergehend aus dem Kriegsdienst entlassen. Diese Ereignisse wirkten lange nach. Später gab Neunzert zu Protokoll, bis kurz vor Kriegsende an Muskelzuckungen im Gesicht gelitten zu haben. Nach seinem erneuten Dienstantritt war er vor allem bei Maschi­ nengewehrabteilungen der Fliegerabwehr eingesetzt. Kurz vor Kriegsende wurde er noch zum Leutnant der Reserve befördert12. Nach der Entlassung aus dem Kriegs­ dienst nahm Neunzert sein Studium wieder auf und legte im Sommersemester 1920 mit Erfolg die Diplomhauptprüfung für Landwirte ab. Im Herbst 1920 bestand er zudem die Prüfung für das landwirtschaftliche Lehramt13. Die Laufbahn als Land­ wirt oder im Lehramt für Landwirtschaft waren für Neunzert nach dem Krieg jedoch nicht mehr so verlockend wie vor 1914; die politische Umbruchszeit war offensichtlich viel zu aufregend, um ein ordentliches und beschauliches Leben als Gutsverwalter oder Revierförster zu führen. Bei einer gerichtlichen Vernehmung in späteren Jahren gab Neunzert zu Protokoll: „Am 1. Dezember 1920 sollte ich als Lehramtspraktikant meinen Dienst an der landwirtschaftlichen Winterschule in Hassfurt antreten, ich reiste aber nur dorthin, um mich vorzustellen, und ließ mich zur Beteiligung an der Waffenbergung sofort wieder beurlauben."14 Dieses Datum stellte den Wendepunkt in seinem Leben dar. Konspirative Tätigkeiten sollten fortan die Biographie Max Neunzerts bestimmen. Der Zusammenbruch der alten Ordnung scheint Neunzert, wie vielen seiner Zeit­ genossen, stark zu schaffen gemacht zu haben. Von Neunzert könnte der von Röhm als „klassisch" bezeichnete Satz eines „jungen tapferen Frontoffiziers" stammen, der im Hinblick auf das Nachkriegsdeutschland zu folgender Erkenntnis gekommen war: „Ich stelle fest, daß ich diesem Volk nicht mehr angehöre. Ich kann mich nur erinnern, einmal dem deutschen Heere angehört zu haben."15 Ehemalige Offiziere wie Neunzert waren über die politische und gesellschaftliche Situation entsetzt und wünschten sich die „alte Ordnung" zurück. Dafür waren sie auch bereit, zur Gewalt zu greifen. Neunzert knüpfte unmittelbar nach Kriegsende Verbindung mit nationa­ listischen Kreisen, die die revolutionären Umtriebe in Bayern verabscheuten und für die Wiedereinführung der Monarchie kämpfen wollten. Laut eigenen Angaben betei-

12 Kriegsrangliste der Bayerischen Flugabwehr-Maschinengewehrabteilung 801, in: BayHStA, KrStR 12001. 13 Protokoll einer Vernehmung von Max Neunzert, 26. 9. 1924, in: StAM, StAnw. Mü 3081/2. 14 Ebenda. 15 Röhm, Hochverräter, S. 9. In geheimer Mission für Hitler und die bayerische Staatsregierung 205 ligte er sich im April 1919 als Angehöriger des Freikorps Passau an der Bekämpfung der Räteherrschaft in Neuötting, Altötting und Rosenheim. Im Sommer 1919 trat Neunzert als Zeitfreiwilliger beim Schützenregiment 41 ein und beteiligte sich an der Niederschlagung von Unruhen in Hamburg16. Im Jahr 1920 war Neunzert kurz­ zeitig beim Reichswehrgruppenkommando in München im Nachrichtendienst tätig. Hier ist er wohl erstmals mit Röhm zusammengetroffen, der dort als Waffenreferent agierte17. Im Anschluß an diese Tätigkeit arbeitete Neunzert beim Waffenreferat der Landesleitung der bayerischen Einwohnerwehr und unterstand dabei direkt Röhm. Die Schaffung der Einwohnerwehr unter den Auspizien des Staatsministeriums des Inneren war zunächst vor allem eine Reaktion auf die Revolution in Bayern. Gleichzeitig richtete sich der Kampf der Einwohnerwehr aber auch gegen die aus der Sicht der bayerischen Staatsregierung verderbliche Weimarer Republik und gegen die Deutschland „knechtenden" Ententemächte. Im damaligen Sprachge­ brauch ging es um die Erhaltung der „arischen Stämme" und gegen das „internatio­ nale Judentum". Waffenverschiebungen über die Landesgrenzen hinweg waren dabei ein Teil der Zusammenarbeit mit anderen völkischen oder alldeutschen Gruppen außerhalb des Reichsgebietes, vor allem in Österreich18. In der Einwohnerwehr und anderen weißblauen Kampfverbänden vermischten sich rechtsradikal-revolutionäres Gedankengut mit ständisch-monarchistischen Vorstellungen. Dieses diffuse Weltbild fand überall Anklang, auch beim ständisch-konservativen Bürgertum und beim Adel. So wundert es nicht, daß während der Ereignisse vom 8. und 9. November 1923 kurzzeitig eine nationale bayerische Bewegung, die sowohl die NSDAP als auch ständisch-monarchistische Kreise umfaßte, möglich schien. Die Einwohner­ wehr unterstand zwar dem Staatsministerium des Inneren, da ihre Tätigkeit aber nicht immer der Legalität entsprach, arbeitete sie „im Staatsinteresse" oft eigenstän­ dig19. Dieser Umstand betraf natürlich auch die geheimen Waffentransaktionen unter der Leitung von Ernst Röhm. Wie der ehemalige Mitgründer und stellvertretende Landeshauptmann der Einwohnerwehr, Rudolf Kanzler, später einmal zu Protokoll gab, war dieses Unterfangen gesetzlich unzulässig, „es wurde aber im vaterländi­ schen Interesse gemacht"20. Die Verquickung zwischen der Einwohnerwehr und der politischen Abteilung der Polizeidirektion ist vor allem von James McGee herausge­ strichen worden. Ihre Zusammenarbeit betraf nach McGee vor allem die Konterka-

16 Protokoll einer Vernehmung von Max Neunzert, 26. 9. 1924, in: StAM, StAnw. Mü 3081/2. Neun­ zert war im Zeitraum vom 23. 6. 1919 bis zum 31. 8. 1919 als Zeitfreiwilliger bei der 3. Maschinen­ gewehrkompanie des 1. Bayerischen Schützenregiments (später bayerisches Schützenregiment 41). Militär-Dienstzeitbescheinigung des Zentralnachweiseamtes vom 27. 2. 1939, in: BayHStA, KrStR 12001. 17 Protokoll einer Vernehmung von Max Neunzert, 26. 9. 1924, in: StAM, StAnw. Mü 3081/2. Diese Aussage deckt sich im wesentlichen mit entsprechenden Ausführungen der Zeugenaussage von Heinrich Zech vom 1. 8. 1924, in: StAM, StAnw. Mü I, 3081. 18 Vgl. Ludger Rape, Die österreichischen Heimwehren und die bayerische Rechte 1920-1923, Wien 1977. 19 Zeugenaussage Hermann Kriebel vom 24. 7. 1924, in: StAM, StAnw. Mü 3081. 20 Protokoll einer Vernehmung von Rudolf Kanzler, 22. 9. 1924, in: StAM, StAnw. Mü 3081d/2. 206 Carlos Collado Seidel rierung der Waffenbestimmungen der Entente. Der Meinungs- und Informationsaus­ tausch sei dabei die Regel gewesen. Fragen der Staatssicherheit seien üblicherweise zwischen Vertretern der politischen Polizei, der Reichswehr und der Einwohner­ wehr erörtert worden21. Hermann Kriebel, der maßgeblich an der Entstehung der Einwohnerwehr beteiligt gewesen war, ließ hieran bei einer späteren Vernehmung keinen Zweifel: „Zwischen Polizei und Einwohnerwehr bestand in der Frage der Verhinderung des Verrates von Waffen an die Ententekommission ein enges Zusam­ menarbeiten: sobald die Polizei erfuhr, dass irgend ein Waffenlager an die Entente­ kommission verraten war, teilte sie es uns mit, worauf wir die Verräumung der Waf­ fen sofort in die Wege leiteten. Durch dieses Zusammenarbeiten erfuhren wir auch, wenn bekannte Spitzel auftauchten [.. .]."22 Neunzerts Arbeit umfaßte hauptsächlich die Bergung und das Verstecken von Waffen vor dem Zugriff der Ententekommission. Er selbst gab Mitte der zwanziger Jahre darüber hinaus zu Protokoll, mit der politischen Abteilung der bayerischen Polizei als Informant und sogar als Agent eng zusammengearbeitet zu haben. Nach eigenem Bekunden sei er damals nahezu täglich in der entsprechenden Abteilung ein- und ausgegangen und habe jede Art von Unterstützung durch hohe und höchste Polizeimitarbeiter genossen23. Späteren Untersuchungsberichten zufolge handelte es sich hierbei vor allem um Oberamtmann Wilhelm Frick und Polizeipräsident Ernst Pöhner24. Neunzert räumte freimütig ein, daß er im Sommer 1920 - als französischer Offizier der Ententekommission verkleidet - Personen zu ermitteln versuchte, die bereit waren, Informationen über Waffenverstecke zu verraten25. Neunzert arbeitete bei der Verräumung von Waffen hauptsächlich im Chiemgau und im bayerischen Oberland. Burgen des bayerischen Adels und sogar Klöster waren damals üblicher­ weise Verstecke für Waffen der Einwohnerwehr und Kampfverbände26. Neunzert zeigte eine außerordentliche Hingabe für seine Aufgabe und heiratete sogar geradezu in die Welt des Waffenschmuggels ein: Hans Czermak, der Bruder seiner Braut, war ebenfalls im Waffengeschäft tätig, und auf Schloß Ising, dem Stammsitz der Czer- maks, befand sich zeitweilig eines der wichtigsten Waffenlager in Bayern27. Im Rah­ men der späteren Auflösung und Entwaffnung der Einwohnerwehr trat Neunzert Ende Mai 1921 sogar in ein hauptamtliches Dienstverhältnis und arbeitete innerhalb der Landesleitung der Einwohnerwehr bezeichnenderweise als Entwaffnungskom-

21 Vgl. James McGee, The Political Police in Bavaria, 1916-1936, Diss., Florida 1980, S. 93 ff. 22 Protokoll einer Vernehmung von Hermann Kriebel, 24. 7. 1924, in: StAM, StAnw. Mü 3081. 23 Protokoll einer Vernehmung von Max Neunzert, 26.9. 1924, in: StAM, StAnw. Mü 3081/2. Vgl. auch McGee, Police, S. 94. 24 Bericht des Landtagsausschusses, 4. Sitzung (12. 10. 1927), in: BayHStA, MA 103476/1. 25 Mit Bedauern stellte Neunzert abschließend fest, daß gegen solche Verräter damals gerichtlich nicht vorgegangen werden konnte. Protokoll einer Vernehmung von Max Neunzert, 26. 9. 1924, in: StAM, StAnw. Mü 3081/2. Vgl. ferner McGee, Police, S. 94. 26 Vgl. Horst G.W. Nußer, Konservative Wehrverbände in Bayern, Preußen und Österreich 1918- 1933, München 1973, S. 138. 27 Vgl. ebenda. Zur Zusammenarbeit von Czermak und Neunzert siehe Zeugenaussage Heinrich Zech vom 1. 8. 1924, in: StAM, StAnw. 3081. In geheimer Mission für Hitler und die bayerische Staatsregierung 207 missär. Nach dem Abschluß dieser Tätigkeit im August 1921 trat er von Oktober 1921 bis Mai 1923 in den Dienst des Wehrkreiskommandos VII. Im Anschluß hieran war Neunzert im Stabe der Oberleitung des Kampfbundes unter Oberstleutnant Kriebel als Referent für Spionage und Landesverrat tätig28. Dieses Engagement endete jedoch mit der Auflösung des Kampfbundes nach dem Hitlerputsch. Parallel zu seiner Tätigkeit für die Einwohnerwehr stieß Neunzert auf die NSDAP und schloß sich aus nationalistischer Überzeugung dem Nationalsozialis­ mus an. Bereits 1919 traf er erstmals auf Hitler und trat im darauffolgenden Jahr der NSDAP bei29. Neunzert nannte sich deshalb später „eines der ältesten Mitglieder der Partei"30. Mit Hitler, Röhm und Kriebel stand er in engem Kontakt mit drei Schlüsselfiguren des Nationalsozialismus der frühen zwanziger Jahre und arbeitete mit ihnen Seite an Seite für den Sturz der Republik. Neunzert hatte bereits mit der Organisation der Aufmärsche vom 1. Mai 1923 zu tun, wenngleich er später eine aktive Teilnahme bestritt31. Als Mitarbeiter von Hauptmann Röhm, als Person, die sich der Hitler-Bewegung verschrieben hatte, und als „Waffenexperte" war er an der Weitergabe von Waffen der Reichswehr an die Umstürzler beteiligt. Als „rechte Hand" von Röhm und zugleich als Verbindungsoffizier zwischen dem Wehrkreis­ kommando VII und der politischen Abteilung der Münchner Polizeidirektion sei er, so ein Untersuchungsbericht Mitte Mai 1923, in die Umsturzaktivitäten entschei­ dend involviert gewesen. Der geheime Bericht stellte sogar fest, daß neben Luden- dorff, Hitler, Röhm und anderen auch Neunzert als „Führer der Bewegung" in Frage käme und ihm in jedem Fall eine herausragende Position in einer national­ sozialistisch geführten Regierung zukommen würde32.

II.

Die Verbindungen Neunzerts zum Hause Wittelsbach waren ausschlaggebend dafür, daß ihm die erwähnte Schlüsselrolle während des Putschversuches vom 8. und 9. November 1923 zukam. Hitlers Vermittlungsersuchen beim Kronprinzen zeigt, daß er einen Umsturz unter Beteiligung des Monarchen für möglich hielt, wie es kurz zuvor Mussolini in Italien, Primo de Rivera in Spanien oder Horthy in einge-

28 Angaben Neunzerts vom 7. 7. 1927, in: StAM, Stanw. Nr. 15663. 29 Eigenen Angaben zufolge war Neunzert seit Mai 1920 Mitglied der NSDAP. Gleichzeitig gab er an, Mitglied der Reichskriegsflagge seit 1922 zu sein. Vernehmung von Max Neunzert vom 17.4. 1924, in: StAM, Pol.Dir. München 6712. Vgl. auch Dornberg, Marsch, S. 250. Die Mitgliedschaft von Max Neunzert in der NSDAP läßt sich im Bundesarchiv Berlin nicht nachweisen. 30 Brief von „M. N." vom 31.1. 1933 an Hans Sauer (ehemaliger Sektionsleiter der NSDAP und Her­ ausgeber von „Der Nazi-Spiegel. Nürnberger Wochenblatt zum Kampf um die Wahrheit"), abge­ druckt in: „Der Nazi-Spiegel", Nr. 6, Februar 1933, 2. Jg. 31 Vgl. Vernehmung von Max Neunzert vom 17.4. 1924, in: StAM, Pol.Dir. München 6712. 32 Bericht des Reichskommissars für Überwachung der öffentlichen Ordnung an das Reichswehrmi­ nisterium vom 15.5. 1923, Abschrift, enthalten im Bericht des Landtagsausschusses, 4. Sitzung (12. 10. 1927), in: BayHStA, MA 103476/1. 208 Carlos Collado Seidel schränkter Form in Ungarn vorexerziert hatten. Der Gedanke an einen Königs­ putsch mit Einsetzung eines Diktators namens Hitler lag da (zumal sich die ursprüngliche Idee nicht mehr durchsetzen ließ) nicht fern. Hitler muß die Verbin­ dung zwischen Neunzert und dem Kronprinzen als derart eng eingestuft haben, daß der Mission ein Mindestmaß an Erfolgsaussichten beigemessen wurde33. Hitlers Ver­ trauen in Neunzert muß damals zudem außergewöhnlich groß gewesen sein, nach­ dem Hitler monarchistischen Kreisen grundsätzlich mißtraute. So hatten die Put­ schisten ein Angebot des Kabinettschefs des Kronprinzen, Josef Maria Graf von Soden, der sich im von Hitler besetzten Bürgerbräukeller befand, als Vermittler nach Berchtesgaden zu fahren, abgelehnt und den Grafen statt dessen festgenommen34. Dem Kronprinzen wurde im Rahmen der Ereignisse vom November 1923 nicht nur von Hitler eine Schlüsselrolle beigemessen. Bei Rupprecht erschienen damals neben Neunzert eine Reihe von Abgesandten der verschiedenen in den Putsch verwickelten Parteien. Freiherr von Fürstenberg trat als Vertreter des Generalstaatskommissars Ritter Gustav von Kahr auf. Der von Hitler als Polizeiminister designierte Hans von Seißer hatte offenbar ebenfalls einen Berichterstatter zum Kronprinzen geschickt35. Georg Escherich, der Organisator und ehemalige Leiter der bayerischen Einwohner­ wehr, hatte sich auch auf den Weg nach Berchtesgaden gemacht, traf am Nachmittag des 9. November nach Neunzert mit zwei Begleitern dort ein und mußte, da sich zu dem Zeitpunkt Neunzert noch mit dem Kronprinzen besprach, offenbar wenig erfreut zunächst warten36. Die Besprechung Neunzerts mit Rupprecht war offenbar überaus freundlich. Rupprecht, der Neunzert sofort empfing, soll den Kurier mit den Worten begrüßt haben: „Ihr habt eigentlich eine große Dummheit gemacht. Aber nachdem die Sache nun schon so ist, läßt sich wohl nicht mehr viel ändern." Rupprecht habe Neunzert Stuhl und Zigarre angeboten, Hitlers Botschaft entgegengenommen und festgestellt, daß die Gefahr des Aufeinanderschießens nationaler Gruppen das größte Unglück sei, das Bayern und Deutschland treffen könne. Rupprecht stellte eine Vorbedingung für eine mögliche Vermittlung: Hitler müsse sich bei Kahr entschuldigen; als Begründung solle er angeben, daß er dem Druck der Massen nachgegeben und sich zu dem Putschversuch habe hinreißen lassen. Rupprecht verlangte offenbar weiter, daß sich Hitler der legalen Macht unterstellen müsse. Am Ende der etwa eineinhalb-

33 Vgl. hierzu Argumentation der Staatsanwaltschaft München im Rahmen des Hitlerprozesses, in: Otto Gritschneder, Bewährungsfrist für den Terroristen Adolf H. Der Hitler-Putsch und die baye­ rische Justiz, München 1990, S. 103 f. 34 Vgl. Kurt Sendtner, Rupprecht von Wittelsbach, Kronprinz von Bayern, München 1954, S. 531. Soden hatte analoge Angaben auch gegenüber dem Untersuchungsausschuß des Landtages gemacht. Bericht des Landtagsausschusses, 16. Sitzung (19. 12. 1927), in: BayHStA, MA 103476/3. 35 Der Besuch eines Polizeioffiziers, der nach Angaben Neunzerts mit dem Kronprinzen sprach, gilt nicht als gesichert. Vgl. Harold J. Gordon, Hitlerputsch 1923. Machtkampf in Bayern 1923-1924, Frankfurt a.M. 1971, S. 397. Bericht des Landtagsausschusses, 16. Sitzung (19.12. 1927), in: BayHStA, MA 103476/3. 36 So die von Franz-Willing, Putsch, S. 109, zitierten Passagen der Tagebucheintragungen von Esche­ rich. In geheimer Mission für Hitler und die bayerische Staatsregierung 209 stündigen Unterredung, die zu der Zeit stattfand, als die Schüsse an der Feldherrn­ halle fielen, habe Rupprecht Neunzert angewiesen, unverzüglich nach München zurückzufahren, Hitler zu informieren und dann schleunigst den Generalstaatskom­ missar aufzusuchen. Neunzert sollte diesem mitteilen, daß das Schießen von Natio­ nalen auf Nationale unter allen Umständen unterbleiben müsse. Kahr müsse zudem alles aufbieten, damit gegen Hitler, falls dieser auf den Vorschlag einginge, kein Ver­ fahren wegen Hochverrats eingeleitet würde37. Kabinettschef Graf Soden (der aller­ dings bei der Besprechung nicht zugegen war) hat den Ausführungen von Neunzert später widersprochen, um den Vorwurf eines Vermittlungsangebots Rupprechts zugunsten Hitlers aus dem Weg zu räumen. Rupprecht hätte keinerlei Anweisungen an Kahr erteilt38. Neunzerts Beteiligung am Putschversuch beschränkte sich nicht allein auf die Geheimmission zu Rupprecht. Die engen Kontakte Neunzerts zum Polizeipräsi­ dium führten dazu, daß er zum Leiter der Nachrichtenabteilung in der Führung des Kampfbundes bestimmt und als solcher vor der Mission nach Berchtesgaden mit einer Reihe besonderer Aufgaben bei der Durchführung des Umsturzversuches betraut wurde39. Der militärische Leiter des Kampfbundes und direkte Vorgesetzte Neunzerts, Oberstleutnant Kriebel, entsandte ihn unmittelbar nach der Proklama­ tion der neuen Regierung im Bürgerbräukeller am Abend des 8. November ins Poli­ zeipräsidium, um Frick mitzuteilen, daß er zum Polizeipräsidenten ernannt worden sei und die Polizeidirektion unter seine Kontrolle bringen solle40. Neunzert sollte darüber hinaus eine konstante Verbindung zwischen der Polizeidirektion und dem Kampfbund sicherstellen. Nachdem sich der Putsch nicht nach Plan entwickelte und Schwierigkeiten auftraten, wurde Neunzert mit verschiedenen Aufklärungsmissio­ nen betraut41. Auch im Vorfeld der Ereignisse vom 8./9. November war Neunzert in Erscheinung getreten42. Obwohl Neunzert noch auf seiner Rückreise von Berchtes­ gaden von den Schüssen am Odeonsplatz erfuhr, reiste er weiter nach München und

37 Bericht des Landtagsausschusses, 16. Sitzung (19. 12. 1927), in: BayHStA, MA 103476/3. Vgl. auch Hanns Hubert Hofmann, Der Hitlerputsch. Krisenjahre deutscher Geschichte 1920-1924, Mün­ chen 1961, S. 202. 38 Bericht des Landtagsausschusses, 16. Sitzung (19. 12. 1927), in: BayHStA, MA 103476/3. 39 Vernehmung von Max Neunzert vom 17. 4. 1924, in: StAM, Pol.Dir. München 6712. 40 Vgl. Der Hitler-Prozeß 1924. Wortlaut der Hauptverhandlung vor dem Volksgericht München I, hrsg. von Lothar Gruchmann und Reinhard Weber unter Mitarbeit von Otto Gritschneder, Bd. 4, München 1999, S. 1239 f. (19. Verhandlungstag) und S. 1565 (24. Verhandlungstag). 41 Vernehmung von Max Neunzert vom 17.4. 1924, in: StAM, Pol.Dir. München 6712. Vgl. zudem Aussage des Präsidialsekretärs Rauh, in: Bericht des Landtagsausschusses, 15. Sitzung (15. 12. 1927), in: BayHStA, MA 103476/3, sowie Aktenvermerk des Ministerialrats Zetlmeier vom 14.1. 1924, in: Ernst Deuerlein (Hrsg.), Der Hitler-Putsch. Bayerische Dokumente zum 8./9. November 1923, Stuttgart 1962, S. 569 ff. (Dok. 227). Vgl. darüber hinaus Bericht des Landtagsausschusses, 16. Sitzung (19. 12. 1927), in: BayHStA, MA 103476/3. 42 Zu Neunzerts Beteiligung an der Verfassung eines Aufrufes des Kampfbundes an die Reichswehr vgl. Hitler-Prozeß, S. 991 und 1005 f. (15. Verhandlungstag). 210 Carlos Collado Seidel versuchte offenbar tatsächlich mit Kahr in Verbindung zu treten. Nachdem dies nicht möglich war, setzte er sich nach Österreich ab43. Trotz dieser aktiven Beteiligung am Putschversuch wurde das Ermittlungsverfah­ ren gegen Neunzert im Rahmen des Hitlerprozesses eingestellt. Die Begründung des Staatsanwalts lautete: „Daß Neunzert in den Putschplan eingeweiht war, kann nicht nachgewiesen werden. Im übrigen war seine Tätigkeit von so untergeordneter Bedeutung, daß kaum nachgewiesen werden kann, daß er sich, zumal bei seiner Auf­ fassung, der Lage bewußt war, dadurch das hochverräterische Unternehmen Hitlers zu unterstützen."44 Max Hirschberg stellt hierzu in seinen Erinnerungen fest, das Gericht habe vermeiden wollen, den Kronprinzen in den Prozeß hineinzuziehen. Eine Anklage gegen Neunzert hätte aber gerade dazu geführt45.

III.

Während Neunzert im Zusammenhang mit dem Hitlerputsch ungeschoren blieb, holte ihn seine Vergangenheit als Waffenschieber und Ermittler von Spitzeln wenige Monate später ein. „Er war derjenige", gab Kriebel über Neunzerts Engagement zu Protokoll, „der es sich zur Lebensaufgabe gestellt hatte, die Verräter festzustellen und herauszu­ bringen."46 Als Leiter der Aktivistengruppe „Neunzert"47 war er (allem Anschein nach) an den meisten Fememorden beteiligt, die in den zwanziger Jahren in München für Aufsehen sorgten und im Zusammenhang mit dem Verrat von Waffenverstecken der Einwohnerwehr standen48. nennt Neunzert im Zusammenhang mit dem Mordfall an Marie Sandmayer Anfang Oktober 192049. Mitte Juli 1924 wurde gegen Neunzert in diesem Zusammenhang ein Haftbefehl erlassen. Man legte ihm zur Last, das Fahrzeug, in dem der Mord ausgeführt worden war, gesteuert zu haben. Zu einer Anklage kam es allerdings nicht50. Der mit der Angelegenheit befaßte leitende Staatsanwalt Ludwig Stenglein lehnte aber später eine Haftentschädigung Neunzerts ab: „Zwar glaube ich nicht, dass er in dieser Sache am Mord selbst beteiligt war, obgleich bei dem auch heute noch in dieser Sache bestehenden Dunkel diese Möglich­ keit keineswegs vollkommen auszuscheiden ist, wohl aber bin ich der Überzeugung,

43 Aussagen von Neunzert, in: Bericht des Landtagsausschusses, 16. Sitzung (19. 12. 1927), in: Bay- HStA, MA 103476/3. 44 Bericht des Landtagsausschusses, 16. Sitzung (19. 12. 1927), in: BayHStA, MA 103476/3. 45 Vgl. Max Hirschberg, Jude und Demokrat. Erinnerungen eines Münchener Rechtsanwalts 1883- 1939, bearbeitet von Reinhard Weber, München 1998, S. 243. 46 Vgl. Aussage von Kriebel vom 28. 2. 1924, in: Bericht des Landtagsausschusses, 14. Sitzung (13.12. 1927), in: BayHStA, MA 103476/2. 47 Vgl. Zeugenvernehmung von Beppo Römer vom 9. 10. 1924, in: StAM, StAnw. Mü 3081/3. 48 Vgl. vor allem Ulrike Claudia Hofmann, „Verräter verfallen der Feme". Fememorde in Bayern in den zwanziger Jahren, Köln 2000. 49 Vgl. Wilhelm Hoegner, Die verratene Republik. Geschichte der deutschen Gegenrevolution, Mün­ chen 1958, S. 86. Lion Feuchtwanger hat den „Fall Sandmayer" in seinem Roman „Erfolg" litera­ risch umgesetzt. 50 Vgl. Hofmann, Fememorde, S. 91, 179, 187, 191 f., 199. In geheimer Mission für Hitler und die bayerische Staatsregierung 211 dass er um den Mord gewusst hat und an der Begünstigung der Mörder eifrig mit­ wirkte."51 Neunzert war darüber hinaus an dem Mordversuch an dem ehemaligen Reichswehrsoldaten Hans Dobner Ende Oktober 1920 beteiligt, wobei dieser bei einer Autofahrt „nach amerikanischer Manier" vom Münchner Stiglmaierplatz nach Schleißheim fast zu Tode geprügelt worden war. Neunzert gestand später freimütig ein, damals das Fahrzeug gesteuert zu haben52. Er verwahrte sich allerdings gegen den Vorwurf, einen Mord geplant zu haben, und bestritt, vom Führersitz her gefragt zu haben, ob denn Dobner noch nicht bald tot sei, so daß man ihn in den Wald werfen könne. Blutüberströmt konnte Dobner durch einen Sprung aus dem fahrenden Auto entkommen und sich in Sicherheit bringen53. Nach einer zehnmonatigen Untersuchungshaft fand Ende März 1925 schließlich doch noch ein Prozeß gegen Max Neunzert (und andere) wegen Beteiligung an einem vier Jahre zurückliegenden Fememord statt54. Dabei ging es um die Ermor­ dung des Mitglieds der Münchner Einwohnerwehr, Hans Hartung, der in der Nacht vom 3. auf den 4. März 1921 durch „mindestens sechs Pistolenschüsse" getötet wor­ den war; die Leiche war planmäßig mit Granitsteinen beschwert in der Zusam ver­ senkt und nur zufälligerweise durch einen Bauern vom Ufer aus entdeckt worden, der eine Hand des Toten im Wasser gesehen hatte. Schnell fand sich eine Spur, die auf Neunzert und seine Begleiter wies und diese schwer belastete; Neunzert selbst verwickelte sich bei seinen ersten Vernehmungen in Widersprüche55. Einige Ver­ dachtsmomente schienen keinen Zweifel zu lassen. Dennoch zogen sich die Ermitt­ lungen hin. Vier Jahre vergingen, bis der Prozeß gegen die Verdächtigen schließlich stattfand56. Für die Staatsanwaltschaft bestand kein Zweifel: Neunzert und seine Komplizen waren die Mörder von Hartung. Aus diesem Grunde wurde zunächst ein Haftentlassungsantrag der Verteidigung abgelehnt57, und im Prozeß verlangte der Anklagevertreter folgerichtig die Todesstrafe58. Das Schwurgericht unter der Leitung des Landgerichtsdirektors Zeiß war jedoch nicht bereit, dem Antrag der Staatsan­ waltschaft zu folgen, weil es die auf Indizien basierende Beweiskette nicht als lük- kenlos ansah. Neunzert und seine Mitstreiter wurden freigesprochen. Die 19 Seiten

51 Bericht des Ersten Staatsanwalts für den Landgerichtsbezirk München I an den Oberstaatsanwalt beim Oberlandesgericht München, 7[?]. 5. 1925, in: StAM, StAnw. 3081d/7. 52 Protokoll einer Vernehmung von Max Neunzert, 26. 9. 1924, in: StAM, StAnw. Mü 3081/2. 53 Neunzert bestritt später vor dem Schöffengericht Freising diese Angaben. Urteil des Schwurge­ richts beim Landgericht München I vom 30. 3. 1925, in: StAM, StAnw. 3081d/7. Vgl. ferner Hof­ mann, Fememorde, S. 52 ff., 200 ff. Vgl. ebenso Nußer, Wehrverbände, S. 141 f. Nußer bezieht sich hierbei hauptsächlich auf die Darstellungen von Emil Julius Gumbel, Verräter verfallen der Feme. Opfer, Mörder, Richter 1919-1929, Berlin 1929, S. 99 ff. 54 Vgl. ausführlich Hofmann, Fememorde, S. 56 ff., 105 ff. 55 Neunzert war bereits eine Woche nach der Tat vernommen worden. Zeugenaussagen Neunzerts vom 11.3. 1921 und erneut vom 20. 3. 1921, in: StAM, Staw.Gstanw. Nr. 34 und 37. 56 Vgl. Hofmann, Fememorde, S. 213 ff. 57 Beschluß der 7. Strafkammer des Landgerichts München I vom 12.3. 1925, in: StAM, StAnw 3081d/7. 58 Protokoll der Sitzung des Schwurgerichts beim Landgericht München I vom 24.-30.3. 1925, in: Ebenda. 212 Carlos Collado Seidel umfassende Begründung des Urteils hob zwar die dringenden Tatverdachtsmomente hervor: Die Polizei und der Untersuchungsrichter hätten in jahrelanger Kleinarbeit ein durchaus gewaltiges Material zusammengetragen, das die Angeklagten in überaus schwerer Weise belastete; ohne Geständnis der Beschuldigten und aus Mangel an Tatzeugen sah das Gericht die Täterschaft aber nicht als erwiesen an59. Zudem strotzte die Urteilsbegründung vor Verständnis für die Motive, die zu der Tat geführt hätten. Gleich einleitend war zu lesen: „Die Straftat führt zurück in die Zeit, in der die Kontrollkommission der Entente in unserem niedergetretenen Deutsch­ land die größten Anstrengungen machte, alles, was noch irgendwo an Waffen und Ausrüstung aus der Kriegszeit vorhanden sein mochte, ausfindig zu machen und zu vernichten, während die Einwohnerwehr und die Vaterländischen Verbände im Interesse und zum Schutze des geknechteten Vaterlandes dem entgegen zu wirken suchten." Ein Kreis „entschlossener junger Leute" habe es sich zur Aufgabe gemacht, Waffen zu bergen, eine Tätigkeit, der die größte Geheimhaltung zugekom­ men sei; ein Bruch dieser Verschwiegenheitspflicht oder Waffenverrat sei damals als bedrohliche Gefahr für das Vaterland und somit als schändlicher Vaterlandsverrat betrachtet worden. Damals hätte die Anschauung bestanden, „es sei nicht schade um solch' feile Kreaturen". Der notwendige Schutz des Vaterlandes erfordere es viel­ mehr geradezu, gefährliche Personen solcher Art auf die kürzeste Weise unschädlich zu machen und damit ein abschreckendes Beispiel zu geben, so die Eingangswürdi­ gung des Vorsitzenden Richters60. Solche Formulierungen sprächen Bände, meinte bereits ein zeitgenössischer Kommentator61. Immerhin weigerte sich in diesem Fall die Staatsanwaltschaft, eine Haftentschädigung zu leisten; aufgrund des auch nach dem Urteilsspruch fortbestehenden dringenden Tatverdachts sei „dem Neunzert damit offensichtlich kein Unrecht geschehen"62. Der „undurchsichtige" Gräfelfinger Schriftsteller Wilhelm Kiefer, der in Verbin­ dung mit Frick stand, hatte einem Polizeibericht zufolge eine bündige Erklärung für die letztliche Unbeweisbarkeit der Fememorde parat: Mit Ausnahme von Neunzert hätten alle Beschuldigten kein Wissen über die wahren Zusammenhänge, die hinter den Mordtaten stünden. Die eigentlichen Hintermänner wie Röhm und Mitglieder des Polizeipräsidiums hätten nicht auf der Anklagebank gesessen. Somit könne die Angelegenheit nur unter der Bedingung „zur restlosen Aufklärung kommen", daß Neunzert in Todesangst ein Geständnis ablege. Aber selbst dieser Fall würde keine Konsequenzen nach sich ziehen, denn sollte das Gericht die wirklichen Zusammen­ hänge tatsächlich in Erfahrung bringen, würde das Verfahren aus Gründen der Staatsräson eingestellt werden63.

59 Urteil des Schwurgerichts beim Landgericht München I vom 30. 3. 1925, in: Ebenda. 60 Ebenda. 61 Vgl. Alben Winter in: Die Weltbühne vom 12. 5. 1925, Jg. 21, Nr. 19, S. 698. 62 Bericht des Ersten Staatsanwalts für den Landgerichtsbezirk München I an den Oberstaatsanwalt beim Oberlandesgericht München, 7[?]. 5. 1925, in: StAM, StAnw. 3081d/7. 63 Schreiben des Kriminalkommissars Wenzel (Abteilung VIa) vom 18. 8. 1924, in: StAM, StAnw. 3081 d/2. In geheimer Mission für Hitler und die bayerische Staatsregierung 213 Die hier behandelten Fememorde waren aus „nationaler Sicht" alles andere als verwerflich. Im Rahmen des Prozesses im Zusammenhang mit dem Fall Dobner attestierte der Richter dem Killerkommando, daß die Täter sich zu der Tat hätten hinreißen lassen aus Gründen, „die jedem rechtlich denkenden Mann [...] nur zur Ehre gereichen"64. Nicht ungewöhnlich war zu der Zeit die Auffassung, daß es sogar ein verdienstvolles Werk sei, einen Verräter oder Spitzel zu ermorden, und daß der Staat und die Gerichte einer solchen Tat gegenüber beide Augen zudrücken müßten. Hierzu paßt eine Begebenheit, die Röhm hämisch in seinen Erinnerungen wieder­ gibt: Zu dem Polizeipräsidenten Pöhner sei einmal ein „besorgter Staatsretter" gekommen und hätte ihm im Flüsterton mitgeteilt: „Herr Präsident, es gibt politi­ sche Mordorganisationen!" „So, so", hätte Pöhner erwidert, „aber zu wenig."65 Her­ mann Kriebel war seinerseits der festen Überzeugung, daß alle „vaterländischen Kreise" bis in die Regierung hinein die Mordaktionen guthießen: „In allen vaterlän­ dischen Kreisen, auch in denen, die nicht zur E.W. [Einwohnerwehr] gehörten, war die Überzeugung die gleiche und auch in den höchsten Regierungskreisen wollte man dasselbe." Selbst Sozialdemokraten, „soweit sie sich als deutsche Männer fühl­ ten", hätten diese Überzeugung geteilt. Die Morde hätten allgemeine Befriedigung in Bayern ausgelöst66. Aus einer Darstellung Wilhelm Hoegners geht deutlich hervor, wie Justiz und Polizei aus politischer Opportunität handelten, um die Morde nach Möglichkeit gar nicht erst aufzuklären oder wie im Fall Hartung die Tat nach Mög­ lichkeit sogar ungesühnt zu lassen67. Auch McGee ist der Überzeugung, daß die Fememorde bewußt durch Justiz und Polizei gedeckt und die Ermittlungsmaßnah­ men nach Kräften verschleppt worden seien, um die abschreckende Wirkung dieser Morde sicherzustellen68. Auch Hofmann kommt in ihrer eingehenden Untersuchung der Fememorde in Bayern zu dem Ergebnis, daß die Justiz politisch beeinflußt wurde69. Der leitende Mitarbeiter der politischen Abteilung der Polizeidirektion, Frick, hatte im Rahmen des Verfahrens gegen Neunzert die Schuldfrage sogar glatt umge­ kehrt und vielmehr postuliert, daß es einer kapitalen Nachlässigkeit von Seiten des Staates gleichkäme, nicht die Todesstrafe gegen all jene Personen zu verhängen, die

64 Zit. nach Nußer, Wehrverbände, S. 141 f. 65 Röhm, Hochverräter, S. 116. 66 Protokoll einer Vernehmung von Hermann Kriebel, 24. 7. 1924, in: StAM, StAnw. Mü 3081. 67 „Ob die beiden Staatsanwälte wegen der angeordneten Berichterstattung im Ministerium über­ ängstlich geworden waren oder aus Liebedienerei gegen Pflicht und Gewissen handelten oder gar zu ihrem Tun von gewisser Seite bestimmt wurden, ist nicht bekannt geworden. Eigentümlich mutet es an, daß der Staatsanwalt Krieck nach einem Jahr die Mordverdächtigen als Zeugen eidlich vernehmen ließ. Oberleutnant Braun [führender Mitarbeiter des Landesverbandes der Einwohner­ wehr und mutmaßlicher Auftraggeber verschiedener Fememorde] war inzwischen nach Ungarn geflüchtet". In Hoegner, Republik, S. 88. Zu analogen Schlußfolgerungen kommt Nußer, Wehrver­ bände, S. 142 f. 68 Vgl. McGee, Police, S. 96 ff. 69 Hofmanns Schlußfolgerungen sind allerdings nuancierter als jene Nußers oder McGees. Vgl. Hof­ mann, Fememorde, S. 295 ff. 214 Carlos Collado Seidel sich als Verräter verhalten hätten, indem sie Waffenverstecke aufdeckten70. Auch Neunzert selbst hatte sich nicht gescheut, die Lynchjustiz gegenüber Waffenverrä­ tern gutzuheißen, und hatte dem Ermittlungsrichter frei heraus erklärt: „Solch Hunde gehörten erschossen."71 Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht wunder, daß alle im Rahmen des Prozesses befragten Zeugen nur Positives über Neunzert berich­ ten konnten72. Für Rudolf Kanzler handelte es sich um einen braven, national gesinnten Mann, der zu jedem Opfer für das Vaterland bereit sei73. Pöhner gab zu Protokoll, daß Neunzert ein „absolut einwandfreier Ehrenmann" und keiner „unan­ ständigen" Handlung fähig sei74. Kriebel hätte ihm am liebsten einen Verdienstorden umgehängt: „Neunzert ist mir seit langer Zeit gut bekannt. Er hat mit das Hauptver­ dienst, dass wir in Bayern noch so viele Waffen besitzen. Nacht für Nacht hat er mit einer Gruppe junger, braver Kerle gearbeitet ohne Rücksicht auf Wetter und sonstige Schwierigkeiten, oft im persönlichen Kampf mit verfolgenden Kommunisten und sonstigem Gesindel. Seiner Arbeit ist es zu danken, wenn dem deutschen Volke in seinen Waffen mindestens eine Goldmilliarde erhalten geblieben ist. Bei diesen Waf­ fenrettungen arbeitete er mit mir zusammen, weil für mich die Rettung der Waffen die Vorbedingung für die Bewaffnung der Einwohnerwehr war."75 Neunzert befand sich damals sozusagen in bester „vaterländischer" Gesellschaft.

IV.

Seine Vorstellungen von Vaterlandsliebe hatten Neunzert zu Hitler und in die NSDAP geführt. Auch nach dem Verbot der Partei blieb er nationalsozialistischen Kreisen eng verbunden76. Unmittelbar nach dem gescheiterten Putsch war Neunzert wie andere Nationalsozialisten nach Österreich geflohen. Dort hielt er sich wechsel­ weise in Salzburg, Innsbruck und Kufstein auf und beteiligte sich an Treffen der demoralisierten und zerstrittenen Reste der Anhängerschaft Hitlers. In Salzburg fan­ den Anfang 1924 konspirative Treffen statt, mit dem Ziel den Zusammenhalt der Partei zu wahren77. Politisch trat Neunzert jedoch zunächst nicht in Erscheinung78.

70 Stellungnahme von Wilhelm Frick, 20. 11. 1924, in: StAM, StAnw. Mü I, 3081d/4. 71 Protokoll einer Vernehmung von Max Neunzert, 26. 9. 1924, in: StAM, StAnw. Mü 3081/2; Urteil des Schwurgerichts beim Landgericht München I vom 30. 3. 1925, in: StAM, StAnw. 3081d/7. 72 Zeugenaussage von Friedrich Bernreuther, 7. 11. 1924, in: StAM, StAnw. Mü I, 3081d/3; Zeugen­ aussage von Wilhelm Frick, 20.11. 1924, in: StAM, StAnw. Mü I, 3081 d/4; Zeugenaussage von Ernst Pöhner, 18. 7. 1924, in: StAM, StAnw. Mü I, 3081d/l. 73 Protokoll einer Vernehmung von Rudolf Kanzler vom 22. 9. 1924, in: StAM, StAnw. Mü 308ld/2. 74 Zeugenaussage von Ernst Pöhner, 18. 7. 1924, in: StAM, StAnw. Mü I, 3081d/l. 73 Protokoll einer Vernehmung von Hermann Kriebel, 24. 7. 1924, in: StAM, StAnw. Mü 3081. 76 Vernehmung von Max Neunzert vom 17.4. 1924, in: StAM, Pol.Dir. München 6712. Vgl. auch Bericht der Polizeiabteilung VIa vom 20[?].5. 1924, in: Bundesarchiv Berlin, Bestand NS-Akten: Ordner AH 3b. 77 Polizeidirektion München: I. Bericht über Salzburg, 15. 1. 1924, in: Deuerlein (Hrsg.), Doku­ mente, S. 566 ff. Der Aufenthalt in Salzburg von November 1923 bis April 1924 als politischer Flüchtling, der Asylrecht genoß, wurde durch die Polizeidirektion Salzburg bestätigt. Schreiben In geheimer Mission für Hitler und die bayerische Staatsregierung 215 1927 wurde Neunzert allerdings mit weiteren rechtsgerichteten Straftaten in Verbin­ dung gebracht, die wenige Monate vor und nach dem Hitlerputsch begangen wor­ den waren. Die Staatsanwaltschaft Traunstein erhob öffentlich Klage, da Neunzert dringend verdächtigt wurde, an zwei Sprengstoffattentaten auf das Haus des Kunst­ malers Eugen Wehrung in Seebruck beteiligt gewesen zu sein (der aus dem Elsaß stammende Wehrung galt in Kreisen nationaler Verbände als Spion der Entente und Waffenverräter)79. Als Anstifter der Straftaten wurde der Schwiegervater Neunzerts verdächtigt. Aus Mangel an Beweisen wurden die Angeklagten allerdings außer Ver­ folgung gesetzt. Nach der Neugründung der Partei im Jahr 1925 war auch Neunzert wieder mit von der Partie. Anfang April 1928 trat er erneut als Mitglied bei80 und bemühte sich sogleich um ein Landtagsmandat: Hitler hatte ihn zum Kandidaten für die südlichen Stimmkreise Oberbayerns nominiert81. Neunzert verfehlte allerdings knapp den Sprung ins Parlament82. Nach diesem fehlgeschlagenen Einstiegsversuch in die Poli­ tik, nach der Scheidung von seiner Ehefrau und offenbar aus finanzieller Not nahm Neunzert ein Angebot Kriebels an, der eine Aufgabe als Militärberater der chinesi­ schen Nationalregierung übernommen hatte, und ging 1929 als Adjutant Kriebels nach China83. Dort führte Neunzert unverdrossen seine propagandistische Arbeit für die NSDAP fort: Er versuchte, neue Mitglieder zu werben und eine Ortsgruppe in Ostasien zu gründen. Ein Zeitzeuge, der Neunzert in China kennengelernt hatte, beschrieb diesen viele Jahre später als „schwärmerischen Anhänger Hitlers, den er für den Segensbringer der Welt hielt"84. Heinrich Himmler, mit dem Neunzert in dieser Zeit einen regen Briefwechsel führte, freute sich nicht nur über dessen Initia­ tive, sondern drängte den umtriebigen Mann darüber hinaus, nach Fördermitgliedern zur Finanzierung der SS Ausschau zu halten85. Neunzert hielt von China aus einen

des Polizeidirektors von Salzburg an den Untersuchungsrichter beim Landgericht Traunstein vom 29. 5. 1928, in: StAM, StAnw. Nr. 15668. 78 Vgl. Polizeibericht Nr. 66 vom 1. 5. 1928, in: StAM, LRA 109 012. 79 Klageschrift der Staatsanwaltschaft Traunstein vom 1. 6. 1927 und 20.4. 1928, in: StAM, StAnw. Nr. 15663 und 15668. 80 Neunzert erhielt damals die Mitgliedsnummer 85006. Das Original des Mitgliedsausweises befin­ det sich in: Entschädigungskammer des Landgerichts München I (künftig: EK LgM I), 807/55. 81 Vgl. Polizeibericht Nr. 66 vom 1.5. 1928, in: StAM, LRA 109 012. 82 Dabei konnte er immerhin 7.596 Stimmen auf sich vereinigen und scheiterte damit nur knapp. Vgl. Zeitschrift des Bayerischen Statistischen Landesamts (1928), S. 550. Vgl. ferner die Angaben Neun­ zerts im Antrag auf Grund des Gesetzes zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts, 15. 3. 1950, Akte in: Landesentschädigungsamt München (künftig: LEA). Vgl. auch Polizeibericht Nr. 67 vom 13. 6. 1928, in: StAM, LRA 109 012. 83 Neunzerts China-Aufenthalt als Militärberater wird erwähnt in: Bernd Martin (Hrsg.), Die deut­ sche Beraterschaft in China 1927-1938. Militär - Wirtschaft - Außenpolitik, Düsseldorf 1981, S. 468. 84 Aussage von Hans Wilhelm Siegel, 10. 6. 1995, zit. in: Astrid Freyeisen, Shanghai und die Politik des Dritten Reiches, Würzburg 2000, S. 58. 85 Brief Heinrich Himmler an Neunzert, Datum unleserlich [24.6. 1930?], in: Nürnberger Akten Paris Storey (künftig: NA PS), 2213. Die Bekanntschaft zwischen Neunzert und Himmler stammt möglicherweise aus der Zeit, als Neunzert an der Technischen Universität München studierte; 216 Carlos Collado Seidel möglichst engen Kontakt zu Himmler und versuchte damit, seine Stellung innerhalb der NSDAP zu stärken. Nach dem beeindruckenden Wahlerfolg der NSDAP bei den Reichstagswahlen vom September 1930 glaubte Neunzert seinen Aspirationen Nachdruck verleihen zu müssen, zumal Himmler selbst Neunzert wiederholt Hoff­ nung auf ein politisches Amt gemacht hatte86. Nach einer einleitenden herzlichen Gratulation für das errungene Mandat schrieb Neunzert Mitte Oktober aus Fernost an Himmler: „In Deutschland kommt nun endlich auch der Lichtschein durch, durch den Nebel, den die Erzlumpen um das Volk gelegt haben. Auf die Abrech­ nung freue ich mich ehrlich und werde dabei nicht fehlen [...]. Am 1. habe ich mei­ nen Vertrag gekündigt, obwohl es mir immer wieder abgeraten worden ist. Ich pfeife auf das Geld, das ich hier bekomme, wenn ich für mein Volk wenig oder nichts tun kann und ich nur mit Widerwillen und ohne jede Begeisterung arbeite. Nur des Gel­ des Willen, ist mir zu wenig. Moegen es andere machen."87 Neunzert kündigte seine Rückkehr nach Deutschland für den Januar 1931 an und bat Himmler darum, sich für ihn für einen aussichtsreichen Listenplatz bei den kommenden bayerischen Landtagswahlen einzusetzen. Seine Begründung des Ansinnens klang wie ein Rechtsanspruch: „Ich glaube, dass dies nicht zu viel von mir verlangt ist, nach allen den Opfern, die ich gebracht habe. Wenn Goering seinerzeit dieses Verlangen gestellt hat, so habe ich auch das Recht. [...] Verdient habe ich es, kann ich wohl ohne jede Übertreibung sagen."88 Neunzert, der zu der Zeit offenbar über keine Ein­ kommensmöglichkeiten in Deutschland verfügte und sich, wie er betonte, aus „rei­ nem Selbsterhaltungstrieb" im Ausland aufhielt, wollte endlich seine „jahrelange Arbeit für die Bewegung" belohnt sehen89. Diese offenkundige Begeisterung für die „Bewegung" kontrastiert in außerordent­ lich frappierender Weise mit Briefen, die Neunzert Anfang Februar 1928 an zwei Repräsentanten eines ganz anderen politischen Lagers schrieb. So liest man in einem Schreiben an den Bauernführer Georg Heim folgendes: „Nach reiflicher Ueberle- gung habe ich mich nun doch entschlossen in die nationalsozialistische Partei einzu­ treten, nachdem ich mich Ihrem und dem Standpunkt von Herrn Ministerpräsident Dr. Held angeschlossen habe. Ich bin also bereit, alle Schritte zu unternehmen, um die Aufnahme und wo möglich die Kandidatur zum Land- oder Reichstag zu errei­ chen. Ich möchte aber nochmals darauf aufmerksam machen, dass ich später voll und ganz gedeckt werde. In dieser Beziehung müssen Sie mir wie auch Geheimrat Dr. Held, Garantien verschaffen, damit es nicht, wie es sonst im politischen Leben leider üblich ist, passiert, dass ich nach erledigtem Auftrag fallen gelassen werde. Sie, wie Ministerpräsident Dr. Held haben mir die Versicherung gegeben und ich ver­

Himmler begann dort sein Landwirtschaftsstudium im Herbst 1919. Vgl. Bradley F. Smith, Hein­ rich Himmler 1900-1926. Sein Weg in den deutschen Faschismus, München 1979, S. 107. Eine Reihe von Angaben zum Aufenthalt von Neunzert in China in: Freyeisen, Shanghai, S. 57 ff. 86 Brief Heinrich Himmler an Neunzert, Datum unleserlich [24. 6. 1930?] in: NA PS, 2213. 87 Brief Neunzert an Himmler vom 14. 10. 1930, in: Ebenda. 88 Ebenda. 89 Ebenda. In geheimer Mission für Hitler und die bayerische Staatsregierung 217 traue auf das Versprechen. Nochmals möchte ich bitten, dass ausser Ihnen und Dr. Held kein Mensch von unserem Vorhaben erfährt, weil sonst die Gefahr besteht, dass etwas bei den Nationalsozialisten durchsickert, was später zu schwerwiegenden Folgen führen könnte."90 Späteren Angaben zufolge hatte Neunzert Heim und Heinrich Held in den Jahren 1919 und 1920 kennengelernt und Anfang der zwanzi­ ger Jahre deren Vertrauen dadurch gewonnen, daß er sich als Verbindungsmann zu verschiedenen Persönlichkeiten wie dem Kronprinzen Rupprecht, Kapp in Berlin, Kahr und sogar zu Dienststellen in Budapest und Wien bewährt hatte. Gespräche darüber, „ob man nicht die Hitler-Bewegung in den bürgerlichen Rechtsblock ein­ bauen und dadurch ungefährlich machen könnte", hätten dann Ende 1925 oder Anfang 1926 begonnen91. Neunzert hatte sich diesen Angaben zufolge bereits Ende der zwanziger Jahre von der Partei distanziert und war nur wieder in die NSDAP eingetreten, um als Maulwurf tätig zu sein, der „guten Sache wegen", wie Neunzert später betonte92. Er hielt demnach lediglich vor dem Hintergrund seiner geheimen Mission den Schein aufrecht, ein überzeugter Anhänger der Partei und Hitlers zu sein93. Nach seiner Rückkehr aus China war Neunzerts Einfluß auf die Parteiführung allerdings bei weitem nicht mehr so groß wie noch Anfang der zwanziger Jahre. Streit mit Partei­ genossen taten wohl ein übriges94. Die Abkehr von der Hitler-Partei wurde jetzt auch nach außen sichtbar. Anfang Februar 1931 trat er wieder aus. Die Austrittser­ klärung war in deutliche Worte gefaßt: „Nachdem der moralische Sumpf und die Korruption in der Partei derart um sich gegriffen hat, kann ich [ihr] als anständiger Mensch nicht mehr weiter als Mitglied angehören und erkläre hiermit meinen Aus­ tritt."95 Damit endeten jedoch Neunzerts Bemühungen nicht, der Hitler-Partei Schaden zuzufügen. Ende 1932 startete Neunzert in Eigenregie eine neue Offensive im Zusammenhang mit den damaligen Turbulenzen innerhalb der NSDAP, deren Höhepunkt der Rücktritt Gregor Straßers von allen Parteiämtern markierte. Ende des Jahres 1932 glaubte Neunzert fest daran, Hitlers Partei sei einem beschleunigten und unaufhaltbaren Zerfallsprozeß ausgesetzt, und er wollte an dessen Sturz aktiv beteiligt sein. Neunzert schrieb nun mitten in der Parteikrise an eine Reihe von Bekannten, die in der gesamten Republik verstreut lebten und die dem nationalso­ zialistischen Dunstkreis angehörten. Mittels dieser Briefe wollte er die Krise inner-

90 Brief Neunzert an Heim vom 2.2. 1928, in: Nachlaß Neunzert. Neunzert schrieb einen analogen Brief gleichen Datums an Held, in: Ebenda. Der Echtheitsgehalt dieser Briefe konnte nicht über­ prüft werden. 91 Aussage Neunzerts vom 22. 7. 1955 in: EK LgM I, 807/55. 92 Ebenda. 93 Diese geheime Abmachung wird auch in der eidesstattlichen Erklärung eines ehemaligen Mitstrei­ ters aus der „Waffenzeit" beschrieben. Eidesstattliche Erklärung von A.B. vom 1. 10. 1953, Anga­ ben Neunzerts im Antrag auf Wiedergutmachung, 15. 3. 1950, Akte in: LEA. 94 Neunzert gab später vor allem Walter Buch, dem obersten Richter der NSDAP, die Schuld an die­ ser Entwicklung. Vgl. Teilurteil des Landgerichts München I vom 12. 3. 1957, in: Ebenda. 95 Brief Neunzert an die NSDAP-Zentrale vom 2. 2. 1931, in: Nachlaß Neunzert. 218 Carlos Collado Seidel halb der Partei forcieren; er wollte vermeintliche Gesinnungsgenossen, die ebenfalls mit der Entwicklung innerhalb der NSDAP unzufrieden waren, auf seine Seite zie­ hen, um die Partei damit zusätzlich zu destabilisieren. Neunzert hoffte auf eine Spal­ tung der NSDAP und auf eine neue und geläuterte NSDAP unter der Führung des zurückgetretenen Straßer96. Er setzte auf jene Kräfte in der NSDAP, die entsetzt dar­ über waren, daß Hitler das Angebot Papens zur Mitarbeit an der Regierung abge­ lehnt hatte. Neunzert glaubte daran, daß all jene, die willens waren, für eine Verbes­ serung der Lage in Deutschland aktiv mitzuarbeiten, sich nun gegen Hitler stellen müßten. So sollte beispielsweise auch Otto Dickel, der 1921 in Augsburg die „Deut­ sche Werkgemeinschaft" ins Leben gerufen hatte und ein gespanntes Verhältnis zu Hitler hatte, nach dem Willen Neunzerts an der neuen Bewegung mitarbeiten97. In diesem Sinne war der Rücktritt Straßers in den Augen Neunzerts ein gutes Zeichen: „Straßer [sic] ist nun endlich auch gesprungen. Wenn nicht alle Anzeichen trügen, geht er den Weg weiter und wird zu Neujahr aus dem Reichstag ausscheiden, damit man ihm nicht den Vorwurf machen kann, dass er Diätenschinderei betreibt. Ich ver­ kenne nicht die Kraft der Propaganda, die er als Abgeordneter machen könnte, aber das Vorangeführte wiegt über. Er steht auf dem Standpunkt, dass er kein Mandat behalten will, das er unter einer anderen Flagge errungen hat. Ich muss ihm Recht geben. [...] Der Austritt Strassers hat eine begreifliche Unruhe ausgelöst, die sich zusehends verstärkt und nach Neujahr wohl zu grösseren Explosionen führen dürfte. Jedenfalls kriegen wir dadurch eine erheblich breitere Basis."98 Den Briefen Neunzerts lassen sich eine Reihe von Faktoren entnehmen, die seine Abkehr und spätere Aversion gegen die NSDAP bestimmten. Er beklagte darin vor allem die Verlogenheit und den moralischen Verfall, die innerhalb der Partei um sich gegriffen hätten. Für Neunzert war daher der Sturz Straßers nicht überraschend erfolgt: „Wie kann man denn einen Mann in der Bewegung lassen, der sauber ist, in jeder Weise? Es ist immer so im Leben. Verbrecher können keinen anständigen Men­ schen unter sich dulden, weil sie sonst in ihrer verbrecherischen Tätigkeit behindert sind."99 Zu dem Zeitpunkt war Neunzerts Haltung zur Parteiführung unversöhnlich geworden. Inzwischen war die gesamte NSDAP-Führung in seinen Augen eine Ver­ brecherbande: „Und Verbrecher sind sie alle, ob sie nun Hitler, Goebbels, Röhm oder Göring heissen."100 Neunzert sprach Hitler jegliche patriotischen Motive in sei­ ner Politik ab: „Ist es vielleicht nicht verbrecherisch, wenn Hitler immer auf das Chaos rechnet, weil er dann hofft, durch dieses Chaos an die Macht zu kommen? Nennt man das Vaterlandsgefühl? Schamlose Heuchelei ist es, weiter nichts. Dieser sogenannte Führer redet bei jeder Gelegenheit von der Liebe zum deutschen Volk

96 Brief Neunzert an Franzius vom 22. 12. 1932, in: Ebenda. 97 Brief Neunzert an Franzius vom 20. 1. 1933, in: Ebenda. 98 Brief Neunzert an Fischer vom 21. 12. 1932, in: Ebenda. Nach dem Krieg distanzierte sich Neun­ zert allerdings von den Zielen Straßers „wegen seiner nationalbolschewistischen Einstellung". Aussage Neunzerts vom 22. 7. 1955, in: EK LgM I, 807/55. 99 Brief Neunzert an Kien vom 21. 12. 1932, in: Nachlaß Neunzert. 100 Ebenda. In geheimer Mission für Hitler und die bayerische Staatsregierung 219 und sehnt den Augenblick herbei, wo bei uns der Bolschewismus herrscht, damit er dann als Befreier auf der Bühne erscheinen zu können glaubt."101 Dem Grafen Rex schrieb Neunzert einen dramatischen Brief: „Es ist mir sehr daran gelegen, Sie noch­ mals zu bitten, bei Reichskanzler v. Schleicher darauf hinzuwirken, dass er uns von Staatswegen mit aller Kraft unterstützt, besonders finanziell, um den Kampf gegen die Nazi mit aller Kraft fortführen zu können. Sie müssen ihn vor allen Dingen von der Wahnidee abbringen, die Nazi als nationalen Verband zu betrachten. Für mich sind sie Bolschewisten mit anderen Farben und Volksschädlinge, die mit allen Mit­ teln bekämpft werden müssen. Führen Sie dies dem Mann eindringlich vor Augen, sonst wird er am eigenen Leib die Verkehrtheit seiner Ansichten zu spüren bekom­ men, wenn Hitler ans Ruder kommen sollte. Drängen Sie Schleicher, denn die Zeit drängt uns, sonst ist es zu spät."102 Neunzert stieß bei seinen Versuchen, eine Geg­ nerschaft zu Hitler, Goebbels und Göring aufzubauen, auf ein geringes Echo. Sofern Neunzert überhaupt Antworten erhielt, enthielten sie vor allem vorsichtige und unverbindliche Formulierungen. Der spätere Rektor der Technischen Universität Hannover, Otto Franzius, den Neunzert aus seiner Zeit in China kannte, sah ähnli­ che Probleme wie Neunzert. Auch ihm sei, so seine verständnisvollen Briefe, die Entwicklung in der NSDAP sehr schmerzlich. „Das fühlt jeder", schrieb er, „der sich nicht zum Fanatiker hat machen lassen, dass die Partei durch das Eindringen vieler Konjunkturpolitiker auf eine schiefe Bahn gekommen ist." Besonders Goeb­ bels geriet in das Visier des Professors; nach dem Motto „der Zweck heilige die Mit­ tel" würden rücksichtslos alte Prinzipien über Bord geworfen. Allein der negativen Wertung der Person Hitlers wollte sich Franzius nicht anschließen. Obgleich kein Parteimitglied, glaubte er an das Gute im Nationalsozialismus und an die ernsthaften Absichten Hitlers103. Franzius verstand sich jedoch als Wissenschaftler und wollte nicht in die Parteipolitik hineingezogen werden104. Aus den Briefen läßt sich auch eine tiefe Enttäuschung Neunzerts herauslesen. Er war zweifellos darüber ernüchtert, daß er es nicht geschafft hatte, innerhalb des Par­ teiapparates weiterzukommen. Neunzert hat darüber hinaus sicherlich mit Wehmut an den Nationalsozialismus jener Ausprägung zurückgedacht, den er vor dem Hit­ lerputsch erlebt hatte. Personen wie Straßer verkörperten dieses Bild von der Partei. Der Personenkult um Hitler war ihm zuwider geworden, da dabei die Parteiideale, wie er sie verstand, geopfert worden waren: „Hitler trägt die Schuld an allem. Die Partei ist nahe daran durch den Hitlerismus, wie ich immer sage, zu Grunde gerich­ tet [zu] werden. [...] In der Partei ist man schon seit Jahren von der Ehrlichkeit, der Wahrheit und der Sauberkeit in jeder Form abgeschwenkt, hat Misstände einreissen lassen, die zum Himmel stinken, und hat diejenigen, die den Mut aufgebracht haben,

101 Ebenda. 102 Brief Neunzert an Graf Rex vom 10. 12. 1932, in: Ebenda. Dabei handelt es sich aller Wahrschein­ lichkeit nach um Karl Max Graf von Rex, Mitglied im Deutschen Herren-Club und der NSDAP. 103 Brief Franzius an Neunzert vom 3. 12. 1932, in: Ebenda. 104 Brief Franzius an Neunzert vom 30. 12. 1932, in: Ebenda. 220 Carlos Collado Seidel dagegen Front zu machen, verfehmt und an die Luft gesetzt, ohne, dass sich die noch Anständigen sich für diese eingesetzt hätten."105 Hitler war für Neunzert längst kein Führer mehr: „Ich kann keinen Menschen als Führer anerkennen, dem die Qualitäten, die geistigen wie moralischen, fehlen, der einen ungesunden Byzantinis­ mus hochgezüchtet hat, dem Ehrgeiz und krankhafte Eitelkeit über alles gehen und der im überspannten Führerkult zum Grössenwahnsinn gekommen ist."106 Schließ­ lich beklagte der Kämpfer der allerersten Stunde die zunehmende Entpersönlichung innerhalb der Partei. Sarkastisch stellte er fest, Hitler habe innerhalb von nur zwei Jahren diese Entpersönlichung fast bis zur Vollkommenheit durchgeführt: „In Russ­ land sagt man Kollektiv. Hier dasselbe nur andere Leute und andere Farben. Es gibt nur noch Nummern und alles duckt sich vor dem ,Führer'. Pfui Teufel!"107 Wohl im Übermut oder aus Siegessicherheit verfaßte Neunzert sogar einen langen öffentlichen Brief an Hitler, der eine nicht endende Aneinanderreihung von direkten und persönlichen Angriffen gegen die Führungsspitze der Partei und gegen Hitler selbst enthielt108. Dieser Brief, so gab Neunzert später zu Protokoll, sei für einen Abdruck in den „Münchner Neuesten Nachrichten" gedacht gewesen109, er könnte aber auch für die Publikation im nationalsozialistischen Nürnberger Oppositions­ blatt „Der Nazispiegel" vorgesehen gewesen sein, da Neunzert damals in Kontakt mit dem Herausgeber stand und die Ziele des Wochenblattes begrüßte110. Besonders heftig ließ sich Neunzert in seinem Brief an Hitler gegen seinen ehemaligen engsten Mitstreiter und Freund Ernst Röhm aus. Offenbar war es nach der Rückkehr Röhms aus Bolivien im Jahr 1930 und Neunzerts aus China zu einem Zerwürfnis und sogar zur offenen Feindschaft zwischen beiden gekommen. Schon Mitte 1931 zeterte Neunzert gegen Röhm111. Die Angriffe hatten aller Wahrscheinlichkeit nach einen moralischen Hintergrund; Neunzert prangerte ausführlich und kompromißlos die homosexuellen Neigungen des Stabschefs der SA an. Die Tatsache, daß ein „mora­ lisch verkommener Mensch" wie Röhm trotz der allgemeinen Kenntnis des „Defekts" in Parteikreisen auf ausdrücklichen Wunsch Hitlers Stabschef der SA blieb, brachte Neunzert zu weitergehenden Überlegungen: „Selbst die meisten Ihrer Mitarbeiter, soweit sie nicht selbst homosexuell oder zumindest moralisch angekrän­ kelt sind, waren über diese Verlautbarung sprachlos. Herr Hitler, Sie gingen noch

105 Brief Neunzert an Kien vom 21. 12. 1932, in: Nachlaß Neunzert. 106 Ebenda. 107 Ebenda. 108 Ein Abdruck in der Presse oder eine anderweitige Veröffentlichung konnte nicht nachgewiesen werden. Die Publikation öffentlicher Briefe war damals nicht ungewöhnlich. Briefe gegen Hitler ähnlichen Stils waren bereits Anfang der zwanziger Jahre erschienen. Vgl. Werner Maser, Der Sturm auf die Republik. Frühgeschichte der NSDAP, Stuttgart 1973, S. 270 f. 109 Aussage Neunzerts vom 22. 7. 1955, in: EK LgM I, 807/55. 110 Das Wochenblatt „Der Nazispiegel" erschien in der Zeit zwischen Dezember 1932 und Mai 1933. Vgl. ferner eidesstattliche Erklärung von A.B. vom 1. 10. 1953, in: Antrag auf Wiedergutmachung, 15.3. 1950, Akte in: LEA. 111 Vgl. Paul Hoser, Die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Hintergründe der Münchner Tagespresse zwischen 1914 und 1934, Frankfurt 1990, S. 711. In geheimer Mission für Hitler und die bayerische Staatsregierung 221 weiter. Sie machten sich für Ihren homosexuellen Stabschef, für die ganze homo­ sexuelle Clique, die sich noch in der Partei befindet, zum bewussten Lügner gegen­ über Ihren Parteigenossen. Sie erliessen nämlich noch einen ,Befehl', wonach alle ,Dienststellen' angewiesen wurden, die Angelegenheit Röhm als Lüge und Verleum­ dung hinzustellen. Sie haben damit zu einem Mittel gegriffen, wonach Sie als Natio­ nalsozialist und gar als 'Führer' nie hätten greifen dürfen. [...] Herr Hitler, es gibt nur zwei Erklärungen für Ihr unerhörtes Verhalten. Entweder Sie sind moralisch schon so verdorben, oder aber Sie sind, wie vielfach schon zu hören ist, selbst homosexuell."112 Neunzert steigerte sich förmlich in Haßtiraden gegen Hitler hinein: „Dass Sie ein Sadist sind, dürfte in den Parteikreisen ja schon lange bekannt sein. Dass Sie aber zu der widerlichsten Sorte dieser Art gehören, wissen leider nur die wenigsten. Als anständigen Menschen aber, der ich mich fühle, ist es unmöglich Ihre geschlechtliche Betätigungsart der breiten Öffentlichkeit bekannt zu geben. Es triebe mir die Schamröte ins Gesicht und ich würde mich für Sie schämen. Dass Sie sich im braunen Sumpf wohl fühlen, finde ich vollauf begreiflich. Das deutsche Volk mag sich gratulieren, wenn es Sie zum Führer bekommt. Auf seinem Rücken werden Sie Orgien feiern, dass ihm Hören und Sehen vergeht."113 Diese moralisierende Grund­ haltung entsprang einer inneren Überzeugung. Bereits im Rahmen einer Verneh­ mung zum Mordfall Hartung hatte Neunzert charakterliche Schwächen eines Ein­ wohnerwehr-Mannes als unerträglich bezeichnet114. Scharf kritisierte Neunzert in dem Brief an Hitler die neue Generation von NSDAP-Mitgliedern. Er sah es schlecht um die Partei bestellt, nachdem dort die Postenjäger Einzug gehalten hätten, die doppelzüngig und prinzipienlos seien: „Hin­ tenrum wurde über die ,Röhmaffaire' geschimpft, im Reichstag erzählten sich die Abgeordneten die delikatesten Witze über das Braune Haus, Röhm etc., aber keiner getraut sich bei Ihnen die Forderung auf Entfernung der homosexuellen Clique zu stellen. [...] Die Rücksicht auf die gut bezahlten Stellungen, auf den Abgeordneten­ stuhl hindert diese ,aufrechten Männer' an Sie mit der Forderung, die Säuberung durchzuführen, heranzutreten. Wie schimpften Sie früher über diese Speichellecker und Lakaiennaturen an den Höfen. Und was haben Sie für eine Umgebung, Herr Hitler?"115 Die Quintessenz von Neunzerts Brief an Hitler lautete: „1. In Ihrer Partei herrscht eine derartige moralische Korruption und Sauerei, wohlgemerkt unter Ihrer Führung, wie sie nicht einmal bei den Roten möglich wäre. 2. Ihre Parteigenossen, die auf Sie blindwütig vertrauen, werden in der schamlosesten Form von Ihnen und Ihrem Klingel [sic] belogen und betrogen."116 Für Neunzert, der sicherlich im

112 Offener Brief Neunzert an Hitler vom 12. 1. 1933, in: Nachlaß Neunzert. 113 Ebenda. 114 Damals hatte er ein Liebesverhältnis eines ehemaligen Mitarbeiters der Einwohnerwehr zu einer Frau noch vor der Scheidung von seiner ersten Frau angeprangert. Protokoll einer Vernehmung von Max Neunzert, 26. 9. 1924, in: StAM, StAnw. Mü 3081/2. 115 Offener Brief Neunzert an Hitler vom 12. 1. 1933, in: Nachlaß Neunzert. 116 Ebenda. 222 Carlos Collado Seidel

Grunde nach wie vor an die Ideale des Nationalsozialismus glaubte, galt damals die Devise: „Es wird Zeit, dass die Bewegung aus der Partei austritt, bevor alles zer­ bricht."117 Unerschrocken kündigte Neunzert an, sich Hitler künftig mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln in den Weg stellen zu wollen. Er sah es als eine von seinem Gewissen vorgeschriebene Aufgabe an, Hitler konsequent zu bekämp­ fen. Nahezu prophetisch klingen dabei die Schlußsätze seines Briefes: „Sie, Herr Hitler, müssen von der politischen Bildfläche verschwinden, bevor Deutschland und damit Europa, vielleicht die ganze Welt von Ihnen zu Grunde gerichtet wird, denn Menschen mit Ihrer perversen Veranlagung sind zu Allem und Jedem bereit und fähig."118 Es wäre zusammenfassend allerdings zu undifferenziert zu argumentieren, daß Neunzert es einfach nicht geschafft hatte, sich innerhalb der Partei durchzusetzen, und nun frustriert über alles herzog, was mit der NSDAP in Verbindung stand. Die Ablehnung des unbedingten Führerprinzips und der Erhöhung Hitlers zum Messias widersprach vielmehr inneren Überzeugungen. Die NSDAP war nach der Neugrün­ dung nicht mehr die „Bewegung", die die nationalen Kräfte Deutschlands durch einen „Marsch auf Berlin" im Sturm für sich gewinnen wollte; sie war statt dessen zur straff organisierten Hitler-Partei „verkommen". Mit dieser Partei, unabhängig von deren politischen Zielen, wurde Neunzert nicht mehr warm. Schließlich hat wahrscheinlich ein zusätzlicher Faktor eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit seiner Abkehr von der NSDAP gespielt: Nachdem immer klarer wurde, daß die Ziele der NSDAP nicht mit seiner monarchistischen Grundüberzeugung vereinbar waren, stand Neunzert möglicherweise vor einer Grundsatzentscheidung. Neunzerts weiteres Leben zeigt jedenfalls, daß seine Treue zur Monarchie unerschütterlich war. Unverändert blieb allerdings auch diesmal Neunzerts Radikalität gegen seine politi­ schen Widersacher. Wie zuvor im Kampf gegen die Räteregierungen oder gegen die „Französlinge" verschrieb er sich nun dem Kampf gegen Hitler. In seinen Briefen an Kampfgenossen für „die Befreiung Deutschlands vom brau­ nen Terror" zeigte sich Neunzert Ende 1932 siegessicher und optimistisch: „Das neue Jahr wird ja vieles bringen, worauf die Verbrecher mit Hitler an der Spitze nicht denken."119 Der Gang der Dinge sollte nur allzu schnell zeigen, daß dieser Optimismus fehl am Platze war.

V.

Am 30. Januar 1933, nur zwei Wochen nachdem Neunzert den offenen Brief an Hit­ ler formuliert hatte, stand dieser vor dem Durchbruch. Neunzert war sich nun bewußt, daß sein eigenes Leben ernsthaft in Gefahr war. Wenige Tage zuvor hatte er einem Vertrauten geschrieben, daß er sich vorsehen müsse, um sich notfalls in

117 Ebenda. 118 Ebenda. 119 Brief Neunzert an Fischer vom 21. 12. 1932, in: Nachlaß Neunzert. In geheimer Mission für Hitler und die bayerische Staatsregierung 223 Sicherheit bringen zu können120. Spätestens nach der Verabschiedung des Ermäch­ tigungsgesetzes war für Neunzert der Augenblick gekommen, die Zelte abzubre­ chen und das Weite zu suchen. Neunzert verließ Anfang April 1933 (sicher auch aus Enttäuschung) Deutschland121. Teile des Hausstandes wurden nach Graubün­ den gebracht, woher die zweite Ehefrau stammte. Per Schiff reiste Neunzert dann nach Portugiesisch-Ostafrika, um Plantagenpläne umzusetzen. Eine Erkrankung der Ehefrau Neunzerts brachte es wohl mit sich, daß Neunzert umgehend wieder die Heimreise antrat und er sich im Herbst in Kärnten am Ossiacher See niederließ, wo das Ehepaar 1935 ein Berggut erwarb122. Neunzert führte nun von Österreich aus seinen Feldzug gegen Hitler und das NS-Regime fort123. Eigenen Angaben zufolge arbeitete er in dieser Zeit an der Errichtung einer Radioanlage, mit der nach Bayern gesendet werden sollte. Mitten in den Vorbereitungen sei allerdings der Anschluß erfolgt124. Diesmal entging Neunzert nicht der Verhaftung. Zwischen April und September 1938 war er unter anderem im Wittelsbacherpalais in München (offenbar unter dem Tarnnamen Max Keck) inhaftiert125. Angaben aus der Nachkriegszeit zufolge sei dann seine Freilassung auf Veranlassung von höheren Wehrmachtsoffizieren hin erfolgt126. Neunzert kehrte unter Hausarrest auf sein Gut in Österreich zurück. Ende August 1939 wurde Neunzert eigenen Angaben zufolge zum Kriegsdienst ein­ berufen und zur 10. Armee kommandiert, wo er Dienst „in Zivil" tat127. Auf beson­ dere Weisung hin sei er dann allerdings nach nur einem Monat „wegen Staatsgefähr­ lichkeit und daher eines Offiziers unwürdig" wieder entlassen worden128. Anfang Mai 1940 scheint sich Neunzert im Reichsgebiet wieder einmal nicht mehr sicher

120 Brief Neunzert an Franzius vom 20. 1. 1933, in: Ebenda. 121 Die Abmeldung aus München erfolgte erst am 18.5. 1933. Vgl. Aufenthaltsbescheinigung des Amts für öffentliche Ordnung, München, 9.2. 1950, in: Antrag auf Wiedergutmachung, 15.3. 1950, Akte in: LEA. 122 Angaben Neunzerts im Antrag auf Soforthilfe für Rückwanderer vom 3. 5. 1960, in: Ebenda. 123 So jedenfalls Erklärungen von Dr. Walter Kandutsch vom 17. 3. 1955, Alfred Wagner vom 17. 3. 1955 und Karl Nisselbeck vom 15.4. 1955, in: EK LgM I, 807/55. 124 Angaben Neunzerts im Antrag auf Wiedergutmachung, 15. 3. 1950, Akte in: LEA. 125 Ebenda. Diese Haftzeit hatte sich Neunzert bezeichnenderweise von ehemaligen Gestapo-Mitar­ beitern bestätigen lassen: Eidesstattliche Erklärung von J. S. vom 27. 7. 1953, in: Ebenda. Eides­ stattliche Erklärung des Polizeirates a. D. M. B. vom 5. 10. 1953, in: Ebenda. Die Mutter Neun­ zerts war eine geborene Keck. 126 Angaben des ehemaligen SS- und Gestapoangehörigen J. S., Teilurteil des Landgerichts München I vom 12. 3. 1957, in: LEA. Sowohl die Umstände seiner Verhaftung als auch seiner Entlassung konnten nicht schlüssig nachgezeichnet werden. 127 Laut Zeugenaussage in der nachrichtendienstlichen Abteilung. Eidesstattliche Erklärung von A. B. vom 1.10. 1953, in: LEA. 128 Ebenda. Auch die Umstände seiner Einberufung zum Wehrdienst blieben weitgehend im unkla­ ren. Ende Februar 1939 ersuchte das Generalkommando VII. A.K. München um eine Militär- Dienstzeitbescheinigung Neunzerts. Militär-Dienstzeitbescheinigung des Zentralnachweiseamtes vom 27. 2. 1939, in: BayHStA, KrStR 12001. Oberst a.D. Dr. Aloys Hecker sagte am 24. 6. 1955 unter Eid aus, daß Neunzert Ende September 1939 berichtet habe, daß er eine „Auffangorganisa­ tion aufzubauen habe und dazu in allen Wehrkreisen Vertrauensleute brauche". In: EK LgM I, 807/55. 224 Carlos Collado Seidel gefühlt zu haben. Eigenen Angaben zufolge war in Oberösterreich eine von ihm geführte Organisation verraten worden; seine Verhaftung habe unmittelbar bevorge­ standen, die Einweisung in das KZ Dachau sei bereits angeordnet gewesen129. Neun- zert floh offenbar mit Hilfe des Abwehroffiziers Rudolf v. Marogna-Redwitz130 über Liechtenstein in die Schweiz und folgte damit der Familie, die sich dort bereits auf­ hielt. Nach der Flucht wurde sein Besitz in Österreich requiriert; im März 1943 folgte durch Beschluß des Reichsstatthalters in Kärnten die Enteignung131. Nun führte Neunzert von der Eidgenossenschaft aus seinen Kampf gegen Hitler fort. Hier brachte ihn sein Weg auf der Suche nach Verbündeten zu Briten und Amerikanern. Er berichtete ihnen von einer geheimen Großorganisation, der er angehörte und die über das ganze Reich verteilt sei. Diese Organisation nannte sich zunächst „Gegenrevolutionäre Bewegung" (GRB), später hieß sie „Deutsche Befrei­ ungsbewegung". Ihre Gründung, so Neunzert gegenüber britischen und amerikani­ schen Geheimdienstmitarbeitern, reiche in die letzten Tage vor der Machtübernahme Hitlers zurück. Damals sei mit Reichskanzler Kurt v. Schleicher verhandelt worden, ohne daß dieser allerdings das nötige Verständnis für die Anti-Hitler-Bewegung auf­ gebracht hätte132. Bis zum Herbst 1939 sei die einheitliche Leitung in den Händen von Generaloberst Werner v. Fritsch gelegen, bevor dieser von Himmlers Schergen ermordet worden sei133. Die Organisation erstrecke sich über das gesamte Reichsge­ biet und umfasse hunderttausende von aktiven Mitgliedern „in allen Volksschichten, in allen staatlichen und kommunalen Stellen, in der Armee, der Marine und Luft­ waffe"134. Wichtig war Neunzert vor allem zu betonen, daß diese Widerstands­ bewegung keine Emigrantenorganisation war, es sich dabei vielmehr um eine „in Deutschland selbst sitzende und im ganzen Volk wurzelnde Abwehrbewegung gegen das Hitlerregime" handelte. Sie sei keine Splittergruppe, sondern die große, straff organisierte Gegenbewegung in Deutschland135. Neunzert hat bei der Beschreibung seiner Organisation sehr dick aufgetragen. Im Gegensatz zu den beeindruckenden Zahlenangaben war das Oppositionsunterneh­ men wohl vielmehr ein Ein-Mann-Betrieb. Belegbar ist allerdings tatsächlich eine Verbindung Neunzerts vor und während des Zweiten Weltkrieges zu dem Mitarbei-

129 Angaben Neunzerts im Antrag auf Wiedergutmachung, 15.3. 1950, Akte in: LEA. Diese Angaben finden sich auch in der eidesstattlichen Erklärung vom 24. 3. 1955 des ehemaligen SS-Haupt­ sturmführers und Adjutanten des SD-Oberabschnittes München-Süd, Josef Strohmeier, in: EK LgM I, 807/55. 130 Eidesstattliche Erklärung von Elisabeth v. Loeben, geb. Gräfin Marogna-Redwitz, vom 24.4. 1955, in: Ebenda. 131 Beschluß des Amtsgerichts Feldkirchen (Kärnten) vom 8.9. 1942, Planfeststellungs- und Besitz­ einweisungsbeschluß des Reichsstatthalters in Kärnten vom 18. 3. 1943, in: Antrag auf Wiedergut­ machung, 15. 3. 1950, Akte in: LEA. 132 Flugblatt zur „Deutschen Befreiungsbewegung", o.D., in: Nachlaß Neunzert. 133 Diese Version gehört allerdings in das Reich der Legenden. Vgl. Williamson Murray, Werner Frei­ herr von Fritsch - Der tragische General, in: Ronald Smelser/Enrico Syring (Hrsg.), Die Militär­ elite des Dritten Reiches, Berlin 1995, S. 168. 134 Brief Neunzert an Roosevelt vom 2. 1. 1941, in: Nachlaß Neunzert. 135 Flugblatt zur „Deutschen Befreiungsbewegung", o.D., in: Ebenda. In geheimer Mission für Hitler und die bayerische Staatsregierung 225 ter der Abwehr Rudolf Graf von Marogna-Redwitz, der im Zusammenhang mit den Ereignissen des 20. Juli 1944 verhaftet und hingerichtet wurde, sowie mit dessen Bruder Franz v. Redwitz, der in dieser Zeit Kabinettschef von Kronprinz Rupprecht war. Für Franz von Redwitz war Neunzert rückblickend zu jeder Zeit ein zuverläs­ siger Vertrauensmann136. Kontakte mit Generaloberst Ludwig Beck oder Oberst Hans Oster, von denen Neunzert nach dem Krieg berichtete, konnten an den Quel­ len allerdings nicht bestätigt werden137. Die politischen Ziele der „Deutschen Befreiungsbewegung" klangen recht vage: Die Geheimorganisation verfolge als primäres Ziel die Bekämpfung des Hitlerre­ gimes und die Befreiung Deutschlands vom braunen Terror. Unmittelbar nach dem Umschwung solle die Monarchie „als die einzige richtige Staatsform wieder einge­ führt werden"138. Sollte sich allerdings nach der Befreiung das deutsche Volk für die republikanische Staatsform entscheiden, so würde sich die „Deutsche Befreiungsbe­ wegung" der Mitarbeit in einer Republik nicht verweigern. Wichtig sei lediglich, daß eine künftige Regierung „vom ganzen Volk" getragen werde. Eine „einseitige prole­ tarische Arbeiterregierung" würde die Befreiungsbewegung demnach ebenso ableh­ nen wie eine Regierung des „Grosskapitals"139. Um über seine Widerstandsbewe­ gung zu informieren, verfaßte Neunzert Flugblätter sowie Aufrufe, die er offenbar über Propagandasender der Alliierten in Deutschland verbreiten wollte. Die Aufrufe waren an das deutsche Volk im ganzen oder einzelne Gesellschafts- oder Berufs­ gruppen wie Vollzugsorgane der NS-Gewaltherrschaft, das Offizierskorps, Eisen­ bahner, Arbeiter gerichtet. Mit diesen Aufrufen glaubte Neunzert, den Widerstands­ willen fördern sowie den Durchhaltewillen stärken zu können140. Offensichtlich war Neunzert allerdings nicht wohl, sich ausländischen Mächten anzudienen. Diese Kooperation, so erklärte Neunzert, erfolge notgedrungen, weil seine Geheimorganisation nicht in der Lage sei, aus eigener Kraft die Befreiung Deutschlands durchzuführen; sie sei darauf angewiesen, mit allen Feinden der Nazis zusammenzuarbeiten, „um die Leidenszeit des [deutschen] Volkes und der unter­ drückten Völker so schnell als möglich abzukürzen". Sich im Grunde selbst ent­ schuldigend stellte Neunzert fest: „Pflicht jedes wirklichen Deutschen, der sein Vaterland liebt, ist es, unter allen Umständen und mit allen Mitteln gegen die

136 Eidesstattliche Erklärung von F.R., 5. 10. 1953, in: Antrag auf Wiedergutmachung, 15.3. 1950, Akte in: LEA; eidesstattliche Erklärung von Franz v. Redwitz vom 2. 7. 1955 sowie Schreiben von Franz v. Redwitz an RA Walther Hemmeter vom 16. 7. 1955, in: EK LgM I, 807/55. 137 Angaben Neunzerts im Antrag auf Wiedergutmachung, 15. 3. 1950, Akte in: LEA. Diese Zusam­ menarbeit wurde (unpräzise) von einem ehemaligen Mitarbeiter aus der „Waffenzeit" bestätigt. Eidesstattliche Erklärung von A. B., 1.10. 1953, in: Ebenda. 138 Brief Neunzert an Erbprinz Albrecht vom 12. 12. 1940, in: Nachlaß Neunzert. 139 Flugblatt zur „Deutschen Befreiungsbewegung", o.D., in: Ebenda. 140 „Aufruf an das deutsche Volk"; „Aufruf an die Vollzugsorgane der nationalsozialistischen Gewaltmachthaber, wie SA, SS, Gestapo und SD"; „Aufruf an die deutschen Offiziere und Solda­ ten"; „Aufruf an die deutschen Eisenbahner"; „Aufruf an die deutschen Arbeiter"; „Aufruf an die Auslandsdeutschen", o. D. [Herbst 1941], in: Ebenda. Es läßt sich nicht nachweisen, ob diese Auf­ rufe auch gesendet worden sind. 226 Carlos Collado Seidel Gewaltherrschaft zu kämpfen und alle diejenigen zu unterstützen, die gegen Hitler und seinen Anhang den Krieg führen. Es ist kein Landesverrat, als den Hitler unsere Gegenarbeit so gerne hinstellt, sondern ehrlicher Kampf der Vaterlandsliebenden gegen Volksverderber und Verbrecher."141 Nachdem Neunzert in der zweiten Jahres­ hälfte 1940 zunächst mit den Briten Kontakt aufgenommen hatte, streckte er ab 1941 seine Fühler auch in Richtung der Vereinigten Staaten aus. Briten wie Amerika­ ner interessierten sich ihrerseits für Neunzert. Sie waren bereit, an seine Anti-Hitler- Gesinnung zu glauben, und nahmen seine Informationen über Deutschland gerne entgegen. „Mr. Neussert has a very engaging personality, converses easily, but is prone to exaggeration", so der amerikanische Generalkonsul in Zürich142. Der ameri­ kanische Militärattache in Bern wiederum zeigte sich über die Informationen Neun- zerts außerordentlich zufrieden. So schrieb er dem US-Generalkonsul in Zürich: „I am most appreciative of your having placed me in touch with Mr. Donau [Neun­ zert]. He has furnished us with valuable information. The British believe also that he is a good source. Will you please be kind enough to continue to transmit his messages."143 Neunzert ließ es allerdings nicht dabei bewenden, Kontakte nach Deutschland und zu den angloamerikanischen Mächten zu suchen. Von seinem Schweizer Exil aus entwarf Neunzert nun einen in seinen Augen zweifellos grandiosen politischen Plan: Die direkte Einbindung von Kronprinz Rupprecht und Erbprinz Albrecht in seine monarchistische Oppositionsbewegung. Neunzert wollte die Wittelsbacher wieder auf den Thron hieven und schmiedete dafür große Pläne, denn das Reich der Wittelsbacher sollte sich nicht mehr allein auf Bayern beschränken. Die deutsche Kaiserkrone sollte nach der Befreiung das Haupt eines Wittelsbachers zieren. Hohenzollern und Habsburger schieden aus prinzipiellen Überlegungen aus144: Die Hohenzollern, so Neunzert, hätten ihr Anrecht verwirkt, weil sie teilweise mit den Nazis sympathisierten, die Habsburger, „weil sie in Österreich wegen ihrer Volks­ fremdheit nur eine kleine Minderheit bilden, im Herzen Europas aber bald wieder einen neuen Unruheherd ergeben würden"145. Neunzert dachte dabei nicht „klein­ deutsch". „Sein" künftiges Deutsches Reich griff über die Reichsgrenzen von 1871 hinaus und schloß Österreich mit ein. Deutschland müsse wieder ein Bundesstaat wie vor 1914, dabei aber Österreich mit Bayern verschmolzen werden: „Damit wird im Verein mit Württemberg, Baden und Sachsen ein wirksames Gegengewicht gegen Preussen geschaffen und auf lange Sicht der Friede gesichert."146 Der erste Schritt zur Verwirklichung der Pläne sollte die Bildung einer Gegenregierung unter der

141 Brief Neunzert an Erbprinz Albrecht vom 12.12. 1940, in: Ebenda. 142 Bericht des US-Generalkonsuls in Zürich an den Außenminister, confidential, 13.1. 1941, in: National Archives Washington (künftig: NA), RG 84, Box 2. 143 Brief Lt. Col. B.R. Legge (Military Attache, Berne) an James B. Stewart (Consul General, Zurich), secret, 19. 5. 1941, in: Ebenda. 144 Brief Neunzert an Erbprinz Albrecht vom 12. 12. 1940, in: Nachlaß Neunzert. 145 Brief Neunzert an Roosevelt vom 2. 1. 1941, in: Ebenda. 146 Brief Neunzert an Erbprinz Albrecht vom 30. 12. 1940, in: Ebenda. In geheimer Mission für Hitler und die bayerische Staatsregierung 227 Führung eines Wittelsbachers sein. Und da Neunzert der Ansicht war, daß auch eine solche Gegenregierung nur dann ernst genommen werden könne, wenn sie über ein Staatsgebiet verfügte, krönte er seinen Plan damit, daß die britische Regierung dazu gebracht werden müsse, der Gegenregierung des „Freien Deutschland" das ehema­ lige Deutsch-Ostafrika als „Reichsgebiet" abzutreten147. Neunzert ging umgehend daran, seine phantastischen Pläne zu verwirklichen, und unterbreitete gleichzeitig sowohl den Alliierten als auch dem Erbprinzen seine Kon­ zepte. Briten und Amerikanern erzählte er von seiner Freundschaft mit wichtigen Vertretern des Hauses Witteisbach, und dem Erbprinzen schrieb er, daß seine Pläne auf positive Resonanz bei den Alliierten gestoßen seien. Neunzert drängte Albrecht förmlich dazu, den Plan aufzugreifen und sich diesbezüglich mit den Alliierten in Verbindung zu setzen: „Mehrfache Gründe sprechen dafür. Einmal wäre der engli­ schen Regierung eine Persönlichkeit präsentiert aus einer Dynastie, die im In- und Ausland Sympathien hatte und hat und infolgedessen schneller und intensiver unter­ stützt würde als ich, als unbekannter Kämpfer. Weiters würde die Bekanntgabe einer Deutschen Gegenregierung unter einem Mitglied oder gar dem Chef des Hauses Witteisbach im gesamten deutschen Volk bis tief in die ehemals kommunistischen Kreise hinein, ebenso beim grössten Teil der Auslandsdeutschen, wie auch im feind­ lichen und freundlich zu den Nazideutschland eingestellten Ausland tiefsten und nachhaltigsten Eindruck erwecken [...]. Ich halte es daher als Beauftragter der GRB für unbedingt notwendig, daß E.K.H. sich, wenn möglich, mit S.K.H. dem Kron­ prinzen in Verbindung setzen, die Verbindung mit der englischen Regierung auf­ nehmen oder mich bei der englischen Regierung mittels Ihrer Verbindungen legi­ timieren, damit das Misstrauen beseitigt wird und eine vertrauensvolle Arbeit Platz greifen kann."148 Neunzert gab sich davon überzeugt, daß bei Bildung einer Gegenregierung unter einem Mitglied des Hauses Witteisbach „der allergrösste Teil des Offizierskorps" Hitler die Gefolgschaft verweigern würde. Dies war zweifel­ los ebenso realitätsfern wie die Feststellung, daß in der Zwischenzeit 90 Prozent des deutschen Volkes gegen Hitler eingestellt seien und daß durch die Ausrufung der Gegenregierung „dem verblendeten Anhang, der heute Vollzugsorgan von Hit­ lers Terrorbefehlen ist, die Freude zu weiteren Scheusslichkeiten genommen wird"149. Neunzert war aber nicht nur von seinem Plan begeistert, er war auch siegessicher, als er in einem späteren Brief ergänzte: „Glauben Sie mir. Millionen Deutscher war­ ten darauf und das deutsche Volk wird dem Befreier zujubeln. Bis tief in die kom­ munistischen Kreise hinein ist das Volk zur Überzeugung gekommen, dass nur die Monarchie für Deutschland tragbar ist."150 Neunzert forderte von den Wittelsba­ chern eindringlich, sich dieser nationalen Aufgabe zu stellen: „Bedenken persönli-

147 Brief Neunzert an Erbprinz Albrecht vom 12. 12. 1940, in: Ebenda. 148 Ebenda. 149 Ebenda. 150 Brief Neunzert an Erbprinz Albrecht vom 30. 12. 1940, in: Ebenda. 228 Carlos Collado Seidel cher Art oder Rücksichtnahme auf in Bayern lebende Familienmitglieder anderer Linien müssen, angesichts der ungeheuren Leiden, die das Deutsche Volk und die unterdrückten Völker heute erdulden müssen, zurücktreten. Das Gebot der Stunde fordert vom Hause Witteisbach, das für das Volk immer ein mitfühlendes Herz hatte, einen klaren Entschluss und ein rasches, entschlossenes Handeln."151 Zunächst war Neunzert auch ganz guter Dinge. Aus Gesprächen mit britischen Geheimdienstmitarbeitern meinte er zunächst einmal herauszuhören, daß die Bil­ dung einer Gegenregierung unter Führung des Kron- oder des Erbprinzen in Lon­ don auf Wohlgefallen stoßen und die britische Regierung ein deutsches Reichsgebiet inklusive Österreichs akzeptieren würde. Die Ostafrika-Frage sei, wie er dem Erb­ prinzen berichtete, bei diesen Gesprächen zwar noch „offen gelassen worden", doch war Neunzert auch in diesem Zusammenhang zuversichtlich, die ehemalige Kolonie als Herrschaftsgebiet der Gegenregierung zu erhalten152. Neunzerts Glaube daran, den Verlauf der Weltgeschichte im Alleingang verändern zu können, war unerschütterlich: Anfang Januar 1941 schreibt Neunzert einen lan­ gen Brief an Präsident Roosevelt. Darin forderte er diesen auf, die Umsetzung seiner Pläne zu unterstützen. Der US-Präsident sollte Hilfestellung bei der Errichtung der Gegenregierung leisten und darüber hinaus auf die britische Regierung einwirken, damit diese Ostafrika herausgebe153. Um die Amerikaner für die Restauration der Monarchie zu gewinnen, hatte Neunzert ein einleuchtend einfaches Argument parat: Die republikanische Staatsform sei für das deutsche Volk ebenso unpassend wie die Monarchie für die Amerikaner154. Neunzert glaubte zweifellos an die Wirkung seiner Briefe und nahm dabei seine selbst gestellte Aufgabe sehr ernst. Davon zeugen Randbemerkungen auf den Brie­ fen. Darin hieß es etwa: „musste im letzten Augenblick [den Brief] zurückhalten"155. Neunzert schrieb damals von seinem Exilort aus offenbar unaufhörlich Briefe. So ermahnte er Präsident Roosevelt, den Kriegseintritt gegen Hitler-Deutschland zu vollziehen156, und warnte die finnische Regierung davor, einen Schulterschluß mit Deutschland zu suchen157. Selbst zu völlig belanglosen Dingen meldete er sich zu Wort. So beschwerte er sich bei der Redaktion der Neuen Zürcher Zeitung, daß Kronprinz Rupprecht in einer Zeitungsmeldung als Mitglied des deutschen militäri­ schen Oberkommandos genannt worden sei und forderte eine Gegendarstellung158.

151 Brief Neunzert an Erbprinz Albrecht vom 12.12. 1940, in: Ebenda. 152 Brief Neunzert an Erbprinz Albrecht vom 30. 12. 1940, in: Ebenda. 153 Brief Neunzert an Roosevelt vom 2. 1. 1941, in: Ebenda; eine Abschrift enthalten in: Bericht des US-Generalkonsuls in Zürich an den Außenminister, 13. 1. 1941, confidential, in: NA, RG 84, Box 2. Brief Neunzert an Erbprinz Albrecht vom 30. 12. 1940, in: Nachlaß Neunzert. 154 Brief Neunzert an Roosevelt vom 2. 1. 1941, in: Ebenda. 155 Brief Neunzert an die Regierung der finnischen Republik vom 24. ll. 1941, in: Ebenda. 156 Brief Neunzert an Roosevelt vom 2. 1. 1941, in: Ebenda. 157 Brief Neunzert an die Regierung der finnischen Republik vom 24. 11. 1941, in: Ebenda. 158 Neue Zürcher Zeitung vom 6. ll. 1944; Brief Neunzert an die Neue Zürcher Zeitung vom 10. ll. 1944, in: Ebenda. In geheimer Mission für Hitler und die bayerische Staatsregierung 229

Neunzerts anfängliche Euphorie schwand jedoch schrittweise, als keinerlei Anzei­ chen sichtbar wurden, daß seine Pläne umgesetzt werden würden. Ganz im Gegen­ teil hatten sich zunächst amerikanische (und vermutlich auch britische) Diplomaten geweigert, die Post von Neunzert an den Kronprinzen und den Erbprinzen zu be­ fördern159. Und auch andere über Boten auf den Weg gebrachte Briefe Neunzerts erreichten nicht den Adressaten; sie waren immer wieder zurückgebracht worden. Und selbst wenn ein Brief offenbar doch den Adressaten erreicht hatte, erfolgte keine Reaktion. Die Amerikaner luden Neunzert auch nicht ein, in die Vereinigten Staaten zur weiteren Erläuterung seiner Pläne zu reisen, obwohl er sich hierzu selbst angeboten hatte. Er wartete auch vergeblich auf eine Antwort aus London160. Neun­ zert konnte sich diese Entwicklung offenbar nicht erklären. Aus Folgebriefen an Mitglieder des Hauses Witteisbach wird seine zunehmende Sorge und sogar Ver­ zweiflung deutlich, daß aufgrund widriger Umstände seine Briefe den Empfänger nicht erreichten und damit die Realisierung des von ihm entworfenen Nachkriegs­ deutschlands in Gefahr geriet. Nachdem wieder einmal einer seiner Briefe an Albrecht nach Wochen zurückgebracht worden war, setzte er sich unverzüglich wie­ der an den Schreibtisch und begann seine Überlegungen mit der Feststellung: „Inzwischen ist leider viel wertvolle Zeit verstrichen, aber ich hoffe noch immer zuversichtlich, dass diese Zeilen Eure Königliche Hoheit noch so rechtzeitig errei­ chen werden, dass Sie noch etwas unternehmen können."161 Daß das Problem in den Plänen selbst liegen könnte, scheint ihm nie durch den Sinn gegangen zu sein. Er schlug vielmehr vor (da die Zeit immer knapper würde), Albrecht solle ohne Rück­ sicht auf die dynastische Thronfolge seinen Vater einfach übergehen, riet dem Prin­ zen (sollte der Ostafrika-Plan nicht klappen), seinen Wohnsitz in die Vereinigten Staaten zu verlegen, wo er mit offenen Armen empfangen werden würde, und ver­ paßte ihm (im Sinne einer künftig reibungslosen Nachrichtenübermittlung) den Tarnnamen Hans Jettenbach162.

Im Dezember 1941 bat Neunzert den Prinzen Georg von Bayern, Domherr von Sankt Peter in Rom, im Sinne seiner Pläne beim Heiligen Stuhl vorstellig zu werden, um sich für die Errichtung der Monarchie in Deutschland unter der Führung der Bayern zu verwenden. Die Gespräche im Vatikan waren für Neunzert eine logische taktische Maßnahme gegen Aktivitäten, die Erzherzog Otto zu der Zeit entfaltete, zumal (zum Entsetzen Neunzerts) London einem süddeutschen Staat unter der Füh­ rung Habsburgs den Vorzug zu geben schien. Parallel zu der von ihm vorgeschlage-

159 Bericht des US-Generalkonsuls in Zürich an den Außenminister, confidential, 13. 1. 1941, in: NA, RG 84, Box 2. 160 Brief Neunzert an Kronprinz Rupprecht vom 22. ll. 1944, in: Nachlaß Neunzert. 161 Brief Neunzert an Erbprinz Albrecht vom 10. 3. 1941, in: Ebenda. 162 Ebenda. Für die Wahl dieses Tarnnamens bietet sich nicht nur die Ähnlichkeit mit dem Hausna­ men Wittelsbach als Erklärung an. Der Vater von Max Neunzert war zeitweilig als Förster in einer Besitzung der Grafen zu Törring-Jettenbach tätig gewesen, und zwischen Törring-Jetten- bach und Wittelsbach bestanden verwandtschaftliche Verbindungen. 230 Carlos Collado Seidel nen Intervention Prinz Georgs wollte Neunzert auch selbst beim Nuntius vorspre­ chen163. Amerikanischen Berichten zufolge waren die Schweizer Behörden über die Akti­ vitäten Neunzerts auf dem laufenden, ohne daß sie zunächst einschreiten zu wollen schienen: „The mere fact that the police tolerate the presence here of an avowed German monarchist leader seems to indicate that they are satisfied as to his bona fides."164 Als seine Umtriebigkeit offenbar doch ein gewisses Maß überschritten hatte, kam es dazu, daß Neunzert von den Schweizer Behörden im April 1942 inhaf­ tiert wurde. Zunächst verbrachte er drei Monate in Haft in Zürich, dann war er sechs Monate in einem Internierungslager165. Im Anschluß daran wurde ihm in einem abgelegenen Bergdorf ein Zwangsaufenthalt zugewiesen, womit offenbar ver­ hindert werden sollte, daß er sich weiterhin politisch engagierte166. Diese für Neun­ zert (gerade im Kampf gegen den Nationalsozialismus) „unverständliche Neutrali­ tätsduselei" der Schweizer brachte, so fürchtete er, die Umsetzung seiner Pläne ernsthaft in Gefahr: „Unsere Gefühle für das edle Volk der Hirten sind daher nicht gerade freundschaftlich", schrieb der Enttäuschte später an seinen König167. Daß er selbst seit Jahren an Potemkinsche Dörfer glaubte, darüber scheint Neunzert nie räsoniert zu haben: „Als Eure Königliche Hoheit im August 42 in Luzern zu den Festwochen weilten, war ich leider eingesperrt. Ich erfuhr es erst im darauffolgenden Winter. Eine Besprechung damals hätte für die Gesamtentwicklung vielleicht viele Vorteile bringen können."168 Da Neunzert offenbar zu keinem Zeitpunkt an seinen Plänen zweifelte, muß es ihn schier zur Verzweiflung gebracht haben, daß widrige äußere Umstände letztlich dafür verantwortlich waren, daß dem Haus Witteisbach die deutsche Kaiserkrone und dazu noch Österreich „durch die Lappen" gingen. Neunzert ließ sich aber bis zum Schluß nicht beirren. Noch Ende November 1944 schrieb er an Rupprecht, daß die Lage in Bayern und Österreich für die Nazis weitaus ungünstiger sei als in anderen Teilen des Reiches, „weil die Abwehr gegen unsere Pei­ niger alle Volksteile erfasst hat und weil die Möglichkeiten, in den Alpen zu ver­ schwinden, ungleich günstiger für unsere Leute sind als im Norden"169. Auch über Territorialfragen sinnierte Neunzert unverdrossen weiter: „Ich glaube kaum, dass die Reichseinheit noch weiter aufrechterhalten werden kann und besonders bei uns in Bayern ist man auf Grund der letztjährigen Ereignisse nicht mehr gewillt, für ein

163 Brief Neunzert an Prinz Georg vom 7. 12. 1941, in: Nachlaß Neunzert. 164 Confidential Memorandum Concerning Mr. „Donau", 3. 5. 1941, in: NA, RG 84, Box 2. 165 Neunzert war zwischen April und Juli 1942 beim Polizeikommando Zürich in Untersuchungs­ haft, anschließend bis Januar 1943 im Internierungslager Les Vernes/Bellechasse. Schreiben der Polizeiabteilung des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements an Max Neunzert vom 12.7. 1955 sowie des Polizeikommandos des Kantons Zürich an Max Neunzert vom 3.8. 1955, Abschrift in: EK LgM I, 807/55. 166 Brief Neunzert an Kronprinz Rupprecht vom 22.11. 1944, in: Nachlaß Neunzert; Angaben Neunzerts im Antrag auf Wiedergutmachung, 15. 3. 1950, Akte in: LEA. 167 Brief Neunzert an Kronprinz Rupprecht vom 22. 11. 1944, in: Nachlaß Neunzert. 168 Ebenda. 169 Ebenda. In geheimer Mission für Hitler und die bayerische Staatsregierung 231 Preussen-Deutschland weiter seine Haut zum Markt zu tragen. Gewiss sind Kreise, besonders unter der protestantischen Bevölkerung, für die Aufrechterhaltung der Reichseinheit. Das hat seine Gründe nicht auf wirtschaftlichem Gebiet, sondern auf dem des religiösen Lebens, denn die Wiege der Reformation steht im Norden."170 Neunzert, der selbsternannte Retter der bayerischen Monarchie, glaubte deshalb in der Folgezeit an ein unabhängiges Königreich Bayern, fand aber weiterhin keine Resonanz. Nach 1923 und 1933 mußte er letztlich auch diesmal seine Wunschträume begraben. Im Unterschied zu den beiden erstgenannten Daten scheint er in diesem Fall den Grund seines Scheiterns allerdings nicht erkannt zu haben. VI.

Neunzert wollte auch nach 1945 seine politische Arbeit fortführen. So betätigte er sich bereits unmittelbar nach Kriegsende in der Schweiz an der Seite eines katholi­ schen Instituts im Kampf gegen den Kommunismus171. Im Nachkriegsdeutschland allerdings fand Neunzert keinen Platz. Seine Biographie paßte nicht recht in die politische Welt nach 1945, obwohl er sich unmittelbar nach Kriegsende der Bekämp­ fung eines durchaus „zeitgemäßen" Feindes widmete. Dabei fiel wohl weniger ins Gewicht, Nazi oder mutmaßlicher Fememörder gewesen zu sein172. Vielmehr wurde dem „Patrioten Neunzert" nun vorgeworfen, von der Schweiz aus „gegen Deutsch­ land" gearbeitet zu haben. Voller Resignation beklagte er sich, daß man Männer wie ihn in Bonn nicht gebrauchen könne, während er feststellen mußte, daß stromlinien­ förmige Zeitgenossen nahtlos die Anpassung an die neuen politischen Vorgaben voll­ zogen: In einem seiner phantastischen Briefe an Eisenhower räsonierte er über die Gründe für seine Abseitsstellung: „Man begründet es mit meinem Alter, weil ich heuer 60 Jahre alt geworden bin, in Wahrheit aber deshalb, weil ich im Kriege in der Schweiz mit Ihrer Gesandtschaft in Bern gegen Deutschland gearbeitet hatte. Das wird heute schon als schweres Vergehen angesehen und in wenigen Jahren aber als schweres Verbrechen mit dem Tode geahndet werden."173 Deutschland war Neun­ zert fremder denn je. Er hatte ein Leben lang für Deutschland gekämpft. Nun wurde sein Kampf nicht nur nicht honoriert; Neunzert fühlte sich vielmehr behandelt, als sei er ein Vaterlandsverräter. In Bayern wiederum erlebte er mit Ernüchterung, daß die bayerischen Politiker in seinen Augen nicht konsequent genug auf die Unabhän­ gigkeit Bayerns hinarbeiteten174.

170 Ebenda. 171 Brief Neunzert an Eisenhower vom 18. 5. 1953, in: Ebenda. 172 Andere hatten da weniger Probleme. Einen ähnlichen Lebensweg wie Neunzert, allerdings mit Fortsetzung in der Ära Adenauer, hatte Friedrich Wilhelm Heinz. Vgl. Susanne Meinl/Dieter Krüger, Der politische Weg von Friedrich Wilhelm Heinz. Vom Freikorpskämpfer zum Leiter des Nachrichtendienstes im Bundeskanzleramt, in: VfZ (1994), S. 39-69. 173 Brief Neunzert an Eisenhower vom 26. 12. 1952 und vom 18. 5. 1953, in: Nachlaß Neunzert. 174 Vgl. Briefe von Neunzert an den Kronprinzen Rupprecht vom 20. 12. 1948, 27. 12. 1949 und 20. 12. 1950, in: BayHStA, Geheimes Hausarchiv, Nachlaß Kronprinz Rupprecht, Nr. 1044. 232 Carlos Collado Seidel Neunzert sah auch wirtschaftlich kein Fortkommen. Sein Besitz in Österreich war als deutsches Eigentum beschlagnahmt worden. Nach eigenen Angaben finanzi­ ell ruiniert, kehrte Neunzert Deutschland 1954 den Rücken und wanderte mit seiner Familie in die Vereinigten Staaten aus. Ein Neuanfang wurde daraus allerdings nicht. Neunzert verdingte sich auf einer Rinderfarm in Montana, in einem Sägewerk oder als Nachportier und als Maler für Tapetenentwürfe in New York. Von den Vereinig­ ten Staaten aus versuchte er seinen Kampf um Anerkennung seiner Widerstandsar- beit und um Entschädigung für den erlittenen materiellen Schaden zu betreiben und reiste regelmäßig nach Deutschland und Österreich, um eine Befriedigung seiner Forderungen zu erreichen. Die Bearbeitung eines 1950 in Deutschland gestellten Wiedergutmachungsantrags zog sich in die Länge. Neunzert war davon überzeugt, daß diese Verzögerung Methode hatte und politische Gründe die Angelegenheit ver­ schleppten. In seiner unverblümten Art schrieb er dies Ende Februar 1954 dem zuständigen Entschädigungsamt und führte seine Überlegungen fort: „Statt dessen aber erhalten die Steigbügelhalter Hitlers, aus dem Beamten- und Offiziersstand ihre hohen Pensionen, soweit sie nicht wieder in Amt und Würden und in ihren alten Sesseln sitzen. Afrika-, Stalingradkämpfer und Kriegsgefangene erhalten grosszügig Nachzahlungen. Nur für diejenigen hat man nichts übrig, die sich mit Gut und Leben für die Befreiung eingesetzt hatten. Es hat sich zwar die äussere Struktur des Staates geändert, nicht aber die Einstellung gegen die Antinazi, die heute genauso unerwünscht sind, wie zu Hitlers Zeiten. [...] Vielleicht ist die Zeit nicht mehr ferne, dass man Hitler als dem ,Grössten Deutschen' ein Riesendenkmal setzen wird."175 Ende September 1954 wurde Neunzerts Antrag rundherum abgelehnt: Neunzert sei erwiesenermaßen vor der Machtergreifung Mitglied der NSDAP gewesen und habe sogar für diese Partei kandidiert. Damit habe er den Nationalsozialismus „objektiv nicht nur unwesentlich gefördert" und der späteren NS-Gewaltherrschaft Vorschub geleistet. Diese Umstände stünden einer Entschädigung grundsätzlich ent­ gegen176. Der Einwand, daß Neunzert im Auftrag führender Mitglieder der damali­ gen demokratisch gewählten bayerischen Regierung gehandelt habe, wurde von der Entschädigungsstelle nicht einmal gewürdigt: Die Motive des Eintritts seien von untergeordneter Bedeutung, „da allein schon die ziffernmäßige Stärkung der NSDAP die Durchschlagskraft der ,Bewegung' erhöht und damit das NS-Regime unterstützt d.h. ihm (objektiv) Vorschub im Sinne des Gesetzes geleistet hat"177. Zudem sei die Widerstandshandlung nicht ausreichend nachgewiesen worden. Neunzert reichte im März 1955 Klage gegen den Ablehnungsbescheid ein. Mit dieser Klage erreichte er immerhin einen Teilsieg: Er erhielt moralische Genugtuung, indem er ohne Einschränkung als Widerstandskämpfer anerkannt wurde. Das Land­ gericht München hatte in einem Teilurteil Mitte März 1957 befunden, daß Neunzert

175 Schreiben Neunzert an das Bayerische Landesentschädigungsamt vom 27.2. 1954, in: Antrag auf Wiedergutmachung, 15.3. 1950, Akte in: LEA. 176 Sachverhalt und Entscheidungsgründe des Landesentschädigungsamtes vom 29. 9. 1954, in: Ebenda. 177 Ebenda. In geheimer Mission für Hitler und die bayerische Staatsregierung 233 ein überzeugter Gegner des Nationalsozialismus gewesen, lediglich aus Widerstands­ gründen in die NSDAP eingetreten sei und tatsächlich einer Widerstandsbewegung angehört habe. Damit sei er ein Opfer der NS-Verfolgung. Neunzert hatte zudem das Gericht davon überzeugen können, daß er lange vor der Machtergreifung ein begeisterter Monarchist gewesen sei Und nach dem Ersten Weltkrieg das Vertrauen damals führender konservativer bayerischer Politiker wie des bayerischen Minister­ präsidenten Held, des Landtagsabgeordneten Sebastian Schlittenbauer sowie des Bauernführers Heim besessen habe. Das Gericht hielt es für glaubwürdig, daß Neunzert in der zweiten Hälfte des Jahres 1927 mit Heim und Held Mittel und Wege erörtert habe, wie der an Zulauf gewinnenden NSDAP entgegengetreten wer­ den könne, wozu damals der Beschluß gefaßt worden sei, daß Neunzert als Mitstrei­ ter der allerersten Zeit wieder in die NSDAP eintreten solle. „Nur ein wirklich ent­ schlossener, ja fanatischer Gegner ließ sich auf ein derartiges Risiko ein", so die Urteilsbegründung178. Zeugenvernehmungen hatten das Gericht zudem zur Über­ zeugung gebracht, daß Neunzert wiederholt Gespräche zwischen Heim und dem Kronprinzen Rupprecht vermittelt habe. Das Gericht hatte sich dabei um Wahr­ heitsfindung bemüht und auch die Echtheit der von Neunzert zu seiner Entlastung vorgebrachten Briefe (etwa an Held und Heim) prüfen lassen179. Von einer Vor­ schubleistung Neunzerts zugunsten des NS-Regimes durch Eintritt in die NSDAP war nun nicht mehr die Rede. Aus finanzieller Sicht war das Ergebnis allerdings ernüchternd. Statt der geforderten Entschädigung für Vermögensschaden, Schaden am wirtschaftlichen Fortkommen und Freiheitsschaden erhielt Neunzert lediglich eine Haftentschädigung in Höhe von DM 600,- für die Inhaftierungszeit im Jahr 1938 zugesprochen. Neunzert führte seinen Kampf um Wiedergutmachung weiter. Er erreichte schließlich zwar eine Rückübertragung seines Eigentums in Österreich, Forderungen nach Entschädigungsleistungen für den auf dem Berggut entstandenen beträchtlichen Schaden wurden hingegen nicht erfüllt. Auch eine Entschädigung für den Schaden im beruflichen Fortkommen stand nicht in Aussicht. Das Verfahren war noch im Jahr 1979 anhängig180. Damals machte Neunzert einen letzten verzweifelten Anlauf: Er richtete ein Gesuch an den Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages181. Der erhoffte Erfolg stellte sich aber auch diesmal nicht ein. Lediglich einmal, im Sommer 1948, war Neunzert im Auftrag der bayerischen Staatsregierung von Hans Ehard gerufen worden, um jene abenteuerliche Geheim­ mission bei der spanischen Regierung zu erfüllen, die ihm wie auf den Leib geschneidert war. Ehard und Neunzert kannten sich aus den zwanziger Jahren. Sie

178 Teilurteil des Landgerichts München I vom 12. 3. 1957, in: Ebenda. 179 Das mit einer Dokumentenprüfung beauftragte Bayerische Landeskriminalamt legte sich in einem Untersuchungsbefund vom 27. 2. 1957 bei der Beurteilung allerdings nicht fest. Vgl. zudem Ver­ nehmung von Franziska Parli am 7. 9. 1955, in: EK LgM I, 807/55. 180 Entwurf eines Schreibens des Landesentschädigungsamtes München an das Bayerische Staats­ ministerium für Finanzen, 31.7. 1979, in: LEA. 181 Schreiben Neunzert an den Petitionsausschuß des Bundestages vom 26. 4. 1979, in: Ebenda. 234 Carlos Collado Seidel waren sich im Verlauf des Fememordprozesses „Hartung" gegenüber gesessen. Ehard hatte das Verfahren vor dem Schwurgericht des Landgerichts München I als Anklagevertreter durchgeführt182. In Berlin war er ebenfalls mit der Aufarbeitung der Fememorde befaßt gewesen und war zudem im Feme-Untersuchungsausschuß des Reichstages, wie Neunzert, als Zeuge vorgeladen worden183. Mindestens vor die­ sem Hintergrund war Ehard über die Biographie Neunzerts informiert. Neunzerts Verwicklungen in einige Mordfälle, sein Engagement für völkische Bewegungen und die NSDAP scheinen keine entscheidenden negativen Kriterien bei der Auswahl des Emissärs im Jahr 1948 gewesen zu sein. Wichtiger war da wohl seine ein Leben lang gezeigte loyale Haltung der Monarchie gegenüber und die Tatsache, daß Neunzert als eine Person galt, die zuverlässig war. Dies hatte etwa Franz von Redwitz, ein enger Vertrauter von Kronprinz Rupprecht, nach dem Krieg vor dem Landgericht München I bezeugt, und davon waren auch andere wie Heim oder Held in den zwanziger Jahren allem Anschein nach überzeugt gewesen. Neunzert hatte seine letzte politische Heimat in der Bayernpartei. Hier fand er offenbar jene Gleichgesinnten, die davon träumten, wofür er ein Leben lang radikal und verbissen gekämpft hatte. 1970 und 1978 kandidierte Neunzert noch zweimal erfolglos für einen Sitz im Bayerischen Landtag184. Neunzert, der Tür an Tür mit Hitler gearbeitet, zusammen mit Röhm fieberhaft Waffen versteckt und mit dem Kronprinzen Rupprecht über die Bildung einer nationalen Front verhandelt hatte, zog damals plakateklebend durch das Land. Max Neunzert stirbt 90jährig, von der Öffentlichkeit unbeachtet, 1982 in Bad Reichenhall.

VII.

Neunzert hatte in einer Zeit gewaltiger Umbrüche gelebt. Seine Generation wurde in der Kaiserzeit groß und wuchs im damaligen Obrigkeits- und Ordnungsglauben auf. Die Folgen des Ersten Weltkriegs wirkten sich auf diese Generation verheerend aus. Die gewohnten Strukturen bestanden nun nicht mehr. Revolution und Versailler Vertrag hatten nicht nur Kaiser- und Königtum zerschlagen, sondern auch das eigene Ehrgefühl im Mark getroffen. Die Unterschriftsleistung der „Novemberverbrecher" sowie die Revolution von 1918/19 machten eine Identifikation dieser Generation mit der Weimarer Republik unmöglich.

182 Vgl. StAM, StAnw. Mü. 3081d/7. 183 Entbindung von der Pflicht zur Amtsverschwiegenheit vom 8. 10. 1926, in: BayHStA, Nachlaß Ehard Nr. 102. 184 Da er keinen eigenen Stimmkreis hatte, konnte er 1978 gerade einmal 103 Stimmen auf sich verei­ nigen. Vgl. Bayerisches Statistisches Landesamt (Hrsg.), Wahl zum Bayerischen Landtag am 15. Oktober 1978 (Heft 373 der Beiträge zur Statistik Bayerns), S. 562 ff. Bei den Landtagswahlen von 1970 hatte er sogar einen eigenen Stimmkreis. Vgl. Bayerisches Statistisches Landesamt (Hrsg.), Wahl zum Bayerischen Landtag am 22. November 1970, Teil 2: Text, Tabellen und Schau­ bilder (Heft 309b der Beiträge zur Statistik Bayerns), S. 169. In geheimer Mission für Hitler und die bayerische Staatsregierung 235 Max Neunzerts Biographie zeigt das ganze Ausmaß der damaligen Verunsiche­ rung. Während sich die Mehrheit der über die Zustände in Weimar entsetzten Perso­ nen darauf beschränkte, an Stammtischen über die „Judenrepublik" herzuziehen und „deutschnational" zu wählen, war Neunzert bereit, für eine Rückkehr des alten Rei­ ches zu kämpfen. Auf dem Weg dorthin schloß er sich verschiedenen kompromißlo­ sen völkischen Verbänden an. So stieß er auf die Freikorps, auf die Einwohnerwehr, auf Hitler, auf Röhm und auf Kriebel. Das Zerwürfnis mit Hitler, Röhm und Krie- bel185 brachte das Weltbild Neunzerts nicht ins Wanken, war er doch zu der Über­ zeugung gelangt, daß Hitler keine patriotischen Ziele verfolge. Neunzert sprach dem Nationalsozialismus (und nicht nur im Hinblick auf die Röhm-Affäre) jegliche moralische Grundgesinnung ab und kam zu der Überzeugung, die Nazis seien schlichtweg Bolschewisten im braunen Gewand. Im Zweiten Weltkrieg sah er rich­ tig, daß die Nachkriegswelt von London und Washington bestimmt werden würde. Nun trat er an Briten und Amerikaner heran und versuchte sie für seine monarchi­ stischen Anschauungen zu gewinnen. 1932 gab Neunzert folgendes Selbsturteil ab: „Es ist meine Art, die Dinge gleich beim richtigen Namen zu nennen, ohne Umschweife und ohne auf meine Person Rücksichten zu nehmen."186 Neunzert war tatsächlich rücksichtslos, sich selber, politischen Gegnern und seiner Familie gegen­ über. Ein Leben lang blieb er seinen Überzeugungen treu und hatte für Opportunis­ mus wenig übrig. Aufgrund dieser Haltung wirkte er sicherlich überzeugend, ließ sich aber nicht in die jeweilig vorherrschenden politischen Spektren einordnen. Und so verbaute sich Neunzert immer wieder (auch nach 1949) die politische Laufbahn, die er selbst anstrebte. Neunzert stand in den zwanziger Jahren in Kontakt mit den wichtigsten politi­ schen Akteuren seiner Zeit. Er war dabei stets ein Mensch aus der „dritten Reihe", der sich lediglich in Sichtweite der großen Politik bewegte. Dennoch hat er daran geglaubt, mittendrin zu stehen und die große Politik mitgestalten zu können. Daß er an den Entscheidungsprozessen nie beteiligt war, hat er offensichtlich nicht einmal gemerkt. Diese verzerrte Wahrnehmung des eigenen Wirkungskreises äußerte sich deutlich in dem zunehmenden Realitätsverlust beim Versuch, Politik aktiv zu gestal­ ten. Seine Tätigkeit als Waffenschieber der Einwohnerwehr und als Nationalsozialist der ersten Stunde vermittelt das Bild einer Person, die fest im Umfeld reaktionärer Kreise steht und sich hierbei kompromißlos (aller Wahrscheinlichkeit nach sogar ohne vor Mord zurückzuschrecken) an der Verteidigung bestimmter politischer Vor­ stellungen beteiligt. Die selbstgewählten Aufträge der folgenden Jahre hingegen ergeben das Bild einer wachsenden Entfremdung von den um ihn herum stattfinden­ den Entwicklungen. Dies äußert sich bereits in dem Plan, die NSDAP in Absprache mit Heim und Held zu unterwandern und sich hierzu als Landtagskandidat aufstel-

185 So soll Kriebel auf dem Reichsparteitag in Nürnberg im Jahr 1937 geäußert haben, daß Neunzert einer der ersten sei, der nach der Machtergreifung in Österreich aufgeknüpft würde. Erklärung von Karl Nisselbeck vom 15. 4. 1955 und eidesstattliche Erklärung von Dr. Aloys Hecker, Oberst a.D., vom 24. 6. 1955, in: EK LgM I, 807/55. 186 Brief Neunzert an Kien vom 21. 12. 1932, in: Nachlaß Neunzert. 236 Carlos Collado Seidel len zu lassen. Noch befremdlicher wirkt der Versuch, eine aus unzufriedenen Natio­ nalsozialisten rekrutierte Anti-Hitler-Fronde zu bilden, um Hitler zu stürzen und den Nationalsozialismus auf einen tugendhaften Weg zu bringen. Richtiggehend weltfremd war jedoch der von Neunzeit mit Ernst und Zähigkeit verfolgte Plan, einen Witteisbacher zunächst zum Herrscher über Tanganjika und später zum groß­ deutschen Kaiser zu machen. Der Realitätsverlust schritt auch nach Kriegsende fort. Die Aktivitäten Neunzerts während des Krieges waren zwar bereits wirklichkeitsfern gewesen, sie hatten aller­ dings zumindest insoweit einen Realitätsbezug, als daß Neunzert in der Tat in Ver­ bindung mit den britischen und amerikanischen Geheimdiensten stand und mit dem Kronprinzen bekannt war. Die politischen Schreiben, die Neunzert nach dem Krieg verfaßte, lassen indes jeglichen Wirklichkeitsbezug vermissen: Unvermittelt und in seiner üblichen Manier schrieb Neunzert beispielsweise im Dezember 1945 einen Brief an den britischen Außenminister Bevin, in dem er dringende Empfehlungen zur Neuordnung des süddeutschen und alpinen Raumes erteilte187. Auch die ameri­ kanischen Besatzungsbehörden hatten entsprechende Denkschriften Neunzerts erhalten, die darauf hinausliefen, den Bayern ihren König und die Unabhängigkeit zurückzugeben. 1952 wiederum hielt er es für selbstverständlich, Eisenhower per­ sönlich um einen unentgeltlichen oder „billigsten" Jeep mit Anhänger zur Bewirt­ schaftung seines Landbesitzes in Österreich anzugehen188, und verstand offenbar nicht, weshalb ihm der Wunsch abschlägig beschieden und ihm empfohlen wurde, sich an ein Kreditinstitut zur Finanzierung eines Fahrzeugs zu wenden189. Neunzert war zu einem Sonderling geworden, der in späteren Jahren offenbar weder sich selbst einzuschätzen, noch die Veränderungen in der Welt zu verstehen vermochte. Er war ein Mensch, der ein Ideal kompromißlos verfolgte, aber nie ein Gefühl für größere Zusammenhänge hatte. Daß er dabei meist zwischen den Stühlen saß, scheint er nicht einmal gemerkt zu haben. Neunzerts Welt war 1914 stehen geblie­ ben, und er erkannte wohl nie, daß das Rad der Zeit nicht zurückgedreht werden konnte. Seine Kompromißlosigkeit blieb auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrie­ ges unverändert. Außerordentlich bezeichnend ist dabei sein an Eisenhower - nach dessen Sieg bei den Präsidentschaftswahlen - gerichteter Wunsch, daß der Welt­ kriegsgeneral die Welt vom Bolschewismus befreien möge, notfalls in einem dritten Weltkrieg190. Der Monarchist Max Neunzert war im Laufe seines Lebens ein Nazi, ein mutmaßlicher Mörder, ein Anti-Nazi, ein Vaterlandsverräter und ein Patriot. Seine Biographie gehört zu den Dokumenten einer Generation, die sich im Wandel der Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr zurechtfand.

187 Brief Neunzert an Bevin vom 12.12. 1945, in: Public Record Office, Foreign Office, 371/46869/ C 10151. 188 Brief Neunzert an General Twing [!] Eisenhower vom 16. 2. 1952, in: Nachlaß Neunzert. 185 Brief Neunzert an McCloy vom 18. 3. 1952, Brief Eric G. Gration (Staff Secretary, United States High Commissioner for ) an Neunzert vom 31. 3. 1952, Brief Neunzert an Eisenhower vom 18. 5. 1953, in: Ebenda. 190 Brief Neunzert an Eisenhower vom 26.12.1952, in: Ebenda. BERNHARD LORENTZ

DIE COMMERZBANK UND DIE „ARISIERUNG" IM ALTREICH

Ein Vergleich der Netzwerkstrukturen und Handlungsspielräume von Großbanken in der NS-Zeit

Die „Arisierung" jüdischen Vermögens ist schon von zeitgenössischen Beobachtern als massive Eigentumsveränderung wahrgenommen worden und bereits damals, in den dreißiger Jahren, Gegenstand besonderen Interesses gewesen1. In den Fachzeit­ schriften wie in der Tagespresse wurden die Probleme des staatlich initiierten Ent­ eignungsprozesses offen diskutiert und analysiert. Im Zentrum des zeitgenössischen Diskurses standen die ökonomischen Folgen der Vermögensverschiebung auf die Branchenstruktur, die Märkte, den Arbeitsmarkt, die Eigentumsstruktur der Erwer­ ber und die Möglichkeiten des Staates, den Gewinn fiskalisch abzuschöpfen2. In der umfangreichen Forschung, die sich seit dem Ende des Dritten Reiches mit der Verdrängung jüdischer Unternehmen auseinandersetzte, wurde in steigendem Maße die Vielzahl beteiligter Akteure, Interessenlagen und Handlungskontexte untersucht und damit die Komplexität der „Arisierung" betont, die sich einem monokausalen Erklärungsansatz entzieht3.

1 Wenn im folgenden von „Juden" oder „jüdischen" Personen die Rede ist, dann sind damit Men­ schen gemeint, die nach dem nationalsozialistischen Definitionsrahmen als „Juden" galten und damit den Diskriminierungs- und Ausgrenzungsmaßnahmen unterworfen waren. Das Selbstver­ ständnis der Betroffenen bleibt bei dieser Zuordnung unbeachtet. Das gleiche gilt für den Begriff des „jüdischen" Unternehmens, der hier benutzt wird. Der vorliegende Aufsatz ist ein Ergebnis der Mitarbeit im Forschungsprojekt zur Geschichte der Commerzbank am Lehrstuhl für Zeitgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin. Ich danke dem Projektleiter, Ludolf Herbst, und Detlef Krause (Archiv der Commerzbank AG) sowie Han­ nah Ahlheim, Philipp Felsch, und Thomas Weihe für vielerlei Unterstützung und Anregung; Dank auch an Gerald D. Feldman, Peter Hayes, Vernon Lidtke und Dieter Ziegler, in deren Kolloquien ich Teile dieser Studie vorstellen und diskutieren konnte. 2 Vgl. Der Volkswirt XII (1938), 9. 9. 1938, S. 2409. Für die hier untersuchten Zusammenhänge sind die Diskussionen in der bankenpolitischen Fachpresse von besonderem Interesse. Vgl. etwa Die Veränderungen im Bankenbestand 1938, in: Bankarchiv. Zeitschrift für Bank- und Börsenwesen, 15.2. 1939, S. 104 ff.; Abschluß der Arisierung im Privatbankiersgewerbe, in: Ebenda, 15.12. 1938, S. 756. 3 Vgl. Helmut Genschel, Die Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft im Dritten Reich, Göttin­ gen 1966; Uwe Dietrich Adam, Judenpolitik im Dritten Reich, Düsseldorf 1972; Avraham Barkai, Vom Boykott zur „Entjudung". Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im Dritten Reich 1933-1943, Frankfurt a.M. 1987; ders., „Schicksalsjahr 1938". Kontinuität und Verschärfung der wirtschaftlichen Ausplünderung der deutschen Juden, in: Walter H. Pehle (Hrsg.), Der Judenpo­ grom 1938. Von der „Reichskristallnacht" zum Völkermord, Frankfurt a. M. 1988, S. 94-118; Wer­ ner E. Mosse, Jews in the German Economy. The German Jewish Economic Elite: 1820-1935,

VfZ 50 (2002) ® Oldenbourg 2002 238 Bernhard Lorentz Die zentralen Unterschiede der bisher vorliegenden Erklärungsangebote liegen in zwei Problemkomplexen begründet, die sich partiell überlagern. Erstens wird disku­ tiert, ob die Verdrängung jüdischer Unternehmen eher einer ideologischen oder einer ökonomischen Logik bzw. Rationalität folgte. Zweitens geht es um die Frage nach der Perspektive der Analyse: Ist eine Perspektive „von oben" oder die gegen­ sätzliche „von unten" angemessener, um den Gesamtprozeß zu untersuchen? Bei ersterer steht vor allem die Frage nach dem Stellenwert der Initiativen, Interventio­ nen und Steuerungsbemühungen der nationalsozialistischen Reichsregierung und der Maßnahmen, die sich in ihrem politischen Rahmen entfalten, im Mittelpunkt, wäh­ rend bei letzterer der Blick auf die Handlungen einzelner Akteure in Unternehmen und Regionen gerichtet und deren Verhalten und Motive in den Vordergrund gerückt wird. Diese Positionen werden gleichzeitig von der alten Kontroverse zwi­ schen Strukturalisten und Intentionalisten überlagert, wobei sich Vertreter einer Per­ spektive „von unten" - in pointiertem Gegensatz zu der traditionell strukturalisti- schen - der Intentionalität verpflichtet fühlen4. In jüngster Zeit hat auch die Unternehmensgeschichte das Thema „Arisierung" entdeckt und gewichtige Beiträge dazu geleistet. Bei einer Betrachtung der neueren unternehmenshistorischen Arbeiten wird deutlich, daß die „Arisierung" in vielen Branchen der deutschen Wirtschaft so nachhaltige Veränderungen beim Wettbewerb und bei der Aufteilung der Märkte zur Folge hatte, daß es nahezu unmöglich erscheint, die Geschichte eines Unternehmens zu schreiben, ohne dessen Rolle in diesem Bereich der ökonomischen Realität zwischen 1933 und 1945 zu thematisie­ ren5. Damit wird der Komplex „Arisierung" analytisch in den weiteren Kontext mikroökonomischer Entwicklung in der NS-Zeit integriert. Da dieser methodisch

Oxford 1987; ders., The German Jewish Economic Elite: 1820-1935. A Socio Cultural Profile, Oxford 1989; Johannes Ludwig, Boykott, Enteignung, Mord. Die „Entjudung" der deutschen Wirtschaft, München 1989; Albert Fischer, Hjalmar Schacht und Deutschlands „Judenfrage". Der „Wirtschaftsdiktator" und die Vertreibung der Juden aus der deutschen Wirtschaft, Köln/Wei­ mar/Wien 1995; Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 1: Die Jahre der Verfolgung 1933-1939, München 1998; Gerhard Kratzsch, Der Gauwirtschaftsapparat der NSDAP. Men­ schenführung - „Arisierung" - Wehrwirtschaft im Gau Westfalen-Süd, Münster 1989; Frank Bajohr, „Arisierung" in . Die Verdrängung der jüdischen Unternehmer 1933-1945, Ham­ burg 1997. 4 Während für die erstgenannte Perspektive stellvertretend Genschel, Verdrängung, bezeichnet wer­ den kann, soll als Exponent der hier zugespitzten „handlungsorientierten" Forschung vor allem auf Bajohr, „Arisierung", verwiesen werden. Vgl. zu dem Streit zwischen Intentionalisten und Strukturalisten Ian Kershaw, Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick, Reinbek 1994, S. 116 ff. 5 Vgl. dazu Hartmut Berghoff/Cornelia Rauh-Kühne, Fritz K. Ein deutsches Leben im zwanzigsten Jahrhundert, München 2000; Bernhard Lorentz, Industrieelite und Wirtschaftspolitik 1928-1950: Heinrich Dräger und das Drägerwerk, Paderborn 2001; Hartmut Berghoff, Zwischen Kleinstadt und Weltmarkt: Hohner und die Mundharmonika 1857-1961. Unternehmensgeschichte als Gesell­ schaftsgeschichte, Paderborn 1997. Schon früh in diesem Sinne Mechthild Wolf, Im Zeichen von Sonne und Mond. Von der Frankfurter Münzscheiderei zum Weltunternehmen Degussa AG, Frankfurt a.M. 1993; Harold James, Die und die Diktatur 1933-1945, in: Lothar Gall/Gerald D. Feldman/Harold James/Carl-Ludwig Holtfrerich/Hans E. Büschgen, Die Deut­ sche Bank 1870-1995, München 1995, S. 315-408. Die Commerzbank und die „Arisierung" im Altreich 239 fruchtbare Zugriff in den meisten Studien nicht expliziert und daher auch nicht kon­ sequent verfolgt wird, stehen der weiteren Forschung noch große Felder offen. Erreicht wird durch diese methodische Erweiterung zweierlei: Es wird möglich, Chancen und Handlungsspielräume unternehmerischen Wirkens im Bereich der „Arisierung" vor dem präzisen Mikrohintergrund der Umgebung eines Unterneh­ mens, einer Branche oder einer Region aufzuzeigen. Zudem läßt sich damit belegen, in welche gesellschaftlichen und ökonomischen Bereiche die „Arisierung" hinein­ wirkte und welche Veränderungsprozesse sie dort auslöste. Daß den Banken eine zentrale Rolle bei der „Arisierung" zukam, war schon den meisten zeitgenössischen Beobachtern klar. Nicht zuletzt das Problem, die gewaltige Summe an Kapital aufzubringen, die dieser Prozeß erforderte, machte ihre Bedeu­ tung unübersehbar. Doch im gleichen Maße, wie im Zuge der Radikalisierung der NS-Judenpolitik die Zahl der „Arisierungsobjekte" zunahm und die Unübersicht­ lichkeit der Zuständigkeiten und der Rechtslage wuchs, veränderte sich auch die Rolle der Banken in dem System. Zunehmend gewannen ihre traditionellen Kennt­ nisse als Unternehmensberater, ihre Vermittlungs- und Beratungskenntnisse eine zentrale Relevanz6. Diese Netzwerkfunktion von Banken im nationalsozialistischen Wirtschaftssystem wurde schon früh von den Mitarbeitern der Financial Administration des Office of Military Government United States (OMGUS) wahrgenommen7. Die spätere histo­ rische Forschung hat aber diese Spur fast vollkommen vernachlässigt. In den klassi­ schen Monographien zur „Arisierung" von Helmut Genschel und Avraham Barkai spielen die Banken nur eine Nebenrolle, und auch in neueren Untersuchungen kom­ men sie nur am Rande vor. Eine systematische Fragestellung ist nie entwickelt wor­ den8, was wohl vor allem mit der Unzugänglichkeit von Archivmaterial in den pri-

6 Für die zeitgenössische Perspektive vgl. Arisierung auf Kredit?, in: Die Bank 31 (1938), S. 275 ff. 7 Vgl. dazu den Bestand OMGUS in den National Archives Washington (künftig: NARA II), insbe­ sondere die zusammenfassenden Bemerkungen zur Bankenmacht in RG 360, box 179. Berichte der Industrie- und Handelskammer Frankfurt a. M. an die Financial Intelligence and Liaison Branch der OMGUS, 8.4. 1946 und 14.4. 1946, in: NARA II, RG 260, box 194; Abschlußberichte zu den Banken: OMGUS FINAD, Report on the Investigation of the Commerzbank, in: Bundesar­ chiv Berlin (künftig: BA), Z 45 F 2/ 44-1. Die Berichte zur Dresdner und Deutschen Bank sind veröffentlicht als: OMGUS - Ermittlungen gegen die Deutsche Bank 1946/47, übers. u. bearb. v. der Dokumentationsstelle zur NS-Politik Hamburg, Nördlingen 1985; OMGUS - Ermittlungen gegen die Dresdner Bank 1946, bearb. v. der Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahr­ hunderts, Nördlingen 1986. Es ist bezeichnend für die Wahrnehmung der Rolle der Commerz­ bank, daß auf eine Publikation des entsprechenden OMGUS-Berichtes verzichtet wurde. Obwohl die Commerzbank von 1920 bis 1940 unter dem Titel Commerz- und Privatbank firmierte, wird hier einheitlich der Name Commerzbank verwandt. Zur Rolle in Nürnberg vgl. etwa die Befra­ gung Karl Rasches, langjähriges Vorstandsmitglied der Dresdner Bank, vor dem Militärgerichtshof im Fall XI am 26. 6. 1948, in: BA, 99 US 7, Nr. 161, sowie die umfangreichen Dokumente unter den Prozeßakten. 8 Eine herausragende Ausnahme bildet die Monographie von Harold James, Die Deutsche Bank und die „Arisierung", München 2001. Vgl. im übrigen die knappen Ausführungen bei Christopher Kopper, Zwischen Marktwirtschaft und Dirigismus. Bankenpolitik im „Dritten Reich" 1933- 1939, Bonn 1995; ders., Privates Bankwesen im Nationalsozialismus: Das Bankhaus M. M. War- 240 Bernhard Lorentz vaten Bankarchiven zu tun hatte. Allerdings ist hier in der jüngeren Zeit eine grund­ sätzliche Veränderung eingetreten, so daß es jetzt möglich ist, die Involvierung von Banken in die gewerbliche „Arisierung" in das Zentrum der Untersuchung zu stel­ len. Im Kern geht es um die Frage nach der funktionalen Bedeutung von Banken im Prozeß der „Arisierung" gewerblichen Vermögens im Altreich. Wie wandelte sich diese Funktion angesichts der Dynamik der makroökonomischen Veränderungen in der NS-Zeit, die natürlich auch die Geschäftsbedingungen der Banken betrafen? Welche Rolle spielten Netzwerkbeziehungen, welche Bedeutung hatten die spezifi­ sche Wettbewerbssituation bzw. Marktanteile? Wie veränderten sich diese und wel­ chen Einfluß besaßen Banken auf den „Arisierungsprozeß" wirklich9? Der Fokus der Untersuchung richtet sich damit auf die Mechanismen der „Arisierung" und die Rolle der Banken in deren Räderwerk. Die Frage nach den Motiven der Institution und des Managements wird dagegen nicht zuletzt deshalb nur am Rande behandelt, weil die vorhandenen Quellen nur über ökonomische Motive berichten, während sich etwa über ideologische Beweggründe von Bankern kaum Hinweise finden. Damit kann die Einstellung der handelnden Akteure gegenüber den Juden nicht Gegenstand dieser Untersuchung sein10. Es ist das zentrale Ergebnis der neueren Forschung, daß die Beteiligung von Gesellschaft und Wirtschaft an der „Arisierung" in zweierlei Hinsicht von entschei­ dender Bedeutung war: Sie sorgte für deren reibungslosen Verlauf und für das schließliche Erreichen des Ziels, daß die jüdischen Vermögenswerte nach der „Ari-

burg & Co., in: Werner Plumpe/Christian Kleinschmidt (Hrsg.), Unternehmen zwischen Markt und Macht. Aspekte deutscher Unternehmens- und Industriegeschichte im 20. Jahrhundert, Essen 1992; ders., Die „Arisierung" jüdischer Privatbanken im Nationalsozialismus, in: Sozialwissen- schaftliche Informationen 20 (1991), S. 111-116; Albert Fischer, Jüdische Privatbanken im „Dritten Reich", in: Scripta Mercaturae 28 (1994), S. 1-54; Carl-Ludwig Holtfrerich, Finanzplatz Frankfurt. Von der mittelalterlichen Messestadt zum europäischen Bankenzentrum, München 1999; Harold James, Die Rolle der Banken im Nationalsozialismus, in: Lothar Gall/Manfred Pohl (Hrsg.), Unternehmen im Nationalsozialismus, München 1998, S. 25-36; Michael Hepp, Deutsche Bank, Dresdner Bank - Erlöse aus Raub, Enteignung und Zwangsarbeit 1933-1945, in: 1999 15 (2000), S. 64-116; Peter-Ferdinand Koch, Die Geldgeschäfte der SS. Wie deutsche Banken den schwarzen Terror finanzierten, Hamburg 2000. 9 Regional bestanden infolge unterschiedlich strikt handelnder Steuerungsinstitutionen große Unter­ schiede im Tempo des Arisierungsprozesses. Vgl. die Forschung zusammenfassend, Bajohr, „Arisie­ rung", S. 11 ff. Die Aktenüberlieferung der Commerzbank muß insgesamt als unbefriedigend bezeichnet werden. Große Teile der Zentralüberlieferung sind verloren, und die Reste erlauben nur segmentierte Einblicke in zentrale Entscheidungsabläufe. Neben den teilweise erhaltenen Beständen der zentralen Kreditabteilung, deren Auswertung sich als besonders ergiebig erwies, ist die Filial­ überlieferung auf das Historische Archiv der Commerzbank in Frankfurt am Main (künftig: HAC), die Bestände des Altbankarchivs in Berlin sowie verschiedene Landesarchive verteilt. 10 Vgl. zum Antisemitismus in der Industrieelite Dieter Ziegler, Die Verdrängung der Juden aus der Dresdner Bank 1933-1938, in: VfZ 47 (1999), S. 187-218; Peter Hayes, Big Business and „Aryani- zation" in Germany, 1933-1939, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 3 (1994), S. 254-281; Frank Bajohr, „Arisierung" als gesellschaftlicher Prozeß. Verhalten, Strategien und Handlungs­ spielräume jüdischer Eigentümer und „arischer" Erwerber, in: Peter Hayes/Irmtrud Wojak (Hrsg.), „Arisierung" im Nationalsozialismus. Volksgemeinschaft, Raub und Gedächtnis, Frank­ furt a. M. 2000, S. 15-31. Die Commerzbank und die „Arisierung" im Altreich 241 sierung" weiter genutzt werden konnten11. Eine wirtschaftshistorische Analyse muß daher die Mechanismen dieses komplexen Zusammenwirkens unterschiedlicher Akteure untersuchen, um klarere Kriterien für die Beurteilung ihrer spezifischen Rolle zu erhalten und letztlich den entscheidenden Schritt von der Beschreibung des Prozesses zu seiner Erklärung machen zu können. Dabei ist es unerläßlich, den Begriff „Arisierung" so klar wie möglich zu bestimmen und gegen andere antijüdi­ sche Maßnahmen abzugrenzen. Das gilt insbesondere für den Terminus „Vermö­ gensentziehung", der den Einzug von jüdischem Vermögen durch den nationalsozia­ listischen Staat beschreibt, der in den dreißiger Jahren einsetzte und mit der XL Ver­ ordnung zum Reichsbürgergesetz am 25. November 1941 sowie der vollständigen Konfiszierung jüdischen Vermögens seinen Höhepunkt erreichte12. An diesem - nahezu unerforschten - Teilbereich des Enteignungsprozesses partizipierten Banken als ausführende Organe des Staates in erheblichem Maße; er ist jedoch nicht Gegen­ stand dieser Studie. Bei der „Vermögensentziehung" besaßen Banken aufgrund der staatlichen Kontrolle wesentlich weniger Spielraum als im Bereich der „Arisierung" jüdischer Unternehmen13. Die Übernahme eines jüdischen Industrieunternehmens durch den Staat ist demnach der Vermögensentziehung zuzuordnen und bleibt im Rahmen der vorliegenden Untersuchung ebenfalls außer Betracht. Denn das ent­ scheidende Kriterium ist hier der Übergang des Vermögens in „staatlichen", nicht „privaten" Besitz. Abzugrenzen ist der Begriff „Arisierung" auch von dem der „Ver­ drängung" jüdischer Mitarbeiter in den Unternehmen und von dem der „Liquida­ tion", das heißt der erzwungenen Stillegung jüdischer Unternehmen in der NS-Zeit. „Arisierung" bezeichnet hier demnach ausschließlich den Übergang von jüdischem Vermögen in nichtjüdisches privates Eigentum, wobei der Begriff natürlich immer impliziert, daß es sich um ein staatlich sanktioniertes Unrecht handelte14. Gerade durch den Perspektivenwechsel auf die nichtstaatliche Seite werden die autonomen Handlungsabläufe des ökonomischen Prozesses erkennbar. „Arisierung", so zeigt sich dabei, hatte nicht nur mit dem politischen Systemimperativ Rassismus zu tun, sondern hing auch mit bislang weitestgehend unbeachteten Faktoren wie Wettbewerb und unternehmerischen Expansionsstrategien zusammen. Wenn dann noch - wie hier - eine vergleichende Perspektive gewählt wird, läßt sich auch besser

11 Vgl. Bajohr, „Arisierung", S. 11 ff. 12 Vgl. XI. Verordnung zum Reichsbürgergesetz, in: RGBl. I 1941, S. 722-724. 13 Vgl. Judenkonten, Sonder- und Sperrkonten, Depotbücher, Filiale Leipzig in: Commerzbank Alt­ bank-Archiv (künftig: AACB); Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1999, S. 140 ff.; Herbert Wolf, Zur Kontrolle und Enteignung jüdischen Vermögens in der NS-Zeit - Das Schicksal des Rohtabakhändlers Arthur Spanier, in: Bankhistorisches Archiv. Zeitschrift für Bankgeschichte 16 (1990), S. 55-62; Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts durch die Bundesrepublik Deutschland: Gesamtwürdigung in Einzeldarstellungen, hrsg. vom Bundesminister der Finanzen, Bd. 1: Walter Schwarz, Rückerstattung nach den Geset­ zen der Alliierten Mächte, München 1974. 14 Wenn im folgenden der Terminus „gewerbliches Vermögen" benutzt wird, ist damit Eigentum am Kapitalstock eines Unternehmens gemeint. Vgl. zum Problem der Begriffsbestimmung Constantin Goschler, Wiedergutmachung. Westdeutschland und die Verfolgten des Nationalsozialismus 1945- 1954, München 1992, S. 91. 242 Bernhard Lorentz erkennen, wie die Banken ihre Spielräume nutzten, ob die eine Bank tatsächlich zurückhaltender als andere war und wo die Gründe dafür lagen. Gerade bei den identischen Vorgaben durch die staatliche Politik in regionalen Untersuchungsfel­ dern wie in einzelnen Orten, in denen etwa mehrere Großbanken und einzelne Regionalbanken Filialen besaßen, läßt sich eine Bewertung des Verhaltens einzelner Banken durch eine vergleichende Perspektive erreichen15.

1. Die Ausgangsposition und die Entwicklung des Geschäftsverhaltens gegenüber jüdischen Kunden

Infolge des Konzentrationsprozesses seit der Jahrhundertwende war die Commerz­ bank zur drittgrößten der nunmehr drei Großbanken (neben der Deutschen Bank und Disconto-Gesellschaft und der Dresdner Bank) geworden. Die Ausgangsposi­ tion der 1870 in Hamburg gegründeten Commerzbank war, wie die ihrer wichtig­ sten Konkurrentin, der Dresdner Bank, zum Zeitpunkt der Machtergreifung prekär. Anders als bei der Deutschen Bank, aber ähnlich wie bei der Dresdner Bank befan­ den sich seit der Bankenkrise 1931 70,2 Prozent des Aktienkapitals der Bank in öffentlicher Hand16. Das Reich kontrollierte das Geschäftsverhalten der Bank über zwei Vertreter der Reichsbank im Aufsichtsrat und Arbeitsausschuß. Direkten Ein­ fluß auf die Geschäftspolitik der Bank nahmen jedoch weder das zuständige Reichs­ bankdirektorium noch das Reichsfinanzministerium. Mit dem Abschluß der Repri­ vatisierung des Aktienkapitals 1937 endeten auch die Aufsichtsratsmandate des Reichs17. Über die Rolle der Commerzbank im „Arisierungsprozeß" gehen die Urteile aus- einander. Im Schlußbericht von OMGUS wird der Bank bescheinigt, deutlich weni­ ger aggressiv als die Deutsche und die Dresdner Bank gewesen zu sein18. Im Gegen­ satz dazu antwortete Karl Rasche vom Vorstand der Dresdner Bank vor dem Nürn­ berger Militärgerichtshof auf die Frage, ob die „Arisierungsabteilung" in seinem Haus gut organisiert gewesen sei, das könne man nicht sagen, „das war in der Com-

15 Vgl. generell zum Stand der methodischen Diskussion über den Vergleich mit weiteren Nachwei­ sen Ludolf Herbst, Das nationalsozialistische Herrschaftssystem als Vergleichsgegenstand und der Ansatz der Totalitarismustheorien, in: Klaus-Dietmar Henke (Hrsg.), Totalitarismus. Sechs Vorträge über Gehalt und Reichweite eines klassischen Konzepts der Diktaturforschung, Dresden 1999, S. 19-26. 16 Vgl. Ute Claus, Die Commerzbank in der Weltwirtschafts- und Bankenkrise 1929-1931, unveröf­ fentlichte Diplomarbeit, Frankfurt a. M. 1993; zur Dresdner Bank Ziegler, Verdrängung. Die Deut­ sche Bank befand sich nach Kopper, Marktwirtschaft, S. 223, und James, Deutsche Bank, S. 333, in privater Kapitalmehrheit und wurde bereits im November 1933 vollständig reprivatisiert. 17 Vgl. Herbert Wolf, Die Reprivatisierung der Commerzbank 1936/37. Ein Meisterstück des jungen Hermann Josef Abs, in: Bankhistorisches Archiv 22 (1996), S. 27-36; Lothar Gall, A man for all seasons? Hermann Josef Abs im Dritten Reich, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 43 (1998), S. 123-175. Zur fehlenden Einflußnahme des vgl. Reichs Progress report on the Investiga- tion of the Commerzbank (14. 1. 1947), in: NARA II, OMGUS-FINAD, RG 260, box 194. Eine Ausnahme bildete die Personalpolitik, wo die Reichsgesetze Anwendung fanden. 18 OMGUS-Report Commerzbank, in: BA, Z 45 F 2/ 44-1, S. 47. Die Commerzbank und die „Arisierung" im Altreich 243 merzbank viel besser"19. Für diese Aussage Rasches spräche, daß die Commerzbank mit Friedrich Reinhart seit 1934 einen Aufsichtsratsvorsitzenden hatte, der schon vor 1933 ein Verfechter einer nationalsozialistischen Beteiligung an der Reichsregie­ rung gewesen war. Reinhart hatte den seit 1915 amtierenden Franz Heinrich Witt- hoeft abgelöst, der als Mitglied des Keppler Kreises ebenfalls ein Befürworter der Kanzlerschaft Hitlers und Mitglied der NSDAP gewesen war20. Reinhart selbst wurde nie Parteimitglied, dafür jedoch Vorsitzender der entscheidenden Vereinigung der Banken: der Wirtschaftsgruppe Privates Bankgewerbe. Bis auf das jüdische Vor­ standsmitglied Ludwig Berliner, der im September 1933 aufgrund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" entlassen wurde und in eine niederländi­ sche Kommandite der Bank eintrat, weist der Vorstand über 1933 hinaus eine weit­ gehende Kontinuität auf. Mit Ausnahme von Josef Schilling und Reinhart traten alle Vorstandsmitglieder bis 1934 der NSDAP bei21, während die jüdischen Mitglieder nach und nach aus dem Aufsichtsrat verdrängt wurden; Albert Katzenellenbogen verließ das Gremium 1937 als letzter. Reinhart dominierte die Politik der Bank von der Übernahme des Aufsichtsratsvorsitzes bis zu seinem Tode 194322. Andererseits gibt es auch gewichtige Argumente, die für die These einer generel­ len Zurückhaltung der Commerzbank sprechen23. So beteiligte sich die Commerz­ bank anders als ihre beiden Konkurrenten nicht an der Übernahme jüdischer Privat­ banken im Altreich. Die volkswirtschaftliche Abteilung der Reichsbank urteilte in einem statistischen Bericht im Mai 1938 zur „Arisierung" der Privatbanken eindeu-

19 Kreuzverhör Karl Rasche vor dem Nürnberger Militärgerichtshof im Fall XI am 26. 6. 1948, in: BA, 99 US 7, Nr. 161, Bl. 54. Für diesen Hinweis danke ich Johannes Bähr. 20 Vgl. Bajohr, „Arisierung", S. 80; Akte Witthoeft, Personenbezogene NS-Akten im BA; Verhör Walter Funk am 17. 9. 1945, in: NARA II, RG 260, box 207. 21 Eugen Bandel (Parteieintritt 1.5. 1933); Carl Harter (Parteieintritt 1.4. 1933), Dr. Paul Marx (Par­ teieintritt 1.4. 1933), Personenbezogene NS-Akten im BA; zur Wirtschaftsgruppe vgl. Harold James, Verbandspolitik im Nationalsozialismus. Von der Interessenvertretung zur Wirtschafts­ gruppe: der Centralverband des Deutschen Bank- und Bankiergewerbes 1932-1945, München 2001. 22 Reinhan (1871-1943) kam von der Mitteldeutschen Creditbank und gelangte nach der Fusion mit der Commerzbank in den Vorstand derselben, bis er 1934 als Vorsitzender in den Aufsichtsrat wechselte. Er war nie Mitglied der NSDAP. Vgl. Personenbezogene NS-Akten im BA; Verhör Walter Funk am 17. 9. 1945, in: NARA II, OMGUS-FINAD, RG 260, box 207. Wie die Dresdner Bank wurde auch die Commerzbank im Memorandum des Vereins zur Wahrung der Interessen der Chemischen Industrie Deutschlands e. V. vom 29. Juni 1933 als „in ihrer Leitung jüdisch bzw. verjudet" bezeichnet (Mosse, Jews, S. 331). Richard Glaser, 1933 stellvertretender Direktor in der Commerzbank Zentrale, berichtet in seinen Erinnerungen, er sei 1934 mit zwei anderen „Juden in leitenden Stellungen" zu Reinhart gerufen worden: „Reinhart eröffnete uns, daß es unerwünscht sei, daß wir fortgingen. In diesem Gespräch sagte er auch unter anderem, Hitler sei der größte Mann seit Christus, und die Juden würden wieder ihre Stellungen bekommen." Yad Vashem, Ball-Kaduri-Sammlung, Zeugenberichte, Nr. 196, Richard Glaser, Die Juden in deutschen Groß­ banken von 1933-1937, 18. 11. 1957. 23 So kommt Christopher Kopper ohne eine Nennung der Commerzbank in seinem diesbezüglichen Kapitel aus. Dabei bezieht er sich in erster Linie auf die Nachkriegsberichte des Prüfungsausschus­ ses für „Arisierungsfragen" der IHK Frankfurt am Main, die er auf das gesamte Altreich hochrech­ net. Vgl. Kopper, Marktwirtschaft, S. 280. 244 Bernhard Lorentz tig: Angesichts der Gesamtentwicklung „wird sich aufgrund dieser Statistik von einer ausgesprochenen Zurückhaltung des arischen Kapitals gegen die Übernahmen jüdischer Bankgeschäfte kaum sprechen lassen"24. Der SD berichtete schließlich Anfang 1939, daß „die Arisierungen im Bankgewerbe mit Hilfe der Privatbanken, besonders der Deutschen Industriebank, Reichs-Kredit-Gesellschaft und der Deut­ schen Bank zum Abschluß gekommen" seien. Die Wirtschaftsgruppe hatte bei der „Bankenarisierung" eine ganz entscheidende Rolle als Bindeglied zwischen Ministe­ rien, Parteiinstitutionen und den beteiligten Banken gespielt. Vor diesem Hinter­ grund erscheint die Tatsache, daß die Commerzbank sich an der „Arisierung" der noch im Februar 1938 etwa 400 jüdischen Privatbanken nicht beteiligte, bemerkens­ wert25. Ähnliches gilt grundsätzlich - im Unterschied zu ihren beiden unmittelbaren Konkurrenten - für die Übernahme von Geldinstituten in den eingegliederten und besetzten Gebieten der Tschechoslowakei, Österreichs, Polens, der Beneluxländer und Frankreichs26. Die Commerzbank entschied sich auch hier offensichtlich für eine Strategie, die überwiegend auf die Gründung eigener Filialen setzte. Dabei mahnte der Aufsichtsrat den Vorstand eindringlich, bei Investitionen zurückhaltend zu sein27. Auch die leitenden Direktoren des Hauses, die die Alliierten nach Kriegs­ ende zu der Beteiligung an den „Arisierungen" befragten, äußerten sich in diesem Sinne. Zahllose Berichte gleichen dem von Friedrich Hütter, dem stellvertretenden

24 Bericht der volkswirtschaftlichen Abteilung der Reichsbank über die „Arisierung" der Privatban­ ken, 25. 5. 1938, BA, Dok K 504/1, Mappe 3 B. 25 Bericht des Sicherheitshauptamtes, in: BA, R 58/717; Vgl. die Korrespondenz mit den Listen der Privatbanken, in: Sonderarchiv Moskau, 1458-1-454. 26 Die Commerzbank hat per 1.5. 1941 über ihre Tochtergesellschaft, die Rijnsche Handelsmaat- schappij, einen Teil der Kunden, Mitarbeiter und die Geschäftsräume der jüdischen Hugo Kauf­ mann & Co Bank übernommen. In Frankreich scheiterte der Versuch, einen von der unter Zwangsverwaltung stehenden jüdischen Bankfirma Worms & Cie übernommenen Bankaktien­ mantel zu einer vollgültigen Niederlassung auszubauen, am Widerstand des Reichswirtschaftsmi­ nisteriums. Für diese Hinweise danke ich Christoph Kreutzmüller. 27 Auf den Bericht des Vorstandes über die neuen Filialen in Kattowitz, Sosnositz, Bielitz-Biela, die „sich gut angelassen haben" und die Feststellung, daß „die Entwicklung im Osten noch nicht fest (steht)", reagierte der Aufsichtsrat in der ordentlichen Sitzung am 13.10.1939 vorsichtig. Der Vor­ stand berichtete daraufhin über die Pläne zur Errichtung weiterer eigener Filialen in Posen, Thorn, Gnesen, Bromberg und den Kauf eines geeigneten Objekts in Wien. „Aus dem Kreis des Auf­ sichtsrates wurde dem Wunsche Ausdruck gegeben, den Geschäftsumfang im Verhältnis zum Eigenkapital der Bank zu halten. Der Vorsitzende [Reinhart], stimmte dem seinerseits zu, wobei er darauf hinwies, daß die Bank ihr neues Geschäft im Sudetenland nur sehr vorsichtig und mit bescheidenen Mitteln in Angriff genommen habe." Aufsichtsratsprotokoll der 688. Sitzung am 13. 10. 1939, in: HAC, S3/A2. Schon bei der Frage eines Engagements im Sudetengau hatte sich der Arbeitsausschuß, das gemeinsame Gremium aus Aufsichtsrat und Vorstand, ähnlich entschie­ den. Arbeitsausschußprotokoll der 119. Sitzung am 2. 11. 1938, in: HAC, 1/188 IL Für diese - im Vergleich zum Verhalten der Deutschen und Dresdner Bank - eindeutige Zurückhaltung gibt es auch in den Unterlagen der für die besetzten und eingegliederten Gebiete zuständigen staatlichen Steuerungsbürokratien zahlreiche Hinweise. So etwa Bank und Kreditwesen in Polen, in: Sonder­ archiv Moskau, 1458-15-138; Staatsgesicherte Kredite in den Ostgebieten 1940-1943, in: Ebenda, 1458-1-2041-42. Die Commerzbank und die „Arisierung" im Altreich 245 Filialleiter in Wien, der den alliierten Offizieren sagte, Reinhart, der Vorsitzende des Aufsichtsrates, sei bankintern als „Aufsitzender des Vorsichtsrates" bezeichnet wor­ den28. Vor dem Hintergrund des expansiven Verhaltens der anderen Großbanken, die sich bei der Übernahme von jüdischen und ausländischen Banken im Altreich und den eroberten Gebieten keine Zügel anlegten, erscheint das Verhalten der Com­ merzbank demnach als Sonderfall und damit als der eigentlich „interessante" Fall. Ein Bericht des von den Alliierten eingesetzten „Arisierungskomitees" der Indu­ strie- und Handelskammer Frankfurt am Main schien 1946 die Annahme zu bestäti­ gen, daß die Commerzbank einen eher vorsichtig-defensiven Kurs gesteuert hat. Ihre Beteiligung an den nachrecherchierten Fällen, in denen die Bank Kredite an Käufer von „Arisierungsobjekten" gegeben hatte, war marginal. Gleichwohl waren die amerikanischen Offiziere von dem Ausmaß der Involvierung privater Banken in die „Arisierung" überrascht. Von 300 untersuchten Fällen waren Banken an insge­ samt 82 beteiligt29. Die vier Filialleiter der Commerzbank in München, Nürnberg, Fürth und der Berliner Hauptdepositenkasse A am Hausvogteiplatz, die den Ameri­ kanern für Befragungen zur Verfügung standen, zeichneten jedoch ein anderes Bild: Sie nannten über 70 Fälle, in denen ihre Niederlassungen an der gewerblichen „Ari­ sierung" beteiligt gewesen seien. Die meisten Fälle wurden aus der Erinnerung rekonstruiert, da große Teile des Aktenmaterials vernichtet oder verloren waren. Ergänzt man diese sicher „vorsichtigen" Nachkriegsreports ehemaliger Mitarbeiter um die zahlreichen Berichte der Filialen in den westlichen Besatzungsgebieten, die die Bankzentrale zur Vorbereitung erwarteter alliierter Prozesse 1946 eingefordert hatte, tritt das Ausmaß der Involvierung der Commerzbank noch deutlicher zutage. Nach einem Bericht des Vorstandsmitglieds Karl Kimmich der Deutschen Bank vom November 1938 war der Branchenprimus bis zu diesem Zeitpunkt an der „Arisie­ rung" von 330 Unternehmen unmittelbar beteiligt; bereits bis zum Juli des Jahres hatte man etwa 700 Fälle im Kundenkreis erfaßt - also intern vorbereitet30. Ver­ gleichbare zeitgenössische Zahlen sind für die Commerzbank nicht überliefert. Rechnet man die Nachkriegsaussagen über die Beteiligung der Commerzbank jedoch nur vorsichtig hoch, kommt man unschwer auf ähnliche Zahlen wie die von Kimmich. Es ist angesichts der Quellenlage zur Commerzbank aber nicht möglich, eine Gesamtzahl zu nennen, sie wäre jedoch ohnehin wenig aufschlußreich für die Frage nach der Funktion der Banken. Diese läßt sich am besten beantworten, wenn man das Geschäftsgebaren einzelner Filialen betrachtet. Im vorliegenden Fall handelt es sich um das Geschäft einer urba- nen Filiale wie Leipzig und um die Tätigkeit einiger sächsischer und schlesischer

28 Aussage Joseph Schilling, 20.2.1946, in: NARA II, OMGUS-FINAD, RG 260, box 197; Friedrich Hütter an Ernest Mehlman, 25.2. 1947, in: Ebenda. 29 Berichte der Industrie- und Handelskammer Frankfurt am Main an die Financial Intelligence and Liaison Branch der OMGUS, 8. 4. 1946 und 14. 4. 1946, in: NARA II, RG 260, box 194. Für Hin­ weise zur Dresdner Bank danke ich Harald Wixforth und Dieter Ziegler. 30 Vgl. Ermittlungen gegen die Deutsche Bank, S. 395 ff. Vgl. dazu auch James, Deutsche Bank und „Arisierung", S. 64. 246 Bernhard Lorentz Filialen, die vor allem mit mittelständischen Textilunternehmen als Kunden zu tun hatten. Für diese Auswahl sprechen drei Gründe: Die Überlieferung dieser Filialen ist - erstens - die dichteste des gesamten Netzes der Commerzbank, das mit etwa 400 Filialen, Kassenstellen und Depositenkassen im Reichsgebiet Mitte der dreißiger Jahre nur geringfügig hinter dem der Deutschen und der Dresdner Bank zurücklag und letztere sogar eine Zeitlang übertraf. Aus den zentralen Kreditberichten geht - zweitens - hervor, daß die Masse der für gewerbliche „Arisierungen" beantragten Kredite aus mittelgroßen Filialbezirken kam, die - drittens - eine vergleichsweise große jüdische Unternehmerschaft als Klientel hatte. Da dies für die ausgewählten Filialorte zutrifft, eignen sie sich ganz besonders für eine verdichtete Regionalana­ lyse31. An ihrem Beispiel läßt sich nicht nur die Handlungsweise einzelner Filialen untersuchen, sondern auch deren Wettbewerbsverhalten im Vergleich mit Filialen der gleichen Bank oder mit Niederlassungen konkurrierender Großbanken auf einem kleinräumigen Markt herausarbeiten. Für die Untersuchung wurde ein Sample von sechs Filialen ausgewählt, die diese Kriterien erfüllten. Es handelte sich um die Filialen Görlitz, Lauban (Schlesien), Plauen, Chemnitz, Reichenbach und Annaberg (Westsachsen), deren Tätigkeit anhand der Zentral- und Filialüberlieferung vollstän­ dig ausgewertet wurde. Ergänzend wurden einzelne Fälle anderer Filialen hinzuge­ zogen32. Im Unterschied zur Dresdner Bank war bei der Commerzbank nicht eine beson­ dere Abteilung für die „Arisierung" zuständig; „Arisierungsfragen" wurden inner­ halb der allgemeinen Kreditabteilung behandelt. Diese Zentralabteilung überwachte die Kreditgeschäfte der Filialen und koordinierte gleichzeitig deren Geschäftstätig­ keit untereinander33. In der Überlieferung der Zentrale spiegeln sich - anders als in den Akten der Filialen - die Veränderungen für jüdische Geschäftskunden nach den Boykotten jüdischer Einzelhandelsgeschäfte unmittelbar nach der Machtübertragung nur sehr begrenzt wider. In ihr zeigt sich aber, daß Vorstand und Aufsichtsrat schon damals am Verdrängungsprozeß ihrer jüdischen Kunden beteiligt waren - zunächst freilich nur in einem bescheidenen Maße. Im Sommer 1933 waren die Vorstandsmitglieder Eugen Bandel und Reinhart in die Arisierung der Auergesellschaft, einem der führenden militärischen Atemschutz­ gerätehersteller in Berlin, involviert. Nach der Machtübernahme mußte die von dem jüdischen Eigentümer Alfred Koppel kontrollierte Auergesellschaft um weitere lukrative Rüstungsaufträge fürchten. Bereits im August 1933 war die Gesellschaft -

31 Bericht der Deutschen Revisions- u. Treuhand AG Berlin über die bei der Commerzbank AG Ber­ lin vorgenommene Prüfung des Jahresabschlusses und des Geschäftsberichtes zum 31. 12. 1934, in: BA, R 8135/1288; Kundenverzeichnis der Commerzbank mit Nachträgen, in: HAC, 1-123/124. Die hohe Zahl jüdischer Betriebe in Schlesien und Sachsen wird auch an den Veröffentlichungen in der jüdischen Rundschau, vor allem in den Jahren 1937 bis 1939, deutlich. Vgl. dazu die entspre­ chenden Jahrgänge der Zeitung sowie die quantitativen Analysen in: Genschel, Verdrängung, S. 174. 32 Ebenda. 33 Vgl. Aussage Joseph Schilling, 20.2. 1946, in: NARA II, OMGUS-FINAD, RG 260, box 197. Die Commerzbank und die „Arisierung" im Altreich 247 wie ihre Leitung eingestand - darauf angewiesen, „die Anerkennung als deutsches Unternehmen zu gewinnen"34. Um eine Form der „arischen Tarnung" zu erreichen, wurde die GmbH in eine Aktiengesellschaft als Auffanggesellschaft umgewandelt, deren Aufsichtsrat maßgeblich von der Commerzbank, namentlich durch Bandel und Reinhart, geleitet wurde. Ein Konsortium unter Leitung der Commerzbank übernahm die Aktien im Nennwert von sieben Millionen RM35. Auch wenn dieser Versuch einer „arischen Tarnung" scheiterte und die Commerzbank am darauffol­ genden „Arisierungsprozeß" weitgehend unbeteiligt war, wird die frühe Bereitschaft des Vorstandes, sich an dem Verdrängungsprozeß zu beteiligen, deutlich. Zwischen 1933 und 1937 waren Zentrale und Filialen mehrmals an „Arisierungen" beteiligt, und zwar sowohl als Kreditgeber als auch als Vermittler. Dies betraf zumeist jüdische Unternehmen in Branchen, die besonders verletzlich gegenüber Boykotten - wie Einzelhandelsunternehmen und Kaufhäuser - oder anderen Restriktionen waren36. Gleichzeitig nahm die Zentrale alle jene jüdischen Großun­ ternehmen genau unter die Lupe, in denen sie finanziell engagiert war. Arbeitsaus­ schuß, Vorstand und Aufsichtsrat ließen sich über deren Geschäftsentwicklung prä­ zise informieren. Im Januar 1936 stellte der Arbeitsausschuß schließlich für das Kaufhaus Tietz fest: „die Firma ist durch die Boykottbewegung [...] so stark betrof­ fen worden, dass ihre Lage heute als gefährdet angesehen werden muss, wenn es nicht gelingen sollte, eine Arifizierung [sic!] unter Zuführung grösserer neuer Mittel zu erreichen"37. Darüber hinaus war die Bank von Beginn an bemüht, ihren investitionsbereiten nichtjüdischen Kunden einen umfassenden Service anzubieten, der weit über die Zurverfügungstellung eines Kredits und die Kontobetreuung hinausging, wie an mehreren Fällen deutlich wird. Bereits im Dezember 1933 teilte die zentrale Kredit­ abteilung ihren Filialen mit, daß „ein langjähriger Kunde [...] evtl. ein Kaufhaus in einer grösseren Provinzstadt übernehmen" würde. „Der Interessent ist Arier und

34 Bericht von Professor Pulich betr. Entwicklung der Auergesellschaft, 4. 8. 1933, in: Unternehmens­ archiv Degussa AG, IW 24.18/1. 35 Bericht des Vorstandes, 31.8. 1933, Arbeitsausschussprotokoll, in: HAC, 1-186 II; Dr. Remy an Dr. Hugo , 5. 8. 1933, S. 1, in: Ebenda; vgl. dazu Peter Hayes, Die „Arisierungen" der Degussa AG. Geschichte und Bilanz, in: Hayes/Wbjak (Hrsg.), „Arisierung", S. 85-124, hier S. 92 ff. 36 Vgl. die zahlreichen Beispiele jüdischer Kleidungsgeschäfte in Berlin Mitte von 1933 an in dem Bericht des Commerzbank-Prokuristen Richard Lauterbach. Bericht Lauterbach, 17. 2. 1947, Prin­ cipal Documents, Report on the Investigation of the Commerzbank, OMGUS-FINAD, in: BA, Z 45 F 2/ 44-1. Auch in den diesbezüglichen Berichten der Filialen der westlichen Besatzungszonen gibt es zahlreiche Hinweise dafür. Berichte der Filialen 1946, in: HAC, 1-169 I und IL 37 86. Arbeitsausschußprotokoll, 8.1. 1936, in: HAC, 1/187 I. Zum Verlauf der „Arisierung" bei Tietz vgl. Ludwig, Boykott, S. 104 ff. Die Commerzbank war bei den großen jüdischen Kaufhäu­ sern traditionell finanziell erheblich engagiert und hielt etwa an der Rudolph Karstadt AG mit 25% des Aktienkapitals eine Sperrminorität. Vgl. Kopper, Marktwirtschaft, S. 189 f.; dazu auch Rudolf Lenz, Karstadt. Ein deutscher Warenhauskonzern 1920-1950, Stuttgart 1995; Georg Tietz, Hermann Tietz: Geschichte einer Familie und ihrer Warenhäuser, Stuttgart 1965; Simone Ladwig- Winters, Wertheim - Ein Warenhauskonzern und seine Eigentümer. Ein Beispiel der Entwicklung der Berliner Warenhäuser bis zur „Arisierung", Münster 1997. 248 Bernhard Lorentz zurzeit [sic!] in einem Berliner Kaufhaus in leitender Stellung tätig. Verfügbares Kapital: ca. RM 30.000."38 Hier wird das Angebot der Bank, ihren Kunden günstige Objekte zu vermitteln, bereits ungewöhnlich früh deutlich. Daß es sich auf die Kaufhausbranche bezog, verwundert weniger, da es aufgrund ihrer Anfälligkeit gegenüber Boykottmaßnahmen schon früh zu wirtschaftlichen Problemen der durch die Wirtschaftskrise ohnehin geschwächten Häuser kam. In den folgenden Jahren nahm die Zahl der für „Arisierungen" zur Verfügung gestellten Kredite ständig zu, wie den Berichten des für die Überwachung von Krediten über 100.000 RM zustän­ digen Arbeitsausschusses zu entnehmen ist. Vor allem ab der zweiten Jahreshälfte 1937 wurden Kreditanträge immer häufiger mit „Arisierung" begründet. Am 2. Februar 1938 informierte das Berliner Direktionssekretariat die Leiter der Geschäftsstellen „streng vertraulich" über den geheimen Erlaß des Reichswirt­ schaftsministeriums vom 4. Januar zur Definition des Begriffes „jüdischer Gewerbe­ betrieb" und gab ihnen zugleich klar zu verstehen, wie sich die Bankleitung die Umsetzung der staatlichen Maßnahme vorstellte: „Nachdem der Begriff des jüdi­ schen Unternehmens somit eine Feststellung erfahren hat, muss angenommen wer­ den, dass in erhöhtem Masse Beteiligungen und Unternehmen zum Verkauf angebo­ ten werden. Andererseits beobachten wir in der letzten Zeit, dass zunehmend bei arischen Unternehmen Interesse besteht, sich branchenverwandte Unternehmen anzugliedern, oder dass sonst für freie Kapitalien Anlage gesucht wird." Deutlich sprachen die beiden unterzeichnenden Vorstandsmitglieder Bandel und Paul Marx aus, was sie von den Filialen erwarteten: „Im Interesse einer Erhaltung und mögli­ chen Ausdehnung alter und der Anknüpfung neuer Verbindungen bitten wir, die Vorgänge aufmerksamst zu beobachten mit dem Ziel, Verkaufsbereite und Anlagesu­ chende zusammenzuführen." Gleichzeitig wollte man die Logistik in der Berliner Kreditzentrale zentralisieren: „Da das vielfach im Kreise ihrer Filiale nicht möglich sein wird, bitten wir, uns über alle geeigneten Fälle zu berichten, damit wir die im Rahmen unseres Gesamt-Instituts [sic!] liegenden grösseren Möglichkeiten dienstbar machen können." Auch von den ohne Beteiligung der Filiale abgewickelten „Arisie­ rungen" sollte berichtet werden, damit man sich in der Zentrale ein Gesamtbild der Regionen und Branchen machen konnte. „Es ist selbstverständlich", so schloß man, „dass dem besonderen Charakter dieser Dinge in der Behandlung Rechnung getra­ gen werden muss, damit Verstimmungen vermieden werden." Aus diesem Grunde schränkte man den Verteiler des Rundbriefes auf die wichtigen und vertrauenswürdi­ geren Kopfstellen ein39. Das Direktionssekretariat in Berlin bildete innerhalb der Commerzbank die entscheidende Schnittstelle, die für den Vorstand „Stabsfunktio­ nen" übernahm und gleichzeitig für die Konsortialgeschäfte und den Kontakt mit staatlichen Institutionen sowie mit der Wirtschaftsgruppe zuständig war40.

38 Anlage zum Mitteilungsblatt Nr. 1548, 19. 12. 1933, Commerzbank Filiale Leipzig, 137, in: Sächsi­ sches Staatsarchiv Leipzig (künftig: SSAL). 39 Commerzbank Zentrale an die Herren Leiter der Geschäftsstellen „Streng vertraulich", 2. 2. 1938, in: HAC, 1/631. 40 Aussage Joseph Schilling, 16. 11. 1946, in: BA, OMGUS FINAD, Principal Documents. Die Commerzbank und die „Arisierung" im Altreich 249 In der Anlage zum Schreiben vom 2. Februar 1938 fanden sich die Informationen der Wirtschaftsgruppe über die Rechtslage; auch daran wird die zentrale Rolle dieser Institution bei der „Arisierung" deutlich41. Die Wirtschaftsgruppe bildete gleichsam ein Transmissionsgelenk des Informationsstroms von der staatlichen Seite zu den Banken und war als Lobby in die ministeriellen Beratungen eingeschaltet. Sie erfüllte damit für die Mitgliedsbanken eine wichtige Funktion und besorgte Informationen, auf die man in dem zunehmend geschlossenen System der Diktatur immer weniger Zugriff hatte42. Durch ihre regionalen Mittelstellen, die Vertrauensmänner der Lan­ desobmänner der Wirtschaftsgruppe und durch die Bezirksbeauftragten der Fach­ gruppen verfügte die Wirtschaftsgruppe über ein effektives überregionales Netz­ werk, vergleichbar dem der Filialgroßbanken43. Der Vorstand der Deutschen Bank konnte seine Filialen übrigens schon vier Wochen früher, am 14. Januar, über den geheimen Erlaß informieren. Die Deutsche Bank hatte offenbar auch schon in den Wochen und Monaten zuvor intern Fragen über die „nichtarischen Engagements" zu klären versucht. Sich auf diese beziehend, schrieb der Vorstand an die Filialen: „Wir hören von Ihnen, dass sie in dauernder Fühlungnahme mit diesen [jüdischen] Unternehmen stehen und sich auf deren Wunsch bei der Arisierung zur Verfügung gestellt bzw. die Absicht haben dies zu tun." Nachdem man in den vorangehenden Schreiben schon genaue Informationen über die jüdischen Kunden der Filialen eingefordert hatte, bat man jetzt um „eine weitere Aufstellung ihrer nichtarischen [...] Kundschaft und zwar derjenigen, die für eine Arisierung in Frage kommt". Darüber hinaus fragte man nach präzisen Angaben zum Stand des „Arisierungsprozesses" und zur Involvierung der Filiale. Auch hier ging es - wie bei der Commerzbank - um eine Zentralisierung der Infor­ mationen, um die Anfragen von interessierten Investoren und zu „arisierenden" Betrieben besser vernetzen zu können44. Anhand der Angaben, die in der Zentrale daraufhin eintrafen, erstellte der Vorstand innerhalb von nur wenigen Tagen eine nach Regionen und Branchen geordnete umfangreiche Liste der Arisierungsobjekte und sandte diese an die Filialen. In dem beiliegenden Anschreiben forderten die Vor­ standsmitglieder Kimmich und Hans Rummel die Filialen zu weiteren Marktbeob­ achtungen und Engagements auf: „Es liegt uns viel daran, dass die sich jetzt evtl. im Zusammenhang mit der Umschaltung nichtarischer Firmen ohne Behinderung durch das Wettbewerbsabkommen bietenden Geschäftsmöglichkeiten ausgenutzt werden und dafür Sorge getragen wird, dass uns alte Verbindungen nicht durch Einschaltung der nach unseren Beobachtungen auf diesem Gebiet äusserst rührigen Konkurrenz

41 Korrespondenz, in: Sonderarchiv Moskau, 1458-14-37, 454, 1869. 42 Vgl. dazu Rundschreiben der Wirtschaftsgruppe 1935-1939. 43 Schriftwechsel mit den Bankiers in Mitteldeutschland 1933-1934, in: Landesarchiv Magdeburg, 10 K, Rep. I 103, Bankhaus Dippe-Bestehorn, Quedlinburg; Schriftwechsel betr. Bank-Enquete und Fachverbände 1935-1939, in: Landesarchiv Magdeburg, 12 K. 44 Kimmich und Rummel an die Direktoren unserer Filialen (Kopfstellen), 14. 1. 1938, Deutsche Bank, Filiale Meißen, Altbanken Dresden, DD 3268, in: Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden (künftig: SHSA). 250 Bernhard Lorentz verloren gehen."45 Daß auch einige „arische" Unternehmen, die zum Verkauf stan­ den, vom Vorstand in die Liste aufgenommen wurden, belegt, daß das Management die Transaktionen im Zuge der „Arisierung" schon zur geschäftlichen Normalität zählte. Klar ist auch, daß sich die Banken auf das, was im Januar/Februar 1938 eintrat, bereits seit längerem vorbereitet hatten und, daß es Vorarbeiten gab, die sich jetzt nutzen ließen. Die Zentrale der Deutschen Bank sorgte sich bereits Anfang Oktober 1935 - im unmittelbaren Anschluß an die Verabschiedung der Nürnberger Gesetze - um ihre Kredite an jüdische Unternehmen, da diese „in den vergangenen Monaten aus den bekannten Gründen von sehr bedeutenden Umsatzrückgängen betroffen" waren. Die Vorstandsmitglieder Otto Rösler und Kimmich wiesen die Filialen an, ökonomische Probleme dieser Kunden umgehend „dem zuständigen Gauwirt­ schaftsberater oder dem Gauleiter zu unterbreiten", und mahnten die „strengste Überwachung der speziell an unsere nichtarische Kundschaft hinausgelegten Kre­ dite" an, um Verluste zu vermeiden46. Ende 1935 fragte die Mannheimer Filiale der Deutschen Bank bei der Zentrale an, „ob es nicht zweckmäßig wäre, daß unsere Bank von jeder Filiale ein Verzeichnis der nichtarischen Firmen des in Frage kom­ menden Bezirks aufstellen läßt"47. Die Dresdner Bank ging im großen und ganzen ähnlich vor. Die Abwicklung der „Arisierung" wurde hier jedoch bankintern durch eine gesonderte Abteilung inner­ halb des Konsortialbereichs organisiert. Diese Variante allein ist noch kein Beleg für eine größere Beteiligung der Dresdner Bank, es gibt aber mehrere Hinweise auf ein frühes, vergleichsweise aggressives Wettbewerbsverhalten der Dresdner Bank bei „Arisierungen"48. Insgesamt wird im Vergleich deutlich, daß die Deutsche Bank - und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die Dresdner Bank - wesentlich früher auf die Geschäftsmöglichkeiten, die „Arisierungen" boten, reagierte als die Commerz­ bank. In der Zentrale des Branchenprimus antizipierte man die Richtung der Ent-

45 Kimmich und Rummel an die Direktoren unserer Filialen (Kopfstellen), Streng Vertraulich, 11.2. 1938, in: SSAL, Deutsche Bank, Filiale Leipzig, 623; Filialbüro Deutsche Bank an die Direktion unserer Filiale Leipzig, 25. 1. 1938, Vertraulich, in: Ebenda; Aktualisierungen der Listen und die Forcierung nach den Gesetzesinitiativen des Frühsommers, Filialbüro Deutsche Bank an die Direktion unserer Filialen (Kopfstellen) 11. 5. 1938, Streng Vertraulich, in: Ebenda. 46 Rösler und Kimmich an die Direktoren unserer Kopffilialen, 31. 10. 1935, in: Ebenda; Mosler und Wintermantel an die Direktoren unserer Kopffilialen, 5. 10. 1935, in: Ebenda. 47 Zit. bei James, Deutsche Bank, S. 348. 48 Vgl. Genschel, Verdrängung, S. 153 ff.; Kopper, Marktwirtschaft, S. 278 ff.; Hinweise für ein frühes Engagement von Teilen des Managements der Dresdner Bank finden sich auch in der Darstellung von Ludwig, Boykott, S. 15 ff. Ludwig arbeitet indessen ohne Quellenmaterial aus den Bankarchi­ ven. Ein bislang vollkommen vernachlässigter Aspekt der Forschung zur Rolle von Kreditinstitu­ ten bei der „Arisierung" sind die Sparkassen. Auch wenn die Integration der Sparkassen regional sehr unterschiedlich verlief und von Parteiverwaltung und Kommunalregierung abhängig war, ist es etwa in der Reichshauptstadt zu einer engen Kooperation der kommunalen Verwaltung und der Berliner Sparkasse und Stadtbank gekommen. Vgl. die Korrespondenz zwischen dem Stadtprä­ sident der Reichshauptstadt Berlin und dem Direktorium der Berliner Sparkasse und Stadtkasse, in: Landesarchiv Berlin, Rep. 219, Nr. 219. Die Commerzbank und die „Arisierung" im Altreich 251 wicklung, vielleicht war man auch skrupelloser. Die Deutsche Bank war deshalb zum Zeitpunkt des Einsetzens der forcierten „Arisierungswelle" Ende 1937/Anfang 1938 ebenso wie die Dresdner Bank besser vorbereitet als die Commerzbank, deren Konkurrenten zudem energischer reagierten. Das Verhalten der Commerzbank nach der Radikalisierung in der „Arisierungspolitik" läßt in seiner Eindeutigkeit indessen keinen Zweifel aufkommen: Die Commerzbank wollte den verlorenen Boden wie­ der gutmachen und konzentrierte sich dabei ohne erkennbare Zurückhaltung gewis­ sermaßen auf ihre Kernkompetenz: die Vermittlung und Koordination von „Arisie­ rungsgeschäften" auf der Grundlage eines ausgedehnten Filialnetzes49. Es ist anhand des vorliegenden Aktenmaterials nicht zu klären, weshalb die Com­ merzbank im Vergleich mit ihren Konkurrenten langsamer reagierte. Hatte dies organisatorische Gründe? Handelte es sich um Kalkül und Strategie? Es müssen jedenfalls bankinterne Gründe vorgelegen haben, ein Informationsrückstand ist nämlich so gut wie auszuschließen. Ihr Aufsichtsratsvorsitzender Reinhart war als Leiter der Wirtschaftsgruppe über die Vorstellungen der nationalsozialistischen Regierung hinsichtlich der „Judenpolitik" mindestens genauso früh im Bilde wie die Führungen der Deutschen und der Dresdner Bank50. In den Filialen der Commerzbank lösten die Anweisungen der Zentrale vom Februar 1938 hektische Betriebsamkeit aus. Unter den etwa 70 „Arisierungen" mit­ telständischer Unternehmen, die in den Kreditakten des untersuchten Samples behandelt werden, wiederholen sich einige Merkmale von zentraler Bedeutung, die sich für eine Typologisierung eignen. Nur wenige Wochen, nachdem das Schreiben des Vorstandes eingetroffen war, besuchten die zuständigen Prokuristen der schlesischen Filiale Lauban die jüdische mittelständische Taschentuchweberei Rund und stellten fest, diese gehöre „zu den wenigen [...] Webereien im hiesigen Bezirk, welche trotz der Kontingentierung [...] fortgesetzt die volle 48 Stunden Woche ihre Belegschaft beschäftigen können". Die zuständige Kopfstelle Görlitz genehmigte ebenso wie die zentrale Kreditabteilung in Berlin die Weiterführung der Kredite, nachdem der Bearbeiter versichert hatte, „dass wir zu der soliden Geschäftsführung unbedingtes Vertrauen haben"51. Im August 1938 kam der zuständige Angestellte erneut zu den Brüdern Rund, „um sich über ihre Zukunft zu unterrichten". Die jüdischen Unternehmer ließen den sichtlich besorgten Prokuristen wissen, „dass sie keinerlei Behinderung bei der Ausübung ihres Geschäftes erfahren hätten". Man verzeichnete sogar Umsatzsteigerungen infolge von Exportzuwächsen. Dennoch stellte der Bankangestellte fest: „Nach Lage der Dinge muß die Firma aber damit rechnen, dass sie zur ,Arisierung' angehalten

49 Marquardt und Schulze, Sekretariat der Filialen und Depositenkassen (SdF) „an unsere Geschäfts­ stellen", 12. 11. 1938, in: SHSA, Altbanken Dresden, Commerzbank Filiale Meissen, 3088. 50 Vgl. die Besprechungsberichte der Sitzungen des Centralverbandes (Wirtschaftsgruppe Privates Bankgewerbe) vom 19.9. 1939 und 27.9. 1939, in: BA, R 8127/15 543. Hier wird deutlich, daß Reinhart den Forderungen der nationalsozialistischen Regierung keineswegs ablehnend gegen­ überstand. 51 Kreditantrag vom 17. 3. 1938, Kreditakte Leopold Rund, Filiale Lauban, in: AACB. 252 Bernhard Lorentz wird. Die Herren sind sich nur noch nicht schlüssig darüber, ob sie die Dinge ihren Lauf nehmen lassen, oder die Überleitung des Unternehmens in arische Hände selbst in die Wege leiten sollen. [...] Ich habe für den Fall, dass die Firma sich für einen Verkauf entschliesst, unsere Vermittlung angeboten. Es ist wahrscheinlich, dass wir im Kreise unserer Kunden Interessenten für die Firma ohne Schwierigkeiten fin­ den werden."52 Die jüdischen Inhaber unternahmen jedoch zunächst nichts, und auch die Filiale wartete ab. Wenige Tage nach dem Novemberpogrom schrieb der offensichtlich über­ raschte Filialleiter an die Berliner Zentrale: „Die beiden nichtarischen Geschäftsführer der Firma befinden sich z.Zt. [sic!] in Schutzhaft." Der Bank war damit die Entwick­ lung aus der Hand genommen worden. Die Industrie- und Handelskammer Görlitz hatte bereits einen Treuhänder eingesetzt, dem die Brüder Rund jedoch nicht zuge­ stimmt hatten. Die Filiale der Bank verweigerte dem in ihren Augen illegalen Treu­ händer den Zugriff auf die Firmenkonten und wurde in dieser Rechtsauslegung des Devisengesetzes und der Rechtsverordnungen von der zentralen Rechtsabteilung in Berlin unterstützt53. Während die rechtlichen Fragen zunächst ungeklärt blieben, ver­ längerte die Filiale im Dezember den auslaufenden Akzeptkredit nicht mehr und bela­ stete das laufende Firmenkonto um den entsprechenden Betrag54. Die Laubaner folgten damit den Anweisungen der zentralen Kreditabteilung, die eine Woche zuvor, am 9. Dezember, in einem Rundschreiben an die Filialen gefor­ dert hatte: „Neue Kredite an Juden kommen überhaupt nicht mehr in Frage. Die vornotierten Kredite sind zu streichen und [...] abzuwickeln." Offensichtlich hatte es hinreichend Anlaß zu diesem energischen Schreiben gegeben, denn Berlin betonte: „[...] obwohl die vorgeschriebene Voraussetzung nicht erfüllt war, haben verschie­ dene unserer Geschäftsstellen ihre jüdische Kundschaft [...] weiter verfügen las­ sen"55. Einen Tag vor dieser einschneidenden Anweisung hatte der Vorstand auf der Sitzung des Arbeitsausschusses „über die Engagements der Bank mit jüdischen Fir­ men, die sich insgesamt auf ca. RM 20,8 Millionen neben RM 3 Millionen Avalver­ pflichtungen belaufen [berichtet]. Zum weitaus größten Teil sind die Kredite durch ausreichende Sicherheiten gedeckt. Gegen den ungedeckten Teilbetrag von RM 3,2 Millionen ist eine Rückstellung in Höhe von RM 2 Millionen vorhanden. Aus dem verbliebenen ungedeckten Betrag von 1,2 Millionen dürfte ein Verlust kaum zu erwarten sein." Angesichts eines Gesamtkreditvolumens von 1157 Millionen RM machten die Kredite an jüdische Unternehmen demnach etwa 2 Prozent aus56.

52 Aktennotiz vom 29. 8. 1938, in: Ebenda. 53 Die rechtsdogmatisch interessante Auslegung berief sich auf §37a Devisengesetz, wonach die zuständige Institution die Devisenstelle gewesen wäre. Auch die 1. VO zur Durchführung der VO über die Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben (RGBl. I 1938, S. 1642) treffe demnach nicht zu, da es sich um eine andere Unternehmensform handele. Vgl. Rechtsabtei­ lung an Filiale Lauban, 23. und 26. 11. 1938, Kreditakte Leopold Rund, Filiale Lauban, in: AACB. 54 Vgl. Filiale Lauban an Firma Leopold Rund, 20. 12. 1938, in: Ebenda. 55 Marquardt und Schulze, Commerzbank (SdF), an die Leitung unserer Filialen und Zweigstellen, 9. 12. 1938, in: SHSA, Altbanken Dresden, Commerzbank Filiale Kamenz, 2936. 56 122. Arbeitsausschußprotokoll, 8. 12. 1938, in: HAC, 1/188 II. Die Commerzbank und die „Arisierung" im Altreich 253 Die Geschwindigkeit der „Arisierung" im Altreich hing vor allem davon ab, wie groß der politische Druck in einer Branche oder einer Region war57. Eine wesentli­ che Rolle spielte neben diesen Faktoren das Verhalten einzelner Filialen. Dieses war oft von einer bemerkenswerten Selbständigkeit insbesondere im Kredit- und Ver­ mittlungsgeschäft geprägt, die zu heftigen Auseinandersetzungen mit den zuständi­ gen Zentralabteilungen des Konzerns führte. Im Vergleich wird deutlich, daß die regionalen Unterschiede im Verhalten der Filialen die „Ungleichzeitigkeit" der Ent­ wicklungen verstärkten. Es gab zurückhaltende Filialen, wie die in Lauban, und forsch vorpreschende, wobei letztere die ersteren in der Regel mitzogen. Gleichzei­ tig setzte zwischen einigen Filialen eine Form von Wettbewerb ein. Während die Laubaner Filiale im Fall Rund zunächst eher vorsichtig agierte und Kredite noch im Sommer 1938 verlängerte, hatte die Leipziger Filiale bereits in der zweiten Jahres­ hälfte 1935, nach den Boykotten jüdischer Textilgeschäfte in Leipzig, eindeutige Konsequenzen gezogen; sie stellte seitdem an „nichtarische" kreditsuchende Kunden besonders harte Sicherheitsanforderungen58. Wie groß die Bandbreite des Geschäftsverhaltens innerhalb der Bank war, wird auch am Fall des jüdischen Kaufhauses Conitzer & Co., das mehrere Geschäfte in der Umgebung von Stendal betrieb, deutlich. Bereits im Mai 1933 fiel es dem Kaufhaus schwer, den Forderungen der Bank nachzukommen, die Kredite zu reduzieren. „Die politischen Vorgänge der letzten Zeit haben, soweit sie sich gegen jüdische Unterneh­ mungen richteten," so vermerkte die Filiale, „sich auch bei der rubr. Firma nachteilig bemerkbar gemacht." „Da es sich jedoch um eine langjährige Geschäftsverbindung von uns handelt und der Inhaber uns als durchaus anständig und reell seit langem bekannt ist, möchten wir nicht allzu scharf auf die prompte Rückzahlung drängen."59 Im März 1934 fürchtete man in der Bank aufgrund der anhaltenden Auswirkungen der Boykotte einen Verlust des gesamten Kredites. Erst Anfang 1936 stabilisierte sich der Umsatz, weshalb die Bank keinen Grund für weitere Aktivitäten sah60. Ein anderes Conitzer-Kaufhaus, in Tangerhütte, hatte ähnliche Schwierigkeiten, doch die zuständige Zweigstelle konnte schon im Herbst 1933 berichten: „Das, was uns das Konto in der letzten Zeit etwas unsympathisch gemacht hatte, nämlich die Einschrumpfung der Umsätze, wird beseitigt"61. Man war sich sowohl in der Zweig­ stelle als auch in der übergeordneten Filiale Stendal sehr wohl bewußt, wie entschei­ dend es sei, „zu berücksichtigen, dass die Firma unter der heutigen rassenpolitischen Einstellung zu leiden hat, da die Inhaber Nichtarier sind"62. Als die zuständige

57 Vgl. Bajohr, „Arisierung", S. 9 ff. 58 HAC, SdF, Kreditakte J & G Feldmann (Leipzig), Commerzbank Filiale Leipzig. 59 Kreditantrag vom 18.5. 1933 und Bilanz per 31.12. 1933, Kreditakte Conitzer & Co., Tanger­ münde, Inh. Arthur Conitzer (1927-1936), in: Landesarchiv Magdeburg, Rep. I 105 Nr. 305, Com­ merzbank Filiale Stendal. Für den Hinweis auf diesen Fall danke ich Maren Janetzko. 60 Kreditantrag vom 15. 3. 1934, Bilanz per 31. 12. 1935, in: Ebenda. 61 Kreditantrag vom 24.7. 1934, Kreditakte Conitzer & Co., Tangerhütte, 1928-1941, in: Ebenda, Nr. 308. 62 Filiale Stendal an Zweigstelle Oebisfelde, 23. 8. 1934, in: Ebenda. 254 Bernhard Lorentz Zweigstelle Oebisfelde im August 1935 ohne Wissen der Filiale die Kredite des Kaufhauses kurzfristig kündigte, wandten sich die jüdischen Eigentümer an die Filiale Stendal, die - von dem Verhalten ihrer Zweigstelle offensichtlich überrascht - sofort nachfragte, warum die Zweigstelle trotz der prompten Zahlungen des jüdi­ schen Kunden die Kredite gekündigt habe63. Die Zweigstelle führte daraufhin an, „daß wir das rubr. Konto gekündigt haben im Hinblick auf den Kampf der NSDAP gegen das Judentum. Die Firma ist das einzige jüdische Geschäft hier am Platze, so daß ein weiterer Verkehr mit ihr nachteilige Rückwirkungen auf unser Geschäft haben könnte." Vertraulich ergänzte man, „daß das Geschäft der rubr. Firma hier fast tot ist"64. Als sich die Stendaler Filiale daraufhin selbst ein Bild machte, erfuhr sie von dem Kunden, daß die Geschäfte keineswegs schlecht gingen und vielmehr der zuständige Zweigstellenvorsteher der Bank in Oebisfelde „die treibende Kraft" gegen das jüdische Kaufhaus sei65. Hierauf übernahm die Filiale die Geschäftsbetreu­ ung und führte das Konto des Kaufhauses bis zu dessen „Arisierung" 1937; der Käu­ fer war übrigens ein Berliner Großhändler, der ebenfalls Kunde der Bank war66. Diese Fälle zeigen: Innerhalb der durch bestimmbare Rahmenbedingungen gesetz­ ten Grenzen, nämlich den Vorgaben der Zentrale, der Haltung der regionalen Partei­ institutionen und der ökonomischen Situation des jüdischen Betriebes, besaßen die Filialen bis zum Novemberpogrom offensichtlich erhebliche Handlungsspielräume. Viel hing von der individuellen Disposition der Filialleitung ab. Im Fall Conitzer gab der Zweigstellenleiter den Ausschlag, dessen Verhalten auf Antisemitismus oder zumindest auf ein außerordentliches Entgegenkommen gegenüber den Forderungen der NSDAP schließen läßt. Demgegenüber war man aber im mittleren Management der Bank nicht bereit, sein Geschäftsverhalten von einer ökonomischen Logik auf eine rassistische auszurichten. Diese These wird durch die übrigen Fälle des unter­ suchten Samples bestätigt. Allerdings wurden der Antisemitismus und seine Auswir­ kungen auf die Märkte und die Wettbewerbsfähigkeit der betroffenen jüdischen Unternehmen zu einem immer wichtigeren Kriterium, nach dem die Bank ihre Kun­ den beurteilte: Solange jüdische Unternehmen trotz der schikanösen Verfolgung im nationalsozialistischen Deutschland solvent waren, galten sie als kreditwürdige Kun­ den, danach nicht mehr. Die wirtschaftlichen Auswirkungen des Rassismus wurden

63 Conitzer, Tangerhütte, an Filiale Stendal, 30. 8. 1935, in: Ebenda. „Wie wir von der Firma Conitzer & Co., Tangerhütte, hören, haben Sie der Firma Conitzer & Co., Oebisfelde, den bisherigen Kre­ dit von RM 5.000.- gekündigt. Angeblich ist Herr Hirsch ein sehr prompter Zahler. Sie würden uns einen Gefallen erweisen, wenn Sie uns die Gründe der Kreditkündigung angeben wollten und zwar würden wir es begrüssen, wenn wir möglichst postwendend Aufschluss darüber bekom­ men könnten. Sind etwa die Verhältnisse beim Conitzer-Konzern schlechter geworden?" Filiale Stendal an Zweigstelle Oebisfelde, 31. 8. 1935, in: Ebenda. 64 Commerzbank Oebisfelde an Filiale Stendal, 2. 9. 1935, in: Ebenda. 65 Aktennotiz vom 6. 9. 1935, in: Ebenda. 66 „Die Boykottbewegung wirkt sich bei der Firma nur wenig aus; die Umsätze sind nach wie vor befriedigend; unsere Sicherstellung einwandfrei." Kreditantrag vom 23. 12. 1935, in: Ebenda; Com­ merzbank Osterburg an Commerzbank Stendal, 18. 10. 1937, in: Ebenda; Aktennotiz vom 25. ll. 1937, in: Ebenda. Die Commerzbank und die „Arisierung" im Altreich 255 somit gewissermaßen als Prämisse in die Geschäftsgrundlage des eigenen ökonomi­ schen Handelns integriert. Die ökonomische Logik hatte also ihre Grenzen, einen dauerhaften Schutz bot sie den jüdischen Kunden jedenfalls nicht. Auch in den Filialen Westsachsens setzte nach der Aufforderung der Zentrale vom Februar 1938, das Engagement im „Arisierungsbereich" zu erhöhen, eine umfangreiche Tätigkeit ein. In der Textilindustrie der Region, die eng mit dem Leip­ ziger, Dresdner und Berliner Konfektions- und Textilhandel verbunden war, hatte schon im zweiten Halbjahr 1937 ein tiefgreifender Wandel begonnen, der nun noch einmal forciert wurde. Die regionalen Betriebe, die traditionell einen starken Anteil jüdischer Unternehmen besaßen, waren - so oder so - ausnahmslos vom „Arisie­ rungsprozeß" betroffen. Die besondere Radikalität der Veränderungen in dieser Branche veranlaßte auch die Wirtschaftsgruppe dazu, im Februar 1938 in einem ver­ traulichen Rundschreiben an ihre Mitglieder darauf hinzuweisen, daß „im letzten Jahre eine nicht unerhebliche Anzahl jüdischer Großhändler auf dem Textilgebiet ihre Geschäfte aufgegeben haben und es ist damit zu rechnen, daß noch ein weiterer Abbau des jüdischen Textilgroßhandels [...] erfolgen wird." Gleichzeitig bot die zuständige Fachgruppe Textilien und Bekleidung den Banken den uneingeschränkten Zugang zu Brancheninterna und anderen Informationen an, über die sie verfügte67. Die Banken waren also gerüstet. Tatsächlich waren alle untersuchten Filialen spätestens seit 1937 in den „Arisie­ rungsprozeß" ihrer jüdischen Kunden involviert. Auch die nichtjüdischen Unterneh­ men der Textilbranche, die sich an den „Arisierungen" zunächst nicht beteiligten, gewannen zunehmend Wettbewerbsvorteile „gegenüber den in diesem Geschäfts­ zweig meistens jüdischen Firmen", wie die Filiale Görlitz in ihrem Bericht über eine mittelständische Felle- und Häutegroßhandlung schon Ende 1935 bemerkte. Das gleiche Unternehmen konnte schließlich von der endgültigen Liquidierung eines wichtigen regionalen jüdischen Konkurrenten 1939 erheblich profitieren68.

2. Alte Strukturen und neue Kunden: Informationen, Investitionen und „arische" Erwerber

Als Dr. Richard Ganss, angestellter Direktor einer mittelständischen Maschinenfa­ brik und langjähriger Kunde der Commerzbank, seiner Bank 1938 mitteilte, daß er sich „infolge der durch die Arisierungen gebotenen Möglichkeiten [...] entschlossen [habe], sich selbständig zu machen und [...] von dem Sapt-Konzern die Wattefabrik Breitenau GmbH [bei Chemnitz] zu einem außerordentlich günstigen Preis von 180.000 RM erworben" habe, war dies für die westsächsische Filiale Chemnitz der

67 Rundschreiben der Wirtschaftsgruppe Privates Bankgewebe „An unsere Mitglieder", 10.2. 1938 („1. Bankkredite an arische Textilunternehmen"). Vgl. allgemein Jakob Toury, Jüdische Textilun- ternehmer in Baden-Württemberg 1683-1938, Tübingen 1984. 68 Vgl. Filiale Görlitz an SdF, 14. 11. 1935, in: HAC, SdF, Kreditakte Firma Max Günzel, Filiale Gör­ litz. 256 Bernhard Lorentz Commerzbank zunächst ein alltäglicher Fall. Ganss wollte von seiner Bank einen Kredit über 100.000 RM für die Übernahme sowie weitere Kredite für die Betriebs­ mittel und die Lager69. Trotz eines sehr geringen Eigenkapitals bewilligte die Bank den Kredit, und sie fand in ihrem Kundenkreis auch einen investitionsbereiten stillen Teilhaber für Ganss. Die Filiale beriet den neuen Inhaber ferner bei Aus­ einandersetzungen mit den regionalen Behörden und Parteiinstanzen, vor allem in der Frage einer „Arisierungsabgabe" an den Staat. Schon wenige Monate nach der Übernahme stellte die Filiale fest, daß die finanzielle Entwicklung des Unter­ nehmens die Erwartungen noch übertroffen habe. Ganss wollte seine Gewinne gleich weiter investieren und interessierte sich schon im Januar 1940 für weitere günstige Anlageobjekte, „Arisierungen" wenn möglich70. Gleichzeitig suchte der Unternehmer, die Commerzbank bei den Rückzahlungsmodi für den ersten „Arisie­ rungskredit" unter Druck zu setzen und bezog sich dabei auf das angebliche Ange­ bot der konkurrierenden Regionalbank Bayer & Heinze. Auf den Protest des Commerzbank-Angestellten, man wisse, daß dieser Bank „seinerzeit der [...] ver­ langte Kredit, den wir bereitgestellt haben, zu hoch war", antwortete Ganss, er könne von einer Beteiligung Bayer & Heinzes nicht absehen, da „diese Bank ihm Breitenau zugeführt habe und im übrigen stets interessante Objekte [zur „Arisie­ rung"] an Hand habe". Für die Vermittlung der „Arisierung" der Fabrik in Breite­ nau hatte Bayer & Heinze eine Provision in Höhe von 3 Prozent des Kaufpreises erhalten71. Entsetzt schrieb der Chemnitzer Bankangestellte in einer Aktennotiz seiner Filialleitung, Ganss habe berichtet, die Konkurrenzbank hätte ihm unter ausdrücklichem Bezug auf die „Arisierungstätigkeit" der Commerzbank „erklärt, dass wir [die Commerzbank] gar nicht dazu in der Lage seien. Ich habe darauf erwidert, dass die Möglichkeit ehemals jüdische Geschäfte zu vermitteln, einmalig gewesen sei."72 Nach dieser Provokation bemühte sich die Chemnitzer Filiale, den Vorwürfen, keine „Arisierungsobjekte" anbieten zu können, entgegenzuwirken. Um das Interesse von Ganss nach weiteren Objekten zu stillen, schrieb die Filiale Chemnitz im Januar 1940 an die wenige Wochen zuvor eröffneten Commerzbank Filialen in Bielitz-Biala, Sosnowitz, Kattowitz, Bromberg, Krakau und Lodz im Generalgouvernement und dem Warthegau, um sich nach „Arisierungsprojekten" für Ganss zu erkundigen. Allerdings mußte sie ihrem investitionshungrigen Kunden schließlich mitteilen, daß sie nur wenige geeignete Objekte gefunden hatte. Daraufhin suchte die Filiale auf Aufforderung von Ganss im Elsaß, in Wien und auf eigene Initiative auch im Sudeten-

69 Kreditantrag Filiale Chemnitz, 8. 12. 1938, in: Ebenda. 70 Filiale Chemnitz an Zweigstellen Bielitz Biala und Sosnowitz, Filialen Kattowitz, Bromberg, Kra­ kau, Lodz und Posen, 20. 1. 1940, Kreditakte Ganss, in: SHSA, Altbanken Dresden, Commerz­ bank Filiale Chemnitz, A 4-21; Filiale an Ganss, 2.2. 1940, in: Ebenda; Aktennotiz Direktor Ganss vom 3. 12. 1938, in: Ebenda. 71 Aktennotiz Wattefabrik vom 28. 11. 1938, in: Ebenda. 72 Aktennotiz vom 19. 1. 1940, in: Ebenda. Die Commerzbank und die „Arisierung" im Altreich 257 gau und dem Protektorat Böhmen und Mähren; sie gab entsprechende Aufträge an die dortigen Filialen und machte Ganss schließlich auch Angebote73. Die Hauptcharakteristika des Falles Ganss lassen sich in nahezu allen anderen „Ari­ sierungsfällen" wiederfinden, in die die untersuchten Filialen involviert waren. Erstens handelte die Bank an Plätzen wie Chemnitz in einer Konkurrenzsituation zu kleine­ ren, sehr aggressiven Wettbewerbern wie Bayer & Heinze sowie zu den anderen gro­ ßen Banken, die dort vertreten waren. Neben der Dresdner Bank und der Deutschen Bank war dies in erster Linie die Allgemeine Deutsche Creditanstalt (ADCA). Gerade auch kleinere Banken nutzten den in manchen Regionen beträchtlichen Auftrieb, den das Kredit- und Vermittlungsgeschäft infolge der „Arisierung" nahm, dazu aus, ihre Geschäftstätigkeit auszuweiten. Die Leitungen dieser Häuser forderten ihre Filialen in diesem Sinne zum forcierten Handeln auf74. Dieses offensive Marktverhalten der „zweiten Reihe" der Wettbewerber einer Branche läßt sich auch in anderen Wirt­ schaftsbereichen beobachten, in denen es zu „Arisierungen" kam75. Zweitens wird die zentrale Kompetenz erkennbar, die im Wettbewerb oft ent­ scheidend war: die Fülle an Informationen über geeignete „Arisierungsobjekte". Mit den Beziehungen zu regionalen und überregionalen Institutionen wie Gau- und Kreiswirtschaftsberatern, Industrie- und Handelskammern, Regierungspräsidenten, Devisenstellen und dem Reichswirtschaftsministerium, die für die Arisierungsverfah­ ren maßgeblich waren, entwickelten sich diese „Marktkenntnisse" zu entscheidenden Wettbewerbsvorteilen. Es waren diese Netzwerkbeziehungen, die der Commerz­ bank mit ihrem überregionalen Aktionsradius gegenüber kleineren regionalen Kon­ kurrenten Vorteile brachten, die diese wiederum mit einem aggressiveren Marktver­ halten auszugleichen suchten. Marktbeobachtung und Netzwerkbeziehungen wur­ den in dem geschlossenen Informationssystem, das sich im Zuge der immer stärkeren Kontrolle durch die Diktatur entwickelte, ohnehin zunehmend wichtiger für ökonomischen Erfolg. Die Informationen, Kontakte und Kompetenzen, die die Banken bieten konnten, ergänzten ihr Angebot zur Finanzierung und bildeten für die Kreditinstitute, drit­ tens, eine hervorragende Möglichkeit einen quasi neuen Markt zu kreieren, auf dem sie sich mit einer ihrer traditionellen Kernkompetenzen, der Informationsbeschaf­ fung, präsentieren konnten76. In Anbetracht der 40.000 jüdischen Betriebe, die nach

73 Vgl. die umfangreiche Korrespondenz zwischen Ganss und der Filiale Chemnitz und der Filiale Chemnitz mit anderen Filialen im Jahre 1940, in: Ebenda. 74 Vgl. die diesbezüglichen Rundschreiben des Halleschen Bankvereins von Kulisch, Kaempf & Co. Halle an die Filialen. Schriftwechsel betr. Arisierung jüdischer Banken 1938, Hallescher Bankver­ ein von Kulisch, Kaempf & Co. Halle, in: Landesarchiv Magdeburg, Rep I 110 Nr. 360. 75 Vgl. die Beispiele der kleineren Wettbewerber bei Hayes, Big Business, S. 267. Mit Beispielen aus der Schwerindustrie vgl. Gregor Mollin, Montankonzerne und Drittes Reich. Der Gegensatz zwi­ schen Monopolindustrie und Befehlswirtschaft 1936-1944, Göttingen 1988, S. 153, 184, 156. 76 Den Begriff eines „Marktes" für „Arisierungen" benutzt schon Hilberg, Vernichtung, Bd. 1, S. 103. Für die Netzwerktheorie vgl. Jonathan Brown/Mary B. Rose (Hrsg.), Entrepreneurship, networks and modern business, Manchester 1993; Mark Casson, Entrepreneurship and business culture, in: Ebenda, S. 30-54; Hakan Hakansson/Jan Johanson, The network as a governance structure. Inter- 258 Bernhard Lorentz Angaben des zuständigen Referenten im Reichswirtschaftsministerium im April 1938 im Altreich noch existierten und die nach den Vorstellungen von Partei und Reichsregierung innerhalb kürzester Zeit „arisiert" werden sollten, wurde die Netz­ werkfunktion der Banken als Vermittler zwischen Erwerber und „Arisierungsob­ jekt" immer wichtiger77. Die jüdischen Opfer konnten diesen Prozeß zunehmend weniger beeinflussen. Dennoch bildeten die Banken, insbesondere wenn sie langfris­ tige Beziehungen zu ihnen pflegten, auch für sie einen Anlaufpunkt, wenn sie die „Arisierung" einleiten mußten. Während die Commerzbank die Interessen ihrer nichtjüdischen Kunden auch gegenüber den Forderungen des Staates energisch ver­ trat, ließ sie ihre jüdischen Kunden häufig im Stich. Aus Sicht der Bank zählten Juden immer weniger als Kunden78. Schließlich stellt das Problem des Verkaufspreises einen wichtigen Aspekt dar, um das Verhalten des Erwerbers und der Bank zu beurteilen. Es ist allerdings meistens außerordentlich schwierig, den „Marktwert" der arisierten Betriebe zu ermitteln, um ihn dem tatsächlich bezahlten gegenüber stellen zu können. Hier spielen zahlreiche Faktoren, die in jeder Branche und Region unterschiedlich waren, eine Rolle. Daß die Bank in nahezu allen untersuchten Fällen, bei denen sie „Arisierungskredite" vergab, den besonders „günstigen" Charakter des Kaufes hervorhob, der sie regel­ mäßig zu einer Kreditvergabe veranlaßte, verweist jedoch auf die außerordentliche Profitabilität der Geschäfte. Vergleicht man die Großbanken in ihrer Funktion als Nutzer und Anbieter von Netzwerkbeziehungen, werden Unterschiede in den untersuchten Regionen offen­ bar. Während beispielsweise die Commerzbank Filiale Chemnitz nur selten die unmittelbaren Kontakte der Leipziger Großfiliale zu Parteiinstitutionen nutzen konnte, unterhielt die Chemnitzer Zweigstelle der Dresdner Bank enge Beziehungen zum dortigen Kreiswirtschaftsberater79. Auf dem Höhepunkt der regionalen „Arisie­ rungswelle" im Juli 1938 wurde die Filialleitung der Dresdner Bank von dem Kreis­ wirtschaftsberater der NSDAP detailliert über die „Richtlinien bei der Arisierung nichtarischer Firmen" unterrichtet80. Sie war damit gegenüber der äußerst bemühten Chemnitzer Filiale der Commerzbank im Vorteil, die dem nichts entgegenzusetzen hatte. Auch die zentrale „Arisierungsabteilung" der Dresdner Bank verfügte über ausgezeichnete Kontakte zum „Judenreferat" im Reichswirtschaftsministerium. Dort wurde der Abteilungsleiter der Bank, Paul Binder, schon im Mai 1938 vertraulich über die Genehmigungsgrundsätze bei „Arisierungsverfahren" und die Absicht des

firm Cooperation beyond markets and hierarchies, in: Gernot Grabber (Hrsg.), The embedded firm, London 1993, S. 35-51. 77 Vgl. Barkai, Schicksalsjahr, S. 96. 78 Vgl. Hilberg, Bd. 1, Vernichtung; Friedländer, Das Dritte Reich. 79 Die Leipziger Filiale verfügte mehrfach über interne Informationen durch einen ihrer Mitarbeiter „der über sehr gute Beziehungen bis zum Herrn Gauleiter Mutschmann verfügt". Commerzbank Rechtsabteilung Sachsen (Filiale Leipzig) an zentrale Kreditabteilung II (Berlin), 18.7. 1941, in: SHSA, Altbanken Dresden, Commerzbank Filiale Chemnitz, 6219. 80 Aktennotiz betr. Richtlinien bei der Arisierung nichtarischer Firmen, 19. 7. 1938, in: SHSA, Alt­ banken Dresden, Dresdner Bank Filiale Chemnitz, A 8 155. Die Commerzbank und die „Arisierung" im Altreich 259 Ministeriums, „innerhalb einer nicht allzu langen Frist sämtliche nichtarischen Geschäfte entweder in arische Hände zu überführen oder zu liquidieren", infor­ miert. Der zuständige Regierungsrat Gotthardt sicherte Binder für die Verfahren wohlwollende Unterstützung gegenüber regionalen Parteibehörden, Hilfe bei der Wiedererhöhung der Rohstoffkontingente für „arisierte" Unternehmen und Beistand für den Fall zu, daß die Bank mit der Forderung konfrontiert würde, Teile ihrer „Arisierungsgewinne" an den Staat abzuführen81. Daraus schloß Binder, daß man sich an die regionalen Parteiinstitutionen halten müsse, und gab diesbezügliche Anweisungen an die Filialen. Auch Filialen und Tochterbanken in den besetzten Gebieten wandten sich wiederholt an den Vorstand der Dresdner Bank, um Wettbe- werbsvorteile im „Arisierungswettlauf" zu erhalten82. Die engen Beziehungen zu regionalen Bewirtschaftungsinstitutionen wie dem Gau- oder Kreiswirtschaftsberater verschafften auch der Filiale der Deutschen Bank in Görlitz einen entscheidenden Vorsprung gegenüber der Konkurrenz. Bei der „Arisierung" der Strumpffabrik Milchner KG konnte sie den jüdischen Eigentümer mit dem Hinweis beeindrucken, daß „der Preis des Objektes vom Gauwirtschaftsbe­ rater gutgeheissen werden müsse" und „die Filiale Görlitz im Hinblick auf ihre nahen Beziehungen zum Gauwirtschaftsberater [...] die Möglichkeit [habe], vermit­ telnd einzugreifen". Darüber hinaus habe die Deutsche Bank aufgrund ihres dichten Filialnetzes in Schlesien die besten Aussichten, Interessenten zu finden. Mit diesen Argumenten setzte sie sich gegenüber den konkurrierenden Banken durch. Obwohl der jüdische Betrieb seine Hauptbankverbindung nicht bei der Deutschen Bank hatte, erhielt sie den Auftrag zur Durchführung der „Arisierung" von dem jüdischen Eigentümer. Gegenüber den Kaufinteressenten warb die Bank mit den gleichen Argumenten und sagte ihnen zu, bei den gauamtlichen Stellen die Chancen einer Übernahme auszuloten. Auch hier konnte die Bank mit ihren Beziehungen überzeu­ gen83. Daß dies kein Einzelfall war, zeigt die Freundschaft zwischen dem Gauwirt­ schaftsberater in Breslau und dem dort zuständigen Abteilungsdirektor der Filiale der Deutschen Bank, die zu einer - gemessen am Marktanteil der Filiale - überra­ genden Beteiligung der Filiale an der „Arisierung" des regional starken Konfektions­ handels führte84. Es ließen sich zahlreiche weitere Beispiele nennen, die die Bedeutung der Netz­ werkfunktion der Banken im Prozeß der gewerblichen „Arisierung" belegen und gleichzeitig dokumentieren, wie attraktiv dieses Angebot für die Käufer war. So schlugen Filialen der Commerzbank von sich aus Unternehmenskunden, deren

81 Vgl. Kopper, Marktwirtschaft, S. 279. 82 Genschel, Verdrängung, S. 159; Korrespondenz Böhmische Escompte-Bank mit Vorstand der Dresdner Bank in Berlin, in: BA, Dok K 630/3. 83 Aktenvermerk Görlitzer Strumpffabrik, Milchner vom 11. 8. 1938, in: SHSA, Altbanken Dresden, Deutsche Bank Filiale Görlitz 3923; Aktennotiz vom 1.9. 1938, in: Ebenda; zum Fall der Görlitzer Strumpffabrik Milchner vgl. auch die Berichte in: NARA II, OMGUS-FINAD, RG 260, box 194. 84 Vgl. Berichte über die „Arisierung" in Breslau o. D., in: Ebenda; zur Vergleichsperspektive vgl. HAC, SdF, Kreditakten, Filiale Breslau. 260 Bernhard Lorentz finanzielle Lage ihres Erachtens Investitionen zuließ, Übernahmen jüdischer Betriebe vor und boten gleichzeitig geeignete Objekte an. Außerdem hatten die Berater in den Filialen der Bank bei „Arisierungsangeboten" immer im Blick, ob die Neuerwerbung zum alten Betrieb paßte und ob sich aus einer Akquisition spezifi­ sche Synergieeffekte und neue Expansionsmöglichkeiten für die Käufer ergaben85. Das gilt sowohl für die „Arisierungen" im Altreich als auch für die Übernahmen in den besetzten und eingegliederten Gebieten. In Fällen, in denen Kunden der Com­ merzbank größere Forderungen an jüdische Firmen besaßen, die von der Bank als unsicher eingestuft wurden, wies sie darüber hinaus die Betroffenen darauf hin, die Außenstände bei der Hermes Kreditversicherungs AG versichern zu lassen86. Auf­ grund dieser Informationen konnten nichtjüdische Geschäftskunden häufig großen Nutzen aus einer engen Kooperation mit ihrer Bank ziehen. Systematisch lassen sich die gewerblichen „Arisierungsvorgänge" in den unter­ suchten Filialen im wesentlichen in vier Kategorien typologisieren: 1. Ein langjähriger jüdischer Kunde der Bank war zur „Arisierung" gezwungen, so wie es etwa bei der Firma Rund gewesen war. Hier ging es der Bank in erster Linie darum, keine offenen Außenstände zu verlieren und das „Arisierungsver­ fahren" möglichst frühzeitig zu kontrollieren, um Einfluß auf die Auswahl des Erwerbers nehmen zu können. Daraufhin bemühte man sich, einen Kunden der Bank für das Geschäft zu interessieren; wenn dies nicht gelang, versuchte die Bank, einen „externen" Erwerber ausfindig zu machen und diesen als neuen Geschäftskunden zu gewinnen, um so die finanziellen Verpflichtungen des „ari- sierten" Betriebes auf ihn zu übertragen. Es ist nicht auszuschließen, daß die Bank in manchen Fällen, insbesondere wenn sie zu einem frühen Zeitpunkt statt­ fanden, bemüht war, den Schaden für ihre langjährigen jüdischen Kunden zu begrenzen, indem sie einen vergleichsweise „fairen" Preis vermittelte oder die Betroffenen bei der immer schwierigeren Überführung ihrer Vermögen in das Ausland unterstützte. Da ein solches Verhalten sehr riskant war und die Bankan­ gestellten überdies Denunziationen fürchten mußten, ist es mit den internen Akten schwer zu belegen. Dies mag ein Grund sein, daß sich in den hier unter­ suchten Quellen keinerlei Hinweise auf solche Aktivitäten der Banken fanden.

85 Aufschlußreich ist der Bericht eines Angestellten über ein Gespräch mit einer liquiden Firma: „Auf meine Frage nach einer geschäftlichen Orientierung nach den angegliederten Ostgebieten wurde mir erklärt, daß diesbezüglich Schritte im Gange wären. [...] Ich habe die Herren auf unsere Industrie-Abteilung aufmerksam gemacht und angeboten, die Bestrebungen der Firma [nach Expansion im Osten] durch dieselbe unterstützen zu lassen." Vgl. Aktennotiz über den Besuch bei Firma Hermann Schubert, Textilwerke Zittau, 17. 12. 1942, Filiale Chemnitz, in: HAC, SdF; Filiale Chemnitz an Zentrale (Direktionssekretariat) betr. Verflechtungsgeschäfte in Holland, 29.3. 1941, in: SHSA, Altbanken Dresden, Commerzbank Filiale Chemnitz, A 4/01/10; Commerzbank Zentrale an unsere sämtlichen Geschäftsstellen betr. Verflechtungsgeschäfte, Auf­ tragsverlagerung nach Holland, 26. 3. 1941, in: Ebenda. 86 Kreditantrag Otto Pabst o.D. [Februar 1938], in: HAC, SdF, Kreditakte Pabst, Filiale Plauen, Zweigstelle Elsterberg. Die Commerzbank und die „Arisierung" im Altreich 261 2. Wenn, wie im Falle Conitzer, ausschließlich Kunden der Bank an der „Arisie­ rung" beteiligt waren, handelte es sich - aus der Perspektive der Bank - um einen „Optimalfall". Hier fiel es der Bank leicht, das gesamte Geschäft inklusive Provi­ sionen auf sich zu konzentrieren. 3. Anders lagen die Dinge, wenn weder der zu „arisierende" Betrieb noch der Erwerber Kunden der Bank waren, diese aber dennoch einen Vermittlungsauftrag erhielt oder um einen Kredit gebeten wurde. In diesen Fällen war die Bank meis­ tens gezwungen, die Sicherheits- und Provisionsanforderungen für die Kredite erheblich zu senken, um ins Geschäft zu kommen. Hier ergab sich oft auch ein Problem der Informationsbeschaffung. 4. Die Bank bot aus eigener Initiative ihren Kunden „Arisierungsobjekte" an und motivierte diese damit gewissermaßen zum „Arisieren". Dieses Geschäftsgebaren legten nicht nur Filialen in den besetzten und eingegliederten Gebieten an den Tag, die Bankkunden im Altreich zu ihrem Glück verhelfen wollten. Auch Filia­ len im Altreich machten ihre Kunden auf die „Arisierungsmöglichkeiten" in den annektierten oder besetzten Gebieten aufmerksam. Diese Vermittlungstätigkeit ist ein bislang vernachlässigter, aber wichtiger Aspekt der strategischen Expansion deutscher Großbanken im Dritten Reich. Mehrfach boten sächsische und schlesi- sche Filialen der Commerzbank ihren Kunden geeignete Objekte in den ehemali­ gen tschechischen, österreichischen oder polnischen Gebieten zum günstigen Erwerb an. Ähnliche Vorgänge lassen sich auch für den Westen nachweisen. Im Vergleich wird deutlich, daß solche Angebote keineswegs nur die Commerzbank machte, auch bei den anderen Großbanken und der ADCA befleißigte man sich dieser Praktiken. Aufgrund ihrer stärkeren Stellung außerhalb des Altreichs waren die diesbezüglichen Aktivitäten von Dresdner und Deutscher Bank sogar insgesamt wesentlich umfangreicher als die der Commerzbank87. Insbesondere die „Arisierung" der sudetendeutschen Wirtschaft war wegen der regionalen Nähe und der engen ökonomischen Verflechtung der beiden Regionen für die schlesische und sächsische mittelständische Wirtschaft sehr attraktiv. Beson­ dere Abschreibungsmöglichkeiten machten die meist ohnehin schon günstigen Angebote noch reizvoller. Die Commerzbank baute in Leipzig extra eine regionale Vermittlungsstelle aus, die sich, neben der Rechtsabteilung in Dresden und der zen­ tralen Kredit- und Industrieabteilung in Berlin, mit den das sudetendeutsche Wirt­ schaftsgebiet betreffenden Fragen befaßte und die Filialen beriet88. Während die regional gut vernetzten Filialen des Altreichs und des Sudetengaus „Arisierungsob­ jekte" und potentielle Erwerber zusammenbrachten, war die Berliner Kredit- und Industrieabteilung bemüht, die Vermittlungstätigkeit zu zentralisieren und die ent­ sprechenden Angebote und Nachfragen über ihr Mitteilungsblatt an alle Filialen

87 Deutsche Bank Filiale Siegen an Modehaus Neumann & Co., zu Hd. Herrn Grünler Chemnitz, 23. 1. 1941, in: HAC, SdF, Kreditakte Grünler, Filiale Chemnitz; Mitteilungsblätter der Dresdner Bank, in: SHSA, Altbanken Dresden, Dresdner Bank Filiale Kattowitz, 6503. 88 Vgl. Zentrale an Filiale Crimmitschau, 24.3. 1939, „Arisierungsanfragen", Filiale Crimmitschau, in: AACB. 262 Bernhard Lorentz weiterzugeben, damit diese die am besten geeigneten Investoren für ein Objekt fin­ den konnten. Das Mitteilungsblatt füllte sich, nach vereinzelten Meldungen für das Altreich zwischen 1933 und 1937, ab 1938 mit Angeboten wie: „zu verkaufen ist aus nichtarischem Besitz eine in Mitteldeutschland seit rund 70 Jahren bestehende Papierfabrik mit 70 Gefolgschaftsmitgliedern und einem Umsatz von RM 630.000 [...] erforderliches Kapital zur Übernahme etwa 400-500 TRM [Tausend RM], Grundstücke können mit erworben werden"89. Die Provisionen, die die Commerz­ bank für die Vermittlung von „Arisierungsobjekten" im Sudetengau kassierte, lagen bei 3 Prozent des Verkaufspreises und entsprachen damit denen im Altreich90. Bevor ein avisiertes Objekt oder die Anfrage eines investitionsbereiten Kunden in die reichsweit versandten Mitteilungsblätter aufgenommen wurde, prüfte die Zentrale der Bank die ökonomischen Daten des Objektes und die Solvenz des Kaufinteres­ senten, so daß nur realistische Angebote und Nachfragen erschienen91. Diese Zentra­ lisierung der Informationen in der Berliner Kredit- und Industrieabteilung spielte bei der optimalen Nutzung der Netzwerkbeziehungen sowohl im Hinblick auf die Vermittlung von „Arisierungsobjekten" als auch bei der Weitergabe allgemeiner Marktinformationen eine entscheidende Rolle.

3. Der Staat, die Banken und das Finanzierungsproblem 1938

Auch die Leitung der Commerzbank war 1938 mehrmals mit Abwicklungsproble­ men bei der „Arisierung" befaßt. Wie Reichswirtschaftsminister Walther Funk sei­ nen alliierten Befragern nach 1945 mitteilte, war die zuständige Hauptabteilung sei­ nes Ministeriums 1938 vollkommen ratlos, wie man die „Arisierung" des immensen jüdischen gewerblichen Eigentums bewältigen sollte92. Das Reichswirtschaftsministe­ rium hatte im April 1938 die Situation analysiert und festgestellt, „daß man heute

89 Für den Reichsgau Sudetenland lauteten die Angebote ähnlich: „Ein im Sudetengau ansässiges Unternehmen, [...] sucht zwecks Arisierung einen tätigen Teilhaber aufzunehmen. Erforderliches Kapital 25 TRM." Mitteilungsblätter Wuppertal, 13. 1. 1939, in: HAC, 1/631. Deutlich wird die logistische Überlegenheit der Deutschen Bank bei der „Arisierung" im Sudetengau in den detail­ lierten Informationen für die Filialen und am Beispiel der überragenden Netzwerkbeziehungen der von der Deutschen Bank übernommenen Böhmischen Union-Bank AG. Vgl. Überblick über die Industrie des Sudetenlandes 1938, in: SHSA, Altbanken Dresden, Deutsche Bank Filiale Dres­ den, 543; Überblick über die Industrie des Sudetenlandes 1939, in: SHSA, Altbanken Dresden, Deutsche Bank Filiale Görlitz, 543. 90 Commerzbank Filiale Chemnitz an Generalkonsul Greiling, 21.6. 1941, in: SHSA, Altbanken Dresden, Commerzbank Filiale Chemnitz, 43. Vgl. zur Rolle der Provisionen beim Vermittlungs­ geschäft auch: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärge­ richtshof in Nürnberg, 14. November 1945 bis 1. Oktober 1946, Bd. XXVIII, Nürnberg 1948, Dok. 1757-PS, S. 55-234. 91 Vgl. beispielsweise die Rückfrage der Kreditabteilung an die Filiale im Falle der Strumpffabrik Geyer: „Bevor wir unsere Zustimmung zu einer Veröffentlichung dieses Gesuches [um ein Arisie­ rungsobjekt] im Nachrichtenblatt geben, bitten wir Sie, uns anzugeben, woher die Rubr. die für eine solche Beteiligung erforderlichen Mittel beschaffen will." Zentrale Kreditabteilung (SdF) an Filiale Annaberg, 26. 6. 1939, in: HAC, SdF, Filiale Annaberg. 92 Aussage Funk o. D., in: NARA II, OMGUS-FINAD, RG 260, box 207. Die Commerzbank und die „Arisierung" im Altreich 263 noch von dem erstrebten Ziel einer völligen Arisierung der Wirtschaft weit entfernt" sei. Als Haupthinderungsgrund wurde das Investitionskapital identifiziert, an dem es den in genügender Zahl vorhandenen „arischen" Kaufwilligen mangele. Der For­ derung „von der Partei und den beteiligten Wirtschaftskreisen [...], Mittel der öffentlichen Hand für die Erleichterung der Arisierung jüdischer Geschäfte bereit­ zustellen, kann sich [...] die Reichsregierung nicht verschließen". Oberregierungsrat Kohler schlug vor, eine Bank mit der Verteilung der subventionierten Kredite in einer Gesamthöhe von zunächst 200 Millionen RM zu beauftragen, ohne allerdings einen konkreten Vorschlag für eine Bank zu machen93. Wie ratlos man war, zeigte sich auch in einer interministeriellen Besprechung am 20. Juli 1938, in der ebenfalls keine Lösung gefunden werden konnte94. Man bat daher einige Vertreter der Groß­ banken, namentlich Carl Goetz (Dresdner Bank), Karl Kimmich (Deutsche Bank) und Fritz Reinhart (Commerzbank), um Rat, wie dem Willen des Stellvertreters des Führers, daß „der Rechtsbegriff des privaten Eigentums bei allen diesen Maßnahmen [der Arisierung], soweit irgend möglich, nicht allgemein Schaden leide", und dem Verständnis des Wirtschaftsministeriums von möglichst „legalen" Maßnahmen Rech­ nung getragen werden könne95. Verschärft wurde diese Situation als Hermann Göring und die Vierjahresplanbehörde im August 1938 eine Forcierung der „Arisie­ rung" forderten.96 Nachdem im Frühsommer 1938 zunächst der Aufsichtsratsvorsitzende der Dresd­ ner Bank, Carl Goetz, um ein Gutachten zu dieser Problematik gebeten worden war, sollten die Banken noch intensiver in die Beratungen einbezogen werden. Bei einem bilateralen Treffen der beiden Marktführer lehnte aber Kimmich den Plan von Goetz zur Errichtung einer gemeinsamen Holdinggesellschaft, die das gesamte jüdi­ sche Aktienkapital übernehmen sollte, um es dann auf dem Kapitalmarkt zu plazie­ ren, als „zu spektakulär und gefährlich für den Auslandskredit" ab. Auch Reichs­ bankpräsident Hjalmar Schacht erteilte den Holdingplänen eine Absage, während Kimmichs Gegenvorschlag, ein Konsortium unter Führung einer halbstaatlichen Bank ins Leben zu rufen, schon im Vorstand der Deutschen Bank auf Widerstand gestoßen war97. Am 2. September fand schließlich eine Besprechung der drei einflußreichsten deut­ schen Banker, Goetz, Kimmich und Reinhart, mit dem Reichsfinanzministerium und dem Reichswirtschaftsministerium statt. Es ging um die Frage eines reichsver­ bürgten Konsortialkredits für die „Arisierung" jüdischer Unternehmen. Darauf angesprochen, erklärten „die drei Banken übereinstimmend, daß sie angesichts der gegenwärtigen außenpolitischen und finanziellen Situation nicht in der Lage seien,

93 Kohler (Reichswirtschaftsministerium) an Reichsfinanzministerium, 12.4. 1938, in: BA, R 3101/ 15 515. 94 Vermerk über interministerielle Beratung, 20. 7. 1938, in: Ebenda. 95 Ebenda. 96 Göring (Beauftragter für den Vierjahresplan) an Reichswirtschaftsministerium, 10. 8. 1938, in: Son- derarchiv Moskau, 1458 -1-38. 97 Vgl. Kopper, Marktwirtschaft, S. 275 ff.; Genschel, Verdrängung, S. 166 ff. 264 Bernhard Lorentz sich an einem derartigen Kredit zu beteiligen." Die Antwort der Banken lautete: „Die Banken schlugen dagegen vor, die Arisierung jüdischer Betriebe über die Wirt- schaftsgruppen evtl. unter Beteiligung des Reichs zu finanzieren"98. Eine Interven­ tion des Staates bei der offensichtlich notwendigen Kreditausdehnung für „Arisie­ rungen" anzuregen, war insofern bemerkenswert, als sich die Großbanken ansonsten um weitestgehende Autonomie im Kreditgeschäft bemühten und staatliche Institu­ tionen daran nicht beteiligen wollten. Offensichtlich waren die Banken nicht bereit, die Anforderungen an Kredite noch weiter zu reduzieren, um auf dem Höhepunkt der gewerblichen „Arisierung" auch Käufern mit geringen Sicherheiten und wenig Eigenkapital einen Kauf zu ermöglichen; hier war ihnen das Risiko einfach zu hoch. Die gemeinsamen Überlegungen der Ministerien und der Großbanken wurden von der Radikalisierung der staatlichen Judenpolitik nach dem Novemberpogrom zunichte gemacht. Anders als in den besetzten und eingegliederten Gebiete, wo die diskutierten Vorstellungen teilweise Anwendung fanden, kamen sie in der letzten Phase der „Arisierung" im Altreich nicht mehr zum Tragen. Funk selbst schilderte, daß die Realisierung der Pläne nicht mehr zustande kam, „da mitten in die Beratun­ gen hinein die Parteiaktion des 9. November 1938 kam, die alles vollständig über den Haufen warf"99. Daß die Bereitstellung von Investitionskapital zur Durchführung der „Arisierung" für die Banken 1938 zum Problem wurde, zeigte sich nicht nur in den ministeriellen Beratungen. Im Kern ging es um die Frage, ob die Banken bereit waren, die Anfor­ derungen an Sicherheiten bei „Arisierungskrediten" für die zunehmende Zahl von Erwerbern mit immer geringerem Eigenkapital zu senken. Die Banken waren hier beträchtlichem Druck ausgesetzt. So klagte der Stellvertreter des Führers im November 1938 beim Reichswirtschaftsminister, „daß die Banken es teilweise ableh­ nen, den deutschen Erwerbern jüdischer Geschäfte die Kredite einzuräumen, die sie vorher dem jüdischen Besitzer gewährt haben", und „daß derartige Maßnahmen die Durchführung der Entjudung erheblich erschweren". Drohend verwies Rudolf Heß darauf, die Banken „haben hierbei die Gelegenheit, im Interesse der Allgemeinheit besondere Aufgaben zu erfüllen und können den Kreisen, die ihre Daseinsberechti­ gung mitunter in Zweifel ziehen, damit beweisen, daß sie im Interesse der deutschen Volkswirtschaft daseinsnotwendig sind". Daß diese Drohung und die Aufforderung zu mehr Großzügigkeit bei der Vergabe von „Arisierungskrediten" vom Reichswirt­ schaftsminister über die Wirtschaftsgruppe an die Banken weitergegeben wurde, beweist einmal mehr die entscheidende Vermittlungsfunktion der Wirtschafts- gruppe100. In seinem wohlwollenden Brief an die Reichsgruppe Banken forderte der zuständige Referent der Kreditabteilung des Wirtschaftsministeriums dazu auf, „bei

98 Das Protokoll dieser Sitzung ist in den Unterlagen der Abteilung IV im Bestand Reichswirtschafts­ ministerium im Sonderarchiv Moskau überliefen. Reichswirtschaftsministerium, Abteilung IV, an die drei Banken, 29. 8. 1938, in: Sonderarchiv Moskau, 1458-1-38. 99 Aussage Funk o. D., in: NARA II, OMGUS-FINAD, RG 260, box 207; für die Entwicklung in Österreich vgl. Friedländer, Das Dritte Reich, S. 262 ff. 100 Stellvertreter des Führers an Reichswirtschaftsministerium, 7. ll. 1938, in: BA, R 3101/15 515. Die Commerzbank und die „Arisierung" im Altreich 265 der Kreditgewährung an die Erwerber jüdischer Geschäfte so großzügig zu verfah­ ren, wie dies mit den bewährten Grundsätzen einer soliden Bankführung irgendwie noch vereinbar ist"101. Auch die Wirtschaftsgruppe Privates Bankgewerbe und die Fachgruppe Textilien wandten sich wegen des Kreditbedarfs bei der „Arisierung" der Textilindustrie an die Banken und legten ihnen nahe, die „Ausdehnung der [ari­ schen] Geschäfte" mit großzügigen Krediten zu fördern, „auch wenn nicht immer die sonst von den Banken geforderten Sicherheiten gestellt werden können"102. Das Problem, daß potentielle Käufer ein zu geringes Investitionskapital hatten und Ban­ ken dadurch bei beantragten „Arisierungskrediten" oft vor der Frage standen, den Kredit zu verweigern oder ihre normalen Sicherheitsanforderungen zu reduzieren, stand insbesondere im Jahr 1938 auf der Tagesordnung. Angesichts des harten Wett­ bewerbs und des Drucks von Partei und Staat wurden dabei die seriösen Sicherheits­ standards immer wieder unterschritten. Die in der Branche führende Zeitschrift hatte zu diesem Thema bereits im März 1938 geschrieben, daß angesichts der Möglichkeiten für „Geschäftsgründungen" und „Selbständigmachung" „in der Öffentlichkeit die Forderung aufgetaucht und mehr oder weniger zustimmend behandelt worden [sei], daß Kreditinstitute sich für diesen Zweck zur Verfügung stellen sollen". Ziel der öffentlichen Forderungen sei es, so die Zeitschrift, „die Arisierung zu fördern" und dafür zu sorgen, daß nicht nur Großkonzerne davon profitierten sondern auch Kleinbetriebe. Unter Berufung auf der Deutschen Arbeitsfront nahestehende Bankkreise und die „Deutsche Sparkas­ senzeitung" argumentierte der Artikel dennoch vorsichtig: „Bankgeld dürfe nicht ganz oder größtenteils an die Stelle des Eigenkapitals des Unternehmers treten." Auch dieser Artikel sprach also den Konflikt an, daß es oft ungenügend qualifizierte und insolvente Interessenten waren, die in der heißen Phase der „Arisierung" ver­ suchten, auf Pump günstige Angebote zu erwerben. Eine solche „Arisierung auf Kredit" sei abzulehnen, mahnte das Fachorgan und schloß mit dem Argument, „daß eine Ersetzung unerwünschter Unternehmer durch schwache Unternehmer keine Bereinigung ist"103. Welche Bedeutung diese Fragen im Sommer 1938 erreichten, wird auch an der Diskussion auf dem deutschen Bankiertag deutlich, der sich inten­ siv damit beschäftigte104. Sie scheinen auch in der Korrespondenz zwischen den Filialen der Commerzbank, die sich wie in Chemnitz bei der „Arisierung" stark engagierten, und der zurückhaltenden Zentrale auf. Die Filialen, so zeigte sich auch hier, waren näher an den Kunden und neigten nicht zuletzt aus Profilierungsgründen dazu, Kredite großzügiger zu vergeben als die zentrale Kreditabteilung, die wohl auch dem öffentlichen Erwartungsdruck weniger ausgesetzt war.

101 Reichswirtschaftsministerium (Kohler) an Reichsgruppe Banken, 12. 12. 1938, in: Ebenda. 102 Mitteilungsblatt Wirtschaftsgruppe Privates Bankgewerbe „An unsere Mitglieder" 10. 2. 1938 („1. Bankkredite an arische Textilunternehmen"). 103 „Arisierung auf Kredit?", in: Die Bank 31 (1938), Heft 9, 2. 3. 1938. 104 Vgl. etwa die Rede von Sippel auf dem Allgemeinen Deutschen Bankiertag, in: Allgemeiner Deut­ scher Bankiertag 1938, S. 59 ff. 266 Bernhard Lorentz Im Konflikt zwischen den Banken und den Vertretern von Staat und Partei ging es um die Senkung der Kreditkriterien und damit in erster Linie um eine weitere Politi­ sierung des Wettbewerbs. Ein generelles Nachgeben der Banken in diesen Auseinan­ dersetzungen hätte zu einer Politisierung des Marktverhaltens der Banken geführt, während ökonomische Kriterien mißachtet worden wären. Die Führung der Com­ merzbank ließ sich darauf nur in Ausnahmefällen ein und in diesen Fällen war es - soweit dies erkennbar ist - eher die Wettbewerbssituation als politische oder ideologi­ sche Motive, die die Entscheidungen begründete. Tatsächlich waren die meist langfri­ stigen „Arisierungskredite" zur Übernahmen von Betrieben ökonomisch nur deshalb interessant, weil angesichts der strengen Kreditregulierung durch den Staat andere Kreditmöglichkeiten immer seltener wurden. Die Gewinne aus den Vermittlungspro­ visionen spielten denn auch in den Bilanzen der Filialen kaum eine Rolle105.

4. Schlußbetrachtung: Überlegungen zur Funktion von Banken bei der „Arisierung"

Die Rolle der Commerzbank bei der gewerblichen „Arisierung" jüdischer Unter­ nehmen war in erster Linie durch die Funktion als Vermittler zwischen Erwerber und zu „arisierendem" Betrieb geprägt, wobei ihre Netzwerkbeziehungen zur Infor­ mationsbeschaffung eine besondere Bedeutung erlangten. Im Vergleich wird deut­ lich, daß hierbei große Gemeinsamkeiten zwischen den Großbanken bestanden. Die Commerzbank konnte mit ihrer Kernkompetenz - einem Netzwerk von Verbindun­ gen und Informationen - ein attraktives Angebot auf dem Feld der gewerblichen „Arisierung" machen. Diese Beratertätigkeit wurde in dem zunehmend geschlosse­ nen System der Diktatur um so wichtiger, als der Zugang zu wichtigen Daten und die Einschätzung der Rechtslage immer schwieriger wurde. Die Commerzbank, und der Vergleich verweist auch hier auf ein ähnliches Verhalten ihrer Konkurrenten, kreierte mit ihrer Dienstleistung der Vermittlung und Betreuung gleichsam einen neuen Markt, der ihrer klassischen Kompetenz als industrieller Unternehmensbera­ ter entgegenkam. Deutsche Großbanken waren traditionell stärker als in anderen Ländern in industrielle Strukturen und die Kontrolle von Unternehmen eingebun­ den und besaßen bereits in der Weimarer Republik die Funktion von Unterneh­ mensberatern, womit sie sich auch damals schon ein neues Feld der Dienstleistung erschlossen106. Nach 1933 zeigte sich, daß die Großbanken mit ihrem weitverzweig-

105 Sie tauchten etwa in der Commerzbank Filiale Frankfurt am Main als „außergewöhnliche Gewinne" auf, die „durch die besonders in 1938 angefallene Sonderprovision für Arisierungsver­ mittlungen" erwirtschaftet wurden und betrugen im ersten Halbjahr 1938 weniger als 50.000 RM. Commerzbank AG Berlin, Bericht Nr. 11.351 der Deutschen Revisions- u. Treuhand AG Berlin über die bei der Commerzbank AG Niederlassung Frankfurt vorgenommen Zwischenprü­ fung (Vorarbeiten für die Bilanzrevision 1938), 1. 3. 1939, in: BA, R 8135/1281. 106 Vgl. Harald Wixforth, Banken und Schwerindustrie in der Weimarer Republik, Köln 1995; Caro­ line Fohlin, Capital Mobilisation and Utilisation in latecomer economies: Germany and compared, in: European Review of Economic History 3 (1999), S. 139-174; Richard H. Tilly, Zur Entwicklung der deutschen Universalbanken im 19. und 20. Jahrhundert. Wachstumsmotor oder Die Commerzbank und die „Arisierung" im Altreich 267 ten Netzwerk und ihrem industriellen Know-how für den neuen Markt der „Arisie­ rung" prädestiniert waren und auch dann nicht zögerten, funktionale Lösungen für die Probleme der Beteiligten anzubieten, wenn sie wußten, daß die jüdische Seite nicht freiwillig, sondern unter existentiellem staatlichen Druck handelte: die Ver­ mittlung und Zusammenführung geeigneter „Geschäftsteilnehmer", die Finanzie­ rung der Transaktion, die Beratung ihrer Kunden im Streit mit der Bürokratie und, wenn notwendig, auch die Übernahme des Aktienkapitals bzw. den Wiederverkauf desselben. Im Vergleich wird deutlich, wie abwegig die Annahme einer Zurückhaltung der Commerzbank im Bereich der „Arisierung" ist. Zumindest für den Bereich der mit­ telständischen „Arisierung" des gewerblichen Vermögens kann davon keine Rede sein. Auch wenn eine quantitative Untersuchung aufgrund der Quellenlage nicht möglich ist: An den untersuchten Fällen wird deutlich, daß die Commerzbank sich im Wettbewerb um die „Arisierungsgeschäfte" intensiv bemühte, ihre Anteile zu halten bzw. auszubauen. Wenn die Commerzbank in einigen Fällen den kürzeren zog, dann aufgrund fehlender Informationen und weniger effektiver Netzwerkstruk­ turen. Die geringere Beteiligung der Commerzbank an den größeren Geschäften hatte ebenfalls eher mit solchen Defiziten als mit bewußter Zurückhaltung zu tun. Fragt man schließlich nach den Gründen, warum Banken an der „Arisierung" so bereitwillig partizipierten, muß auch die makroökonomische Entwicklung betrachtet werden:107 Die Banken gerieten im Dritten Reich zunehmend in die Defensive, ganze Geschäftsbereiche wie die Industriefinanzierung, das Emissionsgeschäft und die Außenhandelsfinanzierung wurden aufgrund staatlicher Lenkungsmaßnahmen und der wirtschaftlichen Entwicklung immer mehr reduziert. Diese Entwicklung forcierte die Erosion der ökonomischen Macht der Banken ebenso wie die andau­ ernden Angriffe von NSDAP und Regierung. Hier findet man auch einen Grund für den harten Wettbewerb auf dem „Arisierungsmarkt": Wegen der schlechten Kondi­ tionen im staatlich regulierten Kreditgeschäft waren die Privatfinanzierungen beson­ ders begehrt. Im Zuge der „Arisierung" kam es nach der zwangsweisen Ausschal­ tung jüdischer Kunden zu einem heftigen Konkurrenzkampf um einen neuen und attraktiven Kundenkreis, der durch besondere Dienstleistungen geworben werden sollte: Der Markt war in Bewegung, und für die Banken galt es, die begehrte Privat­ kundschaft zu halten, neue Marktanteile zu gewinnen und nicht zuletzt der immer noch kritischen Regierung ihre Funktionalität zu beweisen. In keinem der untersuchten Fälle ergriff ein Bankangestellter für einen jüdischen Kunden Partei. Die „Arisierungsopfer" waren den Banken und ihrer Kompetenz oft

Machtkartell?, in: Sidney Pollard/Dieter Ziegler (Hrsg.), Markt, Staat, Planung. Historische Erfahrungen mit Regulierungs- und Deregulierungsversuchen der Wirtschaft, St. Katharinen 1992, S. 128-156; Philipp L. Cottrell, Industrial Finance and Organization of English Manufactu- ring Industry 1830-1914, London 1980; Duncan M. Ross, Commercial Banking in a market-ori- ented Financial System: Britain between the wars, in: Economic History Review 49 (1996), S. 315-335. 107 Vgl. Kopper, Kreditlenkung, S. 120 ff. 268 Bernhard Lorentz vollkommen ausgeliefert, wenn sie ihren Betrieb noch veräußern wollten. Sie profi­ tierten als Kunden nur in den seltensten Fällen von den Netzwerken ihrer Bank. Spätestens nach dem Novemberpogrom waren sie an dem Prozess der „Arisierung" nicht mehr als handelnde Akteure beteiligt. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Banken die NS-Judenpolitik und den Antisemitismus schon lange als ein den Markt prägen­ des Kriterium in ihre strategischen Überlegungen integriert. Während sich die Com­ merzbank in den ersten Jahren der NS-Herrschaft an einigen Teilbereichen der „Ari­ sierung" - wie den Privatbanken - weniger intensiv beteiligte, wuchs ihre Bereit­ schaft, sich den rassistischen Kriterien anzupassen und damit auch an radikalen Maßnahmen wie Enteignungen zu partizipieren, später stark. Die beteiligten Bank­ angestellten mußten dabei keine Antisemiten sein; es genügte, wenn sie sich macht­ konform verhielten. Auf diesem Weg wurden innerhalb der Wirtschaftselite in einem „Entkoppelungsprozeß" schubweise entscheidende Barrieren zerstört, die der immer radikaleren Entwicklung hätten entgegenwirken können. Dadurch, daß die Groß­ banken - zeitlich geringfügig versetzt zwischen Ende 1937 und Anfang 1938 - der Forcierung der „Arisierung" gewerblichen Vermögens zustimmten und diesen Kurs durch ihre Netzwerke unterstützten, beschleunigten sie den Prozeß; sie können des­ halb auch nicht nur als passive Nutznießer, sondern müssen als aktive Partizipienten bezeichnet werden. Mit ihrer Teilnahme am „Arisierungsprozeß" und damit letztlich an der Beraubung ihrer jüdischen Kunden leisteten die Großbanken einen gewichti­ gen Beitrag zu dem im großen und ganzen reibungslosen Verlauf der beispiellosen Vermögensverschiebung, die aus der „Arisierung" resultierte. STEFFEN PRAUSER

MORD IN ROM?

Der Anschlag in der Via Rasella und die deutsche Vergeltung in den Fosse Ardeatine im März 1944

I.

Im Schatten der Auseinandersetzung um die Ausstellung „Vernichtungskrieg. Ver­ brechen der Wehrmacht 1941 bis 1944" ist in den vergangenen Jahren eine andere, weniger medienwirksame, historisch aber vielleicht ergiebigere Diskussion zum Thema deutsche Kriegsverbrechen aufgekommen: die deutschen Kriegsverbrechen in Italien. Stand in der sogenannten Wehrmachtssaustellung die Beteiligung der deut­ schen Streitkräfte an Kriegs- und NS-Verbrechen im Balkan- und Rußlandfeldzug im Mittelpunkt1, so begannen die Italienexperten den Mythos des „unbefleckten Schilds" der deutschen Wehrmacht in Italien in Frage zu stellen. Den Anfang hatte bereits 1982 Erich Kuby gemacht, der sich in seinem Werk „Verrat auf deutsch"2 gegen die These vom „fairen"3 Krieg in Italien wandte. Dabei verglich er die deutsche Partisanenbekämpfung in Italien mit dem Vernichtungskrieg im Osten. Die Arbeit Kubys, der über die deutschen Kriegsverbrechen wenig recherchiert hatte, wurde zwar heftig diskutiert, blieb aber zunächst ohne direkte Nachfolger. Erst Mitte der neunziger Jahre begannen sich deutsche Historiker wie

1 Die Arbeiten Messerschmidts, Streits und Krausnicks hatten schon in den siebziger bzw. frühen achtziger Jahren das Bild der Wehrmacht korrigiert. Vgl. Manfred Messerschmidt, Die Wehrmacht im NS-Staat. Zeit der Indoktrination, Hamburg 1969; Christian Streit, Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941-1945, Stuttgart 1978. Helmut Kraus­ nick/Hans-Heinrich Wilhelm, Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938-1942, Stuttgart 1981, konzentrieren sich in ihrer Arbeit auf die SD-Einsatzgruppen, die hinter der Front im Rußlandfeldzug tätig waren, machen aber auch die Verstrickung der Wehrmacht in die Verbrechen dieser Einsatzgruppen deutlich. 2 Vgl. Erich Kuby, Verrat auf deutsch. Wie das Dritte Reich Italien ruinierte, Hamburg 1982. 3 So von Vietinghoff-Scheel, letzter Oberbefehlshaber auf dem italienischen Kriegsschauplatz, in einer für die US-Armee verfaßten Ausarbeitung über den „Feldzug in Italien", zit. nach Gerhard Schreiber, Deutsche Kriegsverbrechen in Italien. Täter, Opfer, Strafverfolgung, München 1996, S.216.

VfZ 50 (2002) ® Oldenbourg 2002 270 Steffen Prauser Friedrich Andrae, Gerhard Schreiber4 oder Lutz Klinkhammer, intensiv den Kriegs­ verbrechen der deutschen Besatzer zu widmen5. Während sich Schreiber eher allgemein mit der Kriegführung und der Besatzungs­ politik von Wehrmacht und Waffen-SS befaßte6, griff Andrae wieder die These Kubys auf; er meinte, daß in Italien „übernommen wurde, was in Jugoslawien und Rußland üblich"7 war. Dagegen wandte sich Klinkhammer, der die Ansicht vertritt, daß in Italien ein „westliches" Besatzungsmodell zum Tragen gekommen sei. Zwar verfolgte „die Wehrmacht in Italien gegenüber Partisanen und der in Partisanenge­ bieten lebenden Zivilbevölkerung eine Politik der Vernichtung", diese kam aber nur „gegenüber einer Minderheit zur Geltung und führte nicht zu einer generellen Infra­ gestellung der in Italien angewandten Kollaborationspolitik"8. Sicher waren jene Befehle zur Bekämpfung der sowjetischen Partisanen auch Muster für Italien; Schreiber hat dies detailliert nachgewiesen9. Klinkhammer warnt aber vor der Gefahr der Nivellierung territorialer und chronologischer Unterschiede. Bei seiner Analyse fällt auf, daß die meisten Verbrechen in Frontnähe, bei schnellem Rückzug und im weitesten Sinne von sogenannten Eliteeinheiten begangen worden sind10. Selbst wenn mit den drei Arbeiten von Andrae, Schreiber und Klinkhammer viel über die deutschen Kriegsverbrechen in Italien bekannt geworden ist, bleibt der For­ schungsbedarf nach wie vor groß. So sind die Opferzahlen oft nicht genau ermittelt, die Hintergründe und Abläufe nicht geklärt und insbesondere die Kollaboration faschistischer Einheiten im Detail nur wenig erforscht. Dieser Aufsatz konzentriert sich auf das bekannteste deutsche Kriegsverbrechen in Italien: Die Erschießung von 335 Menschen in den Fosse Ardeatine durch die Männer des Sipo- und SD-Außenkommandos in Rom unter der Leitung von SS- Obersturmbannführer . Mit dieser Vergeltungsmaßnahme sollte ein

4 Gerhard Schreiber hatte schon 1990 mit einem Buch über die ca. 620 000 an italienischen Soldaten begangenen Deportationsverbrechen einen grundlegenden Beitrag zur wissenschaftlich-kritischen Betrachtung eines vergessenen Kapitels der deutsch-italienischen Zeitgeschichte geleistet. (Die ita­ lienischen Militärinternierten im deutschen Machtbereich 1943-1945. Verraten, verachtet, verges­ sen, München 1990.) 5 Vgl. Friedrich Andrae, Auch gegen Frauen und Kinder. Der Krieg der deutschen Wehrmacht gegen die Zivilbevölkerung in Italien 1943-1945, München/Zürich 1995; Schreiber, Deutsche Kriegsverbrechen in Italien; Lutz Klinkhammer, Stragi naziste in Italia. La guerra contro i civili (1943-1944), Rom 1997. 6 Schreiber, Deutsche Kriegsverbrechen in Italien, gibt einen Überblick aller bekannten Gewaltver­ brechen, die von deutscher Hand gegenüber italienischen Staatsbürgern 1943 bis 1945 begangen wurden. 7 Andrae, Auch gegen Frauen und Kinder, S. 243. 8 Lutz Klinkhammer, Grundlinien nationalsozialistischer Besatzungspolitik in Frankreich, Jugosla­ wien und Italien, in: Christof Dipper/Rainer Hudemann/Jens Petersen (Hrsg.), Faschismus und Faschismen im Vergleich. Wolfgang Schieder zum 60. Geburtstag, Köln 1998, S. 204 f. u. S. 196. 9 So wurde die „Kampfanweisung für die Bandenbekämpfung im Osten" und der Führerbefehl „Bandenbekämpfung" ab September 1943 auch auf dem italienischen Kriegsschauplatz angewandt. Vgl. Schreiber, Deutsche Kriegsverbrechen in Italien, S. 95 u. S. 98. 10 Vgl. Klinkhammer, Stragi naziste in Italia, S. 20. Mord in Rom? 271

Partisanenanschlag auf eine Kompanie der deutschen Ordnungspolizei gesühnt wer­ den, dem mindestens 33 Polizisten zum Opfer gefallen waren. Die zuständige Wehr­ machtsführung hatte daraufhin - angeblich auf einen direkten Befehl Hitlers - die Tötung von jeweils zehn Italienern für jedes Opfer des Anschlages angeordnet. Die Erschießungen in den Fosse Ardeatine gelten heute in Italien als das Symbol für die Schrecken der deutschen Besatzungszeit während der Jahre 1943 bis 194511. Obwohl die Fosse Ardeatine in puncto Grausamkeit, Zahl und „Auswahl" der Opfer von anderen deutschen Kriegsverbrechen auf italienischem Boden, so in Mar- zabotto12 und Sant'Anna di Stazzema13, weit übertroffen wurden, sind sie der histo­ rischen Einordnung entrückt und zu einem „luogo della memoria"14 geworden, der das italienische Deutschlandbild bis heute prägt. Welche Bedeutung dieses Verbre­ chen im Kollektivbewußtsein angenommen hat, wurde sowohl bei der Flucht Her­ bert Kapplers aus einem römischen Militärhospital im Jahre 1977, als auch bei dem Freispruch in erster Instanz von Kapplers rechter Hand, , im Jahr 1996 deutlich. Als Reaktion auf Kapplers Flucht wurden 1977 Autos deutscher Touristen in ganz Italien beschädigt, ein geplantes Treffen zwischen Ministerpräsident Giulio Andreotti und Bundeskanzler Helmut Schmidt abgesagt, Demonstrationen von Bozen bis Palermo abgehalten und ein Kesseltreiben der italienischen Presse gegen Deutschland entfacht15. Dabei steht - und das mag überraschen - die Erforschung jener Ereignisse vom 23. und 24. März 1944 in keinem Verhältnis zu ihrer Bekanntheit16 und ihrer Bedeu­ tung. Zwar ist die Zahl der Publikationen zu den Fosse Ardeatine zunehmend schwerer zu überblicken, eine wirklich grundlegende historisch-kritische Untersu­ chung steht aber bis heute aus. Eine befriedigende Auseinandersetzung mit dem

11 Zur Rezeptions - und Perzeptionsgeschichte der „Fosse Ardeatine" entsteht zur Zeit eine Disser­ tation von Joachim Staron an der Freien Universität Berlin. 12 Oberhalb der Gemeinde Marzabotto, 25 km südlich von Bologna gelegen, ermordeten am 29. und 30. 9. 1944 die Männer der Aufklärungsabteilung der 16. SS-Panzergrenadier-Division „Reichsfüh­ rer SS", des Ostbataillons des Regiments 1059 der 92. Infanteriedivision und einer Einheit des Flakregiments 105 im Zuge einer ausgedehnten Antipartisanenaktion 770 Zivilisten, darunter 213 Kinder unter 13 Jahren. Vgl. Dario Zanini, Marzabotto e dintorni 1944, Bologna 1996; Klinkham­ mer, Stragi naziste in Italia, S. 118 ff.; Marzabotto. Quanti chi e dove. I caduti e le vittime delle stragi nazifasciste a Monzuno, Grizzana e Marzabotto e i Caduti per cause di Guerra, Bologna 1994. 13 In Sant'Anna di Stazzema, wenige Kilometer vom mondänen Badeort Forte dei Marmi entfernt, wurden im August 1944 mindestens 362 Zivilisten - darunter zahlreiche Kinder - von einer Ein­ heit der 16. SS-Panzergrenadier-Division „Reichsführer SS" getötet. Die tatsächliche Zahl der Opfer wird mit 560 angegeben, viele konnten nicht identifiziert werden, da die Opfer teilweise verbrannt wurden. Vgl. Schreiber, Deutsche Kriegsverbrechen in Italien, S. 181 f.; umfangreich, aber umstritten Paolo Paoletti, Sant'Anna di Stazzema 1944. Una strage impunita, Mailand 1998. 14 Mario Isnenghi (Hrsg.), I luoghi della memoria, 2 Bände, Rom/Bari 1997. 15 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. 8. 1977, S. 1; Der Spiegel, Nr. 50/1977, S. 25ff.; Der Spiegel, Nr. 35/1977, S. 76 ff. In Deutschland begegnete man diesen Reaktionen mit viel Unver­ ständnis und Polemik. 16 Vgl. Alessandro Portelli, L'ordine e già stato eseguito, Rom 1999; Daniele Mezzana, La memoria storica della Resistenza nelle nuove generazioni, Mailand 1997. 272 Steffen Prauser Thema bieten nur die 1968 auf deutsch erschienene Arbeit von Robert Katz „Mord in Rom"17 und das 1999 veröffentlichte und mit dem Premio Viareggio ausgezeich­ nete Buch Alessandro Portellis „L'ordine e già stato eseguito"18. Während in „Mord in Rom", trotz einiger Mängel wie einer ungenügenden Quellenkritik, das Ereignis selbst zufriedenstellend rekonstruiert wird, untersucht Portelli, der seit Viareggio als der Meister der italienischen oral history gelten darf, in erster Linie die Erinnerun­ gen, die es über den Partisanenanschlag in der Via Rasella und zu den Fosse Ardea- tine gibt. Zwar bietet der Autor eine genaue Rekonstruktion der Ereignisse, doch geht es ihm um andere Fragen. Der ausgewogenste Aufsatz zum Thema stammt von Helmut Goetz. Dieser zog 1982 eine vorläufige Forschungsbilanz und setzte sich differenziert mit der Arbeit von Katz auseinander19. Dies gilt leider nicht für die durch den Priebke-Prozeß inspirierten Neuerscheinungen; sie reproduzieren gewöhnlich nur den Forschungs­ stand der sechziger Jahre. Die eigenen Theorien, die dabei vorgetragen werden, kön­ nen indes wenig zur Erhellung der historischen Fakten beitragen und dienen eher dem Angriff auf das gegnerische politische Lager20. Eine genaue und kritische Aus­ wertung der zugänglichen Quellen erscheint dafür aber nicht nötig. Symptomatisch ist in dieser Hinsicht das Vorwort des 1999 erschienenen „Attentato e rappresaglia" von Alberto und Elisa Benzoni. Dort heißt es: „Wir haben beschlossen, über die Via Rasella im Rahmen des römischen Wider­ standes und der in ihm operierenden Kräfte zu reflektieren, nichts mehr. Und um die Ereignisse besser zu beleuchten, haben wir keinen Gebrauch von unveröffent­ lichten Zeugenaussagen oder Archivforschungen gemacht."21 Aus der unbefriedigenden Forschungslage ergibt sich die auf den ersten Blick banale Fragestellung des vorliegenden Aufsatzes: Was ist eigentlich am 23. und 24. März passiert? Genauer: Welchem strategischen Zweck nützte der Partisanenan­ schlag in der Via Rasella? Wer war die betroffene Einheit? Wer beschloß die Repres­ salie mit der Quote 1:10? Wer waren ihre Opfer? Warum führte der SD die Vergel­ tungstat aus? Da zeitgenössische Quellen rar sind22, stützt sich der Aufsatz vornehmlich auf die englischen bzw. italienischen Akten der Nachkriegsprozesse gegen die drei hauptver-

17 Im vorliegenden Aufsatz wird aus der italienischsprachigen Ausgabe zitiert. Robert Katz, Morte a Roma. Il massacro delle Fosse Ardeatine, Rom 1996. 18 Vgl. Portelli, L'ordine e già stato eseguito. 19 Vgl. Helmut Goetz, Das Attentat in Rom und die Fosse Ardeatine (1944). Eine vorläufige Bilanz, in: Innsbrucker Historische Studien, Bd. 6, Innsbruck 1983, S. 161-178. 20 Vgl. /Cesare De Simone, Operazione Via Rasella. Verità e menzogna: i prota- gonisti raccontano, Rom 1996; Mary Pace, Dietro Priebke, Casale Monferrato 1997; Mario Spa­ taro, Rappresaglia. Via Rasella e le Ardeatine alla luce del caso Priebke, Rom 1996; Pierangelo Maurizio, Via Rasella, cinquant'anni di menzogne, Rom 1996. 21 Alberto und Elisa Benzoni, Attentato e rappresaglia. Il PCI e via Rasella, Venedig 1999, S. 10. 22 Eine Ausnahme bilden die Wehrmachtsakten im Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg (künftig: BA-MA). Viele wichtige Quellen wie z.B. das Kriegstagebuch des Kommandanten von Rom zum März 1944 fehlen aber auch hier. Die Akten der Sicherheitspolizei des Außenkommandos in Rom wurden bei der Befreiung Roms fast gänzlich vernichtet. Vgl. Wladimiro Settimelli (Hrsg.), Mord in Rom? 273 antwortlichen Wehrmachtsgeneräle Albert Kesselring, Eberhard von Mackensen und Kurt Mälzer sowie gegen den Leiter des SS-Außenkommandos in Rom, Herbert Kappler23, ferner auf die Memoiren verschiedener Protagonisten24. Retrospektive Zeugenaussagen sind eine besonders schwierige Quellengattung. Sie sind aus der Erinnerung heraus entstanden, nicht selten im Kontext der Nachkriegsprozesse. Dadurch entsteht ein oft in sich widersprüchliches Bild der Ereignisse. Erst durch Gegenüberstellung der verschiedenen Aussagen und deren Überprüfung anhand der spärlichen zeitgenössischen Quellen ist eine genauere Rekonstruktion der Ereignisse des 23. und 24. März 1944 möglich.

II.

Das Attentat und die Repressalie waren eine Folge der deutschen Besatzungsherr­ schaft25. Das Attentat in der Via Rasella war nicht der erste Partisanenanschlag in

Herbert Kappler. La verità sulle Fosse Ardeatine, Vol. I, supplemento al n. 99 del 27. 4. 1994 dell- 'Unitä, S. 11. 23 Bundesarchiv Koblenz (künftig: BA), All. Proz. 8, Strafverfahren von Mackensen, Eberhard/Mäl­ zer, Kurt, JAG 294; Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbre­ chen, Ludwigsburg (künftig: ZSL), AZ III - 26, Strafverfahren Kesselring, Albert, JAG 260; Archi- vio Tribunale Militare di Roma (künftig: TMR), Processo Kappler, cartella 1080 ff.; Akten Prozeß Caruso, veröffentlicht in: Zara Algardi, Processo Caruso, Rom 1944, und dies., Processi ai Fascisti. Anfuso, Caruso, Graziani, e Borghese di fronte alla giustizia. Gli assassini organizzati dal SIM. Le fosse Ardeatine, Florenz 1958. 24 Vgl. , Lettere a Milano, Rom 1973; Rosario Bentivegna, Achtung Banditen! Roma 1944, Mailand 1983; Ivanoe Bonomi, Diario di un anno: 2 giugno 1943-10 giugno 1944, Mailand 1947; Eugen Dollmann, Roma nazista, Mailand 1949; Herbert Kappler, Nove mesi contro Roma. Il famigerato capo delle S. S. ha scritto le sue confessioni. Storia di un testo integrale delle memorie di Kappler raccolte da un redattore di „Momento - Sera", Rom o. J.; Albert Kesselring, Soldat bis zum letzten Tag, Bonn 1953; Eitel Friedrich von Moellhausen, Die gebrochene Achse, Alfeld/Leine 1949; Siegfried Westphal, Heer in Fesseln. Aus den Papieren des Stabschef von Rom- mel, Kesselring und Rundstedt, Bonn 1950. 25 Die Schaffung eines neofaschistischen Staates sollte die Fiktion eines souveränen Verbündeten auf­ rechterhalten und die deutsche Okkupation Italiens verschleiern. De jure und de facto kann von einem souveränen Verbündeten nicht gesprochen werden. Abgesehen davon, daß die Staatskonti­ nuität bei dem nach Süditalien geflohenen König und dadurch bei dem sogenannten Regno del Sud lag, fehlten der Repubblica Sociale Italiana die Hauptcharakteristika eines souveränen Staates: 1. Keine Souveränität über das eigene Hoheitsgebiet 2. Keine eigenen Streitkräfte 3. Keine wirt­ schaftliche Unabhängigkeit. Einzig die Verwaltung blieb - auch hier von deutscher Seite kontrol­ liert - in italienischen Händen. Hitler hatte bis zuletzt geschwankt, ob er - wie vom OKW und OKH gewünscht - Italien militärisch besetzen oder die von Goebbels, Bormann, Himmler und vor allem Ribbentrop geforderte politische Lösung der Restauration des Faschismus wählen sollte. Obwohl sich letztere Variante durchsetzte, blieb Italien von einem Netz deutscher Militärverwal­ tungen durchzogen. Mussolini wurde ein Aufpasser aus dem Außenministerium zur Seite gestellt (Rudolf Rahn), der alle Maßnahmen Mussolinis kontrollierte. Nicht umsonst wurde die Anord­ nung Hitlers vom 10. 9. 1943, in der er Rahn zum „Reichbevollmächtigten" bestellte und die Machtverhältnisse in Italien regelte, geheimgehalten - zu deutlich wäre die reine Satellitenfunktion der neuen Regierung Mussolini zu Tage getreten. Ständiger Prüfstein der italienischen Autonomie war aus Sicht der italienischen Bevölkerung der vergebliche Versuch der italienischen Regierung, 274 Steffen Prauser Rom, die Fosse Ardeatine nicht die erste Repressionsmaßnahme, die die deutschen Besatzungsorgane ergriffen. Die Unterdrückung der Zivilbevölkerung begann hier bereits am 16. Oktober 1943. An diesem Tag wurde das jüdische Ghetto in Rom von Einheiten der Ordnungs- und Sicherheitspolizei unter der Führung des eigens zu die­ sem Zweck angereisten „Judenreferenten", des SS-Hauptsturmführer Theo Dannek- ker, durchkämmt26. Diese Aktion traf die römischen Juden fast völlig unvorbereitet, da sie sich der trügerischen Hoffnung hingegeben hatten, in der unmittelbaren Nach­ barschaft des Vatikans sicher zu sein. So konnte Kappler, der federführend an der Aktion beteiligt war, in seiner Vollzugsmeldung an den Höheren SS- und Polizeiführer in Italien, SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS Karl Wolff, berichten: „Judenaktion heute nach büromäßig bestmöglichst ausgearbeitetem Plan gestartet und abgeschlossen. Einsatz sämtlicher verfügbarer Kräfte der Sicherheits- und Ord­ nungspolizei. [...] Abriegelung ganzer Straßenzüge sowie in Anbetracht Charakters der offenen Stadt als auch der unzulänglichen Gesamtzahl von 365 deutschen Polizi­ sten nicht durchführbar. Trotzdem wurden im Verlauf der Aktion, die von 5,30 Uhr bis 14,00 Uhr dauerte, 1 259 Personen in Judenwohnungen festgenommen und in Sammellager in hiesiger Militärschule gebracht. Nach Entlassung der Mischlinge, der Ausländer einschl. eines Vatikanbürgers, der Familien in Mischehen einschl [sic!] jüdischen Partners, der arischen Hausangestellten und Untermietern verbleiben an fest zuhaltenden [sic!] Juden 1007. [.. .]"27 In dieser Zahl sind die Kleinkinder nicht enthalten28, so daß von 1080 Verhafteten auszugehen ist29. Am 18. Oktober wurden diese zusammengepfercht in Viehwaggons vom Bahnhof Tiburtina aus via Brenner nach Auschwitz transportiert. Nur 15 kehr­ ten zurück30. Nach der sogenannten „Judenaktion" vom 16. Oktober 1943 war die Judenverfol­ gung in Rom noch lange nicht beendet. Bis zur Befreiung der Stadt im Juni 1944 wurden weitere Verhaftungen und Deportationen unter der Führung Kapplers vor-

die unter dem Begriff „Militärinternierte" jeglichem völkerrechtlichen Schutz entbehrenden über 600 000 italienischen Soldaten in die Heimat zu holen. Direkt damit verbunden war der ebenso vergebliche Wunsch, eigene italienische Streitkräfte aufzustellen. Die wenigen schwachen Kräfte, die den Italienern nach verschiedenen zähen Verhandlungen gewährt wurden, konnten nur unter deutschem Oberbefehl eingesetzt werden. Symbolisch verkörpert wurde die eng beschnittene Sou­ veränität des „besetzten Verbündeten" auch dadurch, daß Mussolini gegen seinen Willen eine Abordnung der SS-Leibstandarte „Adolf Hitler" zur Seite gestellt wurde. Vgl. Lutz Klinkhammer, Zwischen Bündnis und Besatzung. Das nationalsozialistische Deutschland und die Republik von Salò 1943-1945, Tübingen 1993. 26 Zum 16. 10. 1943 vgl. Liliana Picciotto Fargion, L'occupazione tedesca e gli ebrei di Roma. Docu­ menti e fatti, Rom 1979, und Robert Katz, Black Sabbath. A journey through a Crime against humanity, Toronto 1969. In dem vorliegenden Aufsatz wird aus der italienischsprachigen Ausgabe „Sabato nero", Mailand 1973, zitiert. 27 Archiv des Instituts für Zeitgeschichte München, Fb-67, Funkspruch Nr. 5586, Pers. Stab Reichs­ führer-SS. 28 Vgl. Picciotto Fargion, L'occupazione tedesca e gli ebrei di Roma, S. 31. 29 Der Präsident der jüdischen Gemeinde Roms gab diese Zahl als Zeuge im Kappler-Prozeß zu Pro­ tokoll. Vgl. La Stampa nuova vom 12. 6. 1948. 30 Vgl. Picciotto Fargion, L'occupazione tedesca e gli ebrei di Roma, S. 44. Mord in Rom? 275 genommen, bei denen ihm die faschistischen Polizeiorgane tatkräftig zur Seite stan­ den. Die Bilanz der achtmonatigen Besatzung: 1818 ermordete Juden31. 75 von ihnen sollten den Tod in den Fosse Ardeatine finden. Die Juden hatten am meisten, aber nicht als einzige unter der deutschen Besatzung zu leiden. Der Gefahr einer Deportation zum Arbeitseinsatz in das Deutsche Reich war jeder arbeitsfähige männliche Römer ausgesetzt. Denn nachdem die Aufrufe zum freiwilligen Arbeitseinsatz ungehört verhallt waren und die Reaktivierung eines alten faschistischen Arbeitsdienstgesetzes von 1940 statt der erhofften 90 000 gerade einmal 936 Arbeiter erbracht hatte, gingen die Deutschen zu Zwangsmaßnahmen über32. Sie sperrten und durchkämmten ganze Straßenzüge und hielten öffentliche Verkehrsmittel an, um potentielle Arbeitssklaven einzufangen33. Die Wirkung auf die Stimmung der Bevölkerung, die von diesen völlig unvorhersehbaren Auskäm- mungsaktionen ausging, ist nicht hoch genug zu veranschlagen. Die Freiwilligenmel­ dungen gingen deutlich zurück, viele junge Stellungspflichtige versteckten sich oder flüchteten aufs Land. Der Gewinn für die Besatzungsmacht war dürftig, was selbst der SD feststellte34. Zudem mußten die Deutschen meist einen großen Teil der „requirierten" Arbeiter wieder laufen lassen, weil sie sich als untauglich oder für einen kriegswichtigen römischen Betrieb unabkömmlich erwiesen35. Als Synonym für die deutsche Schreckensherrschaft gilt bis heute das Außenkom­ mando der Sicherheitspolizei in der Via Tasso. Die römische Marchesa Fulvia Ripa di Meana schrieb 1944, daß es allen Römern „kalt den Rücken heruntergelaufen sei", wenn sie nur den Straßennamen „Via Tasso" hörten36. Hier stand der SS auch ein eige­ nes Gefängnis zur Verfügung, in dem es regelmäßig zu schweren Folterungen kam37. Der Leiter des Außenkommandos Herbert Kappler mußte angesichts der drückenden Beweislast diese eindeutigen Verstöße gegen die Menschenrechte zugeben, bestritt aber die Schwere der Fälle und schrieb Aussagen über gebrochene Rippen und ausge­ renkte Arme der „Wehleidigkeit" und Einbildungskraft der Italiener zu38. Angesichts dieser Zwangsmaßnahmen verwundert es nicht, daß die Widerstands­ bewegung auch in Rom Zulauf bekam und sich zumindest der passiven Unter­ stützung eines großen Teiles der Bevölkerung sicher sein durfte. Die Diskussion über die Stärke der römischen Resistenza und den Rückhalt, den sie in der Gesell­ schaft fand, ist bis heute in vollem Gange. Während von Paolo Monellis „Roma

31 Vgl. ebenda, S. 29. 32 Vgl. Klinkhammer, Zwischen Bündnis und Besatzung, S. 189. 33 Vgl. Cesare De Simone, Roma città prigioniera. I 271 giorni dell'occupazione nazista, Mailand 1994, S. 79 ff. 34 Vgl. Klinkhammer, Zwischen Bündnis und Besatzung, S. 190. 35 Vgl. ebenda, S. 189. 36 Fulvia Ripa di Meana, Roma clandestina, Rom 1944, S. 124. 37 Vgl. Arrigo Paladini, Via Tasso. Carcere Nazista, Rom 1994, S. 33ff.; Armando Troisio, Roma sotto il terrore Nazi-Fascista. 8. Settembre 1943-4. Giugno 1944, Rom 1944, S. 35 f.; Umberto Di Fazio, Via Tasso. Lo Spielberg di Roma, Rom 1944, S. 19. 38 Kappler, Nove mesi contro Roma, S. 7. 276 Steffen Prauser 1943", im Jahre 1945 erstmals erschienen39, bis Aurelio Lepres „Via Rasella" aus dem Jahre 199640 der römische Widerstand als marginal abgetan wurde, bemühten sich Autoren wie Cesare De Simone41, aber in gewissem Rahmen auch Alessandro Portelli42 Rom zu einer Hochburg des Widerstands zu stilisieren. In der Tat kann kaum ein Zweifel darüber bestehen, daß Rom eine „nichtkollabo- rierende Stadt" gewesen ist, was nicht zuletzt an dem Boykott der Aufrufe zum Arbeitseinsatz abzulesen ist. Der Komplexität des römischen Widerstands ist aber noch nicht genügend Rechnung getragen worden, was sicher auch damit zusammen­ hängt, daß seit Enzo Piscitellis „Storia della Resistenza Romana"43 aus dem Jahr 1965 keine auf soliden Quellen basierende Arbeit zum Thema entstanden ist. Neben einer fehlenden Arbeiterschaft mit Klassenbewußtsein weist der römische Wider­ stand vor allem vier Besonderheiten auf: 1. In Rom gab es einen zumindest personell starken, dem König und Badoglio verpflichteten militärischen Widerstand, den „Fronte Militare Clandestino", der außerhalb des von den wiedererstehenden Par­ teien dominierten Nationalen Befreiungskomitees stand und unabhängig von diesem operierte44. 2. Der Schatten des Vatikans lag, wie über allem politischen Handeln in Rom, auch über dem des Widerstandes. Fast alle Exponenten der italienischen Resi­ stenza - außer den kommunistischen - hatten Zuflucht auf dem extraterritorialen Gebiet des Vatikans gefunden. Dieser leistet den Oppositionellen einerseits Hilfe­ stellung, versuchte aber andererseits, militärische Aktionen seitens des römischen Widerstandes zu verhindern45. 3. In Rom scheint sich eine relativ starke territoriale Trennung zwischen kollaborierenden bürgerlichen Vierteln und den resistenza- freundlichen, vom „Sottoproleteriato" bewohnten Vororten zu manifestieren46. 4. In diesen Vororten fand besonders eine trotzkistische, moskaufeindliche Gruppe, die „Bandiera Rossa", ihren Nährboden, die in gewissem Sinne in Konkurrenz zum Par- tito Comunista Italiano (PCI) stand47. Dieser Gegensatz sollte aber nicht überbewer­ tet werden, wie es von einigen Apologeten der „Bandiera Rossa" getan wird48. In den Vororten Roms konnten sich die Widerständler relativ frei bewegen, solange die Besatzungsmacht zu keinen Auskämmungsaktionen schritt, wie der ehe­ malige kommunistische Partisan Rosario Bentivegna berichtete:

39 Vgl. Paolo Monelli, Roma 1943, Turin 1993. 40 Vgl. Antonio Lepre, Via Rasella. Leggenda e realtà della Resistenza a Roma, Bari/Rom 1996. 41 Vgl. De Simone, Roma città prigioniera. 42 Vgl. Portelli, L'ordine e già stato eseguito. 43 Vgl. Enzo Piscitelli, Storia della Resistenza Romana, Bari 1965. 44 Vgl. Gabrio Lombardi, Montezemolo e il fronte militare clandestino di Roma (ottobre 1943 - gen- naio 1944), Rom 1947. 45 Vgl. Enzo Forcella, La Resistenza in convento, Turin 1999. 46 Vgl. Portelli, L'ordine e già stato eseguito. 47 Vgl. Silverio Corversieri, Bandiera Rossa nella Resistenza romana, Rom 1969; auch Portelli, L'or­ dine e già stato eseguito, S. 31 f. u. S. 87 f. 48 Vgl. Roberto Gremmo, I partigiani di Bandiera Rossa. Il „Movimento comunista d'Italia" nella Resistenza Romana, Biella 1996; Maurizio, Via Rasella. Mord in Rom? 277 „[...] es entstand eine außergewöhnliche Situation in Centocelle, die Ausgangs­ sperre war inexistent, am Abend trafen wir uns in der Osteria, aßen und tranken, grüßten uns mit der geschlossenen Faust und die Genossen kamen im roten Hemd oder mit einem roten Tuch um den Hals. Die Polizei folgte unseren Befehlen."49 Aus den für Mussolini bestimmten Aktennotizen des Vizepolizeichefs Cerutti und aus den Vormittagsmeldungen der einzelnen, für die öffentliche Sicherheit zuständigen Kommissariate ist die latente Unruhe in Rom herauszulesen50. Kein Tag verging ohne Schießerei, ohne daß man daraus aber auf das Bestehen einer gut orga­ nisierten Widerstandsbewegung schließen dürfte. Bei der Auswertung dieser Quellen muß vielmehr die vor September 1943 herrschende öffentliche Sicherheit, die deso­ late Ernährungslage und die manchmal enge Verflechtung von ideologisch motivier­ tem Widerstand mit der in den Randgebieten alltäglichen Kriminalität51 in Betracht gezogen werden. Die Schwäche des aktivistischen römischen Widerstandes wurde nach der Landung der Alliierten am 22. Januar 1944 bei Anzio offenbar. Die deut­ schen Befehlshaber wurden von der Landung völlig überrascht. Südlich der Stadt standen nur zwei deutsche Bataillone zur Verteidigung bereit52. In Rom wurde buch­ stäblich alles mobilisiert, was noch laufen konnte: Köche, Schreiber, Adjutanten53 und sogar Verwundete54. Für 48 Stunden war in Rom fast kein deutscher Soldat mehr zu sehen55, und die deutschen Stellen sollen laut Eugen Dollmann, dem per­ sönlichen Vertrauten Himmlers in Rom, ernsthaft mit dem Gedanken gespielt haben, die Stadt aufzugeben56. Nie hatte der Widerstand eine bessere Chance, sich gegen die Besatzer zu erheben, aber nichts geschah. Einzig vier kleinere Anschläge auf Wehrmachtsangehörige mußte der deutsche Kommandant von Rom an das Oberkommando der 14. Armee melden. Die Stimmung der Bevölkerung galt als „unverändert", „die Mehrheit" der Römer verhalte sich „weiterhin [noch] ruhig und abwartend"57. Die Aufrufe des Par- tito d'Azione und des PCI zu einem Volksaufstand verhallten ungehört58. Den deutschen Einheiten gelang es überraschend schnell, die alliierten Landungs­ truppen bei Anzio einzuschließen und die Lage zu kontrollieren. Auch innerhalb Roms hatten die Deutschen, genauer die Sicherheitspolizei Kapplers, bald wieder

49 Zit. nach Portelli, L'ordine e già stato eseguito, S. 88. 50 Archivo Centrale dello Stato in Rom (künftig: ACS), Ministero degli Interni, Direzione generale P. S., busta 29. 51 Vgl. auch Portelli, L'ordine e già stato eseguito, S. 89. ; 52 Vgl. Westphal, Heer in Fesseln, S. 242. 53 Vgl. , Storia dell'Italia partigiana, Mailand 1995, S. 180. 54 Vgl. Dollmann, Roma nazista, S. 268. 55 Vgl. Bocca, Storia dell'Italia partigiana, S. 180; Peter Tompkins, Una spia a Roma, Mailand 1964, S.83. 56 Vgl. Dollmann, Roma nazista, S. 268. 57 Lagebericht des Verwaltungsstabes des Deutschen Kommandanten von Rom, Nr. 103/44, für die Zeit vom 11. Januar bis 12. Februar 1944, an das Oberkommando der 14. Armee vom 15. Februar 1944, in: BA-MA, RH 20-14/138, Anlageband 2 zum Kriegstagebuch Nr. 1, Armeeoberkom­ mando 14/OQu 1943/1944, S. 1. 58 Vgl. Bocca, Storia dell'Italia partigiana, S. 182. 278 Steffen Prauser alles im Griff. Zahlreiche Oppositionelle wurden in den Tagen nach Anzio verhaftet. Die „Bandiera Rossa" und den „Fronte Militare Clandestino" konnte Kappler fast vollständig zerschlagen59. Erst Mitte Februar, als die kommunistischen Aktionsgruppen in der römischen Innenstadt neu organisiert wurden, erhöhte sich der Druck auf die Besatzer. Diese Gruppi d'Azione Patriottica, kurz GAP, waren unabhängig voneinander operie­ rende, vier bis fünf Mann starke Gruppen60. Die in Rom fast ausschließlich aus jun­ gen Intellektuellen bestehenden GAP setzten der deutschen und faschistischen Gewaltherrschaft ihren eigenen Terror entgegen61. Schon seit Dezember 1943 führ­ ten die Gappisten in größerem Stil bewaffnete Aktionen in Rom durch - so etwa am 19. Dezember, als zwei Gappisten das deutsche Kommando im Hotel Flora in der Via Veneto trotz starker Bewachung angriffen62. Obwohl die Besatzungsmacht bei diesem und verschiedenen anderen Anschlägen Verluste hatte, griffen die deutschen Stellen anfangs nicht zu tödlichen Repressalien. Nach der Landung der Allierten bei Anzio änderte sich das: Am 31. Januar wur­ den zehn inhaftierte Partisanen für einen getöten Deutschen erschossen63. Am 7. März kam es zu einer ähnlichen Tat; wieder mußten zehn Partisanen den Tod eines Deutschen mit dem Leben bezahlen. Die Erschießung wurde laut Cesare De Simone zwei Tage später durch zweisprachige Plakate, die in ganz Rom an Haus­ mauern geheftet wurden, bekanntgegeben64. Die Gappisten ließen sich davon aber nicht beeindrucken und verübten noch am selben Tag einen Anschlag auf einen deutschen Lastzug, bei dem drei deutsche Soldaten den Tod fanden, ohne eine deut­ sche Reaktion zu provozieren65.

59 Vgl. Piscitelli, Storia della Resistenza Romana, S. 262 f. 60 Vgl. ebenda, S. 77. Zur großen Bedeutung der GAP für den römischen Widerstand vgl. auch Gior­ gio Caputo, Problemi e Documenti della Resistenza romana, Rom 1966, S. 14. 61 Vgl. Bocca, Storia dell'Italia partigiana, S. 146. 62 Vgl. De Simone, Roma città prigioniera, S. 44 f. 63 BA-MA, RH 20-14/89, Ic-Tagesmeldung vom 31.1. 1944 (an Heeresgruppe C): „30.1.: 20.05 h Doppelposten an Tiberbrücke in Rom von 2 Mann in italienischer Polizeiuniform angeschossen: 1 Deutscher tot, 1 Deutscher schwer verletzt. Täter entkommen. Vergeltungsmaßnahme: je 5 anderweitig belastete Kommunisten und Badoglio Anhänger 31.1. erschossen." Vgl. auch Kurt Mehner (Hrsg.), Die Geheimen Tagesberichte der Deutschen Wehrmachtführung im Zweiten Weltkrieg 1939-1945, Band 9: 1. Dezember 1943-29. Februar 1944, Osnabrück 1985, S.281. Por- telli, L'ordine e già stato eseguito, S. 177, behauptet, daß die Erschießung von elf Partisanen am 2.2. 1944 als Repressalie deklariert worden sei. Wo und wie die Deutschen diese Erschießung der vom deutschen Feldgericht in Rom zum Tode verurteilten Partisanen als Repressalie bekannt gaben, ist bei Portelli nicht zu ersehen (eine Fußnote fehlt). In seinen Aussagen in der Nachkriegs­ zeit behauptete Kappler mehrfach, daß es vor den Erschießungen in den Fosse Ardeatine zu min­ destens zwei Repressaltötungen gekommen sei, bei denen für einen getöteten Deutschen zehn Ita­ liener mit ihrem Leben bezahlen mußten. Kappler wollte sich aber an Einzelheiten nicht mehr erinnern können. Vgl. u.a. Vernehmung durch stv. Staatsanwalt Vittorio Picozzi am 18. 7. 1947, dt. Übersetzung in: Staatsanwaltschaft Dortmund, Reg. 48360 d, S. 9. 64 Vgl. De Simone, Roma città prigioniera, S. 96. 65 Vgl. ebenda. Mord in Rom? 279 Als die Faschisten am 10. März 1944 einen Umzug in den Straßen Roms organi­ sierten, um an den Todestag Giuseppe Mazzinis zu erinnern, wurden sie in der Via Tomacelli von mehreren Gappisten mit selbstgebastelten Handgranaten angegriffen. Drei Faschisten blieben tot zurück66. Diese Aktion motivierte die Partisanen zu wei­ teren Taten. Mario Fiorentini, Anführer einer der GAP, hatte bemerkt, daß eine Ein­ heit der deutschen Ordnungspolizei täglich gegen 14.00 Uhr durch die Via Rasella zu ihrem Quartier am Quirinalspalast marschierte. Fiorentini machte sich sofort daran, einen Plan zu erarbeiten, wie man diese Einheit attackieren könnte67. Am 23. März kam der Plan Fiorentinis zur Ausführung. Einer der Gappisten, Rosario Bentivegna, wartete als Straßenfeger verkleidet mit 12 kg Sprengstoff, die zusammen mit Eisenschrott in einem Straßenfegerkarren verborgen waren, in der Via Rasella auf die deutsche Einheit. Als die Deutschen die enge Straße hinaufkamen, zündete er die Lunte und entfernte sich. Sobald der mittlere Teil der Kompanie auf der Höhe des Karrens war, explodierte der Sprengstoff. Gleichzeitig bewarfen drei Partisanen den hinteren Teil der Einheit mit Handgranaten und flüchteten dann68. 27 Deutsche waren sofort tot, drei verstarben kurz darauf im Feldlazarett bzw. im Krankenhaus San Giacomo. Zwei waren so schwer verletzt, daß sie noch am selben Abend verschieden, zwei weitere am Tag darauf. Mindestens 45 wurden so schwer verletzt, daß sie auf die Verlustliste gesetzt werden mußten69.

III.

Über die von dem Attentat getroffene Polizeieinheit weiß man wenig. Es gibt zwar einige Zeitschriftenartikel, die in erster Linie auf Interviews mit Überlebenden der Einheit basieren70, aber keine exakte historische Untersuchung71. Der Spekulation ist daher Tür und Tor geöffnet: Einige wollten in den Männern, welche die Via Rasella passierten, „Spezialisten der Exekutionskommandos" und „Helden der Folter"

66 Vgl. Bentivegna, Achtung Banditen, S. 154. 67 Mario Fiorentini im Interview mit dem Autor vom 20. 10. 1997. 68 Ausführliche Darstellung des Attentats mit Skizze bei Katz, Morte a Roma, S. 52 ff. 69 Deutsche Dienststelle/Wehrmachtsauskunftsstelle in Berlin (WASt). Akte: SS-Pol. Rgt. „Bozen" 18.10. 1943-25.6. 1944 I, Polizeiverlustmeldungen des III. Polizeiregiment „Bozen" (künftig: WASt - Verluste, Pol. Rgt. BZ. 3/44). 70 Vgl. Umberto Gandini, I contadini che dissero di no al massacro delle Ardeatine, in: Alto Adige (Corriere delle Alpi), Quelli di Via Rasella. La Storia dei sudtirolesi che subirono l'attentato del 23 marzo 1944 a Roma, Nr. 1, Bozen 1979; Claudio Franceschini, Das Trauma von Rom, in: Südti­ rol Profil, Nr. 11 vom 14. 3. 1994, S. 8-12; Hermann Frass, Das Drama der 11. Kompanie in Rom vor dreißig Jahren, in: Südtirol in Wort und Bild418 (1974), Heft 3, S. 12-18. 71 Die einzige Arbeit, die Hintergrundinformationen zu dem in der Via Rasella betroffenen Polizei­ bataillon bietet, ist eine Seminararbeit aus dem Wintersemester 1978/79, die an der Universität Innsbruck entstanden ist. Vgl. Christoph von Hartungen u. a., Die Südtiroler Polizeiregimenter 1943-1945, in: Der Schiern, Monatszeitschrift für Südtiroler Landeskunde 55 (1981), S. 494-516. 280 Steffen Prauser erkannt haben72. Andere bezeichneten sie fälschlicherweise als „Parteipolizei" und „Terrorinstrument" der NSDAP73, und wieder andere behaupteten dagegen, bei den angegriffenen Deutschen habe es sich um „nur mit Pistolen bewaffnete Südtiroler jenseits der fünfzig"74 gehandelt. Je nach Intention des Autors werden die Südtiroler zu brutalen SS-Schergen oder zu harmlosen Schutzpolizisten deklariert, deren Auf­ gabe einzig darin bestanden habe, den Verkehr zu regeln. In Wirklichkeit handelte es sich um die 11. Kompanie des 3. Bataillons des Poli­ zeiregiments „Bozen", das im Herbst 1943 nach der De-facto-Annexion Südtirols und des Trentinos an das Deutsche Reich aufgestellt worden war75. Das Polizeiregi­ ment „Bozen" war eines von vier Südtiroler Ordnungspolizeiregimentern, deren Mannschaftsgrade sich ausschließlich aus Südtirolern76 der Jahrgänge 1894 bis 1926 rekrutierten, ohne daß zwischen sogenannten „Optanten" oder „Dableibern" unter­ schieden worden war77. Diese Polizeiregimenter wurden fast ausschließlich in den sogenannten Operationszonen „Alpenvorland" und „Adriatisches Küstenland" ein­ gesetzt78. Dort waren sie vornehmlich mit Sicherungsaufgaben und der Bekämpfung der Partisanen beschäftigt79. Das Polizeiregiment „Brixen" und das 3. Bataillon des Polizeiregiments „Bozen" bildeten die Ausnahme. Während die „Brixener" an der

72 A. M. Santacroce, La strage delle Cave Ardeatine, Rom 1944, S. 6. Angesichts der Nähe zu dem historischen Ereignis ist dieses rein emotionale Urteil noch zu verstehen. 73 Renato Perrone Capano, La Resistenza in Roma, Band II, Neapel 1963, S. 232 f. Noch 1996 sprach Massimo Rendina von „SS a pieno titolo, volontari in quelle unità di nazisti fanatici" in: F. Gri- maldi, L. Soda, S. Garasi (Hrsg.), Partigiani a Roma, Rom 1996, S. 20. 74 Giorgio Pisanò, Sangue chiama sangue, Mailand 1962, S. 77. 75 Vgl. Karl Stuhlpfarrer, Die Operationszonen „Alpenvorland" und „Adriatisches Küstenland" 1943-1945, Wien 1969. 76 Vgl. WASt-Verluste, Pol. Rgt. BZ. 3/44, „Ordensverleihvorschläge 18.2. 1944 - 6.3. 1945", u.a.: Vorschlag des Oberst der Gendarmerie Alois Menschik zum Kriegsverdienstkreuz I. Klasse mit Schwerten. Vgl. auch Hans-Joachim Neufeldt/Jürgen Huck/Georg Tessin, Zur Geschichte der Ordnungspolizei 1936-1945, Koblenz 1957, S. 77. 77 Franceschini, Das Trauma von Rom, S. 9. In den Verlustlisten der in der Via Rasella getroffenen Einheit sind einige Verlustkarten mit dem Wort „Italiener" versehen. Ob daraus auf „Dableiber" geschlossen werden kann, ist nicht mit Sicherheit zu sagen. Nachdem Mussolini im Oktober 1922 an die Macht gekommen war, wurde auf alle ethnischen Minderheiten Italiens ein gewaltiger Assimilationsdruck ausgeübt. Deutschland und Österreich hatten sich durch zahlreiche Proteste gewissermaßen zu „Schutzmächten" für Südtirol entwickelt. Aber auch nach der Annäherung der beiden faschistischen Regime Italien und Deutschland ab Herbst 1936 blieb Südtirol ein Streitfall. Die Lösung sollte eine „Option" bringen, die es den Südtirolern ermöglichte, zwischen Deutsch­ land und Italien zu wählen. Wer für Deutschland optierte („Optanten"), sollte mit einer einmali­ gen finanziellen Entschädigung abgefunden werden und dann in die neu von Deutschland zu erobernden Ostgebiete abwandern. Die Südtiroler, die sich dafür entschieden, in Südtirol zu blei­ ben („Dableiber"), mußten sich bereit erklären, ihre „nationale" Identität aufzugeben. Vgl. u. a. Rudolf Lill, Geschichte Italiens in der Neuzeit, Darmstadt 41988, S. 315ff. u. S. 352; Karl Stuhlpfar­ rer, Umsiedlung Südtirol 1939-1940, Wien/München 1985. 78 Unter dem Begriff „Operationszone" wurden die Provinzen Bozen, Trento, Belluno („Alpenvor­ land") und die Provinzen Görz, Triest, Istrien und Dalmatien („Adriatisches Küstenland") annek­ tiert. 79 So wurde das I. und II. Bataillon des Polizeiregiments „Bozen" zur Bandenbekämpfung auf Istrien (I.) und in der Provinz Belluno (II.) eingesetzt. Vgl. WASt-Verluste, Pol. Rgt. BZ. 3/44, Verlustlisten und „Ordenvorschlagslisten". Vgl. auch Hartungen u. a., Die Südtiroler Polizeiregimenter, S. 500. Mord in Rom? 281 Ostfront zum Einsatz kamen80, wurde das 3. Bataillon des Polizeiregiments „Bozen" nach der Grundausbildung im Februar 1944 nach Rom verlegt und dort der 14. Armee unterstellt. Das 3. Bataillon bestand aus drei Kompanien, der 9., der 10. und der 11. Die 9. Kompanie wurde im Süden Roms mit der Bewachung von zwangsre­ krutierten italienischen Arbeitern der Organisation Todt betraut, die beim Ausbau der sogenannten Campagne-Riegelstellung eingesetzt wurden. Die 10. Kompanie verblieb in Rom und wurde zu Sicherungsdiensten wie der Bewachung von Muniti- ons- und Benzinlagern oder der strategisch wichtigen Magliana-Brücke herangezo­ gen81. Da es für die 11. Kompanie zunächst keine Verwendung gab, sollte sie ihre Ausbildung vervollständigen und dann die 10. Kompanie ablösen82. Das Heranzie­ hen der Südtiroler zu Feldgendarmerieaufgaben wurde dem deutschen Kommandan­ ten von Rom von Seiten des Armeeoberkommandos ausdrücklich verboten83. Die 11. Kompanie war 156 Mann stark und - wie alle Südtiroler Polizeiregimenter - nach „infantristischen Grundsätzen" aufgebaut; sie führte also keine schweren Waffen mit sich84. Die Männer der Einheit waren mit Gewehren bewaffnet, einige waren auch mit Handgranaten ausgerüstet. Aus einer Vorschlagsliste für das Kriegs­ verdienstkreuz IL Klasse geht hervor, daß die 11. Kompanie am 23. März in der Via Rasella auch mindestens ein Maschinengewehr mit sich führte, das bei dem Anschlag auch zum Einsatz kam85. Aus den 77 Personalkarten der Verlustliste läßt sich auf ein Durchschnittsalter von 35,5 Jahren schließen. Ca. 40 Prozent waren Familienväter86. Die Einheit wird in der Literatur immer wieder als „SS-Polizeiregiment"87 oder sogar als „Parteipolizei" bezeichnet, was eine unzulässige Subsumierung unter das Kürzel „SS" ist. Durch Himmlers Erlaß vom 24. Februar 1944 erhielten die deut­ schen Polizeiregimenter zwar die Bezeichnung SS-Polizeiregimenter. „Sie traten damit aber nicht zur Waffen-SS über, sondern blieben unverändert Bestandteile der Ordnungspolizei."88 So ist denn in den Verlustmeldungen bei jedem einzelnen ein­ deutig vermerkt, daß er kein Angehöriger der Schutzstaffel gewesen sei, keinen SS- Dienstgrad getragen und keine SS-Nummer besessen habe89. Das Polizeiregiment Bozen wurde überdies auch erst mit einem Erlaß vom 16. April 1944 wie ihre „rein" deutschen Pendants als SS-Polizeiregiment bezeichnet90.

80 Vgl. ebenda, S. 513. 81 WASt-Verluste, Pol. Rgt. BZ. 3/44, Vorschlagsliste Nr. 9 für Verleihung des Kriegsverdienstkreu­ zes II. Klasse mit Schwertern vom 9. Dezember 1944; siehe auch Franceschini, Das Trauma von Rom, S.U. 82 Vgl. Hartungen u. a., Die Südtiroler Polizeiregimenter, S. 507. 83 MA-BA, RH 20-14/27, Anlage zu KTB Nr. 244, Armeebefehl vom 20. 3. 1944. 84 Hartungen u. a., Die Südtiroler Polizeiregimenter, S. 496. 85 WASt-Verluste, Pol. Rgt. BZ. 3/44, Vorschlagsliste Nr. I für die Verleihung des Kriegsverdienst­ kreuzes II. Klasse (mit Schwertern) vom 29. 5. 1944. 86 Wenn die in der Literatur angegebene Kompaniestärke von 156 Mann stimmt, ist die Hälfte der Geburtsdaten bekannt. Vgl. WASt-Verluste, Pol. Rgt. BZ. 3/44. 87 Siehe u. a. Bentivegna/De Simone, Operazione via Rasella, S. 18; Katz, Morte a Roma, S. 22. 88 Neufeldt/Huck/Tessin, Zur Geschichte der Ordnungspolizei 1936-1945, S. 31. 89 WASt-Verluste, Pol. Rgt. BZ. 3/44. 90 Vgl. Neufeldt/ Huck/Tessin, Zur Geschichte der Ordnungspolizei 1936-1945, S. 78. 282 Steffen Prauser Die Offiziere und Unteroffiziere des 3. Bataillons waren alle Reichsdeutsche. Sie stammten vornehmlich aus Norddeutschland, was nicht allein die Verständigung erschwert haben soll. Fast alle von Umberto Gandini befragten Überlebenden der 11. Kompanie gaben an, daß sie ein schlechtes Verhältnis zu ihren reichsdeutschen Vorgesetzten gehabt hätten, welche die Südtiroler als „Verräter" und „Tiroler Holz­ köpfe" zu titulieren pflegten91. Die gegenseitigen Ressentiments gingen soweit, daß einige Südtiroler aus der Tatsache, daß ihre Vorgesetzten vor dem Attentat beson­ dere Vorsichtsmaßnahmen angeordnet hatten, den Schluß zogen, sie hätten von einem bevorstehenden Anschlag in der Via Rasella gewußt92. Die Anweisungen, die Gewehre durchzuladen und nicht - wie üblich - beim Marsch durch die Stadt zu singen, dürften aber wahrscheinlich dadurch zu erklären sein, daß die deutschen Offiziere wegen des symbolträchtigen Datums, dem 23. März, dem 25. Jahrestag der Gründung der „Fasci di combattimento", mit Schwierigkeiten rechneten. In der Via Rasella wurde also keine wehrlose und gänzlich unvorbereitete Einheit getroffen. Auch das Oberkommando der 14. Armee rechnete mit den „Bozenern" als potentielle Kampftruppe, wie aus den geheimen Lagekarten des Ia hervorgeht93. Nicht zu vergessen ist auch, daß die Uniform der Ordnungspolizei den Römern nach dem 16. Oktober 1943 in schlechter Erinnerung geblieben sein muß. Stellten doch die Vorgänger der „Bozener" den größten Teil der Kräfte, die an der Auskäm- mungsaktion im römischen Ghetto beteiligt waren. Außerdem dürfte die Ordnungs­ polizei bei den Razzien auf der „Suche" nach Arbeitskräften beteiligt gewesen sein, denn Kappler selbst verfügte nur über knapp 70 Mann Sicherheitspolizei, die mit den unterschiedlichsten Aufgaben betraut waren, was aber noch lange nicht dazu berechtigt, von brutalen SS-Schergen oder berüchtigten Partisanenjägern zu spre­ chen.

IV.

Die Frage, welchen strategischen Zweck der Anschlag in der Via Rasella erfüllte, ist bis heute umstritten; oft wird sie mit der Frage nach der Legalität und Legitimität verbunden. In der Literatur können, grob gesprochen, drei Theorien unterschieden werden: Eine „Verschwörungstheorie", eine den Anschlag glorifizierende „Helden"- Theorie und eine „Volksaufstandstheorie". Die Verschwörungsthese wurde schon in den frühen sechziger Jahren von dem rechtsradikalen Historiker Giorgio Pisanò aufgestellt94 und fand im Rahmen des Priebke-Prozesses neue Anhänger95. Ihre Anhänger behaupten, das eigentliche Ziel

91 Gandini, Quelli di Via Rasella, S. 9. 92 Vgl. ebenda, S. 13. 93 BA-MA, RH 20-14/29K, Geheime Lagekarten des Ia der 14. Armee vom 24., 26. und 29. 3. 1944. 94 Vgl. Pisanò, Sangue chiama sangue. 95 Vgl. Maurizio, Via Rasella; Spataro, Rappresaglia. Mord in Rom? 283 der kommunistischen Partisanen sei nicht die deutsche Besatzungsmacht gewesen, sondern die Ausschaltung der monarchistischen und trotzkistischen Konkurrenz im eigenen Lager. Tatsächlich befanden sich in den deutschen Gefängnissen fast aus­ schließlich Widerstandskämpfer der „Bandiera Rossa", der Aktionspartei und des „Fronte Clandestino Militare", die bei der als „sicher anzunehmenden" Vergeltungs­ tat die ersten Opfer sein mußten96. Mit der Ausschaltung dieser überzeugten Anti- kommunisten wäre ein unüberwindliches Hindernis bei der Errichtung einer von den Kommunisten erträumten „repubblica sovietica" in Italien aus dem Weg geräumt worden97. Die Journalisten Pierangelo Maurizio und Mario Spataro gehen noch weiter98, wenn sie behaupten, die kommunistische Partei habe über ihre engen Kontakte zur italienischen Polizei sogar auf die Todesliste Einfluß genommen, um sicher zu gehen, daß keiner ihrer Genossen der deutschen Repressalie zum Opfer falle. Abgesehen von der eindeutig politischen Zielsetzung dieser Arbeiten, fehlt der Argumentation fast jede Quellenbasis, und sie entbehrt oft auch der nötigen Logik99. Die zweite, den Anschlag glorifizierende Theorie besagt, daß mit dem Attentat in der Via Rasella ein Zeichen an die Adresse der deutschen Besatzer gesetzt werden sollte, weil sie ständig den Status der „offenen Stadt"100 verletzten. Diese von den kommunistischen Partisanen und einigen mit ihnen sympathisierenden Historikern ins Feld geführte These zieht eine eindeutig positive Bilanz. Die Via Rasella sei eine der bedeutendsten Aktionen des Widerstandes in Europa101 gewesen, die Deutschen hätten sich danach auch wieder an die Spielregeln einer „offenen Stadt" gehalten102. Darüber hinaus seien die deutschen Truppen verunsichert worden, man habe ihnen bewiesen, daß sie nicht mehr ungestraft durch Rom marschieren könnten103. In die­ sem Lager wird oft der Zusammenhang zwischen Via Rasella und Fosse Ardeatine stark heruntergespielt104.

96 Vgl. Pisanò, Sangue chiama sangue, S. 93. 97 Ebenda. 98 Vgl. Anm. 95. 99 Vgl. Spataro, Rappresaglia, S. 97 ff. u. 135 f. 100 Rom war am 14. 8. 1943 einseitig von der Regierung Badoglio zur „offenen Stadt" erklärt worden, um Rom aus allen Kampfhandlungen - bis dato ausschließlich Luftangriffe - heraus zu halten. Sowohl die Alliierten wie auch die Deutschen respektierten diesen Status stillschweigend. Die Deutschen haben aber, so der Vorwurf der resistenzafreundlichen Literatur, diesen Status nach der Landung der Alliierten ständig verletzt. Vgl. Lutz Klinkhammer, Die Abteilung „Kunst­ schutz" in Italien, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 72 (1992), S. 496 f. 101 Vgl. Bentivegna, Achtung Banditen, S. 152; Fiorentini im Interview mit dem Autor vom 20.10. 1997. 102 Vgl. Rendina, Vorwort in: Grimaldi/Soda/Garasi (Hrsg.), Partigiani a Roma, S. 22; Fiorentini im Interview mit dem Autor vom 20. 10. 1997. 103 Vgl. Bentivegna, Achtung Banditen, S. 152. Fiorentini in: Grimaldi/Soda/Garasi (Hrsg.), Parti­ giani a Roma, S.29; Piscitelli, Storia della Resistenza Romana; Viva Tedesco, Il contributo di Roma e provincia nella lotta di liberazione, Rom 1964, S. 442. 104 Vgl. Portelli, L'ordine e già stato eseguito, S. 13. 284 Steffen Prauser Genau dagegen richtet sich die dritte These, die man vereinfachend Volksauf- standsthese nennen könnte. Auch hier wird wie bei der Verschwörungstheorie davon ausgegangen, daß die Gappisten die Repressalie bewußt einkalkuliert hätten. Das Ziel sei aber nicht die Ausschaltung der Konkurrenz im eigenen Lager gewesen. Bei dem Frontalangriff auf die Deutschen und der dadurch provozierten Repressalie sei es vielmehr darum gegangen, die abwartenden und zögernden Römer wach zu rüt­ teln und zum Kampf zu bewegen, die sich bis zum 23. März vom Straßenkampf der Gappisten distanziert hätten. Die Kommunisten hätten demnach auf einen Volksauf­ stand ähnlich dem in Neapel 1943 gehofft, in dem dann die kommunistische Partei die Führungsrolle übernehmen sollte105. Da in Rom alle: die Bevölkerung, die alliier­ ten Spionagekommandos, der Vatikan und die antifaschistischen Parteien von den Trotzkisten über die Katholiken bis zu den Monarchisten, gegen einen bewaffneten Widerstand innerhalb der Stadtgrenzen gewesen seien, habe man die Römer zum Kampf zwingen müssen. Denn erst ein so schwerer Anschlag wie der in der Via Rasella habe das wahre Gesicht der Deutschen zum Vorschein gebracht. Die Nutz­ nießer der Via Rasella und der Fosse Ardeatine seien aber die Deutschen gewesen, denn genau dieser Effekt sei nicht eingetreten. Im Gegenteil: Der römische Wider­ stand habe nach dem 23. und 24. März quasi aufgehört zu existieren106. Die „Volks- aufstandsthese" klingt in vielen Punkten plausibel, beruft sie sich doch in erster Linie auf die Aussagen der Partisanen. Ihre Hauptschwäche ist aber wiederum die dünne Quellenbasis. Unbestreitbar erscheint in der Thesenvielfalt folgendes: 1. Die Partisanen mußten auf jeden Fall mit einer Repressalie rechnen. Auch wenn die deutsche Besatzungsmacht in Rom bis dahin relativ zurückhaltend aufgetreten war, mußte jedem, der über die deutsche Besatzungspolitik im übrigen Italien oder in Frankreich unterrichtet war - und die italienische Resistenza war es -, bewußt gewesen sein, daß die Via Rasella eine zu große Provokation darstellte, als daß sie in der Logik der Besatzer hätte ungesühnt bleiben können107. Hinzu kam, daß sich die Nachricht über einen so schweren Anschlag nicht verheimli-

105 Vgl. Benzoni, Attentato e Rappresaglia; Goetz, Das Attentat in Rom und die Fosse Ardeatine, S. 165; Raleigh Trevelyan, Roma '44, Mailand 1983, S. 136; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. 8. 1996, S. 2; Der Spiegel, Nr. 35/1977, S. 93; Katz, Morte a Roma, S. 28, ist der Meinung, der Anschlag sollte die Römer einen und zum Aufstand gegen die Besatzer bewegen. Ohne auf die Problematik Attentat - Repressalie einzugehen, stellt er den Sachverhalt so dar, als hätten die Par­ tisanen versucht, allein durch einen spektakulären Anschlag die Bevölkerung zu mobilisieren. Ähnlich Bocca, Storia dell' Italia partigiana, S. 288, nach dessen Meinung das Ziel des Anschlags die Einigung und Mobilisierung der heterogenen und demoralisierten Widerstandsbewegung gewesen sei. 106 Vgl. Benzoni, Attentato e Rappresaglia, S. 102 f.; Forcella, La Resistenza in convento, S. 173. 107 Die Geiselerschießungen von Nantes und Bordeaux, bei denen jeweils 48 bzw. 50 Geiseln für den Tod des Feldkommandanten von Nantes und den eines Kriegsverwaltungsrates (Bordeaux) erschossen wurden, hatten beispielsweise weit über Frankreichs Grenzen hinaus für Erregung gesorgt. Vgl. Eberhard Jäckel, Frankreich in Hitlers Europa. Die deutsche Frankreichpolitik im Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 1966, S. 192. Daß auch die Führung des italienischen Widerstandes darüber Bescheid wußte, zeigen u. a. die Tagebucheintragungen des Parteichefs der Sozialisten. Vgl. Pietro Nenni, Diari, vol. I: Tempo di guerra fredda 1943-1956, Mailand 1981, S. 54. Mord in Rom? 285 chen ließ, wie das bei dem Anschlag auf die Stadtkommandatur offensichtlich geschehen ist. 2. Von einem strategischen Erfolg der Partisanen kann nicht gesprochen werden. Daß die Besatzer den de-facto-Status Roms als „offene Stadt" ab Mitte März 1944 wieder respektierten und Truppenteile aus der Stadt abzogen, steht offen­ sichtlich in keinem Zusammenhang mit dem Anschlag in der Via Rasella. Schon am 13. März, also zehn Tage vor dem Partisanenanschlag, wurde der Zugang zum römischen Stadtgebiet durch einen Armeebefehl drastisch eingeschränkt: Der Besuch der Peterskirche wurde allen Wehrmachtsangehörigen mit sofortiger Wir­ kung verboten, Fronturlauber sollten über das Verbot, Rom zu betreten, aus­ drücklich vor Antritt ihres Urlaubs belehrt werden, und bei eigenmächtiger pri­ vater Einquartierung wurde mit Zwangsarbeit gedroht. Zudem wurde befohlen, den gesamten Durchgangsverkehr ab dem 20. März um die Stadt herumzuleiten, und es wurden spezielle Ausweise für Rom geschaffen, um den Zutritt genau zu reglementieren108. Am 16. März erfuhr dieser Befehl seine Bekräftigung, indem die abziehenden Dienststellen und Truppenteile der Armee zu größerer Eile ange­ trieben wurden, das Stadtgebiet zu verlassen. Ausgenommen blieben die Lazarett- und Sanitätseinrichtungen109. Was den Besatzungsalltag betraf, deutet alles darauf hin, daß die Deutschen an ihrer alten Linie festhielten, wie der Lagebericht des Verwaltungsstabes des deutschen Kommandanten in Rom über den betreffenden Zeitabschnitt beweist110. Bis zum letzten Tag vor der Befreiung wurden regelmä­ ßig Partisanen im Forte Bravetta erschossen111, und noch am 17. April durch­ kämmten die Deutschen als Vergeltung für einen Anschlag, bei dem drei Deut­ sche den Tod gefunden hatten112, ein ganzes Stadtviertel und verhafteten 2000 Männer, von denen mehr als 700 nach Deutschland deportiert wurden113.

108 BA-MA, RH 20-14/27, Anlage 214, Armeebefehl für das Betreten der Stadt Rom vom 13. 3. 1944, A. O. K. 14, Ia. 109 BA-MA, RH 20-14/27, Anlage 229, Befehl vom 16. 3. 1944 in Bezug auf Armeebefehl für Betre­ ten der Stadt Rom vom 13. 3. 1944. Allerdings scheint die Durchsetzung des Verbotes Schwierig­ keiten verursacht zu haben, denn am 8. April wurde unter Bezug auf den Befehl vom 13. März ein neuer Befehl herausgegeben, der das Betreten Roms noch genaueren Regeln unterwarf. Vgl. BA-MA, RH 20-14/33, Anlage 310. 110 BA-MA, RH 20-14/139 a, Anlageband, S. 1, Lagebericht des Verwaltungsstabes des Deutschen Kommandanten von Rom, Nr. 275/44, für die Zeit vom 13. März bis 14. April 1944 an das Ober­ kommando der 14. Armee vom 14. 4. 1944. 111 Archivio di Stato di Roma, Detenuti di Regina Coeli, Deceduti anni 1944-1945, fasc. 325-402. 112 BA-MA, Morgen-, Zwischen- und Tagesmeldungen zum KTB Nr. 3 A. O. K. 14, 1.4.1944-30.6. 1944, Tagesmeldung 14 vom 10. 4. 1944. 113 Offensichtlich war ursprünglich neben der Deportation eine Repressaltötung mit der üblichen Quote 1:10 vorgesehen, die aber aus nicht bestimmbaren Gründen auf einen Befehl aus Kessel­ rings Hauptquartier hin abgesagt wurde. Befehl des Ia A. O.K 14 an Deutschen Kommandanten von Rom vom 13.4. 1944, in: BA-MA, RH 20-14/33, Anlage 330; vgl. auch De Simone, Roma città prigioniera, S. 141 f.; Walter De Cesaris, Il rastrellamento al Quadraro del 17 aprile 1944, in: Giorgio Giannini (Hrsg.), La lotta non armata nella Resistenza, Atti del Convegno del 25 ottobre 1993, „Quaderno" del Centro studi difesa civile, n. 1, Rom 1994, S. 75ff.; Sara Manasse, La resi­ stenza al Quadraro. Il rastrellamento nazifascista, in: Giorgio Giannini (Hrsg.), La resistenza 286 Steffen Prauser 3. Aus den spärlichen Überlieferungen der Protagonisten des Nationalen Befrei­ ungskomitees114, das sich als offizielle und einzig legitime Vertretung der Resi- stenza verstand, muß nicht unbedingt eine allgemeine Billigung des Anschlages in der Via Rasella herausgelesen werden, wie das Katz115, Bentivegna und De Simone116 getan haben. Die vorhandenen Quellen lassen auch die Interpretation zu, daß die Diskussion darüber äußerst heftig verlaufen ist und das Befreiungsko­ mitee weiter117 gespalten hat118. Piscitelli äußerte 1965 sogar die Vermutung, daß der vorübergehende Rücktritt des Präsidenten des Komitees, Ivanoe Bonomi, mit seiner Mißbilligung des Attentats in der Via Rasella zusammenhängen könnte119. Aus Sicht des römischen Widerstands war die Via Rasella eher von Schaden als von Nutzen, was sich nicht zuletzt an der stark verminderten Aktivität der römi­ schen Partisanen nach dem 24. März ablesen läßt120. Sollte allerdings eine Eskala­ tion der Gewalt bezweckt worden sein, so war das gelungen: Noch während die Erschießung in den Fosse Ardeatine im Gange war, befahl das Armeeoberkom­ mando der 14. Armee, den berüchtigten Befehl Kesselrings vom 7. April 1944 vorwegnehmend, erhöhte Sicherungsmaßnahmen und im Falle eines Angriffs auf deutsche Soldaten die sofortige Reaktion „ohne Rücksicht auf Unbeteiligte." „Zaghaftes Verhalten einzelner oder ganzer Kommandos" sollte „ohne Ansehen der Person scharf geahndet werden."121

V.

Nach dem Attentat trafen innerhalb kurzer Zeit alle deutschen Entscheidungsträger am Tatort ein. Die Anwohner der Via Rasella wurden mit Gewehrkolben von deut­ schen und faschistischen Einheiten aus den Häusern getrieben und mußten sich, Frauen und Männer getrennt, am Zaun des Palazzo Barberini mit erhobenen Hän-

non armata, Atti del Convegno del 24-25 novembre 1994, „Quaderno" del Centro studi difesa civile, n. 2, Rom 1995, S. 157 f.; Anna Balzarro, Il rastrellamento del quartiere Quadraro in Roma, in: Nicola Gallerano (Hrsg.), La Resistenza tra storia e memoria, Mailand 1999, S. 257 ff. 114 Vgl. Nenni, Diari, S. 52 ff.; Bonomi, Diario di un anno, S. 162 ff.; Giorgio Amendola, Lettere a Milano, Ricordi e Documenti 1939-1945, Rom 1974, S. 291 ff. 115 Vgl. Katz, Morte a Roma, S. 171 f. 116 Vgl. Bentivegna/De Simone, Operazione via Rasella, S. 106. 117 Innerhalb des Comitato di Liberazioni Nazionale (CLN) fand im März 1944 eine heftige Diskus­ sion darüber statt, ob der wegen seiner Rolle im Faschismus kompromittierte König als Staats­ oberhaupt bis zum Ende des Krieges tragbar sei, oder ob man seinen Sturz sofort verlangen sollte. Vgl. u. a. Pietro Secchia/Filippo Frassati, Storia della Resistenza. La guerra di liberazione in Italia 1943-1945, Vol. I, Rom 1965, S. 505. 118 Vgl. Forcella, La Resistenza in convento, S. 161 ff. 119 Vgl. Piscitelli, Storia della Resistenza Romana, S. 294 f. 120 Vgl. Forcella, Resistenza in convento, S. 173; Tedesco, Il contributo di Roma e provincia nella lotta di liberazione, S. 455; Benzoni, Attentato e rappresaglia, S. 103 ff. 121 BA-MA, RH 20-14/27, Anlage zu KTB Nr. 262, Fernschreiben A. O. K. 14, Ia an Kommandant von Rom vom 24. 3. 1944, 17.00 h. Mord in Rom? 287 den aufstellen122. General Mälzer, der wie üblich angetrunken gewesen sein soll, begann beim Anblick der toten und verwundeten Polizisten zu toben und drohte damit, das ganze Viertel in die Luft zu sprengen123. Kappler gelang es aber, Mälzer zu beruhigen und zur Rückkehr in sein Hauptquartier zu bewegen, um ihm, Kapp­ ler, die „Sache" vor Ort zu überlassen124. Nachdem Kappler erste polizeiliche Ermittlungen eingeleitet hatte125, begab er sich in die Dienststelle Mälzers126. Dort einigte er sich via Telefon mit dem Befehls­ haber der 14. Armee, General von Mackensen, über die zu ergreifende Sühnemaß­ nahme. In allen von deutschen Truppen besetzten Ländern wurden Partisanenan­ griffe mit Repressalien geahndet. In Serbien war es sogar üblich, für einen getöteten deutschen Soldaten 100 Geiseln, meist serbische Juden und angebliche Kommuni­ sten, zu erschießen127. Selbst in Frankreich kam es im Falle deutscher Verluste bei Zusammenstößen mit Partisanen regelmäßig zu sogenannten Geiselerschießungen128. Dieses Muster kam nach der Besetzung Italiens sofort zum Tragen: Schon am 10. September 1943, also zwei Tage nach der Verkündung des Waffenstillstands, wur­ den in Barletta, 50 km nordwestlich von Bari, elf Italiener als Repressalie erschos­ sen129. Am 30. Dezember wurden in der Provinz Pescara 20 Italiener für einen tot aufgefundenen Deutschen exekutiert130. Für Februar und März 1944 sind drei Ver­ geltungsmaßnahmen in Rom und Umgebung überliefert. Bei der einen fanden 16 Italiener den Tod131, bei den anderen beiden wurden je zehn Italiener für einen von Partisanen getöteten Deutschen exekutiert. So kann es nicht verwundern, daß nach einem so schwerwiegenden Partisanenanschlag wie dem in der Via Rasella die deut­ sche Seite zu scharfen Repressalmaßnahmen greifen würde. Kappler und von Mackensen einigten sich schnell auf eine Repressalquote von 1:10; für jeden getöteten Polizisten sollten zehn Italiener erschossen werden132. Beide

122 TMR, Übersicht des Tatbestandes in der Rechtssache gegen E. v. Mackensen und K. Mälzer. Aus­ sage General U. Prestis vom 5. 9. 1945, Cartella 2. 123 Vgl. Katz, Morte a Roma, S. 70 f.; Dollmann, Roma nazista, S. 241; Moellhausen, Die gebrochene Achse, S. 134 f. 124 Aussage Kapplers im Mackensen/Mälzer-Prozeß, in: BA, All. Proz. 8, JAG 294, 1. Prozeßtag, S.16. 125 Aussage Kapplers bei der Vernehmung durch stv. Staatsanwalt Vittorio Picozzi am 17. 7. 1947, in: Staatsanwaltschaft Dortmund, Reg. 48 360 d, S. 4. Da die ersten 36 Seiten der Vernehmung Kapp­ lers aus dem Jahre 1947 in den italienischen Originalakten fehlen, wird hier aus der deutschen Übersetzung zitiert. Ein Aufruf an die Partisanen, wie oft behauptet wird, wurde nie veröffent­ licht. Vgl. Kapplers Aussage in seinem Prozeß, in: Settimelli (Hrsg.), Herben Kappler, S. 95. 126 Aussage Kapplers im Mackensen/Mälzer-Prozeß, in: BA, All. Proz. 8, JAG 294, 1. Prozeßtag, S.17. 127 Vgl. Walter Manoschek, „Serbien ist judenfrei!". Militärische Besatzungspolitik und Judenver­ nichtung in Serbien 1941/42, München 1993, S. 44, 52, 84 f. und 97. 128 Vgl. Klinkhammer, Grundlinien nationalsozialistischer Besatzungspolitik in Frankreich, Jugosla­ wien und Italien, S. 199; Jäckel, Frankreich in Hitlers Europa, S. 185 ff. 129 Vgl. Andrae, Auch gegen Frauen und Kinder, S. 86 f. 130 Vgl. ebenda, S. 112 f. 131 Vgl. ebenda, S. 113. 132 Aussage Kapplers im Mackensen/Mälzer-Prozeß, in: BA, All. Proz. 8, JAG 294, 1. Prozeßtag, S. 17. 288 Steffen Prauser gaben nach dem Krieg zu Protokoll, daß zunächst vereinbart worden sei, nur so viele Menschen zu töten, wie „Todeswürdige" in deutschen Gefängnissen zur Verfü­ gung standen, aber die der Quote 1:10 entsprechende Zahl an die Heeresgruppe zu melden133. Wer unter die Kategorie „Todeswürdige" fiel, erklärte Kappler als Zeuge im Kesselring-Prozeß so134: „I understand by the words ,death worthy', the way we used it at that time, such persons who, according to police investigations, had been proved that they had com- mitted a deed which according to the law of war, a deed which, according to our conception, should be punished by a death sentence." Um Unklarheiten zu vermeiden, fragte der Staatsanwalt weiter: „There need not to be any trial at all for persons to be ,todeswürdig'?" Worauf Kappler antwortete: „No" Letztendlich nahm Kappler, dem die Zusammenstellung der Todesliste zugefallen war, es mit seiner eigenen Definition nicht allzu genau. Am 24. März wurden 154 Personen aus dem Gestapo-Gefängnis und 43 Personen aus Wehrmachtsgefängnissen erschossen. Von diesen 43 waren 3 zum Tode verurteilt worden, 16 hatten Freiheits­ strafen zwischen einem und 15 Jahren abzusitzen, 23 warteten auf ihr Urteil, und einer war sogar freigesprochen worden. Weitere 10 Opfer wurden unter den in der Via Rasella verhafteten Zivilpersonen ausgewählt, denen man Sympathien für die kommunistische Partei nachweisen zu können glaubte. 50 Personen stellte die italie­ nische Quästur zur Verfügung, von denen 40 aus politischen Gründen und 10 wegen Verstößen gegen die öffentliche Sicherheit im Gefängnis saßen135. Unter den aus dem Gestapo-Gefängnis stammenden 154 Gefangenen befanden sich 5 Generäle und 11 hohe Offiziere. Mit dabei war Colonello Montezemolo, den man nach Dienstgrad, Herkunft und Rolle im militärischen Widerstand fast mit Claus Schenk Graf von Stauffenberg vergleichen könnte136.

133 Aussage von Mackensen im Mackensen/Mälzer-Prozeß, in: Ebenda, 5. Prozeßtag, S. 19; Aussage Kapplers bei seiner Vernehmung durch stv. Staatsanwalt Vittorio Picozzi am 21. 7. 1947, dt. Über­ setzung in: Staatsanwaltschaft Dortmund, Reg. 48 360 d, S. 12. 134 Aussage Kapplers im Kesselring-Prozeß, in: ZSL, (III-26) JAG 260, 3. Prozeßtag, S. 12. Von Mak- kensen und Kesselring behaupteten nach 1945, daß sie mit Kappler vereinbart hätten, nur zum Tode Verurteilte zu erschießen. Aussage von Mackensen im Mackensen/Mälzer-Prozeß, in: BA, All. Proz. 8, JAG 294, 5. Prozeßtag, S. 19; Aussage Kesselrings im Prozeß gegen ihn selbst, in: ZSL, (III-26) JAG 260, 12. Prozeßtag, S. 15. Da Kesselring und von Mackensen die Todesurteile gegenzeichnen mußten, war es völlig unmöglich, daß sie glauben konnten, es gäbe 320 zum Tode Verurteilte. Vgl. Aussage Kapplers im Kesselring-Prozeß, in: Ebenda, 4. Prozeßtag, S. 9. Die Aus­ sage Kapplers, Mackensen und Kesselring hätten gewußt, daß (fast) keine Todeskandidaten zur Verfügung standen, wird durch die Aussage eines der Generalstabsoffiziere Kesselrings (Aussage Beelitz, zit. in summing-up durch Judge Advocate General, in: ZSL, (III-26), JAG 260, 58. Pro­ zeßtag, S. 10.) und durch die Tagesmeldungen der 14. Armee (von Mackensen) vom 23. und 24. März bestätigt. Hier heißt es, daß „als Sühne" 270 [Tagesmeldung vom 23.3.] bzw. 328 [Tages­ meldung vom 24.3.] „in Haft befindliche Badoglio-Anhänger und Kommunisten erschossen" werden bzw. wurden. In: BA-MA, RH 20-14/28. 135 TMR, Cartella 1080, S. IV f., Sentenza vom 20. 7. 1948 gegen Kappler Herbert et alt., S. IV f. 136 Vgl. Gabrio Lombardi, Montezemolo e il Fronte Militare Clandestino di Roma (Ottobre 1943 - Gennaio 1944), Rom 1947. Mord in Rom? 289 Um die Repressalquote bis zum letzten Mann zu erfüllen, wurden schließlich noch 75 Juden in die Todesliste aufgenommen. Diese Entscheidung begründete Kappler nach dem Krieg entsprechend der NS-Ideologie mit den Worten: „Die 57 Juden [sic!], die sich am 23. März 1944 im Gefängnis befanden, um nach Deutschland transportiert zu werden, kann ich nur als ,arme Unglückliche' bewei­ nen. Ich hatte wirklich keine andere Wahl: Wenn ich sie verschont hätte, hätte ich die gleiche Zahl unschuldiger [!] römischer Bürger in die Liste aufnehmen müs­ sen."137 Worin die „Schuld" der Juden lag, wurde bei der Befragung Kapplers im Kessel­ ring-Prozeß deutlich138: Staatsanwalt: „Did that [= die Liste] show what offences the people had commit- ted or what they were?" Kappler: „Yes, there was a place where one single word, the type of crime, was shown." Staatsanwalt: „And against the Jews, what was shown against them?" Kappler: „Only the word 'Jew'." Umstritten bleibt, ob die genaue Repressalquote auf einen Führerbefehl zurück­ ging oder nicht. Wie erwähnt, einigten sich Kappler und Mackensen schon am spä­ ten Nachmittag des 23. März auf die Quote 1:10. Ungefähr um die gleiche Zeit erfuhr Hitler von dem Attentat in der Via Rasella, er reagierte mit einem seiner übli­ chen Wutausbrüche und stieß dabei wüste Drohungen aus139. Nach den Aussagen der Wehrmachtsgeneräle sei dann gegen 20 Uhr ein ausdrücklicher Führerbefehl bei der Heeresgruppe C, also im Hauptquartier Kesselrings, eingegangen, der eine Repressalquote von 1:10 vorgeschrieben habe. Der Judge Advocate General wies bei seinem „summing-up" am vorletzten Tag des Strafverfahrens gegen Generalfeldmar­ schall Kesselring mit Recht darauf hin, daß diese Aussagen und die des Angeklagten bezüglich des „Führerbefehls" wenig glaubwürdig gewesen seien140. Der 1. General­ stabsoffizier des Heeres beim Wehrmachtsführungsstab, Horst Freiherr Treusch von Buttlar Brandenfels, über den fast alle Telefonate mit der Heeresgruppe C liefen, konnte sich an keinen ausdrücklichen Führerbefehl erinnern141. Der Vertreter der deutschen Botschaft in Rom, Eitel Friedrich von Moellhausen, der mit vielen der damals Eingeweihten Kontakt hatte, berichtete, daß diese ihm immer versichert hät-

137 Kappler, Nove mesi contro Roma, S. 9. 138 ZSL, (III-26), JAG 260, 4. Prozeßtag, S. 2. 139 Hitler soll dabei eine Erschießung von mindestens 30 Italienern pro getöteten Polizisten gefordert haben. Vgl. Walter Leszl, Priebke. Anatomia di un processo, Rom 1997. Leszl stützt sich auf die Aussage des Ia in Kesselrings Hauptquartier, Oberst Beelitz. Katz, Morte a Roma, S. 78, berichtet dagegen, daß Hitler die Sprengung eines ganzen Stadtviertels angeordnet habe. Er stützt sich dabei auf die Angaben Dollmanns (wo genau ist aus seiner Fußnote nicht klar ersichtlich), der diese Information aber nur aus zweiter Hand erhalten haben kann. Leszl hegt zurecht Zweifel an der Richtigkeit dieser Angabe. Dollmann wirft wohl die Repressalforderung Hitlers mit dem ursprünglichen Plan Mälzers, das Stadtviertel zu sprengen, in der Erinnerung zusammen. 140 Summing-up durch Judge Advocate General, in: ZSL, (III-26), JAG 260, 58. Prozeßtag, S. 10. 141 ZSL, (III-26), JAG 260, Exhibit 53. 290 Steffen Prauser ten, es habe eine „energische Anweisung von Hitler" gegeben142. Eine „energische Anweisung" mußte aber noch kein „Führerbefehl" sein. Lutz Klinkhammer geht in seiner Arbeit über die nationalsozialistischen Verbre­ chen in Italien noch weiter: Es habe keinen Führerbefehl gegeben, das Oberkom­ mando der Wehrmacht habe Kesselring ausdrücklich freie Hand bei der Wahl der zu ergreifenden Maßnahmen gelassen143. Auch Andrae stützt diese These. Ihm zufolge entsprach eine Quote von 1:10 den „Gepflogenheiten im Befehlsbereich" von Gene­ ralfeldmarschall Kesselring144. Die Mitschrift eines Telefonats zwischen Generalleut­ nant Westphal und dem Chef der 10. Armee, Vietinghoff-Scheel, vom Tage des Attentats in der Via Rasella zeigt deutlich, wie in einem anderen Fall ohne große Diskussion die Repressalquote von 1:10 festgelegt wurde: Ein deutscher Feldwebel war im Befehlsbereich der 10. Armee von Partisanen erschossen worden. Man wandte sich an die Heeresgruppe mit der Frage, ob 30 oder 15 Menschen als Vergel­ tung getötet werden sollten. Westphal antwortete wie folgt: Es „sollten 5 Mann erschossen werden und 25 sollte man deportieren. Nach heutigen Erfahrungen möchte ich ihnen [an Vietinghoff-Scheel gewandt] sagen, daß Sie 10 Mann erschie­ ßen sollten. Im übrigen liegt in solchem Fall die Entscheidung bei der 10. Armee [!]."145 Auch hier, in einem langen Telefongespräch, fiel kein Wort von einem Füh­ rerbefehl. Westphal wies im Gegenteil daraufhin, daß die Entscheidung bei der Armee liege. Nicht weniger umstritten ist ein zweiter sogenannter „Führerbefehl", der gegen 23 Uhr im Hauptquartier Kesselrings eingetroffen sein soll. In diesem Befehl sei nochmals die genannte Repressalquote bestätigt worden. Zusätzlich habe Hitler aber gefordert, daß die Durchführung der Repressalie dem SD zu übertragen sei146. Weder für den ersten, noch für den zweiten Führerbefehl ist indes ein überzeugender Beleg zu finden147. Der Wortlaut der Tagesmeldungen der 14. Armee vom 23. und 24. März bekräftigt dagegen die Vermutung, daß die Entscheidung zur Repressalie mit der Quote 1:10 bei den deutschen Dienststellen in Italien gefallen ist. Nachdem Hitlers Wutausbruch in Kesselrings Hauptquartier bekannt geworden war, dürfte man dort die von Mackensen und Kappler vorgeschlagene Repressalquote von 1:10 übernommen haben. Ob das in vorauseilendem Gehorsam geschah oder in Ausfüh­ rung üblicher Befehle, läßt sich nicht entscheiden. Eine telefonische Besprechung mit dem OKW hätte demnach nur noch bestätigenden Charakter gehabt. Zwischen der Heeresgruppe C und der 14. Armee dürfte auch beschlossen worden sein, den SD, also Kappler, mit der Erschießung zu betrauen.

142 Moellhausen, Die gebrochene Achse, S. 144. 143 Vgl. Klinkhammer, Stragi naziste in Italia, S. 9. 144 Andrae, Auch gegen Frauen und Kinder, S. 117. 145 BA-MA, RH 20-10/106, Anlageband zu KTB 5, 21. 3. 1943 -31.3. 1943, Anlage Nr. 954 zu S. 103 des KTB Nr. 5 146 Vgl. auch Leszl, Priebke, S. 153. 147 Vgl. Richard Raiber, Generalfeldmarschall Albert Kesselring, Via Rasella and the „Ginny Mis­ sion", in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 56 (1997), Heft 1, S. 74 f. Mord in Rom? 291 Die Glaubwürdigkeit Kesselrings wie die seiner Offiziere, die nach dem Krieg im Prozeß gegen den Feldmarschall aussagten, wird auch durch eine andere Episode erschüttert, die Richard Raiber 1997 ans Licht brachte. Raiber behauptet, daß Kes­ selring die Nacht vom 23. auf den 24. März in Rapallo in Oberitalien und nicht, wie von ihm und seinem Stab beeidet, auf seinem Gefechtsstand am Monte Sorrate ver­ bracht habe148. Diese Behauptung stellte schon 1982 Rechtsanwalt Rudolf Aschen- auer auf, der nach dem Krieg zahlreiche deutsche Kriegsverbrecher verteidigt hat149. Er gab allerdings für diese gewagte These, die Kesselring und seinem Stab einen Meineid unterstellte, keine Quelle an150. Raiber zeigt nun auf verschiedene Quellen gestützt, daß Kesselring am fraglichen Abend im Hotel „Excelsior" in Rapallo gewe­ sen sein muß151. Der Grund dafür, daß Kesselring und seine Offiziere vor Gericht die Unwahrheit sagten, sei laut Raiber in Kesselrings Verantwortung für die Erschießung eines in deutsche Gefangenschaft geratenen amerikanischen Kommandos zu suchen, die am 26. März stattfand Diese Tat verstieß eindeutig gegen die Genfer Konvention von 1929; eine harte Reaktion der Amerikaner war zu erwarten. Um sich einer Verurtei­ lung für dieses Verbrechen zu entziehen, habe Kesselring eine viel größere Verant­ wortung für die Vergeltungsmaßnahme in den Fosse Ardeatine auf sich genommen, als ihm in Wirklichkeit zugekommen sei. Da die Erschießung in den Fosse Ardea­ tine dem äußeren Anschein nach den Charakter einer vom Kriegsvölkerrecht nicht explizit verbotenen Repressalie hatte, hoffte Kesselring wohl, damit das bessere Los gezogen zu haben152.

148 Vgl. ebenda. 149 U.a. vertrat er Walter Reder, der wegen des Massakers in Marzabotto vor einem italienischen Gericht stand. Aschenauer, der auch im Auschwitz-Prozeß in den sechziger Jahren als Verteidiger auftrat, war ein echter Kenner der „Szene". Auch wenn seine Arbeiten weniger einer objektiven Klärung der Ereignisse dienen, sondern primär auf die Verteidigung seiner Mandanten ausgerich­ tet sind, ist es nicht unwahrscheinlich, daß er bei seinem engen Kontakt in der Nachkriegszeit mit zahlreichen „Größen" des NS-Regimes über viel Insiderwissen verfügte. 150 Vgl. Rudolf Aschenauer, Krieg ohne Grenzen. Der Partisanenkampf gegen Deutschland 1939- 1945, Leoni am Starnberger See 1982, S. 322. 151 Vgl. Raiber, Generalfeldmarschall Albert Kesselring, S. 74. 152 Vgl. ebenda, S. 101. Während die Falschaussagen der Stabsoffiziere Kesselrings zugunsten ihres Vorgesetzten auf den ausgesprochen starken Korpsgeist zurückzuführen waren, bleibt es verwun­ derlich, daß auch General Anton Dostler, der nach dem Krieg für die Erschießung des amerikani­ schen Kommandos hingerichtet wurde, Kesselring weiter gedeckt haben soll. Raiber weiß darauf keine befriedigende Antwort (ebenda, S. 106). Seine sonst sehr überzeugende Darstellung der Ereignisse würde viele Widersprüchlichkeiten in Kesselrings Aussagen in der Nachkriegszeit erklären. Hier entsteht nämlich oft der Eindruck, der Generalfeldmarschall habe keine genaue Kenntnis des Geschehens vom 23. und 24. März gehabt. 292 Steffen Prauser VI.

Folgt man Kapplers Aussage, dann war bis zum letzten Moment unklar, wer die Repressalie durchführen sollte. Am 24. März gegen 12 Uhr brachte Kappler seine Todesliste zum Stadtkommandanten Mälzer. Hier traf auch der Bataillonskomman­ deur, Major Johann Dobek, ein, dem die von dem Attentat betroffene 11. Kompanie unterstellt war. Laut Kappler hätte Dobek die Repressaltötung übernehmen sollen; dazu sei er auch bereit gewesen153. Als man ihm aber erklärte, daß die zu Erschie­ ßenden nicht wie üblich von einem Exekutionskommando „hingerichtet" werden sollten, sondern daß jeder einzelne Soldat die Opfer jeweils durch einen aufgesetzten Genickschuß töten müsse, brachte Dobek Einwände vor; seine Männer seien zu schlecht ausgebildet und zu religiös154. Diese Einwände sind in der Literatur als eine eindeutige Befehlsverweigerung interpretiert worden, so daß Dobeks Reaktion zu einer moralischen „Heldentat" stilisiert wurde155. In den verfügbaren Quellen ist aber niemals von einer Befehlsverweigerung die Rede156. Kappler selbst will, nachdem Mälzer sich von Dobeks Argumenten hatte überzeu­ gen lassen, Einwände gegen die Exekution durch sein Kommando vorgebracht haben. Laut Kappler hat Mälzer auf sein Drängen bei der 14. Armee angerufen und um ein Erschießungskommando gebeten. Der Chef der Stabes, Oberst Wolf-Rüdiger Hauser, soll aber die abschlägige Antwort gegeben haben: „Die Polizei sei getroffen, also müsse die Polizei auch die Repressalie durchführen."157 Kappler suggerierte mit dieser Darstellung, daß er sich bis zuletzt der Durchführung der Repressalie entzie­ hen wollte. Auch Mälzer erwähnte im Kesselring-Prozeß das Telefonat mit Hauser. Seine Darstellung unterscheidet sich aber in einem wichtigen Detail von der Version Kapplers: Staatsanwalt: „Why did you speak to them [AOK, 14. Armee]?" Mälzer: „Because Kappler asked me for troops [!]. I could not furnish him any troops because I had none."

153 Vernehmung Kapplers durch stv. Staatsanwalt Vittorio Picozzi am 17. 7.1947, dt. Übersetzung in: Staatsanwaltschaft Dortmund, Reg. 48 360 d, S. 40; Vernehmung Kapplers durch Captain Middle- ton vom 4.8. 1945, in: TMR, Cartella 2, Übersicht des Tatbestandes in d. Rechtssache gegen E. v. Mackensen u. K. Mälzer. 154 Ebenda; ZSL, (III-26), JAG 260, Aussage Kapplers im Kesselring-Prozeß, 4. Prozeßtag, S. 4. 155 Katz, Morte a Roma, S. 115, leitet aus dem Verhalten Dobeks fehlende Rachegefühle und Miß­ trauen bezüglich der Rechtmäßigkeit des „Führerbefehls" ab. Ähnliche Interpretationen bei Gior­ gio Angelozzi Gariboldi, Pio XII, Hitler e Mussolini. Il Vaticano fra le dittature, Mailand 1988, S. 242; Pace, Dietro Priebke, S. 48 156 So spricht Kappler im Mackensen/Mälzer-Prozeß von Einwänden „rein technischer Natur", in: BA, All. Proz. 8, JAG 294, S. 25. 157 Aussage Kapplers im Kesselring-Prozeß, in: ZSL, (III-26), JAG 260, 4. Prozeßtag, S. 4. In der Ver­ nehmung wollte sich Kappler erinnern, daß Mälzer sogar ohne sein Drängen bei der 14. Armee angerufen habe, um Männer für das Erschießungskommando zu bekommen. Vgl. Vernehmung durch stv. Staatsanwalt Vittorio Picozzi am 31.7. 1947, dt. Übersetzung, in: Staatsanwaltschaft Dortmund, Reg. 48 360 d, S. 41. Mord in Rom? 293 Staatsanwalt: „Did Hauser say that as the police suffered the lose [sic!] the police would have to carry out the order?" Mälzer: „No." Staatsanwalt: „What did he say?" Mälzer: „He could not furnish troops as the order [der vermeintliche Führerbe- fehl] said, 'Carrying out for the SD."158 Demnach hätte Kappler also allein deshalb beim Oberkommando der 14. Armee anrufen lassen, um Verstärkung für die Erschießung zu bekommen. Diese Vermu­ tung stützt die Aussage Kapplers bei seinem eigenen Prozeß im Jahre 1948. Im Gegensatz zu allen vorherigen Vernehmungen und Aussagen schilderte er den Beginn der Unterredung mit Mälzer wie folgt159: „Mälzer sagte mir, daß Dobrick [sic!] zwar gerufen worden war, aber inzwischen habe der Führer eine Repressalie befohlen, die die Sicherheitspolizei ausführen müsse." Unabhängig von der Diskussion um den Führerbefehl würde diese Darstellung der Ereignisse bedeuten, daß schon vor dem Eintreffen Dobeks klar war, daß Kapp­ ler die Repressalie übernehmen sollte. Schwenkte Kappler auf die allgemeine Linie der Wehrmachtsgeneräle ein? Oder verriet er den wahren Ablauf der Besprechung bei Mälzer, wonach Kappler Dobek nur um Beteiligung an der Repressalie gebeten hatte, während die Verantwortung aber von Anfang an bei ihm gelegen hatte160? Wollte Kappler nur Verstärkung, da er sein Kommando mit kaum mehr als 70 Mann für personell zu schwach hielt, um die Lage in Rom zu kontrollieren und gleichzei­ tig 320 bzw. 335 Menschen zu erschießen? Der dritte Mann bei der Besprechung, der unter Umständen das Rätsel hätte lösen können, Major Dobek, ist anscheinend im Krieg gefallen, ohne sich vor seinem Tod zu der Unterredung bei Mälzer geäu­ ßert zu haben. Kappler fuhr nach dieser Besprechung in die Via Tasso, wo er seine Männer instruierte und befahl, daß neben den Unteroffizieren „der Disziplin wegen" auch die Offiziere nicht nur an der Exekution teilnehmen, sondern sogar beispielgebend die Exekution eröffnen sollten161. Während dieser Besprechung wurde Kappler mit­ geteilt, daß das 33. Opfer des Partisanenanschlags seinen Verletzungen erlegen sei. Nach der Logik der Repressalquote, von der abzuweichen Kappler offensichtlich nicht gewillt war, bedeutete das den Tod weiterer zehn Gefangener. Man meldete ihm, daß zehn Juden „zur Verfügung stünden", die man am Morgen des 24. März

158 ZSL, (III-26), JAG 260, Exhibt 106. 159 TMR, Atti Herbert Kappler, Verbale di dibattimento Kappler et. alt., Nr. 260003/45RS, vom 7.6. 1948, S. 157; Vgl. auch Settimelli (Hrsg.), Herbert Kappler, S. 96 f. 160 Sollte Mälzer ihm wirklich gesagt haben, daß ein Führerbefehl vorliege, der die Sipo, also Kappler, mit der Repressalie beauftrage, ist kaum anzunehmen, daß der überzeugte Nationalsozialist Kappler versucht hat, diesem nicht nachzukommen. 161 Vernehmung Kapplers durch stv. Staatsanwalt Vittorio Picozzi am 4. 8. 1947, dt. Übersetzung in: Staatsanwaltschaft Dortmund, Reg. 48 360 d, S. 51. 294 Steffen Prauser gefaßt habe. Kappler zögerte nicht lange und nahm deren Namen in seine Todesliste auf162. Um 14 Uhr begannen die SS-Männer, die Gefangenen erst aus der Via Tasso und dann aus dem römischen Stadtgefängnis Regina Coeli zu holen. Die Hände mit Stricken hinter dem Rücken zusammengebunden, wurden sie mit Lastwagen zu den Ardeatinischen Höhlen gebracht. Dort ließ man sie absteigen, dann wählte man fünf Opfer aus. Hauptsturmführer Erich Priebke strich ihre Namen von der Liste163, und je ein SS-Mann führte einen Gefangenen in die mit Fackeln schwach beleuchtete Höhle. Den fünf Opfern wurde befohlen, sich niederzuknien und den Kopf nach vorne zu beugen. Auf ein Kommando von Hauptsturmführer Karl Schütz schossen die SS-Männer ihrem jeweiligen Opfer ins Genick164. Nachdem sie ihr Werk verrichtet hatten, verließen die fünf SS-Männer die Höhle, um ihren Nachfolgern mit jeweils fünf weiteren Opfern Platz zu machen. Die übri­ gen Gefangenen, die unter Bewachung auf dem Vorplatz warteten, konnten die Schüsse genau hören165. Dieses Szenario muß so schrecklich gewesen sein, daß Hauptsturmführer Reinhold Wetjen sich weigerte, an der Erschießung mitzuwirken. Daraufhin wurde Kappler angerufen, der, nachdem er sich an einer der ersten Erschießungen beteiligt hatte, wieder in sein Büro zurückgekehrt war. Als Kappler an den Ort der Erschießung zurückkam, nahm er Wetjen beiseite und machte ihn darauf aufmerksam, welchen Einfluß seine Verweigerung als Offizier auf die Diszi­ plin seiner Untergebenen haben mußte. Nach einem längeren Gespräch konnte Kappler Wetjen dazu bewegen, gemeinsam mit ihm einen der sogenannten „Todes­ kandidaten" zu erschießen166. Als gegen 19 Uhr die Erschießung beendet war, hatten 335 Menschen den Tod gefunden.

VII.

Bei der juristischen Beurteilung der Repressalie in den Fosse Ardeatine sieht sich der Historiker mit dem äußerst kontrovers diskutierten Gegenstand des 1944 gülti­ gen internationalen Kriegsvölkerrechts konfrontiert. Dabei handelt es sich keines­ wegs um ein dichtes, eindeutiges und unumstrittenes Gesetzeswerk, wie manche

162 Vgl. Aussage Kapplers, zit. nach Settimelli (Hrsg.), Herbert Kappler, S. 101. 163 Vernehmung Kapplers durch stv. Staatsanwalt Vittorio Picozzi am 6. 8. 1947, dt. Übersetzung in: Staatsanwaltschaft Dortmund, Reg. 48 360 d, S. 58. 164 Die Untersuchungsergebnisse der Obduktion - gleich nach der Befreiung Roms durchgeführt - wurden 1945 von Prof. Ascarelli veröffentlicht. Antonio Ascarelli, Le Fosse Ardeatine. La geogra- fia del dolore, Neuauflage Rom 1992, S. 61. 165 Vgl. Klinkhammer, Stragi naziste in Italia, S. 3. 166 Vernehmung Kapplers durch stv. Staatsanwalt Vittorio Picozzi am 8. 8. 1947, dt. Übersetzung, in: Staatsanwaltschaft Donmund, Reg. 48 360 d, S. 59 f. Vgl. auch Aussage Borante Domizlaff im Kappler-Prozeß in: Settimelli (Hrsg.), Herbert Kappler, S. 121. Mord in Rom? 295 Historiker suggerieren167. Gerade zur Frage von Repressalmaßnahmen waren die Bestimmungen schwammig und widersprüchlich, was bereits damals von Rechtsex­ perten hervorgehoben wurde168. Laut Definition stellt die Repressaltötung ein das Völkerrecht verletzendes Zwangsmittel dar, das aber als Reaktion auf eine Völkerrechtsverletzung der anderen Seite gewohnheitsrechtlich Anwendung finden kann169. Das internationale Recht bestand während des Zweiten Weltkriegs aus Vertrags­ und vornehmlich Gewohnheitsrecht. Nachdem in der Zwischenkriegszeit Versuche, die Repressalie völkerrechtlich zu ächten, gescheitert waren170, hatte zum Zeitpunkt der Erschießungen in den Fosse Ardeatine allein die Haager Landkriegsordnung (HLKO) von 1899 bzw. 1907 Gültigkeit. Diese Konventionen - Kodifizierung des Kriegsgewohnheitsrechts des 19. Jahrhunderts - sollten die gewaltsamen Auseinan­ dersetzungen „hegen" (Carl Schmitt) und unnötige Grausamkeiten verhindern. Aber schon im Ersten Weltkrieg zeigte die HLKO, gerade bei den Rechten der Zivilbe­ völkerung, ihre Unzulänglichkeit171. Nur fünfzehn kurze Artikel befassen sich im Haager Vertragswerk mit der „militärischen Gewalt auf besetztem feindlichen Gebiet"172. Das Rechtselement der Repressalie wird dort nicht ausdrücklich behan­ delt. Lediglich drei Artikel bieten einen vagen Anhaltspunkt für eine juristische Interpretation. So wurden häufig Artikel 46173 und Artikel 50174 der HLKO von Juristen bemüht, um ein indirektes Verbot der Repressal- bzw. der Geiseltötung zu beweisen175: Artikel 46 verpflichtet den Besatzer, „die Ehre und die Rechte der Familie, das Leben der Bürger und das Privateigentum sowie die religiösen Über-

167 Vgl. etwa die kontroverse Bewertung in Bezug auf Frankreich durch Hans Umbreit, Der Militär­ befehlshaber in Frankreich 1940 - 1944, Boppard 1968, S. 118, und Ahlrich Meyer, Die deutsche Besatzung in Frankreich 1940 - 1944. Widerstandsbekämpfung und Judenverfolgung, Darmstadt 2000, S. 3. 168 So bezeichnete der Judge Advocate General im Kesselring-Prozess das internationale Recht, im besonderen das Kriegsrecht als „unlogisch und schwierig". Summing-up des Judge Advocate General in: ZSL, (III-26), JAG 260, 58. Prozeßtag, S. 14. 169 Im folgenden wird nicht zwischen Geiseltötung und Repressaltötung unterschieden: weder die deutsche Seite, noch die westeuropäischen Gerichtshöfe taten das in der Nachkriegszeit. Die Erschossenen in den Fosse Ardeatine können in streng juristischem Sinne nicht als Geiseln bezeichnet werden, sondern fallen unter den Begriff Sühnegefangene, da ihr Schicksal im Gegen­ satz zu Geiseln schon feststeht. 170 Allein die Genfer Kriegsgefangenenkonvention von 1929 schränkte die Repressalmöglichkeiten weiter ein: Kriegsgefangene sollten danach nicht mehr Opfer von Vergeltung werden. 171 Vgl. Eval Benvisti, The international law of occupation, Diss., Princeton 1993, S. 30. 172 Vertragstext in deutscher und französischer Sprache bei: Alfons Waltzog, Recht der Landkriegs­ führung. Die wichtigsten Abkommen des Landkriegsrechts, Berlin 1942. Deutscher Vertragstext auch bei Peter Cornelius Mayer-Tasch, Guerillakrieg und Völkerrecht. Essay, Bibliographie und Dokumentation, Baden-Baden 1972, S. 37 ff. 173 Vgl. z. B. Alberic Rolin, Le droit moderne de la guerre. Les principes, les Conventions, les usages et les abus, Brüssel 1920, S. 320, Art. 336. 174 Vgl. z.B. John Westlake, International Law, Band II, Cambridge 21913, S. 112 175 Vgl. auch Abhandlung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg, Gei­ sel- und Partisanentötungen im Zweiten Weltkrieg. Hinweise zur rechtlichen Beurteilung, Lud­ wigsburg 1968, S. 10. 296 Steffen Prauser Zeugungen und gottesdienstliche Handlungen" zu achten176. Darüber hinaus verbie­ tet Artikel 50, irgendwelche Kollektivstrafen in Geld oder anderer Form gegenüber der Bevölkerung „wegen der Handlungen einzelner [zu] verhängten], für welche die Bevölkerung nicht als mitverantwortlich angesehen werden kann"177. Gleichzeitig verlangt aber Artikel 43178, der „Eckpfeiler" des in der HLKO defi­ nierten Besatzungsrechts179, vom Okkupanten „die öffentliche Ordnung und das öffentliche Leben wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten [...]". Aus dieser Ver­ pflichtung ist wiederum abgeleitet worden, daß der Besatzungsmacht unter bestimmten Umständen der Einsatz außerordentlicher Mittel, wie etwa der Repres­ salie, zur Wiederherstellung und Aufrechterhaltung des öffentlichen Lebens erlaubt sein müßte180. Es ist auffallend, daß ausgerechnet die frankophonen und die deut­ schen Völkerrechtler einander stark widersprechende Interpretationen der Geisel­ bzw. Repressaltötungen vertraten. Zwar wurde die Kriegsrepressalie auch von den frankophonen Völkerrechtlern in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg nie ganz abge­ lehnt, sie verlangten aber extreme Einschränkungen und forderten vor allem, daß die Zivilbevölkerung auf keinen Fall Opfer einer Repressalie werden dürfe181 - eine Meinung, der sich auch namhafte Völkerrechtler außerhalb des französischen Rechtskreises anschlossen182. Dagegen stand auf deutscher Seite die Repressaltötung nie zur Debatte. Allein die Frage, ob und wie Repressalien begrenzt werden sollten, fand unterschiedliche Ant­ worten183. Begründet wurde die Zulässigkeit der Repressalie meist mit dem Fehlen

176 Mayer-Tasch, Guerillakrieg und Völkerrecht, S. 53; vgl. auch Waltzog, Recht der Landkriegsfüh- rung, S. 82. 177 Mayer-Tasch, Guerillakrieg und Völkerrecht, S. 53; vgl. auch Woltzog, Recht der Landkriegsfüh­ rung, S. 86. 178 „Nachdem die gesetzmäßige Gewalt tatsächlich in die Hände des Besetzenden übergegangen ist, hat dieser alle von ihm abhängigen Vorkehrungen zu treffen, um nach Möglichkeit die öffentliche Ordnung und das öffentliche Leben wiederherzustellen und aufrechtzuhalten, und zwar, soweit kein zwingendes Hindernis besteht, unter Beachtung der Landesgesetze." Zit. nach Mayer-Tasch, Guerillakrieg und Völkerrecht, S. 52. 179 Benvisti, The international law of occupation, S. 30. 180 Siehe mit Nachweisen: Kalkbrenner, Die Tötung von Einwohnern kriegsmäßig besetzter Gebiete durch die Besatzungsmacht als Gegenmaßnahmen gegen Widerstandshandlungen, an denen sie nicht beteiligt gewesen sind, Diss., Kiel 1951, S. 94 ff. 181 Bonfils sah schon vor dem Ersten Weltkrieg in der Geiselnahme und -tötung „einen Rest der bar­ barischen Sitten unserer Vorfahren". Vgl. Henry Bonfils, Lehrbuch des Völkerrechts für Studium und Praxis, 3. Auflage, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von J. A. Grah, Berlin 1904, S. 610, An. 1151; Rolin, Le droit moderne de la guerre, S. 319 f., Art. 336. Fauchille forderte, daß Unschuldige in keinem Fall Opfer einer Repressalie sein dürften, die Repressalie nur von einem Armee- oder Korpschef oder einem Offizier in vergleichbarer Position angeordnet werden könnte und ihre Ausführung öffentlich bekanntgegeben werden sollte. Der durch sie verursachte Schaden müßte der Völkerrechtsverletzung entsprechen. Vgl. Paul Fauchille, Traité de Droit Inter­ national Public, Band II, Paris 1921, S. 26 ff., Art. 1018 ff. 182 Vgl. Westlake, International Law, S. 112. Allein die Geiseltötung betreffend James W. Garner, International Law and the World War, Vol. I, London 1920, S. 310. 183 Vgl. Franz von Liszt, Das Völkerrecht, bearb. von Max Fleischmann, Berlin 121925, S. 493 f.; wei­ tere Nachweise in: Abhandlung der ZSL, Geisel- und Partisanentötungen. Die extremste Interpre- Mord in Rom? 297 einer ausdrücklichen vertragsrechtlichen Regelung sowie dem bestehenden Gewohn­ heitsrecht184. Die am weitesten gehende Auslegung erfuhr das Repressalrecht ohne Zweifel unter den deutschen Rechtswissenschaftlern, aber auch andere europäische Völkerrechtler folgten ihnen in der Interpretation der Geisel- und Repressaltötung als mögliches Mittel gegen eine widerständige Zivilbevölkerung185. Grundlage dieser Interpretation waren auch hier Gewohnheitsrecht und die Gesetzeslücke in der HLKO186. Allerdings verlangten sie, ähnlich wie der gemäßigtere Teil der deutschen Völkerrechtler, daß die Repressalie nicht wahllos durchgeführt werden dürfe, nur unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt sei und nach genauen Regeln abzulaufen habe. Die Repressalie sollte in einem Verhältnis zu der betreffenden Völkerrechtsver­ letzung stehen, sie sollte nur von einem höheren Befehlshaber angeordnet werden und galt als äußerstes Mittel in „extremen Fällen"187. Das Völkergewohnheitsrecht, auf das sich so viele Rechtswissenschaftler beriefen, kann durch die Beobachtung sowohl eines regelmäßigen Handelns oder regelmäßi­ gen Unterlassens, sowie aus dem bestehenden nationalen Recht, etwa den Dienstvor­ schriften, abgeleitet werden188. Daher wurde sowohl in den Nürnberger Kriegsver­ brecherprozessen als auch im Kesselring-Prozess den Militärhandbüchern bei der Beantwortung der Frage, „was ist Gewohnheitsrecht", große Bedeutung beigemes­ sen189. Während aus den „Rules of Land Warfare" der US-Army eindeutig hervorging, daß Geiselnahme und Repressalie juristisch akzeptiert waren190, war man auf briti­ scher Seite zurückhaltender:

tation findet sich bei Kohler, der aus Art. 50 der HLKO eine zweifelhafte Gesamtsolidarität eines Volkes herauslesen wollte, gleichzeitig den Artikel als „toten Buchstaben" und die Fassung als „völlig nichtssagend" abtat. Dementsprechend bestritt er ihre Bedeutung und sah die Kollektiv­ strafe als unbeschränkt zulässig an. Vgl. Josef Kohler, Grundlagen des Völkerrechts. Vergangen­ heit, Gegenwart, Zukunft, Stuttgart 1918, S.207 f. 184 Vgl. von Liszt/Fleischmann, Das Völkerrecht, S. 493 f. 185 Lassa Oppenheim/Hersh Lauterpacht, International Law. A treatise, Vol. II, London 51935, S. 462 f. §259 f. Giulio Diena, Diritto Internazionale, Band I: Diritto internazionale pubblico, Neapel 1908, S. 510. 186 Vgl. Oppenheim/Lauterpacht, International Law, S.451, §250. Die Autoren nehmen Bezug auf Art. 50 der HLKO, nach dem die Repressalie nicht ausdrücklich verboten sei. 187 Ebenda, S. 451, §250; Diena, Diritto Internazionale, S. 510. Dreißig Jahre später formulierte Diena in einer überarbeiteten Auflage unter französischem Einfluß die Proportionalitätsforderung noch schärfer. Vgl. Diena, Diritto Internazionale, Band I, Mailand 41939. 188 Ein Gewohnheitsrecht besteht, wenn eine „repräsentative Zahl von Völkerrechtssubjekten", d. h. primär Staaten, sich über längere Zeit auf der Grundlage einer entsprechenden Rechtsüberzeu­ gung (opinio iuris) „in einem bestimmten Bereich konsistent verhalten". Knut Ipsen, Völkerrecht, München 41999, S. 185 f. u. S. 188 ff.; siehe auch: Abhandlung der ZSL, Geisel- und Partisanentö­ tungen, S. 14. 189 Vgl. Irmgard Stauffer, Das Verbot der Geiselnahme im Rahmen des Schutzes der Zivilbevölke­ rung in der 4. Genfer Konvention vom 12. August 1949, Diss., München 1965, S. 65; Prosecution Closing Adress im Kesselring-Prozeß, in: ZSL, (III-26), JAG 260, 57. Prozeßtag, S. 3, 4, 6; Sum- ming-up des Judge Advocate General in: Ebenda, S. 15. 190 Vgl. Trials of war criminals before the Nuernberg Military Tribunals (IMT), Oktober 1946-April 1949, Bd. XI, Washington 1950, S. 1251. 298 Steffen Prauser „Although collective punishment of the population is forbidden for acts of indivi- duals for which it cannot be regarded as collectively responsible [vgl. Art. 50 HLKO!], it may be necessary to resort to reprisals against a locality or community, for same act committed by its inhabitants or members who cannot be identified".191 Ob hier mit „reprisals" die Tötung von Zivilisten gemeint war, läßt sich auch mit den anderen Artikeln des Manuals nicht eindeutig beantworten und blieb daher umstritten192. Ebensowenig ist aus den französischen Dienstvorschriften der Vor­ kriegszeit zu erkennen, ob bei einer Repressalie Zivilisten getötet werden dürfen oder nicht193. Daß die Wehrmacht auch auf dem westlichen Kriegsschauplatz häufig zum Mittel der Repressaltötung griff, ist bekannt194. Die Alliierten ihrerseits beließen es wäh­ rend der Besetzung Deutschlands meist bei der Androhung von Repressalien. Diese sollten mit Quoten von 1 zu 5 bis hin zu 1 zu 200 durchgeführt werden. Zur Aus­ führung kamen diese Pläne allerdings selten und in keinem Fall mit derart hohen Repressalquoten195. Doch wird deutlich, daß auch die Alliierten die Repressalie als ein legitimes Mittel der „Kriegführung" betrachteten. Auch das faschistische Italien bediente sich im Abessinienkrieg und als Besatzungsmacht auf dem Balkan der Repressalie196, selbst wenn über die Dimensionen bislang nur wenig bekannt ist.

191 Ebenda. 192 Abhandlung der ZSL, Geisel- und Partisanentötungen, S. 16. 193 Die einschlägigen französischen Dienstvorschriften sind dem Autor nur über die rechtswissen­ schaftliche Sekundärliteratur bekannt, die die These der Rechtmäßigkeit von Geisel- und Repres- saltötungen vertrat. Vgl. Stauffer, Das Verbot der Geiselnahme, S. 66; ebenso Abhandlung der ZSL, Geisel- und Partisanentötung, S. 17. 194 Auch im Westen wurde die von der Völkerrechtswissenschaft als außerordentliche Maßnahme bezeichnete Repressalie zur Gewohnheit und Geiselerschießungen zum System. Allein in Frank­ reich wurden laut Nürnberger Gerichtshof fast 30 000 Menschen im Rahmen von Repressalien erschossen. Während im Westen die Fiktion der Völkerrechtsmäßigkeit aufrecht erhalten wurde, kamen im Osten völkerrechtswidrige Repressalquoten von 100 Sühneopfern für einen getöteten deutschen Soldaten zur Anwendung. Vgl. u.a. den von Keitel unterzeichneten OKW-Befehl vom 16. 9. 1941, in: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Mili­ tärgerichtshof in Nürnberg, 14. November 1945-1. Oktober 1946, Bd. XXV, Nürnberg 1947, Dok. 389-PS, S. 530 f.; Stauffer, Das Verbot der Geiselnahme, S. 59. Die vom Völkerrecht vorgese­ henen Grenzen der Humanität, auch in der Präambel der HLKO niedergelegt, blieben hier völlig vernachlässigt. Um derartige Verstöße gegen die HLKO zu rechtfertigen, bestritt man einfach ihre Anwendbarkeit im Osten. Polen und Jugoslawien wurden als aufgelöst erklärt, womit dem Haa­ ger Recht die Grundvoraussetzung genommen wurde: der Feind (vgl. Waltzog, Recht der Land­ kriegsführung, S. 75). Sowjetrußland sprach man von Anfang an den Schutz der HLKO ab, da dieses selbst nicht die Haager Konventionen anerkannt und überhaupt „außerhalb der das Völker­ recht tragenden Ideengemeinschaft" gestanden habe. So auch noch die Argumentation der Vertei­ digung in den Nürnberger Prozessen. Jörg Friedrich, Das Gesetz des Krieges. Das Deutsche Heer in Rußland 1941 bis 1945. Der Prozeß gegen das Oberkommando der Wehrmacht, München/ Zürich 1993, S. 320. 195 Vgl. Stauffer, Das Verbot der Geiselnahme, S. 63. 196 Zu Abessinien vgl. Nicola Buonasorte, La politica religiosa italiana in Africa Orientale dopo la conquista (1936-1941), in: Studi Piacentini. Rivista dell'Istituto storico della Resistenza e dell'età contemporanea 17 (1995), S. 53-114; Zu Repressalien in Slowenien vgl. Tone Ferenc, La provincia „italiana" di Lubiana. Documenti 1941 - 1942, Udine 1994; zur italienischen „Partisanenbekämp- Mord in Rom? 299 Das während des Zweiten Weltkriegs praktizierte Prinzip der Repressalie wurde daher von verschiedenen westeuropäischen Gerichtshöfen in der Nachkriegszeit als rechtmäßig angesehen197. Allein das Militärgericht in Dijon198 und der Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg in seiner Anklageschrift199 stellten die Rechtmäßig­ keit von Repressaltötungen per se in Abrede. Letzterer erkannte aber einige Monate später, im sogenannten „Geiselprozess" gegen List (Fall VII) und im Prozess gegen das OKW (Fall XII), das Repressalrecht in Einzelfällen an200. So wurde auch bei den die Fosse Ardeatine betreffenden Prozessen gegen Mackensen, Mälzer, Kesselring und Kappler vor britischen bzw. italienischen Gerichten das Repressalrecht als sol­ ches niemals in Frage gestellt. Allerdings wollten alle Gerichtshöfe, die sich mit Repressalien im Zweiten Welt­ krieg befaßten, die Repressalie an zahlreiche Voraussetzungen geknüpft wissen. Dabei folgten sie meist jenen Forderungen, wie sie bereits in der Vorkriegszeit die meisten Völkerrechtler vertreten hatten. Als unverzichtbar galt, daß eine Repressalie unverzüg­ lich öffentlich bekannt gegeben werden mußte und nur höhere militärische Instanzen berechtigt waren, diese anzuordnen201. Auch mußte die Repressalie in Relation zu der völkerrechtswidrigen Handlung stehen, die ihr vorausgegangen war202. Falls es gelang, die Schuldigen für die zu sühnende Tat zu finden, sollte die Repressalie hinfällig wer­ den. Häufig wurde zudem verlangt, daß die Repressalopfer in irgendeiner Beziehung zur vorausgegangenen Völkerrechtsverletzung stehen mußten und nach den Urhebern der zu beantwortenden Völkerrechtsverletzung zu fahnden sei203. Im konkreten Fall der Fosse Ardeatine204 sahen sich die Angeklagten mit dem Vor­ wurf konfrontiert, neben der Unverhältnismäßigkeit der Repressalie205, keine ernst-

fung" in Kroatien siehe den Erlebnisbericht des italienischen Militärkaplans Pietro Brignoli, Santa messa per i miei fucilati. Le spietate rappresaglie italiane contro i partigiani in Croazia dal diario di un cappellano, Mailand 1973. 197 Vgl. Prozesse vor norwegischen Gerichtshöfen, Prozeß vor dem Sondergericht Arnheim, Prozeß vor dem Sondergericht Den Haag, Urteil des österreichischen Obersten Gerichtshofes vom 11.5. 1967, Urteil des Ständigen Brüsseler Kriegsgerichts vom 9.5. 1951, und Appellationsurteil des dänischen Obergerichts, in: Abhandlung der ZSL, Geisel- und Partisanentötungen, S. 61 ff. 198 Prozeß gegen Holstein u. a., siehe ebenda, S. 59. 199 Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg, 14. November 1945-1. Oktober 1946, Bd. I, Nürnberg 1947, S. 58 f. 200 IMT, Bd. XI, S. 528. 201 Abhandlung der ZSL, Geisel- und Partisanentötungen, S. 28 u. S. 35; Waltzog, Recht der Land- kriegsführung, S. 84. 202 Vgl. sämtliche in der Abhandlung der ZSL, Geisel- und Partisanentötungen, aufgeführten deut­ schen und westeuropäischen Gerichtsurteile. Einige wenige deutsche Völkerrechtler hatten das Prinzip der Proportionalität nicht anerkannt. Aber selbst bei dieser Minderheit hatte Einigkeit bestanden, daß es sich bei einer Repressalie um keinen Willkürakt handeln durfte. 203 Vgl. Abhandlung der ZSL, Geisel- und Partisanentötungen, S. 27. 204 Bei den Erschießungen in den Fosse Ardeatine ergingen vier bzw. acht (incl. Revisionsprozesse) Urteilssprüche. Die beiden britischen Urteilssprüche im Mackensen/Mälzer- und im Kesselring- Prozeß bestehen lediglich aus dem Urteilsspruch ohne Urteilsbegründung. BA, All. Proz. 8, JAG 194, 59. Prozeßtag. 205 Das römische Militärgericht argumentierte ganz militärisch, als es den durch das Attentat entstan­ denen Schaden mit dem durch die Repressalie verursachten aufrechnete. So beklagte es nicht nur 300 Steffen Prauser hafte Suche nach den Attentätern eingeleitet zu haben. Der Staatsanwalt im Kessel­ ring-Prozeß versuchte darüber hinaus, aus Artikel 50 der HLKO ein generelles Verbot von jenen Geiseltötungen und Kollektivstrafen abzuleiten, welche die Zivilbevölke­ rung treffen würden206. Auch der römische Gerichtshof, der mit der Beurteilung der Schuld Kapplers und seiner Untergebenen befaßt war, berief sich auf diesen Artikel, allerdings um das Fehlen einer „solidarischen Verantwortung" bei den Opfern nach­ zuweisen, die sich aus rassischen oder strafrechtlichen Gründen in deutschem bzw. italienischem Gewahrsam befunden hatten207. Zudem hätten die Deutschen nie ernst­ haft nach den Attentätern gefahndet; entsprechende Maßnahmen seien erst in Gang gesetzt worden, als die Repressalie schon längst beschlossene Sache war208. Das römische Militärgericht wertete die gesamte Repressalie aus den erwähnten Gründen als „fortgesetzte Tötung"209. Kappler wurde allerdings hinsichtlich der 320 Getöteten zugebilligt, daß er die Illegalität des diesbezüglichen Befehls nicht erkannt haben muß210. Ganz anders wurde die Erschießung der zehn jüdischen Opfer gewer­ tet, die Kappler am Mittag des 24. März selbstständig zu Repressalopfern bestimmt hatte, ohne daß hierzu ein Befehl eines zur Verhängung von Repressalien befugten höheren Kommandos bestanden habe. Diese zehn Fälle hätten demnach den Tatbe­ stand des Mordes erfüllt211. Auch für die fünf „zuviel" Erschossenen mußte Kappler die volle Verantwortung übernehmen, da dieser schwerwiegende Fehler auf man­ gelnde Kontrolle seiner Untergebenen, Schütz und Priebke, zurückzuführen sei212. Straferschwerend kam hinzu, daß das Gericht die Art der Tötung in allen 335 Fällen als besonders grausam qualifizierte213. Kapplers mitangeklagte Untergebene Borante Domizlaff, Hans Clemens, Johannes Quapp, Kurt Schütze und Karl Wiedner wurden freigesprochen. Das Gericht gestand ihnen zu, nicht genügend Einblick in die Vorgänge des 23. und 24. März gehabt zu haben, um den Befehl zur Teilnahme an der Erschießung als unrechtmäßig zu erkennen214.

die zu hohe Zahl der Repressalopfer, sondern primär die Tötung der fünf Generäle und der hohen Offiziere, die in keinem Verhältnis zu den einfachen Unterwachtmeistern gestanden hätten, die in der Via Rasella umgekommen waren. Vgl. Sentenza Nr. 631 vom 20. 7. 1948 des Tribunale militare territoriale di Roma im Fall gegen Herben Kappler, Borante Domizlaff, Hans Clemens, Johannes Quapp, Kurt Schütze, Karl Wiedener, in: Rassegna della Giustizia Militare, Anno XXII- nr. 3—4- 5-6, maggio - dicembre 1996, S. 37 (künftig: Sentenza Nr. 631 vom 20. 7. 1948). 206 Hierbei berief er sich auf den die Geiseltötung schon 1919 ächtenden Bericht der „Commission des responsabilité" und auf die Anklageschrift des Nürnberger Gerichtshofes. 207 Sentenza Nr. 631 vom 20. 7. 1948, S. 40. 208 Laut Militärgericht sei die erfolglose intensive Suche nach den Attentätern überhaupt erst die Grundvoraussetzung dafür gewesen, daß auf eine „kollektive Verantwortung" zurückgegriffen werden dürfe. Ebenda, S. 39 f. 205 Ebenda, S. 41. 210 Ebenda, S. 44. 211 Ebenda, S. 46. 212 Ebenda, S. 47. 213 Ebenda, S. 48. 214 Ebenda, S. 49. Mord in Rom? 301 Im Prozeß gegen Erich Priebke wurde die Repressaltötung von den Richtern unter Berufung auf Art. 50 der HLKO per se als rechtswidrig abgelehnt. Zwar wurde der deutschen Seite auch noch 1996 die Möglichkeit einer Kollektivstrafe als Antwort auf den Anschlag in der Via Rasella eingeräumt. Doch konzedierte man gleichzeitig, diese dürfe die fundamentalen Grundrechte Einzelner wie das Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit in keinem Fall verletzen. Allein die kollektive Beschlagnahme von Wertgegenständen wurde dem Okkupanten zugestan­ den215. Zudem erwartete man, im Gegensatz zu 1948, von Priebke, er hätte die Rechtswidrigkeit der Repressalie erkennen und den Befehl zur Erschießung verwei­ gern müssen. Der von der Verteidigung vorgebrachte Befehlsnotstand wurde nicht anerkannt216. Dennoch wurde Priebke zunächst in erster Instanz freigesprochen. Das Gericht billigte ihm verschiedene mildernde Umstände zu, wie fehlende Vorsätzlich­ keit, seine gesetzestreue Lebensführung seit 1944 oder die Tatsache, daß es sich um eine - wenn auch rechtswidrige - Befehlstat gehandelt habe. Ausschlaggebend für den Freispruch war allerdings, daß das Gericht die Repressaltötung in den Fosse Ardeatine als ein seit 1966 verjährtes Kriegsverbrechen qualifizierte. Anders als 1996 wurde in zwei weiteren Verfahren die Verjährung der Tat verneint. 1998 erging das abschließende Urteil: lebenslänglich. In der Urteilsbegründung des Jahres 1996 beriefen sich die Richter, dem Grund­ satz „nulla poena sine lege" folgend, selbstverständlich allein auf die Vertragstexte vor 1945. Über die Frage, wie weit die Fortentwicklung des internationalen Rechts bei der Urteilsfindung 1996 eine Rolle gespielt habe, kann nur spekuliert werden. Seit 1949 ist in jedem Fall die Repressaltötung und Geiselnahme ausdrücklich durch die Genfer Konvention verboten217. Die Zusatzprotokolle des Jahres 1977 unterstri­ chen erneut diese Rechtsauffassung. Sicher ist unsere heutige Perzeption der Repres- saltötungen von diesem hohen Niveau des internationalen Rechts geprägt. Dennoch kann der Historiker folgendes festhalten: Die Rechtmäßigkeit von Repressaltötun- gen während des Zweiten Weltkrieges basierte allein auf einer Rechtslücke. Die Kri­ terien, die in den Nachkriegsprozessen zur Verurteilung der Verantwortlichen für die Erschießungen in den Fosse Ardeatine herangezogen wurden, waren schon vor 1939 von vielen Völkerrechtswissenschaftlern vertreten worden. Es handelte sich also um eine Rechtsauslegung, die zwar nicht von jedermann geteilt werden mußte, aber keineswegs einfach post eventum erfunden worden war. Daß die Repressaltö­ tung Unschuldiger schon 1944 mit den Vorstellungen der westlichen Welt, den ethi­ schen wie im Grunde auch den juristischen, unvereinbar gewesen ist, ist mehr als nur eine nachträgliche Projektion. Dieser Gedanke findet sich zwar nicht in den Buchstaben des damals herrschenden Kriegs- und Völkerrechts, aber doch in seinem Geist.

215 Vgl. Giorgio de Finis/Riccardo de Sanctis (Hrsg.), Processo Priebke. La sentenza, Rom 1996, S.40. 216 Vgl. ebenda, S. 43 ff. 217 Vgl. Mayer-Tasch, Guerillakrieg und Völkerrecht, S. 154. AUGUST H. LEUGERS-SCHERZBERG

HERBERT WEHNER UND DER RÜCKTRITT WILLY BRANDTS AM 7. MAI 19741

Am 24. April 1974 wurde der persönliche Referent von Bundeskanzler Willy Brandt, Günter Guillaume, unter Spionageverdacht verhaftet. Bei seiner Festnahme gab er sich als Offizier der Nationalen Volksarmee und damit als Mitarbeiter des Ministeri­ ums für Staatssicherheit (MfS) zu erkennen. Damit konnte es keinen Zweifel mehr darüber geben, dass Guillaume für die DDR spioniert hatte. Am 7. Mai trat Willy Brandt vom Amt des Bundeskanzlers zurück. Wie es in den Tagen zwischen dem 24. April und dem 7. Mai zum Rücktritt Brandts kam, gehört zu den umstrittensten Fragen der deutschen Nachkriegsgeschichte2. Nicht zuletzt Brandt selbst gab dem Verdacht Nahrung, dass im Umfeld seines Rücktritts nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sei. Hatte er unmittelbar nach seinem Rücktritt kategorisch bestritten, dass Wehner ihn aus dem Amt gedrängt habe, so revidierte er diese Behauptung in seinen 1989 erschienenen „Erinnerungen". In diesem Zusam­ menhang hielt er insbesondere fest: „Auch Briefe und Nachrichten, die in den Tagen um meinen Rücktritt aus Ostberlin eingingen, wurden mir vorenthalten."3 Seine „Notizen zum Fall G."- in den Monaten nach seinem Rücktritt 1974 niedergeschrie­ ben, aber erst anderthalb Jahre nach seinem Tode im Frühjahr 1994 veröffentlicht - verstärkten den Verdacht gegen Wehner. Darin erklärte Brandt, dass die Rolle Weh­ ners bei seinem Rücktritt „[v]on zentraler Bedeutung" gewesen sei, und merkte dazu an: „Gibt es Zus[ammen]hang mit Hon[ecker]-Kontakten? Jedenfalls gibt es Briefe, die mir vorenthalten wurden. Von H[elmut] S[chmidt] bestätigt. Hat ,die andere Seite' mit vergiftenden Berichten gespielt?"4 Mitte der neunziger Jahre sind erbitterte öffentliche Auseinandersetzungen da­ rüber geführt worden, ob und inwieweit Wehner Brandts Sturz systematisch - ja

1 Schriftliche Fassung meiner Antrittsvorlesung an der Universität Essen vom 23. 5. 2001. 2 Vgl. dazu immer noch grundlegend Arnulf Baring, Machtwechsel. Die Ära Brandt-Scheel, Stutt­ gart 1982, S. 722-762; ferner Wolfgang Jäger, Die Innenpolitik der sozial-liberalen Koalition 1969-1974, in: Karl Dietrich Bracher/Wolfgang Jäger/Werner Link, Die Ära Brandt 1969-1974, Stuttgart 1986, S. 117-126; Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. 2: Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich" bis zur Wiedervereinigung, München 2000, S. 315-324. Eine knappe, im wesentlichen sich an Barings „Machtwechsel" anschließende Darstellung jetzt auch bei Gregor Schöllgen, Willy Brandt. Die Biographie, Berlin 2001, S. 201-215. 3 Willy Brandt, Erinnerungen, 4., erw. Aufl., Frankfurt a.M./Berlin 1992, S. 315-329, Zitat S. 329. 4 Willy Brandt, Notizen zum Fall G., abgedruckt in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26.1. 1994.

VfZ 50 (2002) ® Oldenbourg 2002 304 August H. Leugers-Scherzberg sogar mit Hilfe östlicher Geheimdienste - betrieben habe5. Klarheit brachten diese Debatten nicht. Gewissermaßen als Nebeneffekt wurde allerdings eine Reihe neuer Quellen entweder vollständig oder zumindest in wesentlichen Teilen in der Presse veröffentlicht6. Darunter befanden sich auch Dokumente, die bis heute der amtli­ chen Geheimhaltungspflicht unterliegen und die der historischen Wissenschaft sonst nicht zugänglich wären. So wurden im Februar 1994 in der Münchner Wochenzei­ tung „Focus" Teile der streng geheim gehaltenen Ermittlungsakten des Bundeskrimi­ nalamtes zum Fall Guillaume veröffentlicht7, die für den Rücktritt Brandts von zen­ traler Bedeutung waren. Diese Quellentexte ermöglichen, zusammen mit anderen Aktenüberlieferungen, den Entscheidungsprozess in der Regierungskrise vom Mai 1974 deutlicher als bisher nachzuzeichnen. So dienten letztlich auch die Auseinan­ dersetzungen über Wehner, wie Timothy Garton Ash im Frühjahr 1994 treffend bemerkte, dazu, „mehr wirklich neue Dokumente und Tatsachen ans Licht" zu brin­ gen. „Diese Dokumente können wir dann einer ruhigen, sorgfältigen und differen­ zierten Analyse unterziehen."8 Um die umstrittene Rolle Wehners beim Rücktritt Brandts näher bestimmen zu können9, muss zunächst der Entscheidungsprozess während der Regierungskrise im

5 Die zu Beginn des Bundestagswahljahres 1994 wochenlang geführte „Wehner-Debatte" entzün­ dete sich an der Behauptung von Brigitte Seebacher-Brandt, dass Willy Brandt über die Äußerung eines „politischen Weggefährten" nicht überrascht gewesen sei, dass Wehner „bis zu seinem Aus­ scheiden aus der Politik auch die Sache ,der anderen Seite'" betrieben habe. Vgl. Ralf Georg Reuth, Brandt war von Wehners Kontakten nicht überrascht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.1. 1994, und Béla Anda, Willy Brandts Geheim-Notizen: Wehner ein Spion?, in: Bild vom 17. 1. 1994. Der Streit um Wehner lebte anlässlich der Veröffentlichung der Memoiren des ehema­ ligen DDR-Geheimdienst-Chefs Markus Wolf, Spionagechef im geheimen Krieg. Erinnerungen, München 1997, wieder auf und gipfelte in dem Vorwurf, Wehner sei ein „Hochverräter" gewesen, vgl. Bild vom 21. 5. 1997. 6 Neben Willy Brandts „Notizen zum Fall G.", die am 26. 1. 1994 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vollständig abgedruckt wurden, handelt es sich dabei insbesondere um das Schreiben Weh­ ners an Honecker vom 2. 12. 1973, z. T. abgedruckt in der Frankfurter Rundschau vom 22. 1. 1994 und im General-Anzeiger vom 24. 1. 1994; um das Schreiben Wehners an Helmut Schmidt vom 15. 6. 1974, abgedruckt in der Frankfurter Rundschau und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 22. 1. 1994 und im General-Anzeiger vom 24. 1. 1994; den Lagebericht des MfS vom 13. 5. 1974 über die Reaktion der DDR-Bevölkerung auf den Rücktritt Willy Brandts, abgedruckt in der Frankfurter Rundschau vom 25. 2. 1994; sowie die Analyse von Boris Ponomarjow über sein Gespräch mit Wehner in Moskau im Oktober 1973, auszugsweise zit. bei Ulrich Völklein, Neue Dokumente zum Fall Wehner, in: Stern Nr. 6. vom 3. 2. 1994. 7 Herold an Genscher vom 30.4. 1974, auszugsweise abgedruckt in: Focus Nr. 7 vom 14.2. 1994, S.24, und Herold an Buback vom 14.5. 1974 mit anliegendem Aktenvermerk vom 2.5. 1974, auszugsweise veröffentlicht in: Ebenda, S. 24 f. Die Namen der in den Dokumenten genann­ ten Privatpersonen wurden dabei geändert. 8 Timothy Garton Ash, Was bedeuten die Willy-Brandt-Papiere?, in: Frankfurter Allgemeine Zei­ tung vom 26. 1. 1994. 9 Erste Versuche, aus dem Dickicht der Legendenbildung zu einer differenzierteren Einschätzung der Rolle Wehners zu kommen, wurden in Alfred Freudenhammer/Karlheinz Vater, Herbert Weh­ ner. Ein Leben mit der deutschen Frage, München 1978, S. 261-264, und Wayne C.Thompson, The Political Odyssey of Herbert Wehner, Boulder u.a. 1993, S. 347-365, unternommen; ferner in dem Teil „Die Nacht von Münstereifel" des zweiteiligen Doku-Dramas von Heinrich Breloer Herbert Wehner und der Rücktritt Willy Brandts am 7. 5. 1974 305 Mai 1974 rekonstruiert werden. Dabei muss auch auf die in den vergangenen Jahren in der Presse veröffentlichten Quellen zurückgegriffen werden. Darüber hinaus konnten hier auch Archivalien aus dem Nachlass Herbert Wehners10 ausgewertet werden, die seine Position in der Regierungskrise vom Mai 1974 erkennen lassen.

I.

Die Ermittlungen, die nach der Verhaftung Guillaumes einsetzten, offenbarten ekla­ tante Pannen des Verfassungsschutzes und des Innenministeriums. Der dringende Verdacht gegen Guillaume hatte schon seit über einem Jahr bestanden. Ende Mai 1973 war auch Willy Brandt von Innenminister Hans-Dietrich Genscher darüber informiert worden. Dennoch riet man Brandt, Guillaume in seiner Stellung zu belas­ sen, um weiteres Belastungsmaterial gegen ihn sammeln zu können. Insbesondere wurde Brandt auch gebeten, Guillaume - wie vorgesehen - im Sommer 1973 mit in seinen Urlaub nach Norwegen zu nehmen, ohne allerdings dafür zu sorgen, dass er observiert wurde. Dabei gehörte es auch zu den Aufgaben Guillaumes, vertrauliche und geheime Telegramme des Kanzlers zu übermitteln, so dass in Norwegen NATO-Dokumente von höchster Geheimhaltungsstufe unkontrolliert durch seine Hände gingen. Dem Kanzler waren die Versäumnisse im „Fall Guillaume" nicht anzulasten. Ver­ fassungsschutz und Innenministerium hatten versagt. Hatte Brandt zunächst die politische Dimension des Agentenfalls unterschätzt11, hegte er schon bald erste Gedanken an einen Rücktritt. Bereits am Nachmittag des 29. April, als die Ermitt­ lungen noch ganz am Anfang standen, fragte er Wehner, ob er nach dessen Einschät­ zung die Affäre durchstehen werde, und am Abend erklärte er gegenüber Horst Ehmke und Kanzleramtsminister Horst Grabert, dass er seine eigene Verantwortung im Fall Guillaume zu übernehmen habe12. Auch im Kreis der engeren Koalitions-

„Wehner. Die unerzählte Geschichte", das am 31.3. 1993 in der ARD erstmalig ausgestrahlt wurde. 10 Bevor der Nachlass Wehner im Sommer 1996 zur archivarischen Aufbereitung vollständig an das Archiv der sozialen Demokratie (künftig: AdsD) in Bonn abgeliefert wurde, konnten von mir in den Jahren 1993 - 1996 große Teile des Nachlasses Wehner zur Vorbereitung meiner Habilitations­ schrift (Die Wandlungen des Herbert Wehner. Von der Volksfront zur Großen Koalition, Berlin 2002) in Wehners Wohnhaus in Bonn-Bad Godesberg eingesehen werden. Der archivarische Fun­ dort von Dokumenten, die im Zuge dieser Recherchen ausgewertet wurden, wird im folgenden mit Privatarchiv (künftig: PA) Wehner angeben. Dokumente, die im AdsD aus dem inzwischen archivarisch aufgearbeiteten Teil des Nachlasses Wehner eingesehen wurden, werden nach dem Archivfundort AdsD, Nachlass (NL) Wehner zitiert. 11 Vgl. Brandt, Notizen zum Fall G.; vgl. auch Horst Ehmke, Mittendrin. Von der Großen Koalition zur Deutschen Einheit, Berlin 1994, S.240. 12 Vgl. Brandt, Notizen zum Fall G. Vgl. zum Gespräch am 29.4. 1974 auch Ehmke, Mittendrin, S. 240 f.: „Erst in diesem Gespräch wurde Brandt sich der Schwere des Vorgangs und seiner möglichen Folgen bewußt. [...] Brandt dachte zum ersten Mal an Rücktritt. Für diesen Fall müsse Helmut Schmidt übernehmen. Noch wolle er aber kämpfen." 306 August H. Leugers-Scherzberg spitze äußerte Brandt am darauffolgenden Tag, dass er seine eigene Verantwortung zu prüfen habe, sowohl hinsichtlich der Einstellung Guillaumes als auch seiner Wei­ terverwendung seit dem Frühsommer 197313. Wahrend Brandts Gedanken noch um diese Fragen kreisten, wurde er mit einer Seite des Agentenfalls konfrontiert, die nicht seine politische Verantwortung betraf, sondern seine persönliche Lebensführung. Auf der Suche nach politisch brisanten Informationen, die der Spion an Ostberlin weitergegeben haben könnte, stieß das Bundeskriminalamt darauf, in welchem Ausmaß Guillaume Einblick in das Privatle­ ben Brandts gehabt hatte. Der Leiter der Leibwächtergarde Brandts hatte den Ermittlern beiläufig mitgeteilt, dass er selbst früher die Aufgabe gehabt habe, „dem Kanzler ,Frauen zuzuführen'"14. Diese Aufgabe habe seit einiger Zeit Guillaume übernommen. Da Guillaume sich weigerte, dazu auszusagen, wurden die Leibwäch­ ter Brandts vernommen. Unter dem Zwang, umfassend aussagen zu müssen, bestä­ tigten die Sicherheitsbeamten, dass zunächst der Leiter der Sicherungsgruppe Bonn und schließlich Guillaume die Aufgabe wahrnahmen, „dem Kanzler Frauen zu ver­ schaffen"15. Das seien Journalistinnen, aber auch Zufallsbekanntschaften, ja sogar Prostituierte gewesen. Die Ermittlungsergebnisse fasste der Präsident des Bundeskri­ minalamtes, Horst Herold, am 30. April 1974 in einem Schreiben an Genscher dahingehend zusammen, „daß Guillaume u. U. erpresserisches Wissen über den Kanzler besitzen könne"16. Die Brisanz dieser Mitteilungen war den Ermittlern bewusst. Justizminister Ger­ hard Jahn, der ebenfalls in Kenntnis gesetzt wurde, informierte am 30. April Brandt, der dazu später in seinen „Notizen zum Fall G." schrieb: „Bevor ich 15.45 nach Saarbrücken flog, kam Jahn besorgt zu einem kurzen Gespräch: Er habe aus der B[undes]anwaltschaft andeutungsweise gehört, G[uillaume] könne mir ,Mädchen zugeführt' haben. Ich sagte Jahn, dies sei lächerlich. Er könne dem betr. Bundesan­ walt sagen, wegen dieser ,Vermutung' ließe ich mir zusätzlich keine grauen Haare wachsen."17 Herolds Schreiben vom 30. April wurde und wird bis heute wie ein Staatsgeheim­ nis ersten Ranges behandelt18. Klaus Kinkel, damals persönlicher Referent Gen­ schers, überbrachte Brandt am 1. Mai das Schreiben in einem verschlossenen Umschlag. Brandt, der ja von Jahn schon vorinformiert war, nahm den Inhalt in Anwesenheit von Kanzleramtsminister Grabert zur Kenntnis. Daraufhin wurde das

13 Vgl. Brandt, Notizen zum Fall G. 14 Focus Nr. 7 vom 14. 2. 1994, S. 18. 15 Herold an Buback vom 14. 5. 1974 mit anliegendem Aktenvermerk vom 2. 5. 1974 (wie Anm. 7). 16 Herold an Genscher vom 30. 4. 1974 (wie Anm. 7). 17 Brandt, Notizen zum Fall G. 18 Das Schreiben Herolds an Genscher vom 30. 4. 1974, das nur aufgrund von Indiskretion auszugs­ weise veröffentlicht wurde, gehört noch heute zu den Verschlusssachen. Brandt, Erinnerungen S. 324, erwähnt, dass einige Jahre nach seinem Rücktritt „einem Fernsehjournalisten, der einen Film über den Fall Guillaume plante, ein Schriftstück in die Hände gespielt [wurde], das längst hätte dem Reißwolf überantwortet sein müssen." Möglicherweise handelt es sich dabei um diesel­ ben Dokumente, die der Focus 1994 veröffentlichte. Herbert Wehner und der Rücktritt Willy Brandts am 7. 5. 1974 307 Schreiben wieder verschlossen und an Genscher zurückbefördert. In einem anschlie­ ßenden Telefonat riet Genscher Brandt dringend, sich mit Generalbundesanwalt Siegfried Buback in Verbindung zu setzen und die in Herolds Bericht erwähnten Details gegebenenfalls zu korrigieren. Brandt ging darauf nicht ein und zog es statt­ dessen vor, Justizminister Jahn anzurufen und mit ihm und Buback einen Termin für den 6. Mai, also erst fünf Tage später, auszumachen19. Am 2. Mai wurde Brandts Leibwächter Bauhaus nach Bonn zurückgerufen und nochmals eingehend vernommen20. Am selben Tag erstellte Herold einen umfassen­ den Aktenvermerk21. Während Herold in seinem Schreiben an Genscher nur allge­ mein und zurückhaltend die „Frauengeschichten" des Kanzlers beschrieben hatte, listete er in seinem Aktenvermerk vom 2. Mai detailliert die Aussagen der Sicher­ heitsbeamten zum Thema „Frauengeschichten des Kanzlers" auf. Hier wurden zahl­ reiche Namen genannt und die festgestellten Sachverhalte ausführlich beschrieben, darunter auch eine Geschichte von einem „liegen gebliebenen Collier", das später noch eine wichtige Rolle spielen sollte. Am 3. Mai unterrichtete Herold den Verfassungsschutzpräsidenten Günther Nol- lau über die Aussagen der Leibwächter. Beide kamen überein, dass Wehner als Sicherheitsbeauftragter und Kontaktmann der SPD zu den Nachrichtendiensten über den Stand der Ermittlungen informiert werden müsse, damit er Brandt den Ernst der Lage vor Augen führe, und ihn gegebenenfalls zum Rücktritt auffordern könne. Nollau rief bei Wehners an, erhielt unverzüglich einen Termin und war bin­ nen einer dreiviertel Stunde auf dem Bonner Heiderhof. Nachdem Nollau Wehner umfassend Bericht erstattet und auch kein Hehl daraus gemacht hatte, dass er den Rücktritt des Kanzlers für notwendig hielt, bestellte Wehner den damaligen Bundes­ geschäftsführer der SPD, Holger Börner, zu sich und setzte ihn ins Bild. Er kündigte Börner gegenüber an, dass er am kommenden Tag eine Tagung in Bad Münstereifel nutzen werde, um mit Brandt über den Bericht Herolds zu sprechen22. Aus dieser Darstellung wird deutlich, dass alle unmittelbar Beteiligten - bis auf Brandt selbst - den Aussagen der Sicherheitsbeamten ein hohes politisches Gewicht beimaßen und unverzüglich tätig wurden, um die zu erwartende Regierungskrise in den Griff zu bekommen. Nur Brandt schob die Angelegenheit auf die lange Bank. Zudem wird ein Sachverhalt deutlich, der bisher immer übersehen wurde. Als Weh­ ner und Brandt am 4. Mai in Bad Münstereifel ihre später berühmt gewordene Unterredung führten, verfügten beide über einen unterschiedlichen Wissensstand. Brandt hatte am 1. Mai Herolds Brief an Genscher zur Kenntnis genommen, besaß davon aber nicht einmal eine Kopie. Dem Rat Genschers, sich umfassender zu infor­ mieren, war er nicht nachgekommen. Wehner dagegen wurde am 3. Mai offenbar weitaus detaillierter über die Leibwächteraussagen informiert, wie sie dem Aktenver-

19 Vgl. Brandt, Notizen zum Fall G. 20 Vgl. ebenda. 21 Herold an Buback vom 14. 5. 1974 mit anliegendem Aktenvermerk vom 2. 5. 1974 (wie Anm. 7). 22 Vgl. Baring, Machtwechsel, S. 748 f.; Freudenhammer/Vater, Wehner, S. 262 f.; Thompson, Wehner, S. 349 f. 308 August H. Leugers-Scherzberg merk Herolds vom 2. Mai entsprachen. So kam es in der Unterredung zwischen Brandt und Wehner am 4. Mai zu eklatanten Missverständnissen. Die Zusammenkunft der SPD-Spitze am 4./5. Mai in der Tagungsstätte der Fried- rich-Ebert-Stiftung in Bad Münstereifel war seit langer Zeit geplant. Der Anlass war ein Treffen mit Gewerkschaftsführern, bei dem angesichts der Konjunkturkrise des Jahres 1974 intern ein offener Meinungsaustausch geführt werden sollte23. Noch vor seiner Abreise nach Bad Münstereifel wurde Brandt von Börner darüber informiert, dass Wehner vorhabe, den Kanzler in Bad Münstereifel persönlich auf „Nollaus Bericht" anzusprechen24. So kam es gegen 19.30 Uhr zu einem etwa einstündigen Vieraugengespräch zwischen Wehner und Brandt. Zunächst ging Brandt dabei auf seine Pläne zur Regierungsumbildung ein, die er am Abend zuvor mit Egon Bahr und Günter Gaus auf dem Venusberg besprochen hatte. Brandt dachte daran, die für die Guillaume-Affäre Verantwortlichen - For­ schungsminister Horst Ehmke, der seinerzeit als Kanzleramtsminister für die Ein­ stellung Guillaumes zuständig war, Innenminister Genscher, der Brandt nur unzurei­ chend über die Verdachtsmomente gegen den Spion informiert hatte, und Günther Nollau, der als Verfassungsschutzpräsident die permanente Beschattung des Ver­ dächtigen vernachlässigt hatte - zu entlassen. Egon Bahr sollte den glücklosen Kanz­ leramtsminister Grabert ablösen und Günter Gaus zum neuen Regierungssprecher ernannt werden25. Brandt legte Wehner auch die im Fall Guillaume von ihm „zu übernehmenden Verantwortlichkeiten dar, einschließl[ich] der durch Jahn bzw. Gen­ scher (Herold) angedeuteten Vorgänge"26. Hier hakte Wehner, wie Brandt sich erin­ nerte, ein und „sprach von einer 'besonders schmerzlichen Nachricht', die er mir zu überbringen gehabt haben würde, wäre ich nicht selbst auf die diversen Aspekte ein­ gegangen". Wehner erwähnte einen „ca. 10-seitigen Bericht und ,Damenbekannt- schaften', der mindestens 11 Personen bekannt sei, einschl[ießlich] Gui[llaume]". Dazu bezog er selbst keine Stellung, erwähnte aber, dass Nollau den Rücktritt Brandts empfehle, da „die Möglichkeit von Erpressung auch nach einem späteren Austausch Gui[llaumes] gegeben" sei27. Wehner selbst erklärte später, dass er Brandt jede nur denkbare Unterstützung zugesagt habe, wenn er bereit sei, die Krise durch­ zustehen. „Du mußt wissen und entscheiden, was jetzt zu tun ist. [...] Ich stehe zu Dir, das weißt Du - aber es wird hart werden." Innerhalb von 24 Stunden müsse er sich entscheiden. Dies war ein „Ultimatum" und von Wehner auch als ein Ultima­ tum gedacht28.

23 Hartmut Soell gewährte mir dankenswerterweise Einsicht in die Aufzeichnungen Helmut Schmidts über die Besprechung Brandts mit Gewerkschaftsvertretern am 4./5. 5. 1974 in Bad Münstereifel, die angesichts der Kritik der Gewerkschafter an der Regierungspolitik für Brandt äußerst deprimierend war. 24 Vgl. Baring, Machtwechsel, S. 749. 25 Vgl. Der Spiegel Nr. 37 vom 9. 9. 1974, S. 22 f. 26 Brandt, Notizen zum Fall G. 27 Ebenda. 28 Baring, Machtwechsel, S. 750. Herbert Wehner und der Rücktritt Willy Brandts am 7. 5. 1974 309 Der neuralgische Punkt in der Unterredung waren die Sachverhalte, die Brandts Leibwächter in den Verhören beim BKA zu Protokoll gegeben hatten. Da Brandt selbst auf diese Dinge einging, musste Wehner annehmen, dass Brandt bereits umfas­ send unterrichtet sei. Wehner machte daher im Verlauf des Gesprächs eine Anspie­ lung auf das „liegen gebliebene Collier", die Brandt jedoch falsch verstand. Denn seit dem Herbst 1973 gab es in Bonn ein Gerücht, das besagte, nach einem Treffen von Brandt und der Journalistin Wibke Bruhns sei in einem Hotel ein Halsband lie­ gen geblieben, das vom Hotelpersonal gefunden wurde und von einem Sicherheits­ beamten an Wibke Bruhns zurückgebracht werden musste. Dies war offenbar falsch und von Wibke Bruhns bereits dementiert worden29. Als Wehner das Collier erwähnte, dachte Brandt sofort an das Gerücht um Wibke Bruhns. Tatsächlich aber hatte ein Sicherheitsbeamter, auf die Angelegenheit mit dem Col­ lier angesprochen, etwas anderes ausgesagt, nämlich „daß dies sich schon vor länge­ rer Zeit und sicherlich vor dem Auftreten Guillaumes zugetragen habe. Er habe morgens im Bett des Kanzlers ein Collier gefunden und dies dem Kanzler gemeldet. Dieser habe sodann aus der Brusttasche eine Visitenkarte gezogen und gesagt: ,Erle- digen Sie das.' Auf der Visitenkarte sei der Name einer 19jährigen Stewardeß der Luftfahrtgesellschaft Condor verzeichnet gewesen. Diese habe den Kanzler am Abend zuvor in der Bar angehimmelt. Der Kanzler habe mit ihr getanzt und sie anschließend mit auf das Zimmer genommen."30 Auch andere Anspielungen Wehners ordnete Brandt offenbar falsch ein. Brandt behauptete später, Wehner habe in der Unterredung die Namen von zwei Frauen genannt. Dies bestritt Wehner im „Spiegel" und bemerkte dazu, „das sei auch nicht nötig gewesen, Brandt habe über die Vernehmungsprotokolle ja Bescheid gewußt"31. Aber genau das war das Problem. Wehner kannte den Inhalt der Vernehmungsproto­ kolle, Brandt jedoch nur Umrisse davon. Wehner konnte die Brisanz der Informatio­ nen abschätzen, Brandt hingegen weigerte sich, sich mit dem auseinander zu setzen, was in den Vernehmungen über seine angeblichen Liebesbeziehungen zu Protokoll gegeben worden war. Brandt scheint nicht einmal wahrgenommen zu haben, dass Wehner sich auf die Vernehmungsprotokolle der Sicherheitsbeamten bezog. Denn am Morgen des 6. Mai stellte Brandt es gegenüber Klaus Harpprecht so dar, dass Wehner sich auf ein „Dossier von Nollau", also auf Erkenntnisse des Verfassungs­ schutzes, gestützt habe. Nollau habe dieses Material sammeln lassen und Wehner übergeben. Brandt wähnte sich daher als Opfer einer Intrige des Verfassungsschut­ zes. Die Quintessenz, die Harpprecht aus dem Gespräch mit Brandt zog, lautete daher mit Blick auf das Bundesamt für Verfassungsschutz: „unter der Decke des Rechtsstaates und unter der Decke der Demokratie herrschen Dienste, beeinflussen Politik, bestimmen das Schicksal von Menschen mit, die jeder öffentlichen Kontrolle

29 Brandt, Notizen zum Fall G.; vgl. dazu Brandt, Erinnerungen, S. 320. 30 Herold an Buback vom 14. 5. 1974 mit anliegendem Aktenvermerk vom 2. 5. 1974 (wie Anm. 7). 31 Der Spiegel Nr. 37 vom 9. 9. 1974, S. 24. 310 August H. Leugers-Scherzberg entzogen sind"32. Dies war eine geradezu abenteuerliche Fehleinschätzung der tat­ sächlichen Situation. Es ist klar, wo der eigentliche Fehler zu suchen ist. Brandt hätte sich, wie ihm Genscher schon am 1. Mai geraten hatte, umfassend über den Stand der Ermittlun­ gen informieren müssen, um Dichtung und Wahrheit in den Aussagen seiner Leib­ wächter sofort auseinander zu halten. So bezeichnete Brandt zwar stets den Inhalt der Ermittlungsakten als „Produkt blühendster Phantasie"33, klärte aber die Zusam­ menhänge nie auf. Stattdessen verbreiteten sich, von den Vernehmungen der Leib­ wächter ausgehend, Gerüchte, die schon bald nicht mehr unter Kontrolle zu bringen waren. Informationen, deren Ursprung Brandt nicht kannte, gelangten an die Öffentlichkeit, so etwa die Formulierung, Guillaume habe dem Kanzler „Mädchen zugeführt". Wie seine „Notizen zum Fall G." belegen, war Brandt nicht bewusst, dass dies eine Formulierung war, die sein Leibwächter im Verhör zu Protokoll gege­ ben hatte. Stattdessen wunderte sich Brandt, dass diese Formulierung „nach dem 6.5. in Zeitungen auftauchte, z. B. im Stern" und mutmaßte ein Komplott: „Wer hat dies lanciert bzw. gesteuert."34

II.

Dass Brandt nicht richtig zuhörte und dazu neigte, politisch heikle Entscheidungen vor sich herzuschieben, war für Wehner nichts Neues. In den Briefen, die Wehner seiner Ehefrau Lotte schrieb, beklagte er sich immer wieder darüber. Beispielhaft dafür ist ein Bericht, den Wehner seiner Frau über eine mündlich übermittelte Bot­ schaft Erich Honeckers gab, die er Brandt am 18. September 1973 vorgetragen hatte: „Brandt habe ich heute in einer halben Stunde vorgelesen, was ich gestern von mei­ nem Besucher gehört und mitgeschrieben hatte: jeder Satz ein Grund zu gründlichen Überlegungen, aber es ist, als schriebe man in Wasser. [...] Über alles wird wegge­ glitten, Hauptsache, man hat Unangenehmes oder Forderndes für den ,Moment' vom Halse. Irgendeine ,Prozedur' findet sich immer, mit der sich solches auf- oder abschieben läßt."35 Aber nicht der Eindruck der geistigen Abwesenheit, den Brandt vermittelte, war für Wehner der Kernpunkt seiner Kritik am Kanzler, sondern die Ostpolitik der Regierung nach dem Wahlsieg vom November 1972 und dem Abschluss des Grund­ lagenvertrags mit der DDR im Dezember 1972. Nachdem Wehner im Frühjahr 1973 zunächst intern Kritik an der Untätigkeit der Regierung geäußert hatte, ergriff er die Initiative und reiste Ende Mai 1973 zu einem Treffen mit Erich Honecker nach Ost­ berlin. Das Zusammentreffen mit dem SED-Chef sollte ostpolitischen Signalcharak-

32 Klaus Harpprecht, Im Kanzleramt. Tagebuch der Jahre mit Willy Brandt, Berlin 2000, S. 546. 33 Brandt, Erinnerungen, S. 320. 34 Brandt, Notizen zum Fall G. 35 Wehner an Lotte vom 18. 9. 1973 (Kopie), in: PA Wehner. Herbert Wehner und der Rücktritt Willy Brandts am 7. 5. 1974 311 ter haben und die Deutschlandpolitik aus der Stagnation herausführen36. Der Erfolg Wehners war jedoch begrenzt. Auch nach seinem Treffen mit Honecker fand er an der Ostpolitik der Regierung viel Tadelnswertes. Teile der Regierungskoalition gefährdeten nach seiner Einschätzung fahrlässig, wenn nicht sogar mutwillig die Fortsetzung der Entspannungspolitik. Dazu zählte für Wehner die Frage nach der konsularischen Vertretung juristischer Personen aus Westberlin, insbesondere der konsularischen Betreuung Westberliner Gerichte durch die Bundesrepublik. Nachdem der Gewaltverzichts- und Grenzvertrag mit der CSSR am 20. Juni 1973 paraphiert worden war, versuchte das Auswärtige Amt, die Zuständigkeit der konsularischen Dienste der Bundesrepublik Deutschland bei Rechtshilfeersuchen juristischer Personen mit Sitz in West-Berlin noch nachträg­ lich im Vertrag mit Prag festzuschreiben und damit ein Präjudiz zu schaffen. Die Volksrepublik Polen hatte sich in der Vergangenheit geweigert, solche Rechtshilfeersu­ chen, die über die konsularischen Dienste der Bundesrepublik geleitet wurden, entge­ genzunehmen. Im Viermächte-Abkommen über Berlin war lediglich die konsularische Vertretung von Personen aus West-Berlin durch die Bundesrepublik vereinbart wor­ den, ohne die juristischen Personen ausdrücklich mit einzubeziehen. Das Auswärtige Amt berief sich nun auf die Wiener Konsularkonvention, nach der die Einbeziehung juristischer Personen gedeckt war. Die UdSSR als Signatarmacht des Berlin-Abkom­ mens hatte aber die Wiener Konvention nicht unterzeichnet. Am Streitpunkt der kon­ sularischen Vertretung juristischer Personen aus West-Berlin scheiterte schließlich die für Anfang September 1973 geplante Unterzeichnung des Prager Vertrags37. Wehner hielt den Kurs des Auswärtigen Amtes für verfehlt. Er lehnte es ab, die Vertragsver­ handlungen mit Prag dazu zu benutzen, die Rechtsauffassung des Auswärtigen Amtes im Verkehr mit den Staaten des Ostblocks durchzusetzen, zumal die Westmächte als Signatarmächte des Berlin-Abkommens sich weigerten, zur Frage der Vertretung juristischer Personen aus West-Berlin Stellung zu nehmen38. Auch Egon Bahrs Vorschlag, den Sitz des Bundesumweltamtes nach Berlin zu legen, hielt Wehner für einen sinnlosen Akt der Provokation39. Bahr musste aus sei­ nen Verhandlungen mit der DDR doch wissen, dass es Ost-Berlin darauf ankam, die Bundespräsenz in West-Berlin weitgehend abzubauen40. Trotzdem wandte sich Bahr

36 Vgl. Baring, Machtwechsel, S. 608 ff.; Klaus Wiegrefe/Carsten Tessmer, Deutschlandpolitik in der Krise. Herbert Wehners Besuch in der DDR 1973, in: Deutschland Archiv 27 (1994), S. 600-627. 37 Vgl. dazu Archiv der Gegenwart XLIII (1973), 14. 8. 1973, S. 18107; 23. 8. 1973, S. 18125; 11. 9. 1973, S. 18171. Vgl. dazu auch Werner Link, Außen- und Deutschlandpolitik in der Ära Brandt 1969-1974, in: Bracher/Jäger/Link, Die Ära Brandt 1969-1974, S. 193-282, bes. S. 229 ff. Eine Kompromissformel über die Gewährung von Rechtshilfe für Westberliner Gerichte wurde schließ­ lich Anfang November 1973 in den Verhandlungen zwischen Bundesaußenminister Scheel und dem sowjetischen Außenminister Gromyko gefunden; vgl. Archiv der Gegenwart, 5.11. 1973, S. 18296. 38 Aufzeichnung von Eugen Selbmann über „Gespräch Herbert Wehner mit Herrn Poljanow", 30.9. 1973, Hotel Sowjetskaja, 17 Uhr, in: PA Wehner. 35 Aufzeichnung von Eugen Selbmann über „Gespräch Herbert Wehner mit Ponomarjow", 1.10. 1973 im Haus des Obersten Sowjet, 11.30 Uhr, in: PA Wehner. 40 Vgl. Link, Außen- und Deutschlandpolitik, S.219. 312 August H. Leugers-Scherzberg Mitte Juni 1973 mit dem Vorschlag an Innenminister Genscher: „Wie ich höre, wird zurzeit überlegt, in welcher Stadt das neu zu schaffende Umweltamt aufgebaut wer­ den soll. Ich möchte dafür Berlin vorschlagen. [...] Die Materie ist schließlich nicht geeignet, von der DDR etwa als Provokation hochstilisiert zu werden."41 Unter dem Eindruck der Kritik der Opposition an den Ostverträgen - so Wehners Einschätzung - wurden einzelne untergeordnete Fragen hochgespielt und künstliche Konfrontationen mit den osteuropäischen Ländern geschaffen. Wehner sah darin eine Gefahr. Durch eine schleichende außenpolitische Eskalation würde die entspan­ nungspolitische Position der SPD im Innern geschwächt, während nationalistische Kräfte in der Bundesrepublik sich ermutigt fühlen konnten. Zugleich fürchtete er, dass eine von der Bundesrepublik ausgehende Konfrontationspolitik die Gegner der Entspannungspolitik in Ost und West stärken und so den KSZE-Prozess in Gefahr bringen könne42. Solch weitreichende politisch-strategische Überlegungen bildeten die Grundlage für Wehners Agieren in den Jahren 1973 und 1974. Sein Zusammentreffen mit Erich Honecker am 30./31.Mai 1973 hatte neben der innenpolitischen Signalwirkung auch den Zweck, zu Honecker einen direkten Verhandlungskontakt aufzubauen, über den sensible Fragen zunächst unverbindlich vorsondiert werden konnten. Die regelmäßi­ gen Treffen Wehners mit dem Ostberliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, die offiziell dem Gefangenenfreikauf und der Familienzusammenführung dienten, wurden auch zu einem umfassenden Informationskanal zwischen Bonn und Ostberlin ausgebaut. Als Erich Honecker über diesen Kanal in den Monaten bis September 1973 seine Vorstellungen einer künftigen Entspannungspolitik zwischen den beiden deutschen Staaten übermittelte, fand dies, wie erwähnt, zum Entsetzen Wehners bei Willy Brandt kaum ein Echo. Im September 1973 begann Wehner deshalb, die Ostpolitik der Regierung öffent­ lich zu kritisieren. In der ARD-Sendung „Bericht aus Bonn" äußerte er am 14. Sep­ tember, dass in den Verhandlungen mit der CSSR das Berlin-Abkommen „überstra­ paziert" worden sei und es dabei an dem nötigen „Fingerspitzengefühl" gemangelt habe43. Wehner ging davon aus, dass bereits diese zurückhaltende Kritik ein starkes Echo in der Presse auslösen werde. Seiner Frau Lotte schrieb er noch vor Ausstrah­ lung der Sendung: „Die ,Springers' werden sich daran scheuern wie die Wild­ schweine am Eichbaum."44 Als die gewünschte Resonanz jedoch ausblieb, wurde Wehner am 21. September in einem Interview für den Norddeutschen und Westdeut­ schen Rundfunk noch deutlicher. Er warf der Regierung vor, „alte Politik mit neuen Verträgen" machen zu wollen, und verwies darauf, dass die Probleme, die das Ber-

41 Bahr an Innenminister Genscher vom 19. 6. 1973 (Kopie), in: PA Wehner. 42 Aufzeichnung „Gespräch Herbert Wehner mit Ponomarjow" (wie Anm. 39). 43 Fernseh-Interview Wehners mit Ernst Dieter Lueg für die ARD-Sendung „Bericht aus Bonn" vom 14. 9. 1973, in: SPD-Pressemitteilungen und Informationen Nr. 294 vom 14. 9. 1973. 44 Wehner an Lotte vom 14. 9. 1973, abends (Kopie), in: PA Wehner. Herbert Wehner und der Rücktritt Willy Brandts am 7. 5. 1974 313 lin-Abkommen aufwarf, von den Vier Mächten und nicht von der Bundesregierung in der Auseinandersetzung mit der CSSR zu lösen seien45. Von der Ausstrahlung die­ ses Interviews am 22. September erwartete er nun - wie er seiner Frau Lotte anver­ traute - einen „vielstimmigen Chor [...], zunächst in der ,Sonntagspresse' und dann weiter"46. Doch auch in diesem Fall war die Resonanz für Wehner enttäuschend. Dies war die Situation, in der er am 24. September mit einer Bundestagsdelegation nach Moskau aufbrach, wo er in seiner Kritik an der Regierung noch einen Schritt weiterging, wohlwissend was er damit riskierte. Als am 23. September in der Sonntagspresse sein Rundfunkinterview vom Vortag unkommentiert geblieben war, schrieb er vormittags an Lotte: „Wenn ich mich nicht täusche, habe ich innerlich auch schon die Schwelle dessen überschritten, was nach der Reise sowohl auf mich zukommt als auch von mir aufgenommen werden muß und wird."47 Abends fügte er dem noch hinzu: „Aber ich bin entschlossen zu sagen, was ist, soweit ich's eben beurteilen kann; ich werde mich nicht in die Gesellschaft derer begeben, die mehr oder weniger gezwungen-heiter so tun, als ob sich alles noch einschleimen oder glätten lasse. (In solcher Verfassung ist W[illy] B[randt] heute offensichtlich nach New York zur UNO geflogen, [.. .])."48 Wehner nutzte schon die Ankunft in Moskau zu der Äußerung, dass die Regie­ rung in der Berlin-Frage „ein wenig überzogen" habe, und fand damit die erhoffte Publizität49. In den folgenden Tagen überschlugen sich die Meldungen über Wehners Kritik an der Berlin-Politik der Regierung im Zusammenhang mit dem Prager Ver­ trag und dem Plan, das Bundesumweltamt nach Berlin zu legen50. In den USA lösten Wehners Äußerungen, wie ihm ein befreundeter amerikanischer Journalisten berich­ tete, ,,"ein[en] ziemliche[n] Wirbel" aus51. Brandt brach daraufhin seine USA-Reise ab und kehrte noch vor Wehner am 30. September nach Bonn zurück. Am Vormit­ tag des 2. Oktober kam es dann zu einer Unterredung zwischen Wehner und Brandt, über die Wehner seiner Frau Lotte lakonisch schrieb: „Brandt wirkte verstimmt und abweisend."52 Die Briefe Wehners an seine Frau Lotte spiegeln wider, dass Wehner in den ersten Tagen nach seiner Rückkehr aus Moskau zwar eine tiefe Verstimmung Brandts wahrnahm, sie auch nachvollziehen konnte, aber nicht davon ausging, dass sie dauerhaft anhalten werde, schon gar nicht zu einem endgültigen Zerwürfnis füh-

45 Rundfunk-Interview Wehners mit Jürgen Kellermeier für die Sendung „Die Woche in Bonn" von WDR 1 und NDR 1 vom 22.9. 1993, in: SPD-Pressemitteilungen und Informationen Nr. 305 vom 22. 9. 1973. Das Interview wurde am 21. 9. aufgezeichnet. 46 Wehner an Lotte vom 21. 9. 1973, abends (Kopie) in: PA Wehner. 47 Wehner an Lotte vom 23. 9. 1973, vormittags (Kopie), in: Ebenda. 48 Wehner an Lotte vom 23. 9. 1973, abends (Kopie), in: Ebenda. 49 „Parlamentarier aus Bonn in Moskau. Wehner: Berlin-Frage ein wenig überzogen", in: Rhein-Sieg- Anzeiger vom 25. 9. 1973; vgl dazu auch Baring, Machtwechsel, S. 616-620. 50 Vgl. „Verstimmung über Wehners Alleingang", in: Frankfurter Rundschau vom 28. 9. 1973, und „Wehner bleibt in wichtigen Fragen auf Kollisionskurs mit der Regierung", in: Frankfurter Allge­ meine Zeitung vom 29. 9. 1973. 51 David Binder an Wehner, datiert Washington D. C. am 1. 10. 1973 (Kopie), in: PA Wehner. 52 Wehner an Lotte vom 2. 10. 1973, abends (Kopie), in: Ebenda. 314 August H. Leugers-Scherzberg ren könne. Als Horst Ehmke nach der Parteivorstandssitzung am 5. Oktober Weh­ ner mit der Frage konfrontierte: „Du kannst nicht mit ihm, er kann nicht mit Dir, wie soll es weitergehen?" stufte Wehner dies als substanzloses Gerede ein. Seiner Frau schrieb er: „Fast vergeblich versuchte ich, dagegen klarzumachen, daß ich zum Beispiel den sowjetischen Gesprächspartnern in Moskau eindringlich dargelegt habe, es gebe keinen, der besser wäre als Brandt und sie mögen nicht dazu beitragen, ihn zu beschädigen. Seine [Ehmkes] Formeln kamen immer wieder, obwohl ich ihm sagte, daß ich Brandt weder verdrängen, noch mich ihm aufdrängen wolle."53 Auch gelang es Wehner, sich nach seiner Rückkehr aus Moskau in den Führungs­ gremien der SPD mit seiner sachlichen Kritik an der Ostpolitik weitgehend durch­ zusetzen. Selbst Brandt und Egon Bahr konzedierten, dass das Viermächteabkom­ men „gelegentlich (rhetorisch) strapaziert" worden sei54. Als am 8. Oktober ein Arti­ kel im „Spiegel" Wehners Kritik am persönlichen Regierungsstil Brandts in den Vordergrund rückte, führte dies ebenfalls nicht zu einer Verschlechterung des Ver­ hältnisses zwischen Weimer und Brandt. Im Gegenteil: Wehner bestritt, den darin zitierten Satz „Was der Regierung fehlt ist ein Kopf" gebraucht zu haben und erhielt vom „Spiegel"-Korrespondenten Hermann Schreiber die Bestätigung, dass dieser Satz tatsächlich aus dem Zusammenhang gerissen worden war. Brandt dementierte, dass er mit Bezug auf Wehner den im „Spiegel" zitierten Satz „Der Kerl ist zu knip­ sen" gebraucht habe55. Am 9. Oktober konnte Wehner seiner Frau Lotte schließlich berichten: „Im heutigen Mittagskoalitionsgespräch beim B[undes]k[anzler] gab es keine Verstimmung mehr."56 Bisher ist völlig übersehen worden, dass es nicht die öffentlichen und öffentlich bekannt gewordenen Äußerungen Wehners in Moskau waren, die in der Folgezeit das Verhältnis Brandts zu Wehner nachhaltig trübten, sondern Informationen, die Brandt von Egon Bahr über den Inhalt der Gespräche Wehners in Moskau erhielt. Wehner hatte in Moskau, insbesondere gegenüber dem ZK-Sekretär Boris Ponomar- jow, hervorgehoben, dass es keine Alternative zur Kanzlerschaft Brandts gebe. Die SPD, so Wehner, habe seit der letzten Bundestagswahl kontinuierlich an Rückhalt in der Bevölkerung verloren. Ausgenommen davon sei jedoch die Person Willy Brandts. Nur dieser könne den Erfolg der sozialliberalen Koalition garantieren und den Fortgang der Entspannungspolitik sicherstellen57. Bei aller Kritik an der Ostpo­ litik der Regierung Brandt im Herbst 1973 - ein Sturz Brandts lief den Interessen Wehners diametral entgegen. Dass Wehner sich in seinen Unterredungen mit sowjetischen Regierungs- und Par­ teivertretern so eindeutig für Brandt ausgesprochen hatte, behauptete nicht nur Wehner nach seiner Rückkehr in seinem Gespräch mit Horst Ehmke und in seinen

53 Wehner an Lotte vom 5. 10. 1973, abends (Kopie), in: Ebenda. 54 Baring, Machtwechsel, S. 622. 55 Wehner an Lotte vom 8., 9. und 16. 10. 1973 (Kopien), in: PA Wehner; vgl. auch Baring, Machtwechsel, S. 619. 56 Wehner an Lotte vom 9. 10. 1973 (Kopie), in: PA Wehner. 57 Aufzeichnung „Gespräch Herbert Wehner mit Ponomarjow" (wie Anm. 39). Herbert Wehner und der Rücktritt Willy Brandts am 7. 5. 1974 315 Berichten an Brandt. Auch Boris Ponomarjow strich in seinem diesbezüglichen Bericht für die Führung der KPdSU heraus, dass Wehner hervorgehoben habe, „daß die Autorität Brandts äußerst groß sei und es jetzt im politischen Geschehen der BRD niemanden gebe, der besser sein könnte als er"58. Willy Brandt wurde jedoch von Egon Bahr über Wehners Gespräch mit Ponomar­ jow anders unterrichtet. Bahr deutet in seinen Memoiren nur an, was er Brandt dar­ über mitgeteilt hat59. Es dürfte aber dem entsprechen, was sein Gewährsmann Wjat- scheslaw Keworkow in anderem Zusammenhang niedergeschrieben hat. Demnach soll Wehner gegenüber Ponomarjow erklärt haben, „Bundeskanzler Willy Brandt sei als Politiker am Ende, habe in der Partei keinerlei Ansehen mehr, trinke viel und sei ein rechter Schürzenjäger. Nach Wehners Worten teile auch Honecker diese Mei­ nung. Zu ihm unterhalte er ständig vertrauliche Kontakte. Beide wunderten sich, weshalb man in Moskau auf diesen politischen Leichnam' setze."60 Brandt war verständlicherweise außer sich, als ihm dies von Bahr mitgeteilt wurde. Bahr berichtet darüber in seinen Memoiren: „Selten habe ich Brandt so erregt erlebt. Er bebte vor Wut. Jetzt ist es genug. Er oder ich'."61 Wie aber kam es dazu, dass Bahr diese offenbar falsche Version der Geschichte erzählte? Egon Bahr unterhielt seit Ende 1969 im Auftrag Brandts einen angeblich geheimen Informati­ onskanal zum sowjetischen Staats- und Parteichef Leonid Breschnew. Tatsächlich lief dieser „geheime Kanal", wie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bekannt wurde, über zwei Mitarbeiter des KGB und den KGB-Chef Jurij W. Andropow, der die Informationen an Breschnew weiterleitete und seine Mitarbeiter anwies, welche Informationen über Bahr an Brandt zu geben waren62. Wehner hatte sich in seinen Gesprächen in Moskau nun nicht nur nachhaltig für Brandt eingesetzt, sondern auch diesen „geheimen Kanal" Egon Bahrs heftig attackiert. Seine Gesprächspartner hatten sich verwundert gezeigt, dass die Bundesregierung seit geraumer Zeit einen ostpolitischen Konfrontationskurs verfolgte. Wehner hatte dar­ aufhin dem 1. stellvertretenden Chefredakteur der Iswestia, Nikolai Poljanow, erklärt, „W[illy] B[randt] müsse einen direkten Draht zu L[eonid] Br[eschnew] haben."63 Dies musste seltsam klingen, existierte doch der „geheime Kanal" Egon

58 Analyse von Boris Ponomarjow über sein Gespräch mit Wehner, zit. bei Ulrich Völklein (wie Anm. 6). 59 Egon Bahr, Zu meiner Zeit, München 1996, S. 440: „Beim Besuch seines alten Chefs, Boris Pono­ marjow, Leiter der internationalen Abteilung im ZK-Apparat, mußte [Wehner] sich schlimmer, ausführlicher geäußert haben." 60 Wjatscheslaw Keworkow, Der geheime Kanal. Moskau, der KGB und die Bonner Ostpolitik, Ber­ lin 1995, S. 162; Bahr, Zu meiner Zeit, S. 440: „Die Mitteilungen des ,Kanals' gipfelten in der Beur­ teilung: ,Der ist ein Verräter.'" 61 Bahr, Zu meiner Zeit, S. 440. 62 Vgl. dazu eingehend Keworkow, Der geheime Kanal; ferner den Vermerk Willy Brandts vom 18.6. 1992 über ein Gespräch mit Valentin Falin am 31.3. 1992 (Kopie im Besitz des Verf.), in dem Brandt von Falin erstmals darüber aufgeklärt wurde, dass es sich bei dem „geheimen Kanal" um eine Geheimdienstverbindung gehandelt habe; vgl. dazu auch Der Spiegel Nr. 4 vom 23.1. 1995, S. 18-22. 63 Aufzeichnung „Gespräch Herbert Wehner mit Herrn Poljanow" (wie Anm. 38). 316 August H. Leugers-Scherzberg Bahrs, der genau diese Aufgabe erfüllen sollte. Doch Wehner bekräftigte noch ein­ mal: „Ein direkter Draht muß hergestellt werden." Und er erläuterte: „Es genüge nicht mit Egon B[ahr] zu sprechen. Daraus habe sich ergeben, daß W[illy] B[randt] meine, es gehe alles gut. [...] W[illy] B[randt] schwebe in großen Höhen, daher sei es wichtig, daß er direkt angesprochen wird."64 Wehners Kritik richtete sich also zum einen gegen die Mittlerrolle Egon Bahrs. Er zog dessen Auffassung in Zweifel, dass der „Schlüssel zur deutschen Frage" in Mos­ kau liege, und lehnte erst recht die daraus resultierende Konzentration der Ostpolitik auf die Sowjetunion ab. Dies, so Wehners Überzeugung, führe nur dazu, die Hegemo- nialstellung der Sowjetunion im Ostblock zu verstärken. Stattdessen setzte Wehner auf den kontinuierlichen Ausbau der Beziehungen zu allen osteuropäischen Ländern, besonders auch zur DDR, in der Hoffnung, dadurch auf Dauer die Blockbindungen lockern zu können65. Gerade durch seine Mittlerrolle zur sowjetischen Führung hatte Bahr aber einen erheblichen Einfluss auf die Ostpolitik Brandts. Die Kritik am „gehei­ men Kanal" zielte daher zunächst darauf ab, den Einfluss Bahrs zu beschneiden. Zugleich stellte Wehner damit aber auch die Konstruktion des „geheimen Kanals" überhaupt in Frage, der alles andere als ein direkter Informationskanal zu Leonid Breschnew war. Wie aus Wjatscheslaw Keworkows Darstellung hervorgeht, war KGB-Chef Andropow derjenige, der die Informationspolitik dieses „back Channels" leitete66. Für Andropow bot dieser „Kanal" die Möglichkeit, direkt Einfluss auf die deutsch-sowjetischen Beziehungen zu nehmen. Wehners Angriff auf den „geheimen Kanal" bedrohte damit Andropows Stellung in den Beziehungen zwischen Bonn und Moskau. Andropow dürfte über Wehners Attacke unmittelbar unterrichtet wor­ den sein, denn Poljanow war mit einem der beiden KGB-Mitarbeiter, die den ständi­ gen Kontakt zu Egon Bahr unterhielten, befreundet und war darüber hinaus selbst Mitarbeiter des KGB67. So ist es nicht verwunderlich, dass Brandt über den „geheimen Kanal" die Geschichte vom angeblichen Verrat Wehners präsentiert wurde. Wehner war für Andropow zu einem Störfaktor geworden, den es zu beseitigen galt. Deutlich wird die Desinformationsstrategie des KGB angesichts der Tatsache, dass die SED, die über die Parteiverbindungen und nicht vom KGB einen Bericht über die Unterre­ dung Wehners mit Ponomarjow erhielt, eine unverfälschte Fassung bekam, in der die Unterstützung Wehners für Brandt deutlich zum Ausdruck kam68. Schließlich kam es aber auch Bahr gelegen, dass die Informationen aus Moskau erheblichen Zweifel an der Loyalität Wehners aufkommen ließen. Dass der Frakti­ onsvorsitzende der SPD seit dem Frühjahr 1973 seine eigene Nebenaußenpolitik

64 Ebenda. 65 Vgl. dazu Leugers-Scherzberg, Die Wandlungen des Herbert Wehner. 66 Vgl. Keworkow, Der geheime Kanal. 67 „In Moskau hatte Herbert Wehner Kontakt zum KGB" aus der Illustrierten Quick [September 1973]. Undatierte Kopie des Artikels mit Unterstreichungen Wehners in: PA Wehner. 68 Vgl. Ulrich Völklein, Neue Dokumente zum Fall Weimer, in: Stern Nr. 6. vom 3. 2. 1994. Herbert Wehner und der Rücktritt Willy Brandts am 7. 5, 1974 317 trieb, war für Bahr ein unhaltbarer Zustand, der so schnell wie möglich beseitigt werden musste69. Damit waren für den Versuch Andropows, Wehner zu stürzen, die besten Voraussetzungen gegeben. Bahr erhielt über den „geheimen Kanal" in den Monaten nach Wehners Moskau-Besuch bis zu Willy Brandts Rücktritt laufend Informationen über Wehners Verhandlungen mit Erich Honecker, die nicht mit den Berichten übereinstimmten, die Wehner für Brandt schrieb70. So notierte Brandt auch in seinen „Notizen zum Fall G." unter dem 6. Mai, dass es vor und während der Regierungskrise „mir gegenüber verheimlichte Kontakte mit Ostberlin gegeben" habe. ,,E[gon] B[ahr] brachte am 6.5. in Erfahrung: in den vorangeg[angenen] Tagen habe es zwischen H[erbert] W[ehner] + Hon[ecker] mehrere (vier) Kommunikatio­ nen gegeben."71 Diese Information stammte vom „geheimen Kanal"72 und sollte selbst noch in den Tagen der Regierungskrise das Misstrauen gegen Wehner schüren. Tatsächlich hatte es nur eine „Kommunikation" gegeben. Am Nachmittag des 3. Mai 1974 war es zu einem bereits lange geplanten Zusammentreffen Wehners mit dem Ostberliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel auf dem Bonner Heiderhof gekom­ men. Honecker hatte am 1. April 1974 über Wehner Vorschläge für eine langfristige Wirtschaftskooperation zwischen der Bundesrepublik und der DDR unterbreitet73. Eine Antwort Brandts darauf stand noch aus. So ging es in dieser Unterredung - soweit sich die stenographischen Aufzeichnungen Wehners über dieses Gespräch entschlüsseln lassen - vornehmlich um Fragen der Ausweitung des innerdeutschen Swing, um für die DDR die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Kooperation zu schaffen74. Allerdings hatte Wolfgang Vogel, wie Wehner kurz darauf Nollau anvertraute, auch die Äußerung Honeckers überbracht, er habe nicht gewusst, „daß im Bundeskanzleramt ein Spion sitze. Der Minister für Staatssicherheit habe ihm, Honecker, versichert, Guillaume sei ,abgeschaltet' worden, als er in die Funktion bei Brandt gekommen sei."75 Diese „Information" war nicht nur falsch76, sondern sie wurde auch weder von Wehner noch von Nollau ernst genommen77. Offenbar ver­ zichtete Wehner deshalb darauf, sie am 4. Mai an Brandt weiterzugeben. Auch wenn Wehner in Moskau bewusst gegen den „geheimen Kanal" Egon Bahrs aufgetreten war, so war er sich doch offenbar nicht darüber im klaren, was er damit ausgelöst hatte. Zwar vermutete er zu Recht, dass, nachdem am 9. Oktober das Ver­ hältnis zu Brandt im großen und ganzen wieder bereinigt schien, Bahr für den neu-

69 So Bahr in einem Gespräch, das er mit mir am 3.4. 1995 im Bonner Ollenhauerhaus führte. 70 Dies bestätigte Bahr ebenfalls im Gespräch am 3. 4. 1995. 71 Brandt, Notizen zum Fall G. 72 Auskunft Egon Bahrs im Gespräch am 3.4.1985 73 Schreiben Honeckers vom 1. 4. 1974, in: PA Wehner; vgl. dazu auch Heinrich Potthoff, Bonn und Ost-Berlin 1969-1982. Dialog auf höchster Ebene und vertrauliche Kanäle. Darstellung und Dokumente, Bonn 1997, S. 43. 74 Stenographische Notizen Wehners von der Unterredung mit Wolfgang Vogel am 3. 5. 1974, in: PA Wehner. 75 So Nollau in seinem Tagebucheintrag vom 3. 5. 1974, zit. nach Brandt, Erinnerungen, S. 329. 76 Vgl. Wolf, Spionagechef, S. 263 ff. 77 So Nollau in seinem Tagebucheintrag vom 3. 5. 1974, zit. nach Brandt, Erinnerungen, S. 329. 318 August H. Leugers-Scherzberg erlichen Stimmungsumschwung bei Brandt verantwortlich war. Doch Wehner ver­ suchte, sich dies aus den allgemeinen politischen Differenzen mit Bahr zu erklären. An Lotte schrieb er am 10. Oktober 1973, als er erfahren hatte, dass Brandt erneut daran dachte, ihn zu stürzen: „Dahinter steckt die Abwehr gegen die von Honecker mit mir und auf meine Anregung vereinbarten konkreten Schritte zu humanitären Hilfen. Bahr ist ganz entschieden dagegen und ist ja der Urheber jener ,toten Monate', in denen gleich nach dem Unterzeichnen des Vertrags mit der DDR die ausreisegenehmigten Leute drüben ,auf ihren Koffern' sitzen blieben, was dann auf unserer Seite reichlich ausgeschlachtet wurde durch Springer und die CDU. Nur, wenn man mich ,knackt', gibt's niemand, der den Bahr-Unsinn wieder durchkreuzt. Von mir weiß W[illy] Br[andt], ich werde mein Bundestagsmandat niederlegen, um nicht zum ,Puffer' zwischen den beiden Seiten zu werden. Das kann ihm aber nur passen, wenn ich in aller Form ,geknackt' würde. - Keine Angst, ich skizziere Dir nur, was man sonst nicht erkennen könnte. Damit hat der Große noch keineswegs erreicht, daß es so kommt, wie es von Ratgebern gemeint wird."78 Dass der „geheime Kanal" gegen ihn intrigiert hatte, erfuhr Wehner erst Monate nach Brandts Rücktritt. Ende August 1974 meldete die „Quick", dass in der letzten Mai-Woche 1974 drei CDU-Bundestagsabgeordnete von einem hohen sowjetischen Funktionär darüber aufgeklärt worden seien, „daß Wehner nicht nur einmal, sondern insgesamt dreimal in der DDR gewesen sei und zumindest bei einer dieser Gelegen­ heiten Honecker vor dem Hochgehen von Guillaume gewarnt habe"79. Der „Spiegel" berichtete kurz darauf, dass es sich bei dem sowjetischen Funktionär um Valeri Led- new handelte80, der für den „geheimen Kanal" den ständigen Kontakt zu Egon Bahr aufrecht erhielt81. Allerdings hatte die sowjetische Seite nach dem Rücktritt Brandts offenbar das Interesse an weiteren Aktionen gegen Wehner verloren. Bereits Mitte Juli 1974 - so Wehner - informierte ihn vorab der sowjetische Botschafter Valentin Falin über „diese Sache, von der er wußte, daß sie mir angehängt wird."82

III.

Wehners Ausgangsposition zu Beginn der Guillaume-Affäre wurde demnach durch vier Faktoren bestimmt: 1. Das Verhältnis zu Willy Brandt war nach seiner Moskaureise belastet. Auch wenn es zwischen beiden zu einem Modus vivendi kam, blieben die Beziehungen

78 Wehner an Lotte vom 10. 10. 1973 (Kopie), in: PA Wehner. 79 „Watergate in Bonn", in: Quick vom 29. 8. 1974. 80 Vgl. Der Spiegel Nr. 36 vom 2. 9. 1974, S. 17. 81 Vgl. Keworkow, Der geheime Kanal, S. 272 ff. 82 So Wehner im Spiegel-Interview, in: Der Spiegel Nr. 36 vom 2. 9. 1974, S. 21. Herbert Wehner und der Rücktritt Willy Brandts am 7. 5. 1974 319 doch gespannt. Horst Ehmke und Conrad Ahlers rieten dazu, Wehner zum Rück­ tritt zu bewegen, um die Position Brandts zu stärken83. Im März 1974 erörterten Wehner und Brandt sogar selbst die Möglichkeit eines Rücktritts Wehners vom Fraktionsvorsitz84. Doch im März war dies für Brandt noch zu früh. Er hatte vor, im Rahmen der geplanten umfassenden Regierungsumbildung im Mai/Juni 1974 auch das Amt des Fraktionsvorsitzenden der SPD neu zu besetzen85. Damit wäre die Entmachtung Wehners besiegelt worden. 2. Wehners Informations- und Sondierungskanal zu Erich Honecker kam nach der Moskaureise endlich zum Tragen. Die Auseinandersetzungen über die Ost- und Deutschlandpolitik der Bundesregierung, die nach Wehners medienwirksam insze­ nierter Kritik in Moskau begannen, führten dazu, dass Brandt sich nunmehr umfas­ send über Wehners Verhandlungen mit Honecker unterrichten ließ und dessen Ver­ bindung zu Honecker dazu nutzte, direkte informelle Verhandlungen mit dem ersten Mann der DDR zu führen86. Insofern hatte Wehner bis zum Frühjahr 1974 erreicht, was er mit seinem Sondierungskanal beabsichtigt hatte. 3. Brandts Image als Bundeskanzler, als Vorkämpfer einer neuen deutschen Ostpo­ litik und als Friedensnobelpreisträger war für Wehner nach wie vor unersetzlich87. Auch wenn die Regierung im Frühjahr 1974 in einem Stimmungstief war, so bestand für Wehner doch kein Zweifel daran, dass sich das Blatt bis zur Bundestagswahl 1976 noch wenden ließe. Nach seiner Einschätzung war dies leichter mit Brandt als ohne Brandt zu bewerkstelligen. 4. Egon Bahr und dessen Einfluss auf Brandt wollte Wehner auf Dauer ausschal­ ten. Sein Angriff auf den „geheimen Kanal" in Moskau hatte dieses Ziel verfolgt. Auch aus den Mitteilungen Honeckers, die Wehner Brandt übermittelte, ließ sich als Quintessenz nur herauslesen, dass Egon Bahr als Ost- und Deutschlandpolitiker denkbar ungeeignet war88. Vom Herbst 1973 bis zum Frühjahr 1974 spielte sich damit ein zäher Kampf hinter den Kulissen ab. Egon Bahr und der „geheime Kanal" arbeiteten darauf hin, Wehners Einfluss auf die Ost- und Deutschlandpolitik zu

83 So der Bonner Korrespondent der „New York Times" David Binder „The Other German. Willy Brandt's Life and Times", Washington 1976. Übersetzung und Abdruck von Auszügen in: Der Spiegel Nr. 47 vom 17. 11. 1975, S. 36-49, hier S. 46. 84 Vgl. Baring, Machtwechsel, S. 713. 85 Vgl. dazu Der Spiegel Nr. 37 vom 9. 9. 1974, S. 22 f. 86 Vgl. dazu Potthoff, Bonn und Ost-Berlin, S. 41 ff. 87 Noch am 17. 3. 1974 erklärte Wehner auf dem Landesparteitag der Bremer SPD „daß Bundeskanz­ ler Brandt Träger der Hoffnungen nach einem sicheren Frieden, nach Verständigung von West- Ost, Nord-Süd, in den Völkern vieler Länder weit über Europa hinaus ist, was wir nie vergessen sollten. [...] Es gibt keinen Ersatz für ihn, und wer ihn, sei es in Fragen der Ostpolitik, sei es in anderen Fragen, so das Leben schwer macht und die Arbeit, der muß wissen, es gibt keinen Ersatz für ihn, keinen Besseren." Herbert Wehner, Rede auf dem Landesparteitag der SPD in Bremen am 17. 3. 1974, maschinenschriftliches Manuskript, S. 15 u. 30 (Exemplar in: PA Wehner). 88 In der von Wolfgang Vogel am 17. 9. 1973 mündlich überbrachten Mitteilung Honeckers für Brandt, die Wehner in seinem Brief an Honecker vom 2. 12. 1973 (in: PA Wehner) vollständig wie­ dergab, wurde heftige Kritik an Egon Bahr geübt. (In den Presse-Abdrucken dieses Schreibens (vgl. Anm. 6) wurde dieser Teil des Briefes leider ausgelassen.) 320 August H. Leugers-Scherzberg beseitigen. Gleichzeitig bemühte sich Wehner mit Unterstützung Honeckers, Egon Bahr aus seiner ost- und deutschlandpolitischen Schlüsselstellung zu verdrängen. In beiden Fällen ging es darum, Einfluss auf Brandts Ostpolitik zu gewinnen. Davon ausgehend, war die Guillaume-Affäre für Wehner zunächst nichts, was zur Besorgnis Anlass gab. Das änderte sich schlagartig, als er am 3. Mai von Nollau erfuhr, was die Bonner Sicherheitsbeamten über den angeblich ausschweifenden Lebenswandel Brandts zu Protokoll gegeben hatten. Gerüchte über angebliche Frau­ engeschichten Brandts hatte es seit langem gegeben. Nun aber waren sie im Rahmen der Ermittlungen zum Fall Guillaume Gegenstand einer amtlichen Untersuchung und damit geeignet, das Image Brandts zu zerstören. Sollte Brandt Bundeskanzler bleiben, war es eine Frage der Zeit, bis die pikantesten Details aus den Leibwächter- Vernehmungen der Presse zugespielt würden89. Brandts mangelhaftes Krisenmanage­ ment ließ Zweifel aufkommen, ob er dies politisch überstehen könnte. Zudem teilte Brandt Wehner zu Beginn der Unterredung am 4. Mai in Bad Müns- tereifel seine Pläne über die Kabinettsumbildung mit, insbesondere dass Egon Bahr neuer Kanzleramtsminister werden sollte90. Diese Mitteilung dürfte Wehner nicht dazu bewogen haben, Brandt unter allen Umständen vom Rücktritt abzuhalten. Für Wehner musste die Aussicht, es künftig mit einem Kanzleramtschef Bahr zu tun zu haben, völlig unakzeptabel sein. Nachdem Wehner ihm am Abend des 4. Mai ein 24-stündiges Ultimatum gestellt hatte, stand für Brandt der Entschluss zum Rücktritt fest. Er ließ sich auch von nie­ mandem mehr umstimmen91. Brandt war zu der (wohl realistischen) Einsicht gekommen, dass er die durch den „Fall Guillaume" ausgelöste Krise politisch nicht überstehen werde. Diese Einsicht hat er allerdings nie verarbeitet. Hatte er sich schon während der Krise Verschwörungstheorien hingegeben, so wurde der durch den „geheimen Kanal" genährte Verdacht gegen Wehner zu einer fixen Idee, die ihn bis zu seinem Lebensende verfolgte92. Hinzu kam, dass Brandt auch nach seinem Rücktritt von Bahr noch einseitig informiert wurde. Wehner hatte nach dem Rück­ tritt Brandts ein undatiertes Schreiben Honeckers mit einer Einladung für den neuen Bundeskanzler erhalten, dem ein Brief Honeckers beilag, den der SED-Chef am 6. Mai zur Unterstützung Brandts verfasst hatte93. In seinen „Notizen zum Fall G." berichtet Brandt unter Berufung auf eine Information Bahrs vom 14. Mai 1974, es sei „am 6.5. ein Brief mit Einladung für H[elmut] S[chmidt] (also vor meinem offi-

89 Vgl. dazu Baring, Machtwechsel, S. 748 f. 90 So (nach Informationen eines SPD-Vorstandsmitglieds) Der Spiegel Nr. 37 vom 9.9. 1974, S. 23. Vgl. zu Brandts Plänen, Bahr zum neuen Kanzleramtsminister zu machen, auch Baring, Machtwechsel, S. 747. 91 Vgl. Brandt, Notizen zum Fall G. 92 Vgl. dazu den Vermerk Willy Brandts vom 18.6. 1992 über ein Gespräch mit Valentin Falin am 31.3. 1992 (wie Anm. 62). Das Gespräch mit Falin führte Brandt nicht zuletzt auch deswegen, um weiteren Aufschluss über die Rolle Herbert Wehners in den Ost-West-Verhandlungen zu bekommen. 93 Vgl. dazu Wehner an Schmidt vom 15. 6. 1974, im PA Wehner (zu Presseabdrucken dieses Schrei­ bens siehe Anm. 6); Potthoff, Bonn und Ost-Berlin, S. 43 ff. Herbert Wehner und der Rücktritt Willy Brandts am 7. 5. 1974 321 z[iellen] Rücktritt!)" Wehner übergeben worden, den Wehner nicht an ihn weiterge­ geben habe94. Brandt meinte deshalb, mit Fug und Recht behaupten zu können, dass ihm Wehner „Briefe und Nachrichten, die in den Tagen um meinen Rücktritt aus Ostberlin eingingen," vorenthalten habe95. Für Wehner blieb als Ergebnis der Regierungskrise: Dadurch, dass Brandt vom Amt des Bundeskanzlers zurücktrat, den Parteivorsitz aber beibehielt, blieb Brandts positives Image der SPD als politischer Aktivposten erhalten, zumal die Angriffe auf seinen privaten Lebenswandel nach seinem Rücktritt sofort eingestellt wurden. Egon Bahr wurde aus seiner Schlüsselstellung in der Ostpolitik verdrängt. Wehner selbst nahm dagegen nach der Übernahme der Kanzlerschaft durch Helmut Schmidt eine Schlüsselstellung in den deutsch-deutschen Beziehungen ein96. Dies ermöglichte es ihm, seine entspannungspolitischen Vorstellungen in einflussreicher Position wei­ ter zu verfolgen. Abschließend lässt sich festhalten: Brandt stürzte nicht über seine „Sex-Affären", wie der „Focus" nach der Veröffentlichung aus den Ermittlungsakten des „Fall Guil- laume" titelte97, und auch nicht über eine Intrige Wehners, sondern über sein unzu­ längliches Krisenmanagement, das seit der Bundestagswahl von 1972 ein latenter Gefahrenherd war. Insofern ist es auch richtig im Zusammenhang mit dem Rücktritt Brandts auf weitere Krisenherde wie den dramatischen Rückgang im Wählerzu­ spruch für die SPD im Frühjahr 1974, die durch die Ölkrise ausgelöste Verschlechte­ rung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und den schwindenden Rückhalt der Regierung in Gewerkschaftskreisen hinzuweisen98. Aber erst die Guillaume-Affäre offenbarte das ganze Ausmaß des Versagens der Regierung Brandt. Wehner bemühte sich nach seiner Unterredung mit Nollau am 3. Mai 1974 um eine in jeder Hinsicht zukunftsfähige Lösung. Er ging zum Entsetzen der Vertrauten Brandts sogar so weit, von dem zeitweilig mit Selbstmordgedanken99 spielenden Brandt zu fordern, seinen Rücktritt nicht resignativ, sondern offensiv zu vertreten100. Dies sollte dazu dienen, für den Nachfolger die günstigsten Startbedingungen zu

94 Brandt, Notizen zum Fall G. 95 Brandt, Erinnerungen, S. 329. 96 Vgl. Potthoff, Bonn und Ost-Berlin, S.45 ff. 97 Focus Nr. 7 vom 14. 2. 1994. 98 Vgl. dazu ausführlich Baring, Machtwechsel, S. 687-739. 99 Von Selbstmordgedanken Brandts während der Guillaume-Affäre berichtete zuerst David Binder, in: Der Spiegel Nr. 47 vom 17.11.1975, S. 49, dann Baring, Machtwechsel, S. 746, jetzt auch Schöll­ gen, Brandt, S. 211. Festgemacht wird dies an der Bemerkung Brandts in seinen „Notizen zum Fall G.", er habe am 1. 5. 1974 auf Helgoland „düstere Gedanken" gehabt, „die ich auch in einem dann aber in Bonn vernichteten Brief festhielt". Baring gegenüber erläuterte Brandt diese Passage, „er habe sich das Leben nehmen wollen, er hatte einen Abschiedsbrief an seine Familie verfaßt". Vgl. Express vom 31.1.1994. Brandt selbst bestritt später in seinen „Erinnerungen", S. 321, Selbst­ mordgedanken gehegt zu haben. 100 Brandt, Notizen zum Fall G.: „H[erbert] W[ehner] sagt morgens: Beschränkung auf Vorsitz könnte Sinn ergeben, wenn nicht ,resignativ' begründet werde". Harpprecht, Im Kanzleramt, S. 554: „Wehner habe wiederholt, [Brandt] dürfe nicht resignierend resignieren. Was verlangt er von diesem Mann." 322 August H. Leugers-Scherzberg schaffen. Diese Strategie verhalf aber auch Brandt selbst zu dem Ruf, einer der weni­ gen deutschen Politiker gewesen zu sein, die für Versäumnisse ihrer Untergebenen die politische Verantwortung übernommen haben. Wehner offenbarte in der Guillaume-Affäre einmal mehr eine politische Kaltblü­ tigkeit, für die er zuweilen gehasst, von Anhängern und Gegnern aber stets auch bewundert wurde. Notizen

„ZUM STAND DER HISTORISCHEN AUFARBEITUNG KOMMUNISTISCHER DIKTATUREN"

Internationale Arbeitstagung in der Berliner Außenstelle des Instituts für Zeitgeschichte München vom 29. November bis 1. Dezember 2001

Die Tagung, die Vertreter aus 14 ehemals kommunistisch regierten Ländern Europas, aus Deutschland und Österreich an einen Tisch brachte, wurde von der Berliner Außenstelle des IfZ München organisiert. Zweck der Veranstaltung war ein Aus­ tausch über Forschungsleistungen, -defizite und -perspektiven der Geschichtswis­ senschaft zur kommunistischen Vergangenheit in den zwölf Jahren nach Öffnung zahlreicher Archive. Insbesondere war die Tagung auch als Möglichkeit gedacht, internationale Kontakte hinsichtlich engerer wissenschaftlicher Kooperation zu knüpfen. Der Direktor des IfZ Horst Möller (München) eröffnete die Veranstaltung und übergab dann Hermann Weber (Mannheim) das Wort zu einem Vortrag über den Stand der Forschung. Der Nestor der deutschen Kommunismusforschung zog ein Fazit über Forschungsthemen und -ergebnisse vor und nach 1990. Er verwies darauf, daß die Forschung nach 1990 auf bis dahin im Westen vollbrachte Leistungen auf­ bauen konnte und der heutige Forschungsstand somit auch den vor 1990 erzielten Ergebnissen zu verdanken sei. Trotz schlechter Quellenlage hätten im Westen gute Forschungsergebnisse vorgelegen, die sowohl das System der kommunistischen Dik­ taturen als auch die Entwicklung der kommunistischen Bewegung beleuchteten. Ein Manko sei allerdings, daß der in der älteren Forschung in seinen Dimensionen unter­ schätzte und infolgedessen nach der Archivöffnung in den Vordergrund getretene Terroraspekt in den letzten Jahren sozialgeschichtliche Erklärungsansätze der kom­ munistischen Bewegung in den Hintergrund gedrängt habe. Die zwei darauffolgenden Konferenztage eröffnete Jan Foitzik (Berlin). Als „Kon- zeptor" und Organisator der Veranstaltung wies er darauf hin, im Zentrum der Kon­ ferenz stehe ein Informations- und Meinungsaustausch, der nicht nur einen Über­ blick über die landesspezifischen Merkmale und Institutionen der Kommunismus­ historiographie geben, sondern zugleich die Gelegenheit bieten solle, potentielle Partner für gemeinsame Forschungsvorhaben auszumachen. Es folgte eine kurze Selbstvorstellung der Gäste, ihrer Forschungseinrichtungen und -ergebnisse wie auch der politisch-kulturell determinierten Forschungskonditionen1.

1 Die Konferenzbeiträge sind unter www.ifz-muenchen.de/Neuigkeiten abrufbar.

VfZ 50 (2002) ® Oldenbourg 2002 324 Notizen Recht bald gewann man den Eindruck, daß die deutschen Teilnehmer methodolo­ gische und konzeptionelle Fragen in den Vordergrund stellten, während die auslän­ dischen Beiträge zeigten, daß die Geschichtsforschung nicht in allen Ländern den gleichen Stellenwert besitzt. Die meisten kritischen Stimmen galten der Archivpoli­ tik; angesprochen wurden aber auch finanzielle, infrastrukturelle und personale Fak­ toren. Positiv bewertete beispielsweise Krysztof Ruchniewicz (Wroclaw/Breslau) die polnische Situation, wobei auch er auf einen großen Nachholbedarf an Quellen- und Grundlagenforschung verwies, der eine Auseinandersetzung über theoretische Zugänge als verfrüht erscheinen lasse. Pawel Kuglarz (Krakau) benannte ebenfalls aktuelle politische Umstände, die hemmenden Einfluß auf die Forschung hätten, doch ganz anders klangen die Berichte über Bulgarien und Rumänien: Dort sei die weitgehend brach liegende Geschichtsforschung auf internationale Unterstützung unbedingt angewiesen. Über Methoden und Konzepte wurde aus vielfältiger Sicht berichtet: Ruth Leise- rowitz (Kleipeda/Berlin) betonte etwa den Umstand, daß die Auseinandersetzung mit der Frage der Kollaboration Mythen über Litauens Vergangenheit als die „Geschichte eines Opfers" zerstöre. Tatiana Ju. Timofejeva (Moskau) verwies auf Spannungen zwischen der „Geschichte im Massenbewusstsein", die sie als „histori­ schen Kitsch" bezeichnete, und der wissenschaftlichen Historiographie, deren Ent­ wicklung in Russland durch Generationsprobleme und Differenzen zwischen den Regionen und Moskau belastet sei, und plädierte für eine verstärkte Einbeziehung der Mentalitätsgeschichte in die historische Forschung. Aus einem anderen Blick­ winkel argumentierte Sergej Slutsch (Moskau), als er Forschungsdesiderata etwa hin­ sichtlich der sowjetischen Politik gegenüber der Weimarer Republik auf die russi­ sche Archivpolitik zurückführte, zugleich aber die fehlende Rezeption russischer Fachpublikationen im Ausland bemängelte. Für die methodische und konzeptionelle Debatte waren die Beiträge zur kroati­ schen, serbischen und slowenischen Zeitgeschichtsschreibung vor allem deshalb auf­ schlußreich, weil diese in der Vergangenheit im Unterschied zu den Historiogra­ phien der früheren Länder des „Ostblocks" nicht in gleichem Maße von dem Main­ stream der westlichen Sozialwissenschaften abgeschottet waren und man so gezielt deren Lücken zu benennen wußte. Tihomir Cipek (Zagreb) fragte nach sozialen und mentalen Vorbedingungen der charismatischen Herrschaftslegitimation des Kommu­ nismus, die weder in der im Anfangsstadium befindlichen historischen Forschung in Kroatien - innerhalb derer die Kommunismusproblematik aus politischen Gründen ein „empfindliches Thema" sei - noch anderswo thematisiert würden. Todor Kuljic (Belgrad), der krankheitshalber vertreten wurde, lenkte die Aufmerksamkeit auf das Spannungsverhältnis zwischen Institutionen und Eliten, zwischen Struktur und Identität als einer Spezifik des „jugoslawischen" Kommunismus und benannte kon­ kret die (politische) „Konversion" ehemals kommunistischer Historiker als ein besonderes Legitimitätsproblem der postkommunistischen Geschichtsschreibung. Parallel zu diesen Ansätzen präsentierten die deutschen Teilnehmer ihre methodi­ schen und konzeptionellen Präferenzen. Dietrich Beyrau (Tübingen) verwies auf Notizen 325

Formen der Etablierung von kommunistischen Strukturen, etwa auf den Personen­ kult als Herrschaftsform via institutionalisiertes Charisma, auf die Wirkung von Kri­ tik und Selbstkritik als rhetorische Rituale wie auch auf Feste als Formen der Selbst­ repräsentation von Regimen. Von Interesse sei ferner die Vorgeschichte des Kommu­ nismus in Osteuropa, insbesondere die Anomalie der Ausgangsbedingungen, die völlige Zerstörung der Gesellschaften und ihrer Werte in Krieg und Bürgerkrieg. Grundsätzlich sprach sich Beyrau für Vergleiche kleinerer thematischer Bereiche anstelle eines „totalen Systemvergleichs" aus. Übernationale Perspektiven würde auch die Untersuchung von Schnittpunkten etwa zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus eröffnen. Thomas Lindenberger (Potsdam) argumentierte, daß die Geschichte der DDR nicht nur die Geschichte einer Diktatur gewesen sei, und plä­ dierte dafür, der Differenz zwischen „Alltag" und „politischem System" mehr Beachtung zu schenken. Für einen globalen Bezugspunkt der Geschichtsforschung setzte sich hingegen Leonid Luks (Eichstätt) ein und begründete dies damit, daß bei­ spielsweise Stalins Judenpolitik nur länderübergreifend zu verstehen sei. Ferner gab Luks zu bedenken, daß in der Diskussion um die Totalitarismustheorie die Unter­ scheidung von originärem (NS) und sekundärem (Kommunismus mit „russischen Panzern im Hintergrund") Totalitarismus nicht außer acht gelassen werden dürfe, und befand den Systemvergleich Nationalsozialismus - Kommunismus für notwen­ dig. In ihrem Bericht aus der Forschungspraxis kritisierte Christiane Brenner (Mün• chen) das Sowjetisierungsparadigma als Externalisierung zu Legitimationszwecken und zugleich den methodischen Ansatz einer Dichotomie zwischen Staat und Gesellschaft. Die Spezifik der historischen Situation einzelner Länder sei nur mit Hilfe eines zwischenstaatlichen Vergleichs erfaßbar. Auch Klaus Ziemer (Warschau) plädierte für internationale Vergleiche, um nationale Spezifika des Kommunismus zu isolieren; erst in einem zweiten Schritt solle nach den Mechanismen gefragt werden, die Staat und Gesellschaft verbinden. Einen asynchronen Vergleich innerhalb eines Landes stellte nur Tomasz Mianowicz (Warschau/München) vor, der mittels interdis­ ziplinärer Methoden Parallelen zwischen der Etablierung der kommunistischen Herrschaft in den vierziger Jahren und deren Reformierung in den achtziger Jahren in Polen untersucht. Nach der Präsentation der Länder, Institutionen und Personen lenkte Foitzik die Aufmerksamkeit auf Kooperationsmöglichkeiten und Formen der Arbeitsteilung in der Grundlagenforschung, die insbesondere in der Kominternforschung oder bei Quelleneditionen über sowjetische Nachkriegspolitik zweckmäßig seien. Als Ergeb­ nis der Konferenz hielt er fest, daß nationalgeschichtliche Forschungsansätze nicht mehr wie früher im Zentrum stünden. Die Ungleichzeitigkeit in der Forschung, also die Unterschiede in der thematischen Schwerpunktsetzung, sei vielfältigen Gründen geschuldet. So lägen beispielsweise in Tschechien oder in der Slowakei bereits Namenslisten der unter der kommunistischen Herrschaft Verurteilten vor, für die DDR sei diese Form der Rehabilitierung noch nicht geleistet worden. Als Erklärung kämen sicherlich tagespolitisch bestimmte gesellschaftliche Legitimationsinteressen, 326 Notizen aber auch schlichte Kapazitäts-, archivtechnische oder datenschutzrechtliche Pro­ bleme in Frage. Aus diesem Grunde sollten die „nationalen Besonderheiten" der Forschung nicht dramatisiert werden. Weitgehende Übereinstimmung, so Foitzik, herrsche im Hinblick auf die chrono­ logische Schwerpunktbildung. Durchgehend dominiere der Zeitraum 1944-1948, in Tschechien etwa um die Phase 1953-1957 und in der Slowakei um 1953-1960 erwei­ tert. Nur wenige Projekte thematisierten die siebziger Jahre. Unterentwickelt sei generell die Erforschung der Vorgeschichte des Kommunismus in Ostmitteleuropa, wobei der empirische Vergleich zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus nur in Polen gewagt werde. Weitgehender Konsens bestehe hinsichtlich der Relevanz der Forschung über Repression, Terror, Widerstand und nationale Minderheiten, wobei Deportation und Zwangsarbeit eine größere Rolle spielten als früher. Nur vereinzelt interessierten Kirchenfragen, ein Projekt zur Parteiengeschichte sei über­ haupt nicht erwähnt worden, Verwaltungsgeschichte thematisiere gegenwärtig nur ein Projekt des IfZ. Obwohl oft von einer charismatischen Herrschaft die Rede gewesen sei, würden derzeit nur in Ungarn (Kadar), in Serbien (Tito) und im IfZ (Grotewohl) biografische Forschungen betrieben. Mit Verweis auf Unterschiede zwischen der akademischen Geschichtsperzeption, der „Geschichtspolitik" und der gesellschaftlichen Gedächtnis- und Erinnerungskultur ging der Diskussionsleiter kurz auf außerwissenschaftliche Einflüsse auf die Geschichtsforschung ein, die wäh­ rend der sogenannten Goldhagendiskussion oder der Auseinandersetzung mit der Zwangsarbeiterthematik auch in Deutschland gezeigt hätten, daß sich die Wissen­ schaft dem gesellschaftlichen „Erinnerungsinteresse" beugen müsse. Ein positives Resultat des internationalen Austauschs nach 1989/90 sei, so Foitzik, in der evidenten Methodenvielfalt und im interdisziplinären Zugang zu sehen. Als Untersuchungsfelder und -methoden wurden vorgestellt: Alltags- und Mentalitätsge­ schichte, Sozialgeschichte, der „kulturanthropologische" und funktionale Systemver­ gleich. Kontrovers wurde das Totalitarismusmodell diskutiert, das ins Zentrum der Generaldebatte geraten sei. Es waren meistens deutsche Teilnehmer, die sich zu ihm entweder dezidiert bekannt oder es genauso entschieden abgelehnt hätten. Margina- lisiert scheine das „Sowjetisierungsparadigma", das etwa von Clemens Vollnhals (Dresden) positiv aufgegriffen, von Christiane Brenner als Externalisierung oder von Edita Ivanickova (Bratislava) als Mythos kritisiert wurde. Explizit gegen den Totali- tarismusansatz und für systemtheoretisch bzw. in einem weitesten Sinne „kulturan­ thropologisch" angelegte Vergleiche kleinerer politischer und/oder sozialer Segmente plädiere Dietrich Beyrau, während sich Leonid Luks positiv auf den Totalitarismu- sansatz bezogen habe. Differenzierte Positionen, wie z.B. die von Udo Wengst (München), der die Totalitarismustheorie für bestimmte Phasen des Kommunismus als ertragreich bezeichnete und generell dazu aufforderte, mehr zu „forschen" statt „aufzuarbeiten", dürften insgesamt repräsentativ gewesen sein. So habe auch Jürgen Zarusky (München) kritisiert, daß eine akzeptable empirische Antwort auf den Totalitarismusansatz bisher fehle. Notizen 327

Weiter seien im Diskussionseifer vielfach immanente Widersprüche in den vorge­ tragenen Argumenten untergegangen. So habe man etwa „aus praktischen Gründen" „kleinteilige Untersuchungen kurzer Perioden" für nötig befunden, gleichzeitig aber die Gefahr einer Entkontextualisierung an die Wand gemalt oder den Vergleichs­ raum aus systematisch-methodischen Gründen erweitert, weil „Dynamik und Statik des Ostblocks ohne den Balkan nicht verstehbar" seien. Der Diskussionsleiter erin­ nerte bezüglich der meist von deutschen Teilnehmern bestrittenen Debatte zur Tota- litarismustheorie an die Ergebnisse der politologischen Fachdiskussion vor zwanzig Jahren über die gleichen Aspekte und wies auf den Umstand hin, daß die Wahl des methodischen Zugangs von der Fragestellung abhänge, so daß gegen die Fortsetzung eines interdisziplinären Vorgehens nichts spreche. Im Hinblick auf systemtheoretisch angelegte Ansätze gab er zu bedenken, ob die im Westen entwickelte Modernisie­ rungstheorie nicht zu stark staatsfixiert sei und die Sphäre der autonomen indivi­ duellen und spontanen Formen der Emanzipation möglicherweise ausblende. Hin­ sichtlich des kulturanthropologischen Ansatzes bemerkte er, daß er geeignet sein könne, neue Kontroversen bezüglich des Faktors Terror auszulösen, weil der von Historikern adaptierte ältere funktionalistische Ansatz in der modernen Anthropo­ logie inzwischen als außerwissenschaftliche Annahme und insofern als überwunden gelte. Die Teilnehmer werteten die Tagung als erfolgreich und begrüßten den Vorschlag, den internationalen Erfahrungsaustausch fortzusetzen.

Christiane Künzel ZUR KONTROVERSE ÜBER DEN REICHSTAGSBRAND

Stellungnahme zu der in der Julinummer der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 2001 publizierten Notiz

In Zeitungsbeiträgen hatten wir seit Herbst 2000 mehrfach berichtet, in den frühen sechziger Jahren habe die damalige Leitung des Instituts für Zeitgeschichte den von ihr mit der Überprüfung der Alleintäterthese von Fritz Tobias beauftragten Historiker und Oberstudienrat Hans Schneider (1907-1994) daran gehindert, Forschungsergeb­ nisse zum Reichstagsbrand zu veröffentlichen, die an Hand von mit Hilfe des Instituts beschafften Quellenmaterialien eine Widerlegung der Tobias-These behaupteten1. In der Julinummer der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte hat die Leitung des Instituts für Zeitgeschichte unter dem Titel „Zur Kontroverse über den Reichstags­ brand" zu unserer Berichterstattung Stellung genommen. In kürzester Form werden Äußerungen aus der von uns als Beleg angeführten Aktennotiz Hans Mommsens zitiert, nach denen eine Publikation des Manuskripts von Schneider „aus allgemein­ politischen Gründen unerwünscht zu sein" scheine und eine anderweitige Publika­ tion des Manuskripts „durch Druck auf Schneider vermittels des Stuttgarter Ministe­ riums" verhindert werden könne. Von diesen Äußerungen Mommsens distanziert sich die Institutsleitung als „unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten völlig inak­ zeptabel". Gleichzeitig behauptet sie, das Institut habe nicht entsprechend diesen Äußerungen gehandelt, sondern lediglich ein im Herbst 1962 von Schneider mit lan­ ger Verzögerung geliefertes „Roh-Manuskript" als nicht publikationsreif erachtet und entsprechend nicht publiziert. Das Manuskript sei tatsächlich nicht publikati­ onsreif gewesen und liege heute noch zur Einsicht im Archiv des Instituts bereit. Die Stellungnahme des IfZ stellt die „wissenschaftlich völlig inakzeptablen" Äußerungen der Aktennotiz fälschlich als Überlegungen Hans Mommsens dar, die folgenlos geblieben seien. Tatsächlich waren die Äußerungen Elemente einer zusam­ men mit dem Rechtsanwalt des Instituts, Dr. Delp, konzipierten Strategie, die das Ziel hatte, zu verhindern, daß Schneider das Manuskript mit seiner Kritik der

1 Vgl. Hersch Fischler, Die verflixte Aktennotiz, in: taz vom 5.11. 2000; Entgegnung von Hans Mommsen, „Nichts von Manipulation", in: taz vom 19. 11. 2000; Erwiderung darauf von Hersch Fischler, in: taz vom 26. 11. 2000; Hersch Fischler und Holger Becker, „aus allgemeinpolitischen Gründen ist diese Publikation unerwünscht", in: Weltwoche vom 9. 11. 2000; Gerhard Brack, „Unerwünschte Forschungen zum Reichstagsbrand", in: Netzeitung vom 26. 12. 2000, „http:// www.netzeitung.de/servlets/page?section=685&item=124626".

VfZ 50 (2002) ® Oldenbourg 2002 330 Notizen Tobiasthese detailliert und mit Quellenmaterialien belegt fertigstellte und unabhän­ gig vom Institut publizierte. Diese Zielsetzung war, wie aus einer weiteren im IfZ- Archiv gefundenen Aktennotiz hervorgeht, vom damaligen Leiter des IfZ, Helmut Krausnick, vorgegeben worden, weil das Institut für Zeitgeschichte Schneiders Kri­ tik an Tobias ablehnte. Die von Mommsen in der Aktennotiz festgehaltene Strategie, Schneiders Publikation insgesamt zu verhindern, wurde in der Folge, wie ein Schrei­ ben des Instituts an Hans Schneider beweist, in die Praxis umgesetzt. Nicht nur die Äußerungen Hans Mommsens, sondern auch das Verhalten des Instituts gegenüber Hans Schneider war unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten völlig inakzeptabel. Das Institut wies sein Manuskript keineswegs nur als nicht publikationsreif zurück, sondern entzog ihm darüber hinaus die Quellenmaterialien und übte Druck auf ihn aus, um zu verhindern, daß er sein Manuskript publikati­ onsreif machen und wichtige Quellenmaterialien kontrovers in die wissenschaftliche Diskussion um den Reichstagsbrand einbringen konnte. Dieser Verstoß gegen die Freiheit der Forschung war derartig schwerwiegend, daß es einer weiteren Untersu­ chung bedarf. Unter anderem sollten Vierteljahrshefte und Institut für Zeitgeschichte sämtlichen Schriftverkehr und sämtliche Akten zum Fall Schneider und zur seiner­ zeitigen Publikations- und Forschungsarbeit in Sachen Reichstagsbrand offenlegen, damit die damaligen Vorgänge aufgeklärt werden können.

Die Stellungnahme des Instituts wird durch folgende Dokumente erschüttert:

1. Durch die Aktennotiz von Hans Mommsen in der Angelegenheit Schneider. In ihr hielt Mommsen folgendes fest:

„Eine auf die Fristverletzung gestützte Aufhebung des Vertrags müßte von einer erneuten Fristset­ zung ausgehen, welche aber dem Interesse des Instituts, die Publikation des Herrn Schneider über­ haupt zu verhindern, zuwiderläuft und im übrigen durch die Mitteilung, daß das Institut das Manu­ skript Schneiders nicht zu veröffentlichen beabsichtige, unmöglich geworden ist. [...] Fazit: Nach der derzeitigen Rechtslage ist das Institut formell nicht in der Lage, von dem mit Schneider geschlossenen Vertrag zurückzutreten, d. h. es kann wohl eine Publikation des Manuskripts seiner­ seits ablehnen, muß aber dann einer anderweitigen Publikation des Manuskripts durch Herrn Schneider seine Zustimmung geben, sofern der Name und die Mitverantwortlichkeit des Instituts für Zeitgeschichte in diesem Manuskript nicht zum Ausdruck kommen. [...] Das Institut hat ein Interesse, die Publikation des Manuskripts von Herrn Schneider zu verhindern, weil a) die beteiligten Archive (Bundesarchiv, Document Center etc.) ihr Material nicht Herrn Schneider, sondern dem Institut zur Verfügung gestellt haben, b) aus allgemeinpolitischen Gründen eine derartige Publikation unerwünscht zu sein scheint, c) eine derartige Publikation eventuell in Illustriertenform dem Ansehen des Instituts für Zeitge­ schichte höchst abträglich wäre. Daran würde auch nichts geändert, wenn es dem Institut gelänge, noch vorher eine eigene Stellungnahme zu dem Problem herauszugeben. [...] Angesichts der Rechtslage scheint eine Verhinderung einer selbständigen Publikation des Herrn Schneider nur auf dem Verhandlungswege und durch einen Vergleich erreichbar zu sein. [...] Im wesentlichen bestehen wohl allein zwei Wege: Der erstere wäre, zurückhaltend Herrn Schneider an den Vertrag weiter zu binden und währenddessen über Stuttgart zu arbeiten, um eine größere Ver- Notizen 331 gleichsbereitschaft zu erzielen2. Der zweite besteht darin, rasch und energisch alle Druckmittel, die in unmittelbarer Verfügung des Instituts stehen, auch da, wo sie einer endgültigen juristischen Prü­ fung nicht standhalten, auszuspielen, um Herrn Schneider daran zu hindern, Zeitgewinn zu haben, sowohl hinsichtlich der Verhandlungen über eine anderweitige Publikation als auch hinsichtlich der Verarbeitung des ihm einstweilen noch zur Verfügung stehenden Quellenmaterials."3

Bei den Quellenmaterialien handelte es sich überwiegend um Kopien der stenografi­ schen Berichte über die Hauptverhandlung gegen Marinus van der Lubbe und um Korrespondenz mit damals noch lebenden Zeugen des Reichstagsbrandes aus Polizei und Feuerwehr. Schneider hatte diese Quellenmaterialien ab 1960 mit großer Eigen­ initiative und überwiegend auf eigene Kosten für seinen vom IfZ erteilten For­ schungsauftrag gesammelt. Fritz Tobias hatte nur Protokolle von sechs der 57 Gerichtstage herangezogen, für die restlichen Tage Zeitungsberichte als Quellen ver­ wendet, die keine präzise Wiedergabe der gerichtlichen Beweiserhebung lieferten. Schneider beschaffte über das Zentralarchiv Potsdam und einen privaten Verlag in Westberlin Kopien aller 57 Protokolle, was erst im Frühjahr 1962 abgeschlossen war. Wegen der langwierigen Quellenbeschaffung und Schneiders anderweitiger Belastung als Oberstudienrat hatte das Institut zugestimmt, Schneiders geplanten Beitrag in mehreren Folgen abzudrucken. Im Herbst 1962 lag dem Institut ein 56seitiges Manuskript „Neues vom Reichs­ tagsbrand?" mit mehreren hundert Fußnoten vor. Darin ging Schneider in einem ersten Kapitel ausführlich auf die Quellenlage ein und legte sein Ergebnis dar, dem­ zufolge Tobias' Argumente für die Alleintäterschaft Marinus van der Lubbes einer Überprüfung an den inzwischen dem Institut zugänglich gewordenen „Quellen in keinem Punkt standhalten, einschließlich der in sich selbst so einleuchtenden Theo­ rie der Brandentwicklung im Plenarsaal (S. 450): Sie entbehrt jeder Stütze durch tat­ sächliche Feststellungen und ist umgekehrt weder mit den Aussagen der Brandzeu­ gen [...] noch mit den Untersuchungsergebnissen der Sachverständigen [...] am Brandobjekt in Einklang zu bringen."4 Er führte dann anhand dieser Quellen detail­ liert aus, daß van der Lubbe, anders als von Tobias dargestellt, kein präzises Geständnis seiner Alleintäterschaft ablegte, sondern sich derart in Widersprüche ver­ wickelte, daß die Spurenlage am Tatort den Schluß auf Mittäter aufzwinge. In einem noch unvollendeten Schlußkapitel zum objektiven Sachverhalt begann Schneider Hinweise in den Quellen auf andere Täter als van der Lubbe darzulegen, die seiner Ansicht nach bei den Nationalsozialisten zu vermuten waren. Dieses Manuskript war noch nicht druckreif. Mommsens Aktennotiz erörterte, wie unter anderem durch Entzug der Quellen zu verhindern sei, daß das Manuskript druckreif werde.

2 Zuvor findet sich folgende Stelle in der Aktennotiz: „Es wäre indessen vielleicht angezeigt, durch Druck auf Schneider vermittels des Stuttgarter Ministeriums [dem er als Studienrat unterstand] ihn zur Nachgiebigkeit zu bewegen." 3 Unterredung mit Rechtsanwalt Dr. Delp betr. Rechtslage in der Angelegenheit Schneider, in: Archiv des Instituts für Zeitgeschichte (künftig IfZ-Archiv), ZS/A7, Bd. 3/I. 4 Hans Schneider, Neues vom Reichstagsbrand?, in: IfZ-Archiv, ZS/A7, Bd. 4, S. 16. Die Seitenan­ gabe (450) bezieht sich auf Fritz Tobias, Der Reichstagsbrand, Legende und Wirklichkeit, Rastatt 1962. 332 Notizen 2. Durch die Aktennotiz von Helmut Krausnick über die Unterredung mit Hans Schneider am 9. und 10. November 1962.

„In unserer ersten Besprechung entwickelte ich Herrn Schneider - unter Würdigung der von ihm schon unter erschwerten Umständen geleisteten Arbeit - zunächst die Folgerungen, welche sich auf Grund der von ihm vorgelegten Teile seines Manuskripts für uns ergeben hätten. [...] Es sei nach reiflicher Prüfung seiner Niederschrift vor allem auch kein in sich schlüssiges Ergebnis mehr zu erwarten, welches im Sinne der Anlage und Beweisführung seines Manuskripts eine Widerlegung der These von Tobias hinsichtlich der Täterschaft darstellen würde. Da wir jedoch eine Stellung­ nahme des Instituts für Zeitgeschichte in Sachen Reichstagsbrand öffentlich angekündigt hätten, seien wir außerstande, ein Ergebnis zu publizieren, das wir nicht voll vertreten könnten. Es komme hinzu, daß alle Herrn Schneider für die Fertigstellung seiner Arbeit gesetzten Termine überschritten worden seien. Herr Schneider erklärte demgegenüber als seine Überzeugung, daß das Institut in der Lage sein würde, sich das von ihm erzielte Forschungsergebnis bei näherer Prüfung sachlich zu eigen zu machen. Ich erwiderte ihm, daß ich [...] mich daher genötigt sehe, einen der wissenschaftli­ chen Referenten des Instituts selbst mit der Durchführung der Untersuchung zu betrauen. Um diese zu ermöglichen, bäte ich Herrn Schneider auf Grund der Tatsache, daß er sein Manuskript im Auf­ trage des Instituts angefertigt und das zugrundegelegte Material gleichfalls im Auftrag des Instituts gesammelt habe, uns beides zu überlassen unter Zahlung von insgesamt DM 2000,- von Seiten des Instituts als Entschädigung für die von Herrn Schneider geleistete Arbeit und als Honorar. Herr Schneider erkannte ausdrücklich an, daß das Urheberrecht an dem von ihm gesammelten Material beim Institut liege, so daß wir ihm eine Veröffentlichung seines Manuskripts untersagen könnten. [...] Da er [Schneider] angesichts der voraussichtlichen Divergenz im Ergebnis andererseits betonte, daß er nach seiner Auffassung im Interesse der historischen Exaktheit seine ggf. abweichende Meinung über den Sachverhalt Reichstagsbrand öffentlich darlegen müsse, erklärte ich ihm, wir würden trotz der damit gegebenen Möglichkeit einer öffentlichen Kontroverse nichts dagegen haben, daß er nach Veröffentlichung der Untersuchung des Instituts zu dieser publizistisch Stellung nähme. [...] Das Institut verpflichtet sich, ihm innerhalb vier Wochen vor Veröffentlichung der beabsichtigten Unter­ suchung deren Text zur Stellungnahme zuzuleiten. [...] In der zweiten Besprechung erklärte Herr Schneider indes, daß er nicht bereit sei, auf die Möglich­ keit einer eigenen Gesamtpublikation zum Sachverhalt Reichstagsbrand unter Benutzung des insti­ tutseigenen Materials nach Erscheinen der Institutsveröffentlichung zu verzichten. Es wurde darauf­ hin beiderseits Bedenkzeit bis zum folgenden Samstagmittag verabredet. In der dritten Unterredung hielt Herr Schneider seinen letzterwähnten Standpunkt aufrecht. Ich erklärte ihm darauf, daß ich unter diesen Umständen die von mir in Aussicht gestellten Zugeständ­ nisse in keinem Punkte aufrechterhalten könne und daß ich ihm die endgültige Stellungnahme des Instituts auf schriftlichem Wege mitteilen würde."5

Die Aktennotiz Helmut Krausnicks ging der von Hans Mommsen voraus und bil­ dete die Grundlage für dessen Erörterungen mit Rechtsanwalt Delp. Mommsen nahm in seiner Aktennotiz nicht nur explizit auf die Unterredungen Krausnicks mit Schneider am 9. und 10. 11. 1962 bezug („Bedauerlicherweise geht Herr Schneider in seiner Reaktion auf die am 9. und 10. 11. 62 geführten Verhandlungen so weit, eine selbstständige Publikation seinerseits für selbstverständlich zu erachten ..."), son­ dern behandelte auch Sachverhalte, die in der Aktennotiz Krausnicks festgehalten

5 Aktennotiz über Unterredung mit Herrn Oberstudienrat Schneider - Freudenstadt am Freitag, 9.11. 62, 10-14 Uhr, 17-18.30 Uhr und am Samstag, 10.11. 62, 12.15-13 Uhr, in: IfZ-Archiv ZS/A7, Bd. 3/II. Notizen 333 waren. So schrieb er zu dem Schneider laut Aktennotiz Krausnicks angebotenen Betrag von DM 2000,-:

„Dabei besteht Klarheit darüber, daß der bislang angebotene Betrag von DM 2000,- in keiner Weise dem üblichen entspricht. Rechtsanwalt Dr. Delp schlug einen Betrag von DM 5000,-, allenfalls DM 6000,- als endgültiges Vergleichsziel vor."

Zu Krausnicks Bemerkung, „Schneider erkannte ausdrücklich an, daß das Urheber­ recht an dem von ihm gesammelten Material beim Institut liege, so daß wir ihm eine Veröffentlichung seines Manuskripts untersagen könnten", machte Mommsen die tatsächliche Rechtslage deutlich:

„Hinsichtlich des Gedankens, die Publikation Schneiders insofern unmöglich zu machen, als das Institut darauf besteht, daß die von ihm oder per Amtshilfe zur Verfügung gestellten Quellen nicht benützt werden, ist festzustellen: Das Urheberrecht an dem vorliegenden sowie an dem noch erwachsenden Manuskript liegt nach der Rechtslage allein bei Herrn Schneider. Das Eigentumsrecht des Instituts an den Materialien umfaßt nicht das Urheberrecht an den daraus von Herrn Schneider angefertigten Auszügen. Das gilt ausdrücklich auch für die auf dem Wege der Amtshilfe besorgten Materialen des Document Center. [...] Andererseits ist es angezeigt, in den Verhandlungen mit die­ sem von Herrn Schneider auf Grund mangelnder juristischer Beratung offensichtlich ernstgenomme­ nen Argument diesen zu einem Vergleich zu bewegen."

Zur von Krausnick in der Aktennotiz bekundeten Ablehnung des Ergebnisses von Schneider, Tobias' Alleintäterthese sei an Hand der Quellen widerlegbar, hielt Momm­ sen folgende Gesichtspunkte fest:

„Das Argument, daß die Tendenz und These des Manuskripts von Schneider Anlaß zur Vertragsauf­ hebung sein könne, ist irrig, da dergleichen zum normalen Verleger- oder Herausgeberrisiko gehört und überdies die Tendenz der Arbeit Schneiders zunächst von seiten des Instituts eine ausgespro­ chene Unterstützung gefunden hat."

3. Durch die „endgültige schriftliche Stellungnahme", die Krausnick für das Institut mit Datum vom 30. November 1962 Schneider zukommen ließ. Im Brief des Instituts an Schneider war zu lesen:

„Ihre Vorstellung, daß das Institut jemals seine Einwilligung dazu geben würde, daß Sie ein großen­ teils auf im Eigentum des Instituts befindliches oder mit Hilfe des Instituts gewonnenes Material gestütztes Manuskript (ob mit oder ohne Nennung des Instituts) veröffentlichen, ist irrig. Die Zustimmung zu einer solchen Publikation kann ich Ihnen schon deshalb nicht erteilen, weil sie, wie Sie wohl wissen, gegenüber unserer Finanzaufsichtsbehörde nach Lage der Dinge nicht verantwortet werden kann. Das Institut ist keine private Institution, sondern untersteht ebenso wie Sie den im Kuratorium vertretenen Kultusministerien. Daraus folgt: Das von Ihnen im Auftrag des Instituts und mit dessen Hilfe erstellte Manuskriptfragment kann von uns nicht zur Veröffentlichung freige­ geben werden. Es steht Ihnen frei, sich gelegentlich publizistisch zu dem Reichstagsbrandproblem zu äußern, doch machen wir Sie darauf aufmerksam, daß Sie dafür keineswegs die von seiten oder durch die Vermittlung des Institut zur Verfügung gestellten Materialien auszugsweise zitieren oder mit Angabe der Fundstelle benützen können. [...] Wir [haben] Ihnen eine einmalige Abfindung von DM 2000,- angeboten. Sie haben in unserer Unterredung gegen die Höhe des Betrags keine Einwen­ dungen gemacht. Wenn Sie nicht damit zufrieden sind, könnte hierüber eventuell noch verhandelt werden [...]. Ich lege, auch in Ihrem Interesse, großen Wert darauf, die Angelegenheit im beidersei- 334 Notizen tigen Einvernehmen zu regeln, doch kann ich mich keineswegs bereit erklären, Ihnen eine selbstän­ dige Publikation einzuräumen. Da Sie trotz des ausdrücklichen Hinweises darauf jetzt (wie Sie Herrn Förster schreiben) den Gedanken einer solchen verfolgen, sehe ich mich veranlaßt, vorsorg­ lich die Rücksendung der vom Institut selbst zur Verfügung gestellten Materialien sowie die durch Vermittlung des Instituts oder von Ihnen im Auftrag des Instituts erlangten Materialien zum 10. Dezember zu verlangen. [...] Es liegt auch in Ihrem eigenen Interesse, wenn Sie von einer keine reale Erfolgsaussicht versprechenden Arbeit entlastet werden, die in der Tat Ihre Gesundheit ernst­ haft schädigen würde, wenn sie noch jahrelang fortgeführt würde. Wir würden dies auch vor Ihrer Schulbehörde nicht verantworten können, wie wir umgekehrt glauben, daß Ihnen an einem offenen Konflikt mit dem Institut nicht gelegen sein kann."6

Hersch Fischler/Gerhard Brack

Die Stellungnahme gibt nur die Auffassung der beiden Autoren wieder. Die Leitung des Instituts für Zeitgeschichte legt Wert auf die Feststellung, dass die im Archiv des Instituts verwahrten Akten, die sich auf die erwähnten Vorgänge des Jahres 1962 beziehen, frei zugänglich sind. Auch den beiden Autoren der Stellungnahme wurde die Einsichtnahme gewährt. Sie haben darüber hinaus Kopien der betreffenden Schriftstücke und die Genehmigung zu ihrer Veröffentlichung erhalten.

6 Schreiben Krausnick an Hans Schneider vom 30. 11. 1962, in: IfZ-Archiv ZS/A7, Bd. 3/II. Abstracts

Gerhard A. Ritter, The GDR in German History. The Soviet model, on the one hand, and on the other, the tradition of the German wor­ kers' movement, particularly among its communist elements, played significant roles in the process of transforming German society in the GDR. Here, in light of the debate on continuity and discontinuity in German political development before 1945, the questions of the scope of GDR dictatorship and the tension between the SED leadership's will to exert total control and the obstinacy of the GDR's people in trying to maintain a measure of autonomy are addressed. The essay examines the impact of a planned economy, the overall militarization of GDR society, the attempt to establish a new elite and the resi­ stance by certain segments of the old elite to change. Land reform and, later, forced col­ lective ownership did effectively transform the entire structure of rural society. However, attempts to win over the citizens of the GDR completely failed, because the state could not meet the growing demand for consumer goods. Furthermore, the policy of adhering to minimum standards in providing social services such as social security and health care led to a sharp decline in the standard of living, especially among the elderly and the disab­ led. Overall, with its conservative industrial policy derived from late 19th century and early 20th century models, the GDR failed to attain standards set by modern societies in the second half of the 20th century. Apart from its being unfree, its failure to meet these standards was a principal reason for its collapse at the end.

Carlos Collado Seidel, From Vehme Murderer to Bavaria's Secret Ambassador? Max Neunzert's Political Gambling from the Hitler-Putsch to the Berlin Crisis. Max Neunzert, who was a member of the lost generation which could not cope with the collapse of the German Empire after World War I, became a political radical. In the 1920's, he joined völkische groups, fought with the Freikorps, joined the National Socialist Party, worked with the Einwohnerwehr, and became - in all probability - a Fememörder. Neunzert fought for the restoration of the old order, and when he realised that National Socialism and the restoration of the monarchy were not compatible, he turned against the NSDAP and fought actively against Hitler. The essay aims to elucidate the apparent con­ tradiction between the ruthless but consistent life of Neunzert and his being in the confi­ dence of such different characters as Rohm, Hitler and the Crown Prince Rupprecht. Neunzert failed in his monarchic enterprise, but in 1948 he was again recruited to help his Bavarian fatherland. Hans Ehard and his CSU government instructed him to ask the Spanish government whether it would accept a Bavarian government-in-exile on Spanish territory in case of a new war. Neunzert and Ehard were not strangers to one another. In 1925 Ehard, as public prosecutor in a trial on a political murder, had demanded the death penalty for Neunzert. This fact in itself throws a striking light on the political scene after 1945.

VfZ 50 (2002) ® Oldenbourg 2002 336 Abstracts Bernhard Lorentz, The Commerzbank and Aryanization in the Altreich. A Comparison between the Structure of Network Systems and the Scope of Action by Major Banks during the NS-Period. This article analyses the role and function of Germany's large banks in the process of Aryanization of Jewish companies. It can be argued that the Deutsche Bank and, particu­ larly, the Dresdner Bank were aware much earlier of the business opportunities which Aryanization would offer and were involved in the large-scale acquisitions and take-overs of Jewish companies to a greater extent than the Commerzbank, then Germany's third largest private bank. The Commerzbank's behaviour in the Aryanization of middle-sized companies suggests that the Commerzbank's smaller role was due to its having fewer close contacts with the government and the National Socialist Party. Given the large number of business opportunities and the number of potential investors in the 1930's, would-be buyers had difficulties in finding lucrative investment opportunities. During this period, what banks offered their customers was information. Information of this kind was of particular interest because it had become more and more difficult and even danger­ ous in the National Socialist system to acquire information from other sources. Thus it can be said that the banks operated successfully as an information network.

Steffen Prauser, Murder in ? The Attack in the Villa Rasella and the Shooting in the Fosse Ardeatine in March 1944. The shooting of 335 people in the Fosse Ardeatine in reprisal for an attack by Italian partisans on a German police unit in Rome was not only one of the biggest German reprisals in western Europe, but it has become, over the last 50 years, the most heatedly discussed criminal act by the National Socialists in Italy. As often happens when events become symbolic, public discourse strays from what one may - with all caution - call "historical reality". The article tries, on the one hand, to establish the range within which interpretation may properly take place when facts discovered by new research into sour­ ces are added to what is already known. Answers are given to questions which have been open to free-wheeling interpretations of, for example, the composition of the police unit hit by the partisans' attack. On the other hand, questions remaining open are discussed in the context of historical evidence. Was there, for example, really a "Führerbefehl" which ordered the reprisal and was used as an important piece of evidence by the defence in the postwar trial of the Germans responsible for the shooting? The reconstruction of the event in the larger framework of the German occupation of Rome is completed by a final treatment which explores the questionable juridical status of reprisals which took place against civilians during wartime before the introduction of the Geneva conventions of 1949. It briefly explains whether such reprisals were sanctioned by international law and if so, under which circumstances.

August H. Leugers-Scherzberg, Herbert Wehner and Willy Brandt's Resignation on 7 May 1974. To what extent Herbert Wehner, the Social Democrats' faction leader, was involved in Willy Brandt's resignation as Chancellor of the Federal Republic of Germany is highly controversial and fraught with legend. The former Chancellor's memoirs and "Notizen zum Fall G." were written shortly after his resignation and focus on the Günter Guil- laume spy scandal. They suggest, as do the memoirs of Brandt's confidant, Egon Bahr, and those of KGB officer Wjascheslaw Keworkow, that with Erich Honecker's assistance, Abstracts 337

Wehner systematically contrived to bring about the Chancellor's fall. In this essay the author, using new sources drawn from Herbert Wehner's private papers, describes Weh- ner's relationship to Brandt during the period 1973/74, defines the differences that arose between Wehner, Brandt and Bahr concerning guidelines for government policy on the Ostpolitik; explains the purpose of the secret meetings between Wehner and Honecker and between Brandt and Brezhnev, and finally evaluates the SPD faction leader's role in the Guillaume spy scandal which led to the crisis in the administration. According to Wehner, Brandt was incapable of grasping the far-reaching implications of the scandal. Wehner's ultimatum to openly confront the situation forced Brandt to resign. MITARBEITER DIESES HEFTES

Dr. Gerhard A. Ritter, em. Professor für Neuere und Neueste Geschichte der Ludwig- Maximilians-Universität München (Winscheidstr. 41, 10627 Berlin); veröffentlichte u.a.: „Parlament und Demokratie in Großbritannien" (Göttingen 1972), „Der Sozialstaat. Ent­ stehung und Entwicklung im internationalen Vergleich" (München 21991), „Arbeiter, Arbeiterbewegung und soziale Idee" (München 1996), „Über Deutschland. Die Bundesre­ publik in der deutschen Geschichte" (München 22000).

Dr. Carlos Collado Seidel, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Auslandswis­ senschaften der Universität Erlangen-Nürnberg (Nusselstr. 39, 81245 München); veröf­ fentlichte u. a.: „Die deutsch-spanischen Beziehungen in der Nachkriegszeit. Das Projekt deutscher Militärstützpunkte in Spanien 1960" (Saarbrücken 1991), zusammen mit Wal­ ther L. Bernecker (Hrsg.) „Spanien nach Franco. Der Übergang von der Diktatur zur Demokratie 1975-1982" (München 1993), „Angst vor dem ,Vierten Reich'. Die Alliierten und die Ausschaltung des deutschen Einflusses in Spanien 1944—1958" (Paderborn 2001); arbeitet zur Zeit an einer Studie über die britisch-amerikanische Spanienpolitik im Zwei­ ten Weltkrieg.

Dr. Bernhard Lorentz, Projektleiter bei der ZEIT-Stiftung in Hamburg (Feldbrunnen­ straße 56, 20148 Hamburg); veröffentlichte u.a.: „Industrieelite und Wirtschaftspolitik 1928-1950: Heinrich Dräger und das Drägerwerk" (Paderborn 2001); arbeitet zur Zeit gemeinsam mit Paul Erker an dem Forschungsprojekt „Chemie und Politik: Hüls und die IG-Farben 1938 bis 1979".

Steffen Prauser, Stipendiat am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz (Walter- Schleich-Str. 17, 82223 Eichenau); arbeitet zur Zeit an einer Studie über die deutsche Besatzungszeit in Rom vom September 1943 bis Juni 1944.

Dr. August H. Leugers-Scherzberg, Privatdozent für Neuere Geschichte an der Universi­ tät Essen (Am Angelkamp 39, 48167 Münster); veröffentlichte u.a.: „Felix Porsch 1853- 1930. Politik für katholische Interessen in Kaiserreich und Republik" (Mainz 1990), als Herausgeber „Herbert Wehner. Selbstbesinnung und Selbstkritik" (Köln 1994), „Die Wandlungen des Herbert Wehner. Von der Volksfront zur Großen Koalition" (Berlin 2002).

VfZ 50 (2002) ® Oldenbourg 2002