Dossier Sound des Jahrhunderts

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 2

Einleitung

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Wie klingt eigentlich Geschichte? Jeden Monat werden hier Töne des 20. Jahrhunderts und ihre Geschichten vorgestellt. Diese Zeit erlebte zahlreiche akustische Zäsuren. Was war der charakteristische Sound der politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen? Welche Kraft hatten bestimmte Schallereignisse? Wie ist das Verhältnis von Sound und Macht? Wie sehr präg(t)en akustische Welt und Hörsinn den menschlichen Alltag und das historische Geschehen? Schriftliche und bildliche Quellen werden schon lange untersucht, aber in diesem Dossier stehen Geräusche, Töne und Stimmen im Fokus. Die interdisziplinär ausgelegten Beiträge erhellen die sozialen, kulturellen, politischen, wirtschaftlichen oder geschlechterspezifischen Aspekte einzelner Klanggeschichten.

ZITATE

Jenseits der Sprache existieren gewaltige Räume von Sinn, ungeahnte Räume der Visualität, des Klanges, der Geste, der Mimik und der Bewegung.

Gottfried Boehm

Kunsthistoriker und Philosoph (Foto: Stefan F. Sämmer)

Der Teufel kam hinauf zu Gott Und brachte ihm sein Grammophon und sprach zu ihm, nicht ohne Spott "hier bring ich Dir der Sphären Ton."

Christian Morgenstern

Schriftsteller und Dichter (Foto: Public Domain / Wikimedia Commons)

Der Lärm ist der Mörder aller Gedanken.

Arthur Schopenhauer

Philosoph (Foto: By Jacob Seib, Public domain / Wikimedia Commons)

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Morsezeichen "V" für Victory

Das bekannteste Symbol der Siegeshoffnung der Alliierten und zugleich der Rhythmus von Beethovens dramatischem Anfangsmotiv seiner 5. Sinfonie, der Schicksalssinfonie

Wir hörten Anflug, eine Reihe Detonationen, Einzelschläge, nicht den Doppelknall der Geschütze. Wir gingen in die Keller. Stärkstes Summen der Flieger dicht über uns, der Luftdruck schüttelte die Kellertür […] Man hörte neues Summen, neue Schläge. […] aus einigen Gruppen Wimmern und Weinen [...].

Literaturwissenschaftler Victor Klemperer

über die schweren Luftangriffe auf Dresden vom 16. Januar und 13. Februar 1945 (Foto: CC-BY-SA CC BY-SA 3.0 de / Wikimedia Commons)

What is the Sound of 10 Naked Asian Men? - Wie klingen zehn unbekleidete asiatische Männer? Eine Performance mit verstärkten Herzfrequenzen, EKG- und EEG Signalen.

Miya Masaoka

Klangkünstlerin (Foto: Nan Phelps)

Die Stimme hat ihren Ursprung im Klang und von dort entfaltet sie sich. [...] Für mich ist wesentlich, wie sich die Musik durch die Freiheit der Improvisation verwirklichen kann.

Lauren Newton

Jazz-Sängerin (Foto: Jörg Becker)

Wer höret, der findet.

Andreas Hagelüken

Musikwissenschaftler und Radiopilot (Foto: Martina Kroll)

Wer besitzt eigentlich jene Klänge, Aufnahmen, akustische Artefakte, die fast alle auf Youtube zu finden sind [...]? Mit der Aufzeichnungs- technologie setzte zugleich eine Privatisierungs- und Enteignungswelle ein, der öffentliche akustische

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Raum schrumpft seither kontinuierlich. Man kann fast sagen: Nur Krach ist Allgemeingut, Klang gehört schon immer jemandem.

Florian Felix Weyh

Publizist (Foto: Katharina Meinel)

Wegen ungünstiger Witterung fand die deutsche Revolution in der Musik statt.

Kurt Tucholsky unter seinem Pseudonym Peter Panter in der Weltbühne vom 30.12.1930, Nr. 53 (Foto: picture-alliance)

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Inhaltsverzeichnis

1. Sound des Jahrhunderts 7

2. Kapitel 1 / 1889 bis 1919 14

2.1 Der Sound im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit 15

2.2 Verklungenes und Unerhörtes 19

2.3 Der Sound aus dem Trichter 28

2.4 Signum des Urbanen 36

2.5 Kaiser-Sound 43

2.6 Heil Dir im Siegerkranz 48

2.7 Antiphon und Ohropax 57

2.8 Es ist Zeit, dass wir auf Abwehr sinnen! 62

2.9 Come Quick, Danger! 70

2.10 Caruso auf Platte 76

2.11 Der Lärm der Straße dringt in das Haus 84

2.12 Le Sacre du Printemps 90

2.13 Trommelfeuer aufs Trommelfell 98

2.14 Gadji beri bimba / Glandridi lauli lonni cadori 109

2.15 Von Kinokapellen und Klavierillustratoren 115

3. Kapitel 2 / 1919 bis 1933 125

3.1 Klangwelten der Moderne 126

3.2 Fabriksirenen, Nebelhörner, Dampfbootpfeifen 131

3.3 Sport und Vergnügungskultur 140

3.4 Achtung, Aufnahme! 145

3.5 Hallo! Hallo! Hier Radio! 154

3.6 The Jazz Singer 163

3.7 Frauen sprechen hören 172

3.8 Rumm rumm haut die Dampframme 181

3.9 Roaring Twenties 186

3.10 In Klängen denken 195

3.11 Die Sinfonie der Großstadt 203

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3.12 Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt 213

3.13 Politische Kampflieder 219

4. Mehr Sounds? 227

5. Dein Sound des Jahrhunderts 240

6. Hörbeispiele im Internet 242

7. Soundarchive 244

8. Ausgewählte Literatur 246

9. Redaktion 256

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Sound des Jahrhunderts Einleitung

Von Gerhard Paul, Ralph Schock 5.7.2016 Gerhard Paul, Dr., Professor für Geschichte und ihre Didaktik an der Universität Flensburg.

Ralph Schock, Dr., Leiter der Literaturabteilung des Saarländischen Rundfunks. E-Mail: [email protected]

Der Teufel kam hinauf zu Gott Und brachte ihm sein Grammophon Und sprach zu ihm, nicht ohne Spott Hier bring ich Dir der Sphären Ton.

Christian Morgenstern

In seiner Vorlesung über das Wesen der Religion widmete der Philosoph Ludwig Feuerbach der Rolle der Sinneseindrücke bei der Ausprägung des religiösen Gefühls eine längere Betrachtung: "Hätte der Mensch nur Augen und Hände, Geschmack und Geruch, so hätte er keine Religion, denn alle diese Sinne sind Organe der Kritik und Skepsis. Der einzige sich im Labyrinth des Ohres ins Geister- oder Gespensterreich der Vergangenheit und Zukunft verlierende, der einzige furchtsame, mystische und gläubige Sinn ist das Gehör." Es gebe Völker, "bei welchen kein anderes Wort für Gott existiert als der Donner"; das Trommelfell sei der Resonanzboden des religiösen Gefühls, das Ohr insgesamt die "Bärmutter der Götter" und damit das "Organ der Angst". Doch das Ohr ist nicht nur der mediale Kanal, mit dem die Götter Furcht und Schrecken verbreiteten, auch die Menschen nutzten ihn mit der gleichen Absicht. Sie schüchterten den Gegner ein durch lautes Rufen oder Schlagen der Speere auf die Schilde (wodurch sie zugleich ihre eigene Angst vertrieben). Cäsar beschrieb in De Bello Gallico respektvoll die Schlachtgesänge der Germanen (barditus), James Fenimore Cooper das sprichwörtlich gewordene Huronengebrüll.

Lärm, dem man sich nicht entziehen kann, war für Dante eine der schlimmsten vorstellbaren Foltern überhaupt. Im Kapitel Inferno in der Göttlichen Komödie besteht eine der Strafen der Verdammten darin, ewig an eine Glocke geschmiedet zu sein, deren gewaltige Schläge dem Pönitenten unaufhörlich durch Mark und Bein dröhnen. Auch jeder Besucher eines Rockkonzerts weiß, wovon Dante schreibt. Aber ohrenbetäubender Lärm ist nicht nur Folter; es kann auch höchst mitreißend sein, das Wummern einer Bassgitarre, das Stampfen eines Schlagzeugs in jeder einzelnen Körperzelle zu spüren.

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 8 Lärm - für viele ein unbeliebter Begleiter

Das Ohr nimmt noch anderes auf. In seiner Vorrede zu Hölderlins Hyperion schreibt Dietrich E. Sattler: "Das Gesagte gilt einem anderen Deutschland, jenseits von Herrschaft, Gerede und Lärm." Das Ohr also auch als nicht zu verschließendes Einfallstor läppischer Banalitäten, die vom Eigentlichen – dem Ernst, der Stille, der Konzentration – wegführen.

Der englische Mathematiker Charles Babbage kaufte alle Drehorgeln in seiner Umgebung auf, weil sie ihn beim Nachdenken störten. Schopenhauer seufzte: "Der Lärm ist der Mörder aller Gedanken". Und: "Ich möchte wissen, wie viele große und schöne Gedanken diese Peitschen schon aus der Welt geknallt haben." Goethe kaufte ein baufälliges Haus in der Nachbarschaft auf, um dessen – absehbar Lärm verursachende – Renovierung zu verhindern. Heine hielt die Pendel sämtlicher Uhren in seiner Wohnung an, weil ihn deren Ticken am Schreiben hinderte – und wusste doch: "Oh Grab, du bist das Paradies für pöbelscheue zarte Ohren!" Ähnlich Kafka, der in seinem Tagebuch notierte: "So viel Ruhe, wie ich brauche, gibt es nicht oberhalb des Erdbodens." Richard Wagner bestreute die Straße vor seinem Haus mit Glasscherben, um spielende Kinder fernzuhalten. Wilhelm Busch hasste das Klappergeräusch von Messer und Gabel sowie das Türenschlagen. Marcel Proust ließ dicke Lagen Kork an den Wänden seines Arbeitszimmers anbringen, um alle Außengeräusche abzuhalten.

Nicht nur individuelle Strategien gegen den Lärm wurden entwickelt. In den USA gründete Mrs. Isaac L. Rice wegen der unerträglichen Dauergeräusche aus dem New Yorker Hafen 1908 den ersten Anti- Lärmverein, die Society for the Suppression of Unnecessary Noise; ihr berühmtestes Mitglied war Mark Twain. Der Schriftsteller Ferdinand Avenarius rief im gleichen Jahr in der Zeitschrift Der Kunstwart zur Bildung eines internationalen Anti-Lärm-Bunds auf unter dem merkwürdigen Motto non clamor sed amor (nicht das Geschrei, sondern die Liebe). Und Ende der 1920er Jahre versuchte die Wiesbadener Polizei eine "hupenlose Woche" einzuführen. All dies waren Initiativen, um die schlimmsten Auswüchse des Lärms etwas zu lindern, unterbinden konnten sie ihn nicht.

Der Mensch nimmt – mehr oder weniger bewusst – einen Großteil seiner Informationen über das Gehör auf. Es gibt Klänge, die man nicht mehr vergisst, so nachhaltig haben sie sich in das akustische Gedächtnis eingegraben. Für die, die noch den Zweiten Weltkrieg erlebt haben, zählen dazu gewiss die lang anhaltenden Pfeiftöne der Luftschutzsirenen, die die anfliegenden alliierten Todesschwadronen ankündigten. Auf andere Weise unvergesslich sind immer wieder gehörte Tonfolgen aus der Werbung für eine Kaffeesahne ("Nichts geht über Bärenmarke") oder Süßigkeiten ("Haribo macht Kinder froh"), die ebenfalls einen ganz eigenen akustischen Erinnerungskosmos evozieren. Wir haben Stimmen von Sängerinnen und Sängern bzw. Melodien (Yesterday) oder Fragmente eines akustischen Brandings abgespeichert, die wir, solange wir leben, nicht vergessen. Dazu gehören auch die vertrauten Stimmen etwa der Eltern, der Geschwister oder der Großeltern. Es gibt Verkehrsgeräusche, an die man sich gewöhnt hat und die man eventuell sogar nostalgisch verklärt wie das rhythmische Schnaufen der Dampflok. Und es gibt Geräusche, an die man sich nie gewöhnt, etwa den Lärm von Düsenflugzeugen in der Einflugschneise eines Flughafens. Warum reagieren wir so unterschiedlich auf Gehörtes?

Wie klangen Städte zur vorletzten Jahrhundertwende im Vergleich zu der Zeit vor dem Beginn der Industrialisierung? Und wie klingen Städte heute? Sind sie lauter oder leiser geworden? Ab wann begannen Menschen, den urbanen Lärm als Belästigung, gar als unerträgliche Belastung wahrzunehmen? Ab wann wurde der Lärm erfasst und gemessen? Wann wurde – und gegen welche Widerstände – mit der Planung von Lärmschutzmaßnahmen begonnen? Welche individuellen Maßnahmen gegen Lärm gab es? Hatte die DDR einen anderen "Sound" als die Bundesrepublik? Weisen politische Gemeinweisen überhaupt so etwas wie eine akustische Kennung auf? Und worin besteht diese? Kann man sie beschreiben? Wie klang die Stimme Hitlers, die wir nur aus den Aufzeichnungen von Großveranstaltungen kennen, im privaten Umfeld? Ist es überhaupt wichtig, diesen Unterschied zu kennen? Wann und mit welchen Folgen begannen die Nazis, Mikrofon und Lautsprecher in ihrer politischen Agitation einzusetzen? Wie beschallte man das riesige Reichsparteitagsgelände in Nürnberg? Wie wurde damals und wie wird heute mit Tönen und Klängen

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Politik gemacht? Welche Rolle spielen dabei die technischen Medien der akustischen Reproduktion? Welche Bedeutung können Lieder für die Identitätsbildung von Individuen, Kollektiven oder gar Nationen haben?

Musik war und ist nie nur eine kulturelle Ausdrucksform oder ein passives Hörvergnügen, sie wurde und wird auch heute noch eingesetzt, um subtil zu beeinflussen, zu benebeln, zu schockieren, zu quälen, gar zu foltern. Eine Musikkapelle begleitete nicht nur im KZ Mauthausen Todgeweihte auf ihrem Weg zur Hinrichtungsstätte. Mit Richard Wagners Walkürenritt fielen US-Truppen in irakische Städte ein. Im amerikanischen Gefangenenlager Guantanamo versuchte man, die dort Festgehaltenen zu brechen, indem man sie über Kopfhörer stundenlang mit Musik aus der Serie Sesamstraße beschallte.

Mit solchen Themen oder Fragen beschäftigen sich die Beiträge in diesem Online-Dossier und im gleichnamigen Buch (http://www.bpb.de/shop/buecher/zeitbilder/170341/sound-des-jahrhunderts). Wie diese Beispiele zeigen, verwenden wir – ähnlich wie die Hamburger Medienwissenschaftlerin Joan Bleicher und der kanadische Klangforscher R. Murray Schafer – einen weiten Klang-Begriff, nämlich im Sinne des Englischen sound als der "Gesamtheit von Stimmen, Tönen und Geräuschen".

Aber wie "klingt" Geschichte und warum hat die Geschichtswissenschaft in akustischer Hinsicht bislang "kaum einen Laut" von sich gegeben (Tillmann Bendikowski)? Historikerinnen und Historiker eignen sich seit jeher die Vergangenheit über das Studium von Texten und auch – in jüngerer Zeit verstärkt – durch die Analyse von bildlichen Quellen an. Dass wir nur einen verschwindend kleinen Teil der Vergangenheit "hören" können – nur für die Zeit ab etwa 1900 existieren authentische akustische Quellen –, hat dazu geführt, dass die Geschichtswissenschaft bei der Recherche und Deutung der Geschichte lange Zeit fast vollständig darauf verzichtet hat, das Sinnesorgan Ohr zu berücksichtigen. Auch wenn sie infolge des iconic turn – der allgemeinen Hinwendung der Wissenschaft zu den Bildern – zunehmend aus ihrer Textlastigkeit herauszufinden scheint, bewegt sie sich weiterhin überwiegend in einer Sphäre der Stille und Lautlosigkeit. Töne und Geräusche werden bestenfalls dann zum Untersuchungsgegenstand, wenn sie schriftlich festgehalten, also in einen Text "übersetzt" worden sind. Der eigentliche "Sound der Geschichte" jedenfalls ist bislang nur selten konstitutiv in die Historiografie eingegangen, das gilt für die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts wie für unsere eigene demokratische Phase.

Warum sollen wir uns nach den Bildern des Jahrhunderts nun auch noch mit seinem Sound beschäftigen? Auf diese Frage haben etwa der Bildwissenschaftler Gottfried Boehm, der Zeithistoriker Thomas Lindenberger und die Medienwissenschaftler Harro Segeberg und Frank Schätzlein Antworten gegeben. Es gibt, so Boehm, jenseits der Sprache "gewaltige Räume von Sinn, ungeahnte Räume der Visualität, des Klanges" – also gerade keine Texte, mit denen Historiker es noch immer primär zu tun haben, und sie sind auch nicht wie diese analysierbar. Laut Lindenberger müssen die "heutigen ‚Mitlebenden‘" auch "als ‚Mithörende‘ und ‚Mitsehende‘ konzipiert werden, um ihre Erfahrungen und Erzählungen angemessen deuten zu können. Ihre Lebenswelt war und ist bestimmt von der alltäglichen Gegenwart der Audiovision, ihre Erfahrung von Wirklichkeit auch vermittelt über die Klänge von Schallplatte und Radio, die Fotos in den Illustrierten, die bewegten (Ton-)Bilder in Wochenschauen, Spielfilmen und Fernsehen." Für Segeberg und Schätzlein schließlich ist die Moderne nicht nur die Moderne der Bilder, sondern auch die "der Geräusche und Töne", die es vermögen, "einen zehnmal größeren Wahrnehmungsraum als Bilder [zu] entfalten". Daher sei es "schon längst an der Zeit, die Medien des 20. und 21. Jahrhunderts nicht länger nur von ihren Bildobjekten, sondern mindestens ebenso sehr von ihren Klangobjekten her aufzuschlüsseln".

In den Geisteswissenschaften, so scheint es, wird Sound zunehmend als Teil einer umfassenden Geschichte der Sinne begriffen. Wenn Geschichte in ihrer Totalität erfasst werden soll, so bedeutet dies, auch ihren Sound zu reflektieren. Für das 20. Jahrhundert kommt noch etwas hinzu. Mit den Erfindungen der technischen Akustik und damit einhergehend neuer Aufnahme-, Speicher- und

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Verbreitungsmedien wie Mikrofon, Schallplatte, Tonband, Lautsprecher und Radio wurde die Ausübung von Macht und die Hegemonie über den Hörsinn um ein Vielfaches verstärkt. Zugleich stellten diese Medien neue Instrumentarien der auditiven Darstellung sowie der Reflexion von Macht und Gewalt zur Verfügung. Methodisch verkompliziert sich alles, da infolge der technischen Reproduzierbarkeit der Klänge die Differenz zwischen einem (vermeintlichen) Originalklang und seiner elektroakustischen Wiedergabe zunehmend zu schwinden droht und "Echo-Sound", ähnlich wie Bilder, zu einer zweiten Natur, zur "zweiten Natur des Akustischen" (Marcus Gammel) geworden ist.

Auch die Geschichtswissenschaft befasst sich seit einigen Jahren mit diesem Thema, allerdings immer noch eher verhalten. Die Rede ist vom acoustic turn (Petra M. Meyer), der dem pictorial oder iconic turn folge. Sound History, so scheint es, ist in der Forschung angesagt. Historische Fachzeitschriften wie Zeitgeschichtliche Forschungen, Archiv für Sozialgeschichte, Historische Zeitschrift, gar­ Geschichte und Gesellschaft haben sich inzwischen des Themas angenommen. 2012 widmete der Historikertag in Mainz dem Thema eine eigene Sektion. Fragestellungen der Sound History gingen konstitutiv in neuere Darstellungen wie die von Axel Schildt und Detlef Siegfried zur Kulturgeschichte der Bundesrepublik ein; eine neuere Publikation von Robert Maier befasst sich mit den Spuren des Zweiten Weltkriegs im akustischen Gedächtnis.

Eine Geschichte des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts unter dem Aspekt des Sounds hat indes nicht all das bloß zu bestätigen, was über diese Zeit eh schon bekannt ist. Ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, auf neue, nur über Klänge bzw. den Sound erfahrbare Aspekte aufmerksam zu machen, entsprechende Fragestellungen abzuleiten und neue Antworten zu finden. Dies wollen wir versuchen.

Töne, Klänge und Geräusche sind uns – ähnlich wie Bilder – nicht nur Quellen für etwas; vielmehr sehen wir in ihnen eigenständige Themen der Betrachtung. Sound ist auch ein Akteur, der, vermittelt durch vielfältige mediale Formen, als nicht zu unterschätzender Faktor (manchmal auch als Waffe) in historische Prozesse eingreift und selbst Geschichte macht. Wie R. Murray Schafer überzeugend dargelegt hat, waren historische Klänge immer auch Insignien und Instrumente von Macht. Kirchenglocken etwa symbolisierten über Jahrhunderte die klerikale Hegemonie, bis sie im 19. Jahrhundert abgelöst wurden von den Fabriksirenen der Industriebarone, die die Menschen zur Arbeit riefen. Wie bestimmte Bilder als optische Ikonen gewirkt haben, so entfalteten auch Töne, Klänge und Geräusche eine eigenständige und eigensinnige Kraft, etwa die Rockmusik der 1950/60er Jahre oder die Lieder der baltischen Revolution nach 1989, die die Verhältnisse "zum Tanzen" gebracht haben.

Das Themenspektrum des Sounds der Geschichte in diesem Online-Dossier reicht von musikalischen Klängen in Gestalt von populären Ohrwürmern und den Hits des Jahrhunderts bis zu Hymnen und Klassikern der Neuen Musik, von akustischen Stereotypen wie Erkennungsmelodien und Jingles über den "Wort-Sound" legendärer Reden und Ansprachen, bemerkenswerter Reportagen und historischer Ereignismeldungen bis zu den technischen Tönen und (Alltags-)Geräuschen, vom Echolot, dem Lärm des Krieges und des modernen Verkehrs bis zum verführerischen Klacken des Stöckelschuhs. Besonders aufschlussreich fanden wir Fragestellungen zum Verhältnis von Bild und Sound, also Synästhesien: Warum und auf welche Weise vermögen bestimmte Bilder, Klang- und Geräuschvorstellungen auszulösen, oder umgekehrt: wie imaginieren Klänge bestimmte Bildvorstellungen.

Das Dossier nimmt die Struktur des Buches auf und gliedert sich vornehmlich in drei große Themenfelder:

• Eine Medien- und Kulturgeschichte akustischer Technologien und deren Gebrauch im Zeitalter der technischen und elektronischen Reproduzierbarkeit, also die Geschichte von Phonograph, Grammophon, Schallplatte, Lautsprecher, Tonfilm und Radio bis zum iPhone. Aus der Tatsache, dass Medien Klänge nicht im Sinne einer naturgetreuen Wiedergabe reproduzieren, sondern – wie andere Medienprodukte auch – immer interessengeleitet formatieren, folgt, "dass jede

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Geschichte des Klanges immer auch Mediengeschichte seiner Speicherung sein muss" (Jan- Friedrich Missfelder).

• Eine Klanggeschichte des Politischen, die nach der Wirkmacht sowie der sozialen und politischen Nutzung von Klängen, Tönen und Geräuschen fragt, den Gebrauch und die Funktion von Lautsprecher und Radio in politischen Bewegungen untersucht, den Einsatz von Musik und Lärm in den Kriegen und Diktaturen des 20. Jahrhunderts und ihre Nutzung als Folterinstrument nachzeichnet und nicht zuletzt die Bedeutung von Musik, Kampfrufen und Sprechchören in den großen Umbruchsituationen wie 1968 ff. und 1989 ff. herausarbeitet.

• Ein dritter Themenbereich befasst sich mit der Bedeutung des Sounds in der Erinnerungsgeschichte. Dabei gehen wir von der These aus, dass Erinnerung nicht nur durch visuelle oder olfaktorische, sondern auch durch akustische Eindrücke jedweder Art geprägt wird. Wie, warum und mit welchen Folgen verbinden sich in der Erinnerung bestimmte Ereignisse mit welchen Klängen? Welche Bedeutung kommt etwa dem "Wort-Sound" bedeutender oder demagogischer Reden des Jahrhunderts zu? In welchem Verhältnis steht dieser erinnerte Sound zum tatsächlichen Inhalt einer solchen Rede? Die Bedeutung akustischer Eindrücke für die Erinnerung wie insgesamt die Auslotung der vielfältigen Formen unseres akustischen Gedächtnisses ist ein noch weithin unbearbeitetes Forschungsfeld.

Es geht uns, allgemeiner formuliert, um die Frage nach der Bedeutung, die vergangene Gesellschaften und ihre Akteure der akustischen Dimension ihrer jeweiligen Erfahrung zuschreiben; es geht um die Inventarisierung des Verklungenen und die akustische Kennung des Jahrhunderts bzw. einzelner Zeitabschnitte und Ereignisse; es geht schließlich um das kollektive Hör-Gedächtnis und um herausragende akustische Erinnerungsorte, in deren Klangspuren sich Geschichte beispielhaft verdichtet hat.

Zu diesem Zweck beschreiben und untersuchen die einzelnen Beiträge zunächst das Spezifische einzelner Töne, Klänge und Geräusche. Sie gehen sodann ihrem historischen, politischen und kulturellen Entstehungskontext nach sowie ihren Funktionen bzw. den verschiedenen sozialen und politischen Nutzungsformen. Einen besonderen Akzent legen etliche Beiträge auf den kulturellen Umgang mit dem Sound des Jahrhunderts in Musik, bildender Kunst und Literatur, also auf dessen nachträgliche kollektive Rezeption und Bearbeitung, durch die der Sound oft erst Bestandteil der Alltagskultur wurde. Schließlich wird nach der Bedeutung bestimmter Klänge und Geräusche für das kollektive Gedächtnis gefragt.

Anders als es vielleicht den Anschein haben könnte, liefern die Beiträge keine in sich geschlossene Sound History des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts, allenfalls Aspekte und Facetten. Sie markieren ein Arbeits- und Forschungsfeld, das es weiterhin zu bestellen gilt. Nicht zuletzt möchten sie sensibilisieren für die Bedeutung des Akustischen in der Geschichte und den Umgang mit Tönen, Klängen und Geräuschen in der Gegenwart.

Ähnlich wie eine Visual History ist auch eine Sound History nur als interdisziplinäres Projekt sinnvoll anzugehen. Es freut uns daher, Autorinnen und Autoren aus den unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen sowie ausgewiesene Medientheoretiker und -praktiker gewonnen zu haben, von denen etliche zu den Protagonisten der neuen Sound Studies bzw. der Sound History zählen. Einige der hier publizierten Aufsätze fassen umfangreiche Studien oder Forschungsergebnisse zusammen; andere sind Untersuchungen, die eigens für diesen Band geschrieben wurden. Dass die methodischen Ansätze und die Begrifflichkeit in diesen Texten nicht einheitlich sind, sollte nicht verwundern, denn das Forschungsgebiet ist neu. So verstehen wir das Dossier denn auch als einen Beitrag zu einer noch zu schreibenden Soundgeschichte des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts.

Die Auswahl der hier behandelten Töne, Klänge und Geräusche beruht vornehmlich auf unseren eigenen akustischen Erinnerungen. Wir nehmen allerdings an, dass diese große Schnittmengen mit

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 12 dem kollektiven Soundgedächtnis aufweisen. Durch Vorschläge von Autoren wurden weitere Texte angeregt. Gleichwohl bleibt die getroffene Auswahl in hohem Maße subjektiv und beansprucht keinerlei Repräsentativität. Wir haben uns entschlossen, die einzelnen Aufsätze chronologisch anzuordnen, um so die historische Orientierung zu erleichtern, aber auch, um Veränderungen in der Zeit deutlich werden zu lassen.

Die Texte werden durch eine Vielzahl von Abbildungen ergänzt, die nur zum Teil illustrativen Charakter haben; sie sollen vor allem Argumentationen auf der visuellen Ebene ergänzen, verstärken und belegen oder stellen ihrerseits selbst wieder mediale oder künstlerische Verbreitungsformen von Tönen, Klängen und Geräuschen dar. Die Auswahl der Abbildungen sowie die Zusammenstellung der O-Töne für das gleichnamige Buch (http://www.bpb.de/shop/buecher/zeitbilder/170341/sound-des- jahrhunderts) besorgte Gerhard Paul, meistenteils in Abstimmung mit den Autorinnen und Autoren. Für das Online-Dossier mussten von der Redaktion aus urheberrechtlichen Gründen einige Änderungen an der Auswahl der Bilder und Töne vorgenommen werden.

Das Dossier verweist auf ausgewählte Töne, Klänge und Geräusche, die wir als typisch für das 20. und beginnende 21. Jahrhundert betrachten. Zahlreiche Töne, Klänge und Geräusche sind heute im World Wide Web präsent und abrufbar. Sofern der Redaktion ein Link als weiteres Rechercheangebot gewinnbringed erschien, ist er aufgelistet. Für die Beständigkeit der Links kann nur bedingt Rechnung getragen werden.

Lesen

Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie, Bd. 1: Inferno/Hölle, übersetzt von Hartmut Köhler, Stuttgart 2010

Tillmann Bendikowski: Öffentliches Singen als politisches Ereignis. Eine Herausforderung einer historischen Quelle für die Geschichtswissenschaft, in: ders. u. a. (Hrsg.): Die Macht der Töne – Musik als Mittel politischer Identitätsstiftung im 20. Jahrhundert, Münster 2003, S. 23 – 37

Joan Bleicher: Zur Rolle von Musik, Ton und Sound im Internet, in: Harro Segeberg / Frank Schätzlein (Hrsg.): Sound. Zur Technologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien, Marburg 2005, S. 366 – 380

Gottfried Boehm: Jenseits der Sprache. Anmerkungen zur Logik der Bilder, in: Christa Maar / Hubert Burda (Hrsg.): Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln 2004, S. 28 – 43

Ludwig Feuerbach: Vorlesungen über das Wesen der Religion – nebst Zusätzen und Anmerkungen, 1981

Marcus Gammel: Von der Mündung zur Quelle. Zur zweiten Natur des Lautsprechers, in: kunsttexte. de 4 (2010) 1, S. 1 – 5, http://edoc.hu – berlin.de/kunsttexte/ 2010 – 1/gammel – marcus – 4/PDF/gammel.pdf (http://edoc.hu – berlin.de/kunsttexte/ 2010 – 1/ gammel – marcus – 4/PDF/gammel.pdf)

Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke – Kritische Textausgabe, Bd. 11: Hyperion, hrsg. von Dietrich E. Sattler, Darmstadt/Neuwied 1984

Richard Katz: Drei Gesichter Luzifers – Lärm, Maschine, Geschäft, Zürich/ 1934

Thomas Lindenberger: Vergangenes Hören und Sehen. Zeitgeschichte und ihre Herausforderung durch die audiovisuellen Medien, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 1 (2004) 1, S. 72 – 85, www.zeithistorische-forschungen.de/site/40208148/default.aspx (http://www. zeithistorische-forschungen.de/site/40208148/default.aspx)

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Robert Maier (Hrsg.): Akustisches Gedächtnis und Zweiter Weltkrieg, Göttingen 2011

Petra M. Meyer (Hrsg.): Acoustic Turn, München 2008

Jan-Friedrich Missfelder: Period Ear. Perspektiven einer Klanggeschichte der Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012) 1, S. 21 – 47

Daniel Morat: Der Klang der Zeitgeschichte. Eine Einleitung, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 8 (2011) 2, S. 172 – 177, www.zeithistorische- forschungen.de/site/40209131/default.aspx (http://www.zeithistorische-forschungen.de/site/40209131/ default.aspx) ders.: Zur Geschichte des Hörens, in: Archiv für Sozialgeschichte 51 (2011), S. 695 – 716

Jürgen Müller: The Sound of Silence. Von der Unhörbarkeit der Vergangenheit zur Geschichte des Hörens, in: Historische Zeitschrift 292 (2011) 1, S. 1 – 29

Gerhard Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. 2 Bde., Göttingen bzw. Bonn 2008 / 09

R. Murray Schafer: Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens, Berlin 2010

Axel Schildt/Detlef Siegfried: Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart, München 2009

Harro Segeberg / Frank Schätzlein (Hrsg.): Sound. Zur Technologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien, Marburg 2005

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autoren: Gerhard Paul, Ralph Schock für bpb.de

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Kapitel 1 / 1889 bis 1919

5.7.2016

Noch in der Frühen Neuzeit war die akustische Umgebung zu über 90 Prozent von Natur- und Menschenlauten geprägt. Im 18. Jahrhundert wurden dann die Geräusche von Maschinen und Verkehrsmitteln laut. Mit dem 19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert durchlebten die westlichen Gesellschaften schließlich eine auditive Revolution – und dies im doppelten Sinne: Die Umweltgeräusche veränderten sich nachhaltig; mit der Erfindung neuer Tontechniken brach ein neues akustisches Zeitalter an. Auch der Lärm des Krieges und die zunehmende Urbanisierung brachten immer wieder neue akustische Erfahrungen in das Leben der Menschen.

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Der Sound im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit Soundgeschichtliche Gründerzeit

Von Gerhard Paul 5.7.2016

Gerhard Paul, Dr., Professor für Geschichte und ihre Didaktik an der Universität Flensburg.

In vielerlei Hinsicht waren die Jahre vor und während des Ersten Weltkriegs in Deutschland und Europa soundgeschichtlich eine Art Sattelzeit, auf der die Klangsignatur des 20. Jahrhunderts gründete.

Die akustische Umgebung der Menschen – der kanadische Klangforscher und Pionier der historischen Soundforschung R. Murray Schafer spricht von "Soundscape", was sich am besten mit "Klanglandschaft" übersetzen lässt – war noch in der Frühen Neuzeit zu über 90 Prozent von Natur- und Menschenlauten geprägt. Mechanische Klänge machten den Rest aus. Natürliche und mechanische Laute gliederten den Tag: der erste Hahnenschrei, das Läuten der Kirchenglocken, das Schlagen der Hämmer in den Die Ethnologin Frances Densmore nimmt die Stimme des Piegan- Schmieden. Manchmal erschallten Jagd- oder Posthörner oder es Häuptlings mit einem Phonographen rollten Kutschen über Kopfsteinpflaster. Im 18. Jahrhundert drangen auf, 1916 (© picture-alliance, Everett Collection) dann die Geräusche von Werkzeugen, Maschinen und Verkehrsmitteln immer hartnäckiger ans Ohr. Die Schallwellen der sich industrialisierenden Gesellschaften waren nun auch auf dem Land zu hören. In den Städten verdichtete sich der Lärm. Der französische Schriftsteller Stendhal hat dies in seinem Roman Rot und Schwarz 1830 so beschrieben: "Kaum hat man den Ort betreten, so zerreißt einem der laute Lärm einer dröhnenden, gar bedrohlich aussehenden Maschine die Ohren. Ein paar Dutzend wuchtiger Hämmer erschüttern mit ihrem Auf und Nieder das Straßenpflaster."

Eine gleichmäßige Dauerbeschallung indes war noch immer unbekannt. Mit dem 19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert durchlebten die westlichen Gesellschaften schließlich eine auditive Revolution – und dies im doppelten Sinne: Die Umweltgeräusche veränderten sich nachhaltig; mit der Erfindung neuer Tontechniken brach ein neues akustisches Zeitalter an. Es gab nur wenige Geräusche des 19. Jahrhunderts, die in dieser neuen Zeit Bestand hatten. Das schwere Schnauben der Dampflokomotiven schaffte es immerhin bis in die 1960er Jahre, bevor es vom Klang der Elektrolokomotiven und schließlich der IC- und ICE-Triebköpfe abgelöst wurde, der so gar nichts mehr zu tun hatte mit dem seiner dampfenden Vorgänger.

Die in Deutschland erst verspätet einsetzende industrielle Revolution und die sich beschleunigende Urbanisierung veränderten grundlegend die bisherigen Geräuschwelten. Die Fabriksirene eroberte ihren Platz neben der Kirchenglocke und bestimmte nun den Alltag von immer mehr Menschen. Der Lärmpegel in den Städten, die – bislang von Fußgängern dominiert – sich rasant zu (auto-)mobilen Zentren wandelten, erreichte bislang unbekannte Höhen. Dampfmaschinen erzeugten nun Laute, die schon aus großer Entfernung zu hören waren: Ab den 1830er Jahren durchpflügten Lokomotiven das Land und Schiffe die Meere. Das Getöse schwerer dampfgetriebener Dreschmaschinen war in den bis dahin vergleichsweise stillen ländlichen Regionen weithin zu vernehmen. Breitbandige

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Lärmschwaden legten sich über ganze Landstriche. Schafer spricht von einem "akustischen Imperialismus", der sich, von den westlichen Industrienationen ausgehend, über weite Teile des Erdballs ausbreitete. Der neue Lärm galt zunächst keineswegs als belästigend und negativ, sondern – ähnlich wie die rauchenden Fabrikschlote – als Ausdruck von Macht, Effizienz und Fortschritt.

Die Laute der neuen Techniken unterschieden sich quantitativ und qualitativ von allen bisherigen Klängen. Zunächst nahm die Zahl der Geräusche übermächtig zu. Die Töne der Natur und die traditionellen Klangwelten des 19. Jahrhunderts wurden zunehmend überlagert bzw. verdrängt. Die neuen Geräusche der Straßen- und der Eisenbahnen, der Krafträder und der Automobile vermischten sich mit dem Klang der Kirchenglocken, dem Hornsignal des Postillons, den Türglocken und den mechanischen Kassen der Kolonialwarenläden, um diese schließlich ganz zu überlagern. Zudem entstanden völlig neue technische Klänge, für welche das Echolot und der funkentelegraphische Notruf nur zwei Beispiele sind. Der Erste Weltkrieg bildete den Kulminationspunkt der bisherigen Klanggeschichte des industriellen Zeitalters. Er ist daher zu Recht als die "größte Lärmentfesselung" (Sieglinde Geisel) beschrieben worden, welche die Menschheit bis dahin zustande gebracht hatte. Die sich zum Trommelfeuer steigernden Schüsse der Artillerie sprengten in akustischer Hinsicht alles bisher Dagewesene. Über Dutzende Kilometer legte sich der Kriegslärm über das Land. Wer das Kriegsgeschehen überlebt hatte, erkrankte nicht selten an den Folgen des jahrelang ertragenen infernalisch lauten Dauerlärms, viele ehemalige Soldaten erlitten dadurch dauerhafte psychische Schäden.

Mit Industrialisierung und Weltkrieg wurde der Lärm von einer privaten zu einer öffentlichen Angelegenheit und drang ins öffentliche Bewusstsein ein. Er wurde "entdeckt", beschrieben, verteufelt, heroisiert und schließlich seit Beginn des neuen Jahrhunderts zum Politikum. Bereits im 19. Jahrhundert hatten Ärzte bei Arbeitern, die Stahlplatten vernieteten, schwerste Gehörschäden diagnostiziert, ein Leiden, das als Kesselschmiedkrankheit bekannt wurde. Es war jedoch zunächst nicht der Lärm der Industrie, der die Gemüter erregte, sondern eher der Straßen- und Nachbarschaftslärm. Noch vor dem Ersten Weltkrieg gründete der Philosoph und Pädagoge Theodor Lessing einen Antilärmverein in Deutschland; in einer Kampfschrift geißelte er "all dies entsetzliche Randalieren, dies unaufhörliche Brüllen, Dröhnen, Pfeifen, Zischen, Fauchen, Hämmern, Rammeln, Klopfen, Schrillen, Schreien und Toben". Vereinzelt nahmen sich noch vor dem Weltkrieg Stadtverwaltungen der Lärmplage an und ersannen erste Maßnahmen zu ihrer Reduzierung. Die Industrie vermarktete schnell das neue Bedürfnis nach Stille. Ab 1907 vertrieb der Apotheker Maximilian Negwer von Berlin aus die Geräuschschützer Ohropax. Mit dem Weltkrieg wurden diese zum Massenartikel, versprachen sie den Soldaten doch Schutz gegen die Schallwirkung des Kanonendonners und verlässliche "Nervenberuhigung".

Die Zeit um die Jahrhundertwende von 1900 war zugleich eine mediengeschichtliche "Sattelzeit". Neue revolutionäre "Aufschreibesysteme" (Friedrich Kittler) wie die Schreibmaschine, der Phonograph und Fotografie/Film ermöglichten nun das mechanische Speichern von Schrift, Ton und Bild. Erstmals in der Menschheitsgeschichte differenzierten sich diese auseinander. Sie läuteten das Ende der durch den Buchdruck geprägten "Gutenberg-Galaxis" (Marshall McLuhan) ein. Voraussetzung hierfür waren die Erfindung des Klang- und Tonschreibers, des Phonographen, 1877 durch Thomas Alva Edison und des Grammophons zehn Jahre später durch Emile Berliner. Bis dahin waren keine Originaltöne von historischen Ereignissen oder aus dem Alltag tradiert worden. Schrift und Bild, also Literatur und Kunst, waren die einzigen Speichermedien gewesen, um akustische Erfahrungen festzuhalten, ihnen Dauer zu verleihen und in beliebigem Kontext wiederzugeben. Überliefert sind erste Tonaufnahmen von Otto von Bismarck und von Wilhelm II., die sich 1889 bzw. 1904 bereit erklärten, in einen Aufnahmetrichter zu sprechen. Mit dem Knistern und dem Rauschen des Phonographen und des Grammophons betraten zugleich qualitativ neue Geräusche die Bühne der Geschichte.

Die Unterhaltungsindustrie machte sich schnell die Möglichkeiten der technischen Reproduzierbarkeit von Tönen und Stimmen kommerziell zunutze. Mit der Entwicklung der Schallplatte zum Massenprodukt um die Jahrhundertwende wurden die Stimmen von bekannten Sängern wie Enrico Caruso auf Platte

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 17 gepresst. Sie waren damit für ein Massenpublikum verfügbar. Noch vor dem Ersten Weltkrieg begann der Siegeszug der neuen Medien, welche nach und nach die Geräuschkulisse in Beruf und Alltag veränderten. Stimmen, Musik und Geräusche lösten sich von ihren Urhebern und beschallten nun Privatwohnungen und öffentliche Räume. Erstmals konnte Musik orts- und zeitunabhängig rezipiert werden. Thomas Mann hat in seinem Roman Der Zauberberg dem Grammophon ein literarisches Denkmal gesetzt. Die Sängerinnen und Sänger, die Hans Castorp hörte, "sah (er) nicht, ihre Menschlichkeit weilte in Amerika, in Mailand, in Wien, in Sankt Petersburg – sie mochten dort immerhin weilen, denn was er von ihnen hatte, war ihr Bestes, war ihre Stimme, und er schätzte diese Reinigung oder Abstraktion, die sinnlich genug blieb, um ihm, unter Ausschaltung aller Nachteile zu großer persönlicher Nähe, […] eine gute menschliche Kontrolle zu gestatten."

Im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der Töne und Stimmen war es möglich geworden, dass diese – sowohl aus ihren originären Zusammenhängen wie von ihren körperlichen Urhebern getrennt – frei flottierend über die Kontinente vagabundierten. Dabei wurden sie beständig in neue Zusammenhänge integriert und multifunktional verwendet – ein Vorgang, den Schafer als "Schizophonie" bezeichnet hat. Mit der Reproduzierbarkeit von Tönen und Stimmen legte sich ab 1900 Schritt für Schritt ein künstlicher Klangteppich zunächst über die westliche Hemisphäre, später über den gesamten Erdball. Zu den natürlichen Klängen und Geräuschen der Natur und der Menschen und zu den mechanischen und technischen Geräuschen von Industrialisierung und Urbanisierung gesellte sich eine zweite, künstliche Natur des Akustischen. Ihr sich beständig wandelndes Verhältnis zueinander prägte die spezifische Klangsignatur des 20. Jahrhunderts.

Die reproduzierten Töne und Stimmen drangen zunehmend auch in das kommunikative und kollektive Gedächtnis ein, überlagerten und verdrängten dabei die privaten Stimmen und Geräusche und schufen spezifische akustische Erinnerungsorte. Die neuen Geräusche und Klangwelten verlangten zugleich nach einem angemessenen kulturellen Ausdruck. In der bildenden Kunst waren es die Futuristen, die von der neuen Technik begeistert waren und den Maschinen- und Verkehrslärm als Indikator des gesellschaftlichen Fortschritts glorifizierten. Mit neuen bildnerischen Darstellungsformen, die auch grafische Elemente und Ideogramme umfassten, sowie einer neuen Geräuschkunst versuchten sie, die neuen Klangqualitäten zu thematisieren. Sie gaben damit zugleich der zeitgenössischen Kunst und Musik neue Impulse.

Die neue Qualität des Lärms verlangte auch eine neue Sprache. Vor allem der industrialisierte Schlachtenlärm des Weltkriegs provozierte Schriftsteller auf beiden Seiten der Front, ihre akustischen Erfahrungen literarisch festzuhalten und hierfür eigene Ausdrucksformen zu entwickeln. Keiner hat den Lärm des Krieges präziser und ausführlicher beschrieben als Ernst Jünger in seinem Tagebuch. Für ihn wie für zahlreiche Frontsoldaten war die differenzierende Beschäftigung mit den spezifischen Klängen der Waffen eine Überlebensfrage: nur wer in der Lage war, die Geschosse auch akustisch zu identifizieren, besaß eine Chance, angemessen zu reagieren und sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. In der dadaistischen Lautpoesie fand die Auseinandersetzung mit den neuen Lärmwelten eine eigenständige literarische Form. Die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg brachte auch entscheidende Neuerungen und Verschiebungen in der musikalischen Geografie Europas in Richtung einer musikalischen Moderne. Mit Komponisten wie Arnold Schönberg und Gustav Mahler, vor allem aber mit Igor Strawinsky geriet das konventionelle System der Tonalität ins Wanken, wogegen sich europaweit der Protest des bildungsbürgerlichen Publikums erhob. Dies zeigte nicht zuletzt der Skandal um die Uraufführung von Strawinskys Ballett Sacre du Printemps 1913 in Paris. Die neuen Geräusche der Industrialisierung und Urbanisierung inspirierten zunehmend auch Komponisten. Zu einem Experimentierfeld neuer musikalischer Formen geriet die Stummfilmmusik. Erst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs jedoch vermochte sich die musikalische Moderne voll zu entfalten. Die Musikkultur der Kaiserzeit, daran besteht kein Zweifel, prägten noch konventionelle klassische, vor allem patriotische Töne im Stile von Heil dir im Siegerkranz – ein Lied, das sich zur (inoffiziellen) Hymne des wilhelminischen Deutschlands entwickelte.

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Während die Fotografie als optisches Speichermedium in der Zwischenzeit auch in der Geschichtswissenschaft auf größeres Interesse gestoßen ist, ist den akustischen Veränderungen in Alltags- und Arbeitsleben sowie den Erfindungen der akustischen Speicher- und Übertragungsmedien im ausgehenden 19. Jahrhundert deutlich weniger Aufmerksamkeit zuteil geworden. Und dies, obwohl die Klänge von Industrialisierung und Urbanisierung ein wesentlicher Bestandteil der akustischen Umwelt waren und die Fähigkeit, Stimmen, Geräusche und Klänge aufzunehmen, zu reproduzieren und über große Entfernungen zu übermitteln, die Kommunikationsformen der Menschen des 20. Jahrhunderts entscheidend veränderten.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Gerhard Paul für bpb.de

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Verklungenes und Unerhörtes Klangkulturen des 19. Jahrhunderts

Von Jan-Friedrich Missfelder 5.7.2016

Jan-Friedrich Missfelder, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität Zürich.

Gottfried Kellers Roman Der Grüne Heinrich beginnt mit einer Bootspartie auf dem Zürichsee. Von Rapperswil aus durchquert der Kahn schließlich auf dem Limmatfluss die Stadt Zürich. Keller beschwört auf dieser Fahrt "das ganze Treiben einer geistig bedeutsamen und schönen Stadt" des 19. Jahrhunderts aus der Sicht des Bootspassagiers. Der Stadtrat versammelt sich gerade am Rathaus: "Trommelschlag ertönt." Neben den Magistraten, die "gegrüßt oder ungegrüßt vom zahlreichen emsigen Volke" zusammenströmen, "rasseln diplomatische Fremdlinge" in prächtigen Roben über die Brücken.

Weiter geht es mit den Geräuschen der Ökonomie: "Jetzt ertönt das Getöse des Marktes von einer breiten Brücke über unserm Kopfe; Gewerk und Gewerb summt längs des Flusses und trübt ihn teilweise, bis die rauchende Häusermasse einer der größten industriellen Werkstätten voll Hammergetönes und Essensprühen das Bild schließt." Jenseits Zürichs öffnet sich der Blick auf die "weite schneereine Alpenkette"; die Fahrt endet in der alten Bäderstadt Baden mit der Beschreibung einer Burgruine, durch deren Grundfelsen der Schienenweg der Schweizerischen Nordbahn, der sogenannten Spanisch-Brötli-Bahn, von Zürich nach Baden gebohrt wurde.

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Blick auf die Limmat in Zürich (© picture-alliance/akg) Das Verklungene lesen

Im Anfang des Grünen Heinrich ist die Essenz des 19. Jahrhunderts verdichtet und als Klangerfahrung repräsentiert: die politische Ordnung einer traditionellen Stadtgesellschaft, die beginnende Industrialisierung, die ästhetisierende Naturerfahrung und die Eisenbahn als neues Mittel der Raumerschließung und Zeitverkürzung. Vor Thomas Edisons Erfindung des Phonographen im Jahre 1877 existieren keine O-Töne aus dem 19. Jahrhundert. Seine Klangwelt kann daher nicht wie die des 20. oder 21. direkt von der Hörerfahrung her erschlossen werden, sondern man muss besondere Aufmerksamkeit auf Beschreibungen und bildliche Darstellungen des Akustischen in nichtklingenden Medien richten. Hier ist keine Quellengattung besonders privilegiert. Richtig – und teils auch gegen den Strich – gelesen, versprechen Gesetzestexte, Tagebücher, Reiseberichte, Stadtansichten oder fiktionale Quellen vielfältige Aufschlüsse nicht nur über verklungene Klangwelten, sondern auch über vergangene Hörerfahrungen und Wahrnehmungsweisen. Der Anfang des Grünen Heinrich ist hierfür ein gutes Beispiel. Keller beschreibt nicht nur, was zu hören ist, sondern vor allem auch, wie sich die verschiedenen Klänge und der implizite Hörer zueinander verhalten.

Ein Boot ist im 19. Jahrhundert ein relativ stilles Verkehrsmittel, kein Motor oder Hufgetrappel kann von der Wahrnehmung der Umweltklänge ablenken. Die einzelnen akustischen Szenen – vom Rascheln der extravaganten Botschafter-Roben über das Stimmengewirr des Marktes bis hin zu den Hammerschlägen der innerstädtischen Industriebetriebe – werden von Keller nacheinander aufgerufen, es entstehen keine klanglichen Überlappungen oder Kakophonien. Das ist zwar einerseits dem Medium Literatur geschuldet, verweist aber zugleich auf ein Charakteristikum der Klangwelt des 19. Jahrhunderts (und der Zeit davor), das diese fundamental vom Soundscape der Moderne unterscheidet. Fremd sind dabei keineswegs die Klänge selbst. Kaum einer der Klänge, welche die Straßen, Häuser und Wälder der Vormoderne anfüllten, ist wirklich verschwunden oder nicht mehr reproduzierbar. Fundamental gewandelt haben sich dagegen die akustischen Wahrnehmungsstrukturen. Das beginnt mit der Beziehung der einzelnen Klänge untereinander.

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R. Murray Schafer, der kanadische Komponist und Klangforscher, spricht für die vorindustrielle Welt von einem Hi-Fi-Soundscape in dem "ein günstiges Verhältnis von Signal und Rauschen" herrscht und "einzelne Laute deutlich [werden], weil der Pegel der Umweltgeräusche niedrig ist". In einer Lo-Fi- Situation wie der modernen Stadt sind dagegen, so Schafer, "die einzelnen akustischen Signale überdeckt von einer übermäßig verdichteten Anhäufung von Lauten". Obwohl man annehmen muss, dass die akustische Welt des 19. Jahrhunderts insgesamt leiser war als die heutige, liegt der entscheidende Unterschied nicht im reinen Volumen, sondern in der unterschiedlichen Hör- und Differenzierbarkeit. Der Anfang des Grünen Heinrich führt genau diese Differenzierung vor Ohren.

Mit den Wahrnehmungsstrukturen ändern sich zudem die Sinnhorizonte, die der klingenden Umwelt zugeschrieben werden. Klänge sind, in Schafers Worten, Signale, sie tragen Bedeutung und produzieren sozialen Sinn. Der Trommelschlag, der die Zusammenkunft des Zürcher Rates ankündigt, signalisiert die Präsenz der politischen Elite der Stadt und konnte vom "zahlreichen emsigen Volke" auch genauso hörend "gelesen" werden. Solche Bedeutungszuschreibungen sind historisch wandelbar, spiegeln die Veränderung der historischen Klangkulturen im Prozess der Modernisierung wider.

Nun war das Zürich der Zeit um 1850, in der der Roman spielt, kein Paradigma des gesamten 19. Jahrhunderts in Europa. Die akustischen Verhältnisse in Frankfurt und Berlin oder gar die in Manchester und London waren gänzlich andere. Hier, in den Metropolen der industriellen Moderne, deutete sich schon der Übergang von Hi-Fi zu Lo-Fi an, der für den Kulturkritiker Schafer eine einzige Geschichte des Verlusts an akustischer Delikatesse und Differenzierungskraft darstellt. Doch für die Zwecke dieses Essays kann Kellers kurzes Klangporträt der Limmatstadt eine methodische Leitlinie abgeben. Stadtgesellschaft, Industrie und Natur sollen hier exemplarisch als Klangkulturen betrachtet werden, ohne dass damit der Anspruch verbunden wäre, diese Aspekte umfassend beleuchten zu können oder gar das 19. Jahrhundert in seiner Komplexität auch nur annähernd sinnesgeschichtlich erfasst zu haben. Stadtklänge

In einem der letzten Kapitel seiner 1851 erschienenen philosophischen Miniaturensammlung Parerga und Paralipomena macht der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer seinem Ärger wortreich Luft. Als den "unverantwortlichsten und schädlichsten Lärm", den ein denkender Stadtbewohner zu ertragen habe, identifiziert er "das wahrhaft infernalische Peitschenknallen" der Fuhrleute. Durch seine Plötzlichkeit, Schärfe und Lautstärke sei es in der Lage, jeden zusammenhängenden Gedankengang zu unterbrechen und damit recht eigentlich unmöglich zu machen. "Hammerschläge, Hundegebell und Kindergeschrei sind entsetzlich; aber der rechte Gedankenmörder ist der Peitschenknall."

Schopenhauers Philippika gegen die Peitsche als einer "Lautmarke" (R. Murray Schafer) der Stadtgesellschaft des 19. Jahrhunderts verweist auf eine Eigenart städtischer Mobilität. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein waren (nicht nur) europäische Städte fast ausschließlich "Fußgängerstädte". Dies bewirkte eine enge Verkopplung von Arbeitsplatz und Wohnraum, sodass kurze Wege und hohe Dichte an Einwohnern als Kennzeichen der meisten vormodernen Stadtgesellschaften gelten können. Sie waren Anwesenheitsgesellschaften, basierten auf face-to-face-Sozialbeziehungen, die auch die politische Struktur bestimmten. Dass sich der Zürcher Stadtrat in Kellers Roman zu Fuß und "gegrüßt oder ungegrüßt" vom Volk zum Rathaus bewegt, ist bezeichnend. Die akustische Signatur solcher Stadträume war bis in die 1870er Jahre hinein vorwiegend durch jene Klänge bestimmt, die aus der alltäglichen, direkten Interaktion von Menschen entstehen.

Pferde als Zugtiere spielten eine entscheidende Rolle auch für die akustische Anmutung der städtischen Räume. Hufgetrappel, Wiehern, Rattern von Wagenrädern, von Pferde-Omnibussen oder -Trams auf dem Pflaster oder eben Peitschenknallen blieben über das ganze 19. Jahrhundert hinweg die Grundlaute des innerstädtischen "Pferdezeitalters" (Reinhart Koselleck). Dass schon vor der Motorisierung des Verkehrs die Geräuschkulisse der Stadt stark durch Verkehrsmittel aller Art geprägt

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 22 wurde, zeigt auch eine Klage der deutschen Schriftstellerin Emmy v. Dincklage in ihrer Autobiografie von 1879. Ähnlich wie Schopenhauer sah sie "alles Reden und Hören, alles Denken und Studieren" durch "Hundewagen mit einigen geleerten Blechkannen der Milchverkäufer, […] alle möglichen Karren, schellende Tramway-Fuhrwerke, knarrende Kohlenwagen, Rollwagen und zahlreiche Vehikel" übertönt und gestört. Es gab allerlei Versuche, diesen höllischen Lärm durch technische Innovationen zu dämpfen, etwa durch die Einführung von Asphalt als Straßenbelag (Paris 1854, Berlin ab 1878) oder durch die allmähliche Ersetzung der metallbeschlagenen Holzräder durch Gummireifen, für die der Schotte John Dunlop 1888 ein Patent anmeldete.

Dass die Peitsche für Schopenhauer zu solch einer Pein werden konnte, hatte einen Grund in der Veränderung der Sozialstruktur der europäischen Städte. Der Philosoph gehörte einer im Verlauf des Jahrhunderts stetig wachsenden Schicht von Schriftstellern, Künstlern, Journalisten, Beamten oder Wissenschaftlern an, die als Freiberufler oder staatliche bestallte Kopfarbeiter gänzlich andere akustische Ansprüche anmeldeten als Bewohner mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Städte. Schopenhauer selbst sah im übermäßigen Peitschenknallen denn auch einen feindlichen Akt und einen "freche[n] Hohn des mit den Armen arbeitenden Teiles der Gesellschaft gegen den mit dem Kopf arbeitenden".

Diese neue Empfindlichkeit betraf auch einen anderen Kernbereich städtischer Klangproduktion: Straßenmusik. Pfeifer, Fiedler und fahrende Sänger aller Art hatten der Klangwelt alteuropäischer Städte ihr akustisches Gepräge gegeben und waren die ganze Frühe Neuzeit hindurch immer wieder Gegenstand obrigkeitlicher Regulierungsbestrebungen. Diese hatten aber meist eher einen migrationspolitischen Hintergrund und bezogen sich weniger auf die spezifisch akustische Seite. Das änderte sich im 19. Jahrhundert: Auf Initiative einiger Mitglieder der kulturellen und intellektuellen Elite, unter ihnen die britischen Schriftsteller Charles Dickens und Thomas Carlyle, wurde 1864 in London insbesondere die Praxis des öffentlichen Drehorgelspiels massiv eingeschränkt, weil die damit verbundene Klangemission den Ruhebedürfnissen dieser Kreise zuwiderlief.

Dass Peitschenknallen und Drehorgelspiel um die Mitte des Jahrhunderts zu einem offensichtlichen Lärmproblem werden konnten, verweist zudem auf die zunehmende Segregation und Privatisierung des öffentlichen Raums, eine auch administrative Trennung von lärmintensiven und ruhigen Gegenden. Im Zuge dieses Prozesses ergab sich eine Umstellung von zeitlicher auf räumliche Einhegung des Lärms. Während noch im 18. Jahrhundert in so unterschiedlichen Städten wie Zürich und New York vor allem im Kontext bestimmter Zeiten wie der Nacht oder während des Sonntags Ruhe eingefordert wurde, ging man z. B. im New York des frühen 20. Jahrhundert zu einer expliziten, auch administrativ durchgesetzten Zonierung über, die besonders lärmsensible Orte wie Schulen, Krankenhäuser oder Kirchen vom Klang der industriellen Moderne freihalten sollte.

Diese zunehmende räumliche Spezifizierung des urbanen Klangs betraf auch die professionelle Musikausübung, namentlich die Etablierung eines öffentlichen Konzertwesens ab dem Ende des 18. Jahrhunderts, wiederum vor allem in den (musikalischen) Metropolen Wien, Paris und London. Neugebaute Konzertsäle und öffentliche Opernhäuser standen nun nicht nur dem Adel offen, sondern auch breiteren Bevölkerungsschichten. Insofern wurden musikalische Praxis und Hörerfahrung der Stadtbewohner durch Oper und Konzert demokratisiert, zugleich aber auch domestiziert, indem eine klar erkennbare und auch räumlich erfahrbare Trennung zwischen kulturell legitimierter Kunstmusik (die zu dieser Zeit mit dem Klavier auch in die Privathäuser einzog) und dem Sound der Straße eingeführt wurde.

Diese Herausbildung unterschiedlicher Klangräume innerhalb der Stadt ging einher mit dem Niedergang umfassender klanglicher Kommunikationssysteme. Dies betraf vor allem die Glocken der zahlreichen Kirchen und Rathäuser, die das städtische Leben seit Jahrhunderten akustisch strukturiert und rhythmisiert hatten. Während die Glocken, wie Alain Corbin gezeigt hat, in ländlichen Gebieten weiterhin eine unverzichtbare Orientierungsfunktion hatten, verloren sie diese in den Städten immer mehr an öffentliche Uhren und Fabriksirenen. Schopenhauer und Dincklage benötigten den

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Glockenklang nicht mehr als Zeitmarkierung und Kommunikationsmedium, fühlten sich durch ihn aber auch nicht in ihrer Geistesarbeit gestört. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren Glocken zu einer akustischen Selbstverständlichkeit geworden, die man nicht eigens als Hörerfahrung zu thematisieren brauchte.

Adolph Menzel, Das Eisenwalzwerk, 1874, Alte Nationalgalerie, Berlin (© picture-alliance/akg) Die Verwandlung der akustischen Welt

Im Jahre 1811 erschien in der New Yorker Zeitschrift Independent Mechanic ein Artikel über eine Reise durch die Schweiz, die der Autor schon während des Jahres 1772 unternommen hatte. Begeistert gibt er seine Eindrücke wieder, wobei er sich nicht nur genretypisch auf die grandiose Bergwelt bezieht, sondern vor allem das städtische Gewerbe feiert: "Wo immer ich in eine Stadt eintrat, hörte ich von überall her das Klirren der Hämmer und das Klingen der Maurerkellen." Auch auf dem Land zeigt sich der schweizerische Wohlstand vor allem akustisch durch das Singen der Frauen und Mädchen, begleitet vom Klappern der Spinnräder. Die Klänge von Handwerk und früher Industrie werden als Zeichen des Fortschritts und der Prosperität gedeutet, sie fügen sich nahtlos in ein harmonisches Panorama von Stadt und Land ein.

Mit der einsetzenden Mechanisierung und Industrialisierung trennten sich jedoch die Klangwelten, wie man wiederum exemplarisch am Grünen Heinrich ablesen kann. Während das traditionelle Gewerbe auf dem Land, in Kellers Worten, vergleichweise leise "summt", dröhnt die innerstädtische Industrie von "Hammergetönes". In dieser Passage ist die Industrialisierung nicht nur als ein ökonomisch bedeutsamer Vorgang zu greifen, sondern auch als eine sinnesgeschichtliche Zeitenwende. Das Stampfen und Dröhnen des universellen Motors der Industrialisierung, der Dampfmaschine, das Klappern von immer größeren Wassermühlen und das Rattern mechanischer Webstühle ersetzten nach und nach die Klänge des traditionellen Gewerbes. Nicht, dass dieses in allen Fällen per se leise und dezent gewesen wäre.

Frühneuzeitliche Polizeiordnungen, die besonders lärmintensive Wirtschaftszweige wie das Schmiedehandwerk akustisch zu regulieren versuchten, zeigen, dass auch vorindustrielles Gewerbe als Klangproblem wahrgenommen werden konnte. Die Industrialisierung mit ihren technologischen Innovationen wie der Dampfmaschine bedeutete aber eine neue Qualität des Lärms. Das heißt

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 24 gleichwohl nicht, dass die Klangwelt der Fabrik von Anfang an als störend wahrgenommen wurde. Im Gegenteil: Der Erfinder der Dampfmaschine, James Watt, beschwor zu Beginn des Jahrhunderts die Assoziationskette Maschinenlärm, Macht und Fortschritt. Je lauter eine Maschine dröhnte, desto besser. Rein akustisch bedeutete der Beginn des 19. Jahrhunderts also eine gewaltige Veränderung, vom leisen Rattern des protoindustriellen Textilgewerbes hin zum Heavy-Metal der aufkommenden Schwerindustrie.

Wahrnehmungsgeschichtlich hingegen ist eine erstaunliche Kontinuität zu konstatieren. Beide Klangformen sprechen von derselben Sache, von der Blüte von Wirtschaft und Gesellschaft, der erfolgreichen Naturbeherrschung und dem allgemeinen menschlichen Fortschritt.

Es ist schwierig zu sagen, wann genau und wodurch sich dies ändert. Erst gegen Ende des Jahrhunderts, ab den 1870er Jahren, sind in den verschiedenen europäischen Staaten Initiativen und Kampagnen nachweisbar, die das industrielle Soundscape nunmehr als die Gesundheit gefährdenden Lärm begreifen und es auch als solchen bekämpfen. Gleichwohl gerieten andere unangenehme Begleiterscheinungen der Industrialisierung wie Gestank oder Rauchentwicklung früher in das Blickfeld der Hygieniker als der Lärm. Eine mögliche Erklärung könnte darin liegen, dass nicht alle Mitglieder der Gesellschaft den akustischen Nebenfolgen der industriellen Revolution gleichermaßen ausgesetzt waren. Der größte Lärm spielte sich mehr und mehr innerhalb abgeschlossener Fabrikgebäude ab, zu deren Klangwelt keinen direkten Zugang hatte, wer nicht als Arbeiter dieser Beschallung ausgesetzt war. Zudem waren großräumige Industrielandschaften, in denen wie in Manchester oder Sheffield ganze Städte und Landstriche im Sinne der Industrie umgestaltet wurden, selten. Häufiger waren, vom Schweizer Sonderfall einer vorwiegend ländlichen Industrialisierung einmal abgesehen, kleinräumige Industriezonen am Rande der Städte.

Zugleich wurden aber allmählich auch jene Räume vom industriellen Klangbild durchdrungen, die bislang als weitestgehend leise Hi-Fi-Soundscapes gelten konnten. Das häufigste Medium dieser akustischen Invasion war die Eisenbahn. Sie bedeutete für die Menschen des 19. Jahrhunderts nicht nur eine Revolution des Transportwesens, indem das langsame, teure und unbequeme Postkutschensystem innerhalb kurzer Zeit ersetzt wurde, sondern auch eine radikale Umstellung in der sinnlichen Wahrnehmung der Umwelt. Das betrifft sicherlich in erster Linie den Gesichtssinn, erlaubte doch die erhöhte Geschwindigkeit der Eisenbahn keine visuelle Kontemplation der Welt jenseits des Abteilfensters mehr, sondern erzwang ein "panoramatisches Sehen" (Wolfgang Schivelbusch), das von Details absah und eher auf das Ganze der vorüberziehenden Landschaft blickte.

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J. M. William Turner, Rain, Steam and Speed. The Great Western Railway, vor 1844, The National Gallery, London (© picture-alliance, United Archives/TopFoto) Doch die Eisenbahn brachte auch vollkommen neuartige akustische Erfahrungen mit sich. Aus der Binnenperspektive des Passagiers ergab sich eine paradoxe Situation. Einerseits machte die Isolation in den zumindest in Europa üblichen abgeschlossenen Abteilwagen (die das Postkutschenprinzip kurzerhand auf die Schiene übertrugen) in Verbindung mit der nicht unerheblichen Lautstärke, die in den Wagen herrschte, jene Kommunikation zwischen Reisenden unmöglich, die – je nach Temperament der Insassen – in der Postkutsche anregend oder enervierend gewirkt hatte. Zugleich wurde durch die Geräuschkulisse die visuelle Wahrnehmung der Außenwelt vollkommen von der akustischen getrennt, was zu einer zuvor kaum gekannten Verunsicherung des Weltbezugs geführt haben muss. So schreibt Max Maria von Weber, Sohn des deutschen Komponisten Carl Maria von Weber und einer der führenden "Eisenbahnphilosophen", in seiner Schule des Eisenbahnwesens von 1857: "So hat jeder Aufmerksame beobachtet, dass, wenn man bei festlichen Gelegenheiten an schreienden Volksmassen vorüberfährt, das Schreien nur an der Bewegung der Gesichter bemerkt, gar nicht gehört werden kann."

Der Ausbau des Eisenbahnnetzes veränderte auch die Wahrnehmung der Natur auf vollkommen unerhörte Weise. Wurden die ersten Gleise noch parallel zu den bereits bestehenden Straßen verlegt, erkannte man recht bald, dass die Bedürfnisse des neuen Verkehrsmittels gänzlich neue Raumerschließungsmaßnahmen erforderten. So gingen die Ingenieure bald dazu über, die Landschaft selbst umzugestalten, indem Hügel, Täler und Hindernisse einer vollkommen ebenen Trassierung weichen mussten. Eisenbahnbau bedeutete also eine neue Form von Naturunterwerfung. Dies geschah gleichwohl nicht nur durch die allmähliche – und weltweite – Ausbreitung des Gleissystems, sondern auch mit Blick auf die sinnliche Wahrnehmung der Eisenbahn selbst, und dies besonders in akustischer Hinsicht.

Um dies zu verdeutlichen, sei der Sprung über den Atlantik gewagt. Henry David Thoreaus autobiografischer Bericht Walden über sein Leben in den Wäldern von Massachusetts enthält ein kurzes Kapitel über "Sounds", das nicht nur über die Geräusche der Natur rund um den See Walden

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Pond Aufschluss gibt, sondern vor allem über die akustische Invasion der Eisenbahn in dieses Biotop. Obwohl Thoreau überdeutlich macht, dass keine "domestic sounds" wie das Sirren des Spinnrads, Kindergeschrei oder auch nur das Gegacker domestizierter Hühner das Soundscape seines Refugiums stören, bleibt seine "unfenced nature" nicht von zivilisatorischen Klängen verschont. Thoreau entwickelt eine sehr feine Differenzierung zwischen solchen Klängen, die dem unverfälschten Klangraum der Natur anverwandelt werden können, und solchen, die diesen unwiderruflich durchbrechen. So erscheinen ihm die Schläge ferner Kirchenglocken als "natural melody, worth importing into the wilderness".

Die Eisenbahn mit ihrem Pfeifen und Stampfen trägt Annehmlichkeiten und Gefahren der Zivilisation mitten in die Natur hinein, liefert Luxusgüter an die entferntesten Orte und verknüpft die Wälder von Massachusetts mit der Welt des internationalen Kapitalismus. Ihre Präsenz wird jedoch rein akustisch erzeugt. Die Züge bleiben in den dichten Wäldern unsichtbar, doch ihre Signale verändern das Leben auf dem Land für immer. Ihr stetes Wiederkehren nach fixen Fahrplänen strukturiert den bäuerlichen Alltag: "The startings and arrivals of the cars are now the epochs of the village day. They go and come with such regularity and precision, and their whistle can be heard so far, that the farmers set their clocks by them, and thus one well conducted institution regulates the whole country." Thoreau zeigt, dass im Verlaufe des 19. Jahrhunderts die Grenze zwischen dem industriell durchgeformten Stadtraum und der unberührten ländlichen Natur in akustischer Hinsicht immer durchlässiger wurde. Er macht auch deutlich, dass durch das Auftauchen der Eisenbahn in weitgehend unbesiedelten Gegenden der Welt nicht nur neue akustische Erfahrungen gemacht werden konnten (und mussten), sondern dass diese den gesamten Erfahrungsraum neu ausrichteten. Sich dem zu entziehen, war kaum möglich.

Das Verklungene hören

In klanggeschichtlicher Hinsicht war das 19. Jahrhundert ein kurzes Jahrhundert. Um 1880 spätestens änderte sich vieles des hier Beschriebenen. Technisierter, bald motorisierter Verkehr hielt Einzug in die Städte, Protagonisten des Wohlfahrtsstaats begannen, sich um das Hörvermögen der Arbeiterschaft zu sorgen, erste Lärmschutzinitiativen wurden lanciert. Der Klang der Vormoderne war nun fast endgültig verklungen, das Unerhörte der Jahrzehnte zuvor zur Gewohnheit oder zur Belastung geworden. Es mag kein Zufall sein, dass die ersten Versuche der Klangreproduktion in eben diese Zeit fallen. Die Walzen, die Edisons Phonograph ritzte, reproduzierten nicht die Klänge der industriellen Moderne, sondern jene einer verklungenen Zeit: vom Kinderlied Mary had a little lamb über die romantische Dichtung Robert Brownings bis zur unwahrscheinlichen Kombination des Studentenliedes Gaudeamus igitur und der Marseillaise, die niemand anderes als der Eiserne Kanzler Otto von Bismarck auf einer Walze vereinigte. Das neue Medium gewann auf diese Weise geradezu eine nostalgische Funktion. Aus der Retrospektive der 1880er Jahre erscheint dagegen das Zürich Gottfried Kellers als eine eigentümliche Klangwelt des Übergangs. Durch die akustische Differenzierung der einzelnen Klangquellen bleibt diese zwar fest im Hi-Fi-Soundscape Alteuropas verankert, mit den expliziten akustischen Bezügen auf Eisenbahn und Industrie verweist sie aber zugleich schon auf die großstädtische Klangkultur des 20. Jahrhunderts.

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Karin Bijsterveld: Mechanical Sound. Technology, Culture, and Public Problems of Noise in the Twentieth Century, Cambridge, MA / London 2008

Emily Cockayne: Hubbub. Filth, Noise and Stench in England 1600 – 1770, New Haven / London 2007

Alain Corbin: Die Sprache der Glocken. Ländliche Gefühlskultur und symbolische Ordnung im Frankreich des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1995

David Garrioch: Sounds of the City. The Soundscape of Early Modern Towns, in: Urban History 30 (2003) 1, S. 5 – 25

Gottfried Keller: Der grüne Heinrich. Erste Fassung, hrsg. v. Thomas Böning u. Gerhard Kaiser, Frankfurt a. M. 2007

Jan-Friedrich Missfelder: Period Ear. Perspektiven einer Klanggeschichte der Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012) 1, S. 21 – 47

Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009

John M. Picker: Victorian Soundscapes, Oxford 2003

Klaus Saul: Wider die "Lärmpest". Lärmkritik und Lärmbekämpfung in Deutschland, in: Dittmar Machule u. a. (Hrsg.): Macht Stadt krank? Vom Umgang mit Gesundheit und Krankheit, 1996, S. 151 – 192

R. Murray Schafer: Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens, Mainz 2010 [1977]

Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. u. a. 1979

Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften II, Darmstadt 1976

Hillel Schwartz: Making Noise. From Babel to Big Bang and Beyond, New York 2011

Mark M. Smith: Listening to Nineteenth-Century America, Chapel Hill / London 2001

Henry D. Thoreau: Walden. Civil Disobedience and Other Writings, hrsg. von William Rossi, 3. Aufl., New York / London 2008

Nick Yablon: Echoes of the City. Spacing Sound, Sounding Space, 1888 – 1916, in: American Literary History 19 (2007) 3, S. 629 – 660

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Jan-Friedrich Missfelder für bpb.de

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Der Sound aus dem Trichter Kulturgeschichte des Phonographen und des Grammophons

Von Stefan Gauß 5.7.2016

Stefan Gauß, Dr., Kulturhistoriker, Berlin.

[An dieser Stelle befindet sich ein eingebettetes Objekt, das wir in der PDF-/EPUB-Version nicht ausspielen können. Das Objekt können Sie sich in der Online-Version des Beitrags anschauen: http:// www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/sound-des-jahrhunderts/209556/sound-aus-dem-trichter] Ihr Browser unterstützt keine iframes.[An dieser Stelle befindet sich ein eingebettetes Objekt, das wir in der PDF-/EPUB-Version nicht ausspielen können. Das Objekt können Sie sich in der Online-Version des Beitrags anschauen: http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/sound-des-jahrhunderts/209556/ sound-aus-dem-trichter] Ihr Browser unterstützt keine iframes. Auf der Tagesordnung der Monatssitzung des Elektrotechnischen Vereins stand am 26. November 1889 der erste nachweisbare Vergleich zwischen dem Phonographen und dem Grammophon. Versammelt hatten sich im Großen Hörsaal des Kaiserlichen Postfuhramts der Staatssekretär des Reichspostamts Heinrich von Stephan, der Geheime Regierungsrat Werner von Siemens, der Ober-Telegraphen-Ingenieur Grahwinkel sowie weitere Berliner Unternehmer, Ingenieure, Offiziere und Wissenschaftler. Der Telegraphen-Ingenieur des Reichspostamts Müller stellte dem Auditorium den Phonographen vor. Er sprach einige Sätze hinein, die auf eine Wachswalze aufgezeichnet wurden, und spielte diese wieder ab. Über das Hörerlebnis berichtet Költzow, Werkmeister in einer elektrotechnischen Fabrik: "Die Sprache war rein und klar mit etwas Nebengeräusch, jedoch sehr leise, sodass nur die Umstehenden, die sich in nächster Nähe befanden, etwas hören konnten." Emile Berliner führte das von ihm konstruierte Grammophon vor. Költzow schrieb über den Höreindruck: "Als Berliner seinen Apparat in Tätigkeit setzte, entstand ein fürchterliches Geräusch, welches fast unerträglich war, bald aber ertönte eine vollständige Orchestermusik, aus welcher man trotz des Geräusches fast jedes einzelne Instrument heraushören konnte."

Der Ingenieur und Unternehmer Emile Berliner, der 1870 von Hannover in die USA ausgewandert war, hatte sein Grammophon zum ersten Mal am 16. Mai 1888 vorgestellt, und zwar vor Wissenschaftlern des Franklin-Instituts in Philadelphia. Ab Anfang September 1889 befand er sich in Deutschland. Es war seine Absicht, den Bekanntheitsgrad seiner "Erfindung" zu erhöhen und Investoren zu finden. Dazu hielt er Vorträge in Hannover, Berlin und Frankfurt a. M., in welchen er die Funktionstüchtigkeit und den Gebrauchswert des Grammophons demonstrierte und die Technik erläuterte.

Nahezu zur selben Zeit waren der US-amerikanische "Erfinder" und Unternehmer Thomas Alva Edison und sein Assistent Theo Wangemann auf Werbereise für den von Edison entwickelten Phonographen. Er wurde gerade in Paris auf der Weltausstellung gezeigt, wo Edison ihn auch seinem Freund und Geschäftspartner Werner von Siemens vorstellen wollte. Da dieser jedoch verhindert war, schickte Edison Wangemann nach Berlin. Die erste Vorführung des Phonographen vor deutschen Wissenschaftlern fand in den Räumen der Firma Siemens & Halske am 15. September 1889 in Anwesenheit von Edison statt. Wie die Berliner Presse tags darauf berichtete, verwies Edison bei dieser Vorführung auf die Rationalisierungseffekte, die mit dem Gebrauch des Phonographen zum Zweck der geschäftlichen Kommunikation verbunden seien. Wangemann ergänzte, dass die Tonwalze als Ersatz für den geschriebenen Brief dienen könne; er selbst habe in Paris eine Tonaufnahme angefertigt und diese als postillon d’amour an seine Ehefrau in New York geschickt. Wenige Tage nach

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 29 der Vorführung verließ Edison Deutschland wieder Richtung USA.

Thomas Edison, "Mary had a little lamb" vom 12. August 1927

Aufnahme aus Anlass des 50. Jahrestages der Erfindung des Phonographen. Edison demonstriert, wie er 1877 die erste Aufnahme machte. Das Original dieser ersten Aufnahme selbst ist nicht überliefert. (Quelle: archive.org) (https://archive.org/details/EDIS-SCD-02)

Edison hatte gehofft, Kaiser Wilhelm II., Kanzler Otto von Bismarck und Generaloberst Helmuth von Moltke persönlich den Phonographen vorstellen zu können; ein Treffen kam jedoch nicht zustande. Allerdings bekundeten die drei telegrafisch ihr Interesse und so beauftragte Edison Wangemann, seine Promotion-Tour abzubrechen und in Berlin Sprachaufnahmen von Wilhelm II., Bismarck und Moltke zu machen. Edison hatte bereits in den USA damit begonnen, berühmte Personen in den Aufnahmetrichter sprechen zu lassen. Es gehörte zu seinem strategischen Kalkül als Unternehmer, seine "Erfindung" mit diesem PR-Mittel populär zu machen und mit sozialem Prestige aufzuladen. Schließlich war mit dem Phonographen noch keine kulturell legitime und gesellschaftlich verankerte Praktik verbunden, die dem neuen Objekt eine dauerhafte Nutzung und eine Thomas A Edison (r.), Charles Bachelor (m.) and wirtschaftlich tragfähige Kommerzialisierung gesichert hätte. Uriah Painter (l.) stellen in Washington dem amerika­ nischen Präsidenten den Am 23. September war es so weit. Wangemann traf Wilhelm II., der sich Phonographen vor, 1878. vom Phonographen begeistert zeigte, sich den Apparat erläutern ließ und (© picture-alliance, United Archives/TopFoto) Tonaufnahmen anhörte. Allerdings wollte er sich nicht aufnehmen lassen, auch nicht beim zweiten Treffen am übernächsten Tag. Stattdessen zeichnete Wangemann die Stimme des 7-jährigen Kronprinzen Wilhelm, der das Lied Heil dir im Siegerkranz zum Besten gab, und die seiner jüngeren Brüder Eitel Friedrich und Adalbert auf jeweils einer Walze auf. Die Reproduktion des vom Kronprinzen intonierten Liedes hörte zwei Wochen später Bismarck, als ihn das Ehepaar Wangemann auf seinem Schloss in Friedrichsruh bei Hamburg besuchte. Nachdem Bismarck verschiedene Tonaufnahmen angehört hatte, sprach er selbst in den Aufnahmetrichter.

"Diese neue Erfindung des Herrn Edison ist in der Tat staunenswert"

Moltke hörte die Aufnahme von Bismarck am 21. und 22. Oktober. Das Ehepaar Wangemann befand sich auf der Reise nach Wien und legte bei Moltke einen Zwischenstopp ein. Moltke besprach mehrere Walzen. Unter anderem sprach er das neue Handlungspotenzial an, das mit der technischen Reproduktion von Schall verbunden war: "Diese neue Erfindung des Herrn Edison ist in der Tat staunenswert. Der Phonograph ermöglicht, dass ein Mann, der schon lange im Grabe ruht, noch einmal seine Stimme erhebt und die Gegenwart begrüßt."

Das Neue an Phonograph und Grammophon war, dass sie den flüchtigen Schall in eine materielle, dauerhafte und reproduzierbare Spur verwandelten. Dies bedeutete zugleich, dass der Schall in der technischen Reproduktion die Bindung an seinen Ursprung verlor: Der Apparat spaltet das gesprochene Wort vom Körper des Sprechers ab, die Musik aus einer Posaune vom Instrument und das Geklapper der Pferdehufe von den Pferden, dem Straßenpflaster und dem Stadtraum, in dem sich dies alles abspielt. Zeit und Raum wurden neu geordnet. Einige der Zeitgenossen, die die Spezifik der technischen Reproduktion von Schall zu bestimmen versuchten, verglichen den Phonographen und das Grammophon mit dem Planspiegel, dem Telefon, der optischen Linse oder dem mechanischen Musikapparat.

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Moltke Tonaufnahme, 21.10.1889

Helmuth Karl Bernhard von Moltke, Kreisau, 21. Oktober 1889 (Quelle: YouTube) (https://www.youtube. com/watch?v=OythrZ5_sdQ)

Der technischen Reproduktion von Schall wurde zugeschrieben, sie überwinde Raum und Zeit, die Zeit jedoch nur in Richtung Zukunft, da Aufnahmen von bereits vergangenen akustischen Ereignissen nicht möglich waren. Obschon die modernen Verkehrsmittel Eisenbahn und Automobil das Verhältnis von Raum und Zeit gleichfalls revolutionierten, erschien den Zeitgenossen der Phonograph und das Grammophon mehr als eine Art "Zeitmaschine", die einen zeitlosen Raum der Ewigkeit erzeugt. Dieser "Raum der Ewigkeit" sichert der von Moltke angeführten "Stimme aus dem Grab" ihre die Zeit überdauernde Aktualität, so wie allen anderen Stimmaufzeichnungen, die als historische Spur bis heute erhalten geblieben und für uns wie für zukünftige Generationen von Hörern gegenwärtig sind – zeitgemäß technisch "up to date" als MP3-Files im Internet zugänglich gemacht.

Der Weg in die Kommerzialisierung

Während Wangemann seine Reise fortsetzte und weitere Stimmporträts berühmter Personen sammelte, verkündete Berliner dem Auditorium im Berliner Postfuhramt, dass Edisons Phonograph technisch bereits am Ende sei, sein Grammophon hingegen noch ganz am Anfang der Entwicklung stehe. Er führte in seiner Betrachtung die von Költzow geschilderten Höreindrücke auf die unterschiedlichen technischen Bedingungen der beiden Apparate zurück.

Die Unterschiede in den technischen Funktionsprinzipien wie in der Form des Tonträgers hatten für die Nutzungskonzepte und die Vermarktungschancen der zwei Apparate weitreichende Folgen. Edison sah im Phonographen in erster Linie einen neuen Büroapparat, der in der Lage sein würde, im Verbund mit Telefon und Schreibmaschine die Kommunikation zu rationalisieren. Als sein Apparat in den USA erfolgreich als Münzphonograph vermarktet wurde, protestierte Edison dagegen; der Münzphonograph spielte, nachdem man Geld eingeworfen hatte, vorbespielte Tonwalzen ab, die mit Hilfe von Hörschläuchen angehört werden konnten. Berliner wiederum war der Ansicht, dass die Zukunft der Tonaufzeichnung im Unterhaltungsbereich liege. Deshalb sah er in der umständlichen und teuren Vervielfältigung der Tonwalzen den entscheidenden Schwachpunkt des Phonographen und verzichtete beim Grammophon auf die Funktion der Selbstaufnahme.

Wenngleich sich Berliners Standpunkt im Nachhinein als hellsichtig erwies, blieb aus Sicht seiner Zeitgenossen, die sich an der Kommerzialisierung der Apparate beteiligten, offen, welches der beiden Nutzungskonzepte sich zukünftig als marktfähig erweisen würde. Das Beispiel des Werkmeisters Költzow kann das Problem verdeutlichen. Költzow, seit besagter Monatssitzung des Elektrotechnischen Vereins enthusiastischer Protagonist der Tonaufzeichnung, experimentierte zunächst mit dem Grammophon, entschied sich letztlich jedoch für den Phonographen, weil er einem Gerät, das Schall sowohl aufnehmen als auch wieder abspielen konnte, bessere Marktchancen zuschrieb als einem bloßen Wiedergabeapparat. Also konstruierte er einen eigenen Phonographen und eröffnete 1890, wie er 1913 rückblickend berichtete, die "erste deutsche Phonographenfabrik in Berlin".

Galerie: Grammophon

Die Zwei-Mann-Firma, zu der neben Költzow noch der Klavierspieler Bahre gehörte, kaufte von der Columbia Phonograph Company "Baby"-Apparate und versah diese mit einem Glasgehäuse und einer umlaufenden Halterung, an die ein Dutzend Hörschläuche angebracht wurden. Die so ausgestatteten Apparate wurden dann an Schausteller teuer weiterverkauft. Als Költzows und Bahres rechte Hand fungierte der Schlosser Paul Pfeiffer. Dieser gründete gemeinsam mit seinem Schwager, dem Mechaniker Carl Lindström, in den 1890er Jahren die Firma "Pfeiffer & Lindström, Mechanische Werkstatt für Neuheiten und Massenartikel jeder Art". Aus der Werkstatt ging 1908 die Lindström AG

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 31 hervor, ein als Global Player auf dem Weltmarkt agierender Konzern.

Das enorme Wachstum der Phonoindustrie war eingelagert in den Kontext der zweiten Industriellen Revolution mit ihren Leitsektoren Elektrotechnik und Chemie. Seit den 1880er Jahre herrschte eine allgemeine Prosperitätsphase und die zunehmende Verbreitung der modernen Kommunikations- und Transportmittel sorgte für einen Globalisierungsschub. Der Aufstieg der Phonoindustrie vollzog sich in mehreren Ländern gleichzeitig, vor allem aber in den USA, in Frankreich, in England und in besonderem Maße in Deutschland. Denn die deutsche Phonoindustrie stieg als Teil der "New Economy" der Kaiserzeit vor 1914 zum Weltmarktführer und Exportweltmeister auf. Konzerne wie die Lindström AG und die Deutsche Grammophon-Gesellschaft unterhielten zahlreiche internationale Produktionsstätten und ein weltumspannendes Zeitschriftenwerbung für Grammophone, 1902 (© picture- Handelsnetz. alliance/akg) Berlin war die Hauptstadt der Phonoindustrie. Hier, im Exportviertel rund um die Ritterstraße hatte sich eine große Zahl an Betrieben angesiedelt oder eine Niederlassung eröffnet. Zudem bot die Musikkultur genügend Gelegenheiten für Tonaufnahmen – beispielsweise nahm die Deutsche Grammophon den Star-Tenor Enrico Caruso bei einem Gastaufenthalt auf – und die Berliner Bevölkerung eignete sich als Testmarkt für die neuen Produkte.

Der Phonograph spielte für das Wachstum der Phonobranche indes kaum eine Rolle. Zwar verbesserten technische Innovationen die Möglichkeit, Tonwalzen in industrieller Fertigungsweise zu vervielfältigen, und relativierten so den Vorteil der Schallplatte in diesem Punkt ein wenig. Jedoch glichen umgekehrt technische Verbesserungen, insbesondere die Verwendung von Schellack ab Oktober 1896, Schwächen der Schallplatte gegenüber der Tonwalze aus. Die Möglichkeit, Aufnahmen anzufertigen, blieb zwar weiterhin die Domäne des Phonographen. Jedoch machten die Konsumenten davon kaum Gebrauch, weshalb die technische Vorrichtung für die Selbstaufnahme schließlich nur noch auf Wunsch geliefert wurde.

Der Absatz des Phonographen ging nach 1900 kontinuierlich zurück. Die Lindström AG nahm ihn 1907 aus ihrem Angebot und Edison stellte die Herstellung 1913 ganz ein. Lediglich bei Diktierapparaten und anderen Spezialkonstruktionen wurde das System des Phonographen mit Selbstaufnahmemöglichkeit fortgeführt.

Neue Handlungsmöglichkeiten und der Zwang zur Perfektion

Die Ausbreitung und Etablierung der Phonoindustrie hatte massive Auswirkungen, und zwar vor allem auf die Musikkultur. Mit der Verbreitung der Schallplatte ließ sich die Popularität eines Komponisten, Sängers oder Musikers in bislang unbekannter Weise steigern und mit den Tantiemen aus dem Verkaufserlös eines "Schlagers" konnte man über Nacht reich werden. Zugleich hatten sich die Künstler den Bedingungen des Aufnahmeverfahrens im Tonstudio und dem Toningenieur als bestimmendem Akteur zu unterwerfen. Für die Künstler bedeutete die Tonaufnahme zunächst die Aneignung und Einübung von Disziplin und die Kontrolle ihrer Affekte. Die gewohnten wie spontanen Bewegungen des Körpers, die selbstverständlicher Teil des künstlerischen Ausdrucks waren, hatten meist Schwankungen in der Lautstärke zur Folge und in einigen Fällen beendeten ausufernde Armbewegungen vorzeitig die Aufnahme, weil dadurch die Aufnahmeapparatur in Mitleidenschaft gezogen wurde.

Eine Aufnahme ließ sich weder wie der Film "schneiden" und neu montieren noch nachbearbeiten. Daher durften den Beteiligten über die gesamte Aufnahmedauer keine Fehler unterlaufen. Da man die unterschiedlichen Lautstärken und Dynamiken der Instrumente und des Gesangs nicht "aussteuern"

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 32 konnte, mussten die Akteure je nach Klangintensität ihrer Instrumente in unterschiedlichen Abständen zum Aufnahmetrichter stehen; zugleich mussten sie alle möglichst nahe an diesen heranrücken, was zu äußerst gedrängten Anordnungen führte. Noch schwieriger wurde es für die Musiker, wenn die Anordnung, bedingt durch die vom Musikstück geforderte wechselnde Tondynamik, im Laufe der Aufnahme geändert werden musste.

Die Sängerin Frieda Hempel, von 1907 bis 1912 an der Berliner Hofoper engagiert, schilderte ihre Erlebnisse während ihrer allerersten, 1907 für die Odeon eingespielten Aufnahme. Als sie singen sollte, so Hempel, habe ihr jemand als Zeichen in den Rücken "geknufft" und wenn ihre Partitur kräftigere Töne verlangte, habe einer der Techniker sie am Rock gezogen, damit sie vom Aufnahmetrichter zurücktrat. Bei leiseren Tönen sei sie dann mit entsprechender Energie wieder an den Trichter herangeschoben worden: "Bei diesem handgreiflichen Verfahren die musikalische Kontinuität zu wahren, fiel nicht leicht. Die Aufnahmen mussten sehr oft wiederholt werden, weil die Stimme nicht gleichmäßig war. Und wenn eine Aufnahme wirklich glückte, dann zerbrach womöglich die Platte."

Fotografie der deutschen Sängerin Frieda Hempel Ferner bedeutete die Tonaufzeichnung für die Künstler, dass sie nicht, wie (1885-1955). Zu ihren im Konzert, für ein begrenztes und präsentes Publikum spielten. Der "ewig" bekannten Liedern gehören Die Stimme von Portici und auf dem Tonträger aufgezeichnete Schall richtete sich nunmehr an ein Die Regimentstochter. imaginäres Publikum, das für den Künstler örtlich und zeitlich entgrenzt, Undatierte Aufnahme. (© picture-alliance/dpa) sozial indifferent und quantitativ unbestimmt erschien. Man sang, musizierte und rezitierte vor einem potenziell in die Zukunft kommender Generationen verlängerten Weltpublikum. Einer Mehrheit der Künstler schien dies nichts auszumachen, ein Teil reagierte jedoch mit einer "Trichterfurcht"; eine Furcht, die selbst bühnenerprobte und im Repertoire gefestigte Künstlerinnen und Künstler ereilte, sodass sie, als es darauf ankam, versagten. Toningenieure berichteten von Fällen, die an einen Blackout erinnern, einem durch Stresserfahrung blockierten Gedächtnis.

Das Spielen für die "Ewigkeit", gepaart mit der Unmöglichkeit, eine fehlerhafte Aufnahme wiederholen zu können, zwang zur künstlerischen Perfektion. Besonders eindrucksvoll schildert der Pianist Artur Schnabel 1932 sein Leiden während der Aufnahmen von Beethovens Sonaten in London. Für Schnabel war es das erste Mal, dass er Aufnahmen für Tonträger einspielte. Den "Verplattungsvorgang" hielt der Pianist für eine "Zerstörung durch Erhaltung". Was nicht sterben könne, habe nie gelebt, so Schnabel. Die Unvollkommenheit der vom Menschen erschaffenen Maschine tue dem Menschen Gewalt an, indem die "armselige Technik" ihn zwinge, fehlerfrei zu sein, was aber nicht gelingen könne. Schnabel schrieb, dass er sich nach den Aufnahmen nahe am Nervenzusammenbruch befunden habe. Ihn überfiel das Gefühl der Scham angesichts seiner menschlichen Leistung, die er gegenüber der unbedingten Perfektion, zu der ihn die Maschine zwang, nur noch als unzulänglich wahrnehmen konnte.

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 33 Der Hörer vor dem Trichter

Der Phonograph und das Grammophon veränderten nachhaltig die Möglichkeiten, Musik zu hören. Sie erlaubten das Hören in gänzlich neuen Bezugsverhältnissen und eröffneten damit Hörformen, die der konzertanten Aufführung verschlossen blieben. So ließ sich das Hören von Musik individualisieren und intensivieren; Musik wurde "näher" erlebt.

Phonograph und Grammophon nahmen den Schall nicht einfach auf und gaben ihn wieder, sondern formten die akustische Wirklichkeit um und ersetzten sie durch eine neue. In Frage gestellt wurden mit der reproduzierten akustischen Wirklichkeit die überkommenen Wahrnehmungsweisen. Was war eine angemessene Wahrnehmung? Nach welchen Maßstäben sollte der Sound aus dem Trichter beurteilt werden? Was ist ein schöner Ton? "Entzückende Heroldnadeln überall zu haben". Rekla­ Zunächst wurde die Reproduktion nach dem Grad ihrer Übereinstimmung memarke der Firma mit dem Original beurteilt. Aus diesem Blickwinkel versprachen Phonograph Heroldwerk Nürnberg, um 1915 (© picture-alliance/ und Grammophon Wiedergabetreue im Sinne von Authentizität und akg) Detailgenauigkeit. Doch ist dieses Ideal prinzipiell nicht erreichbar. Die Reproduktion repräsentiert das Original lediglich aufgrund der Ähnlichkeit, die sie mit ihm hat.

Zur "Treue zum Original" wurde um 1910 eine Gegenposition entworfen, deren Apologeten dafür eintraten, dass der "Phonographenton" als etwas Eigenständiges zu betrachten sei und nicht am Original gemessen werden dürfe. Vielmehr stünde er für sich und besitze das Potenzial zu einer eigenen Schönheit, die unter bestimmten Umständen sogar geeignet sei, diejenige des Originals zu übertreffen.

Was als "schön" empfunden werden konnte, hing nicht nur vom Klang der Apparate ab, sondern in hohem Maße auch vom Gebrauch, den der Hörer von seinen Sinnen machte. Besonders die Imagination beeinflusste das Hörerlebnis. So plädierte 1924 der österreichische Dramatiker und Journalist Rudolf Lothar in seiner Abhandlung Die Sprechmaschine dafür, dass der Hörer für die genussvolle Aneignung von Schallplattenmusik seine "Illusionskraft" ausbilden und nutzen solle. Mit dieser Kraft ließen sich die unerwünschten Nebengeräusche des Apparats unterdrücken und gleichzeitig das Gehörte mit den Genuss steigernden Vorstellungen, inneren Bildern und Phantasien anreichern. Lothar ebnete mit seinem Konzept der "Illusionskraft" – zumindest theoretisch – dem Bildungsbürgertum den Weg zur Schallplattenmusik, der es eher zurückhaltend bis ablehnend gegenüberstand.

Der Gebrauch der Sinne bildete nicht nur die Voraussetzung für die Aneignung von Schallplattenmusik, sondern konnte im Kontext des Habitus des Musikhörers auch als Ausdruck der musikalischen Bildung und sozialen Distinktion gelesen werden. Vor allem der Blick des Hörers galt als ein Indikator für die Zugangsweise zur Musik: Der musikalisch ungebildete Hörer bevorzuge Apparate mit großem Schalltrichter, den er mit dem Besitzerstolz des "kleinen Mannes" anstarre, während man den kunstsinnig genießenden Musikkenner daran erkenne, dass er den Blick zum Apparat vermeide, womöglich sogar wie im Konzert zur Intensivierung des Erlebnisses die Augen schließe und Apparate bevorzuge, die sich als Möbel visuell in den Stil der Wohnungseinrichtung einfügten, ohne ihren eigentlichen Zweck preiszugeben. Insbesondere die sogenannten trichterlosen Apparate mit einer im Gehäuse integrierten Schallführung kamen dem Bedürfnis nach der Unsichtbarkeit der Schallquelle entgegen.

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 34 Rationalisieren, Analysieren, Archivieren, Lernen

Die mit dem Phonograph und dem Grammophon verbundenen Aneignungs- sowie Umgangsweisen erstreckten sich nicht allein auf den Zweck der Unterhaltung. Parallel hatten sich eine Vielzahl weiterer Nutzungen unterschiedlichster Art in verschiedenen Bereichen des Arbeitslebens, der Wissenschaft und der Bildung herausgebildet. Im Arbeitsleben wurde der Phonograph als Diktierapparat eingesetzt, in Parlamenten zur Aufzeichnung und Transkription von Reden, in Unternehmen und von Selbstständigen zur Flexibilisierung und Rationalisierung von Schreibarbeit. In den Fabriken diente Grammophonmusik zum Eintakten zumeist eintöniger Arbeiten sowie zur Zerstreuung der Arbeiter und Angestellten.

In den Wissenschaften verwendeten Forscher den Phonographen als ein neues Medium zur Fixierung akustischer Phänomene, die sich mithilfe der Apparatur mit neuen Methoden eingehend analysieren ließen. Die Forschungen in der vergleichenden Musikwissenschaft basierten auf dem Phonographen, der die Möglichkeit zu neuartigen ethnologischen Studien bot. Die Tonwalze als neue Quellengattung gestattete das Sammeln und Archivieren akustischen Materials; die Notwendigkeit dazu begründeten Vertreter der Volkskunde beispielsweise mit dem Hinweis auf das drohende Verschwinden ursprünglicher kultureller Ausdrucksformen. Sie argumentierten kulturpolitisch, dass gerettet werden müsse, "was zu retten ist", bevor der unaufhaltsame technische Fortschritt weltweit die egalitäre westliche Zivilisation verbreitet und alle regionalen Eigentümlichkeiten hinweggefegt habe.

Sprachwissenschaftler hofften indes, mit dem Phonographen auf das generative Prinzip der Sprache zu stoßen; Ärzte nahmen Körpergeräusche zu Schulungszwecken auf. Zahnärzte wiederum boten ihren Patienten an, sie mit Musikbegleitung vom Grammophon zu behandeln, da dies die Schmerzwahrnehmung reduziere.

Im Bildungsbereich dienten Sprachschallplatten zur Schulung der richtigen Aussprache beim Erwerb von Fremdsprachen; Musik- und Gesangslehrer nutzten Phonograph und Grammophon, um ihre Schüler besser auf Fehler aufmerksam machen zu können oder um ihnen Beispiele vorbildhafter Musik vorzuspielen.

In der Ausbildung von Stenotypistinnen diente Grammophonmusik als Taktgeber für das Tippen. In den frühen Kinos setzte man besonders laut spielende "Starktonapparate" zur Pausengestaltung, Vertonung oder akustischen Begleitung der Filmvorführungen ein. Und im Berliner Öffentlichen Nahverkehr dachte man darüber nach, ob nicht ein Phonograph die Ansagen des Schaffners übernehmen könne.

Vom ersten funktionstüchtigen Phonographen von 1877 und den darauf folgenden Objekten zur technischen Reproduktion von Schall, von ihrer industriellen Herstellung wie ihrer massenhaften Aneignung und ihrem Gebrauch sind tief greifende und alltagsbezogene Veränderungen ausgegangen. Die Fähigkeit, Schall aufzeichnen und wiedergeben zu können, ist seither auf immer neue Objektgenerationen übergegangen – bis zu den heutigen digitalen Abspielgeräten. Die Geschichte dieser Objekte der "industriellen Massenkultur" (Wolfgang Ruppert) verdeutlicht, wie sich an ihnen Prozesse der Produktion, der Nutzung und der Sinngebung festmachen, die in neue Lebensweisen und Lebenswelten münden.

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 35 Lesen

Edison in Berlin, in: Berliner Presse, 16.9.1889

Edison in Frankfurt a. M., in: Frankfurter Zeitung, 17.9.1889

Thomas A. Edison Papers Project, http://edison.rutgers.edu (http://edison.rutgers.edu), Digital Edition, Document-ID:SC89157A

Elektrotechnische Zeitschrift, hrsg. vom Elektrotechnischen Verein, 10 (1889) 23, S. 552 – 554 u. 10 (1889) 21, S. 472

Stefan Gauß: Nadel, Rille, Trichter. Zur Kulturgeschichte von Phonograph und Grammophon in Deutschland (1900 – 1940), Köln u. a. 2009

Werner Grünzweig (Hrsg.): Artur Schnabel: Musiker, Musician, 1882 – 1951 (Ausst.-Kat.), Hofheim 2001

Frieda Hempel: Mein Leben dem Gesang. Erinnerungen, Berlin 1955

Erich Moritz von Hornbostel: Die Probleme der vergleichenden Musikwissenschaft, Vortrag, gehalten in der Ortsgruppe Wien der Internationalen Musikgesellschaft (IMG) am 24.3.1905, in: Zeitschrift der Internationalen Musikgesellschaft 3 (1905) 7, S. 85 – 97;

A. Költzow: Aus der Entstehungsgeschichte der Sprechmaschine, in: Die Sprechmaschine 9 (1913) 21, S. 409 f.

Wilhelm Kronfuss: Studien über den Stil von Phonographen und Phonogrammen, in: Phonographische Zeitschrift 10 (1909) 17, S. 448 f.

Rudolf Lothar: Die Sprechmaschine, Leipzig 1924

N. N.: Die Liebe zur Musik, in: Die Sprechmaschine 3 (1907) 3, S. 42 ff.

Stephan Puille: Fürst Bismarck und Graf Moltke vor dem Aufnahmetrichter. Der Edison-Phonograph in Europa, 1889 – 1890 (Version vom 30.1.2012 mit Ergänzungen vom 1.2.2012), in: The Cylinder Archiv; www.cylinder.de (http://www.cylinder.de)

Georg Rothgiesser: Akustische Wissenschaft und phonographische Technik, in: Phonographische Zeitschrift 14 (1913) 12, S. 309 – 312

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Stefan Gauß für bpb.de

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 36

Signum des Urbanen Geräusch und Lärm der Großstadt um 1900

Von Peter Payer 5.7.2016

Peter Payer, Dr., Inhaber eines Büros für historische Stadtforschung, Kurator im Technischen Museum Wien

"Hunderte Töne waren zu einem drahtigen Geräusch ineinander verwunden, aus dem einzelne Spitzen vorstanden, längs dessen schneidige Kanten liefen und sich wieder einebneten, von dem klare Töne absplitterten und verflogen. An diesem Geräusch, ohne dass sich seine Besonderheit beschreiben ließe, würde ein Mensch nach jahrelanger Abwesenheit mit geschlossenen Augen erkannt haben, dass er sich in der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien befinde." Diese Zeilen aus Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften drücken paradigmatisch die gestiegene Aufmerksamkeit aus, die die Menschen zur Jahrhundertwende der großstädtischen Lautsphäre entgegenbrachten.

Die rasanten sozialen, technischen und wirtschaftlichen Veränderungen, denen die Städte im Gefolge von Industrialisierung und Urbanisierung ausgesetzt waren, hatten eine Flut an neuen Geräuschen mit sich gebracht, die von vielen erst adaptiert werden mussten. Dem renommierten Musikkritiker Richard Batka schien die neue Lautkulisse wie ein fortwährendes "Tohuwabohu". Die Städte waren groß und laut geworden, das war für alle unüberseh- und unüberhörbar. Die "Brandung der Großstadt"

Je größer die Städte wurden, umso schwerer ließen sich Ausdehnung und Vielfalt einer Metropole mit den Sinnen fassen. Angesichts einer sich ins schier Unendliche erstreckenden Masse an Häusern entwarfen Reiseschriftsteller und Literaten das Bild vom "Häusermeer". Der Mensch erschien in der Großstadt, so empfanden es viele, nur mehr wie ein "Tropfen im Ozean", fortgerissen vom Strom der Massen. Auf akustischer Ebene fand dieses Bild seine Entsprechung in der Metapher von der "Brandung der Großstadt", einem deutlich vernehmbaren "Brausen" und "Rauschen", einem "Getöse", das den Eindruck einer andauernden, diffusen, scheinbar unaufhaltsam hin und her wogenden Geräuschkulisse vermittelte.

Die Metapher vom Meeresrauschen, die wohl aufs Deutlichste die Entstehung der urbanen Massengesellschaft widerspiegelt und sich demzufolge in der Beschreibung fast aller Großstädte findet, drückt auch eine generelle Verschiebung in der literarischen Stadtwahrnehmung im Übergang vom Realismus zum Naturalismus aus: weg vom visuell dominierten "Guckkastenbild" mit seinen klar abgegrenzten Einzelausschnitten hin zum akustisch dominierten "Lautbild", in welchem der polyphone Lärm der Großstadt eingefangen wird. Wie der Literaturwissenschaftler Heinz Brüggemann gezeigt hat, wirkte die alle Sinne überwältigende Metropole, ob um 1800 London und Paris oder um 1900 Berlin und Wien, stets wie ein Schock, der erst einmal bewältigt werden musste. Es war eine völlig neue Erfahrung des Einzelnen mit der Masse, eine Erfahrung der Aufhebung der Grenzen der Person, des Körpers gegenüber dem vielstimmigen, vielarmigen Wesen großstädtischer Menge.

Vor allem für vom Land Zugewanderte, die die Geräusche des Dorfes oder der Kleinstadt noch im Ohr hatten, war die neue Lautsphäre überaus gewohnheitsbedürftig. Etwa für den Mitte der 1880er Jahre als Wandergeselle nach Wien kommenden Ferdinand Hanusch: "Nun war ich in diesem großen Ameisenhaufen selbst eine Ameise […]. Die großen Häuser, die großen Auslagen, die vielen Menschen, die an mir vorübereilten, ohne sich um mich zu kümmern, die dahinrasenden Fiaker und die auf dem

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Pflaster polternden Omnibusse, die Pferdetramway mit ihrem Geklingel und die schimpfenden Fuhrwerkleute, alles das erzeugt einen solchen Lärm, den der Großstädter wohl gewöhnt, der aber auf den zum ersten Male in eine Großstadt Kommenden so niederdrückend wirkt, dass er den letzten Rest von Mut verliert, weil es ihm unmöglich scheint, sich in diesem Leben und Treiben zurechtzufinden."

Verunsicherung und Orientierungslosigkeit, aber auch Staunen und Bewunderung prägten die Auseinandersetzung mit einer Lautsphäre, deren Dichte und Intensität man bisher nur aus dem Bereich der Natur, der wogenden, überschäumenden Gewalt der Elemente, gekannt hatte.

Der Lärm der Straße

Vor allem die Straße entwickelte sich zum urbanen "Hör-Platz" par excellence. Ihr verändertes akustisches Gewand symbolisierte aufs Deutlichste den Beginn einer neuen Zeit. Die rasante Steigerung der Verkehrsdichte hinterließ beinahe überall ihre akustischen Spuren: das Getrappel der Pferde und Zugtiere, das Gerassel und Knarren der Kutschen, das Geschrei der zahllosen umherziehenden Händler und Gewerbetreibenden bis hin zum Rattern und Fauchen der Eisenbahnen, dem ohrenbetäubenden Motorengeräusch der ersten Automobile und den alles zu übertönen suchenden Signalgeräuschen (Hupen, Peitschenknallen, Kutschergeschrei, Fahrradgeklingel). Und zu all dem gesellte sich noch ein ganz spezielles Geräusch: das der Straßenbahnen.

Mit der Ausdehnung der Städte wurde es notwendig, das Umland an das jeweilige Zentrum stärker anzubinden. Als leistungsfähiges und billiges Massenverkehrsmittel etablierte sich zunächst die Pferdestraßenbahn, die schließlich zur Jahrhundertwende von der elektrifizierten Straßenbahn abgelöst wurde. Die Nutzung der elektrischen Energie für den Antrieb von schienengebundenen Fahrzeugen bedeutete eine Revolution im innerstädtischen Verkehr. Leichte Wagen mit großer, mühelos regulierbarer Antriebskraft bewirkten eine enorme Steigerung der Kapazität und Geschwindigkeit – mit weitreichenden akustischen Folgen. Denn an die Stelle von Pferdegetrappel trat das Motorengeräusch und durch die höhere Geschwindigkeit wurde das Rattern und Sausen, Kreischen und Quietschen der Schienen und Waggons nunmehr so richtig dominant. Zeitgenossen sprachen lautmalerisch vom "Wimmergeheul der Elektrischen". Begleitet wurden diese Fahrgeräusche von einem beständigen Glockengebimmel bei der An- und Abfahrt an den Haltestellen.

Dieser mechanisch-technische Geräuschkomplex avancierte zum "klassischen" akustischen Zitat der modernen Großstadt, zu einem Lautgemenge, das nur hier und nirgends sonst anzutreffen war. An- und abschwellend durchlief es die Großstadt von frühmorgens bis spätabends. Die radikal veränderte materielle und akustische Realität der Straße wurde zum Thema vieler Stadtbeschreibungen. So bemerkte etwa der Schriftsteller und Essayist Robert Michel, der lange Zeit in der Provinz gelebt hatte und 1910 erstmals wieder nach Wien zurückkehrte, dass eine früher so einfache Sache wie das Überqueren der Straße zur ohrenbetäubenden und nervenaufreibenden Angelegenheit geworden sei.

In Berlin konnte man ganz ähnliche Erfahrungen machen, wie ein Zeitgenosse berichtete: "Die elektrischen Wagen und die Trams bilden eine ununterbrochene Linie. Wagen aller Art, Droschken, Drei- und Zweiräder zu Hunderten fahren neben-, vor-, hinter- und oft aufeinander, das Läuten aller dieser Vehikel, das Rasseln der Räder ist ohrzerreißend, der Übergang der Straßen ein Kunststück für den Großstädter, eine Pein für den Provinzler."

Das gesteigerte Verkehrsgeschehen in den Metropolen zwang nicht nur dem Einzelnen neue Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen auf, sondern revolutionierte auch das Stadt- und Straßenbild und schuf einen völlig neuen akustischen Raum. Die für den Verkehr notwendige Befestigung des Bodens und die höher wachsende Bebauung ließen eine steinerne Stadtlandschaft entstehen, mit zum Zentrum hin immer tiefer werdenden "Straßenschluchten" und einer eigenen Akustik, bei der die Schallimpulse von den Begrenzungswänden der U-förmigen Straßenräume vielfach gebrochen und reflektiert wurden. So war neben dem Direktschall stets auch ein diffuses Schallfeld wahrnehmbar,

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 38 dessen Intensität nach oben hin zunahm, ehe es über die Stadtoberkante entwich. Ein relativ hoher Grundgeräuschpegel und der bereits erwähnte Verlust der akustischen Trennschärfe waren die Folgen.

Die Zeitgenossen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts suchten schon bald Erklärungen für die veränderte Akustik in der Großstadt. So sprach etwa der Publizist Heinrich Weruer von Wien als einem "steinernen Gefäße, […] aus dem der Lärm nicht mehr entweichen kann"; ganz ähnlich entwarf auch die Schriftstellerin und Journalistin Emmy von Dincklage das Bild vom schwer entrinnbaren Gefängnis, das mehr oder weniger jede Stadt in akustischer Hinsicht darstelle: "Die wild erregten Luftwellen toben und branden gegen die Hausmauern, jagen vor- und rückwärts, einen Ausweg suchend, wie die Gewässer in einem Kanal und erlauben niemandem, ihnen zu entgehen, der nicht etwa in einem Luftballon in stillere Regionen aufsteigt."

Klangkollisionen

In der Zeit von der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg etablierte sich mit der Motorisierung des Straßenverkehrs eine neue akustische Qualität. Die sausende und tosende "Fahrmaschine", das künstlich geschaffene "wildgemachte Unorganische", so ein Zeitgenosse polemisch, begann die Stadt zu beherrschen. Das Motorengeräusch brachte eine neue Facette in die städtische Lautsphäre. Denn die maschinell erzeugten Laute waren monoton und kontinuierlich, ohne Individualität und die in der Natur üblicherweise ausgeprägten Phasen des Entstehens, Anschwellens und Verklingens. Der Klangforscher R. Murray Schafer spricht in diesem Zusammenhang von flach verlaufenden Schallwellen oder Wanderwellen. Die anhaltenden, mehr oder weniger abrupt beginnenden und endenden Laute, von der industriellen Revolution eingeführt und von der Elektrotechnik ausgeweitet, verkörpert im Rhythmus der Dampfmaschinen wie im Brummen der Motoren, wurden zum dauerhaften Grundton der Zivilisation. Er bestand nach einer Schätzung Schafers schon bald nur noch zu rund 30 Prozent aus Natur- und Menschenlauten, mehrheitlich – zu 70 Prozent – setzte er sich nun aus Werkzeug- und Maschinengeräuschen zusammen.

Ein tragisches Unglück, das im Sommer 1894 ein Mitglied des österreichischen Kaiserhauses ereilte, brachte den akustischen Umbruch auf den Straßen drastisch ins Bewusstsein. Erzherzog Wilhelm residierte wie gewöhnlich den Sommer über in Baden bei Wien, wo die dortige Tramwaygesellschaft gerade ihren Betrieb auf Elektrizität umstellte. Vorsorglich ging der 67-jährige Wilhelm daran, seine Pferde an die neue Geräuschkulisse zu gewöhnen. Schon eine Woche vor der feierlichen Eröffnung der Elektrischen ließ er seine Tiere einen Probezug begleiten, was ohne Probleme vor sich ging. Zwei Wochen danach wollte Wilhelm sein Übungsprogramm fortsetzen. Er bestieg seinen Fuchswallach und begab sich zur Bahnabfahrtsstelle. Als sich eine Elektrische näherte, machte der vom Lärm erschreckte Wallach einen kräftigen Sprung vorwärts und warf seinen Reiter ab. Dieser verfing sich mit einem Fuß im Steigbügel und wurde vom davongaloppierenden Pferd einige Meter mitgeschleift, ehe er bewusstlos liegen blieb. Für den am Kopf schwer verletzten Erzherzog gab es keine Rettung mehr, er starb nur wenige Stunden später. Die Schreckensnachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Kaiser Franz Joseph I. brach seinen Sommerfrischeaufenthalt in Bad Ischl ab, die Zeitungen brachten große Berichte über dieses so unglückliche Ereignis.

Bei einer anderen revolutionären Erfindung jener Jahre, dem Automobil, zeigte sich dieselbe Problematik. Viele der frühen Automobilisten mussten feststellen, dass es nicht möglich war, mit dem Auto – selbst im langsamsten Tempo – an einem Pferd vorbeizufahren. Scheuende Tiere sprangen gegen die Wagen, versperrten die Straße, gingen rückwärts oder rasten ängstlich kreuz und quer. Unisono verwiesen die Automobilisten auf den Gewöhnungseffekt, der sich früher oder später einstellen werde. Um dem nachzuhelfen, bediente man sich mitunter eigenwilliger Hilfsmittel. So montierte ein erfinderischer Autolenker einfach einen Pferdekopf an der Front seines Wagens, in der Hoffnung, damit die Gäule friedlich zu stimmen. Zeitungen und Automobilzeitschriften veröffentlichten Verhaltenstipps für Autobesitzer: "Sobald die Pferde auch nur leise Zeichen der Angst wahrnehmen lassen, bringe man den Wagen zum Stehen, steige aus und nähere sich mit beruhigendem Zurufen, klopfe die Pferde

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 39 mit der flachen Hand am Halse und reiche ihnen ein Stück Zucker oder Brot."

Der Machtkampf auf der Straße war somit auch in akustischer Hinsicht offenkundig. Ein Anpassungs- und Verdrängungsprozess hatte begonnen, aus dem das Auto schließlich als Sieger hervorgehen sollte. Erfahrungen aus verschiedenen Großstädten zeigten, dass die Lösung des Problems tatsächlich nur eine Frage der Zeit war. Über das im Vergleich zu Wien weit stärker motorisierte Berlin hieß es bereits im Jahr 1909, dass sich hier längst kein Pferd mehr nach einem Auto umsehe.

Verlust der Stille

Noch bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts war der Rhythmus des urbanen Lebens in vielen Städten relativ klar ausgeprägt, unterschieden sich darin noch relativ deutlich Phasen des Lärms von jenen der Stille. Mit dem Anstieg der Einwohnerzahlen und der zunehmenden Zirkulation von Menschen und Gütern verschwanden die Kontraste jedoch immer mehr. Zudem bildete sich, parallel zum Ausbau der öffentlichen Beleuchtung, eine neue Einstellung der Menschen zur Nacht als Zeit der Arbeit und Betriebsamkeit heraus. Auf den Gleisstrecken wurden Reparaturen durchgeführt, auf der Straße waren Pflasterer und Asphaltierer tätig – die Nacht wurde, so der Kulturwissenschaftler Joachim Schlör, zum Reparaturbetrieb des Tages; gearbeitet wurde in den Bahnhöfen, den Telefon- und Postämtern, bei der Kanalisation, der Straßenreinigung, in den Markthallen, bei der Polizei, im Nachtwachdienst, bei der Feuerwehr, in den Spitälern bis hin zu den Warenhäusern und Zeitungsdruckereien.

Das Bild von der in der Nacht ruhenden Stadt, wie es noch frühere Reiseschilderungen skizzierten, stimmte immer weniger. Die Schlaflosigkeit der großen Stadt, ihre Ruhelosigkeit und ihr kontinuierlicher Betrieb wurden zum Symbol für die neue Zeit. Dies machte sich nicht zuletzt auf akustische Weise bemerkbar, weshalb Ärzte bereits 1905 warnten: "Tief in die Stunden des Schlafes hinein tönt der Lärm fort. Das Rasseln der Wagen, das Sausen und Stöhnen der Elektrischen, sie beschäftigen unser Gehirn auch im Schlafe." Zunehmend verschwammen die akustischen Unterschiede zwischen Tag und Nacht; immer kürzer wurden die Phasen der Stille, die in weiten Bereichen aus dem Klangrepertoire der Stadt verschwanden. Eine allmähliche "Medialisierung" der Stadtakustik (Pascal Amphoux) zeichnete sich ab, eine Entwicklung zu einer kontinuierlichen und mittleren Klangumwelt, ohne herausragende Lärmspitzen und mit immer weniger Ruhezeiten.

Wenngleich es eine "absolute" Stille wohl niemals gegeben hat und diese zudem – wie schon der Tonpsychologe Carl Stumpf nachwies – ein relatives Phänomen ist, das in besonderem Maße von der ortsüblichen Geräuschkulisse und den damit in Zusammenhang stehenden Hörgewohnheiten abhängt, so wurde die spezifisch "urbane Stille" doch allmählich zur kostbaren Rarität. Nicht zufällig proklamierte der Wiener Dramaturg und spätere Burgtheaterdirektor Alfred Freiherr von Berger bereits 1909, zur gleichen Zeit wie der deutsche Kulturphilosoph und Antilärm- Aktivist Theodor Lessing, das Recht auf Stille, das es wieder durchzusetzen gelte.

Ein Blick in die Memoirenliteratur zeigt, dass Ruhe und Stille in das Feld der Erinnerung übergingen, sorgsam gehütet – und nicht selten nostalgisch verklärt – als Empfindung aus längst vergangenen Tagen. Erhalten blieb nur die spezifische Stille an Sonn- und Feiertagen, die sich vor allem in den Innenstädten bemerkbar machte. Keine völlige Lautlosigkeit, aber eine deutlich wahrnehmbare Minderung des sonst üblichen geschäftigen Treibens. Dann dominierte das damals noch überaus häufige Läuten der Kirchenglocken, das sich auch wochentags mit vertrauter Regelmäßigkeit über die Städte legte.

Insgesamt betrachtet, kam es in den Städten zu einer generellen Erhöhung der Lautstärke. Bereits im 19. Jahrhundert gab es Klagen über die Zunahme des Lärms. So beschwerte sich der Kulturhistoriker und Begründer der deutschen Volkskunde Wilhelm Heinrich Riehl, dass die Choräle der Turmbläser, die in vielen protestantischen Gegenden Deutschlands dreimal am Tag ertönten, in der Lärmkulisse der Großstädte längst ihre Berechtigung verloren hätten. Zur Jahrhundertwende hatte sich diese

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Tendenz schließlich derart verstärkt, dass der Berliner Stadtbaumeister Georg Pinkenburg konstatierte, dass man im Getöse der Hauptverkehrsstraßen oft nicht einmal mehr sein eigenes Wort verstehe; Ohrenärzte beschwerten sich darüber, dass es in ihren Praxen trotz geschlossenen Fenstern mittlerweile viel zu laut sei, um ordentliche Hörprüfungen durchführen zu können; und auch für die Physiologen war es zunehmend schwerer, eine geeignete "camera silenta" für ihre Hörversuche zu finden.

Nervengift

Eine wesentliche Neubewertung erfuhr der Lärm schließlich durch das "Zeitalter der Nervosität", das, wie der Historiker Joachim Radkau gezeigt hat, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts anbrach. Ein sich intensivierender Nervendiskurs hielt Einzug in die Massenmedien, in populärwissenschaftliche Schriften und Vorträge, in Literatur und Film. Nervenschwäche sowie "Neurasthenie" wurden als typische Krankheiten des modernen Menschen diagnostiziert, hervorgerufen durch den technisch- ökonomischen Wandel und die zunehmende Beschleunigung in allen Lebensbereichen.

Im Jahr 1880 publizierte der amerikanische Neurologe George M. Beard sein Buch Neurasthenia; er schuf damit den künftigen Ausdruck für das neue Krankheitsbild. Im deutschen Sprachraum trieb der Pathologe und Neurologe Wilhelm Erb mit seinem Werk Ueber die wachsende Nervosität unserer Zeit aus dem Jahr 1893 die Nervendebatte weiter voran. Die "Neurasthenie", definiert als nervös bedingter Reiz- und Erschöpfungszustand, wurde zur verbreiteten Volkskrankheit. Angespannt, leicht erregbar, chronisch überanstrengt – und geräuschempfindlich, so präsentierte sich der Neurastheniker seinen Mitmenschen. Wenngleich das Konzept der Neurasthenie, wie der Historiker Matthias Lentz betont, terminologisch relativ unscharf blieb, wurde es gerade dadurch zur erfolgreichen Projektionsfläche für verschiedenste Zeiterscheinungen, zu denen nicht zuletzt der Lärm gehörte.

Hauptort des Geschehens war die moderne Großstadt, die zum Synonym für Reizüberflutung und permanente Attacken auf alle Sinne wurde. Nicht von ungefähr nahm gerade hier die Zahl der Spezialärzte für Nervenleiden rasant zu. Die ständig wechselnden Eindrücke und Reize sowie die zunehmende Flut von Informationen waren mitunter schwer zu bewältigen, wie ein Zeitgenosse in der Zeitschrift Die Zeit beklagte: "Der Mensch von heute muss 1.000 Dinge wissen, 1.000 Dinge gleichzeitig überdenken, 1.000 Sinneseindrücke, die auf ihn gleichzeitig einstürmen, verarbeiten. Ist er’s nicht imstande, dann ist er seiner Zeit nicht gewachsen, er bleibt zurück und kommt – wenn überhaupt – als letzter ans Ziel." Eine nur mehr schwer verarbeitbare Überreizung der Sinne, verbunden mit einer deutlichen "Steigerung des Nervenlebens", konstatierte auch der renommierte Soziologe Georg Simmel. Ebenso der Historiker Karl Lamprecht, der von einer unverkennbar erhöhten "Reizsamkeit" sprach.

Die Ärzte sahen eine allzu häufige Stimulierung der Nerven durch die Schallwellen als akute Gesundheitsgefahr an. Sie begleite den Menschen durch die "Hetzjagd des Lebens", verzehre seine Nervenkräfte und verringere die Lebenskraft. Mit einer derartigen Kausalkette wurde dem Lärm eine auch für Laien nachvollziehbare direkte Einflussnahme auf psychische und physische Konditionen zuerkannt. Er erhielt eine neue Brisanz und avancierte zum schleichenden "Nervengift", zum im Alltag dauerpräsenten "Feind". Dabei waren es die Metropolen, die, so meinten nicht wenige Experten, am meisten zum Anstieg des Nervositätspegels beitrugen. Nicht zufällig publizierten zwei deutsche Nervenärzte, Otto Dornblüth und Albert Eulenburg, im Jahr 1902 unabhängig voneinander Schriften mit dem sprechenden Titel: Nervenhygiene in der Großstadt.

Ob der dramatische akustische Wandel dazu führte, dass die Ohren der Großstädter tendenziell sensibler wurden, wie manche behaupteten, oder im urbanen "Nervenstahlbad" eher abstumpften, diese Frage wurde heftig diskutiert. War der von Simmel beschriebene neue Typus des blasierten, distanziert-intellektuellen "Großstadtmenschen" schon eine Form der Gewöhnung an die gesteigerte Intensität der urbanen Lautsphäre? Nervosität war zu einer Krankheit, aber auch zu einer Modeerscheinung geworden. Denn der zeitgeistige Stadtbürger gab sich nur allzu gerne geschäftig,

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 41 gehetzt und nervös. Doch ob real oder eingebildet, im Nervenkult des Fin de Siècle bildete sich ein Menschentyp heraus, der sich in seiner großstädtischen Umwelt völlig neuen sinnlichen Herausforderungen gegenübersah.

Lesen

Alfred Freiherr von Berger: Autobiographische Schriften, Bd. 3: Reden und Aufsätze, Wien / Leipzig 1913

Richard Birkefeld / Martina Jung: Die Stadt, der Lärm und das Licht. Die Veränderung des öffentlichen Raumes durch Motorisierung und Elektrifizierung, Seelze 1994

Heinz Brüggemann: "Aber schickt keinen Poeten nach London!" Großstadt und literarische Wahrnehmung im 18. und 19. Jahrhundert. Texte und Interpretationen, Reinbek 1985

Karl Lamprecht: Deutsche Geschichte, 2. Ergänzungsband, 1. Hälfte, Freiburg 1903

Matthias Lentz: "Ruhe ist die erste Bürgerpflicht." Lärm, Großstadt und Nervosität im Spiegel von Theodor Lessings "Antilärmverein", in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Bd. 13, 1994, S. 86 – 90

Robert Michel: Großstadtstudien, in: Die Zeit, 11.11.1910

Daniel Morat: Zwischen Lärmpest und Lustbarkeit. Die Klanglandschaft der Großstadt in umwelt- und kulturhistorischer Perspektive, in: Bernd Herrmann (Hrsg.): Beiträge zum Göttinger Umwelthistorischen Kolloquium 2009 – 2010, Göttingen 2010, S. 173 – 190

Jürgen Müller: "The Sound of Silence". Von der Unhörbarkeit der Vergangenheit zur Geschichte des Hörens, in: Historische Zeitschrift 292 (2011) 1, S. 1 – 29

Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. 1, Reinbek 1987

Peter Payer: Vom Geräusch zum Lärm. Zur Geschichte des Hörens im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Wolfram Aichinger u. a. (Hrsg.): Sinne und Erfahrung in der Geschichte, Innsbruck u. a. 2003, S. 173 – 191 ders.: "Großstadtwirbel". Über den Beginn des Lärmzeitalters, Wien 1850 – 1914, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2004), S. 85 – 103 ders.: Der Klang von Wien. Zur akustischen Neuordnung des öffentlichen Raumes, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 15 (2004) 4, S. 105 – 131

Georg Pinkenburg: Der Lärm in den Städten und seine Verhinderung, Jena 1903

Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München /Wien 1998

Wilhelm Heinrich Riehl: Culturstudien aus drei Jahrhunderten, Stuttgart 1859

Klaus Saul: Wider die "Lärmpest". Lärmkritik und Lärmbekämpfung im Deutschen Kaiserreich, in: Dittmar Machule u. a. (Hrsg.): Macht Stadt krank? Vom Umgang mit Gesundheit und Krankheit, Hamburg 1996, S. 151 – 192

R. Murray Schafer: Klang und Krach. Eine Kulturgeschichte des Hörens, Frankfurt a. M. 1988

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Joachim Schlör: Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840 – 1930, München 1991

Georg Simmel: Exkurs über die Soziologie der Sinne, in: ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1999 [1908], S. 722 – 742 ders.: Die Großstädte und das Geistesleben, in: Die Großstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung, Jahrbuch der Gehe-Stiftung, Bd. IX. Dresden 1903, S. 185 – 206

Carl Stumpf: Tonpsychologie, Bd. 1, Hilversum / Amsterdam 1965 [1883 / 90]

Michael Toyka-Seid: Die Stadt und der Lärm. Aspekte einer modernen Beziehungsgeschichte, in: ders. u. a. (Hrsg.): Hochschule – Geschichte – Stadt. Festschrift für Helmut Böhme, Darmstadt 2004, S. 307 – 318 ders.: Von der "Lärmpest" zur "akustischen Umweltverschmutzung". Lärm und Lärmwahrnehmung als Themen einer modernen Umweltgeschichte, in: Herrmann (Hrsg.): Beiträge zum Göttinger Umwelthistorischen Kolloquium, S. 253 – 276

Heinrich Weruer: Rückkehr in die Stadt, in: Neues Wiener Tagblatt, 2.10.1911

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Peter Payer für bpb.de

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Kaiser-Sound Wilhelm II. auf frühen Tondokumenten

Von Martin Kohlrausch 5.7.2016 Martin Kohlrausch, Dr., Professor für Europäische Politikgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der KU Leuven. E-Mail: martin. [email protected]

[An dieser Stelle befindet sich ein eingebettetes Objekt, das wir in der PDF-/EPUB-Version nicht ausspielen können. Das Objekt können Sie sich in der Online-Version des Beitrags anschauen: http:// www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/sound-des-jahrhunderts/209558/kaiser-sound] Ihr Browser unterstützt keine iframes.[An dieser Stelle befindet sich ein eingebettetes Objekt, das wir in der PDF-/EPUB-Version nicht ausspielen können. Das Objekt können Sie sich in der Online-Version des Beitrags anschauen: http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/sound-des-jahrhunderts/209558/ kaiser-sound] Ihr Browser unterstützt keine iframes. "Stark sein im Schmerz: nicht wünschen, was unerreichbar oder wertlos; zufrieden mit dem Tag, wie er kommt; in allem das Gute suchen und Freude an der Natur und an den Menschen haben, wie sie nun einmal sind, für 1.000 bittere Stunden sich mit einer einzigen trösten, welche schön ist, und aus Herz und Können immer sein Bestes geben, auch wenn es keinen Dank erfährt." Mit sonorer Stimme tritt uns hier Wilhelm II. entgegen. Beim Hören überwiegt zunächst der irritierende Effekt der Nähe einer fernen Zeit, den das ungewöhnliche Tondokument herstellt. Der gutmütige Ton hat etwas Landesväterliches, das wir sonst kaum mit dem martialischen letzten Kaiser in Verbindung bringen. Dies liegt auch am Inhalt des Vortrags. Der kurze Text, der sich in diesem Duktus fortsetzt, ist Erbauungsliteratur aus dem Werk des seinerzeit beliebten und mit Wilhelm II. bekannten bayerischen Schriftstellers Ludwig Ganghofer. Nach knapp zwei Minuten endet der Vortrag mit den Worten: "Wie alles ist, so muss es sein in der Welt, und wie es auch sein mag: immer ist es gut im Sinne des Schöpfers." Bei aller Schlichtheit des Textes erzählt die Aufnahme vom 24. Januar 1904 mehr, als zunächst zu vermuten ist. Sie berichtet vom sehr frühen Zusammengehen von Politik und Audiotechnik, vom "Kaiser-Sound".

"Kaiser Wilhelm vor dem Trichter"

Unter diesem Titel berichtete gut drei Wochen später das Fachorgan Phonographische Zeitschrift über die Aufnahme. Ende 1905 reichte ein weiterer Artikel der Zeitschrift genaue Details nach. Demnach hatte die Harvard University den Sprachwissenschaftler und Psychologen E.W. Scripture (1864 – 1945) nach Deutschland geschickt, um Wachswalzenaufnahmen von Wilhelm II. für ihr Archiv anzufertigen. Auch zwei Washingtoner Einrichtungen, die und das National Museum, sollten mit dem Kaiser-Sound bedacht werden. Anders als eine fast zeitgleiche, von den österreichischen Autoritäten initiierte Aufnahme von Kaiser Franz Joseph war Scriptures Aufnahme keine offizielle Aktion. Ein staatliches Äquivalent für das phonographische Archiv der österreichischen Akademie der Wissenschaften bestand in Deutschland damals zum Leidwesen der Phonoindustrie nicht.

Die Erlaubnis, Aufnahmen von Wilhelm zu tätigen, hatte Scripture über den gut vernetzten amerikanischen Botschafter in Berlin, Charlemagne Towers, eingeholt und sehr kurzfristig erhalten. Während Wilhelm II. am 24. Januar 1904, einem Sonntag, im Gottesdienst weilte, durfte Scripture seine Geräte in den kaiserlichen Gemächern im Berliner Schloss aufbauen. Bei der Aufnahme musste er den Raum verlassen; es war lediglich ein zuvor von ihm instruierter Kammerdiener zugegen. Wilhelm

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II. besprach zwei Walzen, eine mit dem zitierten Text für die beiden Washingtoner Institutionen. Für die andere, die an die Harvard University gehen sollte, wiederholte er eine Ansprache, die er bei der Enthüllung eines Obelisken auf dem Döberitzer Truppenübungsplatz zum Andenken an Friedrich den Großen im Jahr zuvor gehalten hatte. Scripture fertigte beide Aufnahmen mit einem Phonographen.

Der Sound großer Männer und der entstehende Audiomarkt

Der amerikanische Erfinder Thomas Alva Edison hatte den Phonographen, in Deutschland oftmals als Sprechmaschine bezeichnet, bereits im Jahr 1877 entwickelt. Trotz technischer Verbesserungen nach 1900 war der Verkauf der mit dem Phonographen hergestellten tontragenden Walzen jedoch kein Selbstläufer. Die sogenannte Edison-Rolle musste erst einmal Akzeptanz finden und sich gegen aufkommende Konkurrenz in Gestalt der Grammophonplatte durchsetzen. Da bot es sich an, auf gekrönte Häupter zu setzen. Die Aura der Tradition legitimierte das Neue und beglaubigte dessen Relevanz. Die Bekanntheit einer Person, zumal die Wilhelms II., förderte potenziell die Verbreitung und wurde unmittelbar für die Werbung genutzt.

Dies galt umso mehr, als das Interesse am Kaiser wissenschaftlich untermauert wurde. Aufnahmen berühmter Zeitgenossen standen ebenso wie die auditive Feldforschung, das Sammeln unterschiedlichster Sprachen und Dialekte, im Vordergrund von Stimmaufnahmen mit der Edison- Walze. Tatsächlich lässt sich in dieser Phase das Interesse an den Stimmen herausragender Persönlichkeiten und das an der wissenschaftlichen Sammlung von Stimmen mehr oder weniger exotischer Völker gar nicht exakt trennen und folgte einem ähnlichen Impetus. Oftmals waren Monarchen die ersten, denen aufsehenerregende Tonaufnahmen erstmals präsentiert bzw. neue Geräte vorgeführt wurden. Im Jahr 1906 etwa wurden Wilhelm II. Gesänge von Hopi-Indianern, die in Berlin aufgenommen worden waren, vorgespielt. Im Jahr 1905 ließ Edison ein neues Phonographenmodell an den Kaiser senden.

Ansprachen von Kaiser Wilhelm II

"Hunnenrede", Rede in Bremerhaven, 27. Juli 1900 (Quelle: spiegel.de) (http://www.spiegel.de/ einestages/die-hunnenrede-von-wilhelm-ii-als-tonaufnahme-a-947807.html)

"An das deutsche Volk": Rede in Berlin, 6. August 1914 (Quelle: dra.de) (http://www.dra.de/online/ dokument/2006/november.html)

Kontrollverluste

In einer Notiz zur "Kaiser-Walze" in der Phonographischen Zeitschrift vom 13. Dezember 1905 wird Scripture dahingehend zitiert, dass seines Wissens keine Erlaubnis für deren Veröffentlichung vorliege und die Aufnahmen überhaupt nur unter der Zusicherung, dass eine solche unterbleibe, zustande gekommen seien. Zuvor hatte die Zeitschrift gemeldet, die Kaiser-Walzen seien im Handel. Dies traf zumindest für die Walze mit der hier behandelten Rede zu. Sie wurde von der American Trading Company (Elbhof) vertrieben und mit dem Konterfei Wilhelms II. in der Phonographischen Zeitschrift und deren Konkurrenzblatt, der Sprechmaschine, beworben. Wie die Zeitschrift wusste, existierte trotz des hohen Preises eine starke Nachfrage nach der Walze. Der Kaiser war offenbar zu interessant, um Aufnahmen von ihm im Archiv halten zu können. Allerdings scheint der Hof erfolgreich interveniert zu haben und die Werbung für die Kaiserrede verschwand schnell wieder.

Das Bestreben des Hofs, die Kontrolle über die "Kaiser-Walzen" zu behalten, und die Attraktivität des Kaisers für die entstehende Audioindustrie veranschaulicht auch eine Eingabe der Deutschen Grammophon Gesellschaft. Offenbar ermutigt durch den erfolgreichen Vorstoß des amerikanischen

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Konkurrenten kam die Firma Ende Januar 1904 auf eine vier Jahre zuvor abgelehnte Bitte zurück, eine Aufnahme von Wilhelm II. machen zu dürfen. Um der Sache nachzuhelfen, wurde das Interesse der Nachwelt an der Überlieferung der Stimme und damit der Aura großer Persönlichkeiten beschworen. Detaillierte Berichte über die Firma in den Akten der Berliner politischen Polizei belegen, als wie heikel dieser Vorgang und allgemein die Verbindung von Audiomedien und Politik eingeschätzt wurde. Nur wenig später, im Frühjahr 1905, ließ der Berliner Polizeipräsident Platten und Walzen mit polnischen Freiheitsliedern wegen Aufreizung zur Gewalt beschlagnahmen. Karikaturen, die einen Lautsprecher mit den Gesichtszügen Wilhelms II. und Sprechapparate kombinierten, illustrieren die Sprengkraft, die insbesondere der auditiven Verbreitung von Kaiserreden zugesprochen wurde.

Die Gefahr des Kontrollverlusts, nicht zuletzt durch die Trivialisierung der Monarchie, war evident. Dem stand jedoch die Chance der Popularisierung des Monarchen mithilfe der Tonaufnahmen gegenüber. Bezeichnenderweise verwies ein Tontechniker seine hochstehenden Klienten darauf, dass das phonographische Material viel zu teuer sei, als dass es sich ungehindert ausbreiten könnte.

Interessanterweise blieben die offiziellen Stellen bis 1914 bzw. 1915 bei ihrer zurückhaltenden Politik. Hierbei wird die Unsicherheit über die Wirkmacht einer neuen Technik eine Rolle gespielt haben, wohl auch die Angst vor Manipulationen. Gegenüber der Fotografie, den Postkarten und dem frühen Film gab es dagegen solche Vorbehalte nur bedingt. In all diesen Medien war Wilhelm II. ein Hauptdarsteller, oftmals mit offiziellem Segen. Während diese alles in allem eine Win-Win-Situation für Kommerz und Dynastie boten, waren die Erfahrungen mit den Reden Wilhelms II., vorsichtig formuliert, ambivalent.

Eine politische Rede?

Handelt es sich bei der Aufnahme Wilhelms II. um ein politisches Dokument? In einem weiteren Sinne durchaus, wenn auch nicht unbedingt intendiert. Das Kaisertum war die zentrale Institution der wilhelminischen Epoche. Was Wilhelm II. tat oder unterließ, besaß eine Signalwirkung weit über die eigentliche Handlung hinaus. Hier lag ein wichtiger Grund für die Zurückhaltung gegenüber Tonaufnahmen. Die bald schon so genannten "Kaiserreden" waren bereits in den 1890er Jahren ein berüchtigtes Markenzeichen Wilhelms II. geworden. Anders als seine Vorgänger, mit Ausnahme Friedrich Wilhelms IV., redete Wilhelm II. bei allen nur denkbaren Anlässen und über eine breite Palette von Themen. Regelmäßig vergaß er dabei, dass die auflagenstarken und rasch erscheinenden Zeitungen seine Worte weit über das Publikum eines brandenburgischen Provinziallandtags oder einer Denkmalseinweihung in der Provinz hinaus transportierten. Diese Reden galten der Presse sogar als äußerst dankbares Thema. Mit einem spöttischen "der Kaiser ist los" beschrieb der Journalist Alfred Kerr die bereits vor einschlägigen Reden vorhandene Erwartung vieler Journalisten, dass der Kaiser einen neuerlichen Fauxpas begehen werde. Wenn Wilhelm II. von den Deutschen als "Hunnen" sprach oder die Dynastie grotesk überhöhte und diverse Gruppen im In- und Ausland direkt vor den Kopf stieß, war ihm jedenfalls die öffentliche Aufmerksamkeit gewiss.

Schlechte Erfahrungen mit dem enthemmt daherredenden Kaiser mögen auch erklären, warum entschieden worden war, dass Wilhelm II. für die von Scripture gefertigte Aufnahme nur einen Text ablesen sollte, und warum der vergleichsweise harmlose Ganghofer-Text dafür gewählt worden war. Beliebig ausgewählt war er sicherlich nicht. Sehr wahrscheinlich ist, dass Wilhelm II. selbst die Auswahl getroffen hatte. Die – für die Ansprache kompilierten – Stellen finden sich im 11. Kapitel des Romans Das Schweigen im Walde von 1899, bekannt als Grundlage für den gleichnamigen Heimatfilm aus den 1950er Jahren. Ganghofer war um 1900 außerordentlich populär und mit Wilhelm II. gut bekannt. Karl Krauss beschrieb später eine groteske Begegnung zwischen den beiden in Die letzten Tage der Menschheit.

Im November 1906 waren Wilhelm II. und Ganghofer zu einem Gespräch zusammengekommen, dessen Inhalt in Auszügen und mit positivem Tenor veröffentlicht worden war. Ganz im Sinne des aufgenommen Ganghofer’schen Textes hatte Wilhelm II. gegenüber dem Schriftsteller erklärt, man müsse "immer wieder mit neuem Vertrauen an die Menschheit und an das Leben herantreten", und

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 46 sich allgemein gegen die "Reichsverdrossenheit", eine pessimistische Einschätzung der Lage des Kaiserreichs, gewandt.

Einige Monate später, im August 1907, stieß Wilhelm II. in einer Rede in Münster mit einer ostentativen Demutsgeste ins gleiche Horn: "Alle Menschen sind wie Du, und obgleich sie Dir wehe tun, sie sind Träger einer Seele aus den lichten Höhen, von oben stammend, zu denen wir einst wieder zurückkehren wollen, und durch ihre Seele haben sie ein Stück ihres Schöpfers in sich. Wer so denkt, der wird auch immer milde Beurteilung für seine Mitmenschen haben. Wäre es möglich, dass im deutschen Volke dieser Gedanke Raum gewänne für die gegenseitige Beurteilung, so wäre damit die erste Vorbedingung geschaffen für eine vollständige Einigkeit."

Die öffentlichen Reaktionen auf die Rede waren auch diesmal außerordentlich positiv. Die Kommentatoren bejubelten einen menschlichen, nahbaren Monarchen. Hier war eine Goldader des sentimentalen Monarchismus berührt. Es hat mit diesem sentimentalen Monarchismus zu tun, dass die 1904 aufgenommenen Ganghofer-Zeilen in gerahmter Form zahlreiche deutsche Wohnzimmer und ebenso viele Poesiealben schmückten, oftmals mit dem Hinweis "Spruch im Arbeitszimmer Wilhelms II". Mitunter wurde auch Wilhelm II. selbst für den Verfasser gehalten. Die Schallplatte als Medium der politischen Rede?

In diesem Sinne einer naiven, aber dafür nicht allzu offensichtlichen Aufforderung, die bestehende Ordnung zu bestätigen, hätte das 1904 aufgenommene Audio-Stück wohl durchaus positiv für die Monarchie wirken können und hatte es zweifelsohne auch einen politischen Charakter. Es dauerte allerdings bis 1913, bis eine Schallplattenaufnahme einer Rede Wilhelms II. erfolgte. Im Sommer dieses Jahres nahm die norwegische Firma Broström eine Rede auf, die Wilhelm II. anlässlich der Enthüllung einer von ihm finanziell geförderten Frithjof-Statue in Vangenaes, Norwegen, hielt. Obwohl dieses Unterfangen von der technischen Seite gelungen war, meldete die Phonographische Zeitschrift, dass auch in diesem Fall mangels Erlaubnis des Kaisers kein Vertrieb der Aufnahme stattfinden könne. Zu einer Abkehr von dieser Haltung kam es erst im Zusammenhang mit der Ansprache Wilhelms II. "An das Deutsche Volk" kurz nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914, die im Januar 1915 nachträglich aufgezeichnet und dann zum Vertrieb freigegeben wurde. Im Jahr 1995 formte der Audio-Künstler Andreas Ammer aus dieser Aufnahme die Sound-Collage Kaiser Wilhelm Overdrive.

Die lange und hartnäckige Abwesenheit der "politischen Schallplatte" war dem Autor P. M. Grempe im Sommer 1913, ein Jahr vor Kriegsausbruch, eine eingehende Betrachtung in der Phonographischen Zeitschrift wert. Bemerkenswert ist, dass er Wilhelm II. positiv mit dem gerade verstorbenen sozialdemokratischen Parteiführer Bebel kontrastierte. Grempe unterstellte Bebel, "in der innersten Seele stockkonservativ" zu sein, da er eine einschlägige Anfrage einer Schallplattenfirma abgelehnt hatte. Das Argument, einen Personenkult vermeiden zu wollen, zöge angesichts der reichhaltigen sozialdemokratischen Bildpropaganda nicht. Wilhelm II. hingegen habe Stark sein im Schmerz trotz einiger Versprecher zum Vertrieb freigegeben.

Wie geschildert, stimmte Letzteres nicht; es handelte sich lediglich um eine Walze und nicht um eine Schallplatte und der Vertrieb erfolgte inoffiziell. Davon abgesehen: Politische Reden Wilhelms II., den Friedrich Naumann als "Signalperson", als Taktgeber im politischen Diskurs des Kaiserreichs charakterisierte, hätten sicherlich dazu beigetragen, das Medium der politischen Schallplatte zu fördern, d. h. zu Aufnahmen jenseits der vereinzelten und nur schwer zu verbreitenden Walzen geführt. Allerdings passten Marschmusik oder Operetten besser zur Schallplatte. Für das rasche politische Tagesgeschäft war sie, ebenso wie die Edison-Walzen, schlicht zu träge. Mit dem Aufkommen des in dieser Hinsicht wesentlich besser geeigneten Radios und dessen Karriere als neuer Schrittmacher politischer Kommunikation nach dem Ersten Weltkrieg bestätigte sich dies.

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 47 Lesen

Acten des Polizei-Präsidiums zu Berlin: Deutsche Grammophon Aktiengesellschaft. 1900 – 1913, Pr. Br. Rep 30 Berlin C Polizei-Präsidium, Tit 94

Stefan Gauß: Nadel, Rille, Trichter. Kulturgeschichte des Phonographen und des Grammophons in Deutschland (1900 – 1940), Köln u. a. 2009

P. M. Grempe: Die politische Schallplatte, in: Phonographische Zeitung 14 (1913) 34, S. 755 – 757

Wolfgang König: Wilhelm II. und die Moderne. Der Kaiser und die technisch-industrielle Welt, Paderborn 2007

Martin Kohlrausch: Der Monarch im Skandal. Die Logik der Massenmedien und die Transformation der wilhelminischen Monarchie, Berlin 2005

Michael A. Obst: "Einer nur ist Herr im Reiche". Kaiser Wilhelm II. als politischer Redner, Paderborn 2010

Phonographische Zeitschrift (PZ) 5 (1904) 7, S. 96: "Kaiser Wilhelm vor dem Trichter"

PZ 6 (1905) 45, S. 996 f.: "Kaiser Wilhelm vor dem Phonographen"

PZ 6 (1905) 50, S. 1.117 – 1.119: "Kaiser-Walze"

PZ 8 (1907) 9, S. 216: "Phonographische Aufnahme der Stimme des Deutschen Kaisers am 24. Januar 1904"

PZ 14 (1913) 33, S. 731: "Phonographische Aufnahme einer Kaiser-Rede"

Sandra Rühr, Tondokumente von der Walze zum Hörbuch. Geschichte – Medienspezifik – Rezeption, Göttingen 2008

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Martin Kohlrausch für bpb.de

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Heil Dir im Siegerkranz Patriotisches Liedgut im Deutschen Kaiserreich

Von Tobias Widmaier 5.7.2016 Tobias Widmaier, Dr., Musikwissenschaftler, Privatdozent an der Universität des Saarlandes und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Volksliedarchiv in Freiburg.

[An dieser Stelle befindet sich ein eingebettetes Objekt, das wir in der PDF-/EPUB-Version nicht ausspielen können. Das Objekt können Sie sich in der Online-Version des Beitrags anschauen: http:// www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/sound-des-jahrhunderts/209559/heil-dir-im-siegerkranz] Ihr Browser unterstützt keine iframes.[An dieser Stelle befindet sich ein eingebettetes Objekt, das wir in der PDF-/EPUB-Version nicht ausspielen können. Das Objekt können Sie sich in der Online-Version des Beitrags anschauen: http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/sound-des-jahrhunderts/209559/ heil-dir-im-siegerkranz] Ihr Browser unterstützt keine iframes. Am 4. März 1906 wohnte der deutsche Kaiser mit seiner Familie und großem Gefolge einem Konzert von 2.000 Berliner Schülerinnen und Schülern bei. Es war eine Großveranstaltung so recht nach dem Geschmack Wilhelms II., der dem Schulgesang eine hohe Bedeutung für die Weckung vaterländischer Gesinnung und die emotionale Verankerung seiner Herrschaft zumaß. Am Ende des Programms mit getrennten Präsentationen der Mädchen und Knaben – Letztere trugen mit Schwerin, der hat uns kommandiert und Lützows wilde Jagd zwei an vergangene siegreiche Kriege erinnernde Lieder vor – sangen alle gemeinsam Das treue deutsche Herz, eine schwülstig-pathetische Chorkomposition von Julius Otto, die sich in vielen Schulliederbüchern der Kaiserzeit findet. Pflichtergebenheit, Tugendstreben und Frömmigkeit werden darin zu nationalen Charaktereigenschaften erklärt, die dritte Strophe bekundet zudem die freudige Bereitschaft, im Kriegsfalle das eigene Leben für die Heimat hinzugeben: "Kein schön’rer Tod auch kann es sein, / Als froh’ dem Vaterland zu weih’n / Den schönen, hellen Edelstein, / Das treue deutsche Herz."

Die Erziehung zum Krieg setzte unter Wilhelm II. mit dem ersten Schultag ein. Eine zeitgenössische Handreichung für Lehrer zur "lebensfrohen Gestaltung" des Anfangsunterrichts enthält etwa den Vorschlag, die frisch eingeschulten Knaben aufzufordern, Holzsäbel, Helm, Trommel oder Trompete mitzubringen – kindliche Spielgeräte einer das Militärwesen über alle Maßen schätzenden Epoche – , und sie so ausgerüstet auf dem Schulhof "stolz auf und ab" marschieren zu lassen. Dazu sollte ein (zur Melodie von Alles neu macht der Mai) eigens verfasstes Liedlein angestimmt werden: "Kühn voran zieht die Fahn! Folget alle Mann für Mann! Tapfer mit! Tritt für Tritt! Haltet strammen Schritt!" Kriegsbezogene Lieder wurden vor 1914 in den Musikstunden aller Schularten und Klassenstufen gelernt und gesungen. Auf Wohlklang legte man dabei offenbar keinen allzu großen Wert. Wenn man an den "Schulkasernen" vorbeigehe, mokierte sich ein Ohrenzeuge damals, höre man häufig "ein Schreien und Plärren, dass man meint, es sei das Ziel des Gesangsunterrichts, Wände einzudröhnen oder Kehlen für germanischen Schlachtgesang zu trainieren".

Viele der einschlägigen Schullieder verklärten den Krieg zum kindlichen Abenteuerspiel. Zum Kernrepertoire zählten aber auch ältere Soldatenlieder wie Der gute Kamerad von Ludwig Uhland (Text 1809) und Friedrich Silcher (Vertonung 1825):

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Eine Kugel kam geflogen,

Gilt’s mir oder gilt es dir? Ihn hat es weggerissen, Er liegt mir vor den Füßen, Als wär’s ein Stück von mir.

Schließlich erinnerten viele Lieder an deutsche Kriegshelden oder erfolgreiche Schlachten der Vergangenheit, zuletzt jene 1870 gegen die Franzosen bei Sedan.

"Zu unserem Kaiserthrone hinauf klingen die schönsten Jubellieder von Millionen deutscher Kinderstimmen"

Der Jahrestag der Schlacht von Sedan, der 2. September, wurde im 1871 gegründeten Deutschen Kaiserreich zum Nationalfeiertag, den man vor allem in Preußen festlich beging. An den Schulen fiel der Unterricht aus, stattdessen veranstaltete man Sedanfeiern, auf denen patriotische Lieder gesungen wurden. Ein vielfach aufgelegtes Schulliederbuch der Zeit schrieb es der Macht gemeinsamen Gesangs zu, dass die Deutschen den Krieg 1870 / 71 gegen Frankreich hatten gewinnen können; ein Gedanke, der in manche Festrede am Sedantag eingeflochten worden sein dürfte.

Ein zweiter, fast noch bedeutsamerer unterrichtsfreier Festtag war der Geburtstag des Kaisers (Wilhelm I. am 22. März, Wilhelm II. am 27. Januar). Die heranwachsende Schuljugend sollte an diesem Tag uneingeschränkte Bewunderung für den Herrscher und obersten Feldherrn bekunden, wobei dem Vortrag oder gemeinsamen Gesang von Liedern wiederum eine wichtige Rolle zukam. Schulliederbücher stellten ein nach Altersgruppen differenziertes Repertoire bereit. Während man der ersten Volksschulklasse ein Lied wie Der Kaiser ist ein lieber Mann zudachte, das die persönliche Überbringung eines Blumengrußes ins Berliner Schloss imaginierte und so eine fiktive Nähe zwischen den kleinen Sängern und dem Kaiser herstellte, bestimmte die Liedtexte für die höheren Klassen ein Ton zunehmend untertäniger Devotion.

Das am Geburtstag des Kaisers sicherlich meistgesungene Lied war Heil dir im Siegerkranz. 1790 hatte ein gewisser Heinrich Harries eine deutsche Fassung der englischen Hymne God save the King als Loblied auf den dänischen König Christian VII. veröffentlicht; sie wurde in einer 1793 nochmals überarbeiteten Form zur preußischen Königshymne. Ab 1871 fungierte Heil dir im Siegerkranz schließlich als quasi inoffizielle Nationalhymne (eine amtlich-offizielle besaß das Deutsche Kaiserreich nicht). In den Schulen sang man Heil dir im Siegerkranz als politisches Vaterunser, als lautstarke Verbeugung vor dem "Herrscher des Vaterlands", dessen "Thrones Glanz … hohe Wonne" bereite (Strophe 1). Kaiser Wilhelm möge, so der im Lied vorgebrachte Wunsch, lange noch des deutschen "Volkes Zier, der Menschheit Stolz" bleiben (Strophe 5). Zugleich wurden die Liedträger auf Kriegs- und Opferbereitschaft ideologisch eingeschworen: "Wir alle … kämpfen und bluten gern für Thron und Reich" (Strophe 3).

Heil dir im Siegerkranz, Herrscher des Vaterlands, Heil, Kaiser, dir! Fühl’ in des Thrones Glanz Die hohe Wonne ganz: Liebling des Volks zu sein! Heil, Kaiser, dir!

Nicht Ross’ und Reisige

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Sichern die steile Höh’, Wo Fürsten stehn; Liebe des Vaterlands, Liebe des freien Mann’s Gründet des Herrschers Thron Wie Fels im Meer.

Heilige Flamme, glüh’, Glüh’ und erlösche nie Für’s Vaterland! Wir alle stehen dann Muthig für einen Mann, Kämpfen und bluten gern Für Thron und Reich. […]

Gleich zwei weitere "vaterländische Feste" fielen in das Jahr 1913. Im Juni beging man das 25-jährige Krönungsjubiläum Wilhelms II., Mitte Oktober feierte man mit großem Pomp das 100-jährige Jubiläum des Sieges über Napoleon in der "Völkerschlacht" bei Leipzig 1813. In zahlreichen Schüleraufführungen wurden Lieder der Befreiungskriege geboten, mit Texten etwa von Ernst Moritz Arndt (Der Gott, der Eisen wachsen ließ; Was blasen die Trompeten?) oder des 1813 gefallenen und als Kriegsheld verehrten Theodor Körner (Lützows wilde Jagd; Gebet während der Schlacht).

Lützows wilde Jagd.

Was glänzt dort vom Walde im Sonnenschein? Hör's näher und näher brausen. Es zieht sich herunter in düsteren Reih'n, Und gellende Hörner schallen darein Und erfüllen die Seele mit Grausen. Und wenn ihr die schwarzen Gesellen fragt: Das ist Lützows wilde, verwegene Jagd.

Was zieht dort rasch durch den finstern Wald Und streift von Bergen zu Bergen? Es legt sich in nächtlichen Hinterhalt; Das Hurra jauchzt und die Büchse knallt; Es fallen die fränkischen Schergen. Und wenn ihr die schwarzen Jäger fragt: Das ist Lützows wilde, verwegene Jagd.

Wo die Reben dort glühen, dort braust der Rhein, Der Wütrich geborgen sich meinte; Da naht es schnell mit Gewitterschein Und wirft sich mit rüst'gen Armen hinein Und springt ans Ufer der Feinde. Und wenn ihr die schwarzen Schwimmer fragt: Das ist Lützows wilde, verwegene Jagd.

Was braust dort im Tale die laute Schlacht, Was schlagen die Schwerter zusammen?

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Wildherzige Reiter schlagen die Schlacht, Und der Funke der Freiheit ist glühend erwacht Und lodert in blutigen Flammen. Und wenn ihr die schwarzen Reiter fragt: Das ist Lützows wilde, verwegene Jagd.

Wer scheidet dort röchelnd vom Sonnenlicht, Unter winselnde Feinde gebettet? Es zuckt der Tod auf dem Angesicht; Doch die wackern Herzen erzittern nicht. Das Vaterland ist ja gerettet. Und wenn ihr die schwarzen Gefall'nen fragt: Das war Lützows wilde, verwegene Jagd.

Die wilde Jagd und die deutsche Jagd Auf Henkersblut und Tyrannen! Drum, die ihr uns liebt, nicht geweint und geklagt! Das Land ist ja frei, und der Morgen tagt, Wenn wir's auch nur sterbend gewannen. Und von Enkeln zu Enkeln sei's nachgesagt: Das war Lützows wilde, verwegene Jagd.

Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/buch/leier-und-schwert-1909/30 (http://gutenberg.spiegel.de/ buch/leier-und-schwert-1909/30)

Der Zeitgeist am Vorabend des Ersten Weltkriegs spiegelt sich in einer Rede des Bremer Bürgermeisters anlässlich einer solchen mit Massengesängen begangenen Jahrhundertfeier: "Wir halten unser Schwert scharf und blank zu Wasser und zu Lande", bekundete er und drückte so deutsche Wehrbereitschaft aus. Zwar wisse nur Gott allein, wandte er sich den anwesenden Schülern zu, ob sie noch einmal "mit unsern Feinden" kämpfen müssten. "Aber nicht nur der Krieg, sondern auch das ganze Leben ist ein Kampf der Einzelnen und der Völker. Dafür, deutsche Jugend, stähle deinen Körper und erhebe deine Seele."

"Sie werden mit dem Volksliede den Patriotismus stärken"

In seiner 1908 erschienenen Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens, in der er die "grauenhafte Lautheit" seiner Zeit beklagte, führt Theodor Lessing eine Zeitungsnachricht an, nach der Wilhelm II., nachdem er abends zuvor Wer hat dich, du schöner Wald "aus 1.200 sangesfreudigen deutschen Männerkehlen genossen" habe, "durch den ‚Huldigungsmarsch von Schulze ausgeführt von sämtlichen Kapellen der Garnison‘ geweckt" worden sei. Dem Männerchorgesang war der Kaiser in besonderer Weise zugetan.

Die bürgerliche Sängerbewegung entstand in der Restaurationszeit nach den Befreiungskriegen und entwickelte sich zu einem wichtigen Träger des Nationalgedankens, d. h. des Strebens nach Überwindung der kleinstaatlichen Zersplitterung Deutschlands. Mit Gründung des Deutschen Kaiserreichs mutierte die Sängerbewegung zur staatstragenden Kraft, Chorkonzerte glichen nationalreligiösen Gelöbnisritualen. "Zu meiner Freude", verlautbarte Wilhelm II. in einem kaiserlichen Erlass vom 27. Januar 1895 (seinem 36. Geburtstag), "habe ich in letzter Zeit mehrfach Gelegenheit gehabt wahrzunehmen, wie die deutschen Männergesangvereine bestrebt sind, den vaterländischen Gesang zu pflegen und zu fördern". Deutsches Lied und deutscher Sang hätten "alle Zeit auf die Veredelung der Volksseele einen segensreichen Einfluss geübt und die Nation in der Treue gegen Gott, Thron, Vaterland und Familie gestärkt". Deshalb stifte er einen Wanderpreis "in Form eines Kleinods aus edlem Metall", der "bei einem etwa jährlich zu veranstaltenden Wettstreite deutscher Männergesangvereine dem jedesmaligen Sieger für die beste Leistung auf diesem Gebiet zuerkannt

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 52 werden" solle.

Der Gott, der Eisen wachsen ließ

Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte, drum gab er Säbel, Schwert und Spieß dem Mann in seine Rechte, drum gab er ihm den kühnen Mut, den Zorn der freien Rede, dass er bestände bis aufs Blut, bis in den Tod die Fehde.

So wollen wir, was Gott gewollt, mit rechten Treuen halten und nimmer um Tyrannensold die Menschenschädel spalten. Doch wer für Schand und Tande ficht, den hauen wir in Scherben, der soll im deutschen Lande nicht mit deutschen Männern erben!

O Deutschland heil’ges Vaterland, o deutsche Lieb’ und Treue! Du hohes Land, du schönes Land, wir schwören dir aufs Neue: Dem Buben und dem Knecht die Acht, der speise Kräh’n und Raben! So ziehen wir aus zur Hermannsschlacht Und wollen Rache haben.

Lasst brausen, was nur brausen kann, in hellen, lichten Flammen! Ihr Deutsche alle Mann für Mann, zum heil’gen Krieg zusammen! Und hebt die Herzen himmelan Und himmelan die Hände, und rufet alle Mann für Mann: Die Knechtschaft hat ein Ende.

Lasst wehen, was nur wehen kann, Standarten weh’n und Fahnen, wir wollen heut uns Mann für Mann zum Heldentod ermahnen. Auf! Fliege hohes Siegspanier, voran den kühnen Reihen! Wir siegen oder sterben hier Den süßen Tod der freien.

Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/buch/gedichte-2227/96 (http://gutenberg.spiegel.de/buch/gedichte-2227/96)

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Durchgeführt wurde das von Wilhelm II. initiierte "Kaiserpreissingen" erstmals 1899 in Kassel, danach 1903, 1909 und 1913 in Frankfurt am Main. Der Kaiser selbst beehrte die vier Veranstaltungen mit seinem Besuch, womit sie höfisch-zeremoniellen Charakter bekamen. Nicht nur, weil damit die "Gemütlichkeit" sonstiger Chorfeste verloren ging, kritisierten manche Vertreter des Deutschen Sängerbunds das "Kaiserpreissingen", sondern auch, weil die Idee des Wettstreits mit der Idee der sängerischen Gemeinschaft kollidierte.

Dass im Wettsingen die Tendenz zu immer anspruchsvolleren Chorwerken angelegt war, erkannte der Kaiser selbst als Problem. Nach dem Wettsingen 1903 äußerte er sich den Dirigenten der beteiligten Chöre gegenüber zwar befriedigt, dass "so patriotische und schöne Texte" gewählt worden seien, die "von alten Kaisersagen und großer Vorzeit" handelten, kritisierte aber zugleich die aufgeführten Kompositionen wegen ihrer schwelgerischen Tonmalereien und ihrer Orientierung am instrumentalen Orchesterklang. "Ich möchte dringend davor warnen, dass Sie nicht etwa auf den Weg treten, es philharmonischen Chören gleichzutun. Meine Ansicht ist: der Männergesangverein ist dazu nicht da; er soll das Volkslied pflegen." Nicht nur werde das Publikum dies "mit Dank und Jubel begrüßen", sondern man erfülle damit zugleich eine übergeordnete Aufgabe: "Sie werden mit dem Volksliede den Patriotismus stärken und damit das allgemeine Band, das alle umschließen soll."

Wilhelm II. beauftragte bald danach zwei Kommissionen mit der Erstellung einer Mustersammlung. Sie sollte zum einen "echte" Volkslieder enthalten, die (so der Kaiser) "jedem Deutschen ans Herz gewachsen sind" und "in ewiger Jugendschönheit und Jugendfrische den zerstörenden Wirkungen der Zeit Trotz geboten haben"; zum anderen sollten in ihr Kunstlieder im Volkston wie Wer hat dich, du schöner Wald (Text: Joseph von Eichendorff 1810, Vertonung: Felix Mendelssohn-Bartholdy 1841) oder Der gute Kamerad aufgenommen werden. Ende 1906 erschien als Ergebnis dieser Arbeit ein zweibändiges, 610 Titel umfassendes Volksliederbuch für Männerchor ("Herausgegeben auf Veranlassung Seiner Majestät des Deutschen Kaisers"). Beim "Kaiserpreissingen" 1909 und 1913 stützte sich eine Reihe von Teilnehmerchören bei der Auswahl ihrer Lieder auf dieses Volksliederbuch. "Solange dem deutschen Volk sein Volkslied erhalten bleibt, so lange bleibt auch das Volk gut", unterstrich Wilhelm II. seinen Standpunkt bei dieser Gelegenheit nochmals.

Der gute Kamerad

Ich hatt einen Kameraden, Einen bessern findst du nit. Die Trommel schlug zum Streite, Er ging an meiner Seite In gleichem Schritt und Tritt.

Eine Kugel kam geflogen, Gilt's mir oder gilt es dir? Ihn hat es weggerissen, Er liegt mir vor den Füßen, Als wär's ein Stück von mir.

Will mir die Hand noch reichen, Derweil ich eben lad. Kann dir die Hand nicht geben, Bleib du im ewgen Leben Mein guter Kamerad!

Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/buch/ludwig-uhland-gedichte-5084/9 (http://gutenberg.spiegel.de/ buch/ludwig-uhland-gedichte-5084/9)

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Nicht wenige dachten damals wie der Kaiser. Kulturkonservative Volksliedideologen erwarteten von der Pflege des Volkslieds Rettung in vielerlei Hinsicht: Es sollte helfen, gesellschaftliche Zerklüftungen zu überwinden, und ein Bollwerk gegen die "zerstörenden Wirkungen" der Moderne bilden, es sollte der moralischen Veredelung und Gemütsbildung des "Volkes" dienen und gegen "schmutzige" Gassenlieder und Schlagerschund immunisieren.

"Heil dir im Siegerkranz, mei Schuh sinn nimmer ganz"

Aus der Zeit des Kaiserreichs sind zahlreiche Parodien patriotischer Lieder aus Schülermund überliefert, die belegen, dass die pathosgeschwängerte, gestelzte Feierlichkeit der Texte und Singsituationen die Schüler nicht vollends gefangen nahm, sondern für diese auch Momente des Lächerlichen barg. Zum Ausdruck kommt dies in den spaßhaften Fassungen der Kaiserhymne, die Kinder damals überall sangen, etwa:

Heil dir im Siegerkranz Mei Schuh sinn nimmer ganz Heil Schuster dir Host mir sie schlecht gemacht Babbedeckelsuhle druf gemacht Geb dir kä Geld dafür Heil Schuster dir. 1905 aufgezeichnet in Wertheim am Main

Neben solchen Parodien harmloser Art waren andere in Umlauf, die zu einer Überwindung der herrschenden politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse aufriefen. In Liederbüchern aus dem oppositionellen sozialdemokratischen Milieu findet sich dafür manches Beispiel. Zur Melodie von Heil dir im Siegerkranz schrieb ein anonymer Verfasser den folgenden Aufruf an die Arbeiter:

Arbeiter, all’ erwacht! Es bricht durch dunkle Nacht Der Freiheit Sonn’! Reich dir, du vierter Stand, Treulich die Bruderhand Ringsum im deutschen Land, Dem Feind zum Hohn.

Warum noch zögerst du? Was hält in träger Ruh Dich noch zurück? Stehst du vor Schrecken bleich? Fürchtest wohl gar du feig, Dass nimmer von dir weich’ Dein schwer Geschick?

Hoffst du auch bis an’s Grab, Kein Retter kommt herab Von Himmelshöh’n. Willst du, ein frei Geschlecht,

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Nicht länger bleiben Knecht, Musst für dein gutes Recht Du selber steh’n.

Sieh, wie so Mancher dort Üppig lebt fort und fort Von deinem Schweiß! Dir lässt man nichts davon, Als eine Dornenkron’; Mühsal ist nur dein Lohn Selbst noch als Greis.

Drum schließt euch Mann für Mann All’ uns’rem Bunde an, Und einig seid! Das Schwerste selbst gelingt Dem, der kühn vorwärts dringt, Ans Ziel uns sicher bringt Die Einigkeit!

Die Arbeit lebe hoch! Sie soll im schweren Joch nicht länger sein! Geh du, o vierter Stand, Treu und fest Hand in Hand, Dring vorwärts unverwandt, Dich zu befrei’n!

Lesen

Friedhelm Brusniak: Das Volksliederbuch für Männerchor ("Kaiserliederbuch") als "Volkslieder-Buch" und "Volks-Liederbuch", in: Walter Salmen / Giselher Schubert (Hrsg.): Verflechtungen im 20. Jahrhundert. Komponisten im Spannungsfeld elitär – populär, Mainz u. a. 2005, S. 20 – 29

Michael A. Förster: Kulturpolitik im Dienst der Legitimation. Oper, Theater und Volkslied als Mittel der Politik Kaiser Wilhelms II., Frankfurt a. M. u. a. 2009

Nils Grosch: "Heil Dir im Siegerkranz!" Zur Inszenierung von Nation und Hymne, in: Michael Fischer u. a. (Hrsg.): Reichsgründung 1871. Ereignis – Beschreibung – Inszenierung, Münster u. a. 2010, S. 90 – 102

Eckhard John: "Der Kaiser ist ein lieber Mann". Schulische Liedsozialisation im Kaiserreich, in: Barbara Stambolis / Jürgen Reulecke (Hrsg.): Goodbye Memories? Lieder im Generationengedächtnis des 20. Jahrhunderts, Essen 2007, S. 25 – 41

Dietmar Klenke: Der singende "deutsche Mann". Gesangvereine und deutsches Nationalbewusstsein von Napoleon bis Hitler, Münster u. a. 1998

Heinz Lemmermann: Kriegserziehung im Kaiserreich. Studien zur politischen Funktion von Schule und Schulmusik 1890 – 1918, 2 Bde., Lilienthal / 1984

Theodor Lessing: Der Lärm. Eine Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens, Wiesbaden 1908

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 56

Fritz Schellack: Sedan- und Kaisergeburtstagsfeste, in: Dieter Düding u. a. (Hrsg.): Öffentliche Festkultur. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg, Reinbek 1988, S. 278 – 297

Wolfram Siemann: Krieg und Frieden in historischen Gedenkfeiern des Jahres 1913, in: Düding u. a. (Hrsg.): Öffentliche Festkultur, S. 298 – 320

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Tobias Widmaier für bpb.de

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Antiphon und Ohropax Die Erfindung der Stille

Von Peter Payer, Ralph Schock 5.7.2016 Peter Payer, Dr., Inhaber eines Büros für historische Stadtforschung, Kurator im Technischen Museum Wien

Ralph Schock, Dr., Leiter der Literaturabteilung des Saarländischen Rundfunks. E-Mail: [email protected]

Immer dringender wurden zur Jahrhundertwende in den Großstädten wirksame Strategien zur Eindämmung des Lärms gesucht. Der Spielraum dafür erwies sich allerdings schon bald als ziemlich beschränkt, wie der Berliner Stadtbauinspektor Georg Pinkenburg in einer Studie unmissverständlich feststellte. Insbesondere den Straßenlärm konnte man seiner Meinung nach bestenfalls verringern, keinesfalls aber völlig beseitigen. Und auch die oberste Gesundheitsbehörde in Wien, das Stadtphysikat, prognostizierte, dass "dessen erfolgreiche Bekämpfung in Großstädten wohl für lange Zeit nur ein frommer Wunsch bleiben dürfte". Was blieb, waren individuelle Schutzvorrichtungen, Ohrstöpsel, mit denen man sich zu jeder Zeit und an jedem Ort vom Lärm der Außenwelt abzuschotten suchte.

Im Jahr 1885 kam das Antiphon auf den Markt, eine kleine Kugel mit Bügel, die man im Ohr applizierte. Sein Erfinder, der deutsche Hauptmann a. D. Maximilian Pleßner, pries es in einer Werbebroschüre, die er "allen Leidensgenossen" widmete, als "Apparat zum Unhörbarmachen von Tönen und Geräuschen". Als überzeugter Angehöriger des bürgerlichen Standes gelte es, so Pleßner recht arrogant, aufzutreten gegen die akustische "Misshandlung der Gebildeten durch die Ungebildeten, der Gesitteten durch die Rohen, der Erwachsenen durch die Unmündigen, der der Gesamtheit Nützlichsten durch die der Menschheit Entbehrlichsten". Mit Antiphon lege er eine Erfindung vor, mittels derer "jedermann in den Stand gesetzt wird, böswillig oder unabsichtlich erzeugte akustische Unflätereien sich vom Leibe zu halten".

Pleßner hatte erkannt, dass vor allem die Bewohner der Städte zunehmend das Bedürfnis verspürten, sich gegen die zahlreichen "akustischen Projektile" auf den Straßen zu wehren, sich vor "akustischem Schmutz" zu schützen und "inmitten von Geräuschen Stille um sich herum zu schaffen". Die aus Metall oder Hartgummi bestehende Kugel des Antiphons schloss den Gehörgang luftdicht ab und konnte mit dem Bügel in der Ohrmuschel befestigt werden. Zur Optimierung der Passform wurden unterschiedliche Größen und Längen angeboten. Mit einem im Bügel befindlichen Loch konnte ein Antiphonpaar mit einem Karabinerhaken an einer Uhrkette befestigt und so stets bereitgehalten werden. Mit einer Uhr wurde auch der richtige Sitz des Antiphons kontrolliert. Perfekt saß es, wenn das Ticken einer an das Ohr gehaltenen – aber nicht angedrückten! – Taschenuhr nicht mehr zu hören war.

Nach dem Willen von Pleßner sollte das neue Instrument vor allem helfen, die Nachtruhe wiederzuerlangen, etwa als Mittel gegen Schnarchgeräusche. Daneben sollte es den oft unzumutbaren Lärm auf Reisen oder die durch Musikinstrumente oder Schießübungen verursachten Belästigungen vermindern. Zudem sah er es als ideales Hilfsmittel für Schmiede, Böttcher oder Arbeiter in Maschinenfabriken, die alle einer ohrenbetäubenden Tätigkeit nachgingen.

Nervenschonend und zudem relativ kostengünstig fand das Antiphon viele Interessenten. Besonders für nervöse Menschen gehörte es, wie der bekannte Wiener Schriftsteller Peter Altenberg rückblickend bemerkte, schon bald zu den unentbehrlichen Dingen. Die Handhabung des neuartigen "Schalldämpfers" erwies sich jedoch als zu umständlich. Seine Fixierung erzeugte unangenehme

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Druckgefühle oder misslang. Vor allem in der Nacht fiel das Antiphon häufig heraus, was auch Altenberg erlebte. Auch andere stellten fest, dass es bestenfalls im Sitzen oder auf dem Rücken liegend zu gebrauchen sei.

Antiphon findet viele Interessenten

Die Alternative

Eine neue Erfindung versprach Abhilfe: Ohropax, das der erfinderische Berliner Apotheker Maximilian Negwer im Jahr 1907 der Öffentlichkeit vorstellte. Negwer war 1900 aus Schlesien in die deutsche Hauptstadt zugewandert, wo er ein Jahr später eine Apotheke eröffnete. Hier bot er neben dem üblichen Sortiment auch Eigenkreationen an, wie das Fleckenwasser Helgalin oder spezielle Hustenbonbons. Auf der Suche nach neuen Produkten stieß er auf das Thema Lärmschutz – eine Marktlücke, wie er sogleich erkannte. Die zündende Idee entdeckte er, angeblich auf Anregung von Freunden, in der griechischen Mythologie: Wie Homer in der Odyssee berichtet, verschließt Odysseus die Ohren seiner Gefährten mit Wachs, damit sie dem so betörenden wie gefährlichen Gesang der Sirenen widerstehen können.

Negwer unternahm zunächst Versuche mit Bienenwachs, musste jedoch feststellen, dass das Material schnell ranzig und bröckelig wurde und überdies Hautreizungen hervorrief. Nach jahrelangem Experimentieren fand er schließlich die Lösung: in einer Mischung aus Vaseline und Paraffinwachs getränkte Baumwollwatte. Negwers geschmeidige Kügelchen waren leichter zu handhaben als das Antiphon und zudem wirksamer. Sie passten sich jedem Gehörgang an, erzeugten kein Druckgefühl, hielten in jeder Lage, waren hautverträglich und ließen sich rückstandsfrei wieder herausnehmen.

Wenngleich in jenen Jahren auch andere mit Wachs-Baumwoll-Mischungen experimentierten, sollte sich Negwers Erfindung durchsetzen. Er gab seine Apotheke auf und gründete im Herbst 1907 in Berlin-Schöneberg die "Fabrik pharmazeutischer und kosmetischer Spezialitäten Max Negwer". Hier erzeugte er fortan neben diversen Salben, Tinkturen und Riechsäckchen die neuartigen "Ohropax Geräuscheschützer". Im Herbst des Folgejahres erhielten sie ihre berühmt gewordene Verpackung: kleine gelbe Blechdosen. Zu kaufen gab es sie bestückt mit sechs Paar Wachskugeln zum Preis von einer Mark. Die Ohrstöpsel etablierten sich auf dem Markt und als im Ersten Weltkrieg auch die Soldaten damit ausgestattet wurden, war dies der Durchbruch.

Zu den ersten Anhängern des Produkts gehörte erneut Peter Altenberg. Nach seinen unglücklichen Erfahrungen mit dem Antiphon jubelte er nun: "Vor drei Jahren brachte der Apotheker Max Negwer in Berlin die absolut idealen Ohr-Verschlüsse, Geräusche-Schutz, Ohropax, Ohr-Friede, in den Handel. Es waren knetbare Wachs-Watte-Kugeln. Man schlief damit sogar fest, wenn vor dem natürlich offenen Fenster ein Kutscher seine Pferde eindringlich und mit belebenden Worten ersuchte, sich in Trab zu setzen, wozu sie momentan freilich nicht ganz in Stimmung waren." Der expressionistische Dramatiker Carl Sternheim verwendete die Wachskugeln vor allem zur sozialen Abschottung: "Sie […] werden gruppenhafter immer urteilsloser, schwatzen Rundfunk, Grammophon und Phonola, für alle misera plebs selbstverständlich. Ich trage im Umgang mit ihnen Ohropax."

Auch Franz Kafka gehörte zu den vorbehaltlosen Anhängern des neuen Wundermittels. In seinen Briefen kam er gleich mehrmals darauf zu sprechen. "Für den Tageslärm habe ich mir aus Berlin […] eine Hilfe kommen lassen, Ohropax, eine Art Wachs von Watte umwickelt. Es ist zwar ein wenig schmierig, auch ist es lästig, sich schon bei Lebzeiten die Ohren zu verstopfen, es hält den Lärm auch nicht ab, sondern dämpft ihn bloß – immerhin", teilte er Felice Bauer im Juni 1915 mit. Und Jahre später gestand er verzweifelt ein: "Ohne Ohropax bei Tag und Nacht ginge es gar nicht."

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Neben den Zeugnissen von Altenberg, Sternheim und Kafka sind zahlreiche weitere Belege für die (gelegentlich auch metaphorische) Verwendung von Ohropax überliefert. So griff etwa Arno Schmidt, der Eigenbrötler aus Bargfeld, in seinen Großbritannischen Gemütsergetzungen direkt auf den griechischen Mythos zurück: " 'Ohropax' war doch schon zu Homer’s Zeiten keine Schande. – (zitierend): 'Aber ich selbst nahm itzo die mächtige Scheibe des Wachses; / schnitt mit dem Erze sie klein, und drückt’ in nervigen Händen // drauf, in der Reih’ umgehend, / verklebt’ ich die Ohren der Freunde.' " Der überzeugte Atheist kreierte auch den seither oft zitierten Spottvers "Ohropax vobiscum".

Der Protagonist in Alois Brandstetters 1977 erschienenem Roman Die Abtei besucht zwar den Gottesdienst, aber er schützt sich dabei mit Ohropax, "denn das Ohr wird ja nicht nur durch diese laschen und schwachen, wenn auch leider elektronisch verstärkten Predigten, durch das dröhnende Beiseitesprechen, sondern auch durch die traurige Musik und überhaupt durch die bescheidenen Worte dieser sogenannten Wortgottesdienste beleidigt, schwer beleidigt".

Als unverzichtbare Hilfe bei schwerer körperlicher Arbeit erwähnt Heinar Kipphardt in seinem ein Jahr früher erschienenen Roman März die Kugeln: "Schutzbrille, Schutzhelm, Ohropax. Rata rata ratata, schon sind die Hände umrändert, gehen am Faden die Gliedmaßen. Band, Kantine und Band, Abort, Kantine und Band." Der Grafiker und Karikaturist George Grosz kalauert in einem Brief: "Ohren sind zugestoppopft mit Ohropax." Oropax oder Friede den Ohren ist der Titel eines 1971 gesendeten Hörspiels von Peter Turrini und "Ohropax" lautet der Spitzname eines Protagonisten in Theodor Weißenborns 1992 erschienenem Roman Hieronymus im Gehäus: "Dem Ohropax sind in der Nacht alle Hunde verbrannt bei lebendigem Leib und man weiß nicht, was die Ursache des Feuers gewesen."

Ohne Ohropax kein Roman – Besuch bei Walter Kempowski, lautete die Überschrift eines Artikels vom 8. Juli 1972 in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung. Ob in Alkor ("Im Großraumwagen zwei überlaut sprechende Proleten (trotz Ohropax jedes Wort zu verstehen)"), in Sirius ("Ohropax, das ist ein Walkman in pianissimo"), in der Episode Mark und Bein oder in dem Roman Hundstage – die Wachskügelchen hat Kempowski ständig zur Hand, wenngleich er sie gelegentlich mit einer gewissen Skepsis betrachtet: "Das einzige, was mich von Ohropax abhalten könnte, ist der Fußpilz: Harry W. hat erzählt, dass er sich durch Ohropax Fußpilz in die Ohren verpflanzt hat, die Behandlung sei sehr schmerzhaft."

"Das Volk soll immer schön Ohr sein!"

Als Peter Rühmkorf im September 1989 durch die DDR tourte, wollte er unterwegs die gewohnten Utensilien erwerben, aber offenbar fand er keine. So zog er in seinen Tagebüchern 1989 – 1991 unter dem Eindruck, dass "es in diesem lärmintensiven Land kein Ohropax zu kaufen gibt", folgende Schlussfolgerung: "Man kommt dabei immer gleich auf schlechte Gedanken und vermutet Absicht hinter der Mangelerscheinung. Z. B. das Volk soll immer hübsch Ohr sein und sich bei zahlreich verfügten Sammel-, Demonstrations- und Ergebenheitsappellen nicht einfach nach innen abwenden dürfen."

Doch auch in der DDR war der Negwer’sche Ohrenschutz erhältlich. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich die Firma geteilt: In Ostdeutschland wurden die Wachskugeln (übrigens im gleichen Design verpackt) in einem volkseigenen Betrieb im thüringischen Königsee (Kreis Schwarza) hergestellt. Deshalb war es auch keine Anspielung auf die BRD, als Joachim Seyppel in seinem Roman Die Wohnmaschine über einen berühmten Kollegen spottete: "Es spricht der Dichter Peter Hax: / Beim Dichten nimmt man Ohropax!"

"Ein königreich für ein ohropax!", proklamierte – in aufrührerischer Kleinschreibung – H. C. Artmann und der Reiseschriftsteller Rudolf Walter Leonhardt (Xmal Deutschland) empfahl ganz allgemein: "Wer nach Deutschland reisen will, versorge sich mit Ohropax." Nino Erné hingegen hielt die "Knöpfe vom Walky Talky" (er meinte vermutlich einen Walkman) für das "Ohropax der jüngsten Generation" (Alter

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Mann in Manhattan).

Bei Peter Handke dominiert die auch durch Ohrenstöpsel nicht zu lindernde Verzweiflung: "Wie […] halten die anderen den Weltlärm aus? […] Nehmen sie […] Ohropax? Das ist ja auch nicht gut. Man muss sich selber atmen spüren, ein bisschen den Wind hören, das ist wunderbar fürs Schreiben, wenn ich da […] aufschaue, das geht in die Sätze ein, was da durchweht."

Klagen gegen Ohropax – wegen Lärmbelästigung

Genaue Absatzzahlen für die erste Phase der Produkteinführung sind nicht überliefert, die Firma Ohropax expandierte allerdings und verlegte 1924 ihren Standort nach Potsdam. Firmeninterne Schätzungen für die 1930er Jahre gehen von einer jährlichen Produktion von 200.000 bis 300.000 Zwölferdosen aus. Der in der BRD gebliebene Zweig des Unternehmens siedelte zunächst nach Frankfurt am Main und 1951 nach Bad Homburg um. Bis 1990 rollte man die bis in die 1980er Jahre in Blechdosen angebotenen, dann in Dosen aus Plastik verpackten Wachskugeln mit der Hand, seither werden sie vollautomatisch auf zwei computergestützten High-Tech-Fertigungsstraßen hergestellt. Die neue Produktionsweise trug dem Unternehmen allerdings prompt Klagen von Anwohnern wegen der erheblich gestiegenen Lärmbelästigung ein. So siedelte der Familienbetrieb, der heute vom Enkel des Gründers geleitet wird, mit seinen 30 Mitarbeitern in die wenige Kilometer entfernt liegende Gemeinde Wehrheim um. Die jährliche Produktionsmenge beträgt heute rund 30 Mio. Wachskugeln. Tendenz steigend.

Lesen

Peter Altenberg: Prodromos, Berlin 1906 ders.: Geräuscheschutz, in: ders.: Vita ipsa, Berlin 1918

Bericht des Wiener Stadtphysikates über seine Amtstätigkeit und über die Gesundheitsverhältnisse in den Jahren 1900 bis 1902, Wien 1905

Alois Brandstetter: Die Abtei, Salzburg 1977

Die Geschichte unserer Geschichte, www.ohropax.de/2-0-geschichte.html (http://www.ohropax. de/2-0-geschichte.html).

Barbara Dölemeyer: Geschichte der Stadt Homburg von der Höhe, Bd. 5: Aufbruch, Tradition, Wachstum, 1948 – 1990, Frankfurt a. M. 2007

Monika Dommann: Antiphon. Zur Resonanz des Lärms in der Geschichte, in: Historische Anthropologie 14 (2006) 1, S. 133 – 146

Wolf H. Goldschmitt: Künstliche Ruhe, in: Die Welt – Welt Online, 11.2.2006

George Grosz: Briefe 1913 – 1959, hrsg. von Herbert Knust, Hamburg 1979

Peter Handke / Peter Hamm: Es leben die Illusionen – Gespräche in Chaville und anderswo, Göttingen 2006

Franz Kafka: Briefe an Felice, Frankfurt a. M. 1967 ders.: Briefe 1902 – 1924, Frankfurt a. M. 1958

Walter Kempowski: Sirius – Eine Art Tagebuch, München 1993

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Heinar Kipphardt: März, München 1976

Georg Pinkenburg: Der Lärm in den Städten und seine Verhinderung, Jena 1903

Maximilian Pleßner: Das Antiphon. Ein Apparat zum Unhörbarmachen von Tönen und Geräuschen, Rathenow o. J. (1885)

Eduard Pötzl: Die "Antiphonerln", in: ders. (Hrsg.): Wien, Bd. 1: Skizzen, Leipzig o. J., S. 72 – 76

Peter Rühmkorf: Tabu I: Tagebücher 1989 – 1991, Reinbek 1995

Arno Schmidt: Der Triton mit dem Sonnenschirm – Großbritannische Gemütsergetzungen, Karlsruhe 1969

Joachim Seyppel: Die Wohnmaschine oder Wo aller Mohn blüht, Berlin 1991

Heinrich Werner (Hrsg.): Hugo Wolf. Briefe an Rosa Mayreder. Mit einem Nachwort der Dichterin des "Corregidor", Wien u. a. 1921

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autoren: Peter Payer, Ralph Schock für bpb.de

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Es ist Zeit, dass wir auf Abwehr sinnen! Lärmschutz im frühen 20. Jahrhundert

Von Peter Payer 5.7.2016

Peter Payer, Dr., Inhaber eines Büros für historische Stadtforschung, Kurator im Technischen Museum Wien

"Wir müssen dem Lärm begegnen wollen, wir müssen ihn als einen Schädiger der Großstadtmenschen erkennen und dann als solchen bekämpfen. […] Es ist Zeit, dass wir auf Abwehr sinnen!" Mit drastischen Worten rief der Wiener Sozialreporter Max Winter im Mai 1908 zum Kampf gegen den Lärm auf. Verschiedenste Schutzstrategien wurden diskutiert und erprobt, von sozialen Widerstandsbewegungen bis hin zu baulichen, technischen, juristischen und planerischen Maßnahmen. Und wenngleich ihnen nicht immer der erhoffte Erfolg beschieden war, sollten sie letztlich wegbereitend werden für die künftige Auseinandersetzung mit der akustischen Umwelt.

Theodor Lessings "Antilärmverein"

Der Publizist und Kulturphilosoph Theodor Lessing, Privatdozent an der Technischen Hochschule in Hannover, hatte bereits zwei große einschlägige Artikel veröffentlicht, ehe er 1908 das Buch Der Lärm. Eine Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens vorlegte. Darin fasste er die zeitgenössischen Diskussionen zusammen und entwickelte daraus – in enger Anlehnung an Schopenhauer – eine Philosophie des Lärms, interpretiert als Degenerationserscheinung der westlichen Kultur. Lessing verstand sein Buch allerdings weniger als theoretisches Werk denn als Aufruf, gegen den Lärm aktiv zu werden. Mit besonderem Interesse hatte Lessing die aufstrebenden Lärmschutzbewegungen in New York und London verfolgt. Im Oktober 1908 gründete er den Deutschen Lärmschutzverband, der bald unter der populäreren Bezeichnung "Antilärmverein" bekannt werden sollte.

Sitz des Vereins war Lessings Privatwohnung in Hannover, wo er den "Kampf zur Befreiung von Lärm" organisierte. Noch im November des Jahres rief er eine eigene Vereinszeitschrift ins Leben, die in ihrem Titel die Programmatik der Initiative auf den Punkt brachte: Der Antirüpel / Das Recht auf Stille. Monatsblätter zum Kampf gegen Lärm, Roheit und Unkultur im deutschen Wirtschafts-, Handels- und Verkehrsleben. In der ersten Ausgabe gab Lessing sich euphorisch, wenngleich er sich der Schwierigkeit der Aufgabe durchaus bewusst war: "Gewiss, heute sind wir noch in der Defensive! Wir kämpfen, wenn wir die Rohheit, die Rüpelhaftigkeit, die uns umgibt, beanstanden […] nur um unsere Existenz. Wir sind die 'leidende Minorität' inmitten schreiender, feilschender, roh sich überlärmender Millionen. Aber wir wenigen von heute sind die vielen von morgen! Wir fühlen am deutlichsten, wohin die Entwicklung der Massen steuert."

Eine durchaus elitäre Haltung also, der es auf pragmatischer Ebene zunächst einmal darum ging, das "Recht auf Stille" als bürgerliches Menschenrecht zu etablieren und durchzusetzen. Mit der Vereinszeitschrift erhielten Lärmgeplagte erstmals eine mediale Plattform, die ihre Beschwerden veröffentlichte und ausführlich über mögliche rechtliche Schritte informierte. Zudem offerierte der Verein Unterstützung bei Eingaben an amtliche Stellen, Beschwerdekarten mit der Aufschrift "Ruhe ist vornehm" wurden verbreitet, "Blaue Listen" erstellt, die auf ruhige Unterkünfte hinwiesen, und "Schwarze Listen", die unverbesserliche Lärmsünder anprangerten.

In zahlreichen Städten konnte Lessing Sympathisanten für seinen Kampf gewinnen, neben Hannover u. a. in Berlin, Hamburg, Frankfurt am Main, München, Bremen, Dresden, Leipzig, Köln und Wien.

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Nach einem durchaus hoffnungsvollen Beginn entwickelten sich die Mitgliederzahlen jedoch nur äußerst zäh. Im Oktober 1910 gab es erst 1.085 Mitglieder. Zumeist waren es Ärzte, Juristen, Literaten und Künstler, darunter auch der prominente, bekannt hypersensible Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal. Er schrieb an Lessing: "Ihren Feldzug halte ich für notwendig und nützlich im höchsten Grade. Ich leide aufs Peinlichste unter Geräuschen und in einer Weise, die meine Arbeit oft gefährdet, obwohl ich auf dem Lande lebe, um Ruhe zu finden." Lessing war stolz auf den berühmten Fürsprecher und veröffentlichte dessen Brief sogleich in der Vereinszeitung.

Die Reaktionen der Öffentlichkeit waren dagegen ambivalent. Es gab diejenigen, die überschwänglich begrüßten, dass nun endlich etwas gegen die Lärmseuche unternommen werde. Aber es gab auch zahlreiche Gegner, die in Lessing und seinen Anhängern schlicht übersensible Fanatiker sahen, die sich dem Fortschritt der Zeit widersetzten. Man denunzierte sie als verweichlichte Zeitgenossen, denen die Kraft zum Ertragen des Lärms fehle, an den man sich bei etwas gutem Willen durchaus gewöhnen könne. Trotz der Anfeindungen kämpfte Lessing unermüdlich für seine Sache. Er publizierte intensiv in Tageszeitungen und Zeitschriften, hielt Vorträge in allen wichtigen Städten und erlangte auf diese Weise eine hohe mediale Bekanntheit. Dennoch konnte er für sein Anliegen nicht genügend Sympathisanten jenseits des bildungsbürgerlichen Milieus gewinnen.

Mitte des Jahres 1911 übergab Lessing die Geschäftsführung an Hermann Hasse, der den Sitz des "Antilärmvereins" nach Berlin verlegte. Er versuchte, den Verein mit Organisationen aus anderen Ländern zu einer internationalen Lärmschutzbewegung zusammenzuschließen, scheiterte damit aber. Das Interesse blieb zu gering, der "Antilärmverein" und seine Ortsgruppen lösten sich noch vor dem Ersten Weltkrieg auf.

"Geräuschloses Pflaster"

Schon im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hatte eine breite Diskussion über die "Pflasterungsfrage" eingesetzt. Die Gegner des Asphaltpflasters monierten seine geringe Witterungsbeständigkeit und die besonders bei nassem Wetter erhöhte Rutschgefahr für Pferde und Fuhrwerke, während die Befürworter auf die sanitären Vorteile der fugenlosen Oberfläche, die leichtere Reinigung und nicht zuletzt die deutlich geringere Lärmerzeugung hinwiesen. Für die Vereinigungen zur öffentlichen Gesundheitspflege schien es mehr als evident, dass asphaltierte Straßen auf "die ohnehin genug angegriffenen Nerven des Großstädters in hohem Maße beruhigend" wirkten. In einem Vortrag, gehalten im März 1902, hob der Hygieniker Konrad Rumpf eindringlich die "nervenhygienische Notwendigkeit" des Asphaltpflasters und seine zentrale Bedeutung für die künftige Großstadtentwicklung hervor.

Die Fortschritte bei der Asphaltierung waren allerdings regional äußerst unterschiedlich, wie Rumpf anhand von Statistiken zeigte: So gab es in Berlin bereits rund 842.800 Quadratmeter "geräuschloses Pflaster", während es in Wien erst 92.500 waren, in Leipzig 80.800, in Hamburg 24.400 und in München gar nur 10.600. Das Ausmaß, in dem Straßen mit dem neuen Belag versehen waren, geriet zu einem Kennzeichen für Fortschritt und Modernität. Internationales Vorbild war Paris, wo um 1900 bereits ein Drittel aller Verkehrsflächen asphaltiert waren.

Verlegt wurde das Asphaltpflaster zunächst vor allem in besonders ruhebedürftigen Zonen, vor Schulen und Krankenhäusern. Hier hatte man bislang zu diesem Zweck Stroh auf die Straße gestreut, in manchen Städten auch Torf oder Sand. Die Verlegung des "geräuschlosen Pflasters" war – zumindest in den Anfangsjahren – auch eine zutiefst soziale Frage. Denn bevorzugt wurden eindeutig die Innenstadtbereiche, aristokratisch-bürgerliche Viertel und weniger die proletarischen Vorstädte. Erst in den folgenden Jahrzehnten sollte der Asphalt in periphere Stadtbereiche vordringen. Womit nicht zuletzt auch für die Fortbewegung im Automobil der ideale Untergrund gefunden war und der Asphalt endgültig zum mythisch aufgeladenen "Stoff der Großstadt" avancierte.

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"Haben die Techniker es zustande gebracht, so viel Lärm in der Welt zu machen, so müssen sie auch das Genie besitzen, ihn wieder zu bekämpfen", forderte ein lärmgeplagter Zeitgenosse im November 1908. Man setzte größte Hoffnungen in die technische Lösung des Lärmproblems. Erneut stand der komplexe Bereich des Verkehrs im Mittelpunkt; hier probierte man – abgesehen von den oben erwähnten Straßenbelägen – zahlreiche neue Erfindungen aus.

Als überaus wohltuend für die Ohren erwiesen sich Fahrzeugräder mit luftgefüllten Gummireifen anstelle der bisher üblichen Reifen aus Vollgummi, Metall oder Holz. 1888 / 89 vom britischen Tierarzt John Boyd Dunlop und dem französischen Industriellen Edouard Michelin erfunden, Der Erfinder des luftgefüllten Gummireifens, der englische verbreitete sich die pneumatische Gummibereifung sogleich in vielen Tierarzt John Boyd Dunlop, europäischen Städten. Fahrräder, Autos und Fiaker wurden damit fährt Fahrrad. Um 1920. (© picture-alliance, akg-images) ausgestattet. Letztere, in Wien "Gummiradler" genannt, waren etwas teurer als die herkömmlichen Lohnkutschen, dafür aber besonders begehrt, da sie eine deutlich angenehmere Fahrt ermöglichten.

Ebenfalls deutlich lärmmindernd wirkte sich die technische Verbesserung der Wagenfederung aus, insbesondere bei den bisher oft völlig ungefederten Lastfuhrwerken. Um auch das Getrappel der Zugtiere etwas zu dämpfen, experimentierte man in manchen Städten damit, Hanfstricke in die Hufe der Pferde zu legen. Und nicht zuletzt war auch die Erfindung von leiseren bzw. ein- statt mehrtönigen Hupen ein wichtiger Beitrag zur Reduzierung der so störenden Verkehrsgeräusche.

Dem schwierigen Problem der Straßenbahngeräusche begegneten die Techniker mit einer effizienteren Verklammerung der Schienenstöße, die das von den Gleisverbindungen verursachte Rattern, Stoßen und Kreischen minimieren sollte. Für die in den Großstädten teils in Hochlage verkehrende Stadtbahn erwiesen sich zudem Viadukte aus Stein statt aus Eisen als akustisch vorteilhafter, ebenso wie die Verlegung der Gleise in einer genügend starken Kiesbettung. Die Störgeräusche im Inneren der Abteile sollten durch vermehrte Verwendung von Holz, verbesserte Wagenfederungen und Drehgestelle sowie exakt montierte Fensterverschlüsse minimiert werden, von einem "wirklich ruhigen Fahren" war man aber, so die Klage eines Zeitgenossen, noch weit entfernt. Auch die zur Jahrhundertwende in Angriff genommene Elektrifizierung der Straßen- und Stadtbahnen hatte einen lärmmindernden Effekt, der sich für Passanten wie für Anrainer wohltuend bemerkbar machte. Der jetzt noch verbliebene Lärm der Straßenbahnen könnte schließlich, so die Hoffnung, durch Umwandlung derselben zu Untergrundbahnen in die Tiefe versenkt werden.

Baumaßnahmen und "öffentliche Ruhehallen"

Eine Lärmreduktion sollte auch bei der Errichtung von Wohnbauten erreicht werden. Der Einbau von Doppelfenstern, in die gegebenenfalls schalldämpfende Polster gelegt werden konnten, war – zumindest in den Städten – bereits weitgehend Standard. Doppeltüren hingegen waren fast ausschließlich in Hotels verbreitet. Bei der Verlegung von Böden plädierte man dafür, die Dielen nicht direkt auf die Trägerbalken zu nageln, sondern auf in Schüttungsmaterial eingebettete Spurleisten. Zur (nachträglichen) Schallisolierung der Wände wurde Korkstein empfohlen.

Die Disziplin der Bauakustik, deren Augenmerk sich auf alle Lebensbereiche erstreckt, befand sich zur Jahrhundertwende noch in den Kinderschuhen. Hans Christian Nußbaum, Professor für Hygiene in Hannover und einer der führenden Protagonisten der jungen Fachrichtung, legte Architekten nahe, die unterschiedlichen Ausbreitungsarten des Schalls in Form von Luft- und Bodenschall zu berücksichtigen. Auf Vorträgen gab er zahlreiche Anregungen zur Verbesserung des gebäudebezogenen Schallschutzes; er plädierte zudem dafür, Häuserblocks mit großzügigen

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Innengärten auszustatten und sämtliche Wohn- und Schlafräume weg von der Straße hin zum Hof zu orientieren.

Einen eigenständigen architektonischen Weg beschritt Robert Sommer, Medizinalrat in Gießen. Er schlug die Errichtung von speziellen "öffentlichen Ruhehallen" in Großstädten vor. Den durch Lärm, Hektik und Nervosität belasteten Stadtbewohnern sollte ein akustischer Erholungsraum geboten werden. Der Prototyp wurde im Jahr 1911 auf der großen Hygiene-Ausstellung in Dresden in einem ruhigen Winkel des Königlichen Gartens errichtet. Das relativ einfach konstruierte Gebäude bestand aus zwei großen Höfen, um die jeweils fünf Einzelkabinen – streng nach Geschlechtern getrennt – angeordnet waren, plus Toilettenanlagen und Räume für das Betreuungspersonal. Nach Bezahlung einer geringen Eintrittsgebühr konnten die Besucher eine Stunde lang in bequemen Liegestühlen Platz nehmen, sich im Freien oder drinnen erholen, die Ruhe genießen oder die Zeit mit Lektüre verbringen. Anders formuliert: Ausgestellt wurde hier erstmals in der Geschichte nichts anderes als – die Stille.

Der Erfolg sprach für sich: "vorzügliche Einrichtung", "ausgezeichnete Idee" urteilten die Zeitgenossen. "Man staunt, dass Derartiges erst so spät zur Einführung gelangt. Sollte überall anzutreffen sein zum Wohle der Menschheit." Angesichts des derart positiven Feedbacks erweiterte Sommer sein ursprüngliches Konzept.

Bereits im folgenden Jahr, auf der Städteausstellung in Düsseldorf, ließ er einen weit größeren Pavillon errichten. Unermüdlich propagierte er seine Idee. Denn seiner Überzeugung nach hatten nicht nur die Besucher von Großausstellungen, sondern letztlich alle durch Lärm und Hektik belasteten Großstädter ein Recht auf derartige Erholungsorte. Die von ihm angeschriebenen Stadtverwaltungen reagierten jedoch mit Vorbehalt. Zu gering erschien ihnen die Nachfrage; an die neuen akustischen Verhältnisse würden sich die Menschen schon gewöhnen, hieß es. Der Traum des Arztes Robert Sommer, "öffentliche Ruhehallen" in allen Großstädten Deutschlands zu errichten, blieb Utopie.

Gesetzliche Regelungen

Mit juristischen Mitteln gegen den Lärm vorzugehen, ist ein nicht gerade einfaches Unterfangen. Lessing ging in seiner Kampfschrift sowohl grundsätzlich als auch in Form von Fallbeispielen ausführlich auf diese Frage ein, um letztlich einzugestehen, dass der Lärm eine hohe subjektive Komponente aufweise, die es – zumindest bisher – verhindert habe, ein geeignetes juristisches Instrumentarium zu entwickeln. Sprachliche Hilfskonstruktionen, die Bezug nehmen auf Empfindungen von "normalen Durchschnittsmenschen", auf "Ortsüblichkeit" oder "Gewöhnlichkeit" belegten seiner Meinung nach anschaulich die Schwierigkeiten, das Phänomen juristisch in den Griff zu bekommen.

Rein faktisch gab es eine Fülle von gesetzlichen Möglichkeiten, gegen den Lärm vorzugehen. "Der rechtliche Schutz des Gehörs" wurde, wie der deutsche Jurist Hermann Beuttenmüller in seinem gleichnamigen, 1908 erschienenen Standardwerk feststellte, in zahlreichen Gesetzesmaterien thematisiert, vom Strafgesetzbuch und der Gewerbeordnung über bezirks- und ortspolizeiliche Vorschriften, Straßenverkehrsordnungen und Hausordnungen bis hin zum Bürgerlichen Gesetzbuch.

Im völligen Gegensatz dazu stand jedoch das Handeln der Behörden. Denn de facto hatte man als Betroffener nach wie vor nur wenig Chance, sich auf juristischem Weg gegen unzumutbaren Lärm zu wehren. Allzu nachsichtig und lax interpretierten die Behörden die Frage der Lärmbelästigung, wie Kritiker betonten, unter ihnen Eduard Ritter von Liszt, selbst Jurist und Mitglied des "Antilärmvereins" in Wien: "Gesetzgebung und Behörde gehen in ihrem Bestreben zur Erreichung wirklicher oder eingebildeter Ziele oft genug ganz rücksichtslos vor. Rücksichtslosen Ruhestörern gegenüber aber ergehen sie sich in zartester Scheu, in einem sonst ganz ungeahnten Respekt vor der menschlichen Freiheit. […] Aber es ist denn doch nicht einzusehen, […] weshalb gerade immer nur allein der ruhebedürftige, friedliebende Mensch seine Rechte aufgeben soll, während Gesetzgebung wie Behörde sich geradezu ängstlich hüten, rohe und rücksichtlose Ruhestörer zur Befolgung der einfachsten Anstandspflichten zu verhalten."

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Die kritisierte Laxheit der Behörden resultierte nicht zuletzt aus dem Mangel an wissenschaftlichen und praktischen Untersuchungen, anhand derer man Lärmschädigungen exakt hätte nachvollziehen können. So blieben letztlich ein relativ großzügiger Interpretationsspielraum und eine Fülle an Einzelmaßnahmen, die eine systematische und grundlegende juristische Auseinandersetzung mit der Lärmproblematik erschwerten.

Städtebau und Stadtplanung

Unter dem Eindruck des enormen Städtewachstums tauchten bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Forderungen nach einer Gesamtplanung urbaner Agglomerationen auf. Reinhard Baumeister, Ingenieur in Karlsruhe, hatte 1876 seine wegweisende Publikation Stadt-Erweiterungen in technischer, baupolizeilicher und wirthschaftlicher Beziehung veröffentlicht – die Gründungsschrift des modernen Städtebaus. Darin wies er erstmals auf die Notwendigkeit einer umfassenden Planung hin, wollte man die Personen- und Güterzirkulationen effizienter organisieren und die grenzenlose Ausbreitung der Stadt verhindern. Bald schlossen sich auch die Hygieniker den Forderungen der Techniker nach einem rational gestalteten und funktionell definierten Stadtraum an.

Eine möglichst saubere Trennung der Wohn-, Industrie- und Erholungsgebiete wurde gefordert, umzusetzen mithilfe neu erstellter Generalregulierungs- und Bauzonenpläne. Aus hygienischer Perspektive wurde eine Verringerung der Belastung mit Staub und üblen Gerüchen als Grund für diese räumliche Entflechtung der Stadtfunktionen angeführt; immer stärker kam aber auch der Lärm als Argument zum Tragen. Große lärmintensive Betriebe sollten an den Stadtrand verlagert, Grünräume als Ruhegebiete erhalten werden. Auch bei der Erstellung von Bebauungsplänen und Bauordnungen wurde der Schallschutz allmählich zu einem beachteten Thema.

Insgesamt war die sich formierende Disziplin der Stadtplanung jedoch noch eindeutig visuell dominiert. Selbst so einflussreiche Architekten wie Otto Wagner oder Camillo Sitte gingen in ihren Planungen in erster Linie vom Primat des Visuellen aus. Wenn Aspekte des Lärmschutzes in die zeitgenössische Stadtplanung eingingen, dann am ehesten in der Grünraumplanung. Schon 1896 plädierte Josef Stübben, Architekt und Stadtbaurat von Köln, in seiner Schrift Hygiene des Städtebaus für die Anlage von nach außen hin abgeschlossenen Gärten, ohne Fahrwege und mit für alle zugänglichen "Ruheinseln". Der Stadttheoretiker Martin Wagner, dessen Überlegungen heute als die historisch erste Freiflächentheorie gelten, trat einige Jahre später ebenfalls für eine adäquate Ausgestaltung von Grünflächen ein, die im Falle von innerstädtischen Parks und Spielplätzen nicht zuletzt aus Gründen des Lärmschutzes von zentraler Bedeutung seien.

Die Sehnsucht nach ruhigen, begrünten Erholungsräumen floss auch in andere städtebauliche Reformideen jener Zeit ein. So propagierte die vom britischen Sozialreformer Ebenezer Howard initiierte Gartenstadtbewegung die Gründung von dezentralen Kleinstädten mit ausgedehnten Grünflächen, die durch leistungsfähige öffentliche Verkehrsmittel mit der Zentralstadt verbunden sein sollten. Die Idee fasste in Deutschland rasch Fuß, angetrieben durch den Publizisten Hans Kampffmeyer und seine medialen Aktivitäten. In die gleiche Richtung zielte die sich formierende Schrebergartenbewegung, eine Initiative zur Anlage von gesundheitsfördernden Kleingärten, benannt nach dem Leipziger Arzt Daniel Moritz Gottlieb Schreber.

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 67 Sommerfrische

Um 1900 bildete sich die Sommerfrische als bürgerliche und nicht zuletzt akustisch motivierte Fluchtbewegung heraus. Es wurde zur Mode, den Sommer auf dem Land zu verbringen und so dem Lärm der Städte zu entfliehen, wie der Wiener Arzt Wilhelm Stekel 1905 feststellte: "Im Sommer eilen wir aufs Land, nicht nur um frische Luft zu bekommen, ganz unbewusst drängt uns das Verlangen nach Ruhe, nach stillen Stunden ohne Lärm. All die Touristen, die Bergsteiger, die Radfahrer, sie treibt außer der Liebe zur Natur, zur reinen staubfreien Luft, noch das Bedürfnis nach Ruhe hinaus in die stillen fernen Orte, wo die Luft so wenig schwingt, wo alle Geräusche verhallen und der Mensch ohne Störung den Stimmen seines Innern lauschen kann."

Mondäne Sommerfrischeorte entstanden an den Seen des österreichischen Salzkammerguts, in den Bergen des Semmeringgebiets oder in den international renommierten Kurbädern von Bad Gastein, Karlsbad oder Marienbad. Aber auch zahlreiche kleinere Orte in der näheren und weiteren Umgebung der Großstädte, in ruhigen Tälern gelegen, wurden immer häufiger zu Zufluchtsorten. Die gesunde Luft und die "nervenschonende Ruhe" avancierten zu den gewichtigsten Argumenten, mit denen die Sommerfrischeorte warben. Durch Eisenbahnlinien gut erschlossen und schon bald mit den Insignien bürgerlichen Lebens wie Theater oder Kaffeehaus ausgestattet, etablierte sich eine ersehnte Gegenwelt für die geplagten Ohren der Städter, weit entfernt von der gewohnten Geräuschkulisse.

Ihre akustische Sensibilität nahmen aber so manche auch in die Sommerfrische mit, wie das Beispiel Hugo von Hofmannsthal zeigt. Er hatte sich in Altaussee niedergelassen und dort ein einfaches Bauernhaus bezogen, das er sogleich mit Doppeltüren ausstatten ließ. Dennoch war er bisweilen vom Läuten der Kuhglocken so genervt, dass er, wie Zeugen berichten, sogar einmal eine volle Kaffeetasse an die Wand schmiss.

Komponierhäuschen von Gustav Mahler am Attersee Lizenz: cc by-sa/3.0/de (Wikimedia, Furukama) Auch der als "Ferienkomponist" bezeichnete Gustav Mahler suchte einen ruhigen Ort, an dem er seinem anstrengenden Leben als Wiener Operndirektor entfliehen konnte. Von 1894 bis 1896

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 68 verbrachte er die Sommer in dem kleinen Ort Steinbach am Attersee, an dessen Ufer er sich ein Komponierhäuschen errichten ließ, mitsamt strengsten Verhaltensauflagen für seine Umgebung. So durften etwa Dorfkinder nicht auf der Wiese nahe dem Häuschen spielen, wandernde Musikanten wurden verscheucht, Hunde, Katzen, Hühner und Gänse ferngehalten. Akustisch völlig unbeeinträchtigt zu sein, war Mahlers oberstes Ziel.

Dass es besonders erholsam und ruhig sei, war eine der prägendsten Erfahrungen, von denen die Sommerfrischler ihren in der Stadt zurückgebliebenen Verwandten und Bekannten berichteten. Die Stadt zu verlassen, saisonal oder auch für immer, sollte sich als eine der populärsten Schutzmechanismen gegen den Lärm erweisen, mit nachhaltigen Folgen jedoch für das zunehmend zersiedelte Umland.

Lesen

Der Antirüpel / Antirowdy / Das Recht auf Stille, Nr. 1 / 1908-Nr. 6 / 1911

Lawrence Baron: Noise and Degeneration. Theodor Lessing’s Crusade for Quiet, in: Journal of Contemporary History 17 (1982) 1, S. 165 – 178

Hermann Beuttenmüller: Der rechtliche Schutz des Gehörs, Karlsruhe 1908

Karin Bijsterveld: Mechanical Sound. Technology, Culture and Public Problems of Noise in the Twentieth Century, Cambridge 2008

Monika Dommann: Antiphon. Zur Resonanz des Lärms in der Geschichte, in: Historische Anthropologie 14 (2006) 1, S. 133 – 146

John Goodyear: Escaping the Urban Din. A Comparative Study of Theodor Lessing’s "Antilärmverein" (1908) and Maximilian Negwer’s "Ohropax" (1908), in: Florence Feiereisen / Alexandra Merley Hill (Hrsg.): in the Loud Twentieth Century. An Introduction, New York 2011, S. 19 – 34

Hermann Hasse: Die internationale Lärmschutzbewegung, Gautzsch b. Leipzig 1914

Matthias Lentz: "Ruhe ist die erste Bürgerpflicht”. Lärm, Großstadt und Nervosität im Spiegel von Theodor Lessings "Antilärmverein", in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Bd. 13, 1994, S. 81 – 105

Theodor Lessing: Der Lärm. Eine Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens, Wiesbaden 1908

Eduard Ritter von Liszt: Schutz unseren Nerven!, Sonderabdruck, Bielitz 1913

Hans Christian Nußbaum: Bedeutsame Ansprüche an Bebauungspläne und Bauordnungen, in: Zeitschrift für öffentliche. Gesundheitpflege 2 – 3 (1914), S. 138 – 142

Peter Payer: Unerwünschte Geräusche. Lärm und Großstadt im 20. Jahrhundert, in: Blätter für Technikgeschichte 66 / 67 (2004 / 2005), S. 69 – 94

Konrad Rumpf: Über Straßenpflege vom hygienischen Standpunkte, in: Monatsschrift für Gesundheitspflege 9 –10 (1902), S. 189 – 199

Klaus Saul: Wider die "Lärmpest". Lärmkritik und Lärmbekämpfung im Deutschen Kaiserreich, in: Dittmar Machule u. a. (Hrsg.): Macht Stadt krank? Vom Umgang mit Gesundheit und Krankheit, Hamburg 1996, S. 151 – 192

Ernst Otto Schubarth: Über geräuschloses Pflaster, insbesondere über Asphalt-Pflaster, Wien 1892

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Robert Sommer: Öffentliche Ruhehallen, Halle 1913

Wilhelm Stekel: Hygiene der Straße, in: Wiener Bilder 32 (1905), S. 19

Josef Stübben: Hygiene des Städtebaus, Jena 1896

Michael Toyka-Seid: Noise Abatement and the Search for Quiet Space in the Modern City, in: Dieter Schott u. a. (Hrsg.): Resources Of The City. Contributions To An Environmental History Of Modern Europe, Aldershot 2005, S. 215 – 229

Martin Wagner: Das sanitäre Grün der Städte, ein Beitrag zur Freiflächentheorie, Berlin, Diss. der Techn. Hochschule, 1915

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Peter Payer für bpb.de

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Come Quick, Danger! Vom ersten funkentelegraphischen Notruf zum SOS-Jingle

Von Christian Kassung 5.7.2016

Christian Kassung, Dr., Professor für Kulturtechniken und Wissensgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin.

[An dieser Stelle befindet sich ein eingebettetes Objekt, das wir in der PDF-/EPUB-Version nicht ausspielen können. Das Objekt können Sie sich in der Online-Version des Beitrags anschauen: http:// www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/sound-des-jahrhunderts/209587/come-quick-danger] Ihr Browser unterstützt keine iframes.[An dieser Stelle befindet sich ein eingebettetes Objekt, das wir in der PDF-/EPUB-Version nicht ausspielen können. Das Objekt können Sie sich in der Online-Version des Beitrags anschauen: http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/sound-des-jahrhunderts/209587/ come-quick-danger] Ihr Browser unterstützt keine iframes. Im Jahr 1909 ereigneten sich zwei Schiffsunfälle mit glimpflichem Ausgang. Die britische RMS Republic, eines der größten und luxuriösesten Passagierschiffe seiner Zeit, kollidierte im Januar mit der sehr viel kleineren italienischen Florida. Ihr Funker sendete das Notsignal CQD, woraufhin die Passagiere von der zu Hilfe geeilten Baltic gerettet wurden. Sechs Monate später lief die ebenfalls britische RMS Slavonia vor den Azoren auf Grund. Diesmal aber wurde nicht nur CQD, sondern auch SOS gefunkt und zwei deutsche Schiffe nahmen die Passagiere auf.

Wie kommt es, dass in internationalen Gewässern unterschiedliche Notsignale auf Schiffen gleicher Nationalität verwendet wurden – und das, obwohl sich drei Jahre zuvor die meisten großen Industrienationen auf einen allgemeinen Code geeinigt hatten? Offensichtlich herrschte noch Anfang des 20. Jahrhunderts auf hoher See eine radiotelegraphische Kakophonie. Statt eines eindeutigen SOS wurde auf den Notfallfrequenzen ein komplizierter Rettungsdialekt gefunkt, in dem sich unterschiedliche Stimmen aus Technik, Macht, Tradition und Politik mischten. Diese Kakophonie soll im Folgenden entwirrt werden.

CQD – die RMS Republic

Wie viele Schiffe ihrer Zeit überquert die Republic regelmäßig den Atlantik, um auf der Westpassage europäische Auswanderer und auf der Rücktour wohlhabende Amerikaner, die im Mittelmeerraum Urlaub machen wollen, zu transportieren. Am 22. Januar 1909 legt sie in New York ab und gerät am nächsten Morgen vor der Küste von Massachusetts in dichten Nebel. Kapitän Inman Sealby lässt zwar mit dem Nebelhorn Signal geben, reduziert die Geschwindigkeit jedoch kaum. So kollidiert die Republic in den frühen Morgenstunden mit der Florida, die in entgegengesetzter Richtung von Neapel nach New York unterwegs ist. Es dringt Wasser ein, das Schiff bekommt Schlagseite und droht zu sinken.

Voraussetzung für jede nautische Rettungsaktion ist der "Schiffbruch mit Zuschauer": Ein anderes Schiff muss das Unglück gesehen haben oder davon in Kenntnis gesetzt werden. Technisch besehen wurde Letzteres mit der Erfindung der Radiotelegraphie zum Ende des 19. Jahrhunderts möglich. Schiffe mussten sich nicht länger in Sicht- oder Hörweite befinden, um eine Rettungsaktion zu starten.

Kurz bevor die Energieversorgung der Republic zusammenbricht, gelingt es dem britischen Bordfunker John Robinson Binns, das erste telegraphische Notsignal der Schifffahrtsgeschichte abzusetzen. Der

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1884 geborene "Jack" ist kein einfacher Bordfunker, sondern ein Marconi-Operator, der – zumindest der Legende nach – unter Einsatz seines Lebens nach Batterien taucht, mit denen er das Funkgerät wieder instand setzt. Um 6:38 Uhr hackt er die komplizierte Buchstabenfolge CQD in den Morsetaster; zwei Minuten später bestätigt die Küstenstation den Empfang.

Die Küstenstation erreicht ihrerseits zwei Stunden später die ebenfalls britische Baltic, die sich sofort auf den Weg macht. Bei der Suche nach dem verunglückten Schiff helfen so unterschiedliche Medien wie die Funkentelegraphie, Leuchtraketen, Kanonenschüsse und Nebelhörner. Mit ihrer Hilfe tauschen die beiden Kapitäne Nachrichten aus, um gegenseitig ihre Position zu bestimmen, wobei das Hören zum wichtigsten Ortungssinn wird: "You are getting louder. Keep steering east-southeast. Listen for our ship’s bell." (The Outlook, 6. Februar 1909) Nach etwa zwölf Stunden ist die Baltic an der Unglückstelle, nimmt Passagiere und Besatzung auf und die Republic sinkt mitsamt einem sagenhaften Goldschatz. Um Jack Binns entsteht ein regelrechter Hype. Die New York Times feiert ihn als Helden der drahtlosen Telegraphie, inklusive Gala-Dinner, Filmreportage und Heldenlied.

SOS – die RMS Slavonia

In der Nacht zum 9. Juni 1909 läuft die RMS Slavonia vor der Ilhéu da Baixa Rasa auf Grund. Das britische Passagierschiff ist von New York ins Mittelmeer unterwegs. Weil die Passagiere der Ersten Klasse etwas erleben wollen, umfährt Kapitän Arthur George Dunning die Azoren nicht auf der üblichen Nordroute, sondern gibt Befehl, die Insel Flores südlich zu umlaufen. Nachmittags zieht dichter Nebel auf, hinzu kommt eine starke Nordströmung, sodass das Unvermeidliche um zwei Uhr in der Früh geschieht.

Läuft ein Schiff auf Grund, verbleibt in den meisten Fällen ausreichend Zeit zur Rettung der Passagiere. Die New York Times rekapituliert am 13. Juni 1909 den Rettungshergang: "Wireless-telegraphy played a prominent part in the saving of the Cunard Line steamer Slavonia […]. The steamer Prinzess Irene of the North German Lloyd Line was 180 miles away when the wireless call for help, ‚C. Q. D.‘ was picked up." Laut Pressebericht also wurde CQD gefunkt, was aber anderen Quellen zufolge nicht stimmt: Die Slavonia sendete sowohl CQD wie auch SOS. Die funkentelegraphischen Medien oder zumindest der ihnen zugrundeliegende Code waren 1909 noch keineswegs verlässlich. Um den Code wurde noch gerungen, als der Funk längst schon die ersten Passagiere aus Seenot rettete, und der SOS-Jingle setzte sich erst später durch – warum?

SOS in Morsecode Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (Wikimedia, Dr. Schorsch)

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 72 Morse: vom Schreiben

Das Radio begann nicht mit dem Klang, sondern mit der Schrift. Denn was in der Anfangszeit übertragbar war, waren nicht akustische Signale, sondern lediglich digitale Codes. Bevor das Radio schöne Klänge oder zumindest krächzende Stimmen und verstümmelte Musik übertragen konnte, war es drahtlose Telegraphie, also Morsen via Äther überall dort, wo keine Kabel verlegt werden konnten.

Folglich ließen 1897 die ersten Radioübertragungen über eine längere Seestrecke hinweg kleine Signalglöckchen klingeln: Signal an oder Signal aus. Durchgeführt wurden diese Experimente am Ärmelkanal von dem kaum 23 Jahre alten, in der wissenschaftlichen Welt völlig unbekannten Guglielmo Marconi. Der reiche Ex-Student verstand von Wissenschaft wenig, hatte jedoch ein enormes technisches Gespür und ein ausgeprägtes wirtschaftliches Geschick. So war die Marconi Company innerhalb von wenigen Jahren im Besitz aller Übertragungspatente.

SOS

SOS, das internationale Morsekode-Notrufsignal (Quelle: Wikimedia) (https://commons.wikimedia.org/ wiki/SOS)

Was hörte man im Äther der Radiotelegraphen? Übertragen wurden die Nachrichten mithilfe der Codestrategie von Samuel F.B. Morse und Alfred Lewis Vail, die sich bereits bei der drahtgebundenen Telegraphie bewährt hatte. Optimiert wurde dieses System vielleicht nicht zufällig von dem Schriftsteller und Musiker Friedrich Clemens Gerke, ging es doch darum, möglichst störungsfrei und schnell Buchstaben in Töne oder genauer: in exakt einen Ton zu verwandeln. Als digitaler Code bestand das Morsealphabet fortan nur aus kurzen oder langen Tönen, die durch Pausen getrennt werden können. So reicht eine Folge von maximal fünf Zeichen, um alle Buchstaben und Zahlen zu transkribieren, wobei eine einfache Regel den Takt bestimmt: Je seltener ein Buchstabe vorkommt, umso mehr Zeichen dürfen auf ihn verwendet werden. Im Gegensatz zu S und O sind C, Q und D also relativ aufwändig codiert. Weshalb SOS der gegen Störungen besser gefeite Hilferuf ist. Doch so weit war die Geschichte noch nicht.

Marconi: zum Horchen

Denn die Funker gehörten zumeist nicht zur Crew, sondern zur Marconi Company. Die Firma trainierte junge Männer etwa ein Jahr, um sie anschließend an Schifffahrtsgesellschaften zu vermieten. Auch die Funkerbuden waren Firmeneigentum. Zur Jahrhundertwende verschaffte sich Marconi mit diesem Leasing-Modell eine faktische Monopolstellung, weil aufgrund der Codierung nur die spezialisierten Funker in der Lage waren, die Nachricht hörend zu verstehen. Die Botschaften waren ein Kontinuum des Rauschens und Knackens; ihre Bedeutung erschloss sich nur dem trainierten Ohr. Der Kanal also rauschte und nur die Marconisten waren fähig, Botschaft und Rauschen voneinander zu trennen. Doch es gab noch eine zweite Form der Störung, eine rein semantische. Die Codierung der Notsignale variierte von Schiff zu Schiff, von einem einheitlichen Sound konnte zu Beginn der nautischen Funkentelegraphie noch keine Rede sein. Ein erster Versuch der Vereinheitlichung wurde 1903 auf der Internationalen Funk-Vorkonferenz unternommen, auf der so unterschiedliche Vorschläge wie CQD (Italien, England), NC (Amerika), SSSDDD (Italien), SOE oder SOS (beides Deutschland) diskutiert wurden, jedoch keine Einigung erzielt werden konnte, sodass man diese Frage an eine Folgekonferenz delegieren musste.

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Guglielmo Marconi, italienischer Funktechniker, erfand 1895 die geerdete Sendeantenne, und 1896 die erste Übertragung drahtloser Signale. (© picture-alliance, akg-images) Inmitten dieser nautischen Kakophonie schuf Marconi Tatsachen. Per Firmenanweisung verpflichtete er am 7. Januar 1904 seine Funker, fortan im Notfall ausschließlich CQD zu senden: "Come Quick, Danger!" Oder hieß es "Seek you. Distress"? Egal, wie man es nimmt: CQD war eine Nachricht, ein Code, aber kein Sound. Denn "lang-kurz-lang-kurz lang-lang-kurz-lang lang-kurz-kurz" war weder gut memorierbar noch rhythmisch ein-gängig. Es ging zurück auf das in der Festlandtelegraphie bereits eingebürgerte CQ für "sécu", sprich sécurité. Man könnte es also übersetzen mit "An alle: Seenot! " Womit die späteren, sich als Abkürzungen verstehenden Auflösungen eben dies sind: spätere Zuschreibungen. Die Buchstabenfolge CQD ist eine gute Nachricht, aber ein schlechter Klang – für SOS gilt das genaue Gegenteil. Eine eigentliche Bedeutung haben beide nicht.

Aber nicht nur auf der Ebene des Codes, sondern auch politisch war der Seefunk starken Störungen ausgesetzt. Im Nordatlantik beherrschte Marconi den Äther. Zwar konnten Marconisten die Signale der deutschen Systeme Slaby-Arco und Braun-Siemens technisch empfangen, doch taten sie dies aus marktstrategischen Gründen schlichtweg nicht. Die Situation spitzte sich zu, als Deutschland seine Kräfte mit der Gründung der Telefunken bündelte und England und Italien das Schlussprotokoll der Funk-Vorkonferenz nicht unterzeichneten. Denn in Paragraf 2 war bestimmt worden, dass zukünftig alle Nachrichten ohne Rücksicht auf die jeweiligen Systeme weiterzubefördern seien.

Und folglich wurde am 1. April 1905 in Deutschland SOS als Notzeichen festgelegt – der vielleicht wichtigste Jingle des 20. Jahrhunderts war offiziell geboren. In der Regelung der Funkentelegraphie im Deutschen Reich hieß es: "Zur Anwendung kommen die bekannten Morsezeichen, denen folgende Signale hinzugefügt sind: […] ···−−−··· Notzeichen; wird von einem Schiffe in Not so lange wiederholt, bis alle anderen Stationen ihren Verkehr abgebrochen haben." Entscheidend ist bei dieser Anweisung, dass ein neues Signal dem bekannten Morsecode hinzugefügt wurde. Man liest also als Notzeichen "··· −−−···" und nicht S O S mit einer kleinen Pause hinter jedem einzelnen Buchstaben. SOS ist keine Nachricht, sondern ein Sound. Im Gegensatz zum CQD der Marconisten setzte man in Deutschland unter der Ägide des Rundfunkbegründers Hans Bredow auf bedeutungsfreien, aber möglichst störunanfälligen Sound. Die bekannten Übersetzungen wie "save our souls" oder "save our ship" sind ebenfalls Backronyme.

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Ein Jahr später wurde auf der Internationalen Funkkonferenz in Berlin die Entkoppelung von Nachricht und System beschlossen. Von den insgesamt 29 Teilnehmerstaaten verweigerten geradezu folgerichtig zwei Nationen die Unterschrift: England und Italien. Fast noch schlimmer für die beiden Ausscherer aber wog die Tatsache, dass es auf dieser Konferenz gelang, sich auf das internationale Notsignal SOS zu einigen. Am 3. November 1906 wurde der Internationale Funkentelegraphen-Vertrag unterschrieben.

Damit war eine prekäre Lage eingetreten. Zwar konnten die Marconisten nach wie vor die Versendung fremder Nachrichten verweigern – England und Italien hatten den Vertrag ja nicht unterschrieben – , doch was war, wenn es sich um ein Notsignal handelte? Im Ärmelkanal war die Kakophonie am heftigsten. Hier konnten die deutschen Schiffe nicht mit den britischen Küstenstationen kommunizieren und die Marconisten wollten es nicht mit den deutschen. Und obwohl es ein international gültiges Notrufsignal gab, funkten die Marconisten weiterhin CQD. Oder sie funkten beide Signale. Dies ist der nachrichtentechnische Kontext, in dem die Republic und die Slavonia mit jeweils unterschiedlichen Hilferufen untergingen. Die Lage begann sich erst zu entspannen, als Telefunken-Direktor Hans Bredow im Winter 1910 Verhandlungen mit Marconi aufnahm, woraufhin ein gegenseitiger Nachrichtenaustausch möglich wurde.

Und Hören

Bereits ein halbes Jahr nach dem Titanic-Unglück, am 13. August 1912, setzte der Radio Act einen endgültigen Schlussstrich unter die nautische Kakophonie des Notrufs. Die festgelegten Notruffrequenzen mussten rund um die Uhr abgehört und im Notfall SOS gefunkt werden. Damit fand die Signalgebung auf Schiffen, nachdem sie über ein langes Jahrzehnt hinweg im Medium der Funkentelegraphie als Schrift funktioniert hatte, wieder zum Klang und damit zur offenen Nachricht zurück. Denn bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hatte man Schiffe mit dem bloßen Ohr hören können. Mit Glockenschlägen, abgefeuerten Kanonen oder Nebelhörnern hatte man gegenseitig auf sich aufmerksam gemacht, wenn die Sicht eingeschränkt war. Der SOS-Sound knüpft an diese akustische Warnstrategie an. 1909 tauschte die Marconi Company zwischen ihren Stationen gut eine halbe Million Wörter aus – dazwischen musste sich ein Hilferuf eindeutig hervorheben, zumal sich, statistisch besehen, in diesem Jahr etwa alle 15 Stunden ein Schiffsunglück -ereignete. Je einfacher das Signal, umso höher war die Wahrscheinlichkeit, dass dieses auch gehört wurde. Und genau deshalb schrieb das SOS-Signal eine grandiose Erfolgsgeschichte. Es machte aus dem Schiffbruch ohne Zuschauer einen Schiffbruch mit Zuhörer. Erstens hob sich das Signal besser gegen das Rauschen ab: Das SOS war gewählt worden, weil es eine rhythmisch auffällige Aufeinanderfolge war: drei kurz, drei lang, drei kurz. Eine Folge, die sich im Ohr der Telegrafisten einprägte und so auffällig war, dass man es nicht überhören konnte. Und zweitens verstand jeder die Bedeutung dieses Signals: "A short practice in Morse and in the handling of the receiving instruments will enable any intelligent person with normal hearing to detect the easily-distinguishable ‚S. O. S.‘ call in the event of its being sent out", so G. E. Turnbull 1913.

Morsezeichen von der Titanic

Simulation der letzten radiotelegraphischen Übertragungen von der "Titanic" (Quelle: Wikimedia) (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:RMS_Titanic_distress_signal_simulated_as_morse_code.wav? uselang=de)

Es sind in erster Linie diese beiden Gründe, weshalb noch heute, obwohl wir uns längst anderer Medien und Codes bedienen, jeder die Morsefolge SOS kennt. Wir hören SOS nicht mehr im Zusammenhang von Schiffsunglücken, sondern innerhalb einer breiten Rezeptionsgeschichte in sehr unterschiedlichen fiktiven Not- und Ausnahmesituationen. So landete, um nur das vielleicht prominenteste Beispiel zu

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 75 nennen, die schwedische Pop-Band ABBA mit SOS einen millionenfach verkauften internationalen Hit, in dem allein die Liebe zur rettenden Lösung verhelfen kann.

Ins kulturelle Gedächtnis eingegangen ist SOS nicht als Code, sondern als Jingle. Der Sound des Seenotrufs hat sich zum akustischen Hilfeschrei schlechthin gewandelt, wobei zumeist die Engstellung von Liebe und Katastrophe die zugrunde liegende Narration definiert. Und wie endete die Geschichte dieses Jingles? Kurz und schmerzlos, nämlich mit dem Ende des terrestrischen Seefunks am 1. Februar 1999. Seitdem bleibt nur noch der Griff zum Vinyl, zur CD, zum iPod oder zu welchem klangspeichernden Medium auch immer, um SOS zu hören.

Lesen

Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer, Frankfurt a. M. 1997

Hans Bredow: Aus meinem Archiv. Probleme des Rundfunks, Heidelberg 1950

Charles Frederick Carter: World’s Debt To Wireless, in: The Technical World Magazine, Mai 1911, S. 326 – 335

Friedrich Clemens Gerke: Der praktische Telegraphist oder die electro-magnetische Telegraphie nach dem Morse’schen System, Hamburg 1851

Lars U. Scholl: Marconi versus Telefunken. Drahtlose Telegraphie und ihre Bedeutung für die Schiffahrt, in: Günter Bayerl /Wolfhard Weber (Hrsg.): Sozialgeschichte der Technik, Münster 1998, S. 277 – 286

G. E. Turnbull: Distress Signalling, in: The Yearbook of Wireless Telegraphy and Telephony, 1913, S. 318 – 322

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Christian Kassung für bpb.de

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 76

Caruso auf Platte Die Geschichte der Tonspeicherung und der Tonträger

Von Heinz Hiebler 5.7.2016 Heinz Hiebler, Dr., Privatdozent, Leiter des Medienzentrums der Fachbereiche Sprache, Literatur, Medien der Universität Hamburg. E-Mail: [email protected]

"Viele hätten ihn gern gehört, viele hätten sich gern an ihm berauscht, viele, deren Jahreseinkommen kaum die Hälfte einer Abendgage des Maestro beträgt: 10.000 Mark für einige Arien. Aber diesen vielen, denen das Schicksal den Wunsch wohl mitgegeben, aber nicht das Vermögen, diesen vielen war geholfen. Diese vielen flüchten sich zum Grammophon, zu dieser Maschine, die es ermöglicht hat, allen alles zu geben. Gerade Caruso ist ebenso ein Liebling der Grammophonhörer geworden, wie er ein Liebling der verhältnismäßig kleinen Gemeinde geworden ist, die ihn von Angesicht sehen durften. Man kann wohl sagen, gerade das Grammophon hat ihm seine wirklich große Popularität verschafft. Und man nennt ihn nicht umsonst den Napoleon des Grammophons. […] Caruso im Trichter: Alles verstummt […]. Die Arbeit wird weggelegt, der Gott zieht über den Wolken. Die Mienen glätten sich […]. – Das Dienstmädchen horcht an der Küchentür, das Vögelchen im Bauer hüpft auf die unterste Stange und lauscht mit dem Kopf auf der Seite. Die Puppen der Kinder fliegen in die Ecke, Vaters Augen leuchten und Lottes Augen leuchten und Kurt ist ausnahmsweise ganz mucksstill: Caruso. Ein Zauberwort, ein Zauberer er selbst."

[An dieser Stelle befindet sich ein eingebettetes Objekt, das wir in der PDF-/EPUB-Version nicht ausspielen können. Das Objekt können Sie sich in der Online-Version des Beitrags anschauen: http:// www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/sound-des-jahrhunderts/209608/caruso-auf-platte] Ihr Browser unterstützt keine iframes.[An dieser Stelle befindet sich ein eingebettetes Objekt, das wir in der PDF-/EPUB-Version nicht ausspielen können. Das Objekt können Sie sich in der Online-Version des Beitrags anschauen: http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/sound-des-jahrhunderts/209608/ caruso-auf-platte] Ihr Browser unterstützt keine iframes. Der Zauber(er) der Musik – das Erlebnis Caruso

Als die deutsche Grammophon-Zeitschrift Die Stimme seines Herrn im Dezember 1909 diese Lobeshymne veröffentlicht, ist Enrico Caruso als "Napoleon des Grammophons" bereits der Inbegriff des Opern- und Grammophonstars. Als Opernstar ist er auf allen Bühnen der Welt zu Hause und als Grammophonstar bringt er den Glanz der großen weiten Welt auch in die elendsten Hütten. So jedenfalls will es die Werbung. Dass die Geräte immer noch ein kleines Vermögen kosten und dass selbst eine Schallplatte von Caruso einen guten Teil eines durchschnittlichen Monatsgehalts verschlingen kann, steht auf einem anderen Blatt. Wo immer ein Grammophon mit klassischer Musik erklingt, liegt der Verdacht nahe, dass es Caruso ist. Caruso ist populär und er ist ein Naturereignis, was selbst Singvögel, deren Metier hier direkt angesprochen ist, anerkennen müssen. Wenn Caruso erklingt, werden die Unterschiede zwischen Tier und Mensch, gesellschaftlichen Klassen und Generationen egalisiert. Alles lauscht. Wenn Caruso erklingt, ist die Welt in Ordnung.

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 77 Alte Träume werden wahr – die Anfänge der Tonaufzeichnung

Caruso galt lange Zeit als Ikone für die Erfüllung zweier uralter Menschheitsträume durch die moderne Tonträgertechnologie: die Verewigung der menschlichen Stimme und die Verewigung von Musik. Die Erfüllung beider Träume schien zunächst nur auf dem Feld der Literatur möglich. Sowohl die Hörbücher, die Cyrano de Bergerac in seiner Reise zum Mond (1657) beschrieb, als auch die eingefrorenen Trompetentöne, die in Gottfried August Bürgers Münchhausen (1786) erst erklingen, nachdem sie in einem russischen Wirtshaus aufgetaut sind, gehörten bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts in den Bereich der Science Fiction. Die Wiedergabe eines einmal aufgezeichneten Musikstücks oder gar einer Rede konnten weder mechanische Musikinstrumente noch mechanische Sprechmaschinen leisten. Bei Ersteren kamen verschiedene Toninformationsträger wie Stiftwalzen (seit dem 9. Jahrhundert) oder Lochplatten (um 1900) zur Steuerung von Musikinstrumenten und sonstigen Klangkörpern zum Einsatz. Letztere wurden seit dem späten 18. Jahrhundert gebaut und waren komplexe mechanische Klangerzeuger, denen virtuose Spieler sprachähnliche Laute entlockten. Die berühmteste dieser Sprechmaschinen wurde von dem österreichischen Erfinder und Staatsbeamten Wolfgang von Kempelen gebaut und 1791 ausführlich beschrieben.

Wo trotz der begrenzten technischen Möglichkeiten tatsächlich gesprochenen Worten oder musikalischen Einfällen Dauer verliehen werden sollte, gab es neben dem menschlichen Gedächtnis nur ein Jahrtausende altes Hilfsmittel: die Schrift. Aber die Schrift – selbst in ihren leistungsfähigeren Varianten wie dem phonetischen Alphabet oder der modernen Notenschrift – bedurfte immer eines lesenden und schreibenden Interpreten und konnte dabei trotzdem nicht alle individuellen und unverwechselbaren Aspekte von Stimmen und Melodien erfassen.

Das Wunder des 1877 von Thomas A. Edison erfundenen Phonographen bestand deshalb zunächst darin, ein Gerät zur Hand zu haben, mit dessen Hilfe Töne und Stimmen sich gewissermaßen wie von selbst aufzeichnen und zu einem späteren Zeitpunkt wieder hörbar machen ließen. Ähnlich wie die Fotografie, die einer ihrer Erfinder als "Pencil of Nature" bezeichnet hatte, waren Phonographen und Grammophone wundersame Technologien einer automatischen Schrift.

Ein zentrales Problem beim Phonographen stellte ein Kopierverfahren für die wenig widerstandsfähigen Wachswalzen dar. Edison konnte dieses Problem erst um 1902 mithilfe eines aufwändigen Verfahrens lösen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren alle Walzen – ähnlich wie die kostbaren Bilder der Daguerreotypie – Unikate. Sollten mehrere Exemplare eines Liedes verkauft werden, so musste dieses mehrfach eingespielt werden. Ein gleichzeitiger Mitschnitt auf mehreren Geräten oder die Überspielung einer Aufnahme auf andere Walzen führte zu zusätzlichen Qualitätseinbußen. In puncto Vervielfältigung erwies sich deshalb ein anderes Verfahren zur Aufnahme, Reproduktion und Wiedergabe von Tönen als weitaus erfolgversprechender: das Grammophon.

1887 meldete Emile Berliner das Grammophon zum Patent an, zwei Jahre später wurde es in Deutschland auf dem Markt erprobt. Anders als das kostspielige Präzisionsgerät Edisons verfügte das Grammophon über keine eigene Aufnahmevorrichtung mehr. Eine exakt gedrehte feinmechanische Spindel, wie sie beim Phonographen zum Vorbeiführen der Walze an der fest montierten Aufnahme- und Wiedergabenadel erforderlich war, war so entbehrlich. Die zentralen Unterschiede zu Edisons Phonographen bestanden darin, dass Berliner Platten statt Walzen und Seitenschrift statt Tiefenschrift verwendete. Da die Tiefe der Schallplattenrille beim Grammophon durch das Seitenschriftverfahren konstant gehalten wurde, konnte Berliner die Schallplattenrille zur Führung von Wiedergabenadel und Tonarm nutzen. Die Entwicklung eines günstigen Wiedergabegeräts mit Federantrieb und die relativ einfache Möglichkeit der Reproduktion der originalen Wachsaufnahmen in einem widerstandsfähigeren Material wie Hartgummi oder später Schellack entpuppten sich als essentielle Vorteile für die Vermarktung der Schallplatte als Unterhaltungsmedium.

Galerie: Grammophon

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Enrico Caruso, der zur Symbolfigur für den Siegeszug des Grammophons über den Phonographen werden sollte, partizipierte ganz zu Beginn seiner Karriere an beiden Welten. Einige seiner ersten Aufnahmen erschienen auf Phonographenwalzen der französischen Firma Pathé. Der Durchbruch jedoch gelang ihm mit jenen legendären Schallplattenaufnahmen, die er im Frühjahr 1902 in einem Mailänder Hotel für die damals ungeheuerliche Summe von 100 Pfund Sterling einsang. Nur zwei Jahre später war er der erste, der mit einer Aufnahme von Vesti la giubba aus Ruggero Leoncavallos Oper Pagliacci über 1 Mio. Schallplatten verkaufte. Der Erfolg Carusos war so überzeugend, dass selbst namhafte Komponisten wie Leoncavallo für das neue Medium eigens ein Lied komponierten und dieses gemeinsam mit Caruso einspielten. Eldridge R. Johnson, der Gründer der damals namhaftesten Plattengesellschaft, der Victor Talking Machine Company, erkannte das ästhetische und ökonomische Potenzial Carusos bereits im Januar 1904 und schloss mit dem Sänger einen Exklusivvertrag auf 25 Jahre.

Enrico Caruso singt

Vesti la giubba (Quelle: National Jukebox der US Library of Congress) (http://www.loc.gov/jukebox/ recordings/detail/id/378)

Mit Stars wie Caruso konnte Edisons Verkaufsstrategie nicht mithalten. Selbst die viel gerühmte Multifunktionalität des Phonographen, der – ähnlich wie der Kinematograph der Brüder Lumière – nicht nur als Vorführgerät, sondern auch für Selbstaufnahmen einsetzbar war, konnte dieses Manko langfristig nicht ausgleichen. Die Grammophon-Gesellschaften etablierten dagegen ein Vermarktungsprinzip, das in Analogie zum zeitgleich aufstrebenden Filmgeschäft die Inhalte und nicht die Medientechnik zur eigentlichen Attraktion erklärte. Die Leistungsfähigkeit der Geräte definierte sich über das reichhaltigere und interessantere Angebot an Aufnahmen. Ähnlich wie im heutigen Computerzeitalter triumphierte schon damals die Software über die Hardware.

Das Grammophon verkaufte keine leblose Technologie, es verkaufte Wünsche, Träume, Phantasien. Vergleichbar mit dem Film verführte es in die Traumwelten lebendiger Sinnlichkeit und gelebter Authentizität. Der Medienstar Caruso war eines der Idole, denen man so nah wie möglich sein wollte. Die Victor Talking Machine Company stellte die Erfüllung dieses Wunschtraums unter dem Slogan " Both are Caruso" in Aussicht. Ein farbiges Foto von Caruso in der Rolle des Rhadames sowie die Abbildung der dazugehörigen Schallplatte mit einer von Caruso gesungenen Arie aus Verdis Aida sollten die Käufer davon überzeugen, dass Victor-Schallplatten Carusos Stimme genauso authentisch und wahrhaftig wiedergeben wie Caruso selbst.

Enrico Caruso singt

Celeste Aida (Quelle: National Jukebox der US Library of Congress) (http://www.loc.gov/jukebox/ recordings/detail/id/373)

In Wirklichkeit jedoch litten die Tonaufnahmen der mechanischen Ära unter großen technischen Beschränkungen. Die einfachen Mittel von Phonographen und Grammophonen reichten auch bei der raffiniertesten Aufnahmeanordnung nicht aus, das Leben in seiner vollen akustischen Bandbreite von 20 bis 20.000 Hertz (Hz) abzudecken. Als Enrico Caruso am 2. August 1921 starb, erfassten die Trichteraufnahmen der Zeit gerade einmal ein Frequenzspektrum von 200 bis 2.400 Hz. Die Medientechnologie, mit deren Hilfe diese Beschränkung innerhalb kürzester Zeit überwunden werden sollte, zeichnete sich jedoch bereits ab.

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 79 Die "elektrisierenden" 1920er Jahre: Radio, Tonträger, Tonfilm und Tonband

Die grundlegende Erfindung für die Unterhaltungsmedien der folgenden Jahrzehnte war die Elektronenröhre. Ihr Einsatz führte nicht nur zu deutlichen Verbesserungen im Telefonverkehr, sie war auch die Basis für die Sende- und Empfangstechnologien des Rundfunks und spielte im Audiobereich vor allem als Aufnahme- und Verstärkertechnologie eine zentrale Rolle. Das wegweisende Medium bei der Einführung eines elektrischen Aufnahmeverfahrens war das Radio, das Anfang der 1920er Jahre seinen weltweiten Siegeszug begann. Am 2. November 1920 nahm in (USA) der erste kommerzielle Rundfunksender seinen Betrieb auf. Erste Hörfunksender in Deutschland, Österreich und der Schweiz folgten in den Jahren 1923 / 24.

Im Kontext des Radios wurden mechanische Audiotechnologien unbrauchbar. Werbeanzeige für eine Schallplatte des Oper­ In den Sendestudios ersetzten Mikrofone die Aufnahmetrichter und in den nsängers Enrico Caruso. Wohnzimmern verdrängten Kopfhörer und Lautsprecher die Blumentrichter der (© picture-alliance, Everett Collection) Grammophone. Die Zeiten, in denen man ein Grammophon mit integriertem Trichter besitzen musste, um die Lautstärke einer Schallplatte durch den Öffnungsgrad der Trichterverdeckung regeln zu können, waren damit vorbei. Mit der Einführung elektrischer Aufnahmesysteme erweiterte sich der reproduzierbare Frequenzbereich auf 100 bis 5.000 Hz, bis 1934 erhöhte sich die Frequenzreichweite auf bis zu 8.000 Hz. Vorhandene mechanische Aufnahmen wurden angesichts der deutlichen Klangverbesserungen über Nacht zu Ladenhütern und mussten neu eingespielt werden.

Mit dem Radio und der Elektrifizierung des Audiobereichs brach nicht nur eine neue Ära des Sounds an, es entstand auch ein neuer ökonomischer wie technologischer Medienverbund, der Ende der 1920er Jahre durch die Einführung des Tonfilms erweitert wurde. In den "Roaring Twenties" etablierte sich das Grammophon endgültig als bezahlbares Massenmedium. Jazz und Tanzmusik kratzten an der Vorherrschaft der klassischen Musik in den Schallplattenregalen und im Äther, wobei die großen Erfolge des frühen Tonfilms und die populären Genres des Tanz- und Musikfilms eine zentrale Rolle spielten.

Der Film avancierte mit seinem auf maximale Illusionswirkung berechneten Soundkonzept in den 1930 / 40er Jahren zum Experimentierfeld für innovative Tonträgertechnologien. Beispielgebend dafür war der Mehrkanalsound, der bei den Musikeinspielungen des englischen Dirigenten Leopold Stokowski zu Walt Disneys Zeichentrickfilm Fantasia (1940) zum Einsatz kam. Das Lichttonverfahren, das bei den meisten frühen Tonfilmen genutzt wurde, konnte sich außerhalb des Tonfilms nicht etablieren. Die meisten erhaltenen Rundfunksendungen der 1930er und der 1940er Jahre liegen auf Platten vor. Die Elektrifizierung des Aufnahme- und Wiedergabebereichs brachte in Anbetracht des in allen Medienbereichen wachsenden Bedarfs eine Technologie in Erinnerung, die der dänische Physiker und Ingenieur Valdemar Poulsen bereits Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt hatte: das elektromagnetische Aufzeichnungsverfahren.

Eine zentrale Verbesserung dieses ursprünglich mit Stahldraht (Klaviersaiten) ausgestatteten Systems stellte 1928 das Magnetbandverfahren des deutsch-österreichischen Ingenieurs Fritz Pfleumer dar. BASF und AEG entwickelten es weiter und konnten 1935 das erste wegweisende Tonbandgerät, das sogenannte Magnetophon, präsentieren. Die schrittweise Verbesserung dieser Gerätelinie, deren Produktion bis Kriegsende fortgesetzt wurde, ließ die Tonbandtechnik nach dem Krieg zur tonangebenden Entwicklung auf dem Tonträgersektor werden. Die 1940 von Walter Weber und Hans Joachim von Braunmühl eingeführte Hochfrequenz-Vormagnetisierung und die Konstruktion eines ersten Stereo-Magnetophons im Jahr 1943 durch Walter Weber bildeten die technologische Grundlage für die nach 1945 von den Amerikanern betriebene Etablierung des Tonbandgeräts als High-End- Medium im professionellen und privaten Bereich.

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Auf zu neuen Ufern: Tonband, Langspielplatte und Kassette

In den Nachkriegsjahren wurden Tontechnologien und Tonträgerformate eingeführt, die der Soundkultur der nächsten Jahrzehnte langsam, aber sicher ganz neue Möglichkeiten eröffneten. Mit dem Einsatz des Tonbands bei der Plattenproduktion wurde es endlich möglich, die Aufnahmezeiten entscheidend zu verlängern und die Qualität einer Einspielung sofort nach der Aufnahme zu kontrollieren. Zuvor musste man mehrere Versionen ein- und derselben Nummer auf Wachsplatten schneiden und konnte die Testpressungen erst zwei, drei Wochen später überprüfen. Die Einführung des "Full Frequency-Range Recordings" (FFRR), das während des Krieges zur besseren akustischen Unterscheidung von englischen und deutschen U-Booten entwickelt worden war, ermöglichte es der britischen Plattenfirma Decca, noch während des Krieges die Frequenzreichweite ihrer FFRR- Schallplatten auf 14.000 Hz auszuweiten. Mit dem Piccadilly-Modell brachte Decca schon im Weihnachtsgeschäft 1944 einen Plattenspieler auf den englischen Markt, der sich durch besondere Klangqualität und High-Tech-Komponenten wie einen leichtgewichtigen Tonarm, ein magnetisches Abnahmesystem und eine Saphirnadel auszeichnete.

1947 entwickelte Peter Goldmark für Columbia eine Vinylschallplatte mit Mikrorillenaufzeichnung und einer verminderten Abspielgeschwindigkeit von 33 1 / 3 Umdrehungen pro Minute, wodurch eine Mindestspieldauer von 23 Minuten pro Schallplattenseite erreicht wurde. Goldmarks neue Technologie, die als Langspielplatte (LP) vermarktet wurde, ist ein Paradebeispiel dafür, wie die Änderung eines einzelnen technischen Parameters (die erhöhte Anzahl der Rillen pro Inch) eine ganze Reihe von weiteren Neuerungen nach sich zieht: Neben der Einführung von Vinyl als Plattenmaterial, der Ersetzung von Saphir- durch Diamantnadeln, der Entwicklung von neuen Motoren und Antriebssystemen oder der Konstruktion besonders leichter Tonabnehmer mussten zur Optimierung der Klangqualität auch neue Kondensatormikrofone für die Tonaufnahme und neue Lautsprecher für die Wiedergabe entwickelt werden.

Die Einführung der Single, einer kleineren Variante der Vinylschallplatte mit 45 Umdrehungen pro Minute und einer Laufzeit von bis zu vier Minuten, durch die Konkurrenzfirma RCA-Victor entfachte Anfang der 1950er Jahre einen Formatstreit zwischen den großen Plattenfirmen, wodurch sich die Verbreitung von LP und Single verzögerte. Die LP führte aufgrund der langen Spielzeit und der besseren Tonqualität vor allem im klassischen Bereich zu einer revolutionären Erweiterung des erhältlichen Repertoires. Viele Sinfonien oder Konzerte wurden erstmals eingespielt, da sie nun in voller Länge und ohne Unterbrechung aufgenommen werden konnten. Trotzdem war die erste Bayreuther Live- Einspielung einer Wagner-Oper, die Anfang der 1950er Jahre durch den Einsatz der Tonbandtechnik möglich wurde, zunächst noch in beiden Formaten auf 34 78er-Schallplatten oder fünf LPs erhältlich. Die ersten Aufnahmen von Elvis Presley bei Sun-Records erschienen ebenfalls noch auf 78er- Schallplatten und nicht auf Single, obwohl diese bald zum bevorzugten Format für Unterhaltungsmusik werden sollte. Auf längere Sicht setzten sich LP und Single durch und verhalfen einer neuen Dimension authentischen Hörerlebens zum Erfolg.

Im deutschen Radio brachte die Einführung der Ultrakurzwelle (UKW) Ende der 1940er Jahre eine wesentliche Klangverbesserung mit sich, die sich aufgrund der notwendigen Umstellung der Empfangsgeräte aber erst im Lauf der 1950er Jahre in größerem Ausmaß bemerkbar machte. Dank der geringeren Bandbreite von UKW-Sendern konnten in dem zur Verfügung stehenden Frequenzspektrum mehr Sender untergebracht werden, was auch eine größere Programmvielfalt zur Folge hatte.

Der Stereoton war zunächst ein Privileg des Tonbands, sein Einsatz beim Film führte Anfang der 1950er Jahre zur Durchsetzung des Stereoformats im Kontext der aufwändigen Breitwandfilmsysteme. Nachdem in den USA schon Ende der 1940er Jahre die ersten Stereotonbandgeräte angeboten worden waren, erreichten 1953 die ersten bespielten Stereotonbänder den High-End-Markt. Bis renommierte Plattenfirmen ihre Mitte

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 81 der 1950er Jahre auf Tonband eingespielten Studioaufnahmen in Stereoqualität präsentierten, vergingen oft mehrere Jahre. Vereinzelte Stereoschallplatten kamen in den USA dennoch bereits im Dezember 1957 in die Läden. Das Stereoradio konnte schließlich Anfang der 1960er Jahre umgesetzt werden. Voraussetzung dafür war das sogenannte Pilottonverfahren, das die Kompatibilität bestehender Empfangsgeräte berücksichtigte und Stereo wie Mono-Empfang ermöglichte.

Dass nicht immer die optimale Tonqualität für die Durchsetzung eines Mediums entscheidend ist, wurde nicht nur im Kontext des Fernsehens deutlich, das Ende der 1950er Jahre das Radio auch in Deutschland als Leitmedium ablöste. Der 1963 von der holländischen Firma Philips vorgestellte Kassettenrekorder verfügte anfangs nur über eine sehr bescheidene Tonqualität. Trotzdem eroberte das günstige, handliche und multifunktionale Gerät mit seinen wiederbespielbaren Compact-Cassetten (CC) und den seit 1965 produzierten bespielten MusiCassetten (MC) im Laufe der folgenden Jahrzehnte den Weltmarkt. In Kombination mit Radios sowie Schallplattenspielern verschärfte die Einführung des Kassettenrekorders das bereits mit den Tonbandgeräten der 1950er Jahre aufkommende Problem der Tonträgerpiraterie.

Ihre Kopierfreundlichkeit verlieh der Kassette insbesondere in Niedriglohnländern wie Indien besondere Attraktivität. Die Einführung eines effizienten Rauschunterdrückungssystems (Ray Dolby, ab 1966) ließ sie mit den Jahren auch klanglich zu einer ernsthaften Konkurrenz der LP werden. Die Einführung des Walkmans durch Sony 1979 und die relativ späte Einführung von CD-Brennern, deren erste Audio-Modelle um 1990 noch für fünfstellige D-Mark-Beträge gehandelt wurden, bescherte dem Kassettenformat in den 1980er Jahren noch einmal ein überraschendes Zwischenhoch.

Die digitale Ära – Caruso revisited

Sieht man von mechanischen Musikinstrumenten ab, deren zentrale Steuerungselemente ebenfalls bereits nach dem binär-digitalen Prinzip von Ton oder Nicht-Ton funktionierten, so lassen sich die Ursprünge digitaler Audiotechnologien bis in die 1930er Jahre zurückverfolgen. Erstes Einsatzgebiet war einmal mehr die Telefonie. Mit dem von Alec Reeves entwickelten Verfahren, der sogenannten Pulscodemodulation (PCM), konnten Störgeräusche verringert und Kabelkapazitäten besser ausgelastet werden. Weil PCM keine analogen kontinuierlichen Signale, sondern – ähnlich wie die Telegraphie – nur einzelne konstante Impulse überträgt, hatte das System während des Zweiten Weltkriegs auch den Nebeneffekt, dass es zur Verschlüsselung von Telefongesprächen genutzt werden konnte. Mit der allgemeinen Einführung digitaler Übertragungssysteme in der Telefonie ist dieser Nebeneffekt allerdings verloren gegangen.

Die digitalisierte Klanginformation, welche in den 1970er Jahren noch auf datenintensive Videobänder gebannt wurde, fand ihren Einsatz zunächst im Bereich der professionellen Musikeinspielung. Die Vorteile des digitalen Verfahrens liegen hier vor allem in der Umgehung der Eigengeräusche von Tonträgern und in der weitgehend verlustfreien Nachbearbeitung digitalisierter Sounds.

Das erste erfolgreiche digitale Tonträgermedium für Privatkonsumenten war die Compact Disc Digital Audio (CD-DA). Dieser von Philips und Sony entwickelte Standard wurde Anfang der 1980er Jahre eingeführt und schaffte es innerhalb eines Jahrzehnts, die altbewährte LP fast vollständig zu verdrängen. Erneut verkaufte die Musikindustrie alten Wein in neuen Schläuchen. Während viele digitale Technologien wie das Digital Audio Tape (DAT), die Digitale Compact Cassette (DCC), die Mini Disc (MD) oder hochauflösende digitale Audioformate wie Audio-DVDs und Super Audio CDs Nischenprodukte blieben, machten sich die digitalen Formate dank Datenkompression und schneller Übertragungsraten für das Internet zunehmend unabhängig von konkreten physikalischen Trägern. Die Kompaktanlagen und Musiktürme der 1970er und 1980er Jahre wurden von den unterschiedlichsten Formen miniaturisierter Musikcomputer abgelöst. Heute sind die Platten- und CD- Sammlungen von einst weitgehend in den virtuellen Playlisten von Windows Media Player oder iTunes verschwunden. Eine zentrale Rolle spielen dabei das seit Mitte der 1990er Jahre verbreitete MP3- Format sowie die dazugehörigen Abspielgeräte wie der iPod (2001) oder das iPhone (2007) von Apple.

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Generell steht die Entwicklung digitaler Audioformate ganz im Zeichen von Mobilität und Bedienungskomfort. Was digitale Techniken im Audio-Bereich auszeichnet, ist weniger die neue Klangqualität als vielmehr die absolute Verfügbarkeit und Beherrschbarkeit von akustischem Material. Durch die Digitalisierung, welche physikalische Größen zu mathematisch berechenbaren und manipulierbaren Codes macht, wird nicht nur jeder vorhandene, sondern auch jeder denkbare Klang zum musikalischen Abruf bereitgestellt. Apps wie GarageBand von Apple machen deutlich, dass die Grenze zwischen Tonträgern und Musikinstrumenten im Zeitalter digitaler Klangsynthese pulverisiert wird. Während dies aktuellen Musikproduktionen einen nahezu unbegrenzten Spielraum für innovative Soundgestaltungen eröffnet, wird der authentische Sound von einst durch die Möglichkeiten der nachträglichen Bearbeitung zu einer variablen Größe.

Die Aufnahmen Enrico Carusos liegen heute in den unterschiedlichsten Formaten vor. Von den ursprünglich an die 500 Aufnahmen, die Caruso gemacht hat, enthält die aktuelle CD-Gesamtausgabe auf insgesamt 15 CDs immerhin 245. Den Großteil dieser Einspielungen findet man auch als kostenlosen Stream oder Download im Netz. Allein die National Jukebox der Library of Congress hält 176 Caruso-Titel abrufbereit (http://www.loc.gov/jukebox/search/results?fq=take_vocal_id%3ACaruso% 2C+Enrico&page=1&q=caruso&referrer=http%3A%2F%2Fwww.loc.gov%2Fjukebox%2F). Wer davon immer noch nicht genug hat, kann einem restaurierten und mit Hall unterlegten Caruso 2000 (1999) in Begleitung des Radio Sinfonieorchesters Wien lauschen oder doch lieber den "authentischen Caruso " mit Musikbegleitung von Tommaso Farinetti aus dem Jahr 2006 genießen.

Lesen

Michael Chanan: Repeated Takes. A Short History of Recording and its Effects on Music, London / New York 1995

Mark Coleman: Playback. From the Victrola to MP3. 100 Years of Music, Machines, and Money, Cambridge 2005

Timothy Day: A Century of Recorded Music. Listening to Musical History, New Haven / London 2000

Pekka Gronow / Ilpo Saunio: An International History of the Recording Industry, London / New York 1999

Herbert Haffner: "His Master’s Voice". Die Geschichte der Schallplatte, Berlin 2011

Heinz Hiebler: Akustische Medien, in: Hans H. Hiebel u. a.: Die Medien, München 1998, S. 127 – 177 ders.: Akustische Medien, in: ders. u. a.: Große Medienchronik, München 1999, S. 541 – 782

William Howland Kenney: Recorded Music in American Life. The Phonograph and Popular Memory, 1890 – 1945, New York 1999

Andre Millard: America on Record. A History of Recorded Sound, Cambridge 1995

André Ruschkowski: Elektronische Klänge und musikalische Entdeckungen, Stuttgart 1998

Jonathan Sterne: The Audible Past. Cultural Origins of Sound Reproduction, Durham / London 2003

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Heinz Hiebler für bpb.de

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Der Lärm der Straße dringt in das Haus Der Sound der Moderne in der Kunst des Futurismus

Von Gerhard Paul 5.7.2016

Gerhard Paul, Dr., Professor für Geschichte und ihre Didaktik an der Universität Flensburg.

Die italienischen Futuristen feierten den Lärm der industriell-urbanen Moderne als das Neue und Aufregende ihrer Zeit. Für sie bedeutete Lärm nicht Störung und Belastung, sondern Kraft, Inspiration und Männlichkeit. Er galt als das Signum der Moderne. Einer jener " Lärmenthusiasten" (S. Geisel), der Komponist Luigi Russolo, schrieb 1913 in seinem Manifest Die Kunst der Geräusche: "Die Vergangenheit war eine einzige Stille. Im 19. Jahrhundert entstand mit der Erfindung der Maschinen das Geräusch. Heutzutage herrscht das Geräusch unumschränkt über die menschliche Erfindung." Für die Futuristen war der Lärm der Moderne eine ästhetische Herausforderung, der sich Malerei, Musik und Poesie zu stellen hatten. Ihr Ziel: die gesamte Lebenswelt der Moderne zu erfassen und diese nicht länger in einzelne Segmente aufzuspalten. Während in Deutschland über den Lärm der Großstadt gestritten wurde, begann in Italien nach 1900 eine Phase des ästhetischen Experimentierens. Die Maler versuchten mit ihren Bildern unterschiedliche Bereiche der Wahrnehmung anzusprechen; die Musiker experimentierten mit den neuen Klangwelten. All dies sollte die europäische Moderne nachhaltig inspirieren.

Der Sound der Moderne als Herausforderung für die Kunst

Die Erfindung neuer Verkehrs- und Kommunikationstechniken (Eisenbahn, Morsetelegraphie) hatte die Wahrnehmung von Zeit und Raum im 19. Jahrhundert fundamental verändert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzten Automobil und Flugzeug neue Maßstäbe bei der Erfahrung von Geschwindigkeit und Lärm. Knatternde Autos, quietschende Straßenbahnen und lärmende Fabriken verwandelten die Metropolen in akustische Höllen. Die neue Dynamik einer technisierten Lebenswelt und die permanent zunehmende Geschwindigkeit moderner Verkehrsmittel ließen den Eindruck einer schrumpfenden Welt entstehen.

Die Futuristen waren von den neuen Technologien und ihren Geräuschen fasziniert. Am 20. Februar 1909 erschien im Pariser Le Figaro das von dem Schriftsteller Filippo Tommaso Marinetti verfasste erste futuristische Manifest. In bedingungsloser Radikalität verwarf das Fondazione e manifesto del futurismo – von Gottfried Benn später als "Gründungsereignis der modernen Kunst in Europa" gefeiert – die traditionellen Werte und heroisierte zugleich den technischen Fortschritt. Der aufheulende Verbrennungsmotor geriet zum Kultobjekt. "Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen […], ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die geflügelte Nike von Samothrake." In ähnlicher Weise begeistert waren Marinetti und seine Anhänger vom Dröhnen der Propeller und vom Fliegen als berauschendem Erlebnis von Geschwindigkeit.

Dass diese futuristische Technikverherrlichung auch Kriegsbegeisterung einschloss, verwundert kaum. Wirkliche Schönheit gebe es nur im Kampf, proklamierte Marinetti. Ein Werk ohne aggressiven Charakter könne kein Meisterwerk sein. Der Krieg war für die Futuristen indes nicht nur ästhetische Herausforderung und "zona di vita intensa", sondern auch eine politische Notwendigkeit. Den Kolonialkrieg Italiens gegen Libyen 1911 feierten sie daher ebenso begeistert wie den Balkankrieg von 1912 und den Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914.

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Ein gemeinsamer Nenner der europäischen Malerei um 1900 war das Bestreben, die bisherige Trennung von Kunst und Leben aufzuheben. Während sich andere avantgardistische Strömungen von Technikverherrlichung und Fortschrittsoptimismus distanzierten, suchten die Futuristen nach einer neuen Ästhetik, welche dem modernen technisierten Lebensgefühl entsprach. Ausgehend von der Literatur strebten sie nach Einfluss in Malerei, Musik, Theater, Fotografie, Plastik, Architektur, im Kunstgewerbe sowie in der Politik.

Der Naturverherrlichung der Romantik, dem ornamental überfrachteten Symbolismus wie dem Ästhetizismus begegneten die Futuristen mit Verachtung. Als Avantgarde versuchten sie vielmehr, die Logik der Technik für die Künste fruchtbar zu machen. Die meist in apodiktisch-ungeduldigem Ton verfassten Manifeste forderten unablässig die Unterwerfung der Kunst unter das neue Zeitalter der Maschine.

1911: Gemälde des italienischen Futuristen Umberto Boccioni: "La strada entra nella casa" - Die Straße dringt ins Haus. (© picture-alliance, akg-images)

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 86 Bildende Kunst

Es waren zunächst vor allem Maler wie Umberto Boccioni, später Carlo Carrà, Giacomo Balla und Gino Severini, die sich, fasziniert von Marinetti und seinen Ideen, der futuristischen Bewegung anschlossen. In ihrem Manifest der futuristischen Maler von 1910 proklamierten sie, dass nur jene Kunst lebensfähig sei, die ihre Inhalte aus dem realen Leben der eigenen Umgebung schöpfe. Die Kunst des neuen Jahrhunderts müsse sich von den "greifbaren Wundern der heutigen Welt inspirieren lassen, von dem eisernen Geschwindigkeitsnetz, das die Erde umhüllt, von den Ozeandampfern, von den Panzerkreuzern, von den wunderbaren Flügen, die den Himmel durchpflügen, von der dunklen Kühnheit der Unterseeboote […], von der tobenden Aktivität der Großstädte."

Carrà forderte in Die Malerei der Töne, Geräusche, Gerüche, den Lärm und das Tempo des technischen Fortschritts künftig auch mit den Mitteln der Malerei auszudrücken. Dabei gingen die futuristischen Künstler vom Prinzip der Simultaneität aus, d. h. dem Gedanken der Gleichzeitigkeit verschiedener Wahrnehmungsformen, Sinnesempfindungen, Gedanken- und Gefühlsassoziationen. Anknüpfend an den Impressionismus und den Kubismus, experimentierten sie mit den Möglichkeiten der Linie und dem verstärkten Einsatz von Farben. Sie zerlegten Objekte und verschmolzen sie mit dem umgebenden Raum. Durch die Aufgabe der Zentralperspektive und das Zergliedern von Gegenständen in Farb- und Formflächen hofften sie, Bewegung, Geschwindigkeit und Geräusch anschaulich zum Ausdruck zu bringen.

Mithilfe simultaner Darstellungen sollten neue bildnerische Möglichkeiten erschlossen werden, um die zur gleichen Zeit stattfindenden Wahrnehmungsformen und Sinnesempfindungen des modernen Lebens darzustellen, "die Macht der Straße, des Lebens, den Ehrgeiz, die Angst, die man in der Stadt beobachten kann, das erdrückende Gefühl, das der Lärm verursacht". In Sujet und Stil markierte die neue Kunst einen Bruch mit konventionellen Darstellungsweisen. Exemplarisch für die futuristische Darstellung der Gleichzeitigkeit von Geschwindigkeit und Lärm sind etwa Ugo Giannattasios Gemälde Il Motociclista 1918 und die Arbeiten von Giacomo Balla, die augenscheinlich laut heulende Motorräder und Automobile in rasender Fahrt zeigen.

Zum Programmbild der neuen Kunstbewegung geriet Umberto Boccionis Ölgemälde La strada entra nella casa (Die Straße dringt in das Haus), das er 1911 schuf, inspiriert von der rasanten Industrialisierung seines Wohnorts Mailand und einem Aufenthalt in Paris im November 1911. Die im optischen Zentrum des Gemäldes situierte Hauptperson ist eine klassische Repoussoir- oder Rückenfigur, die den Betrachter in die Tiefe des Bildes führt. Von einem Balkon aus verfolgt sie das geschäftige Treiben auf der Straße, wo Arbeiter eine Baugrube ausheben und ein Gerüst für einen Neubau errichten. Man scheint ihr Schreien und die Geräusche der Baumaschinen förmlich zu hören. Eingefasst wird die Szenerie von Häuserreihen, die in Richtung des Bildmittelpunkts zusammenzustürzen drohen. Die Stadt, so der Eindruck des Betrachters, bricht mit ihren vielfältigen Sinneseindrücken und ihrem Lärm über die Frau herein und droht die Privatheit der eigenen vier Wände niederzureißen.

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 87 tavole parolibere

Anders als Ernst Jünger, Robert Musil, Henri Barbusse oder Alfred Döblin beließen es die Futuristen bei der Darstellung des modernen Krieges nicht bei onomatopoetischer Lautmalerei, also der Nachahmung eines akustischen Phänomens durch einen klanglich ähnlichen sprachlichen Ausdruck. Entsprechend dem Prinzip der Simultaneität verknüpften sie vielmehr Laute und Worte mit grafischen Bildelementen zu akustischen Schlachtengemälden ohne Syntax und Interpunktion, mustergültig vorgeführt in Marinettis Hauptwerk Zang Tumb Tumb. Adrianopoli ottobre 1912. Parole in libertà. Mit seinen Laut-Bild-Collagen verschaffte er der Hörempfindung, die beim Heranheulen bzw. Zerbersten einer Granate entsteht, einen visuellen Ausdruck. Lyriker wie Francesco Cangiullo und Corrado Govoni entwickelten sogenannte tavole parolibere. Dabei fügten sie grafische Elemente wie 1912: Buchcover - Collage des italienischen Futuristen Zeichnungen und Bildzeichen, sogenannte Ideogramme, in ihre Arbeiten ein Filippo Tommaso Marinetti: und hoben die Linearität eines Prosatextes zugunsten einer Verteilung auf "Zang Tumb Tumb" (© picture-alliance, Costa/ der gesamten Fläche einer Seite auf. Leemage) Auch Marinetti schuf einige solcher "Tafeln". Die bekannteste erschien 1917 in der Zeitschrift futurista mit dem Titel Morbidezza in agguato + bombarde italiane (Weichheiten auf der Lauer + italienische Geschosse). Dabei handelte es sich um eine collagenhafte Komposition von Onomatopöien, d. h. Lautmalereien, Substantiven und Textfragmenten, abstrakten Formen, handschriftlichen Notizen sowie dem Umriss einer liegenden Frau am unteren Bildrand, die vermeintlich die Kampfmoral bedroht. Ähnlich transformierte er in seinem 1919 erschienenen Roman 8 Anime in una bomba (8 Seelen in einer Bombe) Lautketten in Bildelemente, indem er Buchstaben zu ballistischen Kurven anordnete. "Tum rrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr ua ua ua ua ua ua ua ua ua ua ua ua ", so sah etwa eine Buchstabenkette aus, die die Parabel eines Geschosses, oder "BTAAANG BRAGRAA SCRAAAAGRAANG BRAAN“, die das Geräusch einer Explosion figurierte. Die Typografie und die Größe der Buchstaben markierten dabei jeweils die Lautstärke des symbolisierten Geräuschs.

Geräuschkunst

Auch auf der Theaterbühne fanden futuristische Experimente statt. Gegen die auf einer Ereignischronologie fußende Erzählkonstruktion des Theaters konzipierte Francesco Cangiullos 1916 sein nur wenige Minuten dauerndes Stück Detonation; es besteht aus einer dunklen Straßenszene und minutenlanger Stille, die abrupt von einem Schuss unterbrochen und beendet wird.

Russolo und seine Anhänger berauschten sich geradezu an den neuen Geräuschquellen der Metropolen und Fabriken als unerschöpflichen Ressourcen der Musik: "Wenn wir eine modernde Großstadt mit aufmerksameren Ohren als Augen durchqueren, dann werden wir das Glück haben, den Sog des Wassers, der Luft oder des Gases in den Metallröhren, das Brummen der Motoren, die zweifellos wie Tiere atmen und beben, das Klopfen, das Auf und Ab der Kolben, das Kreischen der Sägewerke, die Sprünge der Straßenbahnen auf den Schienen, das Knallen der Peitschen und das Rauschen von Vorhängen und Fahnen zu unterscheiden. Wir haben Spaß daran, den Krach der Jalousien der Geschäfte, der zugeworfenen Türen, den Lärm und das Scharren der Menge, die verschiedenen Geräusche der Bahnhöfe, der Spinnereien, der Druckereien, der Elektrizitätswerke und der Untergrundbahnen im Geiste zu orchestrieren." Ähnlich wie Ernst Jünger analysierte Russolo auch das Klangerlebnis Krieg: die Laute der Geschosse, das Pfeifen der Granaten je nach Kaliber und Tonhöhe.

Luigi Russolo

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Diverse Kompositionen (Quelle: ubu.com) (http://www.ubu.com/sound/russolo_l.html)

Analog dem Lärm und der Lautstärke der modernen Großstadt sei, so Russolo, die herkömmliche Tonalität durch die Geräusch-Töne der Moderne zu ersetzen. Musik habe sich zur modernen Geräuschkunst zu verwandeln. Zu diesem Zweck kreierte er Lautsprecherinstallationen und Geräuschmaschinen, sogenannte Intonarumori (Geräuschtöner), eine Kombination von Schalltrichtern, die über speziell behandelte Membrane zur Erzeugung verschiedener Geräusche verfügten. Die Konzerte mit diesen Maschinen, die er wie Musikinstrumente einsetzte und für die er Partituren entwarf, sorgten international für Aufsehen; in Mailand löste ein solches Konzert 1914 eine Schlägerei aus. 1915 statteten Igor Strawinsky und Sergej Prokofjew dem Künstler einen Besuch ab, um die neuartigen Instrumente kennenzulernen. Nach dem Ersten Weltkrieg kamen Konzerte für Intonarumori wie Risveglio di una cittá (Aufwachen einer Großstadt) und Convegno d’aeroplani e d’automobili (Begegnungen zwischen Flugzeugen und Automobilen) zur Aufführung.

Vor allem die zeitgenössische Musik ließ sich von Russolos Konzept der Geräuschkunst inspirieren. Zu erinnern ist an Erik Saties Ballett Parade von 1917 zu einem Bühnenbild von Pablo Picasso, das Sirenen, eine Lotterietrommel, das Tippen einer Schreibmaschine oder den Knall eines Revolvers verwendet; an die lyrische Phantasie L’enfant et les sortilèges von Maurice Ravel aus dem Jahr 1925, der angab, von den Ideen Russolos beeinflusst worden zu sein; an das Stück Ionisation von Edgard Varèse von 1931, eine Komposition für 13 Schlagzeuge, das eine völlig neue Klangwelt kreierte und tiefe Spuren in der Musikgeschichte hinterließ; nicht zuletzt an die russischen Futuristen, die noch einen Schritt weiter gingen als ihre italienischen Kollegen, indem sie die Töne der industriellen Moderne nicht mehr nur imitierten, sondern ihre Originalklänge direkt zur Aufführung brachten. Für den Komponisten und Musikpublizisten Juan Allende-Blin gebührt Russolo das Verdienst, als Erster das Geräusch in die Musik einbezogen zu haben. Russolo hat vieles antizipiert, was erst Jahrzehnte später in der elektronischen Musik durch den Einsatz der Computertechnologie möglich werden sollte.

Auswirkungen auf die europäische Kunst

Die italienischen Futuristen übten eine geradezu befreiende Wirkung auf die ästhetische Theorie und Praxis ihrer Zeit aus. In Deutschland rezipierten u. a. die dem Expressionismus verpflichteten Zeitschriften Die Aktion und Der Sturm die Ideen aus Italien. Indirekt führten die futuristischen Verfahren der Sprachzerlegung zur Aktionspoesie der Dadaisten, aber auch zu dem jungen Alfred Döblin, der von den dynamischen Großstadtbildern Boccionis und Severinis zeitweise begeistert war.

Unter den bildenden Künstlern in Deutschland zeigte sich u. a. Franz Marc von den italienischen Futuristen beeinflusst. 1912 notierte er, sichtlich inspiriert von Boccionis La strada entra nella casa im Sturm: "Wenn man ein Fenster öffnet, tritt der ganze Lärm der Straße, die Bewegung und die Gegenständlichkeit der Dinge draußen plötzlich in das Zimmer." Nach dem Ersten Weltkrieg waren es Maler wie Georg Scholz, Mitglied der revolutionären Künstlervereinigung Novembergruppe, sowie Otto Möller, die den Geräuschen der Straße in Gemälden wie Nächtlicher Lärm (1919) und Straßenlärm (1920) Ausdruck gaben und sich dabei futuristischer Bildtechniken wie der Zerlegung der Sujets in Bildelemente, der Überblendung und der Kombination von Buchstaben bedienten. Die Augen und Ohren des Betrachters gleichermaßen herausfordernde "lärmende" Wirkung seines Bildes erreichte Möller, ähnlich wie Boccioni, durch die Aufgabe der Zentralperspektive, die Konstruktion mehrerer Bildebenen und die Darstellung einer Komposition, die einer Implosion ähnelt. Die typografische Gestaltung literarischer Texte zum Sound der Moderne wirkte darüber hinaus revolutionierend auch auf Design, Mode und Produktwerbung.

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 89 Lesen

Juan Allende-Blin: Der italienische Futurismus in der Musik, in: Nobis (Hrsg.): Der Lärm der Straße, S. 318 – 330

Christa Baumgarth: Geschichte des Futurismus, Reinbek 1966 3 Julia Encke: Augenblicke der Gefahr. Der Krieg und die Sinne. 1914 – 1934, München 2006

Christoph Hoch: SCRABRRRRRAANG! Zu Programm und Literaturästhetik im europäischen Kontext, in: Nobis (Hrsg.): Der Lärm der Straße, S. 258 – 274

Peter Gahl: Die Ästhetik des Kanonendonners. Der Krieg im Werk F. T. Marinettis, in: Barbara Feichtinger /Helmut Seng (Hrsg.): Krieg und Kultur, Konstanz 2007, S. 107 – 132

Norbert Nobis (Hrsg.): Der Lärm der Straße. Italienischer Futurismus 1909 – 1918 (Ausst.-Kat.), Mailand 2001

Luigi Russolo: Die Kunst der Geräusche, Mainz 2000

Ulrich Schulz-Buschhaus: Die Geburt einer Avantgarde aus der Apotheose des Krieges. Zu Marinettis Poetik der "Parole in libertà", in: Romanische Forschungen, Bd. 104, 1992, S. 132 – 151

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Gerhard Paul für bpb.de

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Le Sacre du Printemps Ein Schlüsselwerk der musikalischen Moderne

Von Melanie Unseld 5.7.2016

Melanie Unseld, Dr., Professorin für Kulturgeschichte der Musik an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg.

"Eine gut gekleidete Dame in einer Orchesterloge stand auf und schlug einem jungen Mann, der in der nächsten Loge zischte, ins Gesicht. Ihr Begleiter erhob sich und die Männer tauschten ihre Visitenkarten aus. Ein Duell folgte am nächsten Tag", so die ungarische Tänzerin Romola de Pulszky. Die Dame, ihr Begleiter und der junge Mann waren Zeugen der Uraufführung des Balletts Le Sacre du Printemps von Igor Strawinsky am 29. Mai 1913 im prächtigen Théâtre des Champs-Élysées in Paris. Sie war einer "der größten Skandale in [der] Musikgeschichte" (Volker Scherliess). Die Musik war wegen der Tumulte kaum zu hören, am Ende der Veranstaltung registrierte die Polizei 27 Verletzte unter den Zuschauerinnen und Zuschauern. Die Frage, warum die Menschen derart in Rage geraten waren, ist nicht leicht zu beantworten. Lag es an der als "hässlich" empfundenen Musik? An der Choreografie von Vaslav Nijinsky? An den Bühnenbildern und Kostümen von Nicholas Roerich? Oder vielleicht eher an der Erwartungs­ haltung eines Publikums, das die vorangegangenen Produktionen der Ballets russes, darunter Strawinskys L’oiseau de feu (Feuervogel, 1910) und Pétrouchka (Petruschka, 1911), stürmisch gefeiert hatte?

Tänzer der Uraufführung von "Sacre du Printemps" in einer Choreographie des Tänzers und Choreographen Waslaw Nijinsky, 1913. (© picture-alliance, akg-images)

Die Ballets russes mit ihrem Impressario Sergej Djagilew hatten in Paris seit 1909 große Triumphe

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 91 erlebt: Ihre Ballett-Produktionen trafen den Nerv der Zeit. Denn sie führten höchste Tanzkunst und russisch-orientalische, exotisch anmutende Sujets mit einer reichhaltigen Ausstattung und einer russisch-spätimpressionistischen Musik zusammen. Zwar war der Exotismus und Orientalismus in Paris seit dem 19. Jahrhundert beheimatet – auf der Opernbühne waren etwa Giacomo Meyerbeers L’Africaine, Léo Delibes’ Lakmé oder Jules Massenets Thaïs mit großem Erfolg zu sehen gewesen. Doch die Weltausstellung im Jahr 1900 in Paris hatte dem kolonialen Blick auf das "Andere" eine "zunehmend authentische Konkurrenz an die Seite gestellt": Tanztruppen und Musik-Ensembles aus dem Nahen und Fernen Osten gaben reale Einblicke in fremde Kulturen und inspirierten dabei durch ihre Fremdheit besonders die Künstler der Avantgarde, die auf der Suche nach neuen Klängen, Formen und Ausdrucksmöglichkeiten waren.

Fremdheit als Konzept – die Archaik des Sacre

Le Sacre du Printemps wurde für dieses Umfeld konzipiert und komponiert: Djagilew kannte das Pariser Publikum gut und hatte ein hervorragendes Gespür dafür, welche Künstler – Choreografen, Tänzerinnen und Tänzer, Komponisten, Maler, Kostümbildner – zusammenzubringen waren, um ein künstlerisches Gesamtkonzept erfolgreich umzusetzen. Und so galt es für die russische Balletttruppe, nach dem Feuervogel, der Scheherazade und anderen orientalisch inspirierten Balletten das Thema der Auseinandersetzung mit dem Fremden erneut aufzugreifen. Dabei beschritten Nicholas Roerich und Strawinsky mit Le Sacre du Printemps neue Wege. Zwar geht es auch darin um eine fremdartige Kultur, doch ist sie weniger orientalisch als vielmehr archaisch. Zudem hat das Ballett keine Handlung im herkömmlichen Sinne, es reiht vielmehr verschiedene Tänze wie in einem großen Ritual aneinander: Die 1913: Programm der Uraufführung des Stücks archaische Gemeinschaft feiert das alljährliche Frühlingsopferfest mit einem "Le Sacre du Printemps" Reigen verschiedener Tänze. Diese werden von den verschiedenen Gruppen von Igor Strawinsky mit dem Bild des der Gemeinschaft ausgeführt, von Jungen und Alten, von Männern und Frauen. Komponisten. (© picture- Das Geschehen steigert sich bis zum Tanz der Auserwählten, jener Jungfrau, alliance, akg-images) die schließlich geopfert werden soll.

Es war für das Publikum vollkommen überraschend, dass nicht die Schwüle des Orientalismus, die es bisher gekannt und goutiert hatte, auf die Bühne kam. Vielmehr war die Darstellung des Archaischen brutal und grausam. Das Ritual, das die Auserwählte aus dem Kreis der jungen Mädchen herauslöst, ihr "Heiliger Tanz", der ihren Tod bedeutet, erscheint als unhinterfragbares, unerbittliches Opferritual.

Auch die Ausstattung des Sacre bediente kaum die Erwartungen der Ballettbesucher, die an die luxuriösen Kostüme von Léon Bakst und anderen gewöhnt waren. Diesmal standen die Tänzerinnern und Tänzer in rauen Kitteln auf der Bühne, weder das erotische Flair noch der androgyne Reiz der früheren Produktionen waren zu sehen. Schließlich befremdete die Choreografie: Nijinsky hatte die Archaik des Rituals in Bewegungen transformiert, die allen Konventionen des klassischen Balletts zuwiderliefen. Mit stampfenden Schritten und scheinbar ungelenken Bewegungen agierten die Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne.

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 92 Das Fremde hören

Was hörte das Publikum am Abend des 29. Mai 1913? Und warum geriet es über das Gehörte außer Rand und Band? Die Irritationen, die diese Musik 1913 auslöste, sind 100 Jahre nach dem Ereignis nicht mehr unmittelbar nachzuvollziehen, Strawinskys Kompositionen gehören inzwischen zu den Klassikern der Moderne. Helga de la Motte-Haber hat mithilfe einer Geschichte des Hörens einige Gründe für die Vehemenz der Ablehnung benannt. Musik wird nicht voraussetzungslos wahrgenommen und insbesondere die Frage, was als "schön" oder "hässlich" empfunden wird, ist von vielen Faktoren abhängig. Da sich die ästhetischen Normen ändern, kann etwa ein als konsonant wahrgenommener Akkord im Verlauf der Zeit zu einem als dissonant empfundenen Akkord werden – und umgekehrt. Mit den Hörgewohnheiten ändert sich mithin die Wahrnehmung von Musik selbst. Und wenn Musik gegen Hörgewohnheiten opponiert, wird sie zunächst als "fremd", "seltsam", "anders" wahrgenommen. Erst nach mehrmaligem Hören stellt sich eine Gewöhnung an das "Andere" ein, kann dieses schließlich zum "Gewohnten" werden. Jenem Moment aber, in dem Hörgewohnheiten umgestoßen werden, ist etwas Schockartiges eigen, das Irritationen auszulösen vermag.

Diesen Prozess hat die Musik des Sacre durchlaufen. Über die Uraufführung bemerkte Strawinsky, dass bereits "bei den ersten Takten des Vorspiels" das Publikum "in Gelächter ausbrach und seinem Unmut durch Zwischenrufe Luft machte". Aber schon über die konzertante Aufführung des Sacre im Jahr 1914 schrieb Pierre Lalo: "[…] es gibt nichts in der Musik, an das man sich schneller gewöhnt als an eine neue Dissonanz. Beim ersten Hören schockiert sie, verletzt sie, erscheint sie grell und beinahe grausam; bald aber erscheint sie nur noch verwunderlich; und wenig später schenkt man ihr kaum noch Aufmerksamkeit. Ich will damit nicht sagen, dass man die Dissonanzen des Monsieur Strawinsky jetzt schon nicht mehr bemerken würde und dass die Art, wie er, vor allem in der Partitur des Sacre du Printemps, mit Sekunden die Harmonik gestaltet, nicht Fortschreitungen produzieren würde, die ein bisschen grausam, nicht Reibungen, die ein wenig hart für an normalere Harmonien gewöhnte Ohren sind. Aber in diesen Härten und diesen extremen Kühnheiten steckt das Wesentliche."

Um die Neuartigkeit der Musik des Sacre wahrzunehmen, vor allem auch, um die bei der Uraufführung ausgelösten Irritationen nachvollziehen zu können, müssten wir unser Gehör um rund 100 Jahre zurückversetzen. Wir müssten uns vorstellen, den Sacre zum ersten Mal und vor allem ohne das Wissen um die musikalische Entwicklung des 20. und 21. Jahrhunderts zu hören. Gelingen kann das nur mittelbar, indem wir uns die Kontexte vergegenwärtigen: So kann etwa anhand des Avantgarde- Diskurses eine solche "Zeitreise" in Gang gesetzt werden, denn sie legt einige Aspekte offen, die die Zuhörer des Jahres 1913 als besonders irritierend wahrnahmen.

Avantgarde und Skandal

Ist eine Avantgarde ohne Skandal denkbar? Die europäische Musikkultur der Jahrhundertwende verneint diese Frage. Alle neuen Impulse in der Musik des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts spalteten das Publikum in Gegner und Befürworter – und beide Gruppen standen sich ebenso verständnislos wie unversöhnlich gegenüber. Beleidigungen, Handgreiflichkeiten und größere Tumulte waren anlässlich der Aufführungen von "neuer" Musik in den Theatern und Konzertsälen daher keine Seltenheit. In Kritiken oder persönlichen Berichten sind diese Skandale überliefert. Auf das Wesentliche fokussiert, gelangte die Kontroverse auch in die Karikatur. Handschrift der Komposition Dort wird – in genretypischer Überzeichnung – besonders deutlich erkennbar, "Le Sacre du Printemps" was das Publikum verstörte. In der Wiener Zeitschrift Quer sacrum – eine von Igor Strawinsky, 1913. (© picture-alliance, akg- parodistische Antwort auf die von 1898 bis 1903 von der Kunst-Avantgarde images) herausgegebene Zeitschrift Ver sacrum – war eine Anzeige für Disharmonische Concerte abgedruckt. Sie weist auf die Uraufführung von "Das Ding an sich" einer – fiktiven – "Philosophischen Sinfonie in Mies-Moll" hin.

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Die Anzeige greift alle Bestandteile auf, aus denen sich die Skandal-Konzerte jener Jahre zusammensetzten: Das Konzert werde "zu Gunsten des Pensionsvereines für wahnsinnig gewordene Musiker" veranstaltet; der Komponist sei auf pure Effekthascherei aus, behaupte er doch, "diese Tonart eigens für diesen Zweck erfunden" zu haben. Eine überbordende Vielzahl von Mitwirkenden werde verlangt, darunter die Schützenkapelle und die freiwillige Feuerwehr. Schließlich kämen neue Instrumente zum Einsatz: drei Karfreitags-Ratschen, zwei Bischari-Trommeln, 17 Knallerbsen, eine rostige Türangel und eine Dynamitexplosion. Da mit Tumulten zu rechnen sei, werde eine Ambulanz der Rettungs-Gesellschaft während der Aufführung im Saale garantiert. Die Ankündigung: "Die Saaltüren werden während des Musikstücks verrammelt!", dürfte kaum zur Beruhigung des potentiellen Publikums beigetragen haben.

Auch wenn diese Parodie auf die Uraufführung der Achten Sinfonie von Gustav Mahler 1910 abzielte, wird deutlich, welche Aspekte der musikalischen Moderne hier in der Kritik standen: die aus der Dur- Moll-Tonalität ausbrechende Harmonik, der Hang zu enorm großen Besetzungen (Mahlers Achte trug deshalb den Beinamen Sinfonie der Tausend) und der Einsatz von neuen, die Lautstärke erhöhenden Klangerzeugern. Flankierend dazu wurde das Bild eines zwischen Wahnsinn und Selbstüberschätzung changierenden Komponisten etabliert sowie das eines hilflosen, durch die Musik buchstäblich bedrohten Publikums – die Metaphern der physischen Verletzung durchziehen die Kritiken jener skandalisierten Aufführungen.

Ein Beispiel: die Uraufführung von Arnold Schönbergs Kammersinfonie op. 9, die genau jene Ingredienzen vereint, die in der Ablehnung der Avantgarde eine zentrale Rolle spielten: "Arnold Schönberg und sein talentloser Anhang feierten die billigen Triumphe des Konzertskandals. Eine 'Kammermusiksinfonie' Schönbergs, in welcher 15 Instrumente die Aufgabe hatten, im stärksten Fortissimo die entsetzlichsten, unmotiviertesten Dissonanzen zu erzeugen und ein widerliches kunstfremdes Unwesen zu treiben, bedeuteten den Höhepunkt, respektive den Tiefstand dieser 'Kunst'. Ich rufe alle Musiker […], ich rufe alle Vernünftigen zu Zeugen auf, dass diese 'Musik', wenn sie nicht ein ungeheurer Spaß sein soll, nur dazu angetan ist, Ohr und Empfindung auf das Gröblichste zu verletzen."

Die musikalische Avantgarde sorgte nicht nur in Wien und Paris, sondern in ganz Europa für Skandale. Denn mit den neuen Klängen wurde nicht zuletzt das Verhältnis zwischen Kunst und Bürgertum neu verhandelt, das bislang vorwiegend als Einheit gedacht war: Gerade in den repräsentativen Darbietungsformen der Musik – Oper, Konzert, Ballett – hatte das bürgerliche Publikum ein Identifikationsmedium ersten Ranges gesehen. Zu diesen auf die Demonstration des eigenen sozialen Status und auf gesellschaftliche, ästhetische wie moralische Stabilität abzielenden Musikereignissen aber standen die Klänge einer modernen, die Grenzen austarierenden oder überschreitenden Musik im denkbar größten Gegensatz. Daher die starke Metaphorik des Verletzens in den Rezensionen über die "neue" Musik, daher auch die realen Aggressionen, in denen sich die Gegensätze von etabliertem Kunstgenuss und neuem Kunstanspruch Bahn brachen.

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 94 Der Skandal der Uraufführung

In dieses Tableau der Skandale reihte sich die Uraufführung des Sacre du Printemps ein. Die unterschiedlichen Berichte sprechen zwar die jeweilige Sprache des ästhetischen Lagers, aus dem sie stammen – ablehnende Wut oder bewundernde Zustimmung –, ihnen allen aber ist eigen, dass sie vor allem die Publikumsreaktionen beschreiben. So überlieferte etwa Jean Cocteau, der den Verantwortlichen des Sacre nahestand, in seiner programmatischen Schrift Le coq et l’arlequin eine ausführliche, inzwischen berühmt gewordene Darstellung und wandte dabei seine Blickrichtung weg von der Bühne auf den Zuschauerraum: "Bei der Uraufführung des Sacre spielte der Saal die Rolle, die er spielen musste: er revoltierte von Anfang an. Man lachte, höhnte, pfiff, ahmte Tierstimmen nach und vielleicht wäre man dessen auf die Dauer müde geworden, wenn nicht die Menge der Ästheten und einige Musiker in ihrem übertriebenen Eifer das Logenpublikum beleidigt, ja tätlich angegriffen hätten. Der Tumult artete in ein Handgemenge aus. Mit schief gerutschtem Diadem in ihrer Loge stehend, schwang die alte Comtesse de Pourtalès ihren Fächer und schrie mit hochrotem Gesicht: 'Zum ersten Mal seit 60 Jahren wagt man es, sich über mich lustig zu machen!' Die gute Dame meinte es aufrichtig; sie glaubte an eine Fopperei."

Hörirritationen: Geräusch, Rhythmus und Komplexität

Die Musik des Sacre überschritt offensichtlich eine Grenze. Man empfand sie als Verhöhnung des bislang Gehörten. In der erwähnten Spott-Annonce war etwa von Klangerzeugern die Rede, die das Geräuschhafte in die Musik einbrachten. Die Abkehr vom ästhetischen Wohlklang konkretisierte sich in der Parodie zu Knallerbsen, einer rostigen Türangel und einer Explosion. Ein Blick auf die Besetzung des Sacre freilich zeigt, dass hier zwar ein großes Orchester vorgesehen ist, aber keine besonderen Klangerzeuger. Wenn mithin die Musik als "rau" und "grausam" wahrgenommen wurde, lag dies nicht am Einsatz zusätzlicher Klangerzeuger, sondern in der Komposition selbst.

Ein Beispiel: Nach der mit dem Fagott-Solo beginnenden, in agilen Arpeggien sich im Tempo rubato entwickelnden Introduction bricht mit dem Satz Les augures printaniers. Danses des adolescentes der gerade entwickelte, obertonreiche Klangraum abrupt ab, es folgt ein Tempo giusto mit gleichbleibenden, hart phrasierten Achtel-Akkorden in den Streichern. Dieser Kontrast wäre an sich bereits stark, doch Strawinsky steigert die Kontrastwahrnehmung, indem er die immergleichen Streicherakkorde durch eine vollkommen irreguläre Betonung aus ihrer Monotonie reißt.

Strawinsky: Le sacre du printemps hr-Sinfonieorchester - Andrés Orozco-Estrada (Quelle: YouTube) (https://www.youtube.com/watch? v=aAQSQYdMeRQ)

Dazu kommt der clusterähnliche Tonvorrat der hämmernden Akkorde: Der Es7-Akkord in zweiter Violine und Bratsche bildet mit dem Fes-Dur der tiefen Streicher eine starke Sekundreibung (es / fes, g / as, b / ces). Bitonal stehen die beiden Akkorde aufeinander, ohne aber ihre Spannung aufzulösen. Volker Scherliess weist daher zu Recht darauf hin, dass der Klang "fürs Ohr nicht als harmonisches Gebilde [wirkt], sondern als spezifische Farbe", zu der sich neben der harmonischen Klangballung noch die tiefe Lage als verunklarendes Element gesellt. Der irreguläre, stampfende Rhythmus schließlich, den Strawinsky bereits in den ersten Skizzen des Sacre notiert hatte und später nicht mehr veränderte, lässt weder Taktart noch einen anderen "Puls" erkennen. Zugleich entsteht durch die Spielanweisung der Streicher (jedes Achtel mit Abstrich) ein wenig streichertypischer Klangeindruck, die Streicher werden hier vielmehr als Quasi-Schlagwerke verwendet.

Dieser Satzbeginn konterkariert all die Hörerwartungen, welche sich im Rahmen eines Balletts an den ersten Auftritt der Tänzerinnen und Tänzer stellen: keine Entfaltung eines klar erkennbaren Rhythmus, keine erkennbare Melodik, keine

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 95 von Strawinskys früheren Ballettkompositionen bekannte subtile Instrumentation. Stattdessen eine blockartige, wenig gestische, ruppige Klangstrecke. Die musikalischen Mittel, die Strawinsky zur Erzeugung dieses "rauen" Höreindrucks verwendet, sind vergleichsweise einfach: eine achttaktige Phrase im 2/4-Takt mit gleichbleibendem Tonvorrat, der aus zwei ineinander verschränkten Drei- bzw. Septklängen besteht (bitonal), die zueinander in Sekundreibung stehen, instrumentiert mit Streichern sowie die irregulären Betonungen verstärkenden Hörnern. Auffallend daher, dass es weder eines besonderen Instrumentariums noch einer "eigens für diesen Zweck erfunden[en]" Tonart bedurfte, um die irritierende Klangwahrnehmung zu provozieren.

Das Hamburger Ballett tanzt "Le Sacre du Printemps" in einer Choreographie von John Neumeier. (© picture-alliance)

Ist dieser Beginn der Augures printa-niers fast provokant einfach gestaltet, so war es andererseits gerade die besondere Komplexität der Partitur, die als "hässlich" und "barbarisch" wahrgenommen wurde. Wohlgemerkt: Komplexität – etwa polyphone Satztechniken, eine dichte thematisch-motivische Arbeit oder auch ein differenziert eingesetzter Orchesterapparat – war dem Publikum durchaus vertraut und wurde insbesondere von der Musikkritik als Ausweis der besonderen Könnerschaft des Komponisten verstanden. Offenbar aber lag im Sacre eine andere, bislang ungewohnte Form von Komplexität vor, denn gerade sie wurde als Indiz für das "Barbarische" angeführt: Der Kritiker Paul Schwers etwa schrieb 1922, dass Strawinsky zwar über "eine erstaunliche Gewandtheit in der Handhabung orchestraler Mittel" verfüge, die "ihm die Möglichkeit zur Entfaltung von Klangorgien" gebe, "die den Hörer ebenso verblüffen wie bei längerem Hören verdrießen". Aber in "dieser übersteigerten Art äußerlich virtuoser Musikmacherei offenbart sich letzten Endes unsagbar geistige Einseitigkeit, seelische Brutalität. Diese Musik ist im Grunde krasse Unkultur, sie hört da auf, wo die Kunst im eigentlichen Sinne […] erst beginnt".

Ein Blick in die Partitur verdeutlicht diese andere Form von Komplexität. Im weiteren Verlauf des bereits angesprochenen Satzes Augures printaniers türmen sich verschiedene Klangschichten bis zum Kulminationspunkt auf, dem Beginn des folgenden Satzes Jeu du rapt. Dieses Auftürmen der Schichten geschieht sukzessiv – und zwar sowohl horizontal (die Schichten werden länger ausgedehnt) als auch vertikal (die Schichten werden übereinander auf immer mehr Stimmen verteilt und ausdifferenziert). So entstehen etwa aus den beiden schlichten Zweitonmotiven der fallenden Terz und der fallenden

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Quarte, die lose durch verschiedene Instrumente geschickt werden (Piccolo, Oboe, Trompete, Posaune, Violinen), verschiedene Ostinati: in den Trompeten und Hörner solo staccato / marcato, in den Violinen in Sechzehnteln, später auch augmentiert (Sexten) und aufwärtsgerichtet. Und aus den Vorschlägen, die in den (Piccolo-)Flöten liegen, entwickeln sich rasche Figuren, bald als Vorschläge, bald als Arpeggien, bald als chromatische, bald als diatonische Läufe, bald mit Trillern kombiniert.

Diese flirrenden Ostinati tragen zur Dichte des Klangeindrucks wesentlich bei. Und da sie höchst flexibel durch alle Instrumente wechseln und jederzeit durch andere Klangschichten unterbrochen oder überlagert werden können, entsteht der Eindruck einer sich immer höher auftürmenden Klangmasse. Strawinskys formales Prinzip, dass vielfach als Montage bezeichnet oder auch mit dem Kubismus verglichen wurde, ist nicht das herkömmliche Prinzip thematisch-motivischer Arbeit, sondern basiert auf der Idee, dass musikalische Muster sich verdichten, aneinanderreihen oder gegenseitig überlagern. Dass freilich jede einzelne der daraus entstehenden Schichten einem Urprinzip zugeordnet werden kann (etwa der fallenden Terz oder dem Vorschlag) und die Vielfalt der Klangfarben(schattierungen) von einer wohldisponierten Steigerung zeugt, war für einen Großteil des Publikums der Uraufführung nicht wahrnehmbar. Hier überwog der Eindruck, dass in dieser Musik kein Prinzip erkennbar sei, woraus abgeleitet wurde, dass sie nicht nur hässlich, sondern vor allem unkultiviert, ja barbarisch sei. Der Kritiker Adolf Weissmann jedenfalls war überzeugt, in Strawinskys "brutalen" Klängen "ein Stück Barbarentum" wahrzunehmen.

Diesem Vorwurf entgegnete Lalo in seiner Kritik bereits im Jahr 1914: " […] nichts ist plump oder vulgär oder verdorben, nichts ist gemein, platt oder link. Mit einem Wort: nichts ist hässlich. […] Die Partitur […] ist im Ganzen von einem außerordentlich kultivierten Musiker geschrieben, kultiviert was die Feinfühligkeit und was den Geschmack anbelangt, der alle Mittel seiner Kunst besitzt und der nichts einem wie auch immer gearteten Ideal der primitiven Rohheit opfert."

Cezary Ostrowski: The Rite of Spring (2011)

[An dieser Stelle befindet sich ein eingebettetes Objekt, das wir in der PDF-/EPUB-Version nicht ausspielen können. Das Objekt können Sie sich in der Online-Version des Beitrags anschauen.]

Quelle: Wikipedia (https://en.wikipedia.org/wiki/Cezary_Ostrowski?uselang=de)

Die Diskussionen über das "Barbarische" des Sacre hielten noch eine Weile an und kamen vor allem in Zeiten politischer Auseinandersetzungen immer wieder zum Vorschein. So trug der Vorwurf des Primitivismus, vor allem in der deutschen Presse nach dem Ersten Weltkrieg, deutlich nationalistische Untertöne. Strawinsky wurde als Person und als Schöpfer einer "monströse[n] Musik" als barbarisch abqualifiziert: Sacre sei für "Mitteleuropäer" nichts als "Unkultur", "sie ist ein Kunstprodukt für Kalmücken und Kirgisen".

In der "Geschichte des Hörens" sind wir inzwischen an einem anderen Punkt angelangt. Die Irritation, die durch die Bitonalität, die kräftigen Rhythmen, den Klangfarbenreichtum und die Komplexität des Sacre ausgelöst wurde, ist einer andauernden Faszination gewichen, die sich freilich noch immer an der Tatsache festmacht, dass die Musik das Neue und Vertraute zugleich zu hören gibt. "Für viele ist Sacre du Printemps", so der britische Pianist und Musikwissenschaftler Peter Hill, "das erste Meisterwerk des 20. Jahrhunderts, das vollständig mit der Vergangenheit brach. Das Paradoxon aber ist, dass es gleichzeitig diejenige Komposition ist, die tiefer in der Tradition wurzelt als alle anderen Werke Strawinskys."

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 97 Lesen

Christopher B. Balme / Claudia Teibler: Orient an der Wolga. Die Ballets Russes im Diskurs des Orientalismus, in: Claudia Jeschke u. a. (Hrsg.): Spiegelungen.

Die Ballets Russes und die Künste, Berlin 1997, S. 113 – 133

Wolfgang Dömling /Theo Hirsbrunner: Über Strawinsky, Laaber 1985

Martin Eybl (Hrsg.): Schönbergs Skandalkonzerte 1907 und 1908. Die Befreiung des Augenblicks. Eine Dokumentation, Wien u. a. 2004

Peter Hill: Stravinsky. The rite of spring, Cambridge u. a. 2000 (Übersetzung der zit. Passage: M. Unseld)

Helmut Kirchmeyer: Strawinskys russische Ballette: Der Feuervogel, Petruschka, Le Sacre du Printemps, Stuttgart 1974

Pierre Lalo: La Musique. Le "Sacre du Printemps" au concert, in: Le Temps, 21.4.1914, abgedruckt in: . Le Sacre du Printemps. Dossier de Presse, réuni par François Lesure, Genf 1980, S. 49 (Übersetzung der zit. Passage: M. Unseld)

Helga de la Motte-Haber: Igor Strawinsky und die Geschichte des Hörens, in: Wolfgang Gratzer (Hrsg.): Perspektiven einer Geschichte abendländischen Musikhörens, Laaber 1997, S. 185 – 198

Volker Scherliess: Igor Strawinsky. Le Sacre du Printemps, München 1982 ders.: Igor Strawinsky und seine Zeit, Laaber 2002

Paul Schwers: Internationale Musik, in: Allgemeine Musik Zeitung, 1.12.1922

Igor Strawinsky: The Rite of Spring / Le Sacre du Printemps. Sketches 1911 – 1913, Facsimile Reproductions form the Autographs, o. O. 1968 ders.: Schriften und Gespräche I, aus dem Französischen übertragen von Heinrich Strobel, Mainz u. a. 1983

Hans Christoph Worbs: Das Dampfkonzert. Musik und Musikleben in der Karikatur, Wilhelmshaven 1982

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Melanie Unseld für bpb.de

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Trommelfeuer aufs Trommelfell Der Erste Weltkrieg als akustischer Ausnahmezustand

Von Gerhard Paul 5.7.2016

Gerhard Paul, Dr., Professor für Geschichte und ihre Didaktik an der Universität Flensburg.

Schon immer war Krieg mit Lärm verbunden: mit den stampfenden Marschtritten und dem Gejohle von Soldaten, mit dem Rattern und Rollen von Lafetten, mit dem Pfeifen und Explodieren der Geschosse, mit dem Schreien und Stöhnen der Verwundeten und Sterbenden. Jeder Krieg besitzt eine eigene Klangsignatur, die ihn von früheren oder späteren militärischen Auseinandersetzungen unterscheidet, so auch der Erste Weltkrieg. Dessen spezifische Soundkulisse bestand aus einer Abfolge von Phasen der Stille und tagelangem höllischem Lärm infolge des Trommelfeuers. Michael Salewski hat dieses spezifische Klanggemisch als eine "dynamisch-monotone(n) Kakophonie […] von scharfen hohen und niedrigfrequenten Tönen" beschrieben, das bis weit ins Hinterland als Grollen zu vernehmen war. Lärm indes war nicht nur ein Nebeneffekt des Krieges, er war vielfach auch ein gezielt eingesetztes militärisches Mittel. Seit der Antike nämlich wurde der Feind mit Schlachtrufen und Kriegstrommeln in Schrecken versetzt. Wie kein militärischer Konflikt zuvor war der Erste Weltkrieg so auch ein Angriff auf das Trommelfell und auf die Psyche der Soldaten.

Erster Weltkrieg: Kampfgraben nach Trommelfeuer. (© picture-alliance, arkivi)

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 99 Trommelfeuer

Inbegriff der neuen Geräuschqualität des Krieges war das Trommelfeuer. Es sei ein "Krach wie beim Weltuntergang", ein "Höllenspektakel", ein "höllisches Konzert", notierte Ernst Jünger am 28. / 29. Januar 1916 an der Westfront. Er beschrieb damit ein von Zeitgenossen als geradezu apokalyptisch empfundenes Hörerlebnis. Sein Schriftstellerkollege Ernst Johannsen empfand das Trommelfeuer als "auf die Spitze getriebene[n] Vernichtungswille[n]". Es war eine mörderische Praxis, bei der die Artillerie ihr Feuer vom leichtesten Kaliber bis zu den schwersten Geschützen ohne Unterlass auf die gegnerischen Stellungen richtete.

Das Trommelfeuer war eine Reaktion auf die Taktik der Infanterie, sich in Schützengräben zu verschanzen. Durch den massiven Beschuss sollten die gegnerischen Drahtverhaue, Laufgräben, Unterstände und Geschützstellungen sowie die Nachschubwege zerstört und die Soldaten demoralisiert werden. Verantwortlich für den Beschuss war die Artillerie. Zu ihr gehörten eine Vielzahl von Waffenarten und Munitionstypen: die leichte Feldartillerie mit 18-Pfündern und 4,5-Zoll-Haubitzen, die bis zu einer Entfernung von knapp 6 km Schrapnell-, Spreng- oder Gasgranaten verschoss; die mittlere Artillerie mit 60-Pfündern und 4,7- oder 6-Zoll-Geschützen, die Sprenggranaten mit einer Reichweite von bis zu 10 km abfeuerte; die schwere Artillerie mit Haubitzen vom Kaliber 6- bis 15-Zoll, die 100- bis 1.400-pfündige Granaten bis zu 11 km weit tragen konnte. Hinzu kamen diverse Mörser sowie Maschinengewehre mit einer Sequenz von jeweils 600 Schuss pro Minute.

Mai 1918, Westfront: Soldaten feuern mit einem Howitzer-Geschütz auf die französische Stadt Louez. (© picture- alliance, Mary Evans/Robert Hunt ) Das Trommelfeuer konnte mehrere Tage dauern. In Verdun etwa ließ die deutsche Artillerie im Frühjahr 1916 fast 100 Stunden lang ein Dauerfeuer über den gegnerischen Stellungen niedergehen. An der Somme verschossen die Briten nur einige Wochen später sieben Tage lang insgesamt 1,5 Mio. Granaten auf die deutschen Stellungen, allein am 30. Juni waren es 375.000. In einem Bericht heißt es über den britischen Beschuss vom 27. / 28. Juni 1916: "Das Trommelfeuer erschien weiterhin ohne

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 100 jede Methodik, eine unablässige und anscheinend wilde Schießerei, und dann wieder gezieltes Artilleriefeuer einzelner Batterien, dann Grabenmörsergeschosse und Lufttorpedos oder Gasangriffe bzw. wieder ein plötzlicher Granatentornado, dazwischen gelegentlich Zeiten völliger Stille."

Zwar war der militärstrategische Nutzen des Trommelfeuers gering, seine psychische Wirkung auf die Kampfmoral der Soldaten war jedoch enorm. Denn der Lärm war mehr als nur Nebeneffekt oder akustische Kulisse, er war beabsichtigt, hatte er doch eine nie zuvor gekannte "Belagerung des Ohrs" (Helmut Lethen) zur Folge. Selbst während der Stille blieb das Ohr in Alarmbereitschaft.

Auch die akustische Fernwirkung des Artilleriebeschusses auf die Menschen im Hinterland war gewaltig. Bereits aus großer Entfernung kündigte sich die Front für Soldaten und Zivilbevölkerung als dumpfes Grollen und Brodeln an. Die lothringische Schriftstellerin Adrienne Thomas, die 1915 / 16 als 18-jährige Rotkreuzschwester in Metz eingesetzt war, notierte in ihrem Tagebuch: "Seit drei Tagen hören wir ununterbrochen den furchtbarsten Kanonendonner, Tag und Nacht. Immer wieder und wieder. Es ist grässlich." Das Haus bebe, die Fensterscheiben klirrten beim Einschlag der Bomben. Der Philosoph Theodor W. Adorno berichtete, als Jugendlicher im Juli 1916 während eines Ausflugs in Hinterzarten im Schwarzwald den Kanonendonner aus der Gegend um Belfort gehört zu haben. Dieser kam von einer großen, bei Zillisheim im Elsass stationierten 38-cm-Kanone, Luftlinie knapp 100 km entfernt. Der Schriftsteller Alfred Döblin, als Militärarzt im lothringischen Saargemünd stationiert, schrieb am 29. März 1916 in einem Brief an einen Freund: "Mit den Ohren haben wir die Schlachten um Verdun hier mitgekämpft; orientiere Dich auf der Karte, wie weit wir von Verdun sind, und so stark war die Kanonade tags und nachts, dass bei uns die Scheiben zitterten, dass wir Trommelfeuer unterschieden, ganze Lagen Explosionen; ein ewiges Dröhnen, Bullern, Pauken am westlichen Himmel. Jetzt, seit einer Woche, ist alles still; was das ist, wer weiß?" Saargemünd lag ungefähr 140 km von Verdun entfernt. Andere berichteten, noch im mehr als 200 km entfernten Straßburg den Kanonendonner von Verdun gehört zu haben.

Hören als Überlebenstechnik

Wo die industrialisierte Kriegstechnik die Soldaten in die Gräben zwang und die Schlacht zu einem abstrakten Klangteppich von Projektilen werden ließ, kam es weniger auf den Sehsinn als auf den Hörsinn an. Das Erkennen und die Identifikation von Geräuschen sowie das Vermögen, den unsichtbaren Gegner akustisch zu verorten, wurden zur Überlebenstechnik. In seinem Roman Im Westen nichts Neues, in dem er eigene Kriegserfahrungen verarbeitete, schildert Erich Maria Remarque, wie der herbeigeschaffte Ersatz "aufgerieben" wurde, weil die unerfahrenen Neulinge kaum ein Schrapnell von einer Granate unterscheiden konnten: "Die Leute werden weggemäht, weil sie angstvoll auf das Heulen der ungefährlichen großen, weit hinten einhauenden Kohlenkästen lauschen und das pfeifende, leise Surren der flach zerspritzenden kleinen Biester überhören."

Um zu überleben, mussten die Soldaten lernen, die Geräusche der Geschosse zu unterscheiden und die von ihnen ausgehende Gefahr abzuschätzen. Aus den Geräuschen erschlossen sie die feindlichen Stellungen und die Art des Angriffs. Der spätere NS-Schriftsteller Werner Beumelburg, Teilnehmer der Schlacht von Verdun, berichtet, wie der Soldat mit dem Ohr "instinktiv" die Geräusche prüfte: "Er versteht sich auf Abschuss, Heranheulen und Einschlag. Aus der Lage der Maschinengewehrgarben konstruiert er sich den Feind. Er empfindet, was rechts und links los ist, obwohl er es doch nicht sehen kann." Tatsächlich war die Fähigkeit, aus dem Geräuschteppich den Granatentyp, die Flugbahn und den Einschlagsort herauszufiltern, Teil eines "Frontinstinkts" (Matti Münch), der sich mit zunehmender Aufenthaltsdauer bei den Soldaten in den Gräben herausbildete. Das Gehör tastete den Lärm nach Regeln ab. Es identifizierte Munitionsart und Kaliber aus der Art des Fluggeräuschs und der Explosionen, wobei musikalisch vorgebildete Soldaten im Vorteil waren.

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 101 Akustischer Ausnahmezustand

1917: Eine englischsprachige Karikatur thematisiert die traumatisierten Soldaten des Ersten Weltkriegs und spielt mit der möglichen Doppelbedeutung des Begriffs "shell shock". (© picture-alliance, Mary Evans Picture Library) "Wir sind nichts als Ohr, als angespanntes Trommelfell", notierte Jünger in seinem Tagebuch. Damit verwies er auf den chronischen Alarmzustand der Truppen in ihren Unterständen. Dieser habe sich von den gegensätzlichen Gewissheiten genährt, so Helmut Lethen, dass der unsichtbare Feind zwar bereits akustisch im eigenen Territorium präsent, aber als Körper noch fern war. Mit dem Trommelfeuer steigerte sich der Alarm zum akustischen Ausnahmezustand. Das tagelange Feuer strapazierte die Ohren. Es zermürbte, es betäubte, es versetzte in eine Art hypnotischen Zustand.

Der Weltkrieg unterscheide sich "einzigartig" von allen früheren Kriegen, heißt es in der Schrift Die Musik der Schlachten des Philosophiestudenten und Infanteristen Hellmuth Falkenfeld über die Westfront 1916, da er seinen schrecklichen Inhalt ebenso sehr dem Ohr wie dem Auge mitteile. "Das Auge kann man schließen, das Ohr aber nur verstopfen; wer den Krieg nicht sehen will, muss ihn hören." Die "gehörten Disharmonien" krepierender Geschosse und die Schreie der Verwundeten würden mehr vom Krieg erzählen als die Bilder des Todes und des Schlachtfelds. Viele, die den Anblick des neuen Krieges noch ertragen konnten, hätte der Lärm "zum Wahnsinn" gebracht. Ganz anders nahm der Maler Max Beckmann den Kriegslärm wahr. Ihn beeindruckte "das wunderbar großartige Geräusch der Schlacht […] diese schaurig großartige Musik", wie er in einem Brief an seine Frau 1914 schrieb. "Ich möchte, ich könnte diese Geräusche malen."

Der Lärm hatte konkrete organische und psychosomatische Auswirkungen. Zahlreich sind die Berichte über geplatzte bzw. perforierte Trommelfelle, über Gehörhyperästhesie, Mittelohrinfektionen und Labyrinthläsionen, über allgemeine Störungen des Hörvermögens, aber auch über Reaktionen wie Sinnesüberempfindlichkeit und erhöhte Schreckhaftigkeit und ebenso über Konzentrationsschwierigkeiten und Schlafstörungen.

Hatte er bislang nur nüchtern bilanzierend die Geräusche kartografiert, so beschrieb Jünger am 25. und 27. Juni 1916 erstmals die Auswirkungen des höllischen Lautinfernos auf den menschlichen Körper: "Das Feuer war nervenzertrommelnd […]. Das anhaltende Feuer und die schlaflosen Nächte hatten uns doch stark mitgenommen." Er berichtet von Panikattacken bei seinen Kameraden und von

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 102 eigenen Ohrenschmerzen. "Man wurde ganz blödsinnig. Dieses Aushalten im Feuer ist eine starke Nervenprobe." Die immerwährenden akustischen Reize führten zu Angstattacken, zum Abstumpfen der Gefühle und zur Apathie. "Die Nerven tun’s nicht mehr", notierte auch Beumelburg. "Apathie kriecht langsam über uns. Wir hören den Lärm, aber er ruft keinen Eindruck mehr aus uns hervor."

Gehörschutz war das Gebot der Stunde. Etliche Fotografien zeigen Artilleristen in der Nähe von Geschützen, die sich beim Abschuss die Ohren zuhalten. Für den Schutz vor Dauerbeschallung reichte dies nicht aus. Dem Potsdamer Unternehmer Maximilian Negwer bescherte die Not der Soldaten daher einen Großauftrag. 1916 gelang es ihm, die Militärs davon zu überzeugen, den Soldaten Ohropax mit ins Marschgepäck zu geben. Auf den Packungen warb die Firma mit entsprechenden Hinweisen: "Gegen die Schallwirkung des Kanonendonners, für Verwundete und Kranke und Sanitätspersonal […]. Für Artillerie, Kriegsschiffe, im Biwak und Eisenbahnverkehr."

Die neue Klangsignatur des Krieges

Auf vielfältige Weise versuchten bereits die Zeitgenossen die neuen Gehöreindrücke vom Schlachtfeld in Ton, Bild und Schrift festzuhalten. "Vielleicht ließe sich ein […] Tongemenge, aus einer ganz besonderen Schlacht, durch einen Phonographen in einem […] Saal des Museums wiedergeben", spekulierte etwa 1916 der Museumsmann und spätere Direktor des "Vaterländischen Museums" von Hannover, Wilhelm Peßler, um auf diese Weise das "großartige Dröhnen einer Schlacht" als "akustisches Ereignis" verfügbar zu haben.

Ab Beginn des Krieges kursierten sogenannte Hörbilder mit Titeln wie Die Mobilmachung am 1. August 1914 (1914), Füsilier Kutschke im Krieg (1914), Die Erstürmung von Lüttich (1915) oder Im Lager von Paris (1915) auf dem Plattenmarkt, die etwa von der Wiener Grammophonfirma Pichler und der Deutschen Grammophon AG in Berlin produziert wurden. Dies waren dreiminütige, ausschließlich zu patriotischen Zwecken auf Platten gepresste Zusammenstellungen von Soldatenliedern, Kriegsgeräuschen, Kommandorufen, Auszügen aus Ansprachen, Unterhaltungsfetzen und Dankgebeten. Einige sind bis heute erhalten und befinden sich u. a. im Deutschen Rundfunkarchiv in Frankfurt am Main. Überliefert ist darüber hinaus eine zweiminütige englische Aufnahme vom 9. Oktober 1918 aus der Gegend von Lille, auf der zunächst die Stimmen von Soldaten zu hören sind, die Befehle weitergeben, bevor das Kommando "Fire" ertönt, gefolgt von Abschüssen und dem Heulen von Gasgranaten.

Da die neuen akustischen Zumutungen nur in Einzelfällen mit Edison’schen Zylindern oder Wachsplatten aufgezeichnet und damit hörbar gemacht werden konnten, versuchte man sie in Geräuschkarteien zu erfassen oder wie die italienischen Futuristen in Phonoskripten und lautmalerischen Darstellungen, sogenannten Onomatopöien, zu visualisieren. Vor allem jedoch bemühten sich Schriftsteller, die neue akustische Qualität des Kriegslärms in Sprachbilder zu übersetzen. Noch ganz konventionell beschrieb Arnold Zweig den Kriegslärm als "Gehämmer, Blechgeklapper, Dröhnen geworfener Kästen, Klirren von messingnen Kartuschen, Gepfeife, Gerede, Knirschen von Metall auf Metall". Ähnlich Robert Musil in seinem Tagebuch: "Der Laut des Geschosses ist ein anschwellendes und, wenn der Schuss über einen fortgeht, wieder abschwellendes Pfeifen, in dem der ei-Laut nicht zur Bildung gelangt. Große Geschosse nicht zu hoch über der eigenen Stellung lassen den Laut zum Rauschen anschwellen, ja zu einem Dröhnen der Luft, das einen metallischen Beiklang hat."

In Remarques Roman Im Westen nichts Neues heißt es: "Über uns ist die Luft erfüllt von unsichtbarem Jagen, Heulen, Pfeifen und Zischen. Es sind kleine Geschosse; – dazwischen orgeln aber auch die großen Kohlenkästen, die ganz schweren Brocken, durch die Nacht und landen weit hinter uns. Sie haben einen röhrenden, heiseren, entfernten Ruf, wie Hirsche in der Brunft, und ziehen hoch über dem Geheul und Gepfeife der kleineren Geschosse ihre Bahn." Ludwig Renn bemühte die Lautmalerei: "S! S! Sst fuhren die

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Gewehrkugeln immer näher. Sch-pramm! Granaten hinter uns." "S! S! Sch! – Preng, pamm! Rammsss! Krachte, zischte, zirpte es."

Auch die expressionistische Kriegslyrik thematisierte die neue Akustik des Krieges, so August Stramm, dessen Gedichte sich wie Kommentare zu den Kriegsgemälden von Franz Marc und Max Beckmann lesen. In seinem Gedicht Granaten schreibt er: "Das Wissen stockt / Nur Ahnen webt und trügt / Taube täubet schrecke / Wunden / Klappen Tappen Wühlen / Kreischen / Schrillen Pfeifen Fauchen / Schwirren / Splittern Klatschen Knarren / Knirschen / Stumpfen Stampfen / Der Himmel tapft / Die Sterne schlacken / Zeit entgraust / Sture weltet blöden Raum."

Ein völlig neues und später nie wieder gehörtes Geräusch erzeugten die sogenannten Fliegerpfeile, jene von Flugzeugen und Zeppelinen auf gegnerische Truppen abgeworfenen, bis zu 15 cm langen Eisenstäbe. Kein anderer hat dieses Geräusch so präzise beschrieben wie Musil in seiner Erzählung Die Amsel. 1915 war er in der Nähe von Trient selbst nur knapp einem solchen Pfeil entgangen. Zunächst habe er nur ein "leises Klingen" vernommen. "Ich wunderte mich zuerst darüber, dass bloß ich das Klingen hören sollte. Dann dachte ich, dass der Laut wieder verschwinden werde. Aber er verschwand nicht. Er näherte sich mir, wenn auch sehr fern, und wurde perspektivisch größer. […] Es war ein dünner, singender, einfacher hoher Laut, wie wenn der Rand eines Glases zum Tönen gebracht wird; aber es war etwas Unwirkliches daran; das hast du noch nie gehört, sagte ich mir. Horchgerät, wie es im Ersten Weltkrieg zur Ortung Und dieser Laut war auf mich gerichtet – ich war in Verbindung mit diesem von angreifenden Flugzeugen Laut und zweifelte nicht im Geringsten daran, dass etwas Entscheidendes benutzt wurde. (© picture- alliance, Mary Evans mit mir vor sich gehen wolle. […] Inzwischen war der Laut von oben Picture Library/ALEXA) körperlicher geworden, er schwoll an und drohte." An anderer Stelle hat Musil das Geräusch dieser Pfeile als "Gesang des Todes" beschrieben.

Der Versuch, die neue Klangsignatur des Krieges sprachlich zu fixieren, war nicht nur ein deutsches Phänomen. Die französische Literatur liefert vergleichbare Beschreibungen. So heißt es in Henri Barbusses Antikriegsroman Le feu (dt.: Das Feuer. Tagebuch einer Korporalschaft), in dem dieser 1916 seine Erfahrungen von der Westfront beschreibt: "Tak! Tak! Bum! Gewehrschüsse, Artilleriefeuer. Über uns, überall peitscht es, dröhnt es, in Salven oder vereinzelten Schüssen. Dieses niederdrückende, flammende Gewitter hört nie auf, nie. Seit mehr als 15 Monaten, seit 500 Tagen liegt auf diesem Flecken Erde, wo wir sind, Gewehrfeuer und Artilleriebeschuss, vom Morgen bis zum Abend und vom Abend bis zum Morgen."

Oder: "Die Granate jault in 1.000 m Höhe über unseren Köpfen dahin. Ihr Lärm überdeckt alles mit einer tönenden Kuppel. Sie fliegt langsamer, im Vergleich mit den anderen hat man den Eindruck eines dickeren, mächtigeren Geschosses. Sie rauscht vorüber, senkt sich nach vorn mit dem dumpfen, anschwellenden Dröhnen einer einfahrenden Untergrundbahn; dann klingt das orgelnde Pfeifen ab." Wie Remarque und Jünger erwähnt Barbusse die Angewohnheit der Soldaten, den Geschossen aufgrund ihrer Geräusche Namen zu geben. Das Maschinengewehrfeuer hieß "Nähmaschine", ein Zünder "Canarienvogel", eine einschlagende Granate "Kohlenkasten", "Leichenwagen", "D-Zug" oder "Reisekoffer".

Nicht nur die neuen Kriegstechniken, sondern auch die toten Körper erzeugten spezifische Geräusche. Da längst nicht alle Gefallenen von den Leichensammelkommandos weggeschafft werden konnten, lagen die Leichen oft mehrere Tage zwischen den Linien. Der Verwesungsprozess ließ geradezu apokalyptische Geräusche entstehen. "Sie zischen, rülpsen und bewegen sich. Das Gas rumort in ihnen", schrieb Remarque über die Toten im Niemandsland.

Während die Schilderungen ihrer männlichen Kollegen vornehmlich auf das akustische Fronterlebnis

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 104 fokussierten, hielt Adrienne Thomas in ihrem Tagebuch die neue Klangwelt des Luftkriegs fest, die auch die Bevölkerung weit hinter den Frontlinien erreichte. Über einen französischen Luftangriff auf Metz am 10. September 1915 notierte sie: "Wir traten gerade aus der Haustür, als ein höllisches Geknatter in der Luft anhob. Wir wussten sofort, dass es einen Luftkampf mit feindlichen Fliegern gab." Thomas spricht dann von einem "furchtbar schrillen, fast klirrenden Knall […] mit kurzem Echo", der von neuen Geschützen vom Bahnhof stamme. "Bei jedem der Donnerschläge zuckte ich zusammen. Ein solch entsetzliches Geräusch hörte ich niemals zuvor." Gesteigert wurde der Lärm durch den Einschlag der Bomben. "Mit einmal gab es einen lang anhaltenden Krach, von einem Donnerlaut, dass ich glaubte, mein Kopf müsse zerspringen."

Ernst Jünger und die "Geräusche der Projektile"

Februar bis April 1917: Französische Sammlung verschiedener deutscher Granaten. (© picture-alliance, akg-images) Gewiss am genauesten hat Ernst Jünger in seinen Kriegstagebüchern die neue Klangsignatur des Krieges festgehalten – in geradezu kalt-distanzierendem Ton. Zunächst versuchte er für die ihm unbekannten Geräusche adäquate Worte zu finden, in den Geräuschen Sprachähnlichkeiten zu ermitteln und das Gehörte an vertraute Wahrnehmungen jenseits des Krieges zurückzubinden. Für Jünger "brummten" die Geschütze; Kanonen "donnerten", "grummelten" oder "sprachen"; Kugeln und Projektile "pfiffen" und "sangen", sie "surrten", "klatschten" durch das Gestrüpp und schlugen auf den Boden; Granaten "heulten" und "pfefferten" auf die Stellungen; Zünder "zwitscherten"; Maschinengewehre "rasselten", "ratterten" und "knatterten". Immer auch bemühte er Vergleiche: "Einmal sauste ganz einsam ein Zünder mit seinem Canarienvogelpfeifen über unsere Köpfe und verschwand in der Ferne" (24. April 1915).

Wie seine Schriftstellerkollegen schuf Ernst Jünger dann diverse onomatopoetische Formeln. "Nun ging es los. sst-bum! sst-bum! sst-bum! bum! bum!", heißt es in einem Eintrag am 4. November 1916. Den Klang der Flatterminen beschreibt er mit den Buchstabenkombinationen "Udja – Udja – klack –

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 105 bums!!!" (10. Januar 1916); Leuchtkugeln machten "Pschschschscht" (21. Juni 1916) und der Granathagel "sst – bum! […] Krach! Krach! Bautz! sst! sst! sst!" (25. April 1915). Menschliche Schmerzlaute umschreibt er mit "Üüh Ühuhü". In anderen Eintragungen verbindet er seine Beobachtungen mit konkreten Verhaltensanweisungen. Am 23. Oktober 1915 notiert er: "Mitunter hört man auch ein flatterndes oder pfeifendes Geräusch mit dumpfem Abschuss. Vorsicht! Deckung! Minen oder Gewehrgranaten!"

In einem Geräusche der Projektile betitelten Abschnitt seines Tagebuchs trug Jünger am 10. Januar 1916 seine bis dato gesammelten Beobachtungen zusammen. "Wenn man längere Zeit im Felde steht, lernt man mancherlei seltsame Geräusche kennen. Erfahrung in dieser Hinsicht ist wichtig, man lernt zu unterscheiden, wer geschossen hat, wohin es ging, was für ein Projektil es war usw." Kugeln und Geschosse "erzählten" für Jünger Geschichten: Man müsse nur ihre Sprache verstehen. Während der Gewehrschuss, der auf einen abgegeben werde, einen eigenartig harten Klang habe und eine "scharfe Schmerzempfindung des Trommelfells" auslöse, sei der Schuss, der aus den eigenen Reihen auf den Feind abgefeuert werde, "dröhnend und lang anhaltend". Eine Kugel aus großer Entfernung klinge anders als eine aus kurzer Distanz. Querschläger erkenne man an ihrem "surrenden Pfeifen". Eine schwere Granate erzeuge "ein Rumoren in der Luft, das an ein Rattern oder Fahren erinnert". Äußerst unangenehm seien die leichten Granaten, die nur ein kurzes Zischen erzeugten. Den Abschuss der Wurfmine höre man kaum. Die Flatterminen ließen demgegenüber genügend Zeit, sich zurückzuziehen.

Von der Unmöglichkeit, den Kriegslärm zu reproduzieren

Die "überwältigende Tonalität des Eindrucks" habe sich in Sprache allein nicht mehr auffangen lassen, so urteilte der Mannheimer Germanist Horst Meixner über die Bemühungen zeitgenössischer Autoren, das Erlebnis Erster Weltkrieg sprachlich zu fassen. Die Reproduktion im Medium Literatur nehme "hilflose Züge" an.

Mit einigen Jahren Abstand zum Weltkrieg begann man auch in Theater, Rundfunk und Film mit neuen Reproduktionsformen zu experimentieren. So legte 1924 der österreichische Schriftsteller und Theaterautor Arnolt Bronnen, selbst Kriegsteilnehmer und inspiriert vom Expressionismus, sein Kriegsdrama Katalaunische Schlacht vor. Orte der Handlung sind u. a. ein Unterstand im Trommelfeuer und ein Ozeandampfer auf der Überfahrt nach "Granate in Lille", 1917. Radierung des Künstlers Amerika. In Bronnens Stück, 1928 von vertont, spielt ein zunächst Jakob-Detlef Peters. (© unscheinbares Requisit eine zentrale Rolle: ein Phonograph, der die picture-alliance, akg-images) Geräusche des Trommelfeuers und die letzten Worte eines sterbenden Artilleriebeobachters aufgezeichnet hat. Kritiker lobten Bronnens Stück als eine der stärksten Kriegsdichtungen, gar als "Vision des jüngsten Gerichts".

Ernst Johannsen zählt zu den wenigen, die das Klangerlebnis Weltkrieg in technische Töne zu transformieren versuchten. 1929 strahlte der Münchener Rundfunk sein Hörspiel Brigadevermittlung erstmals aus. Es wurde zu einem der meistgespielten und international bekanntesten deutschen Hörspiele über den Weltkrieg und zu einem der bedeutendsten Hörspiele der Weimarer Republik überhaupt. In der Brigadevermittlung, der Telefonstation eines umkämpften Abschnitts einer Westfront- Division, wird der Telefonist Ohrenzeuge des Schreckens. Die "alten Krieger" in den Unterständen scheinen sich an das Entsetzliche gewöhnt zu haben, während ein direkt von der Schule an die Front kommandierter Soldat an den Erlebnissen fast zerbricht. Eines Morgens kommt die lange angeforderte Verstärkung. Die Batterie geht direkt über der Vermittlung in Stellung, sodass sich dort die Bomben und das Artilleriefeuer des Feindes konzentrieren. Als der feindliche Angriff beginnt, werden dem Neuankömmling durch einen Volltreffer beide Beine abgerissen. Seine Kameraden bereiten ihn mit

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 106 einer letzten Zigarette auf den Tod vor. Während über ihnen der Feind herandrängt, warten die Übriggebliebenen im Unterstand auf die Handgranate, die ihr Leben auslöschen wird. Nicht unwesentlich zum Erfolg des Hörspiels dürfte das Einspielen von Gefechtslärm beigetragen haben. Es vermittelte den Zuhörern an ihren Apparaten einen scheinbar authentischen Höreindruck vom Kriegsgeschehen.

Lewis Milestone, "Im Westen nichts Neues" (Tonfilm USA 1930)

Ausschnitt aus der Grabenkampfsequenz (Quelle: YouTube) (https://www.youtube.com/watch?v= Ciq9ts02ci4)

Erst dem Tonfilm gelang es Ende der 1920er Jahre, Geräuschkulissen zu erzeugen, die die Lärmsinfonien des Krieges einigermaßen realistisch erscheinen ließen. Maßstäbe bei der Vertonung des Weltkriegs setzten 1930 die beiden Kriegsfilm-Klassiker Westfront 1918 von Georg Wilhelm Pabst, nach Johannsens Roman Vier von der Infanterie, und Im Westen nichts Neues von Lewis Milestone, nach dem gleichnamigen Roman von Remarque. Pabst habe erfolgreich, so der Filmkritiker Siegfried Kracauer, den Ton als "Mittel der Versinnlichung" eingesetzt: "Unartikulierte Ausbrüche von Panik und Wahnsinn vermischen sich mit dem Geknatter der Maschinengewehre und dem Zischen der Bomben – eine entsetzliche Kakophonie, die zeitweilig im anhaltenden, betäubenden Lärm von Artilleriesperrfeuer untergeht." Nie zuvor sei der Krieg in seiner Schrecklichkeit "so realistisch" dargestellt worden. Verantwortlich hierfür seien die Tonaufnahmen einer fast zehnminütigen Kampfsequenz und der Lazarettszene, in der sich der Gefechtslärm und das Schreien der Verwundeten und Sterbenden mischen. Auch Milestones filmisch-fiktionale Darstellung des Weltkriegs bezog ihre Wirkung nicht zuletzt aus der Geräuschkulisse.

Bei den Tonspuren der beiden Filme handelt es sich um akustische Verdichtungen, welche mit den tatsächlichen Hörerlebnissen der tagelang dem Trommelfeuer ausgesetzten Soldaten nicht zu vergleichen sind. Gleichwohl haben sich diese Verdichtungen im kollektiven Hörgedächtnis festgesetzt. Dazu trug nicht unwesentlich bei, dass Tonsequenzen aus den Filmen als vermeintliche O-Töne in späteren Fernsehdokumentationen zum Einsatz kamen. Wenn wir heute den Ersten Weltkrieg im Ohr zu haben glauben, dann sind es allenfalls diese retrospektiven Klanginszenierungen der Filmklassiker. Mit der tatsächlichen Soundrealität des Weltkriegs, jener Mischung aus unerträglicher Stille und tagelangem Trommelfeuer, aus chronischem Alarm- und akustischem Ausnahmezustand, haben diese ebenso wenig zu tun wie Elton Johns peinliches Gesülze auf der 1981 erschienenen Schallplatte All Quiet on the Western Front. Es bleibt offen, so Horst Meixner resümierend, ob bei all diesen Versuchen, den Krieg akustisch zu fixieren, "nur das Medium oder die Reproduktion überhaupt an eine Grenze gelangt" ist.

Für die Hinweise zu August Stramm und zu den Fliegerpfeilen bedanke ich mich bei Herrn Dr. Bernd Ulrich (Berlin).

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 107 Lesen

Henri Barbusse: Das Feuer. Tagebuch einer Korporalschaft, 2. Aufl., Hamburg 2007

Peter Berz: Der Fliegerpfeil. Ein Kriegsexperiment Musils an den Grenzen des Hörraums, in: Armaturen der Sinne. Literarische und technische Medien 1870 – 1920, hrsg. v. Jochen Hörisch / Michael Wetzel, München 1990, S. 265 – 288

Werner Beumelburg: Sperrfeuer um Deutschland, Oldenburg 1929 ders.: Douaumont, Oldenburg 1926

Arnolt Bronnen: Katalaunische Schlacht, Berlin 1924

Alfred Döblin: Meine Adresse ist: Saargemünd. Spurensuche in einer Grenzregion, zusammengetragen u. kommentiert v. Ralph Schock, Merzig 2010

Julia Encke: Augenblicke der Gefahr. Der Krieg und die Sinne. 1914 – 1934, München 2006

Hellmuth Falkenberg: Die Musik der Schlachten. Aufsätze zur Philosophie des Krieges, Konstanz 1916

Melanie Fohrmann: "Aus dem Lautsprecher brüllte der Krieg". Ernst Johannsens Hörspiel "Brigadevermittlung", Bielefeld 2005

Heinz Hiebler: Hugo von Hofmannsthal und die Medienkultur der Moderne, Würzburg 2003

Ernst Jünger: Kriegstagebuch 1914 – 1918, hrsg. v. Helmuth Kiesel, Stuttgart 2010 ders.: Kampf als inneres Erlebnis, Berlin 1922

John Keegan: Das Antlitz des Krieges. Die Schlachten von Azincourt 1415, Waterloo 1815 und an der Somme 1916, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2007

Siegfried Kracauer: Westfront 1918, in: Frankfurter Zeitung, 27.5.1930 ders.: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 1999

Helmut Lethen: "Knall an sich": Das Ohr als Einbruchstelle des Traumas, in: Inka Mülder-Bach (Hrsg.): Modernität und Trauma: Beiträge zum Zeitenbruch des Ersten Weltkrieges, Wien 2000, S. 192 – 209

Horst Meixner: Der Erste Weltkrieg in der deutschen Literatur nach 1917, in: Mannheimer Berichte 12 (1976), S. 345 – 349

Matti Münch: Verdun. Mythos und Alltag einer Schlacht, München 2006

Robert Musil: Tagebücher, 2 Bde., 2. Aufl., Reinbek 1983 ders.: Die Amsel, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 2, Reinbek 2000, S. 548 – 562

Reiner Pabst: Ohrenzeugen des Ersten Weltkriegs, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.5.2011 3 Wilhelm Peßler: Das historische Museum und der Weltkrieg, in: Museumskunde 12 (1916) 2/3, S. 91 u. 199

Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues, Berlin 1929

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Ludwig Renn: Der Krieg, Frankfurt a. M. 1929

Michael Salewski: Lärm, Monotonie und Dynamik in den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts, in: Historische Mitteilungen 22 (2009), S. 188 – 204

Dieter Storze: Artillerie, in: Gerhard Hirschfeld u. a (Hrsg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2003, S. 344 – 349

August Stramm: Das Werk, hrsg. v. René Radrizzani, Wiesbaden 1963

Adrienne Thomas: Aufzeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg. Ein Tagebuch, Köln 2004

Georg Wenzel (Hrsg.): Arnold Zweig 1887 – 1968. Werk und Leben in Dokumenten und Bildern, Berlin 1978

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Gerhard Paul für bpb.de

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Gadji beri bimba / Glandridi lauli lonni cadori Lautpoesie von Hugo Ball bis Bas Böttcher

Von Ralph Schock 5.7.2016

Ralph Schock, Dr., Leiter der Literaturabteilung des Saarländischen Rundfunks. E-Mail: [email protected]

"Wir wollten etwas machen. Etwas Neues, Nichtdagewesenes" - so erinnert sich der Schriftsteller Hans Arp an die exzentrischen Spektakel im Zürcher Cabaret Voltaire. Das Vertrauen in die kreative Kraft des Unbewussten und des Irrationalen ermöglichte es den Dadaisten, das Leben mit seinen Geräuschen, Farben und Rhythmen in seine Bestandteile zu zerlegen.

In seinem Tagebuch hielt der Akteur den Auftritt fest: "Meine Beine standen in einem Säulenrund aus blauglänzendem Karton, der mir schlank bis zur Hüfte reichte, sodass ich bis dahin wie ein Obelisk aussah. Darüber trug ich einen riesigen, aus Pappe geschnittenen Mantelkragen, der innen mit Scharlach und außen mit Gold beklebt, am Halse derart zusammengehalten war, dass ich ihn durch ein Heben und Senken der Ellbogen flügelartig bewegen konnte. Dazu einen zylinderartigen, hohen, weiß und blau gestreiften Schamanenhut. Ich hatte an allen drei Seiten des Podiums gegen das Publikum Notenständer errichtet und stellte darauf mein mit Rotstift gemaltes Manuskript, bald am einen, bald am anderen Notenständer zelebrierend." Kein einziges der aufgeschriebenen Wörter ergab irgendeinen Sinn. Gleichwohl deklamierte der Mann mit ernster, geradezu feierlicher Stimme: "gadji beri bimba / glandridi lauli lonni cadori / gadjama bim beri glassala / glandridi glassala tuffm i zimbrabim / blassa galassasa tuffm i zimbrabim […]".

In dem Tagebuch heißt es weiter: "Ich hatte jetzt rechts am Notenständer Labadas Gesang an die Wolken und links die Elefantenkarawane absolviert und wandte mich wieder zur mittleren Staffelei, fleißig mit den Flügeln schlagend. Die schweren Vokalreihen und der schleppende Rhythmus der Elefanten hatten mir eben noch eine letzte Steigerung erlaubt. Wie sollte ich’s aber zu Ende führen? Da bemerkte ich, dass meine Stimme, der kein anderer Weg mehr blieb, die uralte Kadenz der priesterlichen Lamentation annahm, jenen Stil des Messgesangs, wie er durch die katholischen Kirchen des Morgen- und Abendlandes wehklagt."

Nicht wenige der Ohren- und Augenzeugen dieses Auftritts werden sich verwundert nach dem Sinn des gerade Erlebten gefragt haben. Machte sich da jemand bloß über die Zuschauer lustig? Verbarg sich dahinter gar – das Cabaret Voltaire lag ja in der Nähe des Großmünsters – eine blasphemische Absicht? Der Künstler gab jedenfalls keine Hinweise, wie die Aktion zu verstehen sei. Nach seinem Auftritt erlosch das Licht und Freunde trugen ihn, da er in seiner Verkleidung nahezu unbeweglich war, von der Bühne.

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"Wir wollten etwas machen. Etwas Neues, Nichtdagewesenes"

Der "magische Bischof" war der 1886 im pfälzischen Pirmasens geborene Hugo Ball. Nach einem Philosophiestudium in München, Basel und Heidelberg war er zwischen 1912 und 1914 an den Münchner Kammerspielen als Schauspieler und Regisseur tätig gewesen. Kriegsuntauglich geschrieben ging er nach Berlin, wo er bei anarchistischen Zeitschriften mitarbeitete. Seit Mai 1915 lebte er – liiert mit Emmy Hennings – in Zürich; mit einer Varieté-Truppe reisten beide durch die Schweiz, er als Pianist und Texter, sie als Schauspielerin. Juni 1916: Hugo Ball beim Vortrag seiner "Verse ohne Worte" in Bei dem in Zürich lebenden avantgardistischen Choreografen und selbstgefertigtem Tanztheoretiker Rudolf von Laban trafen die beiden auf Geistesverwandte: etwa kubistischem Kostüm (© picture-alliance, den aus Straßburg stammenden Schriftsteller Hans Arp und die beiden Rumänen akg-images) Tristan Tzara, später ein bekannter Surrealist, und Marcel Janco, ein Maler und Architekt. Anfang Februar 1916 gaben die Freunde eine Annonce auf, das Gründungsdokument des Zürcher Dadaismus: "Cabaret Voltaire. Unter diesem Namen hat sich eine Gesellschaft junger Künstler und Literaten etabliert, deren Ziel es ist, einen Mittelpunkt für die künstlerische Unterhaltung zu schaffen. Das Prinzip des Kabaretts soll sein, dass bei den täglichen Zusammenkünften musikalische und rezitatorische Vorträge der als Gäste verkehrenden Künstler stattfinden, und es ergeht an die junge Künstlerschaft Zürichs die Einladung, sich ohne Rücksicht auf eine besondere Richtung mit Vorschlägen und Beiträgen einzufinden."

Offenbar hatten die Einladenden – die meisten waren kaum 30 Jahre alt – keine genaue Vorstellung davon, was da abends auf der Bühne geschehen sollte. Ein Indiz waren allerdings die an den Wänden aufgehängten Gemälde und Plakate: Arbeiten italienischer Futuristen und russischer Formalisten, deutscher Expressionisten und französischer Kubisten.

Es war, im zweiten Jahr des Ersten Weltkriegs, eine merkwürdig bunte, aus mehreren Ländern stammende Künstlergruppe (überwiegend Literaten), zu der inzwischen auch der Autor und Psychoanalytiker Richard Huelsenbeck aus Berlin gestoßen war, die nun Abend für Abend ein wildes Treiben entfachte. Tzara, heißt es in einem Bericht, unterbreche immer wieder seine Rezitationen durch lautes Schreien und Schluchzen und lasse "sein Hinterteil hüpfen wie den Bauch einer orientalischen Tänzerin, Janco spielt auf einer unsichtbaren Geige und verneigt sich bis zur Erde. Frau Hennings mit einem Madonnengesicht versucht Spagat. Huelsenbeck schlägt unaufhörlich die Kesselpauke, während Ball, kreidebleich wie ein gediegenes Gespenst, ihn am Klavier begleitet." Unentwegt suchte und erprobte man neue Formen künstlerischer Darbietungen. Texte russischer und italienischer Futuristen wurden deklamiert, eine Gruppe zur Balalaika singender Russen trat auf, aktuelle Schlager und Chansons wurden dargeboten, es gab Tanzeinlagen, Einpersonentheater, Aktionsmalerei. Ball spielte Musik von Debussy, Rachmaninow, Skrjabin und Franck. Unter Zuckungen und bizarren Körperverrenkungen rezitierte man sogenannte poèmes gymnastiques. Und von bis zu 20 Akteuren gleichzeitig wurden poèmes simultans gelesen, gesungen und gepfiffen.

Mit diesen Auftritten, die Chaos simulieren oder generieren sollten, wollte man auf die permanente Geräuschkulisse in den Großstädten aufmerksam machen, auf den Lärm in den modernen Fabrikhallen und auf den unerträglichen akustischen Stress, dem die Soldaten in den Schützengräben an der Front ausgesetzt waren. Das Publikum begleitete solche Darbietungen mal still und ratlos, mal mit Zwischenrufen, Gejohle und Gelächter. Bei allzu heftigen Beschimpfungen wehrte es sich handgreiflich und zerschlug die Requisiten der Künstler.

Man probierte herum im Cabaret Voltaire, diesem "Tummelplatz verrückter Emotionen". Das Programm sollte ein alle Sinne ansprechendes exzentrisches Spektakel sein, zugleich eine politische

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Provokation – es waren Performances oder Happenings, bevor diese Begriffe gebräuchlich wurden. Man setzte auf Spontaneität und Improvisation, vertraute der kreativen Kraft des Unbewussten, des Irrationalen und des Zufalls; man wollte schockieren um jeden Preis und hoffte auf die befreiende Wirkung des Lachens; Proben und Pünktlichkeit wurden verachtet. Arp in der Rückschau: "Wir wollten etwas machen. Etwas Neues, Nichtdagewesenes. Aber wir wussten nicht, was!"

"Der Dadaist kämpft gegen den Todestaumel der Zeit"

Wegen der vielen dadaistischen Spielarten und der höchst unterschiedlichen Ansichten und Absichten seiner Protagonisten gibt es bis heute keine genaue Definition dessen, was Dadaismus war und was er wollte. Einverständnis besteht nicht einmal darüber, wer ihm angehörte. Dessen ungeachtet beeinflusst er bis heute Literatur, bildende Kunst, Film, Theater, Tanz und Fotografie. Widersprüchliche Erklärungen findet man bereits über Herkunft und Bedeutung des Namens. Ball in seinem Tagebuch: "Dada heißt im Rumänischen Ja, Ja, im Französischen Hotto- und Steckenpferd. Für Deutsche ist es ein Signum alberner Naivität und zeugungsfroher Verbundenheit mit dem Kinderwagen." George Grosz spricht von einem Zufallsfund in einem französischen Wörterbuch. Marcel Janco behauptet, Ankündigung für den "1. Dada-Abend" in Zürich im ein damals gebräuchliches Haarwaschmittel dieses Namens habe den Juli 1916. (© picture- Anstoß gegeben. alliance/akg) In Balls Tagebuch heißt es weiter: "So sind unsere Debatten ein brennendes, täglich flagranteres Suchen nach dem spezifischen Rhythmus […] der Zeit." An anderer Stelle: "Mit dem Dadaismus tritt eine neue Realität in ihre Rechte. Das Leben erscheint als ein simultanes Gewirr von Geräuschen, Farben und geistigen Rhythmen, das in die dadaistische Kunst unbeirrt mit allen sensationellen Schreien und Fiebern seiner verwegenen Alltagspsyche und in seiner gesamten brutalen Realität übernommen wird. […] Der Dadaismus steht zum ersten Mal dem Leben nicht mehr ästhetisch gegenüber, indem er alle Schlagworte von Ethik, Kultur und Innerlichkeit, die nur Mäntel für schwache Muskeln sind, in seine Bestandteile zerfetzt."

Die Dadaisten hatten nicht nur kein gemeinsames ästhetisches Programm, auch ihre politischen Zielsetzungen divergierten. Einig waren sie sich allerdings in der Ablehnung der bürgerlichen Gesellschaft, ihrer Normen, Ideale und Moralvorstellungen (ihrer "bösartigen und irrsinnigen Gemütlichkeiten", so Ball), sowie der aktuellen Kunstauffassungen. Und man verachtete jeglichen Nationalismus, Patriotismus und Militarismus.

Bei Hugo Ball dürfte die radikale Ablehnung des Krieges aus einer Reise Ende August / Anfang September 1914 auf die Schlachtfelder an der lothringischen Front resultieren. Zahlreiche seiner Gedichte (etwa Totentanz 1916) belegen seine kompromisslose antimilitaristische Einstellung. "Jedes Wort, das hier [im Cabaret Voltaire, R. S.] gesprochen und gesungen wird, besagt wenigstens das eine, dass es dieser erniedrigenden Zeit nicht gelungen ist, uns Respekt abzunötigen. Was wäre auch respektabel und imponierend an ihr? Ihre Kanonen? Unsere große Trommel übertönt sie."

Die Lautgedichte Hugo Balls ("Verse ohne Worte") dürften zu den bekanntesten Erscheinungsformen des Dadaismus zählen, stellen sie doch bis heute einen so irritierenden wie frappierenden Gegenentwurf zur herkömmlichen Lyrik dar. "Das phonetische Gedicht", so der Dadaist Raoul Hausmann, sei "der erste Schritt zu einer vollkommenen nichtgegenständlichen, abstrakten Poesie". Ausführlich handelt das von 20 Künstlern unterzeichnete Dadaistische Manifest von dessen Möglichkeiten: Das "bruitistische Gedicht" schildere "eine Trambahn wie sie ist, die Essenz der Trambahn mit dem Gähnen des Rentiers Schulze und dem Schrei der Bremsen". Das

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"simultaneistische Gedicht" lehre "den Sinn des Durcheinanderjagens aller Dinge, während Herr Schulze liest, fährt der Balkanzug über die Brücke bei Nisch, ein Schwein jammert im Keller des Schlächters Nuttke". "In typischer Verkürzung", so Ball in seinem Tagebuch, "zeigt es den Widerstreit der vox humana mit einer sie bedrohenden, verstrickenden und zerstörenden Welt, deren Takt und Geräuschablauf unentrinnbar sind." Das "statische Gedicht" schließlich mache, so heißt es im Manifest, "die Worte zu Individuen, aus den drei [!] Buchstaben Wald tritt der Wald mit seinen Baumkronen, Försterlivreen und Wildsauen, vielleicht tritt auch eine Pension heraus". Generell sei der herkömmlichen, auf semantischer Übereinkunft beruhenden Literatur vorzuwerfen, so Ball , dass sie "am Schreibtisch erklügelt und für die Brille des Sammlers" gefertigt sei, "statt für die Ohren lebendiger Menschen".

Hatten die Futuristen um Marinetti mit ihren lettristischen Kunstwerken (Parole in libertà) das einzelne Wort aus dem umgebenden Gefüge, dem Satz, befreit und z. B. auf Collagen in einen neuen Zusammenhang gestellt, so radikalisierte Ball dieses Konzept, indem er, eine Ebene tiefer, mit dem Lautwert einzelner Vokale und Konsonanten arbeitete.

Bei ihm mag noch etwas anderes eine Rolle gespielt haben. Er verwendete in seinem Tagebuch zur Charakterisierung seines Vortrags das Wort "zelebrieren", ein Begriff aus der Sphäre des Religiösen und Feierlichen. Und umgekehrt hatte für ihn ein Gottesdienst durchaus poetischen Charakter: "Die Liturgie ist ein Gedicht, das von Priestern zelebriert wird." So knüpfte der wenige Jahre später zum Katholizismus konvertierte Ball mit der Rezitation im Cabaret Voltaire wohl mehr oder weniger bewusst an alte Formen religiös-schamanischen Sprechens an, an die Tradition geheimnisvoll-unverständlich gemurmelter Orakel, Zauber- und Weihesprüche. schtzngrmm / t-t-t-t / t-t-t-t / grrrmmmmm / t-t-t-t/ s------c------h

Mit seiner Rezitation im Cabaret Voltaire stand Ball in einer literarischen Tradition, die den Hauptstrom der Lyrik seit der Antike über das Barock (dort waren es vor allem Georg Philipp Harsdörffer und Johann Klaj) bis in die Gegenwart wie ein kleiner, doch nie versiegender Nebenfluss begleitet: das Laut- oder Klanggedicht, dessen akustisch-poetische Eigenschaften sich kaum in ihrem Schriftbild niederschlagen bzw. durch sie wiederzugeben sind. Nur in der konkreten akustischen Präsentation durch den Künstler werden sie lebendig, verständlich und in ihrer ästhetischen Qualität erfahrbar.

Das zentrale Medium solcher Aufführungen ist die menschliche Stimme mit all ihren Möglichkeiten: der Modulation von Lautstärke, von Tonhöhe und -färbung, dem Vortragsstil sowie dem Rhythmus und der Geschwindigkeit – die Stimme als der höchst unterschiedliche Körper, den sie den Worten geben kann.

Aus der Perspektive des Produzenten beschrieb der französische Philosoph Roland Barthes dieses "laute Schreiben" so: "Sein Ziel ist nicht die Klarheit der messages, […] es sucht vielmehr (im Streben nach Wollust) die Triebregungen, die mit Haut bedeckte Sprache, einen Text, bei dem man die Rauheit der Kehle, die Patina der Konsonanten, die Wonne der Vokale, eine ganze Stereophonie der Sinnlichkeit hören kann: die Verknüpfung von Körper und Sprache, nicht von Sinn und Sprache."

Zu den frühesten literarischen Zeugnissen dieser Richtung im ausgehenden 19. und 20. Jahrhundert zählen Paul Scheerbarts Unsinnspoesie Kikakokú (1897), Christian Morgensterns Das große Lalula (1905), Else Lasker-Schülers Elbanaff (1910) und – heute vielleicht am bekanntesten – die Ursonate von Kurt Schwitters (1923). Aufgenommen und individuell weiterentwickelt wurde diese Tradition von Autoren wie Franz Mon, Gerhard Rühm, Werner Laubscher und Oskar Pastior.

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Der österreichische Schriftsteller Ernst Jandl - fotografiert auf einer Lesung in Zürich im Jahr 1995. (© picture-alliance, akg-images / Niklaus Stauss) Eines der bekanntesten Lautgedichte überhaupt dürfte der am 19. April 1957 entstandene Text schtzngrmm des österreichischen Lyrikers Ernst Jandl sein, ein nur aus Konsonanten gebautes Anti- Kriegspoem, dessen beklemmender Inhalt sich über die bloße Lektüre des gedruckten Textes kaum erschließt. Doch wer einmal die Gelegenheit hatte, es von Jandl selbst rezitiert zu hören, live oder in einer Aufzeichnung, dem werden sich unweigerlich Assoziationen von Bedrohung und Gefahr in einem Schützengraben aufdrängen. Gelingt es ihm doch, den Eindruck von Maschinengewehrsalven, umherfliegenden Geschossen und einschlagenden Granaten zu evozieren.

Aktuelle Spielarten der akustischen Poesie mit unterschiedlicher Nähe zu konventionellen, auf semantischem Verstehen gegründeten Gedichten bieten Autoren aus der sogenannten Slam-Poetry- oder Rap-Szene. Der poetische Gehalt etwa der Gedichte von Bas Böttcher (Neonomade) vermittelt sich kaum über die gedruckte Fassung, sondern nur – wie beim Elefantenzug Balls oder Jandls schtzngrmm – bei der akustischen Präsentation in der mitreißenden Performance ihres Autors.

Lesen

Hugo Ball: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1: Gedichte, hrsg. von Eckhard Faul, Göttingen 2007

Otto F. Best (Hrsg.): Expressionismus und Dadaismus (Die deutsche Literatur in Text und Darstellung, Bd. 14), Stuttgart 2000

Bas Böttcher: Megaherz, Berlin 2004 ders.: Vorübergehende Schönheit, Dresden 2012

Michael Braun: Hugo Ball. Der magische Bischof der Avantgarde, Heidelberg 2011

Klaus Peter Dencker: Optische Poesie – Von den prähistorischen Schriftzeichen bis zu den digitalen Experimenten der Gegenwart, Berlin / New York 2011

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Hermann Korte: Die Dadaisten, Reinbek 2007

Werner Laubscher: Werkausgabe komplett, hrsg. von Andreas Dury und Klaus Behringer, Saarbrücken 2008

Michael Lentz: Lautpoesie / -musik nach 1945 – Eine kritisch-dokumentarische Bestandsaufnahme, Frankfurt 2010

Raoul Schrott: Dada 15 / 25 – Dokumentation und chronologischer Überblick zu Tzara & Co., Köln 2004

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Ralph Schock für bpb.de

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Von Kinokapellen und Klavierillustratoren Die Ära der Stummfilmmusik

Von Rainer Fabich 15.7.2015

Rainer Fabich, Dr., Musik- und Kommunikationswissenschaftler, arbeitet als Komponist, Musiker, Autor in München.

Berlin, 1. November 1895, Varieté Wintergarten. Max und Emil Skladanowsky präsentieren vor ca. 1.500 Gästen bewegte Bilder als Schlussnummer ihres Varietéprogramms. Sie zeigen sie mit ihrem Projektor, dem Bioscop. Das 15-minütige Programm mit acht kurzen Streifen gefilmter Varieténummern wird begleitet von einem Orchester. Ein gewisser Herman Krüger, Freund von Max Skladanowsky, hat die Musik dazu geschrieben. Paris, 28. Dezember 1895, Indischer Salon des Grand Café, Boulevard des Capucines. Die Brüder Lumière führen erstmals öffentlich zehn ihrer selbstgedrehten dokumentarischen Kurzfilme von 40 bis 50 Sekunden Dauer einem zahlenden Publikum vor. Dazu benutzen sie den Kinematographen, ein von ihnen selbst entwickeltes Aufnahme-, Kopier- und Projektionsgerät. Ein Pianist begleitet die Filme. Beide Ereignisse markieren den Beginn einer neuen Epoche, der Stummfilmzeit. In ihr wird der Film von einer Jahrmarktattraktion zum populären Massenmedium, zu einer neuen, eigenen Kunstform mit stumm agierenden Schauspielern. In ihr entstehen der Spiel- und Dokumentarfilm, eine eigene Filmsprache (Kamera und Montage) und nicht zuletzt eine neue musikalische Gattung, die Filmmusik.

Das Ende dieser Ära wurde in den späten 1920er Jahren eingeläutet, als der Tonfilm sich durchzusetzen begann. Dies bedeutete für jeden dritten Berufsmusiker in Deutschland den Verlust des Arbeitsplatzes. Nach einer mehrjährigen Übergangszeit, die mancherorts bis in die Mitte der 1930er Jahre dauerte, verschwand der nun retrospektiv so bezeichnete Stummfilm fast vollständig. Allerdings war es in den Kinos nur sehr selten "stumm" gewesen. Dafür gab es verschiedene Gründe. Traditionellen Vorbildern folgend, in denen die Musik Verbindungen mit Sprache, Drama oder Tanz eingeht, lag es nahe, dass die Musik mit dem Film zu einer untrennbaren Einheit verschmelzen würde. Diese "Vorläufer", wie Bühnen- und Programmmusik, Melodram, Oratorium, Oper und Operette, Musical und Revue, wurden immer wieder in der Stummfilmmusik adaptiert. Nicht nur wurden zahlreiche Theaterstücke und Opern verfilmt, sondern ihre musikdramaturgische Gestaltung wurde auch in den Originalkompositionen übernommen. Man griff Prinzipien wie Leitmotiv, Musiknummer, Rezitativ und durchkomponierte Sequenzen auf und passte sie den Besonderheiten des neuen Mediums an.

Musik sollte nicht nur das störende Projektorengeräusch übertönen, sondern auch dem stummen Mienen- und Gebärdenspiel der Leinwandakteure Leben einhauchen sowie die flimmernden Bilder musikalisch illustrieren, emotionalisieren oder kommentieren. Dieser akustische Subcode lieferte dem Zuschauer zusätzliche Informationen zu dem, was gerade auf der Leinwand passierte, und schuf einen Klangraum, der die projizierte Zweidimensionalität vergessen lassen sollte. Auch die "Steigerung des Kunstgenusses" durch Musik, wie es Brecht formulierte, war schon damals ein wichtiger Faktor. Nach einer Publikumsbefragung aus dem Jahr 1914 scheint die Musik im Kino, zumindest für Mädchen, ein zentrales Motiv für den Kinobesuch gewesen zu sein (Altenloh).

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 116 Live oder technisch reproduzierte Tonerzeugung

Innenansicht eines Kinos mit Wurlitzer-Orgel - Foto um 1920. (© picture-alliance, akg-images) Bereits seit den frühesten Anfängen wurde der Ton (Musik, Geräusch und manchmal auch die Sprache) auf zwei verschiedenen Wegen realisiert: live oder durch Reproduktion mit technischen Hilfsmitteln. Den Live-Ton erzeugten im Kino anwesende Musiker und Geräuschemacher, zuweilen auch Sänger oder Sprecher. Schon zu Beginn der Stummfilmära, etwa beim Wanderkino, kommentierte ein Rezitator in der Art eines Moritatensängers das Bild bzw. die Rollen des Schauspielers, indem er mit jeweils veränderter Stimme sprach. Sänger und Chöre kamen zum Einsatz, als die in Mode gekommenen Opern- und Operettenverfilmungen live aufgeführt wurden. Wichtigster Interpret im Kino war jedoch zunächst der Piano-, Harmonium- oder Orgelspieler, der am leichtesten den schnellen Filmbildern folgen konnte.

Die Etablierung eigener Kinoensembles lief parallel mit der Entstehung ortsgebundener Kinos. Die Spanne reichte vom Duo, Trio, Salonorchester bis zum großen Sinfonieorchester samt Chor. Die Aufgabe des Geräuschemachers übernahm meist der Schlagzeuger oder der Organist, dessen spezielle Kinoorgel bestimmte Geräuscheffekte liefern konnte. Die orchestrale Live-Musik gelangte vor allem in den Kinopalästen der 1920er Jahre zur vollen Blüte und stellte den Höhepunkt einer bemerkenswerten Entwicklung dar.

Ein Problem war die Synchronität zwischen Film und Musik. Um dieses in den Griff zu bekommen, mussten die Musiker ihr Spiel entweder dem Film anpassen oder es wurde mit technischen Hilfsmitteln gearbeitet oder experimentiert. War es noch relativ einfach, die Bandgeschwindigkeit zwischen Vorführer und Dirigenten durch Handzeichen, Telefon oder Signallampen abzustimmen, mussten sich der Dirigent und sein Orchester beim Noto-Film-Verfahren am Notenband orientieren, das am unteren Rand des Films einkopiert wurde und von links nach rechts wanderte. Beim Beck-Verfahren agierten

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 117 die Schauspieler während der Dreharbeiten zu einer Musik, die am Aufnahmeort erzeugt wurde. Die mit einer zweiten Kamera aufgezeichneten Bewegungen des Dirigenten wurden dann im Kino vor das Orchester projiziert. Bei einem anderen Verfahren steuerte ein Orchestermusiker die Vorführgeschwindigkeit des Projektors mithilfe des Messtronoms, eines Geräts des deutschen Filmpioniers Oskar Messter. Carl Robert Blums Musikchronometer schließlich ermöglichte eine ferngesteuerte Synchronisation zwischen einem Notenband am Pult des Dirigenten und dem Filmprojektor.

Bei reproduzierter Musik kamen Grammophon oder Tonrollen zum Einsatz, aber auch mechanische Musikinstrumente wie Pianola, mechanisches Klavier oder Orchestrion sowie speziell konstruierte Kinematographen- Instrumente. Die technischen Unzulänglichkeiten dieser Hilfsmittel hinsichtlich Aufführungsdauer, Lautstärke und vor allem Synchronität von Bild und Ton konnten letztlich jedoch erst mit Einführung des Tonfilms überwunden werden, mit dem sogenannten Lichttonverfahren, einer optischen Umsetzung der Tonspur auf dem Filmstreifen.

Live-Musik entstand in den einzelnen Kinos jeweils neu vor Ort und war somit eng an äußere Rahmenbedingungen (Größe und Qualität des Kinos bzw. des ausführenden Ensembles) gebunden. Art und Weise sowie Qualität der Live-Musik lagen in den Händen der dort Verantwortlichen. Sie divergierte deshalb sehr stark und konnte auch die Rezeption eines Films erheblich beeinflussen. Die reproduzierte Musik dagegen wurde meist vom Filmhersteller oder vom Verleiher in Form von Tonträgern zusammen mit dem Film vertrieben, sofern der Kinobetreiber nicht eigenes Material zur Tongestaltung verwendete.

Kompilationen und Illustrationen

Die Zusammenstellung der Live-Musik, damals Kompilation oder Illustration genannt, lag zunächst in den Händen eines Pianisten oder Dirigenten. Dabei konnte man auf bestehende Werke der Unterhaltungs- und Konzertmusik, auf Opern oder Operetten zurückgreifen. Oder man verwendete extra für diesen Zweck geschaffene kurze Musikstücke für filmische Standardsituationen, wie Spannung, Verfolgung, Flucht, Liebes- oder Trauerszenen. So enthält J. S. Zamecniks Sam Fox Moving Picture Music (Bd. 1, New York, 1913), eines der ersten seiner Art, u. a. folgende Genrestücke für Klavier: Cowboy-, Märchen-, Kriegs- und Sturmmusik, chinesische und orientalische Musik. In Deutschland veröffentlichte der Filmmusikpionier und Komponist Giuseppe Becce im Jahr 1919 den ersten Band seiner Kinothek (Kinobibliothek) mit Bearbeitungen existierender Werke für den filmischen Gebrauch und Genrestücken. Auch Arnold Schönbergs Begleitungsmusik zu einer Lichtspielscene (1930) spiegelt die damals übliche Vertonungspraxis wider. Sie hat sich vom Prinzip her bis heute erhalten, und zwar vor allem im Bereich des Fernsehens, im Einsatz einer nach Stichworten katalogisierten Archiv- oder Librarymusik.

Die Kunst des Illustrators lag darin, aus dem Mix verschiedenster Werke eine Art geschlossenes Ganzes herzustellen. Zeitzeuge Kurt London schildert den Arbeitsablauf eines Filmillustrators: Betrachten des Films, um einen Eindruck von Inhalt und Form zu bekommen; Stoppen der Dauer der Szenen, die er nach musikalischen Gesichtspunkten aufteilt; Auswahl der Musikstücke nach stilistischen und dramaturgischen Gesichtspunkten und ihre Bearbeitung und Anpassung an den Film; Komposition von Überleitungen; Instrumentierung der Musik für das jeweilige Ensemble.

Die Kompilationspraxis dominierte den filmmusikalischen Alltag und lieferte neben guten (vor allem in den 1920er Jahren) auch fragwürdige Ergebnisse, die für das damals teilweise schlechte Image von Filmmusik verantwortlich waren. Sie war letztlich Ausdruck der Arbeitsbedingungen der Kinomusiker (großer Zeitdruck, begrenztes Notenmaterial), offenbarte aber auch stilistische und dramaturgische Unsicherheit bzw. Inkompetenz einzelner Illustratoren, besonders in der Anfangsphase der Stummfilmmusik. Oskar Messter berichtet hierzu: "Noch im Jahre 1913 war der künstlerische Wert der Filmbegleitmusik selbst in manchen größeren Lichtspieltheatern recht mäßig. Die Kinokapellen

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 118 spielten zu den Filmen eine Reihe von Musikstücken und Phantasien, die meistens an dem Inhalt des Films vorbeigingen."

Die Kompilation war jedoch notwendig, um den hohen Bedarf an Musik zu decken, den ein ständig wechselndes Kinoprogramm erzeugte. In den 1920er Jahren wurde diese Praxis derart verfeinert, dass durchaus künstlerische Ergebnisse erzielt wurden, gefördert durch Qualitätsdebatten in einschlägigen Filmmusikpublikationen. Dies gelang, wenn etwa stilistische Einheitlichkeit erreicht wurde oder ein erfahrener Kapellmeister das nötige Fingerspitzengefühl im Umgang mit der Musik bewies. Nicht selten beauftragten die Filmfirmen deshalb die Dirigenten der Uraufführungstheater, für ihre Kompilate sogenannte cue sheets, Musikaufstellungen, anzufertigen, die dann zusammen mit dem Film an die Kinos ausgeliefert wurden.

Autorenillustrationen und Improvisationen

Eine Verbesserung der Filmmusikpraxis bedeutete die damals als "Autorenillustration" bezeichnete Musik, eine Mischform von Kompilation und Komposition. Der kompositorische Anteil eines Illustrators konnte jedoch sehr stark variieren. Wichtigste Vertreter dieser Zunft in Deutschland waren Eduard Künneke, Hans May, Fritz Wenneis und Giuseppe Becce, der zahlreiche Filme, wie Komtesse Ursel von Curt A. Stark (1913) oder Der letzte Mann (1924) und Tartüff (1925) von F. W. Murnau, vertonte. Becce arbeitete auch eng mit Hans Erdmann (Musik zu Nosferatu von Murnau, 1922) zusammen und verfasste mit ihm das Standardwerk der Zeit, das Handbuch der Filmmusik (Berlin 1927).

In den USA hatte Joseph Carl Breil großen Erfolg mit seiner Autorenillustration zu D. W. Griffiths (1915). "Seine" Musik zur New Yorker Uraufführung mit großem Orchester kombiniert eigene Werke mit populären Melodien und Werkfragmenten, u. a. von Grieg, Tschaikowsky und Wagner, und bereitete den Weg für amerikanische Kompiler wie Ernö Rapée, Hugo Riesenfeld oder Mortimer Wilson.

Eine Art musikalische Wiederbelebung erfuhr damals auch die Improvisationskunst. Vor allem Pianisten oder Organisten konnten am schnellsten improvisierend dem Gang der Bilder folgen. Berühmtes Beispiel hierfür ist der junge Dmitri Schostakowitsch, der mehrere Monate in Leningrader Kinos als Stummfilmpianist arbeitete, um Geld zu verdienen. Zuvor musste er jedoch eine Aufnahmeprüfung als Klavierillustrator absolvieren: "Diese Prüfung ähnelte sehr meinem ersten Besuch bei Bruni [seinem Konservatoriumslehrer, R. F.]. Zuerst sollte ich einen 'Blauen Walzer' spielen und danach etwas Östliches. Bei Bruni hatte ich nichts Östliches zustande gebracht, doch 1923 hatte ich inzwischen die Scheherazade Rimski-Korsakows kennengelernt und Orientale von César Cui. Die Qualifikation hatte ein positives Resultat und im November trat ich meine Arbeit im Kinotheater Goldenes Band an. Die Arbeit war sehr schwer […]. Der Dienst in den Kinos paralysierte meine Schaffenskraft. Komponieren konnte ich überhaupt nicht mehr."

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Originale Filmkompositionen

Erklärtes Ziel war jedoch die "originale" Filmkomposition, Filmmusik aus einem Guss, aus der Hand eines einzigen Komponisten. Diesem Ideal, zum Standard geworden beim Tonfilm, stand allerdings zunächst eine Reihe von Hindernissen im Weg: die fehlende Infrastruktur für die Vertonung einer großen Menge an Filmen; der enorme Zeitdruck, unter dem die Musik entstehen musste, man hatte oft nur wenige Wochen, um eine Musik im Umfang einer kleinen Oper zu schreiben und das Notenmaterial herzustellen; der hohe Zeit- und Ressourcenaufwand einer Neueinstudierung; unterschiedliche Voraussetzungen vor Ort, uneinheitliche Orchesterbesetzungen 1925: Plakat zu Fritz Langs etc. Und aus Sicht der Verleger: die kürzere Verwertungsspanne beim Film Film "Metropolis". (© picture- im Vergleich zur Oper oder Operette, die rechtliche Lage sowie unklare alliance, ZB) Erfolgsaussichten in Kombination mit einem hohen finanziellen Zusatzaufwand. Zudem wurden zahlreiche Originalkompositionen von "ehrgeizigen" Dirigenten vor Ort boykottiert, die nur ihre eigenen, extra honorierten Kompilate aufführen wollten.

Fritz Lang, "Metropolis" (Stummfilm D 1927)

Musik: Gottfried Huppertz, Ausschnitt (Quelle: YouTube) (https://www.youtube.com/watch? v=16TLqSJHZ9o)

Dennoch: Es gab trotz dieser besonderen Begleitumstände immer wieder Bestrebungen, originale Filmkompositionen zu realisieren. Die Gründe hierfür waren neben der Experimentierfreudigkeit jüngerer Komponisten und dem geänderten Verhältnis der Komponisten zu angewandter Musik die Erkenntnis der Filmschaffenden, dass eine Originalkompositionen den Erfolg eines Films deutlich erhöhen konnte. So nahm z. B. die Ufa in den Berliner Uraufführungskinos erhebliche Verluste in Kauf, um einen Film durch gute, eigens komponierte Musik besser vermarkten zu können. Die Musik wurde nun nicht mehr jeweils vor Ort neu ausgewählt und zusammengestellt, sondern in enger Zusammenarbeit und Abstimmung von Komponist, Regisseur und Produzent komponiert und ein für alle Mal festgelegt. Eine anspruchsvolle Kinokultur entstand, die sich mit etablierten Kunstformen wie Theater und Oper messen lassen wollte und konnte. Eine Reihe von originalen Filmmusiken entstanden so vor allem in Deutschland, Frankreich und Italien.

1910, 15 Jahre, nachdem Max und Emil Skladanowsky ihre bewegten Bilder im Berliner Wintergarten gezeigt hatten, komponierte Paul Lincke die Musik zu der "Filmpantomime" Der Glückswalzer. Eine der ersten umfangreicheren Filmmusiken in Deutschland war die des Liszt-Schülers Josef Weiss zu Der Student von Prag (1913) von Hanns Heinz Ewers und Stellan Rye. Der Klavierauszug – ein Konzentrat der wichtigsten Orchesterstimmen für Klavier – mit Hinweisen zur Filmhandlung und Instrumentation enthielt bereits typische Merkmale einer Stummfilmkomposition: Leitmotive, Zitate, musikalische Deskriptionen und reine Musikstellen. Der Klaviervirtuose Weiss konzertierte damit in verschiedenen deutschen Städten und wurde mit seiner ersten "Kino-Oper" gefeiert.

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1922: Der Schauspieler Rudolf Klein-Rogge als König Etzel in Fritz Langs Film "" (© picture-alliance, akg-images) Die wichtigsten Filmkomponisten im engeren Sinne im Deutschland der 1920er Jahre waren Gottfried Huppertz und Edmund Meisel sowie Marc Roland. Huppertz komponierte Stumm- und Tonfilmmusiken z. B. für Zur Chronik von Grieshuus (1925), Hanneles Himmelfahrt (1934) und Durch die Wüste (1936).- Vor allem aber ist sein Filmmusikschaffen mit Fritz Langs Werk verknüpft. Mit Lang und dessen Frau, der Drehbuchautorin , arbeitete er schon in der Entstehungsphase eines Films eng zusammen. Die beiden Klassiker Die Nibelungen (1924) und Metropolis (1927) sind positives Resultat eines intensiven Austauschs zwischen Regisseur und Komponist in einer Zeit, als der deutsche Film beeinflusst von der expressionistischen Malerei eine eigene Ästhetik entwickelte (z. B. starke Hell- Dunkel-Effekte, stilisierte Dekors) und internationale Bedeutung erlangte.

Ist Huppertz’ Partitur zu Die Nibelungen noch stark bildorientiert und von einer intensiven Verwendung von Leitmotiven und musikalischen Deskriptionen geprägt, agiert die Musik bei Metropolis trotz des erneuten Einsatzes dieser Mittel autonomer und großflächiger zum Bild. Von beiden Werken gibt es Fassungen für großes Orchester (Premiere), Salonorchester (normaler Kinobetrieb) und einen Klavierauszug (kleines Kino), der bei Metropolis insgesamt 1.028 Hinweise zum Film enthält. Solche Hinweise, ursprünglich gedacht als Hilfsmittel für die Aufführung, sind neben anderen musikalischen Merkmalen (Einsatz von Leitmotiven, Instrumentierungs-, Takt- und Tempowechsel) wichtige Informationen für die Rekonstruktion von Stummfilmen, wenn es darum geht, Teile eines Films wiederherzustellen, die bedingt durch Zensur, Beschädigung oder nachträgliche Bearbeitung fehlen. Ähnliches gilt für viele andere Stummfilmpartituren. In ihnen spiegelt sich ein bestimmter Status quo eines Films wieder, der einer Ur- bzw. Premierenfassung sehr nahekommt und deshalb eine wichtige Quelle darstellt.

Bemerkenswert sind auch die Arbeiten des Filmmusikpioniers Edmund Meisel, der sich zuerst als Theaterkomponist, vor allem für Erwin Piscator, sodann als Filmkomponist für Sergeij Eisensteins deutsche Fassung von Panzerkreuzer Potemkin (1925) einen Namen machte. Der Film rief in Deutschland heftige Reaktionen hervor. Er wurde als kommunistische Propaganda bzw. als Aufruf zur sozialistischen Revolution in einer Zeit instabiler politischer Verhältnisse verstanden. Man versuchte diesen "Agitations- und Zersetzungsfilm" – so die Oberste Heeresleitung – zu verhindern, Armeesoldaten wurde verboten, Vorführungen zu besuchen.

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Plakat für den Film "Panzerkreuzer Potemkin" (UdSSR 1925) (© picture-alliance, akg-images / Erich Lessing) Eine "niederschmetternde Wirkung" hatte Eisenstein zufolge vor allem die Musik. An einigen Stellen, etwa der berühmt gewordenen Szene Die Treppe von Odessa, gab sie mithilfe von Perkussionsinstrumenten den Zuschauern im Kino das Gefühl, die Brutalität der Militärs gegen die wehrlose Zivilbevölkerung am eigenen Körper zu erleben. Ähnliches gilt für die Szene Begegnung mit dem Geschwader, über die Eisenstein schrieb: "Für diese Stelle forderte ich vom Komponisten kategorisch den Verzicht auf die gewohnte Melodik und eine genaue Ausrichtung auf das nackte Klopfen der Kolben und mit dieser Forderung zwang ich, genau genommen, auch die Musik, an dieser entscheidenden Stelle in eine 'neue Qualität', in 'Geräusch' überzuspringen. Der Film sprengte an dieser Stelle stilistisch bereits die Grenzen des Aufbaus eines 'Stummfilms mit musikalischer Illustration' und ging in eine neues Gebiet über – in das Gebiet des 'Tonfilms' […]."

Manfred Rüsel, Autor und Filmdozent in der Lehrerfort- und Lehrerweiterbildung, über Meisels Kompositionen

Der Musiker Edmund Meisel (1894-1930), ein enger Freund des einflussreichen deutschen Theaterregisseurs Erwin Piscator (1893-1966), besprach im März 1926 mit Sergej Eisenstein das musikalische Konzept für die deutsche Fassung von PANZERKREUZER POTEMKIN. Eisenstein selbst war nicht besonders erfreut über die ursprüngliche Verwendung klassischer Versatzstücke (vgl. Kapitel Filmgeschichte) und unterstützte Meisels Vorhaben, eine völlig neue, effektvolle, zum Rhythmus der Montage passende Musik zu komponieren. So entstand in knapp zweiwöchiger Arbeit jener wirkungsvolle Klangteppich, der maßgeblich zum späteren Erfolg des Filmes beitrug.

Begleitende Filmmusik gab es schon seit den Anfangstagen des Films, aber erst durch die kongeniale Verbindung von Musik und Bild bei PANZERKREUZER POTEMKIN wurde ihre herausragende Funktion deutlich: Meisels Komposition wird von der Pauke und anderen perkussiven Instrumenten beherrscht. Sie illustrieren beispielsweise die Maschinengeräusche des Panzerkreuzers oder die stampfenden Stiefelschritte der Kosaken, verweilen kurz vor den Spannungshöhepunkten, um sich dann in wildem Crescendo zu entladen. Wenn der Schiffsmetzger das verdorbene Fleisch hackt (Min.

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8), dann wird jeder Hieb mit einem Paukenakzent „hörbar“.

Dieses Mittel der akustischen Akzentuierung, das so genannte „Mickey-Mousing“, war zu dieser Zeit eher aus kürzeren Slapstick- und Zeichentrickfilmen bekannt. Derartige Betonungen finden sich auch in anderen Szenen. Das allmähliche Aufbegehren der Matrosen gegen die Verhältnisse an Bord wird immer wieder von starken musikalischen Rhythmuswechseln begleitet. In den ruhigeren Passagen signalisiert eine bedrohliche musikalische Grundstimmung die gespannte Lage. Meisel verwendet aber auch Versatzstücke aus anderen Werken. Wenn der Matrose den Teller spült (Min. 13), auf dessen Boden Weizen und Dreschflegel als Symbol des Bauernstandes eingeprägt sind, ertönt zunächst eine Melodie, die an klassische russische Folklore erinnert. Dann fällt der Blick des Matrosen auf die Beschriftung des Tellers: „Unser täglich Brot gib uns heute“. Der Duktus der Musik verändert sich schlagartig ins Bedrohliche. Die Paukenschläge illustrieren den Erkenntnisprozess des Matrosen, der den biblischen Spruch angesichts der Versorgungsssituation an Bord als zynische Botschaft entlarvt. Während ein Delegierter der Stadt Odessa sich mit den Matrosen solidarisch erklärt (Min. 40), sind leicht veränderte Zitatauszüge aus der „Internationale“ zu hören, dem dezidierten Kampflied der sozialistischen Bewegung. Wenig später – beim Hissen der roten Fahne – ertönen Sequenzen aus der „Marseillaise“, der französischen Nationalhymne, dem Freiheitslied der Französischen Revolution. Auch in anderen Szenen sind kurze Motive der „Marseillaise“ zu hören.

Auszug aus: Filmkanon-Filmheft zu "Panzerkreuzer Potemkin" (http://www.bpb.de/shop/lernen/ filmhefte/166964/filmkanon-filmheft-panzerkreuzer-potemkin), hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, 2013

Beflügelt vom Erfolg setzte Meisel diese Kombination von Musik und Geräusch in Berlin. Die Sinfonie der Großstadt von Walter Ruttmann aus dem Jahr 1927 fort; er komponierte Maschinen-, Verkehrs-, Sport- und Nachtrhythmen und formulierte seine Intentionen als "Lautbarmachung des Films". Er kann somit in gewisser Weise als Vorläufer des heutigen "Sounddesigns" gesehen werden. Darüber hinaus vertonte er u. a. Der heilige Berg (1926), Oktober (1927 / 28) und nachträglich den Stummfilm Der Blaue Reiter (1930).

Walter Ruttmann, Berlin. "Die Sinfonie der Großstadt" (Stummfilm D 1927)

Musik: Edmund Meisel (Quelle: DailyMotion) (http://www.dailymotion.com/video/x2rdk23)

E-Komponisten entdecken den Film

Auch Komponisten der sogenannten ernsten Musik beschäftigten sich mit dem Film. Paul Hindemith etwa schrieb im Jahre 1921 für den Dokumentarfilm Im Kampf mit dem Berge – In Sturm und Eis des Bergfilmers Arnold Fanck eine Partitur für Salonorchester. In dieser nimmt er eher großflächigen Bezug zum Film, eine Passacaglia erklingt zu verschiedenen Gletschereinstellungen. Die erste deutsche Filmoper Jenseits des Stroms (M.: Ferdinand Hummel) hatte im Jahre 1921 Premiere. Für die Filmfassung von Der Rosenkavalier (1926) ergänzte Richard Strauss seine Opernpartitur um einen Militärmarsch, eine Schlachtmusik sowie um einzelne Tanzszenen; die Uraufführung dirigierte er im Dresdener Opernhaus.

Musik von Paul Hindemith, , , Walter Gronostay und Hanns Eisler erklang anlässlich der Baden-Badener Kammermusiktage im Jahre 1928, live oder mithilfe mechanischer Musikinstrumente, zu Kurz- und Experimentalfilmen von Hans Richter, Sascha Stone, Pat Sullivan und Walter Ruttmann.

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In Italien komponierte Romolo Bacchini bereits im Jahre 1905 seine Musik zu La malia dell’oro von Filoteo Alberini. Zahlreiche Kompositionen entstanden vor allem in den Jahren 1910 bis 1920, der Blütezeit des italienischen Films, z. B. zu L’Histoire d´un Pierrot (M.: Pasquale Mauro Costa, 1914) oder (M.: Manlio Mazza / Kompilation und Ildebrando Pizzetti / Komposition, 1914). Für wie wichtig eine originale Filmmusik gehalten wurde, zeigt Rapsodia Satanica (1917) von Nino Oxilia. Der Regisseur war bereit, Teile seines Films neu zu drehen, damit Pietro Mascagni – neben Puccini der bekannteste Komponist seiner Zeit in Italien – die Musik schuf. Mascagni hatte dies verlangt, damit die Musik mehr Gewicht bekam. Er schrieb für die Rapsodia Satanica quasi reine Opermusik, nur ohne Gesang. Er verwendete Leitmotive und griff auf klassische Formen wie Scherzo, Gavotte oder Menuett zurück.

Die erste umfangreiche Filmmusik Frankreichs schrieb der berühmteste Komponist seiner Zeit, Camille Saint-Saëns, zu L’Assassinat du Duc de Guise (1908) für die Film d’Art-Gesellschaft. Sie wollte den Film auf Theater- bzw. Opernniveau heben, indem sie die damals berühmtesten Künstler engagierte. Saint-Saëns’ Musik für Salonorchester beinhaltet Leitmotive (Herzog, Ermordung und Liebe), vereinzelte Deskriptionen und Musikszenen. Weitere Stummfilmmusiken waren u. a. die zu La Roue (1923) von Arthur Honegger, deren Teile sich in der berühmten sinfonischen Bewegungsstudie Pacific 231 wiederfinden, zu Salambô (M.: Florent Schmitt, 1925), L’Inhumaine (M.: Darius Milhaud, 1924), Napoléon (M.: Arthur Honegger, 1927) sowie zu den Experimentalfilmen Ballet Mécanique (M.: , 1924) und Cinema. Entr’acte symphonique (1924), ein Kinoplakat des französischen Films "Napoleon" (1927). filmisch-musikalischer Zwischenakt von René Clair zum dadaistischen Ballet (© picture-alliance, Mary Relâche von Francis Picabia. Erik Saties pattern-orientertes Musikkonzept Evans Picture Library) von sich wiederholenden Einzeltakten nach Baukastenart, das er musique d´ameublement nannte, begleitet nach Art einer musikalischen Tapete die schnellen Einstellungsfolgen des Films.

Ein weiteres Highlight der Stummfilmmusik war Schostakowitschs Orchesterpartitur zu Das Neue Babylon (1928 / 29). Der Film schildert Aufstand und Niederschlagung der Pariser Kommune von 1870 und wurde von Mitgliedern eines avantgardistischen Leningrader Künstlerkollektivs realisiert. Neben sinfonisch durchkomponierten Passagen verwendet Schostakowitsch zahlreiche Zitate (Revolutionslieder, Hymnen, Cancans aus Operetten J. Offenbachs), teils in verfremdeter Form oder auch als Leitmotiv. Er vollzieht den Kampf der Kombattanten (Bürgertum / Kommunarden) auf musikalischer Ebene nach und kommentiert auf parodistische Weise mit einer Technik bewusst "falsch" gesetzter Töne einzelne Filmszenen. Wie ein Karikaturist schildert er die Dekadenz des Bürgertums in z. T. grotesken musikalischen Überzeichnungen.

Grigori Kosinzew / Leonid Trauberg, "Das Neue Babylon" (Stummfilm UdSSR 1928)

Musik: Dmitri Schostakowitsch (Quelle: YouTube) (https://www.youtube.com/watch?v=LprD4y-7Huw)

In der Stummfilmzeit, so lässt sich festhalten, wurden trotz aller Anfangsprobleme insbesondere mit den originalen Filmkompositionen zahlreiche Meisterwerke geschaffen und alle wesentlichen Elemente einer Filmmusik entwickelt, die die Grundlage der Musik zum Tonfilm bildeten. Mit dessen Einführung verlor die Musik zwar insofern etwas an Bedeutung, als ihre bisherige Aufgabe – die kontinuierliche Kompensation für das Fehlen von Sprache und Geräuschen – wegfiel und sie sich neu definieren musste. Dennoch lebt diese besondere Art der Filmmusik bis zur Gegenwart weiter.

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Weltweit volle Konzertsäle bei Stummfilm-Aufführungen mit Live-Orchester ebenso wie ein vielfach prämiertes Beispiel aus der jüngeren Geschichte (The Artist, 2011) belegen: Der Stummfilm und seine Musik haben als nonverbale, interkulturell verständliche, audivisuelle Kunstform nichts von ihrer Faszination verloren.

Lesen

Emilie Altenloh: Zur Soziologie des Kinos. Die Kino-Unternehmung und die sozialen Schichten ihrer Besucher, Jena 1914

Giuseppe Becce / Hans Erdmann: Allgemeines Handbuch der Filmmusik, Berlin 1927

Rainer Fabich: Musik für den Stummfilm. Analysierende Beschreibung originaler Filmkompositionen, Frankfurt a. M. / New York 1993

Oskar Messter: Mein Weg mit dem Film, Berlin 1936

Friedrich P. Kahlenberg: Der wirtschaftliche Faktor "Musik" im Theaterbetrieb der Ufa in den Jahren 1927 bis 1930, in: Walther Seidler (Hrsg.): Stummfilmmusik. Gestern und heute, Berlin 1979, S. 51 – 71

Kurt London: Film Music. A summary of the characteristics features of its history, aesthetics, technique and possible development, London 1936

Enno Patalas: Metropolis in / aus Trümmern. Die Premierenfassung, nacherzählt von Enno Patalas (Film) und Rainer Fabich (Musik), Berlin 2001

Dmitri Schostakowitsch: Avtobiografija, in: Sovetskaja Muzyka 9 / 1966

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Rainer Fabich für bpb.de

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Kapitel 2 / 1919 bis 1933

16.7.2015

Die Roaring Twenties - laute und dröhnende Jahre: Revolution, Sprechchöre und Kampflieder. Telegraphie, Telefonie, Schallplatte und Radiowellen. Massenmedialer Klang. Maschinenklänge, Jazz, Schlager, Filmmusik und Großstadtlärm. Der Sound der Zeit von 1919 bis 1933 war schillernd und geräuschvoll.

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Klangwelten der Moderne Die Roaring Twenties

Von Gerhard Paul 3.8.2016

Gerhard Paul, Dr., Professor für Geschichte und ihre Didaktik an der Universität Flensburg.

Die neue Zeit begann laut: mit Schüssen und Sprechchören, mit Lärm und Liedern. Es war ein Vorgeschmack auf jene lauten und dröhnenden Jahre, die nicht zu Unrecht als "Roaring Twenties" bezeichnet werden. In den Straßen der revolutionären Zentren gellten vereinzelt Schüsse. Vor allem jedoch waren es organische Klänge, die den Sound der Revolution von 1918 beherrschten. Sprechchöre skandierten: "Schießt nicht auf eure Brüder!", "Alle Macht den Räten!", aber auch bereits "Wir sind das Volk!"

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"Lasst los die Hebel der Maschinen / Zum Kampf heraus aus der Fabrik. / Dem Werk der Zukunft wolln wir dienen / Der freien Räterepublik", sangen die Revolutionäre, oder "Wir sind des Geyers schwarze Haufen / Hei a ho ho!". "Aus dem Fenster sehe ich in der Wilhelmstraße Menschenzüge. Alles läuft zusammen, Autos fahren. Heulender Lärm schallt bis ins Zimmer", notierte der Fabrikant Oskar Münsterberg in seinem Tagebuch über den Klang der Revolution in Berlin. "Trach-tach-tach! Knall und Schall / In den Häusern: Widerhall", so hatte der russische Dichter Aleksander Blok in seinem Gedicht Die Zwölf den Sound der russischen Revolution beschrieben. Da die technische Aufzeichnung von Tönen noch kaum entwickelt war, gibt es – soweit bekannt – keine Originaltöne der Ereignisse, sondern nur literarische Beschreibungen.

Auf den Kundgebungen und Versammlungen der Revolutionäre ging es so tumultuarisch zu, dass man oft sein eigenes Wort nicht verstehen konnte. Die Redner verfügten noch nicht über Mikrofon und Lautsprecher, sie waren noch ganz auf die Kraft ihrer Stimme angewiesen, sodass der Kreis ihrer Zuhörer begrenzt war. Indes war man sich der machtpolitischen Bedeutung der neuen Kommunikationstechnologien sehr wohl bewusst. In Berlin besetzten Revolutionäre Wolffs Telegraphisches Bureau, die zentrale Nachrichtenagentur der Reichshauptstadt, und sendeten von dort Funkaufrufe und Bekanntmachungen. Doch fanden diese Sendungen wenig Zuhörer, da die Empfangstechnologie noch kaum verbreitet war.

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 127 Reden ohne Mikrofon

Die Etablierung der ersten Republik auf deutschem Boden und die Verabschiedung einer demokratischen Verfassung hatte für die Soundgeschichte vielfältige Auswirkungen. Völlig neue Klangwelten und -technologien entstanden, ältere differenzierten sich aus. Zugleich kam es zu einer bis dahin unbekannten Politisierung von Stimmen, Klängen und Tönen, die zu einer eigenen akustischen Kennung der Weimarer Republik beitrugen.

Die gewiss folgenreichste medientechnische Innovation der 1920er Jahre war das Radio. Technisch war es das erste genuin elektrische Medium. Kulturgeschichtlich bedeutete seine Einführung eine Revolution. Als "ein Kind des Krieges" (Frank Bösch) basierte es gleich auf mehreren Erfindungen der technischen Speicherung und Distribution von Klängen und Tönen: der Telegraphie, der Telefonie, der Schallplatte, und auf der Entdeckung der Radiowellen. Erstmals ermöglichte es eine Vernetzung der menschlichen Kommunikation ohne Verdrahtung. Bereits während des Weltkriegs wurde die Radiotechnik für Kriegszwecke vervollkommnet und ausgebaut. Erste Rundfunksendungen gab es 1917 für Soldaten. 1921 wurde dann in Pittsburgh der erste öffentliche Rundfunksender der Welt in Betrieb genommen. In Deutschland begannen regelmäßige Rundfunkübertragungen am 29. Oktober 1923 in Berlin. Während in Nordamerika der Rundfunk von privaten Sendern organisiert wurde, spielte in Deutschland – nicht zuletzt als Folge der Erfahrungen der Revolution von 1918 – der Staat bei der Lenkung und Kontrolle der Programmgestaltung eine gewichtige Rolle.

Um 1925: Drei junge Männer liegen rund um ein Detektorradio vor ihrem Zelt in der Lobau. (© picture-alliance, IMAGNO)

Die Möglichkeit, über große Entfernungen und Räume hinweg Stimmen, Musik und Töne jedweder Art zu verbreiten und sie an unterschiedlichen Orten fast zeitgleich zu empfangen und zu hören, hatte es bislang nicht gegeben. Erstmals reichte nun die reproduzierte Stimme über die eigenen vier Wände, die das Grammophon beschallt hatte, hinaus in die Gesellschaft. Das Ergebnis: die Entstehung einer neuen Form von massenmedialer Öffentlichkeit. Mithilfe eines technischen Apparats wurde es möglich, an kulturellen, sportlichen und politischen Ereignissen teilzuhaben, ohne selbst körperlich anwesend zu sein. Durch das Radio wurde Öffentlichkeit in die private Lebenswelt integriert. Es war eine

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 128 atemberaubende Erweiterung der Welt durch "neue Eindrücke, neue Erlebnisse, neue Erfahrungen" (Knut Hickethier). In diesem Sinne fungierte das Radio als ein genuin demokratisches Medium, ein "Medium für alle", das vielfach verschlossene Bereiche der Kultur öffnete und popularisierte. Ab Ende der 1920er Jahre war das Radio ein Massenmedium geworden mit etwa 3 Mio. registrierten Hörern, die zahllosen "Schwarzhörer" nicht mitgerechnet.

Insbesondere in Deutschland verstand sich das Radio zunächst primär als Unterhaltungs- und Bildungsangebot. Seine vorrangige Funktion war es, die Hörer durch Vorträge, literarische Hörspiele und klassische Musik kulturell zu bilden, durch Meldungen wie Wetterberichte und Wasserstandsmeldungen zu informieren und durch Live-Übertragungen von Konzerten und Sportveranstaltungen zu unterhalten. Insbesondere das "Meldungswesen", das beim Zeitfunk angesiedelt war, unterstrich den Anspruch, aktuell und nah am Zeitgeschehen zu sein. Wesentlich geprägt indes war das Programm durch Musik, die sich auf diese Weise von einem punktuellen Ereignis zum allgegenwärtigen "Freizeitbegleiter" (Knut Hickethier) wandelte. Zwar nutzte auch die Politik den Rundfunk, etwa bei Weihnachtsansprachen oder Regierungserklärungen der Reichskanzler, die aus dem Vox-Haus am Potsdamer Platz 1 in Berlin übertragen wurden. Ansonsten aber war man bemüht, die Politik von dem neuen Medium fern- und dieses insbesondere den radikalen Parteien vorzuenthalten.

Mit und durch das Radio entstanden neue ästhetische Präsentationsformen und gänzlich neue Klangwelten. Der Schlager als neue kulturindustrielle Musikform wurde erst mit dem Rundfunk ein Massenphänomen, ebenso Modetänze wie der Charleston, später dann Jazz und Swing. Aber auch die Musik der "klassischen Moderne" von Strawinsky, Hindemith, Honegger u. a. war in regelmäßig ausgestrahlten Komponisten-Konzerten zu hören. Live-Übertragungen von Sportveranstaltungen, etwa dem Berliner Sechstagerennen, vermittelten nicht nur eine spezifische Atmosphäre von Teilhabe und Dabeisein, sie trugen auch zur Herausbildung einer neuen Sendeform, der Sportreportage, bei.

Als ein "Wortkunstwerk und ein Dialog des sprachmächtigen Autors mit jedem einzelnen Hörer" (Hans- Ulrich Wagner) entstand das Hörspiel als neue literarische Form. Walter Ruttmann schuf mit seiner ausschließlich aus Geräuschen montierten Klangcollage Weekend ein Hörbild über ein typisches großstädtisches Wochenende in Berlin. Er rief damit ein völlig neues Format, die Radiogeschichte, ins Leben, das bereits Formen des Neuen Hörspiels der 1950er Jahre vorwegnahm. Und noch eine weitere Innovation kreierte das frühe Radio: die Ausstrahlung von kurzen, einprägsamen Melodien, sogenannten Jingles, die als akustische Erkennungszeichen im zunehmend stärker frequentierten Äther-Radiostationen bzw. später einzelne Sendungen identifizierbar machten. Solche Kompositionen begründeten eine eigenständige Gattung von Werbeschlagern und -melodien. Mit dem Marsch Hallo! Hallo! Hier Radio! machte seit 1924 die Nordische Rundfunk AG (Norag) in Hamburg auf sich aufmerksam. Etwa zur gleichen Zeit begannen auch Unternehmen ihre Produkte erstmals im Radio mithilfe solcher Jingles zu bewerben: die Geburtstunde des kommerziellen Audio-Brandings. Akustisch wurde das neue Medium in den Bereichen Politik und Sport wesentlich von Männerstimmen beherrscht. Frauen blieben im Radio die Ausnahme – ein Zustand, der bis weit in die Zeit der Bundesrepublik andauerte.

Im Bereich der Musik war das zweite Dezennium eine "goldene" Zeit der musikalischen Avantgarde. Komponisten wie Arthur Honegger, George Antheil und Arseni Avraamov stellten sich der künstlerischen Herausforderung der neuen akustischen Umgebung: Sie integrierten Maschinen- und Verkehrsgeräusche in ihre Kompositionen und damit in die ästhetische Erfahrungsdimension der Zeitgenossen. Durch die Entwicklung neuer Klangerzeuger und die Möglichkeit der Aufzeichnung von Tonaufnahmen emanzipierte sich die Musik gleichermaßen von ihren vormodernen und sakralen Ursprüngen wie von der bürgerlichen Ästhetik. Die berühmteste künstlerische Darstellung der vielstimmigen Geräuschwelt der modernen Großstadt gelang Walter Ruttmann 1927 in seinem experimentellen Dokumentarfilm Berlin. Die Sinfonie der Großstadt zur Musik von Edmund Meisel, der ein Jahr zuvor bereits Sergej Eisensteins Stummfilmklassiker Panzerkreuzer Potemkin vertont hatte.

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Überhaupt waren die 1920er Jahre eine Hochzeit der großen Filmkompositionen, angefangen mit Paul Hindemiths Partitur für den Bergfilm Im Kampf mit dem Berg – In Sturm und Eis (1921), über Gottfried Huppertz’ Komposition für Fritz Langs Metropolis (1925 / 26) und Dmitri Schostakowitschs Orchesterpartitur zu Das Neue Babylon (1928) bis hin zu Hanns Eislers Tonfilmmusik zum Proletfilmklassiker Kuhle Wampe (1932) von Slátan Dudow. "Wegen ungünstiger Witterung fand die deutsche Revolution in der Musik statt", notierte 1930 Kurt Tucholsky gewiss überpointiert, aber nicht völlig unberechtigt in der Weltbühne. Nicht zuletzt stieg, begünstigt durch Rundfunk und Film, die 1927 in Berlin gegründete Krolloper unter der Leitung von Otto Klemperer zum wichtigsten Zentrum der "Neuen Musik" und der musikalischen Avantgarde in Europa auf.

Parallel und im Gegensatz zur autonomen Kunstmusik entwickelte sich eine neue musikalische Massenkultur aus Tanzmusik, Filmmusik und Schlager – eine "Gebrauchsmusik", deren zentralen Vermittlungsinstanzen Schallplatte, Radio und Film waren und die wiederum die musikalische "Hochkultur" inspirierte. Hinzu kam seit Ende der 1920er Jahre der Jazz, den insbesondere der erste große Ton- und Musikfilm der Geschichte, The Jazz Singer (USA 1927), auch in Europa populär machte. Schlager und Tanzmusik, Big Bands und Musikrevuen schufen das musikalische Image der "Roaring Twenties": der dröhnenden Jahre des Aufbruchs. Zur optischen wie akustischen Ikone der musikalischen Moderne wurde das Saxofon, festgehalten u. a. in Otto Dix’ berühmtem Großstadt- Triptychon von 1927 / 28. Zugleich stand es für eine neue Lautstärke in der Populärmusik.

Zwar blieben die Konzert- und Opernprogramme weiterhin geprägt von den Klassikern, doch neben Oper und Sinfonie traten nun zunehmend Filmkompositionen und Zeitopern wie 1928 die Dreigroschenoper von Bertolt Brecht und Kurt Weill oder Ernst Kreneks ein Jahr zuvor in Leipzig uraufgeführte Jazzoper Jonny spielt auf. Diese sollte später durch die Ausstellung Entartete Musik traurige Berühmtheit erhalten, galt sie doch den Nazis als Inbegriff angeblich "artfremder", d. h. "jüdischer" Musik, obwohl weder der Komponist Jude war noch "Jonny" Saxofon spielte, wie das spätere Plakat zur Ausstellung suggerierte. Neben Hochkultur, Avantgarde und Gebrauchsmusik entstand mit der Arbeitermusik- und -chorbewegung für wenige Jahre eine weitere Sparte der Musikkultur, wodurch Musik verstärkt in die unteren sozialen Schichten getragen und das politische Lied populärer wurde.

In dem Maße wie Schallplatte, Rundfunk und Tonfilm zu Massenmedien wurden und sich die Aufnahme- und Wiedergabetechniken verbesserten, konnten sich schließlich "Ohrwürmer" und "Jahrhundertstimmen" sowie ein musikalisches Starwesen herausbilden. Erst mit der technischen Reproduzierbarkeit und dem ständigen Einhämmern durch Radio, Film und Grammophon entstanden nationale wie internationale "Gebrauchsmusikikonen", wie die von Marlene Dietrich interpretierten Songs aus Der blaue Engel (1930), bzw. konnten Lieder, wie La Paloma, überhaupt zu Welthits werden und deren Interpreten zu gefeierten Weltstars aufsteigen.

All diese Entwicklungen indes blieben nicht unwidersprochen. Während Thomas Mann im Zauberberg 1924 die Entdeckung des Grammophons noch liebevoll als epochales Ereignis beschrieben hatte, verhöhnte Hermann Hesse 1927 im Steppenwolf Grammophon und Radio als Zeichen des Niedergangs der abendländischen Kultur: "Achten Sie darauf, wie diese irrsinnige Schallröhre scheinbar das Dümmste, Unnützeste und Verbotenste von der Welt tut und eine irgendwo gespielte Musik wahllos, dumm und roh, dazu jämmerlich entstellt, in einen fremden, nicht zu ihr gehörigen Raum hinein schmeißt […], wie das Radio die herrlichste Musik der Welt zehn Minuten lang wahllos in die unmöglichsten Räume wirft, in bürgerliche Salons und in Dachkammern, zwischen schwatzende, fressende, gähnende, schlafende Abonnenten hinein, so, wie es diese Musik ihrer sinnlichen Schönheit beraubt, sie verdirbt, verkratzt und verschleimt und dennoch ihren Geist nicht ganz umbringen kann."

Wie schon das Etikett der "Roaring Twenties" signalisierte, waren die 1920er Jahre nicht nur in Deutschland ein lautes und lärmendes Jahrzehnt. Anders als während der Kaiserzeit wurde vor allem der Lärm der Großstadt zum Thema in Kultur und Politik. Künstler wie George Grosz und Otto Dix

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 130 sowie Schriftsteller und Dichter wie Alfred Döblin und Kurt Schwitters thematisierten die zeitgenössischen Klangwelten in ihren Arbeiten. Und erstmals kümmerten sich auch Politik und Verwaltungen um den Lärm und ließen, wie seit Ende der 1920er Jahre in New York, Messungen durchführen, deren Ergebnisse in Lärmkarten festgehalten wurden. Voraussetzung für solche wissenschaftlich basierten Datenerhebungen war die Einführung des Dezibels (dB) als Messeinheit für die Lautstärke des Schalls im Jahr 1925. Erstmals war damit Lärm vergleichbar geworden. In einer Bestandsaufnahme von 1930 registrierte das New Yorker Gesundheitsamt, dass, anders als vor der Jahrhundertwende nun technische Geräuschquellen wie Autos, Züge, Straßenbahnen, Bauarbeiten, Lautsprecher und Radios dominierten.

Die Politisierung von Musik und Klang kann geradezu als ein Kennzeichen der 1920er und beginnenden 1930er Jahre angesehen werden. Dies zeigte sich bereits 1922 bei den heftigen Diskussionen um die Kanonisierung des Deutschlandlieds zur neuen Nationalhymne. In der fragmentierten politischen Kultur der Republik blieb es stets umstritten und wurde nur von einer Minderheit der Demokraten anerkannt und gesungen. Repräsentativ für die innere Zerrissenheit auch auf musikalischer Ebene war die Tatsache, dass vor allem die politisch extremen Lager eigene "Hymnen" besaßen, die sie der Republik lautstark entgegenschmetterten. Lieder und Lärm wurden geradezu als politische Waffen entdeckt. Mit dem Marschtritt ihrer Kolonnen, mit Kampfliedern wie SA marschiert und Sprechchören wie "Deutschland erwache" oder "Juda verrecke" machte Hitlers NSDAP auch akustisch in der Öffentlichkeit auf sich aufmerksam. Unter lautem Gejohle fielen SA und SS in die Hochburgen des politischen Gegners ein, um ihn einzuschüchtern oder ganz zum Schweigen zu bringen. Dem Getöse von rechts antworteten die Kommunisten mit Schalmeien-Kapellen und eigenen Kampfliedern. Insbesondere gegen Ende der Republik wurde der Kampf um die Macht in Gesellschaft und Politik auch mit akustischen Mitteln auf der Straße ausgetragen.

Die akustische Dimension der Straßenpolitik beschränkte sich jedoch nicht auf politische Kampflieder und Straßenlärm. Ab Mitte der 1920er Jahre erlaubten die Fortschritte der Mikrofon- und Lautsprechertechnik die Verstärkung politischer Reden im öffentlichen Raum. Damit wurde nun erstmals die Beschallung "unerhörter" Menschenmassen und ihre einheitliche Ausrichtung auf den Redner, den allmächtigen Herrn des Mikrofons, möglich. Erst mithilfe der neuen Technik ließen sich Menschenmassen überhaupt zur Masse formen. Zugleich veränderten umgekehrt Mikrofon und Lautsprecher den Charakter der politischen Rede und die Stimme des Sprechers in der Wahrnehmung der Zeitgenossen wie der Nachgeborenen. Zum Ende der Republik hatte die Politik die neuen Soundtechniken entdeckt.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Gerhard Paul für bpb.de

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Fabriksirenen, Nebelhörner, Dampfbootpfeifen Die Klangwelt der Moderne und das Geräusch

Von Wolfgang Rathert 3.8.2016

Wolfgang Rathert, Dr., Professor für Historische Musikwissenschaft an der Ludwig-Maximilian-Universität München.

Die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts wurde wesentlich von der Emanzipation des Geräuschs von der Vorherrschaft des Tons geprägt. Spätestens nach dem Ersten Weltkrieg stellte sich einer jungen Generation internationaler Komponisten, die den Aufstieg der künstlerischen Avantgarde mitverfolgt oder mitgestaltet hatten, immer drängender die Frage, in welchem Verhältnis Geräusch und Ton zueinander stehen sollten. Ein faszinierendes Spektrum von Lösungen wurde gefunden, das von der Nachahmung realer Maschinengeräusche über symbolische Umsetzungen gesellschaftlicher Verhältnisse bis zur völligen Abstraktion in elektronischen Klängen reicht. Dazu gehören nicht nur die teilweise berühmt gewordenen Geräusch-Stücke der 1920er Jahre wie Avraamovs Sinfonie der Sirenen, Honeggers Pacific 231 oder Antheils Ballet mécanique, sondern auch Varèses Poème electronique vom Ende der 1950er Jahre und Henzes Natascha Ungeheuer von 1970. Zugleich hat der Film wesentlich die Integration des Geräuschs in unsere ästhetische Erfahrungswelt gefördert. Seit Ende des 20. Jahrhunderts stehen sich traditionelle Musikkultur und neue Klangkunst als zwei gleichwertige Ausdrucksformen gegenüber.

Dampflok Pacific 231 Großbritannien (© picture-alliance/akg, arkivi)

Die Musikgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist wesentlich von der Erfahrung des

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Einbruchs der Maschine in das Paradies der "Tonkunst" getragen, deren Ära spätestens 1918 zu Ende ging. Dieser von der Avantgarde angestoßene Paradigmenwechsel, der die Neue Musik hervorbrachte, war zwar vom Ersten Weltkrieg beschleunigt, jedoch nicht verursacht worden. Die Gründe dafür reichen weit in das 19. Jahrhundert zurück, in dem durch die Erfindung der Fotografie und die umfassende Nutzung der Elektrizität auch der Kunst fundamental neue Aufgaben zufielen. So wie die Fotografie die Reproduzierbarkeit des Kunstwerks ermöglichte und damit selbst zu Kunst wurde, emanzipierte sich die Musik durch die Entwicklung neuer Klangerzeuger und die Möglichkeit der Aufzeichnung von Tonaufnahmen nicht nur von ihren vormodernen feudalen und sakralen Ursprüngen, sondern zunehmend auch von jener bürgerlichen Ästhetik, der sie ihren beispiellosen Aufstieg zu verdanken hatte.

Emanzipation der Dissonanz

In dem Maße, wie sie das Bewusstsein für die geschichtliche Relativität der vorherrschenden Dur- Moll-Tonalität schärfte, erschütterte die intensive Erforschung der physiologischen und physikalischen Voraussetzungen des Hörens im 19. Jahrhundert die Vorstellung vom unüberbrückbaren Gegensatz von Konsonanz und Dissonanz und der Beschränkung auf die zwölf Töne der chromatischen Tonleiter bzw. die dahinter stehende akustische Ordnung der sogenannten gleichstufigen Temperatur. An der Erweiterung der traditionellen Tonalität bis hin zu ihrer völligen Preisgabe arbeiteten die führenden Komponisten der Jahrhundertwende. Arnold Schönberg zog für die deutsch-österreichische Musikkultur die Konsequenzen mit der sogenannten Emanzipation der Dissonanz, die er 1911 in seiner Harmonielehre geschichtlich und physikalisch begründete.

Zuvor hatte Claude Debussy der französischen Moderne durch den Gebrauch außereuropäischer Tonleitern den Weg zu neuen, nichthierarchischen Klangauffassungen gebahnt. In Russland arbeitete Alexander Skrjabin mit symmetrischen Tonleitern außerhalb der gebräuchlichen siebenstufigen modalen oder tonalen Skalen und mit einer synästhetischen Einbeziehung von Licht und Farbe. Béla Bartók erforschte in der südosteuropäischen Volksmusik mikrotonale Spielpraktiken. In den USA sprengten und die Grenzen des Tonsystems durch den Einsatz von Vierteltönen, von Polytonalität und den Gebrauch des Clusters, einer geräuschartigen Zusammenballung einer Vielzahl von Tönen.

Der italienische Komponist und Pianist Ferruccio Busoni sah diesen Umbruch geradezu prophetisch voraus und begrüßte ihn in seinem epochalen Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst (1907 / 16) ausdrücklich; er brach mit der Vorstellung des Tons als ein – gleich dem Atom – unzerstörbarer Kern der Musik (der ausschließlich der menschlichen Stimme oder akustischen Instrumenten vorbehalten blieb), schlug ein Drittel-Ton-System vor und setzte größte Hoffnungen in einen Vorläufer des Synthesizers, das von dem amerikanischen Erfinder Thaddeus Cahill konstruierte raumgroße und 200 Tonnen schwere Telharmonium (oder Dynamophon).

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Anders als den Futuristen schwebte Busoni eine Bereicherung und Erweiterung der sinnlichen Fähigkeiten des Menschen und des Ohres vor, nicht eine akustische Adaption industrieller Lebenswelten. Wie Umberto Boccioni, der in seinem berühmten Gemälde Die Stadt erhebt sich (La città che sale, 1910) die Großstadt einer apokalyptischen Deutung unterwarf, stand er der "veloziferischen" (Goethe) Beschleunigung der Moderne skeptisch gegenüber. Schon vor den ersten sensationell wirkenden Versuchen mit sechs Familien von Intonarumori ("Geräuschemacher"), die Luigi Russolo 1913 in Mailand vorstellte, waren die z. T. diametral entgegengesetzten Auffassungen im Umgang mit der neuen Herausforderung durch den künstlich, d. h. elektrisch, erzeugten Sinuston (der im Gegensatz zum natürlichen Ton keine Obertöne besitzt) und das Geräusch offenkundig. Diese Bilderserie von 1907 zeigt Cahills Telharmonium - ein komplexes System von Das Geräusch in der Musik der Jahrhundertwende Schaltern, Dynamos und Generatoren. (© picture-alliance, Mary Das Geräusch spielt nicht nur in den ambitionierten Werken der sogenannten Evans Picture Library) ersten Moderne – bei Debussy, Richard Strauss und Gustav Mahler – eine wichtige Rolle, sondern auch in anderen, funktional bestimmten Bereichen, vor allem im Film. Dadurch deckt es alle Bereiche von traditionellen kompositorischen Gattungen über propagandistische Zwecke bis hin zur avantgardistischen Nachahmung der Maschinenwelt ab. In der Filmmusik kann dies alles miteinander verbunden werden, da das Geräusch in ihr gleichzeitig als Teil der Handlung und der musikalischen Kommentarebene präsent ist. So trat die Filmmusik trotz der zunehmenden Kommerzialisierung des Films in den 1920er Jahren auch ein Erbe der Avantgarde an.

Die elektronische Musik, deren erste Blüte in den 1920er Jahren mit dem Bau entsprechender Klangerzeuger wie den Ondes Martenot, dem Theremin, dem Trautonium oder dem Sphärophon einsetzte, blieb demgegenüber ambivalent: Sie tendierte einerseits zur experimentellen Ausschöpfung der Möglichkeiten, die Mischformen und Übergänge nicht ausschloss, und andererseits zu einer kommerziell und ideologisch interessanten Anwendbarkeit in neuen Medien, vor allem im Rundfunk und Film. Oskar Sala konnte mit dem Trautonium die Gesamtheit aller akustischen Ereignisse in einem Film (mit Ausnahme der Dialoge) realisieren: Auch die Schreie der attackierenden Vögel in Hitchcocks Die Vögel sind künstlich.

Im Kuhglocken-Geläut und den drei Hammerschlägen der 6. Sinfonie Mahlers (1906), die ihr den Beinamen "Krupp"-Sinfonie eintrugen, und dem spektakulären Einsatz von Wind- und Donnermaschine in Strauss’ Alpensinfonie (1915) wird das Geräusch in den erhabenen Formen der Instrumentalmusik hoffähig; dies bezeugt eine vehemente kompositorische Weltaneignung von äußerer und innerer Natur. Charles Ives fing in seinen kurzen Ensemble-Studien Over the Pavements (1906) die Geräusche und Rhythmen eiliger Fußgängerschritte auf einem New Yorker Bürgersteig ein, in Central Park in the Dark (1908) das Rollen von Pferdekutschen, verwehte Ragtime-Melodien von Bar-Klavieren und die Rufe von Zeitungsausträgern. Hier liegt die Keimzelle dessen, was sich nach dem Ersten Weltkrieg über die Stationen von Ultra-Moderne, musique concrète und ars acustica zu einer zweiten Klangkultur entwickelte.

Theremin-Sounds

Der Anfang des Bach-Chorals "Jesu bleibet meine Freude" - gespielt von dem italienischen Musiker Fabio Pesce auf dem Theremin (Quelle: Wikimedia) (https://commons.wikimedia.org/wiki/File: Epro_theremin_middle_bach.ogg)

Puccini auf dem Theremin (Fabio Pesce) (Quelle: Wikimedia) (https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Theremin_puccini_high.ogg)

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Basstöne auf dem Theremin (Fabio Pesce) (Quelle: Wikimedia) (https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Threremin_bass.ogg)

Waves in F - Sound experiment (Quelle: Wikimedia) (https://commons.wikimedia.org/wiki/File: Waves_in_F_(sound_experiment).ogg)

Den Angriff auf traditionelle Hörgewohnheiten bis hin zu deren Negation wagten vor dem Ersten Weltkrieg jedoch auch Komponisten innerhalb mächtiger Traditionen, die damit zu Sezessionisten wurden. Anton Webern und , die beiden Wiener Meisterschüler Arnold Schönbergs, loteten in ihren Skandal erregenden jeweiligen Orchesterstücken op. 6 aus den Jahren 1909 bzw. 1914 die Extreme zwischen der Stille und dem gestaltlosen, angstgeladenen Geräusch aus. Während Debussy in Orchesterwerken wie La Mer (1903 – 1905) die Geräusche von Wind und Wasser als idealisierte Natur imaginierte, sind es hier bedrohliche, als Travestien von Militärmärschen inszenierte oder wie bedrängende Psychodramen anmutende Klangbilder, die das Erbe Mahlers antreten. Die Stille wird zum Antipoden des Geräuschs, aber sie verheißt keine friedliche Gegenwelt, sondern den Verlust von Sprache und vielleicht auch von Zivilisation. Die Radikalität und Konsequenz dieser Verweigerung erscheinen im Rückblick als Symptome einer Krise, die in der europäischen Kunst- und Geistesgeschichte des Fin de Siècle überall greifbar ist.

Doch nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und Schönbergs Übergang zur Zwölftontechnik wandten sich die Komponisten der Wiener Schule von der Auseinandersetzung mit dem Geräusch und der Ästhetik der Maschinenmusik ab. Ihrer bald als reaktionär empfundenen Orientierung an Modellen und Formen aus der älteren Musik und der Klassik setzten die Protagonisten der Neuen Musik einen integralen, die Alltagserfahrung der Arbeitswelt und das Trauma des Weltkriegs aufgreifenden Material- Begriff entgegen.

Provokation und Geschwindigkeit

In der komplexen, bis heute noch nicht vollständig erforschten Musik- Landschaft der 1920er Jahre vollzog sich diese Adaption und Integration erstmals auf breiter Front, freilich auf sehr unterschiedlichen Wegen. 1919 hatte Igor Strawinsky, der durch seine kubistisch inspirierten Verfremdungen bestehender Musik den sogenannten Neo-Klassizismus wesentlich prägte, mit der Piano-Rag-Musik für mechanisches Klavier (dem Pianola oder "Player Piano") seine Faszination für die brutale Präzision bekundet, mit der eine von Maschinen hervorgebrachte Musik die Eigenmächtigkeit menschlicher Interpreten konterkarierte. 1922 erprobte der junge Paul Hindemith im aggressiv-apokalyptischen Klang einer Sirene am Schluss seiner Kammermusik Nr. 1 die dadaistische Geste des "épater les bourgeois". In Überbietung des an sich schon provozierenden Foxtrott-Zitats im Finale schien Phonola/Pianola-Vorsetzer. Die Tasten eines Klaviers die Sirene die endgültige Kapitulation der bürgerlichen Konzertkultur im post- werden von dem Vorsetzer wilhelminischen Deutschland zu verkünden. Theodor W. Adorno erkannte mit Hilfe von filzbezogenen Holzfingern betätigt. freilich die dahinter liegende tiefere existenzielle Dimension, als er Hindemith Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/ attestierte, dass es ihm in seiner "Impassibilité" (Unbewegtheit) und de/ (Wikimedia, Player­ pianoJH) "Maschinenkunst" letztlich um die Wiedergewinnung eines Realitätsbezugs ginge, der der Musik des 19. Jahrhunderts verloren gegangen sei.

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Der ein Jahr später entstandene sinfonische Satz Pacific 231 von Arthur Honegger schrieb sich am stärksten als Metapher und Hymnus der Maschine in die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts ein; er erlangte eine beachtliche Popularität (vor allem im Musikunterricht). Pacific 231 ist ein "naives" Stück, das seine Nähe zur Filmmusik nicht verleugnet: Es beschreibt die Fahrt eines Schnellzugs, der von einer Lokomotive des Typs "Pacific" gezogen wird. Stillstand, Beschleunigung, Höchstgeschwindigkeit und Abbremsen realisiert Honegger mit Mitteln, die einerseits präzise mathematische Abläufe der proportionalen Stauchung oder Streckung von Tondauern mit brillanten orchestralen Effekten verbinden, andererseits formal einer klassischen Einteilung in fünf Abschnitte bzw. "Akte" folgen. In nur sechs Minuten rollt vor dem Ohr des Zuhörers ein instrumentales Drama ab, das dem Bedürfnis der Der Komponist Arthur modernen Gesellschaft nach technischen Extremerfahrungen und dem Honegger im Jahr 1927 in ebenso lust- wie angstvollen Zustand zwischen Beherrschung und England auf einer LNER Lokomotive. (© picture- Ausgeliefertsein gerecht wird. alliance, United Archives/ TopFoto) Honegger betonte, dass es sich bei Pacific 231 primär um eine Studie der Bewegung in Zeit und Raum und der von ihr ausgelösten körperlichen Reaktionen beim Zuhörer handele. Der Erfolg des Stücks wurde für ihn später sogar ein Problem, da es ihn auf die Rolle eines dem bloßen Zeitgeist verpflichteten Künstlers festlegte. Für Honegger wie für Hindemith blieb die Auseinandersetzung mit dem Geräusch eine zwar publikumswirksame, aber letztlich ästhetisch belanglose Etappe.

Artur Honeggers "Pacific 231" gespielt vom Utah Smphony Orchestra unter der Leitung von Maurice Abravanel

Dieser sinfonische Satz imitiert die Fahrt eines Schnellzugs, der von einer Lokomotive des Typs "Pacific" gezogen wird – ein programmatischer Lobgesang an die Maschine. (Quelle: YouTube) (https://www. youtube.com/watch?v=Rfysyex_DAk)

"Stählerne" Rhythmen und "metallene" Dissonanzen

Das ästhetische Potenzial des Geräuschs entfaltete sich dagegen im Ballet mécanique des amerikanischen Komponisten George Antheil, das ihn um 1925 mit einem Schlag als "bad boy of music" berühmt machte. Ursprünglich als Musik zu Fernand Légers gleichnamigem experimentellem Stummfilm geplant, wartet es mit wenigen, dafür umso eindrucksvolleren Mitteln auf; ihre auch heute noch verblüffende Wirkung resultiert gleichermaßen aus Reduktion und Expansion. Eine Armada von Tasten- und Schlaginstrumenten (Klaviere, Player Pianos, Ambosse, Sägen) wird durch ohrenbetäubenden Lärm von Flugzeugpropellern und Sirenen unterstützt. Die harmonische und rhythmische Monotonie empfand Antheil als Analogie zum Gebrauch der weißen Farbe in den Gemälden Picassos; daher wurden die Hörer auch mit minutenlanger Stille konfrontiert, die jede formale Orientierung unmöglich machte. Das Stück wurde zum succés de scandale einer sich zunehmend internationalisierenden Großstadt-Musikkultur der "Roaring Twenties", auch wenn die zweite Aufführung nach der sensationellen Pariser Uraufführung (in Anwesenheit prominenter Künstler, Musiker und Mäzene) in der Carnegie Hall 1927 die Kritik kaum beeindruckte, was auch am Ausfall der Flugzeugmotoren gelegen haben mochte.

George Antheil - Erfinder der Maschinenmusik

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NDR Info - ZeitZeichen vom 08.07.2015 (Quelle: ndr.de) (http://www.ndr.de/info/Erfinder-der- Maschinenmusik,audio248150.html)

Mit dieser zugleich primitiven und raffinierten Geräuschstudie, die Anleihen bei Erik Saties post- dadaistischem Ballett Parade (in dem Schreibmaschine und Revolver Verwendung fanden) nahm, setzte Antheil eine Linie fort, die der aus Russland in die USA emigrierte Leo Ornstein bereits 1913 mit dem Klavierstück Suicide in an Airplane eingeschlagen hatte und die sich in den 1920er Jahren in Europa als musikalischer Amerikanismus (in Verbindung mit dem Jazz) fortsetzte; in den USA mündete sie dagegen in das "Machine Age", das in widerspruchsvoller Weise Design, Kunst, Warenwelt und politische Agitation verband. Der emphatischen Verherrlichung von Fabrik, Maschine und Metropole stand eine Kritik am entfesselten Kapitalismus gegenüber, die in ihrer Musik durch "stählerne" Rhythmen und "metallene" Dissonanzen metaphorisch artikulierte.

In der kurzen Blütezeit der sogenannten Zeitoper der Weimarer Republik, die Alltagsthemen in teils aggressiver, teils unterhaltsamer Form aufgriff, wurden diese Themen dann auch auf der Bühne verhandelt, so in Max Brands Maschinist Hopkins (1929), einer Farce, deren musikalische Sprache sich eklektisch an vorherrschenden Stilen des Post-Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit orientierte. Kurt Weill lehnte 1927 für die Vertonung des mit Bertolt Brecht und dem Regisseur Carl Koch konzipierten Festspiel-Projekts Ruhrepos, das "Bergwerke, Menschentypen, Maschinen" (Brecht) mit Mitteln des epischen Theaters und Filmprojektionen darstellen sollte, eine mimetische Umsetzung der gesprochenen und gesungenen Texte strikt ab: "[Die Musik] entwirft keine Stimmungsbilder oder naturalistischen Geräuschunterlagen, sondern sie präzisiert die Spannungen der Dichtung und der Szene in ihrem Ausdruck, ihrer Dynamik und ihrem Tempo." Weill setzte diese ästhetischen Prämissen dann in Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (1932) um – einer scharfen allegorischen Kritik am Kapitalismus und dem "gelobten Land" USA.

Sinfonien der Großstadt

Als Henry Cowell, der entschiedenste Experimentator der nordamerikanischen Musik, 1928 sein Cluster-Klavierstück Tiger in Moskau präsentierte, befand sich der Austausch zwischen westlicher und östlicher Avantgarde auf dem Höhepunkt. Die musikalischen Provokationen Cowells entsprangen nicht einer politischen Mission, sondern waren Resultat einer unermüdlichen Suche nach neuen Klängen jenseits verbrauchter Ausdrucksmittel. In der jungen Sowjetunion verbanden die Komponisten dagegen die Verwendung des Geräuschs mit einer dezidierten politischen Botschaft und einer kultischen Idealisierung des Proletariats. Musik schloss als öffentliche Kunst zu den suprematistischen Bildern Malewitschs, den konstruktivistischen Fotografien Rodtschenkos und der mitreißenden Dynamik der Filme Eisensteins auf. So entstanden Werke, deren revolutionärer Impetus sowohl auf die akustische Mimesis der industriellen Wirklichkeit wie auf neuartige ästhetische Konzepte gerichtet war.

In Alexander Mossolows Ballettmusik Die Eisengießerei (Zavod), die für den 10. Jahrestag der Revolution 1927 entstand, erhalten die extremen Dissonanzen als Imitation der Fabrikgeräusche eine funktionale Legitimation, die sie in die Nähe des Films rücken; das Stück wurde 1932 sogar in der Hollywood Bowl aufgeführt. Der Komponist, Theoretiker und Volkskommissar Arseni Avraamov wählte hingegen für seine 1921 komponierte Sinfonie der Sirenen (Simfoniya gudkov) – sie steht in der Tradition der musikalischen Schlachtengemälde (Bataillen) des Barocks – mit Sirenen, Pfeifen oder Signalhörnern überwiegend Klangerzeuger aus der Arbeitswelt. Ein mehr als 1.000 (!) Mitwirkende verlangender Chor intonierte die Internationale und die Marseillaise, während gleichzeitig die Nebelhörner der im Hafen liegenden Schiffe, die Kanonen der Artillerie und die Sirenen der umliegenden Fabriken erklangen. Dies ermächtigte die Objektwelt gewisser-maßen selbst zum Ausführungsorgan, so in der zur Legende gewordenen Aufführung 1922 im Hafen von Baku anlässlich des 5. Jahrestags der Revolution. Dahinter wird nicht nur das Modell des Wagner’schen Gesamtkunstwerks sichtbar, das auf eine Versöhnung gesellschaftlicher Gegensätze zielte, sondern – im dröhnenden Pathos der Glockenklänge – auch eine Überhöhung der industriell-militärischen Geräuschkulisse in eine quasi religiöse Aura.

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Arseni Avraamov, "Symphony of Sirens" (1922)

Aufnahme einer späteren Wiederaufführung (Quelle: Monoskop.org) (http://monoskop.org/ Symphony_of_Sirens#1._Arseny_Avraamov_.E2.80.93_Symphony_of_Sirens)

Auf diesen Gegensatz zwischen musikalischer Radikalität und ideologischer Anpassung haben andere sowjetische Komponisten der Zeit wie Alexander Melnikov, Sergej Prokofjew und der junge Dmitri Schostakowitsch mit Ironie, Trivialität und Pathos reagiert, bevor ihre künstlerischen Aussagen unter dem Druck des Stalinismus stilistisch so ambivalent wurden, dass eine Annäherung an die Mittel von Komponisten in den totalitären Systemen des nationalsozialistischen Deutschlands und faschistischen Italiens unüberhörbar wurde. Darin zeigt sich die Herkunft der Maschinenmusik aus den Avantgardebewegungen des Ersten Weltkriegs als unauflösbarer Widerspruch von Fortschritt und Regression.

Innovation im Film

Ein ähnliches Bild zeigt die Filmmusik zwischen 1918 und 1933. René Clairs dadaistischer Kurzfilm Entr’acte (1924) mit der Musik von Erik Satie ist der erste Fall einer von der Erfahrung der Großstadt, in diesem Fall Paris, inspirierten avantgardistischen Filmsprache, die eine surrealistische Geschichte mit avancierten technischen Verfahrensweisen der Montage, Mehrfachüberblendung und Zeitlupe erzählt und eine perfekte Synchronisation von stummem Bild und (live gespielter) Musik besitzt. Saties Musik verzichtet auf vordergründige illustrative Effekte, aber ihr Duktus ist unerbittlich maschinenhaft; durch die monoton-hypnotische Wiederholung der Phrasen entsteht ein eigentümlicher Gegensatz von strengster Objektivierung und dem Gefühl des Absurden und der Vergeblichkeit.

Fünf Jahre später lässt Walter Ruttmann in Berlin – Sinfonie einer Großstadt einen Tag in Berlin Revue passieren; er zeigt eine steinerne Metropole, die von den einzelnen menschlichen Schicksalen unberührt bleibt. Die Filmmusik Edmund Meisels, der 1926 mit der Musik für Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin bekannt wurde, konterkariert diese Botschaft in gewisser Weise, denn mit Ausnahme der beeindruckenden Eingangssequenz, die einen Zug in rasender Fahrt nach Berlin zeigt, und der gelegentlichen Adaption von Unterhaltungsmusik verdoppelt Meisel die Welt der Arbeiter und Angestellten nicht durch Imitation von Maschinen- und Verkehrsgeräuschen; er arbeitet vielmehr mit sentimentalischen Relikten der Tonsprache des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

Slátan Dudow, "Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt?" (Tonfilm D 1932)

Musik: Hanns Eisler, Vorspann und Anfang (Quelle: YouTube) (https://www.youtube.com/watch?v= iiNNFOV8iWs)

Polemisch ist dagegen Hanns Eislers Musik für Slátan Dudows Tonfilm Kuhle Wampe: Oder wem gehört die Welt? (1932, Drehbuch Bertolt Brecht) angelegt. Sie bezieht ihre Spannung aus dem Wechsel von dokumentarischen und dramatischen Elementen und setzt am Schluss mit dem von den Teilnehmern eines Arbeitersportfests gesungenen Solidaritätslied (Vorwärts und nicht vergessen) allen futuristischen Geräuschphantasien eine dezidierte politische Botschaft entgegen.

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 138 "The Future of Music"

Um 1930 offenbarte sich in der zeitgenössischen Musik eine tief greifende, künstlerisch jedoch außerordentlich produktive Spaltung. Während die Avantgardisten an der Umdeutung von Musik zu einer Art akustischem Objekt arbeiteten, aus dem später die "Klangkunst" als eigenes Konzept entstehen sollte, verweigerten sich die Komponisten der klassischen Moderne dieser Entwicklung. Für sie besaß das Geräusch keine künstlerische Autonomie, sondern war allenfalls eine Art "lokale Farbe" des unaufhaltsamen Technisierungsprozesses.

John Cage, der Schüler Cowells und Schönbergs, prophezeite dagegen 1938 in seinem Vortrag The Future of Music: Credo die vollständige Aufhebung des Unterschieds von Ton und Geräusch in einem akustischen Kontinuum. Musik wird gewissermaßen zum Spezialfall des Geräuschs und umgekehrt die ästhetische Gleichwertigkeit alles Erklingenden zur Norm. Hier geht es nicht mehr um die politische oder soziologische Aufladung von Musik, sondern um die Erforschung ihrer inhärenten Materialeigenschaften.

Edgard Varèse hatte sich, den Spuren Busonis folgend, dieser Erforschung ab 1915 zugewandt, als er über Berlin nach New York emigrierte und zur Leitfigur einer transatlantisch agierenden "Ultra- Moderne" wurde. In den USA debütierte er als Komponist mit einem der spektakulärsten Orchesterwerke des 20. Jahrhunderts, den Amériques (1918 – 1921). Das für 140 Mitwirkende geschriebene Stück verbindet die Klangwelt des spätromantischen Riesen-Orchesters und einer vom Schlagzeugapparat und Sonderinstrumenten (wie einer Dampfboot-Pfeife) geschaffenen akustischen Kulisse, um die überwältigenden Dimensionen der Neuen Welt und die Atmosphäre der Halbinsel Manhattan einzufangen. Es entstand eine Großstadt- und Fluss-Sinfonie, die gleichzeitig eine programmatische Umschreibung für die Aufgabe des modernen Komponisten war, sich dem Unbekannten schlechthin – verkörpert durch den Mythos Amerika – zu widmen.

Vermächtnis der Geräuschkunst

Von Amériques aus gelangte Varèse über reine Schlagzeugwerke (Ionisation von 1931) nach dem Zweiten Weltkrieg zur elektronischen Musik. Sein Poème électronique, geschrieben für Corbusiers Philips-Pavillons auf der Brüsseler Weltausstellung 1958, wurde zu einem zweifachen Vermächtnis. Als Warnung vor der atomaren Auslöschung der Menschheit stand die (elektronische) Geräuschkunst als Teil eines modernen Gesamtkunstwerks hier im Dienst einer eindringlichen politischen Aussage, fernab von der Haltung einer l’art pour l’art, wie sie der französischen "Musique concrète" vorgeworfen wurde. Luigi Nono und knüpften daran an: Nono mit La Fabrica illuminata (1964) für Stimmen und Vierspurtonband, das elektronische Klänge als Widerstand gegen die kapitalistische Arbeitswelt abspielt, und Henze mit der Polit-Satire Der langwierige Weg in die Wohnung der Natascha Ungeheuer (1971), in der ein Schlagzeuger auf Autotrümmerteilen trommelt und vom Tonband mit Musikzitaten vermischter Straßenlärm am Berliner Bahnhof Zoo erklingt, der die "Sirenen (sic!) falscher Utopien" symbolisiert.

Das Poème électronique aber wies darüber hinaus den Weg zum "Sound Environment" unserer eigenen Gegenwart, in der Musik und Geräusch zu einer untrennbaren, tief in das kollektive Hörgedächtnis eingedrungenen Erfahrung verschmolzen sind, ohne dass wir uns ihrer gesellschaftlichen und politischen Ursprünge noch bewusst sind.

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Berliner Akademie der Künste (Hrsg.): Für Auge und Ohren. Von der Spieluhr zum elektronischen Environment (Ausst.-Kat.), Berlin 1980

Wolfgang Mende: Musik und Kunst in der sowjetischen Revolutionskultur, Weimar 2009

Helga de la Motte-Haber (Hrsg.): Klangkunst. Tönende Objekte und klingende Räume, Laaber 1999

Felix Meyer / Heidi Zimmermann (Hrsg.): Edgar Varèse: Komponist, Klangforscher, Visionär (Ausst.- Kat.), Mainz 2006

Wolfgang Rathert: Rhapsody in Noise? Die Großstadt in der Musik des 20. Jahrhunderts, in: Burcu Dogramaci (Hrsg.), Großstadt. Motor der Künste in der Moderne, Berlin 2010, S. 127 – 141

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Wolfgang Rathert für bpb.de

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Sport und Vergnügungskultur Der Sportpalastwalzer (Wiener Praterleben)

Von Daniel Morat 3.8.2016 Daniel Morat, Dr., Historiker, Dilthey-Fellow der Fritz Thyssen Stiftung am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin.

"[Mu]'sike!" erschallt der Ruf des Publikums, ein Pfiff, und schon setzt die Walzermusik ein. Die ersten Takte werden mit einem zufriedenen "Aah!" quittiert: Die Kapelle hat den Musikwunsch richtig gedeutet und den beliebten Sportpalastwalzer intoniert, seit 1923 die Erkennungsmelodie des jährlich im Berliner Sportpalast stattfindenden Sechstagerennens. Der Refrain wird mitgeklatscht und mitgepfiffen. Für Letzteres ist besonders "Krücke" zuständig. Der unter diesem Spitznamen bekannte Reinhold Habisch war nicht nur ein "Berliner Original" und Dauergast im Sportpalast, sondern er machte durch seine Pfiffe den Walzer Wiener Praterleben des österreichischen Komponisten Siegfried Translateur erst zum Sportpalastwalzer. Habisch starb 1964, der Sportpalast wurde 1973 abgerissen, doch der Sportpalastwalzer wird noch heute beim Berliner Sechstagerennen gespielt und mitgepfiffen. Er steht für die enge Verbindung, die Zuschauer, Sport und Vergnügungskultur im 20. Jahrhundert eingegangen sind.

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Der Berliner Sportpalast und das Sechstagerennen

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wuchs Berlin zur größten Industriemetropole Deutschlands heran, 1920 war es mit rund 4 Mio. Einwohnern die drittgrößte Stadt der Welt. Die rasante Zunahme der Stadtbevölkerung und die Herausbildung der modernen Arbeitsgesellschaft mit ihrer Aufteilung von Arbeitszeit und Freizeit führten zur Entstehung einer neuartigen Unterhaltungsindustrie, die das städtische Publikum mit immer neuen Vergnügungsangeboten versorgte. Zur Befriedigung der gestiegenen Nachfrage nach diesen Angeboten bedurfte es der entsprechenden Vergnügungsarchitektur. So wurden in den Jahren um 1900 nicht nur neue Theater, Lichtspielhäuser, Tanzdielen und Vergnügungsparks gebaut. Es entstand auch eine neue Art von Großveranstaltungshäusern.

Neben den 1905 / 06 errichteten Ausstellungshallen am Zoo, dem 1908 eröffneten Eispalast in der Lutherstraße und dem 1911 in Betrieb genommenen Admiralspalast in der Friedrichstraße gehörte dazu auch der Sportpalast in der Potsdamer Straße, der 1910 seine Pforten öffnete. Er beherbergte die damals größte Kunsteisbahn der Welt und bot je nach Bestuhlung bis zu 10.000 Menschen Platz. In ihm fanden in erster Linie große Sportveranstaltungen statt: Eishockeyspiele, Eisschnelllaufrennen, Boxwettkämpfe, Radrennen (auf dafür aufgebauten Holzbahnen), Reitveranstaltungen und Turnfeste. Daneben gab es ein umfangreiches Showprogramm mit (Eis-)Revuen, Konzerten und

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Filmvorführungen, Bällen, Festen und Empfängen. Während der Weimarer Republik und des "Dritten Reiches" wurde der Sportpalast zudem für politische Massenveranstaltungen und Großkundgebungen genutzt. Die berühmteste der dort gehaltenen politischen Ansprachen ist sicher die Durchhalterede von Joseph Goebbels aus dem Jahr 1943. Im Zweiten Weltkrieg teilweise zerstört, wurde der Sportpalast 1951 in veränderter Form wiederhergestellt. Er diente für weitere zwei Jahrzehnte als Sport- und Konzertarena, bevor er 1973 schließlich abgerissen wurde.

Der Sportpalast war also – anders als etwa das 1913 erbaute Deutsche Stadion in Berlin-Grunewald – keine reine Sportstätte. Von Anfang an fanden im Sportpalast Sport-, Musik- und andere Vergnügungsveranstaltungen im Wechsel statt, wobei die Sportdarbietungen selbst Teil des Vergnügungsangebots waren. Das wird besonders beim Sechstagerennen deutlich, das als eine "Mischung aus Sport, Varieté und Volksfest" (Dietrich Pawlowski) gelten kann. Ursprünglich aus England stammend, etablierte sich dieses Radrennspektakel in der schließlich auch nach Berlin exportierten Form zunächst im New Yorker Madison Square Garden. Dort fand es 1898 zum ersten Mal als Zweiermannschaftsrennen statt, bei dem die beiden Fahrer eines Teams sich mit Fahren und Ruhen abwechselten, sodass tatsächlich 144 Stunden am Stück gefahren werden konnte.

1909 fand das erste Sechstagerennen Europas in Berlin in den Ausstellungshallen am Zoo statt; 1911 wurde es in den Sportpalast verlegt. Nach einer Zwangspause während des Ersten Weltkriegs entwickelte es sich in der Weimarer Republik zu einem regelrechten Gesellschaftsereignis. Dabei richteten die Zuschauer ihre Aufmerksamkeit nicht nur auf die Radfahrer in ihrer hölzernen Bahn. Auf den Zuschauerplätzen wurde vielmehr gegessen, getrunken und geraucht. Eine Kapelle spielte Musik.

Beim 14. Sechstagerennen im Berliner Sportpalast im März 1925 stehen die Fahrer gespannt am Start. (© picture- alliance, akg-images)

Egon Erwin Kisch hielt die fieberhafte Atmosphäre des Sechstagerennens in einer Reportage aus dem Jahr 1923 eindrücklich fest:

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Von morgens bis mitternachts ist das Haus voll und von mitternachts bis morgens ist der Betrieb noch toller. Eine Brücke überwölbt die Rennbahn und führt in den Innenraum; die Brückenmaut beträgt 200 Mark pro Person. Im Innenraum sind zwei Bars mit Jazzbands, ein Glas Champagner kostet 3.000 Papiermark, eine Flasche 20.000 Papiermark. Nackte Damen in Abendtoilette sitzen da, Verbrecher in Berufsanzug (Frack und Ballschuhe), Chauffeure, Neger, Ausländer, Offiziere und Juden. Man stiftet Preise. Wenn der Spurt vorbei ist, verwendet man die Aufmerksamkeit nicht mehr auf die Kurve, sondern auf die Nachbarin, die auch eine bildet. Sie lehnt sich in schöner Pose an die Barriere, die Kavaliere schauen ins Dekolleté, rechts, links, rechts, links. Das Sechstagerennen des Nachtlebens ist es. Im Parkett und auf den Tribünen drängt sich das werktätige Volk von Berlin, Deutschvölkische, Sozialdemokraten, rechts, links, rechts, links, alle Plätze des Sportpalasts sind seit 14 Tagen ausverkauft, Logen und Galerien lückenlos besetzt [...].

Das Sportpalastpublikum setzte sich aus allen Bevölkerungsschichten zusammen. Während die Logen und teuren Plätze der besseren Gesellschaft vorbehalten waren, bevölkerten die Arbeiter und Angestellten das Parkett und den sogenannten Heuboden, den obersten Rang oberhalb der Musikkurve. Hier saßen und standen zumeist die echten Radsportenthusiasten, die nicht selten selbst Mitglieder eines Radsportvereins waren und sich tatsächlich für das Rennen interessierten. Die Mitglieder der oberen Gesellschaftsschichten sahen im Sechstagerennen dagegen häufig ein Vergnügungsangebot, das man besuchen konnte, nachdem die Theater und Konzertsäle geschlossen hatten. Sie gingen zum Sechstagerennen mehr um des Sehens und Gesehenwerdens willen und nicht so sehr aus Interesse am Sport.

Die unterschiedlichen Gesellschaftsschichten blieben allerdings nicht starr voneinander getrennt. Die Volksfestatmosphäre des Sechstagerennens erlaubte vielmehr einen Austausch über die Sitzreihen und die sozialen Grenzen hinweg, wenn auch häufig nur akustisch. Bestes Beispiel hierfür war Reinhold Habisch, der den Spitznamen "Krücke" bekam, weil er als 16-Jähriger unter eine Straßenbahn gekommen und seitdem auf eine Gehhilfe angewiesen war. Sein Traum von einer eigenen Radsportkarriere war damit ausgeträumt, doch blieb er dem Sport zeitlebens als Zuschauer und Anhänger treu. Durch vorlaute Kommentare und sein charakteristisches Pfeifen machte er sich zum Anführer des "Heubodens" und heimlichen König des Sportpalasts, der bald auch mit den Stars und prominenten Gästen vertraut war. Gelegentlich wurde er als "Stimmungskanone" auch für Sechstagerennen in anderen Städten wie Dresden oder Breslau engagiert. In zwei Filmen über das Sechstagerennen spielte er sich selbst. Max Schmeling schenkte "Krücke" 1928 das Startkapital für einen Zigarrenladen, den dieser von da an neben dem Sportpalast betrieb.

Das Wiener Praterleben wird zum Sportpalastwalzer

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Der Sportpalastwalzer wurde 1892 von dem damals erst 17-jährigen Siegfried Translateur als Wiener Praterleben komponiert. Translateur integrierte das für eine Tanzveranstaltung im Wiener Prater charakteristische Händeklatschen als obligate Begleitung in die Komposition. Das Stück war schon relativ populär, als es 1923 erstmals beim Die No­ Sechstagerennen im Berliner Sportpalast gespielt wurde. Es war "Krücke", der auf die Idee ten zu kam, das Händeklatschen durch Pfiffe zu ersetzen: Der Sportpalastwalzer war geboren. "Wiener Praterle­ ben" von Translateur erinnerte sich: "Im Berliner Sportpalast ersetzte das Galerie-Publikum der Siegfried Transla­ Sechstagerennen den Klatschrefrain durch Pfiffe; hier erhielt der Walzer auch den Namen teur - e­ 'Sportpalastwalzer'. Die ganze Galerie pfeift mit; ein Freund von mir hat einmal gezählt, dass rschien­ en 1895. der Walzer in einer halben Stunde achtmal gespielt wurde." Der W­ alzer "­ Wiener Da Translateur nach den Rassegesetzen der Nationalsozialisten als Halbjude galt, wurde Praterle­ der Sportpalastwalzer 1933 verboten, Translateur wurde 1944 in Theresienstadt ermordet. ben" w­ urde in Das Publikum hielt jedoch weiter am Sportpalastwalzer fest und pfiff die Melodie trotz des Berlin Verbots. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Walzer wieder offiziell zur zum b­ erühmte­ Erkennungsmelodie des Sechstagerennens. n "Spo­ rtpalast­ walzer". Die Geschichte des Sportpalastwalzers macht zwei Dinge deutlich: zum einen, dass sich (© pict­ die Entwicklung des modernen Sportvergnügens in einem internationalen Rahmen vollzog. ure-allia­ nce, ak­ So wanderte die Musik von Wien nach Berlin, der sportliche Wettkampf selbst wurde aus g-image­ New York importiert, Sechstagerennen fanden in der Zwischenkriegszeit in vielen Städten s) weltweit statt. Zum anderen zeigt sie, dass diese international verbreitete Vergnügungsform jeweils lokale Ausprägungen fand: Das Sechstagerennen im Sportpalast war eine spezifisch Berliner Veranstaltung mit hohem lokalem Wiedererkennungseffekt und lokalen Bezugsmustern. Das lag nicht zuletzt am Berliner Publikum und seiner aktiven Mitwirkung am Gesamtereignis des Sechstagerennens.

Eine Grammophonaufnahme aus dem Jahr 1932 gibt noch heute einen lebendigen Eindruck davon. Auf ihr sind neben der Musik der Sportpalast-Kapelle und dem Gesang Alexander Fleßburgs auch die Rufe des Publikums, die Verkaufsgespräche der mobilen Erfrischungshändler, die anzüglichen Wortwechsel zwischen den Geschlechtern und nicht zuletzt "Krückes" Pfiffe zu hören.

Es handelte sich dabei zwar um eine gezielte Inszenierung der Heubodenatmosphäre, für die auch "Krücke" vor das Mikrofon gebeten wurde. Die charakteristischen Rufe des Publikums ("He, he, he!", "Schiebung!", "Ab geht die Post!") sind aber auch aus zahlreichen Berichten über das Sechstagerennen bekannt.

Wie authentisch diese Inszenierung die tatsächliche Atmosphäre auf dem "Heuboden" wiedergibt, ist im Übrigen zweitrangig. Interessant ist vielmehr, dass es die Schallplattenfirma für verkaufsfördernd hielt, neben der Walzermusik auch die typischen Heubodenrufe und -gespräche in der Aufnahme zu verewigen. Dies entsprach dem damals populären Genre der Berliner Humoreske. Dazu zählten nicht nur typische Couplet-Gesänge, sondern auch kurze, zumeist von Kabarettisten dargebotene Kostproben des Berliner Witzes und der "Berliner Schnauze", die auf Platte geprägt und verkauft wurden. Der Sportpalastwalzer wurde so Bestandteil eines spezifischen akustischen (und kommerziellen) Berliner Lokalpatriotismus und "Krückes" Pfiffe zu einer Soundmarke der Stadt.

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 144 Sport und Vergnügungskultur

Neben diesen Berliner Besonderheiten verweist der Sportpalastwalzer auch auf eine allgemeinere Tendenz im Verhältnis von Sport und Vergnügungskultur im 20. Jahrhundert. Der moderne Sport ist Wettkampfsport (im Unterschied zum deutschen Turnen); er bildete sich im 19. Jahrhundert in England heraus und verbreitete sich von dort aus. Der Amateursport des 19. Jahrhunderts professionalisierte sich im 20. Jahrhundert zunehmend, was zu einer Trennung von aktivem und Zuschauersport führte. Letzterer entwickelte sich bald zu einem festen Bestandteil der modernen Massenkultur, der den Alltag und die Gefühlswelt zahlloser Anhänger durchdrang und noch immer durchdringt. Die Sportdarbietungen setzten von Anfang an auf eine aktive Anteilnahme und akustische Beteiligung des Publikums.

Während das Publikum in den Theatern, Konzertsälen und Lichtspielhäusern zunehmend verstummte, um sich ganz auf die künstlerische Darbietung zu konzentrieren, durfte und sollte im Sportpalast – ebenso wie etwa im Fußballstadion – gerufen und gesungen werden. Die Stadiongesänge gehören heute zu den letzten vitalen Resten einer öffentlichen Gesangskultur.

Das Stadion bildet damit, so wie einst der Sportpalast, einen multisensoriellen Erlebnisraum, in dem die emotionale Anteilnahme am Geschehen akustisch gesteigert wird. Auch dieses Element einer vielstimmigen akustischen Erlebnissteigerung ist in der Aufnahme des Sportpalastwalzers aus dem Jahr 1932 hör- und fühlbar.

Lesen

Alfons Arenhövel (Hrsg.): Arena der Leidenschaften. Der Berliner Sportpalast und seine Veranstaltungen 1910 – 1973, Berlin 1990

Alfred Braun: Der Spreekieker, Berlin 1966

Christiane Eisenberg: "English Sports" und deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800 – 1939, Paderborn u. a. 1999

Hans Ulrich Gumbrecht: 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit, Frankfurt a. M. 2001

Reinhold Habisch: Deutschlands Original Krücke auf Rennbahnen unter Rennfahrern, Berlin 1950

Erhard Inversen: Berliner Originale im Spiegel der Zeit, Berlin 1958

Egon Erwin Kisch: Der rasende Reporter, Berlin 1925

Kaspar Maase: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850 – 1970, Frankfurt a. M. 1997

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Daniel Morat für bpb.de

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Achtung, Aufnahme! Mikrofonberufe in der Geschichte des Rundfunks

Von Hans-Ulrich Wagner 3.8.2016 Hans-Ulrich Wagner, Dr., Medienwissenschaftler, Leiter der Forschungsstelle Mediengeschichte am Hans-Bredow-Institut für Medienforschung.

Das Mikrofon sei "ein grausames kleines Ding", das unerbittlich jeden Fehler des stimmlichen Ausdrucks nicht nur nicht kaschiere, sondern noch verstärke, schrieb 1952 der ehemalige Berliner Intendant Carl Hagemann. Die Rundfunkmacher erkannten schnell die Bedeutung des neuen technischen Instruments, das Schallwellen in elektrische Schwingungen umwandelt, und waren fasziniert von den neuen Möglichkeiten, die sich eröffneten. Das Mikrofon steht am Beginn der mitunter aufwändigen Aufnahme-, Übertragungs- und Speichertechniken des Radioschaffens. Schon in den Anfangsjahren wurde es zu einem Symbol der Rundfunkarbeit, das augenfällig demonstriert: "Achtung, Aufnahme!" Es beschert bis heute den Männern und Frauen am Mikrofon Aufmerksamkeit, Bewunderung, Wertschätzung und mitunter große Popularität.

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Symbol der neuen kommunikativen Möglichkeiten

Das Mikrofon kann als das Sinnbild des Rundfunks gelten. Schon bald mit dem Start des Programmbetriebs des Radios in den 1920er Jahren avancierte das kleine technische Instrument zu einem augenfälligen Symbol für die neuen, den Raum übergreifenden kommunikativen Möglichkeiten. Zwar ist das Mikrofon selbst nur ein Teil der komplexen Aufnahme-, Übertragungs- und Speichertechnik, doch es steht am Beginn dessen, was die Rundfunkübertragung ausmacht: die Umwandlung von akustischen Ereignissen in elektrische Schwingungen. Geräusche, Musik und vor allem die menschlichen Stimmen werden durch dieses technische Mittel einem größerem und mitunter fernen Publikum vermittelbar.

Zahlreiche Abbildungen zeigen daher die Männer des Rundfunks – später auch die Frauen – zusammen mit einem Mikrofon. Ansager und Sprecher treten vor einen Mikrofon-Ständer oder vor ein von der Decke herabhängendes Gerät. Reporter und Interviewer vermitteln mit dem Mikrofon in der Hand stimmungsvoll die Ereignisse vor Ort oder halten es für eine kurze Meinungsäußerung vor den Mund des jeweiligen Gesprächspartners. Dies ist immer auch eine symbolische Machtdemonstration. Denn wer das Mikrofon hat, entscheidet darüber, was auf welche Weise vermittelt wird. Mit dem Mikrofon verbundene Berufe galten deshalb sehr bald schon als modern und äußerst attraktiv.

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Am Beginn der Mikrofontechnik stand zunächst nur die Kapsel eines normalen Telefonapparats des frühen 20. Jahrhunderts. Doch schnell schon konnten dank technischer Weiterentwicklungen der übertragbare Frequenzbereich vergrößert und Störungen und Verzerrungen reduziert werden. Das nach seinem Erfinder Eugen Reisz benannte Reisz-Mikrofon, ein Kohlekörnermikrofon in einem charakteristischen Marmorblock, erlaubte Ende 1924 bereits einen Übertragungsbereich von 50 bis 6.000 Hertz. Hinzu kamen die Bändchenmikrofone der Firma Siemens & Halske, bei denen die Schallwellen ein Aluminiumbändchen zwischen den Polen eines Elektromagneten bewegten. Den Durchbruch markierte Ende der 1920er Jahre das Kondensatormikrofon, dessen Membran als Teil eines Kondensators ausgebildet war. Wegen seiner Form führte dieser von dem Berliner Georg Um 1948: Werbefunk im Haus des Rundfunks, Neumann entwickelte Mikrofontyp im Rundfunkjargon die Bezeichnung Berlin: Fritz Lafontaine "Flaschenmikrofon" bzw. "Neumann-Flasche"; es ist auf vielen Fotos der (Dialogregie) und Ilse Fröhlich im Studio. (© 1930er bis 1950er Jahre zu sehen. picture-alliance/akg) Auf der Suche nach dem "Mikrofonstil"

Die Rolle des Mikrofons stand im Zentrum vieler radiotheoretischer Überlegungen, die Programmverantwortliche, Journalisten und Schriftsteller in den 1920er und frühen 1930er Jahren diskutierten. Man reflektierte die besondere Physiognomik der Stimme vor dem Mikrofon und leitete daraus eine neue Stimm- und Radioästhetik ab. Der für den Hörer körperlose Rundfunksprecher wurde dem für das Theaterpublikum sichtbaren Schauspieler gegenübergestellt, die intime Situation vor dem Studiomikrofon wurde als Gegensatz zum groß angelegten Bühnengeschehen begriffen. Man experimentierte mit neuen "elektromagnetischen Stimmen" und den ihnen eigenen Gesetzmäßigkeiten und man diskutierte die Vorstellung, dass der Rundfunk vor allem die leisen, privaten, intimen, bekenntnishaften, ehrlichen Töne übermitteln könne. Kernstück solcher radioästhetischer Texte wurde die Verherrlichung des gesprochenen Wortes und der menschlichen Stimme.

Dem technischen Instrument Mikrofon kam die Rolle zu, diese Authentizität des Persönlichen zu ermöglichen. "Denn dieses rätselhafte weiße Ding Mikrofon hat eine ganz gemeine Eigenschaft, es offenbart nicht nur den akustischen Ton, sondern alles, was dahinter ist", erklärte Ernst Hardt 1929 auf der Kasseler Tagung Dichtung und Rundfunk. Der Intendant der Westdeutschen Rundfunk AG war auf dieser für die Rundfunkgeschichte wichtigen Veranstaltung einer der Wortführer derjenigen, die durch die Mündlichkeit neue Formen für den literarischen Ausdruck sahen: "Ich selbst habe einen großen Teil deutscher Dichter in ihrer Persönlichkeit und Menschlichkeit erst durch das Mikrofon kennen und lieben gelernt, obwohl sie nicht übermäßig gut lasen." Ihm zur Seite stand Alfred Döblin, der sich eine neue mündliche Literatur wünschte und zum Stegreiferzählen ermunterte.

Die Erfindung der Reportage als radiophone Kunstform

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Ein ganz besonderes Experimentierfeld bei der Suche nach einem Mikrofonstil bot die Reportage. Diese um Simultaneität, Subjektivität, Richtigkeit und Anschaulichkeit bemühte journalistische Form, die in der Presse und in der Literatur bereits ausgebildet war, eröffnete dem Rundfunk neue, bis dahin ungeahnte Möglichkeiten. Das Rundfunkreportage-Fieber lebte von der Faszination, live von einem Ort des Geschehens zu berichten und so die Hörer direkt an den Ereignissen teilhaben lassen zu können. Die beiden Begriffe "Rundfunkreportage" und "Rundfunkreporter" kamen in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre auf. Man war begeistert. Schriftsteller wie Hermann Kasack bejubelten die Stegreifkunst der "Mikroreportage". Viele Programmverantwortliche erkannten, dass hier eine neue Kunstgattung zwischen Journalismus und Kurt Esmarch (rechts) mit seinem Co-Moderator Literatur entstand. Die Reporter, die viele technische Hindernisse zu Karl Herbert alias "Käpp'n überwinden hatten, berichteten von Schiffen und aus Flugzeugen, sprachen Herbert", 1938. (© picture- alliance/dpa, NDR) live vom Meeresgrund, aus Bergwerken und von Berggipfeln. Sie wurden zu Pionieren. Entsprechend groß war ihre Popularität. Reporter wie Paul Laven in Frankfurt am Main, Bernhard Ernst in Köln sowie Hans Bodenstedt und Kurt Esmarch in Hamburg wurden bekannte Persönlichkeiten.

Der berühmteste Radioreporter seiner Zeit aber war Alfred Braun. Der gebürtige Berliner hatte die Schauspielschule von Max Reinhardt besucht, bevor ihn Hans Bredow und Friedrich Georg Knöpfke zur Berliner Funk-Stunde holten. Von Januar 1925 an war Braun als Leiter der Literarischen Abteilung, als Oberregisseur und als Sprecher im Berliner Vox-Haus tätig, dem "Geburtsort" des Rundfunks in Deutschland. Braun arbeitete eng mit Autoren wie Bertolt Brecht, Alfred Döblin und Hermann Kesser zusammen. Den Durchbruch aber bescherten ihm seine Reportagen. In der Silvesternacht 1924 / 25 verließ er erstmals das Studio und stellte sich mit dem Mikrofon in die Berliner Friedrichstraße, um über das Treiben dort zu berichten. Es folgten Live-Reportagen von Fußballspielen und anderen Sportereignissen. Doch Braun war nicht nur ein Pionier der Sportberichterstattung, sondern auch der großen aktuellen politischen und gesellschaftlich-kulturellen Reportage. Stundenlang berichtete er vom Tempelhofer Flugfeld, als am Pfingstsonntag 1927 die amerikanischen Ozeanüberflieger Chamberlin und Levine in Berlin erwartet wurden. Rundfunkkritiker wie Kurt Weill schrieben damals über die Faszination, Ohrenzeuge von historischen Ereignissen zu sein, und jubelten über "Chamberlin auf deutschen Wellen".

Alfred Braun am Mikrofon

Ausschnitt aus der Radioreportage "Besuch in Wien" (Quelle: Österreichische Mediathek) (http://www. mediathek.at/atom/136BA9A0-047-02CCD-00000904-136AFAF1) Alfred Baun moderiert neben dem österreichischen Reporter Willy Schmieger. Die beiden plaudern über den Wiener Prater.

Alfred Braun berichtet vom Staatsbegräbnis für Gustav Stresemann am 6. Oktober 1929 (Quelle: SWR Archivradio) (http://www.swr.de/swr2/wissen/archivradio/alfred-braun-berichtet-von-der-trauerfeier- stresemann/-/id=13941754/did=9741810/nid=13941754/1nndpcq/index.html)

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Braun stellte den Rundfunk gleich mehrfach in den "Dienst des historischen Erlebens" – vor allem beim Trauerzug für den verstorbenen Reichskanzler Gustav Stresemann am 6. Oktober 1929 und bei der Verleihung des Literaturnobelpreises an Thomas Mann am 10. Dezember 1929. Da die Berliner Funk-Stunde in diesem Jahr begann, Schallaufzeichnungen zu Archivzwecken anzulegen, kann man im ersten Fall anhand der erhaltenen Ausschnitte hören, wie Braun das Sprechtempo der Geschwindigkeit des Trauerzugs anpasste und die Stimmung und die Kulisse nacherlebbar machte. Im zweiten Fall kann man einem kurzen Ausschnitt der sogenannten Stockholmer Flüsterreportage lauschen, die Braun hinter einem Wandteppich verborgen leise ins Mikrofon "flüsterte". Der druckreif gesprochene Bericht wurde vollständig im Berliner Tageblatt abgedruckt. Durch seine Der Radioreporter Alfred Braun kommentiert live Radioreportagen war Braun am Ende der Weimarer Republik einer der die Ankunft des Luftschiffs populärsten Berliner. Da sein Name eng mit dem Weimarer Rundfunk "Graf Zeppelin" im Nove­ mber 1928 in Berlin. verbunden war und die Nationalsozialisten einen radikalen Bruch mit dem Lizenz: cc by-sa/3.0/de "Systemrundfunk" propagierten, wurde er zu einer Zielscheibe für die neuen (Bundesarchiv Bild 102-06801 / Fotograf: Machthaber. Kurz nach der "Machtergreifung" wurde er für kurze Zeit verhaftet Pahl, Georg) und anschließend dauerhaft vom Mikrofon verbannt.

Ein "Kraftstrom des nationalsozialistischen Wollens"

Die faszinierende radiophone Gattung der Reportage, die erlaubte, die Bevölkerung an einem entfernten Geschehen teilhaben zu lassen, war für die neuen Machthaber ein willkommenes Geschenk. Sie wollten sie weiterentwickeln zu einem "nationalsozialistischen Hörbericht", wie er in einem Aufsatz in der Zeitschrift Rufer und Hörer 1933 / 34 folgendermaßen vorgestellt wurde: "Es gibt keinen Ort der Neutralität, wo der Erlebende ausruhen und passiv reflektieren könnte. Dieses Hineingerissensein jedes Geschehens in den Strom der Bewegung verlangt eine Reportage, die den Hörer in stärkstem Maße aktiviert. Aus dem Erleben des Geschehens muss ihm ein Kraftstrom zugehen, aus dem heraus nationalsozialistisches Wollen entsteht." Im selben Heft der Zeitschrift wurden genaue Pläne zur Gestaltung einer solchen propagandistischen Inszenierung vorgelegt, indem man detailliert aufzeigte, wie "Musikmikrofon", "Marschtrittmikrofon", "Volksmikrofon" und "Sprechermikrofon" miteinander in Beziehung treten sollten, um die größtmögliche intendierte Wirkung hervorzubringen.

Geschickt verstanden es auch die nationalsozialistischen "Funkberichter", wie die Reporter jetzt hießen, am Mikrofon ein Bild des Geschehens zu entwerfen und den Hörern lebendig zu vermitteln. Aktuell und authentisch waren ihre "Funkberichte". Doch aus der subjektive und individuelle Perspektiven vermittelnden Reportage wurde jetzt ein kontrolliertes und genauen propagandistischen Regelungen unterworfenes Radioereignis. Nicht selten griff man zu Inszenierungstricks, gab also vor, es handele sich um einen "Live"-Ton, während die Sendung in Wirklichkeit vorproduziert und auf Schallfolie gespeichert worden war.

Gleich das Jahr 1933 begann mit einer spektakulären Reportage. Am 30. Januar stellte sich der Literat Wulf Bley in den Dienst der neuen Machthaber und berichtete – genau vorbereitet, doch scheinbar spontan überwältigt – von der Aufbruchsstimmung, die der Fackelzug der SA- und Stahlhelmformationen vor der Berliner Reichskanzlei bei ihm angeblich auslöste. Regelrecht inszeniert waren sodann die Ereignisse am "Tag von Potsdam" zwei Monate später, am 21. März 1933. Die Radioberichterstattung und mit ihr die Reportage wurden zu einem wesentlichen Instrument der propagandistischen Bildung einer nationalen "Volksgemeinschaft".

Dass diese auf Konformität und Anpassung ebenso aufgebaut war wie auf Ausgrenzung und Verfolgung, das zeigt etwa jene Reportage, die die deutschen Zuhörer zu Zeugen des beginnenden Terrors machte: "Deutsche Volksgenossen! Das Mikrofon der Funk-Stunde Berlin steht jetzt, in den frühen Morgenstunden des 5. April, in der übelbeleumdetsten Gegend Berlins. Gerade ist eine größere polizeiliche Aktion eingeleitet […]. Es wird gesucht nach Waffen, illegalem Druckschriftenmaterial, nach

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Druckmaschinen, nach Motorrädern, Kraftwagen und Ähnlichem. Die Durchsuchungen haben häufig auch noch Nebenerfolge […]. Vor mir stehen zwei große Polizeiwagen, auf dem einen sind zehn, auf dem anderen nochmal zehn, 15 politische Gefangene." Die nationalsozialistische Propaganda zeigte also sehr deutlich ihr Doppelgesicht: Zuckerbrot und Peitsche – nationaler Taumel und unverhohlene Verfolgung.

Für die am Mikrofon Tätigen galt: "Der deutsche Rundfunksprecher muss ein Nationalsozialist sein, der für das große Geschehen unserer Zeit den echten und volknahen Ausdruck findet" – so ein Dokument zur "Sprach- und Sprechpflege" in der Reichssendeleitung aus dem Jahr 1936. Ab 1934 veranstaltete man "Rundfunksprecher-Wettbewerbe", mit denen man junge Talente suchte. Für die Mikrofonprüfungen galten allgemeine Anforderungen an die Stimme. Sie sollte "gewandt und sicher", "klangvoll, ausdrucksreich und sehr biegsam" klingen, aber auch "abwechslungsreich" und "bildhaft" sein. Für die jungen Leute, die einen solchen Wettbewerb bzw. die strengen Eignungsprüfungen bestanden, bedeutete dieser Erfolg den Beginn einer Rundfunkkarriere, die in den Kriegsjahren dann zu einem Einsatz als Berichterstatter in den Propaganda-Kompanien (PK) führte.

Das Mikrofon als Lügendetektor

"Das Mikrofon ist ein grausames kleines Ding, dem man nichts vormachen kann – das alles Halbe, Unausgesprochene und Unwahre ablehnt und nur den ganzen Menschen gelten lässt. Kein Wunder deshalb, dass heute nur wenige vor ihm bestehen und immer nur wenige vor ihm bestehen werden", schrieb der ehemalige Berliner Intendant Carl Hagemann 1952. Er fasste damit die Bemühungen zusammen, die unmittelbar nach dem Ende des "Dritten Reiches" und des Zweiten Weltkriegs der Suche nach einem neuen Sound galten. In Fachkreisen ebenso wie in den Programmzeitschriften wurde leidenschaftlich über den "idealen Rundfunkmann" diskutiert. Der "Mikrofon-Sprechstil ist eine ganz eigene Sache", erklärte der Reporter Thilo Koch 1948 in der Hör Zu. Dieser besondere "Sprechstil" sei "intimer, persönlicher, behutsamer, lockerer, nüchterner, vertraulicher, direkter". Anknüpfend an die Diskussionen um 1930 avancierte das Mikrofon zum repräsentativen Symbol der neuen demokratischen Rundfunkarbeit.

Aus dem technischen Gerät wurde ein Instrument der Wahrheitssuche. Die "Unerbittlichkeit des Mikrofons", so lautete eine weit verbreitete Ansicht in den Nachkriegsdebatten über das Radio, "entlarve" alle "falschen" Töne. Das Mikrofon ermögliche es dem Zuhörer, die Übereinstimmung des gesprochenen Wortes mit der Stimme zu überprüfen. Ohne auf das Mediensystem der Jahre 1933 bis 1945 näher einzugehen, war man bemüht, echte, ehrliche und – heute würde man sagen: – authentische Stimmen zu finden.

Der Bedarf an neuen Sprechern bei den Nachkriegssendern war groß. Viele drängten in die neuen Rundfunkberufe. Die Messlatte aber lag hoch. Gerade einmal "zwei von 4.500" wurden 1947 beim Sprecherwettbewerb des Berliner Rundfunks ausgewählt und der Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR) machte den Hunderten von Kandidatinnen und Kandidaten wenig Hoffnung: "In der Schauspieler- und Sprecherkartei stehen heute schon im Funkhaus Hamburg 2.000 Namen vermerkt, in Köln ca. 1.500, in Berlin ca. 900. Sie alle haben das Mikrofon-Vorsprechen bestanden." In der zeitgenössischen Literatur herrschte Einigkeit darüber, dass es nicht genüge, gut zu sein: "Man muss besser sein." Und diese besondere Qualität lag in der Persönlichkeit des Sprechers und der Sprecherin. "Nur der starke und selbstbewusste, nur der verantwortungsvolle Mensch kann vor dem Mikrofon bestehen", schrieb Carl Hagemann und fügte hinzu: "Auf ihn aber hört eine Welt."

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 150 Nasentöne als neuer demokratischer Sound

Sprecher mussten einen Spagat meistern zwischen dem "neptunischen Hochmut des Wellenbeherrschers, der sich einbildet, mit seiner Stimme den Luftraum Tausende von Kilometern im Umkreis zu beherrschen", auf der einen Seite und dem "Missmut des Eingesperrten" im Studio, "der das Gefühl hat, kein Mensch höre ihm zu" auf der anderen Seite. Walther von Hollander machte dies 1946 deutlich, indem er den Alltag des Rundfunksprechers beschrieb und dessen Aufgabe, "aus einer alltäglichen Minute eine lebendige zu machen".

Eine äußerst erfolgreiche journalistische Karriere machte der Journalist Peter von Zahn, der ein eindrucksvolles Beispiel für den neuen demokratischen Sprechstil am Mikrofon lieferte. Die "Zahn’schen Nasentöne", über die Zahn als Leiter der Abteilung "Talks and Features" bei Radio Hamburg und dann beim NWDR selbstironische Schüttelreime schrieb, waren zwar alles andere als wohlklingend, setzten sich jedoch fest. Die ruhige, leicht näselnde Stimme, melodisch mit einem Hang zum Singsang, merkwürdig akzentuiert durch ein ruckhaftes Atmen, drang in die Ohren. Sie wandte sich in charakteristischer, den Hörer einbindender "Wir"-Rede den schwierigsten und unbequemsten politischen und gesellschaftlichen Themen zu. Ein Erzähler alter Schule bat sein Publikum unaufgeregt, aber nachdrücklich um Gehör. Ein genauer Beobachter machte mit seinen Entdeckungen in der Nahwelt, in Deutschland wie in der Ferne (Aus der Neuen Welt) neugierig. Ein Welterklärer nahm den einzelnen Hörer mit auf die Suche und lud ihn ein, mit ihm gemeinsam nachzudenken. "Ganz nüchtern betrachtet", "gewissenhaft", "abwägend", so lauteten die Leitvokabeln, die der Rundfunkmann in seine Reportagen, Features und Kommentare einstreute.

Die Zeitgenossen attestierten seiner unverwechselbaren Mikrofon-Stimme Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft. Von Zahn pflegte seinen fragenden, forschenden und fordernden Ton, baute ihn zu einem Markenzeichen aus. Bald "zahnten" auch seine Nachahmer vor den Mikrofonen. Die "eigenwillige Art des Sprachrhythmus" – laut von Zahn das Ergebnis seiner Bemühungen, die sächsische Dialektfärbung zu beherrschen – wurde zur Manier. "Eine halbe Generation von Reportern zerhackt mittlerweile die Sätze nach dem Vorbild ihres Meisters", spotteten Medienkritiker noch Mitte der 1960er Jahre. Doch an das Original reichte keiner heran.

Fernsehansagerinnen und Nachrichtensprecher

Während Individualität und Charakter geradezu zu einem Markenzeichen werden konnten, standen Normierung, Regelhaftigkeit und Korrektheit bei zwei Mikrofonberufen im Vordergrund, die das neue Medium Fernsehen seit den 1950er Jahren schuf: die Fernsehansagerin und den Nachrichtensprecher.

Mit Irene Koss setzte in Westdeutschland der Starkult um die "Fernsehfräuleins" ein. Ihre sprecherischen Fähigkeiten – stehend oder hinter einem Tisch sitzend –, mit denen sie dem Publikum in den Wohnzimmern das tägliche Fernsehprogramm darbot, rückten jedoch bald in den Hintergrund. Diskutiert wurde in der Presse vor allem über ihr Aussehen und ihre Kleiderwahl. Gleichwohl waren die Gesichter und die Stimmen von Ursula von Manescul, Dagmar Bergmeister, Annette von Aretin, Ruth Kappelsberger, Anneliese Fleyenschmidt, Hilde Nocker und Karin Tietze-Ludwig bis Anfang der 1990er Jahre Visitenkarten ihrer Sender in Baden-Baden, Stuttgart, München und Frankfurt.

Fernsehfrauen West

Auch in der DDR führten attraktive Damen bis Ende der 1980er Jahre durch das Programm. Margit Schaumäker begrüßte die Fernsehzuschauer am 1. Oktober 1952 zum Versuchsprogramm des Fernsehzentrums Berlin. Ihr folgten aus dem sich schon bald gebildeten "Ansagekollektiv" Erika Radtke, Renate Hubig, Doris Weikow in den 1960er Jahren sowie in den 1970er und 1980er Jahren Petra Kusch-Lück, Antje Garden, Cornelia Nossek und Carmen Nebel.

Fernsehfrauen Ost

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Kurzporträts mit Ausschnitten und Interviews

Die Gesichter des DDR-Fernsehens von den 1950ern bis in die 1980er Jahre (Quelle: mdr.de) (http:// www.mdr.de/damals/archiv/artikel104318.html)

Karl-Heinz Köpcke, von 1959 bis 1987 "Mr. Tagesschau" - aufgenommen 1971. (© picture-alliance, dpa - Bildarchiv) Der zweite Mikrofonberuf des Fernsehens war lange Zeit ein männlicher. Es kostete Frauen viel Kraft, ihn zu erobern und sich dann darin zu behaupten. Gemeint ist der des Nachrichtensprechers. Wie eng dieser Beruf mit der Radiogeschichte verknüpft ist, zeigt stellvertretend für viele die Biografie von Karl- Heinz Köpcke, dem "Mr. Tagesschau" der Bundesrepublik. 1922 in Hamburg geboren, begann Köpcke 1946, nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft, als Hörspiel- und Schulfunksprecher bei Radio Bremen. 1949 wechselte er als Hörfunk-Nachrichtensprecher zum NWDR nach Hamburg. Im März 1959 war der stets korrekt und seriös wirkende Köpcke dann zum ersten Mal auf dem Bildschirm als Sprecher zu sehen. Knapp drei Jahrzehnte lang, bis September 1987, wurde sein gediegener, emotionsloser und seriöser Sprechstil für die Nachrichtenpräsentation im deutschen Fernsehen stilprägend. Als Chefsprecher konnte er normativ entscheiden, etwa bei der Frage der Aussprache von Namen. Das "Neutrum im eleganten Sakko", so Der Spiegel, berichtete von den Ereignissen in der Welt, verhielt sich persönlich aber nicht dazu und kommentierte diese nie.

Mit seiner dem Nachrichten-Ideal der britischen Tradition folgenden Form der Präsentation vor Kamera und Mikrofon wurde Köpcke, einer Emnid-Umfrage zufolge, zu dem bis heute beliebtesten Tagesschau- Sprecher in der Bundesrepublik. Seine Stimme war eng verknüpft mit den internationalen und deutsch- deutschen Ereignissen der Jahrzehnte, in denen er in der Tagesschau wirkte.

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Joachim Aschke: Pläne für die Neugestaltung und Weiterentwicklung der Reportage, in: Rufer und Hörer 3 (1933 / 34) 9, S. 396 – 402

Alfred Braun: Achtung, Achtung, Hier ist Berlin! Aus der Geschichte des Deutschen Rundfunks in Berlin 1923 – 1932, Berlin 1968

Der Nachrichtensprecher [Berufe im Rundfunk], in: Die Ansage, Nr. 27, 7.7.1950

Dichtung und Rundfunk. Reden und Gegenreden. Verhandlungsniederschrift der Arbeitstagung "Dichtung und Rundfunk" in Kassel-Wilhelmshöhe am 30. September und 1. Oktober 1929, Berlin 1930 (neu hrsg. mit einem Essay von Hermann Naber, Berlin: Stiftung Archiv der Akademie der Künste, 2000)

Victor Dobbert: Nationalsozialistische Hörberichte, in: Rufer und Hörer 3 (1933 / 34) 9, S. 407 – 411

Bernhard Ernst: Rund um das Mikrophon. Gedanken eines Rundfunkmannes, Lengerich 1948

Muriel Favre: Goebbels "phantastische Vorstellung". Sinn und Zweck des O-Tons im Nationalsozialismus, in: Harun Maye u. a.: Original / Ton. Zur Mediengeschichte des O-Tons. Konstanz 2007, S. 91 – 100

Daniel Gethmann: Technologie der Vereinzelung. Das Sprechen am Mikrophon im frühen Rundfunk, in: Harro Segeberg / Frank Schätzlein (Hrsg.): Sound. Zur Technologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien, Marburg 2005, S. 249 – 265 ders.: Die Übertragung der Stimme. Vor- und Frühgeschichte des Sprechens im Radio, Zürich / Berlin 2006

Carl Hagemann: Probleme des Hörspiel (III). Der Funksprecher, in: Rufer und Hörer 6 (1951 / 52) 6, S. 555 – 554

Helmut Hammerschmidt: Der Rundfunkreporter, Garmisch-Partenkirchen 1957

Walt[h]er von Hollander: Hochmut und Missmut des Rundfunksprechers, in: Die Ansage, Programmwoche vom 15. – 21. Dezember 1946, S. 1

"Ich möchte zum Rundfunk!" Das "Vorsprechen" – Prüfstein der Mikrofon-Eignung, in: Die Ansage, Nr. 41, 13.10.1950

Hermann Kasack: Mikroreportage, in: Die Sendung 6 (1929) 36, S. 587 f.

Thilo Koch: Wort-Sendungen "funkgerecht". Das ist Rundfunk-Stil: Der Autor spricht zum einzelnen Hörer, in: Hör Zu 3 (1948) 5, S. 4

Reinhardt Meyer-Kalkus: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, Berlin 2001

Horst Pöttker: Journalismus unter Goebbels. Über die Kraft der Radioreportage, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 28 (1998) 111, S. 57 – 76

W. Roth: Fünfzig Jahre Neumann-Kondensatormikrofone, in: Funkschau 51 (1979), S. 315 – 317

Wll. [= Kurt Weill]: Chamberlin auf deutschen Wellen, in: Der Deutsche Rundfunk 5 (1927) 24, S. 1714

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 153

Maximilian Weller: Das Sprechlexikon. Lehrbuch für Sprechkunde und Sprecherziehung, Düsseldorf 1957

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Hans-Ulrich Wagner für bpb.de

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Hallo! Hallo! Hier Radio! Geschichte der Radiosignale

Von Hans-Ulrich Wagner 3.8.2016 Hans-Ulrich Wagner, Dr., Medienwissenschaftler, Leiter der Forschungsstelle Mediengeschichte am Hans-Bredow-Institut für Medienforschung.

Rundfunkschlager, Pausenzeichen, Hymnen und Jingles – die Welt der Radiosignale ist äußerst vielseitig. Unzählige akustische Kennungen sollen die Aufmerksamkeit des Publikums auf den eigenen Sender und das eigene Programm lenken und die Hörerinnen und Hörer jeweils darüber informieren, welche Station sie gerade eingeschaltet haben. Diese klingenden und tönenden Visitenkarten sind untrennbar mit der Geschichte des Rundfunks verbunden. Sie erfüllten wichtige sende- und empfangstechnische Aufgaben und waren Gegenstand rundfunkpolitischer Debatten und eines nicht immer nur friedlichen Wettbewerbs im Äther. Durch ihren ständigen Einsatz, ihre leichte Erkennbarkeit und ihre Eingängigkeit übernehmen sie nach wie vor eine identitätsstiftende Rolle. Viele der Radiosignale gingen in das kulturelle akustische Gedächtnis ein und sind bis heute ein beliebtes Objekt für radionostalgische Erinnerungen.

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Werbung für den Rundfunk

"Hallo, hallo! Hier Radio! / Das macht die Menschen lebensfroh. / Von früh bis spät brennt lichterloh / In Leid und Schmerz mein junges Herz fürs Radio. / Hallo, hallo! Das Mikrofon / Kennt selbst der kleinste Bengel schon. / Weiß jeder, ich bin da, / Wenn irgendwas geschah / Und rufen laut: Hurra!" Diese sich so nachdrücklich Gehör verschaffenden Zeilen bilden den Auftakt des sogenannten Norag-Marsches. Gesungen vom Hamburger Studio-Ensemble um Publikumslieblinge wie Bernhard Jakschtat, Isa Roland und Erwin Bolt wurde die Werbeschallplatte in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre rasch ein äußerst populärer Schlager. Der Norag-Marsch formulierte eine klare Werbebotschaft für das junge Medium Radio und wusste mit einem Potpourri von angesungenen Liedzeilen ein umfängliches Versprechen von Unterhaltung, Freude und Geselligkeit 1928: Paar beim Radiohören (© picture-alliance, akg- speziell mit dem Namen des Senders zu verbinden – der Norag, der images) Nordischen Rundfunk AG. Im Refrain heißt es: "Hier ist die Norag mit dem Detektor, hier ist die Norag für ihn und Hektor. Hier ist die Norag für Jedermann, der zwei Mark im Monat noch bezahlen kann. Hier ist die Norag für kluge Schädel, hier ist die Norag fürs kleine Mädel. Hier ist die Norag für Dich, mein Kind, wenn wir beide ganz allein zu Hause sind."

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Geschrieben hatte diese radiophone Werbebotschaft für den 1924 in Norddeutschland an den Start gegangenen Sender Horst Platen (1884 – 1964); er war ab 1926 Erster Kapellmeister und bald darauf schon Hauskomponist der Norag. Die akustische Botschaft reihte sich in die vielfältigen Aktivitäten ein, die die hauseigene Werbeabteilung koordinierte. In den jährlichen Geschäftsberichten ist unter anderem von Werbewagen die Rede, die man in die Städte und aufs Land schickte, um dort Veranstaltungen durchzuführen, zudem von Auftritten auf Messen, in Schulen und bei Sportvereinen sowie von den "Rundfunk-Werbetagen", welche als "Volksfeste" gestaltet wurden. Der Norag-Marsch wird dabei nicht gefehlt haben.

Der Rundfunk gab sich, mit solch professioneller PR und mit, jenseits der Werbung im Programm, publikumswirksamer Off-air-Promotion, bei seiner Markteinführung als äußerst modern und attraktiv. Es sollte – so die Werbebotschaft – chic und "in" sein, zu den Radiohörern zu gehören.

Galerie: Werbung für den Rundfunk

Max Kuttner singt

Die schöne Adrienne hat eine Hochantenne von 1925 (Quelle: YouTube) (https://www.youtube.com/ watch?v=JevnTSVKraA)

Die beziehungsfördernde Wirkung des Norag-Marsches stand damals nicht allein. Immer wieder wurde auch die Anziehungskraft beschworen, die das neue Medium ausübte, etwa wenn es in einem anderen, ab 1925 von Max Kuttner gesungenen Rundfunkschlager heißt: "Manche Maid / Wenn schon Schlafenszeit / Steigt ins Bettchen empfangsbereit / Und sie genießt mit dem Ohr / Ihren Lieblingstenor / Horizontal ideal. / Die schöne Adrienne / Tschintatata-ta-ta-ta-ta-ta-radio / Hat eine Hochantenne." In den Radiozeitschriften und in den Werbeanzeigen der Radioindustrie wurden entsprechende Fotos abgebildet, die auf das Vergnügen mit dem Unterhaltungsrundfunk abhoben und die sinnliche Beziehung zum neuen Apparat herausstellten.

Galerie: Die Norag

Pausenzeichen

Sende- und empfangstechnisch bedingt meldeten sich die Rundfunkmacher damals gern mit Aufmerksamkeit heischenden "Hallo, hallo!"-Rufen zu Wort. Oder sie wandten sich an ihr Publikum regelrecht fordernd, etwa im Oktober 1923, als die Funk-Stunde Berlin auf Sendung ging: "Achtung! Achtung! Hier ist die Sendestelle Berlin!" Solche Stationsansagen wurden nicht selten mit der Nennung der Frequenz verbunden, auf der das Programm zu empfangen war. Denn noch war es für die Besitzer vor allem kleiner und leistungsschwacher Geräte mitunter schwierig, einen Sender einzustellen und einen guten Empfang zu erzielen.

Die Stationsansagen waren das Signal, dass das Programm begann. In den ersten Jahren füllte es allerdings noch nicht den gesamten Tag. Erst nach und nach weiteten sich die Sendezeiten der einzelnen Sendegesellschaften aus. Zu den anfänglichen Abendstunden kamen ein paar Stunden Nachmittags- und ein paar Stunden Vormittagsprogramm. Zwischen diesen sogenannten Programminseln herrschte Sendepause. Aber auch während dieser Pausen wollte man im Äther akustisch präsent sein, damit die einmal gefundene Frequenz identifizierbar blieb. Hierfür erfand man das Pausenzeichen.

Zunächst setzten die einzelnen Sender noch sehr einfache Mittel ein. Beliebt waren vor allem

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 156 charakteristische Morsezeichen wie "h – a" ab Januar 1925 für Hamburg bzw. ab 1926 "m – ü" (München) und "n – g" (Nürnberg) für die beiden Sender der Deutschen Stunde in Bayern. Einen anderen Weg hatte bereits im November 1924 die Mitteldeutsche Rundfunk AG (Mirag) eingeschlagen. Sie nahm das Ticken eines Weckers mit einem Fernsprechmikrofon auf und überbrückte damit die Funkstille. Dies fand Nachahmer in Breslau und Berlin. Das Ticken ihrer Wecker war jedoch langsamer und weniger hektischer als das des Leipziger Pausenweckers, der eine Schlagzahl von 240 Ticks pro Minute hatte.

Die Techniker der Sendegesellschaften experimentierten damals auch mit Metronomen, Glockenspielen und Kuckucksuhren. Sie entwickelten darüber hinaus zunehmend aufwändigere Apparaturen, um jeweils charakteristische Pausentöne mechanisch zu erzeugen und zu senden. Speziell nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten im Jahr 1933 wurden solche technischen Errungenschaften gefeiert. Wiederholt gab die Rundfunkpresse einen Überblick über die mittlerweile vielen verschiedenen Pausenzeichen und berichtete stolz von neuen Pausengeräten, so z. B. die Funkschau im Frühsommer 1933: "Das neue Pausenzeichen des Deutschlandsenders wird erzeugt, indem eine Walze mit entsprechend eingesetzten Stiften Metallzungen anschlägt, die in verschiedener Tonhöhe schwingen. Diese Zungen befinden sich vor der Spule eines kleinen Magneten und rufen so in dieser Spule Wechselströme hervor, die genau den Tönen entsprechen, auf die sie selber abgestimmt sind. Nach entsprechender Verstärkung werden diese Wechselströme auf den Sender gegeben. Man sieht auf der Walze deutlich, wenn man von links nach rechts geht, in der Anordnung der Stift, die Melodie, darüber die Begleitstimme." Auch die Pause musste im Rundfunk tönend sein.

Radiosignale

Pausenzeichen sind wahrscheinlich die bekanntesten akustischen Kennmarken in der Rundfunkgeschichte. Doch es gibt eine Fülle von musikalischen bzw. akustischen Symbolen und Zeichen mit Repräsentationsfunktion. Ludwig Stoffels vom Deutschen Rundfunkarchiv fasste 1989 diese unter dem Begriff der Rundfunksignale zusammen. Für einen Katalog, der mehrere Hundert Rundfunksignale nach Ländern auflistete, definierte er einleitend: "Unter Rundfunksignale im weiten Sinne lässt sich die Gesamtheit der vom Rundfunk ausgestrahlten Pausenzeichen, Signets und sonstigen Erkennungszeichen verstehen. Sie dienen der Identifikation einer Sendegesellschaft, eines Senders bzw. Studios, eines Programms, eines Programmsegments, einer Sendereihe usw."

Junge am Radioapparat. In der Rundfunkgeschichte spielten Hymnen allgemein und speziell die Um 1930 (© picture- Nationalhymnen eine große Rolle. Sie verbanden sich mit dem akustischen alliance, IMAGNO) Auftritt der Sender. Ein besonderes Beispiel sind die "Olympia-Hymnen", die die Rundfunkberichterstattung von den sportlichen Großereignissen leitmotivisch prägen können. Sehr bekannt sind die Fanfarenstöße, die 1936 zur Berichterstattung des NS-Rundfunks über die Olympischen Spiele in Berlin gehörten. Ein anderes Beispiel ist das Lied Ich hab’ mich ergeben mit Herz und mit Hand, das ein nationales Bekenntnis formuliert und aus der Tradition der Burschenschaftslieder des 19. Jahrhunderts stammt. Nach dem Ende des Krieges wurde es in den Westzonen bis zur Annahme des Grundgesetzes 1949 als Ersatz für die fehlende Nationalhymne gesungen. Der Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR) spielte es zum Abschluss jedes Sendetags gegen 24 Uhr.

Mit der Entscheidung für eine Hymne drückt ein Sender einen expliziten politischen Anspruch aus. So bildete etwa ab Mai 1945 die von Pierre Degeyter 1888 komponierte Internationale, das Kampflied der sozialistischen Arbeiterbewegung, das Rundfunksignal des ostdeutschen Berliner Rundfunks. Mit der Gründung der DDR im Jahr 1949 wählten mehrere Programme des Berliner Senders die Nationalhymne Auferstanden aus Ruinen als ihr Erkennungszeichen. Sie gehörte schließlich untrennbar zu Radio

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DDR sowie zum im November 1971 in "Stimme der DDR" umbenannten Deutschlandsender.

Einen politischen Anspruch manifestieren auch die Radiosignale, die die Nationalsozialisten ihren Sendern und Programmen während des "Dritten Reiches" zur Auflage machten. Üb’ immer Treu’ und Redlichkeit mochte als Volkslied noch an bürgerliche Tugenden appellieren – der Deutsche Kurzwellensender und der Deutschlandsender verwendeten eine kurze Melodiefolge daraus seit 1933. Mit dem Beginn des Matrosenchors Steuermann, lass die Wacht setzte der Hamburger Sender ab Mai 1933 die von der nationalsozialistischen Führung so geschätzten Wagnerschen Opernklänge ein. Der Reichssender Frankfurt ließ ab Januar 1935 die Fanfaren des antifranzösischen Kriegslieds Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein blasen. Für andere Reichssender ist das Deutschlandlied als Radiosignal nachgewiesen.

Morsezeichen für "V" wie "Victory" (© bpb) Eines der markantesten Radiosignale der deutschen Rundfunkgeschichte stammt aus Großbritannien. Kurz nach Beginn des Zweiten Weltkriegs startete der European Service der BBC seine sehr erfolgreiche "V-Kampagne". Das "V" für victory wurde in den von Deutschland besetzten Ländern konspirativ auf Wände gemalt und alliierte Flugzeuge warfen Handzettel mit dem "Victory"-Zeichen über dem Feindesland ab. Prägend aber wurde das akustische "V", das Morsezeichen "kurz, kurz,

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 158 kurz, lang" des Deutschen Dienstes der BBC. Er stellte dieses Signet – jeweils drei Mal wiederholt, gespielt auf einer Pauke – seinen Berichten vom 28. Juni 1941 bis 8. Mai 1945 voran. Die Tonfolge war auch der Anfang von Beethovens 5. Sinfonie. Wie sehr das "V"-Radiosignal im kulturellen Gedächtnis verankert ist, zeigt sein häufiger Einsatz in Film-, Fernseh- und Radiodokumentationen. Geschichtsjournalisten können auf seine Bekanntheit bauen.

Neustart in der Nachkriegszeit

Nach den Erfahrungen des "Dritten Reiches" wurde im Rundfunk auf einen politischen Neubeginn gesetzt. Die Sender in der sowjetischen Besatzungszone, sehr bald unter direkte staatliche Kontrolle gestellt, verkündeten ihren politischen Anspruch im Äther. Aber auch im Westen gab man sich programmatisch. Der Beginn des Knabenchors Bald prangt, den Morgen zu verkünden aus Mozarts Zauberflöte wurde zum akustischen Senderzeichen des neu gegründeten Südwestfunks (SWF) in der französischen Zone. Die Tonfolge unterstrich die aufklärerischen kulturpolitischen Ziele, die man ab März 1946 im Programm verfolgte.

Pausenzeichen

SWF-Fernsehen (Quelle: YouTube) (https://www.youtube.com/watch?v=2fMtD3-XLgE)

Das Signal von Radio München bzw. ab 1949 des Bayerischen Rundfunks betonte hingegen die regionale Identität. Die erste Zeile der Stadthymne Münchens So lang der alte Peter war von 1948 bis 1951 um eine Silbe verkürzt zu hören. "So lang der alte Pe …" war das Signal. Ab Oktober 1951, als der Turm der Peterskirche in München und sein Glockenspiel wiederhergestellt waren, ertönte das Signet wieder zusammen mit der fehlenden Silbe "-ter". Diese Senderkennung wurde bis Ende 1996 verwendet.

Pausenzeichen

Radio Frankfurt aus dem Jahr 1946 (Quelle: hr-online.de) (http://www.hr-online.de/website/derhr/ home/index.jsp?key=standard_document_836006&jmpage=1&type=a&rubrik=2442&jm=4&mediakey= allgemein/20091229_chronik_radiofrankfurt_pausenzeichen_1946)

Radio Frankfurt bzw. ab 1949 der Hessische Rundfunk verwendete zunächst einen Dreiklang der Töne f, d und a; im November 1946 wählte man dann ein Hornmotiv aus der Oper Die Königskinder, die Engelbert Humperdinck in Frankfurt 1895 / 97 komponiert hatte. Charakteristisch aber sollte das neue Sendersignet werden, das der Frankfurter Sender sich Mitte der 1950er Jahre zulegte. Programmdirektor Henning Wicht wollte sich dezidiert von den melodiösen Lautfolgen der anderen ARD-Sender unterscheiden und schrieb einen Wettbewerb im Bereich der elektronischen Musik aus. Der Komponist Hermann Heiß (1897 – 1966) reichte 17 Klangmodelle ein, die er in Studios für elektronische Musik in Köln und Frankfurt zusammengestellt hatte, und gewann die Ausschreibung. Eines davon wurde am 1. Mai 1955 zum ersten Mal ausgestrahlt. Dieses elektronische Pausenzeichen prägte fortan den Hessischen Rundfunk und verlieh ihm ein außerordentlich modernes Image.

Die Erkennungszeichen der ARD-Sender waren vielfach präsent. Sie gewährleisteten die Erkennbarkeit der Radioprogramme bei Sende- und bei Umschaltpausen. Gesteigert wurde ihr hoher Wiedererkennungseffekt durch die Verwendung als akustische Signets beim Fernsehen. Schaltete man das Erste Programm ein, das von den unterschiedlichen Rundfunkanstalten gemeinsam veranstaltet wird, erschien zum Beginn eines Programmbeitrags das Logo der jeweils verantwortlichen Anstalt auf dem Bildschirm, begleitet von ihrem tönenden Signet. Die akustischen Kennmarken der

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Rundfunkanstalten im Senderverbund der ARD waren also über die einzelnen Bundesländer hinaus in ganz (West-)Deutschland präsent und stellten eine einzigartige Visitenkarte und ein Programmversprechen dar.

Pausenzeichen

ARD-Anstalten im Deutschen Fernsehen der 1970er und 1980er Jahre (Quelle: YouTube) (https:// www.youtube.com/watch?v=CwExCC5gLm8)

Wie sehr solche symbolischen Verdichtungen rundfunk- und kulturpolitisch aufgeladen waren, kann an zwei Beispielen veranschaulicht werden. Das erste zeigt, welches Konfliktpotenzial ein Pausenzeichen haben kann. Von 1945 bis 1955 gehörte das Funkhaus Köln zum NWDR. Das große Rundfunkgebilde für die Bundesländer Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und die Freie und Hansestadt Hamburg erlebte man an Rhein und Ruhr als Bevormundung und Zwangsgemeinschaft. Die akustische Kennmarke für alle Funkhäuser des von der britischen Besatzungsmacht für ihre Zone aufgebauten Rundfunks waren zunächst zwei Takte aus Mozarts Oper Die Zauberflöte, die Noten von Das klinget so herrlich aus der Papageno-Arie.

Als ein Affront wurde eine Pressemeldung vom 6. Juli 1948 verstanden, in der es hieß: "Das neue Pausenzeichen des Nordwestdeutschen Rundfunks, dem ein Thema aus der Sinfonie Nr. 4 von Johannes Brahms zugrunde liegt, wird am 15. Juli zum ersten Mal zu hören sein. Es ist beabsichtigt, die einzelnen Sendestationen des NWDR deutlich zu kennzeichnen, indem dasselbe Pausenzeichen jeweils von anderen Instrumenten gespielt wird. So wird es in Hamburg von zwei Oboen, in Köln von zwei Hörnern, in Berlin von zwei Klarinetten und in Hannover von zwei Trompeten gesendet." Ein Motiv des Hamburger Komponisten Johannes Brahms, lediglich anders instrumentiert für das Funkhaus in Köln – in einigen Zeitungen erschienen wütende Lesebriefe, im Westen des NWDR-Sendegebiets verschärfte diese Brüskierung durch die Hamburger Zentrale den bereits vorhandenen Unmut.

Pausenzeichen

NDR (Quelle: YouTube) (https://www.youtube.com/watch?v=8N5yyr5VX08)

Es folgten einige Jahre schwerer rundfunkpolitischer Kämpfe, bis 1955 die Auflösung des NWDR und die Errichtung der beiden eigenständigen Rundfunkanstalten NDR und WDR beschlossen wurden. Am 1. Januar 1956 starteten die beiden neuen Sender ihre Programme. Stolz und selbstbewusst waren die akustischen Demonstrationen mit den neuen Pausenzeichen: Der NDR sendete jetzt ein Motiv aus Johannes Brahms' 2. Sinfonie als Pausenzeichen; der WDR entschied sich für das Bundeslied In allen guten Stunden des Bonner Komponisten Ludwig van Beethoven.

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Radioempfänger Blaupunkt-Stockholm (1963) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (Wikimedia, Oguenther ) Das zweite Beispiel ist das Pausenzeichen des Saarländischen Rundfunks (SR), das im März 1956 eingeführt wurde, nachdem sich wenige Monate zuvor die Bevölkerung des Saarlands in einer Volksabstimmung für eine Anbindung an die Bundesrepublik ausgesprochen hatte. Mit dem traditionellen Bergarbeiterlied Glück auf, der Steiger kommt knüpfte der SR-Hauskomponist Heinrich Konietzny (1910 – 1983) an die kulturelle Identität der Industrie- und Bergbauregion an. Er verwendete eine Melodie-Sequenz, die beim Hören untrennbar mit der Textzeile "Und er hat sein helles Licht bei der Nacht (schon angezünd’t, schon angezünd’t)" verbunden ist, woraus die Aufbruchssymbolik der Klangfolge deutlich wird.

Pausenzeichen

Saarländischer Rundfunk (Quelle: YouTube) (https://www.youtube.com/watch?v=pPWqh0QzVg4)

Doch das Pausenzeichen, das vom SR bis Mitte der 1990er Jahre verwendet wurde, hatte auch eine NS-Geschichte. Auf die Melodie des Steigerlieds war ab 1920 und vor allem vor der Abstimmung 1935 das Kampflied Deutsch ist die Saar gesungen worden und zur Sequenz des Pausenzeichens gehörte die Textzeile "Und ewig deutsch mein Heimatland (mein Heimatland, mein Heimatland)". Für viele SR- Hörerinnen und -Hörer werden beide Textbedeutungen mitgeschwungen haben. Wahrscheinlich haben die Rundfunkverantwortlichen im Saarland damals bewusst die symbolische Doppeldeutigkeit von Heimatbekenntnis auf der einen und Deutschlandzugehörigkeit auf der anderen Seite in Kauf genommen.

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 161 Jingles im Radiomarkt

Bis in die 1980er Jahre fanden diese akustischen Senderkennungen in Deutschland Verwendung. Mit der Einführung des Dualen Systems, also des Nebeneinanders von privaten kommerziellen Sendern und öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, zu Beginn der 1980er Jahre veränderte sich die Radiolandschaft grundlegend. Sendepausen gab es nicht mehr. Die Anzahl der Programme stieg an, das Ringen um Aufmerksamkeit wuchs. Gegenwärtig sind in Deutschland 256 Radioprogramme über Antenne, Satellit und Kabel auf dem Privatradiomarkt auf Sendung, dazu kommen 54 öffentlich- rechtliche Radioprogramme. Sie alle versuchen, die Aufmerksamkeit der Hörerinnen und Hörer auf sich zu lenken. Wer seinen Apparat einmal eingeschaltet hat, soll kontinuierlich darauf aufmerksam gemacht werden, welchen Sender er gerade hört. In der immer stärker werdenden Konkurrenz des Radiomarkts geht es um Erkennbarkeit und Identifizierbarkeit, um die Bildung einer Programmmarke, welche emotionale Bindung erlaubt und auf Nachfrage erinnert wird.

Eine Entwicklung, die in anderen Rundfunksystemen der Welt, speziell im US-amerikanischen Markt eine längere, mitunter auch sehr lange Tradition hatte, war in Deutschland in den 1980er und 1990er Jahren zu erkennen: die Formatierung von Radioprogrammen, von einzelnen Sendungen und von ganzen Sendern, d. h., alles wurde sehr strategisch geplant, um die Durchhörbarkeit zu gewährleisten und um die Hörer irritierende Momente zu vermeiden. In diesem Zusammenhang taucht der Begriff des Jingles auf, als musikalisches Erkennungszeichen, als besonderer Aufmerksamkeitswecker.

Das Kompakt-Lexikon Medien von Insa Sjurts definiert Jingle als "Erkennungsmelodie eines Hörfunksenders oder eines Hörfunkprogrammelements" und führt aus: "Jingles werden vorproduziert und beinhalten die Stationskennung (Name des Senders und / oder akustisches Logo), häufig weist der Jingle auch auf die inhaltliche Ausrichtung des Programms hin." Das Handbuch für Ausbildung und Praxis im Hörfunk von Walther von LaRoche und Axel Buchholz erklärt: "Ohne Jingles kein modernes Begleitprogramm. Jingles verbinden und trennen Programmbestandteile, kündigen eine Sendung an, sagen die Station, manchmal die Frequenz, den Namen der Sendung und den Namen ihres Gestalters. Der Jingle ist kurz, in der Regel sind sechs Sekunden die Obergrenze." Die Autoren erklären den angehenden Radio-Journalisten: Themajingles kündigen Themen an, Brückenjingles verbinden sie, Trennjingles setzen eins vom anderen ab.

Die bunte Fülle der eingängigen und mitunter als lästig empfundenen Jingles ist Teil einer Werbekommunikation. Radiojingles werden von den Sendern in Auftrag gegeben und in empirischen Wirkungsstudien auf ihren Erfolg hin untersucht. Zugleich spezialisiert sich eine Radioindustrie, die Jingles in vielen Variationen und Kombinationen entwirft, um eine Markenbildung zu erreichen und das sogenannte Audio Branding zu optimieren; die Sender sollen also einen möglichst unverwechselbaren Sound erhalten.

Es geht um viel, nämlich um die Behauptung auf einem explizit ökonomischen oder implizit um Legitimität bemühten Markt. Wenn zweimal pro Jahr in der Media Analyse (http://www.agma-mmc.de/ media-analyse/radio.html) eine zufällig ausgewählte, insgesamt als repräsentativ geltende Gruppe von Bürgern telefonisch befragt wird, sollen die Angerufenen sich erinnern können, welche Sender sie gestern, welche in den letzten 14 Tagen gehört haben. Alle Kennwerte wie "Hörer gestern", "weitester Hörerkreis", "Hördauer" oder "Marktanteil", die ermittelt werden, sind kommerziell verwertbare Größen. Die kleinen akustischen Elemente übernehmen also eine wichtige Funktion. Sie sind Teil einer "Ökonomie der Annoncenkultur", wie Claudia Schmölders in ihrem Rundfunkessay Jingle, Trailer, Klappentext. Zur Karriere einer Textsorte (http://www.claudiaschmoelders.de/uploads/2/6/3/7/2637360/ swr_2_radioessay_ber_jingles.doc) für den SWR 2006 formulierte. Diese mitunter schrille, jedenfalls sehr präsente Jingle-Umwelt – zu ihr zählen je nach Platzierung und Zuschnitt der Jingles die Claims, Bumpers oder Openers, Closers oder Stingers, Backtimers, Donuts, Promos und Drop-Ins – gehört heute zum Alltag der Radiomacher und -hörer.

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Das neue Pausenzeichen des NWDR, in: Die Ansage. Mitteilungen des Nordwestdeutschen Rundfunks, 6.7.1948, S. 1

Axel Buchholz: Doppeldeutig: Das traditionelle SR-Pausenzeichen, 1.2.2012, http://www.sr.de/sr/ home/der_sr/wir_uber_uns/geschichte/fundstucke/sr_pausenzeichen100.html (http://www.sr.de/sr/ home/der_sr/wir_uber_uns/geschichte/fundstucke/sr_pausenzeichen100.html)

Klaus Goldhammer: Formatradio in Deutschland. Konzepte, Techniken und Hintergründe der Programmgestaltung von Hörfunkstationen, Berlin 1995

Hymnen und Rundfunksignale, zusammengestellt und bearbeitet von Anke Bingmann u. a., Frankfurt a. M. 1989

Horst Kickhefel: Zehn Jahre elektronisches Pausenzeichen. Die Visitenkarte des Hessischen Rundfunks, HR, 2.5.1965

Helmut Kirchmeyer: Konfliktstoff "Pausenzeichen". Ein Kapitel Hamburg-Kölner Rundfunkgeschichte aus der Sicht Herbert Eimers, in: Archiv für Musikwissenschaft 67 (2010) 1, S. 52 – 76

Norbert Linke: Radio-Lexikon. 1200 Stichwörter von a-capella-jingle bis Zwischenband, München 1997

Hagen Pfau: Visitenkarten der Mirag: Das Pausenzeichen und die ersten Schallaufzeichnungen, in: ders.: Mitteldeutscher Rundfunk. Radio-Geschichte(n), Altenburg 2000, S. 147 – 154

Claudia Schmölders: Jingle, Trailer, Klappentext. Zur Karriere einer Textsorte, SWR 2, 10.7.2006, www. claudiaschmoelders.de/sound-studies.html (http://www.claudiaschmoelders.de/sound-studies.html)

Michael Schneider/Wilbert Hirsch: Markenästhetik & Acoustic Branding, in: Alex Buck u. a. (Hrsg.): Markenästhetik 2000. Die führenden Corporate Design-Strategien, Frankfurt a. M. 2000, S. 36 – 51

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Hans-Ulrich Wagner für bpb.de

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The Jazz Singer Der neue Klang des Tonfilms

Von Claudia Bullerjahn 3.8.2016 Claudia Bullerjahn, Dr., Professorin für Systematische Musikwissenschaft und Musikkulturen der Gegenwart am Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik der Justus-Liebig-Universität Gießen.

"Wait a minute! Wait a minute! You ain’t heard nothin’ yet!" Kann ein Satz den größten bisher stattgefundenen Wandel der Filmindustrie weltweit verursacht haben? Ein Satz, der noch nicht einmal vorgesehen war, denn es sollte ursprünglich in diesem Film nur gesungen und nicht gesprochen werden. Aber die Produktionsgesellschaft entschied sich die aus dem Moment heraus improvisierten Worte des Hauptdarstellers Al Jolson im Film zu belassen und sogar noch eine weitere Sprechszene aufzunehmen. Folgt man der Argumentation Michael Freedlands in seinem Artikel in der britischen Tageszeitung The Independent, kam das Erscheinen des Films The Jazz Singer einer Revolution gleich. Relativ schnell brach die Stummfilmproduktion ein und Kinotheater wurden auf Tonfilmtechnik umgerüstet.

1927: Premiere des Films "The Jazz Singer" - eines der ersten erfolgreichen Tonfilme der Filmgeschichte (© picture- alliance, United Archives/WHA)

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 164 "Who the hell wants to hear actors talk?" Zur Entwicklung des Tonfilms

Eine synchrone, mechanische Verbindung von Bild und Ton wurde schon zu Beginn der Filmgeschichte angestrebt. Dennoch konnte sich der Tonfilm erst mit The Jazz Singer 1927 durchsetzen, weswegen er fälschlicherweise in einigen Überblicksdarstellungen als der erste Tonfilm bezeichnet wird. Die Hauptschwierigkeit bestand darin, zwei unterschiedliche Aufnahmeverfahren zusammenzubringen: Das bewegte Bild wurde linear und diskontinuierlich in statischen Einzelbildern aufgezeichnet, der Ton hingegen zirkulär und kontinuierlich auf Schallplattenrille. Die externe Kombination getrennter Apparaturen, nämlich des Grammophons und des Filmprojektors, gelang mit dem Vitaphone-System der Filmgesellschaft Warner Brothers, ein sogenanntes Nadeltonsystem, das letztlich mit The Jazz Singer den Tonfilm populär und durchsetzungsfähig machte, obwohl es noch höchst störanfällig war. Jeder Filmriss oder Fehler im Filmbandtransport drohte die Synchronität zu zerstören, worüber man sich noch Jahrzehnte später im Filmmusical Singin’ in the Rain (1952) lustig machte.

Mit einer internen Kombination, nämlich einem Vorläufer des technisch überlegenen und sich letztlich durchsetzenden optischen Tonsystems, bei dem eine Lichttonspur auf dem Filmstreifen integriert ist, hatte Lee de Forest bereits 1919 experimentiert. 1923 konnte er erfolgreich drei kurze Tonfilmszenen uraufführen. Sogenannte Tonbilder – frühe kurze Tonfilme mit abgefilmten Musikdarbietungen von Sängerinnen oder Sängern und synchronem Ton von Phonograph oder Grammophon – wurden sogar schon 1903 von Oskar Messter eingeführt. 1913 erfand Thomas Alva Edison mit dem Kinetophon einen auf externer Kombination basierenden Guckkasten, der in Verbindung mit zwei in die Ohren zu steckenden Schläuchen das Betrachten von vertonten Kurzfilmen ermöglichte. Auch das Vitaphone- System war bereits 1926 mit dem Langfilm Don Juan der Öffentlichkeit vorgestellt worden. Wie ist also der immense Erfolg des Jazz Singers zu erklären?

Das Alleinstellungsmerkmal des Jazz Singers ist nicht die technologische Innovation, sondern die bewusste und hinterfragende Verbindung von Bild und Ton. Es handelt sich um ein "filmhistorisches Scharnierstück" (Lisa Gotto), das Traditionen von Stumm- und Tonfilm fortführt und zugleich als erstes Filmmusical bezeichnet werden kann. So war Don Juan zwar technologisch ein abendfüllender Tonfilm mit aufgezeichneter Orchestermusik, jedoch entbehrte er das, was den ersten Sprechfilm und seine Nachfolger um vieles erfolgreicher machen sollte: den Klang der menschlichen Stimme.

Verknüpfung zweier Transformationen

Der Plot erzählt die Geschichte von Jakie Rabinowitz, dem Sohn eines jüdischen Kantors in der Lower East Side New Yorks. Jakie besitzt ein auffälliges Gesangstalent und wird zum erfolgreichen Entertainer Jack Robin. Zentral ist nicht nur ein klassischer Generationskonflikt – der Sohn soll traditionsgemäß Kantor werden –, sondern auch das Ausloten konträrer Klangwelten: Beispielsweise werden schon in der ersten Filmszene jüdische Sakralmusik und profaner Ragtime in einer Parallelmontage visuell und klanglich gegenübergestellt.

Besonders faszinierend macht den Film jedoch die Tatsache, dass die Hauptrolle eng mit dem Darsteller verquickt ist: Jolson ist ebenfalls Sohn eines jüdischen Kantors, flieht als Jugendlicher aus seinem Elternhaus, verändert seinen jüdischen Geburtsnamen von Asa Yoelson zu Al Jolson und wird nach einer immens Deutsches Plakat für den Film "Der erfolgreichen Vaudeville-Karriere mit Blackface-Auftritten als Musical-Star am Jazzsänger" (The Broadway berühmt. Diese Parallelität ist keineswegs zufällig: Samson Raphaelsons Jazz Singer), 1927, mit Al Jolson (© teilweise auf der Biografie Jolsons beruhende Novelle The Day of Atonement von picture-alliance, 1922 bildete die Vorlage für das Drehbuch. Auch in der Werbung für den Film nutzte Mary Evans Picture LibrarY) man diese Verbindung zwischen Protagonist und Künstler.

Das Schwanken zwischen Authentizität und Inszenierung, der Übergang zwischen Bekanntem und Unbekanntem bestimmt die erste "Part-Talkie"-Sequenz des Films und der gesamten Filmgeschichte:

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Jack Robins Auftritt in einem Café. Zwischen zwei durch Phonograph-Aufnahmen bekannten Jolson- Hits – der langsamen, sentimental vorgetragenen Ballade Dirty Hand, Dirty Face und der mit Hüftschwung präsentierten, von synkopischen Rhythmen geprägten Uptempo-Nummer Toot, Toot, Tootsie Goodbye – ereignet sich aus einer Improvisation heraus die erste lippensynchrone Sprech- Passage eines abendfüllenden Tonfilms überhaupt: "Wait a minute! Wait a minute! You ain’t heard nothin’ yet!" Es handelt sich bei "You ain’t heard nothin’ yet!" nicht nur um eine lang etablierte Standardfloskel, quasi ein Markenzeichen Al Jolsons und damit Bestandteil seiner Star-Persona, sondern auch um einen von ihm häufig präsentierten und 1919 auf Platte gepressten Songtitel und insbesondere um eine Phrase mit zwei gleichermaßen zutreffenden Bedeutungen: "Ihr habt noch gar nichts gehört!" (bisher herrschte der Stummfilm vor) sowie "Was ihr bisher gehört habt, war noch gar nichts!" (bisher gab es nur Dokumentationen von Bühnenauftritten mit statischer Kameraposition in Tonbildern).

Al Jolson, "Toot, Toot, Tootsie Goodbye"

(USA 1927), aus: "The Jazz Singer" (Quelle: YouTube) (https://www.youtube.com/watch?v=G- WZRUIfHjo)

"You ain’t heard nothin’ yet!" Die Inszenierung von Ton

Das eigentlich Spektakuläre am Jazz Singer ist nicht das Hörbare an sich, sondern die Art wie seine Verbindung mit dem Sichtbaren inszeniert wird. Eine Musikaufführung wird in eine kontinuierliche, visuell organisierte Narration integriert mit der Montage als ästhetischer Errungenschaft des Stummfilms: Alternierende Einstellungswechsel zwischen Sänger und Publikum (Cross-Cutting) präsentieren sich in wechselnden Bildausschnitten (z. B. Al Jolson in amerikanischer, halbtotaler und großer Einstellung) und Einstellungsdauern bei durchlaufender Tonspur. So werden längere Einstellungen der Gesangsperformance kombiniert mit extrem kurzen in Großaufnahme, z. B. von Mary, Jacks Bewunderin, ein Verfahren, das heute noch viele Videoclips verwenden.

Al Jolson, "You Ain’t Heard Nothing Yet" (1919)

Aus dem Broadway-Musical "Sinbad" (Quelle: Youtube) (https://www.youtube.com/watch?v= aXt9X_1NWvI)

Der Film erreicht keine vollständige Lebensechtheit. Im Gegenteil ergibt sich eine absichtsvolle Koexistenz von Stumm- und Tonfilmelementen als hybrides Wesen des Übergangs, z. B. durch Zwischentitel neben gesprochenen Worten und einem selektiven Umgang mit Ton. So hört man etwa den Gesang Jack Robins, nicht jedoch den Applaus des Publikums im Gegenschnitt, diesen jedoch kurz vor und nach dem Auftritt. Hierdurch ergibt sich ein ständiges Schwanken zwischen der Echtheit der menschlichen Stimme und der offen-sichtlich stummfilmtypischen Inszenierung der Narration. Eine genauere Betrachtung offenbart, dass sogar die Musiker der Hintergrundbands wechseln (z. B. ein schwarzer Pianist in der einen Einstellung, ein weißer in einer anderen). Asynchronie von Akustischem und Visuellem wird nicht umgangen, sondern absichtsvoll produziert.

Noch stärker integriert in die Narration bei gleichzeitig drastischem Wechsel zwischen Tonfilm- und Stummfilmelementen ist die zweite "Talkie"-Sequenz: Jack singt und spielt in der elterlichen Wohnung für seine Mutter den 1926 komponierten Song des bekannten Songwriters Irving Berlin Blue Skies in zwei Versionen. Asynchronitäten zwischen Fingerbewegungen und Klavierklang verweisen auf nur gemimtes Klavierspiel bei lippensynchronem Gesang – ein auch in späteren Tonfilmen übliches

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Verfahren des Zuspielens musikalischen Fremdmaterials. Neben Jack ist im Dialog relativ undeutlich die Stimme seiner Mutter zu hören, was daran liegt, dass das Mikrofon anscheinend nur auf Jolson ausgerichtet war und der Dialog womöglich eher ungeplant zustande kam. Wiederum zeigt sich, dass ein Film hören lassen kann, was nicht zu sehen ist, und sehen lassen kann, was nicht zu hören ist: Der unbemerkt das Zimmer betretende Kan-tor unterbricht mit dem laut gerufenen Wort "Stop" den zweiten Teil der Performance seines Sohnes; nach sekundenlanger Stille wird der Film jedoch ironischerweise in Stummfilmmanier mit kompilierter präexistenter Musik fortgeführt und Sprachverständnis ist nur noch mittels Zwischentiteln und expressiver Gestik und Mimik möglich. Auch der Satz "You ain’t heard nothin’ yet!" taucht hier wieder auf, nun freilich im Zwischentitel.

Blackface-Auftritte in Minstrel-Tradition

Szene aus dem Film The Jazz Singer (1927) mit dem Hauptdarsteller Al Jolson. (© picture-alliance, United Archives/ WHA) Jack Robins Blackface-Auftritt im New Yorker Winter Garden deutet mit dem sentimentalen My Mammy- Song auf die Minstrel-Tradition. Blackface-Auftritte waren seit 1904 Teil von Jolsons Bühnenprogrammen und gehörten wie der Song aus dem Jahr 1918, den er im Film singt, zu seinem Standardrepertoire. Speziell bei diesem Song kniete er oft als zentrales Markenzeichen auf einem Bein; im Film singt er sogar seine im Publikum sitzende Filmmutter an. Seine eigene Mutter verlor Jolson dagegen schon in früher Jugend.

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"Blackface" ist eine Theater- und Unterhaltungsmaskerade, hervorgegangen aus der stereotypischen Parodie von Afro-Amerikanern in den Minstrel Shows des 19. Jahrhunderts in den USA, später übernommen in das Vaudeville-Theater. Während Blackface-Maskeraden häufig in rassistisch geprägter Weise das Klischee des naiven, tumben und immer fröhlichen "Negers" transportieren, wird im Jazz Singer damit eher eine besondere innere Affinität der Schwarzen zum Jazz signalisiert und an die Idee von den USA als Schmelztiegel verschiedener Kulturen angeknüpft. Allerdings hat "Jazz" in diesem Film gemäß zeitgenössischem Sprachgebrauch eine ziemlich große Spannweite, es werden Kompositionen vom Ragtime-Song bis zum Tin-Pan-Alley-Schlager darunter gefasst; zudem zeichnet sich die Instrumentierung weniger durch jazztypische Blasinstrumente wie Saxofon, Trompete und Schlagzeug aus als durch eine von Violine und Klavier dominierte Salonorchesterbesetzung.

Al Jolson, "My Mammy" aus: "The Jazz Singer" (USA 1927) (Quelle: YouTube) (https://www.youtube.com/watch?v= reNe1FZkH6k)

Schwarze Kultur oder Anklänge an diese in musikalischer Form wird nicht verkörpert, sondern inszeniert; verdeutlicht wird das zusätzlich durch die Offenlegung des transformativen Prozesses: das Auftragen der schwarzen Rußschicht auf das weiße Gesicht des Sängers, das Aufsetzen der krausen Perücke und das Entfernen derselben nach dem Blackface-Auftritt. Dies ist wiederum ein Verweis auf den "Wechsel von Echtheit und Gemachtheit" sowie eine "Überführung des vermeintlich Authentischen in die Oberflächenstruktur des Entertainments" (L. Gotto).

Der erste Hollywoodfilm mit moderner jüdischer Thematik

The Jazz Singer ist ein deutliches Bekenntnis der Unterhaltungsindustrie zur Unabhängigkeit, künstlerischen Selbstverwirklichung und Assimilation eingewanderter osteuropäischer Juden, was exemplarisch am Typus des sympathisch gezeichneten jüdischen Musikers bzw. Entertainers und am Jazz als zeitgenössischer populärer Musik festgemacht wird. Diesen musikalischen Symbolen des modernen Lebens wird die traditionelle orthodoxe Welt der Ghettos in amerikanischen Großstädten gegenübergestellt, deren Klanglichkeit im Film durch Synagogengesänge und vor allem durch, zumeist kompilierte, exotisch klingende Hintergrundmusik repräsentiert wird. Letztere charakterisiert und bewertet das Leben des Vaters unterschwellig als überholt und fremdartig. Die Musikzusammenstellung insgesamt sowie den exklusiv für diesen Film komponierten und uraufgeführten Song Mother of Mine verantwortete der erfahrene Songkomponist und Vaudeville- Pianist Louis Silvers, wie Irving Berlin (alias Israel Isidore Baline) Sohn jüdischer Immigranten.

Als "vertrauten Topos jüdischer religiöser Musik, der keiner weiteren Erläuterung bedurfte" (Christoph Henzel), verwendete Silvers den jüdischen Gebetsgesang Kol Nidre – durch diverse Melodiearrangements etwa von Max Bruch weithin bekannt. Auch die dem Vater zugeordnete, überwiegend kompilierte Begleitmusik bezieht sich in ihrer Melodik mehr oder weniger deutlich auf das als Inbegriff jüdischer Melodik geltende Kol Nidre. So erklingen zweimal Streicherarrangements des Kol Nidre und fünfmal die ähnlich klingende Hauptmelodie des 4. Satzes aus Édouard Lalos Symphonie espagnole. Die musikalische Charakterisierung der einfältig-liebenswürdig dargestellten jüdischen Gemeindemitglieder mit folkloristischen Holzbläserarrangements, die dem Klischeebild einer orientalisierten Volksmusik genügen und Ausdruckstopoi des Komischen aufgreifen, belegt ebenfalls, dass es Silvers nicht um eine möglichst authentische Darstellung der Musiktraditionen jüdischer Immigranten ging. Er konnte davon ausgehen, dass das zeitgenössische Publikum mehrheitlich keine Kenntnis davon hatte; zudem sollte ja gerade die Fremdheit der orthodoxen Sphäre herausgekehrt werden. Die Verwendung solcher Pseudo-Exotik entsprach der Stummfilmmusikpraxis.

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Al Jolson, "Kol Nidre" aus: "The Jazz Singer" (USA 1927) (Quelle: YouTube) (https://www.youtube.com/watch?v= mTufuWn3jv8)

Jack wird vor allem durch seine Lieder und auch durch die Verwendung ihrer Melodien als rein instrumentale Hintergrundmusik gekennzeichnet. Seine innige Beziehung und Liebe zur Mutter wird über den Anfang von Mother of Mine charakterisiert. Dieser bildet somit eine Art Leitmotiv, das in Abhängigkeit von der Situation in variierter Form (z. B. in Moll) auftaucht. Die Bedeutung erschloss sich dem zeitgenössischen Kinogänger jedoch erst im Nachhinein, da das Motiv bereits sechsmal in der Hintergrundmusik erklungen ist, bevor Jack es in der Generalprobe singt und der Songtext den engen Bezug zur Filmhandlung und zur Mutterliebe verdeutlicht. Auch seine Mutter erhält ein eigenes, mehrfach in ihrem Zusammenhang verwendetes Leitmotiv: Es handelt sich um ein Thema aus Piotr Tschaikowskys Sérenade mélancholique, eingeleitet bei ihrem erstmaligen Erscheinen von der häufig weiblichen Personen zugeordneten Oboe und begleitet von einem Zwischentitel, der sie als liebevolle Mutter charakterisiert. Darüber hinaus enthält Silvers' Musikzusammenstellung ausgiebig Kinothekenmaterial: Hierzu gehört neben spezieller Kinogebrauchsmusik wie Molto agitato von Domenico Savino für bewegte, erregte Szenen auch klassisch-romantisches Repertoire wie Ausschnitte aus Tschaikowskys Romeo und Julia, ein typisches Musikstück für Dramatik.

Als jüdische Immigranten waren die Besitzer von Warner Brothers Pictures, die vier Brüder Jack, Samuel, Harry und Albert Warner (gebürtig Wonskolaser), an den Schwierigkeiten interessiert, auf die jüdische Einwanderer in der Unterhaltungsindustrie trafen. Juden als Entertainer, das stellte wiederum für jüdische Gemeinden ein Problem dar und spaltete die über 4,2 Mio. Juden in den USA (1927). In Hinblick auf den angestrebten gesamtamerikanischen und europäischen Vertrieb und unter Berücksichtigung antisemitischer Tendenzen und der Tatsache, dass die Einwanderungsproblematik vor allem im ländlichen Bereich eher unbekannt war, verpackten sie das Thema jedoch in eine eher unspezifische rührselige Geschichte einer osteuropäischen Einwandererfamilie. Bezeichnenderweise wurde insbesondere der Schluss der Novellenvorlage abgeändert: Versöhnung mit dem Vater und dessen Vertretung als Kantor sind nur ein kurzes Intermezzo in Jacks Karriere in der Unterhaltungsindustrie. Denn auch als Jazzsänger kann er für seinen Gott singen, wie die auf einem Zwischentitel wiedergegebene Aussage Marys behauptet. Jazz erscheint als "moderner Nachfahre der aus der alten Welt stammenden liturgischen Musik und das Showbusiness als neue Religion" (C. Henzel), zugleich wird jüdisches Brauchtum säkularisiert und popularisiert.

"Tonfilm ist Kitsch! Tonfilm ist Einseitigkeit! Tonfilm ist wirtschaftlicher und geistiger Mord!"

The Jazz Singer trug maßgeblich dazu bei, das eigentlich gar nicht so neue Medium Tonfilm auf dem Markt zu etablieren. Die Begeisterung des Publikums für sprechende Protagonisten auf der Leinwand veranlasste Warner Brothers, schon ein Jahr später The Singing Fool als weiteren "Part-Talkie" mit Al Jolson in der Hauptrolle herauszubringen. Dieser Film war trotz vielfältiger berechtigter ästhetischer Kritik, auch an Jolsons schauspielerischen Leistungen, ein noch größerer Kassenerfolg als The Jazz Singer. Der Anteil an "Talkie"-Szenen belief sich im Jazz Singer auf 20 Prozent, in Singing Fool war er doppelt so hoch. Der erste sogenannte All-Talkie, Lights of New York, folgte bereits im gleichen Jahr, ebenfalls produziert von Warner Brothers. Auch andere Studios erwarben nun Vitaphone-System- Lizenzen, um Tonfilme herausbringen zu können. Erst Ende der 1920er Jahre konnte sich das Lichtton- Verfahren durchsetzen, was wiederum eine technische Umstellung zahlreicher Kinos nach sich zog und letztlich den Stummfilm innerhalb weniger Jahre komplett verdrängte, trotz keineswegs einhelliger Begeisterung für den Tonfilm bei Kritik und Filmschaffenden.

Durch diese Umstellung gingen viele kleine Kinos in Konkurs und wurden zahlreiche Kinomusiker

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 169 arbeitslos. So berichtete die Deutsche Instrumentenbauzeitung 1929 über die beunruhigende Situation in den USA: "Das Strandorchester am Broadway hat sein großes Sinfonieorchester auf 14 Mann reduziert. Die neueren Häuser, wie das Capitol, Roxy und Paramount, haben ihre großen Orchester behalten; aber dort ist die Musik einer der Hauptanziehungspunkte für das große Publikum, das sich sonst denselben Film später in einem Nachbartheater ansehen würde. In den kleinen Städten hat sich die Einführung des Tonfilms katastrophaler ausgewirkt. In den kleinen Kinos wird die Begleitmusik von einem aus vier bis sechs Mann bestehenden Orchester ausgeführt. In manchen von diesen hat die Aufführung eines Tonfilms zur Entlassung aller Musiker geführt." Die vielerorts erhobenen Proteste erbrachten einen nur kurzfristigen Aufschub; die Entwicklung war nicht aufzuhalten.

Auswirkungen früher Tontechnik auf Klangästhetik und Einbindung von Ton

Die Vitaphone-Kamera, mit der der Tonfilm "The Jazz Singer" aufgezeichnet wurde, musste von einer schalldichten Kabine umgeben sein, weil sonst das Surren der Kamera mit aufgenommen worden wäre. (© picture-alliance, United Archives/WHA) Grund für die Umstellung von der Nadeltontechnik (z. B. Vitaphone) auf Lichtton-Verfahren war weniger die klangliche Qualität als die Störanfälligkeit. Nicht nur gab es die schon angesprochenen Synchronisationsprobleme bei Filmprojektorstörungen, sondern die verwendete 40 cm große Schellackplatte hatte auch den Nachteil, dass sie eine maximale Speicherlänge von nur zehn Minuten besaß und nach nur 20- bis 25-maligem Gebrauch zu stark abgenutzt war, um noch abgespielt werden zu können. Zudem gab die Abspieldauer der Platte die narrative Struktur des Films vor, denn

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Gesangseinlagen und Dialoge mussten sich in diese einpassen. Üblich war deshalb eine Einteilung in zehnminütige Akte, an deren Ende auf einen anderen Projektor mit angekoppeltem Grammophon überblendet wurde. Obendrein war nur die Aufzeichnung von aktuell ertönenden Klängen (Direktton) möglich, weshalb sich Tonquellen (Orchester, Synchronsprecher oder sänger und Schallerzeuger jeder Art) sichtbar oder bewusst verborgen im selben Raum wie die agierenden Personen befinden mussten.

Bei den frühen Tonfilmen war nur ein relativ statischer Kameraeinsatz möglich, denn die Kameras mussten wegen ihrer Eigengeräusche in klobige, schalldämmende Kabinen verbannt werden. Überdies schränkten Mikrofone, die an bestimmten Stellen des Raumes angebracht waren, die Schauspieler in ihrer Bewegungsfreiheit ein. Da das Tonband noch nicht erfunden war, gab es weder die Möglichkeit der Nachsynchronisation noch des Tonschnitts. Der geplante Bildschnitt musste deshalb schon vor der Aufnahme genau festgelegt werden. Üblich war aus diesem Grund das Drehen mit mehreren Kameras oder das Playbackverfahren.

Eine schalldämmende Ummantelung der Kameras und die Befestigung der Mikrofone an Angeln hoben bei späteren Tonfilmen die Einschränkung der Beweglichkeit von Kamera und Figuren auf. Daher konnten die visuellen Errungenschaften des Stummfilms wieder stärker genutzt werden. Dies ermöglichte zusätzlich die Trennung von Bild- und Tonaufnahme bzw. die Nachsynchronisation.

Im Jazz Singer finden sich in Ansätzen bereits alle wesentlichen Tonpraktiken des klassischen Hollywoodfilms der 1930er und 1940er Jahre, wobei die beiden erstgenannten vor allem im frühen Tonfilm zum Einsatz kamen: (1) selektiver Gebrauch von gesprochener Sprache und Geräuschen; Schaffen einer Tonperspektive durch Erhöhen der Lautstärke des aus der Synagoge herübertönenden, von Jack gesungenen Kol Nidre beim Öffnen des Fensters im Sterbezimmer seines Vaters; (2) Begleitmusik in sinfonischem Tonsatz mit streicherbetontem Klangbild; (3) Mickey Mousing, d. h. exaktes Anpassen von Hintergrundmusik an Bewegungen, z. B. bei Tanzeinlagen der Broadway Show; (4) Leitmotive insbesondere für Al Jolson und seine Filmmutter; (5) Klangbrücken (sound bridges) zum Verknüpfen verschiedener Erzählebenen wie die Rückblende zur Visualisierung von Jacks Erinnerung an seinen Vater beim Konzert des durch Phonograph-Aufnahmen und Vaudeville-Auftritte bekannten Kantors Josef (Yossele) Rosenblatt, der sich selbst spielt; (6) Verschleierung des Stellenwerts der Hintergrundmusik in der filmischen Realität, da teilweise nicht eindeutig zu erkennen ist, ob es sich um einen Bestandteil der Erzählwelt (Diegese) oder einen extern hinzugefügten Fremdton handelt; (7) Verwendung von Onscreen- und Offscreen-Tönen, also von Tönen, die asynchron zum Bild gesetzt sind bzw. deren Quelle außerhalb des Bildes zu verorten ist.

The Jazz Singer, so Silke Martin, "etablierte also nicht nur den Tonfilm bzw. die Synchronisierung von Bild und Ton, sondern auch die Asynchronie von Akustischem und Visuellem." Asynchrone Töne stören nicht die Fiktion, sondern unterstützen die Narration sogar und erweitern das Bild. Sie können die Filmerzählung interessant gestalten, indem sie das Bild nicht einfach verdoppeln, sondern hörbar machen, was nicht sichtbar ist, womit weitere emotionale, kognitive, räumliche und zeitliche Ebenen erschlossen werden. Leider fokussiert sich die fachliche Diskussion häufig einzig auf den Stellenwert von Musik bei der Bildung eines sogenannten dramaturgischen Kontrapunkts, was einen eher selten anzutreffenden Spezialfall von Asynchronie darstellt und der sehr einflussreichen Monografie Theodor W. Adornos und Hanns Eislers zur Komposition von Filmmusik geschuldet ist.

Zwar handelt es sich bei The Jazz Singer weder um den ersten Tonfilm, noch geht es um einen Jazzsänger im heutigen Verständnis, auch verbirgt sich hinter dem Jazzsänger kein echter Afroamerikaner, sondern ein jüdischer Entertainer in Maske, dessen Herkunft aus Osteuropa nur mit pseudoexotischer Musik angedeutet wird. Dennoch liegt hier ein filmhistorisch wichtiges Dokument vor, das gerade durch einerseits neue technische Möglichkeiten und Unzulänglichkeiten, andererseits die Weiterführung von Stummfilmtraditionen eine Initialzündung für die Verwendung von Ton im Film liefern konnte.

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Lesen

Claudia Bullerjahn: Musik zum Stummfilm: Von den ersten Anfängen einer Kinomusik zu heutigen Versuchen der Stummfilmillustration, in: Josef Kloppenburg (Hrsg.): Filmmusik. Geschichte – Ästhetik – Funktionalität, Laaber 2012, S. 23 – 83

Robert L. Carringer: The Jazz Singer, Madison, WI 1979

Deutsche Instrumentenbauzeitung 3 (1929) 97

Michael Freedland: You ain’t heard nothin’ yet: How one sentence uttered by Al Jolson changed the movie industry, in: The Independent, 28.9.2007

Krin Gabbard: Jammin’ at the Margins. Jazz and the American Cinema, Chicago / London 1996

Steven J. Gold: From "The Jazz Singer" to "What a Country!" A Comparison of Jewish Migration to the United States, 1880 – 1930 and 1965 – 1998, in: Journal of American Ethnic History 18 (1999) 3, S. 114 – 141

Eric A. Goldman: The Jazz Singer and its Reaction in the Yiddish Cinema, in: Sylvia Paskin (Hrsg.): When Joseph met Molly. A Reader on Yiddish Film, Nottingham 1999, S. 39 – 48

Douglas Gomery: The Coming of Sound. A History, New York / London 2005

Lisa Gotto: "Trans / formieren". Zum Verhältnis von Bild und Ton in "The Jazz Singer" (Alan Crosland, USA 1927), in: Jazzforschung / Jazz Research 41 (2009), S. 119 – 133

Christoph Henzel:"A Jazz Singer – singing to his God". The Jazz Singer (1927): Musik im "ersten Tonfilm", in: Archiv für Musikwissenschaft 63 (2006) 1, S. 47 – 62

Harald Jossé: Die Entstehung des Tonfilms. Beitrag zu einer faktenorientierten Mediengeschichtsschreibung, Freiburg / München 1984

Jeffrey Knapp: "Sacred Songs Popular Prices": Secularization in The Jazz Singer, in: Critical Inquiry 34 (2008) 2, S. 313 – 335

Silke Martin: Überlegungen zur hybriden Form des vermeintlich ersten Tonfilms The Jazz Singer (USA 1927), in: Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung 3 (2009), www.filmmusik.uni-kiel.de/artikel/KB3- Martinarc.pdf (http://www.filmmusik.uni-kiel.de/artikel/KB3-Martinarc.pdf)

Michael Rogin: Blackface, White Noise. The Jewish Jazz Singer Finds His Voice, in: Critical Inquiry 18 (1992) 3, S. 417 – 453

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Claudia Bullerjahn für bpb.de

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Frauen sprechen hören Aufstieg einer Klanggestalt

Von Claudia Schmölders 3.8.2016 Claudia Schmölders, Dr., habil., Kulturwissenschaftlerin und Schriftstellerin, Privatdozentin am Kulturwissenschaftlichen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin.

"Meine Herren und Damen", begann im April 1928 die Abgeordnete Marie Juchacz ihre Rede vor dem Parlament in Weimar, mit feiner Rücksicht auf die Geschlechterverhältnisse. Sie sprach von den Folgen des Stimmrechts, das in Deutschland seit 1918 auch Frauen zustand. "Durch die Abgabe der Stimme kann jeder Staatsbürger politisch mitwirken", sagte Frau Juchacz und nutzte mit diesem Satz die doppelte Bedeutung des Wortes "Stimme". Seine "Stimme abgeben" heißt ja politische Mitwirkung, auch wenn es nur um ein stilles Kreuzchen auf dem Wahlzettel geht. Redner vor dem Parlament dagegen erheben die physische Stimme, um dasselbe zu tun. Das Nachdenken über die politischen Register der Frau hat lange unter dieser Zweideutigkeit gelitten. Denn so früh die Frauen ihr Stimmrecht erhalten haben und so selbstverständlich sie es seither auch nutzen, so vergleichsweise selten waren sie lange Zeit in der öffentlichen Arena zu hören. Bei Forschungen über historische Klanggestalten wird diese Zweideutigkeit also fatal. Denn wo bleibt in den Darstellungen schließlich die Stimme der Frau, wenn sie weder ertönt ist noch aufgezeichnet wurde? [An dieser Stelle befindet sich ein eingebettetes Objekt, das wir in der PDF-/EPUB-Version nicht ausspielen können. Das Objekt können Sie sich in der Online-Version des Beitrags anschauen: http:// www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/sound-des-jahrhunderts/210097/frauen-sprechen-hoeren] Ihr Browser unterstützt keine iframes.[An dieser Stelle befindet sich ein eingebettetes Objekt, das wir in der PDF-/EPUB-Version nicht ausspielen können. Das Objekt können Sie sich in der Online-Version des Beitrags anschauen: http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/sound-des-jahrhunderts/210097/ frauen-sprechen-hoeren] Ihr Browser unterstützt keine iframes.

Ansprache von Marie Juchacz anlässlich der Reichstagswahl am 20. Mai 1928

Meine Herren und Damen, wenn ich als Frau zu Ihnen spreche, so hoffe ich doch, dass recht viele Männer auf meine Worte achten werden.

Die Frau ist vollberechtigte Staatsbürgerin. Überlegen Sie, was das heißt: es gibt viel mehr Frauen im wahlfähigen Alter als Männer. Durch die Abgabe seiner Stimme am Wahltage kann jeder Staatsbürger politisch mitwirken. Die Tatsache des Frauenwahlrechtes sollte jeden Freund der Sozialdemokratie zwingen, um die Frauenstimmen zu werben. Wenn zum Beispiel auf je 100 für die Sozialdemokratie abgegebenen Männerstimmen nur 90 Frauenstimmen entfallen, dagegen auf 90 deutschnationale Männerstimmen 110 Frauenstimmen abgegeben würden, dann würde der männliche sozialdemokratische Wähler feststel len müssen, dass sein politischer Wille durch den Willen einer Frau seiner eigenen Klasse abgeschwächt wurde.

Das Frauenwahlrecht ist eine Folge der gegen früher ganz veränderten sozialen Lage der Frauen. Es war der Sozialdemokrat August Bebel, der die soziale Stellung der Frau unter der Herrschaft des Kapitals aufzeigte. In meisterhafter Weise wurde von Bebel auf die weltwirtschafliche Bedeutung der Frauenarbeit und ihre sozialen Folgen hingewiesen.

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Wer zweifelt heute daran, dass die Frauen in der Industrie, in Handel und Verkehr, als Staatsbeamte und Angestellte im freien künstlerischen und wissenschaftlichen Beruf eine wichtige Rolle spielen. Eine große Zahl nicht gewerblicher Hausfrauen aber macht erst durch ihre sorgende Arbeit die Arbeitskraft des Ehemannes, der berufstätigen Söhne und Töchter volkswirtschaftlich wertvoll.

Wer zweifelt heute noch daran, dass die Frauen als Käuferinnen die Warenherstellung und den Warenverkehr stark beeinflussen. Ist doch zum Beispiel in Amerika festgestellt worden, dass 80 Prozent aller Einkäufe für den Privatbedarf, einschließlich der Gebrauchsgegenstände für Männer, von Frauen ausgeführt wird. Nichts kann mehr die volkswirtschaftliche Funktion der Frauen beweisen.

Welche Wichtigkeit aber der Frau als Mutter, als Trägerin des Lebens, zukommt brauche ich doch wohl nicht zu beweisen. Es kann nicht oft genug gesagt werden, die Entwicklung stellt an den modernen Staat große soziale Anforderungen. Dieser Staat aber sind wir selbst. Die Versorgung des Volkes mit preiswerten Lebensmitteln und Gebrauchsgütern, die Sozialpolitik, die Bevölkerungspolitik, die Wohnungsfrage, die staatliche Wohlfahrtspolitik sind von außerordentlicher Bedeutung für die gesamte arbeitende Bevölkerung. Demokratie ist Volksherrschaft, ist sie nicht auch Selbsthilfe? Vorbehaltlos, ganz im Interesse der Arbeiterklasse kann nur die Partei der Arbeiter wirken. Das ist die Sozialdemokratie.

"Stimmen des 20. Jahrhunderts" – die Aussage des Archivs

Die Sammlung Stimmen des 20. Jahrhunderts des Deutschen Rundfunkarchivs Frankfurt am Main markiert den Beginn einer Geschichtsschreibung anhand akustischer Quellen. Sie startete im Jahr 1997 zunächst mit 30 CDs, von denen die meisten thematisch orientiert sind und Titel tragen wie: Preußen in Weimar, Der Klang der Zwanziger Jahre, Kapitulation und Wiederaufbau oder Überleben im Nachkriegsdeutschland. Inzwischen sind weitere CDs hinzugekommen. Geschlechterspezifisches Denken war zu dieser Zeit wohl noch nicht wirklich aktuell. So hatte man "Frauenstimmen" in dieser Auswahl so minimal repräsentiert, dass sich die Redaktion entschloss, eine eigene CD unter eben diesem Titel herauszubringen, mit 41 verschiedenen Reden von Frauen zum Thema Emanzipation. Die juristische Idee der Frau, die ein Stimmrecht hat, wurde also mit der physischen Stimmgebung gleichsam zusammengelegt, während die übrigen Frauenstimmen in der Sammlung überwiegend von Sängerinnen oder Schauspielerinnen stammen, die nicht ihre eigenen, sondern fremde Werke vortragen. Selbst die CD Überleben im Nachkriegsdeutschland lässt in 28 Takes nur zwei Frauen zu Wort kommen, davon nur eine aus der Welt der "Trümmerfrauen", denen die westdeutsche Gesellschaft immerhin ihr Überleben verdankt.

Eine Geschichtsschreibung, die sich auf akustische Medien beschränkt, hat feste Grenzen. Einerseits verkürzt sie höchst pragmatisch ihren Zeitraum, denn sie beginnt ja überhaupt erst mit der Erfindung von Speichertechniken, also frühestens im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Andererseits ist sie völlig abhängig von Qualität und Vorhandensein von Aufnahmen überhaupt, wie eben etwa im Feld der Frauenstimme. Allein dieses Vorhandensein entscheidet über die Qualität der historischen Aussage. Der Eindruck jedoch, den man im Deutschen Rundfunkarchiv gewinnt, bestätigt sich bei Recherchen in anderen Archiven und Studien zu diesem Thema. Bis zur Jahrhundertmitte sind die weiblichen Stimmen fast immer unterrepräsentiert, gemessen an der Rolle, welche Frauen in Kunst, Kultur und Politik spielten.

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Die sozialistische Politikerin Rosa Luxemburg während ihrer Rede auf dem Internationalen Sozialistenkongress in Stuttgart, August 1907. (© picture-alliance, akg-images) Dabei bedienen sich, seitdem eine Speichertechnik existiert, die Ethnologen, Volkskundler und Linguisten dieser Technik, um Sprachzustände zu archivieren und traditionelles Erzähl- oder Liedgut aufzubewahren. Doch eines der bekanntesten Archive für Volksstimmen (in Freiburg) teilte auf Anfrage mit, dass auf den frühen phonographischen Aufnahmen nicht festgehalten wurde, ob es sich um weibliche oder männliche Stimmen handelt. Der Unterschied war offenbar unwichtig. Auch in internationalen Sammlungen ist die Frauenstimme so gut wie nicht überliefert, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Das Berliner Lautarchiv etwa hat in seinen drei Abteilungen "Stimmen der Völker", "Deutsche Mundarten" und "Stimmen berühmter Persönlichkeiten" nahezu ausschließlich Männerstimmen gesammelt – verständlich, denn was hier euphemistisch "Stimmen der Völker" genannt wird, sind in Wahrheit Aufnahmen aus Kriegsgefangenenlagern des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Bei den "berühmten Persönlichkeiten" wiederum handelt es sich ausschließlich um Politiker und Wissenschaftler, die schon immer in der Öffentlichkeit eher Gehör fanden als Hausfrauen oder Suffragetten. Auch das Tonarchiv des Landesmedienzentrums Baden-Württemberg hat nur Männerreden weltweit gespeichert: de Gaulle, Kennedy, Weizsäcker, Obama. Keine Margaret Thatcher, keine Golda Meir, keine Benazir Bhutto, keine Indira Ghandi. Selbst die hauseigene Website für Poesie kennt nur männliche Stimmen.

Dabei fing die Geschichte dieser Technik ganz anders an, nämlich "nicht mit Orakeln oder Dichtern", schrieb Friedrich Kittler 1985, "sondern mit Kinderliedern" – genauer mit Mädchenstimmen, die Thomas Alva Edison als erste Stimmprobe auf eine Walze brachte. Aber alsbald folgten Männerstimmen. Zwar besitzt das Wiener Phonogrammarchiv an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften – das älteste im deutschsprachigen Raum – das früheste Zeugnis einer weiblichen Dichterstimme, eine Aufnahme der Marie von Ebner-Eschenbach von 1901. Eine Aufnahme der Schriftstellerin Ricarda Huch aus dem Jahr 1908 ist ebenfalls überliefert. Aber was sich die frühen Studios wirklich wünschten, waren markant sprechende Dichter, und dies lange vor der Erfindung des Radios.

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Nach 1924 etablierten sich dann im Rundfunkprogramm der Weimarer Republik Dichtersendungen, z. B. Der Dichter als Stimme der Zeit, Junge Erzähler, Die Stunde der Lebenden oder Jüngste Dichter. Zwar sprachen damals auch Frauen wie Else Lasker-Schüler, Marieluise Fleißer oder Anna Seghers durchaus häufiger im Radio, aber offenbar wurden sie nicht noch einmal ins Studio eingeladen, um ihre Redebeiträge nachträglich aufzunehmen, was bis 1929 technisch erforderlich war.

Auffällig zurückhaltend mit weiblichen Autoren und damit auch mit der Frauensprechstimme sind selbst noch neuere und neueste Sammlungen dieser Art, etwa die im Münchner Hörverlag von Hajo Steinert herausgegebenen Dichterstimmen mit Texten aus den 1960er, 1970er und Gertrud van Eyseren, die 1980er Jahren. Oder die 2009 erschienene neunteilige Serie Lyrikstimmen. erste weibliche Rundfunk- Von den 122 Autorinnen und Autoren sind nur 20 weiblich, also weniger als Ansagerin in Berlin. Um 1932. (© picture-alliance, 20 Prozent. Im Jahr 2005 unternahm deshalb die Zeitschrift Brigitte einen Imagno) Gegenversuch. Unter dem Titel Starke Stimmen hörte man auf zwölf CDs ausdrücklich nur berühmte Sprecherinnen berühmte Autorinnen lesen, so las Corinna Harfouch etwa Christa Wolf, Iris Berben Françoise Sagan, Elke Heidenreich Dorothy Parker etc. In den Folgejahren wurden die CDs dann aber wieder auf Männer- und Frauenstimmen aufgeteilt – angeblich, weil die meist weiblichen Kunden eben doch lieber Männerstimmen hören. Erklären könnte man dies mit der Tatsache, dass nicht nur Bücher, sondern auch Hörbücher meist von Frauen konsumiert werden, dass hier also vielleicht ein erotisches Kriterium entscheidet.

Die Frauenprosastimme – soll sie vergessen werden?

Ähnlich sparsam mit weiblichen Stimmen verfahren historische Internetseiten, etwa das österreichische Phonogrammarchiv mit seiner Website zu Stimmen des 20. Jahrhunderts. Die chronologisch erste weibliche Sprechstimme stammt hier von der Politikerin Alma Motzko; man hört ihre Brandrede zur Wirtschaftskrise vor dem österreichischen Parlament im Jahr 1932. Weitere Frauenstimmen gibt es erst wieder zehn Jahre später – ausländisch und deutschfreundlich wie Lale Andersen und Zarah Leander, die beide singen. Sprechen darf nur eine einzige Frau, Antonia Bruha, Naziopfer in Ravensbrück. In den nächsten sieben Jahren kennt die österreichische Geschichte wieder nur Männerstimmen; erst 1947 folgt eine Lesung von Ilse Aichinger. Dann gibt es erneut eine längere Pause, bis man 1959 Ingeborg Bachmann sprechen hört und – nach einer Lücke von acht Jahren – Barbara Frischmuth. Die erste politische Frauenstimme nach Alma Motzko von 1932 ist die Hertha Firnbergs, die 1976 als Bundesministerin für Wissenschaft und Forschung zum Thema "Partnerschaft für die Frau" spricht.

Ilse Aichinger - Lesung

Lesungen mit der österreichischen Schriftstellerin Ilse Aichinger zum Anhören und Downloaden auf Lesungen.net für Studio LCB (Moderation: Hajo Steinert, Gesprächspartner: Richard Reichensperger) (Quelle: dichterlesen.net) (http://www.dichterlesen.net/veranstaltungen/studio-lcb-mit-ilse-aichinger-1081/)

Die Ausblendung der weiblichen Sprechstimme in der sogenannten sekundären Oralität der akustischen Medien ließe sich vielleicht noch als skurriler Sonderfall der Historiografie hinnehmen, würde sich diese nicht auch in der wissenschaftlichen Forschung widerspiegeln. In seinem 500-seitigen Buch Die Geschichte der Stimme (1998) meidet der Autor, Karl-Heinz Göttert, das gesamte Feld der tönenden Künste, um sich auf die Geschichte der Rhetorik zu konzentrieren. Rhetorik aber, als Kunst

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 176 der öffentlichen Rede, war immer schon eine Männerdomäne, weil die Frau in der Kirche nach dem Wort des heiligen Paulus zu schweigen hatte: "taceat mulier in ecclesia". Auch auf dem Potsdamer Symposion Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme von 1999 gab es keinen eigenen Vortragstitel über die Stimme der Frau oder gar über ihre Sprechstimme. 2003 erschien die hochgelobte Studie His Master’s Voice des slowenischen Kulturtheoretikers Mladen Dolar, der zwar Franz Kafka, Sigmund Freud und den Mechaniker Wolfgang von Kempelen mit seinem "Schachtürken", also einer Automatenstimme, zusammendachte, der aber von weiblichen Stimmen und den damit womöglich verbundenen ästhetisch-problematischen Perspektiven nichts wissen wollte. Schließlich kennen auch die beiden sonst vorbildlichen Studien von Reinhart Meyer-Kalkus über Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert (2001) sowie Lothar Müller zur Vortragskunst von Goethe bis Kafka (2007) nur Männerstimmen.

"Frauen können doch keine Nachrichten sprechen"

Zwischen der lebendigen Stimme leibhafter Akteure, deren Aufzeichnung und der Forschung über diese Aufzeichnung erstreckt sich das Feld der "sekundären Oralität zweiter Ordnung"; zur ersten gehört die über Radio oder Telefon vermittelte Kommunikation in Echtzeit. Wie stand es hier mit der Frauenstimme? Es überrascht nicht: Auch im Radio sprachen zunächst nur Männer; die Geschichte der Radionachrichten bezeugt es drastisch und international. Die arabische Welt hat erst 1959 überhaupt Frauenstimmen in den Medien zugelassen und selbst die BBC erlaubte erst 1960 einer Frau das Sprechen von drei Nachrichtenblöcken, und das auch nur versuchsweise. Die Abwehr der Programmleiter und offenbar auch der Hörer blieb übermächtig, stärker als selbst in Deutschland. Hier gab es vor 1933 fast ausschließlich männliche Nachrichtensprecher, Frauen wurden auf reine Ansagen oder Frauen- und Kinderfunk reduziert. 1925 betrug der Anteil der Frauen im Pressewesen gerade einmal 2,5 Prozent; 1930 waren im Radio nur vier Ansagerinnen beschäftigt; alle anderen Frauen arbeiteten als Sekretärinnen.

Als Konsequenz der Radioreform von Propagandaminister Goebbels herrschte dann ohnehin Hitlers Stimme beispiellos in sämtlichen Haushalten mit Volksempfängern. Während des Krieges, als die Männer zum Heer eingezogen wurden, mussten die Frauen in Deutschland wie auch in England dann doch plötzlich Nachrichten sprechen, so heftig zuvor auch gegen diese Vorstellung opponiert worden war. Frauen, hieß es, hätten eine zu hohe Stimmlage, sie könnten Sachverhalte nicht sachlich wiedergeben, vor allem keine ernsten, und so fort. Aber es ging – bis der Krieg zu Ende war und die Männer ihre Stellen zurückerhielten.

Erst das Fernsehen nach 1945 ließ erkennen, dass Frauen zwar vielleicht in der akustischen Historiografie fehlen, dafür aber umso lieber visuell erinnert werden. Gerhard Paul hat mit seinem Buch Das Jahrhundert der Bilder – einem visuellen Pendant zum Sound des 20. Jahrhunderts – die entscheidende Differenz sichtbar gemacht: Wenn man Zuschauer statt Zuhörer hatte, dann konnte die weibliche Hälfte der Menschheit nicht mehr verleugnet werden. Und trotzdem dauerte es in Deutschland – anders als in Italien oder der Sowjetunion – mehrere Jahrzehnte bis zum ersten Auftritt einer Nachrichtensprecherin. Zu Beginn der 1950er Jahre gab es dann in der Bundesrepublik zwar schon mehrere Ansagerinnen, darunter so beliebte wie Irene Koss und Petra Krause vom Nordwestdeutschen bzw. Norddeutschen Rundfunk. Doch eine Ansagerin ist keine Nachrichtensprecherin. Sie kam erst 1971 mit Wibke Bruhns in die heute-Sendung des ZDF, während die ARD ihre Tagesschau erst 1976 einer Frau – Dagmar Berghoff – überließ. Letztlich dürfte die visuelle Attraktivität der Sprecherinnen neben ihren Stimmen den Ausschlag gegeben haben. Bundespräsident Carstens verstieg sich jedenfalls zu der Bemerkung, schlechte Nachrichten erfahre er lieber von einer charmanten Frau, das mildere das Ganze doch etwas ab.

Persiflage "Die Fernsehansagerin" mit Trude Herr

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Aus dem Spielfilm "Alle Tage ist kein Sonntag" (D 1959) (Quelle: YouTube) (https://www.youtube.com/ watch?v=xmm5UuuG0Lo)

Frauen - die besseren Telefonistinnen?

Die Mühen des Aufstiegs der hörbaren Frauen im medialen Zeitalter haben aber nicht nur mit einem traditionellen paulinischen Frauenbild zu tun. Sie müssen auch vor dem Hintergrund einer ganz anderen, ausdrücklich technischen Verwerfung dieser Stimme gemessen werden, die man heute freilich als Vorzug erlebt. Immer wieder verworfen und zugleich verwertet wurde dabei das, was man die synaptische Funktion der Frauenstimme nennen könnte, ihre dialogische Kompetenz, die ja weder etwas mit Gesang noch mit Bühnentechnik zu tun hat. Lange vor ihrer Verwendung im Radio wurde die weibliche Sprechstimme mit der Erfindung des Telefons assoziiert, also mit einer beispiellos unsichtbaren und dienenden, dabei aber abgründig synaptischen Funktion.

Als sogenannte Telefonistinnen, englisch: operator, haben Frauen diese technische Kommunikation in ihrer Geburtsstunde begleitet, wenn nicht eigentlich zur Welt gebracht. Amüsant zu lesen sind heute die Schulungsanweisungen, wie die Frau als Telefonistin zu sprechen habe: am besten damenhaft, ladylike, sauber artikulierend, hell und klar, um Missverständnisse zu vermeiden. Anfangs ließ der Beruf noch ganze Sätze zu: "Welche Nummer möchten Sie haben?" "Leider meldet sich niemand." oder "Leider ist besetzt." Es waren kleine Unterhaltungen wie diese, welche die alltägliche Sprechstimme der Frau zur Geltung brachten. War sie angenehm oder sogar erotisch, konnte der Kunde unter Umständen in einen näheren Kontakt zu ihr treten – was wohl auch geschah.

Ingeborg Bachmann

O-Töne von Ingeborg Bachmann im Audiovisuellen Archiv der Österreichischen Mediathek (Quelle: mediathek.at) (http://www.mediathek.at/trefferliste/searchword/czoyMDoiIkJhY2htYW5uLCBJbmdlYm9yZyIiOw==/)

Legenden über gelungene Eheanbahnungen via Telefonvermittlungen sind bis in die 1940er Jahre in Hollywood-Drehbücher eingegangen. Je technischer und schneller die Abläufe aber wurden, desto weniger Freiraum blieb den Frauen, bis sie schließlich nur noch automatenhaft sagen durften: "Die Nummer bitte?", "Kein Anschluss unter dieser Nummer" oder "Besetzt" – kurzum: kein guter Ausgangspunkt für einen Flirt. Dass man den ganzen Berufszweig schließlich nicht wirklich abschaffte, sondern gewinnbringend umwidmen konnte, liegt wiederum auf der Hand. Sexgirls übernahmen das Geschäft. Ihre Stimmen sind in diesem Gewerbe für gute Erträge unentbehrlich, zumal in Zeiten von Aids. Für das Jahr 2000 wurden täglich 30.000 Anrufe in dieser Branche vermutet. Der Sprung ging also von der technischen zur erotischen Synapse, der womöglich ohnehin älteren Version.

Das ausdrucksvollste Denkmal hat dieser Verführung durch eine weibliche Sprechstimme in der frühen Radiozeit von allen Autoren der Dichter Thomas Mann errichtet. In seinem Ägypten-Roman Joseph und seine Brüder (1933 – 1943) gibt er die Unterredung zwischen Joseph und der Frau des Potiphar, Mut, wieder. Die schöne Mut hat sich unsterblich in Joseph verliebt, wagt dies aber erst in einem Gespräch zu gestehen, nachdem sie sich die Zunge halb abgebissen hat. So wird aus ihrer Sprechstimme eine blutig lispelnde, kindliche – während das Motiv der gespaltenen Zunge dem Leser die Schlange aus der Schöpfungsgeschichte aufdrängt. Aber Mut lispelt nicht nur: in Momenten der Aufwallung singt sie laut – auch weil dies weniger schmerzt. Die Stimme der Frau zwischen Kinderlispeln, Gesang und mächtiger Verführung: Diese bürgerliche Männerphantasie dürfte das Aufsteigen und Archivieren der öffentlichen und politischen Prosastimme von Frauen, die als Rechtssubjekte hätten gelten können, bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts behindert haben.

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Hertha Firnberg

Hertha Firnberg - Zum 100. Jahrestag (Quelle: YouTube) (https://www.youtube.com/watch?feature= player_embedded&v=GWf56IM8Ijw)

Das lässt sich bis in die jüngste Theorie verfolgen. Die Urszene einer suggestiven Unmittelbarkeit zwischen Sprecher und Hörer hat in Deutschland wohl zuerst Peter Sloterdijk erkannt und als "Sonosphäre" im Gespräch zwischen Mutter und Kind bezeichnet, zunächst intrauterin, als evolutionäre Hilfe bei der Entwicklung des Gehörs, dann als primäre Interaktion mit Mimik, Gestik, Hautgefühl, kurz: intensiv lebendiger Präsenz.

Stimmliche Primärszenen sind geschlechtlich und individuell konnotiert. Mit dem Aufstieg der sekundären Oralität kommt also ein völlig neues Paradigma zustande. Denn die Stimmen im Telefon, auf der Schallplatte oder dem Tonband lassen zwar jeweils männliche, weibliche und kindliche Obertöne erkennen, haben sich aber von den leiblichen Sprechern gelöst. Sie sind anonym, "akusmatisch" (Michel Chion) geworden; die Assoziation mit einem bestimmten Urheber entsteht erst nachträglich durch Montage. So kommt es zu den zahllosen menschlichen Stimmen nichtmenschlicher Akteure etwa im Zeichentrickfilm von heute. Und ebenfalls heute erlauben die modernen Navigationsgeräte im Auto fast jede Art von Stimmmontage aus sämtlichen sozialen Feldern jener "psychoakustischen Institution" (Sloterdijk), zu der sich unsere Gesellschaft inzwischen entwickelt hat.

Montage erlaubt aber auch die naturalistische Zuordnung weiblicher Akteure zur Stimme, im Tonfilm. Erst also in dieser technoiden Szene konnte die Frauensprechstimme öffentlich vernehmbar und dauerhaft gespeichert werden, denn erst mit dem Aufstieg des Tonfilms ließ sich die sprechende Frau nicht mehr unsichtbar machen, auch wenn die Zuordnung des Sprechakts zu bewegten Bildern von Subjekten durchaus prekär bleibt, man denke nur an den gesamten Bereich der Synchronisation.

… aber schlussendlich doch auch als Stimmbürgerin

Und trotzdem machte zunächst nicht die Prosa sprechende, sondern die teils schreiende, teils singende Frau im Film Karriere, übrigens auch in der Sowjetunion. Anfang der 1930er Jahre kommt hier Stalins Lieblingsgenre, das Musical, voll zur Geltung. Die sogenannten Kolchos-Operetten machten dabei die hohe Technizität des Kinos vergessen, zeigten stattdessen wogende Weizenfelder und singende Frauen bei der Ernte. Mit dem Appell an eine weitgehend analphabetische Landbevölkerung war diese audiovisuelle Revolution das Gebot der Stunde; die Frau wurde dem Volk als Mutter präsentiert.

Ganz anders in USA und in Hollywood, wo mit Hitchcocks Psycho (1960) die schreiende Frau ins Zentrum rückte – paradigmatisch und auf Jahrzehnte hinaus den Duktus der Geschlechterkriege bestimmend, die Edward Albee in seinem Stück Wer hat Angst vor Virginia Woolf (1962) komplettierte. Die deutsche Sprecherin von Elizabeth Taylor in der Verfilmung von 1966 hieß Hannelore Schroth, während Margot Leonhard mit der Gestalt der Marilyn Monroe zunächst ganz andere Botschaften aus Hollywood transportiert hatte (Manche mögens heiß, 1959).

Während die singende oder kreischende oder lasziv flüsternde Stimme im Kino, die Sirene, die Megäre und die Hure, ein Zerrbild jener Figur abgab, die man in der Politik mit der Idee des Stimmrechts verbindet, lieferte das Theater im 20. Jahrhundert ein prachtvolles Gegenstück. Pygmalion hieß das Stück von George Bernard Shaw aus dem Jahr 1913, in welchem der arrogante Sprachwissenschaftler Professor Higgins einem Blumenmädchen die Sprache des Hochadels beibringen und sie zur Herzogin machen will. Der Gesellschaftsbetrug gelingt, aber das Publikum hört nur widerwillig den starken Dialektreden zu und erhält kein Happy End vom Autor. Trotzdem wurde das Stück 1938 verfilmt, 1956

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 179 als Musical aufgeführt und 1964 erneut verfilmt. Die Figur der öffentlich sprechen lernenden, sozial aufsteigenden, dafür auf Liebe verzichtenden Frau hat also ein halbes Jahrhundert hindurch die Emanzipation der "Stimmbürgerin" begleitet, wenn nicht bedroht.

1963 trat die Kampfschrift von Betty Friedan Der Weiblichkeitswahn als millionenfacher Bestseller weltweit neben Simone de Beauvoirs Das andere Geschlecht (1949): Der Feminismus begann seinen Siegeszug. Doch in Deutschland blieben die Strukturen zunächst unverändert, ja wurden zurückgedreht. Als die Stimmen von Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin in das öffentliche Bewusstsein drangen, betrug der Anteil von Frauen im Bundestag 1963 ganze 8,3 Prozent und sank bis 1976 auf 5,8 Prozent ab, trotz einer ersten Präsidentin im Bundestag namens Annemarie Renger (1972), um erst ab den 1980er Jahren, etwa mit Petra Kelly, stetig auf heute 32 Prozent zu steigen. Erst um die Wende der 1990er Jahre haben mehr und mehr Frauen die medienwirksamen Sprecherrollen von Nachrichten- und Talkshowsendungen übernommen: Sabine Christiansen (1987 bis 2007); Sandra Maischberger (seit 1991), Maybrit Illner (seit 1992), Anne Will (seit 1999). Die langwährende Stetigkeit dieser Positionsbesetzungen dürfte nicht zuletzt der Erwartung des Publikums entsprechen, das die dauernd wechselnde Flut der Neuigkeiten wenigstens von vertrauten, wenn nicht geliebten Gesichtern, Stimmen und Körpern vermittelt haben möchte, nach Art aller Fernsehserien.

Heute liegt der Anteil weiblicher Journalisten im Pressewesen in den unteren und mittleren Chargen bei mehr als 60 Prozent, während Frauen als Thema von Nachrichten nicht über 20 Prozent kommen und ihre Präsenz in Führungspositionen noch weit darunter liegt. Dennoch gibt es international einen kontinuierlichen Aufstieg von Frauen in die höchsten politischen Ränge, ergo auch von Frauenstimmen. In Deutschland modelliert Angela Merkels eher farblos nüchterne Stimme die politische Agenda, neben Renate Künast, Claudia Roth, Hannelore Kraft und immer wieder auch Sahra Wagenknecht. Übertönt werden sie alle freilich von den täglichen Auftritten attraktiver Medienfrauen; eine Konkurrenz, die es im Zeitalter medialer Aufmerksamkeit zu bedenken gilt.

Lesen

Judith Baxter (Hrsg.): Speaking Out: The Female Voice in Public Contexts, New York 2006

Das starke Geschlecht, http://mediarevealed.wordpress.com/2006/08/26/das-starke-geschlecht/ (http://mediarevealed.wordpress.com/2006/08/26/das-starke-geschlecht/)

Christa Heilmann (Hrsg.): Frauensprechen – Männersprechen. Geschlechtsspezifisches Sprechverhalten, München/Basel 1995

Inge Marszolek/Adelheid von Saldern (Hrsg.): Zuhören und Gehörtwerden I. Radio im Nationalsozialismus. Zwischen Lenkung und Ablenkung, Tübingen 1998

Stimmen des 20. Jahrhunderts, www.dra.de/publikationen/cds/publika_liste.php?reihe=stim (http:// www.dra.de/publikationen/cds/publika_liste.php?reihe=stim)

Senta Trömel-Plötz (Hrsg.): Gewalt durch Sprache. Die Vergewaltigung von Frauen in Gesprächen, Wien 2004

Susanne Ziegler: Die akustischen Sammlungen – Historische Tondokumente im Phonogramm-Archiv und im Lautarchiv, in: Horst Bredekamp u. a. (Hrsg.): Theater der Natur und Kunst, Leipzig 2000

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Claudia Schmölders für bpb.de

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Rumm rumm haut die Dampframme Großstadtlärm im Spiegel der Literatur

Von Ralph Schock 3.8.2016

Ralph Schock, Dr., Leiter der Literaturabteilung des Saarländischen Rundfunks. E-Mail: [email protected]

Schriftsteller gelten (wie Musiker) als besonders lärmempfindlich. Seit Jahrhunderten finden sich in ihren Werken Klagen über akustische Belästigungen. Schon Horaz führt einige deftige Beispiele dafür an: "In rücksichtsloser Hast kommt ein Bauführer und hetzt seine Maultiere und Träger; […] hier flüchtet ein tollwütiger Hund, dort rennt ein kotbespritztes Schwein: geh hin und sinne da mit Andacht auf klangschöne Verse!" Und Peter Handke, den der Krach, der ihm aus den Gärten rings um seine Pariser "Niemandsbucht" entgegenschallt, in Rage bringt, wird nicht der letzte Schriftsteller gewesen sein, der sich über Lärm aufregt. Allerdings lässt sich in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts etwas Neues konstatieren: Unter dem Einfluss des Futurismus begrüßten Autoren, Musiker und bildende Künstler Lärm als Indikator der Moderne. Und: Akustische Ereignisse wurden nicht mehr nur beschrieben, sondern traten als eigenständige Erzählung in einen literarischen Text ein.

Der Dramatiker, Kritiker und Schachexperte Oskar Blumenthal, wegen der Heftigkeit seiner Verrisse "blutiger Oskar" genannt, schrieb 1906 in seinem Lustspiel Das Glashaus den prophetischen Satz: "Zu dem Großstadt-Lärm gehört eben auch das Großstadt-Ohr." Denn bislang vertraute Hörgewohnheiten und Klangkonventionen hatten sich um die Jahrhundertwende durch Technisierung und Industrialisierung abrupt verändert. Eine weitere unerhörte akustische Attacke auf das menschliche Ohr erfolgte durch die Schlachten des Ersten Weltkriegs. Nicht verwunderlich also, dass der Lyriker Bertolt Brecht gar eine biologische Mutation, die "physiologische Umwandlung unseres Ohrs", prophezeite.

Standbild aus dem Film Ich höre ihre großen Scherben lachen "Metropolis" von (1927) (© picture-alliance, Gusman/Leemage) Eine frühe Beschreibung der metropolaren Reizüberflutung finden wir in Rilkes 1910 erschienenen Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Sie setzen ein mit einer dreifachen Wahrnehmung der Stadt Paris: zunächst mit einer visuellen ("Ich habe gesehen"), gefolgt von einer olfaktorischen ("Die Gasse begann von allen Seiten zu riechen"), schließlich einer auditiven: "Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube. Automobile gehen über mich hin. Eine Tür fällt zu. Irgendwo klirrt eine Scheibe herunter, ich höre ihre großen Scherben lachen, die kleinen Splitter kichern. Dann plötzlich dumpfer, eingeschlossener Lärm von der anderen Seite, innen im Hause. Jemand steigt die Treppe. Kommt, kommt unaufhörlich. Ist da, ist lange da, geht vorbei. Und wieder die Straße. Ein Mädchen kreischt: Ah, tais-toi, je ne veux plus. Die Elektrische rennt ganz erregt heran, darüber fort, fort über alles. Jemand ruft. Leute laufen, überholen sich. Ein Hund bellt. Was für eine Erleichterung: ein Hund. Gegen Morgen kräht sogar ein Hahn und das ist Wohltun ohne Grenzen."

Diese Passage liest sich wie die Beschreibung eines Kunstwerks, des ein Jahr später gleichfalls unter dem Eindruck der Pariser Geräuschkulisse entstandenen Gemäldes Der Lärm der Straße dringt in das Haus von Umberto Boccioni. Allerdings mit einem gravierenden Unterschied: Während Rilke unter

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 182 dem unerträglichen Ansturm des Lärms schier verzweifelte, begrüßten und feierten ihn Futuristen wie Boccioni als Zeichen und Symbol der Moderne. "Wir fühlen wie Maschinen, wir fühlen uns aus Stahl erbaut, auch wir Maschinen, auch wir mechanisiert!", heißt es in einem futuristischen Aufruf vom Oktober 1922.

"Die Kunst der Geräusche" (1913)

Wenn wir eine moderne Großstadt mit aufmerksameren Ohren als Augen durchqueren, dann werden wir das Glück haben, den Sog des Wassers, der Luft oder des Gases in den Metallröhren, das Brummen der Motoren, die zweifellos wie Tiere atmen und beben, das Klopfen der Ventile, das Auf und Ab der Kolben, das Kreischen der Sägewerke, die Sprünge der Straßenbahn auf den Schienen, das Knallen der Peitschen und das Rauschen von Vorhängen und Fahnen zu unterscheiden. Wir haben Spaß daran, den Krach der Jalousien der Geschäfte, der zugeworfenen Türen, den Lärm und das Scharren der Menge, die verschiedenen Geräusche der Bahnhöfe, der Spinnereien, der Druckereien, der Elektrizitätswerke und der Untergrundbahnen im Geiste zu orchestrieren.

"Es stampft und walzt in meinem Sinn / Ich weiß, ich bin, ich bin!"

Zwar waren die Futuristen die Ersten, welche den neuen Sound der Stadt und der Technik vorbehaltlos bejahten; bemerkt und als neue literarische Herausforderung empfunden hatten ihn allerdings bereits Autoren des 19. Jahrhunderts. Während die Natur etwa in Heines Buch der Lieder noch ein verlockend- utopisches Gegenmodell zur Stadt darstellt ("Aus dem wilden Lärm der Städter / Flüchtet er sich nach dem Wald. / Lustig rauschen dort die Blätter, / Lust’ger Vogelsang erschallt.") und Nietzsche die Großstadt pauschal als "gebautes Laster" verdammte, "wo nichts wächst", erkannten Naturalisten und Impressionisten durchaus die neuen Themen: "Volksgewühl, Großstadtlärm, Telegraphendrähte, Fabriken, Bahnhöfe, Eisenbahn, Maschinen, Dampfhämmer rücken in den Kreis des Beschauenswerten", heißt es in einer zeitgenössischen Literaturgeschichte. Die Großstadt im Blick verkündete etwa der Naturalist Arno Holz programmatisch: "Auch hier ist Poesie!" Die Begleiterscheinungen der Industrialisierung wurden allerdings meist als unerträgliche Zumutung empfunden: "Gejohle aus dem Kellerloch, bis an die Dächer ein Gebrause, / O Land der Stille hol mich doch, / Hol den Gefangenen nach Hause", dichtete etwa der im Dezember 1900 gestorbene Berliner Lyriker Ludwig Jacobowski.

Ob beklagt oder gefeiert: Der literarische Erlebnisraum wurde allmählich umfassender. Die bisher meist vorherrschende Gedankenlyrik über Natur, Seele, Liebe, Tod und Vergänglichkeit wurde ergänzt bzw. abgelöst von einer Wahrnehmungslyrik, in deren Zentrum die Darstellung der konkret erlebten Großstadt rückte. "Welch ein Trommelfeuer von bisher ungeahnten Ungeheuerlichkeiten prasselt seit einem Jahrzehnt auf unsere Nerven nieder", klagte 1925 in der Rückschau Kurt Pinthus, der bedeutendste Herausgeber expressionistischer Lyrik, in seinem Essay Die Überfülle des Erlebens. Es waren vor allem die Expressionisten, die die neuen Theorien der Futuristen zu rezipieren begannen. Von einem der Radikalsten unter ihnen, dem in den letzten Tagen des Ersten Weltkriegs im Alter von nur 27 Jahren umgekommenen Arbeiterdichter Gerrit Engelke, erschien posthum ein Gedicht-Zyklus unter dem programmatischen Titel Rhythmus des neuen Europa. Darin ist die Vergewisserung der eigenen Existenz untrennbar an die Insignien der Großstadt gebunden: "Drüben von den hohen Schornsteintürmen flattern / Qualm-Fahnen über meine Lärm-Stadt hin: / Menschenvolle Straßenbahnen rattern / In der Ferne, Automobile knattern / Hart vorbei: es stampft und walzt in meinem Sinn: / Ich weiß, ich bin, ich bin!"

Während bildende Künstler sich anschickten, die Vielfalt und Gleichzeitigkeit optischer und akustischer Sinneseindrücke durch neue Formen wie Montage und Collage auszudrücken, wählten aus dem gleichen Grund expressionistische Lyriker die parataktische Reihung. Der 1915 gefallene August

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Stramm komprimierte gar Gedichtzeilen zu Einzelworten, die wie in einem Aufschrei ausgestoßen und zusätzlich oft mit einem Ausrufezeichen markiert wurden. Nicht zuletzt fand die von dem neuen Medium Film entwickelte Technik des harten Schnitts Eingang in die Lyrik.

"Es gilt, den größtmöglichen Inhalt in die akuteste und zugleich einfachste Form zu bringen", forderte der lothringische Lyriker Yvan Goll. Der Grafiker und (Gelegenheits-)Lyriker George Grosz äußerte die Überzeugung, dass das "vibrierende Getöse der Stadt" ihm "nicht nur den stakkatohaften Stil seiner Zeichnungen, sondern auch seiner Gedichte" diktiere: es "rumort! explodiert! zerplatzt!" Auch Walter Mehring versuchte – in seinem Gedicht berlin simultan –, die optische und akustische Reizüberflutung in der deutschen Metropole zu bündeln.

Doch nicht alle Lyriker der Epoche stimmten in die Lärm-Verherrlichung eines Engelke ein. Wilhelm Lodz etwa dichtete: "Lärm stößt an Lärm. Schmerzhelle Klingeln schellen, / Zersägend das Gehör. Wagen mit Eisen / Erschüttern. Die Elektrische mit grellen / Schleiftönen nimmt die Kurve in den Gleisen." Und der schlesische Lyriker Max Herrmann-Neiße klagte am 28. Oktober 1924 in einem Brief: "Überhaupt bloß mal aus Berlin raus, dessen unerhörtes Gelärm und Autogetriebe ich kaum noch vertrage." Der Journalist und Kritiker Michael Rutschky fand kürzlich ein schönes Bild für jene Klangwolke, die nicht nur das Berlin von heute überwölbt: "Tatsächlich redet die Stadt ununterbrochen von sich selber. Könnte man das Reden sehen, es müsste wie ein Lichtschein sein, der, wenn man nachts durch die dunkle Mark Brandenburg anreist, als erste Emanation der großen Stadt zu erblicken ist."

Blasen, schmettern, dschingdaradada

Die vielen neuen optischen, vor allem aber die höchst unterschiedlichen akustischen Signale der Großstadt in Form von Stimmen und Geräuschen als konstituierende Teile eines literarischen Werkes zu formen, dies gelang auf exemplarische Weise Alfred Döblin in seinem 1929 erschienenen Roman Berlin Alexanderplatz. Doch ist seine Aufmerksamkeit für das Verstörend-Irritierende von Stadtgeräuschen bereits 1915 in seinem "chinesischen" Roman Die drei Sprünge des Wang-lun erkennbar, in dessen "Zueignung" es heißt: "Ein sanfter Pfiff von der Straße herauf. Metallisches Anlaufen, Schnurren, Knistern. […] Die Straßen haben sonderbare Stimmen in den letzten Jahren bekommen. […] Ein Bummern, Durcheinanderpoltern aus Holz, Mammutschlünden, gepresster Luft, Geröll. Ein elektrisches Flöten schienenentlang. Motorkeuchende Wagen segeln auf die Seite gelegt über das Asphalt; meine Türen schüttern. […] Ich tadele das verwirrende Vibrieren nicht. Nur finde ich mich nicht zurecht. Ich weiß nicht, wessen Stimmen das sind, wessen Seele solch tausendtönniges Gewölbe von Resonanz braucht."

Diese Rat- und Hilflosigkeit, dieses Ausgeliefertsein an die von überall einstürmenden Eindrücke der Großstadt bedrängt auch Franz Bieberkopf in Berlin Alexanderplatz. Der Roman hat seit seinem Erscheinen zahlreiche Deutungen erfahren, in denen die Vielzahl sinnlicher Eindrücke durchaus reflektiert wurde: "ein […] Ereignis, das die Augen mit Formen, Farben, Bewegungen, Buchstaben; das die Ohren mit artikulierten Ausrufen sowie dumpfen technischen und menschlichen Geräuschen; das den ganzen Leib mit Erschütterungen und Temperaturen eindeckt", so der Germanist Volker Klotz. Die aus heterogenem Lautmaterial kunstvoll komponierte, außergewöhnliche Polyphonie des Romans wurde allerdings erst in jüngster Zeit entschlüsselt. Dies ist umso erstaunlicher, als auf nahezu jeder Seite des Werkes höchst unterschiedliche Geräusche und Stimmen zu vernehmen sind. Meist nur mit wenigen Worten (oft in verballhornter Form) werden zitiert: Schlager und Volkslieder, politische Parolen und Filmtitel, Zeitungsschlagzeilen und Werbesprüche, Zeitungsinserate und Börsennachrichten, Wirtshausgespräche und Trinksprüche, Abzählreime und Sprichwörter; außerdem populäre Revuecouplets und Gassenhauer, Märsche und Kampf-, Kirchen-, Studenten- und Weihnachtslieder; schließlich gehen Biberkopf Fragmente aus Hausordnungen, Amtsblättern und dem Berliner Adressbuch, aus Gerichtsurteilen, Rezepten und Fahrplänen, nicht zuletzt aus der Bibel im Kopf herum.

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Eine der formalen Innovationen des Romans besteht darin, dass diese höchst disparaten Fragmente nicht mehr an agierende Personen gebunden sind, der Sound selbst wird zur Erzählung: der Roman "singt" sozusagen die Stadt Berlin. Solche nachahmenden Geräuschkulissen etwa für das Rauschen des Windes sind Passagen wie "huh-huah-uu-uh-huh". Oder: "Blasen, schmettern, dschingdaradada: […] Trara, Trari, trara! Schrumm! Dschingdaradada!" für ein Konzert der Heilsarmee. Und "Kille kille. Klapps", wenn eine Türklingel zu hören ist. Das oft zitierte "rumm rumm" der Tag und Nacht hämmernden Dampframmen symbolisiert weit mehr als nur die aggressive Inbesitznahme der Stadt durch die Technik. Das Geräusch durchzieht leitmotivisch den ganzen Roman. Nicht zuletzt wird auch das Denken Biberkopfs von der "Grammatik der niedersausenden Wucht" geformt: Berlin Alexanderplatz, Originalschutzumschlag der einer ununterbrochen auf ihn einwirkenden Kraft, die ihn zu zermalmen sucht. Erstausgabe von 1929 Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/ de/ (Wikimedia, Dipl.- Doch stärker noch als durch technische Geräusche ist Berlin Alexanderplatz Kfm. Thomas Bernhard durch den Sound von Stimmen geprägt; er ist "Ausdruck jenes Innenlebens Jutzas ) benachteiligter (und hier sogar: mit dem Gesetz in Konflikt kommender) Schichten, das nur schwer zur Sprache findet". Komplettiert werden die anonymen Stimmen durch jene des Erzählers, der seinen "stammelnden Figuren […] kommentierend, jenen Sinn entlockt, den sie selbst kaum auszudrücken vermögen". Die Dialoge sind oft fragmentarisch und zusammenhanglos, manchmal bleibt unklar, wer gerade spricht.

Aber nicht nur das oft sprachlose Romanpersonal lässt Döblin auf diese Weise zu Wort kommen, auch die Stadt selbst artikuliert sich. Die Tegeler Strafanstalt etwa, in der Biberkopf einsaß, ist ein "riesige (s) Gefängnis, das immer zittert und wallt und nach ihm ruft". Auch die Presse "redet" in Form von Schlagzeilen auf Biberkopf ein oder eine Behörde mit einem in bürokratischem Amtsdeutsch gehaltenen Ausweisungsbescheid. Er erlebt durch solche akustischen Botschaften aus seinem Umfeld eine Entpersonalisierung, die ihn ängstigt. Denn nicht selten handelt es sich dabei um Diskurse, denen er nicht folgen kann. Seine eingeschränkten intellektuellen Fähigkeiten verwehren es ihm, gesellschaftliche Zusammenhänge zu begreifen: "Texte und Stimmen umgeben die Hauptfigur und den Leser wie ein ununterbrochenes Raunen und Rauschen. Rede, statt Mitteilung zu sein, ist nur noch zu Text gewordener Klang, Sprache ohne Adressaten." (Corbineau-Hoffmann) Den Weg zu (s) einer (Er)Lösung deutet der später zum Katholizismus konvertierte Döblin mit den zahlreichen Bibel- Anspielungen an.

Noch einmal zurück zu Peter Handke: Auf die akustische Folter durch Rasenmäher, Laubsauger und Kettensägen in der Nachbarschaft reagiert er mit einer so hilflosen wie heroischen Geste. Demonstrativ tritt er, sein Schreibgerät in der Hand, "vor die Kammertür", bestrebt, "dort beim Spitzen der Bleistifte mich vernehmbar zu machen, indem ich lautestmöglich in das Spitzgerät blies. Ein anderer Lärm fiel mir nicht ein".

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 185 Lesen

Sabina Becker: Urbanität und Moderne – Studien zur Großstadtwahrnehmung in der deutschen Literatur 1900 – 1930, St. Ingbert 1993

Toni Bernhart: Stadt hören – Auditive Wahrnehmung in Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin, in: LiLi, Stuttgart / Weimar 2008

Dietrich Bode (Hrsg.): Gedichte des Expressionismus, Stuttgart 1966

Bertolt Brecht: Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen, in: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 22, Schriften 2, 1933 – 1942, Frankfurt a. M. / Berlin 1993

Angelika Corbineau-Hoffmann: Kleine Literaturgeschichte der Großstadt, Darmstadt 2003

Peter Handke: Mein Jahr in der Niemandsbucht – Ein Märchen aus den neuen Zeiten, Frankfurt a. M. 1994

Alexander Hunold: Der singende Text – Klanglichkeit als literarische Performanzqualität, in: Wolf Gerhard Schmidt / Thorsten Valk (Hrsg.): Literatur intermedial – Paradigmenbildung zwischen 1918 und 1968, Berlin 2009, S. 187 – 208

Kurt Pinthus (Hrsg.): Menschheitsdämmerung – Symphonie jüngster Dichtung, Berlin 1920

Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in: Sämtliche Werke, Bd. 6, Frankfurt a. M. 1987

Stefanie Stockhorst: Intermediale Erzählstrategien im urbanen Kontext – Mediale Grenzüberschreitungen im Großstadtroman der Weimarer Republik, in: Schmidt/Valk (Hrsg.): Literatur intermedial, S. 115 – 137

Waltraud Wende: Großstadtlyrik, Stuttgart 1999

Julius Wiegand: Geschichte der deutschen Dichtung nach Gedanken, Stoffen und Formen, in Längs- und Querschnitten, Köln 1928

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Ralph Schock für bpb.de

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Roaring Twenties Die populäre Musik der 1920er Jahre

Von Carolin Stahrenberg 3.8.2016

Carolin Stahrenberg, Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.

"Schöner Gigolo, armer Gigolo, / Denke nicht mehr an die Zeiten / Wo du als Husar, goldverschnürt sogar / Konntest durch die Straßen reiten! / Uniform passée, Liebchen sagt: Adieu! / Schöne Welt, du gingst in Fransen. / Wenn das Herz dir auch bricht / Zeig ein lachendes Gesicht / Man zahlt, und du musst tanzen." Es gibt viele verschiedene akustische Manifestationen, die uns angesichts des Liedtextes von Julius Brammer aus dem Jahr 1928 (Musik: Leonello Casucci) in den Sinn kommen können. Denken wir z. B. an die tiefe Stimme der Marlene Dietrich, die melancholisch ihre englische Version Just a Gigolo ins Mikrofon haucht. Oder an den jungen Max Raabe, dessen leicht näselnde Kopfstimme uns den Text eher zackig, mit stark rollendem "r" und prägnanten Konsonanten präsentiert. Oder an Louis Armstrongs unverwechselbare Stimme, der das Lied 1930 in den USA herausbrachte. Drei Stationen eines Schlagers (1930, 1978 und 1989) mit einem jeweils unterschiedlichen Klang. Wie aber gestaltete sich der "originale" Sound der 1920er Jahre? Und wie hörten die Menschen zu dieser Zeit die Musik? [An dieser Stelle befindet sich ein eingebettetes Objekt, das wir in der PDF-/EPUB-Version nicht ausspielen können. Das Objekt können Sie sich in der Online-Version des Beitrags anschauen: http:// www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/sound-des-jahrhunderts/210142/populaere-musik-der-1920er] Ihr Browser unterstützt keine iframes.[An dieser Stelle befindet sich ein eingebettetes Objekt, das wir in der PDF-/EPUB-Version nicht ausspielen können. Das Objekt können Sie sich in der Online-Version des Beitrags anschauen: http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/sound-des-jahrhunderts/210142/ populaere-musik-der-1920er] Ihr Browser unterstützt keine iframes. Die vermutlich erste Einspielung vom Schönen Gigolo ist heute nur wenigen bekannt. Es handelt sich um eine Aufnahme vom 22. August 1929 mit dem Orchester Dajos Béla und dem Refraingesang von Kurt Mühlhardt. Im Gegensatz zu vielen späteren Versionen, die das Lied musikalisch eher der Ballade oder auch dem Swing annäherten (z. B. die bekannte Version von Louis Prima, 1956), steht hier noch deutlich der Tango-Rhythmus im Vordergrund. Ein Hinweis, dass und auf welche Weise zu dieser Musik getanzt wurde? Die Aufnahme ist geprägt von den Nebengeräuschen der alten Grammophonplatte, dem leicht flachen Klang der Streicher, den gedämpften Blechbläsern und dem insgesamt trockenen Eindruck von Schlagzeug und Begleitinstrumenten. Ein dürrer Klang, der sich von der Live-Präsentation durch ein Tanzorchester gravierend unterschieden haben muss. Und doch faszinierte diese Aufnahme die Menschen, weil sie so die Musik an verschiedene Orte "mitnehmen" konnten. Um der populären Musik der 1920er Jahre auf die Spur zu kommen, müssen wir nicht nur fragen, wo und von wem diese Musik gespielt oder gehört wurde; es geht auch darum, sich den Klang der alten Aufnahmen wieder "vor Ohren" zu führen.

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 187 Tanzpaläste, Theater, Bars und Kabarett – Szenen populärer Musik in den 1920er Jahren

Schöner Gigolo: … – Die Geschichte, die das Lied erzählt und die primär über den Refrain vermittelt wird, handelt vom Abstieg eines ehemaligen Soldaten, der sich nach Ende des Krieges sein Geld als Eintänzer verdient: "Man zahlt und du musst tanzen." Das eigentliche Vergnügen wird hier zur lästigen Pflicht, die Arbeit ist anstrengend, erfordert neben tänzerischen Fähigkeiten auch Fremdsprachenkenntnisse, Einfühlungsvermögen und vor allem Ausdauer, wenn der junge, schöne Mann den Damen zu ihrem (Tanz-)Vergnügen zur Verfügung stehen muss. Die Kennzeichnung des Soldaten als ehemaliger Husar, also als Teil der mit prunkvollen Uniformen ausgestatteten Reiterei, deren Mitgliedern neben Tapferkeit, Schnelligkeit, Klugheit und Furchtlosigkeit auch ein anziehendes Wesen und Eleganz nachgesagt wurden, macht den Niedergang noch deutlicher. In seiner Melancholie spiegelt der Text nicht nur Enttäuschung und Lethargie angesichts des für den ehemaligen Soldaten verlorenen Krieges, sondern er passt mit seiner Grundstimmung in die Zeit der beginnenden Weltwirtschaftskrise 1929. Waren für die Besucher die Bars, Theater und Tanzpaläste Orte des Vergnügens und der Erholung, waren sie für Musiker, Sänger und Tänzer mehr oder weniger attraktive Arbeitsorte. Ob Geld verdienend oder Geld ausgebend – von Musik waren hier alle umgeben und alle partizipierten daran, musizierend, (mit-)singend, tanzend oder (zu-)hörend.

"Schöner Gigolo – armer Gigolo" (1929)

Dajos Bela & Tango-Orchester mit Refraingesang (Quelle: YouTube) (https://www.youtube.com/watch? v=nUdoi93Q-vI)

In den Großstädten konzentrierten sich die verschiedenen Vergnügungsetablissements oft in bestimmten Zentren, die in der Nähe von Verkehrsknotenpunkten lagen. In Berlin z. B. hatten sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwei solcher Zentren herausgebildet: Vor dem Ersten Weltkrieg entstand eins rund um den Bahnhof Friedrichstraße, wo sich mit den renommierten Hotels Adlon und Kaiserhof und dem Varieté Wintergarten auch in den 1920er Jahren noch wichtige Stätten von Tanzmusik und populärer Kultur befanden. Aufstrebend und nach dem Ersten Weltkrieg federführend in Sachen Unterhaltung waren die Etablissements im "Neuen Westen" Berlins um den Kurfürstendamm. So berichtete etwa der Publizist Karl Scheffler 1931: "Dort sind […] die großen in Licht glitzernden Kinos, die allabendlich viele 1.000 Besucher aufnehmen und zu bestimmten Stunden entlassen, dicht gedrängt sodann die Restaurants, Konditoreien und Cafés mit ihren im Sommer von Markisen überdachten Vorplätzen, die Tanzlokale und Kabaretts. […] Dort versammeln sich, wie auf einem Korso, die gut Gekleideten, die theatralisch Geschminkten, die Schauspieler und Schauspielerinnen, die freiwillig die Revue des Großstadtlebens agieren. […] Dieses ist die Feierabend-Apotheose der Großstadt, ist der Triumphgesang, den das neue Berlin sich immer wieder von neuem selber singt."

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Werbemaßnahmen für Interpret und Plattenfirma wurden eng miteinander verzahnt - hier ein Plakat von "Friedl" für die Comedian Hamonists / Odeon, ca. 1929, Deutsches Plakat Museum Essen (© picture-alliance/akg) Zwischen den Tanzlokalen, Kabaretts, Bühnen, Cafés und Bars herrschte an solchen Kulminationspunkten ein reger Austausch; sowohl die Künstler als auch das Publikum wechselten zwischen den Orten hin und her. Was auf diese Weise im unmittelbaren Umfeld an Programm- und Repertoireaustausch stattfand, erreichte über die neuartigen Kanäle der Massenkommunikation – Zeitungen, Rundfunk, Grammophonplatten – auch ein weit entferntes Publikum. Die Absatzmärkte wurden im Zusammenspiel verschiedener medialer Strukturen bedient, wie das Beispiel der Vermarktung der bekannten Gesangsgruppe Comedian Harmonists zeigt. Auf die Produktion einer neuen Platte folgten z. B. nicht nur Werbemaßnahmen in Zeitungen, sondern auch Konzerttourneen, für die wiederum die externen Plattenverkaufsstellen warben. Nur die geschickte Nutzung der verschiedenen Medien und Distributionskanäle ermöglichte die erstaunliche Karriere des Ensembles, das bis heute durch Schlager wie Veronika, der Lenz ist da bekannt ist. Solche Schlager wurden in verschiedenen Arrangements auch als Notenausgaben verbreitet, was es Alleinunterhaltern, Caféhausmusikern oder Tanzorchestern ermöglichte, diese in ihr Repertoire aufzunehmen.

"Veronika, der Lenz ist da"

Gesang: Hermann Leopoldi (Quelle: Österreichische Mediathek) (http://www.mediathek.at/ atom/0C9CC905-264-00164-00003610-0C9C1D04)

Die enge Bindung von Song und Interpret, wie wir sie aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kennen, bestand in den 1920er Jahren noch nicht. Oft wurde ein Schlager bereits kurz nach Erscheinen von verschiedenen Plattenfirmen mit unterschiedlichen Orchestern bzw. Interpreten produziert. So war z. B. auch Casuccis Schöner Gigolo Ende der 1920er Jahre auf Schallplatten der Labels Odeon, Elektrola, Parlophone, Beka und Homokord zu hören, es sangen Richard Tauber, Luigi Bernauer oder

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Walter Jurmann und die Orchester von Dajos Béla, Marek Weber, Bernard Etté, das Saxofon-Orchester Dobbri usw. begleiteten.

"Fräulein, bitte woll’n Sie Shimmy tanzen?" – Schlager und Tanzmusik

Schlager und Tanz wurden in den 1920er Jahren mehr und mehr zu einer untrennbaren Einheit. Im Lied vom Schönen Gigolo steht der Tanz nicht nur inhaltlich im Mittelpunkt, indem der Gigolo selbst tanzt und den Frauen als Tanzpartner zu Diensten ist – das Lied ist als Tango auch formal Tanzmusik und erklingt durch die Interpretation von Tanzorchestern, wie dem Orchester Dajos Béla, live oder auf Platte bei Tanzveranstaltungen. Sollte ein Lied populär werden, "einschlagen", so musste es vor allem "tanzbar" sein: "Die Praxis hat bewiesen, dass die Schlager Erfolg haben, die nicht nur musikalisch und textlich dazu geeignet sind, sondern auch den zur Zeit modernen Tanzschritten entsprechen", hieß es dazu 1932 in einer Zeitschrift.

Moderne Tanzschritte – das waren in den 1920er Jahren zunächst (noch aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bekannt) Tango, Boston und Onestep sowie der sich aus Letzterem entwickelnde Foxtrott. 1920 folgte mit dem Shimmy der Vorläufer des Charleston, wie dieser ein Platztanz, bei dem keine eigentliche Fortbewegung im Raum erfolgt. Auch Tänze südamerikanischen Ursprungs wie die Rumba fanden ihren Weg auf das Tanzparkett.

Tatsächlich kam kaum ein Schlager der 1920er Jahre ohne Bezeichnungen wie "Foxtrott", "Valse Boston", "Shimmy", "Tango" oder "Onestep" aus. Mit dem Bezug auf die Tanzformen gingen auch musikalische Veränderungen einher: Sie zeigen sich vor allem in einer stärkeren Betonung des rhythmischen vor dem melodischen Element und in weiteren Einflüssen afroamerikanischer und südamerikanischer Musik. Diese werden gelegentlich auch als "Einbruch des Jazz" bezeichnet und schlagen sich z. B. in Form neuartiger Kombinationen von Musikinstrumenten wie dem Saxofon oder Banjo mit alten Salonorchestertraditionen (Stehgeiger) nieder.

Foxtrott und Shimmy

Orchester Dajos Béla, "Ich bin die Marie von der Haller-Revue" (1928) Gesang: Lea Seidl (Quelle: YouTube) (https://www.youtube.com/watch?v=_1o9xGV1C3w)

Fräulein bitte woll'n sie Shimmy tanzen - Tanzorchester Rosé Petösy aus Emmerich Kálmáns "Die Bajadere" (Quelle: YouTube) (https://www.youtube.com/watch?v=YlMPURNOHq4)

Was aber machte einen Schlager außerdem erfolgreich? Der im Jahr 1926 zu diesem Thema befragte Komponist Ralph Benatzky, der u. a. für einen Großteil der Musik zur Revueoperette Das weiße Rößl verantwortlich zeichnete, stellte musikalische, formale, textliche und marktstrategische Komponenten heraus, ohne diese zu hierarchisieren: "a) die […] natürliche Übereinstimmung von Text und Musik; b) ein möglichst geringer Tonumfang und eine leicht singbare Tonlage; c) ein Ins-Ohr-gehen, aber auch ein Nicht-zu-sehr-ins-Ohr-gehen; d) irgendeine […] unerwartete harmonische oder rhythmische, aber ja nicht melodische Wendung, der Angelhaken, mit dem die Aufmerksamkeit des Hörers gefangen wird; e) eine gute und logisch vorbereitete kurze Vorstrophe; f) die richtige Länge oder Kürze des ganzen Opus; g) der psychologisch richtige Moment des Erscheinens; h) Aufnahmefähigkeit des Marktes, verursacht durch Aktualität des Opus und i) etwas Chance und 1.000 andere Imponderabilien, die sich nicht erklären lassen."

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Zwei der Elemente, die Benatzky (mit einem Augenzwinkern) hervorhebt, erscheinen besonders wichtig und hängen mit außermusikalischen Entwicklungen zusammen. So steht die "richtige Länge oder Kürze" eines Liedes in den 1920er Jahren nicht mehr in einem dramaturgischen oder anderweitigen Kontext, sondern bereits in unmittelbarem Zusammenhang mit der Aufnahmefähigkeit einer Schellackplattenseite, die etwas mehr als drei Minuten Spielzeit (bei den 10-Zoll-Platten) umfasste. Zudem ist mit der "Aktualität des Opus" ein entscheidender Punkt angesprochen, der einen Großteil der Schlager der 1920er Jahre betrifft. "Schlagend" waren sie deshalb, weil sie einerseits aktuell in der Wahl der musikalischen Ausdrucksform (z. B. eines Shimmys oder Tangos) waren, andererseits in ihren Texten an aktuelle Themen anknüpften oder zumindest mit diesen in Joséphine Baker im Verbindung zu bringen waren. So besingen Schlager etwa die noch neuartige berühmten "Bananenrö­ Errungenschaft des Wochenendes (z. B. Weekend, Wochenend und ckchen" in der Pariser Revue "La Folie Du Sonnenschein) oder den Rundfunk (Hallo, hallo, hier Radio). Der Jour", Folies-Bergère, 1926. englischsprachige Song Yes! We have no bananas (Frank Silver / Irving Cohn) (© picture-alliance/akg) kam als Ausgerechnet Bananen zwar schon vor dem Gastspiel der Tänzerin Josephine Baker nach Deutschland (nämlich im Jahr 1923), erhielt aber durch ihren Auftritt im Bananenkostüm einen zusätzlichen Popularitätsschub.

"Kannst du Charleston, tanzt du Charleston"

Deutsche Version von Richard Myers "Go South" aus der Revue "Von Mund zu Mund" von 1926 (Quelle: YouTube) (https://www.youtube.com/watch?v=PhIbR7tcSek)

Aber nicht nur die Aktualität machte einen – mit Blick auf den Erfolg – guten Text aus. Entscheidend war auch der Refrain, wurden doch die Tanzarrangements normalerweise nur mit Refraingesang produziert. Neben Liebesthemen bevorzugte man vor allem in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren Nonsens-Reime, die man sich dank ihres Wortwitzes gut merken konnte (Mein Onkel Bumba aus Kalumba tanzt nur Rumba, Was macht der Maier am Himalaja, Benjamin, ich hab nichts anzuziehn), oder Schlager, die kurze Geschichten erzählten oder versteckte Anzüglichkeiten enthielten (Mein kleiner grüner Kaktus, Mein Mädel ist nur eine Verkäuferin, Veronika, der Lenz ist da).

Die Schlager der 1920er Jahre, die vom Produktionszentrum Berlin aus über Schallplatten und Notenausgaben schon unmittelbar nach Erscheinen ihren Weg ins ganze Reich, ja selbst in abgelegene Gegenden fanden, waren akustischer Ausdruck ihrer Zeit. In der neuen Körperlichkeit, die sich z. B. in den Schütteltänzen äußerte, offenbarte sich nicht nur ein – wortwörtlich ausgeführtes – "Abschütteln" des Korsetts bürgerlicher Zwänge und preußischer Ordnung, sondern wohl auch ein Unbehagen gegenüber der zunehmenden Technisierung und Rationalisierung der Welt: Die Freiheit und Individualität des Tanzes sowie die in Mode kommenden "Hot"- ("heißen" oder "scharfen") Jazz- Improvisationen, in denen sich der Musiker losgelöst vom starren Notentext musikalisch entfaltete, standen dem durch und durch geplanten, industrialisierten Element entgegen. Die neu entdeckte Freiheit des Körpers als Zeichen für eine Natürlichkeit, die sich z. B. auch in Nackttänzen äußerte, bildete ein Gegengewicht zu einer zunehmend von Maschinen und technischen Neuerungen geprägten Realität. Auch die albernen Nonsens-Verse der Schlager können in diesem Sinne als eine Art Gegenbewegung zur als drückend empfundenen Herrschaft der Vernunft empfunden werden.

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 191 Revuen, Operetten … – Revueoperetten! Populäres Musiktheater der 1920er Jahre

Kaum ein Bild hat die Rezeption der populären Kultur der 1920er Jahre so geprägt wie die Fotografien von den Girl-Reihen der großen Ausstattungsrevuen – doch welcher Klang gehörte eigentlich zu den bekannten Bildern der Girls und wie war er in die dramaturgische Konzeption eingebunden?

Ausgehend von der ursprünglich französischen Tradition der Jahresrevuen und unter Aufnahme englischer und US-amerikanischer Einflüsse aus den Music Halls hatte sich in Deutschland mit dem Zentrum Berlin schon vor dem Ersten Weltkrieg der Typus der Jahresrevuen und Revuepossen etabliert. In den 1920er Jahren wurde die dramaturgische Konzeption, die zunächst noch von einer losen Rahmenhandlung zusammengehalten wurde, freier und fügte sich zu einer Reihung von Bildern, die mit großem Ausstattungsaufwand inszeniert wurden und sich höchstens noch assoziativ unter ein Rahmenthema zusammenfassen ließen. Im von Privattheatern dominierten System etablierte zuerst James Klein seine Revuen mit Titeln wie Das hat die Welt noch nicht gesehn oder Donnerwetter 1 000 Frauen in der Komischen Oper (ab 1921). Kurz darauf folgten Herman Haller im Admiralspalast und Erik Charell im Großen Schauspielhaus mit anspruchsvolleren Produktionen.

Musikalisch wie dramaturgisch waren die Revuen so gebaut, dass sich die sogenannten Zugnummern, d. h. die musikalischen Hauptschlager, auskoppeln ließen; ihre Vermarktung ging mit der Produktion Hand in Hand, ihr Erfolg wurde teilweise schon vor Beginn der Aufführungsserie durch das gezielte Engagement von Stars gesichert. Einer war Claire Waldoff, die mit "Berliner Schnauze" krähend ihre Lieder vortrug und in ihrem Aussehen nicht dem Klischee der schönen Revuegirls entsprach. Sie war nicht nur volksnah und komisch, sondern nutzte ihre Popularität auch außerhalb des Theaters als Vorkämpferin für die Emanzipation der Frauen.

Die Auftritte populärer Sänger und Komiker bildeten einen Kontrast zu den opulenten Ausstattungsnummern, die durch Masse statt durch individuelle Künstler wirkten. Neben den Stars wurden auch bekannte Schlager, oft Adaptionen US-amerikanischer Songs, in die Revuen integriert und gezielt im Programmheft beworben. Die Mehrfachnutzung von Text und Musik in unterschiedlichen Kontexten wurde bereits bei der Komposition bzw. der Textproduktion mitgedacht.

Schon im 19. und frühen 20. Jahrhundert waren Bühnenwerke hauptsächlich über die Sekundärrezeption ihrer Musik außerhalb des Theaters bekannt geworden (z. B. in Form von Arrangements oder Drehorgelklängen) – nun verschärfte sich diese Situation angesichts Claire Waldoff, Berliner Sängerin, Schauspielerin und Kabarettistin von Rundfunk und Grammophonplatten nicht nur, sondern wurde auch - Aufnahme um 1927 (© picture- gezielt für Werbemaßnahmen genutzt. Auf den Titeln der Schallplatten alliance, akg) und Notenblätter fand sich der Zusatz "aus der Revue …"; die Musiknummern wiederum wurden strategisch an herausgehobenen Punkten in die Dramaturgie des Theaterabends eingebaut, sodass ein Wiedererkennungseffekt eintreten konnte. Die Bedeutung verschiedener medialer Kanäle für den Erfolg einer Revue ist z. B. aus dem Schlager Ich bin die Marie von der Haller-Revue herauszulesen, der in der Revue Schön und schick gesungen wurde: "Ich bin die Marie von der Haller-Revue, im Tanzen bin ich ein Genie, von mir steh’n Artikel bei Mosse und Scherl, man hält mich sogar für ein Tiller-Girl! Ich bin die Marie von der Haller-Revue, sie seh’n meine Fotografie in der BZ, drunter steht’s fett: Marie von der Haller-Revue!"

Man kennt also das Girl Marie aus der Zeitung, wie die Nennung der Verlagshäuser Mosse und Scherl sowie der Berliner Zeitung BZ im Schlager verdeutlicht, und nicht etwa von der Bühne, wo sie in der Masse der anderen Girls unterging. Die Anspielung auf die berühmtere Tanzformation der Tiller-Girls zeigt zudem, wie auf bereits bekannte Vorbilder Bezug genommen wurde und diese zur Steigerung der eigenen Bedeutung funktionalisiert wurden. Spätestens als ganz Berlin und damit auch das ganze

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Deutsche Reich die Melodie des Schlagers pfiff, sang und dazu Foxtrott tanzte, war die Haller-Revue buchstäblich in aller Munde und die Werbestrategie der Autoren aufgegangen.

Die Dramaturgie der Revue, deren Wesen der Kritiker Hans Heinz Stuckenschmidt einmal als "es ist ihre Form, keine Form zu haben" beschrieb, sowie die selbstverständliche Integration "jazziger", d. h. tanzmusikalischer Musiknummern, hatten enormen Einfluss auch auf andere Bereiche des Musiklebens. Nicht nur das avancierte Musiktheater experimentierte mit neuartigen dramaturgischen Formen und Jazz-Elementen wie z. B Brecht / Weills Dreigroschenoper oder auch Hindemiths Oper Neues vom Tage. Auch in der Operette versuchte man mit Revue-Elementen zu arbeiten. So brachte etwa Hermann Haller 1930 Emmerich Kálmáns Cszardasfürstin als Revue-Operette mit neuen (zusätzlichen) Musiknummern heraus.

Auch Charell experimentierte mit Operetteninszenierungen und produzierte u. a. das Dreimäderlhaus, den Mikado und Die lustige Witwe in Neufassungen. Den größten Erfolg landete er 1930 mit seiner letzten Revueoperette im Großen Schauspielhaus, dem Weißen Rößl, das er anschließend auch in London, Paris und New York inszenierte. Charell erweiterte die Musik des damals bereits als Revue- und Operettenkomponist bekannten Wieners Ralph Benatzky um Schlager von Robert Stolz (Die ganze Welt ist himmelblau), Robert Gilbert (Was kann der Sigismund dafür, dass er so schön ist) und Bruno Granichstaedten (Zuschau’n kann i net). Sie erwiesen sich neben Benatzkys Hauptschlagern (Im weißen Rössl am Wolfgangsee oder Im Salzkammergut, da kann man gut lustig sein) als Zugnummern und trugen wesentlich zum modernen, Jazz-geprägten musikalischen Erscheinungsbild des Stückes bei. Mit seinen heterogenen Elementen wies Das weiße Rößl Merkmale auf, die laut Stuckenschmidt kennzeichnend für die Revue waren, nämlich den "Kontrast, das Gegeneinander und Nebeneinander sensualer Effekte, die Wechselwirkung heterogener Reizeindrücke".

Die "Kurz-Kunst": Kabarett

Die kleinste populäre Musiksphäre in den 1920er Jahren war sicherlich die des Kabaretts. Auch wenn es kein Massenpublikum erreichte, erwies sich sein Einfluss bzw. die Wechselwirkung mit den großen Theatern, den Tanzpalästen und der Filmmusik als bedeutend. Das musikalische Programm im Kabarett der frühen 1920er Jahre war vielfältig: Avantgardistische Tänze einer Anita Berber standen neben Balalaika-Orchestern, Violin-Solovorträgen oder Liedern. Die Chansons wurden gedichtet von Schriftstellern wie Walter Mehring, Kurt Tucholsky, Klabund oder Marcellus Schiffer; die Musik schrieben Komponisten wie Friedrich Hollaender, Werner Richard Heymann oder Mischa Spoliansky, alle drei waren später mit Theater- und vor allem Filmmusiken erfolgreich. Musikalische Beiträge wechselten sich mit Marionettentheater, Einakter oder Stummfilmexperimenten ab.

Das Spektrum der Kabarett-Bühnen reichte von volkstümlichen Vorstadt-Theatern oder dem Linden Cabaret, wo z. B. die oben erwähnte volksnahe Claire Waldoff sang, über Rudolf Nelsons elegant- mondänes Künstlertheater bis hin zu literarisch engagierten und avantgardistisch orientierten Bühnen wie dem "Schall und Rauch" des Regisseurs Max Reinhardt, der "Rampe" der Schauspielerin Rosa Valetti oder der kleinen "Wilden Bühne", die von der Operettensängerin und Schauspielerin Trude Hesterberg geleitet wurde. Die Unternehmen waren meistens kurzlebig. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre erweiterte sich das Spektrum mit dem "Kabarett der Komiker" um eine langlebige und größere Spielstätte, die auch Varieté-Elemente in ihr Programm integrierte. "Die Katakombe", gegründet 1929 vom Kabarettisten Werner Finck, galt als dezidiert politische Bühne in einer Zeit sich verschärfender Krisen.

Das Programm im Kabarett lebte von der Parodie und der Karikatur aktueller Zeitströmungen. So wurden neben Theaterstücken und Revuen auch populäre Schlager zum Ziel des Spotts bzw. Objekt von Umdichtungen. Mit der Beteiligung von Schauspielerinnen und Schauspielern wie Kate Kühl, Kurt Gerron oder Rosa Valetti standen Vertreter des späteren Brecht-Theaters auf der Bühne, deren Persönlichkeiten teilweise noch die Nachkriegszeit prägten. Dass der Klang ihrer Stimmen und ihre Chanson-Interpretationen aus der Nachkriegszeit allerdings nicht einfach mit dem Klang der 1920er

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Jahre gleichgesetzt werden können, zeigen einige der wenigen überlieferten Aufnahmen aus dem Kabarett der Zwischenkriegszeit: So offenbart z. B. das Chanson Charlot, gesungen von Kate Kühl, in einer Aufnahme von 1929 eine deutlich höhere Stimmlage der Sängerin als wir sie von Aufnahmen aus der Nachkriegszeit kennen. Auch die Begleitung mancher Lieder, die ursprünglich nur mit Klavier gesungen wurden, wurde in der Nachkriegszeit neu arrangiert.

Wesentlich ist für die Musik im Kabarett ein Merkmal, welches Werner Richard Heymann für das Kabarettchanson beschreibt und das wir auch im Schlager der 1920er Jahre wiederfinden: "Kabarett wird oft als Kleinkunst bezeichnet, man müsste es eigentlich ‚Kurz-Kunst‘ nennen. Man hat nämlich beim Kabarett keine Zeit. Das wesentlichste Merkmal der Dichtung und Musik beim Kabarett scheint mir zu sein, dass man mitten hineinspringen muss, dass man keine Zeit hat, vorzubereiten, sondern mit beiden Füßen sofort in der zu beschreibenden oder zu erlebenden dramatischen Situation drin sein muss." Die gegen Ende der 1920er Jahre im Schlager-Refrain perfektionierte Prägnanz und Kürze findet sich also bereits zu Beginn der 1920er Jahre im Kabarett, auch wenn hier ein anderer (literarischer) Anspruch damit verbunden wird.

Der "Sound" der 1920er Jahre war in Sachen populärer Musik geprägt von Tanzmusik und Schlager, die sich ihren Weg nicht nur in Tanzpaläste, Bars und Caféhäuser bahnten. Auch kleinere und größere Bühnen bis hin zu Oper und Film wurden von den neuen Klängen angesteckt und integrierten sie in ihr spezifisches Repertoire und ihre Tonsprache. Durch Grammophon und Rundfunk konnten breite Bevölkerungsschichten noch weit von den Aufführungsorten entfernt an populärer Musik teilhaben und diese in ihren Alltag integrieren: die Nadel kratzte auf der Schallplatte, der Radioapparat rauschte, während die richtige Frequenz gesucht wurde, dann erklang aus dem Gerät der neuste Schlager. Auch inhaltlich knüpften die Lieder mit Figuren wie dem Gigolo oder der Verkäuferin an den Alltag dieser Bevölkerungsschichten an. Weiterhin bedeutungsvoll blieb aber auch live gespielte Musik, die allabendlich in unzähligen Kneipen, Ballhäusern, Tanz- oder Kellerlokalen, Bars und Theatern zu hören war. Dort mischte sie sich mit dem Klang der Menge, dem Schleifen der Schuhe auf dem Tanzparkett, den Gläsern, Gesprächen und dem Applaus. So teilten und prägten Musiker und Publikum in den 1920er Jahren den ganz spezifischen "Sound" populärer Musik, den uns die Tondokumente der Grammophonplatten nur eingeschränkt, aber doch zumindest ein wenig wieder lebendig machen können.

Lesen

Nils Grosch: Zur medialen Dramaturgie des populären Musiktheaters in der Weimarer Republik, in: Jessica Nitsche / Nadine Werner (Hrsg.): Populärkultur, Massenmedien und Avantgarde 1919 – 1933, München / Paderborn 2012, S. 239 – 250

Werner Richard Heymann: "Liebling, mein Herz lässt dich grüßen". Der erfolgreichste Filmkomponist der großen UfA-Zeit erinnert sich, hrsg. von Hubert Ortkemper, Berlin 2001

Wolfgang Jansen: Glanzrevuen der zwanziger Jahre, Berlin 1987

Walter Rösler: Das Chanson im deutschen Kabarett 1901 – 1933, Berlin 1980

Christian Schär: Der Schlager und seine Tänze im Deutschland der 20er Jahre. Sozialgeschichtliche Aspekte zum Wandel in der Musik- und Tanzkultur während der Weimarer Republik, Zürich 1991

Karl Scheffler: Berlin. Wandlungen einer Stadt, Berlin 1931

Sabine Schutte (Hrsg.): Ich will aber gerade vom Leben singen … Über populäre Musik vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Ende der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 1987

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Hans Heinz Stuckenschmidt: "Lob der Revue", in: Anbruch 8 (1926), S. 170 – 173

Peter Wicke: Von Mozart zu Madonna. Eine Kulturgeschichte der Popmusik, Frankfurt a. M. 2001

Knud Wolffram: Tanzdielen und Vergnügungspaläste. Berliner Nachtleben in den dreißiger und vierziger Jahren, von der Friedrichstraße bis Berlin W., vom Moka Efti bis zum Delphi, Berlin 1992

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Carolin Stahrenberg für bpb.de

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In Klängen denken Von Stimm- und Gesangswundern

Von Jürgen Kesting 3.8.2016

Jürgen Kesting, Musikkritiker und Fachbuchautor in Hamburg.

"Die menschliche Stimme scheint eine sehr körperliche Demonstration zu sein, körperlicher als der Körper, dem sie entströmt. Die Stimme des Sängers im Konzertsaal überwölbt, verhüllt, ja verdrängt manchmal die Erscheinung des Sängers. Schon der sprechende Mensch ist eine doppelte körperliche Existenz. Oft verwandelt sich der Schweigende vollkommen, sobald er zu sprechen beginnt. Was wir von ihm hören, verändert den Eindruck, den wir hatten, als wir ihn nur sahen. Die Stimme 'geht uns näher'. Sie scheint unmittelbarer zu sein als das Angesicht, die Hand, die ruht. Ja, die Stimme ist eine direkte körperliche Berührung" – so der Schriftsteller Joseph Roth 1929 in seinen Bemerkungen zum Tonfilm in der Essay- und Reportage-Sammlung Panoptikum.

Diva furiosa – Diva dolorosa

Zu Beginn des zweiten Aktes von Richard Wagners Parsifal wird die "Urteufelin! Höllenrose" vom Zauberer Klingsor aus dem Schlaf geweckt. Erwachend stößt Kundry, so sagt der Nebentext, "einen grässlichen Schrei" aus und lässt "ein Klagegeheul, von größter Heftigkeit zu einem bangen Wimmern sich abstufend, vernehmen". Dieser Schrei durchwandert einen Tonraum von fast zwei Oktaven und, in einem metaphorischen Sinn, die Ewigkeit weiblichen Leides. Kundry lebt in der Vorexistenz der Sünderin – sie hat den am Kreuz sterbenden Christus verhöhnt – und in der sich wiederholenden Existenz der erotischen Verlockung. Sie verkörpert, so Hans Mayer, "die Zeitlosigkeit und die reine Gegenwart". Vielleicht lässt sich von dieser Figur, deren künstlerische Darstellung sich einer "naturalistischen Kühnheit im Erkunden und Darstellen schauerlich kranken Maria Callas im Juni 1959 am Londoner Royal Opera Seelenlebens" (Thomas Mann) verdankt, ein neuer oder anderer Blick auf House bei Proben zur Maria Callas richten, nicht nur, weil auch sie "die Zeitlosigkeit und die reine "Medea". (© picture-alliance, dpa-Bildarchiv) Gegenwart" verkörpert. Warum sie und nicht Zinka Milanov, nicht Renata Tebaldi, nicht Victoria de los Ángeles, nicht Montserrat Caballé – warum nicht all diese Schönstimmigen, die eine Fülle des Wohllauts ausgeschenkt haben?

Das ist viel, aber nicht genug. Aus vielen Darstellungen von Maria Callas dringt der Klageschrei der Kundry (die sie zu Beginn ihrer Laufbahn auch gesungen hat). Über ihre dank des Timbres unverwechselbare Stimme, vom Dirigenten Tullio Serafin, ihrem Mentor, als "groß und hässlich" beschrieben, und über ihre technische Virtuosität – ein Können, das ein Mehr-können-als-es-können war – ist alles gesagt. Bekannt ist auch, dass in ihr der Typus der romantischen Primadonna, einst verkörpert von Maria Malibran und Giuditta Pasta, auferstand; und ebenso, dass durch sie die Renaissance der Belcanto-Oper möglich und eine Erneuerung des italienischen Gesangs angeregt wurde. Es war eine Erneuerung im emphatischen Sinne, nicht in dem antiquarischer Historie.

Maria Callas machte spürbar, dass sich in jenen Gestalten die Geschichte weiblicher Empfindungen und unabgegoltenen Leides spiegelt. Ihr Gesang lässt den, der hören will und mit Empathie zu hören

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 196 versteht, nicht los. Diese in jedem Ton, in jedem Seufzer unverkennbare Stimme stellt Gleichzeitigkeit her zwischen dem Lieben und Leiden, den Qualen und Verzweiflungen scheinbar zeitferner Heroinen, wie Medea und Giulia, Amina und Norma, Anna Bolena und Lucia, Violetta und Tosca, und moderner Empfindsamkeit. Ingeborg Bachmann hat dies mit dem Satz verdeutlicht, dass Maria Callas "durchhören ließ durch Jahrhunderte". Wann immer sie die Klangbühne betrat, ließ sie spüren, dass alle erhabenen Melodien unbezwinglich traurig sind. Maria Callas war "a voice in time" – die Stimme des "age of anxiety", also eine politische Stimme.

"A voice in time"

Im Juni 1897 meldete der Sekretär Giacomo Puccinis einen unerwarteten Besucher an, der sich nicht abweisen ließ. Von seinem Klavier aus rief der Komponist: "Chi è lei?" Verlegen lachend trat ein junger Mann ein und antwortete singend: "Chi son? Son un poeta." Der junge Sänger bat darum, sich an der Arie Che gelida manina versuchen zu dürfen, obwohl er nicht sicher war, das hohe C zu erreichen. Und dann sang er so makellos, dass der Komponist voller Rührung rief: "Wer hat dich geschickt? – Gott?!" Der Sänger war der 24-jährige Enrico Caruso.

Legenden sind der Weihrauch der Geschichte und die Episode, die Stanley Jackson in seiner Biografie Giacomo Puccinis erzählt, mag zu jenen gehören, die nicht den Tatsachen entsprechen. Dennoch ist sie, in einem höheren Sinne, wahr. "Du singst wie ein Gott" gehört zu den Leitmotiven der Berichterstattung über den Neapolitaner. Vier Jahre später, nach einer Aufführung von Gaetano Donizettis L’Elisir d’amore im Mailänder Teatro alla Scala, bei der Caruso die Arie Una furtiva lagrima zweimal hatte wiederholen müssen, umarmte Arturo Toscanini den Tenor und sagte zu Giulio Gatti- Casazza, dem Impresario des Theaters: "Per Dio! Se questo Napoletano continua à cantare così, farà parlare di se il mondo intero!" ("Bei Gott! Wenn dieser Neapolitaner weiter so singt, wird die ganze Welt über ihn reden!")

Der italienische Tenor Wieder ein Jahr später, am 11. März 1902, erlebten Alfred Michelis und Fred Enrico Caruso, Aufnahme Gaisberg – als Vertreter der Londoner Gramophone Company auf der Suche von 1895 (© picture- alliance, akg) nach Sängern nach Mailand gekommen – die magnetische Anziehungskraft des damals 29-jährigen Tenors. Sie boten ihm an, zehn Arien auf Platten zu singen. Caruso verlangte ein Honorar von 100 Pfund. Gegen die strikte Anweisung seiner Firma – "Fee exorbitant … forbid you to record" – bat Gaisberg den Tenor in einen Salon des Grand Hotel in der Via Manzoni. Dort ließ Caruso "das flüssige Gold seiner schönen Stimme" in den Trichter fließen. Gaisberg berichtete später, dass seine Gesellschaft mit diesen Aufnahmen in kurzer Zeit einen Gewinn von 13.000 Pfund gemacht habe. A voice in time lautete der Titel des Erinnerungsbuchs, das Fred Gaisberg geschrieben hat. Über Caruso sagte er: "He made the gramophone." Mit einer Inversion: "The grammophone made Caruso." Carusos 238 (publizierte) Aufnahmen, entstanden zwischen 1902 und 1919, verhalfen der Schallplatte zum Durchbruch. Sein Erfolg lockte alsbald viele seiner Kolleginnen und Kollegen vor den Trichter. [An dieser Stelle befindet sich ein eingebettetes Objekt, das wir in der PDF-/EPUB-Version nicht ausspielen können. Das Objekt können Sie sich in der Online-Version des Beitrags anschauen: http:// www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/sound-des-jahrhunderts/210143/stimm-und-gesangswunder] Ihr Browser unterstützt keine iframes.[An dieser Stelle befindet sich ein eingebettetes Objekt, das wir in der PDF-/EPUB-Version nicht ausspielen können. Das Objekt können Sie sich in der Online-Version des Beitrags anschauen: http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/sound-des-jahrhunderts/210143/ stimm-und-gesangswunder] Ihr Browser unterstützt keine iframes.

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 197 "Die Tränen der Bühne sind falsch, sind Trug"

Enrico Caruso wurde dank seiner betörenden und sinnlich glühenden Stimme zum Idol des Publikums und zum Modell (fast) aller italienischen Tenöre des 20. Jahrhunderts. Dank der Platte löste sich der Ruhm von seinem Träger und der Name des Sängers ging ein in die Mythologie des Alltags. Der Komponist Sydney Homer, dessen Frau Louise in New York mehrmals mit Caruso auf der Bühne stand, notierte in seinen 1939 veröffentlichten Erinnerungen: "Bevor Caruso kam, war ich nie einer Stimme begegnet, die der seinen auch nur entfernt ähnelte. Nach ihm habe ich Stimme um Stimme gehört – große und kleine, hoch liegende und tiefe Stimmen –, die sich der seinen, oft gewaltsam, anzugleichen versuchten." Homer beschrieb damit einen kulturindustriellen Prozess: die Mediatisierung der Tenorstimme. Diese fiel zusammen mit einem Stil- und Ausdruckswandel der Musik selbst, die den Charakter einer Massen- ergo Konsumkunst anzunehmen im Begriffe war.

Enrico Caruso singt

Verschiedene Lieder in der National Jukebox (Quelle: US Library of Congress) (http://www.loc.gov/ jukebox/search/results?fq=take_vocal_id%3ACaruso%2C+Enrico&page=1&referrer=%2Fjukebox%2F)

Carusos Karriere begann kurz nach den Uraufführungen von Pietro Mascagnis Cavalleria Rusticana (1890) und Ruggero Leoncavallos Pagliacci (1892), den prototypischen Opern des sogenannten Verismo. Soziologisch gesehen begann mit dem Verismo die musikalische Massenkunst. Er bot, mit einer Denkfigur von Marcel Proust, "das Erhabene von unten". Die Oper blieb nicht länger das Diletto gehobener Stände, sondern wurde Unterhaltung für das breite Publikum oder romantische Kunst für den Konsum von Emotionen.

Zwar dominierten an den großen Bühnen in Italien, England, Russland und Amerika noch Sänger der alten Schule des Belcanto, aber die kompositorischen Neuerungen, vor allem die Affektsprache des Verismo, wirkten sich nachhaltig und nachteilig auf fast alle Sänger aus, deren Karriere zwischen 1900 und 1920 begann. Die einstige Balance zwischen dem Dekorativen und dem Expressiven wurde preisgegeben und ersetzt durch eine Manier, die Affekte mit naturalistischen Mitteln – Seufzern, Schluchzen und Schreien – nachzuahmen versucht. Ausgerechnet die Kunst, die, wie es im Prolog zu Pagliacci heißt, die Tränen der Bühne als Trug bezeichnete, begann, Affekte durch Tränen zu simulieren. Das signifikanteste Beispiele für eine "Melodie", die durch krasse Ausdrucksmittel starke Emotionen auslöste, war Carusos Aufnahme von Canios Lamento Recitar … Vesti la giubba aus Pagliacci von 1907. Das grelle Lachen nach "Bah, sei tu forse un uom?" und der kleine Schluchzer vor beiden Wörtern der letzten Phrase ("il cor") fanden ihr Echo in den Platten der meisten italienischen Tenöre – und finden es bis auf den heutigen Tag.

Was bei Caruso noch den Eindruck eines unmittelbaren Affekts erweckte, geboren aus kontrollierter Spontaneität, verwandelte sich in einen Allzweck-Effekt: in einen "Gefühlsverstärker", der Leidenschaft oder Verzweiflung nachahmt und zugleich die Identifikation mit der Rolle beglaubigen soll. Benjamino Gigli vergießt etwa im Finalgesang des Edgardo aus Lucia di Lammermoor Ströme von Tränen; die Szene des vor Verzweiflung wahnsinnigen Des Grieux am Ende des dritten Aktes von Puccinis Manon Lescaut ("Guardate, pazzo son") beendet er mit "antikischem Heldenjammergeschrei", mit dem er in den 1940er Jahren, als Bote seiner Regierung, bei Konzerten im Berliner Sportpalast die Massen entzündet, wie es die politischen Agitatoren taten.

Die Formulierung "antikisches Heldenjammergeschrei" stammt aus Thomas Manns Erzählung Mario und der Zauberer von 1930 und ironisiert im narrativen Zusammenhang die Exaltationen eines wehleidigen Jungen am Strand. Doch beschreibt sie auch die von unangenehmen Klängen getrübte Atmosphäre im Badeort Torre di Venere, dem Schauplatz der Erzählung. Sie deutet an, dass sich in der Art und Weise des Sprechens die Mentalitätsgeschichte der damaligen Zeit spiegelt: die

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 198 faschistische Atmosphäre, die auf die politische Rede ebenso abfärbte wie auf den sängerischen Stil der Affektzuspitzung, der nichts anderes ist als Demagogie in der Sphäre des Ästhetischen. Denn es gibt einen geheimen, manchmal unheimlichen Zusammenhang zwischen der Macht der Stimmen und den Stimmen der Macht.

Macht der Stimmen – Stimmen der Macht

In einer Betrachtung von 1887 beschreibt Friedrich Nietzsche, wie im politisch erstarkten Deutschen Reich nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870 / 71 die Redeweise preußischer Offiziere die Alltagssprache zu durchdringen begann:

Friedrich Nietzsche

Man gebe acht auf die Kommandorufe, von denen die deutschen Städte förmlich umbrüllt werden, jetzt wo man vor allen Toren exerziert: Welche Anmaßung, welches wütende Autoritätsgefühl, welche höhnische Kälte klingt aus diesem Gebrüll heraus! Sollten die Deutschen wirklich ein musikalisches Volk sein? – Sicher ist, dass die Deutschen sich jetzt im Klange ihrer Sprache militarisieren: Wahrscheinlich ist, dass sie, eingeübt militärisch zu sprechen, endlich auch militärisch schreiben werden. Denn die Gewohnheit an bestimmte Klänge greift tief in den Charakter: – man hat bald die Worte und Wendungen und schließlich auch die Gedanken, welche eben zu diesem Klange passen! aus: Der Klang der deutschen Sprache in Die fröhliche Wissenschaft von 1887

In Thomas Manns Buddenbrooks (1917) erlebt der junge Hanno erschreckt, dass einige Lehrer und Schüler nach dem Krieg von 1870 / 71 einen Jargon sprechen, der "zugleich salopp und schneidig" ist, und dass die Schule zu einem Staat im Staate geworden und dazu bestimmt ist, für die innere Militarisierung der Schüler zu sorgen.

Im kommunikativen Vollzug übernimmt der Sänger nicht nur eine ästhetische Rolle, sondern auch eine soziale. Zu hören ist dies etwa in den Aufnahmen vieler Bayreuther Wagner-Sänger aus den beiden ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts – in einem Singen, das nicht allein der ästhetischen Vermittlung diente, sondern zunehmend im Dienst einer pathos-schweren nationalen Botschaft stand. Welches nationale Selbstwertgefühl das damalige Deutschland aus dem Wahn der kulturellen Überlegenheit zog, hat Hans Rudolf Vaget in seinem Buch Seelenzauber – Thomas Mann und die Musik eindringlich gezeigt. In Bayreuth, und nicht nur dort, entwickelte sich ein Singen aus dem Ungeist eines welterobernden Künstlertums. Ob sich die Sänger oder Dirigenten dessen bewusst waren, ist nicht von Belang; sie waren Repräsentanten oder Partizipanten eines musikalischen Klimas, das sich von der Mentalität der Epoche nicht ablösen lässt, wahrscheinlich diese Mentalität nährte.

Stimmwunder

In seinem Nachruf auf Maria Callas zitiert Walter Legge, der Produzent vieler ihrer Aufnahmen, den Dirigenten Tullio Serafin mit dem Satz: "In meinem Leben habe ich drei Wunder erlebt – Caruso, Ponselle und Ruffo. Daneben hat es einige wundervolle Sänger gegeben." Serafin hat hier, genau besehen, in erster Linie von Stimmen gesprochen und erst in zweiter von Sängern. Fragt man nach Sängern, die eine Richtung gewiesen haben, sind neben Caruso der Bass Fjodor Schaljapin und Maria Callas zu nennen und insbesondere auch Dietrich Fischer-Dieskau. Wunder waren die italo- amerikanische Sopranistin und der italienische Bariton Titta Ruffo durch den einzigartigen klanglichen Reichtum, die opalisierenden Farben und die vibrierende Intensität ihres Singens. Sie erweckten den Eindruck vollkommener Natürlichkeit, weil das ganze technische Können in Natur aufgegangen und zweite Natur geworden war. Das "Material" aber war nicht Selbstzweck, sondern Mittel zur Verwirklichung, so wie technische Fertigkeiten keineswegs leere Virtuosität bedeuten

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 199 müssen.

"Verwirklichung" ist die zentrale Kategorie in Richard Wagners Ästhetik des musikalischen Dramas. Der Sänger bzw. der Darsteller sei, so schrieb er am 20. Juli 1850 an Franz Liszt, "der einzige wahre Künstler. Unser ganzes Dichter- und Komponisten-Schaffen ist nur Wollen, nicht aber Können: Erst die Darstellung ist das Können – die Kunst." Die ersten Wagner-Aufnahmen, die mehr sind als Momentaufnahmen von Sängern, konnten erst in den späten 1920er und 1930er Jahren entstehen, als die Aufnahmetechnik der Musik gerecht wurde. Die Musikdramen waren im Repertoire verankert. Die führenden Bühnen – nicht nur in Deutschland, sondern auch in London und New York – hatten Ensembles mit Sängern aufgebaut, die ihre Technik und ihren Stil an den Werken Wagners entwickelt hatten. Die Jahrzehnte nach 1925 bleiben als eine Hoch-Zeit des Wagner-Gesangs in Erinnerung: durch Frida Leider, Lotte Lehmann, Kirsten Flagstad, Helen Traubel, Lauritz Melchior, Franz Völker, Friedrich Schorr, Alexander Kipnis und viele andere, bei denen der Reichtum der Stimme, deren vollkommene Beherrschung und dazu gestalterische Phantasie – die Fähigkeit, in Klängen zu denken – erst die Verwirklichung ermöglichte.

Gesangswunder

Wie Caruso hat auch Fjodor Schaljapin dem Singen eine neue Richtung gewiesen. Als der Russe 1901 neben Caruso am Mailänder Teatro alla Scala debütierte, wurde er als Sänger und mehr noch als Darsteller zur Sensation. In der Hierarchie des Theaters hat Schaljapin für die Rangerhöhung des Basses gesorgt. Theatergeschichtlich war er der erste herausragende Sänger- Darsteller – und als solcher wichtigster Herold der russischen Oper. Er war es, der zunächst in Moskau und dann in Paris Modest Mussorgskys chef d’œuvre Boris Godunow durchsetzte. Sein Genie lag in einer mimetischen Urkraft. Es ist, wie Richard Wagner in seinem Aufsatz Über Schauspieler und Sänger schrieb, eine produktive Kraft: die Fähigkeit des Darstellers zur Selbstentäußerung zugunsten eines Bildes der bloßen Anschauung, dies aber bei klarster artistischer Kontrolle. Fjodor Schaljapin in der Titelrolle von Modest Mussorgskys Oper Boris Es waren, so sagte der Sänger selbst, "immer zwei Schaljapins auf der Bühne: Godunow nach einem Gemälde von Alexander der singende und spielende und der sich selber dabei beobachtende". Sein Jakowlewitsch Golowin, Biograf Victor Borowski zitiert die Beobachtungen russischer Kritiker, dass "alle 1912 (© picture-alliance, akg) seine Bewegungen der Musik so genau entsprachen, als ob die Musik einer vom Geschehen der Bühne diktierten Aktion oder Position entfließe". Die Idee, einen Charakter aus der eigenen Persönlichkeit zu entwickeln, lag ihm fern. Borowski: "Die Darstellung eines Charakters aus der inneren Welt des Darstellers kann nicht das künstlerische Ziel eines Schauspielers sein. Schaljapin dachte nie darüber nach, wie er dem Charakter ähnelte oder wie er sich, wäre er an Stelle dieses Charakters, verhalten hätte. Stattdessen dachte er über die objektive Existenz und Essenz der dargestellten Figur nach."

Fjodor Schaljapin, "Boris Gudonow" (1928)

Finale aus Modest Mussorgskis Oper (Quelle: YouTube) (https://www.youtube.com/watch?v= r3SFejnWzws)

Der russische Opernchronist Sergej Levik, der neben Schaljapin auf der Bühne stand, hat in seinen Memoiren auf vielen Seiten dessen Intonationen beschrieben, etwa die der ersten Worte des Boris: "Skorbít dúsha!" ("Meine Seele ist schwer"). Sie erklingen mit der tiefdunklen Stimme würgender Angst. "Kakóy-to strakh nevól’ny zlovyéshchim predchúvstviem skovál mnye syérdtse." ("Ein seltsames

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Angstbeklemmen erfüllt mein Herz.") Man muss die Worte nicht verstehen, um die innere Unruhe und Getriebenheit des Zaren zu fühlen. Schaljapin war ein Virtuose der timbralen Nuancierungen und seine Einwirkung auf spätere Bässe wie Ezio Pinza, Alexander Kipnis und Boris Christoff ist kaum zu überschätzen. Wie Caruso gehörte er zu den Unnachahmlichen, die viele Nachahmer gefunden haben.

Die durch Caruso ausgelöste "Mediatisierung" betraf nicht nur die Stimme des Tenors. Durch die Schallplatte wurde die maniera verista – der Stil der Schluchzer und Seufzer (singhiozzo) – allseits durchgesetzt. Dies führte zu einer zunehmenden Verkümmerung jener technischen Mittel, die für den belcantischen Gesang – für Händel und Mozart, Rossini und Bellini – unabdingbar gewesen waren: Legato, Agilität, Triller, Mezza voce und Messa di voce. Vor Caruso – und auch vor Ponselle und Ruffo – gehörten Verzierungen und dynamische Nuancen wie Crescendi, Diminuendi und mezze voci (ihrerseits Verzierungen) zum Arsenal der Sänger. Aber die wenigsten Soprane der 1940er und 1950er Jahre zeigten sich den Ansprüchen der verzierten Musik noch gewachsen. Und ein Tenor wie Mario del Monaco, einer von den "Nachfolgern", kannte nur noch zwei dynamische Grade: Forte und Fortissimo.

Maria Callas sorgte nicht allein für eine Erneuerung des Repertoires, sie erinnerte an die technischen Voraussetzungen für die Ausführung. Dank der von ihr gegebenen Impulse fand der Tenorgesang in den 1960er Jahren in Carlo Bergonzi, Plácido Domingo und Luciano Pavarotti stilistisch differenziertere Sänger. Vor allem bewirkte sie, dass sich Sängerinnen wie die australische Sopranistin Joan Sutherland und die amerikanische Mezzosopranistin Marilyn Horne in den 1960er Jahren zurück in das "Age of Belcanto" begaben, in die Welt der virtuosen Vokalmusik des 18. Jahrhunderts. Ihnen folgten Sängerinnen und Sänger wie Renata Scotto, Montserrat Caballé, Beverly Sills, Teresa Berganza und Samuel Ramey. Dies ermöglichte in den 1970er Jahren die Wiederentdeckung eines Archipels: Gioachino Rossinis und des canto fiorito. Endlich gibt es neben Sängerinnen wie Cecilia Bartoli, Joyce DiDonato und Elina Garança auch brillante Koloratur-Tenöre wie den Peruaner Juan Diego Flórez, der mit seinem silbrigen Tenor in die vokale Stratosphäre aufsteigen kann. Cecilia Bartoli, die zu den Wundern unserer Zeit gehört, kann dank ihres Könnens und ihrer Ausstrahlung – sie gleicht einem Cherub – verborgene Schätze bergen: Musik von Gluck, Vivaldi, Salieri und all den Komponisten, die für die größten Gesangsvirtuosen aller Zeiten geschrieben haben: für die Kastraten.

Maria Callas

"Il dolce suono mi colpì di sua voce" (Quelle: YouTube) (https://www.youtube.com/watch?v= c6Bm2lwnW-0)

"Was heut müde gehet unter, hebt sich morgen neugeboren"

Wenn Größe darin liegt, eine Richtung zu weisen, gehörte Dietrich Fischer-Dieskau zu den Jahrhundertsängern, zugleich zu den Epochenfiguren der Zeit nach dem Kriege. Für die Bildung der ästhetischen Vorstellungen und moralischen Normen, der sozialen und symbolischen Ausdrucksformen hat er keine geringere Rolle gespielt als Heinrich Böll oder Friedrich von Weizsäcker. Wenige Jahre nach Beginn seiner Karriere wurde der Berliner Bariton nicht nur als Genie des Gesangs bewundert. Er war umgeben von der Aura eines Künders, eines Kunstpriesters. Die vom Singen des ernsten, im Habitus strengen Künstlers mit der weichen, resonanten, balsamischen Stimme ausgelöste Erschütterung erklärte sich aus den kollektiven Leiderfahrungen des Krieges. Mit den "schauerlichen Liedern" von Franz Schuberts Winterreise traf er ins Herz von wahl- und qualverwandten Hörern. Er sang mit einer Intensität, die seine Hörer berührte, ja sie verletzte wie Gustav Mahlers "glühend Messer" aus den Liedern für einen fahrenden Gesellen. Viele von uns, so schrieb Ivan Nagel zum 60. Geburtstag des Sängers, "haben mit Dietrich Fischer-Dieskau ein halbes Leben verbracht, wir wüssten weniger ohne ihn oder wir hätten weniger gelebt. Nein, wir hätten, ohne ihn, weniger erlebt." Er hat eine ganze

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Welt erschlossen.

Dietrich Fischer-Dieskau

"Die Winterreise von Franz Schubert" (1960) (Quelle: YouTube) (https://www.youtube.com/watch?v= WA1AQxuRtOI)

"A singularity of Voice" - Komponist Sir Michael Tippett über die Stimme von Alfred Deller

Für mein Ohr hat sie einen besonderen Klang, weil keine emotionellen Nebensächlichkeiten [emotional irrelevancies] uns von der absolut reinen Qualität ihrer Hervorbringung ablenken; es gibt keinen vergleichbaren Klang in der Musik, und wenige andere Klänge sind dermaßen wahrhaftig musikalisch.

Alfred Deller

"Solitude" von Henry Purcell (o.J.) (Quelle: YouTube) (https://www.youtube.com/watch?v= RI3jqcZyEW8)

Im Jahre 1942 wurde Tippett mit einer Komposition für den Cathedral Choir von Canterbury beauftragt. Er gab ihr den Titel Plebs Angelica. In dieser Zeit bearbeitete er eine Ausgabe der Oden und der weltlichen Gesänge von Henry Purcell, die ursprünglich für den mit dem Falsett singenden Counter- Tenor oder Altus geschrieben worden waren. Tippett glaubte, dass es seit rund 150 Jahren keinen solchen Sänger mehr gegeben habe. Doch dann hörte er im Chor der Kathedrale von Canterbury den jungen Alfred Deller (1912 – 1979) und spürte "die Jahrhunderte an sich vorüberziehen". Deller und die Singularity of Voice (Titel einer Biografie) wurden rasch berühmt, obwohl es außergewöhnlichen moralischen Mutes bedurfte, sich mit seiner Art des Singens zu behaupten. Denn der feine, hell lasierte Klang wirkte auf die meisten Hörer anders als auf Tippett – nicht rein, sondern weibisch. Es ist ein Klang von tiefer sexueller Ambiguität, zugleich keusch und sinnlich. Sieht man von dem Amerikaner Russell Oberlin ab, so war Deller lange Zeit der einzige mit dem Mut zu einer klanglichen Ausdrucksform, die in der Popmusik der 1960er Jahre von androgynen Stars wiederbelebt wurde.

Nicht nur in der Popmusik. Der Rückgriff auf die Geschichte in Schallplatten-Reihen wie Das alte Werk erforderte den Einsatz von Counter-Tenören. Diese wurden unverzichtbar, als vor drei Jahrzehnten die Barockoper wiederentdeckt wurde und viele Kastraten-Partien mit Counter-Tenören besetzt wurden, die dank ihrer resonatorisch glänzend geschulten Stimmen auch sehr hohen technischen Anforderungen gerecht werden. Wunderbare Sänger wie Andreas Scholl, David Daniels, Bejun Mehta oder Philippe Jaroussky haben den Status von Stars erreicht.

Warum wurden diese Stimmen so lang vergessen, warum fielen sie aus der Zeit, warum waren sie verpönt? Und weshalb findet unsere Zeit in den changierenden, oszillierenden Klängen dieser Stimmen einen besonderen Reiz? Zweifellos zeugt der Erfolg der Counter-Tenöre von Veränderungen der Mentalitätsgeschichte und der moralischen Empfindungen. Nicht nur im Film, in der Mode, in den Unterhaltungssendungen verfließen die Grenzlinien zwischen dem Weiblichen und dem Männlichen. Was sich in Szene-Veranstaltungen als Bruch mit Tabus präsentiert, erweist sich allerdings oft als das Geschäft mit dem scheinbar Verruchten. Im Opernpublikum ist es insbesondere die Gay-Community, die sich vom Transgestismus dieser Rollen und Stimmen verzaubern lässt. Wo anders und wie anders ist dieser Traum zu träumen als in einer jedem Realismus abholden Kunst, die aufgeht in Liebe und Lust und Schönheit?

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Lesen

Ingeborg Bachmann: Maria Callas, in: dies.: Aus dem Nachlaß, Zürich 1988

Victor Borowski: Chaliapin. A Critical Biography, New York 1988

Peter Giles: The History and Technique of the Counter-Tenor, London 1994

Sydney Homer: My Wife and I. The Story of Luise and Sydney Homer, New York 1973

Stanley Jackson: Monsieur Butterfly. The Life of Giacomo Puccini, New York 1974

Sergej Levik: Memoirs: An Opera Singer’s Notes. Symposium Records, London 1995

Thomas Mann: Leiden und Größe Richard Wagners, in: Thomas Mann. Essays, Frankfurt a. M. 1978

Hans Mayer: Anmerkungen zu Richard Wagner, Frankfurt a. M. 1966

Jerrold Northrop Moore: A Voice in Time. The Gramophone of Fred Gaisberg, New York 1999

Friedrich Nietzsche: Die Fröhliche Wissenschaft, München 1954

Joseph Roth: Bemerkungen zum Tonfilm (1929), in: ders.: Werke, Bd. 3, Köln 1991

Elisabeth Schwarzkopf: On and Off the Record. A Memoir of Walter Legge, London 1982

Hans Rudolf Vaget: Seelenzauber. Thomas Mann und die Musik, Frankfurt a. M. 2006

Richard Wagner: Briefe, hrsg. von H. Kesting, München / Zürich 1983 ders.: Über Schauspieler und Sänger, in: ders.: Gesammelte Werke, Leipzig 1896

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Die Sinfonie der Großstadt Berlin und New York

Von Daniel Morat 3.8.2016 Daniel Morat, Dr., Historiker, Dilthey-Fellow der Fritz Thyssen Stiftung am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin.

Die berühmteste künstlerische Darstellung der vielstimmigen Geräuschwelt Berlins in den 1920er Jahren war ein Stummfilm: Walter Ruttmanns Berlin – Die Sinfonie der Großstadt von 1927. Ruttmann drehte allerdings nicht nur diesen Film, sondern schuf drei Jahre später auch die erste Klangcollage der Radio- und Hörspielgeschichte. Unter dem Titel Weekend hielt er ein typisches großstädtisches Wochenende allein mit Geräuschen fest. Neben der Arbeit hört man den Verkehr, die Konsumwelt der Warenhäuser und die Ruhe der sonntäglichen Fahrt ins Grüne. Besonders der Lärm des Verkehrs und des öffentlichen Lebens war um 1930 nicht nur in Berlin, sondern in allen industrialisierten Großstädten der Welt ein viel diskutiertes Thema. Das zeigt auch das Beispiel New Yorks, wo 1929 eigens eine städtische Lärmbekämpfungskommission eingesetzt wurde. Allerdings bestand und besteht die Geräuschwelt der Großstadt nicht nur aus Verkehrslärm, sondern auch aus Klängen des Vergnügens und nicht zuletzt der Politik.

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Fotomontage aus "Berlin, die Sinfonie der Großstadt" (Walter Ruttmann, 1927) (© picture-alliance/akg) Walter Ruttmanns doppeltes Berlin

Berlin war in den "wilden" 1920er Jahren eine der dynamischsten Großstädte der Welt. Es war nicht nur das industrielle Zentrum und die verkehrs- und bevölkerungsreichste Stadt Deutschlands, sondern auch Reichshauptstadt und Metropole der Künste und des Vergnügens. Zahlreiche Künstler und Literaten ließen sich davon inspirieren und setzten sich in Bildern und Fotografien, Romanen und Reportagen, Filmen und anderen Kunstwerken mit den Besonderheiten des großstädtischen Lebens in Berlin auseinander.

Zu den berühmtesten dieser Werke gehört der 1927 erstmals vorgeführte Montagefilm Berlin – Die Sinfonie der Großstadt von Walter Ruttmann. Der 1887 in Frankfurt am Main geborene Maler begann in den frühen 1920er Jahren mit abstrakten Animationsfilmen zu experimentieren. Berlin – Die Sinfonie der Großstadt war Ruttmanns erster abendfüllender Realfilm. Allerdings hat auch dieser Film keine Erzählhandlung und kommt ohne Schauspieler aus. Er besteht aus einer Vielzahl kunstvoll ineinander montierter Alltagsszenen und Einstellungen, die den typischen Ablauf eines Tages in Berlin darstellen. An die Stelle der Erzählhandlung tritt die sinfonische Struktur, die den Tag vom morgendlichen Erwachen bis zum nächtlichen Vergnügungsrummel in fünf Akte gliedert.

Obwohl es sich um einen Stummfilm handelt, versinnbildlicht der Film durch seine dynamische Schnitttechnik, durch die Bilder des Verkehrs, der Arbeit und des abendlichen Vergnügens nicht nur die visuelle, sondern auch die akustische Reizüberflutung der Großstadt. Zudem arbeitete Ruttmann eng mit dem Filmkomponisten Edmund Meisel zusammen, der die Filmmusik schuf und nach eigenen Aussagen bemüht war, die Klänge der Großstadt in musikalische Klänge zu übersetzen. Im Kinosaal postierten sich einige Musiker des Filmorchesters (unseren heutigen Surround Sound

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 205 vorwegnehmend) auch neben und hinter dem Publikum, sodass dieses ganz in die synästhetische Erfahrung der Sinfonie der Großstadt eintauchen konnte.

Drei Jahre nach Berlin – Die Sinfonie der Großstadt setzte sich Walter Ruttmann erneut künstlerisch mit der Geräuschwelt der Großstadt auseinander, diesmal jedoch unmittelbar im Medium des Tons. Seine Klangcollage Weekend wurde am 13. Juni 1930 um 21 Uhr in der Berliner und der Schlesischen Funkstunde erstmals gesendet. Technisch gesehen handelt es sich bei dieser Collage von insgesamt elf Minuten und 20 Sekunden Länge um einen Tonfilm ohne Bilder, einen "blinden Film", wie Ruttmann sagte. Da die reinen Tonaufzeichnungstechniken der Zeit noch keine Montage erlaubten – sie wurde erst mit dem Magnettonband ab Mitte der 1930er Jahre möglich – nutzte Ruttmann die neu entwickelte Tonfilmtechnik, hielt aber lediglich den Ton der einzelnen Aufnahmen fest und montierte diesen anschließend zu seiner Klangcollage. In der Abfolge von fünf Kapiteln – "Jazz der Arbeit", "Feierabend", "Fahrt ins Freie", "Pastorale", "Wiederbeginn der Arbeit" – hielt er den Verlauf eines typischen Berliner Wochenendes inklusive Fahrt ins Grüne akustisch fest bzw. rekonstruierte er dieses klangkünstlerisch.

Werkbeschreibung

Georg Fischer über Ruttmanns "Weekend" (Quelle: museum.rechtaufremix.org) (https://museum. rechtaufremix.org/exponate/walter-ruttmann-weekend/)

In den ersten Minuten hört man Arbeitsgeräusche – Hämmern, Sägen, metallisches Scheppern, das Stampfen schwerer Maschinen –, sodann Verkehrslärm – einen Zug, Autos, die Trillerpfeife eines Verkehrspolizisten – sowie menschliche Stimmen – ein Kind, das Goethes Erlkönig rezitiert, ein Telefongespräch, einen Warenhausverkäufer –, man hört Musikfetzen, eine Registerkasse, Schreibmaschinentippen. Nach einiger Zeit wird das Tempo der Schnitte langsamer. Fabriksirenen verkünden das Ende der Arbeit, Pulte werden zugeklappt, man hört Kichern, Abschiedsrufe, Kirchenglocken. Es folgen die "Fahrt ins Freie" (Autohupen und Fahrgeräusche) und die "Pastorale" mit Naturgeräuschen, aber auch mit Gesang (Das Wandern ist des Müllers Lust, Ein Prosit der Gemütlichkeit), Kinderversen, Marsch- und Kirchenmusik sowie abermals Kirchenglocken. Ein Wecker, Telefonklingeln und erneut Fabriksirenen signalisieren in der letzten Minute den "Wiederbeginn der Arbeit", der an die Geräusche aus der ersten Sequenz "Jazz der Arbeit" anknüpft.

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Walter Ruttmann (m.), Regisseur und Autor von "Berlin - Sinfonie der Großstadt", mit Lotte Reiniger bei der Durchsicht seines Filmes. (© picture-alliance/akg) Die Klangcollage Weekend wurde bei Weitem nicht so bekannt wie Ruttmans Berlin-Film. Laut Wolfgang Hagen wurde das Stück nur einmal im Radio gesendet und ein halbes Dutzend Mal öffentlich aufgeführt, um dann für viele Jahre in Vergessenheit zu geraten. Erst in den 1990er Jahren wurde es wiederentdeckt, nicht nur als avantgardistisches Hörspiel, sondern auch als frühe Vorform des Samplings, also der vor allem im Hip-Hop beliebten Technik, Versatzstücke älterer Tonaufnahmen zu neuen Musikstücken zusammenzusetzen. Im Jahr 2000 würdigte eine Reihe von DJs aus der Elektroszene Ruttmanns Pionierleistung mit einem Ruttmann Remix. Weekend ist jedoch nie in den Kanon der ikonischen Großstadtwerke aufgenommen worden. Tatsächlich spiegelt es auch nicht im selben Maße wie Berlin – Die Sinfonie der Großstadt die Faszination des pulsierenden Großstadtlebens. Der längere Teil ist nicht den Großstadtgeräuschen gewidmet, sondern der relativen Ruhe des im Grünen verbrachten Sonntags.

Zudem offenbart das Hörstück Ruttmanns hohen künstlerischen Anspruch; er folgte eher einem formalistischen als einem dokumentarischen Ideal. Weekend ist daher nicht einfach ein Tondokument der Großstadtgeräusche im Jahr 1930, sondern eine hochgradig stilisierte künstlerische Auseinandersetzung mit diesen. Als solche spiegelt es zum einen die Tatsache, dass auch die Fahrt ins Grüne am Wochenende integral zum Großstadtleben gehörte. (Ähnlich zeigt dies der ebenfalls 1930 uraufgeführte neusachliche Film Menschen am Sonntag.) Zum anderen verdeutlicht das Stück, dass die akustische Welt der Großstadt nicht einfach aus Lärm bestand, sondern aus dem Nach- und Ineinander unterschiedlicher Geräusche und unterschiedlicher Geräuschpegel. Ruttmann hatte ein Gespür für die musikalische und rhythmische Struktur dieses Ineinanders der Alltagsgeräusche, für die Abfolge schneller und langsamer, lauter und leiser, mechanischer und organischer Geräusche in der Großstadt, und verdichtete sie in seiner Hörcollage zu einem elfminütigen Kunstwerk. In der öffentlichen Diskussion über die Geräuschwelt der Großstadt ging es aber selten um deren

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 207 musikalische Struktur; im Vordergrund stand zumeist der Lärm.

Film: "Menschen am Sonntag" (1929)

Robert Siodmak / Edgar G. Ulmer (Quelle: archive.org) (https://archive.org/details/ peopleOnSundaymenschenAmSonntag1930)

Die Stadt und der Lärm

Dass Städte laut sind, ist ein Gemeinplatz, der nicht nur auf moderne Großstädte zutrifft. Als Zentren von Handwerk, Handel und Verkehr waren Städte auch schon in früheren Jahrhunderten von den unterschiedlichsten Geräuschen erfüllt und damit lauter und vielstimmiger als ländliche Lebensräume. Durch das rasante Wachstum der Städte im 19. Jahrhundert und die Metropolenbildung um 1900 veränderten sich Charakter und Struktur der Großstädte allerdings grundlegend. Dadurch stellte sich auch die Lärmproblematik in neuer Weise. So formierten sich schon um 1900 in den meisten Großstädten der industrialisierten Nationen bürgerliche Antilärmvereinigungen. Während des Ersten Weltkriegs kam diese erste Welle der großstädtischen Lärmbekämpfung weitgehend zum Erliegen.

Nach dem Krieg schritt die Motorisierung und Elektrifizierung des Verkehrs und damit die Technisierung des Lärms weiter voran. Während etwa der Straßenlärm in New York kurz vor der Jahrhundertwende, so eine zeitgenössische Beobachtung, in erster Linie von Pferdewagen, Händlern, Straßenmusikern, Klingeln und Tieren verursacht wurde und damit weitgehend organischen Ursprungs war, katalogisierte das New Yorker Gesundheitsamt 1930 in einer Bestandsaufnahme des "City Noise" hauptsächlich technische Geräuschquellen wie Autos, Züge und Straßenbahnen, Bauarbeiten, Lautsprecher und Radios. Zugleich erlaubten neue Messverfahren und der Fortschritt in der Elektroakustik nun objektivierende und quantifizierende Bestimmungen des Lärms. Ein entscheidender Schritt war die Einführung des Dezibels als Messeinheit für Schalllautstärke im Jahr 1925. Die amerikanische Technik- und Wissenschaftshistorikerin Emily Thompson spricht deshalb von einer Verwissenschaftlichung der Lärmbekämpfung in der Zwischenkriegszeit.

Ein gutes Beispiel dafür war die 1929 vom New Yorker Gesundheitsamt eingesetzte Lärmbekämpfungskommission (Noise Abatement Commission). In ihr waren neben städtischen Beamten und Vertretern der Industrie in erster Linie Ärzte, Physiologen, Neurologen und Akustikingenieure vertreten. Unter deren Anleitung ließ die Kommission standardisierte Umfrageformulare an die Bevölkerung verteilen und entsandte einen Lärmmesswagen, der an 138 Punkten die Belastungen registrierte und so eine Art Lärmkarte New Yorks erstellte. 1930, im selben Jahr, in dem Walter Ruttmanns Weekend erstmals ausgestrahlt wurde, legte die Kommission ihren 300-seitigen Bericht unter dem schlichten Titel City Noise vor. In ihm wurden die genauen wissenschaftlichen Verfahren der Lärmmessung und -bestimmung sowie die Ergebnisse der durchgeführten Messungen und Befragungen dargelegt. Die zahlreichen wissenschaftlichen Schaubilder und Tabellen sind zum Teil nur für Experten verständlich. Gleichwohl richtete sich der Bericht auch direkt an die New Yorker Bevölkerung, klärte über die gesundheitlichen Folgen des Lärms auf und gab Hinweise, wie unnötiger Lärm zu vermeiden sei. Die ebenfalls enthaltenen Fotos und Karikaturen unterstreichen seinen volksaufklärerischen Charakter.

Zu den vorgeschlagenen und von der Kommission eingeleiteten Maßnahmen gehörten technische Verbesserungen, beispielsweise bei der Dämmung der Straßen und Gebäude, der Dämpfung der Fahrgeräusche von Autos und Stadtbahnen oder der Verkehrsführung und -kontrolle. Die Vorschläge zielten zudem auf die Verhaltensweisen der Stadtbewohner, die durch Aufklärung und notfalls durch Verordnungen dazu gebracht werden sollten, etwa auf unnötiges Hupen oder lautes Radiohören zu verzichten.

Mit dieser Erziehung zu einem rücksichtsvollen Verhalten im öffentlichen Raum – und z. B. auch durch

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 208 die Einrichtung von Ruhezonen um Schulen oder Krankenhäuser – knüpften die Lärmschutzbemühungen der New Yorker Kommission an Antilärmkampagnen der Jahrhundertwende an. Weder die Technisierung des Lärms noch die Verwissenschaftlichung seiner Bestimmung oder die objektivierenden Messverfahren änderten also etwas an der grundlegenden Tatsache, dass Lärm ein soziales Phänomen ist und immer dort zum Problem werden kann, wo viele Menschen auf engem Raum zusammenleben. Diese Dimension des Lärms besteht unter anderem darin, dass die gleichen Geräusche von verschiedenen Menschen ganz unterschiedlich bewertet werden können. Was für den einen eine Lärmbelästigung ist, ist für den anderen Wohlklang oder gar Musik. So schrieben in Reaktion auf den Bericht der New Yorker Lärmschutzkommission auch manche Kommentatoren, dass es doch gerade das Laute und Vielstimmige sei, was für viele den Reiz des Großstadtlebens ausmache. Diese positive Bewertung der großstädtischen Geräuschwelt findet man auch für Berlin.

Großstadttreiben

1927 veröffentlichte Eugen Szatmari als ersten Band der neuen Reihe Was nicht im Baedeker steht das Buch von Berlin. Dieser neuartige Reiseführer sollte nicht in erster Linie die Geschichte und die Baudenkmäler Berlins darstellen (wie das der klassische Baedeker tat), sondern an das "Berliner Leben" heranführen. Szatmari empfiehlt seinen Leserinnen und Lesern daher an ihrem ersten Tag in Berlin zunächst einen "Vormittagsspaziergang durch Berlin", der in die belebten Zentren des Verkehrs und der Warenwelt führt: die Einkaufsgegend der Leipziger Straße, den Verkehrsknotenpunkt des Potsdamer Platzes, das neue Zentrum im Westen um den Bahnhof Zoo und den Kurfürstendamm. Berlin zu erleben hieß vor allem, den Verkehr und das geschäftige Treiben auf den Straßen zu erfahren. Ab 17 Uhr begann das Vergnügungsleben, zunächst mit einem Tanz-Tee, bei dem der allgegenwärtige Modetanz Charleston getanzt wurde. Später am Abend ging man ins Theater, Kino, in ein Konzert oder zu einer Sportveranstaltung. Man konnte auch auf einem der zahlreichen Berliner Bälle tanzen oder eines der vielen Cafés, eine Bar oder Kneipe aufsuchen.

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Inflation in Berlin, 1923: Ein arbeitloser Artist führt seine Kunststücke in Hinterhöfen bei Leierkastenmusik vor. (© picture-alliance, akg-images) Dies – das wird aus Szatmaris Schilderung deutlich – war nicht nur ein buntes, sondern auch ein lautes Treiben. Die damals populäre Musik wurde nicht nur hinter verschlossenen Türen, in Revuetheatern, Tanzdielen und Jazzclubs gespielt. Sie lag gewissermaßen in der Luft. So hatten die meisten größeren Cafés eigene Kapellen, die in der warmen Jahreszeit auf den Terrassen spielten. Auch an den innerstädtischen Ausflugszielen erklang Musik, etwa am Neuen See im Tiergarten, in der Neuköllner Hasenheide oder im Lunapark am Halensee. Die modischen Klänge der amerikanischen Tanzmusik wurden dabei noch weitgehend von traditionellen Marsch- und Walzerrhythmen überlagert. In den ärmeren Wohnvierteln beschallten die Leierkastenmänner, Straßenmusiker und Kleindarsteller die Hinterhöfe. Die populären Gassenhauer wurden auch auf der Straße gesungen und gepfiffen. So schreibt Szatmari über das "Berliner Volk":

Die Berliner Jazzszene im zeitgenössischen Film "Die Einbrecher"

(D 1930), Regie: Hanns Schwarz, mit Sidney Bechet und seinen "New Yorkern" (Quelle: YouTube) (https://www.youtube.com/watch?v=jcI-pX_NDYs)

"Es liebt den Lärm, den es Vergnügen nennt, es kann nicht ohne dies merkwürdige Etwas sein, das bei ihm ‚Stimmung‘ heißt, es bleibt bei jedem Leiermann stehen, um die ältesten Gassenhauer zu hören, es bildet einen Auflauf um jedes gefallene Pferd. Es ist laut, weil die Stadt laut ist, aber es kann ganz leise und andächtig sein, wenn ein Stück vom Sommerabend sich über die Ufer der Spree senkt."

Die Liebe zum Lärm beschränkte sich dabei nicht auf die Musik. In den Straßen waren auch die Rufe der Händler und Hausierer zu hören, die im Berlin der 1920er Jahre noch an vielen Ecken und Plätzen standen. Wer sich den Eintritt in den Vergnügungspark nicht leisten konnte, besuchte einen der zahlreichen Rummelplätze, über die Szatmari schreibt: "Aber es ist hier ebenfalls Lärm, Stimmung

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 210 und Betrieb, die Witze sind genauso gut oder schlecht wie draußen, es ist Krach, Durcheinander, es ist Rummel und nochmals Rummel."

Den typischen Berliner Witz hörte man nicht nur bei den Schaustellern auf dem Rummel, sondern auch bei den "Händlerinnen und Händlern auf Markt und Straße". Kein Wunder, dass Szatmari den "Berliner Redensarten" ein eigenes Kapitel widmete. "‚Pflaumen, zuckersüße Pflaumen, wer keene kauft, lutscht sich am Daumen‘. Da gibt es die berüchtigte Veräppelung oder Verkohlung – ‚Mensch, du hast wohl lange nicht aus’n Krankenhausfenster gekiekt‘ – solche und andere Kraftausdrücke gibt es in Fülle, hier auf dem Berliner Markt, hier in der nächsten Straße. ‚Wer Pfefferminz isst, kriegt keene Plattfüße‘, das ist ein Angebot, wie es nur aus Berlin, nur von einem aus dem Volk von Berlin kommen kann."

"Das gibt es nur in Berlin." Mit dieser Bemerkung macht Szatmari deutlich, dass jede Stadt ihre klanglichen Eigenheiten ausbildet. Das zeigt auch der nochmalige Blick nach New York. Strukturell ähnelten sich die Lärmproblematik und das vielfältige Vergnügungsangebot in den beiden Städten. Beide erlebten die Elektrifizierung und Motorisierung des Verkehrs, in beiden fanden sich die beengten Wohnverhältnisse in den überfüllten Mietskasernen der Arbeiterviertel. Die Vergnügungsangebote, vom Tanztee über das Kino und das Revuetheater bis hin zum Sportspektakel, folgten in Berlin genauso wie in New York – und ebenso in London, Paris oder Wien – internationalen Trends, die sich zwischen den Metropolen fortpflanzten.

Hört man allerdings genauer hin, so stößt man auf zahlreiche Unterschiede und Eigenheiten. Das beginnt bei den städtebaulichen Gegebenheiten. In den Häuserschluchten Manhattans mit seinem Schachbrettmuster und seinen Hochhäusern wandert der Schall noch heute anders als im flachen und ausgedehnten Berlin. Die New Yorker Hochbahn produzierte schon 1930 andere Geräusche als die Berliner S-Bahn. Zudem waren in der Hafenstadt New York die Geräusche der Schifffahrt – vom Tuten der Ozeandampfer bis zum Pfeifen der Hudson-Schiffe – präsenter als in Berlin mit seiner begrenzten Spree-Schifffahrt.

Bei der Musik und den Vergnügungsklängen werden die Unterschiede noch deutlicher, da sich die Musikstile trotz der internationalen Transfers regional sehr unterschiedlich entwickelten und je nach Ort und aktueller Mode in unterschiedlichen Mischverhältnissen auftraten. Das gilt nicht nur beim Vergleich zwischen Berlin und New York, sondern auch beim Vergleich Berlins mit anderen mitteleuropäischen Großstädten wie Wien oder München, wo zwar ebenfalls Deutsch gesprochen und gesungen wurde, in den Straßen aber unterschiedliche Musik erklang. Einzelne viel gespielte Lieder und Gassenhauer konnten dabei zu regelrechten Erkennungsmelodien einer Stadt werden. Gerade Berlin ist reich an Liedern, die – wie etwa Paul Linckes Das macht die Berliner Luft von 1904 – die Vorzüge der Stadt oder einzelner Stadtteile (Das Tempelhof-Lied, Der Rixdorfer) besangen und allenthalben gespielt wurden.

Am deutlichsten werden die Unterschiede, wenn man auf die in den Straßen gesprochenen Sprachen hört. In der Einwandererstadt New York konnte man mehr Sprachen hören als in Berlin, auch wenn hier viele Einwanderer aus Osteuropa lebten. New York blieb zudem stärker ethnisch segregiert als Berlin, was man bei einem Gang durch Chinatown, Little Italy, die polnischen und deutschen Viertel oder das schwarze Harlem am Wechsel der gesprochenen Sprachen auch hören konnte. In Berlin fiel dagegen stärker die dialektale Färbung des Deutschen ins Ohr, die das Berlinerische von anderen deutschen Mundarten unterschied. Allerdings unterschied sich das "Berliner Idiom", wie Szatmari es nannte, nicht nur durch bestimmte Redewendungen und Ausspracheregeln von anderen deutschen Dialekten, sondern auch durch seinen Tonfall, durch das Schnoddrige und Vorwitzige, das man so nur in Berlin hören konnte. Mit den Ausrufen der Händler und Schausteller, den Melodien der Gassenhauer und der Leierkästen, aber auch einzelnen charakteristischen Verkehrsgeräuschen ergab sich so eine Reihe von akustischen Erkennungszeichen, an denen man bei einem Gang durch das Berlin des Jahres 1930 auch mit geschlossenen Augen hätte erkennen können, wo man sich befand.

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Der Klang der Straßenpolitik

Eine letzte Dimension der Geräuschwelt Berlins um 1930 wurde noch nicht angesprochen. Sie fehlt sowohl in Ruttmanns Weekend als auch in Szatmaris Berlinführer: die Politik. Spätestens seit dem Krisenjahr 1929 und dem Aufstieg der nationalsozialistischen Bewegung war das Berlin der späten Weimarer Republik von einer zunehmenden Politisierung geprägt. Auf den großen Plätzen und Straßen fanden Demonstrationen und Kundgebungen statt. Die Nationalsozialisten provozierten die gewalttätige Auseinandersetzung mit den Kommunisten durch Aufmärsche und Paraden in "roten" Arbeitervierteln. Bei dieser politischen Mobilisierung spielten die Kampflieder auf beiden Seiten eine nicht unerhebliche Rolle.

Die akustische Dimension der Straßenpolitik beschränkte sich jedoch nicht auf die politischen Kampflieder. Seit Mitte der 1920er Jahre erlaubte die Mikrofon- und Lautsprechertechnik die akustische Verstärkung politischer Reden im öffentlichen Raum. Lautsprecher wurden auf Autos montiert, um die Straße mit politischen Parolen zu beschallen. Bei Streiks und Demonstrationen kamen Krachinstrumente und Flüstertüten zum Einsatz. Die Polizei nutzte Trillerpfeifen zur akustischen Untermalung ihrer Autorität.

Doch auch ohne technische Verstärkung hallten die Straßen immer häufiger von Sprechchören und kollektiven Rufen wider. Dabei waren es die Nationalsozialisten, die den öffentlichen Raum mit einer immer aggressiveren Radau- und Gewaltpolitik zunehmend in Beschlag nahmen und ihren Antisemitismus hemmungslos auslebten. So zogen etwa am Abend des 12. September 1931 mehrere Hundert junge Männer durch die Joachimsthaler Straße, die Uhlandstraße und über den Kurfürstendamm, grölten antisemitische Parolen und griffen Passanten an. Das Berliner Tageblatt berichtete am darauffolgenden Tag: "Überall wurden Sprechchöre gebildet, die von Nationalsozialisten geführt und kommandiert wurden. In den genannten Straßen erschallten von allen Seiten die Rufe ‚Juda verrecke, Deutschland erwache!‘ Vor der chinesischen Gesandtschaft am Kurfürstendamm wurde ein jüdisch aussehender Herr, der einen Blumenstrauß trug, von den Nationalsozialisten blutig geschlagen. Es wurde beobachtet, dass einzelne Chöre minutenlang, ohne dass die Polizei erschien, ihr brüllendes Geschrei fortsetzen konnten."

Auch diese hässlichen Geräusche waren Teil der Klangwelt Berlins um 1930. In Ruttmanns Weekend kommen sie nicht vor. In seiner Sinfonie der Großstadt sieht man jedoch nicht nur mehrfach einen Schupo mit Trillerpfeife, sondern auch eine politische Demonstration mit einem aufgebrachten Redner. In Ruttmanns Film ist dies nur ein kurzer Moment. Im Berlin der Jahre 1930 bis 1933 waren solche Szenen jedoch ein immer stärker zu vernehmendes Element innerhalb der vielfältigen Geräusche und Klänge, aus denen sich die Sinfonie der Großstadt zusammensetzte.

Lesen

Hans-Joachim Braun: Lärmbelästigung und Lärmbekämpfung in der Zwischenkriegszeit, in: Günter Bayerl / Wolfhard Weber (Hrsg.): Sozialgeschichte der Technik, Münster 1998, S. 251 – 258

Edward F. Brown u. a. (Hrsg.): City Noise, New York 1930

Ruth Glatzer (Hrsg): Berlin zur Weimarer Zeit. Panorama einer Metropole 1919 – 1933, Berlin 2000

Jeanpaul Goergen (Hrsg): Walter Ruttmann. Eine Dokumentation, Berlin 1989

Wolfgang Hagen: Walter Ruttmanns Großstadt-WEEKEND. Zur Herkunft der Hörcollage aus der ungegenständlichen Malerei, in: Nicola Gess u. a. (Hrsg): Hörstürze. Akustik und Gewalt im 20. Jahrhundert, Würzburg 2005, S. 183 – 200

Eugen Szatmari: Das Buch von Berlin (Was nicht im Baedeker steht, Bd. 1), München 1927

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Emily Thompson: The Soundscape of Modernity. Architectural Acoustics and the Culture of Listening in America 1900 – 1933, Cambridge, Mass. / London 2004

Eric D. Weitz: Weimar Germany. Promise and Tragedy, Princeton / Oxford 2007

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Daniel Morat für bpb.de

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Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt Ein Schimmel geht um die Welt

Von Volker Kühn 3.8.2016

Volker Kühn war Autor, Fernseh- und Theaterregisseur sowie Filmproduzent in Berlin. Er verstarb am 20. September 2015.

Die kleine Melodie, die sich der findige Internetsurfer heute als Klingelton aufs Handy laden kann, verdankt ihre Existenz dem Zusammenspiel von drei Vertretern der Unterhaltungsbranche, alle drei um die 30, die an ihrer Karriere arbeiten und sich zum Blauen Engel, einem der ersten deutschen Tonfilme, zusammenfinden: ein Wiener aus Hollywood, der in Berlin seinen Traum aus Bild und Ton umsetzen will, ein in London geborener Berliner, der den Sound dazu liefert, und das noch namenlose schauspielernde Tanzgirl aus Schöneberg, das ihn Figur werden lässt: Josef von Sternberg, Friedrich Hollaender und Marlene Dietrich. Ihr kess vorgetragener Song Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt geht um den Globus und wird zum Evergreen. Damit setzen die Drei Anfang der 1930er Jahre einen unüberhörbar erotischen Akzent in der Klangwelt des letzten Jahrhunderts.

Die Filmstory, die da Anfang der 1930er Jahre auf die Leinwand gebracht werden soll, ist alles andere als neu: Ein Mann in den besten Jahren wird zum Opfer seiner Begierden. Emil Jannings, seinerzeit einer der populärsten Charakterdarsteller, hat diese Rolle im Film wie auf der Bühne oft genug gespielt und in Hollywood hat er diese Figur in zwei Stummfilmen derart eindrucksvoll verkörpert, dass man ihn dafür mit dem Academy Award für den besten Hauptdarsteller ausgezeichnet hat. Es ist der erste Oscar dieser Art.

Derart geadelt kehrt Jannings nach Deutschland zurück, wo die Ufa mit ihm nun einen ihrer ersten Tonfilme drehen will. Als Regisseur ist Josef von Sternberg aus Hollywood vorgesehen. Als dieser den geplanten Rasputin-Stoff ablehnt, einigt man sich auf den Jannings-Vorschlag, den 1905 veröffentlichten Roman Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen von Heinrich Mann zu verfilmen, mit dem der Autor das Bürgertum des Kaiserreichs und sein autoritär-inhumanes Erziehungssystem scharf attackiert hat. Sternberg gefällt der erste Teil der Geschichte: "Ich ging zu Heinrich Mann und fragte ihn, ob er etwas dagegen habe, wenn ich die Struktur seiner Erzählung ändern und auslassen oder hinzufügen würde, was mir zweckmäßig erschien. […] Er gab mir völlige Freiheiten, zu ändern oder hinzuzufügen, was mir ratsam erschien."

"Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt" (1930) mit Marlene Dietrich (Quelle: YouTube) (https://www.youtube.com/watch?v=4pDjmBy03z8)

Sternberg sucht in Berlin seine Lola: "Als der Drehbeginn näher rückte, machte sich ein spürbares Unbehagen breit. Das Gerücht kursierte, die Frau, die ich suche, sei nicht von dieser Welt." Was er sucht, ist eine Sklavin der Macht, an der der männliche Held zerbricht. Es werden Vorsprechtermine arrangiert, Sternberg lehnt eine nach der andern ab, darunter Käthe Haack und Blandine Ebinger, auch Trude Hesterberg, die von Heinrich Mann, ihrem Geliebten, ins Spiel gebracht worden ist. Sternberg: "Ihr Sexappeal war von einer Art, wie er nur in einem Seniorenheim für Blinde funktioniert." Als ihm Lucie Mannheim vorsingt, ist er begeistert – von ihrem Pianisten. Der soll, so bestimmt er, die Musik zum Blauen Engel schreiben.

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Pendeln zwischen Dur und Moll

Das ist Friedrich Hollaender, der Vielseitigste unter den Talenten dieser Zeit, ein Tausendsassa der Kleinkunst, Komponist, Texter, Schauspieler, Pianist, Theaterleiter und Regisseur in einer Person. Der "große kleine Friedrich", wie Charlie Chaplin ihn einmal nannte, hat das literarische Kabarett der Weimarer Republik beeinflusst und geprägt wie kaum ein zweiter – durch seine Vertonungen von Texten von Tucholsky und Mehring, durch seine kleine Revuette, die er den großen Glanz- und Glitter-Shows gegenüberstellte und mit denen er den Beweis lieferte, dass bei einer Revue "das Fleisch nicht immer so willig, der Geist nicht immer so schwach" sein muss. Er schrieb Tagesschlager und Schauspielmusiken für die große Theaterbühne, stieg als Pianist und Arrangeur bei den von ihm entdeckten Weintraubs Syncopators ein, die in Berlin bald als eine der führenden Jazz- Filmplakat zum Film "Der Combos und Show-Bands galten. Und er sorgte im Kleinkunstkeller für einen blaue Engel" - 1930 (© neuen Ton, als er seine Lieder eines armen Mädchens für Blandine Ebinger picture-alliance, ZB) schrieb, kleine melancholische Dreiminuten-Dramen, bei denen die Gemütlichkeit, so der Dichter-Kritiker Max Herrmann-Neiße, "ernstlich in Gefahr" ist: "Das Lachen vergeht einem oder wird jedenfalls ganz anders."

Sternberg hat mit seinem Entschluss, gerade ihn die Musik zum Blauen Engel schreiben zu lassen, einen Glücksgriff getan. Denn Hollaender, dieser "Pessimist mit optimistischem Vorzeichen", wie er sich selbst sieht, empfindet sich als "lachenden Melancholiker, der mit diesen beiden Stimmungen in ewigem Zwiestreit liegt. Auch seine Melodien pendeln immer zwischen Dur und Moll und können sich nicht entscheiden."

Der Hollywood-Regisseur will die Lieder bereits vor Beginn der Dreharbeiten kennenlernen. Er erwartet von der Musik eine starke Befruchtung des eigenen Schaffens. Und so legt ihm der Komponist nach und nach die Lieder vor, die die schnoddrige Lola singen soll: Kinder, heut abend, da such ich mir was aus, einen Mann, einen richtigen Mann, Nimm dich in acht vor blonden Frau‘n, die haben so etwas Gewisses und Ich bin die fesche Lola, der Liebling der Saison. Fehlte nur noch die große sentimentale Nummer, die "Super-Schnulze".

Was singt so eine Lola?

Hollaender in seinen Lebenserinnerungen Von Kopf bis Fuß – Mein Leben mit Text und Musik: "Was singt so eine Lola? Einen Tango? Zu geschniegelt! Einen Slow-Fox? Zu slow! Ich kann doch für die Lola keinen Walzer schreiben. Das heißt … warum eigentlich nicht? Einen langsamen, schmachtenden, aber schicksalhaften. – Weiter nichts? Das mach mal. – Mach ich auch! Zum Beispiel ---: A, C, C, -- CDBB -- BCAA – A … Ganz gut, aber wie geht’s weiter? Ganz einfach. So, wie‘s weitergehen muss: ABGGG --- AG-F. Nicht schlecht. Solange du dein Noten-Alphabet drauf singst. Da finde mal einen Text drauf. Auf die Töne singt sich doch nichts. Gar nichts? Gar nichts. Moment mal. 'Gar nichts', hast du gesagt? Schreiben wir zuerst: 'Gar nichts!' Und dann machen wir einen Schimmel. – Was ist ein Schimmel? Ein Schimmel – das sind sinnlose, unbrauchbare Worte, die man probeweise unter eine Melodie legt, um sie einmal ohne Lalala zu hören. Wenn sie unbrauchbar sind, nützen sie dir doch gar nichts. – Warum sagst du immer: Gar nichts? Lass uns mal etwas brabbeln! Zum Beispiel: Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt, denn das ist meine Welt … und sonst gar nichts … Das ist, was soll ich machen, meine Natur, ich kann halt lieben nur und sonst gar nichts. Als ich fertig bin, gibt‘s von allen Seiten Beifall. Aber, stottere ich, das ist doch nur ein Schimmel."

Emil Jannings spricht aus, was alle denken: "Wat heeßt hier Schimmel? Det isses!" Und dabei bleibt

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 215 es. Auch wenn der Text einige eigenwillige Ungereimtheiten enthält wie "Motten umschwirr’n mich wie Motten um das Licht", die sich auf frühen Schallplattenaufnahmen wiederfinden. Und dennoch: A sound is born.

"Hier war das Gesicht, das ich gesucht hatte"

In der Zwischenzeit ist Sternberg bei seiner Suche nach seiner Lola fündig geworden, und zwar auf der Bühne des Berliner Theaters, wo er eine Aufführung von Georg Kaisers Revuestück Zwei Krawatten sieht. Mit von der Partie sind Hans Albers und Rosa Valetti, die er beide bereits für seinen Film besetzt hat. Und dann diese "Frau, die alle elektrisiert": Marlene Dietrich. Kein Name, eher ein Geheimtipp. Und doch ist er sich sicher: "Hier war das Gesicht, das ich gesucht hatte: provozierend, schmachtend, verzückt, hinreißend und bezaubernd."

Als er ihr die Lola-Rolle anbietet, gibt die sich wenig interessiert, zu Probeaufnahmen erscheint sie unvorbereitet und ohne Pianist. Aber Sternberg weiß sie aus der Reserve zu locken. Er lässt einen Studiopianisten kommen und trägt ihm auf, bei der Begleitung von zwei kleinen Schlagerliedchen harmonisch ein paarmal kräftig danebenzugreifen, um herauszufinden, wie sie darauf reagiert. Und sie reagiert: Erst giftet sie den Mann am Klavier an, er sei ein Dussel ("Soll Musik sein, ja?"), dann steigt sie aufs Klavier, zeigt dabei viel Bein und zischelt dem Pianomann zu: "Wennde jetzt aba falsch spielst, verstehste, denn jibt‘s een Tritt." Sternberg weiß nun, dass er "einen Ozean aufgewühlt" hat, aus dem eine Frau aufgetaucht ist, "die die Welt bezaubern sollte: Ich formte sie im Schmelztiegel meiner Phantasie, bis ihr Bild meinen Vorstellungen entsprach. So wie ein Maler ein Bild entwirft: Pygmalion und Galathea."

Probeaufnahme zum "Blauen Engel" (D 1930) mit Marlene Dietrich (Quelle: YouTube) (https://www.youtube.com/watch?v=PbaRRDgTIkc)

Das Ergebnis war die Lola des Blauen Engel, die personifizierte, Figur gewordene Erotik, ein männermordendes Etwas, dem der preußisch-disziplinierte Gymnasialprofessor bedingungslos aus seiner Welt in ihre folgt. Der Zeitgeist hat ein Wort für dieses vampirische Ungeheuer, das eher vulgär als mondän, eher gossig als augenzwinkernd daherkommt: Vamp. Und Hollaender macht die Musik dazu. Sie bildet zwei Welten ab: die des Bürgertums mit seinen traditionellen Melodien wie Ännchen von Tharau, Ach, wie ist’s möglich dann und dem Bums der Alten Kameraden und die des Tingeltangels mit seinen Gassenhauern.

Friedrich Hollaender und seine Jazz-Sinfoniker der Weintraubs Syncopators erzeugen die Schwüle der Kleinkunst-Kaschemmen: Puff-Musik auf der Höhe der Zeit. Üb immer Treu und Redlichkeit intoniert das Orchester zu Beginn. Das Motiv kehrt wieder als Glockenspiel der Potsdamer Garnisonkirche, wenn die volle Stunde schlägt, die Professor Rath zur Pflicht ruft. Und zum Schluss, zum tragischen Ausklang der Geschichte, wenn er als gebrochener Mann in seine Schule zurückkehrt, um am umklammerten Katheder sein Leben auszuhauchen, erklingt es erneut: "Üb immer Treu und Redlichkeit bis an dein kühles Grab."

In seiner Autobiografie erinnert sich Hollaender: "Schon mit dem Schlager Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt war die Charakterrolle von Marlene Dietrich, der verführerischen Varietésängerin Lola Lola, so scharf umrissen, dass durch dieses Chanson eine klare Grundlinie für die Handlung gewonnen war. Dieses Chanson schuf sofort die Atmosphäre, nach der der Stoff gebieterisch verlangte. Das Thema dieser Melodie war prädestiniert dazu, Leitmotiv für das innerste Geschehen zu werden, Schicksalsmotiv des verführten Professors Rath. Das gleiche Motiv in sinfonischer Gestaltung begleitete die Handlung bis zur Katastrophe."

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Choräle der Sinnlichkeit

Was zu hören ist, wenn die Lola so lasziv wie gelangweilt ihre frechen Lieder singt, nennt der Musikkritiker Hans Heinz Stuckenschmidt "Choräle aus dem Schlamm". In seinem Aufsatz So wird heute gesungen vom Juni 1930 führt er aus, dass das verschämt erotische Chanson abgedankt und neuen Kabarettliedern Platz gemacht habe, die eine neue Wirklichkeit widerspiegeln. Lieder, die ihren Ursprung haben in den sozialen Erschütterungen der Zeit, im Wandel moralischer Wertvorstellungen, in einer neuen Einstellung zur Sexualität, die einen neuen Typ Frau kreiert: "Die sentimentale Kokotte ist per Holzklasse in die Hölle gefahren, wie sie’s verdient. Und aus dem Schlamm ward die neue Venus vulgivaga geboren, griechisch Pandemos, berlinisch Nutte genannt. Diese durchaus sexuell betonte Frau hat eine neue Form des Couplets inspiriert, eine Art von Kunst, deren Merkmale sich von Jahr zu Jahr plastischer herausstellen. Das geschlechtliche Endziel wird nicht mehr schamhaft verbrämt. Die moralischen Hüllen sind abgefallen und so wird das erotische Couplet zum Choral der Sinnlichkeit."

"Der Blaue Engel" (1930)

Trailer des Films (Quelle: YouTube) (https://www.youtube.com/watch?v=A1HaEQ6CZII)

"Ich bin die fesche Lola" - Marlene Dietrich als Varietékünstlerin Lola Lola mit einem Lied aus dem Kultfilm. Die Stimme fordernd und geradezu keck, Berliner Schnauze. (Quelle: YouTube) (https://www. youtube.com/watch??v=yMbglXvNQGE)

Josef von Sternberg setzt diesen Sirenengesang in Szene, als "visuelles Gedicht für die Leinwand". Er spielt mit Licht und Schatten, Hell und Dunkel, mit Geräusch und Stille, Ton und Musik. Es entsteht ein ins Bild gesetztes Klanggemälde um die Erotik als "motorisches, transponierendes Element des Lebens. Als verändernd, Gewohnheiten störend". Den Darstellern wird nicht nur eine bis dahin nicht gekannte Körpersprache abverlangt, sondern auch ein neuer Ton im Umgang mit dem Mikrofon. Jannings, der es sich angewöhnt hatte, pathetisch jedes Wort breit auszustellen, war davon kaum abzubringen. Sternberg erinnert sich: "Mein bärtiger Professor begann nun, herrisch in einer Sprache zu reden, in der nicht nur jede Silbe betont wurde, er schwelgte auch in archaischen Wendungen, wie man sie seit dem Mittelalter nicht mehr gehört hatte. Jannings schien entschlossen, allen ein unvergessliches Beispiel seiner Meisterschaft in der deutschen Sprache zu liefern, und machte das mit jeder Silbe deutlich. Ich beschloss, diesen theatralischen Unsinn im Keim zu ersticken, bevor er um sich greifen konnte."

"Alles ist Film, nichts ist Theater"

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Als der Film abgedreht ist, zeichnete sich bereits ab, dass mit dem Blauen Engel kein Jannings-Film entstanden war. Marlene Dietrich machte ihn zum Ereignis. Diese "schöne Frau", die, wie Sternberg meinte, bis dahin "so völlig unterschätzt und unterbewertet" war. Ihre Lieder, die ihr Friedrich Hollaender auf den Leib geschrieben hatte, stürmten die Hitlisten. Allen voran der Song mit dem Schimmel-Text, der um die Welt ging und als Falling In Love Again zum Repertoire der großen Entertainer gehörte – nachgespielt und nachgesungen von Rosemary Clooney, Sammy Davis jr. und Benny Goodman, von Udo Lindenberg, Hildegard Knef und den Comedian Harmonists.

Für Cineasten und Filmfans gehört der Blaue Engel längst zu den Marlene Dietrich mit dem Komponisten Irving Berlin Klassikern unter den Kultfilmen. Sie pflichten im Nachhinein dem Kritiker 1944 in Italien am Rande der Herbert Ihering bei, der im Frühjahr 1930 lobte: "Alles ist Film, nichts Truppenbetreuung für US- Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Theater." Nur dem Völkischen Beobachter, dem Parteiorgan der NSDAP, (© picture-alliance, dpa - passte damals die ganze Richtung nicht: "Bewusst jüdische Zersetzung Fotoreport) und Beschmutzung deutschen Wesens und deutscher Erziehungswerte ist hier am Werke, in dem sich jüdischer Zynismus selten gemein offenbart."

Drei Jahre später, nach Hitlers Machtübernahme, war das offizielle Politik. Mit Konsequenzen auch für viele, die am Blauen Engel mitgearbeitet hatten: Josef von Sternberg war schon im Frühjahr 1930 in die USA zurückgereist, Marlene Dietrich folgte ihm unmittelbar nach der Uraufführung des Films, wurde dort zum Star und zur Legende und gab sich schließlich mit ihrem Beitrag zur Truppenbetreuung für die Alliierten als engagierte Gegnerin des Faschismus zu erkennen. Heinrich Mann, dem aus politischen Gründen die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt worden war, ging nach Amerika, ebenso wie seine Schriftstellerkollegen Carl Zuckmayer und Karl Vollmoeller, die am Drehbuch mitgearbeitet hatten.

Wegen seines jüdischen Glaubens wurde der Drehbuchautor Robert Liebmann verfolgt, der 1942 im Konzentrationslager starb, ebenso Kurt Gerron, der den Kabarettdirektor Kiepert spielte; er wurde 1944 in Auschwitz vergast. Produktionschef Erich Pommer entkam nach Hollywood, ebenso Friedrich Hollaender und Franz Wachsmann, der Arrangeur seiner Filmmusik – beide machten dort Karriere als Filmkomponisten. Die Musiker der Weintraubs Syncopators flüchteten von einem Land ins andere, einige schafften es bis nach Australien, wo man sie als unerwünschte Ausländer internierte. Rosa Valetti, Bühnenschauspielerin und Kabarettistin, die im Film die Guste spielte, emigrierte nach Wien, wo sie 1937 starb. Karl Huszar-Puffy, der Wirt des Blauen Engel, floh in die Sowjetunion. Dort kam er 1943 in einem Arbeitslager um.

Lesen

Begleitbuch zur 8-CD-Box "Friedrich Hollaender: Wenn ich mir was wünschen dürfte", Hambergen 1996

Günther Dahlke/Günter Karl (Hrsg.): Deutsche Spielfilme von den Anfängen bis 1933. Ein Filmführer, Berlin 1988

Marlene Dietrich: Ich bin, Gott sei Dank, Berlinerin, Frankfurt a. M./Berlin 1990 dies.: Nehmt nur mein Leben, München 1979

Blandine Ebinger: Blandine, Zürich 1986

Joe Hembus / Christa Bandmann: Klassiker des deutschen Tonfilms 1930 – 1960, München 1980

Friedrich Hollaender: Von Kopf bis Fuß. Mein Leben mit Text und Musik, Bonn 1996

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ders.: Menschliches Treibgut, Bonn 1995

Volker Kühn: Spötterdämmerung. Vom langen Sterben des großen kleinen Friedrich Hollaender, Berlin 1996 ders.: … und sonst gar nichts. Das Friedrich Hollaender Chanson-Buch, Hannover 1996

Josef von Sternberg: Das Blau des Engels, München 1991 ders.: Ich, Josef von Sternberg, Velbert 1967

Werner Sudendorf (Hrsg.): Marlene Dietrich, Dokumente, Essays, Filme, München 1977

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Volker Kühn für bpb.de

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Politische Kampflieder Vorwärts und nicht vergessen

Von Hanns-Werner Heister 3.8.2016

Hanns-Werner Heister, Dr., Professor für Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg (im Ruhestand).

Eines der klassischen Kampflieder der Arbeiterbewegung, das Einheitsfrontlied, entstand nicht untypisch erst knapp zwei Jahre nach dem Sieg der Nazis im Exil. Im Auftrag des Internationalen Musikbüros bat der Regisseur Erwin Piscator im Dezember 1934 Bertolt Brecht und Hanns Eisler um ein "gutes Einheitsfrontlied". Das Lied wurde bei der 1. Internationalen Arbeiter Musik- und Gesangsolympiade Europas in Straßburg an Pfingsten 1935 uraufgeführt und verbreitete sich rasch international. In Brechts Text heißt es: "Und weil der Mensch ein Mensch ist, drum braucht er was zum Essen, bitte sehr!" (1. Strophe), und weiter "drum hat er Stiefel im Gesicht nicht gern, er will unter sich keinen Sklaven sehn und über sich keinen Herrn." Eisler bildete diese allgemeingültige Logik musikalisch eindringlich nach – etwa durch aufsteigende und darauf antwortende Quarten und Quinten als elementare, grundlegende Strukturen. Im Deutschen Reich erklangen derweil auf Straßen und Plätzen, den wichtigsten Orten des Kampflieds, nur mehr die Lieder der NSDAP und ihrer Untergliederungen wie SA oder HJ. Die beiden Hauptströmungen der Arbeiterbewegung, die sozialdemokratische und kommunistische, hatten den Kampf verloren.

Schon 1932 hatte der Chordirigent und Komponist Karl Rankl, wie Eisler aus der Schönberg-Schule stammend, auf den Text eines unbekannten Dichters ein anderes Lied mit demselben Titel komponiert. Dort hieß es unter anderem: "Wir sind gegen Krieg und Faschismus und Not […] / Wir schließen die Reihen, marschieren vereint, / Wir schlagen vereint den gemeinsamen Feind!" Brecht /Eislers Kampflieder trugen dieser Zielsetzung Rechnung. Ihr Einheitsfrontlied gehört zum österreichisch- deutschen Erbe der musikalischen Weltkultur.

Zwischen Soldatenlied und Moritat

Die Anfänge des Kampflieds der 1920er Jahre waren und klingen anders. Statt des ausgefeilten Textes mit hohem Verallgemeinerungsgrad und eines Tonsatzes, der die Künste des aktuellen Komponierhandwerks widerspiegelte, gab es spontan gedichtete, ereignisbezogene Verse und einfache Melodien. Sie waren im Kampf entstanden, oft auf die Schnelle und daher wenig wählerisch im Hinblick auf Argumentation, Diktion und Musik. Auf die zahlreichen Kämpfe im Zuge der Gegenrevolution nach dem 9. November 1918 direkt bezogen ist das Büxensteinlied. In ihm geht es um die Besetzung und Verteidigung des Druckereibetriebs Büxenstein im Berliner Zeitungsviertel gegen die vom Reichswehrminister Noske gerufenen Truppen im Januar 1919. Im Text des Schlossers Richard Schulz heißt es u. a.: "[…] ein Spartakist […] kämpft für Freiheit und für Recht […], / Dass alle Menschen, groß und klein, / Auf Erden sollen Brüder sein, / Dass niemand leide ferner Not / Und jeder hat genügend täglich Brot." Hier zeigen sich charakteristische Unterschiede zu rechten, nationalistischen oder "nationalsozialistischen" Kampfliedern – Gedanken wie das Ideal einer globalen Brüderlichkeit sind dort nicht zu finden. Die "Januarkämpfe" endeten mit einer Niederlage der Kräfte, die die Errungenschaften der Novemberrevolution erhalten und weiterentwickeln statt abschaffen wollten.

Bereits Anfang Januar 1919 hatten Plakate an Berliner Litfaßsäulen zum Mord an den Leitern der KPD aufgerufen und dabei wesentliche Ziele der russischen Oktober- und der deutschen

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Novemberrevolution, die das Büxensteinlied behandelt, zynisch verdreht: "Schlagt ihre Führer tot! Tötet Liebknecht! Dann werdet ihr Frieden, Arbeit und Brot haben." Ebenso brutal ist das Kampflied der Marinebrigade Ehrhardt von 1918 / 1919: "Die Brigade Ehrhardt / Schlägt alles kurz und klein, / Wehe Dir, wehe Dir, / Du Arbeiterschwein." Nach der formellen Auflösung der vielfach aus ehemaligen Angehörigen der kaiserlichen Armee bestehenden Freikorps übernahm die SA 1923 deren Kampflied. Dafür musste sie außer dem Namen in den Anfangszeilen wenig verändern: "Hakenkreuz am Stahlhelm / Blutigrot das Band [statt: Schwarz-weiß-rotes Band] / Sturmabteilung Hitler [statt: Die Brigade Ehrhardt] / werden wir genannt."

Kampflied als politische Musik

Der Begriff des Kampflieds bezeichnet nicht nur Lieder, die direkt zum Kampf gegen oder für etwas aufrufen, sondern auch Lieder der Klage, der Anklage und Trauer wie Unsterbliche Opfer (1919), Leuna-Lied (1920) oder Der kleine Trompeter (1925). Trauerndes Gedenken wie aggressives Herausfordern können gleichermaßen über Emotionen aktivieren, manchmal gar, wie beim Einheitsfrontlied von Brecht und Eisler, zu Nachdenken und "eingreifendem Denken". Meist gibt es Schlüsselwörter: Freiheit oder Tod, Fahne und Vaterland, Frieden und Brüderlichkeit, und Schlüsselklänge: Marschpunktierungen und appellierender Quart-Auftakt. Letztere rühren eine archaische psychisch-soziale Tiefenstruktur an. Vor allem daraus entsteht die viel berufene Macht der Musik.

Das Kampflied ist eine besonders deutlich in die politisch-sozialen Auseinandersetzungen einbezogene Gattung politischer Musik. Kampflieder sind jeweils spezifischen Strömungen, Institutionen oder Kollektiven zugeordnet. Sie wirken als Ausdruck und zur Bekräftigung von Gruppenidentitäten und dienen der Propaganda und Agitation zwischen Überwältigen, Überreden und Überzeugen. Kampflieder sind eingebettet in organisatorische Strukturen und übergreifende Vorgänge wie Demonstrationen und Feste im Freien. Gesungen oder gespielt werden sie aber auch in geschlossenen Räumen bei größeren oder kleineren Veranstaltungen, die eine Mischung aus Kundgebung und Konzert sind. Bei Demonstrationen ergänzt instrumentale Musik von Trommler- und Pfeiferkorps, Schalmeienkapellen, Spielmannszügen und Blasorchestern das Singen, teils als Begleitung, teils eigenständig und dann oft mit Marschmusik oder instrumentalen Versionen der Lieder.

Politische Gruppierungen und Parteien traten häufig martialisch und uniformiert auf. Die militaristische Mentalität des Wilhelminischen Reiches, verstärkt durch den Weltkrieg, wirkte als unheilvolles Erbe über politische Fronten und über das Ende der bürgerkriegsähnlichen Situation 1923 hinweg weiter und ließ Uniformen, "schneidiges" Auftreten, diszipliniertes Marschieren, Radfahrer- und Lastwagenkolonnen sowie theatralisch-militärische Requisiten wie Fahnen, Banner oder Fackeln besonders attraktiv erscheinen, und das nicht nur bei den Rechten.

Kampflied und Kampfmusik, Kontrafakturen und "Umfunktionierungen"

Es können zwei Hauptgruppen unterschieden werden: "Massenlieder" wie das Einheitsfrontlied, die, kollektiv gesungen, primär für eine breitere Öffentlichkeit bestimmt sind, sowie Agitprop-Lieder wie das Bankenlied oder Seifenlied, die eher für die Aufführung durch kleinere Gruppen oder Einzelne geeignet sind. Der Herkunft und Entstehung nach waren die Kampflieder entweder neu komponierte Lieder oder sogenannte Kontrafakturen, d. h. Lieder auf vorhandene Melodien, denen ein neuer Text gegeben wurde. Letzteres überwog. Denn eine bereits bekannte Melodie muss nicht erst erlernt werden. Ihre Bekanntheit, Vertrautheit und Popularität färbt zudem auf das zu Vermittelnde ab. Und weil die Melodie geläufig ist, kann sich die Aufmerksamkeit auf die politische Botschaft des Textes konzentrieren.

Meist wurden bekannte, volkstümliche Melodien neu vertextet. Gattungen der Populärmusik wie

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Bänkellied, Couplet und Schlager waren die erste, Soldatenlieder die zweite wichtige Quelle für Melodien des Kampflieds. Dem emotionalen Gehalt nach sind sie teils klagend bis sentimental, teils militant bis brutal. Darüber hinaus wurden einige in den Jugendtagen der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung komponierte "Tendenzlieder" wie die Arbeitermarseillaise weiter verwendet. Und schließlich waren auch internationale Lieder Bestandteil des Kampflieder-Repertoires. Der Anarchist Erich Mühsam unterlegte etwa Pierre Degeyters Melodie der Internationale im März 1920 mit einem neuen Text. In dem nun Internationale der Rotgardisten betitelten Lied hieß es statt des üblichen "Wacht auf, Verdammte dieser Erde": "Lasst los die Hebel der Maschinen / Zum Kampf heraus aus der Fabrik. / Dem Werk der Zukunft woll’n wir dienen / Der freien Räterepublik."

Neben dem Kampflied gab es instrumentale Musikgattungen. Beide ergänzten sich zu dem, was wir mit einem Begriff Eislers "Kampfmusik" nennen können. Meistens handelte es sich bei den Instrumentalstücken, jedenfalls auf der Straße, um Märsche, alte bei den Rechten, bei den Linken vorzugsweise neuere, textlose Versionen von Kampfliedern. Eine Spezialität der KPD waren Schalmeien-Orchester. Die Nazis übernahmen viele ästhetische, verbale und sogar gedankliche Elemente der Arbeiterbewegung als Versatzstücke und funktionierten sie um (so ein Begriff von Brecht). Auf dieselbe Weise verfuhren sie bei Kampfliedern, z. B. bei einem 1919 als Umdichtung eines Soldatenlieds entstandenen linken Kampflied, in dem es unter anderem heißt "Auf, auf zum Kampf! Zum Kampf! / Zum Kampf sind wir geboren. / Auf, auf zum Kampf! Zum Kampf! / Zum Kampf sind wir bereit! / Dem Karl Liebknecht haben wir’s geschworen, / Der Rosa Luxemburg reichen wir die Hand." Diesen Refrain konnten die Nazis leicht ändern, etwa in "Dem haben wir’s geschworen, / Dem Adolf Hitler reichen wir die Hand."

Besonders viele Versionen (über 50) gibt es vom Leuna-Lied; in ihnen variieren vor allem die Ortsangaben. Es ist eine Neutextierung des Soldatenlieds In Frankreich sind viele gefallen. Entstanden ist es wohl schon während der Ruhrkämpfe 1920 – nachdem die Arbeiterbewegung durch Generalstreik und auch bewaffneten Kampf gesiegt hatte, ging sofort das Militär im Auftrag der Reichsregierung gegen die "Rote Ruhrarmee" vor; so heißt es etwa: "Bei Duisburg sind viele gefallen / Bei Duisburg gingen viele verlor’n." Der Bezug auf Leuna (im mitteldeutschen Industriegebiet Halle-Merseburg- Mansfeld) verdankt sich den – letztlich erfolglosen – Abwehrkämpfen der Arbeiterbewegung gegen "Sicherheitspolizei" und Reichswehr im März 1921. Nach der Niederschlagung dieses mitteldeutschen Aufstands wurde es als Leuna-Lied eines der meistgesungenen Kampflieder. Hier hängten sich einmal mehr die Nazis an mit einer auf den Münchner Novemberputsch von 1923 bezogenen Version: "In München sind viele gefallen, / In München war’n viele dabei."

Sowenig wie bei Gehalt und Gestalt der Lieder, zumal der Texte, sowenig kann hinsichtlich der Qualität und Quantität der Produktion von einer Symmetrie zwischen links und rechts die Rede sein. Die Kampfmusik der Rechten, zumal ihres extremen Flügels, der Nazis, war vorwiegend parasitär: Zum einen zehrte sie von Kriegs- und Vorkriegstraditionen wie dem nationalistischen Marsch und Marschlied, zum zweiten bediente sie sich zumal für die jüngere Generation ihrer Anhänger aus dem Repertoire der Jugendbewegung. Diese entstand als romantisch-antibürgerliche Bewegung hauptsächlich der bürgerlichen Jugend am Ende des 19. Jahrhunderts ("Wandervogel"), breitete sich bis zum Ersten Weltkrieg auch in anderen Schichten aus und differenzierte sich nach dem Krieg weiter aus mit einem auch politisch breiten Spektrum, in dem rechte Strömungen dominierten. Zu diesem Repertoire gehört z. B. das 1941: Spielmannszug der Nationalpolitischen Lied Wir sind des Geyers schwarzer Haufen. Der Text enthält Parolen aus dem Lehranstalt Potsdam (© Bauernkrieg von 1525, die mit einer neuen Melodie unterlegt wurden. Das Lied picture-alliance, akg- images) wurde sogar ins SS-Repertoire aufgenommen. Zum dritten dichteten die Rechten Lieder aus dem Umfeld der Arbeiterbewegung um.

Ähnlichkeiten im Material-Formalen zwischen den rechten und linken Kampfliedern auch da, wo sie

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 222 keine Übernahmen waren, haben ihren Grund schlicht daran, dass es sich hier wie dort oft um Kontrafakturen vor allem von vorhandenen Soldatenliedern handelte. Aus dieser Ähnlichkeit auf eine Gleichheit von links und rechts im Inhaltlich-Politischen zu schließen, wie es die Anhänger der Totalitarismustheorie tun, führt in die Irre.

Der Rest dieser Identitätslegende bezieht sich auf die "Entwendungen aus der Kommune" (Ernst Bloch). So wurde das vorrangig sozialdemokratische Brüder, zur Sonne, zur Freiheit wohl schon 1927 von den Nazis als Brüder in Zechen und Gruben oder als Brüder formiert die Kolonnen in Dienst genommen, ebenso das sozialdemokratische Wann wir schreiten Seit an Seit. Die Kampflieder der Rechten wurden, soweit ersichtlich, vor 1933 nicht einmal auf der Straße hegemonial; außer vielleicht dort, wo, wie in Thüringen, die Nazis schon vor 1933 in der Länderregierung an die Macht kamen – aber da ging es dann nicht um Kampflieder, sondern um "Säuberungen" vor allem der Hochkultur.

"Operative Kunst" zwischen Agitprop-Truppen und Kabarett

Das politisch aktuelle, zugespitzte Kampflied verbreiteten vor allem Agitprop-Truppen. Der Agitprop – der Begriff steht für Agitation und Propaganda mit künstlerischen Mitteln – setzte als eine der spezifischen Formen des Arbeiter- und Straßentheaters vor allem auf technisch nicht aufwändige, möglichst eingängige und direkt wirkende revueartige, kabarettistische, durch einen roten Faden verbundene vielgestaltige Programme; sie enthielten überkommene Einzelgattungen wie knappe szenische Vorführung, satirischer Sketch, Kurzdialog (blackout), Akrobatik und andere aus dem Zirkus kommende Formen, Rezitation sowie die neuen Gattungen Sprechchor, Song, Kampf- und Volkslied, Schlager, Moritat, Sprechgesang, Tanz, Pantomime.

Vom Agitprop als Straßentheater gibt es zahlreiche Querverbindungen und Wechselwirkungen mit dem professionellen Theater sowie mit dem Kabarett und Gattungen wie Couplet (der deutschsprachige Liedtyp noch aus dem Wilhelminischen Reich), Chanson (der französischsprachige Typ) und Song (der aus dem englischsprachigen Raum stammende Liedtyp, im Zusammenhang mit dem Musical mit einer standardisierten 32-taktigen Form aus Strophe und Refrain). Charakteristisch für den Agitprop ist das damals sehr populäre Seifenlied von 1928, das sich auf konkrete Ereignisse bezieht, dessen Botschaft aber durchaus allgemeiner gültig ist: "Wir haben unsre Brüder / Mit Wahlkampfseife bedacht. / Das tun wir das nächste Mal wieder; / Es hat sich bezahlt gemacht. // Wir schlagen Schaum. / Wir seifen ein. / Wir waschen unsre Hände / Wieder rein." Bei der Reichstagswahl 1928 hatten die Berliner Sozialdemokraten auf ihren Kundgebungen "Toilett-Seife" verteilt mit dem Aufdruck "Wählt SPD". Die zweite Strophe spielt auf den "Burgfrieden" mit den Kriegstreibern des Kaiserreichs an. Am 4. August 1914 hatte die SPD-Fraktion im Reichstag mehrheitlich den Kriegskrediten zugestimmt: "Wir haben ihn gebilligt / Den großen heiligen Krieg. / Wir haben Kredite bewilligt, / Weil unser Gewissen schwieg."

Auf die Weltwirtschaftskrise antwortete 1931 das Bankenlied mit einer Aktualisierung eines älteren Textes von Jean-Baptiste Clément durch Walter Mehring (Musik: Hanns Eisler). Musikalisch sogar noch nachdrücklicher ist Stefan Wolpes Version, der den Text Mehrings mit einer neuen Melodie versah, dem Lied den Titel Wir sind entlassen gab und für den Liedvortrag forderte: "wild und aufrührerisch".

Eisler glaubte, dass die verschiedenen Musiziersphären füreinander durchlässig seien. So schrieb er 1929 das Lied der Komintern (Lied der Werktätigen) auf den Text von Franz Jahnke und Maxim Vallentin für die Agitprop-Truppe "Das Rote Sprachrohr". 1933 verwendete er es für die Filmmusik zu Dans les Rues. Die Filmmusik bearbeitete Eisler zugleich als Orchestersuite in acht Sätzen; das Lied findet sich im VI. Satz "Andante eroico (Andante – Marschtempo)" als Thema. Eisler verwandelte somit "Kampfmusik" in "angewandte Musik" – hier als Filmmusik – und in "Konzertmusik".

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 223 Verspätetes Aufblühen

Neue Kampflieder, teils Agitprop-, teils Massenlieder, entstanden vor allem ab 1928. Anlass für das weit verbreitete Lied vom Roten Wedding, für das Eisler die Musik schrieb (Text: Erich Weinert), war höchstwahrscheinlich der "Blutmai" 1929 in Berlin – bei einer Demonstration zum 1. Mai hatte der sozialdemokratische Polizeipräsident auf Demonstrierende schießen lassen. Die Originalfassung enthält eine Textzeile, deren Aussage dem Einheitsfrontkonzept entspricht: "Wir fragen euch nicht nach Verband und Partei." In der Liedbegleitung baute Eisler zudem das Kurzzitat des Beginns der Internationale als eine Art break ein: "Links, links, links, links! Die Trommeln werden gerührt, [Atempause; instrumental: "Wacht auf, Verdammte dieser Erde"] / Links, links, links, links! Der rote Wedding marschiert!"

Arbeiterlieder und politische Kampflieder

Viele der im Text besprochenen Lieder finden sich auf folgenden Seiten: www.kampflieder.de/ (http://www.kampflieder.de/) http://www.arbeiterlieder.de (http://www.kampflieder.de/)

Das Solidaritätslied, ein weiterer Kampflied-Klassiker, schrieben bzw. komponierten Brecht und Eisler wohl im August 1931 für den Film Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt aus dem Jahr 1932. Der Refrain lautet: "Vorwärts und nicht vergessen, / Worin unsre Stärke besteht! / Beim Hungern und beim Essen, / Vorwärts und nicht vergessen: / Die Solidarität!" Bemerkenswerterweise ruft hier Brecht mit "Schwarzer, Weißer, Brauner, Gelber!"- -bereits eine globale Einheit an, die alle Kontinente und Menschengruppen umfasst.

Ab 1927 / 1928 entstanden auch auf Seiten der Nazis einige (wenige) neue Lieder, die nicht Umtextierungen von Soldaten- oder Arbeiterliedern bzw. Kampfliedern der Linken waren. Am bekanntesten wurde das von dem Zuhälter und SA-Mann Horst Wessel gedichtete Horst-Wessel-Lied – nach seinem Tod wurde es zur Hymne der NSDAP und im "Dritten Reich" sogar zum offiziellen Anhang der Nationalhymne (Deutschlandlied). "Die Fahne hoch! / Die Reihen fest geschlossen! SA marschiert / Mit ruhig festem Schritt. / Kam’raden, die Rotfront und Reaktion erschossen, / Marschier’n im Geist / In unser’n Reihen mit." Zu Recht wurde oft darüber gespottet, dass nicht klar ist, was im Satz von den "Kam’raden" Subjekt und Objekt ist, also wer wen erschoss – geradezu eine für die Verlogenheit der Nazis bezeichnende Fehlleistung. Dennoch sind die Reihen der rollenden, Porträt von Horst Wessel und Text des nach ihm alliterierenden Rs eindrucksvoll. Das Lied ist eine wirkungsvolle intertextuelle benannten Liedes. (© Montage von Bestandteilen populärer Melodien und Formulierungen aus picture-alliance, Mary Evans Picture Library) anderen Liedtexten.

Die Kampflieder der Nazis enthalten viele musikalische Anspielungen vor allem auf Arbeiter- Kampflieder oder Textzitate. Volk ans Gewehr (auch bekannt unter dem Titel Siehst du im Osten das Morgenrot), das zu den am häufigsten gesungenen Massenliedern des "Dritten Reiches" gehörte, schrieb und komponierte der Berliner Hobby-Musiker und Kaufmann Arno Pardun 1931. Die zweite Zeile zitiert fast wörtlich die Hymne der Sozialdemokratie Brüder zur Sonne zur Freiheit: "Siehst du im Osten das Morgenrot / Ein Zeichen zur Freiheit zur Sonne." Die zweite Strophe beschwört das antisemitische Phantasma der jüdischen Herrschaft und als Gegenbild das Phantasma des rettenden deutschen Führers: "Geknechtet das Volk und betrogen / Verräter und Juden hatten Gewinn […] / Im Volke geboren erstand uns ein Führer / Gab Glaube und Hoffnung an Deutschland uns wieder." Die Schlussstrophe verwendet in leicht gemilderter Form eine zentrale mörderische Parole der Nazis: "Deutschland,

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Unter anderem dank seines Liedes Es zittern die morschen Knochen von 1932 wurde Hans Baumann, Jahrgang 1914, nach 1933 einer der maßgeblichen Lied-Autoren des NS-Regimes. Bereits nach der Machtübergabe entstand Vorwärts! Vorwärts! schmettern die hellen Fanfaren (anderer Titel: Unsre Fahne flattert uns voran), welches auch als Fahnenlied der Hitlerjugend bezeichnet wird. Der Text stammt von "Reichsjugendführer" Baldur von Schirach, die wirkungsvolle Melodie von dem Filmkomponisten Hans Otto Borgmann. Das im Marschtakt gehaltene Lied war die Filmmusik zum Propagandafilm Hitlerjunge Quex, der im September 1933 uraufgeführt wurde.

Heute werden die Lieder der Arbeiterbewegung mit dem Sound von Straße und Versammlungen in den 1920er Jahre assoziiert. Das trifft zumindest für die Großstädte zu. Etwa ab 1931 / 1932 dürfte die NSDAP immer stärker den musikalischen und nichtmusikalischen Sound der urbanen Klanglandschaft geprägt haben – eine imaginär-reale, symbolische und doch auch sinnlich-praktische schleichende "Machtergreifung" schon vor der offiziellen Machtübergabe vom 30. Januar 1933.

Nachblüte unter der Naziherrschaft

In Gefängnissen und Konzentrationslagern fanden sich Kommunisten, Sozialdemokraten, Christen und andere Gegner der Nazis gemeinsam geschlagen und oft im Zeichen des Antifaschismus vereint, nachdem sie zuvor auf den Straßen, in Sälen und Parlamenten getrennt und meist gegeneinander marschiert waren. Hier entstand, jiddische Lieder eingeschlossen, ein reiches und differenziertes Repertoire an Widerstandsliedern, die letztlich immer noch eine Art "Kampflied" waren.

Mehr noch als das gedanklich-textlich komprimierte Einheitsfrontlied stifteten Lieder wie das unverbindlichere Wann wir schreiten Seit’ an Seit’ Gemeinsamkeiten. Es stammte aus der Jugendbewegung und wurde nach 1918 in verschiedenen politischen Bewegungen, in bürgerlichen, bündischen, christlichen, aber besonders in der sozialdemokratischen, populär. Hermann Claudius (1878 – 1980) schrieb den Text 1914; Michael Englert (1868 – 1955) komponierte die Melodie 1915. Beim ersten reichsweiten Arbeiterjugendtag im August 1920 in Weimar machte das Lied Furore. In einer katholischen Bearbeitung hieß die letzte Refrainzeile statt "Mit uns zieht die Zeit" "Christus, Herr der Neuen Zeit". Auch die Hitlerjugend und der Bund Deutscher Mädel (BDM) übernahmen das Lied. Die SA beschlagnahmte es schon 1933 – es erschien in ihren Liederbüchern unter der Kategorie "eigene Lieder" – und sang den Text auf einer Vertonung von Armin Knab.

Der Text und die eingängige Melodie lassen Freiraum für vielerlei Projektionen: "Wann wir schreiten Seit’ an Seit’ / Und die alten Lieder singen, / […] Fühlen wir, es muss gelingen: / Mit uns zieht die neue Zeit." Dem Arbeitstag und Alltag ist der Feier- und Sonnentag entgegengestellt: "Eine Woche Hammerschlag, eine Woche Häuserquadern / Zittern noch in unsern Adern; / Aber keiner wagt zu hadern! / Herrlich lacht der Sonnentag." Heinz Hentschke dichtete 1938 eine vorsichtig-widerständige Zusatzstrophe im Strafgefangenenlager Aschendorfermoor: "Einer Woche Kuhlbetrieb / Und das Rollen schwerer Loren / Klingen stets in unsern Ohren, / Aber keiner träumt verloren. / Hoffnungsfroh bleib, Moorsoldat!" Sieben Jahre später erfüllten sich wenigstens die Hoffnungen auf eine Wiederherstellung demokratischer Verhältnisse. Die unter dem Druck der Nazi-Diktatur entstandenen Gemeinsamkeiten zerfielen nach 1945 freilich meist wieder. Und Hoffnungen auf eine grundlegend "neue Zeit", gar auf eine sozialistische Weltrevolution, wie sie viele Kampflieder beschworen, waren bereits 1933 endgültig zerstört worden.

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Walter Blankenburg: Das christliche Kampflied, in: Wilhelm Stählin (Hrsg.): Vom heiligen Kampf. Beiträge zum Verständnis der Bibel und der christlichen Kirche, Kassel 1938

Reinhold Bengelsdorf: Lieder der SA und deren unterschiedliche Textfassungen (2002), www. kollektives-gedaechtnis.de/texte/vor45/lieder.html (http://www.kollektives-gedaechtnis.de/texte/vor45/ lieder.html)

Deutsches Volkslieder-Archiv, Freiburg i. Br., www.volksliederarchiv.de (http://www.volksliederarchiv. de)

Hanns Eisler: Schriften I. Musik und Politik 1924 – 1948, hrsg. von Günter Mayer, Leipzig 1973

Hartmut Fladt u. a.: Eislers Massenlieder, in: Hanns Eisler, Berlin 1975 (Das Argument, Sonderband 5), S. 154 – 182

Wolfgang Fuhr: Proletarische Musik in Deutschland 1928 – 1933, Göppingen 1977

Erika Funk-Hennigs: Die Agitpropbewegung als Teil der Arbeiterkultur der Weimarer Republik, in: "Es liegt in der Luft was Idiotisches …" Populäre Musik zur Zeit der Weimarer Republik, Beiträge zur Popularmusikforschung 15 / 16, Baden-Baden 1995, S. 182 – 217

Hanns-Werner Heister: Politische Musik, in: MGG (Die Musik in Geschichte und Gegenwart), VII (1997), Sp. 1661 – 1682 ders. u. a.: Zur Hamburger Musik und Musikkultur zwischen Novemberrevolution und Machtübergabe an die Nazis, in: Dirk Hempel / Friederike Weimar (Hrsg.): Himmel auf Zeit. Die Kultur der 1920er Jahre in Hamburg, Hamburg 2010, S. 147 – 165

Werner Hinze: Lieder der Straße. Lexikon-Lesebuch, Hamburg 2002 ders.: Schalmeienklänge im Fackelschein. Ein Beitrag zur Kriegskultur der Zwischenkriegszeit, Hamburg 2002 ders.: Die Schalmei. Vom Kaisersignal zum Marschlied von KPD und NSDAP, Mörlenbach 2002

Johannes Hodek: "Sie wissen, wenn man Heroin nimmt …". Von Sangeslust und Gewalt in Naziliedern, in: Hanns-Werner Heister / Hans-Günter Klein (Hrsg.): Musik und Musikpolitik im faschistischen Deutschland, Frankfurt a. M. 1984, S. 19 – 35

Inge Lammel: Das Arbeiterlied, Leipzig 1975 dies.: Arbeitermusikkultur in Deutschland 1844 – 1945. Bilder und Dokumente, Leipzig 1984

Walter Mossmann/Peter Schleuning: Alte und neue politische Lieder. Entstehung und Gebrauch, Texte und Noten, Reinbek 1978

Wolfgang Steinitz: Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten, Bd. 1: 1955, Bd. 2: 1962, Berlin (West) 1979

Weimarer Republik, hrsg. v. Kunstamt Kreuzberg und Institut für Theaterwissenschaft der Universität Köln, 2. Aufl., Berlin/Hamburg 1977

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 226

Wem gehört die Welt – Kunst und Gesellschaft in der Weimarer Republik, hrsg. v. Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, Berlin 1977 www.kampflieder.de/liedtext.php (http://www.kampflieder.de/liedtext.php)

Lizenz: GNU FDL (http://www.gnu.org/licenses/old-licenses/fdl-1.1.html)

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Mehr Sounds?

17.2.2017

Wenn Sie sich weiter durch das 20. Jahrhundert hören wollen, können Sie hier (http://www.bpb. de/shop/buecher/zeitbilder/170341/sound-des-jahrhunderts) das Buch "Sound des Jahrhunderts" bestellen..

Vorschau auf das 3. Kapitel:

(Zwangs-)Beschallung und Stille. Klanglandschaften der 1930er und 1940er Jahre

Wie die Republik von Weimar verfügte auch das "Dritte Reich" über eine eigene Klangsignatur, die sich im kollektiven Gedächtnis etwa mit Volker Schlöndorffs Verfilmung von Günter Grass’ Blechtrommel erhalten hat. Dazu zählen die dumpfen Marschtritte der SA- und SS-Formationen, die schmissigen Lieder von HJ und BDM, das Gebrüll der NS-Funktionäre, ob live in Stadien oder medial verzerrt im Radio, die martialischen Fanfarenstöße und Trommelwirbel der Wochenschauen und Sondermeldungen, im Krieg dann das unerbittliche Heulen der Sirenen, das ferne Donnern der alliierten Bomberflotten und das verzweifelte Abwehrfeuer der Flakgeschütze, das Explodieren der Bomben und das Rauschen und Prasseln der Feuersbrünste, nicht zuletzt das Geifern und Schreien des Präsidenten des Volksgerichtshofs bei den Schauprozessen gegen die Mitverschwörer des 20. Juli. Weitgehend vergessen hingegen sind das Sturmläuten der Gestapo an den Haustüren, das Klirren der zerbrechenden Ladenscheiben in der "Reichskristallnacht" und die beklemmende Stille, die das NS-Regime auch erzwang.

Lautsprecher Hitler. Über eine Form der Massenkommunikation im Nationalsozialismus

Hört man heute die Rede, die Adolf Hitler am 10. Februar 1933 im Berliner Sportpalast hielt, dann wirkt sie in ihrer Affektivität befremdlich und abstoßend. Dass diese Exaltiertheit und Hysterie in ihrer Zeit als gelungenes Exempel eines neuen, glaubwürdigen Stils der politischen Rede erfahren worden sein soll, ist kaum vorstellbar. Und doch gründete wohl kein anderer Politiker den Erfolg seiner Politik so sehr auf die "Macht der Rede" wie Hitler. Worauf genau aber beruhte diese Macht? Verdankte sie sich tatsächlich ausschließlich dem Können und den manipulativen Fähigkeiten eines "begnadeten Redners"? Oder entwickelte sie sich nicht vielmehr aus dem, was hier Dispositiv LautSprecher genannt wird: aus einem komplexen Zusammenspiel von technischen und kommunikativen Medien, von Lautsprechern und Stimmen der Redner, von Inszenierungspraktiken und Rede-Szenarien, die alle in einer neuen Form akustischer Massenkommunikation münden?

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Ganz Deutschland hört den Führer. Die Beschallung der "Volksgenossen"

Das Radiogerät war in erster Linie ein Apparat im privaten Raum. In der Weimarer Republik war es vor allem in bürgerlichen Wohnzimmern präsent. Erklärtes Ziel der nationalsozialistischen Rundfunkpolitik war der Einzug des Radios in alle Haushalte. So ist es nicht verwunderlich, dass die Nationalsozialisten die Verbreitung der Rundfunkgeräte durch ein Bündel von Maßnahmen förderten; dazu gehörten die serielle Herstellung eines billigen Geräts, des "Volksempfängers", die Ermöglichung von Ratenzahlung oder eine Gebührenbefreiung für Geringverdiener, aber auch gezielte Werbekampagnen, die in propagandistische Strategien eingebettet waren. Propagandaplakat für den Volksempfänger, 1936: Bekannte Beispiele sind das Plakat Ganz Deutschland hört den Führer oder "Ganz Deutschland hört das berühmte Gemälde von Paul Mathias Padua Der Führer spricht, das als den Führer". (© picture- alliance/akg) Massenware zu Werbezwecken reproduziert wurde. Ohne Zweifel erfüllte das Radio eine wichtige Funktion bei der Formierung und Stabilisierung des Regimes. Aber die totale Rundfunkerfassung der "Volksgemeinschaft" blieb ein Wunschtraum. Der Slogan "Rundfunk überall" entsprach nicht der historischen Realität.

Felix Nussbaum: Triumph des Todes; Felix-Nussbaum-Haus, Osnabrück (© picture-alliance/dpa) ... so machtvoll ist der Heimatlieder Klang. Musik im Konzentrationslager

Heute wird selten an die Musik aus den Konzentrationslagern und Ghettos erinnert. Dabei steht sie besonders eindrücklich für das unermessliche Leiden und den ungebrochenen Überlebenswillen der Häftlinge. Die überlieferten Klänge sprechen eine eigene Sprache jenseits des "Unsagbaren". Die Beschäftigung mit Musik half den Gefangenen in mehrfacher Hinsicht. Sie verarbeiteten in ihr ihre Wahrnehmungen und Gefühle. Die Musik half ihnen zudem, zeitweise die Realität des Lagers zu vergessen und in geistige Gegenwelten zu fliehen.

Muzak. Funktionelle Musik, Klangtapeten und Zwangsberieselung im öffentlichen Raum

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1934 beginnt die Firma Muzak, die ersten Fabrikhallen zu verkabeln und mit Lautsprechern zu bestücken. Die Arbeit bekam einen neuen Soundtrack und auch die Tempel des Konsums waren bald erfüllt von Musik. Seitdem lebt der moderne Mensch in einer allüberall klingenden Welt, im "Tonbrei", inmitten von "Klangstaub". Die Allgegenwart von Hintergrundmusik hat quasi in einer Art Rückkopplungseffekt dazu geführt, dass auch ohne konkrete Intention immer mehr akustische Leerräume eher beiläufig gefüllt wurden – bei Sportveranstaltungen etwa, in Fernsehprogrammen, Telefonwarteschleifen, selbst in Konzertpausen wird seither zumeist reflexartig Konservenmusik gestartet. Wie handhabt die Gesellschaft die Vertreibung der Stille? Der Forschung ist es bis heute bislang nicht gelungen, die komplizierten Effekte, Sympathien und Antipathien, die Musik im Menschen auszulösen vermag, wirklich evident zu machen.

Die mexikanische Sängerin Eugenia León singt La Paloma, Mexiko-Stadt, 2006 (© picture-alliance/dpa) La Paloma. Die Grande Dame der Popmusik

Zwei Akkorde, so schlicht wie Beethovens Fünfte, sofort wieder erkennbar, gleichzeitig anschmiegsam an unterschiedlichste Rhythmen, eine Melodie, die zwischen Schnulze und Anspruch vielseitig interpretiert werden kann, als Kunstlied, Schlager, Jazz oder Protestlied – das ist La Paloma. Es gilt als das meistgespielte Lied der Welt. Der Münchner Paloma-Experte Kalle Laar kennt alleine 2.000 Versionen, andere sprechen von 4.000 und mehr. Von Afghanistan über Russland nach Japan und China, von den Philippinen bis nach Sansibar ist La Paloma in ihrem über 150-jährigen Leben gereist. Warum bewegt die "Grande Dame der Popmusik" (so der Musikkritiker Thomas Gross) die Menschen weltweit? "Wenn wir das wüssten, würden nur noch solche Lieder komponiert werden", meint Klaus Doldinger, der Komponist der Tatort-Melodie. "La Paloma ist unter allen Gassenhauern so etwas wie eine Königin", schrieb Fritz Reck-Malleczewen 1937 in seinem Roman La Paloma, "und wenn man La Paloma richtig spielt, dann ist’s wirklich so, als wolle etwas in unirdische Höhe steigen und sich auflösen in eitel Sonnenlicht und Ätherrausch."

Oh The Humanity. Herbert Morrisons Radioreportage vom Absturz der Hindenburg in Lakehurst

Unfälle ereignen sich überraschend. Sie sind nicht vorhersehbar. Nur Zufälle ermöglichen daher die

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Dokumentation einer Katastrophe. Ein solcher Zufall widerfuhr dem Chicagoer Radioreporter Herbert Morrison. Im Mai 1937 war er zum US-Marine-Flughafen in Lakehurst, südlich von New York, gefahren, um eine Reportage von der Landung des Zeppelin Hindenburg zu machen. Unbeabsichtigt wurde er dabei zum Zeugen des Absturzes des Luftschiffs. Seine Radioreportage ist eines der erschütterndsten Tondokumente des 20. Jahrhunderts. Sie ist gleichzeitig ein Meilenstein der Rundfunkgeschichte. Morrisons Reportage wurde als "radiophone Urszene" bezeichnet, "die die Wirkungsmacht des Prinzips live begründete". Die Radioreportage sowie die Fotografien von dem Unglück machten dieses zu einem Medienereignis, das zeitgenössisch von immenser Wirkung war und Teil des kollektiven und insbesondere des auditiven Gedächtnisses des 20. Jahrhunderts wurde. Morrisons auch heute noch ergreifende Radioreportage prägte und prägt die Wahrnehmung des Desasters, das zugleich das Ende der Passagierluftfahrt mit dem Zeppelin einläutete.

Standbild aus dem Film "Bestie Mensch" von Jean Renoir (© picture-alliance, United Archives) Schienenklänge – Lokgesänge. Soundkosmos Eisenbahn

Kaum eine andere technologische Erfindung diente und dient so sehr als Projektionsfläche von Sehnsüchten und Ängsten wie die Eisenbahn. Die Dampflokomotive, der Zug, der Bahnhof – sie sind fester Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses, und das nicht nur in Europa. Als solcher ist die Eisenbahn Gegenstand sowohl der Literatur als auch der Musik. Der Film La Bête Humaine von Jean Renoir aus dem Jahr 1938 beispielsweise zeigt den infernalischen Lärm auf dem Führerstand einer Pacific-Schnellzuglokomotive.

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"Entartete Musik". Die Verfolgung moderner, jüdischer und linker Musik

Am 24. Mai 1938 wurde im Kunstpalast Düsseldorf die Ausstellung Entartete Musik eröffnet. Staatsrat Hans Severus Ziegler, treibende Kraft der Ausstellung, Generalintendant des Deutschen Nationaltheaters Weimar und einer der frühen Anhänger Hitlers, hatte dazu eine Broschüre mit dem Titel Entartete Musik. Eine Abrechnung verfasst. Das Cover kombiniert, auf raffinierte Weise collagierend, mehrere Feindbilder. Da ist zum einen das mit Jazz und moderner Musik assoziierte Saxofon. Die dazu passende affenähnliche Figur mit noblem Frack, Zylinder und Fliege in dynamischer Gesamthaltung und Judenstern am Revers wird als Angriff auf die europäische und damit, im konservativen Verständnis, vor allem deutsche Rassistische und antise­ mitische Broschüre zur Musikkultur stilisiert – ein sozusagen gedoppelter Rassismus. Modell für Ausstellung "Entartete Musik" dieses Bild ist das Cover des Klavierauszugs von Ernst Kreneks erfolgreicher im Rahmen der Reichsm­ usiktage in Düsseldorf und schon damals von rechts angefeindeter Zeitoper Jonny spielt auf von 1938. (© picture-alliance, 1927. Anders als die Ausstellung Entartete Kunst scheint die über "entartete CPA Media Co. Ltd) Musik" nur mäßig erfolgreich gewesen zu sein. Überaus erfolgreich war allerdings das ihr zugrundeliegende generelle ideologische Konzept vor 1933 / 1938 und auch nach 1945.

War of the Worlds. Orson Welles' fiktive Radio-Reportage

Am Abend des 30. Oktober 1938, einen Tag vor Halloween, ging der Schauspieler und Regisseur Orson Welles bei CBS in New York mit einer Hörspielfassung des 1898 erschienenen Science-Fiction-Romans War of the Worlds auf Sendung. Das Buch des britischen Autors H. G. Wells schildert eine Invasion Südenglands durch Marsmenschen. Welles war auf den packenden Stoff 1936 aufmerksam geworden. Gemeinsam mit den Autoren Howard Koch und John Houseman arbeitete er den Roman zu einer einstündigen Live-Reportage über die Landung von Marsmenschen an der amerikanischen Ostküste um. Das Ergebnis war beklemmend realistisch; die Übertragung wurde zu einer Sternstunde des Radios. Der Plakat des Films Krieg der Höhepunkt war erreicht, als der wie Präsident Franklin D. Roosevelt Welten (1953) (© picture- klingende "Innenminister" die Menschen zur Flucht aufforderte. Zwar wurde alliance, United Archives/ WHA) während der Sendung nach rund 40 Minuten noch einmal auf den fiktiven Charakter der Darstellung hingewiesen, als sich im Studio die telefonischen Nachfragen häuften und die New Yorker Polizei einen Streifenwagen vorbeigeschickt hatte. Außerdem wünschte Orson Welles am Schluss des Hörspiels ein fröhliches Halloween. Angesichts der inszenierten Hektik und des fragmentarischen Charakters der "Sondersendung" nahmen dies aber nicht alle Zuhörer wahr. Nach der Sendung wurden Orson Welles und CBS mit Vorwürfen überschüttet. Politik und Teile der Öffentlichkeit warfen ihnen eine verantwortungslose Manipulation der Bevölkerung vor.

Hier ist England. Der Ätherkrieg gegen das "Dritte Reich"

Am 27. September 1938 ertönte zum ersten Mal die Ansage: "This is London calling in the European Service of the BBC. London calling Europe." Und dann auf Deutsch: "Hier ist England! Hier ist England! Hier spricht der Deutsche Dienst der BBC." Es folgten die Wellenlänge und als musikalisches Erkennungszeichen die Anfangstakte aus Henry Purcells Trumpet Voluntary. Anschließend wurde eine Rede des britischen Premierministers Neville Chamberlain zur sogenannten Sudentenkrise vorgelesen. Die Entscheidung, diese Rede auf Deutsch über das Radio zu verbreiten, traf das britische Kabinett erst wenige Stunden vor Sendebeginn. Die BBC war darauf nicht vorbereitet und musste auf die Schnelle eine geeignete freie Frequenz und die notwendigen Sprecher und Übersetzer auftreiben. Aus der Fleetstreet, dem Zeitungszentrum des Landes, organisierte sie, sozusagen per reitenden

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Boten, den österreichischen Emigranten Robert Lucas. Er übertrug die Rede, so wie sie aus dem Fernschreiber kam, ins Deutsche und ein Sprecher las die gerade übersetzten Seiten vor. Wahrscheinlich hörte kaum mehr als eine Handvoll Personen in Nazideutschland diese unangekündigte und spontane erste deutschsprachige Sendung der BBC.

Warnsignale des Todes. Fliegeralarm und Luftschutzsirenen

An den Krieg und seine neue Geräuschkulisse versuchten die Nationalsozialisten die Bevölkerung schon früh zu gewöhnen. In München etwa übte sich die NSDAP bereits Anfang 1933 in einem bizarren Schauspiel, um die Stadt auf die kriegerische Zukunft vorzubereiten. Während Hitler- Jungen und SA-Aktivisten Flugblätter mit Hinweisen zum richtigen Verhalten bei Luftangriffen verteilten, kreisten über der Innenstadt eigens gecharterte Flieger: Gegen 10:45 Uhr warf das erste Flugzeug mit Sand gefüllte Papierbomben ab. Gleichzeitig ertönten Sirenen, der Verkehr kam zum Erliegen und SA-Männer mit Gasmasken gingen zusammen mit der Feuerwehr daran, die "Bomben" zu entschärfen. Die Botschaft war Luftschutzplakat - herau­ unmissverständlich: Luftschutz, das war etwas, das bald für jeden Bürger im sgegeben vom Reichslu­ "Dritten Reich" überlebenswichtig werden sollte. Darauf sollte die Bevölkerung ftschutzbund Baden- Rheinpfalz. (© picture- vorbereitet werden. Dahinter stand die Überzeugung, dass diese durch alliance/akg) Erziehung und Disziplin zur Luftschutzgemeinschaft reifen könne. Die Sirenen gaben dieser völkischen Bewährungsprobe eine eigene akustische Struktur: den Auftakt des Kampfes, die Phase der Abwehrschlacht und Konzentration und das siegesgewisse Durchatmen nach Ende der Angriffe.

Der Krieg – Ein rücksichtsloses Geräusch. Der Lärm des Zweiten Weltkriegs

Kaum jemand hat nach der Verherrlichung des "modernen" Lärms im Futurismus (1911 Paul) und vor der Sprachzertrümmerung der Dadaisten (1916 Schock) so eindrücklich wie der Sprachkünstler, Dramatiker und Lyriker August Stramm die Klangsignatur des Krieges in Worte gefasst. Er hat mit seinem "Klappen Tappen Wühlen Kreischen / Schrille Pfeifen Fauchen Schwirren / Splittern Klatschen Knarren Knirschen / Stumpfen Stampfen" – in seinem Gedicht Granaten von 1915 – die Akustik des modernen Krieges auf den Punkt gebracht. Seine Kunst kann als Inbegriff einer vom Kriegslärm ausgelösten und inspirierten lyrischen Sprache im 20. Jahrhundert gelten – und bleibt in der Beschreibung eines anhaltend monotonen, sich allenfalls im Sturmangriff in Bewegung umsetzenden Kriegslärms doch auf den Ersten Weltkrieg konzentriert. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Geräuschkulisse umfassender und dynamischer. Was mit der Beschreibung der Kriegsgeräusche begann, setzte sich im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs in der wissenschaftlich betriebenen Decodierung des Kriegslärms und der Entwicklung spezifischer Lärmwaffen fort.

Tönende Wochenschau. Die Musik der Deutschen Wochenschau

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 233

Soll man heute beschreiben, wie die Musik der Deutschen Wochenschau geklungen hat, fallen einem dazu meist die majestätischen Takte aus Franz Liszts Les Préludes ein, die den Bildern des Krieges einen für heutige Ohren übertrieben pathetischen und stark emotionalisierenden Anstrich verliehen haben. Diese akustische Farbgebung war es wohl auch, die der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Joseph Goebbels, vor Augen (bzw. Ohren) hatte, als er angesichts uninteressanter Filmbilder am 14. Juli 1941 in seinem Tagebuch notierte: "Ich sehe mich […] dazu veranlasst, Schnitte anzulegen, den Text zu verstärken und zu verschärfen und dafür zu sorgen, dass eine Musik angelegt wird, die das, was an der Kraft der Bilder 1941: Harry Giese, Sprecher der fehlt, dann auf ihre Weise hinzuzufügen versuchen muss." Diese Deutschen Wochenschau, vor Mikrofonen Aussage könnte man geradezu als Quintessenz dessen ansehen, Lizenz: cc by-sa/3.0/de ( Bundesarchiv, Bild 183-2007-1026-501 / Unbekannt) was die nationalsozialistischen Machthaber von der Wochenschaumusik erwarteten: Sie sollte Filmbilder positiv emotional einfärben und so untermalen, dass aus langweiligen und ohne einen inneren Zusammenhang aneinandergefügten Wochenschaubildern ein für den Zuschauer positives und mitreißendes emotionales Erlebnis wurde.

Reichskommissar für die besetzten Niederlande Arthur Seyss-Inquart bei einer Parade der deutschen Ordnungspolizei 1941 in Amsterdam. (© picture-alliance/akg) Der Klang der Besatzungszeit. Amsterdam 1940 bis 1945

In den frühen Morgenstunden des 10. Mai 1940 wurden viele Amsterdamer Bürger von Explosionen, über die Stadt fliegende Flugzeugen oder verängstigten Verwandten geweckt. Erst später am Tag wurde ihnen langsam klar, dass die widerhallenden Detonationen nicht mehr von Wehrübungen zu Friedenszeiten herrührten. Das Wissen, dass man sich nun im Krieg befand, machte einen gewaltigen Unterschied: Die durchaus vertrauten Geräusche bekamen eine neue Bedeutung und wurden anders wahrgenommen. Diese tief greifende Veränderung kann von ihren akustischen Erscheinungen her mit der Erfahrung verglichen werden, in ein neues Haus einzuziehen: Am ersten Tag sind alle eigentlich

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 234 bekannten Klänge und Geräusche neu und deshalb sehr viel auffälliger. Es war, als ob ganz Amsterdam über Nacht in ein neues Haus gezogen wäre.

Die akustische Erkundung der Tiefe. Vom Echolot zum Sonar

Es ist das Jahr 1941. Das deutsche U-Boot U 96 durchpflügt den Atlantik vor der französischen Küste auf der Suche nach englischen Geleitzügen. Nach außen repräsentiert U 96 die mächtige Kriegstechnologie des 20. Jahrhunderts. In seinem Innern bildet es einen technischen und rein männlichen Mikrokosmos. Hunderte Tonnen von Stahl umschließen wie geschmiert ineinandergreifende organische und maschinelle Körper, die auf engstem Raum einer strengen Befehlskette gehorchen. Die gängigen Assoziationen moderner Kriegsgewalt mit grellem Gedröhn sind außer 1940er Jahre: Blick durch ein Kraft gesetzt. Das U-Boot bewegt sich fast lautlos und in vollständiger Schott eines U-Bootes während Dunkelheit. Geradezu blind sind die Männer in seinem Bauch. In der des Mittagessens. (© picture- alliance/akg) undurchdringlichen Unterwasserwelt wird ihnen der Schall zum wichtigsten Orientierungsmittel. Das U-Boot U 96, das zwischen 1940 und 1945 für die deutsche Kriegsmarine im Einsatz war, wurde durch den Spielfilm Das Boot von 1981 bekannt. Der Film setzt die Unterwassergeräusche gezielt als Effektmittel ein, um die gespannte Atmosphäre in der Enge des U-Boots, in der die Ohren der Männer zu ihren Augen werden, einzufangen.

Wagners Walkürenritt wurde auch von der US-Armee in Afghanistan zu Motivationszwecken verwendet. (© picture- alliance/dpa) Wagners Walkürenritt. Aus dem Orchestergraben auf das Schlachtfeld des (post-)modernen Krieges

Das Vorspiel zum 3. Akt seiner 1870 uraufgeführten Oper Die Walküre, das mit der anschließenden Szene als "Walkürenritt" bezeichnet wird, gilt heute als das bekannteste und meist zitierte Musikstück aus Richard Wagners Ring des Nibelungen und als eine seiner bekanntesten Kompositionen

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überhaupt. Es diente als Hintergrundmusik in deutschen Kriegswochenschauen sowie als musikalisches Stilmittel in populären Spielfilmen. Wie eine moderne Medienikone hat es sich von seinem historisch-kulturellen Entstehungszusammenhang gelöst und vagabundiert seitdem, multifunktional verwendbar, um den Erdball. Längst ist es auch zu einem Bestandteil der Populärkultur und der Werbung sowie zum akustischen Erinnerungsort des modernen Krieges geworden. Zudem ist es vermutlich das einzige Musikstück, das es aus dem Orchestergraben des 19. auf das Schlachtfeld des 21. Jahrhunderts geschafft hat. Damit erfüllt es so unterschiedliche Funktionen wie die emotionale Aufladung von Filmbildern, die Mobilisierung des soldatischen Kampfwillens und die Einschüchterung des Gegners. Nach einer Studie ist der "Walkürenritt" für Autofahrer eine überaus gefährliche Musik. Ihr Rhythmus senke die Reaktionsgeschwindigkeit um 20 Prozent.

Lili Marleen. Lied über den Fronten

Lale Andersen im Kabarett der Komiker, 1938 Lizenz: cc by/3.0/de (Wikimedia, Willy Pragher / Deutsche Digitale Bibliothek (https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/PN4IYH3YPPR2NHKSOTGRWDVHN2VABK6C)) Ende April 1941: Von nun an ertönt jeden Abend im Radio ein Zapfenstreich, gefolgt von der rauen Stimme Lale Andersens. Sie singt ein Lied, das eigentlich eine männliche Stimme verlangt. Es geht darin um einen Soldaten, der sich das Wiedersehen mit einer gewissen "Lili Marleen" wünscht. Gleichzeitig besingt er seinen eigenen, zu erwartenden Tod. Dieser Widerspruch mag dazu beigetragen haben, dass Lili Marleen zum berühmtesten Hit des Zweiten Weltkriegs wurde. Die Männer in den Schützengräben oder Kasernen und die Frauen an der "Heimatfront" versammelten sich zu Tausenden zur gleichen Stunde um ein Radiogerät, um dieses Lied zu hören. Und zwar nicht nur die Deutschen: Das merkwürdige Lied übte auch auf die Alliierten seinen Zauber aus. Der amerikanische Kriegskorrespondent John Steinbeck fragte sich sogar, ob es nicht "amüsant wäre, wenn nach all dem Theater und Sieg-Heil-Geschrei, nach all der Marschiererei und Indoktrination der einzige Nazi-Beitrag für die Welt Lili Marleen gewesen sein sollte". Lili Marleen ein Nazilied? Eine Friedenshymne? Oder das einzig Gute, was aus dem "Dritten Reich" entsprungen ist? Keine der drei Interpretationen trifft wirklich zu.

Sinnlos verlorene Liebesmüh für Deutschland. Thomas Manns BBC-Reden: Deutsche Hörer!

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Am 28. Juni 1941, sechs Tage nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, tauschte der Deutsche Dienst der BBC seine Erkennungsmelodie aus. Statt der festlich-beschwingten Anfangstakte aus Henry Purcells Stück Trumpet Voluntary erklang nun das dramatische, aus den ersten vier Noten bestehende Kernmotiv aus Beethovens 5. Sinfonie, der Schicksalssinfonie, gespielt auf einer Pauke und dreimal wiederholt. Die NS-Ideologen deuteten diese ("so pocht das Schicksal an die Pforte") als authentischen Ausdruck des germanischen Selbstverständnisses und als Illustration des "Existenzkampfs eines Volkes, das einen Führer sucht und endlich findet". Vielleicht wollte die BBC einen ideologischen Kontrapunkt setzen, der entscheidende Grund für die Wahl dieses pathetischen Themas war jedoch ein anderer: Das bekannteste Symbol der Siegeshoffnung der Alliierten war das Zeichen "V" für victory. Beim Morsen wird dieser Buchstabe durch drei kurze und ein langes Signal übermittelt, dem Rhythmus von Beethovens Einleitungsmotiv. Bis zum 8. Mai 1945 blieben die eindringlichen Paukenschläge das Erkennungszeichen des Deutschen Dienstes, sie leiteten auch die Reden von Thomas Mann ein.

Davon geht die Welt nicht unter. Die musikalische Ertüchtigung der "Volksgenossen"

Im Gegensatz zur ernst-pathetischen Musik, mit der die Nationalsozialisten sich und ihr Regime zu inszenieren versuchten, bot die Unterhaltungsmusik auf den ersten Blick einen Freiraum, der ganz der Privatsphäre zu gehören schien. Doch dieser scheinbar unpolitische Bereich war gleichermaßen dem Einfluss der Nationalsozialisten unterworfen, die nichts dem Zufall überließen und planend und gestaltend auf die Lebensgewohnheiten der Menschen einwirkten. So allgegenwärtig nämlich die Musik war, so vielfältig war ihre Funktion im privaten wie im außerhäuslichen Kinoplakat zu Die große Liebe mit Bereich. Sie diente der Ablenkung und Entspannung, aber auch als Zarah Leander (R.: Rolf Hansen, D Rahmen für sportliche und politische Veranstaltungen: Reden, 1942) (© picture-alliance, ZB) Großveranstaltungen, Paraden, Reichsparteitage, Gedenk-, Eröffnungs- und Einweihungsfeiern waren stets von musikalischen Darbietungen begleitet. Bei all diesen Veranstaltungen gehörte die Musik zum Ablauf, genauso wie Uniformen, Fahnen, Symbole oder Grußformen.

Sound der Freiheit. Swing und "Swingjugend" im Nationalsozialismus

"Swing-Musik gebührt das Verdienst, den ungezügelten und primitiven Jazz überwunden zu haben", hieß es 1935 in einer Plattenwerbung. In Amerika hatte sich der neue Bigband-Sound bereits durchgesetzt. Nun hielt der geschliffene Stil auch in Deutschland Einzug. Die raffinierten Arrangements lösten Begeisterung aus. Bandleader wie Duke Ellington oder Benny Goodman wurden zu Idolen. Ihre Pendants in Deutschland hießen Teddy Stauffer oder Kurt Widmann, eine neue Musikergeneration, die sich mit dem Swing identifizierte und darin sogar bestärkt wurde. 1936, während der Olympischen Spiele in Berlin, wollte sich das Regime weltoffen geben. Der Swing setzte sich durch. Die Swingbewegung war individualistisch, ja anarchistisch, aber vor allem sehr kreativ. Der Swing war der Sound der Freiheit und so etwas wie der akustische Kitt für den gesamten jugendlichen Widerstand in Nazideutschland. Als das Ende näher rückte und die Jugend immer noch aus der Reihe tanzte, wurden die Gegenmaßnahmen härter und noch absurder. Dafür sorgten nicht zuletzt Propagandaminister Goebbels und Gestapochef Himmler, die beide direkt mit der Causa Swing befasst waren.

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Dmitri Schostakowitsch arbeitet in seiner Wohnung im belagerten Leningrad 1941 an der Niederschrift der 7. Sinfonie C-Dur op. 60; aus dem Film Leningrad, 1947 (© picture-alliance/akg) Der Weltkrieg in der zeitgenössischen Musik. Schostakowitschs Leningrader Sinfonie und Schönbergs A Survivor from Warsaw

Sie gehören zu den bedeutendsten Kompositionen, die während bzw. bald nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden und auf diesen Bezug nehmen: Dmitri Schostakowitschs Leningrader Sinfonie thematisiert den Expansionsdrang des "Dritten Reiches", Arnold Schönbergs A Survivor from Warsaw führt den Holocaust vor Augen. Beide Werke könnten gegensätzlicher kaum sein. Die Leningrader folgt der traditionellen Gattung der Sinfonie und verbleibt mit ihrer Form, ihrem harmonischen System und ihrer Sprache in einer Musiktradition, die seit dem 18. Jahrhundert verbindlich ist. Schönberg wendet sich von der Musiktradition ab und zieht die von ihm maßgeblich geprägten neuen Systeme der Atonalität und der Zwölftontechnik heran. Auch die Ausmaße könnten unterschiedlicher kaum sein: Der Survivor dauert kaum acht, die Leningrader rund 80 Minuten. Sie verlangt die größte Orchesterbesetzung in der Geschichte der Sinfonie, der Survivor beschränkt sich auf ein Kammerensemble, einen Sprecher und einen Männerchor. Schostakowitsch schuf sein Werk aus unmittelbarem Erleben der deutschen Invasion und der Belagerung Leningrads. Schönbergs Komposition basiert auf den Berichten anderer.

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Wollt ihr den totalen Krieg? Der Lautsprecher und die Medialisierung der Stimme des Politikers

Gut zwei Wochen nach der Kapitulation der 6. Armee im Kessel von Stalingrad hielt der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda Joseph Goebbels eine Rede im Berliner Sportpalast. Das Thema war die Treue zum "Führer" auch im Angesicht schwerster Katastrophen. Geladen waren überzeugte Anhänger des Regimes. In zehn rhetorischen Fragen fasste Goebbels sein Anliegen zusammen, stets unterbrochen von frenetischen Ja-Rufen. Nach der vierten Frage, der nach der Bereitschaft März 1933: Joseph Goebbels, Reichsminister für Volksaufk­ zum "totalen Krieg", wurde die Rede benannt. Diese Goebbels-Rede war lärung und Propaganda, bei nur dank einer Technik möglich, deren Entwicklung erst wenige Jahre einer Rede im Berliner Sportpalast vor zahlreichen zurücklag. 1926 hatte die riesige Halle eine Lautsprecheranlage erhalten. Mikrofonen. (© picture-alliance, Goebbels sprach bzw. schrie bei seiner Rede im Februar 1943 jedoch Keystone) noch so, wie er es seit seinen Anfängen gewohnt war. Dies bewirkte eine "unnatürliche" Steigerung der Stimme, die zum weiteren Auftrumpfen im medialen Bereich passte: zum Fahnenmeer, zu den Nazi-Emblemen, zum Aufmarsch mit Musik. Noch nach 1945 fielen Politiker der älteren Generation bei Reden vor Mikrofon mit dieser "Unnatürlichkeit" auf, sodass der Sozialdemokrat und ehemalige KZ-Häftling Kurt Schumacher englische Studenten an die Nazis erinnerte.

Freisler als Präsident des Volksgerichtshofs am Schreibtisch, um 1944 (© picture-alliance/dpa) Freislers Stimme. Vernichtungsrhetorik vor dem Volksgerichtshof 1944

Unter allen Stimmen des "Dritten Reiches", die sich im öffentlichen Gedächtnis erhalten und eingebrannt haben, spielt neben Hitler und Goebbels sicher Roland Freisler die Hauptrolle. Der berüchtigte Strafrichter des Volksgerichtshofs, an dem zwischen 1934 und 1945 politische Justiz geübt

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 239 wurde, fällte zwischen 1942 und 1945 rund 2.500 Todesurteile, darunter allein 104 gegen die Attentäter des 20. Juli 1944. An diesem Tag hatte der Offizier Claus Schenk Graf von Stauffenberg eine Bombe im Führerhauptquartier gezündet; Hitler überlebte jedoch und ließ in den Monaten danach sämtliche Verschwörer gnadenlos verfolgen und in Schauprozessen verurteilen. Freisler stieg unmittelbar nach Hitlers Machtübernahme zum Gerichtspräsidenten auf. In dieser Eigenschaft besuchte er den berüchtigten sowjetischen Kollegen Wyschinski bei dessen Schauprozessen in Moskau. Hatte man dort die Angeklagten in Vorverhören zu Geständnissen gezwungen, zog Freisler, eitel und sadistisch wie er war, peinigende Dialoge für die Öffentlichkeit vor. Die Verhandlung gegen Ulrich-Wilhelm Graf von Schwerin von Schwanenfeld, eine der zentralen Figuren des versuchten Staatsstreichs, gehörte zu den grausamsten.

Seit Mitternacht schweigen nun an allen Fronten die Waffen. Das Ende des Zweiten Weltkriegs im Radio

Mittwoch, 9. Mai 1945, 20:03 Uhr: Nachdem das bekannte Pausenzeichen des Reichssenders Berlin verklungen war, ertönte zwischen heftigen Rausch- und Knackgeräuschen folgende Durchsage aus den Rundfunkempfängern: "'Seit Mitternacht schweigen nun an allen Fronten die Waffen. Auf Befehl des Großadmirals hat die Wehrmacht den aussichtslos gewordenen Kampf eingestellt. Damit ist das fast sechsjährige heldenhafte Ringen zu Ende. Es hat uns große Siege, aber auch schwere Niederlagen gebracht. Die deutsche Wehrmacht ist am Ende einer Standort des Reichssenders Flensburg 1945; Alte Post, Flensburg, 2012 gewaltigen Übermacht ehrenvoll unterlegen.‘ Wir brachten den Lizenz: cc by-nc-sa/3.0/de (Wikimedia, Wortlaut des letzten Wehrmachtsberichts dieses Krieges." Obwohl Soenke Rahn) diese Sätze damals nur einen begrenzten Hörerkreis erreichten, zählen sie heute zu den bedeutendsten akustischen Erinnerungsorten des 20. Jahrhunderts. Diese Sätze machten nicht nur Rundfunkgeschichte, sie begründeten zugleich eine der folgenschwersten Legenden des 20. Jahrhunderts: die von der "sauberen Wehrmacht". Vermutlich deshalb werden sie auf rechtsradikalen Feiern heute besonders gerne zitiert.

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Dein Sound des Jahrhunderts

5.7.2016

Was ist für Dich Dein Sound? Was ist Dir im Ohr geblieben? Was verbindest Du mit bestimmten Klängen, Liedern und Stimmen? Die Redaktion veröffentlicht hier nach und nach Zitate zu Eurem Sound des Jahrhunderts.

In welchen Klanglandschaften bewegst Du Dich? Welche akustischen Eindrücke umgeben Dich und was bedeuten sie? Du kannst Deine eigene Soundgeschichte schreiben. Schick uns eine Mail oder kontaktiere uns über Twitter (https://twitter.com/search?q=Jahrhundertsound&src=typd&lang=de) oder Facebook (https://www.facebook.com/bpb.de).

Für mich ist der Sound des Jahrhunderts der Song „All along the Watchtower“ in der Version von Jimi Hendrix, die sich wie eine Naturgewalt entlädt: das Donnern der Akkorde unisono zu Beginn, das helle Einschlagen der Gitarrenstimme und der wie eine religiöse Offenbarung hinaus geschmetterte Gesang. Das erste Mal hörte ich diesen Song mit 11 oder 12 Jahren. Und dies nicht etwa im Radio oder auf der Stereoanlage meiner Eltern, sondern auf billigen PC-Boxen, vor dem flimmernden Computerbildschirm, im abgedunkelten Kinderzimmer eines Schulfreundes.

Martin D.

23 Jahre, Jena

Schon seit meiner Kindheit begleitet mich die Musik der christlich-arabischen Sängerin Fairuz aus dem Libanon, die ich fast jeden Morgen höre. In dem sie in ihren Liedern auf einmalige Art und Weise musikalische Stilelemente aus der christlich-europäischen Musiktradition mit solchen der arabischen Musik verbindet, symbolisiert sie für mich nicht nur die kulturelle Vielfalt des Nahen Ostens, sondern auch dessen Verbundenheit mit Europa.

Roai A.

22 Jahre, Israel

Mein Alltag ist geprägt von den Signaltönen meines Mobiltelefons: Wenn mich eine E-Mail oder eine SMS erreicht, dann höre ich sie, bevor ich sie sehe. Anders als früher muss ich nicht zum Briefkasten oder zum Postamt gehen, um zu wissen, ob ich eine Nachricht erhalten habe. Diese Signaltöne gehören zu meiner Umgebung wie das Geräusch von Automotoren und Vogelgezwitscher. Bei jedem Klingeln greife ich automatisch zu meinem Handy und sehe sofort nach, wer was geschrieben hat. Das ist Routine. Signaltöne können aber auch eine emotionale Bedeutung haben: manchmal warte ich auf den Ton, manchmal sehe ich nach einer Nachricht, obwohl ich nichts gehört habe.

Marta C.

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24 Jahre, Brasilien

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Hörbeispiele im Internet

5.7.2016

Das größte Audioarchiv ist heute das Internet. Dort findet sich eine Vielzahl historischer wie aktueller Tonaufzeichnungen. Als Ergänzung zu den einzelnen Aufsätzen sind im Folgenden Links aufgelistet, die zu weiteren Hörbeispielen im Internet führen. Die Aufstellung erfolgte zum Teil nach den Angaben der Autorinnen und Autoren dieses Bandes, zum Teil stellte sie Gerhard Paul zusammen. Mehr Suchbegriffe zu Hörbeispielen finden sich zudem im Buch.

Kapitel 1 / 1889 bis 1919

Der Sound aus dem Trichter. Kulturgeschichte des Phonographen und des Grammophons Thomas Edison, "Mary had a little lamb" (12.8.1927), Aufnahme aus Anlass des 50. Jahrestages der Erfindung des Phonographen. Edison demonstriert, wie er 1877 die erste Aufnahme machte, das Original dieser ersten Aufnahme selbst ist nicht überliefert: http://archive.org/details/EDIS-SCD-02 (http://archive.org/details/EDIS-SCD-02)

Helmuth von Moltke (21.10.1889) https://www.youtube.com/watch?v=OythrZ5_sdQ (https://www.youtube.com/watch?v=OythrZ5_sdQ)

Kaiser-Sound: Wilhelm II. auf frühen Tondokumenten Ansprache Kaiser Wilhelm II., "Hunnenrede" (27.7.1900), Bremerhaven https://www.youtube.com/watch?v=F0Ggta5w4IU (https://www.youtube.com/watch?v=F0Ggta5w4IU)

Rede Kaiser Wilhelm II., "An das deutsche Volk" – 6. August 1914 https://vimeo.com/84378854 (https://vimeo.com/84378854)

Heil Dir im Siegerkranz: Patriotisches Liedgut im Deutschen Kaiserreich "Der Gott der Eisen wachsen ließ" http://gutenberg.spiegel.de/buch/gedichte-2227/96 (http://gutenberg.spiegel.de/buch/gedichte-2227/96)

"Lützows wilde Jagd" http://gutenberg.spiegel.de/buch/leier-und-schwert-1909/30 (http://gutenberg.spiegel.de/buch/leier- und-schwert-1909/30)

"Ich hatt einen Kameraden" http://gutenberg.spiegel.de/buch/ludwig-uhland-gedichte-5084/9 (http://gutenberg.spiegel.de/buch/ ludwig-uhland-gedichte-5084/9)

Come Quick, Danger! Vom ersten funkentelegraphischen Notruf zum SOS-Jingle SOS-Morsezeichen (o.J.) https://www.youtube.com/watch?v=MKZ6rlqu-pg (https://www.youtube.com/watch?v=MKZ6rlqu-pg)

"Simulation of final radiotelegraph transmissions from the ‚Titanic‘" https://www.youtube.com/watch?v=snkwsU98QlQ (https://www.youtube.com/watch?v=snkwsU98QlQ)

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Caruso auf Platte. Die Geschichte der Tonspeicherung und der Tonträger Library of Congress, National Jukebox: 176 Caruso-Aufnahmen (1909): Suche in: www.loc.gov/jukebox (http://www.loc.gov/jukebox) "Caruso"

Der Lärm der Straße dringt in das Haus Luigi Russolo Diverse Kompositionen http://www.ubu.com/sound/russolo_l.html (http://www.ubu.com/sound/russolo_l.html)

Le Sacre du Printemps Igor Markevitch – Live in Japan 1968 Stravinsky: Le Sacre du Printemps https://www.youtube.com/watch?v=aN_Kv4AXiZU (https://www.youtube.com/watch?v=aN_Kv4AXiZU)

Cezary Ostrowski: The Rite of Spring (2011) https://en.wikipedia.org/wiki/Cezary_Ostrowski?uselang=de (https://en.wikipedia.org/wiki/Cezary_Ostrowski? uselang=de)

Trommelfeuer aufs Trommelfell Lewis Milestone, "Im Westen nichts Neues" (Tonfilm USA 1930) Ausschnitt aus der Grabenkampfsequenz https://www.youtube.com/watch?v=Ciq9ts02ci4 (https://www.youtube.com/watch?v=Ciq9ts02ci4)

Von Kinokapellen und Klavierillustratoren Fritz Lang, "Metropolis" (Stummfilm D 1927) Musik: Gottfried Huppertz, Ausschnitt https://www.youtube.com/watch?v=16TLqSJHZ9o (https://www.youtube.com/watch?v=16TLqSJHZ9o)

Walter Ruttmann, Berlin. "Die Sinfonie der Großstadt" (Stummfilm D 1927) Musik: Edmund Meisel http://www.dailymotion.com/video/x2rdk23 (http://www.dailymotion.com/video/x2rdk23)

Grigori Kosinzew / Leonid Trauberg, "Das Neue Babylon" (Stummfilm UdSSR 1928) Musik: Dmitri Schostakowitsch https://www.youtube.com/watch?v=LprD4y-7Huw (https://www.youtube.com/watch?v=LprD4y-7Huw)

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Soundarchive

5.7.2016

Phonotheken und Tonarchive – international

Association for Recorded Sound Collections (http://www.arsc-audio.org/index.php)

Bibliothèque nationale de France, Archives sonores - Europeana (http://www.bnf.fr/fr/ collections_et_services/arch_son/s.archives_sonores_inedites.html?first_Art=non)

Institut national de l’audiovisuel (http://www.ina.fr/)

International Association of Sound and Audiovisual Archives (http://www.iasa-web.org/)

Library of Congress, Online Audio Collections and Presentations (http://www.loc.gov/rr/record/ onlinecollections.html)

EU-Projekt "Work with Sounds" - europäisches Klangarchiv mit Klängen der Arbeit in der industriellen Gesellschaft (http://www.workwithsounds.eu)

Music Library Finland (http://www.nationallibrary.fi/en/services/kokoelmat/musiikkikirjasto.html)

National Archives, USA (http://www.archives.gov/)

Norwegian Institute of Recorded Sound (http://www.recordedsound.no/english/)

Phonogrammarchiv der Universität Zürich (http://www.phonogrammarchiv.uzh.ch/de.html)

Schweizer Nationalphonothek (http://www.fonoteca.ch/wordpress/?lang=de)

The British Library Sound Archive (http://www.bl.uk/subjects/sound) Das Phonogrammarchiv – Österreichs wissenschaftliches audiovisuelles Archiv (http://www. phonogrammarchiv.at/wwwnew/)

Radioooooo.com - The Musical Time Machine (http://radiooooo.com/) radio aporee ::: eine globale Soundmap (http://aporee.org/maps/) Phonotheken und Tonarchive – national

"Archiv der Stimmen" der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) (http://mediathek.slub-dresden.de/db/apsisa.dll/ete?action=viewPage&page=stimmen.xml)

Berliner Lautarchiv (http://www.sammlungen.hu-berlin.de/sammlungen/78/)

Deutsches Rundfunkarchiv Frankfurt am Main / Potsdam-Babelsberg (http://www.dra.de/)

Deutsches Volksliedarchiv (http://www.zpkm.uni-freiburg.de/sammlungen/Deutsches_Volksliedarchiv)

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Ethnologisches Museum der Staatlichen Museen zu Berlin (SMB) (http://www.smb.museum/museen- und-einrichtungen/ethnologisches-museum/home.html) Landesmedienzentrum Baden-Württemberg / mediaculture.online, Tonarchiv (http://www.lmz-bw.de/ medienbildung.html)

Medienarchiv Bielefeld, Frank-Becker-Stiftung (http://medienarchiv-bielefeld.de/)

SWR2 Archivradio: Hörfunkgeschichte (http://www.swr.de/swr2/wissen/archivradio/archivradio- rundfunkgeschichte/-/id=2847740/did=8717932/nid=2847740/4o9tzk/index.html)

Tonarchiv des Archivs der Sozialen Demokratie (https://www.fes.de/archiv/adsd_neu/inhalt/sammlung/ audiovisuell/tonarchiv.htm)

Universität Regensburg, Historisches Werbefunkarchiv (http://raw.uni-regensburg.de/hwa.php)

Film / TV

Archiv der deutschen Wochenschauen (http://www.wochenschau-archiv.de/)

Deutsche Kinemathek (https://www.deutsche-kinemathek.de/) EU-Screen (http://www.euscreen.eu/)

Filmportal (http://www.filmportal.de/)

Jazz

Jazzindex – Schweiz (http://www.jazzindex.ch/de/index.php) Jazzinstitut Darmstadt (http://www.darmstadt.de/kultur/musik/jazz/neue_website/?lang=de)

Klaus Kuhnke Archiv für populäre Musik (http://www.kkarchiv.de/) Lippmann+Rau-Musikarchiv Eisenach (http://www.lr-musikarchiv.de/LRMusikarchiv/FUNDSTUCKE. html)

Rutgers University – Institute of Jazz Studies (http://newarkwww.rutgers.edu/IJS/)

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Ausgewählte Literatur

5.7.2016

Nora M. Alter / Lutz Koepnick (Hrsg.): Sound Matters. Essays on the Acoustics of Modern German Culture, New York 2004

Klaus Arnold: Kalter Krieg im Äther. Der Deutschlandsender und die Westpropaganda der DDR, München 2002

Ders. / Christoph Classen (Hrsg.): Zwischen Pop und Propaganda. Radio in der DDR, Berlin 2004

Anne Bartsch / Jens Eder / Kathrin Fahlenbrach (Hrsg.): Audiovisuelle Emotionen. Emotionsdarstellungen und Emotionsvermittlung durch audiovisuelle Medienangebote, Köln 2007

Frauke Behrendt: Handymusik: Klangkunst und "mobile devices", Osnabrück 2004

Efrat Ben-Ze’ev / Ruth Ginio / Jay Winter (Hrsg.): Shadows of War. A Social History of Silence in the Twentieth Century, Cambridge u. a. 2010

Tillmann Bendikowski / Sabine Gillmann / Christian Jansen / Markus Leniger / Dirk Pöppmann (Hrsg.): Die Macht der Töne. Musik als Mittel politischer Identitätsstiftung im 20. Jahrhundert, Münster 2003

Volker Bernius / Peter Kemper / Regina Oehler / Karl-Heinz Wellmann: Der Aufstand des Ohrs – die neue Lust am Hören (Begleitbuch zum Funkkolleg), Göttingen 2006

Robert T. Beyer: Sounds of Our Times. Two Hundred Years of Acoustics, New York 1999

Karin Bijsterveld: Mechanical Sound: Technology, Culture, and Public Problems of Noise in the Twentieth Century, Cambridge, MA 2008

Dies. (Hrsg.): Soundscapes of the Urban Past. Staged Sound as Mediated Cultural Heritage, Bielefeld 2013

Dies. / Trevor Pinch (Hrsg.): Oxford Handbook of Sound Studies, Oxford 2012

Dies. / José van Dijck (Hrsg.): Sound Souvenirs. Audio Technologies, Memory and Cultural Practices, Amsterdam 2009

Carolyn Birdsall: Nazi Soundscapes. Sound, Technology, and Urban Space in Germany, 1933 – 1945, Amsterdam 2012

Sibylle Bolik: Das Hörspiel in der DDR. Themen und Tendenzen, Frankfurt a. M. 1994

Juliane Brauer: Musik im Konzentrationslager Sachsenhausen, Berlin 2009

Jürgen Bräunlein / Bernd Flessner (Hrsg.): Der sprechende Knochen. Perspektiven von Telefonkulturen, Würzburg 2000

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Kai Bronner: Audio-Branding. Akustische Markenkommunikation als Strategie der Markenführung, München 2007

Ders. / Rainer Hirt (Hrsg.): Audio-Branding. Entwicklung, Anwendung, Wirkung akustischer Identitäten in Werbung, Medien und Gesellschaft, München 2007

Dies. (Hrsg.): Audio Branding: Brands, Sounds and Communication, Baden-Baden 2009

Amaury du Closel: Erstickte Stimmen. "Entartete Musik" im Dritten Reich, Köln 2010

Alain Corbin: Die Sprache der Glocken. Ländliche Gefühlskultur und symbolische Ordnung im Frankreich des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1995

Michael Derenburg: Streifzüge durch vier RIAS-Jahrzehnte. Anfänge und Wandlungen eines Rundfunksenders, Berlin 1986

Karl Heinz Dettke: Kinoorgeln und Kinomusik in Deutschland, Stuttgart 1995

Ulrich Dibelius: Moderne Musik nach 1945, München 1998

Ders./Frank Schneider (Hrsg.): Neue Musik im geteilten Deutschland, 4 Bde., Berlin 1993 – 1999

Ansgar Diller: Rundfunkpolitik im Dritten Reich, München 1980

Monika Dommann: Antiphon. Zur Resonanz des Lärms in der Geschichte, in: Historische Anthropologie 14 (2006) 1, S. 133 – 146

Albrecht Dümling / Peter Girth (Hrsg.): Entartete Musik. Dokumentation und Kommentar zur Düsseldorfer Ausstellung von 1938, 3. überarb. u. erw. Aufl., Düsseldorf 1993

Konrad Dussel: Hörfunk in Deutschland. Politik, Programm, Publikum 1923 – 1960, Potsdam 2002

Julia Encke: Augenblicke der Gefahr. Der Krieg und die Sinne. 1914 – 1934, Paderborn 2006

Cornelia Epping-Jäger: "Eine einzige jubelnde Stimme". Zur Etablierung des Dispositivs Laut / Sprecher in der politischen Kommunikation des Nationalsozialismus, in: dies. / Linz (Hrsg.): Medien / Stimmen, S. 100 – 123

Dies.: Stimmräume. Die phonozentrische Organisation der Macht im Nationalsozialismus, in: Daniel Gethmann / Markus Stauff (Hrsg.): Politiken der Medien, Zürich / Berlin 2005, S. 341 – 358

Dies.: Stimmgewalt. Die NSDAP als Rednerpartei, in: Doris Kolesch / Sybille Krämer (Hrsg.): Stimme. Annäherung an ein Phänomen, Frankfurt a. M. 2006, S. 147 – 171

Dies.: LautSprecher-Passagen. Zu den Umbauten eines Dispositivs der Massenkommunikation vor und nach 1945, in: Schneider / dies. (Hrsg.): Formationen der Mediennutzung III, S. 17 – 41

Dies. / Erika Linz: Medien / Stimmen, Köln 2003

Rainer Fabich: Musik für den Stummfilm. Analysierende Beschreibung originaler Filmkompositionen,

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Frankfurt a. M. / New York 1993

Kathrin Fahlenbrach: Audiovisuelle Metaphern. Zur Körper- und Affektästhetik in Film und Fernsehen, Marburg 2010

Sigrid Faltin / Andreas Schäfler: La Paloma. Das Lied, Hamburg 2008

Werner Faulstich: Radiotheorie. Eine Studie zum Hörspiel "The War of the Worlds" (1938) von Orson Welles, Tübingen 1981

Ders.: Medienwandel im Industrie- und Massenzeitalter (1830 – 1900), Göttingen 2004

Ders. (Hrsg.): Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, 8 Bde., Paderborn 2002 – 2010

Reinhard Fehling: Manipulation durch Musik. Das Beispiel "Funktionelle Musik", München 1976

Florence Feiereisen / Alexandra Merley Hill (Hrsg.): Germany in the Loud Twentieth Century. An Introduction, New York 2011

Brigitte Felderer (Hrsg.): Phonorama. Eine Kulturgeschichte der Stimme als Medium, Berlin 2004

Matthias S. Fifka: Rockmusik in den 50er und 60er Jahren. Von der jugendlichen Rebellion zum Protest einer Generation, Baden-Baden 2007

Annemarie Firme / Ramona Hocker (Hrsg.): Von Schlachthymnen und Protestsongs. Zur Kulturgeschichte des Verhältnisses von Musik und Krieg, Bielefeld 2007

Barbara Flückiger: Sound Design. Die virtuelle Klangwelt des Films, Marburg 2001

Josef Foschepoth: Überwachtes Deutschland. Post- und Telefonkontrolle in der alten Bundesrepublik, Göttingen 2012 Paul Friedlander: Rock and Roll – A Social History, Boulder 1996

Wolfgang Fuhr: Proletarische Musik in Deutschland 1928 – 1933, Göppingen 1977

Petra Galle: RIAS Berlin und Berliner Rundfunk 1945 – 1949. Die Entwicklung ihrer Profile in Programm, Personal und Organisation vor dem Hintergrund des beginnenden Kalten Krieges, Münster 2003

Stefan Gauß: Nadel, Rille, Trichter. Kulturgeschichte des Phonographen und des Grammophons in Deutschland (1900 – 1940), Köln 2009

Sieglinde Geisel: Nur im Weltall ist es wirklich still. Vom Lärm und der Sehnsucht nach Stille, Köln 2010

Alexa Geisthövel: Auf der Tonspur. Musik als zeitgeschichtliche Quelle, in: Martin Baumeister / Moritz Föllmer / Philipp Müller (Hrsg.): Die Kunst der Geschichte. Historiographie, Ästhetik, Erzählung, Göttingen 2009, S. 157 – 168

Nicola Gess / Florian Schreiner / Manuela Schulz (Hrsg.): Hörstürze. Akustik und Gewalt im 20. Jahrhundert, Würzburg 2005

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 249

Daniel Gethmann: Die Übertragung der Stimme. Vor- und Frühgeschichte des Sprechens im Radio, Berlin / Zürich 2005

Shirli Gilbert: Music in the Holocaust. Confronting Life in the Nazi Ghettos and Camps, Oxford 2005

Greg Goodale: Sonic Persuasion. Reading Sound in the Recorded Age, Urbana, IL u. a. 2011

Steve Goodman: Sonic Warfare. Sound, Affect, and the Ecology of Fear, Cambridge, MA 2010

Karl-Heinz Göttert: Die Geschichte der Stimme, München 1998

Wolfgang Hagen: Das Radio. Zur Geschichte und Theorie des Hörfunks. Deutschland / USA, München 2005

Stefan Hanheide: Pace. Musik zwischen Krieg und Frieden. Vierzig Werkporträts, Kassel u. a. 2007

Jürg Häusermann / Corinna Janz-Peschke / Sandra Marion Rühr: Das Hörbuch. Medium – Geschichte – Formen, Konstanz 2010

Bernhard Hein (Hrsg.): Das Kofferradio in der DDR, Dessau 2002

Hanns-Werner Heister (Hrsg.): "Entartete Musik" 1938 – Weimar und die Ambivalenz, 2 Bde., Saarbrücken 2001

Ders. (Hrsg.): Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert: 1945 – 1975 (Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert, Bd. 3), Laaber 2005

Ders. / Hans-Günter Klein (Hrsg.): Musik und Musikpolitik im faschistischen Deutschland, Frankfurt a. M. 1984

Dietrich Helms / Thomas Phleps (Hrsg.): Thema Nr. 1. Sex und populäre Musik, Bielefeld 2011

Michael Hensle: Rundfunkverbrechen. Das Hören von "Feindsendern" im Nationalsozialismus, Berlin 2003

Gunter Holzweißig: Die schärfste Waffe der Partei. Eine Mediengeschichte der DDR, Köln 2002

Shuhei Hosokawa: Der Walkman-Effekt, Berlin 1987

Yaron Jean: Hearing Maps: Noise Technology and Auditory Perception in Germany 1914 – 1945, Diss., Jerusalem 2006

Clarence B. Jones: Behind the Dream. The Making of the Speech that Transformed a Nation, New York 2011

Harald Jossé: Die Entstehung des Tonfilms. Beitrag zu einer faktenorientierten Mediengeschichtsschreibung, Freiburg / München 1984

Cornelia Kemp / Ulrike Gierlinger: Wenn der Groschen fällt. Münzautomaten – gestern und heute, München 1988

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 250

Jürgen Kesting: Die großen Sänger, 4 Bde., überarb. Neuaufl., Hamburg 2008

Lutz Kirchenwitz: Folk, Chanson und Liedermacher in der DDR. Chronisten, Kritiker, Kaisergeburtstagssänger, Berlin 1993

Friedrich Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986

Ders. / Thomas Macho / Sigrid Weigel (Hrsg.): Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme, 2. Aufl., Berlin 2008

Michael Kleff (Hrsg.): Für wen wir singen. Liedermacher in Deutschland, Hambergen 2006

Gabriele Knapp: Frauenstimmen. Musikerinnen erinnern an Ravensbrück, Berlin 2003

Dies.: Das Frauenorchester in Auschwitz. Musikalische Zwangsarbeit und ihre Bewältigung, Hamburg 1996

Hans Jürgen Koch / Hermann Glaser: Ganz Ohr. Eine Kulturgeschichte des Radios in Deutschland, Köln u. a. 2005

Jörg Koch: Wunschkonzert. Unterhaltungsmusik und Propaganda im Rundfunk des Dritten Reichs, Graz 2006

Stefan Köhler: Hörspiel und Hörbuch. Mediale Entwicklung von der Weimarer Republik bis zur Gegenwart, Marburg 2005

Josef Kopperschmidt (Hrsg.): Hitler der Redner, München 2003

Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Welt auf tönernen Füßen. Die Töne und das Hören, Göttingen 1994

Annelie Kürsten: Wie klingt Heimat? Musik / Sound und Erinnerung, in: Elisabeth Fendl (Hrsg.): Zur Ästhetik des Verlusts. Bilder von Heimat, Flucht und Vertreibung, Münster 2010, S. 253 – 277.

Hermann Kurzke: Hymnen und Lieder der Deutschen, Mainz 1990

Brandon LaBelle: Acoustic Territories. Sound Culture and Everyday Life, New York / London 2010

Joseph Lanza: Elevator Music: A Surreal History of Muzak, Easy-Listening, and Other Moodsong, New York 1995

Jörg U. Lensing: Sound-Design. Sound-Montage. Soundtrack-Komposition. Über die Gestaltung von Filmton, Berlin 2009

Michael Lentz: Lautpoesie /-musik nach 1945. Eine kritisch-dokumentarische Bestandsaufnahme, Frankfurt a. M. 2010

Rüdiger Liedtke: Die Vertreibung der Stille. Leben mit der akustischen Umweltverschmutzung, neu überarb. Ausgabe, München 2004

bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 251

Christian Maatje: Verkaufte Luft. Die Kommerzialisierung des Rundfunks – Hörfunkwerbung in Deutschland (1923 – 1936), Potsdam 2000

Robert Maier (Hrsg.): Akustisches Gedächtnis und Zweiter Weltkrieg, Göttingen 2011

Inge Marßolek / Adelheid von Saldern (Hrsg.): Radiozeiten. Herrschaft, Alltag, Gesellschaft (1924 – 1960), Potsdam 1999

Dies. (Hrsg.): Zuhören und Gehörtwerden. Zwischen Lenkung und Ablenkung, Bd. 1: Radio im Nationalsozialismus; Bd. 2: Radio in der DDR der fünfziger Jahre, Tübingen 1998 / 2001

Harin Maye / Cornelius Reiber / Nikolaus Wegmann (Hrsg.): Original / Ton. Zur Mediengeschichte des O-Tons, Konstanz 2007

Wolfgang Mende: Musik und Kunst in der sowjetischen Revolutionskultur, Köln u. a. 2009

Petra M. Meyer (Hrsg.): Acoustic Turn, München 2008

Reinhart Meyer-Kalkus: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, Berlin 2001

Klaus Miehling: Lautsprecher aus! Zwangsbeschallung contra akustische Selbstbestimmung, Berlin 2010

Jan-Friedrich Missfelder: Period Ear. Perspektiven einer Klanggeschichte der Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012) 1, S. 21 – 47

Daniel Morat: Zwischen Lärmpest und Lustbarkeit. Die Klanglandschaft der Großstadt in umwelt- und kulturhistorischer Perspektive, in: Bernd Herrmann (Hrsg.): Beiträge zum Göttinger Umwelthistorischen Kolloquium 2009 – 2010, Göttingen 2010, S. 173 – 190

Ders.: Sound Studies – Sound Histories. Zur Frage nach dem Klang in der Geschichtswissenschaft und der Geschichte in der Klangwissenschaft, in: kunsttexte.de/auditive Perspektiven 4 (2010) 1

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Norbert Nobis (Hrsg.): Der Lärm der Straße. Italienischer Futurismus 1909 – 1918 (Ausst.-Kat.),

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Fred K. Prieberg: Musik im NS-Staat, Köln 2000

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Wolfgang Rumpf: "Music in the Air". AFN, BFBS, Radio Luxemburg, Ö3 und die deutsche Radiokultur, Münster 2007

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Dies.: Die Stimme des Bösen. Zur Klanggestalt des Dritten Reiches, in: Merkur 581 (1997), S. 681 – 693

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Daniela Schulz: Wenn die Musik spielt … Der deutsche Schlagerfilm der 1950er- bis 1970er-Jahre, München 2012

Holger Schulze: Sound Studies: Traditionen – Methoden – Desiderate. Eine Einführung, Bielefeld 2008

Harro Segeberg / Frank Schätzlein (Hrsg.): Sound. Zur Technologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien, Marburg 2005

Detlef Siegfried: Sound der Revolte. Studien zur Kulturrevolution um 1968, Weinheim 2008

Mark M. Smith: Listening to Nineteenth-Century America, Chapel Hill / London 2001

Michael Stapper: Unterhaltungsmusik im Rundfunk der Weimarer Republik, Tutzing 2001

Paul Steiner: Sound Branding. Grundlagen der akustischen Markenführung, Wiesbaden 2009

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Claudia Thelen (heute: Helms): Musik und Propaganda – Zur Rolle der Musik in der "Deutschen Wochenschau" von 1940 – 1945, Magisterarbeit, Universität Bonn 2004

Emily Thompson: The Soundscape of Modernity: Architectural Acoustics and the Culture of Listening in America 1900 – 1933, Cambridge, MA / London 2004

Michael Toyka-Seid: Von der "Lärmpest" zur "akustischen Umweltverschmutzung" – Lärm und Lärmwahrnehmung als Themen einer modernen Umweltgeschichte, in: Bernd Herrmann (Hrsg.): Beiträge zum Göttinger Umwelthistorischen Kolloquium 2008 – 2009, Göttingen 2009, S. 253 – 278

Sascha Trültzsch / Thomas Wilke (Hrsg.): Heißer Sommer – Coole Beats. Zur populären Musik und ihren medialen Repräsentationen in der DDR, Frankfurt a. M. 2009

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Dies: Im Karussell der Gegensätze. Musik(theater) der Zwanziger Jahre, in: Werner Faulstich (Hrsg.): Die Kultur der 20er Jahre (Reihe: Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts), München 2008, S. 150 – 160

Otto Uwe (Hrsg.): Der rechtliche Schutz des Gehörs. Geräusch und Lärm, Berlin 1993

Konrad Vogelsang: Filmmusik im Dritten Reich. Die Dokumentation, Hamburg 1990

Axel Volmar / Jens Schröter (Hrsg.): Auditive Medienkulturen. Techniken des Hörens und Praktiken der Klanggestaltung, München 2012

Hans-Ulrich Wagner: Günter Eich und der Rundfunk. Essay und Dokumentation, Potsdam 1999

Ders.: Sounds like the Fifties. Zur Klangarchäologie der Stimme im westdeutschen Rundfunk der Nachkriegszeit, in: Segeberg / Schätzlein (Hrsg.): Sound, S. 266 – 284

Ders. (Hrsg.): Die Geschichte des Nordwestdeutschen Rundfunks. 2 Bde., Hamburg 2008 und 2005

Heike Weber: Das Versprechen mobiler Freiheit. Zur Kultur- und Technikgeschichte von Kofferradio, Walkman und Handy, Bielefeld 2008

Heike Weidenhaupt: Gegenpropaganda aus dem Exil. Thomas Manns Radioansprachen für deutsche Hörer 1940 bis 1945, Konstanz 2001

Peter Wicke: Von Mozart zu Madonna. Eine Kulturgeschichte der Popmusik, Leipzig 1998

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Jürgen Wilke (Hrsg.): Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 361), Bonn 1999

Bernhard Wittek: Der britische Ätherkrieg gegen das deutsche Reich, Münster 1962

Matthias Wolbold: Reden über Deutschland. Die Rundfunkreden Thomas Manns, Paul Tillichs und Sir Robert Vansittarts aus dem Zweiten Weltkrieg, Münster 2005

Gernot Wolfram: Ein offenes Geheimnis. Post- und Telefonkontrolle in der DDR (Ausst.-Kat.), Berlin 2002

Sarah Zalfen/Sven Oliver Müller (Hrsg.): Besatzungsmacht Musik. Zur Musik- und Emotionsgeschichte im Zeitalter der Weltkriege, München 2012

Jürgen Zeichner: Einigkeit und Recht und Freiheit. Zur Rezeptionsgeschichte von Text und Melodie des Deutschlandliedes seit 1933, Köln 2008

Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 8 (2011) 2, Themenheft: Politik und Kultur des Klangs im 20. Jahrhundert, http://www.zeithistorische-forschungen.de/2-2011?language= de (http://www.zeithistorische-forschungen.de/2-2011?language=de)

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Susanne Ziegler: Die Wachszylinder des Berliner Phonogramm-Archivs, Berlin 2006

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Redaktion

5.7.2016

Das Online-Dossier "Sound des Jahrhunderts" basiert auf dem gleichnamigen Sammelband (http:// www.bpb.de/shop/buecher/zeitbilder/170341/sound-des-jahrhunderts) aus der bpb-Reihe "Zeitbilder". Einige Bilder und Sounds mussten aus urheberrechtlichen Gründen ausgetauscht werden.

Herausgeber Bundeszentrale für politische Bildung/bpb Bonn © 2013 Verantwortlich gemäß § 55 RStV: Thorsten Schilling

Redaktion bpb Hildegard Bremer Inga Jochimsen Rieke Woenig, Alexander Mattern (studentische Mitarbeit)

Idee Dr. Gerhard Paul, Professor für Geschichte und ihre Didaktik an der Zeitbilder "Sound des Universität Flensburg. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte des 20. Jahrhunderts". Geräusche, Jahrhunderts, zuletzt: "Das Jahrhundert der Bilder" (2 Bde. Göttingen / Bonn Töne, Stimmen 1889 bis heute (© bpb) (http:// 2008 / 09) und "BilderMACHT" (Göttingen 2013) www.bpb.de/geschichte/ zeitgeschichte/sound-des- jahrhunderts/) Dr. Ralph Schock, seit 1987 Literaturredakteur beim Saarländischen Rundfunk. Zahlreiche journalistische und wissenschaftliche Publikationen über Autoren des 20. Jahrhunderts. Herausgeber der Reihe "Spuren" mit Büchern u. a. von Joseph Roth, Alfred Döblin, Hermann Hesse, Ilya Ehrenburg, François-Régis Bastide, Giwi Margwelaschwili. Mitherausgeber der Gustav-Regler-Werkausgabe.

Diese Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. Für die inhaltlichen Aussagen tragen die Herausgeber und die Autorinnen und Autoren die Verantwortung.

Disclaimer The views or opinions expressed in this dossier and the context in which images of the United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) are used, do not necessarily reflect the views or policy of, nor imply approval or endorsement by the USHMM.

Autorinnen und Autoren Frauke Behrendt, Universität Brighton Ada Bieber, Universität Flensburg Wolfgang Biederstädt, Universität zu Köln Karin Bijsterveld, Universität Maastricht Juliane Brauer, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin Mark Brink, Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich Kai Bronner Karsten Brüggemann, Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik der Justus-Liebig-

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Universität Gießen Claudia Bullerjahn, Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik der Justus-Liebig-Universität Gießen Andreas Daum, Department of History, University of Buffalo Christof Decker, Amerika-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München Axel Doßmann, Friedrich-Schiller-Universität Jena Cornelia Epping-Jäger, Ruhr - Universität Bochum Hans-Joachim Erwe, Bergischen Universität Wuppertal Rainer Fabich Kathrin Fahlenbrach, Universität Hamburg Sigrid Faltin, SWR Matthias Fifka, Cologne Business School Golo Föllmer, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Stefan Fricke, Hessischer Rundfunk Stefan Gauß Sieglinde Geisel, Neue Züricher Zeitung Thomas Goll, Technische Universität Dortmund Rolf Gössner Karl-Heinz Göttert, Universität zu Köln Ingo Grabowsky, Ruhr-Universität Bochum Morag Josephine, Grant Georg-August-Universität Göttingen Stefan Hanheide, Universität Osnabrück Karin Hartewig Hanns-Werner Heister, Hochschule für Musik und Theater Hamburg Günter Helmes, Universität Flensburg Claudia Helms Dietrich Helms, Universität Osnabrück Hans-Hermann Hertle, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam Martina Heßler, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg Heinz Hiebler, Universität Hamburg, E-Mail: [email protected] Sabine Höhler, KTH Royal Institute of Technology in Stockholm, E-mail: [email protected] Annelies Jacobs, Universität Maastricht Christian Kassung, Humboldt-Universität zu Berlin Sven Felix Kellerhoff, Die Welt Jürgen Kesting Michael Kleff, Folker Jörg Koch Martin Kohlrausch, KU Leuven, E-Mail: [email protected] Volker Kühn Hermann Kurzke Karsten Lichau, Centre Marc Bloch, Deutsch-französisches Forschungszentrum für Sozialwissenschaften Joachim Lucchesi, Hochschule für Musik "Hanns Eisler" Sibylle Machat, Englisches Seminar der Universität Flensburg Inge Marszolek, Universität Bremen Maarja Merivoo-Parro Jan-Friedrich Missfelder, Universität Zürich Peter Moormann, Freie Universität Berlin Daniel Morat, Freie Universität Berlin Lutz Neitzert, Universität Koblenz-Landau, E-Mail: [email protected] Gerhard Paul, Universität Flensburg Peter Payer, Wien Bernd Polster Conrad Pütter, Hessischer Rundfunk

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Wolfgang Rathert, Ludwig-Maximilian-Universität München Jürgen Reulecke, Justus-Liebig-Universität Gießen Sandra Rühr, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Wolfgang Rumpf, Nordwestradio (RB / NDR) Rosa Sala Rose Claudia Schmölders Ralph Schock, Saarländischer Rundfunk, E-Mail: [email protected]

Detlef Siegfried, Universität Kopenhagen Heiner Stahl, Universität Erfurt Carolin Stahrenberg, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt Barbara Stambolis, Universität Paderborn Olaf Stieglitz, Universität zu Köln Bernd Stöver, Universität Potsdam Eckart D. Stratenschulte, Europäische Akademie Berlin Christoph Strupp, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg Dietmar Süß, Universität Augsburg Bernd Ulrich, www.berndulrich.com (http://www.berndulrich.com) Melanie Unseld, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Hans-Ulrich Wagner, Hans-Bredow-Institut für Medienforschung, Universität Hamburg Heike Weber, Technische Universität Berlin Stephan Weichert, Macromedia Hochschule Hamburg Tobias Widmaier, Deutsches Volksliedarchiv in Freiburg Ulrich Wünschel, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt

Redaktion / Lektorat Verena Artz

Bild- und Tonredaktion Dr. Gerhard Paul Inga Jochimsen, bpb Leonie Roos, 3pc

Liste Soundarchive Oliver Danner (Berlin)

Klärung und Einholung der Rechte für Bilder und Töne Ruben Frangenberg Sonia Binder, 3pc Leonie Roos, 3pc

Online-Redaktion, Konzeption und Umsetzung Sonia Binder Leonie Roos Birgit Weimann 3pc GmbH (http://3pc.de/?home) Neue Kommunikation Prinzessinnenstraße 1 10969 Berlin

Kooperationspartner

Wir danken dem Deutschlandradio für die Bereitstellung der Radiobeiträge.

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Darüber hinaus danken wir allen anderen Lizenzträgern für die Wiedergabe- bzw. Abdruckgenehmigung der Töne und Bilder. Trotz intensiver Recherchen ist es uns nicht gelungen, sämtliche Rechteinhaber der verwendeten Abbildungen und Töne zu ermitteln. Berechtigte Ansprüche können bei der Bundeszentrale für politische Bildung geltend gemacht werden.

Das größte Audioarchiv ist heute das Internet. Dort findet sich eine Vielzahl historischer wie aktueller Tonaufzeichnungen. Als Ergänzung zu den einzelnen Aufsätzen dieses Online-Dossiers sind zahlreiche Links angegeben, die zu weiteren Hörbeispielen im Internet führen. Die Aufstellung erfolgte zum Teil nach den Angaben der Autorinnen und Autoren dieses Bandes, zum Teil stellten sie Gerhard Paul, Inga Jochimsen und Leonie Roos (3pc) zusammen. Für einige wenige Aufsätze wurden keine Hörbeispiele gefunden. Die Links führen zu Webseiten anderer Anbieter. Die Redaktion hat keinen Einfluss darauf, dass diese Anbieter die Datenschutz- und Urheberrechtsbestimmungen einhalten.

Online-Dossier http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/sound-des-jahrhunderts/

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