Dossier Sound Des Jahrhunderts

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Dossier Sound des Jahrhunderts bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 2 Einleitung [An dieser Stelle befindet sich ein eingebettetes Objekt, das wir in der PDF-/EPUB-Version nicht ausspielen können. Das Objekt können Sie sich in der Online-Version des Beitrags anschauen.] Wie klingt eigentlich Geschichte? Jeden Monat werden hier Töne des 20. Jahrhunderts und ihre Geschichten vorgestellt. Diese Zeit erlebte zahlreiche akustische Zäsuren. Was war der charakteristische Sound der politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen? Welche Kraft hatten bestimmte Schallereignisse? Wie ist das Verhältnis von Sound und Macht? Wie sehr präg(t)en akustische Welt und Hörsinn den menschlichen Alltag und das historische Geschehen? Schriftliche und bildliche Quellen werden schon lange untersucht, aber in diesem Dossier stehen Geräusche, Töne und Stimmen im Fokus. Die interdisziplinär ausgelegten Beiträge erhellen die sozialen, kulturellen, politischen, wirtschaftlichen oder geschlechterspezifischen Aspekte einzelner Klanggeschichten. ZITATE Jenseits der Sprache existieren gewaltige Räume von Sinn, ungeahnte Räume der Visualität, des Klanges, der Geste, der Mimik und der Bewegung. Gottfried Boehm Kunsthistoriker und Philosoph (Foto: Stefan F. Sämmer) Der Teufel kam hinauf zu Gott Und brachte ihm sein Grammophon und sprach zu ihm, nicht ohne Spott "hier bring ich Dir der Sphären Ton." Christian Morgenstern Schriftsteller und Dichter (Foto: Public Domain / Wikimedia Commons) Der Lärm ist der Mörder aller Gedanken. Arthur Schopenhauer Philosoph (Foto: By Jacob Seib, Public domain / Wikimedia Commons) bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 3 Morsezeichen "V" für Victory Das bekannteste Symbol der Siegeshoffnung der Alliierten und zugleich der Rhythmus von Beethovens dramatischem Anfangsmotiv seiner 5. Sinfonie, der Schicksalssinfonie Wir hörten Anflug, eine Reihe Detonationen, Einzelschläge, nicht den Doppelknall der Geschütze. Wir gingen in die Keller. Stärkstes Summen der Flieger dicht über uns, der Luftdruck schüttelte die Kellertür […] Man hörte neues Summen, neue Schläge. […] aus einigen Gruppen Wimmern und Weinen [...]. Literaturwissenschaftler Victor Klemperer über die schweren Luftangriffe auf Dresden vom 16. Januar und 13. Februar 1945 (Foto: CC-BY-SA CC BY-SA 3.0 de / Wikimedia Commons) What is the Sound of 10 Naked Asian Men? - Wie klingen zehn unbekleidete asiatische Männer? Eine Performance mit verstärkten Herzfrequenzen, EKG- und EEG Signalen. Miya Masaoka Klangkünstlerin (Foto: Nan Phelps) Die Stimme hat ihren Ursprung im Klang und von dort entfaltet sie sich. [...] Für mich ist wesentlich, wie sich die Musik durch die Freiheit der Improvisation verwirklichen kann. Lauren Newton Jazz-Sängerin (Foto: Jörg Becker) Wer höret, der findet. Andreas Hagelüken Musikwissenschaftler und Radiopilot (Foto: Martina Kroll) Wer besitzt eigentlich jene Klänge, Aufnahmen, akustische Artefakte, die fast alle auf Youtube zu finden sind [...]? Mit der Aufzeichnungs- technologie setzte zugleich eine Privatisierungs- und Enteignungswelle ein, der öffentliche akustische bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 4 Raum schrumpft seither kontinuierlich. Man kann fast sagen: Nur Krach ist Allgemeingut, Klang gehört schon immer jemandem. Florian Felix Weyh Publizist (Foto: Katharina Meinel) Wegen ungünstiger Witterung fand die deutsche Revolution in der Musik statt. Kurt Tucholsky unter seinem Pseudonym Peter Panter in der Weltbühne vom 30.12.1930, Nr. 53 (Foto: picture-alliance) bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 5 Inhaltsverzeichnis 1. Sound des Jahrhunderts 7 2. Kapitel 1 / 1889 bis 1919 14 2.1 Der Sound im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit 15 2.2 Verklungenes und Unerhörtes 19 2.3 Der Sound aus dem Trichter 28 2.4 Signum des Urbanen 36 2.5 Kaiser-Sound 43 2.6 Heil Dir im Siegerkranz 48 2.7 Antiphon und Ohropax 57 2.8 Es ist Zeit, dass wir auf Abwehr sinnen! 62 2.9 Come Quick, Danger! 70 2.10 Caruso auf Platte 76 2.11 Der Lärm der Straße dringt in das Haus 84 2.12 Le Sacre du Printemps 90 2.13 Trommelfeuer aufs Trommelfell 98 2.14 Gadji beri bimba / Glandridi lauli lonni cadori 109 2.15 Von Kinokapellen und Klavierillustratoren 115 3. Kapitel 2 / 1919 bis 1933 125 3.1 Klangwelten der Moderne 126 3.2 Fabriksirenen, Nebelhörner, Dampfbootpfeifen 131 3.3 Sport und Vergnügungskultur 140 3.4 Achtung, Aufnahme! 145 3.5 Hallo! Hallo! Hier Radio! 154 3.6 The Jazz Singer 163 3.7 Frauen sprechen hören 172 3.8 Rumm rumm haut die Dampframme 181 3.9 Roaring Twenties 186 3.10 In Klängen denken 195 3.11 Die Sinfonie der Großstadt 203 bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 6 3.12 Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt 213 3.13 Politische Kampflieder 219 4. Mehr Sounds? 227 5. Dein Sound des Jahrhunderts 240 6. Hörbeispiele im Internet 242 7. Soundarchive 244 8. Ausgewählte Literatur 246 9. Redaktion 256 bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 7 Sound des Jahrhunderts Einleitung Von Gerhard Paul, Ralph Schock 5.7.2016 Gerhard Paul, Dr., Professor für Geschichte und ihre Didaktik an der Universität Flensburg. Ralph Schock, Dr., Leiter der Literaturabteilung des Saarländischen Rundfunks. E-Mail: [email protected] Der Teufel kam hinauf zu Gott Und brachte ihm sein Grammophon Und sprach zu ihm, nicht ohne Spott Hier bring ich Dir der Sphären Ton. Christian Morgenstern In seiner Vorlesung über das Wesen der Religion widmete der Philosoph Ludwig Feuerbach der Rolle der Sinneseindrücke bei der Ausprägung des religiösen Gefühls eine längere Betrachtung: "Hätte der Mensch nur Augen und Hände, Geschmack und Geruch, so hätte er keine Religion, denn alle diese Sinne sind Organe der Kritik und Skepsis. Der einzige sich im Labyrinth des Ohres ins Geister- oder Gespensterreich der Vergangenheit und Zukunft verlierende, der einzige furchtsame, mystische und gläubige Sinn ist das Gehör." Es gebe Völker, "bei welchen kein anderes Wort für Gott existiert als der Donner"; das Trommelfell sei der Resonanzboden des religiösen Gefühls, das Ohr insgesamt die "Bärmutter der Götter" und damit das "Organ der Angst". Doch das Ohr ist nicht nur der mediale Kanal, mit dem die Götter Furcht und Schrecken verbreiteten, auch die Menschen nutzten ihn mit der gleichen Absicht. Sie schüchterten den Gegner ein durch lautes Rufen oder Schlagen der Speere auf die Schilde (wodurch sie zugleich ihre eigene Angst vertrieben). Cäsar beschrieb in De Bello Gallico respektvoll die Schlachtgesänge der Germanen (barditus), James Fenimore Cooper das sprichwörtlich gewordene Huronengebrüll. Lärm, dem man sich nicht entziehen kann, war für Dante eine der schlimmsten vorstellbaren Foltern überhaupt. Im Kapitel Inferno in der Göttlichen Komödie besteht eine der Strafen der Verdammten darin, ewig an eine Glocke geschmiedet zu sein, deren gewaltige Schläge dem Pönitenten unaufhörlich durch Mark und Bein dröhnen. Auch jeder Besucher eines Rockkonzerts weiß, wovon Dante schreibt. Aber ohrenbetäubender Lärm ist nicht nur Folter; es kann auch höchst mitreißend sein, das Wummern einer Bassgitarre, das Stampfen eines Schlagzeugs in jeder einzelnen Körperzelle zu spüren. bpb.de Dossier: Sound des Jahrhunderts (Erstellt am 27.08.2021) 8 Lärm - für viele ein unbeliebter Begleiter Das Ohr nimmt noch anderes auf. In seiner Vorrede zu Hölderlins Hyperion schreibt Dietrich E. Sattler: "Das Gesagte gilt einem anderen Deutschland, jenseits von Herrschaft, Gerede und Lärm." Das Ohr also auch als nicht zu verschließendes Einfallstor läppischer Banalitäten, die vom Eigentlichen – dem Ernst, der Stille, der Konzentration – wegführen. Der englische Mathematiker Charles Babbage kaufte alle Drehorgeln in seiner Umgebung auf, weil sie ihn beim Nachdenken störten. Schopenhauer seufzte: "Der Lärm ist der Mörder aller Gedanken". Und: "Ich möchte wissen, wie viele große und schöne Gedanken diese Peitschen schon aus der Welt geknallt haben." Goethe kaufte ein baufälliges Haus in der Nachbarschaft auf, um dessen – absehbar Lärm verursachende – Renovierung zu verhindern. Heine hielt die Pendel sämtlicher Uhren in seiner Wohnung an, weil ihn deren Ticken am Schreiben hinderte – und wusste doch: "Oh Grab, du bist das Paradies für pöbelscheue zarte Ohren!" Ähnlich Kafka, der in seinem Tagebuch notierte: "So viel Ruhe, wie ich brauche, gibt es nicht oberhalb des Erdbodens." Richard Wagner bestreute die Straße vor seinem Haus mit Glasscherben, um spielende Kinder fernzuhalten. Wilhelm Busch hasste das Klappergeräusch von Messer und Gabel sowie das Türenschlagen. Marcel Proust ließ dicke Lagen Kork an den Wänden seines Arbeitszimmers anbringen, um alle Außengeräusche abzuhalten. Nicht nur individuelle Strategien gegen den Lärm wurden entwickelt. In den USA gründete Mrs. Isaac L. Rice wegen der unerträglichen Dauergeräusche aus dem New Yorker Hafen 1908 den ersten Anti- Lärmverein, die Society for the Suppression of Unnecessary Noise; ihr berühmtestes Mitglied war Mark Twain. Der Schriftsteller Ferdinand Avenarius rief im gleichen Jahr in der Zeitschrift Der Kunstwart zur Bildung eines internationalen Anti-Lärm-Bunds auf unter dem merkwürdigen Motto non clamor sed amor (nicht das Geschrei, sondern die Liebe). Und Ende der 1920er Jahre versuchte die Wiesbadener Polizei eine "hupenlose Woche" einzuführen. All dies waren Initiativen, um die schlimmsten Auswüchse des Lärms etwas zu lindern, unterbinden konnten sie ihn nicht. Der Mensch nimmt – mehr oder weniger bewusst – einen Großteil seiner Informationen

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