Theatercode H O als Modell zur Analyse einer Ghettogesellschaft

(Am Beispiel von KOSOVA 1989-2009)

Dissertation

verfasst/vorgelegt

von Gonxhe Boshtrakaj

Konstanz 2014

Theatercode H O als Modell zur Analyse einer Ghettogesellschaft

(Am Beispiel von KOSOVA 1989-2009)

Dissertation

zur Erlangung des akademischen Grades Doktor der Philosophie (Dr. Phil.)

vorgelegt von

Gonxhe Boshtrakaj

an der

Universität Konstanz Geisteswissenschaftliche Sektion Fachbereich Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaft

Verfasserin: Gonxhe Boshtrakaj

Tag der mündlichen Prüfung: 17.12.2010 1. Referent: Dr. habil. Peter Braun 2. Referent: Prof. Dr. Albert Kümmel-Schnur

Konstanz, den 27.06.2014

„Da, wo die Einheimischen noch immer fremd sind und Fremde noch immer Herr im Haus, da feiert (m)eine Königin ihren ersten Geburtstag, obwohl sie mehtausend Jahre alt ist.

Kosova1, Jungblut Dardaniens Herz aller Paradoxien bist du du bist meine Liebe!“

Orakel von Delphi2

1 Der Begriff Kosova ist die gegenwärtige Bezeichnung für das „übrig gebliebene“ Territorium des Illyrischen Dardaniens, das eine Geschichte von über viertausend Jahren aufweist. Der Name Dardani stammt aus dem Illyrischen (Uralbanischen Sprache) und bedeutet Birnenland. Seit der am 17. Februar 2008 erneut erklärten Unabhängigkeit ist das Land auch international als eigenständiger Staat anerkannt, bleibt jedoch paradoxerweise weiterhin unter internationaler Verwaltung, die mittlerweile die Form eines modernen Neokolonialismus angenommen hat.

2 Unter dem Pseudonym Orakel von Delphi schreibt und veröffentlicht gelegentlich die Autorin Gonxhe Boshtrakaj literarische (theatralische/essayistische) Gesellschaftskritiken. Sie ist Redaktionsmitglied der Theaterfachzeitschrift Loja (dt. Das Spiel) und der literarischen

Fachzeitschrift Jeta e re (dt. Das neue Leben). Dies wurde der Reihe: >>ProPHeZEICHUNGEN.

Kosova und ihre (Selbst-)Bestimmung<< entnommen. Die Übersetzung vom Albanischen ins Deutsche wurde von der Autorin selbst durchgeführt.

Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung ...... 1 II. THEORETISCHE GRUNDLAGEN ...... 6 1 Theorien ...... 6 1.1 Sozialkonstruktivismus ...... 7 1.2 Goffmans Rahmen‐Analyse vs. Thomas Theorem ...... 9 1.3 Turners und Schechners Theorie von Social‐/Stage Drama ...... 13 2 Theatercode „H₂O“ und das Herleiten des Theatermodells ...... 22 2.1 Der Code des Theaters ...... 22 2.2 Theatercode „H₂O“/Konzeptspezifikation ...... 24 2.2.1 Die Handlung ...... 26 2.2.2 Die Handelnden ...... 26 2.2.3 Der Ort ...... 26 2.3 Herleitung des Theatermodells „H₂O“ ...... 27 2.3.1 Eigenschaften und Struktur des Theatermodells „H₂O“ ...... 27 2.3.2 Anwendung und Funktion ...... 30 2.3.3 Grenzen des Modells ...... 31 3 Herleitung der Thesen ...... 32 3.1 These 1 ...... 32 3.2 These 2 ...... 32 3.3 These 3 ...... 33 III. EMPIRISCHE ANALYSE EINER GHETTOGESELLSCHAFT ...... 34 1 Analytische Instanz I: Dramenanalyse ...... 35 1.1 Ghettodrama I „Eisernes Ghetto“ ...... 38 1.1.1 Handlungsverknüpfung und Aktstruktur ...... 40 1.1.1.1 Normbrüche ...... 46 1.1.1.2 Konfliktsteigerung und Krise ...... 50 1.1.1.3 Höhepunkt mit Peripetie ...... 54 1.1.1.4 Wendepunkt ...... 58 1.1.1.5 (Humanitäre‐)Katastrophe und (Er‐)Lösung ...... 65

I

1.1.2 Figurenkonstellation, Identität und Interaktion ...... 70 1.1.2.1 „Rot‐ Schwarze“‐Protagonisten ...... 74 1.1.2.2 „Dunkelblaue“‐Antagonisten ...... 76 1.1.2.3 „Blinde Zuschauer“ ...... 77 1.1.3 Kosova, Ort eines Wartens ad absurdum ...... 79 1.1.3.1 Ich warte, also bin ich [Kosova‐Albaner] ...... 81 1.1.3.2 Die Ambivalenz des Wartens ...... 83 1.1.3.3 Warten können, zu warten wissen, warten müssen! ...... 87 1.2 Ghettodrama II „X‐Parallele Ghetto‐Strukturen“ (1999‐2009) ...... 90 1.2.1 Soziale Prozesse und Liminalität ...... 94 1.2.1.1 Separation (1989‐1999) ...... 100 1.2.1.2 Transition (1999 – 2008) ...... 100 1.2.1.3 Inkorporation vs. Integration (17.02.2008) ...... 102 1.2.2 Figurenkonstellation, ‐Identität und ‐Interaktion ...... 104 1.2.2.1 Akteure ...... 106 1.2.2.2 Aktanten ...... 106 1.2.2.3 Marionetten ...... 107 1.2.3 Ortsbezogene Theatralität und Handeln im „Als‐ ob‐ Modus“ ...... 112 2 Analytische Instanz II: Inszenierungsanalyse ...... 120 2.1 Begriffserklärung und Prinzip ...... 120 2.2 Inszenierung der Authentizität durch eine Macht (‐Instanz) ...... 123 2.2.1 Inszenierung einer „als‐ob“‐Vergewaltigung: „Martinovic‐Vorfall“123 2.2.2 Inszenierung eines „als‐ob“‐Amoklaufs: „Paraçin Massaker“ ...... 126 2.2.3 „Als‐ob“‐Kollektive Inszenierung: „Schüler‐Massenvergiftung“ .... 130 2.3 Inszenierungs‐ (Ghetto‐) Rahmen und Ghettotheater ...... 138 2.3.1 Ghettotheater der Unterdrückten ...... 141 2.3.1.1 Stellenwert und Funktion ...... 147 2.3.1.2 Ghettoausbrüche in Form von Rebellion, Emigration und Mobilisation ...... 152 2.3.2 Kriegstheater ...... 155 2.3.2.1 Szenische Annäherungen ...... 155 2.3.2.2 Exiltheater ...... 157 2.3.2.3 Fronttheater ...... 159

II

2.3.3 Nachkriegstheater (1999‐2009) ...... 161 2.3.3.1 Die kulturelle Verarbeitung der Kriegsereignisse ...... 161 2.3.3.2 Die Anthropologie der Gewalt ...... 164 2.3.3.3 Kulturelle Dekadenz und Festivalmanie ...... 169 3 Analytische Instanz III: Aufführungsanalyse anhand exemplarischer Darstellungen 172 3.1 Der Tod und das Mädchen von G. Boshtrakaj ...... 172 3.2. Moti pa Ton von Blerim Gjoci & Co...... 185 IV. Diskussion und Darstellung der Ergebnisse ...... 198 1 Das Theatermodell „H₂O“ ...... 202 2 Überprüfung des Theatermodells „H₂O“ ...... 206 2.1 Die Bildung neuer Realitäten im Ghettodrama I ...... 209 2.2 Die Bildung neuer Realitäten im Ghettodrama II ...... 213 2.3 Selbstbestimmungsphilosophie als Ghettoausbruch ...... 215 3 Überprüfung der Thesen ...... 216 3.1 These 1 ...... 216 3.2 These 2 ...... 217 3.3 These 3 ...... 218 V. SCHLUSSWORT ...... 220 Bibliographie ...... 224

III

I. Einleitung Gegenstand meiner Untersuchung ist die Analyse des Dramas einer Ghettogesellschaft durch das von mir entwickelte „Theatermodell H₂O“. Dabei geht es mir darum, zunächst das Theatermodell H₂O und seine „Modellmoleküle“ (H´+H+O = Handlung, Handelnde, Ort) als geeignetes Mittel zur Analyse prozesshafter Vorgänge, die zur Bildung neuer Realitäten führen, vorzuschlagen.

Dabei geht es mir nicht hauptsählich darum, das Theatermodell selbst als Hauptgegenstand dieser Untersuchung in den Vordergrund zu stellen – auch wenn im Rahmen der Darstellung aller für die Dissertation relevanten theoretischen Grundlagen auch auf das Modell selbst und die einzelnen Komponenten in Form einer Konzeptspezifikation explizit eingegangen wird. Sondern, es geht mir vielmehr darum, das Phänomen Theater auf die drei o.g. untersuchungsrelevanten Größen (H´+H+O) zu reduzieren, wodurch eine adäquate Beschreibung der zu untersuchenden (Ghetto-)Realität möglich wird.

Im Bezug auf die Untersuchung der Bildung neuer Realitäten,in einer Ghettogesellschaft, Ghettosituation oder Ghettorahmen, stellt sich die Frage, auf welche Komponenten der Untersuchungsgegenstand reduziert werden kann, damit Parallelen zwischen Leben und Theater bzw. zwischen dem Sozialen Drama (Social Drama) und dem Bühnendrama (Stage Drama) möglich sind?

Welche Bestandteile sind sowohl dem sozialen Leben als auch dem Theater zu eigen? Was hat das Theater mit dem Leben gemeinsam und warum ist das Eine doch nicht das Andere? Wo bestehen die Analogien und Unterschiede? Wie können theatralische Methoden, die grundsätzlich zur Inszenierung ästhetischer Werke auf der Bühne verwendet werden, Anwendung zur Bildung neuer sozialer Konstrukte im sozialen Leben finden?

Meine größte Herausforderung liegt zunächst darin, am Beispiel der Kosovarischen Ghettogesellschaft die Funktionalität und Validität des Theatermodells H₂O zu überprüfen, aber zugleich auch das Ghettodrama der Kosovaren zu untersuchen. Da dass Theatermodell H₂O in Folge der Abstraktion

1 seiner Bestandteile Handlung, Handelnde und Ort sowie ihrer Verknüpfung durch Kausalzusammenhänge (d.h. Ursache und Wirkung der Dinge) entsteht, ist es mir wichtig, diese Komponenten sowohl im sozialen Dasein als auch auf der theatralischen Bühne der Kosovaren auffindbar zu machen und zu analysieren.

Da zwischen Theater und Leben, Bühnenvorgängen und sozialen Prozessen sowie theatralischen Verhaltensweisen (Selbstdarstellung im Alltag) und Schauspielerei (als Tätigkeit) weitgreifende Analogien bestehen, ist es mir wichtig, belegen zu können, dass gerade deswegen das Modell Theater sehr geeignet ist, gesellschaftliche Analysen durchzuführen.

Welche Methoden werden hier verwendet? Welche Vorgehensweise wird in der Analyse verfolgt?

Aufgrund der Tatsache, dass ich hier ein 3-Komponenten Theatermodell entwickelt habe und bemüht bin, die Zusammenhänge zwischen den Variablen (H´, H, und O) aufzudecken, ist der theoretische Ansatz dieser Arbeit, d.h. Kapitel I („Theoretische Grundlagen“) und Kapitel IV („Darstellung der Ergebnisse“) als kausales Design (causal research) zu bezeichnen. Da ich mich auf ein konkretes Beispiel beziehe – das Drama der Kosovarischen Ghettogesellschaft in der Zeitspanne 1989-2009 – mit dem Ziel, die kausalen Zusammenhänge der Komponenten (H´, H, und O) innerhalb des Ghettodramas der Kosovaren zu analysieren, zu beschreiben und zu interpretieren, ist die Herangehensweise an den Untersuchungsgegenstand Ghettodrama der Kosovaren (vgl. Kapitel III) als deskriptive Forschung und die verwendete Methode als deskriptives Design (descriptive research) zu verstehen. Dabei werden Ereignisse und Phänomene festgestellt und interpretiert, Zielgruppen (wie z. B. „Rot-Schwarze“- Protagonisten, „Dunkel-Blaue“-Antagonisten oder „Blinde“-Zuschauer) beschrieben, Häufigkeiten einer Ghettoisierung der kosovarischen Gesellschaft in der Zeitspanne 1989-2009 aufgezeigt und Voraussagen getroffen.

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Zum theoretischen Ansatz der Arbeit:

Aufgrund der Tatsache, dass ich mich für die Entstehung sowohl ästhetischer Produkte auf der Bühne des Theaters als auch für die Bildung der Realitäten im sozialen Leben interessiere, wird zunächst der Sozialkonstruktivismus als Theorie herangezogen. Zweitens wird das Thomas–Theorem, ein theoretischer Ansatz, der die subjektivistische Perspektive der Wirklichkeitsgestaltung und Interpretation hervorhebt, der Goffmanschen Rahmenanalyse und seiner Theorie einer gesellschaftlich konstruierten Welt gegenübergestellt. Als dritte theoretische Grundlage werden Victor Turners Theorie und Richard Schechners Konzept (1977) einer wechselseitigen Korrelation zwischen Social Drama und Stage Drama verwendet.

Erika Fischer-Lichtes Ansatz eines eigenen Codes des Theaters dient mir als Forschungsorientierung für die Analyse des Ghetto-/Kriegs- und Nachkriegstheaters in Kosova sowie als Anleitung zur gründlichen Behandlung exemplarischer Darstellungen.

Zu den Daten und zur Datenerhebung ist folgendes zu beachten: Der Code H₂O, den ich als gemeinsamen Nenner zwischen Leben und Theater identifiziert bzw. herauskristallisiert habe, und die Überprüfung der Validität des von mir entwickelten Theatermodells H₂O wird hier an der empirischen Analyse einer Ghettogesellschaft – am Beispiel von Kosova 1989-2009 – durchgeführt. Da Kosova als Land im gegenwärtigen Diskurs der internationalen Gemeinschaft bisher zumeist aus historischer und soziopolitischer Perspektive untersucht wurde und wird, ist auch die gesamte ortsbezogene Literatur, die ich verwenden und auswerten konnte, historischer und/oder politischer Natur.

Für die Untersuchung und Behandlung der theaterwissenschaftlichen Aspekte wird deshalb die einschlägige Fachliteratur von Erika Fischer-Lichte, Erving Goffman, Victor Turner, Richard Schechner u.a. herangezogen.

Das Ghettotheater der unterdrückten Kosova-Albaner wird anhand exemplarischer Darstellungen ortsbestimmt spezifiziert. Als Auswahlkriterium der exemplarischen Darstellung galt: (a) die Relevanz der Aufführung für das

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Publikum und/oder für die Theaterwissenschaft, (2) die künstlerischen Werte und das ästhetische Niveau, (3) die Kenntnisse und Unmittelbarkeit zum Projekt. So sind mir z.B. alle exemplarischen Darstellungen des Ghettotheaters der 90er Jahre sehr vertraut, schon weil ich in den meisten von ihnen aktiv mitgewirkt habe – als Schauspielerin, Regieassistentin, Projektleiterin und/oder Theaterkritikerin. Am Kriegs- und Nachkriegstheater war ich aufgrund meines Aufenthalts in Deutschland hingegen persönlich nicht mehr beteiligt. Das Theater und die rhetorischen Prozesse dieser Zeit waren mir jedoch durch Interviews, Gespräche und Diskussionen, Zeitungsartikel, Theaterkritiken, Fachzeitschriften, Dokumentarfilme, Print- und audiovisuelle Materialien aus den Privatarchiven der jeweiligen Autoren vor Ort, die mir freundlicherweise reichlich zur Verfügung gestellt wurden, gut zugänglich.

Welche Erwartungen können an die Resultate gestellt werden? Wie ließen sich die Ergebnisse kurz zusammenfassen?

Während William James in seiner Theorie sub universa über eine subjektiv konstruierte Lebenswelt spricht und Erving Goffman bemüht war, unsere soziale Wirklichkeit als ein gesellschaftlich konstruiertes Konstrukt darzustellen, gehe ich davon aus, dass die Bildung neuer Realitäten in der Gegenwart durch bestimmte politische elitäre Realitätsbildungsinstanzen stattfindet. In diesem Zusammenhang ist also wichtig zu betonen, dass weder die subjektive Wahrnehmung/Interpretation (James) zur Bildung neuer Wirklichkeiten relevant ist, noch die gesellschaftlich vorgegebenen Interpretationsschemata (Goffman) von großer Bedeutung sind, denn unabhängig davon – zumindest im Falle Kosova 1989-2009 –, wie die subjektive Auslegung der Dinge durch das Individuum ausfällt und unabhängig von vorgegebenen gesellschaftlichen Rahmen- bzw. Interpretationsschemata, erfolgt, solange eine „Modulation“ möglich ist, die Bildung neuer Realitäten immer unter der (Regie-) Leitung einer sozialpolitischen realitätsbildenden Instanz. Letztere übernimmt die Führung im sozialen Leben, analog einem Regisseur im Theater. Auch der Vorgang der Entstehung neuer Konstrukte läuft nach einem analogen Prinzip ab, das sich ebenfalls am besten durch das Drei-Phasen-Theatermodell H₂O analysieren lässt.

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Aufbau der Arbeit:

Nach dieser relativ umfassenden Einleitung (Kapitel I) werden die theoretischen Grundlagen der Arbeit dargestellt (Kapitel II). Daraufhin wird eine empirische Analyse der Kosova-Albanischen Gesellschaft unternommen (Kapitel III). In diesem Kapitel wird die Bildung neuer Realitäten in Kosova mit Hilfe des Theatercodes H₂O und einem sich darauf stützenden Drei-Phasen-Theatermodell untersucht. Dabei sind drei analytische Instanzen von wesentlicher Bedeutung: 1) die Dramenanalyse, die die Analyse des sozialen Ghettodramas, d.h. das Ghettodrama I (1989-1999) und das Ghettodrama II (1999-2009) umfasst; 2) die Inszenierungsanalyse, die die Inszenierung der Authentizität an drei exemplarischen Beispielen darstellt; und 3) schließlich die Aufführungsanalyse mit erneut zwei exemplarischen Darstellungen, die mit Hilfe von Patrice Pavis und Andre Helbos Fragenkatalogen zur Aufführungsanalyse unter die Lupe genommen werden.

Die im Laufe der Arbeit eingestreuten Abbildungen dienen einer auch visuell klaren Darstellung des Untersuchungsgegenstands –da ich persönlich ein sehr visuelles Gedächtnis habe und bildhafte Darstellungen immer sehr hilfreich finde. Alle Abbildungen – außer Abb. 10, die ich mit freundlicher Genehmigung des Autors verwenden darf – sind von mir entwickelt, modelliert und skizziert.

Zitate und/oder wichtige Begriffe werden in der Arbeit kursiv hervorgehoben. Die wörtliche Übernahme wird in Anführungsstrichen und kursiv dargestellt und ist mit einer Fußnote des Typus (a) Familienname, Name des Autors: Titel des Werkes, Seitenzahl, und/oder (b) Familienname des Autors plus die Abkürzung für „Ebenda (Ebd.)“ oder „am angegebenen Ort (a.a.O)“ versehen. Integrierte Zitate bzw. Angaben im Text kommen nur selten vor.

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II. THEORETISCHE GRUNDLAGEN

1 Theorien Das menschliche Leben beruht auf Bewegung, auf Prozesshaftigkeit. Es ist ein Dauervorgang der Entstehung und des Verfalls, der Progression und Regression. Stagnation als statischer Punkt kann nur vorübergehend existieren, aber nicht als Dauerzustand. Denn jede neue Entstehung, die von progressiven Prozessen begleitet wird, tendiert zunächst in Richtung eines positiven Höhepunkts. Wenn ein bestimmter Höhepunkt erreicht wird, dann kann es zu einer Stagnation kommen. Da aber das Leben den Fluss, die Bewegung, die Prozesshaftigkeit voraussetzt, kann die Stagnation als fester Zustand nicht lange bestehen. In Folge dessen treten regressive Prozesse auf. Die Regression als eine negative Entwicklung kann bis zu einem bestimmten Punkt fortschreiten und dann ebenfalls stagnieren. Diese Stagnation stellt die Chance zu einem progressiven Wendepunkt dar. Denn „wenn es nicht schlechter geht, kann es nur besser werden“, so ein albanisches Sprichwort.

In der Dialektik der Entstehung und des Verfalls in ständiger Begleitung von progressiven, stagnierenden und/oder regressiven Prozessen bildet der gegenwärtige Mensch nicht nur seine ephemere Existenz, sondern auch sein soziales Dasein. Seine soziale Welt, die aus mehreren „menschlich“ konstruierten Realitäten besteht, entwickelt sich als ein Zusammenspiel zwischen Konstruktion und Destruktion, zwischen Schöpfung und Zerstörung.

Im Laufe eines kreativen Vorgangs, aufgrund der positiven Einstellung gegenüber dem, was aufgebaut werden soll, geht der Konstrukteur/Schöpfer3 konstruktiv vor. Mittel werden zweckmäßig verwendet und Handlungen zielorientiert durchgeführt. Das Ergebnis: ein schönes Kunstwerk oder eine wunderschön konstruierte neue soziale Realität.

3 Archetypus: Gott, Zeus, der Schöpfer

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Bei einem zerstörerischen Vorgang ist die Richtung umgekehrt und als Triebkraft gilt die Destruktion. Aufgrund der Überzeugung, dass das gewisse Etwas zerstört werden muss, geht der (De-)Konstrukteur/Zerstörer4 destruktiv vor. Nach der machiavellistischen Devise, „der Zweck, heiligt die Mittel“, werden alle möglichen Mittel eingesetzt und alle notwendigen Handlungen durchgeführt, um das Zielobjekt bzw. Subjekt zu zerstören oder auszuschalten. Das Ergebnis: ein (de-)konstruiertes Realitätskonstrukt.

Doch von wem, wie und nach welchen Prinzipien ein Produkt, ein Konstrukt bzw. eine neue Realität konstruiert wird, das ist die Frage, die sich hier stellt und der am Beispiel einer >>Analogie zwischen der Entstehung ästhetischer Bühnenprodukte fürs Theater und der Bildung neuer Realitäten in das soziale Leben<< mit Blick auf einen bestimmten Ort (Kosova) und innerhalb einer bestimmten Zeitspanne (1989-2009) im Folgenden nachgegangen wird. Die Regieleitung (im Theater) sowie analog die Politik (im sozialen Leben) werden zunächst als eine „Elitäre Realitätsbildungsinstanz“ festgestellt und hervorgehoben. Es wird davon ausgegangen, dass die Bildung neuer Realitäten im sozialen Leben, ähnlich wie die Produktion ästhetischer Produkte im Theater, nach einem Drei-Phasen Theatermodell abläuft. Als theoretische Grundlagen dieses Modells werden folgende Theorien herangezogen: a) Sozialkonstruktivismus b) Goffman´s Rahmenanalyse vs. Thomas-Theorem c) Mitschell´s Triaden-Modell.

1.1 Sozialkonstruktivismus Der Sozialkonstruktivismus ist eine Theorie, die sich mit dem Zustandekommen von Handlungen im sozialen Leben und dem Entstehen von Identitäten sozialer Akteure befasst. Dieser Theorie liegt die Annahme zugrunde, dass unsere Welt (Wirklichkeit, Realität) aus sozialen Konstrukten besteht.

4 Archetypus: Teufel, ein sehr talentierter Engel mit einem dunklen und destruktiven Bewegungs-, Handlungspotenzial in sich.

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Eine erkenntnistheoretische Annahme besagt, dass die Realität nicht erkannt werden kann und der Mensch eine beobachterabhängige individuelle Realität wahrnimmt. Die sozialen Akteure erbauen und sichern sich eine subjektiv konstruierte Realität, indem sie sich an der Meinung anderer Menschen orientieren. Soziale Normen spielen dabei eine ganz wichtige Rolle, denn sie bestimmen Einstellung, Identitäts- und Interessenbildung und somit auch das Handeln sozialer Akteure. Die Identitäten der Akteure, ihre Interessen und Präferenzen definieren sich konkret je nach Wahrnehmung und Interpretation der Situation. Das bestimmt wiederum ihr soziales Handeln. Folgendes Zitat von Theodor Fontane bringt diese Problematik am besten auf den Punkt: „Man ist nicht bloß ein einzelner Mensch, man gehört einem Ganzen an, und auf das Ganze haben wir beständig Rücksicht zu nehmen, wir sind durchaus abhängig von ihm. (...) Im Zusammenleben mit den Menschen hat sich ein Etwas herausgebildet, das nun mal da ist und nach dessen Paragraphen wir uns gewöhnt haben, alles zu beurteilen, die anderen und uns selbst. Und dagegen zu verstoßen geht nicht; die Gesellschaft verachtet uns, und zuletzt tun wir es selbst und können es nicht aushalten und jagen uns die Kugel in den Kopf.“5 Interessen und Präferenzen einzelner Akteure sind nicht rational gewählt und von vorneherein festgelegt, sondern gesellschaftlich bedingt. Gesellschaftlich bedingt ist auch unsere Wahrnehmung, jedoch nicht ihre Interpretation. Sie ist und bleibt subjektiv, obwohl von der Umwelt stark beeinflusst. Die von uns wahrgenommene Welt wird am meisten durch die Politik manipuliert und je nach „politischer Korrektheit“ von Massenmedien als eine „tatsächliche Wirklichkeit“ vermittelt. Die Politik gilt neben den Massenmedien als Meinungsbilder Nummer eins und wird besonders in der Gegenwart als eine elitäre realitätsbildende Kraft betrachtet. Von der systemischen Perspektive einer (Außen-)Politikanalyse am Beispiel Kosova lassen sich vier sozialkonstruktivistische Annahmen herauskristallisieren: 1. Die Wirklichkeit ist sozial konstruiert.6

5 Fontane, Theodor (1985): Effi Briest, Roman, S. 223f.

6 Interpretationsabhängigkeit der Welt: Selbstwissen und Weltwissen sind niemals objektiv gegeben, sondern immer intersubjektiv vermittelt. Handlungsentscheidungen sind von Deutungen abhängig, und Deutungen können sich im Rahmen von kollektiven Lernprozessen verändern.

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2. Es gibt eine internationale Gemeinschaft, die den politischen „Weltregisseur“ spielt.7 3. Staaten folgen (auch) einer Logik der Angemessenheit.8 4. Staaten und NGOs sind die zentralen Akteure in der Weltpolitik9 Aus dem Sozialkonstruktivismus leitet sich also eine besondere Stellung der Politik als Konstrukteur der sozialen Realität(en) ab. Politik beeinflusst die Einstellung, die Identitäten der sozialen Akteure und somit auch ihr Handeln. Dadurch können bestimmte Zielgruppen manipuliert und für bestimmte Zwecke missbraucht werden. Je nach politischer Plattform kann die Politik in diesem Sinne als eine kriegs- bzw. friedensstiftende Instanz fungieren. Es ist davon auszugehen, dass eine politische Führung analog einer Regieführung abläuft und dass soziale Akteure wie Bühnenschauspieler Rollen übernehmen/verteilen und durch ihre intentional durchgeführten Handlungen letztendlich gute oder schlechte politische bzw. ästhetische Ereignisse herbeiführen.

1.2 Goffmans Rahmen‐Analyse vs. Thomas Theorem Die amerikanischen Soziologen Dorothy und William Isaac Thomas stellten das sogenannte Thomas-Theorem auf. Dieses Theorem besagt, dass „[w]enn Menschen eine Gegebenheit als real ansehen, dann werden sie so handeln, als sei sie real, und insofern kommt es zu realen Konsequenzen“ (Thomas 1928: 572). Daraus lässt sich ableiten, dass das Handeln der sozialen Akteure alleine durch subjektive Wahrnehmung und Deutung/Interpretation der Situation geprägt bzw. bestimmt ist, jedoch von realen Konsequenzen begleitet wird.

7 Staaten bewegen sich in einer normativ strukturierten Umwelt. Sie sind Träger von Rechten und Pflichten, und diese Rechte und Pflichten leiten sich aus der Mitgliedschaft in der internationalen Gemeinschaft ab.

8 Staaten treffen ihre Handlungsentscheidungen nach Maßgabe ihrer Identitäten, ihres Faktenwissens und der einschlägigen normativen Vorgaben. In Konflikten sind Staaten und NGOs kommunikationsfähig und kommunikationswillig.

9 Außenpolitik ist Politik von handlungsfähigen Kollektiven. Unter ihnen sind Staaten zwar (noch) die einflussreichsten Akteure. NGOs und internationale Organisationen werden aber in dem Maße berücksichtigt, wie sie mit ihren Ressourcen Außenpolitik beeinflussen können.

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Der Soziologe Erving Goffman10 hingegen lehnte eine subjektivistische Konstruktion der Wirklichkeit ab. In seiner Rahmen-Analyse11 geht er von einer gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit aus und versucht die Regeln und Konventionen auszudifferenzieren, die dafür verantwortlich sind, dass bestimmte Ereignisse und Zusammenhänge auf andere Wirklichkeitsebenen transformiert werden. Er versucht herauszuarbeiten, „nach welchen Organisationsprinzipien wir Situationsdefinitionen aufstellen“. Goffman zufolge gibt es in jeder Gesellschaft einige kulturell vorgegebene Interpretationsschemata, die nach bestimmten Prinzipien organisiert sind. Diese Interpretationsschemata stellen Rahmen dar, die nicht nur als Deutungsmuster, sondern auch als reale Interaktionssysteme zu begreifen sind. Goffmans

10 Erving Goffman wurde am 11. Juni 1922 in Manville (Provinz Alberta) in Kanada als Sohn der jüdischen Einwanderer Max und Anne Goffman geboren. Er studierte Soziologie an der Universität Toronto und an der University of Chicago, der er noch bis 1951 angehörte. Von 1949– 1951 befand er sich am Department of Social Anthropology der Universität Edinburgh in Großbritannien, um währenddessen Feldforschungen auf den Shetland-Inseln durchzuführen. Im Jahr 1953 schrieb Goffman in Chicago seine Dissertation mit dem Titel Communication conduct in an island community. Die Ergebnisse flossen später in sein bekanntestes Werk The Presentation of Self in Every-day Life (deutsch: Wir alle spielen Theater) ein. Nach einigen Jahren in Bethesda, Maryland, sowie in Washington (D.C.) übersiedelte Goffman 1957 nach Berkeley zur University of California, an der er 1958 eine ordentliche Professur erhielt. Im Jahr 1968 übersiedelte er erneut, diesmal an die Ostküste, um den Posten eines Professors für Anthropologie und Soziologie an der University of Pennsylvania zu übernehmen. 1981 wurde Goffman zum Präsidenten der American Sociological Association gewählt, verstarb jedoch schon vor seiner geplanten Antrittsvorlesung an den Folgen einer Krebserkrankung.

11 Rahmen-Analyse ist eine ‚Kurzformel für die entsprechende Analyse der Organisation der Erfahrung‘. Die Untersuchung handelt von der Organisation der Erfahrung – etwas, was ein einzelner Handelnder in sein Bewusstsein aufnehmen kann – und nicht von der Organisation der Gesellschaft. Goffman hat dazu behauptet: „Es geht mir nicht um die Struktur des Sozialen Lebens, sondern um die Struktur der Erfahrung, die die Menschen in jedem Augenblick ihres sozialen Lebens haben.“. Goffman hält die Gesellschaft in jeder Hinsicht für das Primäre und die jeweiligen Beziehungen eines einzelnen für das Sekundäre. Die Rahmen-Analyse beschäftigt sich nur mit Sekundärem. Goffman, Erving: Rahmen-Analyse, S. 19-22.

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Wirklichkeit setzt Intersubjektivität12 voraus. Das ist der Grund, warum er jede subjektivistische Auslegung des Thomas-Theorems ablehnt. Grundlegend sind lt. Goffman die primären Rahmen13, die sich in a) natürliche14 Rahmen und b) soziale15 Rahmen unterteilen lassen. Die primären Rahmen bilden oft nur das Ausgangsmaterial für mannigfaltige16 Sinntransformationen, die die Wirklichkeit so bunt und mehrschichtig erscheinen lassen. Doch welche sind die Regeln, nach denen die primären Rahmen „in etwas anderes“ transformiert werden können? Goffman gibt folgende Regeln an: (a) Modulationen17, (b) Täuschungsmanöver18 und (c) Theateraufführungen.19 Außerdem spricht Goffman vom „Proberahmen“ und „Aufführungsrahmen“, wobei nicht der Rahmen als Ganzes – inklusive seiner inneren Schichten –, sondern lediglich die in ihm enthaltene Modulation beschrieben wird. Die theoretische Grundkonzeption20 der Goffmanschen Rahmenanalyse ist also recht

12 Goffman zufolge werden beispielsweise Theateraufführungen (a) als integrale Teile der Wirklichkeit inszeniert und (b) auch subjektiv erlebt.

13 Die primären Rahmen einer sozialen Gruppe bilden den Hauptbestandteil von deren Kultur und geben in jeder Situation eine erste Antwort auf die Frage: „Was ist hier los?“

14 Es handelt sich hier um physikalische Rahmen, die von einem Menschen nicht gesteuert werden können. Hierzu zählen z. B. Krankheiten, physikalische Bedürfnisse usw.

15 Als soziale Rahmen werden menschlich gesteuerte Absichten und Motive genannt.

16 Die menschliche Auffassung ist sehr anfällig für diverse Umdeutungen bezüglich „dem, was vor sich geht“.

17 Z. B. ein Zweikampf, der von Kindern imitiert wird und im Theater simuliert werden kann.

18 Täuschungsmanöver stellen eine zweite Form von Transformationen dar, z. B. Täter (Täuscher) und Opfer (Getäuschte), wobei die Täuscher wissen, dass es sich um ein Täuschungsmanöver handelt, die Getäuschten jedoch bis zur Entlarvung alles für wahr bzw. wirklich halten.

19 Theateraufführungen verstanden als Versuch, eine Sequenz des wirklichen Lebens in eine Bühnenwelt zu transformieren.

20 Die Lebenswelt weist bekanntlich zwei Pole auf: 1) den subjektiv zentrierten Pol (Schütz) und den intersubjektiven Pol (Goffman). Rahmenanalyse ist zum einen a) eine Wahrnehmungsanalyse und zum anderen b) eine Interaktionsanalyse. Sowohl Erving Goffman als auch Alfred Schütz behaupten, dass nicht der einzelne, sondern die Gesellschaft Situationsdefinitionen schafft. Die Interpretationsrelevanzen sind dem einzelnen jedoch weitgehend auferlegt. Beide gehen von einer

11 einfach und umfasst einerseits die Inventarisierung (vielschichtigen Strukturen) und andererseits die Kategorisierung des gesellschaftlichen Rahmens (Transformationsregeln). Mit Rahmen meint Goffman: 1. Kognitive Interpretationsschemata, mit deren Hilfe wir Ereignisse deuten (Wahrnehmung). 2. Handlungs- und Interaktionsszenen, wie sie wirklich ablaufen (Organisation des Wahrgenommenen). Die Besonderheit sozialer Rahmen liegt darin, dass sie als Interpretationsschemata nur so lange anwendbar sind, bis die Handelnden sich faktisch auch dem jeweiligen Rahmen entsprechend verhalten. Denn im Unterschied zu natürlichen Rahmen werden die sozialen Rahmen nicht nur erkannt, sondern auch durch konkrete Handlungen konstruiert. Organisationsprämissen von Handlungsrahmen sind sowohl im Bewusstsein wie im Handeln vorhanden. Goffman verzichtet darauf, den Dualismus zwischen Akteur21 (Kognition22) und Ereignis23 (Situation24) aufzulösen. Denn Rahmen schaffen Sinn (Menschen machen sich einen Bild davon) und Rahmen schaffen Engagement (Menschen agieren aktiv). Damit verschiebt Goffman den Akzent auf das Szenische. Sein Augenmerk ist nicht nur auf Beobachter, sondern auf Handelnde gerichtet. Wenn sich die Frage stellt, wie man die Welt (neu) organisieren kann, so lautet die Antwort der Rahmenanalyse: Auch die härteste Wirklichkeit lässt sich systematisch verändern, falls irgendeine Modulation möglich ist. Es gilt, die strukturelle Formel eines Vorgangs zu finden und mit einer Modulation25 die

„gesellschaftlichen, nicht von einer subjektiven Konstruktion der Alltagswelt aus. Goffman spricht von einem gesellschaftlich vorgegebenen Rahmen. Schütz spricht von Kultur- und Zivilisationsmustern sowie auch von Orientierungs-, Auslegungs- und Ausdrucksschemata.

21 Aus der Sicht der Akteure handelt es sich hierbei um Fähigkeiten.

22 Kommunikationskanäle.

23 Mit Blick auf Ereignisse handelt es sich hierbei um Kommunikationskanäle.

24 Verhalten außerhalb des Rahmens.

25 Die Internationale Gemeinschaft setzt in Kosova die Multi-Ethnizität als Modulation und die

12 frühere Bedeutung der Handlung systematisch zu unterminieren. Wenn sich die subjektive Situationsinterpretation eines oder mehrerer Handelnder von jener der übrigen Beteiligten sichtbar unterscheidet, dann sind die Umstände für eine typische Krisensituation gegeben, ein Thema, das im Laufe dieser Arbeit fortwährend auftauchen wird.

1.3 Turners und Schechners Theorie von Social‐/Stage Drama

Der Ethnologe Turner ist davon überzeugt, dass die menschliche Existenz weder individuell noch kollektiv ausschließlich auf Progressivität, Rationalität und Logik basiert, sondern dass irrationale und emotionale Anteile unser Leben entscheidend mitbestimmen, wenn nicht sogar dominieren.26

Turner postuliert, dass das Zusammenleben in menschlichen Gemeinschaften keineswegs harmonisch abläuft, sondern geprägt ist durch eine „strukturelle Unruhe“27, weswegen Krisensituationen in diesen Gemeinschaften schon immer vorprogrammiert sind.28 „Soziokulturelle Systeme sind niemals logische Systeme oder harmonische Gestalten, sondern mit strukturellen Widersprüchen und Normenkonflikten belastete Systeme“.29

Dies scheint für alle Arten von Gemeinschaften zu gelten, angefangen von der Kleinfamilie über Dorfgemeinschaften bis hin zu Staaten und letztlich bis zur Staatengemeinschaft. Interessant ist dabei, dass Turner diese Krisenmomente nicht als Fehlformen menschlichen Zusammenlebens betrachtet, sondern als unbedingt notwendige, häufig wiederkehrende Durch- und Übergangsstationen im sozialen Umgang der Menschen.

(UN-)Abhängigkeit, Dezentralisation und Ex-Territorialität als Täuschungsmanöver ein.

26 Heiler, Lars: Regression und Kulturkritik im britischen Gegenwarts-Roman, S. 35.

27 Turner, Victor: „Soziale Dramen und Geschichten über sie“, in: Ders., Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt am Main, 1985, S. 96.

28 Heiler, L.: Ebd. S. 35.

29 Turner, 1985, S. 121.

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Dies erklärt sich daraus, dass in allen Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens „Erlebnisstrukturen“ wirken, die nicht nur kognitiv, sondern auch volitional und affektiv sind. Das bedeutet konkret, dass menschliche Gemeinschaften immer schon vom Machtstreben und der Konfliktfreudigkeit ihrer Mitglieder geprägt sind, die sich in Gruppen organisieren und Krisensituationen initiieren können, um ihre Interessen durchzusetzen.“30

Turners „Ethnologie des Erlebens“ zielt darauf ab, die vielschichtigen Austausch- und Transformationsprozesse, die dem Wechselspiel von sozialem Drama und künstlerischer Inszenierung zugrundeliegen, zu beleuchten.

In Zusammenarbeit mit dem Theaterregisseur Richard Schechner entwickelte Victor Turner ein Modell des sozialen Dramas, das sich in mehrfacher Hinsicht eignet, um das soziale Drama der Kosova-Albanischen Ghettogesellschaft auszuloten. Turner und Schechner erkennen eine strukturelle Unruhe, die allen sozialen Gemeinschaften inhärent ist.

„Diese Unruhe entsteht durch die Existenz verschiedener Interessen und Bedürfnisse, die in der gesellschaftlichen Interaktion kollidieren und ausgehandelt werden müssen.

Dies findet im sozialen Drama statt, das sich in vier31 Phasen unterteilen lässt: 1) Normbruch, 2) Krise, 3) Entwicklung von Bewältigungsstrategien, und 4) Re-Integration von Interessen/Personen bzw. Anerkennung der Spaltung“32

30 Heiler, Lars: Ebd. S. 35.

31 Turner´s Theorie des sozialen Dramas operiert mit Begriffen, die entweder aus dem juristischen Diskurs stammen (Norm- bzw. Gesetzbruch) oder Etappen bezeichnen, die mit den Phasen eines Gerichtsprozesses korrespondieren.

32 Heiler, Lars: Ebd. S.73.

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Victor Turner bestreitet die Möglichkeit, dass ein soziales Drama sich als eine Geschichte in Hayden White´s Sinne33 definieren lässt, sondern ist fest davon überzeugt, dass es sich hier um eine „spontane Einheit eines sozialen Prozesses“ handelt und „einer von jedem in jeder Gesellschaft erfahrenen Experience“. Diese Behauptung stützt er auf seine wiederholten empirischen Beobachtungen solcher „prozessualen Einheiten" auf der Ebene soziokultureller Systeme. In Anlehnung an Ethnographie und Geschichte lässt er diese „Dramen des Lebens“34 in vier Phasen unterteilen: Normbruch, Krise, Bewältigung (Wiedergutmachung) und Reintegration oder Anerkennung der Spaltung.35 Turner behauptet, dass soziale Dramen innerhalb von Gruppen geschehen, in denen die Menschen (a) durch gemeinsame Interessen und Werte verbunden sind und (b) eine gemeinsame reale oder fiktive Geschichte haben. Die Hauptakteure eines sozialen Dramas sind lt. Turner hochangesehene Personen der Gruppe, in der die dramatische Aktion geschieht. Er bezeichnet solche Gruppen als „Star“-Gruppen und meint damit jede soziale Gruppe, die für uns von großer Bedeutung ist (d.h. für uns die höchste Priorität hat) und der unsere höchste Loyalität gebührt. Turner behauptet, dass Menschen in jeder Kultur dem Anspruch ausgesetzt sind, ein Teil bestimmter formaler und nicht-formaler Gruppen, von der Institution Familie und Nation beginnend, bis zu internationalen religiösen oder politischen Institutionen, zu sein.

In every culture one is obliged to belong to certain groups, usually institutionalized ones – family, age-set, school, firm, professional association, and the like. 36

33 D. h. wie eine „Geschichte“ mit einem bestimmten strukturellen Aufbau: einem einleitenden Beginn, einer überbrückenden Mitte und einem abschließenden Ende.

34 Wie Kenneth Burke sie bezeichnet.

35 Turner, Victor: From ritual to theatre, S. 68-69.

36 a.a.O., S. 68.

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Dabei liegt es an die Entscheidung des Einzelnen, zu wem man „lieb“ sein will und wen man da „beschützen“ will, so Turner. Eine „Star“-Gruppe lässt sich wie folgt definieren: A star group is one with which a person identifies most deeply and in which he finds fulfillment of his major social and personal strivings and desires.37

Manchmal können tragische Ereignisse passieren aufgrund der Loyalität zu verschiedenen „Star“-Gruppen, die in Konflikt zueinander stehen. In einer Star- Gruppe versucht man nach Liebe, Anerkennung, Prestige und sonstigen Gewinnen zu suchen. Durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, für die man Respekt empfindet, lernt man ebenso sich selbst zu respektieren. Jede objektive Gruppe hat lt. Turner Angehörige, die sie als Star-Gruppe betrachten, während einige andere dieser Gruppe gegenüber entweder neutral eingestellt sind oder sie gar ablehnen. Das Verhältnis zwischen Star-Gruppen ist sehr ambivalent und lässt sich nach Turner folgendermaßen beschreiben: Relations among the „star-groupers,“ as the first category may be called, are often highly ambivalent, resembling those among members of an elementary family for which, perhaps, the „star group“ is an adult substitute. They recognise one another´s common attachment to the group, but are jealous of one another over the relative intensity of that attachment or the esteem in which another member is held by the group as a whole.38

Die erste Phase eines sozialen Dramas manifestiert sich als ein Normbruch, als eine Missachtung der Regeln, Gesetze, Dienstleistungen oder Etikette in der Öffentlichkeit. Sie kann von einer oder von mehreren Personen durchgeführt werden, und wenn sie einmal geschehen ist, ist sie nicht mehr rückgängig zu machen. Das verursacht eine Krise in einem sozialen Bereich, wo es zuvor einen (Schein-) Frieden gab. Das Verhältnis zwischen den sozialen Komponenten ändert sich, Konflikte und Antagonismen werden sichtbar:

37 A.a.O., S. 69.

38 Turner, Victor: From ritual to theatre, S. 69.

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Sides are taken, factions are formed, and unless the conflict can be sealed off quickly within a limited area of social interaction, there is a tendency for the breach to widen and spread until it coincides with some dominant cleavage in the widest set of relevant social relations to which the parties in conflict belong.39

In der Phase der Krise40 werden die Streitpunkte bzw. die Motive der Konfrontation innerhalb der betroffenen sozialen Gruppe langsam sichtbar und überschaubar. Sie ändern schrittweise die Grundlagen der sozialen Struktur und bilden relativ konstante und dauerhafte Relationen.

Bei dem Versuch, die Ausuferung des Streits zu verhindern, werden von Führungsmitgliedern der destabilisierten Gruppe verschiedene formale und non- formale Regulierungsmechanismen in Funktion gesetzt. Von welchem Charakter die Mechanismen sind und mit welchen Faktoren sie zusammenhängen, das erklärt Turner folgendermaßen: These mechanisms vary in character with such factors as the depth and significance of the breach, the social inclusiveness of the crisis, the nature of the social group within which the breach took place, and it´s degree of autonomy in regard to wider systems of social relations. 41

Vom Niveau her umfassen diese Mechanismen eine breite Palette; von einer persönlichen Beratung über nicht-formale Schlichtungsverfahren bis hin zu juristischen und legalen Mechanismen, die eine Lösung verschiedener Arten von Krisen ´der Performance des öffentlichen Rituals´42 herbeiführen.

39 Ebd. S. 69

40 So ist die Krise ein Zustand, in dem der Rechtsfriede bzw. das kollektive Gerechtigkeitsempfinden verletzt ist und als potentiell gefährdend für die Kultur gilt.

41 Turner, Victor: From ritual to theatre, S. 70.

42 „[T]o resolve certain kind of crisis, to the performance of the public ritual. Such ritual involves a ´sacrifice,´ literal or moral, a victim as a scapegoat for the group´s „sin“ of redressive violence“ .

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Die letzte Phase betrifft die Reintegration der destabilisierten, zerstörten, und/oder beunruhigten sozialen Gruppe. Denn im Rahmen der Krise haben sich die Verhältnisse der sozialen Gruppe geändert: die Anzahl ihrer Anteile kann sich geändert haben, die Größe und der Einfluss kann jetzt anders sein, oder es kann auch eine Anerkennung der Spaltung zwischen Parteien eintreten. Dies würde konkret entweder einen Exodus eines ganzen Dorfes oder Milieus, wie wir es oft aus der Geschichte kennen, bedeuten. Ebenso kann es aber auch einen irreparablen Bruch zwischen den beteiligten Parteien und ihre endgültige Trennung43 bedeuten.

Als Ausweg aus der Krise betrachtet Turner Wiedergutmachungsvorgänge als ´traditionelle Mechanismen der Versöhnung´, die selbstverständlich konform dem neuen Status, den neuen Rollen sowie neuen Typen der Herausforderungen und Probleme sein sollen. Die Versöhnung kann in der vierten Phase eintreten, auch wenn der reale Konflikt „nicht gelöst“, sondern nur „unter den Teppich“ gekehrt wurde.

In großen komplexen Gesellschaften kann die Reintegration (Wiederherstellung der Ordnung) durch Rebellion oder gar Revolution geschehen. Ganz besonders, wenn eine Gesellschaft mit alten Werten abschließen will und neue, Nicht- Präzedenz-Rollen, Verhältnisse und Klassen entstehen sollen. 44

So können beispielsweise Abschlüsse, Bedeutungen und Quellen in andere ´konvertiert´ werden, z.B. können Landschaften und Geld in Ruhm und Prestige umgewandelt werden. Sie können auch dazu verwendet werden, die Rivalen zu

Vgl. hierzu: Social Dramas and Stories about them. In: Turner, Victor: From ritual to theatre. S. 70-71.

43 Turner, Victor: From ritual to theatre. S. 71

44 Ebd. S. 71

18 stigmatisieren45. Victor Turners empirischen Beobachtungen zufolge wird der politische Aspekt eines sozialen Dramas vom „Star-Gruppen“ dominiert: They are the main protagonists, the leaders of factions, the defenders of the faith, the revolutionary vanguard, the arch-reformers. These are the ones who develop to an art the rhetoric of persuasion and influence, who know how and when to apply pressure and force, and are most sensitive to the factors of legitimacy.

In der dritten Phase, der Reintegration (Wiedergutmachung), sind die Star- Gruppen diejenigen, die Gerichte und Rituale des ´Heilig´-Sprechens manipulieren sowie andere Star-Gruppen zu Dissidenten erklären, die Rebellionen geleitet oder den Ausgangspunkt für die Krise provoziert haben.

Den Menschen als einen Schauspieler und zugleich auch Zuschauer des eigenen Lebens betrachtend, fügt Turner abschließend hinzu: As heroes in our own drama, we are made self aware, conscious of our consciousness. At once actor and audience, we may then come into the fullness of our human capability – and perhaps desire to watch ourselves and enjoy knowing that we know.

Victor Turner und sein Kollege Richard Schechner vertreten die Meinung, dass es einen dialektischen Zusammenhang zwischen sozialen Dramen und Kultureller Performance gibt: „there is an interdependent, perhaps dialectic, relationship between social dramas and genres of cultural performance in all societies“46. Turner geht sogar so weit zu behaupten, nicht die Kunst ahme das Leben nach, sondern umgekehrt: „Life, after all, is as much an imitation of arts as the

45 Vgl. hierzu später im Text die Stigmatisierung des Präsidenten Rugova als Leiter des Pazifistischen Widerstands und sein bitteres Ende durch die Erniedrigungen und Demütigungen der aus der Drenica-Gegend stammenden UÇK–Stargruppen, geleitet vom PDK-Führer Hashim Thaçi, einer seiner erbitterten Gegner.

46 Turner, Victor: From ritual to theatre, S. 72.

19 reverse“.47 Das dynamische Verhältnis zwischen sozialem Drama und Drama als ästhetischer Form und Bühnenereignis wurde vom Richard Schechner (1977) durch eine der Zahl Acht ähnlicher, in der Mitte durchgetrennter und horizontaler Figur dargestellt. Der linke obere Halbkreis repräsentiert das Soziale Drama (samt dessen Bestandteilen: Normbruch, Krise, Wendung und positive oder negative Entwicklung), das zugleich soziale Prozesse impliziert – dargestellt im rechten unteren Halbkreis48. Der rechte obere Halbkreis hingegen umfasst das Bühnendrama, das rhetorische Prozesse voraussetzt. Dieses Modell wurde von Victor Turner gründlich beschrieben und wird im Folgenden als ein etwas längeres Zitat eingeführt. “Richard Schechner represented this relationship as a bisected figure eight laid on its side. The two semicircles above the horizontal dividing line represent the manifest, visible public realm, those below it, the latent, hidden, perhaps even unconscious realm. The left loop or circlet represents social drama, divided into its four main phases, breach, crisis, redress, positive or negative denouement. The right loop represents a genre of cultural performance - for our purposes today, a stage of aesthetic drama. Notice that the manifest social drama feeds into the latent realm of the stage drama; its characteristic form in a given culture, at a given time and place, unconsciously, or perhaps preconsciously, influences not only the form but also the content of the stage drama of which it is the active or „magic“ mirror. The stage drama, when it is meant to do more than entertain – though entertainment is always on of its vital aims – is a metacommentary, explicit or implicit, witting or unwitting, on the major social dramas of it´s social context (wars, revolutions, scandals, institutional changes). Not only that, but its message and its rhetoric feed back into the latent processual structure of the social drama and partly account for its ready ritualization. Live itself now becomes a mirror helped up to art, and the living now perform their lives, for the protagonists of a social drama, a „drama of living,“ have been equipped by aesthetic drama with the some of their most salient opinions, imageries, tropes,

47 Turner, Victor: From ritual to theatre, S. 72.

48 Turner, Victor: From ritual to theatre, S. 73-74.

20 and ideological perspectives. Neither mutual mirroring, life by art, art by life, is exact, for each is not a planar mirror but a matrical mirror; at each exchange something new is added, something old is lost or discarded. Human beings learn through experience, through all too often they repress painful experience, and perhaps the deepest experience is through drama; not through social drama, or stage drama (or its equivalent) alone, but in the circulatory or oscillatory process of their mutual and incessant modification.”49

Dieses dialektische und zusammenhängende Beisein von sozialen Dramen und Bühnenereignissen als ästhetischer Kunstform werden dieser Arbeit als inhaltliche Grundlage dienen. Denn eine der größten Herausforderungen dieser Arbeit liegt darin, das soziale Ghettodrama der Kosova-Albaner und ihre Reflexion auf die Bühnenereignisse des Ghetto-/Kriegs- und Nachkriegstheater in Kosova (1989- 2009) zu gründen. Die Bildung neuer ästhetischer und sozialer Realitäten wird jedoch mit Hilfe eines sich auf den Theatercode „H₂O“ stützenden Drei-Phasen- Modells erläutert.

49 Turner, Victor: From ritual to theatre, S. 108.

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2 Theatercode „H₂O“ und das Herleiten des Theatermodells

2.1 Der Code des Theaters

Wie alle anderen kulturellen Systeme auch besitzt das Theater einen nur ihm eigenen Code. Der Code des Theaters kann nach der Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte gründlich analysiert werden, wenn sich die Untersuchungen auf die Ebenen des Systems, (b) der Norm und (c) der Rede richten.

Auf der Ebene des Systems werden die Zeichen, Kombinationen und Bedeutungen untersucht, die allgemein und grundsätzlich im Theater möglich sind, völlig unabhängig davon, ob sie in irgendeiner Aufführung irgendeiner Zeit und Gesellschaft tatsächlich Verwendung gefunden haben. Auf dieser Ebene gilt es, all diejenigen Elemente zu untersuchen, die in einem theatralischen Code überhaupt jemals funktionell werden können50.

Auf das Verhältnis zwischen dem Szenischen Material als System (Realobjekt) und dem Theatercode als einem theoretischen, abstrakten Begriff (Wissensobjekt) ist auch Patrice Pavis in seinem Buch Languages of the Stage eingegangen. “The frequent confusion between scenic material (the real object) and code (the object of knowledge, a theoretical, abstract notion) has compelled semiologists to establish a limited list of codes that are specifically theatrical. Frequently, the hierarchy which they suggest (the code of codes) peremptorily fixes the performance and it´s content to ignore the problem of how the performance works, while affirming that the system of theatrical signs is translatable into an ensemble of codes.”51

Während Pavis auf ein ´Ensemble of Codes´ d.h. auf die Existenz von mehreren Codes hinweist, versucht Fischer-Lichte dies als eine normative Ebene zu spezifizieren. Wenn wir den theatralischen Code der antiken Tragödie, der

50 Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters, S. 22.

51 Pavis, Patrice: Languages of the Stage, S. 17.

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Commedia dell´ arte oder beispielsweise des Elisabethanischen Theaters untersuchen, dann bewegen wir uns auf der Ebene der Norm, so Fischer-Lichte. „Da der theatralische Code als Norm jeweils einer Reihe von Aufführungen zugrunde liegt, die tatsächlich historisch nachweisbar stattgefunden haben, ist er als ein geschichtliches Phänomen zu verstehen.“52

In diesem Fall enthält der Code als Norm „Regeln, die für mehrere verschiedene konkrete Aufführungen Gültigkeit besitzen.“53 Der theatralische Code als Rede liegt alleine einer individuellen Aufführung zugrunde und ist nur auf dem Wege der Analyse54 dieser Aufführung zu ermitteln55. Die Parameter der Aufführungsanalyse sind Pavis zufolge dem frei zu überlassen, der sich dafür entschieden hat, einen bestimmten Aspekt einer bestimmten Aufführung zu untersuchen. “Instead of considering the code as a system ´hidden´ within the performance that needs to be brought to light through analysis, it would be fairer to talk about a process of setting up a code through its mediator, for it is the interpreter, whether critic or actor, who decides to read a given aspect of the performance according to a freely selected code.“56

Pavis ist gegen die Praxis, den Code des Theaters als ein System zu sehen, der ´innerhalb´ einer Aufführung zu suchen sei, sondern schlägt vor, ihn als einen analytischen Prozess zu betrachten. “The code, thus conceived, is more of a method of analysis than a property of object analyzed”57, so Pavis. An diesen Gedanken werde ich im Folgenden anknüpfen, um den von mir entwickelten

52 Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters, S. 22.

53 Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters, S. 22.

54 Textanalyse, Inszenierungsanalyse, Aufführungsanalyse.

55 Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters, S. 23.

56 Pavis, Patrice: Languages of the Stage, S. 17.

57 Pavis, Patrice: Languages of the Stage, S. 17.

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Theatercode „H₂O“ herauszukristallisieren und als Grundlage für das Drei-Phasen Theatermodell „H₂O“ zu benutzen.

2.2 Theatercode „H₂O“/Konzeptspezifikation Die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte spricht von einem Code des Theaters, der auf den Ebenen der Norm, der Rede und des Systems analysiert werden soll. Es handelt sich hier um ein jeweils größeres Konstrukt, das kleinere Einheiten bzw. bestimmte Codes in sich enthält. - Doch was ist der eigentliche Code des Theaters? - Was ist das, was das Wesen des Theaters ausmacht? - Was sind die Komponenten, ohne die es kein Theater geben kann? Über die konstitutiven Elemente des Theaters und/oder die minimalen Voraussetzungen einer Theatersituation gibt es diverse Meinungen. Peter Brook beispielsweise denkt, dass es für eine Theatersituation vollkommen ausreichend ist, wenn es einen Menschen gibt, der läuft, während ihm ein anderer zuschaut. „Ich kann jeden leeren Raum nehmen und ihn eine nackte Bühne nennen. Ein Mann geht durch den Raum, während ihm ein anderer zusieht; das ist alles, was zur Theaterhandlung notwendig ist“58, so Brook.

Hier nimmt Brook Rücksicht auf zwei sehr wichtige Aspekte des Theaters: a) den Aspekt der Handlung (des Tuns) und b) den Aspekt des Zuschauens. Aber wenn die Erfüllung dieser zwei Aspekte für eine Theatersituation ausreichen würde, dann wäre auch jede x-beliebige Lebenssituation, die wir in Anwesenheit bzw. unter Beobachtung anderer durchführen, als eine Theatersituation zu bezeichnen. Auf diese zwei Dimensionen des Theaters, d.h. auf die Ebene des Handelns und diejenige des Zuschauens, wobei der zweiteren eine wichtigere Rolle beigemessen wird, stoßen wir auch bei Erika Fischer-Lichte, die behauptet, dass „Grundvoraussetzungen für eine Theatersituation … gegeben [sind], wenn es eine Person A gibt, die X präsentiert, während S zuschaut.“ Diese Formel behält ihre Gültigkeit, wenn wir davon ausgehen, dass damit die Dauer der Aufführung, d.h. die Zeit zwischen dem Vorführungsbeginn bis zum Aufführungsende gemeint ist,

58 Brook, Peter: Der leere Raum, S. 9.

24 nicht jedoch der ganze Vorgang der Entstehung des Bühnenereignisses. Die Entstehung eines Bühnenereignisses bzw. einer Aufführung als einem ästhetischen Produkt beginnt mit der Entscheidung, das bestimmte „Drama XY“ in Szene zu setzen. Mit den Tischproben – d.h. Textanalyse, Rollenverteilung, Leseproben usw. – und Mise–en-scène setzt sich der Vorgang fort. Während dieser Zeit bildet das Ensemble eine kleine geschlossene Gesellschaft – Ghettozustand –, denn das Publikum ist im Laufe des Produktionsprozesses nicht anwesend, sondern wird erst dann einbezogen, wenn ihm ein fertiges konsumfähiges Produkt auf der Bühne dargeboten wird. Die Komponente des Zuschauens ist also erst in der dritten Phase (Rezeptionsanalyse) wichtig, nicht im Prozess der Entstehung ästhetischer/sonstiger Realitäten. Im Prozess der Entstehung gibt es kein Zuschauen im theatralischen Sinne, sondern nur ein einander Beobachten, Wahrnehmen usw. Sowohl Brook als auch Fischer-Lichte betrachten eine durchgeführte Handlung als einen wesentlichen Bestandteil einer Theatersituation.

Die Handlung Der Mythos

Die Handelnden Protagonisten Antagonisten

Der Ort Die Bühne

Abb. 1: Der Theatercode „H₂O“

Auch dem hier von mir postulierten Theatercode „H₂O“ liegt die Komponente H (die Handlung) als erste konstitutive Einheit zu Grunde. Eine Handlung kann erst zum Vorschein kommen, wenn sie durch H´ (die Handelnden) durchgeführt wird. Daraus resultiert das Faktum, dass die Handelnden als zweite konstitutive

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Komponente des Theatercodes „H₂O“ zu betrachten sind. Eine von den Handelnden durchgeführte Handlung/Aktion findet an einem bestimmten Ort und in einer bestimmten Zeitspanne statt. Da die Zeit keine feste, sondern eine variable, eine verändernde und im Henry Bergsonschen Sinne eine immer werdende Dureé ist, lässt sich die Zeit als Bestandteil des Theatercodes ausschließen. Der Ort, in dem die Handelnden aktiv werden und ihre Handlungen wahrwerden lassen, wird als dritte Komponente des Theatercodes H2O herauskristallisiert.

2.2.1 Die Handlung Die Handlung wird von Aristoteles als Mythos bzw. als Handlungsverknüpfung definiert. Paul Ricoeur betrachtet die Handlung als Konfiguration bzw. Gestaltung. Um auf die Metatheorie Konstruktivismus zurückzugreifen, besteht die Handlung entweder in einem längst gestalteten Konstrukt (z.B. Drama als Text) oder aber auch in einem Konstrukt, das es erst zu gestalten gilt, d.h. ein erst zu inszenierendes Drama.

2.2.2 Die Handelnden Paul Ricoeur bezeichnet die Handelnden als Gestalte. Eine Gestalt ist etwas, das kreiert, das gestaltet wurde und jetzt als autonome Gestalt existiert. Im Rahmen dieser Arbeit werden die Handelnden jedoch sowohl als gestaltete Gestalten als auch als Gestalter betrachtet. Sie werden sowohl als völlig passive Gottes- oder Gesellschaftskreaturen aufgefasst als auch als aktiv zu Handlungen Fähige, die in der Lage sind, selbst etwas zu kreieren, zu konstruieren bzw. zu bilden oder zu rekonstruieren. Durch absichtlich und gezielt durchgeführte Handlungen sollen die Handelnden – der Regieplattform entsprechend – ein ästhetisches Produkt bzw. ein neues soziales Realitätskonstrukt entstehen lassen.

2.2.3 Der Ort Der Ort stellt den Raum dar, in dem die Handlung stattfindet bzw. in dem die Handelnden agieren und dadurch ein neu konstruiertes ästhetische Produkt bzw.

26 eine neue soziale Realität wahr werden lassen. Der Ort wird als ein „lebendiger“ Rahmen betrachtet, der von einem ortsbestimmten Verhalten bzw. ortsbestimmten Phänomenen und Erscheinungen charakterisiert wird.59

2.3 Herleitung des Theatermodells „H₂O“

2.3.1 Eigenschaften und Struktur des Theatermodells „H₂O“ Dem Drei-Phasen Theatermodell steht der Code „H₂O“ zu Grunde. Es besteht aus drei Phasen: Drama (handlungsbezogene Phase), Inszenierung (produktionsbezogene bzw. handelnde Phase) und Aufführung (ortsbezogene Phase) und wird im Folgenden als Untersuchungsgrundlage der Entstehung neuer ästhetischer Produkte auf der Bühne verwendet.

Phase 1 Der Idee, ein bestimmtes Drama in Szene zu setzen, folgen zunächst hermeneutische und dramaturgische Analysen. Daraus resultiert wiederum eine Regieplattform. Was geschieht im Weiteren? a) Die Regieführung verteilt die Rollen und nimmt Einfluss auf kreative Prozesse. b) Die Akteure übernehmen ihre Rollen und orientieren sich an den Regieanweisungen. c) Es wird immer idee- bzw. textorientiert gehandelt, weil das Drama als Textgrundlage (die Handlung) an erster Stelle steht.

Phase 2 In der nächsten Phase treten die Handelnden als Hauptakteure hervor. Ihre Herausforderung liegt besonders darin, a) die Regieplattform umzusetzen und b)

59 Während Kosova in den 90er Jahren als Ort eines Wartens ad absurdum – die Handelnden als Wartefiguren und die Handlung als überaus dramatischer eiserner Ghettozustand – zu betrachten war, lässt sich nach der NATO-Intervention gegen Serbien und der militärischen ´Befreiung´ von Kosova das gleiche Territorium als eine internationale, neokolonialisierte experimentelle Zone betrachten, wobei die virtuelle Handlung der handelnden Akteure in einem starken „Als-ob“- Modus (Verhaltens-/Interaktionsmodus) charakterisiert wird.

27 die übernommenen Rollen bestens zu verkörpern. Im Laufe des ganzen Produktionsprozesses wird gestaltungsorientiert gehandelt.

Phase 3 Wenn das ästhetische Bühnenprodukt konsumfertig ist, wird es einem Publikum vorgestellt. Hierbei lässt sich feststellen, dass: a) die Distanzierung vom A-Zustand (dem Ausgangszustand „Drama als Text“) vollständig vollzogen worden ist, b) eine gelungene neue Inszenierung bedeutet, die Neupositionierung bzw. die Aufführung als ´lebendiger´ Text erleben zu können, und c) ein neues Bühnenereignis bzw. eine (Re-)Kreation, die zur Rekreation des Publikums führt, entstanden ist.

Drama als eine subjektiv konstruierte Bühnenrealität • Regieführung: (Inszenierung ) • Distanzierung (kein Rollenverteilung und Drama als Text mehr) Einfluss auf kreative • Neupositionierung Prozesse • Umsetzung der (Aufführung als Text) • Akteure/Bühnenfiguren: • (Re-)Kreation Orientierung an Regieplattform Regieanweisungen, • Verkörperung der Rollen Rollenübernahme . • Gestaltungsorientiert (Produktionsprozess) Aufführung als • Text- (Idee-)orientiert ästhetisches Produkt In -Szene-Setzen (Bühnenereignis) eines Dramas (Drama als Text)

Abb. 2: Das Drei‐Phasen Theatermodell „H₂O“ als Modell zur Entstehungsanalyse ästhetischer Theaterprodukte und Bühnenereignisse

Während die erste Phase eine Dramenanalyse (d.h. das In-Szene-Setzen eines Dramas bzw. ein Drama als Text) umfasst, besteht die zweite Phase des Modells in einem Vorgang der Inszenierung bzw. dem Drama als einer subjektiv konstruierten Realität. Die dritte Phase des Modells stellt das Bühnenereignis bzw. die Aufführung als ein ästhetisches Endprodukt dar.

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Analog wie auf der Bühne, werden neue Realitäten auch im sozialen Leben gebildet. Dort übernimmt die Politik die Regieleitung.

Mythos als subjektiv konstruierte Realität •POLITIK als Realitätsbildende Kraft: • Distanzierung Einfluss auf Einstellung, • Neupositionierung Identität und Verhalten. • Interessenbildung politischer • Ortsorientiert (Territorium) • SOZIALE AKTEURE: Akteure Orientierung an Meinung • Identitätsbildung sozialer anderer, Bildung einer Akteure kollektiven Identität. • Gestaltungsorientiert • Konzeptorientiert (Menschen) (Soziale Prozesse) (De-) Mythisierung Lancierung eines Mythos Neues Realitätskonstrukt als Realitätskonstrukt

Abb. 2(a): Das Theatermodell „H₂O“ als Modellanalyse der Bildung neuer sozialer Realitäten unter der (Regie‐)Leitung der Politik

Phase 1 Es ist davon auszugehen, dass unsere soziale Welt in der gegenwärtigen Gesellschaft weniger aus subjektiv initiierten und/oder gesellschaftlich konstruierten Realitäten besteht, sondern vielmehr aus Konstrukten, die von einer politischen Elite zunächst lanciert werden, damit sie dann tatsächlich auch zustande kommen. Bevor ein solches Konstrukt entsteht, hat es demnach zu einem früheren Zeitpunkt eine Idee, ein Konzept, eine Planung oder Strategie gegeben, wie es zu diesem Konstrukt überhaupt kommen kann. D. h. es hat eine Analyse des IST-Zustandes gegeben, der geändert werden muss, um letztendlich zu einem x-beliebigen SOLL-Zustand zu mutieren. An erster Stelle steht somit auch hier etwas, das getan werden soll, d.h. die Handlung.

Phase 2 Damit eine Handlung umgesetzt werden kann, wird in der zweiten Phase Folgendes benötigt:

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a) Methoden, Mittel und Strategien, mit denen das Ziel (die Realisierung des erwünschten Konstrukts) erreicht werden kann. b) Handelnde Personen (Akteure und Aktanten), die die Pläne umsetzen. Im Vordergrund stehen hier die Handelnden, die auf einer höheren Ebene agieren, jedoch immer konform der Zielsetzung, die in der ersten Phase festgelegt wurde. Dabei handeln sie immer so, dass sie ein Auge auf den Soll-Zustand behalten, aber trotzdem im Hier und Jetzt aktiv sind bzw. agieren mit dem Ziel, den Zustand A durch das Handeln (die Aktionen) B in ein neues Realitätskonstrukt (Ergebnis) C zu verwandeln.

Phase 3 Wenn das Ergebnis (der Inhalt) C dem erwünschten Soll-Zustand entspricht, so hat es eine konstruktive Funktion und ermutigt, ähnliche „Realitätserzeugungen“ erneut zu erzielen, d.h. es findet eine neue Mythisierung statt. Sollte das Ergebnis C nicht wie geplant/erwünscht gelingen, dann kommt es zu einer (De- )Mythisierung. Daraufhin wird einerseits eine Distanzierung vom alten Mythos stattfinden, andererseits findet eine Neuorientierung statt.

2.3.2 Anwendung und Funktion Aufgrund der Tatsache, dass die Bildung sozialer Realitäten nach den gleichen Prinzipien wie die Bildung ästhetischer Produkte abläuft, und aufgrund dessen, dass der Theatercode H2O als gemeinsamer Nenner zwischen Leben und Theater angenommen werden kann, kann das Theatermodell H2O zur Analyse der Bildung neuer sozialen Realitäten angewandt werden. Zu welchen Analyseleistungen ist dieses Modell nun fähig? Wofür genau kann es verwendet werden? Das Modell kann die drei Phasen eines Prozesses zur Bildung neuer Realitäten erklären. Es beschreibt einen Vorgang: (1) Den Beginn als Idee, Mythos oder Wunsch. (2) Die Entwicklung und Realisation (als Wirklichkeit). (3) Den Abschluss und die Entstehung eines neuen Realitätskonstrukts; ein Produkt, das normalerweise ein ganz anderes ist als erwartet.

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2.3.3 Grenzen des Modells Durch das konstruktivistische 3-Phasen Theatermodell kann die nominale und prozessuale Analogie zwischen Theater und Politik – als Vertreter der sozialen Welt – festgestellt, analysiert und nachvollziehbar gemacht werden. Das Modell findet einen Zugang zu der nominalen Ebene durch die einzelnen Elemente seines

Theatercodes H2O. Die prozessuale Ebene wird durch die drei Phasen der Konstruktion erhellt. Was das Modell allerdings nicht kann, ist nach dem Warum der Dinge zu fragen und die Ursachen der Geschehnisse zu ergründen. Es kann nicht die Frage beantworten, warum die Existenz der Kosova-Albaner im letzten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts und im ersten Jahrzehnt des einundzwanzigsten Jahrhunderts zwischen einem sehr Dramatischen und einem überaus Performativen Ghettozustand pendelte. Wohl aber kann mit Hilfe des Modells festgestellt werden, dass es innerhalb dieser Zeitspannen keine Phase der Realisierung – die zweite Phase des Modells – gab.60 Es geht im Rahmen dieser Arbeit folglich ausschließlich um die Möglichkeit, mit Hilfe des genannten Modells die Bildung neuer sozialer Realitäten in Anlehnung an Prinzipien, die zum Konstruieren eines ästhetischen Bühnenprodukts verwendet werden, zu explizieren.

60 Vgl. hierzu: Soziales Ghettodrama I und Soziales Ghettodrama II.

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3 Herleitung der Thesen

3.1 These 1 Während William James die Theorie einer subjektiv konstruierten Realität vertritt (Annahme 1) und Erving Goffman von einer gesellschaftlich konstruierten Realität ausgeht (Annahme 2), wird hieraus die These abgeleitet, dass in der Gegenwartsgesellschaft neue Realitäten von einer realitätsbildenden elitären Instanz konstruiert werden (Annahme 3).

Wenn es sich um die Entstehung ästhetischer Produkte für das Theater handelt, wird die Leitung von kreativen/ästhetischen Prozessen von der Regie übernommen. Im sozialen Leben fungiert die Politik (Internationale Gemeinschaft) als elitäre realitätsbildende (Regie-)Instanz.

3.2 These 2 Die Entstehung ästhetischer Produkte fürs Theater besteht aus zwei Phasen, die das Produktionsprozesstheater betreffen – Dramatisierung und Inszenierung – und einer abschließenden Phase – die der Vorführung (Annahme 1). Die Bildung neuer Realitäten im sozialen Leben entwickelt sich analog wie die Entstehung eines theatralischen Produktes für die Bühne und umfasst drei Phasen: Modulation61, Fabrikation62 und Präsentation63 (Annahme 2). Diese Phasen sind handlungs-, handelnden- und ortsorientiert (Annahme 3).

Handlung, Handelnde und Ort sind Komponenten, die dem Theatercode „H₂O“ zu Eigen sind und ihm zugrunde liegen. Daraus ergibt sich, dass die Bildung neuer Realitäten mit Hilfe des drei-Phasen Theatermodells „H₂O“ am besten zu analysieren ist.

61 Modulation = Keying (Vgl. hierzu Goffman).

62 Täuschungsmanöver.

63 Aufführungen, Performance.

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3.3 These 3 Ein ästhetisches Bühnenprodukt kann eine positive/negative Wirkung auf sein Publikum haben und es positiv/negativ beeinflussen (Annahme 1). Analog hat auch die Bildung eines bestimmten sozialen Konstrukts eine Wirkung auf die von ihm Betroffenen (Annahme 2). Dadurch kann die Einstellung, das Handeln und die Identität sozialer Akteure beeinflusst und manipuliert werden (Annahme 3).

Daraus lässt sich schlussfolgern, dass analog zu einer Regieplattform, die zu einem lebensbejahenden und/oder kulturfördernden Bühnenereignis führen kann, kann auch eine bestimmte politische Führung, eine kriegs-bzw. friedenstiftende Rolle spielen und je nach Einstellung, Handeln und Situationsinterpretation zu einer (De-)Eskalation einer Krise führen kann.

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III. EMPIRISCHE ANALYSE EINER GHETTOGESELLSCHAFT64

-Theatercode „H2O“ als Analysemodell zur Bildung neuer Realitäten- Im Folgenden wird eine empirische Analyse der Kosova-Albanischen Ghettogesellschaft der Zeitspanne 1989-2009 durchgeführt mit dem Ziel, die Bildung neuer Realitäten in der Gesellschaft mit Hilfe des Drei-Phasen Theatermodells „H₂O“ zu untersuchen. Im vorigen Kapitel wurde die Struktur des Theatermodells65 mit seinen drei zu durchlaufenden Phasen, wenn ein ästhetisches Bühnenereignis kreiert wird, dargestellt. Um jedoch der Frage nachzugehen, ob die Bildung neuer Realitäten im sozialen Leben analog der Entstehung ästhetischer Produkte auf der Bühne ablaufen kann, muss die Kosovarische Gesellschaft zunächst in drei bühnentypische Untersuchungsgrößen reduziert werden: in Handlung, Handelnde und Ort.

Ob das Theatermodell „H₂O“ seine Validität bewahrt, auch wenn anstelle einer Bühne im ästhetischen Kontext nun die Bühne des Lebens, d.h. eine Gesellschaft, untersucht wird, ist die Frage. Behalten alle drei Phasen dieses Analysemodells ihre Gültigkeit, wenn anstelle der Vorgänge, die zur Entstehung eines Bühnenproduktes führen, die Vorgänge der Bildung neuer sozialen Realitäten analysiert werden? Dieser Frage soll im folgenden Kapitel nachgegangen werden.

64 Kosova 1989-2009.

65 Die erste Phase des Modells entspricht einer Dramenanalyse. Damit ist die Analyse gemeint, die der Regisseur durchführt, wenn er sich für einen dramatischen Text entscheidet und die notwendigen Schritte unternimmt, um das ausgewählte Drama (Handlung/Mythos) in Szene zu setzen. Die zweite Phase des Theatermodells „H₂O“ entspricht einer Inszenierungsanalyse, wobei der Produktionsprozess Theater im Vordergrund steht. Die dritte Phase schließlich entspricht einer Aufführungsanalyse.

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1 Analytische Instanz I: Dramenanalyse

Aufgrund der Komplexität des Themas und der Interdisziplinarität, die im Allgemeinen das Wesen dieser Untersuchung ausmacht, ist es wichtig, an dieser Stelle zunächst einige Begriffsklärungen und leitende Prinzipien anzuführen.

Der Begriff Drama (altgr. δρᾶμα dráma Handlung) ist bekanntlich ein Oberbegriff für Texte mit verteilten Rollen und die Dramatik ist neben Epik und Lyrik eine der drei grundlegenden dichterischen Gattungen.66 In diesem Zusammenhang würde Dramenanalyse nichts weiter als die hermeneutische Untersuchung eines literarischen Textes bedeuten. Aufgrund der Tatsache jedoch, dass es neben geschriebenen Dramen auch erlebte Dramen gibt, die dem kanadischen Soziologen Victor Turner zufolge sogenannten Social Dramas, kann unter Dramenanalyse ggf. auch die analytische Behandlung von sozialen Ereignissen/Prozessen einer Gesellschaft verstanden werden.

Das Wort Drama findet eine breite Verwendung, wird jedoch hauptsächlich entweder zur Kennzeichnung der sprachlich verfassten, aufführungsbezogenen poetischen Künste von Tragödie im Aristotelischen Sinne67 oder aber auch als Oberbegriff für menschliche Aktivitäten, d.h. für Handeln bzw. Tun, verwendet.

In seiner Theorie des modernen Dramas (1965) geht Peter Szondi von einem neuzeitlichen Idealtypus von Drama aus. Dieser Typus wird in neo-Hegelscher Manier als die Form des „zu sich selbst kommenden“ neuzeitlichen Subjekts definiert. Das „Drama vollzieht sich im Modus reiner Zwischenmenschlichkeit, in welchem das Subjekt als Entscheidung- und Handlungsträger auftritt.“68 Unter dieser Perspektive ist hier der Begriff des Dramas als ein Träger der Ich-Du- Spannung zwischen den handelnden Figuren zu verstehen. Das Drama (im Laufe dieser Arbeit meistens als Ghettodrama bezeichnet) wird als Oberbegriff

66 http://de.wikipedia.org/wiki/Drama.

67 Metzler Lexikon: Theatertheorie. S. 72.

68 Vgl. hierzu: Drama/Dramentheorie. In: Metzler Lexikon, Theatertheorie. S. 77.

35 verwendet für ein Ereignis oder ein aktives Geschehen, das durch ein Handeln bzw. Tun soziopolitischer Akteure charakterisiert wird.

In Anlehnung an Victor Turners Soziales Drama wird hier das soziale Ghettodrama in Kosova der Ghettozeitspanne 1989-2009 analysiert. Mit dem Begriff Analyse wird „eine systematische Untersuchung, bei der das untersuchte Objekt oder Subjekt in seine Bestandteile zerlegt wird und diese anschließend geordnet, untersucht und ausgewertet werden“ bezeichnet. Dabei dürfen die Vernetzung der einzelnen Elemente und deren Integration nicht außer Acht gelassen werden.

Das Wort Analyse stammt vom griechischen ανάλυση analyse und vom altgriechischen Verb αναλύσειν analysein, das die Bedeutung Auflösen in Einzelbestandteile hat.69 Das Gegenteil einer Analyse70 ist die Synthese71 bzw. der Vorgang des Zusammensetzens.72 Mit Analysieren wird hier also in erster Linie das Ordnen73 gemeint, dazu kommt als Folgetätigkeit das Verbinden.74 Bei einer Analysetätigkeit kommt es also in Folge zu einer Wechselwirkung von Ordnen - Verbinden – Ordnen, bis eine klare Übersicht über das zu analysierende Problem gewonnen wird. Zur Lösungsfindung einer konkreten Problemsituation muss auch der Umweg einer Darstellung des Problems in eine höhere analytische Ebene und wieder zurück auf eine reale Ebene gesucht und gefunden werden. In der hier angestrebten empirischen Analyse der Ghettogesellschaft in Kosova werden vorgängig mir bekannte und zur Verfügung stehende Quellen, audio-visuelles Material, Fakten und dokumentierte Ereignisse untersucht. Empirisch beobachtete und festgestellte soziale Ereignisse und Prozesse, die zur Bildung neuer Realitäten in Kosova führten, werden mit Bühnenprozessen, die zur Entstehung ästhetischer

69 http://www.schlittler.net/analyse.htm

70 Die Analyse enthält das ordnende Element der Lösungssuche.

71 Die Synthese enthält das verbindende Element der Lösungssuche.

72 http://de.wikipedia.org/wiki/Analyse

73 Ordnen = Zusammenstellen, Gruppieren, Teilen.

74 Verbinden = Zuweisen, gedanklich Zusammenstellen.

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Bühnenprodukte beitragen, verglichen und auf ihre Ähnlichkeit hin ausgewertet. Die Informationen werden so angeordnet, dass sie überblickbarer und aussagekräftiger werden und dass die hier angeführten Parallelen zwischen einer ästhetischen Theaterbühne und einer sozialen Gesellschaftsbühne einen Sinn ergeben.

Als Gesellschaft bezeichnet man in der Soziologie eine durch unterschiedliche Merkmale zusammengefasste und abgegrenzte Anzahl von Personen, die als soziale Akteure miteinander verknüpft leben und direkt oder indirekt interagieren. Wenn das Dasein dieser interagierenden sozialen Akteure in einem räumlich isolierten75 und zeitlich eingeschränkten76 existentiellen Rahmen stattfindet, dann lässt sich von einer Ghettogesellschaft sprechen.

Grundsätzlich gibt es zwei Wege zur Bildung einer Ghettogesellschaft: zum einen (1) durch erzwungene Isolation und (2) durch die freiwillige Isolation einer Gruppe oder (Teil-)Gesellschaft. Eine erzwungene Isolation77 entsteht in der Regel durch den Machtmissbrauch einer mächtigeren Instanz, die ein bestimmtes Territorium in Beschlag nimmt und die Bewohner durch Zwang und Gewalt isoliert.78 Eine freiwillige Isolation entsteht üblicherweise, wenn sich eine bestimmte Gruppe von Personen, die einige gemeinsame Merkmale aufweisen, wie z.B. Sprache, Kultur und Religion,freiwillig dazu entschließt sich von der Außenwelt abzugrenzen, etwa Mitglieder einer Sekte oder Bevölkerungsminderheiten, die sich mit der Allgemeinheit nicht identifizieren

75 Z.B. politische und militärische Isolation eines Landes, wie z. B. Kosova in der Zeitspanne 1989 – 1999.

76 Z.B. galt in Kosova der 90er die sogenannte Polizeistunde, d.h. dass von 18.00 – 08.00 Uhr niemand aus dem Haus bzw. auf der Straße sein durfte, nicht einmal in einem Not-/, Krankheits-, oder Todesfall.

77 Die Ghettoisierung der Gesellschaft in Kosova erfolgte in Form einer erzwungenen Isolation der einheimischen Bevölkerung durch eine aus Belgrad diktierte hegemonialen Politik.

78 Dies war der Fall bis zum 24.03.1999 als die Internationale Weltgemeinschaft aktiv einschritt und das Land Kosova zu ihrem Protektorat machte.

37 können und ihr soziales Dasein anstatt auf Gemeinsamkeiten eher auf trennende Differenzen stützen.79

Der Begriff Ghetto80 war während des zweiten Weltkrieges die Bezeichnung für ein durch Mauern oder Zaun abgetrenntes Wohnviertel, in dem die jüdische Bevölkerung zwangsweise lebte. Dies ist die Begriffsbezeichnung auch für einen Stadtbezirk, in dem Minderheiten, Ausländer oder sonstige ausgegrenzte Bevölkerungsschichten zusammen leben. Der hier angewandte Ghetto-Begriff bezweckt keinesfalls Parallelen zwischen Völker zu ziehen, sondern soll assoziativ auf die menschenverachtende und neofaschistische Politik Serbiens in Kosova81 des 20sten Jahrhunderts hinzuweisen.

1.1 Ghettodrama I „Eisernes Ghetto“

Die Ghettoisierung von Kosova beginnt im Jahr 1989 durch die Aufhebung der Autonomie und wird durch eine totale Informations- und Bewegungssperre endgültig vollzogen. Die Isolation betrifft nicht alle Bewohner des Landes, sondern nur die Kosova-Albaner, auch Kosovar genannt.82 Sie war durch eine systematische und staatlich organisierte Stigmatisierung, Isolation und Gewaltausübung gekennzeichnet. Daraus entstand ein zwanzigjähriges soziales Drama, das von Schwellenzuständen und liminalen Prozessen begleitet wurde. Parallel dazu entstand ein Ghettotheater der Unterdrückten Albaner, das das kosovarische Drama widerspiegelt. Das erste Jahrzehnt der Ghettoisierung, das

79 Ein weiteres Beispiel sind heutzutage Serbische Enklaven in Kosova.

80 Manchmal auch Getto geschrieben.

81 Geographisch und kulturell stellt Kosova einen Teil Nord-Albaniens dar. Die politische Grenze zwischen der Republik von Kosova und der Republik Albanien geht durch die Region von Dukagjin und teilt diese Region in: Rrafshi i Dukagjinit (Kosova) und Malësia e Dukagjinit (Albanien). Hinsichtlich Bevölkerung/Ethnie, Sprache (das Gegische Dialekt), Kultur, Sitte und Tradition bilden beide Teile von Dukagjin eine sehr homogene Einheit.

82 Sonstige Bevölkerungsminderheiten wie Montenegriner, Bosniaken, Roma oder Serben waren von der Ghettoisierung nicht betroffen. Ganz im Gegenteil profitierten die meisten in wirtschaftlicher und soziopolitischer Hinsicht davon.

38 sogenannte Eiserne Ghetto, das während des serbischen totalitären Regimes entstand, wird im Folgenden als Soziales Ghettodrama I bezeichnet. Das darauffolgende Soziales Ghettodrama II der UNMIK-Verwaltung83, das zunächst als Ghettozustand gar nicht wahrgenommen wurde, entpuppte sich schnell als ein Unsichtbares Ghetto.

Die Analyse des Sozialen Ghettodramas I „Eisernes Ghetto“ wird im Folgenden mit Hilfe des Theatermodells „H2O“ durchgeführt, wobei der Untersuchungsgegenstand auf die drei Untersuchungsgrößen Handlung, Handelnde und Ort zugeschnitten wird. Das Modell soll demnach Ereignisse, Verhaltensweisen und ortsbestimmte Phänomene der Ghettogesellschaft in Kosova in der Zeitspanne 1989-1999 behandeln. Eisernes Ghetto Soziales Ghettodrama I (1989 - 1999)

Die Handlung Die Handelnden Der Ort (Ereignisverlauf und Aktion) (Figurenkonstellation, -Identität und (Ortscharakteristische Phänomene und Interaktion) Begleiterscheinungen)

Fragestellung: Fragestellung: - Wie sieht die Figurenkonstellation aus? Fragestellung: - Was ist geschehen? - Was charakterisiert die Akteure, - Wo hat das stattgefunden? Aktanten und Marionetten? - Handlungsverknüpfung und - Was sind die ortstypischen - Kommunikation, Verhaltensmodus und Gesellschaftsmerkmale? Aktstruktur des Dramas? Interaktion? - Welche soziopolitische Phänomene treten in - Wirkung und Folgen? Folge dessen auf?

Abb. 3: „Eisernes Ghetto“ bzw. Soziales Ghettodrama I (1989‐1999)

In Abb. 3 ist das soziale Ghettodrama I (Zeitspanne 1989-1999), anders auch Eisernes Ghetto genannt, abgebildet.

Aufgrund dessen, dass die Analyse des sozialen Dramas in Kosova in der o.g. Zeitspanne mit Hilfe des Theatercodes H₂O durchgeführt wird, findet hier eine

83 Abkürzung für United Nation Interim Administration Mission in .

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Reduzierung der Kosova-Albanischen Gesellschaft in drei Untersuchungsgrößen statt: a) Handlung, b) Handelnde und c) Ort. Die Handlung umfasst den Ereignisverlauf und die Aktionen, die die Aktstruktur des Ghettodramas ausmachen. Die Figurenkonstellation aller politischen bzw. sozialen Akteure, die das Drama verursachen und/oder von dem Drama betroffen sind, wird hier als handelnde Instanz betrachtet. Die Kategorisierung der Handelnden, ebenso wie die Erhellung ihrer Konstellation, Konfiguration und Interaktion, ist zudem nur unter Berücksichtigung ihrer Identität möglich. Das ganze Drama findet schließlich an einem bestimmten Ort statt und löst ortscharakteristische Phänomene und Begleiterscheinungen aus.

1.1.1 Handlungsverknüpfung und Aktstruktur

In seinem dramaturgischen Lehrbuch Technik des Dramas (1863) fasst Gustav Freytag die Dramentheorie des geschlossenen Dramas nach Aristoteles zum sogenannten pyramidalen Aufbau des klassischen Dramas zusammen.

Höhepunkt mit Peripetie

Steigerung Umkehr, Fall

Exposition Katastrophe

Abb. 4: Der pyramidale Aufbau des klassischen Dramas nach Gustav Freytag

In Abb. 4 sind die fünf zentralen Momente des klassischen Dramas dargestellt. In seiner Dramentheorie „Technik des Dramas“ (1836) schlägt Gustav Freytag einen pyramidalen Aufbau vor. Das Drama beginnt mit einer Exposition als Einleitung, es folgt eine Steigerung, die einen Höhepunkt mit Peripetie erreicht. Anschließend

40 kann das Drama eine unerwartete Wende nehmen (eine Umkehr bzw. einen Fall), die zu einer Katastrophe für der tragischen Heroen, aber ebenso zur Lösung des Problems hinführt.

Durch die beiden Hälften der Handlung – die erste Hälfte links mit der Einleitung bzw. Exposition beginnend und die zweite Hälfte von rechts mit der Katastrophe als Endstation –, die in einem (Höhe-)Punkt zusammenkommen, erhält das Drama einen pyramidalen Bau. Der gesamte Ablauf des Dramas ist in fünf Akte geteilt. Sie bilden die zentralen Momente eines Dramas bzw. die Etappen, die den dramatischen Prozess in seiner idealtypischen Verlaufsform gliedern. Jeder der fünf Akte steht in einem die Spannung aufbauenden Funktionszusammenhang und kann aus einer Szene oder aus einer gegliederten Folge von Szenen bestehen, nur der Höhepunkt ist gewöhnlich in einer Hauptszene zusammengefasst.84

Es gibt Dramen, die nicht geschrieben sind, aber dennoch eine ähnliche Akt- Struktur wie ein klassisches Drama aufweisen. Clifford Geertz behauptet mit Recht, dass “in recent years there has been an enormous amount of genre mixing in social science, as in intellectual life generally” (1980, 165).85

Der kanadische Soziologe und Ritualtheoretiker Victor Turner weist in seiner Ritualtheorie ebenso auf die Analogie zwischen dem sozialen Leben und dem Theater als Genre der performativen Kunst hin:

Theatre is perhaps closer to life than more performative genres, in that, despite its and spatial restraints on physical possibility, it is as Marjorie Boulton wrote: “literature that walks and talks before our eyes”, meant to be performed, ´acted´ we might say, rather than seen as marks on paper and sights, sounds, and actions in our heads.86

84 Freytag, Gustav: Technik des Dramas, S. 102.

85 Schechner, Richard: between theater & anthropology, S. 1.

86 Turner, Victor: From ritual to theatre, S. 105.

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Turner schlägt vier Entwicklungsphasen eines sozialen Dramas vor und verwendet Begriffe sozialpolitischer Natur, um sie zu bezeichnen, z.B. Normbruch, Krise, Bewältigungsstrategien, Anerkennung der Spaltung und/oder Re-Integration von Interessen. Manche Etappen eines Dramas können lt. Turner jahrelang dauern, ohne ein Ergebnis erreicht zu haben: „sometimes a phase of social drama seethes for years and years; sometimes there is no resolution even after a climatic series of events“.87 Manche Dramen lassen sich jedoch als “Konsensus” zwischen “Star- groups” lösen. Sein Kollege Richard Schechner, der in den 70er Jahren ein Modell über die Korrelation zwischen Social Drama und Stage Drama entwickelte, behauptet, dass Turners soziales Drama auf der Ebene der „Bühne“ und „Charaktere“ mit Erving Goffmans „Theater everywhere in everyday life“88 korrespondiert,89 in struktureller Hinsicht jedoch ein Derivat des antiken Dramas ist: „Turner´s four part „social drama“– breach, crisis, redressive action, reintegration (or shism) – is derived from the Greko-European modell of drama“.90 Richard Schechner´ s bipolare Dioptrie eines Social Drama und Stage Drama ist auch mit Blick auf die Analyse des Kosova-Albanischen Eisernen Ghettos anwendbar. Zunächst gilt es jedoch der Frage nachzugehen, wie die Handlungsverknüpfung und Aktstruktur des Ghettodramas in Kosova aussieht. Was ist im Ghettoland Kosova in den 90er Jahren tatsächlich geschehen und wie lässt sich dieses Drama dramentheoretisch analytisch strukturieren? Auch das soziale Ghetto-Drama der Kosovo-Albaner lässt sich von der Akt- Struktur her sowohl wie ein klassisches Drama als auch wie ein soziales Drama im Turners Sinne analysieren. Der erste Akt91 des sozialen Dramas in Kosova

87 Schechner, Richard: between theater & anthropology. S. 14.

88 Erving Goffman behandelt in seinem Buch Wir alle spielen Theater die Formen der Selbstdarstellung im Alltag und behauptet, dass wir alle täglich in unserem privaten und beruflichen Leben Theater spielen.

89 Schechner, Richard: between theater & anthropology. S. 1.

90 Schechner, Richard: between theater & anthropology. S. 14.

91 Der 1. Akt im klassischen Drama enthält die Exposition. Der Zuschauer wird in die zeitlichen und örtlichen Verhältnisse eingeführt. Er lernt die Vorgeschichte und die für die Handlung

42 beginnt 1989 mit der Besatzung des Landes, ein Zeitpunkt, der als Ausgangspunkt des Konflikts betrachtet wird. Charakteristisch für diese Phase war der andauernde Normbruch. In einer Zeitspanne von zehn Jahren, d.h. von 1989 bis 1999, wurden alle Normen, Regeln und Gesetze, die für die Kosovo-Albaner Gültigkeit besaßen, vom Serbischen Regime und seinem „Polizeilichen und Militärischen Staatsapparat“ systematisch gebrochen. Zunächst wurde die Autonomie des Landes aufgehoben, dann das Parlament entlassen, dann erfolgten auf jeder Ebene der sozialen Existenz Normbrüche. Der zweite Akt92 umfasst einerseits die Konfliktsteigerung der Jahre 1990 – 1992, als die Besatzungsmacht Serbien bzw. polizeiliche und militärische Streitkräfte Serbiens93 die aus Kosovo-Albanern94 bestehende Gesellschaft isolieren, alles Materielle beschlagnahmen und die einheimischen Bewohner systematisch gewaltsam behandeln bzw. terrorisieren, sowie andererseits die wirtschaftliche und sozialpolitische Krise, die in dieser Zeitspanne in Kosova ausgelöst wird. Der dritte Akt95 zeichnet den Höhepunkt mit Peripetie aus und umfasst die Zeitspanne 1993 – 1996, in der die Gewaltausübung und Ghettoisierung der „Rot- Schwarzen“-Protagonisten ihren Höhepunkt erreicht. Hier werden verschiedene Bewältigungsstrategien entwickelt und ausprobiert. Zunächst wurde ein unabhängig funktionierendes Parallelsystem mit eigener Regierung, eigenem Parlament, eigenen Schulen und Krankenhäusern aufgebaut. Die ´illegalen´

wesentlichen Personen kennen. Seine Aufmerksamkeit wird auf den Keim des Konfliktes und der Spannung gelenkt.

92 Im 2. Akt des klassischen Dramas erfolgt das erregende Moment, das Schürzen des Knotens. Die Handlungsfäden werden verknüpft und verschlungen. Interessen stoßen aufeinander. Intrigen werden gesponnen. Die Entwicklung des Geschehens beschleunigt sich in eine bestimmte Richtung. Die Spannung auf den weiteren Verlauf der Handlung und auf das Ende (Finalspannung) steigt.

93 Hier im Text auch als „Dunkelblaue“-Antagonisten bezeichnet.

94 Kosovo-Albaner = „Rot-Schwarze“-Protagonisten.

95 Im 3. Akt des klassischen Dramas erreicht die Entwicklung des Konfliktes ihren Höhepunkt, der Held steht in der entscheidenden Auseinandersetzung; der Umschlag, die dramatische Wende zu Sieg oder Niederlage, zu Absturz oder Erhöhung, Peripetie genannt, erfolgt.

43 demokratischen Wahlen hoben Prof. Dr. Ibrahim Rugova ins Amt des Präsidenten des Landes. Er weigerte sich, die sich steigernden Gewaltakte des Serbischen Regimes mit Gewalt zu vergelten und lancierte die Philosophie eines pazifistischen Widerstands. Der vierte Akt96 umfasst die Anerkennung der Spaltung zwischen der Demokratischen Liga von Kosova, eine pazifistische Plattform, die eine Art passiven Widerstand entwickelt hatte und auf eine friedliche politische Konfliktlösung setzte, und einer aus der Notsituation entstandenen Befreiungsorganisation. Im Aristotelischen Sinne zeichnet dies einen Wendepunkt aus, wobei den Kosovo-Albanern klar wird, dass nicht die Fortsetzung des pazifistischen Widerstands, sondern die dringende Konsolidierung eines Befreiungskampfes zum Ausbruch aus der „Eisernen Isolation“ und des ewig anhaltenden gewaltsamen Ghettozustands führt. Der fünfte Akt97 umschließt die damals bevorstehende (humanitäre) Katastrophe von 1998-1999, eine Zeitspanne, die von Massenmord, Massenverhaftungen und - vertreibungen gekennzeichnet ist.

96 Im 4. Akt des klassischen Dramas geht die Handlung auf das Ende zu. Dennoch wird die Spannung noch einmal gesteigert, indem die Entwicklung im sogenannten retardierenden Moment verzögert wird. Der Held scheint doch noch gerettet zu werden (Tragödie) bzw. sein Sieg wird noch einmal in Frage gestellt (Schauspiel).

97 Der 5. Akt des klassischen Dramas bringt dann die Lösung des Konfliktes, sei es durch die Katastrophe, den Untergang des Helden (Tragödie), sei es durch seinen Sieg und seine Verklärung (Schauspiel).

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Höhepunkt

Wendepunkt

Konfliktsteigerung und Krise

Normbruch als Ausgangspunkt (Humanitäre-) Katastrophe

Abb. 5: Aktstruktur des Ghettodramas I (1989‐1999) in Kosova

In Abb. 5. wird die Aktstruktur des Ghettodramas I bzw. die zentralen Momente des sozialen Dramas in Kosova der Zeitspanne 1989-1999 dargestellt. Dieser Aktstruktur liegt die dramentheoretische Darstellungsweise Gustav Freytags zugrunde, unter Berücksichtigung von Victor Turners Theorie des sozialen Dramas, die eine authentische Kategorisierung der zentralen Momente des kosovarischen Dramas ermöglicht. So wird hier der Beginn des Dramas nicht als Exposition, sondern als Normbruch bezeichnet. Die zweite Stufe der dramatischen Entwicklung wird nicht nur als Steigerung, sondern als Konfliktsteigerung und Krise identifiziert. Die darauffolgende Entwicklung, die bei Turner als Phase der Bewältigungsstrategien und Entscheidungsfindung kategorisiert wird, ist hier als Höhepunkt des Ghettodramas in Kosova wiedererkannt. Der Zeitpunkt der Anerkennung der Spaltung zwischen friedlichem Widerstand und Befreiungskampf wird hier als Wendepunkt der Entwicklung betrachtet. Die darauffolgenden Ereignisse führten sowohl zur Annäherung an eine (humanitäre) Katastrophe als auch zur (Er-)Lösung der Kosova-Albaner aus dem Serbischen totalitären Regime.

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1.1.1.1 Normbrüche

Die institutionalisierte Gewalt gegen Kosovo-Albaner und ihre Behandlung als Bürger zweiter Klasse hat eine längere Vorgeschichte, doch die Zuspitzung des Problems beginnt 1989 mit der Aufhebung der Autonomie und der Machtübernahme eines nationalistisch geprägten Politikers, dem serbischen Führer Slobodan Milosevic. Milosevic, der bis dato ein profilloser Politiker war, gelang es, mit den nationalistischen Gefühlen seiner Volkszugehörigen zu spielen und sie für seinen persönlichen politischen Aufstieg zu manipulieren. Das Szenario seines politischen Aufstiegs stützt sich auf die Lancierung eines „Mythos des Kosovo als Wiege eines himmlischen Reiches“98. Die Verklärung des „Kosovo“ zu einem Mythos erfolgte durch die „politische“ Regie einer gut durchdachten politischen Plattform, geführt von einem institutionellen Macht- Dreieck. Das politische Machtdreieck Serbiens setzt sich aus folgenden sozialpolitischen Faktoren zusammen: a) Serbische Akademie der Wissenschaften, b) Serbische Orthodoxe Kirche und c) Serbische Regierung bzw. Sozialistische Partei Serbiens. Es lässt sich schwer behaupten, dass dieses sozialpolitische Machtdreieck immer synchron funktioniert hat, aber wenn es darum ging, Kosova zu kolonisieren oder als Wiege Serbiens darzustellen, so sind sich alle einig: das Land soll umzingelt werden und alle Regeln, nach denen die Kosova-Albanische Gesellschaft lebt, werden gebrochen. Nichts, was den Albanern Wert und heilig ist, wird geschont. Nicht einmal die Würde des Menschen, die den Bürgern normalerweise verfassungsrechtlich garantiert wird, bleibt unantastbar. Jede Sitte, jede Tradition, jede Regel, jede Norm wird ausnahmslos gebrochen.

Der kanadische Soziologe und Ritualtheoretiker Victor Turner bezeichnet Normbruch als erste Phase eines sozialen Dramas und beschreibt sie wie folgt:

In the social drama, the first phase occurs when one or more social norms regards as binding and sustaining key relationships between persons or sub- groups in a more or less bounded community are broken or all too obviously disregarded. Often there is a symbolic art drawing public attention to the breach.

98 Gemeint sind Serbien als Reich des Himmels und die Serben als himmlisches Volk.

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There is an act of civil disobedience. (…) Once this occurs, no group member can turn a blind eye to its implications.99

Normbruch lässt sich nicht nur als Ausgangspunkt des „Eisernen Ghettos“ betrachten, sondern auch als ein typisches Merkmal aller weiteren Akte des sozialen Dramas in Kosova identifizieren. Der Normbruch richtete sich zunächst (a) gegen Kosova als Territorium, wobei das ganze Land okkupiert und in Beschlag genommen wird, (b) gegen die Institutionen, z. B. durch die Aufhebung der Autonomie, Abschaffung des Kosova-Albanischen Parlaments, Besatzung der Verwaltungsstrukturen und Erneuerung der Belegschaft mittels „gewaltsamer Maßnahmen“, die serbische Kolonialisten in Machtfunktionen einsetzen, (c) gegen wirtschaftliche Strukturen durch Beschlagnahmung oder Lahmlegung der Produktion, Fabriken und Bergminen, (d) gegen die demografischen Strukturen d.h. gegen die Kosova-Albaner als Bevölkerungsmehrheit des Landes, (e) gegen das historische Kulturgut von Kosova und gegen die kulturelle Identität der Kosova-Albaner sowie (f) gegen jedes einzelne Individuum der Albanischen Volkszugehörigkeit, mit starkem Akzent gegen die intellektuelle Schicht.

Welche Wirkung hat der Normbruch für die Kosova-Albaner? Welche Phänomene tauchen auf und was für Ereignisse finden statt? Durch den andauernden Druck von außen ergeben sich folgende Konsequenzen:

(1) Einerseits wird die Kosova-Albanische Bevölkerungsmehrheit destabilisiert, andererseits die serbische Minderheit zunächst stark verunsichert.

(2) Es bildet sich ein extrem hohes Solidaritätsgefühl auf nationaler Basis.

(3) Mittel und materielle Güter zum Aufbau eines Parallelsystems100 werden von allen Albanern aus dem In- und Ausland zur Verfügung gestellt.

99 Turner, Victor: From ritual to theatre, S. 108

100 Im Zuge des Verlustes der Autonomie wurde auch das Schulwesen des Kosovo serbisch kontrolliert. So gab es mancherorts getrennte Räumlichkeiten für albanische und serbische Schüler, auch wurden Fächer wie albanische Geschichte und Literatur abgeschafft. Hier setzte die

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(4) Die Abschaffung der Blutrache, Friedensstiftung und eine kollektive Versöhnung werden zur Hauptaufgabe der Nation.101

(5) Auch wenn die serbische Polizei als Störenfriede bei Festen und/oder (Trauer-)Feiern aktiv bleibt und meistens anwesend ist, gibt es aller Gefahren zum Trotz massenhaft emphatische Bestattungsrituale.

(6) Die Opfer des Regimes werden als Helden und Märtyrer gefeiert.

(7) Politischer Pluralismus wird eingeführt und RUGOVAs102 friedlicher Widerstand wird als eine allgemeine Befreiuungsstrategie betrachtet.

Seit dem Besatzungsjahr 1989 mehren sich die Verhaftungen, körperlichen Misshandlungen und anderen Menschenrechtsverletzungen gegen die Albaner. Im folgenden Auszug aus dem Bulletin Nr. 82 über den Alltag im Kosovo und über die Repressionen durch die Organe des Innenministeriums und anderer Behörden Serbiens im Kosovo vom 02. bis 08. März 1992 wird entsprechend berichtet:

„Wieder wurde ein Mord im Kosovo verübt. Etwa 1000 m vor der albanischen Grenze bei Prizren hat am 4. März [1992] gegen 10.00 Uhr ein Scharfschütze einer Patrouille der Jugoslawischen Volksarmee auf Dalipe Fanaja (28) geschossen und sie getötet. Wie die Zeitung >>Bujku<< berichtet, haben die Soldaten Dalipe erst verfolgt und sie mit einem Karabiner bedroht; es ist daher

LDK an, indem sie ein paralleles System aufbaute, alternativen Unterricht, der in Privathäusern stattfand, organisierte und albanische Lehrer, die im Zuge der Reform des Schulwesens arbeitslos geworden waren, wieder einstellte und bezahlte.

101 Vgl. hierzu: Verrat e Llukes, 1 Maj 1990.

102 Dr. Ibrahim Rugova, Vorsitzender der schon 1989 gegründeten "Demokratischen Liga des Kosovo" (LDK) . Am 24. Mai 1992 finden Kosovo-weite Wahlen statt, um ein neues Parlament zu bilden. Als Wahllokale dienen Privathäuser, da die meisten dieser geschilderten Aktivitäten im Geheimen stattfinden. Rugova ist es auch, der bei den Wahlen 1992 zum Präsidenten der Republik Kosovo gewählt wird. (Vgl. hierzu: Malcolm, 347).

48 möglich, dass sie ihnen lebend in die Hände fiel. Der Kommandant hat die Tote gekannt und sie vor einigen Monaten bestialisch geschlagen.“103

Es werden Menschen per Zufallsprinzip verhaftet, hingerichtet, ermordet. Wieder ein Auszug aus dem Bulletin Nr. 82 über den Alltag im Kosovo/über die Repressionen durch die Behörden Serbiens, vom 02. bis 08. März 1992:

„Bei Enver Çerkini wurde eine Hausdurchsuchung durchgeführt. Nachdem dieser nicht anwesend war, wurde das Haus seines Vaters Bajram ebenfalls durchsucht. Weil sie keine Waffen fanden, begannen die Milizionäre in der Umgebung des Hauses zu schießen.“104

Politische Gerichtsprozesse gegen viele Intellektuelle werden initiiert, inszeniert und oft mit schweren Folgen – bis zu zwanzig/dreißig Jahren Haft – für die Betroffenen105 durchgeführt. Nicht selten kommt es vor, dass Häuser von der Serbischen Polizei gestürmt und Dinge beschlagnahmt bzw. gestohlen106 werden. Ein weiterer Auszug aus dem Bulletin Nr. 82 über den Alltag im Kosovo/über die Repressionen durch die Serbische Polizei bestätigt dies:

„4. März. [1992] Die Marktkontrolle und einige Inspektoren der Polizei in Pec (Pejë) haben einen regelrechten Überfall auf die Juweliergeschäfte organisiert, Durchsuchungen angestellt und alle Eigentümer der betreffenden Werkstätten festgenommen.“107

Die Kosova-Albaner hatten zu diesem Zeitpunkt eine gut ausgebildete eigene Polizei, aber keine militärische Verteidigungskraft, d.h. keine Armee. So richtete

103 Kohl, Christine von/ Libal, Wolfgang: Kosovo. Gordischer Knoten des Balkan, S. 140.

104 Kohl, Christine von/ Libal, Wolfgang: Kosovo. Gordischer Knoten des Balkan, S. 144.

105 Einer davon ist der wohlbekannte albanischer Schriftsteller Adem Demaçi, der dreißig Jahre als Polit-Häftling in serbischen Gefängnissen einbüßen musste. Der Politische Philosoph und Wissenschaftler Ukshin Hoti galt jahrelang als serbischer Polit-Häftling und gilt mittlerweile als verschollen.

106 Malcolm, Noel: Kosovo - a short history, S. 350.

107 Kohl, Christine von/ Libal, Wolfgang: Kosovo. Gordischer Knoten des Balkan, S. 142.

49 sich die ganze politische Strategie des Präsidenten Rugova darauf, a) gewalttätige Auseinandersetzungen soweit es geht zu vermeiden, b) die hegemoniale Politik Serbiens den Kosovo-Albanern gegenüber und die institutionalisierte Gewaltausübung zu internationalisieren108, und c) die Ablehnung der serbischen Besatzung durch die Weiterentwicklung einer eigenständigen Verwaltungsstruktur der Republik Kosova fortzusetzen. Zu diesem Zweck lancierte er einen pazifistischen Widerstand als Weg zur Unabhängigen Republik von Kosova, eine politische Plattform, aber auch eine Überlebensstrategie, die von allen Gesellschaftsmitgliedern akzeptiert und getragen wurde. Normbruch war/ist eines der am meisten verbreiteten Phänomene nicht nur in Kosova, sondern überhaupt auf der Balkanischen Halbinsel. Denn unabhängig davon, welche Gegend dieser Ecke man unter der Lupe nimmt, so stellt sich eins doch immer wieder heraus: Egal, wer an die Macht kommt oder wer die Macht verliert, das Phänomen Normbruch bleibt weiterhin bestehen – ohne im Laufe des sozialen Dramas je abwesend gewesen zu sein und leider auch ohne je an Mannigfaltigkeit, Stärke und Intensität verloren zu haben.

1.1.1.2 Konfliktsteigerung und Krise

Die Verschärfung der Ghettosituation, die Ende der 80er bis Mitte der 90er Jahre in Kosova stattfindet, wird in der Zeitspanne 1993-1996 noch heftiger. Die Unterdrückung der Familie als das einzige noch funktionierende System der Gesellschaft und massenhafte Verhaftungen in den intellektuellen Kreisen erschweren das Leben noch mehr.109 Eine Gesellschaftsgleichgültigkeit und eine

108 Deswegen führte Präsident Rugova viele Reisen in die USA und nach Europa durch mit dem Ziel, Unterstützung aus dem Ausland zu gewinnen. Die Albanische Diaspora spielte dabei eine sehr wichtige Rolle. Sie setzte sich sowohl für die Internationalisierung des in Kosova ausgeübten Genozid als auch finanziell für das Überleben der einheimischen Bewohner ein.

109 Intellektuelle und/oder traditionell-patriotische Familienkreise, diverse Verwandtschafts- und Kollegenkreise sowie bestimmte Berufsgruppen, wie z.B. albanische Sprach- und Geschichtslehrer, gute Ärzte, wissende und mutige Juristen usw. – grundsätzlich Menschen, die im Dienste des eigenen Volkes tätig sind oder sein könnten, stellten für das serbische Regime eine

50 totale Medien- und Informationssperre110 kommen erschwerend hinzu. Der pazifistische Widerstand nimmt aufgrund der Machtlosigkeit, Gewalt mit Gewalt zu vergelten, die Grundzüge eines geduldvollen kollektiven Wartens an. Stillstand, Geduld und Warten einerseits sowie Exodus, Realitätsflucht und/oder Ausbruch aus der Isolation andererseits sind also zwei Polaritäten, die das Drama dieser Zeit charakterisieren. Der Ausbruch aus der totalen Isolation geschieht stufenweise: zunächst mit der Auswanderung einiger Schüler, Opfer von massiver Gasvergiftung der Schulen und Gymnasien. Dann mit Jugendlichen, die ihrer Wehrpflicht in der Jugoslawischen Armee nicht nachkommen wollen, zum einen aufgrund vieler Schauprozesse mit politischem Hintergrund, zum anderen aufgrund massiver „Mordwellen“, die in den 90er Jahren viele aus Kosova stammende Soldaten betrafen.

Die kollektive Entlassung der Albaner als >Technischer Überschuss< aus allen öffentlichen Arbeitsplätzen bedeutete für die Albaner einmal mehr, auf sich alleine gestellt zu sein. Hier ein paar Auszüge aus dem Bulletin Nr. 82/Alltag im Kosovo, über die Repressionen durch die Organe des Innenministeriums und anderer Behörden Serbiens im Kosovo vom 02. bis 08. März 1992:

„Aus dem Vorschulzentrum in Pejë wurden als >>technologischer Überschuss<< zwölf albanische Mitarbeiter entlassen.“111

An einer weiteren Stelle des gleichen Bulletins ist Folgendes zu lesen:

„6. März. [1992] Nach der Einführung der >>Sondermaßnahmen<< im Landwirtschaftskombinat >>Ereniku<< in Djakovica wurde die Industrie dieses

Bedrohung dar. Sie wurden – nicht nur als Individuen, sondern mit der ganzen Familie/Sippe – regelrecht diskriminiert, verhaftet und verfolgt.

110 Da es keine öffentlichen Medien als Informationsquellen gibt, bieten sich allenfalls alternative Informationsquellen. Zeitgleich wächst die Möglichkeit, Desinformationen zu verbreiten und die Bevölkerung in Panik zu versetzten.

111 Kohl, Christine von/ Libal, Wolfgang: Kosovo. Gordischer Knoten des Balkan, S. 142.

51

Kombinats in das Kombinat >>Bambi<< in Pozarevac (Serbien) eingegliedert. (…) In der Kunststofffabrik >>Progress<< in Prizren wurden etwa 500 Arbeiter albanischer Volkszugehörigkeit entlassen. Der zwangsweise eingesetzte Direktor Miki Vuckovic stellt an ihrer Stelle Serben ein.“112

So wurden innerhalb kurzer Zeit Privatgeschäfte, Firmen und Familienbetriebe gegründet, deren Inhaber Albaner waren. Alleine die Statistiken der Stadt Pejë zählten über 33.000 albanische Privat – bzw, Familienbetriebe. Damit stellt sich die Frage, warum die Serben, wenn in Kosova doch alles „den Berg runter ging“, eine derartige Renaissance der Privatwirtschaft zuließen? Die Antwort darauf liegt wohl auf der Hand, wenn man sich einen exemplarischen Fall vor Augen hält: Alleine innerhalb eines Tages wurde in dem Juweliergeschäft meines besten Freundes und Schulkameraden aus dem Gymnasium, Orhan Kolica aus , Gold und Silberschmuck im Wert von über 800 000 DM von der serbischen Miliz beschlagnahmt. Medienberichten zufolge war das kein Einzelfall. Ähnliches geschah auch in anderen Juweliergeschäften landesweit:

„Wie heute [4. März 1992] bekannt wird, hat die Polizei bei einer Razzia in albanischen Juweliergeschäften in Gnjilane (Gjilan) ca 50.kg Goldschmuck mitgenommen. In Prishtina hat die Polizei zehn Juwelierläden ausgeraubt; allein in der Werkstatt der Brüder Vezdek wurden 6 kg Goldschmuck beschlagnahmt. In Djakovica (Gjakove) stahl die Polizei Gold im Wert von etwa 500 000 DM.“113

Der Aufbau eines albanischen Parallelsystems hatte längst begonnen. Obwohl die zunehmende Unterdrückung das Leben in Kosova unerträglich machte, trug dieses Parallelsystem dazu bei, die innere Lage des Landes ein bisschen zu stabilisieren. Der Aufbau von parallel existierenden Institutionen, wie z.B. privaten Arztpraxen, Krankenhäusern, privaten Grundschulen, Gymnasien, Hochschulen und Universitäten, bildete die schöne Illusion einer Teilhabe am eigenen Land, das die Albaner einst besaßen und das ihnen 1989 durch die serbische Besatzung weggenommen wurde. Indem alle öffentlichen Einrichtungen, Kulturzentren und

112 Kohl, Christine von/ Libal, Wolfgang: Kosovo. Gordischer Knoten des Balkan, S. 144.

113 Kohl, Christine von/ Libal, Wolfgang: Kosovo. Gordischer Knoten des Balkan, S. 142.

52 sonstigen Liegenschaften in die Hände der serbischen Besatzung fielen, bedeutete dies zugleich ihre Abschaffung. Für die albanische Bevölkerungsmehrheit standen sie nicht mehr zur Verfügung. Christine von Kohl beschreibt das Phänomen wie folgt:

„Charakteristisch für die serbische >>Kulturpolitik<< ist der Fall des Nationaltheaters in Prishtina. Bis Mitte 1991 hatten hier seit Jahrzehnten albanische, serbische und türkische Schauspieler abwechselnd ein sprachlich gemischtes Repertoire erarbeitet, das sich einer allgemeinen Popularität erfreute. Trotz der Schikanen von serbischer Seite waren alle Beteiligten zu einer Fortsetzung der Arbeit bereit. Das half aber nichts. Die serbische Administration entließ einfach alle Albaner bis hin zum letzten Bühnenarbeiter und gab dem Theater einen neuen Namen: >>Serbisches Nationaltheater<<.“114

Als Notlösung sahen die Kosovo-Albaner die Verlegung der Ereignisse vom Zentrum in die Umgebung, d.h. dass kulturelle Ereignisse nicht mehr wie gewöhnlich im Zentrum stattfanden, sondern sich das Zentrum in Richtung des „Ereignisses“ bewegte und sich immer da befand, wo etwas geschah.115 Exemplarisch seien hier das Theater für Kinder und Jugendliche „Dodona“ genannt sowie das von mir selbst im Jahr 1995 in Prishtina gegründete Alternative Theater „Sythi“, eine alternative Theaterbühne, die das Podium der Diskothek Queens und die Räumlichkeiten des kunstaffinen Lokals „Hani i dy Robertëve“ für ihre Inszenierungen/Aufführungen nutzte.

Die Einführung des politischen Pluralismus innerhalb der Gesellschaft hatte des weiteren eine große Tragweite und machte den Kosovo-Albanern klar, dass sie – obwohl in Ghettoverhältnissen lebend – vom Grund auf eine demokratische

114 Kohl, Christine von/ Libal, Wolfgang: Kosovo. Gordischer Knoten des Balkan, S. 130.

115 Da die Künstler und Kulturmacher keine öffentliche Einrichtungen mehr zur Verfügung hatten, versuchten sie neue, individuelle Studios außerhalb des Zentrums einzurichten – nicht zentral gelegen, sondern in der Umgebung als >underground studios<. Ein gutes Beispiel war das Studio „Nekra“ in der zweitgrößten Stadt Pejë, mit Künstlern wie Nexhat Krasniqi-Nekra, Shpend Kada, Skënder Boshtrakaj, Benjamin Haxha und Edi Agagjyshi.

53

Gesellschaft sind/sein wollen. Die Herausforderung lag jetzt darin, die Weltgemeinschaft, die zu diesem Zeitpunkt unter dem Einfluss Russlands und dem ehemaligen guten Ruf Jugoslawiens stand und den Kosova-Albanern gegenüber nicht wohl gesonnen war, von dieser Tatsache zu überzeugen. So fanden unzählige Reisen des damaligen Staatspräsidenten Dr. Rugova statt, vor allem in die USA, aber auch in fast alle europäischen Länder. Da die serbische Außenpolitik in dieser Hinsicht hauptsächlich daraus bestand, die Tatsachen über das Geschehen in Kosova zu verdrehen und zu manipulieren, handelte der Präsident der Kosovo-Albaner nach dem Motto audiatur et altera pars (es möge auch die andere Seite gehört werden) und startete eine Lobby-Kampagne für die Anerkennung der im Jahr 1992 durch eine Volksabstimmung erklärten Unabhängigkeit des Landes. Es war zugleich ein Hilferuf und eine Bitte um Unterstützung zur Erlangung der Freiheit mit friedlichen Mitteln.116 Mit seiner sympathischen Art, fortiter in re, suaviter in modo (stark in der Sache, sanft in der Form) zu agieren, hielt Präsident Dr. Rugova jeden Freitag eine Pressekonferenz, wobei er von einer Unterstützung der amerikanischen bzw. westeuropäischen Freunde sprach.117 Während er sein konsequentes Engagement, das Land zur Unabhängigkeit zu führen, versprach, bat er die Bevölkerung zugleich um weitere Geduld.

1.1.1.3 Höhepunkt mit Peripetie

Polizei-Razzias, Plünder-Aktionen, Verhaftungen und Vertreibungen fanden mittlerweile täglich statt. Die Kosovo-Albanische Gesellschaft befand sich in

116 Die Kosova-Albaner waren entschlossen, für die Freiheit des Landes mit friedlichen Mitteln zu kämpfen. Erst als Mitte/Ende der 90er Jahre, als die serbische institutionalisierte Gewalt so weit eskalierte, dass weder schwangere Frauen, noch Kinderoder ältere kranke Menschen geschont wurden und die Internationale Gemeinschaft desinteressiert nichts dagegen unternahm, wuchs die Verzweiflung in der Bevölkerung so sehr, dass viele junge Männer zu den Waffen griffen, um das Land zu verteidigen. So entstand die sogenannte Befreiungsarmee von Kosova (kurz: UÇK), die während des Kosova-Krieges als „Bodentruppe der NATO“ fungierte.

117 Damit sind Länder wie Deutschland, Österreich, Frankreich und einige andere europäische Länder, die traditionell eine positive Einstellung den Albanern gegenüber hatten/haben, gemeint.

54 einer so tiefen kollektiven Agonie, dass sie keinen Schmerz mehr empfand. Die inszenierten, politisch motivierten Gerichtsprozesse, Gewalttaten, Verhaftungen, Morde und Hinrichtungen wurden des Weiteren nur noch statistisch „gezählt“. Eine Wirkung auf das übrige Leben der Mitbürger hatten sie nicht mehr, sie waren zur Selbstverständlichkeit geworden.

Die Intensivierung der institutionalisierten Gewalt durch den serbischen staatlichen Apparat, die Armee, die Polizei, paramilitärische Spezial-Einheiten und sonstige militanten Gruppen und Individuen, die aus den ehemaligen Kriegsgebieten in Kroatien und Bosnien in den Kosovo geschickt wurden, trug dazu bei, dass die Skepsis gegenüber einer friedlichen Lösung der Kosovofrage immer weiter wuchs.

Im November 1995 findet der Krieg in Bosnien und Kroatien mit dem Friedensvertrag von Dayton ein Ende. Die Weltgemeinschaft behauptet, die Krise im Westbalkan damit gedämpft zu haben. Der Krisenherd Kosova und der Ernst der Lage dort – genauso wie die unzumutbare Situation der Kosovo-Albaner – wird jedoch erneut ignoriert und „nur am Rande“ als „unbefriedigende Menschenrechtssituation“ erwähnt. 118

Die Steigerung der Gewalt gegen die albanische Bevölkerung in Kosova und die Passivität der Weltgemeinschaft gegenüber dem, was mit den Kosova-Albanern geschah, trieb diese zu einem Umdenken mit Blick darauf, welche Bewältigungsstrategien in ihrer Situation Erfolg versprechen könnten. Die pazifistische Philosophie eines friedlichen Widerstands des gemäßigten Präsidenten Rugova verlor drastisch an Bedeutung. Das Komitee für Freiheit und Menschenrechte meldete jeden Tag neue extreme Fälle einer staatlich organisierten Gewaltausübung. Auch den Berichten von Amnesty International waren unzählige Beispiele einer institutionalisierten Gewaltausübung gegen die albanische Zivilbevölkerung zu entnehmen. Die pazifistische Politik des

118 Die am Friedensabkommen beteiligten UN-Funktionäre und westlichen Politiker wagen nicht, dieses Thema anzusprechen. Im Ganzen aber sieht man Milosevic als stabilisierenden Faktor der Region und will ihn daher nicht verärgern.

55

Präsidenten Rugova und seine Idee eines friedlichen Widerstands als Mittel zur Lösung der Kosovofrage wurde mit jeder Steigerung der Anzahl an Gewalttaten mehr und mehr in Frage gestellt und mit jedem weiteren Tag von den Kosovaren als eine „nicht geeignete“ politische Option für die Lösung des Kosovo-Konflikts betrachtet. Die Ermordung, Verhaftung und Gewaltausübung gegenüber albanischen Männer in Gegenwart ihrer Ehefrauen, Kinder und anderer Familienangehöriger oder die Vergewaltigung der Ehefrauen in Gegenwart ihrer Ehemänner, Kinder und anderer Familienangehöriger waren in Kosova kein Einzelfall mehr. Es wurde zur Regel.

Der albanische Autor Uk Lushi119 beschreibt in seine Kriegsmemoiren die Hinrichtung seiner Verwandtschaft mit folgenden Worten:

„Meine Gedanken kehren zu meinen Onkeln zurück. Sie waren weder bereit zu kämpfen noch zu fliehen. Sie blieben in Gjakovë, bis eines Abends, Anfang April, maskierte serbische Paramilitärs ins Haus einbrachen und, nachdem sie eine Summe von 27 Tausend DM120 mitgenommen hatten, alle Männer, die sich zuhause befanden, hingerichtet haben. Darunter zwei Brüder meiner Mutter, ihre zwei Söhne: Luan 24 und Besart 11 Jahre alt, sowie fünf weitere aus dem Dorf Hereç121 vertriebene Männer. (…) Meine Onkel waren nicht ´politisierte´ Menschen, aber den Wahnsinn Milosevics mussten sie mit ihrem Leben bezahlen. Um die Tragödie der Verwandtschaft meiner Mutter abzurunden: der ältere

119 Wie viele amerikanische Albaner war er Mitglied des Bataillons Atlantik, das sich 1999 für die Befreiung des Landes einsetzte.

120 DM = Deutsche Mark; Ehemalige Währung der Bundesrepublik Deutschland, ab 2000/01 durch Euro „€“ ersetzt. Aufgrund der überaus starken albanischen Diaspora – eine hohe Anzahl der Migrantinnen und Migranten in den Westeuropäischen Ländern unterstützten ihre Heimat finanziell – wurde in Kosova der 90er Jahre hauptsächlich mit der Deutschen Mark oder mit Schweizer Franken, gelegentlich auch mit amerikanischem Dollar ($) bezahlt.

121 Dorf in der Nähe der Stadt . Neben Peja gilt Gjakova als die am meisten zerstörte Stadt von Kosova. Sowohl Peja als auch Gjakova wurden durch einheimische Serben dem Erdboden gleich gemacht. Außer dem hohen materiellen Schaden erlitten die Städte durch Massaker in Qyshkë, Lubeniq i Pejës, Mejë usw. auch hohe Verluste an Menschen.

56

Bruder meiner Mutter war von den serbischen Soldaten in Deçan entführt worden. Wir haben nie wieder von ihm gehört und wissen auch nicht, ob er noch am Leben ist. Von der ganzen Familie hat nur einer ihrer Brüder – jetzt wohnhaft in Deutschland –überlebt.“122

Außerhalb jeglicher Aufmerksamkeit der Weltgemeinschaft wurde an den Kosova-Albanern systematisch „Völkermord“ begangen. Von außen sah dieser Genozid harmlos aus und schien im Rahmen des Erträglichen zu sein. Man pflegte gerne diese Meinung, denn bis dato waren nur die Gräueltaten aus Bosnien und Kroatien bekannt. Die Probleme dort hatten längst die Grenzen eines souveränen Staates – Jugoslawien – überschritten. Der Frieden in Europa war gefährdet. Die westeuropäischen Länder waren von Flüchtlingswellen aus dem ehemaligen Jugoslawien überflutet. Während die Weltgemeinschaft sich für eine Konfliktlösung in den neuen, aus der Zerrüttung Jugoslawiens hervorgegangenen Ländern – Bosnien, Kroatien – bemüht war, ging das „geduldvolle Warten“123 der Kosovo-Albaner langsam zu Ende.

Die Stimmen, die eine bewaffnete Verteidigung der Zivilbevölkerung verlangen, wurden immer lauter. Die friedliche Politik geriet in Kritik.124 Serbien war in militärischer Hinsicht stark, aber keiner wollte mehr tatenlos zusehen, wie Kosovo-Albaner einer kollektiven Schuld unterliegen und aus herkunftsspezifischen Gründen unter jede Würde behandelt werden sollten. Die Geduld war zu Ende. Fiat iustitia, pereat mundus!125 würde jetzt die Maxime

122 Lushi, Uk (2009): Amerikanische Albaner der Befreiungsarmee von Kosova. Eine Chronik des Bataillons „Atlantik“, S. 82-83.

123 Eine Einstellung, die das Wesen des friedlichen Widerstands in Kosova ausmachte und die fast zu einer Nationalphilosophie der Kosovo-Albaner geworden war.

124 Es entstanden auch politische Parteien, die in ihrem Programm eine Lösung „abseits friedlicher Mittel“ suchten, z. B. sah die Republikanische Partei von Kosova, mit Hauptsitz in Peja, in ihrem Programm vor, das Land mit Waffen bzw. einem militärischen Ansatz zu verteidigen, falls die friedlichen Mittel sich als „nicht geeignet“ herausstellen sollten.

125 Lat. Spruch = Es werde Gerechtigkeit geübt, gehe darüber auch die Welt zugrunde!

57 heißen. Perfer et obdura126 das Motto. Junge albanische Männer treten uniformiert öffentlich auf. Sie tragen eine Uniform mit dem albanischen rot- schwarzen Adler an den Schultern, bezeichnen sich als Befreiungsarmee und erobern in Kürze die Herzen der Nation.

1.1.1.4 Wendepunkt

Die Spaltung der politischen Szene in Kosova in einen friedlichen und einen bewaffneten Widerstand nimmt klare Züge an. Vertreter des pazifistischen Widerstands, die bis dahin die wichtigsten Akteure der politischen Szene waren, bekamen Konkurrenz. Ein Handeln nach dem uralten Prinzip manus manum lavat127 oder, wie ein albanisches Sprichwort es so schön besagt: „eine Hand wäscht die andere, beide waschen das Gesicht“, ließ sich aufgrund des offenen Machtkampfs128 nicht realisieren. Für das Land wäre es ideal gewesen, wenn beide politische Richtungen eine gemeinsame Linie gefunden hätten. Doch die Fähigkeit zusammenzukommen, zu kommunizieren, zu kooperieren und gemeinsamen nach Lösungen zu suchen war wohl nicht die Stärke dieser Männer, die unbedingt an die Macht wollten.129

Auch wenn zwischen 1992 und 1995 die Lage in Kosova für die Kosovo- Albanische Bevölkerung unerträglich wurde, setzte der Präsident Prof. Dr. Rugova weiterhin seine Politik des friedlichen Widerstands fort. Aufgrund der massiven Emigration von Männern im Alter von 16-56 Jahren, bestand zu dem Zeitpunkt die einheimische Bevölkerung fast nur noch aus albanischen Frauen,

126 Lat. Spruch = Halte aus und vollbringe!

127 Lat. Spruch = Eine Hand wäscht die andere.

128 Damit ist Hashim Thaci (Führer der Befreiungsarmee aus der Region von Drenica) und einige Mitläufer von ihm, die später höhere Posten in seine PDK Partei belegten, gemeint.

129 Vertreter der Befreiungsarmee von Kosova hielten Rugovas Pazifismus für eine persönliche Schwäche und in nationalistischer Hinsicht den friedlichen Widerstand für einen Irrweg. In der Nachkriegszeit und im Laufe der Staatsbildung der Republik von Kosova stellte sich heraus, dass es ihnen nicht unbedingt um `die Rettung der Albanischen Nation und nationalen Identität´ ging, sondern schlicht und einfach darum, selbst an die Macht zu gelangen.

58

Kindern und älteren Menschen, es fehlte nicht nur an Menschen oder einer Armee, sondern auch an Waffen. In einem Interview (1992) erklärte Dr. Rugova die Gründe für seinen passiven Widerstand:

„We would have no chance of successfully resisting the army. In fact the Serbs only wait for a pretext to attack the Albanian population and wipe it out. We believe it is better to do nothing130 and stay alive than to be massacred”131

Die Fortsetzung des friedlichen Widerstands wurde irrtümlicherweise als seine persönliche Schwäche angesehen und nicht als eine Schwäche einer kleinen Schatten-Republik, die von einer sehr starken militärischen Macht, die Serbien/Jugoslawien damals war, besetzt war. Die damalige autonome Provinz von Kosova, die nach der widerrechtlichen serbischen Besatzung von 1989 im März 1992 durch ein Referendum die Unabhängigkeit erklärte, war hinsichtlich ihrer Staatssicherheit sehr schwach. Sie hatte zwar eine eigene Polizei, aber kein Waffenarsenal132 und keine Armee oder militärische Verteidigungskraft zum

130 Mit „nothing“ (nichts) meint er hier „nichts Gewaltsames“, was seinem friedlichen Widerstand entsprach. Ansonsten war I. Rugova ein sehr fleißiger Mensch und eine sehr charismatische Person. Es ist ihm als Halbwaise gelungen, ein angesehener Wissenschaftler und Professor zu werden, was in der Kosovo-Albanischen Gesellschaft der 70er Jahre keine Selbstverständlichkeit war. Und später in den 90er Jahren sollte er nicht als Berufspolitiker, sondern als ein von der Bevölkerung auserwählter Politiker den politischen Pluralismus in Kosova einführen, demokratische Wahlen einwandfrei organisieren und die Grundlagen für eine Unabhängige Republik von Kosova schaffen. Während seiner Amtszeit wurde er mehrmals für seine friedliche Politik mit Preisen ausgezeichnet. Im Jahr 1996 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Sorbonne, 1998 den Sacharow-Preis für geistige Freiheit des Europäischen Parlaments und 1998 den Toleranzpreis der Stadt Münster, Deutschland.

*An dieser Stelle sei bemerkt, dass die von ihm gebildeten Parallelstaatsstrukturen besser und funktionsfähiger waren, als die in der Nachkriegszeit von der UN (United Nations) eingeführte UNMIK-Verwaltung.

131 Vickers, Miranda: Between Serb and Albanian. A History of Kosovo, S. 264. Auszug aus einem Interview von Prof. Dr. Rugova, in: Impact International, 10 April-7 May, 1992, S. 10.

132 Waffen, die eventuell jemand in der Bevölkerung „mit Genehmigung“ besaß, wurden durch die andauernden Polizei-Razzias Serbiens fortwährend beschlagnahmt. Im Laufe der Zeit, bekam fast jede albanische Familie in Kosova – besonders, die die als intellektuelle oder patriotische Familien

59

Schutz des Territoriums bzw. der Bevölkerung. Der Präsident, Prof. Dr. Rugova, hatte sich damals dazu folgendermaßen geäußert:

„We have no local forces like the Slovens and Croats. All our weapons have been taken away by Serbian police. We are not certain how strong the Serbian military presence in the province actually is, but we do know that it is overwhelming and that we have nothing to set against the tanks and other modern weaponry in Serbian hands.”133

Serbien setzte den Kampf ums Territorium fort. Am 28. Februar 1998 befahl Milosevic einen Großeinsatz134 mit Panzerfahrzeugen, Artillerie, Hubschraubern und Maschinengewehren, so als ob es gegen die Armee von Kosova ginge. Das Vorgehen der Sicherheitskräfte richtete sich jedoch direkt gegen die Zivilbevölkerung, um durch kollektive Bestrafungen eine abschreckende Wirkung zu erzielen. Unter den 29 getöteten Albanern aus dem Dorf Qirez waren hauptsächlich Frauen, Kinder und alte Menschen. Bereits wenige Tage später wurde der nächste Angriff der serbischen Sonderpolizei auf die Dörfer Prekaz i ulët und Llausha durchgeführt. Dabei kamen 58 Kosovo-Albaner ums Leben, wieder in der Mehrzahl Frauen, Kinder und alte Menschen. Die Angriffe zielten darauf ab, ganze Großfamilien, die mit der UÇK in Verbindung gebracht wurden, auszulöschen.135

Am 09. März 1998 rief der Unabhängige Verband Albanischer Studenten zu friedlichen Protestkundgebungen in allen Städten des Kosovo auf. Während in

bekannt waren – eine Aufforderung „ihre Waffen“ abzugeben. Die meisten hatten nichts abzugeben und mussten sich schweren Folterungen unterziehen. Einige kamen jedoch auf die Idee eine Waffe zu kaufen, um sie dann abzugeben.

133 Vickers, Miranda: Between Serb and Albanian. A History of Kosovo, S. 264. Auszug aus einem Interview von Prof. Dr. Rugova, in: Impact International, 10 April-7 May, 1992, S. 10.

134 Petritsch, Wolfgang; Kaser, Karl und Pichler, Robert: Kosovo/Kosova. Mythen, Daten, Fakten, S. 212.

135 Ebd., S. 212.

60

Prishtina und Peja Tausende Menschen ungehindert auf die Straße gingen, wurden die Demonstrationen in den kleineren Städten – in denen es keine internationale Medienpräsenz gab – von der Polizei gewaltsam aufgelöst. Ein zweiter Großprotest des Unabhängigen Verbands Albanischer Studenten der Universität Prishtina fand am 10. Oktober 1998 unter der Führung vom Albin Kurti statt, dem Leiter der Studentischen Union und Aktivist des aktiven Widerstands gegen das serbischen Regime.136 In einer Stellungnahme der Kontaktgruppe137 nach den Massakern am 9. März 1998 wurde die serbische, respektive jugoslawische Regierung eindringlich aufgefordert, innerhalb von zehn Tagen die Einheiten der Spezialpolizei aus der Provinz abzuziehen, die Präsenz internationaler Organisationen im Kosovo zuzulassen und umgehend einen Dialog mit den politischen Vertretern der Kosovo-Albaner zu beginnen.138 Am 27. April 1998 startete die serbische Spezialpolizei eine Offensive gegen das UÇK-Hauptquartier in Gllogjan (Dukagjini Region), da sich die Befreiungsarmee dort auf dem Vormarsch befand und immer größere Gebiete unter ihre Kontrolle brachte. Unter der Führung von Ramush Haradinaj drang sie nach Zentralkosova vor und kontrollierte die wichtigsten Verkehrswege zwischen Prishtina, Peja und Montenegro.139 Am 10. Mai 1998 starteten die serbischen Sondereinheiten eine militärische Großoffensive in der Region Dukagjini, Stadt Deçan, blockierten die Nachschubverbindungen Richtung Albanien und griffen zahlreiche Dörfer an. 20.000 Menschen flüchteten aus der Kampfregion.140 Einen Monat später, am 05. Juni, wurde Junik bombardiert, eine Festung der UÇK in der Deçani Nähe. Den

136 Ebd., S. 212.

137 Die sogenannte Kontaktgruppe, die 1994 anlässlich des Krieges in Bosnien–Herzegowina gebildet worden war, setzte sich aus Vertretern der USA, Russlands, Frankreichs, Deutschlands, Großbritanniens und Italiens zusammen und wurde 1997 für die Krise in Kosova aktiviert.

138 Petritsch, Wolfgang; Kaser, Karl und Pichler, Robert: Kosovo/Kosova. Mythen, Daten, Fakten. S. 212/213.

139 Petritsch, Wolfgang; Kaser, Karl und Pichler, Robert: Kosovo/Kosova. Mythen, Daten, Fakten, S. 219.

140 Ebd., S. 221.

61

Meldungen zufolge wurden dort zahlreiche Polizisten und bis zu 100 Kosovo- Albaner getötet. Tausende Albaner flüchteten in die benachbarten Städte Gjakova und Malisheva, etwa 7.000 nach Montenegro und über 11.000 nach Albanien. Etwa 20.000 Menschen waren zwischen den Frontverläufen eingeschlossen. Das Ziel dieser Offensive bestand in der Rückeroberung der wichtigsten Kommunikationsverbindungen und Versorgungslinien sowie in der Kontrolle der Grenzregion zu Albanien.141

Mittlerweile hatte sich im inneralbanischen Richtungskampf eine neue Konstellation ergeben. An der militärischen Front übte die UÇK starken Druck auf die serbischen Sicherheitskräfte aus und befand sich an mehreren Stellen auf dem Vormarsch. Die heftigen Gefechte an der Grenze zu Albanien mit UÇK- Kämpfern führten zu vielen Toten und veranlassten Tausende zur Flucht.142

Ende Juli 1998 starteten serbische Sonderpolizei und Armee eine Großoffensive. Als erstes wurde Rahovec, das zehn Tage zuvor von der UÇK erobert worden war, wieder zurückgewonnen. Danach wurden die Verkehrsverbindungen Prishtinë-Pejë und Prishtinë-Prizren zurückerobert, womit das von der UÇK befreite Territorium in Zentralkosova zweigeteilt wurde. Ende Juli erfolgte ein Angriff auf Malisheva, wo sich die Zentrale der Drenica-UÇK befand. Die Widerstandskämpfer zogen sich kampflos zurück, wodurch die albanische Zivilbevölkerung aus Angst vor Racheakten zur Flucht gezwungen war. In der ersten Augusthälfte wurden die UÇK-Basen in Drenica und in Westkosova eingenommen.143

Die Aufteilung des befreiten Territoriums bedeutete eine militärische Schwächung für die UÇK. Schwächen in der Ausrüstung, der Kommandostruktur und taktischen Koordination waren die Ursachen für diesen ersten schweren

141 Ebd., S. 221.

142 Ebd., S. 225.

143 Petritsch, Wolfgang; Kaser, Karl und Pichler, Robert: Kosovo/Kosova. Mythen, Daten, Fakten, S. 226.

62 militärischen Rückschlag des bewaffneten Widerstandes. Auch der in der Bevölkerung verbreitete Mythos ihrer Unbesiegbarkeit und Omnipräsenz wurde schwer angekratzt. 144

Die Kampfhandlungen hatten enorme Flüchtlingsströme ausgelöst. Laut UNHCR und des Komitees des Internationalen Roten Kreuzes gab es Ende August 1998 bereits 160.000 Personen, die innerhalb des Kosovo vertrieben worden waren. Nach Albanien waren circa 10.000 geflüchtet und in Montenegro hatten bereits 25.000 Kosovo-Albaner Zuflucht gesucht. Etwa 50.000 Flüchtlinge versteckten sich in ortsnahen Wäldern, aber die große Hitze, der Wassermangel und die fehlende medizinische Versorgung machten den Vertriebenen schwer zu schaffen.145 Serbische Sicherheitskräfte146 führten die Offensive scheinbar gegen die UÇK, exekutierten jedoch wahllos und massenhaft albanische Zivilisten.147 Die Zahl der Flüchtlinge im Kosovo stieg auf 230.000, viele retteten sich in die Berge und in die Wälder. Bis zum Oktober 1998 erhöhte sich die Zahl der Flüchtlinge, die im Freien Zuflucht gefunden hatten und dem Regen und der Kälte ausgesetzt waren, auf 300.000. Obwohl der nahende Winter eine humanitäre Katastrophe befürchten ließ, wurde weiterhin mit allen Mitteln versucht, diesen Konflikt auf diplomatischem148 Weg zu lösen.

144 Ebd., S. 226.

145 Ebd., S. 226.

146 Aufgrund der zunehmenden Gewalttätigkeit der serbischen Sicherheitskräfte gegen die albanische Zivilbevölkerung und den Gerüchten über Massenexekutionen regte man auf dem Londoner Kontaktgruppentreffen ein Waffenembargo gegen Belgrad an.

147 Zudem wurden eine internationale Beobachtertätigkeit im Kosovo gefordert und Sanktionen angedroht. Serbien antwortete daraufhin am 23.04.1998 mit einem Referendum, wobei sich mehr als 94 % der Serben gegen internationale Vermittlung in der Kosovo-Krise aussprachen.

148 Die Kontaktgruppe übergab beiden Konfliktparteien am 07.08.1998 ein Optionspapier mit Vorschlägen zur Lösung der Auseinandersetzung. Dieses Papier schlug unter Beachtung der territorialen Integrität der BRJ ein hohes Maß an Autonomie für das Kosovo vor, jedoch keine Unabhängigkeit. Die Resonanz auf dieses Papier war auf beiden Seiten positiv, es erfolgte jedoch keine Einstellung der Kampfhandlungen. Um mit stärkerem Gewicht bei den diplomatischen

63

Die Gespräche zwischen Milosevic und dem US-Unterhändler Holbrook scheiterten, da der jugoslawische Präsident zu keinen Zugeständnissen bereit war. Da weder auf diplomatischem Wege noch durch Sanktionen eine Verbesserung der Lage erreicht wurde, beschloss der NATO- Rat am 13.10. 1998 den Einsatzbefehl für begrenzte und gestaffelte Luftangriffe gegen die BRJ. Erst aufgrund des Aktivierungsbefehles war Milosevic bereit einzulenken. Das darauffolgende Abkommen wurde am 16.10.1998 unterzeichnet. Zudem erfolgte eine einseitige serbische Verpflichtungserklärung, die neben einer weitgehenden Selbstverwaltung für den Kosovo, der Einrichtung eines Parlaments, einer Exekutive und einer Judikative die Aufstellung einer Kosovo-Polizei vorsieht. Im Dezember 1998 kam es wieder verstärkt zu Auseinandersetzungen unter Verwendung von schweren Waffen, die jedoch zum Jahresende wieder abflauten. Als einziger Hoffnungsschimmer blieb ein weiterer Flüchtlingsrückgang auf etwa 175.000 und das Forcieren der Verhandlungen zur friedlichen Beilegung des Konfliktes. Ab Januar 1999 nahm die Anzahl der Auseinandersetzungen jedoch wieder dramatisch zu und auch die Flüchtlingszahlen stiegen wieder. Daraufhin wurden die diplomatischen Bemühungen erneut verstärkt. Die NATO entsandte ranghöchste Militärs nach Belgrad, um Milosevic den Ernst der Lage zu verdeutlichen. Die Gespräche des Vorsitzenden des NATO-Militärausschusses, General Naumann, und des NATO-Oberbefehlshabers Europa, General Clark, mit Milosevic am 19.01.99 verliefen jedoch ergebnislos, da sich Milosevic weiterhin hartnäckig weigerte, Zugeständnisse zu machen. Daraufhin beschloss die Kontaktgruppe in London die Einbestellung der Konfliktparteien zu direkten Verhandlungen, die am 06.02.1999 in Rambouillet bei Paris beginnen sollten. Durch die restriktive Verhandlungstaktik der Serben kam es zu keiner Annäherung. Belgrad war nicht zu ernsthaften Gesprächen über bestehende Entwürfe bereit, legte ausschließlich eigene Gegenentwürfe vor und erklärte schließlich das Treffen für gescheitert. Gegen Ende der Verhandlungen nahm die Anzahl der Zwischenfälle im Kosovo wieder zu und auch die Flüchtlingszahlen

Beratungen aufzutreten, bildeten die Kosovo-Albaner ein gemeinsames Verhandlungsteam unter der Leitung von Fehmi Agani. Die UÇK war daran jedoch nicht beteiligt.

64 stiegen wieder auf 230.000. Im März 1999 ließ sich dann eine zunehmende Verlagerung von Kriegsmaterial und Truppen in den Kosovo feststellen - Jugoslawien schien sich für den Krieg im Kosovo zu wappnen. Nachdem die jugoslawische Armee ihre Offensive im Nordwesten des Kosovo startete, zogen mehrere westliche Staaten ihr Botschaftspersonal aus Belgrad ab. Die OSZE verließ wegen der schlechten Arbeitsbedingungen am 20.03.1999 das Land.

1.1.1.5 (Humanitäre‐)Katastrophe und (Er‐)Lösung

„Wir sind nicht nur für unser Tun verantwortlich, sondern auch für das, was wir nicht tun.“ (Molière)

Die blutigen Massaker und Massenhinrichtungen in Qyshk i Pejës, Lybeniq, Mejë e Gjakovës, wo Hunderte von Zivilisten hingerichtet wurden, trugen dazu bei, die Weltgemeinschaft wachzurütteln. Weitere Massaker blieben nicht aus. Die Massenvertreibung von über einer Million Bewohnern der Kosova, die systematisch stattfindet, ist ein klarer casus belli149 für die Weltgemeinschaft, die eine humanitäre Katastrophe befürchtet. Am 24.03.1999 erteilte NATO- Generalsekretär Solana die Anweisung, mit Luftangriffen gegen Ziele der Bundesrepublik Jugoslawien zu beginnen. Eine ultima ratio150, um die Tragödie in Kosova zu unterbinden. Trotz der NATO-Luftschläge dauerte die serbische Offensive im Kosovo an, Dörfer wurden völlig zerstört, die Zivilbevölkerung vertrieben. Ende März befanden sich 500.000 Menschen auf der Flucht. Die NATO-Luftoperationen setzten sich im April fort. Auch die jugoslawische Offensive wurde verstärkt, begleitet von gezielten, massiven ethnischen Säuberungen. Beim Treffen des EU-Rates am 08.04.1999 wurde das Entsetzen über die menschliche Tragödie im Kosovo deutlich. Angesichts der unverantwortlichen Politik Belgrads und der wiederholten Verletzung der Resolution des Sicherheitsrates der UN sei der Einsatz schärfster Maßnahmen,

149 Lat. Begriff = Kriegsauslösendes Ereignis.

150 Lat. Begriff = das letzte Mittel; der letzte Ausweg.

65 einschließlich militärischer, notwendig und gerechtfertigt. Die Verantwortung für den bewaffneten Konflikt liege demnach allein bei Milosevic und seinem Regime. „Die große Schuld des Menschen ist, dass er in jedem Augenblick die Umkehr tun kann und nicht tut“, behauptet Martin Buber.

Auch Milosevic tat es nicht, bis er dazu gezwungen wurde. In diesem Zeitraum stiegen auch die Flüchtlingszahlen weiter an, vermehrt wurden Vertriebene aus Mazedonien nach Albanien und in Drittländer gebracht, weil die Mazedonischen Behörden und Grenzpolizei die Flüchtlinge noch unmenschlicher als die Serben selbst behandelten. „Das Ereignis, das das Gebäude der alten etablierten humanitären Politik zum Einsturz brachte, trägt einen Namen: Blace in Makedonien“, so Thomas Schmid. „In Blace entstand in der Woche vor Ostern im Niemandsland des Grenzbereichs ein Flüchtlingslager, oder besser Nichtlager, in dem Zehntausende über eine Woche lang, über die Osterfeiertage hinweg, unter den schrecklichsten und unwürdigsten Bedingungen ausharren mussten, ohne auch nur mit dem Allernötigsten versorgt zu werden – erst 45 000, dann 55 000, am Ende wohl an die 65 000 Menschen“151, behauptet Ruppert Neudeck, Leiter der Hilfsorganisation Cap Anamur. „Viele von ihnen, Dutzende, wie viele genau, weiß niemand, sind in dieser Hölle umgekommen, in der nicht nur die Humanität, sondern auch die rechtzeitige humanitäre Hilfe ausblieb“152, so Neudeck. Neudeck zufolge waren an den Ostertagen nur wenige Helfer in Blace vor Ort und versuchten bis zur eigenen physischen Erschöpfung zu helfen: so einige Ärzte von Médecins du Monde und Cap Anamur. „Wo war in diesen Tagen das Engagement des UN- Flüchtlingshilfswerkes UNHCR?“ fragt Neudeck und liefert selbst die Antwort :

„Es führte im vornehmen Hotel Aleksandar Palace Verhandlungen zum Aufbau einer Flüchtlingshilfe, die gerade jetzt hätte stattfinden müssen. Und wo war die

151 Neudeck, Ruppert: Ostern in Blace oder der Sündenfall der humanitären Hilfe, S. 123-140, in: Schmid, Thomas: Krieg im Kosovo, S. 123-124.

152 Neudeck, Ruppert: Ostern in Blace oder der Sündenfall der humanitären Hilfe, S. 123-140, in: Schmid, Thomas: Krieg im Kosovo, S. 124.

66 politische und organisatorische Unterstützung der Europäer, der deutschen Regierung? – Europa machte Ferien.“153

Er vermutet, dass Milosevic in Belgrad einkalkuliert hatte, dass Europa in den Tagen von Gründonnerstag (1. April 1999) bis Dienstag nach Ostern (06. April 1999) gelähmt sein würde, die Staats- und Administrationsapparate in die Osterferien abgerauscht sein würden. „Jedenfalls war es so. Ab dem Nachmittag des 1. April war niemand mehr zu erreichen“,154 fährt Neudeck fort. Des Weiteren ´ärgert´ sich Neudeck in seinem Bericht darüber, dass man in der deutschen Botschaft in wohl sauer auf ihn und seine humanitäre Organisation Cap Anamur sei, weil sie sich immer ´nur zu den Hilfsbedürftigten bewegt hätten und nicht auch zur Berichterstattung in die Deutsche Botschaft – die allerdings von Karfreitag bis Donnerstag nach Ostern nicht geöffnet war –, wie es die Tarifordnung des Auswärtigen Dienstes vorsieht.155 Neudeck kritisiert diese lahme „Hilfs“-Politik und nimmt kein Blatt vor Mund:

„Während wir verzweifelt mit unserem Toyota und unserem VW-Bus Fuhre um Fuhre mit Brot und Milch über Schlamm-Morast-Urin-Pisten in diese Konzentration von etwa 55 000 Menschen hineinfahren, die weiter unbarmherzig von der makedonischen Polizei aufgehalten und zwischendurch in den ersten Reihen auch mit dem Schlagstock traktiert werden, dass ihnen Hören und Sehen vergeht, teilt uns der deutsche Außenminister weiter mit, es sei geplant ´zwei Büros in Skopje und Tirana einzurichten und die vor Ort tätigen Hilfsorganisationen in die Verbindungsbüros zu integrieren.“156

153 Neudeck, Ruppert: Ostern in Blace oder der Sündenfall der humanitären Hilfe, S. 123-140, in: Schmid, Thomas: Krieg im Kosovo, S. 124.

154 Neudeck, Ruppert: Ostern in Blace oder der Sündenfall der humanitären Hilfe, S. 123-140, in: Schmid, Thomas: Krieg im Kosovo, S. 124.

155 Neudeck, Ruppert: Ostern in Blace oder der Sündenfall der humanitären Hilfe, S. 123-140, in: Schmid, Thomas: Krieg im Kosovo, S. 125-126.

156 Neudeck, Ruppert: Ostern in Blace oder der Sündenfall der humanitären Hilfe, S. 123-140, in: Schmid, Thomas: Krieg im Kosovo, S. 125.

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Eine scharfe Kritik übt Neudeck auch an die UNHCR-Vertretung in Skopje, die in diesen dramatischen Tagen von Blace ihre Auszeit genommen hatte:

„Das einzige, was wir an den Tagen Gründonnerstag, Karfreitag, Ostersamstag, Ostersonntag und Ostermontag vom UNHCR gesehen haben, war von Zeit zu Zeit ein sauber glänzender Toyota, dem in picobello sauberen Uniformen UN-Beamte entstiegen, die dort in humanitärem Katastrophentourismus machten. (…) Nach einigen Tagen, in denen wir unentwegt jeden Morgen die 15 Kilometer zur makedonischen Muslim Company in Skopje gefahren waren, um dort Tausende von Broten einzukaufen, Milch, Kakao und Saft zu den Flüchtlingen zu bringen, kam mitten in der Brotverteilung plötzlich ein gut gekleideter Projektmanager157 des UNHCR des Weges und bat uns, das Verteilen der Brote zu unterbrechen, er habe uns etwas Wichtiges mitzuteilen.“158 Auf die Frage, warum wir mit Brotverteilen aufhören sollten, antwortete er: „Das UNHCR habe in tagelangen Verhandlungen erreicht, dass es eine Liste von Organisationen gebe, die jetzt zu diesem Nicht-Lager im Niemandsland Zugang hätten. Und da wir das entscheidende Meeting im Hotel Aleksander Palace verpasst hätten, stünden wir nicht aus der Liste.“159

Der Realität entsprechend, aber auch mit einer brutalen Offenheit, beschreibt Neudeck die humanitäre Katastrophe im Flüchtlingslager Blace an der Mazedonischen Grenze:

„Als wir am Ostersamstag, dem 3. April, am Nachmittag im Flüchtlingslager Blace waren und mitbekamen, dass wieder zwei Eisenbahnzüge aus Prishtina angekommen waren, hatten wir den naiven Glauben, da würde jemand kommen und diese Menschen herausholen. Es hatte geregnet, es war nass, als wir mit

157 „Dieser UNHCR-Mitarbeiter hieß Ivan STURM, wir kannten ihn aus Peja im Kosovo“, so Neudeck. Ebd., S. 126

158 Neudeck, Ruppert: Ostern in Blace oder der Sündenfall der humanitären Hilfe, S. 123-140, in: Schmid, Thomas: Krieg im Kosovo, S. 126.

159 Neudeck, Ruppert: Ostern in Blace oder der Sündenfall der humanitären Hilfe, S. 123-140, in: Schmid, Thomas: Krieg im Kosovo, S. 126.

68 unserem VW-Bus in das Lager hineinfuhren, das ja kein Lager war, sondern eine Wiese, auf der etwa 50 000 Menschen von Kalaschnikowträgern in Schach und weiter in ihrem Dreck gehalten wurden, da war uns klar: Dieses Dreck-Schlamm- Urin-Loch in diesem Tal zwischen dem Kosovo und Makedonien kann den Menschen nicht einen Tag länger zugemutet werden, überhaupt keinem Menschen zu Ostern des letzten Jahres in diesem Jahrtausend.“160

Das Nicht-Lager Blace hatte lt. Neudeck161 noch tagelang weiterexistiert:

„Und weiter gab die makedonische Politik den Menschen albanischer Herkunft zu verstehen, dass sie Dreck sind und zu Dreck gemacht werden sollten. (…) Selten hatte ich das Gefühl, dass das Emblem des Roten Kreuzes so befleckt wurde wie in Blace bei dieser absichtlichen Quälerei der 55 000 Menschen durch die makedonische Regierung.“162

Ende Mai befanden sich in Albanien 442.100, in Mazedonien 250.100, in Montenegro 66.300 und in Bosnien-Herzegowina 21.700 Vertriebene aus Kosova. Die Gewohnheit, bei jeder Besatzung eines Territoriums alle einheimischen Bewohner zu vertreiben, ist schon aus der Antike bekannt. Der UÇK-Kämpfer Uk Lushi, ein Mitglied des Bataillons „Atlantiku“, schrieb 1999 in seine Kriegsmemoiren: “Im alten Griechenland, wenn eine Armee ein neues Territorium übernahm, so pflegte sie die Feinde nicht hinzurichten, sondern sie auf eine ferne Insel zu verbannen. Einmal fragten die Untertanen den König, warum dies geschehe. Er antwortete: ´Wenn man sie umbringt, so rettet man sie eigentlich. Wenn man sie

160 Neudeck, Ruppert: Ostern in Blace oder der Sündenfall der humanitären Hilfe, S. 123-140, in: Schmid, Thomas: Krieg im Kosovo, S. 127.

161 Ruppert Neudeck wurde zu einem der größten Helfer zur Linderung der Kosova-Albanischen- humanitären Katastrophe. Seine Berichte stellen einen wertvollen historischen Schatz unserer Ghetto-Geschichte dar. Darüber hinaus nimmt er als Person nicht nur in der neueren Geschichte des Landes, sondern auch in den Herzen unzähliger Kosova-Albaner einen Ehrenplatz ein.

162 Neudeck, Ruppert: Ostern in Blace oder der Sündenfall der humanitären Hilfe, S. 123-140, in: Schmid, Thomas: Krieg im Kosovo, S. 128.

69 aber aus ihrer Heimat vertreibt, werden sie aufgrund der giftigen Heimwehgefühle tausendmal am Tag sterben´ ... Unsere Feinde hatten die gleiche Einstellung uns Albanern gegenüber. Es gab unzählige Versuche, uns aus der Heimat zu vertreiben, damit wir jeden Tag ein bisschen sterben.“163

Am 10. Juni 1999 erfolgte schließlich die Einstellung164 der Nato-Luftangriffe auf Serbien und das Kosovo. In den folgenden Tagen rückten die serbischen Streitkräfte Stück für Stück ab. Dafür marschierten von Süden aus KFOR- Einheiten ins Kosovo ein. Flüchtlinge aus Albanien, Mazedonien und anderen Nachbarstaaten kehrten in das bis auf den Boden zerstörte Heimatland zurück. Das war die lang ersehnte (Er-)Lösung der Kosova-Albaner. Ein freies Heimatland.

1.1.2 Figurenkonstellation, Identität und Interaktion

Es gibt kein Drama, ohne dramatis personae, und auch keine Handlung, ohne handelnde Figuren. Von daher kann es auch keine ausführliche Dramenanalyse geben, ohne auf die Figurenkonstellation, Identität und Interaktion der Handelnden einzugehen. Die Figurenkonstellation umfasst einerseits die gesamte Anzahl handelnder Figuren, andererseits versucht sie das Verhältnis und die Stellung aller handelnden Figuren zueinander zu beschreiben. Je nach Identität, Interaktion und Verhaltensmodus werden hier die handelnden Figuren in Protagonisten, Antagonisten und blinde Zuschauer differenziert. Die Komponente der Identität ist wichtig für die Funktionalität einer Figur im Rahmen ihres eigenen „Selbst“ und in Interaktion zu den anderen. Davon hängt der Verhaltensmodus der Figur und somit auch die Interaktion ab.

163 Lushi, Uk: Shqiptaro-amerikanët e UÇK-së. Kronikë e batalionit „Atlantiku“, S. 230-231.

164 Nach Verhandlungen der NATO und Vertretern der jugoslawischen Armee über die Rückzugsmodalitäten, kam es aufgrund der anhaltenden Luftangriffe am 09.06.1999 zu einem militärisch-technischen Abkommen. Dieses sah den stufenweisen Abzug der jugoslawischen Armee und der serbischen Sonderpolizei innerhalb von 11 Tagen vor.

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Die Typologie der narrativen Rollen ist unterschiedlich. Der russische Formalist Vladimir Propp hat einen interessanten Weg eingeschlagen, wobei er die Gestalten des russischen Märchens – je nach typischen Handlungen, die sie ausführen, d.h. je nach Funktion – in sieben165 Klassen unterteilt. Vladimir Propp behauptet:

„Jede Gestalt hat eine Handlungssphäre, die mehrere Funktionen umgreift; umgekehrt treten mehrere Gestalten gemeinsam innerhalb derselben Handlungssphäre auf“.166

Das Eiserne Ghettodrama wird von drei Typen handelnder Figuren geprägt: (1) „Rot-Schwarze“-Protagonisten, (2) „Dunkelblauen“-Antagonisten und (3) „Blinden Zuschauern“. Diese Figurenkonstellation bleibt während des ganzen Ghettodramas I (Zeitspanne 1989-1999) konstant167, während sich die Konstellation und Konfiguration der Handelnden im Ghettodrama II (Zeitspanne 1999-2009) ständig ändert168. Um die Identität der handelnden Figuren zu untersuchen, müssen wir auf die Verknüpfung der Handlung Bezug nehmen, von der die Erzählung ihre Identität bezieht.169

165 (1) Der Angreifer, (2) der Schenkende (oder Zulieferer), (3) der Gehilfe, (4) die gesuchte Person, (5) der Auftraggeber, (6) der Held und (7) der falsche Held.

166 Vgl. hierzu: Ricoeur, Paul: Narrative Identität. S. 61.

167 D.h., dass die die Figuren Protagonisten, Antagonisten und blinde Zuschauer verkörpernden Personen jeweils dieselben bleiben.

168 So wechseln die Personen der KFOR-Truppen alle sechs Monate nach einem sogenannten Rotationsprinzip. Gleiches gilt für die Leitenden innerhalb der UNMIK-Strukturen. Ich pflege diesbezüglich von einem Krisengebiets-Tourismus zu sprechen. Denn aufgrund der spezifischen Situation im Lande ist davon auszugehen, dass ausländische Fachkräfte eine 2-3 monatige Anpassungsphase benötigen. Die Behauptung, man könne innerhalb von sechs Monaten etwas Wertvolles leisten, wenn man weiß, dass man gleich wieder gehen muss, ist utopisch. Dies ist auch einer der Gründe, warum die UNMIK-Verwaltung unzählige Entwicklungsstrategien zwar initiiert, aber keine einzige umgesetzt hat.

169 Vgl. hierzu: Ricoeur, Paul: Narrative Identität. S. 61.

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Massenverhaftungen, -Vertreibung und -Mord

Gewaltausübung und Isolation, Befreiungskampf vs. Pazifismus Beschlagnehmen der Finanz- und vs. Materiellen Güter der Kosova-Albaner Staatsterror/Genozid

Ghettoisierung (Gesellschaft) und Isolation (Individuen)

Stigmatisierung der Protagonisten durch Antagonisten: Gewaltanwendung und Destruktion: Rollenzuweisung: Als-ob-Kollektive Schuld (Albaner) Niederbrennung der Städte, Dörfer, Kulturgüter, Rollenübernahme: Als-ob-Kollektives Opfer (Serben) Tempeln, Schulen, Massenmord/-Vertreibung

Abb. 6: Ghettodrama I: Stigmatisierung, Isolation und Gewaltausübung

Zu Beginn des Ghettodramas I im Jahr 1989, in den frühen Anfängen der später andauernden Normbrüche, werden die Protagonisten (Kosova-Albaner) durch die Antagonisten (serbischer Staatsapparat) in kollektiver Weise stigmatisiert. Dies manifestiert sich dadurch, dass Antagonisten regelmäßig verschiedene „Als-Ob- Verbrechen“ – „als ob“ es die Kosovo-Albaner gewesen wären – erfinden bzw. inszenieren, um dann die Protagonisten dafür zu beschuldigen/bestrafen. Im Rahmen dieser staatlich organisierten Stigmatisierung schlüpfen die Antagonisten immer mehr in eine kollektive (Als-Ob-) Opferrolle, während die Protagonisten gezielt in eine (Als-Ob-) Täterrolle gedrängt und im Namen dieser (Als-Ob-) kollektiven Schuld kontinuierlich bestraft werden.

Der Konflikt zwischen den einheimischen „Rot-Schwarzen“-Protagonisten albanischer Nationalitätszugehörigkeit und den „Dunkelblauen“-Antagonisten als Angehörige des serbischen Regimes steigert sich täglich und proportional zu der systematischen Ghettoisierung der Gesellschaft und zu der massenhaften Verhaftung und Isolation einzelner Individuen albanischer Volkszugehörigkeit. Die staatlich organisierte Gewaltausübung gegen und die Isolation der „Rot- Schwarzen“-Protagonisten intensivieren die Krise noch mehr. Die Beschlagnahme

72 der finanziellen und materiellen Güter der Kosova-Albaner erschweren die Lage der Bevölkerung in Kosova noch mehr und führen die politische Krise zu einem Höhepunkt, der von Massenverhaftungen, Vertreibung und Mord charakterisiert ist. Jahrelang antworteten die „Rot-Schwarzen“-Protagonisten auf die „Dunkelblauen“- Repressalien mit Geduld, Warten und Pazifismus. Doch alles hat ein Ende, die Geduld der Protagonisten auch. Auf dem Höhepunkt ihrer Massenvernichtung wenden sich die Protagonisten vom pazifistischen Widerstand ab und bilden eine eigene Guerilla-Armee. Dies markiert auch einen Wendepunkt in sozialpolitischer und historischer Hinsicht. Ab sofort musste der Präsident Dr. Rugova eine Spaltung der politischen Szene Kosovas hinnehmen. Seine Politik eines friedlichen Widerstands erhält nun ein scharfes Gegenüber, das die Befreiung des Landes vom serbischen Regime nicht mit „friedlichen“, sondern mit „militärischen“ Mitteln vorsieht – obwohl zu diesem Zeitpunkt das Land total „unbewaffnet“ war und die Bevölkerung in Kosova aus einer Schicht von Frauen, älteren Menschen und Kindern bestand. Militärtüchtige Männer im Alter von 16- 66 Jahre waren politisch bedingt ausgewandert und die Armee musste viele von ihnen aus dem Ausland zurückholen, um sie zu mobilisieren. Der Kampf der „Dunkelblauen“-Antagonisten richtete sich jedoch nicht gegen die Kosova- Albanischen Guerilla-Kämpfer, sondern gegen die Zivilbevölkerung. Über eine Million Kosova-Albaner wurden vom Oktober 1989 bis März 1999 systematisch über die Grenzen nach Mazedonien oder Albanien vertrieben. Zahlreiche wurden verschleppt, verhaftet und hingerichtet. Die Destruktion der Antagonisten beinhaltete nicht nur Hass auf die Menschen, sondern machte in der Tat ganze Städte und Dörfer dem Erdboden gleich.170

170 Peja, Gjakova und Deçani sind drei Altstädte, die im Laufe des Krieges total zerstört wurden. Sie sind Städte der Dukagjini Region, die einzige Gegend, in der frontale kriegerische Auseinandersetzungen Face-to-Face zwischen den serbischen Polizeieinheiten und der Befreiungsarmee von Kosova unter der Leitung von Oberbefehlsinhaber General Agim Çeku und Kommandant Ramush Haradinaj stattgefunden haben.

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1.1.2.1 „Rot‐ Schwarze“‐Protagonisten

Hiermit sind die einheimischen Kosova-Albaner gemeint. Sie werden aus folgenden Gründen hier mit dem Attribut „Rot-Schwarz“ gekennzeichnet: a) „Rot-Schwarz“ sind die Nationalfarben der Albaner und werden als Zeichen der persönlichen und kollektiven Identität verwendet, b) „Rot-Schwarz“ war im Zeichen des allgemeinen Kultur-, Identitäts- und Sprachverbots während der ganzen Ghettozeit durch das serbische Regime verboten, und letztendlich c) die „Rot-Schwarze“-Farbe gilt als verbindendes Symbol der Albaner weltweit, wobei sie im Kontext hier insbesondere die albanische kulturelle Identität innerhalb der Jugoslawischen Grenzen bezeichnet, wo sie kontinuierlich gefährdet war/ist. Welch große Relevanz dieser Farbenkonstellation vom serbischen Regime beigemessen wurde, zeigt sich am besten in der folgenden, von der Autorin selbst erlebten Geschichte:

>>Es geschah Anfang September 1993. Es war ein Sonntagnachmittag. Zu diesem Zeitpunkt befand ich mich im Haus meiner Eltern in Peja, wo ich fast jedes Wochenende verbrachte. Ich war damals neunzehn, das Studium an der Fakultät der Künste war relativ anstrengend, die politische Lage trüb und die Hauptstadt Prishtina selbst wie immer grau und grausam. Die Möglichkeit, jedes Wochenende in Peja von liebevollen Menschen umgeben zu sein, einer herrlichen Natur und sonnigem Wetter, war für mich ein Segen. An dem besagten Tag hatte ich meine Tasche gepackt und wollte nach Prishtina zurückkehren, als eine serbische Polizeieinheit bei uns eintraf. Sie suchten nach mir u.a. aufgrund einiger Aktivitäten. So war ich im Komitee für Menschenrechte, Jugendrat gegen Blutrache, hatte zur Gründung des Jugendparlaments beigetragen und war Mitglied des Präsidiums. Neben dem berühmten Jugend-Aktivisten Reshat Nurboja war ich Mitgründerin und Präsidiumsmitglied der Republikanischen Partei von Kosova mit Sitz in Peja. Keine dieser Aktivitäten aber sah ich als politische. Neben den schulischen Pflichten und Aufgaben stellten sie für mich nichts Weiteres als eine alltägliche Beschäftigung dar, einen Versuch, durch andauernde Bemühungen etwas zu verändern und die unerträgliche Ghetto- Realität erträglich zu machen.

74

Die Serben waren jedoch stark motiviert, alles als politisch und anti-jugoslawisch zu interpretieren. Sie durchwühlten unsere Haus-Bibliothek, fanden angeblich nichts ´Gefährliches´ und fuhren dann mit der Befragung fort. Mitten im Informations-Gespräch, um den Begriff einmal zu benutzen, den die Polizei für solche Ausquetschungsversuche verwendete, kam mein Hund Denny zu mir und wollte seine Streicheleinheiten haben. Plötzlich brach der mich verbal provozierende Polizist das schon begonnene Gesprächsthema ab und begann sich dafür zu interessieren, warum ich ausgerechnet diesen Hund als Haustier besitze und warum er wohl rot-schwarz gefleckt sei. Das hat nichts zu bedeuten, sagte ich. Als ich ihn bekommen habe, war er noch ein Baby. Damals sah er aus wie ein kleiner Fuchs. Aber jetzt ist er nun mal so groß wie ein kleiner Bär und ist ´zufällig´ braun-schwarz gemustert. Er fragte, ob ich ihn mir als Haustier doch aufgrund seines rot-schwarzen Fells ausgesucht hätte. Ich finde ihn nicht rot, sondern braun, behauptete ich. Sie murmelten etwas auf Serbisch miteinander, dann machten sie sich auf den Weg, warnend, dass ich mir in Zukunft gut überlegen solle, was ich tue und was nicht. Ich sei zu jung, mir meine Jugend zu vermasseln! Plötzlich drehte sich der Polizist, der als Provokateur herausragte, um und meinte: „Wenn sie ihren Hund nicht aus nationalistischen Motiven außerwählt haben, dann stört es sie bestimmt nicht, wenn ich ihn umlege. Dann besorgen sie sich einen ´nicht patriotischen´ Vierbeiner!“ Ich hatte seine Worte nicht einmal zu Ende realisiert, als er seine Pistole zog und auf meinen Denny schoss. Dann stiegen sie ins Auto und fuhren davon, als sei nichts passiert. Ich versuchte Denny wachzurütteln, seine Wunde zu versorgen, vergeblich. Er war auf der Stelle tot.

Das war der erste Augenblick in meinem Leben, in dem mir klar wurde, dass ich bis dahin noch nie gehasst hatte. Ich war in Liebe aufgewachsen. Nun begegnete ich Kreaturen, die mich zum Hass verleiteten. Bis dahin hatte ich die Strukturen des Regimes verachtet, weil sie so unmenschlich zu uns waren. Und ich habe mich sozial engagiert, weil ich meine Mitmenschen liebte und weil ich das, was die Serben taten, für ungerecht hielt. Sie folterten uns, täglich, jeden Einzelnen, nach einem Zufallsprinzip; wir antworteten darauf mit Pazifismus. Sie verhafteten uns massenhaft – jung und alt, männlich und weiblich; wir nahmen das hin. Sie

75 plünderten unsere Häuser und richteten unsere Väter/Ehemänner vor unseren Augen hin. Wir ertranken still im Leiden, aber ließen uns öffentlich nichts anmerken. Anscheinend hielten wir so etwas mittlerweile für normal. Stigmatisierung, Isolation und staatlich organisierte Gewaltausübung waren feste Bestandteile unseres Daseins geworden und wir waren daran gewohnt, diesen Wahn als Normalität zu akzeptieren. Vielleicht war/ist das die albanische Art zu überleben: dem Tod in die Augen zu schauen, regungslos, als ob er einen nichts angehe. Als Geistesverwandte Epikurs sind wir vermutlich ebenso der Meinung: ´Der Tod geht uns nichts an. Denn wenn wir sind, ist der Tod nicht. Und wenn der Tod da ist, sind wir nicht mehr´. Sie brachten uns ruck zuck wie Hunde um und keiner konnte sich wehren. Doch mein Hund, warum musste er getötet werden? Er war doch kein Albaner. Ab diesem Augenblick hasste ich sie alle, all diese gottverdammten dunkelblauen Kreaturen, die sich in unserem Land als Herrscher etabliert hatten und sich tagtäglich erlaubten, nach Lust und Laune Gott zu spielen. <<

1.1.2.2 „Dunkelblaue“‐Antagonisten

Die Bezeichnung „Dunkelblaue“-Antagonisten bezieht sich auf zwei Merkmale dieser Figuren: zum einen auf ihre Kostüme: alle in dunkelblauer Uniform angezogen; zum anderen auf diejenigen, die diese dunkelblaue Uniform trugen. Sie hatten ihre bisherige persönliche Identität aufgeben und sich eine neue militante Identität angeeignet. Dementsprechend handelten sie nicht mehr als Privatpersonen oder menschliche Individuen/Subjekte, sondern alle wie objektivierte Subjekte, „kollektive Zombies“. Sie sind Serben, Mitarbeiter des Regimes, des Staatsapparats, Sondereinheiten der Miliz, Paramilitärs und Freischärler.

„Dunkelblaue“-Antagonisten sind in der Tat die Hauptakteure des Ghettodramas, sie sind Handlungsträger und machen das Ghettodrama erst möglich. Sie bringen ihre politischen Szenarien mit und sind bemüht, sie umzusetzen. Ihre Anzahl ist am Anfang des Dramas, in der Phase des Normbruchs, gering, wird jedoch im Laufe des Dramas mit der Konfliktsteigerung und dem Beginn der Krise immer

76 wieder aufgestockt. Irgendwann waren sie stets anwesend und überall. Sie handelten schnell, aktiv, plangerecht, hemmungs- und emotionslos und setzten das blutige politische Szenario ihres Führers171 um. Der Führer der „Dunkelblauen“- Misere hatte ein Ziel: Kosova als Territorium für sich und sein Volk zu beanspruchen. Er hatte sogar den Mythos, „Kosova sei die Wiege himmlischen Serbiens“, lanciert. Das serbische Volk samt Orthodoxer Kirche machte diesen Unsinn paradoxerweise mit. Plötzlich wurde die Wiege der serbischen Orthodoxie nach Peja verlegt: auf unsere Albanisch-Christliche-Patrikana. (Märchen-) Bücher zu diesem Thema wurden tonnenweise auf den serbischen Markt geworfen. Doch das Land ist zu 97 % von den „Rot-Schwarzen“-Protagonisten bevölkert, und das ist kein kleines Problem. „Dunkelblaue“-Antagonisten sind zwar Meister im Vertreiben der Protagonisten über die Grenzen, aber zwei Millionen Menschen lassen sich – ohne Zauberstab – nicht einfach so von der Erdfläche wegfegen.

1.1.2.3 „Blinde Zuschauer“

Die dritte Gruppe, blinde Zuschauer, ist nicht nur (scheinbar) paradox, sondern zudem prekär bezeichnet, da das soziale Ghettodrama der Kosova-Albaner ja gerade in einem isolierten Ghetto-Rahmen stattfindet. Von einer normalen Zuschauerrollenübernahme kann also keine Rede sein, ebenso wenig von einer Rollenverteilung in handelnde Akteure (Spieler) und neutrale Beobachter (Zuschauer).

Zur Ghettozeit lebten die handelnden „Rot-Schwarzen“-Protagonisten innerhalb ihres territorialen Ghetto-Rahmens sehr isoliert, und außer den „Dunkelblauen“- Antagonisten gab es niemanden, der Augenzeuge dieses brutalen Dramas hätte sein können.

171 Führer der Serben war Slobodan Milosevic. Er starb im Gefängnis des Haager Tribunals, ohne für seine Verantwortung für den Genozid in Kosova zur Rechenschaft gezogen worden zu sein. Milosevic hatte die Unterstützung der serbischen Regierung, der Akademie der Wissenschaften und der Orthodoxen Kirche, um die Neo-Kolonialisierung von Kosova ´einwandfrei´ durchzusetzen.

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Erst Jahre danach, als gelegentlich Informationen nach außen drangen, durch den andauernden Druck der Internationalen Gemeinschaft und nach vielen UN- Resolutionen über Kosova, ließ Serbien Amnesty International und die OSZE als neutrale Beobachter in das Land. Ihre Aufgabe lag darin, nur zu beobachten und Berichte über die poltische Lage in der 90er Jahren in Kosova zusammenzufassen.

Diese Berichte waren bestimmt eine gute Basis für die spätere NATO- Intervention gegen Jugoslawien. Denn der serbische Völkermord war offensichtlich. Aufgrund der Tatsache, dass diese Figuren nicht direkt an den Handlungen der Protagonisten/Antagonisten beteiligt waren und oft lieber wegsahen, als aktiv mitzumachen, sind sie als blinde Zuschauer im homerischen Sinne zu kategorisieren.

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1.1.3 Kosova, Ort eines Wartens ad absurdum

„In der Zeit geht das Warten zu Ende und doch ist dem Warten kein Ende gesetzt.“172

Die Zeit als Phänomen kann von vielen Perspektiven untersucht und definiert werden, z.B. von einer mathematischen173, physikalischen174, philosophischen175, soziologischen176 oder auch psychologischen177 Perspektive. Für diese Untersuchung ist Zeit im Hinblick auf das Phänomen des Wartens relevant. In unserer westlichen Kultur wird Warten aufgrund des ständigen Zeitmangels und

172 Blanchot, Maurice: Warten Vergessen, S. 75.

173 Sir Isaak Newton (1643-1727) erteilt der Zeit eine „mathematisch, wissenschaftliche Absolution“. Die Zeit wird absolut und mathematisch. Sie verfließt ihrer Natur nach gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand. Die mechanische Uhr trug dazu bei, die natürliche Zeit von menschlichen Ereignissen abzulösen. Sie schuf eine Welt mit mathematisch messbaren Sequenzen.

174 In der Antike war es Aristoteles (384-321), der sich im 4. Buch der Physikvorlesung mit der Frage beschäftigt, ob die Zeit überhaupt existiert. Lt. Aristoteles ist von der Zeit das Vergangene vorbei und das Künftige noch nicht. Da Vergangenheit und Zukunft nicht „sein können“, stellt Aristoteles, um die Existenz der Zeit zu retten, die These auf, dass das „Jetzt“ kein Teil der Zeit sei. Das Jetzt grenzt das Vergangene vom Künftigen ab und ist die Einheit einer Zahl. Das Jetzt ist ein Analogon des Punktes im Raum, es ist ein Anfang und Ende zugleich. Die Linearität der Zeit liegt in der Aufzählung der zweifachen Jetztpunkte. In: Russell, Bertrand: Philosophie des Abendlandes, S. 226-227.

175 Vgl. hierzu Henri Bergsons Philosophie einer schöpferischen und Immer-werdenden Zeit.

176 Vgl. hierzu: Levine, Robert: Eine Landkarte der Zeit.

177 In der Psychologie wird seit etwa hundert Jahren danach gefragt, was zwischen Vergangenheit und Zukunft den gegenwärtigen Augenblick ausmacht. „Bei der Betrachtung der sozialen Zeit zeigt sich, dass es nicht um die physikalische Zeit geht. Denn soziale Zeit ist nicht homogen, nicht kontinuierlich, nicht quantitativ messbar und nicht beliebig teilbar.“ In: Wendorff, Rudolf: Zeit und Kultur, S. 456.

79 ununterbrochenen Zeitdrucks als unangenehm empfunden. „Die halbe Qual des Lebens ist Warten“,178 so der Schriftsteller Alexander Rose.

Warten wird als etwas kaum Hinnehmbares betrachtet, besonders wenn man Benjamin Franklins Rat zu Herzen nimmt und glaubt, dass Zeit Geld ist.179 Diese Denkweise ist typisch für Menschen in wirtschaftlich hochentwickelten Ländern und technokratischen Gesellschaften, die der Anthropologe Edward Hall als „Monochrone-Zeit-Planer“180 bzw. „Monochrone-Zeit-Kulturen“ beschreibt. Die „Polychronen-Zeit-Planer“181 bzw. „Polychronen-Zeit-Kulturen“ hingegen gehen mit der Zeit flexibler um. Es gibt jedoch Gesellschaften, die in dieser Hinsicht ambivalent sind und keine klare Trennlinie zwischen „M-Zeit-Kultur“ und „P- Zeit-Kultur“ aufweisen. Hierzu zählt beispielsweise Kosova, ein Land, das kulturell an der Schnittstelle zwischen Orient und Okzident liegt und hinsichtlich Zeitempfinden, Zeitverständnis und Zeitwahrnehmung Elemente beider Kulturen aufweist.

Die Zeit spricht überall ihre eigene „Sprache“182, aber was sie sagt, ist nicht immer leicht zu verstehen. Es sei denn, man kennt die ungeschriebenen Regeln des Wartens, die in Kosova, ähnlich wie in vielen anderen Ländern, untrennbar mit kulturellen Werten geknüpft sind. Die Zeit stellt hier ein wertvolles Gut dar, aber auf keinen Fall etwas, was mit materiellen Dingen gleichzusetzen ist.

178 Levine, Robert: Eine Landkarte der Zeit, S. 145.

179 Ebd., S. 132.

180 Monochrone-Zeit-Planer sind leistungsorientierte Menschen, die sich lieber auf jeweils eine Aktivität zu einem Zeitpunkt konzentrieren. Ebd., S. 139-140.

181 Polychrone-Zeit-Planer sind Ereigniszeitmenschen, die sich mehreren Aufgaben gleichzeitig widmen. Sie sind auch durch eine starke Beziehung zu ihren Mitmenschen gekennzeichnet. Ebd., S. 139-140.

182 E. Hall bezeichnet die Regeln der sozialen Zeit als „stumme Sprache“. Ebd., S. 21.

80

1.1.3.1 Ich warte, also bin ich [Kosova‐Albaner]

Während Descartes183 das Denken als erkennbare Existenzgrundlage sieht und Berkeley184 die Wahrnehmung als Beweis der Existenz hervorhebt, scheint dem Kosova-Albanischen Existenzialismus ein anderes Motiv zugrunde zu liegen: Das Motiv des Wartens. Ganz nach dem Motto: Ich warte, also bin ich. Warten bedeutete Sein für die Kosova-Albaner der Ghettozeit. Aus Pazifismus und Geduld bestand die (Über-)Lebensstrategie, aus Warten und (Er-)warten die Lebenszeit. Eine solch absolute Warte-Existenz ist jedoch nur jenseits einer chronometrischen Zeit möglich.

Im Akt des Wartens vergeht die Zeit und diese Zeit ist eine verlorene Zeit, behauptet der französische Philosoph Maurice Blanchot. „Warten schenkt Zeit und nimmt Zeit, doch die es schenkt und die es nimmt, ist nicht dieselbe“185, so Blanchot. Wichtig ist hier dieser von Blanchot hervorgehobene Unterschied zwischen der Zeit, die einem genommen wird, und der Zeit, die einem geschenkt werden kann. Dies lässt sich am besten durch die Unterscheidung zwischen objektiver und subjektiver Zeit im Sinne von Henri Bergson186 erklären.

Mit objektiver Zeit ist die durch Uhren messbare Zeit der physikalischen Welt gemeint. Diese Zeit, die vom französischen Philosophen Henri Bergson als

183 Descartes, René (1596 - 1650) gilt als Begründer der modernen Philosophie. Sein Cogito ergo sum (ich denke, also bin ich) ist bekannt als Descartessches Cogito. In: Russell, Bertrand: Philosophie des Abendlandes, S. 573.

184 Berkeley, George (1685 – 1753) vertrat die Ansicht, esse est percipi, derzufolge materielle Objekte nur durch die Wahrnehmung existieren. Ebd. S. 656.

185 Blanchot, Maurice: Warten Vergessen, S. 72.

186 Henri Bergson (1859-1914), französischer Philosoph, wandte sich gegen eine Zerstückelung und Verkümmerung der Zeit. Er stellt zwei Zeitbegriffe gegenüber, die er als temps (chronometrische Zeit) und durée (erlebte Zeit) bezeichnet. Mit der Bezeichnung temps méchanique und temps vécu nimmt Bergson eine weitere Unterscheidung vor. Temps méchanique ist die mechanische Zeit, die objektiv gemessen wird und die äußere Zeit darstellt. Die temps vécu ist die gelebte Zeit. Sie ist subjektiv und entspricht der inneren Zeit. In: Wendorff, Rudolf: Zeit und Kultur, S. 602 - 615.

81 temps187 bezeichnet wurde, ist eine Zeit, die im Sinne Blanchots verloren gehen oder einem genommen werden kann. Mit subjektiver Zeit ist hingegen die von Bergson mit durée188 bezeichnete erlebte Zeit gemeint. „Diese erlebte Zeit (…), die in ´sich selbst heterogen´ [und] niemals zwei identische Zeitpunkte aufweist“189, kann vom Warten – im Sinne Blanchots – geschenkt werden. Bergson bezeichnet seine durée als ständig und lebendig im menschlichen Bewusstsein strömend. Sie wird sich seiner Meinung nach „als das offenbaren, was sie tatsächlich ist, nämlich fortdauernde Schöpfung ununterbrochenes Hervorquellen von Neuem“190.

Maurice Blanchot versucht Warten als einen „Überfluss an fehlender Zeit“ bzw. als einen „Zeitmangel im Überschuss“ zu definieren:

„Um das Warten handelt es sich, wenn immer im Überfluss Zeit ist und es dennoch der Zeit an Zeit fehlt. Dieser Zeitmangel im Überfluss ist der Dauerzustand des Wartens“191.

Blanchot beschreibt das Verhältnis zwischen Warten und Zeit folgendermaßen:

„Beim Warten geht die Zeit, die ihm zu warten erlaubt, verloren, um besser dem Warten zu entsprechen. Das Warten, das sich vollzieht in der Zeit, öffnet die Zeit der Zeitlosigkeit, in der es kein Warten gibt“192.

187 Unter temps versteht Bergson die abstrakte und verräumlichte, gleichmäßig gegliederte messbare Zeit der Uhren. Diese Zeit besteht aus einer Summe statischer Momente. Die homogene, äußerlich messbare Uhrzeit ist für Bergson eine von allen Inhalten ablösbare Form und damit die „nicht eigentliche Zeit“. Sie ist Ausdruck einer Verwechslung der Zeit mit dem Raum.

188 Die wirkliche Zeit ist für Bergson die durée. Sie ist die als unteilbar wahrgenommene Zeit, die nicht aus fixen Zuständen besteht, sondern nur aus einer kontinuierlichen Veränderung, die nirgendwo beginnt oder endet.

189 Meyer, Petra Maria: Die „schöpferische Rolle der Zeit“ in „Weltumschlungen“ von Nam June Paik, In: Fischer-Lichte, Erika et al, Performativität und Ereignis, Theatralität Bd. 4, Tübingen 2002, S. 10.

190 Bergson, Henri: Denken und schöpferisches werden, S. 28.

191 Blanchot, Maurice: Warten Vergessen, S. 72-74.

82

Wenn wir warten, fehlt uns also gerade die Zeit zum Warten. Wo kommt dann aber diese unerschöpfliche Wartezeit der Kosova-Albaner her?

„Das, worauf man warten kann, das gerade gibt ihm die Zeit zu warten“193, behauptet Blanchot, sei es: (a) die Hoffnung, dass die demokratische Welt die Doppelmoral Serbiens – sich nach außen demokratisch zu präsentieren und nach innen neofaschistisch zu handeln – erkennen wird; (b) die Zuversicht, dass die internationale Gemeinschaft Serbien für den Völkermord an den Kosova- Albanern bestrafen und die Albaner selbst für ihren pazifistischen Widerstand belohnen wird; oder sei es (c) die Hoffnung, dass unsere im Jahr 1992 durch eine Volksabstimmung für unabhängig erklärte Republik von Kosova auch international endlich anerkannt wird. Doch dies blieb während des Eisernen Ghettos ein Wunschdenken, das sich zwischen Warten und Erwarten einer ganzen Gesellschaft verbirgt.

1.1.3.2 Die Ambivalenz des Wartens

Grundsätzlich sind in Kosova der 90er Jahre zwei verschiedene Arten des Wartens zu unterscheiden: (1) das leere (sterile) Warten und (2) das erfüllte Warten.

Diese Grundformen des Wartens sind bei den Kosova-Albanern meistens gleichsam präsent zu finden, jedoch in einem verschiedenen Ausmaß. Das Motiv des Wartens zeigt hier eine enorme Ambivalenz. Maurice Blanchot würde das folgendermaßen beschreiben:

„Steriles Warten, jeden Tag ärmlicher, leerer. Erfülltes Warten, jeden Tag reicher an Warten. Eins ist das andere.“194

192 Ebd., S. 74.

193 Blanchot, Maurice: Warten Vergessen, S. 74.

194 Blanchot, Maurice: Warten Vergessen, S. 41.

83

(1) Leeres (steriles) Warten

Das leere, sterile Warten ist ein Warten, das keine wahrnehmbare Aktivität der handelnden Wartefiguren aufweist. Während des Eisernen Ghettos in Kosova nimmt das leere, sterile Warten folgende Formen an: zurückhaltendes, einsames und schweigsames leeres Warten.

a) Zurückhaltendes leeres Warten

Mit dem Begriff zurückhaltendes Warten meine ich beispielweise das Warten älterer Menschen, die von ihren Kindern aufgrund des massiven politisch bedingten Exodus alleine zurückgelassen wurden. Ihr leeres Warten, dass eventuell ihre Kinder oder zumindest eine Menschenseele aus der Familie oder Verwandtschaft vorbei kommt oder sich telefonisch meldet, wird durch Wachsamkeit so erfüllt, dass dieses leere Warten fast in ein erfülltes Warten übergeht. Hier ein konkretes Beispiel:

>>N.N., eine ältere Dame, zwischen 60 und 70 Jahre alt und verwitwet. Sie lebt alleine in einem Eigentumshaus, gebaut auf ihrem Privatgrundstück, ein Hab und Gut, das sie nicht aufgeben konnte, um gemeinsam mit ihren Kindern auszuwandern. Sie hat zwei Söhne, die in London studieren und leben, und eine Tochter, die in der Schweiz lebt, verheiratet und Mutter zweier Kinder ist. Die Tochter ist aus familiären Gründen zu ihrem Mann ins Ausland gezogen, sie hat einen geregelten Aufenthaltsstatus und kann die Mutter gelegentlich besuchen. Außerdem schickt sie ihr hin und wieder Geld und/oder Geschenke durch Freunde oder vorbeifahrende Bekannte. Die Söhne können aufgrund mangelnder Reiseerlaubnis nicht ausreisen, sind aber bemüht, den Kontakt zu ihrer Mutter telefonisch aufrecht zu erhalten. <<

Das ganze Leben dieser Frau, der Inhalt jedes einzelnen Tages besteht aus einem leeren, zurückhaltenden Warten. Sie wartet so wachsam, dass dieses leere Warten fast in ein erfülltes Warten auf etwas Bestimmtes – z.B. Warten, dass jemand anruft, vorbei schaut, eine Nachricht von ihren Kindern überbringt, Geschenke oder Geld aus dem Ausland mitbringt, ihr beim Einkaufen hilft oder sie in einer

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Notsituation zum Arzt begleitet – übergeht. Doch gerade aufgrund dessen, dass all das nur hypothetisch geschehen könnte, es aber keine konkreten Anhaltspunkte dafür gibt, dass es wirklich passieren wird, bewahrt dieses Warten als Ganzheit die Note eines leeren Wartens.

b) Einsames leeres Warten

Es gibt eine Art des Wartens, die ausgerechnet dann beginnt, wenn nichts mehr da ist, worauf man wartet, nicht einmal mehr auf das Ende des Wartens selbst195. Dies ist das einsame Warten:

„Das einsame Warten, das in uns war und nun auch nach außen getreten ist, unser Warten, doch ohne uns, das uns zwingt, zu warten außerhalb unseres Wartens, und nichts mehr uns lässt, worauf wir warten könnten.“196

Diese Art des leeren Wartens ist typisch für die politischen Häftlinge und Opfer von vielen inszenierten Prozessen des serbischen „Dunkelblauen“-Regimes. Diese Personen waren keine wirklichen Täter, sondern normalerweise Menschen, die sich zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort befanden. Sie waren bis zu 10-20 Jahren Haft verurteilt und hatten keine Chance, z.B. wegen guter Führung, frühzeitig frei zu kommen. Sie waren den serbischen Behörden und dem Schicksal einfach ausgeliefert. Diese Form des leeren Wartens war in den 90er Jahren sehr verbreitet und konnte jedes Gesellschaftsmitglied unabhängig von Alter oder Beruf betreffen.

c) Schweigsames leeres Warten

In einem Ghettoland, in dem eine absolute Medien- und Informationssperre herrscht und in dem man sich vor die Tür wagt, ohne sicher sein zu können, dass man wieder zurückkommt, ist das schweigsame Warten eine häufige Form des leeren Wartens. Hierzu zählt: Warten auf eine Nachricht, eine Botschaft, ein Gespräch, oder einfach warten auf ein einziges aussagekräftiges Wort.

195 Blanchot, Maurice: Warten Vergessen, S. 39.

196 Ebd. , S. 24.

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„Es gibt kein wirkliches Gespräch zwischen ihnen. Nur das Warten erhält zwischen dem, was sie sagen, eine gewisse Beziehung. Worte, gesagt, um zu warten. Warten auf Worte“197, so beschreibt Blanchot diese Art des leeren Wartens. Zurückhaltung, Einsamkeit und Schweigen sind Merkmale, die in Zusammenhang mit leerem Warten vorkommen. Das Warten, das diese zwei bis drei Komponenten aufweist, ist eine in sich geschlossene Warteform. Sie „öffnet nicht, schließt nicht. Man tritt in eine Beziehung, die weder aufnimmt noch ausschließt.“198

(2) Erfülltes Warten

Erfülltes Warten ist eine Art von aktivem Warten der handelnden Figuren, die dabei keinerlei Passivität unterliegen. Erfülltes Warten setzt Wachsamkeit voraus und ist präsent in Form von:

a) Warten und Erwarten

In Zusammenhang mit der Unabhängigkeitserklärung von 1992, wobei durch eine Volksabstimmung die Kosova-Albaner das Land für unabhängig erklärten, haben wir es mit einem Warten zu tun, das zugleich Erwarten ist. Während die meisten Kosova-Albaner in der Reglosigkeit ihres Wartens eine Anerkennung durch die Internationale Gemeinschaft erhoffen, warten und erwarten sie alle, dass die NATO ihre Drohungen gegen die Republik Jugoslawien/Serbien wahr macht.

b) Warten auf etwas Bestimmtes

Warten auf etwas Bestimmtes ist die hoffnungsvolle Form des erfüllten Wartens. Es tritt auf als: - Warten auf eine bestimmte Person. - Warten, dass etwas Bestimmtes passiert. - Warten, dass jemand eintrifft.

197 Ebd., S. 40.

198 Blanchot, Maurice: Warten Vergessen, S.102.

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Das zielgerichtete Warten ist die angenehmste Form des Wartens aufgrund der Tatsache, dass das, worauf wir warten, uns die entsprechende Kraft zum Warten gibt. Diese Wartekraft ist etwas Unerschöpfliches, etwas Immer-werdendes. Warten heißt immer, auf das Warten zu warten, es nimmt den Anfang in sich zurück, setzt das Ende aus und öffnet in diesem Zwischenraum den Zwischenraum eines anderen Wartens.199 „Wartete man auf etwas Bestimmtes, so wartete man schon etwas weniger“200, behauptet Maurice Blanchot. Hier steckt die unendliche Wartekraft, die den Kosova-Albanern ermöglicht, eine halbe Ewigkeit auf die Freiheit zu warten.

1.1.3.3 Warten können, zu warten wissen, warten müssen!

Zum Warten benötigen wir eine entsprechende Wartekraft, die im Laufe des Wartens verbraucht wird. „Das Warten verbraucht nämlich die Wartekraft. Sich selber verbraucht das Warten nicht. Warten ist die Abnutzung, die sich nicht abnutzt“201, wie Blanchot es formuliert.

Je nach Wartekraft und Wartefähigkeit könnte man in Kosova der 90er Jahre hauptsächlich Kosova-Albanische politische, soziale und private Figuren unterscheiden, die entweder warten können, (zu) warten wissen oder warten müssen. Sie werden hier als Figuren betrachtet, weil es sich um eine Kategorie der absolut de-subjektivierten Individuen handelt, die das kollektive Schicksal akzeptierten und als nichthandelnde Handelnde ähnlich wie z.B. Becketts Figuren aus Rockaby, Footfalls wartend vegetierten.

(1) Figuren, die warten „können“

Die Kosova-Albanischen kollektiven Wartefiguren oder besser gesagt die de- subjektivierten Kosova-Albaner der Ghettozeitspanne 1989-1999 scheinen über ein unendliche und unerschöpfliche Wartekraft zu verfügen: Sie warten so leidenschaftlich, dass man zu dem Schluss kommen kann: entweder ist Warten

199 Blanchot, Maurice: Warten Vergessen, S. 38.

200 Blanchot, Maurice: Warten Vergessen, S. 17.

201 Ebd., S. 86.

87 das, was sie am besten können, oder sie können nichts anderes als warten. Doch das Leben gab ihnen Recht. Becketts Figuren wie Vladimir und Estragon können in diesem Fall die Kosova-Albaner beneiden. Am 24 März 1999 kam das lang ersehnte Godot202 und setzte dem endlosen Warten ein Ende

(2) Figuren, die zu warten „wissen“

„Zum Warten gehört zutiefst die Unmöglichkeit zu warten“ 203, es sei denn man beherrscht die Kunst des Wartens. Oder wie es Blanchot so schön ausdrückt: „Zu warten wissen, ein Wissen gleichsam, das man nur durch Warten empfangen kann, vorausgesetzt dass man schon vorher zu warten wusste.“204

Die Kunst des Zu-warten-Wissen ist ambivalent und besteht aus zwei Polaritäten: aktiver Passivität und passiver Aktivität. Ähnlich lassen sich auch die zwei Hauptkategorien der Kosova-Albaner, die zu warten wissen, unterscheiden: zum einen die aktiven Wartenden und zum anderen die passiven Wartenden.

Die aktiven Wartenden besitzen die Fähigkeit, am Warten sinnspendende Quellen zu suchen und zu finden. Das ist die Gruppe, die dazu beigetragen hat, einen albanischen Parallel-Staat in Ghettoverhältnissen zu gründen. Sie sind tatkräftig, mutig und voller Tatendrang. Sie ergänzen sich wechselseitig mit den passiven Wartenden, die es kaum wagen, einen Finger krumm zu machen, und sind gleichzeitig voneinander abhängig. Während die erste Kategorie intellektuell, nüchtern und sachlich vorgeht, behauptet die aus Mediokrität entstandene zweite Kategorie, Nationsretter zu sein. Während diejenigen der ersten Kategorie sich an Vergangenes erinnern und die Kontinuität unserer Geschichte bevorzugen, haben

202 Als Godot wurde wortwörtlich in Kosova der 90er Jahre die „Unterstützung der Internationalen Gemeinschaft“ bezeichnet. Die Kosova-Albaner waren unbewaffnet und konnten sich zu dem Zeitpunkt ´keine militärische Konfrontation leisten. Der pazifistische Widerstand der damals unter Ghettobedingungen durch eine Volksabstimmung für unabhängig erklärten Republik von Kosova wurde als politische Strategie vom in Ghettozuständen lebenden, aber dennoch demokratisch verfassten Volk etabliert.

203 Ebd., S. 39.

204 Ebd., S. 86.

88 diejenigen der zweiten Kategorie, die scheinausgebildete Pseudopatrioten-Mafia die Tendenz, alles sehr schnell wieder zu vergessen und von der Stunde Null (NATO-Angriff) an die Geschichte der neu gebildeten „Kosovarischen Nation“, die aus keiner einzigen Nation besteht, zu beginnen. Beide Kategorien schwanken jedoch zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit. Sie hoffen, aus der ewigen Ungewissheit und der Illusion gerettet zu werden.

(3) Figuren, die warten „müssen“ In der Tat sind die Kosova-Albaner Wartende, die nicht warten wollen, aber unbedingt warten müssen, denn ihre Situation ist so ausweglos, dass sie zum Warten gezwungen sind. Zu den Figuren, die warten müssen, gehören: (a) Figuren, die einem Missbrauch des Wartens als Machtinstrument unterliegen. (b) Figuren, die altersbedingt warten müssen. (c) Figuren, die aus pathologischen Gründen zum Warten gezwungen sind. Die Gruppe (a) verkörpert das machtlose Warten. Machtlos, weil die Mächtigen bestimmen, wie und wie lange der Schwache warten soll. Die Internationale Gemeinschaft wusste schon, wie dreckig es den Albanern in Kosova ging und wie brutal Serbien vorging, doch sie ließ sich Zeit: zehn Jahre lang. Von 1989 bis 1999 waren die Kosova-Albaner einem unvorstellbaren Staatsterror völlig ausgeliefert, das serbische Regime ging gegen die Kosova-Albaner systematisch vor. Amnesty International und sonstige internationale Einrichtungen, z.B. Human Rights Watch u.Ä., zählten in ihren Statistiken nur die steigenden Zahlen von Unrechtsfällen. Das Ende des Wartens ließ lange auf sich warten.

Die weiteren Gruppen (b) und (c) erinnern uns an die Zerstörbarkeit unseres Körpers und an die Vergänglichkeit unseres menschlichen Daseins in ephemerer Form. Zu dieser Gruppe zählen alle Kosova-Albaner, die ähnlich warten müssen wie die ältere Dame in Becketts Rockaby und/oder die Mutter von May in Footfalls, die altersbedingt warten muss – hier die Kategorie (b) – und/oder diejenigen, die in Konstellationen wie Hamm und Clov in Becketts Endspiel leben.

89

1.2 Ghettodrama II „X‐Parallele Ghetto‐Strukturen“ (1999‐2009)

Das Ghettodrama II stellt den Beginn eines Ausbruchs aus dem Eisernen Ghetto und absoluten Isolation dar, es ist jedoch kein Ghetto-Ausbruch im whrsten Sinne des Wortes. Denn, die Isolation „Rot-Schwarzen“-Protagonisten dauert heute nocht. Doch das ist keine klassische Art der Ghettoisierung, sondern eher eine Fortsezung des Eisernes Ghettos in einer unsichtbaren Form.

Warum unsichtbare Form? Weil der Ghettozustand weiterhin anhält, es wird jedoch nicht als absolute Isolation war. Diese Phase ist wengier gewaltsam. In folge zunächst nochmal eine Einführung in die ethnopolitischen Zusammenhänge.

Anfang 1999 befanden sich über 1 Million vertriebene Kosovo-Albaner auf der Flucht. Das Vorgehen der serbischen Streitkräfte, die die albanische Bevölkerung systematisch vertrieben hatte, wurde durch die NATO-Bombardements205 gestoppt. Dann marschierten die von der internationalen Gemeinschaft geleiteten KFOR-Truppen in das Land ein. Das Wunder der nachfolgenden Entwicklung war, dass über 700.000 der Geflüchteten Kosova-Albaner sofort in ihre Dörfer und Städte zurückkehrten, obwohl sie kein Dach über dem Kopf hatten. Die Dankbarkeit der Kosova-Albaner gegenüber dem Westen war groß. „Sie glaubten, dass die internationale Gemeinschaft Ihnen gegen die Serben geholfen hätte, damit sie in Kosova endlich Herren im eigenen Haus sein könnten“,206 behaupten in ihrem Buch Der Balkan Christine von Kohl und ihr Co-Autor Wolfgang Libal. „Dass Kosovo formell weiterhin zu Serbien bzw. Jugoslawien gehören sollte – bis es in drei Jahren ein Referendum über die weitere Zukunft geben sollte – und dass die Verhandlungen nicht das Ziel einer Unabhängigen Republik von Kosova hatten, sondern einen modus vivendi zwischen Albanern und Serben dieser Region, das begriffen die Albaner erst später“, stellen mit Recht diese beiden Autoren – aber auch die breite albanische Öffentlichkeit fest. Der Kosova-

205 Sie dauerten vom 24. März bis zum 10. Juni 1999.

206 Libal, Wolfgang/von Kohl, Christine: Der Balkan. Stabilität oder Chaos in Europa. S. 132.

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Konflikt wird von der Internationalen Gemeinschaft weiterhin irrtümlicherweise als ethnisches Problem betrachtet. In der Tat lebten Albaner207 und Serben in Kosova ebenso wie sonst im Balkan bis ins 19. Jahrhundert neben- und miteinander. Spannungen und Konflikte hatten eher soziale als ethnische Motive.208 Erst Ende des 20. Jahrhunderts, als der serbische Nationalismus die „ethnischen Differenzen“ für politische Zwecke zu missbrauchen versuchte, begann die Krise der 90er Jahre, die mit Krieg endete. Dieser Krieg, der von Serbien ausging, war nichts anderes als ein Kampf209 um ein Territorium und als solcher wird er heute noch – zehn Jahre nach dem Ausbruch des Eisernen Ghettos – von der serbischen Politik durch die Förderung der parallelen Ghettostrukturen und serbischen Enklaven in Kosova fortgesetzt. Der Ghettozustand bleibt dadurch wie ein Unsichtbarer Rahmen in Form von vielen Ghettostrukturen und parallelen Ghettowelten aufrecht erhalten.

207 Wer sind die Albaner? Die Frage, wer die Albaner sind, soll hier nicht unter historischer Perspektive behandelt werden. Wichtig ist jedoch zu bemerken, dass: „Alba“ auf ein indogermanisches Wort für Berg zurückgehen dürfte (dieselbe Wurzel wie „Alpen“); die Albaner stammen wohl von der Illyrischen, nur teilweise latinisierten Bevölkerung der Bergregionen vom heutigen Albanien über Kosova bis nach Mazedonien ab. Vgl. Schmidl, E.: Ebd. S. 12.

208 Schmidl, E.: Ebd. S. 11.

209 Serbien führte einen Bruderkrieg gegen ihre slawischen Brüder in Slowenien, Kroatien, Bosnien und ebenso gegen die Albanische Republik von Kosova.

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X-Parallele Ghettostrukturen Soziales Ghettodrama II (1999 - 2009)

Die Handlung Die Handelnden Der Ort (Ereignisverlauf und Aktion) (Figurenkonstellation, -Identität (Ortscharakteristische Phänomene und Interaktion) und Begleiterscheinungen)

Fragestellung: - Wie sieht die Figurenkonstellation aus? Fragestellung: Fragestellung: - Was charakterisiert die Akteure, - Wo hat das stattgefunden? - Was ist geschehen? Aktanten und Marionetten? - Was sind die ortstypischen - Handlungsverknüpfung und - Kommunikation, Verhaltensmodus und Gesellschaftsmerkmale? Interaktion? Aktstruktur des Dramas? - Welche soziopolitische Phänomene treten in - Wirkung und Folgen? Folge dessen auf?

Abb. 7: „Unsichtbares Ghetto“ bzw. Soziales Ghettodrama II (1999‐2009)

In Abb. 7. wird das soziale Ghettodrama II bzw. das „Unsichtbare Ghetto der Nachkriegszeit (1999-2009)“ dargestellt. Eine Zeitspanne, die anfangs als eine Aufbau- und Konsolidierungsphase betrachtet wurde, sich im Laufe der Zeit aber als ein Rahmen unzähliger paralleler Ghettostrukturen entpuppt. Denn mit dem Ende des Eisernen Ghettos wird der Ghettozustand in Kosova keineswegs aufgehoben, sondern lediglich durch eine unsichtbare Isolation ersetzt. Die Nachkriegsghettogesellschaft von Kosova entwickelt sich in verschiedenen parallelen Ghettostrukturen und wird durch unzählige Ghetto-Welten charakterisiert.210

210 Dazu zählen: (1)Internationale Verwaltung (UNMIK-Verwaltung, EULEX-Mission), (2) Institutionen und Behörden von Kosova (Regierung, Verwaltung etc.), (3) Parallele Strukturen in serbischen Enklaven, (4) Ghettowelt der Internationalen Mitarbeiter und ihrer Angehörigen, (5) Ghettowelt der reichen korrupten einheimischen Politiker/Stars, (6) Ghettowelt der korrekten Politiker/Stars, (7) Ghettowelt der Künstler, (8) Ghettowelt der Armen, Behinderten, Benachteiligten, (9) Ghettowelt der Minderheiten/Enklaven, (10) Ghettowelt der ehem. Kommunisten, (11) Ghettowelt der ehemaligen Pazifisten, (12) Ghettowelt der ehemaligen Aktivisten, (13) Ghettowelt der Neo-Nationalisten, (14) Ghettowelt der Majorität, (16) Ghettowelt der Stigmatisierten.

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Basierend auf der in dieser Arbeit entwickelten Analyse wird die aus so vielen Ghettostrukturen bestehende gegenwärtige Gesellschaft in Kosova den folgenden drei Untersuchungsgrößen nach differenziert: a) Handlung, b) Handelnde und c) Ort. Als Handlung – Ereignisverlauf und Aktion – werden hier die vom sozialen Ghettodrama I (1989-1999) implizierten sozialen Prozesse, die als liminale Übergangsphasen der Nachkriegszeit (1999-2009) zu betrachten sind, behandelt. Das Schema der Handelnden in dieser Zeitspanne besteht nicht nur aus Antagonisten und Protagonisten, sondern ist sehr kompliziert geworden. Auch die Grenzen im Rahmen einer Kategorisierung in Protagonist und Antagonist sind verwischt, denn die gleiche Person kann bis zu einem bestimmten Zeitpunkt die Rolle eines Protagonisten übernehmen und danach als Antagonist fungieren. Aus diesem Grund erscheint es sinnvoll, die Handelnden in Akteure, Aktanten und Marionetten zu unterscheiden. (Schauspiel-)Ort ist weiterhin Kosova und ihre soziale Welt. Während die Dramatizität nach dem Krieg drastisch gesunken ist, lässt sich nun eine Steigerung der Theatralität bemerken. Die Realität als ein mittlerer, produktiver Vorgang – typisch für eine Aufbau- und Konsolidierungsphase – fehlt hier ganz. Der Aufbau des Landes wird nur von Privatpersonen, aber keineswegs staatlich organisiert durchgeführt. Die Regierung und die öffentlichen Institutionen handeln mit steigender Tendenz theatralisch. Deswegen werden Theatralität und Handeln im Als-Ob-Modus als ortscharakteristische Phänomene und Begleiterscheinungen identifiziert und behandelt. Im Unterschied zum Ghettodrama I, dem Eisernen Ghetto der Zeitspanne 1989- 1999, das mit Normbruch beginnt, mit Konfliktsteigerung und Krise fortgesetzt wird und in einen Höhepunkt voller Peripetie mündet, anschließend von einer Anerkennung der Spaltung als Wendepunkt gefolgt wird und zu einer annähernden (humanitären) Katastrophe, die zur (Er-)Lösung und Durchschlagung des gordischen Knotens in Kosova führt, besteht das Ghettodrama II, das Unsichtbare Ghetto der Internationalen Verwaltung (1999-2009), nur aus Übergangsphasen und Schwellenzuständen, die keinen stabilen Zustand ermöglichen, sondern nur

93 soziale Prozesse implizieren. Leider besteht das soziale (Ghetto-)Drama II aus Schwellenzuständen wie: Separation, Transition – Inkorporation als ein früher angestrebter stabiler Zustand fehlt – und einer sich zum Ziel gesetzten, aber erst in „ferner“ Zukunft zu erreichende (europäische) Integration. „Eigentlich ist alles noch in der Schwebe. Die Welt weilt im Weder-Noch- Zustand, weil wichtige soziale Institutionen noch etabliert werden müssen und die Dinge noch nicht am richtigen Platz sind.“211 Mit diesen Worten lassen sich der anhaltende Übergangsprozess und die Liminalität am besten beschreiben.

1.2.1 Soziale Prozesse und Liminalität Der belgische Ethnologe und Ritualtheoretiker Arnold van Gennep publizierte 1909 unter dem Titel Les rites de passage seine Ritualtheorie, in der er nachweist, dass Rituale vor allem als Übergangsrituale vollzogen werden. Gennep bestätigt, dass die Funktion der Übergangsrituale darin besteht, Individuen und gesellschaftlichen Gruppen bei Statusveränderungen, z.B. in Lebenskrisen, einen sicheren Übergang von einem Zustand in den anderen zu garantieren. Mit einem Übergangsritual wird also immer eine Transformation des betreffenden Individuums oder der Gemeinschaft vollzogen. Van Gennep gliedert den Verlauf in drei Phasen: a) die Trennungsphase, in welcher die zu Transformierenden aus ihrem Alltagsleben herausgelöst und ihrem sozialen Milieu entfremdet werden; b) die Schwellen- oder Transformationsphase; in der die zu Transformierenden in einen Zustand „zwischen“ allen möglichen Bereichen versetzt werden, der ihnen völlig neue, zum Teil verstörende Erfahrungen ermöglicht; c) die Inkorporationsphase, in der die nun Transformierten wieder in die Gesellschaft aufgenommen und in ihrem neuen Status akzeptiert werden. 212 In allen drei Phasen kommt offensichtlich Grenzen213 eine große Bedeutung zu. Einige Jahrzehnte nach Arnold van Gennep schließt Victor Turner an dessen Ritualtheorie an. Turner fand heraus, dass gerade in unsicheren Zeiten der

211 Ziegler, Ulrike: Der Widerspenstigen Zähmung? S. 100. In: Schmidt, Bettina; Münzel, Mark: Ethnologie und Inszenierung. Ansätze zur Theaterethnologie, S. 199-215.

212 Fischer-Lichte, Erika: Grenze und Ritualität, Band 5, S. 16-17.

213 Dem Überschreiten bestehender Grenzen und dem Ziehen neuer Grenzen.

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Veränderung und des Wandels Symbole und Rituale angewendet werden, um Sicherheit angesichts der Ungewissheit herzustellen. Laut Turner entsteht in einem Ritual unter Teilnehmern, die gemeinsam die Liminalität durchlaufen (die Zwischenphase im Passageritus nach van Gennep), eine Gemeinschaftlichkeit214, die mit Hilfe der Symbole und des tänzerischen und musikalischen Ablaufs eine gemeinsame, neue Identität herstellen kann.

Diese Identität kann verfestigt und betont werden, indem sich das Ritual als Ereignis vom Alltag abhebt und eine Gegenwelt zum Alltag erzeugt. Eine weitere Beobachtung ist, dass Menschen, die gemeinsam eine Liminalität durchlaufen haben, einander häufig verbunden bleiben. Turner folgt van Gennep in dessen Modell der Übergangsriten. Victor Turner (1989) fokussierte seine Forschung auf die liminale Phase von Übergangsritualen und lieferte wichtige neue Einblicke in deren Symbolik, Wirkung und Erfahrungspotenzial. Die entscheidenden Aspekte des Turnerschen Verständnisses von Liminalität sind:215 Communitas, Anti- Struktur und Flow. (a) Communitas (Gleichheit und Gemeinschaftlichkeit) Zu einer solchen Vergemeinschaftung kommt es aus seiner Sicht allein dadurch, dass soziale Unterschiede, Hierarchien und Machtverhältnisse unter liminalen Bedingungen aufgehoben sind. Die Aufhebung dieser Differenzen schaffe Raum für besondere zwischenmenschliche Begegnungen, in denen sich die Ritualteilnehmer gegenseitig als Menschen an sich erfahren und akzeptierten können.

214 Diese besondere Gemeinschaftlichkeit bezeichnet er als Communitas. Sie kennzeichnet insbesondere, dass innerhalb einer Communitas keine klaren sozialen Strukturen bestehen, sondern wenigstens für die Dauer des Rituals „alle gleich sind“. Turner zeigt das insbesondere an einem Ritual zur Einsetzung eines Häuptlings, in dem die sonst allgemein üblichen hierarchischen Regeln aufgehoben sind. Hier haben Akteure, die innerhalb der Liminalität und damit außerhalb der Gesellschaft stehen, die Macht, Dinge zu tun oder zu sagen, die innerhalb der Gesellschaft nicht erlaubt wären.

215 Fischer-Lichte, Erika; Koelsch, Doris und Matthias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, S. 186.

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(b) Anti-Struktur Turner zieht aus der liminalen Entdifferenzierung aber noch weitere wichtige Konsequenzen für Gesellschaft und Individuum. In gesellschaftlicher Hinsicht generieren liminale Zustände eine Erfahrung der Anti-Struktur. Die Gesellschaftsstruktur wird vorübergehend konterkariert, woraus sich nicht zuletzt politische Perspektiven und subversive Handlungsmöglichkeiten ergeben können216. (c) Flow In individueller Hinsicht umschreibt Turner die Erfahrungen, die im Zustand der Liminalität möglich sind, mit dem Begriff flow. Gemeint ist der subjektive Eindruck eines mehrdimensionalen >Fließens<: Man erlebt z.B. ein Verschmelzen von Handeln und Bewusstsein, eine meditative Versunkenheit und/oder eine Entgrenzung des Ichs, die jedoch nicht mit dem Verlust von agency einhergehen muss. Das rituelle Subjekt kann im Zustand des flow durchaus die Kontrolle über das eigene Handeln behalten und aus der eigenen Aktion eine subjektive Befriedigung erlangen, ohne äußere Ziele oder Belohnungen zu benötigen. Auch die Befreiung von Kosova und die Loslösung von Serbien hat sich wie ein Übergangsritual vollzogen. Die erste Phase war/ist: 1) Trennungsphase (Separation): 1989-1999, die zweite die Schwellenphase (Transformation): 10. Juni 1999 bis 17. Februar 2008, und die dritte die c) Wiedereingliederungsphase (Aggregation): „sollte“ ab dem 17.02.2008. „Sollte“ ist hierbei ein entscheidendes Stichwort, denn vieles ist heute, wie es gerade nicht sein sollte. Aber wie sollte es sein?

216 Fischer-Lichte, Erika; Koelsch, Doris und Matthias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, S. 187.

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Integration

Inkorporation

Transition

Separation

Abb. 8: Aktstruktur des Ghettodramas II in Kosova – wie sie hätte sein sollen.

Abb. 8 zeigt eine Aktstruktur des Ghettodramas II in Kosova der Nachkriegszeit, Zeitspanne 1999-2009, nicht, wie sie ist, sondern wie sie hätte sein sollen, damit das von Kriegsereignissen erschütterte Land endlich zur Ruhe hätte kommen und sich normal hätte entwickeln können, ohne dauerhaft in Übergangsphasen und liminalen Zuständen versunken zu sein.

Ein stabiler Zustand in Form von Aggregation217 lässt sich zu diesem Zeitpunkt in Kosova trotz der Unabhängigkeitserklärung vom 17.02.2008 noch nicht erkennen. Das Land bleibt weiterhin unter internationaler Verwaltung, trotz dem Aufbau und der Konsolidierung einheimischer Institutionen, unabhängig davon dass diese Regierung nichts anderes als eine Marionetten-Regierung ist und das Parlament eher einer Puppen-Show würdig ist. Eine wahrhafte Realisierung der Unabhängigkeit und Souveränität als eigenständiger Staat ist nur in stabilen Aggregations-Zuständen möglich, nicht jedoch in ewig anhaltenden Übergangsphasen der Separation und Transition. Ebenso wenig ist es möglich,

217 Aggregation = stabiler Zustand.

97 sich als „unabhängiges Land“ zu behaupten, wenn man unter ununterbrochenem Einfluss von außen ist und keine wichtige Entscheidung zugunsten des eigenen Volkes treffen kann. Die gegenwärtige Regierung von Kosova steht bzw. handelt unter dem Einfluss der internationalen Gemeinschaft, ohne auf die Interessen der einheimischen Bevölkerung in Kosova zu achten, sie wahrzunehmen oder gar sie zu vertreten.

Die Missachtung des Selbstbestimmungsrechts, welches für die Kosova-Albaner schon während der Präsidentschaft Rugovas zu einer Selbstverständlichkeit geworden war, wird in der scheinselbstständigen Republik völlig ignoriert. Eine Volksabstimmung gab es weder bezüglich der neuen Verfassung, Flagge218 oder Hymne, noch hinsichtlich der Teilung der Städte219 auf ethnischer Basis oder die Ex-Territorialität, die den Vorgang des Inbeschlagnehmens kultureller Objekte aus dem Mittelalter und deren Etikettierung als serbisches Kulturgut meint. Dieser Prozess unterminiert die Verbindung der Kosova-Albaner zu ihrer christlichen Vorgeschichte und ihrem Illyrischen Ursprung.220 Form und Eigenschaften der Übergangsriten221 sind lt. Turner unbestimmt, da dieser Zustand und diese Personen durch das Netz der Klassifikationen, die

218 Paradoxerweise waren die Nationalfarben der Albaner sogar „verboten“ und durften „nicht“ verwendet werden. Alle „Rot-Schwarzen“-Vorschläge für die neue Flagge wurden von der Regierungskommission ausgeschlossen.

219 Dieser Vorgang geschieht unter dem Vorwand einer Als-ob-Dezentralisierung. Dies hat jedoch nichts mit der Macht- bzw. Kompetenzdelegierung von oben nach unten zu tun, sondern zielt darauf, serbische Städte überall dort zu gründen, wo eine Anzahl von etwa 5000 Personen vorliegt und diese als Einwohner eine Mehrheit von 75% bilden.

220 Ein Teil der Kosova-Albaner wurde im Laufe der fünfhundertjährigen Herrschaft auf dem Westbalkan zwar islamisiert, lebt tatsächlich jedoch westlich orientiert und sehr traditionsbewusst, was den Illyrischen Ursprung angeht und den damit verbundenen Paganismus und den Glauben an die Natur, die Sonne, die Göttin der Fruchtbarkeit, Mitra, den Kriegsgott Mars usw.

221 Turner, Viktor: Das Ritual, Kap. 3, Form und Eigenschaften der Übergangsriten, S. 94.

98 normalerweise Zustände und Personen im kulturellen Raum fixieren, hindurch schlüpfen.222

Separation

Transition

Inkorporation vs. Integration

Abb. 9: Soziale Prozesse und Liminalität (1999‐2009)

In Abb. 9 Sind mit Separation, Transition und Integration die drei Übergangsphasen, die aus dem Eisernen Ghetto in Kosova resultieren, dargestellt. Es handelt sich hier um gesellschaftliche Veränderungen und soziale Prozesse, die von ihrer Natur her Übergangsphasen und Schwellenzustände sind. Die Separation ist eine Übergangsphase zu Transition. Die Endphase der Transition impliziert – am Beispiel von Liminalität in Kosova – keine Aggregation oder Inkorporation als stabile Zustände, sondern tendiert weiter zu einer Integration, die erneut in einen weiteren Übergangszustand mündet.

222 Turner, Victor: Das Ritual, Kap. 3, Form und Eigenschaften der Übergangsriten, S. 95.

99

1.2.1.1 Separation (1989‐1999)

„Jeder glückliche Raum ist Kind oder Enkel von Trennung, den sie staunend durchgehen. Und die verwandelte Daphne will, seit sie lorbeern fühlt, dass du dich wandelst in Wind.“223

Trennungsphase (Separation) ist die Phase, in der der Initiant, sei es ein Einzelner oder eine Gruppe, von einer bestimmten sozialen Position und den mit ihr verbundenen Beziehungen, Umgebungen, Regeln und Aufgaben losgelöst wird. Der Initiant verlässt seinen bisherigen Status. Der erste soziale Prozess, der als Grundlage des Ghettodramas II betrachtet werden kann und sich als erste Übergangsphase verstehen lässt, besteht in der Identifizierung der Separation. Separation als Zustand hat im Jahr 1989 zu Beginn des Ghettodramas I – als Versuch, sich von der serbischen Besatzung zu befreien, und Bemühung, sich mit dem ursprünglichen Vaterland Albanien wieder zu vereinigen – begonnen, wurde jedoch erst im Juni 1999 mit Hilfe der NATO- Angriffe auf Jugoslawien als lediglich Separation von Serbien vollzogen.

1.2.1.2 Transition (1999 – 2008) Die Schwellenphase (Transformation) ist die Phase, in der das Subjekt des Rituals bzw. der Initiant sich in einem Zwischenstadium befindet, das weder Merkmale des vergangenen noch des künftigen Zustandes aufweist. Diese Phase zeichnet sich dadurch aus, dass in ihr unterschiedliche Grenzüberschreitungen geschehen können. Der Initiant besitzt keine gesellschaftlichen Merkmale und wird für die Pflichten und Aufgaben des kommenden Status vorbereitet.224

„Viele Gesellschaften, die soziale und kulturelle Übergänge ritualisieren, verfügen deshalb über eine Vielzahl von Symbolen, die diese Ambiguität und Unbestimmtheit des Schwellenzustands zum Ausdruck bringen.“225

223 Zeilen aus einer Poesie von Reiner Maria Rilke. In: Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen. S. 7.

224 Fischer-Lichte, Erika: Grenze und Ritualität, S. 17.

225 Turner, Victor: Das Ritual, Kap. 3, Form und Eigenschaften der Übergangsriten, S. 95.

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In Kosova ist diese Schwellenphase als Transition bekannt und umfasst einen zehnjährigen Übergangszustand,226 wobei die Internationale Gemeinschaft der albanischen Bevölkerungsmehrheit viele „schmerzhafte Kompromisse“ in Form einer sogenannten „Standards vor dem Status“-Plattform abverlangt, dabei jedoch paradoxerweise keinen stabilen Zustand, wie z.B. die Separation/Loslösung von Serbien zulässt, sondern nur liminale und auf der Resolution 1244 basierende Zustände. Dennoch hat dies zur Folge, dass die Separation als Zustand auch während der ganzen Transitionsphase besteht. Aufgrund der Tatsache, dass die UNMIK-Verwaltung in Kosova keine Lösung der Albanischen Frage im wahrsten Sinne des Wortes anstrebt, sondern nur einen Modus Vivendi, konzentriert sie ihre „Arbeit“ allerdings nur auf das Wohlergehen der serbischen Minderheit, die weniger als 2% der Bevölkerung ausmacht.

Die UN-Resolution 1244, die Kosova als Teil Restjugoslawiens betrachtet, bleibt in Folge dessen aufrechterhalten. Dies führt dazu, dass die Liminalität als instabiler Schwellenzustand nicht mit der Unabhängigkeitserklärung vom 17.02.2008 aufhört. Sie wird ebenso wenig von der Aggregation als stabilem Zustand ersetzt. Denn dies hieße, dass sich die Internationale Gemeinschaft nach der Unabhängigkeitserklärung zurückgezogen hätte und die einheimische Regierung unabhängig und souverän hätten handeln und die demokratischen Werte eines unabhängigen Staates zum Wohl aller Bürger realisieren können. Was tatsächlich geschieht ist: a) keine vollständig durchgeführte Separation (vgl. hierzu die weiterhin bestehende Resolution 1244), b) keine Beendigung der Transitionsphase, sondern ein in liminalen Zuständen versunkenes Ghettoland und ein andauerndes Ghettodrama der Bürger von Kosova und c) die Einführung des Begriffes „Euro-Atlantische Integrationen“ in den Wortschatz der gegenwärtigen Regierung, ohne konkrete Angaben, was das für Kosova genauer bedeuten würde. Im Endeffekt stellt dies alles also nichts anderes dar als die Fortsetzung der Liminalität im Sinne eines Dauerzustands.

226 Transition als Übergangsphase umfasst die Zeitspanne vom 10. Juni 1999 (Kriegsende) bis zum 17. Februar 2008 (Unabhängigkeitserklärung).

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1.2.1.3 Inkorporation vs. Integration (17.02.2008) Als dritte Phase bezeichnet Turner die Wiedereingliederungsphase bzw. die Aggregation. Hier kehrt der Initiant wieder in einen relativ stabilen Zustand zurück und verfügt nun über eine neue soziale Position mit entsprechend veränderten Beziehungen, Umgebungen, Regeln und Aufgaben.227 Eie typische Wiedereingliederungsphase kann in Kosova als Inkorporation bezeichnet werden. Die bis ins Jahr 1999 angestrebte Vereinigung mit Albanien wurde unter Einflussnahme der Internationalen Gemeinschaft auch von der einheimischen (Marionetten-) Regierung völlig marginalisiert.

Die albanische Bevölkerung in Kosova hat diesen Wunsch jedoch nie aufgegeben. Dies wird am besten durch die Gründung vieler politischer Parteien und sozialpolitische Bewegungen verdeutlicht, die eine Inkorporation mit Albanien als Vaterland und die Rehabilitation der andauernd benachteiligten Albaner zur politischen Plattform aufheben.

Die Internationale Gemeinschaft und die gegenwärtige (Marionetten-) Regierung sind sowohl in Kosova als auch in Albanien aufgrund ihrer feudalistischen Denkstrukturen und ihres Machtstrebens strenge Widersacher der Inkorporation. Die gegenwärtigen Machthaber in Kosova gehen so weit, dass sie dies sogar durch die Verfassung verbieten (vgl. Paragraph 1, Absatz 3, der neuen Verfassung von Kosova) und eine Volksabstimmung zur Inkorporation mit Albanien ausschließen. An dieser Stelle sei bemerkt, dass die neue Verfassung der Republik von Kosova, die unter massiver Einflussnahme und Kontrolle der Internationalen Gemeinschaft ausgearbeitet wurde, in keinem Punkt die demographischen, territorialen und kulturellen Interessen der albanischen Bevölkerungsmehrheit respektiert. Sie lehnt nicht nur die historische Kontinuität der albanischen Gesellschaft ab, sondern sieht das Jahr 1999 als Geburtsstunde eines multiethnischen Kosova (vgl. hierzu solche Stichworte wie „New Born“ oder „Young Kosovars“).

227 Fischer-Lichte, Erika; Koelsch, Doris und Matthias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, S. 186.

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Dies ist einer der vielen Gründe, warum die Kosova-Albaner die neue Verfassung als „verfassungswidrig“ betrachten. Die Demokratie ist ein Aggregationszustand und stützt sich auf das Recht des Volkes zur Selbstbestimmung. Die Inkorporation von Kosova an die Republik Albanien (Vaterland) stellt einen stabilen Zustand dar und ist ganz im Sinne der Globalisierung und Integration. Dies würde allerdings auch die Demokratisierung Serbiens voraussetzen und eine Regierung, die sich nicht nach selbstfabrizierten Mythen, sondern nach den demografischen Tatsachen auf dem Terrain richtet. Es gibt keinen überzeugenden Grund, den Albanern, die momentan verteilt in fünf Balkanländern leben, einerseits die Inkorporation in eine Föderation/Konföderation zu verweigern, andererseits aber zugleich auf ihre zukünftige Europäische Integration hinzuweisen. „Der Übergang von einem niederen zu einem höheren Status erfolgt durch das Zwischenstadium der Statuslosigkeit. In einem solchen Prozess konstituieren gewissermaßen die Gegensätze einander und sind für einander unerlässlich“228 Eine charakteristische Eigenschaft der Schwellenzustände in Kosova ist, dass der vorausgegangene Schwellenzuständ nicht aufhört, wenn der neue Zustand eintritt. So lässt sich auch in der Abschlussphase der Transition, d. h. nach der „(UN- )Abhängigkeitserklärung“ keine echte Separation und auch keine echte Beendigung der Transition feststellen. Die unterschiedlichen Eigenschaften des Schwellenzustands und des Statussystems in Form einer Reihe von binären Gegensatzpaaren lassen sich lt. Turner wie folgt anordnen: 1. Übergang / Zustand 2. Totalität / Partialität 3. Homogenität / Heterogenität 4. Communitas / Struktur 5. Gleichheit / Ungleichheit 6. Anonymität / Beziehungssysteme 7. Besitzlosigkeit / Besitz 8. Statuslosigkeit / Status 9. Nacktheit oder uniforme Kleidung / Kleidungsunterschiede 10. Sexuelle Enthaltsamkeit / Sexualität 11. Minimierung der Geschlechtsunterschiede / Maximierung der Geschlechtsunterschiede 12. Ranglosigkeit / Rangunterschiede

228 Ebd. S. 97.

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13. Demut / gerechtfertigter Stolz auf Position 14. Desinteresse an persönlicher Erscheinung / Achten auf persönliche Erscheinung 15. Keine Vermögensunterschiede / Vermögensunterschiede 16. Selbstlosigkeit / Selbstsucht 17. Totaler Gehorsam / Gehorsam nur gegenüber höherem Rang 18. Sakralität / Säkularität 19. Sakrale Einweisung / technisches Wissen 20. Schweigen / Sprechen 21. Aufhebung verwandtschaftlicher Rechte und Pflichten / verwandtschaftliche Rechte und Pflichten 22. Dummheit / Klugheit 23. Simplizität / Komplexität 24. Hinnahme von Schmerz und Leid / Vermeidung von Schmerz und Leid 25. Unselbständigkeit / Selbständigkeit. Der Beginn einer Aggregation als dauerhafter stabiler Zustand bleibt ebenso aus. Stattdessen wird von Europäischer Integrationen gesprochen, ein Zustand, der die erschütterte Gesellschaft in Kosova auf einer liminalen Achterbahn weiterführt und weder den lang ersehnten Frieden, noch eine wirtschaftliche Entwicklung, noch einen sozialen Wohlstand und/oder eine kulturelle Selbstverwirklichung zustande kommen lässt. Die Gründe für die fehlende Aggregation als stabilem Zustand und die Beendigung des Ghettodramas II sind zunächst in der falschen Politik der UNMIK-Verwaltung zu suchen, dann auch in der überaus schwachen und von halbqualifizierten und korrupten einheimischen Politikern geprägten Regierung. Mehr hierzu im Kapitel Diskussion.

1.2.2 Figurenkonstellation, ‐Identität und ‐Interaktion Während die Konstellation der handelnden Figuren im Laufe des Eisernen Ghettos I, Zeitspanne 1989-1999, sehr einfach war und nur aus Protagonisten, Antagonisten und Tritagonisten (blinden Zuschauern) bestand, wird während des Unsichtbaren Ghettos II, der Nachkriegszeit (1999-2009), die Figurenkonstellation der Handelnden sehr kompliziert229 und kaum überschaubar.

229 Vgl. hierzu Abb. 10.

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Auch die Konfiguration der Figuren ändert sich nach dem Kosova-Krieg gründlich. Mitglieder des serbischen Staatsapparats, ehemalige Polizisten, militante Gruppierungen und Freischärler ziehen sich zum Teil zurück, zum Teil lassen sie sich im nördlichen Teil von Kosova (in der albanischen Stadt Mitrovica, jetzt als Nord-Mitrovica bezeichnet, jenseits des Flusses Ibër) nieder und gründen dort eine serbische Enklave, wo alle am Massenmord und der Vertreibung der Albaner Beteiligten Unterschlupf finden können. Als handelnde Figuren bleiben sie weiterhin Gegner aller Angelegenheiten, die die Albaner in Kosova willkommen heißen, wie z.B. die Unabhängigkeitserklärung des Landes; befürworten alles, was den Albanern schadet, wie z.B. die ethnische Teilung (Pseudo- Dezentralisierung), die Ex-Territorialität der Kulturgüter usw. Sie bleiben auch eine Fokus-Gruppe, um die sich alles dreht, sowohl für die Internationale Gemeinschaft (UNMIK-Verwaltung, EULEX-Mission, ICO-Büro, SRSG Pieter Feith usw.) als auch für die einheimischen Institutionen und Politiker. Den Status der „Dunkelblauen“-Antagonisten, den sie während des sozialen Ghettodramas I hatten, haben sie längst verloren. Auch die Kosova-Albaner, die enttäuscht von den ganzen Nachkriegsentwicklungen andauernd auswandern, sind zu diesem Zeitpunkt zwar noch immer eine Bevölkerungsmehrheit, jedoch keine Protagonisten mehr im eigenen Drama. Durch das Erzwingen einer neuen multiethnischen Identität haben sie sogar das „Rot-Schwarze“ Identitätskennzeichen – für das sie einst im Krieg so aufopferungsvoll kämpften – in einem makabren Frieden, wie dieser einer ist, verloren. Nicht nur die Figurenkonstellation und die Konfiguration haben sich geändert, sondern auch die Identität und Funktion der Handelnden ist schwer identifizierbar geworden. Es lassen sich dennoch drei Parameter herauskristallisieren, mit denen sich die Strukturierung der Handelnden analysieren lässt: Macht (soziale Rolle), Herkunft (historische Rolle) und Ort (demografische Rolle). Je nachdem, was für eine Machtposition sie innehaben oder woher sie stammen, lassen sich die Handelnden des Unsichtbaren Ghettodramas II (1999-2009) in Akteure, Aktanten und Marionetten unterteilen.

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1.2.2.1 Akteure Die Akteure können des Weiteren in politische und soziale Akteure unterteilt werden. Sie bilden eine sogenannte Internationale Gemeinschaft230, die sich als eine identitäts- und realitätsbildende Instanz etabliert hat, aus diversen Ländern stammt und bestimmte Berufsbereiche – meistens leitende Positionen – belegt. Der Sondergesandte der Europäischen Union Pieter Feith beispielsweise spielt, auch wenn Kosova keine Monarchie ist, die Rolle des Königs. Solche paradoxen Verhaltensweisen der offiziellen Figuren sind charaktertistisch für liminale Gesellschaften231. Wesentliche Eigenschaften der Liminalität sind nach Turners Interpretation: Paradoxie, Mehrdeutigkeit, Unbestimmtheit, Inversion, Reflexivität und Kreativität.232 Das Konzept der Liminalität, der sozialen Anti-Struktur, war für Turner ein theoretisch notwendiges Konstrukt, um Gesellschaft als dynamischen und dramatischen Prozess verstehen und über das, wie er meinte, starre System binärer Gegensätze, das für die strukturale Anthropologie und die Tautologien des Strukturfunktionalismus charakteristisch war, hinausgelangen zu können.233

1.2.2.2 Aktanten Als Aktanten sind hier hohe politische Vertreter der einheimischen Regierung und Institutionen bezeichnet. Es handelt sich um wesentlich de-subjektivierte Individuen, politische Akteure, die zwar hohe soziale Posten belegen, ohne jedoch entscheidungsfähig zu sein, sondern nur eine symbolische Macht besitzen.

230 a) Militär (KFOR-Truppen und EULEX Polizei), b) UNMIK-Verwaltung, EULEX Mission, ICO-Büro (SRSG), c) Kontroll- und Observierungsinstanzen (Organisationen wie OSZE usw.), d) Diverse NGOs und Einrichtungen, e) Vertreter (Individuen/Gruppen) des privaten Sektors, f) internationale Zivilisten, die berufsbedingt und/oder aus Abenteuerlust in Kosova sind.

231 Gesellschaft = Communitas; Vgl. Turner, Ebd., S. 204.

232 Turner, Victor: Das Ritual, Kap. 4, Modalitäten der Communitas, S. 204.

233 Turner, Victor: Das Ritual, Kap. 4, Modalitäten der Communitas, S. 204.

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Dies hängt mit den äußeren Lebensbedingungen und sozialen Verhältnissen, die von Schwellenzuständen charakterisiert sind, zusammen. Aktanten sind Schwellenwesen. Turner definierte sie folgendermaßen: „Schwellenwesen sind weder hier noch da; sie sind weder das eine noch das andere, sondern befinden sich zwischen den vom Gesetz, der Tradition, der Konvention und dem Zeremonial fixierten Positionen.“234 Als Aspekte der Schwellenwesen zählt Turner auf: a) Schwellenzustand und rituelle Macht der Schwachen, b) Rolle des gedemütigten Häuptlings, c) Demut und Schweigen als weitere charakteristische Merkmale der Übergangsphase.235

Schwellenwesen, wie beispielsweise Neophyten in Initiationsriten, werden von Turner symbolisch als Wesen dargestellt, die nichts besitzen. Ihr Verhalten ist normalerweise passiv und demütig; sie haben ihren Lehrern strikt zu gehorchen und willkürliche Bestrafung klaglos hinzunehmen.236

Die meisten Kosova-Albanischen Politiker des Ghettodramas II (1999-2009) sind Schwellenwesen, die gegenüber der Internationalen Gemeinschaft loyal sind, sich aber ihren Wählern gegenüber nicht charaktertypisch (passiv und demütig) verhalten, sondern so, als ob sie Akteure wären (stolz und hochmütig). Sie sind jedoch keine Schwellenwesen, die nichts besitzen, sondern haben im Gegenteil in der Nachkriegszeit disproportional zu ihren Fähigkeiten, Leistungen und Verdienstmöglichkeiten gewonnen.

1.2.2.3 Marionetten Marionetten sind in diesem Zusammenhang keine Puppen, sondern menschliche Personen, machtlose Handelnde, die sich manipulieren lassen, keine eigene Meinung haben und „ihre Fahne in den Winde hängen“. Die Eigenschaft des Marionetten-Seins besitzen nicht nur menschliche Figuren und als-ob-Handelnde

234 Turner, Victor: Das Ritual, Kap. 3, Form und Eigenschaften der Übergangsriten, S. 95.

235 Ebd., S. 101.

236 Turner, Victor: Das Ritual, Kap. 3, Form und Eigenschaften der Übergangsriten, S. 95.

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(Aktanten), sondern auch Institutionen und/oder Regierungen. Nicht zufällig bezeichnet man viele Politiker unserer politischen Szene als Marionetten einer (Marionetten-) Regierung und das Parlament als Parlaments-(Muppet-)Show. Während das Verhältnis der Aktanten den Akteuren gegenüber wie das einer Waffe (Aktant/Objekt) in den Händen eines Täters (Akteur/Subjekt) ist, so ist das Verhältnis zwischen Akteur (Spieler/Subjekt) und Marionette (Spielzeug/Subjekt) ähnlich wie das eines Spielers zu seinem Spielzeug.

Die Gründe, warum hier von einer komplizierten und unüberschaubaren Figurenkonstellation die Rede ist, die in Akteure, Aktanten und Marionetten zu unterscheiden ist, und warum ein Staatsoberhaupt, wie z.B. der Präsident und/oder Ministerpräsident, als ein de-subjektivierter Aktant oder als eine subjektivierte Marionette bezeichnet werden kann/soll, sind am deutlichsten im Rahmen der Darstellung der folgenden Abbildung 10 ersichtlich.

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237 Abb. 10: Figurenkonstellation in das Nachkriegskosova (1999‐2009).

237 Diese Abbildung stammt aus dem Archiv der Selbstbestimmungsbewegung von Kosova und wird hier mit freundlicher Genehmigung vom Leiter Albin Kurti verwendet.

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Oberhalb der dicken schwarzen Trennlinie befinden sich der Präsident von Kosova, der Ministerpräsident und der Parlamentsvorsitzende, die je nach Bedarf entweder als Aktanten oder als Marionetten eingesetzt werden. Alle Personen, die über ihnen stehen sowie rechts und links entweder eine pro-amerikanische bzw. eine pro-russische Politik vertreten, stehen in keiner direkten Verbindung zum Objekt/Subjekt Kosova, womit gemeint ist, dass sie weder dort leben noch eine unmittelbare Ahnung haben, was dort genau vor sich geht oder wie die Sachlage in sozialer, kultureller und/oder demografischer Hinsicht tatsächlich ist. Diese Akteure sind Vertreter globaler Interessen, die Kosova – einst ein Lebensareal der Kosova-Albaner, für die dieser Ort ein sehr bedeutungsvolles Subjekt ist –in eine Bühne und Objekt globaler Weltinteressen umgewandelt haben.

Es handelt sich hier weniger um Akteure, die ihre eigene Rolle – im Sinne von Goffman – gut/schlecht bzw. überzeugend/nicht überzeugend spielen, sondern vielmehr um politische Akteure, die elitäre realitätsbildende Instanzen verkörpern und die mit jeder Handlung die Welt verändern können.

Die erste Veränderung, der virtuelle Kosova-Krieg, scheint aufgrund der Bombardements238 das Phänomen der Destruktion als Handlungsgrundlage zu haben, war in der Tat jedoch ein konstruktiver Vorgang, der ein Regime zerstörte und das über ein Jahrzehnt lang ghettoisierte Territorium Kosova von der mörderischen serbischen Polizei und dem serbischen Staatsapparat befreite, der Massenvertreibung, -verhaftung und dem Morden ein Ende setzte und somit die Rückkehr einer Million einheimischer Flüchtlinge ermöglichte. Die darauf folgende zweite Veränderung, die Bildung eines multiethnischen Kosova, scheint pro forma konstruktiv zu sein und die Bildung einer multiethnischen demokratischen Gesellschaft zu ermöglichen, ist jedoch in ihrem Grundsatz destruktiv, indem sie in sich verheerende destruktive Folgen für die einheimischen Albaner in Kosova birgt. Warum? Wo liegen die Fehler dieser scheinbar konstruktiven Handlung, in der doch so viel Destruktion steckt, dass sie in ein

238 NATO-Bombardement Serbiens 24.03.1999-10.06.1999.

110 totales Desaster münden kann? Mit dem Unterscheid, dass die erste Veränderung sich nach den gegebenen Umständen in Kosova richtete und dadurch bessere Chancen auf Erfolg hatte, versucht die zweite Veränderung die vor Ort gegebenen Tatsachen zu ignorieren und ein neues multiethnisches Realitätskonstrukt im Sinne eines deus ex machina zu konstruieren. Damit ist es allerdings zum Scheitern verurteilt, da Kosova eine rein albanische demografische Struktur aufweist. Alle Minderheiten zusammen bilden weniger als 5%, genauer gesagt ca. 3% der Bevölkerung. Wie soll dabei das multiethnische Prinzip gestützt und in die Tat umgesetzt werden? Unter Rücksichtnahme auf die vor Ort bestehenden Strukturen und Verhältnisse lässt sich feststellen, dass Kosova an der Schnittstelle zwischen Orient und Okzident liegt und in der Tat einen guten Nährboden für eine multikulturelle und eventuell auch multilinguale239 Gesellschaft mitbringt. Eine multiethnische Gesellschaft jedoch ist Kosova nicht und wird es wohl auch kaum werden. Mit einer Bevölkerungsmehrheit von über 97% Kosova-Albanern und einer bunten Palette von ca. 3% sonstigen Minderheiten, wobei die Serben den geringsten Teil ausmachen, ist und bleibt Kosova albanisch. Es sei denn, man plant erneut im Sinne eines deux es machina die demografischen Strukturen entscheidend zu verändern. Politische Vertreter der albanischen Majorität schlugen bei der Staatsbildung keine nationalistischen Töne an und waren bereit, zugunsten der Minderheiten, obwohl weniger als 5%, auf einen Nationalstaat zu verzichten. Sie sprachen damals bzw. sprechen noch immer von schmerzhaften Kompromissen, die während der Verhandlungen in Wien (2005-2007) gemacht wurden. Die Tendenz, alle Spuren der albanischen Identität zu verwischen, wie z.B. die an die Albaner gerichteten Verbote, keine Rot-Schwarze-Nationalfarbe für die Flagge zu verwenden, keine Hymne mit Text sowie keine albanische Melodie, bringen die „nur aus der albanischen Identität“ bestehenden Kosova-Albaner

239 Die Einführung der Multilingualität in öffentlichen Institutionen einer rein albanischen Gesellschaft stellt eine sehr kostspielige Angelegenheit dar, die auf Kosten der albanischen Steuerzahler in Kosova durchgeführt wird.

111 dazu, die neue Republik von Kosova nicht zu mögen. Sie fühlen sich mit Recht – zugunsten der serbischen Minderheit aufgrund des starken Einflusses Serbiens/Russlands – weiterhin diskriminiert. Es ist für die Kosova-Albaner nicht hinnehmbar, sogar jetzt, zehn Jahre nach dem Krieg, nach so viel Leid und Aufopferung, selbst in ihrer unabhängige Republik weiterhin nach der serbischen Minderheits-Pfeife tanzen zu müssen. Die Aufforderung der UNMIK- Verwaltung, die Albaner sollten zugunsten der Förderung der Multiethnizität auf ihre Identitätsmerkmale verzichten – ein erzwungener Verzicht, der im 21. Jahrhundert paradox erscheint –, unterminiert die Grundlagen zur Bildung einer demokratischen Gesellschaft. Demokratie schließt die Diskriminierung aus. Wenn dann aber gar die Bevölkerungsmehrheit auf das eigene Ich verzichten soll, nur damit sich die Nachbarn oder die UN-Krisen-Touristen wohl fühlen, so ist dies eine noch schlimmere Diskriminierung. Denn die Albaner wollen verständlicherweise keine Zombies werden. Ihre Identität weist eine sehr politische Geschichte auf und jede Tendenz, sie diese zu ignorieren und die Bevölkerung als Body unpolitique zu behandeln, ist von vorneherein zum Scheitern verurteilt.

1.2.3 Ortsbezogene Theatralität und Handeln im „Als‐ ob‐ Modus“ Handeln und Sprechen sind lt. Habermas elementare Begriffe, wodurch sich der etwas komplexere Begriff soziales Handeln bzw. Interaktion analysieren lässt. Eine Interaktion lässt sich verstehen als die „Lösung des Problems, wie die Handlungspläne mehrerer Aktoren so miteinander koordiniert werden können, dass die Handlungen von Alter an die von Ego Anschluss finden.“240 Anschluss heißt hier die Reduktion des Spielraums auf ein Maß, welches die radiale Vernetzung von Themen und Handlungen in sozialen Räumen und historische Zeiten möglich macht. Habermas zufolge unterscheiden sich die Interaktionstypen nach dem Mechanismus der Handlungskoordinierung „insbesondere danach, ob die natürliche Sprache nur als Medium zur

240Habermas, Jürgen: Sprachtheoretische Grundlegung der Soziologie. Philosophische Texte. Band I, S. 203.

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Übertragung von Informationen oder auch als Quelle der sozialen Integration in Anspruch genommen wird.“241 In einem Fall spricht er von strategischem, im anderen von kommunikativem Handeln. Habermas behandelt sowohl kommunikatives als auch strategisches Handeln als zwei Varianten sprachlich vermittelter Interaktion. Die Verwendung der Begriffe Albanische Irredentisten, Albanische Separatisten und Terroristen als eine kollektive Bezeichnung für alle Mitglieder der sozialen Gruppe/Nation Albaner – ausnahmslos für alle Nationalitätszugehörigen „Albaner“ – geschieht beispielsweise während des Eisernen Ghettos in Kosova der 90er Jahre im Rahmen einer gezielt durchgeführten systematischen Stigmatisierung der Kosova-Albaner und wurde nicht mit dem Ziel vorgenommen, einen Wahrheitsgehalt sprachlich zu übermitteln, sondern es war eine sprachlich vermittelte Botschaft, in welchem Interaktionsmodus man den Albanern begegnen solle. Das verbal und mit Hilfe der elektronischen Medien vermittelte Etikett diente indirekt als Verhaltensmuster-Vorschlag und motivierte zu Gewaltakten und – mit der Zeit – zu einer staatlich organisierten systematischen Gewaltausübung.

„Die Sprachvermittlung des Weltbezuges erklärt die Rückbeziehung der im Handeln und Sprechen unterstellten Objektivität der Welt auf die Intersubjektivität der Verständigung zwischen Kommunikationsteilnehmern. Die Tatsache, die ich von einem Gegenstand aussage, muss gegenüber anderen, die widersprechen können, behauptet und gegebenenfalls gerechtfertigt werden“242, behauptet Habermas. In unserem hier angeführten Beispiel war diese Voraussetzung nur insofern erfüllt, als die Behauptung einfach als zutreffend und nicht anzweifelbare Realität/Wahrheit präsentiert wurde, ohne der Gegenseite, d.h. dem Kosova- Albanischen stigmatisierten Kollektiv, die Möglichkeit des Widerspruchs zu erlauben bzw. den unwahren Gehalt der Behauptung zu widerlegen. Vielleicht war dies schon aufgrund der Tatsache unmöglich, dass die verbale

241 Habermas, Jürgen: Sprachtheoretische Grundlegung der Soziologie. Philosophische Texte. Band I, S. 204.

242 Habermas, Jürgen: Kommunikatives Handeln und detranszendentalisierte Vernunft. S. 23-24.

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Stigmatisierung von einer elitären politischen Machtinstanz (serbische Regierung) kam und sich gegen eine zum Angriffsziel gewordene Fokusgruppe (Kosova- Albaner) richtete. Eine Widerlegung des irreführenden und schlicht falschen (Informations- bzw. Wahrheits-) Gehalts wäre mit Sicherheit auf einer interpersonellen Kommunikationsebene zwischen den Kommunikationsteilnehmern möglich, denn wie Habermas es so schön ausdrückt: „Die Kommunikationsteilnehmer können sich über Grenzen divergierender Lebenswelten hinweg verständigen, weil sie sich mit dem Blick auf eine gemeinsame objektive Welt am Anspruch auf die Wahrheit, d.h. die unbedingte Gültigkeit ihrer Aussagen orientieren.“243

Dies ist jedoch nicht möglich, wenn die Politik gezielt manipulierend handelt und absichtlich mit Blick auf die eigenen Ziele und Zwecke Tatsachen verdreht und dem eigenen Publikum (Wählerschaft) ein X für ein U vormacht, ohne dabei auf die negativen Konsequenzen der Lancierung einer solchen Als-ob-Wahrheit für die Betroffenen Rücksicht zu nehmen, und stattdessen die Folgen eines derart theatralen politischen Handelns bewusst in Kauf nimmt bzw. von vorneherein gar beabsichtigt. Theatralität und Handeln im Als-ob-Modus sind in der gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Diskussion nicht mehr nur Begriffe, die primär als eine auf künstlerische Prozesse bezogene Kategorie verstanden werden können, sondern sie werden vielmehr von einem anthropologischen Blickwinkel betrachtet und können nun zudem eine theatralische Dimension des politischen Handelns bezeichnen.

243 Habermas, Jürgen: Kommunikatives Handeln und detranszendentalisierte Vernunft. S. 24.

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während Person Präsentiert S A X zuschaut

Abb. 11: Grundvoraussetzungen des theatralischen bzw. politischen Handelns

In Abb. 11 werden die Grundvoraussetzungen des theatralischen bzw. politischen Handelns dargestellt. Theater, wenn auf seine minimalen Voraussetzungen reduziert, bedarf also „einer Person A, welche X präsentiert, während S zuschaut.“244 Analog der Theaterwelt beinhaltet auch die Grundvoraussetzung der Politik lt. Thomas Meyer die Existenz einer „Person A, das einem Publikum S ein U für ein O vormacht.“245 Dieser Behauptung von Thomas Meyer ist mit Blick auf die öffentliche Repräsentation der Politik zuzustimmen, wenn wir davon ausgehen, dass ein Politiker tatsächlich handeln muss. Denn er wurde aufgrund eines im Wahlkampf vorgelegten politischen Programms gewählt und ist nun verpflichtet, dementsprechend zu handeln. Das Nicht-Handeln oder das Handeln im Als-Ob-Modus eines Politikers hat in demokratischen Gesellschaften normalerweise schwere Folgen, wie z.B. Rücktritt, Wahlverlust bzw. Stimmverlust. In Kosova hingegen bleibt für Politiker das Handeln im Als-Ob- Modus und die Theatralität noch immer ohne Konsequenzen für die Fortsetzung ihrer politischen Karriere.

244 Bentley, Eric: The life of the drama, London 1965.

245 Meyer, Thomas/Kapmann, Martina: Politik als Theater, S. 9.

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Theatralität (Verhaltensmuster) Schauspielerei (Tätigkeit)

Die zu verkörpernde Rolle X

Akteur A (Privatperson)

Abb. 12: Das Verhältnis Akteur‐Rolle‐Schauspielerei/Theatralität

In Abb. 12 ist das Verhältnis zwischen Akteur-Rolle-Schauspielerei als Beruf und Theatralität als Verhaltensmuster der Politiker dargestellt. In der sozialen Welt muss der Mensch ähnlich wie im Theater viele Rollen übernehmen und ausführen. Hier wird auf zwei Berufe, (a) den Beruf des Schauspielers und (b) den Beruf des Politikers, eingegangen, in denen die Rollenübernahme und dann auch die Darstellung einer bestimmten Rolle für berufliche Zwecke wichtig ist. Sowohl der Schauspieler als auch der Politiker sind zunächst Privatpersonen, die aus der Position (soziale Rolle) des Akteurs A die Rolle X übernehmen und verkörpern. Bis hierhin ist der Vorgang gleich – Akteur A, als Privatperson, übernimmt die zu verkörpernde Rolle X. Doch in der dritten Stufe, in der Ausführung der Aufgabe, treten die Unterschiede auf, die deutlich machen, warum ein Politiker kein Schauspieler und ein Schauspieler kein Politiker ist, auch wenn zunächst Vertreter der beiden Berufsgruppen Akteure sind, die Rollen verkörpern, um sie dann auszuführen.

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Beispiel 1. Berufsfeld Schauspielerei/Theater. Im Theater geschieht folgendes: a) Der Schauspieler A übernimmt die Rolle X b) mit dem Ziel, die Figur auf der Bühne zu verkörpern. c) Er spielt diese Rolle so gut es geht, um seiner Tätigkeit Schauspielerei bestmöglich nachzugehen.

Beispiel 2. Berufsfeld Politik/Institutionen. Eine Rollenübernahme in der Politik bedeutet Folgendes: a) Der Politiker A übernimmt die soziale Rolle X (z. B. Ministerpräsident, Außenminister usw.). b) Er verkörpert diese Rolle in der Öffentlichkeit (im sozialen Leben). c) Seine Aufgabe liegt darin, entsprechend seiner sozialen Rolle zu handeln, nach politischen Lösungen zu suchen, diese umzusetzen usw. Die Dimension der Theatralität tritt in diesem Berufsfeld nur als Verhaltensmuster auf, z.B. zwecks besserer Repräsentation der Partei, des Kabinetts usw., aber keinesfalls als Handlungsmuster und/oder Tätigkeitsform. Denn ein Politiker darf nicht so tun, als ob er handelt, als ob er sich engagiert, sondern er muss seiner Rolle entsprechend tatsächlich handeln.

Für diejenigen, die Politik als Machtkampf verstehen, liegt der Gedanke nah, dass in diesem Kampf theatralische Strategien, Techniken der Verstellung, des Verbergens und der Selbststilisierung angewendet werden müssen.246 In seinem Aufsatz Theatralität der Macht – Macht der Inszenierung nennt Mathias Warstat zwei Beispiele dazu und bezieht sich auf die Analysen von Lethen (1994), die dieser mit Blick auf (a) Helmut Plessner und (b) Carl Schmitt durchgeführt hat.247 Ihm zufolge haben Plessner und Schmitt die gesellschaftliche

246 Warstat, Mathias: Theatralität der Macht – Macht der Inszenierung. Bemerkungen zum Diskussionsverlauf im 20. Jahrhundert. S. 171-190. In: Fischer-Lichte, Erika et al: Diskurse des Theatralen, S. 173.

247 Vgl. zu Plessner und Schmitt die Analysen von Lethen 1994, S. 75-96 und 120-127.

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Interaktion als eine Art Machtkampf ums Überleben beschrieben und auf dieser Grundlage Ratschläge über die Verfeinerung individueller schauspielerischer Fähigkeiten erteilt. „Das Individuum sollte sich zum überlegen kalkulierenden Darsteller seiner selbst ausbilden, um für die ubiquitären Machtkonflikte des Lebens gerüstet zu sein.“248 In seiner Schrift Grenzen der Gemeinschaft (1924) wendet sich Plessner gegen eine sogenannte ´Moral der rücksichtslosen Aufrichtigkeit´ sowie gegen eine ´Pathetik der unbedingten Echtheit im Ausdruck´ und empfiehlt stattdessen die Anerkennung der künstlichen Bedingungen menschlicher Existenz.249 „Durch geschicktes Modellieren des eigenen Verhaltens und eine spielerisch- souveräne Anwendung gesellschaftlicher Regeln soll der kompetente Akteur seine individuelle Macht vermehren, um sich dem Druck gemeinschaftlicher Zumutungen und anderer externer Ansprüche entziehen zu können.“250 Diese individuelle Macht, nach Plessner einziger Garant eines selbstbestimmten Lebens, erfordert das Anlegen einer martialischen Ganzkörpermaske: „Das Individuum muss sich zuerst eine Form geben, in der es unangreifbar wird, eine Rüstung gleichsam, mit der es den Kampfplatz der Öffentlichkeit betritt. Er [der Mensch] muss spielen, etwas vorstellen, als irgendeiner auftreten, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und sich die Achtung der anderen zu erzwingen.“251 Plessner schlägt die Anwendung theatralischer Praktiken vor, um jenes notwendige Maß an Macht zu gewinnen, das eine eigenständige Existenz gewährleistet. Ihm zufolge dienen theatralische Praktiken nicht einer Darstellung

248 Warstat, Mathias: Theatralität der Macht – Macht der Inszenierung. Bemerkungen zum Diskussionsverlauf im 20. Jahrhundert. S. 171-190. In: Fischer-Lichte, Erika et al: Diskurse des Theatralen, S. 173.

249 Vgl. Plessner 2002, S. 110. In: Fischer-Lichte, Erika et al: Diskurse des Theatralen, S. 174.

250 Warstat, Mathias: Theatralität der Macht – Macht der Inszenierung. Bemerkungen zum Diskussionsverlauf im 20. Jahrhundert. S. 171-190. In: Fischer-Lichte, Erika et al: Diskurse des Theatralen, S. 174.

251 Vgl. Plessner 2002, S. 82, In: Fischer-Lichte, Erika et al: Diskurse des Theatralen, S. 174.

118 der Macht, sondern deren Erzeugung. Sowohl Plessners politische Anthropologie als auch Schmitts politische Theorie richten sich an ´Menschen, die einander nicht trauen dürfen´. Im Hintergrund steht die Auffassung vom Akteur als einem „riskanten Wesen“ in einer gefährlichen Welt. Politik ist in so einer „Sphäre der Gewalttätigkeit“ (Lethen) ein lebensgefährlicher Verdrängungskampf zwischen Freund und Feind. „Die Abwehr des Gegners, von dem eine existentielle Bedrohung für das Selbst ausgeht, erlaubt und erfordert ein Arsenal von Machttechniken, zu dem neben physischer Gewalt ausdrücklich auch die Verstellung gehört.“252

Nach Schmitts Freund-Feind-Schema ist es im politischen Gegeneinander ebenso unvermeidlich wie legitim, die eigenen Motive und Affekte zu verschleiern, um die Bedrohung durch das Fremde/Andere in die Schranken zu weisen. Auch hier begegnet einem demnach theatrales Handeln als conditio sine qua non253 von Macherhalt und Machtgewinnung.254

252 Ebd., S. 174.

253 „Verstecken – Zeigen, das ist Theatralität“ lautet eine Definition von Jean François Lyotard.

254 Warstat, Mathias: Theatralität der Macht – Macht der Inszenierung. Bemerkungen zum Diskussionsverlauf im 20. Jahrhundert. S. 171-190. In: Fischer-Lichte, Erika et al: Diskurse des Theatralen, S. 174

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2 Analytische Instanz II: Inszenierungsanalyse Die Herausforderung dieser analytischen Instanz liegt darin, die Inszenierung als Phänomen in Kosova dort zu (unter-)suchen, wo sie stattfindet: a) auf der Bühne der sozialen Welt und b) auf der Bühne des Theaters. Die Inszenierungen in der sozialen Welt wurden von der Politik als realitätsbildende Kraft in die Szene gesetzt und durchgeführt (vgl. hierzu Kapitel 2, Punkt 2.2). Für Bühneninszenierungen waren Regisseure und Künstler/Projektleiter/Gesamtwerk- Autoren zuständig (vgl. hierzu Kapitel 2, Punkt 2.3).

2.1 Begriffserklärung und Prinzip Der Begriff Inszenierung ist im Kontext der Zwei-Welten-Theorie entstanden und wird hauptsächlich auf die Inszenierung eines literarischen Werkes bezogen.255 Doch der Vorgang, den das Wort Inszenierung meint, ist uralt und überall da gegeben, wo etwas vorgeführt werden soll. Schon in der Antike fanden die großen Dionysien, die wichtigsten Festtage der Polis, statt. Die Vorbereitungen waren nicht nur zeitaufwendig, sondern erforderten auch Mühe und Sorgfalt für den Prozess der Inszenierung. Den uns überlieferten Quellen zufolge wurde „erfolgreichen Theaterleuten, die wiederholt den Sieg im tragischen Agon erlangten, ein großes Prestige und eine außerordentliche Wertschätzung in der Öffentlichkeit der Polis zuteil.“256 Sie genossen ein so hohes Ansehen in der Gesellschaft, dass man ihnen auch wichtige politische Aufgaben und militärische Ämter anvertraute257. Das bedeutet, dass schon in der Antike „die Fähigkeit zur

255 Lewald, August: In die Szene setzen. In: Lazarowicz, Klaus/Balme, Christopher: Texte zur Theorie des Theaters, S. 306-311.

256 Vgl. hierzu: Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, S. 318.

257 So bekleidete Sophokles, der zwischen 468 v. Chr. (dem Jahr seiner ersten Teilnahme) und 406 v. Chr. (seinem Todesjahr) zwanzig Siege im tragischen Agon errang, 443/2 v. Chr. das Amt des Hellonotamias; 441/439 v. Chr. wurde ihm sogar zusammen mit Perikles die Strategie im Samischen Krieg übertragen. Wegen des außerordentlichen Erfolges seiner Antigone-Aufführung wurde ihm 428 zusammen mit Thukydides erneut die Kriegs-Strategie als eine damals sehr angesehene öffentliche Aufgabe übertragen.

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Entwicklung von Inszenierungsstrategien, die in einer wirkungsvollen Aufführung resultieren, als eine wesentliche Qualifikation für die Ausübung politischer und militärischer Ämter“258 angesehen wurde. In der gegenwärtigen Gesellschaft werden alle Prozesse des Theatralisierens im alltäglichen Leben als Inszenierung bezeichnet. Die meisten Auftritte, Darstellungen bzw. Performances im öffentlichen Leben setzen heutzutage eine Inszenierung bzw. Inszenierungsstrategie voraus. Besonders die theatralische Dimension des politischen Handelns ist mit dem Begriff Inszenierung bzw. ´In- Szene-Setzen ´259 eng verbunden. Erika Fischer-Lichte zufolge ist der Begriff der Inszenierung in seiner Reichweite eingeschränkter als der Begriff der Theatralität, da er sich lediglich auf eine der vier die „Theatralität“ konstituierenden Komponenten – (1) Performance260, (2) Inszenierung261, (3) Korporalität262 und (4) Wahrnehmung263 – bezieht. „Als ästhetische und zugleich anthropologische Kategorie zielt der Begriff der Inszenierung auf schöpferische Prozesse, in denen etwas entworfen und zur Erscheinung gebracht wird – auf Prozesse, welche in spezifischer Weise Imaginäres, Fiktives und Reales (Empirisches) zueinander in Beziehung setzen. Innerhalb des semantischen und kulturellen Feldes, das sie in ihrer Gesamtheit bilden, zielt Inszenierung auf den Aspekt eines kreativen und transformierenden

258 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, S. 319.

259 Inszenierung = franz. La mise en scéne.

260 Sie wird als Vorgang einer körperlichen/stimmlichen Darstellung vor anwesenden Zuschauern verstanden und beinhaltet ein ambivalentes Zusammenspiel aller Beteiligten. (Fischer-Lichte et al. 2003)

261 Ein Prozess, in dem die Strategien entwickelt und erprobt werden, nach denen WAS, WANN, WIE LANGE, WO und WIE vor den Zuschauern in Erscheinung treten soll. (Fischer-Lichte et al. 2007)

262 Die Koporalität/Leiblichkeit ergibt sich aus dem Faktor des Materials/der Darstellung. (Fischer-Lichte et al. 2001a.)

263 Sie bezieht sich auf den Zuschauer, dessen Beobachterfunktion und -perspektive. (Fischer- Lichte et al. 2001b.)

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Umgangs des Menschen mit sich selbst und seiner Umwelt“264, so Erika Fischer- Lichte. Dies lässt sich als eine Kultur der Inszenierung beschreiben oder auch als eine Inszenierung von Kultur. Politik wird beispielsweise nur noch als symbolische Inszenierung in den Medien erfahrbar. Unsere Gegenwartskultur leidet an Realitätsverlust bzw. Wirklichkeitsverlust und stellt eine endlose Abfolge von inszenierten Ereignissen dar. Dennoch ist die Behauptung „Alles ist Schein“ zwiespältig, da Inszenierung nicht einfach mit Schein (dem nur Scheinbaren) gleichzusetzen ist. „Inszenierung produziert nicht Schein, sondern lässt etwas als gegenwärtig in Erscheinung treten.265 Von daher gilt: „wenn der Mensch nicht anders kann, als sich zu inszenieren, wenn auf allen kulturellen Feldern inszeniert wird, dann erhebt sich in der Tat die Frage, wo die Grenze zwischen Inszenierungen und nicht-inszenierten Handlungen, Verhaltensweisen, Ereignissen, Räumen usw. verläuft.“266 Diese Grenze ist nicht für alle in gleicher Weise gegeben. Sie verläuft nicht einfach gerade, sondern muss vielmehr immer wieder „neu gezogen“ werden. Hinsichtlich der Grenze behauptet Fischer-Lichte:

„Zwar lassen sich die Grenzen der Inszenierung nicht klar bestimmen; daraus folgt jedoch keineswegs, dass es diese Grenzen nicht gibt, das alles Inszenierung sei. (…) Die Definition des Inszenierungsbegriffs weist vielmehr darauf hin, dass die Rede von Inszenierung immer schon Nicht-Inszeniertes voraussetzt, ja, dass es gerade die Inszenierung ist, welche die Möglichkeit eröffnet, dass Nicht- Inszeniertes sich ereignen kann.“267

264 Fischer-Lichte: Reichweite und Grenzen des Inszenierungsbegriffs, S. 21.

265 Fischer-Lichte: Reichweite und Grenzen des Inszenierungsbegriffs, S. 22.

266 Fischer-Lichte, Ebd. S. 23.

267 Fischer-Lichte: Reichweite und Grenzen des Inszenierungsbegriffs, S. 23.

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2.2 Inszenierung der Authentizität durch eine Macht (‐Instanz)268

2.2.1 Inszenierung einer „als‐ob“‐Vergewaltigung: „Martinovic‐Vorfall“269

„Die Inszenierung eines wirklichen Dramas sieht ganz anders aus, als man sich sowas vorstellt. Ihre Einfachheit, ihre Größe, ihre absonderlichen Einzelheiten wirken verblüffend.“270

Aufgrund der überaus schlechten politischen und wirtschaftlichen Lage in Kosova der 80er Jahre, verkauften viele Bürger von Kosova ihr Hab und Gut, um nach Kroatien, Slowenien oder gar in die Bundesrepublik Deutschland, die Schweiz oder nach Österreich auszuwandern. Die meisten waren albanischer Nationalitätszugehörigkeit. Doch unter Auswanderern gab es gelegentlich auch Serben oder Montenegriner, besonders junge Leute, die aufgrund der Berufsperspektive eine Auswanderung nach Serbien bevorzugten – was der damaligen hegemonialen Politik Serbiens gar nicht zupass kam. „Property for sale“ bzw. „Hab und Gut zu verkaufen“ war ein Schild, das damals überall in Kosova zu sehen war, gerade weil die aus über 95% aus Albanern bestehende Bevölkerungsmehrheit ihr Eigentum verkaufte. Serbien verdrehte diese Tatsache und machte daraus Politik bzw. eine Neukolonialisierungs-Politik. Es seien die Serben, die ihr Hab und Gut verkauften, und das solle verhindert werden, behaupteten sie. Plötzlich wurden in vielen Städten Hochhäuser für Serben gebaut, Autos und Arbeitsplätze zur Verfügung gestellt und ihnen vor allem die besten Jobs in Verwaltung und Führungspositionen angeboten. Zu diesem Zeitpunkt wurde fast alles politisch verstanden, immer zum Nachteil der albanischen Nationalitätsangehörigen. Sogar die sexuelle Selbstbefriedigung eines betrunkenen Mannes wurde politisch (miss-) interpretiert. Von diesem Vorfall

268 Damit ist hier die exekutive serbische Staatsmacht gemeint bzw. das Machtdreieck Serbiens, das aus der Regierung, der Serbischen Akademie der Wissenschaften und der Orthodoxen Kirche bestand.

269 Vgl. Kapitel 2 “Impaled with a bottle”: The Martinovic Case, 1985. S. 95-121, In: Mertus, Julie A.: Kosovo. How myths and truths started a war, S. 100.

270 Cocteau, Jean: Kinder der Nacht, S. 113.

123 wurde am 1. Mai 1985 von den Jugoslawischen Medien folgendermaßen berichtet: „A Serbian peasant, fifty-six-years-old Djordje Martinovic, had been attacked in his field by two unknown Albanian men who tied him down, mistreated him and forced a bottle into his rectum, bottom first. They left him unconscious and bleeding. After he came to his senses, the papers reported, he crawled to the nearby hospital.”271

Die Belgrader Tageszeitung Politika schrieb wie folgt: „In his family sorrow and bitterness. They told us that buyers [Kosovo ] for that field [in wich Martinovic had been abused] had come several times, but the Martinovic’s [property] was not for sale.”272

Die Tatsachen wurden so verdreht, als ob die Kosova-Albaner Martinovic gezwungen hätten, sein Feld zu verkaufen, und weil er einen Verkauf nicht gebilligt hat, misshandelt wurde. Dieser Vorfall sorgte für Angst und Unsicherheit bei allen Bürgern, unabhängig von der Nationalitätszugehörigkeit. Namen oder persönliche Angaben wurden nie gemacht. Wie auch, denn die Geschichte war frei erfunden. Psychologisch haben solche Berichterstattungen eine Horror- Wirkung, denn es hätte jeder von uns sein können. Jeder der Täter, jeder das Opfer. In diesem Zusammenhang ist der Frage nachzugehen: Was will man mit dieser Berichterstattung erreichen? Julie Mertens stellt zunächst fest: „Albanians were being accused of pressuring Kosovo Serbs to sell them their property so that they could make Kosovo exclusively Albanian.”273 Die kroatische Zeitschrift Danas (Zagreb) berichtete, dass Kosovo-Albanische Führungspersönlichkeiten aus der Stadt Gjilan – in der der angebliche Zwischenfall geschah – den Vorfall aufs Schärfste verurteilten und die

271 Vgl. Kapitel 2 “Impaled with a bottle”: The Martinovic Case, 1985. S. 95-121, In: Mertus, Julie A.: Kosovo. How myths and truths started a war, S. 100.

272 Mertus, Julie: Ebd., S. 100.

273 Mertus, Julie: Ebd., S. 100.

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Verurteilung der Täter versprachen.274 Diesem Bericht zufolge hatten führende albanische Persönlichkeiten zudem eine schnelle Aufklärung versprochen:

„Kosovo Albanian leader in Gjilan gathered and gave a statement for the public in which they condemned the `despicable crime´ and demanded from the municipal persecution bodies an urgent investigation to find the perpetrators.”275

Drei Tage später war in der gleichen Zeitung über den Fall Martinovic Folgendes zu lesen: „the internal injuries of Djordje Martinovic are accidental consequences of a self-induced practice.“ Die offizielle Berichterstattung gab das Gleiche an: Public investigators in Prishtina reported that Martinovics wounds had been self- inflicted. While still in the Prishtina hospital, they said Martinovic had confessed to Colonel Novak Ivanovic, the commanding officer of the JNA garrison in Gjilan, where Martinovic worked as a clerk.276

Als man dem Vorfall gründlich nachgegangen war, stellte sich heraus, dass es sich um eine sexuelle Selbstbefriedigung handelte. Den Berichten zufolge hatte Martinovic selbst folgendes ausgesagt: “The persecutor made a written conclusion from which it appears that the wounded performed an act of ´self-satisfaction´ in his field, [that he] put a beer bottle on a wooden stick und struck it in the ground. After that he sat ´on the bottle and enjoyed”277

Wie wirkte sich diese Geschichte auf das Kosovo-Albanische Volk aus, das sich langsam an eine „kollektive Schuld“ gewöhnen musste? Die Reaktionen waren typisch, voll von „kollektivem Schamgefühl und Selbstekel“. Die Albaner waren auch selbst empört, auch wenn die meisten langsam nun einen selbstinszenierten Vorfall sahen. Hier einige Aussagen dazu:

274 Mertus, Julie: Ebd., 100.

275 Zagorac, Gjuro: Artikel “Drama in the Expectation on Solution”, veröffentlicht in der kroatischen Zeitschrift Danas vom 6. August 1985, S. 23.

276 Mertus, Julie: Ebd., S. 101.

277 Mertus, Julie: Ebd., S. 101.

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1) „I am ashamed to think that Albanians could have done this.”278 (Eine albanische Frau.) 2) “Serbs automatically accused all of us of being there with the perpetrators. It was as if we all had done the attack.”279 3) “Martinovic committed the act himself and then tried to blame it on Albanians when things went wrong. The whole affair was then used – if not from them especially for this reasons produced – by Serbian nationalists to provoke anti-Albanian feelings.”280

Zu diesem Zeitpunkt herrschte in Jugoslawien noch der Slogan „Auch nach Tito, Tito“, also ein Versprechen, dass Titos Idee der „Bruderschaft zwischen slawischen und anderen Nationen“ weiterhin leben würde. Doch der Vorfall Martinovic kündigte eine Kursänderung in der jugoslawischen Politik an. Diese entpuppte sich im Laufe der 90er Jahre als ein serbischer Genozid und Hegemonismus gegen andere Völker des ehemaligen Jugoslawiens (Slowenen, Kroaten, Bosniaken) – aber ganz besonders gegen (Kosovo-) Albaner als ein nicht-slawisches-Volk, künstlich angehängt an die Republik Serbien bzw. die Jugoslawische Föderation.

2.2.2 Inszenierung eines „als‐ob“‐Amoklaufs: „Paraçin Massaker“

„Sie kümmerten sich nicht darum, welche unmittelbaren oder mittelbaren Folgen ihre Handlungen haben konnten, prüften sich selbst ebenso wenig, wie ein dramatisches Meisterwerk sich über den Verlauf einer Intrige oder die herannahende Auflösung beunruhigt.“281

Es war der 3. September 1987, ich war noch ein kleines Mädchen, kann mich aber noch immer an diese schlechte Nachricht, die das ganze Land schockierte, erinnern. Aziz Kelmendi, ein junger Soldat albanischer Herkunft, sei angeblich

278 Mertus, Julie: Ebd., S. 106.

279 Mertus, Julie: Ebd., S. 106.

280 Mertus, Julie: Ebd., S. 107.

281 Cocteau, Jean: Kinder der Nacht, S. 79.

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Amok gelaufen und habe fünf andere Soldaten (einen Serben, einen Kroaten, einen Slowenen und zwei Bosnier) getötet. Den militärischen Berichten zufolge wurde Kelmendi später tot aufgefunden. Er hätte sich selbst erschossen. Und wieder einmal waren die Medien an der Reihe, im Dienste der immer radikaler werdenden serbischen Politik Hass und Intoleranz zu schüren. Die meistgelesene serbische Tageszeitung Borba (Der Krieg) beispielsweise schrieb in der „Front- Page-Story“ Folgendes: „Belgrade, Sep. 3 – This morning at dawn in Paracin, the most absurd shots that were ever heard echoed in one of the barracks of JNA. Soldier Aziz Kelmendi, of Albanian nationality, shot treacherously with an automatic rifle at his friends while they were sleeping. After his fire four soldiers were dead, while five more were wounded. The victims of Aziz Kelmendi could have been prepared for any kind of surprise except for this one. This was the only way Kelmendi could have killed them. His shots were insane, but his crime is more than that. (…) Kelmendi actually shot at . He obviously didn´t choose his victims. All of those at whom he shot wore the same uniform, the uniform of the Yugoslav People´s Army – the same Tito´s caps, same stars, and they were almost from all of the parts of Yugoslawia – , Bosnia and Herzegovina, Croatia, Slovenia and Montenegro. And with that dimension of crime, this morning´s massacre in Paracin one more time points out in a tragic way that the counterrevolution in Kosovo is a Yugoslav Problem.”282

Der Hass auf die Albaner wurde daraufhin immer größer. Serben protestierten und zündeten überall in Jugoslawien Läden und Güter der Albanischen Besitzer an. Die Sprache der Politiker, um diese Taten zu bezeichnen, war zielorientiert. Julie Mertus beschreibt sie wie folgt: „The careful language used by the state- and party-aligned media to describe demonstrations against Albanians was much different than that used to describe

282 Vgl. hierzu den Artikel: „Shots at Yugoslavia (Pucnji u Jugoslaviju)“, veröffentlicht in der Tageszeitung >>Borba<< (Der Krieg) vom 4. September 1987. Ein ähnlicher Bericht erschien auch in der Zeitschrift Vjesnik, „Heavy Crime in Paracin Garrison (Tezak zlocin u Paracinskoj kasarni)“ vom 4. September 1987.

127 similar activities undertaken by Albanians. (…) When Albanians protested or wrote graffiti, their actions were seen as paving the way to murder; when Serbs crowded before Albanian shops shouting slogans and destroying property, their actions were simply ´protests against the sickening crime.´”283

Die Folgen dieses Ereignisses waren verheerend und betrafen weite Kreise von Personen, Gruppen und letztlich die ganze Gesellschaft in Kosova. Ein Artikel mit den Namen einiger Personen erschien schon am 8. September 1987 in der Zeitschrift Politika unter dem Titel „Who Does Favors to Kelmendi?“ a) Zunächst wurden sechs weitere albanische Soldaten als „als-ob“- Komplizen284 identifiziert und verhaftet. b) Anschließend wurde Kelmendis Vater verhaftet und seine Mutter gequält mit der Begründung, sie hätte eine Waffe in der Unterwäsche versteckt. c) Die Tat hatte zudem Konsequenzen für die Gegend, aus der Kelmendi stammte, für die Schulen, die er besuchte, die Universität von , und sogar sein Arbeitgeber, die „Elektro-Wirtschaft von Kosova“ wurde kritisiert, ihm und seinem älteren Bruder einen Arbeitsplatz gewährt zu haben.285

Nicht nur Kelmendis Familie, sondern alle Albaner in Kosovo waren fassungslos. Kelmendi hatte seinen Wehrdienst fast zu Ende geleistet. Freunde und Bekannte berichten von einer menschenfreundlichen, liebevollen Person, die nie in der Lage

283 Vgl. Kapitel 3, „A shot against Yugoslavia“: The Paracin Massacre, 1987, S. 135-164. In: Mertus, Julie A.: Kosovo. How myths and truths started a war. S. 146.

284 Unter dem Vorwurf, Kelmendis Komplizen gewesen zu sein in einer „nationalen [albanischen] Verschwörung, wurden acht weitere Soldaten verhaftet. Unter ihnen sechs Albaner, ein Muslime und ein Roma: Rizah Xhakli (Albaner, 20 Jahre Haft), Abdilxhemil Alimani (Albaner, 20 Jahre Haft), Afrim Mehmeti (Albaner, 13 Jahre Haft), Pajazit Aliu (Albaner, 13 Jahre Haft), Shefqet Paqarizi (Albaner, 7 Jahre), Enver Beluli (Albaner, 5,5 Jahre), Riza Alibasic (Muslime, 14 Jahre) und Islam Mamuti (Roma, 2 Jahre Haft).

285 Vgl. hierzu auch Mertens, „A shot against Yugoslavia“, S. 148-150.

128 wäre, so etwas zu tun. Obwohl man offiziell in Prishtina den Fall verurteilte, wusste tief im Inneren jeder, dass der Fall inszeniert war. Vielleicht zu perfekt inszeniert. Hier ein paar Auszüge aus der öffentlichen Meinung: ‐ „It was too perfect, one person [was] killed from just about every nation.“286 ‐ “It was too convenient, [happening] at the time when Serbia was trying to take away [Kosovo´s autonomous Status].”287 ‐ “It didn´t make any sense, he [Kelmendi] was going to be released soon from the army.”288 ‐ „The whole incident was manufactured by Serbs to begin with, and that Kelmendi himself was innocent.“289 Was in Folge dessen kommen würde, war klar: systematische Gewalttaten, Inszenierung weiterer politischer Szenarien und politisch motivierte Prozesse gegen Albaner aller Schichten. Besonders schlimm für die Albaner wurde jedoch der Wehrdienst in der Jugoslawischen Armee. Im Laufe der Jahre wurden zahlreiche junge Soldaten albanischer Herkunft hingerichtet und als Selbstmörder in verschlossenen Särgen – mit staatlicher Anordnung, den Sarg nicht zu öffnen – in den Kosovo zurückgesandt. Manche Familien wagten es doch, den Sarg heimlich zu öffnen und mussten feststellen, dass ihre Söhne/Soldaten von hinten hingerichtet worden waren.290

286 Mertens, Ebd., S. 154.

287 Mertens, Ebd., S. 154.

288 Mertens, Ebd., S. 154.

289 Mertens, Ebd., S. 154.

290 Die slowenische Kolumnistin Tanja Torbarina griff in ihrem Artikel „Die fliegenden Albaner“ (Leteci Albanci) dieses Thema auf und berichtete damals in ihrer Kolumne in der slowenischen Zeitschrift Fokus über albanische Soldaten, denen es gelungen sei >>sich selbst ´von hinten´ zu erschießen<< und so Selbstmord zu begehen. Sie stellte die wohlbekannte Frage: „wie es vorkommen kann, dass ausnahmslos alle ´als-ob-suizidverstorbenen´ albanischen Soldaten von hinten erschossen waren?“ Die Autorin stellte die Story so zusammen, dass alles auf eine „systematische Hinrichtung Kosovo-Albanischer Soldaten in der Jugoslawischen Armee“ hindeutete, es sei denn, „die Albaner hätten die Fähigkeit zu fliegen und dabei die Hand mit der Waffe so auszustrecken, dass die Kugel immer ´von hinten´ in den Rücken eintrifft.“ Dieser

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Nach dem Tod von Präsident Tito in den 80er Jahren begann die wirtschaftliche Krise Jugoslawiens. In den 90er Jahren kam eine starke Identitätskrise dazu. Tito als „Unifizierungsfigur“ gab es nicht mehr und auch das einheitliche kommunistische Parteisystem drohte zu zerbrechen. Es gab nur noch ein starkes Band, das Jugoslawien zusammenhielt: das zum Problem gemachte Kosova. Diese kleine, damals autonome Provinz Jugoslawiens wurde zu einem nationalen und Staatssicherheitsproblem aufgebauscht und als potentieller Konflikt oder angehender Krisenherd auf perfekte Weise zu einer Ablenkung von den tatsächlichen Problemen in der längst „faulen“ Föderativen Republik Jugoslawiens gemacht.291

2.2.3 „Als‐ob“‐Kollektive Inszenierung: „Schüler‐Massenvergiftung“

„So schmeichelt er einem Ungeheuer, ohne im Mindesten zu bedenken, dass Gifte tödlich wirken.“292

Ende März, genauer gesagt ab dem 22. März 1990 bis Anfang April 1990 wurde fast in allen einheimischen Medien von einer Massenvergiftung albanischer Schüler und Studenten berichtet. Das betraf auch das Gymnasium, in dem ich [Autorin] und meine kleine Schwester ausgebildet wurden. Dieser Vorfall ist in meinem Gedächtnis als eine live erlebte Horrorgeschichte meiner Kindheit gespeichert. Meine kleine Schwester war direkt davon betroffen – ich zum Glück nicht direkt. Glücklicherweise konnte ich sie sofort zum Arzt begleiten, so dass die Folgen der Vergiftung noch in einem beschränkten Rahmen zu halten waren.

Artikel hatte damals eine große Debatte ausgelöst, so dass albanische junge Männer ab dem Zeitpunkt Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre den Wehrdienst in der Jugoslawischen Armee fast ausnahmslos sabotierten.

291 Mertens, Julie: Ebd. , S. 187.

292 Cocteau, Jean: Kinder der Nacht, S. 109.

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Bei einigen Kommilitoninnen aber musste man mit schweren lebenslangen Störungen rechnen.293

Mit Blick auf dieses Geschehnis bezieht sich Mertens zunächst auf eine Berichterstattung vom 19. März 1990, erschienen in der kroatischen Zeitung Vecernji list. Dort wurde von Schülern berichtet, die mit Kopfschmerzen oder gar ohnmächtig die Schule verlassen und in die Notfallaufnahme der Universitätsklinik von Prishtina aufgenommen werden mussten. Dr. Muharrem Avdiu berichtete damals „what´s happening is poisoning with neurotoxic effects, and the cases are quiet serious.”294 Ein Kollege von ihm hatte diese Vorfälle ebenso beschrieben: “It was just horrible. (…) There was a long line of cars coming down (…) The patients were just streaming in. Some of them were half- conscious. (…) we weren´t sure what has happened”295 (Ebd., S. 188)

Julie Mertens hat diesbezüglich Ärzte und Betroffene persönlich interviewt. Ärzte, Lehrer, Eltern und Schüler geben die gleichen Symptome an: „nausea followed by other symptoms as stomach pain, dizzy spells, problems breathing, coughing, racing of the heart and hallucinations.”296

Kurz bevor die große Vergiftung albanischer Schüler stattfand, wurden die serbischen Schüler von den albanischen getrennt. Sie bekamen überall wo es möglich war, getrennte Räumlichkeiten. Wo es keine Sonderräume für die serbischen Kindern gab, bekamen sie getrennte „Uhrzeiten/Schulzeiten“, d.h. dass sie zwar die gleichen öffentlichen Schulen wie die Albaner verwendeten, jedoch zu Uhrzeiten, als die albanischen Schüler nicht da waren.

293 Mertens, Julie: The alleged Poisoning, S. 188.

294 Mertens, Julie A.: „The alleged Poisoning of Albanian School Children, 1990”, Chapter 4, In: Mertens, J.: Kosovo. How myths and truths started a war. S. 189.

295 Mertens, Julie A.: „The alleged Poisoning of Albanian School Children, 1990”, Chapter 4, In: Mertens, J.: Kosovo. How myths and truths started a war. S. 188.

296 Mertens, J.: Ebd., S. 188.

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Im damaligen Gymnasium „11 Maji“, heutzutage „Bedri Pejani“ Pejë, beispielsweise standen die Räumlichkeiten des Gymnasiums von 07.00-13.00 Uhr für die serbischen Schüler zur Verfügung, von 13.00-18.00 Uhr dann für die albanischen Kinder. Diese Trennung, die anfangs „harmlos“ erschien, hatte, wie sich später herausstellte, einen Haken. Die physische Trennung der Schüler ermöglichte es der schon immer sehr raffiniert vorgehenden serbischen Politik, die albanischen Kinder massenweise zu vergiften, ohne dabei die serbischen Kinder direkt in Gefahr zu bringen, und, was noch schlimmer ist, ohne jemals die Konsequenzen für diese makabre Aktion tragen zu müssen.

Julie Mertens geht in ihrem Kapitel „Alleged Poisoning“ gründlich auf dieses Thema ein und zieht alle Behauptungen in Erwägung, alle Argumente, die offiziell und inoffiziell angegeben wurden. Bei den Albanern bestand als erstes der Verdacht, dass die serbische Armee oder die serbische Polizei absichtlich toxische Substanzen in den Schulen/Gymnasien verbreitet hatte. „Albanians suggest that the army did it by using neuro-war poisons. Then that it is an act of the Serbian police“297, so Mertens. Drittens wurden Serben und Montenegriner selbst dafür verantwortlich gemacht. “Thirdly accused are Serbs and Montenegrins, who threw poisons in the classrooms and school yards that poison only Albanian children.”298

Diese Vergiftung war und ist für viele sehr mysteriös. Ich habe sie selbst erlebt, zum Glück nicht als Betroffene, aber doch unmittelbar. Meine kleine Schwester war davon betroffen. Ich kann mich noch immer daran erinnern, wie sie so starke Schmerzen am rechten Bein hatte, dass sie nicht mehr laufen konnte und drei Tage nicht aus dem Bett kam. Es war keine Simulation, sondern eine überaus schreckliche Situation, die mir auch jetzt – 20 Jahre danach – unter die Haut geht. Es war einfach schrecklich zu sehen, wie die Schüler wie kopflos einfach zu

297 Mertus, Julie: The alleged poisoning, S. 191.

298 Mertus, Ebd., The alleged poisoning, S. 191.

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Boden fielen oder wie sie während des Laufens „versteinerte Beine“ bekamen und keinen Schritt mehr tun konnten. Das waren Szenen wie aus einem schlechten Horrorfilm. Doch die Serben wiesen alle Vorwürfe zurück: „Federal and Serbian investigators did work quickly to ´demystify´ the case, promoting one conclusion: no poisoning.“299

Die offiziellen Berichte lauteten selbstverständlich: “The first official report on the case, issued by the Serbian Secretariat of Health late in May 1990, found `no causes which would indicate that the students of Albanian nationality were poisoned´. Subsequent studies conducted at the Military Medical Academy in Belgrade (VMA) reached the same conclusion.”300

Die medizinische Abteilung der Serbischen Akademie der Wissenschaften (SANU) stimmte ebenso der „Keine-Vergiftung“-These zu. Sie lieferten aber eine so typische Erklärung für die sogenannte Serbische Akademie der Wissenschaften, eine Äußerung, die konform der allgemeinen damaligen „(Pseudo-) Forschungs- Politik“ Serbiens war, dass sie– zumindest aus heutiger Perspektive betrachtet – die Glaubwürdigkeit dieser Als-ob-wissenschaftlichen-Institution sehr infrage stellt.

Die Haltung dieser „(Pseudo-) Akademie“ wurde in der Zeitschrift Politika vom 6. Mai 1990 in dem Artikel „Albanski lekari su izdali lekarsku etiku“ (Albanische Ärzte haben die medizinische Ethik verraten) veröffentlicht: „Everything is then about the simulated poisoning, the simulation of hysteria, with the neurological reactions induced in order to accuse Serbs and Montenegrins and cause hatred and revolt among Albanians as another contribution to the special war against Serbia and Yugoslavia.”301

Das Schlimmste an diesem Ereignis war nicht nur die Vergiftung der über 7000 Kinder, sondern auch die Tatsache, dass die offiziellen serbischen Quellen die

299 Mertus, Ebd., S. 191.

300 Mertus, Ebd., S. 191-192.

301 Mertus, Ebd., S. 192.

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Massenvergiftung als eine kollektive Inszenierung der Albaner und die vergifteten Kinder als Simulanten bzw. Schauspieler bezeichneten.

Die SANU (Pseudo-) Experten weiter: “It is obvious that in this deception the Albanian separatists and terrorists abused their own children in carrying out, among other things, an irresponsible attack on their psyche with possible psychological consequences.”302

Gegenargumente gegen diese als-ob-öffentliche Masseninszenierung kamen selbstverständlich von albanischer Seite, d.h. albanischen Ärzte usw., wurden zum Teil aber auch von internationaler Seite vorgetragen, wo Laboruntersuchungen angestellt wurden.

„Kosovar doctors stood by their diagnosis of symptoms of poisoning – wide pupils, dizziness, vomiting, headaches – which, they said, indicated ´there has been, by someone, a precisely planned poisoning.”303

Albaner, die sich nicht ausschließlich auf ihre Blutprobenanalysen verlassen konnten, um die Sache aufzuklären, baten internationale Labors/Experten um Hilfe. Auch Julie Mertus, eine der besten Forscherinnen mit Blick auf dieses Ereignis, bestätigt:

„Without conclusive result of their own, Albanians relied on the analyses of foreign experts” und zu den Ergebnissen der Laboruntersuchungen fügt sie hinzu: „some foreign researchers have indeed found blood of the ill children to contain neuro-toxic gases, typical of those developed for chemical warfare.“304

Unabhängig davon, dass es auch unter den Beobachtern der Vereinten Nationen Stimmen gab, die die „Vergiftungsgeschichte Albanischer Schüler“ für das

302 Mertus, Ebd., S. 192.

303 Mertus, Ebd., S. 195.

304 Mertus, Ebd., S. 196.

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Ergebnis einer Massenhysterie hielten, belegen Ergebnisse der Laboruntersuchungen eher das Gegenteil. „A UN toxicologist did conclude that Sarin or Tabun (poisonous substances used in chemical weapons) were present in blood samples taken from children in Kosovo.“305

„The Council of Human Rights of Prishtina, an Albanian human rights group, has relied particularly heavily on a study that they say was conducted by A. Heyndricky, Director of International Reference University Laboratories in Belgium. The council has reproduced a letter, signed by A. Heyndricky, dated February 8, 1992, summarizing the findings “that an organic chemical nerve gas had been used, Sarin and (or) Tabun, listed as a chemical warfare agent.”306

Dr. Bernar Benedetti, Mitarbeiter von Doctors of the World, bestätigte ebenso die Vergiftung von – seinen Kenntissen nach – über 3.000 albanischen Kindern: „over 3000 young people and children were deliberately poisoned, and I claim that a mass poisoning was conducted. Of course, only of children of the Albanian origin.”307 Obwohl Dr. Benedettis Aussagen mit filmischen Doku-Aufnahmen der vergifteten Kinder in Kosova begleitet wurden – Videoaufnahmen, die die serbischen Zensoren von allen Fernsehsendern außer dem albanischen verbannen konnten – stuften serbische Journalisten ihn als einen „Unterstützer der Albanischen-Nationalisten“ ein.

In ihrem Beitrag Following the Thruths geht Mertus der Frage nach, wie Kosova als Vorwand dafür benutzt wurde, um den „(Groß-) Serbischen Traum” jugoslawienweit zu realisieren, zu verstärken und zu militarisieren.

305 Mertus, Ebd., S. 196.

306 Eine Kopie dieses Ergebnis-Schreibens des Belgischen Universitätslabors wurde in The Frozen Smiles: Violence against Children in Kosova (Eine Zeitschrift der Këshilli për të drejtat dhe liritë e Njeriut në Kosovë, kurz KLMDNJ (Council for Human Rights in Kosova) vom 31. Oktober 1992 veröffentlicht. Das Original ist im Archiv des KLMDNJ aufbewahrt. Der Wahrheitsgehalt dieses Schreibens ist bestätigt. Vgl. hierzu auch Mertus, S. 196.

307 Mertus, Ebd., S. 196.

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„Within Serbia, anti-Albanian propaganda had gone too far and for too long. For a decade Albanians had been “portrayed as monsters, politically as ´counter- revolutionaries´, ´separatists´, ´irredentists´ and the like as regards their human qualities as ´narrow-minded chauvinists´, ´thugs´ (…) and so on.”308 Im Rückblick sind auch die Massenvergiftungen von ca. 7.000 albanischen Schulkindern landesweit als Teil des serbischen Plans zu sehen, eine militärische Konfrontation schon im Frühling 1990 zu provozieren und jede gewaltsame Antwort der Kosovaren als Casus Belli für einen Albaner-Vernichtungskrieg auszunutzen. Allen Bemühungen der serbischen Politik zum Trotz, in Kosova einen Krieg zu provozieren, antworteten die Kosovo-Albaner mit passivem friedlichen Widerstand und machten auf diese Weise alle durch die serbische Propaganda lancierten Mythen „nichtig“. Doch was wäre passiert, wenn auch die Albaner mit den gleichen gewaltsamen Mitteln wie die Serben gekämpft hätten? Die Antwort auf die Frage möchte ich mit einem sehr zutreffenden Zitat von Mertus beginnen. Sie hat vollkommen Recht, wenn sie feststellt:: „If Albanians were to react to Serbian oppression with vengeance, they would only be promoting the worst accusations against Albanians. A very public campaign of nonviolence helped disprove anti-Albanian propaganda and thus draw sympathy for the Albanian political agenda.”309

Serbien nutzte jedes Ereignis, jeden Vorfall zu den eigenen Gunsten: “This strategy helped to underscore a perception of difference between Albanians and Serbs: Albanians are the peaceful ones, Serbs are violent.”310

Es dauerte nicht lange und Serbien nahm alle Institutionen in Beschlag: “True to this Formulation, soon after the poisoning incident, Serbia seized control of Kosovo institutions with deceit and the brunt of a gun, and Albanians began constructing their parallel society, complete with their own schools, health care facilities and welfare fund, and with a professed believe in democracy and a new public relations campaign”311

308 Mertus, Ebd., S. 198-199.

309 Mertus, Ebd., S. 199.

310 Mertus, Ebd., S. 199.

311 Mertus, Ebd., S. 199.

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Freie Marktbedingungen, freie Wahlen, freie Medien, freie demokratische Institutionen, eine pluralistische Regierung und eine pazifistische Strategie zur Konfliktlösung waren die Hauptmerkmale des Kosovo-Albanischen Parallelsystems und der 1992 per Volksabstimmung (Referendum) für unabhängig erklärten Demokratische Republik von Kosova. Doch Demokratie bedeutet auch, dass „der Wille von weniger als 5% der Bevölkerung nicht über die 95% der Bevölkerungsmehrheit herrschen kann.“312 „´We are Europeans´, many Kosovo- Albanians said, longing to belong to that imagined world where borders were increasingly meaningless. It all seemed so simple – and possible.”313

Eine betroffene Schülerin314 beschreibt die Vergiftungen wie folgt: „Manche Schüler meiner Klasse begannen krank zu werden und niemand wusste, was los ist. Sie begannen die Kinder ins Krankenhaus zu fahren und wir begleiteten sie oder gingen nach Hause. Ich machte mich auf den Weg nach Hause, als ich plötzlich ohnmächtig wurde und nichts mehr sehen konnte. Ich hatte Krämpfe in den Händen und schwache Knien. Ich verlor mein Bewusstsein. Da ich mit Freunden auf dem Weg nach Hause war, hat einer von ihnen ein Auto gestoppt und sie haben mich ins Krankenhaus gebracht … Im Krankenhaus angekommen, konnte ich viele ähnliche Fälle wahrnehmen, manche befanden sich sogar in einem schlechteren Zustand als ich … Einige von Ihnen konnten nicht mal Teile ihres Körpers bewegen. Eine Nacht durften wir im Krankenhaus bleiben; am nächsten Tag kam die (serbische) Polizei und vertrieb uns … Wenn die Attacken beginnen, werden meine Muskeln steif, ich werde müde und mein Herz rastet. Zum letzten Mal wiederholten sich die Attacken im vorigen Jahr (…) Anfangs traten die Attacken sehr häufig auf … Ich denke, die Serben wollten uns damit zu Grunde richten. Es gab Gerüchte, sie wollten uns auf diesem Weg „sterilisieren“ (unfruchtbar machen), aber ich weiß nicht, ob das stimmt. Für meine Eltern bleibt jedoch die Frage problematisch, wie und ob es mir künftig (gesundheitlich) wieder gut gehen kann.315

312 Mertus, Ebd., S. 198.

313 Mertus, Julie: Kosovo. How Truths and Myths started a war, S. 198.

314 Der Name wird aus Datenschutzgründen nicht preisgegeben. Nationalitätszugehörigkeit: Albanerin, weiblich, Alter 20 (im Jahr 1990), geb. in einem Dorf in der Nähe von Prizren, wohnhaft in der Stadt Prizren.

315 Mertus, Julie: Interviews. Young people remember poisoning, S. 223.

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Die gesundheitlichen Folgen dieser Massenvergiftung der Schüler konnten bisher nie gründlich untersucht werden, vor allem aufgrund der andauernd schlechten politischen Lage in der Region und der mangelnden Bereitschaft des serbischen Systems, den Weg der Demokratisierung endlich einzuschlagen und für die Fehler der Vergangenheit gerade zu stehen, sich zu entschuldigen und sich an der post- nazistischen Bundesrepublik ein gutes Beispiel zu nehmen, wie man mit den Fehlern der Vergangenheit umgeht. Diese Opfer wurden nie entschädigt und, was schlimmer ist, dieses Massenereignis wurde auch nie vollständig aufgeklärt, so dass über 7.000 Schüler Kosova-weit endlich wüssten, was los war. Denn mit der damaligen offiziellen Beurteilung, alles sei eine Inszenierung der albanischen Irredentisten und Separatisten, wobei die Schüler für politische Zwecke manipuliert worden seien, kann man sich schlecht zufriedengeben. Nicht einmal jetzt – 20 Jahre danach.

2.3 Inszenierungs‐ (Ghetto‐) Rahmen und Ghettotheater

„Die ganze Welt ist wie eine Bühne, wir stolzieren und ärgern uns ja ein Stündchen auf ihr herum, und dann ist unsere Zeit um.“316

Der Proberahmen/Inszenierungsrahmen umfasst Gestaltungsprozesse, die sich in Abwesenheit des Publikums vollziehen und nur in Anwesenheit der Teilnehmer/Handelnden selbst durchgeführt werden. Dieser Zustand entspricht einem Ghettorahmen, wobei die Handelnden – unabhängig davon, ob es sich um Bühnenfiguren oder soziale Akteure handelt – für einander zugleich Interaktionspartner und Zuschauer sind. Ein Publikum im wahrsten Sinne des Wortes fehlt hier, auch wenn die Komponente des Zuschauens zumindest als Teil der Handlung aufrechterhalten bleibt. Der Theaterrahmen im Goffmanschen Sinne setzt sich aus drei Dimensionen zusammen: (1) gutgemeinte Täuschung,317 (2) einfache Modulation und (c)

316 Goffman, Erving: Rahmen-Analysen, Kap. 5, Der Theaterrahmen, S. 143.

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Transformation eines Stücks wirklicher Vorgänge in ein Stück Bühnenwelt. Der Theaterrahmen ist weniger als eine gut gemeinte Täuschung und mehr als eine einfache Modulation zu verstehen. Denn hier wird „ein Stück wirklicher Vorgänge außerhalb der Bühne in ein Stück Bühnenwelt transformiert“318, wobei die räumlichen Grenzen der Bühne die dargestellte Welt scharf und willkürlich vom übrigen Rahmen absetzen. Goffman definiert die Aufführung als „eine Veranstaltung, die einen Menschen in einen Schauspieler verwandelt, und der wiederum ist jemand, den Menschen in der >>Publikums<<-Rolle des Langen und Breiten ohne Anstoß betrachten und von dem sie einnehmendes Verhalten erwarten können.“319 Im Zusammenhang mit eigentlichen Theateraufführungen spricht man von der „Interaktion zwischen Schauspielern und Publikum“. Eine Aussage, die Goffman für „etwas voreilig“ hält, denn ihm zufolge handelt es sich nicht um eine Interaktion, sondern um einen Rahmen, und zwar aufgrund der Tatsache, dass „bei einer Aufführung nur die Schauspieler untereinander und in dieser unmittelbaren Weise als Angehörige des gleichen Reiches reagieren; das Publikum reagiert mittelbar, es schaut, geht gewissermaßen nebenher, spendet Beifall, aber unterbricht nicht.“320 Goffman versucht den Theaterrahmen321 in Theaterstück,322 Vorführung,323 Inszenierung,324 Schauspieler,325 Rolle,326 Personen,327 Theaterpublikum328 und

317 Zur Kategorie „Täuschungen in guter Absicht“ zählen lt. Goffman: 1) scherzhafte Täuschung, 2) experimentelles Etwas-Vormachen, 3) Ausbildungs-Täuschungsmanöver, 4) lebensechte Prüfungen, 5) paternalistische Konstruktionen, 6) das rein strategische Täuschungsmanöver.

318 Goffman, Erving: Rahmen-Analysen, Kap. 5, Der Theaterrahmen, S. 158.

319 Goffman, Erving: Rahmen-Analysen, Kap. 5, Der Theaterrahmen, S. 143.

320 Goffman, Erving: Rahmen-Analysen, Kap. 5, Der Theaterrahmen, S. 146.

321 Goffman, Erving: Rahmen-Analysen, Kap. 5, Der Theaterrahmen, S. 147.

322 Unter (Theater-) Stück verstehen wir „den vom Verfasser geschriebenen Text“.

323 Unter „Vorführung“ versteht Goffman „einen Ablauf des Spiels von Anfang bis Ende vor einem bestimmten Publikum.“

324 Produktion kann die Leistung eines bestimmten Ensembles im Rahmen einer bestimmten Inszenierung des Stückes bezeichnen, d.h. die Gesamtheit der Vorführungen durch ein Ensemble

139 die Rolle des Theaterbesuchers329 zu differenzieren und jede einzelne Kategorie als solche zu definieren.

Interessant ist bei Goffman die Unterscheidung zwischen Theaterbesucher und Theaterzuschauer. Z.B. bezeichnet Goffman das Gelächter aus dem Publikum als Reaktion auf einen gelungenen Spaß einer Bühnenfigur als Reaktion eines „Zuschauers“. Gelächter über einen Schauspieler, der steckenbleibt, stolpert oder in sonstiger Weise aus der Rolle fällt hält er für das Lachen eines Theaterbesuchers.330 Zu dem Theaterrahmen gehört auch das Nebeneinander von Fiktion und Faktion, wobei am Ende der Vorführung der Schlussbeifall den Schein hinwegfegt, die Bühnenfiguren sich auflösen und die Schauspieler außerhalb der gespielten Rolle – nur als Menschen, die bisher Rollen verkörpert haben – die Theaterbesucher grüßen.331

auf der Grundlage einer zusammenhängenden Einstudierungszeit. Zu einer Inszenierung kann eine einzige Vorführung gehören, doch wäre dies eine schlechte Produktionsökonomie.

325 Es gibt eine begriffliche Unterscheidung zwischen einem Schauspieler (Darsteller), der auf der Bühne auftritt, und der Rolle (Figur), die er dabei verkörpert. Der Schauspieler „als Mensch hat eine persönliche Identität: er ist eine Organismus mit eindeutigen Kennzeichen, eine Nische im Leben. (…) Er hat einen Lebenslauf. Zu seiner persönlichen Identität gehört eine Vielzahl von Funktionen – berufliche und häusliche.

326 Goffman verwendet den Ausdruck der Rolle im Sinne der spezialisierten Funktion, die im wirklichen Leben wie auch in dessen Darstellung auf der Bühne vorkommen kann.

327 Mit Person bezeichnet Goffman „das Subjekt eines Lebenslaufs, mit Bühnenrolle, Theaterrolle, oder Figur die Darstellung eines solchen auf der Bühne.“

328 Das Zuschauen gehört von Anfang an zum Theaterrahmen. Der Zuschauer simuliert nicht, sondern er schaut wirklich zu.

329 Er bezahlt Eintrittskarten und wendet wirkliche Zeit auf, er kommt pünktlich, zu früh oder zu spät und betätigt sich nur beim Applaus „nach der Aufführung“, aber nicht „währenddessen“. Der Theaterbesucher ist das Gegenstück zum Schauspieler.

330 Goffman, Erving: Rahmen-Analysen, Kap. 5, Der Theaterrahmen, S. 149.

331 Goffman, Erving: Rahmen-Analysen, Kap. 5, Der Theaterrahmen, S. 151.

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2.3.1 Ghettotheater der Unterdrückten Die Ghettozeit ist als eine Zeitspanne zu betrachten, in der man als albanisches Wesen nur noch atmen, essen und ins Theater gehen durfte. Der Rest war verboten, strafbar oder lebensbedrohlich. Theater entwickelte sich in dieser Situation als eine neue Realität, als eine Oase bzw. ein geschützter Rahmen, in dem man unter Menschen sein konnte, ohne auf die unzähligen Gefahren draußen achten zu müssen. Es bot die Möglichkeit, öffentlich zu agieren und kleine Erfolge zu erzielen, ohne für das serbische Regime groß auffällig zu werden. Denn Anfang der 90er Jahre wurden albanische Theatermacher nicht unbedingt als gefährliche anti-jugoslawische Intellektuelle betrachtet – wie es z. B. der Fall mit Albanologen, Historikern oder albanischen (Geschichts-) Lehrern war. Von daher bot das Theater die Möglichkeit einer Form der Gegenöffentlichkeit. Durch Aufführungen des Genres Komödie, wie z.B. Jam talent se jo mahi (Ich bin talentiert, kein Witz)332, gespielt von Studenten der Akademie der Dramatischen Künste, wurde auf eine humorvolle Art und Weise von der tatsächlich überaus angespannten politischen Lage abgelenkt. Die Komödie entpuppte sich in der Ghettozeit als ein Heilmittel zur Realitätsflucht und das Ghettotheater selbst als eine Oase des Lebens, des Lachens oder besser gesagt als ein Zufluchtsort für Kunstschaffende, Kulturliebhaber und einfache Bürger, die sich in der Kulturwelt wohl fühlen. Doch Realitätsflucht war nicht der einzige Weg dieser Kulturmacher. Einige Theaterleute – u.a. auch die Autorin dieser Zeilen – waren politisch aktive Menschen, die einen kreativen pazifistischen Widerstand in Bewegung gesetzt hatten und nun das Theater benutzten, zwar nicht für Propagandazwecke, wohl aber als Mittel zur Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen politischen Realität.

332 Eine Komödie, die vom Publikum der Ghettozeitspanne sehr gefragt war und bis in die Nachkriegszeit sieben Mal inszeniert wurde. Teil I wurde 1989/90 im Theater Dodona uraufgeführt. Das Publikum hatte das Vergnügen, sich über sechs Teile dieser Ghetto-Komödie zu begeistern. Teil VII wurde in der Nachkriegszeit in Szene gesetzt und hatte nicht annähernd den Erfolg der vorangehenden Varianten).

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Diese Konfrontation, die nicht nur Gesellschaftskritik auszuüben versuchte, sondern auch für die Bewahrung der albanischen Kultur, Sprache und autochthonen Identität der Kosovo-Albaner im gegebenen Ghettorahmen sorgte, fand an verschiedenen Orten, z.B. in einem als Theater improvisierten Gebäude, in der Medresse der Stadt Prishtina oder auch im Tanz-Podium der Diskothek Queens, meistens aber im Ex-Zentrum statt. Als signifikante Aufführungen der 90er Jahre gelten folgende Inszenierungen: „Shpend Sokoli i Sokol Shpendit“ (Shpend Sokoli, der Sohn von Sokol Shpendi)333, „Kufiri me atdhe“ (Die Grenze zum Vaterland)334, „Dante 9“ (Dante 9)335, „Moti pa ton“ (Farbloses Zeitalter)336, „Duke pritur Godonë“ (Warten auf Godot)337, „Vdekja dhe Vasha“ (Der Tod und das Mädchen)338, „Shqiptari me

333 Eine Aufführung des Nationaltheaters von Kosova, in der das vererbte Problem des gegenseitigen Hasses und die seit Generationen andauernde Unterdrückung durch die feindseligen serbischen Nachbarn thematisiert und behandelt wurde.

334 Eine Aufführung der Studenten der Dramatischen Akademie der Künste, Prishtina, Jahrgang II, Klasse I, von Enver Petrovci. Text und Regie: Teki Dervishi, Es spielten: L. Jaha, Sh. Istrefi, G. Boshtrakaj, J. Gorani, I. Azemi, E. Gjocaj, A. Kastrati, Xh. Godanci, S. Abdyli, M. Kelmendi, I. Aliu und D. Bacaj.

335 Eine Studentische Dodona Aufführung. Text mit Motiven aus „Commedia Divina“ von Dante Alighieri, Regie: F. Hysaj. Es spielten: B. Gjoci, D. Bacaj, I. Aliu, L. Guhelli, S. Miftari u.a.

336 Ebenso als Stumme Zeitspanne zu verstehen. Eine Studentische Dodona Aufführung und humorvolle Gesellschaftskritik im Stile der engl. TV-Komödie ´Monty Phython’s Flying Circus ´. Text, Regie und Schauspiel: B. Gjoci, L. Guhelli, L. Cela und S. Miftari. Premiere: 12.01.1994.

337 Textgrundlage von Samuel Beckett. Regie: Fadil Hysaj. Bühnenbild und Skulpturen: Skender Boshtrakaj. Es spielten: L. Jaha, Sh. Istrefi, L. Daka, S. Miftari und Sh. Berisha. Premiere am 24.02.1996 im Theater Dodona.

338 Eine Aufführung der Alternativen Bühne Sythi unter der Leitung von Gonxhe Boshtrakaj und Unterstützung vom Theaterpädagogen F. Hysaj. Textübersetzung und Bühnenadaption: Gonxhe Boshtrakaj. Uraufführung am 6. Mai 1996 in den Räumlichkeiten der Diskothek Queens, Prishtina. Es spielten: L. Guhelli, J. Gorani und G. Boshtrakaj.

142 duar n´xhepa“ (Der Albaner mit Händen in Hosentaschen)339 und „Odisea shqiptare“ (Die Albanische Odyssee).340 Doch die tonangebenden Bühnenereignisse, als wirkungsvolle Performanzen, die in der Lage waren, sowohl kulturelle als auch sozialpolitische Akzente zu setzen, waren in der Ghettozeit u.a. folgende Inszenierungen: 1) Die Grenze zum Vaterland von Teki Dërvishi, uraufgeführt im Theater Dodona am 14 April 1993. Die Inszenierung hat „die politische Grenze zum Vaterland“ Albanien zum Gegenstand. Geographisch und kulturell besteht zwischen Kosova und Albanien bekanntlich keine Grenze, außer der politischen, die den meisten von uns ein Dorn im Auge ist, aber leider weiterhin als solche besteht. Andere Motive, wie z.B. die physischen Folterungen einer bestimmten im Ghetto lebenden Gruppe sowie ein Leben nach dem Prinzip „Big Brothter is watching you“, wurden ebenso behandelt und hatten für die Inszenierung einen hohen Stellenwert. Ein totalitäres System, wie George Orwell es beschreibt, nur im albanischen Format. Vom Inszenierungsstil her erinnert Die Grenze zum

339 Eine Aufführung des Epischen Theaters. Text und Regie: Isa Qosja. Bühnenbild, Relief und Skulpturen: Skender Boshtrakaj, Es spielten: Mentor Zymberaj und Esat Gjocaj. Uraufgeführt in den Räumlichkeiten der Medresse der Stadt Prishtinë, mit freundlicher Genehmigung der Islamischen Gemeinschaft von Kosova.

340 Ein choreographisches Drama des berühmten, in Paris ausgebildeten albanischen Ballett- Tänzers und Theaterpädagogen Abi Nokshiqi. Aufgrund des angeblich ´nationalistischen´ Inhaltes wurde eine öffentliche Aufführung dieser Inszenierung polizeilich verboten. Das choreographische Drama „Die albanische Odyssee“ wurde trotzdem in den Räumlichkeiten der Medresse der Stadt Prishtinë mit freundlicher Genehmigung der Islamischen Gemeinschaft von Kosova uraufgeführt. * Die Signifikanz liegt hier darin, dass sich die Islamische Gemeinschaft von Kosova in der Ghettozeitspanne nicht nur im Dienste der Religion, sondern aufgrund ihrer überaus liberalen und toleranten Einstellung ganz bewusst und mit einer großen Selbstverständlichkeit für die Aufbewahrung unserer albanischen Kultur, Bildung und Identität einsetzte. In diesem Zusammenhang sei ebenso bemerkt, dass für die Albaner schon immer der wohlbekannte Spruch von Vaso Pasha (1825-1892) galt: >>Mos shikoni kisha e xhamia: feja e shqiptarit është shqiptaria!<<, was ins Deutsche übersetzt bedeutet: >>Richtet euch nicht nach Kirchen und Moscheen, denn die (wahre) Religion des Albaners ist das Albanertum!<< (vgl. hierzu: Lambertz, M. (1948): Albanisches Lesebuch, Bd. 2, Leipzig. S. 23).

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Vaterland an Wilsons Hamlet, ist jedoch bildhaft sehr originell – konstruktivistisch, kubistisch, fotographisch – fabelhaft inszeniert. 2) Warten auf Godot von Samuel Beckett, in Regie von Fadil Hysaj, uraufgeführt am 24. Februar 1996 ebenfalls im Theater Dodona. Eine Aufführung, die Becketts Figuren albanisch werden lässt. Kein Wunder, denn Mitte bis Ende der 90er Jahre waren wir das längst geworden: Becketts Figuren. Wartende, die nicht unbedingt warten wollten, jedoch zu warten wussten, da ihnen klar war, dass sie verurteilt sind zu warten, oder weil sie fest daran glaubten, dass ihr Godot doch noch kommt; das wissen wir nicht. Die Antwort auf diese Frage lieferte diese Inszenierung nicht, wohl aber viele Antworten darauf, warum der Baum des Lebens an diesem bestimmten Ort und zu diesem bestimmten Zeitpunkt – merkwürdigerweise – anstelle von lebensbejahenden Früchten/Äpfeln schwere Leopard-Panzer und militärische Artillerie-Waffen trug. 3) Mitte der 90er Jahre, als die Migration der Kosovo-Albaner ihre höchste Rate erreicht hatte und viele Kosovo-Albaner in den europäischen Universitäten aufgenommen wurden, sorgte Gonxhe Boshtrakaj, eine ehemalige Studentin der Fakultät der Dramatischen Künste in Prishtina, für einen interessanten kulturellen Austausch. Sie brachte das Theaterprojekt Der Tod und das Mädchen nach Prishtina, ein sozialpolitisches Drama von Ariel Dorfman, von Roman Polanski auch als Psycho-Polit-Thriller verfilmt. Den Text hatte sie bereits 1994 mit Hilfe ihrer in Deutschland (Ostfildern) lebenden Schwester Dije Demaj übersetzt, als Bühnenadaption gestaltet und die Hauptrolle der Paulina Sallas-Escobar ins Herz geschlossen. Nach einer Bühnenerfahrung im Theaterhaus der Alternative in Stuttgart und gelungener Zusammenarbeit mit dem deutschen Regisseur Werner Schretzmeier und seinem Ensemble (1994), kehrte Boshtrakaj ambitioniert nach Kosova zurück, gründete Ende 1995 die Alternative Bühne Sythi und brachte am 6. Mai 1996 mit großem Erfolg und freundlicher Unterstützung ihres Theaterpädagogen und Regisseurs F. Hysaj das alternative Bühnenereignis Der Tod und das Mädchen zustande. Im Rahmen der großen Solidaritätswelle untereinander, die für die Ghettozeit der 90er Jahre signifikant war, stand der Projektleitung das Studio Nekra in Pejë sowie große Namen wie Nehat Krasniqi – Nekra (Studioleiter, Karikaturist),

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Shpend Kada (Graphikdesigner), Skënder Boshtrakaj (Projektmanager, Bildhauer, Maler), Benjamin Haxhaj (Graphikdesigner), Edi Agagjyshi (Designer) und Florent Mehmeti (Projekt-Assistent) bezüglich technisch-organisatorischer Fragen und hinsichtlich des Bühnenbilds, der Aufführungsprospekte und Plakate kostenfrei und von hoher Qualität zur Verfügung. Zwecks Proben und Inszenierung wurden dem Projektteam – tagsüber – die kunstvollen Räumlichkeiten des Lokals Hani i 2 Robertëve und zur Generalprobe, Premiere und Wiederholungsaufführungen die Räumlichkeiten der Diskothek Queens in Prishtina dankbarerweise ebenso kostenfrei zur Verfügung gestellt. Von einer ästhetisch-künstlerischen Perspektive betrachtet, bot diese Inszenierung neben einer postmodernen Regieführung auch eine ausgezeichnete schauspielerische Leistung. Voller Symbolik und metaphorischer Ausdrucksweisen stellten die jungen Schauspieler Jehon Gorani (Gerardo Escobar) und Lulëzim Guhelli (Doktor Miranda) ihre Rollen exzellent dar. Die erstklassigen Darsteller boten mit einer aussagekräftigen Schauspielleistung zusammen mit der Hauptdarstellerin Gonxhe Boshtrakaj (Paulina Sallas Escobar) eine so gute Performanz, dass sie nicht nur vom Publikum gefeiert, sondern auch von Fachleuten als ein exzellentes, tonangebendes Bühnenereignis bezeichnet wurden341. All die o.g. Inszenierungen behandelten Themen und sozialpolitische Phänomene, die das Publikum ansprachen, besser gesagt zutiefst betrafen: Ghettoisierung, Isolation, Gewaltausübung, Umgang mit Folgen der Gewalt/Folterung und ewiges Warten auf Gerechtigkeit sind Themen, die nicht nur damals, sondern noch heute aktuell in Kosova sind. Die Wirkung dieses Theaters war groß. Allgemeingültige universale Werte, Ethnologie und Inszenierung waren einander noch nie so nah. Dieses Ghettotheater, behaupte ich in Anlehnung an die Ethnologin Ana Maria Maldonado, „verwandelt die Alltäglichkeit in die Konstruktion eines Rituals, das erlaubt, dass alle seine Komponenten den Sinn dieser Alltäglichkeit verlassen und in eine Zeit und einen Raum des Nichts

341 Mehr zur Dramen-, Inszenierungs- und Aufführungsanalyse dieses Stückes im späteren Kapitel Exemplarische Darstellungen.

145 eintreten, wo sich die versteckten Elemente dieser Realität, ausgehend vom Überraschenden und dem Ästhetischen, nach und nach auflösen“342 Wenn vom Ghettotheater der 90er Jahre die Rede ist, dann sind die alternativen Bühnen und Kulturereignisse, Aufführungen und Performanzen gemeint, die dort stattfinden, nicht aber das Theater als soziokulturelles Objekt. Denn öffentliche Institutionen, unter anderem das National Theater ähnlich wie alle anderen öffentlichen Theater der Städte Pejë, Gjakovë, Gjilan usw., wurden im Rahmen der großen Besatzung der Institutionen beschlagnahmt und standen der Kosovo- Albanischen Theatergemeinschaft nicht zur Verfügung. Es gab nur improvisierte Räumlichkeiten, die zu einem Theater umgebaut wurden, wie das Beispiel des Theaters für Kinder und Jugendliche Dodona zeigt. Führungspositionen/Direktorposten wurden in allen öffentlichen Theatern von serbischen sogenannten „Gewaltsamen Direktoren“ besetzt und im Laufe der fortwährenden „gewaltsamen Maßnahmen“ dann für sonstige Zwecke des serbischen Regimes genutzt. Dies ist der Grund, warum das Theater am Rande der Gesellschaft als alternatives Ex-Zentrum blüht. Unkompliziert, menschennah, problemorientiert und überaus ästhetisch wie es ist, zieht das Alternative Ghettotheater magisch an. Lichtdesign, Musik und eine aussagekräftige Sprache voller Metaphern und Symbole stellen die wichtigsten stilistischen Mittel dieses Theaters dar. Kleine Bühnen mit großen Künstlern, arm in Ausstattung, jedoch reich an Spiel, so ließe sich das Ghettotheater der 90er Jahre mit wenigen Worten am treffendsten beschreiben.

342 Maldonado, Ana Maria Larrea: Der Staat und das >>teatro popular<< in Quito. S. 175. In: Schmidt, Bettina; Münzel, Mark: Ethnologie und Inszenierung. Ansätze zur Theaterethnologie, S. 199-215.

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2.3.1.1 Stellenwert und Funktion

Historisch […] nimmt die Interpretation geschriebener Texte nur einen Bruchteil der theatralischen Aktivitäten ein. […]Denn Theater ist gleich Aktion ist gleich Transport und Transformation. Aus Platos Republik vertrieben, hat das Theater dennoch zu allen Zeiten existiert. An den Rand gedrängt, irrational manchmal, auch subversiv, aber immer wieder und zunehmend lugt es aus allen Ritzen hervor: in den persönlichen Erfahrungen, den sozialen Dramen, in jedem öffentlichen Akt, der Politik und Ökonomie. In der Kunst.“343

Jede politische Entwicklung im ehemaligen Jugoslawien hat die in Kosova bestehenden sozialpolitischen und kulturellen Strukturen geändert und neue auf Nationalitätszugehörigkeitsbasis stützende Kulturverhältnisse geschaffen. Diese Veränderungen hatten Einfluss auf alle Ebenen der kosovarischen Kulturwelt und besonders auf die Welt des Theaters. In der Zeitspanne 1989-1998, als die Autonomie Kosovas aufgehoben und das Land vom totalitären serbischen System sowohl politisch als auch kulturell besetzt wurde, entstand in der absolut isolierten und von der Welt abgeschnittenen Kosova344 ein Theater, das die Eigenschaften der unterdrückten albanischen Gesellschaft widerspiegelte, das Ghettotheater der 90er Jahre. Während der Ghettozeit war es für Kosovo-Albaner nicht möglich, am öffentlichen Leben weiterhin teilzuhaben. Die öffentlichen Institutionen wurden vom serbischen Regime vollständig kontrolliert und mit Serben, Montenegrinern und serbischen Flüchtlingen aus Bosnien besetzt. Kosovo-Albaner wurden aus dem öffentlichen Leben verdrängt und als technischer Überschuss345 massenhaft

343 Schechner, Richard: Theateranthropologie. Spiel und Ritual im Kulturvergleich, Hamburg 1990, S. 33-251, In: Münz, Rudolf: Theatralität und Theater. Zur Historiographie von Theatralitätsgefügen, S. 86.

344 Bis zu diesem Zeitpunkt bekannt als „autonome Provinz von Kosova“, seit 1974 unter Präsident Tito Anerkennung ihrer Autonomie und Selbstverwaltung sowie als konstitutiver Bestandteil der Föderativen Republik Jugoslawiens angesehen.

345 Das war der offizielle Begriff für das Phänomen der Massenentlassung der Kosovaren.

147 aus ihren Arbeitsplätzen entlassen. Im eigenen Zuhause plötzlich fremd geworden, organisierten sie ein Parallelleben, mit einem selbstfinanzierten Parallelsystem eigener Schulen, Universitäten und Krankenhäuser, mit einem demokratisch gewählten Parlament, einer Regierung und einem Präsidenten. Sie bildeten eine unabhängige (Schatten-) Republik von Kosova und je intensiver die institutionalisierte Gewalt gegen sie wurde, desto mehr glitten sie dem serbischen Regime aus den Fingern. Theater hat für die kosovarische Gesellschaft immer eine wichtige Rolle gespielt, doch seine Funktion und die ästhetischen Prinzipien haben sich – je nach der politischen Lage – stets geändert. Während in der kommunistischen Tito-Ära die Herausforderung des Theaters beispielsweise darin lag, a) hohe kulturelle Maßstäbe an Theater als ästhetisches Produkt zu setzen, b) auf der Bühne nicht dialektale Formen, sondern Hochalbanisch zu sprechen und c) das albanische Kulturgut als Leitfaden zur Theaterproduktion zu betrachten, treten in der Ghettozeit all diese Funktionen zurück. Folgende Funktionen machen sich hingegen bemerkbar: a) Unterhaltende Funktion b) Didaktische Funktion c) Ethno-historische Funktion d) Psychodramatische Funktion In den 90er Jahren wird die gesellschaftsunterhaltende Funktion des Theaters durch eine ethnologisch-historische Funktion ersetzt. Danach treten ästhetische Anforderungen und eine didaktische Funktion in den Vordergrund. Mit der Schließung der Universität von Prishtina übernahm das Theater eine didaktische Funktion. Das Theater Dodona war beispielsweise rund um die Uhr belegt. Es gab einen Spielplan, wie in jedem Theater, aber die Theaterräumlichkeiten galten auch als ein Ersatz-Objekt der Universität Prishtina und standen für alle Studenten der Fakultät der dramatischen Künste rund um die Uhr zur Verfügung. Die Prüfungen der Studenten fanden öffentlich statt und beinhalteten Themen aus dem Alltag. Jede Prüfung wurde zu einer öffentlichen Aufführung und damit auch zu einer öffentlichen, witzigen Unterhaltung für das einheimische Publikum. Das

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Theater gab den Studenten eine Unterkunft und die Studenten wiederum lehrten dem Publikum den Weg ins Theater. Auf dieser Weise bekam das Theater darüber hinaus seine Unterhaltungsfunktion zurück, d.h. die Aufgabe, das Publikum zu unterhalten und es – auch in schweren existenziellen Zeiten – zum Lachen zu bringen, ohne seine kritische Funktion verlieren zu müssen. Schließlich kommt Theater aus dem alltäglichen Leben und muss als solches eine kritische, psychodramatische, unterhaltsame oder gar eine befreiende Funktion erfüllen: „Diese Funktion geht weit über die einfache Übermittlung ideologischer Inhalte hinaus, denn in den spielerischen und scherzhaften Elementen steckt eine tiefgreifende Wurzel von Befreiung.“346 Das Phänomen des Lachens kann in Ghettogesellschaften auch die Funktion einer Gesellschaftskatharsis im aristotelischen Sinne haben. Eine Reinigung der gesellschaftlichen Seele nicht durchs Schaudern und Jammern, sondern ganz unbeschwert durch ein befreiendes Lachen. „Ich lache dem Risiko ins Gesicht: ha, ha, ha“, so eine Bühnenfigur. Die Botschaft ist offensichtlich: „Wir sind Pazifisten und lieben den gewaltlosen Widerstand. Doch feige sind wir noch lange nicht. Alle auf dieser Welt legen die Dinge anders aus. Wir Kosovo-Albaner auch. Und egal ob im Theater oder auf der Bühne des Lebens, seit Jahrzehnten lachen wir der Gefahr ins Gesicht: ha, ha, ha, ha…“

Aufgrund seiner multiplen unterhaltsamen, ethno-historischen, didaktischen und letztendlich auch psychodramatischen Funktion für die Kosovo-Albaner der 90er Jahre ist das Theater nicht nur zu einer ars vivendi (Lebenskunst), sondern sogar zu einer Überlebenskunst geworden. „Theater sollte so nützlich sein wie Haushaltsfolie, Omo, Religion oder eine Melodie, die einem beständig durch den Kopf geht, einen umfängt mit Ideen und

346 Maldonado, Ana Maria Larrea: Der Staat und das >>teatro popular<< in Quito. S. 177. In: Schmidt, Bettina; Münzel, Mark: Ethnologie und Inszenierung. Ansätze zur Theaterethnologie. S. 199 – 215.

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Vorstellungen, die einem helfen zu leben, mit sich selbst zurechtzukommen und mit der Umwelt“347, so Gilbert Moses. Ist das Theater wirklich so nützlich für die Kosovaren? Was für eine Rolle spielt Theater für sie? Aufgrund der Tatsache, dass die Teilnahme der Kosova-Albaner am öffentlichen Leben fast unmöglich war, entwickelte sich zu diesem Zeitpunkt das Theater Dodona als Ort, in dem man unter Menschen sein konnte, ohne an die unzähligen Gefahren da draußen denken zu müssen. Wie weiter oben bereits bemerkt: Das Theater verwandelt die Alltäglichkeit in die Konstruktion eines Rituals, das erlaubt, dass alle seine Komponenten den Sinn dieser Alltäglichkeit verlassen und in eine Zeit und einen Raum des Nichts eintreten, wo sich die versteckten Elemente dieser Realität, ausgehend vom Überraschenden und dem Ästhetischen, nach und nach auflösen.348

Dodona bot die Möglichkeit, öffentlich zu agieren und sogar kleine Erfolge zu erzielen, ohne für das serbische Regime auffällig oder gar interessant zu werden. Theater als Form der Gegenöffentlichkeit. Um nochmals Maldonado zu zitieren: „Schließlich erfüllt das Theater, in dem es aus dem alltäglichen Leben kommt, das Gegebene wieder aufnimmt und Elemente der Erneuerung, Umwandlung und Unterbrechung darstellt, eine bestätigende, kritische und befreiende Funktion, die zum Hauptmotor seines Schaffens wird. Diese Funktion geht weit über die einfache Übermittlung ideologischer Inhalte hinaus, denn in den spielerischen und scherzhaften Elementen steckt eine tiefgreifende Wurzel von Befreiung.“349

347 Moses, Gilbert: Ich frage mich manchmal… (1970). S. 436. In: Brauneck, Manfred: Theater im 20 Jahrhundert. S. 435 - 440.

348 Maldonado, Ana Maria Larrea: Der Staat und das >>teatro popular<< in Quito. S. 175. In: Schmidt, Bettina; Münzel, Mark: Ethnologie und Inszenierung. Ansätze zur Theaterethnologie. S. 199 – 215.

349 Maldonado, Ana Maria Larrea: Der Staat und das >>teatro popular<< in Quito. S. 177. In: Schmidt, Bettina; Münzel, Mark: Ethnologie und Inszenierung. Ansätze zur Theaterethnologie. S. 199 – 215.

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Die Wichtigkeit des Spiels für das menschliche Wesen wurde auch bereits von Friedrich Schiller350 zum Ausdruck gebracht. In seiner Abhandlung in Briefform Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1975) behauptet er, dass das ästhetische Spiel den Menschen erst zum humanen Menschen macht: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“351

„Kraft macht keinen Lärm. Sie ist da und wirkt“, schreibt Albert Schweitzer, und so mobilisierten sich die albanische Künstler in jeder Hinsicht. Einerseits versuchten sie, auf die unerträgliche Lebenslage aufmerksam zu machen, andererseits versuchten sie, das Ghetto aufzubrechen. Die Plattform GHETTO- ART, eine Performance und Kunstausstellung, war ein signifikantes Ereignis solcher Art. Aus den verkauften Bildern wurde Geld gesammelt und an Flüchtlinge in Kriegsgebieten gespendet. Z.B. hatte das Bild „Never again Gernika“ von Gjon Mirdita Schlagzeilen gemacht. Es handelt sich um eine originelle und einzigartige Verarbeitung des gleichnamigen Picasso-Bildes mit einer Kriegsthematik. Ebenso einzigartig und originell ist das bei Ghetto-Art ausgestellte Buch „1999,99“ vom Maler und Bildhauer Skender Boshtrakaj. Ein Buch der Revolte gegen Gewalt, mit weißen Deckblättern und schwarzen Seiten. Es ist nichts mehr zu lesen und auch nichts mehr zu schreiben: Wir haben es satt mit Stigmatisierung, Isolation und Gewalt.

350 Schiller entwickelt hier das Schönheitsideal als Humanitätsideal. Beide Grundtriebe, Affektionalität und Rationalität müssen akzeptiert werden, da sie für den Menschen grundlegend sind. Notwendig ist ein „Spieltrieb“, der als „lebende Gestalt“ im ästhetischen „Spiel“ triebbefriedigende „Glückseligkeit“ und moralische „Vollkommenheit“ miteinander vereint Das ästhetische Spiel macht den Menschen erst zum humanen Menschen. Vgl. hierzu: Noetzel 1992, S. 63f.

351 Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. 1975.

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2.3.1.2 Ghettoausbrüche in Form von Rebellion, Emigration und Mobilisation

„In jedem großen Theater gibt es ein politisches Element, aber es ist nur ein Element unter vielen.“352

Je fester die Abgrenzung und die Isolation, desto stärker wurde die Tendenz, den Ghettorahmen zu sprengen. Zu diesem Zeitpunkt finden Ghettoausbrüche in Form von Rebellion, Emigration und Mobilisation statt.

Die Rebellion war eine der häufigsten Formen des Ghettoausbruchs dieser Zeit, gefolgt von Emigration – viele Künstler und Theatermacher verließen das Land (mehr dazu in Kapitel 2.3, Punkt 2.3.2.2 Exiltheater) – und Mobilisation, d.h. dass viele Kultur-/Theaterschaffende sich der Befreiungs-Guerilla-Armee anschlossen (mehr dazu in Kapitel 2.3 Punkt 2.3.2.3 Fronttheater).

Mit Rebellion werden Vorfälle bezeichnet, die den Ghettorahmen sprengen, indem sie außerhalb der Ghettogrenzen Aufführungen präsentieren. Ein signifikanter Ghettoausbruch fand mit der Aufführung Die Grenze zum Vaterland statt, wobei es einigen jungen Schauspielern des Dodona Theaters heimlich gelang, die politische Albanisch-Serbische Grenze zu überqueren und im Presheva Tal353 zu spielen. Das war sowohl für das Publikum als auch für die Schauspieler ein großes Ereignis. Besonders in thematischer Hinsicht sprach die Aufführung das Publikum an.

Doch auf dem Rückweg wurde der Kombi-Wagen des Theaters Dodona in der Nähe des Dorfes Partesh, das sich schon im Territorium von Kosova befindet und in dem sich serbische Polizeiposten befanden, angehalten und zunächst die Schauspieler, dann auch die Requisiten durchsucht. Neben anderen Requisiten

352 Maldonado, Ana Maria Larrea: Der Staat und das >>teatro popular<< in Quito. S. 177. In: Schmidt, Bettina; Münzel, Mark: Ethnologie und Inszenierung. Ansätze zur Theaterethnologie. S. 199 – 215.

353 Das Presheva Tal ist albanisches Territorium innerhalb der politischen Grenze Serbiens.

152 hatten wir auch die albanische „Rot-Schwarze“-Flagge mit dem Adler dabei. Die Polizei fand sie und begann deswegen das Ensemble zu quälen. Irgendwann fragten sie, wer die Flagge als Requisite in der Aufführung benutzt. Die Gruppe blieb still, niemand sagte ein Wort. Sie begannen die männlichen Schauspieler mit Maschinengewehren zu bedrohen. Wohl wissend, dass wir alle erledigt sind, versuchte ich [die Autorin], da ich sowieso in dieser Aufführung eine der Hauptrollen spielte und die Flagge benutzte, mich zu Wort zu melden. Ich war damals die Jüngste in der Gruppe, zwischen siebzehn und achtzehn Jahre alt, kann mich aber heute noch an den Geruch des Alkohols, wonach die Polizisten stanken, erinnern und mir war sonnenklar: wenn wir es nicht schaffen, dieser überaus politischen Aufführung einen nicht-politischen Ton zu geben, sind wir erledigt. Es war sowieso fast Mitternacht, niemand unterwegs. Wir hätten da mitten auf der Straße erschossen werden können, ohne dass jemals jemand davon erfahren hätte. Wir waren alle relativ jung, der Älteste von uns war der sehr talentierte Schauspieler Ismet Azemi, er war, denke ich, gerade dreiunddreißig geworden. Die Gruppe hatte Angst und wirkte unsicher und verwirrt. Ich jedoch nicht, ich hatte keine Angst vor ihnen. Nicht, weil ich mich für mutiger als die anderen halte, sondern weil ich denke, dass ich mit solchen gewaltsamen Gestalten – „Dunkelblaue“-Antagonisten, die so gepanzert waren, dass sie einen alleine durch ihre visuelle Erscheinung in Furcht und Schrecken versetzten konnten – aufgrund meines sozialen Engagements354 in Peja so oft konfrontiert war, dass ich wahrscheinlich an Immunität gewonnen hatte.

Wie von einem Engel geleitet, übernahm ich die Verantwortung für die Gruppe, sprach ruhig, wählte jedes Wort sorgsam aus und erklärte der Patrouille sehr sensibel, dass unsere Aufführung – die in der Tat Die Grenze zum Vaterland hieß

354 Aktivitäten im Komitee für Menschenrechte, Komitee für Abschaffung der Blutrache und Versöhnung, Leiterin des Sekretariats der Gesellschaft für die Rückkehr vertriebener Albaner, Aktivistin des Jugendparlaments, Aktivistin und Mitglied des Präsidiums in der Republikanischen Partei in meine Heimatstadt Peja.

153 und von Teki Dërvishi war – Ein Sommer Tag355 heiße und von Slavomir Mrozek sei. Das entspannte die Situation bereits ein bisschen. Dann fuhr ich fort, es würde sich um eine Hochzeit handeln, ich würde die Braut spielen – was ansatzweise stimmte – und wenn wir Albaner heiraten, dann schmücken wir bekanntlich den Brautjungfer-Wagen mit der Nationalflagge.

Ich merkte, dass dies die ganze Tour sehr harmlos und uninteressant für so eine hochbewaffnete Polizei-Einheit machte. Einer von ihnen nahm die Flagge aus dem Kofferraum und meinte: „Diese Flagge ist verboten, das müssten sie ja mittlerweile wissen. Verbrennen sie sie und verschwinden sie hier.“ Er streckte die Hand Richtung Gruppe, aber keiner wagte es zu agieren. Ich sehe noch immer die großen Augen voller Schrecken von Esat Gjocaj vor mir, der zugleich auch Organisator dieser Theater-Tournee war und jetzt so schockiert war, dass er beinahe Nein schreien wollte. Ihn und einen anderen Kollegen hielten die bewaffneten Polizisten fest an der Wand. Plötzlich stieg ein Kollege, Shkumbin Istrefi, unaufgefordert aus dem Wagen aus – er war mein Bühnenpartner –, nahm die Flagge, suchte nach einem Feuerzeug und begann wortlos sie zu verbrennen. Ich weiß, warum er das getan hat, aber wir haben nie darüber gesprochen. Tatsache ist, dass ich mir zu dem Zeitpunkt nicht mehr so sicher war, wen ich mehr hasse, ihn, der in der Lage war, unsere Nationalflagge zu verbrennen, oder die Polizisten, die von einem so etwas verlangten. Tatsächlich hätte ich nur glücklich sein sollen, glücklich, dass man nicht von mir verlangt hatte, die Flagge zu verbrennen. Denn für mich ist die Flagge nicht nur eine Theater-Requisite, die man am nächsten Tag ersetzen kann, sondern ein Symbol, ein Zeichen der Nationalitätszugehörigkeit, ein Zeichen der Identität, wofür wir so viele Opfer bringen mussten, ohne die wir aber auch nichts wären. Ich hätte die Flagge nicht verbrannt.

355 Eine Aufführung, die ebenso Teil des Theater-Repertoires von Dodona war und zeitgleich mit unserer Aufführung spielte. Wenn die Polizei also versucht hätte zu überprüfen, ob das stimmt, so wären alle Angaben korrekt, nur trafen sie nicht auf uns zu, sondern auf eine andere Studenten- Schauspielgruppe.

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2.3.2 Kriegstheater Als Kriegstheater bezeichne ich jenes Theater, das während des Krieges zustande kam und die von den Serben entwurzelte Kosova-Albanische Gesellschaft in einer schweren, existenziellen Zeitspanne begleitete. Dieses Theater trat, je nach dem Ort, an dem es stattfand, in Form eines Front- oder eines Exiltheaters in Erscheinung.

2.3.2.1 Szenische Annäherungen „Das Jahr 1999 hat gerade begonnen. Es ist Frühling. Doch ein Teil der Menschheit bereitet sich jetzt schon auf das neue Millennium vor. Man zerbricht sich den Kopf, wie und wo es am besten wäre, vom alten Jahrtausend Abschied zu nehmen und das Neue willkommen zu heißen. Es wird viel unternommen, alles dem Sprung in das neue Jahrtausend zuliebe. Doch was ist mit dem anderen Teil der Welt? Mit Menschen, die zum Millenniumswechsel andere Sorgen haben, als zu feiern. Was ist z.B. mit Kosova und den Kosovaren,356 müssen sie sich noch immer mit existenziellen Fragen befassen? Kosova ist nicht für jeden ein bekannter Begriff. Was ist Kosova eigentlich? – „Kosova ist das Illyrische Dardanien. Ein Land der Skipetaren, Nachkommen der Dardaner, behauptet ein Historiker und Kenner der Antike. – „Kosova ist die himmlische Wiege Serbiens“, lanciert ein serbischer Politiker. – „Wie kann unsere Wiege außerhalb Serbiens sein?“, fragt sich ein Serbe. – „Nein, nein“, widerspricht ein Kosovo-Albaner. „Wer eine Ahnung von diesem Land hat, der weiß, dass Kosova keine slawische Wiege ist. Das war sie nie. Sie ist das Herz und Haupt Albaniens, denn seitdem die Republik Albanien ihren nördlichen Teil – Kosova – verloren hat, fällt sie entweder ins Koma oder wacht auf und rennt kopflos durch die Geschichte, ohne in der Welt einen richtigen Platz einzunehmen.

356 Die Bezeichnung für die albanische Bevölkerungsmehrheit von Kosova. Nach dem Krieg gibt es jedoch Tendenzen, alle hier lebenden Bürger, unabhängig ihrer Nationalität, mit ‚Kosovar’ zu benennen. Vgl. hierzu: Migjen Kelmendi und Arlinda Desku (Hrsg.), Who is Kosovar? Kosovar identity, Prishtina, 2005.

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– Kosova war/ist vieles, sagt ein deutscher Journalist, aber am Ende des 20. Jahrhunderts ist es nichts anderes als Paradies und Hölle zugleich. Eine Subsumierung aller Höllenkreise Dantes oder besser gesagt: eine Comedia Divina sui generis. Was sieht man, wenn man einen Blick darauf wirft? Auf den ersten Blick ist eine dünne Waldstrecke zu sehen. Die Sonne scheint. Der Himmel ist hellblau. Auf der Oberfläche eine wunderschöne, glänzende Schicht Schnee. Dort scheint Frühling zu sein. Eine Menschenschlange zieht vorbei. Seltsame Bergwanderer!? Frauen, Kinder und ältere Menschen, auch Schwangere, Kranke und Verletzte sind dabei. Alle zu Tode erschöpft. Einige Meter weiter, brennende Dörfer. Wer sich noch bewegen kann, flieht um sein Leben. Was zurück bleibt, sind Feuer und Asche. Nein! Das sind keine Bergwanderer, sondern Flüchtlinge. Menschen auf der Flucht! Auf den zweiten Blick: links ein Wald mit dichten Bäumen. Eine hügelige Landschaft auf der rechten Seite. In der Mitte ein Feld, mittendrin ein Flüchtlingslager. Ein Bienenstock. Gegenüber auf dem Anhänger eines LKW eine improvisierte Bühne, im Halbkreis eine aufmerksame, beobachtende Menge. Auf der Bühne Schauspieler. Sie tragen Uniformen, sind bewaffnet und proben ihre Rollen. Zwischendurch unterbrechen sie das Spiel und sprechen miteinander. Manchmal lachen sie herzlich. Plötzlich ein starkes Knallen. Es donnert. Nein, das war nicht der Himmel! In der Nähe wurden einige Handgranaten geworfen. Die Schauspieler greifen sofort zu den Waffen. Die Protagonisten verlassen die Bühne. Doch in dem Augenblick beginnt das Drama. Ein menschliches Drama. Die Bühne ist das sich im Krieg befindende Land selbst. Kosova. Ort eines seltsamen Gegenübers von Leben und Tod, Spiel und Ernst, Theater und Krieg. Auf den dritten Blick: Die Ruinen eines Hochhauses. Eine Wand steht nur noch zur Hälfte. Auf der Innenseite in Form eines Graffiti eine handgeschriebene Botschaft, bestimmt die Unterschrift der für diese Ruine Verantwortlichen: „Lepe kuće, gore najlepše“357. An einer Ecke der Ruine liegen mehrere Frauen und Mädchen mit fest zusammengebundenen Händen und zugebundenen Augen. Manche hingerichtet, manche bewusstlos, manche totgeschlagen. Ein paar Meter weiter rechts: Soldaten, paramilitärische Kämpfer und Freischärler. Zwei

357 Schöne Häuser brennen am schönsten.

156 dunkelblau uniformierte Soldaten binden ein Mädchen an einem gefällten Baum fest. Es weint, schreit herum und fleht die Soldaten verzweifelt an: „Mosni, pashë zotin! Mosni se hala jam çikë“.358 „Was sagt die hübsche Nutte?“, fragt der halb betrunkene Kommandeur. „Sie behauptet, Jungfrau zu sein“, antwortet einer, der die Sprache des Mädchens versteht. „Aha, du bist noch Jungfrau“, sagt er. „Gut. Sehr gut. Das gefällt mir“, fügt er hinzu und öffnet seinen Gürtel. „Falls das der Wahrheit entspricht, werde ich dir das Leben schenken“, verspricht er mit einem teuflischen Lachen. Er packt ihr blondes Haar mit einer Hand, reißt ihr das Kleid mit der anderen vom Leib und dringt in sie ein. Das Morgengrauen bricht mit den jungfräulichen Schreien des Mädchens durch. Als er fertig ist, ist ein anderer Soldat an der Reihe, dann ein weiterer … Sie bleibt regungslos. Ihre Stimme ist nicht mehr zu hören. Was man noch hört, ist die Rede des Soldaten, der sich zuletzt an ihr befriedigt hat: „Kameraden, sie hatte gesagt, sie sei Jungfrau. Soviel ich mich in solchen Angelegenheiten auskenne, war sie aber keine. Sie hat gelogen.“ Er zieht sein Messer heraus. Sie blutet. Er beschimpft sie als Lügnerin und dringt erneut mit tiefen Messerstichen in sie ein.“ 359 Der Vorhang fällt. Ein weiterer Blick dahin ist keinem zuzumuten.360

2.3.2.2 Exiltheater Während des Krieges wurde auch im Exil Theater gemacht, das sich auf die kosovarische Gesellschaft bezogen hat. Es fand entweder innerhalb des albanischen Sprachgebietes oder im westlichen Ausland statt. Das Exiltheater im albanischen Sprachgebiet wurde von vertriebenen Theaterleuten für die geflohenen Schicksalsgenossen gemacht. Hierzu sind u.a. zu zählen: Ein

358 „Nein, bitte nicht! Um Himmelswillen, tun Sie mir das nicht an… Ich bin noch Jungfrau“.

359 Boshtrakaj, Gonxhe: Kosova. Ort eines seltsamen Gegenübers von Spiel und Ernst, Theater und Krieg. S. 230-232, In: Braun, Peter/Beganovic, Davor (2007): Krieg sichten. Zur medialen Darstellung der Kriege in Jugoslawien, S. 229-243.

360 Diese Szenenbeschreibungen bzw. szenischen Annäherungen an den Krieg in Kosova beruhen auf wahren Begebenheiten.

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Sommernachtstraum von Shakespeare unter der Regie von Agim Selimi361, uraufgeführt im Sommer 1999 in einem Flüchtlingslager in Kukës, Nordalbanien, Die Audienz von Vaclav Havel unter der Regie von Fatos Berisha, ebenso aufgeführt in einem Flüchtlingslager in Mazedonien, Wer ist schuld daran, dass ich ein Albaner bin? von Enver Petrovci, innerhalb des albanischen Programms des National Theaters in Shkup aufgeführt, sowie viele andere Inszenierungen, die im Exil stattfanden und hier aus Platzgründen nicht erwähnt werden können. Das Exiltheater im westlichen Ausland hingegen ist in der Hand von einigen im Exil lebenden kosovarischen Regisseuren und ist an das ausländische Publikum gerichtet. Als Beispiel soll hier nur knapp auf zwei in München aufgeführte Inszenierungen hingewiesen werden. Erstens die satirische Aufführung des Stücks Der Sprössling des Albaners und der Sprössling des Esels von dem albanischen Priester und Autor Gjergj Fishta, unter der Regie von Bekim Lumi – auf ihn werde ich weiter unten noch zu sprechen kommen. Hierbei handelt es sich um eine bitterböse Kritik an jenen Albanern, die sich für ihre Heimat nicht ‚aufrichtig’ und engagiert genug einsetzten. Zweitens die Inszenierung Warum kommt so was vor? von Johannes Ponader und mir selbst, ein choreographisches Antikriegsdrama, das auf den Massenmord und die Massenvertreibungen der Kosovaren aufmerksam machen will. Wir haben uns für die Inszenierung allein auf dokumentarisches Material gestützt, auf Leidensgeschichten unserer Familien, Freunde und Bekannten und dieses in eine große Choreographie übersetzt. Diese choreographische Inszenierung lebt alleine von den Körperbewegungen der Schauspieler, von Klängen und von einer bildhaft eingesetzten Symbolik; auf das Wort als Ausdrucksmittel haben wir ganz und gar verzichtet. So setzt die Inszenierung mit einer aus Menschen bestehenden Pyramide ein, die für das multinationale Ex-Jugoslawien steht und nach und nach zerfällt. Im Hinblick auf den im Mittelpunkt stehenden menschlichen Körper ist es unser Konzept gewesen, die körperliche Gewalt nicht ‚realistisch’, sondern verfremdet auf die Bühne zu bringen. So haben wir die Bewegungen verlangsamt und stets darauf

361 Regisseur und Theaterpädagoge an der Universität Prishtina, Fakultät für Dramatische Künste.

158 geachtet, dass sich die Schauspieler niemals berühren und sich so gleichsam eine schützende Pufferzone schaffen.

2.3.2.3 Fronttheater Theater ist ein Medium, das für die kosovarische Gesellschaft schon immer eine wichtige Rolle spielte. Doch während des Krieges entstand eine spezifische Form des kosovarischen Theaters, das ihr eigenes Publikum, das eigene Ensemble und die Theatermacher, die längst selbst zu tragischen Helden geworden waren, in einer sehr schweren existenziellen Lage wie ein guter Freund zu begleiten wusste: das Fronttheater. Fronttheater findet mitten auf dem Kriegsfeld direkt unter den Flüchtenden und Vertriebenen statt. Es ist ein einzigartiges ‚Freilichttheater’, das sich ein hohes Ziel gesetzt hat: die Frauen, Kinder, älteren Menschen, Kranken, Verletzten und Pflegebedürftigen, die sich auf der Flucht befinden, von Todesangst und Kriegselend abzulenken. Es handelt sich dabei um eine Art antikes Theater der Gegenwart – mit militärischen Göttern und tragischen Helden. Ort der Aufführung sind die Wälder, Hügel oder Felder Kosovas. Die ‚Macher’ sind zum Teil Leute vom Fach, zum Teil Laien. Es gibt kein normales Spielprogramm und es werden auch keine Geschichten nach konventionellen Mustern erzählt. Obwohl die Lebenslage als to be, or not to be erscheint, große Autoren wie Shakespeare haben hier nichts verloren. Hier wird improvisiert. Meistens werden Szenen und Inhalte aufgeführt, die für die ganze Familie geeignet sind. Am beliebtesten sind komische Szenen oder patriotische Inhalte, die das Elend überhöhen und die Moral stärken. Ein Beispiel hierfür bietet das Kriegsdrama Er lebt, in dem die Geschichte des ersten UÇK Führers, Adem Jashari, dargestellt wird. Aufführung Er lebt… von Latif Zariqi Diese Inszenierung ist politisches Theater und zugleich ein Versuch, die Menschen zu motivieren, sich der Befreiungsarmee von Kosova anzuschließen. Charakteristisch für diese Inszenierung ist die Tatsache, dass hier die Grenzen zwischen Fiktion und Fakt ganz und gar verwischt sind. Erstens sieht der

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Hauptdarsteller der Figur, die er verkörpert, so ähnlich, dass sich ein älterer Mann unter den Zuschauern, als er ihn sieht, die Augen reibt und sich mit folgenden Worten an den Regisseur Latif Zariqi wendet: „Hätte ich ihn nicht mit eigenen Händen beigesetzt, würde ich denken, er [Adem Jashari] ist hier, er lebt noch“. Außerdem musste der Regisseur362 bei der ersten Aufführung sogar um das Leben von Schauspielern zittern, die in den Rollen von Antagonisten – d.h. serbischen Militäreinheiten – auftraten. Man hatte große Angst davor, dass jemand die Schauspieler für Serben bzw. für wahre Angreifer halten und auf sie schießen würde, ohne darüber nachzudenken, dass es sich um eine Theateraufführung handelt. Eine Theaterkritik dieser Aufführung lautet folgendermaßen: „´Er lebt´ wird während des Krieges an der Front aufgeführt und bringt die gute Nachricht nach der Aufopferung von Adem Jashari, Gründer der Befreiungsarmee von Kosova. Der Held taucht wie das biblische Phänomen der Auferstehung Christi auf, der geopfert wird, um die anderen zu retten und um als Glaube zu leben, in der Freiheit seiner Nation.“363 Es stellt sich die Frage, wie lange so eine Aufführung gedauert hat. Der Zeitplan und die Dauer der Aufführungen haben sich nach den Bedürfnissen der Zuschauer gerichtet. Und selbstverständlich danach, wie die kämpferischen Auseinandersetzungen gelaufen sind. Es ist vorgekommen, dass Schauspieler die Aufführung unterbrechen mussten, um zur Waffe zu greifen. Nach dem Kampf gegen die serbischen Streitkräfte kommen die überlebenden Schauspieler zurück. Sie werden zum Teil bejubelt, zum Teil mit Brot und Medikamenten versorgt. Und je nach ihrem psycho-somatischen Zustand wird die Aufführung – den Umständen entsprechend – entweder auf den nächsten Tag verlegt oder im Anschluss fortgesetzt.

362 Latif Zariqi, Regisseur, Berufsschauspieler und UÇK- Kämpfer. Die Ausführungen beruhen auf einem Gespräch, das ich mit ihm für diese Arbeit geführt habe.

363 „Ai është gjallë shfaqet në front gjatë kohës së luftimeve dhe kumton lajmin e mirë pas flijimit të Adem Jasharit, themeluesit të Ushtrisë Çlirimtare të Kosovës. Heroi paraqitet si fenomeni biblik i ringjalljës së Krishtit, që flijohet për të shpëtuar të tjerët dhe bëhet i gjallë për të jetuar si besim në lirinë e kombit të tij“. (Vgl. hierzu: Theaterkritik von Skënder Boshtrakaj)

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Das Fronttheater stand während des Krieges im Dienste der Kosovaren als ein Medium, das über die notwendigen Mittel verfügte, die Flucht aus der unerträglichen Realität des Kriegs – wenn nicht für eine längere Zeit, dann wenigstens für einen kurzen Augenblick – zu ermöglichen.

2.3.3 Nachkriegstheater (1999‐2009)

2.3.3.1 Die kulturelle Verarbeitung der Kriegsereignisse Nach dem Krieg ändert sich die Situation gründlich. Die erschütternden Ereignisse des Krieges haben das Leben der Menschen erschüttert. Manche wurden verletzt, vergewaltigt, verbannt. Manche aus ihrer gewohnten Umgebung und ihrem sozialen Umfeld gerissen. Ein schreckliches Trauma ist die Folge, eine Posttraumatische Belastungsstörung, die eine normale Reaktion auf die anormalen Erlebnisse darstellt. Es ist selbstverständlich, dass ein großes Gesellschaftsbedürfnis darin besteht, die Kriegsereignisse und die traumatischen Erlebnisse mit kulturellen Mitteln zu verarbeiten. Dieses Bedürfnis ist für einige Theatermacher, wie z. B. Bekim Lumi und/oder , Ausgangspunkt ihrer Arbeit. Sie alle setzen hier ein. Jeder auf seine Art und Weise. Jeder originell und fachspezifisch. Die Ausübung der Gewalt, die andauernde Gewaltbereitschaft, das Leiden, der Schmerz und die Verluste von Menschen und materiellem Besitz werden vom Publikum während des theatralischen Spiels erneut erlebt. Aber zum Glück nicht mehr mit traumatischen Folgen. Im Gegenteil. Die wiederholte Konfrontation mit dem Kriegsschrecken hat nicht nur eine kathartische Wirkung im Aristotelischen Sinne, sondern auch eine therapeutische, heilende Wirkung. Dies behauptet zumindest Jakob Levi Moreno, Gründer des Psychodramas und therapeutischen Theaters. Für Moreno ist „jedes zweite Erlebnis eine Befreiung vom ersten“. Theater ist ein Phänomen, das sich grundsätzlich in der Dialektik von Spielen und Zuschauen entfaltet. Wenn man das Wort Theater hört, denkt man häufig an eine Bühne mit roten Vorhängen. Dabei ist das Theater nicht unbedingt ein Gebäude mit einer bestimmten Architektur und Ausstattung, sondern ein Vorgang, ein Ereignis, ein Prozess, der überall stattfinden kann: in einem Flüchtlingslager, an der Front oder in einer Schulklasse, überall, wo sich die Kriegsüberlebenden

161 befinden, die sich erst langsam von den Erschütterungen erholen. Das beste Beispiel dafür ist das Forum-Theater von Jeton Neziraj. Zu einem Zeitpunkt, als die Kluft zwischen Theater und Publikum in Kosova tiefer als je zuvor ist und Theater als Institution und ästhetische Form mächtig an Relevanz verliert, taucht ein Projekt auf, das auf das Publikum zugeht, indem es sich auf den Weg zu ihm macht. Es ist ein Projekt, das von dem jungen albanischen Dramaturgen Jeton Neziraj initiiert wurde und das inzwischen in Städten wie Pejë, Klinë oder Gjakovë umgesetzt wird. Es basiert auf den Ideen des argentinischen Theatermachers Augusto Boal, der ein Forum Theater bzw. ein so genanntes Unsichtbares Theater entwickelt hat, das nicht in gesonderten, bürgerlichen Spielstätten, sondern auf den Straßen und öffentlichen Plätzen stattfindet. Behandelt werden aktuelle und brennende Probleme, die in alltägliche Szenen umgesetzt sind. Und die Zuschauer, die anfangs vielleicht gar nicht mitbekommen, dass es sich um ein Spiel handelt, können und sollen sich unmittelbar dazu verhalten. Das Konzept folgt einem politischen und operativen Kunstverständnis. Jeton Neziraj, Dramaturg und Leiter des Zentrums für die Entwicklung des Kindertheaters, hat diese Ideen aufgegriffen und zusammen mit Jugendlichen das Forum-Theater gegründet. Die Gruppe spielt an den verschiedensten Plätzen, meistens in irgendwelchen Sammlungs- und Kulturräumen. Den Ausgang bildet jeweils ein Kreis aus Stühlen – das Forum –, auf denen die Zuschauer Platz nehmen. Anders als bei Augusto Boal, bei dem die Grenze zwischen Bühne und gewohnter, alltäglicher Umgebung ganz verwischt wird, ist allen Beteiligten bewusst, dass sie einer Aufführung beiwohnen. Dennoch wird auf alle Ausstattung verzichtet. Die Jugendlichen führen nun in der Mitte des Kreises eine Szene auf. Am Ende der Szene tritt ein Spielleiter auf. Er klatscht in die Hand und friert so die Szene ein. Die Schauspieler schweigen und schauen zum Publikum. Danach wendet sich der Spielleiter an die Zuschauer und fragt: „Haben sie sich jemals in so einer Situation befunden, und wie würden sie an der Stelle des Protagonisten handeln?“, fragt der Moderator das Publikum. Meistens entwickelt sich so sehr

162 schnell ein Gespräch. Manche reden über das Bühnengeschehnis, manche über das eigene Schicksal. Das Forum-Theater hat inzwischen durch verschiedene Arbeiten auf sich aufmerksam gemacht – so Der längste Winter und Die Stimmen. Beide thematisieren ein virulentes Problem in Kosova. Noch immer sind über 3.000 Kosovaren vermisst; ihr Schicksal ist ungewiss. Manche vermuten, sie werden in serbischen Gefängnissen gefangen gehalten, andere halten sie für tot. Eine offizielle Erklärung gibt es nicht. Doch die Hinterbliebenen leben in einem andauernden Albtraum des Wartens, bis die Kriegsvermissten oder zumindest deren Leichen gefunden werden. Diese Angst um die Angehörigen wird auch kriminell ausgenützt. Eine solche Situation schildert die erste von vier Spielszenen der Arbeit Der längste Winter. Eine Ehefrau erhält ein Schreiben ihres im Krieg vermissten Mannes. Darin bestätigt er ihr, dass er am Leben sei. Für seine Freilassung habe sie 10.000 € zu bezahlen, sollte sie wollen, dass er lebendig zurückkehrt. Falls sie jedoch mit jemandem darüber rede, wird ihm im Gefängnis etwas passieren. Die Frau ringt mit der Situation. Sie weiß sich nicht zu helfen und wagt nicht, darüber mit jemandem zu sprechen. Schließlich trifft sie die Entscheidung zu zahlen (…). Eine tiefe Wut kommt zur Sprache und dann wieder eine Verzweiflung, weil noch immer keine Gewissheit besteht. Diese Szene habe, so berichtet Jeton Neziraj, oftmals zunächst betretenes Schweigen ausgelöst. Aber immer wieder sei es vorgekommen, dass jemand dann doch den Mut gefasst hat zu erzählen, wie auch er Opfer eines solchen Betrugs geworden ist und welche Gefühle dies bei ihm ausgelöst hat. Diese Form des Forum-Theaters sprengt aufgrund ihrer Neuheit den Rahmen einer Vorstellung eines herkömmlichen Theaters. Einige pflegen sogar eine kritische Haltung dem gegenüber und behaupten, „Theater sei nur zur Unterhaltung da und verfüge über keine geeigneten Mittel, ernste Themen zu behandeln.“ Doch die meisten Betroffenen und Familienangehörigen von Vermissten halten dies für eine gute Gelegenheit, sich mit dem Problem auseinanderzusetzen, die Kriegswunden zu lecken und durch eine fiktive Darstellung/Erprobung bestimmter Szenen lösungsorientiert zu handeln.

163

2.3.3.2 Die Anthropologie der Gewalt Auf den ersten Blick hinterlässt der Regisseur Bekim Lumi den Eindruck, sich gar nicht mit dem Thema Krieg zu befassen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Krieg und die Ereignisse der 1990er Jahre, die im Grunde genommen besonders seine Generation prägten, ihn in schöpferischer Hinsicht unberührt lassen. Die Reflexionen des Krieges erstrecken sich auf all seine Arbeiten, doch sucht er einen anderen Umgang mit ihr. Eine Art ‚Anthropologisierung’ der Gewalt. Ihn interessiert nicht, wie Gewalt und Gewaltbereitschaft politisch instrumentalisiert werden; ihn interessieren die verschiedenen Formen von Gewalt – auf eine ganz unmittelbar körperliche Weise. Lumis Figuren zeigen auf der Bühne eine hohe Bereitschaft, ihre Macht zu missbrauchen und Gewalt anzuwenden. Dabei greift er zumeist auf Stücke ausländischer Autoren zurück, wie Die Lektion von Eugen Ionesco, Karol von Slavomir Mrozhek und Bernarda Albas Haus von Frederico Garcia Lorca. So konzentriert Lumi in Die Lektion die Gewalt der Institutionen ganz auf das zwischenmenschliche Verhältnis eines Lehrers zu einer Schülerin. Die Inszenierung beginnt mit dem Lehrer, der ein rotes, blutiges Buch vor sich hält und einer Schülerin vorhält, die zu ihm zum Nachhilfeunterricht kommt. Sie ist klein und zierlich und durchaus intelligent, aber manchmal wirkt sie etwas verwirrt, denn für sie ist es nicht immer einfach zu wissen, dass „eins plus zwei gleich drei, drei plus eins gleich vier, vier plus eins gleich fünf, fünf plus eins gleich sechs sind, […] vier minus drei sind sieben, es sind fünf, es sind zehn […] eins, zwei“.364 Eine in ihrer Einfachheit komplizierte Logik. Und so verketten sich die absurden Situationen einer Schülerin, die vieles Wichtige weiß, aber eben auch einiges Unwichtige nicht weiß, miteinander. Das wird ihr zum Verhängnis und zum Grund, aus dem sie von ihrem sadistischen Lehrer zu Tode gequält wird.

364 Vgl. hierzu: Die Theaterkritik Die ungewöhnliche Gewohnheit, von Jeton Neziraj, veröffentlicht in der Kulturrubrik der Tageszeitung Koha ditore vom 16.02.2002, S. 28 oder im Internet unter: www.teatriloja.com/sq/kritika/-mesimi-j.neziraj.htm

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Der Lehrer bietet alle Register auf, die Schülerin zu quälen. Es beginnt auf dem Terrain des Nachhilfeunterrichts. Er verwirrt die Schülerin und erklärt sie für dumm. Kein Nachhilfeunterricht könne da aushelfen. Langsam verlagert sich dieses Terrain jedoch in jenes andere der Folter. Er jagt der Schülerin Angst ein und setzt sie unter beständigen psychischen Druck, bis die Lage für die Schülerin aussichtslos wird. Schließlich wendet er auch Gewalt an. Sie setzt ein, indem er sie an den Ohren zieht, sie daraufhin zunächst mit der Hand schlägt, dann mit einem Stock, bis er sie am Ende vergewaltigt und ermordet. Die Inszenierung dieses Gewaltexzesses erfolgt mit ‚doppeltem Boden’. Die Formen der Gewalt stellen eine im Verlauf der Aufführung immer offensichtlichere Analogie zu den kosovarischen Verhältnissen der 1990er Jahre her.365 Andererseits ist der raffinierte und gewalttätige Lehrer optisch auf Adolf Hitler ‚getrimmt’, und der Stuhl, auf dem die Schülerin sitzt, trägt den Davidstern. So changiert die Aufführung zwischen zwei historischen Zeiten und deutet für das Publikum Parallelen an. In seiner Inszenierung Galani variiert Bekim Lumi das Thema der Gewalt. Er greift dazu auf den Text Karol des polnischen Autors Slawomir Mrozek zurück. Die Geschichte ist einigermaßen absurd: Die Protagonisten, ein Großvater und sein Enkel, gehen auf die Jagd. Sie jagen ein Galani, ein ‚schwarzes Schaf´. Erst im Verlauf des Stückes stellt sich heraus, dass es sich dabei um einen bestimmten Menschen handelt. Er trägt die Verantwortung – wofür, weiß man nicht. Man weiß nur: Sie suchen ihn unerbittlich und sie wollen ihn unbedingt finden. Am Ende vielleicht nur deshalb, weil das Gewehr des Großvaters seit 20 Jahren nicht mehr gebraucht worden ist und sehnsüchtig darauf wartet, wieder in Gebrauch genommen zu werden. Doch um das Galani finden zu können, muss man in der Lage sein, es auch zu erkennen. Dafür braucht der Großvater eine neue Brille. Deshalb unterbrechen sie die Jagd und suchen einen Augenarzt auf. Einen Einblick in das Stück und seine Komik eröffnet das Regiebuch von Bekim Lumi zu seiner Inszenierung. Es

365 Vgl. hierzu: Die Theaterkritik Eine großartige Aufführung auf einer kleinen Bühne von Mentor Haliti, veröffentlicht in der Zeitschrift Koha ditore vom 15.02.2002, S. 12. Oder auch auf der Internetseite www.teatriloja.com/sq/kritika-mesimi-m.haliti.htm

165 verdeutlicht zudem, wie Lumi eine Szene von ihrem dialogischen Geschehen her aufbaut: Der Enkel bringt seinen Großvater zum Augenarzt. Eine neue Brille ist notwendig, denn die Suche nach Galani bzw. nach dem schwarzen Schaf muss unbedingt fortgesetzt werden: Enkel: Herr Doktor, mein Großvater ist ein Dickschädel. Er gibt nie auf… Augenarzt: D.h. er ist ein Patriot… Enkel: Sehen Sie, sogar hier bei Ihnen setzt er die Suche nach Galani fort. Augenarzt: Galani? … Wer ist Galani? Enkel: Wir wissen selber nicht, wer Galani ist. Augenarzt: Verzeihen Sie, meine Herren. Ich dachte, er sei ein Bekannter von Ihnen. Enkel: Gerade das muss herausgefunden werden. Enkel: Mein Großvater braucht eine Brille, um ihn zu erkennen. Augenarzt: Angenommen Sie finden ihn. Was passiert dann? Enkel: Sie kennen den Großvater nicht. Er wird ihn erschießen. Augenarzt: Verzeihung – Galani, er hat Ihnen etwas Böses angetan, oder? Enkel: Das kann ich nicht wissen, bevor ich nicht weiß, wer er ist. Augenarzt: Wie bitte? Sie kennen ihn überhaupt nicht? Enkel: Ich sagte, wir sind auf der Suche nach ihm. Augenarzt: Kann ihr Großvater ihn wenigsten wiedererkennen? Enkel: Machen Sie sich lustig über uns? Wie kann er ihn wiedererkennen, ohne eine geeignete Brille auf den Augen zu haben? Augenarzt: Ich verstehe nicht, wie Sie jemanden wiedererkennen wollen, wenn Sie ihn nicht kennen. Enkel: Wir müssen ihn zunächst finden, erst dann können wir ihn wiedererkennen. Augenarzt: Wieso bestehen Sie darauf, ihn zu finden? Enkel: Wieso nicht? Wollen Sie, dass mein Großvater jeden, der ihm über den Weg läuft, erschießt? Wir wissen nicht, wer Galani ist, aber dafür jeden zu erschießen, ist keine gute Idee. Augenarzt: Muss ihr Großvater unbedingt jemanden erschießen? Mit der neuen Brille ‚erkennt’ der Großvater plötzlich den Gesuchten. Es ist der Augenarzt selbst. Und die beiden nehmen unverzüglich ihre Jagd wieder auf. Der Großvater verkörpert in diesem Stück die Dauerbereitschaft zur Gewalt und der Enkel, der darauf aus ist, die Waffe des Großvaters zu erben, steht ganz in seinem Bann. Die Person Galani bezeichnet das fiktive Opfer, das aufgefunden werden muss, und das jeder von uns sein könnte.

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Auf der Bühne wird nun immer von der Gewalt gegen Galani gesprochen, doch tatsächlich wird keine Gewalt ausgeübt. Dies verweist darauf, dass hier keine konkrete Gewaltausübung gemeint ist, sondern eine Gewaltbereitschaft, die sich tief im Kopf festgesetzt hat. Am Ende des Stücks offenbart sich der ‚fiktive’ Charakter der gesamten Jagd. Es ist lediglich ein Spiel zweier psychisch gestörter Menschen in einer psychiatrischen Anstalt. Der Augenarzt ist freilich niemand anderer als der behandelnde Psychiater. Und: Das Spiel findet jeden Tag statt; die Jagd auf Galani beginnt jeden Tag aufs Neue. In einer weiteren Inszenierung schließlich, in Bernarda Albas Haus von Frederico Garsia Lorca, thematisiert Bekim Lumi ein sehr sensibles, aber weit verbreitetes Thema: Gewalt in der Familie. Kosova hat viele ‚Bernarda Albas’, in männlicher und weiblicher Gestalt. Viele Tyrannen, die nach dem Tod eines Familienmitgliedes den anderen Familienangehörigen das Leben zur Hölle machen, als seien sie Schuld an dem Tod des Verstorbenen. Sie lassen kein Leben, kein Glück, kein Lachen, kein Feiern und manchmal auch keine Liebe oder Eheschließung zu. Besonders nach dem Krieg, nachdem viele männliche Elternteile oder Geschwister umgekommen oder verschollen sind. Es gibt auch unzählige Töchter bzw. Schwestern, die das Schicksal von Bernardas Töchtern teilen. Unabhängig davon, ob deren Vater, Bruder oder Ehemann gestorben ist, müssen sie sich in den eigenen vier Wänden einsperren und ein enthaltsames Leben führen. Lust, Liebe, Lebensfreude zählen zu den ‚Sünden’, die eine Familien in Verruf bringen würden. Auch wenn sich alle Inszenierungen von Bekim Lumi auf fremde Autoren stützen, erkennt man sie auf den ersten Blick. Dies ist die Folge seines sehr eigensinnigen Regiekonzepts, für das der Text nur den Ausgangspunkt bildet. Ein erster, sehr charakteristischer Zug besteht darin, den Text bis auf das notwendige Minimum zu streichen. Die Dialoge werden auf die zentralen Inhalte reduziert, störende, vom Geschehen ablenkende Nebenfiguren und Seitenstränge

167 der Handlung gestrichen.366 So gewinnt das jeweilige Stück ein sehr hohes Tempo. Auch die Bühnendekorationen fallen in der Regel überaus karg aus. Die Bühne wird zu einem ‚leeren Raum’ (Peter Brook). Das Bühnenbild besteht meist aus nur einer multifunktional eingesetzten Requisite, sei es ein Stuhl, ein Metallbett oder ein Seil, in das sich die Figuren auf der Bühne verstricken. So dient beispielsweise in der Inszenierung Galani ein Metallbett zugleich als Altar, als Flugzeug, als Gefängnis, als Sarg und als Grab. Die Mobilität und Wandlungsfähigkeit der Gegenstände auf der Bühne wird von einer raffinierten Farb- und Lichtregie unterstützt. Auch das Ensemble ist klein – meist besteht es nur aus zwei bis drei Schauspielern. Gerne arbeitet er dabei mit wenig bekannten Schauspielern zusammen.367 Neben den präzisen, passgenauen Dialogen setzt Lumi in seinen Inszenierungen gerne auch körperliche Mittel ein. Beispielsweise beschleunigt und verlangsamt er die Bewegungen der Schauspieler. So beispielsweise in Galani: Als der Großvater und sein Enkel den Augenarzt aufsuchen, der gerade ein Schläfchen hält, packen sie ihn an Händen und Beinen. Diese Bewegungen werden wie in Zeitlupe ausgeführt. Kurz darauf erfolgt der Kontrapunkt. Von dem Moment an, als der Großvater die neue Brille trägt, beschleunigen sich die Bewegungen, so dass man unwillkürlich an einen zu schnell abgespulten Stummfilm denken muss. Auch andere filmische Techniken finden Verwendung. Wiederum in Galani gibt es die Szene, in der der Augenarzt dem Großvater eine große, groteske Brille zur Probe aufsetzt. In diesem Augenblick kehrt der Großvater, wie in einer filmischen Rückblende, in seine Kindheit zurück, in eine infantile Zeit, als er mit Flugzeugen gespielt hat. Er benimmt sich kindisch und zeigt zeitgleich, wo die Spuren seiner Gewaltbereitschaft wurzeln, in einem in der Kindheit erlebten Krieg. Dieser Teufelskreis der Gewalt wird weder unterbrochen

366 So zum Beispiel in der Inszenierung der Lektion von Eugen Ionesco, bei der nur zwei Personen auf der Bühne agieren. Die Figur der Dienerin wird für überflüssig gehalten und aus dem Text gestrichen.

367 Im Gespräch mit mir gibt sich Lumi in dieser Hinsicht durchaus selbstbewusst: „Die Schauspieler müssen nicht berühmt sein, denn das können sie schon während der Premiere meiner Inszenierung werden.“

168 noch unterbunden, sondern erlebt jeden Tag bei jeder „Galani“-Suche (Opfersuche) ein Comeback in Form eines immer wiederkehrenden Teufelskreises.

2.3.3.3 Kulturelle Dekadenz und Festivalmanie Als Nachkriegszeit wird die Aufbau- und Konsolidierungsphase des Landes bezeichnet, eine Zeitspanne, in der jeder auf seine Art und Weise versucht, sich mit dem Krieg und all dem, was geschehen ist, auseinanderzusetzen.368 Zwei Umgangsweisen mit den Kriegserlebnissen sind zu bemerken: 1) Auseinandersetzung mit dem Problem. 2) Flucht und Verdrängung. Während einige Schaffende sich also um eine kulturelle Verarbeitung des Krieges bemühen und den Versuch unternehmen, die Kriegstraumata durch künstlerische bzw. theatralische Werke zu verarbeiten369, wählt ein guter Teil der Bevölkerung, darunter auch viele Theatermacher, einen ganz anderen Weg, sich mit dem Krieg zu konfrontieren, nämlich den der Verdrängung und Realitätsflucht. Es wird versucht, die Vergangenheitauf sich beruhen zu lassen und den Blick nach vorne zu richten. „Nach vorne“ Richtung West-Europa. Diese „Richtung“ wird zum Ziel des Leben und des Theatermachens. Weil das Medium Theater als eine wichtige „Brücke“ zum Ausland gesehen wird, sind die meisten Aufführungen nicht für das einheimische Publikum gedacht, sondern um im Ausland gezeigt zu werden. Wir befinden uns an einem Punkt, an dem das einheimische Theater kaum mehr dem einheimischen Publikum dient. Die aufgeführten einheimischen Inszenierungen genießen keine große Aufmerksamkeit und werden auch vom Publikum kaum mehr besucht, dafür aber im Ausland umso mehr „gezeigt“. Die jahrelange

368 Die zehnjährige Zeitspanne März 1989 – März 1999, die Epoche einer im Ghetto lebenden kosovarischen Gesellschaft, die für die Außenstehenden als Vorkriegszeit gilt, wird von den Einheimischen als der eigentliche „Krieg“ gesehen. Die Zeitspanne 24. März – 10. Juni 1999, d.h. die 72 Tage der NATO-Angriffe auf Serbien, werden von der Weltgemeinschaft als der eigentliche „Kosovo-Krieg“ bezeichnet, aber von der einheimischen Bevölkerung hingegen als „Befreiung“ empfunden.

369 Vgl. hierzu die Aufführungen „Galani“, „Mesimi“ und Çifti Martin.

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Isolierung und die erzwungene Provinzialität schlägt um in eine wie besessene Öffnung, Marktorientierung und Selbstaufgabe. Der Funktionswandel nach dem Ausbruch aus der erzwungenen Isolation umfasst:  die Kontinuität der Unterhaltungs- und didaktischen Funktion,  einen Funktionswandel hinsichtlich der Rezeptionszielgruppe,  das Theater in Funktion einer Brücke zur Welt,  eine Festivalmanie. Die steigende Tendenz einer Entwicklung der intertheatralischen Kommunikation macht sich in Form einer Festivalmanie bemerkbar. Es gibt zu viele Festivals, die viel zu oft stattfinden. Eingeladen werden meistens fremde Schauspielschulen und Theater. Dies führt zu einem drastischen Funktionswandel des Theaters. Das Theater, das einst eine ganz wichtige Rolle für die kosovarische Ghettogesellschaft spielte, verliert nun in der Aufbau- und Konsolidierungsphase des Landes massiv an Bedeutung. Viele innere und äußere Faktoren haben dazu beigetragen. Einerseits erstickt es in einer Flutwelle der Massenmedien. Die „notwendigen“ Informationen stürmen durch die Zeitungen und das Fernsehen zu den Menschen ins Haus. Es fehlt an Subventionen und staatlichen Mitteln, die ein neues, attraktiveres Theater ermöglichen würden. Die Schuld dafür trägt allein die gegenwärtige, aus einheimischen Analphabeten und internationalen Halbanalphabeten bestehende Politik. Diese „kulturfremde“ Kulturpolitik wird von Menschen gemacht, die keinen blassen Schimmer von Kultur/Politik haben und nicht in der Lage sind, eine gerechte Kulturpolitik für das Nachkriegsland zu entwickeln.

Doch unabhängig von der therapeutischen Wirkung verliert das kosovarische Theater der Nachkriegszeit paradoxerweise an Relevanz. Dies ist mit verschiedenen Faktoren verbunden. Einerseits wird die immer größer werdende Theaterwelt eines kleinen Landes immer ´kleiner´ hinsichtlich ihrer Zielsetzung und Qualität. Die ´unzähligen´ Privatschulen und Universitäten produzieren Theaterleute, die leider nicht das Theater und sein Publikum, sondern die Vermarktung des eigenen Selbst bzw. den eigenen Profit zu ihrem Zweck gemacht haben. Andererseits gibt es auch Theatermacher und

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Theaterinszenierungen, die solche großen ästhetischen Ansprüche an sich und das Publikum stellen, dass automatisch außer Acht gelassen wird, dass die szenischen Prozesse eigentlich nicht ´um ihrer selbst willen´ vollzogen werden, sondern sie an die Zuschauer adressiert sein müssen. Eine Inszenierung – unabhängig wie ästhetisch sie zu sein vermag – muss den Zuschauer ansprechen. Wenn sie das Publikum anspricht, seine Probleme behandelt, Problemlösungen anbietet, gesellschaftliche Werte und Vorstellungen vorlebt, ästhetische Maßstäbe setzt, erst dann kann sie das Publikum ´anpacken´, an sich binden und ihm den Weg ins Theater lehren. Jedenfalls wird die Kluft zwischen Theater und Publikum immer größer. Das gefährdet die Existenz des Theaters, denn eine Theatersituation entsteht nur in der „Dialektik des Spielens und Zuschauens“ als ein Zusammenspiel von Spiel und Ernst. Fehlt eine der Komponenten, z. B. die Komponente des Zuschauens, dann ist auch die Komponente des Spielens sinnlos. Erleichternd kommt jedoch die Öffnung nach außen. Durch die Teilnahme an verschiedenen Veranstaltungen und Theaterfestivals im Ausland bekommt das Theater die Funktion einer Brücke zur Welt. Kontakte werden geknüpft und Zusammenarbeiten kommen zustande. Die Welt kann zu uns kommen und auch wir dürfen endlich in die Welt, um uns zu präsentieren, zu zeigen, unsere Existenz durch die theatralische Kunst zu dokumentieren. Denn das Wort Dasein könnte in diesem Zusammenhang wirklich wortwörtlich verstanden werden, als Existenz- Beweis und Zeichen des ´Daseins´ schlechthin.

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3 Analytische Instanz III: Aufführungsanalyse anhand exemplarischer Darstellungen

3.1 Der Tod und das Mädchen von G. Boshtrakaj

(1) Die Vorgeschichte einer Inszenierungsgeschichte:

Ich bin am 17. Oktober 1993 zum ersten Mal nach Deutschland gekommen. Ich hatte geplant, mich hier höchstens 3-4 Wochen aufzuhalten, bis ich meine ältere Schwester Dije und ihre Familie besucht habe, und dann wieder ab nach Hause. Ich hatte ja dort ganz viel „am Laufen“, und obwohl das Land sich in einer sehr schlechten politischen Lage befand, hatte ich dort noch ganz viel vor. Was ich damals nicht wusste, war die Tatsache, dass meine Eltern mich mit Absicht von Zuhause entfernt hatten, damit ich aufgrund meiner (nicht-) politischen Aktivitäten nicht in die Hände der serbischen Polizei gerate.

Am Anfang konnte ich mich mit dem Gedanken, in Deutschland – wo ich außer meiner Schwester niemanden kannte und wo mich keiner kannte – bleiben zu müssen, nicht anfreunden. Denn zu dem Zeitpunkt war es mir gelungen, mir in meiner Heimat einen Namen zu machen und zumindest in der Kulturszene etwas zu gelten. Das Berühmt werden war während des Eisernen Ghettos selbstverständlich mit Risiken verbunden, denn die Serben jagten ausgerechnet solche Albaner. Nun befand ich mich in einem fremden Land, das mit der Zeit immer mehr mein Land werden sollte.

Anfang 1994 lernte ich die Familie Wahl kennen. Lilian (Krankenschwester) und Eberhard (Eco-Architekt und Bündnis 90/Die Grünen-Politiker) hatten sich vorgenommen, ihre Wohnung zu renovieren und suchten via Annonce eine Möglichkeit, ihre Kinder (Katharina 4 und Benedikt 2 Jahre alt) für 3-4 Stunden am Tag in Betreuung zu geben. Meine Schwester hatte auf diese Annonce geantwortet, Lilian hatte sich für uns entschieden. Es dauerte nicht lange, bis diese süßen Wahl-Sprösslinge fast ein Teil unserer Familie wurden. Lilian und Eberhard waren sehr dankbar und drückten ihre Zufriedenheit mit einer großen

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Unterstützung meiner Person aus. Schon damals (1994/1995) sprachen sie, wie toll es wäre, wenn es mir gelingen würde, in Deutschland Fuß zu fassen, anstatt nach Hause zurückzukehren, um dem Staatsterror ausgeliefert zu sein. Vielleicht ist das der Grund, warum ich jetzt, achtzehn Jahre danach, an sie denke und sie hier mit einbeziehen muss. Es war Lilian Wahl, die mich neben meiner Schwester zur Beantragung einer festen Aufenthaltsgenehmigung begleitete, und sie war diejenige, die Tränen vergoss, als ich einen deutschen Ersatz-Pass bekam, weil ich ab da die schwere Last des „Deutsch-Seins“370 mitzutragen hatte, so Lilian. Beiden habe ich das Kennenlernen der Baden-Württembergischen Kulturwelt und ganz besonders den Kontakt zum Theaterhaus der Alternative371 bzw. die Einladung zur Premiere der Aufführung Der Tod und das Mädchen zu verdanken. Die Aufführung war hervorragend. Interessanterweise spielte sich neben der vorgeführten Inszenierung eine parallele Geschichte in meinen Kopf ab. Rezeptionstheoretiker sprechen diesbezüglich von einer Vervollständigung der Aufführung im Gehirn der Zuschauer. Ich hingegen vervollständigte nichts, sondern inszenierte die ganze Aufführung neu.

In der Pause konnte ich mir im Foyer das Buch kaufen. Zu Hause angekommen, las ich es in einem Zug durch und begann am nächsten Tag mit der Übersetzung ins Albanische. Der umgekehrte Weg wäre vielleicht unmöglich gewesen, aber von der deutschen Sprache ins Albanische ging es relativ flott. Ich hatte ja auch meine Schwester Dije Demaj (Deutschlehrerin) an meiner Seite. Sie hat mich in dieser Hinsicht bestens unterstützt. Daraufhin (November 1995) reiste ich nach Kosova ab, hauptsächlich um mein Diplomstudium an der Fakultät der Dramatischen Künste zu beenden. Ich hatte bereits alle Prüfungen bestanden und

370 Sie erzählte mir eine persönliche Urlaubsgeschichte aus Holland, wo die Familie auf dem Markt als „deutsche Nazis“ beschimpft wurde. Dabei waren sie alle so nett, jeder auf seine Art. Am meisten mochte ich Benedikt, der gerade das Wort „heiß“ gelernt hatte und immer die Frage stellte, ob dies oder jenes „heiß“ sei. Auch das Eis war für uns/ihn „heiß“.

371 Hier durfte ich 1995/1996 im Projekt von Werner Schretzmeyer: >Bosnien. Hungrig, nackt und trunken von Schlaf< als Gast-Schauspielerin mitwirken. Eine Zusammenarbeit, die ich aufgrund meiner Zulassung zum Studium der Theaterwissenschaft an der LMU München wieder aufgeben musste.

173 musste nur noch eine Rolle in einem Film/Drama spielen, um das Zeugnis zu erhalten.

(2) Inszenierungsgeschichte:

In Prishtina angekommen, lag meine Herausforderung darin, das Team für die Inszenierung zusammenzustellen. Mir war von vorneherein klar, dass ich die Rolle der Paulina spielen will, und auch wenn ich zumindest pro forma eine pädagogische Regieführung haben musste, wollte ich genau die Inszenierung in Szene setzen, die sich im Zuschauerraum des Alternative Theaterhauses (Stuttgart) in meinem Kopf abgespielt hatte.

Ich musste nur noch die Mitmenschen finden, die meinen Traum mitträumen könnten. Keine leichte Aufgabe. Zwei Mal musste ich das komplette Team – außer Jehon Gorani, der für die Rolle von Paulinas Ehemann, Gerardo Escobar, gedacht war – aufgrund mangelnder Leistung entlassen. Bald hatte ich den Ruf, ´strenger als alle Deutschen zusammen´ zu sein. Aber das kümmerte mich nicht, ganz im Gegenteil. Es trug vielmehr dazu bei, dass im Anschluss nur Topleute an einer Zusammenarbeit mit mir interessiert waren. Zum Schluss hatte ich die Besten der Besten an Bord. Den Pädagogen/Regisseur Fadil Hysaj für die pädagogische Regieleitung, Jehon Gorani als Gerardo Escobar und Lulzim Guhelli als Doktor Roberto Miranda. Wir hatten zusätzlich die Unterstützung meines Bruders Skender Boshtrakaj372 für Bühnenbild, Organisation und Finanzen sowie die Assistenz von Florent Mehmeti, damals Student der Theaterregie373. In dieser Top-Besetzung ging der Produktionsprozess flott voran. Wir hatten zwar die üblichen Schwierigkeiten mit dem Regime und mussten notwendigerweise illegal üben und auch illegal vorführen, aber das war in Ordnung – damit hatten wir gerechnet. Wir übten in alternative Räumlichkeiten und adaptierten sie als Bühne, so u.a. das wunderschöne Lokal Hani i dy Robertëve mit freundlicher

372 Maler/Bildhauer; zurzeit Direktor im Kosovarischen Kultusministerium, Abteilung für Europäische Integration.

373 Heutzutage Regisseur und Direktor des Theaters Oda.

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Genehmigung seines Besitzers, F. Draga, und der sich gleich daneben befindlichen Diskothek Queens, in der auch die Premiere stattfand.

(3) Zum Drama: Der Tod und das Mädchen von Ariel Dorfman374

Ein Drama in 3 Akten

Personen: PAULINA Salas, ca. 40 Jahre alt GERARDO Escobar, ihr Mann, ein Anwalt, ca. 45 Jahre alt ROBERTO Miranda, ein Arzt, ca. 50 Jahre alt

Zeit: Gegenwart Ort: Ein Land, wahrscheinlich Chile, aber auch jedes andere Land, das sich zu einer demokratischen Regierung bekennt, kurz nach einer langen Zeit der Diktatur.

Das Theaterstück Der Tod und das Mädchen von Ariel Dorfman ist ein mehrdimensionaler theatralischer Text, der sich nur sehr schwer kategorisieren lässt. Aufgrund der Tatsache, dass im Drama das kollektive Schicksal eines Landes nach dem Sturz der Diktatur, das unerträgliche Leid der Transitionsphase und die zögerlichen Schritte in ein demokratisches System thematisiert werden, ist das Theaterstück Der Tod und das Mädchen im Genre Politisches Drama einzuordnen. Doch da das große Drama des Kollektivs oder besser gesagt die ganze Tragödie einer totalitären Gesellschaft hier nur durch das Familiendrama der Escobars sowie den Zufalls-Helfer Doktor Miranda entwickelt wird, lässt sich der Text auch als sozialpolitisches und psychologisches Familiendrama bezeichnen.

374 Dorfman, Ariel (2007): Der Tod und das Mädchen. Frankfurt am Main. S. 8.

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Damit wäre das Problem gelöst, wenn im Zentrum des Geschehens nicht zudem das Drama des Individuums bzw. das persönliche Drama der Hauptfigur, Paulina Salas, später Salas-Escobar stünde. Ihre Vergewaltigungsgeschichte, das Folterungsexperiment von Dr. Miranda während des Geschlechtsaktes und die 15 „rachedurstigen“ Jahre des Wartens und der Hoffnung, ihren Peiniger auffindbar zu machen und vor Gericht zu stellen, zeichnen den roten Faden des Stückes aus. Durch das Drama des Individuums wird im Laufe des Geschehens demnach nicht nur ein Familiendrama gezeigt, sondern die ganze Misere einer totalitären Gesellschaft. Hier ein Dialog, der dies verdeutlicht:

„PAULINA: Die Kommission, in die du berufen bist. Die untersucht doch nur Fälle mit Todesfolgen, oder?

GERARDO: Unsere Aufgabe ist die Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen mit tatsächlicher oder wahrscheinlicher Todesfolge.

PAULINA: Also nur die schwersten Fälle?

GERARDO: Wenn wir es schaffen, die schlimmsten Verbrechen aufzuklären, kommen andere Vergehen dann auch ans Licht, das steht dahinter.“ 375

„PAULINA: Und was dann? Gerardo schweigt. Du hörst die Verwandten der Opfer an, du prangerst die Verbrechen öffentlich an, und was passiert mit den Verbrechern?

GERARDO: Das ist Sache der Justiz. Die Gerichte erhalten eine Kopie der von uns gesammelten Beweise, und ausgehend davon kann die Justiz –

PAULINA: Die Justiz? Die gleiche Justiz, die in siebzehn Jahren Diktatur nichts unternommen hat, um nur ein einziges Leben zu retten? Die alle Fälle von Verschleppung geleugnet hat? Jener Frau, die ihren vermissten Mann suchte, hat Richter Péralta gesagt, der sei ihrer wahrscheinlich überdrüssig geworden und mit einer anderen Frau durchgebrannt. Meinst du diese Justiz? Justiz? Justitia?

375 Dorfman, Ariel: Der Tod und das Mädchen, S. 15.

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Gerechtigkeit? (Während sie spricht, beginnt Paulina erst leise, dann immer hysterischer zu lachen.)“376

(…)

„PAULINA: Wir ersticken noch an so viel Selbstbeherrschung!377 (…) Aber die Kommission kümmert sich nur um die Toten, und die können jetzt nicht mehr sprechen. Doch ich kann sprechen – Jahre ist es her, dass ich ein einziges Wort auch nur gemurmelt habe, nicht einmal der kleinste Gedanke ist mit dem Atem meinem Mund entwichen, Jahre der Angst und des Schreckens… aber ich bin nicht tot, ich dachte es nur, aber ich bin es nicht, und ich kann sprechen, verdammt noch mal, und um alles in der Welt lass mir dieses Sprechen – und du mach weiter mit deiner Kommission und glaub mir, wenn ich dir versichere, nichts von allem hier wird in die Öffentlichkeit dringen.

GERARDO: Es dringt nur dann nichts an die Öffentlichkeit, wenn der Mann da drinnen sich gütigst entschließen sollte, nichts zu erzählen, so wie du ihn freigelassen hast. Falls du ihn freilässt. (Kurze Pause.) Und selbst dann müsste ich zurücktreten, und zwar je eher, je besser.

PAULINA: Du willst zurücktreten, selbst wenn kein Mensch davon erfährt?

GERARDO: Ja.

PAULINA: Wegen deiner verrückten Frau, die zuerst verrückt war, weil sie im Schweigen versank, und die nun verrückt ist, weil sie sprechen kann?

GERARDO: Unter anderem, ja, falls du die Wahrheit wissen willst. (…) Der ganze Demokratisierungsprozess kann zum Teufel gehen. (…) Lass ihn gehen, Paulina. Zum Wohle unseres Landes, zu unserem eigenen Wohl.

PAULINA: Und ich? Wo bleibe ich? Schau mich an, schau mich an!

376 Dorfman, Ariel: Der Tod und das Mädchen, S. 16.

377 Dorfman, Ariel: Der Tod und das Mädchen, S. 42.

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GERARDO: Ja, schau dich an, Liebes! Du bist immer noch gefangen, du bist immer noch bei ihnen, eingeschlossen in jenem Keller. Fünfzehn Jahre hast du nichts mit deinem Leben gemacht. Absolut nichts. Schau dich an, gerade wenn wir die Chance haben, von vorne zu beginnen, fängst du an, in alten Wunden zu wühlen… Wird es nicht langsam Zeit zu –?

PAULINA: – vergessen? Du verlangst von mir, dass ich vergesse.

GERARDO: Mach dich frei von ihnen Paulina, das ist´s, was ich verlange.

(…)

PAULINA: Schau Gerardo, ich schlage vor, wir finden einen Kompromiss.

GERARDO: Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.

PAULINA: Ein Kompromiss, eine Übereinkunft, eine Einigung. Alles in diesem Land funktioniert mit allseitiger Zustimmung, ist es nicht so? Darum geht es doch in dieser Übergangszeit, oder nicht? Sie geben uns Demokratie, behalten aber die Kontrolle über die Wirtschaft und das Militär? Die Kommission kann die Verbrechen untersuchen, aber niemand darf dafür bestraft werden. Du hast die Freiheit, alles, was du willst, zu sagen, solange du nicht alles sagst, was du willst?“378

Das Drama findet in Chile379 statt. Ein Land, das nach einer langer Zeit der Pinochet-Diktatur wieder demokratisch regiert wird. Die demokratischen Strukturen sind noch im Aufbau und der schon aufgebaute Teil des Systems ist noch sehr schwach und wird dem Namen ´demokratisch´ nicht ganz gerecht. Das Drama Der Tod und das Mädchen ist eine fiktive Gestaltung einer wahren Geschichte, die sich während der Diktatur Pinochets tatsächlich so zugetragen haben muss. Paulina Salas ist nur eine von vielen vergewaltigten Frauen, die jahrelang auf Gerechtigkeit warten mussten.

378 Dorfman, Ariel: Der Tod und das Mädchen, S. 43-45.

379 Chile ist die Heimat des Autors Ariel Dorfman.

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In einem Strandhaus am Meer treffen sich der Rechtsanwalt Gerardo Escobar380, seine Ehefrau Paulina, die in dem rein zufällig vorbeischauenden Gast, Roberto Miranda, ihren Folterknecht und Peiniger Dr. Miranda zu erkennen meint. Gegen den Willen ihres Mannes überwältigt sie den schlafenden Gast, fesselt und bedroht ihn mit einer Waffe. Sie quält ihn, fast genauso wie er sie damals, und erzwingt von ihm ein vollständiges Geständnis.

Vom Autor Ariel Dorfman selbst wird Der Tod und das Mädchen381 als „eine moderne Tragödie in fast aristotelischem Sinne betrachtet; ein Kunstwerk, das einer Gesellschaft ermöglicht, sich durch Furcht und Mitleid selbst zu reinigen.“382 Diese Reinigung bedeutet eine Verarbeitung der erlebten Gewalt durch „erneute Konfrontation“ im Sinne von Jakob Levi Morenos Psychodrama. Dies erfordert den Mut, Probleme aufzurollen und mit Dingen konfrontiert zu werden, die den gesellschaftlichen Untergang heraufbeschwören können. Aber die erneute Konfrontation mit dem, was passiert ist, ist für den Heilungsprozess mehr als notwendig, denn „jede Wiederholung ist eine Befreiung vom ersten Mal“, behauptet Moreno.

380 Er wurde von der Regierung gerade zum Vorsitzenden des Ausschusses für Folterungen während der Diktatur ernannt. Seine Frau Paulina war eine der Opfer dieser Folterungen.

381 Die Verfilmung in den 90er Jahren unter Regie von Roman Polanski und mit Ben Kingsley in der Hauptrolle ist berühmt als ein Psycho-Politthriller.

382 Dorfman, Ariel: Der Tod und das Mädchen. S. 77

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(4) Zur Aufführung: Der Tod und das Mädchen von G.Boshtrakaj/F.Hysaj

Ein Gesamtinszenierungsprojekt von Gonxhe Boshtrakaj unter

pädagogischer (Regie-) Leitung von Fadil Hysaj.

Eine Prüfungs-Aufführung383 zum Abschluss des Diplomstudiums an der Universität Prishtina, Fakultät der Dramatischen Künste

Fachbereich: Schauspielkunst

Uraufführung am 6. Mai 1996 in der Tanzfläche der Diskothek Queens, Alternatives Theater SYTHI, Prishtinë/Kosovë.

Es spielten: Gonxhe BOSHTRAKAJ (Paulina Salas) Jehon GORANI (Gerardo Escobar) Lulzim GUHELLI (Roberto Miranda)

Produktionsleiter: Skender Boshtrakaj Regieassistenz: Florent Mehmeti Plakat/Prospekt: Shpend Kada – Studio NEKRA

383 Die Prüfung fand öffentlich vor ausgewähltem Publikum (Schauspielstudenten, Regisseure, Künstler, Medienvertreter, politische Akteure, Familienangehörige, Freunde und Bekannte) und dem Prüfungsausschuss in Zusammensetzung von Enver Petrovci (Erstprüfer) und Fadil Hysaj (Zweitprüfer) sowie anderen relevanten Universitätspersönlichkeiten statt.

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Am 6. Mai 1996, 20:00 Uhr, war es soweit. Die Tanzfläche der Diskothek Queens war der leere Raum, der mit einem persönlichen, familiären bzw. universalen Drama erfüllt werden sollte. Der Autor Ariel Dorfman hat sein Stück Der Tod und das Mädchen zwar als Drama kategorisiert, aber ich habe es immer als eine Tragödie betrachtet, die einen nach einem Zwiebel-Prinzip ihre tragischen Schichten durchblättern lässt, und je mehr man danach bohrt, desto fündiger wird man. Das Drama bietet eine gute Grundlage für ein naturalistisches Theater, doch wir haben es in einer symbolischen und relativ abstrakten Weise inszeniert.

Das Ferienhaus der Escobars, in dem die Handlung stattfindet, wird durch einen Halbkreis dargestellt, der die Bühne mit Hinterbühne umfasst. Der andere Halbkreis war fürs Publikum reserviert. Sie saßen in 5-6 Reihen mit sehr tiefen Holzbrettern und waren in das Geschehnis unmittelbar verwickelt, als ob jeder von ihnen Paulina und/oder Gerado Escobar (Opfer) wäre.

Das Bühnenbild war leer. Zum Spielen wurde der Boden (die Fläche unten) verwendet und auch die für eine Diskothek typischen langen Bartische (ein an der Wand entlang horizontal durchgehender Holz-Hocker) benutzt. Für die Szenen aus der Vergangenheit benutzte ich diese ca. 40-50 cm breiten Holzflächen, um zu laufen, zu spielen, mich zurückzuziehen, zu planen, zu beobachten, zu kochen usw. Alle Aktivitäten, die nur meine Intimsphäre betrafen, wurden dort ausgeführt.

Die Musik, besonders das Quartett Der Tod und das Mädchen von Franz Schubert, spielte für die Aufführung eine ganz wichtige Rolle. Sie gab auch die Struktur des Stückes vor. Durch die Beleuchtung wurde die zeitliche Komponente unterstrichen, z.B. wurde die Gegenwart mit heller Beleuchtung akzentuiert, während für die retrospektiv in Erinnerung gerufenen Szenen leichte/schwache und verdunkelte Beleuchtung benutzt wurde.

Die Handlung findet in einem Land nach dem Sturz der Diktatur statt. Paulina Escobar Salas, eine ehemalige Medizinstudentin, konnte ihr Studium nie beenden, weil sie damals von Mitgliedern des totalitären Systems verhaftet und für experimentelle Zwecke missbraucht wurde. Sie wurde vergewaltigt und extrem

181 gefoltert, weil ihr Peiniger Dr. Roberto Miranda herausfinden wollte, „wie viel Schmerz eine Frau ertragen kann?!“ Diese Folterungen waren sehr gut durchdacht. Zunächst wurde das Vertrauen der Opfer gewonnen, um sie dann bis an die Grenzen des Unerträglichen zu foltern. Viele sind im Laufe solcher Experimente gestorben, doch Paulina überlebte und heiratete nach der Entlassung ihren damaligen Freund, den jungen Anwalt Gerardo Escobar. Damals hatte er ihr versprochen, die Verantwortlichen ausfindig zu machen und vor Gericht zu bringen. Nun waren fünfzehn Jahre vergangen und nichts war geschehen. Wenn sie sich in der Öffentlichkeit befand, fürchtete sie immer, ihrem Peiniger – den sie nie gesehen hatte, wohl aber seine Stimme gehört und sein Geruch gerochen – über den Weg zu laufen.

An dem besagten Abend – das Publikum sieht nur den Ablauf einer langen quälenden Nacht bei Escobars –, als ihr Mann sich aufgrund einer Autopanne auf dem Rückweg verspätet hatte und von einem Dr. Roberto Miranda per Anhalter nach Hause gefahren worden war, behauptet Paulina, seine Stimme schon einmal gehört zu haben. Als alle zu Bett gehen, fesselt sie ihren lang ersehnten Gast und versucht zunächst zu überprüfen, ob er es tatsächlich ist, und letztendlich von ihm ein Geständnis zu erzwingen. Im Rahmen dieser Dialoge und Interaktion erfährt das Publikum die ganze Geschichte. Eine grausame Geschichte, die vor fünfzehn Jahren geschah, aber deren Wunden noch immer frisch sind und die noch immer schmerzt wie am ersten Tag.

Durch das persönliche Drama von Paulina wird dem Publikum nicht nur ein Familiendrama dargeboten, sondern ein universelles Drama, das alle Diktaturen betrifft.

Durch den Rollentausch, in dem sich das Blatt wendet und ehemalige Täter in einer Opferrolle geraten und ehemalige Opfer die Möglichkeit haben, Täter zu werden, stellt die Inszenierung viele Fragen in den Raum, unter anderem:

- Was geschieht, wenn die Macht in die Hände ehemaliger Opfer gelangt?

- Soll man sich rächen oder lieber verzeihen?

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- Wie soll man das Gesicht der Menschen erkennen, wenn die Maske längst zum Gesicht geworden ist?

- Kann man an die Unschuld eines Wolfes glauben, der mittlerweile in einem Lammfell herumläuft?

Paulina versucht eine Antwort auf all diese Fragen zu finden, bevor sie ihren Peiniger zur Rechenschaft zieht. Dr. Roberto Miranda hatte Gerardo Escobars Namen in den Nachrichten gehört und wusste, dass er zum Leiter des Untersuchungsausschusses zur Klärung der Vorfälle mit Todesfolgen berufen worden war. Er versuchte sehr dezent diesbezüglich etwas mehr zu erfahren:

„ROBERTO: Nein, ich sage Ihnen, und das kommt mir aus dem Herzen, diese Kommission wird uns helfen, ein äußerst schmerzhaftes Kapitel unserer Geschichte zu schließen, und hier bin ich (…)384

GERARDO: Was unser Land braucht, ist Gerechtigkeit. Aber wenn es uns gelingt, wenigstens einen Teil der Wahrheit ans Licht zu bringen…

ROBERTO: Genau, was ich sagen wollte. Selbst, wenn wir diese Leute nicht vor Gericht stellen können, selbst wenn sie unter den Schutz der Amnestie fallen, die sie selbst angeordnet haben – zumindest ihre Namen kommen an die Öffentlichkeit…

GERARDO: Ihre Namen müssen geheim bleiben. Die Kommission darf die Urheber der Verbrechen nicht identifizieren.“385

Nun droht seine Frau durch eine mögliche Straftat alles zunichte zu machen. Obwohl Dr. Miranda die ganze Zeit seine Unschuld beteuert, die

384 Dorfman, Ariel: Der Tod und das Mädchen, S. 20.

385 Dorfman, Ariel: Der Tod und das Mädchen, S. 21.

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Wahrscheinlichkeit, dass nicht der wahre Täter, sondern ein Unschuldiger in Paulinas Fänge geraten ist, ist gering. Denn er heißt genau wie ihr Peiniger, Dr. Miranda, hört genauso gerne Schubert und zitiert oft Friedrich Nietzsche.

„ROBERTO: (…) Wir sind zwar dabei, die letzten Winkel der Erde zu erforschen, mein Lieber, doch die weibliche Seele bleibt unergründlich. Wissen Sie, wie Nietzsche es einmal ausdrückte – ich glaube, es war Nietzsche. Dass wir diese weibliche Seele niemals vollständig besitzen können.“386

Unabhängig davon, wie schlimm die Gewaltausübung war, nach fünfzehn Jahren schreit die von mir dargestellte Paulina nicht nach Rache, sondern nach Gerechtigkeit. Sie fordert ein Geständnis, eine Entschuldigung und Reue, nur so könne sie mit diesem schmerzvollen Kapitel ihres Lebens abschließen. Doch Miranda zögert, alles zu gestehen, und auch wenn er gesteht, zögert er, sich zu entschuldigen und Reue zu zeigen – es fällt ihm nicht leicht. Er macht es ihr sehr schwer. An der Grenze, die sich in der Frage „Soll ich es tun oder soll ich nicht?“ zeigt, drückt Paulina, die einen Revolver in Händen hält, nicht ab. Denn sie weiß, dass der Teufelskreis der Gewalt aufhören muss. Sie lässt ihn frei.

In der darauffolgenden abschließenden Szene (Akt 3, Szene 2) sieht man Gerardo Escobar vor seiner Kommission den Abschlussbericht lesen: „Die Leute handeln unglaublich großmütig, ohne eine Spur von persönlicher Rache.“387

Das Quartett Der Tod und das Mädchen ist immer lauter zu hören. Seine unzähligen Berichte, die er im Nachhinein „stumm“ vorliest, legt er auf ein von Paulina aufgebautes Kreuz in fast menschlicher Größe. Dies bestand aus einem silbernen Gitternetz, das einem Gefängnisfenster ähnlich war. Dieses Gitternetz, das symbolisch für das erlittene Gefängnis steht, trug Paulina immer bei sich, sogar im Ehebett. Es war ein Zeichen dafür, dass sie auch nach der Entlassung ihre Gefängniserlebnisse immer mit sich trug. Sie war aus dem Gefängnis entlassen, aber nicht befreit. Die Erlösung kam erst zum Schluss, als sie eine

386 Dorfman, Ariel: Der Tod und das Mädchen, S. 20.

387 Dorfman, Ariel: Der Tod und das Mädchen, S. 69.

184 erneute Konfrontation mit der Vergangenheit wagt. Sie legt sich für ein paar Sekunden wie Jesus Christus auf das Kreuz und wird dann vom Tod (gespielt von Dr. Mirandas Gestalt) zum Tanzen aufgefordert. Tanzend setzt sie das Kreuz samt Gerardos Berichte in Flammen. Sie tanzt weiterhin mit dem Tod, in eine aus Trümmern und Asche bestehende Umgebung. Die Zukunft bleibt ungewiss.

3.2. Moti pa Ton von Blerim Gjoci & Co.

„TV MOTI PA TON“ ist die Bezeichnung für die Nachkriegsvariante der bekanntesten Komödie des Ghettotheaters der 90er Jahre Moti pa ton, eine Aufführung im Stile der engl. TV-Komödie ´Monty Python’s Flying Circus´ mit einem albanischen Tick für humorvolle Gesellschaftskritik, wobei die Künstler Blerim GJOCI, Lulëzim GUHELLI, Lirak ÇELAJ und Artan GECAJ,388 ehemalige Studenten der Akademie der Künste in Prishtina, Gesamtautoren – Text, Regie, Choreographie und Schauspiel – dieser einzigartigen Komödie sind. Die Bezeichnung „Moti pa ton“ ist im albanischen mehrdeutig. Folgende Konnotationen dieses Syntagma sind möglich: (a) Moti = (uralbanisch) die Zeitspanne, das Zeitalter und, falls phonetisch der Akzent auf „i“ fällt, so hat das Wort „moti (-í) “ die Bedeutung „früher/damals bzw. in früheren Zeiten“; (b) Pa ton = ohne Ton (farblos), ohne Ton (stumm); (c) Moti = das Wetter, je nach Kontext auch Wetterbericht. Die Bezeichnung der Aufführung Moti pa ton symbolisiert dadurch die Ghettozeitspanne, in der sie ursprünglich inszeniert wurde: ein farbloses Zeitalter, eine stumme/stille Zeitspanne oder in einem übertragenen Sinne ein stummer Wetterbericht als Versuch, auf die damalige absolute Informationssperre der Ghettobedingungen aufmerksam zu machen.

388 Letzterer hat die Rolle von Skënder Miftari, der sich momentan in Los Angeles (USA) befindet, übernommen. Obwohl die Hauptlinie der von S. Miftari (1994) bestimmte Rolle beibehalten wird, gibt Gecaj seinen eigenen schauspielerischen kreativen „Senf“ dazu und spielt seine Rolle sehr gelungen.

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Die in der Nachkriegszeit aktualisierte Aufführung, als TV-Sendung der UNMIK- Produktion mit einer ironisch gemeinten Hotline-Nummer 12-44389, , ist ebenso eine auf die neuen Lebensumstände in der Nachkriegszeit angepasste Gesellschaftskritik.

Die Uraufführung fand am 12.01.1994 im Theater Dodona in Prishtina statt. Für meine Analyse liegt mir eine DVD-Kopie der Sendung vom 30. April 2009 der Nachkriegsvariante TV MOTI PA TON vor. Das Material390 wurde mir aus dem Privatarchiv meines Kollegen und einem der Autoren/Hauptakteure dieser Aufführung, Blerim Gjoci, dankenswerterweise zur Verfügung gestellt. Eine Die DVD-Aufnahme dieser Aufführung ist dieser Arbeit als Analyse- bzw. Komparationsmöglichkeit im Anhang beigefügt. Für die folgende Analyse dient mir André Helbos Fragebogen zur Aufführungsanalyse391 als Grundlage bzw. Leitfaden.

389 Ein gesellschaftskritischer Hinweis auf die sogenannte >>Resolution 1244<< der Vereinten Nationen. Dieser Resolution zufolge – auch wenn die Sozialistische Republik Jugoslawien als ehemalige Föderation von 6 Republiken und 2 autonomen Provinzen (eine davon Kosova) längst aufgelöst war – sollte Kosova paradoxerweise weiterhin Teil Jugoslawiens bzw. Serbiens bleiben. Der Bevölkerungsmehrheit in Kosova, die zu 97% aus Albanern besteht, wird somit ein Mitspracherecht über die Zukunft der eigenen Heimat verweigert. Die am 17.02.2008 erklärte „(Un-)Abhängigkeit“ der Republik von Kosova kam nicht in Folge einer Volksabstimmung zustande, sondern wurde nur von einer bestimmten politischen Schicht getragen – nach vielen „schmerzhaften“ Kompromissen der gegenwärtigen laienhaften Kosovo-Albanischen Politiker und nach einer innigen Koordinierung mit Vertretern aus Brüssel und Washington D.C. Diese (Un- )Abhängigkeitserklärung ist eine Unabhängigkeit ohne Substanz, denn es fehlt ihr die Komponente der Souveränität.

390 Auch wenn das Material momentan urheberrechtlich nicht geschützt ist, besteht zwischen mir und Blerim Gjoci eine – auf Vertrauensbasis gestützte – mündliche Vereinbarung, dass die Aufnahme der Aufführung nur für wissenschaftliche Zwecke – d.h. keinesfalls für kommerzielle Zwecke und/oder sonstigen Gebrauch – verwendet werden darf.

391 Pavis, Patrice: Analyzing Performance. Theatre, Dance and Film, S. 36.

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(1) Der Bühnenraum

Raumkonzeption des Theaters und die Form des Bühnenraumes Der Bühnenraum ist nach dem klassischen Prinzip in einen Spiel- und Zuschauerraum geteilt. Die Bühne wird vor den Augen der Zuschauer wie ein Fernsehstudio gestaltet. Links – fast im Proszenium – zunächst drei leere weiße Plastikgartenstühle, später drei Fernsehzuschauer, die vor einer „leeren“ Fernsehkiste sitzen und fernsehen. Auf der rechten Seite sieht man einen Studiotisch und hinten zwei Stühle, einen für den Moderator, einen für einen x- beliebigen Studiogast gedacht.

Natur des Raumes (mimetic-ludic) Die Natur einer Fernsehsendung wird bewahrt, wird jedoch nicht nur auf ein bestimmtes Muster nach dem Typ „Gast im Studio“ eingeschränkt, sondern lässt viel Aktion auf der Bühne zu. Sie lässt sogar zu, dass Zuschauer, die zunächst vor dem Fernseher sitzen, auf die Handlungsebene wechseln und in das Geschehen eintreten.

Die Koordinaten des Raumes392 Der Bühnenraum stellt den geschlossenen Rahmen eines Fernsehstudios dar, allerdings nur den Teil, der für die Zuschauer sichtbar ist. Ein flacher, leerer Raum, der durch Studiobesucher mit Aktion gefüllt wird. Diese Aktion findet in zwei eng koordinierten Handlungsbereichen statt: auf der rechten Seite der Bühne befindet sich das Studio, in der Studiogäste im Laufe der Fernsehsendung auftreten. Auf der linken Seite sind drei Stühle gegenüber einer hohlen Fernsehkiste (kein richtiges Fernsehgerät, sondern nur die plastischen Konturen eines Fernsehgerätes) aufgestellt. Irgendwo „in der Mitte“ der Bühne treffen diese Bereiche aufeinander. Das ist genau der Punkt, in dem Schauspieler von der Rolle des Zuschauers in die Rolle des Moderators oder die des Studiogastes übertreten. Die Überschreitung dieser „imaginären“ Trennlinie zwischen Fernseh- Zuschauerraum und Studioraum geschieht mittels Improvisation. Auch der

392 offen/geschlossen, hoch/tief, großzügig/reduziert, leer/erfüllt.

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Übergang von einer Rolle zur anderen geschieht in situ, d.h. hier und jetzt spontan, ohne Bedenkzeit oder Räumlichkeits- Veränderungen. Der Raum wird nicht durch Bühnenbild und/oder Verwendung bestimmter Requisiten erfüllt/transformiert, sondern wird durch neu durchdachte Aktionen und Bühnenhandlungen der Schauspieler immer wieder neu konzipiert, neu gestaltet und reorganisiert.

Ästhetik des Raumes393 Charakteristisch für das Fernsehstudio Moti pa ton ist das Sendungsplakat, das hier nur als (Studio-) Hintergrund verwendet wird. Auf der dunkel beleuchteten Bühne, mit einem schwarzen Bühnenhintergrund, den Zuschauern frontal gegenüber überaus auffällig, steht ein großes hellblaues Schild mit weißen Buchstaben (für die, die es wissen, leicht zu erkennen): das Schild der Vereinten Nationen mit neuem, gesellschaftskritischem Inhalt:

TV MOTI PA TON394 (i përkohshëm administrativ 1244)395

KËMBËT E BASHKUARA396 Telefoni kujdestar 12-44397

Das Studio ist „dunkel“ beleuchtet. Ob damit auf die politischen „Unklarheiten“, die das Land zu dem Zeitpunkt beherrschen, hingewiesen wird oder auf etwas anderes, bleibt unklar. Festzustellen ist, dass trotz der wissenschaftlichen

393 Farben, Formen, Stil, kulturelle Referenzen.

394 Anstelle von „Vereinte Nationen“ steht der Name der Fernsehshow Moti pa ton.

395 Vorübergehende Verwaltung 1244, ironisch auf die Resolution 1244 der Vereinten Nationen hinweisend.

396 Die wörtliche Übersetzung lautet: „vereinte Beine“, auf zwischenmenschlichen Geschlechtsverkehr bezogen, sarkastisch auf die Vereinten Nationen hinweisend, die aus unterschiedlichen Beinen bestehen, jedoch so tun, als ob sie eines wären wie ein Paar Schuhe.

397 Telefon 12-44, wieder auf die Resolution 1244 der Vereinten Nationen hinweisend.

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„Aufklärungsnatur“ der Sendung TV MOTI PA TON und der Einladung vieler Gäste aus den Bereichen Wissenschaft, Geographische Etymologie, Medizin, Politik und UNMIK-Verwaltung (diese etwa als Fußballspieler dargestellt) auch nach vielfacher Ausstrahlung und die durch Technik ermöglichte Aufnahme bzw. das Zurückspulen der Sendung – de facto und de jure das Wichtigste „im Dunklen“ bleibt.

(2) Objekte Auf der Bühne werden nur die typischen Objekte für eine Fernsehsendung verwendet. Ein halbrunder Studiotisch, der Stuhl des Moderators, ggf. des Fernsehsprechers, sowie drei weiße Plastikgartenstühle und die plastische ´leere Hülle´ eines Fernsehgeräts, die – nach links im Proszenium – positioniert ist und symbolisch für das Fernsehen als Tätigkeit steht.

(3) Schauspieler Anzahl der Schauspieler Die Anzahl der Schauspieler ist auf vier Hauptdarsteller beschränkt. Nur gelegentlich werden weitere Schauspieler miteinbezogen.398 Hauptsächlich ein bis zwei weitere Schauspieler, die dann nur provisorisch eintreten, um aufgabenzentriert – ein paar Minuten – auf der Bühne zu agieren.

Beziehung zwischen Schauspieler und Charakter399 Da die Aufführung Moti pa ton keinesfalls eine Dramatische Form des Theaters darstellt, sondern sich eher auf Prinzipien der Epischen Form des Theaters stützt, ist auch die Beziehung zwischen Schauspieler und Charakter ein sich auf

398 In einer Aufführung aus der Ghettozeit wurde ich in das Schauspiel miteinbezogen. Wenn ich mich nicht irre, war es der Kollege Lirak Çelaj, der mich damals miteinbezogen hatte. Es war ein ganz besonderes Erlebnis, in diesem echten Bühnenevent aufzutreten. Ich kann mich nicht mehr an die kurze/knappe Aufgabe, die mir damals anvertraut wurde, erinnern. Woran ich mich heute aber noch ganz genau erinnern kann, ist die tolle Schauspielatmosphäre, die diese Show anbietet. Voller Interaktion, Kommunikation und Spaß pur.

399 Typus-Individualisierung.

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Verfremdungseffekte400 stützendes Verhältnis. Die Distanz des Schauspielers zu seiner Rolle zeigt sich z.B. durch Sprache, Musik, Gestik und/oder sogar durch in die Haare gesprühtes weißes Pulver, welches vor den Augen des Publikums das Älterwerden symbolisiert. Dieser „Älter-werden-Aktion“ folgt dann natürlich die Veränderung der Sprache401, der Bewegungen und der Handlungsweise.

Hinsichtlich des Typus bzw. der Individualisierung der Rolle ist Folgendes zu bemerken. Jeder der Schauspieler verkörpert im Laufe der Inszenierung mehrere Rollen, individualisierte Typen von Menschen, Berufen oder Organisationen, so dass sie eine exzellente Schauspielleistung hervorbringen. Ihnen gelingt es, ihre Figuren „wortgetreu“ zu individualisieren, ihnen Körper, Stimme, Gesicht und Geist zu verleihen, d.h. diesen Typus Mensch auf der Bühne in sich stimmig „agieren zu lassen“, jedoch immer mit einem bestimmten selbstkritischen Abstand zu der „verkörperten“ Rolle402, dem Beruf403 oder der Organisation404. Das Wort „Verkörperung“ der Rolle wird hier im übertragenen Sinne verwendet, denn tatsächlich wird jeder Typus eher auf narrative Weise bzw. erzählend denn als handelnd dargestellt.

Durch die Distanzierung des Schauspielers von der Rolle wird auch dem Zuschauer suggeriert, „nur“ zum „Betrachter“ zu werden. Aktiv mitzudenken, mitzukritisieren, aber auf keinen Fall mitzufühlen. Das würde auch gar nicht gehen, denn die Umstände eines „mitfühlenden Dramas“ im aristotelischen Sinne sind nicht gegeben. Die Aufführung alias Fernsehsendung Moti pa ton bietet dem Zuschauer eine Spannung auf den Fortgang und nicht eine Spannung auf den Ausgang des Dramas. So stellt z.B. der Moderator in der überaus lauten Atmosphäre einer beginnenden Sendung schreiend die Frage an die Regie: „die Reportage UNSERE WÄLDER oder UNSERE KATZEN? … Aha, unsere

400 Vgl. Bertolt Brechts Verfremdungseffekt in seine Schriftsammlung Kleines Organon für das Theater. 401 Vgl. hierzu das Älterwerden des Wissenschaftlers Musa, gespielt von Lirak Çelaj. 402 Z. B. die Rolle des Wolfes oder von Rotkäppchen. 403 Z. B. die Rolle des Wissenschaftlers. 404 Z. B. Mitglieder der Vereinten Nationen als Fußballspieler.

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Katzen… Okay!“405 Dann erfolgt der Countdown, fünf – vier – drei – zwei – eins: „Los“ geht die Sendung. Äußere Erscheinung406 Die Schauspieler sind vom Aussehen her junge, westliche, hübsche Darsteller. In der Vorkriegsvariante dieser Inszenierung waren sie vom Alter her höchstens Mitte Zwanzig, mittlerweile sind sie Mitte Dreißig. Sowohl in der alten (1994) als auch in der neuen Nachkriegsvariante der Inszenierung sind die Schauspieler körperlich und stimmlich sehr durchtrainiert. Sie tragen entweder berufsbedingte Kostüme, wie z.B. Anzug mit Krawatte, oder aber auch sonstige Kostüme, die dem verkörpernden Typ Mensch am besten entsprechen. Soziale Aspekte des Schauspielers407 Soziale Aspekte aus dem persönlichen Hintergrund der Schauspieler tauchen selbstverständlich auf, ganz besonders, wenn man weiß, dass die Schauspieler ihre Text selbst schreiben und ihre Rollen selbst gestalten. In der Szene, als die kleine Rosi, in Funktion einer Rotkäppchen-Expertin auftritt, stellt ihr der Moderator die Frage: „Wann hast du den ersten Kontakt mit der Rotkäppchen-Wissenschaft gemacht?“ Sie antwortet „schon im Bauch meiner Mutter“, und fährt dann mit ihrer erstaunlichen Geschichte fort. Was daraus zu verstehen ist, ist Folgendes: Die Mutter der kleinen Rosi ist hochschwanger ins Theater gegangen, um sich die Prämiere der Aufführung Moti pa ton – zur Ghettozeiten – anzusehen. Sie hat während der Aufführung so viel gelacht, dass sie die Wehen bekommen hat und dringend ins Krankenhaus musste. So gesteht die ins Studio eingeladene Rosi, dass sie „aus dem Bauch ihrer Mutter herausgeeilt ist, um zu schauen was da draußen – in der Moti pa ton-Rotkäppchen- Fassung – so lustig ist.“408

405 Original: „Shkojmë me reportazhin Malet apo Macat tona? Macat tona. Ok!“

406 Alter, Geschlecht, Bewegungen, Stimme und Diktion, Kostüme.

407 Hintergrund, Rollen, Betriebsmitgliedschaft.

408 Diese Geschichte wurde mir im Interview mit dem Co-Autor und Hauptdarsteller Blerim Gjoci während des Interviews vom 22.06.2009 als wahre Geschichte bestätigt. Die Mutter der Kleinen heißt Alisa Maliqi und ist die Ehefrau des Kulturkritikers und Soziologen Shkëlzen Maliqi, der zur Premiere am 12. Januar 1994 eingeladen war.

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Ein anderer Bezug zum sozialen Aspekt des Schauspielers Lirak Çelaj, der in der Politik tätig ist, zeigt sich, als er „in der Rolle eines Wissenschaftlers über die Etymologie des Namens Mazedonien sprechen will und es wagt, das Wort Unabhängigkeit zu erwähnen. Ihm wurde vom Moderator sofort das Wort entzogen.“ Die Andeutung ist klar. Zu dem Zeitpunkt durfte von ´Unabhängigkeit´ noch keine Rede sein. Ein weiteres Beispiel ist, als sich die hellblauen „UN-Fußballspieler“ treffen, um zu „diskutieren“, ob „die Standards“ erfüllt wurden. Der politische Background solcher Aussagen war klar und aussagekräftig. Die gesellschaftliche Kritik an der Internationalen Gemeinschaft ist offensichtlich. Wie sonst kann die Szene gedeutet werden? Wobei nicht „durch eine Referendum“, sondern „durch ein Fußballspiel der UN-Mission“ entschieden wird, ob wir „die Freiheit“ verdienen oder nicht.

(4) Das Drama Welches Genre? Die Inszenierung ist als eine `intermediale´ Komödie zu kategorisieren. Denn sie stellt eine Fernsehshow live dar: eine „Einladung im Studio“, manchmal seriöse Fernsehauftritte wissenschaftlicher Natur, nach einem Face-to-face- Interview- Typus mit einer Berühmtheit zu Gast, manchmal aber auch mit mehreren (kompetenten) Gästen. Die Komödie als Gattung hat auf der albanischen Bühne eine lange Tradition, doch diese Art der Monty Python-Unterhaltung wurde bis dato auf unseren Bühnen nicht inszeniert/gesehen und stellte sowohl für den normalen Zuschauer als auch für das breite Spektrum der Theaterfachleute ein äußerst attraktives Bühnenereignis dar.

Als Aufführung der Genre Komödie stellt TV Moti pa ton die Abbildung eines sehr unterhaltsamen Fernseh-Interviews bzw. einer Fernsehshow dar, die nicht nur der Publikumsunterhaltung dient, sondern meines Erachtens auch Kulturgeschichte geschrieben hat.

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Handlungsfaden Der Handlungsfaden durchzieht in der Aufzeichnung vom 30. April 2009, die meiner Untersuchung zugrunde liegt, neunzehn Akte mit verschiedenen wechselhaften Themen nach dem wohlbekannten Rezeptionsprinzip des Zapping. Dabei wird gezielt mit allen Mitteln der Intermedialität gespielt. Von der Dialektik des Spielens und Zuschauens bis hin zum Phänomen „Zapping“, wobei auf der Bühne die zuschauenden Schauspieler das Programm ändern und ein oder zwei Protagonisten das „Geschehnis“ eines laufenden TV-Programms spielen. Akt 1: Vorbereitung für die Sendung „Moti pa ton“. Akt 2: Ankündigung der Sendung durch den Moderator.

Das Thema lautet „Konkurrenz“, wobei Moderatoren verschiedener Fernsehsender behaupten, die (originelle) Sendung „Moti pa ton“ auszustrahlen. Jeder von ihnen beginnt seine Sendung mit den Worten: „Verehrte Zuschauer, das ist die Sendung ´Moti pa ton´.“ Der Andere springt ein: „Nein, das hier ist „Moti pa ton“, während ein ganz anderer, die beiden ignorierend, seine Sendung ebenfalls mit „Moti pa ton“ beginnt. Als der Wissenschaftler der sogenanten „Geographischen Etymologie“, Herr Studio, der zu Gast ins Studio eingeladen ist, beginnt, folgt ein Zapping – Programmwechsel.

Akt 3: Fortsetzung des Gesprächs mit Herrn Studio. Akt 4: Erklärung der Etymologie des Wortes „Maqedoni“ (Mazedonien) und „Greqi“ (Griechenland) auf eine ganz spezifische und humorvolle Art durch den Etymologen, Herrn Studio. Akt 5: Fortsetzung der Sendung mit: Einladung von Pulas Pilis, Gast aus Zimbabve (Hühner-Wissenschafter). Akt 6: Tischtennisspiel und das Sterben des Gewinners, Rushiti i dhimbshem. Der Gegenspieler jammert, dass er seit zehn Jahren Champion bleibt, nur weil der Gewinner immer stirbt. Akt 7: Szene 1. Es erfolgt selbstverständlich eine Sendung „In Memoriam“ für den verstorbenen Spieler „Rushiti i dhimbshem“. Hier nutzt der Moderator die Gelegenheit, durch einen Rückblick auf sein Leben auf die Geschichte der „Vereinten Nationen“ einzugehen.

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Drei „UNO-Mitarbeiter“ werden als Gäste eingeladen und gefragt, ein Fußballspiel zu kommentieren. Die Kommentare werden nicht nur verbal geliefert, sondern spielerisch. Der Ball ist „zufälligerweise“ ein Mensch – ein Kosovo-Albaner wohlgemerkt – mit dem die UNO spielt. Akt 8: Spricht ein anderes empfindliches Thema an: Nicht-Professionalität. Nicht unbedingt qualifizierte Sprecherinnen unseres Nachkriegs-Fernsehens. Stellen, die meistens von „laienhaften“ anonymen „Show-Puppen“, d.h. Geliebten diverser Promis, belegt werden. Akt 9: Eine moderne Fassung des Märchens „Rotkäppchen“. Rotkäppchen als eine junge Frau, sexy angezogen, die alle Männer anmacht. Diese Szene ist eine indirekte Kritik an der steigenden Prostitution im Lande. Akt 10: Werbung für Kondome: „Wenn sie sicheren Sex haben wollen, benutzen Sie Kondome mit Figur“. Rotkäppchen versucht die Großmutter zu retten und wird dabei selbst erschossen. Akt 11: Rotkäppchen-Manie, ein ähnliches Phänomen wie die Beatles- Manie. Zunächst wird Fräulein Rosie als Gast ins Studio eingeladen. Sie macht auf die Fehler des Märchens aufmerksam. Dann drei weitere „Rotkäppchen- Wissenschaftler“ aus der Fakultät der Künste in Prishtina, die auf Fragen antworten wie: Ob unser Rotkäppchen „jungfräulich“ war oder nicht. Sie analysieren die Obduktionsergebnisse. Eine gesellschaftskritische Betrachtung mit diversen kleinen Finnessen, die kulturspezifisch sind. Akt 12: Beantwortung der Frage: Warum hatte Rotkäppchen, ein rotes Käppchen? Hinweis auf die Tatsache, dass Shakespeare in seinem Theaterstück Othello die grüne Farbe des Desdemona-Tuches zu Rot gewechselt hatte. Akt 13: Das Team von drei Wissenschaftlern schlussfolgert, er sei ein Daltonist (Farbenblinder) gewesen. Sie stellen die Frage: Und was würde mit Shakespeare heutzutage passieren, wenn er an der Ampel die Farben „grün“ und „rot“ verwechseln würde? - Eine weitere Frage, die Rotkäppchen gestellt wurde, lautet: „welche Schuhgröße sie (Rotkäppchen) hat?“ - Ihrer Aussage zufolge hat ein Fuß von ihr die Größe 12, der andere die Größe 44. (Wieder ein Wort-Spiel mit der UNO- Resolution 12-44)

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- Ein anderer Zuschauer stellt die Frage, warum sich alle ärgern und „weglaufen“, wenn man das Wort 1244 (Symbol für die UN-Resolution, lt. der Kosova ein Teil des ehemaligen Jugoslawiens bleiben solle) erwähnt. - Keiner kann diese Frage beantworten. - Alle schauen weg und/oder rennen weg. - Zum Schluss kommt der Wetterbericht und die wichtige Frage: Wie ist das Wetter heute? Die Meteorologen berichten: Das Wetter ist heute, … hm, hm… blöd … ohne Ton, d.h. stumm und/oder farblos. Akt 14: Im Folgenden wird Kiqo Blashi als Gast eingeladen. Zunächst wird die Kommunikations- (Übersetzungs-) Problematik thematisiert. Akt 15: Kiqo Blashi, der zunächst taub war, gelingt es, „sulmare Lucica“ zu singen. Wieder durch Zapping wird er „weggedrückt“. Ein anderes Studio: es handelt sich um eine Tragödie. Ein interpersoneller Konflikt zwischen zwei Männern. Wieder „Zapping“: ein anderes Programm. Akt 16: Die Aufführung Moti pa ton beginnt von vorne. Ein Protokoll dieser Aufführung sieht wie folgt aus: a) Es wiederholt sich die Anfangsszene des ersten Aktes. b) Es erfolgt die Konkurrenz zwischen den Sendern. c) Es erfolgt, der Kampf um das Thema Sex. d) Die Sendung geht weiter mit Musik. e) Der Zuschauer sieht die ersten Handlungen der ersten Szenen der Aufführung in „reverse“.

Akt 17. Der rote Vorhang fällt. Die Aufführung ist zu Ende. Dann öffnen sich die Vorhänge wieder. Nochmals läuft die Anfangs-Spitze und auf der Bühne werden die Vorbereitungen für den „Beginn der Sendung“ Moti pa ton dargestellt. Akt 18. Das Phänomen der Wiederholung. Die Möglichkeit, das „Aufgezeichnete“ zurückzuspulen, das typisch für den Film ist, wird hier auf der Bühne dargestellt. Die Aufführung wird vom ‚Ende‘ zu ‚Beginn‘ rückwärts gespielt. Und dies wird sequenzenweise zwei mal wiederholt, was ein Meisterwerk an Schauspielleistung darbietet. Ganz zum Schluss, als die

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Aufführung zu Ende geht... Es gibt Anzeichen: es geht wieder los. Das Spiel beginnt erneut. Die Sendung „Moti pa Ton“ hat wieder eine überraschende „Überraschung“ für die Zuschauer: die Wiederholung.

Akt 19. Klänge der Züricher Jazz-Folk-Gruppe „Kapsamun“ sind zu hören. Die Aufführung /Sendung geht zu Ende.

Veränderungsmodi Die Aufführung ist von einem ausgeprägten Veränderungsmodus gekennzeichnet. Es gibt keine Verpflichtungen einem bestimmten Autor/Regisseur gegenüber. Die Darsteller sind zugleich die Autoren. Sie gehen mit Veränderungen locker um, sind nicht starr in ihrer Haltung zum Schauspiel oder Schauspielstoff, so dass es ihnen andauernd gelingt, ihre Aufführung mit neuem „Stoff“, „Blitz-Gästen“, „Blitz-Themen“ und sozialpolitischem und/oder gesellschaftskritischem „Humor“ zu aktualisieren.

Rolle der Improvisation Improvisation stellt das Hauptprinzip der Inszenierungsgestaltung dieser Aufführung dar. Improvisiertes Anknüpfen an ein bestimmtes Wort, an eine Redewendung oder Situation dienen als stilistische Gestaltungsmittel. Trotz dem hohen Improvisationsgrad bei jeder Aufführung, das Aufführungskonzept409 und die Struktur der Inszenierung410 bleiben unangetastet.

a) Regieführung Wie wurde die Fiktionalisierung durchgeführt? Das „fiktive“ Märchen Rotkäppchen wird aktualisiert und den einheimischen sozialpolitischen Verhältnissen stark angepasst. Rotkäppchen ist kein Mädchen, sondern eine junge Frau – wenn nicht eine Prostituierte – und die Großmutter ist ebenfalls eine „flatterhafte“ Oma. Dass nicht nur der Jäger, sondern auch der böse

409 D.h. die Grundidee der Fernsehsendung Moti pa ton bleibt unverändert.

410 So wie hier unter dem Punkt Handlungsfaden dargestellt, bleibt sie normalerweise bestehen.

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Wolf, der die beiden Frauen „auffressen“ darf, ein halbnackter Don Juan ist, ist kein Wunder.

Wie wurde die Segmentierung in Einheiten gemanagt? (Wurde Kontinuität oder Diskontinuität bevorzugt?) Die Segmentierung in Einheiten stellt „das Verbindungsglied“ dieser theatralischen Fernsehkomposition dar. Das Spazierengehen des Zuschauers vom Programm zu Programm mit Hilfe der Fernbedingung, das wir „Zapping“ nennen, stellt einen roten Faden des Konzepts dar. Gerade darin liegt das Besondere dieser Aufführung: in dieser kontinuierlichen thematischen Diskontinuität innerhalb des „Gezeigten“ bzw. dieser theatralisch perfekt „dargestellten“ Fernsehrealität.

Was wird hervorgehoben, das Visuelle oder Auditive? Das Verhältnis zwischen dem Visuellen und Auditiven ist hier sehr balanciert. Weder die eine noch die andere Ebene wird hier hervorgehoben, aber beide Ebenen sind gut repräsentiert. Mit der Sprache und Etymologie der Wörter wird Politik gemacht, geschichtliche Fakten werden unter die Lupe genommen und humorvoll kritisiert. Mit Musik wird die Stimmung gehoben. Letztendlich wird mit dem körperlichen Einsatz auf der Bühne der TV Moti pa ton einmal mehr bestätigt, dass darstellende Medien – unabhängig davon, ob Theater, Film oder Fernsehen – eines gemeinsam haben: die Aktion, die Handlung, den agierenden Menschen auf der zur Schau gestellten Bühne.

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IV. Diskussion und Darstellung der Ergebnisse „All the world's a stage, And all the men and women merely players: They have their exits and their entrances; And one man in his time plays many parts.“ 411

(William Shakespeare)

Die wohl berühmteste Shakespearesche Behauptung, die ganze Welt sei eine Bühne und wir alle bloß Schauspieler, ist natürlich nicht neu, wird jedoch von vielen Autoren diverser Disziplinen als Untersuchungsgegenstand immer wieder neu aufgerollt und behandelt. Herbert Willems, Theaterwissenschaftler und Soziologe, sieht beispielsweise „die Sprache des Theaters und die Ideen der Vergleichbarkeit von Theater und Welt“412 als feste Bestandteile der abendländischen Kosmologie. Ihm zufolge sind sie auch tief in die Soziologie eingedrungen. Eine Tatsache, die uns auch von einem weiteren Autor, dem Interaktionssoziologen Erving Goffman, bestätigt wird. Goffman betrachtet das gesellschaftliche Leben von einer dramaturgischen Perspektive aus und behauptet, dass wir in unserem sozialen Leben alle dazu genötigt sind, soziale Rollen zu übernehmen, dass wir bemüht sind, sie möglichst gut zu spielen, und dass wir aufgrund dieser Selbstdarstellung im Alltag indirekt zu Schauspielern werden. In seiner 1983 neuveröffentlichten Untersuchung Wir alle spielen Theater413 befasst sich Erving Goffman überwiegend mit gesellschaftlichen Einrichtungen, die als relativ geschlossene Systeme betrachtet werden können. Hierzu zählen Fabriken, Unternehmungen und/oder Institutionen, die er folgendermaßen definiert:

„Jeder Ort, der durch feste Wahrnehmungsschranken abgegrenzt ist und an dem eine bestimmte Art von Tätigkeit regelmäßig ausgeübt wird, ist eine gesellschaftliche Einrichtung.“414

411 William Shakespeare: All the world's a stage (from As You Like It 2/7).

412 Willems, Herbert/Jürga, Martin (1998): Inszenierungsgesellschaft, S. 24.

413 Die Originalausgabe erschien 1959 unter dem Titel >>The Presentation of Self in Everyday Life<< bei Doubleday & Company, Inc., New York. 414 Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, S. 217.

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Grundsätzlich unterscheidet Goffman fünf Perspektiven415 zur Analyse einer Institution oder Einrichtung: die technische416, die politische417, die strukturelle418, die kulturelle419 und schließlich die dramaturgische420 Perspektive. Letztere überschneidet sich lt. Goffman (a) mit der technischen Perspektive in der Frage der Arbeitsnormen, (b) mit der politischen Perspektive, wenn es sich um die Fähigkeit einer Person handelt, die Tätigkeit anderer zu leiten, (c) mit der strukturellen Perspektive in Fragen der sozialen Distanz, und schließlich (d) mit der kulturellen Perspektive in der Frage der Aufrechterhaltung moralischer Maßstäbe.

Bei der Interpretation seines Modells für die soziale Welt unterscheidet Goffman einerseits die Einrichtung an sich als ein geschlossenes System, andererseits verwendet er den Begriff des geschlossenen Ensembles und des Publikums und teilt die Räumlichkeiten ähnlich wie im Theater in eine Hinterbühne421 und Vorderbühne422.

415 Ebd., 219. 416 Eine Institution kann >>technisch<< unter dem Gesichtspunkt ihrer Wirksamkeit und Unwirksamkeit als organisiertes System untersucht werden. 417 >>Politisch<< kann eine Institution unter den Gesichtspunkten der a) Handlungen, die jeder Partner von den anderen verlangen kann, b) der Arten von Bestrafungen und Belohnungen, die ausgeteilt werden, und c) der sozialen Kontrolle, die das Erteilen von Befehlen und die Anwendung von Sanktionen begleiten, untersucht werden. 418 >>Strukturell<< kann eine Institution unter den Gesichtspunkten der a) horizontalen und vertikalen Staatsunterscheidungen und b) der sozialen Beziehungen, die diese verschiedene Gruppierungen miteinander verbinden, untersucht werden. 419 >>Kulturell<< kann eine Institution unter dem Gesichtspunkt der moralischen Werte, von denen die Tätigkeit innerhalb der Institution beeinflusst wird, untersucht werden. 420 Die >>dramaturgische Perspektive<< kann als Ordnungsprinzip verwendet werden. Lt. Goffman „führt [sie] uns dazu, die Techniken der Eindrucksmanipulation, die in einer bestimmten Institution angewandt werden, die wesentlichen Probleme der Eindrucksmanipulation und die Identität und das Beziehungsnetz der verschiedenen Vorstellungsensembles einer Institution zu beschreiben.“

421 Hinterbühne = der Hintergrund, in dem die Darstellung einer Rolle vorbereitet wird.

422 Vorderbühne = der Vordergrund, in dem die Aufführung stattfindet.

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Er analysiert die Selbstdarstellung des Individuums in einer geschlossenen Einrichtung, die er als gesellschaftliche Bühne mit verteilten Rollen und nach definierten Regeln als ein notwendiges Element allen sozialen Lebens sieht. Seiner Meinung nach ist die soziale Welt „eine Bühne, eine komplizierte Bühne sogar, mit Publikum, Darstellern und Außenseitern, mit Zuschauerraum und Kulissen, und mit manchen Eigentümlichkeiten, die das Schauspiel dann doch nicht kennt“.423 In dem geschlossenen Rahmen einer gesellschaftlichen Einrichtung finden wir Goffmans Ausführungen zufolge „ein Ensemble von Darstellern, die zusammenarbeiten, um vor einem Publikum eine gegebene Situation darzustellen.“424

Eine Performance kann nach Goffman als „die Gesamttätigkeit eines bestimmten Teilnehmers an einer bestimmten Situation definiert werden, die dazu dient, die anderen Teilnehmer in irgendeiner Weise zu beeinflussen.“425

Der Mensch ist ihm zufolge ein Darsteller, der im sozialen Leben bei einer Performance eine bestimmte Rolle gegenüber seinen Mitmenschen spielt. Er unterscheidet zwischen einem ´aufrichtigen´ und einem ´zynischen´ Darsteller. Seiner Meinung nach ist der zynische Darsteller von seiner Rolle nicht überzeugt, der aufrichtige Darsteller hingegen schon. Er ist nicht nur selbst von seiner Rolle überzeugt, sondern schafft es auch, das Publikum davon zu überzeugen. Die Überzeugungskraft der Rolle hängt zum einen von persönlichen Komponenten ab, wie z.B. Verhalten, Kleidung, Geschlecht, Alter, und zum anderen von dem Schauplatz der Performance, den Goffman als „Bühnenbild“426 bezeichnet.

Goffmans Modell – auch wenn es nicht die typischen Merkmale eines Modells aufweist – ist von großer Bedeutung. Er definiert alle Interaktionen in der sozialen Welt als „Performances“, die auf einer „Bühne“ und vor einem bestimmten

423 Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, S.VIII.

424 Ebd., S. 217.

425 Vgl. Goffman 2002, orig. 1983, S.18.

426 Mit Bühnenbild meint Goffman hier: Möbelstücke, Dekorationselemente, Versatzstücke, die eine ganze räumliche Anordnung umfassen. Vgl. hierzu: Goffman 2002, orig. 1983, S. 23.

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„Publikum“ stattfinden427, und bringt die Analogie zwischen Bühne und Leben aus einer ganz besonderen Perspektive zum Ausdruck.

Das von mir entwickelte Drei-Phasen Theatermodell nimmt sich hingegen die Gestaltungsprozesse vor und versucht auf die Analogie zwischen den kreativen Produktionsprozessen im Theater und der Bildung neuer Realitätskonstrukte aufmerksam zu machen. Während die Gestaltung ästhetischer Produkte sehr wohl konstruktive, aber keine destruktiven Folgen hat, kann die Bildung neuer Realitäten im sozialen Leben dramatische (destruktive) Folgen für eine Gesellschaft haben (vgl. Ghettodrama I und Ghettodrama II). Wie wir im Laufe des Ghettodramas I gesehen haben, befindet sich die Theatralität (Ghetto II) mit der Dramatik/Dramatizität (Ghetto I) in einem disproportionalen Verhältnis. Je größer die Dramatik ist,428 desto geringer fällt die Theatralität aus, bis sie schließlich ganz verschwindet. Fällt hingegen die Theatralität hoch aus, ist die Dramatik sehr gering oder ganz abwesend.

427 Vgl. Goffman 2002, original 1983.

428 Das haben wir am Beispiel des Ghettodramas I, wo die Kosova-Albaner ums Überleben kämpfen mussten, gesehen. Die Dramatik war sehr hoch, es fehlte jedoch ganz die Theatralik des Politischen, die wir erst in der Nachkriegszeit (Ghettodrama II) in erschreckendem Ausmaß erleben.

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1 Das Theatermodell „H₂O“ Ein Modell ist ein System, das als Repräsentant eines komplizierten Originals auf Grund mit diesem gemeinsamer, für eine bestimmte Aufgabe wesentlicher Eigenschaften von einem dritten System benutzt, ausgewählt oder geschaffen wird, um letzterem die Erfassung oder Beherrschung des Originals zu ermöglichen oder zu erleichtern, beziehungsweise um es zu ersetzen.429

Mit diesen Worten hatte der Philosoph Klaus-Dieter Wüsteneck in den 60er Jahren eine allgemeine Definition des Modells formuliert. Von diesem Modellverständnis ausgehend, wird im Folgenden der Versuch unternommen, ein Theatermodell als Repräsentant aller kreativen Vorgänge zu konzipieren, die im Theater notwendig sind, um ein Bühnenereignis bzw. ästhetisches Werk zu gestalten. Das Modell soll so gestaltet werden, dass es die Analogie zwischen dem Theater und der sozialen Bühne sowohl auf einer nominalen Ebene (Handlung, Handelnde, Ort) als auch auf prozessualer Ebene (Drama/Modulation, Inszenierung/Fabrikation und Aufführung/Präsentation) analysieren und belegen kann.

Durch dieses Modell können Parallelen zwischen Regie und politischem Engagement als regieähnlicher Tätigkeit sowie zwischen Regieplattform und politischer Plattform gezogen werden. Zudem werden weitere Parallelen und Ähnlichkeiten zwischen Handlung, als eine auf Mythen430 gestützte Aktivität sozialer Akteure, und Bühnenfiguren, als Träger einer Handlung, identifiziert und behandelt.

Das Theatermodell „H₂O“ (als wissenschaftliche Methode) reduziert die zu untersuchende theatralische bzw. soziale Realität auf einen sogenannten Theatercode „H₂O“, der aus folgenden Komponenten bzw. theorierelevanten Erklärungsgrößen besteht:

429 http://www.ilexikon.com/Modell.html; eingesehen am 05.05.2008

430 Bzw. auf idealisierte, erstrebenswerte soziale Konstrukte.

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1) H‘ = Handlung 2) H = Handelnde Figuren 3) O = Ort

Im Zentrum des Theatercodes steht die Handlung bzw. der Mythos, auf den sich jede Aktion/Interaktion der Handelnden stützt. Die Handelnden sind in drei Gruppen geteilt: (a) Protagonisten, (b) Antagonisten und (c) Tritagonisten und/oder in (a) Akteure, (b) Aktanten und (c) Marionetten. Die Komponente „O“ steht in diesem Fall für den Ort und nicht für Observation (im Sinne von Zuschauer)431, wie es anzunehmen wäre.

Obwohl Theater bekanntlich in der Dialektik des Spielens und des Zuschauens entsteht, als ein Zusammensein von Spiel432 und Ernst,433 beinhaltet der Theatercode „H₂O“ das Zuschauen nicht als eine eigenständige Komponente. Sie wird ausgelassen, bleibt jedoch in den Korrelationen zwischen H‘ (Zuschauen als Teil der Handlung x, y) und H (der Handelnde als Zuschauer anderer Mitwirkenden) enthalten.

Das Theatermodell „H₂O“ entsteht als Folge der Abstraktion einzelner Bestandteile seines Theatercodes „H₂O“ und ihrer Verknüpfung miteinander über Kausalzusammenhänge. Seine Aufgabe besteht in der untersuchungsadäquaten Beschreibung der Realität, der Erklärung wissenschaftlicher Theorien oder der Prognose künftiger Realitäten. Dieses Theatermodell ist durch drei Merkmale gekennzeichnet:434

1. Repräsentation: Das Theatermodell „H₂O“ repräsentiert einen kreativen Vorgang, der aus drei Phasen besteht: einer Dramenanalyse (Modulation), einem Produktionsprozess der Inszenierung (Fabrikation) und einem

431 Die Komponente des Zuschauens wird im Modell zunächst nicht einbezogen.

432 Schauspiel bzw. das Handeln im „als-ob“-Modus.

433 Das tatsächliche Zuschauen der Zuschauer. Hier ist kein „als-ob“-Modus möglich.

434 In Anlehnung an des Modellverständnis von Stachowiak

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Aufführungsvorgang (Präsentation). Alle Phasen müssen durchlaufen werden, um ein Bühnenereignis (Realitätskonstrukt) zustande zu bringen. Genauer gesagt umfasst es die Zeitspanne zwischen Dramenanalyse (Leseproben, Umgang mit dem Text, Tischproben), dem Produktionsprozess Theater bis hin zur letzten Inszenierungsprobe bzw. Generalprobe (Produktionsprozess-Theater, In Szene setzen, Generalprobe). Die erste Aufführung bzw. Premiere, wobei immer ´vor einem Publikum´ und für ein Publikum gespielt wird, stellt die abschließende Phase des Modells dar. Dadurch werden künstliche Originale435 und natürliche Originale436, die selbst Modelle sein können, abgebildet.

2. Verkürzung: Das Theatermodell „H₂O“ erfasst nicht alle Attribute des Theaters als Ursprungs-Original, sondern nur diejenigen, die im gegebenen Fall untersuchungsrelevant sind. Im Hinblick auf eine Anwendung des Modells zur Analyse der Bildung neuer Realitäten in einer Ghettogesellschaft, wobei Isolation als Rahmenbedingung gilt, ist der Zuschauer als eine untersuchungsirrelevante Größe zu betrachten. Das Phänomen des Zuschauens als Begleiterscheinung (Wahrnehmung dessen, was „in der Welt ist“ im Sinne von Merleau-Pontys Philosophie oder als Zeichen einer Existenzgrundlage im Sinne von Berkeleys Philosophie esse est percippi) ist sowohl in der Komponente H‘ (Handlung) und H (Handelnde), als auch in O (ortsbezogene Phänomene) erhalten:

Theatermodell „H₂O“ => H‘ (Handlung) + H (Handelnde) + O (Ort).

3. Pragmatismus: Das Theatermodell „H₂O“ ist geeignet zur Analyse (a) der Entstehung ästhetischer Produkte im Theater und (b) der Bildung neuer sozialen Realitäten im sozialen Leben sowie (c) als Analysemodell der unter (a) und (b) angeführten Kategorien. Dabei ist es sehr wichtig, auf die möglichen Analogien auf der nominalen Ebene (bezüglich Handlung,

435 Ghettotheater, kreative Bühnenprozesse.

436 Ghettogesellschaft, soziale Prozesse.

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Handelnde und Ort) zu achten und auf prozessuale Analogien hinsichtlich des Ablaufs: Dramatisierung (Lancierung, Modulation), Inszenierung (Realisierung, Fabrikation) und Aufführung (neue Realitätskonstrukt, Präsentation).

205

2 Überprüfung des Theatermodells „H₂O“ In seinem Buch Etablierte und Außenseiter hat Norbert Elias zusammen mit seinem Schüler und Kollegen John L. Scotson eine kleine englische Vorortgemeinde namens Winston Parva untersucht und eine feste Trennung zwischen einer alteingesessenen Gruppe und einer Gruppe von später Zugewanderten festgestellt. Die letzteren wurden von der ersteren Gruppe, die sich für etabliert hielt, als Außenseiter betrachtet und regelrecht stigmatisiert. Sie wurden als Menschen von geringerem Wert behandelt.437 So begegnet man hier einem Vorgang, der eine universale Regelmäßigkeit von Etablierten-Außenseiter- Beziehungen zu sein scheint, wobei die etablierte Gruppe ihren Mitgliedern überlegene, (über-)menschliche Eigenschaften zuschreibt und alle Mitglieder der anderen Gruppe von einer interpersonellen Kommunikation und einer außerberuflichen Interaktion mit den eigenen Kreisen ausschließt.438 Nicht zu verstehen ist allerdings, „wie Mitglieder einer [etablierten] Gruppe das Bedürfnis empfanden und imstande waren, die der anderen [Außenseiter] als minderwertig abzustempeln, und dass sie ihnen ein Stück weit selbst das Gefühl der Minderwertigkeit einflößen konnten“439, so Elias. Die Etablierten leben dort seit mehrere Generationen, sie kennen einander, mögen/schätzen einander und haben einen starken Zusammenhalt.

„Ihr stärkerer Zusammenhalt gibt einer solchen Gruppe die Möglichkeit, soziale Positionen mit einem hohen Machtgewicht für die eigenen Leute zu reservieren, was seinerseits ihren Zusammenhalt verstärkt; und Mitglieder anderer Gruppen von ihnen auszuschließen; und genau das ist der Kern einer Etablierten- Außenseiter-Figuration.“440

Die neu Zugezogenen hingegen kennen sich kaum untereinander, sie bilden keine Gemeinschaft und können auch nicht zusammenhalten. Das macht sie stigmatisierbar, angreifbar und leicht bekämpfbar. Elias stellt ebenso fest:

437 Elias, Norbert / Scotson, John L.: Etablierte und Außenseiter, S. 7. 438 Elias, Norbert / Scotson, John L.: Etablierte und Außenseiter, S. 9. 439 Elias, Norbert / Scotson, John L.: Etablierte und Außenseiter, S. 10. 440 Elias, Norbert / Scotson, John L.: Etablierte und Außenseiter, S. 12.

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„Gegenwärtig besteht eine Tendenz, das Problem sozialer Stigmatisierungen so zu erörtern, als ob es einfach bedeute, dass Individuen eine markante Abneigung gegen andere Individuen entwickeln.“441

Doch diese Erörterung hält Elias mit Recht für falsch, denn so versäumt man es, die Beziehung zwischen Gruppenstigmatisierung442 und individuellem Vorurteil443 zu unterscheiden. Und das sind zwei ganz unterschiedliche Arten der Stigmatisierung mit deutlich unterschiedlichen Folgen.

„Ausschluss und Stigmatisierung der Außenseiter waren per se mächtige Waffen, mit deren Hilfe die Etabliertengruppe ihre Identität behauptete, ihren Vorrang sicherte und die anderen an ihren Platz bannte.“444

Einzelne Individuen, unabhängig davon wie machtvoll sie sind und wie falsch sie mit ihren Vorurteilen liegen, besitzen nicht die Stärke, eine ganze Gruppe zu stigmatisieren und sie „auf ihre Plätze zu verweisen“. Diese Fallstudie einer Gemeinde en miniature, wie Winston Parva eine ist, stellt ein universalmenschliches Problem dar, das sich immer wieder beobachten lässt. Auch in Kosova der Zeitspanne 1989-1999 und 1999-2009 lässt sich beispielsweise die Regelmäßigkeit einer Etablierten-Außenseiter-Beziehung feststellen, jedoch in einer anderen spezifischen Form. Hier sind die Außenseiter (die Fremden, Aggressoren, Neokolonialisten) diejenigen, die (a) in Kosova ankommen, (b) sich automatisch als herrschende Machtinstanz etablieren und (c) ohne Rücksichtnahme auf die dort etablierten einheimischen Kosova-Albaner ihre

441 Elias, Norbert / Scotson, John L.: Etablierte und Außenseiter, S. 13. 442 Wie z. B. die kollektive Stigmatisierung der Kosova-Albaner in der Ghettozeit 1989-1999.

443 Z.B. individuelle Racheakte, wie beispielweise am 17. März 2004, als einige erwachsene Serben in Mitrovica drei albanische Kinder mit Jagdhunden in den Fluss Ibër trieben, wo die Kinder ertranken. Daraufhin protestierten die betroffenen Albaner und setzten serbische Objekte in Brand. Das stellt jedoch nicht die Regel dar, sondern nur individuelle Racheakte.

444 Elias, Norbert / Scotson, John L.: Etablierte und Außenseiter, S. 12.

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Ziele verfolgen und als eine selbstetablierte realitätsbildende Machtinstanz die Bildung neuer Realitäten steuern.

Fabrikation •POLITIK als Realitätsbildende Kraft: • Distanzierung Einfluss auf Einstellung, • Neupositionierung Identität und Verhalten. • Interessenbildung politischer Akteure • Ortsorientiert • SOZIALE AKTEURE: (Territorium) Orientierung an Meinung • Identitätsbildung sozialer anderer, Bildung einer Akteure kollektiven Identität. • Gestaltungsorientiert • Idee-/Konzeptorientiert (Soziale Prozesse) Präsentation Modulation

Abb. 13: Theatermodell „H₂O“ als Modellanalyse der Bildung neuer Realitäten in Kosova

Die Bildung neuer Realitäten geschieht stufenweise und verläuft in drei Etappen: (1) Modulation ist die Phase, in der eine Idee/Konzept oder ein Mythos lanciert wird und die Vorbereitungen unternommen werden, diesen Mythos zu realisieren/verwirklichen bzw. in die Tat umzusetzen.

(2) Fabrikation umfasst die Phase des Produktionsprozesses, der Fabrikation und/oder der kreativen Prozesse, durch die der Mythos zu einer subjektiv konstruierten Realität wird. Hier finden Gestaltungsprozesse statt. Die zu einem Plan gewordene Idee wird hier realisiert. Von den hier stattfindenden Gestaltungs- bzw. Fabrikationsvorgängen hängt es ab, ob das neue, in der dritten Phase entstehende Realitätskonstrukt gelingt oder misslingt.

(3) Präsentation stellt die abschließende Phase dar, in der ein neues Realitätskonstrukt in Folge der vorausgegangenen Aktivitäten entstanden ist. Dies stellt auch die Phase dar, in der Bilanz gezogen wird. Je nach Gelingen/Misslingen des neuen Konstrukts (Endprodukts), findet entweder

208

eine (a) Distanzierung vom Ausgangsmythos und eine diesbezügliche Neupositionierung statt, d.h. eine (De-)Mythisierung, oder aber es wird (b) die Richtigkeit des Ausgangsmythos bestätigt, so dass eine erneute Mythisierung eintritt. In diesem Fall stellt diese dritte Phase die erste Stufe eines weiteren angehenden Vorgangs dar. Denn das Leben der Menschen ist, wie gesagt, ein Prozess, ein Vorgang, ein ununterbrochener, nicht- linearer445, sondern spiralförmiger446 und aus Konstruktion, Stagnation oder Destruktion bestehender Dauervorgang.

2.1 Die Bildung neuer Realitäten im Ghettodrama I

„Im Kosovo begann der Aufstieg des Slobodan Milosevic, das Kosovo wird sein politisches Ende besiegeln.“447

Das soziale Ghettodrama I der Kosova-Albaner beginnt im Jahr 1989 mit der widerrechtlichen Abschaffung der Autonomie von Kosova, der Zerstörung der schon nach dem zweiten Weltkrieg etablierten einheimischen Strukturen und mit der Etablierung des serbischen Regimes – Außenseiter im Sinne von Elias/Scotson – als einer neuen realitätsbildenden Machtinstanz. Der Prozess der Instrumentalisierung des Themas Kosovo hat eine längere Vorgeschichte. Schon im Prozess der Bildung einer serbischen Nation im 19. Jahrhundert wurde Kosovo durch die epischen Lieder von Vuk Karadžić448 zu einem ´Kosovo Mythos´

445 Die Struktur eines linearen Vorgangs besteht aus Beginn – Verlauf – Ende.

446 Eine spiralförmige Struktur ist meines Erachtens wie ein Zyklus, ein immer werdender Vorgang, wobei jede dritte Phase des vergangenen Prozesses einen Teil der ersten Stufe des folgenden Vorgangs beinhaltet. Die Formel eines spiralförmigen Vorgangs lautet z.B.: Phase 1 (Modulation/Produkt) ~ Phase 2( Fabrikation) ~ Phase 3 (Produkt/Modulation); Kurz: M/P ~ F ~ P/M ~ F ~ M/P ~ F ~ P/M; wobei M=Modulation, P=neues Produkt, F = Fabrikation.

447 Rüb, Matthias: „KOSOVO“. Ursachen und Folgen eines Krieges in Europa, S. 31.

448 Serbischer Autor, der sich für die Idee einer serbischen Nation einsetzte. Er sammelte albanische Volkslieder und präsentierte sie als `serbisches Kulturgut´. Auch der Krieg aller Balkan-Christen gegen das Osmanische Reich, der auf dem Amselfeld stattfand, wurde in diesem Sinne ´privatisiert´ und für einen ´serbischen Kampf´ erklärt. Diese Verdrehung der Tatsachen blieb im Laufe der Geschichte kein Einzelfall. Serben versuchten und versuchen andauernd, sich

209 gemacht. Eine gute Beschreibung dieses Vorgangs wird von Ger Duijzings geliefert: „by collcting and compiling them into a whole he ´canonised´ the Kosovo myth and thus provided Serbian national ideology with it´s mythical cornerstone.“449 Hier werden die Ereignisse vor und nach dem Amselfeld beschrieben, aber als wichtigste Episode gilt der Teil, in dem sich Tsar Lazar nicht für ein irdisches, sondern für ein ´himmlisches Reich´ entscheidet: „O Tsar Lazar, Prince of righteous lineage, which of the two kingdoms will you embrace? Would you rather choose a heavenly kingdom, or have instead an earthly kingdom here?“450

Konrad Clewing und Jens Reuter, zwei gute Kosova-Kenner, beschreiben den Vorgang dieser Etablierung wie folgt: „Der uralte Kosovo-Mythos wurde im 19. Jahrhundert neubelebt. Literatur, Theater und Malerei weckten eine schwärmerische Kosovo-Begeisterung, die von den Herrschenden politisch instrumentalisiert wurde.“451 Kosova wurde zu einer Wiege Serbiens und zum heiligen Land der Serben erklärt. Auch die Bezeichnung wurde in Kosovo und Metohija umgewandelt – was in etwa Land der Kirche bedeutet. „Es [Kosova] sollte nicht nur von osmanischer Herrschaft befreit, sondern tendenziell auch von Nichtserben gesäubert werden“452, so Reuter und Clewing. Das Insistieren der Serben auf ihren (als-ob-) historischen Rechten in Kosova interpretieren Reuter und Clewing interessanterweise „als Vorrang der Toten vor den Lebenden“. Ihnen zufolge ignorierte die serbische Propaganda die Tatsache, dass das zu einem „serbischen Jerusalem“ gewordene Kosova bei seiner „Befreiung“ in den

nicht nur das Territorium der Kosova, sondern auch das Kulturgut der Albaner anzueignen. Vgl. hierzu: Das Phänomen „Albanisches Orthodoxes Kulturgut als Ex-Territorium“, ein Missbrauch, der unter/mit Hilfe der UNMIK-Verwaltung geschah.

449 Duijzings, Ger: Religion and the Politics of Identity in Kosovo, S. 184.

450 Duijzings, Ger: Religion and the Politics of Identity in Kosovo, S. 185.

451 Reuter, Jens/Clewing, Konrad: Der Kosovo Konflikt. Ursachen, Verlauf, Perspektiven, S. 9. 452 Reuter, Jens/Clewing, Konrad: Der Kosovo Konflikt. Ursachen, Verlauf, Perspektiven, S. 9.

210

Balkankriegen 1912/13 mehrheitlich von Albanern bewohnt war.453 Reuter und Clewing weiter: „Sie [die Kosova-Albaner] wurden zum ´nationalen Fremdkörper´ erklärt, der in einem Gebiet [wie die aus slawischen Völkern bestendende Föderation Jugoslawiens damals war] im Grunde nichts zu suchen habe. (…) Obwohl alle Pläne zur Assimilierung, Vertreibung oder auch teilweise Vernichtung der albanischen Volksgruppe in der Zwischenkriegszeit gescheitert waren, setzte man die albanerfeindliche Politik in den ersten zwei Jahrzehnten der Tito-Herrschaft fort. Nach einem liberalen Zwischenspiel, das von 1966 bis 1981 dauerte, begann erneut die Politik der Repression.“454

Die Entwicklungen in Kosova wurden von der internationalen Gemeinschaft zunächst zwar mit Sorge wahrgenommen, aber irrtümlicherweise als ein Problem fehlender Menschenrechte interpretiert.455

Mythos als subjektiv konstruierte Realität •POLITIK als Realitätsbildende Kraft: • Distanzierung Einfluss auf Einstellung, • Neupositionierung Identität und Verhalten. • Interessenbildung politischer Akteure • Produkt-/Ortsorientiert • SOZIALE AKTEURE: Orientierung an Meinung • Identitätsbildung sozialer anderer, Bildung einer Akteure kollektiven Identität. • Gestaltungsorientiert • Idee-/Konzeptorientiert (De-) Mythisierung Lancierung eines Mythos Neues Realitätskonstrukt als Realitätskonstrukt

Abb. 14: Theatermodell „H₂O“ als Analysemodell neuer Realitäten im Ghettodrama I

In Abb. 14 sehen wir die drei Etappen, die eine Etablierung der Serben in Kosova im Namen eines politisch lancierten Mythos „Kosova sei die Wiege Serbiens“

453 Reuter, Jens/Clewing, Konrad: Der Kosovo Konflikt. Ursachen, Verlauf, Perspektiven, S. 9. 454 Reuter, Jens/Clewing, Konrad: Der Kosovo Konflikt. Ursachen, Verlauf, Perspektiven, S. 9. 455 Reuter, Jens/Clewing, Konrad:Der Kosovo Konflikt. Ursachen, Verlauf, Perspektiven, S. 10.

211 bzw. Kosovo sei das „heilige Jerusalem eines himmlischen Serbiens“ ermöglichen. Dies geschieht in drei Phasen:

Phase 1: Die Lancierung – das in Szene setzen – eines Mythos Die serbische Politik der 90er Jahre wird von einem serbischen elitären Machtdreieck456 geführt. Sie stützt ihre politische Plattformen und Handlungen der soziopolitischen Akteure durch eine sogenannten „Als-ob-Modus“, der typisch für theatralische Vorgänge ist. Der Als-ob-Modus diente als Grundlage vieler Ereignisse, Verhaltensweisen und Phänomene: 1. „Als-ob“- Ereignisse (a) Kosovo-Albaner vergewaltigen angeblich serbische Nonnen. (b) Albaner beschädigen angeblich serbische Gräber. (c) Alle Kosova-Albanischen Soldaten in der Jugoslawischen Armee seien angeblich suizidgefährdet. 2. „Als-ob“-Verhaltensweisen a) Kosovo-Albaner gefährden angeblich die Serben und die serbische Politik solle sie ´in Schutz´ nehmen. 3. Sich auf den „als-ob“-Modus stützende Phänomene Die sich auf den „als-ob“-Modus stützenden Phänomene beginnen mit der Erschaffung von „Als-ob“-Fakten bzw. „Als-ob“-Tatsachen: (a) Kosova sei angeblich die ´himmlische Wiege Serbiens´. (Rollenverteilung: Kosova nimmt die Rolle der himmlischen Wiege). (b) Die in Kosova lebende serbische Minderheit sei angeblich in Lebensgefahr.(Rollenverteilung: Serben müssen in die Opferrolle schlüpfen). (c) Die aus Kosovo-Albanern bestehende Bevölkerungsmehrheit stelle angeblich eine Gefahr für die Serben dar. (Rollenverteilung: kollektive ´Schuld´ der Kosovaren. Sie werden in einer Täterrolle gedrängt).

456 Machtdreieck = Serbische Regierung, Akademie der Wissenschaften und Orthodoxe Kirche.

212

Phase 2: Mythos als subjektiv konstruierte Realität In der zweiten Phase findet die Interessenbildung der politischen Akteure und die Identitätsbildung der sozialen Akteure statt. Ähnlich wie in der Winston Parva Gemeinde tritt auch hier eine Etablierten-Außenseiter-Beziehung auf. Der serbische Staatsapparat (Außenseiter) kommt nach Kosova und etabliert sich als herrschende Instanz. Es wird die Autonomie abgeschafft, das Territorium isoliert, materielle- und Kulturgüter werden beschlagnahmt, Albaner verhaftet, vertrieben und alle albanischen Mitarbeiter als technischer Überschuss entlassen. Mit allen Mitteln wird also versucht, dem Mythos, Kosova sei die Wiege Serbiens, nachzugehen. Da diese Zielsetzung imaginär ist, ist die Realisierung dieses Mythos unmöglich. In Folge tritt demnach eine (De-) Mythisierung ein. Die Serben werden vom alten Mythos distanziert457 und neuorientiert458.

2.2 Die Bildung neuer Realitäten im Ghettodrama II459 Die internationale Gemeinschaft (Außenseiter) kommt nach Kosova und etabliert sich als eine herrschende Instanz. Schon während der Rückkehr der ersten Flüchtlinge in das bis auf den Grund zerstörte Land behauptete Javier Solana aus Brüssel: „Sie [die Flüchtlinge] kehren in ein multiethnisches Land zurück“460.

457 Niemand spricht mehr von Kosova als himmlischem Reich Serbiens.

458 Sie kämpfen noch immer um das Territorium, jedoch mit anderen Methoden, wie z.B. durch die Teilung des Landes in ethnische Gemeinden. Vgl. hierzu: Vorgang der Teilung unter der Maske einer (Pseudo-) Dezentralisierung.

459 Das soziale Ghettodrama II umfasst die Zeitspanne 1999-2009.

460 Balkan-Web-News vom 12. Juni 1999.

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Fabrikation •POLITIK als Realitätsbildende Kraft: • Distanzierung Einfluss auf Einstellung, • Neupositionierung Identität und Verhalten. • Interessenbildung politischer Akteure • Ortsorientiert (Territorium) • SOZIALE AKTEURE: Orientierung an Meinung • Identitätsbildung sozialer anderer, Bildung einer Akteure kollektiven Identität. • Gestaltungsorientiert • Konzeptorientiert (Menschen) (Soziale Prozesse) Präsentation Modulation

Abb. 15: Theatermodell „H₂O“ als Analysemodell neuer Realitäten im Ghettodrama II

Phase I: Modulation – Die Bildung von Kosova als ein multiethnisches Land, trotz der demografischen Homogenität (97% der Bevölkerung sind ethnische Albaner) und trotz Verzicht auf einen Nationalstaat.

Phase II: Fabrikation – Versuche, den Mythos „Multiethnizität“ als Realitätskonstrukt zu etablieren. Paradoxerweise wird hier versucht, die Albaner zu desubjektivieren und zu entnationalisieren, während z.B. aus Zigeunern (früher ein Volk) durch die UNMIK-Verwaltung folgende Derivate des Zigeunerturms offiziell anerkannt werden: Roma, Ashkali, Egjyptian, Magjup, Gabel usw. Der Kampf Serbiens ums Territorium wird damit als ethnisches Problem zwischen den Bewohner von Kosova (Albaner) und den Minderheiten interpretiert – was ja nicht stimmt. Wirtschaft, Bildung und Selbstbestimmung werden missachtet.

Phase III: Präsentation: Da die Modulation sehr illusorisch ist, wird sie wohl kaum wie erwartet realisiert werden, sondern in eine (De-) Mythisierung münden. (Eine Präsentation als Erfolg, obwohl sie jetzt ein Desaster ist?)

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2.3 Selbstbestimmungsphilosophie als Ghettoausbruch Der erste Versuch, die Einheimischen zum Wohle der Nation bzw. des Territoriums zu etablieren und die Fremden sowie fremdbestimmte Herrschaften als Außenseiter, was sie ja in der Tat sind, zu betrachten, wird zur Zeit von Albin Kurti und seiner Selbstbestimmungsbewegung unternommen.

Albin Kurtis Modulation lautet:

(a) Keine neokolonialistischen Strukturen, sondern Selbstbestimmung; keine ethnische Teilung; wirtschaftliche Entwicklung und Wohlstand für alle Bürger des Landes, unabhängig von ihrer Ethnie; keine Ex-Territorialen Zonen (gestohlenen Kulturgüter), sondern Respektierung der Geschichte, Tradition und Autochthone aller Bürger – jedoch unter der Prämisse jedem das seine.

(b) Fabrikation: Die Selbstbestimmungsphilosophie ist keine Illusion, sondern etwas Wünschenswertes. Die Realisierung dieses Konstrukts würde einen Ghettoausbruch, Freiheit und Demokratie symbolisieren.

(c) Präsentation: Messbare Erfolge und Affirmation der jungen, nicht korrupten Politiker und der Selbstbestimmungsbewegung. Hier besteht keine Gefahr einer (De-) Mythisierung, da die in der ersten Phase dargestellte Modulation nicht illusorisch, sondern real ist. Selbstbestimmung stellt das Wesen demokratischer Systeme dar, deswegen betrachte ich Albin Kurtis Selbstbestimmungsphilosophie und seine Selbstbestimmungsjugendbewegung als eine Chance sowohl zum Ghettoausbruch, als auch zur Entwicklung und Prosperität.

215

3 Überprüfung der Thesen

3.1 These 1 In Anlehnung an den Sozialkonstruktivismus konnten wir davon ausgehen, dass unsere Welt aus sozialen Konstrukten besteht. Diese Konstrukte können lt. William James (subjektiv) und Goffman zufolge (gesellschaftlich) konstruiert werden. Ich hingegen gehe davon aus, dass die Bildung neuer Realitäten grundsätzlich durch elitäre realitätsbildende Instanzen geschieht.

Während ästhetische Produkte (Theater) unter einer Regieleitung als führende Instanz entstehen, spielt Politik (soziales Leben) die Rolle einer führenden elitären realitätsbildenden Instanz.

Politische Führung Regieführung

Politische Plattform Regieplattform

Soziale Akteure Bühnenakteure

Rollenverteilung/‐übernahme Rollenverteilung/‐übernahme

Handlung Performance

SOZIALES DRAMA STAGE DRAMA soziale Ereignisse ==> soziale Prozesse Bühnenprozesse ==> Bühnenereignisse

Abb. 16: Analogie zwischen realitätsbildender Instanz in sozialer Welt und Bühnenwelt.

In Abb. 16 sehen wir eine Analogie zwischen der realitätsbildenden Instanz in der soziale Welt und der Bühnenwelt. Durch die Ausführungen in Kapitel 2.3 (Punkt 2.3.1) fühle ich mich sowohl in der Annahme (3) bestätigt, die besagt, dass ´in der Gegenwartsgesellschaft neue Realitäten von einer realitätsbildenden elitären Instanz konstruiert werden´, als auch hinsichtlich der These 1.

216

3.2 These 2 Während die Bildung ästhetischer Produkte durch Dramatisierung, Inszenierung und Aufführung gekennzeichnet ist, forderte die Bildung neuer sozialer Realitäten des Eisernen Ghettos I folgende Schritte: Lancierung, Realisierung und (neue) Realität. Dementsprechend ist die Bildung oder Veränderung der Realitäten im Ghettodrama II durchaus durch Modulation, Fabrikation und Präsentation möglich.

(a) Inszenierung (b) Realisierung • Der Mythos (c) Fabrikation • Distanzierung • Die Handlung • Neupositionierung • Veränderungsmodi • Bühnen Akteure/Regie (Konzeptorientiert) • Ortsorientiert • Soziale Akteure/Politik (Bühne/Territorium/Areal) • Gestaltungsorientierte Modellierung, Produktion, Kreative-/Soziale Prozesse. (a) Aufführung (a) Dramatisierung (b) Neue Realität (b) Lancierung (c) Präsentation (c) Modulation

Abb. 17: Bildung/Veränderung der Realitäten im Ghettodrama II

Goffman461 war der Meinung, dass sich „auch die härteste Wirklichkeit … systematisch verändern [lässt], falls irgendeine Modulation möglich ist.“462 Durch die Ergebnisse in Kapitel III (Empirische Analyse) fühle ich mich somit in der These 2 bestätigt.

461 Handlung, Handelnde und Ort sind Komponenten, die dem Theatercode „H₂O“ zu Eigen sind und ihm zugrunde liegen. Daraus ergibt sich, dass die Bildung neuer Realitäten mit Hilfe des drei- Phasen Theatermodells „H₂O“ am besten zu analysieren ist. 462 Die Internationale Gemeinschaft setzt in Kosova die Multiethnizität als Modulation und die (UN-)Abhängigkeit, Dezentralisierung und Ex-Territorialität als Täuschungsmanöver ein.

217

3.3 These 3 Ein ästhetisches Bühnenprodukt kann eine positive/negative Wirkung auf sein Publikum haben und es positiv/negativ beeinflussen (Annahme 1). Analog hat auch die Bildung eines bestimmten sozialen Konstrukts eine Wirkung auf die von ihm Betroffenen (Annahme 2). Dadurch kann die Einstellung, das Handeln und die Identität sozialer Akteure beeinflusst und manipuliert werden (Annahme 3). Daraus lässt sich schlussfolgern, dass analog zu einer Regieplattform, die zu einem lebensbejahenden und/oder kulturfördernden Bühnenereignis führen kann, auch eine bestimmte politische Führung eine kriegs- bzw. friedenstiftende Rolle spielen und je nach Einstellung ihr Handeln und ihre Situationsinterpretation zu einer (De-) Eskalation einer Krise führen kann.

(Konflikt-) Einstellung

Konflikterweiterung (Eskalation) Führen zu einer und/oder Konfliktlösung (Deeskalation) (Konflikt-) (Konflikt-) Verhalten Situation

Abb. 18: In Anlehnung an Mitchells Triaden Modell

Nach dem Triaden-Modell von Christopher Mitchell, der mit Hilfe eines Dreiecks wesentliche Aspekte der Konfliktforschung darstellt, kann ein Konflikt in drei Komponenten unterteilt werden: Einstellung, Handeln (Verhalten) und (Konflikt-) Situation. Mitchell definiert die konfliktöse Einstellung als „emotionalen Zustand der Angst, der Feindseligkeit, der Wut oder der Aggression“, der von einer großen oder kleinen – in den Konflikt verwickelten – Gruppe von Individuen erzeugt wird.

218

Die Konflikteinstellung wird durch eine Vielzahl psychologischer Mechanismen beeinflusst, die eine Situation in den Augen der Bevölkerung als unlösbar erscheinen lassen können. „Conflict attitudes are regarded as those psychological states that frequently accompany and arise from involvement in a situation of conflict.” (Mitchell 1981, S. 27).

Das Konfliktverhalten ist Mitchell zufolge ein weiteres Element der Triade und stellt ein konfliktreiches- bzw. konfliktstiftendes Handeln dar. Meistens werden Handlungen durchgeführt, die den Gegner oder die Gegenseite dazu bringt, ihre Ziele aufzugeben oder zu modifizieren: „Actions undertaken by one party in any situation of conflict aimed at the opposing party with the intention of making that opponent abandon or modify that goals.“ (Mitchell 1981, S. 29).

Eine (Konflikt-)Situation ist innerhalb und zwischen Gesellschaften und Staaten möglich. Sie besteht Mitchell zufolge aus mehreren Konfliktsubjekten und mindestens einer Konfliktursache: „A situation of conflict will be defined as any situation in which two or more social entities or ´parties´ perceive that they possess mutually incompatible goals.“ (Mitchell 1981, S. 17).

Die Interaktion zwischen diesen drei Komponenten der Triade zeichnet das Ausmaß eines Konfliktes aus: „The process of conflict is the interaction between the points of the triad.“ (Mitchell 1981). Zu den Dynamiken, welche der konfliktöse Prozess hervorbringt gehört: (a) die Konflikterweiterung bzw. die Eskalation und/oder (b) die Konfliktlösung bzw. Deeskalation des Konflikts. Entsprechend dieser Erläuterung sehe ich mich deshalb auch in meiner These 3 bestätigt.

219

V. SCHLUSSWORT Als ich mit dieser Arbeit begann, ging es mir hauptsächlich darum, die soziale Rolle des Theaters für die Ghettogesellschaft in Kosova (1989-1999) zu untersuchen. Die Untersuchung sollte sich zunächst auf das Ghettotheater von Kosova in der Ghettozeit einschränken. Später stellte sich heraus, dass der Ghettozustand nicht im Jahr 1999 aufhörte, sondern weiterhin als unsichtbare Einschränkung in jeder Pore des sozialen Lebens präsent ist.

Eines der ersten Ziele von mir war, einen fachspezifisch theaterwissenschaftlichen Blick auf das Ghettoland Kosova zu werfen, um herauszufinden:

a) welche Art Theater in Kosova der Ghettozeit gemacht wurde und wie sich dieses Theater kategorisieren lässt (Identifizieren, Systematisieren, Dokumentieren); b) wer die Theatermacher sind und wer die Hauptakteure (Beobachten, Beschreiben); c) und vor allem, wo und wie es stattfand (Analysieren, Interpretieren).

Immer mehr stellten sich dann die Fragen: Geschieht das wirkliche Theater wirklich auf der Bühne oder hat sich im sozialen Leben in Form von Theatralität und Handeln ein als-ob-Modus eingeschlichen? Falls ja, wer macht hier „so viel Theater“: das Individuum, eine Gruppe oder die ganze Gesellschaft?

Je mehr ich in diese Richtung forschte, desto mehr fand ich heraus, dass Theater und seine Derivate Dramatik, Dramatizität, Theatralik, Theatralität, Inszenierung, Akteure, Als-ob-Modus usw. viel mehr im sozialen Leben präsent sind als auf der Bühne selbst. Die Bühne hatte sogar angefangen, alternative Muster für Lebenssituationen anzubieten, denn das Leben der Kosovaren war entweder sehr dramatisch (vgl. Ghettodrama I, 1989-1999) und ein Kampf ums Überleben und/oder sehr theatralisch (vgl. Ghettodrama II, 1999-2009) in der Nachkriegsgesellschaft – mit internationalen „Freunden“, als ob alles in Butter bzw. Friede-Freude-Eierkuchen wäre, folglich ein als-ob-Modus. Es gab nichts dazwischen, weder eine Realität, noch eine Normalität. Ich stellte die Bildung

220 vieler Realitäten fest, aber keine „reale Realität“, keine Wirklichkeit, die von allen gleich wahrgenommen werden konnte. Während meiner Beschäftigung als Beraterin für Medien und Öffentlichkeitsarbeit des gegenwärtigen Ministerpräsidenten von Kosova musste ich leider feststellen, dass fast alles in der einheimischen und internationalen Politik nur Theater ist (Schauspiel), aber viele Dinge gar nicht so gemeint sind, wie es präsentiert wird. Sogar die Unabhängigkeitserklärung hätte eine Placebo-Pille für das Volk (Koosva- Albaner) sein sollen, indem sie nicht „wirklich“ wirklich ist und keine „reale“ Realisierung zu erwarten sei. Ebenso schockierend war für mich die Erkenntnis, dass die sogenannte Unabhängigkeit des Landes tatsächlich eine (UN- )Anhängigkeit darstellt, denn Kosova befindet sich zurzeit in absoluter Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten (Washington D.C.) und der Europäischen Union (Brüssel). So viel Theatralik und Täuschungsmanöver findet man kaum mehr auf der Bühne. Des Weiteren musste ich die Erfahrung machen, dass es genauso interessant ist, die Theatralik des realen Lebens unter die Lupe zu nehmen. Diese ist theaterwissenschaftlich ebenso relevant wie die Untersuchung des Lebens im Theater und den daraus entstandenen ästhetischen Produkten.

Denn diese zwei Aspekte beeinflussen sich ganz stark gegenseitig. Während sich das soziale Drama, das im sozialen Leben der Kosovo-Albaner stattfindet, in den Bühneninszenierungen und kulturellen Produkten im Allgemeinen reflektiert wird, nehmen umgekehrt Bühneninszenierungen, Komödien, Performanzen, poetische Treffpunkte usw. direkten Einfluss auf das soziale Ghettodasein der Kosovaren, oder genauer gesagt: „sie machen es möglich“ – wie es am Beispiel des Front- und Exiltheaters zu sehen war.

Aufgrund der starken Überpolitisierung des Daseins, wobei einem normalen Leben jede Normalität entnommen ist und da im ghettoisierten Kosova das Wort Politik problemlos stellvertretend für den Begriff Alltag/Leben verwendet werden könnte, ragt im Laufe dieser Arbeit die theatralische und die politische Dimension des Theaters beständig wie ein roter Faden heraus. Somit gelang es mir relativ gut, die Dimension der Historizität, von der die ganze auf Kosova bezogene Literatur geprägt ist, auf ein Minimum zu reduzieren und die Politik bzw. die

221 politischen Entwicklungen nur von der Dimension des Theaters, der Theatralität und/oder eines Handelns im als-ob-Modus zu untersuchen.

Ein wichtiges Ziel dieser Arbeit ist, den Rahmen des Theaterereignens von der Perspektive einer Bühne des sozialen Lebens (mit sozialpolitischen Akteure und Zuschauern) genau zu beobachten, dann zu identifizieren, zu systematisieren und zu dokumentieren. Parallel wurde der Versuch unternommen, das zeitgenössische Ghettotheater der unterdrückten Kosovaren von der entertainerischen Perspektive der Bühnenereignisse zu beschreiben bzw. zu analysieren und zu interpretieren. Dabei ist es ganz wichtig zu betonen, dass in der Ghettozeitspanne zwei wichtige Rahmen des Theaterereignens zu unterscheiden sind: zum einen das sozialpolitische Theater, das „ums Kosovo als Territorium“463 gemacht wird (Soziale Ghettodrama I und II) und zum anderen das Theater bzw. die Inszenierungen, die in Kosova als ästhetische, künstlerische Produkte entstehen.

Die Herausforderung dieser (Er-)Forschung liegt jedoch nicht nur darin, den Rahmen des Theaterereignens in der Kosovarischen Ghettogesellschaft mit theaterwissenschaftlichen Methoden herauszuarbeiten, sondern auch in der Tatsache, dass Theater nicht nur auf der Bühne geschieht, sondern auch im sozialen Leben einen einflussreichen Platz einnimmt. Deshalb war es wichtig, nach einem gemeinsamen „Nenner“ zwischen Leben und Theater zu suchen, nach einem Code, der dem „sozialen Leben“ ebenso „eigen“ ist wie dem Theater als

Phänomen. Als solcher stellte sich der Theatercode „H2O“ heraus. Dieser Theatercode liegt einem Drei-Phasen konstruktivistischen Theatermodell zugrunde, wodurch die Analogie zwischen dem Prozess der Inszenierung einer Aufführung als ästhetisches Endprodukt und der Bildung neuer Realitätskonstrukte in der sozialen Welt als sozial(politisch)es Endprodukt

463 Hierzu zählt a) die stillschweigende Inszenierung politischer Szenarien und Lancierung von bestimmten Mythen, die der Republik Serbien in der Zeitspanne 1989-1999 eine einwandfreie Besatzung der Autonomen Provinz von Kosova ermöglicht, und b) das Theater bzw. die Theatralität der internationalen Gemeinschaft ums Kosova und die Kosovaren, während und nach dem Kosovo-Krieg.

222 beleuchtet werden kann. Zum anderen wurde das Theater, das „von den Kosovaren für die Kosovaren“ 464 selbst auf der Bühne des Theaters ins Leben gerufen wurde, thematisiert. Hier wurde die Rolle des Theaters als Institution behandelt, sein Stellenwert und seine Funktion während der absoluten Isolation im Rahmen des „Eisernen Ghettos“ sowie zwei ästhetische Theaterprodukte als exemplarische Darstellungen herangezogen.

Neben dem dramatischen Leben auf der Bühne des Theaters, bleibt auch das soziale GhettoDrama der Albaner weiterhin im Modus einer von Paradoxien ausgeprägten Wechselwirkung zwischen Dramatik und Theatralik. Eine unerschöpfliche Quelle für theaterwwissenschaftliche und ethnopolitische Untersuchungen dieser Art.

464 Hierzu zählt das Ghettotheater der unterdrückten Kosovaren (1989-1999) sowie das Kriegs- und Nachkriegstheater (1999-2009) in Kosova.

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