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Sendung vom 12.12.2008, 20.15 Uhr

Renate Schmidt Bundesfamilienministerin a.D. im Gespräch mit Hans Oechsner

Oechsner: Liebe Zuschauer, ich begrüße Sie zu einer neuen Ausgabe von alpha- Forum. Zu Gast ist heute Renate Schmidt, SPD-Politikerin und ehemalige Bundesministerin. Frau Schmidt, Politik ist eine Droge und von einer Droge kommt man meistens nur sehr schlecht los. Sie jedoch kommen offenbar ganz gut los davon. Sie werden demnächst 65 Jahre alt und mit 65 schicken Sie sich selbst in Pension, indem Sie nicht mehr zur Wahl antreten. Haben Sie nicht Angst, in ein tiefes Loch zu fallen? Schmidt: Da habe ich überhaupt keine Angst. Es wäre vielleicht ein tiefes Loch gewesen, wenn ich nach meiner Zeit als Ministerin sofort ins absolute Aus gegangen wäre in der Politik. Ich hatte aber das große Glück, dass ich für den Wahlkreis Erlangen noch einmal kandidieren durfte, dass ich also in den letzten Jahren wieder Abgeordnete gewesen und damit z. B. als BAföG-Berichterstatterin sozusagen zu meinen Ursprüngen in der Politik zurückgekehrt bin. Im Vergleich zu meiner Tätigkeit als Ministerin war das doch sehr viel weniger anspruchsvoll. Ich freue mich jedenfalls auf die Zeit nach der Politik, denn ich bin ein Mensch, der sich ein Leben neben der Politik immer sehr, sehr gut hat vorstellen können. Oechsner: Aber sich das vorzustellen und das dann wirklich zu haben ist doch ein Unterschied. Im Augenblick haben Sie vermutlich noch einen vollen Terminkalender, auch wenn das alles nicht mehr so heftig ist, wie das noch vor einigen Jahren der Fall gewesen ist. Schmidt: So ist es. Oechsner: Der volle Terminkalender teilt einem die Zeit ein, gibt einem aber auch das Gefühl von Wichtigkeit. Wie wird das hinterher sein? Schmidt: Erstens habe ich außerhalb der Politik eine ganze Menge Interessen. Zweitens habe ich eine große Familie, die sich zumindest zu einem gewissen Teil freut, dass ich mehr Zeit habe. Mein Mann sieht es manchmal etwas skeptisch, dass ich dann womöglich sehr viel mehr zu Hause sein werde, weil er glaubt, dass ich mit meiner ganzen Energie ihn zu sehr beanspruchen könnte. Aber da muss er sich keine Sorgen machen. Ich lese sehr gerne, ich habe eine große Zahl von Interessen. Insofern mache ich mir also keine Sorgen. Und ich habe auch noch eine ganze Reihe von kleineren Aufgaben, die ich über das Mandat hinaus weiterhin erfüllen werde. Oechsner: Diese Frage lag mir selbst schon auf der Zunge: Wenn Sie dann plötzlich zu Hause sitzen mit all der Energie, die Sie bisher in Ihrem politischen Leben gezeigt haben, dann könnte es für Ihren Partner tatsächlich gar nicht so leicht werden. Da kann es schon sein, dass er sich hin und wieder denkt: "Mensch, so eine kleine Energieableitung in Form einer Aufgabe wäre schon nicht schlecht für sie." Schmidt: Diese "kleinen Ableitungen" wird es ja auch geben, d. h. ich werde nicht 24 Stunden rund um die Uhr zu Hause sein. Oechsner: Und die Öffentlichkeit wird Ihnen nicht fehlen? Schmidt: Nein. Ich arbeite jedenfalls im Moment daran, wieder unbekannt zu werden. Solche Gespräche wie das hier sind diesem Ziel natürlich nicht unbedingt förderlich. Oechsner: Das wollte ich gerade fragen: Wie macht man denn so etwas? Schmidt: Doch, man kann so etwas tatsächlich machen. Das schafft man z. B. dadurch, dass man viele Anfragen von Medien negativ bescheidet und nur noch das macht, was einem wirklich wichtig ist. Das, was wir heute hier machen, fand ich ganz schön, aber ansonsten sage ich sehr, sehr viele Dinge ab. Ich arbeite wirklich daran, wieder unbekannt zu werden. Ich freue mich immer, wenn die Menschen nicht mehr so ganz genau wissen, wo sie mich eigentlich hintun sollen. Oechsner: Gut, heute in der Maske hier bei uns war es noch nicht so. Auf die Frage, ob Sie eitel seien, haben Sie einmal geantwortet: "Ich bin so eitel wie alle, die in der Öffentlichkeit stehen." Schmidt: Ja, so wie Sie vermutlich auch. Oechsner: Wir sprechen aber heute nur von Ihnen! Werden Sie sich denn tatsächlich relativ komplett aus der Öffentlichkeit zurückziehen? Oder haben Sie Ehrenämter? Werden Sie irgendwo Beraterin oder Beirätin? Denn manche Politiker scheiden zwar aus der aktiven Politik aus, haben hinterher aber genauso viele Termine wie vorher. Schmidt: Ich möchte darauf achten, dass mein Terminkalender deutlicher leerer ist. Aber er wird nicht ganz leer sein. Ich bin z. B. mit Barbara Stamm und im Ethikbeirat des Deutschen Lotto- und Totoblocks, wo wir uns um Spielsucht und ähnliche Dinge kümmern. Wir kümmern uns dort aber auch darum, dass das Glücksspielmonopol des Staates erhalten bleibt, weil das die beste Möglichkeit ist, dieser Sucht entgegenzuwirken. Darüber hinaus bin ich gerade berufen worden als Ombudsfrau von Vodafone für Datenschutz und andere Anfechtungen, denen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ausgesetzt sein könnten. Auch das wird eine Aufgabe sein, die über das Mandat hinausgeht. Und ich kandidiere für den Vorstand der Organisation "Gegen Vergessen - Für Demokratie", in der z. B. Hans-Jochen Vogel sehr aktiv gewesen ist. Ich bin in einem Beirat von La Roche für Rheumaerkrankungen usw. Das sind alles keine Tätigkeiten, die einen terminlich permanent in Anspruch nehmen würden, die einen aber doch in einem gewissen Ausmaß in Anspruch nehmen – was wiederum zur Beruhigung meines Mannes beiträgt. Aber das sind keine Termine, die in hohem Ausmaße öffentlichkeitswirksam sind. Insofern wirkt das alles also nicht dem entgegen, was ich vorhin gesagt habe: dass ich daran arbeite, wieder unbekannt zu werden. Oechsner: Sie meinen, ich sollte so langsam anfangen, Ihnen das zu glauben. Schmidt: Richtig. Oechsner: Sie haben in Ihrer politischen Arbeit ja weit mehr als ein Vierteljahrhundert SPD miterlebt, genauer gesagt waren das sogar deutlich über 30 Jahre. Sie haben, wie es sich bei der SPD gehört, eher ganz links angefangen. Schmidt: Das stimmt. Oechsner: Und wo sind Sie heute gelandet? Normalerweise wird man ja etwas ruhiger und "wandert" daher eher in die Mitte. Schmidt: Es gibt Punkte, bei denen ich nach wie vor wohl eher links bin. Es gibt andere Punkte, bei denen ich in meiner Partei zu den eher Konservativen gehöre. Insgesamt würde ich mich heute als ein typisches Mitte-Mitglied einschätzen. In manchen Punkten habe ich meine Positionen gar nicht verändert und bin damit innerhalb der SPD ganz einfach weiter in die Mitte gewandert. In anderen Punkten habe ich sie verändert. Insgesamt würde ich also sagen, Renate Schmidt ist eine Mitte-Frau, ist nach wie vor, denn das war ich immer, eine Pragmatikerin, weil ich auch schon als Linke immer erkannt hatte, was wirklich durchsetzbar ist, was vernünftig ist und was weniger vernünftig ist. Wie gesagt, bei manchen Positionen bin ich nach wie vor eher eine Linke. Oechsner: Sie haben sich also in all diesen Jahren doch auch ein kleines bisschen verändert. Hat sich denn die SPD in dieser Zeit auch verändert? Wie hat sie sich denn verändert? Schmidt: Die SPD ist heute nicht mehr so ganz unverwechselbar. Als ich 1972 in die SPD eingetreten bin, gab es noch sehr klare Lager: Da gab es auf der einen Seite das konservative Lager und auf der anderen Seite die Sozialdemokraten, da gab es noch die Liberalen, die in höherem Ausmaß Sozialliberale waren. Und die Grünen gab es damals noch überhaupt nicht. Diese Unverwechselbarkeit der großen Volksparteien, denn diese Veränderung gilt ja nicht nur für die SPD, ist heute nicht mehr in diesem Ausmaß gegeben. Es ist natürlich auch eine große Schwierigkeit, wenn man nicht mehr eindeutig zu identifizieren ist. Ich glaube aber, dass das gar nicht mehr geht, weil sich nämlich auch die Union der SPD in einem hohen Umfang angenähert hat. Die Auswirkungen der momentanen Finanzkrise werden uns noch lange Zeit begleiten: Das ist eine Krise, die der Sozialdemokratie eigentlich in ihr Gedankengut hineinspielt. Dies wiederum zwingt die anderen Parteien, sich stärker sozialdemokratischem Gedankengut anzunähern. Das alles sind also Dinge, die für uns auf der einen Seite positiv sind, denn man will ja etwas erreichen. Auf der anderen Seite sind sie aber parteipolitisch betrachtet nicht unbedingt positiv für uns, weil das bedeutet, dass man mit anderen zusammen in einen Topf geworfen und damit verwechselbarer wird. Oechsner: Das ist das eine Problem, das man bekommen kann. Das andere Problem hat die SPD in ihrer Geschichte ja auch schon mehrfach erlebt, dass sich nämlich die Linke abspaltet, dass es also links nicht nur die SPD gibt, sondern auch noch andere Parteien, und die SPD dadurch automatisch kleiner wird. Schmidt: Das ist so. Als damals die Grünen entstanden, haben ja manche geglaubt, dass das nur eine vorübergehende Erscheinung wäre. Ich will das zwar nicht gleichsetzen mit der heutigen Zeit, aber ich glaube doch, dass das begrenzte Zeiträume sein werden. Oechsner: Sie meinen damit die heutigen Linken? Schmidt: Ja, das hat etwas mit Personen zu tun und ich glaube, dass wir irgendwann wieder zusammenkommen werden. Gut, das wird sicherlich nicht in den nächsten zwei, drei Jahren geschehen. Oechsner: Glauben Sie denn, dass sich auch dieses Problem mit den Volksparteien eines Tages wieder lösen wird? Die großen Parteien versuchen ja beide schon seit Jahren, immer weiter in die Mitte zu rücken, versuchen immer mehr Mainstreampolitik zu machen, um möglichst viele Wähler "aufzusaugen". Dabei geschieht aber gleichzeitig das, was Sie soeben geschildert haben: Die beiden Volksparteien werden verwechselbar. Schmidt: Die Volksparteien mussten immer versuchen, möglichst viele zu erreichen, sie mussten sich immer auf die Mitte konzentrieren. Sie mussten immer versuchen, von der Mitte aus ihre jeweilige Richtung zu umfassen. Das wird aber heute schwieriger, auch weil die Bevölkerung, die Wählerinnen und Wähler, viel individualistischer sind. Es gibt heute Menschen, die von ihrem Gedankengut her ein bisschen grün, ein bisschen sozialdemokratisch, ein bisschen konservativ und auch ein bisschen liberal sind. Sie entscheiden sich dann auch von Fall zu Fall, welche Partei am besten in ihr Gedankengut hineinpasst. Weil sich heute die Bevölkerung mehr und mehr aufspaltet, ist das also für die Volksparteien nicht mehr so einfach. Es gibt nicht mehr die klassische Arbeitnehmerschaft, die eine einzige Richtung verfolgt. Es gibt nicht mehr die klassische Unternehmerschaft, die ebenfalls nur eine Richtung verfolgen würde. Das Ganze ist also heute sehr viel differenzierter. Oechsner: Sind die Wähler nicht auch pragmatischer geworden, weil sie unideologischer geworden sind? Früher gab es zwischen der SPD und der Union deutliche ideologische Unterschiede. Das ist heute vielleicht auch nicht mehr so. Schmidt: Das stimmt, man hat keine Angst mehr voreinander, und ich finde, das ist auch gut so. Oechsner: Das ist sicher ein Vorteil. Ist es denn heute schwieriger, Politik in der Öffentlichkeit zu vermitteln? Schmidt: Ja, ganz eindeutig. Bitte, ich neige nicht dazu, den Medien immer den Schwarzen Peter zuzuschieben, aber es ist nun einmal so, dass wir heute in einer Mediengesellschaft leben, in der von Politikerinnen und Politikern verlangt wird, dass sie zu jedem Problem innerhalb der nächsten fünf Minuten eine möglichst vernünftige Lösung anbieten können – und die soll auch noch in ein Statement von 30 Sekunden hineinpassen. Das ist etwas, das anders war damals, als ich als hauptberufliche Politikerin angefangen habe. Nehmen wir z. B. einmal das Buch von Hans Ulrich Kempski über die deutschen Bundeskanzler. Er beschreibt da diese Zugfahrt von zurück aus Erfurt, bei der Kempski dabei gewesen ist. In Erfurt hatte sich Brandt mit Willi Stoph getroffen und die Menschen hatten auf der Straße vor dem Hotel von Willy Brandt "Willy! Willy!" gerufen. In der damaligen DDR! Er saß dann also im Zug zurück mit den Journalisten – schon alleine, dass er im Zug gesessen hat, unterscheidet sich von den heutigen Verhältnissen, schon das ist sozusagen eine Entschleunigung von heute aus gesehen. Die Journalisten haben ihn dort jedenfalls bedrängt und ihn gefragt, wie er das, was er da in Erfurt auf der Straße vor seinem Hotel erlebt hatte, bewerten würde und welche Konsequenzen der ganze Besuch haben werde. Willy Brandt antwortete darauf: "Geben Sie mir doch bitte mal eine Woche oder zehn Tage Zeit!" Welcher Politiker, welche Politikerin kann es sich heute leisten, eine Woche oder gar zehn Tage mit einer Antwort zu warten? Es ist also heute sehr viel schwieriger geworden, Politik zu vermitteln. Oechsner: Dabei ist die Welt vermutlich sogar noch komplizierter geworden. Schmidt: Ja, das stimmt. Oechsner: Eine häufig angestimmte Klage lautet, dass es immer weniger Politiker mit Ecken und Kanten gebe. Heute gehören alle angeblich zum Mainstream und alle seien gleich. Ist das so? Oder sagen wir das nur deshalb, weil wir glauben, früher sei ohnehin immer alles besser gewesen? Schmidt: Erstens ist es nicht so und zweitens neigen natürlich alle dazu, die Vergangenheit zu verklären. Und drittens ist die Politikergeneration vor meiner Zeit, also die Generation der Brandt, Schmidt, Weizsäcker usw. von einem Erlebnis geprägt worden, das uns Nachfolgenden Gott sei Dank erspart geblieben ist: Sie haben die Erfahrung des Krieges gemacht, sie haben die Erfahrung eines völlig zerstörten Deutschlands gemacht usw. Sie haben daraus die Verpflichtung abgeleitet, aus dieser außergewöhnlichen Situation etwas machen zu müssen. Wir mussten uns dann später in unserer Generation Gott sei Dank nicht Herausforderungen dieses Ausmaßes stellen. Natürlich war die Wiedervereinigung Deutschlands eine große Herausforderung: Ihr hat sich die Politik aber auch gewachsen gezeigt. Ob das nun war, ob das damals noch Willy Brandt oder Hans-Jochen Vogel waren: Wir haben uns dieser Herausforderung gewachsen gezeigt. Das, was sich vor Kurzem im Deutschen im Zusammenhang mit der Finanzkrise abgespielt hat, schätze ich genauso ein: Wir wissen vielleicht noch gar nicht so genau, dass diese Herausforderung möglicherweise ein ähnliches Ausmaß annehmen könnte. Aber auch hier hat sich die Politik dem gewachsen gezeigt. Da gibt es also auch Menschen mit Ecken und Kanten, ob sie nun Steinbrück oder Merkel heißen. Sie haben gezeigt: "Wir schaffen das!" Es gab in dieser Situation auch ein Parlament, das zusammengehalten hat – trotz unterschiedlicher Positionen. Deswegen bin ich der Meinung, dass unsere Demokratie zwischendrin auch mal ein großes Lob verdient. Oechsner: Dennoch würde ich hier gerne noch etwas anmerken, das vielleicht nicht so positiv ist. Journalisten und Politiker haben zumindest eines gemeinsam: Beide haben einen relativ schlechten Ruf in der Bevölkerung. War das während Ihrer ganzen Zeit in der Politik so? Wie haben Sie das empfunden? Denn man muss ja als Politiker ständig z. B. mit dem Vorwurf leben, die Menschen hätten kein Vertrauen in die Politiker. Schmidt: Es wird aber immer gesagt: "Sie persönlich meinen wir gar nicht!" Das wird vermutlich zwei Dritteln oder gar 90 Prozent der Abgeordneten so gesagt werden. Also sollte man vielleicht mal diese fünf bis zehn Prozent benennen, zu denen man kein Vertrauen haben kann – aus welchen Gründen auch immer –, und nicht die gesamte Politik immer in einen Topf schmeißen. Denn das hat in meinen Augen eine nicht besonders angenehme Konsequenz. Immer mehr gut qualifizierte und engagierte junge Leute fragen sich nämlich: "Möchte ich mir das wirklich antun? Bin ich wirklich bereit, zu diesen Bedingungen in die Politik zu gehen?" Und hier meine ich noch nicht einmal die finanziellen Bedingungen, sondern damit meine ich vor allem die übrigen Rahmenbedingungen: dass man rund um die Uhr verfügbar sein muss, dass man im Regelfall keine Wochenenden kennt usw. Wenn man sich dann auch noch pauschal beschimpfen lassen muss, dann ist klar, dass diesen Masochismus nicht mehr sehr viele bereit sind mitzumachen. Oechsner: Kann man denn erklären, warum das so ist? Weil in der Politik jeder mitreden kann oder zumindest denkt, mitreden zu können? Oder weil die Menschen dieses Spiel zwischen Opposition und Regierung nicht verstehen, denn dieses Spiel besteht ja aus sehr viel Kampf und ständiger Polemik? Schmidt: Vielleicht haben wir, und da meine ich uns alle in der Politik, ein bisschen den Fehler gemacht, dass wir den Eindruck erweckt haben, wir könnten alle Probleme lösen, sodass sich die Menschen in einem zu großen Ausmaß darauf verlassen haben, dass die Politik – wenn ich das so überspitzt sagen darf – ihr Lebensglück garantieren kann. Denn das kann Politik nicht: Die Politik kann immer nur in Teilbereichen vernünftige Lösungsmöglichkeiten anbieten. Und in unserer globalisierten Welt geht nicht einmal mehr das überall, denn nationale Politik ist z. B. der europäischen Politik untergeordnet. Wir haben also möglicherweise zu wenig auf die Grenzen der Lösungsmöglichkeiten von Politik hingewiesen. Wir haben vielleicht zu selten gesagt, dass wir bestimmte Dinge nicht machen können, d. h. dass es dafür keine Lösungsmöglichkeit gibt, die wir anbieten könnten. Diese Überschätzung von Politik mit der darauf unmittelbar folgenden Enttäuschung, dass Politik das Glück gerade nicht garantieren kann, führt vielleicht auch zu diesem Ansehensverlust, unter dem Politikerinnen und Politiker insgesamt leiden. Oechsner: Manche schätzen Politiker ja auch deshalb gering, weil diese oft ihr ganzes Leben lang nur und ausschließlich Politiker waren, weil sie sozusagen mit 15 Jahren mit der Politik angefangen haben und diese dann zu ihrem Beruf gemacht haben, weil sie also das Leben … Schmidt: … nur als Politiker kennen. Oechsner: Da haben Sie jetzt leicht lachen, denn bei Ihnen war das ja anders, Sie haben zuerst einmal einen normalen Brotberuf gelernt. Schmidt: Das haben übrigens sehr viele Politiker. Oechsner: Stimmt, das ist jetzt ungerecht, wenn ich das so pauschal behaupten würde. Sie jedenfalls waren Programmiererin bei einem großen Versandhaus in Nürnberg-Fürth. Sie waren dort damals Systemanalytikerin, was natürlich sofort zu der neugierigen Frage führt, wie denn das damals aussah? Wie sah in den 70er Jahren das Programmieren aus? Schmidt: Das war sogar noch in den 60er Jahren! Damals war es so, dass man noch nicht von Computern, sondern von Elektronenhirnen sprach. Ich musste daher jedem Menschen zuerst einmal erklären, was ich da eigentlich mache: Ich habe diese damaligen Elektronenhirne, die damaligen Computer, programmiert, die ganz, ganz anders aussahen als die heutigen Computer, denn das waren riesengroße, ja raumgroße Maschinen. Man hatte damals auch noch eine sehr innige Beziehung zu diesem Elektronenhirn, d. h. man hat z. B. ganz sparsam mit Speicherkapazitäten, mit Kernspeichern umgehen müssen. Das, was damals ein Versandhaus an Kernspeicherkapazität hatte, hat man, leicht übertrieben, heute als Einzelverbraucher in einem ganz normalen PC drin. Ich habe damals noch mit sogenannten Hollerithkarten gearbeitet, es gab also noch nicht die heutigen Möglichkeiten des Programmierens. Das heißt, ich kann noch Assembler programmieren und wäre daher zum Jahrhundertwechsel bzw. zum Jahrtausendwechsel eine gesuchte Fachkraft gewesen. Ich habe auch noch mit Cobol und Fortran gearbeitet, also mit ganz frühen Programmiersprachen. Wir hatten damals in diesem Versandhaus einen Datenbestand von 7 Millionen Kunden zu bewältigen. Wenn man diesen Datenbestand sortiert hat, dann hat so eine Sortierung sechs Stunden gedauert. Und es konnte einem passieren, dass einem in der fünfeinhalbten Stunde das Ganze baden ging und man wieder von vorne anfangen musste. Das war also schon recht abenteuerlich damals. Das war auch eine Pioniertätigkeit, wie mir damals einer meiner obersten Vorgesetzten gesagt hat: "Sie sind eine Pionierin der Datenverarbeitung!" Ich habe damals jedenfalls drei Generationen von Computern programmiert und systemanalysiert. Dann fing das alles aber an, mich ein bisschen zu langweilen, weil ich das Prinzip verstanden hatte. Ich wusste zwar, es wird sich sehr, sehr viel ändern in Zukunft, es wird wahnsinnige technologische Veränderungen geben, aber das Prinzip wird immer dasselbe bleiben. Ich habe dann zum Entsetzen der Geschäftsleitung für den Betriebsrat kandidiert, weil ich einfach mal was anderes machen wollte. Ich konnte es mir nämlich nicht leisten, einfach so auszusteigen und um die Welt zu reisen, denn ich hatte ja drei Kinder und war Alleinverdienerin meiner Familie. Ich habe also für den Betriebsrat kandidiert und war dann sieben Jahre lang freigestellte Betriebsrätin. Oechsner: Diese Geschichte mit dem Programmieren ist doch für Ihre Enkel wahrscheinlich eine ganz tolle Geschichte. Schmidt: Ja, schon. Ich bin übrigens in diesem Zusammenhang schon in Museen ausgestellt worden. (lacht) Denn ich war einfach diesbezüglich an vielen Stellen eine der Ersten. Sie sprechen also mit einem Museumsobjekt! Oechsner: Das ist doch sehr beeindruckend. Mit einem Museumsobjekt hatte ich nur selten das Vergnügen bis jetzt. War Ihre Arbeit als Betriebsrat Ihr Einstieg in Ihre politische Arbeit? Schmidt: Ich selbst habe das nicht so gesehen. Ich habe das damals gemacht, weil ich fand, dass da etwas passieren muss bei uns im Unternehmen, dass es da eine stärkere Aktivität des Betriebsrates geben muss. Deswegen habe ich mich dann auf diese Tätigkeit konzentriert. Ich war also zuerst einmal in der Gewerkschaft und bin erst dann in die SPD eingetreten: Ich bin erst 1972 aufgrund der damaligen Kampagne "Willy wählen!" in die SPD eingetreten. Dort bin ich aber sofort von meinem zuständigen Ortsvereinsvorsitzenden und Landtagsabgeordneten und späteren Vizepräsidenten des Bayerischen Landtags Bertold Kamm "eingefangen" worden. Denn so etwas wie mich gab es einfach so schnell nicht wieder: eine Frau, die gleichzeitig eine Betriebsrätin ist und eine Systemanalytikerin, eine dreifache Mutter mit einem Mann als Hausmann! Das war damals in den 70er-Jahren alles noch recht unvorstellbar. Er hat also sofort versucht, mich für die SPD zu vereinnahmen. Ich hatte jedoch nie die Absicht, hauptberuflich Politikerin zu werden. Ich bin noch 1978 mit meinem Mann durch die Stadt gefahren, als gerade die Landtagswahlen vor der Tür standen. In Anbetracht der vielen Plakate habe ich zu ihm gesagt: "Weißt du was? So was könnte ich niemals machen!" "Warum?" "Stell dir doch mal vor, du müsstest wochenlang an deinem Plakat vorbeifahren! Das ist ja grauenhaft!" Aber ein gutes Jahr später bin ich dann gefragt worden, ob ich nicht für den Bundestag kandidieren möchte. Oechsner: Und dann fingen Sie an, sich daran zu gewöhnen. Schmidt: Nein, nein, daran habe ich mich bis heute nicht gewöhnen können. Wenn man aus dem Kaufhaus rauskommt und sich plötzlich einem Plakatständer gegenübersieht, von dem man selbst heruntergrinst, dann ist das für mich immer noch eine Geschichte, die mir nicht besonders angenehm ist. Oechsner: Und dann landeten Sie irgendwann in der Kirschallee 6 in Bonn. Schmidt: Ja, das stimmt. Aber das war dann erst im weiteren Verlauf meiner Abgeordnetentätigkeit. Alles, was darüber geschrieben wird, ist jedenfalls falsch. Ich war nicht gleichzeitig mit Gerhard Schröder in der Kirschallee, sondern später. Er war bereits ausgezogen, d. h. ich bin erst nach Gerhard Schröder dort eingezogen. Jedenfalls ist das eine gute Wohnadresse für viele hochwohlmögende Politiker gewesen. Oechsner: Da konnte man so manches Netzwerk knüpfen, das dann sehr lange halten sollte. Schmidt: So ist es. Oechsner: Kommen wir doch noch einmal zurück zu einigen privaten Stationen, die schon so ein bisschen im Eilschritt von Ihren angesprochen worden sind. Bevor Sie Programmiererin wurden, waren Sie auf der Schule. Sie sind jedoch vom Gymnasium geflogen, weil Sie schwanger wurden. Wie war das für Sie? Das war doch das letzte Schuljahr, oder? Schmidt: Das war ein Jahr vor dem Abitur! Ich war knapp 18 Jahre alt und habe meinen Tanzstundenherrn und späteren Mann geliebt. Wir waren zu diesem Zeitpunkt bereits seit knapp drei Jahren zusammen. Und ich war halt schon immer ein bisschen neugieriger als andere und habe also ein Kind erwartet. Oechsner: Das war damals wahrscheinlich ein großer Skandal. Schmidt: Ja, das war damals ein großer Skandal. Die Direktorin dieser Schule, Fräulein Dr. Gutbier – damals sagte man noch "Fräulein" –, einen Kopf kleiner als ich, sagte zu mir: "Fräulein Pokorny …" Oechsner: Man merkt, wie Sie das heute noch wurmt. Schmidt: "Pokorny" ist mein Mädchenname, der übrigens interessanterweise "Demut" heißt, wenn man ihn übersetzt. Sie sagte also: "Fräulein Pokorny, Sie haben Schande über diese Schule gebracht!" Ich habe mich damals sehr, sehr geärgert darüber, obwohl ich die Schule sowieso hätte verlassen müssen, weil wir beide, also weder mein erster Mann damals noch ich, nicht aus reichen Elternhäusern kamen. Es wäre also gar nicht anders gegangen, als dass einer von uns beiden Geld verdient: Mein Mann hatte bereits Abitur und konnte daher studieren. Ich hatte kein Abitur und konnte nicht studieren. Also musste ich aus privaten Gründen die Schule verlassen, um Geld zu verdienen. Dass ich sie allerdings deshalb verlassen musste, weil die Schule das so wollte, hat mich doch sehr, sehr geärgert. Ich habe mir damals geschworen, dass ich später irgendwie dafür sorgen werde, dass es niemals mehr eine Schande für irgendeine junge Frau ist, ein Kind zu erwarten. Ich habe mich wirklich sehr geärgert. Ich habe mich auch über meine damaligen Lehrer geärgert, denn bis auf meinen Klassenlehrer und meinen Zeichenlehrer hat sich niemand um diese junge Frau in irgendeiner Weise gekümmert, die sich da doch in einer außerordentlichen Lebenssituation befand. Anschließend, als ich dann den Test gut gemacht habe und im fünften Monat schwanger als Programmiererin eingestellt wurde, waren sie alle plötzlich stolz auf mich. Das fand ich doch ein wenig schizophren. Oechsner: Sie waren nicht nur damals stolz auf Sie, sondern diese Schule war viel später noch viel stolzer auf Sie, denn irgendwann wurden Sie dann sogar zu einem Jubiläum dieses Gymnasiums eingeladen. Schmidt: Ja, das stimmt, da bin ich als Ehrengast eingeladen worden. Oechsner: So ändern sich die Zeiten … Schmidt: … und die Sitten. Oechsner: Wie war das für Sie damals mit der Geburt Ihres Kindes? War das für Sie zuerst einmal eine Katastrophe? Ich meine jetzt selbstverständlich nicht das Kind, sondern die Lebenssituation, in der Sie sich befanden. Oder haben Sie diese Situation dann doch schnell angenommen? Schmidt: Ich war zuerst einmal natürlich völlig aus dem Häuschen. Aber ich hatte das große Glück, und das ist eigentlich jeder schwangeren Frau zu wünschen, dass sowohl mein Freund und späterer Mann – wir haben unmittelbar, nachdem ich die Schule verlassen musste, geheiratet – wie meine Familie und seine Mutter zu mir gestanden haben. Ich hatte also ein Netz und so konnten wir beide uns auf dieses Kind wirklich freuen. Wir haben uns auch auf unser zweites Kind gefreut, das dann zwei Jahre später dank Knaus- Ogino auf die Welt gekommen ist. Knaus-Ogino war nun einmal eine der damals praktizierten Verhütungsmethoden, denn die Pille gab es noch nicht zu der Zeit. Als es sie dann nach der Geburt meines zweiten Sohnes gab, ist sie – das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen – in Deutschland jedoch nur und ausschließlich verheirateten Frauen verschrieben worden, wenn sie bereits mindestens zwei Kinder hatten. Das sind Dinge, die man sich heute nicht mehr vorstellen kann. Wenn ich das meinen Kindern erzähle, dann sagen sie immer: "Ach, hör doch bitte auf mit deinen Trümmerzeit-Erzählungen!" Oechsner: Sie haben es vorhin schon gesagt, Sie haben insgesamt drei Kinder und stiegen dann irgendwann sehr, sehr stark in die Politik ein. Waren Sie dann überhaupt noch präsent als Mutter? Schmidt: Das muss man jetzt schon ein bisschen in die richtige Reihenfolge bringen. Meine älteren Kinder waren, als ich 1980 das erste Mal Abgeordnete geworden bin, bereits 17 und 19 Jahre alt. Mein jüngster Sohn war allerdings in der Tat erst zehn Jahre alt. Mit ihm habe ich damals lange gesprochen, und wenn er gesagt hätte: "Mutter, das will ich nicht!", dann hätte ich das nicht gemacht. Ich habe ihm also geschildert, wie das vermutlich ablaufen wird … Oechsner: Das heißt, Sie haben ganz konkret mit ihm darüber geredet. Schmidt: Ja, ich habe sogar sehr lange mit ihm darüber gesprochen. Wenn ich den Eindruck gehabt hätte, er würde das nicht mittragen und wäre nicht damit einverstanden, dann hätte ich das nicht gemacht. Man muss aber auch dazusagen, dass damals mein Mann bereits Hausmann war. Wir haben nämlich ab Mitte der 70er Jahre in einem gewissen Ausmaß die Rollen tauschen müssen, weil das mit drei Kindern, unserer Arbeit in der SPD, der Arbeit in der Gewerkschaft, bei den "Falken", im Aktiv-Spielplatz-Verein usw. und zwei Berufen einfach nicht mehr ging. Und ausnahmsweise hat damals die Frau mehr verdient als der Mann und deswegen hatten wir uns so entschieden. Meine Kinder waren das also anders gewohnt. Meine Tochter war dann 1980, wie gesagt, bereits 19 Jahre alt und mein anderer Sohn 17 Jahre alt. Ich glaube, das war nicht mehr das ganz große Problem für die beiden. Und ich war natürlich schon auch noch präsent, und zwar in den sitzungsfreien Wochen. Gut, ich war damit anders präsent als andere Mütter, das stimmt schon. Aber mein Mann und ich führten damals einen gemeinsamen Terminkalender: Er hat sich mit seinen Terminen – er war Ortsvereinsvorsitzender, war also ebenfalls aktiv, allerdings "nur" ehrenamtlich – ein bisschen nach meinen gerichtet. Wir hatten dann ganz konkrete freie Tage. Ich habe also in diesen Terminkalender eingetragen, wann es einen absolut freien Tag gibt. Ich habe dann aber angefangen, diese freien Tage zu verschieben. Das ist zunächst noch toleriert worden. Dann kam aber einmal so ein freier Tag und ich war zu Hause bei der Familie. Es rief mich aber ein Kollege aus der Fraktion an, der ein Terminkuddelmuddel angestellt hatte: Er hatte zwei Termine gleichzeitig zugesagt. Ich habe ihm dann, ohne mit jemandem aus der Familie darüber zu sprechen, einen von diesen beiden Terminen an diesem Tag abgenommen. Mein Mann, der das mitbekommen hatte, hat dann aber nach diesem Telefonat zu mir gesagt: "Ich habe gehört, du bist heute Abend weg. Das ist heute einer unserer freien Tage! Wenn ich dir und wenn deine Kinder dir weniger wert sind als der Ortsverein Kleinkleckersdorf, dann kannst du das nächste Mal mit deinen Koffern gleich in Bonn bleiben!" Seither habe ich so etwas nie mehr gemacht. Oechsner: Das war eine deutliche Ansprache. Schmidt: Ja, das war schon sehr deutlich. Das heißt, ich habe also trotz allen Engagements in der Politik gelernt, meine privaten Verpflichtungen gleichrangig bestehen zu lassen. Oechsner: Ich kann mir vorstellen, dass es in den 70er Jahren für Ihren damaligen Mann nicht so ganz einfach gewesen ist, Hausmann zu sein. Sie haben vorhin ja bereits angedeutet, wie diese Zeit damals "gestrickt" war: Das war vollkommen anders als heute. Wie hat er denn das hinbekommen? Schmidt: Im Innenverhältnis war das gut, im Außenverhältnis hat er große Schwierigkeiten gehabt, weil ihm immer unterstellt worden ist, ich würde daheim dann doch noch alles selbst machen, sodass er sich auf meine Kosten ein faules Leben macht. Das wurde erst anders, als ich dann Abgeordnete wurde und die Leute gesehen haben, dass der Haushalt bei uns ja trotzdem weiterläuft, obwohl ich gar nicht da bin, dass die Kinder auch weiterhin gut ernährt und gekleidet und offensichtlich ganz zufrieden aussehen. Erst dann wurde das besser und er bekam, wenn auch spät, auch außerhalb der Familie Anerkennung für seine Tätigkeit zu Hause. Oechsner: Sie waren ja Mutter, ein bisschen wohl auch noch trotzdem selbst Hausfrau, und Sie waren Karrierefrau: Sind Sie jetzt eher ein Vorbild für andere Frauen, weil andere Frauen an Ihnen sehen können, dass so etwas eben doch möglich ist? Oder sind Sie für andere Frauen doch eher ein negatives Vorbild, weil halt diese wenigen Frauen wie Sie, die das schaffen, zu beweisen scheinen, dass das alles ja gar kein Problem ist? Denn sehr schwierig ist das ja zweifellos. Schmidt: Das ist ein Problem! Ohne mein Netzwerk, das ich gehabt habe, also ohne meinen Mann – und dann meinen zweiten Mann, weil mein erster Mann sehr früh verstorben ist – und ohne meine Familie, hätte ich das nicht geschafft. Dass man so ein Netzwerk braucht, gilt übrigens auch heute noch: Ohne so ein Netzwerk kann man bestimmte Dinge überhaupt nicht tun! Das Netzwerk zu nutzen, darin besteht dann die Kunst. Ohne dass ich meine Familie damals am Ort gehabt hätte, hätte ich bestimmte Dinge gar nicht tun können. Ich würde also immer versuchen, nicht so zu tun, als ob ich das große Beispiel wäre. Nein, ich würde immer versuchen, anderen Frauen die Angst zu nehmen, diese Angst, die ich auch gehabt habe. Vor meinem ersten Auftritt im Bundestag z. B. habe ich Magenkrämpfe gehabt: Ich hatte schweißnasse Hände die ganze Zeit über, ich habe drei Tage lang nicht vernünftig schlafen können vor meiner ersten Rede im Deutschen Bundestag, die dann irgendwann zu später Stunde eine Viertelstunde gedauert hat. Ich kann Ihnen gar nicht beschreiben, wie viel Angst ich damals hatte. Deswegen muss man vor anderen Menschen freimütig zugeben, dass man selbst auch solche Ängste gehabt hat, um anderen Frauen Mut zu machen. Ich kann anderen Frauen auch nur raten, niemals zu versuchen, eine hundertprozentige Partnerin, eine hundertprozentige Mutter und eine hundertprozentige berufstätige Frau zu sein. Denn dann ist man innerhalb kürzester Zeit ein 300-prozentiges Wrack. Das heißt, man muss versuchen, sich Hilfe zu suchen. Und dann muss man diese Hilfe auch annehmen können. Oechsner: Sie haben soeben selbst schon einen kleinen Schlenker in die Politik gemacht. Ich will gleich mal sozusagen "nachschlenkern": Sie haben damals als Bundestagsabgeordnete mehrfach das Direktmandat in Ihrem Wahlkreis gewonnen. Schmidt: Ja, unter anderem einmal sogar gegen Oscar Schneider. Oechsner: Ja, es war schon immer sehr bemerkenswert, gegen wen Sie alles dieses Direktmandat gewonnen haben. Und irgendwann kam etwas Neues auf Sie zu, vermutlich die ganz große Herausforderung in Ihrem Leben: Sie wurden Kandidatin für das Amt des Ministerpräsidenten im Freistaat Bayern. Wenn man weiß, wie Bayern regiert wird, dann kann man sich ja zunächst einmal fragen, warum sich jemand so eine Kandidatur überhaupt antut. Schmidt: Der Hans-Jochen Vogel hat damals zu mir gesagt: "Renate, du musst jetzt nach Bayern gehen!" Ich habe mir das überlegt und dann gesagt: "Wenn bestimmte Voraussetzungen stimmen, dann mache ich das." Es ist ja immer so: Wenn der Karren ganz tief im Dreck steckt, dann meint man, die Frauen könnten ihn wieder rausziehen. Ich habe mir überlegt, wer das denn sonst machen könnte. Ich kam dann aber auch zu dem Ergebnis, dass ich zu diesem Zeitpunkt vielleicht doch eine geeignete Kandidatin für dieses Amt wäre. Und ich habe dann ja auch ganz anständige Wahlergebnisse eingefahren. Oechsner: Das kann man wirklich sagen. Schmidt: Wenn die CSU sich damals nicht so schnell von Herrn Streibl getrennt hätte, dann hätte ich sogar eine realistische Chance gehabt, Ministerpräsidentin in Bayern zu werden. 1993 waren die Umfrageergebnisse nämlich so, dass die Oppositionsparteien zusammen sehr stark waren. Die Oppositionsparteien damals konnten auch recht gut untereinander: Ich hatte zu und Margarete Bause ein gutes Verhältnis, d. h. wir hätten auch zu dritt gekonnt. Wenn also Streibl Ministerpräsident geblieben wäre, dann hätte ich das vielleicht geschafft. Oechsner: Sie haben damals bei Ihrer ersten Kandidatur 30 Prozent geholt. Schmidt: Und gegen Günther Beckstein das Direktmandat gewonnen! Oechsner: Das war schon mehr als ein nur ordentliches Ergebnis. Sie traten dann bei der nächsten Landtagswahl noch einmal als Spitzenkandidatin an. Sie haben jedoch bereits am Anfang gesagt, dass man so etwas mehr als zweimal nicht machen sollte, denn wenn man es zweimal nicht geschafft hat, dann schafft man das ein nächstes Mal auch nicht. Zwischen der ersten und der zweiten Kandidatur hat es bei der bayerischen SPD auch tatsächlich so etwas wie eine Aufbruchsstimmung gegeben. Man hat auch in der Öffentlichkeit sehr stark gemerkt, dass sich da was bewegt. Es gab dann aber Reibereien zwischen Ihnen und Ihrem Kollegen Albert Schmid in der Doppelspitze in der Führung der bayerischen SPD. Das war vielleicht auch ein Problem. Schmidt: Ja, das war das größte Problem. Oechsner: Haben Sie da einen Fehler gemacht, indem Sie diese Doppelspitze überhaupt akzeptiert haben? Oder haben Sie nur zu lange gebraucht, bis Sie gemerkt haben, dass man da sozusagen mit der Machete dazwischengehen muss? Schmidt: Das Zweite stimmt. Ich habe zu lange gebraucht, um das zu merken. Ich dachte immer, das wäre alles irgendwie im Konsens zu lösen. Leider musste ich dann aber feststellen, dass das im Konsens nicht zu lösen war. Ich habe also zu lange gebraucht, um, wie Sie sehr richtig sagen, irgendwie mit der Machete hineinzugehen in das Ganze. Das war so und das war sicherlich der größte Fehler, der in diesen vier Jahren passiert ist. Das hat nicht nur mich zu viel Kraft gekostet, sondern das hat auch die SPD in Bayern zu viel Kraft gekostet: Das hat dazu geführt, dass sich die SPD in Bayern zu sehr mit sich selbst beschäftigt hat statt mit dem politischen Gegner. Es kommt aber noch ein weiterer Punkt hinzu. Das war ja dann die erste Amtszeit von Edmund Stoiber. Als es dann bei der zweiten Wahl nicht mehr 30, sondern "nur" mehr 28,7 Prozent wurden, wollte ich sofort alles hinwerfen. Aber Franz Müntefering, der damalige Generalsekretär der Bundes-SPD, hat zu mir gesagt: "Renate, was hast du eigentlich erwartet? Der Edmund Stoiber hat in seiner ersten Amtsperiode keine nennenswerten Fehler gemacht. Es geht wirtschaftlich in Bayern vergleichsweise gut voran. Zu erwarten, dass du da einen großen Zuwachs haben könntest, war eine Illusion." Und deswegen habe ich mich dann bereit erklärt, noch eine Zeitlang weiterzumachen. Aber es war dann auch gut, aus diesen Funktionen auszuscheiden. Oechsner: Die SPD hat es, wie jeder weiß, bis heute nicht geschafft, in Bayern mal wieder an die Regierung zu kommen. Haben Sie denn aufgrund Ihrer langen Erfahrung eine Erklärung dafür, warum das nicht funktioniert? Schmidt: Diese Last muss einfach auf mehrere Personen verteilt werden, d. h. es müssen mehrere Personen werden, die das in der SPD in Bayern tragen. Ich finde, dass Franz Maget als Person diesmal wirklich einen grandiosen Wahlkampf geführt hat. Er hat ja auch persönlich und überhaupt für Oberbayern ein sehr gutes Wahlergebnis eingefahren. Aber das muss in Zukunft flankiert werden von zusätzlichen anderen Personen. Diesbezüglich sind aber momentan noch zu wenig sichtbar in der bayerischen SPD, leider. Ich selbst hatte damals ja das große Glück, dass für die SPD in Oberbayern beim ersten Wahlkampf Georg Kronawitter kandidiert hat. Ich hatte also das große Glück, dass auch in anderen Regierungsbezirken bekannte Personen für die SPD kandidiert haben. Das haben wir aber, wie ich glaube, zum jetzigen Zeitpunkt in diesem Ausmaß nicht. Hier müssen also erst noch Menschen aufgebaut werden. Dies bedeutet aber wiederum, dass man dafür einen langen Atem braucht. Oechsner: Sie waren damals in Bayern ungeheuer populär und sehr bekannt. Schmidt: Ich war genauso bekannt wie der Ministerpräsident. Oechsner: Sie tauchten überall auf und manche Parteifreunde haben damals sogar gesagt, Sie seien öfter auf Vernissagen und Künstlerfesten als auf Parteiversammlungen. Schmidt: Ich war viel unterwegs. Oechsner: Sie waren, wie man wirklich sagen muss, überall zu sehen. Apropos Künstler: Verstehen Sie etwas von moderner Kunst? Schmidt: Ich habe mich immer schon für moderne Kunst interessiert und habe meinen zweiten Mann, der Künstler ist, auch darüber kennengelernt. Oechsner: Sie wissen also schon, worauf ich raus will. Schmidt: Ich habe damals eine Galerie besucht und seine Werke erst einmal niedergemacht – ohne dass er dabei gewesen wäre. Das hat zu einem Gespräch geführt – und dann zu einer großen Liebe. Oechsner: Wie sehr hat sich denn Ihr zweiter Mann in die politische Arbeit eingemischt? War er Ihr engster Berater oder war er eher weit weg von der Politik? Schmidt: Mein Glück war, dass mein Mann, also mein damaliger Freund, bei unseren ersten Begegnungen eigentlich so gut wie keine Ahnung hatte, wer diese Renate Schmidt denn nun genau ist und wie deren Leben aussieht. Er wusste selbstverständlich, dass es mich gibt, und hatte mich auch schon mal irgendwo gesehen. Aber er hatte keine Ahnung, was es eigentlich bedeutet, die Renate Schmidt zu sein. Und er hatte auch keine richtige Vorstellung davon, was Politik und was diese Person in der Politik eigentlich bedeuten. Ich glaube, wenn er das gewusst hätte, dann hätte er wahrscheinlich Reißaus genommen. Insoweit hat er das also früher nicht so genau gewusst. Mein Mann berät mich heute durchaus, aber er ist niemand, der in der Tagespolitik aktiv wäre. Aber er hat ein gutes Gespür für richtig und falsch und er ist in seinen Positionen eher deutlich linker als ich. Insofern gibt es zwischendrin schon auch mal Auseinandersetzungen. Er ist ja nicht nur Künstler, sondern auch Wissenschaftler: Er war bei der Bundesagentur für Arbeit, genauer gesagt beim Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, als Wissenschaftler tätig. Irgendwann hat er dann diese Tätigkeit zugunsten der Kunst eingeschränkt und ist nun seit einigen Jahren nur noch Künstler. Oechsner: Als Sie Ihren Mann kennenlernten und diese Sache in Bayern für Sie zu Ende ging, ging allerdings Ihr politisches Leben nicht nur nicht zu Ende, sondern Sie gaben noch einmal richtig Gas. Denn irgendwann waren Sie dann auch einmal als Kanzlerkandidatin im Gespräch. Und irgendwann las man, dass Sie möglicherweise als Nachfolgerin von Bundespräsident Johannes Rau nominiert werden könnten. Sie wurden dann stellvertretende Bundesvorsitzende der SPD, d. h. es ging wirklich Schlag auf Schlag. Und dann dauerte es noch ein paar Jährchen und plötzlich waren Sie Bundesministerin – und zwar zu einem Zeitpunkt, als Sie selbst vermutlich schon dachten, dass es nun schön langsam darum geht, unbekannter zu werden. Schmidt: So, wie Sie das schildern, klingt das in der Tat ein bisschen merkwürdig. Aber es stimmt schon, es gibt in der Bundesrepublik Deutschland keine nennenswerte politische Position, in deren Zusammenhang ich nicht irgendwann einmal genannt worden wäre. Oechsner: Haben Sie sich das zugetraut? Oder sind Sie auch mal erschrocken darüber? Schmidt: Natürlich bin ich erschrocken. Als ich damals als Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags in mein Büro kam, las ich auf meinem Schreibtisch die Tickermeldung, dass ich ins Gespräch gebracht worden sei als Bundeskanzlerin. Damals war ich designierte Spitzenkandidatin in Bayern. Als ich das las, hat sich zuerst einmal mein Magen zusammengekrampft. Ich wollte daher sofort "njet!" sagen. , und Günter Verheugen, die ich daraufhin angerufen habe, haben dann aber zu mir gesagt: "Sag jetzt nicht sofort Nein! Lass das erst einmal ein bisschen schmoren!" Ich habe mich dann auch daran gehalten, obwohl ich von vornherein entschieden hatte, dass ich das niemals machen würde. Und zwar deswegen, weil ich mir das Amt der Bundeskanzlerin nicht zugetraut hätte. Denn ich wäre ja aus der Position eines Menschen in dieses Amt gekommen, der noch nie in einer Regierung gesessen hat. Ich hatte zwar meine politischen Erfahrungen, aber ich wusste nicht wirklich, wie von innen heraus eigentlich das Regieren geht. Ich hätte dann nämlich die große Sorge gehabt, entweder zur Marionette an den Fäden meiner Beamten zu werden oder Marionette an den Fäden meiner Partei, also innerlich nicht unabhängig sein zu können. So etwas hätte ich also niemals gemacht. Oechsner: Aber irgendwann waren Sie dann in der Regierung, im Kabinett von Gerhard Schröder, und zwar als Bundesfamilienministerin. Schmidt: Auch das kam sehr unverhofft. Oechsner: Ich habe gelesen, Sie hätten gerade auf dem Sofa gelegen, als Sie angerufen wurden. Irgendwie stellt man sich so eine Berufung doch ein bisschen anders vor. Schmidt: Mein Mann hatte eine Grippeerkrankung und ich war gerade nach Hause gekommen. Ich hatte ein Buch über Familienpolitik geschrieben und war mit diesem Buch bei einer Lesung gewesen. Gerade als ich die Füße so ein bisschen hochgelegt hatte, klingelte an diesem 17. Oktober 2002 das Telefon. Es war die Sekretärin von Gerhard Schröder am Apparat: "Du, der Gerhard will dich kurz sprechen." Ich dachte mir, in den Koalitionsverhandlungen gäbe es irgendetwas, zu dem sie meine Meinung hören möchten, weil ich doch auch in der Partei den Arbeitskreis Familienpolitik geleitet habe. Aber er sagte zu mir: "Renate, du musst in die Regierung, du musst Familienministerin werden. Du wirst zwar kein Geld haben und auch keine Kompetenzen, aber du kannst das schon!" Oechsner: Dementsprechend haben damals ja auch viele Zeitungen geschrieben, dass Sie weder Etat noch Kompetenzen hätten. Dennoch, Sie waren ja eine ganz ausgewiesene Familienpolitikerin. Das, was Sie privat erlebt haben, haben Sie dann nämlich auch in die Politik übersetzt: dass man auch als Frau einen Beruf haben muss, dass man auch Hausfrau sein können muss, dass man die Familie schätzen und trotzdem sich selbst entfalten kann usw. All das haben Sie dann versucht, politisch zu entwickeln und umzusetzen. Schmidt: Ich habe versucht, einen Wechsel in der Familienpolitik einzuleiten. Und ich glaube, das ist mir auch gelungen. Am Anfang meiner Amtszeit bin ich ja immer gefragt worden: "Um wie viel wollen Sie denn das Kindergeld erhöhen, Frau Schmidt?" Ich konnte darauf immer nur antworten: "Für mich ist die Frage der Kindergelderhöhung keine erstrangige Frage. Stattdessen ist für mich die Frage, was man tun muss, damit in Deutschland junge Menschen ihre vorhandenen Kinderwünsche – ich will ja niemandem Kinder einreden, die er oder sie nicht wollen – leichter verwirklichen können." Mir war daher klar, dass man für die Familien auf drei Feldern etwas tun muss. Man muss erstens die Infrastruktur für die Familien verbessern. Das heißt, es braucht die bestmögliche und vor allem in ausreichendem Maße vorhandene Kinderbetreuung. Zweitens müssen wir für Zeit für die Familien sorgen. Und drittens brauchen wir die richtigen finanziellen Rahmenbedingungen. Und alle diese drei Dinge müssen zusammenkommen, um diesen Paradigmenwechsel in der Familienpolitik zu schaffen. Dieser Paradigmenwechsel weg von der reinen finanziellen Förderung von Familien und hin zu einem Bündel von Maßnahmen ist meiner Meinung nach gelungen und darauf bin ich auch ein klein bisschen stolz. Oechsner: Fanden Sie es enttäuschend, dass Sie dann nicht mehr all das selbst durchsetzen konnten, was später Ihre Nachfolgerin weiter vorangetrieben hat? Schmidt: Ich habe ja mit dem meisten begonnen. Am Anfang war ich wirklich wahnsinnig wütend, dass die SPD dieses Thema nicht weiter besetzt hat. Denn ich glaube, dass das eines der wichtigsten Zukunftsthemen ist. Ich habe mich dann aber von dieser Wut auch sehr schnell wieder gelöst, weil ich zu der festen Überzeugung gekommen bin, dass nur eine Unions- Ministerin die nach wie vor anhaltenden Widerstände gegenüber bestimmten Dingen wegschaffen konnte. Nur eine Unionsministerin konnte diese Mauer wegschaffen, die es z. B. gegen einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung für alle Kinder ab dem zweiten Lebensjahr gab. Die Renate Schmidt hätte sich an dieser Mauer wahrscheinlich den Kopf angeschlagen. Aber die Frau von der Leyen konnte das durchsetzen. Und so sage ich heute mit großer Gelassenheit: Die heutige Familienpolitik hat zwei Mütter, die eine war bei der Zeugung dabei, sie heißt Renate Schmidt, die andere bei der Geburt, sie heißt . Insoweit hatte ich, wenn man so will, sogar noch den etwas schöneren Teil. Oechsner: Ich habe gelesen, dass Sie, wenn Sie pensioniert sind, eventuell ein Restaurant aufmachen würden. Ist das heute immer noch eine aktuelle Idee? Schmidt: Das habe ich gesagt, als ich noch beabsichtigt hatte, spätestens nach der Jahrtausendwende in Pension zu gehen. Heute wäre mir das aber zu anstrengend: So ein Restaurant fordert nämlich den ganzen Menschen, da muss man schwere körperliche Arbeit leisten. Und wenn man so etwas erfolgreich machen will, dann muss man wirklich so ungefähr Tag und Nacht anwesend sein. So etwas will ich mir heute aber nicht mehr aufladen. Ich koche nach wie vor sehr, sehr gerne, mache das aber lieber für meine Familie und meine Gäste. Oechsner: Manchen Menschen fangen ja nach der Pensionierung noch einmal an zu studieren: Haben Sie auch solche Gedanken im Kopf? Schmidt: Ich will zumindest immer wieder etwas Neues hinzulernen, denn ich bin nach wie vor wahnsinnig neugierig. Ich hätte z. B. früher wahnsinnig gerne Mathematik studiert. Ich war daher sehr neidisch auf einen Freund meines Mannes, der damals Mathematik studierte: Ich hatte immerzu meine Nase in seinen Büchern. Ich habe deswegen überhaupt nicht verstehen können, als er dann dieses Studium geschmissen hat. Heute interessiert mich, und darüber möchte ich noch viel lesen, wofür man aber ein bisschen Ruhe braucht, diese Schnittstelle zwischen Naturwissenschaft und Religion. Ich bin ein religiöser Mensch, aber ich bin auch ein Mensch, der sehr auf mathematische, naturwissenschaftliche Dinge "abfährt", wenn ich das mal so ausdrücken darf. Diese Schnittstelle und diese Gewissheit, dass es auch dann, wenn man als Wissenschaftler nach Erkenntnis sucht, doch noch etwas Höheres gibt, ist etwas, das mich nach wie vor wahnsinnig interessiert. Dafür gibt es kein eigenes Studium, aber darüber kann man viele interessante Bücher lesen und man kann auch darüber nachdenken. Genau das will ich in Zukunft verstärkt tun. Oechsner: Möglicherweise gibt es so ein Studium, aber wenn, dann wäre es ein ganz, ganz langes. Schmidt: Ja, ein ganz, ganz langes. Oechsner: Und das muss ja wiederum auch nicht sein. Wenn Sie auf Ihr politisches Leben zurückblicken, ist dann sozusagen etwas liegengeblieben, von dem Sie sagen, dass Sie das gerne noch hinbekommen hätten? Schmidt: Ich habe mir für diese Legislaturperiode ja eine regelrechte To-do-Liste vorgenommen. Auf dieser Liste wurde und wird ein Haken nach dem anderen gemacht. Ich hoffe, dass ich am Ende dieser Legislatur sagen kann: Das, was ich mir vorgenommen habe, das habe ich auch tatsächlich erreicht. Oechsner: Vielen Dank, Frau Schmidt, für das freimütige Gespräch. Ich wünsche Ihnen alles Gute. Schmidt: Danke schön. Oechsner: Liebe Zuschauer, vielen Dank für Ihr Interesse. Das war eine neue Ausgabe von alpha-Forum. Zu Gast war heute Renate Schmidt, namhafte SPD- Politikerin und ehemalige Bundesministerin.

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