Plenarprotokoll 16/152

Deutscher

Stenografischer Bericht

152. Sitzung

Berlin, Freitag, den 14. März 2008

Inhalt:

Nachruf auf den ehemaligen Bundesminister – zu dem Antrag der Abgeordneten der Justiz Hans Engelhard ...... 15983 A Heinz Lanfermann, (Münster), Dr. , weiterer Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- Abgeordneter und der Fraktion der neten Dr. Hans Georg Faust ...... 15983 D FDP: Für eine zukunftsfest und ge- nerationengerecht finanzierte, die Selbstbestimmung stärkende, trans- parente und unbürokratische Pflege Tagesordnungspunkt 23: – zu der Unterrichtung durch die Bun- a) – Zweite und dritte Beratung des von der desregierung: Vierter Bericht über Bundesregierung eingebrachten Ent- die Entwicklung der Pflegeversiche- wurfs eines Gesetzes zur struk- rung turellen Weiterentwicklung der (Drucksachen 16/7136, 16/7472, 16/7491, Pflegeversicherung (Pflege-Weiter- 16/7772, 16/8525) ...... 15984 B entwicklungsgesetz) (Drucksachen 16/7439, 16/7486, 16/8525) ...... 15983 D in Verbindung mit – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung Zusatztagesordnungspunkt 6: (Drucksache 16/8522) ...... 15984 A Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- b) Beschlussempfehlung und Bericht des schusses für Gesundheit zu dem Antrag der Ausschusses für Gesundheit Abgeordneten Heinz Lanfermann, Birgit Homburger, Daniel Bahr (Münster), weiterer – zu dem Antrag der Abgeordneten Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Ent- Elisabeth Scharfenberg, Nicole Maisch, bürokratisierung der Pflege vorantreiben – Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter Qualität und Transparenz der stationären und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Pflege erhöhen GRÜNEN: Finanzielle Nachhaltig- (Drucksachen 16/672, 16/6836) ...... 15984 B keit und Stärkung der Verbraucher – Für eine konsequent nutzerorien- , Bundesministerin tierte Pflegeversicherung BMG ...... 15984 C Heinz Lanfermann (FDP) ...... 15986 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, , Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU) ...... 15988 C Dr. , weiterer Abgeord- Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) ...... 15991 B neter und der Fraktion DIE LINKE: Für eine humane und solidarische Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ Pflegeabsicherung DIE GRÜNEN) ...... 15992 D II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008

Elke Ferner (SPD) ...... 15994 D Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) ...... 16024 B Daniel Bahr (Münster) (FDP) ...... 15996 D Jörg Rohde (FDP) ...... 16026 A (CDU/CSU) ...... 15997 B Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD) ...... 16027 A Maria Eichhorn (CDU/CSU) ...... 15998 D Frank Spieth (DIE LINKE) ...... 15999 B Tagesordnungspunkt 25: Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) ...... 16000 D Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ und Entwicklung zu dem Antrag der Abge- DIE GRÜNEN) ...... 16002 B ordneten Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, Dr. Carola Reimann (SPD) ...... 16003 C Dr. , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordne- Frank Spieth (DIE LINKE) ...... 16004 B ten Dr. , Gabriele Groneberg, Willi Zylajew (CDU/CSU) ...... 16005 C Stephan Hilsberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Daniel Bahr (Münster) (FDP) ...... 16006 C Thilo Hoppe, Ute Koczy, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) ...... 16007 B BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für eine (SPD) ...... 16007 D neue, effektive und an den Bedürfnissen der Hungernden ausgerichtete Nahrungs- Frank Spieth (DIE LINKE) ...... 16009 A mittelhilfekonvention Jens Spahn (CDU/CSU) ...... 16010 A (Drucksachen 16/8192, 16/8485) ...... 16028 C Dr. Sascha Raabe (SPD) ...... 16028 D Tagesordnungspunkt 24: Dr. (FDP) ...... 16030 B a) Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst, Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) ...... 16031 B Dr. , Dr. Martina Bunge, wei- Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE) ...... 16033 B terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Riester-Rente auf den Prüf- Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ stand stellen DIE GRÜNEN) ...... 16034 B (Drucksache 16/8495) ...... 16012 C Manfred Zöllmer (SPD) ...... 16035 B b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Tagesordnungspunkt 26: Schneider (Saarbrücken), Klaus Ernst, Antrag der Abgeordneten Jürgen Trittin, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter , , weite- und der Fraktion DIE LINKE: Wiederein- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- führung der Lebensstandardsicherung NIS 90/DIE GRÜNEN: NATO-Gipfel für in der gesetzlichen Rente Kurswechsel in Afghanistan nutzen (Drucksachen 16/5903, 16/6921) ...... 16012 C (Drucksache 16/8501) ...... 16036 B Klaus Ernst (DIE LINKE) ...... 16012 D Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . 16014 C DIE GRÜNEN) ...... 16036 C Klaus Ernst (DIE LINKE) ...... 16015 C Holger Haibach (CDU/CSU) ...... 16037 C Dr. (DIE LINKE) ...... 16016 D Hellmut Königshaus (FDP) ...... 16039 A Frank Spieth (DIE LINKE) ...... 16017 B Detlef Dzembritzki (SPD) ...... 16040 B Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 16018 A Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) ...... 16041 D Peter Weiß (Emmendingen) Gert Winkelmeier (fraktionslos) ...... 16042 D (CDU/CSU) ...... 16018 D (SPD) ...... 16020 A Tagesordnungspunkt 27: Volker Schneider (Saarbrücken) Große Anfrage der Abgeordneten Ina Lenke, (DIE LINKE) ...... 16020 D Gisela Piltz, , weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der FDP: Aus- Jörg Rohde (FDP) ...... 16021 C wertungen der Erfahrungen mit anony- Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ mer Geburt und Babyklappe DIE GRÜNEN) ...... 16022 C (Drucksachen 16/5489, 16/7220) ...... 16043 B Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 III

Ina Lenke (FDP) ...... 16043 C Anlage 1 Maria Eichhorn (CDU/CSU) ...... 16044 C Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 16051 A Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 16046 A Helga Lopez (SPD) ...... 16046 D Anlage 2 Ina Lenke (FDP) ...... 16047 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Europol-Beschluss rechtsstaat- Hellmut Königshaus (FDP) ...... 16048 A lich verbessern (Tagesordnungspunkt 28) Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ Wolfgang Gunkel (SPD) ...... 16051 D DIE GRÜNEN) ...... 16048 D Gisela Piltz (FDP) ...... 16052 D (DIE LINKE) ...... 16053 D Tagesordnungspunkt 28: Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ Antrag der Abgeordneten Wolfgang Wieland, DIE GRÜNEN) ...... 16054 B (Köln), , weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- , Parl. Staatssekretär NIS 90/DIE GRÜNEN: Europol-Beschluss BMI ...... 16054 D rechtsstaatlich verbessern (Drucksache 16/7742) ...... 16050 A Anlage 3 Nächste Sitzung ...... 16050 C Amtliche Mitteilungen ...... 16056 A

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 15983

(A) (C) Redetext

152. Sitzung

Berlin, Freitag, den 14. März 2008

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. : durch die von ihm angeregte Ausstellung „Justiz und Die Sitzung ist eröffnet. Nationalsozialismus“. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie bitten, Hans Engelhard war als freundlich-zurückhaltender, sich von Ihren Plätzen zu erheben. bescheiden auftretender, aber äußerst sachkundiger Kol- lege über alle Fraktionsgrenzen hinweg anerkannt und (Die Anwesenden erheben sich) geschätzt. Bleibende Verdienste hat er sich durch seine Am Montag dieser Woche ist unser ehemaliger Kol- Rolle bei der verfassungsrechtlichen und justizpoliti- lege Hans Engelhard im Alter von 73 Jahren nach lan- schen Bewältigung der deutschen Einheit erworben. ger, geduldig ertragener Krankheit verstorben. Bei den Wahlen zum 13. Deutschen Bundestag musste Hans Engelhard wurde am 16. September 1934 in er aus gesundheitlichen Gründen auf eine erneute Kandi- München geboren und studierte nach seinem Abitur datur verzichten; er schied mit Ablauf der Legislaturpe- riode aus dem Bundestag aus. (B) Rechtswissenschaften an den Universitäten Erlangen (D) und München. Nach der zweiten juristischen Staatsprü- Der Deutsche Bundestag wird sein Andenken in Eh- fung begann er seine Berufslaufbahn als Anwalt in Mün- ren bewahren. Seiner Frau und seiner Familie sprechen chen. wir unsere Anteilnahme aus. Bereits 1954 war er der Freien Demokratischen Partei Sie haben sich zu Ehren des verstorbenen Kollegen beigetreten. 1970 wurde er Mitglied des Rats der Stadt von Ihren Plätzen erhoben. Ich danke Ihnen. München und bald auch Fraktionsvorsitzender sowie Vorsitzender der Münchner FDP. 1972 zog Hans Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kollege Engelhard, der auch für das Amt des Münchner Ober- Dr. Hans Georg Faust feiert heute seinen 60. Geburts- bürgermeisters kandidiert hatte, erneut in den Stadtrat tag. Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich ihm ein, wurde aber bereits im November desselben Jahres in herzlich und wünsche ihm alles Gute! den Bundestag gewählt und verzichtete im Dezember des gleichen Jahres auf sein kommunales Mandat. (Beifall) Im Deutschen Bundestag, dem Hans Engelhard bis Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b zum Ablauf der 12. Wahlperiode 1994 angehörte, war er sowie den Zusatzpunkt 6 auf: Mitglied des Rechtsausschusses, des Innenausschusses 23 a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun- und der Parlamentarischen Kontrollkommission. Ab Ja- desregierung eingebrachten Entwurfs eines nuar 1977 war Hans Engelhard auch stellvertretender Gesetzes zur strukturellen Weiterentwick- Vorsitzender der FDP-Fraktion, ein Amt, das er bis zu lung der Pflegeversicherung (Pflege-Wei- seiner Berufung zum Bundesminister 1982 innehatte. terentwicklungsgesetz) Hans Engelhard, der 14. Bundesminister der Justiz, übte sein Amt bis zu seinem Verzicht auf das Amt aus ge- – Drucksachen 16/7439, 16/7486 – sundheitlichen Gründen Ende 1990 aus und damit länger Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- als alle bisherigen deutschen Justizminister. schusses für Gesundheit (14. Ausschuss) Engelhard, der sich eher als konservativer Liberaler – Drucksache 16/8525 – verstand und stets darum bemüht war, einen Ausgleich zwischen den Sicherheitsinteressen und den Freiheits- Berichterstattung: rechten der Bürger herzustellen, hat sich bleibende Ver- Abgeordnete Willi Zylajew dienste um die Erforschung der Rolle der Justiz in der Hilde Mattheis Zeit des Nationalsozialismus erworben, unter anderem Heinz Lanfermann 15984 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Dr. Ilja Seifert Entbürokratisierung der Pflege vorantreiben – (C) Elisabeth Scharfenberg Qualität und Transparenz der stationären Pflege erhöhen – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung – Drucksachen 16/672, 16/6836 – – Drucksache 16/8522 – Berichterstattung: Abgeordneter Willi Zylajew Berichterstattung: Abgeordnete Zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurf eines Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes liegen Dr. Claudia Winterstein jeweils ein Änderungsantrag und jeweils ein Entschlie- Dr. Gesine Lötzsch ßungsantrag der Fraktionen FDP, Die Linke und Bünd- nis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre richts des Ausschusses für Gesundheit (14. Aus- keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. schuss) Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der – zu dem Antrag der Abgeordneten Elisabeth Bundesministerin Ulla Schmidt das Wort. Scharfenberg, Nicole Maisch, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion (Beifall bei der SPD) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Finanzielle Nachhaltigkeit und Stärkung Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit: der Verbraucher – Für eine konsequent Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit nutzerorientierte Pflegeversicherung dem heute anstehenden Beschluss dieses Gesetzes brin- gen wir eine Debatte zum Abschluss, die nicht immer – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja einfach war, mit deren Ergebnis ich aber sehr zufrieden Seifert, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, wei- bin. terer Abgeordneter und der Fraktion DIE (Beifall bei Abgeordneten der SPD) LINKE Wir stärken die Pflegeversicherung, die sich bewährt Für eine humane und solidarische Pflege- und die vieles geleistet hat. Vor Einführung der Pflege- (B) absicherung versicherung fielen Hunderttausende Menschen, die auf (D) – zu dem Antrag der Abgeordneten Heinz Pflege angewiesen waren, in die Sozialhilfe. Heute be- Lanfermann, Daniel Bahr (Münster), Dr. Konrad wahren die Leistungen der Pflegeversicherung viele vor Schily, weiterer Abgeordneter und der Frak- diesem Schicksal. tion der FDP Seit 1995 sind über 300 000 neue Arbeitsplätze im Für eine zukunftsfest und generationenge- Bereich der Pflege entstanden. 2,1 Millionen Menschen recht finanzierte, die Selbstbestimmung erhalten Leistungen der Pflegeversicherung. Für mehr als stärkende, transparente und unbürokrati- 400 000 Menschen – es sind vor allen Dingen Frauen – sche Pflege zahlt die Pflegeversicherung in die Rentenversicherung ein. Trotzdem gibt es eine Reihe von Herausforderungen, – zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- auf die wir uns einstellen müssen. rung Wer sich entschließt, einen Angehörigen zu pflegen, Vierter Bericht über die Entwicklung der braucht dazu seine ganze Kraft und hat keine Zeit, zu Pflegeversicherung Hinz und Kunz zu laufen, um die Papiere zusammenzu- bekommen. Er wendet viel Kraft und viel Zeit auf, nimmt – Drucksachen 16/7136, 16/7472, 16/7491, 16/7772, Einschränkungen seines Lebens in Kauf. Lange Wege, 16/8525 – bürokratische Anträge, Klärung der Zuständigkeit – das Berichterstattung: muss nicht sein. Hier werden wir die Menschen in Zu- Abgeordnete Willi Zylajew kunft entlasten. Hilde Mattheis (Beifall bei der SPD) Heinz Lanfermann Dr. Ilja Seifert Mit den Pflegestützpunkten werden vernetzte, wohn- Elisabeth Scharfenberg ortnahe Beratungsangebote entstehen. Fallmanager und Fallmanagerinnen werden den Pflegebedürftigen und ih- ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- ren Angehörigen als verlässliche Partner zur Seite ste- richts des Ausschusses für Gesundheit (14. Aus- hen. Sie werden nicht nur beraten, sondern den Pflege- schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Heinz fall während des gesamten Verlaufs begleiten: von der Lanfermann, Birgit Homburger, Daniel Bahr Entlassung aus dem Krankenhaus über Rehabilitations- (Münster), weiterer Abgeordneter und der Frak- maßnahmen bis hin zur Pflege zu Hause oder in einer tion der FDP stationären Einrichtung. In den Pflegestützpunkten kön- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 15985

Bundesministerin Ulla Schmidt (A) nen auch diejenigen Rat und Unterstützung finden, die wenn sie keine Pflegestufe haben –, um damit zusätzli- (C) die deutsche Sprache vielleicht nicht so gut beherrschen, che Hilfen finanzieren zu können. die bei der Organisation der Pflege überfordert sind oder die ihre Rechte und Ansprüche nicht kennen. Für uns ist Ich bin sehr froh, dass wir auch in der stationären klar: Sprache, Herkunft und soziale Schicht dürfen kein Versorgung dazu eine praktikable Lösung gefunden ha- Hindernis sein, seine Rechte als Versicherter wahrzuneh- ben. Eine Erhöhung der Leistungen alleine würde zwar men. die Sozialhilfe entlasten, aber sie hätte nicht bewirkt, dass mehr Pflegekräfte für die Betreuung zur Verfügung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten stehen. Deshalb gehen wir mit der Pflegereform einen der CDU/CSU und des Abg. Frank Spieth völlig neuen Weg: Erstmals werden durch die Pflegever- [DIE LINKE]) sicherung zusätzliche Betreuungsassistenten in den sta- tionären Einrichtungen für Menschen mit erhöhtem Be- Die Verantwortung für die Einführung der Pflegestütz- treuungsaufwand finanziert. Das hilft diesen Menschen punkte liegt bei den Ländern. Nun können und müssen direkt, weil die Angebote ausgeweitet werden und sie die Länder zeigen, wie wichtig ihnen eine moderne besser aktiviert werden können. Es entlastet aber auch Pflege ist. die Altenpflegerinnen und Altenpfleger, die tagtäglich Ich muss gestehen, dass mir bei der Diskussion über unter sehr starker Verdichtung der Aufgaben ihre Arbeit die Pflegestützpunkte ein Zitat von Schopenhauer einge- in den Einrichtungen verrichten müssen, und gibt ihnen fallen ist: Zeit, das zu tun, wofür sie diesen Beruf gewählt haben, nämlich den von ihnen betreuten Menschen Zuwendung Gute Ideen werden zuerst verlacht, dann bekämpft zu geben. und schließlich kopiert. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir stärken die häusliche Pflege und fördern alterna- tive Wohnformen. Pflegebedürftige können in Zukunft Ich bin sicher, dass wir erleben werden, wie sich die in Wohn- und Lebensgemeinschaften und auch dann, größten Kritiker der Pflegestützpunkte, wenn sich diese wenn sie im selben Haus oder in der Nachbarschaft woh- erst etabliert haben, zu Vätern und Müttern dieses Ge- nen, ihre Leistungen bündeln und Pflegeangebote gemein- dankens erklären werden. sam nutzen. Das bedeutet Zeitgewinn, und Zeitgewinn (Beifall bei der SPD) bedeutet Zuwendung. Davon profitieren die Pflegebe- dürftigen und die Pflegenden gleichermaßen. Es ist ausdrücklich erwünscht, dass durch die Pflege- (B) stützpunkte die vorhandenen Strukturen weiterentwi- Ich habe großen Respekt vor der Arbeit, die Frauen (D) ckelt werden, dass die ehrenamtlichen Mitarbeiter und und Männer in Pflegeheimen leisten. Mehr als 90 Pro- die Selbsthilfegruppen eingebunden werden. Ich bin zent von ihnen leisten gute und aufopferungsvolle Ar- froh, dass wir es gemeinsam erreichen konnten, dass die beit. Wenn etwas schiefläuft, dann liegt das in der Regel Fördermittel für niedrigschwellige Pflege- und Betreu- nicht an den Personen selber, sondern daran, wie eine ungsangebote von jetzt 20 Millionen Euro auf 50 Millio- Einrichtung organisiert und geführt ist. nen Euro erhöht werden. Dieses Geld soll eingesetzt Wir wollen die Missstände auf ein Minimum reduzie- werden, um das bürgerschaftliche Engagement und das ren. Niemand kann garantieren, dass es keine Missstände Engagement der Selbsthilfe im Bereich der Pflege zu gibt, aber wir wollen dagegen angehen. Die Qualitäts- fördern und damit die Pflege zu stärken. prüfungen in den Pflegeeinrichtungen werden künftig (Beifall bei der SPD) jährlich und in der Regel unangemeldet stattfinden. Was dabei zählt, ist die Qualität der Ergebnisse. Entscheidend Nehmen Angehörige beruflich eine Auszeit, um zu für die zukünftige Qualitätsentwicklung ist die Transpa- pflegen, werden für sechs Monate Sozialbeiträge über- renz der Pflegeberichte. Pflegebedürftige und ihre Ange- nommen. Außerdem können sich Angehörige, wenn je- hörigen können sich in Zukunft verlässlich darüber in- mand in ihrer Familie zum Pflegefall wird, für zehn Tage formieren, ob ein Heim etwas taugt, zum Beispiel durch freistellen lassen, um kurzfristig die nötigsten Dinge zu die Einführung eines Ampel- oder Sternesystems und organisieren. Damit stärken wir die Pflege in der Fami- dadurch, dass wir alle Einrichtungen – ob ambulant oder lie. stationär – dazu verpflichten, die Prüfberichte in ver- ständlicher Form öffentlich zugänglich zu machen. Die Leistungen der Pflegeversicherung werden schrittweise erhöht und ab 2015 systematisch an die Preis- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) entwicklung angepasst. Ein Aspekt ist mir dabei beson- ders wichtig: Der Betreuungsbedarf von demenzkranken, So können schwarze Schafe schneller gefunden werden. psychisch kranken und geistig behinderten Menschen Die Menschen können dann schlechte Einrichtungen wird erstmals als Leistung anerkannt. oder Pflegedienste meiden. Das ist, glaube ich, der beste Weg, um diejenigen zu unterstützen, die tagtäglich für (Beifall bei der SPD) die Verbesserung der Qualität kämpfen. Demenziell erkrankte und psychisch kranke Pflegebe- Jedes schwarze Schaf ist eines zu viel. Dagegen müs- dürftige erhalten künftig einen monatlichen Betrag von sen wir angehen. Aber wir sollten nicht vergessen, dass 100 oder 200 Euro bei häuslicher Pflege – auch dann, die allermeisten Pflegerinnen und Pfleger in den Einrich- 15986 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008

Bundesministerin Ulla Schmidt (A) tungen eine großartige und verantwortungsvolle Arbeit und SPD als kleinster gemeinsamer Nenner mit Mühe (C) leisten. und Not einigen konnten. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wie so oft!) Deshalb ist die Gesellschaft ihnen zu Dank und Aner- Da mag sich die Gesundheitsministerin noch so viel kennung verpflichtet. Ich glaube, ich spreche im Namen Mühe geben, jede Leistungsänderung großzureden und des gesamten Hauses, wenn ich diesen Menschen, die jede Beitragserhöhung kleinzureden, da mag sich gleich rund um die Uhr unermüdlich ihre Arbeit leisten, einen eine ganze Reihe von Koalitionsrednern bemühen, jedes herzlichen Dank ausspreche. kleinste Detail als weltbewegenden Fortschritt zu ver- künden, die schlichte Wahrheit, der unumstößliche Fakt (Beifall im ganzen Hause) ist: Die von der Großen Koalition versprochene Reform Ich will nicht verschweigen, dass ich es gerne gese- ist in ihrem allerwichtigsten Punkt gescheitert. Die drin- hen hätte, wenn die private Pflegeversicherung ihren gend notwendige Finanzreform findet nicht statt. Beitrag zur Finanzreform geleistet hätte. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Die Koalition hat es nicht geschafft. Sie hat genau ge- der LINKEN) nommen vor sich selbst kapituliert. Noch schlimmer: Sie Das bleibt für mich erst einmal unbefriedigend. Den- hat, die Kanzlerin vorneweg, ein Versprechen gebro- noch: Nennen Sie mir eine andere Reform in dieser Le- chen. Am 7. Juli 2006 versprach Frau Merkel in der gislaturperiode, die so konkrete und spürbare Erleichte- Bild-Zeitung: rungen für die Menschen enthält, oder eine Reform, die Wir werden die Pflegeversicherung im nächsten Leistungsverbesserungen von insgesamt mehr als Jahr reformieren, aber Beitragserhöhungen stehen 15 Prozent mit sich bringt! nicht auf der Tagessordnung. (Zurufe von der FDP: Keine!) Das sieht heute anders aus. Wie sagt Frau Merkel immer: Das Gesetz, das wir heute verabschieden, ist ein Er- Versprochen, gebrochen. folg für die Menschen in unserem Land, die Pflegebe- (Beifall bei der FDP) dürftigen, die Angehörigen und die Ehrenamtlichen so- wie für die Beschäftigten in den Pflegeeinrichtungen. Der Pflegeversicherungsbeitrag wird ab dem 1. Juli Für uns ist wichtig, dass wir auch in der Pflegeversiche- 2008 von 1,7 auf 1,95 Prozent, für Kinderlose sogar von rung auf dem Weg der solidarischen Absicherung der 1,95 auf 2,2 Prozent erhöht. Beim durchschnittlichen Ar- (B) großen Lebensrisiken bleiben. Das tut der Gesellschaft beitnehmereinkommen in Deutschland von gut 27 000 (D) und ihrem Zusammenhalt gut. Euro sind das 34 Euro im Jahr. Von wegen, es koste im- mer nur so viel wie eine Tasse Kaffee, Frau Schmidt! Ich bedanke mich bei allen, die an den Diskussionen und Anhörungen in den Ausschüssen teilgenommen und (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir wissen ja nicht, daran mitgewirkt haben: bei den Koalitionsfraktionen, mit wem Frau Schmidt Kaffee trinkt!) den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie insbeson- Auch die Arbeitgeber müssen 34 Euro drauflegen. Das dere beim Kollegen Seehofer und der Kollegin von der ist nach dem „Kinderlosenstrafbeitrag“ und dem zusätz- Leyen, die an der Erarbeitung des Gesetzentwurfs betei- lichen dreizehnten Beitrag im Jahre 2006 schon die dritte ligt waren. Beitragserhöhung innerhalb von drei Jahren. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Es gibt noch ein weiteres gebrochenes Versprechen. Die jungen Abgeordneten der Unionsfraktion haben ge- Präsident Dr. Norbert Lammert: gen ihre Überzeugung der vermurksten Gesundheitsre- Nächster Redner ist der Kollege Heinz Lanfermann form nur zugestimmt, weil ihnen von ihrem Fraktions- für die FDP-Fraktion. vorsitzenden Herrn Kauder versprochen wurde, die Union werde nur dann eine Pflegereform mittragen, (Beifall bei der FDP) wenn zumindest ein Einstieg in eine Kapitaldeckung stattfindet. Heute aber soll ein Gesetz verabschiedet wer- Heinz Lanfermann (FDP): den, mit dem das nicht stattfindet, mit dem sogar neue fi- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- nanzielle Lasten aufgebaut und zulasten der jüngeren ren! Das Lob für alle, die in der Pflege tätig sind, können Generationen in die Zukunft verschoben werden. Nach wir sehr wohl mittragen. Das sage ich für die FDP-Frak- dem Motto „Augen zu und durch“ und der sehr wackeli- tion ausdrücklich. gen Aussage, nun habe man Geld für die nächsten fünf, (Beifall bei der FDP) sechs Jahre, lässt man das Wichtigste liegen. So bleibt es beim Umlageverfahren, und so werden in der Zukunft Gleichwohl steht heute nicht die grundlegende oder so- massive Beitragssatzerhöhungen und/oder empfindliche gar die große Pflegereform zur Abstimmung, die die Ko- Leistungskürzungen – je nach Wahl, wahrscheinlich bei- alition vor zweieinhalb Jahren vollmundig angekündigt des – schon aufgrund des demografischen Wandels un- hat, sondern nur die wenigen Punkte, auf die sich Union vermeidbar sein. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 15987

Heinz Lanfermann (A) Wir alle wissen es, und die Bürger sprechen uns da- alle sind eingeladen, alle können mitmachen, bestehende (C) rauf an: Bis 2050 gibt es dreimal so viele Pflegebedürf- Strukturen werden einbezogen“ wird in Wirklichkeit mit tige, und die Zahl der Beitragszahler geht um ein Drittel berechnender Kälte allen, die schon in der Pflegebera- zurück. Man kann das hochrechnen: Das bedeutet min- tung tätig sind, nach und nach nur die Alternative ange- destens eine Verdopplung des Beitragssatzes auf über boten: 4 Prozent, wahrscheinlich eher auf über 5 oder 6 Prozent. (Elke Ferner [SPD]: Das ist der größte Schwach- Das Forschungszentrum Generationenverträge der Uni sinn, den ich je gehört habe!) Freiburg hat ausgerechnet, was die junge Generation je- der Tag kostet, Mach mit, und zwar unter unserer Aufsicht und Leitung, oder sieh zu, wo du bleibst, wenn wir hier eine eigene, (Elke Ferner [SPD]: Von welchen Versicherun- alles abdeckende Struktur aufbauen. gen werden die denn gesponsert?) (Elke Ferner [SPD]: Manchmal hilft Lesen, der vergeht, ohne dass die notwendige Umstellung vor- Herr Lanfermann!) genommen wird: 29 Millionen Euro pro Tag, also – das ist leicht nachzurechnen – über 10 Milliarden Euro pro Tatsache ist, dass die Pflegestützpunkte sehr umstrit- Jahr. Wenn wir jetzt weitere zwei, drei Jahre brauchen, ten waren und dass die Unionsfraktion sie nie gewollt bis wir diese Umstellung mit einer neuen, besseren Re- hat. Es war nicht schön für Sie, dass Frau von der Leyen gierung vornehmen können, dann sind es über 30 Mil- und Herr Seehofer dieser Sache erst einmal zugestimmt liarden Euro, Frau Schmidt, die in Ihrer Bilanz zulasten haben, auch wenn sie hinterher leichte Absetzbewegun- der jungen Generation stehen. gen gemacht haben. Es gab eine Anhörung dazu hier im Bundestag; die allermeisten Experten und Betroffenen, (Beifall bei der FDP) bis auf ganz wenige Ausnahmen, haben gesagt: Das Die FDP will einen Umstieg in eine kapitalgedeckte taugt nichts. Wir sind gegen die Pflegestützpunkte. Wir Versicherung, bei der die Jungen ansparen können, damit wollen sie nicht; sie sind wirklich schlecht. – Nur im Ge- sie im Alter als Generation für ihre eigenen Kosten auf- sundheitsministerium und in der SPD-Fraktion haben es kommen. Nur so entgeht man der demografischen Falle. einige mit bemerkenswerter Autosuggestion geschafft, das Ergebnis dieser Anhörung umzudeuten. (Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Wie hoch wäre dann der Beitrag?) (Beifall bei der FDP – Lachen bei der SPD – Elke Ferner [SPD]: Die Länder 16 : 0 und die Meine Damen und Herren, die Regierung und die sie Bundesregierung!) tragenden Fraktionen haben sehr viel Redezeit, die Herr Zöller hat diese Vorgehensweise in der Welt vom (B) Opposition hat sehr wenig. Daher verweise ich auf den (D) Antrag der FDP-Fraktion „Für eine zukunftsfest und ge- 21. Januar 2008 – das muss ich heute hier zitieren – ge- nerationengerecht finanzierte, die Selbstbestimmung schildert: stärkende, transparente und unbürokratische Pflege“ auf Das, was Frau Schmidt macht, hat mit kollegialer Drucksache 16/7491, der alle unsere Vorschläge zur Zu- Zusammenarbeit nichts mehr zu tun. Sie trickst und kunft der Pflege enthält. Ebenso sehr zur Lektüre zu täuscht, was das Zeug hält. Beispiel Pflegereform: empfehlen ist unser Antrag „Entbürokratisierung der Frau Schmidt weiß, dass wir die Pflegestützpunkte Pflege vorantreiben – Qualität und Transparenz der sta- ablehnen, die ihr Gesetzentwurf vorsieht. Trotzdem tionären Pflege erhöhen“, Drucksache 16/672. Wenn schreibt sie in den Pflegebericht der Bundesregie- man diesem Antrag folgte, Frau Schmidt, behöbe man rung: Pflegestützpunkte werden begrüßt. Und dann viele Missstände. Man würde mehr Transparenz schaf- veranlasst ihr Ministerium noch vor dem Kabinetts- fen, für weniger Bürokratie sorgen und den Pflegenden, entscheid eine Pressemeldung, in der steht, dass das die zum Teil 30 Prozent, oft sogar mehr ihrer Zeit für Kabinett Pflegestützpunkte begrüßt. Bürokratie verbrauchen, die Gelegenheit geben, diese Zeit für die Zuwendung am Pflegebett einzusetzen. Vielleicht sollten Sie sich darüber noch einmal unterhal- ten. (Beifall bei der FDP) Ich meine, die Union hat sich hier über den Tisch zie- Frau Schmidt hat wieder einmal viel zu den Pflege- hen lassen. Sie glaubt, weil die Anschubfinanzierung di- stützpunkten gesprochen. Das ist ein etwas martiali- vidiert durch die Summe pro Einheit 1 200 beträgt, es scher Begriff; ich glaube, es ist so eine Art Basislager für gäbe nur 1 200 Pflegestützpunkte. Sie waren in den Ver- die Eroberung der Pflege von Staats wegen. handlungen schon einmal weiter und wollten nur ein (Beifall bei der FDP – Lachen bei der SPD) paar Versuchsstützpunkte pro Land zugestehen; das ist aber Vergangenheit. Nach einer Tickermeldung vom Sie sind überflüssig, schädlich und teuer. Was für die 7. März 2008 sagt Frau Schmidt, es werden wohl 2 500 Gesundheitsreform der Gesundheitsfonds ist, sind für bis 3 000. die Pflegereform die Pflegestützpunkte. (Dr. [FDP]: Aha!) (Beifall bei der FDP) Das ist ja auch ganz einfach. Die Anschubfinanzierung Besonders perfide ist, was Frau Schmidt mit den be- macht sowieso nur Peanuts aus gegenüber den Folgekos- stehenden Angeboten vorhat. Unter den süßen Klängen ten, die über die Jahre entstehen und von den Pflegekas- der Melodie „Allen wird geholfen, alles aus einer Hand, sen, also den Beitragszahlern, den Kommunen und den 15988 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008

Heinz Lanfermann (A) Ländern gezahlt werden. Was Sie da erreicht haben, Heinz Lanfermann (FDP): (C) bringt nicht viel. Danke, Herr Präsident, ich habe das Zeichen gese- hen. – Ich will noch sagen: Dieses Gesetz ist auch tech- (Beifall bei der FDP) nisch schlecht gemacht, weil jeder herauslesen kann, Dass Sie die Flasche Salzsäure nicht trinken wollten, was er will, und weil man auf jede Zahl, mit der man et- kann ich verstehen; aber eine halbe Flasche macht Sie was anfangen könnte, verzichtet hat. auch nicht glücklich. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Heiterkeit und Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Es ist aber noch schlimmer. Niemand weiß, was kom- men soll. Was ist eigentlich ein Pflegestützpunkt? Wie Präsident Dr. Norbert Lammert: sieht er aus? Wer und wie viele Personen sitzen da, und Annette Widmann-Mauz ist die nächste Rednerin für von wem wird das Ganze bezahlt? die Fraktion CDU/CSU. (Elke Ferner [SPD]: Lesen hilft, Herr (Beifall bei der CDU/CSU) Lanfermann!) Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): Ist das öffentlich-rechtliches Kaffeekochen? Was soll Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und das sein? Nirgendwo steht etwas dazu, weder im Gesetz- Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! 1995 hat entwurf noch in der Begründung. Auf welchen Struktu- die damalige unionsgeführte Bundesregierung die Pfle- ren in den Ländern soll aufgebaut werden? Hier soll ver- geversicherung eingeführt. Das war ein Meilenstein in netzt, aufgebaut und koordiniert werden. Ich habe die der Sozialversicherungsgeschichte der Bundesrepublik Ministerin zweimal angeschrieben und gefragt: Welche Deutschland. Institutionen gibt es in den Ländern, auf denen man auf- baut? Wann gibt man noch etwas hinzu? – Ich habe (Beifall bei der CDU/CSU) zweimal eine höchst lapidare Antwort von Frau Caspers- Heute, dreizehn Jahre später, wird diese Erfolgsge- Merk bekommen. schichte fortgeschrieben. Mit der Umsetzung des vorlie- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sie haben doch genden Gesetzentwurfs werden erstmals seit Einführung wohl nichts anderes erwartet!) der Pflegeversicherung Leistungen angehoben und neue Leistungen eingeführt. Außerdem wird eine regelmäßige Darin steht nichts zu den Inhalten. Sie wissen es auch Anpassung der Leistungsbeträge verankert. nicht. (B) Auch wenn sich die Lebenserwartung der Menschen, (D) Natürlich wird es Länder geben, die Pflegestütz- der Altersaufbau der Gesellschaft und die familiären punkte einrichten. Man muss nur ein anderes Schild an Strukturen ändern oder neue Krankheitsbilder entstehen: einer Institution anbringen, um in den Genuss der An- Das Leistungsversprechen, das die Pflegeversicherung schubfinanzierung zu kommen; das ist ganz einfach. Das gibt, hat auch in Zukunft Bestand; darauf können sich gibt das Gesetz her. Dadurch, dass Sie dies den Ländern die Menschen verlassen. übertragen, geben Sie sogar die Kontrolle aus der Hand. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Das wird nicht zu Ihrem Vorteil, sondern zu Ihrem Nach- neten der SPD) teil sein. Sie werden es erleben. Für die junge Generation ist dies auf Dauer nur möglich, (Beifall bei der FDP) wenn wir ein Mehr an Kapitaldeckung in dieses System Sie haben gesagt, dass die Pflegestützpunkte einführen. Wir wissen, dass das mit dieser Koalition 800 Millionen Euro kosten. 290 Millionen Euro sind für nicht möglich ist. Aber, lieber Kollege Lanfermann, im Pflegeberater vorgesehen. Wo steht denn, dass es so Gegensatz zu Ihnen verfahren wir nicht nach dem Motto, viele Pflegeberater gibt? Außerdem ist zu lesen, dass für dass, wenn wir unser Ziel nicht erreichen können, die je 25 Menschen in den Heimen eine Kraft bezahlt werde, Menschen, die pflegebedürftig sind, darunter leiden die die aufwendige Betreuung von Altersverwirrten und müssen. Das ist mir uns nicht zu machen. psychisch Kranken in die Hand nimmt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Dass wir heute in der abschließenden Lesung so weit Herr Kollege! gekommen sind, ist das Ergebnis intensiver, erfolgrei- cher parlamentarischer Beratungen; denn über den Heinz Lanfermann (FDP): ursprünglichen Gesetzentwurf hinaus ist es gelungen, Das sind doch, wenn der Arbeitgeber brutto 57 000 zahlreiche Leistungsverbesserungen zugunsten der Euro zahlt, bei 3 500 Stellen rund 200 Millionen Euro. Pflegebedürftigen, ihrer Angehörigen und der Pflege- Das müssen Sie alles einrechnen. kräfte auf den Weg zu bringen. Im Zentrum dieser Ver- handlungen standen für die Unionsfraktion, CDU und CSU, drei Grundsätze: mehr Qualität und Leistungs- Präsident Dr. Norbert Lammert: gerechtigkeit, so viel Transparenz wie möglich und so Herr Kollege Lanfermann! wenig Bürokratie wie nötig. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 15989

Annette Widmann-Mauz (A) (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) neten der SPD) Warum? Bei dieser Reform geht es nämlich in allererster Linie um die Menschen, um die Pflegebedürftigen, ihre Demenz macht nicht an der eigenen Haustür halt. Angehörigen, die Pflegekräfte und diejenigen Bürgerin- Nach Schätzung des Medizinischen Dienstes der Kran- nen und Bürger, die ehrenamtlich in diesem Bereich kenkassen weisen 50 Prozent der Heimbewohner mitt- ganz Hervorragendes und Außergewöhnliches leisten. lerweile die Diagnose Demenz auf. Auch für sie musste endlich etwas getan werden. Manchmal hört man zwar, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- die Heimbewohner seien rund um die Uhr untergebracht, neten der SPD) sie seien versorgt und deshalb müsse man nichts mehr Jeder Euro, der über höhere Beiträge von den Beitrags- tun, doch „versorgt“ heißt eben nicht unbedingt „ange- zahlern aufgebracht wird, muss verantwortungsbewusst messen betreut“. Wir als Union haben uns nicht damit zu allererst genau bei diesen Menschen ankommen. zufrieden gegeben, dass die zusätzlichen Leistungen nur auf den ambulanten Bereich beschränkt bleiben. Wir Die Pflegeversicherung ist gut, aber sie stößt seit ge- wollten, dass auch Demenzerkrankte in den Heimen raumer Zeit an ihre Grenzen, finanziell und bezogen auf zusätzliche Betreuung erfahren können. ihre Leistungen. Damit sie gut bleibt, handelt die Große Koalition. Sie schafft jetzt das, worüber Rot-Grün sieben (Beifall bei der CDU/CSU) lange Jahre nur diskutiert hat. Deshalb sind wir sehr zufrieden, dass es in den Beratun- (Beifall bei der CDU/CSU) gen gelungen ist, auch noch zusätzliche Betreuungsan- gebote für Demenzkranke in den Heimen festzuschrei- Alle wussten es, aber geschehen ist fast nichts: Ich denke ben. In Zukunft können zusätzliche Betreuungskräfte für an die Demenz als Altersrisiko, das ständig zunimmt. Demenzkranke in den Heimen eingestellt werden. Damit Denken wir zum Beispiel an eine ältere Frau, die auf ein- wird das bisherige Pflegepersonal von diesen Aufgaben mal nicht mehr weiß, wie sie nach Hause kommt, die entlastet, und neue sozialversicherungspflichtige Ar- vergisst, dass der Herd noch angeschaltet ist, und die beitsplätze können entstehen. nahe Angehörige nicht mehr erkennt und damit nicht mehr von Fremden unterscheiden kann. Was will ich da- Wir wollten, dass das Geld nicht einfach in höheren mit sagen? Demenzkranke brauchen weniger medizini- Pflegesätzen versickert. Nein, wir wollten mit nachge- sche Pflege im engeren Sinn, sie brauchen vielmehr Be- wiesenem zusätzlichem Personal auch zusätzliche Be- treuung und Hilfe im Alltag – und diese häufig rund um treuungsangebote schaffen. Dies ist wichtig. Jetzt kön- die Uhr. Das stellt insbesondere für die Angehörigen nen zum Beispiel Tätigkeiten wie das gemeinsame (B) eine wahnsinnig große Belastung dar. Sie pflegen zum Tischdecken oder das gemeinsame Kartoffelschälen mit (D) Teil unter kaum vorstellbaren körperlichen, aber auch Betreuung für Demenzkranke angeboten werden. Das seelischen Belastungen aufopferungsvoll ihre Angehöri- hilft diesen Menschen, das ist sinnvoll und gut und trägt gen. Nicht selten muss ihr eigenes Leben auf die Bedürf- zur Steigerung der Lebensqualität in den Heimen bei. nisse der Angehörigen ausgerichtet werden, oft auch noch nach oder neben der eigenen Erwerbstätigkeit und (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) der Versorgung der Kinder. Das verdient unseren ganzen Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, der Gang in ein Respekt und unsere ganze Anerkennung. Genau diesen Pflegeheim ist für jeden eine schwere Entscheidung. Na- Menschen wollen wir mit dem vorgelegten Gesetzent- türlich wollen alle in der Regel nur das Beste für ihre wurf helfen. Wir wollen sie weiter entlasten und unter- Angehörigen. Aber was tun, wenn die Kinder oder die stützen. Enkel nicht mehr am Heimatort wohnen oder ihre Be- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- rufstätigkeit oder finanzielle Gründe es nicht erlauben, neten der SPD) zu Hause zu pflegen, oder wenn es diese nahen Angehö- rigen nicht mehr gibt, die die Versorgung übernehmen Mit diesem Gesetzentwurf werden in Zukunft De- könnten? Wenn es aus welchen Gründen auch immer zu menzerkrankte, die noch nicht in der Pflegeversicherung einer Entscheidung für einen Umzug in ein Heim eingestuft sind, zum ersten Mal Leistungen erhalten. Wir kommt, dann sollte diese Entscheidung – sie fällt schwer werden die Leistungen für die Demenzkranken insge- genug – wenigstens gut informiert und guten Gewissens samt aufstocken. Waren es bislang im ambulanten Be- getroffen werden können. reich maximal 460 Euro im Jahr, werden es in Zukunft bis zu 200 Euro im Monat und damit bis zu 2 400 Euro Deshalb tragen wir Mitverantwortung dafür, dass die pro Jahr sein. 560 Millionen Euro mehr stehen allein im größtmögliche Transparenz nicht nur über die Lage und ambulanten Bereich dafür zur Verfügung. Die Angehö- die Ausstattung der Zimmer gewährleistet wird, sondern rigen erhalten damit die Möglichkeit, zusätzliche Hilfen vor allen Dingen Informationen über die Pflegequalität zu sich ins Haus zu holen. Das ist wichtig; denn wir wis- und die Angebote der Heime zur Verfügung stehen. Des- sen doch: Pflege ist weiblich. Pflegekräfte, die ehren- halb wollen wir, dass die Ergebnisse von Qualitätsprü- amtlich Engagierten, die pflegenden Angehörigen – es fungen zukünftig veröffentlicht werden und in verständ- sind meist die Frauen, die diese Arbeit leisten. Gerade licher Art und Weise für jedermann einsehbar sind. Das für sie, die häufig nebenbei so viel anderes zu leisten und kann auch im Internet geschehen. Aber auch im Pflege- zu meistern haben, ist dies ein wirklich wesentlicher und heim selbst sind zukünftig eine Zusammenfassung dieser längst überfälliger Schritt. Prüfberichte des Medizinischen Dienstes und die 15990 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008

Annette Widmann-Mauz (A) zugrunde liegende Bewertungssystematik transparent notwendig, dass auch zum Beispiel ein Augenarzt oder (C) und verständlich zugänglich zu machen. ein Hals-Nasen-Ohren-Arzt die Menschen im Alter, de- ren Sehkraft und Hörfähigkeit nachlassen, an der Ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) meinschaft teilhaben lassen können, die auch im Pflege- Das kann je nach Qualitätsstandard mit Sternchen wie heim stattfindet. im Hotel geschehen. Was für uns zur Orientierung bei je- Uns als Union ist es sehr wichtig gewesen, dass das der Hotelbuchung selbstverständlich ist, was wir erwar- Arzt-Patienten-Verhältnis, welches ein besonderes Ver- ten, das sollte doch bei der Auswahl eines Pflegeheims, trauensverhältnis ist, nicht gestört wird und die freie das ja immerhin der Lebensmittelpunkt werden soll, nur Arztwahl im Pflegeheim weiterhin möglich ist. Deshalb billig sein. Deshalb wollen wir diese Transparenz. Es ist setzen wir auf Kooperationen mit niedergelassenen Ärz- notwendig, dass sie umgesetzt wird. ten oder Arztgruppen – ob selbstständig oder unterstützt (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) durch die Kassenärztlichen Vereinigungen. Erst wenn solche Kooperationen, die gut und notwendig sind, nicht Aber nur mit besserer Transparenz, die ohne Zweifel funktionieren, kann auch ein angestellter Arzt im Heim nötig ist, ist es nicht getan. Wir als Unionsfraktion konn- Menschen versorgen. Eines muss aber ganz klar sein: ten uns nicht damit abfinden, dass ein Pflegeheim nur Die freie Arztwahl muss erhalten bleiben. Kein Arzt darf alle fünf Jahre kontrolliert wird. Auch im Gesetzentwurf zugewiesen werden. Darauf legen wir großen Wert und waren nur dreijährige Prüfungen vorgesehen. Wir woll- dies ist jetzt mit diesem Gesetz gesichert. ten, dass jedes Jahr unangemeldet Kontrollen in die Heime kommen. Das ist wichtig und stärkt die Sicher- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- heit und die Transparenz. neten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU – Elke Ferner Die Pflegebedürftigkeit kann jeden jederzeit treffen – [SPD]: Das war unser Antrag! Aber das ist direkt oder indirekt. Die Angehörigen spielen dann eine egal!) wirklich wichtige Rolle und leisten sehr viel. Deshalb haben wir uns mit vielen Veränderungen in diesem Ge- Mit dem jetzt zur Abstimmung vorliegenden Entwurf setzentwurf ganz besonders für sie eingesetzt. Denken sind die Heime transparenter geworden. Die Transparenz wir an die sechsmonatige Pflegezeit und an den An- ist nämlich der beste Schutz vor Missständen. Das sind spruch, wieder in den Beruf einsteigen zu können. Den- wir den älteren Menschen in unserem Land schuldig. ken wir an den Freistellungsanspruch, der jetzt gewährt (Beifall bei der CDU/CSU) wird. (B) Dieses Mehr an Transparenz darf umgekehrt nicht zu (Elke Ferner [SPD]: Erfolg hat viele Mütter (D) noch mehr Bürokratie für die Pflegekräfte vor Ort füh- und Väter! – Gegenruf des Abg. Volker ren. Die haben nämlich schon genug davon. Kauder [CDU/CSU]: Ein bisschen mehr Soli- darität!) (Zurufe von der FDP: Eben! – Mehr als genug!) Wir verkürzen darüber hinaus die Wartezeit auf die Kurzzeitpflege oder die Verhinderungspflege für diejeni- Im Vordergrund der Prüfung werden deshalb in Zukunft gen, die neu in eine solche Situation kommen. In der die Pflegequalität und damit das Ergebnis der Pflege am Verhinderungspflege besteht häufig kein Rentenan- Menschen stehen. Wichtig ist doch nicht in erster Linie spruch mehr, was den Angehörigen das Leben schwer das, was in den Bergen von Aktenordnern an Struktur- macht. Wir wollen ihnen an dieser Stelle helfen, indem und Prozessqualität dokumentiert ist. Wichtig sind doch wir wichtige weitere Neuerungen für pflegende Angehö- das körperliche und seelische Wohlbefinden und die Le- rige schaffen. bensqualität, die durch die Pflege beim Pflegebedürfti- gen ankommen. (Elke Ferner [SPD]: Toll!) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Für die Pflegekräfte wollen wir die Attraktivität des FDP) Berufs steigern. Was von den professionellen Pflegekräf- ten geleistet wird, ist wirklich herausragend. Körperlich Schließlich soll die Pflegekraft in ihrer Arbeit doch zu- und psychisch ist dieser Beruf schwer. Wir wollen, dass erst am Menschen und nicht am Schreibtisch tätig sein. er gerade für junge Menschen attraktiver wird. Deshalb (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- eröffnen wir die Möglichkeit, dass ausgewählte ärztliche neten der SPD und der FDP) Tätigkeiten nicht nur delegiert, sondern auch eigenver- antwortlich von Pflegekräften durchgeführt werden kön- Der Umzug fürs Heim bringt häufig auch eine große nen. Das stärkt die Verantwortung und damit die Attrak- Veränderung bei der ärztlichen Versorgung mit sich. tivität des Berufs. Natürlich wünscht sich fast jeder, dass der vertraute langjährige Hausarzt, der so manchen ein Leben lang be- Wir werden auch die Zukunftsperspektive für eine gleitet hat, nun auch in der neuen Umgebung die ärztli- Tätigkeit als Einzelpflegekraft stärken. Man kann dann che Versorgung übernimmt. Aber wir wissen auch: Das sozusagen sein eigener Herr oder seine eigene Frau sein. ist nicht immer möglich. Deshalb ist es so notwendig, Damit entstehen neue, flexible Einsatzfelder für Pflege- dass die ärztliche und gerade auch die fachärztliche Ver- kräfte in der Praxis. Dies ist wichtig, um dem Beruf auch sorgung in Zukunft gewährleistet bleiben. Denn es ist weitere Perspektiven zu eröffnen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 15991

Annette Widmann-Mauz (A) (Beifall bei der CDU/CSU – Frank Spieth [DIE – Das ist ein positiver Aspekt, den ich gar nicht leugnen (C) LINKE]: Und zu welchem Lohn?) will. Die Grundrichtung ist aber falsch. Der Gesetzentwurf hat im Parlament nochmals deutli- Jeder Mensch weiß: Wenn ich eine neue Sozialleis- che Verbesserungen erfahren. Damit werden allen Betei- tung ordentlich gestalten will, dann muss ich zuerst das ligten – den Betroffenen, den Angehörigen und den Pfle- Ziel definieren. Das Ziel zu definieren heißt, einen ver- gekräften – neue Wege aufgezeigt. Deshalb geht mein nünftigen Begriff dessen in das Gesetz zu schreiben, was Dank an diesem Tag nicht nur an die Kolleginnen und eigentlich gemacht werden soll. Gemacht werden soll Kollegen der Fraktionen, insbesondere meiner Fraktion, nicht etwa „satt, sauber, trocken“. Gemacht werden soll sondern auch an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vielmehr, dass Menschen auch dann, wenn sie inkonti- der Fraktionen und des Ministeriums. nent oder dement sind oder auch dann, wenn sie andere ständige Hilfe brauchen, am Leben der Gemeinschaft Präsident Dr. Norbert Lammert: teilhaben können müssen. Frau Kollegin, Sie können jetzt nicht mehr vollstän- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert dig vortragen, wem im Einzelnen Dank gebührt. Winkelmeier [fraktionslos]) (Heiterkeit) Ob Teilhabe an der Gemeinschaft heißt, mit der Fami- lie unterwegs zu sein, an großen Veranstaltungen teilzu- Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): haben oder bei einer Sportveranstaltung dabei zu sein, Den Dank habe ich jetzt schon allgemein zum Aus- sei dahingestellt. Sie haben aber nicht einmal den Ansatz druck gebracht; personenbezogen würde es in der Tat einer Teilhabeermöglichung eingebaut. Sie haben nicht länger dauern. Aber es ist wichtig, diesen Dank zu sa- einmal einen Ansatz für Selbstbestimmung eingebaut. gen; denn ohne die tatkräftige Unterstützung wäre das Sie haben nicht einmal einen Ansatz für den würdevol- Ergebnis nicht erreicht worden. Deshalb müssen wir uns len Umgang mit Menschen in dieser schwierigen Situa- die Zeit dafür nehmen. tion eingefügt. Sie haben keinen vernünftigen Pflege- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- begriff. neten der SPD) (Elke Ferner [SPD]: Hätten wir deswegen mit Es ist ein guter Gesetzentwurf, der den Menschen in dem Gesetz warten sollen?) unserem Lande, denjenigen, die das Schicksal in die Den wollen Sie irgendwann am Sankt-Nimmerleins-Tag Lage gebracht hat, pflegebedürftig zu sein, weiterhilft. kurz vor Weihnachten präsentieren, dann, wenn das Ge- Deshalb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung. (B) setz längst in Kraft ist. Das kann doch nicht vernünftig (D) Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. sein. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert neten der SPD) Winkelmeier [fraktionslos]) Sie wissen, dass man das Ziel erst einmal definieren Präsident Dr. Norbert Lammert: muss, bevor man die Wege festlegt. Danach kann man Das Wort erhält nun der Kollege Ilja Seifert, Fraktion fragen, was es kostet und woher das Geld kommt. Sie Die Linke. machen es gerade umgekehrt. Sie überlegen eine Erhö- (Beifall bei der LINKEN) hung des Beitrags um 0,25 Prozentpunkte und wollen dann sehen, wie weit sie damit kommen. Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Was haben Sie nun Tolles eingerichtet? Sie wollen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! jetzt Pflegestützpunkte einrichten. Sie haben uns hier Meine Damen und Herren! Obwohl der Grundansatz ein Theaterstück vorgespielt, das vom Feinsten war. Als dieses Gesetzes zur „Weiterverwirrung“ der Pflegever- wenn das der Knackpunkt einer vernünftigen Pflege- sicherung völlig verquast ist, konnte die Bundesregie- orientierung wäre! Der Knackpunkt einer vernünftigen rung es nicht verhindern, wenigstens ein paar positive Pflegeorientierung ist nicht, dass ich mehr darüber bera- Pünktchen einzubauen. Das liegt nicht zuletzt daran, ten werde, was es alles nicht gibt. Der Knackpunkt einer dass sich Menschen, die wirklich auf diese Hilfe ange- vernünftigen Pflegeversicherung ist, dass ich die Hilfe wiesen sind, ordentlich gewehrt haben. Es liegt auch da- dann bekomme, wenn ich sie brauche. Das ist ein Unter- ran, dass die Opposition – insbesondere die linke Oppo- schied. sition – immer wieder gesagt hat: Ihr müsst an die Menschen denken und nicht an die Strukturen. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) Es lässt sich beispielsweise nicht leugnen, dass es ver- nünftig ist, dass die Menschen dann, wenn sie für ein Über was sollen die Beraterinnen und Berater die Men- halbes Jahr eine Pflegeauszeit nehmen, zumindest weiter schen denn beraten, wenn es vorn und hinten nicht sozialversichert sind. reicht? (Elke Ferner [SPD]: Das haben wir doch (Hilde Mattheis [SPD]: Das ist völlig gemacht!) irrational!) 15992 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008

Dr. Ilja Seifert (A) – Das kann ich auch sagen, ohne ausgebildeter Berater (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert (C) zu sein. Winkelmeier [fraktionslos] – Elke Ferner [SPD]: Wir auch!) Sie haben tolle Sachen in das Gesetz hineingeschrie- ben. Sie wollen eine Dynamisierung der Leistungen – Aber Sie machen es nicht. einführen. Meine Damen und Herren, damit Sie wissen, Dann legen Sie einen Entschließungsantrag dazu vor! wovon wir reden: Diese Dynamisierung soll in der über- Wenn wir dem zustimmten, hieße das nicht gleich, dass nächsten Wahlperiode in Kraft treten. Bis dahin gibt es er gut wäre. Er machte aber zumindest deutlich, dass Sie noch so viele Möglichkeiten, das wieder zu verhindern, wissen, dass Ihr Gesetz nicht nur zu kurz gesprungen ist, dass man gar nicht weiß, wie ernst man das nehmen soll. sondern sogar in die falsche Richtung geht. Sie sagen (Elke Ferner [SPD]: Vorher erhöhen wir die immerhin, dass Sie wissen, in welche Richtung man Leistungen!) springen müsste. Sie haben jetzt vorgeschlagen, eine kleine Erhöhung Erlauben Sie mir bitte noch ein Wort zur Finanzie- der Leistungen vorzunehmen. Diese gleicht nicht ein- rung. Herr Lanfermann möchte immer, dass die Pflege- mal die Inflationsverluste aus. versicherung kapitalgedeckt ist. Jeder weiß, dass die Pflegeversicherung so etwas wie die kleine Schwester (Elke Ferner [SPD]: Was ist Ihr konkreter der gesetzlichen Krankenversicherung ist. Deshalb hät- Vorschlag?) ten wir bei dieser kleinen Schwester der großen GKV die wunderbare Möglichkeit gehabt, über fünf Jahre einmal Sie wissen das so gut wie ich und reden daran vorbei. auszuprobieren, wie eine Bürgerinnen- und Bürgerver- Die Leistungserhöhung reicht auf gar keinen Fall aus, sicherung funktionieren würde. Dann hätten wir hier alle um das immer wieder postulierte Motto „ambulant vor Fehler, die sich beim Übergang in ein solches System stationär“ umzusetzen. Was Sie stärken, sind wieder die natürlich einschleichen, testen und korrigieren können. Strukturen in Einrichtungen, in denen die Menschen Selbst Sie von der Union müssten eigentlich dafür sein. mehr oder weniger verwahrt werden, in denen sie jeden- Denn wenn sich wirklich herausstellen sollte, dass dieses falls nicht selbstbestimmt leben. Die Selbstbestimmung System nicht funktioniert, dann hätten Sie das auf die- hat ihre Grenzen beim Dienstplan des Personals. Im sem Wege bewiesen und es nicht nur aus ideologischen Zentrum stehen nicht die Bedürfnisse derjenigen, um die Gründen behauptet. Lassen Sie uns diesen Weg doch es eigentlich geht, die Pflegebedürftigen. Das Schlimme wirklich einmal gehen! Dieser Weg ist nicht zulasten der ist, dass Sie es ebenso gut wissen wie ich und es nicht Bürgerinnen und Bürger, die Hilfe brauchen, nicht zulas- richtig ändern. Das ist das, was ich Ihnen wirklich vor- ten der Menschen, die Hilfe anbieten, und auch nicht zu- (B) werfe. lasten derjenigen, die das bezahlen. (D) Hinter der Nebelwand dieser Riesendiskussion über Letzter Satz. Ich wundere mich, dass Sie sich eine Be- die Pflegestützpunkte haben Sie geschickt versteckt, auftragte der Bundesregierung für die Belange behinder- dass es ein paar richtige Sauereien gibt. Jetzt gibt es nach ter Menschen leisten, dass Sie aber, wenn sie ein Kon- diesem Gesetz plötzlich Pflegekräfte; es gibt nicht Pfle- zept für einen teilhabeorientierten Pflegebegriff auf den gefachkräfte, es gibt Pflegekräfte. Tisch legt, dieses sofort in den Papierkorb werfen. Pfui! (Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Alles nur (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert schlechtreden!) Winkelmeier [fraktionslos] – Elke Ferner [SPD]: Das ist ja Unsinn! – Gegenruf des Abg. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Das war so!) das Einfallstor dafür sein wird, die sittenwidrigen Ar- beitsbedingungen, die polnische Frauen in Deutschland schon jetzt haben, zu legalisieren, Präsident Dr. Norbert Lammert: Nun erhält die Kollegin Elisabeth Scharfenberg, (Frank Spieth [DIE LINKE]: So ist es!) Bündnis 90/Die Grünen, das Wort, der ich vor Beginn ihrer Rede herzlich zu ihrem heutigen Geburtstag gratu- dass es in Zukunft legal und geradezu vom Gesetz ge- lieren möchte, verbunden mit allen guten Wünschen des stützt sein wird, dass Frauen für drei Monate hierher ganzen Hauses. kommen und, getarnt als Haushaltshilfe, für 700 oder 800 Euro im Monat (Beifall) (Hilde Mattheis [SPD]: Wie kommen Sie denn darauf? Das ist nur eine Behauptung! – Wei- Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tere Zurufe von der SPD) NEN): Vorab vielen Dank für die guten Wünsche; die kann – das ist doch jetzt schon so! – tätig sind, 24 Stunden am ich heute gut gebrauchen. Tag, und zwar nicht als Haushaltshilfe, sondern als Pfle- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Die kann man gekraft par excellence. Ich weiß, dass es viele Menschen immer gebrauchen!) gibt, die momentan keine andere Möglichkeit haben, ihre Pflegesituation zu verbessern. Aber das ist trotzdem Herr Präsident! Frau Ministerin! Sehr geehrte Kolle- sittenwidrig, und ich möchte, dass die Menschen, die ginnen und Kollegen! Wir stehen heute am Ende eines diese Arbeit leisten, ordentlich bezahlt werden. langen Gesetzgebungsverfahrens zu einer kleinen Pfle- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 15993

Elisabeth Scharfenberg (A) gereform. Die Große Koalition hat uns zu Beginn ihrer trolliert werden sollen. Wir begrüßen es auch, dass die (C) gemeinsamen Leidenszeit weitreichende Versprechun- Prüfberichte künftig veröffentlicht werden sollen. Das gen gemacht. Im Koalitionsvertrag von Union und SPD sind wichtige und absolut notwendige Schritte hin zu ist die Rede von einem „Gesetz zur Sicherung einer mehr Transparenz und Qualität für die Pflegebedürfti- nachhaltigen und gerechten Finanzierung der Pflegever- gen und ihre Angehörigen. Für uns Grüne ist auch klar, sicherung“. Dieses Gesetz sollte bis zum Sommer 2006 dass die Pflegestützpunkte und Pflegeberater wie auch vorgelegt werden. die Pflegezeit im Grundsatz richtig sind. Ebenso ist aber auch klar, dass die Umsetzung dieser Punkte schlecht ge- Wir haben jetzt Mitte März 2008, also fast zwei Jahre macht und eben nicht im Sinne der Pflegebedürftigen später. und ihrer Angehörigen ist. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das ist noch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) weniger als sieben Jahre Grün!) Wenn wir glauben, dass wir heute das uns angekündigte Leider wurde hier die Große Koalition zur großen große Gesetz der Pflegereform verabschieden, dann täu- Konfusion. Bei den Verhandlungen stand nämlich nicht schen wir uns. etwa die Frage, was die Betroffenen brauchen, um ein möglichst selbstbestimmtes Leben auch bei Pflegebe- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dürftigkeit führen zu können, im Vordergrund. Denn das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz enthält we- (Elke Ferner [SPD]: Was denn sonst?) der den versprochenen Finanzausgleich zwischen sozia- ler und privater Pflegeversicherung, noch macht es die Ich möchte an dieser Stelle nochmals in unser aller Ge- Pflegeversicherung auch nur ansatzweise nachhaltiger dächtnis rufen, dass dieses Gesetz für pflegebedürftige oder gerechter. Menschen gemacht wird. Das rückt bei dieser Reform etwas in die zweite Reihe. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Elke Ferner [SPD]: Das stimmt nicht!) Beschämend für die Große Koalition ist es, dass auch in Ihrem Entschließungsantrag, der heute hier zur Ab- Denn im Vordergrund stand wie so oft bei den Entschei- stimmung steht, jede Äußerung, wie es mit der Finanzie- dungen der Großen Koalition, das jeweils eigene politi- rung der Pflegeversicherung weitergehen soll, fehlt – sche Profil zu behalten und sich so schon jetzt für die nichts, keine einzige Aussage. nächsten Wahlen gut aufzustellen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von Union und Kompromisse weit und breit – auch bei den Pflege- (B) SPD, welche Schlüsse sollen wir denn daraus ziehen? stützpunkten. Hier wird es nun besonders spannend. (D) Ich denke, es gibt nur einen Schluss: Eine gemeinsame Die Länder sollen nunmehr die Entscheidungshoheit nachhaltige Finanzreform ist in dieser politischen Kon- darüber haben, ob sie in ihrem Land solche Stützpunkte stellation einfach unmöglich. haben wollen oder ob sie sie nicht haben wollen, und wenn ja, dann sollen es die Kassen mal schön umsetzen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es ist vom Grundsatz her gut, wenn die Länder bei den sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Jens Stützpunkten stärker eingebunden werden. Aber dass Spahn [CDU/CSU]: Was war denn in sieben sich die Länder auf Kosten des Solidarsystems einen Jahren Rot-Grün?) schlanken Fuß machen können, das ist nicht in Ordnung. Nicht einmal für eine gemeinsame Willensbekundung reicht es aus. Diese nicht stattfindende Finanzreform (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – wird die Abgeordneten der nächsten Legislaturperiode Elke Ferner [SPD]: Das stimmt doch nicht! – noch schön beschäftigen, wissen wir doch alle, dass die Jens Spahn [CDU/CSU]: Lesen Sie mal die Kolleginnen und Kollegen der Großen Koalition hier auf Gesetze!) Zeit und somit auf veränderte politische Mehrheiten Außerdem laufen wir – wie schon beim Heimrecht – Ge- spielen. fahr, dass es hier zu einer föderalen Zersplitterung kom- (Frank Spieth [DIE LINKE]: Da haben Sie ab- men wird. solut recht!) Es ist richtig und wichtig, vorhandene Hilfsangebote Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir verabschieden zu bündeln und zu vernetzen, Bürokratie abzubauen und heute das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz, ein Gesetz, doppelte Strukturen zu vermeiden. Aber – selbst Frau in das viele Menschen große Hoffnungen setzen. Auch Caspers-Merk äußerte sich dazu schon kritisch – nur wenn das, was wir als Reform nun in den Händen halten, Rheinland-Pfalz bietet derzeit eine ausreichende, flä- weit hinter unseren Erwartungen zurückbleibt, ist für uns chendeckende und damit wohnortnahe Beratungsstruk- Grüne dennoch klar: Diese Reform enthält durchaus tur. auch gute Seiten und Ansätze. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall der Abg. Annette Widmann-Mauz sowie bei Abgeordneten der SPD) [CDU/CSU]) Im Flächenland Baden-Württemberg zum Beispiel gibt So begrüßen wir es etwa ausdrücklich, dass Einrich- es lediglich 50 Beratungsstellen. Originalton Frau Caspers- tungen künftig einmal pro Jahr und unangemeldet kon- Merk – da bin ich ganz an ihrer Seite –: Es darf nicht 15994 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008

Elisabeth Scharfenberg (A) sein, dass eine gute Pflegeberatung vom Wohnort abhän- die Angehörigen haben, geht weiter. So geht es eben (C) gig ist. nicht. Ihr Modell der Pflegezeit geht an jeglichem realen Leben vorbei. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Wo ist Frau Ministerin, mit der heutigen Verabschiedung des denn Ihr Modell?) Gesetzes können wir uns auch gleich von diesem hehren Wunsch mit verabschieden. Es wird zukünftig vom Lassen Sie mich noch einmal einen Blick in den Ent- Wohnort abhängen, ob ich im Falle einer Pflegebedürf- schließungsantrag der Koalition werfen. Dort wird mit tigkeit Zugang zu einem Stützpunkt habe oder nicht. knappen Worten darauf verwiesen, dass die Überarbei- tung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs natürlich sehr (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Bera- wichtig sei, aber dass erst einmal unterschiedliche Mo- ter können nach Hause kommen!) delle erprobt werden müssten. Im Klartext heißt das für Auch beginnt schon jetzt das Hauen und Stechen. In uns: Darauf können wir lange warten. Nordrhein-Westfalen tun schon jetzt Ärzte kund, die Weiter steht da, man würde gerne das Persönliche Pflegestützpunkte seien eine klare Deprofessionalisie- Budget für Menschen mit Behinderungen so weiterent- rung ärztlicher Tätigkeit. wickeln, dass sie auch Pflegeleistungen als Budget er- (Lachen der Abg. Elke Ferner [SPD]) halten können. Aber man müsste dazu erst dieses und je- nes prüfen und modellhaft erproben. Im Klartext: Auch Die Hausärzte dort sehen sich als Case- und Care-Manager darauf können wir lange warten. sowie Pflegestützpunkt in Personalunion. Ich kenne kei- nen Hausarzt, der zusätzlich als Pflegeberater diese um- Zu guter Letzt lese ich noch den Appell an alle Ak- fassende Aufgabe, wie sie im Gesetz zu Recht vorgese- teure in der Pflege, sie mögen doch die Neuregelungen hen ist, erfüllen könnte. Das bedingt allein schon der zur Qualitätssicherung auch bitte umsetzen. Entschuldi- Mangel an Zeit. gung, aber haben Sie so wenig Vertrauen in Ihre eigenen Gesetze, dass Sie um deren Einhaltung bitten müssen? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Mal schauen, was uns hier an Diskussionen noch ins NEN]: Das muss man befürchten!) Haus stehen wird. Lassen Sie mich abschließend sagen: Diese Reform Auf Bundesebene können wir nun nichts mehr än- trägt den Titel „Weiterentwicklungsgesetz“. Inhalt und (B) (D) dern, aber wir müssen alles daransetzen, auf Landes- Titel passen aber nicht zusammen. Thema leider ver- ebene mitzugestalten. fehlt! Es ist nun einmal so: Ohne Mut zur Veränderung Noch schlimmer ist allerdings, dass die neue Leistung kann es keine Weiterentwicklung geben. Der Mut hat die der Pflegeberatung weiterhin allein in der Hand der Kas- Koalition aber auf halber Strecke verlassen. Es gibt viele sen liegen wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen der gute Ansätze, aber die Umsetzung erfolgt leider sehr ent- Koalition, Sie können es noch so oft beteuern: Fakt ist, täuschend. Deshalb verdient diese kleine und für die be- diese Beratung wird nicht unabhängig sein. Unabhängig- troffenen Menschen enttäuschende Reform diesen gro- keit aber wäre die wichtigste Voraussetzung, damit die ßen Namen nicht. Betroffenen wirkliches Vertrauen zu denen aufbauen Vielen Dank. können, die ihnen helfen sollen. Es handelt sich hier um eine Lebenssituation, in der die Betroffenen tiefe Einbli- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – cke in ihre Privatsphäre, ihr familiäres und auch finan- Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Wie zielles Umfeld geben. war das denn mit Ihren Änderungsvorschlä- gen?) Beim Thema Pflegezeit haben sich zwischen Union und SPD tiefe Gräben aufgetan. Die Pflegezeit, die heute beschlossen wird, wird ohne reale Bedeutung bleiben. Präsident Dr. Norbert Lammert: Einen Lohnersatz wird es bei dieser Pflegezeit nicht ge- Elke Ferner ist die nächste Rednerin für die Fraktion ben. Die Pflegezeit kann nur in Betrieben mit mehr als der SPD. 15 Mitarbeitern in Anspruch genommen werden, und sie (Beifall bei der SPD) bleibt auf nahe Angehörige beschränkt. Ich frage mich: Wer bleibt da eigentlich noch übrig? – Das, liebe Kolle- Elke Ferner (SPD): ginnen und Kollegen, ist ein Feigenblattprogramm für Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ich Besserverdienende. möchte zuallererst den vielen pflegenden Angehörigen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DlE GRÜNEN) danken, die unter wirklich schwierigen Bedingungen Tag und Nacht, häufig auch neben ihrem Beruf und der Denn wer soll es sich leisten können, mal eben sechs Verantwortung für die eigene Familie, für ihre pflegebe- Monate aus dem Beruf auszusteigen? – Ich prophezeie dürftigen Angehörigen da sind. Ihnen, bereits nach zwei Wochen liegt ein Berg von Rechnungen auf dem Küchentisch; denn das ganz nor- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Annette male Leben mit allen finanziellen Verpflichtungen, die Widmann-Mauz [CDU/CSU]) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 15995

Elke Ferner (A) Zwei Drittel der Pflegebedürftigen werden in der Häus- len Lage führen, sieht nun einmal so aus, dass insbeson- (C) lichkeit gepflegt. Das zeigt, wie die Wünsche der Pflege- dere die Töchter oder Schwiegertöchter vor der Frage bedürftigen aussehen. stehen: Muss ich meinen Angehörigen in eine stationäre Einrichtung geben, oder höre ich mit meinem Job kom- Ich möchte aber auch dem Personal in den ambulan- plett auf, um die häusliche Pflege zu ermöglichen? Wir ten und stationären Einrichtungen danken. Sie verrichten haben eine Pflegezeit mit voller sozialer Absicherung ihre Arbeit sehr verantwortungsvoll. In vielen Fällen und mit der Garantie, in den alten Beruf zurückzukehren, werden sie leider schlecht bezahlt, aber trotzdem arbei- beschlossen. Ich glaube, das sollte man anerkennen. Das ten sie mit viel Engagement, Einfühlungsvermögen, Mit- ist sicherlich nicht das Optimum, aber eine deutliche gefühl und Mitmenschlichkeit. Sie sind für die pflegebe- Verbesserung gegenüber dem Status quo. dürftigen Menschen da. Es gibt nicht sehr viele, die dazu bereit sind, eine solche nicht nur körperlich, sondern (Beifall bei der SPD) auch psychisch anstrengende Arbeit zu leisten. Dafür Wir hätten uns gewünscht, dass die Union unserem sollten wir an dieser Stelle noch einmal Dankeschön sa- Vorschlag, den wir auch im Gesetzgebungsverfahren gen. eingebracht haben, zugestimmt hätte, eine kurzfristige (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten bezahlte Freistellung einzuführen, damit eben die An- der CDU/CSU) gehörigen dann, wenn ein Pflegefall zu erwarten ist, die Zeit haben, um die notwendigen Maßnahmen zu veran- Die 13 Jahre Pflegeversicherung sind eine Erfolgsge- lassen. Wir alle wissen, dass in dieser Situation viele An- schichte. Ulla Schmidt hat zu Beginn ja schon einiges gehörige das Gefühl haben, es werde nichts mehr so dazu gesagt. Ich möchte noch einmal deutlich machen, sein, wie es war. Sie wissen eben nicht, wo sie die Unter- dass mehr als 2 Millionen Pflegebedürftige jeden Monat stützung bekommen, die sie brauchen, damit sie ihren pünktlich ihre Leistungen erhalten und mittlerweile fast Angehörigen die Pflege zukommen lassen können, die 800 000 Menschen in der Pflege arbeiten und eine be- sie sich selber wünschen. zahlte – wenn auch nicht immer gut bezahlte – Beschäf- tigung in diesem Bereich haben. Ich glaube, dass wir Hier werden wir nicht nachlassen. Wir werden diesen darauf in Zukunft ein weiteres Augenmerk richten soll- Punkt 2009 noch einmal aufgreifen. Es ist zwar jetzt eine ten. Chance vertan worden. Aber aufgeschoben ist nicht auf- gehoben. Wir werden mit dieser Pflegereform die häusliche Pflege mit besseren Leistungen und besseren Möglich- (Beifall bei der SPD) keiten zur Entlastung der pflegenden Angehörigen stär- Wir wissen um die Sorgen und Ängste der Menschen in (B) ken. Der besondere Betreuungsbedarf für Menschen mit einer solch schwierigen Situation. Ich weiß, dass dieser (D) eingeschränkter Alltagskompetenz wird durch zusätzli- Vorschlag in der Bevölkerung große Unterstützung er- che Leistungen anerkannt. fährt. Bei der Rede von Frau Widmann-Mauz ist mir sofort Uns ist es nicht gelungen, für das Problem der dauer- die Eingangsbemerkung von Ulla Schmidt eingefallen: haften Finanzierung eine Lösung zu finden. Das spiegelt Was war zuerst da, die Henne oder das Ei? Wer wollte im Prinzip die Diskussion wider, die wir auch bei der etwas haben, und wer wollte das nicht? – Zum Schluss Gesundheitsreform geführt haben. Wir stehen nach wie ist es dann ja oft so, dass diejenigen, die etwas zuerst vor für eine Bürgerversicherung Pflege, weil wir der nicht haben wollten, in erster Reihe stehen, wenn es da- Auffassung sind, dass nur so eine tragfähige und solida- rum geht, das Lob dafür einzuheimsen. Frau Reimann rische Finanzierung dauerhaft gesichert sein kann. wird nachher noch näher darauf eingehen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Gu- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE cken wir doch mal in den Entwurf und schauen GRÜNEN) dann, was am Schluss beschlossen wurde!) Ich bedauere es sehr, dass die Union von der Zusage, die Wir stärken das Prinzip Reha vor Pflege. Wir verbes- sie im Koalitionsvertrag gegeben hat, leider wieder ab- sern die Schnittstellen zwischen Krankenhäusern, Reha- gerückt ist. einrichtungen und der Pflege. Wir führen eine Pflegezeit (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: ein, die für nahe Angehörige bis zu sechs Monate betra- Prüfauftrag, Frau Kollegin!) gen kann. Frau Scharfenberg, Sie hätten in Ihrem Rede- beitrag fairerweise hinzufügen können, dass der Begriff – Nein, im Koalitionsvertrag steht nichts von einem der nahen Angehörigen hier nicht ausschließlich Ehe- Prüfauftrag. Frau Widmann-Mauz, manchmal hilft es, zu partner und direkte Verwandte umfasst, sondern das der lesen. Begriff schon zeitgemäß gefasst ist. Ich muss sagen: Die Voraussetzungen für die Pflegezeit sind keine anderen (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Zu als beispielsweise die bei der Elternzeit. Hier hat Ihre prüfen!) Fraktion zugestimmt. – Im Koalitionsvertrag steht, dass ein Risikoausgleich zwischen privater und gesetzlicher Pflegeversicherung Man kann darüber diskutieren, ob die Pflege von erfolgen soll. Angehörigen möglicherweise eher wieder die Frauen trifft. Die Diskussion, die wir heute aufgrund der aktuel- (Beifall bei der SPD) 15996 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008

Elke Ferner (A) Das haben Sie jetzt nicht mehr gewollt. Wir können das Jetzt kann man darüber streiten, wer unabhängig ist. (C) nicht erzwingen. Aber man darf zumindest daran erin- Wirklich unabhängig sind auch die Kommunen nicht; nern, was Sie vor Regierungsbeginn zugesagt haben und denn spätestens dann, wenn SGB-XII-Leistungen ge- was Sie in der Regierungszeit in der Koalition bereit währt werden sollen, können auch die Kommunen nicht sind, umzusetzen. mehr ganz unabhängig sein. Aber da wir in Zukunft alle Akteure, alle Leistungsträger unter einem Dach haben (Frank Spieth [DIE LINKE]: Allianz und Co. – sie erstellen dann gemeinsam einen Hilfeplan und lassen grüßen!) schauen nach einem vernünftigen Ausgleich; es geht um Mit dieser Reform konnten wir das Problem der unge- maßgeschneiderte Hilfepläne für die Betroffenen –, wird rechten Verteilung der Risiken nicht lösen. Die soziale meiner Meinung nach die Pflege besser organisiert und Pflegeversicherung muss pro 100 Versicherte Leistun- mehr an den Interessen und Bedürfnissen der Menschen gen für 2,8 Pflegebedürftige finanzieren, während die – auch an dem Interesse an gesellschaftlicher Teilhabe – private Pflegeversicherung Leistungen für nur 1,3 Pfle- orientiert sein, als das heute der Fall ist. gebedürftige bereitstellen muss. Daran sieht man, dass (Beifall bei der SPD) die Risiken unterschiedlich verteilt sind. Da es sich hier um einen Versicherungszweig handelt, der die absolut Ich bin der festen Überzeugung, dass diese Pflege- identischen Leistungen finanziert, macht es keinen Sinn, reform ein großer Erfolg für die Pflegebedürftigen und die Risiken so unterschiedlich zu verteilen. ihre Angehörigen ist. Wir lassen uns das nicht klein- reden, auch wenn man sich an der einen oder anderen (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Annette Stelle vielleicht noch mehr Leistungen vorstellen kann. Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Verfassungsge- Ich würde mir wünschen, dass auch die Dinge, die vor mäß sollte es schon sein!) dem Hintergrund einer älter werdenden Gesellschaft jen- Ein weiterer Punkt, den ich noch ansprechen möchte, seits der Pflegeversicherung notwendig sind, auf der ist die Verbesserung der Pflegequalität. Auch da, Frau kommunalen Ebene und der Landesebene befördert wer- Widmann-Mauz, sollte man deutlich machen, dass dies den: dass Wohnumfelder geschaffen werden, die es er- eine gemeinsame Aktion war. Sie haben den Vorschlag möglichen, dass die Häuslichkeit weiterhin bestehen eingebracht, aber auch wir haben diesen Vorschlag ge- bleibt, dass eine soziale Infrastruktur geschaffen wird, macht. Beide Vorschläge haben sich getroffen. Ich bin die die Menschen darin unterstützt, in ihrer gewohnten froh darüber, dass ab 2011 in den Pflegeeinrichtungen Umgebung bleiben zu können und gleichzeitig gesell- jährlich und grundsätzlich unangemeldet Regelprüfun- schaftlich teilhaben zu können, dass sie im Alter men- gen stattfinden. schenwürdig und liebevoll gepflegt werden und dass (B) auch ein Sterben in Würde möglich ist. In diesem Sinne (D) (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: So ist wird die Pflegereform ein großer Erfolg sein. es!) Auch ich möchte mich bei den Mitarbeiterinnen und Da, wo der Medizinische Dienst Mängel erkennt, wird Mitarbeitern des Ministeriums und der Fraktionen be- nicht wie heute ein Prüfbericht vorgelegt, den keiner danken, die uns darin unterstützt haben, diese Reform versteht, sondern dieser Bericht muss transparent sein auf den Weg zu bringen. und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden so- wie in verständlicher Form abgefasst sein. Vor allen Din- Vielen Dank. gen ist neu, dass der Medizinische Dienst den Einrich- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tungen Empfehlungen geben wird, wie das, was falsch der CDU/CSU) gelaufen ist, verbessert werden kann, damit bei der nächsten Prüfung die Qualität wieder in Ordnung ist. Präsident Dr. Norbert Lammert: Es gehören aber auch die Weiterentwicklung der Ex- Daniel Bahr erhält nun das Wort für die FDP-Frak- pertenstandards und eine gerechte Bezahlung des Perso- tion. nals dazu. Ich bin sehr froh, dass bereits im Regierungs- entwurf als Voraussetzung dafür, dass zwischen Kassen (Beifall bei der FDP) und Einrichtungen überhaupt Verträge geschlossen wer- den können, die ortsübliche Bezahlung vorgesehen war. Daniel Bahr (Münster) (FDP): Eben ist gesagt worden, Pflegestützpunkte brächten Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die nichts. Herr Seifert, Frau Scharfenberg, man kann ja da- Pflegereform ist erneut ein Beispiel dafür, dass eine rüber streiten, wie diese nachher ausgestaltet werden sol- Große Koalition eben nicht die großen Probleme an- len. Aber eines ist doch klar: Wenn ich in einer extrem packt. Wie schon bei der Gesundheitsreform ist es Ihnen schwierigen Situation, in der teilweise sehr schnell ent- auch mit dieser Pflegereform nicht gelungen, die Pro- schieden werden muss, nicht den völligen Überblick da- bleme, die es vor dem Hintergrund einer alternden Be- rüber habe, welche Hilfsangebote es gibt und wie ich die völkerung bei der Finanzierung unserer sozialen Siche- Häuslichkeit erhalten kann – auch wenn die Wohnung rungssysteme gibt, wirklich anzupacken. Im Gegenteil: im Moment vielleicht noch nicht so umgebaut ist, wie es Wie bei der Gesundheitsreform schieben Sie bei der sein müsste –, dann brauche ich eine umfassende und Pflegereform erneut die Lasten auf kommende Genera- unabhängige Beratung. tionen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 15997

Daniel Bahr (Münster) (A) (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Birgitt Bender hinsichtlich der Abwägung von Schweige- und Melde- (C) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) pflicht zustande? Der beste Beleg dafür, dass Sie schlechte Gesetze ma- (Beifall bei der CDU/CSU – Heinz Lanfermann chen, ist die Pflegereform; denn in dieser Pflegereform [FDP]: Das hat er im Ausschuss schon nicht müssen Sie die Dinge, die Sie in der Gesundheitsreform verstanden!) vereinbart haben, schon wieder korrigieren. Ich möchte etwas ansprechen, was bisher noch keine Rolle spielte, Daniel Bahr (Münster) (FDP): was aber in diesem Gesetzentwurf enthalten ist. Sie ha- Lieber Herr Kollege Spahn, wir haben schon im Aus- ben in der Gesundheitsreform vorgesehen, dass Ärzte schuss ausführlich darüber diskutiert. Ich habe Ihnen den bei selbstverschuldeten Krankheiten Behandlungen Unterschied schon erklärt. Wenn Sie den Antrag richtig den Krankenkassen melden sollen; das ist der soge- lesen, sehen Sie, dass wir lediglich eine Prüfung bean- nannte Petzparagraf. Dieser Petzparagraf muss nun noch tragt haben und außerdem selbst erhebliche Bedenken einmal in der Pflegereform geregelt werden. Er erschüt- hinsichtlich einer Meldepflicht haben. tert das so schützenswerte Arzt-Patienten-Verhältnis. (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wir von der FDP-Fraktion, wir Liberalen im Deut- Elke Ferner [SPD]: Weil eine Straftat gemeldet schen Bundestag, lehnen diesen Petzparagrafen ab, weil werden muss!) wir glauben, dass er sich gegen die Grundrechte von Pa- tienten und Ärzten richtet. Dies ist ein Angriff auf die Zwischen diesen beiden Sachverhalten besteht ein er- ärztliche Schweigepflicht und das verfassungsrechtlich heblicher Unterschied: Bei der Genitalverstümmelung geschützte Patientengeheimnis. geht es möglicherweise um ein Verbrechen an einer Per- son. Es geht darum, die Person davor zu schützen. Bei (Beifall bei der FDP) Ihrem Vorschlag geht es dagegen um den Schutz der So- Das so wichtige Vertrauensverhältnis zwischen Ärzten lidargemeinschaft – das ist ein berechtigtes Anliegen – und Patienten wird durch einen solchen Petzparagrafen vor Kosten, die sie nicht zu verantworten hat. Eine Mel- untergraben, wenn die Ärzte quasi zu Meldern für die depflicht würde hier das wichtige Arzt-Patienten-Ver- Krankenkassen werden. Ich glaube auch nicht, dass dies hältnis erschüttern. Deshalb kann man diese beiden wirklich denen dient, die sich als Jugendliche vielleicht Sachverhalte überhaupt nicht miteinander vergleichen. durch ein Piercing eine Infektion zugezogen haben und (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ die dann Angst haben, zum Arzt zu gehen und sich be- DIE GRÜNEN) handeln zu lassen, weil sie die Konsequenzen befürch- ten, wenn der Arzt dies an die Krankenkasse meldet. Wir Ich will noch etwas zur Pflegereform sagen. Die Kol- (B) haben daher einen praktikablen Vorschlag vorgelegt, wie legin Widmann-Mauz hat gesagt, dass die Einführung (D) der Arzt etwas melden soll, wenn der Patient eingewil- der Pflegeversicherung 1994 ein Meilenstein war. ligt hat. Die entscheidende Voraussetzung muss sein, (Willi Zylajew [CDU/CSU]: Ja, klar!) dass der Patient der Meldung an die Krankenkasse zu- stimmt. Wenn der Patient nicht einwilligt, kann der Arzt Die Pflegeversicherung, deren Einführung von Schwarz- die Auskunft gegenüber der gesetzlichen Krankenversi- Gelb und der SPD getragen wurde, hat Strukturen ge- cherung verweigern. Dann müsste das privat behandelt, schaffen, die den Pflegebedürftigen zugutekommen. Wir das heißt, privat bezahlt werden. Das ist ein praktikabler wollen gar nicht in Abrede stellen, dass damals etwas Weg. Damit schützen wir das Arzt-Patienten-Verhältnis. auf den Weg gebracht worden ist. Wir müssen heute aber erkennen – das wussten wir übrigens schon 1994 –, dass (Beifall bei der FDP) die Finanzierung der Pflegeversicherung über eine Um- lage – über die laufenden Einnahmen werden die laufen- Präsident Dr. Norbert Lammert: den Ausgaben gedeckt – ein Riesenfehler war. Herr Kollege Bahr, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Spahn? (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Ihr habt doch mitregiert!) Daniel Bahr (Münster) (FDP): Das höre ich sonst auch von Unionskollegen. Wir hätten Ja, die gestatte ich. jetzt die Zeit gehabt, diesen Fehler von 1994 zu korrigie- ren, anstatt ihn fortbestehen zu lassen, was Sie jetzt tun. Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Einführung der Pflegeversicherung war, was die Bitte. Finanzierung betrifft, kein Meilenstein; im Gegenteil. (Heinz Lanfermann [FDP]: Ein Mühlstein ist Jens Spahn (CDU/CSU): das!) Herr Kollege Bahr, können Sie mir erklären, warum Diesen Fehler setzen Sie fort: Sie weiten die Leistun- die FDP an dieser Stelle die Meldepflicht für Ärzte ab- gen aus, zum Beispiel auf den Bereich der Demenz- lehnt, während sie in einem Antrag zur Genitalverstüm- erkrankungen. Sie machen eine Leistungsdynamisie- melung, den wir in dieser Woche ebenfalls beraten ha- rung. All das ist nötig; ich will das gar nicht in Abrede ben, die Bundesregierung bittet, zu prüfen, ob eine stellen. Meldepflicht für Ärztinnen und Ärzte eingeführt werden kann? Wie kommt diese unterschiedliche Bewertung (Beifall des Abg. Willi Zylajew [CDU/CSU]) 15998 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008

Daniel Bahr (Münster) (A) Da Sie die Finanzierungsfrage nicht gelöst haben, ver- (Frank Spieth [DIE LINKE]: Oh doch! Das ist (C) größern Sie das Problem. Die Erhöhung der Beiträge um nämlich der notwendige soziale Ausgleich! So 0,25 Prozentpunkte wird allenfalls bis 2012 ausreichen. ist das!) Das hat Ihr Kollege, Herr Zöller, selbst kritisiert. Die Im Gegenteil, dadurch werden die bestehenden Pro- Finanzierungsprobleme werden durch Ihre Reform nicht bleme noch verschärft. Als ob durch 10 Prozent mehr in gelöst, sondern der kommenden Generation aufgelastet einem System, das bereits heute Defizite produziert, in und damit weiter verschärft. ein paar Jahren die Probleme von 100 Prozent der Be- In Richtung SPD möchte ich sagen: Man muss den völkerung gelöst werden könnten! Das kann doch wirk- Hut davor ziehen, dass Sie in der rot-grünen Koalition lich niemand glauben. im Bereich der Altersversorgung einen historischen (Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Ein bisschen Zeit Schritt vollzogen haben. Der damalige Sozialminister, haben wir ja noch! Sie müssen unsere Kon- , hat den Bürgerinnen und Bürgern signali- zepte auch einmal lesen!) siert, dass sie sich auf das umlagefinanzierte Rentensys- tem nicht verlassen können, weil wir eine alternde Be- Wir haben erlebt, dass in der privaten Pflegeversiche- völkerung haben, weil wir immer mehr Ältere und rung als Vorsorgemaßnahme im Hinblick auf die Pro- immer weniger Jüngere haben. Das Gleiche gilt doch bleme der alternden Bevölkerung mittlerweile Alters- aber auch für die Pflege: Wir wissen, dass sich die Zahl rückstellungen in Höhe von 16 Milliarden Euro der Pflegebedürftigen verdreifachen wird und die Zahl aufgebaut wurden. Gleichzeitig wurde der Beitragssatz der jungen Beitragszahler auf zwei Drittel sinken wird. zur umlagefinanzierten Pflegeversicherung erhöht. Die- Das heißt, dass wir in dem Umlagesystem „Pflege“ die ser Beitragssatz wird übrigens noch weiter steigen. Ein Defizit jagt das andere. gleichen Probleme wie in dem Umlagesystem „Rente“ haben werden. Wenn Sie das, was Sie mit der Riester- (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Rente gemacht haben, konsequenterweise auch bei der NEN]: Haben Sie schon mal etwas von unter- Pflege gemacht hätten, hätten wir den Hut davor gezo- schiedlicher Risikostruktur gehört?) gen; denn die Riester-Rente war eine historische Leis- Die Probleme der alternden Bevölkerung können tung. Damit haben Sie eine Botschaft an die Bevölke- durch Einführung einer „Einheitskasse Pflege“, die die rung gesendet. Jetzt hingegen täuschen Sie die Linke hier im Parlament vorschlägt, nicht gelöst werden. Bevölkerung, weil Sie ihr suggerieren, die Pflege sei in Diese Probleme können nur durch einen Systemwechsel Zukunft sicher. In Wahrheit kommen gewaltige Pro- zur Kapitaldeckung, den die FDP vorschlägt, gelöst wer- bleme auf uns zu. den. (B) (D) (Beifall bei der FDP) Herzlichen Dank. Frau Ministerin Schmidt, deswegen werden Sie in den (Beifall bei der FDP – Dr. Carola Reimann Geschichtsbüchern gemeinsam mit Herrn Blüm stehen. [SPD]: Das ist immer die gleiche Leier! – Abg. Frank Spieth [DIE LINKE] meldet sich zu ei- (Willi Zylajew [CDU/CSU]: Das ist eine Be- ner Zwischenfrage) leidigung für den Blüm!) Sie und Ihr Ministerium haben zwar genauso wie Herr Präsident Dr. Norbert Lammert: Blüm die Probleme, die sich aus einer alternden Bevöl- Das wäre ja zu schön gewesen, aber Zwischenfragen kerung ergeben, erkannt, aber trotzdem die Augen davor kann ich nach Ablauf der Redezeit aus hoffentlich jeder- verschlossen. Dieses Problem wird uns in einigen Jahren mann nachvollziehbaren Gründen nur schwerlich zulas- einholen, sen. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das waren (Beifall bei Abgeordneten der FDP) doch gerade mal 10 Sekunden!) und deswegen werden Sie, anstatt mit Herrn Riester in – Ja. Auch ich bin in einem leicht depressiven Zustand. einem Kapitel zu stehen, in einem Kapitel mit Herrn Da müssen wir gemeinsam durch. Blüm stehen. Nun hat die Kollegin Maria Eichhorn für die CDU/ Frau Ferner und Frau Scharfenberg, Sie haben so viel CSU-Fraktion das Wort. dazu gesagt. Ich frage mich: Was haben Sie eigentlich in (Beifall bei der CDU/CSU) den sieben Jahren rot-grüner Regierung gemacht? Frau Ministerin Schmidt ist seit 2001 Gesundheitsministerin. Auch sie hatte sieben Jahre Zeit, um etwas auf den Weg Maria Eichhorn (CDU/CSU): zu bringen, legt aber erst jetzt einen schwachen Vor- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die schlag zur Reform der Pflegeversicherung vor. Reform der sozialen Pflegeversicherung ist eine gute Botschaft für Millionen von Pflegebedürftigen und ihre Durch die Bürgerversicherung, wie Sie sie nennen, Angehörigen in diesem Land. Mit den beschlossenen letztlich also durch die „Einheitskasse Pflege“, können Verbesserungen des Leistungsspektrums erfüllt die die Probleme der alternden Bevölkerung nicht gelöst Große Koalition eine zentrale Zusage. Die Leistungsfä- werden. higkeit der Pflegeversicherung wird erhalten und weiter- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 15999

Maria Eichhorn (A) entwickelt. Die beschlossenen Leistungsverbesserungen Jahre 2015 erhöht; jedenfalls steht das so im Gesetz. (C) bedeuten vor allem eine Qualitätssteigerung im Bereich Halten Sie das angesichts Ihrer Dankesworte wirklich der Pflege. Mit unserem heutigen Beschluss wird einem für angemessen? Denn unter dem Strich haben davon die Anliegen Rechnung getragen, das uns schon sehr lange im stationären Bereich Beschäftigten und auch die zu bewegt: der Einbeziehung demenziell Erkrankter. Pflegenden nichts. (Beifall der Abg. Annette Widmann-Mauz (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das kann man [CDU/CSU]) mit einem Wort beantworten!) Sie hat neben den finanziellen Aspekten auch eine nicht zu unterschätzende gesellschaftspolitische Dimension. Maria Eichhorn (CDU/CSU): Herr Kollege Spieth, Sie wissen genau, dass diese Re- Bisher löste die Diagnose Demenz zumeist ein unan- form der Pflegeversicherung unter dem Motto „ambulant gebrachtes Schamgefühl und Schweigen aus. Durch die vor stationär“ steht. Pflegereform wird nunmehr ein Beitrag dazu geleistet, das Phänomen Demenz weiter zu enttabuisieren. Frau (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ferner, ich bin sehr froh darüber, dass es uns gelungen neten der SPD) ist, mit unseren Änderungsanträgen dafür zu sorgen, Wir wollten zunächst einmal und in erster Linie denjeni- dass Demenzkranke nicht nur im ambulanten Bereich, gen, die im ambulanten Bereich tätig sind, helfen. Das sondern auch im stationären Bereich einbezogen und un- heißt allerdings nicht, dass wir durch weitere Maßnah- terstützt werden. men zur Qualitätsverbesserung und Entbürokratisierung (Beifall bei der CDU/CSU) nicht auch im stationären Bereich erhebliche Anstren- gungen unternehmen, die dazu beitragen, dass die Pfle- Das ist eine für alle Beteiligten besonders gute Bot- gekräfte entlastet werden. schaft. (Beifall bei der CDU/CSU) Die Leistungsverbesserungen werden vor allem Frauen zugutekommen. 80 Prozent der pflegenden Angehörigen In diesem Zusammenhang verweise ich auf zwei sind Töchter, Schwiegertöchter, Mütter oder dem Pflege- Neuerungen: Zur weiteren Stärkung der häuslichen bedürftigen sonst nahestehende Frauen. Ihnen und allen Pflege haben Pflegekräfte in Zukunft bereits nach sechs professionellen sowie ehrenamtlichen Helferinnen und Monaten Anspruch auf Erholungsurlaub. Bisher betrug Helfern in den ambulanten und stationären Pflegeein- die Wartezeit für die erstmalige Inanspruchnahme einer richtungen gilt unser Dank. Ersatzpflegekraft doppelt so lange, nämlich zwölf Monate. Das ist eine echte Hilfe. (B) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie (D) der Abg. Renate Gradistanac [SPD]) Künftig werden pflegenden Angehörigen auch in der Urlaubszeit Rentenversicherungsbeiträge gutgeschrie- Ihre gesellschaftlich oftmals viel zu gering erachtete, ben. aber aufopferungsvolle Arbeit verdient unseren vollen Respekt und unsere praktische Unterstützung. (Elke Ferner [SPD]: Vorschlag Ulla Schmidt!) (Beifall bei der CDU/CSU – Abg. Frank Diese Regelung kommt vor allem denjenigen zugute, die Spieth [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwi- Angehörige über einen langen Zeitraum pflegen. Beide schenfrage) Neuerungen sind Ausdruck unserer Wertschätzung der Pflegepersonen. Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Reform, Herr Spieth, wird den Grundsatz „ambu- Frau Kollegin Eichhorn, nun möchte der Kollege lant vor stationär“ stärken. Spieth gerne Ihre Redezeit durch eine Zwischenfrage verlängern. (Frank Spieth [DIE LINKE]: Das hilft den Heimbewohnern überhaupt nichts!) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Oh nein!) Damit entsprechen wir dem Bedürfnis der Pflegebedürf- tigen, so lange wie möglich in ihrer gewohnten Umge- Maria Eichhorn (CDU/CSU): bung, im Kreis ihrer Verwandten und Freunde zu blei- Bitte schön. ben. Auch in diesem Zusammenhang nur ein Beispiel: Die in den Schlussberatungen vereinbarte Erhöhung der Frank Spieth (DIE LINKE): Fördermittel für alternative Wohnformen sowie für am- Ich bedanke mich, dass Sie mir die Möglichkeit ge- bulante und teilstationäre Hausgemeinschaften leistet ben, eine Frage zu stellen. einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung der Ver- sorgungsstrukturen. Wenn sich durch passgenaue Frau Eichhorn, Sie haben sich gerade bei den in den niedrigschwellige Betreuungsangebote die Verlagerung Pflegeeinrichtungen Tätigen bedankt; das unterstütze ich ins Pflegeheim vermeiden lässt, umso besser! ausdrücklich. Bei aller Wertschätzung muss ich Sie aber fragen: Warum hat die Große Koalition darauf verzich- Die Reform verbessert auch die Voraussetzungen für tet, die Leistungsbeträge, die in den Pflegestufen I und II Prävention und Rehabilitation in der Pflege. Bereits im stationären Bereich gewährt werden, zu erhöhen? durch die Gesundheitsreform wurde mit der Rehabilita- Sie werden frühestens – ich betone: frühestens – im tion auch die geriatrische Rehabilitation zur Pflichtleis- 16000 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008

Maria Eichhorn (A) tung der Krankenkassen. Künftig drohen Sanktionen, Es gibt bereits heute viele kirchliche, freigemeinnüt- (C) wenn die Krankenkasse nicht innerhalb einer gewissen zige und kommunale Einrichtungen, in denen engagiert Frist eine notwendige Rehabilitationsmaßnahme geneh- und kompetent beraten wird, und zwar – das ist beson- migt und durchführen lässt. Der Betrag, den die Kran- ders wichtig – in Kenntnis der örtlichen Gegebenheiten. kenkasse in diesem Fall an die Pflegekasse zu überwei- sen hat, wurde im Vergleich zum früheren Entwurf (Frank Spieth [DIE LINKE]: Was ist mit deren verdoppelt. Dies verbessert im Interesse der rehabedürf- Unabhängigkeit?) tigen Patienten die Wirksamkeit der Regelung. Insbesondere denjenigen, die sich ehrenamtlich engagie- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ren, gilt unser besonders herzlicher Dank. Mit der Pflegereform gehen wir einen Schritt weiter. (Beifall bei der CDU/CSU) Die stationären Pflegeeinrichtungen bekommen künftig Eine Daueraufgabe bleibt die von den Pflegekräften eine Bonuszahlung, wenn sie mit aktivierender Pflege und Heimleitungen immer wieder nachdrücklich gefor- und Reha eine Verbesserung des Gesundheitszustands derte Entbürokratisierung in der Pflege. Die Pflege- des Pflegebedürftigen erzielen. dokumentation ist zwar eine wichtige Voraussetzung für In den meisten Heimen ist eine gute Pflege selbstver- das bestmögliche Wohlbefinden unserer Pflegebedürfti- ständlich leisten die Pflegekräfte hervorragende Arbeit. gen; der zeitliche und inhaltliche Aufwand dieser Doku- In der Vergangenheit haben jedoch Meldungen über mentation muss aber mit Augenmaß auf das Sinnvolle schlechte Zustände in Pflegeheimen zu erheblicher Ver- und Notwendige begrenzt werden. Unnötige bürokrati- unsicherung geführt. Die Menschen müssen sich auf die sche Anforderungen, die Zeit für die Pflege rauben, soll- Qualität der Pflegeleistungen in den Heimen verlassen ten gestrichen werden. Notwendig sind also eine zielge- können. Deshalb verkürzen wir die vorgegebenen Inter- nauere Koordination behördlicher Kontrollen, eine valle für die Qualitätssicherungsprüfung durch die Reduzierung unnötiger Anzeigepflichten und eine Stan- Medizinischen Dienste der Krankenkassen. Es war vor- dardisierung der Pflegedokumentation. Die Bestimmun- gesehen, Qualitätsprüfungen alle drei Jahre und nach gen sollten sich darauf beschränken, dem Wohl der Be- vorheriger Anmeldung durchzuführen. Wir haben nun wohnerinnen und Bewohner zu dienen. beschlossen: Heime werden künftig jährlich und in der Die Familienpolitiker der CDU/CSU haben bereits in Regel unangemeldet geprüft. Die Prüfung – das ist mir der letzten Legislaturperiode einen Antrag vorgelegt und ebenso wichtig – soll sich künftig auf den Zustand der Vorschläge zum Abbau der Bürokratie in Heimen formu- Pflegebedürftigen konzentrieren, weniger auf die Doku- liert. Dass es sich lohnt, in diesem Bereich etwas zu tun, mentations- und Aktenlage. zeigt das bayerische Projekt „Entbürokratisierung der (B) (D) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- Pflegedokumentation“, mit dem es gelungen ist, die Bü- wie der Abg. Elke Ferner [SPD]) rokratielasten in Teilbereichen um bis zu 50 Prozent zu reduzieren. Das bedeutet nicht nur Einsparungen zu- Im Vordergrund der Prüfung muss die Ergebnisqualität gunsten von echten Pflegeleistungen, sondern vor allem, stehen; die Prozess- und Strukturqualität ist nachrangig. dass die bislang für eine überflüssige Bürokratie ver- Wir wollen die Situation der Pflegebedürftigen im Be- schwendete Zeit endlich für die Pflege und Betreuung triebsalltag der Heime in den Blick nehmen. unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger aufgebracht wer- Die intensive Diskussion zwischen den Koalitions- den kann. Das ist ja dringend notwendig ist, denn sie ha- fraktionen über die Frage der Pflegeberatung hat sich ben mehr Fürsorge und Zuwendung verdient. aus unserer Sicht gelohnt. Ich bedanke mich. (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: So ist es!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Wenn nunmehr die Länder entscheiden, ob sie Pflege- stützpunkte einrichten, so berücksichtigt dies, dass die Präsident Dr. Norbert Lammert: vorhandenen Beratungsstrukturen bundesweit höchst un- Dr. Martina Bunge ist die nächste Rednerin für die terschiedlich sind. Fraktion Die Linke. (Beifall der Abg. Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU] – Dr. Carola Reimann [SPD]: (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Das war auch vorher so!) Winkelmeier [fraktionslos])

Dort, wo bereits heute auf bewährte Beratungsstrukturen Dr. Martina Bunge (DIE LINKE): zurückgegriffen werden kann, sind Pflegestützpunkte entbehrlich. Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Im Koalitionsvertrag haben Sie die Pflegeversicherung (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: So ist als zentralen Baustein der sozialen Sicherungssysteme es!) bezeichnet, der den Herausforderungen der Zukunft ge- recht werden muss. Was Sie uns heute vorstellen, ist eine Dies ist mir von den Fachleuten vor Ort immer wieder zentrale Baustelle. Dabei ist eine grundlegende Reform bestätigt worden. der Pflegeversicherung 15 Jahre nach ihrer Einführung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) überfällig. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 16001

Dr. Martina Bunge (A) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Ja, Sie wollen einen Pflegeurlaub von zehn Tagen ein- (C) Winkelmeier [fraktionslos]) führen. In dieser grundlegenden Kritik stimmen wir mit der FDP (Elke Ferner [SPD]: Pflegezeit, kein überein, Kollege Lanfermann. Wir stellen uns allerdings Pflegeurlaub!) eine völlig andere Zielrichtung vor. – Pflegeurlaub ist für diejenigen besser verständlich, die (Heinz Lanfermann [FDP]: Ich habe mich uns zuhören. – Aber der Pflegeurlaub ist unbezahlter Ur- schon erschrocken!) laub und kann nur in Unternehmen mit mehr als 15 Be- schäftigten genommen werden. Also fällt das für den Sie versuchen wieder einmal die Quadratur des Krei- Osten, die neuen Bundesländer, fast vollständig aus. ses. Dass das schief gehen muss, ist klar. Mit einem ge- ringen finanziellen Mehraufwand wollen Sie große Ver- (Hilde Mattheis [SPD]: Das hat keiner sprechungen umsetzen. verstanden!) (Jens Spahn [CDU/CSU]: Sie machen es um- Ja, Sie wollen die Besuchspraxis des Medizinischen gekehrt!) Dienstes in Pflegeheimen transparenter gestalten und wollen deshalb häufigere unangemeldete Kontrollen. Ja, Sie wollen die Leistungssätze anheben, aber die Aber das Problem der Qualität der Betreuung in Pflege- vorgesehenen Anhebungen sind völlig unzureichend. Ei- heimen ist nicht mit mehr Kontrollen zu lösen. Für gute nige Leistungen werden minimal angehoben, andere gar Pflege bedarf es vielmehr Zeit und ausreichend qualifi- nicht. In keinem Fall wird der Realwertverlust ausgegli- ziertes Personal. Bei der Pflege dürfte meines Erachtens chen. Insofern gibt es keine Verbesserung gegenüber der nicht das Motto „Zeit ist Geld“, sondern umgekehrt Startposition Mitte der 90er-Jahre. „Geld ist Zeit“ gelten. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) Winkelmeier [fraktionslos]) Ja, Sie kürzen zwar nicht die Leistungen für die Das Einzige, wo wir kein „Ja, aber“ anbringen, sind Pflegestufen I und II in den Pflegeheimen, aber dass Sie die Paragrafen, die im Omnibusverfahren in das SGB V, das als Erfolg feiern, muss angesichts der erforderlichen also in die gesetzliche Krankenversicherung, eingefügt stärkeren Qualitätssicherung in den Heimen wie Hohn wurden. Zum Petz-Paragrafen, den Herr Bahr angespro- klingen. chen hat, sagen wir ein deutliches Nein. Wenn es aber darum geht, Bedingungen zu schaffen, damit das Mo- (B) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert dellprojekt „Gemeindeschwester AGnES“ besser in die (D) Winkelmeier [fraktionslos]) Regelversorgung überführt werden kann, sagen wir na- Ja, Sie wollen die Leistungssätze dynamisieren, aber türlich Ja. erst ab 2015. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) (Elke Ferner [SPD]: Vorher wird erhöht, Frau Bunge!) Kommen wir zum SGB XI, die Pflegeversicherung, zurück. Um nicht missverstanden zu werden, liebe Kol- Bei einer durchschnittlichen Pflegedauer von acht bis leginnen und Kollegen von der SPD: Wir gönnen jeder zehn Jahren haben die derzeit Pflegebedürftigen und de- und jedem jeden Euro, der draufgelegt wird. Ihre Vor- ren Helferinnen und Helfer nichts davon. schläge klingen gut. Aber die Enttäuschungen werden Ja, Sie wollen die Leistungen für Menschen mit ein- umso bitterer sein. Wir alle wissen, dass Pflegende im geschränkter Alltagskompetenz von bisher 460 auf bis Minutentakt die einzelnen Hilfe- und Betreuungsleistun- zu 2 400 Euro jährlich erhöhen. Aber das ist viel zu ge- gen abarbeiten müssen. Pflege ist eine schwere Arbeit. ring; denn trotz Verfünffachung des Höchstbetrages be- Sie ist aber vor allen Dingen auch Beziehungsarbeit deutet das rechnerisch nur 6,57 Euro pro Tag, für viele zwischen Menschen. Nicht nur die Pflegebedürftigen, nur die Hälfte, für manche gar nichts; denn die einkalku- sondern auch die Pflegekräfte leiden darunter, dass keine lierte Summe reicht nur für knapp die Hälfte der Er- Zeit für ein kleines Gespräch bleibt, dass keine Zeit für krankten. ein paar Streicheleinheiten ist. Eine hinwendungsbezo- gene, sprechende und ganzheitliche Pflege, die zudem (Hilde Mattheis [SPD]: Es ist doch an eine gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht, sieht unseres Er- Personengruppe gebunden!) achtens anders aus. Ja, über einen Änderungsantrag haben Sie auch 200 Mil- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert lionen Euro für die Demenzbetreuung in Pflegeheimen Winkelmeier [fraktionslos]) eingestellt. Aber drei Viertel der Betroffenen werden leer ausgehen; denn wenn jeder der 3 000 bis 4 000 Betreu- Viele Pflegekräfte, sowohl im ambulanten als auch im ungskräfte für jeweils 25 Betroffene zuständig sein soll, stationären Bereich, sind so ausgepowert, dass sie als werden nur 100 000 Betroffene erfasst. Wir haben aber Fachkräfte nach rund zehn Jahren – physisch und psy- 400 000, mit steigender Tendenz. chisch fertig – aus dem Beruf gehen. Es trifft vor allen Dingen Frauen. Sie gewinnen nichts mit dieser Reform. (Frank Spieth [DIE LINKE]: So ist es!) Aber sie sind diejenigen, die zu rund zwei Dritteln 16002 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008

Dr. Martina Bunge (A) Leistungsbeziehende sind und die den größten Teil der Die CDU in Gestalt von Frau Widmann-Mauz erklärt: (C) Pflegearbeit leisten. Insofern ist das mehr als ungerecht. Wir haben lauter Erfolge errungen, alles ist ganz schön, aber die SPD ist ja blöd; wir haben leider keine Zu- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert kunftsvorsorge in Gestalt der Kapitaldeckung treffen Winkelmeier [fraktionslos]) können. Wir wissen, dass durch den Wandel in der Arbeits- Frau Ferner tritt auf und stöhnt, die SPD habe lauter welt, durch veränderte Familienstrukturen und Erwerbs- Niederlagen gegenüber der CDU erlitten biografien von Frauen familiäre Netzwerke künftig im- mer weniger zur Verfügung stehen. Wir wissen auch, (Hilde Mattheis [SPD]: Hat sie ja gar nicht ge- dass die meisten Menschen wünschen, nach Eintritt der sagt! Zuhören!) Pflegebedürftigkeit in der vertrauten Umgebung zu blei- und habe so vieles nicht durchsetzen können. Die SPD ben. Aber das ist nicht unbedingt mit dem Wunsch ge- hätte doch so gern die Solidarität in Gestalt der Bürger- koppelt, von Angehörigen gepflegt zu werden. Diese versicherung erweitert, aber die CDU sei ja böse. Tendenzen werden von der Bundesregierung und von den Koalitionsfraktionen völlig unzureichend beachtet. Meine Damen und Herren, diese gegenseitigen Be- Wenn sie das nämlich wirklich täten, dann müssten sie zichtigungen innerhalb einer Koalition mögen stim- Pflege und Assistenz als einen prosperierenden Beschäf- mungsmäßig bei Ihnen bedeuten, was immer sie bedeu- tigungszweig der Zukunft begreifen. Das setzte aber vo- ten, aber politisch ist das doch unerträglicher Kinderkram. raus, die Arbeit dort auch attraktiver zu machen, sie zum (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einen zu „entschleunigen“ und sie zum anderen gerech- und bei der FDP – Zuruf von der SPD: Du ter, also angemessen zu bezahlen. kriegst den Oskar für die schauspielerische (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Leistung!) Winkelmeier [fraktionslos]) Das folgt dem Motto: Gibst du mir deine Quietschente Zukunftsforscher sprechen von der „weißen Revolu- nicht, dann kriegst du meinen Schwimmring nicht. tion“, also davon, dass Gesundheit und Pflege als die Be- (Hilde Mattheis [SPD]: Das ist aber albern reiche, in denen Arbeitsplätze entstehen, Wachstumsfak- jetzt bei dem Thema, Frau Bender!) toren für die Gesellschaft sein werden. Wir kritisieren, dass ganz überwiegend verschlafen wird – das hat sich ja Aber dabei säuft doch nicht die Koalition ab, sondern die auch in den Anhörungen gezeigt –, diese Chancen für nachwachsende Generation; denn ihr muten Sie eine die Zukunft wahrzunehmen. Dies ist einfach nicht hinzu- Bugwelle von Pflegekosten in den kommenden Jahr- (B) nehmen. zehnten zu, ohne dafür irgendeine Vorsorge zu treffen. (D) Das ist unerträglich. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Daher werden wir den Gesetzentwurf ablehnen. und bei der FDP) Aber wir haben Alternativen. Es ist doch so: Ab dem Jahr 2020 werden wir sehr viel mehr hochbetagte Menschen haben, also auch mehr (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Wo sind die Pflegebedürftige. Dafür wäre eine finanzielle Vorsorge Alternativen? – Zuruf von der CDU/CSU: erforderlich, aber Sie tun nichts. Sie hätten sich aufei- Dazu haben Sie gar nichts gesagt!) nander zubewegen sollen. Ich rate Ihnen, auch Herrn Bahr, der nur die Hälfte da- (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: So wie von zitiert hat: Lesen Sie das einmal ausführlich nach. Sie! In sieben Jahren Rot-Grün nichts heraus- Das empfehle ich auch den Gästen und denjenigen, die gekommen!) uns im Fernsehen zusehen. In concreto verschärfen Sie das Problem auch noch. (Heinz Lanfermann [FDP]: Da guckt jetzt kei- Sie machen jetzt eine kleine Beitragserhöhung, und Sie ner mehr!) versprechen bessere Leistungen. Sie wissen aber: Dieses Ich danke Ihnen. Geld reicht für die verbesserten Leistungen genau oder höchstens bis zum Jahre 2015. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert (Heinz Lanfermann [FDP]: Noch nicht ein- Winkelmeier [fraktionslos]) mal!)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Ab 2015 – so steht es jetzt im Gesetz – sollen dann noch einmal bessere Leistungen kommen, die übrigens hoch- Ich erteile das Wort nun der Kollegin Birgitt Bender, notwendig sind, nämlich in Form einer regelmäßigen Bündnis 90/Die Grünen. Anpassung der Pflegeleistungen an gestiegene Preise, also eine Dynamisierung. Das heißt, Sie versprechen Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): bessere Leistungen genau für den Zeitpunkt, zu dem Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein merk- auch nach Ihren eigenen Angaben die Pflegekassen so würdiges Schauspiel: Eine große Reform ist angekün- leer sein werden wie der Kühlschrank vor der Fastenzeit. digt, eine kleine vorgelegt. Das kann ja wohl nicht angehen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 16003

Birgitt Bender (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: (C) Carola Reimann ist die nächste Rednerin für die SPD- Es kann nicht funktionieren, es wird nicht funktionie- Fraktion. ren. So kann ich nur sagen: Wenn es in der Politik für diejenigen, die sich am Wegducken vor der Zukunft be- (Beifall bei der SPD) teiligen, finanzielle Sanktionen gäbe, dann hätten Ulla Schmidt ebenso wie die Abgeordneten der CDU nur Dr. Carola Reimann (SPD): noch die Hälfte ihrer Diäten verdient. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – ren! Der 1. Juli dieses Jahres wird ein guter Tag für die Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rund 2 Millionen Pflegebedürftigen und ihre Angehöri- NEN]: So viel?) gen. Ein anderer Punkt, meine Damen und Herren: Ver- (Beifall des Abg. Wolfgang Zöller [CDU/ steckt auf den hinteren Seiten dieser Pflegereform, die CSU] – Heinz Lanfermann [FDP]: Und die ihren Namen nicht wirklich verdient, ist der Petzpara- Beitragszahler?) graf; es war schon die Rede davon. Ärzte sollen in Zu- Dann tritt nämlich die Pflegereform, die wir heute bera- kunft ihre Patienten verpfeifen, wenn sie an den Folgen ten und verabschieden werden, in Kraft. Wir reagieren von Piercings oder Schönheitsoperationen leiden und damit zum einen auf die Herausforderungen der demo- deswegen behandelt werden müssten. Die Folge davon grafischen Entwicklung und zum anderen – das ist der ist, dass die Kassen nicht zahlen müssen. Sie haben ja in entscheidende Punkt – auf veränderte Bedürfnisse der Ihrer großartigen Weisheit schon mit der Gesundheitsre- Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen. Zahlreiche form ein Selbstverschuldensprinzip eingeführt, das bei Leistungsverbesserungen werden zu einer spürbaren diesen Indikationen, aber auch in anderen Fällen greifen Verbesserung der Lebenssituation dieser Menschen füh- soll. Was tun Sie jetzt? Sie machen Ärzte zu Denunzian- ren. Deshalb kann man uneingeschränkt sagen: Es ist ten: eine gute Reform. Sie ist gut, weil wir die Leistungsbe- träge schrittweise erhöhen, und sie ist gut, weil wir eine (Dr. Konrad Schily [FDP]: Richtig! Sehr rich- Leistungsdynamisierung einführen. Damit stoppen wir tig! – Widerspruch bei der CDU/CSU) den schleichenden Wertverfall der Leistungen. Sie wollen sie verpflichten, ihre Schweigepflicht zu bre- Die ambulanten Sachleistungsbeträge werden bis chen. Damit hebeln Sie das Zeugnisverweigerungsrecht 2012 in allen drei Pflegestufen schrittweise erhöht. Im (B) aus. Dazu kann man nur sagen: Wehret den Anfängen! stationären Bereich wird es zu Aufstockungen in der (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Pflegestufe III und bei den Härtefällen kommen. Auch das Pflegegeld für pflegende Angehörige wird erhöht. Wir werden Ihnen Gelegenheit geben, diesen Petzpa- Damit stärken wir vor allem die ambulante Pflege und ragrafen und das Selbstverschuldensprinzip aufzuheben. kommen so dem Wunsch vieler Pflegebedürftiger nach, die in ihrem gewohnten Umfeld, zu Hause, gepflegt wer- Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn man diesen Weg be- den wollen. schreitet, dann kommt es irgendwann dazu, dass man ei- nem Zuckerkranken, der zum Arzt kommt, sagt: Dich (Beifall der Abg. Elke Ferner [SPD] und wird niemand behandeln, denn du hättest dich ja beizei- Wolfgang Zöller [CDU/CSU]) ten besser ernähren können; das petze ich jetzt der Immer mehr Menschen erreichen ein gesegnetes Al- Kasse. ter. Das ist zweifellos eine positive Entwicklung. Sie (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Frau bringt aber zugleich neue Herausforderungen für die Bender, Sie sind sonst seriöser! Dass Sie so häusliche wie für die stationäre Pflege mit sich. Angehö- rige und Pflegekräfte werden bei der Versorgung der tief sinken müssen! Sie wissen es besser! – Pflegebedürftigen zunehmend mit geistigen und psychi- Dr. Marlies Volkmer [SPD]: So ein Unsinn!) schen Einschränkungen bis hin zu schweren Demenzer- Das kann es nicht sein. Wir brauchen ein Solidarsystem. krankungen konfrontiert, die oft zusätzlich zu den kör- Es ist Aufgabe der Prävention – vor entsprechenden Re- perlichen Gebrechen auftreten. Darauf waren die gelungen haben Sie sich ja gerade wieder weggeduckt –, Leistungen der Pflegeversicherung bislang nur unzurei- lebensstilbedingte Krankheiten zu verhindern. chend ausgerichtet. Dieser Missstand wird mit der Pfle- gereform beseitigt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die seit langem geforderten neuen Leistungen für NEN]: Wo ist denn das Gesetz?) demenziell erkrankte Menschen werden nun einge- führt. Im ambulanten Bereich wird es eine Staffelung ge- Es ist keine Alternative, Patienten zu bestrafen und ben: Menschen mit geringerem allgemeinen Betreuungs- Ärzte zu Denunzianten zu machen; das wäre falsch. bedarf erhalten bis zu 100 Euro, diejenigen mit höherem Betreuungsbedarf bis zu 200 Euro im Monat. Demen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ziell Erkrankte erhalten somit dank dieser Reform bis zu sowie bei Abgeordneten der FDP) 2 400 Euro pro Jahr. Wichtig ist, dass dieser Betrag 16004 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008

Dr. Carola Reimann (A) zusätzlich zu den Pflegeleistungen und unabhängig von Das heißt, die Rente ist futsch und die Angehörigen (C) der Pflegestufe gezahlt wird. müssen mitzahlen. Warum haben Sie nicht auch in den Stufen I und II die Leistungsbeträge erhöht? Damit hät- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ten Sie ein Stück dazu beigetragen, dass diejenigen, die der CDU/CSU) in den Einrichtungen sind, nicht zu Taschengeldempfän- Das bedeutet: Auch Menschen, die keine Pflege, sondern gern werden. vor allem Betreuung und Assistenz benötigen, erhalten (Jens Spahn [CDU/CSU]: Hatten wir doch in Zukunft Unterstützung aus der Pflegeversicherung. heute schon einmal! – Wolfgang Zöller [CDU/ Auf Vorschlag der SPD wird es auch für demenzer- CSU]: Die Frage stellt er alle fünf Minuten!) krankte Heimbewohner zusätzliche Hilfen geben. Die – Wurde aber nicht beantwortet. Pflegeversicherung finanziert zusätzliche Stellen für Be- treuungskräfte, die sich in vollstationären Pflegeeinrich- Dr. Carola Reimann (SPD): tungen um demenziell Erkrankte kümmern sollen. Sie sollen altersverwirrten Menschen im Heim helfen, ihren Herr Kollege Spieth, wir alle wissen, dass es sich bei Tagesablauf besser zu bewältigen. Die Finanzierung der der Pflegeversicherung nicht um eine Vollversicherung Stellen dieser Betreuungsassistentinnen und -assisten- handelt. Das will ich als Allererstes einmal sagen. ten durch die Pflegeversicherung ist an zwei wichtige (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Bedingungen geknüpft: CDU/CSU) Erstens. Es muss sich um zusätzliche Betreuungs- Das kann man bekritteln, aber sie ist nun einmal so und kräfte handeln. Eine Reduzierung oder Anrechnung vor- nicht anders angelegt worden. Wir führen sie jetzt in der handenen Personals ist also nicht zulässig. bisherigen Form fort. Zweitens. Die Assistentinnen und Assistenten müssen Dann ist hier schon einmal gesagt worden, auch von sozialversicherungspflichtig beschäftigt sein. der Kollegin Eichhorn, dass der Schwerpunkt auf der Verbesserung im ambulanten Bereich liegt. Das ist völlig (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der richtig. CDU/CSU) Schließlich sagten Sie, ich überspringe etwas, aber Das ist unser Beitrag zur Steigerung des Beschäfti- auch Sie überspringen etwas, nämlich dass die Leistun- gungspotenzials. Mit der Einstellung zusätzlicher Be- gen für die Pflegestufe III im stationären Bereich aufge- treuungsassistenten in den stationären Einrichtungen und stockt werden und dass es Verbesserungen für Härtefälle (B) den neuen Leistungen im ambulanten Bereich erreichen gibt. (D) wir eine substanzielle Verbesserung der Versorgung De- menzerkrankter und ermöglichen eine wirkliche Hilfe (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – und Entlastung für die pflegenden Angehörigen, aber Frank Spieth [DIE LINKE]: Das betrifft nur auch für die Pflegekräfte in den Heimen. 20 Prozent der Betroffenen! Das wissen Sie ganz genau!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Kolleginnen und Kollegen, die Pflege eines Angehö- Frau Kollegin Reimann, möchten Sie eine Zwischen- rigen ist eine ungeheuer verantwortungsvolle Aufgabe, frage des Kollegen Spieth beantworten? die ganz viel Kraft kostet. Neben der Pflege des Angehö- rigen kommen häufig Beruf, Kindererziehung und die ganz alltäglichen Verpflichtungen hinzu. Ich will an die- Dr. Carola Reimann (SPD): ser Stelle noch einmal betonen, dass es zum weit über- Bitte schön. wiegenden Teil die Frauen sind, die diese Mehrfachbe- (Hilde Mattheis [SPD]: Erschleichung von lastung schultern. Das alles unter einen Hut zu bringen, Redezeit!) ist alles andere als einfach. Die Grenze der Belastbarkeit ist dabei ganz schnell erreicht, meist wird sie sogar über- schritten. Deshalb ist es unerlässlich, mit einer solchen Frank Spieth (DIE LINKE): Pflegereform pflegenden Angehörigen die Möglichkei- Wenn es hilft, dann sollte es so sein. – Ich möchte ten zur Entlastung zu bieten. eine Frage stellen, weil Sie die Leistungen im stationä- ren Bereich wieder locker überspringen. Es gibt in den Hierbei kommt den Einrichtungen der Tages- und Stufen I und II keine Anpassungen. Diese erfolgen frü- Nachtpflege eine wichtige Funktion zu. Sie bieten An- hestens im Jahr 2015. Im Durchschnitt müssen in der gehörigen die Möglichkeit, ihre pflegebedürftigen Ver- Stufe II im stationären Bereich 2 800 Euro gezahlt wer- wandten in gute, professionelle Betreuung zu geben, um den. Die Pflegeversicherung zahlt aber nur 1 279 Euro. dem Beruf und den alltäglichen Erledigungen nachzuge- Das hat zur Folge, dass jemand, der mit Pflegestufe II in hen oder einfach Zeit für sich und andere Familienmit- den stationären Bereich muss, eine Differenz von round glieder zu haben. Zugleich sind diese Einrichtungen aber about 1 600 Euro zu decken hat. auch unter dem Gesichtspunkt der Aktivierung von Pfle- gebedürftigen von großer Bedeutung. Leider wurden (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Die Pflegever- diese Angebote in der Vergangenheit nur in geringem sicherung ist keine Vollversicherung!) Umfang genutzt. Hauptgrund dafür ist der damit verbun- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 16005

Dr. Carola Reimann (A) dene geringere Anspruch auf Pflegegeld bzw. ambulante (Beifall bei der SPD) (C) Sachleistungen für die verbleibende Zeit, die der Pflege- Kolleginnen und Kollegen, trotz der Notwendigkeit bedürftige zuhause gepflegt werden muss. Deshalb wer- von Kompromissen verabschieden wir heute eine Re- den wir das mit der Pflegereform ändern: Neben dem form, die, wie ich mit Freude feststelle, vor allem sozial- Anspruch auf Tages- und Nachtpflege wird es zusätzlich demokratische Handschrift trägt einen 50-prozentigen Anspruch auf ambulante Pflege- sachleistungen bzw. Pflegegeld geben. Damit wird die ( [FDP]: Wie ist das mit dem Tages- und Nachtpflege attraktiver. Das heißt aber auch, Petzparagrafen? – Heinz Lanfermann [FDP]: die pflegenden Angehörigen haben die Chance auf spür- Der Petzparagraf interessiert die SPD nicht!) bare Entlastung, und die Pflegebedürftigen selbst be- und die Verbesserungen und neue Unterstützungsmög- kommen professionelle Unterstützung und Betreuung in lichkeiten für Betroffene wie Angehörige enthält. Des- den entsprechenden Einrichtungen. halb wird – damit komme ich zum Anfang meiner Rede Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Reform zurück – der 1. Juli dieses Jahres, an dem die Reform in sieht nicht nur den Ausbau von Pflegeleistungen vor, Kraft tritt, ein guter Tag für alle Pflegenden und Pflege- sondern auch die Möglichkeit, diese künftig flexibler in bedürftigen. Ich darf mich bei allen bedanken, die zu Anspruch zu nehmen. Ein Beispiel dafür ist das soge- diesem Gesetz konstruktiv beigetragen haben. nannte Poolen von Leistungsansprüchen. Das neue Danke schön. Gesetz ermöglicht, dass die Ansprüche mehrerer Leis- tungsberechtigter künftig in einen Pool eingebracht wer- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den können, um hieraus selbstbestimmt Pflege-, Betreu- der CDU/CSU) ungs- und hauswirtschaftliche Versorgungsleistungen zu finanzieren. Die hierdurch entstehenden Effizienzge- Präsident Dr. Norbert Lammert: winne kommen den Pflegebedürftigen als zusätzliche Willi Zylajew ist der nächste Redner für die CDU/ Betreuungszeit zugute. CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Das heißt konkret, dass sich Pflegebedürftige in einem Wohnquartier zusammenschließen und gemeinsam einen Willi Zylajew (CDU/CSU): Pflegedienst beauftragen können. Es könnte beispiels- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In weise ein Feld auch für Wohnungsbaugenossenschaften der Tat ist das, womit wir uns hier beschäftigen, wichtig, sein, dies vor Ort zu koordinieren. Zugleich werden nämlich die Frage, wie wir die Pflege zukunftsfest ma- (B) durch diese Möglichkeiten Anreize zur Schaffung neuer chen. Wichtiger ist aber das, was 10 Millionen Men- (D) Wohnformen wie Wohngemeinschaften gesetzt. Ich schen Tag für Tag – auch in diesem Moment – erleben, meine, das ist die richtige Antwort auf sozialstrukturelle die unmittelbar mit der Pflege befasst sind. Es sind dies Veränderungen wie zum Beispiel die wachsende Zahl die Pflegebedürftigen selbst, es sind dies die Menschen mit Behinderungen, die auf Pflege angewiesen sind, es von Singlehaushalten. sind dies aber auch die etwa 1 Million Kräfte, die im (Beifall bei der SPD) ambulanten und im stationären Bereich Pflegeleistungen erbringen: Ehrenamtler, Menschen in Vereinen, in Pfarr- Die genannten Beispiele – Erhöhung der Leistungs- gemeinden, in Wohlfahrtsverbänden, Angehörige, Nach- beiträge, neue Beiträge für Demenzerkrankte, Förderung barn und Freunde. Tag für Tag und Nacht für Nacht er- der Tages- und Nachtpflege und das Poolen von Leistun- bringen sie diese Leistungen. Wir als Union haben die gen – bringen den Betroffenen spürbare Verbesserungen. Chancen genutzt, die in dieser Koalition möglich sind, Ich will aber an dieser Stelle nicht ganz verschweigen, um exakt für diese Menschen Verbesserungen zu errei- dass ich mir an zwei Punkten mehr gewünscht hätte. chen. Zum einen betrifft das die Finanzierung. Hier hätten (Beifall bei der CDU/CSU) wir Sozialdemokraten gerne den im Koalitionsvertrag Die Kolleginnen und Kollegen Widmann-Mauz, vereinbarten Finanzausgleich zwischen privater und Maria Eichhorn und andere haben die Leistungen schon gesetzlicher Pflegeversicherung verwirklicht. im Einzelnen angesprochen. Wir gewähren den Pflege- (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Dem bedürftigen weitere materielle und personelle Hilfe, steht aber die Verfassung entgegen!) Hilfe zur Bewältigung des pflegebedingten Mehrauf- wands in ihrer Lebensführung. Unsere Gesellschaft Zum anderen hätten wir berufstätigen Angehörigen bleibt weiterhin sozial. Wir belasten damit natürlich an- gerne eine zehntägige bezahlte Freistellung zur Orga- dere Menschen, das wissen wir: Auf der einen Seite pro- nisation der Pflege ihrer Angehörigen ermöglicht. fitieren über 10 Millionen, auf der anderen Seite belasten wir 60 Millionen Beitragszahler, bei denen wir den Wir hätten das im Interesse der Betroffenen gerne Nettoertrag aus selbstständiger Arbeit, aus abhängiger umgesetzt. Andere wollten das leider nicht. Beides, die Arbeit oder aus Kapitalertrag schon ein Stück weit redu- Bürgerversicherung Pflege wie auch die zehntägige be- zieren. zahlte Freistellung, bleiben aber Ziele, für die wir uns weiter einsetzen werden. Ich bin sicher, diese Themen (Elke Ferner [SPD]: Seit wann zahlt man auf kommen wieder. Kapitalerträge Beiträge?) 16006 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008

Willi Zylajew (A) Wir leiten einen Teil unseres Bruttoinlandsprodukts zu Daniel Bahr (Münster) (FDP): (C) den Pflegebedürftigen. Das wollen wir einmal sehen! – Herr Kollege Zylajew, wenn Sie die Debatten von 1994 ansprechen, (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: So etwas dann müssen Sie bitte auch Folgendes zur Kenntnis neh- nennt man Solidarität!) men: Bereits 1994 haben zum Beispiel Graf Lambsdorff – Natürlich ist das Solidarität. Aber, verehrte Frau Kolle- und andere Kolleginnen und Kollegen aus der FDP- gin, wir als diejenigen, die politisch dafür die Verantwor- Fraktion darauf hingewiesen, dass wir im Jahr 2008 und tung tragen, auch schon früher genau das erleben werden, was wir jetzt tatsächlich erleben, nämlich steigende Defizite in (Elke Ferner [SPD]: Die haben wir! Deswegen der Pflegeversicherung, und dass wir genau vor der wollen wir solidarische Finanzierung!) Frage stehen werden, ob man das Umlagesystem so noch erhalten kann und ob die Beiträge weiter steigen sollten auch Respekt vor denen haben, die Leistungen müssen. erwirtschaften, Frau Ferner, und uns nicht nur ins Zeug legen, wenn wir Geld, das wir ihnen wegnehmen, ande- Nehmen Sie auch zur Kenntnis, dass sich die demo- ren geben. Das ist Solidarität, die Respekt verdient. grafischen Probleme einer alternden Bevölkerung in einer Pflegeversicherung noch viel dramatischer auswir- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ken werden als in der Rentenversicherung, weil die Le- benserwartung steigt, aber die Eintrittswahrscheinlich- Kollege Lanfermann, Sie haben davon gesprochen, keit von Demenz, von Altersverwirrung, bei 80-Jährigen dass wir demnächst ein Drittel weniger Beitragszahler mit etwa einem Drittel heute genauso hoch ist, wie sie hätten. Das stimmt nicht. Der Kollege Bahr hat es dann vor 10 oder 20 Jahren war und voraussichtlich auch in schon präziser gesagt: ein Drittel weniger junge Bei- 10 oder 20 Jahren sein wird, tragszahler. – Man kann die Finanzierung der Pflegever- sicherung nicht mit der Finanzierung der Rentenversi- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wenn es keine cherung vergleichen, medizinische Entwicklung gibt!) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Doch!) sodass es immer mehr pflegebedürftige Menschen, aber immer weniger jüngere Menschen in unserer Gesell- weil auch die Rentnerinnen und Rentner bis ins hohe Al- schaft geben wird? ter Beiträge zahlen. (Beifall bei der FDP) (Elke Ferner [SPD]: So ist es! – Daniel Bahr (B) [Münster] [FDP]: Das hat Blüm 1994 auch ge- Willi Zylajew (CDU/CSU): (D) sagt und gemeint, die Beiträge würden nicht Herr Bahr, ich bin bereit, zur Kenntnis zu nehmen, steigen!) dass wir mehr ältere und weniger junge Menschen in – Ich brauche das nicht zu wiederholen, Herr Bahr. – In- unserer Gesellschaft haben werden. Das ist richtig. Sie sofern ist die Pflegeversicherung finanziell deutlich sta- haben das Verhältnis von Beitragszahlern zu Leis- biler als irgendeines der anderen Systeme. tungsempfängern angesprochen. Es ist nicht so, dass nur die jungen Menschen Beiträge zahlen. Ich habe die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und herzliche Bitte, dass Sie dies zur Kenntnis nehmen. Wir der SPD) sollten vor den Rentnerinnen und Rentnern hohen Re- spekt haben, denn sie zahlen ihren Beitrag klaglos. Holen Sie doch einmal die Zitate der FDP-Kollegen von 1994 hervor! Lambsdorff und andere Strategen ha- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ben gesagt, schon im Herbst werde die Versicherung der SPD – Elke Ferner [SPD]: Richtig! – pleite sein. Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Die zahlen den doppelten Beitrag!) Also: Es gibt weniger junge Beitragszahler, aber die Rentnerinnen und Rentner zahlen auch. Insofern ist das Es ist daher nicht möglich, die Problematik der Rente schon in Ordnung. auf die Problematik der Pflege zu übertragen. Die Rent- ner zahlen ordentlich und verlässlich, Der ergänzende Kapitalstock ist aus unserer Sicht für (Heinz Lanfermann [FDP]: Aber die zahlen die Jahre 2027 ff. wichtig. durchschnittlich weniger als die Arbeitneh- mer!) Präsident Dr. Norbert Lammert: und dafür haben wir ihnen zu danken. Wir brauchen ihre Herr Kollege Zylajew, würden Sie zwischendurch Beiträge, um die Leistungen auch in Zukunft ordentlich eine Frage des Kollegen Bahr gestatten? gewähren zu können. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- Willi Zylajew (CDU/CSU): wie der Abg. Elke Ferner [SPD]) Herr Präsident, sehr gern; dann kann ich ihn korrigie- ren. Ich möchte noch einmal sehr deutlich sagen, dass wir den Menschen neue Möglichkeiten im Bereich der Be- (Heiterkeit bei der CDU/CSU) treuung und der Selbstbestimmung eröffnen. Wir als Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 16007

Willi Zylajew (A) Union hatten den Ehrgeiz, möglichst jeden Euro und je- eigenes Profil für die Pflege zu entwickeln. Es gibt Län- (C) den Cent direkt an den Menschen zu bringen. Wir haben der, die das machen. Schauen Sie sich einmal an, was im dann mit dem Ministerium und Teilen der SPD Probleme Bereich Südbaden an Kreativität vorhanden ist. Schauen gehabt, weil sie das Geld lieber in neue Strukturen inves- Sie, was Träger in anderen Ländern entwickeln. Ich tiert hätten. Wir haben uns am Schluss auf etwas verstän- komme gern, um mir das in Berlin anzusehen. Ich nehme digt, was aus unserer Sicht tragbar ist. aber das, was Sie sagen, nicht zur Kenntnis. Ich nehme zur Kenntnis, dass dort, wo die Linken politisch etwas zu Zu Rot-Grün beziehungsweise zu Grün direkt muss sagen haben, kein Vorrang für Pflege vorhanden ist. ich sagen: Das alles hättet ihr in den Jahren von 1998 bis 2005 machen können. (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Berlin ist hervorragend! – Dr. Martina (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bunge [DIE LINKE]: Ich lade Sie einmal NEN]: Aber jetzt regieren Sie, und Sie müssen ein! – Weitere Zurufe von der LINKEN: Mil- etwas tun! Sie wollten doch alles besser ma- liarden versenken! – Landowsky und Diepgen!) chen! – Gegenruf von der SPD: Warten Sie doch ab, was wir noch alles tun werden!) – Sind die Zwischenrufe beendet? Dann fahre ich fort. Ihr habt aber durch eine pflegepolitische Auszeit ge- (Heiterkeit bei der CDU/CSU) glänzt. Aus meiner Sicht ist deutlich, dass Fortschritte für zu Frau Bunge, in Bezug auf die Linken sind wir neugie- Pflegende, für die Angehörigen und für Träger und Ein- rig, was sie dort, wo sie Verantwortung in den Ländern richtungen in der Geschichte der Bundesrepublik immer trägt, so Besonderes tut. Ich habe noch nicht bemerkt, mit der Union verbunden waren. Sie waren in der Entste- dass es dort, wo die Linken mitverantwortlich sind, ei- hungsphase mit Helmut Kohl und Norbert Blüm verbun- nen Aufbruch im Bereich der Pflege gibt. Ein Abbruch den. Sie sind jetzt mit der Kanzlerin ver- in allen sozialen Systemen findet dort statt, wo sie Ver- bunden. Alle, die hier mehr wollen, können dies antwortung trägt. anmelden. Verlassen aber können sich die Pflegebedürf- tigen im Endeffekt nur auf die Union. (Beifall bei der CDU/CSU) (Zuruf von der SPD: Und die Gesundheits- Sie ist wirklich nicht tauglich. ministerin?) Wir haben in unserer Gesellschaft eine Reihe von Das war so, das ist so, und das wird so bleiben. wichtigen Problemen, mit denen wir uns auch nach die- ser Reform beschäftigen müssen. Fakt ist, dass sich un- (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der (B) sere Gesellschaft in folgender schwieriger Situation be- SPD – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D) findet: Wenn man eine nach Tarif bezahlte Stelle eines NEN: Märchenstunde!) Pflegeberaters oder eines Fallmanagers ausschreibt, dann bekommt man 200 Bewerbungen. Schreibt man – Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, schauen Sie sich eine nach Tarif bezahlte Stelle einer examinierten Pfle- doch einmal an, wann Ihre Regierungsinitiativen gekom- gekraft aus, dann hat man Glück, wenn man eine Bewer- men sind. Das wird im deutschen Geschichtsunterricht bung erhält. niemand herausfinden können, denn Sie haben keine un- ternommen. Ich weiß, dass die Menschen hier auf die (Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: So ist das!) Union setzen und setzen können. Ich sage noch einmal: Wir haben das erreicht, was wir in dieser Koalition errei- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: chen können. Dafür danken wir. Herr Kollege, Frau Kollegin Bunge würde gern eine (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der Zwischenfrage stellen. FDP: Da hat man echt Vertrauen in die Koali- tion!) Willi Zylajew (CDU/CSU): Auch dies gern. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächste Rednerin ist die Kollegin Hilde Mattheis, Dr. Martina Bunge (DIE LINKE): SPD-Fraktion. Herr Kollege Zylajew, würden Sie mir zustimmen, dass die Länder ihren Spielraum in der Frage, was sie in Hilde Mattheis (SPD): der Pflege tun können, durch die Bundesgesetzgebung, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nämlich durch das SGB XI, vorgegeben bekommen und Zunächst einmal freue ich mich sehr darüber, welchen einen ganz geringen eigenen Spielraum haben, den sie Identifikationsgrad dieses Pflege-Weiterentwicklungs- beispielsweise in Berlin mit Modellprojekten nutzen? gesetz auch bei unserem Koalitionspartner in allen Tei- len erfahren hat. Willi Zylajew (CDU/CSU): (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Dafür Ich bin nicht bereit, das zur Kenntnis zu nehmen, weil haben wir uns auch gut verändert!) es schlicht falsch ist. Die Länder haben eigene Gestal- tungschancen und ein eigenes Profil. Mit den Landes- Ich freue mich sehr, dass die Teile des Pflege-Weiterent- pflegegesetzen haben sie hervorragende Chancen, ein wicklungsgesetzes, die von Ihrer Seite aus in der Öffent- 16008 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008

Hilde Mattheis (A) lichkeit durchaus strittig diskutiert worden sind, jetzt Strukturen, die wir jetzt einziehen wollen, werden dazu (C) hier verteidigt werden. beitragen, dass Menschen in einer schwierigen Lebens- situation begleitet werden, dass sie Unterstützung und Ich bin auch der Überzeugung, dass die Oppositions- Beratung bekommen. parteien in ein paar Wochen nicht mehr so gern darüber reden werden, wie sie hier abgestimmt haben, weil sie (Beifall bei der SPD) dann nämlich in Pflegeeinrichtungen und vor Angehöri- gen rechtfertigen müssen, dass sie einer Leistungsver- Auch der Leistungsanspruch in Bezug auf Menschen besserung nicht zugestimmt haben. mit Demenz, egal ob ambulant gepflegt wird oder in sta- tionären Einrichtungen, wird eine unglaubliche Erleich- (Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der terung sein. Jeder, der mit Angehörigen der Betroffenen LINKEN) im engen Kontakt ist, weiß, dass die kleinen Dinge des Lebens bei Demenz zu großen Hürden werden. Wenn Ich bin auch der Überzeugung, dass viele, die die zum Beispiel der Gang zum Arzt geplant werden muss Pflegestützpunkte jetzt kritisieren, auf deren Verteilung und niemand beim Ehemann oder bei der Ehefrau ist, ist schauen und feststellen werden, wie viele Pflegestütz- es wichtig, diese niedrigschwelligen Leistungen einfor- punkte in ihrem eigenen Bundesland – womöglich in ih- dern zu können und nicht von der Rente bezahlen zu rem Wahlkreis – ankommen könnten. Dann wird es vor müssen, sondern dies aus der Pflegeversicherung tun zu allem von denjenigen, die die Pflegestützpunkte bis jetzt können. nicht verteidigen, einen großen Run darauf geben. Es gibt dann sicherlich auch einen Run der Länder, weil es Ich will mich aber im Folgenden noch auf einen wirklich ein Erfolgsmodell ist. Schwerpunkt konzentrieren, der uns von Anfang an im- mer sehr wichtig war, (Zustimmung bei Abgeordneten der SPD) (Frank Spieth [DIE LINKE]: Finanzaus- Wer sagt, dass Pflegestützpunkte zu Doppelstrukturen gleich!) führen würden, der hat das Gesetz nicht gelesen, nämlich die Unterstützung der Qualität und Transparenz (Beifall bei der SPD) in der Pflege. – Der Finanzausgleich kommt noch, Herr weder den ersten Entwurf noch das, was wir in der Kom- Spieth; Sie können mich gerne dazu fragen. Sie wollen promisslinie vereinbart haben und verabschieden wer- ja noch einmal reden, nehme ich an. den. Denn da heißt es ausdrücklich, dass die Beratungs- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Muss nicht sein! und Vernetzungsstrukturen, die es bereits gibt, einzu- Nur weil Herr Spieth nicht reden darf!) beziehen bzw. zu ergänzen sind. Ich bin fast versucht, (B) das mit der Initiative bei den Ganztagsschulen zu ver- Über diese Qualität haben wir intensiv diskutiert, und in (D) gleichen. der Anhörung ist uns recht gegeben worden, dass Quali- tätssicherung und Transparenz sehr eng zusammenhän- (Elke Ferner [SPD]: Ja!) gen. Niemand von uns hat diesen Punkt diskutiert, ohne Auch da gab es zunächst eine heftige Abwehrhaltung; immer wieder zu betonen, dass selbstverständlich der aber dann ging es in den Ländern ganz schnell, und überwiegende Teil des Pflegepersonals diesen Beruf mit plötzlich waren es zum Teil die schwarzen Bürgermeis- großem Engagement, mit großer Liebe und Zuneigung ter, die gefordert haben, dass in ihre Kommune eine ausübt Ganztagsschule und die entsprechenden Mittel kommen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD) und dass es darum geht, diese Berufsgruppe davor zu Genauso wird es bei den Pflegestützpunkten sein. Es schützen, dass sie durch Schlagzeilen von Pflegemän- gibt Länder, die es schon geschafft haben, Beratungs- geln und wirklich schlimmen Verhältnissen in Pflegehei- und Vernetzungsstrukturen aufzubauen, zum Beispiel men diskreditiert wird. Rheinland-Pfalz. Andere haben versucht, die vernetzten (Beifall bei der SPD) Strukturen herunterzufahren, indem die Zuschussmittel versagt wurden, wie in Baden-Württemberg – dort wol- Deshalb ist es uns wichtig, hier noch einmal zu beto- len die Träger dieses Erfolgsmodell selber finanzieren –, nen, dass es jährlich eine unangemeldete Überprüfung und sie werden diese Chance ergreifen und Pflegestütz- durch den MDK gibt. Diese Überprüfungen sind zwin- punkte aufbauen. gend. Zertifizierungen ersetzen keine Überprüfungen durch den MDK. Ergebnisqualität zu beurteilen, be- (Zuruf von der SPD: Genau!) deutet, zu schauen, in welchem Maße die Hilfe bei den Da bin ich ganz sicher. Das werden wir in einem hal- Pflegebedürftigen ankommt. Wo eine gute Ergebnisqua- ben oder in einem Jahr sicher im Ausschuss bilanzieren lität zu finden ist, kann auf die Überprüfung der Prozess- können. Wir werden dann alle sehr stolz sein können, und Strukturqualität verzichtet werden. Diese Teile wer- dass wir dieses Gesetz heute so verabschiedet haben. den ergänzend nur dann geprüft, wenn die Ergebnisqua- lität nicht stimmt. Neben den Pflegestützpunkten – gute Dinge vertragen Wiederholung – gibt es die Verpflichtung zur Pflege- Wir wollen dem Medizinischen Dienst der Kranken- beratung und deren Ausbau. Diese ist zwar heute schon kassen in stärkerem Maße eine beratende Funktion ge- im SGB XI verankert; aber die Case-Management- ben. Diese Funktion wird nicht nur, wie jetzt, im Rah- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 16009

Hilde Mattheis (A) men der gegebenen Möglichkeiten ausgeübt, sondern Trotzdem möchte ich das Thema Ausgleich, das Sie in (C) stellt eine Verpflichtung für den MDK dar. Pflegequalität Ihrer Frage angesprochen haben, aufgreifen. Ja, die Ko- und Transparenz hängen voneinander ab und bilden da- alitionsvereinbarungen sehen diesen Ausgleich vor. Ja, mit ein Paar. in vielen Reden meiner Kolleginnen und Kollegen und auch von mir finden Sie die Aussage, dass wir diesen (Beifall bei der SPD) Ausgleich wollen. Er steht immer noch auf unserer poli- Daher wollen wir, dass jeder, der ein Heim betritt, genau tischen Agenda, Herr Spieth, und er hat bei den Verhand- sehen kann, wie gut die Qualität in diesem Heim ist. Sie lungen selbstverständlich eine Rolle gespielt. Ich ver- kann durch eine entsprechende Anzahl von Sternen oder weise hier auf die beschlossenen Eckpunkte, die, wie Sie durch eine Ampel angezeigt werden. So ist für alle auf wissen, schon zu vielen Diskussionen geführt haben. den ersten Blick klar, wie der MDK die Qualität dieses Ich knüpfe jetzt aber an das an, was ich eingangs ge- Heimes einstuft. sagt habe, und frage Sie allen Ernstes: Wie wollen Sie gegenüber Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: rechtfertigen, dass Sie diesem Gesetzentwurf nicht zu- Frau Kollegin, der Kollege Spieth würde jetzt gern stimmen und damit gegen eine Leistungserweiterung seine Zwischenfrage stellen. sind? Denn im Gesetz finden Sie ausschließlich Punkte, die zur Leistungsverbesserung und zur Qualitätssiche- (Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Er sollte rung beitragen werden. sich mal von seiner Fraktion Redezeit geben lassen!) (Zuruf von der LINKEN: Ja, ja, vor allem im stationären Bereich!) Hilde Mattheis (SPD): Erklären Sie mir also einmal, warum wir wegen eines Bitte, Herr Spieth. strittigen Punktes das ganze Paket scheitern lassen soll- ten. Frank Spieth (DIE LINKE): (Beifall bei der SPD) Frau Kollegin Mattheis, da Sie mich so freundlich In Bezug auf Ihre Zwischenfrage sage ich an dieser eingeladen haben, das Thema Finanzausgleich anzu- Stelle: sprechen, und ich befürchte, dass Sie in Ihrem Beitrag nicht mehr darauf zu sprechen kommen, möchte ich Ih- (Heinz Lanfermann [FDP]: Gibt es nicht irgendwo nen Gelegenheit geben, dazu noch etwas zu sagen. eine Grenze für Zwischenfragen?) Im Koalitionsvertrag zwischen der CDU/CSU und Selbstverständlich bleiben viele Themen auf unserer po- (B) der SPD heißt es: litischen Agenda. Die Definition des Pflegebegriffs ist (D) eines davon. Sie können uns nicht den Vorwurf machen, Zum Ausgleich der unterschiedlichen Risikostruk- dass wir diesen Punkt vernachlässigen, Herr Seifert; das turen wird ein Finanzausgleich zwischen gesetzli- haben Sie in Ihrer Rede gesagt. Klar ist: Genau in die- cher und privater Pflegeversicherung eingeführt. sem Bereich brauchen wir einen sehr intensiven und mit Dieser ist dringend erforderlich, um die unterschiedli- allen Fachverbänden organisierten Prozess. Das kann chen Risiken auszugleichen, die zwischen gesetzlicher man wirklich nur mit Ruhe und Gründlichkeit machen. und privater Pflegeversicherung bestehen. (Heinz Lanfermann [FDP]: Ihr habt fünf Jahre Mittlerweile ist es so, dass bei den privaten Pflegever- zu spät damit angefangen!) sicherungen 15 Milliarden Euro auf der hohen Kante lie- – Das stimmt ja nicht, Herr Lanfermann. gen, während die soziale Pflegeversicherung extreme Probleme hat. (Heinz Lanfermann [FDP]: Aber natürlich stimmt das!) (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Das ist alter sozialistischer Stil! Immer aus Eigentum Wenn Pflegestufen womöglich neu organisiert werden, spielt dabei doch vor allen Dingen das Instrument eine der anderen!) Rolle. Dieses Thema bleibt also auf unserer politischen Auch wenn es Ihnen nicht schmecken mag, frage ich Agenda. Auf der Agenda bleibt auch das Thema – – Sie: Warum hat die Koalition diesen wichtigen Punkt au- ßer Acht gelassen und um die private Pflegeversicherung Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: erneut einen Schutzzaun gezogen? Frau Kollegin, ich kann keine Zwischenfrage mehr (Beifall bei der LINKEN – Annette Widmann- zulassen, weil Sie Ihre Redezeit bereits überzogen ha- Mauz [CDU/CSU]: Weil es verfassungswidrig ben. Ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen. ist, Herr Kollege!) Hilde Mattheis (SPD): Hilde Mattheis (SPD): Mein letztes Wort: Auf der Tagesordnung bleibt auch Ich möchte jetzt nicht in den Verdacht kommen, bei die Bürgerversicherung. Ihnen, Herr Spieth, diese Frage bestellt zu haben. Danke. (Heiterkeit bei der SPD sowie bei Abgeordne- (Beifall bei der SPD – Lachen bei Abgeordne- ten der FDP) ten der FDP) 16010 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: So muss man feststellen, dass der Zeitverlust, der mit (C) Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege jedem Jahr, in dem der Umstieg zu einer kapitalgedeck- Jens Spahn von der CDU/CSU-Fraktion. ten Vorsorge nicht erfolgt, größer wird, zumindest noch zwei Jahre auf das Konto unseres sozialdemokratischen (Beifall bei der CDU/CSU) Partners geht. Diesem Partner stelle ich anheim, den Ge- rechtigkeitsbegriff um eine Zukunftsdimension zu er- Jens Spahn (CDU/CSU): weitern. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es! – Heinz Ich möchte auf einen Aspekt gern etwas vertiefter einge- Lanfermann [FDP]: Herr Spahn trägt einen hen, aber vielleicht gibt mir der Kollege Spieth anschlie- grünen Schlips, das sollte man im Protokoll ßend ja die Gelegenheit, noch auf weitere Aspekte ein- festhalten!) zugehen. Klar ist aber auch, Herr Kollege Lanfermann: Der Ich bedauere zutiefst, dass mit dieser Pflegereform, Einstieg in eine Kapitaldeckung würde im Moment – so mit dem vorgelegten Gesetzentwurf und den Änderungs- ehrlich muss man im Umgang miteinander sein – eine anträgen, der Einstieg in eine kapitalgedeckte Vorsorge Verteuerung für die Menschen bedeuten. Wenn Sie auf in diesem Zweig der sozialen Versicherung nicht gelun- der einen Seite fordern, dass die sozialen Versicherungen gen ist. Dieser Einstieg war im Koalitionsvertrag vorge- günstiger werden müssen, sehen und wäre angesichts des Zustandes der Pflegever- sicherung auch vonnöten gewesen. (Heinz Lanfermann [FDP]: Nein! Das habe ich nicht gesagt!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) und auf der anderen Seite gleichzeitig eine Kapitalrück- lage fordern, dann passt das nicht zusammen. Denn seit ihrer Einführung 1995 gab es bei der Pflege- versichtung in mehr Jahren eine Unterdeckung als eine (Beifall bei der CDU/CSU – Heinz Lanfermann Überdeckung. [FDP]: Fürs Sparen haben wir immer was üb- rig!) Eine kapitalgedeckte Vorsorge ist besonders aus ei- nem Grund notwendig: In dem Jahr, in dem ich 80 Jahre Wir müssen ehrlich zu den Menschen sein und ihnen alt sein werde – nämlich 2060 –, wird im Vergleich zu klar sagen, dass – wenn wir für die Zukunft vorsorgen – heute ein wesentlich größerer Anteil der Deutschen ein es heute teurer wird, weil es für die zukünftigen Genera- Alter von über 80 Jahren erreicht haben. Schon jetzt tionen günstiger sein soll. (B) nimmt der Anteil dieser Personen stark zu. Das Risiko Genau deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen (D) – gerade ist schon darauf hingewiesen worden –, insbe- von der SED-Nachfolgepartei, sondere demenziell zu erkranken, liegt bei über 80-Jähri- gen bei etwa einem Drittel – Tendenz dramatisch stei- (Widerspruch bei der LINKEN) gend. ist Ihr Antrag in der Argumentation so gefährlich. Denn er folgt dem bekannten Muster: Sie fordern mehr: (Heinz Lanfermann [FDP]: Dann werden dir 6 000 Euro für demenziell Erkrankte. Sie fordern Pflege- diejenigen, die dann so alt sind wie du heute, geld in der Höhe des Arbeitslosengeldes I. Sie fordern Vorhaltungen machen!) jährliche Dynamisierungen usw. Aber Sie verlieren, wie Deswegen haben alle Sachverständigen – auch wenn sie wir es von Ihnen gewohnt sind, kein Wort darüber, wie sich über das Ausmaß nicht einig waren – in der Anhö- das finanziert werden soll. rung deutlich gemacht, dass eine Kapitalrücklage in der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – gesetzlichen Pflegeversicherung vonnöten wäre. Sie ist Widerspruch bei der LINKEN – Frank Spieth am Ende – das muss man ehrlich miteinander konstatie- [DIE LINKE]: Das stimmt nicht!) ren – llja, Frank und Martina im Wunderland, möchte man sa- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Dann dürftet gen. Etwas Konkretes findet sich in Ihrem Antrag nicht. ihr jetzt aber nicht zustimmen!) Eines ist klar: Ihre populistischen Forderungen nach an der Uneinsichtigkeit und Kurzsichtigkeit unseres Ko- „mehr“ sind verwerflich; denn Sie geben keinen Hinweis alitionspartners gescheitert. darauf, wer das am Ende bezahlen soll, und suchen kei- nen vernünftigen Ausgleich zwischen den Beitragszah- Liebe Frau Kollegin Bender, angesichts des Umstan- lern in diesem Land – insbesondere den künftigen – und des, dass Sie in sieben Jahren Rot-Grün in diesem Be- denjenigen, die die Leistungen jetzt brauchen. Das las- reich gar nichts erreicht haben, ist Ihre Aufregung ge- sen wir Ihnen nicht durchgehen, verehrte Kolleginnen rade zwar plakativ, am Ende aber doch etwas aufgesetzt und Kollegen. gewesen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – (Beifall bei der CDU/CSU) Heinz Lanfermann [FDP]: Das ist eine Schla- raffenlandpartei!) Denn wie schwer es mit diesem Koalitionspartner bei diesem Thema ist, haben Sie damals ja auch schon er- Ich möchte bei der Bewertung der Zukunft dieser lebt. Pflegereform kurz auf drei weitere Dinge eingehen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 16011

Jens Spahn (A) Erstens. Die Pflegeversicherung ist – das ist gerade Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- (C) schon gesagt worden – per definitionem und von Anfang desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur struktu- an immer nur eine Teilkostenversicherung gewesen. rellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung. Der Deswegen ist es wichtig, dass wir mit dieser Reform den Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Nr. 1 seiner Abschluss von Zusatzversicherungen im privaten Be- Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8525, in Kennt- reich auch in der Kooperation mit gesetzlichen Versiche- nis des Vierten Berichts über die Entwicklung der Pfle- rungen erleichtern; denn die Zusatzversicherungen ha- geversicherung auf Drucksache 16/7772 den Gesetzent- ben per se einen Vorteil: Sie sind kapitalgedeckt. wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/7439 und 16/7486 in der Ausschussfassung anzunehmen. Zweitens. Es ist wichtig – das hat zwar mit dieser Pflegeversicherungsreform nicht direkt etwas zu tun, Hierzu liegen drei Änderungsanträge vor, über die wir aber gerade in diesen Zeiten steht die Entscheidung an, zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag das Forschungszentrum nach Bonn zu verlegen –, der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/8532? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Änderungsan- (Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Eine sehr gute trag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses bei Gegen- Entscheidung!) stimmen der FDP abgelehnt. im Bereich der demenziellen Erkrankungen nicht nur Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion für die Betroffenen mehr Geld zur Verfügung zu stellen Die Linke auf Drucksache 16/8530? – Wer stimmt dage- – das ist richtig –, sondern auch mehr Geld für For- gen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist mit den schung und Entwicklung auszugeben. So können wir mit Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Enthaltun- Blick auf das, was 2050 oder 2060 kommt, schauen, wie gen von Bündnis 90/Die Grünen und Gegenstimmen der wir hier vielleicht gewisse Entwicklungen im Sinne der Linken abgelehnt. Menschen verhindern können. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion Drittens. Zu einer Zeit, zu der ich alt bin und ein Drit- Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8531? – Wer tel der Menschen in diesem Land über 60 Jahre alt sein stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Änderungsan- wird, werden wir uns auch – das ist mir persönlich sehr trag ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP wichtig – über die Fragen des Zusammenlebens ausei- bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der nandersetzen müssen. Es geht darum, wie wir das Zu- Fraktion Die Linke abgelehnt. sammenleben in einer älteren Gesellschaft gestalten Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in wollen und welche Formen es gibt. Deswegen ist es sehr der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- (B) wichtig, dass wir mit dieser Pflegereform das Poolen (D) zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der von Leistungen möglich machen, dass wir Modellpro- Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den jekte realisieren, dass wir im Rahmen anderer Projekte Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposi- nach Alternativen zwischen der rein ambulanten und der tion angenommen. rein stationären Pflege suchen, Dritte Beratung (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: So ist es!) und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – um solche neuen Formen des Zusammenlebens zu erpro- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- ben. wurf ist damit in dritter Beratung mit den Stimmen der Ich fasse zusammen: Wie viele andere Kollegen von Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenom- der Unionsfraktion werde ich diesem Gesetzentwurf zu- men. stimmen, weil wir die Verbesserung der Leistungen für Wir kommen damit zur Abstimmung über drei Ent- demenziell Erkrankte und auch die Steigerung der Trans- schließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungs- parenz in den Pflegeheimen nicht davon abhängen lassen antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/8528? – können, ob sich bei unserem Koalitionspartner endlich Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschlie- die notwendige Einsicht durchsetzt. Von daher gehe ich ßungsantrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses bei heute diesen wichtigen Schritt mit. Klar ist aber auch, Gegenstimmen der FDP abgelehnt. dass noch wichtigere Schritte im Sinne der Zukunftsfä- higkeit dieses Systems zu tun bleiben. Vielleicht gelingt Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak- es uns irgendwann – entweder durch Einsicht oder durch tion Die Linke auf Drucksache 16/8527? – Gegenprobe! – neue Mehrheiten in diesem Deutschen Bundestag –, diese Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit den Schritte zu tun. Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und Gegenstimmen der (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der Linken abgelehnt. SPD: Das wollen wir auch!) Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak- tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8529? – Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschlie- Ich schließe die Aussprache. ßungsantrag ist ebenfalls mit den Stimmen der Fraktio- 16012 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) nen der SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 a und 24 b auf: (C) der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Fraktion Die Linke abgelehnt. Ernst, Dr. Lothar Bisky, Dr. Martina Bunge, wei- Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussemp- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE fehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksa- Riester-Rente auf den Prüfstand stellen che 16/8525 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 sei- – Drucksache 16/8495 – ner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/7136 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) mit dem Titel „Finanzielle Nachhaltigkeit und Stärkung Finanzausschuss der Verbraucher – Für eine konsequent nutzerorientierte Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Pflegeversicherung“. Wer stimmt für diese Beschluss- Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Frak- b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- tionen der SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Fraktion Die Linke angenommen. Volker Schneider (Saarbrücken), Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Fraktion DIE LINKE der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Wiedereinführung der Lebensstandardsiche- Die Linke auf Drucksache 16/7472 mit dem Titel „Für rung in der gesetzlichen Rente eine humane und solidarische Pflegeabsicherung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt – Drucksachen 16/5903, 16/6921 – dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung Berichterstattung: ist mit den Stimmen der Fraktionen der SPD, CDU/CSU Abgeordneter Peter Weiß (Emmendingen) und FDP bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Grünen und Gegenstimmen der Fraktion Die Linke an- Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen genommen. Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 4 seiner Ich würde jetzt gern die Aussprache eröffnen und Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8525 die Ab- bitte die Kolleginnen und Kollegen, ihre Gespräche au- (B) lehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Druck- ßerhalb des Saales zu führen. (D) sache 16/7491 mit dem Titel „Für eine zukunftsfest und Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege generationengerecht finanzierte, die Selbstbestimmung Klaus Ernst. stärkende, transparente und unbürokratische Pflege“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- Winkelmeier [fraktionslos]) fehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses bei Ge- genstimmen der FDP angenommen. Klaus Ernst (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 5 sei- Herren! Angesichts der Rentenpolitik der Bundesregie- ner Beschlussempfehlung, eine Entschließung anzuneh- rung verstehe ich, dass so viele Koalitionäre den Raum men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer verlassen. stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- Die Ergebnisse dieser Politik sind leicht zusammen- fehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, zufassen: 2003: Rentenerhöhung null; 2004: Renten- SPD und CDU/CSU bei Gegenstimmen der Fraktionen erhöhung null; 2005: Rentenerhöhung null; 2006: Renten- Bündnis 90/Die Grünen und FDP angenommen. erhöhung null; 2007: plus 0,54 Prozent bei einer Zusatzpunkt 6. Beschlussempfehlung des Ausschus- Preissteigerung von 2,8 Prozent; zu 2008 kann ich auf- ses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion der FDP grund der neuesten Pressemeldungen nur sagen: Schleu- derkurs. mit dem Titel „Entbürokratisierung der Pflege vorantrei- ben – Qualität und Transparenz der stationären Pflege (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert erhöhen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- Winkelmeier [fraktionslos]) empfehlung auf Drucksache 16/6836, den Antrag der Die Rentner haben seit 2003 aufgrund der Preissteige- Fraktion der FDP auf Drucksache 16/672 abzulehnen. rungen real 10 Prozent weniger. Sie haben viele zusätz- Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer lichen Belastungen zu verkraften gehabt: den allein zu stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- finanzierenden zusätzlichen Krankenkassenbeitrag, un- fehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, ter anderem für Krankengeld, das ein Rentner per Defi- SPD und CDU/CSU bei Enthaltung der Fraktion Bünd- nition gar nicht mehr beziehen kann, Zuzahlungen, die nis 90/Die Grünen und Gegenstimmen der Fraktion der Praxisgebühr von 10 Euro pro Quartal usw. Das Ergeb- FDP angenommen. nis der Rentenpolitik der letzten Jahre lautet: Keine Re- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 16013

Klaus Ernst (A) gierung hat die Rentner so geschröpft wie Rot-Grün und (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert (C) Schwarz-Rot in den letzten Jahren. Keine Regierung hat Winkelmeier [fraktionslos] – Stefan Müller sich das zuvor getraut. [Erlangen] [CDU/CSU]: Sie sind ja unver- schämt!) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) Wir wollen es trotzdem einmal versuchen: Sie prognosti- zieren für 2030 einen Rentenbeitrag in Höhe von Aber jetzt bekommen Sie kalte Füße. Heute vor fünf 22 Prozent. Paritätisch finanziert würde das bedeuten, Jahren ist die Agenda 2010 verkündet worden. Jetzt, dass der Arbeitnehmer 11 Prozent zahlt. Inzwischen fünf Jahre später, wollen Sie die Dämpfung, die durch weiß man aber, dass man von seiner Rente nicht wird le- die sogenannte Riester-Reform verursacht wurde, aus- ben können. Deshalb muss ein Arbeitnehmer, wenn er setzen. Inzwischen haben Sie einen neuen Kürzungsfak- seinen Lebensstandard im Alter halten will, mit ungefähr tor eingeführt, den Nachhaltigkeitsfaktor. Fünf Jahre 6 Prozent seines Einkommens privat vorsorgen. Sein nach Einführung des Nachhaltigkeitsfaktors wollen Sie Beitrag ist also überhaupt nicht stabil. Sein Beitrag liegt den Riester-Faktor außer Kraft setzen. Bei diesem Grad bei 11 plus 6 gleich 17 Prozent. an Verwirrung erscheint die Aufnahme der Demenzkran- ken in die Pflegeversicherung in einem ganz neuen Wenn man den Beitragssatz, den die Arbeitgeber zah- Licht. len sollen – er beträgt 11 Prozentpunkte –, berücksich- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert tigt, kommt man zu dem Ergebnis: Nach Ihren Vorstel- Winkelmeier [fraktionslos] – Dr. Heinrich L. lungen würde der Beitragssatz zur Rentenversicherung Kolb [FDP]: Das ist wirklich unerhört!) im Jahr 2030 bei 28 Prozent liegen. Außerdem wäre er dann nicht mehr paritätisch finanziert. Die Arbeitgeber Die Aussetzung dieses Dämpfungsfaktors ist aber viel müssten einen Beitragssatz von 11 Prozentpunkten und zu wenig. Wir wollen und beantragen, dass alle Dämp- die Arbeitnehmer einen Beitragssatz von 17 Prozent- fungsfaktoren in der Rente abgeschafft werden. Wir wol- punkten zahlen. Wir hingegen wollen, dass der Beitrags- len, dass die Renten wieder der Lohnentwicklung in satz zur Rentenversicherung, den die Arbeitnehmer zu diesem Land folgen, was Sie verhindert haben, zahlen haben, nicht in diesem Maße steigt. Außerdem wollen wir, dass er nach wie vor paritätisch finanziert (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert wird. Winkelmeier [fraktionslos]) (Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE und wir wollen, dass die gesetzliche Rente wieder den LINKE]) Lebensstandard sichert. Man hatte immer den Eindruck, (B) dass die Riester-Rente die Kürzung der gesetzlichen Unser Vorschlag hätte zur Folge, dass der Beitragssatz, (D) Rente ausgleichen soll. Dazu ein Zitat von Herrn Riester den die Arbeitnehmer zu zahlen hätten, um 3 Prozent- aus dem Jahr 2007: punkte geringer wäre, als er es nach Ihren Vorstellungen wäre. Das ist die Wahrheit. Nein, bei mir ging es nie darum, Defizite der So- zialversicherungsrente auszugleichen. Ich habe die (Beifall bei der LINKEN – Sozialversicherungsrente nicht als eine Rente ange- [SPD]: Das ist vorenthaltender Lohn! Das wis- sehen, die den Lebensstandard im Alter sichert, da sen Sie doch ganz genau!) habe ich mich völlig unterschieden von Norbert Blüm. Meine Damen und Herren, jetzt möchte ich mich noch ein wenig mit der Riester-Rente beschäftigen. Inzwischen stehen wir Herrn Blüm näher als Sie. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Die (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert wollen Sie doch abschaffen! Warum beschäfti- Winkelmeier [fraktionslos]) gen Sie sich denn dann überhaupt noch da- Sie zweifeln an der Finanzierbarkeit unserer An- mit?) träge. Ich empfehle Ihnen, unsere Anträge bis zum Ende Es gibt folgendes Problem: Sie subventionieren mit vie- zu lesen; dann wissen Sie nämlich auch, wo das Geld len Milliarden Euro eine Reform, von der wir noch gar herkommen soll. Sie formulieren ein Dogma: Die Bei- nicht wissen, wie sie wirkt. Welche Wirkungen sie für träge für die gesetzliche Rentenversicherung sollen nicht eine Verkäuferin, die 1 000 Euro verdient, hat, das wis- steigen. Sie behaupten, die Linke fordere einen Bei- sen wir allerdings. tragssatz in Höhe von 28 Prozent, und tun so, als würde der Beitragssatz im Jahr 2030 anders aussehen, wenn Wenn man die Situation zweier Verkäuferinnen, von man Ihrem Konzept folgen würde. denen eine riestert und eine nicht riestert, vergleicht, (Andrea Nahles [SPD]: Das ist keine Behaup- kommt man zu folgendem Ergebnis: Sagen wir, beide tung, das ist eine Tatsache!) Frauen beziehen, wenn sie entsprechend wenig verdie- nen, eine gesetzliche Rente von 400 Euro. Diejenige, die Dem wollen wir uns jetzt einmal mathematisch nä- geriestert hat, erhält 50 Euro mehr. Letztlich bekommen hern, auch wenn ich weiß, dass es bei Ihnen mit der Ma- beide Verkäuferinnen eine Grundsicherung in Höhe von thematik schwierig ist; das sieht man ja an der Mehr- circa 650 Euro. Das bedeutet, dass die Frau, die geries- wertsteuer. tert hat, von ihrer Riester-Rente überhaupt nichts hat. 16014 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008

Klaus Ernst (A) (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das der Beitragssätze zu halten! Ich frage mich (C) stimmt doch gar nicht! So ein Unsinn!) wirklich, wie Sie das alles bezahlen wollen, was Sie da fordern!) Weil Sie die Riester-Rente, obwohl Sie das wissen, för- dern und den Leuten nicht sagen, dass sie davon nichts haben, stellen wir fest: Das, was Sie hier betreiben, ist Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: organisierter Anlagebetrug. Nächster Redner ist der Kollege Peter Weiß, CDU/ CSU-Fraktion. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] – Michael (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Hennrich [CDU/CSU]: Das wird ja immer Andrea Nahles [SPD]) abenteuerlicher, was Sie da erzählen!) Millionen von Menschen werden zu den privaten Ver- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): sicherungskonzernen gedrängt, obwohl sie nicht wissen, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! was am Ende für sie herauskommt. Das Einzige, das wir Manch einer wird verwundert gewesen sein, welch toller schon heute wissen, ist, wer mit Sicherheit an der Rechenkünstler gerade geredet hat. Riester-Rente verdient: die private Versicherungswirt- ( [CDU/CSU]: Unverant- schaft. wortlich war das! – Weiterer Zuruf von der (Frank Spieth [DIE LINKE]: Ja! So ist das!) CDU/CSU: Oh ja! Vor allem darüber, wie laut er geredet hat!) Diese Branche macht aufgrund der Riester-Rente große Gewinne. Im Jahre 2001 befanden sich die Versiche- Das war sagenhaft verwirrend. Daher will ich Ihnen sa- rungsunternehmen noch in einer Krise. Inzwischen wis- gen, was die Forderung der Linken im Ergebnis bedeu- sen sie gar nicht mehr, wohin mit ihrem Geld. ten würde: (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Jan (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ja! Sagen Mücke [FDP]: Interessant! Dann müssen wir Sie es: Alles Populismus!) wohl eine Versicherungssondersteuer einfüh- Das, was hier vorgetragen und beantragt wurde, hätte zur ren! Was halten Sie davon?) Folge, Meine Damen und Herren, mit der Aussetzung des (Frank Spieth [DIE LINKE]: Reiner Riester-Faktors für die Dauer von zwei Jahren sind Sie Populismus!) insofern auf dem richtigen Weg, als die Renten dadurch (B) geringfügig steigen werden, allerdings so geringfügig, dass der Beitragssatz zur Rentenversicherung in einem (D) dass die Rentner im Jahre 2008 wieder weniger Geld be- Schritt auf 28 Prozentpunkte in die Höhe schnellen kommen werden als im Jahr zuvor. würde. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Bei (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Ja! Ihnen hätten sie auch nicht mehr!) Unglaublich!) Um das zu vermeiden, reicht es nicht aus, nur den Den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutsch- Riester-Faktor auszusetzen. land würden dadurch 80 Milliarden Euro zusätzlich ab- geknöpft, Sie wissen ganz genau, dass die Bürger in diesem Lande das nicht länger hinnehmen. Die Aussetzung des (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Riester-Faktors für zwei Jahre ist nichts anderes als ein Abgezockt geradezu!) wahltaktisches Manöver, und zwar mit steigender Tendenz. (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Genau! Das ganze System, das Sie vorschlagen, ist ein ein- ist die Wahrheit!) ziges wahltaktisches Manöver!) Das ist das Ergebnis dessen, was hier gerade vorgetragen das Sie betreiben, weil Sie merken, dass Sie bei Wahlen worden ist. eins auf die Mütze kriegen. Das ist die Wahrheit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. (Beifall bei der LINKEN) Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich komme zum Schluss. Wir werden Sie in der Ren- NEN]) tenpolitik weiter vor uns hertreiben. Ich garantiere Ih- Diejenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die nen: Sie werden noch vieles machen, was in unserem diesen sagenhaft hohen Beitragssatz zur Rentenversiche- Sinne ist, auch dann, wenn Sie es gar nicht wollen. rung – wie gesagt, mit steigender Tendenz – zahlen Ich danke Ihnen fürs Zuhören. müssten, könnten sich noch nicht einmal sicher sein, dass sie dafür im Alter eine Rente in entsprechender (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Höhe bekommen. Winkelmeier [fraktionslos] – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nach Ihrem (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ha, ha! Das ist Modell ist doch noch nicht einmal die Höhe wirklich gut!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 16015

Peter Weiß (Emmendingen) (A) Im Gegenteil, ihr Rentenanspruch würde sogar sinken. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) Deswegen sage ich Ihnen: Der Rentenklau hat einen Na- neten der SPD) men, und er sitzt in diesem Hause linksaußen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: neten der SPD – Lachen bei der Linken) Herr Kollege Weiß, der Kollege Ernst würde gerne eine Zwischenfrage stellen. Damit kein Rentenklau stattfindet, sondern auch in Zukunft der Lebensstandard im Alter gesichert ist, haben Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): wir das Alterssicherungssystem in Deutschland vor eini- Das darf er machen, und er darf mir auch seine neuen gen Jahren auf ein Dreisäulensystem umgestellt: Rechenbeispiele vortragen. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ja! Rot-Grün! Wir waren das!) Klaus Ernst (DIE LINKE): Danke, Herr Weiß. – Würden Sie mir zustimmen, gesetzliche Rentenversicherung, betriebliche Altersvor- dass der Mensch, der im Jahre 2030 seinen Lebensstan- sorge und private, kapitalgedeckte Altersvorsorge. dard mit gesetzlicher Rente und mit privater Vorsorge si- chern will, auf einen Beitragssatz von insgesamt unge- (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- fähr 17 Prozent kommt? NEN]: Rot-Grün hat das gemacht!) (Zuruf von der CDU/CSU: Wie soll das denn Warum haben wir das gemacht? Wir stehen in funktionieren?) Deutschland vor der riesigen Aufgabe, die demografi- sche Veränderung zu bewältigen. Die sogenannten ge- Würden Sie mir zweitens zustimmen, dass das Pro- burtenstarken Jahrgänge – das sind die Leute, die heute blem der demografischen Entwicklung nicht nur die ge- zwischen 35 und 55 Jahre alt sind – wollen, wenn sie in setzlich Versicherten, sondern auch die privat Versicher- 10, 20, 30 Jahren in Rente gehen, eine anständige Rente ten betrifft? bekommen. Würden Sie mir drittens zustimmen, dass es ange- (Frank Spieth [DIE LINKE]: Ihr tretet ihnen in sichts dessen, dass das Institut für Makroökonomie und den Hintern!) Konjunkturforschung festgestellt hat, dass der Auf- schwung nur bei den Unternehmen ankommt, sinnvoll Hinzu kommt, dass genau diese geburtenstarken Jahr- wäre, die Unternehmen wieder paritätisch zur Finanzie- gänge bis zu fünf Jahre länger als die heutigen Rent- rung der Rente heranzuziehen? (B) nerinnen und Rentner Rente beziehen werden, weil die (D) Lebenserwartung – erfreulicherweise – deutlich steigt. (Beifall bei der LINKEN)

Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen: Der ge- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): burtenstärkste Jahrgang ist der Jahrgang 1964. Die im Herr Kollege Ernst, wenn Sie sich einmal die Mühe Jahr 1964 Geborenen werden 2029 65 Jahre alt sein. machen, den letzten Altersvorsorgebericht der Bundes- Dieser Jahrgang wird dann den Schätzungen nach regierung zu lesen, 1,334 Millionen Menschen umfassen. Die im Jahr 2004 Geborenen, die dann 25 Jahre alt sein werden und die (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das hoffentlich im Berufsleben stehen und Steuern und So- wäre für ihn viel zu anstrengend! – Klaus zialversicherungsbeiträge zahlen werden, werden nur Ernst [DIE LINKE]: Ich habe ihn gelesen!) 775 000 Menschen umfassen. 1,334 Millionen zu werden Sie feststellen, dass die Experten sagen, dass 775 000, dieser Vergleich zwischen nur zwei Geburts- derjenige, der das Dreisäulenmodell praktiziert, der ge- jahrgängen zeigt überdeutlich, wie radikal sich die Al- setzliche Rente mit betrieblicher Altersvorsorge und mit tersstruktur unseres Landes verändern wird. Darauf privater, kapitalgedeckter Altersvorsorge, etwa einer muss man als Rentenpolitiker eine Antwort geben. Riester-Rente, kombiniert, davon ausgehen kann, dass er (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf des Abg. ein Versorgungsniveau wie die heutigen Rentnerinnen Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]) und Rentner erreicht. Die Geringverdienenden werden dieses Versorgungsniveau eher erreichen und es sogar Die Antwort kann nur lauten: Unser Rentensystem übertreffen können. Das sind Aussagen des Altersvor- muss einen gerechten Ausgleich finden zwischen dem, sorgeberichts. Experten haben das durchgerechnet, nicht was wir den Älteren, die in Rente gehen, zugestehen politische Schaumschläger wie Sie. wollen, und dem, was die Jungen in die Rentenkasse ein- (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das war zahlen müssen. Das bedeutet in einem umlagefinanzier- aber ein unparlamentarischer Ausdruck!) ten Rentensystem, in dem die Jungen für die Alten zah- len, dass das Niveau der Rente sinken muss, damit der Es überfordert die Linke intellektuell, einzusehen Beitrag nicht in exorbitante Höhen wie 28 Prozent oder, – das ist der entscheidende Denkfehler –, dass die um- wie es Prognos für das Jahr 2030 vorausgesagt hat, lagefinanzierte Rente, bei der die Jungen in die Renten- 36 Prozent oder gar 41 Prozent steigt. Das ist das kasse einzahlen, damit die Alten die Rente bekommen, Schreckgespenst, vor dem die Menschen in Deutschland auf die sie in ihrem Erwerbsleben einen Anspruch er- stehen. worben haben, ein riesiges Demografieproblem hat, 16016 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008

Peter Weiß (Emmendingen) (A) wenn viele Alte und wenige Junge da sind. Die kapital- brauchen. Riester lohnt sich auch und erst recht für den, (C) gedeckte Altersvorsorge – die betriebliche Altersvor- der wenig verdient. sorge genauso wie der Riester-Sparvertrag – bedeutet, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dass ich, dass Sie, dass jeder von uns für sich, auf seinem neten der SPD – Dr. Diether Dehm [DIE Konto, etwas für seine Altersvorsorge anspart und später LINKE]: Das sieht Herr Dr. Blüm ganz an- nicht die Jungen, die arbeiten, belastet. Deswegen sind ders!) die von uns vorgenommenen Umstellungen im Alters- vorsorgesystem in Deutschland die richtige Antwort auf Gleichzeitig stärken wir auch die gesetzliche Rente; die demografischen Bedingungen. Ihr Vorhaben, alle denn sie wird auch in Zukunft die wichtigste Säule der Lasten auf die junge Generation zu verschieben, ist ein Altersvorsorge bleiben. Die Rentnerinnen und Rentner Betrug an dieser Generation. fordern von uns zu Recht die Chance, auch am wirt- schaftlichen Aufschwung teilzuhaben, zumal zusätzliche (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Belastungen auf sie zukommen wie die soeben beschlos- neten der SPD) sene Erhöhung des Pflegeversicherungsbeitrages um Aber zurück zu meiner Rede: 0,25 Prozentpunkte ab 1. Juli bei einer entsprechenden Ausweitung der Versicherungsleistungen. (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Er hat ja noch nicht geantwortet! – Klaus Ernst [DIE Deshalb will die Große Koalition zusätzliche Leistun- LINKE]: Ich habe noch eine dritte Frage ge- gen für die Renterinnen und Rentner einführen. Wir wol- stellt!) len, dass die Rentnerinnen und Rentner am 1. Juli dieses Jahres eine angemessen Rentenerhöhung erhalten, damit Entscheidend ist, dass wir bei einer Umstellung unseres auch sie am wirtschaftlichen Aufschwung in unserem Altersvorsorgesystems die Arbeitnehmerinnen und Ar- Land partizipieren können. beitnehmer nicht alleine lassen. Wir müssen ihnen mit konkreter staatlicher Hilfe helfen, damit private kapital- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – gedeckte Altersvorsorge für sie kein Fremdwort ist, son- Klaus Ernst [DIE LINKE]: Was ist angemes- dern dass sie diese Chance nutzen können. sen? Die Hälfte der Lohnerhöhungen?) (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Herr Blüm Es ist interessant, dass ausgerechnet die Linke – wie nennt das Betrug!) Herr Ernst in seiner Rede – dies wieder verteufelt. Ich bin der Überzeugung, dass eine angemessene Renten- Dabei ist die Große Koalition, wie ich finde, einen sehr erhöhung zum 1. Juli 2008, die die Große Koalition jetzt konsequenten Weg gegangen. auf den Weg bringt, damit die Rentnerinnen und Rentner (B) Erstens hat die Große Koalition die Entgeltumwand- am wirtschaftlichen Aufschwung partizipieren können, (D) lung zur Altersvorsorge dauerhaft steuer- und sozial- eine gute und richtige Entscheidung ist. Es ist ein positi- abgabenfrei gestellt. Davon profitiert der weitere not- ves Signal für die Rentnerinnen und Rentner in unserem wendige Aufbau der betrieblichen Altersvorsorge. Schon Land. heute haben 65 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Ar- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) beitnehmer in Deutschland einen Betriebsrentenan- spruch. Wir tragen mit dieser Entscheidung konkret dazu bei, dass sich der Anteil weiter erhöht und diese Säule Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: der Altersvorsorge entsprechend stabilisiert wird. Herr Kollege Weiß, der Kollege Dehm möchte auch eine Zwischenfrage stellen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Zweitens hat diese Große Koalition die private kapi- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): talgedeckte Altersvorsorge noch attraktiver gemacht. Auch der Herr Kollege Dehm möchte später eine Gegenwärtig haben bereits 11 Millionen Menschen ei- Rente bekommen. nen Riester-Sparvertrag und es werden täglich mehr. Denn seit diesem Jahr steigt beim Riester-Sparvertrag Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): der staatliche Förderbetrag pro Kind auf 300 Euro jähr- Herr Kollege, können Sie erklären, warum Herr lich. Dr. Norbert Blüm in der Riester-Rente einen völligen Als Neuerung planen wir, dass auch der Erwerb von Bruch mit dem Solidarprinzip sieht, oder gehört er auch Wohneigentum zur Altersvorsorge gefördert wird, dass zu denjenigen, die nur verteufeln? junge Leute eine Einstiegsprämie von 100 Euro erhalten (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE und dass Erwerbsgeminderte ebenfalls die staatliche GRÜNEN]: Fragen Sie doch den Blüm!) Förderung für private Altersvorsorge erhalten können. Herr Ernst hat auf die Parität der bisherigen jeweils Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): hälftigen Finanzierung der Rentenversicherungsbeiträge Ich kann Ihnen die Frage beantworten. Zuerst einmal durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber hingewiesen. Dem gebührt Norbert Blüm Anerkennung dafür, dass er 1992 halte ich entgegen: Wenn wir für Niedrigverdiener bei die größte Rentenreform, die es in Deutschland gegeben der Riester-Rente eine staatliche Förderquote von bis zu hat, was das finanzielle Ausmaß anbelangt, durchgeführt 90 Prozent ermöglichen, dann ist das überparitätisch und hat. Er hat Maßnahmen eingeleitet, die dazu geführt ha- kommt gerade denjenigen zugute, die es am nötigsten ben, dass der Rentenversicherungsbeitrag – entgegen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 16017

Peter Weiß (Emmendingen) (A) dem, was die Linken wollen – nicht in astronomische Mauer gefallen ist. Deshalb ist das leider weitgehend aus (C) Höhen steigt, dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Tatsache ist, dass damals gesagt wurde: Machten wir den Umbau (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Damals von der bruttobezogenen Rente hin zur nettobezogenen waren es 28 Prozent!) Rente einschließlich weiterer Rentenkürzungen nicht, sondern dass der Anstieg gedämpft wird. Norbert Blüm kämen wir auf die Beitragssätze, die Sie vorhin beschrie- hat 1987 bei Prognos in Basel eine Studie in Auftrag ge- ben haben, nämlich auf bis zu 36 Prozent. Aber Sie ha- geben, die untersuchen sollte, was mit der gesetzlichen ben peinlichst verschwiegen, dass man damals bereit Rente passiert, wenn man alles, was damals gegolten war – das wurde vom gesamten Haus festgelegt –, eine hat, weiterlaufen lässt. Prognos hat ihm damals folgende lebensstandardsichernde, nettobezogene Rente mit ei- Zahlen präsentiert: Wenn wir nichts tun nem Rentenversicherungsbeitrag in Höhe von 28 Pro- zent zu finanzieren. Ist das zutreffend oder nicht? (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Haben Sie meine Frage verstanden?) (Beifall bei der LINKEN – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das weiß er nicht mehr!) – darauf antworte ich gerade –, dann steigt der Renten- versicherungsbeitrag bis zum Jahr 2030 auf mindestens 36 Prozent, wahrscheinlich sogar auf 41 Prozent. Als Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Konsequenz wurde in diesem Haus 1992 die von Herr Kollege Spieth, ich wiederhole, was ich vorhin Norbert Blüm initiierte Rentenreform beschlossen, die vorgetragen habe: Das Hauptproblem bei einem Renten- dieses für die jungen Menschen, die arbeiten gehen und versicherungsbeitrag in Höhe von 28 Prozent und mehr Geld verdienen, schreckliche Szenario verhindert hat. wäre, dass den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, Norbert Blüm gebührt Dank dafür, dass er die bislang die einen solch astronomisch hohen Rentenversiche- konsequenteste Rentenreform in Deutschland durchge- rungsbeitrag zahlen müssten, angesichts der demografi- führt hat. schen Entwicklung für ihren späteren Ruhestand kein Äquivalent, also eine diesem Beitrag entsprechende Zu Recht hat Norbert Blüm aber auch die Sorge, dass Rente, zugesagt werden kann. Deswegen war und bleibt Menschen, die wenig verdient haben und lange Ausfall- es richtig, dass wir unser Rentensystem zu einem Dreisäu- zeiten haben, bei sinkendem Rentenniveau eine Rente lensystem umbauen, das die Umlagefinanzierung – die erhalten, die zum Leben nicht mehr reicht. Hier gebe ich Jungen zahlen für die Alten – mit der kapitalgedeckten ihm Recht. Wir werden sicherlich auch eine Form der Altersvorsorge – die Jungen sparen für ihr Alter an – Absicherung nach unten für künftige Generationen in kombiniert. Das ist und bleibt die einzig richtige Ant- unserem Rentensystem benötigen. Ein sinkendes Ren- wort, auch wenn die Linke das nicht mag. (B) tenniveau darf nicht zur Folge haben, dass Menschen in (D) Altersarmut geraten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Frank Spieth [DIE LINKE]: Das ist keine Ant- (Beifall bei der CDU/CSU) wort auf meine Frage!) Meine sehr geehrten Damen und Herren, um es zu- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sammenzufassen: Was hier von links beantragt wird, ist Herr Kollege Weiß, der Kollege Spieth würde gerne nichts anderes als eine Rolle rückwärts in der Rentenpo- eine Zwischenfrage stellen. litik.

Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. [DIE LINKE]: Das ist richtig! – Frank Spieth Frau Präsidentin, ich beantworte gerne alle Fragen. [DIE LINKE]: Richtung Sozialstaat!) Aber vielleicht sollten wir den Kollegen von der Links- fraktion ein Rentenseminar anbieten. Diese Rolle rückwärts bewirkt Folgendes: Erstens. Sie zerstört die Solidarität der Generationen. Was die Linken (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) wollen, ist Kampf der Generationen gegeneinander und nicht solidarischer Ausgleich. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Es ist Ihnen unbenommen, ihnen das anzubieten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Zweitens. Was hier beantragt wird, schafft nicht soziale Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Gerechtigkeit, sondern zerstört sie. Bitte schön, Herr Spieth. Das Drei-Säulen-Modell der Altersvorsorge schafft Gerechtigkeit unter den Generationen; die Rolle rück- Frank Spieth (DIE LINKE): wärts ist die Abschaffung dieser Gerechtigkeit. Eine Da ich in der Selbstverwaltung der gesetzlichen Ren- Rolle rückwärts in der Rentenpolitik würde schlichtweg tenversicherung tätig war und Seminare im Rentenversi- einen Betrug an der jungen Generation bedeuten, aber cherungsrecht gemacht habe, könnten wir uns dann in- nicht nur an ihr, sondern letztlich auch an der älteren. tensiv austauschen. – Herr Kollege Weiß, in der Tat Deswegen sage ich: Das Drei-Säulen-System der Alters- wurde eine Rentenreform auf der Grundlage einer Pro- vorsorge ist alternativlos, wenn wir der doppelten demo- gnos-Studie aus dem Jahre 1987 durchgeführt, und zwar grafischen Herausforderung begegnen wollen, die auf am 9. November 1989, also an dem Tag, an dem die uns zukommt und die die Linken gerne leugnen, so wie 16018 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008

Peter Weiß (Emmendingen) (A) sie vieles gerne leugnen und den Leuten nicht die Wahr- gab. Auf der anderen Seite geht es aber auch um eine (C) heit sagen. deutliche Kostensteigerung. Hierzu muss ich feststellen: Die Rentnerinnen und Rentner in diesem Lande büßen (Lachen bei der LINKEN – Volker Schneider für eine falsche Politik der Bundesregierung. [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Das sagen ge- rade Sie! Das ist unglaublich! – Klaus Ernst (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) [DIE LINKE]: Wie gut, dass hier Zuschauer sind! – Weitere Zurufe von der LINKEN) Die Bundesregierung hat die auch von den Rentnern zu zahlende Mehrwertsteuer drastisch erhöht und damit – So ist es. die Inflation hochgetrieben. Die Krankenkassenbeiträge Das Dreisäulensystem ist die einzig richtige Antwort steigen; die Pflegeversicherungsbeiträge werden zum auf die demografische Herausforderung, die vor uns 1. Juli dieses Jahres angehoben. Von der Senkung des steht. Mit dem, was wir mit zusätzlicher staatlicher Hilfe Arbeitslosenversicherungsbeitrages profitieren die Rent- für die private kapitalgedeckte Altersvorsorge auf den ner nicht. Die Energiekosten galoppieren davon und be- Weg gebracht haben und weiter auf den Weg bringen, lasten auch die Rentnerhaushalte. Das ist nicht akzepta- also mit der Stärkung der betrieblichen Altersvorsorge, bel, und diese Entwicklung hat die Bundesregierung zu verhindern wir Altersarmut, mit dem schaffen wir Si- verantworten. cherheit im Alter, auch für die Zukunft. (Beifall bei der FDP und der LINKEN) Vielen Dank. Angesichts dessen stellen Sie sich hier hin, Herr (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Weiß, und sagen: Wir wollen, dass sie jetzt eine ange- messene Erhöhung bekommen. – Ich zitiere Ihren Frak- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: tionsvorsitzenden Kauder: Eine Rentenerhöhung von Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Heinrich Kolb, 0,4 Prozent wäre für viele äußerst unbefriedigend, weil FDP-Fraktion. damit nicht einmal die Inflation ausgeglichen würde. – Wissen Sie denn, Herrn Weiß, wie hoch die Inflations- (Beifall bei der FDP) rate, prognostiziert durch die Bundesregierung im Ja- nuar, in diesem Jahr sein wird? 2,3 Prozent. Und jetzt Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): kommt vielleicht eine Rentenanpassung von 1 Prozent Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! heraus. Ist das angemessen, Herr Weiß, was Sie hier vor- Ich halte es für bemerkenswert, was heute Morgen hier haben? Das ist es doch keinesfalls. passiert. Am Ende dieser Sitzung wird sich der Deutsche (Beifall bei der FDP und der LINKEN – Abg. (B) Bundestag in die Osterpause verabschieden. Die Ticker- (D) Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU] mel- meldungen überschlagen sich, die Bundesregierung det sich zu einer Zwischenfrage) wolle an der Rentenformel Veränderungen vornehmen. Aber hier wird bislang diese Tatsache mit keinem Wort – Ich lasse die Zwischenfrage des Kollegen natürlich zu. angesprochen. (Beifall bei der FDP) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich halte es auch für ein Unding, dass der zuständige Herr Kolb, ich wollte Sie gerade fragen, ob Sie diese Minister, der für heute Mittag um 14.30 Uhr zu diesem Zwischenfrage zulassen. Thema eine Pressekonferenz angesetzt hat, nicht die Ge- legenheit nutzt, heute Morgen hier im Deutschen Bun- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): destag seine Pläne vorzustellen und uns zu informieren. Ich freue mich darauf. So geht das nicht. (Frank Spieth [DIE LINKE]: Jetzt kommt der (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem Rechenkünstler!) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das muss man hier wirklich sehr deutlich sagen. Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): (Frank Spieth [DIE LINKE]: Wo er recht hat, Da Sie, Herr Kollege Dr. Kolb, als ehemaliger Staats- hat er recht!) sekretär die Rentenformel exakt kennen und wissen, dass es in der Rentenanpassung keinen Inflationsaus- – Wenn der Kolb recht hat, hat er recht; das ist zweifel- gleich gibt, so wie die Arbeitnehmerinnen und Arbeit- los der Fall. Und hier hat er recht. nehmer keinen Anspruch auf Inflationsausgleich haben, Ich will es unmissverständlich sagen: Auch für uns ist sondern in Tarifverhandlungen ihre Gehaltserhöhungen nicht akzeptabel, dass die Rentner in diesem Lande in ih- erkämpfen müssen, frage ich Sie erstens: Ist die FDP rer Einkommensentwicklung dauerhaft hinter der Kauf- willens und bereit – und mit welcher Rentenformel und preisentwicklung zurückbleiben, also real an Kaufkraft wie finanziert? –, den Rentnerinnen und Rentnern zum verlieren. Das ist nicht akzeptabel. 1. Juli 2008 einen vollen Inflationsausgleich zu geben? Aber Kaufkraftverlust hat zwei Seiten. Eine ist die in Zweitens: Warum machen Sie bei unserem Vorhaben, den letzten Jahren sicherlich in sehr geringem Maße vor- wenigstens eine einigermaßen angemessene Rentenerhö- genommene Rentenanpassung, wenn es überhaupt eine hung zum 1. Juli 2008 zu ermöglichen, nicht mit? Wa- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 16019

Peter Weiß (Emmendingen) (A) rum schließen Sie sich der Großen Koalition in dieser (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) Frage nicht an? NEN]: Eine eigene Abgabenordnung für Rent- ner? Eine eigene Mehrwertsteuer für Rentner? (Andrea Nahles [SPD]: Gute Frage!) Das ist doch bekloppt!)

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Sie selbst, Herr Weiß, haben in der Vergangenheit Erstens, Herr Kollege Weiß, das Muster, das Olaf eine Rente nach Kassenlage immer ausgeschlossen. Scholz offensichtlich jetzt zur Blaupause erhoben hat, Aber was wir jetzt erleben, ist eine Rente nach Umfra- geht nicht. Man kann nicht den Leuten ein Kotelett zu- genlage. rückgeben, nachdem man ihnen vorher die Sau vom Hof (Jan Mücke [FDP]: Genauso ist es!) geholt hat, und dann noch Dankbarkeit erwarten. Das geht jedenfalls nicht. Offensichtlich hat der Bundesarbeitsminister angesichts der abstürzenden Umfragewerte der SPD, Frau Kollegin (Beifall bei der FDP und der LINKEN – Peter Nahles, kalte Füße bekommen, Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Dann schenken Sie uns doch das Kotelett!) (Beifall bei der FDP – Frank Spieth [DIE LINKE]: So ist es!) Zweitens – ich komme auf Ihre Frage, Herr Kollege Weiß –: Das Herumbasteln an der Rentenformel verbie- mit einer Rentenerhöhung von 0,5 Prozent vor die Men- tet sich aus unserer Sicht. Es ist nicht der richtige Weg, schen zu treten. Das ist doch der wahre Hintergrund. Das weil es das Vertrauen der Menschen in eine langfristig geht so nicht; das muss man wirklich sagen. Sie haben angelegte und verlässliche Rentenpolitik zerstört. Das den Überblick verloren. geht also auch nicht. Im letzten Jahr, Herr Kollege Weiß, haben Sie die (Beifall bei der FDP) Rentenbeiträge erhöht, obwohl es vermeidbar gewesen wäre. Wenn es – so verstehe ich das befristete Aussetzen des Riester-Faktors – darum gehen soll, die Menschen in (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ diesem Lande befristet zu entlasten – Menschen heißt DIE GRÜNEN]: Da hat er recht!) hier ganz konkret: die Rentnerinnen und Rentner –, dann Sie haben zugunsten des Bundeshaushaltes die Beiträge sollten Sie darüber nachdenken, wie man die Rentnerin- der Empfängerinnen und Empfänger von ALG II künst- nen und Rentner in diesem Lande von Energie- und Ver- lich um 2 Milliarden Euro reduziert. Wir hatten im Jahr brauchssteuern entlasten kann. Denn genau das sind 2007 einen Überschuss in Höhe von 1,2 Milliarden (B) Dinge, die die Menschen besonders treffen. Euro. Das heißt unter dem Strich: Wir hätten diese Ren- (D) (Beifall bei der FDP) tenerhöhung von 19,5 auf 19,9 Prozent nicht gebraucht. Hier könnten Sie nicht nur ein bisschen heilen, son- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ dern auch bewirken, dass die Menschen das Gefühl ha- DIE GRÜNEN]: Beitragserhöhung, meinen ben: Es wird zwar alles teurer, aber die Bundesregierung Sie? – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/ hat uns punktuell an dieser Stelle so gestellt, dass wir da- DIE GRÜNEN]: Beitragserhöhung!) von nicht betroffen sind. – Das wäre faire Politik gegen- In der Rentenformel wirkt diese Erhöhung so, dass die über den Rentnerinnen und Rentnern. Rentenanpassung reduziert wird. Deswegen wiederhole (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ich: Sie haben den Überblick verloren. Sie wissen nicht der LINKEN – Peter Weiß [Emmendingen] mehr, wie dieses komplizierte Räderwerk der Rentenfor- [CDU/CSU]: Sie wollen also Sozialtarife ein- mel ineinandergreift und wollen jetzt den Riester-Faktor führen?) für zwei Jahre aussetzen. – Nein, Herr Kollege Weiß, das, was Sie hier machen, ist (Beifall bei der FDP) nicht ehrlich. Ich sage noch einmal: Das ist Politik nach Umfrage- (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ich werten. Mit einer seriösen und verlässlichen Rentenpoli- frage, was Sie machen wollen!) tik hat das nichts zu tun. – Ich habe es Ihnen doch gesagt: Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: So- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten zialtarife einführen!) der LINKEN – Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Die Sozialpolitik der FDP auch Wir wollen eine gezielte Entlastung der Rentnerinnen nicht! – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/ und Rentner bei den Energie- und Verbrauchssteuern, DIE GRÜNEN]: Es geht hier um Beitragser- weil das wirklich bei denen ankommen würde, denen ge- höhung, nicht um Rentenerhöhung!) holfen werden soll. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat der Kollege Gregor Amann, SPD. Wir wollen kein Herumbasteln an der Rentenformel. Das ist wirklich ein Ding. (Beifall bei der SPD) 16020 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008

(A) Gregor Amann (SPD): Sie berufen sich in Ihrem Antrag auf eine Studie der (C) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und OECD und stellen deren Aussagen auf den Kopf. Ja, das Herren! Die beiden vorliegenden Anträge der Linken Rentenniveau wird in den nächsten Jahren absinken, aber und den Redebeitrag von Kollegen Ernst kann man kurz die OECD-Studie wies gleichzeitig auch auf – Zitat – mit einem Satz zusammenfassen: Riester-Rente taugt „große Fortschritte“ bei der deutschen Rentenpolitik hin nichts – abschaffen! (Frank Spieth [DIE LINKE]: Sozialabbau!) (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Stimmt!) und lobte dabei ausdrücklich die Anhebung des Ren- tenalters auf 67 Jahre; denn die Erhöhung des Renten- Jetzt habe ich aber vor wenigen Tagen in Spiegel-Online einstiegsalters verringere den Druck, das Rentenniveau gelesen, dass die Kollegin Kipping von den Linken ein abzusenken. Die Studie sagt darüber hinaus, dass die Thesenpapier zur Rentenpolitik ihrer Partei verfasst hat. Kombination von gesetzlicher Rentenversicherung, Be- In diesem Thesenpapier steht – so Spiegel-Online –: triebsrente und privater Vorsorge sehr wohl dazu geeig- Kürzlich beschloss der Parteivorstand, das Thema net ist, Altersarmut zu verhindern. Rente zu einem der zentralen Kampagnenschwer- Wenn das Rentenniveau für kommende Generationen punkte zu machen. absinkt, dann ist die wahre Ursache dafür die dramati- Das findet auch die Kollegin Kipping richtig. Aber, so sche demografische Entwicklung in unserem Land, schreibt sie in diesem Papier laut Spiegel-Online: welche unser Umlageverfahren an seine Grenzen führt; denn das Zahlenverhältnis zwischen Rentenempfängern Dass dem Beschluss zur Rentenkampagne jedoch und Beitragszahlern verschlechtert sich kontinuierlich. kein Beschluss über ein Rentenkonzept der Partei Genau hier greift der von Ihnen kritisierte Nachhaltig- vorangegangen ist, ist mehr als nur ein Schönheits- keitsfaktor. Er koppelt nämlich den Rentenanstieg an das fehler. Zahlenverhältnis von Beitragszahlern zu Leistungsbezie- hern, und das ist auch sinnvoll; denn Einnahmen und (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Ausgaben stehen nun einmal in diesem System in einem Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wo sie recht hat, klaren Zusammenhang. hat sie recht!) Auf der einen Seite sagen Sie, Sie wollten die Riester- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Rente abschaffen, auf der anderen Seite sagt die stellver- Herr Kollege, Herr Kollege Schneider möchte gerne tretende Bundesvorsitzende Ihrer Partei, ihre Partei ver- eine Zwischenfrage stellen. füge überhaupt nicht über ein Rentenkonzept. Das (B) (D) kommt mir so vor, als wenn ich zum Arzt gehe und sage: Gregor Amann (SPD): „Herr Doktor, ich habe Brustschmerzen“ und der Arzt Bitte. sagt: Ich habe zwar keine Ahnung, woher die Schmerzen kommen, aber wir amputieren auf jeden Fall mal den (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rechten Arm. NEN]: Das Seminar geht weiter!)

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): Im Gegensatz zu den Linken hat die SPD ein Renten- Herr Kollege Amann, Sie haben eben die OECD-Stu- konzept. Walter Riester war nicht der einzige sozialde- die angesprochen. Nun enthält die OECD-Studie eine mokratische Arbeitsminister, der sich um die Sicherung Reihe von Daten und unter anderem die Aussage – das der Altersvorsorge verdient gemacht hat. Die Überwin- haben Sie eingeräumt –, dass das Rentenniveau sinkt, dung der Altersarmut gehört zu den großen Errungen- und zwar so stark, dass wir in der Kategorie der Gering- schaften unseres Sozialstaats. Ältere haben in Deutsch- verdiener auf dem letzten Platz und in den anderen Kate- land heute ein viel niedrigeres Armutsrisiko als die gorien immer jeweils im letzten Drittel liegen. Das sind meisten anderen gesellschaftlichen Gruppen. Natürlich die Fakten, die in diesem Bericht stehen. Wenn nun die- gibt es auch in Deutschland ältere Menschen, die in Ar- ser Bericht angesichts dieser Fakten zu dem Ergebnis mut leben, aber die Quote der Senioren, die auf Grundsi- kommt, dass die Bundesrepublik Deutschland Fort- cherung im Alter angewiesen sind – die Grundsicherung schritte macht, können Sie dann verstehen, dass wir als ist übrigens 2003 unter Bundeskanzler Gerhard Schröder Linke diese Wertung nicht als durch diese Fakten unter- eingeführt worden; darauf bin ich stolz –, beträgt heute mauert ansehen? Sie reden hier über eine Wertung der weniger als 3 Prozent. Noch in den 50er-Jahren, also vor OECD. Wes Geistes Kind die OECD ist, will ich nicht Einführung der dynamischen Rente, war das Armutsri- weiter ausführen. siko der Älteren mehr als doppelt so hoch wie das der (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Gesamtbevölkerung. Hätten Sie mal den Bericht richtig gelesen! Vollständig lesen!) (Frank Spieth [DIE LINKE]: Und in 20 Jah- ren?) Gregor Amann (SPD): Natürlich müssen wir darüber nachdenken, Herr Spieth, Kollege Schneider, Sie haben die OECD-Studie sehr wie wir diesen Erfolg sichern können und auch zukünf- selektiv gelesen. Es ist in der Tat richtig, dass die tig Altersarmut verhindern. OECD-Studie auf Risiken gerade bei Geringverdienern Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 16021

Gregor Amann (A) hinweist. Das ist vollkommen richtig und auch notwen- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ (C) dig, aber sie sagt eben auch – das habe ich ausgeführt –, DIE GRÜNEN]: Der Kollege Rohde spricht dass die Bundesregierung auf einem guten Weg ist und doch gleich!) dass das Dreisäulenmodell sehr wohl dazu geeignet ist, Altersarmut zu verhindern. Gregor Amann (SPD): (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Bitte, Herr Kollege Rohde.

Da ich gerade beim Nachhaltigkeitsfaktor war: Da im Jörg Rohde (FDP): vergangenen Jahr aufgrund des Aufschwungs die Zahl Vielen Dank, Herr Kollege Amann. der Beitragszahler durch den Rückgang der Arbeitslosig- keit stärker als die Zahl der Rentner angestiegen ist, hat (Andrea Nahles [SPD]: Herr Rohde, Sie haben der Nachhaltigkeitsfaktor dazu geführt, dass die Renten- doch noch Redezeit!) steigerung im vergangenen Jahr sogar größer war, als sie – Ja, ich weiß, ich stehe noch auf der Rednerliste. ohne den Nachhaltigkeitsfaktor gewesen wäre, Aber Sie haben leider nicht auf den Kollegen Kolb (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: So geantwortet, sondern festgestellt, dass die FDP die Ren- ist das!) tenerhöhung nicht mitträgt. Haben Sie versäumt, zur Kenntnis zu nehmen, dass der Kollege Kolb vorgeschla- auch wenn sie – das gebe ich zu – nur 0,54 Prozent be- gen hat, die Rentner an anderen Stellen zu entlasten? Wir tragen hat. Der Nachhaltigkeitsfaktor wirkt also in beide wollen nicht eine Rentenformel nach SPD-Umfragewer- Richtungen. ten, sondern eine konsequente Rentenpolitik und eine Aber da wir gerade bei diesem Thema sind: Wenn die Entlastung der Rentner an anderer Stelle, zum Beispiel Rentensteigerung in diesem Jahr sich in dem bescheide- bei den Energiekosten. nen Rahmen bewegt, den manche Zeitungen jetzt schon (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: zu kennen glauben, ohne dass die Zahlen überhaupt auf Wollt ihr Sozialtarife?) dem Tisch liegen, dann halte ich es für richtig, dass die SPD-Fraktion dafür eintritt, den Riester-Faktor jetzt für Bei der Mehrwertsteuererhöhung sind die Rentner belas- zwei Jahre auszusetzen. tet worden. Es ist also nicht so, dass wir keine Vor- schläge hätten, wie Sie es gerade in den Raum gestellt (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Peter haben, sondern so, dass wir andere Vorstellungen haben, Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]) Herr Kollege Amann. (B) (D) Ich höre von beiden Oppositionsparteien, von der auf (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ der einen wie von der auf der anderen Seite: Erstens DIE GRÜNEN]: Jetzt will er auch noch gelobt müssen wir die Renten stärker anheben, und zweitens werden!) wäre es eine Sauerei, den Riester-Faktor auszusetzen. – Ich verstehe das nicht. Wollen Sie das eine, oder wollen Gregor Amann (SPD): Sie das andere? Das zeigt: Sie sind in dieser Frage ratlos. Herr Kollege Rohde, ich muss Ihnen ganz ehrlich sa- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) gen: Ich habe beim Kollegen Kolb kein funktionierendes Konzept heraushören können. Die Linken haben in ihrem Antrag eine scheinbar ein- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das lag aber fache Lösung: den Rentenbeitrag anheben. Schon am nicht an mir, Herr Amann, dass Sie das nicht Mittwoch hat der Kollege Schneider, als wir im Aus- heraushören konnten!) schuss für Arbeit und Soziales über die Pflegeversiche- rung diskutiert haben, den Beitrag zur Pflegeversiche- Sie haben nachher die Gelegenheit, das in Ihrem Rede- rung anheben wollen. Ich glaube, Sie sagten in etwa: Wir beitrag noch einmal zu erläutern. haben nicht den gleichen Horror wie Sie vor der Steige- Die Hauptursache niedriger Renten sind niedrige Ein- rung des Beitragssatzes. kommen aufgrund von Niedriglöhnen und Langzeit- (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE arbeitslosigkeit. Was können wir dagegen tun? LINKE]: So ist es!) Zum einen ist aus dieser Logik heraus natürlich eine Ich sage Ihnen: Eine Anhebung der Lohnnebenkosten erfolgreiche Wirtschaftspolitik immer auch die beste bei allen Sozialversicherungen, wie Sie sie wollen, ver- Rentenpolitik. Ich will darauf nicht näher eingehen, kann nichtet nicht nur Arbeitsplätze und zwingt dadurch Men- Ihnen aber versichern: Die Regierung ist sehr erfolgreich schen in Armut, sondern ist auch arbeitnehmerfeindlich; bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Noch nie in denn Sie nehmen den Menschen damit immer größere der Geschichte der Bundesrepublik ist die Arbeitslosig- Teile ihres Einkommens weg. keit in einem einzelnen Jahr so stark zurückgegangen wie im vergangenen Jahr.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Herr Kollege Amann, der Kollege Rohde möchte Die Grundlagen dafür wurden übrigens durch die gerne eine Zwischenfrage stellen. Agenda 2010 gelegt, die Bundeskanzler Gerhard 16022 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008

Gregor Amann (A) Schröder in seiner historischen Rede an genau dieser Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) Stelle heute vor fünf Jahren eingeleitet hat. Ich gebe das Wort der Kollegin Irmingard Schewe- Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen. Zum anderen brauchen wir dringend Mindestlöhne in Deutschland. Wenn wir die Löhne aller, die heute un- ter 7,50 Euro pro Stunde verdienen, auf mindestens Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE 7,50 Euro anheben würden, könnten wir allein durch GRÜNEN): diese Maßnahme die Renten in Deutschland um mehr als Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 1 Prozent steigern. Mit dem Antrag „Wiedereinführung der Lebensstan- dardsicherung in der gesetzlichen Rente“ stellt die Linke (Andrea Nahles [SPD]: Richtig! So ist es!) den Kern ihres rentenpolitischen Programms vor. Ferner müssen wir eine Lösung dafür finden, wie wir So viel Nostalgie war noch nie. Getreu dem Motto auch Menschen mit Brüchen in der Erwerbsbiografie im „Früher war alles besser“ schlägt die Linke eine Rück- Alter absichern. Sinnvoll erscheint mir dabei, unter an- kehr zur Rentenformel von Norbert Blüm vor. derem auch darüber nachzudenken, ob und wie wir (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Richtig!) Selbstständige mit geringem Einkommen in die gesetzli- che Rentenversicherung einbeziehen können. Wenn man – Ja. – Norbert Blüm brauchte bekanntlich nur auf die sich die Statistiken anschaut, wer aus welchem Grund Leiter zu klettern und zu plakatieren: Die Rente ist si- Grundsicherung im Alter bezieht, dann stellt man fest, cher. dass der Grundsicherungsbedarf überwiegend nicht (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Die war durch zu niedrige Renten aus der gesetzlichen Renten- auch sicher!) versicherung entsteht, sondern bei Menschen, die über- haupt keine Ansprüche an die gesetzliche Rentenversi- Schon glaubten es alle. Dieses Desaster haben wir heute cherung haben, die nie in den Sicherungsbereich der auszubaden. gesetzlichen Rentenversicherung einbezogen waren. Da- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- für müssen wir eine Lösung finden. SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Ich glaube, dass hier das Konzept einer Erwerbstäti- Sie, meine Damen und Herren von der Linken, stre- genversicherung zielführend ist. Aufgrund der starken ben zurück zu einem Nettorentenniveau von 70 Prozent Zunahme von selbstständiger Erwerbstätigkeit, insbe- des Erwerbseinkommens. Aber was heißt das? sondere von Solo-Selbstständigen – also von solchen (Unruhe bei der CDU/CSU) (B) Selbstständigen, die gar keine Angestellten haben –, die (D) nicht in der gesetzlichen Rentenversicherung abgesichert – Das Rentenseminar ist abgeschlossen. – Sie schlagen sind, aufgrund ihres geringen Einkommens aber auch an einen Beitragssatz von 28 Prozent vor. Das heißt – das keinem anderen Alterssicherungssystem teilnehmen, möchte ich Ihnen einmal ins Stammbuch schreiben –: und weil es immer häufiger zu Übergängen von selbst- Ein Durchschnittsverdiener oder eine Durchschnittsver- ständiger Erwerbstätigkeit zu abhängiger Beschäftigung dienerin hätte jährlich 1 700 Euro mehr an Beiträgen zu kommt, scheint es mir sehr sinnvoll, diese in die gesetz- zahlen. liche Rentenversicherung einzubeziehen. Übrigens sind wir in Europa die letzten, bei denen die Selbstständigen (Frank Spieth [DIE LINKE]: Die zahlen jetzt noch nicht in das gesetzliche Rentensystem einbezogen viel mehr! Die zahlen für die Privaten mit!) sind. Da frage ich Sie von der Linken: Woher sollen die Be- Für eine Erwerbstätigenversicherung gibt es aber schäftigten dieses Geld nehmen? noch keinen fertigen Plan, der einfach nur umgesetzt zu (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- werden braucht. Geklärt werden müssen noch viele De- SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und tailregelungen, Übergangsregelungen, die genauen Grund- der SPD) lagen der Beitragsbemessung, gerade auch bei stark schwankenden Einkommen, die Einkommenserfassung Dazu schweigen Sie, und das ist das Schlimme. usw. Das sind einige der Dinge, über die wir noch nach- Nach Ihrem Konzept müsste der Rentenbeitragssatz denken müssen. bis zum Jahr 2030 sogar auf 40 Prozent anwachsen. Eine Wir Sozialdemokraten sind bereit, an dieser Stelle in Beschäftigte, die heute 28 Jahre alt ist und dann 50 Jahre die Zukunft zu blicken, um auch weiterhin Altersarmut alt sein wird, bezahlt den doppelten Rentenversiche- zu vermeiden. Die Linken dagegen wollen in ihren An- rungsbeitrag. trägen einfach nur zurück in die Vergangenheit, die an- (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Und wenn sie pri- geblich so viel besser war. In der Tat – ich komme auf vat versichert ist, was zahlt sie dann?) den Anfang meiner Rede zurück –: Sie haben kein Ren- tenkonzept. Deshalb werden wir die beiden vorliegenden Sie, meine Damen und Herren von der Linken, negie- Anträge ablehnen. ren auch noch den Rückgang der Zahl der Erwerbstäti- gen um circa 8 Millionen Menschen bis zum Jahr 2030. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sie verschweigen die Belastungen, die Sie den jüngeren der CDU/CSU) Beitragszahlern aufbürden wollen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 16023

Irmingard Schewe-Gerigk (A) (Frank Spieth [DIE LINKE]: Ihr verschweigt ringverdiener im Jahr 2004 nicht mehr sparen konnten (C) die Belastungen, die ihr zumutet!) als im Jahr 2000. Das ist ein ganz erstaunliches Ergeb- nis. Wie sollten sie denn auch? Sie haben keine Lohnzu- Die jüngere Generation, die mittelständischen Betriebe, wächse gehabt. Wie sollten sie da mehr sparen? Die Stu- die heute die Arbeitsplätze schaffen, würden die Haupt- die hat auch nicht die Zulagen der Riester-Förderung last Ihrer Vorschläge tragen. berücksichtigt, obwohl sich die Vermögensbildung durch die Zulagen mehr als verdoppelt. Diese Studie, die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Sie hier zitieren, ist wirklich vom Feinsten. Außerdem Frau Kollegin, der Kollege Ernst hätte eine Zwischen- wird nicht zwischen allgemeiner Vermögensbildung und frage. Altersvorsorge unterschieden. Das erklärte Ziel der Riester-Förderung war doch die gezielte Altersvorsorge Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE und nicht das allgemeine Sparen. Gerade dadurch sollte GRÜNEN): die Lücke geschlossen werden. Dazu sagen Sie heute Der Kollege Ernst hat schon bei allen anderen nach- nichts. gefragt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das habe ich So, wie Sie nun einmal sind, leiten Sie trotz der gra- nicht!) vierenden Mängel dieser Studie daraus die voreilige Wenn man sich intensiv mit der Rentenpolitik auseinan- Schlussfolgerung ab, die Riester-Förderung sei ineffi- dersetzt, dann kann man das im Ausschuss klären und zient und würde im Wesentlichen Mitnahmeeffekte er- sollte nicht immer wieder die gleichen Fragen stellen. zeugen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Ihre Forderung, eine Evaluation der Riester-Förde- SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und rung vorzunehmen, unterstützen wir. Das finden wir der SPD – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die sinnvoll und notwendig. Aber Ihr Antrag wirkt doch 7 Prozent zahlen die Privaten nicht!) nicht glaubwürdig, wenn Sie sich schon darauf festge- legt haben, dass die Riester-Rente zurückgenommen Zusammen mit Ihren Vorschlägen zu den anderen So- werden müsse. zialversicherungszweigen erreichen Sie spielend ein Abgabenniveau von 60 Prozent: 40 Prozent Rentenversi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN cherung, 16 Prozent Krankenversicherung, 4 Prozent Pfle- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und geversicherung. Als Kronzeugin für diese unsägliche der SPD) Politik, Herr Schneider, bemühen Sie die OECD-Studie. (B) Wir Grünen stehen zu den Strukturreformen, die – im (D) Diese Studie hat zu Recht auf die fehlende Armutssiche- Unterschied zu der Lage in vielen anderen Staaten – die rung im deutschen Rentenrecht aufmerksam gemacht Nachhaltigkeit des Rentensystems wesentlich verbessert und Korrekturen angemahnt. Sie, meine Damen und haben. Auch wir unterstützen die neuen Vorschläge von Herren von der Linken, erwähnen aber nicht – das finde Arbeitsminister Scholz zu einer höheren Steigerung der ich unseriös – die übrigen Aussagen der OECD-Studie. Renten für die nächsten beiden Jahre, denn in der Tat ist Deshalb zitiere ich sie jetzt: es so, dass die Rentner und Rentnerinnen über die Ma- Deutschland hat mit den Reformen der vergange- ßen unter den Preissteigerungen zu leiden haben. Dass nen Jahre die finanzielle Nachhaltigkeit des Sys- dieser Vorschlag nun gerade im Vorwahljahr kommt, hält tems deutlich erhöht. uns Grüne nicht von einer Zustimmung ab, denn er ist richtig. (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Eine Aussage ohne jede Fakten!) (Frank Spieth [DIE LINKE]: Ihr habt Angst, dass ihr abgestraft werdet!) Die OECD hat mit der gesetzlichen Rente gerechnet, hat aber auch gesagt: Wenn die private und die betriebli- Die Strukturprobleme der Rente werden dadurch aber che Rente hinzukommen, dann ist das Niveau erreicht. – nicht gelöst. Auch das verschweigen Sie wieder. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir stehen zu einer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Abkehr von der Frühverrentungspolitik. Wir stehen zu sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und den Verbesserungen der Anrechnung der Kindererzie- der SPD – Zurufe von der LINKEN) hungszeiten. Wir stehen auch zu einer ergänzenden Riester-Förderung, die gerade für die unteren Einkom- – Ich habe alles gelesen. – Sie wollen das Rad zurück- mensgruppen attraktiv ist. Ich finde, es ist antiquiert, zur drehen. Um dieses Ziel zu erreichen, greifen Sie auf alles Rentenformel aus dem Jahr 1992 zurückkehren zu wol- zurück, was Ihnen zu passen scheint. len. Nein, Kolleginnen und Kollegen von der Linken, die Zu einer zweiten Sache. Hinsichtlich der Überprüfung Leute wollen nicht, dass ihnen Politik vorgegaukelt der Riester-Förderung beziehen Sie sich in Ihrem Antrag wird. Sie möchten, dass wir die Probleme ernst nehmen mehrfach auf die Studie von Corneo und anderen. In die- und entsprechende Lösungen vorschlagen. Hier sage ich: ser Studie wurde lediglich das Sparverhalten von Ge- Erst existenzsichernde Löhne bieten die Voraussetzung ringverdienern für die Jahre 2000 bis 2004 untersucht. für eine auskömmliche Rente. Auch darum setzen wir Die Studie kommt zu dem einfachen Ergebnis, dass Ge- uns für Mindestlöhne ein. 16024 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008

Irmingard Schewe-Gerigk (A) Wir brauchen aber auch Strukturveränderungen in der gefunden worden sind, und zwar in besonderer Weise für (C) Rentenpolitik. Hier nehmen wir die OECD-Studie auf. die Geringverdiener. Da Sie das bewusst getan haben, Wir möchten, dass geringverdienende Menschen eine kann man das nur als eine sehr unseriöse Beweisführung Höherbewertung erfahren, damit es nicht dazu kommt, darstellen. dass die Rente am Ende des Erwerbslebens nicht aus- reicht und dass eine Grundsicherung beantragt werden (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) muss. Wir brauchen auch – Herr Kollege Amann, da un- Am 23. Januar dieses Jahres hat Herr Staatssekretär terstütze ich Sie – eine obligatorische Alterssicherung Thönnes in der Fragestunde zu all diesen Themenberei- für Solo-Selbstständige, die keine andere Alterssiche- chen umfassend Stellung genommen. Dennoch haben rung haben. Sie heute Ihren Antrag wieder vorgelegt und die Er- Nun komme ich zur Linken. Wir brauchen eine An- kenntnisse der Studie nicht dargestellt. gleichung der Rentenwerte in Ost und West. Das ist doch Wenn es um die Altersvorsorge geht, muss man auch eine Selbstverständlichkeit. Schließlich wollen wir die an das Vertrauen der Bürger in die Langfristigkeit der eigenständige Alterssicherung von Frauen weiter aus- Einrichtungen denken. Gerade in dieser Woche gab es ja bauen. Damit erreichen wir, dass wir das System Schritt Diskussionen über einige neue Beiräte, die sich gegrün- für Schritt zu einer Erwerbstätigenversicherung weiter- det haben und die bei der Politik angemahnt haben, lang- entwickeln. Von der Großen Koalition verlangen wir fristig zu denken. Aber ist Ihnen auch aufgefallen, dass eine Rücknahme der halbierten Rentenversicherungsbei- Langfristigkeit gerade im Bereich der Altersvorsorge träge für Langzeitarbeitslose. 2,09 Euro Rente pro Mo- nicht angemahnt wurde? Die Koalitionsfraktionen und nat für Langzeitarbeitslose ist in der Tat nicht akzepta- die Regierung haben sich nämlich dieses Themas ange- bel. Auch die Zwangsverrentung mit 63 Jahren mit nommen und die langfristige Perspektive der Altersvor- Abschlägen darf nicht erfolgen. Die Bundesregierung sorge in den Vordergrund gestellt. muss endlich auf die Armutsgefährdung bestimmter Be- völkerungsgruppen reagieren. Gerade bei dem Thema der Altersversorgung haben Zu den Anträgen der Linksfraktion fasse ich zusam- wir eine sehr große Übereinstimmung zwischen den bei- men: Ihre Konzepte sind rückwärtsgewandt, nicht finan- den Regierungsfraktionen. Selbstverständlich gibt es zierbar und unseriös. Sie nehmen auf die Zukunfts- eine Reihe von Problemen, die ich auch nicht verheimli- perspektive der jüngeren Generation keine Rücksicht. chen will: die unterbrochenen Erwerbsbiografien, die Die jungen Menschen müssten über steigende Sozial- Teilzeitbeschäftigungen, die Arbeitslosigkeit. Aber wir abgaben die Zeche zahlen, ohne dafür die Sicherheit zu müssen uns auch in besonderer Weise der Bevölkerungs- haben, selbst in den Genuss einer existenzsichernden entwicklung, der demografischen Entwicklung stellen. (B) (D) Rente zu gelangen. Ihre Vorschläge zur Evaluation der In Deutschland gibt es bereits heute 21 Millionen über Riester-Förderung sind nicht glaubwürdig, wenn Sie be- 60-jährige Menschen. Wir wissen, dass es im Jahre 2020 reits heute das Ergebnis vorwegnehmen. Das ist billiger 25 Millionen sein werden und im Jahre 2030 30 Millio- Populismus und eine rückwärtsgewandte Politik, die wir nen. Heute leben in Deutschland etwas über 20 Millio- so nicht akzeptieren. nen Rentner in den verschiedenen Formen der Rente. Im Jahre 2030 werden es über 30 Millionen Rentner sein. Ich danke Ihnen. Angesichts dessen kann man doch nicht in einem Antrag fordern, die Rentenversicherungsbeiträge auf 28 Prozent (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu erhöhen; denn das zerstört Arbeitsplätze und ist da- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der rüber hinaus ein Anschlag auf die junge Generation. CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: neten der SPD) Ich gebe das Wort dem Kollegen Klaus-Peter Wir brauchen für die Altersversorgung ein differen- Flosbach, CDU/CSU-Fraktion. ziertes Konzept. Wir haben es in Deutschland geschafft, (Beifall bei der CDU/CSU) solche Altersvorsorgekonzepte für die verschiedenen Gruppen zu entwickeln. Selbstverständlich wird die ge- setzliche Rentenversicherung weiterhin die Basis sein. Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): Sie ist die stärkste Säule für jeden Einzelnen. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Damit hatte die Linke nicht gerechnet, dass zahlreiche Aber wenn wir hier über dieses Thema diskutieren, Kollegen die OECD-Studie gelesen haben. müssen wir zunächst einmal die breiten Schichten der (Lachen bei der LINKEN) Bevölkerung in den Blick nehmen und nicht nur die Hartz-IV-Empfänger oder das Thema der Grundsiche- Frau Schewe-Gerigk und Herr Amann haben es eben rung; darauf komme ich gleich noch. Die breiten Schich- deutlich gemacht. In der Tat, Sie haben einige Sätze zi- ten der Bevölkerung brauchen ein auskömmliches Ein- tiert, die durchaus richtig sind und die auch auf Gefahren kommen im Alter, und es ist unsere Aufgabe, dafür zu hinweisen. Ein zentraler Punkt ist, dass dort festgestellt sorgen. Sie wissen, dass wir gut 200 Milliarden Euro für wurde, dass hier in Deutschland gerade im Bereich der die Altersversorgung ausgeben. Aber bereits heute gibt Altersvorsorge angemessene Antworten auf die demo- es einen Zuschuss in Höhe von fast 80 Milliarden Euro grafischen und gesellschaftlichen Herausforderungen aus Steuergeldern aus dem Bundeshaushalt. Das heißt, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 16025

Klaus-Peter Flosbach (A) etwa 30 Prozent der gesamten Staatsausgaben sind ein Grundsicherung und dass man keine eigenen Leistungen (C) pauschaler Zuschuss an die Rentenversicherung. erbringen muss, um später ein auskömmliches Einkom- men zu erhalten? Das ist der völlig falsche Weg. Das Dennoch reicht das für viele nicht aus, um ein aus- stimmt nicht mit unserem Menschenbild überein. kömmliches Einkommen zu erzielen. Heute muss man bei einem durchschnittlichen Einkommen etwa 25 Jahre (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – in die Rentenversicherung einzahlen, um die Grundsi- Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Umgekehrt wird cherung zu erlangen. Deswegen gibt es neben der ge- ein Schuh daraus! – Zuruf von der LINKEN) setzlichen Rentenversicherung verschiedene Säulen, bei- – Wir stehen zur Grundsicherung. Es handelt sich dabei spielsweise fünf verschiedene Wege der betrieblichen um eine steuerfinanzierte Fürsorgeleistung, die erhalten Altersvorsorge. Ich glaube, wir müssen sogar noch ei- werden sollte. nen sechsten Weg gehen und eine Diskussion über das meines Erachtens wichtige Thema der Lebensarbeits- (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: So zeitkonten führen. Das heißt, jemand, der einen Vorrat ist es!) an geleisteter Arbeit geschaffen hat, kann möglicher- Aber sie sollte nur dann gewährt werden, wenn der Ein- weise früher in Rente gehen oder Zeiten der Arbeitslo- zelne sie wirklich braucht. sigkeit kompensieren. Die Riester-Rente ist eine Erfolgsgeschichte. Wie der Es gibt fünf verschiedene Wege der betrieblichen Al- Kollege Weiß bereits sagte, gibt es über 11 Millionen ab- tersvorsorge, zum Beispiel Wege für große Unterneh- geschlossene Verträge. Bereits mit 5 Euro ist man dabei. men. Ich denke an Pensionskassen, an Pensionsfonds, Die Förderung beträgt bis zu 90 Prozent. In der aktuellen aber auch an betriebliche Direktzusagen. Es gibt viele Ausgabe der Zeitschrift Finanztest werden Beispiele Betriebe, die nur einen Arbeitsvertrag unterschreiben, vorgestellt. Eine Alleinerziehende mit einem Kind und wenn er mit einer betrieblichen Altersversorgung ver- einem Verdienst von 1 000 Euro im Monat, die monat- bunden ist. Ich denke, das ist der richtige Weg. Im Fi- lich eine Eigenleistung von 11,75 Euro erbringt, erhält nanzausschuss und im Plenum haben wir die neunte No- einen monatlichen Zuschuss von 28 Euro. Das ergibt velle des Versicherungsaufsichtsgesetzes behandelt. Hier später eine Rente von circa 130 Euro im Monat, also das haben wir neue Möglichkeiten für Arbeitnehmer ge- Zehnfache des Eigenbetrages. schaffen, über Pensionsfonds eine sichere Altersvor- sorge zu erreichen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Ein sehr wichtiger Weg ist auch der Beschluss dieser Koalition, die sogenannte Entgeltumwandlung nicht Wichtig ist auch, dass die Riester-Rente Hartz-IV-ge- (B) mehr mit Beiträgen für die Sozialversicherung zu belas- schützt ist. Das Geld, das auf diese Weise angespart (D) ten, übrigens eine Forderung, die die Union auch im wird, kann nicht genommen werden. Rahmen des Alterseinkünftegesetzes erhoben hat. Ich (Jörg Rohde [FDP]: Erst wenn man älter ist!) bin froh, dass wir das umgesetzt haben; denn damit kann der einzelne Arbeitnehmer Beiträge in eine Altersvor- Wir haben dies auch für Selbstständige so geregelt, in- sorge einzahlen. Er muss hierauf keine Steuern und dem wir die Insolvenzsicherung durchgesetzt haben. Das keine Sozialversicherungsbeiträge zahlen, und die Er- sind wichtige Bausteine. Wir werden natürlich darüber träge können steuerfrei angesammelt werden. Für diesen diskutieren müssen, ob diese Maßnahmen ausreichen Fall gibt es eine nachgelagerte Besteuerung. Ich denke, oder ob wir die Höhe des Schonvermögens anders regeln das ist genau der richtige Weg, um langfristig Vertrauen müssen. Der jetzige Stand ist auf jeden Fall ein gutes und Sicherheit in der Altersversorgung zu schaffen. Fundament. (Beifall bei der CDU/CSU) Das Wichtigste für die Altersversorgung ist natürlich, dass wir eine gut funktionierende Wirtschaft haben und Ein richtiger Weg ist auch, die gesetzliche Rentenver- dass es qualifizierte Arbeitsplätze in Deutschland gibt. sicherung durch die Riester-Rente zu ergänzen. Nach- Diese Koalition kann für sich in Anspruch nehmen, dass dem einige Korrekturen durchgeführt worden sind, muss es ihr gemeinsam mit der Wirtschaft gelungen ist – die man sagen, dass das Ergebnis hervorragend ist. Nach gute Weltkonjunktur will ich dabei nicht außer Acht las- 25 Jahren hat ein Durchschnittsverdiener Ansprüche in sen –, innerhalb kürzester Zeit über 1 Million neue Ar- Höhe der Grundsicherung erworben. Hat er zusätzlich beitsplätze zu schaffen. Die höheren Beitragseinnahmen eine Riester-Rente abgeschlossen, braucht er dazu nur sorgen dafür, dass die Finanzierung der Rente gesichert 20 Jahre. ist. (Jörg Rohde [FDP]: Was ist aber mit den Ge- Ich komme zum Schluss. Die Union hat gemeinsam ringverdienern?) mit ihrem Koalitionspartner ein langfristiges Konzept Wenn die Linke behauptet, für die Geringverdiener vorgelegt. Wir schaffen es, die soziale Absicherung im würde sich die Riester-Rente nicht lohnen, weil sie ja eh Rahmen eines schlüssigen Gesamtkonzepts langfristig die Grundsicherung erhielten, dann kann ich nur fragen: zu gewährleisten. Ich denke, die Altersversorgung ist bei Ist Ihnen bewusst, welches Menschenbild und welchen uns in guten Händen. Ausblick auf die Zukunft Sie damit den Menschen ver- Vielen Dank. mitteln? Wollen Sie jungen Leuten wirklich sagen, dass ihre Karriere in Hartz IV besteht oder später in der (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) 16026 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Es ist mir völlig unverständlich, wieso die Regierungs- (C) Ich gebe das Wort Jörg Rohde, FDP-Fraktion. fraktionen diesen einfachen Grundsatz immer noch ab- lehnen. (Beifall bei der FDP) Die FDP ist die einzige Fraktion mit einem sofort um- setzbaren Lösungsvorschlag für das Problem. Wir schla- Jörg Rohde (FDP): gen einen Freibetrag von 100 Euro und darüber hinaus Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und statt der vollen Anrechnung nur eine 80-prozentige An- Kollegen! Zunächst möchte ich auf einige Vorredner ein- rechnung vor. Wir freuen uns bereits auf die diesbezügli- gehen. Herr Weiß und Herr Flosbach, leider ist es rich- che öffentliche Anhörung; denn viele Experten haben tig, dass ein Geringverdiener beim Riester-Sparen mög- diesen Vorschlag bereits für angemessen und gut befun- licherweise mit Zitronen handelt. Ein Leugnen dieses den. Problems bringt die Union nicht weiter. Herr Weiß, ich (Beifall bei der FDP) weiß doch, dass Sie das Problem kennen. Sie selber ha- ben mit einem Freibetrag für die Riester-Sparer einen Die FDP zeigt in dieser Frage klar auf, dass sich die Vorschlag gemacht, der in die gleiche Richtung wie der Liberalen auch für die Geringverdienenden einsetzen. entsprechende FDP-Vorschlag geht. Ich fordere Sie also Wir fordern aber auch weiterhin die Ausdehnung der auf, weitere Überzeugungsarbeit in der Union zu leisten, Riester-Förderung – übrigens zusammen mit dem ehe- damit sich da die Erkenntnis Bahn bricht. maligen Arbeitsminister – auf alle Bürger; denn zum Beispiel auch Selbstständige zahlen in den Steuertopf, Herr Amann, im Stenogrammstil will ich schnell ei- aus welchem die Förderung erfolgt. nen Vorschlag der FDP zur Entlastung der Rentner prä- sentieren: Senden Sie allen deutschen Rentnern dieses Werte linke Kollegen, unter Punkt 2 Ihres Antrages und nächstes Jahr einen Scheck. Dieses Wahlgeschenk zielen Sie darauf ab, die Altersvorsorge gezielt für Ge- ist transparent. Der Absender sollte aber bitte der Bun- ringverdienende innerhalb der gesetzlichen Rentenver- desfinanzminister und nicht die Rentenkasse sein. sicherung zu stärken. Zugegeben: Ich weiß nicht, wie da- mals die mickrige Rente in der DDR berechnet wurde. (Beifall bei der FDP) (Zuruf von der LINKEN) Finger weg von der Rentenformel! Das sage ich, weil Sie – wenn auch nur befristet – an der Rentenformel he- Aber die Rentenversicherung in der Bundesrepublik rumdoktern wollen. Wenn Sie das tun, dann schaden Sie Deutschland basiert auf den Prinzipien der Äquivalenz der nächsten Generation. Das ist absolut ungerecht. von Beitrag und Leistung, dem Versicherungsprinzip, (B) der Einkommensersatzfunktion sowie dem sozialen Aus- (D) (Beifall bei der FDP) gleich. Diese Prinzipien wurden zum Beispiel vor fünf Jahren von der Rürup-Kommission dargestellt und ex- Werte Kollegen der Linksfraktion, ich fokussiere plizit als grundlegend für weitere Reformvorschläge mich in meinem Beitrag auf Ihren etwas neueren Antrag, bestätigt. Die Rürup-Kommission war sicher nicht ver- welcher fordert, die Riester-Rente auf den Prüfstand zu dächtig, von Liberalen unterwandert oder geprägt wor- stellen. Die Linksfraktion hat nun offensichtlich vor, sich den zu sein. Die Kommission zeigte eher unseren ge- als „Killer der Riester-Rente“ zu profilieren. Aber ge- meinschaftlichen Konsens in der Bundesrepublik zu rade Geringverdiener haben doch besonders von der ho- dieser Frage auf. Zur Äquivalenz von Beitrag und Leis- hen staatlichen Förderung profitiert. tung führt der Bericht der Rürup-Kommission aus, dass sich die Leistungen grundsätzlich nach der Höhe der in Es ist wichtig, dass wir die Diskussion weiterführen. der Erwerbsphase gezahlten Beiträge richten sollen. Denn die sogenannte Riester-Rente kann nicht so blei- Doppelt so hohe Beiträge führen zu doppelt so hohen ben, wie sie heute ist. Die Bundesregierung ist gefordert, Anwartschaften, gemessen in Entgeltpunkten. Die eine Nachbesserung vorzunehmen. Dazu muss aber Summe der erworbenen Entgeltpunkte bestimmt wie- nicht eigens eine neue Prüfung angesetzt werden. Die derum den individuellen Rentenanspruch. Die generelle FDP-Bundestagsfraktion hat bereits im Oktober letzten Beibehaltung des Äquivalenzprinzips für Versicherte in- Jahres einen umfangreichen Fragenkatalog zu diesem nerhalb eines Altersjahrgangs ist für die Rentenversiche- Thema erarbeitet. Die Antworten der Bundesregierung rung von besonderer Bedeutung. Jede Abkehr vom liegen seit November 2007 vor. Der Nachbesserungsbe- Äquivalenzprinzip bedeutet, dass Leistungen einer Per- darf für die Personengruppe der Geringverdiener, den sonengruppe aus den Beiträgen einer anderen finanziert die FDP aufgedeckt hat, ist offensichtlich. Um das fest- werden. zustellen, brauchen wir keine neue Prüfung. Und die An- rechnung der Riester-Rente auf die Grundsicherung im Weiter führt der Bericht der Rürup-Kommission aus, Alter haben Sie ja in Ihren Einführungstext aufgenom- dass es zur Förderung der Beschäftigung entscheidend men, werte Linke. darauf ankommt, an dem Äquivalenzprinzip in der ge- setzlichen Rentenversicherung auch in Zukunft festzu- Die FDP fordert ganz einfach ein, dass derjenige, der halten. für das Alter spart, mehr haben muss als derjenige, der nicht für das Alter spart. Es gibt heute bereits punktuelle Ausnahmen beim Äquivalenzprinzip in der Rentenversicherung. Aber Sie (Beifall bei der FDP) auf der linken Seite des Hauses wollen anscheinend den Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 16027

Jörg Rohde (A) Grundcharakter der Rentenversicherung ändern. Hier schen entschieden haben. Diese Menschen sind von den (C) macht die FDP auf keinen Fall mit. Vorteilen der Riester-Rente überzeugt. Vater und Mutter wissen, dass sie dann, wenn sie beispielsweise im Jahr (Beifall bei der FDP) 2008 einen Riester-Vertrag abschließen, je 154 Euro an Deswegen sollten Sie diese Forderung aus Ihrem Papier Zulage, das Kind 185 Euro an Zulage bekommen. Wenn streichen. Ich befürchte allerdings, dass wir uns einander das Kind nach dem 1. Januar dieses Jahres geboren wor- auch sonst nicht weit annähern werden. Deswegen kann den ist, bekommt es sogar 300 Euro an Zulage. Sogar ich Ihnen keine Unterstützung Ihrer Anträge in Aussicht eine Kleinfamilie, ein verheiratetes Paar mit einem Kind, stellen. erhält aktuell entweder 493 oder 608 Euro an Zulage. Vielen Dank. Es ist gut, dass die Gesamtsumme der diesbezügli- chen Zulagen im Jahre 2007 die Milliardengrenze über- (Beifall bei der FDP) schritten hat. Diese Summe darf, soll und muss noch weiter steigen. Das gilt auch im Bereich der schon mehr- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: fach angesprochenen Menschen mit einem geringen oder Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege mittleren Einkommen. Von daher ist es richtig, dass der Hans-Ulrich Krüger von der SPD-Fraktion. Minimaleigenbeitrag von 5 Euro pro Monat respektive (Beifall bei der SPD) 60 Euro pro Jahr so gehalten worden ist, dass auch ein- kommensschwächere Bürgerinnen und Bürger nicht von der privaten Altersvorsorge ausgeschlossen sind. Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD): Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen Es wird immer wieder gesagt, die Riester-Rente käme und Kollegen! Wer erinnert sich nicht an die große Be- bei den Menschen, die ihrer bedürften, nicht an. Dazu schwichtigungsformel am Ende des letzten Jahrtausends: möchte ich zwei Zahlen nennen. Zwei Drittel der Men- „Die Rente ist sicher.“ Rot-Grün hat diese Formel unter- schen mit einem Riestervertrag haben ein Jahreseinkom- sucht und gehandelt. Schwarz-Rot setzt die erfolgreiche men von weniger als 30 000 Euro, exakt 43 Prozent ein Politik von Rot-Grün insofern ergänzend fort. Jahreseinkommen von weniger als 20 000 Euro. Auch die alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern, die ge- Aufgrund des demografischen Wandels der deut- ringfügige Bezüge erzielt, kann mit 60 Euro oder einer schen Gesellschaft kann die gesetzliche Rentenversor- ähnlichen Summe im Jahr – das hat der Kollege gung allein in Zukunft – die Kolleginnen und Kollegen Flosbach schon erwähnt –, wenn ein Kind vor und ein haben das heute schon angesprochen – das Gesamtver- Kind nach dem 1. Januar 2008 geboren worden ist, sorgungsniveau, den Wohlstand im Alter nicht mehr ga- 639 Euro an staatlicher Zulage erhalten. Das entspricht (B) (D) rantieren. Es war daher richtig, Finanzierungsmodelle zu einer Förderquote von mehr als 90 Prozent. Wer all das entwickeln, um mit staatlicher Hilfe eine zusätzliche pri- in Abrede stellt, versündigt sich an der Situation dieser vate Altersvorsorge vorzusehen. Herausgekommen ist Menschen. die Riester-Rente. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Seien Sie sicher: Millionen von Amerikanerinnen und Amerikanern wären glücklich und froh, hätten sie, nach- Bei der Grundsicherung im Alter ist die Situation dem sie im Jahr 2000/2001 durch das Zerplatzen der Ak- anders. Was ist die Grundsicherung im Alter, die als sol- tienblase ihre Pensionsansprüche verloren haben und che schon angesprochen worden ist? Ist sie eine Geld- nachdem nun ihre Häuser infolge der Immobilienkrise summe, die in einem ominösen Juliusturm liegt und nur noch ein Drittel wert sind, ein System aus gesetzli- ohne Folgen für unsere Gesamtwirtschaft nach Bedarf cher Rentenversicherung, ergänzender privater Alters- abgerufen werden kann? Oder ist es – das ist gut und vorsorge und Betriebsrente als dritter Säule. richtig so – die aus Steuermitteln finanzierte Sozialhilfe- leistung, die von der notwendigen Solidarität der Starken (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) mit den Schwachen getragen ist und davon lebt, dass sie Bis zum Jahr 2030 wird sich – auch das ist schon an- Gott sei Dank nicht jeder in Anspruch nimmt bzw. neh- gesprochen worden – das Verhältnis von Erwerbstätigen men muss, sondern aktuell nur circa 2,3 Prozent der zu Rentnerinnen und Rentnern dramatisch verändern. Rentnerinnen und Rentner in der Bundesrepublik Betrug das Verhältnis zu Zeiten unserer Väter und Müt- Deutschland, sprich über 97 Prozent eben nicht? ter noch 7 : 1 oder 8 : 1, beträgt es heute 3,2 oder 3,3 : 1 (Beifall bei Abgeordneten der SPD) und wird sich zu einem Verhältnis von 1,9 : 1 entwi- ckeln. Im gleichen Zeitraum wird sich Gott sei Dank Die Riester-Rente aber ist genauso wie die gesetzliche – daran werden wir alle partizipieren – die durchschnitt- Rente dazu gedacht, mit dem angesparten Geld später liche Bezugsdauer der Rente auf 20 Jahre belaufen. Im- den Lebensunterhalt zu bestreiten. Wer daher sagt, der mer weniger Erwerbstätige müssen für immer mehr Grundsicherungsanspruch müsse ohne oder nur mit einer nicht im Erwerbsleben stehende Menschen die Beiträge anteiligen Anrechnung der Riester-Rente erfüllt sein, der erbringen. muss folgerichtig die Frage beantworten, warum denn dann Sozialversicherungsrenten, Zinseinkünfte und Ein- Diese Tatsache darf und durfte die Politik nicht ver- künfte aus Vermietung und Verpachtung angerechnet schlafen, sondern musste handeln. Sie hat es in Form der werden. Riester-Rente getan, für die sich – der Kollege Flosbach hat es erwähnt – mittlerweile fast 11 Millionen Men- (Anton Schaaf [SPD]: So ist das!) 16028 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008

Dr. Hans-Ulrich Krüger (A) Die Solidarität der Starken mit den Schwachen funk- Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und FDP bei Ge- (C) tioniert nur, wenn alle entsprechende Anstrengungen un- genstimmen der Linken angenommen. ternehmen. Das gilt in der Altersvorsorge genauso wie im alltäglichen Leben mit all seinen Banalitäten. Oder Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: andersherum gesagt: Alle Versicherungen, beispiels- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- weise eine Feuerversicherung, die derjenige abschließt, richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu- der ein Haus besitzt, eine Hausratversicherung, die der- sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss) jenige abschließt, der eine Wohnung hat, oder eine Auto- zu dem Antrag der Abgeordneten Sibylle Pfeiffer, versicherung, die derjenige abschließt, der einen Pkw Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer, weiterer Ab- fährt, funktionieren nur, weil Gott sei Dank nicht jeder geordneter und der Fraktion der CDU/CSU, der Pkw-Halter jedes Jahr einen Unfall hat, nicht jedes Haus Abgeordneten Dr. Sascha Raabe, Gabriele jedes Jahr abbrennt und jeder Hausrat jedes Jahr zerstört Groneberg, Stephan Hilsberg, weiterer Abgeord- wird. Wäre das der Fall, wäre das gleichbedeutend mit neter und der Fraktion der SPD sowie der Abge- dem Ende dieser Versicherungssparte und -lösung, weil ordneten Thilo Hoppe, Ute Koczy, Ulrike die Prämien folgerichtig eine Höhe erreichen müssten, Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion welche kein Mensch mehr erbringen kann. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Altersvorsorge wird nunmehr durch die Einbezie- Für eine neue, effektive und an den Bedürfnis- hung der selbstgenutzten Wohnimmobilie in die pri- sen der Hungernden ausgerichtete Nahrungs- vate Altersvorsorge komplettiert. Von daher kann auch mittelhilfekonvention derjenige Bürger oder diejenige Bürgerin, der oder die sagt: „Eine Zusatzrente ist schön und gut; aber für mich – Drucksachen 16/8192, 16/8485 – ist das mietfreie Wohnen im Alter das Vorzugswürdige“, Berichterstattung: das steuerbegünstigte, im Rahmen des Zulagensystems Abgeordnete Thilo Hoppe der Riester-Rente angesparte Vermögen für den Kauf ei- Sibylle Pfeiffer ner Immobilie nutzen. Ein weiteres Highlight ist – hier Dr. Sascha Raabe passt man sich den neuen gesellschaftlichen Lebensfor- Dr. Karl Addicks men an –, dass nunmehr auch der Kauf von Anteilen an Hüseyin-Kenan Aydin einem Altenheim und der Kauf von Genossenschafts- anteilen Riester-fähig sind. Auch Erwerbsminderungs- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die rentner, die sagen: „Ich möchte nach dem Eintritt der Er- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich werbsminderung etwas für meine Altersversorgung tun“, höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. (B) können einbezogen werden. (D) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Von daher sage ich all denjenigen, die fordern: „Weg Sascha Raabe. mit der Riester-Rente!“: Vorsicht an der Bahnsteigkante! Bedenken Sie, was Sie im Hinblick auf Millionen Men- Dr. Sascha Raabe (SPD): schen aufgeben, die genau wissen, dass die drei Säulen Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und – gesetzliche Rentenversicherung, betriebliche Alters- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Obwohl wir vorsorge und private Altersvorsorge – für sie das Rich- uns das ehrgeizige Ziel gesetzt haben, die Zahl der auf tige sind. der Welt Hungernden bis zum Jahr 2015 zu halbieren, Ich danke Ihnen. müssen wir feststellen, dass trotz Fortschritten immer noch 25 000 Menschen pro Tag an den Folgen von Hun- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ger und Armut sterben. Während wir im Deutschen Bundestag, wie es vor kurzem der Fall war, über die Pro- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: blematik von Übergewicht und seinen Krankheitsaus- Ich schließe die Aussprache. wirkungen sprechen und zu Recht Sport und Bewegung einfordern, besteht in anderen Ländern eine Situation, Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf die für manche hier nicht vorstellbar ist und Menschen- Drucksache 16/8495 an die in der Tagesordnung aufge- leben fordert. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Wir reden zu Recht über den Klimawandel, der auch so beschlossen. uns in Deutschland betrifft. Aber in den Entwicklungs- ländern betrifft der Klimawandel die Menschen noch Tagesordnungspunkt 24 b. Wir kommen zur Be- viel stärker im negativen Sinne. Im Rahmen des Welt- schlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und So- ernährungsprogramms wurde eine Untersuchung durch- ziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Ti- geführt, die zu dem Ergebnis kam, dass heutzutage vor tel „Wiedereinführung der Lebensstandardsicherung in allem in Entwicklungsländern 1 Milliarde mehr Men- der gesetzlichen Rente“. Der Ausschuss empfiehlt in sei- schen als noch vor zehn Jahren von Naturkatastrophen ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/6921, den betroffen sind. Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5903 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- Durch den Klimawandel werden natürlich auch die lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be- Ernten und die Nahrungsmittelsicherheit in Mitleiden- schlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, schaft gezogen. Als sei diese katastrophale Situation Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 16029

Dr. Sascha Raabe (A) nicht schon schlimm genug, kommt noch hinzu, dass die die Kleinbauern ihre Waren verkaufen wollten, standen (C) Preise für Nahrungsmittel in der letzten Zeit sehr stark sie oft vor dem Problem, dass die Nahrungsmittelüber- gestiegen sind. Viele Entwicklungsländer müssen für schüsse der westlichen Staaten – was gut gemeint war – Getreideimporte bis zu 35 Prozent mehr ausgeben als im in den Regalen der lokalen Lebensmittelgeschäfte lagen Vorjahr. Nach Angaben der Weltbank sind die Nahrungs- und sie ihre Produkte nicht absetzen konnten. Insofern mittelpreise im vergangenen Jahr um durchschnittlich war das, was gut gemeint war, oft kontraproduktiv. Da- 75 Prozent gestiegen. Davon waren insbesondere Grund- rauf wollen wir mit unserem Antrag reagieren, indem nahrungsmittel wie Mais, Reis und Weizen betroffen. wir die veränderten Rahmenbedingungen in die neue Man muss berücksichtigen, dass die ärmsten Menschen Nahrungsmittelhilfekonvention einfließen lassen. etwa 80 Prozent ihres geringen Einkommens für Nah- rungsmittel aufwenden müssen, dazu aber oft nicht in Hinzu kommt, dass sich die Situation auf den Welt- der Lage sind. agrarmärkten verändert hat. Es gibt neue, große Nachfra- ger wie China oder Indien. In einigen Ländern gibt es in- Manchmal wird die Frage gestellt, ob es angesichts zwischen eine Konkurrenz zwischen dem Anbau von der wachsenden Weltbevölkerung vielleicht nicht genug Nahrungsmitteln und dem Anbau von Agrartreibstoffen. Lebensmittel auf der Welt gibt. Das ist absoluter Unsinn. An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich darauf hinwei- Nach Angaben der UN-Organisation für Ernährung und sen, dass wir das Positionspapier des Bundesministe- Landwirtschaft, der FAO, gibt es genug Lebensmittel, riums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- um etwa 12 Milliarden Menschen relativ problemlos zu lung begrüßen, in dem Leitlinien festgezurrt wurden, ernähren. Ich möchte die gleiche Frage stellen, die neu- damit die Nahrungsmittel weiterhin den Ärmsten zugute- lich der aus dem Amt scheidende UN-Sonderbericht- kommen können. Der Biomasseanbau darf das nicht ver- erstatter für das Recht auf Nahrung, Jean Ziegler, gestellt hindern. Wir wollen nicht, dass der Klimaschutz durch hat: Warum geschieht das nicht? den Biomasseanbau gefährdet wird. Wir wollen Biomas- seanbau nur auf zertifizierten Flächen haben. Wir wol- Unsere Bundesentwicklungsministerin, Heidemarie len, dass behutsam und vorsichtig vorgegangen wird. Wieczorek-Zeul, hat am Montag dieser Woche den Aktionsplan für Menschenrechte für die nächsten drei (Beifall der Abg. Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]) Jahre vorgestellt. Er wird dazu beitragen, dass die Men- Die Vereinigten Staaten von Amerika haben in den schenrechte in den Entwicklungsländern vorangebracht letzten Jahren – ich formuliere das jetzt einmal sehr hart – und gefördert werden. Ein Punkt ist das Recht auf Nah- unter dem Deckmantel der Nahrungsmittelhilfe eigent- rung. Dieses Recht muss endlich auch denjenigen zugu- lich nur ihre Agrarüberschüsse loswerden wollen. tekommen, die Hunger leiden. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (B) Wir fordern die Bundesregierung in unserem Antrag (D) NEN]: So ist es!) auf, „sich für die Neuverhandlung der Nahrungsmittel- hilfekonvention gemäß der menschenrechtlichen Ver- Das war nicht WTO-konform. Deshalb war es richtig, pflichtungen zur Erfüllung des Rechts auf adäquate Nah- dass die Europäer auf der WTO-Konferenz in Hongkong rung nach Art. 11 des Internationalen Pakts für darauf bestanden haben, auch über dieses Thema zu ver- wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte handeln. Schließlich müssen auch wir – übrigens zu sowie im Sinne der freiwilligen Leitlinien der … FAO“ Recht – unsere Exportsubventionen senken bzw. sie einzusetzen. ganz streichen. Ich füge hinzu: Wir hätten beschließen sollen, die Subventionen sogar noch vor dem Jahre 2013 (Beifall der Abg. Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]) zu streichen. Das, was die Amerikaner – übrigens oft aus Wir werden diesen Antrag heute verabschieden. Ich wahltaktischen Gründen – unter dem Deckmantel der freue mich darüber, dass wir das gemeinsam mit der Nahrungsmittelhilfe gemacht haben, ist nichts anderes, Fraktion der Grünen tun. Es ist schön, dass bei diesem als Geschenke an die Farmer zu verteilen. Damit haben Thema parteiübergreifend Einigkeit herrscht. Ich glaube, sie in den Entwicklungsländern aber das genaue Gegen- dass wir über diesen Antrag zu einer neugestalteten und teil dessen bewirkt, was man mit der Nahrungsmittel- umfassenden Nahrungsmittelhilfekonvention kommen, hilfe zu erreichen versucht. Sie haben dort noch mehr damit dieses Recht verwirklicht werden kann. Hunger und Armut produziert. Das muss ein Ende ha- ben. Warum brauchen wir eine neue Nahrungsmittelhilfe- konvention? Als sie 1967 entstand, waren die Rahmen- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten bedingungen ganz anders. Es gab die durchaus gute In- der CDU/CSU) tention, die steigenden Nahrungsmittelüberschüsse in Noch im letzten Jahr haben die OECD-Staaten an die den europäischen Staaten und in den USA sinnvoll für Landwirte Subventionen in Höhe von 349 Milliarden die Hungerbekämpfung einzusetzen. Das war erst ein- Dollar gezahlt. Für die öffentliche Entwicklungszusam- mal kein schlechter Grundgedanke: Bei uns gab es zu menarbeit haben sie allerdings nur etwa ein Drittel die- viel, und dort haben Menschen Hunger gelitten. Heute ses Betrages zur Verfügung gestellt. Wenn man sich das wissen wir aber, dass diese Hilfe, auch wenn sie gut ge- vor Augen führt, stellt man fest, dass hier nach wie vor meint war, oft dazu führte, dass Kleinbauern und Land- eine erhebliche Schieflage besteht. wirte keinen nachhaltigen Anreiz hatten, um Nahrungs- mittel für den lokalen Markt zu produzieren, also Es muss klar sein, dass die Nahrungsmittelknappheit Getreide anzupflanzen oder Hühner aufzuziehen. Wenn ein Problem ist, das in erster Linie mit den weltwirt- 16030 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008

Dr. Sascha Raabe (A) schaftlichen Bedingungen des Handels zusammenhängt. Die Preise für Grundnahrungsmittel sind explodiert. (C) Insofern handelt es sich auch um ein Verteilungspro- Deswegen ist sogar das World Food Programme ge- blem. Deswegen wäre es unzureichend, wenn man ver- zwungen, seine Hilfe in einigen Teilen der Welt einzu- suchen würde, dieses Problem auf bilateraler Ebene zu schränken. Die derzeitige Verteuerung und Knappheit lösen. Vielmehr müssen wir die strukturellen Ursachen der Grundnahrungsmittel trifft selbst Länder, in denen dieses Problems bekämpfen. Es ist zwingend notwendig, man schon lange keine Nahrungsmittelknappheit und dass wir jetzt ein umfassendes Konzept der Nahrungs- keinen Hunger mehr gekannt hat. Ein krasses Beispiel ist mittelhilfe erarbeiten und eine Nahrungsmittelhilfe- das Schwellenland Mexiko. Der Anstieg des Preises für konvention verabschieden, in deren Rahmen die Nah- Mais führte dazu, dass sich die Mexikaner keine Tortil- rungsmittelhilfe in Konzepte zur wirtschaftlichen las, das Grundnahrungsmittel, mehr leisten konnten. Da- Entwicklung und Armutsbekämpfung integriert wird. her sind die Menschen auf die Straße gegangen und ha- Unser Ziel muss sein, den Übergang von der humanitä- ben demonstriert. Dass sich die Mexikaner keine ren Soforthilfe zur mittel- und langfristigen Ernährungs- Tortillas mehr leisten können, ist wirklich ein Skandal. sicherung, die ohne Hilfslieferungen auskommt, zu ge- Ich frage mich: Wenn es schon in einem Schwellenland währleisten. Den Menschen in den Entwicklungsländern wie Mexiko so aussieht, wie ernst ist die Situation dann muss die Chance zur Selbsternährung gegeben und da- erst in Entwicklungsländern, mit das grundlegende Recht auf Nahrung garantiert wer- den. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ja!) Die Nahrungsmittelhilfe muss so eingesetzt werden, die schon häufig mit Nahrungsmittelknappheit zu kämp- dass sie in entwicklungspolitischer Hinsicht nicht kon- fen hatten? Laut World Food Programme ist die Lage in traproduktiv ist, sondern dazu beiträgt, die lokale Land- vielen Entwicklungsländern mittlerweile so schlimm, wirtschaft zu stärken. Das ist es übrigens, was Deutsch- dass sich selbst die dortige Mittelschicht Lebensmittel land von manch anderem Geberland unterscheidet. Wir nicht mehr leisten kann. wollen sicherstellen, dass mit der Nahrungsmittelhilfe die lokalen Märkte gestärkt werden. Hungersnöte erreichen heute nicht nur andere Bevöl- kerungsschichten; sie bekommen auch eine andere Di- (Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Jawohl!) mension: Wurden sie in der Vergangenheit meist durch Wir wollen nicht, dass zum Beispiel Getreide aus den Naturkatastrophen, durch Krieg und Zerstörung ausge- USA nach Afrika geliefert wird. Mit unserem Antrag löst, sind es heute der steigende Ölpreis und steigende möchten wir dafür sorgen, dass die Menschen, die Nah- Energiepreise. So hat zum Beispiel die Regelung, dass 10 Prozent Biokraftstoff beigemischt werden müssen, (B) rungsmittelhilfe erhalten, in erster Linie Geld oder Gut- (D) scheine bzw. Essensmarken bekommen, damit sie die Auswirkungen auf die Nahrungsmittelpreise. Produkte, die sie brauchen, lokal, also bei ihren Land- Eine Zahl soll uns zeigen, was diese Entwicklung für wirten, kaufen. So macht Nahrungsmittelhilfe Sinn. die Arbeit des World Food Programme bedeutet: Das Wenn man so vorgeht, fördert man auch die lokale Land- World Food Programme muss inzwischen durch die in- wirtschaft und eine nachhaltige wirtschaftliche Entwick- ternationale Gemeinschaft eine halbe Milliarde Dollar lung, die dauerhaft selbsttragend sein kann. Außerdem zusätzlich aufbringen, um den derzeitigen Umfang der trägt man dazu bei, dass die Hungernden, die in Not Hilfe aufrechtzuerhalten. sind, nicht verhungern müssen. Ein Grund für die neue Dimension, die die Nahrungs- Diese Ziele müssen wir mit der neuen Nahrungsmit- mittelknappheit annimmt, ist, dass Kraftstoff zunehmend telhilfekonvention erreichen. Ich glaube, dass wir hier aus Sojabohnen, Mais und Getreide erzeugt wird. Ein parteiübergreifend ein gutes Ergebnis erzielen werden. weiterer Grund ist die zunehmende Nachfrage der Welt- Im Sinne der hungernden Menschen auf der Erde hoffe bevölkerung nach Fleisch, zum Beispiel in China und In- ich, dass unser Antrag große Zustimmung findet. dien. Vom steigenden Ölpreis habe ich schon gespro- chen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. All diese Punkte haben Sie in Ihrem Antrag zu Recht (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem angesprochen; die aktuelle Situation wird in Ihrem An- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) trag jedoch nicht ausreichend thematisiert. Sie wollen, dass die Bundesregierung aufgefordert wird, die Auswir- Vizepräsident Dr. : kungen der zunehmenden Konkurrenz zu erforschen. Er- forschen ist gut, Reagieren ist besser. Das Drama spielt Das Wort hat der Kollege Dr. Karl Addicks von der sich doch vor unseren Augen ab. Hier geht uns Ihr An- FDP-Fraktion. trag nicht weit genug. Die Zeiten haben sich geändert: Nicht Überschüsse sind das Problem, sondern Knapphei- Dr. Karl Addicks (FDP): ten. Diese wichtige agrarpolitische Veränderung berück- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es sichtigen Sie in Ihrem Antrag nicht ausreichend. ist wirklich gut, dass wir heute hier im Plenum über das Wir sind uns doch im Grunde einig, dass hier alle Sei- wichtige Thema Nahrungsmittelhilfe reden; denn die ten mehr investieren müssen. Nachrichten, die uns dazu in den vergangenen Tagen und Wochen erreicht haben, sind wirklich besorgniserregend. (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 16031

Dr. Karl Addicks (A) Die Entwicklungsländer, die Schwellenländer und die Deshalb gaben die Bauern den Mais lieber an Händler (C) Industrieländer sind hier gleichermaßen gefordert. Das aus Tansania ab, die ihn bar bezahlten und mit einem wäre langfristig Hilfe zur Selbsthilfe. Ich betone es auch Preisaufschlag als Hilfsgüter an andere Länder verkauf- an dieser Stelle: Spätestens seit dem Weltbankbericht, ten, in denen auch Hunger drohte. Wenn aus diesem Ge- der neulich im Ausschuss Thema war, sollte jedem klar schäft nichts wurde, dann nahmen die Bauern lieber in sein, dass die ländliche Entwicklung in unserer Entwick- Kauf, dass ihr Mais in den Silos vergammelte; denn dies lungszusammenarbeit bislang vernachlässigt wurde. war immer noch günstiger als der Transport des Getrei- (Beifall bei der FDP – Manfred Zöllmer des über Hunderte von Kilometern auf katastrophalen [SPD]: Das ist doch Unsinn!) Straßen in den Norden, wo sie nur niedrige Preise erzie- len könnten. – Das ist kein Unsinn. Fragen Sie Ihren Kollegen Raabe! Auch er ist vor einiger Zeit auf den Trichter gekommen, Besonders schlimm finde ich an dieser Tatsache, dass dass wir auf diesem Gebiet in der Vergangenheit nicht die Dürre das Land keineswegs unvorbereitet getroffen das getan haben, was wir hätten tun können. Doch die hat. Es gab Warnungen im Vorfeld. Kenia verfügt über ländliche Entwicklung spielt gerade bei der Armutsbe- Spezialisten, die regelmäßig genaue Prognosen und Be- kämpfung eine ganz entscheidende Rolle. richte in die Hauptstadt schicken. Was mit diesen Be- richten geschieht, dürfte allerdings das ewige Geheimnis Wir werden, weil das Thema enorme Bedeutung hat, der Regierung bleiben. Der Spiegel berichtete, dass der dem Antrag dennoch zustimmen. Präsident die Krise erst dann zur Chefsache erklärte, (Beifall der Abg. Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]) nachdem die Medien in Kenia ausführlich über die Kata- strophe berichtet hatten. Im Gefolge des Präsidenten er- Sie haben uns leider nicht die Möglichkeit gegeben, uns schienen zwei Flugzeuge voller Minister und Regie- an der Erarbeitung dieses Antrags zu beteiligen. Sie ha- ben einen Antrag zur Abstimmung gestellt, dem wir ent- rungsbeamter vor Ort. Mit anwesend waren auch der weder zustimmen oder den wir ablehnen können. Ich Verteidigungsminister und der Tourismusminister, deren finde das nicht kollegial. Ressorts gar nichts mit dem Thema Hunger zu tun ha- ben. Es ging nicht um Krisenmanagement, sondern um (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Wir haben eine medienwirksame Präsentation. die Arbeit für Sie gemacht!) Dass die Krise nicht ohne Vorwarnung kam und die Ich hoffe, dass wir in Zukunft bei einem so wichtigen Probleme hausgemacht sind, zeigt eine weitere Tatsache: Thema zusammenarbeiten werden. Bereits seit Jahren versorgt das Welternährungspro- Vielen Dank. gramm der Vereinten Nationen den Norden Kenias (B) – auch in normalen Zeiten – mit Lebensmitteln. Man (D) (Beifall bei der FDP) muss wissen, dass in Nordkenia vorwiegend Viehhirten beheimatet sind. In Krisenzeiten müssten sie eigentlich Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ihr Vieh schlachten, um die hungernden Menschen zu er- Das Wort hat die Kollegin Sibylle Pfeiffer von der nähren, zumal die Überweidung durch die Rinderherden CDU/CSU-Fraktion. in dieser Region dramatisch zunimmt. Kenianische Me- (Beifall bei der CDU/CSU) dien berichten, dass die Nomaden eher mit ihrem Vieh hungern, als es zu essen. Manche Stämme essen grund- sätzlich das Fleisch ihrer Rinder nicht. Sie halten Rinder Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU): als Prestigeobjekt und als Währung. Damit wird zum Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beispiel der Brautpreis für eine Frau bezahlt. Zurzeit Wie komplex das Thema Nahrungsmittelhilfe und der liegt er angeblich bei 100 Kühen. Bereich Nahrungsmittelhilfekonvention sind, möchte ich an einem Negativbeispiel verdeutlichen: Kenia machte Fakt bleibt, dass die permanenten Nahrungsmittelhil- 2006 Schlagzeilen. Der Präsident rief damals den Not- fen die Probleme nicht beseitigt haben. Im Gegenteil: stand aus und forderte internationale Nahrungsmittel- Sie haben sie verschärft. Kenia ist kein Einzelfall. Allein hilfe an. Was war geschehen? in Afrika sind über 30 Länder auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Aufgrund einer Dürre herrschte im Norden des Lan- des eine Hungersnot. Doch während im Norden mehr als An dieser Stelle kommt die Nahrungsmittelhilfekon- 2 Millionen Menschen der Hungertod drohte, saßen im vention ins Spiel. Sie ist ein gutes Beispiel dafür, dass im Westen Kenias Bauern auf einer Rekordernte Mais. Die Laufe der Zeit auch die besten Vorsätze manchmal in die Regierung hatte angeboten, den Bauern im Westen den falsche Richtung führen können. Die ursprüngliche Idee Mais abzukaufen und ihn an die Menschen im Norden zu war durchaus sinnvoll: Lebensmittelüberschüsse aus den verteilen, die kein Geld besitzen, um Lebensmittel zu Industrieländern sollten sinnvoll für die Hungerbekämp- kaufen. Eine einfache Sache, denkt man. Die Bauern fung in den Entwicklungsländern eingesetzt werden. dachten aber nicht im Traum daran, ihren Mais an die Doch im Laufe der Zeit zeigte sich, dass die Nahrungs- Regierung zu verkaufen. Das hat einen einfachen Grund: mittellieferungen für die Empfängerländer auch proble- Die Regierung zahlt in der Regel nicht. Sie verspricht matisch sein konnten, zum Beispiel dann, wenn durch zwar, irgendwann zu zahlen, aber die Bauern haben mit ausländische Lieferungen die Bauern in den Entwick- dem korrupten Regime schlechte Erfahrungen gemacht. lungsländern benachteiligt werden. 16032 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008

Sibylle Pfeiffer (A) Deutschland und die EU liefern grundsätzlich keine Wir begrüßen es daher sehr, dass Agenturen der Verein- (C) Lebensmittel, sondern leisten nur Barzahlungen. So kön- ten Nationen wie die Ernährungs- und Landwirtschafts- nen die betroffenen Länder die notwendigen Lebensmit- organisation, FAO, mit der Afrikanischen Union zusam- tel vor Ort bzw. in den Nachbarländern kaufen. Wenn menarbeiten, um die Grüne Revolution voranzubringen. Deutschland keine Nahrungsmittel liefert, mag sich Der UN-Generalsekretär betonte hierzu ausdrücklich, mancher fragen, welchen Sinn der vorliegende Antrag dass dabei auch die „lebensnotwendige Wissenschaft für eine neue Nahrungsmittelhilfekonvention hat. Der und Technik, die dauerhafte Lösungen für den Hunger Grund dafür ist, dass wir auch in dieser Frage eine Kohä- bieten“, genutzt werden. renz der Geber wollen. Es hat keinen Sinn, wenn jeder Weitere Gründe für die Verknappung und Verteuerung seine eigene Entwicklungspolitik macht, ohne sich mit der Lebensmittel liegen in der Klimaveränderung und in den anderen Gebern abzusprechen. den gestiegenen Rohölpreisen, die den Transport verteu- Die Bundesregierung hat daher im Rahmen des G-8- ern. Nicht zu vergessen ist dabei der steigende Bedarf an Gipfels und der EU-Ratspräsidentschaft eine Konferenz Biokraftstoffen. Hierüber haben wir uns in einer großen zu diesem Thema veranstaltet. Über 150 Experten haben Anhörung im Bundestag kundig gemacht. beraten, wie die Nahrungsmittelhilfekonvention neu ge- staltet werden kann; denn seit den Anfängen der Kon- Wenn man dies alles berücksichtigt, verwundert es nicht, dass die weltweiten Nahrungsmittelreserven dra- vention vor über vier Jahrzehnten sind viele neue Fakto- matisch gesunken sind. So sanken beispielsweise die ren aufgetreten, die große Folgen für die weltweite Weizenbestände in der EU innerhalb eines Jahres von Nahrungsmittelsituation haben. Für meine Fraktion – die 14 Millionen Tonnen auf 1 Million Tonnen. Eine kurze CDU/CSU-Fraktion – war es wichtig, dass diese verän- Bemerkung dazu: Zurzeit ist die Konvention bei der Ge- derten Faktoren im Antrag berücksichtigt werden und treidebörse in London angesiedelt. Man überlegt, wo sich somit auch im Hinblick auf die Neuverhandlung der man sie künftig ansiedeln soll. Man sollte nicht das Kind Konvention niederschlagen. mit dem Bade ausschütten. Ich glaube, die Entscheidung Ich möchte einige Punkte aufzählen. Wir alle kennen kann irgendwann im Laufe der Diskussion fallen. Wir die aktuellen Nachrichten über steigende Lebensmittel- müssen das nicht jetzt entscheiden. Wichtig ist, dass die preise; Sascha Raabe hat das bereits angesprochen. Verwaltungskosten so gering gehalten werden wie zur- zeit bei der Getreidebörse. Viele staatliche Stellen, NGOs und Organe der Ver- einten Nationen warnen vor den Konsequenzen. Auch Wie soll die Nahrungsmittelhilfekonvention künftig der Generalsekretär der Vereinten Nationen hat sich zu aussehen? Die Nahrungsmittelhilfekonvention, die ur- (B) dieser dramatischen Entwicklung geäußert. Die rasante sprünglich nur die Verteilung der Überschüsse regelte, (D) Preisentwicklung bei den Nahrungsmitteln geht weiter. muss neu justiert werden. Der wichtigste Punkt, den das Die Bedrohung durch Hunger und Unterernährung am Anfang geschilderte Beispiel Kenia zeigt, ist, dass wächst ebenfalls. Das Millenniumsziel, die Zahl der Nahrungsmittelhilfe mehr bedeutet als nur die Lieferung hungernden Menschen bis 2015 zu halbieren, ist ohnehin von Lebensmitteln. Wir müssen differenzierter vorge- schwierig zu erreichen. hen. Es ist ein Unterschied, ob überall in einem Land Hunger droht oder ob grundsätzlich Lebensmittel vor- Durch die jüngsten Entwicklungen wird es noch handen sind, die Menschen aber keinen Zugang dazu ha- schwieriger. Wir haben auch auf die damit zusammen- ben, ob ihnen schlichtweg das Geld fehlt, um sich Nah- hängende Verknappung der Nahrungsmittel hingewie- rung zu kaufen. Keine Frage, in Krisensituationen muss sen. Die Gründe hierfür sind verschieden. Wir verzeich- schnell gehandelt werden. Es soll auch schnell gehandelt nen eine steigende Nachfrage in den Schwellenländern werden. Es muss aber effektiv gehandelt werden, also nach verschiedensten Lebensmitteln. Sie selbst sind aber entwicklungspolitisch nachhaltig. Es darf nicht dazu nicht in der Lage, genug herzustellen, auch deshalb, weil kommen, dass wie im Falle Kenia die Menschen in eine ihnen schlichtweg Ackerland durch Städtebau, Industrie- regelrechte Abhängigkeit von Nahrungsmittelhilfe gera- bau und Desertifikation verloren geht. So muss China ten. Wir müssen Wege finden, die die Menschen in die zum Beispiel fast ein Viertel der Weltbevölkerung ernäh- Lage versetzen, sich selbst zu helfen, sich selbst zu er- ren. Es verfügt aber nur über 10 Prozent der weltweiten nähren. Cash for work, food for work, das wären zum Ackerfläche. Beispiel geeignete Mittel. Stichwort „Weltbevölkerung“. Uns war es wichtig, (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP eine große globale Herausforderung im Antrag zu unter- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) streichen: Wie soll eine wachsende Weltbevölkerung bei immer weniger verfügbarer Ackerfläche ernährt werden, Wir dürfen nicht vergessen, dass die Landwirtschaft vor allem vor dem Hintergrund, dass das rasante Bevöl- der beschäftigungsintensivste Sektor für die meisten kerungswachstum vorwiegend in den Entwicklungslän- Entwicklungsländer ist und dass in ihr die meisten Men- dern stattfindet? Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist schen eine Einnahmequelle haben. Die ländliche Ent- der Meinung, dass neue Lebensmitteltechnologien hier- wicklung spielt somit eine entscheidende Rolle bei der bei eine entscheidende Rolle spielen können. Armutsbekämpfung. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie Das alles muss man im Auge behalten, wenn es um des Abg. Hellmut Königshaus [FDP]) die Neugestaltung der Nahrungsmittelhilfekonvention Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 16033

Sibylle Pfeiffer (A) geht. In einer Mitteilung ruft die EU-Kommission aus- Ja, wir brauchen eine neue Nahrungsmittelhilfekon- (C) drücklich dazu auf, dass die Nahrungsmittelhilfe durch vention, die sich an den Bedürfnissen der Hungernden die Förderung und Entwicklung der lokalen Landwirt- und der Empfängerländer und am Menschenrecht auf schaft abgelöst werden soll. Wenn Nahrungsmittelhilfe Nahrung orientiert. Wir können jedoch nicht über eine die einzige Alternative sein sollte, so fordert die Kom- neue Nahrungsmittelhilfekonvention zur Linderung des mission den Einkauf auf lokaler Ebene und/oder in an- Hungers reden, ohne über die Ursachen von Hunger zu grenzenden Gebieten. reden. Der uns vorliegende Antrag beantwortet die Frage nach den Ursachen mit dem Hinweis auf die Verknap- Ein Punkt in diesem Zusammenhang liegt mir beson- pung der Agrarrohstoffe, bedingt durch ein gestiegenes ders am Herzen: Wir wissen, dass eine nachhaltige Ent- Bevölkerungswachstum, die Folgen des Klimawandels wicklung ohne die Förderung von Frauen nicht möglich und eine gestiegene Nachfrage nach höherwertigen Nah- ist. Ich denke, dass diese Tatsache auch im Zusammen- rungsmitteln wie Fleisch und nach Agrarbrennstoffen. hang mit der neuen Nahrungsmittelhilfekonvention be- Der entscheidende Punkt, der in diesem Antrag leider rücksichtigt werden muss, und zwar in einem besonde- unterbewertet wird, ist, dass der Agrarhandel und die un- ren Maße. gerechten Handelsbedingungen auf dem Weltmarkt zu (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Hunger führen – zu Fleischbergen auf unserer Seite und neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE zu einer Schale Reise am Tag auf der anderen Seite. Da- GRÜNEN) rüber haben wir schon des Öfteren hier im Plenum de- battiert. Frauen erzeugen in Entwicklungsländern 80 Prozent al- ler Grundnahrungsmittel. Sie besitzen aber nur 10 Pro- An dieser Stelle möchte ich die Ministerin zent der Anbaufläche und weniger als 2 Prozent aller Wieczorek-Zeul zitieren: Landtitel. Dies ist mit eine Ursache dafür, dass zwei Alle Programme zur Einlösung des Rechts auf Nah- Drittel aller Armen Frauen sind. rung werden nichts ändern, wenn es uns nicht ge- Wir müssen auch darauf achten, die NGOs in die Ar- lingt, die Strukturen im Welthandel gerechter zu beit der Nahrungsmittelhilfekonvention einzubeziehen. gestalten. Die Entwicklungsländer wollen faire Be- Vor allen Dingen müssen die Regierungen der Entwick- dingungen auf den Weltmärkten. lungsländer mehr partizipieren; denn sie stehen in beson- Sehr richtig, Frau Ministerin. Doch wie sieht die Realität derer Verantwortung. Das Beispiel Kenia zeigt, dass aus? Die Steigerungen der Preise für Nahrungsmittel um viele Hungerkatastrophen durch bessere Verteilung und bis zu zwei Drittel lösten in Kamerun und Burkina Faso Verwaltung hätten vermieden werden können. (B) in diesem Monat schwere Unruhen aus, in deren Verlauf (D) Der Kern der Nahrungsmittelhilfekonvention sind die mehr als hundert Menschen starben. Ähnliche Szenarien verbindlichen Zusagen für Nahrungsmittelhilfe. Wir gab es in Senegal, in Guinea, aber auch in Mauretanien, wollen diesen Kern stärken. Gleichzeitig aber wollen also in Ländern, wo die armen Menschen weit über die wir, dass die Nahrungsmittelhilfe Teil einer umfassenden Hälfte ihres Einkommens – bis zu 80 Prozent; Kollege und somit nachhaltigen Gesamtstrategie zur Bekämp- Raabe wies darauf hin – für Nahrung ausgeben müssen. fung des Hungers wird. Sie kann eine grundlegende Er- Was hat die Preissteigerungen ausgelöst? Es war bei- nährungsstrategie und eine Entwicklungsstrategie nicht leibe nicht nur der Klimawandel. Die Verhandlungen der ersetzen, aber sie kann diese sinnvoll ergänzen. Meines WTO und die Handelsabkommen der EU destabilisieren Erachtens zeigt unser Antrag dies deutlich. die lokalen Märkte in Afrika und weltweit. Eine Explo- sion der Rohölpreise führte hier zu einem Zusammen- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bruch der Märkte. Die Preise für die Nahrungsmittel bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE schnellten in die Höhe; die Verlierer sind wie immer die GRÜNEN) Armen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wer Hungersnöte vermeiden will, braucht stabile lo- Das Wort hat jetzt der Kollege Hüseyin-Kenan Aydin kale Märkte. Das hat die Vergangenheit immer wieder von der Fraktion Die Linke. bewiesen; auch Kollegin Pfeiffer hat es in ihrer Rede er- wähnt. Wenn der Staat eingreifen will, um seine Men- (Beifall bei der LINKEN) schen vor Hunger zu schützen, dann gibt es auf einmal von allen Seiten Widerstand wegen möglicher Handels- Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE): verzerrungen, zuallererst von der WTO. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Nahrungsmittelhilfe zählt in vielen Notsituationen zu Grünen haben uns bereits im Dezember ihren Antrag für den wichtigsten Reaktionsmechanismen. Sie war auf- eine neue Nahrungsmittelhilfekonvention vorgelegt, der grund ihrer Praxis des Absatzes von Agrarüberschüssen von uns die volle Unterstützung bekam. Der uns nun umstritten; das wurde bereits erwähnt. Entscheidende vorliegende interfraktionelle Antrag ist demgegenüber Forderungen waren die Orientierung am Prinzip des deutlich verwässert worden. Er weist einige Lücken auf, Menschenrechts auf Nahrung und eine Beteiligung der sodass die Fraktion Die Linke diesem Antrag jetzt nicht Empfängerländer an Entscheidungen. Die Diakonie kri- mehr zustimmt, sondern sich enthält. tisierte an der alten Nahrungsmittelhilfekonvention: 16034 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008

Hüseyin-Kenan Aydin (A) Empfängerländer wie auch die Zivilgesellschaft hat, dass Tausende von Bauern in den Ruin getrieben (C) sind nicht beteiligt, selbst die mit der Durchführung und die Märkte zerstört wurden. Es geht also darum, die der Nahrungsmittelhilfe befassten internationalen Nahrungsmittelhilfe richtig zu flankieren und richtig do- Organisationen … können nur auf Einladung teil- siert einzusetzen. nehmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wen haben Sie in Ihrem neuen Antrag – im Gegensatz sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und zum alten Antrag der Grünen – eingeladen, sich zu betei- der SPD) ligen? Die WTO. Wen haben Sie ausgeladen? Die Emp- fängerländer und die Nichtregierungsorganisationen. Darum geht es in diesem Antrag. Das heißt, die negati- ven Effekte, die das Welternährungsprogramm in der (Manfred Zöllmer [SPD]: Mein Gott!) Vergangenheit mit ausgelöst hat, sind zu beenden. Kolle- Deshalb enthalten wir uns bei der Abstimmung über die- gin Pfeiffer hat bereits dargestellt, dass Deutschland vor sen Antrag. einigen Jahren die Konsequenzen gezogen hat und Agrarüberschüsse nicht mehr als Nahrungsmittelhilfe Ich möchte an dieser Stelle die Regierung bitten – das auf den Märkten der Dritten Welt ablädt. Das geschieht ist eine ausdrückliche Bitte im Namen meiner Fraktion –, anderweitig in Form von Agrarexporten, die subventio- nicht nur auf die Handelsverzerrungen zu achten, wie es niert werden – über den Schweinefleischexport werden die WTO betont, sondern auch die betroffenen Länder wir an anderer Stelle noch zu reden haben –, aber eben und die Nichtregierungsorganisationen einzubeziehen. nicht mehr im Rahmen der Nahrungsmittelhilfe. Wenn Sie das tun, werden wir Ihre Arbeit nicht nur ent- sprechend würdigen und schätzen, sondern bei Gelegen- Es geht darum, mit starker deutscher Unterstützung heit unsere Entscheidung in Richtung Zustimmung kor- jetzt eine Konvention auf den Weg zu bringen, die diese rigieren, Frau Wieczorek-Zeul. Mängel der alten Nahrungsmittelhilfekonvention, die aus den 60er-Jahren stammt, wirklich behebt. (Beifall bei der LINKEN) Wir als Fraktion der Grünen haben einen Antrag ein- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gebracht. Ich freue mich, dass dieser Antrag nun ein Das Wort hat jetzt der Kollege Thilo Hoppe von der Drei-, Vier- oder vielleicht sogar noch ein Fünf-Fraktio- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. nen-Antrag wird, der von allen unterstützt wird. Es ist klar, dass man in einem solchen Verfahren, in dem man die Mehrheit für seinen Antrag bekommen möchte und Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): in dem man mit anderen verhandelt, Kompromisse ma- (B) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich chen muss. Aber die wichtigste Forderung, nämlich dass (D) versuche jetzt einmal, für etwas Entwirrung zu sorgen. sich die neue Nahrungsmittelhilfekonvention zuallererst Wir diskutieren jetzt nicht über einen Antrag, mit dem an dem Recht auf Nahrung auszurichten hat, an den versucht wird, die Ursachen des Hungers in der Welt zu Menschenrechten, und sie die Interessen und Bedürf- erklären oder umfassende komplexe Hungerbekämp- nisse der Hungernden in den Mittelpunkt stellt, nicht fungsstrategien in den Vordergrund zu stellen. Wenn wir aber die Frage, wie hoch gerade die Getreideüberschüsse so eine Debatte führen, dann gehören natürlich die unge- oder die Preise sind, steht an oberster Stelle in dem An- rechten Handelsstrukturen oder auch die Konzentration trag. auf die ländliche Entwicklung in der Entwicklungszu- sammenarbeit dazu. Es gab – auch in der Kritik dieses (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Antrags – viele gute Vorschläge, aber es ist kein kom- bei der CDU/CSU und der SPD) plexer Hungerbekämpfungsantrag. Vielmehr konzentrie- ren wir uns hier auf ein Instrumentarium: auf die Nah- Auch die Beteiligung der Empfängerländer, die vorher rungsmittelhilfe. nur eine Art Gaststatus hatten, und der NGOs ist enthal- ten. Es stimmt nicht, dass diese wieder ausgeladen wur- Es ist manchmal schwer, zu erklären, dass es auf bei- den. den Seiten große Probleme gibt. Ganz aktuell gibt es durch die dramatisch gestiegenen Lebensmittelpreise be- Die WTO soll nicht Mitglied der Nahrungsmittelhil- drohliche Engpässe. Es droht sogar die Einstellung der fekonvention, nicht Mitglied des Boards werden, aber Luftbrücke nach Darfur. Die Essensrationen für 2 Mil- bei der Regelung von Nahrungsmittelhilfe spielt die lionen Menschen werden bereits gekürzt, weil die Mit- WTO eine wichtige Rolle, ob wir das wollen oder nicht; telzusagen nicht ausreichen. Einige Rednerinnen und denn über die WTO muss die handelsverzerrende, kom- Redner haben das schon dargelegt. Das Welternährungs- merzielle Nahrungsmittelhilfe, also der Missbrauch von programm ruft um Hilfe und sagt: Wir brauchen ganz Nahrungsmittelhilfe, reglementiert werden. Gleichzeitig schnell mehr Geld, um die Hungernden in Darfur nicht muss innerhalb der WTO eine Safe Box geschaffen wer- im Stich zu lassen. den, die die wirkliche Nothilfe nicht behindert, sondern effektiv gestaltet. Deswegen ist ein Konsultationsprozess Angesichts dieser Krise ist es schwer, der Öffentlich- nach wie vor notwendig. keit zu erklären, dass man auch auf der anderen Seite vom Pferd fallen kann. Es ist noch gar nicht lange her, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dass in Afghanistan zu viel und auch falsch flankierte und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Nahrungsmittelhilfe geleistet wurde, was dazu geführt CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 16035

Thilo Hoppe (A) Ich will aber nicht verschweigen, dass es bei zwei zerrenden Praktiken von Staatshandelsunternehmen und (C) Punkten auch schmerzhafte Kompromisse gegeben hat. die Praxis, Nahrungsmittelhilfe zur Überschussbeseiti- Wir meinen nicht, dass es den Erfordernissen der Zeit gung zu benutzen, zu beenden. Der weitere Verlauf der entspricht, dass die Nahrungsmittelhilfekonvention beim WTO-Verhandlungen hat leider gezeigt, dass es bisher Internationalen Getreiderat in London angesiedelt ist. wenig Bereitschaft gab, auf diese Forderung einzugehen. Wir hätten uns gewünscht, dass sie unter das Dach der Liebe Kolleginnen und Kollegen, die WTO-Verhand- Vereinten Nationen kommt. Es gibt nun zwar eine offene lungen sind der eine Schauplatz, auf dem über dieses Formulierung, die in diese Richtung zeigt, man drückt Thema verhandelt wird. Der andere Schauplatz ist die sich aber noch vor einer klaren Aussage. Neuregelung der Nahrungsmittelhilfekonvention, die in Der andere Punkt ist schmerzhafter. Diesen Kompro- diesem Jahr ansteht. Eine einjährige Verlängerung dieser miss machen wir nur mit Bauchschmerzen mit. Wir ha- Konvention bis 2009 ist möglich. Spätestens dann muss ben gefordert, dass die Verpflichtungen der Geberländer es aber ein Ergebnis geben. Voraussetzung dafür wäre so gestaltet werden, dass sie unabhängig von der Ent- aber grünes Licht in Form eines entsprechenden Modali- wicklung der Getreidepreise sind. Darin waren wir tätenpapiers der WTO. Es gibt zarte, allerdings nur sehr Fachpolitiker im AWZ uns einig. Die Haushälter der Ko- zarte Signale, dass dies vielleicht noch in diesem Monat alition haben unsere Forderung herausgestrichen. Sie möglich ist. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. hatten Angst davor, dass dann, wenn die Getreidepreise Aber leider ist sie in der laufenden Welthandelsrunde, steigen, wie es zurzeit der Fall ist, gewaltige Nachforde- die ja eine Entwicklungsrunde sein sollte, schon zu oft rungen erforderlich würden. Ich denke, wir sollten nach gestorben. wie vor für unsere Forderung streiten. Es geht hier um Die WTO-Verhandlungen sind – das wissen wir – in humanitäre Hilfe, um Nothilfe, die buchstäblich Men- einer wirklich schwierigen Phase. Viel zu viele letzte schenleben rettet. Die darf doch um Gottes Willen nicht Termine sind schon verschoben worden. Wir brauchen davon abhängig gemacht werden, wie hoch oder tief ge- deshalb zügig Vereinbarungen, die effizient und an den rade der Getreidepreis ist. Bedürfnissen der Betroffenen orientiert die Sicherung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Ernährung in Krisensituationen garantieren, Rege- sowie bei Abgeordneten der SPD) lungen, die darauf ausgerichtet sind, die Probleme der notleidenden Menschen und nicht die Überschusspro- Da bitte ich Sie alle, gerade die Fachpolitiker, die im Be- bleme der Geberländer zu lösen. reich Entwicklungszusammenarbeit und der humanitä- ren Hilfe aktiv sind, weiter zu kämpfen. Ich bitte die Die Perspektiven der Welternährung sind von einer Bundesregierung, eine entsprechende Position einzu- Reihe schwieriger Entwicklungen gekennzeichnet – wir (B) bringen und die humanitäre Hilfe nicht vom Getreide- haben das teilweise schon gehört –: (D) preis abhängig zu machen. Erstens. Die Weltbevölkerung steigt rasant und damit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch die Nachfrage nach Nahrungsmitteln. sowie bei Abgeordneten der SPD) Zweitens. Die Preise für Weizen, Reis, Mais und Soja, also für Grundnahrungsmittel, sind im letzten Jahr Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: enorm gestiegen. In Afghanistan zum Beispiel kostet der Das Wort hat der Kollege Manfred Zöllmer von der Weizen im Moment fast 70 Prozent mehr als vor einem SPD-Fraktion. Jahr. Drittens. Der Nahrungsverbrauch in den Boomregio- Manfred Zöllmer (SPD): nen der Schwellenländer steigt, weil dort immer mehr Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! An- Fleisch konsumiert wird. gesichts von weltweit 850 Millionen hungernden Men- Viertens. Die Auswirkungen des Klimawandels sind schen, angesichts vielfältiger Kriege, Krisen und Kon- bereits jetzt durch einen Rückgang der Anbauflächen flikte, angesichts von Naturkatastrophen mag es den und durch Ernteausfälle spürbar. Das wird in Zukunft einen oder anderen vielleicht wundern, dass die Praxis noch schwieriger werden. der Nahrungsmittelhilfe von den antragstellenden Frak- tionen teilweise sehr kritisch betrachtet wird. Das resul- Fünftens. Wir erleben einen massiven Ausbau des Bio- tiert aus den Erfahrungen, die in der Vergangenheit viel- spritanbaus, wenn ich das einmal so bezeichnen darf – fach mit Nahrungsmittelhilfe gemacht worden sind. eigentlich ein Instrument gegen den Klimawandel, das Manche Geber haben in der Vergangenheit das Instru- aber global zu einer Verdrängung der Nahrungsmittel- ment der Nahrungsmittelhilfe dazu benutzt, Agrarüber- produktion führt. schüsse auf einfache Art und Weise loszuwerden. Die Kollegin Pfeiffer hat hier sehr deutlich Beispiele dafür Angesichts dieser Rahmenbedingungen wird es genannt. schwierig sein, die Millenniumsziele tatsächlich zu er- reichen. Gerade deshalb ist es so wichtig, bei der Nah- Auch auf der WTO-Konferenz in Hongkong spielte rungsmittelhilfekonvention möglichst rasch zu einem dieses Thema eine gewichtige Rolle. Beim Ringen um Ergebnis zu kommen. Wir begrüßen nachdrücklich, dass weltweit faire Handelsbedingungen im Agrarbereich war die Bundesministerin Wieczorek-Zeul sich dafür konse- es die Forderung der EU, parallel zur angebotenen Ab- quent eingesetzt hat und einsetzt. Die Ausrichtung der schaffung der Exportsubventionen auch die handelsver- internationalen Konferenz zur Nahrungsmittelhilfe in 16036 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008

Manfred Zöllmer (A) Berlin im letzten Jahr hat dies deutlich gemacht. Diese weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- (C) Konferenz hat wichtige Anregungen für eine umfas- NIS 90/DIE GRÜNEN sende Food Assistance Convention gegeben. NATO-Gipfel für Kurswechsel in Afghanistan Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird immer deut- nutzen licher: Die Situation in der Landwirtschaft hat sich ver- – Drucksache 16/8501 – ändert. Zukünftig werden wir kaum noch vor dem Pro- blem der Überschussbeseitigung stehen. Unser Problem Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) wird das des weltweiten Mangels an Nahrungsmitteln Innenausschuss sein. Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Der vorliegende Antrag dreier Fraktionen – die FDP Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und wird zustimmen; ich begrüße das – reflektiert diese Entwicklung Situation und fordert eine Neuausrichtung der Nahrungs- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union mittelhilfe. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Grünen fünf Minuten erhalten sollen. Gibt es Wider- spruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be- Die Hilfe darf nicht handelsverzerrend sein wie oftmals schlossen. in der Vergangenheit. Der Vorschlag, im Rahmen des Agrarabkommens der WTO eine Safe Box zu schaffen, Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- ist richtig. Dies kann sicherstellen, dass in Notfällen un- ner dem Kollegen Jürgen Trittin vom Bündnis 90/Die bürokratisch, schnell und zielgenau geholfen werden Grünen das Wort. kann. Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Diese Hilfe darf nicht zu einem Zusammenbruch re- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf dem gionaler Märkte führen. Der Erhalt der Existenzgrundla- Bukarester Gipfel der NATO wird eine Reihe von wich- gen der Kleinbauern ist eine zentrale Voraussetzung, um tigen Fragen diskutiert. Es geht um die Frage einer längerfristig die Versorgung mit Lebensmitteln aus eige- neuen Raketenabwehr in Europa. Wir sind dezidiert der ner Kraft sicherzustellen. Das muss das Ziel sein. Auffassung, dass diese abrüstungspolitisch kontrapro- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem duktiv wäre; BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (B) Die WTO muss deshalb jetzt die Kraft haben, ein ver- (D) denn sie würde eine schwere Belastung unseres Verhält- nünftiges Modalitätenpapier vorzulegen. Dazu müssen nisses zu Russland darstellen. sich besonders die USA bewegen. Dann muss es zügig eine Neuverhandlung der Nahrungsmittelhilfekonven- Das Drängen der Ukraine und Georgiens auf Auf- tion geben. Wir brauchen ein gutes Ergebnis, und wir nahme in die NATO, das sich auch in der Tagesordnung brauchen es schnell, im Interesse der betroffenen Men- widerspiegelt, dürfen wir angesichts der ungeklärten schen. Der vorliegende Antrag weist in die richtige Konflikte in diesem Bereich nicht durch unnötige Si- Richtung. gnale ermuntern. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Der Kern der Auseinandersetzung ist die Frage: Wie BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) geht die NATO mit dem ISAF-Einsatz in Afghanistan um? Hier muss es – da kann es nicht nur bei Ankündi- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gungen bleiben – tatsächlich einen Strategiewechsel ge- Ich schließe die Aussprache. ben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- ses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Die jüngst veröffentlichten Zahlen und Statistiken unter- zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD streichen das mit einem ganz bitteren Nachdruck. 2007 und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Für eine neue, gab es gewaltbedingt 8 000 Tote, darunter 1 500 Zivilis- effektive und an den Bedürfnissen der Hungernden ausge- ten. Das war das blutigste Jahr seit dem Sturz der Tali- richtete Nahrungsmittelhilfekonvention“. Der Ausschuss ban. Die sogenannten Oppositionellen Militanten Kräfte empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache haben im Jahr 2007 160 Selbstmordattentate verübt. 16/8485, den Antrag auf Drucksache 16/8192 anzuneh- Man muss in aller Deutlichkeit sagen: Die meisten getö- men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge- teten Zivilisten sind Anschlägen von Aufständischen genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- und nicht kriegerischen Aktionen der internationalen lung ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Enthaltung Gemeinschaft zum Opfer gefallen. der Fraktion Die Linke angenommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: des Abg. Detlef Dzembritzki [SPD]) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Es ist ein Irrtum – das muss man an dieser Stelle im- Trittin, Winfried Nachtwei, Alexander Bonde, mer wieder sagen –, zu glauben, es würde weniger Krieg Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 16037

Jürgen Trittin (A) geben, wenn die internationale Gemeinschaft dort abzie- sind. Vielmehr glaube ich, dass die USA über einen sol- (C) hen würde. Im Gegenteil: Afghanistan würde in jenen chen Strategiewechsel nur reden werden, wenn die Bürgerkrieg zurückfallen, in dem es sich 30 Jahre lang NATO bereit ist, tatsächlich das zu übernehmen, was befunden hat. OEF bisher gemacht hat, nämlich die Ausbildung der afghanischen Armee. Deswegen sage ich Ihnen: Die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Frage eines Strategiewechsels in Bukarest wird sich in Natürlich ist auch jedes zivile Opfer, das durch Han- der Antwort auf die Frage materialisieren, ob Sie es deln von NATO-Soldaten dort verantwortet wurde, ein schaffen werden, in einem ersten Schritt das Nebenei- Opfer zu viel. Es delegitimiert die internationalen Bemü- nander zu beenden, damit die Ausbildung der afghani- hungen für einen Aufbau. Deswegen bedarf es dieses schen Armee künftig von ISAF – von der NATO – Strategiewechsels. durchgeführt wird und nicht mehr unter dem Dach von Enduring Freedom steht. In Bukarest soll über einen umfassenden strategisch- politisch-militärischen Plan gesprochen werden. Ich Vielen Dank. sage in aller Deutlichkeit: Es darf nicht bei einem Plan (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bleiben. Der Strategiewechsel, über den in allen Gre- sowie bei Abgeordneten der SPD) mien geredet wird, muss endlich am Boden in Afghanis- tan ankommen. Er muss für die Menschen in Afghanis- tan spürbar und erfahrbar sein. Er muss dort praktiziert Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: werden. Das Wort hat der Kollege Holger Haibach von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jürgen Koppelin [FDP]) (Beifall bei der CDU/CSU) Dazu gehört eine gemeinsame Strategie mit der af- ghanischen Regierung für den Umgang mit den Opposi- Holger Haibach (CDU/CSU): tionellen Militanten Kräften. Dazu gehört eine verbes- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- serte und verstärkte Aufbauleistung. Dazu gehört, dass ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag, der die Defizite im Bereich des Polizei- und Justizaufbaus, heute vom Bündnis 90/Die Grünen vorgelegt wird, gibt der Drogenbekämpfung und der Demobilisierung end- die Gelegenheit, noch einmal die Situation in Afghanis- lich angegangen werden. tan genau in Augenschein zu nehmen. Bei allen bedauer- licherweise festzustellenden tragischen Ereignissen und (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP]) bei allem, was der Kollege Trittin richtigerweise gesagt (B) Wir müssen endlich klarstellen, wer hier in welchen Be- hat, finde ich, dass wir das, was erreicht worden ist, (D) reichen die Verantwortung und die Federführung hat. nicht kleinreden sollten. Ich denke, dass dem neuen zivilen Koordinator, Herrn (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eide, dabei nur eine glückliche Hand zu wünschen ist. Macht er doch nicht!) Wir wünschen uns, dass er die Defizite, die gerade im zi- Es ist durchaus so, dass sich die Situation in Afghanistan vilen Bereich aufgetreten sind, mit unser aller Unterstüt- in vielen Bereichen nicht unwesentlich verbessert hat. Es zung bewältigen wird. gibt inzwischen 4 Millionen Afghanen, die Zugang zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Trinkwasser haben. Es gibt viel mehr Menschen, die Zu- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der gang zu Infrastrukturleistungen wie Stromversorgung CDU/CSU) haben. Es ist wieder möglich, dass junge Mädchen in Schulen gehen. Vieles andere ist ebenfalls möglich. In- Die vielfach zitierte vernetzte Sicherheit muss aber in sofern gehört das zur Komplettierung des Bildes dazu. der Tat am Boden verwirklicht werden. Dazu gibt es eine Wir haben es mit einem sehr schwierigen und sehr kom- Grundvoraussetzung, auf der wir mit allem Nachdruck plexen Bild zu tun. Es gibt aber auch Erfolge, und die beharren, Herr Erler. Es kann nicht sein, dass neben der dürfen wir nicht kleinreden. NATO-Operation, die dort auf der Basis eines Mandats der Vereinten Nationen durchgeführt wird, eine weitere, (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: davon unabhängige Militäroperation stattfindet. Das Das tut keiner!) stellt alle Bemühungen zur Erreichung eines einheitli- In diesem Zusammenhang müssen wir, so glaube ich, chen Konzeptes der vernetzten Sicherheit auf den Kopf. auch die Frage stellen, wie unser eigenes Engagement (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) aussieht. Hierüber ist sehr viel diskutiert worden. Der Druck, der von der NATO auf uns ausgeübt wird, ist sehr Wenn Sie in dieser Frage mit den USA verhandeln groß, wenn es um die Frage von zusätzlichen Truppen- und reden wollen, die der Hauptansprechpartner sind, stellungen geht. Ich finde, auch hier muss man feststel- dann sage ich in dem Bewusstsein, dass die USA auch len: Wir sind mit 3 500 Soldaten der drittgrößte Trup- einer der größten zivilen Hilfeleister in Afghanistan pensteller in Afghanistan. Wir sind der viertgrößte Geber sind: Sie müssen auch die Bereitschaft haben, in anderen in Afghanistan, wenn es um die Mittel für humanitäre Dingen Verantwortung zu übernehmen. Das ist nicht in Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit geht. Das sind erster Linie in Bereichen der Fall, die, wie die Bundes- immerhin beinahe 900 Millionen Euro. Das ist keine kanzlerin es gesagt hat, mit mehr Gefahren verbunden Kleinigkeit. Ich finde, auch das gehört zu dieser Debatte. 16038 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008

Holger Haibach (A) Wenn man ein neues Konzept der vernetzten Sicher- militärischer Strukturen in Afghanistan. Hier haben wir (C) heit fordert, dann ist das sicherlich ganz im Sinne all de- noch einiges zu tun, sowohl mit Blick auf die Armee als rer, die sich hier im Hause mit dem Thema beschäftigen. auch mit Blick auf die Polizei. Wenn man sich auf der ei- Es ist aber auch im Sinne dieser Bundesregierung; denn nen Seite das – rein personell gesehen – Engagement der sie ist ebenso wie die Vorgängerbundesregierung dieje- EU zum Beispiel im Kosovo und auf der anderen Seite nige gewesen, die dieses Konzept der vernetzten Sicher- das Engagement beim Aufbau der Polizei in Afghanistan heit in die Diskussion eingebracht und dafür gesorgt hat, anschaut und einmal die Größe dieser Länder und die dass es überhaupt zum Thema gemacht worden ist. Bevölkerungszahlen miteinander vergleicht, dann er- kennt man, dass wir hier alle gemeinsam noch einiges zu Wie sehr dies inzwischen zu einer allgemeinen Über- tun haben. zeugung geworden ist, kann man sehr deutlich an dem erkennen, was der NATO-Generalsekretär bei der Kom- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) mandeurstagung der Bundeswehr gesagt hat. Diese Rede war in vielerlei Hinsicht ausgesprochen bemerkenswert. Richtig in dem Antrag ist auch, dass wir die Nachbar- länder mehr in den Blick nehmen müssen. Bei Pakistan (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ist das relativ klar, wobei Pakistan auch der schwierigste NEN]: Sie unterschied sich auch von der der Fall ist. Seien wir einmal ehrlich: Eine wirklich vernünf- Bundeskanzlerin!) tige Lösung gibt es noch auf keiner Seite; denn Pakistan Wir würden vieles nicht teilen. Aber er hat etwas gesagt, selber befindet sich in einer extrem schwierigen politi- was ich für einen NATO-Generalsekretär sehr bemer- schen Situation. Hinzu kommt, dass der Staat in den kenswert finde. Ich möchte einmal zitieren, was er zu der Tribal Areas an den Grenzen keine wirkliche Durch- Debatte über die Strategie in Afghanistan ausgeführt hat: griffsmacht hat, zumindest soweit wir das bis jetzt be- obachten können. Für mich jedenfalls beweist diese Diskussion, dass wir unseren Anspruch, die Lehren aus den sicher- Es gilt sicherlich für den Iran, aber auch für die zen- heitspolitischen Entwicklungen der letzten Jahre tralasiatischen Staaten, für Turkmenistan und Usbekis- gezogen zu haben, noch nicht wirklich eingelöst ha- tan, im Zusammenhang mit der Frage von Drogentrans- ben. portwegen und des grenzüberschreitenden Kampfes gegen den Terrorismus. Es gilt auch für Indien. Wenn Er identifiziert dann insgesamt vier Bereiche, deren wir über Pakistan und Afghanistan reden, dann müssen Beachtung er für notwendig hält, um das Konzept der wir auch darüber reden, wie wir Indien an diesem Pro- vernetzten Sicherheit herzustellen: Erstens. Das Überle- zess beteiligen können. Dass dafür in Deutschland ben eines Staates kann heute von Entwicklungen abhän- durchaus Verständnis herrscht, zeigt die deutsche G-8- (B) gen, die sich gänzlich innerhalb der Grenzen eines ande- (D) Initiative zum afghanisch-pakistanischen Dialog an die- ren Staates abspielen. – Deswegen ist die Frage, einfach ser Stelle. aus Afghanistan zu verschwinden, für uns natürlich keine Alternative. – Zweitens. Terrorismus des Insofern glaube ich, dass wir beides zu tun haben: Auf 21. Jahrhunderts hat keine Armee und kein Aufmarsch- der einen Seite müssen wir die Konsequenz der Politik gebiet. Drittens. Die überkommenen Vorstellungen von der vernetzten Sicherheit einfordern, die alle Partner an- Abschreckung sind hinfällig geworden, weil Staaten ein erkennen müssen, und auf der anderen Seite muss das, anderes Interesse haben als staatenlose Terroristen oder was erreicht worden ist, stabilisiert werden, und die Eng- Gruppen in zerfallenden Staaten. Viertens. Die Verbrei- pässe, die es eben gibt, müssen beseitigt werden. Das ist tung von Massenvernichtungswaffen hat einen neuen, nicht allein eine Frage des Geldes. Vielmehr lautet die sehr bedauerlichen Grad erreicht. Frage: Wie können wir die Strukturen in Afghanistan so (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Deswegen gestalten, dass das Land tatsächlich in der Lage ist, das, braucht man ein Raketenabwehrsystem!) was wir ihm an Hilfsmitteln – sei es in Form von Geld oder in anderer Form – bieten können, vor Ort umzuset- Daraus zieht er die Konsequenz – ich zitiere –: zen? Wir müssen sicherstellen, dass die militärische Eine letzte Bemerkung möchte ich zur Frage der Transformation unserem breiter gefassten Verständ- Mandate machen. Alle diejenigen, die sich mit den bei- nis von Sicherheit entspricht … von Peacekeeping den Mandaten beschäftigen, wissen, dass es nicht ganz bis zum Kampfeinsatz … einfach ist, OEF und ISAF miteinander zu verbinden. Nun kann man darüber reden, wie schnell so etwas Denn an OEF hängt noch die Operation Active Endea- umgesetzt wird und inwieweit das alle Partner teilen. vour. Außerdem ist das Mandatsgebiet von OEF wesent- Nur, eines ist auch klar: Vor 15 oder 10 Jahren hätte ein lich größer als „nur“ die Fläche von Afghanistan. Allein NATO-Generalsekretär wahrscheinlich nicht in dieser das bereitet schon gewisse Schwierigkeiten. Art und Weise gesprochen. Das ist sicherlich zum gro- ßen Teil auch ein Erfolg der Debatte und des Handelns in Darüber hinaus bin ich auch nicht der Meinung, dass Deutschland. eine Zusammenlegung der Mandate eine unabdingbare Voraussetzung für bessere Verhältnisse und für eine Poli- Nichtsdestoweniger finde ich, dass der Antrag der tik der vernetzten Sicherheit ist. Es hat schon Gebiete Grünen wichtige und richtige Punkte benennt. Das ist si- und Länder gegeben, in denen Truppen mit unterschied- cherlich zum einen die Frage des Aufbaus ziviler und lichen Mandaten wirkungsvoll zusammengearbeitet ha- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 16039

Holger Haibach (A) ben. Es ist durchaus möglich, auf diese Weise erfolg- lich ebenfalls erwähnen –, dass es in der Koalition die (C) reich zu arbeiten. Erkenntnis gibt, dass wir etwas verändern und den Tatsa- chen ins Auge sehen müssen. Es gibt eben eine sich un- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bestreitbar verschärfende Krise in Afghanistan, die ein NEN]: Da werden Sie aber nicht viele Bei- „Weiter so“ verbietet. spiele finden!) Ich denke, der uns heute vorliegende Antrag bietet Die breite Masse der Menschen in Afghanistan – auch viele bedenkenswerte Ansätze und Punkte, über die wir das wurde schon vorhin deutlich – spürt einfach keine in den Beratungen reden müssen. Aber wir sollten im- Verbesserung ihrer Situation. Der Wiederaufbau kommt mer im Blick haben, dass wir nicht alleine auf der Welt nicht voran; die Wirtschaft entwickelt sich nicht – und sind. Wir können Vorschläge machen, aber zum Schluss wenn, dann nur im Bereich der Drogenproduktion und wird in der NATO kollegial entschieden. Bei allem, was des Drogenexports. Überall greift die Korruption um in Afghanistan bedauerlicherweise nicht so funktioniert, sich und zerstört jede nachhaltige Entwicklung. Der wie wir es gerne hätten, dürfen wir nicht vergessen, dass Zentralregierung gelingt es überhaupt nicht, ihren Ein- wir auch einiges erreicht haben. fluss auf die Provinzen und damit auf das ganze Land auszudehnen. Herzlichen Dank. Deutschland und die internationale Gemeinschaft (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) dürfen deshalb das afghanische Volk in dieser kritischen Phase nicht im Stich lassen. Die Entwicklungs- und Si- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: cherheitsstrategie müssen so angepasst werden, dass die Das Wort hat jetzt der Kollege Hellmut Königshaus Menschen eine schnelle und spürbare Verbesserung ihrer von der FDP-Fraktion. Situation empfinden. Der NATO-Gipfel bietet eine gute Gelegenheit, den Hellmut Königshaus (FDP): NATO-Partnern und ihren Parlamenten und Regierun- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Grü- gen, aber auch uns selbst ins Gedächtnis zu rufen, wie nen haben recht: Wir brauchen einen Kurswechsel, ge- wichtig ein stärkeres Engagement in Afghanistan ist. nauer gesagt: Die Grünen brauchen einen Kurswechsel. Wir dürfen uns in Afghanistan kein Scheitern leisten. Herr Trittin ist offenbar – das zeigt sein Beitrag – schon Das gilt sowohl für die militärische als auch für die zi- auf diesem Weg. Nur hat seine Auffassung leider relativ vile Seite, den zivilen Aufbau. Viel zu wenig ist gesche- wenig mit dem Antrag zu tun. Wahrscheinlich hat Herr hen, um die Friedensdividende spürbar zu machen. Auch Trittin das Herumgeeiere und das Vorbringen von wir Deutschen müssen uns vorwerfen, dass unsere Bei- (B) Scheinargumenten, wie zuletzt auf der Bundesdelegier- träge auf dem zivilen Sektor viel zu gering sind. (D) tenversammlung seiner Partei geschehen, satt. Sein wohltuender Redebeitrag vorhin war fast schon staatstra- (Beifall bei der FDP) gend. Es wäre schön, wenn dies die gemeinsame Linie Wenn wir die deutschen Beiträge mit den Leistungen der aller Grünen wäre. Aber der vorliegende Antrag setzt USA oder Kanadas vergleichen, dann müssen wir fest- noch die alte, die unklare Linie fort: von allem etwas und stellen, dass sie viel zu gering sind. Aber wir hören ja immer ein bisschen das Gegenteil davon; einerseits ein auch immer wieder die Argumentation, dass wir militä- bisschen Nachtwei, andererseits ein bisschen Zion und risch nicht mehr tun müssten, weil wir ja schon diesen irgendwo dazwischen Herr Trittin. Beitrag zum zivilen Aufbau leisten. (Beifall der Abg. Ina Lenke [FDP]) Viel zu gering ist unser Beitrag auch im Vergleich zu Beispiel: Die NATO und damit auch die Bundeswehr dem, den wir in anderen Ländern leisten, in denen wir sollen die Ausbildung der afghanischen Armee überneh- aktiv sind, die für uns aber keine so strategische Bedeu- men. So steht es im Antrag. Aber es ist kein Wort da- tung haben und die nicht so fragil sind wie Afghanistan. rüber enthalten, dass dies notwendigerweise mit einer Warum bekommt beispielsweise China immer noch so Aufstockung sowohl beim Personal als auch beim Mate- viel Hilfe? Nach der ODA-Quote bekommt China rial verbunden ist. Was heißt dies überhaupt konkret? 187 Millionen Euro; für Afghanistan sind 125 Millionen Soll die Bundeswehr auch im Süden, vielleicht auch Euro – wenn das denn so ist; im Haushaltsplan ist jeden- noch im Osten und im Westen ausbilden? In dem Antrag falls nichts davon zu finden – vorgesehen. findet sich dazu kein Wort. Oder sollen das wieder nur die anderen machen? Wir Deutschen machen immer (Beifall bei der FDP) Vorschläge, und die anderen sollen sie dann umsetzen. Ausgewogenheit und Schwerpunktsetzung sind dabei Das wird auf Dauer nicht auf Begeisterung stoßen und nicht zu erkennen. auch nicht umsetzbar sein. Der zivile Aufbau ist auch der Schlüssel zur Drogen- (Beifall bei der FDP – Jürgen Trittin [BÜND- bekämpfung. Wir haben eben gehört, welche wichtige NIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau das habe ich Rolle dieses Thema spielt. Die Menschen brauchen alter- nicht gesagt, Herr Königshaus!) native Einkommensmöglichkeiten, anders geht es nicht Es gibt hinreichend Grund, umzusteuern. Ich freue voran. Noch sind die Menschen, die in großer Masse auf mich – wir haben das eben im Beitrag des Kollegen dem Land leben, auf die Drogenproduktion angewiesen. Haibach gehört; Detlef Dzembritzki wird es wahrschein- Wir müssen ihnen helfen. 16040 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008

Hellmut Königshaus (A) Bei den Aufgaben, die wir im Bereich der Polizeiaus- auch in Bukarest eine Rolle spielen wird, sind wichtige (C) bildung und im Übrigen auch im Bereich der militäri- Impulse von deutscher Seite ausgegangen. Ich will damit schen und sonstigen Sicherheit übernommen haben, ha- nicht sagen, dass das unsere Erfindung ist, aber wir wa- ben wir versagt. Darauf ist schon mehrfach hingewiesen ren wesentlich daran beteiligt. worden, ich will das nicht weiter vertiefen. Interessant und – wenn Sie so wollen – erfreulich ist Weshalb ist der NATO-Gipfel so wichtig? Die NATO auch: Wenn man zum Beispiel im NATO-Hauptquartier ist ja nicht nur ein militärisches, sondern auch ein politi- in Brüssel Diskussionen mit den Militärs und den zivilen sches Bündnis. Die NATO ist der richtige Ort, um diese Spitzen führt, dann hört man überall: Wir brauchen den Themen anzusprechen. Gott sei Dank werden sie ja auch gemeinsamen Ansatz, den Comprehensive Approach. – angesprochen. Wir sollten dort insbesondere auch über Das ist geradezu ein sehnlicher Wunsch, der von der Po- eine bessere Verzahnung von OEF und ISAF sprechen. litik auch erfüllt werden muss. In diesem Bereich muss Wir sollten aber nicht den Eindruck erwecken, als in Bukarest einiges passieren. Das will ich deutlich un- gebe es eine gute und eine schlechte Mission und als ob terstreichen. Sie, die Grünen, gegen die schlechte Mission kämpften Herr Kollege Trittin, Sie sind anlässlich des Gipfels in und der ganze Rest der Welt auf dem Weg des Bösen sei. Bukarest eingangs auf das Thema NATO-Erweiterung Nein, beides gehört zusammen: Ohne Bekämpfung des eingegangen. Mir ist dabei die Kommandeurstagung Terrors, ohne eine Sicherung durch OEF-Mission geht es durch den Kopf gegangen, an der ich teilgenommen nicht. Und wenn die OEF es nicht macht, dann müsste es habe und auf dem sich die Bundeskanzlerin und der die ISAF tun. Aber das wollen Sie ja auch nicht. Des- NATO-Generalsekretär zu dieser Frage und auch zu Af- halb: Kommen Sie endlich zu einer klaren Aussage da- ghanistan geäußert haben. Das Interessante war: Als ich rüber, was Sie wirklich wollen. Dieser Antrag zeigt es am nächsten Tag die Zeitung las, habe ich mich gefragt, uns nicht. Er soll nichts anderes bezwecken, als die nach bei welcher Veranstaltung ich gewesen bin, weil ich die wie vor bestehende Unklarheit bei der Ausrichtung in- Auftritte des Generalsekretärs und der Kanzlerin als ein- nerhalb der grünen Partei zu verkleistern. Dafür ist die- vernehmlicher wahrgenommen hatte, als das nach außen ses Thema weiß Gott zu ernst. transportiert wurde. Danke schön. Deswegen sollten wir auf dieser Konferenz in Buka- (Beifall bei der FDP) rest mit einem gewissen Selbstbewusstsein auftreten, um dort unseren Ansatz zu vertreten. Dabei müssen wir un- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: seren Anteil, den wir in Afghanistan leisten, immer im Hinterkopf haben. Wir wissen, dass der militärische Teil (B) Das Wort hat der Kollege Detlef Dzembritzki von der (D) SPD-Fraktion. notwendig ist, um, wenn man so will, Zeit zu erkaufen, um den zivilen Aufbau zu ermöglichen. Wir wissen aber (Beifall bei der SPD) auch, dass der zivile Aufbau den entscheidenden Anteil unserer Arbeit in Afghanistan haben muss. Detlef Dzembritzki (SPD): Dabei darf man aber auch nicht übersehen – manch- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im mal ist das offensichtlich der Fall –, dass das, was militä- Gegensatz zu Herrn Königshaus möchte ich mich zu- risch im Norden geleistet wird, nicht ohne Risiko ist und nächst einmal zumindest bei einem Teil der Opposition dass auch unsere Soldatinnen und Soldaten im Zweifel – nämlich der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen – bedan- zu Handlungen herausgefordert sind, die man durchaus ken. Denn in dem von Ihnen vorgelegten Antrag sprechen als Kampfhandlungen bezeichnen kann. Hier so zu tun, Sie durchaus Aspekte an, die in die richtige Richtung wei- als ob sie dort technische Hilfe zu leisten hätten, wäre sen. Mein Bemühen – lieber Kollege Königshaus, wir absurd und würde der Öffentlichkeit Sand in die Augen kennen uns schon lange; und Sie wissen, dass ich Sie streuen, wenn es darum ginge, zu beschreiben, was in schätze – ist eigentlich immer gewesen, hier im Haus eine Afghanistan zu leisten wäre. möglichst große Schnittmenge von Gemeinsamkeiten herzustellen. Gerade in der Afghanistan-Debatte sollten Interessant ist aber auch etwas anderes. Ich bitte Sie, wir den Versuch unternehmen, das beizubehalten. Aus davon Kenntnis zu nehmen. Herr Königshaus, Sie sagen unserer Sicht verfolgen Sie in Ihrem Antrag wichtige pauschal, bei den Menschen in Afghanistan sei nichts Punkte, die auch wir verfolgen. Es ist gut, wenn wir das angekommen. Das sollten wir ein Stückchen differen- gemeinsam feststellen und weiter an diesem Thema ar- zierter sehen. In diesem Zusammenhang – das habe ich beiten. Das schließt natürlich nicht aus, dass in einigen hier schon gesagt – gibt es drei interessante Untersu- Punkten Differenzen und Diskussionsbedarf bestehen. chungen in dieser Sache. Sie fordern von der Bundesregierung, sich auf dem (Hellmut Königshaus [FDP]: Das habe ich NATO-Gipfel in Bukarest für einen Kurswechsel einzu- nicht gesagt!) setzen. Sie werden nicht überrascht sein, dass wir durch- aus meinen, dass sich die Bundesregierung in diesem – Dann ist es ja gut. Ich will hier aber von dieser Stelle Bereich schon eingebracht hat. Beispielsweise ist das, trotzdem sagen, dass 70 Prozent der Menschen in Afgha- was auf dem NATO-Gipfel in Riga passiert ist, auch auf nistan den internationalen Einsatz im zivilen wie im mi- den Einsatz der Bundesregierung zurückzuführen. Bei litärischen Bereich für sich persönlich als wichtig und dem Werben für einen zivil-militärischen Ansatz, der wertvoll ansehen und dass sie ihre Lebenssituation, ver- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 16041

Detlef Dzembritzki (A) glichen mit 2001, als deutlich verbessert betrachten. Dazu sage ich: Wenn notwendig, müssen wir im Par- (C) Auch das muss einmal in die Köpfe transportiert werden. lament bereit sein, die Entscheidung zu treffen, dass die Regierung mehr Geld zur Verfügung hat, um diese Auf- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) gabe zu übernehmen. Das ist dann eine temporäre He- Diese Diskussion über Afghanistan führen wir sehr rausforderung, die man mit entsprechenden Haushalts- häufig. Ich kann inzwischen schon nicht mehr zählen, mitteln angehen muss. Wir können uns auf keinen Fall wie oft ich hier schon über Afghanistan gesprochen bei den Amerikanern darüber beklagen, dass sie etwas habe. tun und wie sie etwas tun, wenn wir von unserer und eu- ropäischer Seite aus nicht in der Lage sind, uns mit dem ( [SPD]: Das letzte Mal, Herr gleichen materiellen und personellen Einsatz einzubrin- Kollege!) gen. Aber wenn die Kolleginnen und Kollegen zum fünften So gesehen, können wir eine Partnerschaft auf glei- Mal das gleiche Beispiel vortragen, dann ist nicht fünf- cher Augenhöhe in Bukarest wie in Paris nur dann errei- mal etwas Schlechtes oder Gutes geschehen, sondern wir chen, wenn wir uns den Verpflichtungen stellen und müssen zur Kenntnis nehmen, dass dort ein Prozess ab- nicht kleinliche Diskussionen darüber führen, wie auf läuft und wir an diesem Prozess im Guten – hoffentlich Parteitagen bestimmte Dinge abgelaufen sind. Wir Parla- weniger im Bösen – beteiligt sind und dabei durchaus mentarier müssen vielmehr die Gesamtverantwortung Erfolge zu verzeichnen haben. übernehmen, indem wir einerseits unsere Regierung so ausstatten, dass sie handeln kann, und sie andererseits zu Sie haben – das ist für mich nicht überraschend, da einem kritischen Dialog auffordern und ihr sagen: In Bu- wir diese Frage häufig diskutieren – OEF und ISAF an- karest ist die NATO im Hinblick auf Afghanistan zu ei- gesprochen. Man sollte sich davor hüten, OEF mit dem nem Erfolg verpflichtet. Etikett „böse“ und ISAF mit dem Etikett „gut“ zu verse- hen. Schauen Sie sich zum Beispiel an, dass OEF we- Vielen Dank. sentlicher Träger der Ausbildung der afghanischen Ar- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) mee ist. Diese Aufgabe wollen sie jetzt an ISAF und die NATO übertragen. Ich weiß gar nicht, ob dafür die Ka- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: pazitäten vorhanden sind. Hier ist mit Sicherheit Diskus- Das Wort hat der Kollege Wolfgang Gehrcke von der sionsbedarf und ein Abwägungsprozess notwendig, wie Fraktion Die Linke. wir eigentlich die Herausforderungen, die nach wie vor im Süden bestehen, meistern wollen, welche Instrumente (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert (B) wir dafür zur Verfügung haben und wie andererseits der Winkelmeier [fraktionslos]) (D) wichtige Bereich der Ausbildung unterstützt werden soll. Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Das, was ich als absolut notwendig ansehe, ist, dass Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich von der Konferenz in Bukarest vonseiten der NATO ein hatte Ihnen ja beim letzten Mal prophezeit, dass wir Sit- Signal in Richtung der Europäischen Union, aber noch zungswoche für Sitzungswoche über Afghanistan disku- mehr in Richtung der Vereinten Nationen dahin gehend tieren werden. Ich habe gar nicht gedacht, dass sich das ausgeht, wie die Zusammenarbeit verbessert und unter- so schnell erfüllt. einander abgestimmt werden kann, um zum Beispiel die (Walter Kolbow [SPD]: Warum nur in Sit- Ziele und Vorgaben des Afghanistan Compacts zu errei- zungswochen?) chen, der nach wie vor die wichtigste Roadmap, die wichtigste Vorgabe für die Entwicklung in Afghanistan Es wird so sein, dass uns dieses Thema noch lange sehr ist. Wichtig ist auch, dass wir die Konferenzen in Buka- kontrovers beschäftigen wird. rest und Paris über Afghanistan miteinander verbinden Die NATO will auf ihrem Gipfel in Bukarest einen können, sodass die NATO in der Bilanzierung deutlich umfassenden, strategischen, politisch-militärischen Plan machen kann, welche Dinge sich in ihrer Verantwortung für Afghanistan beschließen. Nur, das Interessante daran nicht entwickelt haben. Andererseits muss gezeigt wer- ist: Sie will diesen Plan nicht veröffentlichen, weil er ge- den, wie Europäische Union und Vereinte Nationen in heim ist. Man will also etwas beschließen, will es aber ihrer zivilen Leitungsfunktion unterstützt werden kön- nicht öffentlich machen, weil es geheim ist. Wenn das nen, um diese Aufgaben zu erfüllen. ein neues strategisches Konzept ist, dann muss ich mich doch sehr wundern. Ich will an dieser Stelle ansprechen, dass die Bereit- stellung von Polizei und das Funktionieren der Justiz (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wesentliche Voraussetzungen dafür sind, dass innere Si- NEN]: Ja, in der Tat!) cherheit entstehen kann. Aus einem Bericht im Auswär- Als Erstes sollte der Deutsche Bundestag souverän tigen Ausschuss – wir alle haben ihn bekommen – geht sagen: Wir wollen, dass dieser umfassende militärisch- zwar hervor, dass 55 000 Polizisten zur Verfügung ste- strategische Plan auf den Tisch kommt und öffentlich hen. Ich unterstelle einmal, dass diese Zahl zutreffend wird, damit man darüber reden kann. ist. Es fehlen dann aber immer noch 30 000. Man muss sich also darüber Gedanken machen, wie man die Aus- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert bildung forciert. Winkelmeier [fraktionslos]) 16042 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008

Wolfgang Gehrcke (A) Was ist denn das für eine Politik, etwas zu beschließen ghanistan noch in diesem Jahr. Die Nato hat den (C) und es nicht öffentlich zu machen? Zumindest das kön- Rückhalt bei den Bürgern verloren. nen wir von der Regierung fordern. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Uta Die NATO wird in Bukarest weiter Druck nach mehr Zapf [SPD]: Was für ein Schwachsinn!) Militär und neuem Kriegsgerät machen, weil sie die Das schreibt das Handelsblatt; das sagen nicht wir. Das stärkste kriegführende Partei ist. Das liegt bereits auf dem ist aber eine exakt richtige Einschätzung. Mit der Fort- Tisch; die Forderungen sind bekannt. Auf dem Gipfel in setzung der jetzigen NATO-Politik werden Sie den Bukarest wird es im Prinzip auch ein Ja zur Stationierung Rückhalt bei den Bürgerinnen und Bürgern nicht zurück- eines Raketenabwehrsystems in Polen und Tschechien erobern. Das ist auch nicht unser Ziel, sondern wir wol- geben. Zudem wird es eine Öffnung zur Aufnahme von len einen tatsächlichen Wandel in der Politik. Georgien und der Ukraine in die NATO geben. Auch das ist mittlerweile bekannt. Man wird diesen Schritt noch (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Uta nicht vollziehen, aber die Tür aufmachen. Zapf [SPD]: Das ist aber neu!) Ich erwarte aber kein neues strategisches Konzept, das Da Ostern vor der Tür steht, nutze ich die Gelegen- auch in der Frage Afghanistan einen tatsächlichen Wan- heit, alle Bürgerinnen und Bürger unseres Landes zu bit- del mit sich bringt. Ich will ganz deutlich sagen – hier ha- ten, an den Ostermärschen der Friedensbewegung teilzu- ben wir Linken eine Grunddifferenz zu dem Vorschlag nehmen. der Grünen –: Ein strategisches Konzept kann dann nicht (Beifall bei der LINKEN) neu sein, wenn es nicht die Bereitschaft zum Truppenab- bau, zum Truppenabzug vorsieht. Ich selber werde das sehr ausgedehnt machen. Ich würde mich freuen, wenn ich Kolleginnen und Kollegen dieses (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Hauses auf dem einen oder anderen Marsch treffen Winkelmeier [fraktionslos]) würde. Dazu gibt es ja überhaupt keine Überlegungen. Wenn (Walter Kolbow [SPD]: Seit wann marschieren dies nicht geschieht, dann gibt es kein neues strategi- Sie?) sches Konzept. Man kann zwar einzelne Punkte benen- Dort können Sie sich mit der Meinung der Friedens- nen; aber zu einem neuen Konzept kommt man nicht. bewegung, die einen Rückzug aus Afghanistan will, aus- Man wäre blind, wenn man nicht erkennen würde, einandersetzen. Auch Abgeordnete können an Ostermär- dass die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der NATO schen teilnehmen. Vielleicht trifft man ja auch mal wieder einen Grünen auf einem Ostermarsch; das wäre (B) zunehmen, dass auch die mit der Bundesregierung ge- (D) führte Debatte intensiver wird. Ich finde es schon inte- direkt ein Revival. ressant, dass sich die Kollegen dazu bislang nicht geäu- Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ßert haben. Einmal klar gesagt: Ich fand den Auftritt des NATO-Generalsekretärs auf der Kommandeurstagung (Beifall bei der LINKEN) hier in Berlin und die Art und Weise, wie mit unserem Land umgegangen worden ist, dreist. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. der Kollege Gert Winkelmeier das Wort. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) Gert Winkelmeier (fraktionslos): Die Antwort des Verteidigungsministers Jung lautete – ich Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! will ihn einmal wörtlich zitieren; damit das auch korrekt Stellvertretend auch für die heutige Mehrheit in diesem ist –, Auslandseinsätze würden voraussichtlich das Auf- Hause hat am 5. Mai 2005 der damalige Bundeskanzler gabenspektrum der Bundeswehr in Zukunft in noch stär- erklärt: kerem Maße bestimmen. Was heißt denn das? Er hat die Die NATO ist ein Teil deutscher Staatsräson gewor- Tür für weitere Auslandseinsätze der Bundeswehr aufge- den – und sie wird dies auch bleiben. macht und nicht etwa zugemacht. Das ist die Botschaft. Ich habe ihn wörtlich zitiert. Wenn das so sein sollte, muss dann nicht in einer zu- nehmend vernetzten Welt die Frage gestellt werden, wie Jetzt steht die Bundesregierung unter Druck. Das ver- Deutschland von Staaten gesehen und beurteilt wird, die stehe ich auch. Sie weiß ganz genau, dass die Mehrheit diesem Bündnis, dem von niemandem ein Angriff droht, der deutschen Bevölkerung mit ihrer Afghanistanpolitik nicht angehören? Diese Staaten werden registrieren, dass nicht einverstanden ist. Sie spürt den Druck der USA Deutschland es hinnimmt, wenn die NATO-Führungs- und taktiert in dieser Situation. Diesem Druck muss sie macht die Foltermethode Waterboarding weiterhin bei ja Rechnung tragen. Verhören anwendet, weil ihr Präsident selbst definiert, Ich will Ihnen einmal etwas vorhalten, was gestern im was Folter ist. Diese Staaten sehen, dass die ISAF in Handelsblatt zu lesen war: Afghanistan täglich zwischen 40 und 65 Einsätze von Jagdbombern zur Luftnahunterstützung fliegt, dabei Und bei einer Umfrage in Deutschland forderten stets unbeteiligte Personen ums Leben kommen und die zwei Drittel der Befragten einen Rückzug aus Af- Bundeswehr dafür die Luftbilder liefert. Sie werden sich Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 16043

Gert Winkelmeier (A) fragen, ob auf diese Weise Nationbuilding befördert wer- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (C) den soll. Die Nicht-NATO-Staaten haben erlebt, wie Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die 1999 Jugoslawien unter Zuhilfenahme gefälschter Be- Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre weise mit deutscher Beteiligung überfallen worden ist. keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Sie erleben heute, dass Deutschland den herausgebomb- ten Teil unter Bruch der KSZE-Schlussakte, der Charta Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- der Vereinten Nationen und seiner eigenen Verfassung nerin der Kollegin Ina Lenke von der FDP-Fraktion das als Staat anerkennt. Wort. Mit zunehmender Besorgnis blickt die Welt auf eine Ina Lenke (FDP): NATO, die sich entgegen ihren vertraglichen Grundla- gen als Bündnis von Demokratien unverhohlen an die Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die FDP- Stelle der UNO setzen will und sich schon jetzt deren Bundestagsfraktion hat zu den Themen Babyklappe und Aufgaben anmaßt. Die Welt fragt, was Deutschland zu anonyme Geburt eine Große Anfrage an die Bundes- tun gedenkt, um dem Einhalt zu gebieten. Sie fragt, was regierung gerichtet. Seit 1999 gibt es in der Bundesrepu- es mit einer vorgeblichen Wertegemeinschaft auf sich blik überall Babyklappen, insgesamt 76. Überall in hat, die sich im Zweifelsfall über Recht und Gesetz hin- Deutschland gibt es auch Krankenhäuser, in denen wegsetzt, weil sie glaubt, sich dies militärisch leisten zu schwangeren Frauen, die anonym bleiben und ihren Na- können. Was ist das für eine Wertegemeinschaft, die ehe- men nicht nennen wollen, eine Entbindung ermöglicht malige, hochrangige Generale über nukleare Präventiv- wird. kriege gegen Nichtatomwaffenstaaten nachdenken lässt? Fakt ist, dass sich diese Frauen und das Krankenhaus- Was ist von dem einstigen Verteidigungsbündnis nach personal dabei nach deutschem Recht strafbar machen. Wegfall des potenziellen Gegners geblieben? Die zwang- Man darf das also nicht. Die Deutsche Gesellschaft für hafte Suche nach Feindbildern und Bedrohungen, um ei- Gynäkologie und Geburtshilfe, in der sich solche Ärzte nen Militärapparat zur Durchsetzung westlicher ökono- zusammengefunden haben, erhebt meines Erachtens zu mischer Interessen zu rechtfertigen. Recht an den Staat, also auch an uns, das Parlament, die Der Exportweltmeister Deutschland ist jedoch auf Forderung, das medizinische Handeln der Ärzte in so Vertrauen in der Welt angewiesen. Dies nicht zu verspie- einem Fall strafrechtlich nicht zu verfolgen. Denn das ist len, dazu ist die geografische und militärische Expan- heute der Fall. sionsagenda des Gipfels in Bukarest wahrlich nicht ge- (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ eignet. Anstatt über weitere Mitglieder, strategische DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Lufttransporte und die an jedem Ort der Welt einsetzbare (B) CDU/CSU) (D) schnelle Eingreiftruppe zu verhandeln, wäre die Bundes- regierung gut beraten, sich auf die einstigen Stärken Für die Babyklappe und die wirklich seltenen Fälle deutscher Außenpolitik zu besinnen. Für diese stehen der anonymen Geburt – in Deutschland sind es 40 bis 50 – Begriffe wie Abrüstung, Rüstungskontrolle, gegensei- gibt es bisher keine rechtlichen Grundlagen. Das ist der tige Sicherheit, strukturelle Nichtangriffsfähigkeit und Bundesregierung bekannt. Im Koalitionsvertrag von gesamteuropäische Friedensordnung. Ich bezweifle aber, CDU, CSU und SPD wurde vereinbart, dass die Prüfung dass Sie den erforderlichen Mut aufbringen, gegen den der rechtlichen Absicherung der anonymen Geburt noch Strom zu schwimmen. in dieser Legislaturperiode vorgenommen werden soll. Mittlerweile hat schon die zweite Hälfte dieser Legisla- Vielen Dank. turperiode begonnen. Die FDP-Bundestagsfraktion stellt (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) fest, dass sich auf diesem Gebiet aber überhaupt nichts tut. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der FDP) Ich schließe die Aussprache. In der Antwort auf die Große Anfrage der FDP hat die Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Bundesregierung nun zum ersten Mal Fakten genannt. Drucksache 16/8501 an die in der Tagesordnung aufge- Es wird deutlich, dass sich schwangere Frauen in einer führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- extremen Notlage befinden, und dies – das möchte ich verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung betonen –, ohne den Rückhalt ihrer Familie oder ihres so beschlossen. Partners zu haben; die sind nämlich nicht da. Denn aus welchem Grund sollte es zu anonymen Geburten kom- Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 auf: men, wenn nicht deshalb, weil diese Frauen in einer ex- Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten tremen Notlage sind? Ina Lenke, Gisela Piltz, Sibylle Laurischk, weite- Im Jahre 2002 – ich glaube, es ist ganz wichtig, dass rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP ich das sage, weil einige von Ihnen damals noch nicht im Auswertungen der Erfahrungen mit anony- Bundestag waren – hat der Deutsche Bundestag schon mer Geburt und Babyklappe einmal eine Lösung dieses Problems gefunden. SPD, CDU, CSU und FDP haben damals fraktionsübergrei- – Drucksachen 16/5489, 16/7220 – fend den Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der ano- 16044 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008

Ina Lenke (A) nymen Geburt in den Bundestag eingebracht. Schon im ren Frauen in extremen Notlagen helfen sowie den Ärz- (C) Jahre 2002 waren wir also so weit. ten und Ärztinnen Rechtssicherheit geben. Wer im Bundestag arbeitet, der weiß, wie selten frak- (Beifall der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk tionsübergreifende Vorlagen sind, wie selten also die Na- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) men der Regierungsfraktionen und der Oppositionsfrak- tionen auf derselben Drucksache erscheinen, weil alle Die positive Bilanz der Hilfsprojekte zeigt: Eine Be- die gleiche Regelung wollen. Dennoch frage ich die Kol- gleitung der anonymen Geburt birgt die Chance, dass die leginnen und Kollegen, die heute hier sind, weil sie die- Mutter in die Lage versetzt wird, staatliche Hilfsange- ses Thema interessiert: Warum sollte das in dieser Legis- bote in Anspruch zu nehmen. Damit kann man dem ge- laturperiode nicht noch einmal möglich sein? setzlichen Anspruch des Kindes auf Wissen um die ei- gene Herkunft besser gerecht werden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Helga Lopez [SPD]: Weil es Vielen Dank. gegen das Grundgesetz verstößt!) (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem Die Antworten der Bundesregierung auf unsere Fra- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gen sind natürlich unvollständig. Das liegt auch daran, dass diese Fragen zum ersten Mal zu beantworten waren. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Einige Bundesländer, auch Nordrhein-Westfalen, konn- Das Wort hat jetzt die Kollegin Maria Eichhorn von ten nur unvollständige Angaben machen. Dennoch zei- der CDU/CSU-Fraktion. gen die Antworten, dass die Hälfte der Schwangeren, die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sich in Beratungsstellen anonym beraten ließen, ihre Anonymität nach der Geburt aufgeben und das Kind mit nach Hause nehmen. Diese Erfolge gilt es zu sehen. Maria Eichhorn (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Ich komme zur Babyklappe. Auch die Mütter, die, freue mich, dass noch einige Kolleginnen und Kollegen statt ins Krankenhaus zu gehen, ihr Kind ohne Hilfe im hier sind, um über dieses wichtige Thema zu diskutieren. Badezimmer oder wo auch immer geboren und es in eine Babyklappe gelegt haben, haben nach kurzer Zeit ihre Die Kollegin Lenke hat schon ausgeführt, dass sich Anonymität aufgegeben und die Beziehung zu ihrem bereits in der 14. und 15. Legislaturperiode Abgeordnete Kind hergestellt. Auch das ist ein Erfolg der Baby- aus allen Fraktionen für eine Regelung der anonymen klappe. Die Gegner von Babyklappe und anonymer Ge- Geburt eingesetzt haben – leider ohne Erfolg. Im ersten burt verweisen darauf, dass deshalb nicht weniger Kin- Fall ist der Gesetzentwurf nicht zum Tragen gekommen, (B) (D) der getötet würden. Ich glaube, solche Vergleiche sollte im zweiten Fall war die Legislaturperiode zu schnell zu man nicht bemühen. Wenn die Frauen die extreme Not- Ende, als dass man zu einem Ergebnis hätte kommen lage der Geburt hinter sich haben und in einem geschütz- können. Es war uns daher wichtig, in der Koalitionsver- ten Raum wie dem Krankenhaus betreut werden, sind sie einbarung festzuhalten, dass hier Handlungsbedarf be- offen für staatliche Hilfe. steht. Sollten Mütter ihre Anonymität nicht aufgeben wol- In der Vergangenheit und auch heute hat sich die Dis- len – auch dieser Fall muss angesprochen werden –, kussion auf zwei Kernprobleme zugespitzt: Erstens. bleibt das Kind zunächst im Krankenhaus, wird dann für Kann eine rechtliche Absicherung der anonymen Geburt acht Wochen in eine Pflegefamilie gegeben, bis das Ad- tatsächlich Leben retten? Zweitens. Welche Bedeutung optionsverfahren vom Jugendamt eingeleitet wird. kommt dem Recht auf Wissen um die eigene Abstam- mung zu? Ich sage ganz klar: Das Recht auf Leben hat Ich will deutlich sagen: Das Recht des Kindes auf Vorrang vor dem Recht auf Wissen um die eigene Ab- Wissen um die eigene Abstammung gehört zu den stammung. Grundrechten. (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- (Helga Lopez [SPD]: Eben!) NIS 90/DIE GRÜNEN) Das gilt aber auch für das Recht auf Leben. Dem wie- Um die offenen Fragen zu klären und bei dieser The- derum wird mit ärztlicher Hilfe am besten Rechnung ge- matik weiterzukommen, hat das Bayerische Staatsminis- tragen. terium für Arbeit und Sozialordnung eine Studie in Auf- (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ trag gegeben, deren Ergebnisse im Herbst letzten Jahres DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der veröffentlicht wurden. Gegenstand ist das Moses-Pro- CDU/CSU) jekt, das Frauen in Bayern die anonyme Geburt ermög- licht. Fazit dieser Studie ist: Erste Lösungsansätze sieht auch die Bundesregie- rung, schaut man sich ihre Antwort auf die Fragen 20 bis Die Bedeutung des Projekts wird hoch eingeschätzt. 24 an. Ich denke, an diesen Punkten muss gearbeitet Das Fallaufkommen ist Gott sei Dank nicht hoch; das werden. Projekt leistet aber Unterstützung in sehr prekären Le- benslagen. Es gibt keine klar definierte Zielgruppe. Ich komme zum Schluss. Fraktionsübergreifend soll- ten wir gemeinsam nach Lösungen suchen, die unserer Von hoher Bedeutung ist die Beratung, da nahezu Verfassung Rechnung tragen und gleichzeitig schwange- keine Frau einen Partner hat, der sie unterstützt. Entwe- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 16045

Maria Eichhorn (A) der wissen die Väter nichts von der Schwangerschaft, Schwangeren überwiegend in extremen Lebenssituatio- (C) oder sie lehnen das Kind ab. Auch das soziale Umfeld ist nen. Im Übrigen bekennen sich zum Beispiel beim Mo- keine Hilfe. Da eher harte Sanktionen zu erwarten sind, ses-Projekt 80 Prozent der Frauen nach der Geburt zu ih- soll niemand von der Schwangerschaft erfahren. rem Kind. Das ist sicherlich auf die intensive Beratung und Begleitung durch die Schwangerschaftskonfliktbe- Viele der Frauen sind jung, haben keine Ausbildung ratungsstellen zurückzuführen, denen es in der Regel ge- und leben in schwierigen materiellen Verhältnissen. Sie lingt, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen und die Ei- sind oft überfordert, und manche sind suchtabhängig. genkräfte und das Selbstbewusstsein der betroffenen Die materiellen Probleme wären behebbar. Aber die Frau so weit zu stärken, dass sie sich zu ihrem Kind be- sozialen Sanktionen scheinen unüberwindbar. Die kennen kann. Frauen haben Angst vor Stigmatisierung, wenn sie ihr Kind offiziell zur Adoption freigeben würden. Es geht in Die Panik, die vor der Geburt herrschte, stellt sich an- der Regel um sehr tragische Lebenssituationen. ders dar, wenn das Kind da ist. Das Moses-Projekt in Bayern zeigt, dass die Möglichkeit zum anonymen Ge- Auf unsere Initiative hin hat Frau Bundesministerin bären wirklich eine Hilfe sein kann. Zur Beschränkung von der Leyen zugesagt, eine Anschlussstudie in Auftrag auf Extremfälle trägt sicherlich auch der von der Berate- zu geben. Diese ist zurzeit in Arbeit. rin unterzeichnete Schutzbrief bei, den die schwangere Die Große Anfrage der FDP bringt neue Erkennt- Frau – im Fall Bayern von Donum Vitae – erhält. Darin nisse; sie macht aber auch deutlich, dass es aufgrund der bestätigt die Beraterin, dass es sich tatsächlich um eine Anonymität bei vielen Fragen schwierig ist, Aussagen besondere, extreme Notsituation handelt. zu treffen. Denn die Anonymität steht im Vordergrund. Es wird oft behauptet, das Angebot einer anonymen Warum muss die anonyme Geburt gesetzlich geregelt Geburt erreiche die Frauen in ihrer psychischen und pa- werden? Die anonyme Geburt soll die psychosoziale und nikartigen Ausnahmesituation nicht. Die begleitete ano- medizinische Begleitung der Mutter ermöglichen, um nyme Geburt, bei der die Frau bereits vor der Entbin- ein Kind besser vor Aussetzung oder Tötung während dung nicht alleine gelassen wird, will Panik erst gar oder nach der Geburt zu schützen. Es geht um die Si- nicht entstehen lassen. Hierin besteht der Unterschied cherstellung der medizinischen Versorgung von Mutter zur Babyklappe, in die die Mutter das Kind erst nach der und Kind vor und während der Geburt auch in den Fäl- Geburt legt. Viele Gegner unterscheiden nicht zwischen len, in denen Frauen glauben, ihre Schwangerschaft ver- diesen beiden Möglichkeiten. heimlichen zu müssen, und zumindest zu diesem Zeit- punkt keine Möglichkeit für ein Leben mit dem Kind Das Problem des beeinträchtigten Rechts auf Her- (B) sehen. kunftskenntnis, das Verfassungsrang hat, versucht (D) Donum Vitae mit dem Moses-Projekt dadurch zu lösen, Davon strikt zu unterscheiden ist die Babyklappe, in dass die Beraterin der Mutter in den Gesprächen vor und denen Frauen ihr Kind unerkannt ablegen können. Die- nach der Entbindung nahelegt, ihren Namen für das ses Angebot lässt schwangere Frauen vor und während Kind und Angaben über weitere Umstände im sicheren der Geburt in medizinischer und sozialer Hinsicht allein. Tresor der Beratungsstelle zu hinterlassen. Das Recht Heute erfolgen 30 Prozent aller Entbindungen durch auf Herkunftskenntnis muss im Übrigen gegenüber dem Kaiserschnitt. Es ist nicht auszudenken, was passiert, Ziel des Lebensschutzes abgewogen werden. Der Euro- wenn Frauen allein oder ohne medizinische Hilfe entbin- päische Gerichtshof hat im Jahre 2003 ein ganz klares den würden. Die damit verbundene Gefahr für Mutter Urteil zugunsten des Lebensschutzes gefällt. Das muss und Kind ist groß. Nicht selten finden solche Geburten für uns maßgebend sein. unter unwürdigen Bedingungen statt. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem Die geltende Rechtsordnung sieht eine anonyme Ge- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) burt nicht vor. Darauf hat Frau Lenke schon hingewie- sen. Wer die begleitete anonyme Geburt im Interesse des Eine Änderung von Gesetzesbestimmungen sollte vorrangigen Lebensschutzes praktiziert, begibt sich der- mehr Klarheit schaffen und das Risiko der Strafverfol- zeit in eine rechtlich schwierige Lage. Er agiert am gung der mit der begleiteten anonymen Geburt befassten Rande der Legalität und kann jederzeit von Strafverfol- Personen verringern. Dabei sind bisherige, beispiels- gung betroffen sein. weise mit dem Moses-Projekt gemachte Erfahrungen Was schwangere Frauen dazu drängt, anonym zu ge- durchaus hilfreich. bären, entspricht im Grunde dem Schwangerschaftskon- Wie geht es weiter? Die Erkenntnis aus der Großen flikt nach § 219 StGB. Dieser wird aber häufig erst nach Anfrage und die Machbarkeitsstudie bestätigen den Ablauf der Zwölfwochenfrist festgestellt, entweder weil Auftrag der Koalitionsvereinbarung. Wir müssen die die Schwangerschaft verdrängt wird oder die Schwan- rechtlichen Grauzonen endlich beseitigen und alle An- gere keine Möglichkeit sieht, vor der zwölften Woche strengungen unternehmen, damit der Auftrag der Koali- eine Beratungsstelle aufzusuchen. tionsvereinbarung noch in dieser Legislaturperiode er- Manche sehen die Gefahr, dass die anonyme Geburt füllt werden kann. Das liegt nicht nur im Interesse der sozusagen als Billigangebot genutzt wird, man sich also Mütter, die sich in extremen Lebenssituationen befinden, aus missbilligenswerten Gründen den Pflichten für das sondern dient auch dem Lebensschutz. Der Schutz des Kind entzieht. In den bisherigen Fällen befanden sich die menschlichen Lebens, insbesondere der Schutz ungebo- 16046 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008

Maria Eichhorn (A) rener und geborener Kinder, hat für uns höchste Priori- In diesem Zusammenhang muss man sich natürlich (C) tät. auch um andere Aspekte kümmern, die mir sowohl in den Fragen und somit auch in den Antworten viel zu (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem kurz kommen, nämlich: Warum sprechen wir hier immer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nur über die Frauen? Muss man an dieser Stelle nicht noch einmal das Geschlechterverhältnis wesentlich stär- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ker thematisieren? Warum kommen Frauen in eine sol- Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll von der che Situation? Wie kann es sein, dass sie eine Schwan- Fraktion Die Linke. gerschaft als Schande verstehen, dass ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit für sie aufgrund ihrer kon- (Beifall bei der LINKEN) kreten Lebenssituation infrage gestellt ist?

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Wir als Linke fordern hierzu eine wirklich sachliche, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! unaufgeregte Diskussion. Dabei muss man weitergehen; Mein Dank richtet sich an die FDP für die Große An- diese kann man nicht auf Babyklappe und anonymisie- frage, die wirklich umfassend ist. Ich danke aber auch rende Geburt beschränken. Vielmehr müssen wir überle- der Bundesregierung – das trifft bei der Beantwortung gen, wie wir flächendeckende, zielgerichtete Unterstüt- von Anfragen ja nicht immer zu – für die überraschend zungsangebote zur Prävention von Notsituationen schaffen offenen Antworten. Frau Eichhorn, die Antworten ma- können. Es war doch zu erkennen, dass diese Möglich- chen aber deutlich, dass Sie zu kurz greifen – und das ist keiten gerade Frauen nutzen, die keinen gesicherten ein Problem –, wenn Sie als einzige Begründung für Ihr Aufenthaltsstatus haben. Es geht also auch darum, wie Vorhaben anführen, Lebensrecht gehe vor Abstam- man sie erreichen kann. Es bedarf auch besserer Infor- mungsrecht. Die Tatsache, dass wir in Deutschland kon- mationen zur legalen Adoption und zu Möglichkeiten stant etwa 25 Babytötungen pro Jahr haben – das hat der Pflege sowie einer höheren gesellschaftlichen Ak- sich leider in den letzten sieben Jahren nicht verändert –, zeptanz von Adoptionen. Es geht um die Frage der Stär- und alle weiteren Ausführungen zeigen klar, dass die kung der reproduktiven Rechte. Sozial benachteiligte Fragen nicht beantwortet werden können, ob bei Umset- Frauen haben keinen ungehinderten Zugang zu kosten- zung Ihres Vorhabens tatsächlich Kindstötungen verhin- freien Verhütungsmitteln. Auch das ist ein Problem, über dert werden, welche neuen Probleme auftreten und wel- das man in diesem Zusammenhang reden muss. che Wirkung das auf das Verhältnis zwischen Müttern Schließlich halte ich es für sehr kritisch, wenn Werbe- und Kindern hat. Ich denke, die vorliegenden Antworten kampagnen für Babyklappen durchgeführt werden, aber ermöglichen uns eine sachliche und unaufgeregte Dis- gleichzeitig weniger Geld für Aufklärungsangebote über (B) kussion. Aber diese muss ehrlich geführt werden. legale Hilfsangebote bereitgestellt wird. (D) Ein Hauptproblem besteht darin: Es handelt sich um In diesem Sinne meine ich, dies ist ein großes Feld Ausnahmehandlungen. Frauen befinden sich in einer Si- von Anforderungen, die wir aber gemeinsam erfolgreich tuation, in der sie von anderen Angeboten nicht erreicht bewältigen können; dies wird auch die weitere Debatte werden. Es stellen sich also die Fragen: Müssen wir ergeben. nicht verstärkt über andere, vorgeschaltete Angebote dis- Ich danke Ihnen. kutieren? Geht es wirklich nur um eine anonyme Ge- burt? Oder führt eine anonyme Geburt nicht zu einer (Beifall bei der LINKEN) Anonymisierung des Verhältnisses zwischen Mutter und Kind? Wenn es so sein sollte: Will man das tatsächlich Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: legalisieren? Man sollte also wesentlich intensiver Das Wort hat die Kollegin Helga Lopez von der SPD- schauen, wie man Möglichkeiten zu einer geheimen Ge- Fraktion. burt schafft. Das Recht des Kindes auf Abstammung ist ein wesentliches Recht, und man kann es gerade in die- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sem Problemkreis nicht gegen etwas anderes ausspielen der CDU/CSU) oder abwägen. Helga Lopez (SPD): (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Was ist mit dem Lebensrecht?) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Eichhorn, das Thema ist nicht nur ein wichtiges Thema; Ich halte die anonymisierende Geburt tatsächlich für ich halte es insbesondere für ein äußerst schwieriges ein Problem. Die nur sehr lückenhaft vorhandenen Er- Thema. gebnisse stellen klar, dass es den Frauen zum großen Teil eigentlich nicht um ihre eigene Anonymität geht, son- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ dern um Anonymität in ihrem Umfeld. Das ist in der DIE GRÜNEN]: Im Bundestag sind schwie- Antwort auf Frage 2 klar ausgeführt: rige Angelegenheiten zu regeln!) In der Regel geht es den betroffenen Frauen nicht Im Koalitionsvertrag ist es mit einem Satz erwähnt. Ich um Anonymität, sondern um Vertraulichkeit im habe die schriftliche Fassung jetzt leider nicht hier, habe Umgang mit ihrer besonderen Situation. sie aber eben noch einmal angeschaut. Sie lautet in etwa so, dass eine gesetzliche Regelung erfolgen soll, wenn Das ist der entscheidende Punkt. sie denn nötig ist. Darauf, ob sie nötig ist, gehe ich jetzt Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 16047

Helga Lopez (A) gleich ein; ich bin der festen Überzeugung, sie ist es Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (C) nicht. und die Menschenwürde sichern jedem Einzelnen einen autonomen Bereich privater Lebensgestal- (Abg. Ina Lenke [FDP] meldet sich zu einer tung, in dem er seine Individualität entwickeln und Zwischenfrage) wahren kann. – Eine Zwischenfrage. Weiter schreibt das Gericht:

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Verständnis und Entfaltung der Individualität sind aber mit der Kenntnis der für sie konstitutiven Fak- Bitte schön, Frau Kollegin Lenke. toren eng verbunden. Zu diesen zählt neben ande- ren die Abstammung. Sie legt nicht nur die geneti- Ina Lenke (FDP): sche Ausstattung des Einzelnen fest und prägt so Frau Lopez, ich habe den Text jetzt hier; Sie haben seine Persönlichkeit mit. Unabhängig davon nimmt das richtig zitiert. Aber hier wurde auch geschrieben, sie auch im Bewusstsein des Einzelnen eine Schlüs- „Erfahrungen mit der Anonymen Geburt sollen ausge- selstellung für Individualitätsfindung und Selbst- wertet“ werden. Das ist ja das, was gefehlt hat. Ich hoffe verständnis ein. nicht, dass dahinter ein entsprechender politischer Wille Etwas weiter unten schreibt das Gericht: steckt. Sehen Sie das genauso? … die Kenntnis der Herkunft bietet dem Einzelnen Helga Lopez (SPD): unabhängig vom Ausmaß wissenschaftlicher Er- Nein, das sehe ich nicht so. Außerdem müssen Sie da gebnisse wichtige Anknüpfungspunkte für das Ver- das Haus fragen. Sie können mit Sicherheit davon ausge- ständnis und für die Entfaltung der eigenen Indivi- hen, dass der politische Wille unserer Fraktion dazu eben dualität. … Dem kann nicht entgegengehalten nicht fehlt. Wir sind auch froh und dankbar, dass ange- werden, daß es Fälle gibt, in denen die Abstam- kündigt worden ist, es werde ein weiteres Papier geben, mung unaufklärbar bleibt … Art. 2 Abs. 1 in Ver- mit dem mehr Klarheit geschaffen wird; denn auch wir bindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verleiht kein Recht wollen Verbesserungen bewirken. Es ist immer nur die auf Verschaffung von Kenntnissen der eigenen Ab- Frage, was der probate Weg ist, um Müttern und ebenso stammung, sondern – das sage ich hier ganz bewusst – Kindern zu helfen. – jetzt wird es wichtig – (Beifall bei der SPD) kann nur vor der Vorenthaltung erlangbarer Infor- mationen schützen. (B) Ich bin hier doch etwas berührt, wie wenig bisher die (D) Rede davon war, wie es den Kindern geht, denen durch Genau das passiert aber durch die anonyme Geburt. anonyme Geburt oder Ablage in der Babyklappe ihr ver- Wenn wir diese legalisieren, dann halten wir erlangbare fassungsmäßig garantiertes Recht verwehrt wird. Informationen vor. (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ (Ina Lenke [FDP]: Nein, nicht wenn die Frau DIE GRÜNEN]: Dann sollen sie lieber ster- ins Krankenhaus kommt!) ben?) Das ist nicht rechtens. – Nein, sie sollen nicht lieber sterben. (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Wollen Sie lie- Ich denke, ich erläutere Ihnen jetzt einmal, wie ich die ber, dass Kinder getötet werden?) Angelegenheit sachlich und rechtlich sehe. Wir alle wis- – Frau Eichhorn, ich will es hier einmal ganz deutlich sa- sen und begrüßen ausdrücklich, dass Straftaten bzw. gen: Sie haben nicht eine empirische Zahl, die belegt, Ordnungswidrigkeiten im Zusammenhang mit der ano- dass Kinder ansonsten getötet werden. Aus alldem, was nymen Geburt nicht strafverfolgt werden. Es gibt die so- wir bisher gehört haben, mutmaße ich das Gegenteil. genannten Neusser Fälle; da hat die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen eingestellt. Ich sage Ihnen noch einmal Die genannten Frauen aus Neuss haben sich bewusst ganz deutlich: Es gibt keine Beschwer. Denn in keinem entschieden, ihre Kinder zu bekommen. einzigen Fall wurden die Beteiligten – seien es Ärzte oder Mütter – belangt. (Hellmut Königshaus [FDP]: Andere nicht?) Sie können das. Ihnen wird in dieser Republik geholfen. (Ina Lenke [FDP]: Das ist doch nicht die Frage Die Strafverfolgungsbehörden verfolgen nicht. Es gibt der Strafbarkeit!) keine Beschwerden. Es wird aber ein verfassungsmäßig garantiertes Recht ( [CDU/CSU]: Natürlich gibt des Kindes verletzt, und zwar erheblich und nicht nur im es die!) rechtlichen Sinne. Aber dass die Kenntnis der Abstam- mung ein Verfassungsrecht ist, dafür gibt es sehr triftige Es gibt sozusagen nur eine rechtliche Grauzone. Dazu und gewichtige Gründe. Was das Bundesverfassungsge- sage ich mit meiner relativ großen Verwaltungserfah- richt – der EuGH hat übrigens ähnlich entschieden – rung: Es muss auch in Deutschland möglich sein, ein- dazu schreibt, lese ich Ihnen jetzt einmal vor – vielleicht fach einmal eine Grauzone zu belassen. Denn wenn man dient das der Klarstellung –: gesetzgeberisch tätig wird, läuft man Gefahr, dass das 16048 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008

Helga Lopez (A) Gesetz von einem höheren Gericht gekippt wird und Ich sage: Der richtige Weg ist, zu schauen, wie wir (C) dass wir dann ein schlechteres Ergebnis bekommen. Das – das wurde eben von Frau Eichhorn, glaube ich, ange- wollen wir Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen sprochen – die Quote der Mütter erhöhen können, die nicht. Wir wollen probate Hilfe. sich trotz anonymer Geburt im Nachhinein entscheiden, das Kind doch noch in ihre Obhut zu nehmen und ihm (Beifall bei der SPD) damit wiederum die Kenntnis der Abstammung zu ver- schaffen. Da sind wir offensichtlich auf einem guten Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Weg. Die Quote ist höher, als ich gedacht hätte. Hier ha- Frau Kollegin Lopez, erlauben Sie eine weitere Zwi- ben wir gehört, dass es bereits die Möglichkeit einer schenfrage des Kollegen Königshaus? „heimlichen Geburt“ in Zusammenarbeit mit der Adop- tivstelle gibt. Helga Lopez (SPD): Es wurde auch klar, dass die Beratungsangebote an Ja. Mütter ganz generell nicht ausreichen. Insbesondere in dieser Richtung müssen wir Anstrengungen unterneh- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: men. Wir müssen Frauen beraten, wir müssen ihnen auf- Bitte schön, Herr Königshaus. suchende Hilfe geben, und wir müssen ihnen Mut ma- chen, ihre Kinder anzunehmen. Das ist der richtige Weg. Hellmut Königshaus (FDP): Mit einer Legalisierung der anonymen Geburt, von Frau Kollegin, gestatten Sie die Anmerkung, dass das, der ich überzeugt bin, dass sie nicht rechtens ist und dass was Sie hier sagen, sehr bürokratisch klingt. Ist es nicht sie vom Verfassungsgericht nicht geduldet würde, ist so, dass die Wahrnehmung von Rechten voraussetzt, niemandem geholfen, insbesondere nicht den betroffe- dass man überlebt? Sie sagen, es sei empirisch nicht nen Kindern. Vielleicht sollten Sie sich einmal bei Fami- nachweisbar, dass aufgrund der derzeitigen Rechtslage lien in Ihrer Umgebung erkundigen – fast jeder kennt Kinder getötet würden. Das ist wahr. Man kann das im solche Familien –, deren Kinder adoptiert worden sind, konkreten Fall natürlich nicht nachweisen. Aber sind Ih- wie es war, als die Kinder von den Adoptiveltern erfuh- nen beispielsweise die Fälle bekannt, in denen in Blu- ren, dass sie nicht die leiblichen Kinder sind. menkästen mehrere Kinder gefunden wurden, die von ihrer Mutter getötet wurden? Meinen nicht auch Sie, (Ina Lenke [FDP]: Das hat mit anonymer Ge- dass es darum geht, den Müttern zumindest ein Angebot burt nichts zu tun!) zu machen, wie sie einer solchen Konfliktsituation ent- Ich kenne solche Fälle. Es sind mildere Fälle, aber ich gehen können? (B) weiß, welche Auswirkungen das auf die Kinder hat. Ich (D) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) schätze das Recht auf Kenntnis der Abstammung in der Sache nicht so gering wie Sie. Helga Lopez (SPD): (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich bin mit Ihnen in diesem Punkt hundertprozentig der LINKEN – Ina Lenke [FDP]: Das ist nicht einig. Es gibt da keinen Unterschied. Wir ahnen – ich vergleichbar, sondern da geben die Mütter das muss sagen: ahnen; aber wir haben darüber viele Be- Kind zur Adoption frei!) richte gehört –, dass die Fälle, in denen Kinder getötet und abgelegt werden, weder durch Babyklappen noch Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: durch die Ermöglichung anonymer Geburt reduziert Das Wort hat die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk werden, leider. vom Bündnis 90/Die Grünen. (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Wer weiß das? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das Risiko verdient, einge- Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gangen zu werden!) NEN): Das ist aber auch psychologisch erklärbar; denn der Vor- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gang, eine Babyklappe aufzusuchen oder eine anonyme ist nicht das erste Mal, dass wir hier im Plenum zum Geburt durchzuführen, verlangt ein koordiniertes Han- Thema „anonyme Geburt“ debattieren. Die bisherigen deln. Mütter, die nach der Geburt ihre Kinder töten, sind Bemühungen sind „nicht zu einem parlamentarischen offenkundig – das bestätigen viele Psychologen – in ei- Abschluss gekommen“, wie es in den Vorbemerkungen ner derart schlimmen psychischen Situation, dass sie zu der Großen Anfrage der FDP heißt. dieser Koordination – das gilt sowohl für das Aufsuchen der Babyklappe als auch für die anonyme Geburt – nicht Eines stimmt ja: Es ist äußerst schwierig, Regelungen fähig sind. Das, was wir gehofft haben, nämlich dass mit zu finden, die die verschiedenen grundgesetzlich ge- Babyklappen und der Ermöglichung anonymer Geburt schützten Rechtsgüter in Einklang bringen, nämlich das die Zahl der Kindstötungen minimiert wird, ist empi- Recht auf Kenntnis der Abstammung und das Recht auf risch zumindest nicht belegt, leider. Leben. Frau Lopez, darauf sind Sie nicht eingegangen. Aus meiner Sicht ist das Recht auf Leben klar höher zu (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE bewerten als das Recht auf Kenntnis der eigenen Ab- GRÜNEN]: Das Gegenteil auch nicht!) stammung. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 16049

Irmingard Schewe-Gerigk (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, musste, weil sie immer wieder weggeschickt wurde. Ich (C) bei der CDU/CSU und der FDP) finde, wenn niemand die Verantwortung übernehmen will, dann ist es um uns schlecht bestellt. Das darf nicht Das sage nicht nur ich. Es gibt auch Verfassungsrechtler, sein. die das so sehen. Die Schwierigkeit und das Problem lie- gen aber gerade darin, dass es so schwer nachweisbar ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Sie nennen Zahlen, wir nennen Zahlen. Die einen wissen bei der CDU/CSU und der FDP – nichts, die anderen auch nichts. Darum ist es gut, dass [SPD]: Das ist unterlassene Hilfeleistung! Das eine zusätzliche Studie in Auftrag gegeben wird, um uns ist strafbar! Dagegen kann man juristisch vor- hier etwas mehr Klarheit zu verschaffen. gehen!) Auf die Einrichtung von Babyklappen haben wir als Vor diesem Hintergrund verblassen die betroffen ma- Parlament wenig Einfluss. Aber die Hysterie, mit der chenden Berichte von Menschen, die nicht um ihre bio- manche sie zu einer „staatlich lizensierten Babyentsor- logische Abstammung wissen. Auch ich kenne Fälle, bei gung“ hochstilisieren, ist mir absolut unverständlich. denen Adoptivforscherinnen sagen, es wäre besser, die- ses Kind wäre überhaupt nicht zum Leben gekommen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, da es nun so sehr darunter leide, dass es adoptiert wor- bei der CDU/CSU und der FDP) den sei. Wer sein Kind aussetzen will, wird das tun, ob mit Baby- klappe oder ohne. Allerdings sind die Überlebenschan- (Caren Marks [SPD]: Das hat doch keiner ge- cen mit einer Babyklappe doch größer. sagt!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Ich muss sagen: Für mich ist hier das Recht auf Leben bei der CDU/CSU und der FDP) vorrangig. Babyklappen sind oft der letzte Ausweg, eher eine mo- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, derne Form des alten Weidenkorbs, die ein wenig siche- bei der CDU/CSU und der FDP) rer für die Babys ist. Ich bin ziemlich sicher, dass im Ich frage diejenigen, die sagen, wir bräuchten hier Einzelfall Kinder gerettet werden. Aber wir brauchen für keine Regelung: Was ist die Alternative? Was wollen Sie Babyklappen keine gesetzlichen Regelungen. da anbieten? Das Angebot, anonym und vertraulich zu Anders sieht es bei der anonymen Geburt aus. Ich bin gebären, rettet Leben von Müttern und Kindern. Da bin der Meinung: Hier müssen wir etwas regeln. Frauen in ich ziemlich sicher. Zahlen können wir hier nicht nen- extremer Notlage sollen unter hygienisch und medizi- nen. Häufig ermöglicht ein solches Angebot – da bin ich (B) nisch zumutbaren Bedingungen, wie es auch in Öster- sicher – dem Kind erst die Kenntnis der Abstammung. (D) reich der Fall ist, gebären können, ohne ihren Namen an- Die Bundesregierung hat dokumentiert, dass viele geben zu müssen. Wir müssen auch den unsäglichen Frauen nach einer Beratung ihr zunächst anonym gebo- Zustand beenden, dass medizinisches Personal mit ei- renes Kind tatsächlich annehmen. Es gibt auch eine Un- nem Bein im Gefängnis steht, wenn es in dieser Notlage tersuchung von Fällen von SterniPark, in der von 70 bis hilft. 80 Prozent die Rede ist. Das ist doch wichtig. Wenn die Frauen diese Beratung nicht erhalten hätten, dann hätten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, sie sofort der Adoption zugestimmt. Jetzt haben sie Zeit, bei der CDU/CSU und der FDP) werden beraten und können sich zu ihrem Kind beken- Frau Lopez, Sie haben vorhin gesagt: Das wird nicht nen. Adoptionen werden dadurch also verhindert. verfolgt; das ist überhaupt kein Problem. In eine Bera- (Helga Lopez [SPD]: Also, es läuft doch!) tungsstelle des SkF Köln, die entsprechende Hilfsange- bote unterbreitete, kam jedoch der Staatsanwalt, setzte Natürlich werden wir nicht alle Frauen, die ihr Kind die Verantwortlichen unter Druck und verlangte, die Na- in Panik und Verzweiflung töten, mit dem Angebot der men herauszugeben. Ich finde, das können wir uns in ei- anonymen Geburt erreichen. Aber wenn wir nur ein paar nem Rechtsstaat nicht erlauben. von ihnen erreichen können, dürfen wir uns der Verant- wortung nicht entziehen und müssen hier Rechtssicher- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, heit schaffen. bei der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktio- Ich frage mich: Warum sollen diese Menschen ausbaden, nen, Sie haben vereinbart, gesetzliche Regelungen zu dass die Politik sich hier nicht einigen kann? Ein solches schaffen, wenn es nötig ist. Durchwursteln und Wegducken entspricht auch nicht meinem Verständnis von Verantwortung der Politik. (Helga Lopez [SPD]: Nein, haben wir nicht!) Für mich ist es auch schwer erträglich, dass wir de Für mich ist diese Notwendigkeit erwiesen. Sie haben facto in vielen Kliniken anonyme Geburten dulden, aber jetzt noch eine Studie in Auftrag gegeben. Ich hoffe, es vom Wohnort der Frau abhängt, ob sie Hilfe findet dass sie zur Klarstellung dient. Ich weiß, es gibt keine oder nicht. Sie hat Glück, wenn sie in der Nähe eine Kli- einfachen Antworten. Ich weiß auch, dass nicht alle ge- nik hat, die das macht. Eine Kollegin hat mir kürzlich winnen werden. Aber ich möchte Sie doch bitten, ge- den Fall geschildert, dass eine Frau, die schon Wehen meinsam nach Lösungen zu suchen und sich der gemein- hatte, von einem Krankenhaus zum anderen gehen samen Verantwortung zu stellen. 16050 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008

Irmingard Schewe-Gerigk (A) Vielen Dank. Es ist vereinbart, dass die Reden zu Protokoll genom- (C) men werden sollen. Es handelt sich um die Reden von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Wolfgang Gunkel, SPD, Gisela Piltz, FDP, Petra Pau, bei der CDU/CSU und der FDP) Die Linke, Wolfgang Wieland, Bündnis 90/Die Grünen, und des Parlamentarischen Staatssekretärs Peter Altmaier Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: für die Bundesregierung.1) Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/7742 an die in der Tagesordnung aufge- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf: führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Beratung des Antrags der Abgeordneten verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Wolfgang Wieland, Volker Beck (Köln), Monika so beschlossen. Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ordnung. Europol-Beschluss rechtsstaatlich verbessern Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- destages auf Mittwoch, den 9. April 2008, 13 Uhr, ein. – Drucksache 16/7742 – Die Sitzung ist geschlossen. Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) (Schluss: 15.00 Uhr) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 1) Anlage 2

(B) (D) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 16051

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Ackermann, Jens FDP 14.03.2008 Nitzsche, Henry fraktionslos 14.03.2008

Annen, Niels SPD 14.03.2008 Paula, Heinz SPD 14.03.2008

Bluhm, Heidrun DIE LINKE 14.03.2008 Pflug, Johannes SPD 14.03.2008

Bülow, Marco SPD 14.03.2008 Raidel, Hans CDU/CSU 14.03.2008

Caspers-Merk, Marion SPD 14.03.2008 Roth (Esslingen), Karin SPD 14.03.2008

Dreibus, Werner DIE LINKE 14.03.2008 Rupprecht SPD 14.03.2008 (Tuchenbach), Eymer (Lübeck), CDU/CSU 14.03.2008 Marlene Anke Sager, Krista BÜNDNIS 90/ 14.03.2008 Fischer (Karlsruhe- CDU/CSU 14.03.2008 DIE GRÜNEN Land), Axel E. Dr. Schavan, Annette CDU/CSU 14.03.2008 Freitag, Dagmar SPD 14.03.2008 Schily, Otto SPD 14.03.2008 Gloser, Günter SPD 14.03.2008 Schmidbauer, Bernd CDU/CSU 14.03.2008 (B) Golze, Diana DIE LINKE 14.03.2008 (D) Schmidt (Eisleben), SPD 14.03.2008 Groneberg, Gabriele SPD 14.03.2008 Silvia

Großmann, Achim SPD 14.03.2008 Dr. Schmidt, Frank SPD 14.03.2008

Günther (Plauen), FDP 14.03.2008 Schmitt (Berlin), Ingo CDU/CSU 14.03.2008 Joachim Steinbach, Erika CDU/CSU 14.03.2008 Hajduk, Anja BÜNDNIS 90/ 14.03.2008 DIE GRÜNEN Dr. Stinner, Rainer FDP 14.03.2008

Dr. Hemker, Reinhold SPD 14.03.2008 Strothmann, Lena CDU/CSU 14.03.2008

Hill, Hans-Kurt DIE LINKE 14.03.2008 Ulrich, Alexander DIE LINKE 14.03.2008

Höhn, Bärbel BÜNDNIS 90/ 14.03.2008 Wimmer (Neuss), Willy CDU/CSU 14.03.2008 DIE GRÜNEN

Hofbauer, Klaus CDU/CSU 14.03.2008 Anlage 2 Dr. Hoyer, Werner FDP 14.03.2008 Zu Protokoll gegebene Reden Leutheusser- FDP 14.03.2008 zur Beratung des Antrags: Europol-Beschluss Schnarrenberger, rechtsstaatlich verbessern (Tagesordnungs- Sabine punkt 28)

Dr. Lippold, Klaus W. CDU/CSU 14.03.2008 Wolfgang Gunkel (SPD): Heute beraten wir einen Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der den Dr. Merkel, Angela CDU/CSU 14.03.2008 Beschluss zur Errichtung des Europäischen Polizeiamtes Müller (Düsseldorf), SPD 14.03.2008 an verschiedenen Punkten kritisiert. Lassen Sie mich Michael gleich zu Beginn festhalten, dass die Reform von Euro- pol jedoch nicht mit diesem Beschluss endet, sondern 16052 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008

(A) noch weitere Verhandlungen stattfinden. Die Beratungen weile zufriedenstellend gelöst. Die Kommission wird (C) in der Ratsarbeitsgruppe Europol sowie dem Ausschuss einen entsprechenden Vorschlag zur Änderung der EG- nach Art. 36 des EU-Vertrages und dem Ausschuss der Verordnung 549769 vorlegen. Diese Verordnung legt un- Ständigen Vertreter haben zu zahlreichen Veränderungen ter anderem Gruppen von Beamten fest, die keine Immu- am Beschluss geführt. Insofern erübrigt sich der zu bera- nität genießen. Dazu sollen zukünftig auch Europol- tende Antrag in vielerlei Hinsicht. Beamte zählen, die an Gemeinsamen Ermittlungstrup- pen teilnehmen. Lassen Sie mich im Folgenden auf einige der Kritik- punkte eingehen. Der Antrag der Grünen fordert erwei- Der Antrag der Grünen kritisiert außerdem, dass die terte Kontrollmöglichkeiten von Europol durch das Eu- Zuständigkeit von Europol unnötigerweise von „organi- ropäische Parlament. Dazu bleibt festzustellen, dass sierte“ auf „schwere“ Kriminalität erweitert wird, und innerhalb von vier Jahren nach Inkrafttreten des Ratsbe- verlangt, dass Europol weiterhin ausschließlich für die schlusses sowie danach in einem regelmäßigen Vier-Jah- organisierte Kriminalität zuständig ist. Die Ausweitung res-Zeitraum eine externe Evaluierung zur Umsetzung des Mandats ist jedoch erforderlich, weil es durchaus des Ratsbeschlusses sowie zu Europol-Aktivitäten statt- grenzüberschreitende Fälle schwerer Kriminalität gibt, finden soll. Der Evaluierungsbericht dieser Auswertung die nicht gleichzeitig Fälle von organisierter Kriminalität soll der Europäischen Kommission, dem Europäischen sind. Bei der von den Grünen geforderten Beschränkung Rat und dem Europäischem Parlament vorgelegt werden. können wesentliche Bereiche der grenzüberschreitenden Insofern sehe ich die geforderte Beteiligung des Europäi- schweren Kriminalität nicht bekämpft werden. schen Parlaments gewährleistet. Zum Schluss beanstandet der uns hier vorliegende Der Antrag der Grünen fordert die Verbesserung der Antrag, dass das Abkommen keine Vorschriften über die Rechte der Bürgerinnen und Bürger und kritisiert, dass zwingende gerichtliche Kontrolle der Maßnahmen von das Recht auf Zugang zu den sie betreffenden Daten für Europol enthält, sondern lediglich die Möglichkeit, jede Person erschwert ist. Der beanstandete Ratsbe- durch einen Beschluss der Mitgliedstaaten Streitfragen schluss nimmt in seiner derzeitigen Fassung Bezug auf dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen. Eine zusätz- die Europaratskonvention zum Schutz von Personen im liche Aufnahme von Bestimmungen zur justiziellen Hinblick auf die automatisierte Datenverarbeitung vom Kontrolle von Europol ist nicht angezeigt, da insofern 28. Januar 1981 sowie die Empfehlung No. R (87) 15 die allgemeinen Vorschriften Anwendung finden. Eine des Ministerkommitees des Europarates vom 17. Sep- verstärkte, nur auf Europol zugeschnittene justizielle tember 1987 und verpflichtet Europol auf Einhaltung Kontrolle erscheint nicht erforderlich. dieser Prinzipien. In Art. 28, 30 und 31 des Ratsbe- Es lässt sich abschließend festhalten, dass die Ver- (B) schlusses werden Individualrechte hinsichtlich Datenzu- (D) gang, Recht auf Berichtigung bzw. Löschung und Ver- handlungen auf gutem Wege sind und erkennbar ist, dass fahren detailliert geregelt. Die Einrichtung eines sich die Bundesregierung für das Erreichen der berech- Datenschutzbeauftragten und die enge Zweckbindung tigten Anliegen des Antrages einsetzt. Daher lehnt die beim Datenschutz, wonach personenbezogene Daten nur SPD-Fraktion den vorgelegten Antrag ab. für bereichsspezifisch und präzise festgelegte Zwecke gespeichert werden und nur im Rahmen dieser Zwecke Gisela Piltz (FDP): In einem gemeinsamen Raum verwendet werden dürfen, runden den Datenschutz ab. der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ist die Zu- sammenarbeit der Sicherheitsbehörden unerlässlich. Eu- Weiterhin kritisiert der Antrag der Grünen, dass Euro- ropol ist damit ein zentraler Baustein der europaweiten pol Daten von privaten Stellen nahezu unkontrolliert ent- Kriminalitätsbekämpfung. Wo Grenzen fallen, macht gegennehmen darf. Es mangele dem Vorschlag der auch die Kriminalität nicht an nationalen Grenzen halt. Kommission an klaren Vorgaben zur Datenverknüpfung und Kooperation zwischen Europol und Mitgliedstaaten Europol als Instrument zur Bekämpfung grenzüber- oder EU-Einrichtungen. Hierzu bleibt jedoch festzuhal- schreitender Kriminalität auszubauen und die Arbeit des ten, dass der Datenaustausch mit Drittstellen nur mit sol- europäischen Polizeiamtes zu verbessern, ist daher ein chen Drittstellen erfolgt, die in eine vom Europäischen richtiges Anliegen. Die Bekämpfung der organisierten Rat nach Anhörung des Europäischen Parlaments gebil- Kriminalität muss europaweit im Fokus der Innenpolitik ligte Liste aufgenommen wurden. Der Datenaustausch stehen. Die Arbeit von Europol ist hier von großer Be- mit Dritten erfolgt in den EU-Mitgliedstaaten nur über deutung. nationale Kontaktstellen, in anderen Staaten, mit denen Europol Abkommen geschlossen hat, ebenfalls mit den Schon längst besteht aber Reformbedarf bei der Ar- dortigen Kontaktstellen. Private Dritte, mit denen Euro- beit des europäischen Polizeiamtes. Mit dem Vorschlag pol Informationen austauschen will, müssen ebenfalls in der Kommission für einen Beschluss des Rates, Europol die Liste aufgenommen werden, die vom Verwaltungsrat als Agentur der EU zu gestalten, ist die Notwendigkeit von Europol gebilligt werden muss. erkannt worden, dass das europäische Polizeiamt nicht mehr außerhalb der EU-Strukturen stehen darf, sondern Der Antrag der Grünen fordert, dass Immunität für Teil davon sein muss. Dies ist eine wichtige Vorarbeit Europol-Bedienstete im Zusammenhang mit operativen angesichts der noch stärkeren Verankerung in den euro- Tätigkeiten bei gemeinsamen Ermittlungstruppen gene- päischen Strukturen durch den Vertrag von Lissabon: rell und auch für bestehende Ermittlungsgruppen ausge- Denn nach Ratifizierung des Vertrags werden durch Ver- schlossen wird. Das Problem der Immunität ist mittler- ordnungen im Rahmen eines ordentlichen Gesetzge- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 16053

(A) bungsverfahrens von Rat und Europäischem Parlament reichen eigene Zuständigkeiten erhalten soll, ist es in (C) der Aufbau, die Arbeitsweise, der Tätigkeitsbereich und besonderem Maße vordringlich, die Kontrollmöglichkei- die Aufgaben Europols festgelegt werden. Durch die ten zu verbessern. Mehr Befugnisse ohne mehr Kontrolle Überführung Europols in eine europäische Agentur wer- ist mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar. Da- den die Europol-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter zu her muss zuerst geklärt werden, wie die gerichtlichen EU-Beamtinnen und EU-Beamten. Es ist begrüßenswert, und parlamentarischen Kontrollen verbessert werden dass die mit diesem Status einhergehende Immunität bei können, bevor Europol einen Kompetenzzuwachs er- der Teilnahme an gemeinsamen Ermittlungsgruppen auf- fährt. Der Ausbau von Europol zu einer echten europäi- gehoben wird. Umso mehr gilt dies, wenn die Kompe- schen Polizeibehörde ist richtig. Aber in einem Raum tenzen von Europol erweitert werden. der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ist es Condi- tio sine qua non, dass der rechtsstaatliche Rahmen als Doch die grundsätzlichen Probleme der mangelnden Erstes bestimmt wird. parlamentarischen Kontrolle werden mit der Umgestal- tung von Europol in eine EU-Agentur vor Inkrafttreten Der Umgang mit dem Datenschutz ist ein Problem, des Vertrags von Lissabon nicht gelöst. Denn die EU- das im Zusammenhang mit Europol und der dort schon Agenturen – darauf hat die FDP-Fraktion im Deutschen heute bestehenden Datenbank leider nicht neu ist. Euro- Bundestag bereits an anderer Stelle hingewiesen, so pol darf nicht zum Ausweichhafen für eine Umgehung auch in unserem Antrag „Gerichtliche und parlamentari- des Datenschutzes werden. Die Ausweitung der Daten- sche Kontrolle von EU-Agenturen“ (Drucksache 16/8049) – sammlungsbefugnisse von Europol insbesondere im kranken an einer nicht ausreichend ausgestalteten Kon- Hinblick auf die Speicherung von Daten privater Stellen trolle durch das Europäische Parlament ebenso wie an und von Drittstaaten ist höchst problematisch. Ich wage fehlenden Rechtsschutzmöglichkeiten der EU-Bürgerin- allerdings zu bezweifeln, dass diese Problematik von un- nen und -Bürger gegenüber deren Maßnahmen. Zwar serer Bundesregierung überhaupt erkannt wird – denn wird der Haushalt von Europol als EU-Agentur künftig wer schon hierzulande beständig versucht, die Daten- dem Haushaltskontrollausschuss des Parlaments vorge- sammlungen diverser Sicherheits- und auch anderer Be- legt. Doch beklagen die EU-Parlamentarier die noch im- hörden auszuweiten, dem fehlt die notwendige Sensibili- mer mangelhafte haushalterische Kontrolle der Agentu- tät. Und auch auf Ebene der EU-Kommission fehlt es am ren und die ungelösten Probleme bei der Anwendung der Bewusstsein und an der Achtung, dass mit personenbe- Entlastungsregelungen. Die Ausweitung der Kontroll- zogenen Daten kein Schindluder getrieben werden darf. rechte des Parlaments über das Haushaltsrecht ist mithin Eine EU, die die Vorratsdatenspeicherung beschlossen noch längst nicht ausreichend, um gerade im Bereich der hat, braucht klare Schranken und das wachsame Auge Arbeit von Europol, mithin in einem Bereich, bei dem auch der nationalen Parlamente. (B) tief in Grundrechte Betroffener eingegriffen werden (D) kann, den hohen rechtsstaatlichen Ansprüchen zu genü- Die Zukunft von Europol ist ein wichtiges Thema. Es gen, die wir an die EU stellen müssen. ist gut, dass sich der Deutsche Bundestag heute und auch im Weiteren damit befasst. Unklar sind – wie allgemein bei EU-Agenturen – die Rechtsschutzmöglichkeiten. Wenn Europol mehr Kom- petenzen erhält, gilt umso mehr, dass die Rechte der Petra Pau (DIE LINKE): Erstens. Europol ist ein Unionsbürgerinnen und -bürger durch eine ausreichende Polizeiamt der Europäischen Union. Es soll die Bekämp- gerichtliche Kontrollmöglichkeit gewahrt werden. Es fung grenzüberschreitender Kriminalität koordinieren. fehlt auf europäischer Ebene ein klares Bekenntnis zu ei- Die Befugnisse von Europol sind vertraglich geregelt. nem Rechtsschutzsystem beim Handeln von EU-Agen- Diese Regeln und der Status wurden mehrfach geändert. turen. Unter diesem Gesichtspunkt ist auch der künftige Darum geht es auch jetzt. rechtliche Rahmen von Europol mit einigen Fragezei- Zweitens. Europol war nie unumstritten. Insbeson- chen zu versehen. Die Lösungen, die im vorliegenden dere aus bürgerrechtlichen und aus demokratischen Antrag der Fraktion der Grünen dargestellt werden, blei- Gründen stand Europol von Anfang an in der Kritik. ben jedoch leider im Vagen. Der Bundestag muss ein Denn Mitarbeiter von Europol haben Sonderrechte und klares Signal senden – unsere Position darf sich nicht in -vollmachten, die zum Beispiel mit dem deutschen Poli- Allgemeinplätzen erschöpfen. Gegebenenfalls wird es zeirecht nicht vergleichbar sind. notwendig sein, sich vielleicht im Rahmen einer Anhö- rung intensiver mit der Rechtsschutzproblematik – und Drittens. Ich schicke das alles vorweg, um zu illus- ebenso mit der parlamentarischen Kontrolle wie auch trieren, warum Die Linke die aktuellen Änderungen sehr dem Datenschutz – zu befassen. zwiespältig sieht. Europol entzieht sich weitgehend der öffentlichen, parlamentarischen und rechtlichen Kon- Die Kompetenzerweiterungen für Europol müssen trolle. Das war so und daran wird sich auch nun nichts ohnehin einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Wesentliches ändern. Organisierte Kriminalität ist ein typisches Feld grenz- überschreitender krimineller Strukturen. Hier besteht un- Viertens. Das wiederum führt zu einem weiteren Ma- bestritten die Notwendigkeit für eine enge Ermittlungs- kel. Europol schwebt auch beim Thema Datenschutz zusammenarbeit. Natürlich gibt es auch in anderen weitgehend im rechtsfreien Raum. Der großzügige Um- Bereichen Kriminalität, die nationale Grenzen über- gang der Bundesregierung mit sensiblen Daten der Bür- schreitet, unter anderem natürlich auch im Bereich terro- gerinnen und Bürger hat ja ohnehin Konjunktur, was wir ristischer Aktivitäten. Sofern Europol aber in diesen Be- ablehnen. 16054 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008

(A) Fünftens. Trotz dieser strukturellen Defekte soll Eu- wieso in dem Entwurf Europol die Möglichkeit gegeben (C) ropol nun noch mehr Befugnisse erhalten. Das ist sach- werden soll, Daten von privaten Stellen nahezu unkon- lich widersinnig und rechtsstaatlich nicht hinnehmbar. trolliert entgegennehmen zu dürfen. Mir stellen sich da Dasselbe trifft auf Formulierungen zu, die höchst ausleg- doch ein paar Fragen, zum Beispiel nach der Seriosität bar sind und folglich nicht mehr, sondern weniger Si- solcher privaten Quellen und ihrer Aussagekraft. Wie cherheit bringen. lange dürfen diese Daten gespeichert werden und wann sind sie zu löschen? Darauf finde ich in dem Ent- Sechstens. Ursprünglich sollte Europol die grenzüber- wurfstext bislang keine befriedigenden Antworten und schreitende „Organisierte Kriminalität“ bekämpfen. ich sehe auch nicht, dass die Bundesregierung den Da- Künftig soll sich Europol auch der schweren Kriminali- tenschutz bei Europol zu ihren primären Verhandlungs- tät widmen. Ich nehme nicht an, dass damit explizit die zielen erklärt hätte. Mit der vorliegenden Ermächtigung kriminelle Steuerhinterziehung der Zumwinkel & Co. wird Europol jedenfalls zum Datenstaubsauger, der Dos- gemeint ist. siers über alles und jedes anlegen kann. Siebtens. Grundsätzlich gilt für Die Linke: Je größer Deshalb fordern wir, dass Europol Daten von privaten die Befugnisse von Europol sind, desto klarer muss der Stellen nur unter strengen Bedingungen aufnehmen darf. Auftrag von Europol definiert werden und desto gründli- Weiter möchten wir, dass dieses Verfahren mit gerichtli- cher muss die parlamentarische und rechtsstaatliche cher Kontrolle und der Überprüfung der Datenverarbei- Kontrolle sein. Genau daran mangelt es aber. tung in den Mitgliedstaaten einhergeht, und dass ferner Achtens. Deshalb ist die Alternative für die Fraktion auch die Weitergabe von Daten an Drittstaaten strengen Die Linke übersichtlich. Entweder es bleibt beim vorlie- Restriktionen unterworfen wird. Der Europäische Daten- genden Beschluss zu Europol. Dann sagen wir Nein. schutzbeauftragte hat dazu im Übrigen das Notwendige Oder Europol wird auf eine rechtsstaatliche und bürger- gesagt. Auch beim Datenschutz müssen wir zu allge- rechtliche Basis gestellt. Dann sehen wir gerne weiter. mein üblichen rechtsstaatlichen Standards bei Europol kommen. Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Beispiel zeigt: Die Behörde muss transparenter Das starre, an die Einstimmigkeit gebundene, Europol- werden. Vor allem aber brauchen wir gerichtliche Kon- Übereinkommen von 1995 soll durch einen flexibleren trolle. Es kann nicht sein, dass Europol-Mitarbeiter an Ratsbeschluss ersetzt werden. Auch wir finden: Jeder gemeinsamen Ermittlungsgruppen aktiv mitwirken dür- Umbau tut dem noch viel zu wenig kontrollierten Poli- fen, an polizeilichen Maßnahmen teilhaben und dann zeiamt gut. Denn das ist ein guter Anlass, um für mehr keine klaren Regeln für eine gerichtliche Verantwortlich- (B) Rechtsstaatlichkeit bei dieser EU-Behörde zu sorgen. keit besteht. Dass Handlungen von Europol nach wie vor (D) Unsere Forderungen haben wir in einem Antrag nieder- allenfalls dann gerichtlich kontrolliert werden können, gelegt. Einen Punkt auf unserer Liste hat die Bundesre- wenn die Mitgliedsstaaten es gnadenhalber zulassen, ist gierung sogar schon abgearbeitet. Es ist ihr bei den Ver- nicht mehr zeitgemäß. handlungen im Rat gelungen, die Immunität der Europol-Bediensteten in operativen Ermittlungsgruppen Ein Relikt aus den Zeiten des Europas der Diploma- nicht mehr zur Anwendung kommen zu lassen. Das An- ten und Beamten ist auch noch, dass im Beschluss eine dauern der Abschottung der Polizei vor der Verantwort- – nur wohlwollend gering zu nennende – politische Kon- lichkeit für ihr Tun wäre auch ein Anachronismus gewe- trolle vorgesehen ist. Die Rechte des Europäischen Par- sen. laments müssen umfassender gestärkt werden. Das Min- deste ist hier eine Mitwirkung bei der Wahl des Europol- Hier kommen wir langsam auf normales rechtsstaatli- Direktors und ein umfassendes Fragerecht. ches Niveau. Das muss aber noch ausgebaut werden, zu- mal der Beschluss eine ganze Menge an Kompetenzzu- All das zeigt: Wir brauchen ein Europa der Bürger wachs für Europol bringen soll. Wir erwarten, dass ein und der Bürgerrechte, auch und gerade bei Europol. Ein neuer rechtlicher Rahmen für Europol eine Kriminali- vernünftiger Datenschutz ist der Anfang. Gerichtliche tätsbekämpfung mit Augenmaß gewährleistet und den und politische Kontrolle sind in der Gewaltenteilung ei- Schutz der Bürgerrechte sichert. Diesen Anforderungen gentlich selbstverständlich. Was wir dagegen nicht brau- hält der Vorschlag auch nach den Kompromissen zwi- chen, ist ein europäisches FBI. schen den ständigen Vertretern bislang nicht stand. Denn wie erklärt es sich, dass die Zuständigkeit von Europol Peter Altmaier, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- von bisher „organisierter“ auf „schwere“ Kriminalität er- nister des Innern: Seit Inkrafttreten der Europol-Kon- weitert wird? Die schwere Kriminalität ist dabei sicher vention im Jahr 1998 liefert das Europäische Polizeiamt nur der Anfang. Wenn wir die Zuständigkeit von Euro- ein sehr gutes Beispiel institutionalisierter europäischer pol erweitern, werden zukünftig weitere Ausweitungen Zusammenarbeit. Die Koordinierung der Arbeit nationa- diskutiert werden. Am Ende haben wir das allzuständige ler Polizeibehörden sowie die Förderung des Informa- Europäische Polizeiamt. Polizeiarbeit ist und bleibt aber tionsaustauschs zwischen ihnen ist dabei die zentrale Sache der Mitgliedsstaaten. Europol soll dabei eine Hilfe Aufgabe Europols. sein, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die Erweiterung der EU zum 1. Januar 2007, der suk- Diese Koordinierungs- und Unterstützungsfunktion zessive Abbau der Binnengrenzen, vor allem aber die ist naturgemäß begrenzt. Deshalb wundere ich mich, Bedrohung unserer Gemeinschaft durch internationalen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. 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(A) Terrorismus und grenzübergreifende Kriminalität ver- mission mittlerweile auf diese zentrale Forderung der (C) langen, dass angesichts dieser Herausforderungen die Mitgliedstaaten eingegangen ist. polizeiliche Kooperation in Europa verbessert wird. Im Laufe der Beratungen in den europäischen Gre- Bereits mit Inkrafttreten des zweiten und dritten Än- mien zum Europol-Ratsbeschluss wurde auch berück- derungsprotokolls zur Europol-Konvention im Jahr 2007 sichtigt, dass der Informationsaustausch strikter daten- wurde Europol weiter an die Anforderungen moderner schutzrechtlicher Regeln bedarf und eine demokratische Kriminalitätsbekämpfung angepasst und seine Effizienz Kontrolle Europols durch das Europäische Parlament maßgeblich gesteigert. notwendig ist. So ermöglicht etwa das zweite Änderungsprotokoll Zunächst zur Frage des Datenschutzes: Wo es um den Europol die Teilnahme an gemeinsamen Ermitt- Datenaustausch zwischen Europol und Drittstaaten bzw. lungsteams der EU-Mitgliedstaaten und verleiht Europol Drittstellen geht, wurden hohe Hürden errichtet. Damit das Recht diese um die Einleitung von Ermittlungen zu ein Datenaustausch mit Drittstaaten und Drittstellen ersuchen. überhaupt möglich ist, müssen folgende Voraussetzun- Das dritte Änderungsprotokoll eröffnet Europol unter gen erfüllt sein: Die Staaten bzw. Stellen müssen zu- anderem die Möglichkeit, Experten aus Drittstaaten in nächst in eine Liste aufgenommen werden, die vom Rat einer Analysegruppe der EU-Mitgliedstaaten bei Euro- beschlossen wird. Zuvor muss der Rat hierzu das Euro- pol mitarbeiten zu lassen. Aus Sicht der Bundesregie- päische Parlament anhören. Erst auf der Grundlage eines rung ist es wichtig, dass von den neu geschaffenen Mög- solchen Listeneintrags kann Europol mit Drittstaaten lichkeiten in der praktischen Arbeit auch tatsächlich und Drittstellen Kooperationsabkommen schließen, und Gebrauch gemacht wird. Dies gilt insbesondere für die erst auf der Grundlage eines solchen Kooperationsab- Beteiligung von Europol an gemeinsamen Ermitt- kommens ist ein Datenaustausch möglich. Damit wurde lungsteams, von der bislang nur sehr zögerlich Gebrauch nach meiner Überzeugung eine Regelung geschaffen, die gemacht wird. dem Datenaustausch mit Drittstaaten und Drittstellen eine größtmögliche Transparenz verschafft, ohne opera- Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung wollen wir tive Belange zu beeinträchtigen. die durch einen Ratsbeschluss angestrebte Überführung Europols in den Rechtsrahmen der EU dazu nutzen, Eu- Bei der Frage der Datenverarbeitung durch Europol ropol weiter operativ zu stärken. Im Rahmen der Sitzung werden wir im Ratsbeschluss die ganz eindeutige Rege- des Rates der Justiz- und Innenminister im Juni 2007 lung haben, dass Daten, von denen noch nicht klar ist, ob konnte bereits Einigkeit erzielt werden, dass der Zustän- sie für die Aufgabenerfüllung von Europol relevant sind, digkeitsbereich von Europol ausgeweitet wird, so dass (B) weder im Informationssystem noch in den Analysear- (D) zum Beispiel etwa die Verbreitung von Kinderpornogra- beitsdateien gespeichert werden dürfen. Auch die Frage, fie über das Internet, schwere Störung der öffentlichen wie lange die Speicherung von Daten erforderlich ist, hat Sicherheit durch reisende Gewalttäter, Hooligans usw. im Entwurf des Ratsbeschlusses Berücksichtigung ge- erfasst sind. Auch für eine Beratung und Unterstützung funden: Analysedateien dürfen danach nicht länger als durch Europol bei europäischen Großveranstaltungen drei Jahre gespeichert werden. besteht Bedarf. Schließlich wird auch das Recht auf Auskunft im Dies sind Kriminalitätsphänomene, die nicht notwen- Ratsbeschluss verankert sein. Die Möglichkeit, Aus- dig in organisierter Form begangen werden. Gleichwohl kunftsersuche abzulehnen, wird nur bestehen, wenn die müssen die Bürger in der Union auch vor nichtorgani- Tätigkeit von Europol, nationale Ermittlungen, die öf- sierter schwerer Kriminalität geschützt werden. Um es fentliche Sicherheit und Ordnung oder Rechte Dritter ge- daher deutlich zu sagen: Ich sehe es geradezu als ein fährdet würden. Darüber hinaus wird jede Person das rechtsstaatliches Gebot an, das Mandat Europols gene- Recht haben, die Gemeinsame Kontrollinstanz anzuru- rell auf Fälle schwerwiegender grenzüberschreitender fen, um eine eventuelle Speicherung und Verarbeitung Kriminalität auszuweiten, um auch insoweit eine effek- ihrer Daten überprüfen zu lassen. Für den Fall, dass ge- tive Verbrechensbekämpfung zu ermöglichen. speicherte Daten nicht korrekt sind oder Daten unrecht- Die Bundesregierung verkennt freilich nicht, dass mäßig gespeichert wurden, wird ein Anspruch auf Be- durch die Ausweitung der Tätigkeit Europols die Sorge richtigung bzw. Löschung existieren. wächst, dass Aufgabenerweiterungen ohne eine entspre- chende Kontrolle und rechtsstaatliche Absicherung er- Ohne dass ich die einzelnen datenschutzrechtlichen folgen. Diese Sorge ist jedoch unbegründet. Mechanismen noch weiter ausbreiten möchte, lässt sich doch mit Fug und Recht sagen, dass die Balance zwi- Um eines vorab vorab klarzustellen: Europol wird schen dem operativ notwendigen Austausch von Infor- auch zukünftig keine Zwangsmaßnahmen durchführen. mationen und dem Recht des Einzelnen auf Schutz sei- Und dort, wo Europol-Bedienstete an gemeinsamen Er- ner persönlichen Daten sehr gut gewahrt ist. mittlungsgruppen teilnehmen, werden sie keine Immuni- tät genießen. Die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten Doch lassen Sie mich, bevor ich zum Ende komme, haben sich immer dagegen ausgesprochen, Europol-Be- noch einige Worte über die demokratische Kontrolle Eu- diensteten, die an gemeinsamen Ermittlungsgruppen ropols verlieren: Wie ich schon vorhin erwähnt hatte, ist teilnehmen, Immunität zu gewähren. Es ist ein großer das Europäische Parlament bereits eingebunden, wenn Erfolg unserer Bemühungen, dass die Europäische Kom- darüber zu entscheiden ist, mit welchen Drittstaaten und 16056 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008

(A) Drittstellen Europol Kooperationsabkommen soll ab- Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben (C) schließen können. mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Unions- dokumente zur Kenntnis genommen oder von einer Be- Darüber hinaus wurde in den Entwurf des Europol- ratung abgesehen hat. Ratsbeschlusses eine Bestimmung aufgenommen, wo- nach der Europol-Verwaltungsrat innerhalb von vier Jah- ren nach Inkrafttreten des Ratsbeschlusses sowie danach Auswärtiger Ausschuss in einem regelmäßigen Rhythmus eine externe Evaluie- Drucksache 16/7393 Nr. A.26 rung der Tätigkeit Europols in Auftrag geben muss. Der Ratsdokument 13036/07 Evaluierungsbericht muss dann der Kommission, dem Drucksache 16/7817 Nr. A.21 Rat sowie dem Europäischen Parlament vorgelegt wer- Ratsdokument 15616/07 den.

Lassen Sie mich zusammenfassen: Die operative Stär- Innenausschuss kung Europols ist angesichts der aktuellen Herausforde- Drucksache 16/7223 Nr. A.7 rungen notwendig. Die gebotenen rechtsstaatlichen Ab- Ratsdokument 14094/07 sicherungen und die demokratische Kontrolle Europols Drucksache 16/7905 Nr. A.15 wurden dabei berücksichtigt. Wenn daher an die Bundes- Ratsdokument 16611/07 regierung die Aufforderung gerichtet werden soll, zur rechtsstaatlichen Verbesserung von Europol beizutragen, Finanzausschuss so möchte ich dem entgegnen: Bei der Abwägung von operativen Belangen und rechtlichem Schutz haben wir Drucksache 16/7817 Nr. A.16 Ratsdokument 15672/07 bereits das Optimum erreicht.

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Anlage 3 Verbraucherschutz Amtliche Mitteilungen Drucksache 16/7817 Nr. A.31 Ratsdokument 16256/07 Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat mit- Drucksache 16/7905 Nr. A.7 geteilt, dass sie die Anträge Für mehr Klimaschutz im Ratsdokument 16466/07 Drucksache 16/7905 Nr. A.8 Verkehr – Kfz-Steuer auf CO2-Ausstoß umstellen auf Ratsdokument 16476/07 Drucksache 16/4431 und Drucksache 16/8135 Nr. A.3 Ratsdokument 16782/07 (B) Das deutsche Filmerbe sichern auf Drucksache 16/8215 Drucksache 16/8135 Nr. A.4 (D) zurückzieht. Ratsdokument 16783/07 Drucksache 16/8135 Nr. A.5 Ratsdokument 16784/07 Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben Drucksache 16/8135 Nr. A.6 Ratsdokument 16785/07 mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 Drucksache 16/8135 Nr. A.30 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den Ratsdokument 5310/08 nachstehenden Vorlagen absieht:

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Drucksache 16/7393 Nr. A.6 EuB-EP 1573; P6_TA-PROV(2007)0423 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Straßenbaubericht 2006 – Drucksache 16/3984 – Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit – Unterrichtung durch die Bundesregierung Drucksache 16/6389 Nr. I.42 Straßenbaubericht 2007 Ratsdokument 11497/07 – Drucksache 16/7394 – Drucksache 16/7223 Nr. A.8 Ratsdokument 14110/07 Drucksache 16/7393 Nr. A.17 Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik- Ratsdokument 14235/07 folgenabschätzung

– Unterrichtung durch die Bundesregierung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Aufstieg durch Bildung – Qualifizierungsinitiative Entwicklung der Bundesregierung Drucksache 16/8135 Nr. A.41 – Drucksache 16/7750 – EuB-EP 1630; P6_TA-PROV(2008)0577

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