Plenarprotokoll 15/49

Deutscher

Stenografischer Bericht

49. Sitzung

Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

Inhalt:

Erweiterung der Tagesordnung ...... 4117 A ßungsantrag der Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, (Münster), weiterer Abgeordneter und Tagesordnungspunkt 18: der Fraktion der FDP zu der Unterrich- tung durch die Bundesregierung: Be- Zweite und drittte Beratung des von der richt der Bundesregierung über die Bundesregierung eingebrachten Entwurfs gesetzliche Rentenversicherung, ins- eines Gesetzes zum Vertrag vom 27. Ja- besondere über die Entwicklung der nuar 2003 zwischen der Bundesrepu- Einnahmen und Ausgaben, der blik Deutschland und dem Zentralrat Schwankungsreserve sowie des je- der Juden in Deutschland – Körper- weils erforderlichen Beitragssatzes schaft des öffentlichen Rechts – in den künftigen 15 Kalenderjahren (Drucksachen 15/879, 15/1109, 15/1124) 4117 B gemäß § 154 SGB VI (Rentenversi- Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär cherungsbericht 2002) und Gutach- BMI ...... 4117 C ten des Sozialbeirats zum Renten- versicherungsbericht 2002 CDU/CSU ...... 4119 A (Drucksachen 15/110, 15/318, 15/859) 4126 A (Köln) BÜNDNIS 90/ Andreas Storm CDU/CSU ...... 4126 A DIE GRÜNEN ...... 4120 B Hans-Joachim Otto (Frankfurt) FDP ...... 4121 C Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär BMGS 4128 A fraktionslos ...... 4122 C Dr. Heinrich L. Kolb FDP ...... 4130 D SPD ...... 4123 A BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 4132 B CDU/CSU ...... 4124 B Hildegard Müller CDU/CSU ...... 4134 C Erika Lotz SPD ...... 4136 C Tagesordnungspunkt 19: Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos ...... 4137 D a) Antrag der Abgeordneten Andreas Gerald Weiß (Groß-Gerau) CDU/CSU . . . . . 4138 C Storm, Annette Widmann-Mauz, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion Gudrun Schaich-Walch SPD ...... 4140 A der CDU/CSU: Klarheit über Ren- tenfinanzen und Alterssicherung schaffen – Notwendige Reformmaß- Tagesordnungspunkt 20: nahmen nicht auf die lange Bank a) – Zweite und dritte Beratung des schieben von den Fraktionen der SPD und (Drucksache 15/1014) ...... 4125 D des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- b) Beschlussempfehlung und Bericht des NEN eingebrachten Entwurfs ei- Ausschusses für Gesundheit und So- nes Gesetzes zur Neustrukturie- ziale Sicherung zu dem Entschlie- rung der Förderbanken des II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

Bundes (Förderbankenneustruk- FDP ...... 4155 C turierungsgesetz) Hans-Joachim Hacker SPD ...... (Drucksachen 15/743, 15/1127) 4141 C 4156 A – Zweite und dritte Beratung des von Rainer Funke FDP ...... 4157 A der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neustrukturierung der Förder- Tagesordnungspunkt 22: banken des Bundes (Förderban- – Zweite und dritte Beratung des von kenneustrukturierungsgesetz) den Fraktionen der SPD und des (Drucksachen 15/902, 15/949, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ein- 15/1127) ...... 4141 C gebrachten Entwurfs eines Ersten Ge- setzes zur Änderung des Erneuer- b) – Zweite und dritte Beratung des bare-Energien-Gesetzes von den Fraktionen der SPD und (Drucksachen 15/810, 15/1121) . . . . . 4158 A des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN eingebrachten Entwurfs ei- – Zweite und dritte Beratung des von der nes Gesetzes zur Förderung von Bundesregierung eingebrachten Ent- Kleinunternehmern und zur wurfs eines Ersten Gesetzes zur Än- Verbesserung der Unternehmens- derung des Erneuerbare-Energien- finanzierung (Kleinunternehmer- Gesetzes förderungsgesetz) (Drucksachen 15/1067, 15/1121) . . . . 4158 A (Drucksachen 15/537, 15/1042, Jürgen Trittin, Bundesminister BMU ...... 4158 B 15/1043) ...... 4141 D Doris Meyer (Tapfheim) CDU/CSU ...... 4159 A – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Marco Bülow SPD ...... 4160 D Entwurfs eines Gesetzes zur För- FDP ...... 4161 D derung von Kleinunternehmern und zur Verbesserung der Unter- Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/ nehmensfinanzierung (Kleinun- DIE GRÜNEN ...... 4163 A ternehmerförderungsgesetz) Dr. CDU/CSU ...... (Drucksachen 15/900, 15/1042, 4164 A 15/1043) ...... 4141 D Rolf Hempelmann SPD ...... 4165 D Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin BMF ...... 4142 A Zusatztagesordnungspunkt 12: CDU/CSU ...... 4143 B Antrag der Abgeordneten , Christine Scheel BÜNDNIS 90/ Karin Kortmann, weiterer Abgeordneter DIE GRÜNEN ...... 4144 D und der Fraktion der SPD sowie der Abge- ordneten Hans-Christian Ströbele, Thilo Dr. FDP ...... 4146 A Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Simone Violka SPD ...... 4147 A Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Für einen stärkeren UN-Ein- CDU/CSU ...... 4148 B satz im Nordosten der Demokratischen Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk SPD ...... 4149 D Republik Kongo (Drucksache 15/1144) ...... 4167 C Kerstin Müller, Staatsministerin AA ...... 4167 D Tagesordnungspunkt 21: Dr. Friedbert Pflüger CDU/CSU ...... 4169 B Erste Beratung des von den Abgeordneten , , weiteren Ab- (Wiesloch) SPD ...... 4170 C geordneten und der Fraktion der CDU/ Ulrich Heinrich FDP ...... 4171 D CSU eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Bereinigung von SED-Un- Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos ...... 4172 C recht (Drittes SED-Unrechtsbereini- Hartwig Fischer (Göttingen) gungsgesetz – 3. SED-UnBerG) CDU/CSU ...... 4173 A (Drucksache 15/932) ...... 4151 D Arnold Vaatz CDU/CSU ...... 4152 A Zusatztagesordnungspunkt 10: Karsten Schönfeld SPD ...... 4153 D Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/ BÜNDNIS 90/ CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- DIE GRÜNEN ...... 4155 A NEN und der FDP: Sofortige und bedin- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 III

gungslose Freilassung von Aung San CDU/CSU ...... 4180 D Suu Kyi (Drucksache 15/1105) ...... 4174 A SPD ...... 4181 B Volker Neumann (Bramsche) SPD ...... 4174 A Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 4183 A Holger Haibach CDU/CSU ...... 4175 D Rainer Funke FDP ...... 4183 D Christa Nickels BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 4177 A (Starnberg) SPD ...... 4184 C Rainer Funke FDP ...... 4177 D Tagesordnungspunkt 25: Tagesordnungspunkt 24: Antrag der Abgeordneten Birgit Beschlussempfehlung und Bericht des Homburger, , weiterer Ab- Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit: geordneter und der Fraktion der FDP: Den Bildungsstandort Deutschland stärken – – zu dem Antrag der Abgeordneten ausländischen Jugendlichen den Schul- , Klaus Brandner, weite- besuch erleichtern rer Abgeordneter und der Fraktion der (Drucksache 15/471) ...... 4185 A SPD sowie der Abgeordneten Michaele Hustedt, Ulrike Höfken, wei- (Homburg) FDP ...... 4185 A terer Abgeordneter und der Fraktion Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast SPD ...... 4186 B des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Die Bestimmungen der Post-Uni- Dr. CDU/CSU ...... 4186 C versaldienstleistungsverordnung ver- braucherfreundlich durchsetzen Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) CDU/CSU ...... 4187 D – zu dem Antrag der Abgeordneten , Karl-Josef Josef Philip Winkler BÜNDNIS 90/ Laumann, weiterer Abgeordneter und DIE GRÜNEN ...... 4189 A der Fraktion der CDU/CSU: Flächen- Marion Seib CDU/CSU ...... 4189 D deckende Versorgung mit Post- dienstleistungen sicherstellen Dr. SPD ...... 4191 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer Funke, Birgit Homburger, wei- Nächste Sitzung ...... 4192 D terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Wettbewerbsbedingungen bei Vertrieb von Postdienstleistun- Anlage 1 gen schaffen Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 4193 A (Drucksachen 15/615, 15/466, 15/579, 15/1129) ...... 4178 B, C, D Klaus Barthel (Starnberg) SPD ...... 4178 D Anlage 2 Rainer Funke FDP ...... 4180 A Amtliche Mitteilungen ...... 4193 C

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4117

(A) (C) Redetext

49. Sitzung

Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident : Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Ich höre Sitzung ist eröffnet. keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Parlamentarischen Staatssekretär Fritz Rudolf Körper. Tagesordnung um die Beratung des Koalitionsantrages „Für einen stärkeren UN-Einsatz im Nordosten der Demokratischen Republik Kongo“ – Drucksache Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär beim Bun- 15/1144 – erweitert werden. Der Zusatzpunkt soll nach desminister des Innern: Tagesordnungspunkt 22 aufgerufen werden. Sind Sie da- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am mit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann 27. Januar dieses Jahres wurde in Berlin durch Bundes- ist das so beschlossen. kanzler Gerhard Schröder und den Präsidenten des Zen- (B) Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf: tralrates der Juden, Paul Spiegel, der Staatsvertrag zwi- (D) schen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Zentralrat der Juden in Deutschland unterzeichnet. Mit gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes diesem Vertrag erhalten die in Jahrzehnten gewachsenen zum Vertrag vom 27. Januar 2003 zwischen guten Beziehungen und die Zusammenarbeit der Bun- der Bundesrepublik Deutschland und dem desregierung mit dem Zentralrat der Juden erstmals eine Zentralrat der Juden in Deutschland – Kör- vertragliche Grundlage. Das kann man als einen histori- perschaft des öffentlichen Rechts – schen Vorgang bezeichnen. – Drucksache 15/879 – (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (Erste Beratung 43. Sitzung) FDP) a) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- Der Vertrag bedarf der Zustimmung in der Form eines schusses (4. Ausschuss) Bundesgesetzes. Dem dient der vorliegende Gesetzent- wurf. Mit diesem Gesetz sollen die vertraglichen Leis- – Drucksache 15/1109 – tungen zügig umgesetzt und Voraussetzungen für die Berichterstattung: Gewährung der festgeschriebenen Staatsleistungen ge- Abgeordnete Sebastian Edathy schaffen werden. Martin Hohmann Im Jahre 1950, zur Zeit der Gründung des Zentralra- Silke Stokar von Neuforn tes der Juden in Deutschland, lebten nur 25 000 Juden in Dr. Deutschland. Bis 1989 betrug ihre Zahl nicht mehr als b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) 30 000. Heute haben die 83 jüdischen Gemeinden wie- gemäß § 96 der Geschäftsordnung der rund 100 000 Mitglieder. Dieser Zuwachs ist – das darf man feststellen – insbesondere durch Zuwanderung – Drucksache 15/1124 – entstanden. Damit hat Deutschland nach Frankreich und Großbritannien mittlerweile die drittgrößte jüdische Ge- Berichterstattung: meinschaft in Europa und die weltweit am schnellsten Abgeordnete Susanne Jaffke wachsende. Klaus Hagemann Antje Hermenau Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass die Aufgaben des Zentralrates stark zugenommen haben. 4118 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

Parl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper (A) Deshalb ist mit dem Vertrag eine wesentliche Erhöhung Angesichts eines neuen beunruhigenden Antisemitis- (C) der bisherigen Fördermittel verbunden, trotz schwieriger mus hat der Deutsche Bundestag eine Entschließung mit Haushaltslage. Wir sind froh, dass wir das auch darstel- der Überschrift „Antisemitismus ächten – Zusammenar- len können. beit in Deutschland stärken“ gefasst. Hier heißt es: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Der Deutsche Bundestag begrüßt, dass in den ver- DIE GRÜNEN) gangenen Jahrzehnten eine Vielzahl neuer jüdischer Gemeinden in Deutschland entstanden sind. Dies ist Der Zentralrat wird zur Erhaltung und Pflege des Ausdruck des Vertrauens in unsere Demokratie und deutsch-jüdischen Kulturerbes, zum Aufbau einer jüdi- in die jungen Generationen. schen Gemeinschaft, für seine integrationspolitischen und sozialen Aufgaben sowie für die gestiegenen Kosten Weiterhin steht in der Entschließung: seines Büros jährlich eine Staatsleistung in Höhe von Der Deutsche Bundestag unterstützt alle Bemühun- 3 Millionen Euro erhalten. gen, die dazu beitragen, dass jene Frauen und Män- ner jüdischen Glaubens, die in den vergangenen Die Bundesregierung erklärt in dem Vertrag auch ihre Jahren nach Deutschland gekommen sind und hier Absicht, weiterhin die Hochschule für Jüdische Studien ihre Heimat gefunden haben, sich in ihrer Entschei- und das Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte dung bestätigt fühlen können. Hierzu gehört, die jü- der Juden in Deutschland zu unterstützen. Beide Einrich- dischen Gemeinden in Deutschland bei der Auf- tungen werden vom Zentralrat der Juden in Deutschland gabe, jüdische Zuwanderer zu integrieren, nicht getragen. Andere Leistungen an die jüdische Gemein- alleine zu lassen, sondern ihnen hierbei zur Seite zu schaft bleiben von diesem Vertrag unberührt, so zum stehen. Beispiel die staatliche Unterstützung aufgrund einer Ver- einbarung zwischen dem Bund und den Ländern aus Das wird mit diesem Vertrag geleistet. dem Jahre 1957 über die Pflege verwaister jüdischer Friedhöfe. (Beifall im ganzen Hause) Mit diesem Vertrag soll auch ein substanzieller Bei- Zudem würdigen wir mit diesem Staatsvertrag die Ar- trag dafür geleistet werden, dass die jüdische Dachorga- beit des Zentralrates für den Wiederaufbau jüdischen nisation ihren Aufgaben auch in Zukunft nachkommen Lebens in Deutschland. Bundeskanzler Schröder sagte und damit die jüdische Gemeinschaft in Deutschland anlässlich der Unterzeichnung des Staatsvertrages, aus stärken kann. In der Präambel wird der Vertragsschluss Sicht der Bundesregierung sei dieser Vertrag auch ein auch mit der besonderen historischen Verantwortung be- (B) Zeichen der hohen Anerkennung gegenüber der jüdi- gründet. Der Vertrag schreibt eine kontinuierliche und (D) schen Gemeinschaft. Unbeirrt und mutig setze sich diese partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen der Bun- für einen Wiederaufbau ihrer Gemeinden ein – und das desregierung und dem Zentralrat der Juden in Deutsch- „gerade in Deutschland, wo der Völkermord an den eu- land fest. Der Zentralrat hat sich bereits bisher als ver- ropäischen Juden mit solcher verbrecherischer Systema- lässlicher Partner der Bundesregierung in vielen tik geplant und ausgeführt worden ist“. gesellschaftspolitischen Fragen erwiesen. Beispielhaft Meine Damen und Herren, dieser Vertrag ist auch ein nenne ich nur seine Mitarbeit in der Zuwanderungskom- Zeichen für den Eintritt in die Normalität und dafür, dass mission und bei der Bekämpfung von Rassenhass und In- wir in der Verantwortung gegenüber unserer Geschichte toleranz. Dafür gebührt ihm Dank. zu einem konstruktiven und solidarischen Miteinander (Beifall im ganzen Hause) kommen. Einen Punkt möchte ich an dieser Stelle hervorheben: (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE An die Umsetzung des Vertrages knüpfen wir – ich weiß, GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordne- dass dies auch die Fraktionen des Deutschen Bundesta- ten der CDU/CSU) ges so sehen – die klare Erwartung, dass die Zusage und die Zielsetzung, der Zentralrat der Juden in Deutschland Zu Recht hat der Vorsitzende des Zentralrates der Ju- sei für alle Richtungen innerhalb des Judentums of- den in Deutschland, Paul Spiegel, einen intensiven fen, in der Praxis umgesetzt werden. christlich-jüdischen Dialog gefordert. Ein solcher Dialog sei nötig, um das Verhältnis zueinander zu entkrampfen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herr Spiegel sagte wörtlich: „Wir müssen normaler, lo- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der ckerer miteinander umgehen.“ Er fügte hinzu: „Wir re- CDU/CSU und der FDP) den noch viel zu sehr übereinander.“ In Deutschland Die Bundesregierung geht davon aus und wird darauf herrsche nach wie vor großes Nichtwissen über das Ju- hinwirken, dass ihre damit verbundene Erwartung, alle dentum und den Holocaust. Zu einem großen Teil liege jüdischen Richtungen könnten unter Wahrung des religiö- dies darin begründet, dass bisher keine richtige didakti- sen Selbstbestimmungsrechts an der Förderung teilhaben, sche Form und kein richtiges Maß gefunden worden in Zukunft erfüllt wird. seien, um darüber zu informieren. Dies sollten wir auf- nehmen und beachten und uns gemeinsam darum bemü- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ hen, dass dieser christlich-jüdische Dialog in Gang ge- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der setzt und verbessert werden kann. CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4119

Parl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper (A) Ich habe es für richtig befunden, diese Erwartung in gestellt hat. Dieser Vertrag ist keine Privilegierung einer (C) diesem Zusammenhang deutlich zum Ausdruck zu brin- Gruppe; denn die religiös-weltanschauliche Neutrali- gen. Im Übrigen bedanke ich mich für die Aufmerksam- tät des Staates bedeutet nicht, dass er mit den Reli- keit und bitte um Zustimmung. gionsgemeinschaften des Landes nicht vertrauensvoll zusammenarbeiten und sie unterstützen soll. Das wäre Herzlichen Dank. nicht Neutralität, sondern geradezu Feindlichkeit. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der bei Abgeordneten der SPD) CDU/CSU und der FDP – Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Da Sie mich so bitten! Sie Als Kulturstaat schützen und fördern wir die religiö- haben mich überzeugt!) sen und kulturellen Engagements unserer Bürger. Die Unterzeichnung des Vertrages durch den Zentralrat der Präsident Wolfgang Thierse: Juden in Deutschland ist ein beeindruckender Beweis des Vertrauens der jüdischen Mitbürger in unsere Demo- Ich erteile das Wort Kollegen Wolfgang Bosbach, kratie, unsere Grundordnung, die freiheitlich ist und CDU/CSU-Fraktion. bleibt, und unsere Gesellschaft.

Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Als die ersten Juden nach dem Schrecken der Nazi- barbarei wieder nach Deutschland zurückkehrten, war Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! dies alles andere als selbstverständlich. Es war für sie zu- Der 6. Juni 2003 ist ein guter Tag, nicht nur für die Ver- nächst ein großes Wagnis. Sie konnten ja nicht ahnen, tragspartner – die Bundesrepublik Deutschland auf der ei- welche politischen und gesellschaftlichen Entwicklun- nen und den Zentralrat der Juden auf der anderen Seite –, gen es in der Nachkriegszeit in Deutschland geben nicht nur für die 83 jüdischen Gemeinden in Deutschland würde und ob jemals wieder jüdisches Leben in und ihre mittlerweile wieder gut 100 000 Mitglieder, son- Deutschland erblühen könnte. Es gab nicht wenige, für dern für uns alle. Mit diesem Vertrag soll kein Kapitel ab- die es unvorstellbar war, dass Juden in das Land der Tä- geschlossen und erst recht kein Schlussstrich unter die ter zurückkehren, um dort ein neues Leben zu beginnen. Vergangenheit gezogen, sondern ein neues Kapitel des jü- Deshalb lebten nicht wenige in den ersten Jahren auf ge- dischen Lebens in Deutschland aufgeschlagen werden. packten Koffern. Doch mit der Zeit wuchs das Vertrauen Vielleicht ist es kein Zufall, sondern glückliche Fü- in unseren Staat und damit die Hoffnung, dass es richtig gung, dass gerade in diesen Tagen die Erinnerungen des sein würde, sich wieder für ein Leben in Deutschland zu aus Deutschland geflohenen Philosophen Hans Jonas er- entscheiden. Aus dieser Hoffnung wurde im Laufe der (B) schienen sind. Viele kennen sein Buch „Das Prinzip Ver- Zeit Gewissheit. Dann wurden diese Koffer ausgepackt (D) antwortung“, das in den 80er-Jahren gerade in Deutsch- und man war wieder in der Heimat. land große Aufmerksamkeit erfahren und Anstöße für Wir sollten in diesem Zusammenhang nicht verges- das damals wachsende Bewusstsein für den Schutz der sen, dass dieses Vertrauen der jüdischen Mitbürger in un- Schöpfung und das Bemühen um Nachhaltigkeit gegeben ser Land, in unsere freiheitlich-demokratische Grund- hat. Es ist das Vermächtnis eines der vielen Deutschen, ordnung auch dazu beigetragen hat, das Vertrauen der die durch Flucht und Vertreibung zwar den Mördern ent- internationalen Staatengemeinschaft in die damals noch kommen konnten, deren Geist und Kraft unserem Land junge Bundesrepublik zu festigen. dennoch verloren gegangen sind. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Sehr Ebenfalls in diesen Tagen ist das neue Buch von richtig!) Amos Elon „Zu einer anderen Zeit – Porträt der deutsch-jüdischen Epoche“ in deutscher Übersetzung Dieses Vertrauen war und ist nicht selbstverständlich. erschienen. In der langen, auch innerjüdischen Kontro- Das Vertrauen dürfen wir nicht enttäuschen. verse, ob es denn jemals so etwas wie eine deutsch-jü- Der Kollege Edathy hat in der ersten Lesung dieses dische Symbiose gegeben habe, wird damit ein neuer Vertrages eine Umfrage zitiert, nach der 60 Prozent der Akzent gesetzt und die Erinnerung daran wach gehal- Bevölkerung im Antisemitismus ein Problem sehen. Es ten, wie stark gerade Mitbürger jüdischen Glaubens die wäre falsch, wenn wir so tun würden, als gäbe es in Entwicklung von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kul- Deutschland keinen Antisemitismus. tur, aber auch der Medizin oder der Jurisprudenz in Deutschland ganz entscheidend geprägt haben. Für (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der viele beispielhaft möchte ich Heinrich Heine, Kurt SPD und der FDP) Tucholsky oder Walther Rathenau nennen. Erinnern Aber ebenso falsch wäre es, wenn wir bei Debatten über darf ich aber auch an prominente Vordenker unseres jüdisches Leben in Deutschland zuerst, vor allen Dingen Rechtsstaates wie Eduard von Simson, Hermann Staub oder gar ausschließlich über Antisemitismus reden wür- oder Hans Kelsen. den. Paul Spiegel hat einmal gefragt: Was geht uns Juden Dieser Vertrag ist keineswegs selbstverständlich. Er der Antisemitismus an? Eine zunächst überraschende, ist kein Zeichen von Normalität, auch wenn der Staat aber zweifelsfrei richtige Frage. Die Frage richtet sich sein Verhältnis zu den großen christlichen Kirchen seit auch an uns. Entscheidend ist, dass wir alle gemeinsam langem durch Staatskirchenverträge oder Konkordate geschlossen und entschlossen jeder Form des Antisemi- auf eine dauerhafte und verbindliche Rechtsgrundlage tismus entgegentreten, ganz gleich in welcher Gestalt er 4120 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

Wolfgang Bosbach (A) uns begegnet, dass wir ihm den Nährboden entziehen Konzentrationslagers Auschwitz. Die erste Lesung die- (C) und dass wir stets darauf achten, dass es nie mehr so sein ses Vertrages hatten wir im Deutschen Bundestag am darf, dass sich unsere jüdischen Mitbürger fragen müs- 8. Mai, dem Tag der Befreiung von der Hitler-Diktatur. sen, ob es richtig war, nach Deutschland zurückzukeh- Diese beiden Daten werfen ein Schlaglicht darauf, dass ren, und ob es richtig ist, hier zu leben. das Verhältnis der deutschen Gesellschaft zu ihrer jüdi- schen Minderheit immer noch sehr von den Schatten der (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem Vergangenheit geprägt wird. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- geordneten der FDP) Heute ist ebenfalls ein wichtiger Tag, nämlich der jü- dische religiöse Feiertag Schawuot. Sieben Wochen nach Es muss für uns alle nicht nur selbstverständlich sein, Pessach wird die Offenbarung der zehn Gebote am dass sie hier im Sinne von Toleranz und Duldung leben Berge Sinai gefeiert. können – darum kann es nicht gehen –, sondern dass sie auch hier leben wollen, weil Deutschland ihre Heimat Dass die Ratifizierung durch den Deutschen Bundes- ist. tag mit dem Jahrestag dieses religiösen Festes zusam- menfällt, war uns allen nicht bewusst, als wir die Tages- Staatssekretär Körper hat richtigerweise darauf hin- ordnung zusammengestellt haben. Auch das wirft ein gewiesen, dass unsere deutsche jüdische Gemeinde welt- Schlaglicht auf unsere Situation, weil es zeigt, wie wenig weit am schnellsten wächst. Der Grund hierfür ist insbe- vertraut die Nichtjuden in diesem Land mit der jüdischen sondere die Zuwanderung in der Zeit nach der Kultur und mit den jüdischen Feiertagen sind. Wiedervereinigung. Sie hat zum einen dazu geführt, dass jüdisches Leben in Deutschland wieder erblüht; aber es Ich hoffe, dass sich diese Situation mit der Bereiche- gibt auch Probleme bei der Zuwanderung, die wir nicht rung durch das jüdische Leben, das durch die Zuwande- verschweigen dürfen, sondern lösen müssen. Es gibt rung bedingt auch präsenter und sichtbarer wird, verbes- neue Aufgaben und Herausforderungen. sert und dass wir alle etwas dazulernen und stärker aufeinander eingehen. Ich glaube, das ist ein sehr wichti- Die Integration dieser Migranten jüdischen Glaubens ger Aspekt. ist nicht nur für die jüdischen Gemeinden, sondern für unser Land insgesamt, für die gesamte Gesellschaft eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wichtige Aufgabe. Der Vertrag soll deshalb auch die Vo- und bei der SPD sowie des Abg. Hans- raussetzungen dafür schaffen, dass die notwendige Inte- Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]) gration nicht nur in die jüdischen Gemeinden, sondern auch in unsere Gesellschaft besser gelingt und dass wir Wir müssen mehr über die Geschichte des Juden- dadurch die Kultur der Verständigung weiter ausbauen. tums lernen und wissen als das, was sich in den vergan- (B) genen Jahrzehnten und im vergangenen Jahrhundert er- (D) Unser Dank gilt dem Zentralrat der Juden in Deutsch- eignet hat. Wir müssen das Judentum aus sich selbst land, an der Spitze seinem Präsidenten Paul Spiegel, heraus verstehen. Darin haben wir wohl alle noch Nach- aber auch allen anderen, die sich seit Jahren und Jahr- holbedarf. zehnten um Versöhnung, um Verständigung, um eine gute und vor allen Dingen eine gute gemeinsame Zu- Der Staatsvertrag zeigt, dass die jüdische Gemeinde kunft bemühen. Dieser Vertrag kann und wird dazu bei- ein fester Bestandteil des öffentlichen Lebens in unse- tragen, nicht nur die besseren Voraussetzungen für eine rem Lande geworden ist. Der Zentralrat, gegründet nach gute Integration zu schaffen, das deutsch-jüdische kultu- dem Krieg als Notgemeinschaft der 15 000 noch in relle Erbe zu pflegen und zu erhalten, sondern auch die Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden, ist heute fes- Bemühungen um Verständigung zu unterstützen. ter Bestandteil unseres kulturellen und gesellschaftlichen Lebens. Der Staatsvertrag kommt vielleicht etwas spät; Es wird in den nächsten Jahren aber nicht nur darauf aber er dokumentiert diese entscheidende Entwicklung ankommen, dass die nun zur Verfügung stehenden Mittel und er dokumentiert auch, dass sich viele jüdische Bür- vertragsgerecht und sinnvoll eingesetzt werden; ent- gerinnen und Bürger entschlossen haben, in unser Land scheidend wird es vielmehr sein, den Geist des Vertrages zu kommen, hier zu bleiben und die Koffer auszupacken. mit Leben zu erfüllen. Das ist nicht nur eine Aufgabe der Wir haben immer wieder darüber gesprochen, dass viele Vertragspartner. Das ist eine Aufgabe für alle Menschen, Jüdinnen und Juden das Gefühl hatten, sie bleiben hier die guten Willens sind. In diesem Sinne stimmt die nur auf Probe. Sie saßen auf ihren Koffern und hatten CDU/CSU-Fraktion diesem Vertrag gerne zu. sich noch nicht entschieden. Ich denke, dass sich viele (Beifall im ganzen Hause) Jüdinnen und Juden trotz aller Probleme, die Juden in unserem Land immer noch haben, entschieden haben, dauerhaft hier zu bleiben und ihre Kultur und Religion Präsident Wolfgang Thierse: zu leben, ist etwas, worüber wir sehr zufrieden sein kön- Ich erteile das Wort Kollegen Volker Beck, Fraktion nen. Bündnis 90/Die Grünen. Der Staatsvertrag soll ein neues Kapitel in der langen Geschichte jüdischen Lebens in unserem Land aufschla- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gen. Durch die Zuwanderung aus Osteuropa sind viele Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der jüdische Gemeinden gewachsen und weitere gegründet Staatsvertrag wurde am 27. Januar unterzeichnet. Das ist worden. Diese Zuwanderung, die von allen Fraktionen der Holocaust-Gedenktag und der Tag der Befreiung des des Deutschen Bundestages ausdrücklich gewollt ist, hat Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4121

Volker Beck (Köln) (A) erheblich zum Reichtum und zur Sichtbarkeit jüdischen Gedanke dabei ist, dass Kinder, die einen jüdischen Kin- (C) Lebens in Deutschland beigetragen. dergarten besuchen, erst einmal an einem Polizeispalier vorbeigehen müssen. Was bedeutet das für den Eintritt in Dieser Reichtum bedeutet auch ein zunehmendes unsere Gesellschaft und welches Grundgefühl vermittelt Sichtbarwerden der Vielfalt des jüdischen Lebens. Diese das? Es ist unser aller Aufgabe, die geistigen Grundla- Vielfalt war auch ein Diskussionspunkt bei der Verab- gen dafür zu schaffen, dass die entsprechenden Gefähr- schiedung des Staatsvertrages. dungen abgebaut werden können, damit tatsächlich wie- Ich meine, wir sollten fast dankbar dafür sein, dass der ein normales jüdisches Leben in unserem Land wir uns heute darum kümmern müssen, dass Jüdinnen möglich wird. und Juden ihre religiöse Überzeugung in unterschiedli- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN cher Ausprägung leben können und auch in dieser Unter- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der schiedlichkeit vom Staat akzeptiert und anerkannt wer- CDU/CSU und der FDP) den wollen. Der Zentralrat der Juden in Deutschland bekennt sich dazu, dass er die Vielfalt religiöser Strö- mungen des Judentums in seinen Reihen repräsentiert. Präsident Wolfgang Thierse: Wir hoffen, dass dieser Staatsvertrag dazu führt, dass Das Wort hat nun Kollege Hans-Joachim Otto, FDP- diese gesamte Vielfalt gelebt werden kann. Das gilt auch Fraktion. für eine Minderheit in unserem Land, die früher die Mehrheit der deutschen Jüdinnen und Juden bildete, und Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): zwar die liberalen jüdischen Gemeinden, die bislang Meine Damen und Herren! Es stimmt, heute ist ein noch nicht im Zentralrat vertreten sind. wirklich guter Tag, und zwar gleichermaßen für Juden Ich möchte bei dieser Gelegenheit einen Appell an die sowie für Nichtjuden in Deutschland. Wir setzen einen Landesinnenminister richten, die für die Anerkennung Vertrag in Kraft, den es jedenfalls in dieser Form vor we- von Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öf- nigen Jahren wohl noch nicht hätte geben können. Die fentlichen Rechts zuständig sind. Eine Religionsgemein- Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland schaft kann normalerweise erst dann eine Körperschaft und dem Zentralrat der Juden in Deutschland werden auf des öffentlichen Rechts werden, wenn sie bereits zehn eine dauerhafte juristische Basis gestellt. Dieser Vertrag Jahre existiert und eine gewisse Größe hat. ist – so hoffe ich jedenfalls – Ausdruck wachsenden Ver- trauens der jüdischen Bürger in die demokratische Stabi- Ich möchte die Kolleginnen und Kollegen in den Län- lität dieses Landes. dern daran erinnern: Leo Baeck, der Vorsitzender der (B) World Union for Progressive Judaism war, hat zu Beginn (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (D) des 20. Jahrhunderts in Deutschland begonnen zu wir- der CDU/CSU) ken. Er hatte bis weit nach dem Krieg eine entscheidende Kollege Bosbach und Kollege Beck, sicherlich ist das Bedeutung für das religiöse Leben der Juden in Deutsch- Verhältnis der Juden zu Deutschland noch weit von der land und auf der ganzen Welt. Vielleicht sollte man unter so genannten Normalität entfernt. Jedenfalls darf diese diesem Gesichtspunkt anerkennen, dass es nicht darum nicht einseitig von Nichtjuden ausgerufen werden. geht, vor wie vielen Jahren die Gemeinden gegründet Trotzdem drücke ich die Hoffnung aus, dass der Ab- wurden. Es geht vielmehr darum, dass das liberale Ju- schluss dieses Vertrages von den Juden selbst als ein dentum in Deutschland eine lange Tradition und tiefe weiterer Schritt auf Deutschland zu verstanden wird. Wurzeln hat. Insofern sollte man in Kenntnis der histori- Diese bewusste Hinwendung zu einem Land, das vor schen Umstände vielleicht seine Ermessensspielräume 70 Jahren unfassbares Leid über Juden in ganz Europa nutzen, um auch diese Fragen und Probleme im Einver- brachte, ist Reifezeugnis und zugleich Verantwortung für nehmen mit allen Seiten zu lösen. das neue demokratische Deutschland. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE CDU/CSU und des Abg. Hans-Joachim Otto GRÜNEN) [Frankfurt] [FDP]) Ich betrachte den Abschluss dieses Vertrages auch als Zum Schluss: Bei Debatten über die jüdische Ge- ein politisches Signal an die Ewiggestrigen, und zwar meinschaft – auch Herr Bosbach hat das angesprochen – dahin gehend, dass sich Demokraten in Deutschland ge- wird immer wieder das Stichwort „Normalität“ erwähnt. meinsam und konsequent gegen jede Form von Antise- Ich wünsche mir in der Tat mehr Normalität für das Le- mitismus wenden und wehren. Es ist in der Tat beschä- ben der Jüdinnen und Juden in unserem Land. Normal mend, dass nahezu sämtliche jüdischen Einrichtungen wäre es für mich, wenn Polizeiwagen und Absperrgitter noch immer mit einem Polizeiaufgebot gesichert werden vor jüdischen Einrichtungen nicht mehr notwendig wä- müssen. ren. Lassen Sie mich – ohne das Vorherige zu vergessen – (Beifall im ganzen Hause) heute vor allem eines feststellen: Der heutige Tag, an Momentan ist das aber noch notwendig, weil der Antise- dem wir diesen Vertrag ratifizieren, ist für uns vor allem mitismus in Deutschland noch immer das Leben der Jü- ein Tag der Freude darüber, wie lebhaft und intensiv sich dinnen und Juden gefährdet. Ich finde, der schrecklichste jüdisches Leben in Deutschland wieder entwickelt hat. 4122 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (A) Damit meine ich nicht zuletzt auch jüdisches kulturelles Petra Pau (fraktionslos): (C) Leben auf allen Ebenen unserer Gesellschaft. Juden ha- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der ben über Jahrhunderte hinweg das kulturelle Leben in Staatsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland Deutschland ganz entscheidend mitgestaltet und berei- und dem Zentralrat der Juden in Deutschland wurde als chert. Gerade in Berlin, aber auch in meiner Heimatstadt historisch und als Meilenstein auf dem Weg in die Zu- Frankfurt kennt man das Engagement und die Verdienste kunft gewürdigt. Ich finde: zu Recht. Die PDS im Bun- der jüdischen Bevölkerung in Kunst und Wissenschaft destag wird dem Gesetzentwurf daher auch zustimmen. sowie in Politik und Gesellschaft sehr gut. Mehr als 3 Millionen Euro, die nunmehr pro Jahr ver- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten traglich vereinbart wurden, wiegt das Symbol. Es wurde der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS- spät gesetzt, aber es gilt. Jüdinnen und Juden sind in SES 90/DIE GRÜNEN) Deutschland nicht nur geduldet; sie sind gleichberechtigt und gefragt. Das macht nichts wieder gut, was Jüdinnen Man weiß deshalb, welchen Verlust ganz Deutschland und Juden in Deutschland angetan wurde, aber mit die- durch die Nazibarbarei erlitten hat. Gerade dieser intel- sem Vertrag, finde ich, setzen wir heute, wenn auch sehr lektuelle Verlust wird sich natürlich nicht einfach durch spät, ein Zeichen. die heute zu beschließenden finanziellen Zuwendungen ausgleichen lassen. Diese Finanzmittel sind nur ein Bau- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- stein, um die durch den Zuzug insbesondere osteuropäi- tionslos] sowie des Abg. Hans-Joachim Otto scher Juden in finanzielle Bedrängnis geratenen jüdi- [Frankfurt] [FDP]) schen Gemeinden zu unterstützen. Der Deutsche Bei aller Bedeutung will ich aber auch nicht ver- Bundestag würdigt damit ausdrücklich auch die über- schweigen: Der Vertrag birgt Klippen und die Vertrags- wiegend ehrenamtliche Arbeit in den jüdischen Gemein- partner versuchen, sie zu umschiffen. Eine Klippe steckt den. Deren soziale Integrationsleistung kann gar nicht in dem Satz – der hier schon mehrfach zitiert wurde –, hoch genug bewertet werden. wonach die vereinbarten Leistungen der gesamten jüdi- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten schen Gemeinschaft zugute kommen. Ich will jetzt nicht der SPD und der CDU/CSU) auf kulturelle, strukurelle und religiöse Unterschiede der gesamten jüdischen Gemeinschaft eingehen, aber ich un- Der Vertrag – auch ich möchte das betonen – soll aber terstreiche, auch in Kenntnis der Berliner Verhältnisse, der gesamten jüdischen Gemeinschaft in Deutschland dass dieser Gleichstellungssatz gilt und auch in der Um- zugute kommen. Ich appelliere genauso wie meine Vor- setzung des Vertrags gelten muss. (B) redner an den Zentralrat, für einen fairen Ausgleich auch Noch wichtiger ist mir aber Folgendes: Die PDS im (D) mit den übrigen jüdischen Organisationen zu sorgen. Bundestag fragt die Bundesregierung seit Jahren, wie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten viele rechtsextremistische Straftaten je Monat offiziell der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS- registriert werden. Das Ergebnis ist übersichtlich und er- SES 90/DIE GRÜNEN) schreckend. Jeden Tag gibt es hierzulande eine rechts- extremistische Gewalttat und jede Stunde wird im statis- In seinem Buch „Geteilte Erinnerung“ schreibt der tischen Schnitt eine Straftat mit diesem Hintergrund Frankfurter Architekt und Publizist Dr. Salomon Korn, registriert. Der Anteil der Straftaten, die einen antisemi- der vorgestern seinen 60. Geburtstag feierte, Folgendes: tischen Hintergrund haben, ist hoch und steigt. Deshalb: Ein Vertrag ist ein Vertrag. Er ersetzt aber nicht das tägli- Erinnerung an Zerstörung – und Hoffnung auf Zu- che Leben und das alltägliche Miteinander. kunft: zwischen diesen Polen bewegt sich heute jü- Zum Abschluss, liebe Kolleginnen und Kollegen, disches Dasein in Deutschland. noch ein weiterführender Gedanke. Der Staatsvertrag Erinnerung an die Zerstörung und Hoffnung auf die zwischen dem Zentralrat der Juden in Deutschland und Zukunft sind auch die Fundamente des heute zu ratifizie- der Bundesrepublik war überfällig, aber es gibt weitere renden Vertrages. Ohne die Erinnerung an den staatlich Bevölkerungsgruppen, die noch immer um Anerken- verordneten Völkermord des Naziregimes gäbe es diesen nung und Gleichberechtigung kämpfen. Ich meine spe- Vertrag sicherlich nicht. Aber – viel entscheidender –: ziell die Sinti und Roma. Auch ihnen gegenüber gibt es Ohne Hoffnung auf die Zukunft gäbe es ihn erst recht eine historische Verantwortung und eine aktuelle zudem. nicht. Es ist schon bedenklich, wie lange es dauert, den Opfern unter ihnen ein Mahnmal zu setzen, und wie schnell da- Vielen Dank. gegen Sinti und Roma selbst in Bürgerkriegsgebiete ab- geschoben werden sollen. Jüngst wurde dazu eine Kam- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten pagne gestartet. Aber auch in dieser Frage geht es nicht der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS- um Parteipolitik, sondern um die Kultur unseres Landes. SES 90/DIE GRÜNEN) Danke schön.

Präsident Wolfgang Thierse: (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Ich erteile der Kollegin Petra Pau das Wort. Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos]) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4123

(A) Präsident Wolfgang Thierse: Das Zustandekommen dieses Vertrages hat seine Ursa- (C) Ich erteile das Wort dem Kollegen Sebastian Edathy, che selbstverständlich auch darin – der Kollege Otto hat SPD-Fraktion. zu Recht darauf hingewiesen –, dass wir vor dem Hinter- grund der furchtbaren deutschen Geschichte zwischen 1933 und 1945 gerade gegenüber den Jüdinnen und Juden Sebastian Edathy (SPD): in Deutschland eine besondere Verantwortung haben. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Dieser Vertrag bringt aber auch zum Ausdruck, dass wir Herren! Die meisten Mitglieder des Bundestages haben wieder einen Zustand erreichen wollen – der damit ver- hier, in Berlin, zusätzlich zu ihrem Wahlkreiswohnsitz bundene Prozess wird heute nicht abgeschlossen –, in eine Zweitwohnung; meine befindet sich im östlichen dem es ganz selbstverständlich ist, dass deutsche Bürge- Teil Berlins. Wenn ich in den Sitzungswochen des Bun- rinnen und Bürger hier in Frieden und ungefährdet leben destages morgens zum Reichstagsgebäude fahre, können, egal welcher Glaubensrichtung sie angehören. komme ich an der Oranienburger Straße entlang. Dort (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ befindet sich eine jüdische Synagoge. Das Erste, was DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der ich von dieser Synagoge zur Kenntnis nehme, ist nicht CDU/CSU und der FDP) das Gebäude selbst, sondern sind die Polizeiwagen vor dem Gebäude. Die Situation in Deutschland verlangt es, Es ist richtig, auch darauf hinzuweisen, dass rund eine dass – nicht nur religiöse – Einrichtungen der Juden, halbe Million Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glau- anders als etwa christliche Kirchen, eines besonderen bens bis zur Zeit des Nationalsozialismus trotz aller Brü- Schutzes bedürfen. Das gilt auch für Schulen und für che in der deutschen Geschichte ein Teil dieser Gesell- Kindergärten. schaft gewesen sind, übrigens nicht nur im Bereich der Eliten, sondern auch in anderen Bereichen der deutschen Es ist wichtig festzuhalten – ich freue mich, dass wir Gesellschaft. Sie gehörten dazu. Sie waren ein Teil die- auch in den Ausschussberatungen Einstimmigkeit in Be- ses Landes. Deswegen ist die Judenverfolgung im Natio- zug auf den heute zu ratifizierenden Vertrag erzielt ha- nalsozialismus nicht nur etwas gewesen, was sich gegen ben –, dass Menschen jüdischen Glaubens, die in den jüdischen Teil der deutschen Bevölkerung gerichtet Deutschland leben, Bürgerinnen und Bürger unseres hätte. Vielmehr war die Judenverfolgung in Deutschland Landes, ganz offenkundig eines besonderen Schutzes be- ein Akt der Selbstzerstörung der eigenen Gesellschaft, dürfen. Dieses Stück Realität aber dürfen wir in der deutschen Gesellschaft. Deutschland niemals als ein Stück Normalität akzeptie- ren. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordne- (B) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE ten der CDU/CSU) (D) GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP) Sie war eine Selbstamputation. Wir leiden noch heute Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass wir nach wie unter diesem Verlust. vor ein Problem mit antisemitischen Positionen – diese gibt es auch in anderen Ländern; aber wir haben in dieser Ich selbst bin in den 70er-Jahren in Niedersachsen Hinsicht eine besondere Verantwortung – haben, weil aufgewachsen. An meiner Schule, am Gymnasium, gab diese in einem Teil der Bevölkerung Anklang finden. In- es keinen jüdischen Schüler und keine jüdische Schüle- sofern haben wir nicht nur Anlass, uns über das Ver- rin. Übrigens: Ich glaube, dass ein Grund für den Antise- trauen, das die vielen erfreulicherweise wieder in mitismus auch darin besteht, dass oftmals kein Wissen Deutschland lebenden Bürgerinnen und Bürger jüdi- umeinander da ist. Ich war auch überrascht zu hören schen Glaubens diesem Staat entgegenbringen, zu – Herr Kollege Beck hat es angesprochen –, dass heute freuen, sondern auch, dafür ausgesprochen dankbar zu einer der höchsten jüdischen Feiertage ist. Ich weiß sein. nicht, wem in diesem Hause das bewusst war. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Der Vertrag, den wir schließen, der den Zentralrat DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der stärker dazu in die Lage versetzen soll, die Pflege des CDU/CSU und der FDP) deutsch-jüdischen Kulturerbes – des gemeinsamen Kul- turerbes – zu betreiben, der den Zentralrat unterstützen Der Vertrag, den wir heute einvernehmlich und ge- soll bei dem Aufbau der jüdischen Gemeinschaft in schlossen verabschieden werden – alle Fraktionen haben Deutschland, der ihn unterstützen soll insbesondere bei bereits erklärt, dass sie dem entsprechenden Gesetzent- den integrationspolitischen, bei den sozialen Leistungen, wurf zustimmen –, gibt aber auch Anlass, über jüdisches die er erbringt, sollte vielleicht auch eine Grundlage und Leben in Deutschland einmal anders zu sprechen als un- ein Ausgangspunkt dafür sein, dass wir uns miteinander ter dem Gesichtspunkt, dass jüdische Bürgerinnen und vornehmen, wechselseitig mehr übereinander erfahren Bürger in Deutschland potenzielle Opfer von Übergrif- zu wollen, mehr übereinander wissen zu wollen; denn fen sind. Die Debatte über diesen Vertrag gibt uns An- Zusammenleben ohne Verständigung kann nicht funk- lass, darüber zu reden, dass jüdische Bürgerinnen und tionieren. In dem Sinne ist dieser Vertrag nach meinem Bürger in Deutschland auch Akteure sind, dass sie unser Dafürhalten eben nicht der Abschluss eines Prozesses Zusammenleben bereichern, dass sie nichts sind, was oder ein Punkt, ab dem man sagen könnte: Jetzt ist ein man zu der Gesellschaft hinzunimmt, sondern dass sie Zustand der Normalität erreicht. Nein, der Vertrag ist ein elementarer Teil dieser Gesellschaft sind. Zwischenschritt in diesem langen Prozess. 4124 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

Sebastian Edathy (A) Ich möchte an dieser Stelle abschließend an Ignatz Wer unsere besondere Verpflichtung gegenüber den (C) Bubis erinnern, den langjährigen Präsidenten des Zen- Juden und dem Staat Israel verleugnen will, ist his- tralrates der Juden, der kurz vor seinem Tod mit einiger torisch und moralisch, aber auch politisch blind. Verbitterung sinngemäß gesagt hat – ich zitiere ihn aus Der weiß nichts von der jahrhundertelangen dem Gedächtnis heraus –: Ich habe mich immer bemüht, deutsch-jüdischen Geschichte und nichts von den dieses Missverständnis, auf der einen Seite gebe es die reichen Beiträgen, die von Juden zur deutschen Deutschen, auf der anderen Seite gebe es die Juden, zu Kultur und Wissenschaft geleistet worden sind. Er überwinden. – Er sagte, er habe in dieser Hinsicht wenig, begreift nicht die Schwere der Verbrechen des nati- nach seiner Einschätzung sogar nichts erreicht. Ich onalsozialistischen Massenmordes an den Juden. glaube, dass das Vermächtnis solch großer Menschen wie Ignatz Bubis für uns auch darin besteht, ihre Ansätze So weit Konrad Adenauer. aufzugreifen und fortzuführen. Wenn wir viel Glück ha- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ben und wenn wir dazu beitragen, dass eine Grundlage dafür da ist, dass wir dieses Glück haben dürfen, werden Glaube keiner, über dem deutsch-israelischen Verhält- vielleicht in einigen Generationen Menschen, die unsere nis habe damals so etwas wie der Zauber des Anfangs Bevölkerung – die Deutschen, die jüdischen Deutschen, gelegen. Nein, zwischen den ersten Geheimkontakten im die christlichen Deutschen, die muslimischen Deut- Jahr 1951, der Vertragsunterzeichnung im Jahre 1952 schen – hier im Bundestag vertreten, feststellen können: und, erst ein ganzes Jahr später, der Ratifizierung im Ja, es gibt dieses Separieren zwischen Deutschen und Ju- März 1953 lagen riesige Anstrengungen für alle Betei- den nicht mehr, Deutsche jüdischen Glaubens sind deut- ligten. Außerdem schwebte das Damoklesschwert des sche Bürgerinnen und Bürger und nicht Juden in gänzlichen Scheiterns über dem Vorhaben. Manche Ab- Deutschland. Wenn wir das feststellen können, dann geordneten stimmten wegen der Höhe der Entschädi- werden wir, glaube ich, an einem Punkt angelangt sein, gungssumme oder der drohenden Verärgerung der Ara- von dem wir sagen können: Es war wichtig, ihn zu errei- ber nicht zu oder enthielten sich. Letztendlich war der chen. erfolgreiche erste Schritt der Mehrheit der CDU und der geschlossenen Zustimmung der Sozialdemokraten zu Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. danken. Auch die Anbahnung der diplomatischen Bezie- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE hungen glich unter anderem wegen des Kräftevierecks GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordne- Bundesrepublik Deutschland, Israel, DDR, Ägypten eher ten der CDU/CSU und der Abg. Petra Pau einer Echternacher Springprozession, bis unter Kanzler [fraktionslos]) Erhard am 12. Mai 1965 Botschafter ausgetauscht wur- den. (B) (D) Präsident Wolfgang Thierse: Nein, einfach war es nie, weder die deutsch-israeli- schen Beziehungen noch das deutsch-jüdische Zusam- Ich erteile das Wort dem Kollegen Martin Hohmann, menleben in Deutschland. CDU/CSU-Fraktion. Woran das liegt, hat György Konrad, der langjährige Martin Hohmann (CDU/CSU): Präsident der Berliner Akademie der Künste, so ausge- drückt: Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Alle Redner haben so gesprochen, dass ich nur sagen Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind wir we- kann: Ich kann alles bekräftigen und unterstützen. Be- der Täter noch Opfer. Durch Blutsbande, Bekannt- sonders möchte ich mich natürlich auf Wolfgang schaften oder kulturelle Bindungen aber gehen sie Bosbach, unseren stellvertretenden Fraktionsvorsitzen- uns etwas an. Wir wissen von ihnen… Auf einer in- den, beziehen. Ich möchte das nicht wiederholen, aber neren Bühne sind sie anwesend, lassen sich nicht ich bekräftige: Juden gehörten seit Jahrhunderten zu uns. verscheuchen. Sie kommen. Unser aller Wunsch ist: So soll es wieder werden. György Konrad hat Recht. Wer eine bewusste ge- Ich darf etwas, was noch keiner gesagt hat – als Letz- schichtlich-kulturelle Prägung erfahren hat und sich sei- ter hat man es ein wenig schwer, etwas bisher Ungesag- ner Entität zugehörig fühlt, der ist dem Kommen, besser tes zu bringen –, hinzufügen: Wir haben bei der Zuwan- gesagt dem Hinzudrängen der Täter-Opfer-Rolle fast derung nach Deutschland jetzt sogar die Situation, dass hilflos ausgesetzt. Nicht jeder bringt so viel Geduld auf erstmals mehr Juden nach Deutschland gekommen sind und schätzt es als erfreuliche Herausforderung ein wie als nach Israel. Das wird vielleicht noch manchem Kopf- Avi Primor, der israelische Botschafter der Jahre 1993 zerbrechen bereiten. Aber es ist ein sehr positives, gutes bis 1999, wenn sein deutscher Gesprächspartner unwei- Zeichen. gerlich und als Erster, was auch immer der Gegenstand und ursprüngliche Grund des Treffens gewesen sein Meine sehr geehrten Damen und Herren, die ersten mochte, das Thema Nazivergangenheit anschnitt. Architekten und Baumeister am Haus der deutsch-jüdi- schen und der deutsch-israelischen Beziehungen waren Dieser Vergangenheitskomplex führt zu seltsamen David Ben-Gurion und Konrad Adenauer. Konrad Fehlhaltungen und treibt auch Blüten. Gestatten Sie mir Adenauer formulierte die noch heute gültige Basis, auf bitte, Ihnen in diesem Zusammenhang eine Beobachtung der auch der zur Abstimmung stehende Staatsvertrag mitzuteilen, die ich beim Nachlesen einschlägiger Bun- letztendlich beruht. Ich zitiere: destagsprotokolle machte. Spricht ein Mitglied des Bun- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4125

Martin Hohmann (A) destages über einen deutschen Juden, wird meist – Herrn Wolfgang Bosbach hat das gute Einvernehmen zwi- (C) Beck nehme ich ausdrücklich aus – die Umschreibung schen dem Zentralrat und der Union betont. Ich pflichte „jüdischer Mitbürger“ oder „jüdischer Bürger“ gewählt. dem auch mit Hinweis auf die gemeinsam gewünschte Änderung des § 166 StGB bei. Übereinstimmend mit Professor Dr. Ernst Tugendhat, Philosoph und deut- dem jüdischen Vertreter sprach sich die Unionsfraktion scher Jude, berichtete in dem Wochenblatt „Die Zeit“ für eine Verbesserung des Schutzes religiöser Bekennt- Ähnliches. In Deutschland, und nur in Deutschland, nisse aus. Parallele Anschauungen sind auch in der Ab- werde die Frage nach der Zugehörigkeit so gestellt: Sind treibungsfrage zu verzeichnen. Oberrabiner Berger be- Sie jüdischer Abstammung? Er fühle sich dann immer zeichnete Abtreibung als strafwürdiges Blutvergießen. etwas gekränkt und sehe sich genötigt, zu antworten: Ich bin nicht nur jüdischer Abstammung; ich bin auch Jude. Da vor dem Kriege gerade die liberalen jüdischen Ge- meinden in Deutschland stark vertreten waren, bleibt mir Die höfliche Vorsicht, die in der umständlichen Fra- abschließend nur die Bitte an den Zentralrat, die geringe geform liegt, löst bei Tugendhat, so sagt er, ein ungutes Zahl der neu gegründeten liberalen jüdischen Gemeinden Gefühl aus. Er kann es sich nur so vorstellen, dass der an der jährlichen Dotation anteilsmäßig zu beteiligen. Fragende das Jude-Sein als etwas Anrüchiges, als einen Makel empfindet. Wie würde es in unseren Ohren klin- Schließen möchte ich mit einer Vision von einem zu- gen, wenn man beispielsweise den Berliner Kardinal künftigen umfassenden und friedlichen Zusammenleben fragte: Sind Sie katholischer Abstammung? aller Menschen guten Willens unter einem Dach und möchte dazu aus der Offenbarung des Johannes zitieren: Auch Ignatz Bubis ging diese gewundene Umschrei- bung gegen den Strich. 1996 ließ er einen so genannten Siehe, das Zelt Gottes bei den Menschen! Und er koscheren Knigge herausgeben. Darin heißt es wörtlich: wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein. Sie dürfen ruhig „Jude“ sagen. Das Wort ist nicht beleidigend. Wenn es Ihnen dennoch nur schwer Danke. über die Lippen kommt, dann hat das damit zu tun, (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der dass irgendwo in Ihrem Hinterkopf noch rudimentär FDP) frühere Zeiten stecken. Das allerdings ist Ihr Pro- blem, nicht unseres. Vizepräsident Dr. : (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Ich schließe die Aussprache. FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- (B) desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zum (D) Warum nicht von Ignatz Bubis lernen? Mit allem Res- Vertrag vom 27. Januar 2003 zwischen der Bundesrepu- pekt: Ein Jude ist ein Jude; ein Christ ist ein Christ. blik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Deutschland, Drucksache 15/879. Der Innenausschuss Solms) empfiehlt auf Drucksache 15/1109, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- Die psychologische Erklärung für den Hang, das wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegen- schlichte Wort Jude nicht zu gebrauchen, dürfte in der stimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in Tat darin liegen, dass es für viele Deutsche assoziativ mit zweiter Beratung einstimmig angenommen. der Judenvernichtung besetzt ist. Zugleich – das hat Herr Beck schon angesprochen – sind uns religiöse Inhalte Dritte Beratung und Riten des Judentums weitgehend fremd geworden. und Schlussabstimmung. Wer zustimmen möchte, möge Wir wissen wenig von dem religiösen Universum und sich erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Reichtum einer 5 763-jährigen Geschichte als auser- Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. wähltem Volk. Die Juden sind – ich spreche als Christ – unsere weit älteren Brüder und Schwestern. Sie waren (Beifall im ganzen Hause) sozusagen Gottes erste Liebe. Gott sagt in Genesis 12,3 Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b auf: zu Abraham: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Andreas Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen Storm, Annette Widmann-Mauz, Dr. , erlangen. Ich will segnen, die dich segnen, wer dich weiterer Abgeordneter und der Fraktion der verwünscht, den will ich verfluchen. CDU/CSU Indem wir Juden in unserer Vorstellung und aufgrund Klarheit über Rentenfinanzen und Alterssi- unserer Kenntnisdefizite von ihren religiösen Prägungen cherung schaffen – Notwendige Reformmaß- separieren, rauben wir ihnen den Wesensteil, der ihnen nahmen nicht auf die lange Bank schieben als einziges Volk der Welt ein jahrtausendelanges Über- leben und ein Bewahren ihrer Identität gesichert hat. Ziel – Drucksache 15/1014 – des Vertrages mit dem Zentralrat der Juden ist jedoch ge- Überweisungsvorschlag: rade, jüdische Identität sowie jüdisches kulturelles und Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) Finanzausschuss religiöses Leben, also Jüdischkeit, in Deutschland lang- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit fristig zu sichern. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 4126 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Es ist doch ein Treppenwitz, wenn ausgerechnet Eichel (C) richts des Ausschusses für Gesundheit und Sozi- erklärt, dass der Bundeszuschuss zur Rente in den letz- ale Sicherung (13. Ausschuss) zu dem Entschlie- ten Jahren zu dynamisch gewachsen sei. ßungsantrag der Abgeordneten Dr. Heinrich L. Ich frage Sie: Wer hat denn unter dem Motto „Tanken Kolb, Daniel Bahr (Münster), Dr. Dieter Thomae, für die Rente“ einen zweiten Rentenbeitrag an der Zapf- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP säule eingeführt? Welcher Finanzminister hat denn freu- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung dig zugestimmt, als beschlossen wurde, die Ökosteuer ab Bericht der Bundesregierung über die gesetzli- 1999 Jahr für Jahr anzuheben? Wer nun einen steigenden che Rentenversicherung, insbesondere über Steueranteil bei der gesetzlichen Rente beklagt, leidet of- die Entwicklung der Einnahmen und Ausga- fenkundig unter einem massiven Gedächtnisverlust. ben, der Schwankungsreserve sowie des je- (Beifall bei der CDU/CSU) weils erforderlichen Beitragssatzes in den künftigen 15 Kalenderjahren gemäß § 154 Nicht besser sieht es mit Eichels zweitem Vorschlag SGB VI (Rentenversicherungsbericht 2002) aus: den Anteil der Rentner an den Krankenversiche- und rungsbeiträgen von 50 auf 75 Prozent anzuheben. Es ist Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversi- ein merkwürdiges Verständnis von Generationengerech- cherungsbericht 2002 tigkeit, wenn allein die Rentner die Fehler der verkorks- ten Riester-Reform ausbaden sollen. – Drucksachen 15/110, 15/318, 15/859 – (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Berichterstattung: Abgeordnete Hildegard Müller Dieser Vorschlag bedeutet nämlich im Klartext nichts anderes als eine Rentenkürzung um 3,5 Prozent. Das Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die wäre ein massiver Schnitt in die Substanz. Das ist mit Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen der Union nicht zu machen. Widerspruch. Dann ist so beschlossen. (Beifall bei der CDU/CSU – Gudrun Schaich- Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das Walch [SPD]: Mit uns auch nicht!) Wort der Kollege Andreas Storm von der CDU/CSU- Fraktion. – Wenn Sie sagen: „Mit uns auch nicht!“, dann ist es ja beruhigend, dass die SPD ihren Finanzminister vielleicht auf Kurs bringt. Andreas Storm (CDU/CSU): Eichels Kopflosigkeit ist allerdings inzwischen auch (B) (D) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die seit auf den Koalitionspartner übergeschlagen. Denn nicht Tagen anhaltende Fortsetzungskomödie der Irrungen anders ist der Vorschlag der Fraktionsvorsitzenden von und Wirrungen der Regierungskoalition über bevorste- Bündnis 90/Die Grünen Katrin Göring-Eckardt zu erklä- hende Einschnitte bei der gesetzlichen Rente zeigt, dass ren: Sie will die Rentenanpassung in Zukunft von der Rot-Grün nur zwei Jahre nach der Verabschiedung der – an- Rentenhöhe abhängig machen. Die Bezieher hoher Ren- geblichen – riesterschen Jahrhundertrentenreform heute ten gehen dann leer aus, die kleiner Renten bekommen vor einem rentenpolitischen Scherbenhaufen steht. etwas. Das hört sich für den einen oder anderen am An- (Beifall bei der CDU/CSU) fang noch ganz vernünftig an. Aber das hätte gewaltige Konsequenzen. Das wäre der Einstieg in den Ausstieg Die Begründung des Bundeskanzlers im Hinblick auf aus der beitragsbezogenen gesetzlichen Rente. eine neue Rentenreform in seiner Agenda-Rede vom 14. März dieses Jahres, in der er gesagt hat, man habe (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- vor anderthalb Jahren die Arbeitsmarktentwicklung zu neten der FDP) optimistisch und die demographische Entwicklung zu Ich stimme dem stellvertretenden Fraktionsvorsitzen- pessimistisch eingeschätzt, kommt in der Tat einem Of- den der SPD ja nicht allzu oft zu, fenbarungseid gleich. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das wäre auch Die anhaltende Talfahrt auf dem Arbeitsmarkt macht schlecht!) auch vor den Rentenkassen nicht Halt. So ist im nächs- ten Jahr mit einem massiven Anstieg des Rentenbei- aber wo der Mann Recht hat, hat er Recht. Er hat es auf tragssatzes auf mehr als 20 Prozent zu rechnen. Ein hö- den Punkt gebracht, indem er gesagt hat, Frau Göring- herer Rentenbeitrag bedeutet zwangsläufig einen Eckardt habe das Rentensystem nicht begriffen: „Jeder höheren Bundeszuschuss. kriegt die Rente, die er durch seine Leistung verdient hat. Wer darauf ein anderes Prinzip anwendet, ist völlig Vor diesem Hintergrund muss die Verzweiflung von von der Rolle.“ – Stiegler hat es hiermit auf den Punkt Bundesfinanzminister riesengroß sein. gebracht. Denn nicht anders ist es zu erklären, dass der Minister in der vergangenen Woche panikartig um sich geschlagen Nun haben Eingriffe in die Rentenerhöhung aller- hat. Offenbar hat er vor lauter Haushaltslöchern den dings eine klare Tradition in der rot-grünen Bundesregie- Überblick völlig verloren. rung. Nahezu kein Jahr vergeht ohne eine Änderung des Anpassungsverfahrens. Das begann 1999 mit der nor- (Beifall bei der CDU/CSU) malen nettolohnbezogenen Rente. Dann hat Eichel ge- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4127

Andreas Storm (A) sagt: Renten nach Kassenlage. Noch nicht einmal den In- niedrigen Renditen eingeengt und so gestaltet ist, dass (C) flationsausgleich gab es im Jahr 2000. Dann ist man im viele sagen: Ich werde eine solche Rente wählen. Wenn Jahr 2001 zur bruttolohnbezogenen Rentenanpassung man die Riester-Rente durch eine attraktive Förderrente übergegangen und in den Folgejahren zu einem Ab- ablösen will, dann braucht man dafür Fördermittel; denn schlag für die Riester-Rente. nur so können die Menschen überhaupt in die Lage ver- setzt werden, ein zweites Standbein der Alterssicherung Das Fatale ist, dass die Rentner so behandelt werden, aufzubauen. als würden die Beitragszahler zu 100 Prozent einen Riester-Vertrag abschließen. Aber Fakt ist, dass noch Die wichtigste Voraussetzung, um einen Kollaps des nicht einmal jeder sechste Förderberechtigte einen Rentensystems zu verhindern, ist, dass die Kakophonie Riestervertrag abgeschlossen hat. innerhalb der Bundesregierung schleunigst beendet wird. Die Regierung muss den Mut zu einem Neubeginn in (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Leider wahr!) der Rentenpolitik aufbringen. Die zuständige Bundes- Damit wird bei den Rentnern abkassiert, was überhaupt sozialministerin muss einen ungeschminkten Kassen- keine Grundlage hat. Wenn Sie im nächsten Jahr für die sturz bei den Rentenfinanzen vornehmen. Die derzeit be- Rentner eine Nullrunde anstreben, dann bedeutet das im triebene Arbeitsteilung muss ein Ende haben: Die Klartext, dass bei Ihnen die Rente nach Kassenlage zum Ministerin behauptet, dass die Beiträge – wie durch ein Dauerzustand wird. Wunder – stabil bleiben, und der Finanzminister legt aus Furcht vor steigenden Beiträgen und Bundeszuschüssen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- bis zum Gehtnichtmehr Kürzungspläne vor. Wir brau- neten der FDP) chen noch vor der Sommerpause Klarheit über die tat- Eine Rente nach Kassenlage droht auch durch die of- sächliche Finanzsituation bei den Renten. fenbar angedachte Absenkung der Rentenreserve. Diese Rentenreserve hat noch immer eine Größenord- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nung von 6 bis 7 Milliarden Euro. Das ist für den Fi- Der von Professor Rürup in die Diskussion einge- nanzminister verlockend, der im Sozialetat 6 bis brachte Nachhaltigkeitsfaktor, den die Ministerin in- 7 Milliarden Euro einsparen will. Eine solche Absen- zwischen aufgreifen möchte, wird von der Union aus- kung bedeutet im Kern nichts anderes, als dass die Rück- drücklich begrüßt. Er entspricht in der Zielrichtung ganz lage der Rentenversicherung gänzlich abgeschafft wird. eindeutig dem demographischen Faktor, den wir bereits Damit wäre klar, dass bei jeder nur geringfügigen Ver- in den Jahren 1997/98 in die Rentenformel eingebaut ha- schlechterung der Konjunktur und der Arbeitsmarktlage ben. Es war der größte Fehler der rot-grünen Regierung der Finanzminister mit Steuergeldern einspringen in der Rentenpolitik, dass sie diese wegweisende Reform (B) müsste, damit die Renten pünktlich gezahlt werden. Ge- nach dem Regierungswechsel 1998 als erste Maßnahme (D) nau darauf arbeitet der Finanzminister offenbar hin. rückgängig gemacht hat. Damit haben wir fünf wertvolle Denn er will – das wäre die Konsequenz einer solchen Jahre verloren. Ohne diesen gravierenden Fehler hätten Umstellung – jedes Jahr bei der Frage, um wie viel die wir eine ganze Reihe von Problemen nicht gehabt, die Renten erhöht werden, mitreden. Das wäre das Ende der Sie in den vergangenen Jahren versucht haben zu behe- eigenständigen Rentenversicherung. Die Rentenversi- ben und in den nächsten Jahren versuchen werden zu be- cherung wäre am Tropf des Bundesfinanzministers. Das heben. kann kein Mensch in diesem Haus ernsthaft wollen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deshalb ist es erforderlich, dass die nächste Renten- Völlig absurd wird es aber, wenn der Bundesfinanz- reform keine Verfallszeit von anderthalb bis zwei Jahren minister mit der Begründung, die Rentenfinanzen liefen hat. Die neue Rentenreform muss in jedem Fall auch aus dem Ruder und deshalb müssten wir bei der gesetz- Klarheit über die Neuregelung der steuerlichen Behand- lichen Rente Leistungseinschnitte machen, den Men- lung von Alterseinkommen bringen und die Nachfolge- schen auch noch den Ausweg verbaut. Denn wenn man regelung für die Riester-Rente – sie muss durch eine sagt, dass die gesetzliche Rente das derzeitige Niveau in echte Förderrente auf breiter Grundlage ersetzt werden – Zukunft nicht mehr garantieren kann, dann brauchen wir beinhalten. doch den Aufbau eines zweiten Standbeins ergänzender Vorsorge im Bereich der privaten oder betrieblichen Ren- Nur wenn Sie bereit sind, eine Verzahnung der drei ten. Nun sagt Eichel: Auch bei der Riester-Förderung Projekte Rentenformel, Besteuerung der Alterseinkünfte müssen wir überlegen, ob wir die Mittel reduzieren. – und Aufbau einer ergänzenden Förderrente in Angriff zu Schlimmer geht‘s wirklich nimmer! nehmen, sehen wir uns in der Lage, an solchen grundle- genden Weichenstellungen mitzuwirken. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Deshalb lautet meine Forderung: Legen Sie noch in diesem Jahr ein vernünftiges Gesamtkonzept zur Rente Eines ist richtig: Die Riester-Rente hat sich als eine vor! Dann sind wir zur Zusammenarbeit bereit. Einer Fehlkonstruktion erwiesen. Aber die Konsequenz kann Rente nach Kassenlage reichen wir mit Sicherheit nicht doch nicht sein, die Fördergelder zusammenzustreichen. die Hand. Die Konsequenz muss sein, dass wir gemeinsam aus der Riester-Rente eine echte Förderrente machen, die die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Menschen annehmen, weil sie attraktiv ist, die nicht mit der FDP) 4128 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

Andreas Storm (A) Darauf können sich die Rentnerinnen und Rentner, aber ist alles andere als ein rentenpolitischer Scherbenhaufen, (C) auch die Beitragszahler in unserem Land verlassen. Kollege Storm. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das ist und bleibt ein sozialpolitischer Meilenstein in der Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Geschichte unseres Sozialstaates. Franz Thönnes. Aber ich stimme auch der kritischen Bewertung des (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jetzt kommt die Sozialbeirates zu, der in seinem Gutachten sagt: Die Ent- Stunde der Wahrheit! – Gegenruf von der wicklung im Jahre 2002 – damit meint er die wirtschaft- SPD: Genau! Richtig bemerkt!) liche Entwicklung und die Entwicklung der Arbeitslo- senzahl – hat deutlich gemacht, dass im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung auch künftig Reform- Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- bedarf besteht. ministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung: Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Das war der Grund dafür, dass die Bundesregierung ren! Es ist richtig: Der Rentenversicherungsbeitrag die Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzie- liegt derzeit bei 19,5 Prozent rung der Sozialen Sicherungssysteme eingesetzt hat. Teil- empfehlungen liegen bereits vor. Weitere Empfehlungen (Zuruf von der FDP: Das ist bald vorbei!) werden im Abschlussbericht folgen. Wir werden sie sorgfältig prüfen und dann entscheiden. Ich kann Ihnen und damit um 0,8 Prozentpunkte über der Zielmarke, die aber schon jetzt sagen: Eine Anhebung des Beitrages der wir uns gesetzt haben. Damit der Wahrheit Genüge getan Rentnerinnen und Rentner zur Krankenversicherung wird, muss aber auch gesagt werden, dass er damit im- steht für uns nicht zur Debatte. Ich sage dies, damit diese merhin noch um 0,8 Prozentpunkte unter den Mär nicht weiter von Ihnen verbreitet wird. 20,3 Prozent, die wir 1998 von Ihnen geerbt haben, liegt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten der SPD – DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dann müssen Sie Das werden wir am Ende des Jahres sehen!) aber auch die Ökosteuer in die Beitragssätze einbeziehen! Das ist eine Mogelei! Nichts mit Es ist unbestritten: Wir stehen vor erheblichen He- Stunde der Wahrheit!) rausforderungen und Problemen. (B) (D) Das bedeutet immerhin um 6,5 Milliarden Euro gerin- (Dr. Dieter Thomae [FDP]: Die löst ja keiner!) gere Lohnnebenkosten. Dazu gehören die wirtschaftliche Entwicklung, die Ent- Außerdem muss erwähnt werden, dass die Renten in wicklung der Arbeitslosenzahlen und die demographi- der Zeit zwischen 1998 und 2002 um ungefähr sche Entwicklung. Das sind Herausforderungen, die die 5,97 Prozent gestiegen sind. In den fünf Jahren davor Entscheidungen, vor denen wir alle gemeinsam stehen, – also während Ihrer Regierungszeit – lag die Steigerung erheblich erschweren. Wenn wir ehrlich sind, werden bei nur 2,74 Prozent. wir sagen müssen, dass wir diesen Herausforderungen in der Vergangenheit vielleicht alle ein Stück weit ausgewi- (Lothar Mark [SPD]: Das ist die Wahrheit!) chen sind, als sie absehbar gewesen sind und es erforder- Mit der Rentenreform 2001 wurde die eigenständige lich gewesen wäre, die richtigen Schlussfolgerungen zu Alterssicherung der Frau ausgebaut, Kindererziehung ziehen. wurde stärker berücksichtigt und (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir verschließen wenigstens nicht die Augen davor!) (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Wir haben sie überhaupt erst eingeführt!) Wir könnten darüber sprechen, wie die Frühverren- tung eingeführt worden ist, die mit dazu beigetragen hat, eine kinderbezogene Höherbewertung der Beitragszeiten dass die Rentenkassen zum Teil ausgeblutet sind, und ist erfolgt. Die Anrechung von Zeiten für die Erziehung dass sie von denen ausgeblutet worden sind, die sich als mehrerer Kinder wurde mit aufgenommen und die Unternehmen von den Kosten für die Sozialleistungen Grundsicherung wurde eingeführt, um verschämte Al- entlasten wollten. tersarmut zu verhindern. Erstmalig wurde in Deutsch- land eine kapitalgedeckte private Altersvorsorge einge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – führt. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir haben in der letzten Legislaturperiode als einzige Fraktion Der Sozialbeirat hat in seinem Gutachten zum dagegen gestimmt!) Rentenversicherungsbericht 2002 im Prinzip sehr positiv bewertet, dass mit diesem Einstieg in den Aufbau einer Wir könnten auch darüber sprechen, wie die deutsche zusätzlichen kapitalgedeckten Altersvorsorge eine rich- Einheit finanziert worden ist, nämlich zum großen Teil tige Weichenstellung unternommen worden ist, um die über die sozialen Sicherungssysteme und nicht – wie es Alterssicherung langfristig zu stabilisieren. Erstmals un- gerechter gewesen wäre – durch alle Steuerzahlerinnen terstützt der Staat damit die private Altersvorsorge. Das und Steuerzahler über den Haushalt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4129

Parl. Staatssekretär Franz Thönnes (A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Rentner auch künftig ein vernünftiges Auskommen ha- (C) DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ ben. CSU) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Hier tragen alle ein Stück Verantwortung für die Ver- DIE GRÜNEN) gangenheit. Deswegen ist es wichtig, dass die Antwor- Die Herausforderung, die sich aus der demographi- ten, die jetzt gefunden werden müssen, einerseits Fort- schen Entwicklung ergibt, ist groß. Dass die durch- schritt und Wohlstand in Deutschland gewährleisten, schnittliche Lebenserwartung bei Männern und Frauen andererseits dafür sorgen, dass Beschäftigung entsteht in den letzten 40 Jahren um acht Jahre gestiegen ist, be- und gleichzeitig soziale Sicherheit diesen Wandel beglei- deutet, dass sich auch die Rentenbezugsdauer um acht tet und unterstützt. Jahre verlängert hat. Wir freuen uns, dass die Menschen Die rentenpolitische Diskussion bewegt sich zwi- länger leben, aber dass sie acht Jahre länger Rente bezie- schen den Rentnerinnen und Rentnern und den Beitrags- hen, bedeutet für die Kassen einen größeren Aufwand. zahlerinnen und Beitragszahlern. Auf der einen Seite (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir haben früh- steht das Bedürfnis nach Sicherheit und auf der anderen zeitig darauf hingewiesen!) Seite das Bedürfnis nach Bezahlbarkeit. Das zeugt von dem inneren Spannungsverhältnis, in dem wir uns bewe- Anfang der 60er-Jahre lag die durchschnittliche Ge- gen, dass nämlich Politik versuchen muss, die jeweiligen burtenrate in Deutschland pro Frau bei 2,5 Kindern, Interessen sozial vernünftig auszubalancieren. Deshalb heute liegt sie nur noch bei 1,3 Kindern. Das zeigt, dass sind Sicherheit und Bezahlbarkeit die Leitplanken der die jüngere Generation nicht mehr in dem Maße wie frü- Rentenpolitik. her nachwächst. Die Bevölkerungspyramide hat sich völlig verändert. Heute sorgen drei Beschäftigte für ei- Wir fordern Solidarität ein, um die solidarische Ren- nen Rentner. In Zukunft, in etwa 30 bis 40 Jahren, wird tenversicherung zukunftsfest zu machen. Der Athener das Verhältnis wahrscheinlich bei 1,5 Beschäftigten zu Staatsmann Solon, 640 vor Christi geboren, 600 vor Christi einem Rentner liegen. maßgeblich an der Ausarbeitung einer Verfassung im da- maligen Athen insbesondere zur Wirtschafts- und Sozial- Vor diesen Herausforderungen stehen wir nicht nur in ordnung beteiligt, hat einmal zur Erläuterung seiner Phi- Deutschland. Auch in Frankreich, Österreich und allen losophie Folgendes zum Ausdruck gebracht: Zu ihm soll anderen Ländern in Europa muss man sich damit aus- einmal ein älteres Ehepaar gekommen sein, um sich über einander setzen. Das macht deutlich, dass nicht die Ren- den gemeinsamen Sohn zu beklagen, der sich geweigert tenreform Ursache für die jetzige Situation ist – sie wird hatte, seinen Eltern im Alter mit Hilfe und Geld beizuste- immer als Kritikpunkt genannt –, sondern dass auch die (B) hen. Bevor Solon antwortete, wollte er von den Eltern massive Verschlechterung der globalen und der nationa- (D) wissen, ob sie ihrerseits für den Sohn gesorgt hätten, als er len wirtschaftlichen Situation eine Ursache ist. Der Bun- noch klein und hilfsbedürftig war. Erst nachdem sie diese deskanzler hat in seiner Regierungserklärung zur Frage mit Ja beantworteten, sprach er den Eltern den An- Agenda 2010 darauf hingewiesen, dass diese Entwick- spruch auf Unterhalt zu. lung eine Nachjustierung auch in der Rentenpolitik er- fordert. Das ist Ausdruck einer gegenseitigen Fürsorge und Verantwortung, die von beiden Seiten einzuhalten ist, die Eine Teilempfehlung der Kommission für die Nach- es aber auch ernst meint mit dem Sozialstaat und der Ge- haltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungs- nerationengerechtigkeit. Die Jungen sorgen für die Al- systeme umfasst den so genannten Nachhaltigkeitsfak- ten, nachdem die Alten ihrerseits ausreichend für die tor. Jungen vorgesorgt haben. (Hildegard Müller [CDU/CSU]: Das ist ja et- Der Punkt, um den es uns in dieser schwierigen öko- was ganz Neues!) nomischen Situation gehen muss, ist, einerseits die Bei- Mit diesem Nachhaltigkeitsfaktor werden wir dazu bei- träge so zu gestalten, dass sie bezahlbar sind und helfen, tragen, dass künftig in der neuen Rentenformel die Ent- Beschäftigung zu fördern, und andererseits den Rentne- wicklung und das Verhältnis der Zahl der Beitragszahle- rinnen und Rentnern angemessene Einkommen zu ge- rinnen und Beitragszahler zu der Zahl der Rentnerinnen währleisten. Dabei muss der notwendige Spielraum bei und Rentner mit einbezogen wird und Auswirkungen auf den finanziellen Mitteln gewahrt bleiben, die notwendig die Rentenentwicklung hat. Verändert sich nämlich die- sind, um in Bildung und Forschung zu investieren. Denn ses Verhältnis zulasten der beruflich aktiven Generation, wir müssen den jungen Menschen die Voraussetzungen müssten die Beiträge steigen. Damit dies nicht unge- für eine gute Zukunft schaffen, damit sie im späteren Ar- bremst geschieht, ist die Generation der Rentnerinnen beitsleben in einer Gesellschaft arbeiten können, die und Rentner mit an den daraus resultierenden Belastun- wettbewerbsfähig ist, und sie ein gutes Bruttosozialpro- gen und Herausforderungen zu beteiligen. Das heißt, die dukt erwirtschaften können, das wiederum die Möglich- Verteilung der Lasten aus der demographischen Ent- keit bietet, die Altersbezüge derjenigen, die dann in wicklung muss in vernünftigem Rahmen auf beide Sei- Rente sind, zu finanzieren. Anders formuliert – ich sage ten verlagert werden. das sehr einfach –: Wir dürfen heute nicht das verzehren, was wir erarbeitet und erwirtschaftet haben. Wir müssen Dieser Faktor – das erlaube ich mir zu sagen – ist et- auch einen Teil in das Morgen investieren, damit unsere was höher als der demographische Faktor, weil wir die Kinder eine Zukunft haben und die Rentnerinnen und Entwicklung am Arbeitsmarkt und die Entwicklung bei 4130 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

Parl. Staatssekretär Franz Thönnes (A) den Beschäftigtenzahlen bei diesem Faktor mit berück- Voraussetzungen dafür schaffen, dass der Wandel in (C) sichtigen. Damit machen wir deutlich, dass beides sehr Deutschland so gestaltet werden kann, dass zusätzliche stark voneinander abhängig ist. Beschäftigung entsteht und dass der Fortschritt sowie die Renten – mit den entsprechenden Nachjustierungen – Der Nachhaltigkeitsfaktor ist somit ein wesentliches gesichert werden. Element, um einerseits die Lohnnebenkosten zu senken bzw. zu stabilisieren und andererseits über die Gesamtsi- Die zukünftige Entwicklung ist nicht ohne Risiken, tuation mit dazu beizutragen, dass sich die Renten so aber auch nicht ohne Chancen. Bezüglich der Höhe des entwickeln, dass sie auf Dauer sicher sind. Das ist sozial Rentenversicherungsbeitrages in diesem Jahr werden gerecht, das verbessert die Beschäftigungschancen, das Planungen durchgeführt und Prognosen erstellt. Es gilt sichert die Rente für die ältere Generation. jetzt, das offensiv zu nutzen und nicht schwarz zu malen, sondern den notwendigen Reformprozess gemeinsam (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mutig zu gestalten. DIE GRÜNEN) (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Es gilt Im Gegensatz zu den Vorstellungen unserer Vorgän- aber auch, nicht rosarot zu malen!) gerregierung haben wir vor dem Hintergrund der länger- fristigen Rentenentwicklung mit der Riester-Rente den Herr Kollege Storm, wir sind sehr gespannt, wie sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern die Möglichkeit die Opposition verhalten wird, wenn diesem Haus einer- gegeben, die Versorgungslücke, die sich im Alter auftun seits unsere Entscheidung bezüglich der Gestaltung des kann, im Rahmen einer privaten Vorsorge aufzufüllen. Nachhaltigkeitsfaktors und andererseits die Bewertung Das war damals in Ihrer Rentenreform nicht enthalten. des im Herbst tagenden Schätzerkreises – er wird die Deswegen war es richtig, sie abzulehnen. Über unseren Prognosen für das nächste Jahr abgeben und womöglich Weg tragen wir dazu bei, dass die Menschen für ihre pri- einen Bedarf für Nachjustierungen sehen – vorliegen. vate Situation im Alter vorsorgen können. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Konstruktiv, Die bisherige Inanspruchnahme stimmt mich zuver- wie bisher!) sichtlich. Ich muss mir nur anschauen, in welch kurzer Ich kann nur herzlichst darum bitten, sich diesem Re- Zeit nach der Bundestagswahl – bis dahin gab es Boy- formprozess anzuschließen und sich nicht aus parteipoli- kottaufrufe aus Ihren Reihen, weil Sie alles ändern woll- tischen Gründen zu verweigern. ten – in den Betrieben entsprechende Tarifverträge abge- schlossen worden sind und wie viele Menschen sich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mittlerweile mit privaten Verträgen an ihrer Altersvor- DIE GRÜNEN – Wolfgang Zöller [CDU/ (B) sorge beteiligen. CSU]: Darauf können Sie sich verlassen!) (D) Aus diesem Grund sollten vor dem Hintergrund der notwendigen Umsetzung des Urteils des Bundesverfas- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sungsgerichts, das uns aufgegeben hat, die Besteuerung Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Heinrich Kolb von der Pensionen und Renten in Übereinstimmung mit der der FDP-Fraktion. Verfassung zu regeln, keine weiteren Ängste geschürt werden. Wir werden die Vorschläge der Kommission ge- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): nauso wie die ergänzenden Vorschläge zur Vereinfa- chung und vielleicht Erweiterung der Riester-Rente ver- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der nünftig bewerten. erste Satz des heute hier zu beratenden FDP-Entschlie- ßungsantrags vom 15. Januar dieses Jahres war nie aktu- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das ist auch eller als in diesen Tagen. sehr wichtig!) (Beifall bei der FDP) Uns geht es darum, dass es für die Menschen in Zukunft eine verlässliche und die derzeitigen Renteneinkommen Dort heißt es nämlich zutreffend: „Die Rentenpolitik der berücksichtigende klare politische Grundlage gibt. Bundesregierung ist ein einziges Desaster.“ Wir halten Ihren Antrag auch aufgrund Ihrer Forde- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – rung, das Wohneigentum stärker zu fördern, für nicht Widerspruch bei der SPD) umsetzbar und nicht erforderlich, weil – das ist ganz klar Sie haben mit Ihrer Rentenpolitik seit Ihrem Regie- und eindeutig – mit der Eigenheim- und der Bausparzu- rungsantritt fünf wertvolle Jahre vertrödelt. Es ist heute lage bereits jetzt ausreichende Möglichkeiten dazu be- vollkommen klar – ich kann nur hoffen, dass Sie das mitt- stehen, das Wohneigentum zu fördern. lerweile auch so sehen –, dass es unverantwortlich war, Mit der bisherigen Reformpolitik, insbesondere mit den demographischen Faktor ersatzlos zu streichen. der steuerlichen Entlastung der geringen Einkommen, Wir haben Sie damals nachdrücklich gewarnt. der Erhöhung des Etats für Bildung und Forschung um (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 25 Prozent seit 1998, der Gewährung zusätzlicher Kre- dite an die Gemeinden, sodass sie investieren können Es war unverantwortlich, mit der Ökosteuer, die und somit Nachfrage schaffen können, und der Maßnah- heute 17 Milliarden Euro ausmacht, frisches Geld in ein men im Rahmen der Agenda 2010, werden wir die nicht zukunftsfähiges System zu leiten, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4131

Dr. Heinrich L. Kolb (A) (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- net. Aber es ist leider genau so gekommen, wie wir es (C) NEN]: Ansonsten wären die Beiträge noch hö- prognostiziert haben. her!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten anstatt mit wirksamen Strukturreformen die Vorausset- der CDU/CSU) zungen für eine breite und dauerhafte Beitragssenkung zu schaffen. Deswegen, Herr Staatssekretär Thönnes, haben Sie heute in diesem Haus, sozusagen als Prokurist stellver- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) tretend für Ihre Ministerin, den Offenbarungseid einer verfehlten Rentenpolitik ablegen müssen. Trotz Einfüh- Frau Kollegin Bender, die Bürger stellen jetzt fest, dass rung der Ökosteuer, trotz Anhebung der Beitragsbemes- das Fass keinen Boden hat. Die Bürger zahlen die Öko- sungsgrenze und trotz zweimaliger Absenkung der Ren- steuer und die Beiträge steigen dennoch munter weiter. tenreserve kann der Beitragssatz zur gesetzlichen Das ist die Wahrheit! Rentenversicherung nicht einmal stabilisiert, geschweige (Beifall bei der FDP und der CDU/ denn gesenkt werden. CSU – Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE Jetzt machen die Verursacher dieses Chaos hektisch GRÜNEN]: Sagen Sie, wie hoch die Beiträge Vorschläge, wie man mit diesem Fiasko umgehen soll. ansonsten lägen! Sie lägen um 1,7 Prozent- So schlägt die Fraktionsvorsitzende der Grünen Göring- punkte höher!) Eckardt eine pauschale Rentenkürzung bei höheren Ren- Herr Staatssekretär Thönnes, im Rahmen der Renten- teneinkommen vor. Der Bundesfinanzminister deutet an, reform haben Sie den Bürgerinnen und Bürgern verspro- man könne ja den Krankenversicherungsbeitrag der Ren- chen, dass der Beitragssatz im Jahre 2004 bei tenversicherung abschmelzen. Das, liebe Kolleginnen 18,7 Prozent liegen wird. Sie rühmen sich damit, dass er und Kollegen von Rot-Grün, ist alles Flickwerk. Das ist heute bei gerade einmal 19,5 Prozent liegt. Dabei unter- auch angesichts der demographischen Herausforderung, schlagen Sie aber, dass die Ökosteuer umgerechnet rund die unaufhaltsam auf uns zukommt, keine langfristige zwei Beitragssatzpunkte ausmacht. Das ist die Wahrheit, Strategie zur Behebung der finanziellen Misere der Ren- Herr Staatssekretär Thönnes! tenversicherung. (Beifall bei der FDP und der CDU/ (Beifall bei der FDP) CSU – Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE Darüber hinaus will der Bundesfinanzminister zusätz- GRÜNEN]: Ja, eben!) lich an der Riester-Förderung sparen. Das ist jetzt Sie unterschlagen ebenfalls, dass bereits heute fest- wirklich die absurdeste Forderung, die man überhaupt (B) (D) steht – der Verband der Deutschen Rentenversicherungs- erheben kann. Sie haben mit der Rentenreform 2001 das träger geht mittlerweile zwingend davon aus –, dass der Rentenniveau deutlich abgesenkt. Wenn Sie ehrlich sind, Beitragssatz bis Ende dieses Jahres auf mindestens müssen Sie zugeben, dass die Riester-Reform in Wirk- 19,8 Prozent steigen wird. lichkeit eine verkappte Rentenkürzung war. (Detlef Parr [FDP]: Hört! Hört!) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: So ist es!) Diese Schätzung wurde noch vor dem Hintergrund der Sie haben diese Maßnahme damals mit der grundsätzlich Wachstumsprognose der Bundesregierung, die von richtigen, leider aber völlig überregulierten Förderung 0,75 Prozent ausging, abgegeben. Das ist aber vollkom- der privaten kapitalgedeckten Alterssicherung verbun- men unrealistisch. Das ist doch die Wahrheit! den. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Nach dem blamablen Start der Riester-Rente, die bis heute gerade einmal 3 Millionen Bürger – diese Zahl Als ob das alles nicht schon schlimm genug wäre, ist stammt aus einer Umfrage des Gesamtverbandes der die von Rot-Grün in zwei Stufen abgesenkte Schwan- Versicherungswirtschaft – abgeschlossen haben, wollen kungsreserve im Monat April erstmals unter den Refe- Sie ausgerechnet an dem einzigen innovativen Instru- renzwert von 0,5 einer Monatsausgabe gefallen. ment der Riester-Reform sparen. Sie provozieren damit (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Leider!) absehbar Altersarmut bei der jetzigen Generation der 30- bis 50-Jährigen, die schon jetzt die historisch höchs- In der Konsequenz heißt das, Frau Kollegin Bender – ich ten Beitragssätze zahlen. Das nennen Sie von Rot-Grün darf Sie namentlich ansprechen; „kohärente und nachhaltige Politik“. Ich sage Ihnen, Herr Staatssekretär: Das ist in der Tat ein Scherbenhau- (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- fen, vor dem Sie hier stehen. NEN]: Gerne!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wenn Sie ehrlich sind, geben Sie das zu –: Wir müssen der CDU/CSU) schon heute davon ausgehen, dass der Beitragssatz im Jahre 2004 über 20 Prozent liegen wird. Das heißt, Ar- Die schlimmsten Populisten in diesem Zusammen- beitsplätze werden weiter vernichtet und die Spiralbewe- hang sind aber die Grünen. Wenn führende Politiker der gung verläuft weiter nach unten. Wir haben das schon im Grünen, wie Frau Katrin Göring-Eckardt oder auch der Januar in unserem Entschließungsantrag vorausgesagt. Kollege Markus Kurth, der im Plenum gerade anwesend Sie haben das als Panikmache bezeichnet und es geleug- ist, immer wieder die Einbeziehung von Beamten und 4132 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

Dr. Heinrich L. Kolb (A) Freiberuflern in die gesetzliche Rentenversicherung (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Nicht für alle! – (C) fordern, dann ist dies das Schüren einer Neiddiskussion Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das frage ich mich und blanker Populismus. bei Ihnen immer!) (Beifall bei der FDP) bzw. auch für Ihre Fraktion gelten. Sie erklären hier vom Rednerpult, es sei entsetzlich, dass mit den Einnahmen Jeder Rentenexperte in der Bundesrepublik Deutschland, aus der Ökosteuer die Rentenversicherung mitfinanziert ob er nun Rürup oder Raffelhüschen heißt, verweist da- wird. Gleichzeitig legen Sie selber dar, dass der Beitrag rauf, dass eine Einbeziehung von Freiberuflern und Be- zur Rentenversicherung um nahezu zwei Prozentpunkte amten in die Rentenversicherung keine Lösung der de- höher wäre, wenn wir die Ökosteuer nicht hätten. An- mographischen Herausforderung darstellt, sondern die schließend beklagen Sie, dass der Rentenversicherungs- Finanzierungskrise der gesetzlichen Rentenversiche- beitrag so hoch liegt, wie er ist. rung noch verschärft. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie haben fünf (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Jahre Zeit verloren! Das werfen wir Ihnen vor! NEN]: Das hat etwas mit horizontaler Gerech- Wir könnten heute anders dastehen!) tigkeit zu tun! – Aber davon versteht die FDP nichts!) Wie das zusammengeht, das müssen Sie mir einmal er- klären. Aber da werden Sie wie in den Schulen ein Ich will Ihnen das an einem Beispiel verdeutlichen, PISA-Problem bekommen. Das nimmt Ihnen einfach Frau Bender. Mein Großvater hat mir die Geschichte von niemand ab. dem Bauern erzählt, der Eier für 20 Pfennig pro Stück (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN produziert und sie für 15 Pfennig verkauft. und bei der SPD) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Es waren wohl Nun komme ich zu Ihrem Eierbeispiel. eher die Hühner!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sehr lehrreich!) Darauf angesprochen, dann mache er doch einen Verlust von 5 Pfennig pro Ei, antwortete der Bauer: Die Masse Ich gebe zu, es ist unterhaltsam. Die grüne Idee der Bür- macht’s. gerversicherung bedeutet in der Tat, alle Menschen, auch Beamte, Abgeordnete und Selbstständige, in die (Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU) Rentenversicherung einzubeziehen. Genau das ist der Punkt. Auch Beamte erwerben An- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Erwerben die (B) sprüche, ebenso werden Freiberufler älter. Kurzfristig Ansprüche? Werden die älter?) (D) höheren Einnahmen stehen langfristig höhere Defizite Dies ist – lassen Sie mich das deutlich sagen, Herr Kol- gegenüber. Verabschieden Sie sich endlich von dieser lege – kein Beitrag zur Lösung des demographischen Schnapsidee. Problems und kein Beitrag zur Generationengerechtig- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) keit. Es ist ein Beitrag zur horizontalen Gerechtigkeit, Alles in allem: Wir müssen uns in diesem Haus – dazu (Andreas Storm [CDU/CSU]: Und kein Beitrag fordere ich Sie nachdrücklich auf – endlich den Realitä- zur Lösung des Einnahmeproblems!) ten stellen; denn ab 2010 wird der Reformdruck auf- weil alle dann in dem Sicherungssystem sind und alle grund des demographischen Wandels dramatisch zuneh- dazu beitragen. men. Angesichts dieser Herausforderung brauchen wir einen Paradigmenwechsel in der Rentenpolitik. Wir ha- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wenn alle gleich ben auf dem Parteitag in Bremen einen solchen Paradig- leiden, ist das Gerechtigkeit!) menwechsel beschlossen. Wir werden ihn in Antrags- Es wäre auch glaubwürdiger, Herr Kollege, wenn wir form in Kürze in dieses Haus einbringen. Ich kann Sie Abgeordnete Maßnahmen zur Rentenversicherung dis- nur auffordern, uns auf diesem Weg zu begleiten. kutieren würden, die uns selber betreffen. Das wäre dazu Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. geeignet, in der Bevölkerung in besonderem Maße Ak- zeptanz zu erreichen, während man so immer weiß, dass (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wir über anderer Leute Geld reden. der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das verstehe, wer Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: will!) Das Wort hat jetzt die Kollegin Birgitt Bender vom Herr Kollege Storm, Sie beschweren sich auch über die Bündnis 90/Die Grünen. Höhe der Beiträge. Manchmal nützt ein Blick ins Ar- chiv. Ich habe mir den Spaß erlaubt. Es gab eine Zeit vor Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): der letzten Wahl, in der Rot-Grün die Mehrheit errungen hat. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol- lege Kolb, manchmal frage ich mich, ob die Gesetze der (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Vor der Logik eigentlich auch in diesem Hause vorletzten Wahl!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4133

Birgitt Bender (A) Da hat sich Kollege Seehofer, der heute vielleicht nicht Ich will aber auch gerade an die Adresse der Opposi- (C) ganz zufällig nicht anwesend ist, hingestellt und den tion deutlich sagen: Es handelt sich dabei nicht um eine Rentnern versprochen, es gebe einen Nachschlag, wenn Rentenkürzung, sondern wir reden über eine Aussetzung die CDU/CSU die Wahl gewinne. „Wir zahlen euch hö- der Rentenerhöhung. here Renten“, hat er damals gesagt. Der Wirtschafts- weise Rürup hat ihm vorgerechnet, dass das 2,5 Milliar- (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das ist den Euro gekostet hätte. Ich frage Sie: Wer hätte denn eine dauerhafte Kürzung! – Andreas Storm das bezahlt? – Doch die heutigen Beitragszahler. Sie [CDU/CSU]: Eichel redet von Rentenkür- aber vergießen Krokodilstränen über die Höhe der Bei- zung!) träge. Sie sollten sich selber an die Nase fassen. – Um Ihren längeren Passagen, Herr Kollege Storm, (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie müssen Ihre über Kürzungen im Allgemeinen und im Besonderen ge- Hausaufgaben schon selber machen!) recht zu werden, Die CDU/CSU ist bisher jedenfalls nicht als Vertreterin (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das müssen Sie uns des Prinzips der Generationengerechtigkeit aufgefallen – nach den Gesetzen der Logik erklären!) um das einmal deutlich zu sagen. sage ich auch: Der Finanzminister hat nicht immer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Recht. und bei der SPD – Andreas Storm [CDU/ (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das ist wieder CSU]: Weil ihr Renten nach Kassenlage zum das „negative Wachstum“!) Prinzip macht! – Wolfgang Zöller [CDU/ CSU]: Seit 1998 seid ihr doch dran! – Andreas Bevor ich zu der Frage komme, wie eine neue Ren- Storm [CDU/CSU]: Zum dritten Mal, dass Sie tenreform aussehen muss, will ich zu zwei Dingen Stel- die Rentenanpassung aussetzen!) lung nehmen, die gern von der CDU/CSU behauptet werden. Das eine ist der Mythos, dass alles geregelt Es war hingegen die rot-grüne Regierung, die durch wäre, wenn man den demographischen Faktor beibe- die letzte Rentenreform die Weichen für eine nachhal- halten hätte. Herr Kollege Storm, dem ist nicht so. tige Finanzierung und für die Gerechtigkeit zwischen den Generationen gestellt hat. Ich darf darauf hinweisen, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber wir wären dass es Teil dieser Reform ist, dass auch die Rentner und ein Stück weiter, Frau Bender!) Rentnerinnen ihren Anteil zu der Stabilisierung der Bei- Mit Ihrem demographischen Faktor wären die Renten träge leisten. Ich will für die Grünen deutlich sagen: Wir bis 2010 stärker gestiegen, als es mit der bereits be- halten an diesem Grundsatz fest. Das heißt auch – auch (B) schlossenen Rentenreform der Bundesregierung der Fall (D) dieses gilt es, ehrlich zu sagen –, dass weitere Maßnah- ist. Das sollten Sie vielleicht auch deutlich machen. men notwendig sind. In Ihrem Antrag findet sich der Vorschlag, die Ren- Alle Experten sind davon ausgegangen, dass es gelin- tenzugangsberechtigung von der Lebensarbeitszeit der gen würde, durch die damals getroffenen Maßnahmen Versicherten abhängig zu machen. Haben Sie sich das zur Rentenreform bis 2020 einen Beitragssatz von auch gut überlegt? Schließlich richtet sich die Höhe der 20 Prozent und bis 2030 einen Beitragssatz von Rente bereits jetzt nach der Dauer und Höhe der Einzah- 22 Prozent zu halten. Nach den aktuellen Schätzungen lungen. müssen wir davon ausgehen, dass dieses nicht der Fall sein wird. Deswegen besteht Handlungsbedarf. Ich sage Wenn Sie den Renteneintritt zusätzlich von der Le- Ihnen im Namen der Grünen: Wir werden uns dafür ein- bensarbeitszeit abhängig machen wollen, dann bedeutet setzen, dass der Beitragssatz von 19,5 Prozent im nächs- das, dass Menschen zu unterschiedlichen Zeiten in Rente ten Jahr nicht steigen wird. gehen können, obwohl sie im Laufe ihres Lebens Einzah- lungen in gleicher Höhe und über die gleiche Zeitdauer (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das glauben hinweg geleistet haben, weil sie zu unterschiedlichen Sie selber nicht!) Zeitpunkten damit begonnen haben. Mithin bekommen Eine solche Steigerung zulasten der jüngeren Generation Menschen, die in jüngeren Jahren angefangen haben, ins- werden wir nicht hinnehmen. gesamt eine wesentlich höhere Rente. Damit schaffen Sie eine Zweiklassengesellschaft unter den Rentnern. Was (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – daran fair sein soll, müssen Sie mir noch erklären. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es ist Pfingsten und nicht Weihnachten, Frau Bender! Da Ich füge hinzu: Mit einem solchen Mechanismus wür- wünscht man sich nichts!) den Sie besonders Frauen benachteiligen. Es ist doch in- teressant, dass die CDU/CSU auf diese Weise ausgerech- Das heißt auch – Politik soll ja immer ehrlich sein –, dass net die Rente von Frauen absenken will. Das werden wir es im nächsten Jahr nicht möglich sein wird – ich sage uns merken. das sehr deutlich –, die Renten zu erhöhen. Wir werden die Rentenerhöhung um ein Jahr aussetzen müssen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wenn wir erklären, dass dieses im Interesse der Kinder und bei der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/ und Enkel derjenigen geschieht, die es betrifft, weil wir CSU]: Wer hat denn die Rente für Frauen um höhere Beiträge vermeiden wollen, dann werden wir 5 Prozent gekürzt? Das war doch Rot-Grün auch auf Verständnis stoßen. Davon bin ich überzeugt. und nicht wir!) 4134 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

Birgitt Bender (A) Jetzt komme ich zu dem, was wir über kurzfristige nes Altersvorsorgekontos vorgeschlagen, wodurch un- (C) Maßnahmen hinaus zur Stabilisierung des Beitragssatzes terschiedliche Anlageformen steuerlich gefördert wür- im nächsten Jahr unternehmen müssen. Die Rürup-Kom- den. Das würde den Menschen eine größere Wahlfreiheit mission hat in diesem Zusammenhang gute Vorschläge ermöglichen und wäre von daher sicherlich ein guter vorgelegt. Sie schlägt zum einen die Einführung eines Beitrag für die Sicherung des gesamten Lebensstandards Nachhaltigkeitsfaktors vor, mit dem bei der Entwick- im Alter. lung der Renten die Zahl der Jüngeren im Verhältnis zur Zahl der Älteren berücksichtigt würde. Das halten wir Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: für richtig. Frau Kollegin Bender, das war jetzt der Schluss Ihrer Ein weiterer Vorschlag, der zunächst bei vielen Skep- Rede. Vielen Dank. sis hervorruft, lohnt es aber, ihn näher zu betrachten, nämlich ab dem Jahr 2011 das Renteneintrittsalter zu Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): erhöhen, sodass es jährlich um einen Monat bis auf 67 Jahre steigt. Herr Kollege Storm, spielen Sie nicht den Rächer der – angeblich – „enterbten“ Rentner, sondern erklären Sie (Hildegard Müller [CDU/CSU]: Ist das jetzt sich zu einer Rentenreform bereit, die auch das Prinzip ein Koalitionsbeschluss?) der Generationengerechtigkeit berücksichtigt! Dann fin- Gegen dieses hohe Renteneintrittsalter wenden viele den wir zueinander. ein, dass ältere Menschen zurzeit keine Arbeit finden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das ist zwar richtig, aber es geht bei dem Vorhaben um und bei der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/ das Jahr 2011, CSU]: Die wäre schon gerechter, wenn ihr un- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dann regieren sere nicht zurückgenommen hättet!) wir wieder! Dann wird es besser!) einen Zeitpunkt, zu dem die Wirtschaft wahrscheinlich Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: händeringend Arbeitskräfte suchen wird. Es geht um ei- Das Wort hat jetzt die Kollegin Hildegard Müller von nen Übergangszeitraum von 24 Jahren. Für jemanden der CDU/CSU-Fraktion. beispielsweise in meinem Alter – ich bin Jahrgang 1956 – würde das bedeuten, elf Monate länger zu arbeiten als (Beifall bei der CDU/CSU) nach heutigem Recht. Hildegard Müller (CDU/CSU): (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ist das die Koali- (B) (D) tionsbeschlusslage oder ist es Wunschdenken, Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und was Sie uns vortragen?) Herren! „Klarheit über Rentenfinanzen und Alterssiche- rung schaffen – Notwendige Reformmaßnahmen nicht Wenn Sie berücksichtigen, dass nach allem, was wir auf die lange Bank schieben“ lautete der Titel des Ent- wissen, heutzutage Menschen mit 70 so gesund sind wie schließungsantrags der CDU/CSU, den wir eigentlich in den 60er-Jahren Menschen mit 65, dann teilen Sie si- jetzt beraten sollten. „Klarheit über Rentenfinanzen und cherlich meine Auffassung, dass es sich um eine richtige Alterssicherung schaffen“ war auch die Überschrift einer Maßnahme zur Finanzierung der Rentenversicherung Kleinen Anfrage meiner Fraktion vom April, die ich mir handelt, in Vorbereitung auf diese Debatte noch einmal durchge- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ist das denn in lesen habe. Wenn ich die Antwort der Bundesregierung der Koalition abgestimmt, Frau Kollegin auf unsere damalige Anfrage nehme und um das er- Bender? – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Die gänze, was heute gesagt worden ist, Herr Thönnes, dann SPD fällt schon in Ohnmacht!) muss ich feststellen: Sie haben leider überhaupt keine konkreten Vorschläge zur Klarheit der Rentenfinanzie- die auch der Tatsache Rechnung trägt, dass wir alle älter rung gemacht. Frau Bender, auch von Ihnen sind schein- werden und dabei gesünder bleiben und dass deshalb die bar mehr Absichtserklärungen gekommen als tatsächli- Aktivität im Erwerbsalter von uns allen angestrebt wer- che Koalitionsbeschlüsse; jedenfalls ist mir insbesondere den sollte. das, was Sie zur Heraufsetzung des Renteneintrittsalters (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gesagt haben, nicht bekannt gewesen. So kann ich also nur feststellen, dass bei der Regierung und bei Rot-Grün keine Klarheit darüber herrscht, was man bei der Renten- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: finanzierung vorhat. Frau Kollegin Bender, kommen Sie bitte zum Schluss! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wer die Schlagzeilen dieser Woche einmal betrachtet, Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): der muss unweigerlich an den Refrain eines Spottliedes Dann fasse ich mich kurz. aus dem Jahre 1928 denken. Dieser lautet: „Wir schlagen Schaum – Wir seifen ein.“ Selbstverständlich muss auch die kapitalgedeckte Vorsorge weiterhin eine Rolle spielen. Sie muss weiter (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der ausgebaut werden. Die Grünen haben die Einrichtung ei- CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4135

Hildegard Müller (A) Die Kolleginnen und Kollegen von der SPD, die vor ben. Für diesen Faktor hat die SPD uns nicht nur 1998 (C) zwei Wochen den 140. Geburtstag ihrer Partei feiern als „unanständig“ beschimpft. Noch am 17. August 2002 konnten, wird dieses „Seifenlied“ von Ernst Busch viel- erklärte der Bundeskanzler bei der Betriebsrätekonfe- leicht noch etwas sagen; denn dieses Lied war die Reak- renz der IG BAU in Dortmund: tion der Bevölkerung auf den SPD-Wahlkampf zur Reichstagswahl von 1928. Es war schon damals der pas- Wir haben den Unsinn des demographischen Fak- sende Kommentar zu gebrochenen Wahlversprechen. tors gestoppt und eine faire und zukunftsweisende Dieser Kommentar passt auch zur aktuellen Politik. Reform durchgesetzt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Was haben wir uns im Wahlkampf nicht alles anhören Jetzt hat Seehofer die Wiedereinführung des demo- müssen! Wider besseres Wissen wurden Zahlen vertuscht graphischen Faktors angekündigt. Das war vor vier und schöngefärbt. Wenn man sich die aktuelle Lage an- Jahren unanständig und das ist heute genauso unan- schaut, dann stellt man fest, dass sie sehr dramatisch ist. ständig. Diesen Eindruck haben nicht nur die Unionsfraktion und ich, sondern diesen Eindruck hat auch die Bevölkerung (Beifall bei der CDU/CSU) in unserem Land. Übrigens, Frau Bender, drei Rentenan- Im Parteitagsbeschluss der SPD vom vergangenen passungen auszusetzen ist noch keine Reform. Sonntag kann man nun lesen: (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE Ein Nachhaltigkeitsfaktor GRÜNEN]: Wieso drei?) Ich gebe Herrn Bundesfinanzminister Eichel – ich freue – oh Wunder! – mich, dass ich das ausnahmsweise einmal tun kann – ist ein geeignetes Instrument, um der sich verän- Recht, wenn er sagt, dass dies in Wahrheit Renten- dernden Relation zwischen Beitragszahlern und kürzungen und nichts anderes seien. Rentenbeziehern Rechnung zu tragen. Und das ist (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) in der Rentenanpassungsformel zu berücksichtigen. Die Schlagzeilen dieser Woche lauten: „Absurdes Das ist doch nichts anderes als ein demographischer Renten-Theater“, „Gefährliches Zündeln an der Rente“, Faktor. Ich möchte Sie fragen: Ist das unanständig oder „Renten im Steuerloch“ und „Renten nach Kassenlage“. nicht? Hören Sie mit Ihrer Polemik gegen die CDU/CSU Aus diesen Schlagzeilen kann meiner Ansicht nach nur auf; denn der demographische Faktor war ein richtiger eines abgeleitet werden: Die Rente und die Höhe des Schritt. Sie haben mit Ihrer falschen Rentenpolitik fünf (B) Beitragssatzes in der Rentenversicherung sind bestimmt Jahre vertändelt. (D) nicht sicher. Außerdem sollten Sie, Frau Bender, die Ökosteuer in Ihrer Argumentation zur Kassenlage der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Rentenversicherung immer berücksichtigen. Ich freue mich ja, das aus Regierungsmund zu hören, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) und auch darüber, dass endlich ein Beitrag zur Genera- tionengerechtigkeit geleistet werden soll. Dass dies aber Sicher sind aber auch nicht mehr die Aussagen der nur ein erster Schritt ist, wissen wir alle; denn wir haben Koalitionäre zur eigenen Rentenpolitik. Diesen Eindruck wertvolle Zeit dadurch verloren, dass Sie diesen Faktor, muss man einfach gewinnen, wenn man die inflationäre der eine wirklich systematische Verteilung der Lasten aus Flut der Schreckensnachrichten aus dem Regierungsla- der demographischen Entwicklung auf alle Generationen ger verfolgt. Einmal soll das Rentenalter heraufgesetzt hätte sicherstellen können, 1998 abgeschafft haben. Wie werden. Ein anderes Mal soll die Riester-Förderung be- und wann und wieso überhaupt der Demographiefaktor à schnitten werden. Ein weiteres Mal stehen die Kinderer- la Schröder genau kommen wird, ist trotz Parteitagsbe- ziehungszeiten zur Disposition. Dann ist in einem Pa- schluss unklar. Herr Vater, der Sprecher von Frau pier, das intern schon vorliegen soll, angeblich von dem Schmidt, hat am Montag vor der Regierungspressekonfe- Ende der Schwankungsreserve die Rede. Ich finde, das renz das Jahr 2005 angesprochen. Vor dem Parteitag ha- ist eine der unverantwortlichsten Ideen, die ich in diesem ben wir immer gehört, 2011 sei das Jahr; vorher könne Zusammenhang jemals gehört habe. der Faktor eh nicht wirksam werden. Ich appelliere des- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- halb noch einmal an Sie: Schaffen Sie Klarheit – heute neten der FDP) haben Sie bisher wieder nichts zur Klarheit beigetragen –, damit die Menschen endlich wissen, wie ihre Alters- Dann soll wieder einmal die Anpassung der Altersbe- versorgung aussehen wird. züge ausgesetzt werden. Frau Lotz, Sie werden mir be- stimmt sagen können – Sie werden ja nach mir reden –, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ob die Koalition das Heraufsetzen des Renteneintrittsal- ters beschlossen hat. Ich jedenfalls habe aufseiten der Auch in der zweiten Säule der Altersvorsorge haben Sozialdemokraten Fassungslosigkeit angesichts der Aus- wir weiterhin Stillstand. Angesichts des Durcheinanders sagen von Frau Bender wahrgenommen. Ich hoffe, dass bei Rot-Grün braucht man sich darüber nicht zu wun- Sie das gleich aufklären werden. dern. Die Leute sind verunsichert. Schließlich erwacht auch der demographische Faktor (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- von Norbert Blüm kaum verkleidet wieder zu neuem Le- NEN]: Dazu tragen Sie heftig bei!) 4136 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

Hildegard Müller (A) Das zeigt sich an den Zahlen. Bis Ende 2002 wurden ge- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) rade einmal 3,4 Millionen Verträge über eine Riester- Das Wort hat die Kollegin Erika Lotz von der FDP- Rente abgeschlossen. Bei 30 Millionen förderfähigen Fraktion. Bürgern entspricht das 11,3 Prozent. Nach Umfragen wollen 70 Prozent der Bundesbürger überhaupt keinen Vertrag über eine Riester-Rente abschließen. Diese fatale Erika Lotz (SPD): Analyse hat die Bertelsmann-Stiftung in der letzten Wo- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! che noch einmal ausdrücklich bestätigt. Die Bereitschaft Beim Studieren des CDU/CSU-Antrags habe ich mir na- der Bundesbürger, für das Alter privat vorzusorgen, ist türlich die Frage gestellt: Um was geht es Ihnen? Ich nach ihren Analysen in den vergangenen Monaten spür- kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es Ihnen bar gesunken. nicht so sehr um die Sache, also um die Rente, und auch nicht um Klarheit über die Rentenfinanzen, sondern da- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist fatal!) rum geht, Rentner und Rentnerinnen, aber auch die Bei- tragszahler zu verunsichern. Das ist eine Reaktion auf die Unsicherheit und das Durcheinander, das wir von der Regierungsseite erleben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Andreas Storm [CDU/CSU]: Frau Lotz, das ist Ihre (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Rede von vor vier Jahren!) Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) Verbreitung von Zukunftsängsten führt nicht zu einer Die Bertelsmann-Stiftung und Mitglieder der Rürup- Lösung. Das ist nicht redlich. Redlich ist auch nicht, so Kommission, die Sie ja immer nur zitieren, wenn es Ih- zu tun, als wäre die Bundesrepublik eine Insel, auf wel- nen passt, haben dringend eine Reform der Rente auch in che weltweite konjunkturelle Probleme keinen Einfluss diesem Bereich angemahnt, weil das sonst zur lahmen hätten. Wir haben ein Wachstumsproblem – ebenso wie Ente werden würde. Wenn wir angesichts der Zahlen die USA, Japan und andere Staaten Europas. Das min- nicht endlich zu Veränderungen kommen, wird nur ein dert unsere Chancen. Drittel der Zahl von Menschen, die ursprünglich ange- nommen worden war, einen solchen Vorsorgevertrag ab- Frau Kollegin Müller, Sie haben vorhin die Worte „si- schließen. chere Renten“ in den Mund genommen. Deshalb will ich an Folgendes erinnern: Es war der ehemalige Arbeits- Deshalb rate ich noch einmal dazu, auf die Gründe zu minister Blüm, der immer von den sicheren Renten ge- schauen – die Bertelsmann-Stiftung hat das bestätigt –: sprochen hat. zu viel Bürokratie, schlechte Information und fehlende (B) Transparenz. Herr Thönnes, reden Sie nicht immer nur (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und Sie haben (D) darüber, was man ändern muss! Schaffen Sie Fakten! kräftig Beifall geklatscht! – Wolfgang Zöller Bringen Sie hier endlich Anträge ein, die wirklich zur [CDU/CSU]: Sie haben dessen Rentenreform Verbesserung der Lage führen! rückgängig gemacht!) Aber Sie haben Veränderungen durchführen müssen – so (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wer regiert hier wie auch wir. eigentlich? Ich fürchte, niemand!) Ich will Ihnen auch nicht ersparen, noch einmal an Es reicht nicht aus, dass es in der Koalitionsvereinba- Folgendes erinnert zu werden: 1998 betrug der Renten- rung heißt: versicherungsbeitrag 20,3 Prozent. Ein Beitragssatz von 19,5 Prozent ist nach Adam Riese wohl niedriger. Wir werden … die Aufwendungen für die Alters- vorsorge schrittweise von der Besteuerung befreien. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das ist doch nicht redlich! – Hartwig Fischer [Göttingen] Wenn Sie das nicht gleichzeitig auch in der privaten [CDU/CSU]: Haben Sie schon mal das Wort Säule tun, ist das kontraproduktiv und wird verhindern, Selbstbetrug gehört?) dass mehr Verträge abgeschlossen werden. Seit 30 Jahren werden in Deutschland weniger Kinder Bei der sich parallel dazu entwickelnden betriebli- geboren. Die Lebenserwartung nimmt kontinuierlich zu. chen Altersvorsorge zeigt sich, dass sie durch die Erhö- Der demographische Wandel – das wissen Sie selbst – hung der Beitragsbemessungsgrenze deutlich ge- findet nicht nur in Deutschland statt. Sie entnehmen den schwächt worden ist. Sie können uns nach wie vor keine Medien, dass die Diskussionen über Veränderungen bei Angaben darüber machen. Alle Experten haben in den der Rente dementsprechend geführt werden. Anhörungen angeregt, hier zu Veränderungen zu kom- men. Sagen Sie uns, wie es auch in der betrieblichen Al- Was will ich damit sagen? Egal wie ein Rentensystem tersvorsorge durch Ihre Rentenreform zu einer Ver- aufgebaut ist: Demographische Veränderungen erfordern schlechterung gekommen ist! Schaffen Sie Klarheit! ein Nachsteuern im System. Das haben wir schon 2001 Sehen Sie Ihre Fehler ein! Tragen Sie endlich zu einer gemacht: Mit der Einführung der kapitalgedeckten, Rentenreform im Sinne aller Generationen in diesem staatlich geförderten, zusätzlichen privaten Alterssiche- Land bei! Vertuschen Sie nicht weiter die Zahlen! rung haben wir dafür gesorgt, dass die Menschen eine zweite Säule in der Alterssicherung aufbauen, die der Si- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) cherung des Lebensstandards dient. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4137

Erika Lotz (A) Nun hören Sie doch endlich auf, die Riester-Rente zu Ich appelliere an die Arbeitgeber, auch älteren Arbeit- (C) kritisieren, nehmern Qualifizierungsangebote zu machen. Wir kön- nen nicht mehr zulassen, dass sich Unternehmer mit rela- (Hildegard Müller [CDU/CSU]: Weil sie so tiv geringem Eigenaufwand von Arbeitnehmern über perfekt ist!) 55 Jahren auf Kosten der Sozialkassen trennen. So wer- nur weil sie nicht von Ihnen stammt! Über 30 Millionen den wir keine Beiträge senken können. Wir können auch Arbeitnehmer haben Anspruch auf die staatliche Förde- den nachfolgenden Generationen nicht die damit verbun- rung; sie ist aber nicht nur staatlich, sondern auch statt- denen Belastungen aufbürden. lich. Das deutsche Rentensystem hat schon gewaltige Be- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) lastungen getragen; die größte Leistung war die Finan- zierung der deutschen Einheit. Rentnerinnen und Eine Familie mit zwei Kindern und 30 000 Euro Brut- Rentner der neuen Länder sind Teil dieses Systems. Kein togehalt erhält für eine jährliche Gesamtversorgung in anderes, kein kapitalgedecktes System hätte dies leisten Höhe von 1 200 Euro 678 Euro Förderung; können. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist die Rede (Beifall bei der SPD) von vor zwei Jahren!) Ich sage aber auch: Es war falsch, die deutsche Ein- das sind mehr als 50 Prozent; das ist familien- und ar- heit allein über die Sozialversicherungssysteme zu finan- beitnehmerfreundlich. Dadurch wurde die betriebliche zieren. Altersvorsorge wieder attraktiv. Experten schätzen, dass (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Dafür sind die zwischen zwei Drittel und Dreiviertel der Beschäftigten Bundeszuschüsse erhöht worden! Das wissen eine Betriebsrente aufbauen werden. Die Versicherungs- Sie!) gesellschaften melden, dass bis heute 3,7 Millionen an- dere Verträge zur Altersvorsorge – Herr Kolb, nicht, wie Das muss man bei aller Kritik – egal ob an der Ökosteuer Sie vorhin sagten, 3 Millionen – abgeschlossen worden oder eben am erhöhten Bundeszuschuss – bedenken. Das sind. Ich meine, wir sind in diesem Bereich auf einem muss man sich immer wieder ins Bewusstsein rufen. Wer guten Weg. Die Menschen müssen umdenken – das die Ökosteuer kritisiert, verschweigt, dass damit letzt- heißt, sie müssen frühzeitig an das Alter denken –; das endlich gesamtgesellschaftliche Aufgaben finanziert ist ein Prozess, der etwas Zeit braucht. werden. Wir werden auch die Möglichkeit von Vereinfachun- Der Generationenvertrag funktioniert, aber ein Nach- (B) gen prüfen und sicherstellen, dass die entsprechenden steuern war schon in der Vergangenheit notwendig und (D) Produkte in Zukunft bei gleichen Beiträgen gleiche mo- wird in der Zukunft nicht auszuschließen sein; die Ge- natliche Leistungen für Männer und Frauen vorsehen. rechtigkeit zwischen, aber auch innerhalb der Generatio- Das ist unser Ziel. Man erreicht das Ziel, Arbeitnehmer nen erfordert dies. Ich denke, was für die Rentenversi- zu motivieren, eine zusätzliche Altersvorsorge abzu- cherung gilt, muss auch für andere Versorgungssysteme schließen, nicht dadurch, dass man diese madig macht, wirkungsgleich gelten. Sie, liebe Kolleginnen und Kolle- so wie Sie es tun. Was dieses Ziel angeht, erweisen Sie gen von der Opposition, sind eingeladen, konstruktiv da- einen Bärendienst. ran mitzuarbeiten. Ich will noch einen weiteren Punkt ansprechen. Ich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gehöre zu den Menschen, die ihre Ausbildung mit des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – 14 Jahren begonnen haben. Wir alle wissen, dass dies Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Den letzten schon lange nicht mehr die Regel ist. Der Einstieg ins Satz unterstreichen wir voll!) Erwerbsleben beginnt später. Ich glaube, wir alle sind uns einig, dass ein früherer Ausstieg auch wegen der de- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: mographischen Veränderung nicht möglich ist. Wir müs- sen die Frühverrentung deshalb stoppen. Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wie bitte? Das Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): ist ja sensationell!) Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Der Rentenbeginn und die Regelaltersgrenze von ren! Sehr geehrte Gäste! Uns von der PDS im Bundestag 65 Jahren müssen sich annähern. Ich denke, solange wir wird zu viel über die Rentner im Allgemeinen gespro- noch eine so hohe Arbeitslosigkeit haben wie derzeit, ist chen, aber Rentner ist nun einmal nicht gleich Rentner. es müßig, über eine Anhebung der Altersgrenze zu dis- Auch bei den Renten gibt es oben und unten, Ost und kutieren. Das versteht niemand. Wir haben mit den West, Männer und Frauen. Zum Beispiel leben in der Hartz-Gesetzen erste Schritte getan, um es den Arbeit- Bundesrepublik circa 2,5 Millionen Frauen mit einer gebern zu erleichtern, ältere Arbeitslose einzustellen. Rente unter 300 Euro pro Monat. In den neuen Ländern Arbeitslose ab 52 können ohne Grund befristet einge- wird fast jede dritte neue Rente wegen Altersarbeitslo- stellt werden. Die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung sigkeit gezahlt. Durch die progressive Erhöhung der Al- entfallen für den Arbeitgeber bei Einstellung von Ar- tersgrenzen führt das zu Abschlägen von bis zu beitslosen über 55. 18 Prozent. 4138 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

Dr. Gesine Lötzsch (A) Da bin ich schon bei einer wichtigen Forderung der renten und andere Einkommensarten aus. In den neuen (C) PDS: Wir brauchen einen Zeitplan zur Angleichung Ländern wird das Nettoeinkommen der Rentnerinnen der Ostrenten an die Westrenten. und Rentner dagegen fast ausschließlich durch die ge- setzliche Rente bestritten. (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Meine Damen und Herren, wenn wir über die Weiter- Wir wollen die viel beschworene deutsche Einheit auch entwicklung des Rentensystems sprechen, müssen wir bei den Renten. Ich darf Ihnen sagen, dass der aktuelle von folgenden Voraussetzungen ausgehen: Es muss so- Rentenwert Ost nur bei knapp 88 Prozent des zial und solidarisch zugehen. Wir von der PDS sagen: Es Westrentenwertes liegt. Die SPD erklärt nun in Briefen muss Rente von allen für alle geben. an Rentnerinnen und Rentner, sie wolle einen solchen Zeitplan zur Angleichung der Rentenwerte von Ost und Vielen Dank. West nicht, und verweist dabei auf die unterschiedlichen (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Einkommensverhältnisse. Da habe ich einen Vorschlag an Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen: Legen Sie doch einfach einen Zeitplan für die Angleichung der Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Löhne und Gehälter in Ost und West vor, dann haben wir Das Wort hat jetzt der Kollege Gerald Weiß von der auch gleich einen Zeitplan für die Angleichung der Ren- CDU/CSU-Fraktion. tenwerte in Ost und West. (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU): Frau Göring-Eckardt von den Grünen, hier in der De- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und batte schon mehrmals angesprochen, spricht viel über Herren! Ich möchte einige Aspekte der Debatte aufneh- Generationengerechtigkeit. Jüngst dachte sie in diesem men. Herr Staatssekretär Thönnes, Sie sagten in einer Zusammenhang über die Absenkung des Rentenni- Haltung zwischen Autosuggestion und Beschwörung: veaus nach. Das Problem ist nur, dass mit dem Begriff Nein, unser Rentensystem ist kein Scherbenhaufen. Generationengerechtigkeit unentwegt soziale Unter- Kann man denn nicht von einem Scherbenhaufen spre- schiede verwischt werden sollen und er von vielen als chen, wenn sich die Jahrhundertreform von 2000 in allen Kampfbegriff missbraucht wird, der die Generationen Werten so grundfalsch entwickelt, gegeneinander aufwiegelt und die Entsolidarisierung in (Widerspruch der Abg. Erika Lotz [SPD]) der Gesellschaft befördert. Es gibt nun einmal eine Er- bengeneration, darunter übrigens viele grüne Wählerin- wie sie es momentan tut, und alle Ziele verfehlt werden? Das ist doch ein Scherbenhaufen, meine sehr verehrten (B) nen und Wähler, die bei der geltenden Erbschaftsteuer (D) bequem ihren Job als angenehmen Zeitvertreib verstehen Damen und Herren! können, weil sie materiell durch ihr Erbe abgesichert (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sind. In der gleichen Generation gibt es aber auch Men- schen, die gar nichts erben werden, die nicht einmal ge- Von sinkenden Beiträgen, Entlastung der Arbeitskosten nug Geld haben, um etwas für das Alter zu sparen. und mehr Beschäftigung keine Rede; alle Ziele verfehlt. Wer heute einen Antrag auf Arbeitslosenhilfe stellt, Ist es kein Scherbenhaufen, wenn in einer einzigen muss damit rechnen, dass sein Vermögen und Leistun- Woche folgende Vorschläge aus dem rot-grünen Lager gen, die eigentlich der Altersvorsorge dienen sollten, kommen? Erster Vorschlag: Aussetzung der Rentenan- auf die Arbeitslosenhilfe angerechnet werden. Diese Ar- passung – zum dritten Mal, Herr Staatssekretär, ein will- beitslosen wollen eigenverantwortlich für das Alter vor- kürlicher Eingriff in die Renten und der Abschied von sorgen, wie es von der Regierung verlangt wird, gleich- der beitragsabhängigen und lohnorientierten Rente; zum zeitig nimmt diese ihnen ihr Vermögen aber wieder ab. dritten Mal ein systemwidriger Eingriff. Ich wiederhole: Im „Stern“ dieser Woche sind dazu einige interessante ein Scherbenhaufen! Fallbeispiele aufgeführt. Zweiter Vorschlag: Erhöhung des Krankenversi- Abschließend, meine Damen und Herren, möchte ich cherungsbeitrags der Rentner von 50 auf 75 Prozent. noch einmal auf den Osten zu sprechen kommen. Gern Sie sagen jetzt: Lassen Sie die Mär, das wollen wir gar wird ja angeführt, wie hoch das Rentenniveau im Osten nicht. – Das hat Herr Eichel aber gefordert. im Vergleich zu dem im Westen sei. Laut Statistik verfü- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Der ist doch nur gen Rentnerehepaare in den alten Bundesländern über Finanzminister, Herr Weiß!) ein durchschnittliches Nettoeinkommen, das nur unge- fähr 200 Euro über dem von Rentnerehepaaren in den Wenn der Finanzminister von Ihnen als Märchenerzähler ostdeutschen Ländern liegt. tituliert wird, dann ist das allerdings ein Stück Konsens, den wir heute feststellen können. (Erika Lotz [SPD]: Umgekehrt!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das klingt schon ganz gut, aber häufig wird vergessen, dass das nur die halbe Wahrheit ist; denn der Anteil der Dritter Vorschlag: Rentensplitting. Frau Göring- Rente am Nettogesamteinkommen im Westen beträgt Eckardt blieb es vorbehalten, zu fordern, höhere Renten bei kleineren Renten nicht einmal 50 Prozent. Mehr als zu deckeln oder Renten gar nicht zu erhöhen. Das ist die Hälfte machen Pensionen, Mieteinkünfte, Privat- doch der Abschied von der leistungsorientierten Rente, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4139

Gerald Weiß (Groß-Gerau) (A) von der Beitragsäquivalenz im Rentensystem, ein völlig (Andreas Storm [CDU/CSU]: So ist es!) (C) systemwidriger Eingriff! von frühester Jugend bis ins Alter hinein, und die 45 (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Jahre lang Beiträge eingezahlt haben, auch die volle Dann gab es den Vorschlag, die Förderung der Rente erhalten. Riester-Rente abzubauen. Frau Lotz, Sie haben eben die (Beifall bei der CDU/CSU) kapitalgedeckte Zusatzversicherung, in Wahrheit eine er- setzende Versicherung, hervorgehoben und sie als zweite Ja, wir sind dafür. Das ist ein Stück Leistungsgerechtig- Säule bezeichnet. Das ist nur ein Säulchen und keine keit und damit eine Verbesserung des Rentensystems. zweite Säule. Wenn nur 11 Prozent der Antragsberech- tigten diese Möglichkeit nutzen können, Frau Lotz, Sie haben davon gesprochen, wir müssten die Frühverrentung in der Tendenz stoppen, wir müss- (Erika Lotz [SPD]: Das wächst doch! – Ge- ten die Ist-Verrentung näher an das gesetzlich festgelegte genruf des Abg. Andreas Storm [CDU/CSU]: Renteneintrittsalter rücken; damit haben Sie Recht. Den- Aber ganz langsam!) noch glaubte ich mich verhört zu haben: Vor ganz kur- die Einkommensschwächeren aber nicht, weil sie das zem wollten Sie noch ein glorreiches Brückengeld ein- nicht bezahlen können, führen. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das ist das (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das ist der Un- Problem!) terschied zwischen Reden und Handeln!) weil wir eine sozial unausgewogene Förderung haben, Das wäre ein Signal für eine neue Frühverrentungswelle weil wir zu hohe Bürokratiehürden und zu komplizierte in Deutschland gewesen! Die Union und die FDP haben Kriterien haben, dann ist der Weg, den Sie eingeschlagen im Bundesrat verhindert, dass dieser Unsinn umgesetzt haben, ein zwar im Grundsätzlichen richtiger Weg, aber wird in der Durchführung total verfehlt. (Erika Lotz [SPD]: Wir wollten doch in Ost- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) deutschland die Abwanderung stoppen!) Wir müssen – so kam es in diesen Tagen auch in der und dass eine neue Frühverrentungswelle über die Bun- Bertelsmann-Studie zum Ausdruck – hier entbürokrati- desrepublik schwappt. sieren, müssen die Förderung verbessern. Wir dürfen die Förderung natürlich nicht kürzen, weil wir dann noch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – mehr Menschen den Zugang zu einer kapitalgedeckten Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: „Hartz“ lässt grü- (B) (D) Zusatzversorgung verbauen. ßen!) Ich komme zu einem Aspekt, den Sie, Frau Bender, Nächster Punkt. Sie machen sich jetzt zum dritten gebracht haben. Sie sagten, die Aussetzung der Renten- Mal daran, in die Schwankungsreserve, also in die erhöhung sei keine Rentenkürzung. Wenn bei den Rücklage der Rente, einzugreifen. Diesmal haben Sie so- Rentnerinnen und Rentnern eine Nullrunde erfolgt gar den Vorsatz, der Schwankungsreserve den Garaus zu machen und sie auf null zu fahren. Wenn Sie diesen Weg (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gehen, dann führen Sie unser Rentensystem in die totale NEN]: Sind Sie jetzt dafür oder nicht?) Abhängigkeit vom Finanzminister. und die Abgaben, die Steuern und die Preise weiter stei- gen, bedeutet das für die Rentner ein Kaufkraftminus. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sie werden mit dieser Maßnahme erreichen, dass Herr Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Eichel im Rahmen seiner fiskalischen Handlungen täg- NEN]: Sagen Sie mal, was Sie tun wollen, da- lich, ja stündlich Einfluss auf die Renten nehmen kann. mit die Rentenbeiträge nicht steigen!) Wer eine solche etatistische und staatsdirigistische Rente will, der muss diesen Schritt gehen. Wir wollen aber eine Zum dritten Mal betrügen Sie die Rentner. Das ist offen- von der Finanzpolitik unabhängige Rente, deren Anpas- bar ein bereits abgestimmtes Programm. Es bedeutet ein sungsmechanismen nicht vom Staat beeinflusst werden. Kaufkraftminus in den Rentnertaschen. Das ist ein ganz anderer Weg als der, den Sie einschla- (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gen. NEN]: Man kann doch nicht gleichzeitig über (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die Beiträge jammern und sich zum Fürspre- cher der armen Rentner machen!) Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Ich nehme ein weiteres Argument von Ihnen, Frau (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bender, auf. Sie sagen, die volle Rente nach 45 Bei- tragsjahren, die wir anstreben, würde sozusagen zu ei- ner Klassenbildung im Rentensystem führen. Ja, das Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: streben wir an. Wir wollen, dass diejenigen, die 45 Jahre Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt geschafft haben, oft in körperlich schwer belastenden hat jetzt die Kollegin Gudrun Schaich-Walch von der Berufen, SPD-Fraktion das Wort. 4140 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

(A) Gudrun Schaich-Walch (SPD): Sie, Herr Kolb, haben uns gesagt, wir sollten Sie bei (C) Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ihrer Diskussion begleiten; aber Sie wüssten eigentlich Herr Storm, die Debatte heute Morgen hat, wie ich fand, selbst noch nicht so genau, wohin es gehen soll. ganz hoffnungsvoll begonnen. Sie ist jetzt allerdings an (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein! Nein! Ich einem Punkt angekommen, an dem ich nur sagen kann: habe gesagt, wir haben es auf dem Bremer Par- Die Opposition wird ihrer Verantwortung weder im Bun- teitag schon beschlossen! Bei etwas mehr Re- destag noch im Bundesrat gerecht. dezeit hätte ich das im Detail ausgeführt!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vielleicht werden Sie es uns im Herbst sagen. DIE GRÜNEN – Andreas Storm [CDU/CSU]: Als wenn die Bundesregierung mit Herrn (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Der Kollege Eichel ihrer Verantwortung gerecht würde!) Storm hat einen Vorschlag gemacht!) Was Sie heute abgeliefert haben, zeigt, dass Sie nie- Das können Sie doch wirklich nicht im Ernst meinen. mandem im Haus erklären können, wohin Sie überhaupt Sie behaupten hier, unser Rentensystem sei nicht zu- wollen. kunftsfähig. Dazu muss ich Ihnen sehr deutlich sagen: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich glaube, dass dieses System in seiner Grundanlage ei- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Elke nes der sichersten und zukunftsfähigsten Alterssiche- Wülfing [CDU/CSU]: Wer regiert denn? – rungssysteme ist. Es ist nur unsere Aufgabe, es in einer Andreas Storm [CDU/CSU]: Wir haben ein gemeinsamen Anstrengung den wirtschaftlichen und konkretes Angebot gemacht!) demographischen Gegebenheiten anzupassen. Das Einzige, was man Ihrer Rede entnehmen konnte, ist, (Beifall bei der SPD – Annette Widmann- dass Sie den Rentnern höhere Renten, Mauz [CDU/CSU]: Und das machen Sie wohl jetzt!) (Andreas Storm [CDU/CSU]: Das ist doch gar nicht wahr!) Zu dieser Debatte und zu dieser Diskussion laden wir Sie im Herbst ein. denjenigen, die in die betriebliche Altersvorsorge oder in die Riester-Rente einzahlen, höhere Zuschläge – damit (Andreas Storm [CDU/CSU]: Was ist denn mit wollen Sie die Akzeptanz steigern – der Riester-Reform?) (Andreas Storm [CDU/CSU]: Wollen Sie die – Erinnern Sie sich einmal an die Einführung des 630- jetzt auch abschaffen wie Herr Eichel?) DM-Sparens. Trotz vieler Anreize hat es viele Jahre ge- (B) dauert, bis die Menschen diese Form des Sparens ge- (D) und den Beitragszahlern niedrigere Beiträge versprochen nutzt haben. Sie haben bis zur Bundestagswahl die Men- haben. Sagen Sie uns einmal, wo Ihre Gelddruckma- schen aufgefordert – Herr Thönnes hat es Ihnen schon schine steht. Auch wir würden sie gerne nutzen. gesagt –, keine Riester-Verträge abzuschließen, weil (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nach der Wahl die Reform sowieso rückgängig gemacht DIE GRÜNEN – Birgitt Bender [BÜND- werden würde. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Nach dem Prinzip der (Hildegard Müller [CDU/CSU]: Wir sollen eierlegenden Wollmilchsau! – Wolfgang Zöller schuld sein? Unglaublich!) [CDU/CSU]: Sie wissen es wohl besser!) Sie können also nicht erwarten, dass wir Ihre Vorwürfe Sie machen einen Fehler: Sie lesen entschieden zu in Bezug auf die Riester-Rente akzeptieren. viel Zeitung. Im Herbst werden wir mit der Diskussion über die (Hildegard Müller [CDU/CSU]: Wir lesen we- Rente, zu der ich Sie einlade, beginnen. Herr Storm, wir nigstens! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Lesen stimmen mit vielen Ihrer Ansätze überein. bildet! Mir kommt es vor, als wenn Sie die Zeitungen nicht lesen würden, Frau Schaich- Wir werden über den Nachhaltigkeitsfaktor zu disku- Walch!) tieren haben, darüber, ob er das entscheidende und rich- tige Instrument ist, um die Ziele zu erreichen, Das scheint Sie zu verwirren, weil Sie offensichtlich all das glauben, was Sie in der Zeitung lesen. Lesen bildet, (Zuruf von der CDU/CSU: Ja, was jetzt? Wird da haben Sie absolut Recht. Es wäre aber an der Zeit, Sie er schon wieder infrage gestellt?) würden einmal etwas anderes lesen und sich mit uns in die wir erlangen wollen: vertretbare Beitragssatzzahlun- der Sache, um die es wirklich geht, auseinander setzen. gen und am Ende eine vertretbare Rente für diejenigen, (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wer ist denn die die Rente zum Leben brauchen. Das werden unsere für die Rente zuständig? Herr Eichel oder Frau Zielsetzungen sein. Die Instrumente, die zur Verfügung Schmidt?) stehen, werden wir genau zu überprüfen haben. Was Sie hier abliefern, ist Vergangenheitsbewältigung Im Herbst wird der Bericht der Rürup-Kommission gepaart mit einem absoluten Mangel an Redlichkeit. vorliegen. Einiges zeichnet sich bereits ab. Wir werden über die Einführung dieses Nachhaltigkeitsfaktors disku- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Quatsch!) tieren. Wir werden auch darüber diskutieren Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4141

Gudrun Schaich-Walch (A) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wir müssen empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache (C) nicht diskutieren, wir müssen entscheiden! – 15/318 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussemp- Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Im Herbst, im fehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be- Herbst, im Herbst! – Hildegard Müller [CDU/ schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions- CSU]: Wir wollten es heute von Ihnen hören!) fraktionen bei Gegenstimmen der FDP und einiger Kollegen aus der Fraktion der CDU/CSU, im Übrigen – ich würde erst einmal diskutieren und dann entschei- bei Enthaltung der CDU/CSU angenommen. den; denn dann müssen wir nicht hinterher korrigieren –, Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf: (Hildegard Müller [CDU/CSU]: Das tun Sie seit fünf Jahren!) a) – Zweite und dritte Beratung des von den Frak- welche begleitenden Instrumente wir zusätzlich brau- tionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE chen und wie wir die Riester-Rente und die betriebliche GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Geset- Altersversorgung verbessern können. Wenn man im Hin- zes zur Neustrukturierung der Förderbanken blick auf die Zusatzversorgungsrente eine Gesamtschau des Bundes (Förderbankenneustrukturie- vornimmt und feststellen kann, dass sie etwa ein Jahr rungsgesetz) nach ihrer Einführung schon eine Größenordnung von – Drucksache 15/743 – 30 bis 40 Prozent erreicht hat, dann kann ich Ihnen dazu nur sagen: Dies ist ein ganz hervorragender Erfolg, auf (Erste Beratung 38. Sitzung) den wir zurückgreifen können. – Zweite und dritte Beratung des von der Bun- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes zur Neustrukturierung der Förderbanken Ich möchte noch ein paar Punkte nennen, von denen des Bundes (Förderbankenneustrukturie- ich glaube, dass wir hier – auch wenn viele meinen, man rungsgesetz) müsse das Thema Rente zu einem Kriegsschauplatz ma- chen – eine ähnliche Einschätzung haben. – Drucksachen 15/902, 15/949 – (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wie ist das (Erste Beratung 43. Sitzung) jetzt mit den 67 Jahren? Dazu haben Sie noch Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz- nichts gesagt!) ausschusses (7. Ausschuss) Eine Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 bzw. – Drucksache 15/1127 – 68 Jahre steht nicht zur Debatte. Wir sollten vielmehr ge- (B) meinsam unsere Kraft darauf verwenden, dafür zu sor- Berichterstattung: (D) gen, dass das tatsächliche Renteneintrittsalter dem ge- Abgeordnete Stephan Hilsberg setzlichen Renteneintrittsalter entspricht. Meine Kollegin Otto Bernhardt hat Ihnen zudem bereits gesagt, über welche Punkte wir Hubert Ulrich gerne bereit sind mit Ihnen zu diskutieren. Dr. Andreas Pinkwart (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Da müssen Sie b) – Zweite und dritte Beratung des von den Frak- erst einmal mit Frau Bender sprechen, bevor tionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Sie mit uns sprechen!) GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Geset- Voraussetzung für diese Diskussion ist: Wir hatten in zes zur Förderung von Kleinunternehmern und der Vergangenheit den Mut zu einer gemeinsamen Ver- zur Verbesserung der Unternehmensfinanzie- antwortung. Ich erwarte von Ihnen ein bisschen Mut für rung (Kleinunternehmerförderungsgesetz) die gemeinsame Zukunft. – Drucksache 15/537 – (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Erste Beratung 31. Sitzung) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zes zur Förderung von Kleinunternehmern und Ich schließe die Aussprache. zur Verbesserung der Unternehmensfinanzie- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf rung (Kleinunternehmerförderungsgesetz) Drucksache 15/1014 an die in der Tagesordnung aufge- – Drucksache 15/900 – führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung (Erste Beratung 43. Sitzung) so beschlossen. aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz- Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- ausschusses (7. Ausschuss) empfehlung des Ausschusses für Gesundheit und Soziale – Drucksache 15/1042 – Sicherung auf Drucksache 15/859 zu dem Entschlie- ßungsantrag der Fraktion der FDP zum Rentenversiche- Berichterstattung: rungsbericht 2002 und zum Gutachten des Sozialbeirats Abgeordnete Ingrid Arndt-Brauer zu diesem Rentenversicherungsbericht. Der Ausschuss Hans Michelbach 4142 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) der KfW abgrenzen. Die bewährte Durchleitung der För- (C) Dr. Andreas Pinkwart derkredite durch die Hausbanken, also Sparkassen und andere Banken, bleibt bestehen. bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Mit dem Kleinunternehmerförderungsgesetz bauen wir gezielt bürokratische Hürden ab, um Existenzgrün- – Drucksache 15/1043 – dungen künftig zu erleichtern. Zugleich verbinden wir Berichterstattung: damit die Hoffnung, dass viele, die eine bereits ausge- Abgeordnete Steffen Kampeter übte Tätigkeit dem Finanzamt heute verschweigen, aus Walter Schöler der Schattenwirtschaft in die Legalität zurückkehren Antje Hermenau werden. Im Zentrum dieses Gesetzes steht die Möglich- keit der Gewinnpauschalierung für Existenzgründer Zu den Entwürfen eines Kleinunternehmerförde- und Kleinunternehmer. Für diese simple Methode der rungsgesetzes liegen ein Entschließungsantrag der Frak- Gewinnermittlung müssen im Wesentlichen nur noch tion der CDU/CSU und ein Entschließungsantrag der Betriebseinnahmen aufgezeichnet werden. Die Hälfte Fraktion der FDP vor. hiervon wird pauschal als Betriebsausgaben abgezogen, Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die die andere Hälfte gilt als Gewinn. Das ist im Vergleich Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Sind Sie zu anderen Gewinnermittlungsarten, wie zum Beispiel damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so der Bilanzierung, äußerst einfach, transparent und erfor- beschlossen. dert nur sehr geringen Aufwand. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Rednerin gebe Die Gewinnpauschalierung ist vor allem dann von ich der Parlamentarischen Staatssekretärin Dr. Barbara Vorteil, wenn eine Tätigkeit mit geringem Kapitaleinsatz Hendricks das Wort. ausgeübt wird. Typischerweise ist das bei Dienstleistern der Fall, die in erster Linie ihre eigene Arbeitskraft an- bieten. Für diesen Personenkreis, der Tätigkeiten wie Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim Rasen mähen, Schnee räumen, Hemden bügeln, Hunde Bundesminister der Finanzen: ausführen, Putz- und Reinigungsdienste, mobile Friseur- Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- leistungen oder Besorgungsdienstleistungen wie Au- gen! Mit den beiden Gesetzentwürfen, die wir heute ab- toummeldung oder Behördengänge erbringt, bei denen schließend beraten, gehen wir zwei scheinbar kleine, üblicherweise nur geringe Betriebsausgaben anfallen, ist aber doch bedeutsame Schritte, die uns dabei helfen wer- die Pauschalierungsmöglichkeit im Wesentlichen ge- den, den Mittelstand zu beleben, die Arbeitslosigkeit zu dacht. (B) bekämpfen und die Schattenwirtschaft einzuschränken. (D) Wer größere Investitionen plant, Arbeitnehmer be- Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Neuord- schäftigt oder aus anderen Gründen eine geringere Um- nung der Förderbanken setzt die Bundesregierung die satzrendite hat, der fährt natürlich in der Regel mit den bereits im Koalitionsvertrag vereinbarte Zusammen- üblichen Gewinnermittlungsmethoden besser und sollte legung der Kreditanstalt für Wiederaufbau mit der diese auch weiterhin anwenden. Deutschen Ausgleichsbank und die Entscheidung der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) europäischen Kommission vom März des vergangenen Jahres zu Anstaltslast und Gewährträgerhaftung um. Doch auch für diese Unternehmer bringt das vorliegende Mit der Verschmelzung von KfW und DtA werden Sy- Gesetz Verbesserungen. So wird für Existenzgründer die nergien gehoben und Effizienzgewinne erzielt, die der Inanspruchnahme von Sonderabschreibungen erleichtert. Mittelstandsförderung unmittelbar zugute kommen. Wichtig ist dabei vor allem, dass das Förderangebot der Viele Unternehmer werden zudem von der Anhebung KfW-Mittelstandsbank übersichtlicher und transparen- der Buchführungspflichtgrenzen profitieren. Dadurch ter wird. werden wir erreichen, dass künftig mehr Unternehmen als bisher ihren Gewinn mit der einfacheren Einnahmen- Durch die gewählte Form der Zusammenlegung von überschussrechnung ermitteln dürfen. Sie müssen keine KfW und DtA werden der Förderung kleiner und mittel- aufwendige Buchführung einrichten. Zudem wird die Er- ständischer Unternehmen keine Mittel entzogen. Wir ha- stellung einer Einnahmenüberschussrechnung durch die ben uns darüber gefreut, dass in den wesentlichen Punk- vorgesehene Standardisierung erleichtert, da das hierfür ten des Gesetzes Konsens mit allen Fraktionen besteht vorgesehene Formular künftig eine klare Struktur vor- und auch die Wirtschafts- und Bankenverbände die tra- gibt. Auch das spart Zeit und Kosten. genden Elemente des Gesetzes begrüßt haben. Mit dem Kleinunternehmerförderungsgesetz soll Weder das Subsidiaritätsprinzip noch das Hausban- schließlich Kreditinstituten eine gewerbesteuerneutrale kenprinzip werden durch das Förderbankenneustruktu- Verbriefung ihrer Kreditforderungen und deren Platzie- rierungsgesetz aufgehoben oder verletzt. Dies möchte rung am Kapitalmarkt als so genannte Asset Backed Se- ich auch in Richtung Bundesrat betonen, auf dessen Zu- curities in Deutschland ermöglicht werden. Mit Hilfe stimmung wir am 20. Juni 2003 hoffen. Die Verständi- dieser Neuregelung werden neue nationale und interna- gung mit der EU-Kommission verlangt eine konkrete tionale Investorenkreise, wie zum Beispiel Versicherun- und präzise Beschreibung der Aufgaben der Förderbank. gen und Pensionsfonds, und deren finanzielle Mittel ef- Nur so lässt sich die Fördertätigkeit vom Marktgeschäft fektiv für die Finanzierung inländischer Unternehmen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4143

Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks (A) mobilisiert. Die kreditgebenden Banken werden durch Der Zusammenschluss erfolgt nicht, weil eine Bank (C) die Verbriefung ihrer Kreditforderungen eigenkapital- keine gute Arbeit geleistet hätte; das muss meines Erach- und bilanzmäßig entlastet, sodass Freiräume für neue tens bei dieser Gelegenheit klargestellt werden. Kredite entstehen. In der letzten Legislaturperiode gab es schon einmal Davon werden auch kleine und mittlere Unternehmen Überlegungen zur Zusammenfassung. Damals sollte al- profitieren, denen wegen ihrer Größe bisher ein unmit- lerdings die KfW die Deutsche Ausgleichsbank kaufen. telbarer Kapitalmarktzugang versperrt ist. Es wird ein Dadurch wären der Wirtschaftsförderung erhebliche neues Marktsegment geschaffen, das dem Finanzplatz Mittel entzogen worden. Deshalb haben wir dem Vorha- Deutschland neue Impulse verleiht und eine indirekte ben nicht zugestimmt. Kapitalmarktfinanzierung von Unternehmen in Deutsch- Um der Redlichkeit willen muss man in dieser Sache land fördert. Diese Initiative wird von den Beteiligten sagen, dass es sogar gute Argumente gibt, konkurrie- am Kapitalmarkt und auch von internationalen Organisa- rende Förderinstitute im Bundesbereich zu haben. Wir tionen wie dem Internationalen Währungsfonds sehr be- sind allerdings mit der Regierung der Auffassung, dass grüßt. die Vorteile eines Zusammenschlusses weit überwiegen. Meine Damen und Herren, ich weiß, dass wir mit die- Wir erwarten erhebliche Synergieeffekte und somit sen beiden Gesetzen nicht alle Probleme in der Bundes- mehr Mittel für die Wirtschaftsförderung. Wir erwarten republik Deutschland lösen werden, aber sie sind gleich- vor allem, dass durch den Zusammenschluss das öffent- wohl richtige Schritte auf dem Weg zu dem uns liche Förderinstrumentarium transparenter wird. gemeinsam brennend interessierenden Ziel. Wir wollen (Beifall bei der CDU/CSU) alle, dass sich in unserer Wirtschaft ein Aufwärtstrend abzeichnet, sich die Arbeitsmarktlage verbessert und die Ich habe bereits bei der ersten Lesung gesagt, dass wir Schattenwirtschaft bekämpft wird. Alle Schritte, die wir Nachbesserungen in vier Punkten erwarten: beim ge- auf diesem Weg machen, sind richtig. Deshalb hoffe ich planten Namen, auf die Zustimmung des ganzen Hauses. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wieder Vielen Dank. Etikettenfälschung!) bei der Zusammensetzung des Mittelstandsrates, bei der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vertretung des Parlaments im Verwaltungsrat und bei der DIE GRÜNEN) Formulierung des Hausbankenprinzips.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Es war geplant, den Bereich der erweiterten KfW, der (B) sich mit der Mittelstandsförderung beschäftigt, Mittel- (D) Als nächstem Redner gebe ich das Wort dem Kolle- standsbank zu nennen. Wir haben von Anfang an gesagt: gen Otto Bernhardt von der CDU/CSU-Fraktion. Das ist ein falscher Name. (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Etikettenschwin- Otto Bernhardt (CDU/CSU): del!) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei die- Dieser Name ist Etikettenschwindel sem Tagesordnungspunkt geht es um zwei Gesetzesvor- haben. Das erste betrifft die Förderinstitute im Bereich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) des Bundes und das zweite Kleinunternehmungen. Ich und erweckt beim Mittelstand den Eindruck, man könne werde meinen Beitrag auf das Thema der Förderinstitute direkt zu dieser Bank gehen und dort entsprechende Kre- beschränken; zum zweiten Teil wird mein Kollege dite erhalten. Michelbach sprechen. Unsere Kritik ist im Anhörungsverfahren von allen, Worum geht es bei diesem Gesetz? Es geht um die die sich dazu geäußert haben, insbesondere von den Kre- Zusammenfassung der beiden Förderinstitute im Be- ditinstituten, aufgenommen worden. Ich finde es gut reich des Bundes, der Kreditanstalt für Wiederaufbau – man muss es auch einmal loben, wenn sich etwas be- und der Deutschen Ausgleichsbank. Dabei soll die klei- wegt –, dass sich die Regierung nere Ausgleichsbank auf die größere KfW fusioniert werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich habe bereits in der ersten Lesung für meine Frak- und die sie tragenden Fraktionen bewegt haben und wir tion dargestellt, dass wir diese Absicht im Grundsatz für uns jetzt auf den Namen KfW-Mittelstandsbank ge- richtig halten. Ich will dennoch bei der abschließenden einigt haben. Beratung darauf hinweisen, dass beide Institute, die Kre- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ditanstalt für Wiederaufbau und die Deutsche Aus- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gleichsbank, in ihrer etwa 50-jährigen Geschichte erfolg- reiche Arbeit geleistet haben. Damit ist für jeden Außenstehenden klar: Es handelt sich nicht um die viel gepriesene Mittelstandsbank – das sind (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie in Deutschland wahrscheinlich die Sparkassen und Ge- bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- nossenschaftsbanken –, sondern es handelt sich um ei- NISSES 90/DIE GRÜNEN) nen unselbstständigen Bereich der KfW. Da jeder weiß, 4144 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

Otto Bernhardt (A) dass der Weg zur KfW über die Hausbanken führt, ist da- Quartal bzw. für die ersten vier Monate dieses Jahres. (C) mit auch klar, dass der Weg zur KfW-Mittelstandsbank Wenn wir sie mit den Zahlen des Vorjahres vergleichen, ebenfalls über die Hausbanken führt. stellen wir fest, dass der Rückgang in einzelnen Pro- grammen bei über 50 Prozent und der durchschnittliche Beim Mittelstandsrat hat es keine Veränderungen Rückgang irgendwo zwischen 20 und 25 Prozent liegt. gegeben. Es ist für uns auch kein sehr bedeutendes Gre- mium, aber auch da ist nicht drin, was draufsteht. Es ist (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Da stimmen die kein Mittelständler im Mittelstandsrat, aber wenn die Rahmenbedingungen nicht! Das ist das Pro- Regierung einen solchen Ausschuss bilden will und blem!) meint, ihre Leute hätten Zeit, dort zu sitzen, soll sie ihn einrichten. Wir lassen es daran nicht scheitern. Das zeigt natürlich nicht, dass die KfW und die Deut- sche Ausgleichsbank schlecht gearbeitet haben. Das Dem Verwaltungsrat der KfW sollten ursprünglich zeigt, dass sich die schlechten wirtschaftlichen Rahmen- nur drei Mitglieder angehören, die vom Parlament be- bedingungen auch in diesem Bereich niederschlagen. stellt werden. Dem haben wir widersprochen, weil dem Bundestag vier Fraktionen angehören. Wir haben darauf- (Beifall bei der CDU/CSU) hin den Antrag gestellt, vier Mitglieder zu bestellen. Nachdem ich vorhin ein Lob an die Regierung gege- Vonseiten der Regierungsfraktionen sind dann sieben ben habe, was für einen Oppositionspolitiker nicht Mitglieder vorgeschlagen worden. Auch dieser Vor- selbstverständlich ist, möchte ich an dieser Stelle ein schlag wird an uns nicht scheitern, weil damit unser Peti- Lob an die KfW aussprechen. tum, dass alle Fraktionen im Verwaltungsrat vertreten sein sollen, erfüllt ist. Ob es gerade sieben sein müssen, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sei dahingestellt. Die KfW hat auf die Situation in diesen Tagen mit zwei Etwas komplizierter wird es bei der Frage der Beibe- sehr vernünftigen Entscheidungen reagiert. Die eine Ent- haltung des Hausbankenprinzips. Um es ganz klar zu scheidung war, dass sie die Zinsen generell um 0,25 Pro- sagen: Wir sind dafür, dass sich hier nichts ändert und es zent gesenkt hat. Das ist sicher ein Schritt in die richtige beim strikten Hausbankenprinzip bleibt. Diese Auffas- Richtung und entspricht dem, was die europäische No- sung hat sich auch im Anhörungsverfahren herauskris- tenbank für einen anderen Bereich gemacht hat. tallisiert. Die zweite Entscheidung der KfW kann gar nicht Die veränderte Formulierung im Gesetz hat etwas mit hoch genug eingeschätzt werden: Sie hat den Banken bei der EU und nichts damit zu tun, dass das Hausbanken- der Zinsgestaltung im Fördergeschäft einen größeren prinzip ausgehöhlt werden soll. Die Regierung hat das Korridor von 0,5 Prozent gelassen. Das ist wichtig, denn (B) (D) bei den Beratungen am Mittwoch noch einmal klarge- mancher Förderkredit ist für die Kreditinstitute inzwi- stellt. Die KfW wird eine entsprechende Erklärung abge- schen so unattraktiv geworden, dass man von der Seite ben, dass es natürlich beim Subsidiaritäts- und Hausban- kaum noch bereit war, in dem Sinne tätig zu werden. kenprinzip bleibt. Mit diesen Erklärungen sind wir Die Antwort darauf kann nicht sein, das Hausbanken- zufrieden. Deshalb werden wir keinen Änderungsantrag prinzip infrage zu stellen. Die Antwort darauf kann nur in dieser Richtung stellen. sein, auch diesen Bereich für die Banken attraktiver zu Ich vermute, dass wir das Gesetz heute sogar einstim- gestalten. Das ist erfolgt. Insofern hoffe ich, dass die ge- mig verabschieden werden. Ich habe von Anfang an ge- stärkte KfW eine noch bessere Förderpolitik als in der sagt: Es ist gut und das war in der Vergangenheit auch Vergangenheit macht. In diesem Sinne werden wir dem meist so, dass Gesetze, die den Förderbereich des Bun- Gesetz zustimmen. des betreffen, von einer möglichst breiten Mehrheit im (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Parlament getragen werden; denn sie gelten nachher neten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE auch für die sehr unterschiedlich regierten Länder. GRÜNEN und der FDP) Wir haben natürlich hohe Erwartungen an die erwei- terte KfW. Ich sage an dieser Stelle sehr deutlich – auch Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: darüber muss man einen Satz verlieren –: Besorgnis er- Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Scheel von regend ist, wie wenig Mittel die KfW und die heute noch Bündnis 90/Die Grünen. davon getrennte Deutsche Ausgleichsbank – demnächst vereint – in der letzter Zeit nur herausgeben konnten. Ich nenne Ihnen dazu wenige Zahlen: Im Jahre 2000 belief Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sich das gesamte Fördervolumen noch auf 7,5 Milliar- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir den Euro. Im letzten Jahr waren es 6,5 Milliarden Euro. wollen den Zugang von kleinen und mittleren Unterneh- Das ist ein Rückgang um 1 Milliarde Euro bzw. 13 Pro- men zu geeigneten Finanzierungsinstrumenten fördern. zent. Ich bin sehr froh darüber, dass es uns gelungen ist, das zu unserem gemeinsamen Anliegen zu machen. Noch gravierender sind die Zahlen im Bereich der Existenzgründungen. Die Höhe der zur Verfügung ge- Ganz oben auf der Agenda steht deshalb die Schaf- stellten bzw. abgerufenen Gelder ist vom Jahre 2000 bis fung eines klaren und transparenten Förderangebotes des zum Jahre 2002 um etwa 40 Prozent zurückgegangen. Bundes und eines zielgruppenspezifischen Beratungsan- Seit wenigen Tagen kennen wir die Zahlen für das erste gebotes. Ich halte es für sehr wichtig, uns genau zu über- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4145

Christine Scheel (A) legen, welche Zielgruppen wir wie fördern wollen und gen für die durchleitenden Banken und vieles mehr. Es (C) wie wir sie am besten erreichen. Wir geben der KfW gibt also ein großes Potenzial für unsere Unternehmen. durch dieses Gesetz eine zukunftsweisende, aber auch Daneben müssen selbstverständlich auch die Förder- europakonforme Struktur, eine Struktur, die sie benötigt, instrumente weiterentwickelt werden – ich denke, das um den veränderten Finanzierungsbedürfnissen gerade ist sinnvoll –, um die Synergien aus der Verschmelzung der kleinen und mittleren Unternehmen gerecht werden voll auszunutzen. Dabei geht es nicht nur um wichtige zu können. Innovationen wie Globaldarlehen und Verbriefungen, es Bislang gibt es auf Bundes-, aber auch auf Landes- geht auch um etablierte Instrumentarien wie zinsverbil- ebene eine große Vielzahl von Förderinstrumenten ligte Programmkredite, Eigenkapitalfinanzierungen und und Förderprogrammen. Selbstverständlich sind so- vieles mehr, die weiterentwickelt werden müssen. Das wohl die KfW als auch die DtA – Herr Bernhardt, ich müssen wir übrigens auch steuerlich sinnvoll begleiten. kann nur unterstützen, was Sie gesagt haben – ihren Auf- Das ist keine Frage. Alles zusammengenommen sind es gaben in den letzten Jahren hervorragend nachgekom- klare und übersichtliche Förderprogramme für die Kre- men. Wir mussten aber auch feststellen, dass sich sehr ditnehmer und Kreditnehmerinnen, kostengünstige und viel an Wissen und an Ressourcen, was in beiden Ban- effiziente Abwicklungsverfahren für die durchleitenden ken vorhanden ist, nebeneinander entwickelt hat. Das ist Banken und Sparkassen und bedarfsgerechte und inno- nicht unbedingt so effizient ausgestaltet, wie es sein vative Förderinstrumente. könnte. Ich glaube, wir haben hier etwas Gutes und Werbe- (Beifall der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig wirksames geschaffen. Ich verstehe nicht so recht, wa- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) rum Sie gesagt haben, dass der Begriff „Die Mittel- standsbank“ irreführend sei. Ich glaube, jeder Deswegen ist es gut, dass wir nun diesen Entwurf eines Mittelständler und jede Mittelständlerin weiß, dass es Förderbankenneustrukturierungsgesetzes vorlegen kön- hier Geld für ihn bzw. sie gibt. Den Zugang erhalten sie nen. aufgrund des entsprechenden Prinzips aber natürlich nur (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN über die Hausbank. Ich glaube schon, dass die Unterneh- sowie bei Abgeordneten der SPD) men sehr gut wissen, wie sie damit umzugehen haben. Aber gut, wir haben uns auf die Bezeichnung „KfW-Mit- Die DtA hat im Bereich der Gründungs- und telstandsbank“ verständigt. Das ist in Ordnung; darüber Wachstumsfinanzierung sehr viel getan. Ich erinnere müssen wir jetzt nicht mehr reden. Ich wollte mir diesen nur an das Startgeld, an Mikrodarlehen und an Bürg- Schlenker aber nicht ganz ersparen. schaftsprogramme, die vor allen Dingen für die mittel- (B) ständischen Unternehmen durchaus attraktiv sind. Aber (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das andere (D) auch bei der KfW stehen die kleinen und mittleren Un- wäre Etikettenschwindel gewesen!) ternehmen, die an den Kreditzusagen einen Anteil von Daneben werden wir mit diesem Gesetz die so ge- etwa 87 Prozent haben, im Zentrum des Förderinteres- nannte Monti-II-Vereinbarung umsetzen und der KfW, ses. die auch künftig Export- und Projektfinanzierungen Es ist unvermeidlich, dass es – so war es jedenfalls durchführen wird, somit eine EU-konforme Struktur ge- bislang – zu Überschneidungen zwischen den Program- ben. Dazu wird sie eine Tochter gründen, die im freien men kommt. Auch kommt es ab und zu zu schwierigen Wettbewerb steht und voll der Steuerpflicht unterliegt. Auswahlprozessen und in den Antragsverfahren damit Ich möchte nicht, dass irgendwo in der Öffentlichkeit ein zu Effizienzverlusten, was wir auf diesem Wege beheben falscher Eindruck entsteht. werden. Die Programme werden neu strukturiert, Über- Deshalb war es für uns besonders wichtig, dass Nach- schneidungen werden beseitigt, Prozesse werden ge- haltigkeitskriterien für diese Finanzierung klar verankert strafft. KfW und DtA werden ihr Wissen bündeln und sind. Mit dem Entschließungsantrag haben wir das noch ihre Ressourcen in einem sehr einheitlichen, effizienten einmal unterstrichen; wir haben darüber auch im Finanz- und übersichtlichen Förderangebot zusammenführen. ausschuss beraten. Es ist völlig klar, dass Umweltrisiken Gründer und Gründerinnen werden es in Zukunft leich- immer auch Kredit- und Bonitätsrisiken sind. ter haben, die richtige Förderung zu finden; die neue Mittelstandsbank wird ihnen dabei helfen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Simone Violka [SPD]) Wichtig ist, dass die KfW – das haben wir in den Aus- schussberatungen gemeinsam so beschlossen – am be- Herr Präsident, erlauben Sie mir, noch zwei ganz währten Hausbankprinzip festhält; das wird in dem Be- kurze Punkte anzusprechen. richt bekräftigt. Dies wird sie durch eine so genannte Durch das Kleinunternehmerförderungsgesetz haben Selbstverpflichtung noch einmal unterstreichen. Für die wir den Verbriefungsmarkt in Deutschland neu eröffnet; Banken und Sparkassen wird es bei der Mittelstandsför- auch das ist ein Erfolg. Die Banken und Sparkassen er- derung nur noch einen Ansprechpartner geben. Dadurch halten so bessere Möglichkeiten, ihre Kredite durch Ver- werden die Wege klarer, die gegangen werden können. briefung zu refinanzieren. Ich denke, dass im Zuge dieses Zusammenschlusses auch die Kreditbearbeitungskosten für Förderkredite sin- Daneben haben wir – das ist der zweite kurze Punkt – ken können. Aber es gibt noch andere Anreizmöglich- durch das Kleinunternehmerförderungsgesetz für eine keiten. Ich denke zum Beispiel an risikoabhängige Mar- verringerte Bürokratie und für geringere Steuerlasten 4146 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

Christine Scheel (A) in der Startphase nach der Neugründung gesorgt. Das ist So verstößt dieser Gesetzentwurf selbst gegen zwei von (C) gut und stellt einen weiteren Baustein für die Förderung der Bundesregierung öffentlich lautstark vertretene For- von Existenzgründungen dar. Es handelt sich praktisch derungen nach einem umfassenden Bürokratie- und um eine Ausweitung der Möglichkeiten für die Men- Subventionsabbau. schen, die sich selbstständig machen wollen. All das ge- hört dazu, um auf dem Arbeitsmarkt neue Möglichkeiten Herr Bundesminister Eichel hat noch am Mittwoch im zu schaffen. Als nächster Baustein wird der „Masterplan Finanzausschuss nachdrücklich bekräftigt, es müssten Bürokratieabbau“ folgen. So werden wir in Deutschland sämtliche Subventionen, und zwar nicht nur auf der Aus- vorankommen. gabenseite, sondern auch im steuerlichen Bereich, auf den Prüfstand. Gleichzeitig legen Sie heute dem Parla- Danke schön. ment einen Gesetzentwurf vor, der einen kleinen Perso- nenkreis in unverhältnismäßiger Weise begünstigt und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zudem Mitnahmeeffekte ermöglicht. und bei der SPD) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: der CDU/CSU) Das Wort hat jetzt der Kollege Professor Andreas Statt das Steuerrecht insgesamt für alle Unternehmen und Pinkwart von der FDP-Fraktion. Arbeitnehmer zu vereinfachen, erhöhen Sie damit den Subventionsberg um weitere 300 bis 400 Millionen Euro Dr. Andreas Pinkwart (FDP): pro Jahr, ohne dass dadurch ein zusätzlicher wettbe- werbsfähiger Arbeitsplatz in Deutschland entstehen Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und würde. Herren! Im Zusammenhang mit der Fusion der DtA auf die KfW möchte ich für die FDP-Fraktion die bisherige (Beifall bei der FDP – Heinz Seiffert [CDU/ besondere Rolle der Deutschen Ausgleichsbank auf dem CSU]: Aber sie reden vom Subventionsab- Gebiet der Gründungsfinanzierung hervorheben. bau!) Da die Deutsche Ausgleichsbank und die Kreditan- Der damit in Aussicht gestellte Bürokratieabbau er- stalt für Wiederaufbau in gewissem Umfang bislang weist sich zudem als Bumerang. So bringen die Vor- auch miteinander in Konkurrenz standen, hat dies die In- schriften für die Mehrzahl der wenigen, die durch die novations- und Leistungskraft der öffentlichen Grün- Einführung der Regelung begünstigt werden sollen, ei- dungsförderung beflügelt. Mit unserer Zustimmung zu nen erheblichen Bürokratiemehraufwand. (B) dem im Zuge der Ausschussberatungen verbesserten Ge- (D) setzentwurf verbinden wir daher die besondere Erwar- (Jürgen Koppelin [FDP]: Leider ist das so!) tung, dass dieses für die wirtschaftliche Dynamik wich- tige Geschäftsfeld auch in dem fusionierten Institut mit Um in die Gunst des Vorteils zu gelangen, muss der gleicher Priorität gepflegt und weiter ausgebaut wird. Steuerpflichtige seinen Gewinn in zweifacher Weise er- mitteln, um überhaupt abschätzen zu können, welche (Beifall bei der FDP) Methode für ihn günstiger ist. Zudem muss selbst bei In- anspruchnahme der pauschalen Gewinnermittlung eine Die fusionsbedingten Synergieeffekte sollten besonders Schattenbuchführung erfolgen, um die Einhaltung der zur Stärkung dieses Bereiches verwendet werden. Fi- unterschiedlichen Grenzbeträge, die Sie in Ihrem Ge- nanzinnovationen, wie sie etwa durch die tbg als Toch- setzentwurf vorgesehen haben, zu kontrollieren. tergesellschaft der DtA in der Vergangenheit hervorge- bracht worden sind, sollten in Zukunft weitergeführt und Fazit: Wir hoffen, dass in diesem Gesetz nur die fortentwickelt werden. vernünftigen Elemente, die Sie insbesondere in Art. 4 formuliert haben, im weiteren Gesetzgebungsverfahren (Beifall bei der FDP) verwirklicht werden und darüber hinaus endlich Maß- Der andere Gesetzentwurf, der uns vorliegt, das von nahmen zu einer wirksamen Steuervereinfachung und der Bundesregierung und der Koalition so bezeichnete -entlastung Platz greifen. Hierzu zählt vor allem eine Kleinunternehmerförderungsgesetz, sollte aus unserer echte Gemeindefinanzreform, die den Kreis der Ge- Sicht seinem Kernbereich entsprechend zutreffender werbesteuerzahler nicht noch erweitert, sondern endlich doch als Sondersteuergesetz für einen kleinstmöglichen zur Abschaffung der bürokratielastigen und konjunktur- Personenkreis von Mikroselbstständigen bezeichnet anfälligen Gewerbesteuer führt, nicht nur für den kleinen werden. Mit Ausnahme der zudem halbherzigen Anpas- Personenkreis, den Sie heute definiert haben, sondern für sung der Betragsgrenzen für die Buchführungspflicht alle Unternehmen in Deutschland. Das würde dem Mit- und der Beschränkung der Hinzurechnung von Dauer- telstand helfen und zusätzliche Arbeitsplätze schaffen. schuldzinsen für Zweckgesellschaften, durch die der Markt für so genannte Asset Backed Securities am Fi- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nanzplatz Deutschland erschlossen werden soll, kann der vorliegende Gesetzentwurf auf die einfache Formel ge- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: bracht werden: Das Gegenteil von gut ist gut gemeint. Das Wort hat jetzt die Kollegin Simone Violka von (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) der SPD-Fraktion. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4147

(A) Simone Violka (SPD): grenze von bisher 20 500 Euro auf 25 000 Euro und die (C) Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen Gewinngrenzen von bisher 25 000 Euro auf 30 000 Euro. und Herren! In unserem Land gibt es viele innovative Die FDP ist in ihrem Antrag der Meinung, das Gesetz und leistungsfähige Menschen, völlig unabhängig von sei nicht geeignet, Existenzgründer oder kleine Betriebe ihrem Alter, ihrem Geschlecht und ihrer Nationalität. zu fördern. Aber schon einen Satz später kommen Sie zu Aber leider stehen viele dieser Menschen außerhalb der der Erkenntnis, dass sich Vorteile für einen einge- Arbeitswelt oder sind an Stellen eingegliedert, an denen schränkten Personenkreis ergeben. Was denn nun: sie ihre Fähigkeiten nicht voll entfalten können. Was nicht geeignet oder doch geeignet? liegt also näher, als diesen Menschen unter die Arme zu greifen und ihnen zu helfen, einen eigenen Weg zu ge- Sie beziehen sich in Ihren weiteren Ausführungen hen? auch auf die Anhörung. Allerdings war auch bei dieser Anhörung das Problem, dass es sich augenscheinlich Doch aufgrund vieler bürokratischer Hürden scheuten viele Experten nicht vorstellen konnten, dass man sich bisher viele Menschen die Inanspruchnahme dieser mit wenig Anschaffungen, wenig Betriebsausstattungen Möglichkeit. Grund sind die bürokratischen Hürden, die und wenig Kapital sehr wohl selbstständig machen kann. im Bund durch 16 Jahre CDU/CSU-Regierung und Wenn wir ehrlich sind, dann müssen wir zugeben, dass 29 Jahre FDP-Mitregierung kontinuierlich aufgebaut es schon viele sind: all die Freizeithandwerker, die mit wurden. Diese bürokratischen Hürden machen aber auch ihrem Werkzeug unterwegs sind, die Frisösen, die Haus- in den einzelnen Bundesländern den innovativen Men- besuche machen, oder die kreativen Frauen und Männer, schen das Leben schwer und existieren nicht unbedingt die mit wenig Material gefragte Artikel herstellen und aufgrund der Gesetzeslage. im Internet vertreiben. Ich komme aus Sachsen und kann davon ein Lied sin- Warum soll man diesen Menschen nicht eine Brücke gen. Dass auch in Sachsen Ausnahmen möglich sind, bauen, sie aus der Schwarzarbeit herausholen und ihnen kann man derzeit am Beispiel der CDU-Sozialministerin die Möglichkeit geben, sich mit ihren Fähigkeiten eine Christine Weber sehen. Hier wurden bürokratische Hür- legale und auskömmliche Existenz aufzubauen? den einfach tiefer gelegt, damit Frau Weber noch schnell Fluthilfegelder für Regenwasserschäden bekommen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ konnte. Als Mitglied des Kabinetts wusste sie, dass sich DIE GRÜNEN) der Freistaat Sachsen gegen die Anerkennung von Re- Wenn das Geschäft gut läuft, die Betriebe expandieren genwasserschäden ausgesprochen hatte. Also war Eile und sich vergrößern, dann ist das zwar sehr begrüßens- geboten. Bei allen anderen Anträgen mit gleicher Sach- und wünschenswert, aber wir dürfen doch nicht so tun, (B) lage – auch von Mittelständlern und Kindergärten – als gebe es nicht die Kleinen, die es nie über die genann- (D) wurde erst geprüft und vor Ort kontrolliert. Somit entfiel ten Grenzen hinaus schaffen werden. Denen ermögli- die Förderung, weil mittlerweile durch die Veränderung chen wir eine möglichst unbürokratische selbstständige der Verwaltungsvorschrift in Sachsen Regenwasserschä- Existenz, die sie unter der jetzigen, von Ihnen übernom- den nicht mehr als Flutschäden anerkannt wurden. Man menen Gesetzeslage nicht in Betracht ziehen. sieht also: Nicht immer ist die Gesetzeslage der Grund für eine langsame Bearbeitung oder eine aufgeblähte Bü- Sie zielen immer wieder auf Steuerentlastungen ab. rokratie. Schauen Sie sich doch einmal die Einkommensteuer- sätze in Ihrer Regierungszeit an! Bei Ihnen lag der Ein- Aber da nicht alle über die Möglichkeiten der sächsi- gangssteuersatz bei 25,9 Prozent, wir haben ihn auf schen Sozialministerin verfügen, will die Bundesregie- 19,9 Prozent gesenkt und senken ihn weiter auf rung, unterstützt durch die rot-grüne Koalition, mit dem 15 Prozent. Kleinunternehmerförderungsgesetz neben anderen Maß- nahmen auch Bürokratie allgemeinverbindlich abbauen. Herr Professor Pinkwart hat den Abbau von Subven- Gerade Menschen, die sich entschließen, sich selbststän- tionen angesprochen. Ich frage mich, warum das Steuer- dig zu machen, brauchen Unterstützung. Sie brauchen vergünstigungsabbaugesetz im Bundesrat blockiert wor- anfangs ihre ganze Zeit und Kraft für die Akquirierung den ist. Dort ging es um den Abbau von Subventionen. von Aufträgen, nicht für die Befriedigung des Finanz- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ amtes. DIE GRÜNEN) Deshalb haben wir unter anderem eine vereinfachte Damit haben Sie den Kommunen Beträge in Milliarden- Gewinnermittlungsmöglichkeit für Existenzgründer höhe verweigert. Diese Mittel stehen den kommunalen und Kleinunternehmer geschaffen. Nach der Vereinfa- Vertretungen nun nicht zur Verfügung. Sie helfen damit chungsregelung darf der Kleinunternehmer pauschal die auch dem Mittelstand nicht, weil Aufträge nicht ausge- Hälfte seiner Betriebseinnahmen als Betriebsausgaben löst werden können. Vielleicht sollten Sie sich das das abziehen. Der unter die Regelung fallende Steuerpflich- nächste Mal überlegen, bevor Sie im Bundesrat wieder tige muss lediglich seine Betriebseinnahmen einschließ- blockieren, damit Sie nicht später genau das fordern, was lich seiner Entnahmen aufzeichnen und wird von weiter schon im Gesetzentwurf stand. Das ist unlogisch und gehenden Steueraufzeichnungspflichten entlastet. Damit wird auf lange Zeit nicht tragbar sein. möglichst viele davon profitieren, haben wir die Grenzen erheblich angehoben: die Umsatzgrenze von bisher (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 260 000 Euro auf 350 000 Euro, die Wirtschaftswert- DIE GRÜNEN) 4148 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

Simone Violka (A) Wir wollen mit unserem Gesetz den Kleinunterneh- Die wirtschafts- und finanzpolitische Lage ist sehr (C) mern und Mittelständlern helfen und die Finanzausstat- ernst. Es gibt kein Signal für einen Aufschwung. Wenn tung der Unternehmer verbessern. Wir passen uns an an- wir nicht aufpassen, entwickelt sich diese Wirtschafts- dere Länder an, in denen es schon längst üblich ist, dass krise zu einer Politikkrise, weil die Menschen an der Po- die Liquidität der Kreditinstitute verbessert wird, in- litik verzweifeln. Wenn sie hier eine Debatte verfolgen, dem sie Kreditforderungen verbriefen und durch Zweck- in der alles in Watte gepackt und nichts differenziert gesellschaften am Kapitalmarkt platzieren. Damit wird wird, dann verlieren sie sicherlich den Glauben an die der Nachteil beseitigt, dass auf bestimmte Fremdmittel Politikfähigkeit. zu zahlende Entgelte als Dauerschuldzinsen erfasst wer- den. Das verbessert die Finanzierungsbedingungen der (Beifall bei der CDU/CSU) Wirtschaft, weil den Unternehmen mehr Kapital zur Ver- Der vorgestellte Entwurf des Förderbankenneustruk- fügung steht und die Banken eine bessere Eigenkapital- turierungsgesetzes allein kann das Problem nicht lösen. basis bekommen. Eventuelle Umgehungstatbestände und Denn bei allen Schalmeienklängen, die hier ertönen: Es Missbrauch werden schon allein dadurch vermieden, fehlt der zielführende ordnungspolitische Rahmen der dass nur Kapital anerkannt wird, das tatsächlich ausge- sozialen Marktwirtschaft. Es fehlen das Vertrauen liehen wird. Andere übliche betriebliche Transaktionen der Konsumenten und die Planungssicherheit der In- werden nicht berücksichtigt. vestoren. Das ist das Ergebnis einer rot-grünen Wirt- schafts- und Finanzpolitik, die gegen den Mittelstand ge- Nicht unerwähnt lassen will ich die finanziellen Aus- richtet ist. Rot-Grün ist und bleibt nichts anderes als ein wirkungen. Denn zugunsten der Kleinunternehmen ver- Mittelstandsvernichtungsprogramm. zichten wir im Jahr 2003 auf Steuereinnahmen in Höhe von 264 Millionen Euro und bis zum Jahr 2006 wird sich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) diese Summe auf 390 Millionen Euro erhöhen. Ich denke, das sollte es uns wert sein. Ich bitte daher alle, Aber der Mittelstand wird sich auch durch noch so schön den Kleinunternehmern und Mittelständlern diese Unter- verpackte Gesetze nicht mehr täuschen lassen. stützung nicht zu verwehren, und hoffe auf Ihre Zustim- (Ute Kumpf [SPD]: Auch von Ihnen nicht, mung. Herr Michelbach!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir erleben in diesen Wochen geradezu einen gesell- DIE GRÜNEN) schaftspolitischen Generalangriff von Rot-Grün auf die Selbstständigen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- (B) (D) Das Wort hat der Herr Kollege Hans Michelbach von NIS 90/DIE GRÜNEN) der CDU/CSU-Fraktion. Der Irrweg der Bundesregierung zulasten der mittel- (Beifall bei der CDU/CSU) ständischen Wirtschaft führt von den Wettbewerbsver- zerrungen der Ich-AG zur Zerschlagung der Handwerks- ordnung, zur Einführung einer Ausbildungsteuer, zur Hans Michelbach (CDU/CSU): Erhöhung der Erbschaftsteuer, zur Revitalisierung und Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kolle- Erhöhung der Gewerbesteuer und zur immer weiteren gen! Es gibt keinen Zweifel: Die wirtschaftliche Lage Zunahme der Lohnnebenkosten, zu Steuer- und Bürokra- des Mittelstands hat sich auch im Frühjahr 2003 nicht tielasten. Diese Liste der Marterinstrumente gegen den verbessert, sondern weiter verschlechtert. Mittelstand ließe sich jederzeit verlängern. Wenn man diese Debatte verfolgt, meint man, beim (Widerspruch bei der SPD) Mittelstand sei alles in Butter. Aber das Gegenteil ist der Dieser Kurs ist ein Crashkurs gegen den Mittelstand. Fall. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Tauss [SPD]: Haben Sie eigentlich auch etwas Dr. Andreas Pinkwart [FDP]) anderes als Textbausteine?) Lediglich 21 Prozent der Mittelständler beurteilen ihre Weder die Agenda 2010 noch die großsprecherischen Geschäftslage noch als gut. Viele haben das Gefühl, dass Einzelaktionen unter dem Titel „Mittelstandsförderung“ es nicht mehr vorwärts geht. Vor allem die Existenzgrün- bieten einen zufrieden stellenden Lösungsansatz. Sie ja- der und Kleinunternehmer sind von dieser Abwärtsent- gen sozusagen jede Woche eine neue Worthülse durch wicklung hart betroffen. Die Zahl der Neugründungen das Regierungsviertel. sank im Vergleich zum Vorjahr um 4 Prozent. Ange- sichts der verschlechterten Umsatz- und Ertragssituation Heute soll es ein halbherziges, völlig unzureichendes ist die Zahl der Insolvenzen auf 40 000 gestiegen. Das Kleinunternehmerförderungsgesetz richten. Nur die För- entspricht einer Zunahme um 17 Prozent und ist ein bis- derbankenneustrukturierung und die Asset-Backed-Se- her einmaliger Negativrekord. Gegenwärtig geht in curity-Gesellschaften und -Transaktionen Deutschland alle 15 Minuten ein Unternehmen Pleite. (Zurufe von der SPD: Oh!) Allein dadurch werden mehrere Hunderttausend Arbeits- plätze vernichtet. sind von der Union mit zu tragen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4149

Hans Michelbach (A) Das Kleinunternehmerförderungsgesetz zeigt: Die zug von 50 Prozent können die meisten Unternehmen (C) rot-grüne Flickschusterei geht weiter. Teilweise ist nur gar nicht in Anspruch nehmen. Bei diesen machen näm- eine Scheinförderung vorgesehen. Hinter dem großspre- lich die Betriebsausgaben mehr als 50 Prozent des „Ge- cherischen Etikett der Mittelstandsförderung verbirgt winns“ aus. Das Gesetz nützt nur einem gewerblichen sich eher ein Etikettenschwindel als eine wirkliche För- Nebenberufstätigen, der vielleicht in einer Behörde sitzt, derung. dort keine eigenen Kosten hat und von einem entspre- chenden Gewinn träumt, oder nützt einem Ich-AGler, (Beifall bei der CDU/CSU) der sein Gewerbe schnell auf- und wieder zumacht. Wer Ich versichere Ihnen aus meiner praxisnahen Erfah- kann denn als Selbstständiger so viel Gewinn erwirt- rung: schaften, um einen 50-prozentigen Betriebsausgabenab- zug zu nutzen? Das können doch hauptsächlich nur die (Jörg Tauss [SPD]: Welche Praxis?) von Rot-Grün geförderten Pseudoselbstständigen sein, Das Kleinunternehmerförderungsgesetz, das heute ver- die große Wettbewerbsverzerrungen hervorrufen wer- abschiedet wird, ist nicht in der Lage, den Rückgang der den. Sie fördern nicht die gesunden Betriebe, sondern Zahl von Existenzgründungen aufzuhalten und die Ein- ideologische Maßnahmen wie die Ich-AG. Eine solche dämmung der Schattenwirtschaft zu erreichen sowie die Einzelbegünstigung im Steuerrecht hat es in dieser Form Überforderung der kleinen und mittleren Betriebe und in Deutschland noch nicht gegeben. Sie sollten stattdes- den Anstieg der Insolvenzzahlen zu verhindern. Diesen sen eine zielführende Gesamtsteuerreform machen. Anspruch erfüllt das Gesetz bei weitem nicht. Es ver- Heute kam die Tickermeldung, dass Bundesfinanz- kennt den gewaltigen Reformbedarf für mehr Wachs- minister Hans Eichel nach einem Vorabbericht des Ma- tum und Beschäftigung. Es verkennt auch den ganzheit- gazins „Focus“ erwäge, die für 2005 geplante dritte lichen Förderungsbedarf im Mittelstand und den Stufe der Steuerreform um ein Jahr vorzuziehen. Dazu Handlungsbedarf insbesondere für eine grundsätzliche kann ich nur sagen: Das ist überfällig. Machen Sie das Vereinfachung des Steuersystems. Es verkennt zudem, endlich und dementieren Sie nicht mehr! dass nur mit einer erheblichen Reduzierung der Büro- kratiebelastung für alle Unternehmen und Bürger das (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wirtschaftliche Wachstum verstärkt und neue Beschäfti- Die Wirtschaft und insbesondere der Mittelstand brau- gung geschaffen werden kann. chen einen solchen Impuls. Unsere Arbeitnehmer brau- Mit dem Kleinunternehmerförderungsgesetz versucht chen mehr Freiraum. Diese wirtschafts- und finanzpoliti- die Regierung – wieder einmal erfolglos –, an Sympto- sche Maßnahme ist längst überfällig. Es ist aber men herumzukurieren. Es werden aus ideologischen kontraproduktiv, wenn der Bundesfinanzminister in der (B) Gründen falsche Weichenstellungen vorgenommen. Die- Sitzung des Finanzausschusses in dieser Woche gleich- (D) ses Gesetz wird weitere Wettbewerbsverzerrungen in zeitig ankündigt, 41 Steuererhöhungen von der Giftliste unserem Land hervorrufen. Sie sind in der Wirtschaftspo- des Steuervergünstigungsabbaugesetzes wieder hervor- litik völlig von der Rolle; denn es kann doch nicht sein, holen zu wollen, genauso wie die Ankündigung der dass ein Handwerksmeister mit Mitarbeitern keine Auf- SPD, man wolle wieder eine Vermögensteuer einführen träge mehr bekommt, weil sein ehemaliger Geselle, der und die Erbschaftsteuer erhöhen. nebenan eine Ich-AG mit staatlicher Förderung gegründet (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) hat, sie ihm alle wegnimmt. Das ist doch ein Wider- spruch. Das entspricht allenfalls dem rot-grünen Gesell- Machen Sie endlich reinen Tisch! Ziehen Sie endlich schaftsbild. Aber die Etablierung von Selbstständigkeits- die dritte Stufe der Steuerreform wie angekündigt vor tagelöhnern anstelle stabiler Existenzen kann doch nicht und dementieren Sie nicht wieder! Ich hoffe, dass Sie das allen Ernstes unser Weg in die wirtschaftspolitische Zu- schaffen werden und dass Sie nicht jede Woche eine neue kunft sein. Steuersau durch unser Land treiben werden. Machen Sie eine klare Steuerpolitik, keine Einzelvorschriften! (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Herzlichen Dank. Die Leistungsträger und nicht die ideologischen Selbst- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ständigkeitsvorstellungen von Rot-Grün sollten geför- dert werden. Es sollte Freiraum für alle Betriebe und Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: weniger staatliche Bevormundung geben. Durch Luft- Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt buchungen, Worthülsen und Scheinförderung lässt sich hat jetzt das Wort die Kollegin Dr. Sigrid Skarpelis- die Situation jedenfalls nicht verbessern. Sperk von der SPD-Fraktion. Für wen ist dieses Gesetz eigentlich gedacht? 99 Prozent der mittelständischen Existenzen haben nur Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD): eine Nettoumsatzrendite von bis zu 10 Prozent. Sie se- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- hen nun einen pauschalierten Betriebsausgabenabzug ren! Ich erspare mir, auf die Rede des Kollegen von 50 Prozent der Betriebseinnahmen vor. Davon profi- Michelbach einzugehen; tiert der größte Teil des Mittelstandes nicht. Das weckt bei Existenzgründern außerdem völlig falsche Erwartun- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des gen; denn einen pauschalierten Betriebsausgabenab- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 4150 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (A) denn alle anderen Reden insbesondere zum Förderban- der kleinen und mittleren Unternehmen, die deutliche (C) kenneustrukturierungsgesetz haben erfreulicherweise er- Einschränkungen bei der Vergabe und strengere Anfor- kennen lassen, dass es in diesem Haus einen Konsens derungen bei der Offenlegung ihrer Geschäfte und beim gibt. Controlling hinnehmen müssen. Auch ihre Eigenkapital- ausstattung wird unerbittlich und viel kritischer als bis- Es ist auch wichtig, dass wir diesen Konsens erreicht her geprüft. Die Risikoprämien in den Zinskonditionen haben und diesen Teilschritt gehen. Angesichts einer steigen ebenfalls deutlich. Die Zeiten der Durchschnitts- Schwächephase von Wirtschaft, Arbeitsmarkt, kalkulation im Kreditgeschäft sind vorbei. (Dr. [CDU/CSU]: Eine Auch auf der Kapitalmarktseite vollziehen sich große Schwächephase der Regierung!) Veränderungen, die die Finanzierungsbedingungen nicht einer deutlich rezessiven Entwicklung und nicht gerin- positiv für den gesamten deutschen Mittelstand beein- gen Problemen auf den Kreditmärkten sind dieses Geset- flussen werden. Ein wichtiger und hilfreicher Schritt in zeswerk und diese Fusion ein wichtiger Teilschritt, um diesem Prozess ist die Disintermediation: Ein Teil des die Kreditversorgung und die Finanzierungsbedin- Bankgeschäfts ist nicht mehr Kreditgeschäft, sondern In- gungen gerade für kleine und mittlere Unternehmen vestmentbanking; ein Teil der Zinsgewinne wird Provi- zu verbessern, die in einer solchen Situation natürlich sion. deutlich angespannt sind. In dieser Zeit gravierender Strukturveränderungen der Diese Schwierigkeiten sind von der Europäischen Finanzsphäre hat die neu fusionierte Förderbank ge- Zentralbank übrigens lange heruntergespielt worden. wichtige bzw. neue Aufgaben: Themen wie die Kreditklemme oder der Credit Crunch, Es geht erstens darum, die beim Wiederaufbau, bei wurden vom Sachverständigenrat und anderen wissen- der Wachstumsfinanzierung Westdeutschlands und beim schaftlichen Beratungsgremien lange nicht zur Kenntnis Prozess der deutschen Einheit bewährten Förderinstru- genommen. Jetzt aber ist diese Kreditklemme und die mente in schwierigen Zeiten fortzuführen und auch wei- Tatsache, dass die Finanzinstitutionen und die Banken terzuentwickeln. bei der Vergabe von Krediten und Beteiligungskapital immer vorsichtiger werden allen offenbar. Umso wichti- (Vorsitz: Vizepräsident Dr. ) ger ist jede Maßnahme, die die monetären Bedingungen Zum Zweiten muss die Förderbank den Sparkassen für die Volkswirtschaft und die Unternehmen verbessert. und Banken helfen, sich zu refinanzieren und so den Ich kann es mir nicht versagen, an dieser Stelle anzu- Mittelstand weiter angemessen zu finanzieren. Gerade merken, dass der gestrige Zinsschritt der Europäischen dann, wenn die Kreditkanäle – darauf weist der Interna- (B) Zentralbank überfällig war und dass es uns gefreut hätte, tionale Währungsfonds hin – nicht nur in Deutschland, (D) wenn er früher gekommen und mutiger ausgefallen sondern europa- und weltweit unter Stress stehen, ist es wäre. wichtig, mit Instrumenten wie Globaldarlehen und Ver- briefungsprogrammen gerade den mittleren und kleine- (Beifall bei der SPD) ren Instituten gangbare Wege zur Ausweitung ihrer Kre- Deutschland bringt insbesondere wegen seiner sehr ditausreichungsmöglichkeiten anzubieten. niedrigen Preissteigerungsraten auch jetzt noch, nach (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Irmingard diesem Zinsschritt, ein deutliches Stabilitätsopfer für den Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Euro und – das muss man deutlich sagen – das geht zu- NEN]) lasten der Dynamik und der Wachstumsmöglichkeiten der deutschen Wirtschaft. Das werden wir auch über öf- Die Senkung der Bearbeitungs- und Prozesskosten so- fentliche Förderkredite nicht ausgleichen können. wie die Herstellung größerer Transparenz bei den För- derprogrammen werden bei der neu fusionierten Bank (Beifall bei Abgeordneten der SPD) jetzt schon angegangen – Gott sei Dank im Vorgriff auf Auch dieser Schritt der Europäischen Zentralbank das Gesetz, das wir heute verabschieden. Das ist notwen- wird die tief greifenden Veränderungsprozesse in denen dig. Ich freue mich, dass alle diese Schritte von allen sich die Angebotsseite des Markts für Finanzierungen Fraktionen in diesem Haus voll und ganz mitgetragen befindet, nicht aufheben können. Der scharfe Wettbe- werden. werb im deutschen Bankwesen, das im Vergleich anderer Vieles ist schon auf den Weg gebracht worden; aber Länder ein dichtes Zweigstellennetz mit hohen Kosten es bleibt auch noch vieles zu tun, gerade bei der Beteili- hat, ist die eine Seite der angespannten Lage. Die andere gungsfinanzierung, die neben dem Bankkredit die wich- Seite ist, dass die hohen Gewinne der Boom-Phasen in tigste Finanzierungsquelle kleinerer und mittlerer Unter- den 90er-Jahren nicht zur Lösung der Strukturprobleme nehmen ist. In diesem Zusammenhang möchte ich zum der Banken genutzt worden sind. Stattdessen wurden Abschluss ein warnendes Wort sagen. Wir haben im schwerwiegende Fehler gemacht, die nun voll auf den Unterausschuss „ERP“ heute früh die Probleme der Be- Bilanzen lasten. Im Kreditgeschäft mussten die Banken teiligungsfinanzierung diskutiert. Vieles, was mit hohen steigende Ausfälle verkraften. Es schlägt sich auch in ei- Risiken verbunden ist, wird nicht zulasten des Bundes- ner sehr viel restriktiveren Kreditvergabe nieder. Das haushalts finanziert werden können. bedeutet, dass die Kreditinstitute die Risikostruktur ihrer Ausleihungen massiv verbessern und ihre Kreditportfo- Wenn die Eigenkapitalausstattung vieler kleiner lios insgesamt sehr deutlich herunter fahren – zulasten und mittlerer Unternehmen so bleibt, wie sie ist, dann Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4151

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (A) muss man sich auch fragen, ob das deutsche Steuer-, Un- Artikeln zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer (C) ternehmens-, Bilanz- und Insolvenzrecht nicht dazu stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit sind Art. 1 führt, dass Vermögenswerte nicht als Eigenkapital in Un- bis Art. 3 mit den Stimmen der Koalition gegen die ternehmen gesteckt, sondern in der privaten Sphäre ge- Stimmen von CDU/CSU- und FDP-Fraktion angenom- halten werden. men. (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Dafür muss erst Wir kommen zu Art. 4 in der Ausschussfassung. Ich mal etwas übrig bleiben!) bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Dies werden die Förderbanken durch die ihnen zur Ver- Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer möchte sich fügung stehenden öffentlichen Mittel nicht ausgleichen enthalten? – Damit ist dieser Artikel einstimmig ange- können. Wir werden uns vielmehr überlegen müssen, nommen. wie wir dieses Problem gemeinsam lösen können. Wir kommen zu Art. 5 bis 9 sowie zur Einleitung und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Überschrift in der Ausschussfassung. Diejenigen, die DIE GRÜNEN) diesen Artikeln und diesen Teilen des Gesamtpakets zu- stimmen wollen, bitte ich um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit sind auch Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: diese Artikel sowie Einleitung und Überschrift mit den Ich schließe die Aussprache. Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über die von den Frak- tionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen so- Dritte Beratung wie von der Bundesregierung eingebrachten Entwürfe von Gesetzen zur Neustrukturierung der Förderbanken und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem des Bundes auf den Drucksachen 15/743, 15/902 und Gesetzentwurf im Ganzen zustimmen wollen, sich zu er- 15/949. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Nr. 1 sei- heben. – Wer stimmt dagegen? – Wer möchte sich ent- ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1127, die halten? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der genannten Gesetzentwürfe als Gesetz zur Neustrukturie- Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU rung der Förderbanken des Bundes in der Ausschussfas- und FDP angenommen. sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie- Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – ßungsanträge. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung ange- (B) Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak- (D) nommen. tion der CDU/CSU auf Drucksache 15/1116? – Gegen- Dritte Beratung probe! – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mehrheitlich abgelehnt. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die diesem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak- Stimmt jemand dagegen? – Enthaltungen? – Ich stelle tion der FDP auf Drucksache 15/1046? – Gegenprobe! – fest, dass dieser Gesetzentwurf auch in dritter Lesung Enthaltungen? – Auch dieser Entschließungsantrag ist einstimmig angenommen ist. bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion mehrheitlich ab- gelehnt. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Druck- sache 15/1127 empfiehlt der Ausschuss die Annahme ei- Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 21 auf: ner Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussemp- fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Erste Beratung des von den Abgeordneten Arnold Damit ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen Vaatz, Ulrich Adam, Günter Baumann, weiteren der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU-Frak- Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU ein- tion bei Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen. gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Bereinigung von SED-Unrecht (Drittes SED- Tagesordnungspunkt 20 b: Abstimmung über die von Unrechtsbereinigungsgesetz – 3. SED-UnBerG) den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie der Bundesregierung eingebrachten – Drucksache 15/932 – Entwürfe von Gesetzen zur Förderung von Kleinunter- Überweisungsvorschlag: nehmern und zur Verbesserung der Unternehmensfinan- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) zierung, Drucksachen 15/537 und 15/900. Der Finanz- Innenausschuss ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Rechtsausschuss Finanzausschuss Drucksache 15/1042, die genannten Gesetzentwürfe als Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Gesetz zur Förderung von Kleinunternehmern und zur Verbesserung der Unternehmensfinanzierung in der Aus- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die schussfassung anzunehmen. Die Fraktion der CDU/CSU Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazu höre verlangt dazu getrennte Abstimmungen. ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Wir kommen deshalb zunächst zu Art. 1 bis Art. 3 in Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Ausschussfassung. Ich bitte diejenigen, die diesen der Kollege Arnold Vaatz für die CDU/CSU-Fraktion. 4152 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

(A) Arnold Vaatz (CDU/CSU): tung feststellen, dass ihm die Demokratie auch im Alter (C) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und nicht das zurückgibt, was er durch seine Handlungen da- Herren! Dieses Jahr ist ein besonderes Jahr. Wir begehen mals in die Demokratie einbringen wollte. in diesem Jahr ein Jubiläum, und zwar das Jubiläum des Es ist keine Frage schlechter oder guter ökonomischer Volksaufstandes in der damaligen DDR am 17. Juni Zeiten, ob man eine solche Ungerechtigkeit wieder be- 1953. reinigt; es ist eine Frage der Selbstachtung von Demo- kratie und Demokraten. Ich möchte heute als Einstieg Ihre Aufmerksamkeit auf die damaligen Akteure lenken. Wer waren denn die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Leute, die damals auf der Stalinallee in Berlin, aber auch neten der FDP) in vielen anderen Städten Ostdeutschlands auf die Straße Der Herr Bundespräsident hat vor kurzem eine Brief- gegangen sind, zuerst die Rücknahme der Normerhöhun- marke vorgestellt, die an den 17. Juni erinnern soll. Er gen und dann den Rücktritt der Regierung gefordert ha- hat sinngemäß gesagt: Viele Opfer des DDR-Regimes ben? Das waren Menschen, die damals schon einiges haben nicht bekommen, worauf sie Anspruch gehabt hinter sich hatten: Sie sind mit 18 oder 20, etliche schon hätten. Das sind die Worte von Bundespräsident Rau. Er mit 16, in den Zweiten Weltkrieg gejagt worden und ha- hat Recht. ben dort Dinge erlebt, die sie im Laufe ihres Lebens kaum verarbeiten konnten. Sie haben Tod und Elend ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Ab- sehen und kamen, als sie nach Deutschland zurückkehr- geordneten der FDP – Hartmut Büttner [Schö- ten, in ein Land, in dem alles in Trümmern lag. nebeck] [CDU/CSU], an SPD und BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN gewandt: Da müsst ihr Die Leute, die aus der Gefangenschaft wieder in ihre klatschen!) ostdeutsche Heimat zurückgekehrt sind, hätten natürlich auch gern ein neues Leben nach den Regeln einer sozia- Das ist auch den Kollegen im Deutschen Bundestag len Marktwirtschaft begonnen. Es war ihnen nicht mög- von Anfang an bewusst gewesen. Aus diesem Grunde lich. Sie sahen sich mit einer ihnen schon bekannten Si- wollte man zunächst einmal das Ausmaß der Repression tuation konfrontiert: Eine beginnende totalitäre Diktatur in der damaligen DDR zweifelsfrei feststellen. Deshalb nahm ihr Leben immer mehr in Besitz. Nun haben diese war es richtig, dass eine Enquete-Kommission einberu- Menschen, die in ihrem Leben schon Kämpfe ausgefoch- fen wurde. Sie hat als Ergebnis ihrer Arbeit gefordert, ten hatten, die wir uns alle wahrscheinlich nicht vorstel- dass die personelle Würde der von Unrecht und Leid Be- len können, erneut gewagt zu sagen: Nicht mit uns! Wir troffenen wiederhergestellt wird; dazu gehören sowohl stellen uns diesen Dingen entgegen! – Sie sind auf die die öffentliche Würdigung der Opfer als auch die Not- (B) Straße gegangen und ihr Aufstand ist schließlich von der wendigkeit, ihnen, so irgend möglich, nachträglich Ge- (D) Staatsgewalt blutig niedergeschlagen worden. Das ge- rechtigkeit widerfahren zu lassen. Das hat der Deutsche schah am 17. Juni. Ich habe vor diesen Menschen einen Bundestag so beschlossen. hohen Respekt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜND- neten der FDP) NIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Meine Damen und Herren, nach 13 Jahren Wieder- Abgeordneten der SPD) vereinigung hat sich der Bundespräsident zu diesen Wor- Es handelt sich hierbei um die Generation unserer El- ten veranlasst gesehen. Wir müssen nach 13 Jahren deut- tern, denen wir alles, was wir sind, zu verdanken haben. scher Einheit feststellen, dass die Folgen der 40-jährigen Repression insbesondere im sozial- und rentenrechtli- Meine Damen und Herren, wie ist es dann weiter- chen Bereich für die Verfolgten nach wie vor spürbar gegangen? Diejenigen, die es damals gewagt hatten, der sind und dass diese Defizite dann besonders peinlich Staatsmacht zu widersprechen, mussten nicht nur die sind, wenn man sie mit der relativen Besserstellung der- Konsequenz tragen, vielleicht zurückgeprügelt zu wer- jenigen vergleicht, die dieses System maßgeblich mitge- den, was schon schlimm genug gewesen wäre. Nein, in tragen haben. aller Regel hatten sie Konsequenzen in Bezug auf die Meine Damen und Herren, ich will jetzt nicht die Ver- Ausbildung zu ertragen: Sie sind von den Schulen und gangenheit bis ins Kleinste aufrollen. Aber ich will hier Universitäten geflogen. Jemand, der gehofft hatte, Arzt eines sagen, vor allem an die Adresse unserer sozialde- oder vielleicht einmal Klinikdirektor zu werden, konnte mokratischen und grünen Kollegen: Die CDU/CSU- vielleicht nur noch Krankenpfleger werden. Der Kol- FDP-Regierung hat einige Schritte unternommen, um lege, der nicht mit auf die Straße gegangen ist, der Kom- dieses Unrecht zu beseitigen. Es ist aber nicht vollstän- militone, der auf diese Weise seinen Studienplatz behal- dig gelungen. Ich betrachte das als Defizit. Wenn Sie kri- ten konnte, hat einen seiner Begabung entsprechenden tisieren, dass wir das zu unserer Zeit nicht geschafft ha- Beruf ergreifen und ausüben können. Es sei ihm herzlich ben, dann kritisieren Sie das zu Recht. gegönnt. Jetzt hat er auch die entsprechenden Rentenan- sprüche. Der andere hingegen, der Krankenpfleger ge- Ich möchte auch nicht, dass unsere Suche nach dem worden ist, der einen Einsatzwagen gefahren hat, der richtigen Weg in einen Schlagabtausch zwischen der Re- seine Lebensperspektiven drastisch zurückschneiden gierungskoalition und den Oppositionsfraktionen aus- musste, der seiner Familie nicht das bieten konnte, was artet. Es ist richtig: Die Oppositionsfraktionen haben die er als Arzt hätte bieten können, musste bei seiner Verren- Regierung zu kontrollieren und Alternativen vorzulegen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4153

Arnold Vaatz (A) Doch in diesem Punkt wollen wir Sie nicht kontrollieren Wenn Sie es ernst meinen, dann schließen Sie mit uns (C) und auch keine Alternative vorlegen, sondern wir wollen gemeinsam diese Gerechtigkeitslücke. Sie einladen, mit uns gemeinsam eine Lösung zu finden für Demokraten wie wir, die etwas für diesen Staat getan (Beifall bei der CDU/CSU) haben. Sie sollen sich nicht länger zurückgesetzt, son- Wir haben die Chance dazu. Lieber Herr Kollege dern anerkannt und angenommen fühlen. Wir laden Sie Hacker, Sie sagen, diese Maßnahmen würden nicht in ein, gemeinsam mit uns eine Lösung dafür zu finden. die Rechtssystematik passen. Dann lassen Sie uns doch (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. gemeinsam überlegen, wie wir das ändern können. Wir Rainer Funke [FDP]) sind jederzeit bereit, darüber zu reden. Es ist dringend notwendig, diesen immer noch bestehenden Skandal zu Wir bitten Sie, die Tür für ein gemeinsames Handeln bei beenden. Die Opfer der ehemaligen DDR dürfen nicht dieser Einbringungsdebatte nicht zuzuschlagen. zurückgesetzt werden. Es ist keine saubere Argumentation, wenn Sie sagen: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das Gleiche haben wir vor etlichen Jahren von der Regie- Mit unserem Gesetzentwurf unternehmen wir den rung Kohl verlangt, aber die Regierung Kohl hat uns das Versuch, den jetzigen Zustand zu ändern. Es geht nicht verweigert. Deswegen verweigern wir jetzt eine Mitar- mehr um eine Ehrenpension – das wäre wirklich vermes- beit, bei dem Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion. – sen –, sondern es geht um die Entschädigung von erlitte- Mit dieser Argumentation würden Sie einräumen, dass nem Unrecht. Wir wollen versuchen, das zu erreichen. Sie schon damals nicht aufrichtig gewesen sind. Zum einen wollen wir eine monatliche Entschädigung (Beifall bei der CDU/CSU) für politische Verfolgung oder berufliche Beeinträchti- gung, die nach der Zeitdauer des Unrechts gestaffelt ist. Es geht nicht um die Anliegen der Opposition und auch Zum anderen wollen wir eine Kapitalentschädigung, nicht um die Anliegen der Regierung. Es geht um die mit der die Tatsache berücksichtigt wird, dass die Haft in Anliegen der Benachteiligten des DDR-Regimes. der DDR nicht mit einer Haft in der Bundesrepublik Deutschland zu vergleichen war. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten! Lassen Sie Wir legen im Prinzip nichts Neues vor; denn wir ha- uns einen Weg finden, diese Ansprüche zu befriedigen. ben über dieses Thema in diesem Haus schon sehr oft Wenn wir es nicht tun, dann werden die Opfer der DDR- gesprochen. Diktatur, die die Feiern zum 50. Jahrestag des 17. Juni (B) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Da- 1953 verfolgen, zu der Auffassung kommen, dass die (D) durch wird es auch nicht besser!) Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland unauf- richtig ist, weil das demokratische Engagement dieser Der Weg, der bisher beschritten worden ist, ist nicht Menschen nicht anerkannt wird. Wir können nicht auf falsch gewesen. Mit dem Ersten SED-Unrechtsbereini- der einen Seite den 17. Juni als positiven Teil unserer gungsgesetz wurde das gröbste Unrecht geheilt. Das Geschichte betrachten, aber auf der anderen Seite nicht Zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz, das ebenfalls bereit sein, die entstandenen erheblichen Benachtei- unter der CDU/CSU-FDP-Regierung verabschiedet ligungen im Rahmen unserer Möglichkeiten auszuglei- wurde, hat etliche Rehabilitierungsmöglichkeiten ge- chen. schaffen. All das waren Schritte in die richtige Richtung. Ich bedanke mich, dass Sie mir zugehört haben. Ich Alle zu Zeiten der DDR erworbenen Sozialversiche- gebe die Hoffnung auf eine gemeinsame Lösung nicht rungsansprüche, die jedermann erwerben konnte – ich auf. Die Türen sind offen. nenne beispielsweise die freiwillige Zusatzrente – wur- Vielen Dank, meine Damen und Herren. den ausnahmslos und in vollem Umfang übertragen. Al- lerdings mussten die Verfolgten mit ansehen, wie die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1999 umgesetzt wurde: Mit dem Zweiten Gesetz zur Än- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: derung und Ergänzung des Anspruchs- und Anwart- schaftsüberführungsgesetzes wurden die Ansprüche und Das Wort hat nun der Kollege Karsten Schönfeld, Anwartschaften aus den Zusatz- und Sonderversor- SPD-Fraktion. gungssystemen der DDR zugunsten bestimmter Perso- nenkreise in die gesetzliche Rentenversicherung des Karsten Schönfeld (SPD): wiedervereinigten Deutschlands überführt. Damit wur- den Rentenansprüche und Anwartschaften für Re- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der präsentanten der DDR, die andere Menschen unter- 17. Juni erinnert uns daran, mit welchem Mut Menschen drückt haben – ich nenne beispielsweise Angehörige des in der damaligen DDR für ihre Freiheit gekämpft haben Ministeriums für Staatssicherheit –, angehoben. Das ist und mit welcher Brutalität das Regime zurückgeschla- die Realität. gen hat. Der 17. Juni steht als Tag der Erinnerung stell- vertretend für die vielen Tausend Menschen, die in den (Erika Lotz [SPD]: Das war die Entscheidung Jahren der SED-Diktatur Repression und Verfolgung des Bundesverfassungsgerichts!) ausgesetzt waren. 4154 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

Karsten Schönfeld (A) Mit der Wiedervereinigung der beiden Teile Deutsch- nungen – leider auch falsche Hoffnungen – eine große (C) lands galt es, auch dieses Stück deutscher Geschichte Rolle. Ihr Gesetzentwurf ist weder gerecht noch folgt er aufzuarbeiten. Es ging um eine schwierige Aufgabe: der Logik des Systems der Rehabilitation und Entschädi- zum einen darum, Verantwortliche eines verbrecheri- gung, wie es seit dem Zweiten Weltkrieg in der Bundes- schen Regimes zur Rechenschaft zu ziehen, zum anderen republik praktiziert wird. Die Bundesrepublik hat alle aber auch darum, Opfer dieses Regimes für das erlittene Opfer von Verfolgung – sowohl zur NS-Zeit als auch in Unrecht zu rehabilitieren und dafür zu entschädigen. der DDR – mit den gleichen Rechten ausgestattet: Rück- übertragung und Rückgabe von Vermögenswerten, Seit 1992 ist eine Reihe von Gesetzen auf den Weg ge- Erstattung von Geldstrafen und Verfahrenskosten, Kapi- bracht worden, die diese Entschädigung ansatzweise re- talentschädigung für Freiheitsentzug, Unterstützungs- geln. Es begann – darin sind wir, so glaube ich, einer Mei- leistungen und Ausgleich von Nachteilen in der Renten- nung – mit dem Ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz versicherung. Eine Opferpension für die Verfolgten des aus dem Jahre 1992, mit dem erste Schritte unternommen SED-Regimes wäre demgegenüber ungerecht. wurden. In dem Zweiten SED-Unrechtsbereinigungs- gesetz ging es darum, Opfern von Verwaltungswillkür in der DDR einen Weg zu eröffnen, sich vom Makel persön- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: licher Diskriminierung zu befreien und soziale Aus- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des gleichsleistungen in Anspruch zu nehmen. In diesem Ge- Kollegen Büttner? setz wurde ebenfalls die berufliche Rehabilitierung geregelt. Sie hatte zum Ziel, schwerwiegende Nachteile zu lindern, die ein Betroffener aufgrund seiner Verfol- Karsten Schönfeld (SPD): gung im Beruf oder in der Ausbildung erlitten hatte. Ich habe nur wenige Minuten Redezeit und möchte Sicherlich ist es schwer, das alles ganz genau zu re- meine Rede im Zusammenhang vortragen. geln. Herr Kollege Vaatz, es ist Spekulation, ob jemand Ihr Gesetzentwurf ist auch aus einem anderen Grund wirklich Arzt oder Chefarzt oder ein Ingenieur Leiter ei- ungerecht. Sie formulieren: nes Betriebes geworden wäre. Vieles in diesem Bereich kann man heute nicht in Gesetzen regeln. Opfer politischer Verfolgung im Beitrittsgebiet er- halten auf Antrag eine Opferpension ... bei einer zu Aber es ging immer – das war der Ansatz – um Reha- Unrecht erlittenen Freiheitsentziehung von insge- bilitation von Unrecht und um Ersatz von entstandenem samt mehr als einem Jahr bis zu zwei Jahren in Schaden in persönlicher, beruflicher und auch gesund- Höhe von 150 Euro monatlich. (B) heitlicher Hinsicht. Diesen Gedanken von Rehabilitation (D) und Entschädigung hat die SPD-geführte Bundesregie- Ich frage Sie: Was passiert mit denen, die nur ein halbes rung konsequent fortgesetzt und weitergedacht, immer Jahr oder zehn Monate in Haft waren? Die Dauer der mit dem Ziel, gerechte Lösungen für die Opfer des SED- Verfolgung sagt oft nichts darüber aus, wie die Verfolg- Regimes zu finden. ten in DDR-Zuchthäusern gelitten haben. Mit dem Zweiten Gesetz zur Verbesserung rehabilita- Des Weiteren gewährt Ihr Gesetzentwurf Inhaftierten tionsrechtlicher Vorschriften, das seit 1. Januar 2000 in wie Verfolgten gleichermaßen Ansprüche. Sie setzen je- Kraft ist, haben wir die Kapitalentschädigung ehemali- manden, der wegen Verfolgung berufliche Nachteile er- ger politischer Häftlinge auf einheitlich 600 DM pro litten hat, mit jemandem gleich, der inhaftiert wurde. Sie Haftmonat erhöht und damit eine Ungleichbehandlung werfen damit verschiedene Opfergruppen – sprichwört- zwischen Opfern, die später in den Westen gegangen lich gesagt – in einen Topf. sind, und denjenigen, die in der DDR geblieben sind, be- seitigt. Zudem wurde der Rechtsanspruch der nächsten Ich sage noch einmal abschließend: Die Menschen, Angehörigen von Todesopfern neu geregelt. Sie erhalten die sich in der DDR für Freiheit und gegen die Diktatur nun Leistungen der Stiftung für ehemalige politische eingesetzt haben, verdienen nicht nur unseren Respekt, Häftlinge, ohne dass, wie es bisher üblich war, ihre wirt- sondern haben einen Anspruch auf eine entsprechend ge- schaftliche Situation überprüft wird. Außerdem haben rechte Entschädigung. Aber das kann nicht so passieren, wir die Anerkennung haftbedingter Gesundheitsschäden wie Sie es hier wieder vorgetragen haben. verbessert. Besonders wichtig ist in meinen Augen auch die Weiterentwicklung der beruflichen Rehabilitation. Vielen Dank. Ich denke, all das muss man im Blick behalten und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dessen müssen wir uns bewusst sein, wenn es darum des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – geht, Ihren Gesetzentwurf, meine Damen und Herren Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: von der Union, heute zu bewerten. Das Thema ist zu Wo ist Ihr Vorschlag? Machen Sie einen Vor- wichtig und zu ernst, um es parteipolitisch zu missbrau- schlag!) chen. Leider – das ist mein Eindruck – ist es Ihnen mit diesem Entwurf nicht ganz gelungen, das nicht zu tun. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Es ist natürlich leicht, die Forderung nach einer Op- Nun hat das Wort die Kollegin Silke Stokar für Bünd- ferpension aufzustellen. Hier spielen Emotionen, Hoff- nis 90/Die Grünen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4155

(A) Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE – Meine Redezeit ist zu Ende. Ich möchte Ihre Fragen im (C) GRÜNEN): Innenausschuss – dahin gehören sie – beantworten und Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 50 Jahre werde dort auch meine zahlreichen Fragen an Sie rich- haben wir gebraucht, um einen Weg zu finden, den ten. 17. Juni 1953 gemeinsam angemessen und öffentlich zu Danke schön. würdigen. Wir haben eine spannende Diskussion über die Bewertung dieses Datums. Manche reden von einer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN demokratischen Erhebung, manche gar von einer sozial- und bei der SPD) demokratischen Erhebung. Vielleicht war es auch ein re- volutionärer Arbeiteraufstand. Es finden viele spannende Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Veranstaltungen und Diskussionen statt. Das Wort hat nun der Kollege Rainer Funke, FDP- Ich denke, dass auch dies eine Form der Würdigung Fraktion. der Menschen ist, die damals nicht nur den Mut hatten, gegen die Arbeitsnormen aufzutreten, sondern die für Rainer Funke (FDP): Demokratie und Freiheit kämpften und mit der Forde- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um es rung nach Freiheit für die politischen Gefangenen, die es gleich vorwegzunehmen: Die FDP-Bundestagsfraktion auch schon vor dem 17. Juni gab, auf die Straße gingen. begrüßt den vorliegenden Gesetzentwurf der Union vom Es ist hier gesagt worden: Ihren Mut mussten diese Men- Grundsatz her. schen teuer bezahlen. Das Ergebnis waren zerstörte Le- bensläufe und zerstörte Gesundheit durch die Unrechts- (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der haft, die sie erleiden mussten. CDU/CSU) Es fällt mir immer wieder schwer, zu diesem Thema Die Opfer politischer Verfolgung in der SBZ bzw. der eine Rede zu halten. Ich habe auch die vergangenen Aus- DDR warten bis zum heutigen Tag auf eine angemessene einandersetzungen um das SED-Unrechtsbereinigungs- finanzielle Wiedergutmachtung für ihr erlittenes Schick- gesetz nur nachlesen können. Ich weiß, dass fast alle Ar- sal. Wir als FDP haben bereits in der alten Koalition mit gumente mehrfach ausgetauscht worden sind. Ich Ihnen, meine verehrten Kollegen von der Union, ver- möchte das nicht fortsetzen, weil es den Opfern nicht ge- sucht, den Opfern der politischen Verfolgung zu helfen. recht würde, wenn wir uns gegenseitig die Versäumnisse Aber leider – das muss ich Ihnen ins Stammbuch schrei- der Vergangenheit vorwerfen würden. Es würde den Op- ben – sind unsere Bemühungen immer an einem, näm- fern ebenso nicht gerecht, wenn Sie von der Opposition lich an Herrn Dr. Waigel, gescheitert. (B) der rot-grünen Bundesregierung vorwerfen würden, dass Umso mehr freut es uns, dass Sie nun von sich aus die (D) die Schritte, die wir gemacht haben, zu klein gewesen Initiative ergriffen haben. Dass hieran das Bundesver- sind. fassungsgericht mit seiner Entscheidung vom 28. April Ich würde in einer Rede lieber ausführen, dass wir 1999 einen gewissen Anteil hatte, als es zu den Fragen über die finanziellen Ressourcen für Pensionen verfü- der Überleitung von Ansprüchen und Anwartschaften gen. Zur Ehrlichkeit der Debatte gehört für mich, zu sa- aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen der DDR gen: Ja, wir erkennen die Opfer an. Ich habe wirklich in die gesetzliche Rentenversicherung des wiederverei- großes Verständnis für die vielen enttäuschten und ver- nigten Deutschlands Stellung nahm, sollten wir an dieser bitterten Menschen, die zu mir und meiner Fraktion Stelle der Ehrlichkeit halber sagen. kommen und die Forderung nach Ehrenpensionen auf- Wir Liberale sind uns völlig einig: Der Gesetzgeber rechterhalten. muss im Hinblick auf den bevorstehenden 50. Jahrestag Wir haben mit der Stiftung einen finanzierbaren und des Aufstandes vom 17. Juni 1953 endlich die herausra- verlässlichen Weg eingeschlagen; das zu sagen gehört gende Bedeutung des Einsatzes der Betroffenen bei ihrem ebenfalls zur Ehrlichkeit der Debatte. Rot-Grün hat in Widerstand gegen die zweite deutsche Diktatur würdigen. den vergangenen Jahren mit mehreren Nachbesserungs- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gesetzen zumindest den Versuch unternommen, Härte- fälle, die in der Praxis entstanden sind, abzumildern. Wir müssen endlich die gesellschaftliche Bedeutung die- ses Einsatzes für eine rechtsstaatliche und freiheitliche Die Ergebnisse sind nicht befriedigend und können Demokratie würdigen. Ziel muss es sein, gerade die auch nicht befriedigend sein. Aber Ihre Forderungen – das Wichtigkeit dieses mutigen Eintretens auch für unsere wissen Sie sehr genau – sind nicht finanzierbar. Sie woll- heutige Demokratie im wiedervereinigten Deutschland ten von uns hören, mit welchen weiteren Vorstellungen herauszustellen. Der von diesen Menschen bewusst ge- wir in die Beratung gehen. Dazu gehört selbstverständ- wagte Einsatz ihres Lebens für Freiheit und Demokratie lich, dass wir die Antragsfristen verlängern und die Ver- und die Inkaufnahme erheblicher sozialer Nachteile fahren zur Anerkennung gesundheitlicher Schäden – darü- muss vom wiedervereinigten deutschen Staat endlich an- ber gab es Klagen – überprüfen. Wir werden permanent gemessen gewürdigt werden. die Härtefälle überprüfen, weil wir dafür sorgen wollen, dass die Opfer nicht auf Sozialhilfe angewiesen sind. Ob dies in der Art und Weise geschehen muss, wie es im Gesetzentwurf von CDU/CSU vorgeschlagen wird, (Abg. Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/ wird man im Innen- und Rechtsausschuss noch diskutie- CSU]: meldet sich zu einer Zwischenfrage) ren. Wir sollten uns im Rechtsausschuss, der sich feder- 4156 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

Rainer Funke (A) führend mit der Thematik zu beschäftigen hat, darüber rem Wohnsitz betrieben worden ist. Diejenigen, die frei- (C) Gedanken machen, wie die Betroffenen möglichst unbü- gekauft wurden, wurden anders behandelt als diejenigen, rokratisch an die ihnen so lange vorenthaltene Rente ge- die in der DDR geblieben sind. Herr Funke, die geringe langen können. Ob die Staffelung des Rentensatzes der Kapitalentschädigung, die Sie mit der Union eingeführt richtige Weg ist, darüber müssen wir diskutieren. haben, war doch ein Skandal. Die Entschädigung belief sich auf 300 DM für die im Westen lebenden und auf Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. 550 DM für die in der DDR verbliebenen Opfer. Diese (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Beträge lagen unterhalb der Beträge, die jemand in der Bundesrepublik nach dem Gesetz über die Entschädi- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: gung für Strafverfolgungsmaßnahmen bekommt. Das Beispiel Stoph war himmelschreiend. Deswegen war Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Ihre Gesetzgebung so schlecht. Das muss man hier ein- Hacker für die SPD-Fraktion. mal ansprechen. (Rainer Funke [FDP]: Können Sie nicht zur Hans-Joachim Hacker (SPD): Sache kommen, Herr Hacker? – Gegenruf der Vielen Dank, Herr Vorsitzender! Liebe Kolleginnen Abg. Silke Stokar von Neuforn [BÜND- und Kollegen! Bevor ich auf die Bewertung des vorlie- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist zur Sache!) genden Gesetzentwurfes eingehe, möchte auch ich noch einmal meine Gedanken in das Jahr 1953 schweifen las- Sie haben überhaupt nicht an die Angehörigen derje- sen. In wenigen Tagen jährt sich zum 50. Mal der Tag, nigen gedacht, die in den Gefängnissen im Rahmen ihrer an dem Männer und Frauen in Ostberlin, Leipzig, Chem- politischen Haft umgekommen sind bzw. wenige hundert nitz und anderen Städten auf die Straße gegangen sind Meter von hier entfernt in der Spree erschossen worden und sich für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einge- sind. setzt haben. Ich glaube, viele von ihnen haben schon da- (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: mals den Gedanken an die deutsche Einheit im Herzen Wie geht es jetzt weiter? Sagen Sie doch ein- und im Kopf getragen. mal, wie es weitergeht!) In der friedlichen Revolution in der DDR im – Lieber Herr Büttner, das will ich Ihnen sagen. Diese Herbst 1989 und in der deutschen Wiedervereinigung Mängel, die Sie produziert haben und die bei den Opfer- am 3. Oktober 1990 hat sich dieser historische Auftrag gruppen berechtigterweise zu Frustration und Enttäu- für uns, die wir das SED-Regime nicht wollten, erfüllt. schung geführt haben, haben wir beseitigt. Dafür haben sich auch viele Mitglieder dieses Hauses (B) eingesetzt. Heute gilt unser Gedanke in erster Linie den (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: (D) Männern und Frauen, die am 17. Juni 1953 auf der Richtig! Und wie geht es jetzt weiter?) Straße gegen die SED-Diktatur und die Sowjets demons- Wir haben mit der Novelle 1999 eine einheitliche triert haben. Kapitalentschädigung in Höhe von 600 DM für alle Die Politik in Deutschland hatte und hat den morali- eingeführt. Ich wiederhole noch einmal die Position der schen Auftrag, diese Opfer nicht zu vergessen. Die letzte SPD, die lautet: Ein Jahr Bautzen ist ein Jahr Bautzen. demokratisch gewählte Volkskammer hatte sich dieser Da kann man nicht danach differenzieren, ob die Betref- Thematik gestellt. Wir haben diese Thematik anschlie- fenden später in Bochum oder in Dresden gelebt haben. ßend sehr zögerlich und mit einschränkenden Vorgaben (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: der damaligen Bundesregierung diskutiert. Meine Meinung!) Herr Funke, ich wundere mich ein wenig darüber, Wir haben Ihnen immer wieder deutlich gemacht, dass Sie heute als Verantwortliche für diese auch damals welchen Widerspruch Sie produziert haben mit der mil- schon erkennbar unbefriedigende Gesetzgebung die liardenschweren vermögensrechtlichen Regelung auf der Union nennen. Bei Ihnen war zwar eine größere Bereit- einen und den Defiziten in der Entschädigungsgesetzge- schaft zur Öffnung zu erkennen. Aber auch Ihnen muss bung der SED-Unrechtsbereinigungsgesetze auf der an- ich ins Stammbuch schreiben, dass Sie sich nicht konse- deren Seite. quent genug eingesetzt haben. Ich denke hier nur an die erniedrigende Diskussion über die Zwangausgesiedelten, Wir haben für die Menschen, die Angehörige verloren die von FDP und Union nicht in das Verwaltungsrechtli- haben, etwas getan. Diese haben heute Zugang zu Ent- che Rehabilitierungsgesetz aufgenommen werden soll- schädigungsleistungen. Wir haben für eine bestimmte ten. Gruppe von Opfern der Nachkriegszeit, die deutschen Zwangsarbeiter, etwas getan. Zum Thema Entschädi- (Rainer Funke [FDP]: Was Sie da sagen, ist gung der deutschen Zwangsarbeiter haben Sie gestern ei- doch nicht wahr!) nen Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht. Wir haben es am Ende anders gemacht; aber zuvor Nehmen Sie zur Kenntnis, dass wir mit der Novelle von gab es schwierige und quälende Diskussionen. Wir dür- 1999 gerade für die deportierten Zivilisten aus den ehe- fen das heute nicht vergessen. maligen deutschen Ostgebieten Entschädigungsleis- tungen eingeführt haben, die von Ihren Vorstellungen Mein zentraler Vorwurf geht dahin, dass bei der da- gravierend abweichen. Wir haben die Höhe der Fonds- maligen Gesetzgebung eine Spaltung der Opfer nach ih- beiträge für die Stiftung für ehemalige politische Häft- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4157

Hans-Joachim Hacker (A) linge verfünffacht und haben in den Folgejahren jährlich Menschen, die in NS-Haft, die in Konzentrationslagern (C) – auch im letzten Jahr – Millionenbeträge für die Stif- waren, die Hand heben. tung bereitgestellt. Das sind die Tatsachen. An diesen Tatsachen dürfen Sie nicht vorbeigehen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Wir können die Opfer zweier Diktaturen unserer jüngs- ten deutschen Geschichte nicht mit so unterschiedlichen rechtlichen Anspruchsgrundlagen ausstatten. Ich emp- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: fehle Ihnen dringend, sich dieser Problematik bewusst Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des zu werden und das bei den weiteren Beratungen im Aus- Abgeordneten Funke? schuss zu berücksichtigen. (Abg. Arnold Vaatz [CDU/CSU] und Abg. Hans-Joachim Hacker (SPD): Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU] Gerne, Herr Funke. melden sich zu einer Zwischenfrage – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie ha- ben doch noch die Ausschussberatungen! Da Rainer Funke (FDP): können Sie Ihre Fragen stellen!) Nachdem Sie ausführlich dargelegt haben, was Sie in den letzten Jahren im Einzelnen alles getan haben, muss Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: ich Sie fragen, ob Sie bereit sind, im Rahmen dieses Ge- Herr Kollege, ich mache Sie noch einmal auf Ihre Re- setzes, dessen Entwurf Ihnen vorliegt, für die Betroffe- dezeit aufmerksam. nen konkret etwas zu tun?

Hans-Joachim Hacker (SPD): Hans-Joachim Hacker (SPD): Jawohl, Herr Präsident. Herr Funke, auf diese Frage kann ich Ihnen klipp und klar antworten: Wir sind bereit, etwas zu tun; das hat Abschließend möchte ich sagen: Herr Vaatz, ich eben schon der Vorredner aus meiner Fraktion gesagt. möchte Ihnen dafür danken, dass Sie mit mir, jedenfalls Wir werden die Antragsfristen verlängern. Wir werden außerhalb des Plenums, aber auch hier, bisher sachge- darauf achten, dass die Stiftung für ehemalige politische recht diskutiert haben und dass Sie nicht versucht haben, Häftlinge ausreichende finanzielle Mittel zur Verfügung diese Bühne zu einem Tribunal umzugestalten. (B) gestellt bekommt, um zu verhindern, dass die Opfer in (D) die Sozialhilfe abrutschen. Wir haben nach dem Berufli- (Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben das chen und nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsge- gemacht!) setz Ausgleichsleistungen und Unterstützungsleistungen Ich will Ihnen aber sagen: Versuchen Sie nicht, die Poli- vorgesehen. tik gegenüber der Bundesregierung und den Koalitions- Mein Appell richtet sich heute an die Opferverbände fraktionen auf dem Rücken der Opfer der beiden deut- und an diejenigen, die persönlich betroffen sind, jetzt schen Diktaturen auszutragen! ihre Anträge zu stellen und die Antragsmöglichkeiten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ auch auszuschöpfen. Noch immer bekommen wir jähr- DIE GRÜNEN – Hartmut Büttner [Schöne- lich aus den neuen Ländern Tausende von Anträgen auf beck] [CDU/CSU]: Das ist ein Skandal! Das Rehabilitierung und Entschädigung. Wir wollen, dass ist unglaublich! – Gegenruf des Abg. Wilhelm das Geld fließt. Wir werden denjenigen, die es, aus wel- Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie hatten doch chen Gründen auch immer – Traumatisierung und andere acht Jahre die Chance, etwas zu machen! Was Gründe spielen eine Rolle –, nicht schaffen, in diesem soll dieser Ausbruch?) Jahr einen Antrag zu stellen, durch eine mehrjährige Ver- längerung der Antragsfrist die Chance geben, auch wei- Das haben die Betroffenen nicht verdient. Bleiben Sie in terhin Anträge stellen zu können. der Bewertung sachlich! Ich erinnere noch einmal daran: Sie müssen diese beiden Opfergruppen aus dem vorher- Die Stiftung ist bei uns in guten Händen. Wir setzen gehenden Jahrhundert gleich behandeln. uns dafür ein, dass diese Stiftung ausreichend ausgestat- tet wird. Vielen Dank. Einen Punkt, der heute schon angesprochen wurde, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ will ich verdeutlichen: So sehr wir uns dagegen gewehrt DIE GRÜNEN) haben, dass Opfergruppen gegeneinander ausgespielt werden, so sehr muss ich mich dagegen wehren, dass wir Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: durch dieses Gesetz, wenn wir es umsetzen, eine Spal- Ich schließe die Aussprache. tung der Opfer des NS-Regimes und der SED-Opfer her- beiführen. Das ist vielleicht nicht gewollt, Herr Vaatz, ist Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf aber Inhalt Ihres Vorschlages. Sie können nicht verlan- Drucksache 15/932 an die in der Tagesordnung aufge- gen, dass wir für eine solche Ungleichbehandlung von führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit 4158 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei- tion zu tun haben, in der sich die Wettbewerbssituation (C) sung so beschlossen. der deutschen Industrie bezogen auf die Industriestrom- preise auch und insbesondere im Vergleich zu ihren Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf: Wettbewerbern insgesamt drastisch verbessert und nicht Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- verschlechtert hat. nen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Man kann das auch in Zahlen ausdrücken: Kostete die GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten Kilowattstunde Industriestrom im Jahre 1995 im Schnitt Gesetzes zur Änderung des Erneuerbare- noch 7,6 Cent, so kostet sie heute 5,3 Cent. Das alles gilt Energien-Gesetzes trotz des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, der KWK- – Drucksache 15/810 – Umlage und der Stromsteuer im Rahmen der ökologi- schen Steuerreform. Ich drücke es anders aus: Für die In- (Erste Beratung 40. Sitzung) dustrie stehen jedem Euro durch die Verteuerung des Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Stroms durch diese Umlagemaßnahmen 8 Euro infolge gierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten der Verbilligung des Stroms gegenüber. Gesetzes zur Änderung des Erneuerbare- Wenn ich die Gesamtbetrachtung für die Industrie an Energien-Gesetzes dieser Stelle mit diesem Nachdruck unterstreiche, so will – Drucksache 15/1067 – ich dabei nicht verkennen, dass es einzelne Unternehmen geben kann, die mit dieser Entwicklung auch negative (Erste Beratung 47. Sitzung) Erfahrungen gemacht haben. Hierfür haben wir mit dem Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Vorschaltgesetz eine Lösung gefunden, die besonders ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- stromintensiven Betrieben im Einzelfall nützt. heit (15. Ausschuss) Bei der Betrachtung dieser Vorgänge ist uns aller- – Drucksache 15/1121 – dings auch aufgefallen, dass die von den Netzbetreibern umgelegten EEG-Umlagen außerordentlich uneinheit- Berichterstattung: lich ist. Die Beträge belaufen sich auf 0,2 Cent bis Abgeordnete Marco Bülow 0,66 Cent. In Wirklichkeit liegt der Betrag bei ungefähr Doris Meyer (Tapfheim) 0,29 Cent. Das bedarf zweier Regelungen: Michaele Hustedt Angelika Brunkhorst Erstens. Bei einer endgültigen Novellierung des Er- neuerbare-Energien-Gesetzes müssen wir klarstellen, Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion was umlagefähige Kosten überhaupt sind. Es kann nicht (B) der CDU/CSU vor. sein, dass ohnehin vorhandene Netzkosten kurzerhand (D) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für umgelegt und auf diese Weise nicht nur den erneuerba- die Aussprache 45 Minuten vorgesehen. – Dazu höre ich ren Energien in die Schuhe geschoben, sondern auch in keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. den Stahlhütten und in den Aluminium- und Kupferwer- ken abkassiert werden. Das können und werden wir Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst das nicht akzeptieren. Wort dem Bundesminister Jürgen Trittin. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur- schutz und Reaktorsicherheit: Zweitens. Es kann auch nicht sein, dass die Verfü- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir spre- gung über das Netz die letzte Schranke für den Wettbe- chen heute über eine zielgenaue Lösung für Betriebe, die werb auf dem Strommarkt ist. Mittlerweile liegen meh- in besonderer Weise stromintensiv sind und deshalb rere Urteile gegen diverse Stadtwerke vor. In drei Fällen durch die Umlage auf erneuerbare Energien bestimmte geht es um den Missbrauch der Netzhoheit. Das Landge- richt Berlin hat festgestellt, dass die Verbändevereinba- zusätzliche Kosten haben. Dabei darf sich allerdings rung über den Netzzugang gegen das Kartellrecht ver- nicht der Eindruck verfestigen, dass der Strom in stößt. Diese Urteile liegen auf dem Tisch. Das heißt, wir Deutschland immer teurer geworden sei, weshalb die müssen sicherstellen, dass es im Netz tatsächlich zu deutsche Industrie einen Wettbewerbsnachteil habe. Dies Wettbewerb kommt. Dies wird uns nur dann gelingen, ist definitiv falsch. wenn wir das umsetzen, wozu sich die Bundesregierung Die von der alten Bundesregierung eingeleitete und ausdrücklich verpflichtet hat, nämlich eine Wettbe- damals von meiner Fraktion – Michaele Hustedt vorne- werbsbehörde einzurichten. weg – immer unterstützte Liberalisierung der Strom- Das ist der Grund für unser Vorschaltgesetz, das für märkte hat gerade für die Industriekunden in Deutsch- ein Jahr gilt. In der Kombination mit der Verabschiedung land beachtliche Folgen gehabt. Zwischen 1995 und einer entsprechenden Verordnung über eine Wettbe- 2002 ist der Industriestrom in Deutschland um gut ein werbsbehörde und der Novelle des Erneuerbare-Ener- Drittel billiger geworden. In diesem Zeitraum sanken die gien-Gesetzes werden wir diese Probleme, nämlich den Industriestrompreise um 30 Prozent. Innerhalb der EU Missbrauch von Marktmacht zulasten der Industrie und waren es nur 9 Prozent. Zum Vergleich: Die von vielen der erneuerbaren Energien, gemeinsam angehen. immer hoch angesehenen USA hatten im gleichen Zeit- raum eine Steigerung von 7 Prozent zu verzeichnen. Das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN heißt, wir können feststellen, dass wir es mit einer Situa- sowie bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4159

Bundesminister Jürgen Trittin (A) Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung machen. Die- Dem versucht die Bundesregierung mit ihrem Entwurf (C) jenigen, die meinen, es sei nun genug für die erneuerba- entgegenzuwirken. Bei einem bloßen Versuch wird es ren Energien getan, muss ich darauf hinweisen: Heute aber auch bleiben. Wie gesagt: Das Ziel einer Entlastung sparen die erneuerbaren Energien 50 Millionen Tonnen streben auch wir, die CDU/CSU, an. Doch der vorlie- CO2 ein. Legt man die Nachhaltigkeitsstrategie unserer gende Gesetzentwurf lässt noch zu viele Fragen offen. Bundesregierung zugrunde, werden es bis zum Jahr Durch die Anhörung mehrerer Sachverständiger im 2010 ungefähr 100 Millionen Tonnen CO2 sein, zehn Prozent unseres Emissionsvolumens. Wer diese Ent- Umweltausschuss am 19. Mai traten etliche Mängel des wicklung bremsen möchte, wie ich das gelegentlich aus Entwurfs sehr deutlich zutage. Erster Kritikpunkt ist die den Reihen der Opposition höre, muss sich an dieser willkürliche Wahl der hohen Schwellenwerte von Stelle sagen lassen: Es wird in allen anderen Fällen teuer. 100 Gigawattstunden Stromverbrauch pro Jahr und das Die Förderung erneuerbarer Energien hat in diesem Jahr Verhältnis von Stromkosten zur Bruttowertschöpfung den bundesdeutschen Haushalt im Schnitt ein Euro pro von 20 Prozent. So sind die hohen Schwellenwerte des Monat gekostet. Eine billigere Variante für Klimaschutz Koalitionsentwurfs in jeweils etwa zehn Betrieben so- ist mir nicht bekannt. wohl der chemischen als auch der Zementindustrie der- zeit erreicht. Insgesamt dürften von der Entlastungsrege- Vielen Dank. lung nur etwa 30 bis 40 Unternehmen profitieren. Ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN frage daher: Wo bleiben da die anderen Unternehmen? sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Peter Warum muss die Grenze gerade bei 100 Gigawattstun- Paziorek [CDU/CSU]: Das war aber ein ande- den liegen? Warum muss das Verhältnis von Stromkos- res Thema! Es geht doch um die Härtefallrege- ten zu Bruttowertschöpfung ausgerechnet 20 Prozent be- lung!) tragen? Fragen, die bislang von keinem der Sachverständigen beantwortet werden konnten. Der Sachverständige Professor Leprich gibt in seiner Stel- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: lungnahme gar an, es gebe keine sachliche Rechtferti- Ich erteile der Kollegin Doris Meyer, CDU/CSU- gung für genau diese Grenzen. Fraktion, das Wort. Problematisch ist überdies noch, dass beide Voraus- setzungen kumuliert, also gleichzeitig, vorliegen müs- Doris Meyer (Tapfheim) (CDU/CSU): sen. Bei einigen kleineren Unternehmen beträgt der Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Stromkostenanteil an der Bruttowertschöpfung mehr als Damen und Herren! Zuletzt haben wir uns Ende Januar 20 Prozent; der andere Grenzwert von 100 Gigawatt- (B) in diesem Haus mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz stunden Stromverbrauch pro Jahr wird aber nicht über- (D) beschäftigt. Damals haben wir bei der Debatte zum Er- schritten. Für diese Unternehmen stellen die Stromkos- fahrungsbericht unser Augenmerk allerdings auf die ten aber doch auch eine enorme Belastung dar – oder große Novelle des EEG gerichtet. Damals sollte eine etwa nicht? umfassende Überarbeitung dieses Gesetzes in Angriff genommen werden. Damals war die Härtefallregelung, Mit der neuen Regelung hätten sie die überwälzten um die es heute geht, noch in weiter Ferne. Bundesmi- Kosten der befreiten größeren Unternehmen mitzutra- nister Trittin war komplett gegen eine Härtefallregelung. gen. Kann dies wirklich beabsichtigt sein? Wollen wir wirklich in wirtschaftlich schwierigen Zeiten Belastun- (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: So ist es!) gen von einigen Dutzend Unternehmen wegnehmen, um Heute müssen wir allerdings feststellen: Er hat einen sie sofort wieder anderen Unternehmen aufzuhalsen und völligen Sinneswandel vollzogen. diese damit zu schwächen? (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Deswegen Durch die willkürlich gewählten Schwellenwerte hat er auch gerade über ein anderes Thema ge- kommt es in der Folge zu brancheninternen Wettbe- redet!) werbsverzerrungen und Strukturveränderungen. Die Konsequenzen liegen auf der Hand. Die schlechte Kon- Wie sonst ließe sich erklären, dass der Entwurf für eine junktur am Bau zusammen mit Befreiungen für einige Härtefallregelung für die stromintensive Industrie in ge- wenige Unternehmen, beispielsweise der Zementindus- radezu überfallartiger Weise vorgelegt wurde? Zwar trie, kann die anderen, die nicht befreit sind, in den Ruin stimmt die Zielrichtung, in die dieses Vorschaltgesetz treiben. steuert. Doch die gesetzeshandwerkliche Vorgehens- weise bei der kleinen Novelle des EEG überzeugt uns als Zweiter Kritikpunkt: Juristisch klare Aussagen sind Unionsfraktion überhaupt nicht. Mangelware. Es gibt in dem Entwurf etliche Formulie- rungen, deren Definition auf Nachfrage im Umweltaus- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- schuss weder die Parlamentarische Staatssekretärin noch neten der FDP) ihre zuständigen Referenten kannten. Ich werde kurz den Ausgangspunkt für diesen Ent- wurf skizzieren. Durch den Anstieg der Stromeinspeise- (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Wohl wahr!) vergütungen kam es zu besonderen Belastungen der Sie wollten sich da erst noch schlau machen. stromintensiven Industrie; insbesondere die Aluminium-, Chemie-, Zement- und Papierindustrie sind betroffen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 4160 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

Doris Meyer (Tapfheim) (A) Wie stellt sich die im Gesetz genannte Gefährdung der tet werden? Welchen sachlich oder rechtlich zwingenden (C) Ziele des EEG dar? Wann sind die Ziele gefährdet und Grund gibt es für diese Aufgabenverteilung? wann gerade noch nicht? Will dies eine Behörde festle- Ist die Entscheidung von dieser Behörde gefällt wor- gen? Wie will man beurteilen, ob die Begrenzung der den, bleibt die Frage, wie lange sie Gültigkeit hat. Dem Kosten mit den Interessen der Gesamtheit der Stromver- Gesetzentwurf zufolge ist es ein Jahr. Das mag wie- braucher vereinbar ist? derum damit zu tun haben, dass diese Regelung noch Der ebenfalls unklare, in der Diskussion über diesen Ge- keinen endgültigen Charakter hat, sondern erst einmal setzentwurf häufig genannte Begriff der Abnahmestelle zur Probe eingeführt werden soll. bleibt ohne Inhalt. Ich frage heute noch einmal: Was ist Ich möchte aber nicht nur Kritik üben. Infolge des eine so genannte Abnahmestelle? Etwa ein Unternehmen ausgeübten Druckes wurde wenigstens ein Kritikpunkt oder doch eine Betriebsstätte? Wissen Sie das heute? Am beseitigt. Zuerst sollte das Bundesamt für Wirtschaft und vergangenen Mittwoch herrschte bei diesem Thema Ausfuhrkontrolle auch noch einen Ermessensspielraum noch großes Rätselraten. bei der Entscheidung erhalten, ob es einem Unternehmen Wie soll ein Unternehmen nachweisen, dass die Kos- die Befreiung genehmigt oder nicht. Es sollte sich um ten – so der Gesetzeswortlaut – zu einer „erheblichen eine Kannbestimmung handeln, obwohl bereits Schwel- Beeinträchtigung der Wettbewerbsfähigkeit“ des Unter- lenwerte als Voraussetzungen für eine Befreiung im Ge- nehmens führen? Haben Sie für die entscheidende Be- setz festgeschrieben waren. Entweder liegen die Voraus- hörde eine einleuchtende Erklärung? Welche messbaren setzungen vor und es besteht ein Anspruch auf Befreiung Werte können Sie nennen, anhand derer die maßgebliche oder nicht; ein Ermessensspielraum, wie er ursprünglich Beeinträchtigung der Wettbewerbsfähigkeit eines Unter- vorgesehen war, geht nicht an. Was sich die Väter dieser nehmens festgestellt werden kann? All diese Fragen sind Formulierung dabei gedacht haben, wird wohl ein Ge- noch immer offen. Die Bundesregierung trägt mit der ju- heimnis bleiben. ristisch unpräzisen Formulierung nicht zur Klärung die- (Zuruf von der SPD: Da waren auch Mütter ser Fragen bei. dabei!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zum Ende möchte ich Ihnen noch einmal das Wich- Sie lässt sich hier auf ein Experiment ein. Wie in der tigste aufzeigen: Die juristischen Unklarheiten bei die- Praxis mit den unbestimmten Rechtsbegriffen, bei- sem Gesetzentwurf werden uns noch ebenso Kopfzer- spielsweise dem der Wettbewerbsfähigkeit, umgegangen brechen bereiten wie die enormen brancheninternen werden soll, muss sich erst noch zeigen. Vermutlich Wettbewerbsverzerrungen, die durch die Härtefallrege- muss sich dieses Problems wieder eine Clearingstelle an- lung in der jetzigen Ausgestaltung hervorgerufen wer- (B) (D) nehmen – oder die Gerichte oder die Unternehmen den. Diese Wettbewerbsverzerrungen dürfen wir nicht selbst. Denn auf diese schieben Sie die Verantwortung. zulassen. Eine weitere Schieflage muss unbedingt ver- hindert werden. Als verantwortungsvolle Parlamentarier (Ulrich Kelber [SPD]: Machen Sie doch mal dürfen wir dieser Flickschusterei nicht zustimmen. einen konkreten Vorschlag! – Gegenruf des Abg. Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Haben Danke schön. wir doch gemacht! Die Nerven liegen blank!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie sollen den Nachweis ihres Stromverbrauchs und der damit verbundenen Kosten durch Testate von Wirt- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: schaftsprüfern selbst führen. Ich erteile das Wort dem Kollegen Marco Bülow, Ein Zwischenfazit: Verantwortung abgeschoben, neue SPD-Fraktion. Kosten und Belastungen und Bürokratie erzeugt. Damit bewegen wir uns weg von Deregulierung und Bürokra- Marco Bülow (SPD): tieabbau. Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kolle- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gen! Hier sehen Sie Müssen die Unternehmen nicht schon im Vorfeld die Vo- (Der Abgeordnete hält ein Schaubild hoch) raussetzungen kennen, nach denen eine maßgebliche Be- den Umriss meines Heimatlandes Nordrhein-Westfalen. einträchtigung der Wettbewerbsfähigkeit vorliegt? Müs- In dem Umriss sind 210 kleine Sonnen eingezeichnet. sen wir nicht den Unternehmen ein Stück mehr Rechts- Jede Sonne steht für zehn Betriebe im Bereich des Anla- und Planungssicherheit geben? gensystembaus für erneuerbare Energien. Es gibt also Die Planungssicherheit führt mich zum nächsten 2 100 nordrhein-westfälische Unternehmen im Bereich Stichwort. Die Prognoseentscheidung nach § 11 a Abs. 3 der erneuerbaren Energien, mit wachsender Tendenz. des Gesetzentwurfs, mit der laut Gesetzesbegründung Angesichts der angespannten Lage auf dem Arbeits- das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle ar- markt in Deutschland und Nordrhein-Westfalen ist es beiten muss, stellt doch nur einen weiteren Unsicher- umso positiver, dass die Branche der erneuerbaren Ener- heitsfaktor dar. gien in Nordrhein-Westfalen allein in den vergangenen Warum müssen die Anträge auf Befreiung durch das drei Jahren einen Arbeitsplatzzuwachs von circa 30 Pro- Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle bearbei- zent zu verzeichnen hatte. Bundesweit wurden Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4161

Marco Bülow (A) 130 000 Arbeitsplätze gesichert, 80 000 durch das Wie innovativ und wirtschaftlich die erneuerbaren (C) EEG. Energien sind, zeigt ein Vergleich zwischen der Atom- und der Windenergie. Elf Jahre nach Markteinführung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ produzierte die Windkraftbranche doppelt so viel Ener- DIE GRÜNEN) gie wie zu diesem Zeitpunkt seinerzeit die Atombranche, Wir haben allen Grund, die Debatte selbstbewusst und und das, obwohl der Atomstrom damals stärker geför- optimistisch zu führen. dert wurde als heute die Windenergie. Vergessen wir nicht, dass das EEG eigentlich ein Instrument zum Kli- (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das ist gar maschutz ist. Diese Rolle erfüllt es auch vorbildlich. nicht das Thema!) Aber es ist auch ein erfolgreiches Wirtschaftsförderungs- – Das gilt auch für die Härtefallregelung. gesetz und wird nicht umsonst von vielen Ländern in der Welt kopiert. Das EEG ist weltweit das effizienteste För- Das EEG ist sowohl klimapolitisch als auch wirt- derinstrument für umweltfreundlichen Strom. schaftspolitisch eine Erfolgsgeschichte. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE DIE GRÜNEN) GRÜNEN – Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Wieder das Thema verfehlt!) Da ich aus dem Ruhrgebiet komme, weiß ich um die Dennoch ziehen einige Politiker und Lobbyisten durch Brisanz der energieintensiven Unternehmen, deren das Land, drucksen gequält „Erneuerbare Energien? Zu- Mahnungen ernst zu nehmen sind. Damit haben wir uns kunftsvision? Schön und gut!“ und betonen vor allem, ernsthaft auseinander zu setzen, und zwar nicht nur wie schädlich das EEG für die Wirtschaft sei. Damit zer- heute, sondern auch in Zukunft. Mir liegen aber auch die reden sie eine der innovativsten Zukunftsbranchen in un- Tausenden Betriebe der Erneuerbare-Energien-Branche serem Land. Das ist wirtschaftsschädlich. Hören Sie da- am Herzen. Ich erinnere daran – deswegen ist es eine mit auf! schwierige Diskussion über Grenzen –, dass wir für je- den Betrieb, den wir entlasten, andere Betriebe und die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE Verbraucher belasten müssen. Deshalb gibt es keine ein- GRÜNEN – Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: fache Lösung für eine Härtefallregelung; denn man kann Das steht aber heute gar nicht auf der Tages- jede Grenze anzweifeln. Ich meine, unser Vorschlag ist ordnung!) eine schnelle und ausgewogene Lösung – das wurde uns – Fühlen Sie sich angesprochen von dem, was ich gerade übrigens vom Bundesrat bestätigt –; nichtsdestotrotz ausgeführt habe? müssen wir sie im nächsten Jahr anhand neuer Erkennt- (B) nisse überprüfen. (D) (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Nein, es ist nur eine Hilfestellung!) Ich appelliere an Sie: Zerreden Sie nicht eines der nachhaltigsten Projekte. Betonen Sie dagegen den Er- Schlimmer noch: Sie benutzen falsche Zahlen, über- folg, die Chancen und die Wirtschaftlichkeit der erneuer- treiben und manche lügen, ohne rot zu werden. Bei den baren Energien und des Erneuerbare-Energien-Gesetzes! Lobbyisten kann man das vielleicht noch nachvollzie- Stimmen Sie bitte unserem Gesetzentwurf zu, damit wir hen, wenn auch nicht verstehen; bei Politikern halte ich den Betroffenen schnell helfen können und damit die das für eine Frechheit. 2 100 Firmen in Nordrhein-Westfalen erst der Anfang Es ist eben nicht wahr, dass durch das EEG die Kos- sind. ten explodieren. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall. Die Danke schön. Glück auf! Kostenschere zwischen fossilen und erneuerbaren Energien wird sich schließen, und zwar aus folgenden (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Gründen: Erstens werden die fossilen Energieträger teu- DIE GRÜNEN) rer. Das ergibt sich schon daraus, dass sie endlich sind und bald zur Neige gehen. Zweitens müssen in den Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: nächsten 25 Jahren 80 Prozent des Kraftwerksparks der fossilen Energieträger erneuert werden. Drittens gibt es Das Wort hat nun die Kollegin Angelika Brunkhorst, für die erneuerbaren Energien keine Regelungen zum In- FDP-Fraktion. flationsausgleich; vielmehr sind im Gegenteil bereits Degressionsstufen eingebaut und die Förderung wird Angelika Brunkhorst (FDP): stetig weiter reduziert. Viertens finden hier Innovations- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der schübe statt, von denen andere Energieträger nur träu- Einbringung der EEG-Novelle erkennt Rot-Grün zum men können. ersten Mal an, dass das EEG unzumutbare Kostenbelas- Lassen Sie mich ein Beispiel anführen. Im Bereich tungen mit sich bringt und dass gegengesteuert werden der Windkraftenergie sind die Erzeugerpreise im gesam- muss. Das muss hier klar festgestellt werden. ten Zeitraum um 60 Prozent gesunken. Weil die erneuer- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten baren Energien immer vorhanden sind und kostenfrei zur der CDU/CSU) Verfügung stehen, werden sie effizienter und kosten- günstiger. Bereits 2006/07 wird die Höchstförderung er- Dies ist die Entlarvung der grundlegenden Schwäche reicht. Danach wird das Fördervolumen absinken. dieses Gesetzes. Es kann auf Dauer nicht funktionieren, 4162 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

Angelika Brunkhorst (A) staatliche Planzahlen mit garantierten Abnahmepreisen die pro Arbeitsplatz zu Buche schlagen, ebenfalls hoch. (C) für den Ökostrom dirigistisch durchzusetzen. Die Verzerrung des Wettbewerbs innerhalb einer Bran- che kann überhaupt keine Zustimmung finden. Man Zu der vorliegenden EEG-Novelle möchte ich Fol- muss hier wirklich noch einmal klar sagen: Wettbe- gendes sagen: Das EEG in seiner aktuellen Form wird in werbsverzerrung lässt sich nicht an der Größe eines Un- keiner Weise den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen ternehmens festmachen. Das wäre unlogisch und ist auch Erfordernissen gerecht. Um ein ideologisches Ziel zu er- unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten überhaupt nicht reichen, setzt man Scheuklappen auf. nachvollziehbar. (Ulrike Mehl [SPD]: Der Klimaschutz ist ein Für die kleinen und mittleren Unternehmen befürchte ideologisches Ziel? Das kann doch nicht wahr ich, dass dies angesichts der Kosten, die schon jetzt von sein!) ihnen getragen werden müssen – ich nenne nur die Öko- Die ständig steigenden Kosten mutet man dem einzelnen steuer –, der Tropfen sein wird, der das Fass zum Über- Bürger und den Unternehmen zu. Auf die Stellungnahme laufen bringt. Es könnte sein – ich hoffe es nicht –, dass des Bundesrates und die darin enthaltenen Änderungs- die Unternehmen darauf mit Personalabbau oder Verla- vorschläge hat Rot-Grün zuerst mit einer Absage rea- gerung der Produktion ins Ausland reagieren. giert, um dann am vergangenen Mittwoch doch noch Zu dem Entschließungsantrag der CDU/CSU-Frak- kurzfristig einige Dinge zu berücksichtigen. So wurde tion möchte ich Folgendes sagen: Wir teilen die gesam- im Sinne von Planungssicherheit in § 11 a Abs. 3 die ten Bedenken, die darin vorgetragen werden. Er ist aus Belastungsgrenze auf 0,05 Cent pro Kilowattstunde fest- unserer Sicht aber zu kurz gesprungen. Selbst wenn die gelegt. Außerdem wurde § 11 a Abs. 4 gestrichen, si- Bundesregierung auf alles das eingehen würde, bliebe es cherlich mit der ehrenwerten Absicht, bürokratischen beim Status quo, einem konzeptionell fehlgeleiteten Ge- Aufwand zu minimieren und – das ist ganz wichtig – das setz. Wir von der FDP wollen das nicht. Ermessen zu binden. Eine wirklich gute Absicht, doch aufgepasst! Das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhr- Wir haben bereits langfristig wirkende andere Lö- kontrolle bekommt nun in dem neu hinzugefügten sehr sungsvorschläge aufgezeigt. Unser Konzept zur markt- folgenschweren Nebensatz in § 11 a Abs. 1 das Ermes- wirtschaftlichen Förderung erneuerbarer Energien liegt sen wieder eingeräumt. Dort heißt es: schon lange vor. Darüber können wir weiter diskutieren. … soweit hierdurch die Ziele des Gesetzes nicht ge- Wir werden uns daher bei der Abstimmung über den fährdet werden und die Begrenzung mit den Inte- Entschließungsantrag der CDU/CSU enthalten. ressen der Gesamtheit der Stromverbraucher ver- Es erscheint mir wichtig, zum Abschluss eines zu sa- (B) einbar ist. gen, insbesondere in Richtung des Kollegen Bülow: Die (D) Das finde ich absurd. Dass sich die Ermessensregelung Errungenschaften des Erneuerbare-Energien-Gesetzes nun an anderer Stelle findet, hat nicht zur Folge, dass die werden von Rot-Grün immer als sehr glorreich geschil- sozusagen hochherrschaftlichen Befugnisse der Verwal- dert. Dass die Branche der Hersteller und Betreiber usw. tung eingeengt werden, sondern hat das Gegenteil zur wächst, will ich gar nicht infrage stellen. Folge – darüber müssen wir uns klar sein –, dass sie ver- (Beifall des Abg. Hans-Josef Fell [BÜND- stärkt werden. NIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Auch das Anwachsen der Zahl der Arbeitsplätze in die- der CDU/CSU) sem Bereich ist unbestritten. Wir reden hier über eine kleine Novelle des EEG. Da- (Zuruf von der SPD) durch werden die Fehler im Konzept des EEG insgesamt überhaupt nicht ausgebügelt, sondern in puncto Dirigis- – Moment! Auch ich freue mich über jeden zusätzlichen mus verstärkt. Arbeitsplatz in diesem Bereich, ganz klar. Ich möchte noch auf einige Kritikpunkte zu sprechen (Zuruf von der SPD: Guter Schlusssatz!) kommen, die hier schon erwähnt worden sind. Es gibt die Kappungsgrenze von 100 Gigawattstunden und die – Nein, das ist kein guter Schlusssatz. Ich muss da noch zusätzliche Voraussetzung, dass die Strombezugskosten etwas anfügen. mehr als 20 Prozent der Bruttowertschöpfung ausma- chen. Das wird nur von einer Hand voll großer Unter- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: nehmen in den stromintensiven Branchen erfüllt werden Nein, das wird leider nicht möglich sein, verehrte können. Diese Novelle – davon gehe ich aus – soll wohl Frau Kollegin. eher Symbolcharakter haben; den Mittelstand vergisst man hierbei völlig. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Weil die Redezeiten von den Fraktionen und nicht vom Präsidium festgelegt werden, sind meiner Großzügigkeit Auch unter marktwirtschaftlichen Aspekten ist es leider enge Grenzen gesetzt. sehr bedenklich, nur die Riesen einer Branche zu entlas- ten. In den kleineren Betrieben sind die Energiekosten, (Heiterkeit bei der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4163

(A) Angelika Brunkhorst (FDP): Aber ich nehme die Fragen durchaus ernst: Geht mit (C) Ich bin auch sofort am Schluss. der dynamischen Entwicklung auch eine Erhöhung der Kosten einher? – Das eben ist mitnichten so, sondern Wenn wir hier über die Schaffung von Arbeitsplätzen eine schlichte Falschaussage. Die Kosten werden per- reden, dann müssen wir einfach sehen, dass sich die nach spektivisch sinken, weil wir in das Gesetz marktwirt- dem EEG gewährten Unterstützungszahlungen pro Ar- schaftliche Anreize eingestellt haben. Die Kosten der beitsplatz – ich will hier gar nicht von Subventionen Windenergie sind in den letzten zehn Jahren um sprechen – mittlerweile denen im Steinkohlebergbau an- 50 Prozent gesunken und sie werden in den nächsten nähern, fast schon gleich hoch sind. Jahren weiter sinken. Die Kosten für Photovoltaik sind in den letzten zehn Jahren um 60 Prozent gesunken. Da- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Denken Sie an unsere gegen sieht das Gesetz eine Degression von 5 Prozent Zeit!) vor. Gibt es irgendein Gesetz, das einen dermaßen gro- Entsprechend unserem Credo sind uns Arbeitsplätze ßen Anreiz zur Entwicklung neuer Technologien ent- natürlich lieb und teuer, aber nicht um jeden Preis. hält? Ich glaube, ein solches Gesetz gibt es nicht. Das EEG ist auch ein ganz starkes Instrument zur Förderung Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. von Innovationen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der CDU/CSU) und bei der SPD) Hinzu kommt, dass die Kosten pro produzierter Ki- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: lowattstunde sinken werden. Gleichzeitig – Marco Nun hat die Kollegin Hustedt, Bündnis 90/Die Grü- Bülow hat das schon angesprochen – werden die Kosten nen, das Wort. pro produzierter Kilowattstunde im fossilen Bereich stei- gen. Das hat zwei Gründe: Perspektivisch werden die Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): fossilen Primärenergieträger teurer und – das ist für die nahe Zukunft noch viel wichtiger – es werden nicht mehr Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Nut- die Altinvestitionen, sondern die Neuinvestitionen ent- zung der erneuerbaren Energien – Sonne, Wind, Bio- scheidend sein, das heißt, dass die Kosten pro produzier- masse, Erdwärme – entwickelt sich sehr dynamisch. Der ter Kilowattstunde im fossilen Bereich in nächster Zeit Beitrag dieser Energien stieg von 6 auf 8 Prozent und ansteigen werden. Die Differenz zwischen einer Kilo- wird in naher Zukunft auf 12 Prozent steigen. Das ist wattstunde, die aus erneuerbaren Energien produziert (B) sehr erfreulich. 130 000 Arbeitsplätze – das wurde schon worden ist, und einer Kilowattstunde, die aus fossilen (D) gesagt – sind zu verzeichnen. Marco Bülow hat eine Energieträgern produziert worden ist, wird also geringer Zahl für Nordrhein-Westfalen genannt. Im Osten wurden werden. Es wird deswegen zu einem dynamischen Auf- mehr als 1 000 neue Unternehmen in diesem Bereich ge- wuchs von Strom kommen, der aus Sonne, Wind, Bio- gründet. Es handelt sich um eine dynamisch wachsende masse und Erdwärme produziert worden ist. Gleichzeitig Branche in Zeiten der Wirtschaftskrise und um ein sicht- werden die Kosten begrenzt; perspektivisch werden sie bares Zeichen dafür, dass Maßnahmen zum Klimaschutz sinken. – Das verstehe ich unter einem Zukunftsgesetz. greifen. Das sind doch wirklich positive Nachrichten. So sollte der Staat handeln: Rahmenbedingungen schaf- fen, damit in Zukunftstechnologien investiert wird, da- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit in Zukunftstechnologien Arbeitsplätze geschaffen und bei der SPD) werden, damit gleichzeitig die Kostenbelastung der Ge- Aber manchen ist das ein Dorn im Auge. Die Gegner sellschaft sinkt. nutzen auch diese Debatte zum Frontalangriff. Ich weiß, Frau Meyer, Sie gehören nicht dazu. Das ist völlig klar. Wir nehmen die Sorgen, die aus der Wirtschaft kom- Aber Sie wissen, von welchen Personen ich hier spreche. men, ernst und wir werden die Diskussion über das EEG sehr offensiv führen. Jeder, der über Kostensenkungen Darüber hinaus machen sich gerade die Vertreter der bei der Industrie spricht, aber gleichzeitig nicht darüber energieintensiven Industrie Sorgen, dass die Belastungen diskutiert, wie die Wettbewerbsintensität in diesem Be- durch die Umlage steigen, wenn sich die erneuerbaren reich erhöht werden kann, ist unglaubwürdig. Energien so positiv entwickeln. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Diejenigen, die das Instrument EEG grundsätzlich in- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) frage stellen, müssen sagen, wie man Klimaschutz sonst betreiben soll. Die erneuerbaren Energien sind eine der Der durchschnittliche Durchleitungspreis beträgt in tragenden Säulen des Klimaschutzprogramms. Zum Bei- Deutschland circa 2,6 Cent pro Kilowattstunde. Das ist spiel ist es so, dass das EEG die Hälfte der gesamten 1 Cent mehr als der europäische Durchschnitt und dop- CO2-Einsparungen bis 2005 im Bereich der Stromwirt- pelt so viel wie die Gesamtbelastung, die vom EEG aus- schaft leistet. Wer an das EEG gewissermaßen die Axt geht. anlegen will, der muss Alternativen anbieten. (Ulrich Heinrich [FDP]: Sie können doch den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einen Unsinn nicht mit dem anderen aufrech- und bei der SPD) nen!) 4164 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

Michaele Hustedt (A) Ich komme zum Schluss. Wer die Kosten bei Indus- Faktenlage ist auch – Sie haben einige Zahlen auf Ki- (C) trie und Verbrauchern senken will, der sollte in erster Li- lowattstundenbasis genannt –, dass wir im Jahre 2002 und nie nicht über das EEG, sondern über eine höhere Wett- mit steigender Tendenz im Jahre 2003 zusätzliche Belas- bewerbsintensität sprechen und gemeinsam mit uns den tungen auf Energie haben, die je nach Berechnung zwi- Staat als Schiedsrichter in diesem Bereich stärken. schen 10,7 und 12 Milliarden Euro erreichen. Dem stehen – das haben Sie richtigerweise angeführt – Liberalisie- Ich danke Ihnen. rungs- und Rationalisierungseffekte gegenüber. Die ma- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN chen aber nur 7,5 bis 8 Milliarden Euro aus. Das heißt, die und bei der SPD) Nettobelastung beträgt in der Summe – da können Sie sich noch so krümmen, dadurch wird Ihre Aussage von vorhin auch nicht richtiger – 4 Milliarden Euro. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Widerspruch des Abg. Horst Kubatschka Nun erteile ich dem Kollegen Dr. Joachim Pfeiffer, [SPD]) CDU/CSU-Fraktion, das Wort. Noch eine Anmerkung zum Thema CO2: Wir sind uns Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): doch hoffentlich einig, dass es Ziel ist, die CO2-Emissio- nen zu reduzieren. Aber auch hier sollte man vielleicht Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ein paar Effizienzkriterien mitberücksichtigen. Dies ist ren! Eigentlich geht es ja heute um eine Sachfrage, und ja nicht das Kernthema der heutigen Debatte, deswegen zwar die Ausgestaltung der Härtefallregelung. Wenn ich habe ich die Zahlen nicht hundertprozentig präsent, kann jetzt einmal Revue passieren lasse, was Sie, Herr Trittin, sie aber gerne noch einmal nachreichen. Es ist auf jeden Sie, Herr Bülow, und leider auch Sie, Frau Hustedt, in Fall so, dass zwar, wie Sie sagen, etliche Tonnen an CO2 weiten Teilen Ihrer Reden gesagt haben, dann muss ich aufgrund des verstärkten Einsatzes von erneuerbaren En- feststellen, dass Sie undifferenzierte Hallelujareden auf ergien nicht entstehen. Sie müssen aber auch fragen, wie das EEG gehalten haben und sich nicht zur Frage der viele Millionen Tonnen mehr mit dem gleichen Aufwand Ausgestaltung der Härtefallregelung geäußert haben. durch andere Maßnahmen eingespart werden könnten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Beispielsweise durch die Verbesserung der Gebäudeeffi- zienz und andere Dinge könnten noch zehnmal mehr Ich muss Ihnen daher leider attestieren: Sie haben das CO2-Emissionen eingespart werden als durch den Ein- Thema verfehlt. satz von erneuerbaren Energien. Im Übrigen haben Sie damit genau das gemacht, was (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (B) Sie angeprangert haben: Sie haben Fakten falsch darge- neten der FDP – Zurufe von der SPD) (D) stellt und die ideologischen Scheuklappen – Sie haben ja Wenn wir hier über Brosamen redeten, könnte man anderen vorgeworfen, diese aufgesetzt zu haben – nicht Ihre Argumentation nachvollziehen, müsste aber gleich- abgelegt. zeitig feststellen, dass es sich um eine Spielwiese han- (Widerspruch bei der SPD) delt, die wirtschaftspolitisch vernachlässigbar ist und über die zu sprechen sich nicht weiter lohnt. Da der Ich möchte mir deshalb erlauben, auf einige Punkte ein- Wirtschaft das Wasser aber bis zum Hals steht, spielen zugehen, die hier angesprochen worden sind, und Ihnen die Strompreise für die Unternehmen – das ist keine einfach einmal die Fakten darlegen. bloße Theorie, sondern Praxiserfahrung – bei Standort- und Investitionsentscheidungen sowie bei Verlagerungs- Wir reden über steigende Belastungen durch die Sozi- überlegungen eine Rolle. alversicherungen, durch Steuern, die schwierige Situa- tion auf dem Arbeitsmarkt und viele andere Dinge mehr. Ich nenne Ihnen einmal ein Beispiel – Sie können das Die Energiepreise, insbesondere der Strompreis, werden überprüfen; das ist Realität –: Ein kleines mittelständi- aber leider in der öffentlichen und in der politischen Dis- sches Unternehmen in der Region Stuttgart mit kussion etwas außen vor gelassen. Wir brauchen gar 400 Beschäftigten, nicht einmal aus der Aluminium- nicht drum herum zu reden: Es ist so, dass der Strom- oder Zementbranche, sondern aus der Automobilzulie- preis eine wichtige Rolle im nationalen und vor allem ferindustrie, hat nach der jüngsten Ökosteuererhöhung auch im internationalen Wettbewerb spielt. Da stimmt zum 1. Januar dieses Jahres seine Investitionsentschei- es nicht, Herr Trittin, dass, wie Sie sagen, die Strom- dung zwischen dem Standort Stuttgart und dem Standort preise insbesondere für die Industrie auf breiter Front ge- Tschechien wesentlich mit den Energiepreisen begründet sunken sind. Fakt ist, dass das in rein nationaler Sicht – ich kann es Ihnen im Detail belegen – und sich letztlich richtig ist; ich werde gleich noch auf ein paar absolute gegen den Standort Deutschland, also gegen Stuttgart Zahlen eingehen. Fakt ist aber auch, dass Deutschland entschieden. Auch solche Fakten müssen Sie bei den nach wie vor in Europa die dritthöchsten Strompreise Zahlen, die Sie in Ihren Halleluja- und Hurrareden vor- hat, unsere Strompreise also europaweit in der Spitze lie- hin genannt haben und die ich nicht im Detail bestreiten gen. Das ist Faktenlage. will, gegenrechnen, meine sehr geehrten Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – Jürgen Trittin, Bundesminis- Jetzt möchte ich versuchen, zum Thema zurückzu- ter: Das ist falsch!) kehren, nachdem Sie das Feld verlassen haben und ich Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4165

Dr. Joachim Pfeiffer (A) das so nicht stehen lassen kann. Herr Schlauch, ich weiß, Auch hinsichtlich der Effizienz, der Bürokratie und (C) Sie wissen alles besser, insbesondere von der Wirtschaft der Unklarheit des Gesetzes haben wir deutlich gemacht, verstehen Sie mehr, aber sicherlich nicht von der Wirt- dass wir als Gesetzgeber – da sind wir als Bundestag ge- schaft, von der ich rede; Sie haben Ihre Kompetenzen in fordert – diesem Murks, dieser Planwirtschaft, dieser anderen Wirtschaftsbereichen. überbordenden Bürokratie, die Sie hier vorstellen, nicht (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP – zustimmen werden. Dr. Uwe Küster [SPD]: Welche Wirtschaft (Marco Bülow [SPD]: Der Kalte Krieg ist vor- meinen Sie denn?) bei!) Kommen wir noch einmal zur Härtefallregelung. Ei- Sie werden sehen, bei der Novellierung des EEG – darü- nige Punkte sind angesprochen worden; ich will das nicht ber werden wir uns noch unterhalten – wird es wie bei wiederholen. Mit der vorgeschlagenen Härtefallregelung allen anderen Fragen, ob Hartz-Konzept oder Riester- wird leider ein bürokratisches Monstrum, das auch ord- Rente, sein: In einem halben Jahr werden wir feststellen, nungspolitisch mehr als fragwürdig ist, institutionalisiert, dass es hinten und vorne nicht funktioniert hat; das nur eine Feigenblattfunktion hat. Die Kollegin von der FDP hat es angesprochen: Wir sprechen heute erfreu- (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- licherweise zum ersten Mal darüber, dass wir die Strom- NEN]: Es funktioniert doch!) und Energiepreise senken müssen. Wir sind über das Ziel außer Bürokratie und Plan- und Staatswirtschaft ist hinausgeschossen. In den vergangenen vier Jahren haben nichts gewesen und Sie haben die Unternehmen wie- Sie immer weiter draufgesattelt. Die jetzt erfolgte Rege- derum aus dem Land getrieben. lung hat aber leider nur eine Feigenblattfunktion und wird auch nicht funktionieren. Wenn Sie einmal gute An- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – sätze verfolgen, setzen Sie diese leider immer nur Ulrike Mehl [SPD]: Haben Sie eigentlich nicht schlecht oder dilettantisch um, ob das die Riester-Rente, zugehört, Herr Kollege?) das Hartz-Konzept oder auch das EEG ist. Das Thema Wettbewerbsverzerrungen ist angespro- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: chen worden. Die Unternehmen werden sich überlegen, Ich schließe die Aussprache. wie sie die jetzige Lösung umgehen können. Ich nenne einmal ein Beispiel, wozu das führen wird. Die jetzige (Widerspruch bei der SPD) Regelung wird nur einige wenige Dutzend Unternehmen – Entschuldigung! Die Versuchung zumindest war groß, treffen. Was werden die Unternehmen zum Beispiel hin- die durch Addition von längeren Redezeiten überschrit- (B) sichtlich des Kriteriums des Anteils der Stromkosten von (D) tene Gesamtredezeit durch einen kühnen Streichungs- größer 20 Prozent an der Bruttowertschöpfung machen? versuch wieder einzuspielen. Aber ich will das nicht auf Es gibt bereits einen konkreten Fall, den auch Sie wahr- Ihrem Rücken austragen. scheinlich kennen. Sie lagern ihre Beschäftigten in eine Industriebeschäftigungsgesellschaft aus und kommen Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege durch diese intelligente Gestaltung über 20 Prozent. Die Hempelmann für die SPD-Fraktion. Frage ist noch, wie sie das mit der Abnahmestelle umset- zen; Frau Kollegin Meyer hat das angesprochen. Aber (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des ansonsten ist der Plan konkret und muss nur noch umge- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) setzt werden. Rolf Hempelmann (SPD): Das heißt, wir werden die Kreativität der Unterneh- men nicht dahin gehend fördern, wie sie ihre Produkte Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kol- innovativ voranbringen, sondern sie werden ihre Kreati- legen! Ihnen bleibt nichts erspart. Aber auch bei Ihrer Rede, vität auf die möglichst geschickte Umgehung von Rege- Herr Dr. Pfeiffer, blieb uns nichts erspart. Allerdings muss lungen richten. Das kann nicht Sinn der Übung sein. ich zugeben, dass Ihre Rede Stärken und Schwächen hatte. Sie haben schwach angefangen und anschließend Das ganze Gesetz bewirkt im Ergebnis leider das Ge- stark nachgelassen. genteil dessen, was Sie beabsichtigt haben. Sie sprechen – auch Herr Trittin hat das vorhin getan – von einer ziel- (Heiterkeit bei der SPD) genauen Lösung. Es ist aber keine zielgenaue Lösung, Ich will trotzdem versuchen, sachlich zu reagieren. weil Sie genau die, die am meisten betroffen sind, nicht entlasten. Der Kollege Marco Bülow hat wie auch einige andere Kollegen schon deutlich gemacht, welche positiven Wir- In der Summe ist es so: 100 Prozent der Wirtschaft kungen das EEG entfaltet hat, nicht nur für die Öko- steht das Wasser nicht nur bis zum Hals, sondern bis zur logie, sondern insbesondere für den Anlagenbau, für den Oberkante Unterlippe. Mit der jetzt vorgeschlagenen Export und für die Schaffung von Arbeitsplätzen bei uns Härtefallregelung werden einige Promille temporär ent- im Lande. Dem ist nichts hinzuzufügen. Das ist etwas, lastet, sodass sie nicht unmittelbar untergehen. Im Er- auf das wir durchaus stolz sein können. gebnis müssen aber die restlichen 99,9 Prozent die Mehrbelastung tragen. Wir haben also letztlich nur die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wahl zwischen Scylla und Charybdis. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 4166 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

Rolf Hempelmann (A) Wenn gesagt wird, man müsste eigentlich mehr tun, heute schon gesprochen worden ist. Dort gab es im We- (C) um die CO2-Emissionen zu reduzieren, dann muss ich sentlichen eine Botschaft, die Sie heute leider nicht wie- sagen, Herr Dr. Pfeiffer: Sie haben sicherlich Recht. Wir dergegeben haben. Alle Sachverständigen haben deut- können Ihnen mit Freude hier vermelden, dass wir die lich gesagt, dass sie in jedem Fall eine schnelle Regelung Maßnahmen, die Sie gerade beispielsweise in Sachen haben wollen. Obwohl sie an der einen oder anderen Gebäudeeffizienz eingefordert haben, bereits umgesetzt Stelle Änderungswünsche hatten, waren sie dennoch der haben. Meinung, dass diese Änderungswünsche gemessen an dem Ziel, eine schnelle Regelung zu schaffen, nachran- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gig sind. Die Experten waren daher bereit, der jetzt vor- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) liegenden Regelung zuzustimmen. Wenn Sie das aus dieser Debatte mitnehmen, dann haben wir einen gewissen Fortschritt in der Verständigung er- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zielt. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es stimmt aber auch, dass es einige Unternehmen Es gab noch eine Übereinstimmung, und zwar interes- gibt, die aufgrund der Kosten, die das EEG verursacht, santerweise zwischen Sachverständigen, die sich ansons- Probleme haben. Das haben wir dem vom Bundeswirt- ten in manchen Punkten überhaupt nicht einig waren. Es schaftsministerium vorgelegten Erfahrungsbericht ent- wurde zur Begrenzung der anteilig weitergereichten nehmen können. Ich denke, es ist angemessen, dass die Strommenge tatsächlich eine Grenze von 0,05 Cent je Politik darauf reagiert und eine entsprechende Härte- Kilowattstunde festgelegt, wie es auch der Bundesrat ge- fallregelung auf den Weg bringt. fordert hatte. Wir, die Koalitionsfraktionen, sind der For- derung der Sachverständigen entgegengekommen. Inso- Wir wissen, dass die Unternehmen durch die Kumula- fern haben wir hier den Nachweis erbracht, dass wir in tion von Wirkungen verschiedener Instrumente – sie sind der Lage sind, aus Anhörungen Lehren zu ziehen, und bereits genannt worden: Ökosteuer, KWK und eben bereit sind, Anregungen aus dem Bundesrat aufzuneh- EEG – betroffen sind. Wir haben bei den anderen Instru- men. Wir haben durch die Festlegung einer Grenze von menten bereits reagiert und wir werden das auch beim 0,05 Cent je Kilowattstunde eine Entlastung beschlos- EEG tun. Wir haben schon angekündigt, dass wir im sen. weiteren Verfahren nachjustieren werden. Die Branchen sind aufgefordert, die entsprechenden Daten und Fakten Das ist eine ganz maßgebliche Einschränkung des Er- zu liefern, damit zielgenau reagiert werden kann. Es ist messensspielraums der Prüfbehörde. Wer behauptet, heute schon richtig gesagt worden: Wenn wir an der ei- dass hiermit Bürokratie aufgebaut und Planwirtschaft nen Stelle entlasten, dann belasten wir an der anderen eingeführt wird – und was da noch alles gesagt worden (B) (D) Stelle. Es ist daher aufgrund der jetzigen Datenlage klug, ist –, ist widerlegt. Wir haben im Gegenteil ganz eindeu- eine eng gefasste Härtefallregelung zu formulieren. Wir tig dafür gesorgt, dass eine Überprüfung sehr zügig er- helfen schnell und wir helfen denen, die am härtesten be- folgen kann, nämlich in dem im Gesetz festgelegten und troffen sind. angekündigten Vierwochenzeitraum. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es ist uns der Vorwurf gemacht worden, die Schwel- len seien willkürlich und sie seien zu hoch. Zunächst Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie geht es weiter? einmal muss man sagen: Jede Schwelle – dabei ist es Ich habe es gerade angedeutet: Wir werden uns im weite- völlig egal, um welches Gesetz es sich handelt – ist letzt- ren Verlauf des Jahres mit der EEG-Novelle befassen. endlich in einem gewissen Maße willkürlich, weil sich Auch das Thema Emissionshandel steht auf der Tages- jede Schwelle begründen lässt. Eine niedrigere Schwelle ordnung. Sie wissen, dass es aus Brüssel den Entwurf ei- ist genauso zu begründen wie eine höhere. Die Begrün- ner Richtlinie zum Thema Energiebesteuerung und dung für die höhere Schwelle ist, dass mit einer sehr eng auch zur Frage von Ausnahmetatbeständen in diesem gefassten Härtefallregelung die am härtesten Betroffenen Bereich gibt. Ich denke, das wird das Anregungsmaterial entlastet werden. Eine breit angelegte Härtefallregelung sein, das wir aufnehmen werden, wenn wir im weiteren würde zu einer breiten Belastung der restlichen Betroffe- Vollzug an einer möglicherweise zu verändernden Defi- nen führen. Insofern haben wir keine willkürliche, son- nition des Begriffs „stromintensive Unternehmen“ arbei- dern eine gut begründbare Regelung geschaffen. ten werden. Möglicherweise kommen wir dazu, dies sukzessive auf die drei vorgesehenen Instrumente auszu- Wir wollen trotzdem den Versuch machen, im weite- weiten. ren Verfahren weitere betroffene Unternehmen zu erfas- sen. Ich denke dabei insbesondere an mittelständische Unsere Arbeit an einem Wettbewerbs- bzw. Regulie- Unternehmen, die besonders energieintensiv produzie- rungsrahmen – auch das ist hier angedeutet worden – ren. Ich bin ganz sicher, dass wir einen entsprechenden wird genauso entscheidend sein. Diesen wollen und Vorschlag im Rahmen der EEG-Novelle vorlegen wer- müssen wir in der zweiten Jahreshälfte vorantreiben; den. denn ab dem 1. Juli des nächsten Jahres hat auch in Deutschland der Regulierer über den Wettbewerb bei (Beifall bei der SPD) den leitungsgebundenen Energien zu wachen. In diesem Ich will nun auf die Härtefallregelung konkret einge- Bereich versprechen wir uns eine ganze Menge mehr hen. Wir haben eine Anhörung durchgeführt, über die Transparenz. Wir gehen davon aus, dass es dann zu sehr Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4167

Rolf Hempelmann (A) viel einheitlicheren Kostendefinitionen kommen wird, ist der Gesetzentwurf mit der gleichen Mehrheit der Ko- (C) wobei wir uns durchaus niedrigere Kosten und geringere alition gegen die Oppositionsfraktionen angenommen. Kostenumwälzungen im Bereich der erneuerbaren Ener- gien erhoffen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Druck- Jetzt ist eine Spreizung zu beobachten. Sie ist sogar sache 15/1147. Wer stimmt für diesen Entschließungsan- noch größer, als sie soeben vom Minister beschrieben trag? – Wer möchte dagegen stimmen? – Wer möchte worden ist. Sie liegt nämlich zwischen 0,0 und etwa sich der Stimme enthalten? – Damit ist der Antrag mehr- 0,6 Cent. Es gibt also Unternehmen, die von bestimmten heitlich abgelehnt. Versorgern gar nicht zur Kasse gebeten werden, andere, die 0,3 Cent zahlen, und wiederum andere, die circa Wir befinden uns noch immer bei Tagesordnungspunkt 0,6 Cent bezahlen. Diese Spreizung muss ein Ende ha- 22. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Druck- ben. Wir müssen dazu kommen, dass nur die tatsächli- sache 15/1121 empfiehlt der Ausschuss, den von der Bun- chen EEG-Kosten weitergewälzt werden. Das wird einen desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände- maßgeblichen Beitrag dazu leisten, im Zuge des weite- rung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes auf Drucksa- ren Aufbaus der erneuerbaren Energien in die Situation che 15/1067 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für zu kommen, dass eine Verdoppelung der erneuerbaren diese Beschlussempfehlung? – Möchte jemand dagegen Energien nicht heißt: Verdoppelung der Kosten. Dazu ist stimmen? – Möchte sich jemand der Stimme enthalten? schon einiges ausgeführt worden. – Dann ist diese Beschlussempfehlung einstimmig ange- nommen. Zum Schluss möchte ich sagen: Ich bin den Kollegen im Bundesrat für ihre konstruktive Beratung ausdrück- Ich rufe Zusatztagesordnungspunkt 12 auf: lich dankbar. Ich weiß, dass dabei mancher von denjeni- Beratung des Antrags der Abgeordneten Gernot gen, die hier sitzen, durchaus hilfreich war und dass das, Erler, Karin Kortmann, Gert Weisskirchen (Wies- was wir hier im Plenum zu hören bekommen, manchmal loch), weiterer Abgeordneter und der Fraktion nur die eine Seite der Medaille ist. Im Grunde wissen der SPD sowie der Abgeordneten Hans-Christian Sie, dass wir eine solche Härtefallregelung brauchen. Sie Ströbele, Thilo Hoppe, Volker Beck (Köln), wei- wissen, dass der Bundesrat diese Regelung durch seine terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- konstruktive Einlassung mitgestaltet hat. NISSES 90/DIE GRÜNEN Ich wünsche mir ein solches Vorgehen auch für so Für einen stärkeren UN-Einsatz im Nordosten manches andere Thema, das wir hier zu bereden haben. der Demokratischen Republik Kongo Bewährungsproben kommen genug: nicht nur, aber auch (B) in der Energiepolitik. – Drucksache 15/1144 – (D) Vielen Dank. Dazu ist interfraktionell eine Beratungszeit von einer halben Stunde vorgesehen. – Es erhebt sich dagegen kein (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Widerspruch. Dann haben wir das so vereinbart. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich erteile zunächst das Wort der Staatsministerin Kerstin Müller. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ich schließe nun tatsächlich die Aussprache zu diesem Kerstin Müller, Staatsministerin im Auswärtigen Tagesordnungspunkt und führe die angekündigten Ab- Amt: stimmungen durch. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe in den letzten neun Tagen die Region der Großen Seen Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den von besucht und in Kinshasa, Kampala und Kigali Gespräche den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grü- mit allen wichtigen politischen Repräsentanten und mit nen eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung Vertretern internationaler Organisationen geführt. Ich des Erneuerbare-Energien-Gesetzes auf Drucksache kann nur sagen: Die Lage ist dramatisch, und zwar nicht 15/810. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Re- nur in der Provinz Ituri – das ist die Provinz, aus der uns aktorsicherheit empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschluss- Bilder in den letzten Monaten erreichten –, sondern auch empfehlung auf Drucksache 15/1121, den Gesetzentwurf in der angrenzenden Region Kivu und insgesamt im in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejeni- Kongo. gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zu- stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt Nehmen wir als Beispiel Bunia. Bunia war eine Stadt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzent- mit circa 250 000 Einwohnern. Nach Angaben internatio- wurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition naler Organisationen sind es jetzt gerade einmal 20 000. gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenom- Davon befinden sich 12 000 in zwei Camps am Flugha- men. fen und in der Nähe des MONUC-Lagers. Mehrere Hun- dert Tote wurde von den MONUC-Soldaten gefunden. Dritte Beratung Allein 50 000 Menschen, so schätzt man, sind in die und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- Wälder und Nachbarregionen im Süden geflüchtet, setzentwurf zustimmen wollen, sich vom Platz zu erhe- 20 000 nach Uganda und von den übrigen weiß man es ben. – Gegenprobe! – Wer möchte sich enthalten? – Dann nicht genau. 4168 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

Staatsministerin Kerstin Müller (A) Tagtäglich erreichen uns Nachrichten von neuen Met- Fest steht für mich: Der Konflikt in Ituri und der an- (C) zeleien und Massakern aus den Nachbardörfern. Ituri grenzenden Region Kivu gefährdet den gesamten Frie- ist, so hat es einer meiner Gesprächspartner formuliert, densprozess im Kongo. Eigentlich sollte in der Woche „nur ein weiterer Schritt zur Hölle“. Es herrscht Angst, meiner Reise die nach den Vereinbarungen von Sun City dass noch mehr folgen werden. Denn im Kongo-Krieg, und Pretoria vorgesehene Übergangsregierung in Kin- Afrikas erstem Weltkrieg, sind seit 1998 mehr als shasa gebildet werden, aber die Machtverteilung und der 3 Millionen Menschen umgekommen, circa 2,2 Millio- Aufbau der gemeinsamen Armee sind weiterhin heftig nen Menschen sind auf der Flucht oder wurden vertrie- umstritten, sodass der Prozess ins Stocken geraten ist. ben. Folter, Exekutionen, Verstümmelungen, Kindersol- daten und Massenvergewaltigungen gehören zu den Damit komme ich zu einem zentralen Punkt: Wenn alltäglichen Kampfmitteln. Erst jüngst gab es wieder ei- der politische Prozess im Kongo nicht vorankommt, nen Bericht von der stellvertretenden Leiterin von wird eine noch so starke internationale Truppe wenig OCHA über eine Vergewaltigungskampagne in Kivu. ausrichten können. Deshalb muss der Einsatz vor allem Die Menschenrechte werden also systematisch missach- politisch flankiert werden. Das heißt, wir müssen allen tet und auf das Grausamste verletzt. Akteuren unsere Erwartung, dass die vereinbarten Friedensabkommen endlich umgesetzt werden, deut- Die internationale Gemeinschaft kann diesem Morden lich machen. nicht länger zusehen. Ich habe deshalb den Präsidenten Kabila, Museveni (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Kagame die eindeutige Botschaft überbracht, dass und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Deutschland und Europa von ihnen die rasche und voll- CDU/CSU und der FDP) ständige Umsetzung der Vereinbarungen von Sun City, Wir tragen eine Verantwortung für die Durchsetzung der Pretoria und Luanda erwarten, nur so können sie zu die- Menschenrechte. Deshalb ist es richtig, dass der Sicher- sem Friedensprozess konstruktiv beitragen. heitsrat der Vereinten Nationen nun so schnell wie möglich eine multinationale Truppe, und zwar mit einem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, robusten Mandat, nach Ituri, nach Bunia entsendet. bei der SPD und der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich bin fest davon überzeugt: Wenn es gelänge, in Kin- sowie bei Abgeordneten der SPD) shasa als ersten Schritt eine Übergangsregierung unter Beteiligung der maßgeblichen politischen Kräfte zu bil- Deshalb ist es auch richtig, dass Deutschland diesen den, wäre dies ein entscheidender Schritt auf dem langen (B) Einsatz im Rahmen seiner Möglichkeiten unterstützt. Weg zur Beilegung dieses furchtbaren Konfliktes. (D) Wir denken dabei vor allem an medizinische und logisti- sche Hilfen. Ich würde mich sehr freuen, meine Damen Hinzu kommt, dass wir wissen, dass in Ituri, aber und Herren von der CDU/CSU und FDP, wenn dieses auch in anderen Gebieten Ostkongos, die Nachbarstaaten deutsche Angebot die Zustimmung aller Fraktionen in Uganda und Ruanda Milizen, oft sogar Kindersoldaten, diesem Hause finden würde. Ich glaube, den Einsatz der ausrüsten und militärisch unterstützen. Auch die Regie- Vereinten Nationen zu unterstützen, ist das Mindeste, rung in Kinshasa setzt auf bewaffnete Gruppierungen, was wir tun können. um ihre Interessen durchzusetzen. Sie stehen unter dem Verdacht, einen Stellvertreterkrieg um die Ausbeutung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN von Ressourcen im Ostkongo auszutragen. Daher habe und bei der SPD) ich deutlich gemacht, dass wir erwarten, dass Uganda und Ruanda ihre Unterstützung der Milizen aufgeben. Eines kann ich Ihnen aus meinen Gesprächen versi- chern: Die Regierungen in Kinshasa, Kampala und Ki- gali begrüßen die Einsatztruppe und vor allem die Tatsa- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: che, dass sie zu einem großen Teil von Europäern im Rahmen einer ESVP-Operation gestellt wird. Frau Staatsministerin, ich möchte Sie nur darauf auf- merksam machen, dass die gemeldete Redezeit abgelau- Manche wenden ein, das Mandat der Truppe sei an- fen ist. gesichts der Dimension des Konflikts zeitlich und räum- lich viel zu begrenzt. Ich glaube nach meiner Reise und den vielen Gesprächen, die ich geführt habe, dass dieses Kerstin Müller, Staatsministerin im Auswärtigen Signal der Entschlossenheit der internationalen Gemein- Amt: schaft weit über die Grenzen von Ituri hinaus in der Re- Ich bin gleich fertig. Ich denke, es ist von Interesse, gion verstanden werden wird. Wir zeigen damit: Wir den Bericht zu hören. sind entschlossen, wir werden handeln und lassen nicht zu, dass weiter gemordet und Gewalt ausgeübt wird. Ich bin ziemlich zuversichtlich, dass dieses Signal verstan- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: den werden wird. Daran habe ich keinen Zweifel, aber da Sie die stren- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen Anrechnungsvorschriften kennen, wollte ich vermei- und bei der SPD) den, dass hinterher ein fehlender Hinweis moniert wird. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4169

(A) Kerstin Müller, Staatsministerin im Auswärtigen grenzten militärischen und finanziellen Möglichkeiten (C) Amt: Rechnung tragen. Wir können deshalb als Deutsche bei Ich denke, der Bericht ist für alle Fraktionen von Inte- dieser Mission keine tragende Rolle übernehmen. resse. Ich war aus Krankheitsgründen vorgestern leider (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne nicht in der Lage, zur Ausschusssitzung zu kommen, Kastner) was ich gerne gemacht hätte. Ich hoffe deshalb, meinen Bericht noch schnell beenden zu können. Wir können nicht überall auf der Welt, wo es Krisen, Konflikte und Kriege gibt, an vorderster Front tätig wer- Wegen der regionalen Verflechtung kann nur eine Ge- den. Wenn wir für Zurückhaltung bei diesem weiteren samtlösung dauerhaften Frieden bringen. Daher könnte Engagement deutscher Soldaten plädieren, dann ge- nach Bildung einer Übergangsregierung im Kongo auf schieht das nicht aus moralischer Gleichgültigkeit ge- einer regionalen Konferenz für Frieden und Demokra- genüber den von Frau Müller beschriebenen Gräueln, tie über die Zukunft der Region der Großen Seen beraten sondern aus Einsicht in die Grenzen unserer Möglichkei- werden. ten. Deshalb und aus unserer Fürsorgepflicht für unsere Meine Damen und Herren, wir müssen im Kongo Soldaten und deren Familien haben CDU und CSU von nicht nur humanitäre Hilfe leisten und mit einer interna- Beginn an klar gemacht: Es wird keine deutschen tionalen Truppe das Morden in Bunia stoppen. Wir müs- Kampftruppen, auch keine Fallschirmjäger, im Kongo sen uns intensiv bei den Konfliktparteien dafür einset- geben. zen, dass der politische Prozess vorankommt. Dabei (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) müssen wir uns eng mit den europäischen und internatio- nalen Partnern abstimmen. Vor allem aber müssen wir Wir sind froh darüber, dass der Verteidigungsminister dafür sorgen, dass die Menschenrechte wieder geachtet inzwischen klargestellt hat, dass sich die Unterstützungs- werden. maßnahmen für die EU-Militärmission auf logistische Unterstützung, Transportleistungen und ein MEDEVAC- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Hospitalflugzeug für Notfälle konzentrieren. Es wird sowie bei Abgeordneten der SPD) keine deutschen Soldaten im Kongo geben. Wir müssen dem in der Region weit verbreiteten Ein- Meine Kollegen Christian Ruck, Christian Schmidt druck entgegenwirken, Afrika sei ein von uns, von den und ich hatten bereits in der vergangenen Woche eine Europäern, vergessener Kontinent. Wir müssen den Afri- solche Beschränkung des deutschen Engagements vor- kanern helfen, ihre Probleme künftig selbst anzupacken geschlagen. Wir warnen ausdrücklich davor, in den und für ihre Sicherheit selbst zu sorgen. nächsten Tagen weitere Verpflichtungen einzugehen. (B) (D) Heute wird im Kongo das Recht durch Gewalt ersetzt. Wir werden in der übernächsten Woche über ein Sorgen wir gemeinsam mit den internationalen, den eu- Mandat für die Kongo-Mission entscheiden. CDU und ropäischen und afrikanischen Partnern dafür, dass das CSU stehen den entsprechenden Vorschlägen der Bun- Recht wieder die Schwachen schützt. desregierung, soweit sie sich in diesem Rahmen halten, aufgeschlossen gegenüber. Aber wir haben einige klare Vielen Dank. Fragen, deren Beantwortung wir bis dahin von der Bun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN desregierung erwarten: und bei der SPD) Erstens. Sind die vorgesehenen 1 400 Soldaten wirk- lich in der Lage, dort Frieden zu schaffen? Die französi- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: sche Verteidigungsministerin hat heute von einer über- Nun erteile ich dem Kollegen Friedbert Pflüger, aus schwierigen und gefährlichen Mission gesprochen. CDU/CSU-Fraktion, das Wort. Schon der Name der Operation, „Operation Mamba“, verheißt wenig Gutes. Darf ich einfach die Frage an Sie richten, ob man diesen Namen noch verändern kann? Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst Die Start- und Landebahnen des Flughafens Bunia in einmal wünsche ich Ihnen, Frau Staatsministerin Müller, Ituri sind in einem denkbar schlechten Zustand. Material gute Besserung. Sie sind aus dem Kongo mit einer und Soldaten können nur nach und nach in das Land Krankheit zurückgekommen und wir wünschen Ihnen transportiert werden. Wegen des Regens können in Bu- rasche Genesung. nia keine Panzer patrouillieren. Schweres Material ist aber notwendig, weil der Friedenstruppe zahlenmäßig (Beifall – Kerstin Müller, Staatsministerin: überlegene und schwer bewaffnete Kämpfer gegenüber Danke!) stehen, unter anderem – ich zitiere die französische Mi- nisterin – „junge, unter Drogen stehende, völlig unkon- Liebe Kolleginnen und Kollegen, die EU hat auf- trollierbare Milizen“ mit moderner Ausrüstung, zum grund eines Mandates der Vereinten Nationen beschlos- Beispiel mit Boden-Luft-Raketen. sen, 1 400 Soldaten in die Provinz Ituri zu entsenden, um einen drohenden Völkermord zu verhindern. CDU Das Mandat soll auf die Stadt Bunia konzentriert wer- und CSU werden sich der aus diesem Beschluss folgen- den. Stefan Mair, der Experte der Stiftung Wissenschaft den Verantwortung nicht entziehen. Deutschland muss und Politik, hält die Begrenzung des Einsatzgebietes auf aber bei einer Unterstützung der EU-Mission seinen be- die Stadt für problematisch. Massaker außerhalb Bunias 4170 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

Dr. Friedbert Pflüger (A) und eventuell Flüchtlingsströme in die Stadt wären die Bundesregierung sollte uns ehrlich sagen, ob sie das (C) Folge. Ich finde, wir müssen solche Fragen klären, bevor glaubt. Selbst wenn eine Stabilisierung gelänge, was wir zustimmen. passiert nach dem 1. September, wenn Blauhelme aus Bangladesch wieder Verantwortung tragen sollen? Geht Zweitens. Wir sind unseren französischen Freunden dann wieder alles von vorne los? Was ist die mittelfris- dankbar, dass sie bereit sind, die tragende Rolle bei die- tige Erfolgschance? Was ist die politische Perspektive? ser Friedensmission zu übernehmen. Aber es muss auch Was ist die Exit-Strategie, das heißt, gibt es die Möglich- erlaubt sein, ohne jedes Vorurteil die Frage zu stellen, ob keit, aus dem Konflikt herauszukommen, in dem man Frankreich als Friedensstifter von allen Konfliktparteien sich engagiert? Oder werden wir auf ewig in diesen Kon- anerkannt ist. Oder unterstellt man in der Region Frank- flikt hineingezogen? reich nicht automatisch machtpolitische Eigeninteres- sen? Stefan Mair von der SWP sagt, es sei das domi- nante Motiv französischer Afrikapolitik, seine Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Bedeutung als weltpolitischer Akteur zu stützen. Es sei Herr Kollege Pflüger, denken Sie bitte an Ihre Rede- zu vermuten, dass die Auseinandersetzung mit den USA zeit. über den Irakkrieg zu einer Renaissance dieser alten französischen Motivation geführt habe. – Wie gesagt, Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): das sind keine Vorurteile, sondern Fragen, die zu klären sind. Ich komme zum Schluss. – CDU und CSU erwarten die Beantwortung dieser Fragen. Ich darf noch einmal Drittens. Nach der bisherigen Planung soll der EU- sagen: Der Verantwortung, die aus dem EU-Mandat für Einsatz ohne Rückgriff auf NATO-Strukturen erfolgen. uns alle erwächst, werden wir uns nicht entziehen. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ schreibt dazu heute: (Beifall bei der CDU/CSU) Frankreich hofft damit auch dem politischen Ziel Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: näher zu kommen, autonome EU-Einsätze ohne die Nato zur Selbstverständlichkeit werden zu lassen. Nächster Redner ist der Kollege Gert Weisskirchen, SPD-Fraktion. Entspricht das der bisherigen deutschen Politik? Ist das unser Interesse? Bisher war es doch unsere Politik – so ist das noch auf der Webseite des Auswärtigen Am- Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): tes nachzulesen –, dass es vor dem Einsatz militärischer Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin! Mittel zunächst Sache der NATO ist, zu entscheiden, ob Lieber Kollege Pflüger, Sie haben die Fragen richtig ge- (B) (D) sie eine militärische Operation einleiten will oder nicht. stellt. Jetzt muss es aber darauf ankommen, dass wir Erst wenn die NATO als Ganzes nicht bereit ist, sich in Antworten geben und dass wir deutlich machen – ich bin einem Konflikt zu engagieren, soll die Europäische Si- für Ihren Schlusssatz dankbar –, dass wir die Menschen cherheits- und Verteidigungspolitik gefragt werden. War im Kongo nicht alleine lassen. Das ist die zentrale Bot- es wirklich klug, dem französischen Drängen nachzuge- schaft, die heute von dieser Debatte ausgehen muss. ben, in jedem Fall eine reine isolierte EU-Operation Denn das Herz Afrikas blutet. durchzuführen? Hätte sich nicht wenigstens einmal der (Ulrich Heinrich [FDP]: Genau!) NATO-Rat mit diesem Einsatz befassen sollen? Ist das in der Vereinbarung Berlin Plus zwischen NATO und EU Natürlich müssen wir uns fragen, welche Möglichkei- nicht so vorgesehen? Der NATO-Rat hat bisher nicht ten und welche operativen Fähigkeiten wir haben. Es ist darüber befunden. völlig richtig, darauf eine vernünftige Antwort zu verlan- gen. Das Problem wurde richtig beschrieben. Ich glaube, Selbst wenn die NATO nicht als Ganzes bereit wäre, wir können uns dieser Verantwortung nicht einfach ent- einzugreifen, warum nimmt man für diese Operation ziehen. Wie könnten wir das gegenüber den Menschen, nicht wenigstens die Fähigkeiten und Möglichkeiten der die in der Stadt Bunia und in der Region Hoffnung äu- NATO, etwa das NATO-Hauptquartier, in Anspruch? ßern und Fragen stellen, die uns erreichen und die wir Meine Sorge ist: Wir als EU überheben uns in diesem beantworten müssen? Ich glaube, dass wir gar nicht an- schwierigen Konflikt. Werden wir als Deutsche und Eu- ders können, als darauf die klare und eindeutige Antwort ropäer nicht in einen afrikanischen Konflikt hineingezo- zu geben: Ja, wir wollen innerhalb unserer operativen gen? Wäre es nicht unsere Aufgabe, die bisherige Si- Fähigkeiten helfen. Diese Antwort muss heute gegeben cherheitspolitik, die die europäische Verteidigung als werden. Säule, nicht aber als Gegengewicht zu den Amerikanern verstanden hat, zu stärken? Ich bin dankbar dafür, dass die Bundesregierung in Brüssel mitgeholfen hat, dass diese Entscheidung in der (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Europäischen Union getroffen worden ist. Lieber Herr Kastner) Dr. Pflüger, den Begriff, den Sie hier genannt haben, habe Meine letzte, die vierte Frage. Das Mandat der UNO ich heute zum ersten Mal gehört. Soweit mir bekannt ist, ist bis zum 1. September begrenzt. Vor Mitte Juli wird hat die Präsidentschaft der EU den Vorschlag gemacht, die Operation Mamba aber kaum voll einsatzfähig sein. eine Mission mit dem Namen „Artemis“ zu entsenden. Ist es realistisch, in weniger als zwei Monaten Frieden Das hat etwas mit der klassischen griechischen Philoso- schaffen und Kindersoldaten entwaffnen zu wollen? Die phie und mit einer Göttin zu tun, die eine doppelte Bedeu- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4171

Gert Weisskirchen (Wiesloch) (A) tung hat. Ein Teil dieser doppelten Bedeutung betrifft die aufbauen können. Deshalb ist es jetzt erforderlich, den (C) Rettung und den Willen, mitzuhelfen, dass die Menschen Menschen die Sicherheit zu geben, die sie dringend be- in diesem geschundenen Land, in der Demokratischen nötigen. Republik Kongo, eine wirkliche Chance haben. Erinnern Sie sich alle bitte daran, was wir selbst Lieber Kollege Dr. Pflüger, ich bitte Sie: Verdunkeln durchgemacht haben. 1995 kam es in Jugoslawien zu wir unsere Bereitschaft, den Menschen zu helfen, nicht der furchtbaren Situation, dass Soldaten aus Holland mit allzu vielen – berechtigten – Fragen. Diese Fragen – sie mussten einem nur begrenzten und, wie man im werden wir im Auswärtigen Ausschuss und im Verteidi- Nachhinein erkennen musste, falschen Mandat folgen – gungsausschuss behandeln. Seien Sie sich sicher: Auf- einfach fassungslos vor der fürchterlichen Tragödie des grund der begrenzten operativen Fähigkeiten, von de- Abschlachtens von Tausenden von Moslems standen. nen wir von der Bundesregierung gehört haben, ist es Damit sich diese fürchterliche Tragödie nicht wieder- klar und eindeutig, dass wir die Bundeswehr und diejeni- holt, damit ein solches Massaker von vornherein verhin- gen, die sich an dieser Mission beteiligen, nicht in Ge- dert wird, brauchen wir ein robustes Mandat. Es ist die fahr bringen werden. Wir wissen, in welche ungeheuren, Aufgabe der Europäer, den Afrikanern jetzt zu helfen, ungewissen, ja chaotischen Situationen wir sie entsenden lieber Kollege Pflüger. könnten. Diese müssen in erster Linie diejenigen bewäl- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tigen, die Kenntnisse vor Ort haben, die wissen, wie man des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) solche chaotischen Räume beherrschen und kontrollie- ren kann und die ihren Beitrag dazu leisten können, dass Wenn es dafür eine Möglichkeit gibt, dann möchte ich diese so geschundene Region die Chance zur Stabilisie- darum bitten, dass sich die zuständigen Minister auch in rung hat. Brüssel überlegen, inwiefern es gelingen kann, Assets der NATO dort, wo es sinnvoll, notwendig und möglich Wir werden uns an einem solchen Mandat beteiligen, ist, einzubeziehen. Ich finde, wir sollten in diesem Punkt und zwar nicht allein deshalb, weil die Vereinten Natio- offen und flexibel an diese Probleme herangehen. Wir nen das einstimmig beschlossen haben oder weil es die dürfen uns ideologisch nicht auf das fixieren, was sich internationale Staatengemeinschaft von uns geradezu irgendwer dazu erdacht hat. Es kommt darauf an, alle verlangt, sondern deshalb, weil wir Europäer eine Ver- praktischen Möglichkeiten und Fähigkeiten zu nutzen, antwortung gegenüber unserem Nachbarkontinent ha- damit das Herz Afrikas aufhört zu bluten und die Men- ben. schen eine Chance haben, ihr Leben selber in die Hand (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zu nehmen. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (B) (D) Afrika darf nicht aus unserem Blickfeld geraten. Die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Menschen in Afrika sollen wissen: Sie sind unsere Nach- barn. Wir müssen ihnen helfen, auf dem guten Weg wei- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ter zu gehen, der sich in vielen Regionen Afrikas schon Nächster Redner ist der Kollege Ulrich Heinrich, abzeichnet. FDP-Fraktion. Es gibt aber nicht nur das Zentrum, das ins Chaos fällt und sich in großer Gefahr befindet, der Gewaltspirale Ulrich Heinrich (FDP): noch stärker ausgesetzt zu werden. Nein, es gibt auch Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen sehr viele ermutigende Anzeichen in vielen anderen und Kollegen! Frau Staatsministerin, ich bedanke mich Staaten Afrikas. Wir helfen diesen Staaten, ihre Zivil- ausdrücklich für Ihren Vortrag, mit dem Sie uns darüber gesellschaften aufzubauen. Wir unterstützen gutes Re- informiert haben, wie die Situation vor Ort ist. Die Tat- gierungshandeln und helfen mit, dass diese Staaten ent- sache, dass Sie heute zu diesem Thema gesprochen ha- schuldet werden; denn die Schuldenlast drückt auf ihre ben, unterstreicht die Wichtigkeit dieses Themas. Perspektive. Durch sie werden ihre Chancen unter- drückt, eine Demokratie zu entwickeln und von unten Lassen Sie mich zu Anfang sagen: Ich hätte gerne zu- her neue zivilgesellschaftliche Strukturen aufzubauen. sammen mit den anderen Fraktionen einen gemeinsamen Antrag formuliert. Leider Gottes ist dieser nicht zustande Seit 1999, seit der Kölner Entschuldungsinitiative, gekommen. Aber an uns hat es nicht gelegen. Wir wer- haben wir mitgeholfen, dass sich Demokratien in Afrika den die Debatte aber in diesem Sinne weiterführen. Wir entwickeln können. Dafür gibt es gute Beispiele: Neh- begrüßen es ausdrücklich, dass der UN-Sicherheitsrat men Sie Mali, Mosambik und schließlich Kenia. am Freitag vergangener Woche die Entsendung einer in- (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Ruanda!) ternationalen Friedenstruppe in die Demokratische Re- publik Kongo einstimmig beschlossen hat. Auch begrü- Hier zeigt sich, dass diese Chance von den Afrikanern ßen wir, dass der EU-Ministerrat gestern das Gleiche selbst in die Hand genommen wird. Um genau das geht gemacht hat. Aus Zeitgründen – mir bleiben nur noch es uns. knapp drei Minuten Redezeit – möchte ich auf die Mili- (Beifall bei der SPD) tär- und Außenpolitik nicht eingehen. Ich verweise auf die gestrige Erklärung von , als in der Wir wollen mithelfen, dass die Menschen selbst handeln NATO-Debatte die Frage einer deutschen Beteiligung und demokratische Strukturen von innen und unten her angesprochen worden ist. 4172 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

Ulrich Heinrich (A) Ich als Entwicklungspolitiker möchte einen anderen Herzlichen Dank. (C) Blickwinkel darstellen. Ich begrüße es ausdrücklich, dass (Beifall bei der FDP) die Delegation des UN-Sicherheitsrates nach Kinshasa reisen wird, um zu versuchen, dort eine Übergangsregie- rung zu installieren. Dies hätte schon längst stattfinden Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sollen. Es ist erfreulich, dass dies von der höchsten UN- Die nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine Ebene erneut angepackt wird. Der UN-Sicherheitsrat ist Lötzsch, fraktionslos. in den letzten Jahren dreimal mit einer Delegation in diese Region gereist. Wir als Deutscher Bundestag müssen die- Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): ses Unternehmen unterstützen. Wir hoffen natürlich, dass diese Delegation erfolgreich sein wird. Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste! Seit einigen Tagen lesen wir Dies alles gibt Hoffnung, dass sich die schrecklichen in der Presse verschiedene Variationen darüber, wie die Ereignisse in Ruanda und Uganda, der Völkermord, deutsche Bundeswehr im Kongo eingesetzt werden nicht wiederholen. Damals versäumte es die internatio- könnte. Nun haben wir einen Antrag auf dem Tisch lie- nale Gemeinschaft, rechtzeitig einzugreifen. Der Geno- gen, der sich sehr ausführlich mit der Situation im zid wurde tragischerweise nicht verhindert. Deshalb Kongo befasst, sehr ausführlich über humanitäre Maß- muss die Völkergemeinschaft heute handeln. Noch ist nahmen schreibt, aber an der entscheidenden Frage un- Zeit, eine große Katastrophe und massenhaftes Blutver- deutlich und offen bleibt. gießen zu verhindern. Die Frage, die zuerst zu stellen und nicht beantwortet Besonders dramatisch ist die Situation in der Region ist, lautet: Warum hat die Staatengemeinschaft jahrelang an den Großen Seen in Afrika wegen der fehlenden Au- dem Morden im Kongo zugesehen und warum wird jetzt torität des Staates, insbesondere im Osten Kongos. Es die Initiative ergriffen? Die zweite Frage leitet sich aus gibt keine Infrastruktur. Die zivile Bevölkerung wird mit der kürzesten Formulierung im Antrag ab, wo es heißt dem Notwendigsten nur schlecht versorgt. Die Gesund- – ich zitiere: „entsprechend den deutschen Möglichkei- heitsversorgung ist mangelhaft. Die Menschen hungern. ten Hilfe für die Interims-Eingreiftruppe und für Seuchen wie Malaria und Aids breiten sich ungehindert MONUC zuzusagen;“. Diese Formulierung lässt alles aus. Am schlimmsten sind die Kinder betroffen. Viele offen und sagt uns nicht, worum es eigentlich geht. von ihnen sind aufgrund von Mord, Totschlag und Aids schon als Kleinkinder zu Waisen geworden. Im Osten Ich finde es nicht redlich, in einer Debatte zum Kongo Kongos gibt es nach Angaben der Welthungerhilfe die Fakten nicht klar auf den Tisch zu legen. Stattdessen 10 000 Kindersoldaten. Wir müssen alles tun, um diesen erfahren wir aus den Medien, dass im Kabinett dann und (D) (B) Kindern wieder eine Zukunft zu geben. dann dieses und jenes entschieden wird. Andere haben schon interne Absprachen getroffen. Warum schreiben (Beifall im ganzen Hause) Sie nicht klar auf, was Sie wollen? Warum tragen Sie die Entscheidung nicht ins Parlament? Warum geben Sie Die GTZ und die KfW haben in Projekten in Sierra Entscheidungen über Presseerklärungen bekannt? Leone sehr gute Ergebnisse bei der Wiedereingliederung von ehemaligen Kindersoldaten erzielt. Diesem Thema ( [BÜNDNIS 90/DIE müssen wir uns heute zuwenden. Diese Erfahrungen kön- GRÜNEN]: Kommt noch! – nen und müssen jetzt sofort im Kongo genutzt werden. [SPD]: Weil die Entwicklung dort noch läuft! Der Diskussionsprozess ist noch im Gang!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: – Das ist klar. Die Entwicklung läuft und der Diskussi- Herr Kollege Heinrich, schauen Sie bitte einmal auf onsprozess läuft, aber über die Medien und in Presse- die Uhr vor Ihnen. konferenzen werden schon Zahlen verbreitet und Tatsa- chen bekannt gegeben. Ulrich Heinrich (FDP): (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE Es reicht nicht aus, wenn die Koalition für den Herbst GRÜNEN]: Im Ausschuss auch!) ein Demobilisierungs- und Wiedereingliederungspro- Heute wird eine Debatte angesetzt, in der die entschei- gramm erwartet. Wir wollen heute konkrete Aussagen dende Frage nicht klar und deutlich genannt wird. Das dazu hören, dass diese Bundesregierung und die Koali- kritisieren wir. Wir fordern, dass die Parlamentarierinnen tion bereit sind, parallel zur Entwaffnung der Kindersol- und Parlamentarier Angaben auf den Tisch bekommen, daten ihre Aufgaben in diesem Sinne tatsächlich wahrzu- aufgrund derer sie verantwortungsbewusst entscheiden nehmen. können. Wir wollen uns nicht auf Pressespekulationen (Beifall bei der FDP) verlassen müssen. Ich hätte noch einige gute Anregungen geben wollen, (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) aber leider Gottes ist mir das aufgrund der Zeit verwehrt. Wichtig ist, dass den Menschen im Kongo schnell ge- Drei Minuten in einer so wichtigen Frage sind eben doch holfen wird. Wichtig ist, dass der Deutsche Bundestag zu wenig. klare Entscheidungen treffen kann. Ich finde an diesem ( [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Antrag besonders kritikwürdig, dass er sich zu vielen GRÜNEN]: Sechs Minuten!) richtigen Fragen mit wichtigen Argumenten äußert, aber Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4173

Dr. Gesine Lötzsch (A) bei der entscheidenden Frage offen, unklar und undeut- Stellung genommen, obwohl die Fakten aus dem Länder- (C) lich bleibt. Das sollten Sie sehr schnell ändern. bericht des Ministeriums bekannt waren. Wir mussten versuchen, uns per E-Mail Informationen von kirch- Danke schön. lichen Organisationen und Menschenrechtsorganisa- (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos] – tionen zu beschaffen. Rudolf Bindig [SPD]: Ihre Rede blieb auch Für mich ist es nicht zu verstehen, dass in der Regie- unklar am entscheidenen Punkt!) rungserklärung die Chance, die Öffentlichkeit über die Zielsetzung der Bundesregierung in dieser Frage zu in- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: formieren, nicht genutzt wurde. Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege (Beifall des Abg. Dr. Friedbert Pflüger [CDU/ Hartwig Fischer, CDU/CSU-Fraktion. CSU]) Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): Ich danke den Medien, die das Thema Kongo aufgegrif- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und fen haben, als wir sie nach dieser Regierungserklärung Herren! „Im Kongo verblutet auch die Glaubwürdigkeit mit unseren Informationen versorgt haben. der Weltorganisation“, so titelte der „Rheinische Mer- Sie, Frau Ministerin, haben erst am 20. Mai zum ers- kur“. „Kindersoldaten machen Jagd auf Menschen“, so ten Mal öffentlich Stellung genommen. Dann ging es berichtet Kurt Pelda als Korrespondent aus Bunia. Die plötzlich los: Das Verteidigungsministerium, Ihr Minis- Blauhelme sind nur Beobachter. terium und das Auswärtige Amt haben das Thema aufge- Seit Dezember 2002 und Januar 2003 wissen wir, griffen. Dann wurde Frau Müller in einer hektischen Ak- dass ein Machtvakuum durch den Rückzug von Uganda tion nach Kinshasa geschickt. und Ruanda entsteht. Dieses Machtvakuum hat in Bunia Wir hatten, wie gesagt, schon einen Antrag einge- und Drodro in der Region Ituri zu Übergriffen, Massa- bracht. Ich sage dem entwicklungspolitischen Sprecher kern, Vertreibungen, Flucht, Vergewaltigungen und stän- der Grünen: Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie auf uns zu- diger Gewalt geführt. Es gibt Tausende vagabundierende gegangen sind. Wir hätten mit diesem Antrag zu einer Kindersoldaten. Circa ein Drittel der Armee besteht aus Einigung kommen können. Kindersoldaten. (Kerstin Müller, Staatsministerin: Es waren Ihre Im März sind die Berichte immer grausamer gewor- eigenen Leute, die das blockiert haben!) den. Ich habe am 31. März beim Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung den Wir waren uns in diesem Thema schon sehr nahe. Man (B) (D) Länderbericht Kongo angefordert. Am 3. und 4. April hätte auch einen Sprung machen können. Ich hätte mir haben nach Berichten der „Neuen Zürcher Zeitung“ und gewünscht, Herr Hoppe, dass Sie sich insofern hätten der „taz“ die Massaker von Bunia und Drodro stattge- durchsetzen können. Das wäre der Sache dienlich gewe- funden. sen. In der ersten Aprilwoche habe ich den Länderbericht (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE erhalten. Ich zitiere aus diesem Bericht: GRÜNEN]: Sie haben sich verweigert!) Die Gründe für diesen von der internationalen Öf- In Ihrem Antrag haben Sie einen großen Teil unseres fentlichkeit nur wenig beachteten Krieg sind kom- Antrags wörtlich übernommen. plex. Im Kern dreht sich der Konflikt um die politi- Lassen Sie mich kurz darauf zu sprechen kommen, sche Herrschaft im Land und die Kontrolle über die was Sie, Frau Staatssekretärin Eid, in der vorigen Ple- enormen Rohstoffe. Die Konflikte in Ruanda und narsitzung in einer Kurzintervention ausgeführt haben. Burundi wirken in die Demokratische Republik Frau Eid, ich bin der festen Überzeugung, dass Sie die Kongo hinein … Derzeit konzentrieren sich die Afrikapolitik mit Herz und Verstand betreiben. Aber ich Kämpfe mit schwersten Menschenrechtsverletzun- habe – auch nach der Regierungserklärung – den Ein- gen, Massenhinrichtungen, systematischen Verge- druck, dass Sie nicht das Ohr Ihrer Ministerin haben. waltigungen, Vertreibungen und Plünderungen auf Denn dann wäre die Regierungserklärung anders ausge- die im Nord-Kivu gelegene Region Ituri. fallen. Ich habe auch den Eindruck, dass der Kanzler, Frau Staatsministerin, herzlichen Dank für die Infor- dessen G-8-Beauftragte für Afrika Sie sind, Sie im Re- mationen, die Sie uns mit der Schilderung Ihrer persönli- gen stehen lassen hat. chen Erlebnisse gegeben haben. Aber wir haben bereits (Beifall des Abg. Dr. Friedbert Pflüger [CDU/ am 8. Mai im Bundestag eine entwicklungspolitische CSU]) Debatte geführt, für die wir am 6. Mai einen Antrag vor- gelegt haben, der sich mit genau diesen Themen befasst Wenn Sie es ernst meinen, dann können Sie unserem hat. Antrag, der noch in der parlamentarischen Beratung ist, in der nächsten Plenarwoche zustimmen. (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Ich danke Ihnen. Aber die Ministerin hat in ihrer gesamten Regierungser- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. klärung mit keinem einzigen Wort zu dem Thema Kongo Markus Löning [FDP]) 4174 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Treffen mit Aung San Suu Kyi hat, sind Bemühungen in (C) Ich schließe die Aussprache. vollem Gange, Zugang zu ihr zu bekommen. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Wie kam es zu der erneuten Verhaftung? Als ich Mitte Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen Mai zusammen mit meinem Kollegen Eppelmann von eingebrachten Antrag auf Drucksache 15/1144 mit dem der CDU/CSU im Auftrag des Ausschusses für Men- Titel „Für einen stärkeren UN-Einsatz im Nordosten der schenrechte in Myanmar war, hatten wir keine Gelegen- Demokratischen Republik Kongo“. Wer stimmt für die- heit, mit Aung San Suu Kyi zu sprechen. Sie war gerade sen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – zu einer Reise in den nördliche Teil Burmas, in den Der Antrag ist mit den Stimmen von SPD und Bünd- Kachin-Staat, aufgebrochen. Diese Reise war bis dahin nis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der CDU/CSU geheim gehalten und von der Regierung genehmigt wor- und der FDP bei Enthaltung der beiden fraktionslosen den. Aber schon als wir ankamen, hörten wir von massi- Mitglieder des Hauses angenommen. ven Bedrohungen und Behinderungen dieser Reise durch die örtlichen Behörden. Die Veranstaltungen von Ich rufe Zusatzpunkt 10 auf: Aung San Suu Kyi wurden gestört. Trotz dieser Ein- schüchterungsversuche schlossen sich immer mehr Men- Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, schen der Friedensnobelpreisträgerin an und zeigten so der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE ihre Solidarität. GRÜNEN und der FDP Sofortige und bedingungslose Freilassung von Letzten Freitag war sie nach Augenzeugenberichten Aung San Suu Kyi wieder unterwegs. Als sie in der Stadt Monywa ange- griffen wurde, war das das Ende ihrer Reise. Sie war mit – Drucksache 15/1105 – drei Autos und 18 Personen aus ihrer engeren Umge- bung losgefahren. Dieser Autokolonne haben sich dann Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die mehrere Menschen und Autos angeschlossen. Mit einem Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Mal kam es zu einer blutigen Auseinandersetzung, bei keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. der nach offiziellen Angaben vier Menschen ums Leben Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege kamen und 50 verletzt wurden. Nach dem, was wir ge- Volker Neumann, SPD-Fraktion. hört haben, sind es wesentlich mehr gewesen. Wir wis- sen bis heute nicht, ob Aung San Suu Kyi leicht oder, wie Gerüchte besagen, sogar schwer verletzt ist. Wäh- Volker Neumann (Bramsche) (SPD): rend sich die Regierung von Myanmar bemüht, diesen (B) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Angriff als eine Auseinandersetzung zwischen Gegnern (D) Heute vor einer Woche ist die burmesische Oppositions- und Anhängern Aung San Suu Kyis und ihrer Oppositi- politikerin und Friedensnobelpreisträgerin Aung San onspartei darzustellen, erscheint es heute nahezu sicher, Suu Kyi verhaftet und in ein Gefängnis wahrscheinlich dass dies eine lang geplante Geheimdienstoperation in der Nähe von Rangun gesteckt worden. Wir verurtei- war, die die Militärregierung zum Anlass für einen len die erneute Verhaftung der burmesischen Friedens- Schlag gegen die Opposition genommen hat; denn alle nobelpreisträgerin auf das Schärfste und fordern zusam- Büros der Oppositionspartei NLD sind geschlossen und men mit der Bundesregierung die Regierung Myanmars ihre Anhänger zum Teil verhaftet worden. Außerdem auf, sie und auch die Begleiter von der NLD, ihrer Par- wurden Schulen und Universitäten geschlossen. tei, freizulassen. Berichte, wonach die Militärregierung in Myanmar Die für ihren friedlichen Kampf für Menschenrechte fest im Sattel sitze, fanden wir bestätigt, als wir dort wa- und Demokratie mit dem Friedensnobelpreis ausge- ren. Dennoch sind wir über die brutale Art und Weise zeichnete burmesische Oppositionspolitikerin wird auf überrascht, in der Aung San Suu Kyi verhaftet und in brutale Weise ihrer Menschenrechte beraubt. Im Juli Isolationshaft gebracht worden ist. Dabei hatte es im 1989, also vor 14 Jahren, ist sie zum ersten Mal in Haft Mai letzten Jahres so hoffnungsvoll begonnen. Damals genommen worden. Als sie 1991 den Friedensnobelpreis wurde sie aus dem Hausarrest entlassen. Es gab dann bekommen hat, konnte sie ihn nicht persönlich in Emp- Gespräche mit der Militärregierung, die Anlass für einen fang nehmen, weil sie sich in Haft befand. Nach ihrer Hoffnungsschimmer gaben. Auch wenn die Gespräche Entlassung 1995 wurde sie im Jahr 2000 wiederum ver- in der Phase der Vertrauensbildung stecken geblieben haftet. Bis zum Jahr 2002 stand sie unter Hausarrest. Zu waren und ein substanzieller Dialog nicht stattgefunden ihrer erneuten Festnahme in der vergangenen Woche ha- hatte, gab es ein gewisses Maß an Bewegungsfreiheit ben die Militärmachthaber gegenüber der internationalen für die Opposition. So konnte die Oppositionspartei Gemeinschaft erklärt, man halte sie zu ihrem eigenen NLD ihre Büros wieder eröffnen und bei ihr ließen sich Schutz an einem unbekannten Ort in Gewahrsam. Ihre – man höre! – 1 Million Menschen als Mitglieder regis- Freilassung lehnt die Regierung Myanmars ebenso ab trieren. wie die Bitte des Roten Kreuzes und von Diplomaten um Zugang zu Aung San Suu Kyi. Heute Morgen ist der Der anfängliche Optimismus ist aber längst der Resig- Sonderbeauftragte des UN-Generalsekretärs, Herr nation gewichen. Das Vorgehen der Regierung gegen die Razali, in Rangun eingetroffen. Er will versuchen zu demokratischen Kräfte hat alle positiven Entwicklungen vermitteln. Obwohl er noch keine feste Zusage für ein mit einem Schlag zunichte gemacht. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4175

Volker Neumann (Bramsche) (A) Ein Blutbad wie 1988, dem Tausende Menschen zum Deshalb empfehle ich, die humanitäre Hilfe für My- (C) Opfer fielen, muss verhindert werden. Wir fordern daher anmar zu einem geeignetem Zeitpunkt auszuweiten und erstens die Freilassung von Aung San Suu Kyi und allen die Entwicklungszusammenarbeit in bestimmten Berei- politischen Häftlingen. chen des Bildungs- und Gesundheitssektors wieder auf- zunehmen. Dies würde – wie unsere Gespräche gezeigt (Beifall im ganzen Hause) haben – auch von den meisten burmesischen Oppositi- Zweitens fordern wir, dass unverzüglich ein Vertreter ons- und Minderheitengruppen befürwortet. Verstärkte des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes, das humanitäre Hilfe kann eine Reihe von positiven Neben- sich vor Ort befindet, Aung San Suu Kyi besuchen kann wirkungen, auch politischen, entfalten. Mitarbeiter von und dass der UN-Sondergesandte Razali, der heute Mor- Hilfsorganisationen etwa können eine gewisse gen angekommen ist, seine Mission fortsetzen kann. Wir Schutzwirkung für die Angehörigen der Minderheiten- fordern drittens vor allem, dass die Militärjunta endlich völker entfalten. zu substanziellen Gesprächen mit der Opposition und Die Menschen in Myanmar sind zurzeit, wie es ein auch mit den ethnischen Minderheiten kommt. UNO-Vertreter in Rangun treffend formulierte, doppelt Die Bevölkerung Myanmars leidet größte Not. Eine bestraft: durch das repressive Vorgehen der Regierung Familie muss durchschnittlich 70 Prozent ihres Einkom- und durch das Ausbleiben westlicher Hilfe. Deshalb mens für Nahrungsmittel ausgeben. Ein Drittel der Kin- möchte ich auch zu der Diskussion darüber ermutigen, der unter fünf Jahren ist mangelernährt. Weniger als die ob diese Art der Sanktionspolitik dazu geeignet ist, uns Hälfte der Kinder schließt die Grundschule ab. Die Situ- dem Ziel politischer Veränderung hin zu Freiheit und ation im Bildungsbereich verschlechtert sich von Jahr zu Demokratie näher zu bringen. Jahr. Der Zustand im Bildungssektor ist desolat. Hinzu kommt, dass 2 Prozent der Bevölkerung HIV-infiziert Der Deutsche Bundestag unterstützt heute die Bemü- sind. hungen um die Freilassung von Aung San Suu Kyi. Diese Forderung ist in einem interfraktionellen Antrag In den von 135 ethnischen Minderheiten bewohnten enthalten, der vom Ausschuss für Menschenrechte und Gebieten ist die Lage noch dramatischer. Die Angehöri- Humanitäre Hilfe initiiert wurde. Wir sind uns darin mit gen der Minderheitenvölker sind am stärksten belastet fast allen Regierungen der Welt und allen Parlamenten und leiden unter Menschenrechtsverletzungen. In den der Welt einig. Gesprächen haben sie uns glaubhaft versichert, dass es auch dort systematische Vergewaltigungen gibt, dass Der Vater der Friedensnobelpreisträgerin, Aung San, Zwangsarbeit an der Tagesordnung ist – das hat die ILO hat 1947/48 die Unabhängigkeit des Landes vom briti- bestätigt –, dass Eigentum konfisziert wird, dass es schen Kolonialreich erkämpft. Ich hoffe, dass wir bald (B) (D) Zwangsumsiedlungen gibt und dass im Nordteil Myan- den Tag erleben, an dem wir sagen können: Seine Toch- mars eine chinesische Mafia von Drogenbossen die ter Aung San Suu Kyi hat dem Land Freiheit und De- staatliche Gewalt faktisch abgelöst hat. mokratie erkämpft. Die Bundesrepublik verfolgt mit der EU und anderen Vielen Dank. westlichen Staaten eine Sanktionspolitik gegenüber (Beifall im ganzen Hause) Myanmar. Erst im April hat die EU den gemeinsamen Standpunkt bestätigt und eine Ausweitung der Sanktio- nen angedroht, falls die Regierung nicht bis Ende Okto- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ber dieses Jahres zu substanziellen Gesprächen mit der Nächster Redner ist der Kollege Holger Haibach, Opposition bereit ist. Bislang weigert sich die Regierung CDU/CSU-Fraktion. strikt, einen Zeitplan oder Modalitäten zu nennen. Danach ist nach meiner Überzeugung ein politischer Holger Haibach (CDU/CSU): Wandel durch Sanktionen nicht erreichbar. Die Sanktio- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen nen werden im Übrigen durch die Nachbarländer Myan- und Kollegen! Die Verhaftung der burmesischen Frie- mars konterkariert. Diese Ansicht teilen viele Beobach- densnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi und die Tatsa- ter der Situation im Land. Das brutale Vorgehen der che, dass ihr Aufenthaltsort bis heute ungeklärt ist, hat in Militärregierung zeigt: Sie fürchtet keine Sanktionen den letzten Tagen in der Weltöffentlichkeit für Empö- durch die internationale Gemeinschaft. rung und Bestürzung gesorgt. Uns liegen die Not leidenden Menschen Myanmars Aung San Suu Kyi gilt als die Vorkämpferin für die am Herzen. Demokratisierung Burmas. Dies hat mir noch in dieser Woche der Kollege Eppelmann, der selbst in Burma war (Beifall bei Abgeordneten der SPD) – Kollege Neumann hat es soeben erwähnt – und eigent- Humanitäre Hilfe ist von den Sanktionen zwar ausge- lich auch mit Frau Suu Kyi sprechen sollte, nochmals nommen; dennoch sind die Hilfsleistungen für Burma bestätigt. In der Weltpresse wird Frau Suu Kyi manch- nur minimal. Nach meiner persönlichen Einschätzung ist mal sogar als „die Mandela“ oder auch als „die Gandhi“ es nicht zu rechtfertigen, dass beispielweise Kambod- Burmas bezeichnet. Dieser Vergleich trifft insofern zu, scha von der internationalen Gemeinschaft 70-mal so als Frau Suu Kyi in Burma den Status einer Nationalhel- viel humanitäre Hilfe erhält wie Burma, 70-mal so viel din hat. Sie – Tochter des Staatsgründers und legitime wie Burma! Siegerin der Parlamentswahlen von 1990 – verkörpert 4176 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

Holger Haibach (A) mehr als jeder andere Oppositionspolitiker die Hoffnung ben; etwa 120 000 Burmesen halten sich in Thailand auf, (C) der Einwohner Burmas auf eine bessere Zukunft. Ihr etwa 40 000 in Indien. Die Presse- und Meinungsfreiheit Schicksal steht beispielhaft für das vieler Menschen in ist eingeschränkt; der bloße Besitz eines Faxgerätes kann Burma, die – Herr Kollege Neumann hat schon darauf unter Umständen – das wäre in Deutschland kaum vor- hingewiesen – unter einer menschenrechtlich und huma- stellbar – mit einer Freiheitsstrafe von bis zu 15 Jahren nitär höchst bedenklichen Situation leiden. belegt werden. Seit 41 Jahren wird Burma nun durch ein Militärregime Von der vollständigen Überwachung sind auch ausländi- regiert, das das Land auch wirtschaftlich an den Rand sche Besucher nicht ausgenommen: Paulo Sergio Pinheiro, des Ruins getrieben hat. Einige Zahlen mögen dies ver- der Menschenrechtsbeauftragte der Vereinten Nationen, deutlichen: Die Inflationsrate liegt bei über 60 Prozent wurde bei Gesprächen mit politischen Gefangenen sogar pro Jahr. Das durchschnittliche Tageseinkommen eines abgehört. Auch hierauf hat die internationale Staatenge- Bauern beträgt knapp 1 US-Dollar. Ein Mädchen in ei- meinschaft reagiert: Die UN-Menschenrechtskommission nem Handwerksbetrieb verdient kaum 30 Cent. Etwa hat das Mandat zur Sonderberichterstattung für Burma 25 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armuts- in einer einstimmig gefassten Resolution zum elften Mal grenze. Jedes dritte Kind ist unterernährt. Das ist eine verlängert. Ich finde, dies ist ein trauriger Höhepunkt. geradezu irrwitzige Tatsache für ein Land, das mit Nah- rungsmitteln jeglicher Art gesegnet ist. Krankheiten wie Mit der Freilassung von Aung San Suu Kyi im letzten Aids, Tuberkulose und Malaria greifen immer schneller Jahr wurde trotz all dieser Umstände die Hoffnung ver- um sich. Schließlich ist ein wie auch immer geartetes knüpft, die Militärs in Burma könnten bereit sein, einen Bildungssystem kaum noch vorhanden. Die Zahl der Schritt in die Richtung einer Demokratisierung ihres Analphabeten steigt von Jahr zu Jahr. Zu allem Über- Landes und seines Regimes zu tun. Alle, die diese Hoff- fluss hat die Regierung nach der Verhaftung Aung San nung bisher gehegt hatten, sehen sich heute getäuscht. Suu Kyis beschlossen, landesweit alle Schulen und Uni- Doch nicht nur das: Mit der Verhaftung ging eine Welle versitäten zu schließen, um Proteste zu verhindern. der Repression gegen die Partei Suu Kyis einher. Sämt- liche Büros der Nationalen Liga für Demokratie wurden Diese neuerlichen Aktionen der Junta gegen die De- geschlossen, sogar nach offiziellen Angaben – auch das mokratiebewegung haben gezeigt, dass die Sanktionen hat der Kollege Neumann schon gesagt – wurden bei den der Europäischen Union gegenüber Burma – ich habe hierzu eine andere Meinung als mein Vorredner – schon Zusammenstößen vier Personen getötet und 50 weitere noch ihre Berechtigung haben. Die internationale Staa- verletzt. Heute konnte man lesen, dass es sogar bis zu tengemeinschaft hat bisher jede weitere Zusammenarbeit 70 Tote gegeben haben soll. im Bereich der Entwicklungs- und Wirtschaftshilfe ab- Noch mehr Anlass zur Sorge gibt allerdings die Tatsa- (B) gelehnt, um den Druck auf die burmesischen Machtha- che, dass die Regierung Burmas trotz des internationalen (D) ber weiter zu erhöhen, damit sie politische und wirt- Drucks nicht bereit ist, den Aufenthaltsort und den Ge- schaftliche Reformen einleiten. sundheitszustand von Frau Suu Kyi bekannt zu geben. Diese Strategie schien sich zu Beginn des Jahres 2002 Viele Regierungen, unter anderem die amerikanische erstmals auszuzahlen, als der Hausarrest gegen Aung und die Bundesregierung, haben bereits die sofortige San Suu Kyi aufgehoben wurde und sie die Erlaubnis er- und bedingungslose Freilassung von Aung San Suu Kyi hielt, sich in ihrem Heimatland frei zu bewegen. Zudem gefordert. Der Deutsche Bundestag kann, darf und wird wurde der Nationalen Liga für Demokratie, NLD, er- hier nicht schweigen. laubt, wieder landesweit Büros zu eröffnen. Doch trotz (Beifall im ganzen Hause) dieses eher symbolischen Akts blieb die menschenrecht- liche Situation nach wie vor bedenklich. Das bedrü- Es ist wahr und auch richtig, dass der Bundestag nur ckende Schicksal von Frau Suu Kyi steht leider stellver- sehr selten und in besonderen Fällen in Anträgen und tretend für das vieler Menschen, die vom burmesischen Resolutionen davon Gebrauch macht, sich des Schick- Regime brutal unterdrückt wurden. sals von Einzelpersonen anzunehmen. Aber dieser Fall Ich möchte auch hierfür einige Beispiele nennen: Be- – darauf möchte ich noch einmal ganz besonders hinwei- sonders ethnische Minderheiten werden vom Militär zu sen – steht symbolisch für den Umgang der Militärjunta Zwangsarbeit herangezogen. Kinder werden als Soldaten in Burma mit Menschenrechtspolitikern und für die Un- rekrutiert und müssen teilweise schwerste Arbeiten ver- terdrückung jeglicher Freiheitsrechte. Aus diesem Grund richten. Trotz der Teilamnestie aus dem Jahr 2002 befan- ist eine gemeinsame, schnelle und abgestimmte Inter- den sich zu Beginn dieses Jahres noch immer etwa 1 300 vention der Bundesregierung, befreundeter Regierungen, politische Gefangene in Haft, davon 18 Parlamentsab- der Europäischen Union und auch der Vereinten Natio- geordnete. Diese und andere Personen werden nach wie nen dringend geboten. Auf die Frage, was die internatio- vor mit Folter bedroht. Es gibt Fälle von extralegalen nale Staatengemeinschaft für Burma tun könne, antwor- Hinrichtungen. Es wird gegen ethnische und religiöse tete Aung San Suu Kyi einmal: Ich wünsche mir ein Minderheiten vorgegangen, etwa gegen die Moslems, aktiveres Interesse an dem, was in meinem Land ge- die aus Bangladesch in den Rankhine-State zurückge- schieht, verbunden mit der Anerkennung der Notwen- kehrt waren, oder gegen die mehr als 2 Millionen katho- digkeit für einen grundlegenden Wandel in Burma. lischen Christen. Der heute vorliegende Antrag ist aus meiner und aus In einigen Provinzen gibt es bürgerkriegsähnliche unserer Sicht ein erster Schritt dazu, dass auch ein Land Zustände. Menschen werden aus ihrer Heimat vertrie- wie Burma mehr in den Mittelpunkt des öffentlichen In- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4177

Holger Haibach (A) teresses rückt. Setzen wir uns jetzt gemeinsam dafür ein, cher war, dass die Regierung ihres Heimatlandes ihr die (C) dass Aung San Suu Kyi und ihre Weggefährten bald- Wiedereinreise nicht erlauben würde. Sie sah sich als möglichst freigelassen werden. Setzen wir uns über den charismatische, für ihre Partei und die Bevölkerung ganz heutigen Tag hinaus gemeinsam dafür ein, dass sich die wichtige und ermutigende Persönlichkeit in der Pflicht, Verhältnisse in Burma nachhaltig verbessern. das Land nicht zu verlassen. Dieses Ausmaß der Tragö- die muss man sich hier einmal vorstellen. Herzlichen Dank. Ich glaube, dass gerade wir als Parlamentarier, die wir (Beifall im ganzen Hause) manchmal unter der Last der Erarbeitung von Reformen und anderen komplizierten Prozeduren ächzen, uns in Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: dieser Debatte klarmachen müssen, wie schwer, drü- Nächste Rednerin ist die Kollegin Christa Nickels, ckend, lebensbedrohlich, schmerzlich das Auseinander- Bündnis 90/Die Grünen. reißen von Familien, Ehepartnern, Eltern und Kindern ist und wie schwer es sein kann, ganz simple, einfachste po- Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): litische und parlamentarische Rechte in Anspruch zu nehmen. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte die Fakten, die meine Kollegen in ihren Bei- Ich bin sehr froh und sehr dankbar, dass es in diesem trägen genannt haben, nicht wiederholen. Wie viele an- Fall eine schnelle konzertierte Aktion von vielen Parla- dere ist Frau Suu Kyi wirklich in allergrößter Gefahr. menten, Regierungen, Nichtregierungsorganisationen und auch der Vereinten Nationen gibt. Aber ich glaube, Ich glaube, dass eine solche Debatte – Kollege das Beispiel von Frau Suu Kyi zeigt uns auch, dass Tau- Haibach sagte schon, dass wir so etwas nur selten ma- sende in aller Welt, die einen derartigen Mut aufbringen, chen – wichtig ist, damit einfach einmal die Person, die die allerdings gern darauf verzichten würden, zu solchen sich schon so viele Jahre unter Einsatz ihres Lebens für Helden zu werden, stärker in unseren Blick kommen müs- die Menschenrechte einsetzt, hier bei uns besser bekannt sen und dass wir erheblich mehr Anstrengungen unter- wird. Frau Suu Kyi ist, wie Kollege Neumann schon nehmen müssen und erheblich mehr Kraft mobilisieren sagte, die Tochter eines sehr berühmten Unabhängig- müssen, gerade als Parlamentarier und Parlamentarierin- keitskämpfers und Nationalhelden. Ein Schlaglicht auf nen, um nachhaltig bedrohte Menschenrechtsverteidiger, ihr Leben wirft aber auch die Tatsache, dass sie im Alter Parlamentarier und Politiker wirksamer zu schützen. von zwei Jahren diesen Vater verlor; er wurde ermordet. Vielen Dank. Sie selber gilt als Ikone der Demokratie – die Kolle- (Beifall im ganzen Hause) (B) gen haben es schon gesagt –, wird auf eine Stufe mit (D) Gandhi und Nelson Mandela gestellt. Dabei ging Frau Suu Kyi erst spät in die Politik und trat ihr Amt, wie wir Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: es bei vielen aktiven und klugen Frauen aus Asien erle- Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege ben, eher als Vermächtnis in der Tradition ihres Vaters Rainer Funke, FDP-Fraktion. an. Sie kehrte nach einer Eliteausbildung in Rangun, in Rainer Funke (FDP): Indien und in Oxford, wo sie den britischen Tibetexper- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist ten Michael Aris heiratete, mit dem sie zwei Kinder hat, mir wichtig, feststellen zu können: Der gesamte Deut- 1988 wieder in ihre Heimat zurück, um ihre Mutter zu sche Bundestag ist empört und entsetzt über die erneute pflegen. Während der Pflege ihrer Mutter zeigte sie sich Festnahme der burmesischen Demokratin, Freiheits- nicht unberührt von dem, was in ihrem Land passierte. kämpferin und Oppositionellen Frau Suu Kyi. Wir for- Meine Kollegen Vorredner haben es hier schon sehr dern die sofortige Freilassung der Nobelpreisträgerin. deutlich dargestellt. Sie hat dann sehr kompetent, sehr energisch und sehr erfolgreich in die Politik eingegrif- (Beifall im ganzen Hause) fen. Die Kollegen haben auch das schon dargestellt. Es geht uns dabei nicht nur um das Schicksal von Frau Die Konsequenz daraus war, dass sie mehrmals Ver- Suu Kyi selbst, sondern auch um die Menschenrechte, haftungen, Misshandlungen und Freiheitsberaubungen um die Sache der Freiheit und der Demokratie insge- erleben musste. Sie hat jahrelang im Gefängnis gesessen, samt. Der Tag der erneuten Festnahme der burmesischen allein bis 1995 sechs Jahre. Nach ihrer Freilassung hat Nobelpreisträgerin war ein schwarzer Tag im weltweiten sie wieder einen Dialog begonnen, Ende 2000 einen ge- Kampf für die Menschenrechte. heimen Dialog mit den Generälen, um nationale Versöh- Frau Suu Kyi ist mit ihrem engagierten, mutigen Ein- nung zu erreichen. Sie hat wirklich mit allen Möglich- satz für die Freiheit und die Menschenrechte in ihrem keiten, die einer Politikerin zur Verfügung stehen, Land und mit ihrem langen Leidensweg zu einem welt- versucht, hier ein Stück voranzukommen. Das Ergebnis weiten Symbol für die Menschenrechte und den Frei- war erneuter Arrest. heitskampf engagierter Oppositioneller in den vielen un- 1999 hat sie von sich aus darauf verzichtet, ihren freien Ländern der Welt geworden. Sie ist dafür mit Mann und ihre Söhne, die in England leben, zu besu- unzähligen internationalen Preisen ausgezeichnet wor- chen, als ihr Mann schwer krebserkrankt war; 1999 ist er den, zum Beispiel 1995 mit dem Prize for Freedom der gestorben. Sie hat deshalb darauf verzichtet, weil sie si- Liberalen Internationale. 4178 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

Rainer Funke (A) Die Militärjunta in Rangun muss merken, dass die Höfken, , weiterer Ab- (C) Festnahme von Frau Suu Kyi nicht einfach hingenom- geordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- men wird und dass dieser Tag auch ein schwarzer Tag SES 90/DIE GRÜNEN für das Regime in Burma selbst war und sein muss. Die Bestimmungen der Post-Universaldienst- (Beifall im ganzen Hause) leistungsverordnung verbraucherfreundlich durchsetzen Es hatte im vergangenen Jahr vorsichtige Anzeichen für eine Öffnung des Landes gegeben, Anzeichen, die ei- – zu dem Antrag der Abgeordneten Johannes nem der ärmsten Länder Südostasiens auch Hoffnung Singhammer, Karl-Josef Laumann, Dagmar auf eine bessere Zukunft, auf wirtschaftliche Hilfe und Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Entwicklung sowie auf internationale Einbindung gege- der CDU/CSU ben hatten. Flächendeckende Versorgung mit Postdienst- Dies ist alles umsonst gewesen. leistungen sicherstellen Es ist gut, dass sich der Deutsche Bundestag heute in – zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer dieser spontan angesetzten Debatte mit einem, wie ich Funke, Birgit Homburger, Rainer Brüderle, finde, sehr guten interfraktionellen Antrag für die sofor- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der tige Freilassung von Frau Suu Kyi einsetzt. Aber wir FDP müssen mehr tun. Burma darf nicht einer der letzten schwarzen Flecken auf der Landkarte der globalisierten Wettbewerbsbedingungen bei Vertrieb von Welt bleiben. Wir müssen uns kümmern. Das heißt, wir Postdienstleistungen schaffen dürfen das Land und seine vor allem jungen Menschen – Drucksachen 15/615, 15/466, 15/579, 15/1129 – nicht schon bald wieder dem Zugriff der skrupellosen Militärjunta überlassen. Berichterstattung: Abgeordneter Johannes Singhammer Das Militär hat nicht nur Frau Suu Kyi festgesetzt, sondern auch die Universitäten und höheren Bildungs- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die einrichtungen des Landes geschlossen. Die Junta ver- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre spielt in ihrem verzweifelten Kampf um Machterhalt die keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Zukunft der Jugend ihres Landes und setzt dabei darauf, Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege dass sich die internationale Aufregung und der interna- Klaus Barthel, SPD-Fraktion. tionale Druck schon bald wieder legen werden. So weit (B) dürfen wir es nicht kommen lassen. (D) Klaus Barthel (Starnberg) (SPD): Wir sollten eine Burma-Initiative der Europäischen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Union starten. Die Bundesregierung sollte ihren Sitz und Seit mehreren Wochen macht die Deutsche Post wieder ihre Stimme im Weltsicherheitsrat der Vereinten Natio- Schlagzeilen: positive Schlagzeilen im internationalen Ge- nen nutzen, um das Schicksal dieses Landes auf der in- schäft und an den Börsen, aber negative Schlagzeilen in den ternationalen Tagesordnung zu halten. Wahlkreisen, in Stadt und Land. Gestern gab es – wir haben Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. es gehört – sehr zwiespältige Schlagzeilen von der Hauptversammlung. (Beifall im ganzen Hause) In der internationalen Entwicklung ist spannend zu Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: erleben, dass die Postmärkte in vielen anderen Ländern längst nicht so offen sind, wie immer getan wird, noch Ich schließe die Aussprache. nicht einmal so offen wie in der Bundesrepublik. So se- Wir kommen zur Abstimmung über den von den hen wir, wie ausgerechnet in den USA, der Speerspitze Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/ der Liberalisierung auf den Weltmärkten, Tochterunter- Die Grünen und der FDP eingebrachten Antrag mit dem nehmen der Deutschen Post – in diesem Fall im Luftver- Titel „Sofortige und bedingungslose Freilassung von kehr – am Markteintritt gehindert werden sollen. Das er- Aung San Suu Kyi“. Wer stimmt für diesen Antrag auf innert uns daran, dass die Liberalisierungsdebatte bei uns Drucksache 15/1105? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- im Bezug auf den Postsektor nicht immer unter den rich- tungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen des ganzen tigen Voraussetzungen und Grundannahmen geführt Hauses angenommen. wird. Die Post bleibt ein besonderes Thema, was sowohl den internationalen Vergleich als auch die emotionale Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: und alltägliche Wahrnehmung durch die Bürgerinnen Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- und Bürger betrifft. richts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit Ob es um die neuen Verträge für die partnerbetriebe- (9. Ausschuss) nen Agenturen geht, ob es um die Umstrukturierungen – zu dem Antrag der Abgeordneten Hubertus zulasten der Dienste-Angebote und der Qualität im Fili- Heil, Klaus Brandner, , weiterer alnetz geht, ob es um neue Entgelte für Lagerungen und Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie Nachsendungen geht, ob es um Nacht-und-Nebel-Aktio- der Abgeordneten Michaele Hustedt, Ulrike nen beim Abbau von Briefkästen geht: Wir haben den Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4179

Klaus Barthel (Starnberg) (A) Eindruck, die Post testet gerade die Belastbarkeit und die Jahr zusätzliche Präzisierungen im Sinne der Bevölke- (C) Geduld ihrer Kundinnen und Kunden, ihrer Beschäftig- rung und der strukturschwachen Kommunen vorgenom- ten und ihrer Geschäftspartner. men, und zwar gegen den Widerstand der gesamten Op- position. Wir wollen heute deutlich machen, was wir davon halten. Dabei haben wir natürlich im Blick, was der poli- (Beifall bei der SPD) tische Mehrheitswille Anfang der 90er-Jahre war. Der Ich kann nur sagen: Bloß gut, dass wir damals hart ge- Postsektor sollte liberalisiert, privatisiert und dereguliert blieben sind und uns durchgesetzt haben. Dafür könnten werden. Auf diesem Markt sollten private Unternehmen uns die Union und die FDP heute eigentlich dankbar unter betriebswirtschaftlichen und wettbewerblichen sein. Denn worauf würden Sie sonst Ihre Anträge und Bedingungen und auch unter den Bedingungen internati- Ihre zu erwartenden Reden stützen, wenn Sie damals die onaler Konkurrenz agieren. Die Märkte wurden und Mehrheit gehabt hätten? werden schrittweise geöffnet, das ehemalige Staatsunter- nehmen Deutsche Post an die Börse gebracht und schritt- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten weise verkauft, also privatisiert. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Manchem konnte das – daran sei heute trotz aller Ge- Dann gäbe es nämlich weder die von Ihnen damals als meinsamkeiten erinnert – nicht schnell genug gehen. Ein bürokratisches Monster gescholtene Post-Universal- Blick in die Parlamentsreden, in die Presseerklärungen dienstleistungsverordnung noch den Hauptaktionär Bun- und in die Anträge von Union und FDP legen beredtes desrepublik Deutschland. Zeugnis darüber ab, dass die Aktien möglichst schnell (Rainer Funke [FDP]: Das wäre auch gut so!) verkauft werden sollten. Es wurde gefordert, dass es keine bürokratischen Regelungen hinsichtlich der Ver- Denn unsere Aktien wären längst – sehr zum Leidwesen pflichtungen der Post so wie beim Universaldienst und der Kleinaktionäre und übrigens auch des Bundeshaus- keine Einmischung zugunsten der Beschäftigten oder in haltes – ausgerechnet auf dem Tiefpunkt an den Börsen das sonstige Alltagsgeschäft geben solle und dass Politik verschleudert worden. Sie könnten dann Ihre heutigen und Regierung herausgehalten werden sollten, da es der Anträge in den Papierkorb schmeißen. Es wäre ja nicht Markt schon richten werde. Das waren und sind die Pa- nur um die Anträge und Reden von heute, sondern auch rolen aus dem bürgerlichen Lager, wie es sich selbst so um die betroffenen Bürgerinnen und Bürger sowie um gern bezeichnet. die Geschäftspartner der Deutschen Post, zum Beispiel die Agenturnehmer, schade. Deswegen freuen wir uns (Beifall bei Abgeordneten der SPD) besonders, dass Sie jetzt bei uns angekommen sind und sich zur Post-Universaldienstleistungsverordnung und (B) Aber immer dann, wenn die Folgen dieser ideologi- (D) schen Fixierungen kommen, ist plötzlich alles anders. zu einem stufenweisen Anteilsverkauf bekennen. Seitdem Edmund Stoiber im Wahlkampf sinngemäß die (Beifall bei der SPD) Entlassung von Ron Sommer gefordert hat, sind insbe- sondere bei der Union alle Dämme gebrochen. Seitdem Wir können uns deswegen heute ein bisschen mehr feiert der Bund als Haupteigentümer ein Comeback. All Ehrlichkeit leisten. Die Möglichkeiten des politischen das, was über das Aktienrecht, über Börsenkurse, Priva- Einflusses von Bundestag und Bundesregierung auf das tisierung und Wettbewerb gesagt worden ist, ist verges- Geschäftsgebaren der Deutschen Post tendieren immer sen. Man solle wieder die politische Verantwortung mehr gegen null. wahrnehmen, heißt es dann plötzlich. (Rainer Funke [FDP]: Das stimmt doch gar nicht!) Die SPD hat sich im Unterschied zu diesen Spielchen stets dazu bekannt, dass die Post wie andere ehemalige Das wissen auch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen Infrastrukturmonopole Gemeinwohlverpflichtungen von der Union und der FDP. Unterlassen Sie deswegen hat, wie sich das aus dem Grundgesetz und dem Post- Appelle an den Bund als Anteilseigner bitte auch dann, gesetz – übrigens auch aus dem europäischen Recht – wenn es Ihnen stimmungstechnisch und taktisch gerade ergibt. Wir haben deswegen für einen stufenweisen, har- einmal in den Kram passt! Bleiben Sie bei einer geraden monisierten und abgefederten Übergang in den Wettbewerb Linie! und auch für einen schrittweisen Verkauf derAktienpa- kete gesorgt. Zuletzt haben wir das im vergangenen Jahr Das, was wir heute gemeinsam tun, kann nur eines im Rahmen der Änderungen des Postgesetzes und des sein: ein klares Signal an den Vorstand des Unterneh- Postumwandlungsgesetzes getan. mens Deutsche Post AG zu geben. Dieses Signal ist umso klarer, als sich der ganze Deutsche Bundestag Dabei haben wir die Liberalisierung und die Regulie- heute hinter dieses Signal stellen wird. rung, den reservierten Bereich und die Gemeinwohlver- pflichtungen, Einnahmen und Kosten sowie die Harmo- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nisierung im internationalen Kontext in der Balance Herr Kollege Barthel, gestatten Sie eine Zwischen- gehalten. Aufgrund unserer Erfahrungen in den Kommu- frage des Kollegen Funke? nen und der Erfahrungen der Kundinnen und Kunden ha- ben wir nicht nur 1999 die Post-Universaldienstleis- tungsverordnung geschaffen und damit den rechtsfreien Klaus Barthel (Starnberg) (SPD): Zustand diesbezüglich beendet, sondern im vergangenen Aber sicher. 4180 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

(A) Rainer Funke (FDP): sollte, dass die Einnahmen aus der Exklusivlizenz nicht (C) Herr Kollege Barthel, ist Ihnen bekannt, dass die ge- für ihren eigentlichen Zweck, nämlich für die Kosten samten Aufsichtsratsmitglieder der Post AG auf der Ka- politisch bedingter Sonderlasten und Umstrukturierungs- pitalseite vom Bund gestellt werden und dass deren Tä- maßnahmen, also zum Beispiel für die betriebswirt- tigkeit auch vom Bundesfinanzministerium überwacht schaftlich nicht erbringbaren Kosten des Universaldiens- wird? tes, verwendet werden, sondern dass diese Einnahmen letzten Endes zum Gewinnen von Wettbewerbsvorteilen in andere Bereiche umgelenkt werden. Das ist ein sehr Klaus Barthel (Starnberg) (SPD): gefährliches Thema. Herr Funke, da irren Sie sich. Es gibt, wenn ich das richtig weiß, nur zwei Vertreter des Bundes im Auf- Insofern kritisieren wir auch in aller Schärfe den in all sichtsrat der Deutschen Post. Das sind also nicht einmal den schönen Rechtfertigungsschreiben, die wir alle und 10 Prozent. Das heißt, es gibt dort keine Mehrheit des die Bürgermeister immer wieder bekommen, für Abbau- Bundes im Aufsichtsrat. Im Übrigen wissen Sie, dass es maßnahmen aller Art verwendeten Hinweis der Post, das laut Aktienrecht auch dann, wenn es anders wäre, nur Unternehmen sei in jeder Hinsicht gezwungen, nur be- schwer möglich ist, dass sich der Aufsichtsrat ins tägli- trieblichen Kostensenkungszwängen zu gehorchen. Das che Geschäft eines Vorstandes einmischt. ist eine Verdrehung der Tatsachen; die müssen wir in al- ler Öffentlichkeit klarstellen. (Beifall bei der SPD – Dr. Uwe Küster [SPD]: Das war ein Rohrkrepierer!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich habe gerade vom Signal an die Deutsche Post ge- sprochen. Ich habe damit kein Problem, in diesem Fall Der Vorstand des Unternehmens bewegt sich hier auf aus der Politik ein Signal an die Wirtschaft zu senden. sehr dünnem Eis. Es mag sich zwar auf der Hauptver- Denn es gibt genügend Spitzenmanager und Vertreter sammlung vor den Aktionären ganz gut machen, sich ge- von Unternehmensverbänden, die ständig mit dem er- gen „politisches Störfeuer“, wie dort gesagt wurde, zu hobenen Zeigefinger und mit klugen Ratschlägen an verwahren. Wer aber an anderer Stelle gesetzlichen die Politik herantreten – oft genug leider auch, um Schutz gern in Anspruch nimmt, sollte den Mund nicht vom eigenen Versagen und von eigenen Fehlprognosen zu voll nehmen, wenn es darum geht, die Gegenleistung und -einschätzungen abzulenken. Deswegen können wir zu erbringen, für die die Postkunden und Postkundinnen das heute auch einmal tun. in dieser Republik bezahlen. Bei der Post geht es aber um mehr; das müssen wir Ich freue mich sehr, dass wir mit unserem gemeinsa- (B) noch einmal deutlich machen. Das Unternehmen hat men Beschluss heute deutlich machen werden, dass wir (D) Verpflichtungen übernommen. Die Post bekommt dafür nicht bereit sind, dafür Schmiere zu stehen, dass ein so einen milliardenschweren Ausgleich in Form des reser- großes Unternehmen so mit seinen Gemeinwohlver- vierten Bereichs zu festgelegten Tarifen. Dieser Bereich pflichtungen umgeht. und diese Tarife orientieren sich an den Kostenstruktu- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ren bis 2002. Von daher gibt es von der Seite überhaupt DIE GRÜNEN) keine Legitimation für demontageartige Kostensen- kungsprogramme im Universaldienstbereich. Das muss man hier einmal ganz klar festhalten. Es gibt erst recht Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: keine Legitimation für das ständige Lustwandeln an den Nächster Redner ist der Kollege Alexander Dobrindt, Grenzen der Post-Universaldienstleistungsverordnung CDU/CSU-Fraktion. und das selbstherrliche Verhalten gegenüber den Kunden und Kommunen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Alexander Dobrindt (CDU/CSU): des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Deswegen sagen wir heute ganz klar: Wir werden, Herr Kollege Barthel, lassen Sie mich nach den Angrif- was diese Vorgaben betrifft, am Ball bleiben. Es darf fen auf die Opposition, die Sie hier natürlich wieder ge- keine Lücken geben, auch nicht zeitweise. Die Kommu- startet haben, zunächst einmal die Gelegenheit nutzen, nen müssen informiert und beteiligt werden, die meine Erleichterung darüber zum Ausdruck zu bringen, Kontrollmöglichkeiten der Regulierungsbehörde für dass es gelungen ist, einen gemeinsamen Antrag zu for- Telekommunikation und Post sind entsprechend herzu- mulieren, stellen und die Sanktionsmöglichkeiten sind voll aus- zuschöpfen. Wenn diese nicht ausreichen, werden wir (Beifall bei Abgeordneten der SPD) diesbezüglich über Verbesserungen nachdenken müssen, so, wie es im Antrag steht, und zwar auch im wohlver- der im Wesentlichen mit dem Antrag der Union „Flä- standenen Interesse der Deutschen Post. chendeckende Versorgung mit Postdienstleistungen si- cherstellen“ identisch ist. Hier zeigt sich, dass es auch in Wir alle haben nämlich nichts davon – auch das müs- diesem Hause sicherlich nur von Vorteil sein kann, ab sen wir uns heute einmal überlegen –, wenn im In- und und zu einmal auf die Vorschläge der Opposition einzu- Ausland der derzeit sicher falsche Eindruck entstehen gehen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4181

Alexander Dobrindt (A) Ich bin der Überzeugung, wir hätten diesen Antrag Der Bund hat als Aktionär der Deutschen Post AG (C) schon viel früher formulieren können, hätte die SPD die keinen Einfluss auf die Geschäftspolitik. Nach § 76 Verantwortung der Bundesregierung gegenüber der des Aktiengesetzes leitet der Vorstand die Gesell- Deutschen Post AG, den Postagenturbetreibern und den schaft in eigener Verantwortung und ist nicht an Postkunden nicht immer kategorisch abgelehnt. Weisungen anderer Gesellschaftsorgane oder der Aktionäre gebunden. Herr Barthel, wir beide waren doch im Februar dieses Jahres gemeinsam auf einer Veranstaltung der Postagen- Ich nenne Ihnen natürlich auch die Quelle: Dagmar turbetreiber in Peißenberg zugegen. Sie erinnern sich si- Wöhrl, CSU, wirtschaftspolitische Sprecherin Ihrer Frak- cher noch, was Sie damals gesagt haben. tion. (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Ich habe (Hubertus Heil [SPD]: Wo sie Recht hat, hat nichts anderes gesagt als heute!) sie Recht!)

Sie haben jegliche Verantwortung der Bundesregierung Alexander Dobrindt (CDU/CSU): und die Möglichkeiten einer korrektiven Gestaltung ab- gelehnt. Umso erfreulicher ist es, dass wir heute einer Das steht in überhaupt keinem Widerspruch zu unse- Meinung sind und einen vernünftigen Antrag gemein- rem heutigen Antrag. Wir wollen nicht in das Aktien- sam beschließen werden. recht eingreifen. Wenn Sie unseren gemeinsamen Antrag durchlesen, dann werden Sie feststellen, dass wir explizit Meine sehr geehrten Damen und Herren, seit Mona- die Bundesregierung auffordern, tätig zu werden. Des- ten ist die öffentliche Diskussion um die Versorgung mit wegen weiß ich nicht, weshalb Sie sich an meiner Aus- Postdienstleistungen im Gange. Mittlerweile stapeln sich sage stören. die Klagen der Postagenturbetreiber auf unseren Schreibtischen; so wird es uns allen gehen. Täglich liest (Beifall bei der CDU/CSU) man über drohende Schließungen von Postagenturen. Ich formuliere die Forderungen, die wir an die Bun- Die besorgten Anrufe von Bürgerinnen und Bürgern, die desregierung und die Post stellen müssen: große Bedenken haben, ob sie ihre Postgeschäfte zu- künftig noch wie gewohnt erledigen können, zeigen, Erstens. Für alle Bürgerinnen und Bürger in Deutsch- welch hoher Stellenwert diesem Thema in der öffentli- land muss weiterhin eine flächendeckende Versorgung chen Diskussion beigemessen wird. mit Postdienstleistungen sichergestellt werden. Zweitens. Eine faire und partnerschaftliche Bezie- Diesem Zustand kann der Bundestag nicht tatenlos hung muss zwischen Deutscher Post AG und den priva- zusehen. Wir müssen klar und deutlich unsere Forderun- (B) ten Postagenturbetreibern bestehen. Dazu gehört, dass (D) gen auch an die Bundesregierung als Mehrheitseigentü- man seine Partner offen und umfassend informiert und mer der Post formulieren. ihnen die nötige Luft zum Atmen lässt. Dies ist sicher (Abg. Ulrich Kelber [SPD] meldet sich zu ei- nicht mehr gegeben, wenn aufgrund der neuen Vertrags- ner Zwischenfrage) verhältnisse den Agenturbetreibern eine Einkommensre- duzierung um 25 bis 35 Prozent bevorsteht. – Kollege, hören Sie doch erst einmal, was ich sagen will. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Rainer Funke [FDP]) (Hubertus Heil [SPD]: Es macht Angst, wenn er aufsteht!) Man muss sich fragen, welcher Gedanke eigentlich hinter einer solchen Geschäftspolitik steckt. Üblicher- – Na klar! Er ist ja breit genug, um Angst zu machen. weise wird doch in der freien Wirtschaft versucht, ge- rade die Schnittstellen zum Kunden höchst attraktiv zu Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: gestalten: durch attraktive Öffnungszeiten, durch eine angenehme Atmosphäre, durch freundliches, hoch moti- Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen viertes Personal. Mir erschließt sich nicht ganz, wie je- Kelber? mand hoch motiviert und leistungsbereit seiner Arbeit am Kunden nachgehen soll, wenn man ihn eines Drittels Alexander Dobrindt (CDU/CSU): seines Einkommens beraubt. Ich bin der Überzeugung, dass diese Strategie schlichtweg nicht zielführend ist. Aber bitte. Die Frustrationsgrenze seitens der Agenturbetreiber ist überschritten, was zwangsweise zu einem Rückgang der Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Kundenzufriedenheit führen wird. Herr Kollege. Natürlich wollen auch wir, dass die Deutsche Post AG als privatwirtschaftliches Unternehmen profitabel arbei- Ulrich Kelber (SPD): tet und Gewinne erwirtschaftet. Aber in diesem Zusam- menhang spielen doch der Kunde und das Werben um Der Kollege Barthel hat schon auf die Geschichte die Kunden die ausschlaggebende Rolle. der Post-Universaldienstleistungsverordnung hingewie- sen. Würden Sie mir aber bestätigen, dass folgende Aus- Die Deutsche Post AG bestreitet gar nicht, dass es sage die Situation richtig beschreibt? bei den privaten Agenturen zu Einkommenseinbußen 4182 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

Alexander Dobrindt (A) kommen wird. Sie gibt sogar Handlungsempfehlungen sche private Postagenturen sind hier aus der Taufe geho- (C) heraus, wie diese Einkommensverluste kompensiert wer- ben worden. den können. Ich darf hier aus der Zeitschrift „Post- forum“ einen Sprecher der Deutschen Post AG zitieren, (Hubertus Heil [SPD]: Dank der PUDLV!) der darauf verweist: Das war ein sinnvoller Beitrag zur Mittelstandsförde- Darüber hinaus besteht durch den neuen Vertrag die rung. Hier muss weiter gearbeitet werden. Es darf keine Möglichkeit, die täglichen Öffnungszeiten der Part- Umkehrung des Erreichten erfolgen. ner-Filiale etwas flexibler zu gestalten, und so kann Die Deutsche Post AG ist ein profitables Unterneh- der Partner seine Personalkosten senken. men. Wir können auf die wirtschaftliche Leistungsfähig- Im Klartext heißt das: Personalkosten senken durch ver- keit dieses Unternehmens durchaus stolz sein. Post-Chef kürzte Öffnungszeiten. Dr. Klaus Zumwinkel hat gestern für das Jahr 2003 ein operatives Ergebnis von 2,8 Milliarden Euro in Aussicht Ich kann mich noch sehr gut an die Diskussion in gestellt. Das ist gerade in der heutigen Zeit eine positive meiner Heimatgemeinde Peißenberg erinnern, als be- Nachricht kannt wurde, dass das Postamt geschlossen und dafür ein Partnershop eingerichtet werden soll. Ich war einer der (Ulrich Kelber [SPD]: Kein Sozialneid! – Wei- wenigen, die das begrüßt haben. Ich bin der Überzeu- terer Zuruf des Abg. Klaus Barthel [Starnberg] gung, dass die Marktwirtschaft hier wesentlich kunden- [SPD]) orientierter arbeiten kann als eine Monopolgesellschaft. Die erweiterten Öffnungszeiten waren für mich damals – Herr Barthel –, die wir sehr gerne hören. Diese gab es der ganz entscheidende Vorteil des Systems. Das hat seit Ihrem Regierungsantritt nicht mehr so oft. auch gut funktioniert. Der Postagenturbetreiber bei mir (Hubertus Heil [SPD]: Man muss nur gut hin- zu Hause hat den neuen Vertrag bis heute noch nicht un- hören!) terzeichnet. Wir müssen trotzdem feststellen, dass auch Aktionärs- Ich sage es noch einmal: Der Weg zum Erfolg führt vertreter gestern die aktuell vollzogenen und geplanten über die Kundenzufriedenheit und dazu brauche ich Einsparungen kritisiert haben. Der gute Ruf des „gelben eine funktionierende Schnittstelle zwischen Unterneh- Riesen“, der maßgeblich mit seinen Erfolgen zusammen- men und Kunden. Dies sehe ich momentan jedoch nicht hängt, leidet zurzeit vor allem durch den offensiv betriebe- in ausreichender Form sichergestellt. Deswegen haben nen Abbau von Briefkästen und der mangelnden wir in unserem Antrag formuliert, dass die Bundesregie- Informationspolitik gegenüber den Kommunen. Wenn (B) rung als Mehrheitseigentümerin der Deutschen Post AG die Deutsche Post AG die Auswahl der abzubauenden (D) auf die Angemessenheit der Agenturverträge achten und Briefkästen schon durch eine Hightechsoftware ermit- sich vor allem für einen fairen und partnerschaftlichen teln kann, dann dürfte sie wohl auch in der Lage sein, Umgang der Deutschen Post AG mit ihren Partnern ein- rechtzeitig ausreichende Informationen an die Städte und setzen soll. Gemeinden zu übermitteln. (Beifall bei der CDU/CSU – Hubertus Heil [SPD]: (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Eine gute SPD-Formulierung! Sehr gut!) bei Abgeordneten der FDP) Die Verantwortung liegt hier mit bei der Bundesregie- Stattdessen wird nur ein Standardinformationsbrief ver- rung und wir fordern sie auf, im Interesse der Kunden, schickt, oft sogar erst hinterher, der vieles Weitere im im Interesse der Agenturnehmer und nicht zuletzt im In- Unklaren lässt. teresse der Deutschen Post AG zu handeln. Die Ankündigung der Deutschen Post AG vom gestri- Die Menschen, also die Kunden, stellen den Abbau gen Tag, ihr Filialnetz weiter auszudünnen, halte ich für der Briefkästen erst dann fest, wenn sie an den bekann- bedenklich. Nach Berichten sollen zusätzlich 700 Filia- ten Stellen stehen und die Briefkästen nicht mehr vorfin- len geschlossen werden. Die Deutsche Post AG will of- den. Die Freude darüber hält sich natürlich in Grenzen. fensichtlich auf die gesetzlich vorgeschriebene Grenze Das haben wir alle in den letzten Wochen in unseren von mindestens 12 000 Filialen und Agenturen schrump- Wahlkreisen erlebt. Das Schönste dabei ist: Wenn man fen. Ich habe diese Grenze immer als ein absolutes Mini- nachfragt, welche Briefkästen abgebaut worden sind, be- mum betrachtet, das der Gesetzgeber vorgegeben hat. kommt man eine Liste jener Briefkästen, die noch vor- Dass die Deutsche Post AG dies nun als Zielvorgabe be- handen sind. Dazu gibt es den Hinweis, nachdem einige trachtet, die es schnellstmöglich zu erreichen gilt, kann Briefkästen nicht mehr da seien, helfe es niemandem man eigentlich nur bedauern. Auch hier gilt, dass die mehr, zu wissen, wo sie vorher einmal gestanden haben. Kundenorientierung und nicht das Planziel von 12 000 Das ist, denke ich, nicht die offene Informationspoli- Einheiten im Vordergrund stehen muss. tik, die ich mir von der Deutschen Post AG wünsche. Ich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bin der Überzeugung, man könnte bei den Bürgerinnen und Bürger viel Unverständnis und viel Verärgerung ver- Die Privatisierung der Deutschen Post AG war in meiden, wenn man rechtzeitig und offen informiert hätte meinen Augen auch ein breit angelegtes Mittelstands- und nicht in einer Nacht-und-Nebel-Aktion an den Ab- förderprogramm. Über 7 000 kleine und mittelständi- bau von Briefkästen herangegangen wäre. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4183

Alexander Dobrindt (A) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie schreiben mögen und ab und zu zur Feder greifen. Ge- (C) der Abg. Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/ rade für diese Gruppen, die auf die Post angewiesen DIE GRÜNEN]) sind, ist eine flächendeckende Versorgung notwendige Voraussetzung für Kommunikation. Deswegen ist das Mit unserem Antrag wollen wir erreichen, dass die durchaus ein ernstes Thema. Deutsche Post AG über Änderungen der Standorte von Briefkästen vorab informiert. Bei einer Schließung von Die Post als marktbeherrschendes Unternehmen, als stationären Einrichtungen erachte ich das ohnehin für Monopolunternehmen hat, wie gesagt, die Verpflichtung, eine Selbstverständlichkeit. die Post-Universaldienstleistungsverordnung einzuhal- Nochmals: Mehr Fairness, mehr Partnerschaft, mehr ten. Teilweise wurden den Agenturen aber Verträge an- Gemeinsamkeit und Information, das sind die Grundla- geboten, die sie nicht annehmen konnten. Diese Agentu- gen unseres Antrags. Wir wollen eine kundenorientierte ren gehören häufig zu den Tante-Emma-Läden im Dorf, und flächendeckende Versorgung mit Postdienstleistun- die den Zusatzverdienst, den sie durch ihre Funktion als gen. Wir wollen leistungsfähige und überlebensfähige Postagenturen erhalten, benötigen. Wenn sie diesen Postagenturen. Wir wollen eine erfolgreiche Post AG. nicht erhalten, müssen die Tante-Emma-Läden schließen und wir könnten die Versorgung der ländlichen Struktur Danke schön. und der älteren Menschen im Dorf nicht mehr garantie- (Beifall im ganzen Hause) ren. Es hängt also ein riesiger Rattenschwanz daran. Ich sage es noch einmal: Es ist notwendig, dass die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Post die Verordnung einhält. Wie sie das tut, ist uns im Das Wort hat die Kollegin Michaele Hustedt, Grunde genommen egal. Sie muss die flächendeckende Bündnis 90/Die Grünen. Versorgung aber sicherstellen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch CDU/CSU) ich begrüße es, dass wir es geschafft haben, einen ge- Ich finde es sehr gut, dass wir einen gemeinsamen meinsamen Antrag zu diesem Thema aufzusetzen, und Antrag gestellt und in diesem deutlich gemacht haben, dass wir es schaffen, ihn zu verabschieden. Natürlich dass wir es nicht akzeptieren werden, wenn diese Ver- hängt das nicht damit zusammen, dass wir die Vor- ordnung nicht eingehalten wird. Wir fordern die Post schläge der Opposition übernommen hätten. Vielmehr dazu auf, mit der Schließung der Agenturen zu warten, gab es aus allen Fraktionen ähnlich lautende Anträge. (B) bis die Kartellbehörde die Verträge überprüft hat. Dane- (D) Aber ich will nicht kleinlich sein: Es ist trotzdem eine ben fordern wir dazu auf, dass die gesetzlich vorgesehe- große Leistung, dass wir uns zu einem gemeinsamen nen Bußgelder eingefordert werden, wenn die Verord- Antrag durchgerungen haben. nung nicht eingehalten wird; auch das gehört dazu. Ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN finde, das ist ein eindeutiges Signal, dass wir es sehr und bei der SPD) ernst meinen. Darüber hinaus ist zu prüfen, ob die beste- henden rechtlichen Instrumente ausreichen, um die flä- Heute geht es also darum, wie viele Briefkästen, wie chendeckende Versorgung sicherzustellen. viele Filialen und wie viele Agenturen die Post bereitzu- stellen hat; das haben wir in der berühmten PUDLV fest- Wie gesagt: Ich finde es gut, dass wir einen gemeinsa- gelegt. Ich sage vorweg: Dass sie das muss, hat weniger men Antrag gestellt haben, und ich denke, dass wir da- damit zu tun, wie viele Aktien der Bund besitzt, sondern mit der Post gegenüber signalisieren, dass es uns ernst ist schlichtweg damit, dass die Post in diesem Bereich noch und dass wir hier zusammenhalten. ein Monopolunternehmen ist und deswegen verpflichtet ist, eine flächendeckende Versorgung sicherzustellen. Ich danke Ihnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) und bei der SPD) Deswegen hat dieser Streit, ob Aktien ja oder nein – Sie wissen, ich bin eher dem Wettbewerb zugeneigt –, in Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: dieser Debatte, wie ich finde, nichts zu suchen. Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Man kann darüber lächeln, dass wir hier im Bundes- Rainer Funke, FDP-Fraktion. tag darüber diskutieren müssen, wo ein Briefkasten ste- hen und wo es eine Postagentur geben soll. Aber man Rainer Funke (FDP): muss sich bewusst machen, dass heute nicht jeder im In- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In einem ternet chattet und dass nicht jeder einen fahrbaren Unter- sind wir uns einig: Im Interesse der Wirtschaft und der satz hat, mit dem er 40 Kilometer fahren kann, um sei- Verbraucher wollen wir eine flächendeckende Versor- nen Brief aufzugeben. Zu denjenigen, die nicht so mobil gung mit Postdienstleistungen sichern. sind, gehören viele ältere Menschen und ganz junge Menschen, die zum Beispiel einer Brieffreundin schrei- (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Verwal- ben wollen. Es gibt Menschen, die einfach das Briefe- tungsmentalität auch bei der FDP!) 4184 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

Rainer Funke (A) – Seien Sie einmal ganz ruhig! Ich komme gleich zum kann sich eigentlich nur jemand benehmen, der keinen (C) Kern der Sache. Wettbewerb zu scheuen hat, weil gesetzlich kein Wett- bewerb zugelassen ist. Die Postagenturen werden nach (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Das dachte diesen Verträgen im Schnitt 25 bis 30 Prozent ihrer Ein- ich mir!) kommen verlieren, obwohl sie noch zusätzlich Fron- In einem sind wir uns aber nicht einig, lieber Herr dienste für die Post AG erbringen müssen. Kollege Barthel, nämlich darin, wie dies am besten zu geschehen hat. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Während die Koalitionsfraktionen und auch Teile der Herr Kollege Funke, bitte denken Sie an Ihre Rede- CDU/CSU-Fraktion glauben, Postdienstleistungen si- zeit. chere man am besten durch Marktregulierung, zum Beispiel durch eine extensive Auslegung von Universal- Rainer Funke (FDP): dienstleistungen, durch Regelungen, wie viele Briefkäs- ten wann und wo zu leeren sind und vieles mehr, Ich weiß, aber der Kollege Barthel hat gerade seinen Arm erhoben, um eine Zwischenfrage zu stellen. (Hubertus Heil [SPD]: Stimmen Sie gleich doch mit ab!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: glauben wir Liberale daran, dass Markt und Wettbewerb Gestatten Sie die Zwischenfrage des Kollegen die Verbraucherwünsche am besten befriedigen können. Barthel? (Beifall bei der FDP – Klaus Barthel [Starn- berg] [SPD]: Vor allem auf dem flachen Rainer Funke (FDP): Land!) Natürlich. In allen Bereichen unserer Wirtschaft, ob im produ- zierenden Gewerbe oder im Dienstleistungsbereich, er- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: hält der Verbraucher, der Kunde, all das, was er benötigt, Ich erinnere Sie trotzdem daran: Ihre Redezeit ist in- am Markt. Nur bezogen auf den Postdienstleistungsbe- zwischen deutlich überschritten. reich glauben die Sozialdemokraten, die Grünen und auch Teile der CDU/CSU offensichtlich immer noch, Klaus Barthel (Starnberg) (SPD): dass reguliert werden muss. Das halten wir in der Tat für falsch. Da Herr Funke so viel von Wettbewerbern gespro- (B) chen hat, möchte ich ihn etwas fragen. Zwei Drittel des (D) (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Ha- Postmarktes sind inzwischen für den Wettbewerb geöff- ben wir jetzt eine Regulierung oder haben wir net. Es gibt zum Beispiel im Fracht- und Paketbereich sie nicht?) Wettbewerber. Vielleicht können Sie uns einmal erklä- – Wir haben diese Regulierung, weil die Post ein Mono- ren, wie wunderbar die Vertragsbedingungen auf dem polunternehmen ist. Herr Tauss, Sie wissen, dass wir das Paketsektor zwischen Großversendern und Konkurren- Postmonopol so schnell wie irgend möglich – am besten ten der Post im Verhältnis zu deren Agenturnehmern schon morgen – beseitigen wollen. Wir wollen die sind. Post AG zu einem wettbewerbsfähigen Marktteilnehmer gestalten. Rainer Funke (FDP): (Beifall bei der FDP – Hubertus Heil [SPD]: Herr Kollege Barthel, der Post- und Paketdienst ist Das wollen wir auch!) schon seit 1935 dem freien Wettbewerb ausgesetzt. Inso- fern hat das mit dem Monopolunternehmen überhaupt Statt also die richtige Konsequenz zu ziehen, der Post nichts zu tun. AG ihr Postmonopol zu nehmen und den Wettbewerb zu stärken, zum Beispiel durch die Zulassung von privaten (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Nein, aber Wettbewerbern, was auch heute noch sehr gut möglich mit dem Wettbewerb hat es etwas zu tun!) wäre, wird die typisch sozialdemokratische Antwort ge- Das gilt sowohl für die Wettbewerber als auch für die funden: Da kein Wettbewerb sein darf, wird reguliert. Post AG. Da sind die gleichen Wettbewerbsbedingungen (Hubertus Heil [SPD]: Sie haben aber ein Bild vorhanden. von uns!) (Beifall bei der FDP – Klaus Barthel [Starn- In einem Punkt gebe ich den Sozialdemokraten Recht: berg] [SPD]: Aber nicht gegenüber den Agen- Weil sie Monopolist ist, bewegt sich die Post AG in arro- turen!) ganter Weise im Postregulierungsmarkt. Ein typisches Beispiel dafür war ihr Verhalten gegenüber ihren Part- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nern, den Postagenturen: Anfang dieses Jahres hat die Ich schließe die Aussprache. Post AG ihren Agenturpartnern einen 39-seitigen Ände- rungsvertrag übersandt, der mit dem Wort „Partnerver- Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- trag“ überschrieben war. Bei der Art dieses Vertrages empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit kann man dabei nur von Hohn und Spott sprechen. So auf Drucksache 15/1129. Der Ausschuss empfiehlt, die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4185

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Anträge auf den Drucksachen 15/615, 15/466 und 15/579 Im Allgemeinen können Aufenthaltsbewilligungen (C) zusammenzuführen und in der Ausschussfassung anzu- zum Schulbesuch … nicht erteilt werden. nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- Das ist schade; denn diese Formulierung kommt von lung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom- der sich als weltoffen sehenden rot-grünen Bundesregie- men. rung. – In Nr. 28.5.6.2 sind die Ausnahmen geregelt. Das führt dazu, dass jeder Einzelfall überprüft werden muss, Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: ob wirklich ein Ausnahmetatbestand vorliegt. So ist der Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Willkür der Ausländerbehörden vor Ort Tür und Tor Homburger, Cornelia Pieper, Ulrike Flach, weite- geöffnet. rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Ich will Ihnen dazu ein Beispiel nennen. Kürzlich ver- Den Bildungsstandort Deutschland stärken – weigerte der Landkreis Dessau 50 chinesischen Schüle- ausländischen Jugendlichen den Schulbesuch rinnen und Schülern die Aufenthaltsgenehmigung. Das erleichtern hatte zur Folge, dass diese keinen Intensivsprachkurs mit anschließendem Bildungsgang in den neuen Bundeslän- – Drucksache 15/471 – dern belegen konnten. Diese chinesischen Schülerinnen Überweisungsvorschlag: und Schüler sind dann glücklicherweise hartnäckig ge- Innenausschuss (f) wesen und nicht nach Großbritannien gegangen, wie es Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung häufig genug vorkommt. Vielmehr absolvieren sie jetzt Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend den fast identischen Bildungsgang in Heidelberg, weil der Landkreis Heidelberg weltoffener ist und wirtschaft- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die licher denkt und deswegen anders entschieden hat. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wi- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) derspruch. Dann ist das so beschlossen. Dieses Beispiel zeigt, dass die Ausnahme vielleicht, Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege eventuell, gewissermaßen als Gnadenakt der Behörden, Christoph Hartmann, FDP-Fraktion. gewährt wird oder eben nicht. (Beifall bei der FDP) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Unsinn!) Christoph Hartmann (Homburg) (FDP): (B) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Genau das wollen wir Liberalen nicht. (D) Herren! Auch wenn wir hier in einem überschaubaren (Beifall bei der FDP – Josef Philip Winkler Kreis sitzen, so ist es uns, der FDP, mit dem Bürokratie- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Recht abbau Ernst. Dieses Thema anzugehen ist dringend not- und Gesetz!) wendig. Über 70 000 Verordnungen und Gesetze gibt es in diesem Land, die zum Leidwesen der Bevölkerung je- In Großbritannien oder der Schweiz sind Schülerinnen des Politikfeld durchziehen. Deswegen hat es sich die und Schüler als zahlende Kunden und später als Kultur- FDP zur Daueraufgabe gemacht, innovations- und und Wirtschaftsbotschafter ihrer Gastländer hoch will- wachstumshemmende Hindernisse aus dem Weg zu räu- kommen. In England gibt es circa 120 000 ausländische men. Schüler, insbesondere in privaten Internaten. Diese si- chern 90 000 Arbeitsplätze und bringen mindestens (Beifall bei der FDP – Zuruf von der SPD: Vor 3,5 Milliarden Euro pro Jahr ins Land. allem in der Opposition!) Seit Ende Januar stellen wir Woche für Woche einen Dort herrscht ein einfacher Grundsatz: Sind alle Un- Antrag, um Gesetze und Verordnungen zu erleichtern terlagen vorhanden, gibt es eine Versicherung, gibt es oder sie sogar abzuschaffen. Hemmnisse der Bürokratie eine Garantie des Lebensunterhalts durch die aufneh- betreffen übrigens nicht nur die Wirtschafts- und Steuer- mende Einrichtung, liegen Zahlungsbestätigungen vor, politik. Auch der Bildungsstandort Deutschland wird dann wird das Visum erteilt. Dort gibt es eben keine insbesondere im Hinblick auf Schülerinnen und Schüler Ängste vor illegaler Einwanderung, denn die sind durch unzumutbar behindert. Deswegen stellt die FDP den An- diese Regelung ausgeräumt. Eine ähnliche Regelung trag, ausländischen Jugendlichen den Schulbesuch in un- würde uns in diesem Land gut zu Gesicht stehen. serem Land zu erleichtern. (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Gu- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten cken Sie mal geradeaus!) der CDU/CSU) Wir wollen Bürokratie nicht nur deswegen abbauen, Seit Ende Oktober 2002 gilt eine weitere Form des weil es etwa populär wäre, sondern weil es notwendig bürokratischen Irrsinns. In der Neuformulierung der All- ist. Wir wollen unser Bildungssystem für die internatio- gemeinen Verwaltungsvorschrift zum Ausländerge- nalen Herausforderungen fit machen. Wir wollen freien setz, in der die Aufenthaltsbewilligungen für den Schul- Schulträgern und Bildungsunternehmen die Chance ge- besuch geregelt sind, können wir unter Nr. 28.5.6.1 ben, ihre Kompetenz im wirtschaftlichen Wettbewerb zu lesen: beweisen. 4186 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

Christoph Hartmann (Homburg) (A) Herr Tauss, in einer Pressemitteilung des Bundesmi- die Zugangsbarrieren zu hoch stellen. Ich finde schon, es (C) nisteriums für Bildung und Forschung vom 28. Februar lohnt sich, daran Gedanken zu knüpfen. 2000 können wir lesen: „Die Bundesbildungsministerin (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kündigte an, mit einem offensiven Marketing für DIE GRÜNEN) Deutschland als Bildungsstandort und Forschungsstand- ort künftig werben zu wollen.“ Es geht also um den Besuch von Internaten. Daran an- knüpfend kann man folgern, dass nicht wenige dieser Ju- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gendlichen anschließend in Deutschland studieren wol- Das hat unsere volle Unterstützung. len. (Jörg Tauss [SPD]: Gucken Sie mal ins Aus- ländergesetz!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Wenn Sie ernst nehmen, was dort steht, dann dürften Sie Kollegen Bergner? mit unserem Antrag keine Probleme haben, Herr Tauss. Daran werden wir Sie messen. Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD): (Beifall bei der FDP) Bitte schön. Wir müssen Nicht-EU-Bürgern Schulbesuche ermög- lichen, wenn sie die notwendigen Voraussetzungen erfül- Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): len. Wir dürfen nicht die aus Deutschland wegschicken, Frau Kollegin, es überrascht mich zwar nicht, dass Sie die hierher kommen, um zu lernen. Das ist gut für das die Fragestellung in einen Zusammenhang mit der Zu- Image des Bildungsstandorts nach dem PISA-Desaster. wanderungsregelung bringen. Geht es aber in dem An- Sichern wir die Arbeitsplätze in unseren Schulen und trag der FDP nicht vielmehr um die Möglichkeit eines Bildungsunternehmen! Lassen Sie uns unnötige Büro- Dienstleistungsexportes in dem Sinne, dass Bildungs- kratie vermeiden! Präsentieren wir uns als würdige Gast- dienstleistungen – übrigens auch im beruflichen Be- geber! Stimmen Sie unserem Antrag zu! reich – zwar in Deutschland, aber für Ausländer angebo- Vielen Dank. ten werden können? Sollte nicht die Möglichkeit eines Dienstleistungsexports eröffnet werden? Das hat aber (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Da mit der Zuwanderungsregelung in Ihrem Sinne nichts zu wenden Sie sich mal an den Schäuble in Ba- tun. den-Württemberg!)

(B) Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD): (D) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Thema hat schon deswegen sowohl mit Dienst- Die nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Cornelie leistungs- und Bildungsangeboten als auch mit der Zu- Sonntag-Wolgast, SPD-Fraktion. wanderungs- und Ausländerpolitik zu tun,

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD): (Jörg Tauss [SPD]: Ausschließlich!) Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! weil es die Verwaltungsvorschriften im Ausländergesetz, Herr Kollege Hartmann, ich würde mir wünschen, dass das in seiner jetzigen Fassung bekanntlich noch auf die Sie das starke Ausmaß an Weltoffenheit, das Sie gerade Epoche der christlich-liberalen Koalition zurückgeht, be- am Beispiel Heidelbergs aufgezeigt haben, der baden- trifft. Insofern sind beide Bereiche miteinander zu ver- württembergischen Landesregierung empfehlen wür- knüpfen. den, damit diese sich positiv zu unserem Zuwanderungs- (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Wir rufen nach gesetz verhalten kann. Dienstleistern und es kamen Menschen!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Es geht darum, dass ausländische Jugendliche später DIE GRÜNEN) vielleicht in Deutschland bleiben wollen. Um noch ein- Ich muss zugeben: Die tatsächlichen oder angeblichen mal auf das Thema des Antrags zu sprechen zu kommen: Hindernisse für ausländische Jugendliche, ein deutsches Die Verwaltungsvorschrift zum Ausländergesetz – die Internat zu besuchen, standen bisher nicht unbedingt im seitens der Länder übrigens schon seit 1998 vorbereitet Zentrum unserer langen, sehr intensiven migrationspoli- wurde und nicht erst seit 2002, sondern bereits seit dem tischen Diskussion. Ich denke da sehr viel stärker an bes- 7. Oktober 2000 offiziell in Kraft ist – sieht keine Auf- sere Chancen in unseren Bildungseinrichtungen etwa für enthaltsbewilligungen vor und erwähnt insbesondere Kinder aus Migrantenfamilien, für Angehörige von Spät- Fälle, in denen nicht die Eltern des ausländischen Schü- aussiedlern oder Söhne und Töchter von Asylbewerbern, lers oder der Schülerin in Deutschland leben, sondern auch für illegal im Lande lebende Migranten. Das sind andere Verwandte. Dahinter verbirgt sich wohl die sicherlich gravierende Probleme. Sorge, dass sich in solchen Fällen ein Daueraufenthalt entwickeln könnte. Aber gleichwohl, Herr Kollege Hartmann, wirft der Antrag der FDP ein Schlaglicht auf einen bestimmten Ausnahmen sind nach dieser Vorschrift nur möglich, Teilbereich der Zuwanderung oder der zeitweiligen Zu- wenn es sich um einen zeitlich begrenzten Schüleraus- wanderung junger Menschen und stellt die Frage, ob wir tausch oder um eine Schule mit internationaler Ausrich- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4187

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (A) tung handelt. Außerdem bezieht sich die Vorschrift auf mert. Vielmehr gibt es viele Fälle, in denen die Zuwan- (C) Schulen, die vollständig oder zu einem überwiegenden derung durchaus wünschenswert ist, übrigens auch zum Teil aus Schulgeldern finanziert werden, die von den El- Vorteil unserer Gesellschaft. tern zu entrichten sind. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Verwaltungsvorschrift hat insofern auch den in- DIE GRÜNEN) ternationalen Aspekt und den Aspekt der Weltoffenheit des Bildungsstandortes mit erfasst. In diesem Zusam- Dieser Gedanke – da das oft vergessen wird, erinnere ich menhang stellt sich auch mir die Frage, ob diese Weltof- daran – liegt auch dem Passus des Gesetzes zugrunde, fenheit deutlich genug zutage tritt. der es ausländischen Hochschulabsolventen ermöglicht, nach ihrem Studium in Deutschland zu bleiben, wenn sie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ binnen eines Jahres eine geeignete Tätigkeit finden. Die- DIE GRÜNEN) ses Element des Gesetzes wird leider in der öffentlichen Diskussion unterschlagen, ist aber im Interesse des Bil- Die Frage, ob diese Vorschrift einladend oder eher ab- dungsstandorts Deutschland. schottend und abschreckend wirkt, sollte uns durchaus beschäftigen. Reden wir im Innenausschuss und in den anderen mit- Das Bundesinnenministerium hat keine Kenntnis von beratenden Ausschüssen darüber, und zwar hoffentlich nennenswerten Problemen im Zusammenhang mit dieser ohne die Feindseligkeiten und die Drohkulissen, die Vorschrift. Dennoch könnte uns die praktische Erfahrung sonst die Debatten über die Migration begleiten. Wir in den Ländern ein anderes Bild liefern. Sie haben be- sollten uns bei diesem Thema ruhig einmal eine positive reits ein Beispiel genannt. Deswegen rege ich an, dass und gastfreundliche Diskussion genehmigen. wir bei den Beratungen des Antrags in den zuständigen Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit. Ausschüssen die Praxis der Behörden, der Länder und vielleicht auch die Erfahrungen der betroffenen Kinder (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und Eltern berücksichtigen. Das ist sicherlich interes- DIE GRÜNEN) sant. Unumstritten ist sicherlich, dass im Visumverfahren Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nachweise in Bezug auf die internationale Ausrichtung Das Wort hat der Kollege Ernst-Reinhard Beck, CDU/ der Schule, auf die private Finanzierung und den gesi- CSU-Fraktion. cherten Lebensunterhalt für die interessierten Schüler er- bracht werden müssen. Daran kommen wir nicht vorbei (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: (B) – darin sind wir uns sicherlich einig –, weil für den Auf- Jetzt kommt das Abrücken von Stoiber! Ich (D) enthalt der Jugendlichen im Interesse aller Beteiligten bin gespannt!) eine solide Grundlage nötig ist. Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU): Ich möchte aber betonen, dass es zu begrüßen ist, wenn Kinder und Jugendliche aus anderen Ländern hier- Herr Tauss, lassen Sie sich überraschen. her kommen, um Privatschulen oder Internate zu be- suchen. Das spricht übrigens auch dafür, dass die Unter- (Jörg Tauss [SPD]: Das wäre eine echte Über- richtsangebote in den Bundesländern allen PISA- raschung!) geprägten Unkenrufen zum Trotz ihre Anziehungskraft Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle- nicht völlig eingebüßt haben. ginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir zuerst drei Vor- Es tut deutschen Internatszöglingen sicherlich auch bemerkungen, mit denen ich Bezug auf Ihre Ausführun- gut, wenn sie begabte und interessierte Mitschüler ande- gen nehmen möchte, liebe Frau Sonntag-Wolgast. Erste rer Haut- und Haarfarbe aus anderen Kulturkreisen und Vorbemerkung: Nach meiner Auffassung handelt es sich Religionsgemeinschaften zur Seite haben und mit ihnen bei dem zur Diskussion stehenden Thema im Kern um zusammen lernen. Diejenigen ausländischen Jugendli- eine bildungspolitische und nicht um eine ausländerpoli- chen, die später wieder in ihre Heimat zurückkehren, tische Fragestellung. können wiederum Botschafter eines friedlichen Lebens (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und der Weltoffenheit in der Bundesrepublik sein. neten der FDP) Deswegen ist zu überlegen, ob die Voraussetzungen Entscheidend ist einfach – ich begrüße sehr, dass Sie das für solche Privatschulen und Internatsaufenthalte aus- bereits dargestellt haben –, wie man mit diesen Bil- ländischer Kinder und Jugendlicher im Ausländerrecht dungsfragen umgeht, ob man ermunternd oder abschot- offener, sprich: gastfreundlicher, formuliert werden soll- tend formuliert. Ich meine, in einer Zeit der Europäisie- ten. Das entspricht übrigens auch dem Gesinnungswan- rung und der Globalisierung stünde es uns gut an, wenn del – es tut mir Leid, dass ich noch einmal auf das wir eine weltoffene Formulierung fänden, die einen er- Zuwanderungsgesetz zu sprechen komme, aber der Zu- munternden und nicht einen dumpf-abschottenden Ef- sammenhang ist zwingend –, den wir in unserem Zu- fekt hat. wanderungsgesetz deutlich machen, dass nämlich längst nicht jede Form der Zuwanderung des Teufels ist, wie es (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der die CDU/CSU uns und leider auch den Bürgern einhäm- FDP) 4188 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (A) Zweite Vorbemerkung: Es geht auch nicht um den Vorhin ist schon etwas zu den Auswirkungen gesagt (C) Schulbesuch von Schülern aus EU-Staaten, sondern aus- worden. Da, wo ich in Baden-Württemberg nachgefragt schließlich um Schüler aus Nicht-EU-Staaten, die eine habe, hat es keine Probleme gegeben. deutsche Schullaufbahn gewählt haben. (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Ja, ich Dritte Vorbemerkung: Betroffen ist auch nicht der habe auch gefragt!) Schüleraustausch. Er hat sich seit vielen Jahren einge- spielt und bewährt. Hier sind uns auch keine Probleme Ich habe in sehr vielen Fällen gehört, dass es überhaupt bekannt. Wir wünschen uns nur, dass er intensiver be- keine Probleme gibt und dass auch bei Heimatländern trieben wird. Es geht außerdem – das haben schon meine wie China, Ukraine oder Mexiko die Anträge problem- beiden Vorredner ausgeführt – nicht primär um die staat- los bearbeitet und die Aufenthaltsgenehmigungen erteilt liche Regelschule, sondern um Bildungsangebote priva- werden. Allerdings – das Beispiel ist vorhin von Herrn ter Träger, zumeist von Internaten. Hartmann genannt worden – gibt es offenbar eine unter- schiedliche Handhabung. Das ist im Sinne der Chancen- In Deutschland gibt es zurzeit 2 600 Schulen mit un- gleichheit nicht akzeptabel. gefähr 580 000 Schülern in freier Trägerschaft. Der An- teil der ausländischen Schüler beträgt an manchen die- Wie geht man damit um? Man sollte daran keine ser Schulen bis zu 20 Prozent. Hier zeigt sich trotz PISA grundsätzliche Diskussion aufhängen. Man könnte ein- – auch das haben Sie zu Recht hervorgehoben – die fach den Passus in der Verwaltungsvorschrift streichen. durchaus noch vorhandene Attraktivität des Bildungs- Aber das ist Ausländerrecht. Es steht mir als Bildungs- standorts Deutschland, den wir mit bürokratischen Rege- politiker nicht unbedingt zu, den Innenpolitikern zu sa- lungen nicht weiter beschädigen dürfen. Ausländische gen, was sie in ihre Vorschriften hineinschreiben sollen. Schüler – das ist bereits am Beispiel Englands und der Schweiz dargestellt worden – stellen einen nicht unbe- (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Alles, was trächtlichen Wirtschaftsfaktor dar. Die Kinder, die ein Sie jetzt sagen, kann später gegen Sie verwen- deutsches Internat besuchen, sind im Anschluss an ihren det werden!) Schulbesuch hervorragende Botschafter auch der deut- schen Kultur und der deutschen Sprache in ihren Hei- – Ich habe gesagt: Ich maße mir das nicht an. – Meines matländern. Erachtens wäre natürlich schon sehr viel gewonnen, wenn mit einer positiven Formulierung auch ein positi- (Beifall bei der CDU/CSU) ves Signal gesetzt würde. Ein Beispiel – damit das kon- kret wird –: Aufenthaltsbewilligungen zum Schulbesuch Allein im Hinblick auf eine weitere Europäisierung können unter den nachfolgenden Bedingungen erteilt (B) (D) und Globalisierung – das habe ich schon vorhin gesagt – werden. – Als Bedingungen könnten die Ausnahmetat- ist eine internationale Ausrichtung der deutschen Schule bestände genannt werden, die in der Verwaltungsvor- eine Notwendigkeit. Herr Tauss, auch dem werden Sie schrift stehen. wahrscheinlich zustimmen. Ich komme aus Baden-Württemberg. Da schaut man (Jörg Tauss [SPD]: Ich bin begeistert!) manchmal zum südlichen Nachbarn. Von der Schweiz, die nicht gerade in dem Ruf steht, im Bereich der Aus- Die Schulen in freier Trägerschaft haben auf diesem länderpolitik eine Vorreiterrolle zu spielen, als klassi- Gebiet bereits eine Vorreiterrolle übernommen. Es schem Internatsland könnten wir das übernehmen, was nimmt nicht wunder, dass zum Beispiel die Schule dort geregelt worden ist; man könnte es sich zumindest Schloss Salem im Internet auf Englisch, Französisch, einmal anschauen. Spanisch, aber auch auf Russisch und Chinesisch wirbt. Lassen Sie mich auf die entsprechende Verwaltungs- Wer in der Schweiz ein Internat besuchen will, hat vorschrift im Ausländergesetz eingehen. Dort heißt es: folgende Voraussetzungen zu erfüllen – das ist in der Im Allgemeinen können Aufenthaltsbewilligungen zum Schweiz gesetzlich geregelt –: Erstens. Er muss allein Schulbesuch nicht erteilt werden. Frau Sonntag-Wolgast, einreisen, das heißt ohne Immigrationsabsichten der Fa- genau das ist eine ängstliche und abwehrende Formulie- milie. Zweitens. Er muss eine Ganztagsschule allge- rung, bei der meiner Meinung nach die Asyl- und Zu- mein- oder berufsbildender Art im Sinne einer staatli- wanderungsdebatte eine Rolle gespielt hat und die nach chen Schule besuchen. Drittens. Der Schulleiter muss meiner festen Überzeugung fehl am Platz ist. die Schulanmeldung und den Schulbesuch bestätigen. Viertens. Der Schüler muss über ausreichende finan- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie zielle Mittel verfügen. Fünftens. Bei minderjährigen bei Abgeordneten der SPD) Schülern muss für Betreuung gesorgt sein. Die Wieder- ausreise nach dem Schulbesuch muss gesichert sein. Im Hinblick auf so genannte staatlich anerkannte Pri- Mehr nicht. Das sind klar umrissene Voraussetzungen. vatschulen wird gesagt: Ausnahmen können in Betracht kommen, wenn es sich um eine staatlich anerkannte (Beifall bei der CDU/CSU) Schule handelt, die ganz oder überwiegend aus den von den Eltern zu entrichtenden Schulgeldern finanziert Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: wird, und wenn der Lebensunterhalt des ausländischen Schülers durch Zahlungen der Eltern gesichert ist. Herr Kollege, schauen Sie bitte einmal auf die Uhr! Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4189

(A) Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU): Stelle geht, wenn es sich um eine besondere Schule mit (C) Danke schön, Frau Präsidentin. Ich komme zum internationaler Ausrichtung bzw. um eine staatlich aner- Schluss. kannte Privatschule handelt oder wenn eine Schülerin einmal Weinkönigin war. Die Bundesregierung ist laut Antwort auf eine Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion daran interessiert, dass (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) möglichst viele Menschen in möglichst vielen Ländern Deutsch lernen; in besonderem Maße gelte das für Län- Dieser Ausnahmekatalog macht deutlich, dass in der, mit denen Deutschland besonders enge politische, Deutschland die Qualität und die Kompatibilität des Bil- wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen pflege. Wenn dungsabschlusses die Hauptkriterien bei der Erteilung das so ist, dann gilt es in der Tat, den Schulbesuch aus- der Erlaubnis eines zweckgerichteten Aufenthaltes zum ländischer Schüler in Deutschland zu fördern und ihn Schulbesuch sein müssen. Durch den FDP-Antrag kann nicht zu be- oder gar zu verhindern. man allerdings den Eindruck gewinnen, dass es vor al- lem um eine weitere Öffnung der privaten Bildungsein- Vielen Dank. richtungen geht, also nicht nur um Schulbildung, son- dern um eine Mischung aus betrieblichen Interessen und (Beifall bei der CDU/CSU) schulischer Bildung.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Problematisch ist dieser Ansatz nach unserer Mei- Lieber Herr Kollege Beck, ich gratuliere Ihnen recht nung oft für die betroffenen ausländischen Jugendlichen, herzlich zu Ihrer ersten Rede in diesem Hohen Hause insbesondere für die genannte Gruppe aus China, deren und wünsche Ihnen alles Gute. Eltern so genannten Kontaktbüros viel Geld für die Er- teilung eines befristeten Aufenthalts zum Besuch von (Beifall) Bildungsgängen zahlen. Die bei den privaten Bildungs- Nächster Redner ist der Kollege Josef Winkler, Bünd- trägern erreichten Abschlüsse werden jedoch leider oft nis 90/Die Grünen. nicht anerkannt. Das heißt, dass ein ausländischer Schü- ler nach der Rückkehr in sein Heimatland außer Kennt- nissen der deutschen Sprache – das ist immerhin etwas – Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nichts in der Hand hat, was ihm auf seinem weiteren Le- NEN): bensweg helfen kann. Insofern ist dieser Ansatz durch- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und aus kritisch zu betrachten. Herren! Beim vorliegenden Antrag der FDP ist der Titel in Ordnung, aber mit dem Inhalt müssen wir uns noch Für eine Öffnung dieser Verwaltungsvorschrift zur (B) (D) einmal näher befassen. „Den Bildungsstandort Deutsch- Ermöglichung der Teilnahme an solch fragwürdigen land stärken“ – dagegen kann niemand etwas haben. Ausbildungen werden wir uns nicht einsetzen. Einen „Ausländischen Jugendlichen den Schulbesuch erleich- akuten Handlungsbedarf sehen wir hinsichtlich der Kon- tern“ – wenn ich nach rechts schaue, bin ich mir nicht kretisierung der weiteren Ausnahmetatbestände dieser ganz so sicher, ob die Bereitschaft dazu so groß ist. Verwaltungsvorschrift nicht. Wenn sich wirklich erweist, dass größere Probleme vorliegen – das kann ich im Mo- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ment noch nicht erkennen –, dann werden wir natürlich und bei der SPD) bereit sein, darüber zu sprechen. Mit dem vorliegenden Antrag kritisiert die FDP eine Herzlichen Dank. uneinheitliche und bürokratische Verwaltungspraxis bei der Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen für auslän- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dische Jugendliche zum Besuch deutscher Schulen. Die und bei der SPD) FDP führt das auf eine zu restriktive Verwaltungsvor- schrift zum Ausländergesetz zurück. Sie haben auch aus- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: geführt, die unterschiedlichen Ergebnisse der Prüfungen durch die Ausländerbehörden stellten eine Negativwer- Nächste Rednerin ist die Kollegin Marion Seib, CDU/ bung für den Bildungsstandort Deutschland dar. Zu Ih- CSU-Fraktion. ren Ausführungen dazu möchte ich sagen: Irgendwo ist zumindest die Gruppe, die hier angesprochen worden ist, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) untergekommen. Marion Seib (CDU/CSU): Ein sicherlich recht schroff klingender Satz aus der Verwaltungsvorschrift wurde bereits erwähnt. Allerdings Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gibt es eine ganze Reihe von Ausnahmekategorien, die Bildung ist für uns der entscheidende Standortfaktor. die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung zum Schul- Für die wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche besuch ermöglichen. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn Weiterentwicklung der Bundesrepublik ist es sicherlich ein Schüler aus einem Land stammt, das im Ausnahme- von elementarer Bedeutung, den Bildungsstandort katalog der Arbeitsaufenthalteverordnung genannt ist Deutschland zu stärken und insgesamt attraktiver zu – etwa die Schweiz, die USA, Kanada, Australien und gestalten. Beim Stichwort Bildungsdienstleistungen Japan –, wenn es um einen zeitlich begrenzten Schüler- denkt man in erster Linie an die Länder Großbritannien austausch in Zusammenarbeit mit einer öffentlichen oder Schweiz, aber kaum an Deutschland. 4190 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

Marion Seib (A) Wenn wir Schulbesuche von ausländischen Jugendli- dischen Fachkräften leichter, sich für eine Tätigkeit für (C) chen in unserem Land unbürokratisch ermöglichen, dann deutsche Firmen und Institutionen in Deutschland zu ist dies eine gute und richtige Maßnahme, damit wir als entscheiden. Bildungsdienstleister weltweit wahrgenommen werden. Neben dem Erlernen der Sprache dient ein Schulbe- (Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Barthel [Starn- such in der Bundesrepublik auch dem gegenseitigen berg] [SPD]: Weiß das der Edi auch?) kulturellen Austausch. Viele Jugendliche stellen fest, dass das Leben in Deutschland oftmals anders ist, als sie Daher halte ich den Antrag der FDP-Fraktion in der Sa- im Vorfeld vermutet haben. So können verzerrende Dar- che für richtig. stellungen im Ausland über unser Land zumindest im Wir reden hier nicht von Zuwanderung. Zuwanderung Kleinen korrigiert werden. Was wir uns für unsere Kin- ist ein auf Dauer angelegter Aufenthalt. Wir reden hier der wünschen – nämlich einen bildenden Auslandsauf- von einem temporären und die Solidarität nicht strapa- enthalt –, sollten wir auch Kindern aus anderen Län- zierenden Aufenthalt. dern zugestehen. (Jörg Tauss [SPD]: Können Sie sich vorstellen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie dass das Gesetz zwei Sachverhalte regelt?) bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN) Es gibt einige gute Gründe, die Möglichkeit des Schulbesuchs in Deutschland zu erleichtern. Die Inter- Es ist daher notwendig, dass die betreffenden Jugendli- natsschüler in England und in der Schweiz haben sich zu chen viele positive Eindrücke sammeln. Zu den positi- einem Wirtschaftsfaktor für viele Regionen entwickelt. ven Eindrücken zählt zweifelsohne nicht der lange Kampf mit den Behörden in unserem Land. Ich denke, (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ das können Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, auf- CSU]: So ist es!) grund Ihrer eigenen Erfahrungen mit unseren Behörden Niemand von uns kann ernsthaft etwas dagegen haben, nachvollziehen. wenn wir kleine, aber dennoch positive Effekte für un- sere wirtschaftliche Entwicklung erzielen. Aber auch Ein großes Problem in diesem Zusammenhang ist die langfristig gibt es positive Effekte für den Wirtschafts- unterschiedliche Handhabe der einzelnen Bundesländer standort Deutschland. Diese Effekte sind nicht so ein- bei der Erteilung von Aufenthaltsgenehmigungen. fach wie die Ausgaben der Schüler während ihres Auf- Bayern wird in diesen Fragen gerne der schwarze Peter enthaltes in Eurobeträge zu fassen. Viele der jungen zugeschoben, wie Sie es eben wieder versuchten, aber die Realität sieht anders aus. So können beispielsweise (B) Menschen, die einen Schulbesuch im Ausland absolvie- (D) ren, werden in einigen Jahren in Wirtschaft und Politik chinesische Staatsbürger komplette Ausbildungspro- ihres Heimatlandes in herausgehobenen Positionen tätig gramme in der Benedict-Schule München absolvieren. sein. (Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Barthel (Beifall bei der CDU/CSU) [Starnberg] [SPD]: Ach was!) Gerade in Zeiten der verstärkten Vernetzung der inter- Die Visaerteilung für die Teilnehmer erfolgt in Zusam- nationalen Märkte und des Zusammenrückens in Europa menarbeit des Deutschen Generalkonsulats in Peking ist es wichtig, schon frühestmöglich funktionierende und Schanghai mit dem bayerischen Ausländeramt und Netzwerke zu knüpfen. Was, meine sehr geehrten Da- ist regelmäßig unproblematisch. men und Herren, spricht dagegen, bereits in der Schule damit zu beginnen, diese zukunftsorientierten Netzwerke (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Das sind so aufzubauen? viele, dass Sie uns jeden Einzelnen aufzählen können!) (Jörg Tauss [SPD]: Fragen Sie einmal Herrn Stoiber und Herrn Beckstein!) Für uns politisch Handelnde muss es vorrangige Auf- gabe sein, darauf zu drängen, dass die bestehenden Ver- Eine wesentliche Hürde, für Firmen und Institutionen waltungsvorschriften so geändert werden, dass eine in unserem Lande tätig zu werden, ist in meinen Augen schnellstmögliche, unbürokratische sowie bundesweit das Fehlen von Grundkenntnissen des Deutschen bei einheitliche Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen für Fachkräften aus dem europäischen und vor allem dem Schüler erfolgen kann. außereuropäischen Ausland. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie (Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Barthel bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- [Starnberg] [SPD]: Wenn Sie das auf einem NISSES 90/DIE GRÜNEN) CSU-Parteitag sagen, kriegen Sie was anderes zu hören!) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sind uns einig und halten es alle für widersinnig, wenn in der All- – Nein, da bekomme ich viel Beifall, sehr geehrter Herr gemeinen Verwaltungsvorschrift zum Ausländergesetz Kollege. – Wir können und sollten uns nicht darauf ver- formuliert wird: lassen, dass es die Goethe-Institute schon richten wer- den. Wenn sie auf erworbenen Grundkenntnissen in der Im Allgemeinen können Aufenthaltsbewilligungen deutschen Sprache aufbauen können, fällt es den auslän- zum Schulbesuch nicht erteilt werden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4191

Marion Seib (A) (Jörg Tauss [SPD]: Auf den Innenausschuss Drittens. Uns hat sehr gefallen, dass Sie nicht nur auf (C) bin ich gespannt! Das wird klasse! Wir ma- das Internatswesen abgehoben haben, sondern auch auf chen eine öffentliche Sitzung!) den Schüleraustausch, auf die Internationalität insge- samt. Es ist nahe liegend, dass er sich eher im europäi- – Ich glaube, das Rederecht liegt bei mir, verehrter Herr schen Rahmen abspielt, aber die Horizonte haben wir Kollege. – Nachfolgend werden in der genannten Ver- mittlerweile erweitert. Die Zahlen sind auch nicht nied- waltungsvorschrift zwar die Ausnahmen aufgeführt, aber rig. Nach den Zahlen der EU und der KMK zu entspre- durch den ersten Satz wird bereits eine negative Grund- chenden Austauschangeboten liegen wir wohl bei rund stimmung erzeugt. 20 000 deutschen Austauschschülern und rund 17 000 Damit sind wir bei dem, was auch Sie, Frau Kollegin ausländischen Jugendlichen, die im Schüleraustausch zu Sonntag-Wolgast, gesagt haben: Ich denke, wir sollten uns kommen. Diese Zahlen beziehen sich nur auf den die Formulierung dahin gehend ändern, dass die Kern- gut ausgestatteten, reglementierten Austausch. Der aussage dieses Passus nicht das halb leere Glas be- Schüleraustausch über die Schulen ist noch deutlich hö- schreibt, sondern das halb volle Glas. Demnach sollten her. wir in Deutschland Aufenthaltsbewilligungen zum Zweck des Schulbesuchs grundsätzlich erteilen. Die da- Ich breite das hier deshalb aus, weil mir in der Vorbe- ran zu knüpfenden Bedingungen wurden schon mehr- reitung auf dieses Thema aufgefallen ist, dass wir dazu fach angeführt. Das können wir alle unterstützen. Ich bin bisher eigentlich keine gute Statistik haben. Statistiken davon überzeugt: Wenn alle diese Voraussetzungen er- sollen keine Ausflucht sein, sondern eine Statistik könnte füllt sind, gibt es keinen Grund, ausländischen Schülern hier der Politik Hinweise geben, in welchem Bereich es die Aufenthaltsbewilligung, in welches Bundesland sie Schwächen gibt. Vielleicht könnte ein bildungspoliti- auch immer gehen wollen, zu verweigern. sches Anliegen sein, internationale Bildungsstatistik und Austauschstatistik in Deutschland zu vervollkommnen Ich bedanke mich. und für andere Länder in Europa fruchtbar zu machen. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Viertens. Die FDP hat speziell die Internate in den FDP) Blick genommen. Dazu zu später Stunde vor Pfingsten einen kleinen Hinweis – das ist schon vom Kollegen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Beck dargelegt worden – auf die Realitäten. Eine Zahl Letzter Redner in dieser Debatte ist Dr. Ernst Dieter als Ergänzung: Wir haben rund 20 000 Internatsplätze, Rossmann, SPD-Fraktion. von denen – wie man erfährt, wenn man sich sachkundig macht – 5 000 nicht besetzt sind. Es würde eine Chance bedeuten, wenn diese 5 000 Plätze – das wäre ein Drittel, (B) Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): (D) das hinzukommt – vielleicht auch mit der neuen gemein- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und schaftlichen Offenheit in Bezug auf Internationalität Kollegen! Lassen Sie mich am Anfang den Kollegen schneller zu besetzen wären. Es wäre wirtschaftlich gut, Beck zu seiner ersten Rede beglückwünschen. So, wie wenn dieses Potenzial, das bereits vorhanden ist, genutzt Sie ein paar Vorbemerkungen gemacht haben, mache ich würde und entsprechend angenommen werden könnte. ein paar Nachbemerkungen. Dadurch könnte man auch andere Perspektiven eröffnen. Die erste Nachbemerkung lautet: Es ist erfreulich, Man sollte also Leerkapazitäten in diesem Bereich welch große Übereinstimmung wir darin haben, dass In- vermeiden und unter Umständen mit einem entspre- ternationalität im Bildungswesen ein gemeinsames chend anderen Verständnis von Verwaltungsvorschriften Anliegen ist. in Bezug auf das Ausländergesetz für mehr Zugänglich- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten keit sorgen. Ich will gar nicht so weit gehen, über die in- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE ternationale Hochschulmarketinginitiative hinaus auch GRÜNEN) noch eine internationale Schulmarketinginitiative in Deutschland zu fordern. Aber es kann auch dahin noch Auf einem Teilgebiet, nämlich bei den Studenten, kön- kommen. Es wäre doch grandios, wenn das nicht allein nen wir ja seit 1998 einen deutlichen Zuwachs verzeich- Sache der Länder wäre, sondern Bund und Länder hier nen; ein Plus von 20 Prozent bei den ausländischen Stu- gemeinsam vorgehen würden. dierenden wäre den Beifall des ganzen Hauses wert. Dies ist gemeinsamen Anstrengungen von uns allen zu (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ verdanken. DIE GRÜNEN) (Beifall im ganzen Hause) Das könnte bezogen auf das kritische Thema Bund-Län- Zweite Vorbemerkung: Ich fand es sehr gut, dass Sie der-Zusammenarbeit bei Schul- und Bildungsfragen hilf- in der Sache dargelegt haben, dass wir nicht allein über reich sein. EU-Ausländer sprechen, sondern hierbei auch unseren (Marion Seib [CDU/CSU]: Das müssen wir Blick über die EU hinaus richten müssen. Auch das ist nicht unnötig komplizieren, Herr Kollege!) uns ein wichtiges Anliegen, denn eine Bildungsfestung Europa würde nicht für Internationalität sorgen. Von da- – Ich glaube nicht, dass es das komplizieren würde; es her hat die FDP hiermit einen richtigen Punkt angespro- könnte es befruchten, wie es auch bei den Hochschulen chen. Wir müssen an diesem Punkt arbeiten. der Fall war. 4192 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

Dr. Ernst Dieter Rossmann (A) Fünfte Bemerkung. Kollege Beck, auch ich habe mich Fakt ist, dass die restriktiven Vorschriften im Juli (C) umgehört, und zwar in vier Bundesländern, nicht nur 1998 in der Verwaltungsvereinbarung zwischen den beim Verband Deutscher Privatschulen. In Luisenlund in Ländern niedergelegt würden. Sie wissen, was danach Schleswig-Holstein ist man sehr zufrieden, weil es einen kam: unsere Regierungszeit. 2000 wurden sie von den guten Kontakt zu den Ausländerbehörden gibt und man Ländern exekutiert und seitdem nicht verändert. Chance aufeinander eingespielt ist. In Mecklenburg-Vorpom- also für den Innenausschuss, dort Liberalität und Offen- mern gibt es keine Kritik von der beispielhaften Schule. heit zu zeigen. Auch von Brandenburg gibt es keine Kritik. Mit Salem Es besteht die Chance für den Bildungsausschuss – sieb- habe ich ebenfalls gesprochen. Sie sagten hier, von dort ter Punkt –, in einem gemeinsamen Antrag Vorschläge gebe es keine Kritik; mir sagte man, es hätte Schwierig- zu entwickeln, was man unterhalb der gesetzlichen und keiten gegeben, weil man alles schriftlich haben wollte der Verwaltungsebene tun kann: Bitten an das Auswär- und bestimmte Unterlagen nicht aufs Faxgerät legen tige Amt, über die Konsulate darauf einzuwirken, Bitten, konnte, um so einen schnellen Kontakt zwischen den Statistiken zu erstellen, Bitten, eine Werbung aufzu- Behörden zu bekommen. bauen. Ich will damit sagen, dass das Bild uneinheitlich ist. Ich möchte abschließend sagen: Es ist wunderbar, mit Aber ich habe auch das Gefühl: Wir können uns noch so dieser Gemeinsamkeit in die Pfingsttage aufbrechen zu große Mühe geben, beim Verwaltungsvollzug wird es können. immer gewisse Differenzen geben. Wir sollten aber da- rauf achten, dass wir über die kleinen Differenzen im Vielen Dank fürs Zuhören. Verwaltungsvollzug nicht die grundsätzliche Perspektive (Beifall im ganzen Hause) aus den Augen verlieren. Diese Perspektive – sechster Punkt – wollen wir gerne Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: aufnehmen. Wir sind als Bildungspolitiker ganz begeis- Ich schließe die Aussprache. tert, welche Offenheit es aufseiten der FDP gibt, der wir Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf dort nichts vorzuwerfen haben. Drucksache 15/471 an die in der Tagesordnung aufge- (Christoph Hartmann [Homburg] [FDP]: Das führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federfüh- ist ja sehr nett, vielen Dank!) rung beim Innenausschuss liegen soll. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist – Das war jetzt die Überleitung zur CDU/CSU. Wenn es die Überweisung so beschlossen. möglich wäre, diese Verwaltungsvorschrift so zu überar- (B) Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- (D) beiten, dass der bildungspolitische Duktus, die Offen- ordnung. heit, das Werben stärker zum Ausdruck kommen, dann würden wir uns an erster Stelle freuen. Aber damit es so Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- weit kommt, müssen die Innenpolitiker überzeugt wer- tages auf Dienstag, den 17. Juni 2003, 14 Uhr, ein. In den. Deshalb ist es strategisch goldrichtig, diesen Antrag dieser Sitzung soll die erste Lesung des Antrags der federführend an den Innenausschuss zu überweisen. Bundesregierung über die Beteiligung an der EU-Opera- tion im Kongo erfolgen. Eine Aussprache ist nicht vor- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gesehen. DIE GRÜNEN) Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen und den Das ist die Stunde der Wahrheit, in der wir uns mit gan- Besuchern auf der Tribüne ein schönes Pfingstwochen- zer Kraft einbringen wollen. Wenn es dort einen breiten ende. CDU/CSU-SPD-FDP-Grüne-Konsens gäbe, wäre das Die Sitzung ist geschlossen. nur zum Besten. Wenn dieser noch in die Länder hinein- reichte, wäre das zum Allerbesten. (Schluss: 16.05 Uhr) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003 4193

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Amtliche Mitteilungen entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Der Bundesrat hat in seiner 788. Sitzung am 23. Mai 2003 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzu- stimmen, einen Antrag gemäß Artikel 77 Absatz 2 Altmaier, Peter CDU/CSU 06.06.2003 Grundgesetz nicht zu stellen bzw. einen Einspruch ge- Borchert, Jochen CDU/CSU 06.06.2003 mäß Artikel 77 Absatz 3 nicht einzulegen:

Braun, Helge CDU/CSU 06.06.2003 – Gesetz zur Änderung des Gemeindefinanzreformgeset- zes und des Aufbauhilfefondsgesetzes Breuer, Paul CDU/CSU 06.06.2003 – Gesetz über die Berufe in der Krankenpflege und zur Bury, Hans Martin SPD 06.06.2003 Änderung anderer Gesetze

* Deittert, Hubert CDU/CSU 06.06.2003 – Gesetz zu den WIPO-Verträgen vom 20. Dezember 1996 über Urheberrecht sowie über Darbietungen und Deß, Albert CDU/CSU 06.06.2003 Tonträger

Fischer (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 06.06.2003 – Gesetz zur Neuordnung des gesellschaftsrechtlichen Spruch- Joseph DIE GRÜNEN verfahrens (Spruchverfahrensneuordnungsgesetz)

Flach, Ulrike FDP 06.06.2003 – Gesetz zur Änderung von Regelungen zum Schutz von Dr. Friedrich (Hof), CDU/CSU 06.06.2003 Verfassungsorganen des Bundes Hans-Peter – Gesetz zur Änderung des Autobahnmautgesetzes für schwere Nutzfahrzeuge und zur Errichtung einer Dr. Gauweiler, Peter CDU/CSU 06.06.2003 Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft Glos, Michael CDU/CSU 06.06.2003 Der Vorsitzende des folgenden Ausschusses hat mit- Grosse-Brömer, Michael CDU/CSU 06.06.2003 geteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu der (B) Hartnagel, Anke SPD 06.06.2003 nachstehenden Vorlage absieht: (D) Hüppe, Hubert CDU/CSU 06.06.2003 Innenausschuss Kalb, Bartholomäus CDU/CSU 06.06.2003 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Dr. Krogmann, Martina CDU/CSU 06.06.2003 Bericht über Lage des Ausländer in der Bundesrepu- Dr. Lippold (Offenbach), CDU/CSU 06.06.2003 blik Deutschland Klaus W. – Drucksachen 14/9883 – Mantel, Dorothee CDU/CSU 06.06.2003 Ausschuss für Bildung, Forschung und Müller (Erlangen), CDU/CSU 06.06.2003 Technikfolgenabschätzung Stefan – Unterrichtung durch die Bundesregierung Raidel, Hans CDU/CSU 06.06.2003* Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutsch- Dr. Röttgen, Norbert CDU/CSU 06.06.2003 lands 2001 – Drucksachen 14/9331 – Scheuer, Andreas CDU/CSU 06.06.2003 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Schily, Otto SPD 06.06.2003 Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutsch- Seehofer, Horst CDU/CSU 06.06.2003 lands 2002 – Drucksachen 15/788 – Straubinger, Max CDU/CSU 06.06.2003 Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mit- Tillmann, Antje CDU/CSU 06.06.2003 geteilt, daß der Ausschuss die nachstehenden EU-Vorla- gen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Parla- Dr. Uhl, Hans-Peter CDU/CSU 06.06.2003 ment zur Kenntnis genommen oder von einer Beratung Weißgerber, Gunter SPD 06.06.2003 abgesehen hat. Wissmann, Matthias CDU/CSU 06.06.2003 Auswärtiger Ausschuss Drucksache 15/713 Nr. 2.5 * für die Teilnahme an den Sitzungen der Westeuropäischen Union Drucksache 15/713 Nr. 2.18 4194 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2003

(A) Innenausschuss Drucksache 15/457 Nr. 2.14 (C) Drucksache 15/345 Nr. 7 Drucksache 15/457 Nr. 2.26 Drucksache 15/345 Nr. 10 Drucksache 15/503 Nr. 1.12 Drucksache 15/345 Nr. 12 Drucksache 15/611 Nr. 1.2 Drucksache 15/713 Nr. 1.1 Drucksache 15/611 Nr. 2.8 Drucksache 15/713 Nr. 2.17 Drucksache 15/611 Nr. 2.15 Drucksache 15/792 Nr. 2.3 Drucksache 15/611 Nr. 2.18 Drucksache 15/792 Nr. 2.18 Drucksache 15/611 Nr. 2.21 Drucksache 15/611 Nr. 2.27 Drucksache 15/611 Nr. 2.30 Rechtsausschuss Drucksache 15/713 Nr. 2.3 Drucksache 15/339 Nr. 2.5 Drucksache 15/713 Nr. 2.4 Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Drucksache 15/858 Nr. 2.14 Landwirtschaft Drucksache 15/611 Nr. 2.23 Finanzausschuss Drucksache 15/792 Nr. 2.12 Drucksache 15/792 Nr. 2.25 Drucksache 15/858 Nr. 2.13 Drucksache 15/858 Nr. 3.1 Ausschuss für Gesundheit und soziale Sicherung Drucksache 15/979 Nr. 1.8 Drucksache 15/268 Nr. 2.10 Drucksache 15/713 Nr. 1.4 Drucksache 15/713 Nr. 2.1 Haushaltsausschuss Drucksache 15/858 Nr. 2.2 Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Drucksache 15/713 Nr. 1.2 Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Drucksache 15/339 Nr. 1.5 Drucksache 15/339 Nr. 2.19 Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Drucksache 15/339 Nr. 2.21 Entwicklung Drucksache 15/339 Nr. 2.22 Drucksache 15/339 Nr. 2.31 Drucksache 15/713 Nr. 2.2 Drucksache 15/339 Nr. 2.33 Drucksache 15/345 Nr. 55 Drucksache 15/345 Nr. 56 Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Drucksache 15/392 Nr. 2.3 Union (B) Drucksache 15/392 Nr. 2.4 Drucksache 15/268 Nr. 1.2 (D) Drucksache 15/392 Nr. 2.12 Drucksache 15/611 Nr. 1.6 Drucksache 15/392 Nr. 2.13 Drucksache 15/979 Nr. 1.1 Drucksache 15/392 Nr. 2.18 Drucksache 15/979 Nr. 2.4 Drucksache 15/392 Nr. 2.21 Drucksache 15/392 Nr. 2.41 Drucksache 15/392 Nr. 2.59 Ausschuss für Kultur und Medien Drucksache 15/457 Nr. 2.10 Drucksache 15/457 Nr. 2.12 Drucksache 15/611 Nr. 2.6

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