<<

Erschienen in: "Krieg der Gelehrten" und die Welt der Akademien 1914-1924 / Eckart, Wolfgang U.; Godel, Rainer (Hrsg.). - 1. Auflage. - Stuttgart : Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, 2016. - (Acta Historica Leopoldina ; 68). - „Kri eg der Gelehnen'' und di e Welt der Akademien 191 4-1924 S. 147-164. - ISBN 978-3-8047-3612-2

Wissenschaftsphilosophen im Krieg - Impromptus

Gereon WOLTERS ML (Konstanz)

Zusamnzenfassung Soweit deutsche Gelehrte nicht selbst im Felde standen, nahmen sie zumeist am Schreibti sch oder in öffent lichen Yortriigen akti v am Ersten Weltkrieg teil. Das gilt auch für die Phi losophen. Unter ihnen finden wir nicht weni ge ausgesprochene Kriegshetze r. Der vorliegende Beitrag untersucht (unter Rückgriff au f Korrespondenzen und Tage­ bucheinträge) di e im Entstehen begriffene Di szipli n der Wi ssenschaft sphilosophie. Die wichti gsten Wi ssenschafts­ ph ilosophen - die ältesten unter ihnen waren bei Kriegsbeginn 32 Jahre all - waren entweder naiv kriegsbegeistert (so zunächst Rudolf CA RNA P), oder Kriegsgegner (Moritz SCHLICK, Otto NEUR AT H und Han s REICHEN BAC H) oder komplett unpolitisch und mit sich selber beschäftigt (Hugo DI NGL ER ). Der spütere Wi ssenschaft sphilosoph Heinrich SCHOLZ, im Krieg noch Theologe, erweist sich al s der einzige Kriegspropagandist. - Das unter deutschen Gelehrten verbreitete und aggressionslcgit imi ercnde Gefühl der kollektiven Demtitigung durch den Rest der We lt weist beängs­ ti gende Parallelen zu Positionen von Gelehrten im heuti gen Ru ss land und zu weiten Teilen der islamischen Welt auf.

Abstract: Not all Gcrman scholars served in thc armed forccs in thc Grcat War; many of thcm fought through their writings ancl s1>cechcs. Among , too, wc find a fa ir number of war propagandists. This paper deals with the nasccnt subdiscipline philosophy of scicncc, draw ing on corrcspondcnce and diaries. The most importanl young philosophers of sciencc (the oldest was 32) either reactecl with naive entlmsiasm (,

at least initially) 1 or opposcd the war (Moritz Schlick, Otto Neurath, Hans Reichenbach), or were completely apolitical and preoccupied wiU1 themsclves (Hugo Oingler). The only ,var propagandist was Heinrich Scholz. During the war, howevcr, Scholz was still a theologian, who moved to philosophy of science only after the war--­ aflcr rcading thc Princip ia Mathematica of Lh e pacifist-inclined Bertrand Russcll . Among Gennan scholars of the time wc find a feeling of being collcctively humi li ated by the rest of the world . This presumed humiliation they took as justification fo r war. I see alarming parallels to scntiments with scholars in present day Russia andin \arge parts ofthe Islmnic World.

1. Einleitung

In PLATO NS (428/427 v. Chr. - 348/347 v. Chr.) idealem Staat soll ten Philosophen Könige sein .' Stark reduziert hat sich diese Idee bis heute gehalten. Zwar beansprucht - soweit ich sehe - aus der Phil osophenzun ft ni emand mehr einen Thron oder Präsidentensessel, aber sehr oft verstehen sich Intell ektuell e im All gemeinen un d Philosophen im Besonderen als Deuter, Sinnstifter und Wegweiser: von der Präimplantationsdiagnostik zur Energiewende, von der Rüstungsforschung bis zu Kriegseinsätzen der Bundeswehr - selten fehl en phi losophi sche Stimmen. Das kann man für Anmaßung halten, sollte es aber ni cht. Denn Philosophie ist nach der glü cklichen Definition KANTS ( 1724 - 1804) die argumentative Analyse - wenn sie denn gelingt - der Mögli chkeiten und Grenzen un seres Wi ssens, un seres moralisch relevan-

1 PLATON, Der Staat (Politeia), Buch V 473 c-d, in PLATON 1990. s. 443r.

Acta Historica Leopoldina Nr. 68, 147- 164 (20 16) 147

Konstanzer Online-Publikations-System (KOPS) URL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:352-2-1x58q60h6z8js8 Gereo n Wo lters: Wissenschaft sphil osophen im Krieg - Im pro mptus „Krieg der Gelehrten" und die Welt der Akadem ien 19 14-1924 ten Handelns und un serer Wertu ngen.2 „Argument ativ" heißt, dass sich diese Analy sen auf ni cht zu sagen objektive Argumente erwarten sowie Respekt vor methodologischen Grund­

Präm isse n und Argumente stützen oder besser: stüt zen sollten, die jedem Mensc hen 0 ange­ kategorien wie der Unterscheidung vo n Individuum und Ko ll ektiv oder vo n Tatsachen und sonnen" werden können, wie KANT sich ausdrückt. Die moderne Philosophie spricht von Normen. Sehen wissenschaftsnahe Philosophen in di eser Hinsicht anders aus als „gelehrte universa/isierbaren Arg umenten. Kulturkrieger"' wie EUCKE N, R1E HL,Will1elm WU NDT oder Max SCHELER (1 874 - 1928)?8 Die Forderung der Uni versalisierbarkeit von Argumen ten besteht in der Unterstellung, ein Vorweg so viel: unter den deutschen U11iversitätsphilosophe11 gab es keinen öffentlich Argument oder eine Prämisse müsse idealiter fü r all e akzeptabel sein . Aber: Unterstellungen erklärten l

148 Acta Historien Lcopoldina Nr. 68, 147 - 164 (2016) Acla Historica Lcopoldina Nr. 68, 147 - 164 (2016) 149 Gereon Wellers: Wi ssenschaflsphilosophcn im Kri eg - Impro mplus „Krieg der Gelehrten'' und die Welt der Akade mi en 1914- 1924

Berlin gebürtigen Planck-Schüler und Philosophi e-Ordinarius Moritz SCHLI CK ( 1882- 1936) we have a good breathing space and won' t worry about the future." 17 Das ist all es andere als zu bilden begann ." Die Begründer des logischen Empirismus, über die ich berichten will, Kriegsbegeisterung. Ein knappes Jahr später musste SCHLI CK sich einer Nachmusterung für waren bei Kriegsausbruch in ihren zwanziger bis dreißiger Lebensjahren. SCH LICK und Otto den Landsturm unterziehen und befürchtete, als taugli ch befunden zu werden, wobei er sich NEURATH ( 1882-1945), der unermüdliche Organi sator des Kreises, waren beide 32; Rudolf in einem Brief an den Vater (5. August 19 16) Hoffnung machte, „noch durchzuschlüpfen, als CARNAP ( 189 1- 1970), der viell eicht schärfste Kopf des Kreises, war - ebenso wie Hans REI ­ bei meiner letzten Untersuchung [ ... ] außer meiner kleinen Herzmuskelschwäche ein chron i­ CHEN BACH ( 189 1- 1953) - erst 23. Nicht dem logischen Empirismus zuzurechnen ist jedoch scher Lungenspit zenkatarrh" festgestell t worden sei. Es ging aber noch mal gut aus, und erst der eigenwillige und eigenständige Wissenschaftsphilosoph Hugo Dt NGLER (188 1- 1954), von März 19 17 bis Kriegsende wu rde SCH LI CK zum Leiter eines physikali schen Labors am 1914 bereits 33 Jahre alt. Flugplatz Ad lershof bei dienstverpflichtet. Generell ist in den Briefen SCHLICKS aus Ich möchte all erdings noch einen anderen Philosophen betrachten, den bei Kriegsbeginn der Kriegszeit auffa llend geringe Begeisterung spürbar. " 30-jährigen Privatdozenten für Theologie und Religionsphilosophi e Heinrich SCHOLZ, der Dennoch: der Rostocker Privatdozent SCH LI CK ist einer vo n den über 3000 Unterzeich­ 191 9 vo n einem 19 17 erhaltenen theologischen Lehrstuhl in Breslau auf einen philosophi ­ nern der „Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches" vom 16. Oktober 1914, in schen an die Universität Ki el wechselte. Die Lektüre der Principia Mathemalica, einem lo­ dem vor all em die Einheit vo n deutschem Volk und deutschem Heer betont wird. 19 Leider sind gisch-mathematischen Grundlagenwerk, das- ausgerechnet! - der Pazifi st Be1t rand RusSELL mir keine Dokumente über di e Umstände der Unterzeichnung durch SCH LI CK bekannt. Ein zusammen mit Alfred N. WHtTEH EAD (1861 - 1947) in den Jahren 19 10 - 19 13 verfasst hatte, gewisser Gruppenzwang ist wohl nicht auszuschließen, denn einen Monat zuvor hatte er eine regten 192 1 den Ki eler Ordinarius SCHOLZ zu einem vo ll en Studium der Mathematik und persönliche, öffentli che Stellungnahme publiziert, die in eine etwas andere Richtung al s die theoreti schen Physik an. 1928 ging er als Phi losophieprofessor nach Münster, wo sein Lehr­ „Erklärung" weist: Am 5. September 19 14 veröffentli chte der Rostocker Anzeiger unter dem stuhl 1936 den ersten deutschen Lehrauftrag für „math ematische Logik und Grundlagenfo r­ Titel „Lieb Vaterland!" einen Leserbrief SCH LICKS, in der di eser äußerst scharf - political schung erhielt", der dann schließli ch 1943 in die erste entsprechende offiziell e Denomination correctn ess war noch kein Thema! - auf den Leserbrief einer (namentlich ni cht genannten) mündete. - Doch zuerst zu Mori tz ScHLI CK. Frau antworter: 20 „Wir lasen mit Entrüstung Siitze, wie wir sie vielleicht aus dem Mu nde ei ner wi lden Suffragette erwarten, die wir aber in ei ner gesitteten deut schen Stadt nicht öffentl ich zu hören gewohnt sind. [ ... ] Nicht deutsch, nicht weiblich 2. Moritz Schlick ist jener Geföhlserguss. Es ist geschmacklos und nicht anstündig, in der erhabenen Gegenwart des großen Krieges witzlos vom ,Speckbauch' Edwards VII. , von den Hiingebacken der Königi n Viktoria zu reden; und es ist törichte Phrase, zu sagen: ,Jeder deutsche Straßenkehrer ist zu schade dazu, um ei nen engli schen Gentleman auch nur mit Moritz SC HLI CK, der spätere Spiritus Rector des Wi ener Kreises, 1904 in Physik bei Max dem Fuß anzustoßen ', denn auch Charl es Darwin und John Ru sk in , Lord Lister und Lord Avebury waren englische PLA NCK (1858 - 1947) promoviert, lehrte ab 1911 als Privatdozent für Philosophie an der Gentlemen![ ... ] Wer sich zu nmßlosem Schimpfen hinreißen lässt, der erweist dem Vaterl ande einen üblen Dienst, Uni versität Rostock. SCHLICK war 1906 und 1907 als „dauernd untaugli ch zum Dienst im denn der reizt niedrige Gefühle auf und setzt unser Ansehen im Auslande herab - und dass es auch in allen fremden Heere und in der Marine" gemustert worden. 14 Dennoch, auch der junge Privatdozent schien Nationen edle und tüchti ge Menschen gibt , an deren Meinung uns gelegen sein muss, wer wo llte das leugnen?[ ... ] Es ist unserer wlirdig, den Feind durch die Tat zu besiegen, unwürdig, ihn durch bloße Worte zu schmiihen. Seien wir etwas vo n jenem Zusammengehörigkeitsgefüh l zu spüren, das insbesondere das bürgerliche dessen eingedenk und bewahren wir auch in Wort und Schrift die Höhe der deutschen Bildung und Gesittung, die wir Deutschl and in den Augusttagen 19 14 ergri ffen hatte. 15 Jedenfalls glaubte auch der für den in diesem großen Kampfe verteidigen." Militärdienst untaugli che Philosoph nationale PRichten zu haben: Dem Vater, einem Berliner Hier wird SCHLICKS frühe, ambi va lente Position sehr deutlich: der Kri eg ist zwar ein Kampf Unternehmer, schrieb er am 3. August, er woll e sich „für das Vaterland nützli ch machen", der Kulturen, aber Schmähung der Gegner darf keine Waffe sein . SC HLI CK mahnt also bereits am li ebsten beim meteorologischen Dienst. 16 Er brachte es aber nur zu einer Ausbildung in der bürgerlichen Siegeseuphori e der ersten Kriegswochen öffentli ch so etwas wie Objekti­ als Krankenträger und kehrte bald an die Uni versität zurück. Im Oktober 191 5 wurde er bei vität oder doch weni gstens Anstand an . einer Musterung als „garnisonsdienstfähig" ein gestu ft und konnte trotz dieses gesundheit­ Ganz im Einklang mit dieser öffentli chen Äußerung stehen die Aufzeichnungen zu seiner li chen upgradings seiner amerikanischen Frau - offensichtlich erl eichtert - mitteilen: „So für das Wintersemester 19 14 geplanten, aber dann wegen des Kri egsausbruchs erst wieder im Sommersemester 191 6 gehaltenen Nietzschevorl esung.21 SCHLICK wehrt sich in di esen zu Kriegsbeginn entstandenen Aufzeichnungen energisch gegen den, vor all em in England und 13 Der „Berliner Kreis" des logischen Empirismus um Hans REICHENBACH war kleiner und weniger ei nflussreich. 14 IVEN 2008, S. 59. 15 Das damals und spüter vielfach beschworene, angeblich nationale Ein heit stiftende, kriegsbcgcisterte „A ugust­ erlebni s" bzw. der „Geist von 1914" waren fre ilich llingst nicht so verbreitet, wie bis vor weni gen Jahrzehnten angenommen. Es handelt sieb eher um einen insbesondere konservati v-bürgerlichen, sozialen Mythos, „ein Nar­ 17 Ebenda, S. 63. rativ, eines vergangenen Ereignisses, das seinen Zweck ga nz klar in der Gegenwart hatte: die Überwindung der 18 Ich kann mich hier nur auf die in IVEN 2008 publizierten Auszüge beziehen. Klassenspaltung der deutschen Gesellschaft " . (Vgl. dazu zusammenfassend VERHEY 2000, S. 17ff., Zitat S. 22). - 19 Vgl. IVEN 20 13. Ferner dessen Einleitung zu SCHLI CK 2013, s. 29f. Ich möchte die Vermutung hinzufügen, dass durch den Myt hos des „Geists von 19 14" auch die ko11fessio11e/le 20 Ich danke Mat hit1 s IVEN von der Moritz-Schlick-Forsclmngsstell e in Rostock, welche die Gesamtausgabe betreut, Spaltung überwunden werden sollte: das wilhelminische, protestanti sche Lager versuchte, auch die kathol ischen , für d ie freundliche Übermittlung ei ner Kopie des Artikels. Bevölkerungsteile in die erstrebte nationale Ei nheitsfront zu integrieren. 2 1 SCH LI CK 20 13. - Über di e Hintergründe des för heut ige Wissenschaftsphilosophen vielleicht überraschenden \6 IVEN 2008, S. 62. Projekts der Nietzschevorlesung vg l. die kenntni sreiche Ei nleitung des Herausgebers M. IVEN.

150 Acta Historica Lcopoldina Nr. 68, 147 - 164 (2016) Acca Historica Lcopoldina Nr. 68, 147 - 164 (2016) 15 1 Gereon Wolters: Wi ssenschart sphilosophen im Krieg - Im promptus „Krieg der Gelehrten" und die Welt der Akademien 1914-1924

Frank reich behaupteten, Zusammenhang der Philosophi e Friedrich NIETZSC HES (1844- 1900) Nach dem Krieg erwies sich SCHLICK als tade ll oser Demokrat, der stets Philosophie vo n mit dem deutschen Militari smus und dem Kri eg: Parteipolitik trennte. 1936 wurde er auf den Stufen zur Wi ener Universität von einem psy­ chi sch kranken ehemali gen Studenten und Doktor der Ph il osophi e erschossen - zur nicht nur „Nicht daraus kann der Krieg (und) die Kriegführung erklärt werden, dass die einzelnen Nati onen sich mil irgend­ einer Philosophie den Geist erfü llt hätten, sondern höchstens könnte man dem Mangel an Philosophie die Schul d klammheimli chen Freude von rechtskatholischen Teilen des antidemokratisch-autoritären ös• geben. Alle Kriege, aller St reit Oberhaupt, entstehen aus viel niederen, aber viel mächtigeren Instinkten als der philo­ terreichischen „S tändestaats". 26 sophi sche Trieb es ist. [ ... I Echte Ph ilosophie ist immer friedbri ngend; der phil(osophische) Geist[ ... ] geht mit dem Geiste des Friedens Hand in Hand."22 Was nun den ko nkreten Fa ll NIETZSCHE betrifft, so macht SCHLICK erstens darauf aufmerk­ 3. Heinrich Scholz sam, dass „un sere poli ti schen und militärischen Führer[ .. . ] sich keineswegs sehr eifrig mit dieser Philosophie beschäftigt" hätten, und „soweit die sie überhaupt kenn (t)en [ ... ] keines­ Der bei Kriegsbeginn 30-jährige Heinrich SCHOLZ war zu di esem Zeitpunkt bereits seit vier wegs begeisterte Anhänger davon" seien. Zweitens sei „der behauptete Zusammenhang zwi­ Jahren Privatdozent für Reli gionsphilosophie und systematische Theologie an der Berliner schen dem kriegeri schen Wollen des Volkes (und) der Gedankenwelt Nietzsches auch gar Un iversität. Er is t aus ganz anderem Holz geschnitzt als SCHLICK, er konnte damals als reiner nicht mögli ch, denn wer die glänzenden Ideen unseres dichtenden Denkers so deutet [ ... ] Romantiker und Anti-Aufklärer gelten. Für ihn ist „ni cht der Gedanke, das Produkt der Ver­ der hat ihn gar ni cht ve rstanden".23 „Nietzsche", so notiert SCHLICK an anderer Stelle, „das nunft, [ ... ] in der deutschen Lebensverfassung das Erste, sondern der ,Sinn ', das ,Herz', das ist di e Begeisterun g, das ist der Feind der Biergemütlichkeit, aus der aufzuschrecken es eines ,Gemüt'."" Kaum dass der Krieg begonnen hatte, betrat er mit einer für sein Alter erstaun­ Weltkriegs bedurfte. Von ihm können wir lernen, auch ohn e Krieg begeistert zu sein und noch li chen Abgeklärtheit das Katheder des Kri egsphilosophen und Sinndeut.ers. Dazu war der für höhere Dinge als selbst das Schi cksal des Volks."24 Sohn eines vo n den pietistisc hen Herrnhutern kommenden, „angesehenen Berliner Pfarrer(s), Gleichzeiti g wendet sich SCHLI CK wieder gegen Diffamierung der Feinde, diesmal mit mächti ge(n) Kirchenpolitiker(s) und einflussreichen Lehrer(s)" gewiss auch eher berufen Bezug auf deren Philosophie: als der Untern ehmersohn SCHLICK .28 All ein im Jahre 191 5 publi zierte SCHOL Z drei Kriegs­ schriften. In der ersten, Der Idealismus als Träger des Kriegsgedankens, wird der Kri eg als „Man hat z. B. darauf aufme rksam gemacht , dass die Denker Frankreichs sich eigentümlich wenig mit Mortdph i­ losophic beschäftigt Mitten - aber daraus folgt nicht, dass die Franzosen unmoralisch wliren, oder dass sie allzu ein Postulat des von SCHOLZ erfundenen „kritischen Ideali smus" dargestell t. In der zweiten, kriegslustig sind. L... ] Man wirfl den Engländern gewöhnlich ei nen klihlen rechnenden Krämergeist vor (und) glaubt, Politik und Moral, wird di e ethische Verpflichtung der Deutschen zum Kriege nachgewiesen, d iesen auch in ihrer Philosophie nachwe isen zu können. Aber bei den größten englischen Philosophen, wie Berkeley wä hrend di e dritte - Der Krieg und das Ch ristentum - den Ersten Weltkrieg als ni cht nur (und) 1-!ume werden Sie vergeblich nach Z ligen suchen, die di ese Ansicht bestäti gen könnten." vereinbar mit dem Christentum darstell t, sondern gewissermaßen als ein göttliches Gebot. Deutschen Schlaumeiern, di e den angebl ichen engli schen Krämergeist aus dem „Utilitaris­ Diesem ersten philosophisch-theologischen Trommelfeuer fo lgt zu Beginn des Jahres 1917 mus" als Stand ard der engli schen Ethik ableiten woll en, erteilt SCHLI CK philosophischen Das Wesen des deutschen Geistes - gewissermaßen eine Grundlagenschrift. Alle Scholzschen Sprachunterri cht: Kriegsschriften sind, wie es in der ersten heißt, „mehr als eine wo hl wollende Beleuchtung des Krieges. Sie wollen den Krieg ni cht ideali sieren, sondern di e ideellen Moti ve erl euchten, „G ut ist li m engli schen Uti litarismus ! das, was mögli chst vie len Menschen möglichst viel Glück schafft. Die­ ser Gedanke hat durchaus Hand (und) Fuß, von irgend einer Nützl ichkeit niederer Art ist sicher nichts in ihm zu di e an und für sich am Kriege beteiligt sin d. Es handelt sich um eine Betrachtung, di e auch entdcckcn."25 nach dem Kriege noch gelten möchte und ebensosehr um des Ideali smus wie um des Kri eges willen geschrieben ist. "29 Wir wissen ni cht, ob SCHLICK di ese für das Wintersemester 1914 konzipierte Einleitung dann SCHOLZ' philosophisch-theologische Durchdringung des Kri egs ist jedoch ni chts anderes im Sommer 1916 vorgetragen hat, als er die Vorlesung tatsächlich halten konnte. Wir wissen als kurzlebige Kriegspropaganda für die gebildeten, insbesondere preußischen-protestanti­ deshalb auch ni cht, wie die Studenten eventuell darauf reagiert haben. Klar ist jedoch an schen Schichten. Sie erfüllt ni cht ei nmal bescheidene methodische Stand ards - ungeachtet der Position SCHLICKS, dass er bei allem anfänglichem vaterl ändischen Pflichtgefühl stets auch damals schon bestehender methodologischer Prätenti onen ihres Autors. SCHOLZ li efert zu Fairness aufgerufen hat. Unübersehbar ist freilich di e Widersprüchlichkeit, die ihn ei­ im Wesentlichen zwei, bestenfalls argum entnahe Gedankengänge für di e Pfli cht zum Krieg: nerseits in seinem Leserbrief „Lieb Vaterland!" von September 19 14 von einem Krieg der (1.) den Sozialdarwini smus und (2.) das „nationale Ehrgefühl" der Deutschen. Kulturen reden lässt - „deutsche Bildung und Gesittung" werden angeblich ve rteidigt - und Der erste Gedankengang basiert auf einer malthusianisch gefärbten sozialdanvinistischen andererseits hell sichtig in „ni ederen Instinkten" di e Ursache für di eses erste große Morden Überlegung. Danach sind Menschen keine reinen Geist- und Vernunftwesen, sondern psycho- des Jahrhunderts sieht. Kurztun, der Wissenschaftsphilosoph SCHLICK steht dem Krieg von An fa ng an mit einer gewissen Reserve gegenüber, mahnt Universalisierung vo n Argumenten und Anstand an, und ist froh , als er endlich zu Ende ist. 26 STADLE R 1997, S. 920-961; bringt ei ne aufschlussreiche Dokumentation des Falles. 27 SCHOLZ 1917, S. 54. - So kann er dann auc h konsequenterweise feststellen: „Zwar sind di e romani schen Ideale durch di e we ltgeschichtliche Bewegung der Aufk liirung auch in Deutschla nd ein gebürgert worden; aber der deut­ 22 SCHLICK 20 13, S. 85f. sche Idealismus hat die Aufklärung liberwunden." (Ebenda, S. 74.) 23 Ebenda, S. 79f. 28 Vgl. MOLENDIJK 2005, s. 18. -Adolf HARNACK (185 1- 1930) gehörte zu den Gemeindemitgli edern . 24 Ebenda, S. 343. 29 SCHO LZ 19 15a, S. Yf. - Die Hoffnung auf die kriegsüberdauerncle Geltung seiner Analysen ist Bi smarck-Zitat 25 Ebenda, S. 84. (vgl. SCHOLZ 191 5e, s. 3) .

152 Ac ta Historica Lcopoldina Nr. 68, 147-164 (2016) Ac ta Histori en Lcopoldina Nr. 68, 147 - 164 (2016) 153 Gereon Wolters: Wi ssenschaft sphilosophen im Kri eg- Impromptus ,, Krieg der Gelehrten'' und die Welt der Akademi en 19 14- 1924 physische Wesen. Diese ziemlich unbestrittene anthropologische Grundtatsache erfordert Diese Selbstbeschränkung sei jetzt vorbei, und SEEBERG legt ein konkretes Annexionspro­ nach SCHOLZ einen „männlichen Ideali smus, der di e Lebenserscheinungen der Idee unter­ gramm vor, das Teil e von Frankreich, ganz Belgien, Teil e vo n Ru ssland sowie Teil e des engli ­ wi rft, ohne sie durch di e Idee zu zerstören".30 Das Resultat des männlichen Ideali smus wie­ schen und fran zösischen Kolonialreichs nebst gewaltigen Reparationen umfasst. Die Bewoh­ derum ist „lebendi ges Leben" 31 mit seiner Grundbestimmung der „Ungenügsamkeit, die dem ner der ann ektierten Gebiete sollen ke ine politischen Rechte besitzen. einzelnen wie auch ganzen Völkern befiehlt, immer mehr zu werden, [al s?] was sie sind".32 Mi r ist nicht bekannt, ob SCHOLZ zu den Unterzeic hnern des Aufrufs seines arri vierten Aber, aufgepasst! Die an sich so wünschenswerte „Ungenü gsamkeit" kann in „Unverschämt­ Kollegen SEEBERG gehörte. Es würde aber passen: denn in Der Krieg und das Christen­ heit" umschlagen sowie in jene „U nersättli chkeit", „die alles für sich beansprucht, nicht wei l tum legt SCMOLZ noch einmal nach: „Der Expansionstrieb, poli tisch und wirtschaftlich, sie es braucht, sondern ledi gli ch weil es da ist, un d weil es sie stört, dass ein anderer oder ist eine Macht, der sich kein aufstrebendes Volk entzieht. All es geschi chtliche Leben ist andere etwas neben ihr besitzen".33 Vorbild für di e ri chti ge Kalibrierung der „Ungenügsam­ Expansion.'"'° Auch was er über di e „Dauerhafti gkeit eines erkämpften Fri edens schreibt", keit" ist - eine erstaunliche Quelle ! - „die edle Gestalt dieses Kraftbewusstseins[ ... ], das mit könnte von seinem Kollegen SEEBERG stammen: „die Demütigung, und zwar die nachdrück• Mohammed im Koran spricht: Herr, mache mir Raum in meiner engen Brust! ".34 liche Demütigung des geschlagenen Volkes [ist] das un erlässli che Unterpfand jedes besseren Methodisch mehr als fragwürd ig ist, dass SCHOLZ ohne jede weitere Reflexion die Friedens"." - „Versailles" und seine Folgen haben diese Philosophen- und Theologen-Tor­ wohl von niemand bestrittene psycho-physische Verfasstheit individueller Menschen mit heit gründlich widerlegt. sozialdarwinisti schen Imperative n auf Kollektive, nämlich „Völker" überträgt. 35 So wie di e Methodisch ebenso fragwürdig wie die Kategorienfehl er der Übertragung der psycho­ psycho-physische Natur des Individuums räumlich situiert ist, so ist es auch bei den Völker• physischen Verfasstheit von Indi viduen auf Kol lektive sowie des argum entlosen Übergangs kollektiven: vom Faktischen zum Normativen in Verbindung mit der sozialdarwinisti schen Konzepti­ 42 „ Und ein Volk? Es braucht erst recht viel Boden, wenn es sich innerlich ausleben will und seine Wurzeln so ausbrei­ on des Kampfs um Lebensraum („Volk ohne Raum" ) ist der Mangel an universalisti­ ten soll , dass ihm die nötigen Stifte zufließen.[ ... ] Gelingt es, den Boden fri edlich zu gewinnen, um so e rfreulicher scher Perspektive: Die psycho-physische Verfasstheit, die ScMOLZ dem deutschen Vo lke für den Idealisten. Gel ingt es ihm aber nicht , so ist das Schwert und nicht der Verzicht die eigentliche Waffe des zuschreibt, müsste eigentli ch - in deutsche Ansprüche relativierender Wei se - auch für Ideali smus. f ... 1 Eine unbedingte Gewiihr fiirdie Erhaltung des Friedens ist nur in dem Verzicht auf neuen Boden, auf andere Völker gelten; ebenso der sozialdarwini sti sche Imperativ. - An einer Stell e im Kon­ ne ue n Besitz und Erwerb gegeben. l ... ] Es bedeutet eine Einschr1inkung des Kampfes ums Dasein l .. .]. "36 text seiner chri stlichen Kri egsapologetik scheint SCHOL Z dies zu bemerken, und damit sind Kurztun: „Die Besten soll en der Erde Herr sein. "37 Und später: „Die psychophysische Selbst­ wir beim zweiten argumentnahen Gedankengang für die Pflicht zum Krieg: das „nationale behauptung, soweit sie der sittlichen Selbsterhaltung dient, ist überall ein sittlicher Zweck."" Ehrgefüh l" verl angt ihn:

ScMOLZ ist - wie dieses Zitat zeigt - ni cht nur der Kategorienfehler des Übergangs von „[Dlie Ehre des V

„Das deutsche Volk und sein Kaiser haben 44 Jahre den Fri eden gewahrt, gewahrt bi s zul etzt bi s an die Grenze der Bei den Feinden wird all erdings die christli che Haushalterschaft schwer getrübt durch „Ego­ nationalen Ehre und Daseinserhaltung. Niemals hat Deutschland trotz wachsender Volkskraft und -zahl daran ge­ ismus und Eitelkeit" .44 Deswegen besteht keine moral ische Symmetrie zwischen ihnen und dacht , di e engen Grenzen seines kontinental en e uropliische n Besitzes erobernd zu iibersc hreiten."39 den Deutschen. Der deutsche „Kampf für Heimat und Vaterland [i st] ein heiliger Kampf. Ein Kampf unter dem Schutze des Christentums".•' Die argu mentative Nichtigkeit di eser Überlegun gen soll nun durch den reli giösen Argumentverstärker „Christentum" bzw. dessen 30 SCHOLZ l 915a, S. 6. Gerechtigkeitskonzept noch weiter kompensiert werden. 3 1 Ebenda. - Der Lebensbegriff selbst verbleibt trotz seiner systematischen Zentralität me rkwürdig unscharf. 32 Sci-101.z J9 l 5a, S. 8. 33 Ebenda. 40 SCMOLZ 19 l 5c, S. 24. 34 Ebenda. 41 Ebenda, S. 8. 35 Vgl. auch Sc1-10LZ 1915c, S. 20. - Bei anderen weiß SCHOLZ solche methodisc h illegitimen Übergänge durchaus 42 Dieser Gedanke prägt große Teile der politischen Philosophie des 19. Jahrhunderts. Als Parole findet er sic h zu kritisieren, so z.B., wenn er in SCHOLZ 19\Sb (S. 24, vgl. S. 35f.) am „humanisti sche n Idealismus l ... J eine al le rd ings wohl erstmals als Romantitel (bei Hans GRIMM [ 1875 - 1959], 1926). Er basiert auf dem Malthusschen unzulüssige Übertragung indi vidueller Moralprinzipie n auf die staatliche n H

154 Acta Historica Lcopoldina Nr. 68, 147- 164 (2016) Acta l-l istorica Leopoldina Nr. 68, 147 - 164 (2016) 155 Gereo n Wallers: Wissenschaftsphilosophen im Krieg - fmpromptus „Kri eg der Gelehrlen" und die Welt der Akademien 19 14 - 1924

„Was wir bi sher errungen haben, ist nicht nur ein Erfolg unserer Waffen, sondern , gegen den Willen der Welt , ein 4. R udolf Carnap Erfo lg un serer wirtschaftli chen und geistigen Kultur. In diesem Sinne ist der Krieg viel eher ei nem Schachspiel zu vergleichen, in dem kein größerer Gewinn oder Verlu st ohne gerecl11 e lHervorhebung G. W. ] Ursache erfolgt. "46 Rudolf CARNA P ist der viell eicht bedeutend ste Wissenschaftsphi losoph des vorigen Jahrhun­ Es ist dann letztendlich auch di e Gerechtigkeit der deutschen Sache, die sie des göttlichen derts. Bei Kriegsausbruch hatte der damals 23-jährige gerade einmal vi er Jahre Mathemalik, Beistands versichert. 47 Physik und Philosophie studiert. Er kommt damit als öffentlicher Sinndeuter und Kanzelphi ­ Bei so viel Begeisterung für den Krieg und Verkündigung der moralisch-reli giösen Pflicht, losoph kaum in Frage. All erdings zog er begeistert in den Krieg und brauchte fast vier Jahre, ihn zu führen, kommt die Frage in den Sinn, ob SCHOLZ selbst in den Schützengräben ge­ ihn als „eine unfassbare Katastrophe" zu erkennen. Wenn er in seinen Erinnerungen schreibt, legen hat. Dass hi er ein Problem li egen könnte, hat er in fein sinniger Pastoraldialektik wohl dass der Militärdienst seiner „ganzen Einstellung widersprach" und er „ihn als notwendi ge gesehen: Pflicht zum Schutz des Vaterlandes" angenommen habe,53 trifft das nur in begrenztem Rah­ „Der Krieg [ ... ) bleibt ein gewaltiges Übel. Das sagen uns alle, die mitgekämpft haben. Nichts ist empörender fö r men zu. CARNA P !eilte mit seinen Freunden aus dem von dem Verl eger Eugen D1 EDERI CHS das Gemüt, als jener billige Idealismus, der, ohne selbs1 im Felde zu stehen, lli11 1er der Front seine Reden hüll und (1 867- 1930) 1908 in Jena initiierten, jugendbewegten Sera-Kreis den Glauben, Deutschland darlegt, wie schön und erhebend es ist, zu sehen, wie - andere für uns sterben. "48 führe einen Verteidigungskrieg. „Am Ende meldeten sich alle k.ri egs1auglichen Freunde noch 54 Dennoch: der philosophisch-theologische Kri egspropagandist SCHOL Z hat wegen eines Ma­ im August 1914 freiwillig." Grundsätzlich war es so, dass di e Jugendbewegung romantisch inspiriert war. Gleichzeiti g aber gab es, vor all em im Sera-Kreis, eine starke antibürgerliche, genleidens nicht „gedi ent" . „ 55 Soviel ich weiß, hat sich SCHOLZ von seiner Kriegspropaganda nicht öffentlich di stan­ weni g preußi sch-s taatsfromme Komponente. 6 ziert. De facto jedoch hat er - wi e schon bemerkt - nach der Lektüre der Principia Mathema­ In CARNA PS zahl reichen Karten und Briefen ,5 vor all em an seine Mutter, fehlt jede tica eine an eine Konversion erinnernde philosophische Wendung vollzogen, di e sich vielfach Kriegsrefl exion. So lesen wir auf einer Ansichtskarte mit der Kathedrale von Metz vom belegen lässt. 49 Zum Beispiel definiert er in einem Aufsatz von 1934 Menschen von „intell ek­ 29. 11. 1914: „Wir kommen gerade aus den Schützengräben, übernachten hi er in Metz- Lon­ tu ell em Charakter" durch vier Eigenschaften. Ich nenn e nur zwei: geville und harren jetzt unserer Verladung nach einem unbekannten Ziel." - Dann geht es weiter mit Familienangelegenheiten. Auf einer Karte vom 23. 12. 1914 an seine Schwester „ !. Sie behaupten das, was sie sagen nur dann , wenn es jeder überhaupt möglichen Nachprlifung standhält [ . .. ] 3. freut er sich über seine Zuteilung zu einem „Schneeschuhbataillon": Sie unterscheiden, in dem, was sie sagen, genau zwisc hen dem, was sie beweisen, und dem, was sie nicht beweisen können. [ .. . ]Sie unterscheiden mit anderen Worten scharf zwischen dem, was in ihren Behauptungen als eine Art „Dann wird 's interessant; u. dann da oben in den Bergen, das ist doch ein herrliches Sy lvester. Ich hoffe, die Mutter von Bekenntnis auftritt, und dem, was so erweislich ist, das es den schönen Namen ,Erkenntnis' verdient. ".50 hat sich über den Gefreiten [CA RNA P war kurz vorher befördert worden] genügend gefreut ; sie soll doch merken, dass sie sich auch bei den Soldaten ihres Sohnes nicht zu schämen braucht. - Die Seife nblätter sind sehr praktisch, davon Im Ersten Weltkrieg kann man SCHOLZ kaum als einen „intellektuell en Charakter" bezeich­ wünsch ich mi r noch welche zu Neujahr." nen. Seine Wendung zur wissenschaftli chen Philosophie hat jedoch gänzli ch neue Maßstäbe gesetzt. Sie haben SCHOLZ - im Unterschi ed zu anderen romanti schen Kriegsapologeten - So ähnlich geht es in CARNA PS Kriegskorrespondenz weiter. - Nur wenig anders di e Tagebü• wohl auch vor nationalsozialisti schen Irrungen bewahrt. SI Nach den moralischen Verhee­ cher. Hi er ein Eintrag für viele: rungen des Zweiten Weltkriegs hat er sogleich eine deutsche „Kollektiv-Verantwortlichkeit" „30 [Januar 19 15] Sa(mstag) Weiter, leider nicht nach Budapest hinein ; durch Ungarn . 3 1 [Januar 19 15] So(nntag) bekundet. 52 Wir haben einen halben Tag Verspätung; Mittag lange Pause in Debreci11. Schon viele deutsche Soldaten sind durch­ ge fahren. Vi ele ungarische Soldaten (Lieder mit Klarinette). Reis und Konservenfl eisch. Apfelsinen gekauft. Kalte Nacht, nicht geschlafen, ohne Heizu ng. V2 4- 5 Uhr nachts auf der Lokomoti ve."57 Auch Militäri sches wird zumeist unkommentiert notiert. So z.B. in den Karpaten: „ 11 [M ärz 19 15) Fr(eitag) Die Infanterie hat einige Grüben genommen, aber viele Verluste. Viele haben erfrorene Gliedmaßen; manche sitld gefangen genommen, weil sie mit den stei fe n Fingern nicht abdrücken konnten. Es sind aber auch Russen ge fan gen genommen. Ein Kriegsfreiw(illiger) der Infanterie hat gesagt, dass er wahrscheinl ich auch zu m Kursus nach Hause geru fen wird ; am 20. III. Ob das auch für uns Artilleristen (?) gilt?!. Prachtvolles 46 Ebenda, S. 60. klares, kaltes Winterwetter.[ ... ]" 47 Zur Gerechti gkeit im Krieg vgl. SCHOLZ 19 15c, S. 5ff. - Wi e an vielen Stellen in SC HOLZ' Kriegsschrif1en handelt es sich auch hier um ei ne abstrakte Überl egu ng. Der Kontex t macht aber unausgesprochen klar, dass die Le länger der Kri eg dauert, umso konzentrierter, ja manchmal begeisterter ist CARNA P dabei: deutsche Sache „gerecht" ist. 48 SCHOLZ 191 5a, S. 28. 49 Für eine treffende Darstellung dieses Kontinuitätsbruchs vg l. PECKHAUS 2005. 50 SCHOLZ 1969, S. 313. 5 1 „Scho lz' Haltung während der Jahre 1933 - 1945 wiire näher zu erforschen. Ent scheidend für meine jetzige Be­ 53 CARNA P 1999, S. 15. urteilung ist sein Einsatz für jüdische und polni sche Kollegen. [ .. . ]Scholz bai Kompromisse ei ngehen müssen, 54 Vg l. WHNER 201 4, S. 19, 24. um seine Arbeit wei terführen zu können. " (MOLENDIJK 2005, S. 37). - Vgl. auch PEC KH AUS \998/99 über den 55 Vg l. CARUS 2007, s. 3ff, 50ff. Nachkriegs-Briefwechsel von SCHOLZ mit dem niederl ändi schen Logiker Evert Willem BETH ( 1908- 1964). 56 Ich danke Dr. Brigille P A l~ A K EN I NGS, der bewährten Archi varin des Philosophi schen Archi vs an der Universität 52 SCHOLZ 1946, S. 8. - Diese kleine Schrift hat offenbar weite Verbreitung gefunden. Ich ziti ere aus der „Zweite(n) Konstnn z, für di e Bereitstellung der Carnap-Materialien. unveränderten Auflage 150.- 350. Tausend" 57 Phil osophi sches Archi v Konstanz (Pauk): RC 025-7 1-07, Kriegstagebuch 19 15.

156 Acta Hi storien Lcopoldina Nr. 68. 147 - 164 (20 16) Acta Histori ca Lcopoldin;i Nr. 68, 147- 164 (2016) 157 Gereon Wolters: Wi ssenschaftsphi losophen im Kri eg- Impromptus „Krieg der Gelehrten" und die Welt der Akademien 1914 - 1924

- „Ich bekomme große Lust zum MG Kursus" ( 1. September 191 5) _58 er bereits mehr als zwei Monate Mitglied der ein Jahr zuvor gegründeten „Unabhängigen - „Abends im Braunen Hirsch wieder alle Leutnants; fühle mi ch sehr wo hl unter ihnen, gönne ihnen das Gllick sozialdemokratischen Partei Deutschlands" (USPD). Spätere Führungsmitgli eder der USPD herzlich, sind nett zu mir. Ich kann aber den stiindigen Nebengedanken nicht loswerden: so weit könnte ich jetzt auch sein ." (5 . September 19 15).59 hatten 19 15 im Reichstag erstmals gegen Kriegskredite votiert. Eben die Antikriegshaltung - „Die Mi ssstimmung über die anderen Leutnants bin ich los, aber fühl e mich doch sehr unbefri edigt. [ ... J Es wird der USPD machte sie für CA RNA P attraktiv: höchste Zeit, dass ich bald ins Fe ld komme." ( 12. September 19 15). Im Sommer 19 17 wurde ich nach Berlin verlegt. [ ... ] (Dort hatte) ich Gelegenheit , durch Lektüre oder Gespräche - Jm Oktober 19 16 vor Verdun - CA RNA P ist inzwischen ein mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichneter Leutnant: ;;lit Freunden pol iti sche Probleme zu erörtern . [ .. . ] Ich stellte fest, dass in verschiedenen Uindern die Arbeiterpar­ „Di(enstag) 24. (Oktober 19 16). Ich so ll auf Regiment sbefehl mit 4 MG in Kasemattenschlucht: dazu vier Grup­ teien die ein zigen großen Gruppierungen waren, die weni gstens einen Rest der Ziele des Internationalismus und der pen Gefreite zur Begleitung und al s Träger. 10 30 Abmarsch. Di e Gefreiten überlastet, kommen nur schwer vor­ 3 wärts. Eini ge Granaten. Bringe die Gefreiten nur mi t größter Mühe vorwärts; warum trifft mich kein Splitter? Kriegsgegnerschaft bewahrt hatten."6 30 t 2 Bruleschlucht. Wir riechen Gasbeschießung. Rast. Über den Rlicken zur Bezonvau xschl ucht. Wir kommen In den frühen l 920er Jahren verließ CARNA P, enttäuscht über die ru ssische Revolution und in s Gas. Alles wird zersprengt. Masken aufgesetzt l 240- 11s; oben mit Tuchmantel gesessen. Dann wir beide ruhi g hinüber, mit Masken, Gepiick. Im Granatloch versclrnauft."60 die Politik der deutschen Kommunisten, di e USPD wi eder. Er selbst scheint übrigens - wenn auch mit einem persönlichen Verzögerungseffekt - ex­ An nur ganz wenigen Stell en wird CARNAPS von der gesell schaftskriti schen Jugendbewegun g pli zit die von mir eingangs aufgestellte Hypothese zu unterstützen, dass bei wissenschafts­ geprägte, politische Position greifbar. Am 18. März 1915 notiert er: nahen Philosophen eine höhere methodologische Distanz zum Kriegspredigen besteht al s „Abends lang mit Thilo und Middeldorff aufgeblieben und Gespräch. Wir sind einig, dass die Anfo rderungen an bei anderen: CA RNAP hatte RussELL am 17. November 1921 seine Dissertation (Der Raum) geistige Fähigkeiten beim akti ven Offi zier recht gering sind. [ .. . l Middeldorff und ich sprechen rec ht scharf, Thilo geschickt und schreibt im Begleitbrief: vertei digt. Wir sind aber einig in gewi ssen Vorwürfen gegen die Gese ll schaft, und dass mehr verlangt werden mü sste an gesell schaftl icher Kultur. [ ... ] ich spreche vom Diederi chsschen Kreise [d. h. dem Sera-Kreis]. [ .. . ] (Thilo) meint Es ist mir eine besondere Freude, dass gerade Sie es sind, dem ich als ersten Engländer jetzt aus wissenschaftli chem übrigens, er würde an meiner Stelle, wenn er so überzeugt von der besseren Idee und der Yerwerni chkeit des jetzigen Üebi e1c die Hand reichen darf, da Sie schon zur Zeit des Krieges so freimütig gegen Geistesknechtung durch Völ­ Zustands wäre, mit aller Kraft für Verbesserung eintreten. Ich sage, ich bi n kein Propagandist (siehe Abst inenz); kerhass, und flir menschli ch-reine Gesinnung eingetreten sind. Wenn ich an die gleiche Gesinnung des leider zu früh glaube auch, der Allgemeinheit zu dienen [ ... ] indem ich meiner Benih igun g entsprechend ni cht Menschenbeeinflus­ verstorbenen Couturat denke, so fra ge ich mich, ob es etwa bloßer Zufall sein könne, dass diejenigen Männer, die sung, sondern wissenschaftliche Arbeit leiste. Um 311 schl afen gelegt."61 auf dem abstraktesten Gebiete der mathematischen Logik zu größter Schärfe vordringen, dann auch au f dem Gebiete der menschlichen Beziehungen klar und stark gegen Einengung des Geistes durch Affekte und Vorte ile ankämpfe n." Wie sehr aber der junge CARNA P ebenfalls von jenem sozialdarwini sti schen Kriegsimpuls CARNA P blieb - auch wenn seine Schriften gänzli ch unpolitisch sind - ein demokratisch und erfasst war, den wir auch bei SCHOL Z gesehen haben, zeigt der fol gende Eintrag vom 22. September 1916 aus Frankreich: sozial engagierter Mensch, was ihn im Übrigen in den frühen l 950er Jahren in den USA, wo er nach 1936 lebte, auf die schwarze Li ste des Kommunistenjägers Joseph Mc CARTHY „[ ... ] Exerzieren slid lich des Dorfes, getrennt nach Kompanien. l ... ] Schönes Wetter. Morgen Umquartierung nach ( 1908- 1957) brachte. Arrancy. [ ... ] doch können wir heute nicht niegen. Etwas Mathematik. Fi chte gelesen. Abends im Dunkeln mit Leutnant Seidel und Gu rleit noch spazieren gegangen, d ie All ee auf Constantin Ferme zu. Seidel spricht sich offen aus, sein naiver Gottesglaube; seine Gedanken: ,Du sollst nicht töten' und wir müssen jetzt tö1en, ist es nicht trot z­ dem Sünde. Ich weise ihn auf Gesinnungs- statt Gebo1(s)e1hik hin. Dann seine Gedanken über die Sinnlosigkeit des 5. Hans Reichenbach und Otto Neurath Krieges. [ ... ] Ich versuche klar zu machen, dass der Sinn des Krieges nicht Verminderun g der Menschenzahl ist, sondern naturnotwe ndi ges Kräft eausmessen der sich in s Gehege kommenden wachsenden Völker. Und zwar (?) sind wir das wachsende Volk, können nicht stehenbleiben, sondern müssen um uns greife n (Analogie: Baum , Industrie­ Wir können diese beiden Wi ssenschaftsphilosophen hi er relativ summarisch behandeln , da unternehmen). Die Mittel di eses Kampfes (im Gegensatz zum Kampf zweier Geschäft skon kurrenten) (s ind) noch wir über ihre Haltung zum Ersten Weltkrieg durch Publi kationen gut informiert sind. grausam. Yielleichl später mal zw ischen den Staaten ähnlicher Rechtszustand, wie jetzt zwischen den Ind ividuen. Während der gegen Ende weni g kriegsbegeisterte CARN AP noch im Jahre 1916 eine so­ Entwicklungsstufe: Vereinigte Staaten von Europa; sehr große Schwieri gkeiten, vielleiclll zu überwinden in der zialdarwinisti sche Erklärung und wohl auch Rechtfertigung des Krieges li eferte, finden wir gemeinsamen Gefährdung durch Ostasien."62 beim gleichaltrigen Hans REICH EN BACH schon vor Kriegsbeginn in zwei Aufsätzen aus der Die Idee eines gesicherten Rechtszustandes zwi schen den Völkern wird dann schließlich das Perspektive der Jugendbewegung bzw. der „Freistudentenschaft" eine überaus scharfe Kritik Thema von CARNA PS erster Publikation: in der ersten Nummer (20. 10. 1918) von Karl Brr­ am deutschen Mi litarismus.64 Die Freistudenten verstanden sich in dezidierter Gegnerschaft zu TELS (1 892-1969) Politischen Rundbriefen, die explizit dem Übergang von der Ju gendbe­ konservati v- nationalisti schen Korpsstudenten als eine demokratische Vertretung all er Nicht­ wegun g in di e Politik gewidmet sind, beginnt CAR NAP unter dem Pseudonym „Kernberger" korporierten. „Reichenbach gehörte zum linken Flügel der Freistudenten, man könnte sagen einen kurzen, zweiteiligen Artikel „Völkerbund-Staatenbund", in dem er seine jugendbe­ zu den Ideologen, und war [ ... ] einer der führenden Köpfe dieser Studentenbewegung."65 wegten Freunde zu einer „mehr als dil ettantischen Disku ssion [der institutionell en Detai ls Zah lreiche Schrift en zu aktuell en Jugend- und Studentenfragen bezeugen dies. Unter diesen eines Völkerbundes] aus Augenblicksgeflihl en heraus" ermahnt. Z u diesem Zeitpunkt war ragen zwei heraus, in denen er im Juli 191 3 und noch im März 1914 die Mi li tarisierung der

58 Pauk : RC 025-7 1-08, Kriegstagebuch 19 15. 59 Pauk , ebd. - CA RNA P hatte einen Fortbildungskurs für Leutnants verpasst. 63 C\RNA P 1999, s. 15. 60 Pauk: RC025-7 1- 12: 14 (Kr;egstagebuch 19 16). 64 REICHENBACH 191 3, 19 14. Ich s!Ut ze mich im Folgenden auf GERN ER 1997. - Zu REICHENBACH als Freistudent 6 1 Pauk: RC 025 -7 1-07 (Kr;egstagebuch 19 15). vgl. WtPF 1994. 62 Pauk : RC 025-7 1- 12: 14 (Kriegstagebuch 19 16). 65GERNER1 997, S. 13.

158 Acrn Hi storica Leopo ld ina Nr. 68, 147 - 164 (2016) Acta Historica Lcopoldi11 a Nr. 68, 147 - 164 (20 16) 159 Gereon Walters: Wi ssenschaftsphilosophen im Krieg - Impromptus „Krieg der Gelehrten" und die Welt der Akademi en 19 14-1924

Jugendbewegung und die Züchtung von „Nationalbewusstsein" aufs Korn nimmt. Hi er eine land verlassen, vo n wo ihm , der jüdischer Abstammun g war, 1940 im letzten Augenblick die Kostprobe aus der Feder des 23-Jährigen: Flu cht nach England gelang. „ Ist es da ein Wunder, wen n die Jungen ganz in eine Gedankenwe lt hineinwachsen, die nur noch Krieg gegen Deutschlands zahllose ,Feinde' als höchstes L ebensideal kennt? Was den gesund Empfindenden an der Wirkung die­ ses Erziehungssystems abschrecken muss, das ist die innere Unwahrhaftigkeit, die hier in der Jugend großgezogen 6. Hugo Dingler w ird, die Unehrlichkeit des Urteils liber die Probleme der modernen Politik und des sozialen Lebens, die Verblen­ du ng des wahren Nationalgefühls, das nicht in Hurrageschrci und Verherrlichu ng des M ilitarismus besteht, sondern in der Ergründung und Vertiefung der dem Volke eigenartigen Kultur seinen Ausdruck sucht.[ ... J Arme Jugend! Die Huao DI NGLER war 1914 mit anderen Dingen beschäftigt als mit der Politik: seine Habilita­ das schönste Recht der Jugend, ganz Mensch sei n zu dürfen, hergibt, um Soldat zu spie len !"66 tiOJ~ war in gefährliches Fahrwasser geraten. Das setzte ihm umso mehr zu, als er sich selbst für einen der ganz großen Denker der Ph il osophiegeschi chte hi elt, gewissermaßen in der Dass REICH ENBACH sich bei Kriegsbeginn erstaunlicherweise als Kriegsfreiwilliger bei der gleichen Li ga spielend wie KANT oder LEIBNI Z. 73 Die politische Lag.e spielt in seinen Tage­ Marine meldete, ist am pl ausibelsten so zu verstehen, dass er sicher war, dort als „klein, dick­ büchern vo r Ausbruch des Krieges keine Ro ll e, da er vollkommen mit sich selbst und se111er lich und kurzsichtig" abgelehnt zu werden.67 uni versitären Umwelt beschäftigt war. Gegen Ende 1933 übersiedelte REICHEN BAC H, inzwischen als „Marxist und Halbjude" Im September 19 14 stand er dann als Soldat an der Front in Belgien und Frank.reich, war von seiner Stelle als außerordentli cher in Berlin entlassen, an die Un iversität Istan­ jedoch _ gewiss ni cht tadelnswert - dem Feldeinsatz nervlich ni cht gewachsen und wurde bul und von dort 1938 an die University ofCalifornia.68 für den Rest des Kri eges in bayeri schen Garnisonen beschäftigt. Freili ch, das „Versagen" im Der damals 32-jährige österreichische Ökonom Otto NEURATH wi rkte im Jalu· 1914 als Leh­ Felde nagte an ihm. Am 4. 10. 19 16 vertraut er seinem Tagebuch74 an: rer an der Wiener Neuen Handelsakademie.69 Als einziger der hier vorgestell ten Wissenschafts­ philosophen hatte NEURATH 1906/07 den obligatori schen ei njährigen Mili tärdienst geleistet. Heute ist also die ßornbc geplatzt. [„.l Durch eine Dummheit des Brig(ade) Adj(utanten) verlangte di ese ~· , dass bei ;; einem Vorschlag lfürdie Beförderung] zum Hau ptmann beim Fe ldtruppenteil ange fragt werde. Diese [ .. . ) bezeich­ Er hatte all erdings gehofft, aus gesundheitlichen Gründen „als di enstuntauglich qualifiziert zu 1 neten mich als weder zum Hauptman n noch zu m Komp(anie) Führer geeignet. Darauf wu rde meine Beförderung werden".70 Dennoch war ihm das Glück dann doch noch hold, insofern er nach „einer acht­ [ ... J abgelehnt. [ ... 1 Aber ich bin zu sehr in meinem Herzen erregbar, als dass ich solche Dinge draußen nochmals wöchi gen Ausbildung beim k.u.k. Festungsartillerieregiment ,Kai ser' No. 1 in Wien" seiner machen könnte. A uch see lisch und mit dem Magen würde ich wohl zusammenk lappen. " fachlichen Qualifikation entsprechend in Wi en „zum Militärverpftegungsbeamten in der Reser­ Reflexionen über den Kri eg findet man im Tagebuch weiter ni cht. Am 6. Februar 19 17 notie1t er: ve" ausgebildet wurde, was ihm den Besuch vo n ökonomischen Seminaren an der Universität erlaubte." Von Begeisterun g fürs Militär kann jedoch keine Rede sein. Gegenüber dem Kieler „Jetzt ist in drei Tagen die Generalmusterung. Ich glaube, dass ich k(riegs) v(erwendungsföhi g) [geschrieben 1 werde. Es ist Deutschlands Existenzkampf, und wenn Deutschland verloren ist, sind wir auch verloren. Herr in Deine Hände Soziologieprofessor Ferdinand TöNNIES ( 1855-1936) schreibt er über ei ne der regelmäßigen lege ich mein Leben. Du wirst es recht und gerecht führen nach Deiner Gerechti gkeit. Amen." Militärübungen, an denen er später teilzunehmen hatte, dass „auch diesmal dem Militarismus eine nationalökonornische Gehirnpartie zum Opfer gebracht werden'' mi.isse.72 Hi er zeigt sich im Kern die Einschätzung des Kriegs im deutschen Bürgertum: ein vo n außen NEURATH ist ei ne der farbigsten und vielseitigsten Figuren der neueren Philosophiege­ aufgezwun gener Existenzkampf. Am 10. Oktober meldet das Tagebuch eine überraschende schi chte. Kurioserweise ist er - ungeachtet seines geringen Enthusiasmus fürs Militär - der Wendung: einzige der hi er vorgestell ten Denker, der sich - und das schon seit etwa 19 10 - wissenschaft­ „Es ist Frieden in der L urt und ei ne unbeschreibliche Stimmung in mir. Der Krieg war auf jeden Fa ll erfolgreich, für lich mit dem Thema Kri eg, genauer: mit Kriegsökonomie, befasst hat. Die Kriegsökonomie uns, den n den A merikanern ist es ge lungen, uns die Freiheit zu bringen und außerdem haben wir gege n 3A der Welt ist bei NEURATH eingebettet in philosophische Konzeptionen des guten Lebens. Unter an­ unser Land unvcn;chrt erhalten. Da können wir leicht Kriegsc ntschiidigung zahlen." derem gestützt auf Feldstudien während der Balkankriege war er zur Überzeugun g gelangt, Die Publikationen DI NGLE RS in den Kriegsjahren nehmen keinerl ei Bezug auf den Kri eg. Von dass eine Planökonomie wie zu Kriegszeiten der ungesteuerten kapitalisti schen Ökonomi e Kri egspropagand a keine Spur. Ähnli ch politisch enthaltsam und ganz auf sein Werk konzen­ überlegen sei. Diese Nähe zu r Planökonomie machte ihn 19 19 zu einem geeigneten Kandi­ tri ert zeigt er sich in der Weimarer Republik. Die „Machtergreifung" HITL ERS überrascht den daten für die Präsidentschaft des von ihm selbst vorgeschl agenen Zentralwirtschaftsamtes vo llkommen mit sich selbst beschäft igten Gelehrten. 1934 wurde er als Professor der Tech­ der Münchener Räterepublik. Wegen Beihilfe zum Hochverrat landete er nach dem früh en ni schen Hochschule (TH) Darmstadt pensioni ert, weil die Pädagogische Hochschule Mainz, Scheitern der Räterepubli k im Gefängnis. Seine weitere Biographie ist kaum weni ger aufre­ wo er hauptsächlich unterrichtete, aus Spargründen geschlossen wurde. DINGLE RS politische gend . 1934 musste er den klerikal-faschi sti schen österreichi schen Ständestaat Richtung Hol- Anbiederungsversuche mit dem Ziel, eine neue Professur zu erhalten, waren selbst den Nazis so durchsichtig, dass er erst 1940 in die Nazipartei aufgenommen wurde, d. h. zu einem Zeit­ punkt als politi sch klügere Köpfe schon ihren Rückzug einlei teten. 1945 hatte er sich so weit 66 R EICHENllACH 1914, S. 1237f. kompromittiert, dass er auch in Nachkriegsdeutschland keine Chance hatte. 67 GERNER 1997, s. 19. 68 Ebenda, S. 13 l. 69 Ich stütze mich im Folgenden auf die ausgezeichnete Biographie von SANDNER 20 14. 70 SANDNER 2014, s. 60. 73 Für das Fol gende vg l. WOLTERS 1992. 7 1 Ebenda, S. 61. 74 Die Tagebticher befinden sich in der Hofuibliothek Aschaffenburg, in Kopie im Philosophischen A rchiv der Uni­ 72 Ebenda, S. 62. versiliil Kon stanz.

160 Acrn His1orica Lcopoldina Nr. 68. 147 - 164 (2016) Acta Historien Lcopoldina Nr. 68, 147 - 164 (2016) 161 Gereon Wolters: Wissenschaftsphilosophen im K r ieg - Impromptus „ Krieg der Gelehrten" und die Welt der A kademien 19 14-1924

7. Schluss im Jahre J 9 14. Und viell eicht ist eben di eses Selbstbild islamischer Eliten, das außerh alb der Um ma wohl kaum vorbehaltlos geteil t wird, eine der Ursachen vieler in ternationaler Proble­ Die Untersuchung der jungen Disziplin der Wi ssenschaftsphi losophie - es wurden all e me, kr iegeri scher Auseinandersetzungen und Flüchtlingsbewegun gen in un seren Tagen. deut sc hsprachi gen Vertreter vorgestellt, di e alt genug wa ren - brachte das Ergebnis, dass wir unter den Wissenschaftsphi losophen - bei allen persönl ic hen Unterschieden - auch im Privaten keinen Kri egspropagandisten finden. Man wird all erdings noch nicht behaupten kön­ Literatur nen, dass es di e strenge methodologische Observanz der Wi ssenschaftsph il osophi e gewesen 1 2 sei, di e gegen Hass und Propaganda immunisiert habe. Dazu ist un sere Sti chprobe zu klein . ßöMM E, Klaus (Ed.): Aufrufo und Reden deutscher Profess?ren im Ersten Weltkrieg: St uttgart: Reclam 1975, 20.14 Ferner ist zu bedenken, dass die betrachteten Wi ssenschaftsphi losophen sich noch ganz am ßR U ENDl ~ L . Steffen: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die Ideen vo n 19 14 und ehe Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Berlin: Akademie Verlag 200?. . . Anfang ihrer Karri ere befanden, mithin noch ni cht jene akademischen Positionen erreicht CA RNAP, Rudol f: Mein Weg in die Philosophie. Ubcrsetzung, Nachwort, Interview Willy HOCHK EPP EL. Stu ttgart: hatten, die eine eher hohe Sinndeuterdichte aufweisen. - Dennoch ist es bemerkenswert , wie Reclam 21999 sich di e Vertreter der jungen Disziplin von ihren phi losophischen Ko llegen unterscheiden: (engl. Original: CARNA I'. Rudolf: l n1 ellectual A utobiography. In: SCHl LPP, Paul Arthur (Ed.): The Philosophy of fü nf Phi losophen und ke iner vo n ihnen ein Kri egspropagandist! Rudolf Carnap; pp. 1-84. La Sa\I 111. , London: Open Court 1963) CARUS, A nclr~ W.: Carnap and the Twenticth-Century T hought: Explication as En lightenment. Cambridge: Cam­ Der „gelehrte Chauvinismus" der deutschen Intellektuellen insgesamt hat ein merkwürdi­ bridge University Press 2007 ges Doppelgesicht. Einerseits ist für sie der deutsche Geist der ganzen Welt intellektuell und GERNER, Karin : Hans Reichenbach - sei n Leben und Wirken. Eine wissenschaftliche Biographie. Osnabrück: Phoe- moralisch überl egen; andererseits fü hlen sie, dass der Rest der Welt das anders sieht. Dieses be-Autorenpress 1997 Missverh ältni s zwischen Anspruch und Realität wird vo m bürgerlichen Deutschl and wei th in GRI Mr. 1, Mans: Volk ohne Raum. München: L1ngen/Miiller 1926 1-IOERES, Peter: Krieg der Philosophen. Die deutsche und die britische Phi losophie im Ersten Weltkrieg. Paderborn: als einen Krieg rechtferti gende empfunden. Hei nrich SCHOLZ vor sei­ kulturelle De111ütig1111 g F. Schöningh 2004 . ner wissenschaftsphilosophischen Konversion ist nur eines von vielen Beispielen. IVEN, M athi as: Moritz Schlick im Ersten Weltkrieg. Adlershof 19 17/18. In : ENG LER, Fynn Oie, und IVEN, Matlu as Im Blick auf das Stichwort „Demütigung" kommen mögliche Parallelen von 1914 mit 2014 (Hrsg.): Moritz Schlick. Leben, Werk und Wirkung. (Schlickiana Bd. /) S. 59-90. Berlin: Parerga 2008 IVEN, Maihias: Moritz Sch lick als Unterzeichner von Erklfüungen und Aufrufen. In: ENG LER, Fynn Oie, und I VEN, in den Sin n. Die erste sind die „russischen Werte" in PuTtNS (* 1952) Ru ssland. Muraris 111uta11- Mathias (Eds.): Moritz Schl ick. Die Rostoc kcr Jahre und ihr Ei nnuss auf die Wiener Zei t. (Schlickiana Bel. 5). dis arbeitet das am 16. Mai 20 14 im Auftrag der russisc hen Regierung als Gesetzgebungsgrund­ Berlin: Parerga 20 13 lage veröffentlichte „Projekt" „Grundlagen der staatlichen Ku lturpolitik" von Vladimir ToLSTO t KANT, Immanuel: s Logik - Ein Handbuch zu Vorlesungen [ 1800J. In: WEtSCHED EL, Wi lhelm 3 (* 1962), Ururenkel vo n Lew ToLSTOt (1828 - 19 10), einen Sonder- und Exzell enzstatus der ru s­ (Hrsg.): Kant, Immanuel. Werke in zehn Biinden. Bd. 5. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1968 sischen Ku ltur herau s, der auf weite Strecken in entsprechenden Schriften über den „deutschen L OBBE, Hermann: Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte. Ba se l, Stuttgart: Schwabe 7 1963 Geist" hätte stehen können. 5 Die „Grundlagen" sind, so versichern mir ru ssische Freunde, re­ MOLENDIJ K, A rie L. : Ein standfester M ensch. Bemerkungen zum Werdegang von Heinrich Scholz. In: SCHMIDT präsentativ für das Denken von großen Teil en der russisc hen lmelligellfsija. AM Busen, Hans-Christoph, und WEHMElER, Kai F. (Hrsg.): Hei nrich Sc holz. Logiker, Philosoph, Theologe. S. Die zweite mögli che Parall ele bieten weite Teil e der islami schen Welt. Auch hi er schei­ 13-45. Paderborn : mentis 2005 NEURATH, Otto: Serbiens Erfolge im Balkankriege. Eine w irtschaftliche und soziale St udie. Wien: Manz 19 13 nen di e Eliten die Überzeugung zu propagieren, kulturell und moralisch besser zu sein als Digitalisiert: h t tps:/fa rch i ve.org/deta i \s/scrbienserfol gei OOneur der „un gläubige" Rest. Das islamische Überl egenheitsgefüh l wird offenbar umso stärker und PEC KH AUS, Volker: Moral integrity during a difficull periocl : Bcth and Sc holz. Philosophin Sc icntiae 3/4, 15 1- 173 aggressiver, je offensichtlicher es mit den Fakten kollidiert. Ein sehr schönes Beispiel dafür (t998/1999) liefert die von 45 der 57 Mitgli edstaaten der Orga11isatio11 of !slamic Cooperation unterzeich­ PECKH AUS, Volker: Hei nrich Scholz als Metaphysiker. In: SCHMIDT AM BUSCH, Hans-Christoph, und WEHM EIER, Kai nete „Kairoer Erkl ärung der Menschenrechte im Islam" vo m 5. August 1990, di e im Wesent­ F. (Hrsg.): Hei nrich Scholz. Logiker, Phi losoph, Theologe. S. 69-8 1. Paderborn: mentis 2005 PLATON: Werke in acht Bänden, griech. und deu tsch. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 21990 lichen ni chts anderes als eine Einschränkung der All gemeinen Erklärung der Menschenrechte REICMENBACH, Hans: Die Militarisierun g der deutschen Jugend . Die freie Schulgemeinde 3/4 (Juli 191 3), 97- 110 der Vereinten Nat ionen vo n 1948 darstell t.76 Sie beginnt so: (t9t3) REICHEN BACH, l-l

162 Ac ta Historica Leopoldina Nr. 68, 147 - 164 (20 16) Acta Historica Lcopoldina Nr. 68, 147 - 164 (2016) 163 Gereon Walters: Wissenschaftsphi losophen im Krieg - Im promptus

Sc1-101.z, Hei nrich: Warum Mathematik? In: HERM ES, Hans, K AMl.!ARTEL, Friedrich, und RITTER, Joachim (Hrsg.): Mathesis Universalis. Abhandlungen zur Philosophie als strenger Wissenschaft. Dannstadt: Wissenschaftliche ßuchgesellsclrnft 1969 SCHÖLZEL, Arnold: Volk ohne Raum. In: PÄTZOLD, Kurt , und WE ISSBECKER, Manfred (Hrsg.): Kleines Lexikon historischer Schlagwörter. S. 277- 278. Leipzig: Militzke 2005 S TADLEJ~, Fri edri ch: Studien zum Wiener Kreis. Ursprung, Entwicklung und Wirkung des Logischen Empirismus im Kontext. Frankfurt (Main): Suhrkamp 1997 UNGJmN-STERNßERG, Jürgen VON, und UNGERN-STERNBERG, Wolfgang VON: Der Aufruf „An die Kulturwelt!" Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg. Stuttgart: Franz Ste iner 1996 VERHEY, Jeffrey: Der Geist von 1914 und die Erfindung der Volksgemeinschaft. Hamburg: Hamburger Edition 2000 VOM BROCKE, Bernhard: Wissenschaft und Militarismus. Der Aufruf der 93 An die Kulturwelt! und der Zusammen­ bruch der internationalen Ge lehrtenwelt im Ersten Weltkrieg. In: CALDER III., Willam M., Ft.ASHAR, Hei lmut, und LtNDKEN, Theodor (Hrsg .): Wilamowitz nach 50 Jahren. S. 649-7 19. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesell­ schaft 1985 WERNER, Meike G.: Jugend im Feuer. A ugust 191 4 im Serakreis. Zeitschrift für Ideengeschichte 812, 19 -34 (20 14) Wl·llTEHEAD, Alfred North , and RussELL, Benrand: . Frankfurt (Main): Su hrkamp 1986 (erste englische Ausgabe in drei Bänden: Cambridge: Cambridge University Press 1910- 19 13) W1rF, Hans-Ulrich: Es war das Gefühl, dass die Universiti.itsleitung in irgend einem Punkte versagte ... - Hans Reichenbach als Freistudent 19 10- 1916. I n: DANNEDERG, Lutz, KAl\1LAH, A ndreas, und Scl·IÄFER, Lothar (Eds.): Hans Reichenbach und die Berliner Gruppe. S. 16 1- 181. Braunschweig: Vieweg 1994 WOLTERS, Gercon: Opportunismus als Naturanlage: Hugo Dingler und das Drille Reich. In: JANICH, Peter (Hrsg.): Entwicklungen der methodischen Philosophie. S. 257-327. Frankfurt (Main): Suhrkamp 1992

Prof. Dr. Gereon WOLTERS Sankt Stephansplatz 16 78462 Konstanz Bundesrepublik Deutschland E-Mail: [email protected]

164 Acta Historica Leopoldina Nr. 68. 147 - 164 (2016)