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Schoeller, Wilfried F. (Hrsg.): Diese merkwürdige Zeit. Leben nach der Stunde Null. Ein Textbuch aus der "Neuen Zeitung". Schoeller, Wilfried F. (Hrsg.): Diese merkwürdige Zeit. Leben nach der Stunde Null. Ein Textbuch aus der "Neuen Zeitung". Frankfurt am Main: Ed. Büchergilde, 2005. 703 S., gebundene Ausgabe mit Schutzumschlag. ISBN 3936428425 18 Euro Die Geschichte der Neuen Zeitung, der bedeutendsten deutschen Nachkriegszeitung, ist die einmalige Dokumentation des Zusammentreffens der geistigen Elite und zugleich eine politisch-literarische Chronik von der Trümmerzeit bis zu den Aufbaujahren in beiden deutschen Staaten. Sie zeigt, mit welchen Werten, Zweifeln, seelischen Erschütterungen, Hoffnungen, welcher Trauer und mit welch demokratischem Willen die Nachkriegsjahre in Deutschland gestaltet worden sind. Am 30. Juni 1945 erhielt Erich Kästner, der die letzten Kriegswochen im österreichischen Mayrhofen überstanden hatte, Besuch von einem früheren Bekannten. Peter de Mendelssohn, Journalist und Schriftsteller, jetzt in britischer Offiziersuniform, fragte ihn, ob er an einer geplanten Zeitung mitarbeiten wolle. Kästner zog nach München und trat seine Stelle als Feuilletonchef der Neuen Zeitung an. Auf dem Gelände jener Druckerei in der Schellingstraße 39, bei der vormals der Völkische Beobachter, produziert worden war, verwirklichte die amerikanische Besatzungsmacht ein ehrgeiziges Projekt. Unter eigener Regie initiierten sie eine unabhängige Tageszeitung, für deren Feuilleton vorwiegend deutsche Journalisten verantwortlich waren. Daraus wurde Die Neue Zeitung, die bedeutendste deutsche Nachkriegszeitung überhaupt. Kästner hielt mit der ihm eigenen Ironie fest, es sei zugegangen "wie bei der Erschaffung der Welt". Bereits am 18. Oktober 1945 erschien in München die erste Nummer der Neuen Zeitung - und sie schlug ein. Alfred Andersch, , Günter Eich, , Hildegard Hamm-Brücher, , Stefan Heym, Karl Jaspers, Erich Kästner, Eugen Kogon, Friedrich Luft, Heinrich und , , , und viele andere zählten zu dem einmalig prominenten Autorenkreis. In der deutschen Bevölkerung wurde die Zeitung mit Leidenschaft angenommen. Die Auflage der Neuen Zeitung betrug zeitweilig bis zu zweieinhalb Millionen Exemplaren täglich. ISBN 3936428425 http://www.buch-fundus.de/

Ein offener Tresor der Erfahrung Interview mit Wilfried F. Schoeller Wilfried F. Schoeller, Herausgeber von Diese merkwürdige Zeit über Die Neue Zeitung, die führende Tageszeitung der Nachkriegszeit Sie sind Herausgeber des Buches Diese merkwürdige Zeit - Leben nach der Stunde Null, das nun bei der Büchergilde Gutenberg erscheint. Auf rund 700 Seiten sind unzählige Artikel enthalten, die zwischen 1945 und 1955 in Die Neue Zeitung, einer Tageszeitung, die von den amerikanischen Besatzungsbehörden herausgegeben wurde, erschienen sind. Nahezu die gesamte deutschsprachige Geisteselite schrieb für dieses Blatt. Wie kam es zur Entscheidung, diese Artikel als Buch herauszugeben? Ich war seit den Siebzigerjahren mit zwei ehemaligen Mitarbeitern der Neuen Zeitung befreundet. Hartmann Goertz hat mir den Nürnberger Trichter gezeigt und mich aufgefordert: Wenn du die Nachkriegszeit verstehen willst, musst du die Neue Zeitung lesen. Und Walter Kolbenhoff, der zeitweilig Chefreporter des Blattes war, wurde zum feurigen Elias, wenn man darauf zu sprechen kam. Für ihn war die Adresse Schellingstraße 39 ein Abenteuerspielplatz des ungestümen Neubeginns. Darüber hat er ein Erinnerungsbuch voller Enthusiasmus und Rührung geschrieben. Die Redaktion von damals mit Habe, Kästner und all den anderen Kollegen war für ihn die Urzelle seiner eigenen befreiten Existenz. Beide Freunde sind schon lange tot, aber ich merkte: sie haben mich an einer langen Leine geführt und irgendwann mußte ich mich an die Quelle ihrer Begeisterung heranmachen. Inhaltlich sind die Texte sehr unterschiedlich. Nach welchen Kriterien sind Sie vorgegangen? Ich wollte ein möglichst dichtes Lesebuch zur Trümmerzeit, zum Wiederaufbau machen. Die Angst und die Verzweiflung, das Bewußtsein der Schuld, die Notlagen, das Ausmaß der Zerstörung, das hochgemute Vertrauen auf die eigene Kraft und die Energie zur geistig moralischen Wende sollten für die Nachgeborenen sichtbar werden. Das war das Ziel. Ich wählte dazu vor allem Beiträge aus dem Feuilleton aus. Das war der beste Teil der Zeitung. Dazu kamen einige Lokalreportagen über Orte und einige Leitartikel, vor allem von Hans Habe, Stefan Heym und Hans Wallenberg, den Gründervätern des Blatts. Das Ziel hat sein eigenes Recht eingefordert: ich habe der Büchergilde ein übersichtliches Buch von 300 Seiten vorgeschlagen und wurde von dem eindrucksvollen Material zum doppelten Umfang genötigt. Offenbar ist Die Neue Zeitung bislang weitgehend unbeachtet geblieben. Kaum zu glauben, wenn man die Namen der Autoren liest: Theodor W. Adorno, Ilse Aichinger, Alfred Andersch, Wolfgang Borchert, Alfred Döblin, Max Frisch, Hans Habe, Hildegard Hamm-Brücher, Hermann Hesse, Theodor Heuss, Stefan Heym, , Gustav René Hocke, Max Horkheimer, Ricarda Huch, Karl Jaspers, Walter Jens, Erich Kästner, Alfred Kerr, , Eugen Kogon, Reinhard Lettau, Friedrich Luft, Heinrich und Thomas Mann, Alexander Mitscherlich, Martin Niemöller, Sigismund von Radecki, sowie Carl Zuckmayer. Die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen. Warum hat Die Neue Zeitung bisher kaum Beachtung gefunden? Die amerikanische Militärregierung war ihr Initiator und sie diente dem Ziel der "Reeducation", der Umerziehung. Dieses Programm wurde schon in den restaurativen Fünfzigerjahren als Programm einer versuchten "Gehirnwäsche" verunglimpft. Davon mögen manche Vorbehalte geblieben sein. Wichtige Studien zur Neuen Zeitung haben vor allem ein Koreaner, eine Französin und ein Amerikaner vorgelegt. Das besagt auch einiges. Die Themen der Essays reichen von der Ungeheuerlichkeit der Verbrechen der Nazi-Zeit, von der Schwierigkeit eines ethisch-moralischen Neuanfangs, über die Nürnberger Prozesse, von denen Erich Kästner berichtet, hin zu Themen wie der Neuordnung der Schule oder der Rolle der Kunst in einer zukünftigen Gesellschaft. Gibt es einen gemeinsamen Nenner? Fast alle der Autoren, die in der Neuen Zeitung schrieben, haben abseits der Naziideologie, im Widerstand oder im Exil gelebt, auch wenn manche von ihnen im Dritten Reich durchaus einzelne Kompromisse gemacht hatten. In einem ausführlichen Kommentarteil ist dies dokumentiert. Das gab ihnen 1945 die Hoffnung auf eine neue Denk- und Handlungsfreiheit ein, das Pathos, neu geboren zu sein und trotz aller Verzweiflung ringsum in der Stunde des Anfangs, unter einem Morgenrot zu leben. Bei aller Diskussionsfreude und erstaunlichen Streitkultur der Mitarbeiter eint sie dieses – ich meine: Gefühlsbewußtsein, an einem Beginn zu stehen. Was hat Sie am stärksten beeindruckt? Der Glaube an die Kraft der Demokratie, eine elementare Kraft, die zwar von zwölf Jahren Nazidiktatur dementiert, aber nicht annulliert war. Die auch von den Zerstörungen und dem Bewußtsein, dass einem die Jahre von Hitler und den Seinen gestohlen worden waren, nicht behelligt war. Mit welcher Kraft hat diese so annoncierte "verlorene Kraft" an die Zukunft geglaubt. Ach, könnten wir uns doch für unsere zaghafte, ängstliche, jammernde Gesellschaft etwas von dieser Energie ausleihen! Hat sich Ihr Bild von der Zeit oder von einzelnen Autoren durch diese Arbeit verändert? Ich habe mich jahrzehntelang mit Exil- und Nachkriegsliteratur beschäftigt, aber mein Selbstvertrauen, man wüßte das meiste darüber, ist doch stark infrage gestellt worden. Die Irrfahrt in dieser Textlandschaft der Trümmerzeit hat mir das Wissen verschafft, daß ich meine Gewissheiten revidieren muß. Ich bin in der angenehmen, aber auch etwas unheimlichen Lage eines Reisenden, der ungewollt eine Bildungsreise in fremdem Gelände unternommen hat, wo er doch nur einen Spaziergang machen wollte. Ich bin auch nach den vielen Monaten, die ich über diesen Texten verbracht habe, ein staunender Passant und habe noch keinen endgültigen Überblick. Soviel aber ist klar: ich komme aus dieser Wörterlandschaft anders heraus als ich hineingegangen bin: mit geschärfteren Sinnen und viel mehr Aufmerksamkeiten auch für die Physiognomie unserer Zeit. Der Untertitel Ihres Buches lautet: Leben nach der Stunde Null. Gab es diese "Stunde Null" tatsächlich, oder war sie nicht eher ein Wunschbild? Es war ein Wunschbild, dass es einen Anfang geben könne, eine Zeitmarke, hinter der alle Vergangenheit abfiele. Aber diese Selbsttäuschung war auch notwendig, damit man sich überhaupt bewegen konnte. Für die aktiven Mitmacher im Dritten Reich bot die Setzung einer "Stunde Null" selbstverständlich einen willkommenen Anlass, die eigene Vergeßlichkeit zu legitimieren. Aber dann, das kann man aus den Artikeln lernen, gibt es auch die Generation der Zwanzigjährigen, die aus der Schule direkt in den Krieg geschickt wurden und die danach mit Recht sagen konnten: Jetzt beginnt unser Leben erst, bisher war es nur ein greuliches Vorspiel. Ich denke an diese berühmte Generation 1929, die noch im März 1945 eingezogen wurde, um Kanonenfutter abzugeben. Sie hat jede Legitimation, von einer Stunde Null in ihrem Leben zu sprechen. Ihr genialster Sprecher, obwohl selbst acht Jahre älter, war damals wohl der früh verstorbene Wolfgang Borchert, von dem ich einige Prosastücke genommen habe. In Verbindung mit anderen zeitgenössischen Texten enthalten sie Überraschungen. Die Nachkriegsgeschichte wird leider von wenigen Schlagworten beherrscht: Kahlschlag der Literatur, Verdrängung der Schuld, Restauration, Kalter Krieg gehören in dieses Wortfeld. Was kann man darüber aus Ihrem Textbuch lernen? Dass sie keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen können und daß diese Begriffsmünzen meistens im Nachhinein geprägt worden sind. Wenn man sie nach der Erfahrung der jeweiligen Generation prüft, haben viele von ihnen eine Teilberechtigung. Wir müssen zum Beispiel heute, sechzig Jahre nach dem Kriegsende, lernen, daß der Streit über die Benennung dessen, was sich damals ereignete: Kapitulation, Zusammenbruch oder Befreiung, öde ist - ein untauglicher Versuch, unterschiedliche Erfahrungen und Perspektiven mit einem einzigen Wort zu stempeln. Beim Lesen der Artikel fühlt man sich ganz nah am Geschehen, beinahe wie ein Zeitzeuge. Man erlebt die Hoffnungen und Ideale, mit denen eine neue Gesellschaftsordnung aufgebaut werden sollte, mit. Was ist heute davon geblieben? Zunächst hat mich überrascht, wie greifbar nahe diese Texte sind. Viele von ihnen sind so unmittelbare Zeugnisse der Verstörung, der Ratlosigkeit, aber auch eines rührenden Verstandesglaubens an das Morgen, dass sie geradezu herzerweichend wirken. Es sind Zeugnisse, die nichts "bewältigen" wollen, sondern die Hilflosigkeit gerade dieses Versuchs, das Geschehene in den Griff zu kriegen, mit ihren Mitteln ausstellen. Die Literatur von damals ist wie ein offener Tresor der Erfahrung. Und den kann man in diesem Buch studieren - mit allen Regungen des Staunens, des Mitgefühls und einer klammheimlichen Befriedigung, dass wir nicht mehr in diesen Zeiten leben. Die literarische Qualität, aber auch der moralisch-ethische Anspruch der Beiträge ist sehr hoch. Inwieweit beeinflußten sie die deutsche Literatur der Nachkriegszeit? Das ist sie, die Nachkriegsliteratur, ein Stimmengewirr: die Schriftsteller der Zwanzigerjahre mit ihren großen moralischen Gesten, die Bitternis und Gespaltenheit der Emigranten neben den Überlebensberichten der in Deutschland Gebliebenen, die Reibungen, die sich daraus ergaben, die schneidende Sachlichkeit, wo doch auch die Autoren mehrmals umgestülpt worden waren, der lakonische Berichtston der Jungen, der journalistische Ansatz auch vieler Erzählungen, die Flut der Expressionismen und der mythologischen Überhöhungen, das Tasten nach dem Dach einer Religion und dann wiederum, wie ein Überfall, die Sehnsucht nach Natur: Beschreibung einer einzigen Buche, das Lob des Regens. Aus diesem Fundus, der nirgendwo anders so umfangreich präsent ist wie in der Neuen Zeitung , hat sich die Gruppe 47 entwickelt, durch Verengung der Interessen und Ausblendung der literarischen Alternativen, wie wir heute wissen. Natürlich bleibt die Literatur niemals so, wie wir sie, im Stillstand unserer Lektüre befangen, wahrnehmen. Alles ist anders geworden. Und doch: einige der moralischen und intellektuellen Impulse sind vielleicht die gleichen wie heute, nur ein wenig unkenntlich geworden. In jüngster Zeit nimmt die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus wieder zu. Wie unterscheiden sich beispielsweise die Bücher von Uwe Timm oder Ulla Hahn von den Artikeln der Neuen Zeitung? Zwischen beidem liegt nicht nur eine Zeitgrenze. Die Bücher, die sich heute mit dem Nationalsozialismus, der Verfolgung, den Konzentrationslagern, dem Massenmord an den Juden, dem Überleben in auswegloser Lage, den Traumata der hinterbliebenen Opfer beschäftigen, können auf freie Rede bauen. Eine meiner Texterfahrungen ist jedoch, daß die Autoren von damals diese Freiheit nur sehr eingeschränkt besaßen. Die Diskussion über die deutsche Schuld und wie kollektiv sie war, ist zwar für die Nachkriegsautoren ein grundlegendes Thema, aber ihre Wirklichkeit kommt damals kaum zur Sprache. Diese historischen Zeugnisse, so beredt sie im einzelnen sind, sparen viel aus. Erzählt wird in ihnen oft auch eine Sprachlosigkeit, ein Verstummen, ein Schweigen. Man mußte erst einmal vergessen können, um Erinnerungskraft zu gewinnen. Von diesem seelischen Vorgang hat der spanische Schriftsteller und ehemalige Buchenwald-Häftling Jorge Semprun mit großer Souveränität erzählt. Ich bin viel vorsichtiger geworden als ich es war: früher habe ich der Generation meiner Eltern, aus der die meisten Texte stammen, ihr Schweigen vorgeworfen, als sei es die Maske ihrer Schuld, jetzt versuche ich diese Sprachlosigkeit zu verstehen. Und in dieser Anthologie aus der Neuen Zeitung habe ich einige Anhaltspunkte dafür versammelt. Sie sehen: jede Generation muß die Vergangenheit nicht nur jeweils für sich buchstabieren, sondern sie im Lauf der Jahre vielleicht auch noch einmal umwenden. Die Amerikaner haben Die Neue Zeitung ins Leben gerufen, um den moralischen, geistigen und materiellen Wiederaufbau Deutschlands zu fördern. Wurde dieses Ziel erreicht? Gewiss nicht. Mit diesem Riesenprogramm wäre jede Zeitung überfordert gewesen. Überdies wussten die Amerikaner auch nicht ganz genau, was sie unter "Reeducation" verstanden. Aber die Redakteure und Autoren dieser Zeitung haben enorm viel geleistet: Sie haben vor allem vorzüglichen Journalismus gemacht. Der ist ja bekanntlich für die Demokratie ein entscheidendes Ferment und Kontrollorgan. Sie haben viele junge Kollegen so gut in ihre Arbeit eingeführt, dass man mit Fug und Recht behaupten kann: Bei der Neuen Zeitung handelt es sich um die Hohe Schule des deutschen Nachkriegsjournalismus. Und wie erscheint Ihnen die Rolle der Amerikaner in diesem Zusammenhang? Ihre größte Leistung bestand neben der Gründung des Blattes in der Toleranz, die sie gegenüber widerborstigen deutschen Mitarbeitern und Redakteuren übten. Sie haben in entscheidenden Momenten immer wieder auf das militärische Gesetz von Befehl und Gehorsam verzichtet. Das wirkt heute, wo die amerikanische Armee im Namen der Demokratie schlimme Untaten in anderen Ländern begeht, wie das schöne Eswareinmal im Märchen. Insofern ist die Neue Zeitung als Erfolgskapitel der deutsch-amerikanischen Kulturbeziehungen fast ohne Beispiel. Und vielleicht überhaupt nur mit dem Marshallplan und Coca-Cola zu vergleichen. Die gestaltenden Chefredakteure waren deutsche Emigranten wie Hans Habe und Hans Wallenberg, die in amerikanischer Uniform zurückkehrten. Welchen Anteil hatten sie an der Neuen Zeitung ? Ihnen verdanken die Nachkriegsdeutschen das allermeiste. Ihrer Klugheit, ihrem Scharfsinn und ihrer inneren Unabhängigkeit ist es zuzurechnen, daß die amerikanischen Militärs Geduld und Verständnis für die besiegten Deutschen aufbrachten. Das Buch darüber, wie die aus dem Exil zurückkehrenden Schriftsteller und Intellektuellen die Nachkriegskonflikte begütigten und gestalteten und wie sie danach im Westen ausgebootet wurden oder gar nicht mehr zum Zuge kamen, ist erst noch zu schreiben. Und zwar mit großem Respekt. 1955 erschien die letzte Ausgabe der Neuen Zeitung. Welche Gründe gab es dafür? Äußere und innere. In diesem Jahr endete in der BRD die Regentschaft der Alliierten Hochkommissare. "Die Aufgabe ist erfüllt", heißt es im letzten Leitartikel der Zeitung. Den Westdeutschen wurde ein hohes Maß an Souveränität wieder zugebilligt; die Integration der BRD ins westliche Bündnis durch Adenauer war großenteils vollzogen. Die erste Phase des Nachkriegs war nach zehn Jahren zu Ende. Aber es gab auch andere Gründe: der Kalte Krieg hat den freien Geist in dieser Zeitung abgeschnürt. In den USA waren auch einige führende Köpfe der Neuen Zeitung ins Visier des Kommunistenjägers McCarthy geraten und übel verleumdet worden. Das hat ihnen den Mut genommen, noch einmal gegen alle Widerstände einen Aufbruch zu wagen. Auch waren die ersten fetten Jahre der Westdeutschen für diese Zeitung nicht förderlich. Ihre Ironie über den Wiederaufbau vor allem der Bäuche ist in mehreren Artikeln meiner Sammlung präsent. Die Neue Zeitung war immerhin ein Organ des intellektuellen Anspruchs gewesen, und mit den Intellektuellen geriet sie ins Abseits. Kann man sagen, daß seither keine Zeitung eines solch literarischen Kalibers erschienen ist? Die Neue Zeitung sollte ein Modell sein, zumindest ein Anhaltspunkt für die Lizenzpresse, die seit Ende 1945 in den Westsektoren Deutschlands erschien. Das hat funktioniert: die enorme Breitenwirkung bei hohem geistigem Anspruch - bis zu zehn Millionen Leser - hat das Vorbild leuchten lassen. Alle großen deutschen Tageszeitungen verdanken der Neuen Zeitung sehr viel - und sind deshalb auch als ihre Nachfolger anzusehen. Könnte diese Zeitung ein Vorbild für die heutige Zeit sein? Wäre es angesichts der gesellschaftlichen Umwälzungen nicht sogar eine Verpflichtung für die Intellektuellen, eine vergleichbare Zeitung herauszugeben? Die Bedingungen, unter denen dieses Blatt erschienen ist, kann man nicht wiederholen. Dieses Blatt war ein Geschenk der Sieger an die Besiegten, eine Aufforderung, das Geschenk der Freiheit und der Demokratie anzunehmen. Wer könnte heute solche Geschenke machen? Die Neue Zeitung hatte hinter sich einen riesigen funktionierenden Verteilungsapparat, hatte fast unbeschränkt Papier, bedurfte - wenigstens in den ersten Jahren - nicht einmal der Anzeigen, unterhielt einen großen Redaktionsstab und konnte hohe Honorare zahlen. Wo ist heute der Mäzen, der solches Glücksmärchen in die Welt setzt? Nein, die Neue Zeitung ist unwiederholbar. Wir sollten zu ihr aufblicken wie zu einer verschollenen Ikone und dabei unsere eigenen Bemühungen um einen unabhängigen Blick und eine moralische Sichtung unserer Welt bedenken. Das wäre für diese Zeitung, die ein besonderes Archiv vergangener Augenblicke ist und wie jedes journalistische Zeugnis auch ein Objekt der Vergeßlichkeit, mehr als genug. Und wir könnten sagen: wir haben etwas gelernt. http://www.buechergilde.de/archiv/exklusivinterviews/schoeller.shtml Zurück