Zum Profanbau des 19. Jahrhunderts im

Der Ortenaukreis als zentraler Teil Mittelbadens verfügt nicht nur über einen besonders reichen, sondern auch besonders vielseitigen Bestand an profanen Bauwerken des 19. Jahrhunderts und ist daher in besonderer Weise geeignet, die Entwicklung des Profanbaus des letzten Jahrhunderts (bis 1914) sowie die hinter ihr stehenden Gedanken und Kräfte sichtbar werden zu lassen.

Hans Jakob Wörner

Das Land , Napoleons geliebte und sogar besondere wenn man bedenkt, dass noch bis in mit seiner Familie verbundene Schöpfung, war die Mitte des 19. Jahrhunderts Hungersnöte bzw. bei seiner Gründung ein nicht nur aus heteroge- diesen nicht unähnliche Mangelzeiten vorkamen nen Teilen zusammengesetztes, sondern auch ar- und u. a. eine enorme Auswanderung nach Ame- mes Land. Wobei sich hier zeigte, dass Armut rika hervorriefen. nicht unbedingt vor Größen Wahnsinn bewahrt: Schon damals kam man auf die auch heute noch Als der „Organisator" Badens, von Reitzenstein, gehegte Idee, ein agrarisches Land könne sein Los 1806 in Warschau in das Hauptquartier des mit nur dadurch verbessern, dass es sich auf Sonder- seinem Feldzug beschäftigten Napoleon trat und kulturen in der Landwirtschaft verlege. Aus die- um die Erhebung Badens zum Königreich (unter sem Grunde wurde der Weinbau in Baden geför- Einbezug von schweizerischem Gebiet !) bat, dert, der Meerrettichanbau, der Zichorienanbau warf ihn Napoleon hinaus, sinngemäß mit dem und die Zichorienverarbeitung, besonders aber Bemerken, dies könne überhaupt nicht in Frage der Tabakanbau und die Tabakverarbeitung. Auch kommen, solange die Verhältnisse Badens nicht das große Werk der Rheinkorrektion von Johann wesentlich besser seien. Gottfried Tulla, das erst 1880 vollendet war, ge- Napoleon hatte damit zweifellos Recht, nament- schah nicht nur aus der Überlegung, dadurch lich auch, was die wirtschaftlichen Verhältnisse ständige Überschwemmungskatastrophen zu ver- angeht. Baden war als rein agrarisches Land arm, meiden, sondern insbesondere, um fruchtbares und vor allem seine gebirgigen Gegenden müs- Ackerland zu gewinnen. Der Gedanke der Son- sen als Notstandsgebiete bezeichnet werden, ins- derkulturen stammt aus verschiedenen Quellen, 2 , lllenau. Mittelpavillon.

er wurde jedoch besonders gefördert durch Frei- hin studierte er sodann in bei Friedrich herr Carl Ludwig von Lotzbeck in Lahr, der selbst Weinbrenner Architektur. Danach entschloss er ein großer Tabakanbauer und -verarbeiter war. sich, in Baden zu bleiben und in den badischen In Lahr ließ der Zichorienfabrikant Jakob Ferdi- Staatsdienst einzutreten. Tätig zunächst in Lahr, nand Lenz 1808 (Planung wohl gemeinsam von wurde er 1821 Bauinspektor beim staatlichen Friedrich Weinbrenner und seinem Schüler Jo- Bauamt in , 1832 Bezirksbaumeister in hann Heinrich Voss) eine schlossartige Anlage er- und 1844 zum Baurat ernannt. Sein richten, in deren Zentrum das klassizistische Her- Grabmal steht auf dem alten Friedhof in Freiburg. renhaus steht und vor dem sich ehrenhofartig Johann Heinrich Voss hat im Gebiet des Ortenau- eine symmetrische Anlage von Flügelbauten er- kreises eine für die damalige Zeit enorme Anzahl hob, die der Fabrikation diente. Vom Herrenhaus von Bauten errichtet, eine Fülle von Kirchen bei- aus hatte der Fabrikant direkten Ausblick auf die der Konfessionen, jedoch auch Profanbauten, Fabrikationsstätten, jedoch auch auf die Anbau- unter ihnen die bei weitem größte Anlage, wel- flächen. Die Zichorie hingegen erbrachte offen- che in dieser Zeit gebaut wurde, die Heilanstalt ll- bar bei weitem nicht den erhofften Ertrag, Jakob lenau in Achern. Es kann für Baden als überaus Ferdinand Lenz hatte sich mit der aufwendigen typisch gelten, dass in der 1. Hälfte des 19. Jahr- Anlage übernommen und musste sie schleunigst hunderts Bauaufgaben fast ausschließlich von verkaufen an Freiherr Carl Ludwig von Lotzbeck, staatlichen Architekten geplant wurden. Es muss dessen Einkommen vor allem aus dem Tabakan- als große Ausnahme und Neuerung bezeichnet bau und der Tabakherstellung kam. Die Zigarren- werden, dass gegen Mitte des Jahrhunderts bei herstellung war nicht nur marktgängig gewor- zwei großen katholischen Kirchenbauten in Lahr den, sie bot außerdem noch den großen Vorteil, und nicht-staatliche Architekten tätig dass an ihrer Herstellung die ganze Familie betei- wurden (die Brüder Greiff). Und selbst dies wurde ligt wurde, der Bauer baute die Tabakpflanze an nur möglich durch das mehr als bedauerliche und erntete sie, die Familie einschließlich der Kin- Spannungs-Verhältnis zwischen Staat und katho- der wickelte die Zigarren und verkaufte sie, meist lischer Kirche zu jener Zeit in Baden, wobei diese an das am besten bezahlende Holland. Architekten staatlicherseits auch der (als Be- schimpfung gemeinten) Bezeichnung, sie seien Der Architekt Johann Heinrich Voss „von durchaus ultramontaner Gesinnung", nicht entgingen. Der Architekt Johann Heinrich Voss (1783-1849) spielt im Baugeschehen der 1. Hälfte des 19. Die Heilanstalt lllenau in Achern Jahrhunderts in eine zentrale Rolle. Er war ein Sohn des großen Homer-Übersetzers Eine Anlage von ganz besonderer Art aber ist die Johann Heinrich Voss. Geboren 1783 in Eutin, er- lllenau in Achern. Sie ist bei weitem die größte lernte er, in der Jugend kränklich, zunächst das bauliche Anlage, welche in dieser Zeit in Mittel- Handwerk des Kunstschreiners. Auf Goethes Rat baden errichtet wurde und vor allem eine Anlage,

176 die ihre Verwirklichung den für jene Zeit umwäl- Burg Ortenberg zend modernen Erkenntnissen der Psychiatrie verdankt. Der aus Pforzheim stammende Arzt Nur mühsam gelangte Baden in der 1. Hälfte des Christian Roller (1802-1878) entdeckte als einer 19. Jahrhunderts zu wirtschaftlichem Wachstum, der Ersten und vertrat in Schriften und Vorträgen wofür nicht zuletzt trotz einer auf französischen unermüdlich, dass das Einpferchen von Geistes- Grundlagen beruhenden, fortschrittlichen Ver- kranken in völlig ungeeignete Gebäude, die der fassung von 1818 die noch immer bestehenden Staat aus weggenommenem Kirchenvermögen rechtlichen Hemmnisse verantwortlich waren zufällig übrig hatte, nicht nur einen groben Miss- (Gewerbefreiheit erst 1862). Da wurde es natur- stand darstelle, sondern eine mögliche Heilung gemäß besonders begrüsst, wenn Fremde mit gänzlich verunmögliche und damit die Patienten großem Vermögen nach Baden kamen, sich hier vollends ruiniere. Er hielt „...einen solchen geisti- niederließen, als große Mäzene und Bauherren gen Mord für weit grässlicher als einen Todt- wirkten und ihrer Umgebung Arbeit und Brot ga- schlag". Rollers Auffassung, beharrlich vorgetra- ben. gen, wurde vom badischen Staat, obwohl er Zu diesem Personenkreis gehörte der baltische durch Vormärz und Wirtschaftsdepression sicher- Adlige Gabriel Leonhardt von Berckholtz (1781- lich andere Sorgen hatte, Ernst genommen. Der 1863). 1781 in Riga geboren, kam er durch Erbe Staat verstärkte diese Ansicht noch, indem das In- und kaufmännische Tätigkeit zu großem Vermö- nenministerium feststellte, dass in der bisherigen gen, das ihn 1825, durchaus im Stil des Adels Art von Kasernierung die Patienten: „statt Hei- im zaristischen Russland, dazu veranlasste, mit lung und Linderung...zu finden, immer tiefer her- seiner Familie „auf Reisen zu gehen". 1830 ließ absinken zum thierischen Blödsinn und auf diese er sich in Karlsruhe nieder, dort las er im Ver- Weise vollends geistig gemordet werden". Der kündblatt, dass die Großherzogliche Hofdomä- badische Staat trat an die Spitze der Entwicklung, nenkammer das „herrschaftliche Ortenberger stellte die für seine Verhältnisse enormen Geld- Schlossrebgut" zum Verkauf versteigere. Er be- mittel zur Verfügung, Johann Heinrich Voss ent- auftragte Hofbanquier von Haber, für ihn zu warf und erbaute die lllenau als erste badische bieten, und erhielt den Zuschlag. Damit kam er „Irrenanstalt", 1839 wurde in Anwesenheit von 1833 in den Besitz nicht nur von Reben, sondern Großherzog Leopold der Grundstein gelegt, auch einer großen mittelalterlichen Burgruine. 1842 die Anlage in Betrieb genommen. Was nun einsetzte, kann für einen baltischen Ad- Johann Heinrich Voss konzipierte die lllenau als ligen kaum typischer sein. Die baltischen Adligen, klassizistische Schloss-Anlage. In der Mitte ste- meist deutschstämmig, hielten in ihrem seit dem hen, anstelle des Corps de Logis, Versammlungs- 18. Jahrhundert zum Kaiserreich Russland gehö- saal und Kapelle, davor ein von Säulenreihen ein- gefasster Ehrenhof. Um diese Mittelachse ent- wickeln sich symmetrisch langgestreckte, hell be- lichtete Flügelbauten mit mehreren großen In- nenhöfen. Weiter entfernt folgen, ebenfalls im Wesentlichen symmetrisch. Nebenbauten, die der Versorgung und der Landwirtschaft dienen. Die gute Unterbringung in freundlichen, hellen Räumen, die bewusste Einbeziehung der reizvol- len Landschaft im Übergang von der Rheinebene zum Schwarzwald und sogar die Mitarbeit in Gar- ten und Landwirtschaft wurden von Johann Chri- stian Roller ganz bewusst als Bestandteil der The- rapie eingesetzt, was für die damalige Zeit von re- volutionärer Modernität war. Dass die lllenau den Prinzipien des Schlossbaus folgt, in Wirklichkeit eine klassizistische Schlossanlage ist, blieb nicht verborgen, wurde doch geschrieben :"Der erste riesige Narrenpalast auf deutschem Boden...so wuchtig wie des Großherzogs Schloss". Die Farbe der Gebäude war zwar nicht so rot wie ihr heuti- ger, aus den 1950er Jahren stammender An- strich, jedoch spricht auch Heinrich Hansjakob, der als Patient in der lllenau weilte und sich dort wohl fühlte, von „jenen blassrothen Gebäuden". 3 Ortenberg, Schloss.

177 portierendem Gusseisen) empfahl, ist später zum Vorwurf gemacht worden, dass unter seinen Ent- würfen eine Kuckucksuhr in Form eines Bahn- wärterhäuschens vorkommt. Der noch junge Eisenlohr ging wenig zimperlich mit den staufischen Mauern der Burgruine um. Er beließ im Wesentlichen die Bering-Mauer, die Ecktürme, soweit sie noch vorhanden waren, und den Hochturm, genannt „Schimmel". Das ei- gentliche Wohnschloss aber, ein Carre-Bau mit polygonalen Ecktürmen, stellt einen fast vollstän- digen Neubau dar mit repräsentativem Treppen- haus, mit Rittersaal (mit reicher neugotischer Ausstattung), mit Arbeitskabinett und mehreren, meist quadratischen, hellen Räumen, von denen die Eckräume, durch die polygonalen Ecktürme 4 Ortenberg, rigen Gebiet treu zum russischen Zaren, kamen erweitert, prachtvolle Ausblicke in das Kinzigtal Schloss, Rittersaal. häufig zu diplomatischen Aufgaben, besonders und über die Rheinebene zum Straßburger Müns- aber in der Regel zu großem Reichtum. Dazu ter bieten. gehörte es gleichsam zwangsläufig, einen ent- Der Bauherr starb 1863. Die Schlossanlage ging sprechenden Adelssitz zu haben, der entweder 1872 an Baron Gustav Renouard de Bussiere eine komfortabel ausgebaute mittelalterliche über, durch dessen aufwendigen Lebensstil aller- Burg sein oder aber als Neubau aussehen musste, dings hohe Schulden aufliefen, so dass das wie ein Schloss in Schottland. Dazu ließen sich Schloss 1889 in das Eigentum des Barons Theo- viele Beispiele anführen, hier sei nur erwähnt, dor Hirsch von Gereuth überging. Dessen Erbin dass sich z. B. Bürgermeister Armitsted von Riga Freiin Diana von Brandt, vom Dritten Reich als privat das ganz englischen Vorbildern folgende „nicht arisch" verfolgt, und ihre Kinder verkauf- Schloss Jaunmoku-Pils in der weiteren Umge- ten das Schloss an das Deutsche Jugendher- bung seiner Stadt errichten ließ. Gabriel Leon- bergswerk, dem es noch heute gehört. Der nicht hardt von Berckholtz aber hatte in der in staufi- besonders schonende Umgang mit der Altsub- sche Zeit zurückgehenden Burgruine von Orten- stanz ist Jakob Friedrich Eisenlohr nach 160 Jah- berg, malerisch auf einem Rebhügel im unteren ren verziehen, heute ist das Schloss Ortenberg als Kinzigtal gelegen, gefunden, was er suchte, eine großartige, zeittypische Leistung des noch frühen echte Burgruine zum Ausbau als Adelssitz. Historismus nicht nur eine der am besten be- Sofort nach dem Erwerb vergab er den Planungs- suchten Jugendherbergen weit und breit, son- auftrag an den Architekten F. Maler, von dem dern auch die Wappenburg des Ortenaukreises. zwei Entwürfe erhalten sind. Mit den Planungen F. Malers, die möglichst viel Altsubstanz erhielten Zwischen 1840 und 1860 lässt sich in der badi- und zuerst zaghaft, dann opulenter historistische schen Architektur, auch auf dem Gebiete des Pro- Zufügungen machten, war der Bauherr jedoch fanbaus, eine eigentümliche Flaute feststellen, in sichtlich unzufrieden. Die Zwänge, die das Erhal- dieser Zeit wurde signifikant wenig gebaut. Die ten „allzu vieler" alter Mauern für den modernen Gründe dafür liegen auf der Hand. Selbst wenn Wohnkomfort mit sich brachten, müssen ebenso es durch große Anstrengungen gelungen war, zum Missvergnügen des Bauherrn geraten sein Baden auf dem Gebiete der Landwirtschaft bes- wie die von ihm offenbar als heterogen empfun- ser zu stellen, so konnte doch 1846/ 47 eine an denen Zufügungen. 1836 wechselte von Berck- Hungersnot grenzende Erscheinung von Miss- holtz den Architekten und wählte Jakob Friedrich ernte, Saatgutmangel und „furchtbarer Teue- Eisenlohr (1805-1855), Absolvent des Karlsruher rung" nicht verhindert werden. Auch hatte eine Polytechnikums, 1839 dort Lehrer und Leiter der eigentliche Industrialisierung, im Gegensatz zu Hochbauabteilung der Badischen Staatseisen- Frankreich und England, noch kaum begonnen. bahnen. Eisenlohr kommt in Baden große Bedeu- tung zu, gleichzeitig mit seinem Zeitgenossen, Vor allem aber gärt in dieser Zeit die badische Re- Mitschüler und Freund Heinrich Hübsch steht er volution. Ob es richtig ist, dass sie mit wirtschaft- für den Anfang des Historismus in Baden, hier in lichen Verhältnissen nichts zu tun gehabt habe einer zarten, noch mit klassizistischen Elementen und ausschließlich den Gedanken von Intellektu- versetzten Weise. Eisenlohr, der aus wirtschaftli- ellen entsprungen sei, steht dahin. Zu Recht wird chen Gründen die Verwendung des heimischen der eigentliche Beginn der badischen Revolution Baustoffes Holz (anstatt teuer aus England zu im- in der Versammlung der „entschiedenen Verfas-

178 sungsfreunde" am 12. 9. 1847 im Saal des Gast- katholischen Pfarrkirche von 1871-74 hofes „Salmen" in Offenburg gesehen. Im Ge- stammt. gensatz zu später, als sie, um das herrschende Das Empfangsgebäude in Offenburg mit seiner System zu schädigen, in der Eisenbahn bewusst heutigen, auffallend großen Gestalt entstand im als Schwarzfahrer auftraten, hatten die aus ganz Zusammenhang mit der Inbetriebnahme der Baden in die Mitte des Landes, nach Offenburg Schwarzwaldbahn (1873) sowie durch weiteren angereisten Verfassungsfreunde ihre Bahnbillette Ausbau 1906-13. In mehreren, z. T. symmetrisch bezahlt. Dass im Gegensatz zu Nachbarländern angeordneten pavillonartigen Bauteilen wurde bei uns die Revolution auf traurige Weise schei- dem Empfangsgebäude von Offenburg als dem terte, mit ihr die Volksrechte untergingen und Mittelpunkt des badischen Eisenbahnnetzes im dies zu einer Reihe schwerer Maßregelungen Schnittpunkt von Rheintal- und Schwarzwald- führte, denen sich manche „Kompromittierten" bahn ein besonderes Maß an Repräsentation zu- durch Flucht in die Schweiz, nach Frankreich und gebilligt. Entsprechend seiner Topographie ent- die Vereinigten Staaten entzogen, ist von dem wickelte das Netz der badischen Bahnen, abge- obsiegenden Regime möglichst vertuscht wor- sehen vom Grunddreieck Rheintal-, Hochrhein- den. Unter allen diesen Umständen ist verständ- und Schwarzwaldbahn ein System von Stichbah- lich, dass das Bauwesen weitgehend darnieder- nen, die von den Hauptästen abzweigend in Täler lag, angefangene Bauten oft jahrlang liegen blie- führen. Hierzu gehört die Achertalbahn genauso ben, bis sie vollendet werden konnten. wie die Renchtalbahn oder die Stichbahn Bi- Ende der 1850er Jahre beginnt dann, zunächst berach/-. Die Hochbau- noch zaghaft, ein Wiederanlaufen der Bautätig- ten dieser Bahnen entstanden durchwegs um keit, im Einzelnen zunächst noch mit Hilfe von 1880-90 in den Formen eines maßvollen, hei- außen. Wieder steht im Ortenaukreis an der matbezogenen Historismus, meist unter reichli- Spitze die Stadt Lahr. Aus ihr stammte der Kauf- cher Verwendung von Sandstein. An hervorge- mann Christian Wilhelm Jamm, dessen Vorfahren hobenen Stationen, z. B. an den Endstationen, dort Schuhmacher waren. In frühen Jahren über- gehört ein Turm zur Ausstattung des Empfangs- siedelte er nach Mittelamerika und kam durch gebäudes (z. B. Ottenhöfen als Endpunkt der Handel in Kuba zu einem großen Vermögen. Im Achertalbahn). Für solche Schwarzwaldorte war Alter kehrte er in seine Heimatstadt zurück, ließ der Bahnhof das Tor zur Welt, auch der Punkt, an sich hier 1859 durch einen unbekannten Archi- dem die Kurgäste, die Kaufkraft brachten, anka- tekten seine Villa errichten, die er, samt ihrem men. Heute im Besitz privater Bahngesellschaften Park, der heute der Stadtpark von Lahr ist, seiner und deren harten Sparzwängen ausgesetzt, wird Vaterstadt schenkte. Er stiftete noch dazu die die Erhaltung dieser Kulturdenkmale immer große Christuskirche (erbaut 1874-80 von Lud- schwieriger. wig Diemer). Die Jammsche Villa bleibt, französi- schen Vorbildern folgend, im baulichen Dekor Schloss Rodeck eher bescheiden, in manchem noch nachklassizi- stisch. Das Thema Ortenberg, Ausbau einer mittelalter- Um diese Zeit (1862) entstand in Lahr auch das lichen Burg zum Wohnschloss in der 1. Hälfte des mit seinem Vis-ä-vis einst torartig in die Markt- 19. Jahrhunderts, setzt sich in der 2. Jahrhun- straße einführende, spätklassizistische Eckhaus derthälfte fort in dem 1880 in Neurenaissance- Marktstraße/Bismarckstraße mit seinem markan- formen erfolgten Ausbau der Burg Rodeck. Die ten Rundturm. Burg Rodeck wurde im 13. Jahrhundert von der Familie Röder von Rodeck erbaut. 1379 ging sie Die badischen Staatseisenbahnen in den Besitz des Hochstifts Straßburg sowie der Markgrafen von Baden über. 1419 gänzlich im Nur erwähnt werden kann hier der Hochbau Besitz der Markgrafen, vergaben diese die Burg der badischen Staatsbahnen, der zuerst von Ja- im Mannlehen wieder an die Röder, die Anfang kob Friedrich Eisenlohr geleitet wurde. Von ihm des 17. Jahrhundert ausstarben, danach wech- stammt noch das zur Originalausstattung gehö- selnde Besitzer bis zur Erwerbung und Ausbau rige Empfangsgebäude in , das durch 1880 durch Obergerichtsrat Friedrich Schliep- einen leichten Bogen in der Schnellbahnstrecke hacke. Die Burg Rodeck gehört zu den wenigen stehen bleiben kann. Nach Eisenlohr war Leiter Höhenburgen, die nie zerstört wurden. Der Bur- des Hochbaus der Badischen Staatseisenbahn genausbau von 1880 unterscheidet sich signifi- Lukas Engesser (1820-1880) aus Villingen, der kant von dem in Ortenberg, auch wenn man 1863 bei Gründung des Erzbischöflichen Bau- berücksichtigt, dass die Burg Rodeck in ihrem amtes Freiburg dessen Vorstand wurde und von mittelalterlichen Bestand wesentlich kleiner war dem im Ortenaukreis der bedeutende Bau der als die Burg Ortenberg. Hier ist nun, mit großem

179 Der Boom um 1900

Nach Gründerfieber und Bankenfrühling, haupt- sächlich mit Hilfe der von Frankreich bezahlten Millionen, erfolgte nach 1873 der zyklusentspre- chende Crash, der nach kurzer Hausse wieder für eine gewisse Zeit Flaute einkehren ließ. Gegen 1890 jedoch belebte sich das Baugeschehen wieder und diesmal so stark, dass es sich bis 1914 zu einem bisher nie dagewesenen Bauboom steigerte. In diesen rund 25 Jahren wurde mehr gebaut als im ganzen Jahrhundert zuvor. Den Anfang machen Schulgebäude, deren Errichtung überaus dringend wurde, da seit dem Anfang des Jahrhunderts, ja mancherorts sogar seit Ein- führung der allgemeinen Schulpflicht, baulich nichts geschehen war. Die Luisenschule in Lahr nach 1880 oder die Friedrichschule in Lahr, 1889-91 von Carl Meurer, beide in maßvollen Formen der Neurenaissance, können als typische Beispiele hierfür gelten. Dass die Formen der ita- lienischen Renaissance, aus der Zeit der höchs- ten kulturellen Blüte Europas, als der für ein Insti- tut der Bildung passende und richtige Ausdruck angesehen wurde, geht aus zahlreichen Schriften der Zeit hervor. Ein Hauptvertreter dieser Auf- Bemühen, die bestehende mittelalterliche Sub- fassung war Joseph Durm (1837-1919), wie vor stanz erhalten worden. Der Bergfried und der an- ihm Friedrich Weinbrenner und Heinrich Hübsch grenzende Palas blieben in ihrem Bestand erhal- der höchste Baubeamte in Baden. Durm hatte die ten. Der Bergfried wurde lediglich erhöht und Baukunst der Renaissance in Italien eingehend sein oberer Abschluss in Neurenaissanceformen studiert und trug 1903 den gewichtigen Band dekoriert, der Palas mit einem neuen Dach sowie „Die Baukunst der Renaissance in Italien" zum mit Innenräumen versehen. Nirgendwo ist er- Handbuch der Architektur bei. Hier sei auch der kennbar, dass, abgesehen von einigen Fenster- Hinweis erlaubt, dass zu dieser Zeit das „Vater- öffnungen, mittelalterliches Mauerwerk abge- ländische" in Baden noch keine Rolle spielte, im brochen wurde, es wurde lediglich hinzugebaut. Gegenteil, der Badner Bezug nach Italien (bei Hierin ist schön zu sehen, in welchem Umfang, Weinbrenner die klassische Antike, bei Hübsch trotz aller Burgenromantik, der Gedanke der die altchristliche Basilika, bei Durm die Renais- Denkmalpflege von Substanzerhaltung erstarkt sance) hatte hier noch bei weitem Vorzug vor der ist. Die Anfänge der Burg liegen im 13. Jahrhun- märkischen Backsteingotik, dabei mag auch eine dert, sie blühte jedoch noch im 15./16. Jahrhun- gewisse Abneigung gegen Preußen, die von dert unter der Familie Röder von Rodeck, wie bis der Niederschlagung der badischen Revolution heute erhaltene, mit Straßburg in Zusammen- von 1848/49 herrührte, eine Rolle gespielt haben. hang stehende Fresken zeigen. Der Bauherr von Bei der Wahl von Formen der italienischen Hoch- 1880 erlaubte sich größeren Reichtum nur dort, renaissance für ein Schulgebäude wäre in den wo im Wesentlichen keine alte Substanz mehr 1880er Jahren noch niemand auf den Gedanken vorhanden war, im Bereich des Daches. Dies gilt gekommen, dies sei unzulässig, da es sich hier insbesondere für den im zweiten Obergeschoss nicht um einen deutschen Stil handle. gelegenen Rittersaal, dessen geputzte Kreuz- Hier ist auch zu erwähnen, dass sich nun, mit tonne von 1880, reich mit Groteskenmalerei in dem Einsetzen des großen Baubooms, insbe- den Formen der italienischen Hochrenaissance sondere in Städten wie Lahr und Offenburg, Mo- versehen, unter jahrzehntelanger Verschalung nopolstellungen von Architekten herausbildeten. wieder sichtbar geworden ist. Durch den Ausbau In Lahr war dies das Architekturbureau Carl Meu- von 1880 wurde Schloss Rodeck, auch wenn sein rer, in Offenburg waren es mehrere wie Nägele Raumangebot durch die Erhaltung der mittelal- & Weis, Kuli & Schweiger oder Friedrich Abel terlichen Substanz begrenzt ist, zu einem präch- (1852-1926). Die meisten größeren Bauvorha- tigen Herrensitz in fabelhafter Lage, umgeben ben in dieser Zeit zwischen 1890 und 1914 wur- von Reben, hoch über dem Achertal. den von diesen Architekten bewirkt. Andere Ar- chitekten hatten daneben große Mühe, zu Auf- Kasernenbauten in Lahr und Offenburg trägen zu kommen. Dies ist ein merkwürdiges Phänomen. Besonders eklatant ist der Fall des Ar- Nicht unerwähnt bleiben kann hier die Tatsache, chitekturbureau Carl Meurer in Lahr, das rei- dass sich badische Städte, sowohl Lahr als auch bungslos alle Phasen von Neurenaissance über Offenburg, mit Nachdruck darum bemühten, Neubarock und Jugendstil bis zur ersten Phase Garnisonsstädte zu werden. Sie erwarteten da- des Neuklassizismus mitmachte und dessen prak- durch zusätzliche Einwohner, gesteigertes Anse- tische Monopolstellung erst mit dem Ersten Welt- hen und wirtschaftlichen Gewinn. Nach längeren krieg endete. Ähnlich, wenn auch nicht ganz so Verhandlungen gelang es beiden Städten, Garni- ausgeprägt, ist es mit dem Architekturbureau Nä- son zu werden. Unter Mithilfe der Städte wurden gele & Weis in Offenburg, das nach 1890 eine große Kasernenviertel am Stadtrand angelegt große Bautätigkeit entfaltete, das jedoch gegen und eindrückliche Kasernenbauten errichtet, die 1910 den Anschluss verpasste, dann als altmo- zum großen Teil noch heute bestehen. Als typi- disch und überholt galt und bei größeren Auf- sches Beispiel hierfür kann die Ihlenfeld-Kaser- trägen kaum mehr Chancen hatte. Dafür ist ein nenanlage in Offenburg erwähnt werden, eben- eindrückliches Beispiel die Klosteranlage des so die Anlage von Kavallerie-Kasernen in Lahr. Mutterhauses der Franziskanerinnen in Gengen- Die Ihlenfeldanlage in Offenburg entstand ab bach. Für sie hatten Nägele & Weis noch 1907- 1897/98, geplant wurde sie durch die k.Inten- 10 einen großen Mittelbau errichtet, in maßvoll dantur des 14. Armeecorps für das Infanterie-Re- neubarocken Formen. Außerdem hatten sie die giment 170. Ausgeführt wurde die Planung wenig dankbare Aufgabe, mehrere vorhandene durch die Stadt Offenburg, Stadtbaumeister Karl Bauten zu einer Einheit zusammenzufassen, best- Joseph Wacker (1855-1918). Man mag sich dar- möglich gelöst. Als es 1914 darum ging, diesem über wundern, dass hier in Baden eine k. (könig- erst durch Nägele & Weis zu einer ansprechenden lich preußische) Intendantur des 14. Armeecorps Gesamtgestalt gebrachten Komplex eine Kloster- als Planer auftritt, es gehört jedoch zu den badi- kirche anzufügen, wurde der Auftrag Johann schen Eigenheiten, dass Baden durch die Militär- Schroth (1859-1923) übertragen, der als Ange- konvention von 1869 mit Preußen auf seine Mi- stellter der katholischen Kirche von seinem Ar- litärhoheit verzichtete, die badische Armee also beitgeber für diese Aufgabe erst freigestellt preußischem Kommando unterstand, wobei der werden musste. Den Schwestern und ihrem Prior Oberkommandierende, ein preußischer General, war es mehr als peinlich, den langgedienten Ar- in Karlsruhe zu residieren hatte. Es hängt dies chitekten Nägele & Weis den sicherlich von u. a. zusammen nicht nur mit der Tatsache, dass diesen erwarteten Auftrag nicht zu erteilen; sie Preußen die badische Revolution von 1848 nie- entschieden sich für den moderneren Johann dergeschlagen hatte, sondern insbesondere auch Schroth. Die Monopolstellung bestimmter Ar- damit, dass die Herrscherhäuser beider Länder chitekten ignorierten nur entweder der Staat, der miteinander verwandt waren, der badische Groß- seine eigenen Architekten hatte, oder fremde herzog Friedrich I. war der Schwiegersohn des Bauherren, die sich an bestimmte Architekturbu- preußischen Königs und deutschen Kaisers Wil- reaux gebunden hatten und nicht daran dachten, helm I. Entsprechend der preußischen Oberlei- auf lokale „Gepflogenheiten" Rücksicht zu neh- tung ist der Stil der Kasernen in Offenburg und men. Auch dafür gibt es typische Beispiele, wie Lahr nun auf einfache neugotische Formen, auf der Bau der Reichsbank in Lahr, 1905 von Curjel Klinkerbauweise in Anlehnung an die märkische und Moser, Karlsruhe, zeigt. Backsteingotik ausgerichtet. Die zum Teil bis vor Das Haus „Palmengarten" in Offenburg (1889 im wenigen Jahren militärisch genutzten Gebäude Auftrag des Brauereibesitzers Wilhelm Hund er- (in Offenburg durch die französische Armee) die- baut von Johann Schweiger), das mit seinem nen nunmehr Wohnungs-, gewerblichen und (in überkuppelten, polygonalen Eckturm das Bahn- Offenburg) kulturellen Zwecken. hofsviertel in Offenburg beherrscht, oder das in straßenraumbeherrschender Ecksituation stehen- Brauereigebäude de Wohn- und Geschäftshaus Marktstraße 35 in Lahr (1893 im Auftrag des Druckereibesitzers Die Brauerei Meyer und Söhne in Riegel erlebte M. Schauenburg erbaut von Carl Meurer) können um die Jahrhundertwende 1900 in Baden einen als typische Beispiele dieser Zeit gelten, ebenso besonderen Aufschwung. Hierfür, wie für den das große, in Formen der deutschen Renaissan- Aufschwung anderer Brauereien zu dieser Zeit, ce errichtete Wohnhaus Tiergartenstr. 2 in Lahr sind verschiedene Gründe zu nennen. Eine der (1897 von H. Maier). wichtigsten Voraussetzungen war sicherlich die Tatsache, dass es im 19. Jahrhundert gelang, La- gerbier, d. h. lagerfähiges Bier zu brauen, dasauf-

181 bewahrt werden konnte und nicht, wie noch im giebel zeigt deutlich die Handschrift von der Ohes, 18. Jahrhundert, möglichst bald, nachdem es ge- gegen Kaiserstraße Ecke Gaswerkstraße wird das braut war, verbraucht werden musste. Es wird mit umgebaute frühere Wohnhaus erkennbar, dahin- Recht als erstaunlich angesehen, dass es über- ter liegt eine umbaute Innenhofanlage mit Bier- haupt gelungen ist, in Baden, einem Land „noto- ablage, Stallungen, laubenartig offener Wagenre- rischer Weintrinker", das Bier als Volksgetränk mise und Verwalterhaus. einzuführen. Dass dies keineswegs einfach war, zeigt schon der enorme Aufwand, mit dem die Das Amtsgericht in Lahr, 1899 nach Plänen des Riegeler Brauerei in weiten Teilen des badischen großherzoglichen Regierungsbauamtes errichtet, Landes Schankhäuser, sog. Meyerhöfe errichtete, erhöht über der Turmstraße und in der Blickachse zum Absatz des Bieres, aber auch, weithin sicht- der Gerichtsstraße gelegen, bringt - erstmals in bar, als Reklameträger. dieser Region - eine auftrumpfende Art eines rei- Die Auffassung, erst der Krieg von 1870, in dem chen Neubarock, mit umfangreicher Symbolik die Badener mit Preußen und Bayern im Felde (Justitia). standen, habe es ermöglicht, in Baden das Bier als Im Großherzogtum Baden gehört zu den größten Volksgetränk durchzusetzen, da die Badner, heim- städtebaulichen Leistungen derzeit um 1900 die gekehrt, das Getränk, an das sie sich gewöhnt Oststadt in Offenburg und ihr Herzstück, der hatten, nicht hätten missen wollen, erscheint 1899 angelegte runde Schillerplatz. Der Name plausibel, jedenfalls ist nach 1870 eine starke Zu- zeigt, wie auch andernorts, die enorme Vereh- nahme des Bierabsatzes zu verzeichnen. Die Rie- rung des 19. Jahrhunderts für Schiller. Der Platz geler-Brauerei ragte durch ihre Meyerhöfe hervor, wird umstanden von gebogenen, drei- bzw.vier- wobei sie es verstand, für diese bedeutende Ar- geschossigen Häusern (1900-1906), die, im Ein- chitekten zu gewinnen. Nachdem eine Zeit lang zelnen durchaus verschieden und nicht uniform, Carl Schäfer (1844-1908) der Riegeler Brauerei als im Ganzen eine überzeugende baukünstlerische Architekt gedient hatte, trat der Münchner Julius Einheit bilden. von der Ohe an seine Stelle. In Lahr ist die Riege- ler Bierablage nebst Schankhaus bis heute erhal- Das Architektenbureau Curjel und Moser ten. Hier verfuhr die Riegeler Brauerei so, dass sie ein bestehendes, 1895 in neugotischen Formen Der Schweizer Carl Moser (1860-1936) eröff- von J. Radge erbautes Wohnhaus 1910 durch von nete, neben seiner Tätigkeit in der Schweiz, der Ohe erweitern und in einen typischen Meyer- rechtzeitig mit Beginn des großen Baubooms zu- hof in Formen der deutschen Renaissance ver- sammen mit Robert Curjel (1888-1915) ein Ar- wandeln ließ. Die Schauseite der Anlage ist gegen chitekturbureau in Karlsruhe, das 1900 durch die die Kaiserstraße gerichtet, ein turmartig überhöh- Architekten H. Platz und G. Doppier erweitert ter Tordurchgang mit asymmetrischem Voluten- wurde. Dieses Architekturbureau erhielt nicht nur in der Schweiz, sondern insbesondere auch in Ba- den eine Fülle großer Aufträge, es konnte den äl- teren Joseph Durm weitgehend überrunden, es konnte mit den größten, damals tätigen Archi- tekturbureaux wie Hermann Billing (der zeitweise mit Wilhelm Vittali assoziiert war) mit Erfolg kon- kurrieren. Im Gegensatz zu dem trotz aller Hoch- achtung vor seinem künstlerischen Rang offen- bar gelegentlich als etwas mürrisch und nicht im- mer kostensicher angesehenen Hermann Billing hatten Curjel und Moser den Ruf großer Ge- schmeidigkeit und kalkulatorischer Zuverlässig- keit, weshalb ihnen ohne weiteres größte Bau- aufgaben wie der 1913/14 errichtete Badische Bahnhof in Basel anvertraut wurden. Bei der Auftragsvergabe des neuen Hauptbahnhofes in Karlsruhe, die sich für die Badischen Staatsbah- nen als Debakel erwies (nach Entwurf von Joseph Durm, nachträglicher Wettbewerb, Ablehnung von Hermann Billing durch den Auftraggeber, 6 Lahr, ehemaliger schließliche Beauftragung von August Stürzen- Meyerhof, Schankhaus, acker, 1871-1943), mögen die Badischen Staats- der Riegeler Brauerei. bahnen bedauert haben, es nicht, wie in Basel,

182 7 Offenburg, Schillerplatz.

mit Curjel und Moser zu tun zu haben. Auch in dort Gesundheit und neue Kraft zu schöpfen. der Schweiz gewannen Curjel und Moser einen Entsprechend blühten in dieser Zeit Einrichtun- Wettbewerb nach dem anderen, wobei von Zeit- gen wie der ganz besonders. genossen berichtet wird, sie hätten die Anony- Mit Jugendbewegung und Wandern in der Natur mität des Wettbewerbs dadurch relativiert, dass verband sich nicht selten auch die Heimatliebe sie ihre Planeinsendungen in die „Karlsruher Zei- und die Begeisterung für den Reichsgründer Bis- tung" eingewickelt hätten, sodass mit „Karls- marck. Diese Gedanken liegen der hochherzigen ruhe" offenkundig war, dass es sich um Curjel Stiftung zu Grunde, die „Fabrikdirektor" Nau- und Moser handelte. Nach dem Ausbruch des Er- werk in Oberachern und Vorsitzender des badi- sten Weltkrieges erkannte Karl Moser, dass die schen Schwarzwaldvereins 1910 für die Errich- gute Zeit endgültig dahin war, schloss 1915 sein tung eines der Aussicht dienenden Turmes (Bis- Architekturbureau in Karlsruhe und kehrte in die marckturm) auf der Hornisgrinde als dem höchs- Schweiz zurück. Die ehem. Reichsbank in Lahr ten Punkt des nördlichen Schwarzwaldes mach- von 1905 ist ein maßvoller, stilsicherer Jugendstil- te. Mit der Planung dieses Turmes beauftragte er bau auf dem modernsten Stand der Zeit. den Karlsruher Architekten Hermann Walder (1847-1921). Hermann Walder, der in Karlsruhe Die Jahrhundertwende die Brauerei Monninger und andere Brauereien in Baden errichtet hatte, galt nicht nur als Spezialist g Lahr, ehemalige Die Zeit der Jahrhundertwende ist in Baden auch für Brauereien, sondern auch für den Industrie- Reichsbank. die Zeit der ersten Warenhäuser, die insbesondere nach französischen und belgischen Vorbildern entstanden. Für die Umgestaltung bestehender Geschäftshäuser in Warenhäuser, die, zwischen Gusseisensäulen, nun auf mehreren Geschossen ihre Waren darboten, gibt es ebenso Beispiele wie für originäre Neubauten als Warenhäuser. Für letztere Kategorie ist ein eindrückliches Beispiel das in Jugendstilformen turmartig über die Kai- serstraße in Lahr emporragende Wohn- und Ge- schäftshaus mit zweigeschossigem Warenhaus- teil, das 1907 von Felix Tilk und Helrich Elgott er- richtet wurde. Die Zeit um 1900 war auch die Zeit der Jugend- bewegung und der Naturfreunde, der Erkennt- nis, dass man aus der ungesunden Umgebung der Stadt hinauswandern müsse in die Natur, um

183 9 Hornisgrinde, Kriegsaubruch 1914 noch nicht bezugsfertig war. Bismarckturm. Theodor Thaeder sagte von sich selbst, er wolle, da ihm das Glück der Familie nicht vergönnt sei, für die Unterbringung und Erziehung von Wai- senkindern stiften. In diesem glanzvollen Bau der ersten Phase des Neuklassizismus zeigt Carl Meu- rer seine enorme Wandlungsfähigkeit vom Hi- storismus über den Jugendstil bis zum Neuklassi- zismus. Im großzügigen Vestibül des für Mäd- chen gedachten Neubaus des als solchen älteren Reichs-Waisenhauses erkennt man an den bereits expressionistischen Formen der Pfeiler, dass es erst nach dem 1. Weltkrieg vollendet wurde. Den für die unmittelbare Vorkriegszeit typischen Übergang vom Jugendstil zum Neuklassizis- mus vertritt auch die 1910-1912 von Heinrich Heller (1880-1949) entworfene großbürgerliche Wohnhausgruppe Hildastraße 57, 57 a und Hin- denburgstraße 2 in der Offenburger Oststadt. Das 1914 erbaute Schiller- in Offen- burg verdeutlicht in eindrücklicher Weise die Zeit um 1914, auch hier im Übergang vom Jugendstil zum Neuklassizismus. Für das neue Schulgebäu- de an der Zeller Straße in unmittelbarer Nähe des bau. Dies mag ihn mit Fabrikdirektor Nauwerk Schillerplatzes wurde 1911 ein „Wettbewerb un- verbunden und bei der Beauftragung mit diesem ter im Großherzogtum wohnhaften Architekten Turmbau durch den Industriellen eine Rolle ge- ausgeschrieben und als Preise für die drei besten spielt haben. Der 1910 errichtete Bismarckturm Entwürfe die Summe von Mk 3000 - zur Ver- ist bis heute erhalten, bis vor kurzem diente er mi- fügung gestellt". Als Sieger aus dem Wettbe- litärischen Zwecken. werb gingen hervor die Architekten Scherzinger & Härke und R. Kasteleiner in Baden-Baden. Die Die Jahre vor dem 1. Weltkrieg Ausführung übernahm das städtische Hochbau- amt Offenburg. Der 1913 begonnene Bau wurde Ebenfalls in die Vorkriegszeit vor 1914 zurück 1915 eingeweiht, bereits im Kriege. Der mit mo- geht die prächtige Villa Thiele beim Bahnhof in Ottenhofen (im Auftrag des Steinbruchbesitzers Ernst Thiele von Adolf Graf, Achern, erbaut 1909/10), ein repräsentativer Bau des Jugendstils, in dem durch reiche Verwendung von Holz an Gie- beln, Lauben usw. ein stark heimatbezogenes Ele- ment deutlich wird. Der repräsentative Villenbau ist seit kurzem Haus des Gastes dieses Kurortes. 1910 entstand in Lahr das Lehrerseminar (jetzt Aufbaugymnasium), erbaut 1910 durch Otto Warth (1845-1918). Otto Warth, der als Er- bauer der neuen Universität in Straßburg 1879- 84 großes Ansehen genoss, zeigt hier seine er- staunliche Wandlungsfähigkeit. Im Vergleich zum reinen Neurenaissancebau in Straßburg wirkt hier, rund 30 Jahre später, dieser gewaltige Bau ausgesprochen modern, als großer Bau des Ju- gendstils mit neuklassizistischen Elementen, also jener Synthese, wie sie für die Zeit unmittelbar vor dem 1. Weltkrieg charakteristisch ist. Von ähnlich großer Allüre ist der Neubau des Reichs-Waisenhauses in Lahr, das nach bedeu- tender Stiftung von Theodor Thaeder (1823- 10 Lahr, Thaeder-Haus. 1906) 1913 durch Carl Meurer begonnen, bei

184 dernsten Mitteln errichtete Schulbau erhielt 11 Offenburg, gleichzeitig einen Trakt, der eine „Dienerwoh- Schiller-Gymnasium. nung" und eine überaus charakteristische, in ih- rer Ausstattung voll erhaltene Jugendstil-Turn- und-Festhalle für 700 Personen enthält. Am Bau des Schiller-Gymnasiums in Offenburg verbindet sich großer Aufwand und ausgesprochene Mo- dernität mit einer unverhohlenen Geste der Dro- hung, indem im Giebel des aus mächtigen, bos- sierten Steinblöcken bestehenden Portals die In- schrift sagt: „Wissen ist Macht".

Wie aus heiterem Himmel schlugen am 1. August 1914 mit Tod und Verderben die Blitze des Krie- ges, nach denen nichts mehr so war wie vorher, vor allem nicht im Bauwesen.

Literatur

Baden. Land-Staat-Volk. 1806-1807. Hrsg. vom Ge- nerallandesarchiv Karlsruhe. Karlsruhe 1980. Badische Geschichte. Vom Großherzogtum bis zur Gegenwart. Hrsg. von der Landeszentrale für politi- sche Bildung Baden-Württemberg. Stuttgart 1979. Horst Dittrich/Lothar Mund: Plätze. Straßen, Häuser. Offenburg. Schiller Saal. Festschrift zur Sanierung in Stadt Offenburg. Die Bauten der Jahrhundertwende den Jahren 1990/91. Offenburg 1991. am Beispiel der Oststadt. Offenburg 1983. Franz Vollmer: Burg Ortenberg und Bühlwegkapelle. Michael Friedmann: Die Offenburger Innenstadt. Ein Ortenberg 1976. historischer Rundgang. Offenburg 1979. Franz X.Vollmer: Offenburg 1848/49. Ereignisse Gerhard Gamber u.a.: Daheim im Ortenaukreis. und Lebensbilder aus dem Zentrum der badischen Konstanz 1990. Revolution. Karlsruhe 1997. Otto Kähni/Franz Huber: Offenburg. Aus der Ge- Arnold Weller: Sozialgeschichte Südwestdeutsch- schichte einer Reichsstadt. Offenburger Köpfe, Of- lands. Stuttgart 1979. fenburger Gestalten. Offenburg 1951. Hans Jakob Wörner: Zum Kirchenbau des 19. Jahr- Hubert Kewitz: Der Weinbrenner Schüler Johann hunderts im Ortenaukreis. In : Kunst und geistliche (Hans) Voss. In : Geroldsecker Land. Heft 16, 1974, Kultur am Oberrhein. Festschrift für Hermann Bram- S. 89-103. mer zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Bernd Mathias Heinz Kneile: Bürgerliche Wohnarchitektur in Städ- Kremer. Lindenberg 1996. ten des Großherzogtums Baden. Freiburg 1976. Lahr um 1900. Bauten und Baumeister. Hrsg. vom Kulturkreis Lahr e.V. 2 Bde. Lahr 1997-91. Geschichte der Stadt Lahr. Hrsg. von der Stadt Lahr. Dr. Hans Jakob Wörner 3 Bde. Lahr 1989. LDA ■ Bau- und Kunstdenkmalpflege Gerhard Lötsch: Christian Roller und Ernst Fink. Die Sternwaldstraße 14 Anfänge von lllenau. Achern 1996. 79 102 Freiburg/ Breisgau

185