Inhaltsverzeichnis Plenarprotokoll 18/23

Deutscher

Stenografischer Bericht

23. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Inhalt:

Wahl der Abgeordneten Klaus-Peter Willsch Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) und (Spandau) als Mitglieder (CDU/CSU) ...... 1770 C des Kuratoriums Wissenschaftszentrum Gabriele Groneberg (SPD) ...... 1772 B Berlin für Sozialforschung ...... 1753 A Michael Stübgen (CDU/CSU) ...... 1773 B Wahl der Abgeordneten Nadine Schön (St. Wendel) und Waltraud Wolff (Wol- (Bremen) (BÜNDNIS 90/ mirstedt) als ordentliche Mitglieder sowie DIE GRÜNEN) ...... 1774 B Wahl weiterer stellvertretender Mitglieder in (SPD) ...... 1775 A den Beirat bei der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post (CDU/CSU) ...... 1775 D und Eisenbahnen ...... 1753 B Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) ...... 1777 B Wahl der Abgeordneten Dr. Claudia Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) ...... 1778 D Lücking-Michel als Schriftführerin ...... 1753 C Manfred Grund (CDU/CSU) ...... 1779 B Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung ...... 1753 C Absetzung der Tagesordnungspunkte 3 und 9. 1754 A Tagesordnungspunkt 4: Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 1754 A Beratung der Unterrichtung durch den Wehr- beauftragten: Jahresbericht 2013 (55. Be- richt) Zusatztagesordnungspunkt 2: Drucksache 18/300 ...... 1780 A Abgabe einer Regierungserklärung durch die Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter Bundeskanzlerin: zum Europäischen Rat des Deutschen Bundestages ...... 1780 A am 20./21. März 2014 in Brüssel ...... 1754 D Dr. , Bundesministerin Dr. , Bundeskanzlerin ...... 1755 A BMVg ...... 1782 A Dr. (DIE LINKE) ...... 1759 A (DIE LINKE) ...... 1784 B (SPD) ...... 1762 A Heidtrud Henn (SPD) ...... 1786 C Heike Hänsel (DIE LINKE) ...... 1763 B Doris Wagner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 1788 A Dr. (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 1764 C Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) . . . . . 1789 B (CDU/CSU) ...... 1766 A Dr. (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 1791 B Norbert Spinrath (SPD) ...... 1768 C Dirk Vöpel (SPD) ...... 1792 C Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 1769 C Julia Bartz (CDU/CSU) ...... 1793 D II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Dr. (SPD) ...... 1794 D e) Antrag der Abgeordneten Maria Klein- Schmeink, Elisabeth Scharfenberg, (CDU/CSU) ...... 1796 B Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das psychiatrische Entgelt- Tagesordnungspunkt 5: system überarbeiten und das Versor- Antrag der Abgeordneten Elisabeth gungssystem qualitativ weiterentwi- Scharfenberg, Kordula Schulz-Asche, Ulle ckeln Schauws, weiterer Abgeordneter und der Drucksache 18/849 ...... 1811 B Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ge- burtshilfe heute und in Zukunft sichern – Haftpflichtproblematik bei Hebammen Zusatztagesordnungspunkt 3: und anderen Gesundheitsberufen ent- schlossen anpacken Erste Beratung des vom Bundesrat einge- Drucksache 18/850 ...... 1797 C brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Er- leichterung der Umsetzung der Grund- Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ buchamtsreform in Baden-Württemberg DIE GRÜNEN) ...... 1797 D Drucksache 18/70 ...... 1811 B Hermann Gröhe, Bundesminister BMG ...... 1799 A Tagesordnungspunkt 20: Birgit Wöllert (DIE LINKE) ...... 1800 D Dr. (SPD) ...... 1802 B a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/ eines Gesetzes zu dem Abkommen vom DIE GRÜNEN) ...... 1803 D 8. April 2013 zwischen der Bundesrepu- (CDU/CSU) ...... 1804 C blik Deutschland und der Republik Östlich des Uruguay über Soziale Dr. Roy Kühne (CDU/CSU) ...... 1805 A Sicherheit Bettina Müller (SPD) ...... 1806 B Drucksachen 18/272, 18/864 ...... 1811 C (CDU/CSU) ...... 1807 C b) Beratung der Beschlussempfehlungen und Berichte des Ausschusses für Wirtschaft Marina Kermer (SPD) ...... 1808 C und Energie Dr. (CDU/CSU) ...... 1809 C – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. , Hansjörg Durz, , weiterer Abgeordneter Tagesordnungspunkt 19: und der Fraktion der CDU/CSU sowie a) Erste Beratung des von der Bundesregie- der Abgeordneten , rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- , Matthias Ilgen, weite- zes zum Vorschlag für einen Beschluss rer Abgeordneter und der Fraktion der des Rates zur Aufhebung des Beschlus- SPD: Technologie-, Innovations- und ses 2007/124/EG, Euratom des Rates Gründungsstandort Deutschland Drucksache 18/824 ...... 1810 D stärken – Potenziale der Digitalen Wirtschaft für Wachstum und nach- b) Erste Beratung des von der Fraktion DIE haltige Beschäftigung ausschöpfen LINKE eingebrachten Entwurfs eines … und digitale Infrastruktur ausbauen Gesetzes zur Änderung des Grund- Drucksachen 18/764 (neu), 18/872 . . . 1811 D gesetzes (Artikel 23, 39, 44, 45a, 93) Drucksache 18/838 ...... 1811 A – zu dem Antrag der Abgeordneten c) Antrag der Abgeordneten , , , Matthias W. Birkwald, , weiterer Dr. , weiterer Abgeordneter Abgeordneter und der Fraktion DIE und der Fraktion DIE LINKE: Digitale LINKE: Renten für Leistungsberech- Gründungen unterstützen – Zu- tigte des Ghetto-Rentengesetzes ab dem kunftsfähige Rahmenbedingungen Jahr 1997 nachträglich auszahlen für die digitale Wirtschaft schaffen Drucksache 18/636 ...... 1811 A Drucksachen 18/771, 18/873 ...... 1811 D d) Antrag der Abgeordneten Herbert c)–i) Behrens, , , Beratung der Beschlussempfehlungen des weiterer Abgeordneter und der Fraktion Petitionsausschusses: Sammelübersichten DIE LINKE: Keine Einführung einer 21, 22, 23, 24, 25, 26 und 27 zu Petitionen Pkw-Maut in Deutschland Drucksachen 18/785, 18/786, 18/787, Drucksache 18/806 ...... 1811 A 18/788, 18/789, 18/790, 18/791 ...... 1812 B Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 III

Zusatztagesordnungspunkt 4: Tagesordnungspunkt 6: Wahl der Mitglieder des Kuratoriums der a) Erste Beratung des von den Fraktionen der „Stiftung Denkmal für die ermordeten CDU/CSU und SPD eingebrachten Ent- Juden Europas“ wurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Drucksache 18/845 ...... 1812 D Entscheidung des Bundesverfassungs- gerichts zur Sukzessivadoption durch Lebenspartner Zusatztagesordnungspunkt 7: Drucksache 18/841 ...... 1828 B Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- b) Erste Beratung des von den Abgeordneten schusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge- (Köln), , Ulle schäftsordnung: Antrag auf Genehmigung Schauws, weiteren Abgeordneten und der zur Fortführung eines Strafverfahrens in Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der 18. Wahlperiode eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Drucksache 18/876 ...... 1813 A zur Ergänzung des Lebenspartner- schaftsgesetzes und anderer Gesetze im Bereich des Adoptionsrechts Zusatztagesordnungspunkt 8: Drucksache 18/577 (neu) ...... 1828 C Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- c) Erste Beratung des von den Abgeordneten schusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge- Volker Beck (Köln), , schäftsordnung: Antrag auf Genehmigung , weiteren Abgeordneten und zur Fortführung eines Strafverfahrens in der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der 18. Wahlperiode NEN eingebrachten Entwurfs eines Geset- Drucksache 18/877 ...... 1813 A zes zum Europäischen Übereinkom- men über die Adoption von Kindern (DIE LINKE) (revidiert) (Erklärung nach § 31 GO) ...... 1813 B Drucksache 18/842 ...... 1828 C

Dr. (CDU/CSU) (Erklärung nach § 31 GO) ...... 1814 C , Bundesminister BMJV ...... 1828 D Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Havelland) (DIE LINKE) . . 1829 D (Erklärung nach § 31 GO) ...... 1814 D Elisabeth Winkelmeier-Becker Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) (CDU/CSU) ...... 1830 D (Erklärung nach § 31 GO) ...... 1815 C Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 1832 B DIE GRÜNEN) ...... 1816 A Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD) ...... 1833 C Dr. Sabine Sütterlin-Waack (CDU/CSU) . . . . 1834 C Zusatztagesordnungspunkt 5: Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) ...... 1835 D Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ NEN: Einsetzung eines Untersuchungsaus- DIE GRÜNEN) ...... 1836 C schusses Drucksache 18/843 ...... 1816 C Dr. (CDU/CSU) ...... 1816 D Tagesordnungspunkt 7: (DIE LINKE) ...... 1818 B Antrag der Bundesregierung: Beteiligung be- waffneter deutscher Streitkräfte an der Dr. Eva Högl (SPD) ...... 1819 D EU-geführten Ausbildungsmission EUTM Somalia auf Grundlage des Ersuchens der Dr. (BÜNDNIS 90/ somalischen Regierung mit Schreiben vom DIE GRÜNEN) ...... 1821 A 27. November 2012 und 11. Januar 2013 (CDU/CSU) ...... 1822 A sowie der Beschlüsse des Rates der Euro- päischen Union 2010/96-GASP vom Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ 15. Februar 2010 und 2013/44-GASP vom DIE GRÜNEN) ...... 1823 D 22. Januar 2013 in Verbindung mit der Re- Christian Flisek (SPD) ...... 1824 C solution 1872 (2009) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen Dr. (CDU/CSU) ...... 1826 D Drucksache 18/857 ...... 1837 B IV Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin Zusatztagesordnungspunkt 6: BMVg ...... 1837 C Antrag der Abgeordneten Dr. Alexander S. Jan van Aken (DIE LINKE) ...... 1838 C Neu, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE Michael Roth, Staatsminister LINKE: Einsetzung einer „Parlamentari- AA ...... 1839 D schen Kommission zur Überprüfung, (BÜNDNIS 90/ Sicherung und Stärkung der Parlaments- DIE GRÜNEN) ...... 1841 D rechte bei der Mandatierung von Auslands- einsätzen der Bundeswehr“ (CDU/CSU) ...... 1842 D Drucksache 18/839 (neu) ...... 1854 B (CDU/CSU) ...... 1843 D Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) ...... 1854 C Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE) ...... 1855 C Tagesordnungspunkt 8: Dr. Rolf Mützenich (SPD) ...... 1857 B Antrag der Abgeordneten Michael Schlecht, (DIE LINKE) ...... 1858 A , Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) ...... 1858 C Höhere Löhne in den Tarifverhandlungen (BÜNDNIS 90/ für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst DIE GRÜNEN) ...... 1859 D des Bundes und der Kommunen absichern Drucksache 18/795 ...... 1844 D (CDU/CSU) ...... 1861 B Sabine Zimmermann (Zwickau) Dr. (CDU/CSU) ...... 1862 B (DIE LINKE) ...... 1845 A (CDU/CSU) ...... 1846 A Tagesordnungspunkt 10: Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 1847 C Antrag der Abgeordneten , Dr. , Oliver Mahmut Özdemir (Duisburg) (SPD) ...... 1848 D Krischer, weiterer Abgeordneter und der (CDU/CSU) ...... 1851 B Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Urteil des Bundesverfassungsgerichts ernst

Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/ nehmen – Bundesberggesetz unverzüglich DIE GRÜNEN) ...... 1852 B reformieren (CDU/CSU) ...... 1853 A Drucksache 18/848 ...... 1863 D Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 1864 A Tagesordnungspunkt 11: Dr. (CDU/CSU) ...... 1865 C Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- wärtigen Ausschusses Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) ...... 1868 A – zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ (SPD) ...... 1868 D CSU und SPD: Einsetzung einer „Kom- Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) ...... 1869 D mission zur Überprüfung und Siche- rung der Parlamentsrechte bei der (SPD) ...... 1871 C Mandatierung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr“ – zu dem Antrag der Abgeordneten Tagesordnungspunkt 13: Dr. , Agnieszka Brugger, Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Omid Nouripour, weiterer Abgeordneter schusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Reaktorsicherheit zu der Verordnung der Bun- GRÜNEN: Einsetzung einer „Parlamen- desregierung: Sechste Verordnung zur tarischen Kommission zur Überprü- Änderung der Verpackungsverordnung fung, Sicherung und Stärkung der Par- Drucksachen 18/496, 18/526 Nr. 2, 18/830 . . 1872 C lamentsrechte bei der Mandatierung von Auslandseinsätzen der Bundes- wehr“ Tagesordnungspunkt 12: Drucksachen 18/766, 18/775, 18/870 ...... 1854 A Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Ab- in Verbindung mit geordneten Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 V

Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter Nächste Sitzung ...... 1883 C und der Fraktion DIE LINKE: Den NATO- Bündnisfall umgehend beenden Berichtigung ...... 1883 A Drucksachen 18/202, 18/349 ...... 1872 D (SPD) ...... 1873 A Anlage 1 Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) ...... 1874 B Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 1885 A (CDU/CSU) ...... 1875 B Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/ Anlage 2 DIE GRÜNEN) ...... 1876 B Erklärungen nach § 31 GO zu den Abstim- Julia Bartz (CDU/CSU) ...... 1877 A mungen über die Beschlussempfehlungen des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu: Tagesordnungspunkt 14: Antrag auf Genehmigung zur Fortführung ei- nes Strafverfahrens in der 18. Wahlperiode a) Antrag der Abgeordneten Luise Amtsberg, (Zusatzpunkt 7) Tom Koenigs, Omid Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Antrag auf Genehmigung zur Fortführung ei- NIS 90/DIE GRÜNEN: Verantwortung nes Strafverfahrens in der 18. Wahlperiode übernehmen – Zügig mehr syrische (Zusatzpunkt 8) ...... 1885 C Flüchtlinge aufnehmen (SPD) ...... 1885 C Drucksache 18/846 ...... 1877 D Renate Künast (BÜNDNIS 90/ b) Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan DIE GRÜNEN) ...... 1885 D Korte, Jan van Aken, weiterer Abgeordne- Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ ter und der Fraktion DIE LINKE: Für DIE GRÜNEN) ...... 1886 A eine schnelle und unbürokratische Auf- nahme syrischer Flüchtlinge in Deutschland und in der EU Anlage 3 Drucksache 18/840 ...... 1877 D Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/ der Beschlussempfehlung und des Berichts: DIE GRÜNEN) ...... 1878 A Sechste Verordnung zur Änderung der Verpa- ckungsverordnung (Tagesordnungspunkt 13) 1886 C (CDU/CSU) ...... 1879 A Dr. (CDU/CSU) ...... 1886 C Ulla Jelpke (DIE LINKE) ...... 1880 A Dr. (CDU/CSU) ...... 1887 A Christina Kampmann (SPD) ...... 1880 D (SPD) ...... 1888 A (CDU/CSU) ...... 1882 A (DIE LINKE) ...... 1889 B Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/ Absetzung des Tagesordnungspunktes 15 . . . 1883 C DIE GRÜNEN) ...... 1890 A

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1753

(A) (C)

23. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. : eindeutigen Widerspruch. Damit sind die genannten Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet. Kolleginnen und Kollegen als Mitglieder oder persönli- che stellvertretende Mitglieder des Beirats gewählt. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich zur 23. Plenarsitzung des Deut- Schließlich schlägt die Fraktion der CDU/CSU vor, schen Bundestages. die Kollegin Dr. Claudia Lücking-Michel für den Kolle- gen als neue Schriftführerin zu wählen. Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, müssen Können Sie sich auch das vorstellen? – Es sieht ganz da- wir auch heute noch einige Wahlen durchführen. nach aus. Dann ist die Kollegin Claudia Lücking-Michel Als Mitglied des Kuratoriums Wissenschaftszentrum hiermit als neue Schriftführerin gewählt. Berlin für Sozialforschung schlägt die Fraktion der CDU/CSU den Kollegen Klaus-Peter Willsch und die Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die ver- SPD-Fraktion den Kollegen Swen Schulz vor. Sind Sie bundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste (B) damit einverstanden? – Das ist offenkundig der Fall. Da- aufgeführten Punkte zu erweitern: (D) mit sind die beiden genannten Kollegen als Mitglieder ZP 1 Aktuelle Stunde des Kuratoriums gewählt. auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Die CDU/CSU-Fraktion schlägt für die Wahl der Mit- GRÜNEN glieder des Beirats bei der Bundesnetzagentur für Elek- Haltung der Bundesregierung zur Verlänge- trizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen rung von Laufzeiten für Atomkraftwerke in vor, als ordentliches Mitglied die Kollegin Nadine Schön Deutschland als Nachfolgerin des Kollegen Bernhard Kaster und als (siehe 22. Sitzung) ihren persönlichen Vertreter anstelle des Kollegen Dr. Michael Fuchs den Kollegen zu ZP 2 Abgabe einer Regierungserklärung durch die wählen. Der Kollege Dr. Michael Fuchs soll seinerseits Bundeskanzlerin anstelle der Kollegin Nadine Schön persönlicher Stell- zum Europäischen Rat am 20./21. März 2014 vertreter des Kollegen Dr. Joachim Pfeiffer werden. Das in Brüssel wird Ihnen sicher einleuchten. Schließlich soll die Kolle- gin Barbara Lanzinger dem Kollegen als ZP 3 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver- neue persönliche Stellvertreterin des Kollegen Dr. Georg fahren Nüßlein nachfolgen. (Ergänzung zu TOP 19) Die SPD-Fraktion schlägt für dasselbe Gremium vor, Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrach- die Kollegin Waltraud Wolff als ordentliches Mitglied ten Entwurfs eines Gesetzes zur Erleichterung für den Kollegen und als ihren persönli- der Umsetzung der Grundbuchamtsreform in chen Stellvertreter den Kollegen Thomas Jurk anstelle Baden-Württemberg der Kollegin Michelle Müntefering zu wählen. Die Kol- legin Michelle Müntefering soll ihrerseits für den Kolle- Drucksache 18/70 gen Dr. Hans-Joachim Schabedoth neue persönliche Überweisungsvorschlag: Stellvertreterin des Kollegen werden. Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Schließlich soll die Kollegin Andrea Wicklein für den Kollegen Johann Saathoff als neue persönliche Stellver- ZP 4 Wahl der Mitglieder des Kuratoriums der treterin der Kollegin Dr. berufen werden. „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ Sind Sie mit all diesen gerade vorgetragenen Vor- schlägen einverstanden? – Ich höre keinen hinreichend Drucksache 18/845 1754 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung (C) SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) NEN gem. § 56 a der Geschäftsordnung Einsetzung eines Untersuchungsausschusses Technikfolgenabschätzung (TA) Drucksache 18/843 Konzepte der Elektromobilität und deren Be- deutung für Wirtschaft, Gesellschaft und Um- ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten welt Dr. Alexander S. Neu, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Frak- Drucksachen 17/13625, 18/770 Nr. 16 tion DIE LINKE Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Einsetzung einer „Parlamentarischen Kom- Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur mission zur Überprüfung, Sicherung und Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Stärkung der Parlamentsrechte bei der Man- Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und datierung von Auslandseinsätzen der Bundes- Technikfolgenabschätzung wehr“ Ausschuss Digitale Agenda Drucksache 18/839 (neu) Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratun- gem. § 56 a der Geschäftsordnung gen, soweit erforderlich, abgewichen werden. Technikfolgenabschätzung (TA) Die Tagesordnungspunkte 3 und 9 werden abgesetzt. Zukunft der Automobilindustrie Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunkt- liste dargestellten weiteren Änderungen im Ablauf der Drucksachen 17/13672, 18/770 Nr. 17 heutigen Plenarsitzung. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Ich mache schließlich noch auf nachträgliche Aus- Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft schussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur aufmerksam: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Die am 13. März 2014 (20. Sitzung) überwiesenen Ausschuss für Bildung, Forschung und nachfolgenden Vorlagen sollen zusätzlich dem Aus- Technikfolgenabschätzung Ausschuss Digitale Agenda (B) schuss Digitale Agenda (24. Ausschuss) zur Mitbera- (D) tung überwiesen werden: Unterrichtung durch die Bundesregierung Unterrichtung durch die Bundesregierung Programm zur nachhaltigen Nutzung und zum Schutz der natürlichen Ressourcen Bericht über die Auswirkungen der §§ 30a und 42a des Bundesdatenschutzgesetzes (Deutsches Ressourceneffizienzprogramm) Drucksachen 17/12319, 18/770 Nr. 5 Drucksachen 17/8965, 18/770 Nr. 27

Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss Digitale Agenda Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Unterrichtung durch den Bundesbeauftragten für Ausschuss für Bildung, Forschung und den Datenschutz und die Informationsfreiheit Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Tätigkeitsbericht 2011 und 2012 des Bundes- Ausschuss Digitale Agenda beauftragten für den Datenschutz und die In- Darf ich auch dazu Ihr Einvernehmen feststellen? – formationsfreiheit Das ist ganz offensichtlich der Fall. Dann ist das so be- – 24. Tätigkeitsbericht – schlossen. Drucksachen 17/13000, 18/770 Nr. 6 Wir kommen nun zum Zusatzpunkt 2 unserer Tages- ordnung: Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Abgabe einer Regierungserklärung durch die Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Bundeskanzlerin Geschäftsordnung Sportausschuss zum Europäischen Rat am 20./21. März 2014 Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz in Brüssel Finanzausschuss Verteidigungsausschuss Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Ausschuss für Gesundheit Die Linke vor Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien (Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel begibt Ausschuss Digitale Agenda sich zum Rednerpult) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1755

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) – den die Kanzlerin nicht verlesen wird. Die Europäische Union hat am vergangenen Montag (C) beim Rat der Außenminister mit ersten gezielten Sank- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und tionen reagiert und gegenüber 21 Personen, die die terri- der SPD – Dr. [DIE LINKE]: toriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit Sie sind aber billig zu erheitern!) der Ukraine bedrohen oder unterminieren, Reisebe- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für schränkungen und Vermögenssperren ausgesprochen. die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä- Einen Tag später erfolgten die Anerkennung der soge- rung 96 Minuten vorgesehen. – Auch dazu stelle ich Ein- nannten Unabhängigkeit der Krim durch Russland und vernehmen fest. der Vertragsschluss zu einem Beitritt der Krim zur Rus- sischen Föderation, also weitere völkerrechtswidrige Damit erteile ich nun das Wort zur Abgabe einer Re- Schritte gegen die Einheit der Ukraine. Sie erfordern die gierungserklärung der Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela entschlossene wie geschlossene Antwort Europas und Merkel. seiner Partner: (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Erstens. Auf dem heute beginnenden Europäischen Rat werden die Staats- und Regierungschefs der Euro- Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin: päischen Union weitere Sanktionen der von uns vor zwei Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wochen beschlossenen Stufe 2 festlegen. Dazu gehört Meine Damen und Herren! Auf der Tagesordnung eines eine Ausweitung der Liste von verantwortlichen Perso- Frühjahrsrates der europäischen Staats- und Regie- nen, gegen die Reisebeschränkungen und Kontensper- rungschefs steht in der Regel die Frage, wie wir die rungen in Kraft gesetzt werden. Wettbewerbsfähigkeit Europas stärken und damit die Darüber hinaus werden wir Konsequenzen für die Grundlagen für Wachstum und Beschäftigung verbes - politischen Beziehungen zwischen der EU und Russland sern können. Das wird auch dieses Mal so sein, und doch sowie in den nächsten Tagen auch der G 7 zu Russland steht dieser Rat auch wieder ganz im Zeichen anderer ziehen. Denn es ist doch offenkundig: Solange das poli- Ereignisse; er steht im Zeichen der Entwicklungen in der tische Umfeld für ein so wichtiges Format wie die G 8, Ukraine. so wie im Augenblick, nicht gegeben ist, gibt es die G 8 Die Entwicklungen führen uns nachdrücklich vor Au- nicht mehr, weder den Gipfel noch das Format als sol- gen, wie verletzbar der Schatz von Frieden in Freiheit in ches. Europa auch über ein halbes Jahrhundert nach Unter- Ich ergänze: In der Abwägung zwischen notwendigen zeichnung der Römischen Verträge ist. Wir hatten ge- Gesprächskontakten einerseits, für die wir uns immer glaubt, dass sich 25 Jahre nach dem Fall der Berliner (B) einsetzen werden, und Formaten, die definitiv ein ande- (D) Mauer der Friedensauftrag der europäischen Einigungs- res Umfeld als das jetzige erfordern, auf der anderen idee gleichsam umfassend erfüllt habe, und wir haben Seite wird die Bundesregierung entscheiden, ob und, schon beinahe vergessen, dass der letzte Krieg auf dem wenn ja, gegebenenfalls in welcher Form deutsch-russi- europäischen Kontinent, dem westlichen Balkan, noch sche Regierungskonsultationen Ende April stattfinden keine Generation her ist. Es grenzt an ein Wunder, dass werden. sich viele Völker Europas nach Jahrhunderten des Blut- vergießens und den Schlachten vor fast 60 Jahren zu ih- Außerdem wird der EU-Rat heute und morgen auch rem Glück vereint haben. Wie kostbar dieses Glück ist, deutlich machen, dass wir bei einer weiteren Verschär- erleben wir gegenwärtig in der Ukraine. fung der Lage jederzeit bereit sind, Maßnahmen der drit- ten Stufe einzusetzen. Dabei wird es ganz ohne Zweifel Das sogenannte Referendum am vergangenen Sonn- auch um wirtschaftliche Sanktionen gehen. tag auf der Krim entsprach weder den Vorgaben der ukrainischen Verfassung noch den Standards des Völker- Zweitens. Um eine internationale Kontrolle insbeson- rechts. dere in der Ost- und Südukraine zu ermöglichen, setzt (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem sich die Bundesregierung für eine starke OSZE-Mission BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. ein. Der Bundesaußenminister und ich haben in den letz- Jan van Aken [DIE LINKE]) ten Tagen zusammen mit vielen anderen, insbesondere dem Schweizer Vorsitz, sehr viel getan, um den Be- Die Stellungnahmen von OSZE und Europarat dazu sind schluss zu einer solchen Mission hinzubekommen, aber eindeutig; Russland ist in allen internationalen Organisa- die Verhandlungen sind zäh und schwierig. Der Bundes- tionen weitgehend isoliert. außenminister hat gestern noch einmal gesagt, binnen 24 Stunden sollte und müsste eine solche Mission zu- Das Ergebnis dieser sogenannten Abstimmung auf stande kommen. Sie kann nach unserer festen Überzeu- der Krim wird die internationale Völkergemeinschaft gung auch zustande kommen. Wir werden auch den heu- nicht anerkennen. Es handelt sich um einseitige Verän- tigen Tag nutzen, um das hinzubekommen. Außerdem derungen von Grenzen. Die Annahme eines entsprechen- setzen wir uns für die notwendigen Gespräche zwischen den Resolutionsentwurfs im UN-Sicherheitsrat schei- der russischen und der ukrainischen Regierung ein. terte, wenig überraschend, am russischen Veto. Dass alle anderen Sicherheitsratsmitglieder für die Resolution Drittens. Deutschland und die Europäische Union stimmten oder sich, wie China, enthielten, spricht jedoch werden die Ukraine mit konkreter Hilfe unterstützen. eine deutliche Sprache. Der IWF führt mit Hochdruck Gespräche mit der ukrai- 1756 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) nischen Regierung über ein IWF-Programm. Die ersten Meine Damen und Herren, das sind gute Nachrichten. (C) Schritte des Hilfsprogramms der EU-Kommission müs- Doch so erfreulich die Fortschritte auf dem Weg zu mehr sen jetzt schnell umgesetzt werden. Wir werden zudem Stabilität und Wachstum auch sind: Wir müssen uns auf dem heute beginnenden Europäischen Rat den poli- trotzdem im Klaren sein, dass der Aufschwung keines- tischen Teil des Assoziationsabkommens mit dem wegs schon gesichert ist. Deshalb müssen wir uns natür- ukrainischen Ministerpräsidenten unterzeichnen. Die- lich weiter um die Ursachen der Krise kümmern und ser politische Teil gibt wichtige Impulse, vor allem für Vorsorge für die Zukunft treffen. Wir haben zu diesem die Rechtsstaatsentwicklung, und wir geben damit aus- Zweck in den vergangenen Jahren die wirtschafts- und drücklich ein politisches Signal der Solidarität und der finanzpolitischen Überwachungsverfahren innerhalb der Unterstützung für die Ukraine. Euro-Zone und innerhalb der Europäischen Union im- mer weiter verbessert. Ich glaube, wenn wir dieses In- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem strumentarium schon vor der Krise zur Verfügung gehabt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) hätten, dann wäre vieles von dem, was wir durchleben Meine Damen und Herren, im Lichte der aktuellen mussten, so nicht passiert. Umso wichtiger ist es, dass Ereignisse in der Ukraine wird einmal mehr deutlich, wir die von uns selbst herausgearbeiteten Verfahren jetzt wie kostbar das Werk der europäischen Einigung ist. Da- auch konsequent anwenden. ran konnte und kann auch die europäische Staatsschul- Da gibt es das Europäische Semester, das sich in den denkrise nichts ändern, so groß die Herausforderung letzten vier Jahren etabliert hat. Es ist heute weitreichen- auch war und im Übrigen immer noch ist. Wenn wir der und konkreter, als es jemals war. Ich begrüße das; wollen, dass die Europäische Union auch für kommende aber ich glaube, wir dürfen dabei nicht stehen bleiben, Generationen ihr Versprechen von Frieden, Freiheit und sondern müssen uns gerade in der Euro-Zone in den Wohlstand erfüllen kann, dann müssen wir jetzt die Wei- nächsten Monaten weiter für die wirtschaftspolitische chen richtig stellen. Wenn wir wollen, dass unser einzig- Koordinierung in den nationalen Politikbereichen einset- artiges europäisches Wirtschafts- und Sozialmodell auf zen. Nur so können wir in einer Kombination aus fiskali- Dauer im globalen Wettbewerb erfolgreich ist, dann dür- scher Solidität und wirtschaftspolitischer Koordinierung fen wir jetzt in unseren Anstrengungen nicht nachlassen. die Architektur der Wirtschafts- und Währungsunion Nur eine wirtschaftlich erfolgreiche, wettbewerbsfä- nachhaltig stärken. Ich habe es in diesem Plenum oft ge- hige Europäische Union kann ihre Werte und Interessen sagt: Jacques Delors hat schon vor Einführung des Euros in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts auch nach darauf hingewiesen, dass Fiskaldisziplin allein nicht aus- außen selbstbewusst vertreten. Wir werden uns deshalb reicht, um eine gemeinsame Währung auf Dauer stabil beim Europäischen Rat heute und morgen weiter damit zu halten. (B) beschäftigen, wie wir unsere Wettbewerbsfähigkeit stär- (D) Wir werden auf diesem Rat eine Bestandsaufnahme ken und damit die Grundlagen für Wachstum und vor al- vornehmen und über übergreifende Schwerpunkte des len Dingen Beschäftigung – das ist das zentrale Thema, diesjährigen Europäischen Semesters diskutieren. Es mit dem wir uns, insbesondere mit Blick auf die jungen geht dabei um wachstumsfreundliche Konsolidierung, Menschen, in den nächsten Jahren auseinandersetzen Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, Steigerung von Be- müssen – verbessern können. schäftigung, vor allem der Jugendbeschäftigung, sowie Die Europäische Union tut gut daran, gerade in diesen Arbeitsmarktreformen. Zeiten engagiert daran zu arbeiten, stärker aus der Es zeigt sich, dass die Reformen, die in vielen Mit- Staatsschuldenkrise herauszukommen, als wir in sie hi- gliedstaaten beschlossen wurden, zu wirken beginnen; neingegangen sind. Wir können auch sagen, dass die aber dennoch gehört zu der augenblicklichen Lage auch Euro-Zone als Ganzes jetzt, im Frühjahr 2014, nach ein Stück Vertrauensvorschuss. Deshalb werben wir für schweren Jahren zum ersten Mal die Rezession verlassen einen umfassenden Ansatz – Strukturreformen und mehr hat. Die Kommission rechnet für 2014 mit einem Wachs - Wettbewerbsfähigkeit – und vor allen Dingen dafür, dass tum von ungefähr 1,2 Prozent. Das ist etwas mehr, als die EU-Institutionen, insbesondere die Kommission, die noch im Herbst erwartet wurde, aber wir wissen auch: notwendigen Voraussetzungen dafür schaffen. 1,2 Prozent können noch gesteigert werden. Wir sind alle in der Pflicht. Wir müssen unsere An- Neben Spanien konnte auch Irland im Dezember sein strengungen verstärken. Wir glauben, dass die Ergeb- Programm erfolgreich beenden. Die Leistung der Iren nisse der Analysen im Rahmen des makroökonomischen verdient unseren großen Respekt. Portugal und Spanien Ungleichgewichteverfahrens, die von vielen Mitglied- konnten langjährige Leistungsbilanzdefizite im Jahr staaten noch umgesetzt werden müssen, wirklich konse- 2013 in Überschüsse umwandeln und werden diese in quent umzusetzen sind. Wir begrüßen, dass die Kommis- diesem Jahr noch ausbauen. Portugal hat zum Beispiel sion, die sich mit den deutschen Ungleichgewichten wieder ein Wirtschaftswachstum zu verzeichnen. Auch befasst hat, nämlich mit den Leistungsbilanzüberschüs- die Investoren blicken mit mehr Zuversicht auf die Euro- sen, deutlich gemacht hat, dass sie nicht schädlich für die Zone, als sie das in den vergangenen Jahren getan haben. Euro-Zone sind. Das entspricht nach meiner festen Die Renditen für die Staatsanleihen der besonders von Überzeugung den Tatsachen. der Krise betroffenen Mitgliedstaaten sind deutlich ge- sunken. Für italienische, spanische und irische Anleihen Wichtig ist, dass wir sicherstellen, dass Unternehmen etwa liegen diese im Umfeld der niedrigsten Stände seit auch weiterhin in Europa produzieren. Hier haben wir der Einführung des Euro. eine Vielzahl von Herausforderungen zu bestehen. Ich Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1757

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) kann jetzt nicht auf alle Details eingehen, möchte aber Meine Damen und Herren, wir sind, glaube ich, in (C) sagen: Es gibt eine ganze Reihe von Bereichen in Eu- diesem Hause mit sehr breiter Mehrheit davon über- ropa, bei denen wir Sorge haben müssen, ob wir im welt- zeugt, dass die Erfordernisse einer starken und wettbe- weiten Wettbewerb wirklich noch führend sind. Wenn werbsfähigen europäischen Industrie einen ambitionier- ich mir die gesamte digitale Wirtschaft anschaue, stelle ten Klimaschutz beinhalten, dass sich diese beiden ich fest, dass wir einen erheblichen Nachholbedarf ha- Dinge also nicht widersprechen, sondern sehr gut in Ein- ben. Deshalb werden wir uns von deutscher Seite sehr klang zu bringen sind. Darum geht es auch in der laufen- stark dafür einsetzen, dass der digitale Binnenmarkt den Diskussion über die zukünftige Ausrichtung der eu- möglichst schnell geschaffen wird. Wir wissen, dass wir ropäischen Klima- und Energiepolitik. Hier ist der Rahmenbedingungen schaffen müssen – in Form von heutige Europäische Rat, wenn es auch noch keine ab- Forschung und Entwicklung –, und wir wissen, dass wir schließende Beschlussfassung geben wird, eine wichtige etwas tun müssen, um die Bürokratie abzubauen. Des- Etappe. Er ist eine wichtige Etappe, weil es auch um die halb begrüßen wir die Initiative REFIT der Europäischen internationalen Klimaverhandlungen und die internatio- Kommission, mit der zum ersten Mal Bürokratie abge- nale Klimakonferenz am Ende des nächsten Jahres in Pa- baut wird, und deshalb weisen wir darauf hin, dass alle ris geht, die wir durch unsere europäischen Beschlüsse Verfahren, die in diesen Zeiten, in denen der weltweite natürlich auch unterstützen wollen. Wettbewerb wirklich hart ist, die Lage für unsere Unter- Die Europäische Kommission hat im Januar dieses nehmen erschweren, wirklich unterbleiben müssen. Jahres eine EU-interne Treibhausgasminderung um Dazu gehören auch sehr harte Diskussionen über den 40 Prozent bis 2030 gegenüber 1990 und einen Anteil Umgang mit der energieintensiven Industrie, die von uns der erneuerbaren Energien von mindestens 27 Prozent im Zusammenhang mit der Novelle des Erneuerbare- vorgeschlagen. Diese Vorschläge sind die Basis für un- Energien-Gesetzes und der Frage des Beihilfeverfahrens sere Beratungen. Es ist kein Geheimnis, dass wir uns in jetzt geführt werden, insbesondere vom Bundeswirt- einigen Teilen ambitioniertere Vorschläge der Kommis- schaftsminister. Ich kann nur sagen: Da die Energie- sion hätten vorstellen können, insbesondere beim Aus- preise in den Vereinigten Staaten von Amerika heute bau der erneuerbaren Energien. Aber wir werden vor al- deutlich niedriger sind als in Europa – um die Hälfte, len Dingen darum ringen müssen, dass wir zu einer zum Teil weniger als die Hälfte –, müssen wir die not- gemeinsamen Beschlussfassung kommen. Deutschland wendigen Voraussetzungen dafür schaffen – das muss setzt sich hier sehr intensiv ein. Wir wollen, dass ein uns die Europäische Kommission ermöglichen –, dass starkes Signal von Europa ausgeht, um besagte Klima- zumindest die Unternehmen, die im internationalen konferenz in Paris deutlich zu unterstützen. Dass diese Wettbewerb stehen und in Europa wettbewerbsfähig Verhandlungen schwierig werden, auch innerhalb der (B) sind, im internationalen Wettbewerb bestehen können. Europäischen Union, kann ich Ihnen jetzt schon voraus- (D) sagen. Aber wir werden dafür werben, dass alle Mit- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) gliedstaaten der Europäischen Union ihren Beitrag zum Es macht doch keinen Sinn, wenn wir auf der einen Seite Klimaschutz leisten. über die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit und Meine Damen und Herren, wir werden beim Europäi- über neue, gute, qualifizierte Arbeitsplätze sprechen und schen Rat natürlich auch über die Energieversorgungssi- auf der anderen Seite die Rahmenbedingungen so setzen, cherheit sprechen. Gerade im Zusammenhang mit den dass die Unternehmen im weltweiten Wettbewerb er- Ereignissen in der Ukraine spielt dieses Thema insbe- kennbar nicht bestehen können. Deshalb hat die Bundes- sondere für unsere östlichen Nachbarn eine große Rolle. regierung deutlich gemacht, dass sie die EEG-Umlage Wir müssen mit Nachdruck und Hochdruck an einem eu- insgesamt nicht als Beihilfe sieht. Trotzdem müssen wir ropäischen Energiebinnenmarkt arbeiten. Hier sind in natürlich vorsorglich mit der Kommission verhandeln. den letzten Jahren, auch durch die Initiativen des EU- Denn unsere Unternehmen brauchen Investitionssicher- Kommissars Günther Oettinger, vielfältige Verbesserun- heit, und die notwendigen Befreiungsbescheide müssen gen erfolgt. Aber unsere Anstrengungen müssen fortge- im Sommer des Jahres verschickt werden. Ansonsten setzt werden, um unsere Energiebezugsquellen und werden Investitionen unterbleiben. Die Verhandlungen Transportwege weiter zu diversifizieren und unsere Im- sind kompliziert. Ich bitte ganz einfach um breite Unter- portabhängigkeiten weiter zu verringern. Dazu müssen stützung auch aus diesem Hause. wir neben den Möglichkeiten des Energieimports auch (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) die Möglichkeiten der Energieeffizienz ins Auge fassen. Die Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energien ist Wir werden uns bei diesem Europäischen Rat zudem natürlich auch ein Beispiel dafür, wie man unabhängiger dafür einsetzen, dass die EU eine führende Rolle bei der wird. Bekämpfung der grenzüberschreitenden Steuerhinterzie- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und hung einnimmt und jetzt zügig die Erweiterung der Zins- der SPD) besteuerungsrichtlinie verabschiedet sowie die Verhand- lungen mit den europäischen Drittstaaten entschlossen Der Netzausbau ist eine zentrale Voraussetzung, das Ziel voranbringt. Wir haben hier positive Signale aus eines EU-Energiebinnenmarkts zu verwirklichen; des- Luxemburg, und wir werden schauen, dass wir mög- halb wird es auch genau darum gehen. lichst schnell vorankommen. Sie sehen an der Themenstellung – erst recht, wenn (Beifall bei Abgeordneten der SPD) das Thema Ukraine noch hinzukommt –, welch kompak- 1758 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) ten Arbeitsauftrag wir in den nächsten 24 Stunden ha- EU-Afrika-Beziehungen, ihre Herausforderungen und (C) ben. Sie sehen, dass es darum geht, einen Gesamtansatz Chancen. Es weist auf die besondere Rolle hin, die einer Wirtschafts-, Industrie-, Energie- und Klimapolitik Afrika für Europa spielt. hinzubekommen, von dem wir der Überzeugung sind, dass er die Basis für Wohlstand und mehr Beschäftigung Wir wollen dieser Verantwortung gerecht werden. Ich bilden kann. Wir sind uns allerdings bewusst, dass dies erinnere nur daran, dass wir bis zu den aktuellen Diskus- letztlich nur gelingt, wenn wir unseren Blick auch nach sionen über die Ukraine sehr intensiv über die Rolle und außen richten, weil wir uns immer mit den Besten in der die Situation in Afrika gesprochen haben. Das darf jetzt Welt messen müssen und demzufolge unsere Wachs- nicht aus dem Blick geraten. Wir beobachten ein ver- tumschancen definieren müssen. stärktes Engagement, zum Beispiel von China, Indien, Brasilien, auch der Türkei, in Afrika. Das Gipfelthema Das gilt auch mit Blick auf die Vereinigten Staaten betont natürlich nicht nur unsere Partnerschaft, sondern von Amerika; ich habe auf die Energiepreise hingewie- auch die Eigenverantwortung afrikanischer Staaten, die sen. Europa und die USA erwirtschaften gemeinsam fast Verantwortung für ihren eigenen Wohlstand und ihre Si- die Hälfte der weltweiten Wirtschaftsleistung. Fast ein cherheit. Dazu zählen der Schutz der Menschenrechte, Drittel des Welthandels wird über den Atlantik abgewi- der Kampf gegen Korruption und der Schutz von Min- ckelt. Wir sind deshalb der tiefen Überzeugung, dass die derheiten; was das angeht, mussten wir in diesen Tagen Verhandlungen für ein Freihandelsabkommen zwischen leidvolle Erfahrungen machen. Dafür werde ich sehr ent- den USA und der EU von den Mitgliedstaaten unter- schieden werben. Gute Regierungsführung und die ener- stützt werden müssen und dass wir hier zu einem solchen gische Bekämpfung der Korruption sind nämlich ent- Abkommen kommen müssen. scheidende Voraussetzungen für eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung. Mit der wachsenden Trans- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- parenz, mit dem global verbreiteten Internet werden neten der SPD) auch in Afrika die Menschen, die Bevölkerung, die Bür- Meine Damen und Herren, ich kenne all die Vorbe- gerinnen und Bürger der Länder nicht mehr einfach hin- halte. Aber ich glaube, wenn wir nur mit Blick darauf, nehmen, dass gute Regierungsführung nicht vorhanden was alles schwierig ist, an dieses Thema herangehen, ist, sondern sie werden dagegen aufbegehren. Wir kön- dann werden wir Folgendes erleben: Die USA werden nen das gut verstehen. mit nahezu allen anderen Regionen dieser Welt Freihan- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und delsabkommen abschließen, der SPD) (Zuruf von der LINKEN: Das machen sie ja!) Wir wollen diese gute Regierungsführung im Rahmen (B) und auch wir werden mit sehr vielen Regionen dieser unserer Möglichkeiten weiterhin unterstützen. Ich werde (D) Welt Freihandelsabkommen abschließen. Aber ausge- auch für unsere sogenannte Ertüchtigungsinitiative zur rechnet die beiden führenden Märkte, im Übrigen noch Befähigung geeigneter afrikanischer Partner der Afrika- angesiedelt in erkennbar demokratischen Gesellschaften, nischen Union und der Regionalorganisationen zur Wah- wären nicht in der Lage, miteinander ein Freihandelsab- rung von Frieden und Sicherheit auf dem afrikanischen kommen abzuschließen. Wenn das unsere Maßgabe sein Kontinent werben. Wir glauben: Wir müssen Hilfe zur sollte, dann sind wir auf dem Holzweg; das ist meine Selbsthilfe leisten, damit die afrikanischen Länder selber tiefe Überzeugung. Das muss zu schaffen sein. in der Lage sind, für ihre Sicherheit zu sorgen. Unsere afrikanischen Partner müssen durch Beratung, Ausbil- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dung und auch durch Ausrüstung in die Lage versetzt neten der SPD) werden, selbst für Stabilität und Sicherheit zu sorgen; denn Stabilität und Sicherheit sind die Grundvorausset- Aber ich sage auch: Es gibt komplizierte Sachver- zungen für die weitere Entwicklung in vielen afrikani- halte. Ich nenne nur das Thema Datenschutz. Ich könnte schen Staaten. viele andere Dinge nennen. Wir werden alle Bedenken ernst nehmen. Lassen Sie uns aber an diese Verhandlun- Die Übernahme von Eigenverantwortung in den Re- gen so herangehen, dass es etwas wird, und lassen Sie gionen und die Stärkung der Regionalorganisationen und uns nicht Gründe finden, damit es nichts wird. Nur ein der Afrikanischen Union, das sind die Ziele, mit denen offenes und erfolgreiches Europa kann seine Interessen wir an die Zusammenarbeit herangehen. Die Europäi- und Werte überzeugend vertreten und auch seine Part- sche Union kann hier noch mehr leisten. Wir werden un- nerschaften leben. seren Verpflichtungen gerecht. Die aktuellen sicherheits- politischen Herausforderungen kennen Sie: in Mali, am Darum geht es auch, wenn am 2. und 3. April in Brüs- Horn von Afrika, im Südsudan, in der Zentralafrikani- sel der EU-Afrika-Gipfel stattfindet. Der Europäische schen Republik. Hier zeigt sich die Bedeutung Europas Rat heute und morgen dient auch der Vorbereitung die- als Partner Afrikas. Die Europäische Union engagiert ses Treffens. An diesem Treffen werden etwa 80 Staats- sich in diesen Krisenherden mit ihren Krisenmanage- und Regierungschefs teilnehmen. Wir wollen natürlich, mentkapazitäten oder plant aktuelle Einsätze. dass von diesem Gipfel das Signal einer langfristigen, verlässlichen Zusammenarbeit mit unserem Nachbar- Meine Damen und Herren, die Bundesregierung setzt kontinent ausgeht. Das Thema des EU-Afrika-Gipfels sich mit aller Kraft dafür ein, dass die Europäische lautet „In Menschen, Wohlstand und Frieden investie- Union auch in Zukunft ihr Versprechen von Frieden, von ren“. Dieses Thema verdeutlicht die Bandbreite unserer Freiheit und Wohlstand einhalten kann. Gerade in diesen Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1759

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) Tagen erleben wir, dass dies alles andere als selbstver- ein Bevölkerungsteil, gegen den Gewalt angewendet (C) ständlich ist. Gerade in diesen Tagen erleben wir auch, wird –, muss das Recht haben, sein Land zu verlassen – wie wichtig es ist, dass die Europäische Union immer aber nicht mit Territorium; das geht nur mit Zustimmung wieder zu gemeinsamen Antworten findet. Ich bin über- des Staates, zu dem das Territorium gehört. Diesen zeugt, dass wir dieses Ziel erreichen können. Deshalb ar- Grundsatz haben Sie im Kosovo gebrochen, und dafür beitet die Bundesregierung dafür, und ich bitte um Ihre zahlen wir jetzt. Unterstützung. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Franz Josef Herzlichen Dank. Jung [CDU/CSU]: Auf der Krim gab es kein (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall Srebrenica!) bei der SPD) Ich weiß, es gibt auch andere völkerrechtliche Auffas- sungen, sowohl in Bezug auf den Kosovo als auch in Präsident Dr. Norbert Lammert: Bezug auf die Krim. Zum Beispiel wird gesagt, dass Ich eröffne die Aussprache. Chruschtschow unter Verletzung sowjetischen Rechts damals die Krim der Ukraine übergeben hat; er war ja Das Wort erhält zunächst der Kollege Gregor Gysi für selbst Ukrainer. Ehrlich gesagt, meine Auffassung ist die Fraktion Die Linke. dies nicht. Ich sage: In beiden Fällen war bzw. ist es völ- (Beifall bei der LINKEN) kerrechtlich nicht legitim. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bun- Der Hinweis auf die ukrainische Verfassung, der von deskanzlerin, ich finde, Sie hätten lieber unseren Ent- Ihnen immer kommt – auch von Ihnen, Frau Bundes- schließungsantrag vorlesen sollen; das wäre inhaltsrei- kanzlerin –, ist nicht besonders glaubwürdig. Sie sagen cher gewesen. auf der einen Seite: Die ukrainische Verfassung verbietet eine eigene Volksabstimmung auf der Krim ohne Zu- (Beifall bei der LINKEN) stimmung der Zentralregierung. – Auf der anderen Seite Aber kommen wir zum Ernst der Lage zurück. Ich interessiert es Sie aber nicht, dass in der ukrainischen sage: Die Lage ist wirklich ernst im Bezug auf die Verfassung steht, dass der Präsident nur mit 75 Prozent Ukraine und Russland, aber nicht hoffnungslos. Die der Stimmen im Parlament abgewählt werden darf – die Krim soll nun, unter Bruch des Völkerrechts, Bestandteil nicht zusammenkamen. Also: Entweder die Verfassung Russlands werden. Das Verfassungsgericht in Russland gilt, oder sie gilt nicht. (B) hat schon zugestimmt; jetzt werden noch die beiden (D) Kammern des Parlaments zustimmen. Es ist übrigens (Beifall bei der LINKEN) interessant, dass Russland sich keine Gedanken da- Heraus kommt auf jeden Fall eines: dass der Über- rüber macht, dass dadurch natürlich aufseiten der gangspräsident und die Übergangsregierung nicht legi- Ostukraine, wenn Parlaments- und Präsidentschafts- tim sind; daran können Sie nichts ändern. Man kann mit wahlen anstehen, über 1 Million Wählerinnen und ihnen trotzdem verhandeln – das bestreite ich nicht –; Wähler fehlen – was ja auch Folgen hat. Aber das in- aber man muss wissen – und es ihnen sagen –, dass sie teressiert Russland nicht. nicht legitim sind. Wie vorhergesagt, hat sich Putin tatsächlich auf den Wie wird es weitergehen? Ich sage es Ihnen: Letztlich Kosovo berufen. Ich bleibe dabei: Die Abtrennung des werden irgendwann, früher oder später, alle Regierungen Kosovo war ein Bruch des Völkerrechts; irgendwie akzeptieren, dass die Krim zu Russland ge- (Beifall bei der LINKEN) hört. da können Sie hier über edle Motive erzählen, was Sie Nun sagen Sie: Man muss Sanktionen beschließen; wollen. Soldaten gab es nicht nur auf der Krim, Soldaten denn wenn man keine Sanktionen beschlösse, dann be- gab es auch im Kosovo. Einen Volksentscheid gab es üb- deutete das, eine Völkerrechtsverletzung einfach hinzu- rigens nur auf der Krim und nicht im Kosovo. nehmen. Wirklich? (Zuruf des Abg. Dr. [CDU/ Ich erinnere Sie an ein Beispiel: 1974 besetzten türki- CSU]) sche Truppen den Nordteil Zyperns. Das war eindeutig Aber ich habe keine Zweifel, dass die Mehrheit der Be- und unbestritten völkerrechtswidrig. Sie haben damals wohnerinnen und Bewohner des Kosovo die Abtrennung nicht eine einzige Sanktion gegen die Türkei beschlos- wollte. Wir können ebenfalls nicht leugnen, dass auch sen. Warum nicht? Nur weil die Türkei im Gegensatz zu eine große Mehrheit der Bevölkerung auf der Krim die Russland in der NATO ist? Warum setzen Sie immer Abtrennung will. Nur ist das für mich – das will ich auch diese unterschiedlichen Maßstäbe? Warum können wir gleich sagen – kein Grund. nicht mal einheitliche Maßstäbe setzen und anwenden? Auf eines möchte ich Sie hinweisen: Aus dem Bruch (Beifall bei der LINKEN) des Völkerrechts kann irgendwann im Völkerrecht Ge- Übrigens: Zypern ist bis heute geteilt. wohnheitsrecht entstehen, und das ist nicht ungefährlich. Deshalb habe ich Sie damals beim Kosovo so gewarnt. ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein bedrängter, unterdrückter Bevölkerungsteil – auch Sagen Sie doch mal etwas zu Putin!) 1760 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Dr. Gregor Gysi (A) Ich sage auch: Sanktionen sind keine Politik, sondern Ich frage Sie schon jetzt: Wie wollen Sie wieder raus (C) ein Ersatz dafür. Die USA drängen aber auf Sanktionen, aus den Sanktionen? Wollen Sie sagen, das geschieht, weil die Antwort Russlands, die darauf erfolgen kann, wenn die Krim wieder bei der Ukraine ist? Wenn das nicht die USA, sondern die Europäerinnen und Europäer nicht geschieht: Wollen Sie sie ewig aufrechterhalten? und insbesondere die Deutschen treffen würde. Frau Ich sehe schon, wie sich das nach einem oder zwei Jah- Merkel, Sie sind hier wieder das, was Sie bei der US-Re- ren schleichend wieder auflösen wird. gierung immer sind: Sie sind hörig gegenüber der US- Ich frage Sie: Gibt es keine andere Chance – auch da- Regierung. für, auf die Völkerrechtswidrigkeit hinzuweisen? Doch, die gibt es! Wir müssten umgekehrt herangehen und ein- Präsident Dr. Norbert Lammert: mal nicht negativ und nicht in Form von Sanktionen Einen kleinen Augenblick, bitte, Herr Gysi. – Ich darf denken. Wir könnten jetzt doch Verhandlungen mit der darum bitten, dass offenkundig etwas länger dauernde russischen Regierung aufnehmen und sagen: Okay, die bilaterale Gespräche nicht unmittelbar in der Nähe des EU und die NATO haben auch Fehler begangen; das Rednerpultes geführt werden. stimmt. – Das kann man doch einräumen; das kostet doch nichts und wäre eine Selbstverständlichkeit. Wei- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- terhin könnte man den Russen sagen: Sie haben auch neten der SPD) Fehler begangen, und jetzt zeigen wir Ihnen einmal, wie eine Perspektive für gute Beziehungen mit der EU und Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): der NATO aussehen könnte und wie wir auch Ihre Si- Das sind dieselbe Hörigkeit und dasselbe Duckmäu- cherheitsinteressen berücksichtigen könnten. sertum wie bei den millionenfachen Abhöraktionen der Ich nenne einmal ein Beispiel, nämlich die Raketen in NSA in Deutschland. Sie tun nichts dagegen. Polen und Tschechien. Die Russen haben gesagt, das be- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Glauben Sie, einträchtige ihre Sicherheit. Der US-Außenminister hat dass Ihre Freunde aus Russland nicht abhö- daraufhin zum russischen Außenminister gesagt: Wieso ren?) das? Das hat doch gar nichts mit Russland zu tun. – Die- ser hat geantwortet: Würden Sie es akzeptieren, wenn Es kommt noch etwas hinzu: Die USA planen jetzt wir Raketen in Mexiko aufstellten und sagten, das habe neue Atomwaffen in Deutschland, Herr Kauder. Wir nichts mit den USA zu tun? – Natürlich nicht! brauchen aber weder die alten noch neue Atomwaffen. Ich sage: Wir müssen anders herangehen, nämlich (Beifall bei der LINKEN) eine Perspektive aufzeigen und dann sagen: Das knüpfen (B) wir aber an die Bedingung, dass diese Art von Politik (D) Ich sage Ihnen eines: Wenn je von Deutschland aus eine aufhört. Sie dürfen jetzt nicht lauter russische Inseln su- Atomwaffe von den USA gestartet wird, dann trifft die chen und meinen, sie Russland wieder einverleiben zu Antwort uns und nicht die USA. Der Höhepunkt dabei können. – Das wäre doch eine Perspektive. Gehen Sie ist: Wir sollen uns auch noch mit 20 Prozent an den Kos- doch einmal positiv und nicht nur negativ an die Sache ten beteiligen. Das sind 30 Millionen Euro. Ich frage Sie heran, damit wir endlich ein Europa nicht gegen und wirklich, Frau Bundeskanzlerin, Herr Steinmeier und ohne Russland, sondern mit Russland bekommen; denn Herr Schäuble: Wollen Sie ernsthaft für neue Atombom- sonst wird es auch mit unserer Sicherheit nichts. ben der USA in Deutschland auch noch 30 Millionen Euro bezahlen? Die brauchen wir wirklich dringender (Beifall bei der LINKEN) für ganz andere Zwecke. Nun wollen Sie mit der Übergangsregierung der (Beifall bei der LINKEN) Ukraine den politischen Teil des Assoziierungsabkom- mens unterschreiben, mit einer Regierung, die nicht aus Als Sanktionen wurden Kontensperrungen, Einreise- demokratischen Wahlen hervorgegangen ist und der Fa- verbote und das Aussetzen der Verhandlungen über Vi- schisten angehören. Wenn Sie uns schon angreifen saerleichterungen und über wirtschaftliche Zusammen- – tut das ja auch; das, was ich hier sage, arbeit angesprochen. Außerdem soll Russland vom können Sie ihm einmal bestellen – und uns in die Ecke kommenden G-8-Gipfel ausgeladen werden; das wird der kalten Krieger stellen, was Blödsinn ist – das muss also ein G-7-Gipfel. Daneben wurden weitere politische ich Ihnen einmal ganz klar sagen –, dann hören Sie doch Maßnahmen und Wirtschaftssanktionen diskutiert. wenigstens auf den ehemaligen EU-Kommissar und So- zialdemokraten Günter Verheugen. Er sagt, dass es rich- Der Bundeswirtschaftsminister hat nun den Export tige Faschisten und nicht nur irgendwelche Nationalisten von Rüstungsgütern nach Russland verboten. Dazu – das sind. – Das ist ein fataler Tabubruch, und denen wollen ist die Ausnahme – sagen wir: Das ist richtig. Das hat aber Sie auch noch Geld geben. Ich bitte Sie! Ich finde, eine nichts mit den Sanktionen zu tun, sondern damit, dass Rüs- deutsche Bundesregierung muss hier ganz andere Maß- tungsexporte unserer Meinung nach generell eingestellt und stäbe setzen. verboten werden müssen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Ich meine das auch so. Am 13. März dieses Jahres Dieses Verbot wird die russische Armee allerdings habe ich ein Zitat von dem Partei- und Fraktionsvorsit- nicht sehr beeindrucken. zenden der Swoboda Tjagnibok gebracht. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1761

Dr. Gregor Gysi (A) (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Von Das Entstehen eines mächtigen Militärblocks an (C) 2004! Das war vor zehn Jahren!) unseren Grenzen würde in Russland als direkte Be- drohung der Sicherheit unseres Landes betrachtet Er hat gesagt: werden. Schnappt euch die Gewehre, bekämpft die Russen- säue, die Deutschen, die Judenschweine und andere Warum wurde daran nicht gedacht, warum von vorn- Unarten. herein das Gezerre um die Ukraine, entweder zur EU oder zu Russland? Nie wurde begriffen, dass die Ukraine Dann haben Sie, Frau Göring-Eckardt, erklärt, das Zitat eine Brücke zwischen der EU und Russland sein muss. sei von 2004. Was wollten Sie denn damit sagen? Mein- ten Sie, es sei verjährt? Oder wollten Sie damit sagen, (Beifall bei der LINKEN) dass er jetzt anders denkt? Entweder haben Sie nicht die Jetzt sage ich Ihnen ganz schnell die Lösungen. Wahrheit gesagt oder sich zumindest geirrt; denn das Zi- tat stammt vom Oktober 2012. Lesen Sie das im sozial- Erstens. Lassen Sie den Unsinn mit den Sanktionen. demokratischen Vorwärts nach. Eine neue Spirale und weitere Zuspitzungen bringen nichts. China macht da nicht mit; das ist für Russland Ich würde mit dem Mann kein Wort wechseln, ihm viel wichtiger. Sie müssen diese Sanktionen eines Tages schon gar nicht einen einzigen Euro übergeben und mit sowieso wieder zurücknehmen. Das wird eher peinlich. ihm auch keinen Vertrag schließen. (Beifall bei der LINKEN) Zweitens. Keine Abkommen und Verträge mit dieser Übergangsregierung, sondern Unterstützung bei der Vor- Gestern haben Swoboda-Leute den Programmdirektor bereitung und Beobachtung demokratischer Wahlen in des Fernsehens in Kiew zusammengeschlagen und zum der Ukraine. Erst dann, mit legitimer Regierung und Rücktritt gezwungen, weil er die Rede von Putin doku- ohne Faschisten, können Verhandlungen geführt werden. mentiert hat. Der Hauptschläger ist im Parlament Mit- glied des Ausschusses für Pressefreiheit. (Beifall bei der LINKEN) Am 9. Februar 1990 hat US-Außenminister Baker zu Drittens. Die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine muss Gorbatschow gesagt, die NATO werde sich keinen Inch ausgeschlossen werden. nach Osten ausdehnen. Frau Merkel, Sie und ich säßen heute vielleicht nicht hier im Bundestag, Herr Gauck Viertens. Der Status der Ukraine als Brücke zwischen wäre vielleicht nicht Bundespräsident, wenn die NATO EU und Russland ginge auch mit einer Perspektive der diese Zusicherung nicht gegeben hätte. Der Preis von Mitgliedschaft der Ukraine in der EU, wenn sie auch mit (B) (D) Gorbatschow für die deutsche Einheit und die Zugehö- Russland ausgehandelt ist und wir insgesamt eine Zu- rigkeit ganz Deutschlands zur NATO war der Verzicht sammenarbeit vereinbaren können. auf die Ostausdehnung der NATO; auch Genscher hatte Fünftens. Russland bleibt aufgefordert, auf weitere das zugesichert. Diese Vereinbarung haben Sie verletzt. militärische Drohungen und Androhungen, erst recht auf (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) die Anwendung von Gewalt, in der Ukraine und an- derswo zu verzichten und die Ukraine als souveränen Im Übrigen hat Gorbatschow vielleicht etwas mehr für Staat anzuerkennen. Das muss mit einer klaren, positi- die deutsche Einheit getan als die britische Regierung, ven Perspektive der Beziehungen zu Russland seitens wenn ich daran einmal erinnern darf. der EU und seitens Deutschlands verbunden sein, Aus der NATO wurde ein Interventionsbündnis, und (Beifall bei der LINKEN) zwölf Staaten des ehemaligen Ostblocks wurden aufge- nommen: Tschechien, Polen, Ungarn, Estland, Lettland, und zwar mit Russland als Bestandteil Europas und nicht Litauen, Slowakei, Slowenien, Bulgarien, Rumänien, außen vor. Albanien und Kroatien. Sechstens. Faschistische Organisationen und Parteien (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sowie paramilitärische Einheiten und andere illegale be- NEN]: Das wollten die nicht?) waffnete Formationen in der Ukraine sind aufzulösen. – Ich habe nicht bestritten, dass sie beitreten wollten; das Das staatliche Gewaltmonopol muss durchgesetzt wer- weiß ich. Aber die NATO wollte das auch, sonst wäre den. Darauf müssen Sie bestehen, bevor Sie ihnen einen dieser Beitritt nicht zustande gekommen. einzigen Euro überweisen oder Verträge mit ihnen ab- schließen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (Anhaltender Beifall bei der LINKEN) Auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 wollten die USA das NATO-Gebiet auch auf Georgien und die Ukraine ausdehnen – die wollten das vielleicht auch –, Präsident Dr. Norbert Lammert: aber da hat die Bundesregierung Nein gesagt, in den an- Für die SPD-Fraktion erhält nun der Kollege Thomas deren Fällen nicht. Immerhin das haben Sie verhindert. Oppermann das Wort. Putin sagte auf dem Gipfel in Bukarest wörtlich Fol- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gendes – ich zitiere –: der CDU/CSU) 1762 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

(A) Thomas Oppermann (SPD): Deshalb ist es richtig, dass die Bundesregierung das Er- (C) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Niemand gebnis des Referendums und die Annexion nicht aner- zweifelt daran, dass sich dieser Gipfel neben den wichti- kennt. gen wachstums- und wirtschaftspolitischen Fragen mit Das Referendum verstößt gegen ukrainisches Verfas- einer der schwersten Krisen befassen muss, die es in den sungsrecht. Weder die alte noch die neue Verfassung er- letzten Jahrzehnten auf unserem Kontinent gegeben hat. lauben ein Referendum in einem Landesteil ohne Be- Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg hat in Eu- rücksichtigung der Interessen des Zentralstaates. Im ropa ein Staat eigenmächtig seine Grenzen neu definiert Übrigen hat das Referendum unter der Bedingung einer und einen Teil des Gebietes eines anderen Staates unter Besatzung und mit der klaren Absicht Russlands stattge- Verstoß gegen das Völkerrecht annektiert. Das zeigt, funden, sich die Krim einzuverleiben, und dies, obwohl dass die europäische Friedensordnung alles andere als Russland in Verträgen mehrfach die bestehenden Gren- selbstverständlich ist, und es zeigt, dass wir jetzt alles zen und die politische Unabhängigkeit der Ukraine zuge- dafür tun müssen, dass wir nicht in die Denkmuster und sichert hat: im Budapester Memorandum von 1994 wie Handlungsstrukturen des Kalten Kriegs zurückfallen. auch im bilateralen Vertrag von 1997. Dieser Konflikt darf nicht weiter eskalieren. Insbesondere der Bruch des Budapester Memoran- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie dums ist verheerend, weil es der Ukraine explizite bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Sicherheitsgarantien im Gegenzug für die Rückgabe ih- GRÜNEN) rer Atomwaffen gab. Deshalb bin ich froh, dass die Bundeskanzlerin und (Volker Kauder [CDU/CSU]: So ist es! – der Bundesaußenminister so entschieden und so beson- Dr. Franz Josef Jung [CDU/CSU]: So ist es! nen agieren. Ihrer Umsicht und ihrem klaren Kurs ist es Genau so!) zu verdanken, dass das Blutvergießen auf dem Maidan gestoppt werden konnte und dass die Gewalt in der Russland war einer der Signatarstaaten. Wie wollen wir Ukraine nicht weiter ausgeufert ist. Dafür möchte ich Ih- jemals wieder einen Staat zum Verzicht auf seine Nu- nen im Namen der SPD-Fraktion ganz herzlich danken. klearwaffen bewegen, wenn solche Garantien das Papier nicht wert sind, auf dem sie geschrieben sind? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE In seiner Rede am Dienstag hat Wladimir Putin die GRÜNEN) Russen als „das größte geteilte Volk der Welt“ bezeich- Wladimir Putin praktiziert das Recht des Stärkeren. (B) net. Damit bezieht er sich ganz offensichtlich auf die (D) Er nutzt seine militärische Übermacht für die Einverlei- russischen Minderheiten in den Nachfolgestaaten der bung eines fremden Staatsgebietes. Die Annexion ist Sowjetunion. Wenn sich hinter diesen Worten aber eine eindeutig völkerrechtswidrig. Das sieht auch der Sicher- neue Putin-Doktrin nach dem Motto „Überall wo Russen heitsrat der Vereinten Nationen so, und Sie ja auch, Herr leben, ist auch Russland“ verbergen sollte, dann ver- Gysi. Aber wenn Sie dann den Völkerrechtsbruch, der hieße das nichts Gutes. dort begangen worden ist, mit Hinweis auf tatsächliche (Volker Kauder [CDU/CSU]: Berlin-Charlot- oder angebliche Völkerrechtsverstöße durch andere rela- tenburg!) tivieren, dann finde ich das allerdings unerträglich. Das zeigt, dass Ihre Kritik nicht ernst gemeint ist. Denn das liefe auf ein automatisches Interventionsrecht hinaus, sobald Wladimir Putin die Interessen im Ausland (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lebender Russen bedroht sieht. Ein solches Recht gibt es der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE nicht, meine Damen und Herren. Ein solches Recht kann GRÜNEN – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: es gar nicht geben. Schröder sagt das so!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Große Sorge bereitet auch Russlands Begründung für bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE dieses Vorgehen. Es beruft sich auf den Willen der auf GRÜNEN) der Krim lebenden russischen Bevölkerung und geriert sich damit als deren Schutzmacht. Dass Grenzen unter Wladimir Putins Rede war aber auch ambivalent. Er Berufung auf den Schutz von Minderheitenrechten und sucht förmlich nach Argumenten, um das Referendum auf ethnische Gesichtspunkte neu gezogen werden, ist auf der Krim und die anschließende Annexion durch nicht akzeptabel. Das internationale Recht stellt dafür Russland zu rechtfertigen. Überzeugend war das nicht. angemessenere Mittel zur Verfügung. Eigentlich sollte Unsere Haltung ist eindeutig: Die faktische Besetzung, gerade Russland wissen, welche Folgen sein bisheriges das eilige Referendum und die Annexion der Krim sind Vorgehen für einen Vielvölkerstaat haben kann. Die dor- nach Auffassung der internationalen Staatengemein- tigen Ethnien werden die Entwicklung auf der Krim sehr schaft klar verfassungswidrig; sie sind völkerrechtswid- genau beobachten und sich hierauf berufen. Wladimir rig, und sie sind politisch brandgefährlich. Putin, spätestens aber sein Nachfolger, wird mit den Geistern, die er rief, fertig werden müssen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem GRÜNEN) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1763

Thomas Oppermann (A) Deshalb können wir nicht einfach zur Tagesordnung (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Gab es Sank- (C) übergehen. Wir können nicht sagen: Das Völkerrecht tionen?) und die Souveränität der Ukraine sind uns egal. Im Übrigen haben wir keine Sanktionen verhängt, weil Die jetzt verhängten Sanktionen sind eindeutig und die amerikanischen Militärs nach meiner Kenntnis keine angemessen. Wir reden nicht über Sanktionen, wie sie Gebiete des Irak annektiert oder dauerhaft besetzt haben. vor 20 Jahren in Form umfassender Handelsembargos Inzwischen sind die Truppen abgezogen, und das ist verhängt worden sind, unter denen vor allem die Zivilbe- auch gut so. völkerung leiden musste; das kann nicht unser Ziel sein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir reden heute über sogenannte Smart Sanctions, die der CDU/CSU) sich ganz gezielt gegen einzelne Entscheidungsträger richten. Die jetzigen Sanktionen auf der Stufe 2 nehmen Ich will zu den Sanktionen Folgendes sagen: Es muss die russische Bevölkerung nicht in Mithaftung für das klar sein, dass dann, wenn Russland nicht einlenkt und Handeln ihrer politischen Führung. Aber sie können ein weitere Teile der Ukraine bedroht, weitere Maßnahmen sehr wirkungsvolles Instrument sein, wenn sie sich ge- unausweichlich sind. Wir sind uns bewusst, dass Sank- gen politische Entscheidungsträger und oligarchische tionen auch eine Gefahr für die eigene Wirtschaft dar- Eliten dieses Landes richten. Deshalb begrüßen wir stellen können. Niemand wünscht sich das. Dennoch ist diese Schritte. es richtig, dass die Option schärferer Sanktionen auf dem Tisch bleibt. Ich bin dem BDI-Präsidenten, Ulrich (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Grillo, für seine klaren Worte vom vergangenen Freitag bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE dankbar. Er hat zwar seine Vorbehalte gegen Wirt- GRÜNEN) schaftssanktionen offen angesprochen, aber zugleich klargemacht, dass das Völkerrecht über allem steht und Präsident Dr. Norbert Lammert: dass Wirtschaftssanktionen eine Frage der Politik sind. Herr Kollege Oppermann, gestatten Sie eine Zwi- Dass führende Vertreter der deutschen Wirtschaft so ver- schenfrage der Kollegin Hänsel? antwortungsvoll argumentieren und die Einhaltung und Durchsetzung internationalen Rechts über ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen stellen, ist sehr gut und ein Thomas Oppermann (SPD): verantwortungsvolles Zeichen. Ja, bitte. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE Heike Hänsel (DIE LINKE): (B) GRÜNEN]) (D) Danke schön, Herr Präsident. – Herr Oppermann, Sie haben gerade darüber gesprochen, wie man mit Völker- Gerade deshalb kommt der Politik an dieser Stelle rechtsbruch umgeht. Die SPD war in der Regierung, als eine besondere Verantwortung zu. Staatliche Sanktionen, der Irakkrieg von den USA begonnen wurde, ein völker- seien sie wirtschaftlicher Natur oder nicht, müssen so rechtswidriger Krieg mit Lügen begründet. Auch Angela ausgestaltet sein, dass sie diplomatische Lösungen nicht Merkel hat sich damals für eine Beteiligung der Bundes- behindern. Es darf keinen Automatismus zu einer Sank- republik eingesetzt. Wie sind Sie denn mit diesem Völ- tionsspirale geben. Für eine politische Bearbeitung des kerrechtsbruch umgegangen, und welche Sanktionen ha- Konflikts mit Russland darf es niemals zu spät sein. ben Sie gegen die USA und ihre Koalition der Willigen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wegen dieses massiven Völkerrechtsbruchs beschlossen, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE der Hundertausende Tote zur Folge hatte? Der Irak ist GRÜNEN) bis heute ein zerschlagenes Land. Meine Frage lautet: Welche Sanktionen gibt es? Welche Konsequenzen ha- Im Übrigen müssen wir selbstverständlich bedenken, ben diejenigen, die für diesen völkerrechtswidrigen dass Russland auch in Zukunft als internationaler Ver- Krieg verantwortlich sind, zu tragen? handlungspartner gebraucht wird. Es gibt Konfliktherde wie den anhaltenden Bürgerkrieg in Syrien oder die (Beifall bei der LINKEN) Atomverhandlungen mit dem Iran, die ohne Mitwirkung Russlands kaum zu lösen sind. Thomas Oppermann (SPD): Das vorrangige Ziel muss es jetzt sein, die weitere Ich denke, Sie werden noch in Erinnerung haben, dass Destabilisierung der Ukraine im Osten und im Süden zu Bundeskanzler Schröder und die damalige rot-grüne verhindern. Die Gefahr einer militärischen Konfronta- Mehrheit des Deutschen Bundestages diesen Krieg ein- tion zwischen russischen und ukrainischen Streitkräften deutig verurteilt und eine Teilnahme an diesem Krieg besteht nach wie vor. Gestern hat es die ersten Toten ge- verweigert haben geben. Wladimir Putin hat am Dienstag erklärt: Wir wol- len keine Teilung der Ukraine; wir brauchen das nicht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kann man ihm das glauben?) und dafür eine sehr kritische und schwierige Phase in den Beziehungen zu unserem wichtigsten Bündnispart- Wir werden ihn beim Wort nehmen. Deshalb ist es ner in Kauf genommen haben. richtig, dass jetzt auf Vorschlag der Bundesregierung 1764 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Thomas Oppermann (A) eine OSZE-Beobachtermission prüfen soll, ob es Aktivi- einzugehen. Jetzt geht es darum, den politischen Dialog (C) täten im Süden und Osten der Ukraine gibt, die zu einer wieder in Gang zu bringen. Ich wünsche der Bundes- Destabilisierung führen können. Eine solche Mission kanzlerin und dem Außenminister auf dem jetzt anste- könnte einen Wiedereinstieg in einen politischen Prozess henden Gipfel eine glückliche Hand für die ganz sicher ermöglichen. Ich hoffe sehr, dass das gelingt. nicht einfachen Verhandlungen. (Beifall bei der SPD) Vielen Dank. Wir haben aber auch klare Forderungen an die ukrai- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie nische Regierung, auch wenn sie es im Augenblick sehr bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE schwer hat. Sie muss die Rechte aller nationalen Minder- GRÜNEN) heiten achten und aktiv schützen. Niemand darf sich in der Ukraine als Bürger zweiter Klasse fühlen. Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Anton Hofreiter ist der nächste Redner für die Frak- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der tion Bündnis 90/Die Grünen. CDU/CSU) Ich bin deshalb froh, dass das geplante Sprachengesetz Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gestoppt wurde. Es hat unnötig Ängste geschürt und die NEN): Spannungen verschärft. Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Bundeskanzlerin! Weiterhin muss die Regierung die militanten Gruppen Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine mutige Bürger- entwaffnen und das staatliche Gewaltmonopol durchset- bewegung hat in der Ukraine eine Regierung gestürzt, zen. Antisemitismus und Rechtsextremismus dürfen in die für Korruption und Unfreiheit stand. Ein Teil der der neuen Ordnung der Ukraine keinen Platz haben. Menschen, die das gemacht haben, hat dafür einen ex- trem hohen Preis bezahlt, den höchsten Preis, den man (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sich vorstellen kann; denn diese Menschen haben mit ih- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der rem Leben dafür bezahlt. Das verdient unsere Solidarität CDU/CSU) und unsere Unterstützung. Rechtsextremes und nationalistisches Denken wollen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wir nicht in Europa, nicht in Deutschland und auch nicht sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und in der Ukraine. der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (B) Die Menschen in der Ukraine haben es verdient, dass (D) Schließlich muss die ukrainische Regierung die Ar- alle anderen Länder um sie herum ihre demokratischen beit an einer neuen Verfassung, wie das in der Verständi- Entscheidungen achten, dass alle anderen Länder um sie gung vom Februar vorgesehen war, vorantreiben, und sie herum darauf achten, in welche Richtung sich die muss die Verbrechen auf dem Maidan lückenlos aufklä- Ukraine entwickeln will, und dass sie darauf achten, dass ren. die Ukraine kein geostrategisches Spielfeld ist, das man in die eine oder andere Richtung zerren kann. Das ist Ich will zum Schluss noch etwas zu den angekündig- von großer Bedeutung. ten Hilfen der EU und des IWF sagen. Ich begrüße sehr, dass diese Hilfen jetzt auf den Weg gebracht werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Aber die Programme haben eine ganz entscheidende Vo- Die russische Regierung tritt mit der Annexion der raussetzung: Das Geld muss für den Aufbau des Landes Krim das Völkerrecht mit Füßen. Hier herrscht nicht das und für öffentliche Aufgaben eingesetzt werden. Recht, sondern das Unrecht des Stärkeren. Für jeden, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dem an friedlichen Konfliktlösungen gelegen ist, dem an Abrüstung gelegen ist, der dafür kämpft, dass es in der Es darf nicht in den privaten Taschen korrupter Macht- Welt weniger Atomwaffen gibt, ist diese Entwicklung eliten verschwinden. Die Menschen in der Ukraine wol- ganz besonders bitter. Denn die Ukraine war eines der len, dass die Korruption endlich aufhört in diesem Land. ersten Länder, die freiwillig auf Atomwaffen verzichtet (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten haben. Dafür gab es eine Reihe von Garantiestaaten. Ei- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE ner dieser Garantiestaaten war Russland. GRÜNEN) (Dr. Franz Josef Jung [CDU/CSU]: So ist es!) Wenn die Ukraine am Freitag den politischen Teil des Insofern geht es hier nicht nur um das Völkerrecht als EU-Assoziierungsabkommens unterschreibt, dann ver- solches; vielmehr hat Russland explizit die Unabhängig- pflichtet sie sich zur Einhaltung von mehr Rechtsstaat- keit, die Freiheit und die territoriale Integrität der lichkeit. Das ist richtig; denn nur eine rechtsstaatliche Ukraine garantiert. Bei allem Streit, ob das russische und demokratische Ukraine wird stark genug sein, die Vorgehen völkerrechtswidrig war, ist das ein ganz klarer Herausforderungen der nächsten Tage, Wochen und Mo- Bruch dieses Vertrages. Das muss jeden ganz besonders nate zu bewältigen. hart treffen, der wirklich für friedliche Lösungen eintritt. Die Vorschläge zur Regelung des Konflikts liegen auf Es muss besonders scharf verurteilt werden, was Russ- dem Tisch. Jetzt ist es an Russland, auf diese Vorschläge land da gemacht hat. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1765

Dr. Anton Hofreiter (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und und bei der CDU/CSU) der SPD) Es ist allerdings auch von großer Bedeutung, dass wir Es ist wichtig, dass es Europa gelingt, mit einer Stimme von Energieimporten insgesamt unabhängiger werden. zu sprechen. Es ist wichtig, dass wir auf die russische Deshalb ist es schlichtweg falsch, was die Bundesregie- Regierung einwirken – sowohl diplomatisch als auch rung gerade macht: Sie würgt die Energiewende ab, sie wirtschaftlich –, dass sie ihren Kurs ändert. stoppt die Energiewende. So wichtig es ist, dass man da einwirkt und entspre- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Da chend Druck ausübt: Wir wissen andererseits, dass nie- haben Sie etwas missverstanden!) mandem daran gelegen sein kann, dass es zu einer weite- Es ist grundfalsch, in welche Richtung sich die Klima- ren Eskalation kommt. Die Situation ist brandgefährlich. politik auf EU-Ebene gerade bewegt, nämlich dahin, Es gab bereits erste Tote. Umstritten ist, was die Ursache Klimaziele abzuschwächen, so zu tun, als wenn die Kli- dafür war. Eine zentrale Aufgabe der europäischen Au- makatastrophe nicht stattfinden würde. Selbst wenn Ih- ßenpolitik ist es, eine weitere Eskalation auf der Krim zu nen der Klimaschutz und das Überleben zukünftiger Ge- verhindern. Jeder Schritt, den wir tun, muss deeskalie- nerationen nicht so wichtig sind: rend wirken. Deshalb sind Reaktionen, die nervös oder hysterisch wirken, falsch. Schnellschüsse, auch solche ( [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das politischer Natur, können am Ende Menschenleben kos- ist doch Unsinn! – Christian Petry [SPD]: Das ten. Folglich ist es wichtig, dass wir klug und abgewo- stimmt doch gar nicht!) gen reagieren. Sie müssten doch wenigstens erkennen, dass es wichtig (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wäre, wie sich anhand dieser Krise zeigt, von Importen fossiler Rohstoffe unabhängiger zu werden. Wir Grüne unterstützen den Dreistufenplan der EU. Wir Grüne sind fest davon überzeugt, dass das Zünden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der zweiten Stufe richtig war. Jetzt sagen viele: Das hilft Wenn Sie zum EU-Gipfel gehen: Sorgen Sie dafür, alles nichts. Putin ist mit der Annexion der Krim vorge- dass es wieder eine koordinierte Energiepolitik gibt! prescht. Das beeindruckt die russische Regierung über- Frau Merkel, Sie haben selber davon gesprochen, dass haupt nicht. – Aber besonnene Reaktionen sind in einer wir einen Energiebinnenmarkt brauchen, dass wir eine so schwierigen Krise klug. Will denn irgendjemand for- koordinierte Energiepolitik brauchen. Und was machen dern, dass man auf Putin’sches Großmaulheldentum mit Sie? Sie machen das Gegenteil! Früher gab es vernünf- gleicher Münze reagiert? Das ist doch keine europäische (B) tige Ziele – sie waren zwar schwach, aber immerhin vor- (D) Art der Politikgestaltung. handen – für den Ausbau erneuerbarer Energien auf EU- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ebene für die einzelnen Länder. Sie haben zugelassen, dass das gestrichen wurde. Was soll denn das Ganze? Aber man muss sich klarmachen, dass Putin und die Wohin wollen Sie denn damit kommen? Am Ende wird russische Regierung trotzdem unbeirrt an ihrem Kurs Frankreich wieder auf Atom setzen, wird Großbritannien festhalten. Deshalb ist es wichtig, weitere Schritte zu er- auf Atom setzen; andere Staaten – wie Polen – setzen wägen, wie man auf die russische Regierung erfolgreich stark auf fossile Energieträger. Das erhöht doch nur die einwirken kann. Abhängigkeit von Importen aus Krisenländern. Auch Einen ersten kleinen Schritt gab es bereits: Der Ex- Uran muss importiert werden. Steinkohle muss weitge- port eines Gefechtsübungszentrums wurde abgesagt. hend importiert werden. Selbst bei Erdöl ist Russland ei- Aber das reicht nicht. Schauen wir uns an, wie viele ner der größten Exportstaaten, auch für uns. Schon allein Waffen allein Deutschland nach Russland exportiert hat: aus Unabhängigkeitsgründen, aus Klimaschutzgründen: 2011 für 140 Millionen Euro, 2012 für 40 Millionen Ändern Sie Ihren Kurs! Euro. Damit muss jetzt Schluss sein. Wir brauchen ein Aber auch aus Wettbewerbsgründen sollten Sie Ihren Waffenembargo in Richtung Russland. Kurs ändern. Sie haben viel von der Wettbewerbsfähig- keit gesprochen. Wenn die südlichen Krisenstaaten die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Möglichkeit hätten, Energie selbst zu erzeugen – Europa Schluss sein muss auch mit dem achselzuckenden Da- importiert für 500 Milliarden Euro fossile Energieträ- rüber-Hinweggehen, dass Investoren, Oligarchen aus ger –, dann hätten sie eine ausgeglichene Handelsbilanz. Russland – zum Teil steckt Gazprom dahinter, zum Teil Es genügt nicht, von Wettbewerbsfähigkeit zu sprechen; stecken andere Putin-nahe Investoren dahinter – in gro- man muss dafür sorgen, dass diese Staaten eine Perspek- ßem Umfang Energieinfrastruktur, offensichtlich sogar tive haben. Eine Perspektive ist der Green New Deal, zu überhöhten Preisen, ausgerechnet jetzt in Deutsch- eine Perspektive sind erneuerbare Energien, und eine land aufkaufen. Die Regierung tut so, als wenn sie da Perspektive ist Energieunabhängigkeit; denn das stärkt machtlos wäre. Erstens stimmt das nicht, und zweitens die lokale Wirtschaftskraft. ist es jetzt an der Zeit, das Außenwirtschaftsgesetz zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) benutzen und dafür zu sorgen, dass das Erpressungs- potenzial nicht noch höher wird. Das heißt: Stoppen Sie Frau Merkel, ändern Sie Ihren Kurs in Bezug auf die diese Art von Politik! europäische Politik, was Banken angeht, was erneuer- 1766 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Dr. Anton Hofreiter (A) bare Energien angeht, was Klimaschutz angeht! Dann (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Na ja!) (C) hätten Sie eine Chance, dass von den Zielen, von denen Wirtschaftssanktionen könnten natürlich auch für sie Sie hier gesprochen haben, auch in der Realität etwas schmerzhaft sein; aber nichts sei schmerzhafter, als der umgesetzt werden kann. Willkür ausgeliefert zu sein. Deshalb müsse man sich Danke. hinter das Recht stellen. Auch das sei ein wichtiger As- pekt für Investitionen unserer deutschen Wirtschaft. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Präsident Dr. Norbert Lammert: neten der SPD) Volker Kauder ist der nächste Redner für die CDU/ Wir sind der Wirtschaft außerordentlich dankbar für die- CSU-Fraktion. ses Verständnis. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir haben natürlich auch darauf zu achten – darauf hat die Bundesregierung mehrfach hingewiesen –, dass Volker Kauder (CDU/CSU): wir in dieser konkreten Situation Europa zusammenhal- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! ten. Nichts wäre schlimmer, als wenn Putin auch noch Wir haben uns das Jahr 2014 beim Start etwas anders den Erfolg hätte, dass wir uns in Europa über die not- vorgestellt, als es jetzt in Wirklichkeit ist. Wir haben in wendigen Maßnahmen zerstreiten. Deswegen wird auf diesem Jahr vor, Termine zum Gedenken an Ereignisse dem europäischen Gipfel, der heute beginnt, sehr viel wahrzunehmen, die wir in unserer Zeit nie mehr erleben abhängen von der Botschaft: Wir in Europa stehen zu- wollen. Ein Termin in diesem Jahr ist beispielsweise der sammen. – Es könnte insbesondere auch eine Botschaft Beginn des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren. Wir sagen sein, dass dieses Europa bei allen Schwierigkeiten, die in diesem Jahr: In diesen 100 Jahren haben wir gelernt, wir haben – ich komme nachher noch kurz darauf zu dass Konflikte nicht mehr militärisch bzw. mit Kriegen sprechen –, für uns nicht nur eine Veranstaltung von zu lösen sind. Die Antwort auf das, was wir im Ersten Euro und Cent ist, sondern dass dieses Europa für uns und Zweiten Weltkrieg erlebt haben, war, dass nicht das auch eine Werte-, eine Schicksalsgemeinschaft und ei- Recht des Stärkeren gelten darf, sondern dass das Recht nen Garant für Friedenssicherung darstellt, liebe Kolle- das Starke in der Welt sein muss. ginnen und Kollegen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Entsprechend wurde auch in der Charta der Vereinten Dieses Europa hat ganz offenkundig eine enorme An- ziehungskraft. Es gibt viel mehr, die zu Europa wollen, (B) Nationen formuliert. (D) als wir uns im Augenblick vorstellen können in Europa Jetzt erleben wir auf einmal, dass in Russland ganz verkraften zu können. So war es auch nach dem Fall von anders argumentiert wird. Wenn wir in Europa nicht un- Mauer und Stacheldraht, als sich die Länder und Men- sere Lektion gelernt hätten, würde von der konkreten Si- schen in neuer Freiheit überlegt haben, wohin sie sich tuation, wenn wir auf die Instrumente der letzten orientieren wollen. 100 Jahre zurückgriffen, wieder eine große Kriegsgefahr ausgehen. Dass Friede herrscht, hat nichts mit Russland Jetzt muss ich die linke Seite, Herr Gysi, an Folgen- zu tun, sondern mit Europa, meine sehr verehrten Damen des erinnern: Es ist doch unbestritten, auch bei Ihnen, und Herren. dass es nach internationalem Recht ein Selbstbestim- mungsrecht der Völker und ein Selbstbestimmungsrecht (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) der Menschen gibt. Dieses Selbstbestimmungsrecht Deshalb ist es richtig, was die Bundesregierung, ins- kann auch nicht von Russland eingegrenzt werden. besondere die Bundeskanzlerin und der Bundesaußen- Wenn sich Länder, die zu Europa gehören, für die Euro- minister, in den letzten Wochen gemacht haben. Ich kann päische Union frei entscheiden, dann kann dies von kei- nur sagen: Die Regierungserklärung der Bundeskanzle- nem anderen Land sanktioniert werden. Wo kommen wir rin am letzten Donnerstag hat gezeigt, dass der überwie- sonst hin in dieser Welt, meine sehr verehrten Damen gende Teil dieses Hauses, mal von den Linken abgese- und Herren? hen, genau hinter dieser Politik steht. Ich bin dankbar, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) dass wir eine so klare Position im Deutschen Bundestag haben. Es war nicht Europa, sondern es waren Bulgarien, Rumänien, Polen und die baltischen Staaten, die ihre Zu- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) kunft nicht nach Osten zugewandt gesehen haben, son- Der Respekt, Frau Bundeskanzlerin, Herr Bundes- dern zur Europäischen Union. außenminister, kommt nicht nur aus dem Bundestag, (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Gab es da Volks- sondern auch aus der Breite der Bevölkerung und – der abstimmungen? – Dr. Gregor Gysi [DIE Kollege Oppermann hat es angesprochen – aus der deut- LINKE]: Ich habe über die NATO gespro- schen Wirtschaft. Nicht nur der Präsident des BDI sagt chen!) das, sondern auch Präsident Schweitzer hat gestern auf der großen Tagung der Industrie- und Handelskammern Vielleicht sollte den jetzigen Machthabern in Russland in Deutschland unter Beifall erklärt, dass der Kurs der ein bisschen zu denken geben, warum die einen attraktiv Bundesregierung in Ordnung sei. und die anderen weniger attraktiv sind. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1767

Volker Kauder (A) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie mit unserer Regierungsarbeit gute Beispiele setzen und (C) bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE immer darauf achten, Dinge, die wir in Bezug auf GRÜNEN) Europa eigentlich richtig machen könnten, nicht falsch zu machen. Trotz dieses Rechtsbruchs, den wir so nennen müssen und nicht unbeantwortet lassen dürfen, ist klar, dass die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- notwendigen Maßnahmen mit Augenmaß getroffen wer- neten der SPD) den müssen. Das haben die Europäische Union und die Das gilt auch für die Energiepolitik. Wir müssen dafür Bundesregierung bisher auch gezeigt. sorgen, dass wir auf unserem Weg, Industriestaat und er- Ich bin mir nicht sicher, ob der jetzige Zustand das neuerbare Energien erfolgreich miteinander zu verbin- Ende der Entwicklung bedeutet. Deshalb müssen wir die den, weiter vorankommen. weitere Entwicklung sehr aufmerksam verfolgen. Klar Herr Hofreiter, ich kann Ihnen nur raten, dass Sie sich ist auch, dass wir die Ukraine nicht nur finanziell unter- einmal genau anschauen, was die Bundesregierung im stützen müssen, sondern dass wir sie auch beraten und Bereich der erneuerbaren Energien wirklich macht. ihr helfen müssen, in dieser schwierigen Situation mehr Stabilität zu gewinnen und – Sie haben völlig recht, Herr (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE Kollege Oppermann – eine Regierung zu bilden, die GRÜNEN]: Ja, das haben wir uns genau ange- auch demokratischen und rechtsstaatlichen Werten, die schaut!) wir in Europa haben, entspricht. Das alles muss auf den Selten habe ich einen führenden Politiker einer Fraktion Weg gebracht werden – eine Herkulesaufgabe. so mit seiner Argumentation danebenliegend erlebt wie Als wir die Große Koalition gebildet haben, hat nie- Sie gerade an diesem Rednerpult. mand daran gedacht, dass wir wieder einmal – wie bei (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- den letzten Regierungen – große Herausforderungen und neten der SPD) Aufgaben bekommen, an die wir zunächst einmal gar nicht gedacht haben. Bei der Lösung dieser Aufgaben Es geht darum, dass wir die erneuerbaren Energien – davon bin ich hundertprozentig überzeugt – wird sich voranbringen. Dazu, Herr Hofreiter – hören Sie gut zu –, auch diese Koalition bewähren müssen, und sie wird können und müssen Sie einen Beitrag leisten. Wenn je- sich bewähren. mand dabei ist, den Ausbau der erneuerbaren Energien zu erschweren und zu problematisieren, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE Der bevorstehende europäische Gipfel steht aber auch GRÜNEN]: Dann ist es Herr Seehofer! Da ha- (B) unter der Frage: Wie können Wettbewerbsfähigkeit und (D) ben Sie völlig recht!) wirtschaftliche Stärke in Europa hergestellt, wiederge- wonnen und auch weiterverfolgt werden? Ich bin außer- dann ist es der eine oder andere Hinweis auch aus grün ordentlich dankbar dafür, dass sich die Kommission in regierten Bundesländern, die wir im Bundesrat für den ihren letzten Stellungnahmen klar und deutlich dahin ge- Ausbau der erneuerbaren Energien brauchen. Leisten Sie hend positioniert hat, dass die Stärke Deutschlands keine Ihren Beitrag bei diesem Thema also nicht durch Blo- Schwäche Europas bedeutet. Ganz im Gegenteil: Wenn ckieren, sondern durch Mitmachen! Wir werden in den ich daran denke, was wir für Europa finanziell leisten, so nächsten Wochen und Monaten sehen, ob Sie das tun. macht es keinen Sinn, die Starken schwach zu machen, (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Anton sondern es macht nur Sinn, die Schwachen stark zu ma- Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: chen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Herr Kauder, mir ist unbekannt, dass Herr (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Seehofer zu unserer Partei gehört!) neten der SPD und der Abg. Marieluise Beck – Sie sollten sich einmal um Ihren Verein kümmern. Um [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) unseren können wir uns schon allein kümmern. Dafür Deshalb ist der Weg, Wettbewerbsfähigkeit in Europa brauchen wir Sie nicht; das kann ich Ihnen sagen. herzustellen, richtig. Dass dieser Weg, der durchaus um- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – stritten war und bei dem es andere Vorstellungen gab, Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE richtig ist, zeigt sich – die Bundeskanzlerin hat es bereits GRÜNEN]: Da waren Sie bis jetzt aber extrem angesprochen –, wenn wir die Entwicklungen in Irland, unerfolgreich, sich um Herrn Seehofer zu Portugal und Spanien sehen. kümmern! Das haben Sie bis jetzt nicht hinge- (Heike Hänsel [DIE LINKE]: 50 Prozent Ju- kriegt! – Katrin Göring-Eckardt [BÜND- gendarbeitslosigkeit! Das ist die Entwicklung NIS 90/DIE GRÜNEN]: Da muss sogar die da!) Bundeskanzlerin lachen!) Es war völlig richtig, Anstrengungen zu verlangen Natürlich müssen wir in der Übergangsphase, in der und Reformmaßnahmen umzusetzen. Wir in Deutsch- wir die erneuerbaren Energien fest verankern wollen, die land als wirtschaftlich stärkste und federführende Kraft Wettbewerbsfähigkeit von strom- und energieintensiven in Europa müssen bei allem, was wir tun, immer vor Au- Firmen erhalten. Deswegen bin ich der Bundesregierung gen haben, dass wir Verantwortung dafür tragen, dass die außerordentlich dankbar dafür, dass sie so intensiv mit Reformfähigkeit in Europa nicht nachlässt. Wir müssen der Europäischen Kommission verhandelt. Die Europäi- 1768 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Volker Kauder (A) sche Kommission riskiert nicht nur die Wettbewerbsfä- machen und Unterstützungsmaßnahmen umzusetzen. (C) higkeit von einzelnen Branchen bei uns in Deutschland. Auf diesem Weg wünsche ich uns allen viel Erfolg. Was viel schlimmer wiegt und den Einsatz der Bundes- Die Kraft Europas, der Europäischen Union – Friede, regierung umso notwendiger macht, ist, dass mit dem Wirtschaft, Stabilität, Zukunftschancen – brauchen wir Kurs der Europäischen Kommission der Weg in die er- jetzt in der Diskussion über die Ukraine und Russland. neuerbaren Energien in ganz Europa erschwert wird. Wir Diese Kraft muss auch wirken, wenn entsprechende wollen nicht mehr Kernkraft in Frankreich. Aber dann Möglichkeiten in Afrika genutzt werden sollen. Ich muss der Weg der Unterstützung der Implementierung glaube, dass wir eine Menge Aufgaben vor uns haben. der erneuerbaren Energien in Deutschland auch weiter Wenn das ganze Haus – da habe ich bei der einen oder beschritten werden. Dazu kann ich die Europäische anderen Frage meine Zweifel – oder der größte Teil die- Kommission nur auffordern. ses Hauses hinter diesem Konzept steht, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Die Grünen sind neten der SPD) ja schon eingemeindet!) Wenn Länder in Europa, die sich auf den Weg ma- dann wird das gut für unser Land und für die Welt sein. chen, die erneuerbaren Energien stärker auszubauen, von der Europäischen Kommission den Hinweis bekommen, Herzlichen Dank. dass dies wettbewerbsschädigend sein kann, dann ist (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) dies verheerend. Deswegen muss dieser Weg gemeinsam mit der Europäischen Kommission angegangen werden. Die Kommission trägt Verantwortung für Wachstum und Präsident Dr. Norbert Lammert: nicht für Stillstand in Europa. Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Norbert Spinrath für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Beifall bei der SPD) Ein letzter Hinweis. Neben der Situation in der Norbert Spinrath (SPD): Ukraine und der Wettbewerbsfähigkeit in Europa ist das Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Thema Afrika ein weiterer Schwerpunkt. Die Bundes- Sehr geehrte Damen und Herren! Die Bundesregierung regierung – das habe ich jetzt gesehen, Herr Bundes- und der überwiegende Teil dieses Hauses haben klare außenminister – trifft sich in diesen Tagen mit den Zu- Botschaften zur Situation in der Ukraine gesendet: Die ständigen Unabhängigkeitserklärung der Krim in der vergangenen (B) (Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister: Woche und das dann folgende Referendum verstoßen (D) Heute Morgen!) gegen die Verfassung der Ukraine; das Ergebnis und des- sen Folgen dürfen von der internationalen Staatenge- – oder hat sich getroffen –, um ein Afrika-Konzept zu meinschaft keinesfalls anerkannt werden. entwickeln. Wir werden es sicher sehr bald in den Frak- tionen vorgelegt bekommen und beraten. Ich halte dies (Beifall bei der SPD) auch für notwendig. Die Bevölkerung Afrikas wächst Die perfide eingeleitete Annexion der Krim durch Russ- schneller als die Bevölkerung Asiens. Wir haben in land verstößt gegen das Völkerrecht. Afrika 1 Milliarde Menschen, und diese Zahl wird sich sehr rasch weiter vergrößern. Afrika ist wahrscheinlich Der russische Staatspräsident Putin hat mit seiner der jüngste Kontinent überhaupt, und junge Menschen Rede am vergangenen Dienstag in Moskau Öl ins Feuer verlangen nach einer Perspektive, und dies auch zu gegossen und stellt den in den letzten 25 Jahren nach Recht. Wenn wir nicht alle dazu beitragen, dass in Afrika dem Zerreißen des Eisernen Vorhangs gewachsenen Zu- eine Perspektive für junge Menschen entsteht, dann wer- sammenhalt Europas auf eine Art und Weise infrage, die den die starken Jungen dorthin gehen, wo sie sich eine wir längst überwunden zu haben glaubten. Ja, er löst da- Perspektive versprechen, und die schwächeren zurück- mit Verunsicherung, gar Angst in vielen Staaten Ost- bleiben. Dies wird den Kontinent insgesamt nicht stär- europas aus, in denen viele russischstämmige Bürger le- ken. ben. Insofern haben wir eine Verantwortung, in Afrika für Die Europäische Union hat in Reaktion darauf Sank- mehr Wachstum und Zukunftschancen zu sorgen. Das tionen beschlossen, die Russland dazu bringen sollen, an wird nur gehen, indem wir die Menschen in Afrika ernst den Verhandlungstisch zurückzukehren. Zur Notwendig- nehmen, indem wir fragen, was sie wollen, und nicht nur keit von Sanktionen hat mein Fraktionsvorsitzender, von außen einwirken, indem wir die Kräfte in Afrika Thomas Oppermann, alles gesagt; ich unterstütze das stärken, sowohl die Kräfte in der Wirtschaft als auch die nachdrücklich. Beim heutigen EU-Gipfel gilt es auch, Kräfte, die für staatliche Ordnung und Sicherheit sorgen. den politischen Teil des Assoziierungsabkommens mit Deswegen ist der Weg, den die Bundesregierung geht, der Ukraine zu unterschreiben und ein Hilfspaket der genau richtig. Sie sagt: Wir schicken Ausbilder und Be- Europäischen Union und des IWF für die Ukraine auf rater nach Afrika, die helfen, die dortigen Strukturen zu den Weg zu bringen. Dies darf aber keinesfalls, liebe stärken. Frau von der Leyen und Herr Bundesaußen- Kolleginnen und Kollegen, zu einer Entweder-oder-Ent- minister, genau dies ist der Weg in Afrika: keine Inter- scheidung führen. Vielmehr muss der Ukraine die Op- ventionstruppen einzusetzen, sondern Hilfsangebote zu tion eines Sowohl-als-auch erhalten bleiben, also die Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1769

Norbert Spinrath (A) Option einer Zusammenarbeit mit der Europäischen sen. Russland muss nun wieder zum politischen Dialog (C) Union und mit Russland. und zur Diplomatie zurückkehren, idealerweise in einer internationalen Kontaktgruppe. Noch sind die Korridore (Beifall bei der SPD) dafür offen. Das Hilfspaket trägt in erheblichem Maße zur Stabili- Zum Schluss gebe ich zu bedenken, liebe Kolleginnen sierung der Situation in der Ukraine bei. Die Ukraine und Kollegen: Wenn die Menschen in Russland mit der darf nicht allein gelassen werden. Die Reste an staatli- Zeit erkennen, dass sich ihre Regierung international ins cher Ordnung dort dürfen nicht aufgrund von Zahlungs- Abseits manövriert und isoliert hat, dann werden auch unfähigkeit zusammenbrechen. Die wirtschaftliche sie sich mehr und mehr Fragen stellen. Die Menschen in Grundlage für das Leben der Menschen muss erhalten Russland werden sich nicht nur politisch, sondern auch bleiben. Genau dieselbe Bevölkerung, die sich monate- wirtschaftlich als Opfer sehen. Sie werden merken, dass lang in überwiegend friedlichen Protesten ihren Weg zur ihnen die bisherige Politik schadet. Eine solche Zuspit- Freiheit und Souveränität erkämpfen wollte, darf in der zung kann nicht im Interesse der russischen Regierung, Ukraine nicht zum wirtschaftlichen Opfer werden. erst recht nicht im Interesse der Menschen sein. Mit ei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der ner solchen Zuspitzung läuft Russland Gefahr, dass viel- Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜND- leicht auch seine Bürger eines Tages zu ihrem eigenen NIS 90/DIE GRÜNEN]) Maidan aufbrechen, dem Roten Platz in Moskau. Die Auszahlungen des Hilfspakets müssen an eindeu- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) tige Bedingungen geknüpft werden. Das heißt für mich insbesondere, dass die Konditionen des von den Außen- Präsident Dr. Norbert Lammert: ministern des Weimarer Dreiecks vermittelten Abkom- Marieluise Beck ist die nächste Rednerin für die Frak- mens vom 21. Februar schnellstmöglich eingelöst tion Bündnis 90/Die Grünen. werden müssen: Entwaffnung von Milizen, Präsident- schaftswahlen am 25. Mai, Bildung einer Übergangsre- Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE gierung der nationalen Einheit und vor allen Dingen eine GRÜNEN): zügige Verfassungsreform. Aus meiner Sicht müssen da- ran anschließend ganz schnell Neuwahlen des Parla- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich ments durchgeführt werden. Daneben ist es unerlässlich, möchte zunächst den verehrten Josef Zissels begrüßen, die Verwaltung neu aufzubauen, und zwar basierend auf der unsere Debatte auf der Tribüne verfolgt. den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, und die überbor- (Beifall) dende Korruption zu bekämpfen. (B) Er kommt aus der Ukraine und ist Vorsitzender des (D) Die Inkraftsetzung des politischen Teils des Assoziie- Euro-Asian Jewish Congress und damit Vertreter des rungsabkommens zwischen der EU und der Ukraine ist Dachverbandes von etwa 300 jüdischen Gemeinden. kein zwingender Bestandteil der Hilfsangebote. Den- noch ist es ein notwendiges Fundament, weil sie auf Ich möchte zu Beginn meiner Rede an den Satz an- Rechtsstaatlichkeit verpflichtet, Reformpakete auferlegt knüpfen, Herr Spinrath, mit dem Sie geendet haben. Es werden können und Vertrauen geschaffen werden kann. geht um die Furcht von Präsident Putin, dass sich die Er- Ich sage aber auch ganz deutlich: Zur Stabilisierung der eignisse auf dem Maidan eines Tages auch auf dem Ro- maroden Staatsfinanzen der Ukraine müssen auch dieje- ten Platz abspielen könnten. Wie werden in den kom- nigen herangezogen werden, die in den letzten Jahren menden Wochen und Monaten vermutlich erleben, dass auf mehr als fragwürdige Weise, auf kriminelle Weise, alle russischen Demokraten, die in der russischen Zivil- das Volk geschädigt und rechtswidrig Vermögen ange- gesellschaft arbeiten, einem zunehmenden Druck ausge- häuft und außer Landes geschafft haben. setzt sind, weil genau diese Furcht die Politik im Kreml mitbestimmt. Wir müssen doch ehrlich feststellen, dass (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wir alle fassungslos sind, mit welcher Kaltblütigkeit ein der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Schritt vor den anderen gesetzt worden ist, während wir GRÜNEN) immer wieder diplomatische Angebote unterbreitet haben. Es gab verschiedene Kompromissangebote, ver- In der Ukraine bedarf es dringend Reformen, die diese schiedene Treffen und Gespräche – es gab Gespräche hemmungslose Selbstbedienung und das ungeheuerliche mit Lawrow, und die Kanzlerin hat mit Putin telefoniert –; Ausmaß an Korruption in Zukunft verhindern. Die rück- trotzdem gab es gar keine Möglichkeit, Putin von diesem sichtslose Ausbeutung des Volkes war nicht unmittelba- dramatischen Völkerrechtsbruch und einer Annexion, rer Auslöser, aber Beweggrund für die Protestbewegung die es seit 1945 in Europa nicht mehr gegeben hat, abzu- auf dem Maidan. bringen. Wir sollten alles daransetzen, den Reformprozess in (Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE]: Das ist der Ukraine zu begleiten und zu unterstützen. Die Ver- falsch! Jugoslawien!) hältnisse müssen sich grundlegend ändern, ansonsten werden sich die Menschen irgendwann wieder auf den Ich möchte gerne noch einmal daran erinnern: Zu der Weg machen, nämlich zum Maidan. Das sollte auch Östlichen Partnerschaft wurde Russland eingeladen. Russland zu denken geben. Die gestiegenen Populari- Hier, in diesem Haus, haben wir über Jahre hinweg ge- tätswerte des Staatspräsidenten werden schnell verblas- sagt, dass wir eine strategische Partnerschaft mit Russ- 1770 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Marieluise Beck (Bremen) (A) land wollen. Wir haben von der Modernisierungspartner- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) schaft gesprochen, die wir mit Russland eingehen sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und wollten. der SPD) Ich weiß, dass dieser Außenminister in dieser Legisla- turperiode wirklich etwas anderes vorhatte als das, was Präsident Dr. Norbert Lammert: er jetzt gestalten muss; er wollte die Beziehungen zu Das Wort erhält nun der Kollege Hans-Peter Friedrich Russland vertiefen. Wir müssen uns fragen: Stimmt die für die CDU/CSU-Fraktion. Prämisse, mit der wir in den vergangenen Jahren Politik (Beifall bei der CDU/CSU) gemacht haben, noch? Sind Putin und der Kreml wirk- lich noch an einer engen Zusammenarbeit mit dem Wes- ten interessiert? Wollen Putin und der Kreml gemeinsam Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU): nach Möglichkeiten suchen, russische Interessen mit un- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und seren Interessen zu verknüpfen? Oder ist Putin nicht in- Herren! Dieser Gipfel wird beherrscht von der Krise in zwischen in einer anderen Welt, in der geostrategisch ge- der Ukraine. Volker Kauder hat es richtig gesagt: Diese dacht wird, in der Öl und Gas als Machtinstrumente Frage berührt im Grunde den Kern des europäischen Ge- betrachtet werden, dankens. Kern des europäischen Gedankens war es von Anfang an – das galt schon in den 50er-, 60er- und 70er- (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Im Gegensatz Jahren –, in und für Europa eine dauerhafte Friedensord- zur NATO!) nung zu schaffen. Alle Konstruktionen, auch die ökono- in der es auf unsere Ansprache gar keine Antwort gibt, mischer Art, von der Montanunion bis zum heutigen weil die Gedankenwelt eine vollkommen andere ist? Binnenmarkt, dienten nur einem Ziel, nämlich der Ab- sicherung dieses Kerngedankens. Das beunruhigt nicht nur uns hier im Westen, sondern das beunruhigt auch solche Länder wie Belarus und Ka- Im Laufe der Jahre ist das Ziel der Friedenssicherung sachstan. Kasachstan hat eine große russische Minder- in Europa als Kerngedanke der Europäischen Union ver- heit im Norden seines Landes. Der Satz, dass dort, wo loren gegangen, weil viele geglaubt haben, dieses Ziel russische Bürger sind, auch russische Interessen sind, sei selbstverständlich, sei bereits erreicht. Wir stellen verunsichert ein Land wie Kasachstan, das zukünftig nun fest, dass das ein großer Irrtum ist. Eine stabile Frie- Mitglied der Eurasischen Union sein soll, zutiefst. densordnung in Europa ist und bleibt eine Daueraufgabe. Sie muss immer wieder gefestigt werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Meine sehr verehrten Damen und Herren, Europa (B) der SPD – Zuruf der Abg. Heike Hänsel [DIE bzw. die EU steht heute genauso auf dem Prüfstand wie (D) LINKE]) in der Schulden- und Finanzkrise 2008/2009, und zwar hinsichtlich ihrer Handlungsfähigkeit und hinsichtlich Dieser Vertrauensbruch geht unendlich tief, und er wird ihrer Glaubwürdigkeit. Ich glaube, dass bei diesem Gip- auf lange Sicht Russland schaden. Dabei blutet mir das fel und in den nächsten Wochen das wichtigste Ziel Herz für die russischen Bürgerinnen und Bürger, überhaupt ist, Europa geschlossen zu halten. Das ist eine (Zurufe von der LINKEN: Oh!) schwierige Aufgabe, die auf die Führer Europas und der EU zukommt, insbesondere auf unsere Bundeskanzlerin. die unsere Freunde sind; denn wir wollen mit ihnen Denn in den 28 Mitgliedstaaten der EU ist nicht nur die gemeinsam das europäische Haus gestalten, wie geografische und ökonomische Situation sehr unter- Gorbatschow es einst gesagt hat. schiedlich, sondern auch die historische Situation. Au- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ßerdem haben sie sehr unterschiedliche Befindlichkei- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und ten, insbesondere was den Umgang mit Russland angeht. der SPD) In diesen Wochen entscheidet sich, ob die Europäische Union für unsere Partner, für unsere Gegner, aber auch Zur Ukraine: Ich hoffe, dass Putin als Nächstes nicht für unsere Bürger eine außenpolitische Größe oder nur einen Schritt in Richtung Ostukraine unternimmt. Was ein aufgeblasener Bürokratenhaufen ist. Das ist die zen- wir jetzt tun müssen, ist Festigkeit zu zeigen, dass wir trale Frage, die in den nächsten Wochen beantwortet das nicht akzeptieren werden, und wir müssen die werden wird. Ukraine mit allem, was uns zur Verfügung steht, stabili- sieren. Die Ukraine muss faktisch einen neuen Staat auf- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und bauen. Sie braucht rechtsstaatliche Institutionen und eine der SPD) effektive Verwaltung. Sie muss ein Staat werden, der mit Der russische Präsident Putin hat Völkerrecht gebro- der Krake der Korruption fertig wird. Janukowitsch hat chen, er hat Verträge und Abkommen über den Haufen faktisch ein insolventes Land hinterlassen. Wir brauchen geworfen, und er hat den Geist des sowjetischen Imperi- jetzt eine entschiedene Politik. Wir müssen diejenigen alismus des letzten Jahrhunderts wiederbelebt. stabilisieren, die die schwierige Aufgabe übernommen haben, dieses Land aus der Krise herauszuführen. Das ist (Dr. Franz Josef Jung [CDU/CSU]: So ist es!) unsere wichtigste Aufgabe, und wir werden sie in Eu- Die Weltgemeinschaft, die Wertegemeinschaft und die ropa gemeinsam schultern. Europäische Union können nicht zur Tagesordnung Schönen Dank. übergehen. Der Sicherheitsrat – dafür können wir alle, Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1771

Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (A) glaube ich, sehr dankbar sein – hat Russland isoliert. Bei bar. Deswegen danke ich unserer Bundeskanzlerin ganz (C) der Abstimmung über die Anerkennung des Referen- herzlich, dass sie im Hinblick auf die Ukraine-Krise den dums haben 13 der 15 Staaten mit Nein gestimmt; China Schulterschluss mit Präsident Obama gefunden hat. hat sich enthalten, und nur Russland hat isoliert und ein- sam dagegen gestimmt. Das war eine gute und richtige (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Mit Saudi- Antwort. Das zeigt, dass Russland allein dasteht. Arabien!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich danke Ihnen, Herr Außenminister, sehr verehrter Herr Steinmeier, dass Sie in Washington deutlich ge neten der SPD und der Abg. Marieluise Beck - [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) macht haben, wie eng das Band der Freundschaft zwi- schen Europa Ich glaube, dass der Dreistufenplan eine richtige Ant- (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Und der NSA!) wort ist, insbesondere weil er auf jeder Stufe die Mög- lichkeit zum Dialog lässt. Kollege Oppermann hat es und den Vereinigten Staaten von Amerika ist. Dafür richtig gesagt: Es muss eine Spirale der Sanktionen ver- herzlichen Dank. Ich glaube, das ist der richtige Weg. mieden werden. – Ich glaube, das wird durch diesen Dreistufenplan erreicht. Das ist wichtig. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Den Putin-Freunden, insbesondere unserem Altkanz- Bravo, Herr Friedrich!) ler Gerhard Schröder, sei gesagt: Gerhard Schröders Argumentation, Putin habe Einkreisungsängste, ist gera- Es wird höchste Zeit, dass wir bei allen politischen dezu grotesk. Putin hat überhaupt keine Ängste, sondern Weichenstellungen – in der Sicherheitspolitik, in der Au- Putin versucht kaltblütig, seine machtpolitischen Spiel- ßenpolitik wie in der Wirtschaftspolitik – Abhängigkei- räume auszunutzen. Es liegt an uns, diese Spielräume ten von Staaten vermeiden, die nicht unseren Vorstellun- entsprechend einzuengen. Es ist geradezu grotesk, zu be- gen von Freiheit und Demokratie entsprechen und die haupten, Europa habe Putin zu dem, was er jetzt macht, nichts damit zu tun haben. Andernfalls werden wir er- provoziert. pressbar, andernfalls gefährden wir unsere außenpoliti- sche Handlungsfähigkeit, andernfalls gefährden wir un- Die Bundeskanzlerin war es, die an diesem Pult mehr- ser eigenes Wertesystem. fach gesagt hat: Wir wollen nicht, dass sich die Staaten der Östlichen Partnerschaft in einem Entweder-oder für Bei diesem europäischen Gipfel stehen zwei wichtige Russland oder die Europäische Union entscheiden müs- Punkte auf der Tagesordnung, nämlich die industrielle sen. – Nein, wir wollen, dass die Staaten der Östlichen Wettbewerbsfähigkeit und die Energiepolitik. Diese zwei Punkte hängen unmittelbar zusammen. Die EU (B) Partnerschaft eine Brücke zwischen der EU und Russ- (D) land darstellen; das ist das Entscheidende. Ich sage allen wird nicht dadurch wettbewerbsfähig, dass sich irgend- Russenverstehern in diesem Land welche schlauen Kommissare, Räte oder Bürokraten schlaue Programme ausdenken, sondern sie wird da- (Lachen bei der LINKEN) durch wettbewerbsfähig, dass wir Unternehmern und In- vestoren, Menschen, die etwas tun wollen, Rahmenbe- – die in Wahrheit ja nur geschäftliche Interessen im dingungen zur Verfügung stellen, die sie nicht zu Blick haben –: Wenn wir zulassen, dass Putin das Völ- Verlierern auf den internationalen Märkten machen. kerrecht und Abkommen bricht, dann werden wir auch Deswegen ist es wichtig, dass wir auch in der Energiepo- nicht verhindern, dass er eines Tages, wenn es ihm passt, litik die Weichen richtig stellen. Energie ist der Lebens- die westlichen Investoren enteignet; das muss jeder wis- saft der deutschen und der europäischen Wirtschaft, sen. überhaupt jeder Volkswirtschaft. Die Kommission muss (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr richtig!) wissen: Wenn sie die energieintensive Industrie in Deutschland plattmacht, schädigt sie die Wettbewerbsfä- Wenn wir das Recht jetzt nicht durchsetzen, wird es auch higkeit der europäischen Wirtschaft insgesamt. in der Zukunft nicht gelten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. neten der SPD) [SPD] – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Hätten Sie einmal eine so große Die EU braucht Gestaltungswettbewerb und keine Lippe bei den USA riskiert, bei der NSA! Dort zentralistischen Fünfjahrespläne von Räten, Etatisten sind Sie als Bettvorleger gelandet!) und Bürokraten. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Antwort muss viel langfristiger und viel grundsätzlicher Ich wünsche mir, dass der Geist von Ludwig Erhard sein. Es ist an der Zeit, dass wir unser weltpolitisches über ganz Europa weht. Das ist mein Wunsch für die Koordinatensystem in Deutschland und in Europa wie- nächsten Jahre. Dann wird Europa auch erfolgreich sein. der zurechtrücken. Seit 20 Jahren glauben wir, dass wir permanent, alljährlich die Friedensdividende kassieren Seit Jahren reden wir in der Energiepolitik zu Recht können. Die Wahrheit aber ist eine andere. Wer es ris- über Klimaschutzziele und technologische Machbarkeit. kiert, sich von Staaten, die unsere Werte von Freiheit Aber es wird Zeit, dass wir auch darüber reden, wie wir und Demokratie nicht teilen, abhängig zu machen, ge- in der Energiepolitik unabhängig von nichtdemokrati- fährdet sein eigenes Wertefundament und wird erpress- schen Staaten werden können. Wer das in den letzten 1772 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (A) Jahren thematisiert hat, ist als Ewiggestriger, der nicht Klima- und Energiepolitik der EU im Zeitraum 2020 bis (C) begriffen hat, was alles global, frei und offen ist, ge- 2030 zu sichern. Das ist Voraussetzung. brandmarkt worden. Die Wahrheit ist, dass wir uns ab- hängig gemacht haben von Staaten, die nicht unserem Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Gegensatz zur Wertefundament entsprechen. Ich habe für unsere polni- vorherigen Bundesregierung gehen wir bei diesem schen Freunde jedes Verständnis, wenn sie sagen: Lieber Thema einig und stark in die Gespräche: Wir gehen einig nutzen wir unsere eigenen Kohlereserven, als dass wir in die Gespräche, weil wir einen Wirtschaftsminister und uns noch mehr von Russland abhängig machen. – Ich eine Umweltministerin haben, die sich zur Energie- kann das begreifen. Das ist eine richtige Argumentation. wende bekennen und, ganz wichtig, an einem Strang zie- hen und sich nicht gegenseitig behindern, wie es in der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Vorgängerregierung der Fall war. neten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Unabhängigkeit vom Ausland, von nichtdemokrati- Wir wollen einen weiteren Ausbau der erneuerbaren schen Staaten in der Energie-, in der Ernährungs- und in Energien, und wir werden das EEG europarechtskon- der Technologiepolitik ist ein entscheidender Punkt, den form weiterentwickeln. Das ist unbestritten eine schwie- wir zum Kernpunkt der Politik in Europa machen soll- rige Aufgabe, aber eine vernünftige Lösung muss uns ten. Die Wettbewerbsfähigkeit Europas ist erreichbar, gelingen; schließlich hängen bei uns in Deutschland wenn wir die Vielfalt Europas als Chance und nicht als ganz viele Arbeitsplätze davon ab. Letztendlich wird un- Belastung begreifen, wenn wir begreifen, dass der Ge- sere wirtschaftliche Entwicklung davon auch bestimmt staltungswettbewerb von 28 Akteuren etwas Positives ist werden. und die Vielfalt am Ende dazu führen wird, dass wir beim Ringen um die beste Lösung auch die beste Lösung Wir gehen stark in die Gespräche, weil wir uns im erhalten werden. Wenn Deutschland entschieden hat, Koalitionsvertrag eindeutig positioniert haben. Ich will eine Energiewende herbeizuführen, dann werden uns die diese Passage vor allen Dingen für Herrn Hofreiter, der anderen folgen, wenn wir bei dieser Energiewende er- jetzt leider nicht da ist, noch einmal zitieren: folgreich sind. Wenn andere in anderen Bereichen er- folgreicher sind als wir, werden wir ihnen folgen. Das ist Wir bekräftigen unseren Willen, die internationalen die Idee des Gestaltungswettbewerbs in Europa, dem und nationalen Ziele zum Schutz des Klimas einzu- Raum gegeben werden muss. halten, uns in der Europäischen Union für 2030 für ambitionierte Ziele auf der Grundlage der weltwei- Ich bin ganz sicher: Wenn sich Europa auch in dieser ten langfristigen Ziele für 2050 einzusetzen, und Krise auf seine Prinzipien – auf Freiheit, auf Demokratie wir werden uns auch international für ambitionierte (B) der westlichen Wertegemeinschaft, auf Vielfalt, auf Klimaschutzziele und verbindliche Vereinbarungen (D) Wettbewerb, auf Subsidiarität – besinnt, dann wird es engagieren. auch aus dieser Krise gestärkt hervorgehen. Wir wissen, dass Deutschland eine Vorreiterrolle hat, Vielen Dank. und wir werden sie auch nutzen. Wie bereits erwähnt, setzen wir uns selbstverständlich für einen weiteren Aus- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- bau der erneuerbaren Energien ein und haben dabei neten der SPD) durchaus die Kosteneffizienz und die Wirtschaftlichkeit insgesamt im Blick. Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Koalition will einen wirksamen Emissionshan- Ich erteile das Wort der Kollegin Gabriele Groneberg del auf europäischer Ebene. An dieser Stelle gibt es für die SPD-Fraktion. – die Kritik wird zu Recht geübt – durchaus großen Handlungsbedarf. Es wird eine große Aufgabe auch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der nächsten Tage sein, hier Pflöcke einzuschlagen. der CDU/CSU) Der Dialog mit der Europäischen Kommission und Gabriele Groneberg (SPD): den Mitgliedstaaten darüber, wie diesen Zielen dienende Förderbedingungen europarechtskonform weiterentwi- Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen ckelt werden können, ist eine zentrale Aufgabe dieses und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! In der Wirtschaftsministers. Ich bin davon überzeugt, Sigmar Tat wird bei der anstehenden Tagung des Europäischen Gabriel wird diese Aufgabe meistern. Rates die Lage in der Ukraine in der Diskussion alles überlagern. Dennoch stehen weitere wichtige Themen (Beifall bei der SPD) auf der Tagesordnung. Wir bekennen uns ebenso eindeutig zu dem Ziel der Der Rat hat in diesen schwierigen Tagen die Aufgabe, Steigerung der Energieeffizienz. Ich würde dazu gerne Ziele festzulegen, die die Grundlagen für nationale Re- noch mehr ausführen, nur, leider fehlt mir die Zeit. Aber formprogramme und die Stärkung der Wettbewerbsfä- ich will noch einmal, auch wenn er nicht da ist, auf den higkeit der Mitgliedsländer bilden sollen, um so die Herrn Kollegen Hofreiter eingehen: Ich bin wirklich ent- Grundlagen für Wachstum und Beschäftigung zu si- täuscht von seiner Analyse, mit der er unterstellt, die chern. Das hört sich alles gut an. Das ist aber natürlich Klimaschutzziele seien der EU bzw. dem Europäischen alles nicht möglich, ohne letztendlich die Ziele für die Rat unwichtig und würden überhaupt nicht berücksich- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1773

Gabriele Groneberg (A) tigt werden. Das ist meiner Ansicht nach voll daneben, EU und Russland waren selten so schlecht und so dünn (C) ist polemisch, ist unsachlich. Herr Hofreiter müsste wis- wie heute. sen, dass die Ziele der EU in diesem Bereich schon lange festliegen. Er selber bzw. seine Fraktion hat sie in der Für die Analyse der jetzigen Situation sind mir zwei Vergangenheit mit geprägt. Punkte besonders wichtig: Es ist richtig: Nicht alle unsere Ziele stoßen in der EU Erstens. Ich fange bei uns selber an; denn wenn man auf helle Begeisterung. Es gibt durchaus Kritiker in den sich nicht mit den eigenen Fehlern beschäftigt, dann Ländern des Südens und des Ostens, für die angesichts lernt man nichts. – Bei einer solchen diplomatischen Ka- hoher Arbeitslosigkeit eine zielführende Beschäfti- tastrophe wie der jetzigen zwischen der Europäischen gungspolitik und sozialpolitische Fragen im Vorder- Union, der Ukraine und Russland sind nie nur auf der ei- grund stehen, ebenso wie die Versorgungssicherheit im nen Seite Fehler gemacht worden, nein, dann sind immer Bereich Energie und das Preisniveau. – das ist auch hier der Fall – auf beiden Seiten, also auch auf unserer Seite, der Seite des Westens, Fehler gemacht Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, gilt doch: worden. Wenn wir es in Deutschland nicht schaffen, die Men- schen bei der Energiewende mitzunehmen und gleich- Meine Einschätzung ist, dass die Europäische Union zeitig die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft zu si- mit ihrer Politik zur Ukraine und den Assoziierungsver- chern, wenn wir es nicht schaffen, die Energiewende handlungen nicht das notwendige Augenmaß gewahrt sicher, sauber und bezahlbar hinzubekommen, dann wer- hat. Die Europäische Union hat die geopolitische den wir – da können wir uns noch so viele Ziele setzen Sprengkraft der Ukraine-Frage gerade für Russland und und noch so viele schöne Papiere schreiben – scheitern. auch die fundamentalen innenpolitischen Konflikte in Deshalb empfehle ich Ihnen allen in diesem Hause, diese der Ukraine evident unterschätzt. Dies kann man nicht Verhandlungen zu unterstützen. Die Abgeordneten der einfach mit einem Assoziierungsvertrag, in Vilnius un- CDU/CSU und der SPD werden dies tun. Wir erwarten terschrieben, übertünchen; denn darunter bleiben die von unserer Bundesregierung vollen Einsatz auf der Ba- Konflikte bestehen. sis der Formulierungen unseres Koalitionsvertrages. Der Zweitens. Auf der anderen Seite ist auch klar: Der Auftrag, den dieses Haus der deutschen Delegation mit- scheinbare Vorteil, den Russland jetzt hat, steht auch nur gibt, ist klar. auf tönernen Füßen. Natürlich unterstützt im Moment eine demokratische Mehrheit auf der Krim und auch in Präsident Dr. Norbert Lammert: Russland die Politik Putins – auch gegenüber der Krim – Frau Kollegin! jubelnd und euphorisch. Euphorie hat aber eine Eigenart: (B) Sie ist niemals und nirgends nachhaltig. (D) Gabriele Groneberg (SPD): (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das müs- Ja, sehr geehrter Herr Präsident, ich komme zum sen Sie sich merken!) Ende. – Wir sollten auf jeden Fall aus diesem Hause Rü- ckendeckung für die anstehenden Verhandlungen geben. Die Menschen auf der Krim und in Russland werden sehr bald wieder auf den Boden der Tatsachen zurückfal- Vielen Dank. len, und dieser Boden ist sowohl auf der Krim als auch in Russland hart und unkomfortabel. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Russland hat – und das seit Jahren wachsend – enorme wirtschaftliche und soziale Probleme, die auch Präsident Dr. Norbert Lammert: jederzeit Sprengkraft in diesem Land erzeugen können. Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Eines ist eindeutig: Russland braucht in der Wirtschafts- Michael Stübgen das Wort. und Finanzpolitik den Westen. Das weiß Putin im Übri- gen genauso, wie es eine Tatsache ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Weil ich aus Zeitgründen nicht intensiv darauf einge- hen kann, möchte ich nur kurz sagen, dass ich die jetzige Michael Stübgen (CDU/CSU): Krisenreaktion bei aller Kritik – auch an der EU-Diplo- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und matie in den letzten Jahren – grundsätzlich für richtig Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden im halte. Sie wird von mir unterstützt. Abstand von einer Woche das zweite Mal – diesmal im Zusammenhang mit dem kommenden Europäischen Es ist wichtig, dass wir der Ukraine kurzfristig helfen, Rat – im Wesentlichen über ein Thema, nämlich die um den drohenden Staatsbankrott abzuwenden, und es Krise in der Ukraine. ist richtig, dass wir die Assoziierung vorantreiben – auch mit dem Signal der Unterschrift morgen. Es ist aber auch Die Ereignisse dort vollziehen sich mit einer enormen richtig, obwohl das auch in der EU kritisiert wird, dass Geschwindigkeit. Mir fällt dazu nur ein Begriff aus dem die Bundesregierung sich hinsichtlich der Sanktionen Kalten Krieg ein: Hinsichtlich der „Eskalationsdomi- zwar klar bekennt, aber auch zurückhaltend agiert. nanz“ hat Putin eindeutig die Nase vorn. Russland be- stimmt die Agenda und setzt die Fakten, und der Westen Ich bin der festen Überzeugung – es ist für mich be- ist scheinbar schwach und läuft den Ereignissen ledig- sonders wichtig, das zu sagen –, dass der Schlüssel für lich hinterher. Die diplomatischen Kanäle zwischen der gegenwärtiges Handeln und für die Möglichkeit, einen 1774 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Michael Stübgen (A) Prozess der Krisenlösung in diesem Ukraine-Konflikt zu Michael Stübgen (CDU/CSU): (C) beginnen – es geht noch längst nicht darum, ihn abzu- Sehr verehrte Frau Kollegin, herzlichen Dank für Ihre schließen; das wird Jahre dauern –, in der Ukraine, in Zwischenfrage. – Sie gibt mir die Gelegenheit, ein mög- Kiew, liegt. liches Missverständnis richtigzustellen. Aufgrund der Kürze meiner Redezeit wollte ich darauf nicht weiter Das sind die harten Fakten: Die Ukraine hat eine der eingehen. Was Sie gesagt haben, stimmt grundsätzlich; schwächsten Wirtschaftsentwicklungen in ganz Osteu- das ist richtig. Es stimmt allerdings auch, dass die Sied- ropa. Sie hat notwendige Reformen immer wieder aufge- lungsräume in der Ukraine auch schon ziemlich getrennt schoben, die Rechtsstaatlichkeit steht infrage, und die sind. Und es ist so, dass es einen asymmetrischen Kon- Korruption ist völlig frei – bis in höchste Regierungs- flikt zwischen russischstämmiger Bevölkerung und der kreise hinein. ukrainischen Bevölkerung gibt. Dieser Konflikt hat – auch Sie wissen das mit Sicherheit sehr genau – histo- Die Ukraine ist auch ein multiethnisches Land. Neben rische Gründe, die ich hier nicht alle anführen kann. sehr vielen Minderheiten hat sie – das kommt erschwe- rend hinzu – zwei fast gleich starke Bevölkerungs- Für mich ist Folgendes wichtig: Wir konnten in den gruppen: zum einen russischstämmige Ukrainer und zum letzten Jahren beobachten, dass bei Wahlen entweder die anderen Ukrainer, die in den Siedlungsräumen überwie- Bevölkerung der Westukraine – Sie wissen, dass ich das gend auch noch getrennt leben. so genau nicht meine – eher die Regierung stellte oder, wenn es kippte, die andere Seite die Regierung über- Die Kluft zwischen diesen beiden Bevölkerungsgrup- nommen hat. Jedes Mal, wenn eine Gruppe die Regie- pen ist in den letzten Jahren wesentlich größer gewor- rung hatte, hat sie alles dafür getan, um die andere den. Nachhaltig kann die Ukraine aber nur leben, wenn Gruppe zu schwächen. Auf diesen Punkt will ich hinaus: diese Kluft geringer wird und es Brücken über diese Wenn ein Land so kompliziert strukturiert ist – dafür Kluft gibt. kann die Ukraine nichts; das hat historische Gründe –, dann hat dieses Land nur eine Chance, nämlich zu versu- Präsident Dr. Norbert Lammert: chen, diese Gräben zu überwinden. – Herzlichen Dank. Das war meine Antwort. Kollege Stübgen, darf Ihnen die Kollegin Beck eine Zwischenfrage stellen? Ich glaube, es ist richtig, nachhaltig zu fordern, dass in der Ukraine neben der notwendigen Präsidentschafts- wahl am 25. Mai – wir wissen allerdings, dass die dann Michael Stübgen (CDU/CSU): stattfindenden Wahlkämpfe wie in jedem anderen demo- Bitte, gerne. kratischen Land der Welt nicht unbedingt deeskalierend (B) (D) wirken werden – sehr bald auch der Verfassungsprozess, also die Neubestimmung einer Verfassung bzw. die Re- Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE form der vorhandenen Verfassung, einschließlich grund- GRÜNEN): legender Wirtschafts- und Sozialreformen, begonnen Lieber Herr Kollege Stübgen, die Frage, die Sie eben werden muss. formuliert haben, diese faktische Zweigeteiltheit der Ukraine, spielt in unserer Debatte eine große Rolle. Ich Ich halte das für absolut notwendig. Es ist so, dass ich bin nun sehr viel in der Ukraine gewesen und habe mit im Moment in der Ukraine – das ist verständlich, weil Vertretern von Nichtregierungsorganisationen, Parla- der Druck auf die Politiker in der Ukraine enorm hoch mentariern und vielen anderen gesprochen und immer ist – dafür zu wenig Ansätze finde. So wichtig es ist, wieder diese Frage gestellt. Es ist mir immer wieder ge- dass wir die Ukraine unterstützen, so wichtig ist es auch, sagt worden – übrigens hat uns das gestern auch Josef dass die europäische Politik, aber auch die Bundesregie- Zissels im Ausschuss wieder gesagt –: Die Linien zwi- rung und wir als Deutscher Bundestag die Ukraine dazu schen diesen Gruppen verlaufen quer durchs Land. Sind drängen und dabei unterstützen, ihr Land zu reformieren, Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen? sodass es nachhaltig lebensfähig werden kann. Dann be- steht zum Beispiel auch die Chance, dass die Krim- Maidan-Demonstrationen hat es in 50 Städten der Frage auf lange Sicht ganz anders gestellt wird, als das Ukraine gegeben, auch in Charkiw, auch in Donezk. bisher der Fall ist. Diese Demonstrationen waren dort schwächer, auch weil Ich will mit Folgendem schließen: Für mich hat fast die Repression dort größer war und weil es dort eine grö- kein anderer Satz so entscheidend gewirkt – bis 1990 ßere Nähe zu Russland als in der Westukraine gibt. und danach – wie der alte Art. 23 des Grundgesetzes von Aber: Die Linien verlaufen quer und nicht längs entlang 1949, den wir 1990 aufheben konnten. Mit Deutschland des Dnepr. Es ist auf dem Maidan mehr Russisch als hat es sich ähnlich wie jetzt mit der Ukraine verhalten, Ukrainisch gesprochen worden. Ich möchte Sie bitten, dass sich nämlich Deutschland erst einmal ohne die ost- das zur Kenntnis zu nehmen. Wir sollten dieser Frage deutschen Länder strukturiert und den Anspruch auf eine gemeinsam stärker nachgehen, statt einer möglichen Wiedervereinigung nie aufgegeben hat. Nach Jahrzehn- Desinformation aufzusitzen, die Vorbereitung für eine ten konnte dieser Anspruch erfüllt werden. Auch das gewollte Teilung des Landes sein könnte. könnte für den Umgang der Ukraine mit der Krim inner- halb dieses Verfassungsprozesses beispielgebend sein. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1775

Michael Stübgen (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- bigerhaftung ein wichtiges Feld. Das haben wir immer (C) neten der SPD) gefordert. Das wird eingeführt werden; das ist gut so. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin : Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Insgesamt wird Deutschland dadurch attraktiver, auch Kollege Christian Petry. was den Finanzmarkt betrifft. Vielleicht gelingt es, Kapi- tal aus dem Ausland wieder zurück nach Deutschland zu (Beifall bei der SPD) bringen. Ich meine nicht das von Herrn Hoeneß. Es gibt auch noch andere, die im Ausland sind und dann viel- Christian Petry (SPD): leicht wieder in Deutschland am Finanzmarkt investie- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und ren. Ich glaube, das ist sehr lohnenswert. Herren! Neben dem wichtigen Thema Ukraine und der Der Gipfel befasst sich auch mit Afrika. Ich glaube, Krise dort hat der EU-Gipfel auch noch die Stärkung des dass es wichtig ist, eine Entwicklung auf Augenhöhe, in Wirtschaftsraums Europa, die Finanzwirtschaft und Partnerschaft, zu betreiben, dass wir den Stolz der afri- Afrika zum Thema. Die Krise in den südlichen Ländern, kanischen Länder respektieren und Bereitschaft zeigen die Währungs-, Wirtschafts- und auch Sozialkrise, hat sollten, im Bereich Ausbildung und auf anderen Gebie- uns gezeigt, dass Deutschland einen wesentlichen Bei- ten zu helfen. Ich halte es für zentral und sehr wichtig, trag zur Stabilität leisten kann und ein Motor in diesem dass wir dies in Partnerschaft und auf Augenhöhe ma- Bereich ist. chen. Das wünsche ich mir von der Bundesrepublik Wichtig ist dabei, dass die Regulierung der Finanz- Deutschland. Ich bin mir sicher, dass dies so gelingen märkte gelingt. Der europäische Fiskalpakt ist rechtens. wird. Die Rechte des Parlaments sind einzuhalten. Wir haben (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ein Europäisches Semester und eine bessere Abstim- der CDU/CSU) mung der Haushalts- und Wirtschaftspolitik der Natio- nalstaaten. Dazu gibt es auch ein Nationales Reformpro- Kolleginnen und Kollegen, es ist unsere Aufgabe, Eu- gramm 2014, das uns im Entwurf vorgelegt wurde. ropa weiter voranzubringen; es ist unsere Aufgabe, Frei- Vertrauen in die Euro-Zone zu schaffen, ist dabei das heit und Wohlstand in Europa zu sichern; es ist unsere Ziel, und Deutschland ist hier sehr gut aufgestellt: gute Aufgabe, dafür zu sorgen, dass wir auch weiterhin ein Daten beim Arbeitsmarkt, stabile Haushaltslage, Verbes- weltoffenes, tolerantes Europa haben. Lassen Sie uns serungen in der Bildung, eine starke Wirtschaft und ein dies gemeinsam tun. (B) guter Weg in der Umwelt- und Energiepolitik. Auch in Vielen Dank. (D) den Stellungnahmen des DGB werden uns gute Noten gegeben. Das sieht schon etwas anders aus als in den (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vorjahren. Hier wirkt bereits die Große Koalition. Ich der CDU/CSU) glaube, darauf können wir stolz sein. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt der Kollege Lediglich hinsichtlich der makroökonomischen Lage Manfred Grund, CDU/CSU-Fraktion. wird Kritik geübt. Die Exporte – das muss in diesem Zu- sammenhang genannt werden – müssen beibehalten wer- (Beifall bei der CDU/CSU) den. Sie sichern Arbeit. Deshalb gilt es, die Binnenent- wicklung zu stärken: gute Lohnentwicklung, gute Löhne Manfred Grund (CDU/CSU): für gute Arbeit, und es müssen Anreize für inländisches Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle- Kapital, nicht zu sparen, sondern zu investieren – Sigmar ginnen und Kollegen! Man kann in Deutschland russi- Gabriel hat dies im Ausschuss angesprochen – gegeben sches Staatsfernsehen empfangen, und die russischen werden. Staatsmedien sind mit Büros in Deutschland vertreten. Die Importe müssen gestärkt werden, bei uns liegt ein Deshalb ist es nicht unbedingt notwendig, Herr Kollege Importdefizit vor. Das kann aber nur dadurch behoben Gysi, dass Sie in jeder Sitzungswoche als Lautsprecher werden, dass sich die anderen Volkswirtschaften entspre- der russischen Staatsmedien auftreten. chend stabilisieren, die Produktion steigern und den in- (Beifall bei der CDU/CSU) dustriellen Teil, der in Deutschland stark geblieben ist, wieder stärken. Dann können wir dort wieder einkaufen. Mit der Übernahme der Argumentation dieser Medien Das stärkt unsere Importquote und wird die Leistungsbi- begeben Sie sich auf Schmierseife, und zwar mit beiden lanz ausgleichen. Hier werden wir auf europäischer Füßen. Ebene wirken müssen. Auch das ist ein Thema des Gip- fels: eine vernünftige Industriepolitik in Europa. Ich fange mit dem ersten Punkt an. Sie sprechen von der Weiterentwicklung des Völkerrechts und davon, dass Des Weiteren gilt es, die Finanzmärkte weiter zu re- aus Rechtsbruch auch Gewohnheitsrecht entstehen kann. gulieren. Die Bankenunion wird kommen, und sie wird Ich möchte ein solches Gewohnheitsrecht nicht haben. auch kommen müssen. Die Bankenabgabe kommt. In 2008 wurden Abchasien und Südossetien aus Georgien diesem Zusammenhang ist auch die Stärkung der Gläu- herausgerissen. Im März dieses Jahres wurde die Krim 1776 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Manfred Grund (A) herausgerissen. Wer ist als Nächstes dran: Odessa oder Zweitens, die Legitimität der Übergangsregierung. (C) Donezk? Die Übergangsregierung in Kiew basiert auf einer Ver- einbarung, die zwischen Janukowitsch, drei europäi- (Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Eben!) schen Außenministern und einem Vertreter Russlands Ich möchte diese Art der Weiterentwicklung des Völker- am 21. Februar getroffen wurde. rechts nicht haben. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Da halten die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sich doch gar nicht dran!) neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Am 22. Februar war Janukowitsch weg. Er hatte sich GRÜNEN) aus dem Staub gemacht und seine Koffer nachweislich Im Jahre 2008 hat Präsident Putin auf einer internatio- schon drei Tage zuvor gepackt. Die Legitimität bezieht nalen Konferenz in Bukarest gesagt: Die Ukraine ist gar sich also auf diese geschlossene Vereinbarung und kein richtiger Staat. – Das steht in der Tradition der Art. 111 der geltenden ukrainischen Verfassung. Breschnew-Doktrin der eingeschränkten Souveränität (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Da halten sie sozialistischer Länder. Eingeschränkte Souveränität be- sich doch gar nicht dran!) deutet: Das, was Russland – damals der Sowjetunion – nutzt, wird gemacht. Alle anderen Staaten werden in ih- Die Übergangsregierung repräsentiert übrigens im Ge- ren Grenzen – zumal es ja auch russischer Boden gewe- gensatz zu dem, was hier gelegentlich verbreitet wird, sen sein kann – infrage gestellt. – Frau Kollegin Beck die ukrainische Bevölkerung und auch die Regionen der hat zu Recht auf Kasachstan hingewiesen. Wir wissen Ukraine, weil viele Abgeordnete der Partei der Regionen um die Ängste im Baltikum, in Polen oder in Transnis- heute im Parlament aufseiten der Regierung sind und da- trien, der Republik Moldau. Auch hier träfe eine solche mit die politischen Lager, aber auch die Regionen – der Argumentation zu. Also: Sie begeben sich wirklich auf Süden und der Osten der Ukraine – im Parlament vertre- Schmierseife. ten sind. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Aber sie sind Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ nicht in der Regierung!) DIE GRÜNEN]) Drittens, zum Vorwurf des Faschismus und des An- Selbstbestimmung ist immer dann gut, wenn sie Russ- tisemitismus. Ich will mit dem Vorwurf des Antisemi- land nutzt, wie zum Beispiel bei der Abstimmung auf tismus beginnen. Es ist richtig, dass in der jetzigen Re- der Krim. Selbstbestimmung der Balten, deren Staaten gierung mehrere Minister und ein stellvertretender Ministerpräsident mit jüdischen Wurzeln vertreten sind. (B) aus der ehemaligen Sowjetunion hervorgegangen sind (D) und die sich unter den NATO-Schutzschirm gestellt ha- Es ist weiterhin richtig, dass drei der von der Übergangs- ben, weil sie Angst vor einem wiedererstarkenden Russ- regierung neu eingesetzten Gouverneure jüdischer Her- land hatten, wäre nicht möglich; denn – so ist Ihre Argu- kunft sind, unter anderem der Gouverneur von Dnipro- mentation – zwischen Gorbatschow und Kohl ist ja petrowsk, Kolomoiyski, der der Leiter der jüdischen etwas anderes vereinbart worden. Gemeinden in der Ukraine und Vorsitzender des Euro- päischen Rates der Jüdischen Gemeinden ist. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- Herr Kollege Grund, gestatten Sie eine Zwischen- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) frage des Kollegen Gehrcke? Zum Vorwurf des Faschismus. Ja, Vertreter von Swo- boda und andere Vertreter des Rechten Sektors sind un- Manfred Grund (CDU/CSU): appetitliche Gesellen. Mit denen wollen wir alle nicht Bitte zum Schluss. Oder er kann dann eine Kurzinter- gesehen werden; das ist völlig richtig. vention machen. – Das kann er aushalten. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das werden Sie aber!) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Aber deswegen ist die ukrainische Regierung nicht fa- Zum Schluss. schistisch.

Manfred Grund (CDU/CSU): (Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Das habe ich nicht gesagt!) Die Bundesrepublik Deutschland und die Sowjet- union haben möglicherweise eine Vereinbarung getrof- Vielmehr unternimmt sie den Versuch, alle Gesell- fen. Aber die Sowjetunion hat sich verflüchtigt. Übrig schaftsteile zu repräsentieren. geblieben ist nicht Russland als Nachfolgestaat, sondern es sind souveräne Staaten wie im Baltikum, die ein Jetzt will ich eines sagen: Der Faschismusvorwurf Recht auf eine eigene Zukunft haben. Also: Ihre Inter- wurde und wird immer erhoben, wenn er der Sowjet- pretation des Selbstbestimmungsrechts ist problema- union bzw. Russland nutzt. Ich erinnere an den Faschis- tisch. musvorwurf im Zusammenhang mit dem 17. Juni 1953 in der DDR. „Faschistische Umtriebe“ mussten damals (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- angeblich mit sowjetischen Panzern gestoppt werden. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dieselbe Argumentation lässt sich im Zusammenhang Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1777

Manfred Grund (A) mit den Ereignissen 1956 in Ungarn und der Nieder- (Beifall bei der CDU/CSU) (C) schlagung des Prager Frühlings 1967 finden. Heute ver- wendet Russland dieselbe Argumentation, um sich die Die Beziehungen zwischen Russland und Deutsch- Krim anzueignen und möglicherweise einen Vorwand land, zwischen Deutschen und Russen, zwischen den für den Einmarsch in Odessa oder Charkiw zu haben. Menschen der beiden Länder, sind eng. Wir hatten hier Also, Herr Kollege Gysi, gehen Sie weg von dieser ver- in Berlin die Ausstellung „Russen und Deutsche: logenen Argumentation. Sie haben es gar nicht nötig. Tausend Jahre Kunst, Geschichte und Kultur“ im letzten und vorletzten Jahr. Das war ein Publikumsmagnet. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Viele Menschen haben die Ausstellung besucht. Sie war neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE ein Beitrag zum Russland-Jahr in Deutschland und zum GRÜNEN – Stefan Liebich [DIE LINKE]: Deutschland-Jahr in Russland. Das hat er gar nicht gesagt!) Gleichwohl müssen wir leider erkennen, dass Kon- Ich will neben der Ukraine auf zwei Länder hinwei- flikte und Denkmuster, die wir schon überwunden glaub- sen, die dringend unsere Unterstützung brauchen, euro- ten, wieder aufbrechen oder wieder sichtbar werden. päische Unterstützung und Unterstützung aus Deutsch- Man kann vieles persönlich für nicht richtig halten, aber land, einmal auf Georgien und zum anderen auf die trotzdem entschuldigen oder nachvollziehen. Man kann Republik Moldau. Beide werden im Spätsommer das mit versuchen, die Welt durch die Augen des anderen zu se- der Europäischen Union ausgehandelte Assoziationsab- hen, und das haben wir auch oft getan. Aber mit dem, kommen unterzeichnen. Beide stehen bereits jetzt unter was in den letzten Tagen und Wochen auf der Krim pas- massivem russischen Druck, mit dem das verhindert siert ist, ist Moskau mehr als nur einen Schritt zu weit werden soll. Das heißt, wir müssen uns diesen beiden gegangen. Das ist nicht hinnehmbar. Ländern viel stärker zuwenden und ihnen nach Möglich- keit eine europäische Perspektive bieten. Was können wir tun? Ein Übergehen zur Tagesord- nung ist nicht möglich. Wir alle hoffen, dass die ersten Zum Abschluss. Unsere Hand ist zur Kooperation Stufen der von der EU ergriffenen Sanktionsmaßnahmen ausgestreckt. Wir wollen nicht hoffen, dass Konfronta- hinreichen. Aber auch sie werden nur gelingen, wenn tion die nächsten Jahre bestimmt. Ich will mit einem wir an unserer Entschlossenheit, im Zweifelsfall auch ukrainischen Sprichwort schließen, das heißt: Wenn die weiter zu gehen, wirtschaftliche Sanktionen ernsthaft in Fahnen wehen, rutscht der Verstand in die Trompete. – Betracht zu ziehen, keinen Zweifel lassen. Dazu gehört, Ich hoffe, dass in Moskau der Verstand nicht gänzlich in dass wir uns unserer energiepolitischen Abhängigkeit die Trompete gerutscht ist und dass wir zur Normalität bewusst sind, wenn wir darüber reden, und dass auch die und zur Diplomatie zurückkehren können. andere Seite weiß, dass wir uns dieser Abhängigkeit be- (B) (D) Vielen Dank. wusst sind. Deshalb bin ich auch führenden Wirtschafts- vertretern dankbar, die deutlich gemacht haben: Völker- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- recht bleibt Völkerrecht, und es darf nicht darüber neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE hinweggegangen werden. GRÜNEN) Eine aktuelle Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik, die ich Ihnen wirklich zur Lektüre empfehle Vizepräsidentin Ulla Schmidt: – sie ist hervorragend –, zeigt das hohe Destabilisie- Vielen Dank. – Als letzter Redner in dieser Debatte rungspotenzial bezüglich der Versorgung mit Gas und Öl spricht für die CDU/CSU-Fraktion Klaus-Peter Willsch. auf. Russland ist Europas Energielieferant Nummer eins. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. 30 Prozent des in der EU benötigten Gases kommen von Norbert Spinrath [SPD]) dort, beim Öl sind es 35 Prozent. Auf Deutschland bezo- gen sind die Werte noch etwas höher. Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): Aber natürlich sind wir auch gegenseitig voneinander Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und abhängig. Die Talfahrt des Rubel-Kurses zum Euro in Herren! Liebe Kollegen! Ich danke Manfred Grund für den letzten Wochen von 1: 40 auf 1: 50 zeigt schon, dass diese richtige historische Einordnung. Ich will Herrn sich auch die russische Wirtschaft nicht so leicht eine Gysi auch noch einmal ein bisschen auf die Sprünge hel- Eiszeit erlauben kann. Moskau kann nicht ignorieren, fen. dass sich der russische Haushalt zu etwa 55 Prozent aus ( [DIE LINKE]: Geschichts- Erlösen von Gas- und Ölgeschäften speist. vergessen ist das!) Herrn Hofreiter, der jetzt wieder bei uns ist, Sie stellen gerne Bezüge zum Gebiet des früheren Jugo- (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- slawien her. Auch ich sehe da Parallelen; denn Milosevic NEN]: Ich war die ganze Zeit da!) hat dort alle Staaten in seinem Umfeld mit Aggressions- kriegen überzogen, weil er gesagt hat: Da ist irgendwo möchte ich zurufen, dass ich sehr wohl nachvollziehen ein Serbe, und deshalb ist das serbisches Territorium. – kann, wenn er die Frage aufwirft, ob es angesichts dieser Sie haben das vielleicht nicht mitbekommen, weil Sie Analyse richtig ist, im Bereich der Gasversorgung eine damals in Belgrad waren und Milosevic das Händchen vertikale Integration zuzulassen. Wir sind bei der Versor- gehalten haben, statt auf der richtigen Seite zu stehen. gung abhängig, und nun sollen wir auch noch unseren Sie scheinen nichts aus der Geschichte gelernt zu haben. strategischen Speicher in einen Einflussbereich geben, in 1778 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Klaus-Peter Willsch (A) den er nach meinem Dafürhalten nicht gehört. Deutsch- reformen anzugehen und Defizitquoten zu senken. Da- (C) land hat knapp ein Viertel der 100 Milliarden Kubik- von sind wir leider noch ein großes Stück entfernt. Ich meter Gasspeicherkapazität. Deshalb muss darüber bitte die Troika und die Bundesregierung darauf zu ach- nachgedacht werden, ob der Deal zwischen BASF/ ten, dass in der richtigen Richtung agiert wird und neue Wintershall und Gazprom richtig ist, ob der Verkauf von Spielräume genutzt werden. Dea durch RWE richtig ist. Wenn man über dieses Thema geostrategisch nach- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: denkt, muss man sich aber auch überlegen, ob der über- Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. hastete Ausstieg aus der Kernenergie richtig ist. (Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): GRÜNEN]: Hört! Hört!) Wir müssen leider feststellen, dass die Schulden- stände dort allen kraftvollen Beschlüssen zum Trotz wei- Kernenergie ist nämlich auch geeignet, Abhängigkeit zu ter steigen. Wir müssen uns mit diesem Thema weiterhin verringern. sehr sorgsam beschäftigen. (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Frau Präsidentin, ich danke für Ihre Geduld. Sie ha- NEN]: Man merkt halt, dass Sie die Energie- ben mir eine Minute Redezeit mehr gegeben. Das ehrt politik nicht genau kennen, nämlich: 90 Pro- Sie zent des Erdgases verbrennen wir für das Heizen der Häuser! Das hat mit Strom nichts (Heiterkeit) zu tun! Mit Atomkraft heizen wir nicht!) und macht mir Freude, weil ich so noch meine letzten Wenn man offen geostrategisch diskutieren will, muss Gedanken vortragen konnte. man sich darüber Gedanken machen, ob es richtig ist, Vielen Dank. leichtfertig auf eigene Energiegewinnungsmöglichkeiten wie Fracking zu verzichten. Wenn wir schon über die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Frage einer unabhängigen Energieversorgung reden wol- neten der SPD) len, dann machen wir das bitte auf breiter Grundlage und verhängen keine Denkverbote. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Noch einige Gedanken zur Zukunft in der Ukraine. Okay. Ich mache sehr gerne Freude. – Das Wort zu ei- ner Kurzintervention zum Beitrag des Kollegen Grund Wichtig wird sein, dass wir darauf achten, dass hat jetzt Dr. Wolfgang Gehrcke. (B) Rechtsstaatlichkeit herrscht. Manfred Grund hat es ange- (D) sprochen: Es darf nicht eine Oligarchenclique durch eine (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das andere ersetzt werden. Wenn sich der IWF jetzt Gedan- geht doch nur direkt nachdem jemand gespro- ken über die Zahlungsfähigkeit der Ukraine macht, dann chen hat!) wird es wichtig sein, dass dort ein Bail-in bezüglich Oligarchenvermögen stattfindet. Das meiste von diesem Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Vermögen ist nämlich dem Volk geraubt worden. Frau Präsidentin, es steht mir nicht zu, Sie irgendwie zu korrigieren. Wenn Sie den „Dr.“ zurücknehmen könn- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ten! Ich möchte nicht dort landen, wo andere gelandet Früher war es Volkseigentum, und irgendwelche Perso- sind. Ich habe keinen Doktortitel und möchte auch nicht nen haben es sich in der Transformationszeit unter den so angesprochen werden. Nagel gerissen. Wo wir gerade beim IWF sind: noch ein Gedanke zur Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Situation im Euro-Raum, ohne jetzt Grundsatzdebatten Das werde ich machen. Aber die Schriftführerin, Ihre anzufangen. Fraktionskollegin, war so beeindruckt von Ihnen, dass sie meinte, Sie hätten den Doktortitel. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Aber bitte einen kurzen Gedanken. Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Das rührt mich natürlich tief. – Ich wollte eigentlich eine Zwischenfrage zum Beitrag des Kollegen Grund Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): stellen. Er hat sie leider nicht zugelassen. Deswegen Einen kurzen Gedanken. – Wir haben es mit sinken- möchte ich eine Kurzintervention vorbringen. den Renditen bei Staatsanleihen zu tun, wobei offen- bleibt, ob das auf eine wirkliche Verbesserung der Situa- Ich verstehe nicht, Kollege Grund, warum Sie das, tion oder auf die in meinen Augen unrechtmäßige was Gregor Gysi hier ausgeführt hat, so verzerrt wider- Zusage, notfalls unbegrenzt Staatsanleihen zu kaufen, gespiegelt haben. Ich wiederhole, was unsere Gedanken zurückzuführen ist. Egal wie es ist: Entscheidend ist, sind: Gregor Gysi möchte das Argument ausschließen dass die Spielräume, die durch eine geringere Verschul- – ich teile das völlig –, dass es ein völkerrechtliches Ge- dung bedingt sind, nicht, wie bei der Einführung des wohnheitsrecht gibt. Es wurde das Argument geäußert, Euro, genutzt werden, um munter die Verschuldung zu dass mit dem Kosovo-Einsatz ein neues Gewohnheits- erhöhen, sondern dass sie genutzt werden, um Struktur- recht geschaffen worden ist. Wir wollen nicht, dass ein Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1779

Wolfgang Gehrcke (A) sogenanntes Gewohnheitsrecht konstruiert wird, das er- (Zurufe von der LINKEN) (C) laubt, dass in andere Staaten eingegriffen wird. Srebrenica war schon passiert. Ich nenne auch Vukovar. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Rabulistik! Quatsch!) (Michael Brand [CDU/CSU]: Und Russland hat goutiert!) Wir wollen, dass völkerrechtlich festgeschrieben Die Resolution ist immer wieder am Veto Russlands im wird, dass Trennungen nur im Rahmen von friedlichen Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gescheitert, Vereinbarungen zwischen allen Partnern möglich sind. Vielleicht kommt es Ihnen komisch vor, wenn ich frage, (Beifall bei der CDU/CSU) ob man nicht gerade die jetzige Situation nutzen muss, um in Europa über Konferenzen, über Arbeitsgruppen, sodass es zur Beendigung des Völkermords keine andere auch über gemeinsame Arbeitsgruppen mit Russland Möglichkeit mehr gegeben hat, als so vorzugehen, wie und anderen Staaten, zu einer Erneuerung des Völker- vorgegangen worden ist. rechts auf der Grundlage der Charta der Vereinten Natio- Nun zur Krim. Alle Argumente, die für die Annexion nen zu kommen. Das ist dringend notwendig. Wir der Krim vorgetragen worden sind – Bedrohung der rus- wollen geschriebenes Völkerrecht, das für alle gleicher- sischen Minderheit; es sei sogar schon jemand umge- maßen gilt und gegen alle gleichermaßen durchgesetzt kommen; die Sprache dürfe nicht mehr gesprochen wer- wird. Das wollen wir erreichen. Das bedeutet, dass man den –, erst einmal selbstkritisch an die Dinge herangehen muss. Das war der Anstoß, den Gregor Gysi geben wollte. (Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Das habe ich nie gesagt! Was erzählst du überhaupt? – (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Michael Brand [CDU/CSU]: Der UN-General- Ich verstehe nicht, warum man einen so einfachen Ge- sekretär hat von der dunklen Wolke des Völ- danken nicht einmal konstruktiv aufnehmen kann. kermords gesprochen!) waren aus der Luft gegriffen und hatten überhaupt nichts (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Ist das jetzt mit der Wirklichkeit zu tun. Alles das, was man mit der eine Kurzintervention, oder erklären Sie die ukrainischen Regierung hätte aushandeln können – Au- Rede von Herrn Gysi noch einmal?) tonomiestatus der Krim etwa –, ist einfach ausgeschla- Wenn mir noch ein polemischer Satz gestattet ist, und gen worden. Es sind vollendete Tatsachen geschaffen zwar zu Ihrem schönen Bild von dem Verstand, der in worden. Es ist etwas herausgeschnitten worden. Vollen- dete Tatsachen! Annexion! Ein Teil eines Landes wurde (B) die Trompete rutscht: Wenn man mit dem Finger auf an- (D) dere zeigt, zeigen auch immer Finger auf einen selbst zu- einem anderen Land angegliedert. Das ist mit der Situa- rück. Schauen Sie einmal in die Trompete hinein, um zu tion im Kosovo seinerzeit überhaupt nicht zu verglei- sehen, wessen Verstand Sie dort finden! chen. Ich bitte Sie und die Kollegen der Linken, diese Argumentation nicht zu wiederholen, weil sie nicht trägt. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Herr Kollege Grund. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. Manfred Grund (CDU/CSU): Herr Kollege Grund, der Kollege Gehrcke war von Ich schaue zuerst in die Geschäftsordnung und stelle Ihnen so beeindruckt, dass er der irrigen Auffassung war, fest, dass wir nicht nur eine Weiterentwicklung des Völ- dass Sie ihm das Wort erteilen dürfen. Das war mir ent- kerrechts haben, sondern auch eine Weiterentwicklung gangen. Deshalb wollte ich den Fehler korrigieren und der Geschäftsordnung. Eine Kurzintervention kann sich habe eine Ausnahme von der Geschäftsordnung ge- immer nur auf den Redebeitrag beziehen, der unmittel- macht. bar zuvor gehalten worden ist; es darf nicht noch ein an- derer Redner dazwischen gewesen sein. Aber wir wollen (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – jetzt darüber hinwegschauen. Michael Brand [CDU/CSU]: Wir sind ja nicht in Russland! – Manuel Sarrazin [BÜND- (Zuruf des Abg. Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/ NIS 90/DIE GRÜNEN]: Deeskalation! Sehr DIE GRÜNEN] – Heiterkeit) gut! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Herr Kollege Gehrcke, wer die Situation seinerzeit im Gut, dass das hier möglich ist! – Heiterkeit) Kosovo mit der Situation jetzt auf der Krim vergleicht, Ich schließe die Aussprache. der vergleicht Äpfel mit Birnen; das ist etwas fundamen- tal anderes. Im Kosovo hat es einen Völkermord gege- Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungs- ben. Der Auftrag der Völkergemeinschaft an die Verein- antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/853. Wer ten Nationen ist, Völkermord zu verhindern und alle stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt Möglichkeiten, alle juristischen und alle diplomatischen dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Damit ist dieser An- Möglichkeiten, zu nutzen, um Völkermord aufzuhalten. trag gegen die Stimmen der Linken abgelehnt worden. 1780 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Das Berichtsjahr 2013 war für unsere Soldatinnen (C) und Soldaten ein Jahr des Umbruchs. Die Neuausrich- Beratung der Unterrichtung durch den Wehr- tung der Bundeswehr stellte die neue Struktur neben die beauftragten bisherige. In der Praxis bedeutete das: Trotz erheblicher Jahresbericht 2013 (55. Bericht) Reduzierung des Personals mussten beide Strukturen un- ter der vollen Belastung der Einsätze ausgefüllt werden. Drucksache 18/300 Hinzu kam die Verunsicherung vieler Soldatinnen und Überweisungsvorschlag: Soldaten und ihrer Familien, aber auch vieler Zivilbe- Verteidigungsausschuss (f) schäftigter über die Frage, ob, wo und in welcher Ver- Auswärtiger Ausschuss wendung sie künftig ihren Platz in der sogenannten Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz neuen Bundeswehr finden werden. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ich erwähne übrigens die Zivilbeschäftigten an dieser Entwicklung Stelle, weil die Verlagerung von Zuständigkeiten der Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Bundeswehrverwaltung in die Bereiche der Innen- und die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- Finanzverwaltung zu massiven Verzögerungen bei der nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Bearbeitung der Beihilfe- und Versorgungsanträge führte und darüber hinaus auch verfassungsrechtliche Fragen Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie jetzt ganz zur zukünftigen parlamentarischen Kontrolle dieser Be- schnell die Plätze wechseln, dann könnte ich die Aus- reiche aufwirft, die sich aus meiner Sicht bisher noch sprache auch eröffnen. – Ich eröffne die Aussprache. nicht abschließend beantworten lassen. Ich will nicht Das Wort hat der Wehrbeauftragte des Deutschen Bun- über die Frage reden, ob die besonderen Rechte des Ver- destages, Hellmut Königshaus. teidigungsausschusses durch diese Verlagerung berührt (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und sind; das wird sicherlich das Parlament selbst beantwor- der SPD) ten. Rechte des Wehrbeauftragten sind allerdings sehr wohl betroffen; denn insbesondere Auskunfts- und Be- suchsrechte hat er nur unmittelbar gegenüber Dienststel- Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deut- len aus dem Bereich der Bundesministerin der Verteidi- schen Bundestages: gung. Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Es ist bemerkenswert, dass sich Im Bereich der Streitkräfte gibt der Verlauf der Neu- (B) das Hohe Haus schon so kurz nach der abschließenden ausrichtung durchaus noch immer Anlass zur Sorge, zu (D) Beratung des Jahresberichts 2012 mit dem Jahresbericht der Sorge nämlich, dass eine nachhaltige Verbesserung 2013 befasst. Das ist ein wirklich gutes Signal an die der Einsatzfähigkeit, Finanzierung und Attraktivität der Soldatinnen und Soldaten und auch an ihre Familien. Es Streitkräfte nicht erreicht werden kann, wenn nicht nach- zeigt, dass die Abgeordneten des Deutschen Bundesta- gesteuert wird. Trotz der bisher erfolgten Umstrukturie- ges nicht nur Belastungen beschließen, sondern sich rung steht die Bundeswehr mit den laufenden Einsätzen auch mit den Folgen für die Truppe, für die Soldatinnen personell und materiell nach wie vor an den Grenzen und Soldaten, übrigens auch für die Zivilbeschäftigten, ihrer Leistungsfähigkeit. Operativer Bedarf und struktu- befassen wollen. Es gibt eine ganze Reihe von Heraus- relle Ausplanung klaffen auf absehbare Zeit weiter deut- forderungen, denen sich die Angehörigen der Bundes- lich auseinander. Der Jahresbericht geht darauf ausführ- wehr stellen müssen. Deshalb ist das besonders wichtig. lich ein. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich nenne in diesem Zusammenhang hier nur einige Die Herausforderungen, meine Damen und Herren, besonders kritische Bereiche wie den Lufttransport und sind immens. Das schlägt sich auch in den Eingaben, die den Luftumschlag, die Flughafenfeuerwehr, den Flug- uns erreichen, immer wieder nieder. Mit knapp verkehrskontrolldienst sowie die Flugberatung bei der 5 100 Zuschriften erreicht die Eingabenquote im Be- Luftwaffe. In der Marine ist es ein offenes Geheimnis, richtsjahr einen absoluten Höchststand, gemessen an der dass die Besatzungen der Schiffe und Boote im Einsatz Kopfzahl der Soldatinnen und Soldaten. Gegenstand der nur unter Rückgriff auf die letzten Reserven auch in Stä- Eingaben waren schwerpunktmäßig Probleme in den Be- ben und Dienststellen zusammengestellt werden können. reichen Personalführung, Ausbildung, Einsatz, Betreu- Auch im Heer reicht das verfügbare Personal nicht aus, ung und Versorgung der Soldatinnen und Soldaten und um Einsatzkontingente unter Berücksichtigung des ihrer Familien. Übrigens, damit nicht der Eindruck ent- Grundsatzes „4 Monate Einsatz, 20 Monate Inlands- steht, das alles seien nur Sonderentwicklungen wegen dienst“ wirklich verlässlich abbilden zu können. Das der Frage der Beihilfebearbeitung: Auch in den ersten Prinzip „Breite vor Tiefe“ ist angesichts dieser Situation beiden Monaten dieses Jahres hat sich diese Quote auf meines Erachtens zu überprüfen. In der jetzigen Form dem gleichen hohen Niveau bewegt wie im vorangegan- führt es zur Überlastung insbesondere der einsatzrele- genen Jahr. Ich glaube, das sollte schon Anlass sein, die vanten Bereiche. Es bedarf daher einer Korrektur. Die angekündigte Evaluierung der Neuausrichtung umge- für dieses Jahr vorgesehene Evaluierung der Neuausrich- hend anzugehen, um den eingeschlagenen Kurs der Um- tung wird dies erweisen und bietet auch eine gute Grund- strukturierung der Streitkräfte zum Erfolg zu führen. lage und Gelegenheit dafür. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1781

Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus (A) Ein besonderer Schwerpunkt liegt auch in diesem Für Offiziere wurde diese Gerichtsentscheidung im (C) Jahr beim Thema „Vereinbarkeit von Familie und Auswahlverfahren 2013 bereits berücksichtigt. Das Aus- Dienst“. Jenseits aller Entbehrungen, die der Beruf des wahlverfahren für Feldwebel dagegen wurde im Be- Soldaten unvermeidbar mit sich bringt, muss der Dienst richtsjahr zunächst ausgesetzt und auf das laufende Jahr so gestaltet werden, dass er auch ein befriedigendes Fa- verschoben. Das ist bei den betroffenen Bewerbern milienleben zulässt. Dazu bedarf es natürlich mehr als nachvollziehbar auf Unverständnis gestoßen. Je mehr bloßer Bekenntnisse, so unter anderem auch der Bereit- sich das Auswahlverfahren verzögert, desto größer ist schaft, zusätzliche finanzielle Mittel für diese Aufgaben die Gefahr, dass sich die besten Bewerberinnen und Be- zur Verfügung zu stellen. Ich bin froh, dass Sie, Frau werber beruflich bereits anderweitig orientiert haben Bundesministerin, die Verbesserung der Vereinbarkeit oder dass sie persönliche Nachteile erfahren, auch wenn von Familie und Dienst zu einem Schwerpunkt Ihrer Ar- sie in der Bundeswehr bleiben. beit machen wollen. Dieses Signal ist bei den Soldatin- nen und Soldaten und vor allem bei ihren Familien gut Schwer tut sich die Bundeswehr auch mit der Umset- angekommen. Sie erwarten nun allerdings, dass Verbes- zung der europäischen Arbeitszeitrichtlinie. Schon bei serungen in diesem Bereich unmittelbar und konkret den zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern konnte spürbar werden. Ich hoffe, Frau Ministerin von der der Ausgleich für mehr geleisteten Dienst personell nicht Leyen, dass Sie auf diesem Gebiet tatsächlich klare Li- oder nur schwer kompensiert werden, sodass einzelne nie halten. Arbeitsbereiche vorübergehend stillgelegt werden muss- ten, etwa die Flughafenfeuerwehr. Dem Grunde nach gilt Ein wesentliches Thema war im vergangenen Jahr die die Arbeitszeitrichtlinie nach meiner Auffassung auch Situation der Frauen in der Bundeswehr. Beunruhigende für Soldatinnen und Soldaten, sodass eine Umsetzung in Meldungen über sexuelle Übergriffe haben deren Situa- diesem Bereich unausweichlich ist. Es macht keinen tion stärker in das Blickfeld gerückt. Jenseits der gravie- Sinn, davor die Augen zu verschließen. Je eher sich die renden Fälle, über die in den Medien berichtet wurde, Bundeswehr, aber auch das Parlament mit den personel- klagten zahlreiche Soldatinnen über frauenspezifische len und finanziellen Folgen einer entsprechenden Um- Diskriminierung. Sie bestätigten damit die inzwischen setzung beschäftigt, desto besser wird darauf reagiert veröffentlichte Studie „Truppenbild ohne Dame?“. Im werden können. Ich sage auch – ich weiß nicht, ob Herr Gespräch mit Betroffenen wurde deutlich, dass oftmals Kampeter heute anwesend ist –: Kostenneutralität steht Hemmungen bestehen, Mobbing, sexuelle Belästigun- dabei nicht in Aussicht. gen oder sogar sexuelle Übergriffe zu melden. – Das hat übrigens dazu geführt, dass auch bei mir ein falscher Ein letztes Stichwort: Sanitätsdienst. Erhebliche Sor- Eindruck entstanden ist. Manche meiner Stellungnah- gen bereitet nach wie vor die sanitätsdienstliche Versor- (B) men würde ich heute so nicht mehr abgeben. – Dies gung. Ohne einen massiven Rückgriff auf zivile Kapazitä- (D) wurde im Gespräch, aber auch aufgrund der Diskussion ten ist die Versorgung heute nicht mehr sicherzustellen. in der Öffentlichkeit deutlich. Als Gründe für die Zu- Deshalb gibt es eine immer engere Kooperation zwi- rückhaltung, dies zu melden, wurde vorwiegend die schen zivilen und militärischen Bereichen. Allerdings Furcht vor negativen Auswirkungen auf die eigene Beur- darf dabei der militärische Versorgungsauftrag nach mei- teilung und mögliche Laufbahnnachteile genannt. Alle ner Auffassung nicht aus dem Blick verloren werden. Vorgesetzten bleiben daher aufgefordert, frauenfeindli- Ich habe den Eindruck, dass vielfach die Fragen der chen Tendenzen konsequent entgegenzutreten und verlo- Wirtschaftlichkeit den eigentlichen Daseinszweck des renes Vertrauen in ein kameradschaftliches Miteinander Sanitätsdienstes mehr und mehr überlagern. Das darf zurückzugewinnen. nicht sein. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich sehe, dass ich meine Zeit schon überschritten habe, und möchte Ihnen an dieser Stelle für Ihre Auf- Meine Damen und Herren, die Auswirkungen der merksamkeit danken. Aber wenn Sie erlauben, Frau Prä- Veränderungen durch die Neuausrichtung brachten es sidentin, möchte ich noch einen besonderen Dank an mit sich, dass die Personalführung noch stärker ins meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter richten, die Blickfeld geriet; das versteht sich von selbst. Aber auch wirklich Großartiges geleistet haben. Wir hatten nicht die rechtlichen Rahmenbedingungen brachten erhebliche nur eine hohe Zahl von Eingaben, sondern eben auch Veränderungen. Bei den Auswahlverfahren zur Über- sehr komplizierte und konkrete Fragen zu klären. Diese nahme von Soldatinnen und Soldaten in das Dienstver- Arbeit ist auf großartige Art und Weise geleistet worden. hältnis einer Berufssoldatin bzw. eines Berufssoldaten Das Gleiche gilt natürlich für unsere Ansprechpartner in wurden Geburtsjahrgänge bisher immer getrennt be- den Ministerien, in den militärischen Organisationen trachtet. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in einer und auch im Parlament. Wenn Sie erlauben, richte ich an Grundsatzentscheidung zu Recht als unzulässig verwor- dieser Stelle meine Grüße auch an alle Soldatinnen und fen, weil Eigenleistung und Befähigung nicht unbedingt Soldaten im Einsatz. Nochmals ganz herzlichen Dank! im Zusammenhang mit Jahrgängen zu sehen sind. Es gibt auch Menschen älterer Jahrgänge, die durchaus eine Vielen Dank. Leistungsfähigkeit erbringen, die bei Jüngeren vergeb- lich gesucht wird. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) geordneten der LINKEN) 1782 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

(A) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: die besondere Situation der Soldatinnen und Soldaten. (C) Vielen Dank, Herr Kollege Königshaus. – Ich habe Es bedarf immer Ideen und Bemühungen für jede Art Ihnen die Zeit für diesen Dank gerne gewährt. Bevor ich von Verbesserung und kluger Planung, damit wir in die- der nächsten Rednerin das Wort erteile, möchte ich Ih- ser besonderen Situation das Beste für die Soldatinnen nen und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Na- und Soldaten ermöglichen. men des ganzen Hauses für die Vorlage des Jahresbe- Bei Auslandseinsätzen besteht die grundsätzliche Re- richts 2013 ganz herzlich danken. gel 4/20, die alle kennen, also im Grundsatz 4 Monate (Beifall im ganzen Hause) Einsatz und 20 Monate der Vor- und Nachbereitung so- wie der Regeneration. Tatsache ist aber, dass wir das Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Dr. Ursula nicht immer einhalten. von der Leyen. (Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) GRÜNEN]: Das stimmt!)

Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der Bei der großen Mehrheit der Einsätze, bei weit mehr als Verteidigung: 75 Prozent, funktioniert das. Aber in bestimmten Teilen der Truppe, vor allen Dingen, wenn Spezialisierung und Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr hohe Qualifizierung gefordert sind, spüren wir den Man- Königshaus! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor gel an Personal und vor allem den Fachkräftemangel, wir in die Debatte eintreten, möchte ich vorwegstellen, den in Bezug auf genau diese Komponenten inzwischen dass der Jahresbericht des Wehrbeauftragten 2013 wie auch die deutsche Wirtschaft und der deutsche Mittel- jeder Jahresbericht ein Ergebnis langer Recherchen, vie- stand spüren. ler Mühen und verantwortlicher Bewertung ist. Deshalb, Herr Königshaus, möchte auch ich Ihnen und Ihren Mit- Das moderne Gesicht der veränderten Bundeswehr arbeiterinnen und Mitarbeitern für diesen Einsatz dan- beinhaltet, dass wir Einsätze niemals alleine, sondern ken. Wir alle wissen aus der Erfahrung der vergangenen immer unter dem Dach der Vereinten Nationen, der EU Jahre – ich merke es auch jetzt im neuen Amt –, dass Ih- oder der NATO leisten, also mit geteilten Fähigkeiten nen die Belange der Soldatinnen und Soldaten wirklich und immer im vernetzten Ansatz. Der Einsatz des Mili- ein Herzensanliegen sind. Ich danke für diesen Einsatz. tärs ist die Ultima Ratio. Wir wissen: Es gibt keine Ent- wicklung ohne Sicherheit. Es gibt aber eben auch keine (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Sicherheit ohne Entwicklung. bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das bedeutet für uns nach innen, dass zwar in den (B) (D) In Ihrem aktuellen Bericht werden naturgemäß Män- verschiedenen Bereichen eine Grundausstattung da sein gel genannt. Es werden aber auch Lösungsvorschläge muss, aber wir uns zunehmend auf unsere Stärken kon- unterbreitet und Verbesserungsvorschläge nicht ver- zentrieren sollten, die auch immer stärker von den Bünd- schwiegen. Auch dafür möchte ich ausdrücklich danken. nispartnern nachgefragt werden. Die Komponenten sind eben benannt worden. Da ist das weite Thema der Luft- Ich möchte auf einige Themenbereiche des Berichts unterstützung, da ist die Logistik, da ist das breite Feld eingehen. Haben Sie Verständnis dafür, dass ich nicht al- der Ausbildung, und zwar nicht nur der militärischen les abarbeiten kann. Ich möchte vor allen Dingen die Ausbildung, sondern auch der Ausbildung im Hinblick beiden wichtigsten Punkte ansprechen. Das sind einer- auf Fertigkeiten bis hin zu Pionierspezialwissen. Da geht seits die Auslandseinsätze und andererseits die Attrakti- es aber auch um die Frage der wertegebundenen Füh- vität der Bundeswehr nach innen; denn zwischen diesen rung – wie führe ich eine Armee innerhalb demokrati- beiden großen Komponenten spielt sich das zentrale scher Strukturen, wissend, dass Militär keine Politik Thema, nämlich die Herausforderung, die eine doppelte macht, sondern eine dienende Funktion hat? – und um ist, ab. das große Thema der medizinischen Versorgung und der Sanität. Sie haben eben schon ganz richtig skizziert, Herr Königshaus, dass die Bundeswehr einer Doppelbelas- Ich habe eben die Schlüsselqualifikationen nicht ab- tung ausgesetzt ist. Auf der einen Seite steht die Reform, schließend aufgeführt, aber die dominierenden genannt; ich die Neuausrichtung, die noch lange nicht abgeschlossen habe angeführt, wo die Hauptprobleme liegen. Es geht um ist; wir stecken mittendrin. Das bedeutet für viele: Um- die beruflichen Fähigkeiten von Technikern, Flugzeugprü- strukturierungen, Standortverlagerungen, neue Zustän- fern, Spezialpionieren, aber eben auch von ärztlichem Per- digkeiten, Unsicherheit auch in Bezug auf die Fragen, sonal. Dort ist die Bundeswehr besonders nachgefragt und wie es weitergeht, wie die neue Kapazität aussieht und wird die Belastung – da dürfen wir uns nichts vormachen – wann sie aufgebaut ist. Auf der anderen Seite stehen die weiterhin hoch sein, gerade im Vergleich zu anderen Trup- Auslandseinsätze. Wir wissen alle, dass die Welt nicht penteilen, in denen die Regel „4 Monate Einsatz, 20 Mo- stillsteht und Einsätze hinzukommen, so wie im letzten nate zu Hause“ gut funktioniert. Das wird ein Dauerthema Jahr im Hinblick auf die Türkei und Mali. Diese Doppel- bleiben; denn wir konkurrieren nicht nur innerhalb der belastung – Neuausrichtung und Auslandseinsätze – ver- Bündnisse um diese Fähigkeiten, die immer wieder nachge- langt von den Angehörigen der Bundeswehr viel Geduld fragt werden, sondern auch mit der gesamten Wirtschaft. und Verständnis. Sie verlangt aber auch vonseiten des Das betrifft die Berufe der Ärztinnen und Ärzte, der IT-Spe- Ministeriums und der Leitungsebene viel Verständnis für zialisten sowie technische Felder; Sie kennen sie alle. Das Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1783

Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen (A) sind genau die Bereiche, in denen die Wirtschaft inzwi- muss, dass das Thematisieren keinen Nachteil bedeutet. (C) schen den Fachkräftemangel spürt; alle stehen bei diesen Diskriminierung oder Belästigung sind keine Tabuthe- Fähigkeiten in Konkurrenz. Das bedeutet für uns: Wir men. Man muss sich nicht in die Ecke stellen und schä- müssen bei den Lösungen flexibler und kreativer wer- men, wenn man sie anspricht. Im Gegenteil: Indem man den. sie aufs Tapet bringt, kann man die Wurzel des Übels finden und damit eine Veränderung des Verhaltens in der Die Bundeswehr bietet inzwischen ein Splittingmo- Truppe herbeiführen. dell an – man würde das in der Wirtschaft wahrschein- lich Jobsharing nennen –: Einsatzdienstposten werden (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) von zwei Soldatinnen oder Soldaten besetzt. Dadurch kann die Einsatzdauer flexibler und kürzer gestaltet wer- Ein weiterer Punkt, der mir in Bezug auf das Thema den. Die Luftwaffe hat ein entsprechendes Projekt und „attraktiver Arbeitgeber“ wichtig ist, ist das Thema Ver- macht damit gute Erfahrungen. Wir werden das ganz si- wendungsaufbaumodelle. Schon allein der Begriff ist et- cher ausbauen. Eines ist aber auch klar: Mit Flexibilisierung was starr und sicherlich auch überfrachtet. Ich habe eben allein ist es nicht getan; denn viele Arbeitgeber fragen, wie darauf hingewiesen, dass die sehr verlässliche Personal- ich eben geschildert habe, diese Schlüsselqualifikationen planung eine große Stärke der Bundeswehr ist. Aber es nach. Wir müssen also als Arbeitgeber die richtigen Ant- ist eher so, dass sich die Soldatinnen und Soldaten nach worten geben. der Personalplanung richten müssen. Ich hingegen glaube, dass wir lernen müssen, vom Soldaten, von der Die Bundeswehr hat als Arbeitgeber zwei große Stär- Soldatin her zu denken und die Planung an deren Le- ken: Erstens. Sie bietet einen sicheren Arbeitsplatz; es benswirklichkeit anzupassen. Ein Beispiel wäre, die Ver- gibt keine feindlichen Übernahmen oder Konzernre- wendungslaufbahnen regional zu organisieren, damit strukturierungen, um in der Wirtschaftssprache zu spre- man nicht mehr von Pontius zu Pilatus reisen muss, um chen. eine Verwendungslaufbahn zu absolvieren. Vielmehr (Widerspruch bei Abgeordneten der LINKEN) sollte es den Soldatinnen und Soldaten ermöglicht wer- den, die Verwendung in der Region zu realisieren, in der Zweitens. Die Bundeswehr hat eine außergewöhnlich sie ihren Lebensmittelpunkt, ihre Familie haben. Bei der verlässliche Personalentwicklung wie kaum ein anderer Planung muss man vom Menschen her denken und nicht Arbeitgeber. – Das sind die großen Stärken. umgekehrt. In Ihrem Jahresbericht schreiben Sie, Herr Sie muss sich andererseits bei den Themen viel brei- Königshaus, dass die Attraktivität eine Überlebensfrage ter aufstellen, die sich hinter dem Begriff „Vereinbarkeit der Bundeswehr sei. Ich stimme Ihnen ausdrücklich zu. von Dienst und Familie“ verbergen: flexible Arbeitszeit- Ich möchte meinen Blick kurz auf das Thema „Wer- (B) modelle, selbstverständlich die Umsetzung der EU-Ar- bung von Nachwuchs bei der Bundeswehr“ richten. Die (D) beitszeitrichtlinie – wenn die Hochleistungsmedizin das Ausgangslage ist sehr gut. Für 2014 konnten wir bis geschafft hat, wenn andere kritische Berufe das geschafft heute, also 9 Monate vor Ende des Jahres, bereits haben, dann muss das auch die Bundeswehr schaffen –, 54 Prozent aller verfügbaren Stellen für Soldatinnen und mobiles Arbeiten – damit meine ich physisch unabhängi- Soldaten auf Zeit besetzen. Das ist ausgezeichnet. Auch ges, IT-gestütztes Arbeiten – und das Mitdenken von die Qualifikationen stimmen. 70 Prozent der Bewerbe- Kindern und Eltern, die gepflegt werden müssen. Das rinnen und Bewerber haben mindestens die mittlere möchte ich nicht nur auf Soldatinnen reduziert sehen; es Reife. Mehr als zwei Drittel – das finde ich ganz klasse – betrifft genauso elementar die Soldaten, die selbstver- bringen eine abgeschlossene Berufsausbildung mit. Es ständlich gute Väter für ihre Kinder sein wollen. Viel- bewerben sich also bereits qualifizierte Leute bei der leicht hat nicht jede Soldatin oder jeder Soldat Kinder; Bundeswehr. Das ist hocherfreulich. Genau da müssen aber sie alle haben Eltern. In einer Gesellschaft im de- wir weitermachen. mografischen Wandel kommt dieses Thema mit großer Geschwindigkeit auf uns zu. Wir müssen darauf Antwor- Ich möchte zum Schluss einen Aspekt herausgreifen, ten geben; sonst werden wir nicht mehr das Personal hal- der wenig Beachtung findet, aber ein Kleinod innerhalb ten können, das wir halten wollen. der Bundeswehr ist, und zwar das Thema „Bildung und Qualifikation“. Die Bundeswehr ist ein bedeutender Bil- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) dungs- und Ausbildungsträger in unserem Land, sowohl Herr Königshaus, Sie sprachen das Thema „Truppen- im militärischen als auch im zivilen Bereich. Wir können bild ohne Dame“ an, also die Stellung der Frauen in der auf einer vielfältigen Bildungs- und Qualifizierungsland- Bundeswehr. Ich glaube, etwas mehr als zehn Jahre nach schaft aufbauen, die im Vergleich zu anderen Arbeitge- der Öffnung der Bundeswehr für Frauen – am Anfang bern einzigartig ist. Mit diesem Pfund müssen wir wu- stand sicherlich auch das Interesse am Neuen und Unge- chern. Das betrifft die Themen Berufsausbildung, wöhnlichen im Raum – kommt jetzt die Phase, in der fachliche Fort- und Weiterbildung und akademischer man die Konkurrenz spürt; das ist eine Selbstverständ- Abschluss. Ich will Ihnen hierzu zwei Zahlen nennen. lichkeit. Ich finde es in dieser Zeit ganz wichtig, dieses Allein 5 000 Soldatinnen und Soldaten nehmen zurzeit Thema offen anzusprechen und zu debattieren und die an 500 unterschiedlichen Maßnahmen auf Gesellene- Truppe im Hinblick auf ihre Sprache und ihre Umgangs- bene oder auf Meisterebene teil. Allein 4 500 Studentin- formen zu sensibilisieren. Es dürfen keine Nachteile da- nen und Studenten werden in 55 unterschiedlichen Stu- raus entstehen, dass man dies zum Thema macht. Hier diengängen ausgebildet, um ihren Masterabschluss zu bedarf es ganz klar der Führung, die deutlich machen machen. Die Bundeswehr bildet gewissermaßen eine 1784 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen (A) ganze Ausbildungs- und Universitätslandschaft im Klei- die diese Einsätze zu Recht ablehnt. Der gesamte Umbau (C) nen ab. Das ist ein riesiger Marktvorteil, den wir weiter der Bundeswehr wird sogar auf dem Rücken der Solda- ausbauen wollen. tinnen und Soldaten und ihrer Familien ausgetragen. Das ist die Realität, die einem ins Auge springt, wenn man Ich möchte noch einige Bereiche kurz antippen, in de- den Bericht des Wehrbeauftragten liest. nen wir besser werden können; wir haben zwar den Marktvorteil, aber den wollen wir auch behalten. Solda- (Beifall bei der LINKEN) tinnen und Soldaten erwerben im Dienst viele Kompe- Frau von der Leyen, Sie haben von einem „sicheren tenzen und Qualifikationen. Warum zertifizieren wir Arbeitsplatz“ bei der Bundeswehr gesprochen. Erstmalig diese nicht für den Zivilberuf? Erhält man ein Zertifikat seit zwei Jahren ist wieder ein Soldat in einem Feuerge- über das, was man bei der Bundeswehr gelernt hat, dann fecht in Afghanistan gestorben. Das ist tragisch. eröffnen sich im Anschluss beim Übergang in den zivi- Schlimm ist auch, wenn Soldatinnen und Soldaten mit len Beruf viel größere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. psychischen Störungen und traumatisiert nach Hause zu- Mit Blick auf unseren Binnenarbeitsmarkt fragt man rückkehren. Es geht um Depressionen, um Alkoholab- sich: Warum nutzen wir solche Zertifikate nicht viel stär- hängigkeit und um PTBS, Posttraumatische Belastungs- ker bei Soldatinnen und Soldaten auf Zeit, um sie in jene störungen. 2006 wurden 83 Soldaten mit PTBS in zivile Berufe zu übernehmen, in denen genau ihre Quali- Bundeswehrkrankenhäusern behandelt, 2013 waren es fikation nachgefragt wird? Die Bildungseinrichtungen, laut Bericht bereits 1 500 – Tendenz: stark zunehmend. die ich eben genannt habe, sind vom Feinsten. Wieso Dazu kommen jene, die privat in Therapie sind, und jene öffnen wir sie eigentlich nicht für alle Angehörigen der Fälle, die gar nicht erkannt werden. Selbst das zur Bun- Bundeswehr? Lebenslanges Lernen und Aufstiegsquali- deswehr gehörende Psychotraumazentrum in Berlin geht fizierung sind die Schlüsselkompetenzen, die eine Ge- davon aus, dass ein Viertel der Soldatinnen und Solda- sellschaft im demografischen Wandel braucht. Die Bun- ten, die zurückkommen, unter einsatzbedingten psychi- deswehr braucht sie genauso. schen Störungen leidet. Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Wir haben in der Es ist traurig, aber 15 Jahre systematische Ausrich- Bundeswehr alle Möglichkeiten. Nutzen wir sie! tung der Bundeswehr auf internationale Einsätze haben Vielen Dank. PTBS zu einer in Deutschland verbreiteten Krankheit gemacht. Insgesamt waren allein in Afghanistan 160 000 (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) deutsche Soldaten im Einsatz. Es gibt heute kaum einen Ort in Deutschland, in dem keine Familien leben, die da- von betroffen sind. PTBS-Kranke leiden zum Beispiel (B) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: unter Schlaflosigkeit. Schlüsselreize wie Hitze oder (D) Vielen Dank. – Das Wort hat Christine Buchholz, Rauch, die an die traumatisierenden Erfahrungen im Fraktion Die Linke. Krieg erinnern, können Wutattacken auslösen. Kinder, (Beifall bei der LINKEN) Freunde, Partnerinnen und Partner, sie alle bekommen tagtäglich die Auswirkungen zu spüren. Die Scheidungs- raten bei Heimkehrern liegen in einzelnen Einheiten bei Christine Buchholz (DIE LINKE): bis zu 80 Prozent. Der NATO-Einsatz in Afghanistan hat Frau Präsidentin! Herr Königshaus! Meine Damen Zehntausenden Afghanen das Leben gekostet; aber die- und Herren! Der Jahresbericht 2013 des Wehrbeauftrag- ser Krieg macht auch Soldaten und ihre Familien krank. ten verdeutlicht vor allen Dingen eines: Wenn Frau von Dieses Problem muss endlich in all seiner Schärfe aner- der Leyen sagt, der Mensch müsse im Mittelpunkt ste- kannt werden. hen – das haben Sie zumindest zum Ende Ihrer Rede ge- (Beifall bei der LINKEN) sagt –, dann hat das mit der Realität in der Bundeswehr allzu oft nichts zu tun. Umgerechnet auf die Personal- Das Problem wird sich verstärken, wenn Ende des stärke haben 2013 mehr Soldaten als je zuvor über Miss- Jahres eine größere Zahl aus Afghanistan zurückkehrt; stände geklagt. Das ist eine schallende Ohrfeige für den denn aus der Erfahrung vergangener Kriege weiß man, abgetretenen Verteidigungsminister de Maizière. Ich dass viele psychische Erkrankungen erst später auftau- füge hinzu: Die ersten Initiativen von Frau von der chen. Aber was macht die Bundesregierung? Sie ver- Leyen lassen Zweifel aufkommen, dass sich an diesem schärft das Problem weiter. Sie verweigert sich einer Zustand etwas ändern wird. ehrlichen Bilanz von zwölf Jahren Krieg in Afghanistan. Sie hält weiter über 3 000 Soldatinnen und Soldaten in (Beifall bei der LINKEN – Michael Brand [CDU/ Afghanistan. Von einem echten Abzug kann keine Rede CSU]: Sie reden immer alles schlecht!) sein. Die Bedrohungslage im Norden wird teilweise im- Die Bundeswehr ist keine Verteidigungsarmee mehr. mer noch als erheblich eingeschätzt; trotzdem wird das Sie wird zu einer global agierenden Interventionsarmee immer wieder vom Tisch gewischt. ausgebaut. Allein im Berichtsjahr 2013 kamen Einsätze Der nächste Bundeswehreinsatz in einem Bürger- im Senegal, in Mali und in der Türkei hinzu. Dabei wird kriegsland steht vor der Tür. Heute noch wird im Bun- nicht nur die Mehrheit unserer Bevölkerung ignoriert, destag über die Entsendung von Soldaten nach Mogadi- schu in Somalia diskutiert. ( [CDU/CSU]: Das zeigt ja Ihr Wahlergebnis!) (Henning Otte [CDU/CSU]: Wie viele denn?) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1785

Christine Buchholz (A) Wer im Bundestag solche Entsendungsbeschlüsse fällt, Arztbesuche verzichtet, aus Angst, die Kosten nicht (C) ist mitverantwortlich für die Traumatisierten von mor- begleichen zu können. gen. Hören Sie endlich auf damit! Nein, meine Damen und Herren, bei der Bundeswehr (Beifall bei der LINKEN – Henning Otte [CDU/ stehen nicht die Menschen im Mittelpunkt, sondern die CSU]: Unverantwortlich!) geostrategischen Interessen Deutschlands. Das ist die Wahrheit. Man sollte meinen, die psychisch erkrankten Soldaten würden nach ihrer Heimkehr wenigstens vernünftig be- (Beifall bei der LINKEN) handelt. Das ist aber beileibe nicht der Fall. Im Bericht Was einen so maßlos ärgert, ist, wie hier mit zweierlei wird das Einsatz-Weiterverwendungsgesetz erwähnt. Es Maß gemessen wird: 60 000 Soldatinnen und Soldaten verpflichtet die Bundeswehr seit 2012, Soldaten ab ei- nem einsatzbedingten Schädigungsgrad von 30 Prozent warten auf Geld, das ihnen zusteht. Doch der Rüstungs- weiterzubeschäftigen. Erkrankte bekommen somit eine betrieb MTU bekam im Dezember letzten Jahres mal berufliche Perspektive, können eine Therapie machen eben 55 Millionen Euro per Eilüberweisung aus dem oder eine weitere Ausbildung. Das ist eine Verbesserung. Verteidigungsministerium, ohne dass, wie vorgeschrie- Doch das Problem liegt in der Umsetzung. Viele Verfah- ben, der Bundestag konsultiert wurde. Wofür erhielt ren landen vor dem Gericht, weil die Bundeswehr die MTU 55 Millionen Euro? Für Eurofighter-Triebwerke, Ansprüche einfach nicht anerkennen will. Viele Soldaten die nie gebaut wurden; denn die Kosten für den Euro- mit PTBS müssen mit der Bundeswehr erst mühsam um fighter sind derart explodiert, dass die Bestellung redu- jedes Detail ringen. Das ist unwürdig. ziert werden musste. Nun kommt auch noch Airbus und will 900 Millionen Euro für dieselben nie gebauten (Beifall bei der LINKEN) Eurofighter haben. Ich sage: Das Geld, das so bei der Noch schwieriger ist es für die Soldatinnen und Sol- Aufrüstung verpulvert wird, fehlt im Land für Kitas, daten, bei denen die psychischen Störungen erst nach Krankenhäuser und die Versorgung der Soldatinnen und dem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst auftreten. Für Soldaten. sie – ich zitiere den Wehrbeauftragten – „bietet der (Beifall bei der LINKEN) Dienstherr … lediglich Informationen und Kontakt- adressen in Merkblättern über das Internet an.“ Merk- Bei dieser Gelegenheit, meine Damen und Herren, blätter im Internet zu PTBS – meine Damen und Herren, muss ich noch zwei aktuelle Themen ansprechen. das ist zynisch. (Henning Otte [CDU/CSU]: Auch das noch!) (Beifall bei der LINKEN) Der erste Punkt betrifft die nächste Aufrüstungsrunde. (B) Herr Königshaus stellt dazu nüchtern fest, dieses Ange- Das Bundesverteidigungsministerium hat im Januar die- (D) bot genüge nicht der Fürsorgepflicht des Dienstherrn. ses Jahres einen weiteren wichtigen Auftrag erteilt, um Das ist richtig. Man bekommt den Eindruck, es gehe da- den Weg zur Beschaffung der US-Drohne Predator B rum, den Soldaten den Weg zu einer Therapie zu er- freizumachen. Nicht, dass die Abgeordneten im Verteidi- schweren, um die Folgekosten der Einsätze zu minimie- gungsausschuss darüber informiert worden wären – erst ren. Ich sage: Hier geht es um das Schicksal von aus dem Spiegel haben sie davon erfahren. Menschen, von Familien. Dafür muss Geld bereitstehen (Henning Otte [CDU/CSU]: Waren Sie gestern und nicht für immer neue Waffensysteme. nicht im Ausschuss?) (Beifall bei der LINKEN) Dann schob das Ministerium hastig eine Erklärung nach. Dieses Bild zieht sich durch den Jahresbericht des Frau von der Leyen, wo ist Ihre Initiative für Transpa- Wehrbeauftragten. Hier ein paar Schlaglichter: Sanitäts- renz geblieben? ärztliche und medizinische Betreuung weisen – Zitat – Um es klar zu sagen: Diese Drohne wird Unmengen „erhebliche Mängel“ auf. Dienstposten der Bundeswehr, an Geld verschlingen, das an anderer Stelle dringend ge- an die Eingaben bei Missständen gerichtet werden kön- braucht würde. Es handelt sich bei dem Typ um eine nen, sind – Zitat – „in weiten Bereichen“ nicht besetzt. Drohne, die bis zu 1 300 Kilogramm an Raketen tragen Darüber hinaus ist die Bundeswehr nicht bereit, Dienst- und abschießen kann. Mit anderen Worten: Offensicht- posten auszuschreiben, um das Problem der Familien- lich werden hier die Weichen für die Beschaffung von trennung durch Standortversetzungen zu reduzieren. Kampfdrohnen gestellt, auch wenn es offiziell noch Bei der Beihilfe gibt es einen Rückstau von 60 000 heißt, der Auftrag würde keinerlei Vorentscheidung zur Anträgen. Beihilfeberechtigte mussten bei Arzt- und Be- Beschaffung von Kampfdrohnen sein. Ich bin gespannt, handlungskosten in Vorleistung treten, in einzelnen Fäl- ob die SPD ihrer Ankündigung aus den Koalitionsver- len mit Summen in Höhe von 20 000 Euro. Das trifft vor handlungen Taten folgen lässt. Bitte tun Sie das! Denn allen Dingen die, die besonders auf die Fürsorgepflicht wir können keine Kampfdrohnen gebrauchen. des Dienstherrn angewiesen sind: chronisch Kranke oder (Beifall bei der LINKEN) Krebspatienten. Der Wehrbeauftragte schreibt: Diese Drohnen haben auch nichts mit dem Schutz der ei- Ein Petent berichtete weinend am Telefon, er habe genen Soldatinnen und Soldaten zu tun, wie manche be- bereits seine Kinder um Geld bitten müssen und ih- haupten, nen nichts zum Geburtstag schenken können. Auch wurde nach Angabe von Petenten auf notwendige (Henning Otte [CDU/CSU]: Aber natürlich!) 1786 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Christine Buchholz (A) sondern ausschließlich mit der Fähigkeit, selbst an zu- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Ingo (C) künftigen Drohnenkriegen teilzunehmen. Das lehnt die Gädechens [CDU/CSU]) Linke entschieden ab. (Beifall bei der LINKEN) Heidtrud Henn (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Der zweite Punkt ist der Parlamentsvorbehalt für Wehrbeauftragter! Sehr geehrte Frau Ministerin! Liebe Auslandseinsätze, den die Union aufweichen möchte. Kolleginnen und Kollegen! Die Medien haben nach der Frau Nahles hat in den Koalitionsverhandlungen wört- Übergabe des 55. Jahresberichtes des Wehrbeauftragten lich gesagt: „Am Parlamentsvorbehalt wird nicht gerüt- an den Bundestagspräsidenten vor allem die Nachricht telt.“ Aber warum stimmen Sie dann der Einsetzung ei- verbreitet, noch nie seien so viele Eingaben beim Wehr- ner Kommission zu, die genau das zum Inhalt hat? beauftragten eingegangen wie im Berichtszeitraum Offenbar ist die SPD ganz einverstanden damit, Parla- 2013. Ich freue mich nicht über die aufgezeigten Pro- mentsrechte einzuschränken, um Auslandseinsätze im bleme. Ich danke aber allen Soldatinnen und Soldaten, Rahmen von Bündnisverpflichtungen zu erleichtern. die die Mühe und den Mut auf sich genommen haben Aber auch wenn es um den Einsatz von Soldaten in und auf Schwierigkeiten aufmerksam gemacht haben. NATO-Stäben, den Einsatz von AWACS-Flugzeugen Ihr Recht auf Anrufung des Wehrbeauftragten ist ein ho- oder den Einsatz von Spezialkräften geht: Wir wollen hes Gut, auf das sich die Soldatinnen und Soldaten ver- nicht weniger, sondern mehr Parlamentsrechte. lassen können. Gleich zu Beginn möchte ich deshalb be- (Beifall bei der LINKEN) tonen, dass dafür Sorge getragen werden muss, dass Petenten keine Angst vor einer Benachteiligung durch Ganz nebenbei: Im Interesse von Soldaten und Solda- die Anrufung des Wehrbeauftragten haben. tinnen ist das auch; denn wenn Auslandseinsätze nicht mandatiert werden, hat das Folgen für die soziale Ver- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Henning sorgung von Soldatinnen und Soldaten. Zudem greifen Otte [CDU/CSU]) manche private Lebensversicherungen nur, wenn ein Sehr geehrter Herr Königshaus, Ihnen und Ihren Mit- Einsatz mandatiert ist. Aber auch hier das gleiche Bild: arbeiterinnen und Mitarbeitern danke ich dafür, dass Sie Die Große Koalition will die Hürden für Auslandsein- sich um jeden einzelnen Menschen hinter der Zahl von sätze senken, aber die sozialen Interessen der Soldaten- insgesamt 5 095 Eingaben gekümmert haben, und auch familien sind das Letzte, woran Sie denken. dafür, dass Sie sich bei Ihren zahlreichen Besuchen ein (Henning Otte [CDU/CSU]: Das glaubt Ihnen eigenes Bild von der Lage der Truppe machen. doch niemand!) (B) (Beifall bei der SPD) (D) Frau von der Leyen, Ihr positives Bild hat Kratzer be- kommen. Auch wenn Sie über die Bildung, dieses Danke, dass Sie den Soldatinnen und Soldaten dienen, Kleinod, reden, hinterlässt das mehr Fragezeichen als deren Anwalt sind und dass Sie uns die parlamentarische Ausrufungszeichen. Es besteht eine riesige Kluft zwi- Kontrolle der Streitkräfte möglich machen. schen der Realität und dem, was die Bundeswehr in ihrer Dass Sie und Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Imagekampagne jungen Leuten verspricht. Wenn wir Eingaben nicht zügig bearbeiten konnten, weil zustän- schauen, was der Bericht zu den Themen Bildung und dige Dienstposten nicht besetzt waren, ist nicht zu ak- Ausbildung sagt, dann lesen wir über die Unzufrieden- zeptieren. Hier sind wir Parlamentarier gefragt. Auf die heit mit der Beförderungssituation in der Bundeswehr. versprochene Abhilfe müssen Sie sich verlassen können. Wie sieht es also mit den Karrierechancen aus? Zahlrei- che Soldatinnen und Soldaten beklagen, dass sie unzu- In Ihrem Vorwort, Herr Königshaus, danken Sie den treffende oder gar keine Dienstzeugnisse erhalten haben. 20 000 Soldatinnen und Soldaten und Reservisten für Zudem werden organisatorische und fachliche Mängel deren Leistung bei der Bekämpfung des Hochwassers. im Bereich der zivilberuflichen Aus- und Weiterbildung Dem schließen wir uns an. Diese Leistung für die Bürge- beklagt. rinnen und Bürger, gemeinsam mit den zivilen Kräften, darf nicht vergessen werden. Sie hat ganz konkret die Anstatt millionenschwere Imagekampagnen zu be- Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit der Bun- zahlen und die Bundeswehr in Schulen zu schicken, soll- deswehr gezeigt. ten Sie das Geld besser für soziale Belange ausgeben. Aber für die Linke ist das Wichtigste: Beenden Sie die Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, Sie können sich Auslandseinsätze! Holen Sie die Soldatinnen und Solda- darauf verlassen: Wir werden Ihren Bericht und die Stel- ten nach Hause, besser heute als morgen, und schicken lungnahmen des Verteidigungsministeriums dazu sehr Sie sie nicht in neue Einsätze! aufmerksam lesen, prüfen und gemeinsam mit Ihnen, den Verbänden und allen Beteiligten nach Verbesserun- Vielen Dank. gen und Lösungen suchen. (Beifall bei der LINKEN) Es ist beeindruckend, dass sich viele Betroffene auf die neue Situation eingestellt und eingelassen haben. Die Vizepräsidentin Ulla Schmidt: von Ihnen beschriebenen Umbrüche durch die Neuaus- Für die SPD-Fraktion spricht jetzt Kollegin Heidtrud richtung der Bundeswehr und deren zukünftiger Struktur Henn. werden in diesem Jahr evaluiert werden. Klar ist: Wir Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1787

Heidtrud Henn (A) haben noch viel zu tun auf dem Weg zur neuen Bundes- sorgung der Soldatinnen und Soldaten orientieren. Wer (C) wehr. krank ist, wer verwundet ist, muss sich darauf konzen- trieren können, gesund zu werden. Dafür muss alles ge- Wir sind wegen der Aussetzung der Wehrpflicht da- tan werden; auch das sind wir unseren Soldatinnen und rauf angewiesen, dass junge Menschen zur Bundeswehr Soldaten schuldig. finden. Junge Menschen sind kritisch bei der Wahl des Berufes, und der soldatische Dienst verlangt Mühe und Es ist ein Fortschritt, dass über Posttraumatische Be- Einsatz. In unserem Koalitionsvertrag haben wir ver- lastungsstörungen mittlerweile offen gesprochen wird. sprochen, die Attraktivitätsoffensive für die Streitkräfte Der Wehrbeauftragte berichtet von insgesamt 1 500 voranzutreiben. Hier helfen keine kosmetischen Maß- – davon 200 neuen – Fällen. Da ehemalige Zeitsoldaten nahmen, hier nutzt, um eines der Fallbeispiele aus dem nicht erfasst werden, weil sie sich in zivilen Einrichtun- Bericht des Wehrbeauftragten aufzugreifen, kein neuer gen behandeln lassen, haben wir kein genaues Bild vom Anstrich auf einer verschimmelten Wand. Ohne eine Leid der Einsatzrückkehrenden und deren Angehörigen. gute Ausstattung insgesamt kann die Bundeswehr nicht Über die Ansprüche ausgeschiedener Soldatinnen und attraktiv sein. Hier wollen und werden wir anpacken. Soldaten und die Einsatz- und Beschädigtenversorgung Eine gute Bundeswehr braucht eine gute Infrastruktur. müssen wir intensiv beraten. Wer dem Land dient, muss Das kostet Geld – freilich –, und das Geld muss sinnvoll erwarten können, dass er aufgefangen wird, wenn er verteilt werden. krank an Körper und Seele wird. Kostenlos ist allerdings ein ordentlicher Umgangston. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wenn es hier zu Fehlverhalten von Vorgesetzten kommt, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE ist das nicht akzeptabel, GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Herr Königshaus, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- in Ihrem Bericht die Arbeit der Militärseelsorge so aner- NEN]) kennend erwähnen. Militärseelsorge wirkt nicht nur in schon gar nicht in einer Bundeswehr, die auf Freiwillige Zeiten größter Not. Sie leistet mit ihren großen Angebo- angewiesen ist. Es ist schlimm, wenn wegen schlechten ten zwischen Freizeitaktivitäten, ethischer Orientierung, Führungsverhaltens junge Soldatinnen und Soldaten der theologischem Diskurs und Unterstützung im Einsatz Bundeswehr den Rücken kehren. Ein attraktiver Arbeit- ebenfalls einen wichtigen Beitrag für einen attraktiven geber schätzt und unterstützt die Männer und Frauen, die Arbeitgeber Bundeswehr. für ihn arbeiten. (Michael Brand [CDU/CSU]: Sehr richtig!) (B) Die „neue Bundeswehr“ braucht natürlich Frauen. Es ist wichtig, dass sich die Soldatinnen und Soldaten (D) Die gewinnen wir nicht, wenn Diskriminierung, Sexis- Militärgeistlichen anvertrauen können. Ich bin froh da- mus, Mobbing und sexuelle Belästigung nicht mit allem rüber, dass der Wehrbeauftragte keine Beschwerden im Nachdruck bekämpft werden. Von einem modernen Ar- Hinblick auf die Einhaltung religiöser Gebote und Feier- beitgeber Bundeswehr dürfen Frauen zu Recht einen an- tage zu verzeichnen hat. Die Sicherung der freien Reli- deren Umgang erwarten. Es ist eigentlich kaum zu glau- gionsausübung ist grundgesetzlich gesichert. ben, dass Soldatinnen mit Nachnamen angesprochen werden, während Soldaten mit Dienstgrad und Nachna- Wer die Besonderheiten eines Einsatzes nicht kennt men angesprochen werden. Das ist keine Nachlässigkeit, und nicht selbst erlebt hat, kann nur schwer den soldati- sondern eine unerträgliche Form der Abwertung. Bei ei- schen Dienst verstehen. Verständnis ist aber die erste Vo- nem guten Arbeitgeber hat das nichts zu suchen. raussetzung für den Dienst am Nächsten. Darum ist die Militärseelsorge unverzichtbar. Das gilt nicht nur für den (Beifall bei der SPD) Einsatz, sondern auch für die Einsatznachsorge und Es ist bedauerlich, dass wir überhaupt darüber reden dann, wenn die Angehörigen die Einsatzfolgen nicht müssen; aber hier muss die Bundeswehr besser werden, richtig einordnen können. Neben der ärztlichen Versor- wenn sie gut bleiben will. gung ist die Sorge um die Seele ein ganz wesentlicher Teil, der zur Genesung beiträgt. Auslandseinsätze wird es auch zukünftig geben. Die besondere Belastung für Soldaten und Angehörige ist Ich bin dafür, dass es neben dem christlichen Angebot uns bewusst. Es muss alles dafür getan werden, dass mit auch Anlaufstellen für Angehörige anderer Religionen genügend Personal zu häufige Einsätze verhindert wer- gibt. Der Wunsch danach ist nachvollziehbar, und die- den und ausreichend lange Erholungsphasen zur Verfü- sem Wunsch sollte Rechnung getragen werden. Es sollte gung stehen. Wir schulden unseren Soldatinnen und Sol- niemand, der geistlichen Beistand wünscht, alleingelas- daten neben bestmöglicher Ausrüstung auch eine sen werden – auch nicht bei der Bundeswehr. optimale Planbarkeit ihrer Einsätze. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich werbe dafür, Der Sanitätsdienst – er nimmt einen großen Teil des Standorte zu besuchen, mit Soldatinnen und Soldaten zu Berichtes ein – ist, finde ich, selbst ein Patient. Dem ho- sprechen und auch das Gespräch mit der Militärseel- hen Anspruch kann die Bundeswehr nur gerecht werden, sorge zu suchen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass wenn die notwendigen Dienstposten besetzt sind. Ärzt- Not beten lehrt. Das Wichtigste im Leben sind deshalb liches und nichtärztliches Sanitätspersonal leisten einen lebendige und herzliche Begegnungen mit Menschen, wichtigen Dienst. Dieser muss sich zunächst an der Ver- damit die Seele nicht verkümmert und die kranke Seele 1788 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Heidtrud Henn (A) genesen kann. Das gilt nicht nur für die Angehörigen der unbeschadet überstehen. Der Grund dafür liegt in der un- (C) Bundeswehr, das gilt für uns alle. glücklichen Personalpolitik Ihrer Amtsvorgänger, Frau von der Leyen. (Michael Brand [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Unsere Streitkräfte verfügen mittlerweile nicht mehr Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und Gottes Se- über ausreichend Personal, um die eigenen Kasernen gen. und Flughäfen effektiv zu sichern. In Seedorf konnte ein (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Unbekannter unbehelligt auf das Gelände vordringen und über 30 000 Schuss Munition entwenden. Dem Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Wehrbericht zufolge wurden in den letzten Jahren in Vielen Dank. – Das Wort hat Doris Wagner, Bündnis 90/ zahlreichen Liegenschaften der Bundeswehr Radmuttern Die Grünen. an Fahrzeugen gelöst, und im Juli 2013 kam es sogar zu einem Brandanschlag. Es ist also nur noch eine Frage der Zeit, bis die ersten Soldatinnen und Soldaten durch Doris Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sabotageakte zu Schaden kommen. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin! Werter Herr Königshaus! Verehrte Kollegin- Wir haben es schon gehört: Schlecht steht es auch um nen und Kollegen! Ich war vor 14 Tagen in Afghanistan, die medizinische Versorgung der Streitkräfte. Auch hier und ich muss Ihnen sagen: Durch Kabul zu fahren, ist gilt: Der Mangel an Personal hat mittlerweile gravie- schon ein sehr spezielles Erlebnis. Mit einer kiloschwe- rende Folgen. Bei den Sanitätsoffizieren fehlten 2013 ren Sicherheitsweste und mit bewaffnetem Begleitschutz mehr als 400 Ärztinnen und Ärzte, die vor allem für die im Konvoi durch die Stadt, ständiger Funkkontakt zwi- Notfallversorgung im Einsatz unerlässlich sind. Aus Per- schen den Fahrzeugen mit Anweisungen und Hinweisen sonalmangel müssen in manchen Bundeswehrkranken- auf Gefahrenquellen und auf der Straße bewaffnete häusern ganze Stationen geschlossen werden, sodass die Männer: Das hat mir noch einmal ganz klar vor Augen Soldatinnen und Soldaten für Behandlungen teilweise geführt, dass Soldatin oder Soldat zu sein eben kein nor- weite Reisen auf sich nehmen müssen. Wer sich im maler Beruf ist; denn sie setzen sich in ihren Einsätzen Dienst etwa eine schwere Brandverletzung zuzieht, der in unserem Auftrag besonderen Gefahren für Leib und kann zwar in das Krankenhaus nach Koblenz fahren und Leben aus. dort hervorragende Gerätschaften zur Behandlung seiner Verletzung besichtigen, optimal geholfen kann aber Deshalb lese ich den Wehrbericht, für den ich Herrn nicht werden, weil es kein Personal mehr gibt, das sich Königshaus heute auch noch einmal danken möchte, mit auf Schwerstbrandverletzungen spezialisiert hat. Eine anderen Augen, und deshalb haben Sie, Frau Ministerin, solche Situation ist völlig inakzeptabel. So können wir (B) (D) eine spezielle Verantwortung und Fürsorgepflicht für nicht mit Menschen umgehen, die in unserem Auftrag diese Soldatinnen und Soldaten. Dieser Verantwortung ihre Gesundheit aufs Spiel setzen. und der Pflicht zur Fürsorge wird die Bundesregierung derzeit bei weitem nicht gerecht. Frau Ministerin, Sie haben bei Ihrer Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz von der Verantwortung Verantwortung und Fürsorge: Das bedeutet, wir müs- gesprochen, die Deutschland bei der Lösung internatio- sen alles tun, damit die Soldatinnen und Soldaten opti- naler Krisen übernehmen muss. Ich finde, Sie sollten erst mal ausgerüstet und vorbereitet in den Einsatz gehen. einmal Ihrer Verantwortung für unsere Soldatinnen und Doch der Wehrbericht zeigt: Die Realität sieht anders Soldaten gerecht werden. Beheben Sie den eklatanten aus. Während die Soldatinnen und Soldaten in den Aus- Personalmangel, der sich als Thema wie ein roter Faden landseinsätzen inzwischen über eine gute Ausrüstung durch den ganzen Wehrbericht zieht! Überprüfen Sie das verfügen, herrscht in den Kasernen in Deutschland Man- Tempo der Streitkräftereduzierung! gel. Da müssen Maschinengewehre von anderen Trup- penteilen ausgeliehen werden, oder unmittelbar vor dem Ich freue mich, dass ich Ihre Worte so deuten kann, Einsatz wird kurzfristig mit Panzern trainiert, die zentral dass Sie darüber nachdenken, ob Truppenverbände wirk- über ein „Verfügbarkeitsmanagement“ entliehen werden, lich über Standorte von der Ostsee bis zu den Alpen ver- damit sich die Soldatinnen und Soldaten überhaupt auf teilt werden müssen. Aber ich bitte Sie: Fangen Sie un- den Einsatz vorbereiten können. verzüglich an, die Bundeswehr zu einem attraktiven und familienfreundlichen Arbeitgeber umzugestalten, wie Auf diese Weise möchte die Bundesregierung haus- Sie es Anfang des Jahres immer wieder versprochen ha- halterische Disziplin üben, aber ich glaube, die Grund- ben! Nur so werden Sie den Nachwuchs gewinnen, den ausrüstung ist dafür denkbar ungeeignet; denn wer seine die Bundeswehr so dringend braucht. Soldatinnen und Soldaten unzureichend vorbereitet in gefährliche Einsätze schickt, handelt fahrlässig und ver- Damit, meine Damen und Herren, komme ich zu mei- antwortungslos. nem letzten Punkt. Ein junger Mensch, der sich entschei- det, Soldat oder Soldatin zu werden, muss darauf ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) trauen können, dass sein Dienstherr verantwortungsvoll Verantwortung und Fürsorge: Das bedeutet auch, da- mit ihm umgeht. Er muss darauf vertrauen können, dass für zu sorgen, dass unsere Soldatinnen und Soldaten bei er im Falle einer Verletzung umfassende Hilfe und Für- der Erfüllung ihrer Aufgaben keinen unnötigen Schaden sorge erfährt. Leider versagt die Bundeswehr ausgerech- nehmen. Doch mittlerweile müssen wir fast froh sein, net in diesem Punkt kläglich, wie ich in mehreren Ge- wenn sie zu Hause ihren alltäglichen Dienst gesund und sprächen mit Betroffenen erfahren habe. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1789

Doris Wagner (A) Bis in die 80er-Jahre hinein waren Angehörige der ändert haben. Dazu gehört der Zusammenbruch der (C) Bundeswehr und der NVA gesundheitsschädlicher Strah- kommunistischen Planwirtschaft und des Warschauer lung an nicht abgeschirmten Radargeräten ausgesetzt. Paktes mit all seinen Folgen, einschließlich der deut- Viele von ihnen sind in der Folge schwer erkrankt. schen Wiedervereinigung und des Zerfalls der Sowjet- Trotzdem verweigert die Bundeswehr zahlreichen Be- union. Dazu gehören auch die Anschläge vom 11. Sep- troffenen bis heute eine angemessene Entschädigung, tember 2001, und dazu gehören schließlich das aktuelle indem sie nur Krebserkrankungen oder Katarakte als russische Vorgehen auf der Krim und die Ungewissheit radartypische Folgeerkrankungen anerkennt. Die Betrof- über die staatliche Integrität der Ukraine. fenen können in der Regel sehr plausibel darlegen, welch hohen Strahlenbelastungen sie ausgesetzt waren. Ich glaube ausdrücklich nicht, dass wir in eine neue Dennoch verbarrikadiert sich die Bundeswehrverwal- Ost-West-Konfrontation zurückfallen werden. Es gibt tung hinter geschätzten oder fehlerhaft und viel zu spät derzeit keinen Grund, beispielsweise die Wehrpflicht ermittelten Werten, weil es keine Aufzeichnungen aus wieder einzuführen, wie ich es diese Woche schon gele- den 60er-Jahren gibt. Geht dann doch einmal ein Ge- sen habe. richtsverfahren zugunsten der betroffenen Soldaten aus, Allerdings müssen wir die Besorgnis unserer östli- legt die Bundesrepublik regelmäßig Revision ein. Die chen Partner ernst nehmen, die an Russland oder die Folge ist: Die Prozesse ziehen sich manchmal über Jahr- Ukraine grenzen und die teilweise – wie die baltischen zehnte hin. Ein hochbetagter früherer Soldat darf häufig Staaten – selbst russische Bevölkerungsteile haben. Der von Glück sagen, wenn er das Urteil überhaupt noch er- Kernzweck der NATO als Sicherheitsbündnis gegen Be- lebt. drohungen in Europa gewinnt damit erheblich an Bedeu- Dieses Verhalten, Frau Ministerin, ist schäbig. Es wi- tung. derspricht aber auch den ureigensten Interessen der Bun- Lieber Herr Königshaus, es erweist sich als richtig, deswehr. Weshalb sollte jemand – ich komme zum dass wir bei der Bundeswehrreform den Grundsatz Schluss Frau Präsidentin – schwören, für unseren Staat „Breite vor Tiefe“ verfolgt haben. Wir leisten weiterhin seine Gesundheit und sein Leben einzusetzen, wenn die- einen Beitrag zur internationalen Krisenbewältigung, der ser Staat offenbar nicht gewillt ist, im Schadensfall sei- der Bedeutung Deutschlands in Europa und der Weltge- ner Fürsorgepflicht nachzukommen? Deshalb mein drin- meinschaft entspricht. Aber die Bundeswehr muss auch gender Appell: Hören Sie auf, mit den Geschädigten Anlehnungspartner in der Bündnisverteidigung für un- kleinlich über Strahlenmengen zu debattieren! Die ge- sere kleineren Nachbarn sein, die eben nicht mehr das schädigten Soldaten haben ihren Teil des Vertrages er- volle Spektrum militärischer Fähigkeiten darstellen kön- füllt. Jetzt sind Sie an der Reihe! nen und mit denen wir künftig noch enger kooperieren (B) Vielen Dank. wollen, wie mit den Niederlanden und Polen. Insofern ist (D) die jetzige Struktur glücklicherweise zukunftssicher, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) weil sie nicht nur den internationalen Einsätzen, sondern auch weiterhin der Bündnisverteidigung Rechnung trägt. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt die Kollegin Anita Liebe Kolleginnen und Kollegen, Strukturen sind das Schäfer, CDU/CSU-Fraktion. eine. Aber erst Personal und Ausrüstung füllen sie aus. Neue sicherheitspolitische Voraussetzungen haben auch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- immer wieder neue Anforderungen an die Ausstattung neten der SPD) der Soldaten gestellt. So haben zurückliegende Berichte des Wehrbeauftragten besonders für den Einsatz in Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): Afghanistan mehrfach explizit das Fehlen geschützter Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol- Fahrzeuge hervorgehoben. Die wiederholte Befassung legen! Lieber Herr Wehrbeauftragter! Im Namen der im Parlament hat wesentlich zur Schließung dieser Lü- CDU/CSU-Bundestagsfraktion möchte ich Ihnen und all cken beigetragen. Ihren Mitarbeitern danken, die an der Erstellung des dif- ferenzierten und interessanten Jahresberichts 2013 betei- (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Richtig!) ligt waren. Er zeigt vor allem, dass große Reformvorha- Diese Beschaffungen behalten unabhängig von der Art ben häufig mit Unsicherheit der Betroffenen verbunden künftiger Einsätze ihren Wert. Das gilt auch für neue sind, was sich in den gesteigerten Zahlen von Eingaben Technologien, über die wir vor dem Hintergrund bisheri- der Soldatinnen und Soldaten im Berichtszeitraum aus- ger Erfahrungen diskutiert haben, wie beispielsweise be- drückt. waffnete Drohnen, die ich schon in meiner letzten Rede Umso wichtiger ist es, dass mit der jetzigen Bundes- an dieser Stelle erwähnt habe. wehrreform eine stabile Struktur erreicht wird, mit der Gleichzeitig zeigen die Sorgen unserer osteuropäi- die Truppe jetzigen und zukünftigen Herausforderungen schen Partner, dass klassische Systeme wie der Euro- begegnen kann, damit es nicht in ein paar Jahren wieder fighter und der Kampfhubschrauber Tiger eben nicht zur Reform der Reform kommen muss. veraltet sind. Sie haben vielmehr trotz aller Kritik an lan- Meine Damen und Herren, mehr als einmal haben wir ger Entwicklung und hohen Kosten ihre Berechtigung, in den vergangenen Jahrzehnten erlebt, dass sich die weil sie der gemeinsamen Verteidigungsfähigkeit und Konstanten der Sicherheitspolitik quasi über Nacht ge- Verteidigungsbereitschaft in Europa dienen. Auch hier 1790 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Anita Schäfer (Saalstadt) (A) gilt aber: Die Massenheere des Kalten Krieges werden weitere Verbesserungen. Nach der Ankündigung von (C) nicht mehr gebraucht. Ministerin von der Leyen, das Thema der Attraktivität zu einem Schwerpunkt zu machen, bin ich aber zuver- Es ist richtig, dass unter anderen Bedingungen ge- sichtlich, dass es diese auch geben wird. schlossene Beschaffungsverträge neu gehandelt werden. Ich begrüße es auch außerordentlich, Frau Ministerin Der Wehrbeauftragte hat in seinem Bericht bedauert, von der Leyen, dass Sie die von Ihrem Amtsvorgänger dass die Folgestudie des Zentrums für Militärgeschichte begonnene Neuordnung des Beschaffungswesens so und Sozialwissenschaften der Bundeswehr zum Stand energisch fortsetzen. Gerade das regelmäßige Auftau- der Integration von weiblichen Soldaten noch nicht vor- chen neuer Herausforderungen in den letzten Jahren lag. Beim Verfassen dieser Zeilen konnte er noch nicht zeigt doch, dass wir uns zeitlich und finanziell aus dem wissen, dass dies noch vor der Vorstellung des Jahresbe- Ruder laufende Projekte weniger denn je leisten können. richts geschehen würde. Über die Studie Truppenbild Vielleicht zeigen die aktuellen Entwicklungen noch ohne Dame? ist vor allem unter zwei Schlagzeilen be- den einen oder anderen Bedarf auf. Ich denke dabei zum richtet worden: erstens dass sich die Einstellung männli- Beispiel an den Bereich der bodengebundenen Flugab- cher Soldaten zu Frauen in der Bundeswehr gegenüber wehr, wo der Einsatz bisheriger Systeme zu stagnieren der Vorgängerstudie von 2005 verschlechtert hat und scheint. Modernste Ausstattung für alle Bereiche bleibt zweitens dass 55 Prozent der Soldatinnen schon sexuell unabdingbare Voraussetzung für die Auftragserfüllung belästigt worden seien. Diesen Punkten hat auch der der Bundeswehr; denn nur so kann sie ihre Rolle als An- Wehrbeauftragte breiten Raum eingeräumt. lehnungspartner für unsere Nachbarn bei der Gewähr- leistung der Sicherheit im Bündnis erfüllen. Beim Durchlesen der Studie ergibt sich allerdings ein differenzierteres Bild, als eine Schlagzeile vermitteln Das Wichtigste in der Bundeswehr sind und bleiben kann. Zunächst einmal: Mittlerweile beträgt der Anteil aber die Menschen. Wir haben in den vergangenen Jah- weiblicher Soldaten in der Bundeswehr rund 10 Prozent, ren viel zur Steigerung der Attraktivität des Dienstes in was bereits ein großer Erfolg des Integrationsprozesses der Bundeswehr getan. Dazu gehören materielle Verbes- ist. 13 Jahre nach Öffnung aller Laufbahnen erreichen serungen wie die Zulagen für ärztliche Dienste, Piloten, Frauen nun auch die entsprechenden höheren Dienst- Minentaucher und Soldaten mit besonderer zeitlicher grade. Das BMVg scheint sich zwar mit dem Wehrbe- Belastung. Wir entwickeln einerseits die Nachwuchs- auftragten einig zu sein, dass es etwa bei A-15-Stellen werbung und andererseits Fortbildungsangebote und Be- im Sanitätsdienst, der für Frauen schon früher zugäng- rufsförderung weiter; die Frau Ministerin hat das vorhin lich war, noch Nachholbedarf gibt. Aktuell gibt es aber angesprochen. Besonders wichtig ist aber, die Vereinbar- bereits den zweiten weiblichen Generalarzt. Wenn man (B) keit von Familie und Dienst weiter zu verbessern. sich die notwendigen Beförderungszeiten ansieht, dann (D) Ich bin besonders froh, dass nunmehr die Einrichtung stellt man fest, dass Anfang des nächsten Jahrzehnts von Betriebskindergärten an Bundeswehrstandorten mit auch mit den ersten Frauen im Generalsrang zu rechnen besonderem Bedarf in Gang kommt. ist, die seit 2001 die Karriereleiter im Truppendienst er- klettert haben. – Das vorweg. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Nun zu den Ergebnissen der Studie. Es ist in der Tat so, dass die Einstellung männlicher Soldaten gegenüber Das gilt insbesondere für die Standorte mit Bundeswehr- den militärischen Leistungen von Frauen kritischer ist krankenhäusern und die Universität der Bundeswehr in als noch 2005. Gleichzeitig bewerten sie aber den ge- München. Mit Ausnahme des Bundeswehrkrankenhau- ses Berlin, wo die Planungen noch laufen, werden alle meinsamen Dienst beider Geschlechter in der Bundes- Kindergärten voraussichtlich binnen Jahresfrist in Be- wehr insgesamt besser, und die Angst vor Problemen hat trieb gehen. Allein für die Baumaßnahmen geben wir sich verringert. über 5 Millionen Euro aus. Hinzu kommen Belegrechte Interessant ist auch, dass weniger Soldaten Probleme in vorhandenen Betreuungseinrichtungen wie etwa im mit der Effektivität in ihren eigenen Einheiten sehen. Fall der Sanitätsakademie in München. Mit Stand Fe- Der Leiter der Studie hat mir dazu erläutert, dass die Kri- bruar sind bereits 317 Eltern-Kind-Arbeitszimmer reali- tik sowohl auf eigenem Erleben als auch auf Hörensagen siert worden. Insgesamt wird es diese an rund 200 Stand- beruhe. Echte Probleme mit körperlicher Leistungsfä- orten geben. Ergänzt wird das durch Verbesserungen bei higkeit muss man dabei sicherlich ernst nehmen, weil der Kinderbetreuung während der Aus- und Fortbildung, die Leistung jedes Einzelnen lebenswichtig für die ge- der Unterstützung bei der Ferienbetreuung sowie der samte Einheit sein kann. Ich denke, es wäre einmal inte- Notfallbetreuung nicht nur von Kindern, sondern auch ressant, nachzuforschen, wie sich die Kritik auf Kampf- von pflegebedürftigen Angehörigen. und Unterstützungseinheiten verteilt. In Ersteren kommt Im Hinblick auf die Problematik pendelnder Soldaten es auf körperliche Leistung besonders an. Allerdings soll neben der dauerhaften Möglichkeit der Wahl zwi- entscheiden sich auch nur vergleichsweise wenige schen Trennungsgeld und Umzugskostenvergütung die Frauen für diese Verwendungen. In Unterstützungsein- Wohnungsfürsorge optimiert werden, um sowohl den heiten ist es eher umgekehrt. Es ist also durchaus mög- Pendlern als auch umzugswilligen Familien bei der Su- lich, dass sich die Kritik vor allem an einigen wenigen che nach geeigneten Wohnungen besser zu helfen. Ge- Negativbeispielen festmacht, während Soldaten in Ein- rade in diesem Punkt gibt es sicherlich noch Raum für heiten mit höheren Frauenanteilen aus eigener Erfahrung Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1791

Anita Schäfer (Saalstadt) (A) keine Probleme mit der Effektivität sehen. Das wäre schließen. Wenn man darüber nachdenkt, was der (C) doch vielleicht einmal eine Frage für die nächste Studie. Markenkern einer Parlamentsarmee ist, dann wird man sicherlich als einen Aspekt die Parlamentsbeteiligung Noch überraschender fand ich die einzelnen Ergeb- bei Auslandseinsätzen benennen, nisse zum Thema sexuelle Belästigung. Zunächst ein- mal: Dass sich die Fallzahlen nicht groß vom Rest der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Gesellschaft unterscheiden, kann nicht zufriedenstellen. Hier muss die Bundeswehr tatsächlich einmal besser aber genauso solche Debatten wie diese heute, Debatten, sein als der Rest der Gesellschaft; denn abgesehen von bei denen uns in Form eines Berichts an Beispielfällen allen rechtlichen Vorschriften und grundsätzlichen Re- vor Augen gehalten wird, was in der Truppe tatsächlich geln allgemeinen Anstands gilt hier noch zusätzlich die passiert, was gut läuft, aber auch, was nicht gut läuft, Pflicht zur Kameradschaft. Der kameradschaftliche Um- und Debatten, bei denen wir uns als Parlamentarier – Sie gang zwischen allen Soldatinnen und Soldaten unter sich als Koalition, wir uns als Opposition – mit unseren Achtung der Würde des Einzelnen ist immer wieder ein- Vorstellungen und Programmen natürlich fragen müs- zufordern und umzusetzen. sen: Was sind unsere Erwartungen an die Bundeswehr, wo haben wir vielleicht falsche Erwartungen, wo haben (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie wir vielleicht Fehler gemacht bei Strukturen, bei finan- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE zieller Ausstattung und bei anderen Aspekten? Insofern, GRÜNEN) liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es gut, dass wir hier in diesem Hohen Hause nicht nur über Auslandseinsätze Ich betone: zwischen allen Soldatinnen und Soldaten, der Bundeswehr und über Aspekte der Militärpolitik re- weil sexuelle Belästigung laut der Studie eben nicht nur den, sondern eben auch über den Zustand der Bundes- ein Problem zwischen, sondern auch innerhalb der Ge- wehr an sich. Allein deswegen hat diese Debatte einen schlechter ist. Das gilt sowohl bei Männern als auch bei Wert. Frauen, gerade für die Kategorie tatsächlicher sexueller Nötigung. Diese Kategorie umfasst aber gegenüber an- (Michael Brand [CDU/CSU]: Sehr richtig!) züglichen Bemerkungen und Ähnlichem glücklicher- weise nur eine sehr geringe Zahl von Fällen, sodass die Ich möchte in diesem Zusammenhang zu drei As- Verteilung nicht unbedingt aussagekräftig ist. Auch hier pekte kommen – sie wurden teilweise schon angespro- sollte meiner Meinung nach der Hintergrund genauer er- chen –: forscht werden. Der erste Aspekt betrifft das Thema Überwachung. Meine Damen und Herren, und dennoch bleibt es da- Erst jüngst gab es einen eklatanten Fall von Munitions- diebstahl; über ihn haben wir auch gestern im Verteidi- (B) bei: Selbst wenn die Bundeswehr als Spiegelbild der Ge- (D) sellschaft auch deren Schattenseiten wiedergibt, ist sie gungsausschuss diskutiert. Herr Königshaus, wenn man besser, als gängige Stereotypen glauben machen wollen. in Ihrem Bericht nach dem Komplex Bewachung sucht, Ihre Soldatinnen und Soldaten leisten einen unverzicht- dann findet man Informationen über Anschläge auf Bun- baren Dienst für die Sicherheit Deutschlands im Bünd- deswehrfahrzeuge, auf Fahrzeuge von Soldatinnen und nis. In Krisenzeiten wie jetzt wird es uns wieder be- Soldaten und nicht zuletzt über den leider geglückten wusst, wie wichtig die Sicherheit ist und für wie Versuch des Eindringens eines Mannes in ein Flugzeug selbstverständlich wir das im Herzen eines friedlichen, der Flugbereitschaft. All diese Beispiele machen deut- geeinten Europas in den letzten Jahren gehalten haben. lich, dass wir offensichtlich ein Problem mit der Bewa- chung von Bundeswehrliegenschaften haben. Ich will Aber Sicherheit ist nicht selbstverständlich, sondern hinzufügen: ein ernsthaftes Problem. muss immer wieder erarbeitet werden. Deswegen danke ich allen Männern und Frauen der Bundeswehr, die die- (Michael Brand [CDU/CSU]: Und mit links- sen Dienst jeden Tag an vielen Standorten im In- und extremer Gewalt!) Ausland für uns leisten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sprach schon Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. von Munition, von Waffen, von Kriegsgerät, das in Bun- deswehrliegenschaften naturgemäß lagert. Die Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) wehr wird alles dafür tun müssen, dass die Soldatinnen und Soldaten, ihre Angehörigen, aber auch die Bevölke- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: rung durch eine bessere Bewachung vor einem Miss- Vielen Dank. – Das Wort hat Dr. Tobias Lindner, brauch dieses Materials geschützt werden. Die besten Bündnis 90/Die Grünen. Empfehlungen von Kommissionen über Bewachungs- maßnahmen helfen gar nichts, wenn diese, wie auf dem Kasernengelände in Seedorf geschehen – wir haben dies Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gestern erfahren –, nicht umgesetzt werden. Dann bleibt NEN): natürlich die Frage offen, warum diese Empfehlungen Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und nicht umgesetzt worden sind, zumal uns das Ministerium Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist Ihnen, versichert hat, dass Mittel dafür vorhanden gewesen Herr Wehrbeauftragter Königshaus, und Ihren Mitarbei- sind. terinnen und Mitarbeitern in dieser Debatte zu Recht für die Vorlage dieses Berichts viel gedankt worden, ich will Ich will auf den zweiten Aspekt zu sprechen kommen. aber in diesen Dank noch einen weiteren Aspekt ein- Frau von der Leyen, Ihr Vorgänger, Thomas de Maizière, 1792 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Dr. Tobias Lindner (A) hat mit der Neuausrichtung der Bundeswehr den Weg Dirk Vöpel (SPD): (C) „Breite vor Tiefe“ eingeschlagen. Der Wehrbeauftragte Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen ist darauf eingegangen. Mit „Breite vor Tiefe“ meint er, und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei den ein möglichst breites Fähigkeitsspektrum bei einer eher Debatten zum Jahresbericht des Wehrbeauftragten des geringen Durchhaltefähigkeit vorrätig zu halten. Deutschen Bundestages können wir in diesem Hohen Obwohl die Neuausrichtung der Bundeswehr noch Hause auf eine mittlerweile lange und beeindruckende nicht am Ende ist, lesen wir schon jetzt im Bericht des Tradition von mehr als fünf Jahrzehnten zurückblicken. Wehrbeauftragten, dass nicht nur Material an die Gren- Seit 1959 war der Jahresbericht immer wieder Anlass für zen seiner Belastbarkeit gerät, sondern auch die Solda- grundsätzliche Auseinandersetzungen über den Zustand tinnen und Soldaten. Sie, Frau von der Leyen, sprachen und die Zukunftsperspektiven der Großorganisation vorhin über „4/20“, über das Modell, dass sich Soldatin- Bundeswehr. Ich freue mich deshalb sehr, dass ich heute nen und Soldaten nach maximal 4 Monaten Auslands- zu diesem traditionsreichen Tagesordnungspunkt reden einsatz 20 Monate in Deutschland regenerieren können. darf. Es ist erschreckend, wenn im Bericht des Wehrbeauf- Sehr geehrter Herr Königshaus, als inhaltlicher Quer- tragten zu lesen ist, dass das Personalmanagementsys- einsteiger in Sachen Bundeswehr war mir bereits Ihr tem der Bundeswehr eben nicht in der Lage ist, die Ein- Jahresbericht 2012 eine große Hilfe. Er hat mir innerhalb satzbelastung von Soldatinnen und Soldaten zu erfassen. kurzer Zeit einen ersten fundierten Einstieg in die aktuel- Das ist ein Punkt, der schleunigst geändert werden muss. len Themen und Probleme ermöglicht, die unsere Solda- (Michael Brand [CDU/CSU]: Da klatscht ja tinnen und Soldaten bewegen. Auch der vorliegende Be- noch nicht einmal die eigene Truppe!) richt zum Jahr 2013 macht keine Ausnahme, was die Hilfestellung angeht. Für alle, die Verantwortung für die Dritter Aspekt. Hier ist auch über Ausrüstung gespro- Angehörigen unserer Bundeswehr tragen, ist er eine In- chen worden. Frau Kollegin Schäfer, Sie sind hier auf formationsquelle von hohem Wert. viele Ausrüstungsfragen eingegangen. Wenn wir einen Blick in den kürzlich vorgestellten zweiten Regierungs- Vorbildlich finde ich vor allem auch, dass der Bericht entwurf zum Haushalt 2014 werfen und uns die mittel- sprachlich an keiner Stelle vor der Komplexität der ge- fristige Finanzplanung anschauen, dann lesen wir eben schilderten Sachverhalte kapituliert. Er bleibt stets klar, auch, dass wir in der Finanzplanung eine Bugwelle vol- präzise und verständlich. Auch hierfür, sehr geehrter ler fehlgeschlagener oder zumindest problembehafteter Herr Königshaus, möchte ich mich bei Ihnen und Ihren Beschaffungsprojekte vor uns herschieben, dass es da Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ganz herzlich bedan- eben alles andere als gut ist. Deswegen haben Sie ja ken. (B) Konsequenzen gezogen, Frau von der Leyen. Meine (D) Sorge ist, dass diese Bugwelle von Pleiten, Pech und (Beifall bei der SPD) Pannen, die da nach vorne rollt, in Zukunft auch dazu Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bericht des führen kann, dass Geld für notwendige Maßnahmen Wehrbeauftragten für das Jahr 2013 dokumentiert einen fehlt. Auch deshalb ist es notwendig, dass wir uns alle deutlichen Anstieg der Zahl der Eingaben gegenüber gemeinsam und jeder für sich Beschaffungsvorhaben dem Vorjahr – und das bei einem gleichzeitigen Rück- kritisch anschauen. gang der durchschnittlichen Personalstärke um knapp (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 7 Prozent. Betrachtet man nun die Entwicklung der Ein- gabezahlen als eine Art Pulsmesser, dann kann man nur Ich möchte zum Schluss kommen. Wir sehen an dem zu einem Schluss kommen: Die Bundeswehr befindet heute debattierten Bericht des Wehrbeauftragten nicht sich zurzeit in heftigem Stress. Aber kann das angesichts nur klar und deutlich, dass auf der Truppe, was die Neu- einer so ehrgeizigen und schwierigen Reform, wie sie ausrichtung, was Veränderungen betrifft, Druck liegt, der Bundeswehr in diesen Jahren abgefordert wird, wirk- sondern auch, dass wir viele Fragezeichen hinter Struk- lich verwundern? Mir kommt das Unternehmen Struk- turentscheidungen setzen müssen, die mit der Neuaus- turreform manchmal wie der Versuch vor, einem Vier- richtung angegangen werden sollen. Deswegen – das master auf hoher See und unter vollen Segeln einen will ich abschließend sagen – ist nicht nur eine Evalua- neuen Rumpf zu zimmern, und das aus Bordmitteln. tion der Neuausrichtung der Bundeswehr dringend not- wendig, sondern auch und vor allem das Ziehen von (Beifall bei der SPD) Rückschlüssen aus dieser, gegebenenfalls das Umsetzen 2013 hat die heiße Phase bei der Umsetzung der Re- von Veränderungen. form begonnen. Die neuen Strukturen wachsen auf, aber Ich danke Ihnen. die alten Aufgaben sind noch längst nicht vollständig ab- gewickelt. Das muss bei vielen Betroffenen zwangsläu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) fig zu Enttäuschung, Verärgerung und dem Gefühl der Überlastung führen. Ganz klar ist aber auch: Viele dieser Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Probleme werden sich in einigen Jahren gar nicht mehr Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der stellen, weil sie unvermeidbare, aber vorübergehende Kollege Dirk Vöpel. Begleiterscheinungen dieses Transformationsprozesses sind. Dazu kommt, dass unsere Soldatinnen und Solda- (Beifall bei der SPD) ten schon von Berufs wegen ein hohes Maß an Anpas- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1793

Dirk Vöpel (A) sungsfähigkeit und an Anpassungsbereitschaft mitbrin- vertrages ab 2015 in Aussicht stellt. Bedauerlicherweise (C) gen. ist bei der Marine für die Fregatten der Bremen-Klasse wegen der geplanten Außerdienststellungen eine Instal- Liebe Kolleginnen und Kollegen, der vorliegende Be- lation der notwendigen Technik aus Kostengründen je- richt beschäftigt sich über weite Strecken mit den Aus- doch nicht mehr vorgesehen. Nun muss man wissen, und Nebenwirkungen der strukturellen Veränderungen dass sich diese Außerdienststellungen noch über das bei der Bundeswehr. Wir sollten uns aber davor hüten, nächste halbe Jahrzehnt bis 2019 hinziehen werden. Vor die Reform als Daueralibi oder Standardausrede zu ak- diesem Hintergrund frage ich mich schon, ob Sparsam- zeptieren. Der Wehrbeauftragte listet auch eine ganze keit immer das oberste Gebot sein muss oder ob nicht Reihe von Problemen auf, deren Ursachen wenig bis gar die Pflicht zur Fürsorge für die Soldatinnen und Soldaten nichts mit den neuen Strukturen zu tun haben. Sehr viel in Fällen wie diesem eine andere Prioritätensetzung ge- mehr geht es da um Fehler, Versäumnisse, Schludrigkei- bietet. ten und leider auch mangelnde Kommunikationsbereit- schaft. (Beifall bei der SPD) So etwas ist zum Beispiel bei der Auslagerung der Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie mir Beihilfebearbeitung für aktive Soldaten und Versor- eine letzte Bemerkung: Mit dem Aussetzen der Wehr- gungsempfänger von der Bundeswehrverwaltung in den pflicht und dem Übergang zur Freiwilligenarmee haben Bereich des Innen- bzw. Finanzministeriums passiert. die Prinzipien der Inneren Führung keineswegs an Be- Statt der angekündigten Synergieeffekte stellte sich zu- deutung verloren. Im Gegenteil: Nie waren sie so wert- nächst das reine Chaos ein, mit einem am Ende geradezu voll und wichtig wie heute. Wir sollten alle Versuche, monströsen Bearbeitungsstau von zeitweise 60 000 Beihil- diesen Wesens- und Markenkern der Bundeswehr auszu- feanträgen, und das vor allem auch deshalb, weil man höhlen, schon im Ansatz geschlossen parieren. Wir soll- schlicht versäumt hatte, die Betroffenen über die Änderung ten die Innere Führung als das betrachten, was sie nach der Zuständigkeit zu informieren. Schon der rechtzeitige meiner festen Überzeugung tatsächlich ist: ein echtes Versand einer simplen Mitteilung mit dem Hinweis auf Na- Weltkulturerbe der Streitkräfte des freien, friedliebenden men und Telefonnummern der neuen Sachbearbeiter hätte und demokratischen Deutschlands. hier von vornherein mächtig Dampf aus dem Kessel ge- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. nommen. Ich finde, das ist völlig überflüssiger und ver- meidbarer Ärger, von den zum Teil enormen finanziellen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Belastungen – davon wurde vorhin schon gesprochen – ganz zu schweigen. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (B) Aber auch bestehende Verfahrensabläufe, die ganz of- Vielen Dank. Das war Ihre erste Rede hier im Deut- (D) fensichtlich weder sach- noch zielgerecht sind, sorgen schen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen im Namen des für Unverständnis. Da schickt die Bundeswehr zur Vor- Hauses ganz herzlich dazu. bereitung der Active-Fence-Mission im Dezember 2012 (Beifall) ein Vorerkundungsteam in die Türkei. Dieses schätzt dann auch gewissenhaft den voraussichtlichen Bedarf an Nächste Rednerin ist die Kollegin Julia Bartz, CDU/ Einsatzgütern für die Hauptmission ab. Das löst nur lei- CSU-Fraktion. der keinerlei Bereitstellungsaktivitäten aus, weil nach (Beifall bei der CDU/CSU) dem gültigen Verfahren diese Bedarfsanforderungen nicht von der Vorerkundung, sondern erst vom Kontin- gent gemeldet werden können. Die logische Folge ist die Julia Bartz (CDU/CSU): verspätete Bereitstellung der benötigten Einsatzgüter. Da Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen frage ich mich schon: Warum lässt man so ein Verfahren und Kollegen! Eine hochmotivierte Truppe, professio- in Kraft? Hier könnte doch ohne großen Aufwand eine nelles Selbstverständnis und effektive Organisations- sachgemäße Neuregelung erfolgen, die weder zusätzli- strukturen – so habe ich die Bundeswehr im In- und ches Geld noch Personal erfordert. Ausland erlebt. Im deutlichen Gegensatz dazu steht der Jahresbericht des Wehrbeauftragten, der oft als reiner Die Bürgerinnen und Bürger erwarten völlig zu Recht Mangelbericht gelesen wird. Das Bild, das in einigen von ihren Abgeordneten einen gewissenhaften und zu- Medien gezeichnet wird, ist viel zu kritisch und kurz- rückhaltenden Umgang mit Steuergeldern. Aber man sichtig. Mir ist bewusst, dass es derzeit vermehrt Kritik muss auch immer aufpassen, dass man nicht am falschen und Beschwerden aus der Truppe gibt. Es ist auch gut, Ende spart. So kann etwa die verlässliche Möglichkeit dass wir darüber in diesem Hause sprechen. Aber ich zur regelmäßigen und bezahlbaren Kontaktaufnahme mit möchte auch darauf hinweisen, dass sich die Bundes- der Heimat mittels Telefon und Internet in ihrer Bedeu- wehr momentan in einer Umbruchphase befindet. Die tung für die diensttuenden Männer und Frauen in den Auslandseinsätze und die Strukturreform sind Ursachen Auslandseinsätzen gar nicht überschätzt werden. für zahlreiche Beschwerden. Wenn man sich aber die (Beifall bei der SPD) Eingaben im Einzelnen anschaut, stellt man sich an der einen oder anderen Stelle die Frage: Hätte so manches Es ist deshalb sehr zu begrüßen, dass das Bundesminis- Problem nicht auch auf einem kürzeren Dienstweg ge- terium der Verteidigung eine völlige Kostenfreistellung klärt werden können? Es gibt verschiedene Möglichkei- für die Soldatinnen und Soldaten im Rahmen des Folge- ten, wie man mit Problemen umgeht. 1794 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Julia Bartz (A) Die erste Möglichkeit – dieser Weg ist der nahelie- gung zeigt Erfolge. Vielen Soldatinnen und Soldaten (C) gende überhaupt –: Man sucht das Gespräch mit der oder konnte bereits geholfen werden. Nun gilt es, dieses dem Vorgesetzten. Zahlreiche Vorgesetzte in der Bun- Angebot noch auszubauen und die Qualität weiter zu deswehr sind treffliche Beispiele für gute Personalfüh- steigern. Das Ziel ist ganz klar: Allen hilfsbedürftigen rung. Da könnte sich so mancher zivile Arbeitgeber eine Soldatinnen und Soldaten sollte die bestmögliche Ver- Scheibe abschneiden. Die Möglichkeit, direkt mit dem sorgung zur Verfügung gestellt werden. Vorgesetzten oder der Vorgesetzten zu sprechen, steht al- len offen und darf keine negativen Folgen haben. Die Militärseelsorge leistet an dieser Stelle einen ganz wichtigen Beitrag. Im In- und Ausland können sich die Die zweite Möglichkeit ist: Man wendet sich an die Soldatinnen und Soldaten auf die Hilfe der Militärseel- Vertrauenspersonen. Die Vertrauenspersonen sind als sorge verlassen. Mein ganz besonderer Dank gilt allen unabhängige Hilfen für die Frauen und Männer der Seelsorgern, die am Auslandseinsatz teilnehmen und Truppe da und können vermittelnd tätig werden. dort Ansprechpartner in allen Lebenslagen sind. Als dritter und weiterführender Schritt hat jede Solda- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) tin und jeder Soldat das Recht, eine förmliche Be- schwerde einzureichen. Sie geben den Soldatinnen und Soldaten Rückhalt und Beistand. Die Oasen sind ein wichtiger Rückzugsort im Erst an vierter und letzter Stelle würde ich die Mög- harten Alltag im Einsatz. lichkeit einer Eingabe an den Wehrbeauftragten sehen, falls die anderen Schritte nicht erfolgreich waren. Ich be- Auch die daheimgebliebenen Angehörigen finden bei tone das hier, weil sich offenbar nicht alle Petenten be- der Militärseelsorge ein offenes Ohr. Diese Unterstüt- wusst sind, dass ihre Eingabe an den Wehrbeauftragten zung ist besonders dann hilfreich, wenn sich psychische eine öffentliche Angelegenheit ist. So manche sind über- Belastungen nach den Auslandseinsätzen auf die ge- rascht, wenn sie am nächsten Tag von ihrem Vorgesetz- samte Familie auswirken. Hier sehe ich vor allem bei der ten auf ihre Eingabe angesprochen werden. Damit Sie gemeinsamen therapeutischen Betreuung noch weitere mich nicht falsch verstehen: Die Institution des Wehrbe- Verbesserungsmöglichkeiten. Das Ziel ist klar: Wir las- auftragten ist zu Recht in unserem Grundgesetz veran- sen die Familien der Soldatinnen und Soldaten nicht al- kert. Er gibt den Soldatinnen und Soldaten die Möglich- lein. keit, ihre Anliegen an übergeordneter Stelle vorzutragen. Der Truppenbesuch in Afghanistan vor zwei Wochen Der jährliche Bericht des Wehrbeauftragten gibt uns im hat mir vor Augen geführt, welch herausragende Leis- Parlament einen wertvollen Einblick in die Sorgen und tung unsere Frauen und Männer in Uniform bei dieser Nöte der Soldatinnen und Soldaten. Er zeigt uns auch und anderen Missionen erbringen. Ein schmerzlicher (B) (D) Verbesserungsmöglichkeiten auf. Ich sage aber auch: Moment der Reise war die Gedenkminute am Ehrenhain Ein Schwert, das zu oft genutzt wird, verliert an Schärfe. für die gefallenen Soldaten. Mein tiefes Mitgefühl gilt Das liegt weder in unserem Interesse noch im Interesse ihren Angehörigen. der Soldatinnen und Soldaten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns bei Die derzeitige Beschwerdeflut kann kein Dauerzu- all unseren Entscheidungen, seien es Reformen oder stand sein. Ich denke, darüber sind wir uns alle in diesem Auslandseinsätze, eines immer fest im Blick haben: die Haus einig. Ich habe vollstes Vertrauen in unsere Vertei- Menschen in Uniform. digungsministerin, dass sie die Strukturreform so sozial- verträglich wie nur möglich umsetzen wird und dabei Danke. immer auch die Menschen in der Uniform ganz fest im Blick haben wird. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Vizepräsidentin : Der Aspekt des Menschlichen spielt gerade im Hin- Danke, Frau Kollegin. – Einen schönen guten Tag al- blick auf traumatische Erfahrungen in Auslandseinsät- len von meiner Seite! Der nächste Redner ist Dr. Fritz zen eine ganz besondere Rolle. Dieser Herausforderung Felgentreu für die SPD. müssen wir uns als Bundestag, aber auch als Gesell- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schaft verstärkt zuwenden. Wie dem Bericht zu entneh- der CDU/CSU) men ist, hat die Zahl der Einsatzteilnehmer mit seeli- schen Verwundungen zugenommen. Wir bauen deshalb die bereits gute medizinische Versorgung noch weiter Dr. Fritz Felgentreu (SPD): aus, um diejenigen aufzufangen, die unsere Hilfe benöti- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr ge- gen. Neue Screeningverfahren helfen, einsatzbedingte ehrter Herr Königshaus! Wer meiner Generation ange- psychische Störungen frühzeitig zu erkennen. An circa hört und in der Bundesrepublik aufgewachsen ist, der er- 80 Standorten haben sich psychosoziale Netzwerke innert sich zumeist noch ganz gut an Soldaten im etabliert, wo Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter und Straßenbild, und zwar nicht nur an Soldaten auf Fahr- Militärseelsorger gemeinsam Hilfe anbieten. Die Ange- zeugen in natooliv und mit einem Y-Nummernschild, hörigen werden zunehmend in die Therapieangebote ein- sondern auch an Grundwehrdienstleistende, die oft ir- gebunden. Auch die Sporttherapie nach Einsatzbeendi- gendwo unterwegs waren, sich abends amüsieren woll- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1795

Dr. Fritz Felgentreu (A) ten oder freitags auf der Heimreise die Bahnhöfe bela- stunden völlig unbemerkt 35 000 Schuss Munition ab- (C) gerten. transportiert worden sind. Diesen Vorfall, meine Damen und Herren, müssen wir unter dem Begriff der struktu- (Anita Schäfer [Saalstadt] [CDU/CSU]: Was?) rellen Überforderung einordnen, der im Bericht des Wenn Kinder und Jugendliche sie provozieren wollten Wehrbeauftragten im Zusammenhang mit den Auslands- und den einen oder anderen dummen Spruch brachten, einsätzen der Bundeswehr verwendet wird. dann bekamen sie gerne zur Antwort: Lach du nur! Dein Im Bereich des hochspezialisierten Personals doku- Stahlhelm ist schon gepresst. mentiert der Bericht das Problem detailliert: Die Flug- (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD, der verkehrskontrolle hat 20 Prozent zu wenig Personal, bei CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE den Flugberaterfeldwebeln fehlt ebenfalls ein Fünftel, in GRÜNEN) Frankfurt sogar fast die Hälfte, und von den 30 Luftum- schlagfeldwebeln, die die Bundeswehr für den Dienst im – Wir erinnern uns an solche Sprüche, nicht? Ausland braucht, hat sie acht. Eine Hubschrauberstaffel (Michael Brand [CDU/CSU]: Absolut!) der Marineflieger muss nach sechsmonatiger Pause wie- der in den viermonatigen Auslandseinsatz, anstatt sich, Diese Art von Soldatenhumor gehörte zu einer Bun- wie vorgesehen, 20 Monate regenerieren zu können, und deswehr ohne ernsthafte Nachwuchssorgen. Die Wehr- betrachtet das schon als Fortschritt. An zwei Standorten pflicht sorgte nicht nur für ausreichende Mannschafts- im Inland wurde der Flugbetrieb ausgesetzt, weil das zi- zahlen, sondern sie füllte auch die Reihen der Zeit- und vile Personal Freizeitausgleich für seine Überstunden Berufssoldaten immer wieder auf; denn es gab immer nehmen musste. Die Liste ließe sich fortsetzen; andere auch Grundwehrdienstleistende, die sich für die Bundes- Redner und Rednerinnen haben das heute bereits getan. wehr begeistern konnten und dabeigeblieben sind. Der Bericht des Wehrbeauftragten 2013 ist eine Momentauf- Das alles, meine Damen und Herren, wäre trotzdem nahme aus einer Bundeswehr, für die die Nachwuchsge- kein Grund zu vertiefter Besorgnis, wenn es nur einige winnung zu einer existenziellen Zukunftsfrage geworden wenige Spezialqualifikationen beträfe; diese Lücken lie- ist. ßen sich sicherlich schließen. Aber so ist es eben nicht. Offenbar kann die Bundeswehr die 20-monatigen Ruhe- In den Medien – Frau Bartz hat es angesprochen – ist pausen zwischen Auslandseinsätzen für viele Einheiten viel darüber diskutiert worden, dass den Wehrbeauftrag- nicht gewährleisten. Das Beispiel der Wachsoldaten ten 2013 die relativ höchste Zahl an Eingaben erreicht zeigt, dass die strukturelle Überforderung längst auch im hat. Diese Entwicklung belegt meines Erachtens vor al- Alltag des Truppendienstes angekommen ist, mit mögli- lem zwei Dinge: cherweise verhängnisvollen Folgen: Die 35 000 Schuss (B) (D) Erstens. Die Institution des Wehrbeauftragten hat die Munition aus Seedorf sind bis heute nicht wieder aufge- Neuausrichtung der Bundeswehr schadlos überstanden. taucht. Es muss wahrscheinlich unsere zweitbeste Hoff- Ganz offensichtlich brauchen Zeit- und Berufssoldaten nung sein, dass es dabei bleibt. diesen Ombudsmann nicht weniger dringend als Grund- Meine Damen und Herren, es gibt für die Personal- wehrdienstleistende. Sie bringen ihm auch das gleiche probleme der Bundeswehr auch gar keine einfache Lö- Vertrauen entgegen. Das ist Ihr Verdienst, lieber Herr sung. Im Gegenteil: Gerade die Vorschläge, die der Königshaus, und dafür gebührt Ihnen Dank. Wehrbeauftragte macht, um den Dienst in der Bundes- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) wehr familienfreundlicher und attraktiver zu gestalten – Frau Ministerin ist darauf eingegangen –, laufen auf Zweitens. Die Befürchtung vieler Soldatinnen und neue Engpässe hinaus. Vor allem die Freistellung für Be- Soldaten, eine Eingabe könne ihnen im Dienstalltag treuungsaufgaben – zum Beispiel der Vorschlag, die Be- schaden, scheint jedenfalls nicht in höherem Maße ab- treuung von Kindern unter drei Jahren als grundsätzli- schreckend zu wirken als früher. Auch das ist eine er- chen Einsatzhinderungsgrund festzuschreiben – ist zwar freuliche Entwicklung. Insofern beschreibt die hohe vollkommen richtig; aber sie wird natürlich dazu führen, Zahl der Eingaben nicht das Kernproblem dieses Be- dass gut ausgebildetes Personal dort fehlt, wo es ge- richts. braucht wird. Hellhörig müssen wir an anderen Stellen werden. Ich Der Bericht des Wehrbeauftragten beschreibt eine möchte ein Beispiel nennen: Zur Sicherheitslage im In- Bundeswehr, die sich unter einer zu kurzen Decke zu land berichtet der Wehrbeauftragte, dass Soldaten ihn bei wärmen versucht. Unter den Bedingungen des Bevölke- Truppenbesuchen vermehrt auf Probleme bei der Bewa- rungsrückgangs soll sie sich als Berufsarmee neu aus- chung von Liegenschaften angesprochen hätten. richten, ihre Fähigkeiten erhalten und ausbauen und da- (Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE bei so attraktive Arbeitsplätze vorhalten, dass für alle GRÜNEN]: Meine Rede!) Aufgaben ausreichend Personal und Ressourcen vorhan- den sind. 2013 ist das offenkundig noch nicht oder zu- Sie klagten darüber, dass die Anzahl militärischer Wa- mindest nicht so gelungen, dass das Ergebnis den selbst- chen immer mehr ausgedünnt würde und die Wachbelas- gesteckten Erwartungen gerecht wird. tung nicht zu bewältigen sei. Wie zur Bestätigung be- schäftigt sich der Verteidigungsausschuss gerade mit Meine Damen und Herren, wir sollten den Bericht einem Vorfall in der militärisch bewachten Kaserne in dennoch nicht so lesen, als sei die Bundeswehr nicht im- Seedorf, aus der vor einiger Zeit in den frühen Morgen- stande, ihre Aufgaben zu erfüllen; dazu ist sie bis heute 1796 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Dr. Fritz Felgentreu (A) immer imstande gewesen. Auch hat der Grundsatz schnell klar: Die Soldaten und Soldatinnen in unseren (C) „Breite vor Tiefe“ automatisch eine im Konzept bereits Streitkräften sollen und müssen im Mittelpunkt unseres angelegte Begrenzung der Durchhaltefähigkeit zur und meines Handelns stehen. Folge, die durch andere Maßnahmen, durch Bündniser- gänzungen, ausgeglichen werden soll; das ist ein Teil (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dieses Konzepts. Und schließlich liegt es in der Natur neten der SPD) der Sache, dass der Bericht eines Wehrbeauftragten nicht Denn wer sich heutzutage in unserer durchzivilisierten die positiven Beispiele in den Vordergrund stellt. Gesellschaft für den Dienst in der Bundeswehr entschei- Deutlich wird aber auch, dass die Bundeswehr det und damit auch für die unterschiedlichen Strapazen – und damit dieses Parlament – im Laufe der 18. Le- und Belastungen, private wie persönliche Entbehrungen, gislaturperiode grundsätzliche Fragen wird beantwor- lange Trennungszeiten von der Familie und vieles mehr, ten müssen. Wenn wir, wie wir es ja alle wollen, daran der hat die umfassende Unterstützung dieses Hauses ver- festhalten, dass es keine Reform der Reform geben soll, dient, ja sogar ein Anrecht darauf, liebe Kolleginnen und dann werden wir den Nachwuchs für die 185 000 militä- Kollegen. rischen und die 55 000 zivilen Dienstposten der Bundes- Das Anrecht muss meines Erachtens für drei Bereiche wehr dort suchen und abholen müssen, wo er ist. Nur gelten: erstens für die materielle Ausstattung und Aus- wenn es gelingt, Jugendliche aller Herkünfte und Bega- rüstung unserer Soldaten und Soldatinnen, zweitens für bungen frühzeitig an die Möglichkeit einer militärischen eine tiefgreifende Verankerung der Streitkräfte in der Karriere heranzuführen, werden wir die Soldatinnen und Mitte unserer Gesellschaft und drittens für den Schutz Soldaten ausbilden können, die die Bundeswehr braucht. unserer Soldatinnen und Soldaten bzw. die Gewährleis- (Beifall bei der SPD) tung ihrer Grundrechte nach innen wie nach außen. Ins- besondere für den dritten Punkt, den Schutz unserer Sol- Deswegen sollten wir überdenken, ob es der richtige daten und Soldatinnen, zeichnet der Wehrbeauftragte des Weg ist, die Zahl der zivilen Ausbildungsplätze, die die Deutschen Bundestages verantwortlich. Ihnen, sehr ge- Bundeswehr anbietet – derzeit sind es 5 000 –, so weit ehrter Herr Königshaus, gebührt ebenso wie Ihren Mitar- zu reduzieren, dass wir nur noch für den eigenen Bedarf beitern und Mitarbeiterinnen unser ausdrücklicher Dank ausbilden. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass wir für Ihre wichtige Arbeit. junge Menschen, die zunächst im zivilen Bereich ausge- bildet worden sind, hinterher in den weiterführenden (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Dienst der Bundeswehr übernehmen, aber möglicher- Dies ist nun für mich der erste Jahresbericht des weise nicht in dem Beruf, in dem wir sie ausgebildet ha- (B) Wehrbeauftragten, dem ich mich widme, und ich muss (D) ben, sondern als Soldatinnen und Soldaten. Auch das sagen: Ich habe Schatten, aber auch viel Licht gesehen. sollte im Hinblick auf die Rekrutierungsdebatte und die Licht habe ich insofern gesehen, als ich bei einer Einga- Nachwuchsdebatte eine Überlegung wert sein. Denn wer bequote von 27,7 auf je 1 000 Soldaten erkennen kann, glaubt, der Arbeitgeber Bundeswehr werde unter den dass in der Bundeswehr offenkundig eine Menge gut und Bedingungen des demografischen Wandels in der Kon- richtig läuft, und das, obwohl sich unsere Streitkräfte in kurrenz um talentierte junge Menschen mühelos gegen einem tiefgreifenden Wandel befinden und sich aufgrund den öffentlichen Dienst und die Wirtschaft bestehen kön- der neuen Herausforderungen, denen sich Deutschland nen, ohne sich in vielen Bereichen neu zu erfinden, den gegenübersieht, umfassend neu ausrichten müssen. belehrt der vorliegende Bericht des Wehrbeauftragten ei- nes Besseren. Das ist die Botschaft, die wir für die wei- Das deckt sich auch mit meinen ersten Erfahrungen, tere Arbeit und die weitere Planung aus diesem Bericht die ich in den Gesprächen mit unseren Soldaten im In- mitnehmen sollten. land, aber auch in den Einsatzgebieten im Ausland ge- macht habe. Ich habe dort in erster Linie nämlich eine Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. hohe Opfer- und Leistungsbereitschaft gesehen, enga- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) gierte Männer und Frauen, die sich bewusst für den Dienst in den Streitkräften entschieden haben und sehr gut um die besonderen Herausforderungen wissen, de- Vizepräsidentin Claudia Roth: nen man sich zu stellen hat, wenn man sich bei der Bun- Vielen Dank, Herr Kollege. – Das Wort hat für die deswehr verpflichtet. Deren Leistungsbereitschaft und CDU/CSU-Fraktion Gisela Manderla. deren Willen, sich einzubringen, müssen wir aktiv flan- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- kieren und unterstützen. neten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Gisela Manderla (CDU/CSU): All denjenigen, die da draußen tagtäglich einen außeror- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr dentlich guten Dienst leisten, danke ich an dieser Stelle Wehrbeauftragter! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Als ausdrücklich für ihren großartigen Einsatz. klar wurde, dass ich meinen parlamentarischen Arbeits- schwerpunkt künftig im Verteidigungsausschuss haben (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- würde und ich erstmalig darüber nachgedacht habe, wo- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE rum es mir dort gehen soll, war meine Entscheidung GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1797

Gisela Manderla (A) Man muss auch festhalten, dass auf Defizite durchaus Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß, dass das (C) reagiert wurde. Die Einbindung naher Angehöriger in Präsidium sehr großen Wert darauf legt, dass die einzel- die Nachsorge, die Einrichtung der sogenannten Härte- nen Plenarreden pünktlich beendet werden. Deshalb fall-Stiftung wie auch der gesamte Bereich der Militär- danke ich Ihnen ganz herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. seelsorge, wie es meine Kollegen und Kolleginnen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) bereits ausgeführt haben, sind durchweg positive Instru- mente, um die Soldaten und Soldatinnen bei auftreten- den Problemen zu unterstützen. Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen herzlichen Dank, liebe Kollegin, für die tat- Kommen wir nun zum Schatten. Lassen Sie es mich kräftige Unterstützung, aber Sie hätten noch 45 Sekun- ganz deutlich sagen: Bestimmte im Jahresbericht darge- den Redezeit gehabt. Das ist jetzt aber gar nicht so wich- stellte Sachverhalte sind nicht hinnehmbar. Ich will das tig. Wichtig ist, dass das ganze Haus Ihnen zu Ihrer hier klipp und klar sagen. Meine Kollegin Schäfer hat ersten Rede gratuliert. beispielsweise die Integration von Frauen in die Streit- kräfte thematisiert. Belästigungen und erst recht Über- (Beifall) griffe sind absolut inakzeptabel. Hier müssen wir künftig Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrer weiteren Arbeit noch genauer hinsehen. in einem sehr wichtigen Bereich. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Damit ist die Aussprache beendet. SPD und der LINKEN) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Exemplarisch seien hier aber auch die zum Teil viel zu Drucksache 18/300 an die in der Tagesordnung aufge- lange Bearbeitungsdauer von Anträgen, eine bisweilen führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- unzureichende, wenn nicht gar unnütze Beratung in den verstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen. Karrierecentern sowie wiederkehrende Probleme im Zu- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: sammenhang mit der Besoldung genannt. Wenn sich die Bundeswehr als attraktiver Arbeitgeber gegen die freie Beratung des Antrags der Abgeordneten Wirtschaft durchsetzen möchte, muss in diesen Berei- Elisabeth Scharfenberg, Kordula Schulz-Asche, chen dringend nachgebessert werden. , weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Unsere Ministerin hat nach meinem Dafürhalten die gegenwärtigen Defizite aufgedeckt und die nötigen Geburtshilfe heute und in Zukunft sichern – Schritte bereits veranlasst. Ihnen, liebe Frau Ministerin Haftpflichtproblematik bei Hebammen und (B) von der Leyen, möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich anderen Gesundheitsberufen entschlossen an- (D) für Ihren Einsatz danken. packen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Drucksache 18/850 neten der SPD) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Für die Umsetzung des Maßnahmenpakets zur Steige- Ausschuss für Arbeit und Soziales rung der Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehr Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sei Ihnen unsere Unterstützung gewiss. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre und Meine Damen und Herren, insbesondere vor dem sehe keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlos- Hintergrund sich ändernder Einsatzszenarien und eines sen. Wandels der Rolle Deutschlands in der Welt ist der Um- bau der Bundeswehr von einer Wehrpflicht- zu einer Ich gebe das Wort zur Eröffnung der Debatte Freiwilligenarmee eine besonders anspruchsvolle Auf- Elisabeth Scharfenberg für Bündnis 90/Die Grünen. gabe. Dieser Umbau steht – das will ich hier in aller Deutlichkeit festhalten – in seiner gesamtgesellschaftli- Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- chen Bedeutung der Energiewende oder der Reform des NEN): Rentensystems in nichts nach. Der Jahresbericht wirkt Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- dabei als eine Art Mikroskop, durch welches wir einen legen! Sehr geehrter Herr Minister! In den letzten Jahren Blick auf die Situation unseres wichtigsten Gutes be- haben wir sehr viele besorgte Zuschriften zur Situation kommen, nämlich die Situation unserer Soldaten und der Hebammen erhalten. Grund dafür sind die gestiege- Soldatinnen. Wir werden deren Wohl genau im Auge be- nen Haftpflichtprämien, die die Existenz der Hebammen halten, ohne aber die Leistungsfähigkeit unserer Streit- bedrohen. Sie sehen sich nicht mehr in der Lage, ihren kräfte aufs Spiel zu setzen; denn eines muss klar sein: Beruf auszuüben. Diese Brandbriefe bekamen wir nicht Die Bundeswehr kann und wird nie ein ziviler Arbeitge- nur von Hebammen, sondern aus allen Teilen der Bevöl- ber sein. Es gilt also, den Spagat zwischen modernem kerung, sehr häufig von Familien, die sich Sorgen ge- Soldatentum und zivilgesellschaftlichen bzw. privaten macht haben, dass sie ihr Kind nicht so zur Welt bringen Ansprüchen zu schaffen. Dafür stehen wir ein. können, wie sie sich das wünschen, zum Beispiel zu Hause oder in einem Geburtshaus. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 1798 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Elisabeth Scharfenberg (A) Meine Damen und Herren, wenn wir heute über die Hebammen werden heute sehr interessiert zuhören; auch (C) Haftpflichtversicherung der Hebammen und der Ge- sie sind auf die Ergebnisse gespannt. burtshelfer reden, dann sprechen wir nicht über dröge Versicherungsmathematik. Nein, wir reden darüber, ob Dadurch wird das Problem allerdings kurzfristig nicht werdende Eltern frei entscheiden können, wo und wie gelöst. Diese Maßnahmen – das Reden mit den Hebam- sie ihr Kind zur Welt bringen. Die Zeit drängt. Deswe- menverbänden, mit den Versicherern, mit den Kranken- gen ist die Bundesregierung jetzt gefordert, endlich et- kassen – verschaffen uns allenfalls ein bisschen Zeit. Die was zu tun. Prämien werden weiterhin steigen. Deswegen braucht es einen weiteren Schritt, um die Versicherungsbeiträge (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN real zu senken. und bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verständnisvolle Worte an die Hebammen zu richten, ist sowie bei Abgeordneten der LINKEN) das eine, Herr Minister. Sie umzusetzen, ist das andere. Auch das müssen wir noch in diesem Jahr in Angriff Seit 2003 steigen die Beiträge, die vor allem freibe- nehmen. Im Kern gibt es hier zwei Möglichkeiten: Die rufliche Hebammen für ihre Haftpflichtversicherung erste Möglichkeit ist ein Haftungsfonds. Das heißt, die zahlen müssen, über alle Maßen. Ich will hier einmal Versicherungsunternehmen kommen nur noch bis zu ei- ganz deutlich werden: Im Jahr 2003 musste eine freibe- ner festgelegten Obergrenze für Schäden auf; darüber ruflich tätige Hebamme rund 500 Euro pro Jahr für ihre übernimmt dann der Haftungsfonds die Kosten. Die Haftpflichtversicherung bezahlen. Im Juli 2010 waren es zweite Möglichkeit ist: Man begrenzt die Summen, die rund 3 700 Euro. Das entspricht einer Steigerung um sich die Sozialleistungsträger, zum Beispiel die Kran- über 700 Prozent. Und das geht so weiter. In diesem Jahr ken- oder Rentenversicherung, im Schadensfall von den sollen die Prämien bis auf 5 000 Euro steigen. Versicherungsunternehmen zurückholen können; hier (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Buh!) sprechen wir dann von der Regressbeschränkung. Zudem ist kaum noch ein privates Versicherungsunter- Beide Modelle – das wissen wir – sind nicht perfekt. nehmen überhaupt bereit, Haftpflichtversicherungen für Aber sie können zumindest für einige Zeit die Situation den Bereich der Geburtshilfe anzubieten. Nun will in der Hebammen und damit der Geburtshilfe etwas ent- diesem Jahr auch noch einer der letzten verbliebenen spannen. Diese Zeit brauchen wir, um eine grundlegende Anbieter abspringen. Reform umzusetzen. Wir als Grüne sagen, dass wir eine Berufshaftpflicht für alle Gesundheitsberufe brauchen. (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Hört! Hört!) (B) Schon jetzt steigen immer mehr Hebammen aus der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D) Geburtshilfe aus, und immer mehr Geburtshäuser schlie- und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten ßen. In strukturschwachen Gebieten ist die Geburtshilfe der SPD) auch in Krankenhäusern gefährdet. Dort schließen Ge- Nicht nur die Hebammen, nein, alle Gesundheitsberufe burtsabteilungen, oder es schließt gleich das ganze Kran- ächzen unter den steigenden Haftpflichtprämien. Die kenhaus. Meine Damen und Herren, die Wahlfreiheit Prinzipien der gesetzlichen Unfallversicherung könnten werdender Eltern ist damit schon heute massiv einge- ein Vorbild für eine gesetzliche Berufshaftpflicht sein. schränkt. Es muss jetzt etwas passieren. Das, Herr Minister, sollte die Bundesregierung ganz (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dringend und schnell untersuchen, damit wir bald ein und bei der LINKEN) tragfähiges und nachhaltiges System auf die Beine stel- len. Das Problem, das wir heute debattieren, ist nicht erst seit gestern bekannt. Die Herren Gesundheitsminister (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Rösler und Bahr haben dieses Thema weniger als halb- Herr Minister, die Hebammen und die Eltern haben herzig angefasst – und das ist freundlich formuliert. nun schon sehr lange gehört, wie kompliziert ihr Pro- (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE blem ist; das stimmt. Aber Sie hatten nun auch lange ge- GRÜNEN]: Genau! So war es!) nug Zeit, eine Lösung zu finden. Jetzt sind Sie gefragt, Herr Minister Gröhe. Sie müs- (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sen sehr kurzfristig – mit „sehr kurzfristig“ meine ich NEN]: Sie haben die letzte Legislaturperiode sofort – auf die gesetzlichen Krankenkassen einwirken, verschlafen!) damit diese mit den Hebammenverbänden in neue Ver- gütungsverhandlungen gehen. Freiberufliche Hebam- Sie müssen jetzt auch eine Entscheidung treffen; denn men müssen in der Lage sein, von ihren Honoraren die Zeit haben die Hebammen nicht mehr. Haftpflichtprämien zu bezahlen. Herr Gröhe, Sie müssen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – auch das sofort – mit den privaten Versicherungsunter- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) nehmen reden, damit diese auch weiterhin Haftpflicht- versicherungen anbieten; das haben Sie im Gesundheits- Ich sage noch einmal ganz klar: Wir reden hier nicht ausschuss angekündigt, und Sie werden ja auch gleich zu über Zahlen. Wir reden hier über das Überleben des Be- diesem Thema reden. Ich sage Ihnen ehrlich: Ich nehme rufsstandes der Hebamme. Wir reden über die Wahlfrei- Sie beim Wort. Ich bin auf Ihre Taten gespannt. Auch die heit der werdenden Mütter und Eltern beim existenziells- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1799

Elisabeth Scharfenberg (A) ten Ereignis ihres Lebens, nämlich bei der Geburt ihres den. Ich glaube, wir brauchen im Gesundheitsbereich, in (C) Kindes. der Pflege, im Krankenhaus, bei den Hebammen eine Bereitschaft, darüber in einer Weise zu reden, die weder Vielen Dank. fragwürdig dramatisiert, ja eine ganze Berufsgruppe auf (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Anklagebank setzt, noch bei den Betroffenen den und bei der LINKEN) Eindruck erweckt, wir würden geradezu Probleme unter den Teppich kehren. Vizepräsidentin Claudia Roth: Wir reden darüber, dass Menschen auch in hochan- Vielen Dank, Frau Kollegin. – Das Wort hat für die spruchsvollen Tätigkeiten Fehler machen, einen Aus- Bundesregierung Minister Hermann Gröhe. druck, den Ihr Antrag vielleicht nicht durch Zufall mei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- det, wie er überhaupt in dieser Debatte häufig vermieden neten der SPD) wird, und dass diese Fehler schwerste Folgen für andere Menschen haben können. Ich finde es gut, dass Sie in Ihrem Antrag – auch das will ich sagen – der Haltung, Hermann Gröhe, Bundesminister für Gesundheit: den Schadensersatz zu begrenzen, entgegentreten, die es Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und ja mitunter auch in der öffentlichen Debatte gibt. Dann Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäfti- würden wir Familien in dramatischen Situationen im gen uns heute mit einem Thema, das sehr viele in diesem Stich lassen. Das kann kein Weg sein. Haus – das weiß ich aus einer Fülle von Briefen – sehr intensiv umtreibt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Leider umtreiben muss!) Sie fragen: Was ist getan worden? Der Gesetzgeber hat 2011 gehandelt: Wir haben im Gesetz klargestellt, Nicht nur die Mitglieder der Berufsgruppe selbst – da dass zum 1. Januar 2012 die gesetzlichen Krankenver- haben Sie völlig recht –, sondern auch viele Mütter und sicherungen den Hebammen die Kosten der Berufsaus- Väter fragen, wie wir angesichts der Sorgen der Hebam- übung – die Haftpflichtversicherung ist in der Geset- men in unserem Land Sicherheit schaffen. Ich sage sehr zesbegründung ausdrücklich genannt – angemessen deutlich: Das Bekenntnis des Koalitionsvertrages, eine vergüten. Dies ist umgesetzt worden in Vereinbarungen ortsnahe Geburtshilfe und eine angemessene Vergütung der Hebammenverbände mit den gesetzlichen Kranken- der Hebammen in unserem Land sicherzustellen, ist versicherungen und hat erhebliche Erhöhungen der Ver- nicht nur ein Arbeitsauftrag der Koalition, sondern mir gütung zur Folge gehabt. (B) auch ein persönliches Herzensanliegen. Ich werde Ihnen (D) hier gerne über die Dinge, die wir bereits getan haben Ich hatte ein intensives Gespräch mit allen deutschen und weiter tun werden, Auskunft geben. Hebammenverbänden. Kritisiert wird, dass diese ange- messene Berücksichtigung der Haftpflichtprämie in der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Vergütung sich erst ab einer bestimmten Anzahl betreu- neten der SPD) ter Geburten auswirkt. Dies ist eine Herausforderung. Die Arbeit der Hebammen ist unverzichtbar. Sie ha- Zugleich sprechen Sie in Ihrem Antrag die Frage an, ob ben nicht nur Wertschätzung und eine angemessene Ver- es nicht aus Gründen der Qualitätssicherung – es geht gütung, sondern vor allem Sicherheit im Hinblick auf die um die Sicherheit der Frauen – notwendig sein sollte, in- Zukunft ihrer Berufstätigkeit verdient. Sie sprachen vom nerhalb eines festgelegten Zeitraums eine bestimmte einschneidendsten und schönsten Erleben, das Familien Anzahl von Geburten betreut zu haben. Das muss im Rah- mit der fachlich versierten und menschlichen Zuwen- men der entsprechenden Qualitätsrichtlinien der Selbst- dung von Hebammen verbinden: der Geburt eines Kin- verwaltung festgelegt werden. Es zeigt aber ein Span- des. Das zeigt sich ja auch an der großen Sympathie, auf nungsverhältnis auf: Mindestanzahl, gleichsam um die die Aktionen der Hebammen bei der Bevölkerung in Erfahrung zu sichern, und ortsnahes Angebot auch im unserem Land stoßen. ländlichen Raum müssen in eine vernünftige Balance ge- bracht werden. Sie haben die beiden Entwicklungen, die Sorgen be- reiten, angesprochen: die Steigerung der Haftpflichtprä- Sie haben die Regierung aufgefordert, mit der Versi- mien einerseits, eine Entwicklung der letzten Jahre, in cherungswirtschaft und mit den Krankenkassen zu spre- der Tat, und den Ausstieg eines großen Versicherungsun- chen. Ich muss Ihnen sagen: Das geschieht in hoher In- ternehmens aus dem Gruppentarif eines deutschen Heb- tensität seit Wochen. ammenverbandes andererseits, eine Entwicklung der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und letzten Woche, die eine weitere Verschärfung bedeutet. der SPD) Ihr Antrag betont dabei zu Recht – das will ich aus- Ich empfinde Ihren Antrag daher als Ermutigung, weiter drücklich sagen –, dass der Anstieg der Haftpflichtprä- intensiv zu verhandeln, bis wir ein Ergebnis erreicht ha- mie nicht auf einer Zunahme der Schadensfälle beruht. ben. Das ist selbstverständlich, und das sage ich zu. Unsere Hebammen in Deutschland leisten eine herausra- gende Arbeit. Fehler passieren sehr selten. Aber gleich- Wir haben die Versicherungswirtschaft und die Kran- zeitig gebietet es die Wahrheit, darüber zu reden, dass kenkassen in einer interministeriellen Arbeitsgruppe, die wir bei der Haftpflicht über die Haftung für Fehler re- im letzten Jahr in Folge des Bürgerdialogs der Bundes- 1800 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Bundesminister Hermann Gröhe (A) kanzlerin eingerichtet wurde, eingebunden. Wir werden bei der Umsetzung der Idee, alle Berufsgruppen zusam- (C) im April den Abschlussbericht, der auch zu den ver- menzufassen, eine Zuordnung der Prämienhöhe zum Ri- schiedenen Modellen, die Sie hier erwähnt haben, Stel- siko geben muss. Eine solche kennt auch die Unfallver- lung nehmen wird, vorstellen. sicherung. Deswegen ist auch bei diesem Modell noch lange nicht ausgemacht, ob der von Ihnen angestrebte Wir haben die Versicherungswirtschaft unmissver- Erfolg eintrifft. ständlich wissen lassen, dass wir ein überzeugendes An- gebot erwarten. Ich habe keinen Zweifel daran, dass man Ich glaube, wir brauchen sehr kurzfristig eine Verab- sich dort der Verantwortung bewusst ist. Wir brauchen redung im System, neue Gruppentarife und eine klare dringend einen – besser: mehrere – Gruppenhaftpflicht- Ansage der Krankenversicherung, die Kosten zu tragen. tarife, die entsprechend unterbreitet werden. Da zur Wir sagen Ihnen zu, die verschiedenen Modelle zeitnah, Stunde diese Verhandlungen laufen, fordere ich auch aber gründlich – den ersten Bericht erhalten Sie noch im von dieser Stelle alle Beteiligten – die Hebammenver- April – zu prüfen. bände, die beteiligten Makler, die Versicherungswirt- schaft – auf, zügig abzuschließen. Sie können sich darauf verlassen, dass wir mit ganzer Kraft daran arbeiten, den Hebammen in unserem Land (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) die Sorgen um ihre berufliche Zukunft zu nehmen. Das sind wir ihnen aufgrund ihrer unverzichtbaren Arbeit Wir haben selbstverständlich auch mit den Kranken- weiß Gott schuldig. versicherungen geredet. Dort ist man sich des Auftrags aufgrund der gesetzlichen Präzisierung, hier die entspre- Vielen Dank. chenden Kosten zu übernehmen, bewusst. Wir haben sehr darauf gedrungen, dass, wenn es zu einer Tarifstei- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie gerung kommt, diese auch zeitnah umgesetzt wird, da- der Abg. Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE mit es nicht durch Verzögerungen zu Verunsicherung GRÜNEN]) kommt. Wir werden auch die Frage zu erörtern haben, welche Staffelung vertretbar ist, um gerade auch bei ei- Vizepräsidentin Claudia Roth: ner niedrigen Anzahl betreuter Geburten ein auskömmli- Vielen Dank, Hermann Gröhe. – Für die Linke hat ches Einkommen sicherzustellen. Birgit Wöllert das Wort. Meine Damen, meine Herren, Sie fordern weiterge- (Beifall bei der LINKEN) hende Alternativen. Ich will ausdrücklich sagen: Das bisherige System von privatwirtschaftlicher Haftpflicht- Birgit Wöllert (DIE LINKE): versicherung und Kostenübernahme durch die Kranken- (B) kasse steht in einer schweren Bewährungsprobe. Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- (D) legen! Heute sage ich ausdrücklich auch: Liebe Gäste! (Birgit Wöllert [DIE LINKE]: Ja!) Sie werden gleich hören, warum ich mich heute auch an Sie wende. Ich bin in der Tat der Überzeugung, dass die Hebammen – das haben wir in den Gesprächen zugesagt, und das Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die werden Sie auch in dem Abschlussbericht finden – einen Grünen, erst einmal vielen Dank für diesen Antrag. Wir Anspruch haben, dass wir Alternativmodelle umfassend haben vor, einen ähnlichen Antrag zu stellen. Sie sind prüfen. uns etwas zuvorgekommen. Sie fordern uns in Ihrem Antrag auf, zeitnah einen (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Zu spät!) Gesetzentwurf vorzulegen, schreiben aber selbst, dass wir die verfassungsrechtliche Zulässigkeit prüfen sollen. Das ist aber nicht so schlimm. Wir wollten noch die Ant- Das weist darauf hin, wie kompliziert es ist, wenn mit ei- wort auf unsere Kleine Anfrage an die Bundesregierung nem Haftungsfonds oder einem Regressverzicht bzw. ei- zur wirtschaftlichen Lage der Hebammen und Entbin- ner Regressbegrenzung der rechtsstaatlich gebotene dungspfleger abwarten. Ich gehe davon aus, dass die Zusammenhang von Schadensverursachung und Über- Antwort dann in unsere gemeinsame Lösungsfindung nahme der Haftung begrenzt oder vollständig aufgeho- einfließen kann. ben werden soll. Das ist mit dem Justizministerium und (Beifall bei der LINKEN) mit dem Arbeitsministerium – soweit es die Rentenversi- cherung angeht – in dieser interministeriellen Arbeits- Ich denke, dass es einen großen Konsens geben wird, gruppe intensiv erörtert worden. Ich habe sowohl mit diesen Antrag im Ausschuss zu diskutieren, und es gibt Kollegin Nahles wie mit Kollegen Maas noch einmal da- sicher auch einen Konsens, eine Lösung finden zu wol- rüber gesprochen. len. Wir prüfen dies – das sage ich ausdrücklich zu –, ich Allerdings – auch das muss ich sagen – ist das Pro- halte es aber noch nicht für ausgemacht – auch da blem so neu auch wieder nicht; denn es beschäftigt und schulde ich Ihnen die Klarheit –, dass ein Systemwech- bewegt uns und ganz viele Menschen in diesem Land sel wirklich zu einer Verbesserung führt. Das von Ihnen schon seit längerem. Das gilt übrigens nicht nur für El- vorgeschlagene Modell, sich langfristig an der Unfall- tern, sondern in hoher Zahl auch für Großeltern. Ich versicherung zu orientieren, ist von der Unfallversiche- kann hier für mich sprechen. Ich möchte, dass auch alle rung selbst als untaugliches Instrument zur Begrenzung meine Enkelkinder dann meine Urenkel sicher auf die der Prämien bezeichnet worden, weil es natürlich auch Welt bringen können. Die Voraussetzungen und die ent- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1801

Birgit Wöllert (A) sprechenden politischen Rahmenbedingungen dafür ha- ten Sie einmal überlegen, dass von den 3 Milliarden (C) ben wir jetzt hier zu schaffen. Euro, die sich der Finanzminister zurückholen möchte, ein winziger Teil in zweistelliger Millionenhöhe ausrei- (Beifall bei der LINKEN) chen würde, um das Problem schnell zu lösen. Jetzt kommt mein Appell an Sie, liebe Gäste: Seit (Beifall bei der LINKEN – Dr. Georg Nüßlein gestern gibt es im Internet eine öffentliche Petition mit [CDU/CSU]: Sie haben das Problem nicht ver- der Nummer 50667 und dem Titel „Gesundheitsfachbe- standen!) rufe – Sicherstellung der flächendeckenden, wohnort- nahen Versorgung mit Hebammenhilfe“. Die Mitzeich- 2010 schlug die Linke vor, in einem Treffen zwischen nungsfrist läuft vom 19. März 2014 bis zum 16. April dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen und dem 2014. Kommen in diesem Zeitraum 50 000 Unterschrif- Hebammenverband deutliche Vergütungserhöhungen zu ten oder Mitzeichnungen über das Internet zustande, vereinbaren und auch die steigenden Haftpflichtprämien dann wird der Petitionsausschuss eine öffentliche Sit- abzusichern. Ich muss sagen: Wenigstens die Über- zung zu dieser Thematik durchführen. nahme der steigenden Haftpflichtprämien – Sie haben das vorhin angeführt – hat geklappt. Seit 2012 werden (Zuruf von der CDU/CSU: Die löst dann das diese Kosten von den gesetzlichen Krankenversicherun- Problem?) gen übernommen. Bis heute sind es bereits 27 500 Unterschriften. Das än- Anders dagegen sieht es mit der Gesamtvergütung der dert sich stündlich. Hebammen aus; denn sie ist immer noch nicht aus- (Beifall bei der LINKEN – Hubert Hüppe kömmlich, wie ich das schon sagte. Zur Hebammentätig- [CDU/CSU]: Und wie heißen die?) keit gehört eben noch viel mehr, als Kinder auf die Welt zu holen. Hebammentätigkeit – so haben wir es uns von Stündlich erfolgen mehr als 1 000 Mitzeichnungen im den Hebammen erklären lassen – ist vor allem auch die Internet, Betreuung der Mütter vor und nach der Geburt, und zwar (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Aufzählen! über einen längeren Zeitraum. Ich denke, das müssen wir Vorlesen!) uns auch etwas kosten lassen. und ich fordere Sie auf, dazu beizutragen, dass die gefor- (Beifall bei der LINKEN) derte Zahl deutlich überschritten wird. Sie alle haben das 2010 stellte die Linke fest: Eine flächendeckende Ver- mit in der Hand. sorgung mit Geburts- und Hebammenhilfe ist gefähr- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten det. – Vorige Woche, also vier Jahre später, wurde im (B) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bundesrat ein Entschließungsantrag zum gleichen (D) Thema behandelt. So ein langer Zeitraum ist beschä- Ich möchte mich an dieser Stelle auch noch einmal mend. Was hat sich eigentlich in diesen vier Jahren ge- bei der Initiatorin, Frau Schmuck aus Ingolstadt, recht tan? Machen Sie es besser als Ihr Kollege von der FDP! herzlich bedanken. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Schon vor rund vier Jahren hat meine Fraktion, Die NIS 90/DIE GRÜNEN) Linke, hier einen ähnlichen Antrag wie heute Bünd- nis 90/Die Grünen eingebracht, und zwar mit dem Titel Zur Situation in meiner Heimatregion Cottbus-Spree- „Versorgung durch Hebammen und Entbindungspfleger Neiße kann ich sagen: Dort gab es 2004 noch insgesamt sicherstellen“. Das heißt, mindestens seit diesem Zeit- vier Entbindungsstationen. Entbindungsstationen gibt es punkt beschäftigt uns diese Frage. Die Hebammen wa- jetzt nur noch in Cottbus und Forst, womit ihre Zahl auf ren damals nämlich in der gleichen miesen Situation. zwei abgesenkt worden ist. In Spremberg haben wir des- halb aus der Not eine Tugend gemacht und 2005 ein 2010 stellte die Linke fest, dass nur noch 30 Prozent Geburtshaus am Krankenhaus gegründet. Die dort frei- der Hebammen und Entbindungspfleger von ihrem Be- beruflich tätigen Hebammen haben eine verantwortungs- ruf leben können. Wie sieht es jetzt, vier Jahre später, volle Arbeit. Die Menschen aus Spremberg und der aus? Nach Presseangaben, die wir alle reichlich verfol- Region nehmen diese Einrichtung gut an. Aber die Heb- gen können, lagen die Stundenlöhne einer freiberufli- ammen sind jetzt schon wieder in einer Notsituation. Da chen Hebamme oder eines Entbindungshelfers zwischen haben wir sie gefälligst herauszuholen. 2011 und 2014 bei durchschnittlich 7,50 Euro bis 8,50 Euro. Angemessener Verdienst für diese verantwor- (Beifall bei der LINKEN) tungsvolle Tätigkeit sieht wohl anders aus. Es ist für junge Leute nicht attraktiv, einen Beruf mit (Beifall bei der LINKEN) solchen Aussichten zu ergreifen. Ein Beispiel ebenfalls aus Brandenburg: Nur im Carl-Thiem-Klinikum in Cott- Für ein so reiches Land wie Deutschland ist es ein- bus gibt es hierzu alle drei Jahre einen Ausbildungslehr- fach nur beschämend, wie wir mit den Menschen umge- gang mit 17 Plätzen. Diese 17 Plätze sind seit 2007 noch hen, die unserer Zukunft – so nennen wir unsere Kinder nie vollständig belegt gewesen. so schön vollmundig – auf die Welt helfen. Ich denke, Herr Minister, da tragen Sie eine Verantwortung. Aus ( [CDU/CSU]: Ändern Sie das Steuermitteln werden im Bereich Gesundheit vor allem doch in Brandenburg! Da sind Sie doch an der versicherungsfremde Leistungen bezahlt. Vielleicht soll- Regierung!) 1802 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Birgit Wöllert (A) So viel zur Motivation für junge Leute. Ich sage auch in aller Klarheit: Das Problem ist nicht (C) so simpel zu lösen, indem man einen Antrag einbringt, Während wir in unserem Antrag 2010 noch konsta- in dem – seien wir doch ehrlich miteinander – so gut wie tierten, dass die Gründe für diese Entwicklung unklar nichts steht. seien, wissen wir heute: Es gibt Gründe für die Steige- rung der Prämien. Deshalb ist es richtig, zügig nach ei- (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: ner Neuordnung der Berufshaftpflicht für Gesundheits- Was wollen Sie denn haben?) berufe zu sorgen. Darin steht nur, dass wir für dieses große Problem eine ( [CDU/CSU]: Das hat der Minister Lösung finden müssen. Herzlichen Glückwunsch! Das doch gar nicht infrage gestellt, dass das pas- wissen wir seit vier Jahren, meine sehr verehrten Damen siert!) und Herren. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Fachgebiete und Tä- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tigkeiten mit einem hohen Haftungsrisiko nicht zwin- der CDU/CSU – Elisabeth Scharfenberg gend zu hohen Prämien führen müssen; denn im Inte- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann wird es resse der Daseinsvorsorge brauchen wir sowohl die jetzt Zeit!) risikostärkeren als auch die risikoärmeren Gesundheits- leistungen für unsere Bevölkerung. Deshalb sind jetzt Zunächst einmal ist es so: Wir haben in Deutschland die verschiedenen Modelle im Gespräch. eine gute Versorgung mit Hebammen. Ich freue mich auf eine konstruktive Diskussion mit (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- einem möglichst schnellen und langfristig haltbaren Er- NEN]: Noch!) gebnis. Das Kernproblem liegt darin, dass es derzeit eine kleine Danke. Gruppe von Hebammen gibt, für die die Versicherungs- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten prämie nicht bezahlbar ist. Das sind im Wesentlichen die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) freiberuflichen Hebammen. 10 Prozent der Hebammen arbeitet ausschließlich freiberuflich. Diese Hebammen betreuen im Durchschnitt 18 Geburten pro Jahr. Die Vizepräsidentin Claudia Roth: Hälfte betreut weniger als zehn Geburten pro Jahr. Die Vielen Dank, Frau Kollegin. – Das Wort hat für die Versicherungsprämie beträgt aber 5 000 Euro pro Jahr. SPD-Fraktion Dr. Karl Lauterbach. Das ist ungerecht; denn es entspricht einem Betrag von (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 500 Euro pro Geburt. Dass das nicht funktionieren kann, (B) der CDU/CSU) ist uns klar. Daran ändert die Verlagerung derselben Ver- (D) sicherung zu einem anderen Versicherungsträger – ob Dr. Karl Lauterbach (SPD): Unfallversicherung oder Rentenversicherung – mit ei- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und nem einzigen Anbieter überhaupt nichts. Herren! Die Kritik, dass sich in der schwarz-gelben (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Koalition im Bereich der Hebammenversorgung nicht viel bewegt hat, habe ich selbst in der letzten Legislatur- Die Frage ist, wie hoch die Kosten der Versicherung periode vorgetragen. Aber diese Kritik ist heute schlicht mit Blick auf die Zahl der Geburten sind. Wir arbeiten und ergreifend unfair. fieberhaft an einer guten und rechtssicheren Lösung. Das ist viel komplizierter, als Sie es in populistischer Art und (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Weise erscheinen lassen. CDU/CSU – Zuruf von der LINKEN: Wo ist da die Logik?) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE Denn wir haben gemeinsam in den Koalitionsvertrag GRÜNEN]: Was ist denn populistisch an unse- aufgenommen, die Hebammenversorgung sicherzustel- rem Antrag?) len, und wir, Herr Gröhe, die Unionsfraktion und meine Fraktion, haben die Arbeit daran sofort aufgenommen Wir lehnen eine Lösung mit einer Schadensbegren- und das auch kommuniziert. Wir sind sofort mit den zung – darin stimme ich Minister Gröhe und meinen Hebammenverbänden in Gespräche getreten, mit den Vorrednern zu –, die zulasten der Kinder und Eltern geht, kleinen Verbänden wie mit den großen. Wir haben mit kategorisch ab. einzelnen Repräsentanten der Hebammen gesprochen. Noch während der Koalitionsverhandlungen habe ich (Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE Teile der Petition entgegengenommen. Wir kommunizie- GRÜNEN]: Wir auch! – Maria Klein- ren ständig Zwischenergebnisse. Ich frage daher: Ist es Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: nicht so, dass hier auch ein bisschen Populismus betrie- Das tun alle! Das ist eine Unverschämtheit!) ben wird, wodurch bei den Hebammen der Eindruck ent- Das ist mit uns nicht zu machen. steht, wir würden nichts tun, derweil wir mit voller Kraft an diesem Thema arbeiten? (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Die Deckungssumme im Gruppenvertrag für die Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Hebammen beträgt derzeit 6 Millionen Euro. Diese NEN) Deckungssumme wollen wir nicht reduzieren, egal wie Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1803

Dr. Karl Lauterbach (A) die Lösung aussieht. 1,5 Prozent der Schäden machen deren Arbeit eine Mischform darstellt. Wir wollen diese (C) 50 Prozent der gesamten Schadenssumme aus. All diese ganze Vielfalt erhalten. Dann ist aber ein Schnellschuss, Schäden sind teurer als 1,5 Millionen Euro pro Kind. Für wie ihn – bei allem Respekt – der vorliegende grobe An- diese schweren Fälle brauchen wir eine Lösung, aber trag darstellt, nicht möglich. keine populistische, (Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: GRÜNEN]: Das ist kein Schnellschuss!) Was ist daran populistisch, bitte?) Wir arbeiten seit Wochen an diesem Thema. Wir sondern eine Lösung, die rechtlich trägt – auch verfas- haben gerade die Anhörung der Verbände ausgewertet. sungsrechtlich – und die bezahlbar ist, Die Lösungen, die wir derzeit erarbeiten, werden recht- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) lich und inhaltlich geprüft. Wir brauchen noch ein paar Wochen. Aber dann legen wir etwas vor, was in den letz- sowohl von den Geburtshäusern als auch insbesondere ten Jahren nicht zustande gekommen ist. Wir brauchen von den Hebammen, die nur wenige Geburten begleiten. aber Geduld. Wir wollen die Qualität verbessern. Wir (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der wollen zudem die Hebammenversorgung auf dem Land CDU/CSU) ausbauen. Es geht nicht nur um Erhalt. Auf dem Land gibt es großflächige Versorgungsdefizite. Diese wollen In dem jetzigen System ist es sogar so, dass Hebam- wir beheben. men, die viele Geburten betreuen, einen Gewinn machen, weil die durchschnittlichen Kosten pro Geburt Verbesserung der Qualität sowie Sicherstellung der für die Abdeckung der Versicherung bei jemandem, der Versorgung auf dem Land und der Vielfalt sind unsere 100 Geburten pro Jahr begleitet, die tatsächlichen Ziele. Für eine entsprechende Lösung brauchen wir noch Kosten der Versicherung übersteigt. Daher ist der Ehr- ein paar Wochen. Aber wir arbeiten fieberhaft daran. Ich lichkeit halber und zur Vermeidung von Populismus bitte um das notwendige Vertrauen. Bitte hetzen Sie die auch darauf hinzuweisen, dass es innerhalb der Hebam- Hebammen nicht auf! menverbände Unstimmigkeiten darüber gibt, wie das (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Problem zu lösen ist. Denn das jetzige System funktio- NEN]: Jetzt ist es aber gut! – Elisabeth niert für einige Hebammengruppen sehr gut. Sie wollen Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- eine Lösung innerhalb dieser Logik. Andere Gruppen NEN]: Jetzt langt es aber!) kommen zu kurz. Für die Gruppen, die zu kurz kommen, brauchen wir eine Lösung. Dafür treten wir an. Vizepräsidentin Claudia Roth: Wir brauchen zudem dringend – damit bin ich bei ei- (B) Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Lauterbach. (D) nem Punkt, der bei allem, was wir bisher angesprochen haben, viel zu kurz gekommen ist – eine Qualitätsstudie, aus der hervorgeht, wie gut unsere Hebammenversor- Dr. Karl Lauterbach (SPD): gung eigentlich ist, wie stark die Qualität davon abhängt, Ich komme zum Schluss. – Es darf nicht der Eindruck wie und wo die Geburt erfolgt und ob es einen Zusam- entstehen, dass wir dieses Thema nicht ernst nehmen. menhang zur Zahl der Geburten gibt. Das alles ist in Das tun wir sehr wohl. Das ist für uns eine Herzensange- Deutschland nicht bekannt. Aus meiner Sicht ist es fahr- legenheit. lässig, nur eine Versicherungslösung zu fordern, ohne Vielen Dank. sich für die Qualität der Versorgung zu interessieren. (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) GRÜNEN]: Sie haben den Antrag noch nicht einmal gelesen!) Vizepräsidentin Claudia Roth: Die Beseitigung dieser Informationsdefizite sind wir den Danke, Herr Kollege. – Nächste Rednerin ist Kordula Kindern und den Eltern schuldig. Daher werden wir eine Schulz-Asche für Bündnis 90/Die Grünen. Lösung finden, die auf einer Untersuchung der Qualität der Hebammenversorgung und der Geburtshilfe in Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Deutschland basiert. NEN): (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Dr. Lauterbach, ich möchte mit Nachdruck Wir wollen eine zeitnahe Lösung. Die Lösung soll Ihren Vorwurf zurückweisen, unser Antrag sei populis- sicher, insbesondere rechtssicher sein. Sie soll die Kos- tisch. ten gerecht verteilen. Wir wollen – dazu bekennen sich die SPD und die Große Koalition klipp und klar – die (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Lösungs- Vielfalt der Geburtsmöglichkeiten erhalten. Wir wollen orientiert ist er nicht!) die Hausgeburt, die Klinikgeburt und die Beleggeburt Ich verbitte mir auch Ihren Vorwurf, wir würden Lösun- genauso wie Geburten in Geburtshäusern. Die Vielfalt gen zulasten der Eltern und ihrer betroffenen Kinder vor- soll erhalten werden, genauso wie die unterschiedlichen schlagen. Möglichkeiten, als Hebamme zu arbeiten. Wir wollen die rein freiberuflich tätige Hebamme, die Belegheb- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN amme, die Klinikhebamme genauso wie die Hebamme, und bei der LINKEN) 1804 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Kordula Schulz-Asche (A) Ich verbitte mir diesen Vorwurf und fordere Sie aus- Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) drücklich auf, zu der sachlichen Ebene zurückzukehren, NEN): die heute dankenswerterweise der Gesundheitsminister, Ich beantworte sie gleich; denn ich habe sie schon ge- Herr Gröhe, beschritten hat. hört. Es geht um die Frage, was jetzt konkret zu tun ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Sie haben über die letzte Legislaturperiode geredet. Lassen Sie ihn doch die Frage stellen, Frau Kollegin. Aber das Problem, das heute auf der Tagesordnung steht, nämlich die steigenden Haftpflichtversicherungsprämien Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- für Hebammen, ist viel älter. Sie waren schon einmal an NEN): einer Großen Koalition beteiligt und hätten agieren kön- Gut, dann lasse ich ihn sie stellen. nen. Die Haftpflichtversicherungsprämien für Hebam- men haben sich in den letzten zehn Jahren vervielfacht. Es ist daher billig, dass Sie nur auf die letzte Legislatur- Vizepräsidentin Claudia Roth: periode zurückschauen und denjenigen, die konkrete Herr Weiler, Ihre Frage bitte. Vorschläge machen, Aktionismus vorwerfen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Albert Weiler (CDU/CSU): sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ich habe nur eine kurze Bitte. Ich beschäftige mich seit dem Eintritt in den Bundestag – ich bin hier neu – Wir sind nun in einer Situation, wo schnell gehandelt mit dem Thema Hebammen. Ich war selber in den Ge- werden muss; denn wenn nicht schnell gehandelt wird, burtshäusern. Ich habe Ihrer Kollegin Anja Siegesmund dann bedeutet das, dass sich das Problem dadurch löst, aus Thüringen vor längerem einen Brief geschrieben und dass alle freiberuflich tätigen Hebammen ihre Arbeit um eine konstruktive Zusammenarbeit gebeten; denn aufgeben werden. Das kann nicht im Interesse einer gu- auch ich als CDU-Mitglied bin an einer Lösung interes- ten Geburtshilfe in Deutschland liegen. siert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Es wäre sehr schön, wenn Sie mir weiterhelfen könn- ten, dass meine Frage nach der Möglichkeit einer konst- Lassen Sie mich angesichts der heutigen Diskussion ruktiven Zusammenarbeit beantwortet wird. einen Dank an die Hebammen aussprechen, die nicht Danke schön. (B) erst seit gestern, sondern schon seit Jahren mit zuneh- (D) mend einfallsreicheren Aktionen auf ihre Situation hin- weisen. Dazu gehört auch diese Petition. Herzlichen Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dank an die Hebammen, die immer wieder bereit waren, NEN): auf dieses Problem hinzuweisen, und nicht aufgegeben Ich antworte gerne auf die Bemerkung. Selbstver- haben. ständlich werde ich Ihre Bitte weitergeben. Vielleicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wird in dem Antwortschreiben einiges von dem stehen, und bei der LINKEN) was ich gleich sage. Aber es geht nicht nur um den Beruf der Hebammen, Es stellt sich jetzt die Frage: Was ist zu tun? Ich sondern es geht auch um die gesellschaftliche Grund- glaube, dass es verschiedene Ebenen gibt. Wir müssen frage: Haben Eltern in unserem Land die Wahlfreiheit, zum einen kurzfristig handeln. Herzlichen Dank, Herr Minister Gröhe, dass Sie darauf eingegangen sind; denn (Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Was schlagen Sie die Krankenkassen und die Berufshaftpflichtversiche- denn vor?) rungen müssen doch ihrer gesellschaftlichen Verantwor- in welcher Art und Weise sie Kinder auf die Welt brin- tung in ihrem Bereich nachkommen und den Beruf der gen wollen? Hebamme kurzfristig finanziell absichern. Wir brauchen zum anderen mittelfristige Lösungen, wie das im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zusammenhang mit dem Haftungsfonds oder anderen Die Wahlfreiheit der Eltern ist ein hohes Gut. Dazu ge- Lösungen diskutiert wurde. Wir brauchen ferner eine hört die Hausgeburt, dazu gehört die Geburt im Geburts- Berufshaftpflicht für alle Gesundheitsberufe, wie es hier haus, und dazu gehört die Geburt in der Klinik. Das ist besprochen wurde. Natürlich brauchen wir eine regelmä- das, was heute entschieden wird; denn wenn die Geburt ßige Bestandsaufnahme, die zeigt, ob die flächende- im Geburtshaus und die Hausgeburt wegfallen, dann gibt ckende und gute geburtshilfliche Versorgung in Deutsch- es keine Wahlfreiheit mehr. land gesichert ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Claudia Roth: Vizepräsidentin Claudia Roth: Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Frau Kollegin, ich bitte Sie: Sie müssen zum Ende Ih- Kollegen Weiler von der CDU/CSU-Fraktion? rer Rede kommen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1805

(A) Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ganz offen: Ich bin ganz klar gegen Polemik bei diesem (C) NEN): Thema. Ich bin ganz klar gegen gefühlsduselige Petitio- Das mache ich auch. – Das sollte unser Ziel sein: eine nen. flächendeckende, gute Versorgung in der Geburtshilfe. (Widerspruch bei der LINKEN) Ich freue mich auf die Zusammenarbeit und die Diskus- sion unseres Antrags. Ich glaube, das ist nicht im Interesse der Mütter und Vä- ter und nicht im Interesse der Hebammen. Die Hebam- Danke schön. men haben Sachlichkeit verdient; Herr Lauterbach und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herr Minister Gröhe haben es angesprochen. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD]) Vizepräsidentin Claudia Roth: Danke, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist Kollege Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Regierungsko- Dr. Roy Kühne für die CDU/CSU-Fraktion. alition weiß um die Wichtigkeit und die Leistungen der Hebammen. Es ist notwendig, dass Hebammen flächen- (Beifall bei der CDU/CSU) deckende Angebote für junge Familien machen. Deshalb ist im Koalitionsvertrag ganz klar festgeschrieben, die Dr. Roy Kühne (CDU/CSU): Versorgung mit Geburtshilfe sicherzustellen sowie für Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr eine angemessene – da stimme ich Ihnen völlig zu – Ver- Minister Gröhe! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr gütung zu sorgen. Herr Minister Gröhe und viele Mit- geehrte Damen und Herren! Ich denke, dieses Thema glieder der Regierungskoalition haben in den letzten Ta- heute ist mit Blick auf die Zukunft ganz besonders wich- gen viele konstruktive Gespräche mit den Hebammen tig. geführt. Dadurch ist viel Klarheit geschaffen worden, worin die Brisanz dieses Themas liegt. Die Hebammen und Entbindungspfleger in Deutsch- land leisten eine hervorragende Arbeit. Diese Leistungen Die aktuelle Situation der Hebammen in Deutschland werden überhaupt nicht infrage gestellt. Ihre Zuwendun- ist natürlich von dem Problem der gestiegenen Haft- gen und ihre Leistungen in der Vorsorge und in der pflichtprämien stark geprägt. Eine kostendeckende und Wochenbettbetreuung sind für Schwangere und junge auskömmliche Tätigkeit ist momentan zugegebenerma- Eltern von besonderer Bedeutung. Die Geburtshilfe der ßen schwer möglich. Aber man muss auch sagen, dass in freiberuflichen Hebammen ermöglicht vielen Schwange- Anbetracht dieser Tatsache bereits Veränderungen der ren die freie Wahl ihres Entbindungsortes. Das ist wich- Vergütungsstrukturen stattfanden. Das von der schwarz- tig. Dies gilt aber nicht nur für Hausgeburten oder die gelben Koalition 2012 verabschiedete GKV-Versor- (B) Entbindung in einem Geburtshaus, sondern auch für die gungsstrukturgesetz beinhaltet positive Änderungen. In (D) Betreuung durch sogenannte Beleghebammen in Kran- § 134 a Abs. 1 Satz 3 werden die Kostensteigerungen für kenhäusern selber. die freiberuflichen Hebammen berücksichtigt. Das Betreuungsangebot der Hebammen trägt in er- (Birgit Wöllert [DIE LINKE]: Ja!) heblichem Maße dazu bei, dass Schwangerschaften ei- Das wurde bereits mehrmals gesagt. Darunter fallen nen positiven Verlauf haben. Ich glaube, das ist uns allen auch die steigenden Haftpflichtprämien. Das GKV-Sys- wichtig. Darüber hinaus bietet es werdenden Müttern tem beteiligt sich an diesen Kosten. In den letzten Jahren und Vätern Zeit und Raum, sich mit der Problematik zu ergaben sich daraus Vergütungssteigerungen im zwei- beschäftigen, in Kursen zu erlernen, mit welchen Aktio- stelligen Bereich. Zudem wird aktuell pro Hausgeburt nen und Reaktionen sie zu rechnen haben. Sie können ein Ausgleich von 200 Euro für die steigenden Versiche- sich damit theoretisch auseinandersetzen, um sich auf rungsprämien gezahlt. die Aufgabe als Eltern ausreichend vorzubereiten. Nichtsdestotrotz muss über die derzeitige Lage der Ängste der Frauen vor der Geburtssituation können in Hebammen in Deutschland intensiv diskutiert werden, ruhiger, eventuell häuslicher Atmosphäre ausreichend be- und das tun wir auch. Aus diesem Grund gab es inner- sprochen und durch das Erlernen von geburtserleichternden halb der interministeriellen Arbeitsgruppe intensive Techniken sogar abgebaut werden. In der Wochenbettbe- Gespräche mit allen beteiligten Gruppen. Diese gin- treuung – das heißt in der Zeit nach der Geburt – können gen über die Haftpflichtproblematik hinaus und tan- aufkommende Probleme im neuen Familienalltag, die gierten – es wurde schon angesprochen – ebenfalls durchaus Stress bedeuten können, direkt in einer Eins-zu- Themen wie die Ausbildung und Weiterbildung von eins-Betreuung gelöst werden. Hebammen und natürlich die Qualitätssicherung in Viele von Ihnen können sich vielleicht noch daran er- der Geburtshilfe. innern, wie sie sich als junge Eltern in der Zeit nach der Meine Damen und Herren, ich glaube, wir alle sind Geburt fühlten. Manchmal sind diese Zeiten geprägt von uns einig: Die Qualität der Versorgung hat im Gesund- Angst – Angst davor, mit der Aufgabe Kindesbetreuung heitswesen höchste Priorität. Das müssen wir als Bun- überfordert zu sein, oder davor, für kleine Aufgaben des desregierung den werdenden Müttern und Vätern immer alltäglichen Lebens keine Lösung zu finden. Ich glaube, wieder sagen. viele junge Eltern wissen, was ich damit meine. Auch meine Frau und ich waren froh, vor, während und nach (Beifall bei der CDU/CSU – Harald Weinberg der Geburt unserer Kinder eine Hebamme an unserer [DIE LINKE]: Wir sind immer noch Legisla- Seite zu haben. Aber dennoch, Frau Wöllert, sage ich tive, nicht Exekutive! Gewaltenteilung!) 1806 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Dr. Roy Kühne (A) Wenn wir aber über Qualität und Qualitätssicherung leben heute nicht die erste Debatte in dieser Sache, und (C) reden, brauchen wir Daten. Ich fordere alle beteiligten nicht zum ersten Mal solidarisieren sich die Mitbürgerin- Seiten auf, die Datenlage zügig zu verbessern. Wir brau- nen und Mitbürger berechtigterweise mit dem Anliegen chen dies, damit die Argumentationsgrundlage für Dis- der Berufsverbände. Die Empörung ist verständlich. Der kussionen in der Zukunft geschaffen ist. Ich möchte eine drohende Ausstieg des letzten Versicherers zwingt zum Diskussion aufgrund von Fakten führen. Handeln, und es wird auch gehandelt. Der Minister und Karl Lauterbach haben geschildert, dass alle Beteiligten Wie Herr Minister Gröhe bereits angesprochen hat, ressortübergreifend an Lösungsmöglichkeiten arbeiten. wird der erste Bericht der Arbeitsgruppe im Verlauf des Aprils erwartet. Ich erwarte von der Arbeitsgruppe ganz SPD und Union haben das im Koalitionsvertrag ver- konkrete Vorschläge, und ich glaube, die werden wir einbart. Der Bundesrat hat eine Entschließung verab- auch bekommen. Ausgehend von dieser Grundlage müs- schiedet. Heute liegt uns ein Antrag der Grünen vor. Das sen dann weiter gehende Diskussionen geführt werden. ist ein wichtiges Signal an die Hebammen: Es wird be- Ich betone mit Blick auf die Interessen der Hebammen: reits intensiv und gemeinsam nach Lösungen gesucht. Wir brauchen eine sehr zeitnahe Umsetzung von konkre- ten Maßnahmen, damit den Hebammen in Deutschland (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ein ganz klares Signal gesendet wird. der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, ich bin mir sicher, dass in diesem Haus bei diesem Thema Einigkeit zu zwei Punk- Mir ist es aber auch wichtig, heute noch eine andere ten herrscht: Botschaft auszusenden, nämlich die, dass in Deutschland die Geburtshilfe insgesamt nicht in Gefahr ist. Weder Erstens. Die ambulante Versorgung durch Hebammen steht ein Berufszweig vor dem Aus, noch werden in Deutschland soll flächendeckend erhalten werden. Schwangere alleingelassen. Auch das Wahlrecht wollen wir nicht zur Disposition stellen. So emotional das Zweitens. Es geht – das ist für mich als Vater und Thema auch ist, meine sehr verehrten Damen und Her- auch für die Damen und Herren, die oben auf der Tri- ren: Wir alle sollten uns um eine Versachlichung der De- büne sitzen, sehr wichtig – um die Gesundheit von Mut- batte bemühen. ter und Kind. Das sollten wir bei dieser ganzen Diskus- sion nicht vergessen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Zur sachlichen Darstellung gehört, dass in Deutsch- neten der SPD – Elisabeth Scharfenberg land fast alle Geburten, nämlich 98 Prozent, in einem [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben Krankenhaus erfolgen. Nur etwa 2 Prozent der Frauen (B) das nicht vergessen!) entscheiden sich für eine außerklinische Geburt, zu (D) Auch die Koalition weiß um die Dringlichkeit dieser Hause oder in einem Geburtshaus. Maßnahmen. Gerade deshalb müssen diese Maßnahmen (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE rechtlich abgesichert und nachhaltig sein. Keinem ist mit GRÜNEN]: Wenn wir noch ein bisschen ab- einem überhasteten Antrag geholfen, der fordert, diese warten, sind es 100 Prozent!) gesamtgesellschaftliche Aufgabe mit Schnellschüssen abzuhandeln. Um diese Geburten kümmern sich bundesweit circa 3 500 freiberufliche von insgesamt 21 000 Hebammen. (Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vier Stufen! Die sind nicht über- Die Zahlen des IGES von 2012 zeigen: Im Kranken- hastet! Das ist kein Schnellschuss!) haus werden etwa 20 Prozent der Geburten von Freibe- ruflichen betreut, die dort als Beleghebammen arbeiten. Wir brauchen harte Fakten. Warten Sie also bitte den Be- Viele Beleghebammen begleiten zusätzlich auch Haus- richt der Arbeitsgruppe ab, damit wir tragfähige langfris- geburten und kommen mit den Zuschlägen der Kassen tige Lösungen finden – im Interesse von werdenden für die Prämien gerade so über die Runden; das ist schon Müttern und Vätern. dargestellt worden. Existenzbedrohend ist die Situation Danke für Ihre Aufmerksamkeit. natürlich für die Hebammen, die ausschließlich im au- ßerklinischen Bereich arbeiten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Es steht also nicht die gesamte Geburtshilfe infrage, meine sehr verehrten Damen und Herren, sondern es geht um ein Problem der Berufshaftpflicht für einen Teil Vizepräsidentin Claudia Roth: der Hebammen und bei einem kleinen Teil der Geburten. Vielen Dank, Herr Kollege Kühne. – Das Wort hat Aber ganz klar ist: Dieses Problem muss dringend gelöst Bettina Müller für die SPD-Fraktion. werden. Die Hebammen sollen sich nicht länger von ei- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ner Vereinbarung mit den Krankenkassen zur anderen hangeln müssen. Auch die Versicherungswirtschaft darf sich nicht aus der Verantwortung stehlen. Bettina Müller (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Die Protestaktionen der Hebammen wegen der Berufs- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE haftpflicht begleiten uns nun schon einige Jahre. Wir er- GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1807

Bettina Müller (A) Der Antrag der Grünen geht insofern in die richtige Vizepräsidentin Claudia Roth: (C) Richtung, als eine langfristige Neuordnung der Berufs- Vielen Dank, Frau Kollegin Müller. – Nächster Red- haftpflicht für die Gesundheitsberufe gefordert wird. ner in der Debatte ist Erich Irlstorfer – ich hoffe, ich Aber über diese Überlegungen besteht ohnehin Konsens habe es einigermaßen bayerisch ausgesprochen – für die zwischen allen Akteuren. CDU/CSU-Fraktion. (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU) GRÜNEN]: Ach?) Erich Irlstorfer (CDU/CSU): Wir müssen jedoch auch die langfristigen Perspekti- ven für die Geburtshilfe sehr viel mehr in den Fokus rü- Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kolle- cken. Mit Blick auf die Trends und Herausforderungen gen! Wir besprechen heute einen Antrag der Fraktion in der Gesundheitsversorgung ist die Haftpflicht letztlich Bündnis 90/Die Grünen zur aktuellen Debatte über Heb- nur ein Thema unter vielen, wenn auch ein drängendes. ammen. Das heutige Thema ist seit Wochen Gegenstand Der Blick auf andere wichtige Fragestellungen darf hier- breiter gesellschaftlicher Diskussionen. durch jedoch nicht verstellt werden. In den vergangenen Jahren sind die Kosten für die Haftpflichtversicherung der Hebammen drastisch gestie- Die Geburtshilfe in der Fläche, im unterversorgten gen. Sie haben sich in zehn Jahren nahezu verzehnfacht. ländlichen Raum, muss auch bei weiter sinkenden Ge- Die Prämien liegen aktuell bei 4 000 bis 5 000 Euro pro burtenzahlen sichergestellt sein. Das gilt für Geburten Jahr. Angestellte Hebammen sowie solche, die keine Ge- im Krankenhaus ebenso wie für Hausgeburten. burtshilfe leisten, sind von den Kostensteigerungen nicht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten betroffen. der LINKEN) Grund für die Kostensteigerungen sind die hohen Summen, die inzwischen vor Gerichten für Geburtsschä- Die Geburtshilfe ist aber auch hier nur Teil einer Debatte den erstritten werden. Anders als von einigen angenom- um künftige Versorgungsstrukturen und damit Teil eines men – das möchte ich in dieser Diskussion betonen –, ohnehin notwendigen Gesamtkonzeptes. hat sich die Höhe der Haftpflichtprämien nicht aufgrund Die hohe Anzahl der Entbindungen durch Belegheb- einer Zunahme von Hebammenfehlern erhöht. Dank des ammen ist ein Beispiel, wie Krankenhäuser schon jetzt medizinischen Fortschritts können Menschen mit Behin- mit Sparzwängen umgehen: Geburtsstationen werden ab- derungen in der Folge solcher Fehler mit ihren Beein- gebaut, Leistungen werden outgesourct und an Belegheb- trächtigungen deutlich länger als früher leben. Daher (B) ammen abgegeben. Natürlich garantieren Beleghebammen sind die Schadensersatzsummen deutlich angestiegen. (D) das Wahlrecht der Frauen, sich – völlig zu Recht – eine Als Union haben wir die Situation der Hebammen Hebamme ihres Vertrauens auszusuchen. Aber mir als So- auch weiterhin im Blick. Die zuvor schon mehrfach an- zialdemokratin wäre es natürlich schon lieber, diese Heb- gesprochene Arbeitsgruppe unter Beteiligung der Heb- ammen hätten dann eine ordentlich bezahlte Festanstellung ammenverbände wurde einberufen, um sämtliche und eine vom Krankenhaus bezahlte Haftpflichtversiche- wichtigen Aspekte der Hebammenversorgung näher rung und kein prekäres, freiberufliches Arbeitsverhältnis, zu untersuchen. Zur Klärung der Problematik ist auch mit dem sie kaum über die Runden kommen. – ich glaube, das ist wichtig – der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft mit einbezogen (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Erich worden. Der Abschlussbericht dieser Arbeitsgruppe Irlstorfer [CDU/CSU]) befindet sich gerade in der Abstimmung mit den Heb- Im Rahmen der ärztlichen Versorgung beginnt ja ge- ammenverbänden und wird demnächst veröffentlicht; rade eine kritische Diskussion über die Freiberuflichkeit. der Herr Minister hat es gesagt. Warum sollten wir dann ausgerechnet bei Hebammen Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist aus den umgekehrten Weg einschlagen? Natürlich müssen meiner Sicht wichtig, diese Debatte auf Grundlage von wir zunächst für die freiberuflichen Hebammen in der Daten und Fakten zu führen. Fakt ist eine Explosion der ambulanten Versorgung nach einer nachhaltigen Lösung Haftpflichtprämien für – nach Angaben des Deutschen suchen. Sie müssen in künftige demografiefeste Versor- Hebammenverbandes – etwa 3 500 freiberufliche Heb- gungsstrukturen eingebunden und auskömmlich vergütet ammen sowie der Ausstieg der Nürnberger Versicherung werden. aus der Hebammenversicherung. Dies könnte nicht nur zu einer Bedrohung dieses Berufsstandes, sondern damit Die notwendige Lösung der Haftpflichtproblematik, auch zu Versorgungsproblemen in der Geburtshilfe füh- liebe Kolleginnen und Kollegen, kann allerdings nur der ren. Startschuss für eine weiter gehende Debatte sein. Damit wird sich die SPD in den nächsten drei Jahren intensiv Richtig ist aber auch: Wenn immer weniger freiberuf- beschäftigen. liche Hebammen Geburtshilfe anbieten können, wird in Zukunft das Recht auf Wahlfreiheit des Geburtsortes Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. nicht mehr gewährleistet sein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des der CDU/CSU) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 1808 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Erich Irlstorfer (A) Schon jetzt gibt es sowohl in den städtischen Ballungs- brauchen dauerhaft tragfähige und finanzierbare Lösun- (C) räumen als auch in dünner besiedelten Gebieten Eng- gen. Das ist notwendig. Deshalb glaube ich, dass es rich- pässe in der Versorgung durch freiberufliche Hebam- tig ist, wenn dem vorliegenden Antrag heute nicht zuge- men. stimmt wird. Richtig, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist Herzlichen Dank. aber auch: Ein Großteil der Freiberuflerinnen hat sich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- längst auf die Vor- und Nachsorge spezialisiert. Die neten der SPD) Zahl der Hausgeburten ist eher gering. Die Zahl der Kinder, die in Deutschland außerhalb von Kliniken ge- boren werden, liegt seit Jahren zwischen rund 10 000 Vizepräsidentin Claudia Roth: und 12 500 Kindern; diese Zahlen sind für mich nicht Vielen Dank, Herr Kollege. Das ganze Haus gratuliert unerheblich, aber so sind die Zahlen. Die meisten Ihnen von Herzen zu Ihrer ersten Rede zu einem sehr Frauen, die ein Kind erwarten – das darf man nicht ver- schönen Thema. schweigen –, gehen aus Sicherheitsgründen zur Geburt (Beifall) lieber in ein Krankenhaus. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg bei Ihrer weiteren Ar- (Beifall bei der CDU/CSU) beit im Deutschen Bundestag. Als Abgeordneter der CSU vertrete ich die Ansicht, Nächste Rednerin ist Marina Kermer von der SPD- dass es auch in Zukunft die freie Entscheidung einer Fraktion. werdenden Mutter bleiben muss, ob sie zu Hause, in ei- nem Geburtshaus oder in einem Krankenhaus entbinden (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten möchte. der CDU/CSU)

(Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- Marina Kermer (SPD): NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrten Damen ten der SPD) und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, das In allen genannten Bereichen muss die Qualität der Ver- Thema der heutigen Debatte beschäftigt uns nun schon sorgung gewährleistet bleiben. Eine moderne Gesund- seit Jahren. Bisher wurde keine langfristig tragbare Lö- heitspolitik geht vom Lebensanfang bis zum Lebens- sung gefunden. Das ist auf Dauer weder für die Hebam- ende. Auch vor diesem Hintergrund muss sie sich an der men noch für die werdenden Mütter haltbar. Deshalb Qualitätsfrage orientieren. werden wir das ändern. Das hat Minister Gröhe bereits (B) erklärt, und ich habe keinen Zweifel daran, dass uns das (D) (Beifall des Abg. Dr. Georg Nüßlein [CDU/ gelingt. CSU]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Verschiedene medizinische Studien zeigen, dass der CDU/CSU) Hausgeburten gefährlicher ablaufen können – ich sage bewusst: können – als Geburten in Kliniken. Viele Über die nunmehr abzuwartenden Modellvorschläge Hausgeburten enden im Krankenhaus. Hier ist eine um- werden wir dann mit Sicherheit sachlich reden. Bis da- fassende Beratung der werdenden Eltern absolut not- hin kann man nur ein paar der Annahmen aus dem heute wendig. Auch muss über mögliche Konsequenzen in vorliegenden Antrag diskutieren und die eine oder an- Haftungsfragen diskutiert werden, wenn sich Eltern frei- dere Behauptung geraderücken. willig und bewusst für diese Form der Geburt entschei- Wir wissen: Hebammen leisten unverzichtbare Arbeit den. vor, bei und immer stärker auch nach der Geburt; ver- Für uns als CDU/CSU-Fraktion ist klar: Die Versor- stärkt auch für Frauen, die stationär entbunden haben. gung in der Fläche im Bereich der Geburtshilfe muss ge- Durch die kürzere Verweildauer im Krankenhaus nach währleistet bleiben. Zugleich stehen wir dazu, dass Heb- einer Entbindung wird die fachliche Nachsorge zu Hause ammen angemessen vergütet werden müssen und die immer wichtiger. Haftpflichtproblematik endlich gelöst wird. Dazu kommen gesellschaftliche Faktoren. Den klassi- Lassen Sie uns aber bitte den Bericht der Arbeits- schen Familienverband gibt es immer seltener und damit auch weniger direkte Hilfe und Unterstützung durch Fa gruppe abwarten. Nur so kann eine zielgerichtete Dis- - kussion auf der Grundlage von Fakten geführt werden. milienangehörige. Hebammen sind vor Ort, bei den Fa- Sich vor Kenntnis sämtlicher Aspekte über eine be- milien und können besonders nach der Geburt erste Warnzeichen der Überforderung erkennen und die Fami stimmte Fragestellung zu unterhalten, kann nicht Sinn - der Sache sein. lien direkt unterstützen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss: der CDU/CSU und der Abg. Birgit Wöllert Zum Teil sind die im Antrag der Grünen geforderten [DIE LINKE]) Punkte, wie die Abbildung der Kostensteigerungen in der Vergütung, bereits umgesetzt worden, andere werden Wenn wir uns klar dazu bekennen, dass wir die Arbeit derzeit noch in den jeweiligen Institutionen diskutiert. der Hebammen wollen, müssen wir die Rahmenbedin- Aber ich sage auch: Alle Beteiligten und Betroffenen gungen so gestalten, dass sie ihre Arbeit verantwor- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1809

Marina Kermer (A) tungsvoll ausführen und davon auch leben können. Ich wird. Genau dann hat man die wichtige Entscheidung (C) denke, darin sind wir uns alle im Hause einig. über die Art der Entbindung zu treffen, und zwar für sich und das Kind. Deshalb sollten die werdenden Eltern wis- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sen, welche Hebamme wie viele Geburten mit welchen der CDU/CSU) Erfolgen oder Komplikationen aufweisen kann, bevor Uneinig sind wir uns bei der Bewertung der gegen- sie sich entscheiden – entscheiden für eine stationäre wärtigen Versorgungslage. Der überwiegende Teil der oder außerstationäre Entbindung, mit der Hebamme des Geburten findet in Krankenhäusern statt. Nur rund Vertrauens in der Klinik, im Geburtshaus oder in der ver- 1,7 Prozent der Geburten erfolgen nicht stationär. In den trauten familiären Atmosphäre. Krankenhäusern gab es laut Statistischem Bundesamt im Vielen Dank. Jahr 2012 circa 888 Fachabteilungen für Frauenheil- kunde und Geburtshilfe mit rund 33 400 Betten. Der (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Nutzungsgrad der Betten lag bei 58,1 Prozent. Damit ar- beiten die Krankenhäuser noch nicht an ihrer Kapazitäts- Vizepräsidentin Claudia Roth: grenze. Ich finde es nicht richtig, Ängste zu schüren; denn wir gehen nicht sehenden Auges in eine Unterver- Vielen Dank, Kollegin Kermer. Auch für Sie vom sorgung bei der Geburtshilfe. ganzen Haus Beifall für Ihre erste Rede. (Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall) GRÜNEN]: Aber bei der Vielfalt der Geburts- Wir wünschen Ihnen von Herzen eine gute Arbeit hier hilfe!) im Deutschen Bundestag. Was die Erreichbarkeit von Krankenhäusern mit Ge- Nächste und abschließende Rednerin in dieser De- burtshilfe angeht, wurde im IGES-Gutachten festge- batte ist Dr. Katja Leikert für die CDU/CSU-Fraktion. stellt: Für die Mehrheit der Frauen, nämlich für 88 Pro- zent, sind Krankenhäuser mit einer Entfernung von unter (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 10 Kilometern zu erreichen. Auch das spricht für eine neten der SPD) gute stationäre Versorgung. Richtig ist: Es gibt gerade in ländlichen Räumen Regionen, die nicht optimal durch Dr. Katja Leikert (CDU/CSU): stationäre Angebote versorgt sind. Hier müssen wir an- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen setzen. Denn die Wahlfreiheit zwischen stationärer und und Kollegen! Ich freue mich sehr, dass ich meine erste nichtstationärer Entbindung setzt voraus, dass sich ein Rede im Deutschen Bundestag zu dem wichtigen Thema (B) Krankenhaus im Notfall in Reichweite befindet. (D) der Hebammen halten darf. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Es gibt wohl wenige so bedeutsame Veränderungen der CDU/CSU und der Abg. Birgit Wöllert im Leben wie die Geburt eines Kindes, und es ist für die [DIE LINKE]) Eltern gut, in dieser Situation auf die Hilfe der Hebam- Darüber hinaus kommen bei 20 Prozent der geplanten men setzen zu können. Es ist noch gar nicht so lange her, außerklinischen Geburten die Kinder doch im Kranken- da war ich selbst sehr dankbar, dass ich den Beistand von haus zur Welt. Hebammen hatte. Meine Kinder sind jetzt vier und sechs Jahre alt, und ich erinnere mich noch genau, wie wichtig Ein Gedanke fehlt im vorliegenden Antrag völlig: mir die Unterstützung durch meine Hebamme war. Heb- Das bloße Vorhandensein einer Versorgungseinrichtung ammen geben uns die Sicherheit, die wir brauchen, um garantiert nicht automatisch eine qualitativ gute Versor- in die Elternrolle hineinzuwachsen. gung, so wie das bloße Vorhandensein von Hebammen noch keine sichere Geburt garantiert. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Wir haben das Thema „flächendeckende Versorgung und Qualität“ in den Koalitionsvertrag aufgenommen. Wir von der CDU/CSU wissen, wovon wir reden. Ich Deshalb möchte ich an dieser Stelle daran erinnern, wo- habe mir einmal erlaubt, nachzuzählen: Allein unsere rum es uns primär geht. Es geht nicht nur um Haft- Fraktion kommt auf 524 Kinder; das sind 1,7 Kinder pro pflichtversicherungsprämien und die Frage, ob und wie Abgeordnetem. lange sich die Ausübung des Berufs der Hebamme finan- (Beifall bei der CDU/CSU) ziell rechnet. Es geht um Menschenleben – um das der Kinder und der Mütter. Und wir reden nicht nur, wir handeln auch; Minister Gröhe hat das ausgeführt. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten im Ja, die Entscheidung für eine Hebamme ist eine ex- ganzen Hause) trem emotionale Entscheidung. Nach einer langen, oft sehnsüchtig erwarteten Schwangerschaft steht der Ge- burtstermin bevor. Neben der Vorfreude auf das Baby Vizepräsidentin Claudia Roth: gibt es auch Sorge und Angst im Hinblick darauf, dass Jetzt würde ich ja gerne eine Nachfrage stellen; ich die Geburt für Mutter und Kind hoffentlich gut verlaufen lasse es aber, Frau Kollegin. 1810 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

(A) Dr. Katja Leikert (CDU/CSU): Am Freitag – das wissen Sie alle – ist der Equal Pay (C) Wie ist das in Nordrhein-Westfalen, wo Rot-Grün re- Day. Dabei geht es um die Entlohnung in klassischen giert? Hier wurde 2012 ein Runder Tisch Geburtshilfe Frauenberufen. Gerade die finanzielle Würdigung der angekündigt; erst in diesem Jahr hat der Runde Tisch Arbeit rund um die Geburtshilfe sollte in einem Land, zum ersten Mal getagt. das seit Jahren über Kindermangel debattiert, eine Selbstverständlichkeit sein. (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) Anders als die lautstarken Stimmen der Grünen – wie (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie wir sie eben gehört haben – es dargestellt haben, haben bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE wir in der letzten Legislatur den Stellenwert von Hebam- GRÜNEN) men insgesamt erheblich verbessert. Und es ist richtig, dass auch die Vergütung von Hebam- (Beifall bei der CDU/CSU) menleistungen in der freiberuflichen Geburtshilfe in den letzten Jahren verbessert wurde. Gerade was die Unterstützung von zumeist jungen Fami- lien in schwierigen Lebenslagen betrifft, war es eine sehr Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie wichtige Entscheidung der christlich-liberalen Koalition, mich zum Schluss noch einmal unsere Anliegen zusam- das Modell der Familienhebammen einzuführen. Es ist menfassen. Wir setzen uns für eine flächendeckende kein Zufall, den Kinderschutz mit den Hebammen zu Versorgung im Bereich der Geburtshilfe ein, wir wollen verknüpfen, da die Hebammen ganz eng an den Eltern die Wahlfreiheit von Eltern sicherstellen, aber auch an dran sind und sich Zugänge erschließen, die offizielle ihre damit verbundene Verantwortung appellieren, wir Behörden so gar nicht aufbauen können. setzen uns für eine angemessene Vergütung der Hebam- men ein, und wir sorgen schnellstmöglich für eine be- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) friedigende Lösung in der Haftpflichtfrage. Die Familienhebammen haben eine Brückenfunktion Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. und leisten dadurch einen wichtigen Beitrag zum Wohle der Kleinsten. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, ich möchte an dieser Stelle Hermann Gröhe ganz ausdrück- Vizepräsidentin Claudia Roth: lich dafür danken, dass er sich so kurz nach seiner Nomi- Vielen Dank, Kollegin Leikert. Das Haus gratuliert nierung als Minister des Themas der Haftpflichtproble- Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. matik engagiert angenommen hat. (Beifall) (B) (Beifall bei der CDU/CSU) (D) Zu Ihrer Anregung. Sie haben von 1,7 Kindern pro Wir haben es eben schon mehrmals gehört: Gerade die CDU/CSU-Abgeordneten gesprochen. Vielleicht lassen enorm gestiegenen Prämien der Berufshaftpflicht für die wir den Wissenschaftlichen Dienst checken, wie das bei freiberuflichen Hebammen – es ist wichtig, da zu diffe- den anderen Fraktionen aussieht. Dann wissen wir, ob renzieren – in der Geburtshilfe sind zu einer existenzbe- dort auch gearbeitet wird. drohenden Belastung geworden. (Heiterkeit – Kordula Schulz-Asche [BÜND- Ich denke, von der heutigen Debatte geht ein klares Signal an die Hebammen aus: Wir werden dafür sorgen, NIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Spitzenreiter dass zukünftig jede Hebamme eine bezahlbare Versiche- wollen wir wissen!) rung erhält. Es ist jetzt wichtig, dass der bereits ange- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf sprochene interministerielle Bericht schnell vorgelegt Drucksache 18/850 an die in der Tagesordnung aufge- wird und schnell Lösungen angeboten werden. Ich sage führten Ausschüsse vorgeschlagen; Herr Kollege aber auch, dass die Selbstverwaltung und insbesondere Irlstorfer, es wird heute also nicht abgestimmt, sondern die Versicherungen aufgefordert sind, sich konstruktiv überwiesen. Sind Sie damit einverstanden? – Ja, Sie sind an der Lösung des Problems zu beteiligen und ihre ge- einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlos- sellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. sen. Darüber hinaus haben wir bereits im Koalitionsver- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a bis 19 e sowie trag ein klares Bekenntnis zum Erhalt der flächende- Zusatzpunkt 3 auf: ckenden Hebammenversorgung abgelegt. Insofern kön- nen sich die Hebammen darauf verlassen, dass eine a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Regelung in ihrem Sinne – und damit natürlich auch im gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vor- Sinne aller Eltern – gefunden wird. schlag für einen Beschluss des Rates zur Auf- Abschließend möchte ich gerne noch einen Punkt an- hebung des Beschlusses 2007/124/EG, sprechen – es ist ein eher frauenpolitischer Punkt –: Ich Euratom des Rates finde es ganz großartig, dass die Hebammen ihre politi- Drucksache 18/824 schen Forderungen hier in Berlin so klar zur Sprache ge- Überweisungsvorschlag: bracht haben. Es gibt wohl keinen Abgeordneten und Innenausschuss (f) keine Abgeordnete, der oder die bisher keinen Brief von Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und den Hebammen erhalten hat. Reaktorsicherheit Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1811

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) b) Erste Beratung des von der Fraktion DIE LINKE Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a bis 20 i auf. (C) eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, Änderung des Grundgesetzes zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. (Artikel 23, 39, 44, 45 a, 93) Tagesordnungspunkt 20 a: Drucksache 18/838 Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Überweisungsvorschlag: regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und zes zu dem Abkommen vom 8. April 2013 zwi- Geschäftsordnung (f) schen der Bundesrepublik Deutschland und Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz der Republik Östlich des Uruguay über So- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ziale Sicherheit c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Drucksache 18/272 Jelpke, Matthias W. Birkwald, Jan Korte, weite- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE schusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) Renten für Leistungsberechtigte des Ghetto- Drucksache 18/864 Rentengesetzes ab dem Jahr 1997 nachträg- lich auszahlen Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/864, Drucksache 18/636 den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksa- Überweisungsvorschlag: che 18/272 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. Innenausschuss – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ge- setzentwurf ist damit in zweiter Beratung von allen Frak- d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Herbert tionen angenommen. Behrens, Sabine Leidig, Thomas Lutze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Dritte Beratung Keine Einführung einer Pkw-Maut in und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Deutschland Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- Drucksache 18/806 entwurf ist einstimmig angenommen. Überweisungsvorschlag: Tagesordnungspunkt 20 b: (B) Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f) (D) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Beratung der Beschlussempfehlungen und Be- Reaktorsicherheit richte des Ausschusses für Wirtschaft und Ener- Haushaltsauschuss gie (9. Ausschuss) e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Joachim Klein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg, Pfeiffer, Hansjörg Durz, Axel Knoerig, weiterer Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeordneter Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten Wolfgang Tiefensee, Das psychiatrische Entgeltsystem überarbei- Lars Klingbeil, Matthias Ilgen, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD ten und das Versorgungssystem qualitativ weiterentwickeln Technologie-, Innovations- und Gründungs- standort Deutschland stärken – Potenziale Drucksache 18/849 der Digitalen Wirtschaft für Wachstum und Überweisungsvorschlag: nachhaltige Beschäftigung ausschöpfen und Ausschuss für Gesundheit digitale Infrastruktur ausbauen ZP 3 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrach- Drucksachen 18/764 (neu), 18/872 ten Entwurfs eines Gesetzes zur Erleichterung der Umsetzung der Grundbuchamtsreform in – zu dem Antrag der Abgeordneten Halina Baden-Württemberg Wawzyniak, Herbert Behrens, Dr. Petra Sitte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE Drucksache 18/70 LINKE Überweisungsvorschlag: Digitale Gründungen unterstützen – Zu- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz kunftsfähige Rahmenbedingungen für die di- Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- gitale Wirtschaft schaffen ten Verfahren ohne Debatte. Drucksachen 18/771, 18/873 Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an Wir stimmen zunächst über die Beschlussempfehlung die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu dem An- überweisen. Sind Sie einverstanden? – Das ist der Fall. trag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD mit dem Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Titel „Technologie-, Innovations- und Gründungsstand- 1812 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) ort Deutschland stärken – Potenziale der Digitalen Wirt- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- (C) schaft für Wachstum und nachhaltige Beschäftigung aus- hält sich? – Damit ist die Sammelübersicht 23 mit den schöpfen und digitale Infrastruktur ausbauen“ ab. Der Stimmen von CDU/CSU- und SPD-Fraktion bei Gegen- Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf stimmen der Linken und Enthaltung von Bündnis 90/Die Drucksache 18/872, den Antrag der Fraktionen der Grünen angenommen. CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/764 (neu) anzu- nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Tagesordnungspunkt 20 f: Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be- Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti- schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen onsausschusses (2. Ausschuss) von CDU/CSU und SPD angenommen, bei Ablehnung der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Sammelübersicht 24 zu Petitionen (Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Hammel- Drucksache 18/788 sprung! – Heiterkeit bei Abgeordneten der Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- LINKEN) hält sich? – Die Sammelübersicht 24 ist mit den Stim- – Das war, glaube ich, ein spaßiger Zwischenruf. men aller Fraktionen angenommen. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus- Tagesordnungspunkt 20 g: schusses für Wirtschaft und Energie zu dem Antrag der Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti- Fraktion Die Linke mit dem Titel „Digitale Gründungen onsausschusses (2. Ausschuss) unterstützen – Zukunftsfähige Rahmenbedingungen für die digitale Wirtschaft schaffen“. Der Ausschuss emp- Sammelübersicht 25 zu Petitionen fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- che 18/873, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/789 Drucksache 18/771 abzulehnen. Wer stimmt für diese Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer hält sich? – Damit ist die Sammelübersicht 25 mit den enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion und Stimmen der CDU/CSU- und der SPD-Fraktion bei Ent- der Linken bei Neinstimmen von Bündnis 90/Die Grü- haltung von Bündnis 90/Die Grünen und Neinstimmen nen angenommen. der Linken angenommen. Tagesordnungspunkt 20 h: Tagesordnungspunkt 20 c bis 20 i. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti- onsausschusses (2. Ausschuss) (B) Liebe Besucher auf der Tribüne, es tut mir leid, aber (D) ich kann Ihnen das jetzt nicht im Einzelnen erklären. Sie Sammelübersicht 26 zu Petitionen werden nun erleben, wie im Rahmen des Petitionsver- Drucksache 18/790 fahrens abgestimmt wird. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Tagesordnungspunkt 20 c: hält sich? – Damit ist die Sammelübersicht 26 bei Zu- Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti- stimmung von CDU/CSU- und SPD-Fraktion, Neinstim- onsausschusses (2. Ausschuss) men von Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Linken angenommen. Sammelübersicht 21 zu Petitionen Tagesordnungspunkt 20 i: Drucksache 18/785 Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- onsausschusses (2. Ausschuss) hält sich? – Damit ist die Sammelübersicht 21 angenom- men. Sammelübersicht 27 zu Petitionen Tagesordnungspunkt 20 d: Drucksache 18/791 Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- onsausschusses (2. Ausschuss) hält sich? – Damit ist die Sammelübersicht 27 mit den Sammelübersicht 22 zu Petitionen Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion bei Neinstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Drucksache 18/786 Linken angenommen. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf: hält sich? – Die Sammelübersicht 22 ist mit den Stim- men des ganzen Hauses angenommen. Wahl der Mitglieder des Kuratoriums der „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Tagesordungspunkt 20 e: Europas“ Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti- Drucksache 18/845 onsausschusses (2. Ausschuss) Dazu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der Sammelübersicht 23 zu Petitionen CDU/CSU, der SPD, der Linken und des Bündnisses 90/ Drucksache 18/787 Die Grünen auf Drucksache 18/845 vor. Wer stimmt für Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1813

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) diesen Wahlvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer der Fackelzüge der braunen Brut, die ungehindert durch (C) enthält sich? – Damit ist der Wahlvorschlag von allen die Dresdner Innenstadt gezogen ist, verdammt hilflos. Mitgliedern hier im Hohen Haus einstimmig angenom- Vor diesem Hintergrund war ich froh, als sich endlich ein men. breites Bündnis gefunden hat, das gesagt hat: Das müs- sen wir ändern! – Tausende, ja Zehntausende haben sich Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesord- entschieden: Wir stellen uns den Nazis friedlich, aber nung um die Beratung von zwei Beschlussempfehlun- entschieden in den Weg. gen des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu zwei Anträgen auf Genehmigung (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- zur Fortsetzung eines Strafverfahrens zu erweitern und neten der SPD) diese jetzt als Zusatzpunkte 7 und 8 aufzurufen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so Darunter waren auch Caren, Micha, ich und viele wei- beschlossen. tere Abgeordnete aus unterschiedlichen Fraktionen. Somit rufe ich jetzt die Zusatzpunkte 7 und 8 auf: (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch aus anderen Parteien!) ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge- – Ja, auch aus anderen Parteien. schäftsordnung (1. Ausschuss) Wenn man wusste, wie sich die braune Gewalt in Sachsen ausgeweitet hat, und wenn man, wie ich, erlebt Antrag auf Genehmigung zur Fortführung ei- hat, wie diese braune Brut ungehindert durch die Dresd- nes Strafverfahrens in der 18. Wahlperiode ner Innenstadt zog, dann konnte man sich an diesem Tag Drucksache 18/876 nicht hinter Formalien verstecken. Da gab es einfach et- was, das größer war. In mir hat alles gerufen: Hier musst ZP 8 Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- du deinem Gewissen folgen! Hier musst du Gesicht zei- schusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge- gen! Hier kannst du nicht fragen, ob wirklich jede Sitz- schäftsordnung (1. Ausschuss) blockade genehmigt ist! – Ich bin froh, dass viele so ge- Antrag auf Genehmigung zur Fortführung ei- dacht haben. nes Strafverfahrens in der 18. Wahlperiode (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Drucksache 18/877 [SPD]) Bevor wir zur Abstimmung über die beiden soeben Die vielen haben dabei viel auf sich genommen. Es war genannten Beschlussempfehlungen kommen, erteile ich an diesem Tag verdammt kalt. An vielen Kreuzungen (B) nach § 31 der Geschäftsordnung Katja Kipping für die gab es keine Toilette. Eine drückende Blase, kalte Füße – (D) Linke das Wort. das war das Mindeste, was man in Kauf genommen hat. (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Das ist Zivil- Katja Kipping (DIE LINKE): courage!) Frau Präsidentin! Ich möchte eine persönliche Erklä- rung abgeben, warum ich gegen die hier vorliegenden Heute geht es um die Aufhebung der Immunität von Beschlussvorlagen stimmen werde; das ist für mich eine und . Da ich mit beiden auf sehr persönliche Angelegenheit. derselben Kreuzung war, weiß ich, dass auch andere Ab- geordnete, auch Abgeordnete anderer Fraktionen, dort Sie von der Union, den Grünen und der SPD haben im waren. Natürlich steht die Frage im Raum: Warum geht Ausschuss der Aufhebung der Immunität von Caren Lay es heute nur um die Aufhebung der Immunität dieser und Michael Leutert zugestimmt. Sie behandeln das als beiden? Die Antwort ist ganz einfach: Es war ein NPD- eine rein formale Angelegenheit; vielleicht haben Sie da- Anwalt, der sich im Nachhinein Zeitungsfotos ange- mit, rein formalistisch gesehen, auch recht. Aber hier schaut hat, um willkürlich Strafanzeige gegen bekannte handelt es sich eben nicht um eine formale Angelegen- Gesichter zu erheben. Es war also ein Anwalt jener Na- heit. Das, was wir in Dresden jahrelang am 13. Februar zipartei, deren Vertreter im Sächsischen Landtag vom erleben mussten, war alles andere als eine Formalie. „Bomben-Holocaust“ gesprochen und damit eines der (Beifall bei der LINKEN) schlimmsten Menschheitsverbrechen der Geschichte verharmlost haben. Jahrelang habe ich mich als Dresdnerin geschämt, weil Können Sie sich vorstellen, wie das in den Ohren der meine Heimatstadt am 13. Februar zum Gebiet für den Jüdischen Gemeinde klingt? Wir hatten in Dresden einst europaweit größten Naziaufmarsch wurde. Jahrelang mussten wir erleben, wie die Nazis das stille Gedenken eine sehr reiche jüdische Gemeinde mit 5 000 Mitglie- dern. Nur 41 davon haben den Holocaust in Dresden der Dresdner für ihre Form von braunem Geschichtsrevi- überlebt. Sie müssen sich heute Hohn und Spott von den sionismus missbraucht haben. Nazis gefallen lassen, und deren Anwalt erstattet jetzt ( [CDU/CSU]: Ist das zur Ge- eine Strafanzeige. Ich finde, mit solchen Nazianwälten schäftsordnung?) darf man sich nicht gemein machen! Wie Sie wissen, haben wir immer Gegenaktionen (Beifall bei der LINKEN – Dr. Karl durchgeführt, Kundgebungen mit Kerzen. Sie waren na- Lauterbach [SPD]: Das macht doch auch nie- türlich symbolisch wichtig. Aber sie wirkten angesichts mand!) 1814 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Katja Kipping (A) – Ja, Sie schütteln den Kopf, weil Sie das offensichtlich Das Wort hat nach § 31 Abs. 1 der Geschäftsordnung (C) immer noch als eine Formalie behandeln. der Kollege Wadephul. Ich sage Ihnen: Teile der sächsischen Justiz und der sächsischen Polizei sehen das offensichtlich anders als Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): ich. Sie sind verdammt eifrig, wenn es darum geht, die Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und antifaschistische Zivilcourage zu kriminalisieren. Reden Herren! Wir hatten eigentlich vereinbart, hierzu nicht zu wir über den Fall von Pfarrer König: Das Verfahren sprechen. Dennoch möchte ich nun als Vorsitzender des musste inzwischen eingestellt werden, weil man festge- Ausschusses in aller Kürze das aufnehmen, was die Frau stellt hat, dass die Polizei entlastende Beweise einfach Präsidentin gesagt hat. unterschlagen hat, und weil man festgestellt hat, dass einseitig ermittelt worden ist. Einem jungen Familienva- Wir haben in dieser Wahlperiode, uns dabei auf um- ter drohen jahrelange Haftstrafen. Flächendeckend wur- fängliche Erörterungen in der vergangenen Wahlperiode den die Telefone Zehntausender Leute einfach über- stützend, in unserem Ausschuss unter einer intensiven wacht. Gleichzeitig versagt ebenjener sächsische Teilnahme aller Beteiligten eine Entscheidung getroffen. Sicherheitsapparat, wenn es darum geht, Opfer von brau- Unter rein immunitätsrechtlichen Gesichtspunkten hat- ner Gewalt zu schützen. ten wir die Frage zu entscheiden, ob wir der Durchfüh- rung des entsprechenden Verfahrens zustimmen, ja oder Sie alle haben sicherlich von dem jungen Paar in Ho- nein. Weil es unsere Arbeit diskreditieren würde, kann yerswerda gehört. Die beiden sind bekennende Antifa- ich nicht akzeptieren, dass Sie uns im Ansatz unterstel- schisten. Nazis sind in ihre Wohnung eingebrochen und len, damit eine politische Meinungsäußerung zu verbin- haben der Frau sogar eine Vergewaltigung angedroht. den, die irgendein Mitglied des Ausschusses auch nur in Die sächsischen Sicherheitsbehörden wussten nichts zu die Nähe von faschistischen Umtrieben bringen könnte. deren Schutz zu tun. Sie mussten umziehen, mussten die Ich kann auch nicht akzeptieren, dass Sie ein Verfahren, Stadt verlassen. was sich dieses Hohe Haus auf der Grundlage des Grundrechtsschutzes der Immunität gegeben hat, als for- (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Was ist das malistisch diskreditieren. Formalien haben in einem denn für eine Erklärung?) Rechtsstaat ihren Sinn und ihren Zweck. Sie zu erfüllen, Wenn ich den Eifer bei der Verfolgung und Kriminalisie- ist manchmal nicht leicht. Unabhängig davon sollten wir rung von antifaschistischer Zivilcourage und das jäm- den Konsens der Demokraten gerade bei der Bekämp- merliche Versagen, wenn es um den Schutz der Opfer fung von faschistischen Umtrieben nicht infrage stellen. brauner Gewalt geht, gegenüberstelle, muss ich sagen: Ich würde es für sinnvoll halten, wenn entsprechende (B) Dafür fehlen mir jegliche zivilisierten Worte. Das finde Auseinandersetzungen, auch über die Frage der Demons- (D) ich beschämend und peinlich. tration dort in Dresden, in einem anderen Rahmen als diesem geführt würden, wenn die Mitglieder dieses Aus- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- schusses, die sich die Sache nicht leicht gemacht haben, neten der SPD) nicht in dieser Art und Weise angegriffen werden wür- den. Ich komme zum Schluss. Die heutige Immunitätsauf- hebung ist nur ein Mosaikstein in diesem größeren Ge- Herzlichen Dank. bilde. Deswegen stimme ich dagegen. Als Dresdnerin und Demokratin sage ich: Danke schön! Ein Danke an (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem all jene, die trotz Schikane und klirrender Kälte mit dazu BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) beigetragen haben, dass der europaweit größte Naziauf- marsch in Dresden Geschichte wird. Auch in Zukunft Vizepräsidentin Claudia Roth: muss gelten: Kein Fußbreit den Nazis! Vielen Dank, Herr Kollege. – Das Wort zu einer Er- Danke schön. klärung zur Abstimmung nach § 31 Abs. 1 der Ge- schäftsordnung hat Britta Haßelmann für Bündnis 90/ (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Die Grünen. Dr. Eva Högl [SPD] – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Kein Satz zur Sache!) Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Da ich an der Ab- Vizepräsidentin Claudia Roth: stimmung mitgewirkt habe, darf ich, glaube ich, im Ge- Danke, Frau Kollegin. – Um das noch einmal klarzu- gensatz zu Ihnen, Frau Kipping, hier auch eine persönli- stellen: Das war eine Erklärung nach § 31 unserer Ge- che Erklärung abgeben. Sie nutzen ja anscheinend das schäftsordnung. Den Eindruck, der möglicherweise ent- Forum, um eine politische Erklärung abzugeben und vor standen ist, dass sich diejenigen, die dem Antrag allen Dingen um alle, die Ihre Auffassung nicht teilen, zustimmen, mit den Anliegen von Nazianwälten gemein zu diskreditieren und hinsichtlich der Neonazi-Aufmär- machen, weise ich zurück. sche in Dresden in eine Ecke zu stellen, die völlig inak- zeptabel ist. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Georg (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Nüßlein [CDU/CSU]: Unerhört!) bei der CDU/CSU und der SPD) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1815

Britta Haßelmann (A) Es gibt keinen Grund dafür. Sie wissen genauso gut (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (C) wie ich, wie Monika Lazar, wie viele andere von uns, die bei der CDU/CSU und der SPD) mit anderen Leuten zusammen in Dresden auf der Straße gestanden haben, Vizepräsidentin Claudia Roth: (Katja Kipping [DIE LINKE]: Das habe ich Danke, Frau Kollegin. gesagt!) Zur Erklärung: In diesem Verfahren sind keine Zwi- dass es wichtig ist, Zivilcourage zu zeigen. Sie machen schenbemerkungen bzw. Zwischenfragen möglich. Des- aber wieder den Fehler, zu verwechseln, dass es hier um wegen konnte ich der Bitte von Christian Ströbele nicht ein Verfahren in einer Immunitätssache geht und nicht entsprechen. darum, zu beurteilen, ob man Nazis in Deutschland Raum gibt oder nicht. Aber der Kollege Dr. Gysi hat, wenn er will – das ist mir gerade angekündigt worden –, nach § 31 Abs. 1 der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Geschäftsordnung die Möglichkeit, eine Erklärung zur bei der CDU/CSU und der SPD) Abstimmung abzugeben. Es gibt über 200 Ermittlungsverfahren, über 200 Men- schen mussten sich der Justiz gegenüber verantworten. Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): (Zuruf von der LINKEN) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ganz kurz: Im Fall André Hahn, den die gleiche Angelegen- Woher leiten Sie eigentlich das Recht ab, dass zwei von heit betrifft, haben SPD und Grüne im Sächsischen Ihnen, zwei von uns aus dem Deutschen Bundestag, sich Landtag gegen die Aufhebung der Immunität gestimmt. durch Nichtaufhebung ihrer Immunität einem solchen Verfahren entziehen können sollen? (Beifall bei der LINKEN) (Katja Kipping [DIE LINKE]: Es geht nicht Jetzt sage ich etwas zu Ihrem Argument, weil es mich um uns! Es geht um die politische Symbolik ärgert, wenn Sie sagen, es geht um Privilegien für zwei dahinter! – Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Leute im Unterschied zu anderen. Ganz im Gegenteil, Damit würden Sie den anderen helfen! – Wei- wenn der Bundestag in diesem Falle sagte: „Wir heben tere Zurufe von der LINKEN) die Immunität nicht auf“, hätten wir allen anderen gehol- Zivilcourage bedeutet nicht, dass wir ein Privileg ge- fen. Das wäre entscheidend gewesen. genüber anderen Bürgerinnen und Bürgern haben, wenn Danke. es um Ermittlungen geht. (B) (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Beifall bei der LINKEN – Jürgen Trittin bei der CDU/CSU und der SPD) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und das von einem Rechtsanwalt!) Wann verstehen Sie das? Ich habe es einfach satt, wenn Zivilcourage wie eine Monstranz vor uns hergetragen Vizepräsidentin Claudia Roth: wird. Ich schätze wahnsinnig viele Leute, die sich enga- gieren, die dafür auch Sachen in Kauf nehmen, die ver- Es gibt jetzt eine ganze Reihe von persönlichen Erklä- dammt schwer auszuhalten sind; aber nichts rechtfertigt, rungen, die nach unseren Regeln zu gewähren sind. wenn man als Abgeordneter glaubt, anders behandelt Dürfte ich einmal ganz kurz die Parlamentarischen Ge- werden zu können schäftsführer zu mir bitten? (Max Straubinger [CDU/CSU]: Jawohl!) (Die Parlamentarischen Geschäftsführer bege- ben sich zum Präsidium – Hubert Hüppe als jede Bürgerin und jeder Bürger in diesem Land. [CDU/CSU]: Die Erklärungen können ja (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, schriftlich eingereicht werden!) bei der CDU/CSU und der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß, das ist ein Ich muss dann auch mit diesen Folgen rechnen und kann hochemotionales Thema; aber die Parlamentarischen doch, verdammt noch mal, dann nicht darauf hoffen, Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer haben sich dass, weil ich den Status einer Abgeordneten habe, das, darauf geeinigt, vorzuschlagen, dass diejenigen, die sich was für andere gilt, für mich nicht gilt. Das finde ich jetzt noch für eine Erklärung zur Abstimmung gemeldet wirklich problematisch an der Frage. Das ist ein Fall aus haben, diese Erklärung bitte schriftlich einbringen, der 17. Wahlperiode. Ich will mich in der Sache dazu gar nicht äußern; (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!) (Katja Kipping [DIE LINKE]: Sie haben auch noch schlampig gearbeitet!) weil wir sonst eine riesenlange Debatte bekommen und ich nicht weiß, wo ich anfangen und wo ich aufhören das ist hier nicht der Ort dafür. Sie wissen, dass das ein soll. Ich bitte, das anzunehmen. internes Verfahren ist. Ich bin neu in diesem Ausschuss. Ich habe extra Akteneinsicht genommen. Ich kann nicht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der verstehen, wieso Sie einem solchen Verfahren an der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Stelle widersprechen. NEN) 1816 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) Christian Ströbele, bitte. ger Kolleginnen und Kollegen der SPD und einer Kolle- (C) gin sowie eines Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen (Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Entweder wir angenommen. machen das so, oder wir machen das nicht so! Es kann keine Sonderregelung für Herrn Ich bedanke mich für Ihr Einsehen, Ihre Erklärungen Ströbele geben!) schriftlich abzugeben, weil wir sonst tatsächlich außer- halb unseres Zeitrahmens gekommen wären. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): GRÜNEN]: Soll ich mich jetzt hinsetzen und Frau Präsidentin, ich bin damit nicht einverstanden. etwas schreiben, oder was? – Gegenruf des (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ja klar!) In der Geschäftsordnung steht, dass man eine persönli- che Erklärung abgeben kann. Sie können höchstens sa- Zusatzpunkt 8. Wer stimmt für die Beschlussempfeh- gen: nach der Abstimmung. Ich rede auch gerne nach der lung auf Drucksache 18/877? – Wer stimmt dagegen? – Abstimmung, wenn Sie das wünschen. Aber dass wir Wer enthält sich? – Damit ist die Beschlussempfehlung überhaupt nichts dazu sagen können, ist ein ernstes Pro- mit den Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU, SPD blem hier. Ich möchte mich auch dazu äußern. und Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Lin- ken angenommen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: Es geht hier nicht um Stunden, sondern vielleicht um zehn Minuten, die das hier länger dauert. Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN Vizepräsidentin Claudia Roth: Nein, es geht nicht um zehn Minuten, sondern um Einsetzung eines Untersuchungsausschusses sehr viel mehr, weil sich noch sehr viele Kollegen ge- meldet hätten. Drucksache 18/843 (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für GRÜNEN]: Na und? Großes Interesse!) die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Es ist nicht so, dass Sie gar nichts sagen dürfen, son- (B) dern ich habe die große Bitte, dass Sie Ihre Erklärungen, Ich eröffne die Aussprache und erteile Dr. Patrick (D) wie bei anderen Abstimmungen auch, schriftlich abge- Sensburg für die CDU/CSU das Wort. ben. (Beifall bei der CDU/CSU) (Max Straubinger [CDU/CSU]: So ist es! – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): GRÜNEN]: Wann denn?) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Ich bitte Sie sehr, dem zuzustimmen, was die Geschäfts- Kollegen! Ich hoffe, dass wir nach dieser doch sehr auf- führer und Geschäftsführerinnen jetzt vereinbart haben, geheizten Debatte wieder zur Sache zurückkommen, weil das Instrument sonst dazu führt, dass uns die Zeit diesen Sachgegenstand, der genauso viel Brisanz bietet, ein bisschen aus dem Ruder läuft. Sind Sie einverstan- gemeinschaftlich, gemeinsam debattieren und den Un- den? – Vielen Dank. tersuchungsausschuss einsetzen können. Ich bitte Christian Ströbele und alle anderen, ihre Er- Ich glaube, dass wir am Anfang einer Zeit sind, in der klärungen zur Abstimmung schriftlich abzugeben.1) wir auf der einen Seite realisieren, dass uns die neuen Medien – auch das Internet – unheimliche Chancen bie- Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die zwei Be- ten, während wir auf der anderen Seite aber auch erken- schlussempfehlungen. nen müssen, dass der Bereich der neuen Medien – das Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Ge- gilt auch für das Internet – kein schrankenloser, unregle- schäftsordnung empfiehlt in seinen Beschlussempfeh- mentierter Raum sein darf und auch Staaten und große lungen auf den Drucksachen 18/876 und 18/877, die Ge- Unternehmen Regeln und Schranken brauchen. nehmigungen zur Fortführung von Strafverfahren in der (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE 18. Wahlperiode zu erteilen. GRÜNEN]: Das ist aber auch kein grund- Zusatzpunkt 7. Wer stimmt für die Beschlussempfeh- rechtsfreier Raum!) lung auf Drucksache 18/876? – Wer stimmt dagegen? – Ich bin sehr glücklich, dass wir uns über alle Fraktionen Wer enthält sich? – Damit ist die Beschlussempfehlung hinweg einig sind, einen Untersuchungsausschuss einzu- mit Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU, SPD und setzen, und dass wir schon nach der Debatte am 13. Fe- Bündnis 90/Die Grünen bei Ablehnung der Linken, eini- bruar erkannt haben, dass die verdachtsunabhängige massenhafte Erfassung und Auswertung von Daten deut- 1) Anlage 2 scher Bürger und Unternehmen nicht hinnehmbar sind. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1817

Dr. Patrick Sensburg (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sen. Wir haben in einem ersten Prüfblock formuliert: Es (C) neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE muss klar werden, was die Staaten der „Five Eyes“ im GRÜNEN) Rahmen von Programmen entwickelt haben, sei es Prism, sei es Tempora, sei es XKeyscore und alle ande- Auf den Einwurf der Kollegin Wawzyniak vom ren Programme, bis hin zu Mystic, von dem wir in den 13. Februar möchte ich kurz eingehen. Ihr Einwurf war, letzten Tagen gehört haben. Wir müssen genau hin- ob das auch gilt, wenn staatliche Institutionen in schauen: „Was gibt es? Was wird dort gemacht?“, damit Deutschland das so handhaben würden. Das sehe ich ge- wir uns erst einmal einen deutlichen Überblick verschaf- nauso. Gerade vor dem Hintergrund dessen, was wir in fen können. den letzten Tagen hören mussten, muss ich sagen: Das gilt auch für deutsche Behörden. Ich glaube, das wird si- Wenn ich mir vor Augen führe, was in den letzten cherlich einer der Prüfungspunkte des Untersuchungs- zwei oder drei Tagen bekannt geworden ist, wenn ich zu- ausschusses werden. dem aus verschiedenen Quellen erfahre, dass nicht nur Nach den Beratungen im Geschäftsordnungsaus- die USA Mitschnitte von Telefonaten speichern, sondern schuss, in denen wir aus zwei Anträgen einen entwickelt vielleicht auch andere Länder, dann meine ich, dass wir haben, bin ich sehr zuversichtlich, dass wir auch in Zu- überlegen sollten: Wenn sich im Laufe des Untersu- kunft gemeinschaftlich unseren Prüfauftrag, unseren Un- chungsausschusses Erkenntnisse ergeben, die es nahe le- tersuchungsauftrag wahrnehmen werden. gen, den Prüfungsauftrag, den Untersuchungsauftrag zu erweitern, sollten wir das tun, nicht im Alleingang, son- Bei der personellen Ausgestaltung des Untersu- dern im Konsens aller Fraktionen. chungsausschusses mit acht Mitgliedern kommen zwei Kernpunkte zum Vorschein. Der erste Punkt ist: Da wir (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) in den nächsten Wochen und Monaten intensiv mit Da- ten und Informationen zu tun haben werden, die den Wir haben schon in der Debatte am 13. Februar ganz Diensten zuzuordnen und als Geheim einzustufen sind, klar darauf hingewiesen, dass wir eine massenhafte und ist es richtig, dieses Gremium nicht zu groß werden zu verdachtsunabhängige Erfassung und Speicherung per- lassen. Es mit acht Mitgliedern des Deutschen Bundesta- sonenbezogener Daten ablehnen, und haben dies auch ges zu besetzen, war, glaube ich, eine kluge Entschei- unter Punkt I.1 in den Prüfauftrag unseres Antrags auf- dung. genommen. Ich glaube, die Reichweite des Antrags ist in den einzelnen Prüfpunkten gut definiert. Ich gehe jetzt Der zweite Punkt. In der Besetzung mit acht Mitglie- nicht auf die einzelnen Prüfpunkte ein, aber ich glaube, dern spiegelt sich eine weitere kluge Entscheidung wi- dass sie die wesentlichen Punkte aus beiden ursprünglich der. Es gibt den Fraktionen der Opposition die Möglich- (B) eingebrachten Anträgen widerspiegeln. (D) keit, alle Rechte der Opposition wahrzunehmen; denn mit den zwei Mitgliedern, die sie stellt, wird das Quo- Ich glaube, dass wir in einem zweiten Prüfungskom- rum von 25 Prozent der Mitglieder erfüllt. Damit kann plex untersuchen müssen, welche Stellen der Bundesre- sie alle im Grundgesetz verbürgten Rechte wahrnehmen. gierung, Bedienstete des Bundes oder Mitglieder des Das ist ein guter Kompromiss, den wir in der Vorberei- Deutschen Bundestages und des Bundesrates in den Fo- tung im Geschäftsordnungsausschuss getroffen haben. kus von Ausspähung gekommen sind. Im Gegenzug werden wir auch fragen, ob es möglicherweise eine Be- Das zeigt nach meiner Meinung die Gemeinschaft- teiligung von deutschen Institutionen und deutschen Be- lichkeit in diesem Untersuchungsausschuss: Wir wollen hörden gab. dieses Thema gemeinsam bearbeiten und nicht gegenei- nander. Wir werden in einem dritten Prüfungskomplex darauf (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie eingehen, welche Schlussfolgerungen sich aus den Er- des Abg. Dr. Konstantin von Notz [BÜND- kenntnissen ziehen lassen. Darauf liegt meiner Meinung NIS 90/DIE GRÜNEN]) nach das Hauptaugenmerk dieses Untersuchungsausschus- ses. Es kann nicht unsere einzige Aufgabe sein, zu unter- Wir haben das im Untersuchungsausschuss zum NSU suchen, was passiert ist. Das wird sicherlich einen brei- sehr gut gemacht. Ich hoffe, dass wir im Geist guter Zu- ten Teil in Anspruch nehmen. Aber dann müssen wir sammenarbeit auch in diesem Untersuchungsausschuss auch aus den Erkenntnissen Schlüsse ziehen. Ich glaube, arbeiten können. hierbei sollte unser Hauptaugenmerk darauf liegen: Wie Natürlich stellen Untersuchungsausschüsse grund- kann das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, sätzlich das klassische Recht der Opposition dar, die Re- auf Integrität der Kommunikation, auf vertrauliche Kom- gierung zu kritisieren und Fehler und Versäumnisse der munikation, gewährleistet werden? Welche Schlussfolge- Regierung aufzuzeigen. Mir scheint, dass dies bei die- rungen und Lösungsvorschläge können wir als Deutscher sem Untersuchungsausschuss nicht vordringlich ist und Bundestag aus den dann vorhandenen Erkenntnissen zie- nicht im Vordergrund stehen sollte. Ich glaube, die Auf- hen? gabe ist deutlich größer, wenn man rekapituliert und in Wenn wir diesen dritten Schritt auslassen, dann wird der Rückschau betrachtet, was wir in den letzten Wochen der Untersuchungsausschuss ein zahnloser Tiger. Wenn und Monaten erlebt und gehört haben. wir aber Ergebnisse präsentieren und in einem dritten Von daher haben sich die Prüfaufträge, die sich in Schritt Schlussfolgerungen aus unseren Erkenntnissen dem Einsetzungsbeschluss widerspiegeln, daran zu mes- ziehen und aufzeigen, was wir aus unserer nationalen, 1818 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Dr. Patrick Sensburg (A) deutschen Sicht verändern wollen, kann das, glaube ich, Ich finde, gerade wenn wir bei der Einsetzung des (C) vorbildhaft für andere Länder sein. Untersuchungsausschusses in vielen Punkten Gemein- samkeiten feststellen, sollten wir noch einmal reflektie- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ren, ob die Art und Weise, wie die Debatte eben abgelau- Das wird uns aber nur dann gelingen, wenn die acht fen ist, dem Gegenstand, um den es geht, tatsächlich Mitglieder des Untersuchungsausschusses gemeinsam angemessen war. an einem Strang ziehen. Wenn wir uns in Klein-Klein ( [SPD]: Da hat sie vollkom- und in Detailkritik an der Bundesregierung oder an frü- men recht! – Max Straubinger [CDU/CSU]: heren Bundesregierungen verlieren, an denen fast alle Was?) Fraktionen in diesem Hause außer der Linken beteiligt waren, dann werden wir, glaube ich, dieser großen Auf- Jetzt komme ich zu dem Thema, über das wir heute gabe nicht gerecht. reden wollen: dem gemeinsamen Einsetzungsantrag aller (Beifall der Abg. Dr. Eva Högl [SPD]) Fraktionen. Es ist fast ein Jahr her, dass wir alle durch die mutigen Enthüllungen von erfah- Wenn wir unseren Blick, der vielleicht ideologisch ren haben, wie umfassend wir durch US-amerikanische geprägt ist, nur auf unsere nationalen Dienste richten, Geheimdienste und ihre Partner in Deutschland über- dann werden wir den Blick zu sehr fokussieren und wer- wacht werden. Diese Überwachung betrifft tatsächlich den der großen Aufgabe nicht gerecht. Ich glaube, dass uns alle, jeden Bürger, jede Bürgerin, uns alle hier im wir an einem Strang ziehen sollten und die Chance ha- Saal, nicht nur die Kanzlerin und den Innenminister. Es ben, mit diesem Untersuchungsausschuss weit über ist ein Thema, das alle angeht. Deswegen ist es gut, dass Deutschland hinaus im Sinne von Datensicherheit, Da- endlich auch bestimmte Teile der Großen Koalition den tenschutz, Schutz von Bürgerinnen und Bürgern, aber Umfang und den Skandal dieser Überwachung insoweit auch von Unternehmen und Institutionen Akzente zu set- festgestellt haben, als sie jetzt zu dem Ergebnis gekom- zen. men sind, dass wir mit einem gemeinsamen Untersu- chungsauftrag diese Überwachung aufklären wollen. Es Diese große Aufgabe können wir leisten. Deswegen ist eine einmalige Chance zur Aufarbeitung und ein gu- ist es auch so wichtig, dass wir am heutigen Tage zeigen, tes Zeichen, das wir fraktionsübergreifend Grundrechts- dass wir gemeinsam in diesem Haus den Untersuchungs- verletzungen als gemeinsame parlamentarische Aufklä- ausschuss wollen, dass wir uns nicht in der ersten De- rungsaufgabe begreifen. batte zerhakeln und in Klein-Klein verheddern, sondern dass wir zeigen: Wir sind entschlossen, den Untersu- Wir wollen die Arbeit US-amerikanischer und briti- chungsausschuss zu einem Ergebnis zu bringen. Das ge- scher Dienste sowie die ihrer engsten Partner untersu- (B) lingt uns zusammen, und darauf freue ich mich in den chen; so haben wir es formuliert. Wir sollten uns nicht (D) nächsten Monaten gemeinsam mit Ihnen. von den Beteuerungen beruhigen lassen, dass nur soge- Danke schön. nannte Metadaten, also Verbindungsdaten, gespeichert wurden und keine Gesprächsinhalte; denn wir wissen, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie dass gerade anhand der Verbindungsdaten exakte Profile bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE der Nutzer erstellt werden können. Jeder kann sich ein- GRÜNEN) mal vorstellen, wie viel über ihn ausgesagt wird, wenn klar ist, wen er früh morgens oder spät abends anruft, Vizepräsidentin Ulla Schmidt: welche Internetseiten er aufruft oder wem er eine E-Mail Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Martina Renner, schickt. Fraktion Die Linke. Wir fragen auch: Wie kooperieren dabei die ausländi- (Beifall bei der LINKEN) schen Geheimdienste mit den deutschen Partnerdiens- ten? Auch wenn die deutschen Spitzelzentralen nicht über dieselben technischen Möglichkeiten verfügen, Martina Renner (DIE LINKE): müssen wir das Bundesamt für Verfassungsschutz, den Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle- BND und den MAD unter die Lupe nehmen; denn sie ginnen und Kollegen! Sehen Sie es mir nach: Ich bin im- alle arbeiten aller Wahrscheinlichkeit nach nach dersel- mer noch etwas aufgewühlt von der vorangegangenen ben Religion der Totalüberwachung. Für einen Geheim- Debatte. Ich denke, wenn wir die Verteidigung von dienst heißt es beim Sammeln von Informationen hüben Grundrechten und Demokratie wirklich ernst nehmen wie drüben des großen Teiches: Mehr ist immer besser. – darum geht es auch in Dresden: diese Werte gegen die – Diese Geheimdienstphilosophie muss nicht nur unter- Neonazis zu verteidigen –, sucht werden, sondern muss im Sinne des Grundrecht- (Dagmar Ziegler [SPD]: Es geht um Unrecht!) schutzes auch beendet werden. dann hätten wir die Debatte aushalten und uns noch wei- (Beifall bei der LINKEN) ter die Argumente anhören müssen. Ich fand das in die- Wir nehmen den BND und das BfV dabei in den Blick, sem Sinne keinen guten demokratischen und parlamen- weil wir als Linke fest davon ausgehen, dass der große tarischen Stil. Bruder einen kleinen Bruder hat und beide Hand in Hand (Dagmar Ziegler [SPD]: Aber Ungesetzlichkeit arbeiten, zum Beispiel durch den Ringtausch. Wir wer- kann man auch nicht hinnehmen!) den untersuchen, ob beispielsweise die NSA oder der Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1819

Martina Renner (A) britische Geheimdienst dem BND dort hilft, wo dieser Dass die abgehörten Institutionen, zum Beispiel auch (C) nicht zugreifen dürfte, Freundschaftsdienste sozusagen. die Regierung, selbst den Weg zur Totalüberwachung geebnet haben, davon müssen wir ausgehen. Die Bun- Wir glauben, dass die Bundesregierungen aller Farb- desregierungen haben selbst aktiv die Massenerfassung kombinationen in den letzten Jahren von dieser Praxis von Daten vorangetrieben, auch gegen den Widerstand gegebenenfalls wussten und vielleicht auch profitiert ha- einer kritischen Öffentlichkeit und der inner- und außer- ben. Dabei müssen wir uns noch einmal vor Augen führen, parlamentarischen Opposition. Herr Dr. Sensburg, un- wann die Zusammenarbeit zwischen der NSA und den sere Kritik ist nicht klein-klein, sondern an dieser Stelle deutschen Stellen intensiviert wurde, nämlich weit vor dem fundamental. 11. September 2001, basierend auf einer Vereinbarung zur engeren Zusammenarbeit zwischen den US-Geheimdiens- (Beifall bei der LINKEN) ten und den bundesdeutschen Nachrichtendiensten durch den damaligen Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier. Denken wir nur an den permanenten Austausch von Wir werden – so ist es jedenfalls Wille meiner Fraktion – Fluggastdaten zwischen der EU und den USA, die Bank- Herrn Steinmeier im Ausschuss danach fragen, was er da bewegungsdaten im SWIFT-Verfahren oder die vielen im Einzelnen abgesprochen hat und warum er diese Zusam- weiteren internationalen Abkommen, die diesen Daten- menarbeit so forciert hat. transfer erst legalisiert haben. In den Diensten läuft es nach dem Motto: Von allem, was für den US-amerikani- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE schen Freund gesammelt wird, profitieren wir auch GRÜNEN]: Wir wollen die Vereinbarung se- selbst, und das wollen wir möglicherweise auch dann hen!) selbst haben. – Und wir wollen die Vereinbarung sehen. Sehr richtig, Die Bürger haben ein Recht darauf, zu erfahren, wie Herr Kollege Ströbele! umfassend die Überwachung und Kontrolle derzeit ist, Der Untersuchungszeitraum beginnt daher aus guten nicht nur in der Vergangenheit war, damit sie selbst und Gründen schon im Frühjahr des Jahres 2001 und endet wir als Parlament Maßnahmen ergreifen können, um die erst heute. Zudem werden wir dafür sorgen, dass weitere digitalen Grundrechte zu schützen, wie es das Grund- Behörden und Institutionen des Bundes einbezogen wer- gesetz gebietet; denn unsere Demokratie ist durch ein den: Nachrichtendienste, das Bundesamt für Sicherheit System totaler Überwachung und Kontrolle in Gefahr. in der Informationstechnik und selbstverständlich die Das ist tatsächlich eine große Aufgabe für diesen Unter- Bundesregierung. suchungsausschuss. Es geht um die Zukunft unserer Grundrechte in einer (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. (B) digitalisierten Welt. Es geht um die Frage, ob die Daten Dr. Eva Högl [SPD]) (D) und die Datenspuren schutzlos sind, Geheimdiensten und privaten Unternehmen zur Kontrolle, zur kommerzi- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: ellen Nutzung, zur Überwachung und letztendlich auch Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion hat jetzt Dr. Eva zur Manipulation ausgeliefert bleiben oder eben nicht. Högl das Wort. Deshalb ist es für uns alleroberstes Ziel, dass der Unter- suchungsausschuss so transparent und öffentlich wie (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) möglich tagen und arbeiten wird. Das ist ein Verspre- chen, das wir heute hier geben müssen. Dr. Eva Högl (SPD): (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Liebe Kollegen! Meine letzte Rede an dieser Stelle zu diesem Thema habe ich damit begonnen, dass ich meiner Wir werden alles in unseren Kräften Stehende tun, jedem Enttäuschung Ausdruck verliehen habe, dass es bisher Versuch entgegenzutreten, aus einem öffentlich tagenden nicht gelungen war, in dieser Frage an einem Strang zu Ausschuss eine geheim tagende parlamentarische Kon- ziehen. Jetzt können Sie sich vorstellen, dass ich mich trollkommission light oder 2 zu machen. Die Durchdrin- heute umso mehr freue, gung unserer digitalen Welt durch Dienste, ihre Helfer und Auftraggeber ist nicht mit geheimen Methoden auf- (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE zuklären und schon gar nicht zu kontrollieren. GRÜNEN]: Frühlingsanfang!) Wir wollen, dass derjenige, der uns allen die Augen und zwar richtig toll, dass wir es gemeinsam geschafft geöffnet hat, Herr Snowden, vor dem Ausschuss aussa- haben, aus den zwei unterschiedlichen Anträgen der gen kann in einer Form, die ihn nicht selbst gefährdet. Opposition und der Koalitionsfraktionen nach dieser Edward Snowden ist der Fachmann für jeden bisher zunächst so verfahren anmutenden Situation einen ge- veröffentlichten Satz. Wir alle wissen aber, dass dafür meinsamen Antrag zu machen, dass wir es also doch Voraussetzungen geschaffen werden müssen, die nicht noch zum Guten gewendet haben und jetzt gemeinsam einfach sein werden. Sicherheit, Auslieferungs- und Ent- den Auftrag des NSA-Untersuchungsausschusses be- führungsschutz sind die Stichworte. Es wäre nicht das schließen. Das ist ein echter Erfolg. Darüber freue ich erste Flugzeug, das von den USA zur Landung gezwun- mich. gen würde. Ich denke, das ist eine sehr ernste Aufgabe für den Ausschuss. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) 1820 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Dr. Eva Högl (A) Mein Dank gilt ganz besonders all denjenigen, die len in dem Auftrag dabei keine diffuse, keine pauschale (C) dazu beigetragen haben, dass es gelungen ist, diesen ge- Abneigung gegenüber der Arbeit von Nachrichtendiens- meinsamen Antrag zu formulieren. Das ist ein wirklich ten erzeugen. Darum geht es gerade nicht. gutes Zeichen. Wir als SPD haben nie einen Hehl daraus gemacht, dass wir ein gemeinsames Vorgehen bei die- Ich sage ganz klar: Ja, an einer Stelle haben wir uns sem so wichtigen Thema NSA für das einzig richtige sehr dafür eingesetzt, dass wir etwas nicht in den Unter- halten, und zwar deshalb, weil wir der Ansicht sind, dass suchungsauftrag aufnehmen, nämlich die Untersuchung wir nicht nur gegenüber der Bundesregierung, sondern einer großen Anzahl von Mitgliedstaaten der Europäi- auch gegenüber den Nachrichtendiensten ganz klar und schen Union. Wir wollten diese Staaten, deren Bürger deutlich machen müssen, dass hier im Bundestag keine selbst Opfer der überbordenden Massenspeicherung ge- Partikularinteressen verfolgt werden, sondern dass wir worden sind, nicht mit untersuchen; das hätte von der hier unser gemeinsames Kontrollinteresse, das genuine Konzentration auf die Aktivitäten der „Five Eyes States“ Kontrollinteresse des Deutschen Bundestages, des ge- abgelenkt. Deswegen war es richtig, unseren Untersu- samten Parlamentes, wahrnehmen. Das ist ein ganz star- chungsauftrag einzuschränken. kes Signal in Richtung der Bundesregierung und in (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Richtung der Nachrichtendienste. CDU/CSU) Das zeigt auch, dass wir als Parlamentarierinnen und Außerdem hätte es an einer Stelle unseren Untersu- Parlamentarier dazugelernt haben; denn wir haben mit chungsauftrag gefährdet. Es ist ganz wichtig, dass wir dem guten Beispiel des NSU-Untersuchungsausschusses hier gemeinsam deutlich machen, dass wir in Europa uns deutlich gemacht, dass wir als Untersuchungsausschuss gegen die massenhafte Erfassung und Speicherung von stärker sind, wenn wir das gemeinsam beschließen und Kommunikationsdaten unbescholtener Bürger stellen gemeinsam arbeiten. Wir zeigen auch beim Thema NSA, und dass wir uns dagegen zur Wehr setzen. Deswegen dass es um die Wahrung der Grund- und Menschen- müssen wir diesen Akzent ganz klar hervorheben. Es rechte geht. Das ist keine Kleinigkeit. Die liegt uns hier geht darum, dass wir nicht pauschal verurteilen, sondern gemeinsam am Herzen. Deswegen dieser starke Unter- darum, dass wir sehr sachgerecht und sehr konzentriert suchungsauftrag. die Arbeit der Nachrichtendienste untersuchen, dass wir Ich freue mich auch darüber, dass wir die verfas- unterscheiden zwischen dem, was der eigentliche Skan- sungsrechtlichen Probleme – die hatte ich das letzte Mal dal ist – nämlich die massenhafte Erfassung und Spei- dargestellt –, die wir mit dem ursprünglichen Antrag der cherung von Kommunikationsdaten auf Vorrat –, und Opposition hatten, jetzt gemeinsam beseitigt haben und dem, was die Nachrichtendienste leisten müssen, näm- lich die Übermittlung, den Austausch und auch die (B) einen rundum verfassungskonformen und, wie wir (D) denken, wasserdichten Untersuchungsauftrag formuliert Sammlung von Daten in Einzelfällen, bei einer konkre- haben. ten Gefährdung; das ist ihre Aufgabe. Das ist wichtig. Es war richtig, in der Formulierung des Untersuchungsauf- Liebe Frau Renner und liebe Kolleginnen und Kolle- trages diese Unterscheidung zu treffen. gen von den Grünen, ich kann gut verstehen, dass Sie jetzt die besonders hartnäckige Oppositionsarbeit Ich bin froh, dass wir in diesem Sinne übereingekom- hervorheben. Frau Renner, da muss ich aber eine kleine men sind und dass wir noch einmal deutlich gemacht Bemerkung machen. Ich will die Einigkeit hier nicht haben, dass es um Folgendes geht – was ja Snowden trüben, aber wir müssen bei der Wahrheit bleiben; das herausgearbeitet hat und was der Kern dieses öffentlich gehört dazu. Sie haben in einer Presseerklärung den Ein- gemachten Skandals ist –: um die systematische und druck erweckt, dass die Koalitionsfraktionen nicht von pauschale Erfassung von uns allen, also nicht nur von Anfang an die mögliche Beteiligung deutscher Nach- Regierungen, Parlamentariern und Wirtschaftsunterneh- richtendienste oder der Bundesregierung an den Aktivi- men, sondern auch von allen unschuldigen Bürgerinnen täten der NSA in den Blick nehmen wollten. Das stimmt und Bürgern. Genau darin liegt der Skandal, und darin nicht. Das entbehrt jeder Grundlage. liegt die Grund- und Menschenrechtsverletzung. Dass dies ohne jeden Verdacht und ohne jeden Anlass ge- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) schah, das wollen wir in dem Untersuchungsausschuss untersuchen. Um das festzustellen, können sie noch einmal in unseren ursprünglichen Antrag hineinschauen; da haben wir das Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolle- Thema „mögliche Beteiligung deutscher Nachrichten- ginnen und Kollegen, ich wünsche allen, die in dem dienste“ hineingeschrieben. Das wollten wir von Anfang Untersuchungsausschuss arbeiten, jede Menge Kraft und an. Das ist ein zentrales Thema, und deswegen wollten Hartnäckigkeit; denn die gehört dazu, wenn es darum wir das immer. Es geht in diesem Untersuchungsaus- geht, wirklich etwas herauszufinden. Um nachhaltig auf- schuss darum, die Verantwortlichkeiten und die mögli- zuklären, muss man an der einen oder anderen Stelle che Verstrickung der staatlichen Stellen in Deutschland – das weiß ich aus eigener Erfahrung aus dem NSU- zu beleuchten. Deswegen haben wir diesen Punkt von Untersuchungsausschuss – wirklich hart dranbleiben. Anfang an in den Antrag hineingeschrieben. Das werden Sie machen, liebe Kolleginnen und Kolle- gen. Uns ist sehr wichtig, dass wir diese Untersuchung sachgerecht und objektiv durchführen. Deswegen ist der Wichtig ist, ebenfalls den Teil in den Blick zu neh- Untersuchungsauftrag entsprechend formuliert. Wir wol- men, den Herr Sensburg hervorgehoben hat, also nicht Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1821

Dr. Eva Högl (A) nur aufzuklären, sondern auch die notwendigen Konse- Von Anfang an war das sogenannte Acht-Punkte- (C) quenzen daraus zu ziehen. Es ist wichtig, dass wir das Programm der Kanzlerin ein Potemkin’sches Dorf. auch in diesem Untersuchungsausschuss tun. Wir sollten Praktisch nichts davon wurde bis heute umgesetzt. gemeinsam Vorschläge besprechen, wie wir alle Bürge- Zumindest haben Sie mittlerweile, nach Monaten des rinnen und Bürger, ihre Privatsphäre, ihr Recht auf infor- unbeirrten Festhaltens daran, erkannt, dass das bilaterale mationelle Selbstbestimmung und die Integrität der von No-Spy-Abkommen von vornherein ein einziger Irrweg ihnen genutzten Kommunikationssysteme schützen war. Die notwendigen weiteren Schritte scheuen Sie können. Genau darum geht es. Das wird ein wichtiger leider bis heute noch immer. Beitrag zum Schutz unserer Grundrechte sein. Deswegen ist es gut, dass jetzt dieses Parlament Herzlichen Dank und allen, die daran arbeiten, viel reagiert, dass der PUA endlich kommt und dass er auch Erfolg. die Rolle der deutschen Dienste untersuchen wird. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Das Wort hat Dr. Konstantin von Nach monatelangen Verhandlungen hat letztendlich die Notz, Bündnis 90/Die Grünen. Vernunft obsiegt. Das Verhandlungsergebnis erlaubt uns nicht nur, auf die anderen zu zeigen, sondern auch, vor der eigenen Tür zu kehren. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit knapp ei- Wir haben kein großes Aufheben davon gemacht nem Jahr erleben wir den größten Überwachungs- und – das will ich an dieser Stelle deutlich sagen –, dass die Geheimdienstskandal aller Zeiten. Die Erkenntnisse, die GroKo, die Große Koalition, versucht hat, unseren wir bis heute einzig und allein dem Whistleblower Untersuchungsauftrag zu verwässern, Edward Snowden zu verdanken haben, stehen für die (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Das Kernschmelze von Rechtsstaatlichkeit und für die stimmt ja auch nicht!) Erosion der Werte Europas und der gesamten freien Welt. weil wir zunächst unterstellen, dass Sie ein echtes Auf- klärungsinteresse haben, Frau Kollegin Högl; ich unter- Dieser Untersuchungsausschuss ist die dringend not- stelle bis heute, dass uns ein echtes Aufklärungsinteresse wendige parlamentarische Antwort hierauf. Wie notwen- eint. (B) dig sie ist, zeigen die neuesten Enthüllungen – Kollege (D) Sensburg hat es angesprochen – um das Programm (Dr. Eva Högl [SPD]: Danke schön!) Mystic, das flächendeckend Inhalte – Inhalte! – von Telefonaten ganzer Nationen speichert, eine Praxis, die Klar ist aber auch: Der Parlamentarische Untersu- trotz aller Erkenntnisse, die wir in den letzten Monaten chungsausschuss ist das schärfste Schwert des Parla- hatten, nochmals alle Dimensionen sprengt. Mystic steht ments, insbesondere der Opposition und insbesondere damit wie Tempora, wie Prism, wie XKeyscore und bei einer Koalitionsmehrheit von 80 Prozent. Zu diesem viele andere Programme für einen beispiellosen Abstieg schärfsten Schwert gehört der Untersuchungsauftrag vom Ideal freiheitlicher Demokratien in die Niederungen genauso wie das unverbrüchliche Recht, Zeugen zu be- von De-facto-Überwachungsgesellschaften, denen wir nennen. uns als Abgeordnete hier heute endlich und mit aller Ent- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schiedenheit entgegenstellen müssen, meine Damen und sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Herren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Diese Rechte, Herr Kollege Flisek, auch nur andeutungs- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der weise infrage zu stellen, das ist die Show, meine Damen SPD und der LINKEN) und Herren. Den Skandal einfach auszusitzen – das sage ich in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aller Deutlichkeit in Richtung Bundesregierung; Herr sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Kollege Krings, nichts gegen Sie, aber die Regierungs- Zum Ziel dieses Ausschusses sagen wir Grüne klar: bank ist angesichts der Wichtigkeit des Themas etwas Es geht uns nicht darum, am Stuhl eines Ministers oder spärlich besetzt –, gar der Bundeskanzlerin zu sägen; wir wollen in diesem (Dr. Günter Krings, Parl. Staatssekretär: Ausschuss – Herr Kollege Sensburg, das eint uns – keine Qualität!) Parteipolitik machen. Uns geht es um nichts weniger als die Wiederherstellung verfassungsgemäßer Verhältnisse; ist für uns keine Option. Sie müssen endlich einsehen, das muss unser gemeinsames Anliegen sein. Dafür gilt dass Sie durch dieses Nichthandeln über Jahrhunderte es zunächst, aufzuklären, Transparenz herzustellen und erkämpfte rechtsstaatliche Errungenschaften zur Dispo- zu verstehen, und dann müssen wir gemeinsam die rich- sition stellen. Eine solche Haltung ist schlicht inakzepta- tigen Konsequenzen ziehen. Wir müssen klarmachen: bel, meine Damen und Herren. Massenhafte anlasslose Überwachung ist verfassungs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) widrig. 1822 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

(A) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: men, und Nachrichtendienste haben gesagt: Wir (C) Denken Sie bitte an die Redezeit. brauchen jetzt viele Informationen. Ich will gleich deut- lich machen: Ich bin überhaupt kein Gegner von Nach- Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE richtendiensten. Wir brauchen sie. Wir brauchen auch GRÜNEN): die internationale Zusammenarbeit. Wer daran rüttelt, tut unserer Sicherheit und den Menschen in unserem Land Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Mit der fraktionsübergreifenden Einsetzung des Untersuchungs- keinen Gefallen. Dazu darf der Ausschuss nicht her- ausschusses heute erkennt dieses Parlament an, dass es halten. ein massives und relevantes Problem mit anlassloser (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Massenüberwachung gibt. Das ist ein wichtiger erster Schritt. Klar ist aber auch – das wird eine Aufgabe des Aus- schusses sein –, dass man sich fragen muss: Ist die Ganz herzlichen Dank. Strategie, die sich bei den Amerikanern und den Briten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN entwickelt hat, einfach einmal alles auf Verdacht zu sam- sowie bei Abgeordneten der SPD und der meln in der Hoffnung, man könne hinterher aus großen LINKEN) Datenbergen einen Verdacht generieren, den man vorher vielleicht überhaupt nicht hatte, richtig? Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Vielen Dank. – Nächster Redner ist Clemens GRÜNEN]: Nein!) Binninger, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Sie ist es nicht. neten der SPD) Wir haben in unserem Rechtssystem zu Recht den personenbezogenen Ansatz gewählt. Der konkrete Ver- Clemens Binninger (CDU/CSU): dacht ist notwendig; zum Teil sind richterliche Anord- Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- nungen nötig. Deshalb sind wir als deutsches Parlament gen! Eine Gesellschaft, in der niemand mehr kommuni- gut beraten, mit diesem Ausschuss, wie es alle Kollegen zieren kann, sich bewegen kann, E-Mails schreiben vor mir – Herr von Notz, Frau Renner, Frau Högl und kann, ohne dass er damit rechnen muss, dass das gespei- Kollege Sensburg – auch gesagt haben, ein Zeichen zu chert und überwacht wird, ist nicht mehr frei. In solch setzen, dass wir diese Art von Überwachung, massen- eine Gesellschaft wollen wir nicht. haft, ohne Anlass, in jedem Lebensbereich, rundherum (B) ablehnen, und klarzumachen: Das ist mit unserem (D) (Beifall im ganzen Hause) Verständnis von Datenschutz und unserem Verfassungs- Bevor ich zu dem komme, was uns beschäftigt, ge- verständnis nicht vereinbar. statten Sie mir einen kleinen Rückblick auf eine Entwicklung, die, glaube ich, ganz maßgeblich dazu bei- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem getragen hat, dass wir heute über eine solche Massen- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) überwachung sprechen und das aufklären müssen. Sie Vor einem Jahr kamen dann Begriffe über uns – Herr hat etwas mit der Technik zu tun. Die Technik hat eine Kollege Ströbele, wir gehören ja einem Gremium an, in Entwicklung eingeleitet, der wir als Parlamente nicht mit dem man das vielleicht vorher schon einmal hätte erfah- der gebotenen Sorgfalt gefolgt sind. Noch vor 15, 20 ren können, aber wir haben es nie erfahren; gefragt ha- Jahren fand Datenspeicherung überwiegend bei staatli- ben wir natürlich auch nie; das müssen wir selbstkritisch chen Behörden statt. Es gab auch Privatunternehmen, die ihre Kundendaten hatten; aber Datenspeicherung hatte anerkennen –, die uns allen zunächst nichts gesagt ha- limitierende Faktoren. Die Speicherkapazität war end- ben: Tempora, XKeyscore, Prism und was auch immer lich; man konnte nicht alles suchen bzw. recherchieren. es noch gibt. Das sind Software- und Hardwaretools, mit Allein dadurch war vieles an Missbrauch gar nicht mög- denen es möglich ist, ganze Datenströme ungeachtet ih- lich. Dann kam eine Entwicklung, die auf der einen Seite rer Menge zu überwachen. Unsere Aufgabe wird es jetzt viele Vorteile gebracht hat, die für uns alle bei der Kom- sein, so konkret es geht, zu ermitteln: Wo wurden sie munikation von Nutzen war, mit der aber auf der ande- eingesetzt? Waren Daten von deutschen Bürgern betrof- ren Seite zwei neue Aspekte einhergingen: Der Spei- fen? Was ist mit diesen Daten passiert? Wurden sie ge- cherplatz ist nicht mehr limitierend. Man kann endlos speichert, wurden sie ausgewertet? – Solche Überwa- Daten speichern. Nicht nur staatliche Behörden können chungsinstrumente sind jedenfalls in dieser Form nicht das, auch private Unternehmen, ja sogar einzelne Bür- akzeptabel. ger. Recherchefunktionen stehen mittlerweile jedem zur Warum brauchen wir einen Untersuchungsausschuss? Verfügung. Jeder von uns kann den anderen googeln. Ob Ich will das an dieser Stelle ganz deutlich sagen. Dass er dabei etwas Sinnvolles erfährt, ist eine andere Frage. Sie, Herr Kollege von Notz, eine andere Auffassung ha- Wir alle sind aber mittlerweile gegenseitig recherchier- ben und kritisieren, wie wir das Thema im letzten bar. Sommer gehandhabt haben, ist völlig in Ordnung. Kol- Die Verhältnisse sind also gewaltig anders als früher. lege Oppermann und ich haben im Sommer auch noch Zu dieser technischen Entwicklung sind Sicherheits- andere Auffassungen zu diesem Thema gehabt; jetzt ha- lagen wie der 11. September und anderes mehr gekom- ben wir in etwa die gleiche. So ändern sich die Zeiten. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1823

Clemens Binninger (A) (Heiterkeit der Abg. Dr. Konstantin von Notz Wir haben eine große Chance, weil wir den Aus- (C) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Thomas schuss gemeinsam einsetzen. Machen wir uns aber Oppermann [SPD]) nichts vor – wir sind keine Romantiker; dafür sind wir nicht in den Deutschen Bundestag gewählt worden –: Nein, ganz ernsthaft: Es hat mit der Art und Weise zu tun Die parteipolitischen Unterschiede werden bleiben. Das – ich will an dieser Stelle im Deutschen Bundestag ist auch völlig in Ordnung. sagen, dass die Kritik berechtigt war und der Anlass von fast niemandem mehr bestritten wurde –, wie unsere be- (Zuruf des Abg. Hans-Christian Ströbele freundeten Partner, die USA und Großbritannien, mit [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) unseren Sorgen, mit den Anliegen, die unsere Bundesre- – Zwischen uns beiden sowieso, Herr Kollege Ströbele. gierung transportiert hat, umgegangen sind. Dass sie auf Trotzdem arbeiten wir gut zusammen. Es geht beides. einen Fragenkatalog nicht geantwortet haben, dass sie ein Informationsverhalten an den Tag gelegt haben, das Wir sollten uns gut überlegen, was wir wollen. in jeder Hinsicht unzureichend war, Nutzen wir die Monate der Untersuchung, um unsere Unterschiede zu betonen, oder nutzen wir die Monate (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE der Untersuchung, um unsere Gemeinsamkeiten hervor- GRÜNEN]: Ist es immer noch!) zuheben? Ich bin davon überzeugt – auch aus den Erfah- dass öffentliche Auftritte wie auf der Münchner Sicher- rungen des NSU-Untersuchungsausschusses –: Wenn heitskonferenz chancenlos vertan wurden, das kann man wir die Gemeinsamkeiten betonen, erreichen wir mehr, so eben nicht stehen lassen. Da müssen wir, das deutsche sind wir als Ausschuss stärker, bringen wir mehr Verän- Parlament, der Souverän des deutschen Volkes, sagen: derungen auf den Weg und erfahren auch mehr. Davon Das ist zu wenig; wir wollen mehr Aufklärung, mehr bin ich zutiefst überzeugt. Lassen Sie uns deshalb bei der Information und eine Änderung dieser Praxis. Arbeit die Gemeinsamkeiten betonen im Interesse der Sicherheit unseres Landes, vor allen Dingen der Bürger! (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie In unserem Land muss gelten: Kommunikation ist ge- bei Abgeordneten der LINKEN und des schützt. Sie ist frei möglich, und man muss keine Angst BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) haben, überall, an jeder Ecke überwacht zu werden. Ich bin in den letzten Tagen oft gefragt worden: Herzlichen Dank. Macht der Ausschuss überhaupt Sinn? Sie bekommen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) doch keine Akten und keine Zeugen. Niemand wird kommen. – Dies sind Sorgen, die ich durchaus selber hatte. Es gibt aber eine ganze Reihe von Fragen, die wir Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (B) (D) erörtern können. Wir befassen uns auch mit der Rolle der Vielen Dank. – Für Bündnis 90/Die Grünen hat Hans- deutschen Dienste. Das ist richtig. Frau Renner und Herr Christian Ströbele das Wort. von Notz, ich sichere Ihnen zu: Wir schonen niemanden. Wir führen aber auch niemanden vor. In Ermangelung Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE ausländischer Akten und Zeugen sollten wir uns nicht GRÜNEN): darauf konzentrieren, den deutschen Diensten alles un- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! terzujubeln. Das wäre falsch. Das würde auch in der Sa- Gestern hat mir einer, der es wissen muss, erzählt, dass che nichts bringen. sich für die NSA das Thema „Überwachung von deut- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) schen Kommunikationsbeziehungen“ erledigt hat, und das war’s. Keiner in den USA erinnert sich offenbar Wenn sich herausstellen sollte, dass es Wissen gab, dann noch daran, dass uns im Juni und in den Monaten danach wird nicht geschont, sondern aufgeklärt. Aber ich regelmäßig im Parlamentarischen Kontrollgremium mit- glaube, dass wir an dieser Stelle differenzieren müssen. geteilt worden ist, dass wir die Informationen bekom- Trotzdem haben wir genügend Chancen, die Dinge men, dass sie nur noch herabgestuft werden müssen und aufzuklären und die Faktenlage stabiler zu machen. wir dann ein „Deutschland-Paket“ zu erwarten haben. Wir warten darauf, aber es wird nicht mehr kommen. Ich sichere Ihnen auch zu: Was geht, machen wir öf- Das ist schon schlimm genug. Viel schlimmer aber ist, fentlich. Es kann aber sein, dass wir geheim tagen müs- wenn ich höre, dass überhaupt keine Gespräche mehr sen. Das gab es übrigens in jedem Untersuchungsaus- stattfinden, auch nicht von den in Deutschland dafür schuss. Auch im NSU-Ausschuss haben wir immer Berufenen mit den US-Kollegen. Das Allerschlimmste wieder einmal nichtöffentlich getagt. Wir haben sogar daran ist, dass die Überwachung nahtlos weitergeht, dass geheim getagt. Wir hatten Geheim eingestufte Akten; das, was uns Herr Snowden über seine Dokumente im das gibt es in jedem Ausschuss. Daraus kann man nicht Juni und in den Monaten danach hat wissen lassen, schließen, dass etwas vertuscht wird. Es hängt übrigens keinerlei Konsequenzen nach sich gezogen hat. Das kön- nicht von den Personen im Ausschuss ab, ob wir öffent- nen wir nicht hinnehmen. Damit können wir uns nicht lich oder geheim tagen. Dies ist immer in der Sache abfinden. Deshalb müssen wir die Aufgabe übernehmen, begründet. Ich sichere Ihnen aber ausdrücklich zu, dass aufzuklären, was da war, und zwar mit allen unseren wir kein Interesse daran haben, möglichst viele Sitzun- Möglichkeiten. gen hinter geschlossenen Türen abzuhalten. Sie wird es trotzdem geben müssen. Dies gehört zu einer fairen Be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wertung. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) 1824 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Hans-Christian Ströbele (A) Die Einrichtung dieses Untersuchungsausschusses Es mag sein, dass das dem einen oder anderen in den (C) – ich freue mich auch, dass wir ihn gemeinsam einrich- USA nicht gefällt. Sie dürfen sich aber nicht davor drü- ten – kann ein erster Schritt sein. Der Beschluss heute cken, ihn als Zeugen hier in Deutschland zu hören. Das und die Konstituierung in der nächsten Sitzungswoche erwarte ich von Ihnen. Das erwartet Deutschland von Ih- sind richtige und wichtige Schritte. Das kommt jetzt nen. Das erwarten auch viele andere Länder dieser Welt. endlich in Gang. Wir können dann zügig anfangen, zu Denn Edward Snowden kann uns in einer Zeugenaus- arbeiten. sage, in deren Rahmen wir auch nachfragen können, hel- fen, die Wahrheit herauszufinden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich verfolge mit großem Interesse, wie Sie von der SPD und von der Union sich in der Öffentlichkeit dahin gehend äußern, Vizepräsidentin Ulla Schmidt: was wir alles machen und was wir nicht machen sollen. Ich erwarte jetzt von Ihnen, dass Sie die Redezeit ein- Ich muss sagen, dass die Äußerungen der Frauen aus der halten. SPD mir wesentlich sympathischer sind als die der Män- ner. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD – GRÜNEN): Dr. Eva Högl [SPD]: Wenn Sie mich meinen: Danach müssen wir die richtigen Konsequenzen da- Danke schön!) raus ziehen. – Das ist kein Kompliment, sondern ein Faktum. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Ach so!) KEN) Wir dürfen in unseren Aufklärungsbemühungen, die wir jetzt unternehmen, nicht davor zurückschrecken, Vizepräsidentin Ulla Schmidt: auch Personen aus der jetzigen Bundesregierung und aus Danke schön. – Nächster Redner ist der Herr Kollege der Koalition – möglicherweise von beiden Seiten – und Christian Flisek, SPD-Fraktion. Personen, die im Parlamentarischen Kontrollgremium tätig gewesen sind, im Untersuchungsausschuss als Zeu- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) gen zu hören. Ich sage Ihnen ganz klar: Es geht nicht, dass Sie vor dem Präsidententhron den Mut verlieren. Es Christian Flisek (SPD): kann nicht sein, dass wir Zeugen, die sich anbieten, nicht Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit im hören wollen. Das gilt natürlich für die Bundeskanzlerin. (B) Sommer letzten Jahres durch Veröffentlichung des briti- (D) Da haben manche mit dem Kopf geschüttelt. Auch Jour- schen Guardian und der amerikanischen Washington nalisten haben gesagt: Was wollen Sie denn eigentlich Post die umfassenden Überwachungsaktivitäten des mit der Bundeskanzlerin? Was soll sie dazu wissen? Sie amerikanischen Geheimdienstes NSA der Öffentlichkeit weiß doch nicht, was die Geheimdienste im Einzelnen bekannt wurden, haben sich die Ereignisse überschlagen. treiben. – Ja, aber sie ist das wichtigste Opfer der Ma- Sämtliche Versuche, den Abhörskandal zu banalisieren chenschaften der NSA. Sie ist die einzige Zeugin, die oder ex cathedra für beendet zu erklären, waren untaug- uns und übrigens auch dem Generalbundesanwalt Range lich. Sie sind im Sande verlaufen, und das auch völlig zu helfen kann, den Verdacht zu konkretisieren, dass auch Recht. Sie mussten scheitern, weil uns seitdem nahezu ihr Handy abgehört worden ist, und zwar offenbar über wöchentlich neue Meldungen über das immer größer einen langen Zeitraum. Die Bundeskanzlerin – leider werdende Ausmaß der Überwachungsmaßnahmen er- nicht ich – hat das Telefonat mit Herrn Obama geführt reichten. Wenn ich aktuell höre – meine Vorredner haben und von ihm ganz offensichtlich Hinweise bekommen sich bereits darauf bezogen –, dass die Kommunikati- – direkt oder inzident –, dass ihr Handy in der Vergan- onsinhalte der Bevölkerungen ganzer Staaten pauschal genheit tatsächlich abgehört worden ist. Wen sollen wir erfasst und anlasslos über Wochen gespeichert werden, im Hinblick auf dieses Faktum als Zeugen hören, wen also jedes Wort, das tatsächlich gesprochen oder in E- soll der Generalbundesanwalt als Zeugen benennen, Mails geschrieben wird, dann bin ich froh, dass wir als wenn nicht sie? deutsches Parlament heute mit der Einsetzung dieses Einen Zeugen, der mir natürlich besonders am Herzen Untersuchungsausschusses endlich ein deutliches Signal liegt, dürfen wir nicht vergessen. Wer, wenn nicht Herr setzen, dass wir die klare Botschaft aussenden, dass wir Edward Snowden, kann uns im Deutschen Bundestag im unter den völlig veränderten Kommunikationsbedingun- Untersuchungsausschuss erklären, was die Dokumente gen im 21. Jahrhundert unsere Grundrechtsstandards aus seinem Besitz, die jetzt nach und nach veröffentlicht verteidigen und die Grundrechte unserer Bürgerinnen worden sind, bedeuten und was sie aussagen? Das hat er und Bürger auf Privatheit und Vertraulichkeit nicht ein- auch selber immer wieder betont. Herr Binninger, da fach auf dem globalen digitalen Altar opfern werden. können Sie nicht einfach sagen: Ich weiß doch nicht, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ was der weiß. – Nach diesem Motto hätten Sie im Uli- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Hoeneß-Prozess nicht die Steuerbeamtin hören dürfen, CDU/CSU) die die Akten verwaltet und anschließend als Zeugin ausgesagt hat. Edward Snowden ist der Zeuge, der uns Das ist die Botschaft, die wir an die Bürgerinnen und Aufklärung geben kann. Bürger in Deutschland richten. Es ist auch die Botschaft, Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1825

Christian Flisek (A) die wir an unsere Partner in Europa und an unsere Ich betone aber ausdrücklich: Der Ausschuss dient der (C) Freunde jenseits des Atlantiks adressieren. Aufklärung in der Sache und nicht der medialen Insze- nierung. Der Deutsche Bundestag beschließt heute die Einset- zung eines Untersuchungsausschusses, der die Aufgabe (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) hat, Art und Umfang der massenhaften Überwachung von Kommunikationsdaten vor allem durch US-ameri- Herr Kollege Dr. von Notz, ich bleibe bei dieser Feststel- kanische und britische Nachrichtendienste aufzuklären. lung, auch wenn Sie sie zuvor kritisiert haben. Zentrale Aufgabe dieses Untersuchungsausschusses ei- (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE nes deutschen Parlaments muss ganz klar sein, vorbe- GRÜNEN]: Die teile ich!) haltlos aufzuklären, inwieweit unsere Dienste und deut- sche Behörden sich an derartigen Aktivitäten beteiligt Herr Ströbele, lassen Sie mich noch eines sagen: Die haben, inwieweit sie diese unterstützt oder rechtswidrig Bundeskanzlerin ist in meinen Augen nicht das wich- davon profitiert haben. Wenn hier die notwendige Zu- tigste Opfer. sammenarbeit mit anderen Staaten derart instrumentali- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE siert wurde, dass deutsche Rechtsvorschriften systema- GRÜNEN]: Aber auch ein Opfer!) tisch umgangen wurden, dann muss diesem Treiben umgehend ein Riegel vorgeschoben werden. Das wichtigste Opfer sind die Bürgerinnen und Bürger und ihre Grundrechte. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Clemens Binninger [CDU/CSU]) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Was die insgesamt 31 Fragen des Einsetzungsantrages Die Frau Bundeskanzlerin ist in dieser Affäre nur ein als detailliertes Untersuchungsprogramm des Ausschus- Opfer; das möchte ich hier richtigstellen. ses festlegen, kann man folgendermaßen zusammenfas- sen: Gibt es in Zeiten weltweiter digitaler Kommunika- Lassen Sie mich einen anderen Aspekt anführen. Wir tion noch so etwas wie Vertraulichkeit, informationelle sollten in Bezug auf unsere amerikanischen Partner nicht Selbstbestimmung und Unschuldsvermutung? Was müs- mit Schaum vor dem Mund operieren. Dass in hohem sen wir in Deutschland und Europa tun, um unserem Maße Vertrauen verloren gegangen ist, wurde bereits bei Verständnis von Grundrechten, aber auch unserem Ver- vielen Gelegenheiten, auch in diesem Hause, deutlich an ständnis vom Primat rechtsstaatlicher und demokrati- die amerikanische Seite adressiert. 9/11, der Anschlag scher Politik wieder Geltung zu verschaffen? – Ich bin auf das World Trade Center in New York, ist tief im daher sehr froh, dass wir uns im Untersuchungsaus- amerikanischen Gedächtnis und auch in unserem Ge- (B) schuss nicht nur mit der vorbehaltlosen Aufklärung der dächtnis verwurzelt. Dennoch kann die Formel vom (D) Missstände, sondern auch mit der Entwicklung von Lö- Kampf gegen den Terrorismus nicht die Rechtfertigung sungen befassen werden. dafür sein, alles, was im Bereich der Sicherheitsbehör- den technisch möglich ist, tatsächlich umzusetzen. Wenn ich von einer vorbehaltlosen Aufklärung der Missstände spreche, dann bedeutet dies selbstverständ- (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Sehr richtig!) lich auch, dass kein zugängliches Beweismittel von Dies entspricht nicht unserem Verfassungsverständnis vornherein ausgeschlossen werden darf. Sosehr es sich und auch nicht unseren Vorstellungen vom Grundsatz verbietet, im jetzigen Stadium, noch bevor das erste Ak- der Verhältnismäßigkeit. tenstück bestellt und eingegangen ist, über Zeugenlisten zu spekulieren, so sehr kann man die Augen nicht davor (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie verschließen, dass die Aussage des Auslösers, desjeni- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE gen, der das Ganze ins Rollen gebracht hat, natürlich GRÜNEN) auch ein taugliches Beweismittel ist. Wenn wir aber ernsthaft, ausgewogen und auf der Basis (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE von Fakten die Tätigkeit amerikanischer Dienste unter- GRÜNEN]: Aha! Das hören wir gerne!) suchen wollen, dann sind wir auch auf Zusammenarbeit angewiesen, vor allen Dingen darauf, dass sich in der Selbstverständlich kommt auch Edward Snowden als amerikanischen Öffentlichkeit noch viel stärker als bis- Zeuge für den Ausschuss in Betracht. Herr Ströbele, Sie her ein Aufklärungsinteresse artikuliert. kennen den Antrag; sein Name findet sich im Text unse- res gemeinsamen Antrags sogar an prominentester Der Präsident der Vereinigten Staaten, Barack Stelle. Wer sich mit seinen zum Teil sehr kryptischen öf- Obama, hat gesagt, man könne nicht gleichzeitig hun- fentlichen Aussagen in Fernsehinterviews und mit sei- dertprozentige Sicherheit und hundertprozentige Privat- nen schriftlichen Einlassungen gegenüber dem Europäi- sphäre haben. Bei aller Wertschätzung: Diesem Ver- schen Parlament befasst, der wird, so wie auch ich, hier ständnis über den Zusammenhang von Freiheit und einige Fragen haben, die berechtigt sind. Sicherheit möchte ich entschieden entgegentreten. Es sei mir erlaubt, dass ich dafür einen anderen Amerikaner, In welcher Weise eine Vernehmung von Herrn nämlich einen der Gründungsväter der Vereinigten Staa- Snowden erfolgen kann, muss im Ausschuss gemein- ten, Benjamin Franklin, bemühe, der gesagt hat: sam geklärt werden. Hier ist vieles vorstellbar. Auch die Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parla- Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewin- ment haben hier einen gemeinsamen Weg gefunden. nen, wird am Ende beides verlieren. 1826 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Christian Flisek (A) Genau das entspricht auch meinem Verständnis. Frei- hung von Akten beschließen. Wir stehen erst am Anfang (C) heit und Sicherheit sitzen nicht auf einer Balkenschau- unserer Arbeit und zum Glück auch am Anfang unserer kel, bei der immer dann, wenn die Sicherheit oben ist, Legislaturperiode. Wir können gründlich und zügig ar- die Freiheit unten ist, sie kleingehalten wird und für sie beiten, aber eben ohne jeden Zeitdruck. kein Platz ist. Nein, meine Damen und Herren, Freiheit und Sicherheit bedingen einander. Das eine kann ohne Dass die Einsetzung des Ausschusses auf der Grund- lage eines gemeinsamen Antrages im Parlament erfolgt – das andere in einem demokratischen Rechtsstaat nicht das ist bereits von meinen Vorrednern erwähnt worden –, zur Geltung kommen. Wer immer unter demokratischen ist ein erster großer Erfolg. Es war ein mühsamer Weg; und rechtsstaatlichen Bedingungen eine Sicherheitsar- ich glaube, diese Mühe hat sich gelohnt. Dass alle Frak- chitektur errichtet, hat dies auf dem Fundament von Ver- tionen an einem Strang ziehen, ist ein sehr gutes Signal; trauen, auf dem Fundament der Verfassung und von de- denn unsere Arbeit im Ausschuss wird von vielen Bür- mokratischer Legitimation zu tun. gerinnen und Bürgern aufmerksam beobachtet werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die Bürger werden zu Recht Antworten auf die gestell- ten Fragen einfordern, die elementare Grundrechte unse- Jede Sicherheitsarchitektur, die diese Kriterien missach- rer Verfassung betreffen, Grundrechte, die ihre Wurzeln tet, wird auf Dauer nicht überleben; denn die Bürgerin- nach unserem Verfassungsverständnis in der Unantast- nen und Bürger werden ihr zu Recht den Boden entzie- barkeit der Menschenwürde haben. hen, und sie wird damit in sich zusammenfallen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vizepräsidentin Ulla Schmidt: der CDU/CSU) Herr Kollege! Die Politik wird lernen müssen, dass sie bei diesem komplexen Thema tatsächlich Neuland betreten muss, Christian Flisek (SPD): wenn ich das unter Rückgriff auf ein Zitat der Bundes- Ich komme zum Schluss. Von mir selbst kann ich sa- kanzlerin einmal so sagen darf. Wenn wir alle das Inter- gen: Ich bin hochmotiviert, freue mich auf ein kollegia- net als einen Ort der Freiheit erhalten wollen, dann müs- les Miteinander aller Ausschussmitglieder und auf eine sen wir auch lernen, das Internet besser zu verstehen, erfolgreiche Ausschussarbeit. und zwar vor allem von seiner technischen Seite her. Herzlichen Dank. Der US-amerikanische Rechtswissenschaftler Lawrence (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Lessig hat schon vor 15 Jahren deutlich gemacht, wen er für die entscheidende Regulierungsmacht in der digita- (B) (D) len Kommunikationswelt hält. „Code is law“, hat er ge- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: sagt. Es sind also nicht die von Staaten verabschiedeten Vielen Dank. – Letzter Redner in dieser Debatte ist Gesetze, die das Internet regulieren, sondern es ist der Dr. Stephan Harbarth, CDU/CSU-Fraktion. Code. Es sind die Programme, die Software, und die (Beifall bei der CDU/CSU) technischen Architekturen und Standards, die das Sagen haben und den Ton angeben. Man muss diese Bewertung Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU): in ihrer Absolutheit nicht teilen. Ich selbst teile sie nicht, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! weil ich als Jurist naturgemäß an die positive Geltung Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als wir das und Durchsetzung staatlich gesetzten Rechts glaube, ins- letzte Mal in diesem Haus über die Einsetzung eines par- besondere an Normen, die Verfassungsrang haben. Aber lamentarischen Untersuchungsausschusses zum Thema die These von Professor Lessig macht gerade in Bezug NSA diskutiert hatten, lagen uns noch zwei Anträge vor, auf unser Problem eines deutlich: In der globalen digita- ein Antrag der Koalitionsfraktionen und ein Antrag der len Kommunikation ist die Wirksamkeit staatlichen Oppositionsfraktionen. Dass es gelungen ist, die Anträge Rechts begrenzt. Solange wir weltweit kein gemeinsam in viel mühsamer Kleinarbeit zusammenzuführen, erfüllt geteiltes Grundrechtsverständnis haben – und von einem uns mit Freude, weil das zum Ausdruck bringt, dass die- solchen sind wir schon im transatlantischen Verhältnis, ses Haus ein gemeinsamer Aufklärungswille eint. Das jedenfalls in Bezug auf das Recht auf informationelle ist, glaube ich, auch deshalb so wichtig, weil die Bevöl- Selbstbestimmung, weit entfernt –, so lange wird ein re- kerung ein gemeinsamer Aufklärungswille eint. Der gulatives Vakuum existieren. Dieses Vakuum wird von Aufklärungswille in der Bevölkerung macht nicht an technischen Normen und Standards ausgefüllt. Wer sie Parteigrenzen, macht nicht an politischen Präferenzen beherrscht, der regiert, wenn man so will, auch das Inter- halt, sondern er betrifft die gesamte Bevölkerung. Des- net, und damit sind wir mitten in der Debatte über Inter- halb ist es so wichtig, dass es uns gelungen ist, einen ge- net Governance. meinsamen Antrag vorzulegen. Allen, die daran beteiligt Für mich ist es besonders wichtig, dass wir mit der waren, vielen herzlichen Dank. Ausschussarbeit schnell beginnen. Der Ausschuss wird (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und sich nach seiner heutigen Einsetzung in der ersten Sit- der SPD sowie des Abg. Dr. Konstantin von zungswoche im April konstituieren. Wir sollten keine Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Zeit verlieren und bereits unmittelbar nach der Konstitu- ierung des Ausschusses und der Klärung der Verfahrens- Wir haben im Geschäftsordnungsausschuss intensiv fragen gemeinsam die ersten Beweisanträge auf Beizie- miteinander gerungen und konstruktiv diskutiert. Das Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1827

Dr. Stephan Harbarth (A) hatte nichts damit zu tun, den Untersuchungsgegenstand dere die USA in diesem Zusammenhang gemacht haben, (C) verwässern zu wollen – das ist vorhin angeklungen –, zu tun. Es hat aber viel damit zu tun. sondern damit, dass das Recht des Parlaments, einen Un- Wir müssen in den kommenden Monaten und Jahren tersuchungsausschuss einzurichten, niedergelegt im klarmachen, wie unser Verständnis vom Zusammenspiel Grundgesetz, gestärkt und fortentwickelt durch jahr- von Freiheit und Sicherheit ist. Wir wissen: Freiheit zehntelange Rechtsprechung des Bundesverfassungsge- ohne Sicherheit ist nicht möglich. Freiheit ohne Sicher- richts, eines der wichtigsten Rechte dieses Parlaments heit ebnet nur dem Stärkeren den Weg. Aber wir wissen ist. Deshalb war es wichtig, dass wir uns mit großer umgekehrt auch, dass hemmungsloses Streben nach im- Sorgfalt der Ausgestaltung des Untersuchungsgegen- mer mehr Sicherheit Freiheitsrechte in einem Land nie- standes angenommen haben, dass wir dies mit großer mals niedertrampeln darf. Das ist unsere tiefste Überzeu- Gewissenhaftigkeit getan haben, dass wir verfassungs- gung; die müssen wir auch nach außen vertreten. rechtliche Vorgaben, etwa an die Bestimmtheit des Un- tersuchungsgegenstandes, beachtet haben. Dies haben Es wird im Untersuchungsausschuss um Aufklärung wir in den vergangenen Wochen getan. gehen. Aufklärung muss bedeuten, dass Missstände an- gesprochen werden. Aufklärung muss aber auch bedeu- Wir haben die Grenzen der verfassungsmäßigen Zu- ten, dass man unbefangen und offen an Themen heran- ständigkeit des Deutschen Bundestages im Bereich der geht. Deshalb, Frau Kollegin Renner, hätte ich es sehr Gesetzgebung und im Bereich der Kontrolle der Bundes- begrüßt, wenn Sie heute nicht geäußert hätten, wovon verwaltung zugrunde gelegt. Wir haben geeignete An- Sie im Einzelnen ausgehen, wer alles auf dieser Welt der knüpfungspunkte gewählt, etwa indem wir abstellen auf Böse ist, sondern wenn Sie zunächst einmal die Sachauf- Kommunikationsvorgänge von, nach und in Deutschland klärung an den Anfang gestellt hätten. und indem wir anknüpfen an die Kenntnis deutscher Be- hörden. Ich glaube, es war richtig, dass wir uns in den (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Diskussionen darauf geeinigt haben, die Länder, deren GRÜNEN]: Ja, richtig!) Nachrichtendienste wir jetzt näher in den Blick nehmen Der Untersuchungsausschuss ist ein Instrument, das möchten, zu begrenzen auf die sogenannten Five Eyes, mit vielen gerichtlichen Befugnissen ausgestattet ist. auf die USA, Großbritannien, Kanada, Australien und Aus Gerichtsverfahren wissen wir, dass es gute Praxis Neuseeland. Wir haben auch über die Frage diskutiert, ist, dass sich ein Richter zunächst einmal den Sachver- ob man möglicherweise viele andere Länder mehr in den halt anschaut und dann zu bestimmten Folgerungen Blick nehmen sollte. Ich bin der festen Überzeugung: Es kommt und dass er das nicht umdreht, gibt gegen die Länder, auf die der Untersuchungsgegen- stand gerichtet ist, im Augenblick eine Verdachtsquali- (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE (B) tät, die sich von der Verdachtsqualität gegen alle anderen GRÜNEN]: So ist das!) (D) Länder unterscheidet. Es ist nicht nur eine Frage außen- mit bestimmten Mutmaßungen, mit bestimmten Folge- politischer Klugheit, sondern auch eine Frage der Ange- rungen beginnt und danach sagt: Jetzt schaue ich mir messenheit des Umgangs, dass man nicht alle Länder, noch den Sachverhalt an, dass er auch in mein Weltbild gegen die man vielleicht einen kleinen Verdacht hegt, passt. – Das ist nicht unser Verständnis der Herange- auf die Schwelle der Länder hebt, bei denen wir im Au- hensweise. genblick ein hohes Verdachtsniveau haben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE neten der SPD) GRÜNEN]: Schauen wir mal! Es ist ja noch Zeit!) Es wird im Untersuchungsausschuss auch um politi- sche Folgerungen gehen. Es wird darum gehen, Folge- Wir haben es mit einem Untersuchungsgegenstand zu rungen im rechtlichen Bereich zu ziehen, zu überlegen: tun, der die Bevölkerung sehr bewegt. Wir haben in den Welche rechtlichen Stellschrauben müssen wir verän- vergangenen Monaten in der Bevölkerung viel Enttäu- dern? Ich denke etwa an die Frage: Wie gestalten wir in schung, viel Verunsicherung, viel Wut vernommen. Wir Europa die Datenschutz-Grundverordnung aus? Es wird haben erlebt, wie Dinge in einem Ausmaß zutage getre- auch viele andere Themen geben, die uns bewegen. Ich ten sind, das man sich zuvor nicht vorgestellt hatte. Wir bin der festen Überzeugung, dass sie weit über den Be- haben erlebt, wie die Sorge vor Totalüberwachung, vor reich der Rechts- und Innenpolitik hinausgehen. totaler Erfassung, vor totaler Speicherung von Daten ganz lebendig und ganz aktuell geworden ist. Wir haben Das, was wir erleben, hat auch etwas damit zu tun, erlebt, wie die Sorge vor dem Ausspähen von Betriebs- dass unser Kontinent in vielen wirtschaftlichen Berei- und Geschäftsgeheimnissen ganz aktuell geworden ist. chen – ich nenne die Automobilindustrie, den Maschi- nenbau usw. – auf diesem Globus führend ist. Nicht füh- Wir haben erlebt, dass unser Verständnis von Bürger- rend auf diesem Globus ist unser Kontinent auf dem rechten, hier insbesondere unser Verständnis vom Recht Gebiet der digitalen Wirtschaft. Das hat auch etwas mit auf informationelle Selbstbestimmung, das das Bundes- der Frage zu tun, wer eigentlich in dieser Welt die Tech- verfassungsgericht ja schon vor Jahrzehnten als Grund- nologieführerschaft im Bereich der digitalen Wirtschaft recht etabliert hat, und unser Verständnis vom Recht auf innehat. Ich wünsche mir, dass Europa nicht in einem die Möglichkeit einer geschützten Kommunikation fun- Akt der Hilflosigkeit auf andere Kontinente schaut, son- damental bedroht sind. Das hat nicht nur etwas mit dem dern dass Europa auch im Hinblick auf die Technologie- 11. September 2001 und den Erfahrungen, die insbeson- führerschaft in diesen Bereichen auf Augenhöhe ist. 1828 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Dr. Stephan Harbarth (A) Dann haben wir wieder eine Chance, weltweit aufzutre- b) Erste Beratung des von den Abgeordneten (C) ten. Volker Beck (Köln), Monika Lazar, Ulle Schauws, weiteren Abgeordneten und der Frak- (Beifall bei der CDU/CSU) tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach- Ich wünsche mir, dass dieser Untersuchungsausschuss ten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des viele Punkte offen anspricht, dass er in der Tat nicht halt- Lebenspartnerschaftsgesetzes und anderer macht, wenn es um die Aufklärung von Missständen in Gesetze im Bereich des Adoptionsrechts Institutionen geht. Ich wünsche mir aber auch, dass er nicht etwa versucht, Nachrichtendienste, die für unser Drucksache 18/577 (neu) Gemeinwesen wichtig sind und die sich an Recht und Überweisungsvorschlag: Gesetz halten, unter einen Pauschalverdacht zu stellen. Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Innenausschuss Ich möchte von dieser Stelle aus ganz bewusst all den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die bei Nachrichten- diensten, die sich an Recht und Gesetz halten, arbeiten, c) Erste Beratung des von den Abgeordneten sehr herzlich Dank sagen. Wir wollen nicht, dass sie un- Volker Beck (Köln), Luise Amtsberg, Katja ter Pauschalverdacht gestellt werden. Keul, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Entwurfs eines Gesetzes zum Europäischen neten der SPD) Übereinkommen über die Adoption von Kin- Wir wollen auch nicht, dass in der berechtigten Kritik dern (revidiert) an anderen Ländern und anderen Regierungen, die geäu- Drucksache 18/842 ßert werden muss, irgendwelche dumpfen Ressentiments gegen andere Länder mitschwingen – Aufklärung ja, Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) dumpfe Ressentiments nein. In diesem Sinne wünsche Auswärtiger Ausschuss ich eine sachorientierte Arbeit des Untersuchungsaus- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend schusses. Ich hoffe, dass er zu einer Veranstaltung der Aufklärung und nicht zu einer Veranstaltung des Kla- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für mauks wird. die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- nen Widerspruch. Damit ist so beschlossen. Ich möchte mich noch einmal sehr herzlich bei allen bedanken, die in den vergangenen Wochen daran mitge- Für die Bundesregierung spricht jetzt Bundesminister wirkt haben, dass wir einen gemeinsamen Antrag vorle- Heiko Maas. (B) gen können. In den Dank möchte ich auch all die Mitar- (D) beiterinnen und Mitarbeiter der Fraktionen einschließen, Heiko Maas, Bundesminister der Justiz und für Ver- die sehr intensiv daran gearbeitet haben. braucherschutz: Vielen herzlichen Dank. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute ist ein guter Tag für Familien, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) und heute ist ein guter Tag für Kinder. Mit diesem Ge- setzentwurf, den wir Ihnen heute vorlegen, sorgen wir Vizepräsidentin Ulla Schmidt: dafür, Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der NEN]: Sie sorgen für gar nichts!) Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der Linken und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/843 zur Ein- dass Kinder das bekommen, was jedes Kind braucht und setzung eines Untersuchungsausschusses. Wer stimmt verdient, nämlich Eltern. Ob Kinder Fürsorge, Zuwen- für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – dung, Schutz und Erziehung erfahren, hängt nicht vom Damit ist der Antrag mit den Stimmen des gesamten Geschlecht ihrer Eltern ab. Auch in Regenbogenfamilien Hauses angenommen und der erste Untersuchungsaus- können Kinder glücklich und geborgen aufwachsen. schuss der 18. Wahlperiode eingesetzt. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem (Beifall im ganzen Hause) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- geordneten der CDU/CSU) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf: Trotzdem hat das Gesetz bislang selbst die Sukzes- a) Erste Beratung des von den Fraktionen der sivadoption bei Lebenspartnern nicht zugelassen. Kin- CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs ei- der, die ihre Eltern verloren hatten, konnten zwar durch nes Gesetzes zur Umsetzung der Entschei- eine ledige oder verpartnerte Person adoptiert werden. dung des Bundesverfassungsgerichts zur Deren Lebenspartner aber durfte dieses Kind nicht adop- Sukzessivadoption durch Lebenspartner tieren und ihm rechtlich kein Elternteil sein. Gerade Kin- Drucksache 18/841 dern, die schon einmal elternlos waren, wurde damit ein zweiter Elternteil vorenthalten. Die Reform, die wir Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) heute vorlegen, macht Schluss mit dieser Situation, die Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auch für viele Kinder nicht unproblematisch gewesen ist. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1829

Bundesminister Heiko Maas (A) Sie stärkt die Regenbogenfamilien, indem die soziale benen Recht stehen, dass auch schwule oder lesbische (C) Familie endlich auch rechtlich zur Familie wird. Paare ein Kind adoptieren dürfen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der CDU/CSU) NEN]: Aber nicht gemeinschaftlich!) Schon heute wachsen adoptierte Kinder mit gleichge- Sie können dies nacheinander tun: im ersten Schritt mit schlechtlichen Eltern auf, auch wenn rein formal nur ein der Einzeladoption durch den einen Partner und im zwei- Partner die Elternrechte hat. Indem wir das Verhältnis ten Schritt mit der Sukzessivadoption durch den anderen zwischen dem Kind und dem sozialen Elternteil recht- Partner. lich anerkennen, stärken wir, wie ich finde, nicht nur das (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Verhältnis zwischen beiden, sondern die ganze Familie GRÜNEN]: Na, das ist ja toll!) und vor allem auch deren gesellschaftliche Akzeptanz. Für Kinder ist es wichtig, zu erleben, dass ihre Familie Wichtig, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist genauso viel wert ist und genauso viel Anerkennung er- dabei das Ergebnis, und das lautet: Erstens. Ein adoptier- fährt wie jede andere Familie auch. Die soziale Achtung tes Kind kann in Zukunft auch rechtlich zwei Eltern des ist wichtig für die Entwicklung und das Wohlbefinden gleichen Geschlechtes haben. dieser Kinder. Wer Regenbogenfamilien diese Anerken- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nung versagt, schadet deshalb auch dem Wohl der Kin- NEN]: Erst nach ein, zwei Jahren!) der. Zweitens. Schwule oder lesbische Paare können ein (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Kind adoptieren und ihm eine Familie geben. LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, diese Reform ist, wie ich finde, ein weiterer und wichtiger Schritt, um den Fami- Tatsache ist aber: Für Kinder mit zwei Vätern oder lienbegriff der Vielfalt der sozialen Realität anzupassen. zwei Müttern ist es oft noch immer schwierig, sich zu ih- Das klassische Schema „Vater-Mutter-Kind“ ist immer ren Eltern zu bekennen. Noch immer gibt es Vorbehalte noch das Familienmodell, das am weitesten verbreitet und Widerstände in unserer Gesellschaft. Das spüren ist; aber es ist längst nicht mehr das einzige. Die Men- Kinder ganz intensiv. schen haben die Freiheit, in sehr vielen verschiedenen (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Lebensentwürfen und Konstellationen zusammenzule- GRÜNEN]: Das spürt man in Ihrem Gesetz- ben, und sie nutzen diese Freiheit auch. entwurf auch!) In vielen Teilen dieser Welt werden Schwule und Les- (B) (D) Ich finde, wir müssen diese Vorbehalte überwinden. Da- ben noch heute verfolgt und unterdrückt – von Uganda bei kann auch das Recht helfen. bis Russland. Ich bin froh darüber, dass dies in Deutsch- land anders ist. Bei uns kann jeder seinen Lebensentwurf Mit der Reform, die wir heute vorlegen, macht der so leben, wie er oder sie das möchte – ohne Unterdrü- Gesetzgeber sehr deutlich, dass auch zwei Väter oder ckung und ohne staatliche Bevormundung. zwei Mütter gute Eltern sein können und vor allen Din- gen gute Eltern sein dürfen. Das ist für die betroffenen Die Reform, die wir heute vorlegen, meine sehr ver- Kinder, für ihre Eltern und für unsere gesamte Gesell- ehrten Damen und Herren, ist nicht nur ein wichtiger schaft ein ganz wichtiges Signal. Schritt und ein guter Tag für Kinder und Familien, sie ist auch ein Signal für Freiheit und für Selbstbestimmung; (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten auch das macht sie so besonders wichtig. der CDU/CSU) Herzlichen Dank. Mit diesem Gesetz setzen wir die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem vergangenen Jahr (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) eins zu eins um. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Vielen Dank. – Für die Linke spricht Harald Petzold. GRÜNEN]: Nicht einmal!) (Beifall bei der LINKEN) Wir korrigieren damit einen Verfassungsverstoß, näm- lich das Verbot der Sukzessivadoption. Dieser Gesetz- entwurf sattelt nicht drauf, sondern setzt genau das um, Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE): wozu wir laut Grundgesetz verpflichtet sind. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Dieser Tag hätte ein guter Tag für Fami- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lien und ein guter Tag für Kinder werden können; das NEN]: Was ohnehin schon Gesetz ist!) sollten wir uns schon vor Augen halten. Herr Minister Nicht mehr, aber auch nicht weniger, Herr Beck, darf es Maas, auch wenn ich Ihre Rede bemerkenswert finde, hätte ich mir trotzdem gewünscht, dass Sie als derjenige, heute werden; Spielraum nach unten gibt es nicht. der sozusagen für die Einhaltung von Recht und Gesetz Auch wenn sich der Entwurf genau an die Vorgaben in diesem Land zuständig ist, mehr Mut gewagt hätten, aus Karlsruhe hält, erreichen wir damit, wie ich finde, um tatsächlich die inzwischen ständige Rechtsprechung eine ganze Menge: Dann wird nämlich auch im geschrie- des Bundesverfassungsgerichtes umzusetzen und eine 1830 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Harald Petzold (Havelland) (A) gemeinschaftliche Adoption von Kindern durch einge- bar, wieso Sie uns hier heute einen derartigen Gesetzent- (C) tragene Lebenspartnerschaften zuzulassen. Dazu haben wurf vorlegen. heute leider nur die Bündnisgrünen Gesetzentwürfe ein- gebracht. Ich kann gleich vorwegnehmen, dass wir als Der Kern ist – Sie haben es selber gesagt, Herr Justiz- Fraktion Die Linke diesen beiden Gesetzentwürfen zu- minister –: Zahlreiche Studien belegen seit Jahren immer stimmen werden, weil wir sie für besser halten als den wieder, lesbische, schwule und transsexuelle Paare sind Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen. genauso gute Eltern wie heterosexuelle Paare. – Auch wenn Sie das nicht glauben wollen, sage ich es erneut: (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Jawohl, viele Zehntausend Lesben, Schwule und Trans- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sexuelle ziehen Kinder groß. Sie tun dies überwiegend fantastisch und mit viel Liebe. Das Kindeswohl ist bei Ich sage Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen diesen Paaren in genauso guten Händen wie bei hetero- von den beiden Koalitionsfraktionen: Ich kann nicht sexuellen Paaren. Daher verdienen sie eine Gleichbe- nachvollziehen, was Sie uns heute zur Beratung vorle- handlung, und wir fordern das konsequent ein. gen. Ihre Mitglieder waren es, die bei der Eröffnung des Regenbogenfamilienzentrums hier in Berlin flammende (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Grußworte gehalten haben. Ich war dankbar, dass der NIS 90/DIE GRÜNEN) Kollege Dr. Luczak die Worte gewählt hat: Im Verfas- Mit Ihrem Gesetzentwurf wird wieder so getan, als ob sungsgefüge unseres gewaltenteilenden Staates sollten es doch Gründe gibt, daran zu zweifeln. Ich sage Ihnen: wir uns nicht hinter zu erwartenden Entscheidungen des Sie tun das aus wahltaktischen Gründen inzwischen mit Bundesverfassungsgerichtes verstecken, sondern selbst- Vorsatz, damit Sie genau diesen ewiggestrigen Teil der bewusst Position beziehen. Das gilt auch für Adoptionen Gesellschaft weiter als Wählerinnen und Wähler an sich durch eingetragene Lebenspartnerschaften. – Der Ge- binden können und eben nicht die Auseinandersetzung setzentwurf, den Sie uns hier vorgelegt haben, ist weder führen müssen, die wir führen müssten, um deutlich zu selbstbewusst, noch bezieht er Position oder macht un- machen, dass es hier keine Unterschiede gibt. sere Verantwortung deutlich, für eindeutige Regelungen zu sorgen. Ich sage erneut, wie ich auch in meiner ersten Rede hier in diesem Hohen Hause gesagt habe: Haben Sie Er beweist vielmehr, Herr Kollege Dr. Luczak, dass endlich den Mut, die gesellschaftlichen Realitäten anzu- Sie in Ihrer Fraktion weiterhin auf einer Mission Impos- erkennen! sible sind und Ihre Fraktion lieber weiterhin dem Stammtisch folgt, der sich beispielsweise hinter der Sie haben selbst auf die Gefährdungen in anderen Massenpetition gegen den Bildungsplan in Baden-Würt- Ländern durch die Gesetzgebung dort hingewiesen. Es (B) temberg versammelt gilt, dies international zu beachten. Sie sollten zum Bei- (D) spiel nicht übersehen, dass in Russland gerade über ein (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Gesetz beraten wird, durch das lesbischen und schwulen GRÜNEN]: Ist ihnen aber nicht gut bekom- Eltern die Kinder sogar wieder entzogen werden können. men!) Das ist ein unglaubliches Vorhaben, und wir müssen hier und damit weiterhin nicht anerkennen will, dass einge- als ein Land, das in dieser Frage eigentlich relativ weit tragene Lebenspartnerschaften bei der Erziehung von ist, ein Zeichen setzen. Kindern und Jugendlichen dieselben Rechte bekommen Wir müssen dem Kindeswohl Rechnung tragen und müssen und vor allen Dingen dieselben Qualitäten ha- sollten den vielen Regenbogenfamilien in diesem Land ben. das Signal geben: Ihre Liebe, ihre Sorge, ihre Familien- leistung und ihr Engagement sind großartig, und wir (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten danken ihnen dafür. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vielen Dank. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Ihr Gesetz- entwurf ist kein Millimeter mehr als das, was das Bun- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- desverfassungsgericht im konkreten Klagefall, in dem es NIS 90/DIE GRÜNEN) um die Sukzessivadoption ging, geurteilt hat. In der Be- gründung haben die Richter aber Folgendes eindeutig Vizepräsidentin Ulla Schmidt: geschrieben – die Kolleginnen und Kollegen der Bünd- Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Elisabeth nisgrünen haben das auf der Titelseite ihres Gesetzent- Winkelmeier-Becker, CDU/CSU-Fraktion. wurfes dankenswerterweise noch einmal zitiert –: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Unterschiede zwischen Ehe und eingetragener Le- neten der SPD) benspartnerschaft, welche die ungleiche Ausgestal- tung der Adoptionsmöglichkeiten rechtfertigen könnten, bestehen nicht; insbesondere sind beide Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): Partnerschaften gleichermaßen auf Dauer angelegt Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und und rechtlich verfestigt … Kollegen! Wir reden heute über den Gesetzentwurf, der die Sukzessivadoption eines Kindes durch den Partner in Es gibt also keinen Grund, diese Gleichbehandlung einer eingetragenen Lebenspartnerschaft gesetzlich re- weiter zu verwehren. Deswegen ist nicht nachvollzieh- gelt. Unsere Regelung sieht vor, dass das Adoptivkind Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1831

Elisabeth Winkelmeier-Becker (A) des einen Partners auch von dem anderen angenommen sondern weil diese nach meiner Ansicht in der Praxis (C) werden kann, unabhängig davon, ob die erste Adoption gute Lösungen ermöglicht. vor oder auch schon während der bestehenden Le- benspartnerschaft erfolgt ist. Eine Adoption – das ist klar – muss immer aus dem Blickwinkel des Kindes gedacht werden. Diesem Kind Der Minister sagte es schon: Wir setzen damit den fehlen – aus welchem Grund auch immer – ein Elternteil Auftrag des Bundesverfassungsgerichts um, das im Fe- oder beide Elternteile. Es geht darum, für dieses Kind bruar des letzten Jahres entschieden hat, dass wir bis zur gute Eltern zu finden. Dabei die Wünsche der anneh- Mitte dieses Jahres eine entsprechende gesetzliche Rege- menden Elternteile und des anzunehmenden Kindes zu lung auf den Weg und ins Gesetzblatt bringen müssen. berücksichtigen, ist mit der Regelung, die wir heute vor- Genau das tun wir. Ich bin an dieser Stelle froh, dass legen, möglich. Fristen, die aus Karlsruhe gesetzt werden, auch einmal wieder eingehalten werden. Ich denke, das ist eine gute Für mich sind hier zwei Sätze gleichermaßen bedeut- Sache. sam. Sie sind beide gleich wichtig, obwohl sie in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Der eine Satz (Beifall bei der CDU/CSU – Volker Beck ist: Wir gehen davon aus, dass es für die Entwicklung ei- [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie nes Kindes am allerbesten ist, wenn es mit Vater und haben sich stets bemüht, Umsetzungsfristen Mutter aufwächst. – Diesen Satz sage ich hier mit aller bei der Gesetzgebung zu berücksichtigen!) Deutlichkeit und ganz bewusst. Der zweite Mann ersetzt Gleichzeitig setzen wir das Europaratsabkommen um, nicht die Mutter, die zweite Frau ersetzt nicht den Vater, das diese Form der Adoption erst ermöglicht. Es würde sondern jedes Geschlecht hat seine eigenständige Bedeu- auch die Volladoption ermöglichen. Davon sehen wir al- tung, auch für die Persönlichkeitsentwicklung des Kin- lerdings bewusst ab. Die Regierung hat gesagt, dass da- des. von ausdrücklich abgesehen wird. (Beifall bei der CDU/CSU – Harald Petzold [Ha- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE velland] [DIE LINKE]: So ein Unsinn!) GRÜNEN]: Der einzig substanzielle Gehalt Der zweite Satz ist: Ob ein Mann ein guter Vater ist Ihres Entwurfs! Fürchterlich! – Zuruf von der oder ob eine Frau eine gute Mutter ist, ist keine Frage ih- LINKEN: Warum denn?) rer sexuellen Orientierung. Wir stehen nicht am Anfang der Diskussion. Wir ha- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie ben die Diskussion schon mehrfach geführt. des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/ (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE DIE GRÜNEN]) (B) (D) GRÜNEN]: Seit 25 Jahren wird darüber gere- Noch einmal zu dem ersten Satz: Wir haben im vergan- det!) genen Jahr über die Situation der nichtehelichen Väter Ein paar Argumente, ein paar Forderungen und ein paar diskutiert. Da hat es für den Satz: „Ein Kind braucht Va- Reflexe auf beiden Seiten sind bekannt; so möchte ich es ter und Mutter“, Applaus gegeben, und zwar von allen sagen. Den einen gehen die Regelungen dieses Entwurfs Seiten. nicht weit genug, den anderen zu weit. Das ist in der Ich habe als Familienrichterin viele Fälle verhandelt, Politik nicht so selten, sondern eher der Normalfall. in denen Wert darauf gelegt wurde, dass ein Kind zu Aber wir müssen sehen, wie wir auf diesem schmalen dem getrennt lebenden Vater oder zu der getrennt leben- Grat eine gute Lösung erreichen. den Mutter Kontakt hat, nicht nur um das Trauma der Ich verweise nur auf die Bedeutung unserer Diskus- Trennung zu überwinden, sondern auch um den anderen sion im wahren Leben. Ich habe mich beim Amtsgericht Elternteil in seiner verschiedenen Geschlechtlichkeit zu Köln – Köln! – erkundigt, welche Bedeutung diese Re- erleben; das ist wichtig. gelung hat, die nach der Entscheidung des Verfassungs- Uns liegen neue Erkenntnisse aus der Väterforschung gerichts so lange vorläufig gilt, bis diese Sache gesetz- vor, die unterstreichen, dass Väter von Anfang an für die lich geregelt ist. Die Anzahl der Verfahren in dieser Persönlichkeitsentwicklung des Kindes wichtig sind. Angelegenheit war null. Nicht zuletzt versuchen wir auch, mehr Erzieher in die (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Kitas zu bekommen, gerade weil wir wissen, dass sie et- GRÜNEN]: Glauben Sie, dass die Leute bei so was anderes einbringen als die überwiegend tätigen Er- etwas klagen?) zieherinnen. Ich sage das in beide Richtungen. Das ist ein Anlass, die Ich komme zu dem anderen Satz. Ich kenne schwule Emotionen vielleicht ein Stück weit herunterzufahren Männer, die tolle Väter sein könnten. Ich kenne lesbi- und zu erkennen, dass das jetzt nicht die alles entschei- sche Frauen, die tolle Mütter sind. Der Staat macht sich dende Frage ist, obwohl ich die symbolische Bedeutung deren Fähigkeit, zu erziehen, zunutze, indem er Pflege- durchaus anerkenne und nicht in Abrede stellen möchte. kinder in homosexuelle Partnerschaften gibt – mit gutem Erfolg. Ich denke, wir legen mit dem Entwurf zur Regelung der Sukzessivadoption eine in der Praxis gute Lösung (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE vor. Ich möchte für diese Lösung werben, nicht nur weil GRÜNEN]: Was keiner will, bekommen die sie uns das Verfassungsgericht ohnehin vorgegeben hat, Schwulen und Lesben!) 1832 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Elisabeth Winkelmeier-Becker (A) Das ist anzuerkennen; das sage ich hier ausdrücklich. und Jugendliche nicht ganz einfach sind, vielleicht schon (C) Die Stiefkindadoption ist etabliert und mittlerweile gän- Vorprägungen haben und man sich als erziehender El- gige Praxis. ternteil ein bisschen mehr anstrengen muss. Was heißt das jetzt für die Adoption vor dem Hinter- Wenn aber diese Pflegekinder, weil die Herkunftsfa- grund dieser zwei Sätze, die sich aneinander reiben? Das milie familienrechtlich auf sie verzichtet, zur Adoption heißt für mich: Ich kann mir keine Regelung und vor al- freigegeben werden, dann wollen Sie nicht zulassen, lem keine Praxis vorstellen, in der es egal ist, ob ein dass diese Kinder gemeinschaftlich adoptiert werden. Kind ein Elternpaar bekommt, das aus einem Vater und Was ist das für ein Unsinn? einer Mutter oder aus zwei Vätern bzw. zwei Müttern besteht. Für mich ist das ein starkes Kriterium und wird (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie es auch bei jeder konkreten Entscheidung über eine bei Abgeordneten der LINKEN) Adoption bleiben. Diesen Gedanken bringen wir im Ge- Warum müssen diese Eltern ein, zwei Jahre warten, bis setzentwurf durch die Beschränkung auf die Sukzessiv- sie gemeinsam familienrechtlich für die Kinder Verant- adoption zum Ausdruck. wortung tragen, obwohl sie es tatsächlich unter Umstän- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE den schon seit Jahren tun? Ihnen geht es bei dieser Posi- GRÜNEN]: Unglaublich! Es gibt keinen sach- tion nicht um das Kindeswohl. Ihnen geht es um lichen Grund außer Ihrem Bauchgefühl!) Vorteile. Ihnen geht es um Bauchgefühl und um falsche Rücksichtnahmen am rechten Rand unserer Gesellschaft Aber die Sukzessivadoption bietet auch Raum, im in Ihrer Partei und bei der AfD. konkreten Einzelfall anders zu entscheiden. Wenn ein Kind bereits einen Lebenspartner als Elternteil hat, ist es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN doch klar, dass es das Beste für dieses Kind ist, wenn es und bei der LINKEN) auch den anderen Partner als Elternteil bekommt. Genau Das finde ich skandalös. So macht man keine Rechtspo- das ermöglicht die Sukzessivadoption. litik.

Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Aber nun zu Ihnen, Herr Minister. Sie haben mit Denken Sie bitte an die Redezeit. schönen Worten einen Gesetzentwurf begründet, wobei ich dachte: Die Rede hätten Sie besser zu unserem Ge- setzentwurf gehalten als zu dem Ihrem. Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): Es gibt andere Fälle in der Praxis. Denken Sie an die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie (B) langjährigen Pflegekinder, die sich selber wünschen, ad- bei Abgeordneten der LINKEN) (D) optiert zu werden, oder an den Patenonkel eines Waisen- Ich will Ihnen eines mitgeben: Sie sind Justizminister, kindes, der das Kind kennt und zu dem es auch will. In nicht der Notar des Bundesverfassungsgerichts. solchen Fällen liegt es doch auf der Hand, dass dort, und zwar auch im Wege einer Sukzessivadoption, eine gute (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Lösung in der Praxis gefunden werden kann. Ich habe bei Abgeordneten der LINKEN) Vertrauen in die Adoptionsvermittlungsstellen, dass sie mit dieser Regelung sehr verantwortungsvoll umgehen Sie haben heute einen Gesetzentwurf vorgelegt, der es und gute Eltern für die Kinder suchen. hinbekommt, an der Rechtslage schlichtweg gar nichts zu ändern. Das, was Ihr Gesetzentwurf aufschreibt, gilt Herzlichen Dank. so seit dem 19. Februar 2013 durch das Urteil des Bun- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- desverfassungsgerichts bereits unmittelbar. Schön ist neten der SPD) nur, dass wir jetzt eine neue Fundstelle dafür bekommen, nämlich das BGB und das Lebenspartnerschaftsgesetz. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Volker Beck, Bünd- bei Abgeordneten der LINKEN) nis 90/Die Grünen. Gesellschaftspolitisch und rechtspolitisch weniger ambi- tioniert als dieser Gesetzentwurf, Herr Minister, kann Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): man überhaupt nicht sein. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Geschätzte Kollegin Winkelmeier-Becker, ich Aber ganz ohne Aussage ist Ihr Gesetzentwurf in der nehme Ihnen ab, dass Sie es in der Sache gut meinen und Tat nicht. In der Begründung – komischerweise spricht eigentlich auch eine aufgeklärte Position vertreten wol- in der Begründung der Koalition jetzt die Koalition für len. Es ist Ihnen bloß noch nicht ganz gelungen. die Bundesregierung – heißt es: Sie haben gerade selber zu Recht gesagt – das ist Praxis –, Die Bundesregierung wird das Übereinkommen dass Jugendämter häufig gerade gleichgeschlechtliche von 2008 Lebenspartnerschaften Pflegekinder aufziehen lassen, – zum Adoptionsrecht – weil sie oftmals niemand anderen finden als ein gleich- geschlechtliches Paar, das bereit ist, sich insbesondere umsetzen. Von der in dem Übereinkommen eröffne- um ältere Pflegekinder zu kümmern, weil diese Kinder ten Möglichkeit, im nationalen Adoptionsrecht die Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1833

Volker Beck (Köln) (A) gemeinsame Adoption durch Lebenspartner zuzu- blem ist schlichtweg: Adoptionskindern muten Sie zu, (C) lassen, wird sie keinen Gebrauch machen. erst nach ein, zwei Jahren durch ein Sukzessivadoptions- verfahren tatsächlich zu einer Familie mit zwei Elterntei- Außer einem Nein zur gemeinschaftlichen Adoption len zu kommen, die sorgeberechtigt und unterhalts- hat Ihr Gesetzentwurf also keine Substanz. Das finde ich pflichtig sind und gegenüber denen das Kind für die Sozialdemokratie schon beschämend. Erbansprüche hat. Zuvor haben diese Kinder nur ein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Elternteil. Das ist eine sozial- und familienrechtlich in- und bei der LINKEN) stabilere Situation. Das gereicht dem Kind nur zum Schaden. Wer in dieser Debatte noch einmal das Wort Sie sind im Wahlkampf vollmundig angetreten: für „Kindeswohl“ in den Mund nimmt und diese Position 100 Prozent Gleichstellung, für die Öffnung der Ehe verteidigt und vertritt, sollte vor Scham im Boden – ich habe die Anzeige dabei – und für die Gleichstel- versinken. lung von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften und künftigen Ehen im Adoptionsrecht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Dass Sie das mit der Ehe nicht hinbekommen, Frau Kollegin, ist geschenkt. Ich weiß, wie schwierig das ist und dass das für die Union eine hoch ideologische Frage Vizepräsidentin Ulla Schmidt: ist. Dass Sie das aber bei der Adoption noch nicht einmal Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion hat jetzt das versucht haben, finde ich in der Tat beschämend. Von Wort Dr. Karl-Heinz Brunner. 100 Prozent Gleichstellung, den Wählerinnen und (Beifall bei der SPD) Wählern versprochen, ist 0 Prozent Rechtsänderung übriggeblieben. Weniger geht nun wirklich nicht. Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sehr verehrte Frau Präsidentin! Lieber Kollege Beck, und bei der LINKEN) dann wäre ich der Nächste, der vor Scham im Boden versinken müsste. Ich tue es aber nicht; denn ich bin zu- Sie haben als Notar nicht einmal die Entscheidung tiefst davon überzeugt, dass uns das Bundesverfassungs- des Bundesverfassungsgerichts ordentlich umgesetzt. gericht wieder einmal gezeigt hat, wo es langgeht. Es Sie haben offensichtlich in Ihrem Ministerium noch sagt glasklar: Alle Menschen sind vor dem Gesetz nicht einmal jemanden beauftragt, das Urteil bis zum gleich. – Dies gilt bei einer Adoption durch gleichge- Ende durchzulesen. In Randnummer 104 steht – der schlechtliche Lebenspartner und – noch viel wichtiger – Kollege hat das schon teilweise zitiert –: für alle Kinder dieses Landes. Nehmen Sie es mir nicht (B) Unterschiede zwischen Ehe und eingetragener übel, aber eigentlich hätten wir selbst darauf kommen (D) Lebenspartnerschaft, welche die ungleiche Ausge- müssen. Ich weiß, dass der große Teil der Abgeordneten staltung der Adoptionsmöglichkeiten rechtfertigen des Deutschen Bundestages auch darauf gekommen ist. könnten, bestehen nicht; Leider haben wir dies noch nicht – ich sage das ganz be- wusst – über alle politischen Gegensätze hinweg selbst Dann sagt das Bundesverfassungsgericht, dass die Be- in die Hand genommen. Mein Wunsch ist, dass wir die stimmung im Lebenspartnerschaftsgesetz, die das Adop- Parteigrenzen außer Acht lassen und sagen: Wir müssen tionsrecht beschränkt, verfassungswidrig ist. Aber das die Kinder und die Familien in den Mittelpunkt stellen. Bundesverfassungsgericht gibt Ihnen, dem Gesetzgeber, Lieber Kollege Beck, ich gehe davon aus, dass Sie in die Aufgabe auf, diese Frage zu klären. Es weist darauf Koalitionsverhandlungen wahrscheinlich auch kein hin, dass das nicht nur über die Einführung der gemein- besseres Ergebnis erzielt hätten. schaftlichen Adoption geht. (Beifall bei der SPD) Neben der naheliegenden Angleichung der Adop- tionsmöglichkeiten eingetragener Lebenspartner an Ja, wir freuen uns, wenn in Deutschland Kinder groß- die für Ehepartner bestehenden Adoptionsmöglich- gezogen werden, wenn sie geborgen, gefördert, umsorgt keiten wäre auch eine allgemeine Beschränkung der und geliebt sind, egal welche sexuelle Orientierung die Adoptionsmöglichkeiten denkbar, sofern diese für Eltern haben. Wir wollen Familien, Solidarität und ge- eingetragene Lebenspartner und Ehepartner gleich meinsames Einstehen für die Kinder, ganz egal in wel- ausgestaltet würden. cher Konstellation. Wir leben in einer offenen Gesell- schaft, und wir stehen dazu. Wir, die SPD, stehen dafür Das Bundesverfassungsgericht hat Ihnen klar auf den ein, ohne Zögern, ohne Lavieren und ohne Angst. Aber Weg gegeben: Sie dürfen beim Adoptionsrecht nicht ich weiß, dass dies in Deutschland und auch in diesem zweierlei Recht für Ehe und Lebenspartnerschaft beste- Hohen Haus keine hundertprozentige Zustimmung hen lassen. Genau das tun Sie aber mit Ihrem Gesetz- erfährt. Ich weiß, dass sich manche Kolleginnen und entwurf. Ich finde, Ihr Gesetzentwurf ist ein Fall für die Kollegen unseres geschätzten Koalitionspartners noch Haftpflichtversicherung, Herr Notar; denn Sie haben immer schwertun, den Schritt in Richtung Gleichstel- hier einen Schaden herbeigeführt. lung so zu gehen, wie ich und vielleicht auch andere in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) diesem Hause ihn gerne gehen würden. Ich akzeptiere dies. Gerade deshalb möchte ich Sie gerne mitnehmen, Es geht nicht nur um Recht und Gesetz und darum, ob Ihnen den Weg erleichtern und Ihnen dazu fünf Argu- Sie Ihre Wahlversprechen eingehalten haben. Das Pro- mente an die Hand geben. 1834 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Dr. Karl-Heinz Brunner (A) Erstens haben wir im Koalitionsvertrag bereits festge- beschützen – was ist uns das wert? Glauben Sie mir: (C) legt, rechtliche Regelungen, die gleichgeschlechtliche Wenn wir diese Fragen fern von parteipolitischem Partnerschaften schlechterstellen, zu beseitigen – das Kalkül und fern von unseren parteipolitischen Unter- haben wir noch vor uns –, und wir haben – das haben wir schieden sehen, dann steht am Ende nicht nur die heute vorliegen – den Gesetzentwurf zur Umsetzung des Gleichstellung, sondern auch die Ehe für Schwule und Urteils des Bundesverfassungsgerichts vereinbart. Das Lesben. machen wir jetzt. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und bei der Zweitens. Familie hier, Ehe da, Lebenspartnerschaft Präsidentin, dass sie mir ein paar Sekunden hinzugege- dort – das sind in unserer Gesellschaft keine Gegensätze ben hat. mehr. Ich sage ganz deutlich: Familie ist da, wo Solidari- tät herrscht, wo Menschen füreinander einstehen, wo ein Vielen Dank. Kind in behüteten Verhältnissen aufwachsen kann, wo es (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sich gut entwickeln kann, dort, wo es daheim ist. Das hat DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der nichts mit Mann und Frau, sondern das hat etwas mit CDU/CSU) Liebe zu tun. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vizepräsidentin Ulla Schmidt: der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Vielen Dank. – Nächste Rednerin in der Debatte ist GRÜNEN) Frau Dr. Sütterlin-Waack für die CDU/CSU-Fraktion. Drittens. Kinder in homosexuellen Ehen entwickeln (Beifall bei der CDU/CSU) sich psychisch ganz normal. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Dr. Sabine Sütterlin-Waack (CDU/CSU): LINKEN) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen Es gibt nichts, was darauf hindeutet, dass sie es schwerer und Kollegen! Ich glaube aus den bisherigen Redebeiträ- hätten als Dicke, Dünne, Kleine oder Große, von Diskri- gen entnehmen zu können, dass wir uns darüber einig minierung ganz zu schweigen. Schließlich hat das das sind, dass durch die Sukzessivadoption die rechtliche Staatsinstitut für Familienforschung in Bamberg bestä- Stellung von Adoptivkindern in der schon dargestellten tigt, und die müssen es wissen. speziellen Situation verbessert wird. Viertens. Gleichgeschlechtliche Partnerschaften wer- Die Kinder entwickeln nach erfolgter Zweitadoption den in der Bevölkerung meist Homoehe genannt, nicht ein sogenanntes doppelstrahliges Kindschaftsverhältnis (B) (D) Partnerschaft, sondern Ehe. Selbst die Bild-Zeitung zu beiden Elternteilen. Somit haben auch diese Kinder schreibt nur Homoehe. Damit ist klar, dass eingetragene zwei Elternteile, denen sie vertrauen und die für sie Lebenspartner wie Ehepartner leben und zweifelsohne rechtlich einstehen. Sie bekommen eine zweite Bezugs- die Verantwortung für sich und für ihre Kinder und person, die für sie unterhaltspflichtig ist und bei der sie Angehörigen übernehmen wie Ehepartner und so, wie erbberechtigt sind. Alles zusammengenommen ist wich- wir das in Deutschland wollen. Gut, dass der allgemeine tig. Dadurch verbessern wir sowohl die soziale als auch Sprachgebrauch schon etwas weiter ist als die Gesetzge- die rechtliche Situation der betroffenen Kinder. bung. Selbstverständlich bleibt auch bei der Sukzessivadop- Fünftens: die Realität. Es gibt sie schon längst, die tion das allgemeine Adoptionsverfahren aufrechterhal- Stiefeltern, die Pflegeeltern, die Patchworkfamilien, die ten. Dies ist im Wesentlichen in § 1741 BGB festge- ihren Kindern Schutz und Geborgenheit geben. Das ver- schrieben. Dort heißt es – jetzt muss ich doch das Wort dient Anerkennung. Unterschiede werden gelebt, öffent- „Kindeswohl“ in den Mund nehmen; das werde ich in lich, unabhängig von jedem Schubladendenken. Warum meiner Rede noch öfter tun –: sollten wir einen anderen Maßstab anlegen, warum soll (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE es bei Sukzessivadoptionen Ausnahmen geben? Wenn GRÜNEN]: Wenn Sie die richtige Position irgendjemand die Gleichstellung bremsen möchte, dann einnehmen, dürfen Sie das sogar! Wenn Sie es ist es, glaube ich, nach dem Urteil des Bundesverfas- konterkarieren, nicht!) sungsgerichts eh schon zu spät. Der Zug fährt schon. Das nächste Gesetz ist vor der Tür. Die Annahme als Kind ist zulässig, wenn sie dem Wohl des Kindes dient und zu erwarten ist, dass (Beifall bei der SPD) zwischen dem Annehmenden und dem Kind ein Dieser Gesetzentwurf ist ein weiterer Schritt in die Eltern-Kind-Verhältnis entsteht. richtige Richtung, aber er darf es nicht allein bleiben. Im Einzelfall wird also entschieden, ob ein Paar oder Dazu sollten wir künftig keinen Wink unseres Bundes- eine Einzelperson für die Adoption eines ganz bestimm- verfassungsgerichts mehr benötigen. Haben wir den ten Kindes infrage kommt oder nicht. Im Mittelpunkt Mut, die Augen für die Realität zu öffnen und die Fragen des Adoptionsverfahrens steht also das Kindeswohl. zu beantworten, die wir für unsere Gesellschaft beant- Daran darf und wird sich nichts ändern. worten müssen. In welcher Gesellschaft wollen wir le- ben? In was für einer Gesellschaft sollen unsere Kinder (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- aufwachsen? Füreinander einstehen, sorgen, lieben und neten der SPD) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1835

Dr. Sabine Sütterlin-Waack (A) Das Kindeswohl ist nach gängiger Definition die sellschaftlichen Diskriminierungen zu gebrauchen. Der (C) nachhaltige Verbesserung der persönlichen Verhältnisse Sachverständige warnte davor, über das Adoptionsrecht und der Rechtsstellung des Kindes. Unsere Familien- Gleichstellungspolitik zu betreiben. gerichte treffen in Zusammenarbeit mit den Adoptions- behörden letztendlich die Entscheidung im Kindeswohl- Wegen der sich aus Art. 6 Grundgesetz ergebenden interesse. Ich habe vollstes Vertrauen in die Fähigkeit Wächterfunktion des Staates müssen wir hier aber Ge- unserer deutschen Familiengerichte zu ausgewogenen wissheit haben. Solange wir diese nicht haben, werden Urteilen. wir dem Gesetzentwurf der Grünen auf Zulassung der Volladoption durch eingetragene Lebenspartner nicht Ich will es noch einmal hervorheben: Die für uns zen- zustimmen. Diese Ablehnung hat nichts, aber auch gar trale Frage ist: Dient die Adoption dem Kindeswohl? nichts damit zu tun, dass wir gleichgeschlechtliche Le- Auch das Bundesverfassungsgericht hat dies in seinen benspartnerschaften nicht akzeptieren. Dies heißt aber Entscheidungsgründen vorangestellt. Es hat zu dieser nicht automatisch, dass sie Anrecht auf Kinder haben. Frage im Zusammenhang mit der Sukzessivadoption Das hat niemand. Stellungnahmen von elf Sachverständigen eingeholt. Zehn davon äußerten sich positiv; einer hatte Bedenken. Jetzt zitiere ich Sie, Herr Beck: Auch wegen der überwiegenden Zustimmung der Fach- Kinder haben … ein Recht auf Liebe, Fürsorge, leute zur Sukzessivadoption bestanden für das Verfas- Aufmerksamkeit und Geborgenheit. sungsgericht keine Zweifel. Das gilt auch für uns. Ich werbe daher um die Zustimmung zum Gesetzentwurf zur Im Umkehrschluss ist die Adoption aber keine Maß- Sukzessivadoption. nahme zur Heilung von Kinderlosigkeit von Paaren, egal welcher geschlechtlichen Orientierung. Sinn und Ziel Meine sehr geehrten Damen und Herren der Opposi- von Adoptionen ist eine mögliche Hilfe für bereits gebo- tion, bei diesem wichtigen Thema werden Sie mich in rene Kinder, die aus unterschiedlichsten Gründen ihre meiner ersten Rede sicher nicht von der Antwort auf die Eltern verloren haben und für die deshalb eine neue Fa- Frage befreien: Wie halten Sie es mit der Volladoption milie gesucht wird. bei eingetragenen Lebenspartnern? Ich möchte am Ende noch einmal auf die Wächter- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE funktion des Staates und die damit verbundene Verant- GRÜNEN]: Richtig erkannt!) wortung zurückkommen. Die Adoption ergeht durch ei- Ich gebe zu, dass ich lange darüber nachgedacht habe, nen staatlichen Hoheitsakt. Der Staat ist also an der wie ich mich zu dieser Frage stellen soll. Die Stimmen, Entstehung von rechtlichen Familienbeziehungen aktiv die den letzten oder vorletzten Schritt zur rechtlichen beteiligt. Daraus erwächst die besondere Verantwortung (B) (D) Gleichstellung fordern, sind zwar laut, aber für uns ist des Staates. Er darf eine solche Beziehung nur schaffen, festzustellen, dass die grundsätzliche Frage, ob Kinder in wenn es dem Kindeswohl dient. Also noch einmal: So- einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft genauso gut lange wir keine Gewissheit haben, dass die Volladoption aufwachsen können wie bei Mann und Frau, immer noch durch gleichgeschlechtliche Lebenspartner vollumfäng- gesellschaftlich stark umstritten ist. Auch aus der wis- lich dem Kindeswohl entspricht, können wir derartigen senschaftlichen Literatur ist mir keine belastbare Studie gesetzlichen Vorhaben nicht zustimmen. bekannt, die darüber verlässlich Auskunft erteilt. Die (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – vielzitierte Studie der Uni Bamberg ist nicht allgemein Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- anerkannt. NEN]: Warum ist die Sukzessivadoption von (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE der gewollten gemeinschaftlichen Adoption zu GRÜNEN]: Um diskriminieren zu dürfen, unterscheiden?) müssten Sie eine Studie haben, die belegt, dass es ein Problem gibt!) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Herzlichen Dank. – Das war Ihre erste Rede. Ich gra- Ihr werden erhebliche Schwächen vorgehalten, vor allen tuliere Ihnen im Namen des ganzen Hauses dazu. Dingen, weil sie nicht repräsentativ sei. Auch die Anhörung des Rechtsausschusses zum (Beifall) gleichlautenden Gesetzentwurf der Grünen am 6. Juni Der nächste Redner ist Dr. Volker Ullrich, CDU/ 2011 förderte kein einheitliches Bild zutage. Einige der CSU-Fraktion. Bitte schön. Sachverständigen haben ausgeführt, dass ein Kind, das, aus welchen Gründen auch immer, nicht in seiner Her- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. kunftsfamilie aufwächst, schon dadurch besonderen Be- Dr. Karl-Heinz Brunner [SPD]) lastungen ausgesetzt ist. Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen GRÜNEN]: Das spricht jetzt gegen Adoption und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! insgesamt!) Zum Abschluss der Debatte sei noch einmal daran erin- Weitere Belastungen sollten daher vermieden werden. nert, dass es bei der Umsetzung des Urteils des Bundes- Der Gesetzgeber, also wir, wurde auch ermahnt, das verfassungsgerichts eben doch um die Verbesserung von Adoptionsrecht nicht als Instrument zum Abbau von ge- Kinderrechten und um die Verbesserung des Kindes- 1836 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Dr. Volker Ullrich (A) wohls geht. Es ist natürlich durchaus möglich, diese De- durch Mann und Frau erfolgt, sodass quasi Emotionen (C) batte unter dem Vorzeichen der Gleichberechtigung und andere Aspekte der Erziehung von beiderlei Ge- gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften zu füh- schlecht zum Tragen kommen. ren. Wir alle sind uns in diesem Hohen Hause einig: Wir erkennen gemeinsam an, dass in gleichgeschlechtlichen Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Lebenspartnerschaften Werte gelebt werden, die insge- Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen samt in dieser Gesellschaft wichtig sind und die eine Beck? – Bitte schön. Bindung verschaffen. Aber es ist auch wichtig, anzuer- kennen, dass es einen Wert hat, die Rechte von Kindern zu verbessern. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nur, damit auch ich als Nichtjurist es verstehe: Das Die Koalitionsvorlage stärkt die rechtliche Stellung Bundesverfassungsgericht hat sich ja für dieses Urteil, von bereits bestehenden emotionalen Beziehungen. Den- das Sie heute umzusetzen meinen, genau diese Fragen ken Sie daran, dass in einer gleichgeschlechtlichen Le- gestellt, Sachverständige vom Deutschen Familienge- benspartnerschaft der eine Partner beispielsweise das richtstag, von Psychologenverbänden, von der Bundes- Sorgerecht hat; der andere hat es nicht. Der eine Partner arbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter angehört ist unterhaltsverpflichtet; der andere ist es nicht. Der – alle Fachverbände waren einbezogen – und kommt eine hat einen Auskunftsanspruch im Krankheitsfall; der dann zu dem Schluss: andere hat ihn nicht. Durch die Sukzessivadoption be- kommt ein Kind ein Mehr an Rechten. Es bekommt die Unterschiede zwischen Ehe und eingetragener Le- Möglichkeit, zusätzlich abgesichert zu werden. Deswe- benspartnerschaft, welche die ungleiche Ausgestal- gen ist dieser Gesetzentwurf richtig und zielführend. tung der Adoptionsmöglichkeiten (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Ulle – nicht der Sukzessivadoption, sondern der Adoptions- Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: möglichkeiten – Mutlos!) rechtfertigen könnten, bestehen nicht … Vielleicht ist es in diesem Zusammenhang bedauer- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) lich, dass wir durch das Bundesverfassungsgericht dazu gezwungen worden sind, diesen Schritt zu gehen. Weiter führt es aus, was ich vorhin schon gesagt habe – ich lese es einfach noch einmal vor; ich habe es schon (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der ein paar Mal gemacht, weil es ja offensichtlich niemand LINKEN) zur Kenntnis nehmen will, zumindest auf der rechten (B) (D) Aber es sei auch daran erinnert, dass das Bundesverfas- Seite des Hauses –: sungsgericht kein Ersatzgesetzgeber ist und es dem Ge- Neben der naheliegenden Angleichung der Adop- setzgeber freistehen muss, Wertentscheidungen selbst zu tionsmöglichkeiten eingetragener Lebenspartner an treffen, nach eigener Einschätzung. die für Ehepartner bestehenden Adoptionsmöglich- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – keiten Stefan Liebich [DIE LINKE]: Hätten Sie auch – also Sukzessivadoption, gemeinschaftliche Adoption, vorher schon!) Stiefkindadoption – Dementsprechend können wir auch die Frage der wäre auch eine allgemeine Beschränkung der Volladoption in einem anderen Licht betrachten. Es ist Adoptionsmöglichkeiten denkbar, sofern diese für etwas dann gleich zu behandeln, wenn es von seiner Ei- eingetragene Lebenspartner und Ehepartner gleich genart her gleich ist und wenn sich eine Ungleichbe- ausgestaltet würden. handlung verbietet. Dort aber, wo Ansatzpunkte einer Differenzierung vorhanden sind, kann es eine gesetzge- Wo lesen Sie in diesem Urteil des Bundesverfas- berische Wertentscheidung sein, eine Ungleichbehand- sungsgerichtes eine Legitimation für den Gesetzgeber, lung vorzunehmen. bei Adoptionsmöglichkeiten zwischen Lebenspartner- schaften und Ehepaaren weiterhin zu differenzieren? Ich (Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: habe Ihnen gerade zwei Sätze aus dem Urteil vorgelesen, Aha!) die allgemein für das Adoptionsrecht sagen: Das dürfen wir nicht mehr. Wir können uns zwar überlegen, wie wir Ich denke, dass es zwischen einer Sukzessivadoption es machen, aber nicht, ob wir es machen. und einer Volladoption durchaus einen zu betrachtenden Unterschied gibt. Bei der Sukzessivadoption ist die Bin- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dung des Kindes an einen Lebenspartner bereits vorhan- und bei der LINKEN) den, während bei der Volladoption zwei völlig neue Bindungen geknüpft werden. Angesichts dieses Unter- Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): schiedes sollten wir gut überlegen, ob das, was wir bis- Herr Kollege Beck, das Verlesen einzelner Zitate aus lang wissen, was wir bislang an Studien haben, aus- einem Verfassungsgerichtsurteil ersetzt nicht die gesetz- reicht, eine Gleichbehandlung herbeizuführen, oder ob geberische Wertentscheidung. es besser ist, zu sagen: Das Kindeswohl gebietet es, dass der Regelfall eben doch der sein soll, dass eine Adoption (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1837

Dr. Volker Ullrich (A) Wir treffen die gesetzgeberische Wertentscheidung so, Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der (C) dass wir die Sukzessivadoption aus den Gründen, die Verteidigung: meine Kollegen und ich gerade dargestellt haben, in un- Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen serem Gesetzentwurf zulassen, dass wir als Gesetzgeber und Kollegen! Erlauben Sie mir, dass ich zunächst ein- aber an der grundsätzlichen Wertentscheidung, dass vor mal auf der Tribüne Soldatinnen und Soldaten des dem Hintergrund des Kindeswohls eine Volladoption FüSK-Referates Stationierung aus Bonn im Rahmen der vornehmlich durch Mann und Frau erfolgen soll, im Au- politischen Bildung ganz herzlich zu dieser Debatte be- genblick nichts ändern. Das ist keine Wertentscheidung grüße. gegen gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften, (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der GRÜNEN]: Natürlich ist es das!) CDU/CSU: Da könnte die Linke auch einmal sondern das ist im Grunde genommen eine Entscheidung klatschen!) für das Kindeswohl. Es geht um die europäische Trainingsmission in So- (Beifall bei der CDU/CSU – Volker Beck malia. Wir haben in den letzten Wochen viel über Afrika [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch diskutiert, in vielerlei Hinsicht ein Kontinent der großen wenn Sie sagen, sachwidrige Diskriminierung Chancen, sehr vielfältig mit seinen 54 Staaten. Afrika er- ist keine Diskriminierung, bleibt das trotzdem scheint aber auch gerade mit Blick auf Somalia als ein Diskriminierung!) Kontinent der Krisen mit Bürgerkriegen, fragiler Staat- lichkeit und zunehmendem Terrorismus. Es geht heute Vielen Dank. um die Problematiken Gewalt, Hunger und Flucht. Das (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sind die prägenden Merkmale des Landes am Horn von neten der SPD) Afrika, die in fataler Weise nicht nur enorme Auswir- kungen auf die Bevölkerung selber haben, sondern auch Vizepräsidentin Ulla Schmidt: auf die Nachbarstaaten. Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache. Gemeinsam mit der Afrikanischen Union gibt es ein Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf breites Bündnis von Staaten und Organisationen, das den Drucksachen 18/841, 18/577 (neu) und 18/842 an sich seit Jahren am Horn von Afrika engagiert. Wir ha- die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- ben einen strategischen Rahmen der europäischen Mis- schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das sion, in dem viele verschiedene Untergruppierungen ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlos- sind. Das Ziel ist, in der Region Sicherheit, vor allem im (B) sen. Seegebiet, wiederherzustellen, Somalia zu stabilisieren (D) und vor allem staatliche Strukturen wieder aufzubauen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf: Hier gilt: Es gibt keine Alleingänge; auch diese Mission Beratung des Antrags der Bundesregierung steht unter dem Dach der Vereinten Nationen, gemein- sam mit der Afrikanischen Union und mit der EU. Wir Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte engagieren uns hier zusammen in der vernetzten Sicher- an der EU-geführten Ausbildungsmission heit. Das ist unser Grundprinzip. EUTM Somalia auf Grundlage des Ersuchens der somalischen Regierung mit Schreiben (Beifall bei der CDU/CSU) vom 27. November 2012 und 11. Januar 2013 sowie der Beschlüsse des Rates der Europäi- Bei den Zielen, die wir uns gesteckt haben, liegt noch schen Union 2010/96-GASP vom 15. Februar ein weiter Weg vor uns. Vieles wurde schon erreicht im 2010 und 2013/44-GASP vom 22. Januar 2013 Kampf gegen die Piraterie und bei der Sicherung weite- in Verbindung mit der Resolution 1872 (2009) rer Regionen des Festlandes, vor allem in der Hauptstadt des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen Mogadischu. Das ist vor allem ein Verdienst der Truppen der afrikanischen Friedensmission AMISOM, die zum Drucksache 18/857 Teil schwere Verluste im Kampf gegen die Al-Schabab- Überweisungsvorschlag: Miliz erleiden mussten. An dieser Stelle möchte ich für Auswärtiger Ausschuss (f) diesen Einsatz, der bei uns in Deutschland keine große Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Aufmerksamkeit erhält, den Soldatinnen und Soldaten Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe vieler afrikanischer Staaten danken und an ihre Opfer er- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und innern. Entwicklung Haushaltsauschuss gemäß § 96 der GO (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Auch Deutschland engagiert sich seit Jahren am Horn die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- von Afrika: immer in der vernetzten Sicherheit – Diplo- nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. matie, wirtschaftliche Entwicklung und Sicherheit –, im- mer mit dem Respekt vor der souveränen Entscheidung Ich eröffne die Aussprache. Für die Bundesregierung afrikanischer Staaten, wo und wie Hilfe nötig ist. Ein hat Frau Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen das Teil davon ist die jetzt diskutierte europäische Trainings- Wort. mission für die somalischen Streitkräfte, die zunächst in (Beifall bei der CDU/CSU) Mogadischu war, dann aus Sicherheitsgründen nach 1838 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen (A) Uganda ausgelagert worden ist und jetzt wieder nach Vor diesem Hintergrund bitte ich Sie um Unterstüt- (C) Mogadischu verlegt worden ist. zung, auch im Sinne unserer Soldatinnen und Soldaten, für diesen wichtigen und richtigen Einsatz. Rund 3 600 Soldatinnen und Soldaten und rund 120 militärische Ausbilder, Train the Trainer, wurden in Vielen Dank. Uganda ausgebildet. Sie sind jetzt der Kern der Streit- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) kräfte, die sich in Somalia für Stabilität, Sicherheit und den Schutz der Bevölkerung einsetzen. Vizepräsident : Wir möchten gerne mit unseren Partnern in Somalia Vielen Dank, Frau Ministerin. – Nächster Redner ist an den Erfolg, dessen Grundlage in Uganda gelegt wor- der Kollege Jan van Aken, Die Linke. den ist und der jetzt wieder in Mogadischu stattfindet, anknüpfen. Deshalb bittet die Bundesregierung heute um (Beifall bei der LINKEN) die Zustimmung zu einer erneuten Beteiligung deutscher Soldatinnen und Soldaten an der Ausbildungsmission im Jan van Aken (DIE LINKE): somalischen Zentrum. Es geht um rein militärisches Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau von Training und den Aufbau militärischer Strukturen. Es der Leyen, das war nicht gut. geht dabei auch um das Verständnis für die rechtsstaatli- che Einbettung und zivile Kontrolle des Militärs. Daher (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Ingo wollen wir in Mogadischu auch Beratungsfunktionen im Gädechens [CDU/CSU]: Doch!) somalischen Generalstab und im Verteidigungsministe- Sie haben den Soldatinnen und Soldaten oben auf der rium wahrnehmen. Wir haben vorher Diskussionen ge- Besuchertribüne nicht die ganze Wahrheit über diesen habt, ob die Sicherheitslage in Mogadischu dieses zulässt. Einsatz gesagt. Wir hatten zugesichert, dass wir noch eine sorgfältige Prüfung sowohl bei den europäischen Partnern in Soma- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – lia als auch in den Nachbarländern vornehmen und ihnen Henning Otte [CDU/CSU]: Sie haben bei der eine gewissenhafte Bewertung der Sicherheitslage vorle- Begrüßung nicht mal geklatscht!) gen werden. Die Bedrohungslage in Mogadischu ist Noch im Dezember letzten Jahres hat Ihre Bundesregie- durch Angriffe und Terrorismus nach wie vor erheblich. rung ausdrücklich gesagt, dass die Sicherheitslage in Das muss ich ganz klar sagen. Aber es sind Sicherheits- Mogadischu viel zu instabil sei, um auch nur einen einzi- maßnahmen durch unsere europäischen Partner im gen der Kolleginnen und Kollegen, die da oben sitzen, Camp Al Jazeera vorgenommen worden. Auch die Be- dorthin zu schicken. wegungen zwischen Camp Al Jazeera und dem Verteidi- (B) (D) gungsministerium rund um die Mission sind so, dass das (Henning Otte [CDU/CSU]: Sie haben sie Risiko als militärisch vertretbar und politisch verant- nicht mal begrüßt!) wortbar angesehen wird. Zurzeit sind bereits elf europäi- Gerade haben Sie gesagt: Mittlerweile haben wir Sicher- sche Nationen bei der Trainingsmission in Mogadischu. heitsmaßnahmen ergriffen, jetzt ist alles gut. – Sie haben Rund 100 Ausbilder sind an der Trainingsmission in nichts davon gesagt, dass noch vor einem Monat, am Mogadischu beteiligt. Jetzt geht es um die Frage, ob sich 13. Februar, direkt bei dem Ausbildungscamp, in das die Deutschland mit einer Personalobergrenze von bis zu Bundeswehrsoldaten geschickt werden sollen, von al- 20 Soldatinnen und Soldaten wieder an der Ausbil- Schabab ein sehr schwerer Anschlag verübt worden ist: dungsmission beteiligt. Wir bitten um ein Mandat für die 6 Tote, 19 Verletzte, viele davon schwer verletzt. Das ist nächsten zwölf Monate, obwohl diese Mission selber für genau der Weg, den die Kolleginnen und Kollegen gehen die nächsten zwei Jahre angelegt ist. Warum für die müssen; Sie haben ihnen nicht und niemandem in die- nächsten zwei Jahre? Es ist geplant, dass 2016 Wahlen in sem Haus erklärt, was sich denn in den letzten drei Mo- Somalia stattfinden werden, die für die Zukunft Soma- naten an der Sicherheitslage geändert haben soll, lias entscheidend sind. Wir möchten uns gerne auf dem Weg zur Stabilisierung des Landes an dieser Trainings- (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Sie hat doch mission beteiligen; aber sie ist nicht das einzige Mo- gesagt, dass das in Mogadischu eine schwie- ment. rige Sicherheitslage ist! Selbstverständlich hat sie das gesagt! Wenn Sie nicht zuhören!) Wichtig ist, dass uns bewusst ist, dass die gesamte Rahmenstrategie zur Stabilisierung des Landes, die dort nachdem Sie vor drei Monaten noch der Meinung waren, vor Ort unter dem Dach der europäischen Mission ver- dass es viel zu gefährlich ist. Es ist auch heute noch viel folgt wird, nur erfolgreich sein kann, wenn es nicht nur zu gefährlich. bei der Sicherheitsarchitektur, sondern auch bei der poli- (Beifall bei der LINKEN – tischen Konsolidierung auf dem Weg zu den Wahlen und [SPD]: Ich glaube, das Vertrauen der Soldaten vor allem bei der gesellschaftlichen Aussöhnung inner- in die Linken hält sich in Grenzen!) halb des Landes Fortschritte gibt. Wichtig ist mir auch, dass wir uns immer darüber im Klaren sind, dass unser Der Ausbildungsstandort, den Sie sich jetzt ausge- Engagement nur dann erfolgreich sein kann, wenn es mit sucht haben, ist aus einem weiteren Grund ein richtiges der Afrikanischen Union und den vielen anderen Part- Problem: Sie führen jetzt die Ausbildung am Standort nern, die sich dort vor Ort engagieren, eng verzahnt und der AMISOM durch, das heißt im gleichen Camp, Seite gut abgestimmt ist. an Seite mit der kämpfenden Truppe. So werden die Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1839

Jan van Aken (A) Bundeswehrsoldaten natürlich als Teil der kämpfenden Jetzt komme ich zum letzten Punkt. (C) Truppe der Afrikanischen Union wahrgenommen, und das erhöht die Gefährdung zusätzlich. Wie es dort für die (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Gott sei Dank!) deutschen Soldaten ausreichend sicher sein soll, das Ich finde es wirklich erschütternd, dass Sie gar nichts müssen Sie mir einmal erklären. Das müssen Sie aber dazu sagen, Frau von der Leyen. auch den Soldatinnen und Soldaten erklären, und erklä- ren Sie es bitte auch einmal deren Familien. Vor gut einem Jahr wurde das Waffenembargo gegen Somalia gelockert mit dem Argument, die Regierung (Henning Otte [CDU/CSU]: Nicht mal Beifall müsse sich besser bewaffnen, um sich schützen zu kön- von den Linken!) nen. Nun ist veröffentlicht worden, dass es einen Bericht Nicht nur wegen der schlechten Sicherheitslage leh- an den Sanktionsausschuss der Vereinten Nationen gibt, nen wir diesen Einsatz ab, sondern auch, weil er poli- in dem auf vielen Seiten detailliert dargelegt wird, dass tisch falsch ist. Sie, Frau von der Leyen, wissen es, Sie die sogenannte Regierung in Mogadischu daran beteiligt alle wissen es, ich weiß es. Die jetzige somalische Re- ist, die Waffen, die jetzt neu ins Land kommen, weiter- gierung hat trotz Beteiligung der verschiedenen Clans zuleiten, unter anderem an al-Schabab. Vor kurzem und regionalen Strukturen überhaupt keinen Rückhalt in wurde die Lockerung des Waffenembargos noch einmal der Bevölkerung. Das ist auch kein Wunder, denn sie ist verlängert. Das heißt, Sie – nicht Deutschland, aber an- erstens nicht gewählt und zweitens überhaupt nicht als dere Länder – unterstützen eine Regierung, beliefern sie Regierung erkennbar. Sie kümmert sich in keinster mit Waffen, und diese Waffen werden über die Clan- Weise um die Bevölkerung, in keinster Weise um die Si- strukturen direkt an al-Schabab weitergegeben. Ange- cherung der Grundbedürfnisse, um die Nahrungsmittel- sichts des Berichtes an den Sanktionsausschuss der Ver- versorgung, um die Gesundheitsversorgung. Das Ein- einten Nationen fragen wir Sie: Was tun Sie damit? Die zige, womit diese Regierung sich beschäftigt – und Sie Antwort ist: Die Bundesregierung kennt diesen Bericht unterstützen sie dabei –, ist, sich selbst zu schützen; aber gar nicht. – Sie nehmen ihn nicht zur Kenntnis; Sie wol- die Menschen im Land schützt sie nicht. Die Sicherheits- len ihn nicht sehen. Das ist der Skandal: Sie unterstützen kräfte, die Sie jetzt in Mogadischu ausbilden, werden eine Waffenschieberbande, die sich Regierung nennt, ausschließlich dafür eingesetzt, den Regierungssitz zu und befeuern damit noch den militärischen, gewalttäti- schützen, sonst gar nichts – wenn die Soldaten nicht gen Konflikt in Somalia. mittlerweile längst desertiert sind. (Beifall bei der LINKEN – Henning Otte Vor allem hat diese sogenannte Regierung – da kom- [CDU/CSU]: Erschreckend!) men wir zur entscheidenden politischen Frage, zu der Ich fasse zusammen: Erstens. Sie riskieren das Leben (B) Sie leider wenig gesagt haben – nichts, aber auch gar von Bundeswehrsoldaten, indem Sie sie mitten in ein (D) nichts unternommen, um eine Verhandlungslösung mit hochgefährliches Mogadischu schicken. dem mächtigsten Gegner dort, al-Schabab, auf den Weg zu bringen. Das erste Ziel von Verhandlungen wäre eine (Henning Otte [CDU/CSU]: Sie begrüßen sie Waffenruhe. Aber entsprechende Verhandlungen werden nicht mal!) nicht nur von der Regierung in Mogadischu abgelehnt, Zweitens. Sie unterstützen damit eine Bürgerkriegspar- sondern auch von all ihren internationalen Unterstützern. tei, die sich am Waffenhandel bereichert. Drittens. Sie Da heißt es ganz lapidar: Mit Terroristen verhandelt man und auch die Regierung in Mogadischu setzen sich nicht nicht. für Verhandlungen für eine Friedenslösung ein. Ich Vor vier Jahren habe ich an dieser Stelle gesagt, dass finde, das sind drei sehr gute Gründe, diesen Auslands- man in Afghanistan mit al-Qaida verhandeln muss. Da einsatz abzulehnen. bin ich von Ihnen ausgelacht worden. Zwei Jahre später Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland haben Sie diese Meinung selbst vertreten. Das war gut. überhaupt keine Waffen mehr exportieren sollte. Aber jetzt müssen Sie auch in Bezug auf Somalia zur Kenntnis nehmen: Sie werden in diesem Land nur dann Ich danke Ihnen. Frieden erreichen, wenn Sie mit dem Hauptgegner, al- (Beifall bei der LINKEN) Schabab, verhandeln. Solange Sie das nicht tun, werden Sie den dortigen Krieg nicht beenden können. Vizepräsident Johannes Singhammer: (Beifall bei der LINKEN – Henning Otte Für die Bundesregierung erteile ich nun Herrn Staats- [CDU/CSU]: Sie werden uns nicht überzeu- minister Michael Roth das Wort. gen!) (Beifall bei der SPD) Sie wissen, dass Ihre Strategie gescheitert ist. (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Ihre Argumen- Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt: tation schon lange!) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf der Besuchertribüne! Schon seit Wo- Die einzige Möglichkeit, den Bürgerkrieg zu beenden, chen wird die öffentliche Debatte in Deutschland bezüg- liegt in einem Dialog und in Verhandlungen, nicht in lich der Afrikapolitik nur von einer Frage bestimmt: Waffengewalt. Werden deutsche Soldatinnen und Soldaten zum Einsatz (Beifall bei der LINKEN) kommen, um die politischen Krisen in Zentralafrika, 1840 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Staatsminister Michael Roth (A) Mali, Südsudan oder Somalia in den Griff zu bekom- teilweise unterdrückt und politisch verfolgt werden. (C) men? Dazu dürfen und werden wir nicht schweigen. Eine Verengung der Diskussion auf die Frage der Mi- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) litäreinsätze ist nicht nur sachlich falsch; sie zeugt auch von einer zutiefst verzerrten Wahrnehmung unseres Unsere Auseinandersetzung mit Afrika darf deshalb Nachbarkontinents. Afrika als Kontinent der Gefahren nicht in eine sicherheitspolitische Debatte heute, eine und Risiken – von diesem einfachen Bild müssen wir entwicklungspolitische Debatte morgen und eine wirt- uns lösen. schaftspolitische Debatte übermorgen zerfasern. Unser vielseitiges Engagement für und in Afrika muss ineinan- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – dergreifen, wenn wir einen verantwortungsvollen Bei- Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Wir reden trag für mehr politische und wirtschaftliche Stabilität doch über einen Militäreinsatz!) leisten wollen. Trotz aller Probleme und Schwierigkeiten, die es wei- Der vierte EU-Afrika-Gipfel, der im April 2014 in terhin gibt, zeigt die Entwicklung der vergangenen Brüssel stattfindet, ist ein guter Anlass, um gemeinsam Jahre: Wir Europäerinnen und Europäer haben allen An- mit unseren afrikanischen Partnern Bilanz zu ziehen und lass, unseren Blick mit etwas mehr Zuversicht in Rich- neue Impulse für die Afrikapolitik zu vereinbaren. Es tung Afrika zu richten. Unser Blick wird realistischer, wird eines der großen Projekte der Europäischen Union wenn wir zur Kenntnis nehmen: Afrika ist auch ein Kon- in den kommenden Jahren sein, eine gemeinsame Strate- tinent der Hoffnung, der Chancen und Potenziale. Des- gie für Afrika zu entwickeln, die der Bedeutung unseres halb lassen Sie uns heute bei der Entscheidung über das Nachbarkontinents endlich gerecht wird. Unsere Kern- Mandat für die Entsendung von anliegen sind eine fortschreitende Integration Afrikas (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Militär!) und die Förderung von sicherheitspolitischer Eigenver- antwortung. Die Afrikanische Union spielt dabei eine deutschen Soldatinnen und Soldaten zur EU-Ausbil- ganz zentrale Rolle. dungsmission in Somalia nicht nur den sicherheitspoliti- schen Rahmen im Blick haben. Dieses Mandat ist viel- Unsere Unterstützung beschränkt sich nicht auf das mehr ein kleiner, aber wichtiger Baustein eines Krisenmanagement, etwa durch finanzielle Unterstüt- Gesamtansatzes in der Afrikapolitik. zung für die AU-Missionstruppen in Somalia oder durch Hilfe beim Aufbau einer afrikanischen Friedens- und Afrika hat sich in den vergangenen Jahren viel schnel- Sicherheitsarchitektur. Um Frieden und Sicherheit dau- ler gewandelt als unser Blick von außen auf Afrika. Da- erhaft zu sichern, brauchen wir mehr als reaktives Kri- (B) bei müssen wir uns bewusst sein: Der Kontinent, seine senmanagement. Noch viel wichtiger ist eine voraus- (D) Länder und Regionen entwickeln sich nicht nur mit zu- schauende Krisenprävention, damit politische Krisen nehmender Dynamik, sondern auch in ganz unterschied- und gewaltsame Konflikte im besten Fall gar nicht erst licher Weise und Geschwindigkeit. Wir müssen lernen, entstehen. Erfolgsbeispiele gibt es einige: die Einrichtung diese Entwicklungen und die damit verbundenen Chan- von Frühwarnsystemen oder das Grenzmanagementpro- cen frühzeitig zu erkennen und in ihrer jeweiligen Eigen- gramm der Afrikanischen Union, bei dem durch gemein- art zu erfassen. same Grenzdemarkationslinien Konflikte hinsichtlich des Grenzverlaufs ausgeräumt werden sollen. Krisenprä- So komplex die Ausgangslagen sind, so differenziert vention betreiben wir aber auch, indem wir die restrik- sollten auch unsere Antworten sein. Wenn wir erfolg- tive Kontrolle von Kleinwaffen in Westafrika oder der reich sein wollen, gilt es, das gesamte Instrumentarium Sahelzone fördern. unserer Außenpolitik einzusetzen. Denn Fragen von Politik und Sicherheit, von Wirtschaft und Gesellschaft Auch in Mali geht es uns nicht allein um die Ausbil- sind untrennbar miteinander verknüpft. dung von Soldatinnen und Soldaten. Wir unterstützen das Land bei einer umfassenden Reform des Sicherheits- Frieden und Sicherheit sind zwingende Voraussetzun- sektors. Die Kollegen haben ja recht: Niemand, weder gen für wirtschaftliche Entwicklung und Wohlstand. Das die Bundesverteidigungsministerin noch irgendjemand Wachstum Afrikas in den vergangenen Jahren eröffnet anderes, hat hier behauptet, dass die Lage dort stabil und beachtliche wirtschaftliche Perspektiven für zahlreiche sicher ist. Aber wir tun eine ganze Menge, um die Le- Länder. Aber wir müssen auch dafür Sorge tragen, dass bensverhältnisse der Menschen dort konkret zu verbes- der wirtschaftliche Aufschwung am Ende bei den Men- sern. Die Reform des Sicherheitssektors spielt dabei eine schen ankommt. Mehr Arbeitsplätze, eine gerechte Ein- ganz entscheidende Rolle. An dieser Stelle will ich Mali kommensverteilung und eine gesicherte Versorgung mit als ein positives Beispiel dafür nennen, dass wir unser Nahrungsmitteln, Wasser, Energie und Gesundheitsleis- Engagement mit gutem Grund auf einzelne Länder kon- tungen sind letztlich das beste Stabilitätsprogramm für zentrieren: Langjährige Erfahrung, Vertrautheit mit den den ganzen Kontinent. Verhältnissen vor Ort und gegenseitiges Vertrauen sind, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) wie im Fall Mali, eine gute Voraussetzung dafür, dass unser Handeln am Ende von Erfolg gekrönt ist. Es gibt, liebe Kolleginnen und Kollegen, aber eben auch die Schattenseiten. Die Bundesregierung sieht mit Staaten und Gesellschaften in Afrika gewinnen vieler- Sorge, wie in vielen – zu vielen – afrikanischen Staaten orts an Stabilität. Rechtsstaatlichkeit, der Zugang zu Bil- Frauen, ethnische, religiöse oder sexuelle Minderheiten dung und eine starke Zivilgesellschaft sind hierfür ganz Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1841

Staatsminister Michael Roth (A) besonders wichtige Voraussetzungen. Ein funktionieren- Wertschätzung für diese Unterstützung, auch weil diese (C) der Rechtsstaat trägt maßgeblich dazu bei, die Men- nun endlich im eigenen Land stattfindet. schen- und Bürgerrechte zu schützen und gute wirt- Klar ist: Für die Mission in Mogadischu ist die Bedro- schaftliche und unternehmerische Rahmenbedingungen hungslage ohne Zweifel höher als bislang in Uganda. zu schaffen. Afrikanische Staaten stehen dabei vor ganz Daher hat die Bundesregierung die Sicherheitslage – das unterschiedlichen Problemen und Schwierigkeiten, bei will ich hier ganz deutlich sagen – sehr sorgfältig ge- deren Bewältigung wir ihnen mit Rat und Tat zur Seite prüft. Auch wenn die Situation in Somalia auf absehbare stehen. Ein gutes Beispiel dafür ist der deutsch-tansani- Zeit weiterhin sehr fragil bleibt, ist angesichts der bereits sche Erfahrungsaustausch bei der Ausbildung von ergriffenen Schutzmaßnahmen eine erneute Beteiligung Rechtsstaatsvertretern in Daressalam. Diese kleinen Er- deutscher Soldatinnen und Soldaten nicht nur sicher- folgsgeschichten machen uns Mut. Lassen Sie uns da- heitspolitisch richtig, sondern auch vertretbar. Ein Rest- rauf in der Zukunft aufbauen. risiko von Rückschlägen muss angesichts der instabilen Liebe Kolleginnen und Kollegen, der von mir skiz- Lage in Somalia allerdings immer einkalkuliert werden. zierte umfassende afrikapolitische Ansatz ist Grundlage Dessen sind sich die Bundesregierung ebenso wie die unserer heutigen Entscheidung. Mit dem Votum des Europäische Union bewusst. Bundestages für eine weitere Beteiligung deutscher (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Streitkräfte an der EU-geführten Ausbildungsmission Kollateralschäden!) EUTM Somalia können wir heute ein wichtiges Signal für das deutsche und europäische Engagement am Horn Wir prüfen die Bedrohungslage fortwährend und passen die Schutzmaßnahmen gegebenenfalls an. von Afrika senden. Dieses Signal kommt in mehrfacher Hinsicht zur rechten Zeit. Seit dem 3. März 2014 gehen Mit zunächst einem permanent vor Ort stationierten die Truppen der Mission AMISOM der Afrikanischen Berater – einem Berater – und der abschnittsweisen Ent- Union gemeinsam mit Einheiten der somalischen Streit- sendung von drei Ausbildern bleibt der Umfang der kräfte gegen die radikalislamistische al-Schabab vor. deutschen Beteiligung an EUTM Somalia zunächst ver- Den Kern der somalischen Streitkräfte bilden dabei die hältnismäßig bescheiden. Dennoch haben die somalische rund 3 600 somalischen Soldaten, die bis Ende 2013 im Regierung und unsere europäischen Partner dieses wich- Rahmen der EU-Mission ausgebildet wurden. tige Signal unserer Unterstützung für Somalia mit Nach- druck begrüßt. Um auch künftig flexibel auf Personalbe- Neben dieser militärischen Offensive müssen aber darfsmeldungen der Mission reagieren zu können, sieht auch weitere nichtmilitärische Schritte folgen. Nur so das Mandat eine Obergrenze von maximal 20 Soldatin- kann es gelingen, die befreiten Gebiete dauerhaft zu hal- nen und Soldaten vor. (B) ten und die Lebensbedingungen der dortigen Bevölke- (D) rung nachhaltig zu verbessern. Auch hier gibt es deut- Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Engagement sche Unterstützung, beispielsweise durch KfW-Kredite Deutschlands und der EU zur Unterstützung der Sicher- zur Finanzierung sogenannter Quick-Impact-Projekte. heitsinstitutionen in Somalia ist eingebettet in einen um- Mit diesen Projekten unterstützen wir die Menschen in fassenden Ansatz zur Stärkung der Zivilgesellschaft, der der Region schnell und gezielt. staatlichen Strukturen und der wirtschaftlichen Entwick- lung Somalias. Deutschland setzt mit der erneuten Betei- Unverzichtbar ist aber auch, dass wir der somalischen ligung an der EUTM-Mission in Somalia ein Zeichen – Zentralregierung aktiv beim Wiederaufbau von hand- lungsfähigen Verwaltungs- und föderalen Strukturen hel- Vizepräsident Johannes Singhammer: fen. Nur dann kann sie den Stabilisierungsprozess des Herr Staatsminister, darf ich Sie an Ihre Redezeit erin- Landes so gestalten und steuern, wie es ihr in der Über- nern? gangsverfassung von 2012 zugewiesen wird; auch da hilft es nichts, die Lage schöner zu reden, als sie tatsäch- Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt: lich ist. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, braucht – der Solidarität und der konkreten Hilfe. Unser mili- die Zentralregierung aber zwingend einen funktionieren- tärisches Engagement ist ein bescheidenes, aber notwen- den Sicherheitsapparat, dessen Strukturen und Fähigkei- diges Signal. Deshalb bitte ich Sie alle, liebe Kollegin- ten derzeit nur sehr schwach ausgeprägt sind. An genau nen und Kollegen, um Unterstützung. diesem Punkt setzt die Mission EUTM Somalia an. Wir wissen aber sehr genau: Schnelle Erfolge dürfen wir Herzlichen Dank. nicht erwarten. Vor uns und unseren Partnern in Somalia (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) liegt eher ein langer Marathonlauf als ein kurzer Sprint. Ein erster wichtiger Schritt auf diesem Weg war es, Vizepräsident Johannes Singhammer: den Ausbildungsauftrag um Beratungsleistungen für das Vielen Dank, Herr Staatsminister. – Ich erteile jetzt somalische Verteidigungsministerium und die militäri- dem Kollegen Omid Nouripour, Bündnis 90/Die Grü- schen Führungsstrukturen zu erweitern. Ebenso richtig nen, das Wort. ist es, die Mission nun schrittweise von Uganda, wo die Ausbildung bislang stattfand, nach Somalia zu verla- Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gern. Auf diesem Fundament baut die Mission nun vor Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir bera- Ort weiter auf. Unsere somalischen Partner zeigen viel ten heute in erster Lesung die Entsendung von 20 deut- 1842 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Omid Nouripour (A) schen Soldatinnen und Soldaten im Rahmen einer EU- staats- oder Menschenrechtsmonitoring für die Arbeit (C) Mission mit etwa 75 Soldaten nach Mogadischu. Diese derjenigen, die wir ausbilden? Das alles fehlt komplett. Mission gibt es seit 2010; sie wurde bis letztes Jahr in Es gibt kaum Antworten. Das bedeutet: Es gibt viele Uganda durchgeführt und ist schrittweise nach Mogadi- gute Gründe, kritisch hinzuschauen. schu gezogen. Es gibt durchaus – das muss ich zugeste- hen – einige Gründe, die für diese Mission sprechen. Eines hat mich jetzt am meisten irritiert, Herr Staats- Natürlich wird sich die Situation in Somalia nicht stabili- minister. Die Frau Ministerin hat ja völlig zu Recht ge- sieren, wenn man nicht hilft, die Staatlichkeit wiederauf- sagt: Das Militärische reicht nicht. Wir brauchen ein zubauen. Natürlich wird diese Staatlichkeit nicht aufge- politisches Konzept, und das muss eingebettet sein. – Sie baut werden können, wenn man nicht mithilft, die haben gerade damit geschlossen, dass das Militärische Sicherheitskräfte aufzubauen. Natürlich kann man es per nun in das zivile und politische Konzept eingebettet sei, se gut finden, dass es eine integrierte EU-Mission ist. nur haben Sie es nicht beschrieben. Ich habe das noch Das ist fast der einzige Punkt, bei dem ich anderer Mei- nicht verstanden. nung als der Kollege van Aken bin. (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ich auch Ich halte den Umzug nach Mogadischu an sich erst nicht!) einmal für ein gutes Signal, weil sich die Situation in Ich habe noch nicht verstanden, wo jetzt der politische Mogadischu in den letzten Jahren tatsächlich verbessert Ansatz ist und was wir da eigentlich genau tun wollen. hat. Die EU hat ja eine zivile Repräsentanz in der Stadt Sie sagen lediglich, dass es ein Konzept gibt. aufgebaut. Das ist ein Zeichen, an dem man erkennen kann, dass es vorangeht in der Stadt. Deswegen ist der Das, was uns bisher vorliegt, ist relativ rätselhaft. Umzug an sich richtig. Wenn das so bleibt, wie es jetzt vorliegt – das ist ja die erste Lesung; wir haben noch die Ausschussberatungen Aber es gibt auch einiges, was uns bisher völlig vor uns, und da werden wir uns das sehr genau an- schleierhaft ist. Es ist vorhin beschrieben worden: Bis schauen –, kann ich meiner Fraktion beim bestem Willen vor drei Monaten war die Sicherheitslage so, dass die nicht empfehlen, diesem Mandat zuzustimmen. Notwen- Deutschen nicht dorthin konnten. Wir wollen eigentlich dig ist, dass wir wirklich Antworten bekommen, dass Sie immer noch eine Erklärung der Bundesregierung, was uns eine Evaluation dessen vorlegen, was bisher passiert sich verändert hat. Wir haben im Ausschuss nachgefragt. ist, dass uns tatsächlich plausibel erklärt wird, was mit Die Antwort, die wir bekommen haben, war: Eigentlich denjenigen passiert, die wir ausgebildet haben, und dass hat sich die Sicherheitslage nicht verändert. der Vorwurf, die Waffen würden eins zu eins weitergege- Wir würden gerne wissen – das ist der entscheidende ben, tatsächlich entkräftet wird. Alles, was ich mir bisher international angeschaut habe, alle Berichte und Repor- (B) Punkt für uns Grüne –, wie wirksam die Ausbildungs- (D) mission bisher war. Darauf gibt es bislang keine wirkli- tagen, die ich gelesen habe, sprechen eine andere Spra- chen Antworten. Wenn man fragt, wie erfolgreich sie che; sie sprechen nicht dafür, dass es Ihnen möglich sein denn war, ist die Antwort der Bundesregierung: Sie war wird, das in der nächsten Sitzungswoche in den Aus- erfolgreich. Wenn man nachfragt, worauf diese Behaup- schüssen zu erklären. Aber wir lassen uns gerne überra- tung sich stützt, wird gesagt: Es gibt internationale Be- schen. obachter, die das genauso sehen. Wenn man fragt, wel- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) che das denn waren, bekommt man einfach keine Antwort. Das ist nicht ausreichend. Vizepräsident Johannes Singhammer: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vielen Dank, Herr Kollege Nouripour. – Ich erteile jetzt das Wort dem Kollegen Florian Hahn, CDU/CSU. Frau Ministerin, Sie haben zumindest mich gerade zu- tiefst verwirrt. Sie haben mir das Gefühl gegeben, dass (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie es relativ bekannt und klar ist, wo zum Beispiel die Trai- der Abg. Dagmar Ziegler [SPD]) ner, die von uns ausgebildet werden, danach zum Einsatz kommen, wen sie ausbilden. Diesbezüglich bin ich auf Florian Hahn (CDU/CSU): konkrete Antworten sehr gespannt. Bisher haben wir da- rauf nämlich keine Antwort bekommen. Wir lesen und Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kolle- hören immer nur, dass es eine immense Zahl von Deser- gen! Wir wissen, dass die Fraktion Die Linke bisher je- teuren gibt. Das Thema, dass Waffen dort eins zu eins den Auslandseinsatz der Bundeswehr dogmatisch abge- weitergegeben werden, ist vom Kollegen van Aken völ- lehnt hat und auch in Zukunft ablehnen wird, lig zu Recht benannt worden. Es gibt auch viele Berichte (Beifall bei der LINKEN – Dr. André Hahn darüber, dass die Mission bisher eigentlich nur einen ein- [DIE LINKE]: Aus guten Gründen!) zigen Clan ausgebildet hat. Das ist alles andere als beru- higend. egal ob Atalanta, KFOR, Active Endeavour oder andere. Es ist nur immer wieder spannend, mitunter auch absurd, Wir wissen auch nicht, was eigentlich mit den Leuten, welche Argumente oft krampfhaft gesucht werden, da- die nicht desertieren, passiert, wenn sie mit der Ausbil- mit nicht auffällt, dass es Ihnen eigentlich nur um den dung fertig sind. Bekommen sie einen Sold? Woher be- Erhalt dieses Dogmas geht. kommen sie einen Sold? Wie werden sie eigentlich un- tergebracht? Gibt es so etwas wie ein Monitoring zu ( [DIE LINKE]: Zustimmung dem, was sie dann tun? Gibt es so etwas wie ein Rechts- um jeden Preis!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1843

Florian Hahn (A) Im Vorfeld der heutigen Debatte zur Beteiligung be- ( [DIE LINKE]: (C) waffneter deutscher Soldaten an der EU-geführten Aus- Mit Soldaten!) bildungsmission EUTM Somalia konnte man dazu schon einiges von Ihnen lesen. Der Kollege Liebich beispiels- Deshalb wurden die Entwicklungshilfemittel für diesen weise gab via Berliner Zeitung zum Besten: Deutschland Kontinent unter dem neuen Minister Gerd Müller bereits soll sich stärker in der zivilen Konfliktprävention enga- um 100 Millionen Euro aufgestockt. An dieser Stelle gieren, möchte ich dem Minister übrigens danken, dass er sich bereits mehrfach in seiner kurzen Amtszeit vor Ort ein (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Das ist doch Bild gemacht hat – wie kürzlich bei seinem Besuch in nicht schlecht!) Mali oder in der Zentralafrikanischen Republik. statt sich in neue militärische Abenteuer in Somalia und Wir geben mehr als 50 Prozent unserer Entwicklungs- anderen Ländern zu stürzen. hilfe für Afrika aus. Um aber wirklich etwas erreichen zu können, braucht es den vernetzten Ansatz von militä- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) rischer, diplomatischer, wirtschaftlicher und ziviler Un- terstützung. Das haben nicht nur unsere Verteidigungs- Der Kollege Liebich hat hier offensichtlich ein paar ministerin, Frau von der Leyen, und Staatsminister Roth Dinge durcheinandergebracht: In Somalia geht es weder in dieser Debatte richtigerweise zum Ausdruck gebracht, um eine neue Mission noch um ein Abenteuer. Diese sondern auch die Bundeskanzlerin bei ihrer Regierungs- Mission besteht seit 2010. Bis Ende 2013 wurden erklärung heute morgen. Wir wollen die afrikanischen 3 600 somalische Sicherheitskräfte ausgebildet, die jetzt Länder ertüchtigen, sich selbst zu helfen. Dabei unter- den Kern der somalischen Armee bilden. Das ist im Üb- stützen wir sie, wir beraten sie, und wir bilden aus. Für rigen ein sichtbares Zeichen des Erfolgs der Mission. mich ist wichtig: Dieser Einsatz macht Sinn, weil er ge- Von einer neuen Mission oder einem Abenteuer kann nau dieser Ertüchtigungsstrategie Rechnung trägt. Mo- also nicht gesprochen werden. Vielmehr geht es um gadischu ist gefährlich; das wissen wir. Unsere Soldaten Nachhaltigkeit. Deshalb ist es gut, wenn die Sicherheits- werden ihre Arbeit aber in einem stark geschützten Be- lage es zulässt, dass wir uns dort weiter engagieren kön- reich leisten können. Dennoch wird es nicht ungefähr- nen. lich sein. Wir sollten trotzdem oder gerade deshalb den Somalia ist leider ein Beispiel für ein Land, das drin- Einsatz fortführen. gend Sicherheitsstrukturen braucht, damit zivile Hilfe Herzlichen Dank. überhaupt möglich ist. Die Ärzte ohne Grenzen bei- spielsweise haben im August 2013 ihr Engagement in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (B) Somalia eingestellt, weil es in diesem Land einfach zu neten der SPD) (D) gefährlich ist. Für Konfliktprävention à la Linke ist es hier zu spät. Oder glauben Sie wirklich ernsthaft, dass Vizepräsident Johannes Singhammer: sich Mitglieder der Al-Schabab-Miliz mit Mitarbeitern der Rosa-Luxemburg-Stiftung zu einem Antiaggres- Vielen Dank, Herr Kollege Hahn. – Als Nächster hat sionstraining zusammensetzen würden? das Wort der Kollege Thorsten Frei, CDU/CSU. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Eher mit der Adenauer-Stiftung! – Heiterkeit bei Abge- ordneten der LINKEN) Thorsten Frei (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Der Kollege Liebich von der Linken vermutet laut ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren Berliner Zeitung außerdem, dass die Bundesregierung heute über die Verlängerung des Einsatzmandats für eine seit Wochen an der Umsetzung einer politischen Doktrin Trainingsmission in Somalia, am Horn von Afrika. So- für mehr Bundeswehr in Afrika arbeitet, ohne dass der malia ist ein gescheiterter Staat mit einer geschundenen Deutsche Bundestag darüber informiert wird. Ich darf Bevölkerung. Seit 1991, seit dem Sturz des autoritären dem Kollegen versichern: Die Tatsache, dass er davon Regimes von Siyad Barre, gibt es dort keine funktionie- nichts weiß, ist einfach dem Umstand geschuldet, dass es rende Regierung mehr, geschweige denn eine legiti- diese verschwörerische Doktrin gar nicht gibt. mierte. Flut- und Hungerkatastrophen, Dürre und Bür- gerkrieg haben dafür gesorgt, dass eine ausreichende Vizepräsident Johannes Singhammer: Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln, Trink- Herr Kollege Hahn, gestatten Sie eine Zwischenfrage wasser und Medikamenten nicht möglich ist. All das des Kollegen van Aken? sind die Rahmenbedingungen, angesichts derer wir über eine Verlängerung des Mandats diskutieren. Florian Hahn (CDU/CSU): Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir legen Herr von Aken kann noch kurz zuhören und dann unser Augenmerk in diesen Tagen verstärkt auf die gerne eine Intervention machen. Krim, die Ukraine und Russland. Das verstellt dennoch nicht den Blick dafür, dass die größten sicherheitspoliti- Die Bundesregierung sagt sehr offen und transparent, schen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht von was sie vorhat: Sie will sich für Afrika noch stärker ein- den starken und großen Ländern dieser Erde ausgehen setzen als bisher. werden, sondern von den schwachen und fragilen. 1844 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Thorsten Frei (A) Genauso ist es auch in Somalia. Dort sehen wir, wel- Wir haben gehört, dass dieser Einsatz kein Kampfein- (C) che Auswirkungen das hat und dass sie nicht auf die en- satz ist, sondern im Rahmen der vernetzten Sicherheit ei- gere Region begrenzt sind: Der globale Handel wird nen Schwerpunkt dafür bildet, staatliche Strukturen am durch die Piraterie erschwert, die Menschenrechte wer- Horn von Afrika wieder zu etablieren. Ich glaube, es ist den mit Füßen getreten, Rückzugs- und Trainingsräume wichtig, dass wir dort jetzt nicht kurz vor Ende ausstei- für Terroristen entstehen, und die Menschen dort können gen, sondern den langen Weg, den wir noch vor uns ha- nicht so leben, wie es ihnen zukommt. ben, konsequent weitergehen. Deshalb, glaube ich, ist es richtig, dass die Bundesre- Die Frau Ministerin hat auf das Wahljahr 2016 und gierung in der vergangenen Legislaturperiode eine abge- auf die für die Zukunft des Landes so schwierige Weg- stimmte Handlungsrichtlinie dafür entwickelt hat, wie strecke in den nächsten zwei Jahren hingewiesen. Das ist man mit fragilen Staaten umgehen sollte. Wenn man sich die einzige Möglichkeit – ich habe auch von den Linken das genauer anschaut, dann sieht man: Das ist eine poli- und den Grünen keine Alternative zu diesem Weg tische Blaupause für die politischen Herausforderungen, gehört –, zu Staatlichkeit und zum Aufbau originärer die uns in Somalia begegnen. Es geht zum Beispiel um Strukturen im Land zu kommen. die Multilateralität. Ich denke in diesem Zusammenhang Weil es in fragilen Staaten letztlich immer wieder zu daran, dass wir auf der Grundlage einer UN-Resolution einem Zyklus von Gewaltphänomenen kommt, wird der arbeiten, dass wir im Rahmen einer EU-Mission die Las- Erfolg auch von Langfristigkeit abhängen. Aus diesem ten auf breite und viele Schultern verteilen und dass wir Grunde, so glaube ich, müssen wir dort im Rahmen einer auf Einladung der somalischen Regierung am Horn von kleinen, aber sehr wirkungsvollen Mission mithelfen. Afrika sind. Deshalb werbe ich um die Zustimmung dieses Hauses. Wenn man darüber hinaus schaut, wie es mit der Vielen Dank. Wirksamkeit, dem Mehrwert und der Verhältnismäßig- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) keit aussieht, dann erkennt man, dass auch unter diesem Summenstrich ein positives Ergebnis steht. Erinnern Sie sich etwa daran, dass es bei allen Schwierigkeiten gelun- Vizepräsident Johannes Singhammer: gen ist, mit der seit 2012 amtierenden Regierung auf ei- Herr Kollege Frei, Sie sind der letzte Debattenredner nen anderen Pfad der Entwicklung zu kommen, oder gewesen. Ich bedanke mich. Wenn keine Kurzinterven- auch daran, dass es trotz der Anschläge – auch in den tion mehr gewünscht wird, letzten Tagen wieder – gelungen ist, für mehr Sicherheit (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zu sorgen und die al-Shabab-Milizen zurückzudrängen. (B) NEN]: Nein!) (D) Daran erkennt man, dass man hier auf einem guten Weg ist, der weitergegangen werden muss. dann möchte ich die Aussprache schließen. Das ist eine in höchstem Maße effektive Mission. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Denken Sie zum Beispiel daran, dass seit 2010 ein klei- Drucksache 18/857 an die in der Tagesordnung aufge- nes Kontingent von Soldaten 3 600 somalische Soldaten führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- ausgebildet hat. Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass es verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung dabei nicht nur um militärische Grundfertigkeiten und so beschlossen. erweiterte Führungsaufgaben, sondern eben auch um die Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf: Vermittlung humanitärer Werte – Menschenrechte, Rechte von Frauen und Kindern – ging. Ich glaube, dass Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael unsere Bundeswehr gerade dort eine besondere Kompe- Schlecht, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, tenz hat, weil sie das Konzept der Inneren Führung in weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE den vergangenen Jahrzehnten par excellence gelebt und LINKE damit gezeigt hat, dass sich die Streitkräfte als Teil und Höhere Löhne in den Tarifverhandlungen für Ausdruck des staatlichen Gewaltmonopols genau da- die Beschäftigten im öffentlichen Dienst des durch immun gegen schwierige und gefährliche Tenden- Bundes und der Kommunen absichern zen machen können. Drucksache 18/795 (Beifall bei der CDU/CSU) Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f)

Vizepräsident Johannes Singhammer: Ausschuss für Arbeit und Soziales Haushaltsauschuss Herr Kollege Frei, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Nouripour? Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Thorsten Frei (CDU/CSU): Damit eröffne ich die Aussprache und erteile das Herr Präsident, ich würde meine Rede gerne kurz zu Wort der Kollegin Sabine Zimmermann, Die Linke. Ende bringen, und dann kann der Herr Kollege ja darauf eingehen. (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1845

(A) Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE): Als zweiten Punkt fordern die Gewerkschaften, die (C) Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen feste Übernahme der Auszubildenden tarifvertraglich zu und Herren! Der Bundesinnenminister Thomas de vereinbaren. Auch das ist absolut nachvollziehbar. Im Maizière, der bei den Tarifverhandlungen im öffentli- öffentlichen Dienst zu arbeiten, bedeutet schon heute chen Dienst die Bundesregierung als Arbeitgeber ver- längst nicht mehr, dass man einen sicheren Job hat. tritt, bezeichnet die Forderungen der Gewerkschaften als Insgesamt sind über 400 000 Kolleginnen und Kollegen – ich zitiere – „maßlos überzogen“. befristet beschäftigt. Bei den jüngeren Beschäftigten bis 30 Jahre hat inzwischen bereits jeder Vierte bis Fünfte Was ist denn so „maßlos überzogen“? Die Gewerk- einen befristeten Arbeitsvertrag. Das ist unerträglich. schaften fordern, die Entgelte um einen Sockelbetrag von 100 Euro sowie um 3,5 Prozent zu erhöhen. Ist das Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, wirklich maßlos? Zum Vergleich: Derselbe Thomas de ich verstehe nicht, was an diesen Forderungen maßlos Maizière hat hier am 21. Februar dieses Jahres dafür ge- sein soll. Sollte es nicht selbstverständlich sein, dass im stimmt, dass die Bezüge der Bundestagsabgeordneten öffentlichen Dienst und natürlich auch anderswo gute um 830 Euro auf 9 082 Euro im Monat ansteigen sollen. Löhne gezahlt werden und die Menschen in sicheren Arbeitsverhältnissen arbeiten? In den zurückliegenden (Zuruf von der LINKEN: Das ist nicht zu Jahren wurde im öffentlichen Dienst Raubbau betrieben. glauben!) Darunter leiden nicht nur die Beschäftigten, sondern Das ist eine Erhöhung von 10 Prozent. Ich frage mich, auch die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. Hier ob der Bundesinnenminister diese Erhöhung für maßvoll ist ein Kurswechsel dringend notwendig. Es ist klar, dass gehalten hat. ein guter öffentlicher Dienst nicht zum Nulltarif zu ha- ben ist. (Beifall bei der LINKEN) Von den Arbeitgebern war in den letzten Wochen Noch etwas: Damals war es für Union und SPD kein immer wieder dieselbe Leier zu hören: Es ist kein Geld Problem, diese Erhöhung in einer Woche durch das Par- da. Die Kassen sind leer. Viele kommunale Haushalte lament zu jagen. Den Beschäftigten im öffentlichen drücken enorme Schulden. Dienst haben Sie bis heute noch nicht einmal ein Ange- Die Arbeitgeber sagen aber nicht, dass seit Jahren die bot vorgelegt. Ich sage Ihnen: Sie genehmigen sich hier Steuereinnahmen wieder steigen. Bis 2018 rechnet im Haus Schampus, und den Arbeitnehmerinnen und die Bundesregierung sogar mit Mehreinnahmen von Arbeitnehmern im öffentlichen Dienst bieten Sie nicht 109 Milliarden Euro. Sie verschweigen auch, dass erst einmal eine Flasche Selters an. durch Ihre Steuersenkungen für Reiche und Unterneh- (B) (Dagmar Ziegler [SPD]: Wie billig!) men – von SPD, CDU/CSU; die Grünen waren auch da- (D) bei; die FDP gibt es nicht mehr – enorme Löcher in die Das ist ungerecht. öffentlichen Haushalte gerissen worden sind. Insgesamt (Beifall bei der LINKEN) 484 Milliarden Euro weniger haben Bund, Länder und Gemeinden durch die massiven Steuersenkungen der Dabei sind die Forderungen der Gewerkschaften vergangenen 15 Jahre eingenommen. Das hat das Institut mehr als begründet. Wir haben hier in einzelnen Berei- für Makroökonomie und Konjunkturforschung der chen eine beschämende Entwicklung. In den zurücklie- Hans-Böckler-Stiftung errechnet. Ich wiederhole diese genden Jahren hat sich die Zahl der Beschäftigten in den Zahl: 484 Milliarden Euro sind einfach so verschütt- untersten Entgeltgruppen verfünffacht. Ich wiederhole: gegangen. verfünffacht! Hier liegt der Bruttomonatslohn eines Deshalb sagen wir: Niemand kann ernsthaft erwarten, Vollzeitbeschäftigten im Schnitt bei 1 540 Euro und da- dass Busfahrer, Müllwerker, Erzieherinnen oder Alten- mit unterhalb der Niedriglohnschwelle. Für den öffentli- pflegerinnen die Zeche für eine verfehlte Haushaltspoli- chen Dienst eigentlich beschämend. tik zahlen. Nein, statt Haushaltskonsolidierung auf dem (Beifall bei der LINKEN) Rücken der Beschäftigten zu betreiben und Raubbau am öffentlichen Dienst zu begehen, ist Umverteilung das Es geht darüber hinaus darum, dass der öffentliche Gebot der Stunde. Dienst endlich wieder Anschluss an die allgemeine Ein- kommensentwicklung findet. Wenn diejenigen, die uns (Beifall bei der LINKEN) mit dem Bus zur Arbeit fahren, die unsere Kinder be- Allein eine fünfprozentige Vermögensteuer könnte treuen, die unsere Eltern pflegen oder unseren Müll weg- jährlich über 80 Milliarden Euro in die öffentlichen Kas- karren, um höhere Löhne streiten, dann geht es auch da- sen spülen. Für die Vermögensteuer haben Sie, liebe rum, dass man über den Wert ihrer Arbeit diskutiert. Kolleginnen und Kollegen der SPD, im Wahlkampf noch (Beifall bei der LINKEN) gestritten und gekämpft. Doch für die Macht haben Sie das leider aufgegeben. Da sagen wir als Linke klar: Die Bundesregierung muss im Arbeitgeberlager des öffentlichen Dienstes ein klares Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, Zeichen für kräftige Lohnerhöhungen setzen. Dafür set- in den letzten Jahren sind die Reallöhne in Deutschland zen wir uns ein. wieder gesunken. Wir brauchen im Jahr 2014 eine Lohnoffensive in Deutschland. Die Tarifrunde im öffent- (Beifall bei der LINKEN) lichen Dienst kann hier ein Startschuss sein. Legen Sie 1846 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Sabine Zimmermann (Zwickau) (A) deshalb ein klares Bekenntnis für gute Löhne in einem über den Kopf der Tarifpartner hinweg zu entscheiden (C) guten öffentlichen Dienst ab! Nehmen Sie endlich die und dann noch das Ergebnis zu diktieren. Das kann und Reichen und die Unternehmen in die Pflicht! Setzen Sie wird aber niemals unsere Zustimmung finden. sich für höhere Löhne und sichere Jobs im öffentlichen Dienst und anderswo ein! (Beifall bei der CDU/CSU) Tausende Beschäftigte gehen mit ihren Streiks als gu- An dieser Stelle frage ich mich, ob Ihre eigenen Leute tes Beispiel voran. Ihnen gilt unsere Solidarität, auch die in den Ländern diesen Antrag überhaupt unterstützen der Linken. würden. So kann ich mir beim besten Willen nicht vor- stellen, dass sich Ihr Finanzminister in Brandenburg da- Danke schön. rüber freuen würde, in den Tarifverhandlungen entmün- digt zu werden, dann aber das Ergebnis finanzieren zu (Beifall bei der LINKEN) müssen. Genau hier, meine Damen und Herren von den Linken, besteht der Unterschied zwischen Ihnen und Vizepräsident Johannes Singhammer: uns. Während Sie hier reine Schaufensteranträge formu- Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen Oswin lieren, ist und bleibt die Union der verlässliche Partner Veith, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. der Beschäftigten im öffentlichen Dienst. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD – Inge Höger [DIE LINKE]: Oh ja!) Oswin Veith (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Wir haben die Rahmenbedingungen in der vergange- Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! nen Legislaturperiode deutlich verbessert. Zweimal wur- Sie werden sicherlich verstehen, dass ich es für die den die Tarifabschlüsse inhaltsgleich auf die Bundesbe- CDU/CSU nicht gutheißen kann, dass wir uns hier mit amten übertragen. dem vorliegenden Antrag in die heiße Phase der laufen- ( [Weil am Rhein] [CDU/ den Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst einmi- CSU]: Aha!) schen. Doch wen wundert das bei diesem Antragsteller? Die Linke zeigt damit wieder einmal nur ihr Unvermö- Seit 2012 wird die Sonderzahlung – auch als Weih- gen, sich aus Prozessen herauszuhalten, die sie eigent- nachtsgeld bekannt – wieder gewährt. lich nichts angehen. (Armin Schuster [Weil am Rhein] [CDU/ (B) (Zuruf von der LINKEN: Unsinn!) CSU]: Wunderbar!) (D) Ich sage es hier einmal vornehm: Einfach mal schwei- Mit dem Fachkräftegewinnungsgesetz haben wir eine gen! Zu Hause würde ich sagen: Einfach mal die Klappe Reihe von positiven Maßnahmen auf den Weg gebracht. halten! Wir haben den Eintritt in den Ruhestand flexibler gestal- tet, gleiche Rechte für Lebenspartnerschaften und die (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf des Familienpflegezeit im Beamtenrecht umgesetzt. Wir ha- Abg. Harald Weinberg [DIE LINKE]) ben die Vergütung von Professoren verbessert, das Leis- Tarifverhandlungen sind immer auch Ausdruck der tungsprinzip gestärkt und die Portabilität von Versor- gelebten Tarifautonomie, so wie es in unserem Grundge- gungsanwartschaften geschaffen. Ich könnte diese Liste noch fortsetzen. setz geschützt ist und zum Grundpfeiler unserer sozialen Marktwirtschaft gehört. Und das ist auch gut so, meine (Beifall bei der CDU/CSU) sehr verehrten Damen und Herren. Das zeigt: Wir stellen keine Schauanträge wie Sie von (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) den Linken. Die Union hat geliefert, und das zum Wohle der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes und ihrer Fa- Wir haben in Deutschland seit Jahrzehnten ausge- milien. zeichnete Erfahrungen damit gesammelt, dass nicht die Politik die Löhne bestimmt. Daher finde ich es klug, (Beifall bei der CDU/CSU) dass die Tarifhoheit bei den Tarifpartnern bleibt und wir uns nicht einmischen. Das sollte auch die Linke endlich Fragen darf man auch einmal: Welche Anträge haben beherzigen. Sie von den Linken eigentlich in der letzten Legislatur- periode eingebracht, um den öffentlichen Dienst und das (Beifall bei der CDU/CSU) Beamtentum zu stärken und voranzubringen? Die Ant- wort lautet: Keinen einzigen! Wir bleiben bei unserem 65 Jahre alten Erfolgsmodell der Tarifautonomie. Diese Freiheit hat sich in Krisen- (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Das haben zeiten bewährt und gezeigt, wie gut die Tarifpartner zum wir in den Ländern gemacht!) Wohle unseres Landes damit umgehen. Sie von den Linken wollen doch mit Ihrem Antrag nichts anderes, als Ich habe mein Büro recherchieren lassen, ob Sie wenigs- das grundgesetzlich verbriefte Tarifrecht auszuhebeln, tens auf kommunaler Ebene tätig geworden sind, ob also Ihre Bürgermeister und Landräte mit anderen Verhand- (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Unsinn!) lungspositionen in die Tarifverhandlungen gegangen Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1847

Oswin Veith (A) sind. Die Antwort lautet: Wieder nichts! Fehlanzeige (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) auch hier! neten der SPD) Wenn Sie es mit Ihrem Antrag tatsächlich ernst mein- Daher fasse ich zusammen: Öffentliche Dienstleistun- ten, könnten Sie wenigstens da, wo Sie regieren – ich gen in Deutschland haben eine hohe Qualität. Das ist nur glaube, das ist nur noch im Land Brandenburg der Fall –, möglich, weil wir einen leistungsfähigen und verlässli- mit gutem Beispiel vorangehen. Aber auch hier ist kein chen öffentlichen Dienst in unserem Land haben, auf besonderes Engagement in der Sache erkennbar. den wir stolz sein können. Damit das so bleibt, müssen wir uns seriös mit der Thematik auseinandersetzen. Se- (Zuruf von der LINKEN: Da müssen Sie noch riös heißt für mich dabei aber, an die Linke gerichtet: mal recherchieren!) Hören Sie auf mit dem Politklamauk, akzeptieren Sie Es kommt dort noch viel schlimmer für die Beschäf- endlich die Tarifautonomie, nehmen Sie den öffentlichen tigen im öffentlichen Dienst. Vor kurzem verhängte Ihr Dienst ernst, und ersparen Sie uns künftig diese fruchtlo- Justizminister sogar einen Einstellungs- und Beförde- sen Debatten! rungsstopp. Der Grund: Der Haushalt seiner Behörde sei Danke schön. erschöpft. Gleiches gilt für die Vergütungen. Ein Blick auf die Besoldungstabelle und der Vergleich zeigen: Im (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Bundestag fordern Sie viel. Wo Sie aber selbst in der neten der SPD) Verantwortung stehen, kommt bei den Beschäftigten und ihren Familien nicht viel an. Vizepräsident Johannes Singhammer: (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Niemals!) Vielen Dank, Herr Kollege Veith. Das war Ihre erste Rede hier im Hohen Hause. Ich beglückwünsche Sie Das passt nicht zusammen, und das wissen die Ange- dazu und wünsche Ihnen weitere erfolgreiche Reden hier stellten und Beamten. Deshalb muss diese Doppel- im Deutschen Bundestag. züngigkeit der Linken hier entlarvt werden. Alle Jahre wieder stellen Sie also pünktlich zum Start der Tarifver- (Beifall) handlungen die Tarifautonomie infrage. Ich sage Ihnen: Nächste Rednerin ist die Kollegin Beate Müller- Das ist plumper Populismus und hilft keiner einzigen Gemmeke vom Bündnis 90/Die Grünen. Angestellten und keinem einzigen Beamten in unserem Land. Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) NEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- (B) Dann enthält Ihr Antrag eine zweite Forderung (D) nen und Kollegen! Eigentlich sollten Tarifverhandlun- – diese dürfte im Hohen Hause wenig umstritten sein –: gen ohne politische Begleitmusik aus dem Bundestag Die Kommunen sollen finanziell entlastet werden. – geführt werden, aber in diesem Fall geht es konkret um Diese Forderung ist allerdings längst überholt, weil wir den Bund, Herr Veith, genau das bereits im vergangenen Jahr im Koalitionsver- trag vereinbart haben. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (Inge Höger [DIE LINKE]: Aber nicht umge- und der ist mitverantwortlich für die Finanzsituation der setzt!) Kommunen. Also möchte ich der Bundesregierung fünf Gedanken mit auf den Verhandlungsweg geben. Wir setzen damit unsere Politik fort und entlasten die Kommunen. So wird die dritte Stufe der Grundsicherung Erstens. Bundesinnenminister de Maizière hat die im Alter von etwa 1,1 Milliarden Euro dieses Jahr wirk- Verdi-Forderungen als „maßlos überzogen“ bezeichnet. sam. Von 2012 bis 2017 ist das eine Gesamtentlastung Die Kollegin Zimmermann hat es gerade schon ange- von 25 Milliarden Euro. Das, denke ich, kann sich sehen sprochen. Wenn parallel dazu der Bundestag die Diäten lassen. der Abgeordneten um satte 10 Prozent erhöht, dann muss sich niemand wundern, wenn dieser Vergleich in (Beifall bei der CDU/CSU) den Verhandlungen immer wieder eine Rolle spielt. Wir Bei der Eingliederungshilfe sind weitere Entlastungen in Grünen haben gegen die Diätenerhöhung gestimmt; Milliardenhöhe geplant. Wir entlasten ferner beim lau- denn wir bewegen uns als Parlament nicht im luftleeren fenden Betrieb für die Kinderbetreuung. Raum. 3,5 Prozent sind angeblich maßlos überzogen, hier im Bundestag sind 10 Prozent unproblematisch. Das Von den im Koalitionsvertrag vorgesehenen prioritä- passt einfach nicht zusammen. ren Maßnahmen im Umfang von 23 Milliarden Euro wird gut die Hälfte der mittelbaren oder unmittelbaren (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Entlastung den Ländern und Kommunen zugute kom- und bei der LINKEN) men. Kurz und gut: Insgesamt stellt die Große Koalition Ich wünsche dem Innenminister viel Spaß bei den Ver- damit einen zweistelligen Milliardenbetrag zur finanziel- handlungen. len Entlastung unserer Länder, Städte und Gemeinden zur Verfügung. Ich finde, das ist eine gute Botschaft für Zweitens. Die Löhne im öffentlichen Dienst sind zwi- unsere Kommunen und sollte auch bei der Fraktion Die schen 2000 und 2009 preisbereinigt gesunken. Wenn der Linke Anerkennung finden. Bund und die Kommunen jetzt immer nur mit den in den 1848 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Beate Müller-Gemmeke (A) letzten Jahren gestiegenen Löhnen argumentieren, dann leiden. Sie müssen so ausgestattet sein, dass sie ihre Auf- (C) ist das nicht redlich; denn das ignoriert den Nachholbe- gaben für die Menschen vor Ort bewältigen und ihre Be- darf. Deshalb verstehe ich schon, dass Verdi einen So- schäftigten ordentlich bezahlen können. Die Kommunen ckelbetrag von 100 Euro für alle fordert; denn das stärkt müssen also endlich im Mittelpunkt der Bundespolitik gerade die unteren und die mittleren Einkommensgrup- stehen. Mit den leeren Versprechungen muss endlich pen wie beispielsweise eine Krankenschwester, die ge- Schluss sein. rade einmal 2 100 Euro verdient. Die Sockelforderung ist also gerecht, und sie ist im Übrigen auch richtig; denn (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit Blick auf den Fachkräftemangel müssen diese ge- sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf sellschaftlich relevanten Berufsgruppen attraktiv blei- des Abg. Ingo Gädechens [CDU/CSU]) ben, und Wertschätzung drückt sich nun einmal auch – Na ja, es steht viel im Koalitionsvertrag. Man wird se- über den Lohn aus. hen, was tatsächlich umgesetzt wird. Momentan muss (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN man wirklich Sorge haben, dass bei den Kommunen fast sowie bei Abgeordneten der LINKEN) nichts ankommt. Drittens. Verdi fordert zudem die Übernahme der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Azubis nach der Ausbildung. Verdi kritisiert auch die und bei der LINKEN) steigende Zahl der Befristungen ohne sachlichen Grund Natürlich kosten solche Tarifverhandlungen schluss- und möchte, dass die Arbeitgeber zukünftig darauf ver- endlich auch Geld. Wenn die Linke jetzt einfach einmal zichten. Diese Forderungen kann ich aus ganzem Herzen einen 6 Milliarden Euro teuren Blankoscheck ausstellt, unterschreiben. dann macht sie sich die Haushaltspolitik zu einfach. Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) hätte in den Antrag schon hineinschreiben müssen, wo sie das Geld eigentlich herbekommen will. Die Verhand- Der Berufseinstieg von jungen Menschen ist heute häu- lungspartner müssen sich nicht nur einigen, sondern die fig lang und auch prekär. Mit Blick auf den demografi- Bundesregierung muss natürlich auch für die notwen- schen Wandel müsste es doch eigentlich eine Selbstver- dige Finanzierung sorgen. ständlichkeit sein, dass junge Menschen nach einer Berufsausbildung eine Perspektive erhalten. Aber der Kurzum: Gutes Geld für gute Arbeit im öffentlichen Trend zur Befristung trifft insbesondere junge Men- Dienst, und zwar für Männer und Frauen, finanziell gut schen. Lebensplanung ist ein Begriff, über den junge ausgestattete Kommunen und ein tragfähiger Haushalt, Menschen teilweise nur noch müde lächeln können. das sind die Hausaufgaben, die Sie, die Regierungsfrak- tionen, zu erledigen haben. Wir werden Sie daran mes- (B) Deshalb wollen wir die sachgrundlose Befristung ab- (D) schaffen. Sie, die Regierungsfraktionen, haben sich bei sen. den Befristungen auf nichts einigen können. Das werde Vielen Dank. ich immer und immer wieder kritisieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) sowie bei der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE]) Viertens. Morgen ist übrigens Equal Pay Day. Frauen verdienen immer noch 22 Prozent weniger als Männer. Vizepräsident Johannes Singhammer: (Armin Schuster [Weil am Rhein] [CDU/CSU]: Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kolle- Aber nicht im öffentlichen Dienst!) gen Mahmut Özdemir, SPD. Wenn wir heute schon über Tarifverhandlungen diskutie- (Beifall bei der SPD) ren, dann nutze ich natürlich die Gelegenheit und for- dere, dass die Tarifparteien überprüfen, ob die Tarifver- Mahmut Özdemir (Duisburg) (SPD): träge Entgeltdiskriminierungen enthalten. Der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche und insbesondere gleichwer- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! tige Arbeit“ muss endlich durchgesetzt werden. Während wir uns heute mit dem Antrag der Fraktion Die Linke befassen, wurde die zweite Tarifverhandlungs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN runde zwischen den Beschäftigten im öffentlichen und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Dienst des Bundes und der Kommunen und deren Ar- der SPD) beitgebern eingeläutet. Das – und eben nicht der Deut- sche Bundestag – sind im Übrigen die wahren Verant- Die bestehende Lohnlücke muss im 21. Jahrhundert end- wortlichen, die den Tarifabschluss am Ende vereinbaren. lich der Vergangenheit angehören; denn Frauen verdie- Es handelt sich hierbei um Verantwortliche, die sich auf nen mehr. Grundsätze wie Tarifpartnerschaft und Tarifautonomie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht zuletzt im Schutze von Art. 9 Grundgesetz berufen und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten können, auf Grundsätze, die tief im Demokratie- und So- der SPD) zialstaatsprinzip wurzeln. Fünftens. Die Kommunen und deren Beschäftigte (Zuruf des Abg. Harald Weinberg (DIE dürfen nicht weiter unter einer verfehlten Finanzpolitik LINKE) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1849

Mahmut Özdemir (Duisburg) (A) – Das kann ich Ihnen an einer anderen Stelle gern noch grundlage darstellt, aber ohne akzeptable Rahmenbedin- (C) einmal erläutern, wenn Sie es möchten. gungen überhaupt nichts wert ist. Die Kollegen von der Müllabfuhr, die jeden Morgen um 4.30 Uhr ans Werk ge- Diese Vorüberlegungen führen mich zu Beginn mei- hen, die Kollegen von Bus und Bahn, die Taktungen hal- ner Rede direkt zu der Frage, was dieser Antrag ei- ten, die Erzieher, die auch mal ein paar Minuten dran- gentlich bezwecken mag. Dieser Antrag enthält keine hängen, weil die Eltern noch im Stau stehen, haushalterische Würdigung, keinen Vorschlag zur Ge- genfinanzierung einer Tarifanpassung, drischt aber mun- (Inge Höger [DIE LINKE]: Die sollen besser ter Phrasen von verteilungsneutralen Spielräumen und bezahlt werden!) suggeriert, dass der öffentliche Dienst nie gewürdigt wird. Er enthält im Übrigen ein Zahlenwerk, dessen alle diese Beschäftigten können sich unserer Solidarität Analyse sich nur der Fraktion Die Linke erschließt, mir jederzeit sicher sein. aber nicht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) der CDU/CSU) Da besteht überhaupt kein Dissens in diesem Haus. Füh- Schauen Sie sich doch einfach eine Übersicht über die ren Sie einen solchen doch nicht künstlich herbei! Tarifabschlüsse von 1990 bis heute an. Die Würdigung Um das Ergebnis vorwegzunehmen und den Antrag des öffentlichen Dienstes basiert durch die Bank auf ei- damit weitestgehend zu erledigen: Es wird am Ende der ner insgesamt ausgewogenen und kompromissfreudigen Tarifverhandlungen ein Mehr für den öffentlichen Dienst Kooperation zwischen dem Bundesministerium des In- geben, und mit hoher Wahrscheinlichkeit wird der Tarif- nern und den Kommunen auf der einen Seite und den abschluss, wie in der Vergangenheit regelmäßig gesche- Beschäftigten des öffentlichen Dienstes auf der anderen hen, eins zu eins auf die Beamten übertragen werden. Seite. Ich stufe den Antrag daher als untauglichen Ver- Die Frage ist und bleibt, was die Aufgabe des Deutschen such ein, auf Kosten der Beschäftigten des öffentlichen Bundestages hier und heute ist. Dienstes eine Generalabrechnung mit der Wirtschafts- und Finanzpolitik der vergangenen Jahre zu betreiben. Jedenfalls ist es nicht die Aufgabe des Deutschen Damit ist den Tarifparteien von dieser Stelle aus über- Bundestages, sich mit diesem Antrag in den Rang einer haupt nicht geholfen, wohl aber mit der Wahrnehmung Tarifvertragspartei zu erheben parlamentarischer Pflichten, liebe Kolleginnen und Kol- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) legen. So zeigen wir Sozialdemokraten Haltung und So- lidarität mit dem öffentlichen Dienst. und zu beanspruchen, anstelle der Arbeitgeber- oder Ar- (B) beitnehmerseite zu sprechen. (D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Harald (Zurufe der Abg. Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE] Weinberg [DIE LINKE]) und [DIE LINKE]) – Ja, ist ja gut. Dieser Antrag missachtet die Tarifautonomie der verhan- delnden Parteien und fällt der Bundesregierung in den Ich stimme Ihnen bei der Bestandsaufnahme sogar in Rücken, nur um den streikenden und verhandelnden Be- Teilen zu: Der öffentliche Dienst ist unverzichtbar, ge- schäftigten Unterstützung vorzugaukeln, rade weil wir als Abgeordnete Aufgaben schaffen, die hoheitlich und im weitesten Sinne öffentlich zu erledi- (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Wir wollen gen sind. Der öffentliche Dienst hat in vorherigen Tarif- die Bundesregierung ermutigen!) runden schmerzhafte, aber für unser Gemeinwesen auch indem man eine Höchstforderung im Rahmen von notwendige Opfer erbracht; das zieht keiner in Zweifel. Verhandlungen abschreibt. Keine Verhandlungspartei Diese Opfer nötigen mir den höchsten Respekt ab. – ich betone: das gilt für beide Seiten – erwartet ernst- Aber die Wertschätzung eines Beschäftigten drückt haft, dass den anfänglichen Forderungen entsprochen sich nicht nur in Geld aus. Keiner von uns in diesem wird. Deshalb ist es weder ernsthafte noch wahrhafte Hause ist – das unterstelle ich einfach einmal – Abgeord- Politik, was Sie hier betreiben. neter wegen des Geldes. Kein Polizeibeamter trägt seine Der Antrag verkennt die politische Wirklichkeit mut- Uniform wegen des Geldes. Keine Erzieherin und kein maßlich, allem Anschein nach auch bewusst; sonst Erzieher geht jeden Tag in die Kita nur wegen des Gel- müssten Ausführungen zur Konsolidierung des Bundes- des. haushalts dort Platz finden. (Inge Höger [DIE LINKE]: Aber sie müssen davon leben können!) Die Ausführungen zur Verteilungsgerechtigkeit gehen völlig fehl. Der Antrag verkennt dabei, dass die Gehalts- – Ich habe Ihnen auch zugehört. Ich weiß, dass das für strukturen des öffentlichen Dienstes ein weites Band Sie schmerzhaft ist. spannen. Soziale Gerechtigkeit spiegelt sich auch hier wider, findet ihre Grenze aber spätestens im Gleichheits- (Zurufe von der LINKEN) gebot. Entscheidungen, liebe Kolleginnen und Kollegen Ich möchte mit dieser idealistischen Betrachtungs- von der Fraktion Die Linke, erfordern das Rückgrat, weise gar nicht ablenken, aber das Augenmerk darauf auch unangenehme Haushaltslagen in Politik umzumün- richten, dass ein Beruf zwar die wirtschaftliche Lebens- zen. 1850 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Mahmut Özdemir (Duisburg) (A) Die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes brauchen (Zurufe von der LINKEN) (C) keine Abgeordneten, die sich bei Streikkundgebungen nur für ein Foto hergeben, das man danach twittern oder – Dass Sie schreien, zeigt mir, dass Sie keine Argumente posten kann. Der öffentliche Dienst braucht Abgeord- mehr haben. Schön! – So etwas geht aber nur mit einer nete, die exakt das halten, was sie fordern, die exakt das Aufgabenanalyse im öffentlichen Dienst, um darauf Ar- tun, was sie versprechen. beitsbedingungen und Gehaltsstrukturen aufzubauen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Diesen Zielkonflikt zu lösen, das ist die Aufgabe aller CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN) Fraktionen in diesem Haus. Stattdessen schwingen Sie sich mit Ihrem Antrag aber zur alleinigen Arbeitnehmer- – Wenn ich mehr Redezeit hätte, würde ich es Ihnen er- vertretung auf und schreiben in Ihrem Antrag die Forde- klären. – Es mag ja an der fehlenden Erfahrung einer Re- rungen auch noch unvollständig ab. Die Verdi-Bundes- gierungsbeteiligung liegen – das sehe ich ein –, tarifkommission fordert nämlich bei einjähriger Tariflaufzeit einen Sockelbetrag von 100 Euro plus (Lachen bei der LINKEN) 3,5 Prozent mehr Gehalt, aber auch verbindliche Über- aber ich muss schon fragen: Wie lange wollen Sie ei- nahmeregelungen für Auszubildende und den Aus- gentlich Anträge stellen, an deren Umsetzung Sie selber schluss von sachgrundloser Befristung. Das haben Sie in berechtigterweise zweifeln müssen? Ihrer Begründung zwar angeführt, aber das scheint Ihnen doch so unwichtig zu sein, dass Sie es nicht in Ihren An- Lassen Sie mich nach diesem Ausflug in die realitäts- trag hineinschreiben. Wenn wir diese Debatte schon füh- nahe Politik ren dürfen – oder besser: müssen –, dann bitte schön (Lachen bei der LINKEN) auch vollständig. noch einmal an das Thema Arbeitsbedingungen anknüp- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der fen. Während wir Haushaltsdebatten führen, gehen Be- CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN) schäftigte in Pension und nehmen ihre Stellen sozusagen Es ist höchst fragwürdig, die Bundesregierung aufzu- mit in den Ruhestand. Es fehlen dann Stellen, was den fordern, den Tarifforderungen vollumfänglich stattzuge- Arbeitsdruck bei den im Dienst stehenden Beschäftigten ben, obschon Sie wissen, dass nur der Bundestag in sei- erhöht oder die Erledigung einer Aufgabe schlicht ent- ner Gesamtheit über den Haushalt entscheidet. Sie fallen lässt. Das Stichwort, auf das ich hier anspiele, lau- schieben eine Verantwortung, die dem Parlament ob- tet „Aufgabenkritik“. Es geht um eine Aufgabenkritik, liegt, einfach weg, nämlich die Verantwortung, darüber die unter den Aspekten der Qualitätssicherung und Per- zu entscheiden, welche Aufgaben der öffentliche Dienst (B) sonalsteuerung im Angesicht der Haushaltslage zu erfol- zu erledigen hat und was die Erledigung dieser Aufga- (D) gen hat, eine Aufgabenkritik, die Tarifautonomie und ben kostet. Mit Ihren Anträgen verhält es sich so wie mit Mitbestimmung auch und erst recht im öffentlichen den im Training gefährlichen Torschützen: Im Meister- Dienst zum zentralen Ausgangspunkt macht. schaftsspiel laufen sie vor dem Ball einfach davon. Deshalb sind die Tarifverhandlungen aus meiner Sicht (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) dringend notwendig. Die erste Streikwelle hat uns deut- lich gezeigt, was das in Ballungsräumen bedeuten kann. Gerade deshalb ermuntere ich Sie: Lassen Sie uns doch 45 000 Beschäftigte, die die Arbeit niederlegen, darunter die Facharbeit hierzu leisten! Schreiben Sie einmal einen 10 000 allein im öffentlichen Personennahverkehr, das Antrag weniger, und nutzen Sie die Zeit, um mit uns ist kein Pappenstiel. Tarifverhandlungen aber oder An- Verbesserungen für den öffentlichen Dienst zu erreichen träge im Bundestag entheben uns nicht der Aufgabe, ob- und zu erarbeiten, Verbesserungen, die auch Haushalts- jektiv zu definieren, was der Staat im 21. Jahrhundert zu erfordernissen standhalten! leisten bereit ist und wozu er verpflichtet ist. (Zurufe von der LINKEN) Gehaltsanpassungen, bezogen auf die zu erledigenden Aufgaben, wirken immer nur kurzfristig. Sprechen Sie Dazu zählt weiter, dass wir schon dieses Jahr Kom- doch einmal mit den Beschäftigten im öffentlichen munen bei der Grundsicherung im Alter vollständig ent- Dienst! Ich unterstelle, dass Sie das nicht tun. lasten werden, in den Folgejahren 2015 und 2016 jeweils 1 Milliarde Euro investieren (Widerspruch der Abg. Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]) (Zuruf von der LINKEN) Ich war im vergangenen Sommer bei Streikkundgebun- – ja, dann helfen Sie dabei mit! – und 2017 und 2018 ei- gen der Kolleginnen und Kollegen von der Wasser- und nen weiteren Aufwuchs auf 5 Milliarden Euro haben, um Schifffahrtsverwaltung, die sich für einen Tarifvertrag die finanzielle Entlastung zu verstetigen. Das, was bei einsetzen müssen. Sprechen Sie doch einmal mit den Be- den Ländern die Schuldenbremse ist, ist nämlich bei den schäftigten in mittlerweile privatisierten Staatsunterneh- Kommunen die im Raum stehende Drohung der Auf- men oder mit den Beschäftigten in Justiz und Polizei! sichtsbehörden mit Haushaltssperren. Der Vorsitzende Die lassen sich nicht nur hinter verschlossenen Türen die des Städte- und Gemeindebundes hat es doch richtig und Aussage entlocken, dass sie bereit wären, auf Geld zu deutlich formuliert: In der derzeitigen Situation würden verzichten, wenn dafür mehr Personal eingestellt würde. wir uns mit einem überhöhten Tarifabschluss gegenseitig Auch das gehört zur Realität, die Sie verkennen. schaden, Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1851

Mahmut Özdemir (Duisburg) (A) (Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Damit komme ich zum Inhalt. In wenigen Wochen (C) Und die Diätenerhöhung?) begehen wir einen Geburtstag: Am 23. Mai 1949, also vor 65 Jahren, ist das Grundgesetz der Bundesrepublik bevor wir nicht vorher die unbedingt notwendigen Ent- Deutschland in Kraft getreten, mit vielen Freiheitsrech- lastungen durchgeführt haben. ten, unter anderem in Art. 9 Abs. 3 mit dem Recht auf Ergänzt werden müssen diese Aspekte zusätzlich um Koalitionsfreiheit. Das umfasst aber nicht nur das Recht, eine Verwaltungsmodernisierung: Zentrale und dezen- eine arbeitsrechtliche Koalition zu begründen, sondern trale Personalsteuerung, ausgewogene Altersstrukturen auch die Betätigungsfreiheit. Die Tarifvertragsparteien und gewinnbringender Personaleinsatz nach Bedarf haben davon in den letzten 65 Jahren in außerordentlich ernster und korrekter Weise Gebrauch gemacht und ha- (Dr. [DIE LINKE]: Und das ben die tariflichen Belange sinnvoll geregelt. Die Tarif- alles ohne Geld!) vertragsparteien waren immer frei in ihrer Betätigung, frei von staatlichen Einflüssen, frei von staatlicher Be- müssen diesen Bereich attraktiv machen. Das heißt auch, vormundung und frei in der Gestaltung ihrer Vertragsan- dass sich die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und gelegenheiten. Pflege in einem gerechten Bezahlsystem widerspiegeln muss. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich sehe in dem Antrag der Linken – das ist vorhin schon kurz ange- Die Flexibilität der Tätigkeiten im öffentlichen Dienst sprochen worden – das Gegenteil. In diesem soll es auf mit Teil- und Vollzeitmodellen und anderen Handlungs- eine Reglementierung hinauslaufen. möglichkeiten ist mit Geld überhaupt nicht aufzuwiegen. Schon jetzt, in seinem derzeitigen Aufgabenprofil, ist (Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: der öffentliche Dienst ein Garant für die Wahrung und Nein, auf mehr Geld!) Umsetzung unserer Staats-, Gesellschafts- und Wirt- Das ist für mich völlig indiskutabel. Dazu werden Sie schaftsordnung. Gerade deshalb wenden sich die Be- von uns niemals eine Zustimmung erhalten. Das geht an schäftigten im öffentlichen Dienst mit einer großen Hin- der Verfassungswirklichkeit und dem Grundgedanken gabe auch ihrem Recht auf Mitbestimmung zu. der Verfassung vollends vorbei. Diese Art der Mitbestimmung ist für die Sozialdemo- (Beifall bei der CDU/CSU) kraten das Leistungsmerkmal des öffentlichen Dienstes, das wir schützen und wahren wollen; denn sowohl der Es handelt sich dabei meines Erachtens um eine völ- Staat als Arbeitgeber als auch die Untergebenen als Ar- lig nutzlose Andienerei, um eine plumpe Kumpanei mit beitnehmer sind vereint in dem Streben nach Funktions- den Tarifvertragsparteien. Aber ich glaube, dass die Ge- (B) fähigkeit der öffentlichen Daseinsvorsorge. In diesem werkschaften das gar nicht wollen und gar nicht brau- (D) gemeinsamen Ziel verbunden wünsche ich den wahren chen. Im Gegenteil: Unsere Gewerkschaften sind stark. Handelnden, die nicht hier im Bundestag sitzen, sondern Sie entscheiden nach eigenem Ermessen, ohne Einfluss- am Verhandlungstisch, Besonnenheit, gegenseitige nahme des Deutschen Bundestages. Bedenken Sie ein- Wertschätzung, aber auch harte Verhandlungen, damit mal, wie das Gegenteil wirken würde: Was wäre los, die Beschäftigten wieder zurück an ihre Arbeit kehren wenn wir im nächsten Jahr beschließen würden: „Die können. Bundesregierung wird aufgefordert, keine der gewerk- schaftlichen Forderungen zu akzeptieren“? Das wäre ge- Damit danke ich für Ihre Aufmerksamkeit und wün- nauso wenig bindend wie das, was Sie jetzt fordern. sche allen verhandelnden Kolleginnen und Kollegen in Potsdam von hier aus ein herzliches Glückauf. Meine Damen und Herren, es finden Tarifverhandlun- gen statt. Es geht um die Löhne und Gehälter von 2 Mil- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) lionen Beschäftigten von etwa 10 000 Arbeitgebern im öffentlichen Dienst. Es werden Volumina von 6 Milliar- den Euro und schließlich von 8,6 Milliarden Euro ver- Vizepräsident Johannes Singhammer: handelt. Ein Tarifvertrag ist ein Vertrag. Ein Vertrag Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kolle- sieht Verbindlichkeiten in jegliche Richtung vor. Jemand gen Alois Karl, CDU/CSU. muss diese 8,6 Milliarden Euro bezahlen. Das sind zu- (Beifall bei der CDU/CSU) nächst einmal die Verhandlungspartner. Das sind neben dem Bund die Kommunen. Aber Kommune ist nicht gleich Kommune; Stadt ist nicht gleich Stadt. Die Stadt Alois Karl (CDU/CSU): München kann das möglicherweise bezahlen. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute ist, Herr Präsident, Frühlings- (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Neumarkt!) beginn. Ich habe heute meine Stimme fast verloren, nicht – Neumarkt zum Beispiel könnte das bezahlen; da hast wegen des Antrags der Linken, sondern wegen grippaler du recht. Das könnte ich jetzt gut ausführen. Sollte dazu Einflüsse. Bevor es mir gänzlich die Stimme verschlägt, eine Zwischenfrage gestellt werden, dann führe ich das Herr Präsident, möchte ich gleich das Ergebnis vorweg- gerne näher aus. nehmen: Wir als CDU/CSU und auch unser Koalitions- partner lehnen den Antrag der Linken ab. Auch der Speckgürtel um München herum könnte das bezahlen, das Ruhrgebiet allerdings nicht. Die Zahlen (Beifall bei der CDU/CSU) spiegeln nicht immer die vollständige Wahrheit wider. 1852 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Alois Karl (A) Natürlich ist es so, dass die Städte und Gemeinden in Euro sehr klar durch bestimmte Maßnahmen belegt und (C) Deutschland Verbindlichkeiten von etwa 130 Milliarden 3 Milliarden Euro würden für die Kommunen bleiben. Euro haben, dass sie Kassenkredite von mehr als 50 Mil- Das seien nicht 4 Milliarden Euro, und deswegen sei erst liarden Euro haben und dass viele finanziell am Krück- in den Jahren 2015, 2016 und 2017 jeweils 1 Milliarde stock gehen. Viele Städte und Gemeinden sind Dauer- Euro für die Kommunen da. Ist es nicht das Ergebnis ei- gast unter dem finanzpolitischen Sauerstoffzelt. Die ner sehr weiten Interpretation, die anderen maßnahmen- können das nicht oder kaum bewältigen. bezogenen Mittel jetzt so auf die Gemeinden herunterzu- rechnen, dass Sie auf die Zahl 12 Milliarden Euro (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE kommen? Ist das nicht vielleicht auch eine sehr starke GRÜNEN]: Das hat aber Gründe, oder?) Verschleierung gegenüber der Öffentlichkeit? Denen können wir doch keine Vorgaben machen, wie die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Höhe von tarifvertraglichen Abschlüssen aussehen soll. und bei der LINKEN) Die Gemeinden werden sich das auch nicht gefallen lassen, was Sie hier vorschlagen. In der Bayerischen Alois Karl (CDU/CSU): Verfassung und in allen anderen Länderverfassungen Liebe Frau Kollegin Hajduk, entschuldigen Sie bitte: steht, dass die Gemeinden ursprüngliche Gebietskörper- Ich hatte schon gestern den Verdacht, dass Sie die Ant- schaften sind. Noch vor dem Staat, noch vor den Län- wort, die man Ihnen gegeben hat, nicht ganz verstanden dern gab es die Gemeinden. Die lassen sich nicht ans haben. Gängelband nehmen, von Ihnen leiten und irgendwohin dirigieren. Sie möchten ihre ureigenen Interessen selber (Heiterkeit) vertreten. Es ist in der Tat so, dass wir einen Spielraum von Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben 23 Milliarden Euro haben. Heruntergerechnet bedeutet einen außerordentlich kommunalfreundlichen Haushalt dies – danach haben Sie schon gestern gefragt –, dass in vorgelegt und werden dies fortführen. Wir werden in den den Jahren 2015, 2016 und 2017, sozusagen im Vorgriff zehn Jahren von 2010 bis 2020 etwa 80 Milliarden Euro auf die Wiedereingliederung, jeweils 1 Milliarde Euro direkt oder indirekt in die Gemeinden fließen lassen: für gezahlt wird, ab dem Jahr 2018 dann 5 Milliarden Euro, die Kosten der Grundsicherung, die Kosten der Unter- und zwar in der weiteren Abfolge permanent, laufend. bringung und für die Eingliederung der Behinderten. Wir haben uns in den nächsten vier Jahren des Haushaltens (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE eine freie Finanzspanne geschaffen. Von den vorgesehe- GRÜNEN]: Das darf dann wieder die nächste Regierung machen, ja?) (B) nen 23 Milliarden Euro werden wir 12,5 Milliarden Euro (D) für die Gemeinden ausgeben; eine unglaublich kommu- Damit ergibt sich, wenn man andere Punkte hinzunimmt, nalfreundliche Seite, die die Große Koalition damit an eine Summe von insgesamt 12,5 Milliarden Euro. 3 Mil- den Tag legt. liarden Euro und zweimal 5 Milliarden Euro ergeben (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) 13 Milliarden Euro. – (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsident Johannes Singhammer: GRÜNEN]: Welche 5 Milliarden denn über- Herr Kollege Karl, gestatten Sie eine Zwischenfrage haupt?) der Kollegin Hajduk? Ich muss mich korrigieren: Es sind eigentlich nicht 12,5 Milliarden Euro, sondern 13 Milliarden Euro. Wir Alois Karl (CDU/CSU): können das gerne noch einmal im Haushaltsausschuss Ja, sehr gerne. vertiefen; dazu haben wir noch reichlich Gelegenheit. Trotzdem vielen Dank für die Frage. (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Sehr geehrter Herr Kollege, Sie haben gerade eine NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie müssen das mit Zahl in den Raum gestellt. Von den 23 Milliarden Euro der Mathematik noch lernen!) würden 12 Milliarden Euro an die Gemeinden fließen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, im Gegen- satz zu den Antragstellern habe ich persönlich, haben die Alois Karl (CDU/CSU): Fraktionen von CDU/CSU und SPD Vertrauen in die 12,5 Milliarden. Verhandlungsführer bei den Tarifverhandlungen. Ich vertraue darauf, dass sich die Arbeitgeber und die Ge- Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): werkschaften mit Maß und Respekt begegnen. Wir wis- Ich möchte Sie mit den Zahlen konfrontieren, die mir sen, was wir an einem guten öffentlichen Dienst haben. Ihr haushaltspolitischer Sprecher gestern im Haushalts- Wir wissen, dass die Leute im öffentlichen Dienst in der ausschuss auf meine Frage hin genannt hat. Es gibt ja Tat Geld brauchen. Aber ich sage auch: Die Tatsache, eine Auseinandersetzung um die Frage: Warum fließt ei- dass wir die Inflationsrate in den letzten Jahren sehr ge- gentlich im Jahr 2014 noch keine Milliarde an die Kom- ring gehalten haben – um 1 Prozent herum –, ist eine au- munen? Da hat er uns vorgerechnet, 23 Milliarden Euro ßerordentliche, hervorragende soziale Leistung, gerade stünden im Koalitionsvertrag, davon seien 20 Milliarden im Hinblick darauf, dass dadurch insbesondere die Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1853

Alois Karl (A) Löhne und Gehälter geschont und sie nicht von den kleb- gendes erwähnt: Wir, die CDU/CSU-Fraktion, haben das (C) rigen Fingern des Staates und anderer verringert werden. Thema „Sicherstellung der Kommunalfinanzen“ schon Ich habe Vertrauen, dass die Gewerkschaften sowie die längst aufgenommen. Offensichtlich scheinen die Lin- Arbeitgeberverbände und die Verhandlungsführer des ken das noch nicht registriert zu haben. Daher verweise Bundesinnenministeriums und des Finanzministeriums ich auf die letzte Legislaturperiode und den Koalitions- ihre Arbeit gut machen. Wir haben kein Vertrauen in Ih- vertrag. ren Antrag; wir lehnen ihn ab. In der letzten Legislaturperiode hat die CDU/CSU- Ich freue mich, dass ich meine Rede bis zum Schluss Fraktion maßgeblich dazu beigetragen, dass die Kom- halten konnte. Vielen herzlichen Dank. munen mit der stufenweisen Rücknahme der Kosten für die Grundsicherung im Alter eine erhebliche finanzielle (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Entlastung erhalten. Hierdurch werden die Kommunen nach dem Erreichen der 100-prozentigen Übernahme der Vizepräsident Johannes Singhammer: Kosten ab 2014 um jährlich 5 Milliarden Euro entlastet. Vielen Dank, Herr Kollege Karl. Ich wünsche Ihnen nicht politisch, aber gesundheitlich gute Besserung. (Beifall bei der CDU/CSU) (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU – Mit der Eingliederungshilfe werden wir eine weitere Alois Karl [CDU/CSU]: Danke!) maßgebliche finanzielle Entlastung der Kommunen auf den Weg bringen, die die Kommunen im Ergebnis um Nächster Redner ist der Kollege Wilfried Oellers, weitere 5 Milliarden Euro jährlich entlasten wird. Dabei CDU/CSU. möchte ich das Thema Eingliederungshilfe nicht nur als (Beifall bei der CDU/CSU) finanzielle Entlastung der Kommunen verstanden wis- sen, sondern an dieser Stelle insbesondere die Neurege- lung der Teilhabe von behinderten Menschen durch das Wilfried Oellers (CDU/CSU): beabsichtigte Bundesteilhabegesetz als einen wesentli- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- chen Bestandteil des Gesetzes erwähnen. nen und Kollegen! The Show Must Go On – so würde Freddie Mercury den Antrag der Linken kommentieren. Darüber hinaus werden Länder und Kommunen hin- Wenn Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst anste- sichtlich der Kosten für Kinderkrippen, Kitas, Schulen hen, muss dies wohl gleichzeitig wieder eine Debatte im und Hochschulen zusätzlich finanziell unterstützt. Die Deutschen Bundestag nach sich ziehen. Länder werden hierzu in der laufenden Legislaturperiode um 6 Milliarden Euro entlastet. Es wird daher Aufgabe (Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE (B) LINKE]: Wir haben Gewerkschafter dabei, Sie der Länder sein, diese Entlastung an die Kommunen (D) weiterzugeben und nicht etwa zur Konsolidierung der ja nicht!) Länderhaushalte zu verwenden. Dabei sollte doch inzwischen bekannt sein, dass das Par- lament für Tarifverhandlungen nicht zuständig ist. Die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- erste Forderung im Antrag ist deswegen schon aus rein neten der SPD) formellen Gründen abzulehnen. Nach unserer Verfas- Die genannten Maßnahmen sind prioritäre Maßnah- sung liegt die Zuständigkeit für Tarifangelegenheiten bei men, die nicht unter einem Finanzierungsvorbehalt ste- den Tarifvertragsparteien. Tarifvertragspartei ist nicht hen. Hieran sieht man deutlich, dass wir, die CDU/CSU- das Parlament, sondern der Bund, vertreten durch den Fraktion und auch die Regierungskoalition, längst auf Bundesminister de Maizière, und die Kommunen, ver- dem Weg sind, die Kommunen finanziell weiter zu ent- treten durch die Vereinigung der kommunalen Arbeitge- lasten. Man sieht auch, welche große Bedeutung wir der berverbände. Es steht dem Parlament in diesem Zusam- finanziellen Entlastung der Kommunen beimessen. menhang nicht zu, Forderungen zu formulieren, Hierzu bedarf es keiner Aufforderung durch die Linken. geschweige denn anzunehmen oder zu akzeptieren, so wie es die Linken in ihrem Antrag tun. Weiter weise ich darauf hin, dass der Bund für allge- meine Gesetzesinitiativen zur Sicherung der Kommunal- (Beifall bei der CDU/CSU) finanzen – so fordert es die Linke in ihrem Antrag – Daher kann von dieser Stelle aus lediglich der Wunsch ebenfalls nicht zuständig ist, da dies Aufgabe der Länder an die Tarifvertragsparteien geäußert werden, ein für ist. All dies zeigt deutlich, dass Sie mit Ihren Forderun- beide Seiten angemessenes und akzeptables Ergebnis zu gen lediglich eine Showveranstaltung initiieren wollen, erzielen. frei nach dem Motto: The Show Must Go On. Die zweite Forderung im Antrag ist derart unsubstan- (Beifall bei der CDU/CSU) tiiert, dass sich eine Debatte hierüber erübrigt. Es ver- Bezüglich der Forderungen im Antrag der Linken wundert schon sehr, dass mit dieser Forderung zwar das fasse ich abschließend wie folgt zusammen: Beide For- Ansinnen auf Sicherstellung der Kommunalfinanzen ge- derungen richten sich an das nicht zuständige Gremium. äußert, aber nicht ein einziger Vorschlag unterbreitet Die erste Forderung missachtet zudem die Grundsätze wird. der Tarifautonomie und damit die Verfassung. Die Da mir das Thema Kommunalfinanzen als ehemali- zweite Forderung ist schlichtweg unsubstantiiert. Beide gem Ratsmitglied besonders am Herzen liegt, sei Fol- Forderungen sind damit abzulehnen, da sie eklatante 1854 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Wilfried Oellers (A) Fehler bzw. Mängel aufweisen. In der Schule würde man Erster Redner ist der Kollege Dr. Johann Wadephul, (C) dazu sagen: Thema verfehlt, Prüfung nicht bestanden! der hiermit die Aussprache eröffnet. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Vizepräsident Johannes Singhammer: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herr Kollege Oellers, zu Ihrer ersten Rede hier im Herren! Wir beenden heute eine kurze, aber hochqualifi- Deutschen Bundestag gratuliere ich Ihnen herzlich und zierte und auch interessante Beratung, die wir in der ver- wünsche Ihnen viele weitere erfolgreiche Reden im Ho- gangenen Woche in diesem Hohen Hause begonnen und hen Hause. zwischenzeitlich im Auswärtigen Ausschuss und in den mitberatenden Ausschüssen fortgesetzt haben. (Beifall) Positiv formuliert kann man sagen: Der Anstoß, den Das war der letzte Redner zu diesem Tagesordnungs- der Koalitionsvertrag gegeben hat, ist von allen Fraktio- punkt, und deshalb schließe ich hiermit die Aussprache. nen aufgenommen worden. Das heißt, alle Fraktionen sind sich einig darin, dass es sinnvoll ist, die Frage der Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Wahrung und Sicherung der Parlamentsrechte bei der Drucksache 18/795 an die in der Tagesordnung aufge- Mandatierung von Auslandseinsätzen dahin gehend zu führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- überprüfen, ob sie zeitgemäß sind, ob sie effektiver wer- verstanden? – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die den können und was wir angesichts einer neuen Sicher- Überweisung so beschlossen. heitslage gegebenenfalls zu verändern haben. Das ist Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 11 sowie den insgesamt ein erfreuliches Zwischenergebnis einer De- Zusatzpunkt 6 auf: batte, die aus der Mitte der Unionsfraktion schon in der vergangenen Legislaturperiode angeschoben worden ist. 11 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Wir freuen uns, dass eine Diskussion über diese Fragen richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- möglich ist. schuss) Wir tun das in dem Bewusstsein, dass die Parlaments- – zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU rechte bei der Mandatierung von Auslandseinsätzen ein und SPD wirkliches Juwel unserer parlamentarischen Arbeit sind, (B) Einsetzung einer „Kommission zur Über- welches wir sichern wollen. Wenn man betrachtet, was (D) prüfung und Sicherung der Parlaments- nach dem Zweiten Weltkrieg in der Verfassung an Parla- rechte bei der Mandatierung von Aus- mentsrechten festgeschrieben worden ist und durch Ent- landseinsätzen der Bundeswehr“ scheidungen des Verfassungsgerichts bestätigt worden ist, dann wird klar, dass die Frage der Feststellung des – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Frithjof Verteidigungsfalls sozusagen noch in die alte Sicher- Schmidt, Agnieszka Brugger, Omid heitsarchitektur zur Zeit des Kalten Krieges gehört. Un- Nouripour, weiterer Abgeordneter und der ter den Bedingungen einer Einsatzarmee gehört die Fest- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schreibung dieses Parlamentsrechts zu den wirklichen Einsetzung einer „Parlamentarischen parlamentarischen Errungenschaften, auf die wir stolz Kommission zur Überprüfung, Sicherung sein können. Diese Rechte sind vom Bundesverfas- und Stärkung der Parlamentsrechte bei sungsgericht regelmäßig gestärkt worden. der Mandatierung von Auslandseinsätzen Wenn wir diese Rechte effektiv wahrnehmen wollen, der Bundeswehr“ müssen wir sie aber regelmäßig überprüfen. Das soll Drucksachen 18/766, 18/775, 18/870 jetzt geschehen. Ich freue mich, dass es dazu auch kon- struktive Vorschläge aus anderen Fraktionen gibt, wie- ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten wohl ich diejenigen der Linksfraktion nicht dazu zählen Dr. Alexander S. Neu, Wolfgang Gehrcke, Jan kann; denn wer ernsthaft erwägt, die Mandatierung von van Aken, weiterer Abgeordneter und der Frak- Auslandseinsätzen der Bundeswehr an eine Zweidrittel- tion DIE LINKE mehrheit zu binden, der will nicht, wie es im Antrag steht, die Legitimationsqualität erhöhen, sondern der Einsetzung einer „Parlamentarischen Kom- verfolgt natürlich ganz andere politische Ziele. Das ist mission zur Überprüfung, Sicherung und nicht weiter verwunderlich; das sollten Sie, liebe Kolle- Stärkung der Parlamentsrechte bei der Man- ginnen und Kollegen, aber vielleicht ehrlicherweise sa- datierung von Auslandseinsätzen der Bundes- gen. All diejenigen in den anderen Fraktionen, die noch wehr“ glauben, dass man mit dieser Fraktion eine zuverlässige Drucksache 18/839 (neu) und in der NATO, in der Europäischen Union und in der UNO kalkulierbare Sicherheitspolitik betreiben kann, Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Mehr nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Demokratie wagen!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1855

Dr. Johann Wadephul (A) werden hier wieder einmal eines Besseren belehrt: Mit (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) dieser Fraktion kann man das nicht erreichen. NEN]: Was haben denn die Haushaltsmittel damit zu tun?) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deswegen ist es gut, dass wir eine Kommission bitten Wir haben uns intensiv bemüht, die Fraktion Bünd- können, uns zu beraten. Die Schlussentscheidung trifft nis 90/Die Grünen einzubeziehen. Weil das im Auswär- der Deutsche Bundestag – das steht vollkommen außer tigen Ausschuss von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kol- Frage; niemand wird das befolgen müssen, was von der legen von der Grünenfraktion, ein bisschen kritisch Kommission vorgeschlagen wird –, und es bleibt bei ei- beleuchtet worden ist, was Ihr gutes parlamentarisches nem starken Parlamentsrecht. Aber es ist gut, dass diese Recht ist, will ich dazu Folgendes sagen: Ein entspre- Kommission ihre Arbeit aufnehmen kann. chender Koalitionsantrag ist Ihnen am 25. Februar 2014 zugeleitet worden. Wir haben erst zehn Tage danach Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. erste Vorschläge von Ihnen dazu erhalten. Wer aus dem (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Koalitionsvertrag weiß, was wir wollen, wer rechtzeitig vor Beginn der ersten Lesung einen Antrag von uns be- kommt, wer sich dazu äußern kann, wer sich einbringen Vizepräsident Johannes Singhammer: kann, der sollte nicht im Ernst so tun – so habe ich das Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen im Auswärtigen Ausschuss verstanden Dr. , Die Linke, das Wort. (Zuruf der Abg. Renate Künast [BÜND- (Beifall bei der LINKEN) NIS 90/DIE GRÜNEN]) Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE): – Frau Kollegin Künast, Sie waren nicht dabei –, als Sehr geehrte Bürgerinnen und Bürger! Sehr geehrte hätte es hier kein vernünftiges Zugehen der Großen Ko- Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Die alition auf die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegeben. Linke hat letzte Woche angekündigt, einen eigenen An- Wir haben versucht, Sie einzubinden. Wenn Sie am trag einzubringen. Das haben wir nun gemacht. Er liegt Schluss nicht mitwirken wollen, dann muss man das hier Ihnen vor. auch ehrlich sagen. Dann werden wir unseren Antrag hier durchsetzen. Aber bitte unterlassen Sie an dieser (Michael Brand [CDU/CSU]: Aber viel zu Stelle die formelle Verfahrenskritik. Sie ist unberechtigt. spät! Und viel zu schlecht!) (Beifall bei der CDU/CSU) Der eine oder andere von Ihnen mag sich fragen, wa- (B) rum die Linke das Parlamentsbeteiligungsgesetz so ver- (D) In der Sache muss man sagen: Wer eine Experten- teidigt, wie sie es verteidigt. Das kann ich Ihnen sagen: kommission einsetzen will – wir sind die Letzten, die ihr Obwohl wir gegen Auslandseinsätze sind bzw. gerade Licht unter den Scheffel stellen – und sie, wie die Grü- weil wir gegen Auslandseinsätze sind, verteidigen wir nen, allein mit Parlamentariern besetzen will, der wird das Parlamentsbeteiligungsgesetz. natürlich relativ wenige Anstöße von draußen bekom- men, was juristische, sicherheitspolitische und militär- (Henning Otte [CDU/CSU]: Oh, Sie verteidi- politische Fragen angeht. Wir wollen die Expertise zu gen auch mal etwas?) uns holen. 90 Prozent der gewählten Vertreter in diesem Hause stimmen regelmäßig für Kriegs- und Kampfeinsätze und (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- für Auslandseinsätze NEN]: Das wollen wir auch!) (Michael Brand [CDU/CSU]: Das stimmt – Ja. Das, was Sie machen wollen, ist aber klassisch das, doch gar nicht!) was wir in jeder Ausschusssitzung machen können, wenn wir eine Anhörung durchführen. Das können wir – doch, das stimmt – jederzeit machen, ob im Verteidigungsausschuss oder im Auswärtigen Ausschuss. Das werden wir auch wieder (Michael Brand [CDU/CSU]: Was denn für machen. Das wird man möglicherweise auch danach Kriegseinsätze?) noch machen wollen und natürlich auch können. Aber und missachten regelmäßig den Mehrheitswillen der wir wollen eine Kommission einsetzen, durch die wir Gesellschaft, die zu 75 Prozent gegen Auslandseinsätze den Blick von draußen in unsere Parlamentswelt hinein- ist. Das ignorieren Sie einfach. Das heißt, die Linke ist holen. Ich glaube, das ist ein guter und wichtiger Ansatz, die einzige Fraktion, die Auslandseinsätze im Sinne des der unsere Arbeit am Schluss nur befruchten kann und Mehrheitswillens der Gesellschaft ablehnt. sinnvoll ist. Deswegen möchte ich Sie ganz herzlich bit- ten, sich dem zu öffnen. (Beifall bei der LINKEN – Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, ja! Des- Es bleibt dabei: Es gibt neue Bedingungen, auf die halb haben Sie bei der Bundestagswahl ja auch wir uns einstellen müssen. Wir haben es mit neuen si- 80 Prozent bekommen! – Ingo Gädechens cherheitspolitischen Anforderungen zu tun. Es gibt mehr [CDU/CSU]: Sie machen es sich immer sehr Zusammenarbeit mit Partnern als noch vor wenigen Jah- leicht! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU: ren. Wir haben weniger Haushaltsmittel zur Verfügung. Ui! – Sie sind ja toll!) 1856 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Dr. Alexander S. Neu (A) Die kuriose Situation, die ich gerade geschildert habe, müssten dann in den Kampfeinsatz bzw. in den Aus- (C) sehr geehrte Damen und Herren, muss dem Bürger und landseinsatz. der Bürgerin deutlich gemacht werden. Daher fordert die Linke die Sicherstellung der Transparenz, der Kontrolle (Henning Otte [CDU/CSU]: Sie machen eine und des Entscheidungsmonopols des Deutschen Bundes- Mitlachstrategie!) tages bei Auslandseinsätzen. Warum? Weil das souveräne Entscheidungsrecht der Bundesregierung und des Bundestages ausgehebelt und Gerade wurde ein weiterer Punkt angesprochen: die nach Brüssel verlegt worden ist – und das ausgerechnet Zweidrittelmehrheit, die wir bei Entscheidungen des durch die hier anwesenden Parlamentarier. Deutschen Bundestages über Auslandseinsätze einfor- dern. Es kann nicht sein, dass die Entscheidung über (Michael Brand [CDU/CSU]: So ein dummes Krieg und Frieden, über Leben und Tod von 30, 40 an- Zeug!) wesenden MdBs getroffen wird. Die Entscheidung über Krieg und Frieden, die Entschei- (Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Hallo? Das dung über Leben und Tod hinge somit von EU- und ist immer eine namentliche Abstimmung! – NATO-Technokraten ab. Das kann doch nicht Ihr Ernst Michael Brand [CDU/CSU]: Das ist doch sein. Das wollen Sie nicht wirklich. schon wieder gelogen! Das ist doch unwahr!) (Beifall bei der LINKEN – Henning Otte Es müsste so sein, dass mindestens zwei Drittel der Mit- [CDU/CSU]: Das glauben Sie auch nicht wirk- glieder des Deutschen Bundestages anwesend sein und lich, was Sie da sagen! – Michael Brand so die Verantwortung für ihr Tun und Handeln überneh- [CDU/CSU]: Das arrogante Lächeln sagt doch men müssten. alles!) (Michael Brand (CDU/CSU): Das ist doch Die Linke widersetzt sich diesem Abbau des Parla- eine Diffamierung! Das ist doch unwahr! – mentsvorbehaltes und fordert stattdessen seine Auswei- Manfred Grund (CDU/CSU): Wollen Sie sich tung. Ich habe bei meiner letzten Rede schon einige Lü- korrigieren? Sie haben noch die Möglichkeit! cken aufgezählt. Ich wiederhole sie gerne noch einmal. Nennen Sie doch mal konkrete Zahlen! – Die erste Lücke betrifft die Unterrichtungspraxis be- Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU): Über wel- züglich der Einsätze der Spezialkräfte. Es kann nicht che Einsätze wurde hier denn nicht in nament- sein, dass von den 631 Abgeordneten gerade einmal 17 licher Abstimmung abgestimmt? – Henning darüber informiert werden – halbherzig informiert wer- Otte (CDU/CSU): Das war sachlich falsch!) (B) den –, ob die SEK M oder die KSK im Einsatz ist. (D) Nun zum konkreten Problem. Als angebliches Pro- (Michael Brand [CDU/CSU]: Sie werfen was blem deklarieren Sie, das Parlamentsbeteiligungsgesetz durcheinander!) stelle eine Behinderung der Arbeit der integrierten Stäbe und integrierten Verbände dar. Genannt werden Die zweite Lücke ist mir heute Morgen noch einmal AWACS-Flugzeuge, Luftbetankung, Lufttransport, deutlich geworden, als unsere Kanzlerin gesprochen hat. NATO-Hauptquartiere, Führungsstäbe etc. etc. Was Es ist das, was man unter die Merkel-Doktrin zu fassen steckt dahinter? Integrierte Stäbe oder integrierte Ver- versteht: bände sind multinational zusammengesetzt. Das heißt, Franzosen, Deutsche, Briten, Amerikaner etc. arbeiten in (Lachen des Abg. Manfred Grund [CDU/ diesen Formationen zusammen. CSU]) Wenn nun der Parlamentsvorbehalt zugunsten integ- Ausbildungsmission und Rüstungsexport als strategische rierter Stäbe oder integrierter Verbände eingeschränkt Instrumente neben Kampfeinsätzen einzusetzen. Warum werden würde, geschähe Folgendes: Wenn die USA, also keinen Parlamentsvorbehalt für Rüstungsexporte? Frankreich oder Großbritannien mal wieder der Auffas- Das gilt es anzudenken. sung sind, die Welt vor irgendwelchen Schurken retten (Manfred Grund [CDU/CSU]: Das Richtige ist und einen Kampf führen zu müssen, nicht neu, Herr Neu!) (Michael Brand [CDU/CSU]: Ach, du liebe Die dritte Lücke betrifft die Sicherstellung, dass keine Güte! Was für ein Niveau!) unbemannten Waffensysteme, also Drohnen, zum Einsatz kommen. Es gibt einen bekannten Spruch der die Bundesregierung aber ausnahmsweise nicht mitma- Friedensbewegung, der hier auf ironische Weise wieder- chen möchte – siehe den Fall Libyen –, geriete es so, belebt wird: Stell Dir vor, es ist Krieg, und niemand geht dass die Bundesregierung unter erheblichem Druck der hin. – Damals ahnte noch keiner, dass es einmal so per- USA, Frankreichs oder Großbritanniens stünde, diesen verse Mordinstrumente wie Killerdrohnen geben würde. Einsatz im NATO-Rat oder im Ministerrat der Europäi- Um Krieg führen zu können, muss man nicht mehr in schen Union nicht durch ein Veto zu blockieren. Was das Einsatzgebiet gehen. Man kann das auch bequem wäre die Konsequenz? Die Konsequenz wäre ein Mit- von zu Hause aus mit dem Joystick handhaben. machautomatismus. Genau das wollen Sie. Die Bundes- wehrsoldatinnen und -soldaten in den integrierten Stäben (Michael Brand [CDU/CSU]: Wie reden Sie und den integrierten Verbänden von EU und NATO denn über Soldaten?) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1857

Dr. Alexander S. Neu (A) Das Parlamentsbeteiligungsgesetz berücksichtigt also als verantwortungsvolle Parlamentarierinnen und Parla- (C) dieses Szenario nicht. Das Parlamentsbeteiligungsge- mentarier zu führen haben, sozusagen eine Wegstrecke setz geht von bewaffneten deutschen Streitkräften im abzubilden. Genau deshalb war diese Einladung auch Ausland aus, § 1 Abs. 2 in Verbindung mit § 2 Abs. 1. von uns an alle Fraktionen in diesem Haus gerichtet ge- Der Ausführende im Sinne des Parlamentsbeteiligungs- wesen. gesetzes ist also in jedem Fall der Soldat bzw. die Solda- tin und nicht irgendwelche Waffensysteme. Es geht also Ich gebe zu, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ich bin darum, diese Waffensysteme im Parlamentsbeteiligungs- am Ende einer längeren Debatte, die wir sowohl in den gesetz zu berücksichtigen. Ausschüssen als auch zwischen den Fraktionen geführt haben, nicht ganz zufrieden. Natürlich hätte ich mir die Die Linke hat angekündigt, dass sie den Antrag der Beteiligung aller Fraktionen gewünscht. Ich glaube, wir Regierungsfraktionen ablehnen und sich natürlich auch alle hier im Deutschen Bundestag haben mit gutem nicht an dieser Kommission beteiligen wird. Wir werden Grund, aber auch mit gutem Wissen und Willen ver- nicht als Feigenblatt dienen. sucht, diese Einigung zu erreichen. Ich sage das auch (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Gott sei Dank!) ganz klar an die Fraktion der Grünen gerichtet, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: weil wir damals unter Wir stimmen dem Antrag der Grünen zu. Rot-Grün nämlich einen anderen Weg gegangen sind, (Beifall des Abg. Omid Nouripour [BÜND- der auch nicht auf die Zustimmung dieses Parlaments NIS 90/DIE GRÜNEN]) gestoßen ist. Ich glaube, wir sollten uns noch einmal ver- gewissern, wie das 2004/2005 war: Wir haben damals Ich habe noch eine Bitte an die Regierungsfraktionen: als rot-grüne Bundesregierung bzw. Koalition einen Ge- Nehmen Sie die von mir genannten Lücken ernst und setzentwurf vorgelegt, der, wie ich finde, richtig war. sorgen Sie dafür, dass diese geschlossen werden. Jetzt wollten wir einen anderen Weg beschreiten: Wir wollten die Opposition von Anfang an dabei haben. Die (Michael Brand [CDU/CSU]: Das meinen Sie Große Koalition will nichts niederstimmen und auch nicht ernst!) keine Minderheitenrechte beiseiteschieben, sondern eine Danke. Parlamentskommission einrichten. Ich glaube, das war der richtige Weg: ein Angebot an alle in diesem Parla- (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/ ment, zu versuchen, in den nächsten Monaten berech- CSU: Wir nehmen die Lücken ernst!) tigte Fragen auch zu diskutieren.

Vizepräsident Johannes Singhammer: Als es damals um das Parlamentsbeteiligungsgesetz (B) Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kolle- ging, kamen vonseiten der Union – das muss ich unse- (D) gen Dr. Rolf Mützenich, SPD. rem Koalitionspartner zugestehen – teilweise andere Vorstellungen. Diese berechtigten Fragen können jetzt (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – wieder gestellt werden. Das soll eine Kommission beim Michael Brand [CDU/CSU]: Danke, dass jetzt Parlament leisten, in der, wie gesagt, sowohl Abgeord- Argumente kommen!) nete vertreten sind als auch ein breiter Kreis von Exper- ten, der uns helfen kann. Wir wollten keinen Gesetzent- Dr. Rolf Mützenich (SPD): wurf vorlegen, und wir wollten auch kein Gremium der Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Koalitionsparteien. Wir wollten das nicht im Koalitions- würde gerne versuchen, noch einmal auf den Kern der ausschuss festlegen und Ihnen quasi diktieren. Ich heutigen Debatte zurückzukommen, weil es heute nicht meine, welchen offeneren Weg hätten wir denn wählen um einen Gesetzentwurf geht, der möglicherweise die können als die Einrichtung dieser Kommission beim Parlamentsrechte in irgendeiner Form erweitert, ein- Parlament? Dass Sie so reagiert haben, hat mich dann schränkt, modernisiert oder irgendetwas anderes, son- schon gewundert. Sie haben den Koalitionsvertrag gele- dern lediglich darum, die Frage zu stellen: Wollen wir sen: Wir wollten ganz bewusst – so haben wir es auch eine Kommission beim Parlament einsetzen, die sowohl zitiert – möglichst im Konsens Vorschläge machen, wo- mit der Expertise aus dem Parlament als auch der von bei Minderheitenrechte und Minderheitsvoten in dieser Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie Kommission genauso respektiert worden wären wie Experten aus dem Bereich des Völkerrechts mit uns ge- sonst im Deutschen Bundestag auch. meinsam überlegt, welche Herausforderungen sich mit Blick auf ein modernes Parlamentsbeteiligungsgesetz er- Vizepräsident Johannes Singhammer: geben? Herr Kollege Mützenich, gestatten Sie eine Zwi- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – schenfrage des Kollegen Liebich? Michael Brand [CDU/CSU]: Das ist die Frage!) Dr. Rolf Mützenich (SPD): Ich finde, diesen Nebel, der gerade hier entstanden ist, Da melden sich ganz viele. müssen wir aus dem Parlament vertreiben. Es geht tat- sächlich um ein innovatives Instrument, das uns im Deutschen Bundestag hilft, in einer Debatte, die wir Vizepräsident Johannes Singhammer: möglicherweise dann noch in dieser Legislaturperiode Dann erst einmal der Kollege Liebich. 1858 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

(A) Stefan Liebich (DIE LINKE): Sie haben es leider – das will ich Ihnen im Gegensatz (C) Vielen Dank, Herr Kollege Mützenich, dass Sie diese zur Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nicht zum Vorwurf Zwischenfrage zulassen. Wir hatten uns in meiner Frak- machen – erst diese Woche geschafft, einen Antrag vor- tion nicht abgesprochen, wer sich alles meldet. zulegen. Ich hätte mir gewünscht, dass wir diesen Antrag etwas früher bekommen hätten; das hätte die Debatte Dr. Rolf Mützenich (SPD): vielleicht befördert. Das müsst ihr untereinander klären. Deswegen will ich noch einmal eindeutig feststellen: Wir wollen weiterhin diese breite Beteiligung. Stefan Liebich (DIE LINKE): Vielleicht erledigt sich das auch in der Folge; das Vizepräsident Johannes Singhammer: weiß ich nicht. Herr Kollege Mützenich, jetzt hat sich der Kollege Das Angebot an uns, dass wir in dieser Kommission Gehrcke noch einmal gemeldet. Die Frage, die er stellen zusammenarbeiten können, klang sehr schön. Das wollte, ist also noch nicht beantwortet. Deshalb darf ich Problem ist allerdings: Sie haben in der letzten Sitzungs- Sie fragen, ob Sie diese Frage auch zulassen. woche, als wir darüber gesprochen haben, gesagt: Wir überweisen das an die Ausschüsse; da kann man ja noch Dr. Rolf Mützenich (SPD): einmal beraten. – Nun saßen wir alle gemeinsam im Ja, wenn es bereichert. Auswärtigen Ausschuss, und es lagen Vorschläge von (Heiterkeit – Dr. Johann Wadephul [CDU/ drei Seiten vor. Dann ist zwar verbal bekundet worden, CSU]: Also nicht!) man könne aus den Vorschlägen der Grünen zum Einset- zungsbeschluss – aus unseren vielleicht auch; das ist nicht ganz deutlich geworden – etwas in den Antrag, den Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Sie vorgelegt haben, aufnehmen. Das ist aber nicht pas- Kollege Mützenich, Sie kennen doch den klassischen siert. Sie haben den Vorschlag, der hier letzte Woche Spruch, den jemand vor Gericht gesagt hat, als er aufste- vorlag, vollkommen unverändert zur Abstimmung ge- hen sollte: Wenn es der Wahrheitsfindung dient. – Hier stellt, ohne ein einziges Angebot für einen etwas ergeb- müsste es heißen: Wenn es die Debatte bereichert. nisoffeneren Text zu machen. Ich möchte gerne von Ihnen wissen, warum es den (Michael Brand [CDU/CSU]: Aber das be- Antragstellern nicht möglich war, die Formulierung ginnt doch erst!) „Stärkung der Parlamentsrechte“ in den Antrag mit auf- zunehmen. Es geht ja darum, dass Sie eine Kommission (B) Da muss ich schon sagen: Ich kann das Klagen, man einsetzen möchten, die keinen beliebigen, sondern einen (D) hätte uns einbeziehen wollen, nicht richtig ernst nehmen. bestimmten Auftrag hat, den das Parlament erteilt und Im Ausschuss war davon nichts zu merken. Sie haben den die Kommission dann auch erfüllen muss. Es war einfach abgestimmt über das, was von Ihnen vorlag, und für uns ein zentraler Punkt, diese Formulierung in den unsere Anregungen beiseitegeschoben. Antrag aufzunehmen. Das war nicht möglich. Sie können von uns doch nicht erwarten, dass wir in Dr. Rolf Mützenich (SPD): Bezug auf eine Kommission, die noch nicht einmal über Herr Kollege Liebich, ich habe nicht geklagt, sondern die Stärkung der Parlamentsrechte reden darf – das ist sozusagen den Weg aufgezeigt, den wir den Opposi- nicht ihr Auftrag –, kritiklos sagen: Da machen wir mit. tionsparteien – wie bereits in den Koalitionsgesprächen beschlossen – eröffnet haben, auch als Konsequenz Hier war die Grenze. Wir haben das zigmal hin und daraus, wie wir damals das Parlamentsbeteiligungs- her verhandelt, aber Sie waren nicht bereit, sich einen gesetz auf den Weg gebracht haben. Wir wollten damals Millimeter zu bewegen. Meine Einschätzung ist: Viel- auch rechtliche Klarheit herstellen. leicht hätten Sie sich ja bewegt, aber Ihr Koalitionspart- ner war nicht bereit, Ihnen so viel Raum einzuräumen, Ich habe die Diskussion im Auswärtigen Ausschuss ein bisschen anders in Erinnerung als Sie: In der Tat, wir (Michael Brand [CDU/CSU]: Wir sind für haben lange Zeit über die Ukraine diskutiert. Ich finde, starke Parlamentsrechte!) das darf uns nicht zum Vorwurf gemacht werden; denn dass Sie dieser Bitte nachkommen konnten. das ist ein Fels der Herausforderungen in der internatio- nalen Politik, die auch mit Parlamentarierinnen und Par- Weil Sie hier für Transparenz geworben haben, wollte lamentariern zu diskutieren sind und wo im Deutschen ich Sie bitten, das zu bestätigen, was ich gesagt habe: Sie Bundestag unterschiedliche Meinungsbilder existieren. waren nicht bereit, die Formulierung „Stärkung der Par- lamentsrechte“ aufzunehmen. Dann haben wir, glaube ich, gegen zwölf Uhr unter Beteiligung aller Fraktionen eine relativ breite Debatte (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) über diesen Antrag geführt. Da gab es eben unterschied- liche Auffassungen. Wir haben aber schon vorher – das Dr. Rolf Mützenich (SPD): sollte der Öffentlichkeit hier klar werden – alle Versuche Ich finde ja, das ist ein interessanter Versuch, aber Sie unternommen – vielleicht in unterschiedlicher Intensi- können mich von meinem Koalitionspartner natürlich tät –, letztlich zu einer Lösung zu kommen. Deswegen nicht wegbringen, weil wir auch in diesen Punkten gut habe ich hier nichts beklagt. zusammengearbeitet haben. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1859

Dr. Rolf Mützenich (A) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – zuentwickeln und die Fragen, die in den letzten Jahren (C) Michael Brand [CDU/CSU]: Was für eine Be- aufgetaucht sind, eventuell zu beantworten. Ich hätte mir reicherung, Herr Gehrcke! – Henning Otte genau diese Souveränität der Autoren – das wissen Sie –, [CDU/CSU]: Danke für die Vorlage!) die aus unterschiedlichen Parteien und aus unterschiedli- chen Wissenschaftszweigen kommen, auch von Ihnen Herr Kollege Gehrcke, ich habe Ihnen das zwar schon gewünscht. So viel Souveränität hätte auch von Ihnen während der Aussprachen in den Ausschüssen und auch und letztendlich auch von den beiden Fraktionen der Op- bilateral gesagt, aber ich würde Sie trotzdem gerne noch position kommen müssen. einmal darauf hinweisen, dass gerade im Koalitionsver- trag von der besonderen Stärke der Parlamentsbeteili- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der gung gesprochen wird. Ich finde, dass sich der Deutsche CDU/CSU) Bundestag als Parlament überhaupt nicht zu verstecken Ich werfe Ihnen die Fragen, die Sie in Ihrem Antrag braucht. Er nimmt sein Recht wahr, mit über Auslands- aufgeführt haben, nicht vor. Darüber kann man diskutie- einsätze zu befinden. Das tun wir hier im Deutschen ren, zum Beispiel über den Umgang mit unbemannten Bundestag ja auch fast immer zur Hauptdebattenzeit und Flugkörpern, die möglicherweise mehr und mehr in den vor einem vollen Plenum. Wir schätzen uns wert und militärischen Alltag überführt werden. Warum sollte in tauschen unsere unterschiedlichen Argumente in den einem solchen Gremium nicht auch darüber diskutiert Debatten aus. Gerade das wird auch im Einsetzungsbe- werden? Das ist letztlich eine Herausforderung für die schluss für die Kommission wieder deutlich. Sicherheitspolitik in Deutschland, weil diese Flugkörper Wenn Sie dem Parlament und uns Einzelnen in dieser möglicherweise von hier aus gestartet werden. Dadurch Koalition nicht trauen – das mag ja aufgrund der Aus- leitet sich aus dem Völkerrecht das Recht ab, Angriffs- einandersetzungen so sein –: Warum vertrauen Sie dann kriege zu führen. Ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt, nicht einer relativ unabhängigen, vom Parlament einge- der diskutiert werden muss. setzten Kommission, dass sie all diese Fragen diskutiert? Zu den Grünen. Da ist mir zum Beispiel berichtet Wir geben ihr doch nichts vor. Sie hätten Mitglieder der worden, dass die Organisation Ziviler Friedensdienst Kommission benennen können, die genau diese Punkte überhaupt nicht glücklich über die Vermengung von zi- zur Sprache gebracht hätten. Wir setzen diese Kommis- vilen und militärischen Fragen im Parlamentsbeteili- sion doch nicht ein, um den Mitgliedern danach sozusa- gungsrecht ist. Diese Organisation will sich eben nicht gen einen Knebel in den Mund zu legen und zu sagen: mit dem militärischen Auftrag identifizieren. Ich ver- „Darüber dürft ihr nicht diskutieren.“ Vielmehr geht es stehe das; das ist auch vollkommen richtig. Auch so et- doch um selbstbewusste Beratungen aus dem Parlament was hätte in dieser Kommission besprochen werden kön- (B) und auch der Fachöffentlichkeit und darum, bestimmte nen. Warum nicht? Ich glaube, die Kommission ist (D) Dinge einmal auf den Punkt zu bringen. Ich finde, das souverän genug, um über Transparenz und auch vieles Angebot war sehr groß und auch sehr umfassend. andere zu sprechen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Der letzte Aspekt, den ich in diese Diskussion ein- Ich glaube, es spielt auch noch ein anderer Aspekt bringen will: Durch die Verweigerung zur Mitarbeit ver- eine Rolle – das wollen Sie ja auch nicht einfach zur engen Sie ohne Not die Debatte, die nach dem Ende der Seite schieben –: Wahrscheinlich wird sich diese vom Arbeit der Parlamentskommission diesen Deutschen Parlament eingesetzte Kommission auch mit weiteren Bundestag erreichen wird. Ich finde, Sie sollten sich Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus- noch einmal überlegen, ob Sie das wollen. Wollen Sie in einandersetzen müssen. – Wir wollen uns über diese Ent- diesem Bericht, den die Kommission am Ende ihrer Ar- scheidungen gar nicht hinwegsetzen, sondern genau das beit dem Deutschen Bundestag vorlegen wird, Ihre Ar- akzeptieren, was uns das Bundesverfassungsgericht mit gumente wiederfinden und diskutieren lassen, oder wol- auf den Weg gegeben hat. Damals wurde uns eben ge- len Sie sie in diesem Bericht nicht haben? Deswegen ist sagt, dass wir ein Gesetz formulieren und offene Fragen, meine herzliche Bitte: Überlegen Sie sich Ihre Entschei- die in den letzten Jahren aufgetaucht sind, beantworten dung, gar nicht mitzuarbeiten. Ich finde, es wäre im Inte- sollen. Deswegen finde ich, müssen wir uns mit den Ar- resse des Parlaments und der Öffentlichkeit. Die Einla- gumenten auseinandersetzen. dung zur Mitarbeit besteht weiterhin. Vielen Dank. Ich war schon etwas verwundert darüber, dass Sie ein Papier, das, glaube ich, am Institut für Friedens- und Si- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) cherheitspolitik an der Universität Hamburg von ganz unterschiedlichen Autoren erstellt worden ist, durch die Vizepräsident Johannes Singhammer: uns auch eine Stärkung und Fortentwicklung dieses Par- Für Bündnis 90/Die Grünen erteile ich als nächster lamentsbeteiligungsrechts mit auf den Weg gegeben Rednerin der Kollegin Agnieszka Brugger das Wort. wurde, gar nicht in die Debatte eingebracht haben. Die Autoren haben sowohl Argumente der Union, aber zum Beispiel auch manche Ihrer Argumente aufgenommen. Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Die Quintessenz dieses Papieres ist: Es ist richtig, in Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ent- der Kommission mitzuarbeiten. Das bietet die Möglich- scheidungen über Auslandseinsätze der Bundeswehr keit, das Parlamentsbeteiligungsrecht innovativ weiter- sind für uns Abgeordnete, so empfinde ich das, die 1860 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Agnieszka Brugger (A) schwierigsten. Niemand von uns kann sich dabei hinter (Beifall des Abg. Dr. Frithjof Schmidt (C) seiner Fraktion verstecken, sondern muss sich nament- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Ingo lich für oder gegen einen Einsatz entscheiden. Gädechens [CDU/CSU]: Nein, das wollen wir nicht!) (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Richtig!) Und noch ein anderer Umstand verrät Sie: Sie legen Das führt zu intensiven und kontroversen Debatten, – auch das entgegen Ihrer Beteuerungen – offensichtlich nicht nur in den Fraktionen und Parteien, sondern auch keinen allzu großen Wert darauf, die Opposition mit ih- mit den Bürgerinnen und Bürgern und auch hier in unse- ren Ideen mitzunehmen. Auch im Antrag der Linken gibt rem Parlament. So wird eine breite demokratische Legi- es einige gute und interessante Punkte, die man hätte dis- timation von Auslandseinsätzen ermöglicht. So wird kutieren können, aber auch verhindert, dass diese Entscheidung nur einige wenige treffen oder diese gar zu leichtfertig. Deshalb (Beifall des Abg. Dr. Alexander S. Neu [DIE finde ich, die Parlamentsbeteiligung ist ein sehr hohes LINKE]) Gut. beispielsweise die unzureichende Unterrichtungspraxis (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN beim Einsatz der Spezialkräfte. Auch wir Grünen haben sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Ihnen nicht nur im vorliegenden Antrag unsere konkre- SPD und der LINKEN) ten Ideen unterbreitet, sondern auch schon im Vorfeld 20 Jahre Parlamentsbeteiligungsgesetz, das wäre ei- und vorgestern im Ausschuss versucht, mit Ihnen ge- gentlich ein guter Anlass, um es als Errungenschaft un- meinsam einen Kommissionsauftrag auf den Weg zu serer Demokratie zu feiern. Es wäre auch ein guter Zeit- bringen. punkt, um gemeinsam zu evaluieren, wie sich dieser Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und Grundsatz deutscher Außen- und Sicherheitspolitik be- der Union, das ist nicht an uns, sondern an Ihnen ge- währt hat und wie man ihn verbessern und weiterentwi- scheitert. Schon ganz früh haben Sie nämlich klarge- ckeln kann. macht, dass Sie nicht bereit sind, Ihren Antrag auch nur Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, einen Millimeter zu ändern. egal wie oft Sie das behaupten – ich sage es hier noch (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Das einmal ganz klar –: Wir Grüne verweigern uns keines- stimmt nicht! Das ist schlicht falsch!) wegs prinzipiell einer Mitarbeit in einer Kommission zur Überprüfung, Sicherung und Stärkung der Parlaments- – Wenn das falsch ist, dann hätten Sie ja auf einen unse- rechte bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr. rer Vorschläge eingehen können, zum Beispiel auf das (B) Thema „integrierte Mandate“, das gerade angesprochen (D) (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Dann ist ja gut! wurde. Wir wissen alle: Die Auslandseinsätze der Bun- Dann machen Sie doch mit!) deswehr können nur dann einen Beitrag zu mehr Stabili- Im Gegenteil: Wir haben uns bereits in den letzten Jah- tät, Sicherheit und Frieden leisten, wenn sie in eine trag- ren mit diesem Thema sehr intensiv beschäftigt, und wir fähige und gut durchdachte Gesamtstrategie eingebettet haben sehr viele Ideen, die wir gerne mit Ihnen diskutiert sind, die die Konfliktursachen bearbeitet. hätten. (Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Das wollten (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Sehr gut!) wir in der Kommission!) Noch in der Parlamentsdebatte in der letzten Woche Solche integrierten Mandate würden die jeweilige Bun- haben Sie mit großen Worten beteuert, dass Sie die Par- desregierung stärker darauf verpflichten, auch diploma- lamentsbeteiligung nicht aufweichen wollen und dass tische, polizeiliche, entwicklungspolitische und zivile die von Ihnen vorgesehene Kommission ergebnisoffen Ansätze zur Krisenbewältigung für jeden Konflikt aus- tagen sollte. Allerdings haben gleichzeitig designierte zubuchstabieren und die Stimmigkeit der Instrumente Mitglieder dieser Kommission einige Mandatsdebatten gründlich abzuwägen und darzustellen. So würden sich als „reine Routine“ bezeichnet oder sich öffentlich in die Diskussionen nicht immer nur auf das militärische Bezug auf integrierte Streitkräfte für ein reines Rückhol- Engagement fokussieren. recht des Bundestages ausgesprochen. Ich finde, nicht nur das spricht Bände und zeigt deutlich, wohin Sie ei- Meine Damen und Herren, wir haben zudem vorge- schlagen – das war für uns ein ganz zentraler Punkt –, gentlich wollen. dass der Kommissionsauftrag nicht nur die Überprüfung, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sondern auch die Stärkung der Parlamentsrechte zum sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Ingo Ziel hat. Ich würde jetzt wirklich gerne ganz konkret von Gädechens [CDU/CSU]: Reine Vermutung!) Ihnen hören, warum Sie auch diesen Vorschlag so kate- gorisch abgelehnt haben, wenn es Ihnen angeblich nicht Ein einfacher Blick in Ihren Antrag zur Einsetzung um die Aufweichung des Parlamentsvorbehaltes geht. der Kommission genügt vollkommen. Es soll um die Abstufung der Intensität der parlamentarischen Beteili- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gung gehen. Das ist doch entlarvend und zeigt, worum es und bei der LINKEN – Dr. Reinhard Brandl Ihnen wirklich geht, nämlich die Aufweichung und [CDU/CSU]: Es geht um ergebnisoffene Prü- Schwächung des Parlamentsvorbehalts. fung!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1861

Agnieszka Brugger (A) Auch das offenbart doch deutlich, dass die Ergebnisof- scheidet. Das sehen wir aktuell auf der Krim. Vor diesem (C) fenheit der Kommission, von der Sie reden, nicht mehr Hintergrund wird unser Thema „Einsetzung einer Kom- als eine Fassade ist. mission zur Überprüfung und Sicherung der Parlaments- rechte bei der Mandatierung von Auslandseinsätzen der (Beifall bei der LINKEN – Dr. Reinhard Bundeswehr“ nicht nur aktuell, sondern es gewinnt auch Brandl [CDU/CSU]: Doch! Deswegen ist der an Bedeutung. Antrag ja neutral formuliert!) Uns wird bewusst: Die parlamentarische Beteiligung Ich erwarte auch nicht, dass Sie die grünen Vor- an der Entscheidung über die Bundeswehreinsätze bzw. schläge richtig finden. Aber ich erwarte – gerade wenn das Parlamentsbeteiligungsgesetz hat sich bewährt. Da- Sie immer wieder beteuern, dass Sie uns ja ach so gerne durch ist eine breite Verankerung der Bundeswehr und mit im Boot gehabt hätten –, ihrer Einsätze in der Gesellschaft gewährleistet, und das (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: „So gerne“ ist – Frau Brugger, ich sehe das genauso wie Sie – ein nicht, aber gerne schon!) ganz hohes Gut. Nicht jedes Land, auch nicht in Europa, hat einen solchen Parlamentsvorbehalt. dass Sie wenigstens die Bereitschaft zeigen, so etwas zu diskutieren und in den Antrag aufzunehmen. Immer wieder stehen wir aber vor neuen verteidi- gungspolitischen Herausforderungen und Aufgaben, die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) auch die Strukturen der Bundeswehr verändern und An- Nicht wir sind es also, die sich verweigern, sondern passungen notwendig machen. Inzwischen haben wir Sie sind gegen alles, was nicht nach Ihrer Pfeife tanzt. eine Armee, die in vielen Teilen der Welt eingesetzt wird. Wir haben eine Armee, die in integrierten Struktu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – ren und Stäben auf NATO- und EU-Ebene mitwirkt. Michael Brand [CDU/CSU]: Natürlich sind Sie es! – Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Unsere Sicherheit kann nur mit unseren Bündnispart- Genau andersrum!) nern gemeinsam hergestellt werden. Deshalb müssen wir nationale militärische Kapazitäten bündeln – Stichwort – Nein, es ist genau so, wie ich es sage. „Sharing und Pooling“ –, und dadurch können wir von- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – einander profitieren. Die nationalen Streitkräfte werden Heiterkeit bei der CDU/CSU – Michael Brand integriert und damit partiell auch voneinander abhängig. [CDU/CSU]: Der Klügere gibt nach! Ich gebe Diese notwendige und sinnvolle Auffächerung von Auf- jetzt nach!) gaben macht es erforderlich, dass wir die Parlaments- rechte sichern und unseren Einfluss auf die Einsatzent- (B) Meine Damen und Herren, wir bedauern es sehr – und scheidungen neu justieren. (D) das ist dann wieder weniger lustig –, dass Sie, um Ihre fragwürdigen politischen Ziele zu verfolgen, die Stär- Herr Gauck hat uns in München gemahnt, kung der Parlamentsbeteiligung ausschließen wollen. (Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE]: Krieg zu (Henning Otte [CDU/CSU]: Nein! Um Gottes führen!) willen!) „sich als guter Partner früher, entschiedener und substan- Wir machen bei diesem durchsichtigen Manöver nicht zieller“ einzubringen. „Guter Partner“ bedeutet Verläss- mit, und wir sind ganz sicher auch nicht das grüne Fei- lichkeit. „Guter Partner“ heißt, dass Entscheidungen genblatt für den schwarz-roten Angriff auf die Parla- zügig getroffen werden, dass Entscheidungen im Schul- mentsrechte. terschluss mit den Bündnispartnern erfolgen und dass wir zu unseren getroffenen Entscheidungen auch stehen. (Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt wird es aber Deshalb stellen wir uns schon seit längerem die Frage, doll!) ob das Parlamentsbeteiligungsgesetz weiterentwickelt Deshalb können und wollen wir uns aus guten Gründen werden kann oder weiterentwickelt werden muss. Die nicht an dieser Kommission beteiligen. einzusetzende Kommission soll prüfen, wie die Parla- mentsrechte bei Auslandsmandaten der Bundeswehr Vielen Dank. unter den neuen Auftragsbedingungen gewährleistet (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werden können. und bei der LINKEN) Im Gegensatz zu den Grünen wollen wir ergebnisof- fen tagen; das ist ein wichtiger Unterschied. Vizepräsident Johannes Singhammer: Nächste Rednerin ist für die CDU/CSU-Fraktion die (Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Das ist Kollegin Elisabeth Motschmann. Toleranz!) (Beifall bei der CDU/CSU) – Genau, das ist Toleranz. – Die Grünen klammern mit ihrer parlamentarischen Kommission den Nutzen einer solchen Kommission von vornherein aus. Elisabeth Motschmann (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sind uns sicher alle darin einig, dass es nicht gut ist, NEN]: Wir beantragen gerade eine solche wenn einer alleine über den Einsatz von Soldaten ent- Kommission!) 1862 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Elisabeth Motschmann (A) Sie begrenzen und beschränken die Kommissionsarbeit. da Sie gerade wieder versucht haben, uns eine andere (C) Ihr Vorschlag steht im Übrigen im Widerspruch zum Motivation zu unterstellen, möchte ich zu Beginn meiner Koalitionsvertrag. Das stört natürlich Sie nicht, aber uns Rede eines klarstellen: Die vorgeschriebene Beteiligung schon. des Deutschen Bundestages bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr ist eine Stärke unserer Demokratie. Gerade (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bei diesen schwierigen Fragen, bei denen es um Leben Sie hatten die Chance, sich an diesem Antrag zu beteili- und Tod gehen kann und über die man oft unter gen und ihn dadurch auf ein breites Fundament zu stel- Zeitdruck und bei unvollständiger Informationslage ent- len. Dass Sie das ablehnen, kann man nur bedauern. Das scheiden muss, übernehmen wir als Parlament gemein- ist eine vertane Chance. Schade! sam mit der Regierung Verantwortung. In der Praxis – Sie wissen das – heißt das: eine breite parlamentari- Die Thematik ist hochkomplex und bedarf einer juris- sche Mehrheit für jeden Einsatz. tischen, sicherheitspolitischen und militärischen Bera- tung. Deshalb tun wir gut daran, auch externe Fachleute Einsätze der Bundeswehr spielen in Wahlkämpfen mit einer solchen Aufgabe zu betrauen. Sie sollen uns be- praktisch keine Rolle. Ich weiß, die Linken haben einen gleiten und beraten. Ich freue mich zusammen mit meiner anderen Schwerpunkt, aber ich lasse sie jetzt einmal au- Fraktion, dass Volker Rühe bereit ist, den Vorsitz einer ßen vor. Weder die Soldaten noch unsere Bündnispartner solchen Kommission zu übernehmen. Er bringt große Er- müssen befürchten, dass nach einer Wahl eine neue fahrung mit als ehemaliger Verteidigungsminister. Regierung einen vollkommen neuen Kurs einschlägt. Auch das ist eine Form von Bündnisfähigkeit. Wir wären (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- verrückt, wenn wir dieses gute Instrument der Parla- NEN]: Sie haben viele Parlamentarier, die ehe- mentsbeteiligung in irgendeiner Form infrage stellen malige Verteidigungsminister sind!) oder schwächen würden. Davon können wir doch nur profitieren. Ich freue mich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- übrigens auch, dass diese Kommission von sozialdemo- neten der SPD) kratischer Seite unterstützt werden soll, nämlich von . Auf der anderen Seite gibt es unter anderem bei den Grünen, Frau Brugger, das wohlgepflegte Klischee, die Den Antrag der Linken verstehe ich nicht. Bundesregierung und die Union würden, wenn sie nur könnten, die Bundeswehr noch viel häufiger in den Ein- (Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE]: Das satz schicken, kann ich mir vorstellen!) (B) (Inge Höger [DIE LINKE]: Das haben Sie (D) Sie wollen doch keine Auslandseinsätze. Warum schrei- doch angekündigt!) ben Sie dann einen dreiseitigen Antrag dazu? Das macht gar keinen Sinn. Wenn Sie keine Auslandseinsätze wol- nur das Parlamentsbeteiligungsgesetz und die guten Grü- len, brauchen Sie auch keinen Antrag zu diesem Thema nen verhindern das. Das ist so eingängig wie falsch. zu stellen. Sie haben doch selber gesagt, Herr Neu: Die (Michael Brand [CDU/CSU]: Die haben so CDU/CSU will eine Mitmachautomatik. – Sie wollen viele Missionen unter Rot-Grün auf den Weg eine Nichtmitmachautomatik. gebracht!) (Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE Das wissen Sie genau. Sie sind bei den Beratungen im- GRÜNEN]: Beide Parteipositionen sind damit mer selbst mit dabei, aber dennoch versuchen Sie, mit gut beschrieben!) aller Kraft dieses Klischee unterschwellig aufrechtzuer- Das wiederum wollen wir nicht. Deshalb kann ich nur halten. sagen: Stimmen Sie unserem Antrag zu. Er ist gut und Dabei sind wir uns doch im Grundsatz einig, und wir richtig. Lassen Sie die anderen Anträge von Grünen und sind uns auch bei großen Teilen der Problembeschrei- Linken links liegen. bung einig. Sie selbst beantragen heute eine Kommis- Vielen Dank. sion zur Weiterentwicklung der Parlamentsrechte (Beifall bei der CDU/CSU) (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das war nicht völlig falsch, was Sie bisher erzählt haben!) Vizepräsidentin : Das Wort hat der Kollege Reinhard Brandl für die und haben in großen Teilen wortwörtlich unseren Antrag CDU/CSU-Fraktion. übernommen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Jetzt müssen Sie sich entscheiden, was Ihr Vorwurf ist!) Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- Ein Thema, das Sie und uns bewegt, ist, dass mit der ver- gen! Frau Brugger – bitte aufpassen! –, stärkten militärischen Integration in der NATO und der EU Spannungsverhältnisse zur Parlamentsbeteiligung (Heiterkeit bei der CDU/CSU) entstehen können. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1863

Dr. Reinhard Brandl (A) Was heißt das konkret? Ein Soldat arbeitet zum Bei- Vizepräsidentin Petra Pau: (C) spiel das ganze Jahr über in einem Planungsstab der Ich schließe die Aussprache. NATO. Plötzlich gibt es einen Einsatz, der von der NATO geführt wird, an dem dieser Stab direkt oder indi- Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- rekt beteiligt ist. Deutschland – vor allem um den Fall empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Druck- geht es – entscheidet sich zum Beispiel im Parlament, sache 18/870. Der Ausschuss empfiehlt unter Buch- nicht an diesem Einsatz teilzunehmen. Die Frage, die stabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des sich dann stellt, lautet: Unter welchen Voraussetzungen Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf kann der Soldat in seinem Stab weiterarbeiten? Ab wann Drucksache 18/766 mit dem Titel „Einsetzung einer brauchen wir für den Mann oder die Frau ein eigenes ‚Kommission zur Überprüfung und Sicherung der Parla- Mandat mit erster, zweiter und dritter Lesung, mit Aus- mentsrechte bei der Mandatierung von Auslandseinsät- zen der Bundeswehr‘“. Wer stimmt für diese Beschluss- schussberatungen und namentlicher Abstimmung? empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? Was würde es bedeuten, wenn wir in so einem Fall – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der unsere Leute gleich von vornherein abziehen würden? Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi- Welche Positionen würden wir dann zum Beispiel in der tionsfraktionen angenommen. NATO nicht bekommen? Die Fragen sind nicht trivial, Wir sind noch beim Tagesordnungspunkt 11. Unter aber, ehrlich gesagt, sind sie auch nicht weltbewegend. Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der (Lachen des Abg. Omid Nouripour [BÜND- Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/775 mit dem NIS 90/DIE GRÜNEN]) Titel „Einsetzung einer ‚Parlamentarischen Kommis- – Herr Nouripour, das muss man in der Abwägung se- sion zur Überprüfung, Sicherung und Stärkung der hen: Es geht wirklich um Spezialfragen, um die wir uns Parlamentsrechte bei der Mandatierung von Auslands- kümmern, die nicht trivial sind, die aber lösbar sind. einsätzen der Bundeswehr‘“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den NEN]: Richtig!) Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Dazu stellen sich Fragen – in dem Antrag ist auch von und der Fraktion Die Linke angenommen. der Auffächerung der Aufgaben die Rede –, zum Beispiel wie wir die Parlamentsbeteiligung an die Art Zusatzpunkt 6. Abstimmung über den Antrag der (B) der Einsätze besser anpassen können. Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/839 (neu) mit (D) dem Titel „Einsetzung einer ‚Parlamentarischen Kom- Ich sage Ihnen, wie es ist. Es gibt auch bei uns in der mission zur Überprüfung, Sicherung und Stärkung der Fraktion unterschiedliche Meinungen dazu; es gibt in der Parlamentsrechte bei der Mandatierung von Auslands- SPD unterschiedliche Meinungen dazu. Aus meiner einsätzen der Bundeswehr‘“. Wer stimmt für diesen Sicht könnten wir auch teilweise Einsätze der Polizei Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – mandatieren. Aber das sind Fragen, die wir in dieser Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- Arbeitsgruppe konkret abwägen wollen. Dazu wollen nen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der wir externe Experten einladen. Genau deswegen etablie- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. ren wir heute diese Arbeitsgruppe. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Die Grünen können sich jetzt entscheiden, ob sie da- Beratung des Antrags der Abgeordneten ran mitarbeiten oder ob sie weiter an ihrem Klischee Annalena Baerbock, Dr. Julia Verlinden, Oliver festhalten wollen. Ich rate Ihnen, ehrlich gesagt, von Krischer, weiterer Abgeordneter und der Frak- dem Baum wieder herunterzukommen, auf den Sie jetzt tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit Ihrer Boykottandrohung geklettert sind. Es kann nämlich gut sein, dass die Kommission zu ganz vernünf- Urteil des Bundesverfassungsgerichts ernst tigen Lösungen kommt, die vielleicht auch in Ihrem nehmen – Bundesberggesetz unverzüglich Sinne wären. Sie wissen, wie es dann politisch ist. Sie reformieren haben von vornherein gesagt, Sie arbeiteten nicht mit. Drucksache 18/848 Dann können Sie natürlich auch nachher den Ergebnis- sen, selbst wenn sie gut sind, nicht zustimmen. Sie Überweisungsvorschlag:

müssen Ihren Anhängern dann auch erklären, dass Sie Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und ausgerechnet bei einem Thema wie der Parlamentsbetei- Reaktorsicherheit ligung an Auslandseinsätzen der Bundeswehr, das Ihnen so wichtig ist, auf die Mitarbeit verzichten. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- neten der SPD) gin Baerbock für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. 1864 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

(A) Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- glaublich. Das können wir als Parlamentarier so nicht (C) NEN): hinnehmen. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und Herren! Am 5. März 2014 hat das Sächsische Staats- ministerium des Innern den Antrag für den Braunkoh- In unserem Antrag fordern wir daher dazu auf, das letagebau Nochten II genehmigt, damit das Kraftwerk Urteil des Bundesverfassungsgerichts ernst zu nehmen Boxberg noch bis Ende 2045 – wenn wir eigentlich und eine Novellierung des Bergrechts unverzüglich an- schon eine kohlenstoffarme Gesellschaft sein wollen – zupacken, um die Belange der vom Bergbau Betroffenen Braunkohle verstromen kann. Dafür sollen 1 500 Men- besser zu sichern. schen zwangsumgesiedelt werden. Ähnlich sieht es in Brandenburg aus. Hier droht 1 700 Menschen die (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Glück auf!) Zwangsumsiedlung, um Kohle in einem der dreckigsten – Ja, Glück auf! Ich hoffe, Sie arbeiten mit uns daran. Kraftwerke Europas ebenfalls bis Mitte der 2040er-Jahre noch verstromen zu können. Das Bundesverfassungsgericht hat uns noch in einer anderen Frage ermahnt. Wir müssen die energiepoliti- Klimapolitisch ist das ein ziemlicher Hammer. Noch schen Planungen auf Landesebene und auf Bundesebene schwieriger wird es aber, wenn man in diese Regionen besser verknüpfen. Es gibt keine Antwort auf die Frage, reist und in Dörfern mit Kirchen, die im 12. Jahrhundert wie das passieren soll – schließlich ist es ja ein Gericht erbaut worden sind, erklären muss, auf welcher Rechts- und kein politischer Entscheidungsträger –, aber es wirft grundlage diese idyllische Landschaft eigentlich abge- die entscheidende Frage auf: Was ist eigentlich das öf- baggert werden soll. Denn nicht nur, dass die Rechts- fentliche Interesse im 21. Jahrhundert? Ist energiepoli- grundlage für den Abbau von Bodenschätzen 150 Jahre tisch das öffentliche Interesse im 21. Jahrhundert das- alt ist, nein, die entscheidende Regelung für die Zwangs- selbe wie zu Kaisers Zeiten? Wir meinen, meine Damen umsiedlung stammt aus dem Jahr 1937. Obwohl wir und Herren: Das ist es definitiv nicht. Es ist definitiv bekanntermaßen wirtschafts- und energiepolitisch seit nicht im öffentlichen Interesse im Jahr 2040, also zu diesen Jahren einiges in unserer Gesellschaft verändert dem Zeitpunkt, zu dem wir klimapolitisch international haben, bedienen wir uns 2014, 2015, 2020 einer gesetzli- eigentlich eine Reduktion von CO2 um mindestens 80 chen Regelung, die eigentlich dazu gemacht war, den Prozent erreicht haben wollen, noch Braunkohle verstro- ungehinderten Zugriff auf kriegswichtige Ressourcen zu men zu wollen. Es kann auch nicht im Interesse der Bun- sichern, ohne dass man sich weiter um die Folgen für die desregierung sein, die sich international dazu verpflich- Betroffenen zu kümmern hätte. Das ist wirklich uner- tet hat, den Treibhausgasausstoß bis 2020 um 40 Prozent träglich. zu reduzieren – auch wenn Sie von CDU und CSU nicht (B) (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) glauben können, dass Sie selber das einmal wirklich mit beschlossen haben –, weiter daran festzuhalten, Braun- Das sehen nicht nur wir so, meine sehr verehrten Da- kohle zu verstromen. men und Herren; die Reformbedürftigkeit des Bundes- berggesetzes sieht auch das Bundesverfassungsgericht. Schon heute – das hat die Bundesumweltministerin So hat es am 17. Dezember letzten Jahres zum Tagebau bekannt gegeben – müssen wir jährlich mindestens Garzweiler II geurteilt, dass zukünftig bei Genehmi- 27 Millionen Tonnen CO2 mehr einsparen, um Ihre Ziele gungsverfahren der Interessenschutz von Betroffenen für 2020 überhaupt noch erreichen zu können. Wie soll stärker berücksichtigt werden muss, dass wir hier neue das denn funktionieren, wenn wir ein Kraftwerk haben, rechtliche Grundlagen schaffen müssen. nämlich Jänschwalde – Herr Freese, Sie wissen bestens Bescheid –, Ich finde es ein ziemlich starkes Stück – das sage ich, auch wenn bei diesem Thema vonseiten der Bundesre- (Michael Brand [CDU/CSU]: Der hört gar nicht gierung jetzt fast niemand mehr da ist zu!) (Michael Brand [CDU/CSU]: Die Staatsminis- aus dem jährlich 24 Millionen Tonnen CO2 ausgestoßen terin im Bundeskanzleramt!) werden? 27 Millionen Tonnen CO2 deutschlandweit ein- zusparen, wenn von einem Kraftwerk allein jährlich – eine Person –, 24 Millionen Tonnen CO2 ausgestoßen werden, das passt vorne und hinten nicht zusammen. Deswegen muss hier (Michael Brand [CDU/CSU]: Es sind mehr!) der Gesetzgeber aktiv werden. Deswegen sagen wir klar dass auf die Frage meines Kollegen , wie und deutlich: Die Kohle muss dort bleiben, wo sie ist: man denn nun im Lichte dieses Bundesverfassungsge- unter der Erde. Dieser Bundestag muss Nein sagen zu richtsurteils verfahren möchte, aus dem Wirtschafts- neuen Tagebauen. ministerium lediglich die Antwort kam, beim Thema (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Fracking wolle man aktiv werden – das ist auch gut so –, aber was die Frage der Nutzungskonkurrenzen im Berg- Sie könnten dann Vorreiter im internationalen Klima- bau angehe, so plane man eine Verbesserung der Daten- schutz sein und sagen: Deutschland steigt aus der Braun- grundlage. Sorry, liebe Damen und Herren! Das Bundes- kohleverstromung aus. – Dann bräuchten Sie sich auch verfassungsgericht hat uns als Gesetzgeber gerade nicht hinter Polen oder anderen Ländern zu verstecken, ermahnt, Art. 14 des Grundgesetzes besser zu beachten, wenn Sie sagen, dass Sie in der EU ja leider nichts tun und Sie wollen Daten sammeln! Das ist wirklich un- können. Sie könnten also Vorreiter sein und dazu unse- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1865

Annalena Baerbock (A) rem Land wirtschafts- und finanzpolitisch noch einen Bei Überschreitung eines gewissen Toleranzrahmens (C) großen Gefallen tun. werde ich das auch tun. Denn Handlungsbedarf besteht auch noch bei der Das Wort hat die Kollegin Dr. Herlind Gundelach für Frage der Förderabgabe. In § 31 des Bundesberggesetzes die CDU/CSU-Fraktion. heißt es, dass mindestens 10 Prozent als Förderabgabe gezahlt werden müssen. Ich kann nur sagen: Schön wäre (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- es, wenn das passierte! neten der SPD)

Vizepräsidentin Petra Pau: Dr. Herlind Gundelach (CDU/CSU): Kollegin Baerbock, achten Sie bitte auf die Zeit. Sie Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! müssen zum Schluss kommen. Das Bundesverfassungsgericht hat im Dezember vergan- genen Jahres Recht gesprochen – diesbezüglich möchte ich einmal etwas richtigstellen – und dabei eindeutig die Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Verfassungsmäßigkeit des Tagebaus Garzweiler II bestä- NEN): tigt. Ja. – Die Vorgabe ist löchrig wie ein Schweizer Käse. Gerade bei der Braunkohle wird nämlich keine Förder- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und abgabe gezahlt. Für Ostdeutschland ist das im Eini- der SPD) gungsvertrag so geregelt. Im Rheinischen Braunkohlere- Es hat damit sowohl den bergbautreibenden als auch den vier ist geregelt, dass für Tagebaue von vor 1982 keine vom Bergbau betroffenen Menschen in der Region Si- Förderabgabe gezahlt werden muss. Das ist wirklich ein cherheit und Klarheit gegeben. finanz- und wirtschaftspolitisches Armutszeugnis an ei- nem Industriestandort. Lassen Sie mich daher kurz auf das geltende Berg- recht in Deutschland und auf seine Grundlagen einge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) hen. Noch ein letztes Wort zum Thema Fracking. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Waren Sie schon mal in der Region? – Vizepräsidentin Petra Pau: Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das wird jetzt nicht mehr stattfinden, Kollegin NEN) Baerbock. Das Minus vor der Zahl vor Ihnen zeigt an, dass Sie die Redezeit schon überschritten haben. Die letzte grundlegende Änderung liegt 30 Jahre zurück; (B) das Recht ist also nicht ganz so alt, wie Sie das gerade (D) (Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Wir wissen dargestellt haben. Vorher war Bergrecht Landesrecht. doch, die Grünen können nicht rechnen!) Seither wurde es mehrfach und vollständig an neue und Ich hatte Sie darauf aufmerksam gemacht. Sie müssen vor allen Dingen umweltrechtliche Vorgaben aus euro- jetzt einen Punkt setzen. päischen Richtlinien einschließlich der daraus folgenden Öffentlichkeits- und Betroffenenbeteiligung angepasst. Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Zudem hat die Rechtsprechung das Gesetz weiter aus- NEN): geformt. Nur zum Vergleich: Unser Zivilrecht ist deut- Ich komme zum Schluss. – Es reicht nicht aus, dass lich älter als das Bergrecht. Unser Bergrecht entspricht wir beim Fracking Umweltverträglichkeitsprüfungen daher heute vollumfänglich europäischem und auch na- einführen, sondern wir müssen uns ganz klar zu dem be- tionalem Recht, insbesondere auch in Umweltfragen. Im kennen, was wir alle im Wahlkampf versprochen haben: europäischen Ausland gilt es vor allem aufgrund der sehr Nein zum Fracking in unkonventionellen Lagerstätten hohen Schutz- und Vorsorgeaufwendungen für Umwelt mit chemischen Giftstoffen! und Betroffene sogar als vorbildlich. (Michael Brand [CDU/CSU]: Die Präsidentin Man kann es daher nicht anders sagen: Das deutsche frackt sie gleich weg!) Bergrecht hat sich in seiner Ausgestaltung im Grundsatz bewährt. Auch das muss im Gesetz neu geregelt werden. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herzlichen Dank, meine Damen und Herren. NEN]: Haben Sie sich schon mal damit be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie schäftigt?) bei Abgeordneten der LINKEN) Daher habe ich den Eindruck, dass die im Antrag der Grünen geforderten Änderungen und Verschärfungen Vizepräsidentin Petra Pau: des Bergrechts vor allem darauf abzielen, die Förderung Ich mache vorsorglich alle, die es noch nicht wissen, von Rohstoffen in Deutschland erheblich zu erschweren; darauf aufmerksam, dass ich hier einen Knopf habe, mit am liebsten würden Sie sie wahrscheinlich ganz verbie- dem ich letztendlich dieses Mikrofon abschalten kann. ten. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: und der SPD) Unsinn!) 1866 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Dr. Herlind Gundelach (A) Die Folgen würden dann aber nicht nur die Braunkohle trag. Zum weiteren Verständnis möchte ich noch hinzu- (C) betreffen, sondern auch andere Grund- und Rohstoffe fügen, dass dieser Fall bereits 2006 vor dem Bundesver- wie Magnesium, Kies, Kaolin und Kalk, auf die unsere waltungsgericht verhandelt worden war. Dem Kläger Wirtschaft in hohem Maße angewiesen ist. war damals eingeräumt worden, dass bereits bei der Vor- habenzulassung eine Gesamtabwägung aller öffentlichen Ich möchte an dieser Stelle anmerken: Deutschland und privaten Belange erforderlich sei, die für und gegen hat völlig zu Unrecht den Ruf, ein rohstoffarmes Land das Vorhaben sprechen, und nicht erst bei der Enteig- zu sein; denn drei Viertel unserer benötigten Rohstoffe nung. Insoweit, denke ich, war das etwas, was ihm fördern wir im eigenen Land. Wir brauchen sie beispiels- durchaus entgegenkam. weise für die Wirtschaftszweige Bau und Verkehr, für die chemische Industrie und auch für die Landwirtschaft. Mit diesem Urteil wurde dem damaligen Kläger – und Die Konsequenzen einer Unterbindung der heimischen seitdem grundsätzlich allen Bergbaubetroffenen in Rohstoffförderung wären folglich höchst problematisch. Deutschland – Rechtsschutz bereits zum Zeitpunkt der Und vor allem besteht hierzu kein Anlass; denn es gibt Vorhabenzulassung gewährt. Somit werden seit 2006 die keinen Bedarf für eine Änderung des Bergrechts. Zu- Interessen von Anwohnern und Grundstückseigentü- mindest kann ich im Gegensatz zu Ihnen, liebe Kollegin- mern frühzeitig und stärker berücksichtigt als vorher. nen und Kollegen von den Grünen, (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Und wieso mahnt dann das Gericht NEN]: Dann haben Sie das Urteil aber nicht eine Neufassung des Gesetzes an?) gelesen!) Aufgrund des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts in keinen derartigen Auftrag aus dem von Ihnen angeführ- 2006 wurde der Fall neu eröffnet mit dem Ziel, einen ten Urteil des Bundesverfassungsgerichts ableiten. neuen Rahmenplan aufzustellen. In diesem Verfahren kam man allerdings – unter Abwägung aller Gründe – (Beifall bei der CDU/CSU – Oliver Krischer zum gleichen Ergebnis, nämlich dass der Kläger zum [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie ist das Wohle der Allgemeinheit umgesiedelt werden müsse. denn mit Fracking? Wollen Sie da auch nichts machen?) Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich festhalten, dass ich die Entscheidung des Bundesverwaltungsge- – Auf den Punkt kommen wir vielleicht noch zu einem richts auf rechtzeitige Beteiligung uneingeschränkt gut- späteren Zeitpunkt. – Meines Erachtens versuchen Sie heiße; denn alles andere ist nicht mehr zeitgemäß. In das Urteil so umzudeuten, wie es Ihnen passt. Sie nutzen Deutschland können und dürfen wir keine Großprojekte es für ein Sammelsurium von zusätzlichen Forderungen. mehr – sei es der Ausbau der Stromnetze, sei es der Bau (B) (D) Ich möchte deswegen noch einmal etwas genauer auf von Flughäfen, Bahnhöfen oder Straßen – ohne weitrei- dieses Urteil und vor allem auf die ihm zugrundelie- chende Information und Beteiligung der Bevölkerung gende Klage eingehen. Konkret geht es ja um den durchsetzen. Braunkohletagebau Garzweiler II im Rheinischen Aufgrund meiner Erfahrung kann ich sagen, dass man Braunkohlerevier in Köln; durch umfassende Aufklärung und Information sehr viel (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: erreichen kann. Folglich bin ich ganz klar für eine fun- Der ist nicht in Köln! Der ist bei Köln!) dierte Öffentlichkeitsbeteiligung. Ich denke, darin sind wir uns wieder einig. In Ihrem Antrag fordern Sie aber es ist übrigens der zweitgrößte Tagebau in Europa. Die Dinge, die zu einem großen Teil bereits geregelt sind. dort geförderte Braunkohle ist die Basis für 6 Prozent der heimischen Stromproduktion. Ich möchte auf das Urteil zurückkommen. Das Bun- desverfassungsgericht hat in seinem Urteil explizit die Bergbau ist standortgebunden und kann daher nicht Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts von beliebig verschoben werden. Das wissen Sie selber. Des- 2006 aufgegriffen und bestätigt; denn wie schon gesagt: halb ist es manchmal notwendig, das Gemeinwohl über Schon seit 2006 müssen die Interessen der betroffenen das Schicksal Einzelner zu stellen. In diesem Fall bedeu- Grundstückseigentümer bereits bei der Rahmenbetriebs- tete das, dass die Anwohner für die Förderung umgesie- planzulassung im Wege einer umfassenden Gesamtab- delt werden mussten und dafür finanziell entschädigt wägung über § 48 Abs. 2 Satz 1 Bergbaugesetz berück- wurden. Ich kenne diese Gegend relativ gut; denn ich sichtigt werden. habe dort 40 Jahre gelebt. Deswegen weiß ich aus Erfah- rung, dass diejenigen, die umgesiedelt wurden, mit der (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Umsiedlung in der Regel sehr zufrieden waren, weil sie NEN]: Was ist mit der Braunkohleplanung? sich nämlich deutlich verbessert haben. Da muss auch was geändert werden!) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- – Nein. Es wird nach den Gepflogenheiten genauso zu- NEN]: Da kann ich Ihnen aber was anderes be- gelassen, die sowohl im Gesetz als auch im Richterrecht richten, Kollegin!) geregelt worden sind. Gegen Garzweiler II hatte nun ein Grundstückseigen- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tümer gemeinsam mit dem BUND geklagt und war da- NEN]: Lesen Sie das Urteil mal! – Annalena mit bis vor das Bundesverfassungsgericht gezogen. Auf Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: der Entscheidung des Gerichts basiert nun auch Ihr An- Einstufiges Verfahren!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1867

Dr. Herlind Gundelach (A) Das entscheidende Argument des Gerichts lautet: erfolgt – das haben auch Sie gerade gesagt –, eine politi- (C) Dem Rahmenbetriebsplan kommt im gestuften Zulas- sche Entscheidung ist. sungsverfahren im Tagebau die Funktion einer fakti- Mit dem Abbau von Braunkohle wird ein schen Zulassungsentscheidung mit Außenwirkung zu. Dementsprechend ist den Betroffenen seit 2006 auch die – ich zitiere das Bundesverfassungsgericht – Klagemöglichkeit eröffnet. Damit ist der von Ihnen ge- forderte effektive Rechtsschutz gewährleistet; denn es gesetzlich hinreichend bestimmtes und ausreichend wird gewährleistet, dass der Grundstückseigentümer tragfähiges Gemeinwohlziel umgesetzt. … Die frühzeitig in die Planung und Umsetzung einbezogen Landesregierung wird. – gemeint ist die von SPD und Grünen geführte Landes- regierung in Nordrhein-Westfalen – (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine Verhöhnung der Umsiedler!) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Da war zur Zeit der Genehmigung des Ich stimme Ihnen aber zu, dass es durchaus überlegens- Tagebaus aber noch eine SPD-Alleinregie- wert ist, dieses Richterrecht, das gilt und angewandt rung!) wird, bei geeigneter Gelegenheit auch vom Gesetzgeber bestätigen zu lassen. führt für ihr Konzept, das die jederzeitige Verfüg- barkeit eines traditionellen Rohstoffs für einen si- (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- cheren Energiemix in den Vordergrund stellt, ge- NEN]: Genau das fordern wir ja!) wichtige Gemeinwohlgründe an. – Ja, das heißt aber nicht, dass es nicht schon angewandt Dem ist aus meiner Sicht nichts hinzuzufügen. wird. Es steht nur nicht im Gesetz. Richterrecht wird ge- nauso angewandt wie geschriebenes Recht. Ihre Forderungen nach einer Änderung des Berg- rechts sind meines Erachtens vor allem ideologisch ge- (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE prägt. Sie wollen nach dem Ausstieg aus der Kernener- GRÜNEN]: Aber Sie sagen, es würde bisher gie nun schnellstmöglich auch einen Ausstieg aus der nicht angewandt!) Braunkohle – das ist aus Ihren Worten gerade deutlich geworden –, unter Hinweis auf die hohe CO2-Belastung – Doch. Ich habe die ganze Zeit ausgeführt, dass es an- aus der Verstromung von Braunkohle, die zweifellos ge- gewandt wird. geben ist. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (B) NEN]: Warum schreiben Sie es dann nicht in Die ist gegeben! Genau!) (D) das Gesetz? Warum nicht?) Die Braunkohle ist aber neben den erneuerbaren – Weil es bereits angewandt wird. Ich habe gesagt, dass Energien die einzige Energieart, die uns in unserem ich nichts dagegen habe, wenn es irgendwann ins Gesetz Land zur Verfügung steht, die wir nicht importieren geschrieben wird. Es muss aber nicht sein, weil das müssen wie Steinkohle und Gas, was man gerade in die- Recht bereits gilt. Insofern ist es gegenwärtig ausrei- sen Tagen vielleicht auch nicht ganz außer Acht lassen chend; das heißt, der Rechtsschutz ist gewährleistet. sollte. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU) neten der SPD – Oliver Krischer [BÜND- Insofern gibt uns die Braunkohle ein gewisses Maß an NIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber eigentlich doch Sicherheit, was unsere Versorgung angeht; denn wir sind nicht! Was ist das für eine Auffassung? Was ist für absehbare Zeit auch auf die Nutzung fossiler Ener- denn mit Rechtsklarheit und Rechtswahrheit?) gien angewiesen. – Dann müssen Sie einmal vor Gericht gehen. Richter- Um Ihre Forderung zu unterstreichen, werden Sie recht wird genauso angewandt wie geltendes Recht, das auch nicht müde, darauf hinzuweisen, dass der Anteil vom Gesetzgeber niedergelegt wird. Beides ist bei der der Braunkohle an unserem Energiemix in den letzten Rechtsprechung zu beachten. Monaten deutlich gestiegen ist. Sie vergessen dabei aber, (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zu sagen, dass der CO2-Ausstoß aus der Braunkohle NEN]: Dann brauchen wir ja gar nichts mehr trotz des höheren Einsatzes der Braunkohle insgesamt zu machen! Wir überlassen alles den Rich- gesunken ist. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt! tern!) Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Lassen Sie mich abschließend kurz zusammenfassen: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil neten der SPD) vom 17. Dezember 2013 ausdrücklich die Verfassungs- mäßigkeit des Bergrechts bestätigt. Es besteht folglich Vizepräsidentin Petra Pau: auch keine Notwendigkeit für die von Ihnen geforderte Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter für umfassende Novellierung. In seiner Entscheidung hat die Fraktion Die Linke. das Verfassungsgericht aber auch betont, dass die Ent- scheidung, wie die Energieversorgung in unserem Land (Beifall bei der LINKEN) 1868 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

(A) Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): keiten für Bürgerinnen und Bürger sowie für Verbände (C) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! und Kommunen. Wir wollen auch, dass in Haftungs- und Das geltende Bundesberggesetz von 1980 ist im Kern Entschädigungsfragen künftig die Position der Anwoh- noch das Bergrecht aus der Nazizeit, insbesondere die nerinnen und Anwohner deutlich gestärkt wird. Würden sogenannte Rohstoffsicherungsklausel, die es praktisch die Forderungen von Linken und Grünen in die Tat umge- unmöglich macht, zwischen den Interessen von Bürge- setzt, hätten die Bürgerinnen und Bürger zudem erstmals rinnen und Bürgern und denen, die Rohstoffe aufsuchen eine realistische Chance, Abbauvorhaben gerichtlich möchten, abzuwägen. In der vergangenen Legislatur ha- überprüfen zu lassen. Gemeinden, betroffenen Anwoh- ben Linke und Grüne in jeweils eigenen Anträgen den nern und Umweltverbänden stünde auch dann der Klage- ersten Anlauf seit Jahrzehnten unternommen, das Berg- weg offen, wenn es um Fragen der Bedarfsfeststellung recht grundsätzlich zu reformieren. Leider sind wir da- oder der Umweltauswirkungen insgesamt ginge. Aner- mals an der Mehrheit gescheitert. Grundfrage aber ist kannte Umweltorganisationen beispielsweise sollten und bleibt: Soll das Bergrecht die Rechte der Menschen, also im Verfahren nicht nur um den reinen Naturschutz die vor Ort leben, und die der Natur auf ewige Zeiten streiten können, sondern auch um den Wasserhaushalt brechen können? Oder leben wir inzwischen in einer oder den Klimaschutz. Zeit, in der Ressourcen als endlich angesehen werden Noch ein Satz zum Antrag der Grünen, der auch das und insbesondere im Energiebereich Alternativen vor- Thema Fracking aufgreift, was mich sehr freut. Die im handen sind? Hat die Bundesrepublik ein neues Ver- Antrag enthaltene Position verstehe ich als Verschärfung ständnis darüber erlangt, wie mit Bürgerinnen und Bür- Ihrer bisherigen Position in Bezug auf das Thema Fra- gern umzugehen ist? cking. Wir unterstützen den Grünenantrag, fordern aber da- rüber hinaus einen Nachweis, ob Bergbauvorhaben er- (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- forderlich sind, sowie eine Prüfung von Alternativen. NEN]: Das ist unser Wahlprogramm!) Der Vorhabenträger müsste dann nachweisen, dass ein Als die Linke vor zwei Jahren einen Antrag auf Verbot unabweisbarer volkswirtschaftlicher Bedarf für den von Fracking in Deutschland einbrachte, haben die Grü- Rohstoff besteht und der Abbau wirklich notwendig ist. nen dem nicht zugestimmt. Dieser Nachweis dürfte bei vielen Braunkohlevorhaben, die gegenwärtig diskutiert werden, kaum zu erbringen (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sein; denn glücklicherweise wächst die Stromerzeugung NEN]: Da wollten Sie Fracking verbieten und aus erneuerbaren Energien rasant. Darum braucht diese dann erklären, wie es geht! Da konnten wir klimaschädliche Kohle spätestens ab 2040 – wahrschein- nicht zustimmen!) (B) lich schon weit früher – niemand mehr. So hält unsere Sie wollten nur ein Moratorium von Fracking prüfen. Ich (D) Bundestagsfraktion beispielsweise Welzow II in Bran- würde es begrüßen, wenn sich das Meinungsbild der denburg für nicht erforderlich; das sagt auch das DIW. Grünen hier dem unseren angenähert hätte. Garzweiler II halten wir im Übrigen für genauso über- flüssig. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN – Manfred Grund [CDU/CSU]: Davon wird es aber auch nicht Die Kohle wird nicht gebraucht. Die erneuerbaren Ener- besser!) gien und Gaskraftwerke sind die einzig richtige und machbare Alternative. Vizepräsidentin Petra Pau: Die damals von Linken und Grünen eingebrachten Das Wort hat der Kollege Bernd Westphal für die Anträge unterschieden sich voneinander; sie hatten je- SPD-Fraktion. weils eine etwas andere Philosophie. Das gilt auch für den heute vorliegenden Grünenantrag. Gemeinsam ist (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Grünen und Linken jedoch die Kernforderung, den auto- der CDU/CSU) matischen Vorrang des Abbaus von Rohstoffen vor allen anderen Interessen zu beenden. Bernd Westphal (SPD): (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Kollegen! In Deutschland werden jährlich 770 Millionen Tonnen Rohstoffe gewonnen. Damit stellt der Rohstoff Dafür soll künftig unter anderem ein Planfeststellungs- im Bergbausektor noch immer einen bedeutenden Wirt- verfahren mit UVP, also einer Umweltverträglichkeits- schaftsfaktor dar. prüfung, an die Stelle der bisherigen Verfahren treten. Zudem sollen Abbaurechte erst dann an Unternehmen Wenn wir an die Wirtschaftswunderjahre nach dem verliehen werden, wenn ein Abbau in einem demokrati- Zweiten Weltkrieg denken, dann erinnern wir uns, für schen Verfahren beschlossen wurde, und zwar unter Ab- welche wirtschaftliche Dynamik der Bergbau steht. Die wägung aller Interessen und nach einer sorgfältigen Um- enorme Beschäftigungsentwicklung und der schnelle weltverträglichkeitsprüfung, und keinen Tag vorher. wirtschaftliche Aufschwung in Deutschland sind stark mit dem Bergbau verbunden. Durch den Bergbau konnte Zu einem demokratischen Ablauf gehören mehr ein Fundament für Wohlstand in Deutschland geschaffen Transparenz und mehr Beteiligungs- und Klagemöglich- werden. Zudem liegt im Bergbau mit seiner jahrhunder- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1869

Bernd Westphal (A) tealten Tradition der Ursprung für viele soziale Errun- stoffabbau neu justieren, aber den Bergbau damit nicht (C) genschaften, die heute auch in anderen Bereichen als verhindern. selbstverständlich gelten. Ich erinnere in diesem Zusam- menhang an die Weiterentwicklung des Arbeitsschutzes, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten aber auch an die Mitbestimmung, die tarifliche Entloh- der CDU/CSU) nung sowie die Mitbestimmung in Aufsichtsräten. Bei der Anpassung muss aber auch den berechtigten Beim Bundesberggesetz handelt es sich in erster Linie Interessen der Unternehmen auf Investitionssicherheit um ein Wirtschaftsgesetz. Es beinhaltet alle bergrechtli- Rechnung getragen werden. Wir müssen daran denken, chen Fragen vom Aufsuchen über das Gewinnen und dass bergbauliche Vorhaben unter und über Tage mit er- Fördern eines Rohstoffs bis zur Schließung des Berg- heblichen Vorlaufinvestitionen verbunden sind. Diese baus oder des Tagebaus. Das deutsche Bergrecht ist ein benötigen Rechtssicherheit, die über einen sehr langen altes Gesetz, dessen Ursprünge bis ins Mittelalter zu- Zeitraum Gültigkeit haben muss. Deshalb darf ich Sie, rückgehen. Das ist im Übrigen nichts Ungewöhnliches: Kollegin Baerbock, darauf hinweisen, dass das Bundes- Denken wir an unser zivilrechtliches Bürgerliches Ge- verfassungsgericht in seinem Urteil, gerade was Garz- setzbuch. Es stammt aus dem Jahr 1900 und muss des- weiler II angeht, die Verfassungsmäßigkeit festgestellt wegen nicht schlecht sein. hat. Gesetze, auch das Bundesberggesetz, werden natür- (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE lich ständig an die sich ändernden Ansprüche und Be- GRÜNEN]: Wir reden ja über neue Tage- dürfnisse angepasst. Die letzte Reform – darauf ist schon baue!) hingewiesen worden – wurde in den 80er-Jahren durch- Für die deutsche Industrie hat die Versorgung mit geführt. Ich will darauf hinweisen, dass hier viele euro- Rohstoffen und Materialien eine große Bedeutung. In päische Initiativen gerade aus dem Bereich Umwelt- seiner Urteilsbegründung hat das Bundesverfassungsge- schutzstandards eingeflossen sind. Das Bergrecht hat in richt deshalb auch die Versorgung des Marktes mit Roh- seiner Geschichte in vielen Punkten eine Vorreiterrolle stoffen als ein Gemeinwohlziel im Sinne des Grundge- übernommen. So werden zum Beispiel soziale und öko- setzes bezeichnet und über das private Eigentum gestellt. logische Aspekte schon seit langem berücksichtigt, wes- Das muss auch so bleiben. Sonst wären große Infrastruk- halb es im europäischen Ausland als sehr vorbildlich an- turmaßnahmen gar nicht mehr möglich. gesehen wird. Die Gewinnung von Rohstoffen in Deutschland und In der Technologie zum Abbau von Rohstoffen liegt die Nutzung eigener Ressourcen macht Deutschland un- heute gewaltiges Innovationspotenzial. Bergbau und abhängiger von Rohstoffimporten. Außerdem können Rohstoffgewinnung sind Hightech. Viel Hightech würde (B) wir bei einem Abbau in Deutschland garantieren, dass (D) in Deutschland nicht funktionieren, wenn wir nicht die die in Deutschland geltenden hohen sozialen Standards Bergleute hätten, die für Nachschub an Rohstoffen sor- – ich denke hier vor allen Dingen an die Arbeitsschutz- gen. standards – und die hohen ökologischen Standards ein- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) gehalten werden. Das ist bei Rohstoffen, die wir aus dem Ausland beziehen, oft nicht möglich. Deshalb besteht auf den globalen Märkten eine große Nachfrage nach deutscher Bergbautechnologie. Das Urteil, auf das schon hingewiesen worden ist, ist aber kein Ruhekissen. Es muss für uns Politiker Ansporn Es lässt sich nicht vermeiden, dass der Abbau von Bo- sein, das Bundesberggesetz an aktuelle Bedürfnisse an- denschätzen meist mit Auswirkungen auf die Umwelt zupassen. Sonst hätten wir Stillstand. Wir stehen als SPD verbunden ist. Im Bergbau in Deutschland gibt es die aber für Fortschritt, weltweit höchsten Sicherheits- und Umweltstandards; die Belastungen für die Arbeitnehmer und die Umwelt (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sind so gering wie möglich. Aufgabe des Gesetzgebers NEN]: Wie denn?) ist es, das Bergrecht an die Entwicklungen anzupassen, und das mit einem nachhaltigen Bergbau. sodass die jeweils gültige Fassung immer zeitgemäß und rechtskonform ist. So muss das Bergrecht unter Einbe- Herzlichen Dank. Glück auf! ziehung umweltrechtlicher Vorschriften immer neu jus- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tiert werden. Zum Beispiel soll eine obligatorische UVP der CDU/CSU) als Bestandteil des Genehmigungsverfahrens für die Ge- winnung bestimmter Rohstoffe eingeführt werden. Das gilt auch für die seit 50 Jahren in Niedersachsen – und Vizepräsidentin Petra Pau: ich komme aus Niedersachsen – praktizierte Erdgasför- Der Kollege Andreas Lämmel hat nun für die CDU/ derung durch das Fracking-Verfahren. CSU-Fraktion das Wort. Des Weiteren muss das Bergrecht in Zukunft den ge- (Beifall bei der CDU/CSU) stiegenen Bedürfnissen der Bevölkerung nach Öffent- lichkeitsbeteiligung und Transparenz im Verfahren noch Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): stärker gerecht werden. Dies kann schon im Vorfeld ei- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und ner Entscheidung zu einer Entspannung zwischen den Herren! Die Grünen haben uns hier ein schönes Ei ins Interessen der Investoren und der betroffenen Menschen Nest gelegt. Es ist zwar noch nicht Ostern, aber wir sind beitragen. Wir wollen den Rechtsrahmen für den Roh- ja nicht mehr weit davon entfernt. Endlich lassen Sie die 1870 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Andreas G. Lämmel (A) Katze aus dem Sack. In der letzten Legislaturperiode ha- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C) ben Sie einen ähnlichen Antrag formuliert. Damals ha- Wir wollen keinen neuen Tagebau!) ben Sie noch verklausuliert von der Modernisierung des Bergrechts gesprochen. Heute sagen Sie ganz klar, wo- Das ist das Ziel. Unter dem siebten Spiegelstrich schrei- rum es Ihnen geht: Der Braunkohlebergbau muss in ben Sie, dass die für die ostdeutschen Länder geltenden Deutschland verboten werden. Sonderregelungen abgeschafft werden sollen. Auch das war schon immer Ihre Zielrichtung. Das war schon beim (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Infrastrukturplanungsgesetz Ihre Zielrichtung. Damit zeigen Sie Ihr wahres Gesicht. Es geht Ihnen (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- überhaupt nicht um eine Modernisierung des Gesetzes, NEN]: Sie können ja nicht mal den Namen sa- sondern ganz einfach darum, einen weiteren Baustein Ih- gen!) rer Ideologie umzusetzen. Sie wollen nicht, dass dieses Gesetz zum Beispiel beim Nachdem die Abschaltung der Atomkraftwerke be- Bau von Energieversorgungsleitungen angewendet wird. schlossen ist, soll nun dem Braunkohlebergbau der Gar- Auch das haben Sie verhindern wollen. Überall dort, wo aus gemacht werden. Deutschland braucht aber Rohstoff- es um Gesetzesvereinfachungen geht, stehen die Grünen förderung, und Deutschland braucht die Braunkohle, und in vorderster Linie, um das zu verhindern. das aus zwei Gründen: zum einen natürlich zur Verstro- mung (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo es um Subventionierungen (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- geht!) NEN]: Wie lange denn?) und zum anderen, weil die Braunkohle weniger Kohlen- Meine Damen und Herren, was die Verantwortung für stoff als Steinkohle enthält. Das können Sie von den die Renaturierung angeht, kann man den Braunkohleta- Grünen aber nicht so genau wissen, weil Sie ja ständig gebau im Osten als hervorragendes Beispiel anführen. gegen die Naturwissenschaften polemisieren. An dieser Stelle schaue ich in Richtung der Linken, die sich hier ja auch immer wieder ereifern. Teile der Partei (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- haben über 40 Jahre lang ein Land regiert, und damals NEN]: Was?) hat man Braunkohletagebaue sehr intensiv betrieben, Sie sind sogar dafür, dass in der Schule ganze Fächer ge- aber eben ohne deutsches Bergrecht. strichen werden. In Baden-Württemberg haben Sie sich (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Was? Unsere jetzt dafür eingesetzt, dass Biologie aus dem Lehrplan Parteimitglieder? Auch in Bayern?) (B) gestrichen wird. Das ist Ihre Methode. (D) Was ist geblieben? Was haben Sie hinterlassen? 120 000 (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Hektar durch Tagebau und Braunkohleveredelungsanla- NEN]: Jetzt entgleisen Sie aber!) gen zerstörte Landschaft Zum Glück haben wir in Deutschland die Braunkohle. ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sie trägt ganz entscheidend zur Energieversorgungssi- NEN]: Ja, das ist schlimm! – Annalena cherheit bei. Das ist uns natürlich sehr wichtig. Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Sie heute in die Tagespresse schauen, können Und das wollen Sie jetzt fortführen!) Sie einen großen Artikel Ihres Fraktionsvorsitzenden le- sen, in dem er schreibt: „Njet zu Gazprom“ und davon – danke für diese Gabe –, eine enorme Belastung mit spricht, dass die starke und einseitige Abhängigkeit von Schwefeloxiden und Staub und enormste Eingriffe in Energieimporten gefährlich ist. den Wasserhaushalt, die zum Teil bis heute nicht beho- ben werden konnten, (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist richtig!) (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Deswe- gen wollen wir das ja beenden!) Vielleicht sollten Sie sich in Ihrer Fraktion einmal da- rüber klar werden, was Sie wollen. und die Verklappung von Abbauresten und Industrieab- fällen – das ist die Hinterlassenschaft des Bergbaus ohne (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE deutsches Bergrecht. GRÜNEN]: 100 Prozent Erneuerbare!) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wollen Sie von Importen unabhängiger werden? Das NEN]: Beim Steinkohlebergbau in NRW sieht können wir nur, indem wir einheimische Energieroh- man die Hinterlassenschaften auch! Und da stoffe besser nutzen. Klären Sie erst einmal in Ihrer gab es Bergrecht!) Fraktion, was Sie überhaupt wollen. (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Was geschah nach 1990? Nach der deutschen Einheit NEN]: Wo waren Sie denn die letzten fünf kam es zur Renaturierung, und zwar auf der Basis einer Jahre?) gesamtdeutschen Gesetzgebung. Allein in Thüringen sind 100 Betriebsanlagen – Kokereien, Kraft- und Heiz- Schauen Sie sich Ihre Forderungen doch einmal an. kraftwerke und Ähnliches – entsorgt worden. 215 Tage- Die erste Forderung habe ich ja schon genannt: Verbot baurestlöcher, die wild in der Landschaft verstreut wa- des Braunkohlebergbaus. ren, mussten verfüllt werden. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1871

Andreas G. Lämmel (A) (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Wel- Vizepräsidentin Petra Pau: (C) che?) Das Wort hat der Kollege Johann Saathoff für die SPD-Fraktion. Es mussten 12,7 Milliarden Kubikmeter Grundwasser ausgeglichen werden. Bisher sind 9,1 Milliarden Euro (Beifall bei der SPD) aufgewendet worden, um diese Schäden zu beseitigen. Deswegen kann man nur sagen: Das deutsche Bergbau- Johann Saathoff (SPD): gesetz ist eines der modernsten Bergbaugesetze der Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Welt. Es ermöglicht Bergbau. Genau das wollen wir; das Kollegen! Ein Ostfriese spricht zum Bergrecht. Das hat der Kollege Westphal deutlich gesagt. Deutschland klingt ungewöhnlich, macht aber durchaus Sinn. Zwar ist ein Land des Bergbaus. Ich komme aus Sachsen; da gibt es in meiner Heimat im Umkreis von 200 Kilome- gilt das erst recht. tern keinen Berg. Aber das Bergrecht spielt, wie in ganz Noch ein Tipp für die Grünen. Weil Sie, Frau Kolle- Deutschland, auch bei uns eine große Rolle, zum Bei- gin, aus Brandenburg kommen, sage ich Ihnen: Die Lin- spiel bei der Gasproduktion, im Hinblick auf die Kaver- ken stellen dort den Wirtschaftsminister. Vielleicht spre- nen zur Speicherung von Gas und sogar beim Sand- und chen Sie, bevor Sie hier im Bundestag große Reden Kleiabbau, den wir dringend brauchen. halten, erst einmal mit ihm darüber, wie er das sieht. Der vorliegende Antrag wirft in Bezug auf das Urteil (Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Genau!) des Bundesverfassungsgerichtes zu Garzweiler II eine zentrale Frage auf. Sie lautet: Ist das deutsche Bergrecht Er wird Ihnen möglicherweise eine ganz andere Mei- noch zeitgemäß, oder bedarf es einer Veränderung? nung kundtun. Viele im Urteil zur Konkretisierung aufgeführten Rege- lungstatbestände gibt es bereits seit langer Zeit im Bun- Vizepräsidentin Petra Pau: desberggesetz und in den dazugehörigen Rechtsgrundla- Kollege Lämmel, gestatten Sie eine Frage oder Be- gen. Dazu gehören die Abwägung der öffentlichen merkung des Kollegen Meiwald? gegenüber den privaten Interessen – an dieser Stelle sei übrigens angemerkt, dass dies eine Debatte ist, die wir Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): auch bei der Reform der erneuerbaren Energien führen, Nein danke, das wird dadurch auch nicht besser. dort jedoch meistens in umgekehrter Richtung –, Rege- lungen zum Rechtsschutz der Betroffenen und Verwal- (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tungsverfahrensregelungen. Obwohl es diese Regelun- NEN]: Es wird wirklich nicht mehr besser! gen bereits gibt, ist eine Überarbeitung des Bergrechtes Das erwarten wir auch nicht!) nicht nur, aber auch wegen des Urteils des Bundesver- (B) (D) – Richtig. fassungsgerichts sinnvoll. Ich komme zum Schluss. Den Grünen empfehle ich, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – einen Blick in den Koalitionsvertrag der Großen Koali- Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tion zu werfen. Ich nenne Ihnen sogar die Seitenzahl, die NEN]: Sehr gut! Die Kollegen haben eben et- ich meine, damit Sie das schneller finden. Auf Seite 44 was anderes erzählt!) wird zum Bergrecht Stellung genommen. Da steht ganz – Herzlichen Dank. – Allerdings geht Gründlichkeit vor klar: Schnelligkeit. Klatschen Sie nicht zu früh, sondern erst am Ende. Die Koalition wird kurzfristig Änderungen für ei- nen besseren Schutz des Trinkwassers im Wasser- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten haushaltsgesetz sowie eine Verordnung über die der CDU/CSU) Umweltverträglichkeitsprüfung … bergbaulicher Vorhaben vorlegen … Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen be- nennt als Konsequenz aus dem Garzweiler-Urteil 20 so- (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE genannte wesentliche Aspekte für notwendige Gesetzes- GRÜNEN]: Ich denke, es bedarf keiner Ände- änderungen. Da der Antrag noch druckfrisch ist und rungen!) noch in den Ausschüssen beraten werden wird, beziehe ich mich nur auf die Punkte, die heute über ein geringes Meine Damen und Herren, Ihre Aufforderungen brau- Konfliktpotenzial verfügen. chen wir nicht. Wir wollen, dass weiterhin Bergbau be- trieben wird. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Immerhin!) (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir auch!) Dazu gehört zum Beispiel die stärkere Einbindung der Politik bei den im Wesentlichen bergrechtlichen Ent- Wir werden die Gesetze so fortentwickeln, dass Bergbau scheidungen. Aus meiner Sicht kann niemand, schon gar in Deutschland in den nächsten 50 Jahren auch ohne Sie nicht ein Parlament, gegen eine stärkere Beteiligung der ermöglicht wird. Politik sein. Schließlich haben wir die Auswirkungen Vielen Dank. unserer Politik vor Ort vor den Bürgerinnen und Bürgern zu vertreten. (Beifall bei der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Du lieber (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Gott! Das ist ja eine Drohung!) DIE GRÜNEN) 1872 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Johann Saathoff (A) Dazu gehört eine stärkere Einbindung der Umwelt- und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) Klimaschutzbelange in der Gesamtabwägung der öffent- der CDU/CSU) lichen Interessen. Das entspricht dem ganzheitlichen Ansatz von Politik, die die Bürgerinnen und Bürger von Vizepräsidentin Petra Pau: uns erwarten können. Dazu gehört auch der Rechts- Ich schließe die Aussprache. schutz für die Betroffenen. In einem Rechtsstaat ist Rechtsschutz selbstverständlich. Zu einem ausreichen- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf den Rechtsschutz gehört auch die nötige Transparenz der Drucksache 18/848 an die in der Tagesordnung aufge- Verfahren. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Unsere allgemeinen energiepolitischen Ziele behalten so beschlossen. wir auf jeden Fall im Auge. Diese zielen darauf ab, dass nach einer Übergangszeit nicht nur der Ausstieg aus der Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Atomenergie vollzogen ist, sondern wir spätestens bis Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- 2050 auch mindestens zu 80 Prozent Strom aus erneuer- richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, baren Energien im Netz haben. Das hat neben dem Ziel Bau und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der deutlichen CO2-Reduktion natürlich auch Auswir- der Verordnung der Bundesregierung kungen auf die konventionellen Energieträger. Sechste Verordnung zur Änderung der Ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN packungsverordnung sowie bei Abgeordneten der SPD) Drucksachen 18/496, 18/526 Nr. 2, 18/830 Auch das Thema Fracking wird im Antrag von Bünd- nis 90/Die Grünen angesprochen. Eigentlich ist das nicht Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Thema des zitierten Urteils des Bundesverfassungsge- Bündnis 90/Die Grünen vor. richtes. Es gibt dazu auch klare Regelungen in unserer Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) – Koalitionsvereinbarung. Ich möchte an dieser Stelle das Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Beispiel Niedersachsen erwähnen. Der SPD-Wirt- schaftsminister Olaf Lies und der grüne Umweltminister Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für haben kürzlich ihr Konzept zum Fracking Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit emp- vorgelegt. fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- che 18/830, der Verordnung der Bundesregierung auf (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE Drucksache 18/496 zuzustimmen. Wer stimmt für diese (B) GRÜNEN]: Das war schwierig!) Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer (D) Abgelehnt wird Fracking in unkonventionellen Schiefer- enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den gaslagerstätten wegen der unvorhersehbaren Risiken. In Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen Ostfriesland würden wir sagen: Keen Strund in’t Grund. der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Diese niedersächsische Position haben Sie sich zu ei- Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent- gen gemacht. Fracking in konventionellen Lagerstätten schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unter 2 500 Metern Sandstein wird in Niedersachsen auf Drucksache 18/854. Wer stimmt für diese Beschluss- nicht grundsätzlich abgelehnt, weil es mit dieser Art von empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält Erdgasförderung seit mindestens 30 Jahren Erfahrung sich? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen gibt. Allerdings werden die Voraussetzungen deutlich der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Frak- verschärft. Für jede Tiefbohrung wird eine Umweltver- tion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion träglichkeitsprüfung verpflichtend. In Wasserschutz- und Die Linke abgelehnt. Trinkwassergebieten wird Fracking grundsätzlich verbo- ten. Genauso wie Sie finde ich, dass die Initiative der Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Niedersächsischen Landesregierung den richtigen Weg weist. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- (Beifall bei der SPD) schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine Die Bundesregierung befindet sich bereits in den ent- Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Frak- sprechenden Verhandlungen. Das Thema wird uns also tion DIE LINKE ohnehin im zuständigen Ausschuss noch weiter intensiv beschäftigen. Den NATO-Bündnisfall umgehend beenden Abschließend sei eines erwähnt: Erdgas ist zwar auch Drucksachen 18/202, 18/349 ein fossiler Energieträger, aber im Sinne des Klima- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für schutzes mit all seinen Folgen aus meiner Sicht immer die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- noch besser als Kohle, mindestens hinsichtlich der CO2- nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Bilanz.

Herzlichen Dank. 1) Anlage 3 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1873

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege perspektivisch in eine Operation zu überführen, die (C) Thomas Hitschler für die SPD-Fraktion. sich nicht mehr auf Artikel 5 des Nordatlantikver- trages stützt. Thomas Hitschler (SPD): Die Linke hat im Übrigen damals gegen den Antrag ge- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und stimmt, nicht sehr überraschend natürlich, aber ich darf Kollegen! Nachdem wir vor wenigen Wochen bereits betonen: leider. Sie sehen, Kolleginnen und Kollegen der über den vorliegenden Antrag diskutiert und ihn zur wei- Linken: Grundsätzlich ließe sich Ihrem Antrag bis hier- teren Beratung in die zuständigen Ausschüsse überwie- hin durchaus etwas abgewinnen. sen haben, beraten wir heute über die endgültige Be- schlussempfehlung. Ich will zu dieser späten Stunde – es (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Na, ist Primetime, liebe Kolleginnen und Kollegen – die prima!) große Überraschung vorwegnehmen: Ich werde Ihnen am Ende meines Beitrages nahelegen, der Beschluss- Sie haben es allerdings nicht bei einer Forderung be- empfehlung des Ausschusses zu folgen. lassen, sondern sind noch weiter gegangen. Unter Punkt 2 fordern Sie, dass Deutschland den Bündnisfall (Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE zur Not unilateral für beendet erklärt. Das ist eine – nen- GRÜNEN]: Überraschung!) nen wir es einmal so – kreative Idee. Die Möglichkeit – Ja, so ist es. der einseitigen Entscheidung, den Bündnisfall nach Art. 5 für beendet zu erklären, gibt es bei der NATO Lassen Sie uns aber den ursprünglichen Antrag noch nicht. Eine solche Entscheidung muss in den Gremien einmal anschauen. Die Kolleginnen und Kollegen der des NATO-Rates im Konsens mit den übrigen Mitglie- Linken stellen drei Forderungen auf. Unter Punkt 1 for- dern getroffen werden. Mehrere Partner, etwa die USA dern sie die Bundesregierung auf, sich auf der Ebene der und die Türkei, wollen das OAE-Mandat in seiner der- NATO-Mitgliedstaaten und des NATO-Rates dafür ein- zeitigen Form fortsetzen. Hier muss Überzeugungsarbeit zusetzen, den Bündnisfall zu beenden. geleistet werden, was natürlich noch etwas dauern wird. (Beifall bei der LINKEN) Durch unilaterale Erklärungen wird aber gar nichts er- reicht werden. Ein einseitiges Vorgehen Deutschlands – Warten Sie einmal! – Das ist mehr als zwölf Jahre nach liefe dem Konzept eines Verteidigungsbündnisses auch dessen Erklärung sicherlich nachvollziehbar. – Jetzt dür- grundsätzlich zuwider. Ein Bündnis, gerade eines zur fen Sie. Verteidigung, funktioniert durch Einigkeit und durch Geschlossenheit, wohlgemerkt: nie kritikfrei. Der Bünd- (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) (B) nisfall wurde gemeinsam festgestellt; folglich sollte er (D) Es ist im Übrigen schon länger sozialdemokratische auch gemeinsam für beendet erklärt werden. Alles an- Position, das deutsche Engagement in NATO-Missionen dere würde das Bündnis schwächen und das Vertrauen auf eine andere Grundlage als den Bündnisfall zu stellen. unter den Mitgliedern unterminieren. Die Tatsache, dass Dies hat die Bundesregierung anerkannt; auch sie hat Sie im Begründungsteil des Antrages bestreiten, dass der festgestellt, dass der Bündnisfall nicht mehr die richtige Bündnisfall je vorgelegen habe, ändert daran übrigens Grundlage für laufende Operationen darstellt. Deswegen nichts. hat sie im vergangenen Jahr zum Beispiel konkrete Än- derungsvorschläge zum Operationsplan der Operation Mit der dritten Forderung in Ihrem Antrag führen Sie Active Endeavour eingebracht. Im April wird dies in die diesen Gedanken sogar noch weiter. Danach soll die Beratungen zur Einsatzüberprüfung eingehen. Die Be- Bundesregierung sämtliches Engagement in Missionen, schlussfassung wird voraussichtlich im Herbst stattfin- die auf Grundlage des Bündnisfalls begonnen wurden, den. Die deutschen Vorschläge an die NATO spiegeln im umgehend einstellen. Übrigen auch die Beschlusslage hier im Haus wider, ge- Werte Kolleginnen und Kollegen, wir reden hier über tragen von einer großen Mehrheit, liebe Kolleginnen und Operationspläne, die mit monatelangem Vorlauf ausge- Kollegen. arbeitet wurden. Operationen dieser Größenordnung set- Erst vor wenigen Wochen haben wir hier im Plenum zen Verlässlichkeit der Bündnispartner voraus. Der und in den entsprechenden Ausschüssen über eine Ände- Antrag, über dessen Beschlussempfehlung wir heute ab- rung der Operationsgrundlage für OAE diskutiert. Teil stimmen, drückt das Gegenteil davon aus: Er impliziert der im Antrag beschlossenen Neuausrichtung war, dass einen Mangel an Wertschätzung gegenüber den Bünd- sich die deutsche Beteiligung auf die Ständigen Mariti- nispartnern und dem Bündnis. Diese Haltung Ihrer Seite men Verbände der NATO im Mittelmeer, auf Aufklä- überrascht aber wenig. rungs- und Frühwarnflüge sowie den Austausch von La- gedaten beschränken wird. Im damaligen Antrag wurde Kolleginnen und Kollegen der Linken, Ihre grund- weiter angeführt – ich zitiere –: sätzlich ablehnende Haltung zur NATO ist lange bekannt und oft Thema in diesem Hause gewesen. Ich hoffe sehr, Deutschland setzt sich im Bündnis kontinuierlich dass irgendwann die Zeit kommt, in der Pazifismus, wie dafür ein, die Einsatzgrundlagen von OAE auch Sie ihn vertreten, realistisch sein wird. Diesen Zeitpunkt konzeptionell an die tatsächlichen Einsatzrealitäten haben wir gegenwärtig aber noch nicht erreicht. Die ak- anzupassen. Auf deutsche Initiative hat der Nordat- tuellen Ereignisse zeigen, dass sich Bündnisse, wie die lantikrat im April 2013 die Option eröffnet, OAE NATO eines ist, eben noch nicht überlebt haben. 1874 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Thomas Hitschler (A) Ein unilaterales Vorgehen, wie es in dem ursprüngli- Bündnis unterstellen, so stimmt das. Ich habe einen (C) chen Antrag gefordert wird, ist definitiv kein Weg, den Mangel an Wertschätzung für dieses Bündnis. Ich hatte wir einschlagen können oder sollten. Wir müssen unsere die Hoffnung, dass sich nach der Auflösung des War- Allianzen wertschätzen und Partnerschaften pflegen; schauer Vertrages irgendwann einmal auch die NATO denn die Zeiten sind offensichtlich noch nicht so weit, auflöst. wie wir das lange erhofft haben. (Beifall bei der LINKEN) Nach einer Phase, in der ideologisch motivierte nicht- Das wäre eine Friedensdividende, die wir hätten einbrin- staatliche Akteure bestehende Sicherheitsstrukturen he- gen können. Dort hätte eine deutsche Regierung Initiati- rausgefordert haben, deutet sich derzeit eine Rückkehr ven ergreifen müssen. zu – nennen wir es einmal so – klassischeren Szenarien an. Staaten und Bündnisse werden anscheinend sicher- Das, was wir jetzt beantragen, ist relativ simpel – Sie heitspolitisch wieder eine zentrale Rolle einnehmen. Aus haben die drei Punkte schon sehr richtig genannt –: diesem Grund werden wir auf absehbare Zeit weiter in Erster Punkt. Wir möchten, dass der NATO-Bündnis- der NATO engagiert bleiben. Dazu gehört es, Strukturen fall beendet wird. Das war ein Ausnahmerecht. Der und Partner zu respektieren. Unsere Verbündeten müs- Bündnisfall ist ein einziges Mal in der Geschichte der sen sich darauf verlassen können, dass Deutschland ge- NATO ausgerufen worden – vor 13 Jahren. Ein Ausnah- gebene Zusagen einhält und übernommene Aufgaben er- merecht ist zum Dauerrecht gemacht worden. Das füllt. spricht schon dafür, darüber nachzudenken, diesen Mit dem Beitritt zu einem Bündnis bekennt man sich NATO-Bündnisfall jetzt endlich zu beenden. zu den Werten dieses Bündnisses. Die NATO ist aus dem (Beifall bei der LINKEN) Bedürfnis demokratischer Staaten entstanden, sich ge- genseitig zu schützen und zu unterstützen. Dass auch die Bundesregierung darüber nachdenkt – ich kenne ja die Papiere – finde ich völlig in Ordnung. Ich (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Wo haben bitte Sie: Denken Sie intensiver darüber nach und han- Sie das gelernt?) deln Sie vor allen Dingen in dieser Richtung. Uns wäre Aktuelle Entwicklungen lassen es so aussehen, dass sie es am liebsten, wenn der NATO-Bündnisfall im NATO- dieses Bedürfnis auch künftig erfüllen muss. Rat auf Initiative der Bundesregierung beendet würde. Die Mitgliedschaft in der NATO war für die Bundes- Falls nicht – das ist unser zweiter Punkt; er ist um- republik auch eine Möglichkeit, einer Demokratie ange- stritten, und ich komme gleich noch darauf –, sollte die messene militärische Strukturen zu etablieren, die mit Bundesrepublik Deutschland ihn einseitig als beendet er- (B) Verbänden anderer Nationen zusammenarbeiten können. klären. (D) Ich kann Ihnen aus aktuellen Beobachtungen – ich war Dritter Punkt. Wir wollen, dass nicht weiterhin Ein- vor kurzem in Afghanistan – berichten, dass diese Struk- sätze damit begründet werden. Der NATO-Bündnisfall turen auch multinational hervorragend funktionieren und war die Grundlage für den Krieg gegen den Terror. Oder so auch eine Art Friedensgarantie für alle darstellen. umgekehrt: Der Krieg gegen den Terror korrespondiert (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Lachen mit dem NATO-Bündnisfall. Der Krieg gegen den Terror bei Abgeordneten der LINKEN) ist unendlich gescheitert! Aus diesen Gründen werden wir die NATO-Mitglied- (Beifall bei der LINKEN) schaft auch weiterhin achten, und aus diesen Gründen Wir haben Ihnen immer wieder vorgetragen – da werden wir auch weiterhin vermeidbare Alleingänge un- werde ich auch nicht müde –, dass man den Terror be- terlassen. kämpfen kann, indem man seine Ursachen bekämpft. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie, wie Der Krieg gegen den Terror hat nur immer wieder Ter- bereits angekündigt, bitten, der Beschlussempfehlung ror, Gewalt, Tod und Vernichtung ausgelöst; das ist doch des federführenden Ausschusses zu folgen. die Tatsache. Wenn man das nicht will, dann muss man von dieser Grundlage weg. Wir werden sehen, dass der Herzlichen Dank. Militäreinsatz in Afghanistan, den Sie so loben und den (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ich so sehr kritisiere, dass dieser Krieg gegen den Terror durch Verhandlungen beendet werden muss. Verhandeln muss man mit seinen Feinden. Mit seinen Freunden Vizepräsidentin Petra Pau: braucht man es meistens nicht zu tun, manchmal muss Nun hat der Kollege Wolfgang Gehrcke für die Frak- man aber auch das. tion Die Linke das Wort. Es bleibt der zweite Punkt – der ist umstritten, das (Beifall bei der LINKEN) gebe ich Ihnen zu –: Wir sagen: Es muss das Recht eines jeden Staates geben, für sich selbst festzustellen: Dieser Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Punkt ist für uns erledigt. Die NATO hat den Bündnisfall Danke sehr. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen im Konsens beschlossen; anders kann sie das gar nicht und Kollegen! Ich verhehle überhaupt nicht, dass Sie in beschließen. Die NATO beruht auf Konsensentscheidun- einem Punkt völlig recht haben, Herr Hitschler. Wenn gen. Wenn jetzt also ein Staat in den Verhandlungen, ob Sie mir einen Mangel an Wertschätzung für das NATO- der Bündnisfall fortgeführt wird, feststellt, dieser Kon- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1875

Wolfgang Gehrcke (A) sens sei nicht mehr gegeben, wäre es eine rechtliche (Beifall bei der CDU/CSU – Wolfgang (C) Position, zu sagen: Auf dieser Grundlage muss auch der Gehrcke [DIE LINKE]: Das glauben Sie nicht Bündnisfall beendet werden. Wir wollen von der deut- im Ernst!) schen Politik, dass festgestellt wird: Der Konsens zur Fortführung des Bündnisfalles ist nicht mehr gegeben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sprechen heute über den Antrag, den NATO-Bündnisfall zu beenden. (Beifall bei der LINKEN) Ich möchte das kurz abhandeln und dann über die NATO selbst sprechen. Wir sind uns, glaube ich, einig – der Ich will immer mit dem Kopf durch die Wand; das ist Kollege Hitschler hat es angesprochen –, dass zu einer schon okay. Manchmal muss man auch einen Umweg solchen Änderung nicht nur die Bundesrepublik suchen. Deutschland gehört, sondern alle 28 Mitglieder der NATO. (Roderich Kiesewetter [CDU/CSU]: Durch die Wir wissen sehr genau, dass es mindestens zwei Bünd- Tür!) nismitglieder gibt, die darauf bestehen, dass der Bünd- nisfall fortbesteht. Die Bundesregierung ist seit zwei – Ja, wenn eine da ist. Jahren dabei, hier Überzeugungsarbeit zu leisten. Wir werden sicherlich eine Änderung des Mandats bekom- (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ men, vorausgesetzt, wir erleben Entwicklungen, die uns DIE GRÜNEN]: Es gibt doch eine!) beruhigen, dass sich die NATO auch weiterhin vorrangig – Okay, darüber können wir uns gleich einigen. um die kollektive und kooperative Sicherheit kümmern kann. Ich möchte Ihnen jetzt einen Vorschlag machen. Wie wäre es, wenn die deutsche Bundesregierung für die Die NATO hat sich seit dem Lissabonner Abkommen, nächste NATO-Vollversammlung einen Antrag auf eine dem neuen NATO-Vertrag von 2010, drei Aufgaben ge- Debatte darüber einbringen würde, den NATO-Bündnis- widmet: erstens der kollektiven Verteidigung, zweitens fall dort zu beenden? Auch die Parlamentarische Ver- der gemeinsamen Krisenbewältigung und drittens der sammlung der NATO kann sich mit diesem Thema kooperativen Sicherheit. Gerade die Operation Active befassen, aber sie kann es nicht beschließen. Aber Sie Endeavour bietet die Chance zu einer Plattform für ko- können vorangehen, auch wenn Sie unseren Vorschlag operative Sicherheit, weil viele Staaten des nördlichen für schlecht halten. Beantragen Sie für die nächste Afrikas daran mitwirken. Aber wir erleben in diesen Ta- NATO-Vollversammlung, die Beendigung des Bündnis- gen auch, dass ein Land wie Polen erstmals in der Ge- falles zu debattieren! Das möchte ich gerne sehen. schichte der NATO Art. 4 des Nordatlantikvertrags auf- ruft, nämlich Konsultationen innerhalb des Bündnisses. (B) Lassen Sie mich zum Schluss sagen – ich werde viel- Das muss uns mit Sorge erfüllen, (D) leicht auch schon gemahnt –: Mit diesem NATO-Gene- ralsekretär werden Sie keinen Blumentopf gewinnen. (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ja!) Wer jetzt in Europa in dieser Situation fordert, dass die Militärausgaben steigen sollen, wer eine solch aggres- weil wir hier die Sicherheitsempfindungen unserer östli- sive Politik betreibt, der schadet der NATO mehr, als ich chen Nachbarn hautnah erleben. Was wir gerade mitbe- es je gekonnt hätte. kommen, ist, dass Russland alles umstößt, was in den letzten 15 Jahren aufgebaut wurde. Wir sehen Angstver- Danke sehr. breitung, Beunruhigung und auch Vertrauensverlust, und das bei Volksabstimmungen, die ohne Hoheitsabzeichen (Beifall bei der LINKEN) quasi von einer Miliztruppe überwacht durchgeführt werden und unter Verfassungsbruch und vor allen Din- Vizepräsidentin Petra Pau: gen unter Bruch des Völkerrechts stattfinden. Der Kollege Roderich Kiesewetter hat nun für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. Wir befinden uns derzeit in einer sehr großen, umfas- senden strategischen Debatte darüber, wie es nach ISAF (Beifall bei der CDU/CSU) und angesichts von Cyber-Bedrohungen weitergeht. Wenn wir in solch einer strategischen Debatte innerhalb Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): der NATO solche Angebote russischerseits erleben müs- sen, werden wir zunehmend wieder unsere Fähigkeiten Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! mit Blick auf Art. 5 des Nordatlantikvertrags betrachten Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege müssen, damit wir in der Lage sind, Schutz zu bieten Gehrcke, Sie haben, wie so oft, eine Chance vertan. und Vertrauen auszustrahlen. Nicht dass Sie die Tür nicht gefunden haben und durch die Wand wollten, sondern Sie haben die Chance vertan, Mitgliedschaft in der NATO ist etwas Freiwilliges. hier eindeutig klarzustellen, dass die Aggression nicht Die Staaten, die nach dem Kalten Krieg die Mitglied- von der NATO ausgeht, sondern von Russland. Sie ha- schaft gesucht haben, sind freiwillig zu uns gekommen ben die Chance vertan, hier eindeutig klarzustellen, wie und fühlen sich in diesen Tagen bestärkt, dass sie hier ei- die Position der Linkspartei ist. Offensichtlich stehen Sie nen sehr klugen Schritt für die Zukunft ihrer Gesell- für Aggression und für militärische Auslandseinsätze schaft gemacht haben. des postsowjetischen Russlands. Das ist enttäuschend, aber war auch nicht anders zu erwarten. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) 1876 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Roderich Kiesewetter (A) Deshalb ist es unerträglich, dass Sie bei der Behand- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (C) lung dieses Antrags nicht einmal auch nur in Ansätzen über die Leistungen der NATO für die Befriedung Euro- Aber wenn wir darüber sprechen, auf welche Art und pas sprechen. Weise wir diese Beendigung erreichen sollen, dann will ich es so formulieren: Man muss die Spielregeln ändern, (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ich will sie statt sie zu verletzen, liebe Kolleginnen und Kollegen. abschaffen!) Aus Sicht meiner Fraktion stellt es eine Verletzung Sie sprechen es nicht an. Sie sprechen auch nicht an, der Spielregeln dar, wenn Deutschland jetzt unilateral welche Verletzungen von russischer Seite begangen wor- den Bündnisfall für beendet erklären würde. den sind. Im Gegenteil, Sie verlangen, dass die NATO aufgelöst wird, dass diejenigen, die sich sicher fühlen, (Roderich Kiesewetter [CDU/CSU]: Sehr rich- nicht mehr den Schutzrahmen haben, den wir brauchen. tig!) Ich glaube, wir, die große demokratische Seite dieses Deshalb fordern wir – bevor die Union in die Verlegen- Parlaments – ich appelliere dabei auch sehr stark an die heit kommt, Beifall klatschen zu müssen – die Bundes- Oppositionsfraktion Bündnis 90/Die Grünen –, sollten regierung mit Nachdruck auf, sich für die Beendigung uns bewusst sein, dass die Gräben zu solch einer Ge- des Bündnisfalls einzusetzen. schichtsauffassung viel zu tief sind, als dass wir es auch (Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE nur einmal zulassen dürfen, dass die Linke Verantwor- LINKE]) tung für die Bundesrepublik Deutschland übernimmt. Ich will einen Schritt weitergehen. Wir müssen in die- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Tobias sem Parlament initiativ werden und darüber diskutieren, Lindner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wie wir Art. 5 des Nordatlantikvertrags weiterentwi- können als Politikberater bei uns anfangen!) ckeln können. Wir brauchen eine Antwort, wie wir, Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir weisen wenn dieser Konsens nicht mehr gegeben ist, einen Me- den Antrag zurück. Wir empfehlen, der Beschlussemp- chanismus entwickeln können, der eine regelmäßige fehlung des Auswärtigen Ausschusses zu folgen. Ich Überprüfung des Bündnisfalls durch die Vertragspartner bitte uns alle, die Entwicklungen in der NATO mit ge- ermöglicht und zu einer Beendigung führt, wenn eine schärfter Aufmerksamkeit zu begleiten, damit wir wei- überwiegende Zahl der Staaten der Auffassung ist, dass terhin ein starkes Bündnis für Sicherheit und Frieden in der Bündnisfall nicht mehr gegeben ist. Europa bleiben. Liebe Kollegen von der Linken, wir werden uns bei (B) Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. der Abstimmung über Ihren Antrag enthalten. Sie stellen (D) eine Forderung auf, die wir schon in der letzten Legisla- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- turperiode in Anträgen mehrfach erhoben haben, näm- neten der SPD) lich diesen Bündnisfall endlich zu beenden. Aber leider schießen Sie aus unserer Sicht – wie so oft in der Vertei- Vizepräsidentin Petra Pau: digungspolitik – über das Thema hinaus, indem Sie ei- Der Kollege Dr. Tobias Lindner hat nun für die Frak- nen unilateralen Ausstieg aus dem Bündnisfall fordern. tion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Wir glauben nicht, dass dies möglich ist. Ich glaube auch nicht, dass wir – es ist von der SPD-Fraktion durchaus erwähnt worden – unsere Position, wenn es darum geht, Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Spielregeln zu ändern und Mechanismen zu überarbei- ten, dadurch stärken, dass wir unilateral an dieser Stelle Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und aussteigen. Herren! Eine Debatte um das Thema, wie man mit dem NATO-Bündnisfall, der vor 13 Jahren – Kollege Hitschler Der NATO-Bündnisfall, die kollektive Verteidigung, und ich waren damals in einem Alter, in dem wir gerade ist ein hohes Gut. Gerade deshalb muss man damit sorg- ans Abitur dachten – ausgerufen wurde, umgeht, ist im- sam umgehen. Man darf ihn nicht länger festgestellt las- mer ein Drahtseilakt, auf der einen Seite nicht zu staats- sen, als Gründe dafür vorhanden sind. Deshalb sollten tragend zu sein und auf der anderen Seite nicht zu sehr wir uns alle gemeinsam – die Bundesregierung vorweg – über das Ziel hinauszuschießen. bei der NATO spätestens auf dem Herbstgipfel endlich für eine Beendigung des Bündnisfalls nach 13 Jahren Ich will eines vorwegschicken: Vor 13 Jahren hatten einsetzen. wir es mit einer kollektiven Abwehr einer konkreten Be- drohung der Vereinigten Staaten von Amerika zu tun. Ich danke Ihnen. Ich hoffe, dass wir uns alle darin einig sind, dass diese konkrete Bedrohung heute nicht mehr besteht. Ich habe (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) in dieser Debatte auch mit Freude vernommen, dass ei- nige in der Koalition sagen, dies halte auch nicht mehr Vizepräsidentin Petra Pau: als Begründung für Auslandseinsätze bzw. Missionen Für die CDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin Julia her. Deswegen sind wir uns mit der Linken durchaus ei- Bartz das Wort. nig darin, dass man den NATO-Bündnisfall beenden sollte. (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1877

(A) Julia Bartz (CDU/CSU): Somit steht OAE auch in vollem Einklang mit den (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen Verteidigungspolitischen Richtlinien. In diesen heißt es und Kollegen! Nur im Bündnis der NATO und mit dem auch, dass Deutschland als einer der wichtigsten europäischen Gedanken konnte unser Land zu dem Bündnispartner der NATO Verantwortung trägt. Dieser wachsen, was es heute ist. Wiedervereinigung und wirt- werden wir mit unserer Beteiligung an Missionen der schaftlicher Wohlstand konnten nur im Rahmen kollekti- NATO, der Vereinten Nationen und der EU gerecht. Ein ver Bündnissysteme wie NATO und EU erfolgen. Doch eigenmächtiges Ausscheren aus OAE hätte einen fatalen Teil eines Bündnisses zu sein, heißt auch, in diesem Ver- Ansehensverlust in der internationalen Gemeinschaft zur antwortung zu übernehmen. Im äußersten Fall bedeutet Folge. Nationale Einzelgänge führen ins politische und das, Bündnispartner militärisch zu unterstützen, wie es diplomatische Abseits. Art. 5 des Nordatlantikvertrags vorsieht. Die Teilnahme an NATO-Missionen und UN-Missio- Am 12. September und 4. Oktober 2001 wurde dieser nen hingegen ist ein wichtiger Beitrag zur international Fall nach den Anschlägen auf das World Trade Center vernetzten Sicherheit. Hier hat sich OAE – der Kollege und das Pentagon ausgerufen. Nach den verbrecheri- Kiesewetter hat es bereits angesprochen – zu einer wich- schen Angriffen gegen unseren Bündnispartner stellten tigen Kommunikationsplattform über die NATO- sich die NATO-Mitglieder geschlossen an die Seite der Grenzen hinaus entwickelt. Auch Staaten der Partner- USA, um dem transkontinentalen Terrorismus entgegen- schaft für den Frieden haben sich an dieser Mission zutreten. Die Anschläge von London, Madrid und nicht beteiligt. zuletzt das versuchte Bombenattentat in Bonn haben uns Wie gesagt: Wir befürworten eine Neukonzeption der gezeigt, dass die Gefahr des religiös motivierten Terro- Operation Active Endeavour. Wir lehnen jedoch eine rismus auch Europa bedroht. Nur in einer solidarischen Beendigung des deutschen Engagements in dieser Gemeinschaft können wir dieser Herausforderung wir- Mission entschieden ab. Deutschland ist und bleibt ein kungsvoll begegnen. verlässlicher Bündnispartner. (Beifall bei der CDU/CSU) Danke. Dabei wurden nicht nur reine Kampfeinsätze wie ISAF, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – sondern auch Überwachungs- und Beobachtungsmissio- Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Werdet nen zur Terrorismusprävention und -abwehr etabliert. glücklich damit!) Die Teilnahme an der Operation Active Endeavour ist der aktuelle Beitrag Deutschlands zum kollektiven Vizepräsidentin Petra Pau: (B) Bündnisfall. Eine Fortführung von OAE als Überwa- Ich schließe die Aussprache. (D) chungsmission zur Sicherstellung eines detaillierten Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti- Lagebildes ist nach wie vor notwendig. Die politischen gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke Entwicklungen im Nahen Osten und in Nordafrika ma- mit dem Titel „Den NATO-Bündnisfall umgehend been- chen die Präsenz der Bündniskräfte im Mittelmeerraum den“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp- erforderlich. fehlung auf Drucksache 18/349, den Antrag der Fraktion Wie wir hier schon mehrfach erwähnt haben, streben Die Linke auf Drucksache 18/202 abzulehnen. Wer wir eine Weiterentwicklung von OAE hin zu einer nicht- stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt Artikel-5-gestützten Mission an. Eine entsprechende dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh- Initiative ist bereits im April vergangenen Jahres von der lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen Bundesregierung in den NATO-Rat eingebracht worden. die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Auch unsere aktuelle Bundesregierung verfolgt dieses Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ziel mit Nachdruck. Um diese Umwidmung zu vollzie- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf: hen, braucht es aber die Zustimmung aller 28 Mitglied- staaten. Ein multilateraler Konsens in einer solchen a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Luise Dimension braucht Zeit. Amtsberg, Tom Koenigs, Omid Nouripour, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Das ändert jedoch nichts an dem Sinn und Zweck die- NIS 90/DIE GRÜNEN ser Mission. Das Mittelmeer ist eine der strategisch wichtigsten Schifffahrtsrouten der Welt. Verantwortung übernehmen – Zügig mehr syrische Flüchtlinge aufnehmen (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Es ist der größte Friedhof der Welt!) Drucksache 18/846 Überweisungsvorschlag: 25 Prozent aller Rohöllieferungen und ein Drittel aller Innenausschuss (f) Seehandelsgüter werden zwischen der Straße von Gib- Auswärtiger Ausschuss raltar und dem Suezkanal verschifft. Der Schutz dieser Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union wirtschaftlichen Lebensader ist von vitalem Interesse für Europa, für die NATO und somit für Deutschland. Un- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla sere Präsenz im Mittelmeer hat eine vorbeugende Jelpke, Jan Korte, Jan van Aken, weiterer Abge- Schutzfunktion. ordneter und der Fraktion DIE LINKE 1878 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Für eine schnelle und unbürokratische Auf- zu Deutschland. In Anbetracht dieser Situation sieht (C) nahme syrischer Flüchtlinge in Deutschland meine Fraktion nach wie vor dringenden Handlungsbe- und in der EU darf. Drucksache 18/840 (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Da es in der Debatte immer wieder angeführt wird, Auswärtiger Ausschuss möchte ich mich darauf einmal beziehen: Als überzeugte Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Europäerin bin ich natürlich immer daran interessiert, Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union dass es eine gemeinsame faire europäische Lösung für Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die europäischen Herausforderungen gibt. Mir ist auch die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre bewusst, dass sich Deutschland in dieser Frage sehr keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. engagiert. Trotzdem bedeuten Europa und europäische Solidarität für mich nicht, dass wir uns hinter der fehlen- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- den Bereitschaft anderer Mitgliedstaaten verstecken dür- gin Luise Amtsberg für die Fraktion Bündnis 90/Die fen, im Gegenteil. Grünen. (Armin Schuster [Weil am Rhein] [CDU/ CSU]: Das tun wir auch gar nicht!) Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- Lassen Sie uns gemeinsam vormachen, was Humani- gen! Mit 9 Millionen Vertriebenen hat der Bürgerkrieg tät und großherzige Hilfe, die der humanitären Notlage in Syrien längst das größte Flüchtlingsdrama weltweit in Syrien spürbar etwas entgegensetzen, bedeuten und ausgelöst. Seit dem Ausbruch des Konflikts vor drei wie sie aussehen können. Unser Antrag fordert daher, Jahren flohen nach UN-Angaben mehr als 2,5 Millionen ein neues Kontingent aufzulegen, das sich an den derzeit Syrer ins Ausland; weitere 6,5 Millionen sind zu Vertrie- gestellten Anträgen in den Ländern orientiert. benen in ihrem eigenen Land geworden. Mindestens die Hälfte der vom Krieg vertriebenen Menschen sind Aber lassen Sie uns auch konkret in unserer nationa- Kinder. len Gesetzgebung unsere Spielräume nutzen. Es ist und bleibt ein Unding, dass Asylbewerberinnen und Asylbe- Angesichts der unübersichtlichen Konfliktlage und werber aus Syrien, die Verwandte in Deutschland haben, der nur geringen Aussichten auf eine politische Lösung immer noch im Rahmen der Dublin-Verordnung in an- ist damit zu rechnen, dass die Not weiter zunehmen wird dere EU-Staaten zurückgeführt und für diesen Zweck und noch viel mehr Menschen flüchten müssen. (B) auch in Abschiebehaft genommen werden können. (D) Was ist die derzeitige Lage? Die Türkei hat mehr als Lassen Sie uns in den Dialog mit den Bundesländern 625 000 Syrer aufgenommen. Die weitaus meisten gehen und dafür sorgen, dass die Abschiebestopps nach Flüchtlinge des syrischen Bürgerkriegs – nahezu 1 Mil- Syrien verlängert werden und die hohen Hürden bei den lion Menschen – leben im Nachbarland Libanon. Der Aufnahmeprogrammen in den Ländern, vor allen Din- Rest verteilt sich auf die Länder Irak, Jordanien und gen was die Verpflichtungserklärungen angeht, reduziert Ägypten. werden. Europa hat bisher 4 Prozent der geflüchteten Syrer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aufgenommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir und bei der LINKEN) finden: Europa kann mehr, Europa muss mehr, und Deutschland ist für diesen Diskurs die entscheidende Lassen Sie uns weiter dafür kämpfen – auch das ist Triebfeder. Bestandteil unseres Antrages –, dass die Kommission aufhört, die von der Bundesregierung mit Nachdruck (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verlangte Pledging-Konferenz zu blockieren; denn das und bei der LINKEN) ist wirklich ein Skandal. Seit Sommer 2013 haben alle Bundesländer – alle au- ßer Bayern – eigene Aufnahmeprogramme für syrische Liebe Kolleginnen und Kollegen, das gestrige Be- Flüchtlinge auf den Weg gebracht. Nach dem ersten richterstattergespräch im Innenausschuss hat mir noch Kontingent des Bundes ist der Deutsche Bundestag im einmal verdeutlicht, dass es fraktionsübergreifend ein tiefes Bewusstsein für die humanitäre Notlage in Syrien letzten Jahr einen wichtigen humanitären Schritt gegan- gibt. Auch das Bundesinnenministerium ist bemüht, die gen und hat fraktionsübergreifend ein zweites Auf- Verfahren zur Aufnahme zu verbessern und die bürokra- nahmekontingent für weitere 5 000 syrische Flüchtlinge beschlossen. tischen Hürden abzubauen. Das ist gut. Ich begrüße das ausdrücklich und hoffe, dass wir auf dieser Grundlage Trotz des engagierten Einsatzes von Bund, Ländern und vor allen Dingen mit diesem Bewusstsein zu einer und Kommunen reicht der deutsche Beitrag für die gemeinsamen Lösung kommen werden. Ich denke, wir Unterstützung von Schutzsuchenden aus Syrien leider werden nicht darum herumkommen, über eine Auswei- nicht aus. Denn für die zusätzlichen 5 000 Aufnahme- tung des Kontingentes nachzudenken. Wie sie aussehen plätze liegen mindestens zehnmal so viele Anmeldungen wird, das möchten wir gerne diskutieren. Dafür ist unser in den Ländern vor. Das sind zwischen 50 000 und Antrag eine Grundlage. Ich hoffe, da auch bei Ihnen auf 60 000 Menschen, überwiegend mit familiärem Bezug offene Ohren zu stoßen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1879

Luise Amtsberg (A) Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. zumindest subsidiären Schutz. Das alles wird schon jetzt (C) getan. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Natürlich ist es leicht, immer mehr zu fordern, wie es die Opposition jetzt tut, ohne zu berücksichtigen, dass Vizepräsidentin Petra Pau: die Aufnahmekapazitäten für Asylbewerber in unseren Das Wort hat die Kollegin Nina Warken für die CDU/ Ländern und Kommunen mittlerweile an ihre Grenzen CSU-Fraktion. stoßen. Zweifelsohne haben Bund und Länder bereits in der Vergangenheit entschieden gezeigt, dass sie den (Beifall bei der CDU/CSU) Flüchtlingen aus Syrien helfen wollen. Die Aufnahme- aktion über die beiden Bundesprogramme sowie die Nina Warken (CDU/CSU): Programme der Länder sind in vollem Gange, und die Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- zuständigen Behörden tun alles, um die besonders legen! Meine Damen und Herren! Die Lage in Syrien ist Schutzbedürftigen so schnell wie möglich ins Land zu nach wie vor dramatisch; das ist uns allen bewusst. Laut holen. jüngsten Berichten des UNHCR sind inzwischen über Ein positives Signal ist es, dass Bund und Länder er- 9 Millionen Syrer auf der Flucht. Das sind mehr als örtern wollen, unter welchen Bedingungen weitere Men- 40 Prozent der Bevölkerung des gesamten Landes. Etwa schen aus Syrien aufgenommen werden können, sobald 2,5 Millionen Menschen sind mittlerweile in die Nach- die bestehenden Kontingente ausgeschöpft sind. Den- barstaaten geflohen. Das sind vor allem der Libanon, noch wäre es illusorisch, sich bei den Aufnahmekontin- Jordanien und die Türkei. genten nur an den Interessenbekundungen zu orientie- Deutschland tut viel, um diesen Menschen zu helfen. ren. Wir werden niemals allen Anforderungen gerecht Da die syrischen Nachbarstaaten die Massenflucht allein werden können, da in Syrien nahezu das halbe Land auf nicht bewältigen können, setzt unsere Hilfe genau dort der Flucht ist. Deshalb ist es richtig, dass der Schwer- an, wo sie gebraucht wird. Deutschland unterstützt die punkt unserer Hilfe vor Ort liegt; denn in der Region er- betroffenen Länder seit 2012 mit rund 483 Millionen reicht man mit den eingesetzten Mitteln viel mehr Men- Euro für humanitäre Hilfe, Infrastruktur und Krisen- schen, als es durch Flüchtlingsaufnahme möglich ist. bewältigung. Das THW ist beispielsweise mit zahlrei- (Beifall bei der CDU/CSU – Zustimmung des Abg. chen Helfern vor Ort und leistet Hilfe in Flüchtlings- Uli Grötsch [SPD]) lagern, vor allem durch die Bereitstellung von sauberem Trinkwasser. Ohne das würden viele Menschen krank Auch die weitere Forderung der Opposition nach (B) werden und sterben. mehr Personal ist wenig hilfreich. Das Personal wurde (D) sowohl hier in Deutschland als auch in der Krisenregion Deutschland ist sich seiner humanitären Verantwor- bereits aufgestockt. Hier muss man verstehen, dass Per- tung bewusst. Die Bundesregierung hat schon im Mai sonal mit entsprechender Qualifikation sowie sichere 2013 ein Bundesprogramm zur Aufnahme von 5 000 be- Räumlichkeiten vor Ort, die für die Abwicklung der sonders schutzbedürftigen Flüchtlingen aus Syrien ge- Ausreise der Flüchtlinge notwendig sind, begrenzt sind. startet. Diese Menschen kommen entweder selbst nach Davon abgesehen sind die Schwierigkeiten, die durch Deutschland oder werden mit Charterflügen eingeflo- die Sicherheitslage in den Nachbarstaaten oder bei der gen. Gleichzeitig haben auch die Länder eigene Aufnah- Erteilung von Ausreisegenehmigungen durch die lokalen meprogramme ins Leben gerufen. In diesem Rahmen Sicherheitsbehörden bestehen, auch durch mehr Perso- wurden bereits 2 300 Visa erteilt. nal nicht lösbar. Um es noch mehr Menschen aus Syrien zu ermögli- Statt einfach nur mehr zu fordern, muss an dieser chen, Schutz zu suchen, wurde im vergangenen Dezem- Stelle auch einmal gesagt werden, wie wichtig es ist, ber ein zweites Bundesprogramm zur Aufnahme von dass wir Serbien, Mazedonien, Bosnien und Herzego- weiteren 5 000 syrischen Flüchtlingen eingerichtet. Bei wina sowie Albanien und Montenegro zu sicheren Her- dem liegt der Schwerpunkt auf der Aufnahme von Perso- kunftsländern erklären. Dann stehen wieder mehr Kapa- nen mit Verwandten in Deutschland. zitäten zur Aufnahme von Flüchtlingen, auch den Bislang sind im Rahmen der beiden Bundespro- vorrangig Schutzbedürftigen aus Syrien, zur Verfügung. gramme 4 000 Flüchtlinge aus Syrien nach Deutschland (Beifall bei der CDU/CSU) gekommen. Davon sind allein 1 755 Menschen, die nicht in der Lage sind, selbst nach Deutschland einzureisen, Auch die immer wieder vorgebrachte Kritik von Grü- mit Charterflügen gekommen. Auch in Zukunft sind je- nen und Linken am Dublin-Verfahren kann ich nur zu- den Monat zwei Flüge mit jeweils 300 Flüchtlingen ge- rückweisen. Deutschland macht nach meiner Kenntnis plant. sehr wohl von seinem Selbsteintrittsrecht Gebrauch, wenn Menschen beispielsweise medizinisch versorgt Insgesamt sind also seit 2011 mehr als 30 000 Men- werden müssen. Ebenso wird entsprechend der EU-Ver- schen aus Syrien nach Deutschland gekommen. Das ordnung darauf geachtet, dass die Kernfamilie stets zu- Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bearbeitet je- sammenbleiben kann. den Monat mehr als 1 500 Asylanträge syrischer Flücht- linge. Schon seit drei Jahren wird niemand mehr nach Es kann allerdings nicht das Ziel sein, dass Deutsch- Syrien abgeschoben, und jeder Antragsteller bekommt land alle syrischen Flüchtlinge aufnimmt, die nach Eu- 1880 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Nina Warken (A) ropa kommen. Unsere europäischen Nachbarn haben zent gegeben. Das würde für Deutschland bedeuten, dass (C) hier auch eine humanitäre Pflicht, die wir einfordern es innerhalb von zwei Jahren einen Bevölkerungszu- müssen. wachs von 15 Millionen Menschen gegeben hätte. Die Bundesregierung bzw. die Bundesrepublik kann mehr (Beifall bei der CDU/CSU – Christian Kühn tun, muss mehr tun, und es muss vor allen Dingen syri- [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: schen Flüchtlingen schneller und unbürokratischer ge- Deutschland auch!) holfen werden. Aus unserer Sicht befinden wir uns also auf einem gu- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- ten Weg, was die Aufnahme syrischer Flüchtlinge in NIS 90/DIE GRÜNEN) Deutschland angeht. Die Opposition konnte mit ihren beiden Anträgen hier nichts Neues beitragen. Syrische Asylsuchende, die über einen anderen EU- Vielen Dank. Staat nach Deutschland eingereist sind, geraten wirklich in die Mühlen der Asylbürokratie. Man muss sich ein- (Beifall bei der CDU/CSU) fach einmal vorstellen: Sie fliehen aus ihrem Land vor Krieg, sie fliehen über die Meere und gefährden ihr Le- Vizepräsidentin Petra Pau: ben, dann kommen sie nach Deutschland und werden Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion mit der Dublin-Verordnung konfrontiert. Und was pas- Die Linke. siert? Als Allererstes gehen sie in Abschiebegefäng- nisse, weil sie überstellt werden sollen. Das ist ein Ver- (Beifall bei der LINKEN) fahren, das unbedingt abgeschafft werden muss. Deswegen fordert die Linke auch, die Dublin-Verord- Ulla Jelpke (DIE LINKE): nung ganz schnell für syrische Flüchtlinge auszusetzen. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten grausame Krieg in Syrien läuft bereits seit drei Jahren, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und weit mehr als 100 000 Menschen sind ums Leben gekommen. 10 Millionen Menschen sind auf der Flucht, Es ist wirklich ein bürokratischer Irrsinn, der hier betrie- davon ungefähr 7,5 Millionen im Land selber auf der Su- ben wird. Man muss wirklich an das Bundesinnenminis- che nach Alternativen. 2,5 Millionen registrierte Flücht- terium sowie die Innenminister der Länder und der euro- linge befinden sich in Anrainerstaaten Syriens und in päischen Staaten appellieren, dass das geändert wird. Ägypten. Ich muss wirklich sagen: Es ist eine Schande, dass es bis heute nur einem Bruchteil der Flüchtlinge ge- Es ist hier schon angesprochen worden, dass viele Flüchtlinge Verwandte in Deutschland haben. Auch die- (B) lungen ist, in die Europäische Union zu kommen, um (D) Zuflucht zu finden. sen muss unbegrenzt und unbürokratisch ermöglicht werden, dass sie von den entsprechenden Ländern aufge- Meine Damen und Herren, an den Außengrenzen der nommen werden und zu ihren Familien reisen können. EU treffen Flüchtlinge auf eine immer massivere und Übrigens wäre das die schnellste und einfachste Art, den brutalere Abschottung. Die Landesgrenzen Griechen- Flüchtlingen zu ermöglichen, ein Leben in Sicherheit zu lands und Bulgariens zur Türkei wurden zum Beispiel führen. Daneben muss sich die Bundesrepublik auch mit Zäunen und Stacheldraht abgeriegelt. Soldaten grei- weiterhin an humanitären Aufnahmeprogrammen des fen Flüchtlinge in der Ägäis auf und schaffen sie zurück UNHCR beteiligen. in die Türkei. Wie viele Menschen die gefährliche Über- fahrt über die Ägäis und das Mittelmeer nicht überleben, Meine Damen und Herren, auch auf EU-Ebene muss weiß wirklich niemand. Täglich sterben an den Außen- mehr getan werden. Deutschland muss Druck machen. grenzen der EU – das ist leider bittere Wahrheit – uner- Ohne mit der Wimper zu zucken, werden Gelder in Mil- träglich viele Menschen. Das muss dringend beendet liardenhöhe bereitgestellt, um die Grenzen abzusichern. werden. Wir meinen, dass die Gelder viel sinnvoller für Flücht- linge eingesetzt wären. Das Wichtigste ist: Wir sollten (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- nicht noch mehr Öl ins Feuer gießen und endlich dafür NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- sorgen, dass Waffenlieferungen nach Syrien, und zwar ten der SPD) an alle Seiten, gestoppt werden. Trotz all dieser Abschottungsbemühungen haben es in Ich danke Ihnen. den vergangenen zwei Jahren etwa 70 000 Flüchtlinge aus Syrien geschafft, in die Europäische Union zu flie- (Beifall bei der LINKEN) hen. Gut ein Drittel wurden in der Tat in der Bundesre- publik aufgenommen. Im gleichen Zeitraum wurde ge- Vizepräsidentin Petra Pau: rade einmal 12 000 Menschen die Zusage für eine Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Christina Aufnahme in einem EU-Staat gegeben; nur diese haben Kampmann das Wort. also sichere und legale Einreisemöglichkeiten. Von ih- nen nimmt allein die Bundesrepublik 10 000 Flüchtlinge (Beifall bei der SPD) auf. Doch das bedeutet noch lange nicht, dass sich die Bundesrepublik auf ihren Verdiensten ausruhen darf. Ein Christina Kampmann (SPD): Vergleich, um sich das einfach einmal vorzustellen: Im Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Libanon hat es einen Bevölkerungszuwachs um 19 Pro- Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Un- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1881

Christina Kampmann (A) abhängig vom Ausmaß des Elends, unabhängig von der Die Anträge vom Bündnis 90/Die Grünen und von (C) Dimension des Leidens und unabhängig von der Viel- der Fraktion Die Linke entsprechen zu großen Teilen ge- zahl menschlicher Schicksale neigen Flüchtlingsdramen nau dem, was wir in den letzten Monaten bereits umset- dazu, aus dem öffentlichen Bewusstsein nahezu zu ver- zen konnten. schwinden, wenn sie nur lang genug andauern und weit genug von uns entfernt scheinen. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, dann zustimmen! Einfach zu- Vor ziemlich genau drei Jahren gingen die Menschen stimmen! – Beifall der Abg. Luise Amtsberg in Syrien auf die Straße, um friedlich für Werte zu de- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) monstrieren, deren Verteidigung auch bei uns höchste – Warten Sie einmal ab, Herr von Notz. Priorität hat: für Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demo- kratie. Doch was seit diesem März 2011 geschah, spottet (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE jeder Beschreibung: das brutale Vorgehen des Assad-Re- GRÜNEN]: Da kommt noch was?) gimes, welches seinen vorläufigen Höhepunkt im Ein- satz von Chemiewaffen gegen die eigene Bevölkerung – Es kommt noch etwas, seien Sie darauf gefasst. – Dazu fand, die Radikalisierung und Zersplitterung der Opposi- haben wir im Übrigen schon am Ende der letzten Legis- tion, die dazu geführt hat, dass es inzwischen zahlreiche latur einen fraktionsübergreifenden Antrag gemeinsam Nebenkriegsschauplätze gibt, die das ursprünglich fried- mit CDU/CSU, FDP und den Grünen verabschiedet. liche Ansinnen der Menschen in Syrien in Vergessenheit Dass es bei diesem Thema einen so großen Konsens haben geraten lassen. Es sind die Menschen, die heute gibt, ist auch gut so; denn das Schicksal der Menschen, auf der Flucht sind, weil sie in ihrer Heimat um ihr Le- die aus Syrien flüchten, sollte für uns alle Anlass sein, ben fürchten müssen, weil sie Opfer von Verfolgung und um alles Mögliche dafür zu tun, das Leiden dieser Men- von Gewalt sind. schen zu mindern. Gerade weil ich an vielen Stellen ei- nen Konsens zwischen unseren Parteien sehe, schlage Liebe Frau Amtsberg, Deutschland versteckt sich ich vor, dass wir uns hinsetzen und einen fraktionsüber- nicht. Deutschland hat mehr Flüchtlinge aufgenommen greifenden Entschließungsantrag einbringen, als jedes andere europäische Land. Das wissen Sie auch. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – GRÜNEN]: Das ist gut!) Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das habe ich sogar erwähnt!) der nicht nur unsere gemeinsame Verantwortung im Hin- blick auf die schwierige Situation der Flüchtlinge unter- Der Bund hat sich zu seiner Verantwortung bekannt streichen würde, sondern der sowohl der Länderebene (B) und die Aufnahme von insgesamt 10 000 Flüchtlingen als auch der europäischen Ebene signalisieren würde, (D) beschlossen. Es besteht Einigkeit darüber, dass auch dass wir in dieser Frage zusammenstehen, weil uns das nach Ausschöpfung der vorhandenen Kontingente de- Leid der Menschen, die ihre syrische Heimat verlassen nen, die aus Syrien geflüchtet sind, Schutz in Deutsch- mussten, Anlass sein muss, alles dafür zu tun, die Situa- land gewährt werden soll. Viele Länder haben inzwi- tion der Flüchtlinge in den Anrainerstaaten, aber auch schen Verlängerungen bezüglich der Antragsfrist für die derer, die zu uns nach Europa kommen, so menschen- Aufnahme beschlossen; darunter Hessen, Niedersach- würdig wie nur möglich zu gestalten. sen, Nordrhein-Westfalen und andere. (Beifall bei der SPD) Aber wir wissen auch: Angesichts einer Zahl von Dabei müssen wir im Blick haben, dass wir hier vor 2,4 Millionen Syrern, die laut UNHCR im Ausland Ort nur einen kleinen Teil zur Verbesserung der Situation Schutz suchen, und 3,6 Millionen Menschen, die inner- beitragen können. Wenn wir schnellere und vor allem halb der syrischen Grenzen auf der Flucht sind, ange- auch zielgerichtetere Hilfe anbieten wollen, dann muss sichts dieser schier unvorstellbaren Zahlen kann das, es zum einen darum gehen, dass wir weiter darauf hin- was wir tun, niemals genug sein. wirken müssen, dass organisatorische und administrative (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Hindernisse in den syrischen Nachbarländern weiter re- DIE GRÜNEN) duziert werden, damit denjenigen, die dort auf Hilfe war- ten, schnell geholfen werden kann. Es muss aber auch Deshalb müssen wir uns weiter für eine gemeinsame darum gehen, dass wir humanitäre Hilfe vor Ort bereit- europäische Initiative engagieren. Es kann nicht sein, stellen. Deshalb ist es gut, dass Deutschland zu den dass alle anderen europäischen Staaten zusammen noch größten bilateralen Gebern in der Syrien-Krise gehört nicht einmal die Hälfte des Kontingents anbieten, das und insgesamt 440 Millionen Euro bereitgestellt hat. wir inzwischen zugesagt haben. Deshalb dürfen wir aber trotzdem nicht müde darin werden, auch alle anderen Liebe Kolleginnen und Kollegen, Carolin Emcke Länder der Europäischen Union immer und immer wie- schreibt in Ihrer Reportage im Zeit-Magazin über Men- der an unsere gemeinsame europäische Verantwortung schen, die bei uns Zuflucht suchen: zu erinnern, an die Werte von Solidarität und Mit- Was Ghayeb menschlichkeit, die wir nicht immer nur vor uns hertra- gen, sondern an denen wir uns auch selbst messen lassen – ein kurdischer Flüchtling aus Syrien – müssen, liebe Kolleginnen und Kollegen. und all die anderen brauchen, ist keine weitere Ge- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) schichte über ihre Verzweiflung wie diese, sondern 1882 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Christina Kampmann (A) ein Asylrecht, das mindestens die Möglichkeit im- Das große Engagement der Bundesregierung macht (C) pliziert, dass ein Flüchtling wirklich jemand sein sich auch im Asylbereich bemerkbar. Seit 2011 sind rund könnte, der vor etwas geflohen ist. 30 000 Syrer nach Deutschland gekommen. Über 1 500 syrische Asylanträge pro Monat werden in Das, was sich gerade in und um Syrien abspielt, ist Deutschland registriert. Seit Jahren gilt ein Stopp für die ohne Zweifel die größte humanitäre Katastrophe dieses Abschiebung nach Syrien. Jahrhunderts. Was einst mit einem friedlichen Protest be- gann, endet heute in unermesslicher Not. Es ist unsere Deutschland bietet im Rahmen von Bundesprogram- politische und menschliche Pflicht, Verantwortung für men 10 000 Syrern Schutz. Die anderen EU-Staaten stel- die Menschen in Syrien zu übernehmen und uns, ganz len bisher zusammen ein Kontingent von gerade einmal im Sinne von Carolin Emcke, das Bewusstsein dafür zu 3 900 Plätzen bereit. Wir nehmen also bereits zwei Drit- bewahren, dass ein Flüchtling ein Mensch ist, „der vor tel aller syrischen Flüchtlinge auf. Angesichts dieser etwas geflohen ist“. Wenn wir von Syrien reden, dann Zahlen wirkt es absurd, wenn die Linke in ihrem Antrag geht es dabei um nichts Geringeres als um das eigene der Bundesregierung eine „Abschottungspolitik“ vor- Leben. wirft; das Gegenteil ist der Fall. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Die Zahl der Asylanträge in Deutschland steigt seit der CDU/CSU) Jahren, allein im letzten Jahr stieg sie um 70 Prozent. Deutschland alleine kann diese Flüchtlingskrise nicht lö- Vizepräsidentin Petra Pau: sen. Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin (Zuruf der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE]) Andrea Lindholz das Wort. Angesichts von 9,3 Millionen syrischen Flüchtlingen (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. kann deutsches Asyl, Frau Kollegin, nur in begrenztem Daniela Kolbe [SPD]) Umfang eine Lösung sein. Der tatsächliche Bedarf an Asyl wird nie zu decken sein. Andrea Lindholz (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Geschehnisse in der Ukraine und auf Der Ansatz der Bundesregierung, den Fokus daher vor der Krim überschatten die humanitäre Katastrophe in allem auf die Hilfe vor Ort zu richten, die wir weitaus Syrien. In den deutschen Medien findet der Bürgerkrieg besser leisten können als die relativ aufwendige Hilfe in (B) in Syrien zurzeit kaum noch statt. Deutschland, ist daher richtig. (D) (Zuruf von der CDU/CSU: Traurig!) Letztendlich muss in der Syrien-Krise der gleiche Grundsatz gelten wie in der Euro-Krise: Deutschland Doch die Situation in Syrien ist unverändert katastro- geht gerne mit gutem Beispiel voran, Deutschland ist so- phal. Hunderttausende Tote hat der Bürgerkrieg gefor- lidarisch und hilft, aber auch Deutschlands Stärke ist be- dert, darunter auch 14 UN-Mitarbeiter und 32 Helfer des grenzt. Es kann nicht sein, dass Deutschland als einziger arabischen Roten Halbmondes. Über 40 Prozent der sy- EU-Staat substanzielle Verantwortung für die syrischen rischen Krankenhäuser sind nicht mehr funktionsfähig. Flüchtlinge übernimmt. Während wir 10 000 Flüchtlinge Der syrische Staat zerfällt mehr und mehr. aufnehmen, nehmen andere europäische Länder zwi- Das Assad-Regime ist heute nur noch eine von insge- schen 400 und 500 Syrer auf. Allein 2013 hat das BAMF samt vier großen Konfliktparteien in Syrien, die sich ge- 127 000 Asylanträge bearbeitet, Tendenz steigend. In genseitig brutal bekämpfen und die Bevölkerung ins diesem Bereich werden wir mehr Personal zur Verfü- Elend stürzen. Wir haben es gehört: 9,3 Millionen Syrer gung stellen. befinden sich auf der Flucht und brauchen dringend hu- (Beifall bei der CDU/CSU) manitäre Hilfe. Wir haben die moralische und humani- täre Verpflichtung, diesen Menschen zu helfen, und ge- Wir brauchen dringend ein gemeinsames europäi- nau das tut Deutschland längst wie kaum ein anderes sches Aufnahmeprogramm. Die Bundesregierung for- Land. dert das schon lange. Die Kommission muss endlich ak- tiv werden und eine Geberkonferenz für Syrien auf EU- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ebene einberufen. Unsere europäischen Nachbarn müs- neten der SPD) sen mehr Verantwortung für die Opfer dieses schreckli- Seit 2012 hat die Bundesregierung – wir haben es heute chen Bürgerkrieges übernehmen. Abend schon gehört – 483 Millionen Euro für die syri- In meinen Augen haben die Anträge der Grünen und sche Flüchtlingshilfe bereitgestellt. der Linken ihren wesentlichen Zweck erfüllt. Sie haben Neben den Hilfskräften gilt auch den Mitarbeitern der Syrien zurück auf unsere Tagesordnung gebracht, und deutschen Botschaften und Konsulate unser Dank; denn das begrüße ich ausdrücklich. sie alle arbeiten unter schwierigsten Bedingungen und (Beifall bei Abgeordneten der SPD) schaffen die Grundlage für die Asylverfahren, über die wir heute sprechen. Auch hier hat die Bundesregierung Über die Verbesserung der laufenden Aufnahmever- reagiert und zusätzliches Personal bereitgestellt. fahren und eine weitere Aufstockung des deutschen Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1883

Andrea Lindholz (A) Kontingentes beraten bereits die Innenminister von Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf (C) Bund und Ländern. Ich bin mir sicher, dass es hier zu ei- den Drucksachen 18/846 und 18/840 an die in der Tages- nem weiteren guten Ergebnis kommen wird. ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind Gerade Bayern kommt seiner Verpflichtung nach. In die Überweisungen so beschlossen. Bayern leben über 4 600 syrische Staatsangehörige. Bayern nimmt im Rahmen des Bundesprogrammes al- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich teile Ihnen mit, lein 15 Prozent der Syrer auf und wird auch weitere Sy- dass sich die Fraktionen darauf verständigt haben, den rer aufnehmen. Der Asylbewerberstrom steigt bei uns in Tagesordnungspunkt 15 – es handelt sich hier um die Bayern daher überdurchschnittlich. Beratung des Antrags der Fraktion Die Linke mit dem Inhaltlich laufen beide Anträge ins Leere. Angesichts Titel „Den Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG neu und des massiven Engagements der Bundesregierung in Sy- verantwortungsvoll besetzen“ – abzusetzen. Sind Sie mit rien ist ein zusätzlicher Anstoß durch einen Antrag über- dieser Vereinbarung einverstanden? – Das ist der Fall. flüssig. Im Rahmen des Berichterstattergespräches in Dann ist das so beschlossen. dieser Woche wurde das Engagement der Bundesregie- Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- rung ausdrücklich gelobt. Wir sprechen uns daher für ordnung. eine Ablehnung der Anträge aus. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- Vielen Dank. destages auf morgen, Freitag, den 21. März 2014, 9 Uhr, (Beifall bei der CDU/CSU) ein. Ich wünsche Ihnen bis dahin alles Gute. Die Sitzung ist geschlossen. Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. (Schluss 20.52 Uhr)

Berichtigung 22. Sitzung, Seite 1735 A, Anlage 18: „Frage 24“ ist durch „Frage 25“ zu ersetzen. 22. Sitzung, Seite 1748 B, Anlage 51: Der Name (B) „Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D) NEN)“ ist durch den Namen „Herbert Behrens (DIE LINKE)“ zu ersetzen.

Anlagen

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1885

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Anlage 2 Liste der entschuldigten Abgeordneten Erklärungen nach § 31 GO zu den Abstimmungen über die Beschlussemp- entschuldigt bis fehlungen des Ausschusses für Wahlprüfung, Abgeordnete(r) einschließlich Immunität und Geschäftsordnung zu: Antrag auf Genehmigung zur Fortführung Alpers, Agnes DIE LINKE 20.03.2014 eines Strafverfahrens in der 18. Wahlperiode (Zusatzpunkt 7) Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/ 20.03.2014 DIE GRÜNEN Antrag auf Genehmigung zur Fortführung eines Strafverfahrens in der 18. Wahlperiode Bätzing-Lichtenthäler, SPD 20.03.2014 (Zusatzpunkt 8) Sabine

Dağdelen, Sevim DIE LINKE 20.03.2014 Sonja Steffen (SPD): Die Genehmigungspraxis des Bundestages in Immunitätsfragen zielt darauf ab, die Dr. Fechner, Johannes SPD 20.03.2014 Abgeordneten im Falle eines Strafverfahrens oder ande- rer Zwangsmaßnahmen nicht anders als die übrigen Freitag, Dagmar SPD 20.03.2014 Bürgerinnen und Bürger zu behandeln. Die Immunität ist gerade kein Sonderrecht für Abgeordnete, sondern soll Gabriel, Sigmar SPD 20.03.2014 die Funktions- und Arbeitsfähigkeit des Parlaments Dr. Gauweiler, Peter CDU/CSU 20.03.2014 sicherstellen. Gerade weil es sich um eine Angelegenheit handelte, Gohlke, Nicole DIE LINKE 20.03.2014 die einen sehr politischen Hintergrund hat, wurde das Hampel, Ulrich SPD 20.03.2014 Verfahren der Staatsanwaltschaft Dresden durch den Immunitätsausschuss sehr sorgfältig geprüft. Sechs Krichbaum, Gunther CDU/CSU 20.03.2014 Beratungen haben im Ausschuss stattgefunden. Mehrere (B) konkrete Nachfragen wurden gestellt und von der Staats- (D) Lanzinger, Barbara CDU/CSU 20.03.2014 anwaltschaft beantwortet.

Maisch, Nicole BÜNDNIS 90/ 20.03.2014 Wegen der Teilnahme an der Blockade, um die es in DIE GRÜNEN dem Verfahren geht, wurde wegen Verstoßes gegen § 21 VersammlG gegen zwölf Abgeordnete des Bundestages Dr. de Maizière, Thomas CDU/CSU 20.03.2014 und des Sächsischen Landtages aus mehreren Parteien ermittelt. Insgesamt wurden mehr als 200 Ermittlungs- Noll, Michaela CDU/CSU 20.03.2014 verfahren geführt. Özoğuz, Aydan SPD 20.03.2014 Die parteipolitische Wertung der Vorkommnisse durch die Linkspartei stellt aus meiner Sicht eine politi- Poß, Joachim SPD 20.03.2014 sche Instrumentalisierung des Immunitätsausschusses dar. Sonderrechte für Abgeordnete darf es nicht geben. Post (Minden), Achim SPD 20.03.2014 Diese haben ebenso wie alle anderen Bürgerinnen und Bürger die Konsequenzen ihres Handelns zu tragen. Rupprecht, Albert CDU/CSU 20.03.2014 Der Kampf gegen Rechts ist zu wichtig, um ihn mit Rüthrich, Susann SPD 20.03.2014 populistischen Methoden voranzutreiben. Schlecht, Michael DIE LINKE 20.03.2014 Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Schummer, Uwe CDU/CSU 20.03.2014 Nach den Ausführungen von Frau Kipping sehe ich mich gezwungen, eine Erklärung zum Abstimmungsverhalten Stritzl, Thomas CDU/CSU 20.03.2014 abzugeben. Ich finde es inakzeptabel, dass von Ihnen die Unterstellung formuliert wird, wer hier der Aufhebung Dr. Terpe, Harald BÜNDNIS 90/ 20.03.2014 zustimme, wolle sich nicht klar gegen Rechtsextreme DIE GRÜNEN positionieren. Ich verbitte mir diese Unterstellung. Ei- nige hier im Hause – so auch ich – haben sich nicht nur Werner, Katrin DIE LINKE 20.03.2014 jahre- sondern jahrzehntelang engagiert gegen Rechts- Widmann-Mauz, CDU/CSU 20.03.2014 extremismus und nationalsozialistisches Gedanken- Annette gut. Wir können das gern gemeinsam tun. Aber Nach- hilfe brauche ich nicht. 1886 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

(A) Warum ich hier heute mit Ja stimme: Für mich gilt, Anlage 3 (C) dass die Immunität nicht ein Privileg des einzelnen Ab- Zu Protokoll gegebene Reden geordneten ist, sondern eine Sicherung der Arbeitsfähig- keit des Parlamentes. Wir wollen uns damit schon aus zur Beratung der Beschlussempfehlung und des historischen Gründen davor schützen, dass durch Ermitt- Berichts: Sechste Verordnung zur Änderung lungsverfahren das Parlament in seinen Entscheidungen der Verpackungsverordnung (Tagesordnungs- und Mehrheiten manipuliert wird. Das liegt hier aber punkt 13) nicht vor. Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU): Die Verpa- Wir entscheiden auch nicht, ob ein Verfahren durch- ckungsverordnung ist ein Erfolgsmodell. Was damals geführt wird, denn die Nichtaufhebung der Immunität Klaus Töpfer als Umweltminister in Deutschland einge- würde ein Verfahren nur auf den Zeitpunkt nach dem führt hat, war wegweisend. Inzwischen haben viele Län- Abgeordnetenstatus verlegen. Ich meine, wenn nicht die der dieses Konzept übernommen. Die Idee: das Prinzip Funktionsfähigkeit tangiert ist, sind wir alle gut beraten, der Produktverantwortung. Diejenigen, die Verpackun- uns einem Verfahren zu stellen. Wie andere betroffene gen in den Markt bringen, sind dafür verantwortlich, Bürger und Bürgerinnen auch. diese hinterher zurückzunehmen und möglichst wieder- zuverwerten. Kollege Gysi, Ihr Argument, dass die Nichtaufhebung mittelbar eine Unterstützung anderer in gleicher Sache Es ist eine marktwirtschaftliche Lösung: Die Entsor- Beschuldigter wäre, halte ich eigentlich für sachfremd. gungskosten werden Teil des Preises. Es entsteht von Aber trotzdem: Vielleicht ist es ja genau anders herum, Anfang an ein Anreiz, Verpackungen möglichst zu ver- dass die Anwesenheit von Abgeordneten im gleichen meiden. Verfahren am Ende eine Unterstützung wird. Was waren die Wirkungen? Die Kosten für die Ver- braucher sind gesunken. In Deutschland wurden hoch- Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es moderne Recyclingtechnologien entwickelt. 14 Prozent geht um die erneute Aufhebung der Immunität von zwei der Rohstoffe, die die deutsche Wirtschaft einsetzt, wer- KollegInnen der Linksfraktion wegen Ermittlungen an den aus Abfällen gewonnen. Abfälle sind wichtige Roh- Gegenprotesten in Dresden im Februar 2011. Ebenso stoffe. wie die beiden KollegInnen der Linksfraktion waren Schauen wir uns die Situation über Deutschland hi- auch mehrere MdBs von Bündnis 90/ Die Grünen vor naus an: Die Weltbevölkerung wächst, die Nachfrage Ort. Ich persönlich war vor und nach 2011 immer selber nach Rohstoffen steigt. Insofern liegt es auf der Hand, (B) bei den Protesten gegen den unerträglichen jährlichen dass die Volkswirtschaften, die es am besten schaffen, (D) Naziaufmarsch in Dresden dabei, auch im Februar 2011. Kreisläufe zu schließen und effizient mit knappen Res- Gegen mich wird nicht ermittelt. Verstehen tue ich die sourcen umzugehen, auch wirtschaftlich erfolgreich sein Ermittlungen der sächsischen Justiz gegen die KollegIn- werden. nen der Linksfraktion nicht. Wir wollen daher die Produktverantwortung erhalten, Allerdings ärgere ich mich über die Ausführungen der und wir wollen sie stärken. Deshalb müssen wir beste- Kollegin Kipping in dieser Debatte sehr. Es geht bei die- hende Schwachstellen bei der konkreten Ausgestaltung ser Debatte nicht um den Wettbewerb um den besten An- der Verpackungsverordnung beheben. Und wir müssen tifaschisten. Dass die Linksfraktion sich hier so insze- die Dinge in Ordnung bringen. Aus diesem Grund niert, finde ich schwer erträglich. − während wir heute über die sechste Novelle debattie- ren − wird die siebte Novelle bereits vorbereitet. Wir Warum sollen Bundestagsabgeordnete anders und werden hier bald eine gründliche Debatte darüber füh- besser behandelt werden, als die vielen BürgerInnen, ge- ren. gen die auch in dieser Sache ermittelt wird. Eine Sonder- Dabei wird es darum gehen müssen, den Wettbewerb behandlung lehne ich ab. zu erhalten, die Regeln für den Wettbewerb jedoch zu Damit lasse ich mir aber nicht von der Rednerin der verbessern. Es wird darum gehen müssen, die aktuellen Linksfraktion unterstellen, dass ich mich nicht ausrei- Schwierigkeiten zu lösen, ohne funktionierende Systeme chend gegen Rechtsextremismus engagiere. Das tue ich kaputtzumachen. seit Jahren in Sachsen und anderen Regionen unseres Heute geht es zunächst aber um die sechste Novelle. Landes. Als Sprecherin für Strategien gegen Rechts- Es geht um kleine Punkte: Wir setzen europäisches extremismus und sächsische Bundestagsabgeordnete bin Recht um, und zwar eins zu eins. Ich bitte Sie, diesem ich seit vielen Jahren auf diesem Gebiet aktiv. Dieser vorliegenden Verordnungsentwurf zuzustimmen. hier diskutierte Fall eignet sich aber nicht dazu, festzu- stellen, wer bei dem Thema besser ist als der andere Im Wesentlichen geht es um die Übernahme einer Kollege. Hier sollten wir uns als DemokratInnen nicht Liste von Beispielen, was als Verpackung gilt und was nicht. Die materielle Rechtslage ändert sich dadurch auseinanderdividieren lassen. Da ich aber finde, Bundes- übrigens nicht. tagsabgeordnete sollten nicht besser als andere Bürge- rInnen vor Gericht behandelt werden, stimme ich der Es klingt auf den ersten Blick überzogen, dass jetzt Aufhebung der Immunität der beiden KollegInnen zu. ausdrücklich in die Verpackungsverordnung hineinge- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1887

(A) schrieben wird, dass zum Beispiel Grablichtbecher keine sourceneffizienz sind solche grenzüberschreitenden He- (C) Verpackungen sind, Streichholzschachteln aber schon. rausforderungen, die wir auch auf europäischer Ebene Oder: Kleiderbügel, die mit einem Kleidungsstück ver- angehen müssen. kauft werden, sind Verpackungen, die gleichen Kleider- bügel, die getrennt verkauft werden, jedoch nicht. Mein Ziel in der europäischen Umweltpolitik war es immer, die hohen deutschen Standards und die umwelt- Das klingt in der Tat überzogen. Aber es weist uns auf politischen Erfolge, wie zum Beispiel hier bezüglich der einen wichtigen Punkt hin: Wir müssen das Kreislauf- Verwertungsquoten, auf die europäische Ebene zu he- wirtschaftssystem weiterentwickeln. Künftig sollten ben. Diese Harmonisierung durch europäische Umwelt- Verpackungen und sonstige Abfälle aus den gleichen gesetze birgt dann die Chance, dass wir für die Bürger Materialien in einer einheitlichen Wertstofftonne ent- ein einheitlich hohes Umwelt- und Ressourcenschutz- sorgt werden. Wir sollten das angehen. niveau in ganz Europa bekommen, und für die Unter- nehmen und Landwirte verbessern wir die Wettbewerbs- Und dabei wird es dann auch um folgende Punkte ge- bedingungen im Vergleich mit den anderen europäischen hen – ich nenne hier nur drei –: Ländern. Deswegen macht es durchaus Sinn, die Abfall- Erstens. Die Recyclingquote für Kunststoffverpa- politik auf europäischer Ebene zu harmonisieren. ckungen muss erhöht werden. Technisch ist dies mach- bar. Aber wir müssen nicht nur bei den Verwertungsquo- ten eine Vorbildfunktion übernehmen, sondern auch bei Zweitens. Im Zuge des Wertstoffgesetzes braucht es der Umsetzung der harmonisierten europäischen Vorga- eine umfassende Neuregelung und eine bessere Organi- ben. Wenn wir – wie die Grünen das fordern – die sation, zum Beispiel mit einer zentralen Stelle. sechste mit der siebten Novelle, die ausführlicher disku- tiert werden muss, zusammenfassen, dann kommen wir Drittens. Die bestehende Trittbrettfahrerproblematik sicher noch weiter in Verzug mit der Umsetzung. muss in diesem Zusammenhang gelöst werden. Wir haben viel vor uns: Es ist aber auch eine gewal- Zum Inhalt der sechsten Novelle ist noch Folgendes tige Chance. Wir können unser Land in einem wichtigen zu sagen: Wenn man sich den Text anschaut, der die EU- Feld weiter fit machen für die Zukunft. Diese Chance Richtlinie 1:1 umsetzt, findet man natürlich schon sehr sollten wir nutzen. Gehen wir es an. detaillierte Beispiele dazu, was Verpackung ist und was nicht. Aber: Wir schaffen damit auch in allen EU-Mit- gliedstaaten klare Kriterien, was Verpackung ist und was Dr. Anja Weisgerber (CDU/CSU): Abfall oder Müll nicht. Das hilft den Behörden in allen EU-Mitgliedstaa- verbinden wir im allgemeinen Sprachgebrauch mit etwas ten, besser entscheiden zu können, ob bestimmte Verpa- (B) Wertlosem. Dass dies ganz und gar nicht der Fall ist, ckungen den Rücknahme- und Verwertungspflichten (D) zeigt die heutige Debatte. Verpackungsabfälle sind Wert- unterliegen. Letztendlich entwickeln wir damit die stoffe. Kreislaufwirtschaft fort und erreichen, dass mehr Ab- Um diese Wertstoffe in den Kreislauf wieder zurück- fälle wiederverwertet werden. zuführen, haben wir in Deutschland vor fast einem Vier- Von der Linksfraktion wird kritisiert, dass die Bei- teljahrhundert das Duale System eingeführt. Dass in spielliste für Verpackungen nicht stimmig sei. Die Linke Deutschland die Verwertungsquoten von Verpackungen befürchtete in der Debatte im Umweltausschuss, dass allgemein im europäischen Vergleich so gut sind, haben Glasflaschen für Injektionslösungen, die noch gefährli- wir auch dem Dualen System zu verdanken. Nach einer che Stoffe oder Medikamente enthalten, in den gelben Auswertung von Eurostat liegen wir mit knapp 72 Pro- Sack gelangen könnten. Man muss sich die Verpa- zent Verwertungsquote von Verpackungsabfällen in ckungsverordnung aber mal genau anschauen. Diese Be- Deutschland auch klar über dem europäischen Durch- fürchtungen kann ich nicht nachvollziehen. Es gibt spe- schnitt von rund 64 Prozent. zielle Regeln für die Entsorgung von toxischen und Die deutsche Verpackungsverordnung von 1991 war infektiösen Abfällen. Und die Verpackungsverordnung sogar Beispiel für die europäische Verpackungsricht- regelt in § 2 ganz klar, dass diese speziellen Rechtsvor- linie, die drei Jahre später kam. Damit nehmen wir mit schriften von der Verordnung unberührt bleiben und die unserem Modell der Abfall- und Verwertungspolitik speziellen Rechtsvorschriften weiterhin gelten. Der – wie bei so vielen anderen Umweltthemen auch – in Grund, weshalb die Linksfraktion im Ausschuss nicht Europa eine Vorreiterrolle ein. Und das ist gut so. zugestimmt hat, ist also vorgeschoben und die Sorge nicht begründet. Das muss man den Abgeordneten der Die sechste Novelle, die wir heute diskutieren, ist Linksfraktion so deutlich sagen! eine 1:1-Umsetzung der europäischen Richtlinie. Natür- lich soll Europa nicht jedes Detail regeln. Auch während Lassen Sie uns die sechste Novelle, die im Wesentli- meiner Zeit als Europaabgeordnete war immer meine chen eine 1:1-Umsetzung der Europäischen Richtlinie Devise: Wir brauchen mehr Europa im Großen und we- von Januar letzten Jahres ist, schnell verabschieden. Hier niger im Kleinen. Mehr Leitplanken, aber weniger müssen wir jetzt alle an einem Strang ziehen. Stoppschilder! In einem nächsten Schritt müssen wir uns dann sehr Aber zu den großen Fragen, die sich manchmal bis ins schnell um die siebte Novelle und die Stärkung des Dua- Detail auswirken können, zählen auch grenzüberschrei- len Systems kümmern. Die Vorbereitungen dazu laufen tende Herausforderungen. Umweltschutz sowie Res- bereits. Wir müssen diese Novelle aber gut und gründ- 1888 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

(A) lich beraten. Ich denke, dass wir uns alle einig sind, dass Da die Bundesregierung aber mit der Umsetzung der (C) wir das Duale System mit der flächendeckenden haus- oben erwähnten EU-Richtlinie im Verzug ist und bereits haltsnahen Entsorgung mit hohen Verwertungsquoten er- ein Vertragsverletzungsverfahren läuft, wollen wir zu- halten wollen. Gut funktionierende Systeme – die in Eu- nächst diese sechste Novelle ohne weiteren Verzug um- ropa Schule gemacht haben – dürfen nicht ohne Not setzen – wir halten diesen Weg für den besseren. Die kaputtgemacht werden. weiter notwendigen Änderungen wollen wir mit der siebten Novelle noch vor der Sommerpause anpacken. Deshalb müssen wir mit der siebten Novelle zur Ver- Der Entwurf dieser siebten Novelle liegt bereits vor. packungsverordnung Lösungen finden, um den Miss- brauch der Ausnahmen bei der Lizenzierung von Verpa- Dennoch stellt sich die Frage: Warum so viele Ände- ckungsmüll einzudämmen. Dafür werden wir uns hier rungen? Das mag nachdenklich stimmen und lässt die alle einsetzen. Frage aufkommen: Wieso muss denn da so oft nachge- bessert werden? Sind wir denn mit unserem System der Michael Thews (SPD): Diese kleinen Backförm- Verpackungsentsorgung und -verwertung und dem Prin- chen, die man kauft, um da drin Schokoladenmuffins für zip der Produktverantwortung auf dem richtigen Weg? den Kindergeburtstag zu backen – kennen Sie die? Nein? Ich meine die Antwort ist ganz klar: Ja! Die Verpa- Aber vielleicht haben Sie schon einmal einen fertig ge- ckungsverordnung ist ein klares Erfolgsmodell, was backenen Muffin in einer Bäckerei gekauft, der Ihnen in manchmal vielleicht etwas aus dem Blick gerät. einem solchen braunen oder bunten Förmchen verkauft wurde. Zwischen diesen beiden Förmchen gibt es tatsäch- Die Verpackungsverordnung hat dafür gesorgt, dass lich einen Unterschied. Das eine – aus der Bäckerei – ge- es in Deutschland eine qualitativ hochwertige stoffliche hört in den gelben Sack oder die gelbe Tonne, weil es als Verwertung von Verpackungen gibt. Hierbei sind wir eu- Verpackung verkauft wird, das andere in die graue Rest- ropaweit und weltweit an der Spitze. mülltonne, weil es keine Verpackung ist. Das eine Förm- Die Verpackungsverordnung hat für den Aufbau einer chen in der gelben Tonne wird auf Kosten des Herstel- leistungsstarken Recyclingindustrie und vorbildlichen lers und Vertreibers des Muffins abtransportiert, der Recyclingtechnik in Deutschland gesorgt. Laut Zahlen Abtransport des anderen in der grauen Tonne wird durch aus dem BMUB arbeiten fast 200 000 Beschäftigte in die Müllgebühren finanziert. Denn das eine ist Verpa- etwa 3 000 Unternehmen im Bereich der Kreislaufwirt- ckungsmüll, für den die Herstellerverantwortung gilt, schaft. das andere Förmchen nicht. Die Verpackungsverordnung hat für einen wichtigen Die Unterscheidung dieser beiden Fälle – und weiterer – Paradigmenwechsel gesorgt. Sie hat die Verantwortung (B) ist wesentlicher Inhalt dieser sechsten Novelle der Verpa- der Hersteller für die Entsorgung und Verwertung ihrer (D) ckungsverordnung, über die wir heute debattieren. Denn Verpackungen und der daraus entstehenden Abfälle ein- diese sechste Novelle, die eine europäische Richtlinie geführt. Diese Produktverantwortung ist für mich der umsetzt, enthält lediglich einige Klarstellungen dazu, Schlüssel, um das primäre Ziel der Abfallhierarchie des was als Verpackung zu werten ist und was nicht, was in Kreislaufwirtschaftsgesetzes – nämlich die Vermeidung die gelbe Tonne gehört und was nicht. Sie ändert an kei- von Abfällen – erreichen zu können. ner Stelle die bestehende Rechtssituation, sondern liefert nur zusätzliche Beispiele für die Unterscheidung zwi- Natürlich gibt es bei diesem System Verbesserungs- schen Verpackungen und Nichtverpackungen. Außer- möglichkeiten und auch Verbesserungsnotwendigkei- dem enthält sie noch eine von der Kommission ange- ten. Der ehemalige Richter am Bundesverfassungsge- mahnte Klarstellung zum Begriff der richt Udo di Fabio hat es in einem Gutachten zur Transportverpackung, wie Container. Selbstregulierung im Verpackungsbereich so formuliert: Mein Beispiel mit den Muffinförmchen mag ihnen lä- Eine gesetzlich regulierte Kreislaufwirtschaft, die cherlich und als Ausdruck der absurden Auswüchse des öffentliche und private Abfallverantwortung zu- deutschen Mülltrennungswesens erscheinen. Und wenn sammenführt, entwickelt sich dynamisch und be- es nach der SPD geht, und ich glaube das ist ein ganz darf immer wieder einer steuernden Nachkorrektur wichtiger Aspekt, werden wir auch bald beide Förmchen und einer angemessenen Aufsicht. in eine Wertstofftonne werfen, so wie es bereits in vielen Deshalb müssen wir uns zeitnah, sobald wir hier die Fällen in Deutschland getan wird, wo die Wertstofftonne sechste Novelle beschlossen haben, an die Beratung der jetzt schon angeboten wird. siebten Novelle machen. Denn wir wollen dieses System Zurzeit aber ist dieser Unterschied wesentlich. Denn weiter stabilisieren und verbessern, um die Ziele des seit Einführung der Verpackungsverordnung im Jahre Kreislaufwirtschaftsgesetzes zu verfolgen. Mit der sieb- 1991 wird Verpackungsmüll anders behandelt. ten Novelle sollen bestehende Wettbewerbsverzerrungen beseitigt und Missbrauchsmöglichkeiten eingedämmt Aber zunächst zurück zu dieser sechsten Novelle: werden. Schon der SPD-Abgeordnete hat in seiner Rede zur fünften Novelle am 21. Februar Das Land Nordrhein-Westfalen wollte ursprünglich 2008 von unseriösen Selbstentsorgern und Trittbrettfah- bereits mit dieser sechsten Novelle weitere Änderungen rern gesprochen, denen Einhalt geboten werden muss. der Verpackungsverordnung auf den Weg bringen. Diese Änderungen richten sich darauf, bestimmte Schlupflö- Ähnliches müssen wir leider auch heute feststellen: In cher im System der Verpackungsverordnung zu stopfen. der letzten Zeit wurden offenbar verstärkt Regelungen Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1889

(A) der Verpackungsverordnung zur Eigenrücknahme und fünf Plastikkleiderbügel von Ikea beim Aufräumen auch (C) zur sogenannten Branchenlösung als Schlupflöcher ge- in der gelben Tonne entsorgten – die gehörten in den nutzt; vielleicht zum Teil um Geld zu sparen oder um Müll. Nur Kleiderbügel, die zusammen mit Kleidungs- sich Wettbewerbsvorteile gegenüber unliebsamen Kon- stücken gekauft wurden, sind Verpackungen – schreibt kurrenten zu verschaffen. Die Folge ist: Das System die Verpackungsverordnung. wurde destabilisiert. Ein zweites Beispiel: Die Menge der bei den Dualen Systemen lizenzierten Verkaufsverpackungen, für deren Abtransport und Ent- Wie man weiß, essen viele von uns Männern unter- sorgung der Hersteller zahlt, hat als Folge davon abge- wegs gern mal eine Currywurst – mit Pommes. Aber wo- nommen, die Menge der Verpackungen im gelben Sack hin dann mit der Plastikschale und dem Plastikbesteck? ist aber gleich geblieben. Diese Fehlentwicklung müssen Die Plastikschale darf in die gelbe Tonne, das Plastik- und werden wir aufhalten. Wir sollten die Errungen- besteck jedoch nicht, das gehört in den Müll – schreibt schaften, die uns die Verpackungsverordnung gebracht die Verpackungsverordnung. hat, aber eben auch das große Engagement der Bürgerin- nen und Bürger bei der Mülltrennung nicht aufs Spiel Aber wenn Sie die Currywurst zu Hause braten und setzen. Wir müssen die Glaubwürdigkeit des Systems dann in eine Plastikschale legen, um sie draußen zu es- wiederherstellen. Denn es ist immer noch so, dass nur sen, dann ist die Plastikschale auch keine Verpackung eine vernünftige Mülltrennung hochwertige Recycling- und gehört in den Müll und auf keinen Fall in die gelbe ergebnisse bringen kann. Tonne – schreibt die Verpackungsverordnung. Die Grünen haben einen Entschließungsantrag zu die- Haben Sie das Prinzip verstanden, oder wird Ihnen ser sechsten Novelle eingebracht, in dem sie fordern, unwohl? Das zweite wäre normal, nur Mülltrennerinnen dass die Recyclingziele für Verpackungsabfälle in der und Mülltrenner mit Diplom sehen noch bei diesen und Verpackungsverordnung auf das derzeit technisch Mög- noch absurderen Regelungen durch. Ich erinnere an die liche erhöht werden sollen. Das ist definitiv nicht unser Begründung dieser Verpackungsverordnung: EU und Ziel. Bei der Erhöhung der Recyclingquoten, die wir Bundesregierung wollen mehr Klarheit schaffen – auch wollen, müssen wir immer auch die ökologischen, heraus kommt Chaos, aber das ist perfekt. Ich bedanke energetischen und finanziellen Auswirkungen mit abwä- mich auch für den zweckdienlichen Hinweis in dieser gen. Vernünftige Recyclingquoten müssen sich am öko- Verordnung, dass ein Schiffscontainer keine Verpackung logisch und am ökonomisch Sinnvollen orientieren und ist und darum nicht in die gelbe Tonne gehört. nicht nur am technisch Machbaren. Das Problem liegt woanders. Auch diese Verpa- (D) (B) Auch die anstehende siebte Novelle wird sicher nicht ckungsverordnung lässt große Lücken. Ein Beispiel: die letzte Überarbeitung des Systems sein. Denn das, Ein Möbeldiscounter erklärt, dass er alle Verpackun- was wir als Nächstes brauchen, ist ein vernünftiges gen selbst einsammelt. Deshalb braucht er keinen Wertstoffgesetz. Wir wollen in Zukunft auch die Wert- Entsorgungsvertrag mit einem der elf Betreiberfirmen stoffe, die in den Muffinförmchen, Kleiderbügeln, Gum- abzuschließen. Bei ausgelieferten Möbelstücken nehmen mienten und Blumentöpfen stecken, die bisher in der die Monteure Folien, Schaumpolysterol und Luftpolster grauen Tonne landen, in einen Stoffkreislauf überführen, mit. Aber die vielen Selbstabholer schaffen die Verpa- um wertvolle Rohstoffe und Energie einzusparen. ckungen einfach nicht zum Discounter, sondern werfen Die sechste Novelle ist nun die Pflicht, die siebte ist alles in die gelbe Tonne. Wer bezahlt das dann? Der Dis- dringend erforderlich, aber die Kür, da bin ich sicher, counter nicht, und die elf Betreiberfirmen streiten sich wird ein Wertstoffgesetz sein für mehr Ressourcenschutz dann um jeden Cent bis vor Gericht, und am Ende blei- und für mehr Verbraucherfreundlichkeit. ben Kommunen und kleine Dienstleister auf den Kosten sitzen. Dieses untaugliche System kann man aus Sicht der Linken nicht verbessern, man muss es abschaffen. Ralph Lenkert (DIE LINKE): Elf Duale Systeme, also Betreiberfirmen, kümmern sich um die gelbe Tonne Die Linke will, dass Verpackungen und Rohstoffe gut für Verpackungen. Aber so wie es ist, funktioniert es erfasst werden, dass jeder das Sammelsystem auch ver- nicht. stehen kann, dass dieses System Verschwendung bei Verpackungen bestraft und Recycling unterstützt, dass Die elf Betreiber gingen 2013 davon aus, dass Verbraucherinnen und Verbraucher stoffgleiche oder so- 1,1 Millionen Tonnen Verpackungen in den gelben gar identische Produkte über die gelbe Tonne entsorgen Tonnen und Säcken landen, denn darüber schlossen die können. Deshalb will die Linke eine Verpackungsver- Betreiberfirmen Entsorgungsverträge ab. Tatsächlich ka- ordnung, die funktioniert. men jedoch 2,4 Millionen Tonnen Verpackungen in den gelben Tonnen zusammen. Erstens: Statt aufwendiger Lizenzierungen werden Verpackungsabgaben eingeführt – das vermindert den Wie konnte denn das passieren? Ich schaue mal in un- Betrug. sere Runde. Frau Kollegin, haben Sie nicht neulich den Plastikkleiderbügel, den Sie mit Ihrem neuen Mantel Zweitens: Statt Scheinwettbewerb zwischen Dualen kauften, in die gelbe Tonne geworfen? Ich kann Sie be- Systemen setzen wir auf kommunale Erfassungssysteme – ruhigen, das war richtig, aber falsch war, dass Sie die das spart Doppelstrukturen. 1890 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

(A) Drittens setzen wir auf Positivlisten bei Verpackungs- Wir haben daher weitere Änderungen der Verpa- (C) materialien und auch bei Verpackungsgrößen – das er- ckungsverordnung vorgeschlagen, um diese negativen leichtert das Recycling. Entwicklungen einzudämmen. Auch das Umweltminis- terium hat diese Vorschläge für gut befunden. Aber an- Arbeiten wir gemeinsam an besseren Lösungen, statt statt sie in der sechsten Novelle noch aufzunehmen, an dieser vorgeschlagenen Verordnung Zeit und Arbeits- wurde bereits eine siebte Novelle der Verpackungsver- kraft zu verschwenden. Die Dualen Systeme sind ein ordnung auf den Weg gebracht. Dieses Verfahren er- totes Pferd, das niemand mehr reiten kann. schließt sich uns nicht. Die Zeit drängt. Die in der sieb- ten Novelle enthaltenen Änderungen sollten hier in der Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was sechsten Novelle bereits drin sein. Dieses haben wir im bewegt aktuell die Verpackungs- und Recyclingbranche? Umweltausschuss durch einen Änderungsantrag einge- Es geht um die Zukunft und die aktuellen Probleme der bracht. Dieser wurde aber von den Regierungsfraktionen Dualen Systeme, es geht um Recyclingquoten, die weit abgelehnt. Wir fragen uns: Warum? Denn diese Ableh- hinter dem technisch Machbaren zurückbleiben. Es geht nung ergibt überhaupt keinen Sinn. Sie verzögern nur um Planungs- und Investitionssicherheit für Kommunen, das Verfahren der Umsetzung dieser wichtigen Änderun- private Entsorger und Verwerter. gen. Und was legt die Bundesregierung uns heute vor? Darüber hinaus müssten noch einige weitere Punkte Eine „Strafarbeit“, weil die letzte Bundesregierung es angegangen werden. In der Verpackungsentsorgung gibt über Jahre trotz vielfacher Ankündigungen nicht fertig- es seit nunmehr neun Jahren Stillstand. Die jetzige No- gebracht hat, EU-Recht in deutsches Recht umzusetzen. velle ist halbherzig. Diese „Strafarbeit“ regelt nun nicht etwa die anstehen- den Zukunftsfragen, sondern so wichtige Themen wie: Unsere Vorschläge für eine neue Verpackungsentsor- a) dass Teebeutel, Seecontainer und Grablichter nicht als gung: Die Recyclingquoten für Verpackungen müssen Verpackung gelten, b) Wimperntuschebürsten als Be- deutlich angehoben und dynamisch ausgestaltet werden. standteil des Packungsverschlusses dagegen schon. Eine Erhöhung des Recyclingzieles von derzeit 36 auf mindestens 60 Prozent ist für Plastik sofort machbar. Für Dagegen haben wir im Prinzip gar nichts einzuwen- uns ist dies ein absolutes Minimum, und es ginge pro- den. Es fehlen aber einige weitere Änderungen. Dazu blemlos auch nach Aussagen der Recyclingbranche. zählen einfache Anpassungen, um Fehler der jetzigen Dies gäbe Investitionssicherheit für neue moderne Recy- Verpackungsverordnung aufzufangen, und einige we- clinganlagen und leistete einen wichtigen Beitrag zum sentlichere Änderungen. Erreichen unserer Klimaziele. Die Recyclingquoten (B) Kurz zu den offensichtlichen Fehlern der Verpa- müssten sich zudem automatisch nach oben anpassen, (D) ckungsverordnung, die auch keiner bestreitet: die Aus- wenn sich noch bessere Recyclingverfahren durchset- nahmen von der Lizensierung von Verpackungen – die zen. Die besten Ergebnisse vom Vorjahr sollten jeweils sogenannten Branchenlösungen und Eigenrücknahmen. für das nächste Jahr zugrunde gelegt werden. Eigentlich war es Ziel dieser Ausnahmen, die direkte Außerdem: Die letzte Bundesregierung hat ein unzu- Produktverantwortung zu stärken, also zu fördern, dass reichendes Abfallvermeidungsprogramm vorgelegt, wel- sich Hersteller und Handel selber um das Recycling ihrer ches bis heute in den Kommunen nahezu unbekannt ist. Verpackungen kümmern, anstatt sich über Lizenzgebüh- Warum wird das Abfallvermeidungsziel hier nicht kon- ren „freizukaufen“. Darum sollte es eigentlich gehen. kret gefasst? Überdimensionierte und überflüssige Ver- packungen müssen verhindert werden. Was inzwischen aber passiert, sind Ausweichmanö- ver, um sich um die Lizenzabgaben zu drücken. Bei den Dies alles sind Punkte, die verbal auch von dieser und Eigenrücknahmemengen kann nicht kontrolliert wer- der Vorgängerregierung unterstützt wurden und werden. den, ob diese Verpackungen tatsächlich in den Läden zu- Da wir der Regierung gerne bei der Umsetzung helfen rückgenommen werden oder ob sie nicht doch in der gel- wollen, bitten wir um Unterstützung aus diesem Hause ben Tonne landen. Missbrauch und Trittbrettfahrertum für unseren Entschließungsantrag, der gleich zur Ab- konterkarieren den eigentlichen Sinn der Ausnahmen. stimmung stehen wird.

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