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Passim 3|2008 Bollettino dell’Archivio svizzero di letteratura | Bulletin des Schweizerischen Literaturarchivs | Bulletin da l’Archiv svizzer da litteratura | Bulletin des Archives littéraires suisses

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Editorial | Editoriale

Archivalien sollen einerseits dem stets drohenden Zerfall trotzen und andererseits auch in Zukunft der Öffentlichkeit zugänglich bleiben. Wie also Handschriften, Typoskripte, Fotografien, Ton- und Filmaufnahmen von und über Autorinnen und Autoren am besten aufbewahrt werden können, ist für Bibliotheken und Archive eine permanente Aufgabe. Auch die Schweizerische Nationalbibliothek macht sich dafür die multime- dialen Möglichkeiten des digitalen Zeitalters zu Nutze: So lassen sich per Mausklick in der noch im Aufbau befindlichen Archivdatenbank HelveticArchives, entwickelt von Rudolf Probst, neu auch die Bestände des Schweizerischen Literaturarchivs (SLA) abfragen. Seit dem 23. Mai 2008, dem 100. Geburtstag von Annemarie Schwarzenbach, sind grosse Teile der Fotosammlung der Autorin online zu sehen. Ferner werden im Projekt IMVOCS in Zusammenarbeit mit Memoriav audiovisuelle Dokumente digitalisiert, um sie auch für kommende Generationen sichtbar und hörbar zu erhalten (Beitrag von Felix Rauh).

Protagonista di un commovente ricordo di Werner Morlang, è il poeta e scrittore Gerhard Meier (1917 – 2008); lo abbiamo voluto ospitare anche in

copertina, dove con il suo poetico Inventar, accompagna il titolo di questo terzo numero del Bollettino. La rubrica dedicata alle informazioni presenta Passim 3 | 2008 Bollettino dell’Archivio svizzero inoltre i resoconti della terza edizione degli incontri della Sommerakademie di letteratura | Bulletin des Schweizerischen Literaturarchivs | al Centro Dürrenmatt di Neuchâtel, quest’anno dedicati al rapporto tra tea- Bulletin da l’Archiv svizzer da litteratura | Bulletin des Archives tro e società (si veda l’articolo di Patricia Käppeli e Simon Aeberhard), e del littéraires suisses convegno svoltosi a Lavin, attorno all’opera dello scrittore romancio Andri ISSN 1662-5307 Peer. Tra gli annunci segnaliamo le molteplici manifestazioni che avranno Passim online: www.nb.admin.ch/sla luogo nel 2009 per ricordare la figura di Hermann Burger a vent’anni dalla

Redaktion | Redazione: morte (contributo di Magnus Wieland e Simon Zumsteg). Roberta Deambrosi & Katja Fries SLA | ALS | ASL Hallwylstr. 15, CH 3003 T: +41 (0)31 322 92 58 Schliesslich können angehende Forschende künftig in Passim ihre F: +41 (0)31 322 84 63 Dissertationen zu Archiven und Nachlässen des SLA ankündigen. Wir E: [email protected] freuen uns, Ihnen hier die ersten drei Projekte vorstellen zu dürfen. Satz: Marlyse Baumgartner Titelbild: «Inventar», Manuskript aus dem Nachlass Gerhard Meier, SLA und «Porträt Gerhard Meier» von Alex Sadkowsky Fotoatelier der NB: Yasemin Bilgic, Simon Schmid & Peter Sterchi BN_passim_3 14.11.2008 17:35 Page 4

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[Dossier] Multimediale Perspektiven

HelveticArchives Personen, Familien oder Körperschaf- ten enthalten untergeordnet eine alpha- Die neue Archivdatenbank der Schweizerischen Nationalbibliothek betische Anordnung ihrer Archivalien- bestände. ISplus ist ein Gesamt- katalog, an welchem sich die Schwei- RUDOLF PROBST lass von Annemarie Schwarzenbach. zerischen Gedächtnisorganisationen Aus ihrem Nachlass kann ein grosser beteiligen, indem sie der NB ihre www.nb.admin.ch/helveticarchives Teil der über 7000 Aufnahmen umfas- Adressdaten und Bestände melden. HelveticArchives ist die neue Online- senden Fotosammlung, die ein Be- Zur Geschichte des Repertoriums: Datenbank für die Archivbestände der standteil des literarischen Nachlasses Die Schweizerische Nationalbiblio- Schweizerischen Nationalbibliothek ist, eingesehen und konsultiert wer- thek und das Schweizerische Litera- (NB) mit Angaben zu den Beständen den. Die Sammlung umfasst neben turarchiv haben die Daten der ge- der Graphischen Sammlung (GS) und Schwarzenbachs eigenen Fotografien druckten Ausgabe von 1992 umge- des Schweizerischen Literaturarchivs auch Fotos ihrer Reisegefährtinnen wandelt in eine über Internet zugäng- (SLA). HelveticArchives ist seit dem Barbara Wright und Ella Maillart und liche Datenbank. Diese inzwischen 23. Mai 2008 online, dem 100. Ge- wurde anlässlich des 100. Geburts- veraltete Access-Datenbank ist 2008 burtstag von Annemarie Schwarzen- tags von Annemarie Schwarzenbach in HelveticArchives, die Archivdaten- bach, und ist im Aufbau begriffen. In zum 23. Mai dieses Jahres erstmals bank der NB, integriert worden. einem ersten Schritt wurden ausge- zugänglich gemacht. Die Fotografien 1992 ist das Repertorium, in sei- wählte Fotobestände aufgenommen. von Annemarie Schwarzenbach sind ner zweiten Auflage herausgegeben Nach und nach werden weitere Ar- im Rahmen eines Memoriav-Projekts von Gaby Knoch-Mund, zum letzten chivbestände und andere Dokument- digitalisiert worden. Mal in Buchform erschienen, damals arten in HelveticArchives integriert. Zudem ist ein bedeutender Teil der als Gemeinschaftsprojekt von BBS Zudem enthält HelveticArchives Autorenbibliothek von Friedrich Dür- und VSA, finanziell unterstützt vom mit ISplus (Archive, Bibliotheken und renmatt in HelveticArchives verzeich- Schweizerischen Nationalfonds und Museen) eine umfangreiche Informa- net, mit umfassenden Angaben zu von der Schweizerischen Akademie tions-Sammlung zu Schweizerischen den Lesespuren in den betreffenden der Geisteswissenschaften. Gedächtnisinstitutionen. In ISplus in- Büchern und zum Teil auch mit Scans Die Schweizerische Nationalbiblio- tegriert ist auch das Repertorium der von einzelnen handschriftlich bear- thek, die daraufhin mit der Pflege der handschriftlichen Nachlässe in Biblio- beiteten Seiten. Repertoriums-Daten betraut wurde, theken und Archiven der Schweiz. Neu hinzugekommen sind in und das Schweizerische Literaturar- Die Online-Datenbank HelveticAr- HelveticArchives das Inventar der chiv haben die Daten der gedruckten chives wird viermal jährlich, jeweils Einzelerwerbungen des SLA seit etwa Ausgabe von 1992, umgewandelt, zum Quartalsende, aktualisiert, ak- 1991, dasjenige des Nachlasses von zuerst 1995 in statische HTML-Sei- tualisiert. Heinrich Federer sowie jenes des ten, anschliessend 1998 in eine HelveticArchives ist noch nicht voll- Schweizerischen Rilke-Archivs. neue, über Internet zugängliche Da- ständig mehrsprachig eingerichtet. Die tenbank unter dem Namen Libraries Suchoberflächen stehen auf Deutsch, ISplus und Repertorium der and Related Organisations (LibRO). Französisch und Englisch zur Verfü- handschriftlichen Nachlässe in Diese inzwischen veraltete Eigenent- gung. Die Feldbezeichnungen in den den Bibliotheken und Archiven wicklung in Form einer Access-Da- Verzeichnungseinheiten sind aus- der Schweiz tenbank ist 2008 in HelveticArchives, schliesslich auf Deutsch verfügbar. Sie ISplus ist eine umfangreiche Informati- die Archivdatenbank der NB, inte- finden unter dem Menupunkt «Glos- ons-Sammlung zu Schweizerischen griert worden. sar» Übersetzungslisten für die ande- Gedächtnisinstitutionen (Archive, Bi- ren Landessprachen und Englisch. bliotheken und Museen). Die Institutio- nen sind im Archivplan geografisch Schweizerisches Literaturarchiv nach Kanton und innerhalb alphabe- HelveticArchives enthält die aktuellen tisch nach Institution angeordnet. In IS- Bestandesübersichten zu den einzel- plus integriert ist auch das Repertorium nen Nachlässen und Archiven aus der handschriftlichen Nachlässe in Bi- dem SLA sowie einzelne integrale In- bliotheken und Archiven der Schweiz. ventare, wie etwa jenes zum Nach- Institutionen mit Archivbeständen von BN_passim_3 14.11.2008 17:35 Page 5

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IMVOCS oder die fruchtbare Zusammenar- von 15 Autorinnen und Autoren aus den vier Schweizer Sprachfamilien beit des Schweizerischen Literaturarchivs in den beiden Literaturarchiven SLA mit Memoriav zur Rettung bewegter Bilder und MFA und in den Fernseharchi- ven zu identifizieren, auf neue Trä- und Töne ger zu überspielen und öffentlich zugänglich zu machen. Primäres Se- lektionskriterium war das Speicher- FELIX RAUH Tönen, Filmen und Videos. 1995 als format; alle noch nicht auf die neu- Verein von den wichtigsten Institutio- este Videogeneration überspielten Einige Autorinnen und Autoren pro- nen mit audiovisuellen Beständen Dokumente fanden Eingang in die duzieren während ihres Schreible- gegründet, initiiert und begleitet Me- IMVOCS-Sammlung. Das erklärt, bens neben Texten auf Papier auch moriav Rettungs- und Zugangspro- wieso von einigen bekannten Auto- Ton-, Film- oder Videoaufnahmen, jekte mittels finanzieller Unterstüt- ren mit hoher Bildschirmpräsenz wie die mit dem Nachlass ins Archiv ge- zung und bündelt das vorhandene Friedrich Dürrenmatt oder Max langen. Bei Hans Boesch finden Wissen zur Erhaltung audiovisueller Frisch nur verhältnismässig wenig sich etwa die originalen Tonaufnah- Dokumente. Material bei den insgesamt 46 Stun- men von mehreren langen Inter- Memoriav führt kein eigenes den Filmen und Videos zu finden views, die er mit Schweizer Schrift- Archiv, sondern arbeitet immer mit sind. stellerinnen und Schriftstellern wie Partnern zusammen, welche die Zur Projektfortsetzung verständig- oder Dante Andrea Verantwortung für die langfristige ten sich die Projektpartner auf eine Franzetti für das Buchprojekt Stadt Lagerung, die Übertragungen auf Erweiterung der Namenliste und den als Heimat (1993) geführt hatte. An- neue Träger und die Erfassungen in Einbezug von Tönen. Die ausge- dere Beispiele sind selber aufge- Bibliothekskatalogen oder Archivda- wählten SLA-Nachlässe wurden nun nommene Lesungen von Frühfas- tenbanken übernehmen. Einer die- systematisch nach Tondokumenten sungen eigener Werke bei Paul ser Partner ist das Schweizerische durchforscht, die digitalisiert werden Nizon, Kassetten mit Aufführungen Literaturarchiv (SLA). sollten. Gleichzeitig entspann sich der sakralen Werke von Silja Walter eine Zusammenarbeit mit den Ra- oder Videoaufzeichnungen von fran- Projekt IMVOCS diostationen der SRG SSR idée zösischen Fernsehportraits im Seit 2002 unterstützt Memoriav das suisse mit dem Ziel, in deren Archi- Fonds Georges Borgeaud. Für For- SLA finanziell und personell mit ven alle O-Töne und Sendungen von schende können diese audiovisuel- dem Projekt IMVOCS bei der Ret- und über die ausgewählten Autorin- len Dokumente wichtige Quellen tung seiner audiovisuellen Archiv- nen und Autoren zu sichern und zu- zum Verständnis eines Werkes oder bestände. IMVOCS – das Kürzel gänglich zu machen. Ähnlich wie im einer Biographie sein. Und zweifel- steht für Images et Voix de la Cultu- Pilotprojekt lief die Arbeit mit den los stellen sie wertvolles Basismate- re Suisse – trat in die Fussstapfen bewegten Bildern in kontinuierlicher rial für die Literaturvermittlung dar. des VOCS-Projektes, das Memori- Zusammenarbeit der alten Projekt- av von 1996 bis 1998 mit dem SLA partner weiter. Netzwerk Memoriav und dem Radio Suisse Romande Die Hauptidee von IMVOCS war Für die meisten Institutionen, die auf RSR realisiert hatte. Allerdings immer die personenzentrierte Doku- die Erhaltung von Papier spezialisiert kümmerte sich VOCS nicht um die mentenauswahl. Ausnahmen sind sind, bedeuten audiovisuelle Doku- SLA-Bestände, sondern konzen- die vollständige Literatursendung mente eine grosse Herausforderung. trierte sich auf eine Selektion von Voix au chapitre der Télévision de la Denn sie haben die unangenehme 200 Stunden O-Tönen ausgewähl- suisse romande und Teile des Kul- Eigenschaft, eher früher als später ter SLA-Autorinnen und Autoren turmagazins Schauplatz des Schwei- nicht mehr lesbar zu sein, sei es aus dem RSR-Archiv und machte zer Fernsehens, die auf Vorschlag wegen fortgeschrittenen Zersetzungs- sie in der Nationalbibliothek zu- der Fernseharchive in die IMVOCS- prozessen oder verschwundenen gänglich. Sammlung integriert worden sind. Abspieltechnologien. Speziell ange- In der zweijährigen Pilotphase passte klimatische Bedingungen und des neuen Projekts standen beweg- Erhaltungsmassnahmen und Medientransfers zum richtigen Zeit- te Bilder im Vordergrund, dabei wur- Zugang punkt gehören deshalb zur Archivpla- de von Anfang an das Max Frisch- Für die Langzeitsicherung von be- nung. Archiv MFA in Zürich sowie die drei wegten Bildern und Tönen sind In der Schweiz kümmert sich die grossen nationalen Fernsehstatio- Transfers auf neue Träger bzw. Um- Netzwerkorganisation Memoriav um nen mit einbezogen. Das Konzept wandlungen in neue Formate unum- die Erhaltung von Fotografien, sah vor, Film- und Videodokumente gänglich. Damit diese komplexen BN_passim_3 14.11.2008 17:35 Page 6

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Arbeitsschritte den von Memoriav nalbibliothek und einen Teil in der dafür aufbereitet werden müssen, gesetzten hohen qualitativen An- Bibliothek der Spezialsammlungen sucht Memoriav die Zusammenar- sprüchen genügen, werden sie nur der ETH Zürich, zu der das Max beit mit Bildungsspezialisten. Ziel ist an kompetente Firmen und Institu- Frisch-Archiv gehört. Bewegte Bil- die Entwicklung eines für Schulen tionen vergeben. Sind dann die der stehen in Form von VHS-Kas- geeigneten Lehrangebots mit IM- neuen Sicherheitskopien in Form setten oder DVDs zur Verfügung, VOCS-Inhalten. von Digital Betacam Videos oder Töne sind durch Anklicken eines Die Zusammenarbeit von SLA hoch aufgelösten Audiofiles zusam- Links im Inventar an den öffentli- und Memoriav hat sicher zu einer men mit den Originalen wieder zu- chen Computern der Schweizeri- Archivierungsroutine für audiovisu- rück bei den Herkunftsarchiven, schen Nationalbibliothek abhörbar. elle Nachlassteile geführt. Wenn übernehmen diese die Verantwor- Zum jetzigen Zeitpunkt sind im dank IMVOCS auch noch die Wert- tung für deren sichere Aufbewah- IMVOCS-Inventar rund 1200 Stun- schätzung für diese Dokumente zu- rung. den Ton und 150 Stunden Bewegt- nimmt, wird das Projektziel mehr als Das SLA übergibt die ausgewähl- bild verzeichnet, eine Zahl, die sich erfüllt. ten Filme und Videos dem Zentrum noch beträchtlich erhöhen wird. elektronische Medien ZEM (ehe- Noch fehlt der Zugang zu den Do- Weitere Informationen: mals Armeefilmdienst), wo sie mit kumenten aus den Radioarchiven www.memoriav.ch [email protected] professionellen Gerätschaften trans- (mit Ausnahme der VOCS-Doku- feriert werden. Mit der Digitalisie- mente, die auch ins IMVOCS-Inven- rung der Tonbänder, Kassetten, tar integriert wurden) und zur Erwei- Schallplatten und CDs ist die Schwei- terung des Videobestandes ist zer Nationalphonothek beauftragt. geplant, die vorhandenen Beiträge Während Originale und neu her- durch bereits früher transferierte gestellte Videokassen im klimatisier- Dokumente aus den Fernseharchi- ten Archivkeller des SLA verwahrt ven zu ergänzen. Neue DVD & CD werden, übernimmt die Nationalpho- nothek die digitalen Files und ver- Weitere Planung Andri Peer e ses sorgt sie sicher im eigenen Massen- Bis zum geplanten Projektabschluss temp – Ein Blick in speichersystem. Ende 2009 stehen neben den be- Erhaltungsprojekte sind nur reits eingespielten Transfer- und Ka- die Pionierzeit des dann fertig gedacht, wenn sie auch talogisierungsroutinen mit AV-Mate- romanischen ein Nutzungskonzept haben, das rialien weiterer Nachlässe noch zwei interessierten Kreisen einen einfa- andere Ziele im Vordergrund, näm- Radios chen Zugang zu Gebrauchskopien lich die Realisierung zusätzlicher Vi- des geretteten Bestandes erlaubt, sionier- und Abhörstationen zum ohne dass Urheberrechte dabei einen, sowie die pädagogisch-didak- ANNETTA GANZONI verletzt werden. IMVOCS löst die tische Aufbereitung einer Dokumen- Aufgabe mit einem Online-Inventar tenauswahl für die Schule zum an- In Zusammenhang mit dem For- (www.imvocs.ch), das neben einer deren. schungsprojekt des Schweizeri- Projektbeschreibung die Katalog- Eine Spezialität des Projektes ist schen Nationalfonds zu Tradition einträge aus den Herkunftsarchiven seine Interregionalität. Es ist des- und Moderne in der Lyrik Andri in der Originalsprache enthält. Ein halb wünschenswert, dass die IM- Peers entwickelte sich die Idee zu SF-Beitrag über Giorgio Orelli er- VOCS-Dokumente auch in der gan- einer audiovisuellen Edition. scheint deshalb auf Deutsch, ein zen Schweiz genutzt werden kön- Aus den Sendungen von 1947 Eintrag zu Max Frisch aus dem Tes- nen. Als weitere Standorte neben bis 1982 von Radio e Televisiun Ru- siner Fernsehen dafür auf Italie- den bereits etablierten in Bern, Zü- mantscha und ihren Vorgänger-In- nisch. Wie andere SLA-Inventare rich und Lugano (in der dortigen Bi- stitutionen, an denen Andri Peer als werden auch die IMVOCS-Daten im blioteca cantonale ist bis jetzt nur Autor, Redaktor, Schauspieler und Laufe der nächsten Monate in die ein kleiner Teil der Sammlung zu Gesprächspartner mitwirkte, wurde neue Archivdatenbank HelveticAr- sehen) stehen Lausanne und Chur eine möglichst repräsentative Aus- chives übertragen. zuoberst auf der Liste. wahl getroffen, die sowohl die er- Sehen und hören kann das Publi- Aus der Überzeugung heraus, staunliche Varietät der Literatursen- kum die AV-Dokumente aus rechtli- dass sich Videos und Tondokumen- dungen aus der Pionierzeit der chen Gründen nur an ausgewählten te von Kulturschaffenden hervorra- neuen Medien als auch den An- Orten, d.h. momentan in den Räum- gend für den Einsatz im Bildungsbe- spruch einer der Modernität ver- lichkeiten des SLA, bzw. der Natio- reich eignen, diese aber speziell pflichteten Autorengruppe im klei- BN_passim_3 14.11.2008 17:35 Page 7

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nen romanischen Kulturraum auf- «Nachlässe in Bibliotheken und Archiven» zeigt. Dichterlesungen, Autoren- portraits und Hörspiele sowie Sen- Ein Workshop der Initiative Fortbildung für wissenschaftliche dungen zu Buchpräsentationen, Spezialbibliotheken und verwandte Einrichtungen Literaturkritik und Kulturarbeit wur- den in die hier präsentierte Aus- wahl integriert. Es wird auf eine Pe- Hamburg, 21. – 22.2.2008 gruppen / Nachlassteile sein. Die riode Bezug genommen, die als Verantwortung der Festlegung der eine Blütezeit romanischen Litera- FRANZISKA KOLP Erschliessungstiefe sollte stets der turschaffens bezeichnet werden jeweiligen Institution überlassen kann. Andri Peer stand im Mittel- Der Workshop setzte sich aus vier bleiben. punkt Epoche machender Bemü- Teilen zusammen, in denen Tätig- In der Gruppe, die sich mit dem hungen um literarische Erneuerung keitsbereiche rund um Nachlässe, Themenschwerpunkt «Benutzung» und eine den engen Sprachraum bzw. Archive behandelt wurden, befasste, wurden besonders auch übergreifende Vermittlung von Lite- nämlich deren Übernahme, deren die Praxisprobleme der Benutzung ratur. Die Hörspiele umfassen den Erschliessung und Benutzung sowie angesprochen und dabei festgehal- Zeitraum vom 19. Jahrhundert bis die Zusammenarbeit mit der For- ten, dass nur eine überschaubare in die 1970er-Jahre, ihr themati- schung. Menge von Materialien gleichzeitig sches Spektrum reicht vom Alpinis- Im Teilworkshop «Erwerb» stellte ausgegeben und die Ordnung sowie mus, der Siedlungsgeschichte und sich heraus, dass bei der Übernah- die Reihenfolge der ausgegebenen der Psychologie bis zum dörflichen me eines Nachlasses der Vertrag Dokumente nicht geändert werden und urbanen Gesellschaftsleben. als Dreh- und Angelpunkt anzuse- dürfen. Für jedes Konvolut muss Diese im Laufe von mehr als dreis- hen ist. Darin finden Sachverhalte zwingend ein eigener Leihschein sig Jahren produzierten Sendungen ihren Niederschlag, die vor Vertrags- ausgefüllt werden. Nachlässe soll- ermöglichen zugleich Einsicht in abschluss zu bedenken und zu tun ten zudem nur dann zur Benutzung eine interessante technische und sind oder die erst im Nachhinein zum freigegeben werden, wenn die Ma- produktionsästhetische Entwicklung Tragen kommen. Ein Vertrag sollte terialien nach festgelegten, nach- der elektronischen Medien und mindestens die Angabe der beteilig- vollziehbaren Kriterien geordnet können auch für die Linguistik und ten Personen und der vereinbarten sind und für den Nachlass eine sta- die Zeitgeschichte aufschlussreich Leistungen, die Regelungen für den bile Signaturenkonvention existiert. sein. Misslingensfall, die schriftliche Ab- Eine vollständige Erschliessung des Ermöglicht wurde die Veröffentli- fassung des Inhalts und die Beach- Nachlasses ist jedoch keine Voraus- chung durch die Zusammenarbeit tung rechtlicher Grenzen beinhalten. setzung für die Benutzung. mit Radio e Televisiun Rumantscha Im Teilworkshop «Erschliessung» Beim vierten Themenschwerpunkt (Archivar Alexi Baselgia), Memoriav wurde speziell darauf hingewiesen, «Zusammenarbeit mit Forschung (Felix Rauh, Projektleiter Imvocs) dass sich für viele nachlassverwal- und Lehre» kamen die Bereiche und der Fonoteca Nazionale sowie tende Institutionen das Problem der ‹Editionen› und ‹Forschungsdoku- dank der finanziellen Unterstützung Menge der zu erschliessenden mentation›, ‹Ausstellungen› und des Kantons Graubünden und der Nachlässe stellt. In pragmatischer ‹Seminarbegleitung› zur Sprache. Stiftungen Biblioteca engiadinaisa Hinsicht und im Interesse der Be- Insbesondere wurde hier auf die und Quarta Lingua. nutzenden sei es besser, alle Nach- Kooperation mit dem akademischen lässe summarisch zu erschliessen Umfeld hingewiesen; denn das He- und im Internet zu veröffentlichen, ranführen von Studierenden an die Ganzoni, Annetta (ed.), Andri Peer e als nur wenige Nachlässe tiefener- Archivarbeit verfolge einen doppelten ses temp en documents audiovisuals schlossen vorzulegen und viele gar Zweck: Zum einen werden künftige istorics. Intervistas, recitaziuns da nicht im (Web)-Zugriff zu haben. studentische Mitarbeitende ausge- poesias, gieus radiofonics e critica Mindestens sollte jeder Nachlass bildet und zum anderen junge For- litterara (1947 – 1982) or dals archivs durch eine summarische Beschrei- schende gefördert. Allgemein geht da Radio e Televisiun Rumantscha, bung erschlossen sein, welche nach es um das Einbringen der Bestände Berna: BN/ASL 2008. [DVD e CD] Möglichkeit genaue Aussagen über in Forschung und Lehre sowie um die Nachlasser/innen, den Umfang, die Schaffung von Kooperations- die enthaltenen Materialarten, ggf. möglichkeiten im Bereich von Er- Laufzeit und allgemeine Angaben schliessungsprojekten. über den Inhalt enthält. Eine nächs- Kritisiert wurde schliesslich die te Stufe könnte die detaillierte Be- nicht unproblematische Aufteilung schreibung grösserer Bestands- des Workshops in vier Teile, da die BN_passim_3 14.11.2008 17:35 Page 8

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einzelnen Teilnehmenden sich je- für Juristisches Bibliotheks- und gen für die Benutzung von Hand- weils nur mit einem Themenschwer- Dokumentationswesen 8) schriftenbibliotheken. In: BD punkt vertieft und eingehend befas- – Zur Praxis des Handschriftenbi- (1994), 1638ff. sen konnten und über die andern bliothekars. Beiträge und Empfeh- – Müller, Harald: Rechtsprobleme Bereiche lediglich mittels der Er- lungen. Hrsg. vom Deutschen Bi- bei Nachlässen in Bibliotheken gebnispräsentation am Schluss ori- bliotheksinstitut. Frankfurt am Main und Archiven. Hamburg 1983. entiert wurden. Doch letztlich sorg- 21995. ten die vielfältigen Anregungen und Literaturhinweise zu Hinweise sowie die interessanten Literaturhinweise zur Rechtsfragen und Ausstellungen und informellen Begegnungen mit «Erschliessung» – Jürgen Christoph Gödan: Zur den Berufskollegen für ein insge- – «Regeln zur Erschließung von rechtlichen Zulässigkeit beson- samt positives Fazit dieser Veran- Nachlässen und Autographen» derer Bedingungen für die Benut- staltung. RNA: zung von Handschriftenbibliothe- http://zka.sbb.spk-berlin.de/rna/ ken, in: Bibliotheksdienst 28 Literaturhinweise zum «Erwerb» – Portal der österreichischen Litera- (1994), 1638-1650. – Gödan, Jürgen Christoph: Schen- turarchive KOOP-LITERA: – Rechtsprobleme bei der Benut- kungen an Bibliotheken. Fallanaly- http://www2.onb.ac.at/koop-litera/ zung von Handschriftenbibliothe- sen und Mustervertrag mit Erläu- – Zentralkartei der Autographen ken, in: Bibliotheksdienst 29, 1995, terungen. In: Bibliotheksdienst 36 (ZKA) und Verbundkatalog der 296-322. (2002) 6, 755-771. Nachlässe und Autographen (Kal- – AG Handschriften/Alte Drucke der http://bibliotheksdienst.zlb.de/2002/ liope) an der Staatsbibliothek zu Sektion 4 im DBV: Richtlinien für 02_06_11.pdf Berlin: http://kalliope.staatsbiblio- die Bereitstellung von Bibliotheks- – Haager, Michael: Pacta sunt ser- thek-berlin.de/ gut für Ausstellungen. vanda – aber nicht immer! Grund- – Manuscripts and Letters via Inte- http://www.bibliotheksverband.de/ sätzliche Überlegungen für Biblio- grated Networks in Europe Malvi- aghandschriften/dokumente/ theken zum Abschluss von ne: http://www.malvine.org/ ausstellungsempfehlungen.pdf Verträgen. In: BuB 51 (1999) 9, – Gemeinschaft der Anwender von 560-565. allegro für Handschriften, Autogra- – Kaukoreit, Volker: Empfehlungen phen, Nachlässe und Sonderbe- für einen Geschäftsgang «Erwer- stände HANS: bung von Nachlässen und Auto- http://www.sub.uni-hamburg.de/ graphen». Ausgearbeitet von der informationen/projekte/hans/hans. VÖB-Kommission für Nachlassbe- htm; hier vor allem: HANS-Anwen- arbeitung (2004). Mitteilungen der derhandbuch: http://www.sub.uni- VÖB 58 (2005) 1, 59-60. hamburg.de/informationen/projek- http://www.univie.ac.at/voeb/php/ te/hans/handbuch.html kommissionen/nachlassbearbeitung/ – Standards, Regelwerke und Orien- erwerbungsvertraege/ tierungshilfen für verwandte Fra- – Leitfaden zur Abfassung eines gen Normdaten, Standards, Aus- schriftlichen Vertrages über den tauschformate: Erwerb (Ankauf und Schenkung) http://www2.onb.ac.at/koop-litera/ von Nachlassmaterialien in öster- standards/; reichischen Literaturarchiven. http://www.loc.gov/ead/ und EAC Empfehlung der VÖB-Kommission http://xml.coverpages.org/ni2004- für Nachlassbearbeitung unter Mit- 08-24-a.html hilfe von Waltraud Balkanyi und Dr. Isolde Müller. In: Mitteilungen der Literaturhinweise zur VÖB 54 (2001) 1, 14-18. «Benutzung» http://www.univie.ac.at/voeb/php/ – Berger, Gabriele: Urheberrecht für kommissionen/nachlassbearbeitung/ Bibliothekare. 22007. (Stand vom erwerbungsvertraege/ 1.1.2008) – Müller, Harald: Rechtsprobleme – Berger, Gabriele: Empfehlung zum bei Nachlässen in Bibliotheken Abschluss von Depositumverträ- und Archiven. Hamburg 1983. (Ar- gen. In: BD (1989), 275f. beitshefte der Arbeitsgemeinschaft – Gödan, Christoph: Zur rechtlichen Zulässigkeit besonderer Bedingun- BN_passim_3 14.11.2008 17:35 Page 9

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[Informationen | Informations | Informazioni | Infurmaziuns]

Kleine Rede für Gerhard Meier und beiden Komponenten hat sein Werk seit jeher Rechnung getragen. Zürich, 29. Juni 2008 Erst auf einer dunklen Folie gewinnt das Helle seine volle Strahlkraft. Im Prosastück «Der andere Tag» richtet WERNER MORLANG tigkeit in der Lampenfabrik und sogar er seiner nächsten Umgebung ein sein Schreiben hat er ausdrücklich wahres Freudenfest aus. Schon al- Wer je die Gelegenheit hatte, Ger- als Erlebnisse «am Rande des Ab- lein der Umstand, dass es ihn gibt, hard Meier zu begegnen, und sei es grunds» verstanden. diesen dörflichen Kosmos in seinen nur für ein paar Stunden, wird die be- mannigfachen Ausprägungen, be- glückende Erfahrung gemacht haben: Trübe Realien und unliebsame rechtigt ihn dazu, von Gerhard Mei- Da spricht einer genau so, wie er Dinge wurden von ihm keineswegs ers Zartsinn erfasst und nobilitiert zu schreibt. So wie er dem gröblich ope- verschwiegen, aber er hat nie viel werden. So inständig ist er darauf rierenden Weltgeist auf die feineren Wesens darum gemacht oder sie bedacht, jedem Partikel ein unge- Sprünge half und die Unordnung der gar zum Skandalon aufgeplustert. schmälertes Daseinsrecht einzuräu- bestehenden Verhältnisse wenigstens Abstand und Anstand galten ihm sy- men, dass sich die Dinge beleben gesprächsweise in Ordnung brachte, nonym. In politisch aufgeregten Zei- und die Natur anthropomorphe Züge mochte man sich sein Alter Ego Kas- ten wurde Gerhard Meier gelegent- annimmt. Und wenn im Verlauf des par Baur vorstellen. Und manch lich vorgeworfen, dass die Arbeits- Buches die Langenthal-Jura-Bahn einer, der diesen elegant-verwege- welt in seinen Texten nicht vorkom- dank neuer Triebwagen statt wie bis- nen Gesprächsvolten beiwohnte, sah me, dabei ist sie im helvetisch sprö- her zu «hüpfen», nunmehr bloss sich unversehens in die Lage Bind- den Bau der Sätze, in der Vermei- «daherzufahren geruht», scheint ein schädlers versetzt und trug alsdann dung wohlfeiler Lyrismen durchaus Bedauern über den Verlust eines das Erlauschte getrost, getröstet präsent. Was ich in der Prosa ver- poetischen Mehrwerts mitzuschwin- nach Hause. misse – einen überaus kennzeich- gen. Leben und Schreiben waren bei nenden Ausdruck seines Naturells, Doch ähnlich wie bei Gottfried Gerhard Meier kongruent, was nicht ist dem geschriebenen Wort versagt: Keller, der die Schönheit der Welt heisst, das es in diesen Bereichen nämlich sein herzhaftes Lachen. Ich, auf ihrer Endlichkeit begründete, ist ungebrochen harmonisch zuging. Er wir alle werden es künftig schmerz- der Tod in seinen Texten überall an- hat sich gern als Provinzler ausgege- lich entbehren müssen. Der sanftmü- wesend. Der Dichter des «Verflosse- ben und war Niederbipp alias Amrain tige Gerhard war kein Mann der vor- nen, Dahingegangenen, Unwieder- mit Haut und Haaren und insbeson- eiligen Versöhnung. Gegen bringlichen» ist den Toten nicht dere seiner dichterischen Einbildungs- Angelegenheiten, die seiner Auffas- minder verschworen wie den Leben- kraft zugetan, aber er hat sein Hei- sung widersprachen oder die er für den. Nachts zerfällt das Dorf in die matdorf nie zur Idylle verklärt. Auch lebensfeindlich hielt, konnte er heftig Bezirke der verstorbenen Bewohner. über die Amrainer Matten, die seine aufbegehren. Doch kaum hatte er Mit Baur, an dessen westlicher See- geliebten Massliebchen hervorbrin- einen Missstand verbal zur Strecke lenwand das «Bild voller Gebeine» gen, geht «die Brandung der Ge- gebracht, mündete sein Unmut in hängt, flaniert man durch Friedhöfe, schichte». Von den Birken, selber an- ansteckende Heiterkeit. Sein Ver- Gottesäcker, Leichenhallen, vorbei gepflanzt auf seinem Grundstück, ständnis der Schöpfung beruhte auf an Beinhäusern und Hausruinen, führt eine schwindelerregende Ge- der naturgemässen Vielfalt der Er- die an Totenköpfe gemahnen, und dankenlinie zu den Schlachtfeldern scheinungen. Daher erteilte er bis- erinnert sich etwa an das «Lied vom von Borodino und Stalingrad. Selbst- weilen selbst den befremdlichen Tod» aus Sergio Leones Western. mörder defilieren durch’s Dorf, und an Dingen seinen Segen mit der Be- Gewiss, der Roman Toteninsel ver- seinen Mitbewohnern hat er neben merkung: «Auch das muss es geben», weist im Titel auf das melancholi- Siegen und Niederlagen die verkrümm- um alsdann sein unvergleichliches sche Bild von Böcklin, freilich mehr ten Rücken und Zeichen der Müdig- Lachen anzustimmen. noch auf eine Metapher für die keit wahrgenommen. Aber auch den Erde, die im Roman Der Besuch an tausend Tagen geleisteten Aktiv- Das Leben sei ein dunkles Fest, laut näher erläutert wird. Dort ist von der dienst, die dreiunddreissigjährige Tä- dem Titel unseres Gesprächsbuches, Erde als einem Geisterschiff die BN_passim_3 14.11.2008 17:35 Page 10

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Rede, «auf dessen Deck man ei- das alles Seiende zugleich vernich- den langen Zeiten, die vor uns gewe- gentlich zu Besuch weile, während tet und bewahrt, und gegen das Ver- sen sind. Man gedenkt nicht, wie es man unter Deck dann Dauergast wehen tritt ja denn auch die Erinne- zuvor gewesen ist, also auch das, sei, (…) das heisse zumindest unse- rung auf den Plan, zumal die das hernach kommt, wird man nicht re materiellen Bestandteile, die ein Evokationskraft deiner Prosa. In Wit- gedenken bei denen, die darnach unbeachtliches Häuflein ausmach- tow auf der Insel Rügen hast du in sein werden. ten, wo man dann also Mitfahrer sei späten Jahren zum mütterlich umfä- Ich, der Prediger, war König über auf unbestimmte Zeit, oder so lange chelten «Land der Winde» heimge- Israel zu Jerusalem, und richtete dieses Geisterschiff eben kursiere funden und dort – so das letzte Wort mein Herz, zu suchen und zu for- im Weltraum». Den «Dauergästen» der Amrainer Tetralogie – den «Wel- schen weislich alles, was man unter im Unterdeck verheisst Gerhard tenwind» aufgespürt. Und wenn du dem Himmel tut. Solche unselige Meiers Imagination immerhin die jetzt endgültig den schwarzen Mühe hat Gott den Menschenkindern wundersame Verwandlung in Blu- Schimmel gesattelt hast, um zu dei- gegeben, dass sie sich drinnen müs- men und deren Duft. Der Eiche vom nem «Wolkenschattenboot» zu ge- sen quälen. Ich sah an alles Tun, das Walenboden, dem «stolzesten langen, wissen wir zumindest, dass unter der Sonne geschieht, und Baumgeschöpf der Amrainer Wäl- du im «Schneewittchenland» neben siehe, es war alles eitel und Haschen der» ist gar eine zweifache Meta- Jakob von Gunten und dem Meret- nach Wind. Krumm kann nicht morphose beschieden, indem sie lein auch die von dir geschaffenen schlicht werden, noch der Fehl ge- die Holzteile zu einem Denkmal lie- «Windfiguren» Baur und Bindschäd- zählet werden. fert und den Dirigenten der Dorfmu- ler antreffen wirst. Ich sprach in meinem Herzen: sik zu einem Musikstück inspiriert, Zum Schluss lese ich deinen Lieb- Siehe, ich bin herrlich worden, und und zwar real. Am Eingang des lingstext aus der Bibel, das erste Ka- habe mehr Weisheit denn alle, die vor Friedhofs kann man die Plastik be- pitel des Predigers Salomo, das dir mir gewesen sind zu Jerusalem, und sichtigen. Die bewegendste Rede, stets als Inbegriff der Poesie vorge- mein Herz hat viel gelernt und erfah- die Baur an Bindschädler richtet, schwebt hat und das, wie könnte es ren. Und gab auch mein Herz drauf, empfängt dieser aus einem Strauss anders sein, alles Tun auf Erden als dass ich lernte Weisheit und Torheit Winterastern auf dem Grab seines ein «Haschen nach Wind» bezeichnet. und Klugheit. Ich ward aber gewahr, Freundes. Doch sie alle, Baur, Bind- dass solches auch Mühe ist. Denn schädler, was immer den Amrainer «Es ist alles ganz eitel, sprach der wo viel Weisheit ist, da ist viel Grä- Kosmos ausmacht, feiern ohnehin Prediger, es ist alles ganz eitel. Was mens, und wer viel lernen muss, der ihre Wiederauferstehung in Gerhard hat der Mensch für Gewinn von all muss viel leiden.» Meiers unvergänglicher Prosa, in seiner Mühe, die er hat unter der der er selbst für uns Leserinnen und Sonne? Ein Geschlecht vergehet, Leser glorios überdauert. das andre kommt; die Erde aber blei- bet ewiglich. Die Sonne gehet auf, Er habe seine schönsten Texte in und gehet unter, und läuft an ihren den Wind geschrieben, pflegte Ger- Ort, dass sie wieder daselbst aufge- Dritte hard Meier öfter zu sagen. Das gilt he. Der Wind gehet gen Mittag, und Sommerakademie aber nicht nur für deine apokryphen kommt herum zur Mitternacht, und Texte, lieber Gerhard. Dem Wind wieder herum an den Ort, da er an- «Theater und hast du auch deine gedruckten Texte fing. Alle Wasser laufen ins Meer, Gesellschaft» anvertraut. Diese bald zarte, bald doch wird das Meer nicht voller; an ungestüme, reinigende Wirkungs- den Ort, da sie her fliessen, fliessen Centre Dürrenmatt Neuchâtel macht ist in sie buchstäblich einge- sie wieder hin. 22. – 27.6.2008 schrieben. Unzählige jahreszeitlich Es ist alles Tun so voll Mühe, dass geprägte Stellen in deinem Werk es niemand ausreden kann. Das BERICHT VON PATRICIA werden von dieser Instanz animiert Auge siehet sich nimmer satt, und KÄPPELI UND SIMON AEBERHARD oder belebt. Den Wind empfändest das Ohr höret sich nimmer satt. Was du jedes Mal als eine aufregende ist’s, das geschehen ist? Eben das Unter dem Titel «Theater und Gesell- Begegnung, hast du mir einmal ge- hernach geschehen wird. Was ist’s, schaft» widmete sich die dritte Som- sagt. Du würdest auf eine unbegreif- das man getan hat? Eben das man merakademie Schweizer Literatur am liche Art froh, den Wind am Morgen hernach wieder tun wird; und ge- Centre Dürrenmatt in der letzten Ju- riechen zu dürfen. Wind, Hauch, Luft schieht nichts Neues unter der niwoche dieses Jahres dem Theater sei Leben und vermutlich auch Sonne. Geschieht auch etwas, davon des 20. Jahrhunderts. Nebeneinander Geist. So erweist sich der Wind als man sagen möchte: Siehe, das ist gestellt und diskutiert wurden ver- ungreifbares, ambivalentes Wesen, neu? Es ist zuvor auch geschehen in schiedene Aspekte der vielfältigen BN_passim_3 14.11.2008 17:35 Page 11

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Wechselwirkungen zwischen theatra- diese Fragestellung an und nahm die Autoren, so führte von Matt aus, liegt len Spielwirklichkeiten einerseits und Situation des schweizerischen Thea- in Frischs Glauben an die Perfektibili- der von ihnen nie ganz zu trennen- terschaffens in der Zeit von 1930 bis tät, welcher Dürrenmatts Auffassung, den gesellschaftlichen Realität ande- 1950 genauer unter die Lupe. Die die Welt bzw. der Mensch könne sich rerseits. Unter der Leitung von Elio Zeit der Geistigen Landesverteidi- nicht verändern, sich nicht bessern, Pellin und Ulrich Weber wurde in ver- gung bietet dabei nicht nur Gelegen- komplementär entgegensteht. Aus schiedenen, von akademischen heit, einen Nationalstaat bei den Ver- dieser Differenz, folgerte von Matt, Fachleuten geleiteten Seminarblö- suchen zu beobachten, sich kulturell kann auch Dürrenmatts radikale cken ein breiter Einblick in die Ent- mittels Abgrenzung zu konstituieren Skepsis gegenüber allen welterlösen- wicklungen des Theaters des letzten und zu stabilisieren, sondern illus- den Institutionen und Systemen wie Jahrhunderts geboten. Die Dozieren- triert auch die Wirkmächtigkeit des beispielsweise der Religion oder dem den aus dem In- und Ausland führten neuen politischen, auf Zusammen- Marxismus verstanden werden. mit Impulsreferaten in Fragestellungen schluss ausgerichteten Theaterpara- Gegen diesen eher konservativen aus ihren spezifischen Fachberei- digmas. Schon vor dem Ersten Welt- Entwurf Dürrenmatts steht Frisch, der chen ein. Im Anschluss an die Exper- krieg war die Heimatkunstbewegung Liberale, welcher den Aufbruch in tenreferate erfolgte die ausführliche aufgekommen, als Reaktion der bo- eine neue Existenz stets als Ausweg Diskussion im Plenum sowie jeweils denständigen Werte gegen die als am Horizont konzeptualisiert. am Nachmittag die Visionierung von «minderwertig und artfremd» emp- Einen etwas anderen Aspekt des Aufführungs-Aufzeichnungen verschie- fundene Moderne, welche durch die Gesellschaftsbezugs von Theater denster Theaterstücke. Metropole Berlin verkörpert wurde. präsentierte Peter Utz (Lausanne) Erika Fischer-Lichte (Berlin) mach- Interessant zu verfolgen ist die pro- unter dem Titel Die Katastrophe im te den Anfang, indem sie unter der grammatische Förderung des Schwei- Blick – die Schweiz auf der Zuschau- Überschrift Individuum oder Gemein- zer Kulturguts im Zuge der Geistigen erbank. Darin referierte er über die schaft aufzeigte, dass vor allem der Landesverteidigung durch die Politik: zunächst überraschende These, wo- Diskurs über das Theater anfangs In diesem Kontext wurde unter ande- nach eine untergründige Traditionsli- des 20. Jahrhunderts der Ort war, an rem die Stiftung Pro Helvetia im Jahr nie der Schweizer Theaterliteratur welchem sich die Thematik der Ver- 1939 gegründet. Einerseits zeigen darin bestehe, die Schweiz imaginär gemeinschaftung auf besondere Art die Bestrebungen nach einem eidge- auf die Zuschauerbank der weltpoliti- und Weise zuspitzte. Das neu konzi- nössischen Theater in den Festspielen schen Katastrophen zu setzen. Weil pierte Theater sollte einen rituellen 1939 und 1941 eine Rückbesinnung das Drama nicht das katastrophale Stellenwert einnehmen und perfor- auf das Urschweizerische, anderer- Ereignis selbst zeigt, sondern gerade mativ Gemeinschaftsgefühle im Pu- seits werden avantgardistische Me- die Gemeinsamkeit und Sinn stiften- blikum und mit den Darstellern stif- chanismen der quasi-religiösen, thea- de Funktion des distanzierten Blicks ten. Als Beispiele wurden nicht nur tralen Vergemeinschaftung direkt aus auf das als Katastrophe adressierte die nationalsozialistischen Thingspie- Nazi-Deutschland übernommen. Die Ereignis, kann die Zuschauerposition le in Deutschland genannt. Die Idee Visionierung des Praesens-Films Fü- integrative Semantiken entfalten. Das eines Theaters «vom Volk, aus dem silier Wipf (1938) und die anschlies- Theaterdebüt von Thomas Hürli- Volk und für das Volk» prägte auch sende Diskussion zeigten eindrücklich mann, Grossvater und Halbbruder, die Massenspektakel der jungen die Stereotypen des Urschweizeri- reflektiert im Zuge der Diskussion der Sowjetunion und die zionistischen schen auf. neunziger Jahre dieses absurd ge- Pageants in den USA. Anhand von Peter von Matt (Zürich) unternahm wordene Selbstbild der Schweiz als Anschauungsmaterial aus der zwei- unter dem Titel Der Liberale, der Kon- «neutrale» Beobachterin des Zweiten ten Hälfte des 20. Jahrhunderts servative und das Dynamit eine ge- Weltkriegs. Der «Sonderfall» des Ver- (Nitschs Orgien-Mysterien-Theater, schichtsphilosophische Verortung der schontseins wird von Hürlimann in Schechners Dionysus in 69 und beiden Schriftsteller Max Frisch und den Fokus gerückt. Schon Friedrich Becks Living Theatre) konnte Friedrich Dürrenmatt. Das gemeinsa- Dürrenmatt beschäftigte dieses Ver- schliesslich die These diskutiert wer- me Aufbegehren gegen die als zu schontbleiben: den, dass Theaterinszenierungen eng empfundene Ordnung in der immer versuchen, eine Form von Zu- Schweiz, das sich poetologisch ins- „[…] denn der Krieg brach aus, schauer-Gemeinschaft zu stiften – besondere in Biedermann und die rückte näher und schloss das und sei es auch nur für die Dauer der Brandstifter und in Der Brudermord Land ein, mit dem paradoxen Er- Aufführung selbst. im Hause Kyburg gleichermassen in gebnis, dass die Schweiz ausser- Mit ihrem Referat Theater im drastischen Sprengmetaphern aus- halb der Katastrophe blieb; es war Spannungsfeld zwischen Geistiger drückt, ist bei Frisch und Dürrenmatt nicht auszumachen, […] ob sie Landesverteidigung und Avantgarde unterschiedlich motiviert. Die wich- verschont wurde, weil sie mutig knüpfte Ursula Amrein (Zürich) an tigste Differenz zwischen den beiden war oder feige oder beides zusam- BN_passim_3 14.11.2008 17:35 Page 12

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men, oder gar, ob sie einfach von such der alten Dame), Rudolf Probst herbeigeholten Stühlen und dank der Weltgeschichte vergessen (über Herbert Meier) und Franziska einem aus dem Saal transferierten worden war, dispensiert, sitzenge- Kolp (über Maja Beutler) zeigten Per- Lautsprecher. Vogt, ein vergessener lassen, als Fossil behandelt – spektiven der wissenschaftlichen Ar- Autor? Die zahlreich erschienenen auch das kommt ja vor. Der Krieg beit mit literarischen Archiven zur Zuhörerinnen und Zuhörer widerleg- spielte sich für die Stadt wie hinter Thematik der Sommerakademie auf. ten zumindest an diesem Abend fernen Kulissen ab“.1 Die Sommerakademie, welche wie eine derartige Befürchtung und ver- bereits in den Jahren 2004 und 2006 halfen durch ihre Anwesenheit dem Als öffentliche Veranstaltung im Rah- im Centre Dürrenmatt in Neuenburg Berner Literaturfest (www.berner-li- men dieser Sommerakademie stand stattfand, bot den aus der Schweiz teraturfest.ch) zu einem gelungenen am Abend des vierten Tages ein und dem europäischen Ausland an- Auftakt. durch Elio Pellin moderiertes Podi- gereisten Teilnehmern die Gelegen- Überschüssige Aktualität und umsgespräch im Schweizerischen Li- heit, in einem entspannten, aber zu- neue Sprengkraft – ob diese beiden teraturarchiv in Bern auf dem Pro- gleich anregenden Umfeld interes- Beschreibungen bezüglich Walter gramm. Dieses Gespräch erfolgte im sante Einblicke in das breite For- Vogts Werk affirmativ oder mit Fra- Anschluss an die Lesung der Dürren- schungsfeld «Theater und Gesell- gezeichen zu verstehen sind, darü- mattschen Rede zur Verleihung des schaft» zu erhalten. Durch die Im- ber diskutierte auf dem Podium Schiller-Gedächtnispreises Das The- pulsreferate der Gastreferenten Daniel Rothenbühler (Literaturwis- ater als moralische Anstalt heute. In wurde den Teilnehmenden ein spezi- senschaftler) mit Beatrice Eichmann- der Podiumsdiskussion debattierten fisches Fachwissen über die Entwick- Leutenegger (Literaturkritikerin), Re- die Autorin Marianne Freidig, die Re- lungen des Theaters im 20. Jahrhun- nate Nagel (Verlegerin der Werke gisseurin Ursina Greuel, der Theater- dert vermittelt. Das Einlesen in die Walter Vogts) und Raphael Urweider regisseur Volker Hesse sowie der verschiedenen Themen zur Vorberei- (Schriftsteller). Abgerundet wurde Schriftsteller Urs Widmer unter dem tung der Sommerakademie ermög- das Gespräch durch Textproben aus Titel Theater als Spiegel der Gesell- lichte anregende Diskussionen. Da- Altern, dem Wiesbadener Kongress schaft. durch kam es zu einem ergiebigen und aus Vogts Gedichtsammlungen, Als Abschluss der dritten Sommer- persönlichen Austausch zwischen vorgetragen vom Schriftsteller Fran- akademie arbeitete Stefan Hulfeld Studierenden, Doktoranden und Do- cesco Micieli. (Wien) in seinem Referat Was ist die zierenden, welcher der Vernetzung An Lieblingsbücher erinnerten Gesellschaft? Gibt es sie ausserhalb unter Forschenden unterschiedlicher sich die Gäste und an Bücher mit des Theaters? begrifflich und philoso- Universitäten und Institutionen si- Vogts Autogramm auf dem Schmutz- phiegeschichtlich am Konzept der cherlich förderlich sein wird. titel, die geschenkt, verschenkt, ver- Gesellschaft als wissenschaftlicher kauft und gekauft schliesslich in die und am Konzept der Theatralität als Weitere Informationen: eigene Bibliothek gestellt werden: So gesellschaftlicher Kategorie. Im An- http://www.cdn.ch kommt es, dass Raphael Urweider schluss erfolgte das Gespräch mit (und nicht nur er) Bücher besitzt, die dem Schweizer Theaterautor Lukas einmal in Vogts Regalen gestanden Bärfuss, welches den Teilnehmern haben müssen. Urweider (*1974) nicht nur einen vertieften Einblick in liest heute, was Vogt (1927–1988) die Schreibwerkstatt des erfolgrei- einst las; allein dieser Umstand chen Dramatikers vermittelte, son- Erinnerungen könnte bereits darauf hindeuten, dern die Fragestellung auch in das dass auch Vogts eigene Texte weiter- aktuelle Schweizer Theatergesche- an Walter Vogt hin interessieren dürften. Selbst hen einzubetten erlaubte. (1927–1988) wenn manche der Themen, die der Ergänzt und um weitere Aspekte Schriftsteller, Röntgenarzt und Psy- bereichert wurden die Seminarblöcke Zur Veranstaltung in der chiater in den 1960er- bis 1980er- durch Berichte von Mitarbeiterinnen Nationalbibliothek Bern Jahren früher als andere aufgespürt und Mitarbeitern aus dem Schweize- 20.8.2008 hatte, mittlerweile in der breiten Öf- rischen Literaturarchiv. Ursula Ruch fentlichkeit diskutiert werden und (über Rolf Hochhuth), Ulrich Weber URSULA RUCH Eingang in den literarischen Diskurs (über Friedrich Dürrenmatts Der Be- gefunden haben: Der Mensch als rei- Für nicht wenige fand das Podiums- ner Kostenfaktor, die Naturzerstö- gespräch über Walter Vogts Werk rung, Krankheit, Sucht, Gesundheits- am Abend des 20. August 2008 im wahn, Körperlichkeit und Sexualität, 1 Friedrich Dürrenmatt (1998): Labyrinth. Korridor der Schweizerischen Natio- Tod – um nur einige zu nennen. Eine Stoffe I-III, Winterkrieg in Tibet. WA in 37 Bänden, Bd. 28, S. 64. nalbibliothek statt. Auf in der Eile Frage stand dann auch im Zentrum BN_passim_3 14.11.2008 17:35 Page 13

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der Diskussion: Wie lesen wir das Tradiziun e moderna illa lirica dad Andri Werk Walter Vogts heute? Heute, zwanzig Jahre nach Vogts Tod 1988, Peer | Tradition und Moderne in der Lyrik und wir, die wir seither politische und Andri Peers kulturelle Veränderungen – nicht zu- letzt auf der literarischen Bühne der Tagungsbericht zum zweisprachigen Kolloquium in Lavin Schweiz – miterlebt haben. Die Podi- 22. – 23.8.2008 umsteilnehmerinnen und -teilnehmer erinnerten daran, dass Vogts Texte formal und stilistisch keineswegs ver- ANNETTA GANZONI Instrumentalität und Gestik und zur altet seien: Vogt beherrschte die poin- Metaphorisierung des Schreibens tierte, witzige Erzählweise, liebte das Ende August fand im Kultur- und Be- sowie zur Stimulation der dichteri- Absurde, scheute sich nicht vor Pro- gegnungszentrum La Vouta in Lavin schen Kreativität. Clà Riatsch vokation, war bald ironisch, bald sar- ein Kolloquium zur Lyrik Andri Peers schliesslich analysierte verschiede- kastisch: statt. Das Ziel war es, einen Einblick ne Ich-Figuren in den Gedichten. Er in das diesen Herbst auslaufende verwehrt sich gegen die «inflationä- Die drei Lebensalter des Menschen: Forschungsprojekt des Schweizeri- re» Verwendung des Begriffs «lyri- da da schen Nationalfonds zu ermögli- sches Ich» für jedes «Ich» in einem bla bla chen. Unter Einbezug weiterer For- Gedicht und schlägt eine analoge ga ga schenden und Lesenden sollte die Verwendung von Ich-Figuren vor, Diskussion erweitert werden, um Im- wie sie für narrative Texte üblich ist. Doch gleichzeitig war er auch ein pulse aus der heutigen Zeit zu ver- Am Freitagabend wurde die audiovi- Meister der stillen, nicht selten me- mitteln und Möglichkeiten eines zeit- suelle Edition vorgestellt, ein erster lancholischen Gedankenführung gemässen Umgangs mit dieser als Teil der Materialiensammlung aus sowie der sorgfältigen Naturbe- modern, schwierig und nicht selten dem Projekt (vgl. dazu den separa- schreibung und Charakterzeich- sogar als unverständlich geltenden ten Artikel im Passim-Dossier). nung. In 25 Jahren literarischer Tä- Lyrik vorzuführen und zu erschlies- Der Samstagvormittag wurde von tigkeit entstanden Romane, Erzäh- sen. Forschenden aus verschiedenen lungen, Essays, Reden und Predig- Als Einstimmung wurden in einem Fachbereichen bestritten. Der junge ten, daneben Theaterstücke, Hör- Workshop eine Reihe von Gedichten Rätoromanist Rico Valär zeigte an spiele, Gedichte und autobiografi- aus der vierzigjährigen Schaffens- Peers Texten die Beeinflussung sche Texte. Ob der autobiografische zeit Andri Peers gelesen und auf das durch den verehrten Vorgänger Pei- Roman Altern (1981), Erzählungen Spannungsfeld zwischen Tradition der Lansel, aber auch seine Einflus- wie Der Vogel auf dem Tisch (1968) und Moderne hin kommentiert. An- snahme auf dessen Gedichte bei und Die roten Tiere von Tsavo schliessend präsentierten die Mitar- der Vorbereitung der Gesamtausga- (1976) oder die Sprechstücke über beitenden der Projektgruppe Beiträge be. Der Studienkollege Peers und die Propheten Amos (1979) und Je- zu ihrem Forschungsschwerpunkt: Hispanist Gustav Siebenmann saja (1981) – immer bereiten Vogts Dumenic Andry stellte eine inter- sprach zu Möglichkeiten und Gren- rhythmische und vielschichtigen textuelle Lektüre des Gedichts «Ne- zen eines Bezugs zur spanischen Texte ein Lesevergnügen der beson- gressa» (1969) vor, an dem er das Literatur, mit besonderer Berück- deren Art. Darüber waren sich Gast- Vorhandensein der Stimmen anderer sichtigung von Peers Theaterüber- geber und Gäste auf dem Podium durch eine Lektüre der doppelko- setzung La chalgera chapriziusa einig. dierten Zeichen illustrierte, die auf (1959) von Garcia Lorca. Der Proust- Bei Nagel & Kimche erschien vorgängige Texte und Bilder verwei- Spezialist Luzius Keller widmete 1991–1997 eine zehnbändige Werk- sen. Renzo Caduff beschäftigte sich seinen Vortrag dem programmati- ausgabe, im SLA liegt Walter Vogts mit der Formenvielfalt der Lyrik schen Gedicht Furnatsch und den schriftstellerischer Nachlass. Die im Peers. Neben modernen und tradi- dreisprachigen Übersetzungen, Verlauf der Diskussion zum Ausdruck tionellen Formen verwies er insbe- wobei er selbst eine neue deutsche gekommene und geschätzte Vielsei- sondere auf schwierig zuzuordnen- Version vorlegte. Die Germanistin tigkeit des Werkes ermöglicht ver- de Beispiele, in denen sich Segmente Eva Stubbe konnte wegen eines schiedenste Zugänge, und noch im- traditioneller Metrik hinter einer Unfalls am Kolloquium selber nicht mer steckt Sprengkraft in den vogt- modernen Versgliederung verbirgt. teilnehmen. Ihre Studie aus den schen Sätzen. Sie müssen nur gele- Nach einer kurzen Präsentation zu 80er-Jahren zu Passagis. Andri sen werden. Leben und Nachlass des Autors Peer – Rätoromanischer Dichter kommentierte ich einige poetologi- zwischen den Welten ist nun unter sche Gedichte zur Darstellung von www.stubbe-studien.de zugänglich. BN_passim_3 14.11.2008 17:35 Page 14

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Die Philologin Ricarda Liver beschäf- Berge und Menschen – neu gelesen tigte sich mit Peers Lyrik unter dem Aspekt der Spracherneuerung und Federers Plädoyer für einen sanften Tourismus des Sprachwandels, auch in Hin- , 13.11.2008 blick auf die Schaffung von Voraus- setzungen für eine Standardspra- che. Der Linguist Chasper Pult CORINNA JÄGER-TREES ein unerwartetes Ende bereitet, mün- äusserte sich auf Grund von Doku- det in eine Zukunftsperspektive: Statt menten im Nachlass von Jon Pult Literarischer Maler der Innerschweiz – auf den Absomer baut man eine Bahn zu Aspekten der Kritik und Selbst- begeisterter Italienwanderer – in Miss- im Tal zur Vernetzung der weit ver- kritik bei Andri Peer. kredit geratener Priester – als Heimat- streuten Dörfer und Weiler mit dem Der Nachmittag wurde von Autor- dichter vereinnahmt von den Exponen- Ziel, die Talbewohner einander näher Innen und Künstlern bestritten, wel- ten der Geistigen Landesverteidigung zu bringen und zur besseren Vermark- che persönliche Lektüren von Andri – dies sind in etwa die Stichworte, die tung ihrer handwerklichen Erzeugnis- Peers Gedichten präsentierten. Der einem zu Heinrich Federer (1866 – se aus dem Textilbereich beizutragen. Saxophonist Andri Steiner improvi- 1928) einfallen mögen. Sein Nachlass, Federer stellt seine Läuterungsge- sierte dazu jeweils einen musikali- seit 2004 dem Schweizerischen Litera- schichte in einen Rahmen, der hin- schen Kommentar. Die Romanistin turarchiv vom Kanton Obwalden im sichtlich der Tourismusdebatte und der und Autorin aus den Dolomiten Rut Depot anvertraut, sowie die grosszügi- dazugehörigen wirtschaftlichen, ver- Bernardi, durch ihre Sonettenkränze ge Schenkung der Sammlung Kindli- kehrstechnischen und sozialen Fragen / Gherlandes de sunëc (2003) aus- mann-Blumer der gleichnamigen In- realistisch, differenziert und problem- gewiesene Kennerin der 800 Jahre dustriellenfamilie aus Schwanden (GL) bewusst gestaltet ist – in Anlehnung alten Gedichtform, kommentierte haben eine Auseinandersetzung ins- an die Gegebenheiten der Appenzel- und übersetzte zu Oscar Peers ein- besondere mit Federers Roman Berge ler Gegend zwischen 1900 und 1910. fühlsamer Lektüre Andri Peers So- und Menschen im Kontext archivali- Er vertritt dabei ein modernes, erst in nette. Der Autor, Landwirt und Maler scher Materialien ermöglicht, und es den 1980er-Jahren theoretisch formu- Göri Klainguti verwies auf das auf- hat sich gezeigt, dass eine Neulektüre liertes Tourismuskonzept, das ein merksame Auge von Andri Peer und Positionen zutage fördert, die in der Gleichgewicht zwischen Touristen, Be- auf seine Fähigkeit, neben der bildli- gegenwärtigen Debatte um die Ver- reisten und der Natur vorsieht. So pro- chen Darstellung die visuelle Wahr- träglichkeit von Tourismus in den pagiert Federer u.a. ein umweltver- nehmung in Gedichtform festzuhal- Schweizer Bergregionen geradezu trägliches verkehrstechnisches Er- ten. Die Jungautorin Chatrina Josty modern anmuten. schliessen der Region, eine Diversifi- las Peers Gedichte über das Reisen Berge und Menschen, 1911 in Buch- zierung der krisenanfälligen eingleisi- und zur Bahn, von frühen Gedichten form in einer beachtlichen Auflage gen Wirtschaftsstruktur und die Wah- wie HBF und Tren da not bis zu Vias von 120’000 Exemplaren erschienen, rung der kulturellen Identität der Berei- da Paris und Impazienza. Zum Ab- ist der erste Roman Federers. Zwei sten – Aspekte, die der nach dem schluss charakterisierte der Maler, Handlungsstränge durchziehen den 2. Weltkrieg einsetzende Massentou- Freund und Kritiker Peers Constant Text: einerseits der verkehrspolitisch rismus bis in die späten 1970er-Jahre Könz die vielseitige und sinnliche sowohl im Roman als auch in der gänzlich vernachlässigt hat. Persönlichkeit in ihrer Auseinander- Realität äusserst umstrittene Ver- Die Forderungen des Berner Touris- setzung mit bildender Kunst, mit such, eine Schienenbahn auf den Ab- mus-Theoretikers Jost Krippendorf Musik und Gesang. somer alias Säntis zu bauen. Dieser lesen sich in wichtigen Punkten wie ein Die wissenschaftlich ausgerichte- Handlungsstrang liefert den Rahmen konzeptionelles Résumé von Federers te Tagung wurde bis zum Schlussa- für ein privates Drama: der schroffe, literarischer Darstellung. Das Ziel péro von einem lebhaften und zahl- erfolgsgewohnte Bahnbau-Ingenieur heisst nicht ungebremstes Wachstum, reichen Publikum mit Interesse erkennt in einem jungen, verwaisten sondern Gleichgewicht von touristi- verfolgt. Die Beiträge werden in den Dörfler unverhofft den eigenen Sohn schen Bedürfnissen, optimalem Res- Annalas da la Societad Retorumant- – Folge einer Nacht in einer Alphütte sourceeinsatz und Auswirkungen auf scha 2008 und 2009 publiziert. Den nach bestandenem Abschlussexamen die Umwelt. In Berge und Menschen Anlass ermöglichten NB, Kanton 15 Jahre zuvor. Die privaten Konflikte wird dieses Gleichgewicht am Schluss Graubünden, Oertli-Stiftung und Lia löst der Ingenieur mit Hilfe seiner Frau im Ansatz als Ideal entworfen. Grund- Rumantscha durch ihre Beiträge. in «geläuterter Weise», wie Federer lage bildet Federers Ethik, die nach selber formuliert hat, indem er sich zu einem Gleichgewicht zwischen Natur dem Kind bekennt und es zu sich und Mensch und einem sorgfältigen nimmt. Auch das Bahnprojekt, dem Umgang mit der Schöpfung strebt. ein heftiges Unwetter mit Erdrutschen BN_passim_3 14.11.2008 17:35 Page 15

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Nachlass zu Todeszeiten zwischen den ‹zwei Seelen in seiner Brust› ausgesetzt. Dieser (produkti- Vorschau auf die Hermann Burger-Ausstellung ve) Konflikt von schöpferischem Im- Museum Strauhof, Zürich 13.1. – 1.3.2009 puls und analytischem Blick wird darum in der Ausstellung stets mit- inszeniert und auf diese Weise MAGNUS WIELAND Vermächtnis vor. Und auf Musil auch Einblick in die Genese von & SIMON ZUMSTEG nimmt der Titel der Ausstellung denn Burgers hochgradig intertextuellen auch Bezug, um damit einerseits vom Gebilden gegeben. Damit hat es je- Am 28. Februar 2009 jährt sich der Standpunkt des 20. Todestags den doch noch nicht sein Bewenden. Die Todestag des Schweizer Schriftstel- retrospektiven Charakter der Aus- beschriebenen Welten werden nicht lers Hermann Burger (geb. 1942) stellung zu signalisieren. Anderer- nur als sprachliche einsehbar ge- zum zwanzigsten Mal. Dieser Jah- seits klingt in dieser Umformulierung macht. Die eklatante Sinnlichkeit, restag ist Anlass für die Ausstellung aber auch mit an, welch zentrale die in seinen Werken nicht minder Hermann Burger – Nachlass zu To- Rolle der Tod in Burgers Leben und angelegt ist, kommt ebenfalls zum deszeiten, die vom 13.1. – 1.3.2009 Werk spielt(e). Zuge, werden doch die Exponate in im Museum Strauhof Zürich zu Atmosphären vorgestellt, die Bur- sehen sein wird. Wie schon der Titel gers «Pararealitäten» nachempfun- verrät, werden dabei (vorwiegend) den sind. Ziel ist es, das, Objekte aus Burgers Nachlass ge- Motiviert ist dieses Vorgehen was in der Philologie zeigt, der sich im SLA befindet und (auch) durch einen Passus aus dem ‹endlos erörtert wird›, von der Forschung rege frequentiert vierten Kapitel von Die Künstliche ‹konkret greifbar, ertastbar, wird. In der Öffentlichkeit allerdings Mutter. Die Chefärztin Auer-Apla- riechbar, hörbar, sichtbar› fristet dieser Autor – obwohl zu Leb- nalp erklärt dort dem moribunden zu machen, zeiten mehrfach literaturpreisge- Protagonisten Schöllkopf ihren the- und dieser synästhetischen krönt und als wichtige literarische rapeutischen Grundsatz, der darin Absicht kommt die Stimme (nicht nur) der Schweiz ge- besteht, «dass das, was in der Plau- (multimediale) feiert – momentan eher ein Schat- derpsychologie endlos erörtert Reichhaltigkeit tendasein. Dagegen geht nun die wird», in der Stollenklinik «konkret von Burgers Nachlass kommende Ausstellung an, indem greifbar, ertastbar, riechbar, hörbar, natürlich entgegen. sie der breiteren Öffentlichkeit Teile sichtbar gemacht wird.» Übertragen von dessen Nachlass seit der ers- auf das Konzept der Ausstellung ten grossen Ausstellung im Sommer heisst das: Ziel ist es, das, was in 1992 in der Schweizerischen Lan- Die Todesthematik durchzieht sein der Philologie ‹endlos erörtert wird›, desbibliothek («Weil die Arena älter Œuvre von seinem Romandebüt ‹konkret greifbar, ertastbar, riech- ist als die Welt…» Eine Materialien- Schilten, mit dem er 1976 den Durch- bar, hörbar, sichtbar› zu machen, schau zu den Romanen von Her- bruch schaffte, bis zu seinem letzten und dieser synästhetischen Absicht mann Burger) erstmals wieder zu- vollendeten Roman Brenner I: kommt die (multimediale) Reichhal- gänglich macht. Brunsleben (1989), und der Tod ist tigkeit von Burgers Nachlass natür- Anhand thematischer Schwer- deshalb auch einer der besagten lich entgegen. Komplettiert wird die punkte führt die Ausstellung durch Schwerpunkte der Ausstellung. Ausstellung durch ein Begleitpro- die eigenwillige literarische Ideen- Dazu gehören des Weiteren Burgers gramm, das neben Lesungen und welt des Aargauer Autors und kon- Passionen für das Zigarrenrauchen, einer Theateraufführung auch eine frontiert die Besuchenden zugleich für den Zirkus und das Zaubern literaturwissenschaftliche Tagung mit Burgers schillernder Persönlich- sowie für schnelle Autos. Dazu ge- (Deutsches Seminar der Universität keit. Dazu bietet der Nachlass – er hört aber auch seine Auseinander- Zürich) sowie ein Podiumsgespräch enthält nebst Manu- und Typoskrip- setzung mit dem Berg-Mythem in mit Zeitzeugen umfasst (vgl. Agen- ten auch Bild-, Ton- und Videodoku- seinem zweiten Roman Die Künstli- da). mente – eine schier unerschöpfliche che Mutter (1982), für den er 1983 Fülle an Materialien, da Burger sein den Hölderlin-Preis erhielt, und Weitere Informationen: http://www.strauhof.ch Schaffen zeitlebens so akribisch do- dazu gehört nicht zuletzt jenes Di- kumentierte, wie er seine Person zu lemma, unter dessen Stern sein inszenieren verstand. Wie es Musil Schreiben von Anbeginn stand: Als 1936 in Nachlass zu Lebzeiten er- Dichter, der zugleich habilitierter wägt, bereitete Burger schon früh Germanist war, sah sich der poeta und prospektiv sein literarisches doctus ständig den Widersprüchen BN_passim_3 14.11.2008 17:35 Page 16

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Nouvelles parutions Dominique de Rivaz. Entretien Pedretti, adresse à une Frédéric Wandelère. lettre rédigée dans leur langue de | Neuerscheinungen – « Un sens à donner à la vie ». communication, le français, et Entretien inédit avec Frédéric Irmgard Wirtz Eybl nous livre les clés Georges Borgeaud intime et Wandelère. © PCT cinéma télévi- de cette amitié qui se joue des fron- inconnu sion pour le DVD (film + entretien). tières linguistiques. Un riche cahier d’inédits, extraits de son fonds dépo- On a pu dire de Georges Borgeaud Georges Borgeaud, édité par la sé aux ALS, nous livre l’univers cruel qu’il était le plus Suisse des Parisiens Fondation Calvignac et les Archives et fascinant de cette pessimiste au et le plus Parisien des écrivains ro- littéraires suisses de la Bibliothèque constat irréparable : « Un livre, si mands. Lui qui se sentait comme « un nationale suisse, sous la direction de triste soit-il ne peut être aussi triste palmier transplanté en terre Adélie » Stéphanie Cudré-Mauroux. qu’une vie. » s’il devait s’éloigner de Paris, n’éprou- 256 p. ISBN : 978-2-88453-144-3. vait en réalité pas de façon constam- 39.- CHF ment fusionnelle sa relation à la capi- www.georgesborgeaud.ch tale, qui le charmait et l’agaçait à la Hubert Thüring, Corinna Jäger- fois. Car Borgeaud, un jour mondain, Trees und Michael Schläfli un jour ermite, séducteur ou venimeux, (Hrsg.): Anfangen zu schreiben. est bien cet être double que la photo- Quarto, la Revue des Archives Ein kardinales Moment von graphie de couverture d’Henriette littéraires suisses : Textgenese und Schreibprozeß Grindat a pu faire coïncider un mo- Agota Kristof im literarischen Archiv des ment : un Borgeaud dont l’ombre por- 20. Jahrhunderts. München: tée nous dit autre chose que le vi- Le numéro 27 de « Quarto », à paraî- Wilhelm Fink 2009. sage, un dandy ambivalent, diablotin à tre en janvier 2009, est consacré à lavallière, mais drapé dans le man- l’œuvre sidérante d’Agota Kristof qui Daß der Anfang eines Textes nicht teau de Ramuz (il le lui avait offert !). a rejoint les classiques de la littéra- die Stelle sein muß, an der das Georges Borgeaud est mort il y a ture du XXe siècle. Sa fameuse Schreiben einst angefangen hat, be- dix ans ; grâce au dépôt de son fonds Trilogie des Jumeaux, notamment, stätigen schon flüchtige Einblicke in aux Archives littéraires suisses à impose son monde hors norme, die Archive der modernen Literatur. Berne, on connaît mieux, aujourd’hui, obsédé par la violence de l’exil, la Und umgekehrt beginnt das konkrete son œuvre et sa vie. Une centaine nostalgie de l’enfance, l’effroi de la Schreiben selbst meistens viele Male, d’illustrations inédites et une vaste perte des origines, le mensonge des im gleichen Text oder in einem jeweils biographie révèlent un Borgeaud mots et l’implacable noirceur de la neuen. Dieses Spannungsverhältnis intime et inconnu. vie. Née en 1935 en Hongrie, Agota von Textanfang und Schreibenanfan- Pour la première fois, on lira ici des Kristof fuit l’invasion soviétique de gen in den vielfältigen Variationen un- lettres que lui ont adressées Cendrars, 1956 et se retrouve par hasard à tersucht der Sammelband in den Ar- Chessex, Cingria, Claudel, Jouve, Neuchâtel, confrontée à une langue chiven von Autoren des 20. Jahr- Paulhan, Supervielle, Tardieu, Roud… qu’elle ignore alors, mais qui devien- hunderts. La correspondance avec Charles- dra celle de son œuvre. Dans ce «Ja nicht mit dem Anfang anzufan- Albert Cingria est scrupuleusement numéro, Ferenc Rákóczy explore le gen.» Georg Christoph Lichtenbergs publiée, avec une annotation qui res- labyrinthe schizophrénique de l’en- Empfehlung (1798) ist eines der früh- titue le contexte de leur « turbulente » fance broyée chez Agota Kristof ; sten Zeugnisse für die Problematisie- amitié. Anne-Lise Delacrétaz, Chris- Marie Dollé scrute la difficile recons- rung von Text und Schreiben in der tophe Gence, , truction littéraire d’une langue impo- modernen Literatur. Die Problemati- Luciano Erba, Alain Lévêque, Jeanne sée, voire « ennemie » et ses enjeux sierung besteht darin, daß das Privat, Pierre-Alain Tâche, Florian romanesques ; Erica Durante nous Schreiben nicht mehr selbstverständ- Rodari, Jean Roudaut raniment le dévoile une autre Trilogie, celle des lich in den Dienst der Produktion von souvenir d’un écrivain singulier par avant-textes conservés qui renver- Text im Sinn eines Ganzen und Ferti- des témoignages, une chronologie et sent une fois de plus les complexes gen tritt, sondern ein dokumentarisch des études qui en renouvèlent com- perspectives du corpus, tandis que nachweisbares und als solches the- plètement notre connaissance. Rennie Yotova traque la vérité – tou- matisiertes Eigenleben führt. Beson- Le volume est édité par la Fondation jours illusoire et masquant un men- ders faßbar wird dies im Spannungs- Calvignac et les ALS, et contient un songe – du théâtre de Kristof. Daniel verhältnis von (Text-)Anfang und DVD avec : de Roulet et Adam Biro nous livrent (Schreiben-)Anfangen, das die sech- – Georges Borgeaud ou les bon- leur expérience de lecteurs. Autre exi- zehn Beiträge im Werk und Nachlaß heurs de l’écriture. Film de lée, mais de langue allemande, Erica von deutschsprachigen Autoren des BN_passim_3 14.11.2008 17:35 Page 17

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20. Jahrhunderts (Walser, Kafka, national, le projet N° 1147, sur les Zur Wahrnehmung und Darstellung Glauser, Canetti, Dürrenmatt, Eich, « relations culturelles internationales des Orients in Reiseberichten, -er- Heym, Rühmkorf, Celan, Burger, de la Suisse ». Supervisés par le zählungen und -gedichten von Her- Hesse, Otto F.Walter, Boesch, Gei- Prof. Claude Hauser, nous sommes mann Hesse, Armin T.Wegner und ser) unter spezifischen Aspekten un- trois doctorants de l’Université de Annemarie Schwarzenbach» in ihrem tersuchen: Wo oder wann beginnt Fribourg – Matthieu Gillabert, letzten Kapitel mit zwei Werken der das Schreiben? Wo oder wann der Thomas Kadelbach et Pauline Schweizerin, die in der AS-Forschung Text? Wie verhält sich das jeweils sin- Milani – à se pencher sur le rayon- bisher vergleichsweise wenig Beach- guläre und praktische Schreibenan- nement culturel helvétique entre tung gefunden haben. So steht im fangen zur bildlichen Topik des Text- 1945 et 1990. ersten Teil ihr Reisebericht Winter in anfangs? Welche Rolle spielt der Les nombreux rapports, PV, noti- Vorderasien (1934), das Ergebnis sogenannte Einfall in diesem Verhält- ces, lettres compulsés aux Archives einer sechsmonatigen Reise durch nis? Auf diese und andere theoreti- fédérales forment une matière essen- den Nahen Osten, im Mittelpunkt der schen Fragen antworten die Analy- tielle à nos recherches mais, parfois, Untersuchung. Ausgehend von der sen der materiellen, instrumentellen un peu sèche, institutionnelle, et qui Biografie der Autorin – denn dies ist (schrift-)sprachlichen, (schreib-)hand- en dit peu sur les rapports humains trotz aller Konzentration auf die Texte werklichen, stofflichen, persönlichen, qui organisent la culture suisse expor- im Falle von Annemarie Schwarzen- situativen usw. Voraussetzungen und tée à l’étranger. Pour pallier à cette bach unvermeidbar – werden zuerst Umstände in den rekonstruierten carence, il arrive que nous franchis- die Beweggründe ihrer «Flucht in den Prozeduren und Prozessen des sions l’Aegertenstrasse pour se glis- Osten» hinterfragt. In einem zweiten Schreibenanfangens von Bernhild ser aux Archives littéraires suisses, Schritt geht es dann um die Analyse Boie, Thomas Feitknecht, Wolfram en quête d’un matériel plus biogra- dieses freilich eher unpersönlich ge- Groddeck, Silvia Henke, Alexander phique, plus précis et souvent plus haltenen «Tagebuchs einer Reise», Honold, Corinna Jäger-Trees, Ste- inattendu, qui complète les archives das die für die Autorin typischen The- phan Kammer, Rudolf Probst, Barba- officielles. menschwerpunkte aufweist: Unter- ra von Reibnitz, Peter Rusterholz, Mi- Des personnalités comme Jean sucht werden daher zum einen die chael Schläfli, Martin Stingelin, Hubert Rodolphe de Salis, ancien président Erfahrung der orientalischen Natur, Thüring, Irmgard Wirtz und Sandro de Pro Helvetia, Walter Weideli ou zum zweiten die des Aufeinanderpral- Zanetti. Hans Zbinden, tous trois aux confins lens von Tradition und Moderne in entre les créateurs et les institutions den sich rasant entwickelnden Staa- culturelles, ont nourri abondamment ten Vorderasiens, zum dritten das Er- nos recherches. Celles-ci prennent lebnis der zahlreichen geschicht- place dans trois thèses articulées strächtigen Städte, Ruinen und Aus- autour des acteurs du rayonnement grabungsstätten im Morgenland und culturel, des images de la Suisse que schließlich die Begegnung mit den Thèses en cours | celui-ci véhicule dans le monde et de Einheimischen, insbesondere mit den son instrumentalisation politique et Bauern und Nomaden, Frauen und Laufende économique. Si tout va bien, les Kindern. Dissertationen résultats de cette vaste enquête Darauf aufbauend beschäftigt sich devraient être publiés début 2010. der zweite Teil der Untersuchung mit den 1934/35 entstandenen und erst- Les relations culturelles inter- mals 1989 unter dem Titel Bei die- nationales de la Suisse, de part sem Regen herausgegebenen orien- et d’autre de l’Aegertenstrasse Geheimnisvoller Orient vs. talischen Novellen aus der Samm- Verklärtes Europa. Zur Analyse lung Der Falkenkäfig, wobei bisher MATTHIEU GILLABERT : zweier bisher wenig beachteter unveröffentlichte Erzählungen aus UNIVERSITÉ DE FRIBOURG Schwarzenbach-Werke diesem Umkreis mitberücksichtigt werden. Nom de code FN 1147 stop Action en BEHRANG SAMSAMI: Im Falle der Novellen ist der Fokus cours stop Rapport à centrale année FREIE UNIVERSITÄT BERLIN nicht so sehr auf den Orient selbst prochaine stop. gerichtet als vielmehr auf die – in Zei- Non, ce n’est pas un message Im Zuge der textorientierten Erkun- ten des im Westen immer stärker radio soutiré à un service de rensei- dungen des Werks von Annemarie werdenden Faschismus und Natio- gnements étranger. Il s’agit d’un Schwarzenbach befasst sich das lau- nalsozialismus – im Nahen Osten ge- projet de recherche en histoire fende Dissertationsprojekt mit dem strandeten Europäer und Nordameri- contemporaine financé par le Fonds Titel «Die Entzauberung des Ostens. kaner. Genauer betrachtet werden BN_passim_3 14.11.2008 17:35 Page 18

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dabei nicht nur die unterschiedlichen bensphilosophischen Positionen de- [Online] Gründe für die Flucht dieser «Ab- monstriere. In der Frage: «Ist das seitsstehenden» nach Vorderasien, Philosophie?», stellt sich «Philoso- Nouveaux inventaires | sondern auch ihr Leben und Wirken phie» dabei von Anfang an selber in Neue Inventare ebendort respektive die ambivalente Frage. Nietzsche und die Lebensphi- Erfahrung des aus Literatur, Bilden- losophie werden besondere Beach- Georges Borgeaud der Kunst und Film scheinbar so be- tung finden. – Am Ende meiner Ar- http://ead.nb.admin.ch/html/borgeaud. kannten Märchenlandes. Kurz zu- beit soll die Bedeutung Ludwig html sammengefasst ist das Ziel der Hohls zumindest in einer Angele- Untersuchung also zum einen, den genheit geklärt sein, in der er einen Anton Krättli Versuch zu unternehmen, Winter in beachtenswerten Beitrag zur aktuel- http://ead.nb.admin.ch/html/kraettli.html Vorderasien und Bei diesem Regen len akademisch-philosophischen stärker als bisher in das Blickfeld der Debatte liefert: die Verrückung der Lorenz Lotmar Schwarzenbach-Forschung zu rü- Philosophie aus der metaphysischen http://ead.nb.admin.ch/html/lotmar.html cken, und zum anderen, auf die politi- Tradition durch eine Reflexion auf sche Brisanz und Aktualität beider das Verhältnis von Erkenntnis und Rainer Maria Rilke Werke, insbesondere aber der orien- Sprache. http://ead.nb.admin.ch/html/rilke.html talischen Novellen aufmerksam zu machen. Alice Rivaz http://ead.nb.admin.ch/html/rivaz.html

Ludwig Hohl – Ein philosophi- scher Zugang Neuerwerbungen

MARTIN RAAFLAUB: Aktualisierte Inventare | UNIVERSITÄT ZÜRICH Peter Friedli (geb. 1925) Inventaires actualisés Der Berner Arzt und Fotograf Peter «Da nun alles Fremdeste und die Ver- Friedli porträtierte während beinahe Hans Boesch rücktheit so anziehend wirken, warum einem halben Jahrhundert in der http://ead.nb.admin.ch/html/boesch.html soll nicht auch ich einmal Mode wer- Schweiz lebende Schriftstellerinnen den?», fragt Ludwig Hohl in der Notiz und Schriftsteller. Die durch Briefe, IMVOCS Zur Badesaison vom 2. Juli 19361 Abdruckbelege, Zeitungsausschnitte http://ead.nb.admin.ch/html/ und präzisiert: «Die Bedeutung ist u.a. dokumentierte Fotosammlung imvocs_d.html euch doch fremder als die Verrückt- enthält Porträts von rund 330 Auto- http://ead.nb.admin.ch/html/ heit?». rinnen und Autoren, Literatur- und imvocs_f.html Unterdessen hat Hohl als Dichter Kulturschaffenden der Schweiz. und Denker seine Weihung und ge- Peter Friedli hat seine Sammlung wisse Verbreitung erfahren; von ei- sukzessive dem Schweizerischen ner philosophischen Auseinander- Literaturarchiv überlassen. setzung mit ihm fehlt allerdings (fast) jede Spur. Das Versäumte endlich zu leisten, ist das Ziel meiner Disserta- tion. Darin werde ich zunächst die Walter Kern (1898 – 1966) Bestimmung des seltsamen Ge- Das SLA konnte 2008 Walter Kerns wächses dieser Gedankenwelt for- bedeutende Briefsammlung erwer- mal und inhaltlich dadurch gewin- ben, die eine umfangreiche Korres- nen, dass ich seine Abstammung pondenz des gelernten Kaufmanns, aus der Geistesgeschichte entwickle viel gereisten Malers, Kunstkritikers und seine Verwandtschaft mit le- und Schriftstellers mit zeitgenössi- schen Autoren – darunter Jakob Ha- ringer, Siegfried Lang, Robert Walser, Werner Renfer u.a. – dokumentiert sowie einzelne Werkmanuskripte sei- 1 Aus dem Nachlass Ludwig Hohls (1904- ner Korrespondenten enthält. 1980), Schweizerischen Literaturarchiv Bern. BN_passim_3 14.11.2008 17:35 Page 19

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[Agenda]

Buchvernissage: Corinna Bille. Buchvernissage: Anfangen zu Buchvernissage: Edition ausge- Das Vergnügen, eine eigene schreiben. Ein kardinales wählter Briefe von und an den neue Welt in der Hand zu halten. Moment von Textgenese und Literaturkritiker Werner Weber Hrsg. von Charles Linsmayer Schreibprozeß im literarischen (1919 – 2005). Hrsg. von Thomas Saal Friedrich Dürrenmatt, Archiv des 20. Jahrhunderts. Feitknecht Schweizerische Nationalbibliothek, Bern Hrsg. von Hubert Thüring, Laudatio von Klara Obermüller 21.1.2009; 18.00 Uhr Corinna Jäger-Trees und Saal Friedrich Dürrenmatt, Schweizerische Nationalbibliothek, Bern Michael Schläfli 6.5.2009 Ausstellung: Hermann Burger – Schweizerische Nationalbibliothek, Bern Nachlass zu Todeszeiten 11.3.2009 Museum Strauhof, Zürich Tag der Verlage – Fragen des 13.1. – 1.3.2009 Anekdote-Biografie-Kanon. Erwerbs und der Erschliessung Vernissage: 13.1.2009; 19.00 Uhr Mit Klara Obermüller und Wolff Baron von Tagung des Instituts für von Verlagsarchiven mit Ute Keyserlingk Germanistik Bern (Christian von Schneider (Institut für Buchwis- Zimmermann, Melanie Unseld) senschaft, Mainz) mit dem Schweizerischen Literaturarchiv, Marbach Buchvernissage und Lesung: Literaturarchiv 7. – 8.5.2009 Hermann Burger. Der Schweizerische Nationalbibliothek, Bern Lachartist. Aus dem Nachlass Centre Dürrenmatt, Neuchâtel Ausstellung: «Ich schweige 19. – 21.3.2009 hrsg. von Magnus Wieland und nicht». Ausgegrenzt, streitlus- Simon Zumsteg tig, geachtet, C.A. Loosli wie- Schweizerische Nationalbibliothek, Bern Table ronde: Biografien aus derentdeckt 11.2.2009 Nachlässen. Lesesaal (Sven Hanuschek), Friedrich Schweizerische Nationalbibliothek, Bern 15.5. – 29.8. 2009 Symposium: Ein Hermann aus Dürrenmatt (Peter Rüedi), Max Vernissage: 14.5.2009 Wörtern. Internationale literatur- Frisch (Julian Schütt) wissenschaftliche Tagung Schweizerische Nationalbibliothek, Bern anlässlich Hermann Burgers 19.3.2009 Solothurner Literaturtage Moderation: Irmgard Wirtz Eybl 20. Todestag Solothurn Semper Sternwarte, Zürich 22. – 24.05.2009 26.2. – 28.2.2009 Agota Kristof : présentation du fonds par Marie-Thérèse Ein Netzwerk für Nachlässe. Podiumsgespräch: Hermann Lathion, lecture de textes Podiumsgespräch am Burger. Zur zwanzigsten inédits par Carine Baillod Deutschen Bibliothekarstag Wiederkehr seines Todestages Salon du Livre, Genève Mit den Gründungsmitgliedern von KOOP- Literaturhaus, Zürich 26.4.2009 LITERA International (DLA, OeLA, SLA) 28.2.2009; 20.00 Uhr Erfurt Mit Dieter Bachmann, Martin R. Dean und 5. – 6.6.2009 BN_passim_3 14.11.2008 17:35 Page 20