Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen 37

Bernd Rill (Hrsg.) Italien im Aufbruch – eine Zwischenbilanz

Hanns Seidel Stiftung Akademie für Politik und Zeitgeschehen Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen 37

Bernd Rill (Hrsg.) Italien im Aufbruch – eine Zwischenbilanz ISBN 3 - 88795 - 252 - 9 © 2003 Hanns-Seidel-Stiftung e.V., München Akademie für Politik und Zeitgeschehen Verantwortlich: Dr. Reinhard C. Meier-Walser (Chefredakteur)

Redaktion: Wolfgang D. Eltrich M.A. (Redaktionsleiter) Barbara Fürbeth M.A. (stv. Redaktionsleiterin) Claudia Magg-Frank (Redakteurin) Christa Frankenhauser (Redaktionsassistentin)

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung der Redaktion reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. 3

Inhaltsverzeichnis

Bernd Rill Einführung...... 5

Carlo Masala Der Untergang der Democrazia Cristiana ...... 7

Gian Enrico Rusconi Italien und Europa von 1945 bis heute...... 19

Günther Pallaver Eine "Zweite Republik"? – Verfassungsdiskussionen seit 1992...... 27

Paolo Gianfelici "" oder "Forza Berlusconi"? – Bemerkungen zu einem neuen Partei-Modell...... 41

Paolo Possenti del Possente Der Mittelstand an der Macht...... 55

Mauro Grassi Bipolarismus des Parteiensystems?...... 65

Roland Höhne Regieren in Italien – Wie durchsetzungsfähig ist die Regierung Berlusconi? ...... 75

Francesco Iori Die "" – Vertretung regionaler Interessen im Nationalstaat...... 89

Roland Höhne Alleanza Nazionale – Zwischen Neofaschismus und nationalem Konservativismus...... 99

Jens Petersen Der Zustand der Oppositionen...... 113

Birgid Rauen Medien und Politik...... 123

Alberto Febbrajo Die Reform des italienischen Bildungswesens...... 135 4

Carlo Guarnieri Die Politisierung der Gerichtsbarkeit in Italien...... 145

Letizia Paoli Das "pacchetto giudiziario" – Reformbedarf für die italienische Justiz...... 155

Rudolf Lill Italien auf dem Weg zur Föderalisierung...... 169

Autorenverzeichnis...... 179

Die Beiträge Gian Enrico Rusconi, Paolo Possenti del Possente, Francesco Iori, Alberto Febbrajo, Carlo Guarnieri und Letizia Paoli wurden von Silvia Heller, Sprachendienst, München, und der Beitrag Paolo Gianfelici von Dr. Richard Brütting, Herborn, ins Deutsche übersetzt. 5

Einführung

Bernd Rill

Diese Publikation, die auf zwei einschlägigen Expertentagungen der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung beruht, setzt sich zum Ziel, das politische und staat- liche Leben des heutigen Italien etwas genauer zu betrachten, als es üblicherweise in den deutschen Medien geschieht. Die dort gepflegte Klischee-Haftigkeit (etwa mangels präziserer Sichtweise die Abqualifizierung mancher Sachverhalte als eben "all'italiana", was alles und nichts bedeuten kann) resultiert weniger in leichterer Verständlichkeit für den Leser als in der Zementierung eben des Klischees. Dazu passt es, wenn häufig Anekdotisches an die Stelle von sachlicher Information tritt. Umgekehrt ist es in Artikeln und Abhandlungen auch wenig hilfreich, den Mangel an konkreten Einzelheiten kompensieren zu wollen durch respektvolles Einflechten von Hinweisen auf die unvergleichlichen Schätze von Kunst und Kultur, die Ita- lien zu bieten hat. Das bewirkt nur die Pflege von Stereotypen, wenn auch von der wohl wol- lenden Seite her.

Italien ist seit 1860 (Schaffung des einigen, nationalen Königreiches) bzw. 1870 (Gewinnung Roms als der endgültigen Hauptstadt) ein moderner Nationalstaat mit seinen spezifischen Problemen, die vielfach immer noch aus den jahrhundertelangen Traditionen resultieren, als deren Überwindung der Nationalstaat eigentlich angetreten war. Dies zeigt sich exemplarisch an den Projekten zur "Föderalisierung" des seit 1860 (1870) überkommenen Einheits- und Zentralstaates, die bereits die Regierung der Linken (1996-2001), weitaus mehr aber die am- tierende Regierung Berlusconi auf den Weg gebracht hat. Die Diskussion hierüber wühlt ge- radezu die Geister auf, da ihre beiden, logisch gegeneinander stehenden Pole bis zu den tiefen Wurzeln der italienischen Geschichte hinabreichen.

Im Zeichen des (von den Piemontesen der revolutionären französischen Republik nachemp- fundenen) Zentralstaates hat das "Risorgimento", jener Versuch eines Teiles der italienischen Oberschichten im 19. Jahrhundert, eine einheitliche Nation zu schaffen, die Partikulargewal- ten auf der Halbinsel, allen voran den päpstlichen Kirchenstaat und das Königreich beider Sizilien, siegreich aufgelöst und damit eine Tradition von mittlerweile ca. fünf Generationen Länge begründet. Doch diese überwölbte ihrerseits eine Tradition der erwähnten Partikular- gewalten, die weitaus älter war, sogar bis ins frühe Mittelalter zurückdatiert werden kann. Nicht anders als im deutschen Bereich hat sich in Italien Staatlichkeit zuerst auf der lokalen und regionalen Ebene konstituiert. Da dies nach dem Zusammenbruch der alt-römischen Ord- nung einen Prozess erster, ursprünglich politischer Bewusstwerdung darstellte, war dessen prägende Kraft nicht mehr zu eliminieren. Sie spielt denn auch in den heutigen Bemühungen um die Dezentralisierung des italienischen Staates eine erhebliche Rolle. Die Versuche der Zentralisten aus dem Königreich Piemont-Sardinien mögen im Wege der staatlichen Einigung ein unbestreitbares historisches Verdienst gehabt haben; aber die Diskussion um ihre Berech- tigung begann schon, sobald der Zentralstaat der Nation auferlegt worden war. Und heute deuten die Zeichen der Zeit wieder klar auf eine wie auch immer modifizierte Rückbesinnung auf regionale Traditionen, da und sofern der Nationalstaat dadurch nicht zerfällt, sondern nur differenziert und bereichert wird.

Im Übrigen hat das aktuelle Italien einen innenpolitischen Reformbedarf zu verarbeiten, der (dies sei den Ironikern, denen die Abqualifizierung "all'italiana" leicht zur Hand ist, ins Stammbuch geschrieben) mit den stagnierenden Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland durchaus verglichen werden kann. 6

Der erste Schub an Neuerungen, der von einer ungeahnten inneren Dynamik eindrucksvolles Zeugnis ablegte, betraf die weit gehende Auswechselung des führenden politischen Personals ("tangentopoli", "") – ein Vorgang, für den es in den freiheitlichen Demokratien der westlichen Welt nach 1945 keine Parallele gibt.

Der zweite Schub, der nunmehr ansteht, sollte das Ergebnis haben, die öffentliche Ordnung des Landes von den seit 1945 selbsterrichteten Blockaden zu befreien, die im Zeitalter der Globalisierung dessen internationale Stellung beeinträchtigen könnten, und das nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht. Hierbei geht es u.a. um die überfällige Reform des Renten- und Gesundheitssystems, des Arbeitsmarktes, der fast handlungsunfähigen Justiz, des Erziehungs- systems, der Regierungsprozeduren ("Presidenzialismo"!), der Bekämpfung der landesinter- nen organisierten Kriminalität.

Die Frage stellt sich, ob die Regierung im Stande ist, Reformen, die in einer pluralistischen Gesellschaft ohne die Pflege eines gewissen Konsenses kaum Aussicht auf Durchsetzung ha- ben, nicht nur zu verkünden, sondern den interessierten Bürgern und Interessengruppen auch überzeugend zu vermitteln. Konservative Staatsdenker hatten schon immer das Bedenken, dass der moderne Staat als Hüter des allgemeinen Besten, das, ähnlich der fabelhaften "vo- lonté générale" Rousseaus, die Summe aller Einzelinteressen ausmacht, dieses gegen die – legitimerweise organisierten – Interessen von einzelnen Teilen der Gesellschaft nicht unbe- dingt mehr durchsetzen könne. Die Reform-Anstrengungen der zweiten Regierung Berlusconi bieten aktuelles Anschauungsmaterial über diese Art von Schwierigkeiten.

Solche Gesichtspunkte machen die Analyse der italienischen Gegenwart überaus lohnend, denn mit vergleichbaren Problemen kämpfen westlich orientierte Staaten auch anderswo, auch, wie schon angedeutet, in Deutschland. Daneben werden die viel behandelten Probleme des amtierenden Regierungschefs mit der Justiz zu Marginalien, noch dazu "durch der Partei- en Gunst und Hass verwirrt". Italien, wie es in den Beiträgen dieser Publikation aufscheinen soll, wird so wieder einmal zu einer Art "Laboratorium der Moderne" – wie schon einst in der Renaissance, nicht als Machtzentrum, sondern als Experimentierplatz des staatenstrukturie- renden europäischen Geistes, damals in beginnender Hinwendung zur Neuzeit, heute bei de- ren Verlassen und mit Kurs auf eine globale Zukunft. 7

Der Untergang der Democrazia Cristiana

Carlo Masala

1. Einleitung

Der folgende Beitrag stellt sich die Frage, welche Faktoren in den Jahren 1988 bis 1992 zum Untergang der christdemokratischen Partei Italiens (DC) beigetragen haben. Heute mag eine solche Fragestellung verwundern. Wissen wir nicht längst, durch zahlreiche Studien empi- risch untermauert, dass der Untergang der DC, der einst größten christdemokratischen Partei Westeuropas, die in der gesamten Nachkriegsentwicklung Italiens eine hegemoniale Stellung innerhalb des italienischen Parteiensystems eingenommen hat1, eine Folge der Verwicklung in zahlreiche Korruptionsskandale (tangentopoli und mani pulite) war, die die DC in den Augen ihrer ehemaligen Wähler delegitimierte und die Parteiführung um Generalsekretär Mino Mar- tinazzoli im Dezember 1993 dazu zwang, den Namen der Partei in Partito Popolare Italiano (PPI) zu ändern?2 Warum, wenn nicht aus rein historischen Gründen, sollte man sich heute, fast zehn Jahre nach dem Zerfall der DC, noch der Mühe unterziehen, die Gründe für diesen Zerfall näher zu beleuchten? Dieses Unterfangen lohnt sich, weil, so meine These, die Dis- kussion um die Gründe für den Untergang der DC bislang durch Reduktionismus3 gekenn- zeichnet gewesen ist. Die Debatte konzentrierte und konzentriert sich bis heute auf die inner- parteilichen und inneritalienischen Faktoren, die für den Zerfall der DC verantwortlich ge- macht werden und lässt die internationalen Faktoren fast vollständig außer acht. Anders als das Gros der Italienforscher gehe ich jedoch von der Annahme aus, dass die innenpolitischen und innerparteilichen Prozesse, die zum Untergang der DC geführt haben, eine Reaktion auf die Veränderungen in der internationalen Politik gegen Ende der 80er und Beginn der 90er- Jahre gewesen sind. Mani pulite und tangentopoli waren nur der Anlass für diese Entwick- lung. Die Ursache ist jedoch im Ende des Ost-West-Konflikts zu suchen. 4 Die Auflösung des macht- und ordnungspolitischen Konflikts zwischen Ost und West setzte in der DC jene zent- rifugalen Kräfte frei, die bis dahin vor allem durch ihren politischen Gegner, dem Partito Co-

1 Es gibt zahlreiche Studien zur Geschichte der DC. Deshalb seien hier nur drei der wichtigsten erwähnt. Lill, Rudolf/Wegener, Stephan: Die Democrazia Cristiana Italiens (DC) und die Südtiroler Volkspartei, in: Hans-Joachim Veen (Hrsg.), Christlich-demokratische und konservative Parteien in Westeuropa Bd.3 (Stu- dien zur Politik 17, hrsg. im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung von Hans Joachim Veen und Peter R. Weilemann), Paderborn-München-Wien-Zürich 1991, S.17-206; Malgeri, Francesco: Storia della Democra- zia Cristiana 5 Bde., Rom 1987-1989; Chassériaud, Jean-Paul: Le parti Démocrate Chrétien en Italie, Paris 1965. 2 Diese These wird vertreten u.a. von: Newell, James L./Bull, Martin: Party Organisations and Alliances in in the 1990s: A Revolution of Sorts, in: Martin Bull/Martin Rhodes (Hrsg.), Crisis and Transition in Italian Politics, London 1997, S.90-92,81-109; Furlong, Paul: Political Catholicism and the strange death of the Christian Democrats, in: Stephen Gundle/Simon Parker (Hrsg.), The New Italian Republic. From the Fall of the Wall to Berlusconi, London, New York 1996, S.59-71; Bufacchi, Vittorio/Burges, Simon: Italy since 1989. Events and Interpretations, London 1998, S.117-123; Braun, Michael: Italiens politische Zu- kunft, Frankfurt 1994, S.34-54; Petersen, Jens: Quo vadis, Italia? Ein Staat in der Krise, München 1995, S.151-164; 3 Zum Problem des Reduktionismus vgl. Waltz, Kenneth N.: Theory of International Politics, Reading 1979. 4 Zum Ost-West-Konflikt im Allgemeinen vgl. Link, Werner: Der Ost-West-Konflikt, 2. Aufl., Stuttgart 1988. 8 munista Italiano (PCI) zusammengehalten wurde.5 Hier unterschied sich die Entwicklung in Italien nach 1945 von der Entwicklung in anderen westeuropäischen Staaten (mit Ausnahme Frankreichs). Bis in die 80er-Jahre hinein war der Hauptgegner der christlich-demokratischen Partei in Italien nicht, wie etwa in der Bundesrepublik oder in Österreich, eine sozialistische bzw. sozialdemokratische Partei, sondern die größte kommunistische Partei Westeuropas. Der Ost-West-Konflikt, der die Strukturen und Prozesse der internationalen Politik über 40 Jahre hinweg konditionierte, fand seinen Niederschlag auch innerhalb der italienischen Gesellschaft und Politik.

Um diese Annahme zu überprüfen, gehe ich wie folgt vor. Kapitel zwei wirft einen Blick auf die Gründungsphase der DC. In diesem Kapitel soll deutlich gemacht werden, dass sich in der im Jahre 1943 gegründeten Partei politische Strömungen miteinander verbanden, deren über- greifende Gemeinsamkeit in der Bildung einer starken antikommunistischen Partei bestand, die ansonsten jedoch durch erhebliche programmatische Differenzen gekennzeichnet waren.

Kapitel drei wendet sich dann den Jahren des Zerfalls zu. Es soll hier deutlich gemacht wer- den, dass die nach dem Zusammenbruch des Kommunismus nicht mehr existierende gesell- schaftliche und ökonomische Alternative, die es über 40 Jahre in Italien zu verhindern galt, sowohl innerhalb der Partei als auch bei ihren Wählern jene zentrifugalen Kräfte freisetzte, die letzten Endes zur Umbenennung der Partei im Jahre 1994 und daran anschließend zu ihrer Atomisierung beitrugen.

2. Die Gründungsphase der DC

Als im Sommer 1942 die innere Krise des italienischen Faschismus zu Tage trat, begann sich nach über 20 Jahren des erzwungenen politischen Schweigens und der inneren Emigration auch der politische Katholizismus neu zu formieren. Die Initiative hierzu ging maßgeblich von aus. Er sammelte neben alten PPI-Mitgliedern und Parlamentariern wie Giovanni Gronchi, Giuseppe Pella, Attilio Piccioni, und auch führende Repräsentanten der Federazione Universitaria Cattolica Italiana (FUCI), wie , und Giorgio La Pira sowie eine Gruppe junger Professoren aus der Universitá Cattolica Milano um Giuseppe Dossetti, der bis zu seinem Rückzug aus der Politik 1951 De Gasperis großer Gegenspieler in der DC sein sollte, und Gustavo Bontadini6 und die Gruppe der Guelfen7, einer katholischen Widerstandsgruppe um Piero Malvestiti und Gioacchino Malavasi. Letztere repräsentierten ohne Zweifel die einzige politische Organisation der Katholiken während des Faschismus.8

5 Hamel, Pasquale: Nascita di un partito. Il processo di aggregazione del partito democratico-cristiano, Florenz 1982, S.42. 6 Vgl. Fumasi, Eleonora: Origine e primi sviluppi della Democrazia Cristiana a Milano (1941-1946), in: Bolletino dell` Archivio per la Storia del Movimento Sociale Cattolico in Italia 26 (1991) 3, S.307-351. 7 Neben den hier genannten Strömungen gab es noch eine Vielzahl kleinerer katholischer Gruppen im Nach- kriegsitalien. Da die meisten von ihnen politisch jedoch ohne Bedeutung waren oder aber einer Integration in die DC ablehnend gegenüberstanden, finden sie an dieser Stelle keine Erwähnung. Um sich einen Über- blick über diese zumeist linken Gruppen zu verschaffen siehe Malegri, Francesco: La Sinistra cristiana, Brescia 1982. 8 Vgl. zu der Bewegung der Guelfen: Brezzi, Carlo: Il gruppo guelfo fra gerarchia ecclesiastica e regime fascista, in: Piero Scoppola (Hrsg.), I cattolici tra fascismo e democrazia, Bologna 1975, S.235-298. 9

Für De Gasperi war das Ziel von Beginn an deutlich: Die neu zu gründende Partei müsse, in Abkehr von dem Typus einer Klientelpartei, eine klassenübergreifende Volkspartei (partito di popolo) sein.9 Nicht zuletzt, um der DC in einem postfaschistischen Staat eine zentrale Rolle zukommen zu lassen, um sie schlechthin zum "partito italiano"10 werden zu lassen, war De Gasperi darauf bedacht, eine Fragmentierung der katholischen Gruppen zu vermeiden und stattdessen eine Volkspartei aufzubauen, durch welche die katholischen Wähler fest in das politische System der italienischen Nachkriegsrepublik integriert werden sollten und zugleich ein Gegengewicht zu den sozialistischen und kommunistischen Gruppierungen geschaffen wurde.11 Eine klientelistische Partei der Katholiken hätte zudem noch die Problematik einer möglicherweise allzu großen Abhängigkeit vom Vatikan aufgeworfen. 12 De Gasperi kam bei seiner Konzeption der Umstand entgegen, dass die Spitzen im Vatikan ihrerseits an einer Partei der Katholiken, im Sinne eines verlängerten politischen Armes des Vatikans in Italien, nur mäßiges Interesse zeigten. Auf eine Anfrage des amerikanischen Außenministeriums im Februar 1943, welche Personen der Heilige Stuhl als mögliche Verhandlungspartner für die Alliierten sowie als mögliche Mitglieder einer postfaschistischen italienischen Regierung vor- schlagen würde, gab der Vatikan keine Antwort, obgleich er hier die Möglichkeit gehabt hät- te, ihm nahe stehende Politiker zu benennen. 13

Giulio Andreotti, der stets über hervorragende Kontakte zum Vatikan verfügte, stellt die The- se auf, dass eine Partei der Katholiken nicht im Interesse von Papst Pius XII. gelegen hätte, da eine solche Partei den Vatikan in die italienische Politik hineingezogen und damit die Gefahr einer Kompromittierung des Vatikans bestanden hätte.14 Die Diskussionen im Vatikan wurden vor allem von der Befürchtung dominiert, dass das Nachkriegsitalien von einer kommunisti- schen Partei beherrscht werden und somit in den sowjetischen Machtbereich fallen könnte. Aus diesem Grund insistierte Papst Pius XII. sowohl gegenüber italienischen Politikern als auch in Gesprächen mit den westlichen Alliierten, dass Italien eine starke Regierung bräuchte, um die kommunistische Bedrohung zurückzudrängen. Eine Fragmentierung der katholischen Wählerschaft in mehrere Parteien hätte dieser Intention jedoch entgegengestanden.

Doch innerhalb der neu gegründeten DC gab es Tendenzen und Gruppierungen, die den Auf- bau einer Partei der Katholiken bzw. die stärkere Berücksichtigung der katholischen Sozial- lehre im Programm der DC propagierten. Für letztere Strömung war Giuseppe Dossetti einer der maßgeblichen Exponenten. 15 Beeinflusst durch die Philosophie Maritains und Mouniers stand er für einen religiösen, linksdemokratischen und pazifistischen Rigorismus. Er und sei- ne Anhänger verfügten in den Jahren 1947-1951 über die Zeitschrift Cronache Sociali, die dieser Gruppe eine eigene Plattform für die Darstellung ihrer Ideen bot. Im Zentrum ihrer Überlegungen zu der programmatischen Ausrichtung der DC stand die Notwendigkeit einer auf den Grundlagen der christlichen Solidarität basierenden Politik. Wie Giorgio La Pira be-

9 Vgl. Andreotti, Giulio: Intervista su De Gasperi a cura di Antonio Gambino, Roma, Bari 1977, S.28-29. 10 So De Gasperi über die Stellung der DC im Parteiensystem Italiens an Amintore Fanfani am 9.8.1954, in: De Gasperi, Alcide: Lettera a Fanfani, Roma 1954, S.13-17, 16. 11 Vgl. Malgeri, Francesco: La Democrazia Cristiana in Italia, in: Emiel Lamberts (Hrsg.), Christian Demo c- racy in the European Union 1945/1995 (KADOC-Studies 21), Leuven 1997, S.93-104, 95. 12 Vgl. Magister, Sandro: La politica vaticana e l´Italia 1943-1978, Roma 1979, S.45. 13 Das Dokument findet sich bei Scoppola, Pietro: La Democrazia Cristiana in Italia dal 1943 al 1947, in: Storia e Politica 32 (1975), S.184-185. 14 Vgl. Andreotti, Giulio: Intervista su De Gasperi a cura di Antonio Gambino, Roma, Bari 1977, S.22. 15 Zur Biografie Dossettis vgl. Tramontin, Silvio: La Democrazia Cristiana dalla Resistenza alla Repubblica, in: Francesco Malegri (Hrsg.), Storia della Democrazia Cristiana, Bd.1, S.13-171, 151-152. 10 reits im August 1943 schrieb, müsse es die Aufgabe einer christlichen Partei sein, auf der Grundlage des Evangeliums Lösungen für den neuen italienischen Staat anzubieten. 16 Ein direkter Einfluss der Kirche auf die Politik einer solchen Partei wurde hingegen abgelehnt.

In diesem Zusammenhang ist ein Artikel Fanfanis von besonderem Interesse, den dieser 1946 in der Zeitschrift Humanitas veröffentlichte.17 Fanfani hebt hier deutlich hervor, dass die DC keine Partei der Katholiken sei und deshalb die katholische Kirche von dieser auch nicht als Bezugspunkt betrachtet werden sollte. Ebenfalls lehnt er einen direkten Einfluss der Kirche auf die Partei ab und gesteht ihr lediglich einen indirekten Einfluss zu, insoweit Parteimitglie- der auch gläubige Katholiken sind. Die Partei, so argumentiert Fanfani, müsse jedoch unab- hängig von der Geistlichkeit sein. Im Unterschied zu De Gasperi plädiert Fanfani im Folgen- den jedoch nicht für eine Partei der Katholiken, in der alle katholischen Strömungen Platz haben sollen, sondern grenzt jene Strömungen innerhalb und außerhalb der DC aus, deren Ziel der Aufbau einer Vatikanpartei ist.18 In der Auseinandersetzung um die Frage der internen Struktur der DC (pluralistische katholische Volkspartei oder Konzentration auf den Linkska- tholizismus) fand De Gasperi denn auch die Unterstützung des Vatikans. Für Papst Pius XII., der De Gasperis Konzept der Trennung von kirchlicher Autorität und politischer Verantwort- lichkeit keineswegs billigte, stellten die zum Teil utopisch anmutenden Vorstellungen Dos- settis19 und seiner Anhänger eine viel größere Gefahr für die Entstehung einer starken anti- kommunistischen Partei dar. Bestand zwischen De Gasperi und der Gruppe um Dossetti zu- mindest prinzipielle Einigkeit darüber, dass die DC nicht zu einer Partei der Katholiken de- gradiert werden dürfe, so gab es innerhalb (und auch außerhalb) der DC Strömungen, welche die programmatisch-politische Zukunft der DC in der Entwicklung hin zu einer Partei der Katholiken anstrebten und dabei auch die Unterstützung eines Teils des Klerus erfuhren. Die wichtigsten Befürworter einer solchen katholischen Partei lassen sich im Umfeld der Azione Cattolica (AC),20 der größten katholischen Laienorganisation, sowie der Jesuitenzeitschrift "Civiltà Cattolica" ausmachen. In der unmittelbaren Nachkriegszeit war die AC (1946 hatte sie 2,5 Millionen Mitglieder) für die DC von unschätzbarem Wert. Fast alle führenden Per- sönlichkeiten der neu gegründeten Democrazia Cristiana, die nicht aus dem PPI kamen, waren vorher in der AC tätig gewesen. Die AC war die "Kaderschmiede" der DC. Die Partei ihrer- seits stützte sich bei Wahlen auf den organisatorischen Apparat der AC.

Einige führende Persönlichkeiten der AC leiteten daraus auch gewisse Ansprüche hinsichtlich einer stärkeren Orientierung der DC am Vatikan ab. Luigi Gedda, der Präsident der Jugendor- ganisation der AC, sprach bereits 1946 davon, dass man die DC nicht als den politischen Be- zugspunkt für die Mitglieder der AC betrachten könne, wenn es andere Parteien geben würde, welche die Ziele und Vorstellungen der AC teilen würden. 21 In erster Linie plädierte Gedda für die Rekonstruktion der katholischen Einheit unter einem organisatorischen Dach, das ge-

16 Giorgio La Pira zitiert nach Pombeni, Paolo: Il Gruppo dossettiano e la fondazione della Democrazia Cristiana Italiana (1938-1948), Bologna 1979, S.169. 17 Vgl. Fanfani, Amintore: Partiti di ispirazione cristiana e Chiesa Cattolica, in: Humanitas 1 (1946) 2, S.381- 385. 18 Vgl. Ebd., S.383-384. 19 Vgl. Pombeni, Paolo: Le "Cronache sociali" di Dossetti. Geografia di un movimento di opinione. 1947- 1951, Florenz 1976. 20 Zur Geschichte der Azione Cattolica vgl. De Rosa, Gabriele: Storia politica dell´ Azione Cattolica in Italia, Bd.2, Bari 1954 sowie Ferrari, Luigi: L´ Azione Cattolica in Italia dalle origini al ponteficato di Paolo VI., Brescia 1982. 21 Malegri, Francesco: Chiesa, cattolici e democrazia. Da Sturzo a De Gasperi, Brescia 1990, S. 258. 11 nügend Platz lassen sollte für andere Bewegungen, die zu diesem Zeitpunkt nicht in der DC vertreten waren. Dabei dachte Gedda jedoch weniger an die Gruppe um Dossetti als vielmehr an die Bewegung des L´Uomo Qualunque von Giannini.22 Im März 1946 schlug Gedda vor, dass die AC eine eigene Liste mit Kandidaten für die Parlamentswahlen aufstellen solle, die dann ein Bündnis mit der DC eingehen würde. Als Gegenleistung für solch eine sichtbare Präsenz der AC auf den Listen der DC stellte Gedda 2,5 Millionen Wählerstimmen für die DC in Aussicht. Ziel Geddas war es, der Ideologie und Programmatik der AC eine eigenständige parlamentarische Basis zu verschaffen, da er der DC die Fähigkeit absprach, katholische Wert angemessen zu vertreten. Doch ging es Gedda nicht nur um die stärkere Vertretung dieser Werte in der Politik. Mit Blick auf den PCI und dessen starke Stellung im politischen System Italiens verfolgte Gedda das Ziel, durch die Schaffung eines starken Mitte-Rechts-Blockes, der die Monarchisten und auch die Neofaschisten einschließen sollte, die Grundlagen für eine vehemente antikommunistische Politik in Italien zu schaffen. 23 Auf dem Parteikongress 1947 in Neapel forderte De Gasperi die Delegierten nachdrücklich dazu auf, die DC als partito na- zionale fest im italienischen Parteiensystem zu verankern, da es für sie zum Zwecke des Machterhalts keinen "anderen Weg"24 gebe.

Bei den Richtungswahlen von 1948 stützte sich die DC erneut auf den organisatorischen Ap- parat des "mondo cattolico" und hier vor allem auf die AC. Die von Luigi Gedda in ganz Ita- lien ins Leben gerufenen Bürgerkomitees (comitati civici) trugen zu einem nicht unerhebli- chen Maße zum Wahlsieg De Gasperis bei, da sie der Partei Wähler aus dem Lager der Mo- narchisten und ehemaligen Faschisten zuführten, die sich der DC direkt nicht hatten anschlie- ßen wollen. 25 Somit trug Gedda, entgegen seiner Intention, dazu bei, dass die DC aus den Wahlen 1948 nicht nur mit 48,5% der Stimmen als Siegerin, sondern als eine wirkliche Volkspartei hervorging, da das Spektrum ihrer Wähler und Mitglieder nun alle sozialen Schichten der italienischen Gesellschaft umfasste.26

Problematisch und umstritten blieb für die kommenden Jahre jedoch weiterhin die Koalitions- frage. Der "rechte" Flügel der DC, dem auch jene Vertreter angehörten, die in den Jahren 1945-1948 ihre Stimme für eine Partei des Vatikans erhoben, plädierte angesichts der drohen- den kommunistischen Gefahr für eine Koalition der DC mit den Monarchisten und falls not- wendig auch mit den Neofaschisten, um einen starken antikommunistischen Block zu bilden. Ein letzter Versuch, dieser Konzeption zum Erfolg zu verhelfen, war die Einbeziehung der Rechtsparteien auf lokaler Ebene (Wahlen zur römischen Stadtverwaltung), die auch die Un- terstützung des Vatikans erfuhr (die sog. Operazione Sturzo im Jahre 1952).27 Obwohl De Gasperi die Befürchtung hegte, dass der Vatikan nunmehr doch die Gründung einer katholi- schen Partei betreiben oder zumindest unterstützen werde, widersetzte er sich dem Versuch, seine Politik des "centrismo" zu Gunsten einer Politik der Koalition mit den Rechtsparteien aufzugeben. Eine solche Wendung in der Koalitionspolitik hätte zudem auch ein Auseinan-

22 Vgl. Sani, Roberto: Da De Gasperi a Fanfani. La "Civilità Cattolica" e il mondo cattolico italiano nel secondo dopoguerra (1945-1962), S.69. 23 In dieser Intention wurde Gedda auch von Teilen des Klerus (Partito Romano) unterstützt. Vor allem die Zeitschrift "Civiltà Cattolica" und der Rektor der römischen Lateran Universität, Msgr. Roberto Ronca, un- terstützten die Pläne Geddas zur Schaffung eines starken Mitte-Rechts-Blockes in den Jahren 1946-1950. 24 De Gasperi, Alcide: Discorsi politici, Roma 1969, S.166. 25 Vgl. Lill, R./Wegener, St.: Die Democrazia Cristiana Italiens (DC) und die Südtiroler Volkspartei (FN.1), S.128. 26 Vgl. Cappecchi, Vittorio: Il comportamento elettorale in Italia, Bologna 1968, S.272-304. 27 Vgl. Andreotti, G:: Intervista su De Gasperi (FN.9), S.112. 12 derbrechen der DC begünstigt.28 Dem "rechten Flügel" standen die Vertreter der Linie Dos- setti gegenüber, die für eine Annäherung an die Sozialisten plädierten, um so die sozialen, ökonomischen und politischen Probleme des Landes auf der Grundlage eines möglichst brei- ten Konsenses zu lösen. De Gasperi hingegen schlug auch in dieser Frage einen mittleren Weg ein und koalierte mit den kleineren, laizistischen Parteien (Partito Liberale Italia- no/Partito Socialdemocratico Italiano/Partito Repubblicano Italiano).

Es dürfte mithin deutlich geworden sein, dass sich in der DC Strömungen zusammengefunden hatten, deren übergreifende, ja fast einzige Gemeinsamkeit in der Einsicht bestand, eine starke antikommunistische Volkspartei gründen zu müssen, um ein Gegengewicht zu den "Volks- frontparteien" zu schaffen. Diese Ratio bestimmte auch – trotz diverser Wendungen in den 60er und 70er-Jahren, die bis hin zur "Semikooptation" (Hartmut Ullrich) der Kommunisten in die Regierungsverantwortung reichten – die Politik der italienischen Christdemokraten bis zum Ende der 80er-Jahre.29

3. Der Zerfall der DC als Produkt des Endes des Ost-West-Konflikts

Mit der Öffnung der Berliner Mauer, dem rapiden Zusammenbruch der kommunistischen Systeme in Osteuropa sowie dem Massaker der chinesischen Kommunisten im Juni 1989 an protestierenden Studenten in Peking (Tiananmen) gerieten die italienischen Kommunisten, obgleich sie sich bereits in den 80er-Jahren – als Folge des Einmarsches der UdSSR in Af- ghanistan und der Verhängung des Kriegsrechts in Polen – vom sowjetischen Modell losge- sagt hatten, unter einen zunehmenden Anpassungsdruck. Der damalige Generalsekretär des PCI, Achille Occhetto, war einer der ersten, der aus der veränderten weltpolitischen Lage die Konsequenzen zog und am 24. November 1989 dem Zentralkomitee seiner Partei die Umbe- nennung des PCI in Partito Democratico della Sinistra (PDS) vorschlug. Obgleich der Vor- schlag mit 219 zu 73 Stimmen (bei 34 Enthaltungen) vom ZK des PCI angenommen wurde, sollte es noch bis Anfang 1991 dauern, ehe die Transformation der Partei vollzogen werden konnte. Das taktische Ziel Occhettos war es, den regierenden Sozialisten unter der Führung Bettino Craxis eine Allianz zwischen PDS und dem Partito Socialista Italiano (PSI) anzubie- ten, um so die strukturelle Mehrheitsfähigkeit der italienischen Linken sicherzustellen. Dieses Anliegen wurde von Craxi auf dem im Juni 1991 abgehaltenen Parteitag der Sozialisten schroff zurückgewiesen. Craxi sah seinerseits in der veränderten weltpolitischen Lage und in der Desavouierung der kommunistischen Ideologie vielmehr die Gelegenheit, sein seit den 80er-Jahren beharrlich verfolgtes Anliegen, die Sozialisten stärker als die Kommunisten zu machen (wie Mitterrand es ihm in Frankreich vorgemacht hatte), zu realisieren. 30

Stieß Occhettos Vorstoß gegenüber Craxi ins Leere, so entzog er mit der Umbenennung des PCI in PDS und mit der damit einhergehenden "Sozialdemokratisierung" der ehemaligen kommunistischen Partei der DC und ihrer Wählerschaft jedoch ihre wichtigste raison d' être. Insbesondere beim christdemokratischen Elektorat setzte das Ende des durch den Ost-West- Konflikt bedingten ideologischen cleavage (Kommunismus-Antikommunismus) zentrifugale Kräfte frei, was sich u.a. dadurch auswirkte, dass sowohl im Norden als auch im Süden, regi-

28 Zur Operazione Sturzo vgl. Riccardi, Andrea: Il "Partito Romano" nel secondo dopoguerra 1945-1954, Brescia 1983. 29 Vgl. Masala, Carlo: Die Democrazia Cristiana 1943-1963. Zur Entwicklung des partito nazionale, in: Mi- chael Gehler/Wolfram Kaiser/Helmut Wohnout (Hrsg.), Christdemokratie in Europa im 20. Jahrhundert, Wien u.a. 2001, S.348-369. Dort findet sich auch weiterführende Literatur. 30 Bufacchi, V./Burges, S.: Italy since 1989 (FN.2), S.20. 13 onalistische single-issue Parteien einen plötzlichen Auftrieb erlebten. " Es gibt keine Angst mehr vor dem Kommunismus, also können wir wählen was wir wollen"31 brachte ein anony- mes DC-Parteimitglied die Stimmung an der Basis auf den Punkt. Insbesondere im Norden sorgte das Ende des ideologischen cleavage zwischen Schwarz und Rot, wie Helmut Hinter- häuser die Situation in den 60er-Jahren treffend formuliert hatte32, für den kometenhaften Aufstieg der Lega Nord unter ihrem Vorsitzenden . Während diese mit der Sezession des Nordens vom Rest Italiens liebäugelnde Bewegung bis Ende der 80er-Jahre das Dasein einer folkloristischen Regionalbewegung führte, konnte sie bei den Parlamentswahlen vom April 1992 einen explosionsartigen Stimmenzuwachs (von 0,5% im Jahr 1987 auf 8,5% 1992) verzeichnen. Und im Süden war es die Anti-Mafia-Bewegung "La Rete" des Bürger- meisters von Palermo und ehemaligen DC-Mitgliedes Leoluca Orlando, die überproportionale Stimmenzuwächse sowohl bei kommunalen, regionalen und nationalen Wahlen für sich – zu Lasten der DC – verbuchen konnte.

Zum ersten Mal in ihrer Geschichte wurde die einst hegemoniale Position der DC im italieni- schen Parteiensystem ernsthaft in Frage gestellt. Zwar ging die DC aus den Parlamentswahlen vom April 1992 nochmals als stärkste Partei hervor, doch musste auch sie einen Verlust von annähernd 5% im Vergleich zu den Wahlen von 1987 verbuchen.

Tabelle 1: Parlamentswahlen 1987 und 1992 1987 Prozente Sitze 1992 Prozente Sitze DC 34,3 232 29,7 206 PSI 14,3 94 13,6 92 PRI 3,7 21 4,4 27 PSDI 3,0 17 2,7 16 PLI 2,1 11 2,8 17 MSI 5,9 35 5,4 34 PCI 26,6 177 PDS 16,1 107 DP 1,7 8 RC 5,6 35 Verdi 2,5 13 2,8 16 LP 2,6 13 1,2 7 Rete ------1,9 12 LN 0,5 1 8,7 55 Andere 2,8 8 5,1 6 Abkürzungen: DC (Democrazia Cristiana); PSI (Partito Socialista Italiano); PRI (Partito Repubblicano Italia- no); PSDI (Partito Socialista Democratico Italiano); PLI (Partito Liberale Italiano); MSI (Movimento Sociale Italiano); PCI (Partito Comunista Italiano); PDS (Partito Democratico della Sinistra); DP (Democrazia Proleta- ria); Rifondazione Comunista); LP (Lista Pannella); LN (Lega Nord).

31 Zitiert in La Repubblica vom 1. Oktober 1992. 32 Hinterhäuser, Helmut: Italien: Zwischen Schwarz und Rot, München 1960. 14

Die Wähler, die der DC bei den Parlamentswahlen von 1992 abhanden gekommen waren, reagierten auf eine Entwicklung innerhalb der DC, die in den 60er-Jahren unter Amintore Fanfani eingesetzt hatte1 und die die Politik und Programmatik der italienischen Christdemok- raten bis in die 80er-Jahre gekennzeichnet hatte. Es waren insbesondere liberal-konservative Wählerschichten, die, nachdem die Gefahr einer kommunistischen Machtübernahme in Italien nicht mehr existent war, der DC und ihrer linkskatholischen Führungsschicht und Program- matik den Rücken gekehrt hatten. 2 Bezeichnenderweise wechselte die Mehrzahl des ehemali- gen christdemokratischen Elektorates nicht zu einer etablierten laizistischen oder sozialdemo- kratischen Partei, sondern als Hauptprofiteur der Wählerwanderungen erwies sich die Lega Nord, die sich im Wahlkampf von 1992 als Anti-System-Partei erfolgreich profilieren konn- te.3 Luciano Pelliciani hat diese Wählerwanderung als den Ausdruck eines Protestes der ehe- maligen DC-Wähler gegen die totale Vereinnahmung des Staates durch die Parteien interpre- tiert.4 Diese Interpretation vermag jedoch nicht zu überzeugen. Schließlich handelte es sich bei den Lega-Wählern ja um ehemalige DC-Wähler, mehrheitlich aus dem Norden Italiens. Der Stimmenzuwachs der Lega ist vielmehr im Lichte der Tatsache zu interpretieren, dass die norditalienischen Wähler der DC ihrer Partei, die mehrheitlich von Politikern aus dem Süden des Landes beherrscht wurde, einen deutlichen Denkzettel verpassen wollten. Denn die süd- italienischen Spitzenpolitiker der DC standen dem linkskatholischen Flügel der Partei nahe. Folglich wurde der "konservative Flügel" der Partei seit den 60er-Jahren zunehmend an den Rand gedrängt und fand in der DC nur deshalb noch seine politische Heimat, weil das über- greifende Ziel, die Verhinderung eines Wahlsieges des PCI, noch immer die Parteiräson dar- stellte.

Die sich abzeichnende Erosion des DC-Elektorates veranlasste die Führungsspitze der Partei jedoch vorerst nicht, auf die veränderten Bedingungen zu reagieren. Noch immer glaubte man daran, dass die DC "zum Regieren verdammt sei", wie es der italienische Ministerpräsident Giulio Andreotti einmal ausgedrückt hatte. Doch die berühmt gewordene Parole des Journa- listen Indro Montanelli, "die Nase zuhalten und DC wählen"5 galt nicht mehr. Die DC, das Bollwerk gegen die kommunistische Gefahr, verlor mit dem Verschwinden der kommunisti- schen Gefahr ihre Legitimationsbasis. Denn ohne den Kommunismus wurde – im Bewusst- sein der Wähler – das geeinte antikommunistische Lager nicht mehr gebraucht.6

In der zweiten Reihe fing es jedoch allmählich an zu brodeln. Politiker wie der ehemalige Minister für die Reform der Verwaltung, Massimo Severo Giannini, und Mario Segni dräng- ten auf Reformen, jedoch nicht der Partei, sondern des Staates. Sie sahen in einer Reform des Wahlrechts den Schlüssel zur Reform der staatlichen Institutionen und zur Aufhebung der institutionellen Blockaden des politischen Systems Italiens. Doch auch sie gingen, ähnlich wie Andreotti und der DC-Generalsekretär Forlani, von der Einsicht aus, dass die DC die na-

1 Vgl. Masala, C.: Die Democrazia Cristiana 1943-1963 (FN.29). 2 Vgl. Baget Bozzo, Gianni: Cattolici e Democristiani, Rom 1994. 3 Vgl. Grasmück, Damian: Das Parteiensystem Italiens im Wandel. Die politischen Parteien und Bewegungen seit Anfang der Neunzigerjahre unter besonderer Berücksichtigung der Forza Italia, unv. Magister-Arbeit an der Universität Bonn, vorgelegt im Juni 1999, S.31. 4 Pelliciani, Lucciano: Eine Krise, die von weit her kommt, in: Luigi Vittorio Ferraris/Günter Traut- mann/Hartmut Ullrich (Hrsg.), Italien auf dem Weg zur "zweiten Republik"?, Frankfurt u.a. 1995, S.33-44, 35. 5 Zitiert nach Weber, Peter: Italiens demokratische Erneuerung. Anpassungsprobleme einer "schwierigen" Demokratie (1989-1994), in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Sonderband zum 25-jährigen Bestehen mit dem Titel: Demokratie in Europa. Zur Rolle der Parlamente, Opladen 1995, S.178-203, 181. 6 Salvatori, Massimo: Breve storia della lunga transizione, in: Il Mulino 5/1998, S.861-871. 15 türliche Regierungspartei Italiens sei. An eine programmatische Reform der italienischen Christdemokratie, die darauf abzielen sollte, die verloren gegangenen Wählerschichten erneut an die italienische Christdemokratie zu binden, dachten auch sie nicht.7

Die Krise der DC wurde durch innerparteiliche Diadochenkämpfe zwischen Andreotti und Forlani sowie durch die einsetzenden Ermittlungen der Mailänder Staatsanwaltschaft – zu- nächst gegen kommunale DC-Größen – beschleunigt. Innerhalb weniger Monate weiteten sich die Anklagen wegen Schmiergeldannahmen und illegaler Parteifinanzierung auf die nationale Ebene aus. Als im Frühjahr 1993 auch die Richter von Neapel und Palermo Ermittlungsver- fahren einleiteten, geriet neben den illegalen Zahlungen auch das Verhältnis der DC zur Mafia in das Rampenlicht der Öffentlichkeit. Höhepunkt dieser, auch politisch motivierten, Ermitt- lungskampagne war die im März geäußerte Beschuldigung der Staatsanwaltschaft von Paler- mo, dass der ehemalige Ministerpräsident Andreotti die Interessen der sizilianischen Mafia vertreten und verteidigt habe. Auch soll er einen Mord an einem Journalisten bei der Mafia in Auftrag gegeben haben.

Somit liefen Korruptions- und Mafia-Affären sowie innerparteiliche Diadochenkämpfe in der DC nebeneinander her. Die Rufe nach Reformen innerhalb der Partei wurden immer lauter. Doch es fehlte an personellen Alternativen, um den angeschlagenen Parteivorsitzenden For- lani zu ersetzen. Erst nachdem auch die Provinzwahlen von Mantua (Lombardei) – im Norden des Landes – der DC bis dahin nie gekannte Verluste beigebracht hatten, wählte der National- rat der Partei Martino Martinazzoli zum neuen Parteichef. Dieser, der breiten Öffentlichkeit bis dahin eher unbekannte DC-Politiker, ging unvermittelt daran, die Parteispitze zu verjün- gen, wurde jedoch in diesen Bemühungen beständig von der alten Garde der DC und ihren correnti, die um ihre innerparteiliche Machtstellung fürchteten, an einer programmatischen und organisatorischen Reform der Partei gehindert. Martinazzoli sah die Zukunft der DC in ihrer Vergangenheit. Eine weder links- noch rechtskatholische Partei, sondern eine Partei, die sowohl die linksliberalen als auch die konservativen Kräfte binden und die Partei in der Mitte des Parteienspektrums ansiedeln sollte. Allerdings drängte Martinazzoli auf ein Ende des seit den späten 50er-Jahren fest etablierten Correnti-Systems.8

Doch die Erosion der DC ließ sich nicht aufhalten. Nachdem bereits 1990 der Bürgermeister von Palermo, Orlando, aus der Partei ausgetreten war, die Partei im Jahr 1991 den Bruch mit einem ihrer Granden, dem Staatspräsidenten Cossiga, herbeigeführt hatte, verließ im März 1993 auch Mario Segni, der Initiator der Wahlrechtsreformbewegung, die Partei. 9 Hinzu kam noch eine verheerende Niederlage bei den Kommunalwahlen vom Juni 1993 auf Grund des neuen Kommunalwahlrechts, wobei zum ersten Mal die Bürgermeister in direkter Wahl gewählt wurden. Die DC konnte lediglich 18,7% der Stimmen auf sich vereinigen.

In einer Situation, in der sich die Erosion der hegemonialen Stellung der DC immer stärker abzuzeichnen begann, versuchte Martinazzoli die Notbremse zu ziehen und schlug der Ende Juli einberufenen Assemblea Costituente der DC die Auflösung und Umbenennung der Partei auf dem kommenden Parteitag vor. Der neue Name der DC sollte laut Martinazzoli der Name der Vorläuferpartei der italienischen Christdemokraten sein: Partito Popolare Italiano (PPI). Auf der Sitzung der Assemblea Costituente zeichnete sich auch ein deutlicher programmati- scher Linksruck der Partei ab. Dieser Linksruck war insbesondere verbunden mit dem Namen

7 Vgl. Morlino, Luigi: Crisis of Parties and Change of Party System in Italy, in: Party Politics 1/1996, S.5-30. 8 Bei den correnti handelt es sich um fest institutionalisierte Gruppen innerhalb der Partei, die größtenteils über eigene Presseorgane, Agenturen, Zeitungen sowie über Zentralen und Mitarbeiterstäbe verfügten. 9 Vgl. Franco, Maurizio: Tutti a casa. Il crepuscolo di mamma DC, Mailand 1993. 16 der kommissarischen Leiterin der venetianischen DC, Rosa Bindi, der es erfolgreich gelungen war, die DC Venetiens von alten, mit Korruptionsvorwürfen belasteten DC-Mitgliedern zu säubern. Zwar plädierte Martinazzoli noch dafür, die Position des PPI als Partei der Mitte beizubehalten, doch die Mehrheit der Assemblea Costituente symphatisierte mit der pro- grammatischen Position Bindis.

Die Ankündigung der Umbenennung brachte jedoch nicht die erhoffte Stabilisierung der Par- tei und konnte die Erosion des Elektorats nicht verhindern, wie sich bei den Kommunalwah- len im November-Dezember 1993 deutlich zeigen sollte. Es gelang der DC lediglich, zwei von 100 Bürgermeisterämtern zu erobern. Ihr Stimmanteil rutschte in den meisten Städten auf unter 15%.10

Innerhalb der DC brach der Streit über die künftige programmatische Richtung des PPI nun- mehr offen aus. Zwar hatte bereits zu diesem Zeitpunkt ein Großteil der konservativen Kräfte die DC bereits verlassen, doch gab es eine beachtliche Minderheit um den Forlani-Zögling Pierferdinando Casini, die sich dem Linkskurs von Rosa Bindi widersetzte. Martinazzoli ge- riet mit seiner gemäßigten Position zusehends in die Minderheit.

Auf dem am 18. Januar 1994 abgehaltenen Parteitag kam es dann – neben der Umbenennung der Partei – zu ihrer Spaltung. Die Gruppe um Casini verließ den neugegründeten PPI, um eine eigene politische Formation, das Centro Cristiano Democratico (CCD), zu bilden. Damit hatten sich die italienischen Christdemokraten zum ersten Mal in ihrer Geschichte gespalten. Es sollte nicht die letzte Spaltung bleiben.

Mit dem PPI trat eine Partei des sozialen Katholizismus auf die politische Bühne Italiens und erlitt bei den Parlamentswahlen von 1994 eine herbe Niederlage (11,1%). Über 55% der ehe- maligen DC-Wähler gaben bei diesen Wahlen ihre Stimme Mitte-Rechts Parteien (Alleanza Nazionale, Forza Italia, CCD und Lega Nord). Die Chance, als Partei der rechten Mitte wie Phönix aus der Asche wieder aufzuerstehen, wurde von der ehemaligen DC leichtfertig ver- tan.

4. Fazit

Warum, so bleibt abschließend zu fragen, ist die DC in den Jahren 1992-1994 untergegangen?

Es dürfte deutlich geworden sein, dass die DC seit ihrer Gründung eine Partei gewesen ist, die vornehmlich durch ihren gemeinsamen Gegner zusammengehalten wurde. Hätte die Gefahr einer kommunistischen Machtübernahme in Italien nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht bestanden, dann wäre es fraglich, ob es jemals zur Gründung der DC gekommen wäre. Viele Faktoren sprechen dagegen. Nachdem die Veränderungen im internationalen System Ende der 80er-Jahre die Aufrechterhaltung einer starken antikommunistischen Partei in Italien nicht mehr notwendig machten, setzte der Erosionsprozess der DC ein. Befördert wurde er von tangentopoli und mani pulite, beides Entwicklungen, die ohne die Auflösung des Ost- West-Gegensatzes ebenfalls nicht denkbar gewesen wären.

Auf diese Entwicklungen reagierte die DC mit einem noch stärkeren programmatischen Ruck nach Links. Ein fataler Fehler, wie sich herausstellen sollte. Die Mehrheit des DC-Elektorates

10 Vgl. Caciagli, Mario: Das Ende der DC, in: Luigi Vittorio Ferraris/Günter Trautmann/ Hartmut Ullrich (Hrsg.), Italien auf dem Weg zur "zweiten Republik"?, Frankfurt u.a. 1995, S.45-53, 49. 17 stand eher Mitte-Rechts und lehnte eine solche programmatische Entwicklung ab. Dies wurde von der DC-Führung um Martinazzoli und Bindi jedoch nicht wahrgenommen. Ergebnis die- ser Fehlperzeption war die Gründung des PPI als linkskatholische Bewegung und damit ihre Marginalisierung. Ergebnis dieser Transformation war auch der Aufstieg der Forza Italia, der Lega Nord sowie der Alleanza Nazionale, die in die von der DC hinterlassene programmati- sche Lücke hineinstießen und nach den Wahlen vom März 1994 die erste Nachkriegsregie- rung Italiens bildeten, in der keine der ehemals etablierten Parteien vertreten war. 18 19

Italien und Europa von 1945 bis heute

Gian Enrico Rusconi

Ist die gegenwärtige italienische Mitte-Rechts-Regierung unter dabei, die traditionell europafreundliche Ausrichtung der italienischen Politik umzukehren? Sind die vor einigen Monaten zwischen Italien und den anderen Ländern der Union aufgetretenen Diffe- renzen, zum Beispiel betreffend den "europäischen Rechtsraum", nur normale Reibungen, übrigens schnell überwunden, zwischen Rechtskulturen, die sich ja von Land zu Land unter- scheiden können? Oder zeigen sie eine andere Einstellung Italiens gegenüber der Europäi- schen Union an, in dem Sinn, dass die Italiener jetzt mehr Vorbehalte gegen die europäischen Einrichtungen hegen? Liegt das Problem nur im Rhetorischen und Stilistischen, in einem mehr selbstbewussten Auftreten, gegenüber dem in der Vergangenheit von den italienischen Regierungen an den Tag gelegten? Oder zeichnet sich hier eine tiefergehende Veränderung ab?

Eine klare Antwort darauf kann ich nicht geben. Auf manches sollte man hier jedoch achten: Die neue Schicht von Mitte-Rechts in der italienischen Politik empfindet es als dringend not- wendig, in jedem Bereich zu zeigen, wie "verschieden" sie ist von der Führungsmannschaft des Mitte-Links-Bündnisses, die vor ihr die Regierungsverantwortung innehatte. Das gilt auch gegenüber Europa, bei welchem Thema sie eine entschiedenere Haltung der Beachtung der nationalen Interessen einzunehmen scheint, als dies bei den vorhergehenden Regierungen der Fall war.

Der Ministerpräsident Silvio Berlusconi versichert, ein glühender Europaanhänger zu sein. Aber in Wirklichkeit gab er mit großem Engagement und Tatendrang den Außenminister vor allem auf der großen internationalen Szene anstatt im Rahmen der Europäischen Union. Und er macht kein Geheimnis aus seiner Neigung, eher in Washington als in Brüssel gern gesehen zu sein. Die große Weltbühne bietet Berlusconi jenes "staatsmännische" Image, das er auch für den inneritalienischen Gebrauch benötigt. Im Übrigen scheint die italienische Regierung in der schwierigen Entscheidungsphase, durch welche die Europäische Union derzeit geht, eine im Wesentlichen passive Haltung einzunehmen. Man könnte verschiedene Erklärungen für den Mangel an Enthusiasmus bei der derzeitigen italienischen Regierung gegenüber dem von den Vorgängerregierungen – vor allem unter Führung von Romano Prodi – an den Tag gelegten Europaeifer heranziehen. Sicherlich steht an erster Stelle ein Stimmungswandel bei einem beträchtlichen Teil der Italiener, der Europa nicht mehr so euphorisch sieht wie in der Vergangenheit.

Über Jahrzehnte haben die Italiener zusammen mit den Deutschen geglaubt, dass alles, was gut für Europa ist, auch gut für ihre eigenen Länder ist. Nicht zufällig gehörten Italien und Deutschland zu den aktivsten Verfechtern des Vorankommens einer europäischen politischen Integration. Besonders in der Anfangszeit der frühen Fünfzigerjahre, und Mitte der Achtzi- gerjahre (mit der Einheitlichen Europäischen Akte) haben Italien und Deutschland eng darin zusammengearbeitet, die europäische Integration voranzubringen. Auch die bilateralen italie- nisch-deutschen Beziehungen sind stets von einem starken europäischen Rückhalt gekenn- zeichnet gewesen. Europa galt als die Lösung der internen und der gemeinsamen Probleme. Ich werde später noch darauf zurückkommen.

Diese Lage wandelte sich schrittweise Mitte der Neunzigerjahre, gelegentlich der Diskussio- nen um die Einführung der einheitlichen europäischen Währung (des Euro). Der ständige 20

Wirbel in der italienischen Innenpolitik und die wachsenden objektiven Schwierigkeiten bei der Europäischen Union haben bewirkt, dass in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre auch der Verweis auf Europa zu einer rhetorischen Floskel wurde und nicht mehr für eine folge- richtige Politik stand, die den Bürgern Ergebnisse zum Anfassen brachte.

Statt Europa als "Lösung" ein Europa als "Problem", sogar als die Summe gemeinsamer Probleme – so könnte man die Wahrnehmung vieler Italiener und vieler Europäer zusammen- fassen. Und die Probleme reichen von der Arbeitslosigkeit über die Unflexibilität des Ar- beitsmarktes bis zu den Fragen der Zuwanderung und der Sicherheit. Dazu noch das offen- sichtliche Unvermögen der europäischen Institutionen, sich selbst zu reformieren und so einer wirklichen "europäischen Regierung" ähnlicher zu werden. Es gibt zwar so manche institutio- nelle (oder verfassungsrechtliche) Vorhaben mit dieser Zielsetzung, aber sie weichen stark voneinander ab und legen sich deshalb faktisch gegenseitig lahm.

Man kann überall hören – oder wenigstens war es so bis heute –, dass die Italiener die glü- hendsten Europaanhänger sind. Europaanhänger im politischen Sinne, weil sie die Anstren- gung nicht scheuen, die erreichten wirtschaftlichen Abschlüsse durch politische Verträge und Strukturen zu ergänzen, das heißt schrittweise, aber mit Entschiedenheit Europa von einem gemeinsamen Markt hinzuführen zu einer wirklichen politischen Gemeinschaft.

Diese Haltung hat einige Politikwissenschaftler zu dem Urteil gebracht, dass in Italien bei der europäischen Frage "der bundesstaatliche Ansatz" vorherrschend (gewesen) sei. Es würde also verbreitet den Wunsch geben, in einer bundesstaatlichen Verfassung zu leben, zu der die Wahl einer wirklichen verfassungsgebenden Versammlung führen sollte. Die Absichten gin- gen also auf das Erreichen eines optimalen Ziels durch eine optimale Vorgehensweise – die Übertragung von Hoheitsrechten von den Nationalstaaten auf übernationale Einrichtungen, die ihre Legitimität direkt von den Bürgern erhalten.

In der Vergangenheit hat es tatsächlich einige bedeutsame Anstrengungen in diese Richtung gegeben. Die wichtigste davon war die Volksbefragung vom 18. Juni 1989, die gleichzeitig mit der dritten Europawahl stattfand und bei der die Italiener die folgende Frage beantworten sollten: "Sind Sie dafür, dass die Europäischen Gemeinschaften in eine wirkliche Union mit einer dem Parlament verantwortlichen Regierung umgewandelt werden und dass diesem Eu- ropäischen Parlament die Aufgabe übertragen wird, einen europäischen Verfassungsentwurf auszuarbeiten, der unmittelbar den zuständigen Organen der Staaten der Gemeinschaft zur Ratifizierung vorgelegt wird?" Und obwohl sich die Parteien nur schwach eingesetzt und die Massenmedien nur ein bescheidenes Interesse aufgebracht hatten, führte die Volksbefragung zu einem Riesenerfolg, weil 88% der Wähler sich damit einverstanden erklärten, dass ein Teil der Hoheitsgewalt des italienischen Staates an einen weitergefassten europäischen Bundes- staat abgetreten wird.

Europapolitische Modelle

Aber diese Europabegeisterung der Italiener zu Gunsten des bundesstaatlichen Modells sollte doch mit großer Vorsicht gesehen werden. Bei sehr vielen Italienern kommt darin nur ihr Misstrauen gegenüber ihren eigenen nationalen Institutionen zum Ausdruck, weil sie nämlich hoffen, dass eine europäische Überregierung mehr zustande bringt als die eigene nationale Regierung. Jedoch sind die Vorstellungen darüber, welches Modell den öffentlichen Einrich- tungen zu deren Effektivität zugrunde gelegt werden sollte, sehr unbestimmt: 21

- Mein Eindruck ist, dass der bundesstaatliche Ansatz in Italien, verfochten von einer le- bendigen Europäischen Bewegung, die jahrelang von der großen Persönlichkeit Altiero Spinellis geführt wurde, sich bei der Politikerschar nur als verbale Übung findet und in ihm mehr ein allgemeines Wohlwollen gegenüber Europa und nicht eine überlegte Be- wusstheit zu Gunsten dieser institutionellen Form zum Ausdruck kommt. Ich würde des- halb eher von einer idealisierten bundesstaatlichen Sicht als von einem konsequenten Ver- halten sprechen. Außerdem weiß man ja wohl, mit wie viel Verspätung das italienische Parlament die Gemeinschaftsrichtlinien in nationales Recht umsetzt und wie zahlreich die Fälle sind, in denen die öffentliche Verwaltung und einzelne italienische Firmen und Un- ternehmungen sich vor dem Europäischen Gerichtshof für Verstöße gegen oder Unterlas- sungen nach Gemeinschaftsrecht verantworten müssen.

- In der europapolitischen Literatur wird dem eben besprochenen bundesstaatlichen Ansatz ein "funktionaler" Ansatz entgegengestellt, der die Europäische Verfassung schließlich am Ende eines Prozesses sieht, der von einer europäischen Zentralverwaltung durch konkrete Maßnahmen und Schritte (d.h. Funktionen) gestaltet wird. Die Anweisungen, die sie er- hält, erwachsen aus zwischenstaatlichen Entscheidungen und gehen auf entsprechende Verträge zwischen den Mitgliedsstaaten der Union zurück. Die Staaten bleiben "Herren der Verträge" – so heißt es.

- Dann gibt es den Ansatz zum "Staatenbund", der einen einfachen Zusammenschluss von Staaten bedeutet, welche einvernehmlich wichtige gemeinsame Entscheidungen aus ge- meinsamem Interesse fällen, aber eifersüchtig auf ihre eigene Souveränität bedacht blei- ben.

Natürlich dienen die drei vorgestellten Ansätze nur zur begrifflichen Analyse, aber bis vor einiger Zeit wurde entsprechend dieser Ansätze Italien als das Land eingestuft, wo das bun- desstaatliche Modell im vollsten Sinne verwirklicht sei. Deutschland galt als im Ansatz bun- desstaatlich bestimmt (aber mit starken Korrekturen durch funktionale Züge), während der Staatenbund als Zusammenschluss für England passend schien. Doch heute erscheinen diese herkömmlichen scholastischen Unterscheidungen wirklich als reichlich unangebracht. Zum Beispiel ist es schwierig, ein europäisches bundesstaatliches Modell von so eigener Art, wie es der deutsche Außenminister Joschka Fischer vorgetragen hat, richtig einzuordnen.

Vier Phasen der italienischen Europapolitik

Die Einstellung Italiens gegenüber Europa kann zeitlich in vier wesentliche Phasen gegliedert werden, die kurz vorgestellt werden sollen: - Die erste davon, und bei weitem die wichtigste, ist die Phase des Anfangs, d.h. zwischen 1950 und 1954, in der der große Erfolg der wirtschaftlichen Integration mit der Einrich- tung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) gelingt. Aber in sie fallen auch zwei missglückte Versuche politischer Einigung, als es nicht möglich ist, die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) zu begründen und auch nicht die Europäi- sche Politische Gemeinschaft (EPG). Ein paar Jahre später (1957) macht die europäische wirtschaftliche Integration mit dem Vertrag von Rom einen weiteren großen Schritt nach vorne, der die Unumkehrbarkeit des eingeschlagenen Weges bekräftigt. - Die zweite Phase fällt zwischen die Sechziger- und die Siebzigerjahre, und sie war ge- prägt vom politischen Kampf für eine Direktwahl des Europäischen Parlaments. 22

- Die dritte Phase, Mitte der Achtzigerjahre, findet ihren Höhepunkt im Entwurf der Ein- heitlichen Europäischen Akte.

- Schließlich die vierte Phase der Neunzigerjahre mit den Verträgen von Maastricht, Ams- terdam und Nizza.

Die Anfangsjahre der europäischen Einigung

Ich will mich auf die erste Phase beschränken, die zeitlich die fernliegendste ist, aber trotz der Misserfolge die bedeutsamste aus politischer Sicht, denn sie war das Ereignis, durch das Eu- ropa gegründet wurde. In den frühen Fünfzigerjahren sollte "die Europäische Union" (wie sie schon damals beiläufig genannt wird) in der Absicht der weitblickendsten Staatsmänner (Kon- rad Adenauer, Alcide De Gasperi, Robert Schuman) zur institutionellen Krönung einiger wichtiger wirtschaftlicher Vereinbarungen (vor allem der EGKS) und zur Lösung der wesent- lichen Probleme der Verteidigung und der Sicherheit dienen (Projekt der Europäischen Ver- teidigungsgemeinschaft).

In diesem Zusammenhang spielt Italien eine entscheidende Rolle, die es in der Zukunft nicht mehr spielen wird. Es kommt auch zu einem sehr engen Verhältnis zu Deutschland, das so nie mehr wiederkehren wird. Italien und Deutschland sind die gleichberechtigten Hauptakteure bei diesem Geschehen, obwohl ihre wirtschaftliche Lage sich unterscheidet und obwohl ihre politischen Prioritäten in sehr verschiedenen Richtungen liegen. Am Anfang der Fünfzigerjah- re steht für Deutschland jedenfalls die Wiedererlangung eines Höchstmaßes an Souveränität und der rechtlichen Gleichstellung mit den anderen europäischen Nationen an erster Stelle, und danach kommen die drängenden Sicherheitsprobleme. Für Italien ist dagegen prioritär, aus einer internationalen Randstellung herauszukommen, die Dringlichkeit wirtschaftlichen Aufschwungs und die Eindämmung akuter sozialer und politischer Konflikte im Inneren, für die eine starke sozialistisch-kommunistische Bewegung verantwortlich gemacht wird.

Trotz dieser ungleichen Beweggründe haben Deutschland und Italien (unter ihren jeweiligen politischen Führern Konrad Adenauer und Alcide De Gasperi) ein starkes Interesse, das sie zusammenführt: sich nach dem Dreiklang Westbindung, Atlantikertum, Europaorientierung zu entwickeln. Aber dieser Dreiklang ist tatsächlich recht unbestimmt und lässt sich rhetorisch und ideologisch unendlich variieren:

- Als Westbindung versteht man die Anerkenntnis einer Gemeinsamkeit ideeller Werte, die oft als "christlich" bezeichnet werden (christlich-westlich ist ein sehr oft verwendetes Adjektiv) und einem Osten gegenüberstehen, der gleich bedeutend ist mit sowjetischem Kommunismus.

- Atlantikertum bedeutet Zugehörigkeit zur atlantischen Allianz als zu einem System anti- sowjetischer militärischer Sicherheit, mit ihren strategisch-militärischen Einengungen und Verpflichtungen. Auch wenn das eine bestimmte zivilistisch-europabezogene Rhetorik heute nicht wahrhaben will, kann man doch nicht unterbewerten, wie bestimmend die Funktion des Atlantikpakts für die politische Stabilisierung Europas gewesen ist.

- Europaorientierung ist schließlich die vielschichtigste Erscheinung auch vom ideologi- schen Gesichtspunkt aus: Sie ist nicht gleich bedeutend mit Westbindung, sondern ist eher eine Sonderausprägung von dieser. Uns soll hier vor allem das Projekt eines politischen Europas interessieren, dessen Handlungsmuster gegen Ende 1951 entsteht, bezeichnen- 23

derweise verbunden mit dem militärischen Plan der EVG und dann zur Verwirklichung der EKGS übertragen. Wichtig ist, hierbei den allgemeinen politischen Rahmen zu sehen, der für Italien und Deutschland galt.

Adenauer und De Gasperi nehmen denselben Weg, auch wenn die innenpolitischen Lagen und Konstellationen, die sie dazu bringen, voneinander verschieden sind. Westdeutschland mit seiner hohen Empfindlichkeit für seine Sicherheitsprobleme möchte ein höchstmögliches Maß an Souveränität zurückgewinnen, wobei es als Staat nur einen geografischen Teil eines besiegten Landes darstellt und dieses noch keinen Friedensvertrag hat. Adenauers Linie zielt entschlossen ab auf die Bindung an den Westen (vor allem mit den Vereinigten Staaten von Amerika), auch um den Preis, die Wiederherstellung der territorialen Einheit des Landes ent- weder auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben oder ihr überhaupt Abbruch zu tun.

Italien dagegen, formell bereits wieder im Besitz seiner Souveränität – auch wenn es unzu- frieden ist mit den Bedingungen, die ihm der Friedensvertrag auferlegt –, hat ernste Probleme mit der politischen Stabilität und damit, den politisch-ideologischen Konflikt im Inneren in Grenzen zu halten. In diesem Rahmen ist der Aufbau Europas, Folge der militärischen Veran- kerung im Westen und (über die NATO) bei den Vereinigten Staaten, der Hauptweg zur Lö- sung der Grundprobleme, die anders sind als die der Deutschen, sich aber mit ihnen berühren. Daraus kommt es zusätzlich zur engen Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern, die ihren Höhepunkt in den beiden Jahren 1951 und 1952 erreicht.

Adenauer und seine Mitarbeiter kennen zwar die begrenzten Möglichkeiten Italiens (und nahmen sie vielleicht nicht ernst genug), bitten Italien jedoch um Unterstützung und, falls nötig, Vermittlung bei Frankreich, das lange Zeit den Deutschen nicht traut. Die italienische Regierung nimmt diese Vermittlerrolle bei Frankreich gerne, aber mit gebotener Vorsicht wahr und zieht sich damit den Spott eines Teils des deutschen Auswärtigen Dienstes zu, der von den politischen Fähigkeiten Roms sehr wenig überzeugt ist.

Das Spiel geht hauptsächlich um eine gleichrangige, nicht minderwertige Eingliederung Westdeutschlands in die Gemeinschaft Europas – eine nicht nur wirtschaftliche, sondern auf längere Sicht auch militärische und politische Integration. De Gasperi und der Außenminister Carlo Sforza widmen sich ernsthaft dieser Aufgabe, während die Franzosen bis zuletzt nur an eine Integration zweiter Klasse für Deutschland denken.

Andererseits sind die Italiener vollkommen davon überzeugt, dass Deutschland ein unersetzli- cher Teil eines geeinten Europas ist, nicht nur wirtschaftlich über die EGKS, sondern auch militärisch über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft, die nach De Gasperi dann zur Europäischen Politischen Gemeinschaft führen muss.

Beim Treffen der europäischen Außenminister (am 11. Dezember 1951) fordert De Gasperi ausdrücklich, dass die Verteidigungsgemeinschaft "von Anfang an ein als Parlament be- stimmtes Organ, also eine Versammlung" erhält, was schon vorgesehen war, worüber es aber noch keinen Beschluss gab. Beim Folgetreffen vom 27. bis 30. Dezember wird der (als Art. 38 bekannt gewordene) Vorschlag ausgeführt wie folgt: "Der Vertrag bestimmt, dass die Ver- sammlung innerhalb von sechs Monaten nach Aufnahme ihrer Tätigkeit das Vorhaben der Umformung der Gemeinschaft in ein bundesstaatliches Organ mit einem Zweikammersystem und der Gewaltenteilung vorbereitet. Die Versammlung stellt also eine Vorphase des "euro- päischen Gemeinwesens" dar. Sowie das Vorhaben abgeschlossen ist, wird es den Regierun- gen zugeleitet, die vor Ablauf von drei Monaten zum Zweck der Errichtung des europäischen Bundesstaats eine Konferenz einzuberufen haben". 24

Dieser Verlauf wird dann durch die nicht erreichte Zustimmung zur EVG blockiert (der sich unzählige Schwierigkeiten in den Weg stellten, sodass sie am Ende nicht durch das französi- sche Parlament kam). Dieser Misserfolg schmerzt De Gasperi, der nicht mehr lange zu leben hat, zutiefst. Er empfindet das Geschehene als Niederlage seiner Politik in Europa, in Italien und auch innerhalb der eigenen, der christdemokratischen Partei.

Auch Adenauer ist wegen des Misslingens des EVG-Projekts persönlich betroffen. Aber da sein eigentliches Ziel die Westbindung ist, die Wiedererlangung der staatlichen Souveränität und die Zugestehung "gleicher politischer Rechte" an Deutschland, wie sie den anderen euro- päischen Staaten zu eigen sind, leidet seine Politik nicht unter dem Stillstand. Im Gegenteil, sie macht noch schnellere Fortschritte, weil Westdeutschland jetzt der NATO beitritt und di- rekte Verhandlungen mit den drei westlichen Siegermächten über eine neue internationale Stellung Deutschlands aufnimmt.

Bezüglich dieser Entwicklungen riskiert die europageschichtliche Historikerzunft heute in zweifacher Hinsicht eine Fehldeutung:

- Sie stellt vor allem die Erfolge der wirtschaftlichen Integration heraus und neigt so dazu, die in der Gemeinschaft für Kohle und Stahl angelegte politische Absicht mit Schweigen zu übergehen. Diese war nämlich auch eingerichtet worden, weil man (vor allem von der französischen Seite) Deutschland unter Kontrolle halten wollte.

- Zweitens beschränkt sich ein Teil der europapolitischen Geschichtsschreibung bei ihrem Beharren auf dem Erfolg der wirtschaftlichen Einrichtungen darauf, nur sozusagen neben- her auch daran zu erinnern – mit Bedauern allerdings –, dass es nicht zur Schaffung des europäischen Heeres kam.

Aber gerade wenn man die italienisch-deutschen Beziehungen in diesen Jahren verfolgt, er- kennt man, wie zentral die militärische Frage für den Bau Europas war, für die als größtes Hindernis die deutsche Wiederbewaffnung galt. Keiner kennt die innere Architektur für Euro- pa besser als De Gasperi (und er noch mehr als selbst Adenauer). Diese Architektur sollte, ausgehend von der wirtschaftlichen Zusammenarbeit über die Einrichtung des europäischen Heeres, zu einem allgemeinpolitischen Projekt führen, das im Inneren Stabilität bringen soll.

Am 10. Dezember 1951 erklärt der italienische Staatsmann vor der Versammlung in Straß- burg: "Das Sicherheitsbedürfnis hat zur Schaffung des Atlantikpakts geführt. Er stellt die erste Verteidigungslinie gegen die äußere Gefahr dar. Aber die wesentliche Bedingung für einen wirksamen Widerstand nach außen ist in Europa die Verteidigung im Inneren gegen ein ver- hängnisvolles Erbe von Bürgerkriegen. Gegen diese Keime der Zersetzung und des Nieder- gangs, des gegenseitigen Misstrauens und der moralischen Auflösung müssen wir angehen." Dazu bedarf es eines "Zusammenschlusses der nationalstaatlichen Souveränitäten auf der Grundlage verfassungsrechtlicher demokratischer Einrichtungen".

Diese Sprache klingt heute etwas geheimnisvoll, aber der Inhalt der Botschaft ist uns allen klar: Das politische Europa, im Sinne von demokratischen Gemeinschaft, ist das Gegengift gegen die innere politische Zersetzung, die im Fall Italiens dem Wirken der sozialistisch- kommunistischen Linken zuzuschreiben ist. Von daher dieses Bestehen (wie nochmals in ei- nem Telegramm vom März 1952 an die italienische Delegation in Paris, die dort den Auf- stellungsplan der EVG paraphieren sollte) auf dem Satz, dass "die EVG nicht nur militärische, sondern vor allem politische Ziele verfolgt, wie wir sie klar und unumstößlich dargelegt ha- ben". 25

Warum scheitert dieses erste politisch-militärische europäische Projekt?

- Die Franzosen sind weder willens noch in der Lage, ihre Zustimmung zu einer europäi- schen Integration zu geben, die nicht vor allem wirtschaftlicher Natur ist.

- Die Deutschen, die vorsichtshalber die EGKS hinnehmen, können auf andere Weise (mit der NATO) ihr Souveränitätsstreben befriedigen und verfügen außerdem nur über be- scheidene Möglichkeiten, Einfluss auszuüben, da sie gerade erst und allenfalls in der westlichen Gemeinschaft geduldet sind.

- Die Italiener haben nach dem Ausscheiden De Gasperis aus dem politischen Leben 1953 sehr verworrene Vorstellungen von Europa und sind von den innenpolitischen Konflikten im eigenen Lande mit Beschlag belegt.

Man kann also sagen, dass 1953/54 der erste entschiedene Schritt hin auf den Bau des politi- schen Europas deshalb scheitert, weil er auf überstarke nationale Interessen stößt.

Weitere Schritte auf dem Weg zur europäischen Einigung

Der Drang hin zu einer politischen Dimension für Europa nimmt in Italien in den Sechziger- jahren auf Veranlassung der Europäischen Bewegung wieder zu, die für eine Direktwahl des Europaparlaments mobil macht. 1969 wird dem italienischen Parlament durch Volksbegehren ein Gesetzentwurf vorgelegt, der die Direktwahl der italienischen Vertreter im Europaparla- ment verlangt. Auch wenn diese Vorlage nicht Gesetz wird, bringt das beharrliche Eintreten der italienischen Europabewegten die Regierung von Rom dazu, bei mehreren Gelegenheiten auf europäischer Ebene die Frage der Wahl des Straßburger Parlaments anzusprechen. Sie bietet der Initiative von Giscard d'Estaing auf dem Pariser Gipfel vom Dezember 1974 damit die entscheidende Unterstützung, sodass es schließlich zur Europawahl von 1979 kommt.

Die Achtzigerjahre sind erneut gekennzeichnet vom Druck, den die Europäische Bewegung ausübt, welche einen Vorschlag zu einem Gründungsvertrag der Europäischen Union ausar- beitet, der am 14. Februar 1984 die Zustimmung des Europäischen Parlaments findet. Aber die Regierungen nehmen dieses Projekt nicht auf. Sie nehmen dagegen die Einheitliche Euro- päische Akte an, der die beiden Außenminister Hans-Dietrich Genscher für Deutschland und Emilio Colombo für Italien intensiv gearbeitet haben.

Die Ereignisse des Jahres 1989 und besonders der schnelle Einigungsprozess in Deutschland bringen auch, und das ist bekannt, eine starke Beschleunigung des Prozesses der politischen Einigung Europas mit sich. Der Gipfel zu Rom am 14. und 15. Dezember 1990 beschließt, zwei Regierungskonferenzen einzuberufen, welche zwei Verträge zur Verwirklichung der wirtschaftlich-monetären beziehungsweise der politischen Union vorbereiten sollen. Die Neunzigerjahre sind damit gekennzeichnet von den großen europäischen Etappen der Verträ- ge von Maastricht, Amsterdam und der Zusammenkunft von Nizza. Zu sehen ist, dass Italien an all dem voll und ganz teilnimmt, aber ein spezielles italienisches Engagement scheint sich nicht abzuzeichnen.

Wie schon gesagt, die öffentliche Diskussion wirkt in Italien gerade in dem Augenblick, in dem die Frage der politisch-institutionellen Errichtung Europas auf der Tagesordnung steht, müde, zu allgemein oder wenigen Fachleuten vorbehalten. Die Mitte-Links-Kräfte beschrän- ken sich darauf, sich dem anzuschließen, was Romano Prodi jeden Tag aus Brüssel wieder 26 und wieder verlautbart über die notwendigen politischen Reformen der Union, vor allem jetzt im Vorfeld der Osterweiterung. Mitte-Rechts dagegen besitzt anscheinend keine genaue und einheitliche Meinung zum Aufbau europäischer Institutionen.

Wie zum Ausgleich ist die letztgenannte Richtung aber gleich zur Stelle mit Zurückweisung, wenn etwas nach Nötigung oder Beschränkung ihrer heimischen Handlungsfreiheit aussieht und stellt die Arroganz der bürokratischen Führungskasten von Brüssel heraus oder malt gar in dramatischen Farben die Gefahr der Schaffung eines europäischen "Superstaats" an die Wand, welcher die Völker in ihren Nationen und Regionen bedroht. Diese Einwände sind oft demagogisch und keinesfalls originell, aber zum ersten Mal kommen sie aus italienischen Regierungskreisen (und nicht nur aus dem Mund von Führungspersönlichkeiten der Lega, die der Regierung angehört).

Damit kommen wir zu einer zweiten Beobachtung. Die Schicht der italienischen Re- gierungspolitiker hat seit je die Schaffung "starker" Gemeinschaftseinrichtungen unterstützt, damit durch sie die eigenen Schwächen aufgefangen werden könnten. Dass es "Auflagen von außen" gibt, gerechtfertigt durch die Zugehörigkeit zu Europa, diente dazu, im Inneren Maß- nahmen zu ergreifen, die sonst nur schwer angenommen worden wären – geradezu bis hin zur Einführung einer "Europa-Steuer" in einem bestimmten Augenblick. Heute ist die Wetterlage anders. Nicht zufällig habe ich am Beginn dieser Ausführungen von einer abwartenden Hal- tung, wenn nicht Passivität der derzeitigen Mehrheit hinsichtlich Europas und seiner instituti- onellen Probleme gesprochen.

Das gilt auch für die Arbeiten des europäischen Konvents unter der Leitung von Giscard d'Estaing. Im Konvent wird Italien von zwei Persönlichkeiten vertreten, die politisch zutiefst verschieden sind: vom ehemaligen Ministerpräsidenten der Mitte-Links-Regierung, , und dem gegenwärtigen stellvertretenden Ministerpräsidenten , An- führer der größten politischen Gruppierung der italienischen Rechten, der Alleanza Nazionale.

Ich kann nicht erkennen, dass die italienische Regierung als solche besondere Vorstellungen zu den institutionellen Reformen hat, die gebraucht werden, um die Union zu stärken. Aber diese Regierung ist offenbar empfänglich für Rückwirkungen des allgemeinen politischen Klimas, das von einem Rechtsschwenk der Wählerschaft bestimmt wird, der klar volkstüm- lich-feindselige oder zumindest kühle Empfindungen gegenüber dem Weg Europas an die Oberfläche gelangen lässt. 27

Eine "Zweite Republik"? – Verfassungsdiskussionen seit 1992

Günther Pallaver

"Die Hälfte und mehr der Verfassung wird erneuert. (...) Nichts ist stupider als zu sagen: Das geht uns nichts an. Nichts ist plumper als zu sagen: Was soll's, es ändert sich doch nichts. Es ändert sich, und wie es sich ändert." Pietro Ingrao, il manifesto, 6.7.1997

1. Die gescheiterten Reformen

Noch vor den letzten Parlamentswahlen der so genannten "Ersten Republik"1 hat der Politolo- ge Giovanni Sartori im Januar 1992 ein schmales Büchlein mit dem Titel "Seconda Repubbli- ca? Sì, ma bene" veröffentlicht. Darin vertritt er die These, dass es für eine grundlegende Er- neuerung Italiens nicht mehr genüge, "die Gesichter" der politischen Klasse zu ändern. "Die Gesichter ohne die Strukturen zu ändern – so befürchte ich, genügt nicht. (...) Man muss, be- haupte ich, die Maschine verschrotten (...). Aber zugleich muss man wissen, was zu tun ist und wie vorzugehen ist."2

Die Forderung nach substanziellen Reformen der zentralen staatlichen Institutionen war eine Folge der tief greifenden Krisenerscheinungen, die Italien zu Beginn der 90er-Jahre durchlief, aber die schon in den 80er-Jahren ihre Schatten vorausgeworfen hatten. In erster Linie han- delte es sich um eine Krise des politischen Personals, das überaltert war, keinen Austausch zuließ und korrupt war, nicht mehr im Gleichschritt mit den Bedürfnissen und Ansprüchen einer sich radikal geänderten Gesellschaft befand, genauso wenig wie mit dem neuen interna- tionalen politischen System, das sich nach dem Fall der Berliner Mauer völlig verändert prä- sentierte. Es handelte sich weiter um eine Krise der Parteien und der politischen Klasse, die zu keiner Erneuerung fähig waren, die großenteils zu bürokratischen Apparaten degeneriert wa- ren und sich vielfach nur im Dienste der Macht von einigen wenigen befanden. Und es war auch eine Krise der nationalen Identität, die auf der Welle der anderen Krisen besonders zu einem Zeitpunkt ausbrach, als ein neuer politischer Akteur, die Lega Nord, die politische Bühne betrat und die Einheit des Staates in Frage stellte.

Alle diese Krisenerscheinungen, die in jenen Jahren auch noch von einer schweren Finanz- und Wirtschaftskrise begleitet wurden, erfassten auch die staatlichen Institutionen, seine Re- geln und seine Verfahren wie auch die "materielle" Interpretation der Verfassung, mit der diese gebeugt und in den Dienst der Parteienherrschaft gestellt worden war.3

Die Verfassung anwenden, zur Verfassung zurückkehren, die Verfassung reformieren. Ent- lang dieser drei Forderungen zirkulierten seit den 60er-Jahren immer wieder Projekte zur Ver-

1 Die Begriffe "Erste" und "Zweite" Republik werden hier nicht in einem juristischen Sinne verstanden, son- dern als summarischer Begriff, um auf tief greifende institutionelle Änderungen und auf tief greifende Än- derungen im Wahlverhalten hinzuweisen. Es handelt sich um Transformationsprozesse, die noch nicht ab- geschlossen sind. 2 Sartori, Giovanni: Seconda Repubblica? Sì, ma bene, Milano 1992, S.8. 3 Vgl. Pasquino, Gianfranco: Il sistema politico italiano. Autorità, istituzioni, società, Bologna 2002, S.173. Zur italienischen Krise allgemein vgl. u.a. Bull, Martin/Rhodes, Martin (Hrsg.): Crisis and transition in ita- lian politics, Special Issue, West European Politics 1/1997. 28 fassungsrevision, 4 aber die Forderung nach einer "großen Reform" nahm erst Ende der 70er- Jahre Gestalt an. 5 Damals ging es in erster Linie um die Frage nach einer Stärkung der Exe- kutive, um die Regierbarkeit des Landes während einer vollen Legislaturperiode zu garantie- ren. Der ständige Ruf nach institutioneller Erneuerung, 6 um die politische Krise zu überwin- den, hat schließlich auf parlamentarischer Ebene zu insgesamt drei Zweikammerkommissio- nen (Bicamerale) geführt, die mit unterschiedlichen Verfahren und mit unterschiedlichen Zu- ständigkeiten eingesetzt wurden, um die Verfassung zu reformieren.

Bei der ersten Kommission handelte es sich um die "Commissione Bozzi", die in einer Phase der Stabilisierung des "Pentapartito", der Fünfparteienkoalition, zwischen 1983 und 1985 un- ter dem Vorsitz des Liberalen Aldo Bozzi einen Reformvorschlag erarbeitete, der im Parla- ment nie diskutiert wurde und nur zu geringen Änderungen einiger parlamentarischer Rege- lungen sowie der Organisation des Ministerpräsidiums führte.7

Die zweite Bicamerale wurde 1992 unter dem Vorsitz des ehemaligen DC- Ministerpräsidenten Ciriaco De Mita eingerichtet, der später von der ehemaligen Kammerprä- sidentin und Exponentin der Kommunistischen Partei Nilde Jotti abgelöst wurde. Zu jenem Zeitpunkt bestand ein akuter Bedarf nach institutionellen Reformen, doch mit einem delegiti- mierten Parlament, das von der "tangentopoli"-Welle überrollt worden war, und mit einem Parteiensystem, das sich vor einer radikalen Änderung und vor seiner Implosion befand, wa- ren die Aussichten auf Erfolg dieser Kommission von Anfang an äußerst gering.

Zwei zentrale Problembereiche standen auf der politischen Agenda dieser Kommission. Ein- mal ging es um die Reform des Wahlsystems, dessen Änderung unter dem Druck eines ein- geleiteten Referendums stand, sowie um Fragen des Föderalismus, deren Beantwortung durch den Wahlerfolg der Lega Nord bei den Wahlen von 1992 politisch unaufschiebbar geworden war.8 Über beide Themen wurde in der Kommission kein Konsens gefunden. Das Wahlgesetz wurde durch das Referendum von 1993 geändert,9 die Föderalisierung Italiens sollte erst im Jahre 2001 einen ersten Durchbruch erleben. 10

2. Commissione D'Alema

Der dritte Reformversuch unter der Leitung des Parteisekretärs der Linksdemokraten Massi- mo D'Alema11 war viel ambitionierter als die beiden ersten und startete unter politisch günsti- gen Rahmenbedingungen. Erstens war allen die Dringlichkeit von Reformen bewusst. Das

4 Vgl. Basso, Lelio: Il principe senza scettro. Democrazia e sovranità popolare nella Costituzione e nella realtà italiana, Milano 1958. 5 Vgl. dazu etwa; Amato, Giuliano: Una Repubblica da riformare, Bologna 1980. 6 Vgl. Bonini, Francesco: Storia costituzionale della Repubblica. Profilo e documenti (1948-1992), Roma 1993; Barbera, Augusto: Una riforma per la Repubblica, Roma 1991. 7 Vgl. Cheli, Enzo: La riforma mancata. Tradizioni e innovazione nella Costituzione italiana (Contemporanea 116), Bologna 2000, S.9. 8 Zur Kritik an der Kommission vgl. Rotelli, Ettore: Federalismo e presidenzialismo, Milano 1994. 9 Vgl. Pasquino, Gianfranco: I referendum, in: Gianfranco Pasquino (Hrsg.), La politica italiana. Dizionario critico 1945-1995, Roma-Bari 1995, S.121-133. 10 Vgl. Il federalismo è legge, ora il referendum, in: il Sole-24 Ore, 3.8.2001. 11 Vgl. D'Alema; Massimo: La Grande Occasione. L'Italia verso le riforme, Milano 1997. 29 neue modifizierte Mehrheitswahlsystem,12 das das alte Verhältniswahlsystem abgelöst hatte, machte es unausweichlich, den neuen Rahmenbedingungen auch die Verfassung und die In- stitutionen anzupassen, zumal die Verfassung von 1948 eine im Wesentlichen proportionale Ausgestaltung besaß. Die kurze und relativ turbulente Amtszeit der ersten Regierung Berlus- coni, die durch den Austritt der Lega aus der Koalition schon nach wenigen Monaten schei- terte, machte zum wiederholten Male auf die Probleme stabiler Regierungen aufmerksam, die nachfolgende Regierung unter hingegen auf das Problem des "ribaltone", 13 des Wechsels von Parteien von einem zum anderen Lager. In den Mittelpunkt der Reformdebatte rückten somit Fragen über die Bewältigung von Regierungskrisen und das Verhältnis von Regierung und Parlament.

1996 hatte das Linksbündnis "l'Ulivo" die Parlamentswahlen gewonnen und versprach die gesamte, fünfjährige Legislaturperiode hindurch zu regieren, eine genügend lange Zeitspanne, um substanzielle Reformen durchführen zu können. Schließlich hatte selbst der Führer der Opposition, Silvio Berlusconi, seine Bereitschaft bekundet, an einer Reform der Verfassung mitzuwirken. Eines der vorgeschlagenen Themen lag ihm ja besonders am Herzen, nämlich das Justizsystem. 14

Die "Commissione parlamentare per le riforme costituzionali"15 wurde mit Verfassungsgesetz im Januar 1997 eingesetzt und setzte sich aus je 35 Abgeordneten und Senatoren zusammen. Aufgabe der Bicamerale war die Revision des II. Teils der Verfassung "Aufbau der Repu- blik," um die ausgearbeiteten Vorschläge sodann dem Parlament zur Abstimmung zu unter- breiten. Nicht in die Zuständigkeit der Kommission fiel somit der I. Teil der Verfassung über die "Grundlegenden Rechtssätze" der Verfassung (Grundfreiheiten, Rechte und Pflichten der Staatsbürger). Die vier Themenschwerpunkte, mit denen sich die Bicamerale beschäftigen sollte, waren somit:

- Änderung der Staatsform, - Reform der Regierungsform, - Reform des (perfekten) Zweikammersystems und - Reform der Verfassungsgarantien.

Das Verfassungsgesetz sah eine Reihe von zwingenden Verfahrensschritten vor. Die Kom- mission musste ihre Vorschläge bis zum 30. Juni 1997 dem Parlament vorlegen. Beide Kam- mern mussten sodann im Sinne von Artikel 138 der Verfassung in je zwei mit einer Zwi- schenzeit von mindestens drei Monaten durchgeführten Lesungen die Reformen verabschie- den. Drei Monate nach der parlamentarischen Verabschiedung der Reform sollte ein "bestätigen- des Referendum" stattfinden, wobei die Verfassungsänderungen nur dann in Kraft treten soll- ten, wenn mehr als die Hälfte der Stimmberechtigten an der Abstimmung teilgenommen hat- ten und dabei wiederum mehr als die Hälfte für die Annahme der Reform stimmten. 16

12 Vgl. Fusaro, Carlo: Le regole della transizione. La nuova legislazione elettorale italiana (Contemporanea 76), Bologna 1995. 13 Vgl. Pasquino, Gianfranco: La transizione a parole, Bologna 2000, S.175-181. 14 Vgl. Pasquino, G.: Il sistema politico, S.184. 15 Legge costituzionale 24 gennaio 1997, n.1., in: Gazzetta ufficiale Nr. 22, 28.1.1997. 16 Vgl. Pasquino, Gianfranco: Autopsia della Bicamerale, in: Davide Hine/Salvatore Vassallo (Hrsg.), Politica in Italia. I fatti dell'anno e le interpretazioni (Istituto Carlo Cattaneo), Bologna 1999, S.117-138. 30

2.1 Die Reformvorschläge

Die Bicamerale tagte insgesamt 480,5 Stunden in 185 Sitzungen und erarbeitete zu den ein- zelnen Themenschwerpunkten eine Reihe von Entwürfen. Die Reform griff einschneidend in die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Zentralstaat und territorialen Autonomien ein, definierte die Rolle des Staatspräsidenten, der Regierung wie auch des Parlaments und der öffentlichen Verwaltung neu, griff in das Justizwesen und in den Verfassungsgerichtshof ein, beschäftigte sich mit dem europäischen Integrationsprozess und anderem mehr. Der zweite Teil der italienischen Verfassung mit seinen 85 von insgesamt 139 Artikeln sollte dadurch neu geschrieben werden.

Tab. 1: Anzahl der Entwürfe über die einzelnen Reformschwerpunkte Materie Anzahl der Reformprojekte Staatsform 38 Regierungsform 9 Parlament, Rechtsquellen, Beziehungen zur EU 27 Verfassungsgarantien 2 Quelle: Pasquino, G.: Il sistema politico, S.185.

Föderalismus

Zu Beginn der Bicamerale-Arbeiten17 hatte die Lega Nord das "Recht auf Sezession" in der Verfassung verankern wollen, was von allen anderen Parteien strikt abgelehnt wurde. Haupt- ziel der Debatten war die Transformation Italiens in einen "föderalen Staat", sodass der zweite Teil der neuen Verfassung "Föderationsordnung der Republik" hätte heißen sollen. Doch je länger die Bicamerale tagte, umso mehr verflüchtigte sich diese föderale Orientierung. Schließlich waren im Endentwurf Begriffe wie "Föderalismus" oder "föderal" nicht mehr zu finden. Die Reformer hatten sich auf ein "minimalistisches", eher noch auf ein "potenzielles föderales Reformwerk" geeinigt, das die aktuellen regionalen Strukturen verstärken sollte. Neu war die Gleichstellung von Gemeinden, Provinzen und Regionen, die den Staat bildeten. Nach dem Projekt der Bicamerale sollten die Zuständigkeiten zwischen den Regionen und dem Staat nach dem Prinzip der Subsidiarität verteilt werden.

Die Regionen sollten eine legislative Generalkompetenz erhalten, mit Ausnahme jener Mate- rien, die ausdrücklich dem Staat vorbehalten waren, sowie eine Finanzautonomie zur ausrei- chenden finanziellen Abdeckung dieser Kompetenzen. Außerdem sollten sie autonom über ihre Statute (Satzungen) und das Wahlsystem entscheiden können.

Staatspräsident

Der Staatspräsident sollte in Zukunft direkt gewählt werden, aber nicht zugleich Regierungs- chef sein. Das führte zu einem Semipräsidenzialismus sui generis, einem politischen System mit "zwei Köpfen". Unklar blieb etwa, ob das Staatsoberhaupt im neuen "Obersten Rat für

17 Die hier im Telegrammstil vorgestellten Reformprojekte sind zusammenfassend dargestellt in Cantaro, Antonio/Petrangeli, Federico: Guida alla Costituzione e alla sua riforma, Roma 1997. Eine ausführlichere Darstellung findet sich u.a. bei Neppi Modana, Guido (Hrsg.): Stato della Costituzione. Oltre la bicamerale, le riforme possibili, Milano 1998. 31

Außen- und Sicherheitspolitik" und somit auch bei der EU-Politik den Regierungschef erset- zen würde. Seine Amtszeit sollte von sieben auf sechs Jahre mit der Möglichkeit einer einma- ligen Wiederwahl verkürzt werden.

Das neue Parlament

Die Beteiligung der regionalen und lokalen territorialen Einheiten am gesamtstaatlichen Ent- scheidungsprozess musste zwangsläufig auch eine Neuordnung der Funktionen des Senats nach sich ziehen. Die Einführung einer Regionenkammer etwa nach Art des Deutschen Bun- desrates scheiterte von allem Anfang am Veto der Senatoren selbst, die nicht bereit waren, sich selbst wegzureformieren.

In erster Linie sollte das Parlament verkleinert werden, die Kammer von 630 auf 400, der Se- nat von 315 auf 200.

Die Bicamerale einigte sich im Wesentlichen auf die Neudefinition des Senates als eine "Ca- mera delle garanzie". In seine Kompetenzen fielen die Wahl der Verfassungsrichter, des O- bersten Richterrats oder etwa der Mitglieder der unabhängigen "authorities". 18

Dem Abgeordnetenhaus sollte als "Camera politica" die alleinige Kontrolle der Regierung durch Vertrauens- und Misstrauensvotum sowie die ausschließliche legislative Kompetenz zufallen. In dieser Hinsicht waren Ausnahmen vorgesehen, etwa bei Verfassungsänderungen, bei der Verabschiedung von Wahlgesetzen, bei der Behandlung der "authorities" für Informa- tion, Rundfunk, zivile und politische Rechte, für das Strafrecht, das Gerichtswesen und lokale Regierungen. 19

In jenen Fällen, in denen die Zuständigkeiten der regionalen und lokalen Körperschaften be- troffen waren, sollte das Oberhaus als "Senato integrato dai rappresentanti delle autonomie" zusammentreten. Der Senat sollte in diesen Fällen in einer besonderen Zusammensetzung (66 Mitglieder) bestehen und durch Gemeinderäte, Landtagsabgeordnete und Regionalräte, die zusammen mit den Senatoren am Gesetzgebungsprozess teilnehmen sollten, ergänzt werden. 20 Zu einer echten Regionenkammer rang sich die Bicamerale allerdings nicht durch.

Die Regierung

Von einer Direktwahl des Ministerpräsidenten wurde alsbald abgesehen. Dafür sollte der Re- gierungschef nach englischem Vorbild zu einer Premiership oder zumindest zu einer Kanzler- schaft aufgewertet werden. Außerdem sollte der Regierung das Recht eingeräumt werden, privilegiert auf den Arbeitskalender des Parlaments Einfluss zu nehmen. Insgesamt sollte die Rolle der Regierung im Verhältnis zum Parlament gestärkt werden.

18 Die "authorities" entsprechen den "Unabhängigen Verwaltungsbehörden". Es handelt sich um Behörden mit Verwaltungscharakter, werden also nicht der Gerichtsbarkeit zugerechnet, verfügen aber in der Regel über eine gerichtsähnliche Unabhängigkeit gegenüber dem Regierungsapparat. Typische Beispiele sind die Ga- rantiebehörden (z.B. Datenschutzbehörden) oder die Kontroll- und Regulierungsbehörden (z.B. Kartellbe- hörde, Rundfunk- und Pressebehörde etc.). 19 Vgl. Vassallo, Salvatore: Il federalismo sedicente, in: il Mulino 4/1997, S.700. 20 Vgl. Atto Camera 3931/Atto Senato 2583 und Atto Camera 391-A/Atto Senato 2583-A. 32

Justiz und Richterschaft

Die Auseinandersetzungen rund um die Justiz führten zu keinem gemeinsamen Vorschlag, einige Punkte wurden deshalb nur teilweise angegangen. Dies galt für die Trennung der rich- terlichen Karrieren von Staatsanwälten und Richtern. Statt einer Karrieretrennung begnügte sich die Bicamerale mit der Festschreibung einer stärkeren Differenzierung ihrer Funktionen. Dasselbe galt für die Bildung zweier getrennter Sektionen (Richter/Staatsanwälte) und die genauere Definierung der Funktionen des Obersten Richterrates als Selbstverwaltungsorgan der Justiz.

Einigung fand man hingegen über den Vorschlag, in die Verfassung Normen zur Garantie der Bürger einzuführen. Dazu gehört auch der Anspruch auf einen "gerechten Prozess" und seine vernünftige Dauer. Schließlich sollten die Militärgerichtshöfe abgeschafft werden, die nur in Kriegszeiten und zur Erfüllung internationaler Verpflichtungen wieder errichtet werden dür- fen.

Europäische Integration

Das von der Bicamerale verabschiedete Projekt beschäftigte sich mit zwei Themen: mit Ver- fahrensfragen zur Genehmigung neuer europäischer Abkommen und mit der Beteiligung des Parlaments und der Regionen bei der Herausbildung von Gemeinschaftsrecht.

Referendum

Die Einleitung von Referenden sollte erschwert werden, um deren Anzahl zu reduzieren. Die notwendigen Unterschriften sollten von 500.000 auf 800.000 erhöht werden. Ein eigenes Ge- setz sollte die Höchstzahl an Referenden festlegen, über die in einem Wahlgang abgestimmt werden darf. Neben dem "abschaffenden" (abrogativo) sollte in Zukunft auch ein "vorschla- gendes" (propositivo) Referendum eingeführt werden.

Schließlich gab es noch Reformvorschläge zum Verfassungsgerichtshof (Einführung des in- dividuellen Beschwerderechts), zur öffentlichen Verwaltung (Effizienz, Schnelligkeit, Trans- parenz usw.) und zu den unabhängigen "authorities".

Wahlsystem

Da das Wahlsystem nicht verfassungsrechtlich geregelt ist, fiel diese Materie nicht in den Aufgabenbereich der Bicamerale. Auch hatte man dieses Thema der Bicamerale bewusst vor- enthalten, zumal darin zu Recht eine politische Mine vermutet wurde. Da für die Parteien die- se Materie aber essenziell war, kam die Debatte indirekt trotzdem ins Spiel. In einem infor- mellen Treffen in der Wohnung Berlusconis hatten die Parteiführer beim Dessert (deshalb: patto della crostata)21 Einigung darüber erzielt, auch das Wahlgesetz einer Reform zu unter- ziehen. Inhalt des agreements war, das Mehrheitswahlsystem zu Gunsten proportionaler Ele- mente und Mehrheitsprämien aufzuweichen.

21 Vgl. Pasquino, G.: La transizione a parole, S. 138-143. 33

2.2 Das Scheitern der Bicamerale

Die Bicamerale verabschiedete zwar termingerecht ihr Reformkonzept und leitete dieses dem Parlament weiter, doch scheiterte letztlich auch die dritte Zweikammerkommission diesmal an der plötzlichen Weigerung von Forza Italia und deren Leader Silvio Berlusconi, die verein- barten Textvorlagen zu verabschieden. Dabei war das Scheitern nicht vorprogrammiert gewe- sen, eher noch vermuteten Beobachter ein mittelmäßiges, wenig organisch aufgebautes "Re- förmchen". Erfolg oder Misserfolg der Bicamerale hingen letztlich von den Prioritäten der Parteien, ihren Leadern und deren (persönlichen) Interessen ab.

Trotz günstiger Rahmenbedingungen hatte unter den Parteien keine Aufbruchstimmung ge- herrscht, zudem gab es von allem Anfang an eine unsichtbare Verquickung zwischen der Re- formkommission und der Regierung von Romano Prodi. Bei Kompromissen in der Kommis- sion erwartete sich die Opposition Kompromisse seitens der Regierung.

Innerhalb des Regierungsbündnisses l'Ulivo gab es unterschiedliche Vorstellungen einer gro- ßen Reform, sodass der Kommissionsvorsitzende Massimo D'Alema in mühsamen internen Verhandlungen zuerst einmal unter den eigenen Koalitionspartnern den kleinsten gemeinsa- men Nenner finden musste. Insbesondere die ehemaligen Christdemokraten, die Popolari, zeigten eine starke Abneigung gegenüber einschneidenden Reformen und analysierten die Reformvorschläge unter Gesichtspunkten des eigenen politischen Überlebens. D'Alema be- fand sich dadurch immer auf einer Gratwanderung zwischen der Notwendigkeit von substan- ziellen Verfassungsreformen und den partikularistischen Interessen seiner Koalitionspartner, wobei Popolari und Rifondazione Comunista die zentrifugalsten Tendenzen an den Tag leg- ten. In der Rangordnung von D'Alemas Prioritäten befand sich deshalb nicht die Verfassungs- reform, sondern die Aufrechterhaltung der Ulivo-Regierung an erster Stelle.

Berlusconis Ziel war weniger eine grundlegende Reform der Verfassung, sondern ein radika- ler Einschnitt in die Justiz, mit der er in einem ständigen (strafrechtlichen) Konflikt stand. In erster Linie zielte er auf die Reform einiger Straftatbestände ab, wie illegale Parteienfinanzie- rung und Bilanzfälschung, wegen der er damals schon in erster Instanz verurteilt worden war.22 Insgesamt peilte er eine generelle "tangentopoli"-Amnestie an. In Anbetracht des Scheiterns seiner politischen Zielsetzungen in der Bicamerale rechtfertigte er den Bruch mit dem Argument, dem vom Volke in Zukunft direkt zu wählendem Staatspräsidenten würden zu geringe Zuständigkeiten eingeräumt. Sein damals versteckter Vorschlag, eine große Koali- tion zu bilden, lehnte D'Alema ab.

Berlusconis treuester Koalitionspartner, Gianfranco Fini von Alleanza Nazionale, ging es in erster Linie um die völlige politische Legitimation. 1946-48 von der Ausarbeitung der in re- publikanisch-antifaschistischem Geist konzipierten Verfassung ausgeschlossen, galt der neo- faschistische MSI immer als "ausgeschlossener Pol", 23 der nicht zu den Parteien des Verfas- sungsbogens gehörte. Die Beteiligung von Alleanza Nazionale an der Ausarbeitung der neuen Verfassung sollte diesen politischen Ausschluss endgültig überwinden. Vor die Entscheidung gestellt, diesen Legitimationsprozess zu Ende zu führen oder sich auf die Seite Berlusconis zu stellen, war Fini gezwungen, dem Leader von Forza Italia zu folgen, ohne den Alleanza Nazi-

22 Seit Mai 2001 wieder an der Regierung, peitschte Berlusconi im ersten Regierungsjahr eine Reihe von Jus- tizreformen durch, die ihm und seinen Freunden zugute kamen, wie etwa bezüglich der Bilanzfälschung o- der der "berechtigte Verdacht". 23 Vgl. Ignazi, Piero: Il polo escluso. Profilo del Movimento Sociale Italiano, Bologna 1989. 34 onale perspektivenlos wieder ins politische Abseits gefallen wäre.24 Die divergierenden Inte- ressen innerhalb der beiden und zwischen den beiden politischen Lagern haben verhindert, dass die unterschiedlichen Erwartungen und Interessen, die in die Bicamerale gesteckt worden waren, auch zu einem positiven Abschluss geführt hätten.

2.3 Jenseits der Bicamerale

Die Reformdiskussion endete nicht mit dem Scheitern der Bicamerale. Vielmehr war die Re- gierung unter Ministerpräsident Romano Prodi darangegangen, parallel zur Bicamerale das regionalistische System in jenen Teilen zu reformieren, wo es keiner Verfassungsänderungen und somit keiner qualifizierten Mehrheiten bedurfte. So leitete Franco Bassanini, Ministro della Funzione Pubblica e degli Affari Regionali25, eine komplexe Reformarbeit zur Neuge- staltung der öffentlichen Verwaltung ein.26 In einer ersten Phase war das Ministerium an die Erstellung einer "neuen Mappe" all jener Bereiche und Funktionen geschritten, die der staatli- chen Verwaltung, den Regionen oder anderen lokalen Körperschaften zugeschrieben werden sollten. In einer zweiten Phase wollte man zu einer schlankeren und funktionaleren Neuorga- nisation der zentralen Verwaltungsapparate kommen. Dadurch gelang es Bassanini, so weit es sich ohne Verfassungsänderungen machen ließ, das italienische Verwaltungssystem über po- litisch-administrative Eingriffe und Dezentralisierungen in einem föderalistischen Sinne zu reformieren27 und dadurch war es möglich, eine Reihe von Verwaltungskompetenzen samt finanzieller Abdeckung auf die Regionen zu übertragen. 28

Neben dieser Verwaltungsreform wurde 1999 ein Verfassungsgesetz verabschiedet, das die Stellung der Regionalausschusspräsidenten und die statutarische Autonomie der Regionen neu regelte.29 Mit Blick auf die Regionalratswahlen vom 16. April 2000 wurde dadurch die Direktwahl der Regionalausschusspräsidenten eingeführt, die auch mit einer Richtlinienkom- petenz ausgestattet wurden. Demnach kann der Regionalrat unter anderem durch ein eigenes Regionalgesetz selbst bestimmen, nach welchem Wahlsystem der Präsident, die weiteren Mitglieder der Regierung sowie die Abgeordneten des Regionalrates zu bestellen sind. Sofern das Regionalstatut nichts anderes bestimmt, wird in Zukunft der Regionalausschusspräsident direkt gewählt. Neu ist auch, dass der Regionalrat dem regionalen Regierungschef das Miss- trauen aussprechen kann, was im erfolgreichen Falle zugleich zum Rücktritt der gesamten Regierung führen und die Auflösung des Regionalrates nach sich ziehen würde.30

War bisher zur Erlassung eines Regionalstatuts die Zustimmung des Parlaments nötig, so kann sich nun jede Region innerhalb der von der Verfassung vorgegebenen Grenzen ihr eige- nes Statut geben. Die Zentralregierung in Rom kann nur noch innerhalb einer Frist von 30

24 Vgl. Pasquino, G.: Autopsia, S.119-126. 25 Minister für öffentliche Funktionen und regionale Angelegenheiten. 26 Legge 59/97, geändert und ergänzt durch die leggi n. 127/97, n. 191/98, n. 50/98 und n. 241/98. 27 Vgl. Pasquino, G.: Autopsia, S.132. 28 Vgl. Gilbert, Mark: Le leggi Bassanini. Una tappa intermedia nella riforma del governo locale, in: Davide Hine/Salvatore Vassallo (Hrsg.): Politica in Italia. I fatti dell'anno e le interpretazioni (Istituto Carlo Catta- neo), Bologna 1999, S.161-180. 29 Vgl. Baldini, Gianfranco/Vassallo, Salvatore: Le regioni alla ricerca di una nuova identità istituzionale, in: Mario Caciagli/Alan Zuckermann (Hrsg.), Politica in Italia. I fatti dell'anno e le interpretazioni (Istituto Cattaneo), Bologna 2001, S.127-145. 30 Legge 1/99. 35

Tagen die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Statuts vor dem Verfassungsgerichtshof auf- werfen. Seit der Einführung der Direktwahl der Regionalausschusspräsidenten nennen sich diese "governatori" und haben durch die Direktwahl eine stärkere demokratische Legitimation und als Folge davon auch eine stärkere politische Stellung gegenüber anderen institutionellen Vertretern erlangt.

3. Reform des V. Titels der Verfassung: Regionen, Provinzen und Gemeinden

Nach den Regionalratswahlen vom April 2000, die zu einer schweren Niederlage der Regie- rung D'Alema und zu dessen vorzeitigem Rücktritt führte, setzte innerhalb der Ulivo- Regierung unter dem neuen Regierungschef Giuliano Amato die Reformdebatte wieder ein und konzentrierte sich auf den V. Titel der italienischen Verfassung, auf die Regionen, Pro- vinzen und Gemeinden (Art. 114-133).

Innerhalb eines Jahres legte die Regierung Amato einen Verfassungsreformentwurf vor, der im Wesentlichen Vorarbeiten der Bicamerale übernahm.

Trotz heftigen Widerstandes der Mitte-Rechts-Opposition sowie der Lega Nord wurde die Verfassungsreform am 26. September 2000 in der Abgeordnetenkammer in erster von vier Lesungen verabschiedet und an den Senat weitergeleitet. Die letzte Lesung erfolgte am 8. März 2001 im Senat, nachdem in der vorhergehenden Abstimmung im Abgeordnetenhaus die notwendige qualifizierte Mehrheit mit knappen vier Stimmen überschritten wurde. Die Abge- ordneten der Casa delle Libertá nahmen aus Protest gegen die Methode, mit der die Verfas- sung im Alleingang eines politischen Bündnisses abgeändert wurde, nicht teil.31

Das Verfassungsgesetz32 wurde am 7. Oktober 2001 auf Initiative der Mehrheits- und Opposi- tionsparteien (aber aus entgegengesetzten Gründen) einem bestätigenden Referendum unter- breitet. Bei diesem Verfassungsreferendum handelte es sich nach der Abstimmung von 1946 über die Einführung der Republik als neue Staatsform erstmals wieder um ein Verfassungsre- ferendum, wofür zur Rechtsgültigkeit kein Quorum benötigt wird.33

Tab. 2: Abstimmungsergebnis des Verfassungsreferendums am 7. 10. 2001 Wahlbeteiligung Ja-Stimmen Nein-Stimmen Verfassungsreferendum 34% 64,2% 35,8% Quelle: Vince il sì, la Cdl alla controffensiva, in: Il Sole-24 Ore, 9.10.2001.

Neben der geringen Wahlbeteiligung kann ein relativ starkes Nord-Süd-Gefälle festgestellt werden, im Süden lag diese durchschnittlich bei 24%, im Norden bei 40% (Kalabrien 20%, Emilia-Romagna 47,9%). In den Regionen mit Ulivo-Mehrheiten lag die Wahlbeteiligung weit höher als in den Casa delle Libertà-Regionen. 34

31 Vgl. Federalismo: l'Ulivo vince alla Camera, in: Il Sole-24 Ore, 1.3.2001, S.1. 32 Legge costituzionale n.3 vom 18.10.2001, veröffentlicht in der Gazzetta ufficiale vom 24.10.2001, nachdem es einem bestätigenden Referendum unterzogen worden war. 33 Ein bestätigendes Verfassungsreferendum ist nur möglich, wenn innerhalb von drei Monaten nach Veröf- fentlichung des Gesetzes ein Fünftel der Mitglieder einer Kammer oder 500.000 Wähler oder fünf Regio- nalräte dies verlangen. Einem Volksentscheid wird nicht stattgegeben, wenn das Verfassungsgesetz in der zweiten Abstimmung von beiden Häusern mit Zweidrittelmehrheit ihrer Mitglieder angenommen worden ist. Vgl. Art. 138, Abs. 2 italienische Ve rfassung. 34 Vgl. Vince il sì, la Cdl alla controffensiva, in: Il Sole-24 Ore, 9.10.2001. 36

Die wesentlichsten Neuerungen der Revision betreffen dabei folgende Punkte.35: In Zukunft bilden Gemeinden, Provinzen, Metropolen, Regionen und der Staat die italienische Republik.

Rom erhält ein Sonderstatut. Neben einer neuen Sensibilität für die ethnischen Minderheiten mit der Einführung der Doppelbezeichnung für die beiden Regionen Valle d'Aosta/Vallée d'Aoste und Trentino-Alto Adige/Südtirol führte die Reform den so genannten asymmetri- schen Regionalismus ein. Es ist nämlich vorgesehen, dass durch Staatsgesetz, aber auf Initia- tive der interessierten Region, dieser weitere autonome Zuständigkeiten übertragen werden können (aber nicht zurück von den Regionen auf den Staat). In Zukunft wird es also Regionen mit Normalstatut, mit Sonderstatut (Trentino-Südtirol, Aostatal, Sardinien, Sizilien, Friaul- Julisch-Venetien) und Regionen geben, denen es gelungen ist, diese Möglichkeiten in Ver- handlungen mit dem Staat erfolgreich auszuschöpfen. Allerdings sind die diesbezüglichen Sachbereiche limitiert (Sachbereiche der konkurrierenden Kompetenz zwischen Staat und Regionen sowie Umweltschutz, allgemeine Richtlinien der Bildung und der Friedensgerichts- barkeit).

Eine der größten Neuheiten betrifft die Umkehrung der Zuständigkeiten zwischen Staat und Regionen mit der taxativen Auflistung der Zuständigkeiten des Staates und der Zuordnung aller restlichen an die Regionen. 36 In der alten Verfassung galt das umgekehrte Prinzip. Unter allen Reformen des V. Titels handelt es sich hier um den markantesten föderalen Vorstoß. Dazu kommt die Stärkung der politischen Autonomie der Regionen, die in Zukunft bei der Bildung von gemeinschaftlichen Normen direkt beteiligt werden und Abkommen mit anderen Staaten oder territorialen Körperschaften (auch internen) schließen können. Der Staat kann allerdings an die Stelle der regionalen Organe, jener von Metropolen, Provinzen und Gemein- den treten, wenn diese internationale Verträge oder gemeinschaftliche Richtlinien nicht befol- gen oder in Fällen, in denen die öffentliche Sicherheit, die Einheit des staatlichen Rechts und der Wirtschaft, zivile und soziale Grundrechte beeinträchtigt werden.

Was die Finanzautonomie betrifft, so ging die Reform substanziell nicht absolut neue Wege, sondern passte die Materie dem neuen verfassungsrechtlichen Rahmen an, der sich durch die Potenzierung der Regionen ergeben hat.

Eine ganze Reihe von Einrichtungen und Instrumenten, die das Verhältnis Staat-Regionen regelten, wurde beseitigt, wie auch die regionale Einschränkung durch das "staatliche Interes- se". Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der Wegfall der präventiven Kontrolle von regionalen Gesetzen durch den Staat. In Zukunft wird der Staat regionale Ge- setze nur noch vor dem Verfassungsgerichtshof anfechten können.

35 Camera dei Deputati (Hrsg.): Costituzione della Repubblica Italiana, Roma 2002. 36 Laut dem neugeschriebenen Art 117 der Verfassung fallen 17 Kompetenzen in die ausschließliche Zustän- digkeit des Staates: a) Außenpolitik und internationale Beziehungen des Staates, Beziehungen des Staates zur EU, Asylrecht und Rechtsfragen von Nicht-EU-Bürgern b) Einwanderung c) Verhältnis Staat/Religionsgemeinschaften d) Verteidigung und Streitkräfte, staatliche Sicherheit e) Währung, Schutz der Spareinlagen, Finanzmärkte, Abgabensystem und Budget, (...) Finanzausgleich f) Staatsorgane und re- spektive Wahlsysteme, staatliche Referenden, Wahl des EU-Parlaments g) Staatsverwaltung h) öffentliche Ordnung und Sicherheit mit Ausnahme der örtlichen Verwaltungspolizei i) Staatsbürgerschaft, Personen- standsangelegenheiten, Einwohnermeldeamt l) Jurisdiktions- und Prozessnormen, Zivil- und Strafgerichts- barkeit, Verwaltungsgerichtsbarkeit m) bürgerliche und soziale Grundrechte n) Generalleitlinien für den Unterricht o) Sozialfürsorge p) Wahlgesetzgebung, Regierungsorgane, zentrale Funktionen von Gemeinde, Provinzen und Metropolen q) Zölle, Schutz der staatlichen Grenzen r) Maße, Gewichte, Zeithochheit (...) s) Schutz der Umwelt, des Ökosystems und der Kulturgüter. Daneben gibt es 16 konkurrierende Zuständigkeit zwischen Staat und Regionen. 37

Die Einführung des Prinzips der Subsidiarität bildet den zentralen politischen Schlüssel für das Verständnis der Verfassungsreform und ist nicht nur die Grundlage für die Verteilung von Zuständigkeiten unter Gebietskörperschaften (vertikales Prinzip), sondern auch für die Förde- rung der Übernahme von Aufgaben durch soziale Akteure (horizontales Prinzip).

Neben all diesen substanziellen Änderungen des V. Titels der italienischen Verfassung weist die Reform des Jahres 2001 auch drei entscheidende Defizite auf. So kommt der Begriff "Fö- deralismus" oder "föderal", genauso wie schon in den Projekten der Bicamerale, auch diesmal nicht vor. Es ist weniger nur ein semantischer als vielmehr ein politischer Hinweis und belegt, dass der politische Wille zu einer substanziellen Föderalisierung Italiens auf halbem Wege stecken geblieben ist. Daneben fällt auch besonders das Fehlen einer Kammer der Regionen oder der Regionen und lokalen Körperschaften auf, eine Einrichtung, die in allen föderalen Staaten vorhanden ist und die zentralen Interessen der autonomen territorialen Einheiten vertritt, mögen diese nun Län- der, Regionen, Kantone oder wie immer heißen. Schließlich fehlen fast gänzlich Übergangs- bestimmungen. Gerade das Fehlen eines Corpus an Übergangsbestimmungen hat bereits dazu geführt, dass die Zentralisten der Regierung Berlusconi II über dieses Instrument die Reform so restriktiv als möglich auslegen und dadurch Formen, Zeiten und Modalitäten der Durch- führung bestimmen können. Zudem wird es nicht weniger schwierig werden, die neu defi- nierten Prinzipien der Reform mit dem ersten, allgemeinen Teil der Verfassung in Einklang zu bringen.

4. Devolution37

Das Referendum am 7. Oktober 2001 wurde bereits unter der neuen Regierung Berlusconi II durchgeführt, die aus ihrer negativen Haltung gegenüber der Ulivo-Reform keinen Hehl machte,38 weil die Reform die legislativen Reibungsflächen zwischen Staat und Regionen akzentuieren würde. Als Ergänzung zur Reform forderte die Casa delle libertà die Errichtung einer Kammer der Regionen und die Stärkung der Exekutive durch die Direktwahl des Pre- miers. Die Lega hingegen schlug vor, die Durchführung der Verfassungsreform zu blockieren, bis die "Devolution" verabschiedet sei. Nach Projekten über die Aufteilung Italiens in drei Makroregionen39, später nach der Forderung einer Sezession des Nordens 40, lancierte die Lega Nord mit dem Hinweis auf Schottland ihre "Devolution". Noch vor dem Referendum am 7. Oktober 2001 sollte der Artikel 117 der Verfassung geändert und das Prinzip der Flexibilität eingeführt werden.

Die Regionen sollten die Möglichkeit erhalten, in den Bereichen Schule, Gesundheitswesen und regionale (örtliche) Polizei die exklusive Kompetenz in Anspruch zu nehmen. 41 Aller-

37 Bei Abschluss dieses Beitrages ist in Italien eine heftige Diskussion über die "Devolution" entbrannt, die hier nur noch gestreift werden konnte. 38 Vgl. Federalismo, scontro tra i Poli sulla riforma, in: Corriere della Sera, 9.10.2001; La Loggia: occhio ai rischi per la sovranità nazionale, in: Il Sole-24 Ore, 3.10.2201. 39 Vgl. Diamanti, Ilvo: La Lega. Geografia, storia e sociologia di un nuovo soggetto politico, Roma 1993. 40 Vgl.Diamanti, Ilvo: Il male del Nord. Lega, localismo, secessione, Roma 1996. 41 Im Detail handelt es sich um 1) Krankenfürsorge und sanitäre Organisation, 2) Schulorganisation, Verwa l- tung der Schulen und Weiterbildungseinrichtungen, Definierung jener Teile der Schul- und Weiterbildungs- programme mit einem spezifischen regionalen Interesse, 3) lokale Polizei. Vgl. Devolution, maggioranza a consulto, in: Il sole-24Ore, 26.11.2002, S. 12 38 dings sollte eine flexible Handhabung im Sinne der "zwei Geschwindigkeiten" eingeführt werden. Regionen, die die entsprechenden Voraussetzungen aufwiesen, wie notwendige Res- sourcen oder Organisationskapazitäten, sollten die neuen Kompetenzen sofort wahrnehmen können, die anderen Regionen sollten diese dann eventuell zu einem späteren Zeitpunkt über- nehmen. 42

Laut Lega könnte dadurch der Verfassungsrahmen an die unterschiedlichen Realitäten ange- passt werden. 43 Bossis Forderung, einen Teil der Verfassungsrichter durch die Regionen zu ernennen, wurde allerdings von den Koalitionspartnern auf einen späteren Zeitpunkt verscho- ben, während die Einführung der Immunität für Parlamentarier und Regionalräte abgelehnt wurde.44 Die Neuverteilung der Ressourcen an die Regionen wurde ebenfalls zurückgestellt.

Bossis Vorschläge sind trotz seiner vielen Proteste lange Zeit auf dem Papier geblieben, 45 weil es innerhalb des Polo trotz einer Reihe von Lippenbekenntnissen46 völlig unterschiedliche Meinungen zur Devolution gibt. Erst am 21. November 2002 ist der entsprechende Gesetzes- entwurf der Regierung unter Federführung Bossis zur Behandlung in den Senat gekommen. 47

5. Resümee

Italien diskutiert seit 20 Jahren mehr oder weniger intensiv über seine Verfassungsreformen. Dennoch ist es seinen politischen Eliten nicht gelungen, in all diesen Jahren einen neuen "Verfassungspakt" zu schließen. Lässt man die Entwicklung Revue passieren, kann man zu- mindest drei zentrale Gründe für das Scheitern einer umfassenden und zugleich organischen Reform feststellen:48

42 Nach der Ulivo-Reform fällt das Gesundheitswesen in die konkurrierende Gesetzgebung zwischen Staat und Regionen, wobei der Staat die Richtlinien vorgibt, den Regionen die Ausführungsgesetzgebung vorbe- halten ist. Das Bildungswesen wird teils der ausschließlichen Kompetenz des Staates unterstellt, zum Teil den Bereichen der konkurrierenden Gesetzgebung. Für die öffentliche Ordnung und Sicherheit wird mit Ausnahme der lokalen Exekutive die exklusive Kompetenz dem Staat übertragen. Vgl. Così la scuola tras- loca in Regione, in: Il Sole-24 Ore, 4.10.2001. 43 Vgl. Bossi: Ecco la mia devolution a doppia velocità, in: Il Sole–24 Ore, 5.7.2001. 44 Im Herbst 2002 hat die Casa delle Libertà Anstalten gezeigt, die vor knapp zehn Jahren abgeschaffte parla- mentarische Immunität wieder einzuführen. 45 Vgl. Subito il federalismo o non votiamo la Finanziaria, in: Corriere della Sera, 11.10.2002; Lega-Udc, Devolution per il disgelo, in: il Sole-24 Ore, 18.10.2002. 46 Vgl. Federalismo, lo strappo di Bossi, in: Il Sole-24 Ore, 11.10.2001. 47 Gleich nach Einbringung des Gesetzes hat es nicht nur seitens des Mitte-Links-Bündnisses Ulivo, der Ge- werkschaften und des Notenbankpräsidenten, aber auch seitens des Staatspräsidenten Carlo Azelio Ciampi (versteckte) Kritik an Bossis Plänen gegeben, sondern auch innerhalb der Regierung. Die Zentrumspartei UdC mit ihrem Minister für EU-Angelegenheiten hat gedroht, ihre Minister aus der Re- gierung abzuziehen, wenn der Entwurf in der vorliegenden Fassung zur Abstimmung komme. Vgl. But- tiglione: Non voterò una legge che può sfasciare l’unità nazionale, in: la Repubblica, 25.11.2002. Auch in- nerhalb von Alleanza Nazionale gibt es Dissens. Vgl. Devolution, Fini avverte la Lega: votiamo ma poi si parla di riforme, in: la Repubblica, 30.11.2002. Ministerpräsident Silvio Berlusconi stellte sich hinter seinen Minister Bossi (vgl. Silvio è uomo d’onore, in: il manifesto, 24.11.2002) und hat angekündigt, nach Verab- schiedung der Devolution im Alleingang, also ohne Miteinbeziehung der Opposition, sofort weitere Refor- men durchziehen zu wollen: Einführung des Semipräsidentialismus und Direktwahl des Staatspräsidenten, Schaffung eines Senats der Regionen, Regionalisierung des Verfassungsgerichtshofes. Bei dieser Gelegen- heit kündigte Berlusconi an, das Amt des Staatspräsidenten anzustreben. 48 Vgl. dazu Cheli, E.: La riforma mancata, S.10-11; Calise, Mauro: La costituzione silenziosa. Geografia dei nuovi poteri, Roma-Bari 1998, insbesondere S.111ff. 39

1. Einer der ersten Gründe kann sicherlich im Paradoxon der reformierten Reformatoren gesehen werden. Die Reform der zentralen staatlichen Institutionen würde zwangsläufig auch zu einer Neuverteilung der politischen Macht führen. Überlegungen, den perfekten Bicameralismus zu überwinden und an Stelle des Senats eine Regionenkammer zu errich- ten, gleichzeitig auch die erste Kammer numerisch zu reduzieren, würde zu einer Selbst- einschränkung der einzelnen politischen Akteure (Parteien, Kammerabgeordnete, Senato- ren, pressure-groups) und somit zu einer Abgabe von Einflussmöglichkeiten, Macht und Ressourcen (z.B. gut dotierte Parlamentssitze, Funktionen usw.) führen. Deshalb stößt die Beseitigung des Senats und dessen Ersatz durch eine Regionenkammer bei allen Parteien transversal auf keine große Gegenliebe. Nicht von ungefähr ist gerade dieses Thema auch von der Ulivo-Reform ausgeschlossen worden. 2. Ein zweiter Grund liegt in der Fragmentierung des italienischen Parteiensystems. Ein Ziel der Reform des Wahlsystems war es, mit dem modifizierten Mehrheitswahlsystem (75% der Zuteilung der Sitze nach dem Majorz-, 25% nach dem Proporzsystem – hier mit einer 4%-Hürde) zu versuchen, eine Reform des Vielparteiensysems und somit die Reduzierung der Parteienanzahl einzuleiten. Dieses Ziel konnte das neue Wahlsystem nicht verwirkli- chen, vielmehr hat die Anzahl der Parteien im Parlament der so genannten zweiten Repu- blik sogar noch weiter zugenommen. Heute müsste man von einem atomisierten Parteien- system sprechen, würde man nicht zu Recht das Schwergewicht auf die Wahlbündnisse legen, sodass man von einem gemäßigten Mehrparteiensystem sprechen kann. 49 Dennoch zeigt sich immer wieder, dass in der politischen Praxis die jeweiligen Profilierungsbestre- bungen der einzelnen Parteien, sowohl des Ulivo- als auch des Polo-Bündnisses, immer wieder durchbrechen. Die Reformprojekte orientieren sich deshalb nicht an einer "großen Reform", sondern am kleinsten gemeinsamen Nenner innerhalb der einzelnen Koalitionen und zwischen Regierung und Opposition. Nach Einbindung der Lega Nord in die Regie- rungsverantwortung ist auch deren Funktion als pressure-group geringer geworden.

Heute befinden sich auf der politischen Agenda andere Themen, nicht mehr die Föderali- sierung Italiens. Und der Staat kehrt wieder zurück, wenn man die von der Regierung Be- rusconi im Jahr 2002 verabschiedeten wichtigen Gesetze und Gesetzesnovellierungen nä- her ansieht: Arbeitsmarktpolitik, Arbeiterstatut, Einwanderung und Groß-Infrastrukturen wurden ohne Einbeziehung der Regionen und lokalen Körperschaften verabschiedet sowie deren Durchführung und Umsetzung stark zentralisiert.50 3. Als dritter Grund kann das geringe Interesse der Zivilgesellschaft angesehen werden. Das Bewusstsein einer notwendigen Reform der Verfassung, die Vorteile für die Verbesserung der institutionellen Funktionalität und dadurch auch der Qualität des politischen Lebens und des zivilen Zusammenlebens bringt, ist wenig ausgeprägt. Das politische Ziel, einen Verfassungspakt unter den Parteien eines neuen Verfassungsbogens zu schließen, wie dies nach den tragischen Erfahrungen von Faschismus und Krieg der Fall gewesen war, ist nicht vorhanden. Diesem Bewusstsein eines notwendigen demokratischen Neubeginns war es 1945 gelungen, die stark ideologisch polarisierten Kräfte zur gemeinsamen Ges- taltung der italienischen Verfassungscharta zu motivieren. Der Verfassungspakt von 1948 war auf den Prinzipien der gegenseitigen Garantien aufgebaut, auf der Verteidigung der menschlichen Würde und Person und auf dem Pluralismus der Institutionen. Heute hinge-

49 Vgl. Bartolini, Stefano/Chiaramonte, Alessandro/D'Alimonte, Roberto: Maggioritario finalmente? Il bilan- cio di tre prove, in: Roberto D'Alimonte/Stefano Bartolini (Hrsg.), Maggioritario finalmente? La transizione elettorale 1994-2001, Bologna 2002, S.363-379; Pappalardo, Adriano: Il sistema partitico italiano fra bipo- larismo e destrutturazione, in: Gianfranco Pasquino (Hrsg.), Dall'Ulivo al governo Berlusconi. Le elezioni del 13 maggio 2001 e il sistema politico italiano, Bologna 2002, S.199-237. 50 Vgl. Diamanti, Ilvo: Quello Stato lontano dalle Regioni, in: la Repubblica, 11.11.2002. 40 gen werden in solche Reformvorschläge vielfach ausschließlich parteipolitische, wenn nicht gar persönliche Interessen zu verpacken versucht. 41

"Forza Italia" oder "Forza Berlusconi"? Bemerkungen zu einem neuen Partei-Modell

Paolo Gianfelici

1. Ein geheimnisvolles Geschöpf

Was ist Forza Italia (F.I.) heute? Eine Bewegung, eine politische Partei, ein Wahlkomitee oder etwa ein Kind, das sich von Silvio Berlusconi an der Hand führen lässt? Die zwischen Ende 1993 und Anfang 1994 unverhofft erfolgte Sturzgeburt der neuen politischen Kreatur aus Publitalia, der Werbefirma für die TV-Netze von Fininvest, hat einen Hauch von Geheim- nis um sich verbreitet und Reaktionen voller Misstrauen und Feindseligkeit hervorgerufen, die in ganz Europa auch heute noch sehr stark sind. Könnte der vom Cavaliere1 Silvio Berlusconi erfolgreich eingeschlagene Weg morgen etwa in Frankreich, Dänemark, Holland oder Öster- reich, wo es überall unorganisierte Minderheiten gibt, seine Nachahmer finden? Laufen die westlichen Demokratien Gefahr, sich in Systeme zu verwandeln, die von Firmen gebändigt werden, welche die Kommunikation kontrollieren? 2

Schon die von Berlusconi für sein politisches Subjekt gewählte Benennung erwies sich als beunruhigend. Sie war eine Anleihe beim Anfeuerungsruf der Fans für die nationale Fußball- mannschaft ("Forza Italia!"), und selbst wenn der Slogan recht harmlos und wenig aggressiv klingt, führt er im Ausland zu Missverständnissen bei der Deutung: "Forza" bedeutet im Ita- lienischen "Energie", aber auch "Potenz" und "Gewalt".

Die Furcht wurde durch den Pakt zwischen Berlusconi und dem im Januar 1994 in Alleanza Nazionale (AN) umgetauften Movimento Sociale Italiano (MSI) verstärkt.3 Ein Wahl- und Regierungsbündnis mit der Partei, die das Erbe der faschistischen Tradition weitergeführt hat, stellte eine absolute Neuheit in der politischen Landschaft des letzten halben Jahrhunderts dar.

Der politische Horizont erschien noch düsterer, als Berlusconi zwei Tage vor der Unterzeich- nung des Vertrags mit AN für die Wahlkreise in Mittel- und Süditalien mit der Lega Nord von Umberto Bossi ein weiteres Wahlbündnis für die norditalienischen Wahlkreise abschloss. Welchen Sinn hatten zwei parallele, jedoch widersprüchliche Bündnisse, eines mit der natio- nal-faschistischen Partei, das andere aber mit der separatistischen Partei Norditaliens, die den Vorschlag einer Aufteilung Italiens in drei Republiken gemacht hatte?

Schließlich geht es um das 'Blut', das in den Adern von Forza Italia fließt. Handelt es sich dabei etwa um infiziertes Blut? Die zweitgrößte italienische Tageszeitung La Repubblica ver-

1 "Ritter des Ordens der Arbeit", eine Art Verdienstkreuz. 2 In der Einleitung zum Dizionario dei fascismi hat Nicola Tranfaglia eine Diskussion über das heutige Italien eröffnet und die folgenden Charakteristiken des "modernen Totalitarismus" aufgezeigt: Machtkonzentrati- on, starke Rolle des charismatischen Leaders, Zentralisierung der Kommunikationsmittel (Fernsehen), Or- ganisation des Massenkonsenses. Milza, Pierre u.a.: Dizionario dei fascismi. Ed. italiana, a cura di Nicola Tranfaglia e Brunello Mantelli, Mailand 2002. 3 Die Hintergründe und die politischen Effekte dieses Pakts sind von Günther Pallaver überzeugend analy- siert worden. Pallaver, Günter: Der Winterkönig. Berlusconis Versuch, leadership auszuüben und der reprä- sentativen Demokratie eine plebiszitäre Krone aufzusetzen, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwis- senschaft 26, Nr.4,1997, S.407-422. 42

öffentlichte im Oktober 2002 in vier Ausgaben eine Studie über Forza Italia, als sich diese an die Vorbereitung ihres Nationalkongresses machte.4

Das Bild zeigt düstere Farben. Im Inneren von Forza Italia soll es eine Abrechnung zwischen zwei gegensätzlichen Strömungen geben: An der Spitze der einen steht der ehemalige Innen- minister Claudio Scajola, ein "politischer Saubermann", der von der Democrazia Cristiana (DC) herkommt und nicht zum Dunstkreis von Berlusconis Firmenimperium gehört. Die an- dere, die "Partei der Geschäfte", wird vom Senator Marcello Dell'Utri angeführt und setzt sich aus Rechtsanwälten und früheren Leitern von Fininvest zusammen, die nach mehr als zwan- zigjähriger Zusammenarbeit mit Berlusconi heute in der Lage sein soll, ihn zu erpressen und ihn demzufolge auch bei seinen politischen Entscheidungen zu beeinflussen. Nach Meinung gewisser Leute, wie dem Ex-Justizminister Filippo Mancuso, einem ehemaligen Gefolgsmann von Berlusconi, soll dies die Partei der schmutzigen Geschäfte sein, die einen mafiosen Ge- ruch verbreiten. 5

Gegenüber einigen früheren Mitarbeitern des Unternehmers Berlusconi wurden von der Justiz auch andere Beschuldigungen erhoben, die allerdings nichts mit den Beziehungen zu mafio- sen Organisationen zu tun haben, sondern andere schwere Vergehen betreffen, wie z.B. Richterbestechung, Bilanzfälschung usw.

Dank des im November 2002 vom Parlament ratifizierten "Cirami"-Gesetzes, das sich auf den legitimen Verdacht der Befangenheit eines Richters bezieht, wurde der Prozess gegen , Berlusconis ehemaligen Rechtsanwalt, für einige Monate ausgesetzt. Der Staatsanwalt am Gericht von Mailand hatte Previti der Bestechung von Richtern angeklagt und bereits eine Strafe von 13 Jahren Gefängnis beantragt.6

Zu gleicher Zeit erreichten Silvio Berlusconi (als Präsident des AC Milan) und seine zwei Mitarbeiter einen Freispruch im Verfahren um die teilweise nicht verbuchten Ablösesummen anlässlich des Transfers von Gianluca Lentini von Turin zu Berlusconis Verein AC Milan, da vorher das Vergehen der Bilanzfälschung (bei minderschweren Tatbeständen) vom Parlament für straffrei erklärt worden war.7

Es ist interessant zu beobachten, wie die öffentliche Meinung auf die Vorwürfe eines Teils der Presse und des Justizapparats gegen einige führende Personen von Forza Italia und gegen Berlusconi selbst reagiert. Die Anklagen scheinen die Mehrheit der italienischen Wähler nicht zu interessieren, die Forza Italia bei den Parlamentswahlen von 2001 etwa 29,4% der Stim- men und dem rechtszentristischen Bündnis Casa delle Libertà einen Anteil von 49,6% gege- ben haben.

4 De Gregorio, Concita: Il partito degli affari prepara la riscossa, in: La Repubblica, 1., 3., 10. und 17.10.2002. 5 In Palermo läuft derzeit ein Prozess gegen Dell'Utri wegen Unterstützung einer mafiosen Vereinigung von außen. Ein Urteil ist allerdings noch nicht ergangen. 6 "In vierter und letzter Lesung hat das italienische Parlament [...] das heiß umstrittene 'Cirami' verabschiedet, das es Angeklagten erleichtert, ihre Prozesse von einem Gericht zu einem anderen transferieren zu lassen. In Zukunft wird es genügen, dass der Angeklagte den "legitimen Verdacht" geltend macht, seine Richter seien befangen, um das Verfahren an ein anderes Gericht zu verlegen. Die Neuregelung der Strafprozess- ordnung war von der Regierung im Eiltempo durch Parlament und Senat gepeitscht worden." Premier Ber- lusconi entgeht der italienischen Justiz. Neues Gesetz rettet den Premier vor der Verurteilung, in: Berliner Zeitung, 6.11.2002. 7 Per il processo Lentini prosciolti Berlusconi e Galliani, in: La Repubblica, 5.11.2002. 43

Nach einer von Renato Mannheimer im November 2002 im Corriere della Sera veröffent- lichten Erhebung ist Forza Italia die Partei mit der breitesten Basis bei den Wählern, die be- reits ihre Entscheidung getroffen haben. Und gleichzeitig hat Forza Italia die höchste Anzahl potenzieller Wähler, womit die Partei für sich alleine über einen "Markt" verfügt, der insge- samt etwa die Hälfte der Wählerschaft umfasst.8

Was aber zieht die Mehrheit der Italiener so sehr zu Forza Italia hin, dass diese fast mit den Wahlerfolgen der Christdemokraten in den besten Jahren gleichziehen kann? Und warum empfindet eine Minderheit eine Aversion gegen Berlusconi? Einige Antworten finden sich in der politisch-kulturellen Herkunft der von ihm geschaffenen Bewegung.

2. Auf der Suche nach den außer Acht gelassenen Wurzeln

Gegen Ende des Sommers 2002 fand in Gubbio (Umbrien) ein Treffen von mehr als 200 Füh- rungspersönlichkeiten, darunter Parlamentarier, Bürgermeister, Provinzpräfekten und Leiter von Jugendgruppen statt, um am ersten Schulungsseminar von Forza Italia teilzunehmen. Die Spitzenkräfte der Partei lauschten in den Klassenzimmern eines ehemaligen Franziskaner- klosters für einige Tage geflissentlich den Lektionen über Justiz, öffentliche Sicherheit und Gesundheits- und Schulwesen. Der Sprecher von Forza Italia, , war Spiritus rector, Organisator und Dozent der neuen Schule. Zusammen mit Don Gianni Baget Bozzo, dem Beauftragten für Schulung, und Marcello Dell'Utri, dem Leiter der Kulturabteilung, ver- sucht er, Berlusconis Geschöpf umzugestalten. F.I. soll nicht mehr nur eine vollkommene Maschine zum Gewinnen von Wahlen sein (dies war das Modell von Ex-Koordinator Claudio Scajola gewesen), aber ebenso wenig ein Monolith, der ständig und bereitwillig allein die Direktiven des Cavaliere ausführt (dies soll der Entwurf des augenblicklichen nationalen Ko- ordinators, Senator Roberto Antonione, sein). Im Mai 2001 gewann Scajola mit Bravour haushoch die Parlamentswahlen – auf Grund eines äußerst seltsamen Wahlmechanismus hat Forza Italia sogar mehr Sitze gewonnen, als Kandidaten vorhanden waren, was zur Folge hatte, dass einige Posten im Parlament unbesetzt blieben! Aber dies ist unzureichend für eine Partei, die auf die nächsten zehn bis zwanzig Jahre vorwärts blickt. Ebenso wenig genügt das Modell einer Partei, die sich vom 66-jährigen Berlusconi, dessen Glanz in einigen Jahren verblassen wird und der seine Energie oder den Geschmack am politischen Geschäft verlieren wird, wie ein Kind an der Hand führen lässt. Daher rührt der Versuch, Forza Italia (acht Jahre nach ihrer Gründung!) mit soliden politisch-kulturellen Wurzeln zu versehen, die der Partei eine klare Identität und ihren Mitgliedern und Wählern ein klares Zeichen der Zugehörigkeit geben sollen.

Der Sprecher von Forza Italia, Sandro Bondi, und Don Gianni Baget Bozzo hielten die Hauptvorträge, die man in den Räumen der Schule von Gubbio hören konnte. Wegen seiner dröhnenden, langsamen und näselnden Anwaltsstimme hat Bondi den Spitznamen "Monsig- nore", während Baget Bozzo ein echter Priester ist und mit der mitreißenden Eloquenz der Prediger früherer Epochen spricht. Jemand hat daher ironisch darauf hingewiesen, dass die Wahl eines ehemaligen Franziskanerklosters sehr passend war, um das erste Seminar der "Forzisti" zu veranstalten.

Baget Bozzo drückte sich insgesamt sehr emphatisch aus. In seiner Einleitung sagte er, "er wolle nicht gewaltsam ein Pantheon edler Leitfiguren errichten"; dann behauptete er:

8 Mannheimer, Renato: Casa delle Libertà batte Ulivo, in: Il Corriere della Sera, 4.11.2002. 44

"Forza Italia ist von Natur aus eklektisch. Sie vereint in sich das Beste bereits existierender idealer Traditionen, vom Liberalismus bis zum Reform- und demokratischen Sozialismus sowie zum liberalen Katholizismus. Und sie tut dies mittels einer neuen Art des Verstehens von Politik unter dem Vorzeichen von Pragmatismus und einer Kultur des "Machens". Darum würde jede Rückendeckung durch feste Bezugsgrößen in Widerspruch zu ihrer eigentlichen Natur stehen. Jede Kultur enthält in sich ihre eigenen Licht- und Schattenseiten, abgestorbene und lebendige Bestandteile, und auf letztere nehmen wir Bezug im Bewusstsein, dass die Ge- schichte, und insbesondere die Ideengeschichte, wie ein Karstfluss9 ist, der ans Tageslicht tritt und wieder verschwindet."10

Dies ist nur ein Beispiel für die Sprache des rechten Zentrums, die Italiener mit einem gewis- sen kulturellen Background irritiert und ihnen den Mund offen stehen lässt, und das nicht nur wegen der Inhalte, sondern auch wegen des dehnbaren Aufbaus der Argumentation. Es kommt einem der Refrain eines bekannten Lieds in den Sinn: "Worte ... Worte ... nichts als Worte".

In den Reden der Repräsentanten von Forza Italia werden Lobeshymnen auf die Freiheit und gegen "den Perfektionswahn des Staates" gesungen. Als edle Leitfiguren von Forza Italia zi- tiert man Alcide De Gasperi, Luigi Einaudi und Ugo La Malfa, die aber außer, dass sie Lieb- haber der Freiheit waren, ebenso die Rechtsstaatlichkeit behütet haben. Dies ist der Knack- punkt: Auf die Legalität, auf das Gesetz, welches die individuellen Freiheiten nicht ein- schränkt, sondern diese hoch schätzt, wurde bei den Schulungen in Gubbio keine Hymne ge- sungen. Diesen Hochgesang hört man nie in den Reden Berlusconis und der Obleute von For- za Italia. Ist Italien nicht etwa das Land der tausend kleinen, alltäglichen Gesetzesübertretun- gen – vom Auto, das in der zweiten Reihe geparkt wird, bis zum Unrat, den man auf die Stra- ße und in die Gärten wirft, von der Schwarzarbeit bis zur Steuerhinterziehung und zu den Schwarzbauten (zum Beispiel im "Tal der Tempel" bei Agrigento)? Millionen von Italienern haben eine quasi anarchische Vorstellung von Freiheit, und darum sind die Slogans von Forza Italia gegen den "statalismo" (Etatismus) Musik in ihren Ohren.

Worin bestehen nach Bondi die Blockaden in der politischen Kultur Italiens? In erster Linie soll es "eine kommunistische Frage [geben], welche die auf Alternanz beruhende Demokratie lähmt, und zwar nicht nur infolge des Bestehens politischer Formationen, die sich explizit und stolzgeschwellt als Kommunisten präsentieren, sondern vor allem durch die Fortdauer einer Kultur und einer Mentalität, welche die unauslöschlichen Spuren des Kommunismus tragen".

In anderen Worten: "Die Linke betrachtet ihre eigenen politischen Gegner unablässig als Feinde ohne moralische Legitimation, die folglich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen sind." Von welcher Linken spricht jedoch Bondi? Von den "maximalistischen Sozialisten" vor dem Faschismus? Von der Kommunistischen Partei des Komintern, bevor sich der politisch-kulturelle Einfluss von Antonio Gramsci durchsetzte? Von den kommunisti- schen Terroristen der Roten Brigaden? Die italienische Linke von heute mit jenen Denk- und Verhaltensmodellen gleichsetzen zu wollen ist freilich fern der Realität. Auf diese Frage ist Berlusconi, wenngleich in abgeschwächter Form, bei seinem Statement auf dem Seminar von Gubbio eingegangen:

9 Bondi, Sandro: Passato e futuro di Forza Italia. Vortrag in Gubbio am 2.9.2002 beim Schulungsseminar von Forza Italia [Ms.]. 10 Baget Bozzo, Gianni: Forza Italia in un mondo che cambia. Vortrag in Gubbio beim Schulungsseminar von Forza Italia, Gubbio 2002. 45

"Unsere vordringliche Zielsetzung besteht darin, nicht zuzulassen, dass das Land in die Hände einer Linken fällt, die man nicht als demokratisch bezeichnen kann, [insofern] sie destruktiv und schwarzseherisch ist [sowie nur] zur parlamentarischen Obstruktion [fähig ist]."11

Durch den Gebrauch solcher Worte gelingt es dem italienischen Ministerpräsidenten, Millio- nen von Wählerstimmen auf sich zu vereinigen. Es handelt sich um einen Teil der Wähler- schaft in höherem Alter, die in Nord- und in Süditalien wohnt und auf der Gefühlsebene im- mer noch den Antikommunismus des Kalten Kriegs lebt.

In Italien existiert nach Bondi aber auch eine "christdemokratische Frage", in dem Sinn, als sei "die verschwundene DC von einer politischen Kultur überlebt worden, die mit ihren letz- ten Kräften darum kämpft, sich den veränderten historischen und politischen Bedingungen anzupassen, die aus dem Fall der Berliner Mauer und in Italien aus der Schaffung eines neuen, auf dem Bipolarismus beruhenden politischen Systems hervorgingen".

Während des Kalten Kriegs hatte die DC die Rolle einer Alternative zum Kommunismus in- ne, aber auch "eine Rolle der sozialen Vermittlung, die einerseits mit der klassenübergreifen- den Natur der Partei zusammenhing und andererseits damit, dass der liberale Atlantismus von Alcide De Gasperi und der neutralistisch gefärbte Antikapitalismus von Dossetti und La Pira nebeneinander bestanden. Dies alles führte sogar gegenüber dem gegnerischen Lager zur Su- che nach einer vermittelnden politischen Position."

Das alles gehört der Vergangenheit an. Laut Bondi ist lediglich "eine barocke politische Kul- tur, die in der ewigen Berufung zu Vermittlung und Kompromiss vermeintlich eine höhere Weisheit besitzt, übrig geblieben".

Wen hat der Sprecher von Forza Italia ins Visier genommen? Auf den ersten Blick die ehe- malige christdemokratische Linke, die sich im Bündnis Ulivo auf die Seite der Opposition gestellt hat. Wütend ist er in Wirklichkeit aber auf die Führer der UDC,12 die, wie er meint, einen unverhältnismäßig großen Einflussbereich haben, und das trotz der nur bescheidenen Stärke der UDC als christdemokratischer Bündnispartnerin in der Casa delle Libertà. Sie er- reichte bei den Parlamentswahlen von 2001 nämlich nur etwas über 2 Mio. Stimmen, und das gegenüber den fast 11 Mio. Stimmen von Forza Italia.

Ein weiteres Thema findet bei der Wählerschaft von Forza Italia und noch allgemeiner bei der gesamten rechtszentristischen Wählerschaft viel Anklang: die Polemik gegen die "politicanti di professione" (Berufspolitiker), die aus Opportunismus oder aus "Berufung zum Kompro- miss" dem "Decisionismo" Berlusconis (seiner beherzten Entschlossenheit) Knüppel zwi- schen die Beine werfen.

Wenn Forza Italia aber einer bipolaren Logik anhängt, die klare Mehrheiten schafft, wie dies von Bondi bekräftigt wird, warum beinhalten dann die letzten Vorschläge von Berlusconi eine Rückkehr zum Verhältniswahlrecht? Auf diesen offensichtlichen Widerspruch ging man auf dem Seminar von Gubbio nicht ein.

11 Berlusconi, Silvio: Sinistra non ancora democratica, in: La Stampa, 30.8.2002. 12 Die Parteien Centro Cristiano Democratico/CCD, Cristiani Democratici Uniti/CDU und Democrazia Euro- pea haben sich auf dem Einheitskongress von Rom (6.-8.12.2002) zur neuen Partei Unione Democratici Cristiani di Centro/UDC zusammengeschlossen. Ihr gehören der Präsident des Abgeordnetenhauses, Pier Ferdinando Casini, sowie Rocco Buttiglione und , zwei Minister der Regierung Berlusconi II, an. 46

Zum Ausgleich hat Bondi seine Rede mit einer Schmeichelei des Leaders beendet, die genau in der Mitte zwischen Personenkult und "heißer Luft" lag:

"Der Führer der Blauen positioniert sich zwischen den Kulturen christlicher und liberaler In- spiration, die er aber mit dem wiederholten Aufruf zur Utopie gegenzeichnet. Die Utopie ver- steht er als kreative Kraft, als Anspannung in Richtung Zukunft, als Erkundung einer ständi- gen Verbesserung des Lebens jeder Person und der Gesamtgesellschaft. Die Utopie und die Freiheit sind für Berlusconi die beiden großen Triebfedern des menschlichen Handelns, die in der Lage sind, dem Leben des Menschen auf Erden einen Sinn zu geben. Gegenüber den Mo- dellen, die sich im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte eingebürgert hatten, hat seine anschei- nende Häresie den Charakter und den Sinn des politischen Handelns bereits tief gewandelt. In Berlusconi haben die bislang nur von kleinen aufgeklärten Minderheiten beglaubigten Prinzi- pien der Freiheit erstmalig eine neue kommunikative Anziehungskraft für Millionen von Menschen gefunden – eine unwiderstehliche, zum Guten strebende Kraft."13 Don Gianni Ba- get Bozzo thematisierte ebenfalls, aber in allgemeineren Worten das Verhältnis zwischen For- za Italia und katholischer Kultur:

"Forza Italia ist eine Laienbewegung, deswegen aber nicht laizistisch. Und es ist ein bedeu- tendes Faktum, dass der politische und moralische Bankrott der DC bei der Rechten nicht zu einer antikatholischen Position geführt hat. Diese Risiken bestanden, man braucht nur an den Philocalvinismus und an Bossis Gott des Flusses Po sowie an die nazistischen und neuheidni- schen Wurzeln der zweiten MSI-Generation zu denken, die in Pino Rauti ihr politisches Sprachrohr gefunden hat. Dieser Anti-Katholizismus ist in einer neuheidnischen (und sogar islamfreundlichen) Kultur verwurzelt, die sich dank der Esoterik von Julius Evola und René Guénon in der Kultur der Rechten verbreitet hat."14

Auf der anderen Seite, d.h. auf der Linken, soll in der italienischen Übergangsgesellschaft (1992-2001) "auf der Ebene der Theologie und des Episkopats eine Verschiebung der katholi- schen Kultur in Richtung einer Antihaltung gegen das Abendland und den Kapitalismus unter dem Vorzeichen der Utopie und unter dem Einfluss der lateinamerikanischen Theologie [stattgefunden haben] – und dies vermittelte einen Eindruck von der religiösen Konfusion, die zugleich kulturell und politisch war."

Nachdem nun geklärt ist, dass Forza Italia ihre Wurzeln in der politischen Mitte hat, stellt sich die Frage, auf welchem Boden diese gewachsen sind.

"Italien als Nation und als Geschichte, Italien als christliches und humanistisches Land war nicht nur ein Faktum, sondern auch eine Idee, welche im Stande war, die Lega von ihrer Schwärmerei für das Kelten- und Germanentum und den MSI von seinem Neuheidentum und von der Ansicht loszureißen, ein Gebilde mit disparater moralischer Ideologie darzustellen."

Als Forza Italia gegründet wurde, "war das Nationalgefühl so sehr verkommen, dass der ein- zige noch übrig gebliebene Patriotismus derjenige einer Fußballmannschaft war. Berlusconi hatte die Eingebung, unter der Devise der Fußballmannschaft die Gestalt der Nation zu ver- stecken. Das nationale Thema nach dem Faschismus aufzugreifen, erschien lange Zeit als ein unmögliches Unterfangen ... Mit Ausnahme des Mythos der Savoyer vom Zentral- und Ein- heitsstaat war Forza Italia gleich bedeutend mit einer Wiederaufnahme der Risorgimento- Thematik."

13 Bondi, S.: Passato e futuro di Forza Italia (FN 9). 14 Baget Bozzo, G.: Forza Italia in un mondo che cambia (FN 10). 47

Bis hierher ist nichts Revolutionäres festzustellen. Plötzlich jedoch kommen einige Ideen des christlichen Fundamentalismus zum Vorschein, welche die demokratischen Grundlagen Westeuropas zu sprengen drohen, die doch auch in Osteuropa, das dem Kommunismus und den ethnischen Kriegen entkommen ist, derzeit eine Phase der Stabilisierung durchlaufen. Baget Bozzo meint hierzu:

"Das Problem der geschichtlichen und kulturellen Identität und die Kontrolle über das Territo- rium sowie der Schutz der natürlichen Personen sind Elemente der politischen Landschaft Europas geworden. Sie bedeuten den Untergang des sozialdemokratischen Konzepts 'Multi- kulturalismus' (dem die Linke im Allgemeinen anhängt). Europa ist nicht nur ein Territorium, es ist eine Kultur: Und die Einwanderung muss so erfolgen, dass diese kulturelle Integrität gewahrt bleibt. Europa ist eine vielgestaltige, jedoch einheitliche Kultur, die sich auf das Christentum gründet, das in sich das Erbe der griechisch-römischen Klassik überwunden hat. Das rechte Zentrum ist von der Linken gerade dadurch getrennt, dass es die Identität und den Schutz der Kultur vor dem Nihilismus und dem Multikulturalismus der Linken anerkennt. Der Multikulturalismus ist die Negation des Begriffs der Wahrheit selbst, und darum ist er ein anderer Aspekt der nihilistischen Kultur der italienischen Linken."

Hier vermengt der Verantwortliche von Forza Italia für Bildung den Begriff 'Wahrheit' in sei- ner philosophischen und theologischen Bedeutung in gefährlicher Weise mit den Tausenden von Wahrheiten, deren Träger die Leute im Alltagsleben sind. Alle haben die gleiche Würde und verdienen den Schutz innerhalb der verfassungsmäßigen demokratischen Prinzipien, so- fern sie respektvoll mit der Wahrheit des Anderen umgehen. Dieses fundamentale Konzept in Frage zu stellen bedeutet, sich zu neuen Kreuzzügen auf den Weg zu machen.

Man muss sich wünschen, dass dies nicht der Sinn der Worte von Baget Bozzo ist, wenn er von der neuen italienischen Außenpolitik spricht: "Die Bewegung Forza Italia ist die italieni- sche Version einer weltweiten Bewegung, die da heißt: Verteidigung der westlichen Kultur. Das Problem der Länder außerhalb dieses hegemonialen Bereichs ist kein Problem der Exklu- sion, sondern der Inklusion: Die Länder der Dritten Welt wünschen sich, in die westliche Kultur und die Globalisierung einbezogen und nicht davon ausgeschlossen zu werden."

Soll etwa der Irak mit amerikanischer Waffengewalt in die westliche Welt eingegliedert wer- den?

3. Die Firmenpartei

Wenn Berlusconi der Vater von Forza Italia ist, so war Marcello Dell'Utri ihr Geburtshelfer. Der durch die Siege der Linken bei den Gemeinde- und Provinzwahlen im Herbst 1993 zu- tiefst beunruhigte Cavaliere schickte zu Gunsten eines rechtszentristischen politischen Pro- jekts einen Koloss wie Fininvest ins Rennen, der damals 300 Firmen umfasste, die in sieben Branchen tätig waren (Kommunikation, Verlagswesen, Finanzdienste usw.) und mit 40.000 Mitarbeitern einen Umsatz von 21.800 Milliarden Lire (damaliger Wert; heute etwa 15 Milli- arden Euro) machte. Im Laufe weniger Monate vereinigte die von Null aus startende Forza Italia bei den Parlamentswahlen im März 1994 acht Millionen Stimmen auf sich.

Das "Wunder" wurde von Marcello Dell'Utri, dem Vorstandsvorsitzenden von Publitalia, der Konzessionsnehmerin für die Werbung der Gruppe Fininvest, vollbracht. Die Auswahl der Kandidaten bei den Wahlen von 1994 erfolgte durch 60 Führungspersonen und Funktionäre von Publitalia, welche die Paten der neuen politischen Bewegung wurden. Gleichzeitig waren 48 die Promotoren von Programma Italia (Versicherungs- und Finanzabteilung von Fininvest) auf dem gesamten nationalen Gebiet die Taufpaten für die Clubs zur Unterstützung von Forza Italia. Der Beitritt der aktiven Mitglieder zur Vereinigung Forza Italia erfolgte in sehr origi- neller Weise, indem man einen Mitte Februar 1994 in der Wochenzeitschrift TV Sorrisi e canzoni veröffentlichten Vordruck ausfüllte und einen Beitrag von 100.000 Lire bezahlte. Es schrieben sich 5.000 Personen ein, die aber nie die Möglichkeit bekamen, ihre satzungsgemä- ßen Rechte auszuüben, da niemals ein Nationalkongress der Mitglieder einberufen wurde, um die Wahl der Leitungsorgane der Bewegung durchzuführen. In Wirklichkeit besorgte ein Kreis weniger Personen, die Berlusconi unter den Präsidenten und Vizepräsidenten seiner Gesellschaften sowie unter Vorstandsvorsitzenden, Managern und Rechtsanwälten seines Vertrauens ausgewählt hatte, die gesamte Verwaltung und Organisation von Forza Italia.

Es trifft also die Behauptung zu, "dass das unterscheidende und originelle Wesen von Forza Italia genau im Faktum besteht, dass sie das erste gelungene europäische Experiment einer großen politischen Partei darstellt, die von einem privaten kommerziellen Unternehmen auf die Beine gestellt wurde, fast so, als handle es sich um eine bloße Diversifikation von Finin- vest auf dem politischen Markt. In dieser Hinsicht wurde Forza Italia von vielen Beobachtern als eine von einem Unternehmen gegründete Firmen-Partei definiert, die von den Mitarbeitern des Unternehmens nach typisch managerhaften Organisations- und Leitungskriterien geführt wird."15

Die Charakteristika eines Unternehmens repräsentierten den "genetischen Code" von Forza Italia und ihr wahres Ursprungsmodell, das für die folgenden drei Jahre bestimmend blieb.

4. Die Partei der eingeschriebenen Mitglieder

Die Auswirkung der Niederlage des rechten Zentrums bei den Parlamentswahlen von 1996 führte zu einem Überdenken der Organisation von Forza Italia. Die politischen Kommentato- ren ließen sich nicht die Gelegenheit entgehen und erinnerten daran, dass Berlusconis Ge- schöpf eine zu einem frühen Tod verurteilte undemokratische Partei "aus Plastik" bzw. eine "Instant-Partei"16 war, die kein richtiges Statut hatte.

Der Cavaliere vertraute die Aufgabe, eine neue Struktur zu projektieren, einer Gruppe von fünf Abgeordneten an, die von Claudio Scajola, dem ehemaligen Bürgermeister von Imperia, koordiniert wurden. Scajola geht nicht aus dem Firmenmilieu von Fininvest hervor und hat die Erfahrungen einer wahren Massenpartei wie der DC hinter sich. Scajola hatte auch den Auftrag, Forza Italia in der Übergangsphase operativ zu leiten.

Im Januar 1997 wurde das neue Parteistatut von einer Delegiertenversammlung gebilligt, die mit Unterstützung durch die Zeitschrift TV Sorrisi e canzoni die eingeschriebenen Mitglieder repräsentierte, die fast drei Jahre lang von der Führung von Forza Italia ignoriert worden wa- ren. Berlusconi entschied, dass die organisatorische Neugründung unter Beachtung der inter- nen Regeln und demokratischer Verfahren erfolgen sollte.

Im April 1998 fand in Assago (bei Mailand) der erste Nationalkongress von Forza Italia statt. Er umfasste 1.704 von den Mitgliedern gewählte Delegierte und 1.372 Delegierte de jure, die

15 Poli, Emanuela: Forza Italia. Strutture, leadership e radicamento territoriale, Bologna 2001, S.41. 16 Revelli, Marco: Forza Italia: l'anomalia italiana non è finita, in: Paul Ginsborg (Hrsg.), Stato dell'Italia, Milano 1994, S.667-670. 49 jedoch öffentliche Wahlämter (Abgeordnete, Senatoren, Regional- und Provinzialräte, Ober- bürgermeister usw.) inne hatten. Mit diesen insgesamt respektierlichen Zahlen stellte sich Forza Italia als eine wirkliche Partei "aus Fleisch und Blut" dar. In der Tat richteten sich die Attacken von nun an immer seltener gegen die "Firmen"-Partei oder gegen die Partei, "die nicht existiert".

Forza Italia ist derzeit die erste politische Partei Italiens.17 Sie hat 350.000 eingeschriebene Mitglieder, die besonders unter den Jugendlichen zunehmen, und Strukturen auf dem gesam- ten nationalen Territorium. Sie erhielt bei den Parlamentswahlen von 2001 fast 11 Millionen Stimmen. In den organisatorischen Merkmalen unterscheidet sich Forza Italia aber von allen anderen Parteien; an erster Stelle ist die außerordentliche Machtfülle zu nennen, die ihr Vor- sitzender genießt. Sie manifestiert sich in der Ernennung und Abberufung der nationalen und regionalen Parteiführer, in der Auswahl der Kandidaten für die nationalen und regionalen Wahlen sowie für das Bürgermeisteramt der großen Städte. Berlusconi ist auch der einzige Bezugspunkt für die politische Linie von Forza Italia. Nur selten treten andere Persönlichkei- ten der Partei als Sprecher der offiziellen Position zu speziellen Themen auf ( beispielsweise zur Wirtschaft, zu den Reformen der Institutionen, , mittlerweile Außenminister, zu Sicherheitsfragen).

Das Fehlen einer langen kollektiven Geschichte und die organisatorische Ungewissheit der ersten Lebensjahre von Forza Italia "haben dazu beigetragen, dass die Persönlichkeit des Lea- ders weithin die einzige Quelle für die Identität der Partei war; die persönliche Geschichte von Berlusconi repräsentierte das Herz der Werte von Forza Italia. Was als sein Charisma wahrgenommen wird, hat die Organisation zusammengehalten und sich im Wahlkampf als die wahre Waffe von Forza Italia erwiesen."18

Forza Italia war und bleibt eine charismatische Partei. Sie unterscheidet sich von den übrigen italienischen Parteien, insofern "sich das symbiotische Band, das zwischen dem Leader und der Identität der Organisation besteht, im Prozess der Institutionalisierung, den die Partei seit 1997 durchlaufen hat, nur in Randbereichen aufgelöst hat". 19

5. Die "Soci"

Die eingeschriebenen Mitglieder von Forza Italia heißen "Soci" (Gesellschafter), um sie auch in lexikalischer Hinsicht von den Angehörigen der anderen Parteien zu unterscheiden.

40% davon sind in den Industriegebieten Norditaliens (vor allem in der Lombardei, im Pie- mont und im Veneto), 14,4% in Rom und in Latium, 29% in den drei südlichen Regionen Kampanien, Apulien und Sizilien konzentriert. Die Partei ist schwach in den historisch linken Regionen wie der Emilia-Romagna, der Toskana, Umbrien und den Marken.

41% der Mitglieder sind Frauen, 26% sind Jugendliche und 12% Senioren. Die Verteilung nach sozialen Kategorien offenbart ein deutliches Übergewicht von Selbstständigen (38%) gegenüber abhängigen Arbeitnehmern (32%). Dies ist deswegen nicht überraschend, da die Partei der Gesellschaft immer eine am 'freien Markt' orientierte Botschaft vermittelt hat, wes-

17 Brütting, Richard (i.Vb.): Die italienische Parteienlandschaft zwischen Tradition und Umbruch. Entwic k- lungen bis zu den Wahlen von 2001. 18 Poli, E.: Forza Italia (FN 15), S.175f. 19 Ebd. 50 wegen man ihr oft das Etikett eines "movimento delle partite Iva" (Bewegung der MWSt.- Nummern) aufgedrückt hat. Aber auch die Ruheständler sind gut vertreten (17%), und sehr wichtig ist die Präsenz von 5% Arbeitslosen unter den Mitgliedern.

Forza Italia ist eine klassenübergreifende Partei, die auch sozial schwache Schichten anzuzie- hen vermag. Besonders ihnen gegenüber wurde die Kommunikation während des letzten Wahlkampfs verstärkt ("Es besteht ein moralisches Engagement, denen zu helfen, die abge- hängt worden sind", erklärte Berlusconi mehrfach).20

Die Rolle der "Soci" von Forza Italia ist von der eingeschriebener Mitglieder in anderen Par- teien sehr verschieden. In F.I. fehlt völlig die Idee des Ortsvereins, folglich stehen den An- hängern keine materiellen Räume zur Verfügung, wo sie sich versammeln und mit den ande- ren "Soci" diskutieren können. Bei den vom Statut vorgesehenen Fristen kann man diese le- diglich alle drei Jahre an den Kongress- und Tagungsorten treffen.

"Überweist jemand den Jahresbeitrag, so besteht seine Zugehörigkeit zur Partei darum mehr in der Idee als in der Praxis; und auch in diesem zweiten Fall hat die Zugehörigkeit einen zeitweiligen Charakter. Sie ist dann auf die Verfolgung spezifischer Ziele ausgerichtet, die oft an interne und vor allem an externe Wahlereignisse gebunden sind."21

Die Forza Italia-Clubs sind dagegen flankierende Kulturvereine, die mindestens 25 Mitglieder umfassen. Nach dem Parteistatut haben sie zum Ziel, "die Verbreitung liberaldemokratischer Ideale zu entwickeln". 1994 entstanden in wenigen Monaten mehr als 6.000 Forza Italia- Clubs mit einer Gesamtzahl von fast einer Million "Soci". Heute sind diese Zirkel rückläufig (etwa 2.000), selbst wenn der Senator Marcello Dell'Utri eine Wiederbelebung nach dem in Florenz lancierten Vorschlag eines "Manifests für die Kultur" gefördert hat.

Und es ist darauf hinzuweisen, dass die "Soci" der Clubs nicht automatisch "Soci" (oder ein- geschriebene Mitglieder) der Forza Italia-Partei sind.

6. Wähler und Gewählte

Während der Parlamentswahlen von 1994 führte Renato Mannheimer eine Analyse der Ei- genarten der Wähler von Forza Italia durch. 22 Vor dem Entstehen dieser Bewegung orientier- ten sie sich vorzüglich an den Parteien der politischen Mitte und der Rechten, zum Teil aber auch an Linksparteien.

Forza Italia "wird von Personen jeglicher Art, jeglichen Alters und jeglicher sozialer Bedin- gung gewählt. Das Durchschnittsprofil des Wählers von Forza Italia ist von dem der Wähler- schaft in ihrer Gesamtheit kaum verschieden."23

Es gibt aber einige Ausnahmen von geringerer Bedeutung. Verglichen mit dem Durchschnitt der italienischen Wählerschaft befinden sich unter den Wählern von Forza Italia mehr junge

20 Eine Sammlung der Reden von Silvio Berlusconi enthält der Band L'Italia che ho in mente, Milano 2000. 21 Poli, E.: Forza Italia (FN 15), S.254. 22 Mannheimer, Renato: Forza Italia, in: Ilvo Diamanti/Renato Mannheimer (Hrsg.), Milano a Roma. Guida all'Italia elettorale del 1994, Roma 1994, S.29-42. 23 Ebd., S.35. 51

Leute (40% sind unter 35 Jahre alt), mehr Frauen (55%), mehr Unternehmer und Selbststän- dige sowie mehr Personen mit einem mittleren oder höheren Bildungsabschluss.

Eben in diesen durchschnittlichen Grundzügen besteht das unterscheidende Merkmal der Wählerschaft von Forza Italia. Sie repräsentiert die mittlere italienische Gesellschaft, "die noch in den Werten und den traditionellen institutionellen Orten – Familie, Markt, Kirche – verankert und vom Verlangen nach Ordnung und Stabilität geprägt ist". 24

Nach Mannheimer ähneln die Werte von Forza Italia denen der Gesamtbevölkerung, aber mit vier bedeutenden Ausnahmen:

Forza Italia - fordert eine Dezentralisierung der Verwaltung, - hat größeres Vertrauen in den Norden des Landes, - unterstützt entschieden die Privatunternehmen (insbesondere, wenn sie klein dimensio- niert sind) und - hat ein überaus großes Vertrauen in die Fernsehnetze von Fininvest.

Gegenüber 1994 hat Forza Italia bei den Wahlen von Mai 2001 von 21% auf 29,4% zuge- nommen. In 15 von insgesamt 20 Regionen ist sie die erste Partei. Sie erhielt über 30% der Stimmen in Piemont, in der Lombardei, im Veneto, in Kampanien, Apulien, Sizilien und Sar- dinien, während sie in den traditionell linken Regionen weniger als 25% erreichte.

Wer sind die derzeitigen Gewählten? Im Parlament war Forza Italia immer das Sprachrohr einer Führungsschicht, die für die Wirtschaftsberufe repräsentativ ist. Die in der XIV. Legis- latur (2001-2006) gewählten Abgeordneten und Senatoren von F.I. sind in 80% der Fälle Un- ternehmer, Firmenleiter, Kaufleute und Anwälte. Drei Viertel von ihnen haben vor allem in juristischen und wirtschaftswissenschaftlichen Fächern einen Hochschulabschluss, es gibt aber auch 22,5% mit einem Studienabschluss in naturwissenschaftlichen Disziplinen. Der allen italienischen Parteien gemeinsame Schwachpunkt ist die Ungleichheit von Mann und Frau (91,6% der Parlamentarier sind Männer).

Ein bedeutsames Faktum stellt die hohe Anzahl von Neulingen dar. 57% der 2001 auf den Listen von F.I. gewählten Abgeordneten und 62,5% der Senatoren haben das erste Mandat inne, und zwar deshalb, weil jungen Leuten aus dem Parteiapparat und den Repräsentanten der Gebietskörperschaften bei der Kandidatenaufstellung viel Platz eingeräumt worden ist.25

Dies war eine wahre "Revolution" gegenüber den von den italienischen Parteien jahrzehnte- lang verfolgten Modellen, die auf äußerst langen Lehrzeiten im Parteiapparat, in den Gebiets- körperschaften oder in öffentlichen Einrichtungen beruhten. Der Sitz im Parlament stellte die Krönung einer Karriere dar, weswegen ihn derjenige, der ihn errungen hatte, nicht mehr her- geben wollte.

Es muss daran erinnert werden, dass die Parlamentskandidaten gemäß dem Statut von F.I. von den regionalen Koordinatoren ausgewählt werden, die ihrerseits ein überaus enges Vertrau- ensverhältnis zum Parteivorsitzenden haben. Es war also eine "Revolution", die aber von oben abgebremst wurde.

24 Diamanti, Ilvo: Forza Italia: il mercato elettorale dell' imprenditore politico, in: Paul Ginsborg (a cura di), Stato dell'Italia, Milano 1994, S.665-667. 25 Poli, E.: Forza Italia (FN 15), S.204ff. 52

7. Die Zukunft von Forza Italia

Der zweite Nationalkongress von Forza Italia hätte gemäß den Bestimmungen des Parteista- tuts spätestens im April 2001 stattfinden müssen. Das Datum wurde zunächst auf 2002, dann auf März 2003 verschoben. Im Vorgriff auf diese Veranstaltung erfolgte im Laufe des Som- mers bzw. Herbsts 2002 eine unterschwellige Auseinandersetzung zwischen der Gruppe des Senators Marcello Dell'Utri (Schöpfer der Firmen-Partei) und derjenigen des Abgeordneten Claudio Scajola (Schöpfer der Partei der eingeschriebenen Mitglieder).

Worin bestehen die politischen Ziele des einen und des anderen? Dies bleibt ein Geheimnis, es gibt keine öffentliche Debatte. Vielleicht will Dell'Utri nach amerikanischem Muster eine durch die politisch-kulturellen Clubs stärker gesellschaftlich verankerte Bewegung mit weni- ger Bürokratie. Scajola dagegen ist stumm wie ein Fisch, seitdem er von seinem Amt als In- nenminister zurückgetreten ist. Er soll bei Forza Italia die Kennzeichen einer traditionellen Mitgliederpartei zu verstärken suchen. Zwischen diesen beiden Streithähnen steht Senator Roberto Antonione, der nationale Koordinator von Forza Italia, der einige der wichtigsten regionalen Parteisekretariate (Lombardei, Piemont usw.) zur Besänftigung des Zwists unter "kommissarische Verwaltung" gestellt hat. Und Konflikte auf lokaler Ebene gibt es in Hülle und Fülle. Im Parlamentssaal von Rom gingen zwei Abgeordnete, Exponenten der beiden feindlichen "Blöcke" in der Region Marken, mit Fäusten aufeinander los, es sind sogar ein paar Blutstropfen geflossen. 26 Derartiges war im Montecitorio noch nie zwischen zwei heraus- ragenden Vertretern der gleichen Partei vorgefallen. Das Ereignis wäre an und für sich be- deutungslos, wenn es nicht für eine anomale Situation aufschlussreich wäre. In allen Parteien gibt es Rivalitäten und Konflikte, die äußerst hart und persönlich sein können; am Schluss werden sie jedoch innerhalb der Organisation beigelegt, indem repräsentative Dienststellen vermittelnd eingreifen. Bei Forza Italia wird dagegen jede beliebige Art interner politischer Mediation vom Vorsitzenden selbst oder aber von Personen wahrgenommen, die er ad hoc damit beauftragt.

Darin besteht die Kraft und die Kompaktheit der Partei, aber auch ihre Schwäche. Wenn die Dinge sich nicht ändern werden, wird Forza Italia nur in Abhängigkeit von ihrem charismati- schen Führer existieren. Ohne ihn ist sie nach kurzer Zeit zu einer Implosion mit destabilisie- renden Konsequenzen für die italienische Politik verurteilt. Aus diesen Gründen unterstrich Fabrizio Cicchitto, der stellvertretende Fraktionsvorsitzende von Forza Italia in der Abgeord- netenkammer:

"Dies ist unsere dritte Phase nach der Gründung im Jahre 1994 und dem Sieg von 2001: Wir müssen eine Partei schaffen, die dreißig Jahre überdauern kann: Heute steht der charismati- sche Führer nicht zur Diskussion, es ist jedoch nötig, soziale Bündnisse zu schließen und auf dem Staatsgebiet eine stabile Struktur zu schaffen, auch deshalb, weil die Wählerstimmen nicht auf der Bank liegen; jene dreißig Prozent können wegschmelzen, wie sie gekommen sind."27

Es ist allerdings klar, dass die dritte Phase von Forza Italia erst beginnen wird, wenn Berlus- coni entscheidet, der Augenblick sei gekommen, sich mit einer neuen Partei-Verfassung zu beschäftigen. Bis jetzt hatte er andere Dinge im Sinn: die Außenpolitik, das Haushaltsgesetz und die Reform der föderalen Autonomien. Seit kurzem beschäftigt er sich auch mit einer radikalen Verfassungsreform, um die italienische parlamentarische Republik in eine Präsidial-

26 La Stampa, 9.11.2002. 27 Zit. nach Padovani, Gigi: Con il Cavaliere ma pronti a camminare da soli, in: La Stampa, 30.8.2002. 53 republik nach französischem Vorbild umzuformen. Wenn er dieses Projekt voranbringt, so ist klar, dass Forza Italia als disziplinierte Partei des Präsidenten weiterexistieren wird, demnach also in ihrer aktuellen Form – und Italien wird immer weniger einer liberalen und immer mehr einer elektoralen Demokratie gleichen. Während Erstere einer gewissen Anzahl von Kriterien genügen muss – wie Unabhängigkeit der richterlichen Gewalt, Effizienz der Kontrollbehör- den, freie Massenmedien, Rechtsstaat, in dem alle gleich behandelt werden –, braucht Letzte- re sich nur auf die Abhaltung regelmäßiger und freier Wahlen beschränken. 28

8. Der Interessenkonflikt

Silvio Berlusconis Eintritt sui generis in die italienische Politik mittels einer ad hoc geschaf- fenen Partei und mit Unterstützung seiner vertrautesten Mitarbeiter – so, als sei die Partei eine wichtige Beteiligungsgesellschaft seiner Firma – hatte unabsehbare juristische Folgen. Die Gesetzesvorlage über den Interessenkonflikt zwischen öffentlichen Ämtern und den Vermö- gens- bzw. Berufsrollen der Politiker liegt jedoch seit März 2002 in einem vergessenen Win- kel des Parlaments. Der Berichterstatter der Gesetzesvorlage, der Abgeordnete Franco Fratti- ni, ist in der Zwischenzeit Außenminister geworden, und vermutlich hat auch er aufgehört, sich damit zu beschäftigen. Niemand mehr (weder die Presse noch die Opposition) scheint sich großartig darüber aufzuregen. Aus entgegengesetzten Motiven meinen die Rechte und die Linke, überhaupt kein Gesetz zu haben sei besser, als ein Gesetz zu haben. Die Justiz wendet jedoch die geltenden Gesetze an: Am Nachmittag des 26. November 2002 präsentierten sich die Richter des Gerichthofs von Palermo im Palazzo Chigi, um den Ministerpräsidenten zu verhören, und zwar in seiner Eigenschaft als Zeuge im Prozess gegen Senator Marcello Dell'Utri (Forza Italia) wegen Unterstützung einer mafiosen Vereinigung von außen. Silvio Berlusconi machte sich folgendermaßen gegenüber seinen Rechtsanwälten Luft: "Dies ist ein Klima der Belagerung, das man nun schon acht Jahre um meine Person und um meine Mitar- beiter herum spürt."29

Ansonsten ist ihm noch Schlimmeres widerfahren. Während er im Jahre 1994 in Neapel den Vorsitz der UNO-Konferenz gegen das organisierte Verbrechen führte, präsentierten sich die Carabinieri, um ihm eine gerichtliche Vorladung zu unterbreiten (wegen der Beschuldigung – von der er später freigesprochen wurde –, die Guardia di Finanza [Finanzpolizei] bestochen zu haben). Dieses Mal wurde die Beschuldigung gegen den Cavaliere (Unterstützung einer mafiosen Vereinigung von außen) schon in der Phase der Vorermittlungen zu den Akten ge- legt. Es blieb die Auflage, bezüglich einiger 26 Jahre zurückliegender Finanzbewegungen seiner Firmen als Zeuge auszusagen. Die Richter und der Staatsanwalt kamen im Flugzeug aus Palermo angereist und improvisierten in der Sala verde des Palazzo Chigi im dritten Stock einen Gerichtssaal. Berlusconi berief sich auf sein Recht, die Aussage zu verweigern mit der Begründung, er sei von jenen Richtern bereits als Beschuldigter, der jedoch nachgewiesener- maßen mit diesen Angelegenheiten nichts zu tun hatte, verhört worden.

Die Reise der Justizbeamten von Palermo nach Rom war unnötig gewesen und hatte auch komische Kehrseiten. Darf aber ein Regierungschef das Recht zur Aussageverweigerung wie ein sonstiger beliebiger Bürger in Anspruch nehmen? Und wie lange Zeit noch kann ein so großes Land wie Italien eine solch anomale Situation ertragen?

28 Vgl. Vortrag von Paul Ginsborg auf dem Kongress "Le destre in Italia dal regime fascista al governo Ber- lusconi" [Die rechten Kräfte in Italien vom faschistischen Regime bis Berlusconi], Universität Florenz, 18.- 19.12.2002. 29 Corriere della Sera, 27.11.2002. 54

9. Palazzo Grazioli

Zwischen dem Sitz des Nationalbüros von Forza Italia, einem schlichten Gebäude in der Via dell'Umiltà, und Silvio Berlusconis prachtvoller römischer Privatresidenz liegen nur wenige hundert Meter. Vor einigen Jahren erwarb der Cavaliere den Palazzo Grazioli in der Via del Plebiscito neben dem Palazzo Venezia, von wo aus Italien bis 1943 regiert hat, ließ ihn restaurieren und neu einrichten. Selbst habe ich noch keinen Fuß in den Palazzo Grazioli gesetzt, stelle ihn mir aber ähnlich wie einen jener Wohnsitze im Eigentum französi- scher Bourgeois vor, welche die Pariser Paläste der gestürzten Adeligen aufgekauft hatten, um sie luxuriös im Empire-Stil auszustatten.

Berlusconi nutzt die Salons seines römischen Domizils als Repräsentationsstätte, wo er häufig die Chefs der Parteien der Casa delle Libertà trifft – einschließlich Umberto Bossi, den Leader mit den ruppigen und proletarischen Verhaltensweisen der Lega Nord. Bisweilen werden dort auch ausländische Gäste in einem inoffiziellen Rahmen empfangen, der sich vom Ambiente des Palazzo Chigi, des Sitzes der italienischen Regierung, deutlich unterscheidet.

Im Verlauf langer Spitzengespräche, nur durch vom privaten Küchenchef zubereitete üppige Mittag- oder Abendessen unterbrochen, werden im Palazzo Grazioli die Probleme des Föde- ralismus, des Haushaltsgesetzes, des Einwanderungsgesetzes oder des Interessenkonflikts besprochen und entschieden. Der Koordinator von Ulivo, , hat ein die RAI betreffendes Spitzentreffen der Regierungsmehrheit Ende November 2002 folgendermaßen gekennzeichnet: "Eine unwürdige Diskussion in der Privatwohnung des Ministerpräsiden- ten". 30

Wenn zwischen zwei Spitzengesprächen bzw. zwei Treffen mit Regierungsvertretern Zeit bleibt, bestellt Berlusconi die nationalen Leiter und die Regionalkoordinatoren von Forza Ita- lia, seine gehorsamen Präfekten, in seinen prächtigen Palast. So geschehen am 19. November 2002, als der Cavaliere die sechs Personen, die das Beratungsgremium der F.I. bilden, zum Mittagessen einlud und dabei entschied, dass der zweite Nationalkongress (nun schon zum dritten Mal) verschoben wird, und zwar auf das Jahr 2004 – mit drei Jahren Rückstand gegen- über dem im Parteistatut von 1998 (Artikel 15) vorgesehenen Termin. Begründung: In Italien 2003 werden im Frühjahr Teilwahlen mit 10 Millionen Wählern für die Gebietskörperschaften stattfinden. Es ist besser, sich dem Wahlvolk geschlossen zu präsentieren, als sich in politi- schen Diskussionen und persönlichen Rivalitäten zu zerstreiten. 31

An dieser Stelle ist es legitim, die Frage zu stellen: Welches Schicksal erwartet das schlichte Gebäude in der Via dell'Umiltà, wenn der Eigentümer des Palazzo Grazioli nicht mehr das Gehirn und das Herz der italienischen Politik sein wird? Wird es in sich zusammenfallen oder ganz einfach seine Pforten schließen?

30 Meldung der Presseagentur ASCA, 26.11. 2002. 55

Der Mittelstand an der Macht

Paolo Possenti del Possente

Seit dem 13. Mai 2001, dem Datum, an dem Berlusconi und seine Koalition, die unter dem Namen "Haus der Freiheiten" angetreten waren, den Wahlsieg errungen hatten, sind mittler- weile fast zwei Jahre vergangen. Es zeigt sich nun auch nach den Anfang 2002 abgehaltenen Regional- und Gemeindewahlen, dass die Neuverteilung der politischen Gewichte in Italien im Wesentlichen eine Bestätigung erfahren hat, und dies trotz des erbitterten Widerstands der Linksparteien und vor allem der Gewerkschaften, die zum ersten Mal seit zwanzig Jahren zum Mittel des Generalstreiks gegriffen haben.

Allerdings stellen diese Regional- und Gemeindewahlen nur einen begrenzten Aufriss der italienischen politischen Lage dar, aber da sie ziemlich gleichmäßig verteilt über das gesamte Staatsgebiet stattgefunden haben, haben sie auch deutlich gemacht, dass die Linke in ihren traditionellen Hochburgen wie Genua, Ancona und allgemein Mittelitalien standhält, während das "Haus der Freiheiten" seinen Wählerstamm tendenziell im Norden des Landes und in den Regionen Latium und Abruzzen ausbaut, die dabei sind, ein Lehen von "Alleanza Nazionale" zu werden.

Im Süden und in Sizilien ist es hingegen der bekannte "Regierungsbonus", der dem Mitte- Rechts-Bündnis zusätzliche Stimmen verschafft.

Dieses Sich-Verfestigen in der politischen Lagerbildung zeigt, dass jenseits der verschiedenen Parteien und Gruppierungen, die die beiden Zusammenschlüsse Mitte-Links/Ölbaum und Mitte-Rechts bilden, wobei sich das teilweise auch aus dem Mehrheitswahlsystem erklärt, in Italien eine sozio-politische und kulturelle Lage gegeben ist, die eine tiefergehende Analyse erfordert, wenn man genau verstehen will, was am Anfang dieses Jahrhunderts in Italien vor sich geht.

Tatsache ist, dass die Parteien der laizistischen Linken, also die Neokommunisten (rifondazi- one) und die Linksdemokraten (die früheren Kommunisten) trotz ihres Bündnisses mit den Linkskatholiken, die sich teilweise in der Formation der "Margherita" und in der UDEUR von Mastella zusammengeschlossen haben, mit ihrem noch so hartnäckigen Widerstand auf allen wirtschaftlichen und sozialen Feldern anscheinend die Macht einer Mehrheit nicht einmal ankratzen können, die ihren zentralen Dreh- und Angelpunkt nicht mehr in Parteien katholi- scher Ausrichtung hat, sondern eine gewichtige Unterstützung von denjenigen berufsständi- schen Organisationen erhält, die in Italien die Selbstständigen und das kleine und mittlere Unternehmertum vertreten. Den Daten des statistischen Instituts CENSIS zufolge waren in Italien schon im Jahr 2000 die abhängig Beschäftigten seit längerem in die Minderheit gera- ten: nur noch 10 Millionen von 20,6 Millionen der amtlich festgestellten beruflich aktiven Bevölkerung. Wenn man diesen Zahlen noch die vermutlich 4 Millionen Schwarzarbeiter hinzufügt, die großenteils handwerklich oder freiberuflich tätig sind, wird der Anteil der ab- hängig Beschäftigten noch einmal niedriger. So nimmt man an, dass etwa 40% der Berufstäti- gen bei kleinen und großen Betrieben abhängig beschäftigt sind, während 48,5% allgemein dem großen sozialen Einzugsbereich der individuellen oder selbstständigen Arbeit zuzurech- nen sind.

Die Freiberufler, die früher einen zahlenmäßig geringen Adel unter den Selbstständigen bil- deten, sind jetzt, mit 30% von deren Gesamtheit, eine Mehrheit in der Mehrheit geworden. 56

Weitere 25% sind individuell Berufstätige wie Handwerker und Händler, nur 4,2% sind Un- ternehmer im eigentlichen Sinne, 2,6% arbeiten in leitender Funktion, 16% als gleichgestellte Mitarbeiter (zum Beispiel in den handwerklichen Familienbetrieben) und 7,8% in unter- schiedlichen eigenständigen Funktionen der Schattenwirtschaft. Außerdem gibt es verschie- dene andere Formen selbstständiger Tätigkeit entsprechend den örtlichen Besonderheiten.

Wer Italien nur von früher kennt, muss jetzt nach diesen Zahlen dazulernen, dass der italieni- sche Mittelstand sich von einer erst im Aufstieg befindlichen Kategorie zum beherrschenden (Mittel-)Stand gewandelt hat und nach der Krise der Parteien der ersten Republik, und unter dem Druck eines linkslastigen Gerichtswesens, sich der eigenen Kraft bewusst geworden ist. Deshalb hat er sich eine neue politische Organisation geschaffen, an deren Spitze ein großer Unternehmer, eben Silvio Berlusconi, steht, der aus einer Familie von bescheidenen Hand- werkern stammt (sein Vater hatte als Maurer angefangen) und zu einer der herausragendsten Figuren des neuen italienischen Kapitalismus geworden ist. Da verwundert es nicht, dass er so große Unterstützung und Sympathie bei dieser weitgespannten sozialen Schicht genießt, weil er in seiner Person, aufs Äußerste getrieben, deren höchste Tugenden und auch einige Fehler verkörpert.

Auch die christdemokratische Partei von einst besaß anfänglich eine solche starke soziale Basis. In der bäuerlichen Welt des Landes (Italien war bis zum Zweiten Weltkrieg überwie- gend von der Landwirtschaft geprägt) war auch die Italienische Volkspartei (Partito Popolare Italiano) als Vorläuferin der DC im Wesentlichen, und vor allem im Süden, eine große Alli- anz zwischen Bauern, Priestern und Adligen gewesen. Im besser entwickelten Norden hatten die Bischöfe die Stelle der Adligen inne, aber die Bauern und kleinen Handwerker bildeten auch hier die Grundlage. Die große historische Ausnahme boten, bereits am Ende des 19. Jahrhunderts, die ehemals halbfeudalen Gebiete Mittelitaliens mit altertümlichen Staatsfor- men, also die Herzogtümer (Modena, Parma, der Toskana usw.) und die (kirchenstaatlichen) Legationen der Romagna, in denen Bischöfe wie einst im Mittelalter regiert hatten (die so genannten Kardinallegaten). Nach der italienischen Einigung wurden daraus sogleich Land- striche des Sozialismus, des Anarchismus und des Kommunismus, aber sie waren auch die Wiege des Gegenstücks dazu, des Faschismus und des Rechtsextremismus. In diesen Lan- desteilen gaben Bürgertum und Adel den Ton an, die neu-aufklärerisch und oft freimaurerisch eingestellt waren und damit eine echte Ausnahme im Leben der italienischen Mittelstädte bildeten, in denen man im Norden wie im Süden konservativ und traditionsverhaftet und zu- meist der katholischen Kirche verbunden geblieben war.

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg nutzte die italienische christdemokratische Partei voll und ganz die sozialen Strukturen der früheren Volkspartei, und noch Anfang der Achtzi- gerjahre kamen vom Bauernverband COLDIRETTI etwa zwei Drittel der Europa- Abgeordneten der DC.

Anders als bei der deutschen CDU-CSU hatte der Mittelstand in der italienischen Politik kei- ne oder fast keine Stimme, und der Autor dieser Zeilen, der zur Leitung des italienischen Handwerkerverbandes CONFARTIGIANATO und der europäischen Mittelstandsunion EMSU gehörte, versuchte mehr als zehn Jahre, Forlani und De Mita von der Notwendigkeit zu überzeugen, wenigstens den Handwerkern zu einer aktiven Rolle in der christdemokrati- schen Partei zu verhelfen. Leider vergeblich, denn der enge oligarchische Zirkel, der während der letzten 20 Lebensjahre der DC an der Regierung war, fand es vorteilhaft, Stimmen bei den aufsteigenden Klassen zu gewinnen und eine Politik zu verfolgen, die darauf hinauslief, sich kulturell immer mehr dem Neu-Aufklärertum des laizistischen Bürgertums zu öffnen, aber auch einen Ausgleich nur mit den organisierten Gewerkschaften zu suchen, denen schließlich 57 für lange Zeit die eigentliche soziale Ausrichtung des Landes überlassen blieb. Für Europa stellt dies das seltene Beispiel dar, wie lange man die Interessen der eigenen Wählerschaft an der Regierung bleiben kann!

Dass die DC dann so schnell abgestürzt ist, erklärt sich auch aus dieser langandauernden A- nomalie. Aber die Krise der DC kam nicht nur aus dem mangelnden Verständnis für die eige- ne soziale Basis. Als viel schwer wiegender ist ein politisch-kultureller Aspekt einzuschätzen: das Wachsen und Heranreifen einer anders gearteten politischen Ausrichtung, zuerst im engen Kreis, dann immer weiter um sich greifend, bis die Eigenart der Partei betroffen war und ein genetischer Wandel ihrer Orientierung herbeigeführt wurde.

Der Einfluss der marxistischen Kultur war im Nachkriegsitalien zunehmend gewachsen durch eine ausgemachte Strategie der kommunistischen Partei, mit der sie fast alle Massenmedien (Kino, Anfänge des Fernsehens, Theater, Verlagswesen, Universitäten, Massenblätter usw.) ihrer Kontrolle zu unterwerfen suchte, aber auch durch das Entstehen einer neuen und neu- aufklärerischen Kultur, welche sich mit der marxistischen Kultur immer mehr ergänzte, so- dass man Mitte der Siebzigerjahre von Italien sagen konnte, dass die herkömmliche liberale und volkstümliche Kultur nur noch von begrenzten Minderheiten getragen wurde.

Die katholische Kirche schien der Verbreitung dieser Kultur und den politisch-sozialen Mo- dellen, die aus ihr kamen, zunächst sehr gut zu widerstehen, aber seit dem Ende des II. Vati- kanischen Konzils wurde das um einiges anders. Besonders in Bologna (einer traditionell und gänzlich von den Kommunisten beherrschten Stadt) hatte sich unter dem Einfluss eines zum Mystizismus neigenden und theologisch hoch gebildeten Katholiken namens Giuseppe Dos- setti (der als Spätberufener zum Priestertum gekommen war) eine Kerngruppe gebildet, um die herum wiederum ein politisch-kultureller Kreis entstand, der große Bedeutung für das politische Leben Italiens gewinnen sollte. Dossetti versuchte nicht so sehr, den Kommunis- mus (der immer stärker zu einem Neu-Aufklärertum hinneigte) irgendwie unter Kontrolle zu bringen, sondern mit dieser kulturellen Vormacht einen Modus Vivendi zu finden. Auch ging es ihm um eine Sicht der Phänomene des politischen und sozialen Lebens, aus der dann we- nigstens ein Kompromiss mit einem so mächtigen politisch-ideologischen Apparat möglich werden und die Marginalisierung und schließlich Auslöschung sogar des religiösen Lebens der Katholiken verhindert werden könnte. Nicht zu vergessen, dass aus dieser Schule Persön- lichkeiten wie Fanfani und sogar Prodi hervorgegangen sind, neben all den unzähligen ande- ren, die innerhalb der Führungsstruktur der DC – zwar als Minderheit – einen kampfbereiten Stoßtrupp darstellten, der aber für lange Zeit tatsächlich und umfassend bestimmte, welche politischen Schritte die gesamte Partei tun sollte.

Als ideologisch-politische Voraussetzung ging man bei der dann so genannten Bewegung der "Dossettianer" von der These aus (die damals übrigens nicht rein hypothetisch war!), dass der Kommunismus früher oder später auf der ganzen Erde den Sieg über die Welt des Kapitalis- mus und Liberalismus davontragen würde und dass man sich deshalb auf dieses große ge- schichtliche Ereignis vorbereiten müsste, und das nicht nur auf politischer, wirtschaftlicher und sozialer Ebene, sondern auch auf ideologischer und religiöser, um einem spirituellen Christentum und einer katholischen Kirche das Überleben zu ermöglichen, die so sein würde wie – man halte sich fest! – die Kirche der vorkonstantinischen Zeit (also des III. Jahrhunderts n. Chr.).

Diese neue "Theologie der Befreiung" setzte sich in vielen Bereichen der katholischen Kirche schnell durch und beeinflusste sogar bestimmend das Handeln des Vize-päpstlichen "Staats- sekretärs" G.B. Montini, der später unter dem Namen Paul VI. Papst wurde. Aber noch mehr. 58

Dieser Wille zu einer Verständigung mit einer Linken unterschiedlichen Ursprungs und ver- schiedener Herkunft (Kommunisten, Sozialisten, Trotzkisten, Grüne, Links-Christdemokraten usw.) hatte sehr schwer wiegende Auswirkungen auf die sozio-ökonomischen Entwicklungs- pläne, die seit den 60er-Jahren von den italienischen Regierungen auf den Weg gebracht wur- den. Hier ist besonders an das Modell zur forcierten Industrialisierung Süditaliens vermittels umfangreicher staatlicher Investitionen zu denken, die ihren Höhepunkt erreichten mit dem Projekt der Errichtung von vier großen Stahlwerken (in Neapel, Tarent, Gioia Tauro, Bari, zwei davon realisiert) und von Großanlagen zur Erzeugung chemischer Ausgangsstoffe wie jener in Crotone (Kalabrien). Sie waren alle schon fertig oder wurden halb fertig liegen gelas- sen, als schließlich klar wurde, dass die kommunistische Theorie einer forcierten Industriali- sierung solcher Art in den sowjetisch geführten Ländern bereits gescheitert war.

Jedoch darf man etwas anderes nicht vergessen, was durch diese Großprojekte der vereinigten Linken angerichtet wurde: Die schreckliche Verwüstung von Landschaft und Umwelt an Ge- staden, die zu den vielleicht schönsten der gesamten italienischen und mediterranen Küsten- welt zählen. Die Falschheit und ideologische Doppelzüngigkeit der Linken und der Grünen könnte im Westen nicht besser zum Vorschein kommen (wo sie in den kommunistischen Ländern ja hinlänglich sichtbar ist) als mit solchen Umweltfreveln, von denen als größtes Bei- spiel der Ruchlosigkeit das Stahlzentrum von Gioia Tauro in Kalabrienzu nennen ist. In dieser wunderschönen Ebene, wo tausend Jahre alte Olivenhaine standen und Pflanzenkulturen wuchsen, deren Duftstoffe zu den kostbarsten ganz Italiens gehörten, wurde nicht nur ein Ha- fen zur Entladung von Eisenerz und Kohle mit einer Länge von 7 km und einer Breite von 3 km geplant, sondern beim Bau dieses Hafens wurden Millionen Kubikmeter angeschwemmter Erde ins Meer geschüttet, um Platz zu schaffen für die enormen Docks, wie sie die kommu- nistischen Architekten gewollt hatten.

Und ich muss es gar nicht sagen: Viele dieser Weltweisen wurden in der Folge die Schul- häupter der Umweltpolitik und strömten herbei, um die italienischen Grünen zu gründen.

Diese großen Unternehmungen, die allesamt Schiffbruch erlitten, wurden "Kathedralen in der Wüste" genannt, und sie haben entscheidend zur Ausbildung jener enormen öffentlichen Ver- schuldung Italiens beigetragen, die bis heute eines der schwersten Probleme für die Wirtschaft unseres Landes geblieben ist. Es waren weiterhin gerade diese großen unkontrollierten Ver- schwendungen, mit denen nicht nur die DC, sondern auch die Kommunisten und die Sozia- listen ihre eigene politische, wirtschaftliche und soziale Macht zu festigen suchten, indem die katholischen Bauern, die ihre Stimme der DC gaben, zu Massen von Enterbten umgewandelt wurden, die jetzt für Links stimmten und sonst oft nur hätten auswandern oder sich der Mafia andienen können. All das trug auch entscheidend zum Anwachsen jener Korruption bei den Politikern bei, deren Folgen schließlich eine wichtige Rolle gespielt haben bei der Krise der ersten Republik und beim Einschreiten der Gerichtsbarkeit. Diese nahm jedoch seltsamerwei- se alle Parteien außer den Kommunisten und Postkommunisten aufs Korn, wo diese doch die großen Befürworter solcher unglücklicher "Reformen" gewesen waren. Aber das soll im Fol- genden geklärt werden.

Unnütz zu sagen, dass der italienische Mittelstand, der den größten Teil der Ausgaben für diese enormen Investitionen in den Süden tragen musste, eine allgemeine und tiefverwurzelte Abneigung gegen alle Regierungen in Rom entwickelte.

Vor allem im Norden des Landes kam diese Abneigung gegen alle Parteien zunächst der Lega Nord von Bossi und anderen kleineren Parteien zugute. Bei diesem Umfeld war es im Augen- blick der Krise aller italienischen Parteien zwischen 1992 und 1993 für Berlusconi relativ 59 leicht, die Stimmen, die vorher die DC und auch der am meisten gemäßigte Flügel des PSI erhalten hatten, auf eine neue politische Kraft zu sammeln, deren Organisation sich zum guten Teil auf die berufsständischen Verbände, zum Teil auf seine eigenen Unternehmensstrukturen und darüber hinaus auf einzelne Vertreter der Parteien der Mitte stützte, die fürchteten, von der kommunistischen Partei mit fortgerissen zu werden. Der rasche Erfolg von Forza Italia im Jahr 1994 ist nur erklärlich aus dem ausgesprochenen Willen des italienischen Mittelstandes, speziell des Unternehmertums, nicht nur ein größeres Gewicht im Leben der Nation zu erhal- ten, sondern diesem die Richtung vorzugeben. Diese bewusste Absicht ist für jemanden, der im aktiven Leben stand und die berufsständischen Verbände kennt, klar zu sehen.

Aber weder damals noch heute sehen das so – nicht in Italien und nicht in anderen europäi- schen Ländern – jene Schicht von Intellektuellen und auch Professoren, die gewohnt sind, nur in vorgegebenen ideologischen Schemata zu denken. Besonders die Linkskultur will anschei- nend auch heute noch nicht zur Kenntnis nehmen, dass in Italien tief greifende soziale und folglich politische Veränderungen eingetreten sind. Es liegt diesen großen Umgestaltungen eine drastische Verringerung des Bauernstandes einerseits und der Zahl der abhängig be- schäftigten Arbeiter auf der anderen Seite zu Grunde. Das Paradoxe an dieser Einstellung ist umso überraschender – und wir meinen das im negativen Sinne–, als die große Mehrzahl der produktiven Mittelständler gerade aus den Reihen der am meisten entwickelten Bauern (vor allem der Halbpächter, die ja schon gewissermaßen kleine Unternehmer gewesen waren) und der aktivsten und am besten ausgebildeten Arbeiter kommt. Hervorzuheben ist, dass diese Elite der Arbeitswelt in Italien sicher eine naturgegebene Fähigkeit besitzt (die es in vielen Ländern mit Arbeitern und Bauern nicht gibt), aus sich Unternehmer zu machen, ohne vorher durch Schulsysteme oder Berufsbildungssysteme dazu erzogen worden zu sein. Darin liegt die ganze Erklärung für das eigentliche italienische Wunder. Und heute beobachten wir, wie diese kleinen und kleinsten Unternehmer sich mit ihren kleinen Unternehmen wie ein Ölfleck aus- breiten in Osteuropa und vor allem auf dem Balkan, auch ohne Hilfe vom italienischen Staat und mit nur begrenztem Engagement der zur Finanzierung von Entwicklung gegründeten In- stitute. Dieser Prozess hat sich auch im letzten Jahr kräftig entwickelt, wo es doch eine gewis- se Krise zu Lasten einiger italienischer Großindustrien und allgemein der globalen Wirtschaft der westlichen Welt gegeben hat.

Die Wachstumshoffnungen für Italien hängen ganz an diesem mächtigen Schwungrad der Produktivität der kleinen und mittleren Unternehmen, die sich in voller Freiheit eine neue politische Führungsschicht ihres Vertrauens gesucht haben. Sicher werden es nicht die Gene- ralstreiks der Gewerkschaften und der CGIL (mit zweieinhalb Millionen Arbeitern und zwei- einhalb Millionen Rentnern als Mitgliedern!) sein, die die politisch-soziale Lage Italiens ver- ändern. Auch die bekannte Reform des Art. 18 des Arbeitnehmerstatuts, mit der die Schat- tenwirtschaft vor allem im Süden ans Licht geführt werden soll, rechtfertigt nicht wirklich eine derart aggressive Opposition der Linken. Diese Reform würde auch nur wenige tausend Menschen betreffen. Jedenfalls bleibt festzustellen, dass die übergroße Mehrheit des italieni- schen Mittelstandes die Stunde für gekommen hält, die Arbeitswelt vor allem in der öffentli- chen Verwaltung zu liberalisieren, in der eine breite Schicht der Bürokratie eine Produktivität an den Tag legt, die zu den niedrigsten in Europa gehört. Diese Reform hat Berlusconi trotz des Widerstands der Gewerkschaften vorangebracht.

Tatsächlich hat die Regierung schließlich eine Einigung mit den demokratischen Gewerk- schaften der CISL und der UIL erreicht, während die ehemals kommunistische Gewerkschaft der CGIL, die in Italien organisatorisch und wirtschaftlich die größte Stütze der Linken ist, sich jedem Dialog mit der Regierung verweigert hat und faktisch eine politische Linie ver- folgt, die eher einer politischen Partei im Wortsinne zukommt als einer Arbeitnehmergewerk- 60 schaft. Die CGIL schöpft ihre Macht nämlich aus Beiträgen, die automatisch von den Lohn- zahlungen an die Arbeitnehmer abgezogen werden, weil es ein Gesetz gibt, das diese Abzüge vorschreibt, und noch schlimmer, auch aus Beiträgen, die der Staat automatisch bezahlt, weil er sie von den Rentenzahlungen abzieht. Dieser Mechanismus ist schwer zu kontrollieren, und er erlaubt schwer wiegend ungerechtfertigte Pressionen auf die Arbeitnehmer und früheren Arbeitnehmer nach ihrer Verrentung.

Die CGIL, die etwa 45% der gewerkschaftlich organisierten abhängig Beschäftigten vertritt, nimmt aus diesen Quellen und anderen Zusatzeinkünften (z.B. der sozialen Interessenvertre- tung) mindestens 600 Millionen Euro im Jahr ein. Man schätzt, dass das Immobilienvermögen dieser Gewerkschaft etwa 70 Millionen Euro ausmacht. Hinzu kommen die zahlreichen Funktionäre, die direkt von den Arbeitgebern bezahlt werden müssen.

Die immer politischere Richtung, die Cofferati, der Chef der CGIL, eingeschlagen hat, be- wirkt, dass man es immer mehr mit einer wirklichen Partei zu tun hat, die das politische Feld der Linken abdeckt, wo die Parteistrukturen sich immer mehr zersplittern und eine völlige Führungskrise herrscht. Cofferatis große Schlacht um den Art. 18 und um die Möglichkeit, in klar umschriebenen Fällen Entlassungen auszusprechen, war in Wirklichkeit nur ein gewalti- ger Vorwand, denn die Absicht der Regierung und der beiden demokratischen Gewerkschaf- ten, die den Pakt zur Entwicklung Italiens zusammen mit der berufsständischen Organisation des Mittelstandes unterschrieben haben, war im Wesentlichen das Auftauchen aus der Schwarzarbeit, die im Süden Spitzenwerte von 40% der gesamten Wertschöpfung erreicht. Es war dies sicherlich die mutigste Tat der Regierung Berlusconi, mit der der Notwendigkeit Rechnung getragen werden sollte, im gesamten Süden Italiens zu mehr regulären Neueinstel- lungen zu kommen und daraus auch wichtige steuerliche Vorteile zu gewinnen.

Der italienische Mittelstand hat im Übrigen alle bisher von der Regierung beschlossenen Maßnahmen mit Beifall aufgenommen, von der Abschaffung der Erbschafts- und Schen- kungssteuer (die dem Fiskus nur sehr geringe Einnahmen gebracht hatte) bis zur Reform be- züglich kleinerer Irrtümer in der Bilanzerstellung, die in Italien in vielen Fällen bestrafende und erpresserische Auswirkungen gegen den Unternehmer zur Folge hatten, der sich der Willkür der Verwaltung und der Gerichtsbarkeit ausgesetzt sah.

Was die Reform zur Regelung der "Interessenkollision" angeht, hat der Mittelstand in seiner Gesamtheit die Alarmrufe der Linken in keiner Weise nachvollziehen können, auch weil diese als Alternative im Wesentlichen Kriterien zur Enteignung der Güter einer Unternehmerper- sönlichkeit vorgeschlagen hatten. Ähnliches hatte in Italien schon einmal zu einer wirklichen Beschlagnahmung geführt, als dieses Prinzip auf das Eigentum an Grund und Boden ange- wandt wurde.

Andere Reformen der Regierung Berlusconi, auch sie unter schwerer andauernder Behinde- rung durch die Linke, betrafen das Einwanderungsgesetz und das Justizwesen. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Italien ausländische Arbeitskräfte benötigt, aber was der durch- schnittliche Italiener daran problematisch findet, ist: Welche ausländischen Arbeitskräfte? Dem Durchschnittsitaliener scheint es nahe liegend, dass man sich doch Einwanderer aussu- chen darf, die kulturell nahe stehend sind, wie es zum Beispiel bei der großzügigen Einwan- derung von christlichen und katholischen Filipinos der Fall war. Es gibt aber auch keinen Zweifel daran, dass die große Mehrheit der Italiener gegen die Vorstellung einer Vielvölker- gesellschaft ist, wenn es dabei keine Integrationsmöglichkeit gibt (wie es zum Beispiel sys- temimmanent bei muslimischen Gruppen vorkommt). 61

In einigen Teilen der Welt, wichtigster davon ist Argentinien, gibt es überdies Siedlungsge- biete, aus denen Zehntausende von Abkömmlingen italienischer Auswanderer gerne nach Italien zurückkommen möchten (die Region Venetien hat eigens ein Gesetz erlassen, um die- se Rückkehr zu erleichtern). Das ist unseres Erachtens ein sehr positives Beispiel dafür, wie man Italiener wieder nach Italien bringt.

Und bei der Justizreform geht es um die Behebung eines ausgesprochenen Notstandes. Die Zivilgerichtsbarkeit ist praktisch gelähmt, und bis zu einem Urteil dauert es durchschnittlich zehn Jahre. Die Strafgerichtsbarkeit, so tüchtig sie ist in der Durchführung Aufsehen erregen- der Prozesse, lässt in Wirklichkeit die Kleinkriminalität unbestraft, und der größte Teil der Diebstahlsdelikte, der Betrügereien, des gewaltsamen Entwendens von Handtaschen und so- gar der Fälle von Raub wird nicht einmal angezeigt, weil die übergroße Mehrzahl dieser De- likte ohnehin nicht aufgeklärt wird. Sogar die überwiegende Zahl der Delikte gegen Leib und Leben (und damit meine ich nicht die Mafiaverbrechen) bleibt ungesühnt.

Die Vorschläge einer maßvollen Reorganisation der Gerichtsbarkeit hin zu moderneren und wirksameren Formen treffen auf die systematische Opposition der Linken, aus Gründen, die häufig wenig klar sind (einige aber sagen, nur zu klar). Ein Teil der italienischen Richter- schaft (man schätzt um 20%) ist außerdem stark im Sinne der Linken oder geradezu der Neo- kommunisten politisiert: als Ergebnis einer politischen Periode, nämlich während des Kalten Krieges, in der Italien auch in den Fragen der Außenpolitik gespalten war.

Am Vorabend des Falls der Berliner Mauer, als der Führung der italienischen kommunisti- schen Partei die Krise der sowjetisch beherrschten Welt schon in ihrem ganzen dramatischen Ausmaß klar bewusst war, ergriff eine Welle der Panik die Leitung der Parteien der äußersten Linken, die außerdem unter Druck gerieten durch das Anwachsen und Erstarken der sozialis- tischen Partei Italiens unter Craxi, der sich als offensichtliches Ziel die drastische Zurückfüh- rung des politischen Gewichts der italienischen Kommunisten gesetzt hatte. In der allgemei- nen Verwirrung konnte der PCI auf die Hellsichtigkeit und kalte Berechnung eines Spitzen- politikers wie Violante zählen, eines ehemaligen Richters und hochbefähigten Juristen. Die Linke war in Italien ganz allgemein immer gegen Amnestieerlasse gewesen, jedoch 1989 zeigte sie sich als Hauptbetreiberin einer weit reichenden Amnestiemaßnahme, die besonders diejenigen Lokalpolitiker und Genossenschaftsverantwortlichen begünstigte, welche sich zahlreicher schwer wiegender Unregelmäßigkeiten schuldig gemacht hatten, hauptsächlich der illegalen Vereinnahmung von Spargeldern und des Einsatzes beträchtlicher aufgebrachter finanzieller Mittel auch für die politischen Aktivitäten des PCI. Eine Amnestie, die für die Linke maßgeschneidert war und im Jahr 1991 noch vervollständigt wurde, um einige Kreise der Partei abzusichern.

Der große Angriff der Gerichtsbarkeit beginnt nicht zufällig mit dem Anfang des Jahres 1992 und unter der fähigen Anleitung von Gerichtspersonen, die alle stramm links oder äußerst links waren. Es galt im Verlauf von zwei Jahren, das gesamte politische System der italieni- schen Parteien zu zerstören, wegen unerlaubter Handlungen in der Verwaltung oder im finan- ziellen Bereich auch die bedeutendsten Führungspersönlichkeiten wie Forlani und Craxi unter Anklage zu stellen, und für Andreotti die Eröffnung des Hauptverfahrens zu beantragen mit dem unglaublichen und fantastischen Tatvorwurf, er sei das wirkliche Haupt der siziliani- schen Mafia. Eine juristische und geschichtliche Absurdität, bar jeden Wirklichkeitssinnes für jeden, der gerade die Wesenszüge jener kriminellen Vereinigung kennt, die sich in geschlos- senen "Familien" organisiert, in die es keinerlei Eindringen von außen gibt. 62

Stattdessen wäre es sinnvoller gewesen, die höchsten Vertreter des PCI, die alle in politi- schem und wirtschaftlichem Einverständnis mit der sowjetisch beherrschten Welt und mit den Geheimdiensten jener Länder standen, im Moment der Krise dieser Partei vor die italieni- schen Gerichte zu stellen, damit sie sich dort wegen Hochverrats verantworteten, und es hätte damals Wagenladungen von Beweisen dafür in den Archiven der sowjetischen Einflusszone, in Moskau und in Ostberlin, in Prag und Sofia gegeben. In Wirklichkeit wurde damals ein "juristischer" Staatsstreich der Linken versucht, und in diesem Sinne haben sich viele Histori- ker und Politologen geäußert, zuvörderst Don Gianni Baget Bozzo, ehemals Freund Craxis und in jener Zeit dann zum bedeutendsten Ratgeber Berlusconis geworden.

Aber zur Überraschung ganz Europas tappte das italienische Volk im Jahr 1994 nicht in die von der Linken aufgestellte Falle und auch nicht in die noch viel raffiniertere, die ihm leni- nistische Minderheitsgruppen zugedacht hatten, die das ganze Funktionieren der Justiz in Ita- lien von innen her bedrohten, seit Palmiro Togliatti, Justizminister der Nachkriegszeit, seine große Säuberungsaktion in der italienischen Richterschaft durchgeführt hatte, die doch in ih- rer großen Überzahl sich noblen und erhabenen Empfindungen von Gerechtigkeit verpflichtet sah.

Die Regierung Berlusconi des Jahres 1994 blieb nur sieben Monate im Amt, sie wurde das Opfer des bekannten "Bühnencoups", bei dem unter jeder Art von Druck eine begrenzte, aber entscheidende Zahl von Abgeordneten sich von Mitte-Rechts abwandte und sich der Mitte- Links-Regierungen anschloss, die hauptsächlich durch Stützung seitens des damaligen Staats- präsidenten überleben konnten. Nachdem dessen Amtszeit zu Ende ge- gangen war, klärte sich die Lage in Italien rasch, und im Mai 2001 erneuerte die Koalition von Berlusconi ihren Wahlsieg. Die Regierung Berlusconi hat in wenigen Monaten eine Rei- he wichtiger Reformen verwirklicht, die allesamt von der Linken heftig bekämpft wurden, wobei die Art ihrer Opposition einzig darauf ausging, den Ministerpräsidenten zu diskreditie- ren.

Von einigen größeren Reformen haben wir schon gesprochen, aber andere kleinere Maßnah- men von besonderer Wichtigkeit dürfen nicht unterbewertet werden.

Ein bedeutendes Ergebnis ist erzielt worden mit der Erhöhung der Mindestrenten für die äl- testen und schlechtestgestellten unter den Empfängern, um den Preis schwerer Belastung des Haushalts bei dieser allgemeinen wirtschaftlich schwierigen Lage. Vor allem im Süden hat diese Maßnahme große Wirkung gehabt.

Auch wenn die wirtschaftliche Gesamtentwicklung unterhalb der Vorhersagen geblieben ist, kann gesagt werden, dass Italien von den europäischen Ländern dasjenige ist, das darunter noch am wenigsten gelitten hat. Für diesen Effekt musste vielleicht ein Anwachsen der Schattenwirtschaft in Kauf genommen werden, die leider einen beträchtlichen Teil der Wirt- schaft des Südens ausmacht. Aber auch darin zeigt sich, dass diese sich in einem nennens- werten Aufschwung befindet.

Gerade aus dem Süden kommen nun Anzeichen, die für Berlusconi eine gewiss positive Be- deutung haben. So ist vor allem die Arbeitslosigkeit in weiten Bereichen des Südens nen- nenswert zurückgegangen, wie es dies in Italien vorher noch nie gegeben hatte.

Jedoch warten nach fast zwei Jahren Regierung weiterhin enorme Probleme auf ihre Behand- lung, und alle werden sie noch schwieriger durch die weltweite Wirtschaftskrise, die in den Vereinigten Staaten begonnen hat, auch als Folge der schweren terroristischen Anschläge, die 63 dieses Land getroffen haben, und wegen starker Unregelmäßigkeiten bei der Führung der großen Holdings, die vor allem während der Präsidentschaft Clintons aufgetreten sind. Über 20 Jahre haben die italienischen Linken faktisch eine enorme Reihe von Infrastrukturprojek- ten blockiert, die es dem Land erlaubt hätten, auf der Höhe der wirtschaftlichen Entwicklung zu bleiben. Sie wurden dazu gebracht durch die Politik des "Nein zu allem" der italienischen Grünen, einer sehr kleinen, aber sehr einflussreichen Partei. Der Bau von Autobahnen ist fak- tisch eingestellt, die kritisierte Hochgeschwindigkeit bei den Eisenbahnen wird faktisch sabo- tiert, der Bau neuer wasserwirtschaftlicher Strukturen für den Süden steht nur auf dem Papier, ausgerechnet in denjenigen Gebieten, wo enorme Ressourcen verschwendet worden waren zur forcierten Industrialisierung des "Mezzogiorno".

Am Ende dieser Ausführungen möchten wir noch etwas hervorheben, was eine der größten Unsinnigkeiten der Politik der Linken für die großstädtischen Bereiche gewesen ist, die auch in Italien in den letzten 30 Jahren ungeheuer gewachsen sind. Da die Linksideologie festge- legt hatte, dass der Autoverkehr in den Städten auf das Maß zurückgeführt werden müsse, das in kommunistischen Ländern herrscht und da es nicht möglich war, die Zunahme der privaten Automobile zu vermeiden, griff man zu einem indirekten Druckmittel, nämlich dass man den Bau von Parkplätzen unterließ (auch von Parkgaragen in den Stadtzentren) und stattdessen den Bau von Straßenbahnen alten Stils begünstigte, wie in Rom geschehen bis hinein in den archäologischen Teil der Stadt. Um den Betrug vollständig zu machen, wurden diese alten Straßenbahnen "Metro light" genannt, wo doch alle italienischen Städte ein System zahlrei- cher und unterirdisch verlegter Schnellbahnen dringend nötig gehabt hätten.

So wurde es dramatisch schwierig, in den städtischen Zentren zu leben, und die Kommunal- verwaltungen, vor allem die von Kommunisten geführten, erhalten durch die fälligen Ver- kehrsstrafen einen wesentlichen Finanzbeitrag, mit dem sie ihr Bürokratenwesen munter weiterführen können! Während diese Zeilen abgefasst werden, ist noch heute in Florenz eine Schlacht im Gange zwischen Post-Kommunisten und Grünen und denen, die eine städtische U-Bahn wollen; die von ersteren begünstigten alten Straßenbahnen sollen bis fast zum Dom- platz geführt werden, und all dies wieder einmal aus ideologischer Verbohrtheit.

Gegen diese Geisteshaltung steht das Italien der großen Modernisierungen, wie es Berlusconi will. 64 65

Bipolarismus des Parteiensystems?

Mauro Grassi

1. Die Fragestellung

Die zentrale Frage lautet, ob Italiens Innenpolitik – nach Jahrzehnten des politischen Immo- bilismus – nunmehr dabei ist, ein bipolares System zu entwickeln, in dem zwei Koalitionen von Parteien bei Wahlen um die Regierungsmacht konkurrieren.

Um diese Frage zu beantworten, ist es zunächst notwendig, auf die Merkmale des politischen Systems nach dem Zweiten Weltkrieg einzugehen, um dann den schwierigen Übergang zum Bipolarismus als einzigen Ausweg aus der Systemkrise zu beschreiben.

Schon zu Beginn der Fünfzigerjahre hatte der konservative Verfassungsrechtler Maranini den Begriff der "partitocrazia" geprägt, um das Besondere und – seiner Meinung nach – auch ne- gative Merkmal der italienischen Demokratie der Nachkriegszeit zu charakterisieren. 1 Auf die Frage, wer in Italien regieren würde, antwortete der Politikwissenschaftler Pasquino 1985 schlichtweg: das Parteiensystem (il sistema dei partiti).

Mit anderen Worten: Noch in den Achtzigerjahren wurden die politischen Entscheidungen mehr durch die Beziehungen der Parteien untereinander als durch die jeweilige Regierung und das souveräne Parlament bestimmt.2

Die "partitocrazia"(oder "democrazia partitocratica"), die italienische Ausprägung des sog. Parteienstaats (stato dei partiti) der Nachkriegszeit, ist bis 1992 praktisch unangefochten be- stehen geblieben. Dieser Umstand beinhaltete auch die Tatsache, dass es in dieser "Repubbli- ca dei partiti" kein System der Bipolarität und damit der demokratischen Alternative geben konnte. Bis zu diesem Datum wurde das politische System Italiens im Inneren von einem scheinbar hohen Konfliktpotenzial zwischen den großen Parteien gekennzeichnet (DCI, PSI und PCI), während in Wirklichkeit ein gut ausgefeiltes System von Transaktionen und Übereinkünften (innerhalb des Parlaments, zwischen der Regierung und den Regionen sowie weitgehend auch auf lokaler Ebene) herrschte.

Diese Situation – die Pasquino als ein "okkultes Konkordanzsystem" (sistema consociativo occulto) bezeichnete – erlaubte es einerseits den Regierungsparteien, mit dem stillschweigen- den Konsens der Opposition zu regieren, und garantierte andererseits die Selbstreproduktion und die Übermacht einer spezifischen Führungsschicht, die im Schatten und im Auftrag der Parteien die öffentlichen Einrichtungen beherrschte (die sog. "Vollzeit-Politprofis").

Auf diese Weise hatte sich im Laufe der Jahrzehnte eine politische Schicht etabliert, welche die öffentlichen Ausgaben voll unter Kontrolle hatte, u.a. zum Zweck der (illegalen) Parteifi- nanzierung und teilweise auch zur privaten Bereicherung einzelner Politiker.

1 Vgl.Maranini, G.: Crisi del costituzionalismo e antinomie della costituzione, Florenz 1953. 2 Vgl. Pasquino, G. (Hrsg.): Il sistema politico italiano, Rom-Bari 1985. 66

In einem Staat, der im Wesentlichen von den großen Parteien beherrscht war und in dem es keine reale Alternative zwischen Mehrheit und Opposition gab, musste die Korruption zwangsläufig zur Regel – und nicht zur Ausnahme – werden. 3

Das politische Szenario wechselte gegen Ende der 80er-Jahre, als die Wähler begannen, den Parteien ihr Vertrauen zu verweigern: Ein Wähler von vier blieb den Europawahlen im Juni 1989 fern. Am 9. Juni 1991 wurde durch eine erste Volksabstimmung entschieden, die Zahl der sog. Vorzugsstimmen (voti di preferenza) zu begrenzen und damit den klientelorientierten Missbrauch bei den Wahlen vorzubeugen und die "partitocrazia" zurückzudrängen.

Eher durch einen Zufall kam es 1992 auf Grund der Nachforschungen der Mailänder Richter über das Korruptionsnetz von Tangentopoli (durch die Aktion "mani pulite") zu einer ernst- haften Krise des alten Parteiensystems.

Bei den Parlamentswahlen am 5. April 1992 fand ein politisches Erdbeben statt: Noch nie hatte es so viele Wahlenthaltungen (17,4%) gegeben; die DC sank von 34,3 auf 29,7% ab.

Der PSI von 14,3 auf 13,6%; der PCI stürzte von 26,6 auf 16,1%; die Lega stieg von 0,5 auf 8,6% und brachte das bisherige Machtgefüge (DC, PSI plus kleinere Parteien) durcheinander.

Am 23. Mai und 19. Juli 1992 wurden die sizilianischen Richter Falcone und Borsellino – samt Eskorte – von der Mafia umgebracht; im Mai wurde entgegen allen Erwartungen Oscar Luigi Scalfaro, eigentlich ein "Außenseiter", zum Staatspräsidenten Italiens ernannt.

Am 28. Juni 1992 wurde eine Vier-Parteien-Regierung unter Ministerpräsident Amato gebil- det, um einen Ausweg aus der durch Tangentopoli ausgelösten institutionellen Krise der Ers- ten Republik zu finden.

Im Zuge dieser komplexen Systemkrise (im September 1992 verließ Italien das EWS und die Lira wurde drastisch abgewertet) veränderte sich das Gefüge des traditionellen Parteiensys- tems: Der PSI löste sich auf, ebenso die DC, die als PPI (Partito popolare italiano) und als CCD (Christdemokratisches Zentrum) zum Teil neu gegründet wurde. Auch der PCI wurde als Pds (Demokratische Partei der Linken) neu gegründet, links von dem Pds spaltete sich die Rifondazione Comunista (Rc) ab, während aus dem alten MSI die Alleanza Nazionale (An) hervorging.

Mit dem Ende des alten Parteiensystems begann man über die Vorteile eines bipolaren Sys- tems nachzudenken, das einzig in der Lage wäre, eine Alternanz von unterschiedlichen Koa- litionen an der Regierung, die in regelmäßigen Abständen von den Wählern bestätigt oder abgewählt werden, zu garantieren.

1.1 Von der "partitocrazia" zum bipolaren System

In dem fast euphorischen Klima, das die Ermittlungen der Mailänder Richter in den Jahren 1992-93 begleitete, sprachen die politischen Kommentatoren allzu schnell von einem ver- meintlichen Übergang zu einer sog. "Zweiten Republik", ohne zu berücksichtigen, dass der Niedergang des traditionellen Parteiensystems nicht zwangsläufig eine Überwindung der "partitocrazia" und der damit zusammenhängenden Phänomene (wie Klientelismus, Korrupti-

3 Vgl. Cazzola, F.: Della corruzione. Fisiologia e patologia di un sistema politico, Bologna 1988. 67 on etc.) mit sich bringen musste. Im Zuge der Ermittlungen von "mani pulite" gegen Politiker des PSI und der DC schwand das Vertrauen der Bevölkerung in die Parteien und vor allem in deren politische Führungspersönlichkeiten dramatisch.

Der Richter Antonio Di Pietro, nahm – auf Grund seines volkstümlichen Auftretens und nicht zuletzt mit Hilfe der Medien – die Züge eines "Rächers" an, der die Mächtigen des Landes endlich zur Rechenschaft ziehen kann. In einigen Kreisen der bisherigen Machtelite entstand in dieser Zeit eine eigenartige Panikstimmung: Der ungewohnte Eifer der Justiz, die sich bis dahin kaum gerührt hatte, erweckte in vielen den falschen Eindruck, mitten in einer "fast re- volutionären Säuberungsphase" zu stecken. 4

Im Jahre 1993 erschütterte eine Reihe von gewaltigen Terroranschlägen in Florenz, Mailand und Rom das Land. Hinter diesen reinen Terrorakten, die sich auch gegen Zivilisten richten, lässt sich heute deutlich die Regie der sizilianischen "Cosa Nostra" erkennen, die nach der Verhaftung des "Bosses", Totò Riina, ihren "Angriff auf den Staat" starten wollte.5

In der konfusen Situation, die auf die Anschläge folgte, zeigte sich u.a. auch die allgemeine Ratlosigkeit der traditionellen Parteien gegenüber der Notwendigkeit, neue politische Wege einzuschlagen. Die Postkommunisten gaben sich der Illusion hin, in Folge von mani pulite die Regierung ohne allzu große Mühe übernehmen zu können. Eine veraltete Linke verstand nicht, dass die Bevölkerung nach "neuen Gesichtern" in der Politik fragte. Die öffentliche Meinung, der sog. "partito della gente", denkt aber nicht immer fortschrittlich. Auf dem Hin- tergrund der dramatischen Ereignisse dieser Jahre sehnten sich drei Viertel der Italiener nach dem "starken Mann". 6

Nur der Lega Nord gelang es zeitweise, diesem Drang nach Überwindung der traditionellen "partitocrazia" und der "ersten Republik" Rechnung zu tragen, indem sie bemerkenswerte Wahlerfolge zu Beginn der Neunzigerjahre in den norditalienischen Regionen Lombardei, Piemont und Venetien und auch ein erhebliches Gewicht im italienischen Parlament erzielte (bei den Wahlen im März 1994 erhielt sie 8,3% der Stimmen im nationalen Durchschnitt).

Die anderen Parteien zogen es vor, sich auf das plebiszitäre Element der Volksabstimmung zu verlassen, in dem Versuch, die deutliche Kluft zwischen "paese reale" und "paese legale" zu überbrücken. Im April 1993 fanden weitere Referenden statt, die u.a. eine Eindämmung der "partitocrazia" und eine Wahlrechtsänderung durch die Einführung des Mehrheitswahlrechts für die Wahl des Senats hatten.

Am 4. August 1993 verabschiedete das Parlament das neue Wahlgesetz, auf dessen Grundlage ein gemischtes Wahlrecht eingeführt wurde: 75% der Sitze zur Abgeordnetenkammer werden ab jetzt nach dem relativen Mehrheitswahlsystem in Einmannwahlkreisen vergeben. Die rest- lichen 25% der 630 zu wählenden Abgeordneten erhalten ihr Mandat nach dem Verhältnis- wahlrecht über eine Parteiliste, wobei eine 4%-Sperrklausel gilt. Ironisch-kritisch wird das Gesetz nach dem Namen des Berichterstatters Mattarella vom Politikwissenschaftler Sartori zu "Mattarellum" (das Nudelholz) umbenannt.

4 Am 2. September 1992 beging der sozialistische Abgeordnete Sergio Moroni Selbstmord. Am 20. und 23. Juli 1993 begingen nacheinander der Staatsmanager Gabriele Cagliari (in U-Haft) und der Privatunterneh- mer Raul Gardini (zu Hause, vermutlich um seiner bevorstehender Verhaftung zu entgehen) Selbstmord.

5 Siehe dazu Caruso, A.: Da Cosa nasce Cosa, Mailand 2000, S.548-63.

6 Vgl. Gingsborg, P.: L'Italia del tempo presente, 1998, S.550. 68

Eigentliches Ziel dieser Wahlrechtsreform war es, die Zahl der Parteien im italienischen Par- lament drastisch zu reduzieren, stabile Mehrheiten zu schaffen und die Parteien schon vor den Wahlen zu Koalitionen mit klar erkennbaren Regierungsprogrammen zu veranlassen.

Mit diesen Änderungen sollten die Bedingungen für einen "schmerzlosen" Übergang zu ei- nem bipolaren Wahlsystem geschaffen werden; man leistete gleichzeitig Vorschub zu einer weiteren Personalisierung der Politik, in der Annahme, dass die "Zivilgesellschaft" besser sei als das noch bestehende Parteiensystem.

1.2 Berlusconi und die Personalisierung der Politik

In einer Phase der allgemeinen Diskreditierung der traditionellen Parteien und in der vor al- lem der politische Stern Craxis endgültig zu versinken drohte, begann Berlusconi darüber nachzudenken, eine eigene politische Partei zu gründen.

Im Herbst 1993 gründete er nach dem Vorbild der konzerneigenen Werbegesellschaft Publi- talia die neue politische Formation Forza Italia, die dann Ende März 1994 an der Spitze einer Koalition mit der rechtsgerichteten Alleanza Nazionale (An) und der Lega Nord überraschend die Parlamentswahlen gewann. Berlusconi hatte Erfolg dank des grenzenlosen Optimismus, den er verbreitete und mit Hilfe eines radikal neoliberalen Programms.7 Berlusconi verstand es, "heiße Themen" anzupacken und den politischen Kampf – auch mit Hilfe seiner Fernseh- stationen – zu polarisieren. Dieser neue Bipolarismus hatte jedoch keine soliden Wurzeln: Das Bündnis mit der Lega Nord und der An war noch zu heterogen und erwies sich schließ- lich als ein Bumerang. Berlusconi wurde mit einer klaren Mehrheit in der Abgeordneten- kammer zum neuen Ministerpräsidenten gewählt, aber seine Bündnispartner verfolgten stark entgegensetzte Ziele: Die Lega Nord war stark föderalistisch orientiert und gegen die staatli- che Wirtschaftspolitik, während An noch nationalistisch, zentralistisch und etatistisch ausge- richtet war.

Mit der neuen Regierung, die am 23. Mai 1994 vereidigt wurde, kehrte auch die alt bewährte Methode der Ämterteilung unter den Parteien der Siegerkoalition wieder.

Am 22. Dezember 1994 trat Berlusconi nach nur sieben Monaten Amtszeit im Wesentlichen deshalb zurück, weil seine Regierungskoalition auf Grund starker innerer Gegensätze ausein- ander gegangen war: Diese Wende der Lega Nord wurde von Berlusconi als "Ribaltone" (Umkehrung der Koalition) abgestempelt.8

7 Das Grundkonzept ist es, dem Staat alles zu überlassen, was dem Unternehmen der Privaten nicht zugeteilt werden kann und stattdessen den Privaten alles zu geben, was in einem Regime des Wettbewerbs und der Konkurrenz weniger kosten und als Qualität verbessert werden kann. Der Leitgedanke ("concetto ispirato- re") soll es sein, jedem Bürger die Freiheit zu geben, zu wählen, in welcher Schule er sich bilden, in we l- cher Klinik oder Krankenhaus er sich pflegen, bei welcher Versicherung er sich versichern will. Selbstver- ständlich sollte man dabei die schwächeren Schichten ("categorie più deboli") noch mehr unterstützen."; zit. nach Berlusconi aus Menniti, D. (Hrsg.): Forza Italia, Rom 1997, S.216.

8 Der konservative politische Ko mmentator Sergio Romano fasste ("Berlusconi hat nichts oder doch fast nichts zuwege gebracht") die kurze Regierungserfahrung von Berlusconi deutlich zusammen: "Berlusconi non fece nulla o quasi" und weiter : "Gewiss hat die Lega den ribaltone vollzogen. Aber das kulturelle Scheitern des Polo ist nicht Bossi zu verdanken": vgl. Romano, S.: Statista cercasi. Il tempo di Berlusconi è scaduto, in: Liberal Nr.30/1997, S.94. 69

Die neuen gesetzlichen Regeln (insbesondere die Wahlrechtsreform) haben bei den Wahlen 1994 nur teilweise zu jenem Bipolarismus geführt, der nach der Einschätzung der meisten politischen Experten eine größere politischen Stabilität erlaubt. Berlusconi hatte zwar durch seine Wahlkampfführung den allgemeinen Trend zum Bipolarismus verstärkt: Dies erlaubte ihm, die Wahlen zu gewinnen, aber nicht – im Anschluss daran – zu regieren bzw. seine Füh- rungsposition innerhalb der Koalition zu halten

Die Wahlergebnisse von 1994 zeigten auch, dass es in Italien zu diesem Zeitpunkt noch keine Zweiparteienstruktur der Wählerschaft oder eine bipolare Sozialstruktur gab, auf der man ein stabiles Mehrheitssystem aufbauen konnte. Das Land war noch politisch gespalten: Der Nor- den war für die Lega oder Forza Italia, Mittelitalien war vorwiegend links orientiert, während im Süden An und Forza Italia die Mehrheit hatten.

2. Die Erfahrung mit dem Ulivo-Bündnis: der zerbrechliche Bipolarismus

Im Februar 1996 wurde die Bildung einer neuen Mitte-Links-Koalition zwischen Pds und Ppi angekündigt, die bei den anstehenden Wahlen mit dem Namen und dem Symbol des Ölbaums (Ulivo) gegen das Mitte-Rechts-Bündnis um Berlusconi antreten sollte. Es schien sich hier eine bipolare Konfrontation zwischen zwei gegnerischen Blöcken anzubahnen, die mehr poli- tische Stabilität für die Zukunft versprach.

Der Sieg der Ulivo-Koalition am 21. April 1996 war der Verbindung mit den kleineren Grup- pierungen und den wahltaktischen Absprachen mit der Linkspartei Rifondazione Comunista (Wahlvereinbarung, die unter dem Namen "desistenza" bekannt ist) sowie dem relativ be- scheidenen Wahlergebnis von Forza Italia (20,6%) zu verdanken. Im Gegenzug erreichte die Lega Nord, die jenseits beider Blöcke kandidierte, 10,1% der Stimmen (in diesem Fall kann man sogar von einem Tripolarismus sprechen).

Das neue Mehrheitswahlrecht hatte im Wahljahr 1996 zwar einen positiven Trend zum bipo- laren System ausgelöst, war aber nicht in der Lage gewesen, das italienische politische Sys- tem zu vereinfachen, d.h. vor allem die Anzahl der Parteien zu reduzieren.

Die Präsenz von vielen Parteien in einer Regierungskoalition schwächte die Stellung des Mi- nisterpräsidenten und machte ihn vom Wohlwollen einzelner Parteiführer abhängig, so wie dies in den Zeiten der "Ersten Republik" die übliche Praxis gewesen war.

Was die Bilanz der Ulivo-Regierung (1996-2001) angeht, ist es klar, dass ihre historische Leistung im Wesentlichen darin lag, die Sanierung des Staatsdefizits und den Beitritt Italiens zur EU-Währungsunion ermöglicht zu haben. Die restlichen Reformvorhaben blieben dage- gen auf der Strecke: Dies galt vor allem für die fälligen Reformen des Staates und der Justiz, die nicht oder nur sehr zaghaft in Angriff genommen wurden.

Die Linksdemokraten konzentrierten sich auf die politique tout court, und vernachlässigten dabei ihre soziale Basis. Insbesondere der Parteisekretär D'Alema erwies sich als Politiker der "alten Schule", der anstatt die Probleme konsequent anzugehen, den bequemeren Weg des Kompromisses um jeden Preis mit dem politischen Gegner suchte: Im festen Glauben an den "Primat der Politik" und beim Versuch, mit Berlusconi eine Einigung in der sog. Bicamerale 70

(Zweikammernausschuss) über die Reform der Verfassung zu finden, musste er schließlich eine deutliche Niederlage einstecken. 9

Nach zwei Jahren einer relativen sowie künstlichen Stabilität brachen im Herbst 1998 die Wi- dersprüche innerhalb der regierenden Koalition offen aus. Am 9. Oktober 1998 stürzte die Regierung Prodi bei einer Vertrauensabstimmung im Parlament wegen einer einzigen Stimme (313 gegen 312) und wurde von einer neuen Auflage der Ulivo-Koalition unter Massimo D'Alema – diesmal mit einem neuen Bündnispartner – abgelöst.

Die Partei des ehemaligen Staatspräsidenten Cossiga (UDR) verließ in dieser Phase das rechte Lager und schloss eine Koalition mit D'Alema. Hier zeigte sich die Schwäche des italieni- schen Bipolarismus und die Wiederkehr des "trasformismo" in einer neuen Variante: dem Wechsel von einer Koalition zur anderen. Die Regierung D'Alema stützte sich auf das Wohl- wollen einer kleineren Partei (UDR und später UEDR), die zu Beginn der Legislatur zum Mitte-Rechts-Bündnis gehört hatte, und verstrickte sich in politische Streitigkeiten mit den eigenen Koalitionspartnern, die nur zusätzliche Verwirrung bei der eigenen sozialen Basis stifteten.

Das Lager des Ulivo-Bündnisses zeigte ein Bild der Zerrissenheit, das nur durch den Akti- vismus des Ministerpräsidenten D'Alema und den (mit der Unterstützung der Opposition be- schlossen) militärischen Einsatz im Kosovo verdeckt werden konnte.

Das Ulivo-Bündnis ging langsam auseinander, und D'Alema versuchte ohne Erfolg, den poli- tischen Kampf zu personalisieren. Im April 2000 kam die böse Überraschung für den Premier: Bei den Regionalwahlen in 15 Regionen musste das Mitte-Links-Bündnis eine schwere Nie- derlage einstecken. Zwischen den Europawahlen von 1999 und den Regionalwahlen von 2000 hatte das Ulivo-Bündnis fast eine Million Stimmen verloren.

Die Mitte-Links-Koalition verfiel einer Art von Fatalismus und sah sich gezwungen, nach einem neuen Leader für die Wahlen im Jahre 2001 zu suchen, der nach langen Diskussionen im ehemaligen Grünen-Politiker und Bürgermeister von Rom, Francesco Rutelli, gefunden wurde.

3. Die Bipolarismus-Diskussion im Wahljahr 2001

Die für den 13. Mai 2001 ausgeschrieben Parlamentswahlen polarisierten das politische Kli- ma in Italien wie noch nie zuvor – zumindest seit den Wahlen im Jahre 1948.

Über den Bipolarismus des Parteiensystems, der die normale Alternanz zwischen Mehrheit und Opposition garantieren sollte, fand im Wahlkampf 2001 eine kontroverse Debatte zwi- schen den politischen Experten statt.

Nach der These von Mauro Calise erleben wir nicht so sehr den Bipolarismus, sondern eine neue Phase der "partitocrazia senza partiti". Der früher (in der ersten Republik) noch kollegi- ale Apparat der Parteien ist zum großen Teil abgebaut und durch einen personenbezogenen Apparat ersetzt worden. Die Parteien sind heute dabei, zu persönlichen Instrumenten im Dienste der jeweiligen politischen Leader zu werden.

9 Flores D'Arcais, P.: Politik und Charisma. D'Alema und Berlusconi: Warum die Rechte in Italien gewann, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.4.2000. 71

Der politische Kampf verschiebt sich immer mehr auf die Ebene der medialen Konfrontation (nach amerikanischem Muster); auch die Mitte-Links-Koalition kann sich nicht mehr nur auf die traditionellen Parteistrukturen verlassen, die noch enge Bindungen zum Territorium ha- ben, und entscheidet sich für die "Personalisierung der Politik". 10

Die "personenbezogenen Parteien" ("partiti personali" nach der Definition von Calise) sind zugleich das Ergebnis und das Anzeichen der Auflösung der Ersten Republik und sie weisen auf die Notwendigkeit einer radikalen Reform des italienischen Staates hin.

Auch der Politologe Giovanni Sartori lieferte eine schonungslose Beschreibung der Missstän- de der Parteien im Wahlkampf: Die Aufstellung der Kandidaten für die Parlamentswahlen erfolge – auf beiden Seiten – in langwierigen Verhandlungen zwischen den Führungsgremien der Parteien beider Koalitionen. Der Versuch, durch die Reform des Wahlsystems die Über- macht der Parteioligarchien zu reduzieren, sei zu einer Farce geworden. Im "Haus der Frei- heiten" entscheide praktisch fast allein Berlusconi, was im Ulivo-Bündnis schwieriger sei, da dort die Leader der verschiedenen Parteien vehement um ihre Pfründe kämpften. Dies bedeute den endgültigen Sieg der Parteibürokraten und die Niederlage der Wähler und der Demokratie innerhalb der lokalen Organisationen: Das Ergebnis sei ein unbeschreibliches Chaos und ein unerträglicher Kuhhandel, der übrigens viele Wähler in beiden Lagern abstößt.11

Der Politologe Panebianco sprach in einem Leitartikel des Corriere della Sera vom 19. Januar 2001 von einer "langsamen Agonie des Bipolarismus": "Es muss alles getan werden den unsi- cheren italienischen Bipolarismus zu stabilisieren", denn die "Demokratie der Alternanz" – so Panebianco – sei auf jeden Fall besser als das, was dem Senator Andreotti vorschwebe, näm- lich die Wiedereinführung des proportionalen Wahlrechts und die Neugründung einer neuen zentristischen Formation, die als Zünglein an der Waage bei künftigen Regierungsbildungen dienen könnte.12

In einem weiteren Artikel (vom 28. April 2001) plädierte er für "einen demokratischen Wech- sel und eine Regierung, die nicht den Oligarchien der Parteien ausgeliefert ist, sondern von einem gewählten Leader fest geleitet wird". 13

Das Ergebnis vom 13. Mai 2001 und das neue bipolare System

Aus den Wahlen am 14. Mai 2001 ging Berlusconi als deutlicher Sieger hervor. Rutelli war der klare Wahlverlierer, auch wenn die Sitzverteilung in beiden Zweigen des Parlament nur bedingt die realen Kräfteverhältnisse zwischen beiden Blöcken widerspiegelt.

Der Grund liegt hauptsächlich im Wahlsystem, das ich oben beschrieben habe. Das Mattarel- lum (das Nudelholz) hat diesmal buchstäblich zugeschlagen: Die kleineren Parteien – mit der Ausnahme von Rifondazione comunista (Rc) – sind unter der 4%-Hürde geblieben, und das Ulivo-Bündnis ist diesmal hart bestraft worden, da es versäumt hatte, ein Wahlbündnis mit Rc und der Lista Di Pietro zu schließen.

10 Calise, M.: Il partito personale, Rom-Bari 2000, S.5ff. 11 Sartori, G.: L'ingessatura e il collante, in: Corriere della Sera, 10.5.2001.

12 Panebianco, A.: La lenta agonia del bipolarismo, in: Corriere della Sera, 19.1.2001. 13 Panebianco, A.: La democrazia e il ricambio, in: Corriere della Sera, 28.4.2001. 72

Das Wahlsystem (das Mattarellum) belohnt nämlich die starken Wahlkartelle – in diesem Fall das Haus der Freiheiten – und bestraft in stärkerem Maße die kleineren Parteien, was eigent- lich paradox ist, weil das ursprüngliche Ziel des Mattarellum eben war, die kleineren Parteien am Leben zu halten. Ich würde mich deswegen der Ansicht von Sartori anschließen, dass man dieses Wahlgesetz abschaffen oder zumindest stark reformieren sollte.14

Tatsache ist, dass Berlusconi dank dieses Wahlsystems sich auf der ganzen Linie – auch ge- genüber seinen eigenen Juniorpartnern – durchgesetzt hat. Alleanza Nazionale hat gegenüber den Wahlen von 1996 prozentual fast ein Viertel ihrer Wähler verloren (von 15,7% auf 12%) und die Lega prozentual zirka 60% (von 10,1% auf 3,9%).

Inwieweit und zu welchem Preis hat das Wahlsystem den Bipolarismus des Parteiensystems gefördert?

Das Wahlsystem (d.h. das Mattarellum) hat die Bildung einer stabilen Mehrheit im Parlament für den Leader Berlusconi erlaubt und damit den politischen Bipolarismus durchgesetzt, auch wenn es den Wählerwillen nur sehr bedingt zum Ausdruck bringt.

Bei den Stimmen, die nach dem Mehrheitswahlrecht (maggioritario) zur Abgeordnetenkam- mer abgegeben wurden, beträgt der Abstand zwischen dem Ulivo (16.309.656) und dem Haus der Freiheiten (16.938.532) zirka 600.000 Stimmen.

Das Ulivo-Bündnis erreicht 43,7% der Stimmen (1996: 38,7%), aber nur 184 Sitze, das Haus der Freiheiten von Berlusconi mit 45,4% der Stimmen sogar 282 Sitze (1996: 40,2%).

Wenn man die Stimmen des Ulivo-Bündnisses mit denen der Lista Di Pietro (4,1%, die ein- deutig gegen Berlusconi sind) summiert, haben wir einen Stimmenanteil der Berlusconi- Gegner von 47,8%, der sogar höher ist als der Stimmenanteil für Berlusconi von 45,4%. Bei den selben Wahlen zur Abgeordnetenkammer verzeichnet dagegen im Proportionalbe- reich (wo einzelne Listen gewählt werden) das Haus der Freiheiten einen deutlicheren Ab- stand gegenüber dem Ulivo: 18.425.163 Stimmen gegenüber 13.203.432.

Auch wenn man den Stimmen der Ulivo-Parteien die Anzahl der Stimmen von Rc und der Lista Di Pietro (3.312.384) hinzufügt, bleibt eine Differenz von etwas weniger als 2 Mio. Stimmen (18.425.163 gegen 16.515.816) zu Gunsten des Hauses der Freiheiten.

Nach dem System des Mehrheitswahlrechts (maggioritario) haben die Mitte-Links-Wähler die Kandidaten des Ulivo-Bündnisses mehr gewählt als die einzelnen Listen der Ulivo-Parteien (ca. 1,7 Mio. Stimmen mehr als für die offiziellen Parteien des Bündnisses). Auch dies kann man als ein klares Votum der Ulivo-Wähler für ein bipolares System interpretieren.

Bei den Wahlen zum Senat erzielt das Haus der Freiheiten mit 42,9% der Stimmen 177 Sitze (mehr als die absolute Mehrheit der Sitze), während das Ulivo mit 39,2% der Stimmen nur 128 Sitze erreicht. Wenn man die Stimmen des Ulivo mit denen der eindeutigen Berlusconi- Gegner (Rc +Lista Di Pietro) summiert, haben wir einen proportionalen Stimmenanteil von 47,6%, aber nur 131 Sitze. Berlusconi hat auf Grund eines abstrusen Wahlsystems die Mehr- heit der Sitze, aber nicht die Mehrheit der italienischen Wähler für sich gewinnen können: Eine solide parlamentarische Mehrheit findet also keine Entsprechung im sozialen Konsens,

14 Sartori, G.: L'ingessatura e il collante, in: Corriere della Sera, 10.5.2001. 73 sodass die politische Stabilität in den nächsten fünf Jahren keineswegs durch die politischen Mehrheitsverhältnisse im Parlament gewährleistet ist.

Der Bipolarismus des Parteiensystems hat somit (in diesem Sinne) einen charismatischen Le- ader hervorgebracht, der eine ganze Legislaturperiode zur Verfügung hat, um zu beweisen, dass er auch in der Lage ist, nicht nur die Wahlen zu gewinnen, sondern auch das Land zu regieren.

4. Die Zukunft des Bipolarismus

Trotz der berechtigten Kritik an mehreren Folgen des geltenden Wahlsystems, im Gegensatz zu den Wahlen von 1994 und 1996, muss man anerkennen, dass sich mit diesen Wahlen eine bipolare Dynamik durchgesetzt hat, die erstmals den politischen Wechsel, den Streit der Pro- gramme und die Erneuerung der politischen Führung ermöglicht.

Nach Pasquino haben jedenfalls drei Faktoren den Bipolarismus betont und gestärkt:

- eine Koalitionsregierung (das Ulivo-Bündnis), die letzten Endes eine ganze Legislaturpe- riode (1996-2001) amtiert hatte; - die Existenz einer Opposition, die das amtierende Regierungsbündnis ausdrücklich her- ausforderte, um es abzulösen und nicht, um sich ihm anzuschließen (nach der früheren Praxis des "trasformismo"); - die Rückkehr der Lega zu Berlusconi in die Koalition "Haus der Freiheiten", sodass die Wähler endlich zwischen zwei Lagern entscheiden konnten, die um die Regierungsmacht kämpften. 15

Der deutliche und unumstrittene Sieg Berlusconis hat die Voraussetzungen gesetzt, damit sich der Bipolarismus stabilisiert und konsolidiert. Es bleibt jedoch abzuwarten, wie stabil die Re- gierung Berlusconi bleiben wird und vor allem, inwieweit es der Mitte-Links-Opposition ge- lingen wird, ein stabiles Bündnis mit Rc und der Lista Di Pietro zu schließen.

Die Schwierigkeiten liegen noch in dem Fortbestehen von negativen Erscheinungen des ita- lienischen politischen Systems wie der Fragmentierung des Parteiensystems, dem "trasfor- mismo", der Personalisierung der Politik, dem Block der institutionellen Reformen, der Zu- spitzung des politischen Streits und nicht zuletzt der progressiven Entleerung der Parteien. Zusätzliche Probleme sind in den ersten 15 Monaten ihrer Amtszeit durch die umstrittene Po- litik der Regierung Berlusconi entstanden, die dazu übergegangen ist, ein rigoroses "spoils- system" anzuwenden und die wichtigsten Ämter (im Staatsapparat und auch im staatlichen Fernsehbereich) unter den Koalitionspartnern zu verteilen. 16

Ein bipolares System kann aber nur erfolgreich sein, wenn die vom Wählervotum legitimierte Mehrheit ihrerseits die demokratischen Grundregeln respektiert und die Notwendigkeit von "checks and balances" anerkennt, so wie es in der amerikanischen Formulierung heißt: Gerade in einem bipolaren System ist die Kontrolle der Regierung durch die Opposition notwendiger denn je.

15 Pasquino, G. (Hrsg.): Il sistema politico italiano, Bologna 2002, S.92l. 16 Für eine erste Gesamtbilanz der Regierung Berlusconi im ersten Jahr ihrer Amtszeit siehe Tuccari, F. (Hrsg.): Il governo Berlusconi. Le parole, i fatti, i rischi, Rom-Bari 2002. 74

Hinzu kommt, dass die Haltung Berlusconis und seiner Koalitionspartner zum Bipolarismus zur Zeit sehr schwankend zu sein scheint. Da die Schwierigkeiten des Regierens und des Zu- sammenhaltes seiner Koalition immer deutlicher werden, hat Berlusconi die Flucht nach vorn ergriffen und sich überraschend für das Präsidialsystem (presidenzialismo) ausgesprochen.

Damit hat Berlusconi einige politische Botschaften (in Richtung auf seine Partner wie an sei- ne politischen Gegner) gesendet, die man so interpretieren kann:

- die Spielregeln der parlamentarischen Demokratie und der Bipolarismus werden von Berlusconi als Hindernisse bei der Realisierung seines Programm des Selbstschutzes und des Wandels angesehen; - wenn es ihm nicht gelingen sollte, das angekündigte Programm zu realisieren, dann wird er versuchen, ein direktes Mandat durch das Wählervolk zu bekommen (durch die direkte Wahl als Staatspräsident), um sein unvollendetes Werk zu beenden; - mit der dritten Botschaft – die vor allem an seinen Bündnispartner Fini und Casini ge- richtet ist – will Berlusconi seine Popularität voll auf die Waagschale werfen und seinen Willen bekunden, am liebsten durch vorgezogene Neuwahlen, die Nachfolge des jetzigen Staatspräsidenten Ciampi anzutreten; allerdings nur mittels der Direktwahl und wenn das Präsidentenamt mit den Vollmachten eines Premiers ausgestattet würde.17

Hier scheint Berlusconi die direkte (vorzugsweise plebiszitäre) Präsidentenwahl mit dem Prä- sidialsystem (sei es in der amerikanischen oder in der französischen Version) zu verwechseln. Berlusconi, Bossi und Fini haben im Sommer 2002 einen Stein ins Wasser geworfen und da- mit eine neue Debatte über ein künftiges Präsidialsystem ins Spiel gebracht.

Der Bipolarismus scheint damit für Berlusconi und seine Partner nur eine Übergangsphase auf dem Weg zu einem Präsidialsystem mit populistischen Merkmalen zu sein.

Was die Opposition angeht, ist sie noch dabei, ihre Rolle im bipolaren Parteiensystem neu zu definieren. Die Hauptschwierigkeiten des Ulivo-Bündnisses liegen sowohl in der Schwäche ihrer wichtigsten Komponenten (DS und Margherita) als auch in der ungeklärten Frage nach einem deutlichen Leadership innerhalb des Ulivo-Bündnisses. Die Zeit drängt, die Opposition muss gegenüber einem sehr heterogenen Wahlvolk an Glaubwürdigkeit gewinnen, um die eigenen Chancen bei den nächsten Wahlen zu erhöhen. Dies bedeutet, dass das Ulivo-Bündnis sich umorganisieren und innerhalb kurzer Zeit einen mit Berlusconi gleichwertigen Leader wählen muss, damit bei den nächsten Wahlen eine in sich geschlossene Koalition die Heraus- forderung mit einem unumstrittenen Leader wie Berlusconi aufnehmen kann. 18

Von den organisatorischen Entscheidungen und Fähigkeiten der Parteien der Mitte-Links- Koalition sowie von der Wahl eines überzeugenden Leadership hängen sowohl die Zukunft der italienischen Demokratie als auch das Fortbestehen der bipolaren Dynamik des Parteien- systems ab.

17 Vgl. dazu die Leitartikel von Pasquino, G.: Progetto peronista, in: Il Tirreno, 20.7.2002; Giannini, M.: Uno strappo istituzionale, in: La Repubblica, 20.7.2002. 18 Vgl. Giannini, M.: La debolezza del Cavaliere, in: La Repubblica vom 23.9.2002. 75

Regieren in Italien – Wie durchsetzungsfähig ist die Regierung Berlusconi?

Roland Höhne

Der gegenwärtige italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi versprach im Wahlkampf 2001, Italien grundlegend zu modernisieren. So wollte er den Arbeitsmarkt liberalisieren, Staatsunternehmen privatisieren, das Renten-, Gesundheits- und Erziehungssystem grundle- gend reformieren, die Verwaltung und das Justizwesen entbürokratisieren, den Staatsaufbau föderalisieren, die Verfassung ändern, die Steuern drastisch senken, das Staatsdefizit reduzie- ren, den Haushalt ausgleichen, die Einwanderung kanalisieren, die Infrastruktur ausbauen und 1,5 Millionen neue Arbeitsplätze schaffen.

Für dieses Reformprogramm erhielt er bei den Parlamentswahlen vom Mai 2001 von den Wählern ein klares Mandat. Die von ihm geführte Mitte-Rechtskoalition "Haus der Freihei- ten" gewann 55 Prozent der Wählerstimmen und damit eine klare Mehrheit in beiden Häusern des Parlaments. Bei der Durchsetzung ihres Modernisierungsprogramms stößt sie jedoch auf erhebliche Widerstände. Je nach Vorhaben wehren sich die jeweils Betroffenen, unterstützt von den Oppositionsparteien, der Oppositionspresse und oft auch den Gewerkschaften, von Bürgerkomitees, Protestbewegungen und anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren. Symbo- lisch für diesen Widerstand sind die Auseinandersetzungen um den Artikel 18 des Arbeits- rechts. Die Regierung strebte eine Lockerung des gesetzlichen Kündigungsschutzes an, um den Arbeitsmarkt zu flexibilisieren, die Gewerkschaften, die Oppositionsparteien und die Op- positionspresse widersetzten sich dieser heftig.

Trotz ihrer parlamentarischen Mehrheit sah sich daher die Regierung zum Kompromiss ge- zwungen. Bei ihren Reformbemühungen im Gesundheitswesen und in der Rentenversiche- rung, im Erziehungssystem und im Justizwesen geht es ihr ähnlich. Auch hier muss sie Ab- striche an ihren ursprünglichen Vorhaben machen. Damit geht es ihr so wie ihren Vorgänger- regierungen, die ebenfalls zu zahlreichen Kompromissen gezwungen waren.

Nun sind Kompromisse in einer Demokratie normal. Sie können jedoch Regierungsvorhaben so stark verwässern, dass diese ihre Substanz völlig verlieren und so ihren Zweck verfehlen. In Italien ist diese Gefahr besonders groß, denn dort ist die Kompromissneigung bzw. der Kompromisszwang stark ausgeprägt. Die entscheidende Ursache dafür liegt in der Komple- xität des politischen Systems.

1. Das politische System

Italien besitzt ein kompliziertes politisches System der Machtverschränkung, Machtaufteilung und Machtdiffusion. Es entstand nach dem II. Weltkrieg als Reaktion auf den Faschismus, seine Wurzeln reichen jedoch weit in die italienische Geschichte zurück. Zentrale Merkmale dieses Systems waren bis 1993/94 der Unitarismus und Zentralismus, die Parteienherrschaft (partitocrazia), die Fragmentierung des Parteiensystems, der Klientelismus, die Macht- und Ressourcenverteilung unter den Regierungsparteien nach dem Proporzsystem (lottizzazione) und der Machtkampf bei gleichzeitiger stiller Machtteilung (consociativismo) zwischen Christdemokraten und Kommunisten. Die Transformation des Parteiensystems seit 1993 ver- änderte zwar stark die politischen Machtverhältnisse, nicht jedoch die Grundstrukturen des 76 politischen Systems. Die zweite Regierung Berlusconi muss daher mit sehr ähnlichen Prob- lemen kämpfen wie ihre Vorgängerregierungen.

1.1 Unitarismus und Ze ntralismus

Die italienische Politik vollzieht sich im Rahmen eines unitarischen Nationalstaates, der mit Ausnahme der nach 1945 geschaffenen fünf autonomen Regionen bis 2002 zentralistisch verwaltet wurde. Entstanden ist dieser in den Jahren 1860/70 durch ein Zusammenwirken des Königreichs Piemont-Sardinien mit der italienischen Nationalbewegung. Er übertrug das zent- ralistische Staatsmodell Piemonts auf ganz Italien und beseitigte so die vornationalen Staats- strukturen. Dies führte zu erheblichen Spannungen zwischen Zentrum und Peripherie, da die Interessen und Ziele des Gesamtstaates nur teilweise mit denen der historischen Regionen übereinstimmten und die regionalen Teilgesellschaften mit ihren unterschiedlichen politischen Traditionen und Kulturen zunächst erhalten blieben. Erst allmählich ist es dem italienischen Nationalstaat gelungen, die politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnis- se der einzelnen Landesteile anzugleichen. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Regio- nen, insbesondere zwischen denen des Nordens und denen des Südens, sind jedoch noch im- mer sehr groß. Infolge der unitarischen Struktur des Staates übertragen sich die daraus resul- tierenden Konflikte auf die nationale Ebene und erschweren hier erheblich das Regieren.

Die sich aus dem Spannungsverhältnis zwischen staatlichem Unitarismus und regionaler Viel- falt ergebenden Probleme werden verschärft durch den administrativen Zentralismus. Dieser ermöglicht es der Regierung, ihre Politik landesweit durchzusetzen, führt jedoch häufig zu Konflikten mit regionalen Kräften. Diese Konflikte werden teilweise durch die Effizienzdefi- zite staatlicher Verwaltungen verschärft und belasten so zusätzlich die Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie. Sie führten unter anderem zur Bildung regionalistischer Bewegun- gen, aus denen im Norden 1989 die Lega Nord hervorgegangen ist. Die Schaffung von Ver- waltungsregionen 1970 sowie die Kompetenzübertragungen an die subnationalen Einheiten 2001 haben dieses Konfliktverhältnis zwar entschärft, aber nicht beseitigt. Es belastet daher weiterhin die italienische Politik.

Der liberale Nationalstaat wurde, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, von den Katho- liken und Sozialisten abgelehnt. Dies behinderte erheblich seine Konsolidierung sowie die Integration großer Gesellschaftsgruppen in die politische Ordnung. Der Faschismus erzwang vorübergehend durch Massenmobilisation, Indoktrination und Repression die Integration der Massen in den Staat, diskreditierte jedoch diesen durch seine repressive Herrschaftspraxis und seine missglückte Großmachtpolitik. Die Auflösung staatlicher Strukturen nach dem Allianz- wechsel vom September 1943, die anschließende Besetzung des Landes durch ausländische Truppen und der Bürgerkrieg im Norden schwächten in den Jahren 1943/45 entscheidend die Integrationskraft des Staates. Der Nationalstaat blieb zwar als politisch-administrative Orga- nisationsform erhalten, wandelte sich jedoch nach dem II. Weltkrieg zum Parteien- und Ver- bändestaat. Die politische und soziale Integration erfolgte nun vor allem durch Parteien und Verbände.

1.2 Parteienherrschaft

Die Verfassung von 1948 schuf ein parlamentarisches Regierungssystem mit einer schwachen Exekutive und einem starken Parlament. Dadurch sollte ein erneuter Machtmissbrauch durch die Exekutive wie im Faschismus verhindert werden. Seit dem Ende der Ära De Gasperi 77

(1953) beherrschten jedoch die Parteien den Staat und vereinnahmten ihn für ihre Zwecke. An die Stelle der Parlamentshoheit trat die Parteienherrschaft, die Partitocrazia.1 Ausgeübt wurde sie vor allem von den Christdemokraten und ihren laizistischen Verbündeten, zu denen ab 1962 auch die Sozialisten gehörten. Diese sicherten ihre Herrschaft vor allem mit Hilfe des Klientelismus, d.h. einer extensiven Ämterpatronage. Sie besetzten Ämter der öffentlichen Verwaltungen, von Dienstleistungs- und Versorgungseinrichtungen sowie der staatlichen und halbstaatlichen Unternehmen mit ihren Anhängern, um sich deren Loyalität zu sichern. Auf diese Weise vermochten sie ihre Mitglieder und Wähler fest an sich zu binden und ihre poli- tisch-soziale Position zu festigen. Da der Zugang zu öffentlichen Ressourcen nur noch über sie möglich war, wurden sie zu zentralen gesellschaftlichen Akteuren, die Staat und Gesell- schaft eng miteinander verklammerten.

Der Klientelismus überlebte das alte Parteiensystem, da dessen soziokulturelle Grundlagen erhalten blieben. Infolge der Verknappung der staatlichen Ressourcen besitzt er jedoch heute nicht mehr die gleiche Bedeutung wie in der Ersten Republik. Die Parteien sind daher ge- zwungen, ihre Wählerschaft stärker politisch und programmatisch an sich zu binden. 2

Die Parteien kontrollierten zunächst auch die Gewerkschaften sowie zahlreiche berufliche und kulturelle Organisationen, da die gesellschaftlichen Kräfte nach dem Zusammenbruch des Faschismus mit Ausnahme der Katholiken zu schwach waren, sich selbst zu organisieren. Dank ihrer Verfügung über staatliche Ressourcen konnten sie auch eigene kulturelle Stiftun- gen gründen, die ihre Ideen propagierten. Sie konnten so im hohen Maße das soziale und kul- turelle Leben beeinflussen. Ferner übten sie auch noch durch die Kontrolle der staatlichen und halbstaatlichen Unternehmen sowie durch die Vergabe öffentlicher Aufträge einen beträchtli- chen wirtschaftlichen Einfluss aus. Sie waren daher sowohl politisch-staatliche als auch ge- sellschaftliche Akteure.

1.3 Die Institutionen

Die Parteien üben ihre staatliche Macht in Institutionen aus, die nach der Verfassung von 1948 auf der Parlamentshoheit beruhen. In der Praxis beschränkte sich diese jedoch in der "Ersten Republik" auf die Legitimierung der Regierung und auf die Verabschiedung der Ge- setze. Die zentralen politischen Entscheidungen wurden außerhalb des Parlaments durch die Parteien, die Regierung und die Verbände getroffen.

Die Designation des Regierungschefs und die Bildung der Regierungen erfolgte nach den Wahlen durch Absprachen der Parteien. Die Parlamentarier hatten auf beides keinen direkten Einfluss, mussten sie jedoch nachträglich im Parlament legitimieren. Die parlamentarische Form des Systems wurde damit gewahrt. Allerdings konnten sich die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse im Laufe der Legislaturperiode durch Parteiübertritte oder Fraktions- wechsel einzelner Parlamentarier verändern. Diese Fluktuation war besonders groß während der Übergangsperiode von der Ersten zur Zweiten Republik. Die Parteien bestimmten eben- falls den Gesetzgebungsprozess. Die Gesetzesinitiative ging zwar häufig von der Regierung aus, über ihr Schicksal entschieden jedoch die Parteien.

1 Vgl. u.a. Pasquino, Gianfranco: Political development, in: P. McCarthy (Hrsg.), Italy since 1945, Oxford 2000, S.24-69; Scoppola, Piero: La Repubblica dei partiti. Profilo storico della democrazia in Italia (1945- 1990), Bologna 1991; Vassallo, Salvatore: Il governo di partito in Italia (1943-1993), Bologna 1994. 2 Vgl. Caciagli, Mario: Heurs et malheurs du clientélisme, in: Revue française de science politique, Bd.51, Heft 4, August 2001, S.569-586. 78

Allerdings hatten die Parlamentarier die Möglichkeit, die Texte von Gesetzesvorlagen durch Änderungsanträge zu modifizieren. Häufig stimmten auch so genannte "Heckenschützen" der Regierungsmehrheit gegen Gesetzesvorlagen, um spezifische Interessen zu verteidigen. Dies zwang die Regierung zu langwierigen Verhandlungen mit den Parlamentsfraktionen. Die Verabschiedung einfacher Gesetze dauerte in der Regel neun Monate. Die Regierung regelte deshalb viele Angelegenheiten durch Verordnungen, die sofort in Kraft traten. Das Verfas- sungsgericht hat jedoch 1996 das Verordnungsrecht der Regierung erheblich eingeschränkt und so die Position des Parlaments formal gestärkt.

Nach der Verfassung hat das Parlament das Recht, die Regierung durch einen Misstrauensan- trag zu stürzen bzw. ihr das Vertrauen zu verweigern und sie so zum Rücktritt zu zwingen. Von dieser verfassungsrechtlichen Möglichkeit machte das Parlament nur einmal, im Oktober 1998 gegenüber der Mitte-Linksregierung Romano Prodi, Gebrauch. Alle anderen Regierun- gen wurden seit 1945 durch außerparlamentarische Kräfte, d.h. die Parteien und ihre Hilfs- truppen, gestürzt. In der "Ersten Republik" war daher die Regierung nicht die Spitze einer parlamentarischen Mehrheit, sondern im Gegenteil das ausführende Organ einer Parteienkoa- lition.

Die Transformation des Parteiensystems hat das Verhältnis zwischen Wählern, Parteien und Regierung erheblich verändert. Durch die Bildung von zwei großen Wahlkoalitionen 1994, 1996 und 2001 und die Nominierung von Kandidaten für das Amt des Regierungschefs er- hielten die Wähler die Möglichkeit, die zukünftige Regierungskoalition sowie den zukünfti- gen Regierungschef de facto selbst zu bestimmen. Allerdings behielten die Parteien die Mög- lichkeit, die Wählerentscheidung nachträglich im Parlament zu revidieren. So erzwangen sie zwischen Mai 1994 und Mai 2000 fünf Regierungswechsel. 3

Die 2. Regierung Berlusconi ging aus einer siegreichen Wahlkoalition hervor. Sie kann sich daher auf ein direktes Mandat der Wähler stützen. Das Gleiche gilt für den Regierungschef. Da Berlusconi als Anführer der siegreichen Wahlkoalition für das Amt des Ministerpräsiden- ten kandidierte, wurde er de facto direkt vom Volk gewählt. Seine Wahl durch das Parlament und seine Ernennung durch den Staatspräsidenten waren daher nur noch eine Formsache. Al- lerdings ist auch er von den Regierungsparteien abhängig, denn er benötigt ihre parlamentari- sche Unterstützung sowohl für den Machterhalt als auch die Gesetzgebung. Sollte er seine parlamentarische Mehrheit verlieren, müsste er wie bereits im Januar 1996 zurücktreten. Die de facto Direktwahl des Regierungschefs durch die Einführung der Ministerpräsidentenkandi- datur analog der Kanzlerkandidatur in Deutschland ändert nicht den parlamentarischen Grundcharakter des italienischen Regierungssystems.

Die verfassungsrechtliche Stellung des italienischen Regierungschefs ist schwach, denn die italienische Verfassung von 1948 kennt keinen Premierminister, sondern lediglich einen Prä- sidenten des Ministerrates als Primus inter pares. Er besitzt keine wirksame Richtlinienkom- petenz wie der deutsche Bundeskanzler und er kann seine Minister nicht wie andere Regie- rungschefs entlassen. Er kann auch nicht wie der britische Premierminister das Parlament auflösen und so seine Mehrheit durch die Drohung mit Neuwahlen disziplinieren. Vielmehr ist er gezwungen, ständig einen Konsens mit seinen Ministern und seinen Koalitionspartnern

3 In der XII. Legislaturperiode (1994-1996) wechselten 197 Abgeordnete und 103 Senatoren, in der XIII. Legislaturperiode (1996-2001) 261 Abgeordnete und 129 Senatoren die Fraktion. Im März 2000 gehörten 24% der Abgeordneten und 22% der Senatoren einer anderen Fraktion an als zu Beginn der Legislaturperi- ode. Diese große Instabilität der parlamentarischen Verhältnisse war vor allem eine Folge der lockeren Struktur der Parteien, insbesondere der bürgerlichen sowie des Verhältniswahlrechts. Vgl. ebd., Tabelle 5.5, S.158. 79 zu suchen. Dies fördert den Ressortpartikularismus und erschwert die interministerielle Zu- sammenarbeit auf allen Ebenen. 4 Da die meisten Minister Repräsentanten von Parteien sind, können diese auch direkt die Regierungspolitik beeinflussen. Ein italienischer Ministerpräsi- dent ist weit stärker als ein deutscher Bundeskanzler auf seine parlamentarische Mehrheit angewiesen, denn er kann durch ein einfaches Misstrauensvotum gestürzt werden, da die ita- lienische Verfassung von 1948 kein konstruktives Misstrauensvotum kennt wie das deutsche Grundgesetz. Entscheidend für die Durchsetzungsfähigkeit eines italienischen Regierungs- chefs sind jedoch weniger seine verfassungsrechtlichen Kompetenzen als vielmehr seine Be- ziehungen zu den politischen Parteien, staatlichen Bürokratien, Regionen, Provinzen und Kommunen, beruflichen Standesvertretungen, Massenmedien, Interessenverbänden sowie zivilgesellschaftlichen Akteuren.

Ein italienischer Ministerpräsident ist stark, wenn er sich auf eine zahlenmäßig breite, poli- tisch geschlossene Mehrheit sowie starke gesellschaftliche Kräfte stützen kann, er ist schwach, wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, wie dies bei den meisten Regie- rungen der Ersten Republik sowie denen der Transition der Fall war. Berlusconi steht an der Spitze einer Koalitionsregierung. Damit ist er wie alle seine Amtsvorgänger parlamentarisch von mehreren Parteien abhängig. Seine Stellung ist jedoch stärker als die früherer italieni- scher Ministerpräsidenten, da er auf Grund seiner de facto Direktwahl durch die Wähler über eine größere demokratische Legitimität verfügt als seine Vorgänger, die erst nach der Wahl von den Parlamentariern gewählt wurden. Er ist ferner der unbestrittene Chef der Regierungs- koalition. Er hat sie als Wahlbündnis geschmiedet und bei den Parlamentswahlen vom Mai 2001 zum Erfolg geführt. Ohne ihn wäre das bürgerliche Lager nicht an der Macht. Innerhalb der Regierungskoalition gibt es zurzeit auch keine personelle Alternative zu ihm. Er muss daher nicht wie viele seiner Vorgänger fürchten, durch einen Rivalen aus den eigenen Reihen im Laufe der Legislaturperiode abgelöst zu werden. Dank seiner dominierenden Stellung in- nerhalb des Kabinetts konnte er im Januar 2002 seinen parteilosen Außenminister Ruggiero zum Rücktritt zwingen und selbst kommissarisch die Leitung des Außenministeriums über- nehmen. Ein Auswechseln mehrerer Minister aber wäre auch ihm erst nach erfolgreichen Neuwahlen möglich.

Berlusconi verdankt seine Führungsstellung vor allem seinen kommunikativen Fähigkeiten, seiner Medienmacht und seinem Reichtum. Er besitzt das größte Medienimperium des Landes und ist einer der reichsten Männer Italiens. So war es ihm möglich, eine eigene Partei, die Forza Italia zu gründen und diese zur stärksten Kraft des bürgerlichen Lagers zu machen. Mit Hilfe der Medien ist es ihm auch gelungen, sich zum Führer des bürgerlichen Lagers aufzu- schwingen und diese Position trotz des raschen Scheiterns seiner ersten Regierung 1994 und seiner anschließenden Wahlniederlage von 1996 zu behaupten. Seine starke Stellung im Re- gierungsbündnis wird allerdings geschwächt durch den Interessenkonflikt, der sich aus seiner doppelten Stellung als Regierungschef und Medienunternehmer ergibt sowie durch seine Schwierigkeiten mit der Justiz. Nicht nur von seinen Gegnern wird ihm vorgeworfen, private und öffentliche Interessen zu vermengen. Eine baldige Bereinigung des Interessenkonfliktes sowie der Justizprobleme liegt daher in seinem eigenen Interesse.5

4 Vgl. Pasquino, Gianfranco: I governi, in: Gianfranco Pasquino (Hrsg.), La Politica Italiana. Dizionario critico 1994-95, Roma-Bari 1995, S.61-78. 5 Vgl. FAZ, 9.9.2002, S.9. 80

1.4 Parlamentarische Mehrheit

Berlusconi kann sich in beiden Häusern des Parlaments (Kammer und Senat) auf eine solide Mehrheit aus Forza Italia (FI), Alleanza Nazionale (AN), Unione dei Democratici Cristiani (UDC) und Lega Nord (LN) stützten. 6 Sie ist ähnlich zusammengesetzt wie die seiner ersten Regierung von 1994,7 das Kräfteverhältnis innerhalb der Koalition hat sich jedoch durch die Parlamentswahlen vom Mai 2001 deutlich zu Gunsten der FI verschoben. 8 Diese ist mit 178 Abgeordneten und 82 Senatoren erneut die stärkste Regierungsfraktion. 9 Sie besitzt jedoch bei weitem nicht die gleiche dominierende Stellung wie einst die DC in den Zentrumskoalitionen der Ersten Republik. Ihr Gewicht innerhalb der Koalition ist entsprechend geringer. Sie ist daher weit mehr, als diese es war, auf die Unterstützung ihrer Koalitionspartner angewiesen. Wichtigster Koalitionspartner ist wie bereits 1994 die Alleanza Nazionale mit 99 Abgeord- neten und 45 Senatoren. Auf Grund ihrer Stellung am rechten Rand des Parteiensystems be- sitzt sie keine koalitionspolitischen Alternativen. Ihre Vetomacht innerhalb der Regierungs- koalition ist daher geringer als ihr zahlenmäßiges Gewicht. Drittstärkste Kraft ist die im Frühjahr 2002 durch den Zusammenschluss von CCD und CDU entstandene Union der Christlichen Demokraten UDC mit 40 Abgeordneten und 29 Senatoren. Als Partei der rechten Mitte besitzt sie im Gegensatz zur AN alternative Koalitionsmöglichkeiten, sie ist jedoch auf Grund der Bipolarisierung des politischen Systems ebenfalls zur Koalitionstreue gezwungen. Kleinster Koalitionspartner ist diesmal die Lega Nord. Sie hat gegenüber 1994 erheblich an Bedeutung und Mandaten verloren. Da sie bei den Wahlen nach dem Verhältniswahlrecht unter vier Prozent der Wählerstimmen blieb, verdankt sie ihre parlamentarische Repräsentati- on allein dem Wahlbündnis mit der FI. Ihr Einfluss in der Koalition ist entsprechend schwach.

6 Abgeordnetenkammer: Stimmen in den Einpersonenwahlkreisen: 16.948.194=45,5% Stimmen in der Proportionalquote: 18.417.844=49,6% Mandate in den Einpersonenwahlkreisen: 282 Mandate für die Proportionalquote: 86 Mandate insgesamt: 368 von 630 Senat: Stimmen in den Einpersonenwahlkreisen: 14.399.508=42,6 % Mandate in den Einpersonenwahlreisen: 152 Mandate für die Proportionalquote: 24 Mandate insgesamt: 176 von 315. 7 FI, MSI/AN, LN, CCD.

8 Nach der Listenwahl zum Abgeordnetenhaus erhielt bei den Parlamentswahlen von 1994 Forza Italia 21 Prozent, Alleanza Nazionale 13,5 Prozent, und die Lega Nord 8,4 Prozent der Wählerstimmen, bei den Parlamentswahlen von 2001 FI 29,4 Prozent, AN nur 12 Prozent, und die Lega Nord ganze 3,9 Prozent. CCD gehörte zwar 1994 dem rechten Wahlbündnis Pol der Freiheiten an, erhielt jedoch bei der Listenwahl nach dem Verhältniswahlrecht weniger als ein Prozent der Wählerstimmen und war deshalb nicht als Ein- zelpartei im Parlament vertreten. 2001 konnte sie dagegen gemeinsam mit CDU 3,2 Prozent der Wähler- stimmen erringen. Vgl. Pasquino, Gianfranco (Hrsg.): Dall'Ulivo al governo Berlusconi. Le elezioni del 13 maggio 2001 et il sistema politico italiano, Bologna 2002, Tabelle 3.2, S.94/95. 9 Parlamentsfraktionen der Regierungsparteien in der XIV. Legislaturperiode Abgeordnetenkammer Senat Forza Italia 178 82 Alleanza 99 45 Nazionale UDC 40 29 Lega Nord 30 17 81

Als transversale Partei könnte sie zwar theoretisch sowohl mit der rechten als auch mit der linken Mitte koalieren. Sie wird von dieser theoretischen Möglichkeit jedoch kaum Gebrauch machen, denn ein erneuter Koalitionsbruch wie im Dezember 1994 würde ihr jegliche Glaubwürdigkeit nehmen. Auf Grund der Struktur und des Kräfteverhältnisses innerhalb der Regierungskoalition besitzen die kleineren Koalitionsparteien gegenüber dem Regierungschef eine beachtliche Koalitions- und Vetomacht.

Dies zeigte sich bereits bei der Regierungsbildung im Juni 2001. Die kleineren Koalitions- parteien konnten Berlusconi zwar nicht zwingen, Regierungsposten nach dem reinen Partei- enproporz zu verteilen, wie dies in den Regierungskoalitionen der "Ersten Republik" üblich war. Er konnte daher einige Ministerposten mit parteilosen Ministern besetzen. Der promi- nenteste unter diesen war der Berufsdiplomat , der das Außenministerium erhielt.10 Um jedoch die Machtansprüche aller Koalitionsparteien zu befriedigen, sah sich Berlusconi genötigt, den Chef der Alleanza Nazionale, Gianfranco Fini, zum Vizepräsidenten zu machen und außer vierzehn Minister mit Ressort noch neun Minister ohne Ressort zu er- nennen. Alle Regierungsparteien sind damit personell mehrfach im Kabinett vertreten und können so unmittelbar die Regierungspolitik beeinflussen. Sie haben außerdem noch die Möglichkeit, ihre Ansichten und Interessen in Gipfelgesprächen der Koalitionsparteien vorzu- tragen, an denen auch reine Parteipolitiker ohne Regierungsamt oder parlamentarische Füh- rungspositionen teilnehmen. 11 Sie sind daher nach wie vor die entscheidenden Kräfte der ita- lienischen Politik.

Die Regierungskoalition ist aus einer Wahlkoalition hervorgegangen, die vor allem unter dem Zwang des 1993 eingeführten neuen Wahlrechts gebildet wurde. Sie beruht daher primär auf strategischen Überlegungen. Auf Grund ihrer ideologischen, programmatischen und politi- schen Unterschiede sind die Koalitionsparteien jedoch weiterhin politische Konkurrenten. Dies zeigte sich vor den Wahlen in den komplizierten Verhandlungen um die gemeinsame Kandidatenaufstellung in den Wahlkreisen und nach den Wahlen in den Auseinandersetzun- gen um die Besetzung von Regierungsposten sowie um die Durchsetzung von parteispezifi- schen Interessen. Die erste Regierung Berlusconi 1994 ist nach nur sieben Monaten an koali- tionsinternen Gegensätzen gescheitert. Im Interesse der Machtbehauptung bemühen sich da- her die Koalitionsparteien diesmal um koalitionsinterne Kompromisse. Dies ist ihnen bisher auch gelungen.

1.5 Kohäsion der Regierungskoalition

Das Rechtsbündnis beruhte vor allem auf dem gemeinsamen Willen der Bündnispartner, Ita- lien zu modernisieren. 12 Die Vorstellungen über die Formen und Finalitäten der Modernisie- rung sind jedoch sehr unterschiedlich. Während Forza Italia vor allem die Marktkräfte mobili- sieren und so die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft steigern will, geht es Alleanza Nazionale

10 Seine Ernennung erfolgte auf Drängen des Staatspräsidenten Ciampi sowie des Fiatchefs Gianni Agnelli als Garant der proeuropäischen Orientierung der Regierungspolitik, um eventuelle Besorgnisse der EU-Partner wegen der Regierungsbeteiligung von Alleanza Nazionale und Lega Nord zu zerstreuen. Campus, D.: La formazione del governo Berlusconi, in: Gianfranco Pasquino (Hrsg.), Dall'Ulivo al governo Berlusconi. Le elezioni del 13 maggio 2001 et il sistema politico italiano, Bologna 2002, S.275-294. 11 Trautmann, Günter/Ullrich, Hartmut: Das politische System Italiens, in: Wolfgang Ismayr (Hrsg.), Die politischen Systeme Westeuropas, Opladen 1997, S.12. 12 Christen, Christian: Italiens Modernisierung von Rechts. Berlusconi, Bossi, Fini oder die Zerschlagung des Wohlfahrtsstaates, Berlin 2001. 82 um die Stärkung der nationalen Gemeinschaft, der Lega Nord um die Föderalisierung des Staates und der UDC um die Verteidigung der christlichen Werte. Aus diesen programmati- schen Zielkonflikten ergeben sich häufig unterschiedliche Haltungen zu Sachthemen. Die zentralen Bruchlinien der italienischen Politik verlaufen jedoch nicht zwischen den Regie- rungsparteien, sondern durch diese hindurch. Alle Regierungsparteien sind daher intern in zentralen Fragen gespalten, so in der Frage des Wahlrechts, der Verfassungsreform, des Staatsaufbaus, der Liberalisierung des Arbeitmarktes, des Umbaus des Sozialstaates und der Weiterentwicklung der Europäischen Union.

In den Auseinandersetzungen um das Wahlrecht bei nationalen Parlamentswahlen geht es vor allem um die Frage Verhältnis- oder Mehrheitswahlrecht bzw. eine Kombination von beiden. Berlusconi befürwortete ursprünglich das Mehrheitswahlrecht, sprach sich jedoch seit De- zember 2001 wiederholt für die Rückkehr zum Verhältniswahlrecht aus, um keine Wahlkoa- litionen mehr bilden zu müssen. Alleanza Nazionale verteidigt dagegen das Mehrheitswahl- recht, weil sie nur so ihre Isolierung im politischen System vermeiden kann. Berlusconi for- dert dagegen wie seit langem AN die Direktwahl des Staatspräsidenten und die Ausweitung seiner Kompetenzen nach französischem Vorbild, um die Exekutive und die staatliche Einheit zu stärken. Er, aber auch Fini, hoffen, eines Tages das höchste Staatsamt besetzen zu können. UDC und Lega sind dagegen eher für eine Stärkung der Position des Regierungschefs, da sie als Klein- bzw. Regionalparteien kaum eine Chance haben, je Präsidentschaftswahlen zu ge- winnen. Sie setzen daher weiterhin auf eine parlamentarische Strategie der Machteroberung und Machtbehauptung. In der Wirtschafts- und Sozialpolitik favorisiert FI neoliberale Positi- onen. Sie wird dabei von der Mehrheit von AN sowie einem Teil von UDC unterstützt. Die sozialen Flügel innerhalb von AN (destra sociale), von UDC (Buttiglione) und der Lega (Ma- roni) befürworten auch eine Stärkung der Marktkräfte, verteidigen jedoch gleichzeitig den Sozialprotektionismus. In den Auseinandersetzungen um den Staatsaufbau fordert die Lega eine Föderalisierung des Staates, AN verteidigt dagegen den Unitarismus und befürwortet wie FI eher eine Devolution, d.h. eine Übertragung von Kompetenzen an subnationale Einheiten sowie eine Dezentralisierung der Verwaltung. In der Europapolitik befürwortet die Mehrheit von FN, AN und UDC eine Kombination intergouvernementaler und supranationaler Ele- mente, eine Minderheit von FI (Wirtschaftsminister Tremonti) ist gegen eine weitere Wirt- schaftsintegration, und die Lega lehnt die europäische Integration im Grunde genommen ab. Alle Koalitionsparteien wollen jedoch den Kern der nationalen Souveränität bewahren und sind daher gegen die Schaffung eines europäischen Bundesstaates. Die unterschiedlichen Haltungen zur weiteren institutionellen Entwicklung beeinflusst auch die Haltung zur Ost- Erweiterung. Intensivere institutionelle Vereinheitlichung und stärkere wechselseitige Bin- dungen erschweren die Erweiterung und umgekehrt. Eine Erweiterung würde die Marktchan- cen italienischer Unternehmen in Ostmitteleuropa vergrößern, den Wettbewerb auf dem ita- lienischen Markt aber verschärfen und die Fördergelder für strukturschwache Gebiete erheb- lich verringern. 13 Kein Wunder, dass die aus dem Süden kommenden Repräsentanten der Re- gierungsparteien, aber auch die regionalistische Lega Nord gegen eine "große" Erweiterung sind.

Auch bei Sachthemen verlaufen die Konfliktlinien häufig durch die einzelnen Regierungs- parteien hindurch. So standen sich bei den Auseinandersetzungen um das Haushaltsgesetz für 2003 Verteidiger einer strikten Haushaltsdisziplin und Befürworter einer flexiblen Haushalts- politik im alten Stil, Interessenvertreter des Südens und des Nordens, Befürworter und Gegner einer Steueramnestie gegenüber.14 Während Finanzminister Giulio Tremonti sparen will, um

13 Polaczek, Dietmar: FAZ, 20.4.2002, S.46. 14 La Repubblica, 23.10.2002, S.3. 83 die Staatsverschuldung entsprechend den Maastrichtkriterien abzubauen und um Handlungs- spielraum für Steuersenkungen zu gewinnen, fordern die meridionalen Repräsentanten von AN, UDC und auch von FI mehr Geld für den Süden, die Lega Nord dagegen Hilfe für Pie- mont, das unter den Folgen der Fiatkrise leidet.15

Die Gegensätze innerhalb der Regierungskoalition zwingen Berlusconi, ständig zwischen den verschiedenen Positionen zu vermitteln. Er braucht nicht nur die Zustimmung der Parteifüh- rer, sondern auch die der Minister, der Fraktionschefs und Meinungsführer. Unter diesen gibt es Herzöge, Grafen und Ritter. Jeder will ernst genommen werden, jeder hat seine eigene Meinung. Auch die einfachen Parlamentarier, die Hinterbänkler, wollen beachtet werden, denn von ihnen hängt die parlamentarische Mehrheit ab. Ein Land lässt sich nicht wie ein großes Unternehmen führen, Italien ist nicht die Fininvest. Das hat Berlusconi zu seinem Leidwesen während seiner kurzen Amtszeit im Jahre 1994 erfahren müssen. Er bemüht sich deshalb diesmal um regierungs- und koalitionsinternen Konsens. Dies ist ohne Zugeständnis- se, ohne Kompromisse nicht zu machen. Bisher ist es ihm so stets gelungen, die Geschlossen- heit seiner Regierungskoalition zu wahren. Nur einzelne Politiker der Regierungsmehrheit, die nicht direkt in die Koalitionsdisziplin eingebunden sind, wie z.B. der Kammerpräsident Casini, versuchen sich öffentlich durch abweichende Meinungen zu profilieren. 16 Statt über Sachthemen werden die Rivalitäten zwischen den Regierungsparteien vor allem in Personal- fragen ausgetragen, so z.B. bei der Besetzung des Verwaltungsrates der staatlichen Rundfunk- und Fernsehanstalt RAI. Bei dieser konnten sich CCD und die Lega durchsetzen, AN ging dagegen leer aus, obwohl sie dreimal so stark wie die Lega ist.17 Trotz dieser personalpoliti- schen Rivalitäten ist die Regierungskoalition stabil und die Regierung damit voll handlungs- fähig. Trotzdem kommt der Reformprozess nur langsam voran. Ein Grund dafür bildet das komplizierte Gesetzgebungsverfahren.

Italien besitzt ein Zweikammersystem, in dem beide Häuser des Parlaments zwar nicht poli- tisch gleichwertig, aber voll gleichberechtigt sind (bicameralismo perfetto). Alle Gesetze müssen daher von beiden Kammern mit identischem Text angenommen werden. Das Abge- ordnetenhaus hat zwar ein größeres politisches Gewicht, kann jedoch den Senat nicht wie in Frankreich überstimmen. Absprachen und Kompromisse zwischen beiden Kammern sind da- her unerlässlich.

Dies ist nur mit erheblichem Zeitaufwand möglich. Außerdem gibt es einzelnen Parlamenta- riern der Mehrheit die Möglichkeit, Änderungen am Gesetzestext zu erzwingen. Besondere parlamentarische Probleme ergeben sich für die Regierungskoalition aus den angestrebten Verfassungsänderungen (Direktwahl des Präsidenten, Ausweitung der präsidenziellen Kom- petenzen, Föderalisierung des Staates). Diese erfordern entweder bei einfacher parlamentari- scher Mehrheit die Zustimmung des Volkes in einem Referendum oder parlamentarische Zweidrittelmehrheiten in beiden Häusern des Parlaments. Da die Regierung über keine Zwei- drittelmehrheit verfügt, muss sie daher in Verfassungsfragen entweder das Risiko eines Refe- rendums eingehen oder aber eine Verständigung mit den Oppositionsparteien suchen. Dies erfordert über Bündnisgrenzen hinweg konsoziative Kompromisse, wie sie in der "Ersten Re- publik" zwischen DC und PCI üblich waren und um die sich auch Berlusconi (FI) und D'A- lema (DS) in den Jahren 1995/96 in der Wirtschafts- Medien- und Verfassungspolitik mit Hil-

15 La Repubblica, 23.10.2002, S.2/3. 16 So forderte Casini z.B. am 9.10.2002 die Koalitionsparteien auf, das Haushaltsgesetz für 2003 wegen sozial unausgeglichener Maßnahmen noch einmal zu überprüfen, in: la Repubblica, 10.10.2002, S.3. 17 FAZ, 25.2.2002, S.6. 84 fe von gesetzlichen Paketlösungen bemühten. Die Erfahrungen mit der Bicamerale, d.h. der Verfassungskommission beider Häuser des Parlaments in den Jahren 1996-2001, zeigen je- doch, wie schwierig Verfassungskompromisse zu erreichen sind.18

Die gegenwärtige Stabilität der Regierungskoalition kontrastiert erheblich mit ihrer Instabili- tät im Jahre 1994. Sie erklärt sich vor allem aus dem Zwang zur Koalitionstreue aller Koaliti- onsparteien, denn nur diese garantiert die Existenz der Regierungsmehrheit. Keine der Koali- tionsparteien hat gegenwärtig eine Koalitionsalternative. Der Zwang zur Koalitionstreue aber nötigt alle Koalitionsparteien zum Kompromiss. Die Kompromissbereitschaft bzw. die Kom- promissfähigkeit ist daher von zentraler Bedeutung für den weiteren Bestand der Rechtskoa- lition.

1.6 Bürokratie

Bei der Durchsetzung seiner Politik stützt sich Berlusconi vor allem auf die staatliche Ver- waltung und die Massenmedien. Der administrative Zentralismus erlaubt es der Regierung, ihre Entscheidungen mit Hilfe der staatlichen Verwaltung in der Peripherie durchzusetzen. Die Verfassungsänderung von 2001 hat diese Möglichkeit zwar durch die Erweiterung der administrativen Kompetenzen der subnationalen Einheiten eingeschränkt, aber keineswegs beseitigt. Die Macht der staatlichen Verwaltung ist daher nach wie vor groß. Innerhalb der Verwaltungsapparate bestehen jedoch erhebliche passive Widerstände gegen die Regierungs- politik. So sträubt sich z.B. der diplomatische Dienst gegen seine Instrumentalisierung für die Außenwirtschaftspolitik und die Kultusbürokratie gegen die Kommerzialisierung des Kultur- erbes. Berlusconi versucht, den passiven Widerstand in den staatlichen Verwaltungen durch eine Reorganisation ihrer Personalstruktur und einen partiellen Austausch ihres Personals zu brechen. 19 Das Verwaltungspersonal stammt noch überwiegend aus der "Ersten Republik", in der die Ministerien und ihre Verwaltungen eine Domäne der herrschenden Parteien waren. Seine Mentalität und seine politischen Haltungen sind daher stark von diesen geprägt worden. Auf Grund der Schwerfälligkeit von Bürokratien werden sich diese personellen Veränderun- gen aber erst langfristig auswirken. Kurzfristig dürften sie eher den passiven Widerstand ge- gen die Regierungspolitik verstärken.

Ein besonderes Problem bei der adminis-trativen Durchsetzung der Regierungspolitik bildet die Autonomie der Regionen, insbesondere der Regionen mit Sonderstatus, die durch die Ver- fassungsänderung von 2001 noch gestärkt wurde. Sie beschränkt die Handlungsmöglichkeit der Regierung in einigen Bereichen, z.B. dem der Infrastruktur, des Tourismus, der Raumpla- nung etc., beträchtlich. Sie kann daher z.B. wenig für die Entwicklung des Tourismus in Sizi- lien tun, der eine Alternative zur Industrie bieten könnte.20

18 Pasquino, Gianfranco: Autopsia della Bicamerale, in: D. Hine/S. Vassallo (Hrsg.), Politica in Italia. Edizione 99, Bologna, S.117-138. 19 Das im September 2002 verabschiedete Verwaltungsgesetz "Frattini" bietet ihm dazu die rechtliche Mög- lichkeit. FAZ, 27.9.2002, S.37. 20 Ganz Sizilien mit seinen fünf Millionen Einwohnern hat nur wenig mehr als 100.000 Arbeitsplätze im ver- arbeitenden Gewerbe, aber hervorragende Bedingungen für den Tourismus. Infolge der schwachen Beher- bergungskapazität übertreffen die Übernachtungszahlen aber kaum die des kleinen Maltas. Siehe FAZ, 24.10.2002, S.3. 85

1.7 Massenmedien

Bei der Durchsetzung seiner Politik stützt sich Berlusconi nicht nur auf den staatlichen Ver- waltungsapparat, sondern auch auf die Medien, insbesondere das Fernsehen.

Berlusconi übt mittels der Ämterpatronage als Regierungschef einen beträchtlichen Einfluss auf das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem, als Medienunternehmer auf das private Fern- sehen aus. Trotz seiner geballten Medienmacht ist Berlusconi jedoch kein "Medien- Bonaparte", der über die Köpfe der Parlamentarier hinweg direkt an das Volk zu appellieren und dieses gegen die Parteien zu mobilisieren vermag. Italien ist daher heute keine "Medien- diktatur", in welcher der Regierungschef ohne Zustimmung des Parlamentes, der Parteien und Verbände regieren könnte. Wohl aber kann er über das Fernsehen seine Vorstellungen mas- senwirksam in der Öffentlichkeit vertreten bzw. vertreten lassen und so die politische Mei- nungsbildung erheblich beeinflussen. Da er auch noch einen eigenen Verlag (Mondadori) und sein Bruder eine eigene Zeitung, il Giornale, besitzt, beeinflusst er außerdem noch über die Druckmedien die öffentliche Debatte. Diese mediale Machtkonzentration bildet zweifellos ein Problem für das Funktionieren der italienischen Demokratie.

1.8 Die parlamentarische Opposition

Die parlamentarische Opposition braucht die Regierung zurzeit nicht zu fürchten. Sie ist seit ihrer Wahlniederlage vom Mai 2001 zahlenmäßig schwach und politisch zerstritten. Ihr fehlt sowohl ein gemeinsames Projekt als auch ein gemeinsamer Führer. Sie ist daher nur bedingt handlungsfähig. Sie versucht zwar, durch zahlreiche Änderungsanträge den Gesetzgebungs- prozess zu verschleppen. So brachte sie gegen das Justizgesetz "Cirami" 89 Änderungsanträge ein. 21 Sie war aber bisher mit dieser Strategie nicht erfolgreich.

Die Oppositionsparteien vermögen auch ihre parlamentarische Schwäche nicht durch außer- parlamentarische Aktionen zu kompensieren. Lediglich die Neokommunisten sind noch fähig, in Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Bewegungen (Pazifisten, Antiimperialisten, Globalisierungsgegner) punktuell politischen Protest zu organisieren, so z.B. im September 2002 gegen die amerikanische Irakpolitik.22 Aber auch sie sind nicht in der Lage, die Massen zu mobilisieren, wie dies einst die Kommunisten in den Siebzigerjahren vermochten. Auch sie können daher auf die Regierung keinen außerparlamentarischen Druck ausüben.

1.9 Gesellschaftliche Kräfte

Wesentlich gefährlicher als die parlamentarische Opposition sind für die Regierung Berlusco- ni heute außerparlamentarische Kräfte. Die wichtigsten unter diesen sind die Gewerkschaften und zivilgesellschaftliche Protestbewegungen. Beide können Massen mobilisieren und so au- ßerparlamentarischen Druck auf die Regierung ausüben.

Die italienische Gewerkschaftsbewegung besteht aus mehreren großen Gewerkschaftsbünden sowie zahlreichen kleinen Einzelgewerkschaften. Die wichtigsten Gewerkschaftsbünde sind die CGIL (Confederazione Generale Italiana del Lavoro) mit 5.402.402, die CISL (Confede-

21 La Repubblica, 13. u. 14.10.2002, S.1ff. 22 La Repubblica, 30.9.2002, S.1. 86 razione Italiana Sindacati dei Lavoratori) mit 4.083.996 und die UIL (Unione Italiana del La- voro) mit 1.796.746 Mitgliedern. 23 Alle drei Gewerkschaftsbünde waren ursprünglich stark weltanschaulich geprägt und standen bis zu Beginn der Siebzigerjahre ideologisch- programmatisch affinen Parteien nahe: die CGIL dem PCI, die CISL der DC und die UIL (Unione Italiana del Lavoro) dem PRI. Die Gewerkschaftsbewegung war daher wie das Par- teiensystem stark fragmentiert und polarisiert. Dies schwächte erheblich ihre Schlagkraft. Die Laizisierung der katholischen Welt seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1963-1965), die Transformation der DC, des PCI und des PRI von Programm- zu Kartellparteien in den Acht- zigerjahren und der Zusammenbruch des alten Parteiensystems Anfang der Neunzigerjahre zerstörten die engen Verflechtungen von Gewerkschaften und Parteien. Heute bestehen zwi- schen beiden nur noch lockere Beziehungen. Am stärksten sind diese noch immer zwischen der CGIL und der Linken. Aber das Kräfteverhältnis zwischen beiden hat sich umgekehrt. Die CGIL führt und die Linksparteien folgen, wie erst jüngst wieder die sozialpolitischen Ausei- nandersetzungen um den Artikel 18 des Arbeitsrechts gezeigt haben.

Die erste Regierung Berlusconi versuchte, das Repräsentationsmonopol der drei großen Ge- werkschaftszentralen CGIL, CISL und UIL durch die Einbeziehung der MSI-nahen CISNAL (Confederazione Italiana Sindacati Nazionali) sowie autonomer Gewerkschaften in den sozi- alen Dialog zu brechen. Sie scheiterte jedoch am Widerstand der großen Gewerkschaftsbünde. Als sie im Herbst 1994 Rentenkürzungen ohne Absprache mit ihnen durchsetzen wollte, wur- de sie von diesen durch einen Generalstreik zum Rückzug gezwungen. Auch die zweite Re- gierung Berlusconi stößt auf den heftigen Widerstand der Gewerkschaften, insbesondere der CGIL. Diese ist noch immer staatsorientiert und verteidigt deshalb die Marktregulation sowie den Sozialstaat. Sie organisierte im April sowie im Oktober 2002 Generalstreiks, um die Re- gierung zum Verzicht auf ihre Reformvorhaben zu zwingen. An diesen beteiligten sich meh- rere Millionen. Sie wurden von den Oppositionsparteien und der Oppositionspresse unter- stützt.24 Die beiden anderen großen Gewerkschaftsbünde, die CISL und die UIL, nahmen da- gegen nicht an den Generalstreiks und Protestkundgebungen teil, da sie einen Dialog mit der Regierung befürworten. Berlusconi sucht daher eine Verständigung mit ihnen. 25

Der gewerkschaftlich organisierte Massenprotest gegen die Regierung Berlusconi erhielt im Herbst 2002 starken Auftrieb durch die Krise des Fiat-Konzerns.26 Infolge von erheblichen Absatzschwierigkeiten im Kerngeschäft, der Automobilproduktion, sind nur etwa zwei Drittel der Produktionskapazität der Automobilwerke ausgelastet. Die Konzernleitung plant deshalb Massenentlassungen. Gegen diese protes-tierte die CGIL heftig. Die CISL und die UIL stimmten zunächst kleineren Entlassungen zu, um so Werkschließungen zu vermeiden. Sie widersetzt sich jedoch ebenfalls entschieden der nun geplanten Schließung eines Autowerks im sizilianischen Termini Imerese sowie der weiteren Entlassung von 8100 Mitarbeitern. Ihre Metallarbeitergewerkschaften Fim und Uilm planten gemeinsam mit der Fiom, der Metallar- beitergewerkschaft der CGIL, einen Proteststreik am 15. November 2002.27 Die Fiatkrise führt so zu einer vorübergehenden Aktionseinheit der großen Gewerkschaften. Die Divergen- zen in der Tarifpolitik sowie gegenüber der Regierung Berlusconi bleiben jedoch bestehen.

23 Stand von 2000, siehe la Repubblica, 23.10.2002, S.4. 24 La Repubblica, 19.4.2002, S.1, 3-5; la Repubblica, 19.10.2002, S.1-3. 25 La Repubblica, 23.10.2002, S.4. 26 FAZ, 19.10.2002, S.31 sowie 24.10.2002, S.3. 27 La Repubblica, 23.10.2002, S.4. 87

Die unterschiedlichen Haltungen der einzelnen Gewerkschaften gegenüber der Regierung Berlusconi spiegeln die zunehmende Differenzierung der Interessenlagen und Interesseninter- pretationen innerhalb der italienischen Arbeitnehmerschaft wider. Während die potenziellen Modernisierungsverlierer (Industriearbeiter) neoliberale Wirtschafts- und Sozialreformen strikt ablehnen, stehen ihnen potenzielle Modernisierungsgewinner (Dienstleistungen) auf- geschlossen gegenüber. Die Regierung Berlusconi versucht, diese Differenzierungen auszu- nutzen, um ihre Reformvorhaben zu retten. Ob ihr dies gelingen wird, ist jedoch fraglich, denn auch die reformwilligen Gewerkschaften lehnen eine Liberalisierung des Arbeitsmarktes und einen Abbau des Sozialstaates ab. Außerdem bildet die CGIL noch immer die stärkste Kraft innerhalb der italienischen Gewerkschaftsbewegung. Gegen ihren Widerstand lässt sich daher die Sozialverfassung nur schwer ändern. Ihre Vetomacht nimmt jedoch ab, da sie durch den wirtschaftlichen Strukturwandel in eine Repräsentationskrise geraten ist. Sie vertritt vor allem die Interessen von Industriearbeitern, deren Anteil an den Beschäftigten kontinuierlich zurückgeht. Dafür wächst das Gewicht von fachspezifischen Berufsorganisationen, welche die sozialen Träger der Modernisierung repräsentieren. Dadurch verlieren nicht nur die GGIL, sondern auch die beiden anderen großen Gewerkschaftsbünde an Einfluss.28

Die zivilgesellschaftlichen Protestbewegungen besitzen im Gegensatz zu den Gewerkschaften keine festen Organisationsstrukturen. Ihren Kern bilden kleine Komitees, die von parteilosen Personen gebildet werden, so z.B. die Bürgerbewegung "Girotondi" (Ringelreihen) des Film- regisseurs Nanni Moretti sowie Paolo Flores D'Arcais, Sievia Bonucci, Francesco Pardi. 29 Sie stehen im Gegensatz zu den Gewerkschaften in keiner erkennbaren Verbindung zu den Par- teien. Ihr Protest richtet sich sowohl gegen die Globalisierung sowie die Außen- und Militär- politik der Vereinigten Staaten als auch gegen die Rechts-, Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung Berlusconi. So demonstrierten im Juli 2002 Globalisierungsgegner in Genua gegen den Weltwirtschaftsgipfel, im September 2002 protestierten rund 250.000 bis 500.000 Men- schen in Rom mit Ringelreihen gegen die geplante Reform der Justiz, am 29. September und am 5. Oktober 2002 marschierten in verschiedenen Städten Demonstranten gegen die ameri- kanische Irakpolitik.30 Die Linke versucht, diese zivilgesellschaftlichen Protestbewegungen für ihre eigenen Ziele zu instrumentalisieren. So beteiligten sich an der Protestkundgebung vom 14. September 2002 in Rom prominente Repräsentanten der Gewerkschaften und der Oppositionsparteien, auch der Vorsitzende der CGIL, Sergio Cofferati, der Vorsitzende der neokommunistischen Rifondazione Comunista, Fausto Bertinotti, der ehemalige Mailänder Staatsanwalt und gegenwärtige Chef der Partei Italia dei Valori, Antonio Di Pietro, der Gene- ralsekretär der Linksdemokraten Piero Fassino und der Gründer der linksbürgerlichen Partei- enföderation Margherita, Francesco Rutelli.31 Es ist jedoch fraglich, ob es der Linken gelin- gen wird, die zivilgesellschaftlichen Bewegungen zu vereinnahmen, denn deren Protest richtet sich gegen die gesamte politische Klasse.32 Die zivilgesellschaftlichen Akteure erheben den Anspruch, die wahre Meinung des Volkes zu vertreten. Ihr Protest ist ein Ausdruck der "Antipolitik", die ein wesentliches Element der ita- lienischen Politik bildet.33 Diese richtete sich in der Vergangenheit gegen die "Parteienherr-

28 Trautmann, G./Ullrich, H.: Das politische System Italiens, S.33. 29 Le Monde, 17.9.2002, S.5. 30 La Repubblica, 30.9.2002, S.1/3-5, ebda. 7.10.2002, S.3. 31 La Repubblica, 15.9.2002, S.1.

32 Galli della Loggia, Ernesto: Corriere della Sera, 15.10.2002, S.3. 33 Mastropaolo, Alfio: Italie: quand la politique invente la société civile, in: Revue française de science polit i- que, Bd.51, Heft 4, August 2001, S.621-636. 88 schaft" und hat so wesentlich zum Zusammenbruch des alten Parteiensystems beigetragen. Sie richtet sich heute gegen die Regierung Berlusconi, weil sie die offizielle Politik verkörpert. Sie kann sich aber auch morgen gegen die Linke richten, falls diese wieder an die Macht kommen sollte.

Der Bedeutungsgewinn des gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Massenprotestes ist ein weiteres Indiz für den Bedeutungsverlust der Oppositionsparteien und damit des Par- lamentes. Politisch wirksam kann der zivilgesellschaftliche Massenprotest jedoch nur werden, wenn er eine grundlegende Änderung des Meinungsklimas und damit des Wählerverhaltens bewirken würde. Bei den nächsten Parlamentswahlen könnte er dann zu einem Machtwechsel führen. Diese finden aber erst im Jahre 2006 statt, falls es vorher nicht zu Neuwahlen kom- men sollte. Bis dahin hätte die Regierung Zeit, ihr Reformprogramm zu verwirklichen. Ber- lusconi stößt jedoch nicht nur auf den Widerstand der Gewerkschaften und sozialer Protest- bewegungen, sondern neuerdings auch auf den der Unternehmer und des Handels. Die Unter- nehmer und Einzelhändler hatten die Bildung der Mitte-Rechtsregierung begrüßt, weil sie sich von ihr grundlegende Wirtschaftsreformen versprachen. Viele von ihnen, insbesondere Klein- und Mittelunternehmer in Nord- und Mittelitalien, sind jedoch von der Regierung Berlusconi enttäuscht, da diese die versprochene Liberalisierung des Arbeitsmarktes nicht entschlossen durchgesetzt hat. Ihre Interessenvertretung, die Confindustria, kritisierte bei der Debatte des Haushaltsgesetzes für 2003 Finanzminister Tremonti heftig, da er rückwirkend die Kriterien für die Berechnung der Unternehmensgewinne verschlechtert hat und einen Teil der Investiti- onshilfen für den Süden zurückhaben will.34 Auch die Confcommercio, die Interessenvertre- tung des Handels, kritisierte den Finanzminister, weil das Haushaltsgesetz für 2003 die gro- ßen Unternehmen sowie die Automobilbranche bevorzuge, den Einzelhandel jedoch mit hö- heren Steuern belaste und nicht genügend die Massenkaufkraft stärke.35

2. Konklusion

Auf Grund der zahlreichen Widerstände gegen seine Politik ist auch Berlusconi, wie schon seine Vorgänger, zum Lavieren gezwungen. Seine Handlungsmöglichkeiten sind zwar erheb- lich größer als die seiner Vorgänger, da er de facto direkt vom Volk gewählt wurde, sich auf eine kompakte parlamentarische Mehrheit stützen kann und über geballte Medien- und Fi- nanzmacht verfügt. Trotzdem muss auch er die Interessen der Parteien respektieren und mit gesellschaftlichen Gruppen Kompromisse schließen, so z.B. mit den Gewerkschaften in der Frage des Arbeitsrechts. Berlusconi sucht den Ausweg aus dieser Zwangslage durch eine Stärkung der staatlichen Exekutive mittels der Direktwahl des Präsidenten und der Auswei- tung seiner Kompetenzen nach französischem Vorbild. Die französischen Erfahrungen zeigen jedoch, dass dies allein nicht ausreicht. Entscheidend bleibt die Haltung der politischen und gesellschaftlichen Kräfte, d.h. der Parteien, Verbände, Bürokratien, Korporationen etc. Solan- ge diese nicht zu tief greifenden Veränderungen bereit sind, wird auch Berlusconi Italien nicht grundlegend modernisieren können.

34 La Repubblica, 23.10.2002, S.2/3. 35 La Repubblica, 23.10.2002, S.3. 89

Die "Lega Nord" – Vertretung regionaler Interessen im Nationalstaat

Francesco Iori

1. Zur Einführung: zwanzig Jahre später

Nach zwanzig Jahren, so Dumas Père in seinem Roman ("Vingt ans après"; A.d.Ü.), hatten sich die feurigen Musketiere aber schon sehr verändert: Sie sind vorsichtig geworden, bringen sich nicht dauernd in Schwierigkeiten, und sie haben gelernt, erst einmal nachzudenken.

Zwanzig Jahre nach seinem ersten Auftreten auf der italienischen politischen Bühne ist auch Bossi, unser D'Artagnan, nicht mehr derselbe. Der Haudegen, der gegen "Rom, die große Räuberin" vom Leder zu ziehen pflegte, ist heute Minister jener Republik geworden, der er mit der Abspaltung gedroht hatte. Er achtet die Etikette, lässt sich in einem dunkelblauen Auto herumfahren, hat seinen Dienstschreibtisch. Er hat sogar gute Manieren gelernt und sei- ne ausfallende Sprechweise abgelegt, die ihm unter anderem nicht wenige Anzeigen und Ge- richtsverfahren eingetragen hatte.

Wie die drei Musketiere bei Dumas, so scheint auch der stürmische Bossi begriffen zu haben, dass der verhasste "Kardinal" doch immerhin die Einheit der Nation garantiert und sehr viel mehr an die wirklichen Interessen des Staates denkt als der oberflächliche König, der sich mehr bei höfischen Festen und Hirschjagden sehen lässt, als dass er sich um die Leitung der Staatsgeschäfte kümmert. Und aus dieser Erfahrung arbeitet er mit ihm zusammen, allerdings ohne große Begeisterung: Wenn dieser ihm nur die Beachtung jenes Grundprinzips garantiert, auf das die Lega, die von ihm gegründete politische Bewegung, aufbaut, nämlich den regio- nalen Interessen des Nordens eine starke Vertretung zu verschaffen. Aber, um zu verstehen, wie er dahin gekommen ist, sollte man noch einmal die zwanzig Jahre durchgehen, die ihn zu relativer Weisheit gebracht haben.

2. Der Gründungsmythos: die "Serenissima", der Staat von Venedig

Alles geht aus von wenigen Menschen, kaum wahrnehmbar hinter dem Getöse einer Periode dramatischer sozialer Spannungen, die man in Italien mit dem Begriff der "bleiernen Zeit" kennzeichnet. Aber gerade um dieses heiße Jahr 1977 findet eine Generation von etwa Zwan- zigjährigen aus dem Veneto im Mythos der Republik Venedig den Antrieb und das Verbin- dende zur Formierung einer zunächst kulturellen, dann politischen Gruppierung. Zwei von ihnen werden zu jenem Einsatzkommando gehören, das genau zwanzig Jahre später im Mai 1997 die ganze Welt auf sich aufmerksam macht durch den Angriff auf den Glockenturm von San Marco und seine anschließende Besetzung: eine Aufsehen erregende Tat, für die ein symbolisches Datum gewählt worden war, der zweihundertste Jahrestag des Untergangs der "Serenissima".

Von hier führt der Weg hin bis zu Umberto Bossi: ausgehend von einem Kurs über die Spra- che und die Kultur der Veneter, um den herum sich etwa gleichzeitig eine politische Bewe- gung bildet, die sich im Januar 1980 in einem Notariat zu Padua mit einer von vierzehn Mit- gliedern unterschriebenen Urkunde offiziell konstituiert. Sie nennt sich "Liga Veneta", und nicht ohne Grund wird ihr Anführer Franco Rocchetta sie nach Jahren als "die Mutter aller 90

Lega-Bewegungen" bezeichnen. Ihre Wurzel liegt im Anspruch auf regionale Identität, der sich zusammenfassen lässt im Schlagwort: "Veneter seit über dreitausend Jahren, Italiener seit wenig mehr als hundert". 1992 druckt die Zeitschrift "Politique internationale" ein von Marc Lazar geführtes Interview ab, in dem dieser Rocchetta sagt: "Wir sind die Erben eines Volkes, das seit 3500 Jahren das gleiche Land bewohnt, das nach ihm den Namen hat."

Die Bewegung ist ohne Mittel, stützt sich allein auf freiwillige Mitarbeit, arbeitet mit handge- schriebenen Flugblättern und Plakaten, führt Anklebeaktionen heimlich durch, lebt von der Mund-zu-Mund-Propaganda, und man trifft sich in Stehcafés oder Speiselokalen. Aber bei den Parlamentswahlen von 1983 erhält die Liga Veneta überraschend zwei Sitze und erringt ihre bedeutendsten Erfolge ausgerechnet in den Gebieten, in denen die christdemokratische Partei, die damals die vorherrschende war, am stärksten ist. Und doch wahrlich nicht ohne Grund: Die Stimmen für die Liga kommen deutlich von christdemokratischen Wählerschich- ten, die sich schon nicht mehr vertreten fühlen von jener Partei, in der sie über Jahrzehnte hinweg ihren Bezugspunkt gesehen hatten, und die bis vor wenigen Jahren noch auf die ab- solute Mehrheit zählen konnte. Dies vor allem aus Gründen der regionalen Identität und des Schutzes regionaler Interessen.

3. Das auslösende Moment: das Aufbegehren des Nordens

Die unerwartete Bestätigung für jene noch unvollkommene Liga geht auf viele der Gründe zurück, die in den Neunzigerjahren und bis heute in der Bewegung von Bossi eine Rolle spielen werden. Aus ihnen wird klar, wie und warum die Lega – nach dem Befund von Ilvo Diamanti, einem der wichtigsten Kenner dieser Erscheinung – zum "hauptsächlichen Element der Erneuerung im politischen System des Italiens der Nachkriegszeit, und zum größten Auslöser für Bewegung und Veränderung in der Politik und im Wählerverhalten der italieni- schen Gesellschaft" werden konnte.

Diese Gründe liegen vor allem in der Forderung nach einer starken regionalen Autonomie, die gegen den Zentralstaat steht, in der Ablehnung der Subventionswirtschaft, im Protest gegen die Fesseln des Bürokratismus, im Verlangen nach einer Reform der Steuern und der Infra- strukturen, im Wunsch, einige für ein bestimmtes Norditalien typische Leitbilder mehr her- vorgehoben und besser gewürdigt zu sehen, vor allem die aus der Welt der kleinen Unter- nehmen. Das Stimmenergebnis bei den Parlamentswahlen von 1996, aus denen die Lega mit vier Millionen Stimmen, entsprechend 21%, als erste Partei im Norden hervorgeht und dabei im Veneto sogar an 30% herankommt, gibt ein gutes Bild von jenem "bestimmten Nordita- lien": Es liegt in einem Streifen am Fuß der Alpen, der zwischen Cuneo in Piemont und Udine in Friaul verläuft, mit seinen kleinen und mittleren Ortschaften von hoher Industrialisierungs- dichte und niedrigem Stand der Arbeitslosigkeit.

Es ist dies der produktivste und am meisten in sich selbst ruhende Teil des Nordens, an dem eine Reihe von Bruchstellen deutlich werden: zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen Nord und Süd, zwischen privatem und öffentlichem Bereich, zwischen Zivilgesellschaft und herkömmlichen Parteien. Aber hier zeigt sich auch ein Norden, der sich in vielfacher Hinsicht alleingelassen fühlt, sozial, wirtschaftlich, landschaftsbezogen: Die Lega nimmt in den Neun- zigerjahren der Linken viele Arbeiterstimmen aus den Fabriken ab und der Mitte viele katho- lische Stimmen vom Land. Sie erhält auch Stimmen von Geistlichen. So von Don Severino Cecchin, Pfarrer in Aune di Sovramonte, einem Dörfchen mit wenigen hundert Seelen in der Provinz Belluno, der anfangs der Neunzigerjahre, als die DC noch präsent ist, dem "Gazzetti- no" in einem Interview erklärt: "Warum ich für die Lega gestimmt habe? Weil so manche 91 unserer Politiker nur zu uns kommen, wenn sie ein paar Stimmen brauchen. Danach lassen sie sich nicht mehr sehen, und wir werden sanft vergessen."

Es gab aber jemanden, und zwar in der christdemokratischen Partei, der diese Entwicklungen schon lange vorausgesehen hatte, aber er war der Einzige. Antonio Bisaglia nämlich, eine der geachtetsten Führungspersönlichkeiten der DC im Veneto und auf nationaler Ebene, der Ilvo Diamanti 1982 ein Interview gegeben und darin erklärt hatte: "Das größte Hindernis für eine nachhaltige Entwicklung der Chancen des Veneto liegt in der zentralistischen Sicht, die in Italien noch die vorherrschende ist. Zentralistisch und bürokratisch zugleich. Das Veneto würde sich nach meiner Meinung gerne an einem föderalen Staat beteiligen, wenn das mög- lich wäre. Aber nicht so Italien, da will man das nicht." Bisaglia denkt für sein Veneto an ei- nen Föderalismus nach deutschem Vorbild, und für seine DC des Veneto an eine autonome Rolle gegenüber der gesamtitalienischen DC, entsprechend dem Verhältnis zwischen CDU und CSU in Deutschland. Aber zwei Jahre nach diesen Äußerungen stirbt er bei einem Ver- kehrsunfall, und mit ihm sterben die autonomistischen Bestrebungen der Democrazia Cristia- na, und sie lassen dadurch einer von der Lega betriebenen Politik weiten Spielraum.

Es ist bezeichnend, dass mit dem Zerbrechen und Verschwinden der DC, also von den Parla- mentswahlen von 1994 ab, die Linke im Veneto nicht einmal einen kleinen Anteil von diesen Stimmen an sich bringen kann, welche dagegen hauptsächlich eben zur Lega und zu Forza Italia übergehen. Was die Bewegung von Bossi an Stimmen erhält, kommt aber aus verschie- denen Beweggründen bei ihr zusammen. Ihre Wählerschaft verhält sich ähnlich wie die Fahr- gäste in einem Omnibus: Manche steigen schon an der nächsten Haltestelle wieder aus, ande- re hatten an diesem bestimmten Tag keine Lust, ihr Auto aus der Garage zu holen, und wieder andere möchten bis zur Endstation mitfahren. Die Lega stellt sich dar als ein Sammelbecken, das viel Zustimmung zu ihrer politischen Programmatik auffängt, das aber auch von der viel- fältigen Unzufriedenheit profitiert, welche die Institutionen und die anderen Parteien auslösen durch ihre Art, wie sie eingehen – oder nicht eingehen – auf die Anforderungen und Bedürf- nisse einer Gesellschaft, in der der Einzelne an raschem Wachstum teilhat, die sich aber als Gesamtheit nicht vertreten und geschützt fühlt.

4. Am kritischen Punkt: die missglückte Abtrennung

So stellt sich die Lega in den Neunzigerjahren als fast einzige Partei dar, welche die "Frage des Nordens" zur Sprache bringt, die sich in drei Hauptaspekte zusammenfassen lässt: die allgemeine Spannung zwischen großen und kleinen Bereichen des Produktionswesens, zwi- schen Groß- und Kleinunternehmertum; das Unbehagen und der Gegensatz gegenüber dem Zentralstaat und die wachsende Einbeziehung in die europäischen Märkte. Und doch gibt es innerhalb dieses Rahmens verschiedene und manchmal auseinander strebende Vektoren und Komponenten, vor allem von Landschaft zu Landschaft, die innerhalb der Bewegung zu einer Reihe von zum Teil traumatischen Brüchen führen, besonders zwischen dem Veneto und der Lombardei.

Zu Beginn hat die politische Programmatik der Lega den ethnisch-regionalistischen Bezug als beherrschenden Inhalt, denn sie setzt auf die Region als auf ihre Nation, und auf die Land- schaft als Quelle geschichtlicher und kultureller Identität. Zunächst überwiegt die Liga Veneta gegenüber der lombardischen Spielart: Bossi ist damals noch ein Unbekannter. Dann kommt es unmerklich zu einem Neo-Regionalismus, in dem die Landschaft als zentrale Bezugsgröße für die sozialen und wirtschaftlichen Interessen gesehen wird: Die Liga verliert an Stimmen, und am Ende der Achtzigerjahre erreicht sie ihren historischen Tiefpunkt, Bossi dagegen mit 92 seiner Lega Lombarda steigt auf.

Am Beginn der Neunzigerjahre kommt es zur entscheidenden Veränderung, als sich die regi- onalen "Leghe" zur Lega Nord zusammenschließen: Zunächst setzen sie politisch auf ein in drei Makro-Regionen unterteiltes Italien, dann auf ein Modell der Politik und der öffentlichen Einrichtungen, das in allem gegen den bestehenden Staat gerichtet ist und auf die Unabhän- gigkeit des Nordens und den Mythos "Padania", bis hin zur Vorbereitung des Falls einer tat- sächlichen Abtrennung von Italien aufbaut.

So gibt die Lega den Versuch auf, als Partei des Nordens in Wahlen die Macht im Staate zu erringen, also den nationalen Weg zu gehen, und wechselt zur Rolle einer politischen Gegen- macht, die den Bruch mit dem Staat sucht: Sie tut dies auch in Schritten von hohem symboli- schem Wert wie der Bestellung eines Parlaments und einer Regierung des Nordens, der Aus- schreibung alternativer Wahlen, bei denen die Wahlkabinen durch das Sonnensegel ersetzt werden, mit der Rückbesinnung auf mythologische Aspekte und deren Verstärkung durch Riten mit Massenbeteiligung wie den Märschen längs des Stromes Po. Die Scheidelinie ver- läuft zwischen 1995 und 1996: Zuerst arbeitet die Lega als Partei des Nordens für eine bun- desstaatliche Reform des Staates und eine Erneuerung des Parteiensystems und verbindet sich mit Berlusconi, wodurch sie in die Regierung kommt und in ihr Ministerämter und bedeuten- de Macht erhält; danach geht sie den Weg des frontalen Zusammenstoßes und treibt ihre In- halte und ihre Sprechweise aufs Äußerste. Dieser Wechsel trägt ihr Auseinanderbrechen und Abspaltungen ein, vor allem zu einem bedeutenden Teil bei ihrer Anhängerschaft im Veneto, die Bossi auf diesem Weg nicht folgen will: teils weil sie eine so radikale politische Pro- grammatik von sich weist, aber vor allem, weil sie befürchtet, dass das Modell "Padania", das der Anführer der Lega durchsetzen will, schließlich ihr Bedürfnis nach regionaler Identität nicht nur nicht berücksichtigen, sondern vielleicht unterdrücken wird. Für dieses Gefühl gibt es ein Schlagwort: weder Knechte Roms, noch Mailands, sondern "Herren im eigenen Haus".

Die Rechte wie die Linke versuchen, die Stimmenergebnisse und die Losungen der Lega für sich zu nützen: Zwischen den Parlamentswahlen von '94 und den Regional- und Gemeinde- wahlen von '95 gehen hier die eine, dort die andere mit der Lega Koalitionen ein, von der na- tionalen bis hinunter zur örtlichen Ebene. Aber sie alle finden ein ziemlich frühes Ende, vor allem weil jetzt Forza Italia als Neugründung in die italienische Politik eintritt, die die Lega auf ihrem ureigensten Gebiet herausfordern kann, nämlich bei der gemäßigten, aber unzufrie- denen Wählerschicht, die von nichtabhängiger Arbeit lebt. Die Konkurrenz ist offensichtlich. Im Januar '94 geben die Meinungsumfragen der Bewegung Bossis 16%; einen Monat danach hat das "Auf-den-Plan-Treten" Berlusconis diesen potenziellen Stimmenanteil schon bedeu- tend weniger werden lassen, und bringt den Anführer der Lega dazu, aus taktischen Gründen ein Wahlbündnis mit dem Neuankömmling zu schließen.

Aber das Einverständnis dauert nicht lange: Noch während des laufenden Jahres entscheidet sich Bossi zum Bruch, vor allem, weil er sieht, dass es Berlusconi gelungen ist, den gemä- ßigteren Teil seiner eigenen Wählerschaft an sich zu ziehen, das sind einmal die Mittelschicht und die Unternehmer, und dann die Rentner und die Hausfrauen. Deshalb führt er seine Be- wegung dorthin, wohin er weiß, dass niemand ihm folgen kann: zur staatlichen Abtrennung. Diese Entscheidung Bossis, auf die Einsamkeit und das Dagegensein zu setzen, war nicht selbstmörderisch: Er vertraut vor allem darauf, dass Italien sich dem Währungseuropa nicht anschließen kann, und auf die qualvollen Folgen, die daraus für Politik, Wirtschaft und die Landesteile entstehen müssen; dass es diesmal zu einer echten und nicht nur in Schlagworten bestehenden Abtrennung zwischen dem europanahen Norden des Landes, den die Lega dann vertreten würde, und einem Süden kommen wird, der sich aushalten lässt. 93

Wenigstens zu der Zeit ist das keine unwahrscheinliche Vorstellung: In seiner Analyse einer Erscheinung, über die Diamanti ein Buch mit dem Titel "Das Übel des Nordens" geschrieben hat, warnt ein so gemäßigter und liberaler Denker wie Sergio Romano in diesen Monaten da- vor, dass die Gesellschaft des Nordens, falls man ihren Beschwerden nicht abhilft und ihre Interessen nicht oder nur unzureichend schützt, sich von "diesem" Staat verabschieden und sich von ihm also wenigstens faktisch, wenn nicht rechtlich abtrennen wird. Anders gesagt, Romano meint, dass auch bei einem Abstieg der Lega diese von dem Geist überlebt wird, der sie beseelt, ohne genau vorhersagen zu können, auf welchen neuen Wegen außerhalb der In- stitutionen dies geschehen könnte.

Bossi selbst kennt die Risiken bei einem so extremen Projekt. Am Abend des 13. September 1996 vertraut er in einer Pizzeria am Rande Turins – nach dem Start des Marsches den Po hinunter, der zwei Tage später in Venedig seinen Abschluss finden wird –, den Seinen an: "Wenn die Regierung Prodi den Anschluss an Europa nicht schafft, haben wir gewonnen. Andernfalls sind wir geliefert." Prodi schafft es, und ab dem Frühjahr 1998 sieht sich die Lega wieder auf unsicherer Wegstrecke, sucht eine politische Rolle und einen Wählerstamm, kommt zu einem neuen Bündnis mit Mitte-Rechts, das ihr erlaubt, bei den Regionalwahlen 2000 wieder eine zentrale Rolle zu spielen, aber in untergeordneter Stellung, was den Rück- gang ihrer Stimmen nicht aufhalten kann, mit denen sie inzwischen nur noch um die 5% liegt.

5. Die Häutung: die Lega der furchtsamen Menschen

Nichts ist dem ausgedörrten, nervösen, umtriebigen Umberto Bossi weniger ähnlich als der dicke, behäbige, statische Nero Wolfe, der Detektiv, der die schwierigsten Geheimnisse und Todesfälle von seinem Polstersessel aus löst. Und doch gibt der Titel einer Erzählung des geistigen "Vaters" von Wolfe, von Rex Stout, den derzeitigen Zustand der Bewegung des pa- danischen Anführers am ehesten wieder: "The League of Frightened Men" (1992). Nachdem Bossi jahrelang der Wortführer des unruhigen und protestgeneigten Teils der Gesellschaft des Nordens gewesen ist, scheint er heute vor allem die Spannungen und Ängste zur Sprache zu bringen: gegenüber der Globalisierung, der Zuwanderung, dem modernen Leben. Diese Häu- tung zeigt sich auch in der Zusammensetzung der Stimmen, die die Lega erhält: Im Vergleich zur ersten Hälfte der Neunzigerjahre ist der Anteil der Unternehmer unter den Wählern der Lega stark zurückgegangen, während der Teil der schwächsten nichtabhängigen Berufstätigen und der am wenigsten qualifizierten Arbeiter ansteigt.

Es ist eine Lega aus Randschichten, die sich in das Herkommen und die Bewahrung flüchten angesichts der Herausforderungen des Neuen und der Befürchtungen, die mit ihnen einherge- hen: Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Poster für die Wirtschaftszeitung "Il Sole 24 Ore" zeigt, dass diejenigen unter den Bewohnern Norditaliens, die sehr große Angst vor Verbrechen haben, 37% ausmachen, dass diese Prozentzahl aber bei den Anhängern der Lega auf 50 steigt; und die Befürchtungen angesichts der Zuwanderung gehen von 33% beim ge- sellschaftlichen Durchschnitt auf 47% bei den Legawählern. So sieht die Lega in relativ kur- zer Zeit ihre Perspektive und Rolle ziemlich auf den Kopf gestellt: Von einem Träger der po- litischen Erneuerung, der sich anbietet, dem Wandel eine Stimme zu geben – wenn auch recht unausgeglichen –, wird sie zu einem Gestalter, der die mit jenem Wechsel verbundenen Ängste widerspiegelt und immer wieder wachruft.

Die italienischen Parlamentswahlen von 2001 bestätigen diesen Gang der Dinge. Gegenüber der vorhergehenden Wahl von 1996 verliert die Bewegung Bossis über zwei Millionen Stim- men und erleidet eine Reduzierung ihrer Stärke auf die Hälfte; von der ersten Partei im Nor- 94 den wird sie zur fünften und sinkt ab auf 8%; landesweit überwindet sie nicht die 4%-Hürde: symbolische Ohrfeige dies besonders für Bossi, der seit längerem für ein Wahlgesetz nach deutschem Vorbild eintritt, proportional mit Ausschlussklausel, gegen das Mehrheitswahl- recht, das derzeit in Italien gilt. Dennoch fällt ihm eine beträchtliche Vertretung im Parlament mit etwa vierzig Sitzen zu, was er seinen mit Berlusconi vorsichtshalber abgeschlossenen Wahlbündnissen verdankt und der Tatsache, dass das Mehrheitswahlsystem der Tendenz nach die in einzelnen Landesteilen verwurzelten Bewegungen begünstigt. Aber als politisches Fazit bleibt für die Partei, dass sie auf die Rolle des Gegenspielers verzichtet hat, ohne jene eines Hauptdarstellers gewinnen zu können.

Bei dieser ihrer Wandlung hat die Lega teilweise Stimmen verloren, weil ein bedeutender Teil ihrer aktiven Mitglieder und ihrer Wählerschaft sich nicht mit dem Mann und derjenigen po- litischen Kraft zusammentun wollte, welche von Bossi und den Seinen jahrelang vehement angegangen worden waren: Von dieser Abwendung hat der frühere Staatsanwalt Di Pietro mit seiner Anti-Berlusconi-Haltung allerdings sehr viel mehr profitiert als Mitte-Links. Aber die umfänglichsten Stimmenverlagerungen weg von der Lega kamen anderen autonomistischen Zusammenschlüssen zugute, vor allem in der Lombardei und dem Veneto, wo die Lega bei Wahlen ihre beiden wichtigsten Hochburgen hat.

In der Lombardei, der Heimat Bossis, besteht ein echter Familienzwist: Eine von seinem Schwager aufgestellte Dissidentenliste kommt auf einen Parlamentssitz und reicht an 12% heran, und das in dem Stimmbezirk, in dem Calderoni, der Parteisekretär der Lega in der Lombardei, kandidiert, einer der Männer, die Bossi am nächsten stehen. Und im Veneto stel- len die Dissidenten von der Lega, die wegen der Abtrennungsfrage und des Padania-Projekts im Streit von der Bewegung gegangen sind, eigene Listen mit einer symbolischen Persönlich- keit wie Giuseppe Segato als zentralem Namen auf: Er ist der einzige Teilnehmer am Angriff auf den Glockenturm von San Marco, der noch im Gefängnis sitzt. Sie erringen keine Parla- mentssitze, kommen aber auf Prozentzahlen zwischen 9 und 11% ausgerechnet da, wo die Lega am meisten verwurzelt ist.

6. Ein Fragezeichen bleibt: eine uneingelöste Forderung

Diese Entwicklung lässt auf eine tieferliegende Ursache schließen: Der neue Kurs der Lega, ausgerichtet auf das Bündnis mit einer landesweiten Bewegung, die gleichmäßig im gesamten Staatsgebiet vertreten ist, deckt das Bedürfnis eines beträchtlichen Teils der Gesellschaft des Nordens, vor allem im Veneto und der Lombardei, nicht ab, die eigenen regionalen Interessen in angemessener Weise vertreten zu sehen, auch wenn das durchaus im Rahmen des Gesamt- staates geschehen sollte. Niemand kann heute sagen, wohin der von Bossi eingeschlagene Weg führt und ob sein derzeitiges Bündnis mit Berlusconi sich als beständig erweisen oder wieder auf halbem Wege zerbrechen wird. Aber aus der Sicht der Gesellschaft und der Wäh- lerschaft bleibt die Forderung unerfüllt, anders vertreten zu sein, mehr entsprechend den wirklichen Erfordernissen des eigenen Landesteils, erhoben vor allem von den produktiven Schichten des kleinen und mittleren Unternehmertums, die jetzt nicht nur der Belastung aus- gesetzt sind, mit dem gemeinsamen europäischen Haus zurechtzukommen, sondern mit dem Weltmarkt: eine Forderung, die man in ein Wort fassen kann, das in Italien ebenso sehr evo- ziert und beschworen wird wie es unverwirklicht bleibt, nämlich Bundesstaatlichkeit.

Die am Ende der vergangenen Legislaturperiode von Mitte-Links beschlossene Reform ist ein sehr gutes Beispiel für sinnvolle Dezentralisierung, aber sie ist nicht eigentlich bundesstaat- lich, weil ihr dazu einige wesentliche Elemente fehlen; wie es ebenso wenig die von Mitte- 95

Rechts betriebene "devolution" ist, weil aus dem Wort selbst schon hervorgeht, dass hier et- was von oben "devolviert", also abgetreten wird, während Bundesstaatlichkeit die Gleichheit zwischen originären Gewaltenformen ist, die von unten erwachsen.

So setzt sich ein beträchtlicher Teil der Italiener, besonders in den Regionen des Nordens, weiter für eine in der Ferne liegende Bundesstaatlichkeit ein und nimmt sich dafür vor allem zwei Vorbilder: das katalanische Modell in Spanien und das bayerische in Deutschland, ohne allerdings damit rechnen zu können, dass dem eine so tiefe Verwurzelung zu Hilfe käme, wie sie "Convergencia y uniòn" und die CSU haben, noch Leitfiguren wie Pujol und Stoiber.

Bossi ist überzeugt, dass die von ihm in das Abkommen mit Berlusconi als wesentliche Be- dingung eingebrachte "devolution" die Tendenzwende nach einer langen Zeit des Zentralis- mus bedeutet und sie ihm gestattet zu verhindern, dass seine Partei bei den Wahlen weiterhin verblutet, weil er den traumatischen Schritt von den aufrührerischen Rändern des Nordens ins ehedem verhasste Rom gewagt hat. Deshalb hat er sich selbst engagiert und ist in die Mitte- Rechts-Regierung eingetreten als Minister für Verwaltungsreformen.

Diese Rolle füllt er natürlich auf seine Weise aus: arg gebremst gegenüber dem, was früher war, aber gleichzeitig der Exekutive zusetzend mit Themen wie Gerichtswesen, Zuwande- rung, Beschäftigungspolitik, Europa, alles Themen, mit denen man die Wählerschaft im Nor- den beeindrucken kann. Und er tut es wie in einem Spiel über die Bande mit Berlusconi: Die extremen Positionen, die er einnimmt, rufen geradezu nach einer Vermittlung durch den "Ca- valiere". So hat sich nach Jahren voller Beleidigungen und Streitereien zwischen den beiden ein unverbrüchliches Einvernehmen herausgebildet, so sehr, dass es schon mehr als einmal den Verdacht der anderen Mehrheitspartner, der Alleanza Nazionale und der ehemals christ- demokratischen Zentristen, hervorgerufen hat.

Diamanti ordnet diesen Gestaltwandel ein, wenn er sagt, dass die Lega heute mehr auf natio- nale politische Notwendigkeiten zu achten scheint als auf ihre herkömmlichen Kampfthemen: eine Aufmerksamkeit nicht nur für die Inhalte, sondern auch dafür, wie man Macht in ihren Grenzen ausübt.

Man muss sich nur erinnern, wie Bossi taktiert hat mit den Kandidaturen bei den Regional- und Gemeindewahlen, bei der Ernennung von Führungspersonal für die wichtigen Staatsun- ternehmen, bei der Verteilung der Spitzenpositionen beim Staatsfernsehen RAI. Damit hat er das Wunder vollbracht, seinen wenigen Stimmen ein großes politisches Gewicht zu verschaf- fen, aber gleichzeitig hat er damit aufgehört, eine Rolle als systemgegnerische Partei zu spie- len, woraus seine Bewegung doch hervorgegangen und wodurch ihre Erfolge doch begünstigt worden waren. Aber wie könnte heute die Lega gegen sich selbst antreten?

7. Zum Schluss: die unnütze Le hre der Geschichte

Und doch, diese Häutung birgt eine Gefahr in sich. Wenn er sich in diese Rolle des Regierens verstrickt, wenn er dessen Regeln befolgt und sich nach dem Machbaren richtet, wenn er so irgendwie auch die alten Laster der nationalen Politik übernimmt, könnte Bossi jenen Schwung von unten erlahmen lassen, der damals zum Entstehen der Lega geführt hatte und sogar verantwortlich war für die Wahl des Namens dieser neuen Bewegung, damals, als alle anderen sich noch "Partei" nannten und Wert darauf legten, als eine solche dazustehen. In der chemischen Bedeutung des Wortes ist "Lega" oder (deutsch) "Legierung" nämlich das fest- stoffliche Aufgehen eines Metalls in einem oder mehreren anderen chemischen Elementen, 96 besonders als Folge einer Schmelze, mit Eigenschaften, die sich von denen der zu Grunde liegenden Elemente unterscheiden: Genau so ist es oder sollte es sein bei einer als Bundes- staat verfassten Nation.

Aber auch und vor allem gibt es eine historische Wurzel, auf die die Idee der "Lega" als Form regionaler Interessenvertretung in einem nationalen Zusammenhang zurückgeht und der Ent- stehung und dem Schicksal der Bewegung des Umberto Bossi zugrunde gelegen hat; und in ihrer Entwicklung spiegelt sich nach Jahrhunderten der damals durchlaufene Weg.

Im Jahre 1158 erließ Kaiser Friedrich Barbarossa seine "Constitutio de Regalibus" ("Bestim- mungen betreffend die Kronrechte"; A.d.Ü.), in der er dem Souverän, also sich selbst, die oberste Regierungsgewalt zusprach. Heute würden wir sagen: auf die Spitze getriebener Zent- ralismus. Und er setzte seinen Anspruch mit Gewalt durch, indem er 1162 Mailand zerstörte, das sich dagegen gestellt hatte.

Nun entstand Gegnerschaft und ballte sich zusammen im Veneto, wo 1164 die vier größten Städte Venedig, Padua, Vicenza und Verona sich zur so genannten "Veroneser Liga" zusam- menschlossen. Und drei Jahre später, am 7. April 1167, wurde dieser Pakt nahe dem Kloster von Pontida bei Bergamo auf 36 Kommunen erweitert und hieß ab da "Lombardische Liga". Auf dieses historische Vorbild und diese Örtlichkeit nimmt Bossi mit einem seiner periodisch abgehaltenen Riten Bezug, wenn er einmal im Jahr seine Aktivisten in Pontida versammelt, um sie den alten Schwur erneuern zu lassen: Er hat ihn wieder leisten lassen, auch nachdem er in die Regierung gelangt ist, hat wieder angefangen mit dem Gespenst der Abtrennung.

Gianfranco Miglio, einer der größten italienischen Verfassungsrechtler, der jüngst verstorben ist und dessen Denken die Lega in beträchtlichem Ausmaß beeinflusst hat – wenigstens eine gewisse Zeit lang –, kannte ihren Anführer gut; er war der Ansicht, dass Bossi nie ein Buch gelesen hätte und dass seine historischen Bezugnahmen nur aus hier und da aufgeschnappten Dingen kämen, die er nicht recht verdaut hatte. Das mag stimmen oder nicht, man kann jeden- falls annehmen, dass Professor Miglio wenigstens in dieser einen Sache Recht gehabt hat: Auf dem ganzen Weg, der Bossi von Pontida ab bis hin zur – dann verworfenen – Abspaltung ge- führt hat, weiß er nicht, dass die, die sich zu jenem Schwur vereinten, damit zwar ihre Selbst- bestimmung durch gegenseitige Beistandsverpflichtung schützen wollten, aber immerhin auch die Souveränität des Barbarossa anerkannten. Heutzutage würde man sagen, dass sie nicht für die Abspaltung, sondern für die Bundesstaatlichkeit eintraten.

Sie kämpften einen siegreichen Kampf: 1176 unterlag ihnen der Kaiser bei Legnano und sah sich 1183 zum Friedensschluss von Konstanz gezwungen. Und nicht einmal seinem Nachfol- ger Friedrich II. gelang es, das verlorene Terrain zurückzugewinnen; es ist auch kein Zufall, dass Italien in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts die Blütezeit seiner städtischer Kultur erlebt, gegründet auf Selbstbestimmung und die unbestrittene Fähigkeit, sich selbst zu regie- ren. Manche Lehren der Geschichte sollte man sich ab und zu vor Augen führen; aber dazu gibt es im Italien von heute mit seiner Politik nicht genug an so manchem: nicht genug Leh- rer, Schüler und sogar Klassenräume. Deshalb klingt die alte Mahnung aus lateinischem Mund zwar überzeugend, erreicht uns aber nicht: "Proponamus laudanda, invenietur imita- tor"; sind erst lobenswerte Beispiele gegeben, wird sich schon jemand finden, der sie befolgt.

Seneca hat das geschrieben, aber das Rom, in dem er lebte, war entschieden anders als das heutige. Und hatte eine Geschichte, wie sie kaum verschiedener sein könnte. 97

Literatur

Bagnasco, Arnaldo: L'Italia in tempi di cambiamento politico (Italien in Zeiten politischen Wandels), Bologna 1996. Biorcio, Roberto: La Padania promessa (Padanien, gelobtes Land), Milano 1997. Cartocci, Roberto: Tra Lega e Chiesa (Zwischen Lega und Kirche), Bologna 1994. D'Alimonte, Roberto/Bartolini, Stefano (Hrsg.): Maggioritario finalmente? La transizione elettorale 1994-2001 (Endlich Mehrheitswahlrecht? Die Wählerwanderung 1994-2001), Bo- logna 2002. Della Porta, Donatella./Vannucci, Antonio (Hrsg.): Un Paese anormale (Ein unnormales Land), Bari 1999. Diamanti, Ilvo: La Lega (Die Lega), Roma 1993. Diamanti, Ilvo: Il male del nord. Lega, localismo, secessione (Das Übel des Nordens. Lega, Ortsbezogenheit, Abspaltung), Roma 1996. Diamanti, Ilvo: Politica all'italiana (Politik auf italienische Art), Milano 2001. Magatti, Marco: Tra disordine e scisma, le basi sociali della protesta del Nord (Zwischen Aufruhr und Spaltung, die sozialen Grundlagen des Protests im Norden), Roma 1998. Mannheimer, Renato (Hrsg.): La Lega lombarda (Die Lega der Lombardei), Milano 1991. Pasquino, Gianfranco: La transizione e parole (Übergang und Gerede), Bologna 2000. Pasquino, Gianfranco (Hg.): Dall'Ulivo al governo Berlusconi, le elezioni 2001 e il sistema politico italiano (Vom "Ölbaum" zur Regierung Berlusconi, die Wahlen von 2001 und das politische System Italiens), Bologna 2002. Petersen, Jens: Quo vadis Italia?, Bari 1995. Rumiz, Paolo: La secessione leggera (Abspaltung "light"), Roma 1997 (neu aufgelegt Milano 2001). 98 99

Alleanza Nazionale – Zwischen Neofaschismus und nationalem Konservativismus

Roland Höhne

1. Einleitung

Die im Januar 1995 aus der neofaschistischen Bewegung Movimento Sociale Italiano (MSI) hervorgegangene Alleanza Nazionale (AN) bildet heute einen festen Bestandteil des politi- schen Systems Italiens. In der zweiten Regierung Berlusconi ist sie mit vier Ministern vertre- ten und stellt mit ihrem Parteivorsitzenden Fini den stellvertretenden Regierungschef. Ihre Vorgängerorganisation, der MSI, war dagegen aufgrund seiner neofaschistischen Ideologie und Programmatik im politischen System isoliert und aus dem staatlichen Machtkartell ausge- schlossen gewesen. Erst sein Strategiewechsel von 1993 und seine Transformation in die AN auf dem Parteitag von Fiuggi im Januar 1995 machten ihn für die Parteien der rechten Mitte koalitions- und damit regierungsfähig. In diesem Beitrag sollen die Ursachen und Folgen die- ser Entwicklung untersucht werden.

2. Der MSI zwischen Systemppposition und Integration 1946-1992

Der Movimento Sociale Italiano (MSI) war eine authentische neofaschistische Partei, die sich am Bewegungsfaschismus der Jahre 1918-1922 und dem Radikalfaschismus der Repubblica Sociale Italiana (RSI)1 orientierte. Sie bekannte sich zum Faschismus, wollte diesen jedoch angesichts der inneritalienischen und internationalen Machtverhältnisse der Nachkriegszeit nicht restaurieren, sondern nur seine Werte und Ideale propagieren, um so die kulturelle He- gemonie als Voraussetzung der politischen Machteroberung zu gewinnen. Diese programma- tische Grundposition fand ihren Ausdruck in der Formel "non rinnegare e non restaurare". Aus pragmatischen Gründen akzeptierte der MSI die Verfassungsordnung der "Ersten Repu- blik" als politischen Handlungsrahmen und suchte seine Ziele mit demokratischen Mitteln zu erreichen. Er beteiligte sich daher an Wahlen und nutzte die Handlungsmöglichkeiten der de- mokratischen Institutionen (Parlament, Regionalräte, Provinzversammlungen, Gemeinderäte) für die Vertretung seiner Positionen, wo immer dies möglich war. So konnte er sich dauerhaft als politische Kraft etablieren, war jedoch gezwungen, sich den Regeln des parlamentarischen Systems anzupassen. Er wurde dadurch jedoch nicht zu einer demokratischen Parlamentspar- tei, denn er hielt an seinen neofaschistischen Grundüberzeugungen fest.

Infolge unterschiedlicher Ordnungsvorstellungen bildeten sich in der Partei ein national- sozialer und ein national-konservativer Flügel. Der national-soziale Flügel strebte die Schaf- fung einer sowohl antikapitalistischen als auch antisozialistischen korporativen Ordnung als Alternative zur bestehenden pluralistisch-marktwirtschaftlichen Ordnung an, der national- konservative Flügel wollte dagegen nur die politische Ordnung verändern. Zusammengehal- ten wurden beide Flügel durch ihre gemeinsame Orientierung am Faschismus. Die unter-

1 Die Repubblica Sociale Italiana (RSI) wurde nach dem Zusammenbruch des faschistischen Regimes im Herbst 1943 von Mussolini und seinen Anhängern unter dem Schutz der deutschen Truppen gegründet. Sie versuchte durch die Wiederbelebung der nationalsyndikalistischen und sozialrevolutionären Programmatik des Bewegungsfaschismus die Arbeiterschaft zu gewinnen. Dies ist ihr jedoch nicht gelungen. Die Kapitu- lation der deutschen Streit-kräfte Ende April 1945 führte zu ihrer Auflösung. 100 schiedlichen Zielvorstellungen beider Flügel nötigten die Partei zu einer Doppelstrategie. Sie bekämpfte die "Parteienherrschaft" und kooperierte mit anti- und außerparlamentarischen Gruppen der extremen Rechten, suchte jedoch gleichzeitig im Zeichen des Antikommunismus die Zusammenarbeit mit den Monarchisten, Liberalen und Christdemokraten. Auf diese Wei- se gewann sie die Unterstützung von 4 bis 6% der Wähler und vermochte allmählich in das politische System einzudringen, blieb jedoch von der Regierungsbeteiligung ausgeschlossen.

Nach dem Rücktritt ihres langjährigen Vorsitzenden Giorgio Almirante im Dezember 1987 kam es zu einem heftigen innerparteilichen Machtkampf zwischen den Repräsentanten beider Parteiflügel, Pino Rauti und Gianfranco Fini, um die Führung. Pino Rauti, der Repräsentant des national-sozialen Flügels, propagierte eine sozial-revolutionäre Strategie als Alternative sowohl zum Kapitalismus als auch zum Kommunismus, Gianfranco Fini, der Repräsentant des konservativen Flügels, wollte dagegen den "Faschismus des Jahres 2000" durch eine anti- kommunistische Bündnispolitik innerhalb der bestehenden Ordnung verwirklichen. In diesen innerparteilichen Auseinandersetzungen konnte sich schließlich Fini im Juni 1991 durchset- zen. Er war jedoch gezwungen, ein Bündnis mit den populistischen Nationalisten einzugehen, um die Mehrheit der Parteitagsdelegierten zu gewinnen.

Als politischer Ziehsohn Almirantes hatte er lange Zeit die Parteijugend geführt und dadurch viele Anhänger unter dem Parteinachwuchs gewonnen. Er war überzeugt, dass die Partei nicht nur eine neue Strategie, sondern auch eine neue Programmatik brauche und dass diese sich an den aktuellen Problemen der italienischen Gesellschaft orientieren müsse. Er wusste jedoch, dass die Parteiführung bei einer programmatischen und strategischen Neuorientierung Rück- sicht auf die Parteibasis nehmen musste, die noch mehrheitlich an den traditionellen Überzeu- gungen festhielt. Er bekannte sich daher noch im Dezember 1987 zum Faschismus als Leit- bild, denn dessen Werte seien "ewig, unveränderlich und nicht historisierbar". 2 Nach seiner Wahl trennte er sich jedoch vorsichtig von alten Positionen und nutzte ab 1993 geschickt den politischen Umbruch, um die Partei zu transformieren. 3

3. Transformation der Partei 1993-1995

Die Transformation des MSI in die AN erfolgte zwischen Januar 1993 und Januar 1995 in fünf Schritten: die Verkündung des Projekts Alleanza Nazionale im Januar 1993, die Grün- dung der AN als Wahlkartell im Januar 1994, die Bildung einer Wahlkoalition mit Forza Ita- lia bei den Parlamentswahlen vom März und der anschließende Regierungseintritt im Juni 1994, die Einrichtung von AN-Diskussionszirkeln nach den erfolgreichen Parlamentswahlen und schließlich die Umwandlung der AN in eine Partei im Januar 1995. Die treibende Kraft des Transformationsprozesses war die Parteiführung. Diese wurde mehrheitlich von der Basis unterstützt. Es kam daher zu keinen schwer wiegenden innerparteilichen Konflikten.

Das Projekt von Alleanza Nazionale wurde von Fini im Januar 1993 verkündet.4 Es beinhal- tete die Legitimation des MSI als demokratische Rechtspartei sowie die Sammlung aller Geg-

2 "(…) i suoi valori sono eterni, immodificabili e non storicizzabili", Secolo d'Italia, 18.12.1987, S.1. 3 Vgl. Ignazi, Piero: Il polo escluso. Profilo storico del Movimento Sociale Italiano, in: Il Mulino, Bologna 1998²; Höhne, Roland: Alleanza Nazionale – Eine demokratische Rechtspartei?, in: Luigi Vittorio Graf Fer- raris/Günter Trautmann/Hartmut Ullrich (Hrsg.), Italien auf dem Weg zur "zweiten Republik"?, Frankfurt am Main u.a. 1995, S.179-201. 4 Vgl. Fini, Gianfranco: Secolo d' Italia, 21.1.1993 zitiert in: Corrado De Cesare, Il fascista del duemila. Le radici del camerata Gianfranco Fini, Mailand 1995, S.94. 101 ner der "Parteienherrschaft", d.h. des Machtkartells von Christdemokraten, Laizisten, Sozia- listen, Gewerkschaften und Unternehmerverbände in einer transversalen Koalition unter sei- ner Führung. Der MSI sollte so zur führenden Kraft des bürgerlichen Lagers werden. Als Vorbild diente dabei die neogaullistische Sammlungsbewegung RPR Frankreichs. Um dabei jedoch nicht seine Identität zu verlieren, sollte der MSI seine Eigenständigkeit bewahren. 5 Unerlässliche Voraussetzung für den Erfolg der neuen Sammlungsstrategie bildete die Profi- lierung des MSI als demokratische Alternative zu den herrschenden Parteien. Der MSI wie- derholte daher sein Bekenntnis zur Demokratie, forderte aber gleichzeitig eine grundlegende politisch-soziale Erneuerung des Landes und übernahm teilweise die Programmatik der frühe- ren Mitte. Um jedoch keine traditionellen Wähler zu verlieren, betonte Fini, der MSI wolle nicht die Mitte besetzen, sondern sie ihres Inhaltes entleeren, um eine Allianz der linken Christdemokraten mit den Postkommunisten zu verhindern. 6

Infolge der neuen Wahlsituation war die AN-Strategie bei den Kommunalwahlen vom Som- mer und Herbst 1993 erfolgreich. In 19 Städten des Südens wurden Kandidaten der AN zu Bürgermeistern gewählt, in Neapel erhielt Alessandra Mussolini, die Enkelin des Diktators, sogar 44,4%, der Parteivorsitzende Fini in Rom fast 47% der Wählerstimmen. Für viele bür- gerliche Wähler bildete nun der MSI an Stelle der zerbrochenen alten Mitte das bürgerliche Bollwerk gegen die Linke. Der Wahlerfolg der neuen Strategie veranlasste die Parteispitze, gemeinsam mit unabhängigen Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft sowie mit ehemaligen Politikern der alten Mitte ein Wahlkartell unter dem Namen Alleanza Nazionale (AN) zu gründen. Unter den Gründungsmitgliedern von AN befand sich der konservative Politologe , der geistige Vater des AN-Projekts. Er hatte bereits Fini während des Kommunalwahlkampfes von Rom im Herbst 1993 unterstützt und maßgeblichen Anteil an der Ausarbeitung der neuen Programmatik gehabt.7 Die Delegierten des MSI- Parteikongresses von Rom billigten am 29. Januar 1994 die Gründung des Wahlkartells, in- dem sie die Bildung gemeinsamer Listen des MSI mit AN beschlossen.

Die Wahlchancen von AN bei den bevorstehenden Parlamentswahlen vom Frühjahr 1994 schienen günstig. Infolge der Auflösung der alten Mitte war im Zentrum des Parteiensystems ein Vakuum entstanden, welches noch nicht von neuen bürgerlichen Parteien gefüllt worden war. Da der MSI infolge seiner Isolation im alten Parteiensystem nicht in die Korruption und Klientelwirtschaft der regierenden Parteien verwickelt war, bildete er unter diesen Umständen auch für viele bürgerliche Wähler die einzig glaubwürdige Alternative zur Linken.

Die Gründung von Forza Italia (FI) durch den Medienunternehmer Silvio Berlusconi im Feb- ruar 1994 schuf jedoch eine neue Lage. AN musste nun im rechten Lager mit einer liberal- konservativen Partei konkurrieren, die ebenfalls ehemalige Wähler der früheren Mitte um- warb, aber bessere Wahlchancen besaß, da sie nicht mit dem faschistischen Erbe belastet war. 8 Dadurch drohte AN wie bereits vorher der MSI in der "Ersten Republik" marginalisiert zu werden. Ihre Wahlchancen schienen aufgrund des neuen Wahlrechts sogar noch schlechter als die des MSI unter den Bedingungen des vorher gültigen Verhältniswahlrechts.9 Sie bildete

5 Ebd., S.99. 6 Ebd., S.99. 7 Von Fisichella stammt auch der Name des Wahlkartells. 8 Vgl. Fix, Elisabeth: Italiens Parteiensystem im Wandel. Von der Ersten zur Zweiten Republik, Frank- furt/New York 1999, S.190-221. 9 Das 1993 eingeführte neue Wahlrecht kombiniert Elemente der Mehrheits- mit Elementen der Verhältnis- wahl und begünstigt dadurch Großparteien bzw. große Wahlkoalitionen. Vgl. Ullrich, Hartmut: Reform des 102 daher gemeinsam mit Forza Italia im Süden des Landes eine Wahlallianz unter dem Namen Buongoverno (Bündnis für die gute Regierung).10 Damit verzichtete sie auf die direkte Aus- tragung der Konkurrenz mit Forza Italia, wurde aber koalitions- und regierungsfähig. Fini waren 10% Wählerstimmen in einer siegreichen Wahlkoalition wichtiger als 20% Wähler- stimmen in der Isolation. Im Norden des Landes trat sie dagegen alleine an, da dort Forza Italia mit der regionalistischen Lega Nord koalierte und damit als Bündnispartner nicht zur Verfügung stand. Ein uneingeschränktes Dreierbündnis aus FI, AN und Lega wie 2001 war 1994 wegen der programmatischen Gegensätze zwischen MSI und Lega noch nicht mög- lich. 11

Das Wahlbündnis mit Forza Italia beschleunigte die Integration des MSI in das politische System und verstärkte dadurch den programmatischen Anpassungsdruck. Wie FI kritisierte er daher im Wahlkampf den hypertrophen Wohlfahrtsstaat, die ineffiziente Bürokratie und die Macht der Gewerkschaften. Um sich jedoch von der damals programmatisch noch stark wirt- schaftsliberalen FI zu unterscheiden, vertrat er die sozialen Interessen der "kleinen Leute", insbesondere im Süden des Landes. In Norditalien verteidigte er dagegen vor allem die staat- liche Einheit gegen die regionalistischen Forderungen der Lega Nord. Mit dieser Wahlkampf- strategie erzielte er das bis dahin beste Wahlergebnis seiner Geschichte bei nationalen Wah- len. Nach dem Verhältniswahlrecht erhielt er landesweit 13,5% der Stimmen und wurde damit zur drittstärksten Kraft des Landes.12

Dank seines Wahlbündnisses mit FI im Süden war sein Mandatsanteil nach dem Mehrheits- wahlrecht sogar noch höher. Insgesamt entfielen auf ihn im Abgeordnetenhaus 17% (105 von 630), im Senat 14% (43 von 315) der Mandate.13 Gemeinsam mit FI, der Lega und konserva- tiven Christdemokraten bildete er unter Berlusconi die Regierung. In dieser war er mit fünf Ministern vertreten. 14

Damit hatte Fini sein wichtigstes Etappenziel erreicht. Dank seiner Integrations- und Bünd- nisstrategie war der MSI-AN innerhalb kurzer Zeit von einer Antisystempartei zu einer Regie- rungspartei geworden. Er interpretierte den Wahlerfolg als eine Bestätigung des AN-Projekts durch die Wähler und leitete mit der Gründung der AN-Zirkel die vierte Phase der Transfor- mation ein. Durch diese konnte die AN ihre soziale Basis erweitern, da sie dadurch Personen erreichte, welche (noch) nicht bereit waren, ihr beizutreten. Der Wahlerfolg stellte die Partei jedoch auch vor neue Probleme. Sie musste einerseits ihre Zuverlässigkeit als Regierungs- partei beweisen, andererseits aber ihr eigenständiges Profil gegenüber ihren Koalitionspart- nern wahren. Sie löste dieses Problem, indem sie den Regierungschef in seinem Dauerkonflikt mit dem Führer der Lega Nord, Umberto Bossi, sowie mit den Gewerkschaften, Verbänden

italienischen Wahlsystems – Die Fata Morgana des Ein-Mann-Wahlkreises als Regenerationsinstrument der Demokratie, in: Luigi Vittorio Graf Ferraris u.a. (Hrsg.), Italien auf dem Weg zur "zweiten Republik"? (FN 3), S.123-149. 10 Berlusconi hatte erkannt, dass ein Wahlbündnis mit dem MSI für seinen Wahlsieg unerlässlich sei, weil er nur so auch die Stimmen traditioneller Rechtswähler gewinnen konnte. 11 Der MSI verteidigte 1993/94 trotz eines formalen Bekenntnisses zum Föderalismus weiterhin den Unita- rismus, die Lega forderte 1994 dagegen einen föderalistischen Umbau des Staates. 12 Vgl. Trautmann, Günter: Wahlen und Referenden 1994 bis 1995, in: Luigi Vittorio Graf Ferraris u.a. (Hrsg.), Italien auf dem Weg zur "zweiten Republik"? (FN 3), S.419. 13 Vgl. FAZ, 16.4.1994, S.5. 14 (Umwelt), Domenico Fisichella (Kultur), (Post), Adriana Poli Bortonne (Landwirtschaft), Publio Fiori (Transport). 103 und Oppositionsparteien loyal unterstützte, gleichzeitig aber eigenständige Positionen, insbe- sondere in der Sozial- und Verfassungspolitik, vertrat. So konnte sie weiterhin an Ansehen gewinnen.

Im Herbst 1994 begann die letzte Phase der Transformation. Diese konnte entweder durch die Auflösung des MSI und die Gründung einer neuen Partei oder durch die Umwandlung des MSI und dessen programmatische Erneuerung erfolgen. Die Auflösung hätte einen demonst- rativen Bruch mit der neofaschistischen Vergangenheit bedeutet und damit einen wirklichen Neuanfang ermöglicht. Sie hätte jedoch wahrscheinlich die innerparteilichen Machtstrukturen verändert und dadurch die Führungsposition Finis und seiner Parteigänger gefährdet. Die Umwandlung erlaubte dagegen die Wahrung der rechtlichen und organisatorischen Kontinui- tät und damit des innerparteilichen Machtgefüges. Die Parteiführung entschied sich daher für die zweite Möglichkeit.

Zur Vorbereitung der Transformation publizierte die Parteiführung im Herbst 1994 program- matische Thesen, die sie der Parteibasis zur Diskussion vorlegte.15 In seinem Vorwort recht- fertigte Fini die beabsichtigte Transformation der Partei mit ihrer "Erfolgsgeschichte". Mit dem Zusammenbruch der Ersten Republik habe sie ihr historisches Ziel erreicht. Nun müsse sie an der Gestaltung der neuen Politik aktiv mitwirken. An die Stelle der Alternative zum System müsse die Alternative im System treten. 16

Das Wahlergebnis vom 27. März 1994 interpretierte Fini nicht nur als einen politischen Mehrheits-, sondern als einen gesellschaftlichen Machtwechsel. An die Stelle des alten Machtblocks aus Hochfinanz und Gewerkschaften, aus DC und ihren Verbündeten sei ein neuer sozialer Block aus kleinen und mittleren Unternehmern getreten, dem sich Händler und Handwerker, aber auch Freiberufler und Arbeitslose anschlössen. Die Rechtskoalition, insbe- sondere aber Alleanza Nazionale, repräsentiere die produktiven Schichten, deren Interessen nicht durch die Gewerkschaften vertreten würden, die aber eine zentrale Rolle innerhalb einer modernen Gesellschaft spielten. 17 Aufgrund dieser gesellschaftlichen Interpretation des Wahl- ergebnisses vom März 1994 gelangte Fini zu der These, die Rechtskoalition verkörpere einen neuen Sozialpakt, der von einer breiten Mehrheit getragen werde. Jetzt sei die zivile Gesell- schaft vollkommen in Einklang mit der politischen Gesellschaft. Die Rechtskoalition müsse daher ein neues politisches System, die Zweite Republik, aufbauen. 18

Die Wahlen hätten ebenfalls den Bipolarisierungsprozess des Parteiensystems entscheidend vorangetrieben. Dadurch hätten die Wähler die Möglichkeit erhalten, zwischen zwei Polen und zwischen zwei Regierungsprogrammen zu wählen. Dies sei ein großer Gewinn für die

15 Vgl. Pensiamo l'Italia, il domani c'è già - Valori, idee e progetti per l'Alleanza Nazionale. Tesi politiche approvate dal Congresso di Fiuggi, Gennaio 1995. Beilage zur Parteizeitung Secolo d'Italia, Februar 1995; Dt. Zoratto, Bruno (Hrsg.): Erdenken wir uns Italien. Die Zukunft ist schon angebrochen. Politische Werte, Ideen und Projekte für die Alleanza Nazionale, Beilage zu Nuovo Oltreconfine 1/1996 (im Folgenden zitiert als AN 1995, Programm von Fiuggi). 16 Vgl. ebd., S.10. 17 Vgl. ebd., S.11. 18 "Die Erste Republik bevorrechtigte die parasitäre Bourgeoisie; sie lebte von Klientelen, von Bestechungs- geldern und Aufteilung der Macht nach Parteigesichtspunkten (...), die Zweite Republik muss der produkti- ven Bourgeoisie die bestimmende Rolle geben, denjenigen, die von ihrer eigenen Arbeit leben oder denje- nigen, die legitim danach streben, eine eigene Arbeit zu haben; sie muss die Marktregeln wieder herstellen und sie mit dem Solidaritätsprinzip vereinen, sie muss des Staatsdefizits Herr werden, um eine echte Sozia- lität zu bestätigen." Ebd., S. 2. 104

Demokratie.

Das größte historische Verdienst der Rechtskoalition sei es jedoch, die Trennung der Ersten Republik zwischen dem "vertretungsberechtigten Bereich" und dem "regierungsberechtigten Bereich" durch die gleichberechtigte Regierungsbeteiligung von AN, also durch ihre Integra- tion in das politische System, überwunden zu haben. Alle Parteien hätten zwar in der Vergan- genheit an den Wahlen teilnehmen, aber nur einige Parteien hätten die Regierung bilden dür- fen. Die Rechte und die Linke seien so diskriminiert worden. Nun seien alle politischen Kräfte gleichberechtigt und besäßen die gleichen Möglichkeiten: "Mehrheit und Opposition werden von den Wählern bestimmt und nur von ihnen. Die Rechte regiert, weil sie die not- wendige Zustimmung erhalten hat, die Linke wird regieren, wenn sie diese erhalten hat. Mit dem Wahlsieg der Rechtskoalition hat der Grundsatz gesiegt, dass nur die Wähler entschei- den, wer zur Regierung legitimiert ist."19

4. Die Gründung von AN 1995

Die Transformation der Partei erfolgte auf dem 17. Parteitag des MSI in Fiuggi vom 23.-25. Januar 1995 durch die Änderung des Namens und des Parteilogos, die Fusion mit den AN- Zirkeln und die Verabschiedung neuer Statuten sowie eines neuen Parteiprogramms. Durch die bloße Umbenennung blieb die Parteiorganisation erhalten und damit die organisatorische wie rechtliche Kontinuität gewahrt. Infolge der gleichzeitigen Fusion mit den AN-Zirkeln sowie der Aufnahme neuer Mitglieder veränderte sich aber die personelle Zusammensetzung und durch die Verabschiedung eines neuen Programms sowie neuer Statuten die Programma- tik und Organisation der Partei. Ihre neugewählten Führungsgremien wurden jedoch von den alten MSI-Kadern beherrscht. Der Parteitag von Fiuggi bedeutete somit keinen radikalen Bruch mit der Vergangenheit, sondern lediglich eine entscheidende Etappe im Transformati- onsprozess.20

Die Umwandlung der Partei wurde nur möglich durch einen innerparteilichen Kompromiss Finis mit dem sozial-nationalen Flügel, repräsentiert durch . Dieser fürchtete einen Identitätsverlust der Partei und war daher nicht bereit, auf traditionelle ideologische und programmatische Positionen zu verzichten. Das Programm der AN lehnte sich daher inhalt- lich noch stark an alte MSI-Vorstellungen an. Dank dieses programmatischen Kompromisses wurde die Transformation der Partei von der großen Mehrheit der Parteitagsdelegierten gebil- ligt.21 Nur der Wortführer des nationalrevolutionären Flügels, Pino Rauti, verließ gemeinsam mit einigen seiner Anhänger die Partei und gründete den Movimento Sociale – Fiamma Tri- colore (MST). Dieser entwickelte sich jedoch nicht zu einem ernsthaften Konkurrenten für AN, denn sein Rückhalt in der Wählerschaft blieb gering.22 Mit der Gründung von AN war die Transformation des MSI in eine demokratische Rechtspartei gelungen. Diese konkurrierte nun mit Forza Italia um die Führung des bürgerlichen Lagers. Aus taktischen Gründen arbei- tete sie jedoch auch nach dem Ende der 1. Regierung Berlusconi im Januar 1995 als Oppositi- onspartei eng mit dieser gegen die Linke zusammen. Außerdem bekämpfte sie heftig die sich radikalisierende Lega. Diese Strategie zahlte sich bei den Parlamentswahlen von 1996 aus.

19 Ebd. S.13. 20 Vgl. Tarchi, Marco: Dal MSI ad AN. Organizzazione e strategie, in: Il Mulino, Bologna 1997, S.25ff. 21 An dem Parteitag nahmen 1.580 Delegierte des MSI und 800 der AN teil. 22 Bei den Parlamentswahlen von 1996 erhielt er 1,6%, bei den Parlamentswahlen von 2001 nur noch 0,8% der Stimmen. 105

AN erhielt 15,7% der Wählerstimmen und wurde damit erneut zur zweitstärksten Kraft im rechtsbürgerlichen Lager. Da dieses jedoch die Wahlen verlor, blieb AN weiterhin in der Op- position. Fini versuchte nun, sie zur führenden Kraft der Opposition zu machen und trieb des- halb ihren Modernisierungsprozess weiter voran. Zeitweilig schien es daher möglich, dass er die Führung der Opposition übernehmen könnte. Berlusconi hatte infolge seines Scheiterns als Regierungschef sowie seiner Probleme mit der Justiz erheblich an Autorität eingebüßt, Fini aber durch sein staatsmännisches und telegenes Auftreten sehr an Prestige gewonnen. Berlusconi vermochte sich jedoch nicht zuletzt dank seiner Medienmacht als Oppositionsfüh- rer zu behaupten. AN sah sich daher bei den Parlamentswahlen von 2001 erneut gezwungen, unter seiner Führung eine Wahlkoalition mit FI zu bilden23, der diesmal auch die Lega sowie zwei kleinere christlich-demokratische Parteien24 angehörten. Da die Mitte-Rechtskoalition die Wahlen gewann, wurde AN so erneut Regierungspartei.25

Die politischen und elektoralen Erfolge der Jahre 1994-2001 festigten die Stellung von AN im politischen System und förderten ihre Verankerung in der Gesellschaft. Im Frühjahr 2002 hatte sie nach eigenen Angaben 530.000 Mitglieder, 100 Abgeordnete, 46 Senatoren, 9 Euro- paparlamentarier, 146 Regionalratsmitglieder, 5.502 Gemeinderatsmitglieder und stellte außer dem stellvertretenden Regierungschef noch vier Minister,26 noch 2 Regionalpräsidenten, 390 Bürgermeister, 27 Regionalratsbeisitzer, 43 Provinzratsbeisitzer und 839 Gemeinderatsbeisit- zer. Ferner ist sie an der Verwaltung von 12 Regionen beteiligt.27

Als Folge des Transformationsprozesses bildeten sich in der Partei drei neue Strömungen: das national-konservative Zentrum Destra Protagonista unter der Führung von , und Giulio Maceratini, die liberale Rechte, Nuova Alleanza unter Adolfo Urso, Altero Matteoli und Domenico Nania sowie die soziale Rechte, Destra Sociale unter und .28 Diese drei Strömungen besitzen eigene Organisa- tions- und Kommunikationsstrukturen sowie eigene Publikationsorgane und veranstalten ei- gene Treffen, Tagungen und Kongresse.29

Bei der Direktwahl der Delegierten des 2. AN-Kongresses in Bologna (April 2002) erhielten die Repräsentanten der Destra Protagonista die meisten Stimmen. Diese bildete daher auf dem Parteitag die stärkste Delegiertenfraktion.

An der Parteispitze konnte Fini seine Führungsposition festigen. In Bologna wurde er am 7. April 2002 mit großer Mehrheit in seinem Amt bestätigt. In das Politbüro, dem obersten Füh- rungsgremium der Partei, wurden Vertreter aller drei Strömungen gewählt. In den übrigen

23 Aufgrund des komplizierten Wahlrechts wurden auch in einigen Wahlkreisen Wahlabsprachen mit Splitter- parteien getroffen, so mit dem Nuovo Partito Socialista und mit Fiamma Tricolore. 24 Centro Cristiano Democratico (CCD) unter der Führung von Pier Ferdinando Casini und Cristiani Democratici Uniti (CDU) unter der Führung von Rocco Buttiglione. 25 In dieser ist sie mit vier Ministern vertreten: Vgl. La Stampa, 11.7.2001, S.9. 26 Gianni Alemanno (Landwirtschaft), Maurizio Gasparri (Kommunikation), Altero Matteoli (Umwelt) und Mirko Tremaglia (Auslandsitaliener). 27 Vgl. Secolo d'Italia, 30.3.2002, S.1/4. An der Urwahl der Delegierten des 2. AN-Parteitages von 2002 nah- men jedoch nur circa 200.000 Mitglieder teil. Vgl. ebd. 28 Zur sozialen Linken vgl. Alemanno, Gianni: Intervista sulla destra sociale, hrsg. von Angelo Mellone. Einführung von Giano Accame, Venedig 2002. 29 Vgl. Seminario Destra Sociale a Sorrento, http: www.alleanzanazionale.it/an_ti_segnala/021119_destrasociale.htm, 19.11.2002 106

Parteigremien ist die Destra Protagonista etwas stärker vertreten als die beiden anderen Strö- mungen. 30 Sie bildet daher heute die stärkste Kraft innerhalb der Partei.

Die Destra Sociale konnte jedoch die Kontrolle über die Parteiorganisation der Hauptstadt Rom, die wichtigste des Landes, behaupten. Der Versuch des neofaschistischen Populisten Teodoro Buontempo, mit Hilfe des Zentrums die Führung der Föderation zu übernehmen, scheiterte. Statt seiner wurde der Repräsentant der Destra Sociale, Enzo Piso, mit 54% der Stimmen zum neuen Vorsitzenden gewählt.31

Infolge des Generationswechsels sowie zahlreicher Neueintritte wandelte sich aber auch die soziologische Struktur der Partei. Während der Anteil der "ersten Generation", die politisch noch durch den Faschismus und den Bürgerkrieg sozialisiert worden war, kontinuierlich zu- rückging, nahm der Anteil der "zweiten Generation", die wie Fini durch die politischen Aus- einandersetzungen mit der Linken in den sechziger und Siebzigerjahren geprägt wurde, über- proportional zu. Ihr gehört heute die Mehrheit der nationalen Parteielite an. Die alte Parteielite wird heute nur noch durch den fast achtzigjährigen Mirko Tremaglia in der AN-Ministerriege vertreten. 32

Durch den Generationswechsel und durch die Stimmengewinne bei den Parlamentswahlen von 1994, 1996 und 2001 veränderte sich auch die Zusammensetzung des parlamentarischen Personals. Von den 2001 gewählten 99 Abgeordneten der AN gehörten nur 10 schon vor 1992 der Kammer an, 8 sind erst seit 1992, 43 seit 1994 bzw. 1996 und 38 erst seit 2001 Parla- mentsmitglieder. Von den 2001 gewählten 45 AN-Senatoren waren nur 8 schon vor 1992 Mitglieder der zweiten Kammer, 2 sind es seit 1992, 20 seit 1994 bzw. 1996 und 15 erst seit 2001.33

Schließlich veränderte sich zwischen 1994 und 2002 auch das Führungspersonal der Provinz- verbände erheblich. 34 Die Partei hat sich somit seit 1993 nicht nur programmatisch, sondern auch personell stark gewandelt.

Der ideologische und programmatische Wandel führte zu einer teilweisen Akzeptanz der AN durch die demokratischen Verfassungsparteien des Westens. Am 21. März 2002 schlossen sich ihre Abgeordneten im Europäischen Parlament mit den Abgeordneten der französischen, portugiesischen, irischen und dänischen Verfechter eines "Europas der Nationen" zur "Union für das Europa der Nationen" (UEN) zusammen35, und am 2. Parteitag in Bologna nahmen nicht nur Vertreter europäischer Rechtsparteien, sondern auch der amerikanischen Republika- ner teil.36

30 Vgl. Il nuovo organigramma di Alleanza Nazionale, http:www.alleanzanazionale.it/ an_ ti_segnala/010702_nuovoorganigramma.htm, 7.4.2002 31 Vgl. Secolo d'Italia, 26.3.2002, S.6. 32 Mirko Tremaglia wurde 1926 geboren, kämpfte wie Rauti in den Reihen der Freiwilligenverbände der RSI während des Bürgerkrieges von 1943-45 und trat bereits 1946 dem MSI bei, wo er sich dem nationalrevo- lutionären Flügel anschloss. Vgl. http:// www.alleanzanazionale.it/an_ti_segnala/i_ministri_di_an.htm 33 Vgl. für die Abgeordneten Elenco dei Deputati, XIV Legislatura, Camera della Repubblica, Nr.1, Juli 2001; für die Senatoren Elenco dei Senatori, XIV Legislatura, Senato della Repubblica, Nr.1, Juli 2001. 34 Vgl. Secolo d'Italia, 26.3.2002, S.5. 35 Vgl. Secolo d'Italia, 22.3.2002, S.6. 36 Eine Delegation des israelischen Likudblocks hatte ihre Teilnahme zugesagt, war aber infolge einer akuten Verschärfung des Nahost-Konflikts nicht gekommen. 107

5. Ideologie und Programmatik von Alleanza Nazionale

Die Partei modernisierte während der Transformationsphase auch ihre Ideologie und ihre Programmatik. Nur so war es ihr möglich, sich als demokratische Partei zu legitimieren und in das politische System zu integrieren, heimatlos gewordene Wähler der ehemaligen Mitte zu gewinnen sowie koalitions- und regierungsfähig zu werden. Die Modernisierung der Pro- grammatik erfolgte vor allem in offiziellen Parteidokumenten und Reden, die Modernisierung der Ideologie dagegen in parteiinternen Diskursen und spezialisierten Publikationen. Wenn- gleich beide Prozesse das gleiche Ziel, die demokratische Legitimation von AN, verfolgten, so waren sie doch inhaltlich nicht identisch. Die heutigen programmatischen Positionen lassen sich daher nicht unmittelbar von ideologischen Aussagen ableiten. Beide Prozesse wurden von der Parteiführung initiiert und vorangetrieben. Diese musste jedoch auf die Überzeugun- gen der Parteibasis Rücksicht nehmen, auf deren Unterstützung und Legitimierung sie ange- wiesen war. Radikale Änderungen hätten zu Verweigerungen oder zu größeren Abspaltungen führen können. Die ideologische und programmatische Modernisierung erfolgte daher nur schrittweise und ist heute noch keineswegs abgeschlossen.

Der erste entscheidende Schritt zur programmatischen Modernisierung erfolgte auf dem Par- teitag von Fiuggi. Auf diesem verabschiedete die Partei ein neues Programm, das als Grund- lage für die weitere Programmdiskussion diente. In ihm bekannte sich AN zu den christlich- abendländischen Werten, zu den bürgerlichen Freiheiten, zur Demokratie, zum Parteienwett- bewerb, zur Gewaltenteilung und zur Volkssouveränität, zur sozialen Solidarität, zur katholi- schen Soziallehre und zur sozialen Marktwirtschaft, zur Nation, zum Vaterland und zu Euro- pa. Sie kritisierte die "Parteienherrschaft", den "absolutistischen Parlamentarismus" und die Macht der Gewerkschaften während der "Ersten Republik" und forderte eine Reform der In- stitutionen sowie einer Neugründung des Staates, die Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft sowie den Umbau des Sozialstaates. Es fehlte jedoch eine eingehende Auseinan- dersetzung mit dem Faschismus sowie mit der neofaschistischen Vergangenheit der Partei. 37

Der Bezug zum Faschismus war für die Identität des MSI von zentraler Bedeutung gewesen. Er bildete das verbindende Element zwischen den unterschiedlichen Strömungen und Gene- rationen der Partei und wurde daher bis zur Transformation des MSI in den 90er-Jahren nie offen in Frage gestellt.38 Im Kampf um die Parteiführung bekannten sich sowohl Fini als auch Rauti, d.h. die Repräsentanten des gemäßigten und des radikalen Flügels, ausdrücklich zu den faschistischen Werten. Erst als sich Fini im Juni 1991 endgültig durchgesetzt hatte, begann er sich vorsichtig von einigen Aspekten des faschistischen Herrschaftssystems zu distanzieren. So verurteilte er wiederholt den Totalitarismus und legte im Dezember 1993 einen Kranz am Mahnmal der Fosse Ardeatine nieder, in denen 1944 von der SS italienische Geiseln als Re- pressalie für einen Partisanenanschlag auf eine Südtiroler Polizeieinheit erschossen worden waren. Aber noch im März 1994 erklärte er, Mussolini sei der größte Staatsmann des 20. Jahrhunderts gewesen. 39

37 Vgl. AN 1995, Programm von Fiuggi (FN 15). 38 Für die Gründergeneration, deren Angehörige entweder dem faschistischen Regime gedient oder in den Reihen der RSI-Streitkräfte gekämpft hatten, war die Bindung an den Faschismus noch eine persönliche, für die nachfolgenden Generationen, denen Fini und das gegenwärtige Führungspersonal der AN angehören, eine ideologische. Vgl. Tarchi, Marco: Cinquant'anni di nostalgia. La destra in Italia dopo il fascismo, Milano 1995. 39 Interview mit La Stampa, 30.3.1994, S.1. Zur kritischen Auseinandersetzung mit Finis Auffassung vgl. Petersen, Jens: Der Ort Mussolinis in der Geschichte Italiens nach 1945, in; Christof Dipper/Lutz Klin k- hammer/Alexander Nützenadel (Hrsg.), Europäische Sozialgeschichte. Festschrift für Wolfgang Schieder, Berlin 2000, S.506-524. 108

Auf dem Parteitag von Fiuggi verurteilte Fini nicht offen den Faschismus, sondern erklärte ihn, wie bereits vor ihm Almirante, für ein abgeschlossenes Kapitel der italienischen Ge- schichte. Er sei daher ohne Bedeutung für die Gegenwart. Man könne AN nicht mit dem Fa- schismus identifizieren, denn AN bekenne sich zur Freiheit und zur Demokratie. Sie sei eine demokratische Rechtspartei. Die politische Rechte sei nicht die Tochter des Faschismus. Ihre Werte hätten vor diesem bestanden, ihn durchquert und ihn überlebt.40

Fini distanzierte sich jedoch dezidiert vom Rassismus und Antisemitismus und verurteilte scharf die Rassengesetze des faschistischen Regimes.41 Dies konnte er ohne Gefahr für den inneren Zusammenhalt der Partei tun, da in dieser Rassismus und Antisemitismus nie eine offizielle Rolle gespielt haben. Seine Distanzierung von beiden erleichterte jedoch erheblich die moralische Legitimierung von AN sowie die Kontakte mit der israelischen Rechten.

Durch die Historisierung des Faschismus und die Verneinung einer Herkunft der Rechten aus dem Faschismus vermied Fini auf dem Parteitag eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte der Partei, die den Transformationsprozess hätte gefährden können. Er verpasste jedoch so die Chance eines wirklichen Neuanfangs.

Gleichzeitig mit der Historisierung des Faschismus historisierte und delegitimierte Fini auch den Antifaschismus, der die ideologische Grundlage der politischen Ordnung seit 1945 bilde- te. Dieser habe zwar 1945 die Rückkehr zur Demokratie ermöglicht, sei dann aber von den Kommunisten zur Legitimation ihrer Herrschaft bzw. ihres Herrschaftsanspruches benutzt worden und habe dadurch jegliche moralische Legitimität eingebüßt. Mit dem Ende des rea- len Sozialismus und der Nachkriegszeit zwinge sich die endgültige Historisierung auch des Antifaschismus auf. Das Jahrhundert der Ideologien ginge zu Ende und begrabe mit sich den Totalitarismus. Faschismus und Antifaschismus müssten ad acta gelegt werden, um die italie- nische Politik vom Dämon der ideologischen Auseinandersetzungen zu befreien. Nur so kön- ne man wirklich eine neue Phase der italienischen politischen Geschichte an der Schwelle des 21. Jahrhunderts beginnen. 42 Die Historisierung von Faschismus und Antifaschismus erlaubte es Fini, die Programmatik zu erneuern, ohne sich kritisch mit den faschistischen Wurzeln der Parteiideologie auseinander zu setzen. Die Parteibasis wurde so nicht gezwungen, ihre traditi- onellen Überzeugungen zu verleugnen, sondern konnte die Transformation der Partei als eine strategische Notwendigkeit akzeptieren.

Statt auf den Faschismus berief sich Fini zur geistigen Begründung der neuen Programmatik auf eine Vielzahl von Denkern, die den Nationalismus, Konservativismus, politischen Katho- lizismus und revolutionären Syndikalismus des 19. und 20. Jahrhunderts geprägt haben. Mit wenigen Ausnahmen waren sie keine ideologischen Repräsentanten des Faschismus gewe- sen, 43 wohl aber bekämpften sie die Aufklärung und die Französische Revolution, den Libera- lismus, den Egalitarismus und den Marxismus. Auf diese Weise konnte Fini das geistige Erbe der gesamten Rechten beanspruchen und AN klar von der Linken abgrenzen.

Den zentralen Bezugspunkt von AN bildet die Nation. Diese wird nicht politisch als Ver- tragsgemeinschaft oder voluntaristisch als Willensgemeinschaft, sondern historisch, sprach-

40 Vgl. AN 1995, Programm von Fiuggi (FN 15), S.14. 41 Vgl. ebd., S.16 42 Vgl. ebd., S.14 43 Vgl. ebd., S.15. Ferner Fini, Gianfranco: Vi presento AN. Partito democratico di destra, in: Ideazione, 1/1995, Rom, S.81. Zu den Ausnahmen gehören vor allem Giovanni Gentile und Alfredo Rocco. 109 lich-kulturell und territorial als geschichtlich gewachsene Schicksals- und Solidargemein- schaft definiert, die auf der Gemeinsamkeit von Sprache, Kultur, Geschichte und Territorium (la patria) beruht. Aus diesem konservativen Nationenverständnis leitet AN einen defensiven Patriotismus ab, dessen zentralen Ziele die Verteidigung der nationalen Identität und der ter- ritorialen Integrität bilden. Dieser Patriotismus richtet sich vor allem gegen den Multikultura- lismus sowie den Separatismus. Der Multikulturalismus nivelliere die Unterschiede zwischen den Kulturen und nehme ihnen so ihre Einzigartigkeit, der Separatismus zerstöre die territori- ale Integrität.

Als Alternative zum Multikulturalismus propagiert AN die Interkulturalität. Diese beruhe auf dem Austausch zwischen den Kulturen und trage so zu ihrer Bereicherung bei, nivelliere sie jedoch nicht.44 Gegenüber dem Separatismus verteidigt AN die staatliche Einheit. Im Interesse einer stärkeren Partizipation der Bürger und einer größeren Effizienz der Verwaltung befür- wortet sie jedoch eine Stärkung der regionalen und kommunalen Selbstverwaltung sowie eine Dezentralisierung der Verwaltung. Den Föderalismus, wie er von der Lega vertreten wird, lehnt sie jedoch weiterhin im Namen der unitarischen Staatsidee ab.45

Als wichtigsten Garanten der nationalen Identität und territorialen Integrität betrachtet AN weiterhin den Nationalstaat. Er sei der historische Ort, in dem sich die Souveränität der Völ- ker entwickelt habe und in dem sie sich auch heute noch verwirkliche. Es könne sein, dass die Globalisierung eines Tages zu einer gewissen Form der globalen governance führe, im Au- genblick scheine sich die Idee einer "Weltregierung" eher in oligarchischer als in demokrati- scher Form durchzusetzen. Die "Weltdemokratie" bleibe heute eine philosophische Fantasie und ein ideologischer Mythos. Deshalb müsse die nationale Souveränität verteidigt werden. Die Demokratie sei an den Nationalstaat gebunden und lasse sich nicht problemlos auf inter- nationale Organisationen übertragen. 46

Die Verteidigung der nationalen Interessen nach innen und außen erfordere einen starken Staat. Er solle sich jedoch auf die Wahrnehmung seiner Hoheits- und Ordnungsfunktionen beschränken. 47 AN forderte deshalb den Abbau des Etatismus und die Stärkung der Zivilge- sellschaft. Wirtschaft und Gesellschaft sollten von den Bürgern selbst organisiert werden. Dabei sollten die Vereine und Verbände eine zentrale Rolle spielen. 48 Grundlage der politi- schen Ordnung bilde die Volkssouveränität. Diese sei in der "Ersten Republik" durch die "Parteienherrschaft" und den "absolutistischen Parlamentarismus" mediatisiert worden. Um sie wieder herzustellen, müssten die Partizipationsrechte der Bürger gestärkt werden, so vor allem durch die Direktwahl des Staatspräsidenten und die Ausweitung seiner Kompetenzen. Nur ein direkt vom Volk gewählter Präsident sei wirklich unabhängig und könne so wir- kungsvoll die nationalen Interessen gegenüber den partikularen und regionalen Interessen vertreten. Dies war eine alte Forderung des MSI, die nun neu begründet wurde.49

Mit ihrem Programm von Fiuggi brach AN nicht radikal mit der alten MSI-Programmatik, sondern modernisierte diese, indem sie Freiheit mit Autorität, Marktwirtschaft mit Sozialstaat, Nation mit Europa verband, aber an den alten Grundüberzeugungen festhielt. Fiuggi war da-

44 Vgl. Patrone, Cesare: Europa, il paradosso progressista, in: Secolo d'Italia, 21.12.2001, S.12. 45 Vgl. AN 1995, Programm von Fiuggi (FN 15), S.22ff. 46 Vgl. Aldo di Lello, Attenti alla "global class", in: Secolo d'Italia, 29.12. 2001, S.15. 47 Vgl. AN 1995, Programm von Fiuggi (FN 15), S.18ff. 48 Vgl. ebd., S.26f. 49 Vgl. Zoratto, Bruno/Lechner, Brunhilde: Italiens neue Rechte, Stuttgart 1976, S.55. 110 her kein Bad Godesberg. Auf den Programmkonferenzen von Verona und Neapel präzisierte und modernisierte sie jedoch ihre Programmatik weiter. Auf dem 2. Parteitag von AN in Bo- logna 2002 konnte sie sich so als eine demokratische Rechtspartei präsentieren. Sie teilt nun den politischen Grundkonsens der demokratischen Parteien.

Die Modernisierung der Ideologie erfolgte wesentlich langsamer als die der Programmatik. Dabei wurden nicht einfach traditionelle Inhalte durch moderne ersetzt, sondern unter Rück- griff auf konservative, katholische, nationale und liberale Vorstellungen uminterpretiert. Aus dem politisch-staatlichen Nationalismus wurde so ein sprachlich-kultureller Patriotismus, aus dem antidemokratischen Autoritarismus ein demokratischer Semipräsidenzialismus, aus dem militanten Antikommunismus ein gemäßigter Antietatismus.

Trotz ihrer Modernisierung enthält die Ideologie noch viele traditionelle Elemente. Dies zeigt sich besonders bei den historischen Deutungsmustern. So beruht die Darstellung der italieni- schen Geschichte im Wesentlichen auf einer Glorifizierung des Risorgimento50, des Kolonia- lismus51 und des Heroismus der italienischen Soldaten in beiden Weltkriegen sowie auf einer Apologie des Faschismus, insbesondere der RSI.52 Die Italiener erscheinen in diesem Ge- schichtsbild als aufrechte Patrioten, heldenmütige Kämpfer, erfolgreiche Kolonisatoren und tragische Helden. Die Problematik der italienischen National- und Kolonialgeschichte, insbe- sondere während des Faschismus, wird ausgeblendet.

Durch seine neofaschistischen, nationalistischen sowie autoritären Elemente unterscheidet sich der ideologische Diskurs noch erheblich vom programmatischen Diskurs. Der Unter- schied zwischen beiden Diskursen entspricht einer doppelten Notwendigkeit. AN muss einer- seits in der Öffentlichkeit den Eindruck vermitteln, sich seit dem Kongress von Fiuggi pro- grammatisch grundlegend geändert zu haben, um koalitions- und regierungsfähig zu sein bzw. zu bleiben, sie muss jedoch gleichzeitig die ideologischen Bedürfnisse ihrer traditionellen Anhänger befriedigen, um diese nicht zu verlieren. Sie muss ferner als Regierungspartei die gemeinsamen Positionen der Regierungskoalition vertreten, um deren Erhalt zu sichern; als Mitbewerber in der Parteienkonkurrenz muss sie dagegen auch gegenüber ihren Koalitions- partnern ihr eigenes Profil wahren, um ihre Wahlchancen zu optimieren.

Die Existenz traditioneller Elemente im ideologischen Diskurs veranlasst einige Autoren, die demokratische Glaubwürdigkeit von AN noch immer zu bezweifeln. 53 Diese übersehen, dass die Politik einer Partei nicht nur von ideologischen Vorstellungen, sondern auch von strategi-

50 In einer Besprechung des Buches von Angela Pellicciari über das Risorgimento vertrat Enrico Nistri die These, der Konflikt zwischen Kirche und Nationalbewegung sei nicht notwendig gewesen, da beide ein In- teresse an der Zusammenarbeit gehabt hätten. Diese sei jedoch an der antikirchlichen Grundstimmung des Bürgertums sowie der Erstarrung des Katholizismus gescheitert, in: Secolo d'Italia, 22.12.2001, S.15.

51 Vgl. d'Asaro, Franz Maria: Quando il Senusso collaborava con l'Italia, in: Il Secolo d'Italia, 21.12.2001, S.20.

52 Die neofaschistische Geschichtsschreibung hat die RSI stets sowohl als Bollwerk gegen den Kommunismus als auch als Verteidiger der nationalen Ehre nach dem 8. September 1943 sowie der nationalen Interessen gegenüber den Deutschen dargestellt. Vgl. Germinario, Francesco: L'altra memoria. L'estrema destra, Salò e la Resistenza, Turin, 1999; ferner Mastrangelo, Gianni (ehemaliger MSI-Abgeordneter und Chefredakteur des "Movimento"): Il complotto. I comunisti italiani alla conquista del potere attraverso la destabilizzazione, 2002, Besprechung in: Secolo d'Italia, 21.12.01, S.16. Vgl. auch Chiarini, Roberto: L'integrazione passiva, in: Roberto Chiarini/Marco Maraffi (Hrsg.), La destra allo specchio. La cultura politica di Alleanza nazionale, Venezia 2001, S.27ff.

53 So u.a. durch Christen, Christian: Italiens Modernisierung von Rechts. Berlusconi, Bossi, Fini oder die Zerschlagung des Wohlfahrtsstaates, Berlin 2001, S.105ff und S.124. 111 schen Zielen und von politischen Zwängen bestimmt wird. Die noch an der Basis verbliebe- nen neofaschistischen, nationalistischen und autoritären Vorstellungen haben weder die Transformation der Partei noch ihre konstruktive Mitarbeit in der Regierung Berlusconi ver- hindert. Sie engen jedoch zweifellos die Handlungsmöglichkeiten der Parteiführung ein. 54 Diese hat daher ein Interesse an ihrer weiteren Modernisierung.

Infolge ihres programmatischen und ideologischen Wandels ist AN heute eine demokratische Rechtspartei. Sie ähnelt jedoch weder der konservativen Partei Großbritanniens noch der nati- onalrepublikanischen Sammlungsbewegung Frankreichs. Gewisse Ähnlichkeiten hat sie le- diglich mit der spanischen Volkspartei, dem Partido Popular, die aus der postfrankistischen Aleanza Popular hervorgegangen ist. Das Erbe des Faschismus und des Frankismus waren jedoch zu unterschiedlich, als dass sich beide Parteien wirklich vergleichen ließen. Sie ist aber auch keine "Partei des demokratischen Faschismus" in Analogie zur "Partei des demokrati- schen Sozialismus" der Jahre 1991-1998, denn einen "demokratischen Faschismus" kann es nicht geben. AN ist vielmehr eine demokratische Rechtspartei sui generis, die aus dem Fa- schismus hervorgegangen ist, aber diesen überwunden hat. Es ist daher irreführend, sie wei- terhin als neofaschistisch zu bezeichnen.

6. Schlussbetrachtung

Die Transformation der neofaschistischen Sozialbewegung in eine demokratische Rechtspar- tei und deren Integration in das politische System war im hohen Maße eine Folge des tief greifenden Wandels des italienischen Parteiensystems in den Neunzigerjahren. Auch die Zu- kunft der Partei wird entscheidend von der weiteren Entwicklung der italienischen Politik abhängen. Sollte Berlusconi diesmal als Regierungschef erfolgreich sein und im Jahre 2006 zum Staatspräsidenten gewählt werden, dann wäre eine Fusion von AN und FI zu einer gro- ßen Rechtspartei (nach dem Vorbild der französischen UMP) unter der Führung Finis denk- bar. AN würde dann aber ihre gegenwärtige Identität verlieren. Sollte dagegen Berlusconi als Regierungschef abermals scheitern und aus der aktiven Politik ausscheiden, dann könnte AN eventuell das Erbe von FI antreten und so zur führenden Kraft der Rechten werden. Sie könnte dann ihre Identität wahren, müsste sich jedoch noch stärker als bisher zur Mitte hin öffnen. Dies könnte zu Abspaltungen, insbesondere von ihrem sozialen Flügel (Destra Socia- le), führen.

Die Zukunft von AN hängt aber nicht nur vom Erfolg oder Misserfolg Berlusconis, sondern auch von der Entwicklung des Wahlrechts ab. Eine Einführung des reinen Mehrheitswahl- rechts wie in Großbritannien würde die Notwendigkeit der Kooperation bzw. Fusion mit FI verstärken, denn nur so hätten AN bzw. ihre Komponenten weiterhin eine Chance, eine füh- rende Rolle in der italienischen Politik zu spielen. Eine Rückkehr zum reinen Verhältniswahl- recht würde dagegen die Eigenständigkeit von AN stärken und sie aus der gegenwärtigen Ab- hängigkeit von FI befreien. Sie könnte dann ihre Identität wahren und müsste keine größeren Abspaltungen befürchten. Allerdings bestünde für sie die Gefahr, erneut im politischen Sys- tem marginalisiert zu werden, denn sie wäre zur Mehrheitsbildung nicht mehr unbedingt er- forderlich.

Im Augenblick scheint es, dass AN keine dieser Möglichkeiten ausschließt, sondern sich alle

54 Ein ähnliches Phänomen lässt sich innerhalb der sozialdemokratischen Partei Democratici di Sinistra (DS) beobachten, die aus der kommunistischen Partei PCI hervorgegangen ist. Auch hier hält die Basis noch zäh an sozialistischen Vorstellungen fest. 112

Türen offen halten will. So betonte Fini auf dem 2. AN-Kongress in Bologna im April 2002 die politische und gesellschaftliche Zentralität der Partei, d.h. ihren Anspruch, die zentralen Werte der italienischen Gesellschaft zu vertreten. 55 Die Destra Protagonista, die wichtigste Strömung von AN, wiederholte diesen Anspruch auf ihrer Jahrestagung am 16./17. November 2002.56

Eine weitere Profilierung der Partei in diesem Sinne erfordert einen schwierigen Drahtseilakt zwischen Wirtschaftsliberalismus und Sozialprotektionismus, zwischen Unitarismus und Fö- deralismus, zwischen nationaler Interessenvertretung und europäischem Engagement. Die programmatische Transformation der Partei ist daher noch keineswegs abgeschlossen.

55 Vgl. Secolo d'Italia, 8.4.2002, S.1.

56 Vgl. La Stampa, 18.11.2002, http://www.alleanzanazionale.it/an_ti_segnala/021118_dp.htm, abgerufen am 19.11.2002. 113

Der Zustand der Oppositionen

Jens Petersen

1. Der Traum von der Alternanz und das bipolare System

In der fast über anderthalb Jahrhunderte reichenden Geschichte des italienischen Einheits- staates hat dieses Land so gut wie nie einen durch Wahlen bewirkten Wechsel zwischen zwei programmatisch und personell klar konturierten Parteien oder Parteigruppierungen gekannt. Die jeweilige an der Macht befindliche Elite hat jeweils Teile der auf der Rechten oder Lin- ken befindlichen Oppositionen, nach Möglichkeit durch Konzessionen und Kooptationen, in das eigene Bündnissystem einbezogen. Seit den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts nannte man dieses System "trasformismo", "Transformismus", ein System der pragmatischen Macht- behauptung, ohne starke ideelle Spannungen, ohne große Apparate, unter Verwischung aller programmatischen Inhalte.

Italien ist so immer von der Mitte aus regiert worden. Das Land erlebte auf diese Weise lange Perioden großer politischer Stabilität und Momente plötzlicher politischer Umbrüche. Die Organisationsform "Partei" spielte bei dieser Systemcharakteristik keine Rolle. Italien galt vor 1914 einem so klugen Beobachter wie dem Soziologen Robert Michels als "das klassische Land der Parteilosigkeit". Das faschistische Regime brachte dann die Erfahrung der alle Be- reiche der Gesellschaft erfassenden Diktaturpartei, die mit ihren am Ende über 5 Millionen Mitgliedern alle Lebensbereiche reglementieren wollte. 1940 waren fast 20 Millionen Italie- ner so durch die Organisationen von Partei, Gewerkschaften, Frauen, Freizeit, Jugend und Sport erfasst. Praktisch niemand konnte sich der Organisationswut der Verantwortlichen ent- ziehen. Die Erfahrung der totalitären faschistischen Diktatur hat die italienische Gesellschaft tief ge- prägt – zum Teil bis heute hin. Postfaschisten und Post-Antifaschisten stehen sich auch jetzt noch bei vielen Gelegenheiten unversöhnt gegenüber.

Nach 1945 hat Italien ein halbes Jahrhundert christdemokratischer Herrschaft gekannt. Auch die Democrazia Cristiana hat aus der Mitte regiert und ist Zweckbündnisse mit einem Halb- dutzend kleinerer Parteien auf ihrer Rechten und Linken eingegangen. Der "Faktor K" (A. Ronchey), die Kommunistenfurcht, hat dieses System weit über seine Funktionsmöglichkeiten hinaus am Leben gehalten. Mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 und dem Zusammenbruch des Weltkommunismus geriet das Parteiensystem der Ersten Republik in eine Art Schnell- fäule. Sichtbar wurden jetzt die hohen Kosten, die dieses System produziert hatte: die Un- durchsetzbarkeit von großen Reformen, die Sklerotisierung der politischen Entscheidungsin- stanzen, der Ressourcenverzehr auf Kosten der Zukunft, die Anhäufung einer immensen Staatsverschuldung, die lawinenartig anwachsenden Zinszahlungen, die jegliche finanzielle Bewegungsfreiheit zu ersticken drohten. Ein rasch wachsender privater Reichtum stand einer immer stärker verschuldeten öffentlichen Hand gegenüber. Eine alte Einsicht der Geschichte Italiens gewann neue Aktualität: der Privatisierung der Gewinne entsprach die Sozialisierung der Verluste. Italien lebte über zwei Jahrzehnte lang auf Kosten der künftigen Generationen. Hinzu kam eine alle Ganglien der italienischen Gesellschaft durchdringende Korruption, die alles effiziente Staatshandeln im Bereich der Infrastrukturen, der Investitions- und Wirt- schaftsförderung und der Ressourcenverteilung enorm erschwerte, ja ganz blockierte. Italien stand, so das Urteil von Guido Rossi, einem der angesehensten Wirtschaftsanalytiker Italiens, 114

Anfang der Neunzigerjahre am Rande des Abgrunds, vor argentinischen Verhältnissen. Der Chef der Übergangsregierung 1992/93, der Sozialist Giuliano Amato, sagte: "Wir leben auf einem Vulkan, der kurzfristig auszubrechen droht".

Für die große Mehrheit der politischen Beobachter erschien diese verzweifelte politische Situ- ation eine direkte Folge des politischen Systems, des Mangels an klaren politischen Alternati- ven, des Ausbleibens eines politischen Elitentausches, der Wechselblockaden einer skleroti- sierten Parteienlandschaft. Mit neidvoller Bewunderung blickte man auf die angelsächsischen und kontinentaleuropäischen Demokratien mit ihren bipolaren Parteisystemen, hier Labour, dort Conservatives, hier Democrats, dort Republicans, hier SPD, dort CDU/CSU. Hier gab es regelmäßige Machtwechsel, Elitentausch, politische Neuanfänge, Effizienzkontrolle und die erfolgreiche Durchsetzung politischer Alternativen. Der Wechsel des politischen Personals wirkte zusätzlich als Stimulans für politisches Engagement und als Bremse für das Anwach- sen aller Formen von Korruption.

Warum war die politische Entwicklung in Italien nach 1945 so ganz anders verlaufen als in den übrigen Ländern Westeuropas? Auf diese Frage gab es Anfang der Neunzigerjahre zwei Antworten. Die eine lautete: Italien litt unter dem "bipartitismo imperfetto" (G. Galli), einem unvollendeten Zweiparteiensystem, das blockiert war durch den Faktor "K", d.h. durch die Existenz der größten kommunistischen Partei in der westlichen Welt. Die zweite Antwort lautete, Italien hatte keinen Machtwechsel gekannt, weil es die Parteienherrschaft, die "parti- tocrazia" gab und diese basierte auf dem Verhältniswahlrecht. "La proporzionale" garantierte die Dauerherrschaft der Parteioligarchien, sorgte für die wachsende Politikverachtung und gefährdete den Fortbestand des parlamentarisch-demokratischen Systems. In diesen Mecha- nismen und Strukturen schienen die Ursachen für ein Großteil der Übel zu liegen, an denen Italien litt. Es entstand so der große Befreiungstraum vom bipolaren System und dem regel- mäßigen Macht- und Elitenwechsel. So sollte die Politik in Italien alles das zurückgewinnen, was ihr so schmerzlich fehlte: Effizienz, Akzeptanz beim Wähler, strategische Perspektiven, neue Moralität und Repräsentativität. Fast alle Politiker fühlten sich plötzlich in der Rolle von Verfassungs-, Rechts- und Wahlrechtsspezialisten und diskutierten über Verfassungsverglei- che, über die Wirkung von Prozentklauseln und den Nutzen von doppelten Wahlgängen. "Gebt mir ein Mehrheitswahlrecht und ich garantiere Euch ein bipolares System. Die institu- tionellen Mechanismen erschienen als allesentscheidend, als Prägestock, der der Politik neue Form und neues Leben verleihen würde."1

Unter dem Druck der Referendumsinitiativen und der Protestbewegung der "Lega Nord" be- schloss das Parlament 1993 ein neues, noch heute gültiges Wahlgesetz, das den Übergang zum Mehrheitswahlrecht bedeutete, gleichzeitig aber durch eine 25%ige Proportionalquote den kleineren Parteien eine Überlebenschance bot. Dieses nach dem Urteil von Giovanni Sartori schlechteste aller denkbaren Wahlgesetze führte zu einer Bipolarisierung der italieni- schen Wahllandschaft, wie sich bei den Parlamentswahlen 1994, 1996 und 2001 zeigte. Gleichzeitig aber erhöhte sich die Zersplitterung des italienischen Parteiensystems. Statt der früheren acht bis zehn Parteien der Ersten Republik gab und gibt es jetzt eine Weimarer Situ- ation mit 40 bis 50 Parteien und Miniparteien, die vielfach nicht mehr sind als die territorial fundierte Klientel einiger Politiker. Das Droh- und Erpressungspotenzial auch kleinster Grup- pierungen, unter denen schon die Erste Republik gelitten hatte, ist seit 1993 noch massiv ge- wachsen. Eine Miniaturpartei wie die postfaschistisch-nostalgische "Fiamma Tricolore" kann mit weniger als 1% der Stimmen, wie 1996 geschehen, wahlentscheidende Auswirkungen besitzen. Der Traum von einem funktionsfähigen bipolaren politischen System angelsächsi-

1 Amato, Giuliano: Tornare al futuro. La sinistra e il mondo che ci aspetta, Bari, Roma 2002, S.80. 115 schen Zuschnitts ist so in der in Italien praktizierten verwässerten Form und unter südlicher Sonne fast zu einem Albtraum geworden. Selbst die zwei Anläufe, durch Referenden ein rei- nes Mehrheitswahlrecht einzuführen, sind 1999 und 2000 an dem Desinteresse der Wähler- schaft und der 50%-Klausel gescheitert. Die ganze über mehr als zwei Jahrzehnte geführte Debatte um Verfassungs- und Wahlrechtsreform mutet aus der Vogelschau an wie eine einzi- ge "Anleitung zum Unglücklichsein".

2. Institutionelle und mentale Voraussetzungen für eine funktionsfähige Opposi- tion

Zum Konzept und Traum eines funktionsfähigen bipolaren Systems gehört neben einer regie- rungsfähigen und seiner Rechte, Pflichten und Grenzen bewussten Regierungsmehrheit auch die Existenz einer homogenen, intakten und auf den parlamentarischen Ebenen von Kammer und Senat ständig präsenten und das Regierungshandeln kritisierenden Opposition, die in der Lage ist, politische Alternativen aufzuzeigen. Dazu braucht es eine akzeptierte Spitze, eine Art Schattenkabinett und eine alternative Führungselite. Zusätzlich bedarf es vieler Transmis- sionsriemen in die Gesellschaft hinein, um Kritiken, Debatten und Konzepte auch vor einem breiten Publikum hör- und sichtbar zu machen. Von alledem ist in Italien heute wenig zu se- hen. Der "Corriere della Sera"sah schon im Juli 2001 "eine lange Leidenszeit" der Opposition voraus. "Sie wird zahlreiche blutige innere Kämpfe überstehen müssen, bevor ihr eine Erneu- erung und eine Wiedergeburt gelingt."2 Die politischen Kräfte, die 1996 unter dem Zeichen der Ölbaum-Koalition und unter der Führung von Romano Prodi einen knappen Wahlsieg errangen und in wechselnden Konstellationen und unter verschiedenen Ministerpräsidenten das Land bis zum Jahr 2001 regiert haben, bieten heute ein desolates Bild. In der potenziell 15 Parteien umfassenden Koalition gibt es keine allseits anerkannte Führungsfigur, keine ge- meinsame politische Linie, keine fundierte Diskussion über die Ursachen für die Niederlage im Mai 2001, keine Bemühungen um ein gemeinsames Programm. Ebenso fehlt eine gemein- same Strategie für künftige Wahlgänge. Dazu kommt ein hohes Maß an Rivalität und offener wie versteckter Polemik zwischen den einzelnen führenden Politikern sowohl innerhalb der beteiligten Parteien wie im Koalitionsverband. Nach Ansicht des Turiner Soziologen Gian Enrico Rusconi handelt es sich um eine Opposition, "die sich selbstverliebt in eine depressive Krise zurückgezogen hat und nicht in der Lage ist, sich der Regierung entgegenzustellen, in- dem sie ihre eigenen Kompetenzen und Erfahrungen einbringt". 3 Bei Abstimmungen in Kammer und Senat hat das "Centro-Sinistra" wiederholt in völliger Zersplitterung abge- stimmt. Die Opposition bietet so im ersten Jahr nach den Wahlen ein bedrückendes Bild der Orientierungs-, Rat- und Entschlusslosigkeit. Wie die "Neue Zürcher Zeitung" Anfang 20024 schrieb, verschleißt "der Ulivo ... seine Kräfte mit kleinlichem Gezänk um Nichtigkeiten. Un- ter solchen Umständen scheint die Rückkehr an die Macht ausgeschlossen". Nicht ohne Grund hat der Regisseur Nanni Moretti im Februar 2002 in Rom bei einer Veranstaltung auf der Piazza Navona mit Blick auf die vor ihm sitzende Führungsgarde des "Ölbaumes" voller Zorn und Verzweiflung ausgerufen: "Mit solchen Anführern gewinnen wir niemals, die bieten ein peinliches Schauspiel. Es wird wohl noch drei, vier oder fünf Generationen dauern, bis wir wieder die Wahlen gewinnen."5

2 Corriere della Sera, 1.7.2001. 3 Tagesspiegel, 16.2.2002. 4 Neue Zürcher Zeitung, 4.2.2002. 5 Handelsblatt, 5.2.2002. 116

In diesem Verlust an Selbstvertrauen und in dieser Orientierungslosigkeit hat man eine Folge ungesicherter bipolarer Traditionen zu sehen. Die Opposition fürchtet, nicht mehr in absehba- rer Zeit an die Macht zurückkehren zu können und zeichnet deshalb teilweise apokalyptische Visionen von "Regimebildung", Demokratieverlust und nationalem Notstand, bei dem als letzte Notbremse nur der Appell an Europa zu bleiben scheint. Die Mitte-Rechts-Regierung, ohne historisch eingespielte bipolare Traditionen und ohne einen institutionellen Rahmen von "checks and balances", scheint sich auf Dauer in der Macht einzurichten. Dabei bleibt als gro- ße Unbekannte die Figur Berlusconis selbst.

3. Personalisierung der italienischen Politik seit 1992

Als Hauptproblem auch auf der Linken erweist sich inzwischen die Suche nach einer multi- funktionalen Führungsfigur, die telegen sein muss, akzeptiert bei einem Dutzend von Bünd- nispartnern, Realist und Visionär, wohl gelitten bei Katholiken, Sozialisten, Postkommunis- ten, Grünen und vielen anderen Minderheitsgruppen.

Als eine der Hauptcharakteristiken der politischen Entwicklung in Italien im letzten Jahrzehnt hat man die Personalisierung der Politik zu betrachten. Von dem Übergang zum Mehrheits- wahlrecht 1993 war schon die Rede. Seit 1992 ist schrittweise auch bei den Kommunal-, den Provinzial- und den Regionalwahlen ein zweistufiges, in zwei Wahlgängen ablaufendes Mehrheitswahlrecht eingeführt worden, bei dem im zweiten Wahlgang die beiden meist vo- tierten Kandidaten in direkter Konfrontation einander gegenüberstehen.

Nachdem die Erfahrung der charismatisch fundierten, totalitären Diktatur Mussolinis nach 1945 personale Führung für Jahrzehnte ins Zwielicht gestellt, wenn nicht gar tabuisiert hatte, so zeigt sich seit Beginn der Neunzigerjahre die Situation grundlegend geändert. Heute sind Dezisionismus, Führung und hohe personale Sichtbarkeit gefragt. Dieser Wandel hängt auch und vielleicht sogar primär mit der "discesa nel campo", dem Eintritt in die Politik von Silvio Berlusconi zusammen. Sein Aufstieg und die Erfolge des von ihm geschaffenen "Hauses der Freiheiten" haben den Stil und die Formen der Politik in Italien tiefgreifend verändert. Berlus- coni repräsentiert eine neue Form der von Jacob Burckhardt um 1870 vorausgesehenen "ter- ribles simplificateurs". Er hat seine Wahlsiege errungen mit der Propagierung von plakativen Feindbildern, mit wenigen schlagkräftigen Slogans, dem ständigen Appell an Emotionen und einer Politik der Antipolitik. Dieser neue Populismus kann dank täglicher demoskopischer Umfragen die massenpsychologischen Auswirkungen politischer Handlungen punkt- und zeitgenau überprüfen und kann so entsprechende Anpassungen vornehmen. Nach einer resig- nierten Äußerung des Dirigenten Giuseppe Sinopoli wird Italien beherrscht von einer "Kultur der Ankündigungen", denen dann häufig keine Taten folgen.

Das Centro-Sinistra hat dieser siegreichen neuen Form der Politikgestaltung einstweilen we- nig entgegenzusetzen. Dank des Quasi-Monopols des Centro-Destra im Fernsehbereich hat die Opposition heute ein hohes Sichtbarkeitsdefizit. Sie hat es bis heute nicht geschafft, mit einer Stimme zu sprechen. Das Tauziehen um die "leader-Stellung" unter den potenziellen Kandidaten, zu denen F. Rutelli, M. D'Alema, G. Amato, W. Veltroni und P. Fassino zählen, nimmt bisweilen fast groteske Formen an. Manche gebärden sich, nach dem Urteil der NZZ, "wie mimosenhafte Primadonnen".

Der einzige, der auf der Linken in den letzten Monaten an Statur gewonnen hat, ist der im Herbst 2002 aus dem Amt geschiedene Generalsekretär der früher kommunistischen Dachge- werkschaft "Confederazione Generale Italiana del Lavoro", Sergio Cofferati. Er hat die große, 117

über zwei Millionen Teilnehmer umfassende Protestdemonstration in Rom am 23. März ge- wollt und organisiert. Er hat den ersten Generalstreik seit mehreren Jahrzehnten am 16. April 2002 in Szene gesetzt. Cofferati hat bis heute jegliche Intentionen geleugnet, in die Politik zu gehen. Aber er gilt inzwischen für viele politische Beobachter als "der neue Führer der Lin- ken, als der Einzige, der sie vielleicht wiederbeleben kann, und der sie aus dem sterbenskran- ken Zustand herauszuführen vermag, in den sie die Wahlniederlage gestürzt hat". 6 Als "Anti- Berlusconi" hat die Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit" den Gewerkschaftsführer porträ- tiert.7

Unter vielen so genannten Generälen der Linken ist Cofferati der Einzige, der über ein Heer und über breiteste Kontakte zur italienischen Gesellschaft verfügt. Wie die Großdemonstrati- onen des Frühjahrs 2002 gezeigt haben, kann er, anders als die "Democratici di sinistra", auch die Massen mobilisieren.

4. Die mühsame Identitätssuche der postkommunistischen "Linksdemokraten"

Damit richtet sich der Blick viertens auf die Postkommunisten der Ds. Diese Partei ist noch immer auf der Suche nach ihrer Identität. Anlässlich des letzten Parteitages in Pesaro im No- vember 2001, der unter dem bedrohlichen Motto stand "cambiare o morire" (Wandel oder Untergang), hat die römische Tageszeitung "La Repubblica" ein aufschlussreiches Porträt der Partei publiziert. Die "Linksdemokraten" haben bei den Wahlen am 13. Mai 2001 noch 16,6% der Stimmen erreicht, das ist weniger als die Hälfte der 34,4%, die der PCI auf seinem Höhe- punkt 1976 erzielte. Mit einer halben Million Mitglieder verfügt die Partei immer noch über ein Drittel früherer Mitgliederzahlen. Nach Umfragen haben 40-50% der heutigen Ds-Wähler niemals PCI gewählt – entweder, weil sie zu jung waren oder weil sie andere politische Hei- maten hatten. Das Erbe anderer Linksparteien aber, wie der Sozialisten, der Sozialdemokraten oder der Republikaner, haben die "Linksdemokraten" nicht angetreten. Die heutige Führungs- schicht der Ds stammt – mit Ausnahme des Ex-Sozialisten Valdo Spini – zu fast 100% aus dem alten PCI. "Repubblica" hat eine vergleichende Wahlgeografie 1976 und 2001 pub- liziert.8 Es handelt sich fast um eine Fotokopie. Die Stärken und Schwächen der heutigen Linksdemokraten liegen – geteilt durch zwei – fast exakt noch dort, wo sie vor einem Vier- teljahrhundert für den PCI lagen. Die Geschichte der KPI wiegt also auch heute noch und wirkt als Fessel und als Hemmnis. Das Konzept der großen sozialdemokratischen Partei nach westeuropäischem Muster, die als Magnet für alle egalitären und reformistischen Kräfte wirkt, und die den Kern eines stabilen Links-Mitte-Bündnisses bildet, ist einstweilen ein Traum. In Italien haben wir es nicht nur mit einer anormalen Rechten zu tun, sondern auch mit einer anormalen Linken. Das hat viele Gründe, vor allem historische.

5. Die "Linke in der Linken": "Rifondazione comunista" und verwandte Gruppen

Die stärkste Verankerung in der Vergangenheit bildet heute die Existenz einer sich auch heute "kommunistisch" nennenden antikapitalistischen Opposition links von den Ds, die von Partei- en wie "Rifondazione comunista" und "Comunisti italiani" repräsentiert wird und die bis zu

6 Corriere della Sera, 15.4.2002. 7 Zeit, 18.4.2002. 8 La Repubblica, 15.11.2001. 118

10% Wählerpotenzial umfasst. Hier gelten nach wie vor die vermeintlichen oder wirklichen Lehren eines Jahrhunderts des Weltkommunismus, hier gilt der Weltkapitalismus und die von ihm ausgehende Globalisierung nach wie vor als der zu bekämpfende Feind. Als die eigentli- che Inkarnation dieses Weltkapitalismus gelten die USA und der amerikanische Imperialis- mus. Mit dem Antiamerikanismus alt- und neukommunistischer Prägung lassen sich in Italien beträchtliche Massen mobilisieren. Hinzu kommen die neuen Globalisierungsgegner jeglicher Couleur, amerikakritische Grüne und katholische Pazifisten. Dieses ca. 10% umfassende und teilweise in die Wählerschaft der Linksdemokraten hineinreichende Potenzial intransigent antiamerikanischer und antikapitalistischer Stimmen stellt, wie die Geschichte des letzten Jahrzehnts gezeigt hat, nicht nur ein großes Schwächemoment jeder Mitte-Links-Koalition dar. Diese "Sinistra-sinistra" konditioniert auch in vielfältigen Formen die gesamte übrige Linke. Die Linksdemokraten sehen sich ständig – dank Rifondazione Comunista – mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert. Sie haben ebenso permanent den Verlust von Anhängern und Wählerstimmen nach links zu befürchten. Eine – immer wieder als realisiert – verkündete "Sozialdemokratisierung" hat hier das entschiedenste Hindernis. "Socialdemocratico" bleibt für beträchtliche Teile der italienischen Linken ein ambivalenter und mit Misstrauen betrach- teter Begriff. Die großen Figuren des italienischen sozialdemokratischen "riformismo" wie Piero Treves, Giacomo Matteotti, Filippo Turati oder Giuseppe Saragat haben in der Gegen- wart keinerlei Aufwertung erfahren. Sie sind weitgehend vergessen oder in einem sterilen Märtyrerkult einbalsamiert. Obwohl sich ihre Analysen, ihre politischen Stellungnahmen und Kämpfe in der historischen Rückschau als vielfach zutreffend erwiesen haben, konnten ihre Figuren in der Gegenwart auf der italienischen Linken keinerlei neue Aktualität gewinnen.

6. Die Linkskatholiken und Demokraten als potenzieller Kern einer bürgerlichen Sammelbewegung

Die vielleicht größte Überraschung bei den Wahlen am 13. Mai 2001 war das gute Abschnei- den der wenige Monate zuvor entstandenen "Margherita"-Gruppierung. In dieser Blumenkoa- lition hatten sich Linkskatholiken (PPI), Prodi-Demokraten, Udeur (Mastella) und Dini- Anhänger zusammengefunden. Diese rasch zusammengewürfelte Sammelbewegung der lin- ken Mitte, als deren Galionsfigur der Ex-Bürgermeister von Rom, Francesco Rutelli, figu- rierte, erreichte auf Anhieb 14,5%. Nach Umfragen wären heute drei von zehn italienischen Wählern bereit, "Margherita" zu wählen, wenn sie ein vertrauenserweckendes Programm und ein glaubwürdiges Führungspersonal präsentieren könnte. Die "Margherita" könnte einem Strukturdefekt der Mitte-Links-Koalition abhelfen, der ihr seit ihrer Geburt 1996 anhaftet. Das "Ölbaum"-Bündnis sah mit der Führungsstellung Romano Prodis eine herausragende Stellung für die progressiven, aus der Tradition Luigi Sturzos herkommenden Linkskatholiken des "Partito Popolare" vor. Die zahlenmäßig weit stärkeren und besser organisierten Post- kommunisten der Linksdemokraten haben sich bis 1998 aus Gründen der Vernunft dieser Führungsstellung untergeordnet. Nur die Linkskatholiken konnten – und können auch heute – die Brücke bilden zum großen Stimmenreservoir des italienischen Bürgertums. Nur hier in der Mitte konnten die Stimmen mobilisiert werden, die für Wahlerfolge notwendig waren. In der spezifischen Situation Italiens mit einer Fundamentalopposition auf der äußersten Linken von 8-10% konnte – und kann – meines Erachtens nur diese Öffnung zur Mitte hin Chancen bieten für erfolgreiche Wahlstrategien. 119

7. Aufwachen der Gesellschaft? Die Universitäten, die Intellektuellen, die "Ringelreihen"

Die Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit" analysierte Mitte April 2002 den "Zerfallsprozess ... der italienischen Linken". "Zerrissen, schwach und orientierungslos gelingt es ihr nicht, eine respektable Opposition gegen die Regierung zu Stande zu bringen."9 Der Eindruck, es mit einer präpotenten Regierung und einer impotenten Opposition zu tun zu haben, hat seit der Jahreswende 2001/2002 zahlreiche gesellschaftliche Initiativen auf den Plan gerufen. Zu- nehmend lauter wurde die Besorgnis über den Verlust an Informationsvielfalt, die von der Regierung betriebene Disziplinierung der Justiz und die zunehmende Verletzung wesentlicher rechtsstaatlicher Prinzipien. Immer mehr unzufriedene Linkswähler gingen auf die Straße, um, wie Giuliano Amato sagte, "den Linksparteien gehörig den Marsch zu blasen". In nuce entstand hier eine bislang unbekannte außerparlamentarische Opposition. Schützende Men- schenketten um Justizgebäude und Medienanstalten, Blumenfeste auf offener Straße – das sind für Italien neuartige Bürgerinitiativen. Bei diesen Formen spontaner gesellschaftlicher Selbstorganisation erweisen sich Telefon und Internet als Instrumente der Kommunikation, der Aggregierung und der Mobilisierung. Während noch Mitte 2001 politische Beobachter die These vertraten, die Linke habe endgültig die Herrschaft über die "piazza", d.h. die Straße, den Kontakt zu und die Kontrolle über die großen Massenveranstaltungen verloren, entstan- den mit den "girotondi" (Ringelreihen) neue Formen der politischen Partizipation und des Protestes.

Die Mitte-Rechts-Koalition und die von ihr beherrschten Medien haben diese Veranstaltungen als "Mobilisierung der Straße" und Gefährdung der repräsentativen Demokratie gebrand- markt. Gleichwohl zeigen Umfragen, dass diese neuen "Blumenkinder" auf besorgnisunter- mischte Sympathien bis weit in das bürgerliche Lager hinein rechnen können. Über 60% der "Ölbaum"-Wähler und immerhin 20% der Mitte-Rechts-Wähler sind bereit, sich unter Um- ständen an solchen Initiativen zu beteiligen.

Die Zeitschrift "MicroMega" rief im Februar 2002 in Mailand zu einer Erinnerungsveranstal- tung an den zehnten Jahrestag von "Mani pulite" (die Antikorruptionsermittlungen der Mai- länder Staatsanwälte um Antonio Di Pietro) auf. Statt der erwarteten 4.000 Teilnehmer kamen 40.000. Ähnliche Veranstaltungen fanden an zahlreichen Universitäten statt.

Die etablierten Parteien des Centro-Sinistra stehen dieser spontan entstandenen außerparla- mentarischen Opposition mit Misstrauen, ja mit Feindseligkeit gegenüber. Paolo Flores D'Ar- cais, Chefredakteur von "MicroMega", schrieb Anfang 2002: "Die Abkehr von den Parteien artikuliert die Forderung nach mehr Politik im Sinne stärkerer demokratischer Beteiligung, ... nach mehr gesellschaftlichem Engagement des gewöhnlichen Staatsbürgers."10 Der an der Universität Florenz lehrende Zeithistoriker Paul Ginsborg fragte in einem Interview, ob "un- sere linken Parteien überhaupt noch fähig sind, aktiv etwas auf die Beine zu stellen". Noch drastischer äußerte sich die bekannte Astrophysikerin Margherita Hack: "Eine neue Linke muss her – die alten politischen Führer gehören ins Altersheim."11

Das geschlossenste Nein zu der Regierung Berlusconi kommt aus den Reihen der früher kommunistischen Dachgewerkschaft CGIL unter Führung von Sergio Cofferati. Am 23. März 2002 organisierte sie eine zwei bis drei Millionen Demonstranten umfassende Protestde-

9 Zeit, 18.4.2002. 10 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.2.2002. 11 Die Welt, 13.3.2002. 120 monstration in Rom. Dieser größten Massenveranstaltung in der Geschichte Italiens nach 1945 folgte am 16. April ein von allen Gewerkschaften unterstützter Generalstreik – der erste seit 20 Jahren. Ein weiterer Generalstreik wurde im Oktober 2002 durchgeführt.

8. Das Urteil des Auslands als Bestandteil der Opposition

Die Figur und das "Phänomen" Berlusconi haben in Italien selbst und im europäischen Aus- land seit seinem Eintritt in die Politik Ende 1993 ein enormes Interesse auf sich gezogen. Nach Mussolini ist kein Italiener im letzten Jahrhundert so intensiv und mit teilnehmender Leidenschaft analysiert, kommentiert und kritisiert worden. Die Anzahl der vielfach zwischen Hagiografie und Dämonisierung angesiedelten Biografien hat inzwischen dreistellige Dimen- sionen erreicht. Mit dem Zusammenwachsen Europas und vor allem seit der Einführung der Gemeinschaftswährung des Euro wird die Theorie nationaler Souveränität mit ihrem Nicht- einmischungsprinzip zunehmend obsolet. Was in der Apenninenhalbinsel passiert, hat vitale Auswirkungen auf das übrige Europa. Dazu äußert die ehemalige deutsche Justizministerin Herta Däubler-Gmelin: "Uns kann nicht egal sein, was sich in Italien tut und unseren Nach- barn nicht, was sich bei uns tut. Europa hat eben nicht nur eine Wirtschaft und Währung, son- dern vor allem auch gemeinsame Werte wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Deshalb müssen alle aufpassen."12

Dabei unterscheiden sich Stimmungen und Urteile in Italien selbst und im europäischen Aus- land auf das Deutlichste. Zumindest seit seinem Wahlsieg am 13. Mai 2001 kann Berlusconi sich im eigenen Lande, auch dank seiner medienbeherrschenden Situation, an einem breiten Konsens erfreuen. Auch die große nationale Presse ist – mit Ausnahme der römischen Tages- zeitung "La Repubblica" – auf distanziert freundliche und abwartende Positionen umge- schwenkt. Das Echo im europäischen Ausland ist dagegen weit negativer und kritischer und gewährt besorgten und alarmistischen Stimmen aus Italien selbst breiten Raum. Über Nach- richten, Aufrufe, Artikel und Interviews finden Stimmen italienischer Intellektueller, etwa von Antonio Tabucchi, Umberto Eco oder Dario Fo, heute im europäischen Ausland eher Gehör als in Italien selbst. Die öffentliche Meinung Europas bildet für das Centro-Sinistra heute eine der wirksamsten Instrumente im Kampf um Meinungsführerschaft in Italien. Ein Artikel im "El Pais", eine Italien gewidmete Titelgeschichte im "Economist" oder ein Kommentar in der "Neuen Zürcher Zeitung" finden einen breiten, zustimmend zitierten Widerhall in den noch nicht gleichgeschalteten Zeitungen Italiens.

Die öffentliche Meinung Europas ist so seit einiger Zeit und mit zunehmender Intensität seit letztem Jahr ein Faktor der italienischen Innenpolitik geworden. Hier funktionieren die zahl- reichen — in Italien so wirksamen und erfolgreichen — Abwehr- und Immunisierungsstrate- gien des Berlusconi-Lagers nicht. Zeitungen und Zeitschriften wie "Le Monde" oder "Econo- mist" als kommunistisch inspiriert oder finanziert hinzustellen, erscheint völlig unglaubwür- dig. Die auf europäischen Gipfeltreffen vorgetragene Botschaft Berlusconis, er habe Italien vom Kommunismus befreit, stieß bei den Angesprochenen auf Ironie und Heiterkeit.

Befremdung und Kritik sind gewachsen, seitdem Berlusconi Anfang Januar 2002 den Garan- ten eines europafreundlichen Kurses, den Außenminister Renato Ruggiero, aus seinem Kabi- nett ausgebootet hat. Wenig später fragte die "Neue Zürcher Zeitung": "Liegt Italien in La- teinamerika?" Die NZZ hielt den von der Regierung vorgelegten Gesetzesentwurf über die Lösung des Interessenkonflikts einen "lächerlichen" Vorschlag von "scheinheiliger Unbehol-

12 Süddeutsche Zeitung, 7.3.2002. 121 fenheit" und einen "Affront gegen die italienische Demokratie". "In den Parteien des Centro- destra fehlt offenbar jedes Sensorium dafür, dass Berlusconis Interessenvermischung, die Kumulation von politischer und wirtschaftlicher Macht ... in einer europäischen Demokratie keine hundert Tage tolerierbar sein sollten."13

Auf der europäischen Ebene und vor dem Forum der europäischen Öffentlichkeit operiert Berlusconi deshalb eher in der Defensive. Zugute kommt ihm, dass völlig überzogene Thesen und Polemiken (Berlusconi = der neue Mussolini, Regierung Centro-Destra = der neue Fa- schismus) in Italien selbst Solidarisierungseffekte auslösen. Scharfsichtig wie fast immer hat Giuliano Amato im Oktober 2001 bemerkt: "Es wäre schlimm, wenn man beginnen würde, uns als Matratze zu behandeln, auf der man herumspringen kann. In der Matratze stecken nämlich auch wir und eines künftigen Tages werden sie auch auf dem Kopf eines anderen herumspringen."14

Große Teile der Linken haben sich an der dämonisierten Negativfigur von Silvio Berlusconi quasi festgebissen und hoffen auf einen deus ex machina, der dieses Drama beenden könnte. Dieser Eingriff von oben könnte in einem weiteren Gerichtsurteil bestehen oder einer anderen providenziellen Fügung. Hier herrschen gefährliche Illusionen. Die heutige Ölbaum-Koalition wäre gar nicht in der Lage, eine handlungsfähige Alternative anzubieten. Die einzige realisti- sche Alternative besteht darin, den "langen Marsch durch die Wüste" von vier weiteren Jahren Opposition anzutreten. Der Nestor des italienischen Journalismus, Indro Montanelli, hat im Frühjahr 2001, wenige Monate vor seinem Tod, gesagt, die einzige wirksame Kur, die die Italiener von Berlusconi heilen werde, sei die Erfahrung seines konkreten Regierens. Sie müssten das große Kartenhaus seiner Versprechungen erst zusammenbrechen sehen, um zur Realität ernüchtert zu werden. Wie wahr.

13 Neue Zürcher Zeitung, 26.1.2002. 14 Corriere della Sera, 22.10.2001. 122 123

Medien und Politik

Birgid Rauen

1. Einführung

Es steht in Italien wieder einmal eine Neuordnung des Medien- und Telekommuni- kationsbereichs an. Diese müsste anders als bei der Verabschiedung des Rundfunkgesetzes 1990, das die bestehende Lage absegnete, und stärker als bei der Verabschiedung des Kartell- gesetzes für Telekommunikation 1997 mit seinen Kompromissen (siehe 5.1) die Zielvorgaben des Verfassungsgerichts zum Schutz der Meinungsvielfalt (siehe 4.) oder die seit Berlusconis Wahlsieg sich wiederholenden öffentlichen "moral suasions" von Staatspräsident Ciampi zum Pluralismus als Grundlage der Demokratie berücksichtigen.

In den vergangenen Jahren setzten Medienreformer Hoffnungen in die Einführung des Digi- talfunks mit seiner Multiplikation der verfügbaren Programme: New Entries würden das öf- fentlich/private Duopol RAI-Mediaset mit je drei Programmen – das 90% von Rundfunkwer- bung und Zuschauermarkt und fast 50% der gesamten Werbeaufwendungen monopolisiert – eingrenzen.

Auf den terrestrischen Frequenzen drängen sich acht landesweite und über 600 Regional- und Lokalsender. Für das Experimentieren mit terrestrischem Digitalfunk, das Ende 2002 begin- nen sollte, müssen die gegenwärtigen Lizenzinhaber auf ihren Frequenzen Platz machen. Im Unterschied zu anderen Ländern Europas hat die illegale, aber tolerierte Besetzung der Fre- quenzen Anfang der Achtzigerjahre dazu geführt, dass diese teuer gehandeltes Privatgut ge- worden sind. Die Einführung des terrestrischen Digitalfunks zum festgesetzten Termin (1.1.2006) ist daher unwahrscheinlich. Dazu kommen die hohen Kosten der Umstellung (etwa 260 Mio Euro pro Programm). Wegen sinkender Werbeeinnahmen und der Blockierung eines günstigen Vertrags (siehe 5.7) hat die RAI – die sich halb aus Gebühren, halb aus Werbung finanziert – Bilanzsorgen. Mediaset dagegen meldet sinkendes Interesse an, da Digitalfunk, von Pay über Satellit bis zum interaktiven Service-TV oder T-Commerce, Werbekunden ab- ziehen würde.

Der Wahlsieg Silvio Berlusconis im Mai 2001 belastet jede Mediendebatte. Vom Hauptaktio- när von Mediaset ist als Staatschef keine Medienordnungspolitik in Richtung einer größeren Liberalisierung des Marktes zu erwarten.

Im italienischen Interessenkonflikt geht es nicht nur um rein privatwirtschaftliche Interessen: Die Regierungskoalition macht alle Anstalten, die RAI ihren politischen Zielen unterzuord- nen.

Im vergangenen Frühjahr wurden – bis auf den Generaldirektor der Werbegesellschaft Sipra und den Vorstand von RAI-Fiction, wichtigen finanziellen Schaltstellen in einem Unterneh- men, das Ende 2002 Verluste von über 220 Mio. Euro erwirtschaften wird – alle leitenden Stellen bei RAI neu besetzt. Nach und nach werden kritische Stimmen innerhalb der RAI aus- geschaltet – auch und besonders die mit satirischem Zuschnitt (siehe 6.1). Die neuen Medien stecken immer noch in den Kinderschuhen. 1

1 Im Jahr 2000 gab es 2,3 Mio. Haushalte mit Satellitenempfang; im Jahrfünft 1995-2000 stieg der Anteil der Pay-TV an den Rundfunkeinnahmen von 5 auf 10%; der Anteil der Fernsehgebühren sank von 29 auf 22%; 124

1.1 Das politische Umfeld der Entstehung des Interessenkonflikts

Die Schmiergeldaffäre, die als Tangentopoli in die jüngere Geschichte Italiens eingegangen ist, begann am 17. Februar 1992 mit der Verhaftung des Präsidenten eines Mailänder Fürsor- gewerks, der ein Paket Wählerstimmen für die sozialistische Partei besorgte. Die politische Führungsschicht sah sich am Ende ihrer politischen Karriere. Nach fast siebzehn Jahren auto- kratischer Alleinherrschaft legte Bettino Craxi am 11. Februar 1993 nach dem vierten Er- mittlungsbescheid sein Amt als Parteivorsitzender des PSI nieder. Die Democrazia Cristiana wurde am 18. Januar 1994, der PSI wenige Monate später aufgelöst.

Die von den Wählern den "alten" Parteien verabreichte Ohrfeige war nicht nur eine Folge der Entrüstung über die Verletzung der Rechtsstaatlichkeit; es war auch ein gut Teil Politik- und Staatsverdrossenheit mit im Spiel. Regionalisierung, Privatisierung, Eindämmung des Staates und der Parteien wurden gefordert. Wer vorher von deren illegalen Machenschaften profitiert hatte, sah sich nach neuen Möglichkeiten um, den Regularien des verbürokratisierten Staates zu entgehen. Schon vor "Tangentopoli" verbreitete sich im konservativen Mittelstand das Wunschbild vom starken Mann im schwachen Staat. Der Populismus Silvio Berlusconis ist nicht dessen Erfindung – die Stimmung war in breiten Kreisen reif dafür.

1.2 Tangentopoli und seine Auswirkung auf die Medien

Was bedeutete diese in wenigen Monaten sich vollziehende Umschichtung des italienischen Parteiensystems für die Medienwelt?

Die RAI und Silvio Berlusconi verloren ihre politischen Referenten. Der PSI und die Democ- razia Cristiana hatten bis dahin die RAI-Spitzenpositionen unter sich aufgeteilt: Der erste stellte den Präsidenten, die zweite den Generaldirektor. Fielen bei der Unternehmensführung Schulden an, wurden im Einvernehmen mit Verlegern und Werbekunden die RAI- Werbelimits ein wenig angehoben – das Aushandeln besorgte die Politik.

Als Gegenleistung zur Genehmigung für den illegalen Betrieb landesweiter Sendeanlagen durch Berlusconis drei Rundfunkunternehmen erhielt die DC mit dem Gesetz vom 4. Februar eine Ausweitung der Befugnisse des RAI-Generaldirektors. Giulio Andreotti (vom Zentrums- flügel der DC) setzte 1990 das – Berlusconis Medienimperium absegnende – Rundfunkgesetz des Postministers Oscar Mammì per Vertrauensvotum durch. DC und PSI sponserten die Bankbeziehungen der Fininvest. Besonders die Banca Nazionale del Lavoro, im Einflussbe- reich des PSI, gewährte Berlusconi jahrelang großzügige Kredite.2 Als die Geldhähne abge- dreht wurden, stiegen die Bankschulden von Fininvest, Berlusconis Holding, rapide an (Ende 1994: ca. 4.500 Milliarden Lire3). Zudem wehte 1993 aus den Reihen der Regierung kein

die Finanzierung aus Werbung stieg von 61 auf 63%. Vgl. dazu Menduni, Enrico: Televisione, in: L'in- dustria della comunicazione in Italia. Istituto di Economia dei Media della Fondazione Rosselli, Torino 2002. 2 Der Gerichtsjournalist Marco Travaglio recherchierte mit großer Präzision die Finanzgeschäfte Berlusconis beim Auf- und Ausbau der Fininvest auf Grund gerichtlicher Ermittlungen und eines Gutachtens der ita- lienischen Notenbank, die die suspekten Geldverschiebungen zwischen den 38 Finanzholdings der Finin- vest in den 80er-Jahren aufzudecken versuchen. Siehe Travaglio, Marco: L'odore dei soldi. Origine e miste- ri delle fortune di Silvio Berlusconi, Roma 2001. 3 Anteilseigner wurden Prinz Al Waleed Talal (2,6%), Leo Kirch (6,17%), Rupert Murdoch (7,32%); 1996 erwarben italienische Banken 5,78%, 2,39%, zwei US-Investment-Fonds 4,7%. Im Jahre 2000 erzielte die Holding Fininvest einen Gewinn nach Steuern von 819,9 Mrd Lire (+ 29% gegenüber 1999). 125 günstiger Wind.

2. Das Kabinett Ciampi (28. April 1993 - 13. Januar 1994)

Premierminister Carlo Azeglio Ciampi (Präsident der Notenbank bis 1993, Schatzminister in den Kabinetten Prodi und D'Alema 1996-1999, seit 1999 Staatspräsident) versuchte zum ers- ten Mal in der Geschichte der RAI, deren Führungskräfte aus der Abhängigkeit von den Par- teipräsidien zu lösen. Er erließ am 25. Juni 1993 ein auf zwei Jahre befristetes Gesetz zur Wahl des RAI-Verwaltungsrats. Das Gesetz wurde bis heute nicht novelliert.

Statt 16 umfasst der Verwaltungsrat nur noch fünf Mitglieder4; diese werden von den beiden Kammervorsitzenden ernannt. Er nominiert unter seinen Mitgliedern den RAI-Präsidenten und beruft, im Einvernehmen mit der staatlichen Holding IRI, den Generaldirektor. Damit sollte das RAI-Management dem Zugriff der Parteien entzogen und zwei "Garanten" für Un- parteilichkeit unterstellt werden. Das Gesetz verfügt außerdem, dass in den Verwaltungsrat Persönlichkeiten des Kultur-, Wirtschafts- oder Wissenschaftsbereichs berufen werden soll- ten, die sich durch "Unabhängigkeit im Verhalten" ausgezeichnet haben.

Ciampi plante, dem Verwaltungsrat nach dem Vorbild der BBC einen Rundfunkbeirat zur Seite zu stellen. Er beauftragte ein Ministerkomitee mit dem Projekt; ein Gesetzesantrag in diesem Sinn wurde von Paolo Barile5 ausgearbeitet und dem Parlament vorgelegt, gelangte aber nicht zur Debatte. Ein weiteres Interims-Gesetz regulierte das Chaos der regionalen und lokalen Fernseh- und Hörfunksender und reduzierte die Anzahl der landesweit zugelassenen Sender von neun auf acht. Dadurch verlor das Pay-TV-Programm Telepiù 3 seine Lizenz (es gab Indizien für eine Beteiligung der Fininvest an Telepiù über die vom Gesetz erlaubten 10%); es sollte im August 1996 zusammen mit allen Pay-TVs auf Satellit aufgeschaltet wer- den; für den Zeitpunkt waren auch neue Kartellregeln und Werbelimits zu erlassen.

Das Kabinett Ciampi, das von Anfang an ein Techniker-Kabinett zur Sanierung des Staats- haushalts gewesen war, trat im Januar 1994 zurück. Seine medienordnungspolitischen Ansät- ze wurden von den folgenden Regierungen entweder nicht weitergeführt oder in Kompromis- sen entschärft.

Die RAI der "professori"

Während der Regierung Ciampi wurde die RAI ein Jahr lang von den so genannten parteipo- litisch weitgehend unabhängigen "professori" geleitet – vier Mitglieder des Verwaltungsrats waren Universitätsprofessoren. Im Vordergrund ihrer Bemühungen stand die finanzielle Sa- nierung der stark verschuldeten RAI (1.603 Mrd Lire Schulden Ende 1992). Trotz drastischer Sparmaßnahmen war eine Finanzspritze von Seiten des Staates unumgänglich.

Das so genannte Decreto-salva-RAI (Dekret zur Rettung der RAI) wurde von der Regierung

4 Der bis dahin 16-köpfige vom parlamentarischen Kontrollausschuss gewählte Verwaltungsrat fungierte seit 1984 als Instrument der Einflussnahme durch die Parteien gemäß dem Proporz ihrer Wahlmandate. 5 Ciampi ernannte den Verfassungsrechtler Paolo Barile zum Minister für die Beziehungen Regierung – Par- lament. Barile war bis zu seinem Tod im Jahr 2000 einer der größten Experten für Medienrecht und begrün- dete an der Florentiner Fakultät für Politische Wissenschaften eine Medienrecht-Schule. Siehe: Barile, Pa- olo/Zaccaria, Roberto (Hrsg.): Rapporto 1993 sui problemi giurid ici della radiotelevisione, Torino 1994. 126

Ciampi drei Mal vorgelegt 6 und die RAI saniert, aber die Umwandlung in ein formelles Ge- setz scheiterte an Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Regierung. Es gelang allerdings dem Kabinett Ciampi, die Lizenzgebühr der RAI von 160 auf 40 Mrd. Lire zu senken (Finin- vest entrichtete pro Programm 400 Mio. Lire).

3. Der Interessenkonflikt

Mit der Kandidatur Berlusconis zu den vorgezogenen Neuwahlen am 27. März 1994 erhielt das Verhältnis Medien und Politik eine für Italien neue Dimension: die Personalisierung der Politik und die – noch andauernde – Permanent Campaign Berlusconis und seiner Partei Forza Italia gegen die so genannte "Erste Republik" (womit Berlusconi in der Hauptsache die Rich- ter und Staatsanwälte der Mani-Pulite-Verfahren meint) und die "Kommunisten" der Mitte- Links-Koalition.

Politologen, Soziologen und Kommunikationsexperten fragten sich, wie ein Outsider, d.h. ein Fernsehanbieter, Bauherr, FC-Patron, Verleger und Konzernchef, in wenigen Monaten eine neue Partei gründen und mit 8.119.288 Stimmen (21%) die Wahl gewinnen konnte.

Mit Hilfe komplexer statistischer Auswertung von Wähleraussagen kam Luca Ricolfi auf die erhebliche Zahl von 4 Mio. Wählern, 10% der Wählerschaft, die die Wahlkampagne 1994 verschoben habe, davon die Programme Berlusconis 13,7%, die RAI 4,8%.7 Die Studie Ricol- fis war der Ausgangspunkt einer weit reichenden theoretischen Debatte zur Frage der Te- lekratie.8 1994 wurde zum ersten Mal das von Franco Rositi gegründete "Osservatorio" der Universität Pavia von der RAI beauftragt, die Nachrichtendienste auf ihre Objektivität und Ausgewogenheit zu analysieren (bis heute eine wichtige Quelle von Daten zur quantitativen und qualitativen Präsenz von Politikern und Wahlkandidaten auf den Bildschirmen der natio- nalen Fernsehprogramme9).

Staatspräsident Oscar Luigi Scalfaro beauftragte Berlusconi nach seinem Wahlsieg mit der Bildung des Kabinetts unter dem Vorbehalt, dass er sobald wie möglich eine Lösung des Inte- ressenkonflikts herbeiführe. Berlusconi berief drei "saggi", "Weise", die eine Gesetzesvorlage ausarbeiteten. Zur parlamentarischen Debatte dieser an der Norm des amerikanischen Blind Trust ausgerichteten Gesetzesvorlage ist es bis zu Berlusconis Amtsrücktritt 1994 nicht ge- kommen.

3.1 Die RAI im Schatten des Interessenkonflikts

Die Regierung Berlusconi nahm Ende Juni 1994 die neuerliche Vorlage des Decreto-salva- RAI zum Anlass, sich mit Hilfe einer Zusatzklausel des unbequemen Verwaltungsrats zu ent-

6 Das Decreto-salva-Rai wurde sechzehn Mal vorgelegt, bis es im Dezember 1996 in einem Potpourri-Gesetz des Kabinetts Prodi zur Verabschiedung kam. 7 Ricolfi, Luca: Elezioni e mass media. Quanti voti ha spostato la Tv?, Bologna 1994. 8 Sani, Giacomo: C'è un leader in video: la forza della telepolitica, Bologna 1995; Sani, Giacomo: Partiti e leader nella comunicazione politica in Tv. L'esperienza dell'Osservatorio di Pavia, in: Comunicazione poli- tica,1/2000, S.33-56. 9 Das Osservatorio di Pavia verarbeitet ca. 60 Variablen, aus denen die "Präsenz" der einzelnen Politiker auf dem Bildschirm oder im Diskurs hervorgeht, nicht nur als Anzahl von Minuten, sondern auch als positive, neutrale oder negative "Valenz" der jeweiligen Darstellung. 127 ledigen. Die "professori" erklärten nach ihrem Rücktritt, dass ihnen sowohl Berlusconi als auch das Fininvest-Management davor einen geheimen Pakt zur Aufteilung der Werbeauf- wendungen unter RAI- und Fininvest vorgeschlagen hatten.

Scalfaro verhinderte durch die Verweigerung seiner Unterschrift, dass die Wahl der RAI- Führungsgremien wie vor 1975 an die Regierung fiel (Zusatzklausel zum Decreto-salva-RAI) und die RAI-Lizenzgebühr wieder auf 160 Mrd. angehoben wurde (Zusatzklausel zum Haus- haltsgesetz ).

Mit den Neubesetzungen des RAI-Vorstands und der leitenden Stellen in den Redaktionen sicherte sich Berlusconi eine regierungsfreundlichere Berichterstattung. Damit wurde aber auch die Zurückdrängung des Konkurrenten auf dem Zuschauer- und Werbemarkt bezweckt, wie das geheime, in Berlusconis Privatresidenz am 26. Juni 1994 unterzeichnete Fininvest- Papier beweist, das dem Magazin "Espresso" zugespielt wurde. Vorhaben der RAI-Expansion in den neuen Medien sollten unterbunden, das Unterhaltungsangebot auf den RAI- Programmen reduziert, die Akquisition von lokaler und regionaler Werbung verhindert wer- den; ein Marktanteil von 42 bis 48% sei für ein öffentlich-rechtliches System zu hoch.

Zum RAI-Präsidenten berief Berlusconi (im gegenwärtigen Kabinett Ministe- rin für Schulwesen und Universität); sie führte die RAI bis zu ihrem Rücktritt Anfang April 1996 autokratisch und in permanenter Konfrontation mit dem Generaldirektor, dem Verwal- tungsrat und den Redaktionen. Es kam zu einer Reihe von Rücktritten, in deren Verlauf Mo- ratti eine Zeit lang Präsident, Generaldirektor und Verwaltungsrat in einem war.

3.2 Begünstigung für Mediaset

Im so genannten Gesetz Tremonti (nach dem Finanzminister Giulio Tremonti) trat der Inte- ressenkonflikt zwischen dem Unternehmer und dem Premier Berlusconi offen zu Tage: Das Gesetz gewährte Unternehmen für Investitionen bestimmter Art Steuernachlässe. Fininvest konnte auf Grund dieses auch im Wortlaut auf ihre Belange zugeschnittenen Gesetzes für das Jahr 1995 ca. 243 Mrd. Lire Steuern einsparen. Das Tremonti-Gesetz, inzwischen neu aufge- legt, ist Gegenstand einer Untersuchung seitens der Europäischen Kommission, da es gegen die Wettbewerbsvorschriften der Union verstößt.

4. Regulatives Provisorium: das Urteil des Verfassungsgerichts

Zwei Wochen vor Berlusconis Rücktritt am 21. Dezember 1994 urteilte das Verfassungsge- richt über die Klage von drei nationalen Programmen, die sich durch die Modalitäten der Li- zenzvergabe vom 24. August 1991 benachteiligt fühlten. Fininvest erreiche dank seiner zahl- reichen Sendeanlagen fast das Gesamt der Haushalte, während die restlichen Anbieter mit je einer Lizenz noch nicht mal 70% des Staatsgebiets überstrahlten.

Jeder Anbieter hatte, nach dem Rundfunkgesetz von 1990 Anrecht auf maximal drei, nämlich 25% der 12 zugelassenen nationalen Programme. Fininvest, Telepiù und RAI hielten einen Großteil der verfügbaren Frequenzen besetzt. Die Verfassungsrichter gaben den Sendern Recht. Die gesamte Kartellregulierung des Mammì-Gesetzes wurde für ungültig erklärt. An- gesichts der technologischen Entwicklung nahm das Gericht nicht mehr die Physical Scarsity der Frequenzen, sondern die Marktressourcen zum Maßstab. "Wegen der nicht unbegrenzten Anzahl der verfügbaren Frequenzen und in Anbetracht der besonderen Eigenschaft der Ein- 128 dringlichkeit (forza penetrativa) dieses Kommunikationsmittels" hätte der Gesetzgeber die bestehenden dominanten Positionen abbauen müssen. Einem einzigen Unternehmer den Be- trieb von 25% der insgesamt zugelassenen Sender oder von 30% der Privatsender zu erlauben, bedeute, "diesem einen unverhältnismäßigen Vorsprung in der Verwertung der Ressourcen und in der Werbeakquisition" zu gewähren. Das Gericht verpflichtete den Gesetzgeber zu einer umfassenden Neuregelung des gesamten Rundfunkwesens bis August 1996.

Im Juni 1995 wurde der Spruch der Verfassungsrichter durch drei unselige Volksentscheide unterlaufen: Die Wähler sprachen sich gegen eine Reduzierung der drei Programme Berlus- conis (jetzt Mediaset) und der RAI auf je ein Programm, für eine teilweise Privatisierung der RAI und gegen die Reduzierung der Unterbrecherwerbung aus.10 Obwohl nicht von Berlusco- ni, sondern von der Radikalen Partei, dem Journalistenverband und anderen Organisationen angestrengt, spielten die drei Volksentscheide Berlusconi in die Hände.

Telemontecarlo

Eine Zeit lang schienen die beiden Sender Tmc1 und Tmc2, die der Filmgroßhändler Vittorio Cecchi Gori 1995 erwarb, sich zum "Dritten Pol" (Terzo Polo) zu entwickeln. Werbeakquisi- tion wie Shares blieben aber immer unterhalb der Schwelle der Rentabilität (421 Mrd. Lire Verluste im Jahr 2000), obwohl Cecchi Gori11 mit einem guten Filmarchiv und Exklusivver- trägen für publikumsträchtige Sportereignisse aufwarten konnte. Es fehlten Tmc die nötigen Frequenzen, um 80% der Haushalte zu erreichen. Das Berlusconi-Programm Rete 4 sendet nach wie vor auf den Tmc und anderen Anbietern zustehenden terrestrischen Frequenzen (siehe 5.4). Im Sommer 2000 erwarb SEAT, Tochter der italienischen Telecom, die beiden Sender. Im September 2001 ging das Programm unter dem neuen Namen La Sette (La 7) auf Sendung. Geplant ist ein Programmprofil als All-News-Programm, ein italienisches CNN. Tmc2 ist – nach dem Erwerb eines 49-%igen Aktienpakets durch Mtv Networks Europe – ein Musikkanal mit dem Signet Mtv.

5. Die Mediengesetze der Mitte-Links-(Ulivo) Koalition

Im April 1996 gewann die Mitte-Links-Koalition mit 43,3% der für die Kammer abgegebenen Stimmen einen knappen Vorsprung von 1,2% gegenüber der Mitte-Rechts-Koalition. Die Mehrheit bei Abstimmungen war knapp: 319 gegen 305. Im Senat war die Entscheidungslage besser: 167 gegen 143. Der Interessenkonflikt dominierte das parlamentarische Verhalten der Oppositionsparteien bei der Debatte von Mediengesetzen. Dennoch gelang den vier Kabinet- ten der XII. Legislatur die Verabschiedung mehrerer Mediengesetze.

5.1 Das Kartellgesetz "Maccanico"

Am 31. Juli 1997 wurde nach langem parlamentarischem Streit das Medien- und Telekom- munikations-Kartellgesetz verabschiedet.

10 Auf den Mediaset-Programmen liefen im Monat vor dem Referendum 500 Werbespots gegen die Reduzie- rung; die Referenden-Initiatoren brachten es auf nur 31 für ihr Vorhaben. 11 Am 29. Oktober 2002 wurde Cecchi Gori unter Hausarrest gestellt. Er ist des betrügerischen Bankrotts des FC Fiorentina angeklagt. Cecchi Gori war von 1996 bis 2001 Senator, was ihm weder im Film- noch im Fernsehgeschäft Vorteile gebracht hat. 129

Berlusconi hatte eine Kartellregulierung während der Regierungszeit von Lamberto Dini (Ja- nuar 1995–April 1996) boykottiert, da er die Notierung von Mediaset-Aktien an der Börse plante. Eine gesetzlich anberaumte Verschlankung seines TV-Imperiums hätte deren Wert geschmälert.

Die Notierung eines 24,26-%-Aktienpakets erfolgte im Juli 1996, als Premierminister Roma- no Prodi amtierte. Den wenige Tage davor vom Ministerrat verabschiedeten Gesetzesentwurf von Postminister Antonio Maccanico bezeichnete die Berlusconi-Lobby in einer furiosen Pressekampagne als "unlautere Beeinflussung der bevorstehenden Börsennotierung".

Ziel des Maccanico-Gesetzes war, Schwung in den festgefahrenen Medien- und Telekommu- nikationsmarkt zu bringen. Das Grundprinzip sollte sein: Alle dürfen innerhalb eines Markt- limits von 30% (bei Crossownership Rundfunk-Presse 20%) alles anbieten. Der staatlichen Telecom Italia sollte allerdings, solange sie ihre Monopolstellung beibehielt, der Zugang zum terrestrischen Rundfunk versperrt sein. Der parlamentarische Kampf hatte sich für Berlusconi gelohnt: Zwar wird festgesetzt, dass "jede Handlung oder jedes Verhalten verboten ist, das von Seiten eines einzelnen Unternehmens, auch mittels von ihm kontrollierter oder mit ihm verbundener Unternehmen, zur Bildung oder zur Wahrung einer dominanten Position führt", aber dann verfügt: "falls ein Unternehmen bei Inkrafttreten des Gesetzes die vom vorliegen- den Gesetz festgesetzten Grenzwerte überschreitet, und zwar auf Grund der spontanen Ent- wicklung des Unternehmens, die keine marktbeherrschende Position bedingt noch den Plura- lismus und die Konkurrenz beeinträchtigt, kann das Aufsichtsorgan [...] von den angeführten Maßnahmen absehen".

An Stelle eines den Rundfunkbereich regulierenden, von der Opposition boykottierten Nach- folgegesetzes (u.a. mit neuen Werbelimits) wurden Sondergesetze verabschiedet, so das Ge- setz bezüglich der Quoten europäischer und italienischer Fiktion (1998), die Vorschrift einer einheitlichen Decoder-Norm für Pay-TV-Anbieter (1999), das so genannte Anti-Murdoch- Gesetz mit den Limits bei der Codierung der Sportereignisse (siehe 5.8), das Gesetz für den digitalen Rundfunk (2001), das die Inhaber von mehr als einer Lizenz verpflichtet, auf ihren Frequenzen 40-%-Programmblöcke anderen Rundfunkunternehmen zur Verfügung zu stellen.

5.2 Die Autorità per le Garanzie nelle Comunicazioni

Schwerpunkt des Maccanico-Gesetzes ist die Bildung eines mit vielen Kompetenzen ausges- tatteten Aufsichtsorgans. Dieses war allerdings erst in der zweiten Hälfte des Jahres 1998 voll einsatzfähig. Seine Kompetenzen erstrecken sich von den Telekommunikationsdiensten über den Rundfunk zum Verlagswesen. Der Vorteil dieses Organs liegt in seiner transparenten Mittlerfunktion zwischen den Lobbys des Kommunikationsbereichs und dem Ministerium. Anhörungen und Regelungen sind öffentlich einsehbare Dokumente. Ein grundsätzliches Problem ist die Nominierung der acht Mitglieder des Aufsichtsorgans: Sie werden von den zuständigen Parlamentsausschüssen gewählt, der Vorsitzende vom Präsidenten der Republik auf Vorschlag des Ministerpräsidenten und nach Anhörung des Kommunikationsministers ernannt. Es sind also politische Nominierungen.

Der Großteil der regulierenden Aktivität der Autorità ist dem Bereich der Telekommunikation und der Telefondienste gewidmet worden. Man gewinnt den Eindruck, dass sie das Problem des Duopols RAI-Mediaset in Erwartung des terrestrischen Digitalfunks, der Frequenzen für neue Players liefern würde, auf Grund seiner politischen Verflechtungen nicht hat angehen wollen. In ihrer Untersuchung zur Frage, ob RAI und Mediaset beim Inkrafttreten des Kar- 130 tellgesetzes die vorgegebenen Limits überstiegen, urteilte die Autorità im Jahr 2000, dass dies auf Grund einer "spontanen Entwicklung" und nicht auf Grund von Erwerbungen oder Fusio- nen erfolgt sei.

Allerdings kündigte der Präsident der Aufsichtsbehörde anlässlich seiner jährlichen Anhörung im Parlament im Juli 2002 eine neuerliche Untersuchung an.

5.3 Die Lizenzvergabe

Für die Lizenzvergabe, die im Juli 1998 auf Grund eines neuen Frequenzplans erfolgte, war im Ministerium ein Ausschuss für die Festsetzung einer Punkteliste gebildet worden. Die dar- aufhin erarbeitete Rangliste änderte in den "unteren Rängen" die Reihenfolge: Rete A, das sich 1992 auf den fünften Platz platziert hatte, kam auf den neunten Platz, nach Retemia, ei- nem Teleshopping-Programm. Das von Rete A angerufene Amtsgericht suspendierte die Li- zenz für Retemia; der juristische Streit ist noch nicht beendet. Rete A ist ein Musikkanal und sendet mit dem Signet des deutschen Unternehmens Viva. Europa 7 auf dem siebten Platz hat bis heute die ihm zustehenden Frequenzen noch nicht erhalten (siehe 5.4).

5.4 Das Mediaset-Programm Rete 4 und RAI 3

Um auf den terrestrischen Frequenzen Platz zu machen, hätte Berlusconis Programm Rete 4 "nach einer effektiven und angemessenen Entwicklung des Satelliten-Marktes" auf Satellit aufgeschaltet werden müssen. Die "angemessene" Entwicklung sollte bei 35% liegen: Bis zum Jahr 2001 besaßen aber nur 15%12 der Haushalte eine Satellitenschüssel. Obwohl Europa 7 die Europäische Kartellkommission eingeschaltet hat, hat die Autorità im August 2001 Rete 4 einen neuerlichen Aufschub gewährt (bis 1. Januar 2004 oder bis 50% der Haushalte Satel- litenempfang besitzen).

5.5 Das Weißbuch zum Digitalfunk

Im Juni 2000 legte die Autorità ihr "Weißbuch zum Digitalfunk" vor. Mit dem 1. Januar 2006 sollten alle terrestrischen Programme auf Digitalfunk umsteigen. Die Autorità erklärte, ein Angebot von 55 bis 60 nationalen Programmen sei sowohl technisch als auch vom Markt her vertretbar.

5.6 Blind Trust oder Verkauf? Nicht erfolgte Regelung des Interessenkonflikts

Die vier Kabinette der XIII. Legislatur (26. April 1996–13. Mai 2001) haben kein Gesetz zur Regelung des Interessenkonflikts verabschiedet – eine unverzeihliche Unterlassungssünde. Von der Regierungskoalition wurde zwar ein Gesetzesentwurf eingebracht, der die Kammer passierte – ohne Proteste seitens der Opposition, sogar begrüßt durch eine Standing Ovation. Verfassungsrechtler machten aber darauf aufmerksam, dass man Medienunternehmen nicht zum Blind Trust machen könne, da alles, was sie betreffe, "öffentlich" sei. Nur der Verkauf setze dem Konflikt ein Ende.

12 Noch im April 2002 hatte der Postminister auf die Anfrage der EU-Kartellbehörde, wieso Rete 4 mit einer "licenza provvisoriamente autorizzata" weitersende, ausweichend geantwortet. 131

Für den Durchlauf im Senat wurden die Normen verschärft: Die Berlusconi-Lobby empörte sich über die "kommunistische Enteignungsabsicht" und blockierte durch Tausende von No- vellierungsanträgen die Gesetzesvorlage bis zum Ende der Legislaturperiode.

5.7 Die RAI der Ulivo-Koalition

Der erste RAI-Vorstand, den die neue Regierung berief, war zwei Jahre lang in internen und externen Konflikten erlahmt. 1998 wurden nun Experten aus dem Rundfunk- und Werbebe- reich berufen. Der neue Präsident, Roberto Zaccaria, Professor für Medienrecht an der Uni- versität Florenz, "Schüler" von Paolo Barile, hatte schon von 1977 bis 1993 dem RAI- Verwaltungsrat angehört. Zaccaria nahm im Einvernehmen mit dem Generaldirektor die Um- strukturierung der öffentlichen Anstalt in eine Holding mit fünf weitgehend eigenständigen Unternehmensbereichen vor. Er richtete drei uncodierte Satelliten-Spartenprogramme ein, machte Mediaset durch publikumsträchtige Programme Konkurrenz, was ihm Werbeeinnah- men sicherte.

Zaccaria übertrug die gesamte technische Infrastruktur der RAI einer eigenständigen Gesell- schaft – RAIWay – und schloss mit der texanischen Crown Castle einen Vertrag über die Ab- gabe eines 49-%igen Aktienpakets für 413 Mio. Euro.

Als nach dem 13. Mai 2001 Maurizio Gasparri Minister für Kommunikation wurde, warf er die Abmachungen zwischen RAI und Crown Castle über den Haufen. Zaccaria ging vor das Verwaltungsgericht; der Rechtsstreit ist noch nicht entschieden. 13

5.8 Pay-TV und Satellitenfunk

Die drei Pay-TV-Programme Telepiù erwirtschafteten bis heute jährliche Verluste von über 400 Mrd. Lire. Das Aktienkapital wurde 1997 von der französischen Canal Plus erworben. Ein Konkurrent erwuchs Canal Plus 1997 in Stream, dem Pay-TV der Telefongesellschaft Telecom. Ende 1998 erstellte die Autorità die Liste der nicht verschlüsselbaren Sportereignis- se.14

1999 zeigte sich Rupert Murdoch am italienischen Pay-Geschäft interessiert. Er würde Stream übernehmen, falls er sämtliche Rechte an den italienischen Fußballspielen erhielte. Das flugs verabschiedete Anti-Murdoch-Gesetz verfügte, dass kein Pay-Unternehmen Verträge über Senderechte mit mehr als 60% der Clubs der Serie A abschließen dürfe.

Murdoch erwarb trotz dieser Auflagen in mehreren Etappen das gesamte Aktienkapital von Stream und im September 2002 auch Telepiù (der Erwerb muss allerdings noch vom Europäi- schen Kartellamt abgesegnet werden). Beide Pay-Unternehmen sollen zu Sky Italia fusionie- ren. Die gegenwärtigen ca. 2,6 Mio. Abos sollen bis 2006 auf 3,5 Mio. ansteigen.

Das Pay-Geschäft war in Italien bis vor kurzem nicht einträglich, weil zu viele getürkte

13 Als die Kündigung des Vertrages mit Crown Castle bekannt gegeben wurde, stiegen die Mediaset-Aktien um 6%. 14 Die Olympiaden, Welt- und Europameisterschaften und die Spiele der Nationalmannschaft im Fußball, Finale und Halbfinale von Europacups und Championsleague bei italienischer Beteiligung, Giro d'Italia und Formel-1-Grand Prix von Monza u.a. 132

Smartcards zirkulierten. Sechseinhalb Millionen Decoders, über sieben Millionen Satelliten- schüsseln – und nur 2,6 Millionen Abonnements! Von den 400 Millionen Euro, die die Tele- più und Stream seit 1998 jährlich an die Clubs bezahlen, fließen nicht mehr als 50 in ihre Kassen zurück. Im Juni 2002 lieferte Telepiù seinen Abonnenten eine neue Smartcard mit einer sicheren PIN-Nummer.

6. Weiterbestehen des Interessenkonflikts

Das aus den Wahlen vom 13. Mai 2001 hervorgegangene Kabinett Berlusconi steht weiterhin im Zeichen des ungelösten Interessenkonflikts, und nicht nur im Medienbereich. 15 Zur Lösung des Problems versucht seit 1994 eine Gruppe Parlamentarier und Verfassungsrechtler um Pa- olo Sylos Labini (Bürgerinitiative Opposizione civile) die öffentliche Meinung zu mobilisie- ren und gleichzeitig den europäischen Gerichtshof einzuschalten.

Die Koalition hat zwar in der Kammer einen minuziösen Katalog von Unvereinbarkeiten zwi- schen Privatinteressen und politischem Amt – vom Premier bis zum Bürgermeister – zur Ab- stimmung gebracht, der für Geschäftsführer und Verwalter gilt; aber ein Konflikt blieb ausge- nommen: der "pure" Besitz. Staatspräsident Ciampi mahnte eine Textänderung an, worauf der "pure Besitz" gestrichen wurde; nach Ansicht der Opposition ist auch der neue Text nicht im Stande, den Interessenkonflikt Berlusconis zu beseitigen. Da Berlusconi eine Mehrheit von 58,4% in der Kammer und von 59,9% im Senat besitzt, wird das Gesetz nach der Debatte im Senat voraussichtlich rechtskräftig werden.

6.1 RAI

Ende November 2001 vermerkte ein Abgeordneter der Mitte-Links-Opposition in einer öf- fentlichen Anfrage im Parlament, dass Mediaset im Jahr 2001, einem Krisenjahr, 260 Werbe- kunden dazugewonnen, RAI dagegen über 13% ihrer Werbeeinnahmen eingebüßt habe. Die Verluste, die unter der Ulivo-Leitung 47 Mio. Euro betrugen, sind im Jahr 2002 ums Vierfa- che gestiegen. Dass dabei der Interessenkonflikt seine Hand im Spiel hat, ist schwer zu be- weisen. Tatsache ist, dass die RAI mit dem im vergangenen Frühjahr von der Berlusconi- Regierung eingesetzten Vorstand 6,4% Zuschauer verloren hat.

Nielsen hat die Werbeaufwendungen der ersten sechs Monate der Jahre 2001 – Ulivo- Koalition – und 2002 – Kabinett Berlusconi – verglichen, die das Präsidentschaftsamt Media- set bezahlt hat: 1,571 Mio. Euro bzw. 9,216 Mio. Euro (RAI sendet Werbespots zu "sozialen" Themen kostenlos). Als Premierminister finanziert Berlusconi gewissermaßen sich selber.

Um die RAI entstehen permanent Konflikte, Säuberungsaktionen werden getestet.

Die zwei Anchormen Enzo Biagi und Michele Santoro und der Showman Daniele Luttazzi

15 Der Interessenkonflikt betrifft, wegen der anstehenden Rentenreform, auch Berlusconis Versicherungsun- ternehmen Mediolanum; Berlusconis Filmverleih- und Produktionsgesellschaft Medusa, die in Italien nach dem Niedergang Cecchi Goris als einziger italienischer Großverleih 18% des Markts beherrscht; in seinem Kabinett den Minister für Infrastruktur und sein auf Tunnelgrabung spezialisiertes Unter- nehmen Rocksoil (er versucht mit aller Macht, in der toskanischen Maremma und auf der Höhe des veneti- schen Mestre gegen die Projekte der Lokalpolitiker und den Willen der Lokalbevölkerung Straßenbauten mit Tunnels durchzusetzen). 133 hatten während der Wahlkampagne und auch danach am Image Berlusconis "gekratzt"16. Seit- dem stehen sie auf der Abschussliste. Berlusconi bezeichnete sie auf einem offiziellen Bulga- rienbesuch als "kriminell" und die RAI des Ulivo als "schändlich". Die erfolgreiche Serie "Blob" auf RAI 3, eine satirische Montage kurzer "Szenen aus dem Fernsehalltag", wurde unlängst zensiert: Es waren einzelne von Berlusconi abgegebene Statements aneinander ge- reiht worden.

Die Nachrichtendienste von RAI 1 und RAI 2 verfolgen eindeutig die Devise: so wenig Poli- tik wie möglich, so viel Crime & Desaster, wie die Realität hergibt. In den ersten elf Monaten seiner Regierung berechnete das Osservatorio Pavia die Präsenz Berlusconis auf den Media- set-Programmen mit fast 21 Stunden, auf den RAI-Programmen mit ungefähr 10 Stunden. Den beiden Spitzenpolitikern der Opposition verblieben im gleichen Zeitraum eine Stunde und 7 Minuten in den Mediaset-Nachrichten und 7 1/2 Stunden in den RAI-Nachrichten.

6.2 Werbung übersteigt Limits

Seit das Gesetz der Ulivo-Koalition u.a. mit den neuen Werbelimits auf seinem parlamentari- schen Verabschiedungsweg stecken geblieben ist, gelten nach wie vor sowohl für RAI als auch Mediaset die Limits, die das Mammì-Gesetz und einige Nachfolgegesetze vorschreiben: 4% der wöchentlichen Sendezeit und 12% pro Sendestunde für RAI, 15% der täglichen Sen- dedauer und 18% pro Sendestunde. Dazu kommen Auflagen für Sponsoring und Teleshop- ping. Seit 1995 werden diese Limits von beiden Anbietern überschritten, ohne Einschreiten seitens der Aufsichtsbehörde, zu deren Aufgaben auch die Überwachung der Werbelimits und das Sanktionieren bei deren Überschreiten gehören.

6.3 Auditel

Seit einigen Jahren versuchen der Nutzerrat, der Konsumentenverband und Einzelkämpfer nachzuweisen, dass die Daten von Auditel, Grundlage für Werbetarife und "Beliebtheit" von Sendungen, willkürlich sind. Auditel17 erhebt seit 1986 die Einschaltquoten für RAI, Mediaset und den Werbekundenverband UPA. Die im Juli 2002 veröffentlichte Studie von Roberta Gisotti18 brachte Auditel in Misskredit. Einige der ca. 5.400, streng geheim gehaltenen Famili- en des Auditel-Panels haben in Interviews zugegeben, die Knöpfe auf der an den Fernseher angeschlossenen Apparatur aus Jux oder Langweile falsch gedrückt zu haben. Die statistische Fehlerquote sei höher als zulässig, erklärte der Leiter des Statistischen Amts ISTAT. Der Grundfehler sei die Auswahl der Familien, die nicht repräsentativ seien. Aus einer Anzahl von 50.000 Familien würden 5.000 ausgesucht, die sowieso starke Fernsehkonsumenten seien. Auch die Messung der Programme lasse zu wünschen übrig: Zu gewissen Tageszeiten überla- gerten sich die Frequenzen, was besonders die kleinen Programme benachteilige. Der Nutzer- rat fordert den Rückzug der RAI aus der Auditelgesellschaft und die Nicht-Veröffentlichung der Einschaltquoten von Kindersendungen. Zu den Aufgaben der Autorità gehört auch die

16 Der linksliberale Santoro ist mit seinen abendfüllenden Informationssendungen Berlusconi seit 1996 ein Dorn im Auge. Der erklärte Katholik Enzo Biagi hat viele Jahre nach den Abendnachrichten fünfzehn Mi- nuten lang anfallende Probleme kommentiert. Luttazzi hatte während der vergangenen Wahlkampagne zu einer Show Marco Travaglio – s. Fußnote 2 – eingeladen und interviewt.

17 Auditel-Aktionäre sind RAI (33%), der Privatfunk (33%), der Werbekundenverband UPA, der Verband der Werbeagenturen (33%), der Verlegerverband FIEG (1%). 18 Gisotti, Roberta: La favola dell'Auditel, Roma 2002. 134

Aufsicht über die Einschaltquoten. Sie sprach sich Ende Oktober 2002 für neue Erhebungs- methoden aus.

6.4 Die Gesetzesvorlage Gasparri

Die neue Gesetzesvorlage von Postminister Maurizio Gasparri zum Medienbereich reduziert die Kartellsperre auf 20%, bezogen auf alle Einnahmen des Telekommunikationsbereichs. Die RAI wird wieder enger an die Regierung gebunden: Eine umfangreiche Privatisierungsaktion soll ab dem 1. Januar 2003 Aktienpakete von je einem Prozent an den Markt abgeben; die Majorität aber bleibt fest in der Hand des Finanz- und Schatzministers, der auch den Verwal- tungsrat stellt. Außerdem erhält RAI strengere Auflagen bezüglich der Qualität seiner Sen- dungen. Der Begriff "Public Service" wird auf alle Rundfunkunternehmen ausgedehnt. Hinter diesem Passus versteckt sich das alte Bestreben Berlusconis, einen Teil seiner Nachrichten- dienste als Public Service anerkannt zu sehen und aus den Fernsehgebühren finanzieren zu lassen. 135

Die Reform des italienischen Bildungswesens

Alberto Febbrajo

1. Der Umfang der Reform

Die gegenwärtige Reform des italienischen Bildungswesens besteht aus zwei verschiedenen Vorhaben, die in völlig unterschiedlicher Weise zustande gekommen sind, und deren eines sich bezieht auf jenen Teil des Bildungswesens, der von der Vorschule bis zu den höheren Schulen geht, während das andere die Bildung an der Universität betrifft. Die klare Trennung dieser beiden Reformvorhaben ist schon für sich nur schwer zu rechtfertigen, da doch we- sentlich bei allen Bildungsgängen ist, dass sie aufeinander aufbauen und hier deshalb eine Veränderung in einer sich ergänzenden Weise angebracht gewesen wäre. Sie erscheint aber noch extravaganter, weil seit vielen Jahren in Italien eine faktische Vereinigung im Personal- bereich der beiden verschiedenen Ministerien für die Universität und die Schule gegeben ist, die einem und demselben Minister unterstellt sind.

Hier ist daran zu erinnern, dass eine Trennung der beiden Bereiche erst 1987 eingeführt wor- den war, und zwar hatte sich damals die Idee durchgesetzt, aus übergeordneten Gründen poli- tischer Opportunität einem sozialistischen Minister einen Teil dessen zu überlassen, was bis damals als einheitliches Ministerium des Unterrichts ausschließlich von Vertretern der Partei der relativen Mehrheit (= der D.C.; A.d.Ü.) geführt wurde, das nun so genannte "Ministerium für die Universität und für Forschung und Technologie (MURST)". Das Prestige und die Rüh- rigkeit des ersten für das neue Universitätsministerium Verantwortlichen, Prof. Antonio Ru- berti, trugen dazu bei, diesen Vorgang in der öffentlichen Meinung als gerechtfertigt erschei- nen zu lassen, — auch in der akademischen Welt, wo man sich von der Zusammenführung von Universität und Forschung gerne eine im Wesentlichen vorteilhafte Behandlung erhoffte. Ru- berti war zuvor Rektor der studentenreichsten italienischen Universität, der "Sapienza" oder "Rom I", gewesen, hatte dann schmeichelhafte Erfolge als Minister erzielt und wurde auch deswegen als Kommissar in die Europäische Kommission berufen. Jedenfalls gelang es ihm tatsächlich in wenigen Jahren, ein ehrgeiziges Programm der Erneuerung des Universitätswe- sens durchzusetzen. Für dieses Programm mussten diejenigen, die an der Universität aufrich- tig um Rationalisierung bemüht waren, und diejenigen, welche daran interessiert waren, mehr verfügbare Mittel zu bekommen, erst einmal in ein Boot gebracht werden, und im Endeffekt kamen eine beträchtlich erhöhte Komplexität und ein sehr viel größerer Zuschnitt des gesam- ten Systems heraus.

In Kürze umfasste das von Ruberti ausgearbeitete und eingeführte Programm:

- eine größere Selbstbestimmung der Universitäten, denen zugestanden wurde, ihre Statuten neu zu fassen und dabei auch Neuerungen einzuführen gegenüber dem bisher geltenden nationalen Recht, soweit es die innere Organisation und die Bestimmung von Zusammen- setzung und Aufgaben der Leitungsorgane der einzelnen Universitäten betraf; - eine größere Finanzautonomie der Universitäten, die den, wie vorstehend, neubestimmten Leitungsorganen gestattete, von Mitteln, die durch das Ministerium freigegeben worden waren, auf eine weniger formalistisch bestimmte und mehr Management-gerechte Weise Gebrauch zu machen — sei es auch anders, als die Verwendungsvorschriften der Zentrale es vorgesehen hatten; - eine beträchtliche Vermehrung der Zahl der Universitäten durch die Errichtung neuer 136

Standorte auch in Gegenden mit schwacher Wirtschaftsentwicklung; - eine weiter ausgelegte Differenzierung des Bildungsangebots durch die Entwicklung neu- er, direkt auf berufliche Qualifizierung abgestellter Studiengänge (die so genannten "Uni- versitäts-Fachabschlüsse" oder "Kurzzeit-Graduierungen") die mit Erreichbarkeit des U- niversitätsabschlusses innerhalb von nur drei Jahren eine Alternative zu den bisher mögli- chen Studiengängen boten, bei denen eine Studienzeit von wenigsten vier Jahren vorgese- hen war.

Um dieses so weitgefasste Strukturerneuerungsprogramm bei den Universitäten durchzuset- zen, bedurfte es der tiefreichenden und direkten Vertrautheit eines Ministers Ruberti mit den formellen und den tatsächlichen Funktionsweisen im Betrieb der Universitäten, und er musste auch wissen, auf welche Art man in diesem Bereich wenn schon nicht mit Zustimmung, so doch wenigstens nicht mit Ablehnung rechnen musste.

Hier muss allerdings auch gesagt werden, dass sein weit gespanntes Reformprogramm durch seine Verwirklichung mit dazu beitrug, dass eine Reihe von Fragen aufgeworfen wurde, die bis heute keine Lösung gefunden haben, und dass somit erneut die Notwendigkeit auftrat, weiter korrigierend einzugreifen. So hat die praktische Umsetzung der Selbstbestimmung, die an den einzelnen Universitäten einem satzungsgebenden Rat anvertraut war, in dem alle Schichten von Universitätsangehörigen vertreten sein sollten (von den Hochschullehrern bis zum technischen und Verwaltungspersonal, von den Forschern zu den Studenten) dazu ge- führt, dass Satzungsveränderungen unter einem diffusen Mitwirkungsprinzip zustande kamen, demzufolge alle über alles zu entscheiden hatten, und nicht unter Berücksichtigung der Leis- tungsfähigkeit und einer klaren Aufgabenteilung; die Umsetzung der Finanzautonomie in die Praxis erfolgte leider nicht unter dem Vorzeichen einer fachlichen Eignung zu wirksamer Pla- nung, weder seitens der Regierung, die dem Universitätsbetrieb klar und rechtzeitig die Lang- fristziele hätte vorgeben müssen, noch seitens der einzelnen Standorte. Diese zeigten sich nicht immer in der Lage, nach innen Entscheidungen durchzusetzen, die nach den Kriterien des Managements in Ordnung, aber unbeliebt waren, und deshalb konnten sie nicht immer Ungleichgewichte ausgleichen, die auf Irrtümer bei der Leitung zurückgingen, die aus der Vergangenheit stammten; die Vermehrung der Universitätsstandorte erwies sich außerdem nur in wenigen Fällen unter dem Gesichtspunkt einer Kosten/Nutzen-Analyse als zu rechtfer- tigen, einmal weil ein riesiger Aufwand an Ressourcen nötig war, um den neuen Standorten den Start zu ermöglichen, dann, weil sie oft doch nicht attraktiv genug waren, um Studenten anzuziehen, oder weil die Koordinationsausschüsse der einzelnen Regionen ( = Länder) all- gemein unfähig waren, das Bildungsangebot so neu zu gestalten, dass unnütz Doppelanforde- rungen entfielen; auch die Universitätsabschlüsse wurden oft bei den angeblich minder an- spruchsvollen Studiengängen zu gering geachtet gegenüber den herkömmlichen Graduierun- gen, und sie konnten auch nur begrenzt zunehmen aufgrund der vom Gesetz festgelegten Pla- nungszahlen. Jedenfalls konnten sie die hohe Zahl der Bummelstudenten und derjenigen, die das Universitätsstudium abbrechen, nicht nennenswert verringern, auch weil sie seitens der Regierung nicht umfassend anerkannt wurden und nie genau festgelegt worden war, für wel- che Laufbahnstellen bei der öffentlichen Verwaltung sie als Zugangsberechtigung gelten sollten.

Alle diese ungelösten Probleme haben dazu beigetragen, dass es immer mehr weg von einem zuvor wesentlich einheitlicheren Universitätswesen und mehr hin zu einem Nebeneinander von Standorten mit unterschiedlichem Niveau an Leistungsfähigkeit und Ansehen ging. So wurde also der Behauptung von einem totalen Verlust an rechtlicher Gültigkeit bei den Stu- dienabschlüssen neue Nahrung gegeben, und über diesen Punkt wird bis heute weiter gestrit- ten. Es ist demnach begreiflich, wenn heute gesagt werden kann, dass das Universitätswesen 137 sich noch in einer Phase "nach Ruberti" befindet, obwohl in der Zwischenzeit zahlreiche Mi- nister an der Spitze des Universitäts- und Forschungsministeriums gestanden haben, manche allerdings nur für eine sehr kurze Amtszeit. Das soll bedeuten, dass es gerade die Folgeer- scheinungen von Rubertis Reform sind, die – im guten wie im schlechten Sinne – mit Vorrang einer Befassung harren.

Da scheint es natürlich, dass ein anderer Minister, auch er ehemaliger Universitätsrektor, der Linksdemokrat Luigi Berlinguer, sich jüngst vorgenommen hat, das Universitätsmodell ver- fahrensmäßig und inhaltlich zu vervollständigen, welches Ruberti vor allem in struktureller Hinsicht vorzeichnen wollte. Berlinguer hat vor allem auf drei Punkte geachtet:

- das Verfahren der Zulassung zur Lehrbefugnis, - das Verfahren einer Beurteilung der einzelnen Standorte, - schließlich die Inhalte und die Gestaltung des Bildungsangebots.

Jeder dieser Punkte kann im Lichte des vorstehend Gesagten als ein Weg gesehen werden, das von Ruberti vorgezeichnete, weit ausgreifende Reformprojekt zu vervollständigen; vor allem der letzte Punkt passt, unter didaktischem Gesichtspunkt, voll und ganz in das weitgefasste Projekt einer größeren Autonomie, das Ruberti vor allem unter dem Blickpunkt der Regelun- gen und der Finanzen verfolgt hatte.

Entsprechend hatte Berlinguer, dem auch das Ministerium für den Schulunterricht zugewiesen worden war (und damit wurde wenigstens die Personaleinheit zwischen den beiden Ministe- rien wieder hergestellt, die bis heute geblieben ist), auch den Schritt zur Ausarbeitung einer ehrgeizigen und viel diskutierten Reform des Schulwesens unternommen, allerdings unter Rückgriff auf andere Berater und Fachgremien.

Doch hierbei wurde der Widerstand der Lehrkräfte, der vor allem dem Verfahren galt, nach dem sie bewertet werden sollten, dermaßen stark, dass es ratsam erschien, Berlinguer abzulö- sen. Somit musste ein anderer Minister, der Links-Christdemokrat Ortensio Zecchino, die beiden Reformprojekte genauer fassen, die sein Vorgänger angestoßen hatte, und sie nach den Wahlen der neuen Mitte-Rechts-Regierung zur schließlichen Umsetzung in die Praxis entlas- sen.

Ausgehend von diesem zusammenfassenden geschichtlichen Überblick will ich auf den fol- genden Seiten vor allem den Versuch unternehmen, kurz die typischen Aspekte aufzuzeigen, die das von der neuen Mitte-Rechts-Regierung jetzt geerbte Reformprojekt in seinen wesent- lichen Ausgestaltungen aufweist, das heißt für die Universitäten und für die Schulen (Ab- schnitt 2).

Daran anschließend möchte ich einige der politischen Gründe herausstellen, die die neue Re- gierung dazu gebracht haben, diese Projekte in anderer Weise anzupacken, ohne dabei aber zu einer allgemeinen Reform des Schulwesens zu kommen, jedenfalls bis jetzt nicht (Abschnitt 3);

Abschließend werde ich die hauptsächlichen Widersprüche und unaufgelösten Spannungen am Universitätsmodell beleuchten, das umgesetzt werden soll (Abschnitt 4). 138

2. Die wesentlichen Elemente der Schul- und der Universitätsreform

Die von der Mitte-Links-Regierung erarbeitete Schulreform (Projekt Berlinguer - De Mauro) sah ein Schema vor, das man kurz mit der Formel 6+6 kennzeichnen könnte: das heißt, einen ersten Bildungsgang von 6 Jahren Grundschule (der die Volks- und die Mittelschule ersetzen sollte) und einen zweiten Bildungsgang von 6 Jahren Oberschule. Die ersten beiden Jahre der Oberschule sollten als "Orientierungsstufe" dienen und für alle gleich sein, und damit wären für die eigentliche Dauer der gehobenen Bildung gerade vier Jahre übrig geblieben.

Die derzeitige Regierung hat nun vorgeschlagen, diese Reform durch ein Schema zu ersetzen, das unter bestimmten Gesichtspunkten komplexer ist und folgende Charakteristika aufweist:

- 3 Jahre Vorschule; - 8 Jahre eines ersten Bildungsgangs (bestehend aus vier mal zwei Jahren Unterricht, für alle gleich, an deren Ende ist eine staatliche Abschlussprüfung vorgesehen); - Entscheidung zwischen Berufsschule oder höheren Schulen mit 14 Jahren; - 4 Jahre an der höheren Schule (statt derzeit fünf Jahren); - Fehlen einer strengen Trennung zwischen den beiden Bildungswegen (höhere Schulen und Berufsschulen), die zwar unterschiedlich sind, aber ein einziges "integriertes System" darstellen, bei dem es die Möglichkeit gibt, während der Schulzeit von einem Bildungs- weg zum anderen hinüberzuwechseln.

Die Schulpflicht würde so bis zu 18 Jahren ausgedehnt oder bis zu 17, wenn durch Besuch der Vorschule dieser Bonus erworben worden ist. Da während der Zeit an der höheren Schule keine Entscheidung in dieser zweiten Bildungsphase unumkehrbar wäre, müsste die Schule bei denjenigen, die auf einen anderen als den zunächst eingeschlagenen Weg übergehen wol- len, gezielte didaktische Maßnahmen vorsehen, damit sie über die Vorbildung verfügen, die sie für ihre Neuorientierung benötigen. Die typischen Oberstufen des italienischen Schulwe- sens (altsprachlich, naturwissenschaftlich, künstlerisch, neusprachlich) würden durch weitere ergänzt, um den neuen Bildungsanforderungen gerecht zu werden: Wirtschafts-, Musik-, Technologie- und Sozialwissenschafts-Oberstufen. Nach den Oberstufen besteht die Mög- lichkeit des Übergangs auf die Universität und die Kunst- und Musikakademien oder der Ent- scheidung für die höhere berufliche Ausbildung.

An der Universität können sich nicht nur Studenten einschreiben, die von den Oberstufen kommen, sondern auch die Absolventen der von den Regionen eingerichteten Berufsbil- dungsgänge. In solchen Fällen muss vor dem Übergang auf die Universität ein Zulassungsex- amen bestanden werden; wer nicht besteht, kann einen Nachholkurs machen, der eine Dauer von zwei Monaten bis zu einem Jahr hat.

Kurz gesagt bestehen nach Durchlaufen des Berufsbildungsgangs folgende Möglichkeiten:

- Aufnahme einer Arbeit; - Weiterführung der beruflichen Ausbildung auf höherer Ebene in den entsprechenden Kur- sen; - Besuch eines einjährigen Vorbereitungskurses, der im Einvernehmen mit der Universität gestaltet ist und der zu einer staatlichen Prüfung führt, um dann so den Zugang zur Uni- versität bzw. den Kunst- und Musikhochschulen zu erhalten.

Auch diese neue Fassung der Reform hat Widerstände geweckt, vor allem wegen des beson- ders problematischen Charakters ihrer Bezüge zum nichtstaatlichen Bildungssystem; die Re- 139 form ist deshalb bis heute im Allgemeinen nicht durchgesetzt worden, und die Regierung hat sich damit begnügt, einen Versuch auf äußerst schmaler Grundlage zu starten. Es muss auch noch einmal neu über das Verhältnis zwischen Reform und Universität nachgedacht werden, auch wenn dieses Problem bis jetzt noch nicht ausdrücklich angesprochen worden ist: aber dieses Verhältnis wirft sehr diskussionswürdige Fragen auf, auch weil es keine wirkliche Ko- ordinierung zwischen den beiden Reformprojekten gibt. Während zum Beispiel bei der Schule der Charakter des Abiturs verändert wurde, das jetzt umfassend ist und nicht, wie zuvor, auf einige vom Prüfling ausgewählte Fächer beschränkt werden kann, hat man hinsichtlich der Universität eine "Langzeitorientierung" eingeführt, das heißt eine vorweggenommene Ein- schreibung in die Universitätskurse wurde schon für das vorletzte Jahr der höheren Schule angesetzt. Das ist eine Neuerung, die sinnvollerweise doch eine Spezialisierung beim Abitur auf wenige, vom Schüler ausgewählte Fächer erfordert hätte, die ihm für sein anschließendes Universitätsstudium mehr genützt hätten, und gerade diese ist erst vor kurzem abgeschafft worden.

Anders als bei der Schulreform wurde dagegen an der Universitätsreform durch den Regie- rungswechsel fast nichts geändert. Sie sieht ein Studienmodell vor, das sich in zwei Zeitab- schnitte gliedert, die für fast alle universitären Studiengänge gleich lang und gleich schwierig sein sollen: zuerst ein berufshinführender Dreijahreskurs, der zu einem ersten Abschluss führt (die so genannte "Laurea"), und danach zwei Jahre Spezialisierung, die nur denjenigen offen steht, die zuvor ihre "Laurea" gemacht haben. An deren Ende kann ein höherer Studientitel erworben werden (der Fachabschluss). Bei jedem dieser beiden Studienabschnitte ist der Er- werb von jährlich 60 Pluspunkten vorgesehen, deren Erreichung jeweils einen Arbeitsauf- wand von durchschnittlich 25 Stunden voraussetzt. Also muss der Student in den beiden Stu- dienabschnitten insgesamt durchschnittlich 4.500 Stunden arbeiten, wenn er zur "Laurea" kommen will, und noch einmal 3.000 Stunden, wenn er den Fachabschluss anstrebt.

Die Abschlüsse unterscheiden sich durch ihre Klassifizierung voneinander (auf der ersten Ebene sind es mehr als 40 Einteilungen, auf der zweiten mehr als 100). Zur Kennzeichnung dienen gemeinsame didaktische Vorgaben, die aber an den einzelnen Standorten abgewandelt werden können durch Einführung speziellerer, aber dabei die didaktischen Minimalanforde- rungen berücksichtigender Kurse. Diese verschaffen jeweils eine bestimmte Anzahl an Plus- punkten, die bei den entsprechenden Fächergruppen vergeben werden. Die Fächer sind ihrer- seits in drei Kategorien eingeteilt: Grundlagenfächer, berufskennzeichnende Fächer, ver- wandte oder ergänzende Fächer. Die Reform legt auch genau fest, welches Gewicht bei den einzelnen Facheinteilungen der berufshinführenden Praxis (Praktikum, Lehrzeit) oder der Erlangung einiger allgemein wichtiger Befähigungen (sprachlicher Art, in der Informatik) zukommt.

3. Die Gründe einer Strategie

Aus welchen Gründen hat die Regierung Berlusconi nach der Übernahme beider Reformpro- jekte von der Vorgängerregierung während des ersten Jahres ihrer Arbeit das Gesamtbild der Reform des Bildungswesens einer unterschiedlichen Befassung unterzogen? Warum ist vor allem das Vorhaben einer Reform des bisher bestehenden schulischen Erziehungswesens an- gehalten und dann inhaltlich spürbar überarbeitet worden, während das Vorhaben der Univer- sitätsreform in keiner Weise aufgehalten wurde und die Regierung sich darauf beschränkt hat, es nicht automatisch zur Anwendung kommen zu lassen, sondern darauf hinzuwirken (vor allem durch die Einführung von abhaltenden Elementen im wirtschaftlichen Bereich), dass Mechanismen der Selbstkorrektur wirksam wurden? 140

Die Gründe eines so unterschiedlichen Verhaltens können auf Überlegungen zurückgeführt werden, die – wenigstens implizit – eine politische Ausrichtung erkennen lassen, bei der be- sonders auf ein Element geachtet wird, das in unseren beiden Fällen eine Rolle spielt: die In- teressen des so genannten Mittelstandes.

Und tatsächlich muss man feststellen, dass im Bereich der Schule ein Anhalten der Reform, abgesehen vom verständlichen Widerstand einiger politischer und gewerkschaftlicher Kreise, jedenfalls bei denjenigen Eltern günstig aufgenommen werden konnte, die – nicht nur aus ideologischen oder Gründen ihrer Glaubensrichtung – am meisten dazu neigen, ihre Kinder in nichtstaatliche Schulen zu schicken. Und auch innerhalb des Schulsystems zeigte sich das Lehrpersonal der Mittelschulen alarmiert von der Aussicht, zusammen mit dem Personal der Volksschulen, das nicht notwendig über einen Universitätsabschluss verfügt und weniger ver- dient, in eine gemeinsame Bildungsstufe hineinzugeraten. Denn der Protest, der sich beim Lehrkörper der Mittelschule wegen der "Vermischung" der herkömmlichen Berufsbilder des "Volksschullehrers" und des "Mittelschulprofessors" in einem einzigen Schultyp geregt hatte, war nicht ausreichend besänftigt worden durch die Aussicht darauf, dass zukünftige Lehr- kräfte an der Grundschule künftig nur eingestellt würden, wenn sie einen Hochschulabschluss vorweisen könnten.

Was die Universität betrifft, könnte man Gründe für ein Passierenlassen der Reform zunächst in dem Erfordernis sehen, sich nicht noch eine weitere Gegnerschaft zu den Kräften der Vor- gängerregierung zu leisten, aber auch und vor allem in der Tatsache, dass innerhalb der ein- flussreichen Schicht der Hochschullehrer zwar nicht einhellige Signale kamen, von denen einige auch Zweifel an einer schneller als gewollt eintretenden Reform erwecken und diese verlangsamen wollten, aber andere in stärker drängender und bemerkbarer Weise darauf hin- wirkten, die Durchführung der Reform nicht nur aus ideologischen Gründen zu beschleuni- gen, sozusagen also von Amts wegen, weil dies die Linie der Vorgängerregierung gewesen war, sondern auch wegen der Aussicht einer Ausweitung des Lehrkörpers. Eine solche ver- sprach die Reform ja schon durch ihre verschiedenen Elemente, wie die Trennung in zwei Ausbildungsabschnitte (zu drei bzw. zwei Jahren) eines Universitätsstudiums, das zuvor ein- heitlich gewesen war, die Verlängerung auf insgesamt fünf Jahre auch der Ausbildungsgänge, die bisher vier Jahre gedauert hatten, und die Möglichkeit, die Anrechnung der Pluspunkte, die in den einzelnen Lehrveranstaltungen zu erwerben waren, in nahezu unbegrenzter Weise zu gestalten.

Wenn auch all dies explizit gerechtfertigt war durch das Erfordernis, den Studenten eine elas- tischere Durchführung ihres Universitätsstudiums zu erleichtern, so wurde doch mithin er- sichtlich, dass das Anwachsen der Dozentenzahl wenigstens in bestimmten Bereichen da- durch begünstigt sein würde. Ein Anhalten der Reform hätte deshalb bedeutet, dass Anstren- gungen wieder zunichte gemacht worden wären, die in verschiedenen Kollegialorganen von einflussreichen Hochschullehrergruppen bereits unternommen worden waren mit dem Ziel, auf verhältnismäßig begünstigte Stellungen zu kommen im Vergleich mit anderen Fachberei- chen. Deshalb beruhte das Bild vom "fahrenden Zug", das denjenigen diente, die glauben ma- chen wollten, die Reform sei unvermeidlich geworden, wirklich auch auf zweckgerichteten Überlegungen. Sein Gebrauch war nicht nur bestimmt von ideologischen Gründen bei denen, die gerade nach der Niederlage von Mitte-Links in der akademischen Welt zu der Ansicht gekommen waren, sie müssten frühere Zweifel und Empfindungen des Unbehagens gegen- über der Reform fallen lassen und demnach zu verhindern suchen, dass die wenn auch un- vollkommene Reform durch die neue Regierung blockiert würde. 141

4. Risiken und Grenzen der Universitätsreform

Die Risiken des Reformvorhabens am System der universitären Didaktik, das hier in seinen Wesenszügen vorgestellt worden ist, bleiben zahlreich und bedeutungsschwer, und sie gewin- nen bei rechtem Zusehen an Gewicht, je weiter die Verwirklichung der Reform vorankommt.

Im Allgemeinen kann man sagen, dass im Fall der Schule die Bezüge zum nichtstaatlichen Bildungssystem und zur Universität noch sehr problematisch sind. Im Falle der Universität treten ausgerechnet diejenigen Bezüge zur Arbeitswelt und zu Europa als immer problemati- scher hervor, deren bedeutsame Verbesserung die Reform rechtfertigen sollte. Kurz gesagt scheint die Reform nicht nur in einigen ihrer Teile unnötig schwerfällig, übermäßig streng und ungenügend ausgereift in ihren wesentlichen Elementen. Es lassen sich auch bei der ers- ten Anwendung der Universitätsreform insbesondere mindestens drei Paradoxa feststellen, die in den vorhergehenden Phasen ihres Zustandekommens – in der breiig anmutenden Konzept- phase, und der ihrer Umgießung in den Gesetzestext – nicht ausreichend aufgezeigt worden waren.

- Ein erstes Paradox betrifft den allgemeinen Aufbau der Reform und die Einführung des Systems der "Pluspunkte". Dieses System hätte – wenigstens auf dem Papier – den un- zweifelhaften Vorteil, eine bessere Angleichung zwischen den Studienverpflichtungen der Studenten und ihrer tatsächlichen Ausbildungszeit zu erleichtern, indem es mit ihm mög- lich sein müsste, sehr genau abzuwägen, wie viel tatsächliche Vorbereitung jedes Examen dem durchschnittlichen Studenten abverlangt (es gibt sogar bei solchen, die mit dem Ni- veau der ungefähren Einschätzung der einzelnen Pluspunkte – nämlich entsprechend 25 Arbeitsstunden – nicht zufrieden sind, die Methode, den Zehntel-Pluspunkt als Maßeinheit zu verwenden). Aber das System der Pluspunkte – und darin liegt das Paradox – wird da- gegen auch benutzt zur Festlegung eines Bezugsmodells, nach dem nicht nur jedem auf den Abschluss bezogenen Studiengang dieselbe Zahl von Studienjahren, sondern jedem Studienjahr an jeder Universität auch derselbe "Wert" (60 Pluspunkte) zugewiesen wird. So kommt man dann zur Einführung einer radikalen und empirisch nicht zu rechtfertigen- den Erstarrung des Bezugsmodells.

- Ein zweites Paradox zeigt sich bei den anzustrebenden Ausbildungszielen. Die generelle Einführung nämlich eines Zwischenzieles nach drei Jahren, des so genannten erstmaligen Studienabschlusses ("Laurea"), verfolgt eine doppelte und in sich widersprüchliche Ziel- setzung. Denn einerseits hat die "Laurea", wie die Diplome, deren Stelle sie einnehmen soll, als Sprungbrett für den Übergang in das Arbeitsleben zu dienen (daher müssten die Bildungsinhalte ausdrücklich anwendungsorientiert sein), aber andererseits soll sie auch die Grundlage bieten für einen noch länger dauernden Studiengang, an dessen Ende der Fachabschluss zu stehen käme (und das würde, im genauen Gegenteil, eine ausdrückliche Hinwendung zum Erwerb theoretischen und methodologischen Grundlagenwissens erfor- dern). Es scheint zumindest problematisch, dieses doppelte Ziel durch die Verwendung derselben Bildungsinhalte konkret erreichen zu wollen. Und zu einem so einzigartig wichtigen Punkt sind ausgerechnet die berufsständischen Organisationen, die in Italien sehr einflussreich und vielschichtig sind, weder angehört noch an seiner Ausgestaltung mitbeteiligt worden.

- Ein drittes Paradox betrifft die Auswirkungen der Reform. Die ursprüngliche Rechtferti- gung für ihre Inangriffnahme war gewesen, dass man durch sie das italienische Universi- tätssystem in ein harmonisches europäisches Ganzes einfügen wollte. Nun hat die Reform aber die Auswirkung, dass zumindest in einigen Fällen, wie zum Beispiel bei allen Ab- 142

schlüssen in den Humaniora und in der Rechtswissenschaft, welche derzeit im Ausland noch vier Jahre Studium erfordern, die zum Erwerb des Fachabschlusses notwendige Zeit gegenüber dem Rest Europas um mindestens ein Jahr verlängert wird.

Um die Folgen dieser konkreten Risiken abzuschwächen, sind die Bezugspunkte, deren sich die Regierung Berlusconi weiterhin bedient, nicht grundsätzlich verschieden von denen, die in der Vergangenheit angedacht wurden; de facto bewegt sich das System weiterhin ohne sichere Ausrichtung zwischen den beiden Extremen Zentralismus und Ortsbezogenheit, Dirigismus und Freiheitlichkeit, die, wenn auch mit verschiedenen Schwerpunkten, den Bereich des uni- versitären Lebens im letzten Jahrzehnt bestimmt haben. Diesem Schema zufolge erscheint die Universitätsreform wie ein unvollendetes und auf zwei Ebenen angelegtes Werk: der Zustän- digkeitsebene der zentralen politischen Organe, auf der nur ein Gitterwerk von Zulässigkeits- bedingungen, also der Gesetzeskonformität, für die einzelnen vor Ort erarbeiteten Vorschläge bestimmt wird; und die Ebene der Zuständigkeit der örtlich Tätigen, die einen ziemlich weiten Spielraum an zulässigen rechtlich gegebenen Möglichkeiten haben und die besonderen Züge des Studienangebots der einzelnen Standorte festlegen.

Das Ergebnis ist eine "indirekte" Normsetzung, die, bei Schule und Universität verschieden stark, keineswegs die Inhalte der Reform mit Vollständigkeit festlegt, sondern dies lieber ei- nem Feld überlässt, das unter dem Einfluss von Interaktionen mit der Außenwelt steht, und von Erhebungen, die andauernd neu überprüft und korrigiert werden können. Die Regierung hat nämlich angesichts der verschiedenen Arten von Widerstand sich beim Fall der Schule lieber für eine vorwiegend direkte Korrektur der Regelungsinhalte entschieden, während sie beim Fall der Universität eine vorwiegend indirekte Korrektur der Möglichkeiten der betrof- fenen Träger dadurch erreichen wollte, dass die Bedingungen verändert wurden, unter denen letztere ihre Entscheidungen zu fällen haben, so etwa in der Art: "wenn, und nur wenn sich die Bedingung X, wie sie von der Zentralregierung vorgegeben ist, als tatsächlich gegeben erweist, dann, und nur dann, ist es rechtlich zulässig und/oder nützlich für den Universitäts- standort Z, sich für Y zu entscheiden aus einer Reihe von vorgegebenen Möglichkeiten".

Wenn die für die Umsetzung Verantwortlichen es mit einer so gearteten indirekten Normen- setzung zu tun haben, werden sie entweder eine bedingungsweise Planung anwenden, nach Art von "wenn ... dann", die es gestattet, zu einer Rechtmäßigkeit zu kommen, die darin be- steht, dass die konkreten Vorschläge dem Gesetz entsprechen. Oder sie werden zu einer zweckorientierten Planung kommen, nach Art von "Mittel ... Ziel", die zwar zu keiner streng bipolaren Alternative "ja/nein" (gesetzeskonform/nicht gesetzeskonform) führt, aber es er- laubt, ein mehr oder weniger gehobenes Niveau zu halten, in dessen Licht man am Standort eine mehr oder weniger hohe "Qualität" der Leistungen erreichen kann.

Die logische Folge dieser Gedankengänge, und das gilt für Mitte-Rechts wie es zuvor für Mitte-Links gegolten hat, ist die radikale Entwertung der rechtlichen Gültigkeit des Studien- abschlusses. Diese rechtliche Gültigkeit nämlich kann in der Theorie nicht nur ex ante, also als Ergebnis einer reinen Legalitätskontrolle im Sinne einer Vergewisserung über die Gege- benheit rein formaler Erfordernisse zugesprochen werden, wenn der Staat eine solche bei den Institutionen durchgeführt hat, sondern auch ex post, als Ergebnis einer Qualitätsüberprüfung und danach einer folgenden Bestätigung der einzelnen Universitäten. Es muss wohl kaum gesagt werden, dass eine derartige Neuerung bei einem Publikum wie dem italienischen, das nicht daran gewöhnt ist, wirklich an die Leistungsgesellschaft zu glauben, als nicht echt ge- wollt erscheinen kann – und in vieler Hinsicht ist sie es auch nicht – und als gefährlich für die Betroffenen, die bei einem entregelten Bildungsmarkt, zu dem es lange Wege und den Einsatz von Jahren braucht, leicht nicht mehr die Herren, sondern die Versuchskaninchen des Prozes- 143 ses werden können, jedenfalls solange, als nicht vertrauenswürdige Bewertungskriterien für die einzelnen Standorte und die einzelnen Studiengänge ausgearbeitet sind. Diese aber fehlen bis heute vollkommen. 144 145

Die Politisierung der Gerichtsbarkeit in Italien

Carlo Guarnieri

Italien ist das Land, das im festländischen Europa während der letzten Jahrzehnte die tief greifendsten Umwandlungen in der Verfasstheit des Richterstandes erfahren hat, mit der Fol- geerscheinung, dass dessen politische Bedeutung nennenswert angewachsen ist. Um dies zu verstehen, sollen im Folgenden die Hauptwesenszüge des italienischen Rechtssystems näher erläutert werden.

1. Die Gerichtsbarkeit

In ihren hauptsächlichen Zügen folgt die italienische Gerichtsbarkeit der französischen Ge- richtsbarkeit aus napoleonischem Geist, wie sie vor der nationalen Einigung im Königreich Sardinien bestand. Jedoch kannte Italien keine gerichtliche Möglichkeit einer Überprüfung der Verfassungskonformität. Mit dem Grundsatz der Gewaltentrennung glaubte man, dass nur die gesetzgebende Gewalt über die Verfassungskonformität ihrer eigenen Gesetze zu befin- den habe. Allerdings kann – und das hat die Erfahrung mit dem Faschismus gezeigt – eine gesetzgebende Gewalt, die nicht kontrolliert wird, zwar in der Verfahrensweise formal legale Wege gehen und doch die Herrschaft der Demokratie auf den Kopf stellen. Deshalb hat die Verfassung von 1948 ein Verfassungsgericht eingeführt, das üblicherweise bei einem konkret vorliegenden Fall über die Verfassungskonformität eines Gesetzes befindet. Im Verlauf eines gerichtlichen Verfahrens – der ordentlichen oder der Verwaltungsgerichtsbarkeit – kann eine Partei oder auch der Richter selbst beantragen, dass die Verfassungskonformität einer Norm überprüft wird, welche direkt erheblich ist für die Lösung des anstehenden Falles. Wenn die- ser Antrag vom Richter nicht als "offensichtlich unbegründet" angesehen wird, geht er an das Verfassungsgericht, und das Verfahren bleibt bis zur Äußerung dieses Gerichts ausgesetzt. Außerdem urteilt dieses Gericht in Fällen von Kompetenzstreitigkeiten unter Regionen, zwi- schen Regionen und Zentralstaat und unter den Gewalten des Staates sowie im Fall von An- schuldigungen, die gegen den Staatspräsidenten erhoben werden. Fast nie gab es ernsthafte Reibereien zwischen dem Verfassungsgericht und den anderen Staatsgewalten. Die Art und Weise, wie die Richter ausgewählt werden – zwei Drittel von ihnen werden auf Grund politi- scher Überlegungen ernannt, allerdings für einen nicht zu langen Zeitraum –, bewirkt, dass nur im Falle schwer wiegender und unerwarteter Veränderungen der Mehrheitsverhältnisse die Rechtsprechung des Gerichts für eine längere Zeit im Gegensatz zu denjenigen Bewer- tungen stehen könnte, wie sie von den Politikern vertreten werden.

Das Verfassungsgericht hat jedoch einen wichtigen Anteil daran gehabt, bei den Richtern eine aktivere Auffassung von der ihnen zukommenden Rolle zu verbreiten. 1 Die gerichtliche Nachprüfung der Verfassungskonformität – und die den Richtern zugewiesene Aufgabe, e- ventuelle Widersprüche zwischen Gesetzesnorm und Verfassungsnorm festzustellen – hat bewirkt, dass man gegenüber dem Gesetz kritischer geworden ist, und diese Haltung passt nicht mehr zum herkömmlichen Bild des Richters als "Mund des Gesetzes". Natürlich hat das Verfassungsgericht sich auch bemüht, die Gesetze in einer Weise auszulegen, die sie als ver- einbar mit der Verfassung erscheinen ließen. So konnte es vielleicht vermeiden, viele Gesetze für nicht verfassungsgemäß zu erklären, aber es hat damit auch die Richterschaft zu Aktivität in der Auslegung ermutigt.

1 Vgl. Rebuffa, G.: La funzione giudiziaria (Die Aufgabe des Richters), Turin 1993. 146

Bis in die Fünfzigerjahre stellte sich die italienische Richterschaft als Berufsgruppe dar, die nach dem Bild der anderen Zweige der öffentlichen Verwaltung gestaltet war.2 Unsere Rich- ter wurden und werden immer noch durch ein öffentliches Bewerbungsverfahren ausgewählt, gewöhnlich in noch recht jungen Jahren und unmittelbar nach ihrem Studienabschluss in Rechtswissenschaften, und dann in eine hierarchisch aufgebaute Körperschaft eingegliedert. Die Beförderung auf höhere Posten geschah nach Bewertungen, die das Dienstalter berück- sichtigten und die Verdienste, wie sie von den Vorgesetzten festgestellt wurden. Auch hier wie in anderen Verwaltungen des Staates wurde das Kooptationsprinzip angewendet: Die höchstgestellten Richter entschieden, wer zu höherer Stellung befördert werden sollte. Der Einfluss der Politik, genauer gesagt der Regierung, kam an der Spitze der Gerichtsverwal- tungspyramide zum Tragen, also bei der Ernennung der am höchsten stehenden Richter, die üblicherweise von der Exekutive aus denjenigen ausgesucht wurden, die die unmittelbar dar- unter befindliche Stufe erreicht hatten. So konnte die Exekutive für diese Stellungen die Richter aussuchen, die sie für die "geeignetsten" hielt, und diejenigen Richter, die Spitzen- stellungen anstrebten, wussten, auf wen sie zu achten hatten.

Der Übergang zur Demokratie hatte anfangs keine besonderen Auswirkungen: Die Garantien für die Richter und die Staatsanwälte wurden verstärkt, aber innerhalb des bisherigen organi- satorischen Rahmens. Die Verfassung von 1948 bringt eine erste Veränderung. Es werden Maßnahmen zur Stärkung der Unabhängigkeit der Richterschaft eingeführt. Die wichtigste davon ist die Schaffung eines Obersten Rates der Richterschaft, dem der Staatspräsident, der Generalstaatsanwalt beim Kassationsgerichtshof und dessen Erster Präsident als Mitglieder von Amts wegen angehören. Zwei Drittel der übrigen Mitglieder bestehen aus Richtern (ge- genwärtig 16), die von ihren Richterkollegen gewählt sind, und das restliche Drittel setzt sich aus Universitätsprofessoren der verschiedenen juristischen Fachrichtungen und Rechtsan- wälten mit mindestens 15 Jahren Berufserfahrung (derzeit acht) zusammen, die vom Parla- ment mit vorgeschriebener Mehrheit bestimmt werden. Diesem Rat ist die Zuständigkeit für Zuweisungen an, Versetzungen, Beförderungen von und Disziplinarmaßnahmen gegen Rich- ter und Staatsanwälte übertragen (Art. 105). Außerdem wird mit Art. 112 der Grundsatz der Strafverfolgungspflicht seitens der Staatsanwaltschaft in die Verfassung eingeführt, der in der Folgezeit sich stark zu Gunsten der fortschreitenden Angleichung der Stellung des Staatsan- walts an die des Richters auswirken wird.

Diese von der Verfassung vorgesehene und hier nachgezeichnete Neuordnung wird nicht un- mittelbar in die Realität umgesetzt. Die Richterschaft wird weiter von den hohen Rängen aus geleitet, die von der Regierung besetzt sind, aber in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre kommen unterschiedliche Ansichten auf, die sich immer weniger miteinander vereinbaren lassen. Es sind dies hauptsächlich zwei Gruppierungen: Die höher gestellten Richter – oder besser die "konservativen" – plädieren für die herkömmliche Laufbahn, für die Einrichtung eines Obersten Rates der Richterschaft mit nicht zu knapper Beteiligung von hohen Richter- rängen und für fortgesetzte gute Beziehungen zu den politischen Kräften an der Regierung. Die "Neuerer" – meistens niedrigere Ränge – beanstanden die Karrieremechanismen und die Machtfülle der hohen Richter und behaupten, dass diese nicht vereinbar seien mit der neuen Rolle, welche die Verfassung der Republik der Richterschaft zuweist. Sie treten für einen Obersten Rat der Richterschaft ein, der frei ist von Einflussnahmen aus dem Ministerium und der die gesamte Richterschaft vertritt. Die "Neuerer" begreifen Unabhängigkeit nicht nur als Unabhängigkeit nach außen, sondern vor allem nach innen: eine Unabhängigkeit nicht nur

2 Vgl. Di Federico, G.: La professione giudiziaria in Italia ed il suo contesto burocratico (Der Beruf des Richters in Italien und sein bürokratisches Umfeld), in: Rivista trimestrale di diritto e procedura civile, Heft 2, 1978, S.798-818. 147 von anderen Gewalten des Staates, sondern auch von den anderen Richtern.

Die Verfasstheit der Richterschaft beginnt sich 1959 zu wandeln, als der Druck von den Richtern und seitens der öffentlichen Meinung zusammen mit der eingetretenen Schwächung der Mehrheit aus Parteien der Mitte und der DC dazu führt, dass der Oberste Rat der Richter- schaft seine Wirkung langsam entfalten kann. Die Befugnisse der Regierung gegenüber der Richterschaft werden schrittweise zu Gunsten des Rates eingeschränkt. Die Einrichtung des Obersten Rats der Richterschaft verschärft die Spannungen innerhalb der richterlichen Kör- perschaft. Die neue Ordnung beschränkt zwar die Machtbefugnisse der Exekutive, lässt aber den eigenen obersten Rängen immer noch eine vorherrschende Stellung und kann die Neuerer in ihren Forderungen nicht zufrieden stellen. Nach langen und konfliktreichen Verhandlungen werden diese Ansprüche von der Regierung und dem Parlament großenteils übernommen, denn zwischenzeitlich hat sich durch den Eintritt der Sozialisten in die Regierungsmehrheit das Muster "Mitte-Links" durchgesetzt. So führt zwischen 1963 und 1979 eine Reihe von Maßnahmen zum Abbau der alten Auswahlmethoden und zu einem automatischen Beförde- rungswesen.

Die Gründe für diese Veränderungen kann man nur verstehen, wenn man berücksichtigt, dass sich in der Zwischenzeit auch die Struktur des Obersten Rates der Richterschaft verändert hat. Die anfänglich überproportionale Anzahl der Richter vom Kassationsgerichtshof wurde 1967 zunächst reduziert. Dieses immer noch vorhandene Ungleichgewicht wurde 1975 mit der Ein- führung eines Wahlgesetzes aufgehoben. Dieses erfuhr in den Jahren 1990 und 2002 noch weitere, jedoch unwesentliche Änderungen. Es stimmen also seit 1975 alle Richter ohne Un- terschied ihres Ranges ab und werden im Rat vertreten, wobei die Ratssitze mehr oder weni- ger entsprechend den erzielten Stimmen unter den verschiedenen Listen aufgeteilt werden. Auch auf die Anwendung der Laufbahngesetze musste sich diese veränderte Zusammenset- zung auswirken, geht doch die Tendenz dahin, dass die Beurteiler und die zu Beurteilenden oft dieselben Personen sind.

Der Oberste Rat der Richterschaft spielt inzwischen eine besonders bedeutsame Rolle. Die einzigen Zuständigkeiten, die der Justizminister noch ausübt, sind die Anordnung von Unter- suchungen in den richterlichen Amtsräumen und die Eröffnung eines Disziplinarverfahrens, aber über eventuelle Sanktionen beschließt einzig der Oberste Rat der Richterschaft. Auch die Machtbefugnisse der Behördenchefs sind stark beschnitten worden: Sie haben keinen Einfluss auf die Laufbahn mehr, und ihre Entscheidungen können vom Obersten Rat der Richterschaft überprüft werden. Er ist auch das Organ, das sie ernennt. Der Rat arbeitet dank seiner Zu- sammensetzung als eine Art Clearingstelle für die Forderungen der verschiedenen Bereiche der Politschicht und der Richterschaft, auch wenn das konkrete Ergebnis jeweils von den Umständen, vor allem aber vom Zusammenhalt unter den Richtern abhängt, die die nume- risch größte Gruppe in ihm stellen.

Unsere Richterschaft kennt nämlich in ihrem Inneren verschiedene Gruppierungen: die so genannten "Strömungen" innerhalb der einzigen berufsständischen Vereinigung, nämlich der Nationalen Richtervereinigung. Heute gibt es nach einer langen Geschichte von Spaltungen und Wiedervereinigungen vier aktive Strömungen: Demokratische Richterschaft, Bewegung für die Gerechtigkeit, Einheit für die Verfassung und Unabhängige Richterschaft. Wenn man eine gewisse Vereinfachung nicht scheut – denn es ist nicht möglich, diese Strömungen ein- fach politischen Parteien an die Seite zu stellen oder eine direkte Verbindung zwischen Strö- mungen und Parteien anzunehmen –, kann man sagen, dass Demokratische Richterschaft mehr oder weniger für die herkömmliche Linke steht. Sie spricht sich in ihrem Programm 148 klar für eine aktive Auffassung von der Rolle des Richters aus, nach der die Grundsätze der Verfassung die auslegende Tätigkeit des Richters bestimmen müssen, welche einem hohen Niveau an rechtswissenschaftlicher Kreativität gerecht zu werden hat. Bewegung für die Ge- rechtigkeit vereint ebenfalls fortschrittlich gesonnene Richter, richtet ihre Aufmerksamkeit aber mehr auf die Aufgabe, die Professionalität des Richterstandes, die Leistungsfähigkeit der Organisation und eine recht kritische Einstellung gegenüber der politischen Klasse zu wah- ren. Einheit für die Verfassung vertritt dagegen die "gemäßigten" Richter, die im Wesentli- chen zufrieden sind mit den Garantien, die dank der Reformen der letzten Jahrzehnte erreicht worden sind und die sich höchstens besorgt darum zeigen, dass ihnen die Wohltaten erhalten bleiben, die aus dem automatischen Aufsteigen auf der Karriere- und Gehaltsleiter erwachsen. Im Allgemeinen möchte diese Strömung nach Möglichkeit konfliktfreie Beziehungen zu der politischen Klasse pflegen. Unabhängige Richterschaft ist die gewöhnlich als konservativ eingestufte Strömung, vor allem weil sie früher stark der Vorstellung von der ausführenden Rolle des Richters anhing und die Vorstellung von einer mehr oder weniger politischen Rolle des Richters heftig kritisierte, wie sie vor allem von Demokratische Richterschaft vertreten wurden. Auch heute bleibt diese Strömung, die stets darauf achtet, dass die Unabhängigkeit der Richter gewahrt wird, bei ihrer Bevorzugung einer "vorsichtigen" und gemäßigten Auf- fassung von der Rolle des Richters und bei einer gewissen Distanz zur politischen Klasse, die nicht immer frei von Kritik ist.

2. Der Strafprozess

Auch in Italien ist die Ausübung der Strafverfolgung den Stellen der Staatsanwaltschaft ü- bertragen, aber anders als in der Vergangenheit gibt es kein hierarchisches Verhältnis mehr zwischen den verschiedenen Stellen. Nur wenn schwer wiegende Versäumnisse aufkommen, können die Generalstaatsanwälte an den Berufungsgerichten bei den Staatsanwaltschaften ihres Gerichtsbezirks eingreifen. Die Generalstaatsanwaltschaft beim Kassationsgerichtshof hat keine – hatte übrigens nie eine – Machtbefugnis gegenüber den anderen Ermittlungsbe- hörden. Auch der Minister hat keine Verfügungsgewalt. Eine Besonderheit – die es außer in Italien nur noch in Frankreich gibt – ist, dass die Aufgaben des Richters und die des Staats- anwalts von Justizangehörigen ausgeübt werden, die zum gleichen Berufsstand gehören.

In den letzten Jahren hat der Strafprozess eine entschieden gehobene politische Bedeutung bekommen. Dafür gibt es verschiedene Gründe, bei denen man nicht die Auswirkung von Erscheinungen wie der des Terrorismus und der organisierten Kriminalität vergessen darf. Auch die Gliederung des Prozesses hat eine Rolle gespielt. Bis 1989 wies der Strafprozess eine Gliederung in zwei Abschnitte auf. Es war dies eine Kompromissform, die tatermittelnde und anklägerische Züge in sich barg. Während des Untersuchungsverfahrens erfolgte zur Er- mittlung des Tathergangs die Zusammenstellung der Beweise durch den Staatsanwalt oder – in den vielschichtigeren Fällen – durch den Untersuchungsrichter, wobei der Angeklagte sich unter bestimmten Umständen eines Rechtsbeistands seiner Wahl bedienen konnte. In der zweiten Phase, der Verhandlung, in der die Anklage vorgebracht wurde, waren diesmal die beiden gegnerischen Parteien vertreten – der Staatsanwalt und der Beschuldigte –, und das zusammengebrachte Material wurde von einem Einzelrichter oder von einer Kammer geprüft, welche am Ende das Urteil fällten. Die Reform von 1989 entwickelte den Ehrgeiz, diese "ge- mischte" Form des Prozesses durch eine mehr von der Anklage bestimmte Ordnung zu erset- zen. Die Figur des Untersuchungsrichters wurde abgeschafft, und Anklage und Verteidigung wurden so weit als möglich auf die gleiche Ebene gestellt. In der Folgezeit wurde die neue Strafprozessordnung ständigen Anpassungen unterzogen. Zahlreiche Urteile des Verfas- sungsgerichts haben sie abgewandelt und dabei tatermittelnde Elemente wieder in Kraft ge- 149 setzt: Zum Beispiel wurde den Ermittlungsergebnissen, die in der prozessvorbereitenden Pha- se vom Staatsanwalt oder seinem polizeilichen Hilfsorgan gewonnen worden waren, Beweis- kraft zuerkannt. In dieselbe Richtung lief eine Reihe von Reformen, die nach den Aufsehen erregenden Attentaten durchgeführt wurden, welche das organisierte Verbrechen anfangs der Neunzigerjahre zu verantworten hatte (der Mord an den Ermittlern Falcone und Borsellino, der Anschlag auf die Uffizien). Ende 1999 wurde das Parlament tätig mit dem Versuch, die Grundsätze des Anklageverfahrens vor den Eingriffen des Verfassungsgerichts zu bewahren. Deshalb ist der Artikel 111 der Verfassung insofern abgeändert worden, als die Grundsätze des so genannten "billigen gerichtlichen Gehörs" eingeführt wurden, die aus der Europäi- schen Menschenrechtskonvention stammen: im Verfahren kontradiktorisch, gleiche Stellung der Parteien, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Richters, angemessene Frist für den Prozess und Mindestrechte des Angeklagten.

Zu beachten ist weiterhin, dass wenigstens der Form nach die Tätigkeit des Staatsanwalts vom Artikel 112 der Verfassung geregelt wird, demzufolge "er die Pflicht hat, das Strafver- fahren durchzuführen": Wenn er von der Schuld der Personen überzeugt ist, gegen die Er- mittlungen geführt wurden, muss der Staatsanwalt die Eröffnung der Hauptverhandlung be- antragen. Allerdings darf er die Akten über einen Fall auch nicht ohne ausdrückliche Erlaub- nis des Richters schließen, selbst wenn er anderer Ansicht ist. In Wirklichkeit hat der Staats- anwalt einen ziemlich weiten Ermessensspielraum, schon deshalb, weil es in keinem System möglich ist, eindeutige Antworten auf alle Eventualitäten bereit zu haben, die auftauchen können. Jedenfalls muss der Staatsanwalt im Lauf der Ermittlungen, und auch wenn er dann Anklage erhebt, Entscheidungen fällen, für die er sein eigenes Urteilsvermögen braucht. Da- rüberhinaus ist die Einflussnahme des Behördenchefs auf den Staatsanwalt begrenzt. Jener kann nur eingreifen, wenn er schwer wiegende Mängel in der Arbeit eines Untergebenen fest- stellt, der aber immer Berufung zum Obersten Rat der Richterschaft einlegen kann. Wie auch immer, die Amtspflicht zur Strafverfolgung und das überwiegende Verständnis, das dieser Grundsatz gefunden hat, haben viel dazu beigetragen, dass die Schaffung eines wirksamen Systems von Kontrollen verhindert und die Ermessensspielräume der Angehörigen der Staatsanwaltschaft extrem weit ausgedehnt worden sind.3

3. Vergerichtlichung der Politik und Politisierung der Gerichtsbarkeit

In den letzten Jahrzehnten konnte man in Italien eine entschiedene Ausweitung der Macht der Richterschaft beobachten: Ihr Handlungsspielraum ist bedeutend größer geworden und er- streckt sich nun mit stärkeren Auswirkungen auf neue Tätigkeitsfelder. Vor allem hat sich die Beziehung der Richterschaft oder einiger ihrer Teilbereiche zur politischen Klasse geändert.4 In der Vergangenheit hatte sich der Richterstand nie mit solcher Häufigkeit und Eindringlich- keit im Widerspruch zur Kaste der Regierungspolitiker vernehmen lassen. Die Beziehungen zwischen Politik und Richterschaft beginnen sich am Anfang der Sechzigerjahre zu verän- dern, aber in den Siebzigerjahren kommt es zu einer Wende. Angesichts der Verschärfung der sozialen und politischen Spannungen möchte die Mehrheit, gemäßigt in ihren Zielen, weiter- hin ihre gegenüber der Politik zurückhaltende Rolle beibehalten und die guten Beziehungen

3 Vgl. Di Federico, G.: L'indipendenza del pubblico ministero e il principio democratico della responsabilità in Italia (Die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft und der demokratische Grundsatz der Verantwort- lichkeit in Italien), in: Rivista italiana di diritto e procedura penale, Heft 1, 1998, S.230-242. 4 Für eine weitergefasste Analyse siehe Guarnieri, C.: Magistratura e politica in Italia (Richterschaft und Politik in Italien), Bologna 1992; Guarnieri, C./Pederzoli, P.: La magistratura nelle democrazie contemp o- ranee (Der Richterstand in den Demokratien unserer Zeit), Bari 2002. 150 zu den Parteien der Mehrheit bewahren, während eine Minderheit, für die vor allem Demo- kratische Richterschaft steht, ein aktivistisches Rollenverständnis verficht und sich mit Stu- denten- und Arbeiterbewegungen und Gruppen und Parteien der Linken zu verbinden sucht.

Der damalige Kampf gegen den Terrorismus bringt für das Gerichtswesen und die Richter- schaft beträchtliche Konsequenzen mit sich. Es entstehen neue Formen der Zusammenarbeit zwischen Staatsanwälten und Untersuchungsrichtern verschiedener Behörden, die zur Schwä- chung der bisherigen hierarchischen Kanäle führen. Außerdem wächst die Nähe zwischen Polizeikräften und Richterschaft. In wachsendem Maße leiten Untersuchungsrichter und Staatsanwälte direkt die Ermittlungen und stellen sich effektiv an die Spitze der dem Gericht zugeordneten Polizei. Jedenfalls erwerben sie eine Befähigung zur Fahndung und einen Ein- fluss auf die polizeilichen Kräfte, der sich in der Folge als von hohem Wert erweisen wird.

Als nämlich am Anfang der 80er-Jahre der Ausnahmezustand des Terrorismus überwunden war, zeichnet sich eine weitere kriminelle Erscheinung am Horizont ab: das Organisierte Verbrechen, dessen Gefährlichkeit durch die lange Liste ermordeter Politiker, Richter und Polizisten bezeugt wird. Die Richterschaft kann auch in diesem Fall ihre Rolle in vorderster Linie ausfüllen und ihre Stärke in der Fahndung noch mehr steigern. Damit wächst die Auf- merksamkeit der Richterschaft in Bezug auf die politische Klasse, vor allem dann, wenn diese versucht, sich durch den Einsatz politischer Mittel persönliche Vorteile zu erwerben. Gleich- zeitig tendiert die Richterschaft vermehrt dazu, auf diesem Gebiet unabhängig die Initiative zu ergreifen, ohne darauf zu warten, dass Nachrichten über kriminelle Vorfälle von außen kommen.

Dieses Verhalten der Richterschaft hat zu Konsequenzen im politischen Sektor geführt. Ab dem Ende der Sechzigerjahre haben sich immer mehr Kontakte und Verbindungen zwischen Richtern und Politikern ergeben, zwischen Richterschaft und Parteien, zwischen Strömungen in der Richterschaft und Parteien oder Strömungen der Parteien. Der Oberste Rat der Richter- schaft war – wie bereits schon ausgeführt – die Stelle, an der sich diese Kontakte entwickeln konnten. Immer dann, wenn die Richterseite gespalten war, konnten die Berufsfremden ihr Gewicht zur Geltung bringen, zum Beispiel bei den Entscheidungen, die die Ernennungen zu den wichtigsten Ämtern betrafen. Es wurde bekannt, dass die so genannten außerrichterlichen Beauftragungen anstiegen, das heißt das Erteilen von Aufträgen (die oft gut bezahlt wurden) von Seiten anderer politischer Einrichtungen, aber auch seitens öffentlicher und privater Un- ternehmen an zahlreiche Richter. Auch stieg die Zahl der ins Parlament gelangten Richter an. Darüber hinaus hat sich die Einkommenslage der Richter stark verbessert, woran man sieht, wie stark der Druck der Richterschaft sein kann, wenn sie geschlossen auftritt und wie nach- giebig sich die Politikerklasse dann zeigt.5

Wenigstens bis 1992 haben strafprozessuale Nachforschungen, bei denen die Politik irgend- wie mit im Spiele war, nur schwer zu konkreten Ergebnissen führen können. Manchmal war es das Parlament, das sich hindernd in den Weg stellte, indem zum Beispiel das Vorgehen gegen Parlamentarier nicht gestattet wurde. In anderen Fällen kam die Behinderung aus der Richterschaft selbst: Die Nachforschungen wurden wegen Zuständigkeitsstreitigkeiten zwi- schen den verschiedenen Behörden verzögert, schließlich verliefen sie sich dann bei der Staatsanwaltschaft von Rom im Sande. Das willfährige Verhalten gegenüber der Politiker- klasse wird immer mehr aufgegeben zu Gunsten einer Haltung, die von der auch von den

5 Vgl. Zannotti, F.: Le attività extragiudiziarie dei magistrati ordinari (Die außerrichterlichen Tätigkeiten der Laufbahnrichter), Padua 1981; ders.: La magistratura, un gruppo di pressione stituzionale (Die Richter- schaft, eine Institution als pressure group), Padua 1989. 151

Massenmedien gestützten Forderung nach einer "Stellvertretung" beeinflusst ist, eine Forde- rung, nach welcher die Richterschaft den beschränkten Wert eines politischen Systems aus- zugleichen hätte, das keine Alternative bietet. Die Phase, die 1992 begann, steht sehr unter dem Einfluss der Krise der hauptsächlichen po- litischen Kräfte, die sich bei den Wahlen dieses Jahres zeigte. Vor allem zwischen 1992 und 1994 wird das, was die Richterschaft tut, wirklich außerordentlich bedeutend, und hat Aus- wirkungen sogar auf die Zusammensetzung der Regierungen: Die einfache Tatsache, dass gegen jemanden ermittelt wird, beinhaltet für diesen faktisch die Notwendigkeit, vom Regie- rungsamt zurückzutreten, und manchmal sogar das Ende einer politischen Laufbahn, auch wenn der Angeklagte in der Folge vollständig entlastet wird.

Mit den Wahlen von 1996 und der sich allmählich abzeichnenden Etablierung eines zweipo- ligen politischen Systems geht die heißeste Phase politischer Instabilität zu Ende. Ein erster, aber misslungener Versuch, die Macht der Richterschaft einzugrenzen, wird 1998 von der gemeinsamen Kommission der beiden Parlamentskammern für die Reform der Institutionen gemacht. Die starke Rolle, die der Staatsanwalt während der Zeit der vorbereitenden Ermitt- lungen spielt, sowie das übermäßige Gewicht, das den Aussagen der so genannten "Reumüti- gen" (= Kronzeugen) beigelegt wird, wurden weiterhin heftig kritisiert, vor allem seitens der Rechtsanwaltschaft, die damit Gehör bei der Klasse der Politiker fand. So kam es dann Ende 1999 zur Abänderung des Artikels 111 der Verfassung, von dem wir schon gesprochen ha- ben.

4. Der Zusammenstoß von Richterschaft und Politik

Das ist die Lage, als sich im Mai 2001 der Wahlsieg der "Casa delle libertà" ereignet und es zu einer Neuauflage der Regierung Berlusconi kommt, deren Stärke diesmal auf einer sehr viel sichereren Mehrheit beruht als 1994. Erste Auswirkung dieser Veränderung war ein hef- tiges Anwachsen der Streitigkeiten zwischen Richterschaft, Parlamentsmehrheit und Regie- rung. Natürlich können die Probleme unserer Rechtsprechung von Berlusconi instrumentali- siert werden, aber sicherlich sind sie nicht von ihm erfunden worden.

Das größte Problem ist das der beruflichen Befähigung. Eine Organisation, die sich wie der italienische Richterstand ihre Mitglieder in jugendlichem Alter aussucht und sie dann für die gesamte Dauer ihres Berufslebens – also für etwa 40 Jahre – keiner ernstlichen Bewertung mehr unterwirft, kann auf keinen Fall ihre berufliche Befähigung gewährleisten, und es müs- sen daraus negative Folgen erwachsen: Die übermäßige Dauer der Prozesse, die Italien immer wieder den Tadel des Europarats einträgt, hängt von Gründen der Organisation ab, aber zu diesen zählt ohne weiteres auch die Weise, wie das Personal geführt wird. Eine weitere Stelle, die schmerzt, ist die Stellung und Rolle des Staatsanwalts. Wenn man Justizpersonen dersel- ben Körperschaft, welche dieselben Garantien genießen und ihre Angelegenheiten durch den- selben Obersten Rat regeln, sowohl die urteilsfindenden als auch die Funktionen der Anklage überträgt, dann steht das im Widerspruch zu einem Modell des Strafverfahrens, das auf der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit eines Richters beruht, der zwischen Parteien steht, die auf selber Ebene agieren. Das Band der gleichen Organisation zwischen Staatsanwalt und Richter schädigt die Vorstellung der Unparteilichkeit des Richters, außerdem lässt es Zweifel entstehen an der beruflichen Befähigung des Staatsanwalts, da seine Erfolge eben seiner Ver- bindung zum Richter zugeschrieben werden können. Der Erfolg der Ermittlungen von "Mani Pulite" hat überdies in Aufsehen erregender Weise gezeigt, wie unterschiedlich die Einstel- lungen unter den verschiedenen Behörden und manchmal zwischen den einzelnen Richtern sind. Nur schwer kann man sich deshalb vorstellen, dass das Vorgehen des Staatsanwalts 152 schlicht in der Anwendung des Gesetzes besteht. Der Verweis auf die Strafverfolgungspflicht kann die – unvermeidlicherweise ermessensbedingten – Entscheidungen nicht rechtfertigen, die der Staatsanwalt zu fällen hat. Der Rückgriff auf den Grundsatz der Strafverfolgungs- pflicht zur Rechtfertigung der eigenen Entscheidungen leistet sogar dem Anschein Vorschub, als ob dies nur ein Weg sei, sich jeder Art von Verantwortlichkeit zu entziehen.

Weiters hat sich die Strategie einiger Richter, die Medien einzuspannen, um ihren Ermittlun- gen mehr Widerhall zu verschaffen und die eigene Position zu stärken, auf längere Dauer als kontraproduktiv erwiesen. Die Ermittlungen gegen die Politikerklasse konnten das starke, gegen die öffentlichen Einrichtungen gerichtete Empfinden nutzen, das unserer politischen Kultur eigen ist, und haben dazu beigetragen, ihm noch Nahrung zu geben, aber auf lange Dauer hat auch die Richterschaft, die ja selbst eine Einrichtung des politischen Systems ist, unvermeidlicherweise Auswirkungen dieses Klimas des Misstrauens verspüren müssen: Auch die Richterschaft ist wie die anderen Einrichtungen in Italien als Institution von schwacher Legitimität gekennzeichnet, und der Erfolg der Ermittlungen hat diese Lage nicht verändert.6 Überdies nehmen die richterlichen Entscheidungen, die von den Medien direkt in die politi- sche Auseinandersetzung getragen werden, eine politische Bedeutung an, welche unabhängig von den Absichten ihrer Hauptakteure die Zuordnung der Richterschaft oder bestimmter Richter zu Sektoren der politischen Klasse mit sich bringt. So soll im Publikum die Wahr- nehmung hervorgerufen werden, dass eine Gleichgewichtigkeit im Wesen zwischen Richter und Politiker herrscht, aber mit dem ausschlaggebenden Unterschied, dass der Richter im Gegensatz zum Politiker keiner politischen Verantwortung unterliegt und allenfalls zu einer Haltung verhältnismäßiger Unparteilichkeit angehalten wäre.

Berlusconi ist also stärker als früher, und das nicht nur wegen seines Wahlsieges vom Mai 2001. Die Rückkehr seiner Parteienformation an die Regierung erscheint gegenüber 1994 durch eine angriffslustigere Strategie gekennzeichnet, die darauf abzielt, sich die schwachen Punkte beim Richterstand zunutze zu machen. Ein Beispiel dafür ist der zum Teil gelungene Versuch seitens einiger Führungspersönlichkeiten, einzelne Behörden oder einzelne Richter in Polemiken zu verwickeln. Auf diese Weise ist es möglich gewesen, die Richterschaft zu einem Teil in den politischen Streit hineinzuziehen und ihr so einen Anschein von Parteilich- keit anzuhängen, mit der bereits weiter oben aufgezeigten Folge: einer Schwächung ihres Rufs der Unparteilichkeit und damit faktisch einer Entwertung ihrer Maßnahmen, vor allem derjenigen gegen den Ministerpräsidenten.

Die Machtübernahme Berlusconis hat die Wirkung gehabt, einige Wesenszüge unseres Rich- terstandes hervortreten zu lassen. Einerseits hat er vor allem wegen der besonderen Stellung des Staatsanwalts eine hohe Möglichkeit der Einflussnahme auf den politischen Prozess. An- dererseits bleibt die Richterschaft doch nicht so geschützt vor kurzfristigen politischen Ein- flüssen. Wenigstens bis 1992, also dem Zeitpunkt, bis zu dem die Politikerklasse noch eine gewisse Stärke zeigte, diente die wichtigste Verbindungseinrichtung zwischen Richterschaft und Politik, nämlich der Oberste Rat der Richterschaft, zur Eindämmung der Macht der Richter. Diese Eindämmung ruhte auf einer genauen Porportionalisierung der politischen und richterlichen Vertretung innerhalb des Rates. Nach 1992 haben der Zusammenbruch der Fünfparteienherrschaft und bei Mitte-Rechts das Erscheinen einer neuen Partei wie Forza Italia sowie die von Alleanza Nazionale, einer zuvor randständigen Partei, angenommene neue Rolle die Beziehungen noch verstärkt, die bereits vorher zwischen Richterschaft und Bereichen der Mitte und der Linken bestanden hatten. Diese Beziehungen hatten ihren Höhe-

6 Siehe Cartocci, R.: Diventare grandi in tempi di cinismo (Aufwachsen in Zeiten des Zynismus), Bologna 2002. 153 punkt während der Legislaturperiode des Ölbaums, wobei wichtige Führungspersönlichkeiten der Strömungen der Linken Spitzenpositionen im Justizministerium innehatten. Der Wechsel von 2001 hat eine Koalition an die Regierung gebracht, bei der andere Positionen vorherr- schen. Deshalb wird es nicht ausbleiben, dass Spannungen auftreten, die durch Berlusconis Anklage noch weiter verschärft werden.

Klar ist, dass eine durch öffentliche Ausschreibung ausgewählte Richterschaft, die in keiner Weise, auch nicht indirekt, demokratisch legitimiert ist und reichlich abgehoben von den an- deren Rechtsberufen dasteht, sich nicht weiterhin mit der Opposition gleichsetzen darf und nicht auf Dauer im Streit mit der politischen Macht liegen kann. Aber nur wenn die Aussicht auf einen Regierungswechsel erhalten bleibt, kann innerhalb und außerhalb der Richterschaft das Bedürfnis wachsen, ihr mehr Unabhängigkeit von den Institutionen zuzugestehen, und einzig durch sie können ihr auf die lange Dauer die Garantien ihrer Unabhängigkeit erhalten bleiben. Wenn jedoch die derzeitige Mehrheit auseinander fiele – was eine heutigentags we- nig wahrscheinliche Annahme ist, vielleicht als Folge einer Verurteilung des Ministerpräsi- denten –, dann würde zwar die Richterschaft gestärkt daraus hervorgehen, aber gleichzeitig wäre auch ihre Gleichstellung mit der Opposition besiegelt. Berlusconis Leitsatz von den "roten Roben" wäre bekräftigt, und Mitte-Links würde für lange Zeit jede Fähigkeit verlieren, das Gerichtswesen wirklich zu reformieren. Aber wenn dagegen das Mitte-Rechts-Bündnis seine Stellung auf Kosten einer schwachen und gespaltenen Mitte-Links-Richtung kräftigen sollte, dann ist wahrscheinlich, dass auf lange Sicht die Richterschaft sich auf die Linie der neuen Mehrheit begeben würde, allerdings nicht ganz ohne Spannungen und Reibereien.

Das politische System kann auf die Richterschaft beträchtlichen Einfluss nehmen. Der O- berste Rat der Richterschaft hat beachtliche Machtbefugnisse, und seine Neubestellung alle vier Jahre bietet der neuen Parlamentsmehrheit die Gelegenheit, ihre Stellung zu stärken, auch wenn sie heute noch nicht über die Drei-Fünftel-Mehrheit verfügt, die es ihr ermögli- chen würde, allein für den nicht zum Richterstand gehörenden Teil zu sorgen. Außerdem hat die Exekutive stets Mittel zur Hand, um einen gewissen Einfluss auszuüben: z.B. wenn Ge- haltserhöhungen zu bewilligen sind, oder wenn gegenüber dem Einzelnen zu jenen Formen einer informellen Laufbahnverbesserung gegriffen wird, wie sie die außerrichterlichen Be- auftragungen darstellen. Wenn es Berlusconi gelingt, sich an der Regierung zu halten, besteht durchaus die Möglichkeit, dass die Spannungen der Gegenwart übergehen in einen Zustand der gegenseitigen Akzeptanz, in bestimmten Fällen sogar einer gewissen Zusammenarbeit. 154 155

Das "pacchetto giudiziario" – Reformbedarf für die italienische Justiz*

Letizia Paoli

Kein Zweifel, dass das italienische Gerichtswesen reformiert werden muss, und zwar in einer Weise, die rechtsstaatliche Garantien mit größerer Wirksamkeit in Einklang bringt. Wie Jus- tizminister Roberto Castelli1 bei seiner Ansprache anlässlich der Eröffnung des Gerichtsjahres 2002 ausgeführt hat, "bieten die Zahlen, die die Lage des italienischen Gerichtswesens wider- spiegeln, unleugbar ein betrübliches Bild, wie auch immer man sie liest". In diesem Aufsatz möchte ich deshalb zusammenfassend die Schwierigkeiten des italienischen Gerichtswesens darstellen. Nachdem ich die gesetzgeberischen Maßnahmen der früheren Mitte-Links-Regie- rungen angeführt habe, will ich die Taten der zweiten Regierung Berlusconi auf dem Gebiet der Rechtspolitik untersuchen, seit sie im Juni 2001 ihre Arbeit aufgenommen hat.

1. Übersicht über die Schwierigkeiten des italienischen Gerichtswesens

Da sind zunächst die statistischen Daten, auf die sich Minister Castelli bezogen hat. In Italien dauert ein Zivilprozess im Durchschnitt 3,47 Jahre allein für die erste Instanz; wenn man die Zeit für die Berufung und den Gang zum Kassationsgerichtshof dazunimmt, sind es mehr als neun Jahre.2 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hält eine Zeit von nicht mehr als sechs Jahren für diese drei Instanzen noch für annehmbar. Und gerade wegen der übermä- ßigen Langsamkeit der Zivilverfahren (aber auch der Strafverfahren) hat der italienische Staat eine Rekordzahl von Verurteilungen durch den Straßburger Gerichtshof und ständige Ermah- nungen des Europarats einstecken müssen (unter den letzten die Entschließung vom 25. Ok- tober 2000).3 Trotz der unternommenen Anstrengung, die Zahl der schwebenden Verfahren zu verringern, beträgt der Rückstand an Zivilverfahren bei den Landgerichten per 30. Juni 2001 insgesamt dreieinhalb Millionen nicht erledigter Verfahren. 4

* Dieser Aufsatz bietet die überarbeitete Fassung meines bei einer Studientagung der Hanns-Seidel-Stiftung vom 12.-14. Juni 2002 gehaltenen Referats, die gelegentlich der ersten Jahreswiederkehr der derzeitigen Regierung Berlusconi unter das Motto "Nach einem Jahr machen wir Revision" gestellt worden war. 1 Castelli, R.: Intervento del Ministro della Giustizia Sen. . Inaugurazione dell’anno giudiziario 2002 (Ansprache des Justizministers, des Senators Roberto Castelli. Eröffnung des Gerichtsjah- res 2002), 2002, S.1. Online auf Homepage: http://giustizia.it/ studierapporti/ag2002/ag2002ministro.htm. 2 Marletta, A.: Relazione del Procuratore Generale, Giovanni Antonino Marletta, della Corte di Appello di Reggio Calabria per l'inaugurazione dell'anno giudiziario 2002 (Rede des Generalstaatsanwalts am Appella- tionsgericht von Reggio Calabria, Giovanni Antonio Marletta, zur Eröffnung des Gerichtsjahres 2002), 2002, S.5. Online auf Homepage: http://www.giustizia.it/studier app orti/ ag2002/ag2002rc.htm 3 Consiglio d'Europa (Europarat). Interim Resolution ResDH(2000)135: Excessive Length of Judicial Pro- ceedings in Italy. Adopted by the Committee of Ministers on 25 October 2000 at the 727th meeting of the Ministers' Deputies, 2000. 4 Castelli, R.: Intervento del Ministro della Giustizia Sen. Roberto Castelli (FN 1); vgl. Favara, F.: Relazione sull'amministrazione della Giustizia nell'anno 2001 del dott. Francesco Favara, Procuratore Generale della Repubblica presso la Suprema Corte di Cassazione (Bericht des Dr. Francesco Favara, Generalstaatsanwalts der Republik beim Höchsten Kassationsgericht, über die Justizverwaltung im Jahre 2001), 2002. Online auf Homepage: http://www.giustizia.it/ studierapporti/ag2002/cass2002index.htm; Lucca, D.: Giustizia all’italiana: Storie di magistrati, avvocati e cittadini (Justiz nach italienischer Art: Geschichten von 156

Nur wenig schneller gehen die Strafprozesse vor sich: Nach den Schätzungen, die der Gene- ralstaatsanwalt beim Kassationsgerichtshof im Jahr 2000 bekannt gemacht hat, dauern die vorbereitenden Ermittlungen im Durchschnitt 325 Tage, die Vorverhandlung vor dem hierzu bestellten Richter (dem sogen. "GUP") 152, die Hauptverhandlungsphase 427, die Berufung 555 Tage, und danach kommt fast immer der Gang zum Kassationsgerichtshof (der das Urteil annullieren und aussetzen und die Akten dem Appellationsgericht wieder zustellen lassen kann).5 Es ist klar, dass bei dieser zeitlichen Verzögerung ein Vorgehen Zug um Zug, die Unmittelbarkeit und der vorwiegend mündliche Charakter der Einlassungen zu kurz kommen und die streitige Verhandlung, die nach ihrer Anlage in der Strafprozessordnung von 1988 der Angelpunkt des neuen Anklageprozesses hätte sein sollen, zu einem Trugbild verkommt. Zu dieser Verzögerung hat nicht wenig die byzantinische Überlagerung der Rechtsgarantien aus dem inquisitorischen Verfahren (aus dieser Vorstellung war die alte Strafprozessordnung ent- standen) über diejenigen des Anklageprozesses beigetragen, wobei dann am Schluss den Un- schuldigen und den Opfern ihre Rechte verweigert und die Schuldigen belohnt werden, vor allem wenn sie wohlhabend sind: Letztere können nämlich mit Spitzfindigkeiten und Tricks einen Prozess fast unendlich in die Länge ziehen. 6

Die Statistiken lassen außerdem einen enormen Mangel an Personal erkennen, ob es nun die Robe tragen darf oder unterstützend tätig ist. Wenn man die tatsächlich bei den Justizbehör- den tätigen Richter und Staatsanwälte vergleicht mit dem Gesamtstellenspiegel, dann kommt man auf eine Unterdeckungsquote von landesweit 6,2%, die aber an zahlreichen Gerichts- standorten sehr viel höher ausfällt (8% in Salerno, Bari und Palermo, 9% in Triest, 14% in Bozen).7 Noch schwer wiegender ist die Lage, vor allem in Norditalien. 8 Beim Verwaltungs- personal wurde für das per Ende 2001 eine über 11% liegende landesweite Unterdeckung festgestellt (mit Spitzenwerten von 38% in Bozen, 17% in Turin, 19% in Trient, 15% in Mai-

Richtern, Anwälten und Bürgern), Roma 2002; vgl. Marchesi, D.: L'inefficienza della giustizia civile tra domanda e offerta (Die mangelnde Effizienz der Zivilgerichtsbarkeit zwischen Angebot und Nachfrage), Il Mulino 5, 2002, S.854-862. 5 La Torre, A.: Relazione sull'amministrazione della giustizia nell'anno 1999 del Dott. Antonio La Torre, Procuratore Generale della Repubblica presso la Suprema Corte di Cassazione (Bericht des Dr. Antonio La Torre, Generalstaatsanwalts der Republik beim Höchsten Kassationsgericht, über die Justizverwaltung im Jahre 1999), 2000. Online auf Homepage: http://www.giustizia.it/studier apporti/ag2000/rnmd914- cass2000index.htm. 6 Colombo, G.: La via maestra delle prescrizioni (Der breite Weg der Verjährungen), Micromega 1, 2000, S.125-137; Almerighi, M.: Garantismo all’italiana (Rechtsgarantien auf italienische Art), Micromega 1, 2000, S.170-184; Davigo, P.: Il processo di Azzeccagarbugli (Der Prozess von Wirrwarrsrat), Micromega 1, 2000, S.117-124; vgl. Orlandi, R.: Giustizia penale e ruolo dello Stato: un rapporto in crisi (Strafjustiz und Rolle des Staates: ein Verhältnis in der Krise), Il Mulino 5, 2002, S.863-873. 7 Ministero della Giustizia (Justizministerium): Relazione del Ministero sull’amministrazione della giustizia per l’inaugurazione dell’anno giudiziario 2002 (Bericht des Ministers über die Justizverwaltung zur Eröffnung des Gerichtsjahres 2002), 2002, S.19-22. Online auf Homepage: http://giustizia.it/ studierappor- ti/ag2002/ag2002MG_ndx.htm 8 Borrelli, F.S.: Relazione del Procuratore Generale, Francesco Saverio Borrelli, della Corte di Appello di Milano per l'inaugurazione dell'anno giudiziario 2002 (Rede des Generalstaatsanwalts am Appellationsgericht von Mailand, Francesco Saverio Borrelli, zur Eröffnung des Gerichtsjahres 2002), 2002. Online auf Homepage: http://www.giustizia.it/ studierapporti/ag2002/relaz_index2002.htm; Blandini, M.: Relazione del Procuratore Generale, Mario Blandini, della Corte di Appello di Trento per l'inaugurazione dell'anno giudiziario 2002 (Rede des Generalstaatsanwalts am Appellationsgericht von Trient, Mario Blandini, zur Eröffnung des Gerichtsjahres 2002), 2002. Online auf Homepage: http://www.giu stizia.it/studierapporti/ag2002/ag2002tn.htm. 157 land).9

Der Personalmangel wird noch schwer wiegender durch eine rational nicht nachvollziehbare und anachronistische Einteilung der Gerichtsbezirke und die nicht angemessenen Kriterien, nach denen die Stellenpläne der Justizbehörden aufgestellt werden. Dem Generalstaatsanwalt am Appellationsgericht von Neapel zufolge, Renato De Tullio10, geht das so weit, dass in ei- nigen Gerichtsbezirken eine vollständige Lähmung der Tätigkeit der Gerichte besteht und "in der öffentlichen Meinung die Gewissheit entsteht, dass man vor einem Strafgericht ungescho- ren davonkommt und dass es keinen Sinn hat, sich an die Zivilgerichtsbarkeit zu wenden, genau wie es Übeltäter oder Schuldner gerne hätten, und es umgekehrt die Opfer und die Gläubiger fürchten".

Um ein Gegengewicht gegen die äußerste Langsamkeit des Strafprozesses zu schaffen, muss die Richterschaft massiv zum Mittel der vorbeugenden Verwahrung in der Haftanstalt greifen. Das italienische Strafrechtswesen ist daher gekennzeichnet durch eine abnorm hohe Zahl von Häftlingen, die auf ihr Urteil warten. Zum Beispiel waren per 31. Dezember 1997 ganze 40.000 der insgesamt 50.000 Häftlinge in italienischen Haftanstalten in vorbeugender Ver- wahrung. 11 Der römische Richter Mario Almerighi12 merkt zum Schluss seiner vergleichenden Untersuchung über den Strafprozess in Italien und dem Vereinigten Königreich traurig an: "Die italienischen Gefängnisse bergen zu viele vorgebliche oder tatsächliche Unschuldige und nur sehr wenige Schuldige, die von einem Gericht eine Strafe bekommen haben." Und das Schlimmste daran ist, dass "die hohe Zahl der auf ihr Urteil wartenden Häftlinge die grundle- gende Laxheit des Systems und die Ungerechtigkeit nicht sichtbar werden lässt, die darin liegt, dass eine noch nicht sichere Strafe vorweggenommen und eine gewisse Strafe nicht wirksam gemacht wird". Anders als im Vereinigten Königreich und im übrigen Europa kann ein Urteil in Italien nämlich erst nach Abschluss des dritten Gerichtszugs in Vollzug gesetzt werden, und der angeklagte Häftling gilt als unschuldig und damit der Form der vorbeugen- den Verwahrung unterworfen bis zum Abschluss des Prozesses vor dem Kassationsgerichts- hof. Und da bei den vielschichtigeren Verfahren die Zeitspanne für das Durchlaufen der drei Stufen des Gerichtszugs etwa fünfzehn Jahre beträgt, muss der größte Teil der inhaftierten Angeklagten wegen Ablaufs der Maximalfristen einer vorbeugenden Verwahrung wieder freigelassen werden, bevor ihre Verurteilung definitiv rechtskräftig geworden ist: Man denke nur, dass in einem Jahr mehr als 20.000 Angeklagte wegen Fristablaufs freigelassen werden mussten. Es ist klar, dass der größte Teil der bereits Verurteilten sich unauffindbar verflüch- tigt, bevor noch der Tag kommt, an dem das Verfahren vor dem Kassationsgericht beginnen soll. 13

Wenn das Bild so aussieht, fällt es nicht schwer, dem Minister Castelli zu glauben, der aus

9 Ministero della Giustizia (Justizministerium): Relazione del Ministero sull’amministrazione (FN 7), S.19- 27. 10 De Tullio, R.: Relazione del Procuratore Generale, Renato De Tullio, della Corte di Appello di Napoli per l'inaugurazione dell' anno giudiziario 2002 (Rede des Generalstaatsanwalts am Appellationsgericht von Neapel, Renato De Tullio, zur Eröffnung des Gerichtsjahres 2002), 2002, S.14f. Online auf Homepage: http://www.giustizia.it/studier apporti/ ag2002/relaz_index2002.htm 11 Statistiche giudiziarie penali (Gerichtliche Strafstatistik). Anno 1997. Roma: Istituto Nazionale di Statistica, 1998, S.495. 12 Almerighi, M.: Garantismo all’italiana (FN 6), S.156. 13 Ebd. S.161-162. 158 einer jüngst durchgeführten Meinungsumfrage die Entdeckung meldet, dass 73% der Italiener nicht damit zufrieden sind, wie heute das Gerichtswesen in unserem Land arbeitet.14

"Aber liegt diese Krise nur an der Menge", fragt sich der frühere Generalstaatsanwalt am Ap- pellationsgericht von Mailand, Francesco Saverio Borrelli15, gelegentlich seiner Ansprache bei den Feierlichkeiten zur Eröffnung des Gerichtsjahres 2002, geht es nur um Zeit und Produkti- vität, oder gibt es auch eine Qualitätskrise? Sind es schlicht und einfach die unzureichenden Mittel? Wurden die Mitarbeiter nicht angemessen ausgebildet? Hat man unbedacht ein Um- feld geschaffen, durch das das Rechtswesen, wie wir es bis heute verstanden haben, Schritt für Schritt an den Rand gedrängt worden ist? Das Ansehen des Richterstandes in den Augen der Rechtsuchenden, man muss es sagen, ist gesunken, seine Unparteilichkeit wird immer öfter in Zweifel gezogen, manchmal sind wir in Fachbereichen nicht kompetent genug, eine uneinheitliche Judikatur geht auf Kosten der Rechtssicherheit und damit der Gültigkeit des Rechts, es gilt immer mehr Instanzenetappen zu bewältigen, auch weil das Kassationsgericht sich oft bei den Tatfragen der Rechtsfälle einmischt, der Ton zwischen Mitarbeitern und Rechtsuchenden ist manchmal unangenehmer geworden wegen Mitteilungs- und damit Ver- ständigungsschwierigkeiten zwischen der Welt der Justiz und der Welt draußen. Dem zu Grunde liegt ein Übermaß an Normsetzungen, weil man krampfhaft der Utopie der Vollstän- digkeit der Rechtsordnung nahe kommen will, wo es doch weise wäre, auf der Grundlage einer Gesetzgebung, welche die Prinzipien vorgibt, seine Arbeit zu tun, anstatt sich nach Re- geln bis hin ins kleinste richten zu müssen.

2. Die Gesetzgebung der Mitte-Links-Regierungen

Das sind die vielen Gründe der Krise, die Borrelli angibt, und einigen von ihnen werden wir kurz unsere Aufmerksamkeit zuwenden. So ist vor allem darauf hinzuweisen, dass zu der ge- nannten übermäßigen Normenproduktion die Parlamentsmehrheit in der letzten Legislaturpe- riode und ihre Mitte-Links-Regierungen nicht wenig beigetragen haben: Zwischen 1996 und 2001 wurden von diesen nicht weniger als 71 Gesetzesvorhaben mit Auswirkungen auf die Rechtspflege verabschiedet.16 Und auch wenn die Opposition das mitgetragen hat: In der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre sind zahlreiche Gesetzesänderungen durch das Parlament gegangen, die den Anklageprozess italienischer Ausprägung immer hybrider und eine schleu- nige Abwicklung der Rechtsfälle im Strafrecht immer schwieriger gemacht haben. Unter ih- nen sei zusammenfassend an folgende Maßnahmen erinnert: Pflicht zur Anzeige über den Abschluss der Vorerhebungen (Gesetz vom 16. Dezember 1999, Nr. 476), die Ermittlungen zur Verteidigung (Gesetz vom 7. Dezember 2000, Nr. 397), das so genannte "billige gerichtli- che Gehör" (Verfassungsgesetz vom 23. November 1999, Nr. 2; Gesetz vom 13. Februar 2001, Nr. 63), die Pflichtverteidigung (Gesetz vom 6. März 2001, Nr. 60; Gesetz vom 29. März 2001, Nr. 134), die Belehrungen über das Recht, sich zu verteidigen; aber auch Refor- men, die man sonst günstig hätte beurteilen müssen, wie die Einführung des Einzelrichters

14 Castelli, R.: Il programma per la giustizia del Ministro Castelli (presentato alla Commis sione Giustizia della Camera in data 24 luglio e alla Commissione Giustizia del Senato in data 26 luglio) (Das Justizprogramm des Ministers Castelli, vorgestellt dem Justizausschuss des Abgeordnetenhauses am 24. Juli und der Justiz- kommission des Senats am 26. Juli), 2001, S.1. Online auf Homepage: http:// www.giustizia.it/ministro/uffstampa/prog_gen_giust.htm. 15 Borrelli, F.S.: Relazione del Procuratore Generale, Francesco Saverio Borrelli (FN 8), S.11f. 16 Castelli, R.: Il programma per la giustizia del Ministro Castelli (FN 14), S.1. 159 und die Erweiterung seiner ausschließlichen Zuständigkeit – wenn sie nicht von Schwierig- keiten der Handhabung und Durchführung begleitet gewesen wären und so zu einer erhöhten Zahl von Gerichtssitzungen führen mussten, wodurch Zeit für die Ermittlungen verloren geht.17

Diese Gesetzesnovellen und andere ad hoc zustande gekommene, die im Verlauf der drei- zehnten Legislaturperiode angenommen wurden, haben dann objektive Hindernisse für die Bekämpfung von Mafia und Korruption aufgerichtet: Einschränkungen bei der vorbeugenden Verwahrung (Gesetz vom 8. August 1995, Nr. 322); Abschaffung des Delikts des einfachen (nicht vermögensrechtlichen) Amtsmissbrauchs, das in der Vergangenheit die Auslösung von Ermittlungen erlaubt hatte, die oft zur Feststellung von Korruption und Erpressung im Amt führten18; Pflicht zur Unterrichtung aller wegen Schmiergeldzahlungen unter Ermittlung Ge- stellter sechs Monate nach Auftauchen der ersten Verdächtigung; Recht auf automatische Strafaussetzung für alle bis zu drei Jahren rechtskräftig Verurteilte (Gesetz Simeone- Saraceni); und vor allem das unumstößliche Verbot der Verwendung von Vernehmungsproto- kollen eines unter Ermittlung Stehenden, der gegen einen Dritten Beschuldigungen erhebt, als Beweismittel, wenn ihr Inhalt nicht vor Gericht von ihm selbst in Gegenwart der Verteidiger des von ihm Beschuldigten bestätigt wird.

Diese letzte Neuerung (Artikel 513 der italienischen StPO) wurde im Sommer 1997 vom Parlament angenommen, dann aber durch ein bedeutungsschweres Urteil des Verfassungsge- richts vom November 1998 wieder gestrichen: Die "Richter über den Gesetzen" schreiben, dass ein Prozess nicht nur das Recht auf Verteidigung sicherstellen, sondern auch auf die "Feststellung der Wahrheit" und die "Unterdrückung von Straftaten" gerichtet sein muss. Deshalb halten sie es bei der streitigen Verhandlung für ausreichend sicher, wenn die Ver- nehmungsprotokolle des Mitbeschuldigten, der es vorzieht, zu schweigen, im Gerichtssaal verlesen (und möglicherweise unterbrochen und genauer gefasst) werden. Jetzt aber schreitet das Parlament sogar zur Verfassungsänderung; fast einstimmig wird der so genannte "Super- artikel 513" zur grundlegenden Norm für das "billige gerichtliche Gehör" gemacht (Verfas- sungsgesetz vom 23. November 1999, Nr. 2).19 Und das Durchführungsgesetz zum neuen Art. 111 der Verfassung (Gesetz vom 13. Februar 2001, Nr. 63) unternimmt nur "einen achtens- werten, aber nicht ausreichenden Versuch"20, einen Ausgleich herbeizuführen zwischen dem strengen Grundsatz, nach welchem den während der Erhebungen gemachten Erklärungen derjenigen "Reuigen", die sich bei der Verhandlung hinter ihrem Recht, zu schweigen, ver- schanzen, keinerlei Beweiserheblichkeit zukommt, und einer Maßnahme, mit der das Recht zur Nichtaussage beschnitten wird. Dieses Schweigerecht wird auch nur denjenigen Mitbe- schuldigten oder den einer gemeinschaftlichen oder verbundenen Straftat Beschuldigten aber-

17 Hierzu vgl. Borrelli, F.S.: Relazione del Procuratore Generale, Francesco Saverio Borrelli (FN 8), S.4; De Tullio, R.: Relazione del Procuratore Generale, Renato De Tullio (FN 10), S.4, 15. 18 Borrelli, F.S.: Relazione del Procuratore Generale, Francesco Saverio Borrelli (FN 8), S.9. 19 Colombo. G.: La via maestra delle prescrizioni (FN 6); Grevi, V.: Alla ricerca di un processo penale giusto: itinerari e prospettive (Auf der Suche nach einem gerechten Strafprozess: Wege und Aussichten), Milano 2000; Tonini, P. (Hrsg.): Giusto processo: Nuove norme sulla formazione e valutazione della prova (Ge- rechter Prozess: Neue Regeln zur Beweiserhebung und -auswertung), Padova 2001; Carcano, D./Manzione, D.: Il giusto processo: Commento alla legge 1. marzo 2001, n. 63 (Der gerechte Prozess: Kommentar zum Gesetz vom 1. März 2001, Nr. 63), Milano 2001. 20 Di Matteo, A./Imbergamo, F./Tescaroli, L.: Perché mai un mafioso dovrebbe pentirsi? (Warum sollte ein Mafioso Reue zeigen?), Micromega 2, 2001, S.203-215, hier S.206. 160 kannt, für welche ihr Prozess schon rechtskräftig durch eine Verurteilung, einen Freispruch oder eine ausgehandelte Lösung zu Ende gegangen ist.

Last but not least hat das Parlament der verflossenen Legislaturperiode mit großer Mehrheit eine Gesetzesreform betreffend die zur Zusammenarbeit mit der Justiz Bereiten angenommen (Gesetz vom 13. Februar 2001, Nr. 45).21 Das neue Recht kommt aus tiefem Misstrauen gegen diesen Personenkreis und hat schließlich dazu geführt, dass "Reuige" und zur Zusammenar- beit Bereite abgeschreckt wurden, obwohl sich gezeigt hatte, dass sie von grundsätzlicher Bedeutung für den Kampf gegen die Verbrechen der Mafia waren22: Man muss nur daran er- innern, dass im Verlauf des Jahres 2001 nur drei neue Fälle von Zusammenarbeit in das Pro- gramm zum Schutz solcher Personen aufgenommen worden sind.23

3. Die Justizverfahren gegen Berlusconi und die Delegitimierung der Staatsanwälte und Richter

Die Ermittlungen, um die es hier geht, wurden nicht unter irgendeinem Vorwand angestellt, wie verschiedene Urteile zeigen. Zwischen 1997 und 1998 hatte der Gründer der Fininvest vor Gericht drei Verurteilungen in ebenso vielen Prozessen einstecken müssen, die vom Er- mittlungspool "Mani Pulite" (d.h. "saubere Hände"; A.d.Ü.) angestrengt worden waren. Auf den anschließenden Stufen des Gerichtszuges gelang es seinen Anwälten jedoch, diese alle zunichte werden zu lassen, entweder weil sie die Gerichte mit ihrer Verteidigung überzeugen konnten oder einfach weil Verjährung eintrat.24 Der dornenreichste Fall zum Beispiel – eine ungesetzliche Geldzuwendung in Höhe von 23 Milliarden Lire an die Sozialistische Partei des Bettino Craxi zwischen März 1991 und Oktober 1992 – wurde 1999 durch Verjährung abge- schlossen. Im Juni 2001 kommt Berlusconi wieder durch Verjährung davon, diesmal vor dem Appellationsgerichtshof von Mailand, beim Prozess über den Mondadori-Schiedsspruch. Es wird dagegen die Hauptverhandlung eröffnet gegen den Rechtsanwalt Cesare Previti (jahre- lang Vertrauensanwalt der Berlusconi-Firmen, Bevollmächtigter für die vermuteten Off- Shore-Konten der Fininvest und außerdem ehemals Justizminister in der ersten Regierung Berlusconi) und gegen die früheren Richter Renato Squillante und Vittorio Metta.25

Nach seinem Freispruch "mangels Beweisen" beim Prozess um die der Finanzpolizei ange- botenen Geldscheinbündel im Oktober 2001 vor dem Kassationsgerichtshof, startet Minister- präsident Silvio Berlusconi einen noch nicht da gewesenen Angriff auf den "Pool" und das Mailänder Gericht, vergleicht die Ermittlungen durch "Mani Pulite" mit einem "Bürgerkrieg" und enthüllt bei einem Staatsbesuch in Granada, dass es sich dabei um eine "durch die Kom- munisten von langer Hand vorbereitete Unternehmung" gehandelt habe.26 Jedoch werden im

21 Ingroia. A.: Legge sui pentiti: luci e ombre (Das Gesetz über die "Reuigen": Licht und Schatten), Narcomafie IX (3), 2001, S.19-20; Ruga Riva, C.: Il premio per la collaborazione processuale (Der Lohn für Zusammenarbeit im Strafprozess), Milano 2002. 22 Paoli, L.: Fratelli di Mafia. Cosa Nostra e ’Ndrangheta (Mafia-Geschwister: Cosa Nostra und 'Ndrangheta), Bologna 2000. 23 Gaudenzi, D.: Povera Patria (Armes Vaterland). Online auf Homepage http://www. democrazialegali- ta.it/Opinioni/opin0046_020606_Gaudenzi_patria.htm 24 Biondani, P.: Cronologia (Chronologie), 2002, S.251-287, hier S.281-283. 25 La Repubblica, 26.6.2001, S.6. 26 La Repubblica, 11.11.2001, S.16; La Repubblica, 14.11.2001, S.17. 161 selben Prozess die Urteile gegen seine Mitarbeiter Salvatore Sciascia, der wenigstens drei Mal einige Offiziere der Finanzpolizei (offenbar ohne dass sein Chef davon wusste) bestochen hatte, und Massimo Maria Berruti, der die Ermittlungen durch begünstigendes Handeln ab- gewendet hatte (offensichtlich ohne dass der Begünstigte, also Berlusconi, davon Kenntnis hatte) bestätigt.27

Wenig später verlangt der Innenstaatssekretär und Rechtsanwalt Carlo Taormina, die Mailän- der Staatsanwälte und Richter, die gegen Silvio Berlusconi wegen des Falles "Finanzpolizei" ermittelt und verhandelt hatten, vor Gericht zu stellen. Als Mitte November desselben Jahres das Mailänder Gericht beschließt, die Prozesse Imi-Sir und Sme-Ariosto zum Nachteil Ber- lusconis, Previtis und anderer fortzuführen, geht Taormina so weit, zu behaupten, dass "die Richter am Gericht von Mailand Umstürzler sind und hinter Gitter gehören". 28 Als daraufhin Taormina gezwungen wird, aus dem Amt zu scheiden – nachdem das "Ölbaum"-Bündnis ei- nen nur ihn betreffenden Misstrauensantrag eingebracht hatte, der wahrscheinlich auch von einigen Abgeordneten des Mehrheitslagers unterstützt worden wäre –, greift Justizminister Castelli zum Ausgleich frontal die Mailänder Richterschaft an und droht mit "Disziplinar- maßnahmen" gegen diejenigen Staatsanwälte und Richter, die der Regierung kritisch gegenü- berstehen. 29

Im November 2001 blockiert die Regierung unter Vorwänden die Ernennung von drei italie- nischen Richtern (Alberto Perduca, Mario Vaudano und Nicola Piacente) zu Mitgliedern von Olaf, der europäischen Anti-Betrugs-Behörde, obwohl sie als Sieger aus einem regulären Be- werbungsverfahren hervorgegangen waren, das die Europäische Kommission ausgeschrieben hatte.30 Im März 2002 schließt die Regierung aus der Kandidatenliste für die entstehende eu- ropäische Staatsanwaltschaft "Eurojust" den gegenwärtigen Vertreter Italiens (im Vorläufer- gremium; A.d.Ü.) aus, Giancarlo Caselli, der als Leiter der Staatsanwaltschaft Palermo die Antimafia-Ermittlungen über Andreotti, den früheren rechten Arm Berlusconis namens Mar- cello Dell'Utri und den Ministerpräsidenten selbst koordiniert hatte. Als einzige Regierung in Europa benennt die italienische Regierung einen neuen Kandidaten, trotz des Appells, den die Spitzen von Eurojust mit dem Ziel an sie richten, eine Bestätigung für Caselli zu erhalten, der als "Schlüsselfigur" bezeichnet wird wegen "seiner Erfahrung im Kampf gegen das organi- sierte Verbrechen, und wegen seines einzigartigen Netzes von Kontakten"31.

Aber es ist klar, dass die Mitglieder des Pools "Mani Pulite" von Mailand, die die Anklage gegen den Regierungschef tragen, die ersten Opfer der Pfeile der Mehrheit werden. Im De- zember 2001 nimmt die Senatsmehrheit einen in zwölf Punkte gefassten Leitantrag zur Justiz an, dessen Vorspruch ausdrücklich die Ermittlungen des "Pools" gegen Berlusconi und die Anordnungen des Mailänder Gerichts moniert, mit welchen es die Fortführung der Prozesse zum Nachteil Berlusconis und Previtis befürwortet hatte. Die Mailänder Justizpersonen wer- den beschuldigt, "ihr hohes Mandat mit seinen entsprechenden, von der Verfassung vorgese- henen Vorrechten zu Zwecken des politischen Kampfs zu benützen und dabei sogar in die

27 La Repubblica, 20.10.2001, S.15; Travaglio, M.: Dieci mesi di regime (Zehn Monate an der Macht), Micromega 2, 2002, S.211-231, hier S.218-220. 28 La Repubblica, 18.11.2001, S.22. 29 La Repubblica, 5.12.2001, S.2. 30 La Repubblica, 22.11.2001, S.5. 31 La Repubblica, 16.3.2002, S.24; Travaglio, M.: Dieci mesi di regime (FN 27), S.221, 229. 162 politische Auseinandersetzung im Land einzugreifen, indem sie die unterschiedlichsten Mög- lichkeiten einer Anklageerhebung als Werkzeug gebrauchen und damit den Ruch einer frei- heitsfeindlichen Haltung auf sich ziehen"32. Diese Entschließung löst denn auch sofort Pro- teste aus seitens Hunderter Rechtsgelehrter von allen italienischen Universitäten. Das Lei- tungsgremium der Nationalen Richtervereinigung33, einschließlich ihres Vorsitzenden Giu- seppe Gennaro, tritt geschlossen zurück als Demonstration gegen diese Gefährdung "des Grundsatzes der Unabhängigkeit der Richterschaft". 34 Trotz dieser Proteste lässt das Parla- ment nicht ab vom Vorhaben. Im Februar 2002 stimmt das Abgeordnetenhaus für das Gesetz zur Einrichtung eines Ermittlungsausschusses betreffend den angeblichen "politischen Gebrauch des Rechtswesens"35.

Nach ähnlichen Anfeindungen entsendet schließlich die Menschenrechtskommission der UNO im März 2002 einen Beobachter nach Italien, den malaysischen Richter Dato Param Cumaraswamy, als Sonderberichterstatter für die Unabhängigkeit des Gerichtswesens. In sei- nem Anfang April vorgelegten Bericht kritisiert dieser UNO-Beobachter unnachsichtig die Angriffe der italienischen Regierung auf die Mailänder Richterschaft, kritisiert das Parlament als "mitbeteiligt an der Vermehrung der Spannung" und den "Interessenkonflikt bei den im Parlament sitzenden Anwälten, die von daher ihre Klienten begünstigen können". Und er schließt: "Die wichtigen Politiker, die in Mailand vor Gericht stehen, müssen den Grundsatz der Strafverfolgungspflicht achten und nicht den Anschein erwecken, die Verschleppung der Prozesse zu betreiben. Und die Entscheidungen der Gerichte sind zu respektieren."36

Berlusconi und Previti sind aber weit davon entfernt, die Ratschläge des UNO-Beobachters zu befolgen. Als Beschuldigte fordern sie vom Kassationsgerichtshof die Verweisung der Pro- zesse, die sie betreffen (Sme, Schiedsspruch Mondadori und Imi-Sir) von Mailand an einen anderen Gerichtsstand und führen dazu an, dass "eine ständige Zusammenfassung von Staats- anwälten als Arbeitsgruppe ... Strategien festlegt, um sie dann den Richtern vorzusetzen ... und dass sie von diesen in augenblicklicher und knechtischer Übernahme getreu befolgt wer- den"37. Am 31. Mai 2002 beschließt der Kassationsgerichtshof in gemeinsamer Sitzung seiner Senate, keine Entscheidung zu fällen, und folgt zur allgemeinen Überraschung einem Antrag der Anwälte Berlusconis, mit welchem diese die Verfassungsmäßigkeit desjenigen Artikels

32 Senato della Repubblica (Senat der Republik): 86a Seduta pubblica: Resoconto sommario e stenografico (86. öffentliche Sitzung: zusammenfassender und stenografischer Bericht). Mercoledì 5 dicembre (Mittwoch 5. Dezember). XIV Legislatura (XIV. Legislaturperiode), 2001. Online auf Homepage: http://www.senato.it/att/resocon/ home.htm. 33 Associazione Nazionale Magistrati: L'Associazione Nazionale Magistrati in difesa della giurisdizione (Die Nationale Richtervereinigung und ihre Verteidigung der Gerichtsbarkeit), 2001. Online auf Homepage http://www.associazionemagistrati.it/documenti/gec/storico%20GEC/2001/gec05_12_01.htm 34 Ebd. 35 Camera dei Deputati. Commissioni Riunite I (Affari Costituzionali) e II (Giustizia):. Sommario della seduta del 13 febbraio. (Abgeordnetenhaus. Zusammenfassung der gemeinsamen Sitzung der Ausschüsse I (Ve r- fassungsangelegenheiten) und II (Justiz) am 13. Februar.), 2002. Online auf Homepage: http://www.camera.it/chiosco.asp?content=/_dati/leg14/lavori/bollet/00r.htm 36 Commission On Human Rights: Report of the Special Rapporteur on the independence of judges and lawy- ers, Dato' Param Cumaraswamy , submitted in accordance with Commission on Human Rights resolution 2001/39. E/CN.4/2002/72/Add.3. 26 March 2002; La Repubblica, 4.4.2002, S.17. 37 La Repubblica, 27.5.2002, S.14; Travaglio, M.: Premiata ditta 'Previti, Berlusconi, & F.lli' (Preisgekrönte Firma 'Previti, Berlusconi & Gebrüder'), Micromega 2, 2002, S.232-259. 163 der Strafprozessordnung in Frage stellen, der die Verlegung von Prozessen regelt.38

4. Berlusconis Selbsthilfe

Kaum einen Monat nach der Vereidigung der neuen Regierung legt die Mehrheit dem Parla- ment die so genannte "Reform des Bilanzfälschungsrechts" vor, die von der Reform des An- tonino Mirone aus "Ölbaum"-Zeiten abgeleitet ist, aber angereichert mit Verbesserungsvor- schlägen von Niccolò Ghedini, der zufällig auch als Rechtsanwalt Berlusconi verteidigt. Und ausgerechnet dieser letztere wird in vier Mailänder Prozessen der Bilanzfälschung beschul- digt. Trotz einmütiger Kritik von Juristen, Steuerberatern und Wirtschaftswissenschaftlern treten die neuen Bestimmungen zur Bilanzfälschung im Oktober 2001 in Kraft, mit denen alle Prozesse zum Nachteil Berlusconis wegen dieser Straftat als verjährt gelten. 39

Am 3. Oktober 2001 nimmt das Parlament das Gesetz über die Rechtshilfeersuchen an (Nr. 367), durchgebracht in aller Eile mit der Begründung, den schweizerisch-italienischen Vertrag hierüber endlich ratifizieren zu wollen, der im September 1998 unterzeichnet und von Mitte- Links zweieinhalb Jahre lang vergessen worden war. Die neue Vorschrift bringt eine Reihe bürokratischer Formerfordernisse für die von den ausländischen Gerichtsbehörden übersand- ten Unterlagen mit sich (Stempel, Originalfassung, Paginierung der Seiten, Beglaubigungen). Und das nicht nur für zukünftige Rechtshilfeersuchen, sondern auch für in der Vergangenheit gestellte. Dieses Gesetz stellt damit einen Erstfall für eine Verfahrensnorm in der Geschichte der Republik Italien dar: Es ist nämlich rückwirkend und widerspricht damit dem tiefverwur- zelten Grundsatz, nachdem der Zeitpunkt für die Gültigkeit bestimmend ist (tempus regit ac- tum).

Die gesetzgeberische Maßnahme ruft Proteste seitens der amerikanischen und der schweizeri- schen Regierung hervor: Vor allem letztere ist erzürnt über die Anschuldigung, den italieni- schen Richtern "falsche Papiere" zukommen zu lassen. Die schweizerischen Behördenvertre- ter verkünden, dass sie nicht die Absicht haben, die Rechtshilfeersuchen nach den neuen Ver- fahrensweisen nochmals zu stellen: "Italien kann seine eigenen Verfahrensvorschriften nicht den anderen Ländern vorschreiben", führen sie zur Erklärung an. 40 Nach Ansicht des Staats- anwalts von Lugano, Bernard Bertossa, hat das Gesetz über die Rechtshilfeersuchen "nichts mit Recht zu tun, sondern es liegt hier eine eindeutig politisch zu sehende Maßnahme vor, mit der bestimmten Personen, die der italienischen Regierung nahe stehen, geholfen werden soll. Die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten unserer beiden Länder wird damit äußerst schwierig, wenn nicht unmöglich". 41 Glücklicherweise werden dann wohl die Gerichte sich als Lösung eine Auslegung einfallen lassen, die auf praktischer Ebene die verheerendsten Auswirkungen des Gesetzes aufhebt, und sie können sich dabei auf die internationale Praxis und die völkerrechtlichen Verträge stützen, die in eine ganz andere Richtung gehen. Mittler- weile entlässt Minister Castelli die vier Justizbeamten seiner Gesetzgebungsabteilung, die sich gegen den neuen Text ausgesprochen hatten, und droht dem Mailänder Gericht eine Un- tersuchung an, um zu verhindern, dass das Gesetz über die Rechtshilfeersuchen "verdreht"

38 La Repubblica, 31.5.2002, S.2. 39 Gesetz vom 3. Oktober 2001, Nr. 366, Corriere della Sera, 6.11.2002, S.10. 40 La Repubblica, 5.10.2001, S.18 und 16; La Repubblica, 11.10.2001, S. 18. 41 La Repubblica, 4.10.2001, S.5; La Repubblica, 19.10.2001, S.22. 164 wird.42

Im November 2001 billigt das Europäische Parlament eine kritische Stellungnahme zum ita- lienischen Gesetz über Rechtshilfeersuchen, welches "die Rechtshilfeersuchen mit der Schweiz wegen Straftaten wie Geldwäsche und Waffen-, Rauschmittel- und Zigaretten- schmuggel erschwert, wenn nicht unmöglich macht". 43 Im darauf folgenden Februar ratifiziert die schweizerische Regierung das zweiseitige Abkommen mit Italien über Rechtshilfe nicht.44

Im November 2002 wurde schließlich im Eildurchgang vom Parlament das so genannte "Ge- setz Cirami" (nach dem Senator des "Hauses der Freiheiten" Rino Cirami, der es eingebracht hatte) angenommen. 45 Das Gesetz bringt den "begründeten Verdacht" wieder auf (diese For- mulierung war aus der neuen Strafprozessordnung von 1989 als zu unbestimmt und allgemein gestrichen worden) als eine der Ursachen, wegen derer ein Prozess von einem Gerichtsstand zum anderen übertragen (verwiesen) werden kann. Da es den Beschuldigten zusteht, Verle- gungsanträge in unbegrenzter Zahl zu stellen, wenn nur die Begründung jeweils anders aus- fällt, kann mit ihm potenziell jede Hauptverhandlung auf unbestimmte Zeit abgeblockt wer- den. Dabei ist das Gesetz auf eine Person zugeschnitten – wie das ja auch die Opposition im Parlament herausgestellt hat, und ein großer Teil der Richterschaft und der Zivilgesellschaft sowie der internationalen Presse –, es ist maßgeschneidert, um Berlusconi und Cesare Previti zu gestatten, um eine wahrscheinliche Verurteilung in den von "Mani Pulite" angestoßenen und in Mailand noch unerledigten Prozessen herumzukommen.

Im Dezember 2001 stimmt Italien in Brüssel als einziges Land gegen den "europäischen Haftbefehl" (tatsächlich nur eine vereinfachte Form der Auslieferung) und verhindert damit sein Zustandekommen. Das "Nein" Italiens betrifft nicht die gesamte Liste der Straftaten, sondern nur die Wirtschaftsdelikte zuzüglich der Korruption. Nach wenigen Tagen wird auf Druck der europäischen Partner doch ein Kompromiss erreicht: Der italienischen Regierung wird zugestanden, die Einigung über den europäischen Haftbefehl erst 2004 in nationales Recht übernehmen zu müssen, und erst nach einer Verfassungsänderung, "damit die Rahmen- entschließung vereinbar wird mit den übergeordneten Grundsätzen der verfassungsmäßigen Ordnung in Sachen Grundrechte". 46

5. Das Programm des Ministers Castelli für die Justiz

Kaum zwei Monate nach der Installierung der Regierung legt Castelli einen Reformplan zur Gerichtsverfassung vor. Außer einer Fortführung der Umstellung auf Datenverarbeitung und der Vergrößerung der Stellenzahl, die schon von Mitte-Links auf den Weg gebracht worden waren, und der Reorganisierung des Ministeriums in die vier mit der Bassanini-Reform vor- gesehenen Abteilungen verpflichtet sich der Minister zu einer Verschlankung des Zivilprozes- ses. In Einlösung dieses Versprechens nimmt das Kabinett im Dezember 2001 einen Gesetz-

42 La Repubblica, 4.10.2001, S.5; La Rebubblica, 31.10.2001, S.18. 43 La Repubblica, 30.11.2001, S.18; Travaglio, M.: Dieci mesi di regime (FN 27), S.221.

44 La Repubblica, 14.2.2002, S.6.

45 L'Espresso, 10.10.2002, S.62-65.

46 La Repubblica, 11.12.2001, S.2. 165 entwurf an, der dringende Veränderungen für das Bürgerliche Gesetzbuch enthält. Dann wird eine tief greifende Reform des Zivilprozesses einem ad hoc eingerichteten Ministerausschuss übertragen. Man prüft auch eine Maßnahme zur Reform des Arbeitsprozesses, der an Streitig- keiten aus dem Bereich des öffentlichen Dienstes erstickt. Außerdem sind beim Ministerium der Ausschuss für die Durchführung des Ermächtigungsgesetzes zur Reform des Gesell- schaftsrechts und der Ausschuss für die Reform des Konkursrechts eingerichtet worden. 47

Auch ist ein Ministerausschuss eingerichtet worden zur Überprüfung des Strafgesetzbuches, um drei vorrangige Erfordernisse zu erfüllen, die die Regierung in der Gewissheit über die Straftat, der Gewissheit des Prozesses und der Gewissheit der Strafe sieht.48

Schließlich hat der Minister sich verpflichtet, das Problem der Überfüllung der Gefängnisse zu lösen durch die Errichtung neuer Strafanstalten, die Einführung alternativer Formen der Bestrafung für die inhaftierten Drogenabhängigen und, wenn möglich, die Rückführung der wegen leichter Straftaten in Haft genommenen illegalen Einwanderer in ihre Heimatländer, so weit ausreichende Gewähr gegeben ist, dass sie nicht versuchen, heimlich nach Italien zu- rückzukehren. 49 Aber obgleich einige dieser Vorschläge und Gesetzesnovellen zur Erneuerung der Wirksam- keit des Gerichtswesens beitragen könnten, gibt es da noch andere, die – um es mit den Wor- ten des früheren Generalstaatsanwalts von Mailand, Borrelli, zu sagen50 – "Recht wenig mit Wirksamkeit zu tun haben" und im Gegenteil "durchsichtige Bestrafungsabsichten gegen eine Richterschaft, die sicherlich nicht maximal effizient, aber ebenso sicherlich unabhängig ist," erkennen lassen. Und gegen diese Maßnahmen, die mehrfach angekündigt und dann in das Gesetz zur Ermächtigung der Regierung für die Reform der Gerichtsverfassung eingefügt worden sind, wie es vom Kabinett am 14. März 2002 angenommen wurde, hat sich der Wi- derstand der gesamten Richterschaft zusammengeballt. Nur zwei Bestimmungen sind von der nationalen Richtervereinigung positiv bewertet worden, und zwar die Neuordnung der Ge- richtsbezirke und die Einführung einer zeitlichen Begrenzung für Führungsaufgaben. Für den ganzen Rest gilt – so die Auffassung der nationalen Richtervereinigung in einer Mitteilung vom 5. April 200251– dass "das von der Regierung vorgelegte Reformprojekt zur Gerichtsver- fassung ... das Gleichgewicht zwischen den Gewalten des Staates, wie es der Verfassungsge- setzgeber vorgezeichnet hat, zutiefst verändert".

Ein erstes Teilstück dieser Reform ist schon abschließend angenommen worden. Mit dem Gesetz Nr. 44 vom 28. März 2002 hat das Parlament die Zahl der Mitglieder des Obersten Rates der Richterschaft (des Selbstverwaltungsorgans der italienischen Richterschaft) von dreißig auf einundzwanzig vermindert und das System verändert, nach dem sie bestellt wer- den. Auch für diese Maßnahme gibt es der Nationalen Richtervereinigung zufolge "keinerlei rationale Rechtfertigung"52: Diese überparteiliche Vereinigung, die mehr als zwei Drittel der

47 Castelli, R.: Intervento del Ministro della Giustizia Sen. Roberto Castelli (FN 1), S.2; Travaglio, M.: Dieci mesi di regime (FN 27), S.217. 48 Castelli, R.: Intervento del Ministro della Giustizia Sen. Roberto Castelli (FN 1), S.2. 49 Castelli, R.: Il programma per la giustizia del Ministro Castelli (FN 14), S.7f. 50 Borrelli, F.S.: Relazione del Procuratore Generale, Francesco Saverio Borrelli (FN 8), S.3. 51 Associazione Nazionale Magistrati: Per la difesa dell'indipendenza della magistratura e del ruolo del Csm (Für eine Verteidigung der Unabhängigkeit der Richterschaft und der Rolle ihres Obersten Rates), 2002. Online auf Homepage http://www.associazionemagistra ti.it/documenti/gec/attuale/gec05_04_02.htm. 52 Ebd. 166 italienischen Richter und Staatsanwälte vertritt, befürchtet nämlich, dass das neue Gesetz die Erfüllung der vielfältigen Aufgaben behindert, welche die Verfassung dem Obersten Rat der Richterschaft zugewiesen hat, und es so schwieriger wird, wirksam für den Schutz der Selbst- ständigkeit und Unabhängigkeit der Richterschaft zu arbeiten. Nach dem neuen Wahlsystem darf es keine Listen und Strömungen mehr geben, und damit wird gegenstandslos, was bisher Zusammenschlüsse von Richtern und weltanschauliche Gruppierungen unter ihnen zur Zu- sammensetzung des Selbstverwaltungsorgans beigetragen haben.

In diese Linie der Aushöhlung derjenigen Rolle des Obersten Rates der Richterschaft, die im geltendem Verfassungsrecht vorgezeichnet ist (Art. 105 Verf.), fügt sich das von der Regie- rung gewollte Ermächtigungsgesetz ein. Das Kennzeichnende an diesem Gesetzesvorschlag ist eine gesteigerte Bewertung des Kassationsgerichtshofs, der als Ersatz für den Obersten Rat der Richterschaft vorgesehen ist. Wie aus den neuen Bestimmungen zu ersehen, würde das Kassationsgericht faktisch im Laufe der Jahre zu einem weitgehend selbst über seine Zusam- mensetzung bestimmenden Gerichtsorgan, wobei als Kriterium im Wesentlichen die Kooptie- rung bei starker Einflussnahme der Exekutive dienen würde. Das Kassationsgericht hätte dann nicht nur die normale Aufgabe, abschließend als Richter in letzter Instanz jeden Prozess zu entscheiden, sondern bekäme auch die Macht, tief greifenden Einfluss zu nehmen auf den Gang der Laufbahn jedes einzelnen Richters und schon weit im Vorfeld die Führungspersön- lichkeiten einer zukünftigen Richterschaft zu bestimmen. Außerdem soll dem Obersten Rat der Richterschaft die Zuständigkeit für die Richterbildung ganz und gar entzogen und dem Kassationsgericht zugewiesen werden.

Diesem Plan, der eine Kontrolle der Richterschaft von oben wieder herstellen will und dabei dem Kassationsgericht eine Rolle von erdrückender Übermacht innerhalb der Richterschaft einräumt, ist sogleich mit der größten Festigkeit entgegengetreten worden, und zwar gerade innerhalb des Kassationsgerichtshofs. Eine sehr kritische Entschließung hierüber ist am 27. März 2002 von der Sektion der Nationalen Richtervereinigung an diesem höchsten Gericht einstimmig angenommen worden. 53

Die wundeste Stelle ist vielleicht die beabsichtigte Trennung der Funktionen der Richter von denen der Staatsanwälte. Diese Trennung soll nämlich nach so strengen und übertriebenen Regeln für die Unvereinbarkeit durchgeführt werden, dass in der Praxis schon eine wirkliche und eigentliche Spaltung der Laufbahnen abzusehen ist. Und das gibt vielen Beobachtern in ihren Zweifeln Recht, ob diese Entscheidung in Wirklichkeit nicht so sehr aus der befürchte- ten Nachgiebigkeit der Richter gegenüber den Staatsanwälten begründet sei, sondern aus der Absicht, die Staatsanwaltschaft an die Exekutive zu binden. 54 Das umso mehr, als die so ge- nannte Trennung der Funktionen begleitet werden soll von einer Absetzung der Gerichtspoli- zei von der Staatsanwaltschaft in Organisation und Tätigkeitsweise und von einer Aufstellung von Leitlinien, die Prioritäten in der Ausübung der Strafverfolgung festsetzen.

53 Ebd. 54 Associazione Nazionale Magistrati: Comunicato stampa (Presseerklärung), 2002. Online auf Homepage http://www.associazione magistrati.it/comunicati/attuale/19_04_02.htm 167

6. Die Reaktionen der Richterschaft und der öffentlichen Meinung

Leider achtet man immer weniger auf Themen – wie Transparenz im Wirtschaftsleben, Mafia- Verbrechen, Verknüpfungen zwischen Geschäftswelt und Politik, die Geldwäsche –, von de- nen das Niveau an Gesetzlichkeit, das ein Land hat, nicht so sehr dem Augenschein nach, sondern mehr innerlich bestimmt wird. Hier muss man einfach erinnern an die mittlerweile berühmten Äußerungen zum Thema Mafia, die der Minister für Öffentliche Arbeiten Pietro Lunardi getan hat. "Mafia und Camorra", so Lunardi, "hat es leider immer gegeben, und des- halb müssen wir mit dieser Tatsache leben. Wir führen unsere Großprojekte fort [insbesonde- re das Bauvorhaben der Mega-Brücke über die Meerenge von Messina], und wenn es dann Probleme mit der Camorra gibt, wird die in Gottes Namen jeder nach seiner eigenen Façon lösen."55

Ähnliche Erklärungen haben dazu geführt, dass die Richterschaft ihre Reihen gegen die Re- gierung fester geschlossen hat – und sie haben einen Teil der öffentlichen Meinung mobili- siert, wie das massenhafte Aufkommen an großen und kleinen Protestkundgebungen zeigt.

Am 29. November 2001 wurde von allen Richtern und Staatsanwälten eine symbolische Ar- beitspause eingelegt: sie sind für fünfzehn Minuten zusammengekommen, um gegen die stän- digen Angriffe auf ihre Selbstbestimmung und Unabhängigkeit zu protestieren. Anlässlich der Eröffnung des laufenden Gerichtsjahres haben Hunderte von Richtern und Staatsanwälten an allen Gerichtsstandorten bei den Feierlichkeiten die schwarze Robe getragen, um dadurch gegen die Angriffe und Reformen der Regierung zu protestieren, und haben den Vertretern der Exekutive Vorhaltungen gemacht. In seiner Ansprache zur Eröffnung – und gleichzeitig zu seinem eigenen Abschied – hat Generalstaatsanwalt Borrelli56 sogar (ein wenig außerhalb der Legalität!) die Italiener zum Widerstand aufgerufen: "Den Schäden, die ein gefährliches Abbröckeln des Volkswillens bringen kann, dem Untergang des staatsbürgerlichen Gewissens aus einem Verlust des Sinnes für das Recht, dieses letzten, äußersten Bollwerks von Moral und Sitte, muss die Allgemeinheit "widerstehen, widerstehen, widerstehen" wie damals an der Piavefront, hinter die nicht zurückgegangen werden konnte."

Trotz einer dreifachen Ermahnung des Staatspräsidenten Carlo Azeglio Ciampi haben mehr als 80 Prozent der italienischen Gerichtspersonen an dem von der Nationalen Richtervereini- gung am 20. Juni 2001 ausgerufenen Streik teilgenommen. 57 Ein so frontales Aufeinandertref- fen von Exekutivmacht und Judikative hatte es bis zur Stunde noch nie gegeben.

55 La Repubblica, 24.8.2001, S.8. 56 Borrelli, F.S.: Relazione del Procuratore Generale, Francesco Saverio Borrelli (FN 8), S.15. 57 Associazione Nazionale Magistrati: Il C.D.C. proclama lo stato di agitazione (Der Zentrale Lenkungsauss- chuss ruft den Agitationszustand aus). Presseerklärung vom 20. April, 2002- Online auf Homepage http://www.associa zionemagistrati.it/comunicati/attuale/20_04_02.htm; La Repubblica, 21.6.2002, S.1. 168 169

Italien auf dem Weg zur Föderalisierung

Rudolf Lill

Zu den Antriebskräften der Veränderungen, welche Italien seit einem Jahrzehnt durchlebt, gehören Postulate weiterer Regionalisierung oder gar Föderalisierung des Landes. Gemein- sam war und ist ihnen die Einsicht, dass der seit der Gründung des italienischen Nationalstaats bestehende und trotz der zögerlich erfolgten Einführung der Regionen gemäß Abschnitt V der Republikanischen Verfassung vom 1. Januar 1948 im Wesentlichen beibehaltene staatliche Zentralismus schlecht zu den ganz unterschiedlichen Situationen im Norden, in der Mitte und im Süden des Landes passt.

Am heftigsten hat die in den 1980er-Jahren unter Umberto Bossi als "Anti-Partei" aufgestan- dene Lega Nord gegen diesen Zentralismus polemisiert und Föderalisierung mit größerer Selbstständigkeit des Nordens, zeitweise sogar dessen Sezession gefordert. Die Lega bezeich- net den Föderalismus auch als concetto ricuperato, also als wieder- oder zurückgewonnenes Konzept.1 Überhaupt werden die Forderungen nach Verfassungsreform nicht selten mit histo- rischen Reminiszenzen verbunden: Schon der Name Lega erinnert an das antikaiserliche Bündnis der lombardischen Kommunen im 12./13. Jahrhundert. Der verbale Radikalismus Bossis provozierte noch heftigere (auf der Linken bis heute anhaltende) Reaktionen, aber sein Grundanliegen fand entweder Konsens oder wurde zumindest Grundlage eines bis heute an- dauernden Diskussionsprozesses. Höhepunkte darin stellten breit angelegte Studien der Fon- dazione Agnelli aus den Jahren 1994 und 1996 dar.

Zu den bisherigen Folgen des seitherigen Veränderungsprozesses2 gehört die Auflösung des Parteiengefüges, welches seit der Gründung der Republik (1946-1948) bestanden hatte. In der bis ca. 1990 von der Democrazia Cristiana bestimmten Mitte entstand ein Vakuum, in das einstweilen Silvio Berlusconi mit seiner bürgerlichen Sammelbewegung Forza Italia einge- treten ist. Inzwischen besteht ein Bipolarismus zweier, in sich jeweils heterogener Koalitio- nen, in denen auch über das Ausmaß nötiger oder wünschenswerter Regionalisierung und Föderalisierung unterschiedlich geurteilt wird. Bossis Lega fand Aufnahme zunächst in die erste Berlusconi-Koalition (Polo della libertà), aus welcher der Führer der Lega aber bald wieder ausbrach. Von 1996 an regierte fünf Jahre die Mitte-Links-Koalition (unter Romano Prodi, Massimo d'Alema und Giuliano Amato). Obwohl insgesamt mehr etatistisch gesinnt, tat sie 1997 einen ersten, noch recht begrenzten, 2001 einen zweiten, nun beträchtlichen Schritt zur Verfassungsreform. Im Mai 2001 ist Berlusconis Mitte-Rechts-Koalition (nun Ca- sa delle libertà) an die Regierung gekommen, mit dem Anspruch umfassender und darum noch weiter gehende Dezentralisierung einschließender Modernisierung Italiens.3 Bossi wurde Minister für Verwaltungsreform und Dezentralisierung. Die von der Vorgängerregierung ini- tiierte föderale Verfassungsreform ist im November 2001 in Kraft getreten. Anfang Dezember 2002 hat der Senat ein weiteres Verfassungsgesetz verabschiedet, welches den Regionen Ge- setzgebungskompetenzen in den Bereichen Schule, Gesundheit und Polizei überträgt.

1 Vgl. z.B. Roberto Marraccini, in: La Padania, Januar 2002. 2 Lill, Rudolf in: Wolfgang Altgeld (Hrsg.), Kleine Italienische Geschichte, Stuttgart 2002, S.434f., 474-484. Für die Anfänge dieses Veränderungsprozesses siehe auch: Petersen, Jens: Quo vadis Italia? Ein Staat in der Krise, München 1995 (mit Unterschätzung der Beharrungs- und Kohäsionskräfte in der italienischen Ge- sellschaft). 3 Vgl. die einigermaßen positive, der penetranten Kritik von Links widersprechende Bilanz des ersten Regie- rungsjahres von Fischer, Heinz-Joachim: Geduld mit Berlusconi, in: FAZ, 2.4.2002. 170

1. Historischer Rückblick

Zum besseren Verständnis der Föderalisierungsschritte und deren Rezeption muss kurz auf die historische Entwicklung eingegangen werden, wobei drei Komplexe bzw. Perioden rich- tungsweisend waren: - Die lunga durata der italienischen Geschichte, welche nicht nur in der Zeit der freien Kommunen (13./14. Jahrhundert), sondern auch seit der Herausbildung moderner Staat- lichkeit im 15. Jahrhundert regionalistisch geprägt war, zeigt bereits gelegentliche föde- rale Ansätze (Lega Italica von 1454). Der moderne Staat hat vier Jahrhunderte lang in Ita- lien (ähnlich wie in Deutschland!) als Regionalstaat existiert. Auch die für ganz Europa beispielhaft gewordene italienische Kultur der Renaissance, die zugleich in Nord- und Mittelitalien eine relative staatlich-politische Modernität mit weit gehender Integration von Adel und Bürgertum begründete, hat sich in regionaler Vielfalt entwickelt: mit den Hauptzentren Florenz, Venedig, Mailand und Rom (sowie zeitweise Neapel4) und mit kleineren Zentren wie Mantua, Ferrara, Modena. Gleichartige Modernität, welche das da- malige Italien durchaus als einen spazio politico erscheinen lässt5, verband sich also mit staatlichem Pluralismus.

Aus der lunga durata ergibt sich auch die Unterschiedlichkeit politischer Mentalitäten: Im Norden und in der nördlichen Mitte Italiens – so in allen Regionen, welche bis 1860, 1866 oder 1918 in der einen oder anderen Weise mit Österreich verbunden waren – denkt und handelt man eigenständiger und selbstverantwortlicher als von Rom aus nach Süden, wo der Paternalismus der Päpste oder der Absolutismus spanischer oder bourbonischer Köni- ge keine politische Partizipation aufkommen ließ.

- Das Risorgimento hat, durch Französische Revolution und napoleonische Reformen er- möglicht, diesen säkularen Pluralismus überwunden und mit französischer Hilfe 1860/61 den eigentlich nur von einer schmalen bürgerlichen Elite getragenen Nationalstaat ge- schaffen. Das Risorgimento6 hatte auch Personen wie Vincenzo Gioberti oder Carlo Cat- taneo umfasst, welche unter Berufung auf die lunga durata einen italienischen Staaten- bund oder Bundesstaat wünschten7; aber durchgesetzt hat sich der auf der piemontesischen Staatstradition beruhende, diese freilich im liberalen Sinne modernisierende Unitarismus des Grafen Cavour 8 und seiner direkten Nachfolger. Frankreich war das Vorbild! Die Lin- ke um den die Nation pseudoreligiös überhöhenden Giuseppe Mazzini9 hat unitarisch-na-

4 Neapel und der Süden gingen i.a. ganz andere Wege, die durch Absolutismus und Feudalismus geprägt waren. Aus dieser Rückständigkeit ist letztlich das Mezzogiorno-Problem erwachsen. Vgl. die klassische Darstellung von Croce, Benedetto: Storia del Regno di Napoli, Bari 1925. 5 Galasso, Giuseppe: L'Italia come problema storiografico (Einführungsband zu der von Giuseppe Galasso herausgegebenen Storia d'Italia), Turin 1979, Nachdruck 1996; Lill, R. in: Wolfgang Altgeld (Hrsg.), Kle i- ne Italienische Geschichte, Stuttgart 2002, S.123-174. 6 Altgeld, W. (Hrsg.): Kleine Italienische Geschichte, S.257-324; Lill, Rudolf: Geschichte Italiens in der Neuzeit, 4. Aufl., Darmstadt 1988, Kap.IV. Beste neue Gesamtdarstellung: Candeloro, Giorgio: Storia dell'Italia moderna, Bände 2-5, Mailand 1958-1968. 7 Valsecchi, Franco: L'Italia nel Risorgimento: dal 1789 al 1870, Mailand 1964; über Gioberti und seinen "Neoguelfismus" (Idee eines Staatenbundes unter Vorsitz des Papstes) siehe Herde, Peter: Guelfen und Ne- oguelfen. Zur Geschichte einer nationalen Ideologie vom Mittelalter zum Risorgimento, Stuttgart 1986; ü- ber Cattaneo und seinen lombardisch geprägten Föderalismus siehe Gernert, Angelica: Liberalismus als Handlungskonzept. Studien zur Rolle der politischen Presse im italienischen Risorgimento vor 1848, Stutt- gart 1990. 8 Beste Gesamtdarstellung: Romeo, Rosario: Cavour e il suo tempo, 4 Bände, Rom/Bari 1969/1984. 9 Morelli, Emilia: Giuseppe Mazzini. Quasi una biografia, Rom 1984. 171

tionalistische Elemente eingebracht, welche seit 1880 von einer neuen Rechten adaptiert worden sind und in Nationalismus und Faschismus geführt haben.

- Die Widerstände gegen den neuen Staat, die vor allem von Konservativen gekommen sind und wegen der 1870 erfolgten Annexion Roms in den langen, hier nicht zu behandelnden Konflikt mit dem Papsttum geführt haben, konnten erst durch Mussolinis Conciliazione (1929) beigelegt werden. Weniger bekannt ist eine zweite innere Spaltung, welche zwar nicht so lange angedauert hat, aber ein Jahrzehnt lang umso heftiger war: Gegen die vom Norden aufgezwungene Einigung und für die Restituierung des bourbonischen Königtums erhoben sich nämlich alsbald nach 1861 die Unterschichten des Südens. Sie wurden von der neuen Führungsschicht als "Briganten" diffamiert. Die Armee des neuen Staates führte die Repression durch, in deren Verlauf mehr Menschen getötet worden sind als in den vo- rausgegangenen Kriegen gegen Österreich. Der Gegensatz zwischen Norden und Süden ist damals aktualisiert, das Mezzogiorno-Problem im engeren Sinne also durch den National- staat erst geschaffen worden. 10

2. Zentralistischer Nationalstaat (seit 1861) und erste Regionalisierungsschritte (seit 1948)

Vier Generationen von Italienern haben sodann den Staat nur als zentralistischen National- staat erlebt11, der oft bürgerfern agierte. Die Diskrepanz zwischen paese legale und paese reale ist oft beklagt worden. Nicht nur die Einzelstaaten waren aufgehoben worden, sondern auch die Kommunen wurden ganz dem Staat unterstellt – und die wenigen Eigenständigkeiten, die der liberale Staat ihnen belassen hatte, nahm ihnen der Faschismus. Zweifellos hat der Natio- nalstaat vielfach modernisierend gewirkt, aber er tat alles, um regionale Identitäten zu ver- drängen, gerade auch über die Schule.

Stärkste Träger der Zentralstaatsidee waren in Italien der bis 1922 regierende bürgerliche Na- tionalliberalismus, dann der ihn ablösende Faschismus, seit Ende des 19. Jahrhunderts auch der erstarkende Sozialismus. Der politische Katholizismus passte sich an, hat aber das Postu- lat regionaler Autonomien nie ganz aufgegeben. Auch die norditalienischen Eliten sind in die nationale Staatskonzeption hinein gewachsen, teils auf Grund ihrer wirtschaftlichen Interessen an einem nationalen Markt, teils auf Grund spezifisch italo-katholischer Traditionen im Sinne Rosminis und Manzonis.12 Spätfolgen davon sind, dass die neue Lega-Bewegung ihre Anhän- ger nicht unter Intellektuellen, sondern vorwiegend in den Unterschichten und im aufsteigen- den Mittelstand fand und findet.

Die Gründungsparteien der Republik (1946; Democrazia Cristiana und Liberale auf der einen, Sozialisten und Kommunisten auf der anderen Seite) waren sich einig im Willen zur Über- windung des Faschismus und zur Begründung der Demokratie. Daraus ergaben sich in der Verfassungsgebenden Versammlung (1946-1948) auch Konsequenzen für die Staatsstruktur, die zwar als solche erhalten, deren vom Faschismus übersteigerter Zentralismus aber abge-

10 Siehe dazu jetzt Rossani, Ottavio: Stato, società e briganti nel Risorgimento italiano, Mailand 2002. 11 Also anders als in Deutschland, wo ein eingeschränkter Föderalismus erhalten blieb. Vgl. zur konträren Entwicklung Italiens Ghisalberti, Carlo: Storia costituzionale d'Italia 1849-1948, Bari 1974. 12 Zur politisch-gesellschaftlichen Dimension der Werke des Dichters Alessandro Manzoni und des reformis- tischen Theologen und Philosophen Antonio Rosmini siehe Hardt, Manfred: Geschichte der italienischen Literatur, Düsseldorf/Zürich 1996, S.553-568; Menke, Karl-Heinz (Hrsg.): Brückenbauer zwischen Kirche und Gesellschaft. Symposion aus Anlass des 200. Geburtstages von Antonio Rosmini, Innsbruck 1999. 172 schwächt werden sollte. Entschiedenster Befürworter von Autonomien war der "Gründungs- vater" Alcide De Gasperi, der dabei bewusst auf seine altösterreichisch-trentinischen Traditi- onen zurückgriff. Mit Recht sah er in der Autonomie einen Prozess. In der Konstituante sprach er die Hoffnung aus, dass auf Dauer die Autonomien besser funktionieren würden als der römische Zentralismus.13

Zukunftsweisend wurden die Grundprinzipien der Verfassung von 1948 (Art. 1-12) sowie deren fünfter Abschnitt über Regionen, Provinzen und Gemeinden (Art. 114-133). In den Grundprinzipien betonte zwar Art. 5 die Einheit und Unteilbarkeit der Republik und liefert damit die Formel, auf die sich Zentralisten von links und rechts bis heute gern berufen, ver- pflichtet aber zugleich die Republik zur Förderung lokaler Autonomien und zu administrativer Dezentralisierung. Art. 6 garantiert den Schutz der sprachlichen Minderheiten. Der ausführli- che fünfte Abschnitt der Verfassung bestimmt sodann die für den italienischen Nationalstaat ganz neue Regionalisierung. Art. 115 erklärt die Regionen zu autonomen Körperschaften. Art. 116 bestimmte für Sizilien, Sardinien, Trentino/Alto Adige (Südtirol), Friaul/Julisch Venetien und Aosta-Tal besondere (d.h. recht weit gehende) Formen und Bedingungen der Autonomie, welche in besonderen Statuten mit Verfassungsrang zu umschreiben sind; vier entsprechende Statute ergingen 1947/48.14 Die Region Friaul-Julisch Venetien wurde erst 1963 errichtet. In den Art. 117-130 der Verfassung werden die Kompetenzen und Organe der Regionen und ihr Verhältnis zu Provinzen und Kommunen umschrieben. Die Zuständigkeit der Regionen er- streckt sich danach im Wesentlichen auf folgende Bereiche: Gemeindeabgrenzungen, Ortspo- lizei, Messen und Märkte, Wohlfahrts- und Gesundheitspflege, Handwerks- und Berufs- schulwesen, örtliche Museen und Bibliotheken, Städtebau, Fremdenverkehr und Hotelwesen, Straßenbau und Verkehrswesen von regionalem Interesse, Land- und Forstwirtschaft, Hand- werk. Art. 131 bestimmt, dass neben den fünf Regionen mit Sonderstatut 15 weitere mit Nor- malstatut (d.h. nur mit den soeben aufgeführten Kompetenzen) zu errichten sind.

Die Regionalisierung von oben (d.h. durch Gesetze des Zentralstaates) ist dann aber ver- schleppt worden, weil die DC nicht auf der Linie De Gasperis geblieben ist. In Rom 1948 zur Macht gelangt, wollte sowohl sie wie die starke und weiterhin das ganze Land überziehende Bürokratie jede Minderung dieser Macht verhindern, auch, weil man fürchtete, dass in etli- chen Regionen rote Gegenregierungen entstehen würden. Einen umgekehrten Kurswechsel vollzogen dagegen die traditionell mehr zentralistisch eingestellt gewesenen Linksparteien, welche bei den ersten Regionalwahlen im Jahre 1970 im "roten Gürtel" (Emilia-Romagna, Toskana, Umbrien) satte Mehrheiten erzielten und über zwei Jahrzehnte lang gehalten haben.

Die 15 Regionen mit Normalstatut konnten erst auf Grund der lange umstrittenen, besonders von der Rechten bekämpften Gesetze über die Wahl der Regionalräte (1968) und die Finan- zierung der Regionen (1970) ins Leben treten. 1975 und 1977 erhielten sie endlich die ihnen

13 Valiani, Leo: L'Italia di De Gasperi (1945-1954), Florenz 1982. Di Nolfo, Ennio: Von Mussolini zu De Gasperi. Italien zwischen Angst und Hoffnung 1943-1953, Paderborn 1993; Lill, R.: Geschichte Italiens, Kap. VIII u. IX; Lill, R. in: Wolfgang Altgeld (Hrsg.), Kleine Italienische Geschichte, Stuttgart 2002, S.431f., 436-451. 14 Verwiesen sei hier nur auf das am 31. Januar 1948 verabschiedete Regionalstatut für das Trentino und Süd- tirol, welches den Provinzen Trient und Bozen eine einstweilen freilich noch sehr begrenzte Autonomie zu- gestand. Eine Autonomie, welche diesen Namen verdient, erhielten die beiden Provinzen erst nach langen Auseinandersetzungen in einem zweiten Statut vom 20. Januar 1972, welches die Grundlage für die seithe- rige positive Entwicklung in Südtirol bildet. Immerhin war Südtirol schon 1945-1948 die deutsche Schule und die Gleichberechtigung der deutschen mit der italienischen Sprache konzediert worden. Südtirols Auto- nomie (Texte von Lukas Bonell und Ivo Winkler), hrsg. von der Südtiroler Landesregierung, Bozen, 6. Aufl. 2000. Lill, Rudolf: Südtirol in der Zeit des Nationalismus, Konstanz 2002, Kap. X-XIV. 173 von der Verfassung zugedachten gesetzgeberischen Befugnisse. Damit wurde in den genann- ten Bereichen eigenständiges Handeln ermöglicht. Doch den Regionen fehlten eigentlich po- litische Kompetenzen und Finanzhoheit, auch haben sie keine Kulturhoheit. Der Gesamtstaat allein blieb zuständig für das öffentliche Universitäts- und Schulwesen, seit den 1970er- Jahren wurde immerhin die Gründung "freier" Universitäten zugelassen.

Es erfolgte also eine Dezentralisierung, aber keine Föderalisierung. Nur in drei der fünf Regi- onen mit Sonderstatut begann eine ebenso eigenständige wie positive Entwicklung, welche zunehmenden Konsens gefunden hat. In Sizilien dagegen sind Mafia und Klientelismus in die Organe der Region eingedrungen, in Sardinien regen sich erst neuerdings reformistische Kräfte.

Die Dezentralisierung bedeutete jedoch insgesamt keine ausreichende Reaktion auf die tief gehenden Veränderungen, welche sich im Norden Italiens seit drei Jahrzehnten kontinuierlich vollzogen. Die überaus dynamische Wirtschaft der Lombardei trat seit den 1970er-Jahren in einen bis heute andauernden Wachstums- und Europäisierungsprozess ein und spürte darüber immer deutlicher die Begrenzungen, denen sie durch die nur auf den eigenen Staat ausge- richtete und schwerfällig bleibende römische Bürokratie ausgesetzt war. Aus einer Gesell- schaft von wenigen Großunternehmern, die sich bestens mit dem Staat verstanden, und sehr vielen Arbeitern, die fest zu den Linksparteien hielten, wurde eine Gesellschaft von sehr vie- len kleinen und mittleren Unternehmern (dazu von Rentnern). Mit einiger Verzögerung er- folgten entsprechende Veränderungen im Veneto und in Friaul und ebenso in einigen Regio- nen Mittelitaliens: Emilia-Romagna, Marken, zum Teil auch Apulien.

3. Die Gründung der Lega Nord und ihre Forderungen

In den modernisierten und äußerst produktiven Regionen des Landes (sie gehören inzwischen zu den reichsten Europas!) nahm seitdem nicht nur die stets vorhanden gewesene Abneigung gegen den römischen Zentralismus als solchen zu. Vielmehr setzte sich mehr und mehr der Eindruck durch, dass der Zentralstaat, der seit den 1970er-Jahren (compromesso storico mit der Kommunistischen Partei) trotz DC-Führung einen insgesamt mehr sozialdemokratischen Grundzug staatlicher Umverteilungs- und Subventionspolitik angenommen hatte, die Res- sourcen des Nordens einnahm, unter seinen Klientelen verteilte und insbesondere in den Sü- den investierte, welch letzterer trotzdem statisch und rückständig geblieben ist.

Aus dieser Gesamtlage heraus, jedoch eben auch unter Rekurs auf subkutane lombardische Traditionen selbstverantworteter Leistung (wie sie z.B. wie kaum ein zweiter jener Mailänder Erzbischof des späteren 16. Jahrhunderts, Karl Borromäus, verkörpert hatte, der keineswegs nur ein Kirchenreformer war) ist, wie eingangs erwähnt, die Lega erwachsen. 15 Ihr gegenüber haben es sich auch hier zu Lande viele Kritiker, befangen in den linksliberalen Maximen "po- litischer Korrektheit", viel zu leicht gemacht.

Doch die Lega ist nicht, wie ihr immer wieder vorgeworfen wird, prinzipiell rassistisch. Sie verstand sich primär als Interessenvertretung des neuen Mittelstandes der Lombardei und des Veneto; als Interessenvertretung einer Bevölkerung, die sich durch die oft ineffektive, dabei weitgehend meridionalisierte Bürokratie des Zentralstaats und durch den durch sie genährten Klientelismus doppelt beschädigt, ja ausgebeutet fühlt und die auch nicht mehr hinnehmen

15 Diamanti, Ilvo: La Lega. Geografia, storia e sociologia di un nuovo soggetto politico, Rom 1995. Ders.: Il male del Nord. Lega, localismo, secessione, Rom 1996. 174 will, dass die meisten Staatsbeamten und Lehrer aus dem Süden stammen16 und dass Letztere z.B. meist kein Verständnis für sprachliche und kulturelle Eigenständigkeiten des Nordens aufbringen. Man reagierte mit einer in Jahrzehnten aufgestauten Verbitterung. Antistatalis- mus, Wirtschaftsliberalismus mit mittelständischen, auch populistischen Postulaten, dazu Pragmatismus erreichten schnell anwachsenden Konsens.

Aber im Gegensatz zu den deutschen Republikanern oder der NPD und dem französischen Front National hat die Lega nur wenig mit der traditionellen, nationalistisch motivierten Rechten gemeinsam. Im Gegensatz zu ihr fordert sie, wie eingangs gesagt, die bundesstaatli- che Umgestaltung Italiens nach deutschem oder belgischem Vorbild und erklärt den Födera- lismus zum Grundkonzept einer bürgernahen Umgestaltung Italiens und Europas (dessen Brüsseler Bürokratie sie besonders heftig attackiert).

Bis 1994/95 hat Umberto Bossi dabei durch seinen Radikalismus alles getan, um sowohl die Moderati wie alle Nationalisten rechter und linker Couleur gegen sich aufzubringen. Aber in Ansehung der tatsächlichen Verhältnisse und wegen der Herausforderungen durch die Lega haben sich binnen weniger Jahre auch die anderen politischen Kräfte Norditaliens die Forde- rungen nach Neuverteilung staatlicher Kompetenzen mehr oder weniger zu Eigen gemacht. Regionen wie die Lombardei oder die Emilia-Romagna suchten oder vertieften die inzwi- schen auch institutionalisierte Zusammenarbeit mit deutschen Bundesländern, auch mit Schweizer Kantonen. Ähnliches geschah und geschieht im Veneto und in Friaul: dort mit konkreter Ausrichtung auf Österreich, Bayern und Slowenien.

Der neue Regionalismus überschreitet also bewusst die nationalen Grenzen und wirkt dadurch für die Wiederherstellung alter, durch die nationalen Grenzziehungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts unterbrochenen Gemeinsamkeiten. Berlusconis Forza Italia tat sich damit be- sonders leicht, weil sie schon durch ihr Führungspersonal und durch dessen zupackenden, weithin der Wirtschaft entnommenen Politikstil den Norden verkörpert – so sehr, dass sie sich um dessen institutionalisierte Emanzipation weniger kümmern muss als andere. Ihre Effizienz führte ihr auch manche Leghisten zu. Den größten Zulauf erhielt sie freilich aus den pragma- tisch-moderaten Mittelschichten der früheren Democrazia Cristiana, in denen man mehr nati- onalstaatlich denkt.

4. Föderalisierungskonzepte seit 1995

Ein erster Anlauf zur Regierungsmacht war Berlusconi und seiner schnell gezimmerten Mitte- Rechts-Koalition 1994 nur für ein halbes Jahr gelungen. Denn noch waren die Divergenzen zwischen seiner Forza Italia und der post-neofaschistischen Alleanza Nazionale einerseits und der Lega andererseits noch nicht genügend abgeklärt. Auch gelang den politisierenden Mai- länder Staatsanwälten (welche die bekannten Prozesse gegen korrupte oder der Korruption verdächtigte Politiker inszenierten) eine zeitlich geschickt platzierte Diskreditierung des neu- en Ministerpräsidenten. Doch zwischen 1995 und 2001 vermochte Berlusconi, aus der Oppo- sition heraus seine Koalition wieder zusammen zu führen, dann zusammen zu halten und auf sich zu zentrieren.

Über das Tabu der Zusammenarbeit mit den früheren Neofaschisten setzte er sich definitiv

16 In den Unterschichten und den unteren Mittelschichten hatten viele seit den 1870er-Jahren und dann konse- quent den einzigen realen Vorteil genutzt, den ihnen der Nationalstaat bot: den Eintritt in die unteren und mittlerenRänge seiner Bürokratie. 175 hinweg, nachdem deren Führer Gianfranco Fini sich 1995 zur Demokratie und zu Europa be- kannt hatte und als frühere Kommunisten, die ja eine vergleichbare Konversion zu vollziehen hatten, bereits in der Regierung saßen (seit 1996). Fini machte auch erhebliche Abstriche vom früheren Zentralismus seiner Partei und bestand wegen der Machtverteilung nur darauf, dass der Staat seine Kompetenzen für die Außen- und Verteidigungspolitik, für Justiz und Sicher- heit sowie für die finanzielle Gesamtplanung behielt. Davon abgesehen, wurde der Lega zu- gesagt, dass die Bürger in den Regionen über weitere föderale Rechte abstimmen sollen und dass demgemäß eine devoluzione von Kompetenzen vom Staat an die Regionen erfolgen soll, unter der Bedingung jedoch, dass die Nation als politische und kulturelle Einheit anerkannt werde. Bossi hat sich auf diese Bedingung und überhaupt auf maßvolleres Vorgehen eingelas- sen. Die Radikalen in seiner Bewegung haben ihn darum bei der Wahl im Mai 2001 im Stich gelassen, sodass die Lega numerisch geschwächt in die neue Regierung kam. Doch Bossi wurde Minister für Verwaltungsreformen und für die devoluzione, zwei weitere Leghisten, Roberto Castelli und , wurden Minister für Justiz bzw. für Arbeit- und Sozial- politik.

Die seit 1996 regierende Mitte-Links-Koalition hatte zwar bereits zugesagte Autonomien, so im Falle Südtirols17, strikt respektiert, aber darüber hinaus das föderalistische Anliegen nur partiell rezipiert: zunächst durch die Legge Bassanini (Nr. 59, 15. März 1997). Wie schwer man sich, in zentralstaatlicher Mentalität verharrend, mit der Herausforderung tat, zeigt schon der komplizierte Titel "Delega del governo per il conferimento di funzioni e compiti alle Re- gioni ed Enti locali per la riforma della pubblica amministrazione e per la semplificazione amministrativa" (Ermächtigung der Regierung zur Übertragung von Funktionen und Aufga- ben an die Regionen und Lokalkörperschaften, zur Reform und Vereinfachung der öffentli- chen Verwaltung). Dies konnte den inzwischen immer zahlreicher gewordenen Befürwortern einer wirklichen Föderalisierung nicht genügen. Auch die römischen Versuche, institutionelle Zusammenarbeiten zwischen Südtirol und Trentino einerseits und dem österreichischen Bun- desland Tirol (so die Eröffnung eines gemeinsamen Büros in Brüssel) zu verhindern, waren eher Rückzugsgefechte.

Besonders die nördlichen Regionen (darunter als Vorreiterin die Regione Lombardia unter ihrem von der DC zu Berlusconi übergegangenen Präsidenten Roberto Formigoni) forderten mehr: mit der Zeit die ausschließliche Zuständigkeit für Wirtschaft, Schule und Gesundheit, dazu die von Rom stets verweigerte finanzielle Autonomie. Berlusconi hat ihnen dieses mehr oder weniger zugesagt und außerdem nicht ohne Erfolg vielen süditalienischen Politikern klar zu machen versucht, dass auch ihre Regionen von solchen Kompetenzübertragungen und ü- berhaupt von seiner liberal orientierten Wirtschaftspolitik profitieren würden.

Die regierende Koalition hatte sich daraufhin das Föderalismus-Thema weiter als zuvor ange- eignet. Auf ihren Vorschlag stimmte zunächst die Kammer, dann auch der Senat am 8. März 2001 einer Verfassungsänderung zu: Modifiche al titolo V. della parte seconda della Costitu- zione, welche aber, weil sie nicht die Zweidrittelmehrheit erhielt, einer Volksbefragung vor- gelegt werden musste. Konkret wurden die Artikel 114, 116-120, 123 und 127 der Verfassung im Sinne weiterer, auch legislatorischer Mitwirkung von Regionen und nun auch Kommunen geändert. Dabei erhielten die Regionen z.B. das Recht konkurrierender Gesetzgebung selbst für Außen- und Europapolitik, freilich nur im Rahmen ihrer Sachkompetenzen, zu denen nunmehr erweiterte Bereiche der Gesundheits-, Kultur- und Wirtschaftspolitik gehören. Regi- onale Gesetze müssen nur mehr im Einklang mit der Verfassung und den internationalen Ver- pflichtungen Italiens stehen, nicht mehr wie zuvor mit konkreten staatlichen Gesetzen. Auch

17 Vgl. Lill, R.: Südtirol, Kap.XIV. 176 unterliegen sie nicht mehr vorheriger Kontrolle durch die Staatsregierung. Letztere kann sie nur nachträglich beim obersten Verfassungsgericht anfechten, und dasselbe Recht erhalten die Regionen bezüglich der Staatsgesetze. Aus früherer Unterordnung der Regionen wurde also eine partielle Gleichstellung mit dem Zentralstaat, auch die Kommunen erhielten erhebliche autonome Rechte.

Die Mitte-Rechts-Koalition versprach noch mehr. Als ihr Sprecher ist wiederum, nach offen- bar nicht leicht zu Stande gekommenen Absprachen mit Berlusconi und Bossi, der lombardi- sche Präsident Formigoni aufgetreten, welcher einen konkreten institutionellen und fiskalen Föderalismus forderte und im Zusammenhang damit wieder generell die devoluzione, durch welche das Prinzip der Subsidiarität (nun mit direktem Hinweis auf entsprechende Gebote der Europäischen Union) voll verwirklicht werden soll. Für die Regionen wurden nun auch eigene Polizei- und Sicherheitskräfte gefordert. Der Lombardei schlossen sich das Veneto (unter sei- nem ebenfalls vorwärts drängenden Präsidenten ) und Piemont an sowie eini- ge Regionen Mittel- und Süditaliens. Manche gaben sich sogar neue Statute.

Doch zunächst einmal wurde von der Regierung Berlusconi das Gesetz vom März 2001 nach Volksabstimmung im November 2001 in Kraft gesetzt. Immerhin geht es so weit, dass man in Südtirol und im Trentino geradezu von einem dritten Autonomiestatut spricht (der deutsche Name Südtirol wurde erstmals in die italienische Verfassung aufgenommen).

In der Regierung Berlusconi drängen vor allem die Minister aus der Lega auf die volle Ver- wirklichung der vor der Wahl gegebenen Versprechungen. Ihre Position hat sich insofern ver- bessert, als Bossi mit dem ja früher zentralistisch gesinnten Fini in einer weiteren drängend gewordenen innenpolitischen Frage übereinstimmt: Beide fordern strengere Regeln für die in Italien lebenden Ausländer aus Nicht-EU-Ländern, wobei allerdings alle diejenigen Illegalen, die seit längerer Zeit im Lande arbeiten, legalisiert werden sollen. Was die Devolution angeht, besteht Bossi zunächst auf den schon erwähnten Zuständigkeiten der Regionen für Gesund- heit, Schule und Sicherheit. Darüber hinaus fordert er die Beteiligung der Regionen an der Wahl der obersten Verfassungsrichter und an der Leitung des staatlichen Rundfunks und Fernsehens (RAI) sowie die Umwandlung des Senats, d.h. der Zweiten Kammer des Parla- ments, in einen "Bundesrat". Dem hat sich sogar der der Forza Italia angehörende Senatsprä- sident Marcello Pera vorsichtig angeschlossen, jedoch vorgeschlagen, die weitere Föderalisie- rung in einer auch für die nun oppositionelle Mitte-Links-Koalition annehmbaren Weise, also überparteilich anzustreben. Bremsend wirkte zuletzt der mächtige Finanzminister Giulio Tre- monti (ebenfalls Forza Italia), indem er den Regionen zu große, gesetzlich nicht gedeckte Ausgaben vorenthält. Aber Bossi und die Lega haben sich nicht beirren lassen und für den Fall weiterer Verzögerung mit dem Austritt aus der Regierung gedroht. Den könnte diese zwar numerisch überstehen, aber Berlusconi will seine Koalition ungeschmälert erhalten, um auf möglichst breiter Grundlage die ihm vorschwebende Modernisierung der staatlichen Strukturen durchzuführen. Dabei verfolgt er zwei Hauptziele: einerseits die Stärkung der Staatsspitze durch ein Präsidentialsystem nach französischem Muster (und möglichst mit Berlusconi selbst als Staatspräsidenten neuer Art), aber andererseits die devoluzione im Sinne Formigonis und Bossis. Deshalb hat die Regierungskoalition sich Bossis Devolutionsprojekt zu Eigen gemacht und, wie eingangs bemerkt, im Senat durchgebracht, nach heftiger Diskus- sion und gegen die Stimmen der linken Mitte und der Linken. 18 Am weitesten sollten die neu- en Zuständigkeiten der Regionen in der Gesundheitspolitik gehen, die ihnen praktisch allein zufällt. Bezüglich der Schulen übernehmen die Regionen die gesamte Organisation, in die Programme, welche weiterhin hauptsächlich in Rom aufgestellt werden, können sie regional-

18 Kritische Würdigung: Romano, Sergio, in: Corriere della Sera, 7.12.2002. 177 spezifische Anteile einbringen. Die bisherigen Ortspolizeien werden zu einer Regionalpolizei vereinigt, welche v.a. kleinere Delikte verfolgen und zusammen mit den Ordnungskräften des Staates (Carabinieri, Polizia di Stato) die öffentliche Ordnung garantieren soll.

5. Ausblick

So ist in den letzten drei Jahren an die Stelle der Dezentralisierung das Konzept eines zumin- dest partiellen, durch Verfassungsgesetze festgeschriebenen Föderalismus getreten. Es sieht so aus, als wäre ein irreversibler Prozess in Gang gekommen. Berlusconi tut zumindest so, als gehöre dessen weiterführender Abschluss zu den Prioritäten seiner Regierung. Der oft selbst- herrlich auftretende Ministerpräsident muss freilich noch lernen, dass Regionen und Kommu- nen nicht zu lenken sind wie Filialen eines Konzerns. Sonst wird er wohl noch weitere Nie- derlagen erleben wie im Mai 2002 in der eigentlich seiner Koalition gewogenen Stadt Verona, wo der von ihm für das Amt des Oberbürgermeisters aufoktroyierte Kandidat der Casa delle libertà durchfiel (allerdings nicht gegen einen Vertreter der Linken, sondern einen Anwalt, der ganz in der Tradition der früheren DC steht und sich als Cattolico democratico bezeichnet).

Doch damit sind wir wieder bei dem über unser Thema hinausgehenden, eingangs erwähnten Problem des noch nicht definitiv ausgefüllten Vakuums in der politischen Mitte Italiens, wel- ches in anderen Beiträgen dieser Publikation behandelt wird. Italien ist wieder einmal im Ü- bergang, dazu gehört eben auch der Abschied vom römischen Zentralismus. 178 179

Autorenverzeichnis

Febbrajo, Alberto, Prof. Dr. Rettorato dell' Università Statale di Macerata

Grassi, Mauro, Dr. phil. Politologe, Lehrbeauftragter an der Freien Universität Berlin

Gianfelici, Paolo, Dr. Associazione della stampa estera in Italia, Rom

Guarnieri, Carlo, Prof. Dr. Dipartimento di organizzazione e sistema politico, Universität Bologna

Höhne, Roland, Prof. Dr. Fachbereich Anglistik/Romanistik der Universität Gesamthochschule Kassel, Gastprofessur an der Université de Paris XII – Val de Marne

Iori, Francesco Journalist, "Il Gazzettino", Padua

Lill, Rudolf, Prof.(em.) Dr. Universität Karlsruhe

Masala, Carlo, Dr. Akademischer Rat, Forschungsinstitut für politische Wissenschaft und europäische Fragen, Universität zu Köln

Pallaver, Günther, Ao.Univ.-Prof. DDr. Institut für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck

Paoli, Letizia, Dr. Ph.D. Kriminologische Forschungsgruppe, Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Freiburg

Petersen, Jens, Prof. Dr. Deutsches Historisches Institut Rom

Possenti del Possente, Paolo, Prof. Dr. Deutschlandbeauftragter von "Forza Italia", Rom

Rauen, Birgid Fachjournalistin Medien, Florenz

Rill, Bernd Referent für Recht, Staat, Europäische Integration der Akademie für Politik und Zeitgesche- hen der Hanns-Seidel-Stiftung, München

Rusconi, Gian Enrico, Prof. Dr. Universität Turin 180

Verantwortlich: Dr. Reinhard C. Meier-Walser Leiter der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung

Herausgeber: Bernd Rill Referent für Recht, Staat, Europäische Integration der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung 181

"Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen" bisher erschienen:

Nr. 1 Berufsvorbereitende Programme für Studierende an deutschen Universitäten (vergriffen)

Nr. 2 Zukunft sichern: Teilhabegesellschaft durch Vermögensbildung (vergriffen)

Nr. 3 Start in die Zukunft – Das Future-Board (vergriffen)

Nr. 4 Die Bundeswehr – Grundlagen, Rollen, Aufgaben (vergriffen)

Nr. 5 "Stille Allianz"? Die deutsch-britischen Beziehungen im neuen Europa (vergriffen)

Nr. 6 Neue Herausforderungen für die Sicherheit Europas (vergriffen)

Nr. 7 Aspekte der Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union (vergriffen)

Nr. 8 Möglichkeiten und Wege der Zusammenarbeit der Museen in Mittel- und Osteuropa

Nr. 9 Sicherheit in Zentral- und Südasien – Determinanten eines Krisenherdes

Nr. 10 Die gestaltende Rolle der Frau im 21. Jahrhundert (vergriffen)

Nr. 11 Griechenland: Politik und Perspektiven

Nr. 12 Russland und der Westen (vergriffen)

Nr. 13 Die neue Familie: Familienleitbilder – Familienrealitäten (vergriffen)

Nr. 14 Kommunistische und postkommunistische Parteien in Osteuropa Ausgewählte Fallstudien (vergriffen)

Nr. 15 Doppelqualifikation: Berufsausbildung und Studienberechtigung Leistungsfähige in der beruflichen Erstausbildung

Nr. 16 Qualitätssteigerung im Bildungswesen: Innere Schulreform – Auftrag für Schulleitungen und Kollegien (vergriffen)

Nr. 17 Die Beziehungen der Volksrepublik China zu Westeuropa – Bilanz und Ausblick am Beginn des 21. Jahrhunderts (vergriffen)

Nr. 18 Auf der ewigen Suche nach dem Frieden – Neue und alte Bedingungen für die Friedenssicherung (vergriffen) 182

Nr. 19 Die islamischen Staaten und ihr Verhältnis zur westlichen Welt – Ausgewählte Aspekte (vergriffen)

Nr. 20 Die PDS: Zustand und Entwicklungsperspektiven (vergriffen)

Nr. 21 Deutschland und Frankreich: Gemeinsame Zukunftsfragen

Nr. 22 Bessere Justiz durch dreigliedrigen Justizaufbau? (vergriffen)

Nr. 23 Konservative Parteien in der Opposition – Ausgewählte Fallbeispiele

Nr. 24 Gesellschaftliche Herausforderungen aus westlicher und östlicher Perspektive – Ein deutsch-koreanischer Dialog

Nr. 25 Chinas Rolle in der Weltpolitik

Nr. 26 Lernmodelle der Zukunft am Beispiel der Medizin

Nr. 27 Grundrechte – Grundpflichten: eine untrennbare Verbindung

Nr. 28 Gegen Völkermord und Vertreibung – Die Überwindung des zwanzigs- ten Jahrhunderts

Nr. 29 Spanien und Europa

Nr. 30 Elternverantwortung und Generationenethik in einer freiheitlichen Gesellschaft

Nr. 31 Die Clinton-Präsidentschaft – ein Rückblick

Nr. 32 Alte und neue Deutsche? Staatsangehörigkeits- und Integrationspolitik auf dem Prüfstand

Nr. 33 Perspektiven zur Regelung des Internetversandhandels von Arzneimitteln

Nr. 34 Die Zukunft der NATO (vergriffen)

Nr. 35 Frankophonie - nationale und internationale Dimensionen

Nr. 36 Neue Wege in der Prävention

Nr. 37 Italien im Aufbruch – eine Zwischenbilanz