Unterwegs IM UNTERENGADIN

Beim Aufstieg zur Chamanna dal Linard eröffnet sich den Wanderern ein bezaubernder Ausblick auf die markanten Zacken der „Engadiner Dolomiten“ auf der anderen Seite des tief eingeschnittenen Inntals. Unten links: Rasch wälzen sich die türkisgrünen Fluten des an vorbei. Unten Mitte: mit Piz Lischana und Piz Pisoc. Rechte Seite oben: Schloss ist eine der eindrucksvollsten Burganlagen Graubündens. Mitte: Ein idyllischer Winkel in Sent. Unten: Guarda gilt als eines der attraktivsten Dörfer im Unterengadin.

26 DAV Panorama Wer vom spricht denkt im allgemeinen an

St. Moritz und seine Seen, träumt von und den

Gipfelriesen der Bernina. Das Unterengadin hingegen ist

ayer (S. 26 Mitte, S. 27 Mitte) ayer (S. 26 Mitte, S. 27 weit weniger bekannt und viel unspektakulärer als das

berühmte, mondäne Oberengadin. Genau diese Weltver-

gessenheit aber macht die Talschaft

zwischen Brail/ und Martina

so attraktiv und liebenswert.

Wo man sich mit „Allegra“

(„Freue dich“) begrüßt kann man

sich nur wohl fühlen.

Von GEORG HOHENESTER

Fotos: Herbert Blank (groß), Peter Donatsch (ganz oben, rechts klein), Rudi Lindner (2, unten und ganz links), Friedrich Stettm klein), Rudi Lindner (2, unten und ganz links), Friedrich (ganz oben, rechts Donatsch Herbert Blank (groß), Peter Fotos: Allegra UNTERENGADIN

ie Topografie des Unterengadin Kulturerlebnis Unterengadin ist schnell skizziert: Den größten Bereits die Römer fühlten sich im Unter- Teil zwischen Susch und Martina- engadin wohl.Ab 15 v.Chr.kolonisierten sie Vinadi an der Grenze zu Tirol bil- den Landstrich und nannten die hier leben- Ddet ein schmales Tal ohne nennenswerte den Stämme „Räter“.Daher rührt der Begriff Talsohle, in das sich der Inn teilweise „Rätoromanen“ und darauf geht letztlich schluchtartig eingeschnitten hat. Südlich auch die rätoromanische Sprache zurück, des „En“ stürzen zumeist stark bewaldete deren Dialekt „Vallader“ die Unterengadiner Bergflanken steil zum Fluss ab,während die sprechen.Er ist eines von fünf Idiomen des sonnseitigen, meist waldfreien und land- „Rumantsch Grischun“, der Schriftsprache wirtschaftlich genutzten Talhänge nördlich des Bündner Romanisch,und wird jeden ro- des Inn weniger steil und stärker abgestuft manophilen Besucher mit seiner Klangfülle sind.Die Berge darüber gehören zur Silvret- bezaubern. Als vierte Nationalsprache der ta und bestehen vorwiegend aus Urgestein, Schweiz ist Rätoromanisch obligatorisches während die Gipfelgruppen jenseits des Schulfach und hat sich im Unterengadin gut Talbodens hauptsächlich aus Dolomitge- behauptet. Trotzdem spricht jeder Einhei- stein aufgebaut sind – deshalb die Bezeich- mische heute auch deutsch, die für den nung „Engadiner Dolomiten“. Brot-erwerb wichtigere Sprache, sei es im

DAV Panorama 27 Unterwegs IM UNTERENGADIN

Über dem charakteristischen Engadiner Dorf thront die Ruine Steinsberg. Von aus startet die erste Etappe Gegenüber strahlen die Gipfel der Engadiner Dolomiten. des Panorama-Höhenwegs.

Touris-mus vor Ort oder „draußen“, so man „Panorama Engiadina Bassa“ Unterengadin auf dem „Unterengadiner in Chur oder Zürich arbeitet. – ein Paradies für Wanderer Panorama-Höhenweg“,die drei bis vier Tage Das Unterengadin unterscheidet sich von Von der Sonne und dem angenehmen Klima in Anspruch nimmt und von Lavin nach vielen anderen Alpentälern durch die großar- verwöhnt ist das Unterengadin ein paradie- Vinadi bzw.in die Gegenrichtung führt.500 tige Verbindung von Natur und bäuerlicher sisches Wanderrevier mit einem nahezu un- Meter oder höher über dem Inn nutzt die Kultur.Auf den weiten Hangterrassen der„Son- erschöpflichen Angebot von Wanderwegen Panoramaroute gute und markierte Wege, nenseite“ liegen ansehnliche Dörfer, deren unterschiedlicher Schwierigkeit und Länge teilweise auch Fahrwege und wenig befah- Architektur zu den eindrucksvollsten Denk- - und dies fast das ganze Jahr über.Im Inntal rene Straßen. Wechselnde Panoramen, im- mälern ländlicher Baukunst zählt.Von Guarda kann man über 40 Kilometer unter die posante Tiefblicke, lichte Bergwälder,weite über bis Ramosch und kann Sohlen nehmen, etwa entlang des Unteren- Matten, farbenfrohe Alpenblumen, ein- man durch enge Straßen und Gässchen fla- gadiner Talweges.Hinzu kommen die in ver- drucksvolle Gesteinsformationen und im- nieren und immer wieder von den imposan- schiedene Gebirgsgruppen ziehenden Sei- mer wieder die sgraffitiverzierten Dörfer fü- Georg Hohenester (3), Rudi Lindner (oben Fotos: ten, massiv gemauerten Häusern mit ihren tentäler sowie – vom Haupttal abgeschie- gen sich zum Gesamterlebnis „Panorama Sgrafitti begeistert sein.Doch auch in den grö- den – und das Münstertal. Eine Engiadina Bassa“. Jeweils am Ende einer ßeren Siedlungen im Tal, Zernez und , weitere Besonderheit bietet der Schweizer Etappe angelangt kann man dank der vor- sind nach wie vor viele Winkel zu entdecken, Nationalpark (siehe Seite 36).Von außerge- bildhaften verkehrstechnischen Infrastruk- die moderner Entwicklung getrotzt haben. wöhnlichem Reiz ist die Durchquerung des tur mit Postbus und Rhätischer Bahn pro- Die alte Poststation zwischen Guarda und Ardez zeugt von der Zeit, als die Hauptverbindungsstraße des Unterengadin auf der Höhe des heutigen Wanderwegs lief (o.). Über Schloss Tarasp erheben sich Piz Zuort und Piz Pisoc, beides Ziele für gestandene Bergsteiger (r.). blemlos zu seinem Standquartier zurück- Durchgangsverkehr abgeschnitten und wirt- kultische Bedeutung hatten,eignen sich her- kehren – oder man übernachtet vor Ort,um schaftlich in die Krise geraten. Inzwischen vorragend für eine Rast, während der man sich die Unterengadiner Dörfer etwas ge- sind die Häuser dank bedeutender öffentli- den Blick weit über die Bergzacken der nauer anzuschauen. cher Mittel saniert und stehen unter Denk- Engadiner Dolomiten jenseits des Tales malschutz. schweifen lassen kann. Wer mit dem Aus- Lavin-Ardez Über den ruhigen Weiler Bos-cha geht es blick von hier „unten“ nicht zufrieden ist, Im Talboden von Lavin startet man zur ers- durch Blumenwiesen Richtung Ardez, das dem sei der Aufstieg auf den Piz Cotschen ten Etappe, die zunächst nach Guarda hin- auf einer Talterrasse oberhalb der Inn- empfohlen, der sich von Guarda oder Bos- aufführt. Für „das schönste Dorf des Enga- schlucht liegt und Guarda an Schönheit cha über die kleine Privathütte Chamanna din“ sollte man sich genügend Zeit nehmen kaum nachsteht. Auch hier hat die Denk- Cler des Ardezer Skiclubs unschwierig ma- – vielleicht im Rahmen einer geführten malpflege erstklassige Arbeit geleistet. chen lässt. Von den 3030 Metern dieses Besichtigung durch den Ort, der wie ein le- Weithin sichtbar grüßt die Burgruine Steins- Aussichtsgipfels liegt einem wirklich ein pa- bendiges Freiluftmuseum wirkt. Mit gutem berg erhöht auf einem Felsen, doch bevor radiesisches Panorama vor Augen – und fast Grund. Die ursprünglich 200 Meter höher man sich ihr nähert, sollte man die am das ganze Unterengadin zu Füßen. verlaufene Verbindungsstraße des Unteren- Wegesrand liegenden Hexenplatten „Plattas gadin wurde im 19. Jahrhundert in den da las strias“ auf sich wirken lassen. Diese Ardez-Scuol Talboden verlegt.Dadurch war Guarda vom Felsplatten, die als „Ort der Kraft“ früher Gemächlich beginnt die zweite Etappe, die Unterwegs IM UNTERENGADIN

Die mit wunderbaren Sgraffiti-Kunstwerken verzierten Engadiner Häuser lassen fast in jedem Dorf den Fotoapparat zücken (li.). Genuss pur bietet das Thermalbad „Bogn Engiadenia“ in Scuol (u.).

Bei Ftan ist die Hälfte der Panoramastrecke geschafft (r.); im Zentrum von Tschlin lohnen bemerkenswerte gotische Wandmalereien in der Blasiuskirche den Besuch (u.). Foto: Friedrich Stettmayer Friedrich Foto:

entweder entlang der alten Fahrstraße oder, hinab,dem Hauptort des Unterengadin.Ob- quellen genutzt werden.Aus vielen Scuoler ungleich länger, das Val Tasna weit ausge- wohl größte Gemeinde und Verwaltungs- Brunnen sprudelt Mineralwasser, alkalische hend über die Alp Laret und den Aussichts- zentrale mit vielen Neubauten, finden sich Glauber- bzw. Bittersalzquellen und Eisen- punkt Muot dal l’Hom nach Ftan führt. Der im Unterdorf „Scuol sot“ schöne alte Häuser säuerlinge,deren verdauungsfördernde Wir- ruhige Ort wurde mehrmals durch Lawinen und ein malerischer Dorfplatz mit einem kung schon die alten Römer getestet haben. und Feuersbrünste zerstört, weist aber im großen Brunnen. Hier steht man inmitten Man sollte es ihnen nachtun und jeweils

Dorfteil „Ftan Pitgen“ = „Klein Ftan“ immer des „Unterengadiner Fensters“,einer geolo- mindestens einen Fingerhut voll probieren! Georg Hohenester (2) Fotos: noch schöne Engadiner Häuser auf – sowie gisch bedeutenden Erosionslücke in der Auf halbem Weg entlang der Scuoler eine alte,restaurierte Mühle,die den Besuch sonst gasundurchlässigen Gneis- und Granit- Hauptstraße wartet eine weitere Unterenga- lohnt.Im Winter führt der Sessellift von Ftan schicht. Im Bereich des „Fensters“ können diner Attraktion auf wellnessliebende Ge- als Seiteneinstieg in das Skigebiet von Gase aus dem Erdinneren durch Risse und nießer: Hoch über den Dächern des alten Scuol/Motta Naluns,im Sommer verkürzt er weichen Schiefer nach oben dringen, sich Dorfteils führt eine architektonische Woge so manchem Wanderer den Ab- bzw. Auf- mit dem Grundwasser vermengen und so als Eingang zum Römisch-Irischen Bewe- stieg. über 20 Mineralquellen bilden, die im Um- gungsbad „Bogn Engiadina“.Außer diversen In gut einer Stunde geht es nach Scuol kreis von Scuol-Vulpera-Tarasp als Heil- Innenbecken, Heißsprudel- und Solebäder sowie ausgedehnten Dampf- und Saunaräu- Alpine Kulturwanderungen men bietet der großzügige Bade-Komplex eine einmalige Bergsicht. Im wohlig-war- men Wasser des Außenbeckens treibend Mit Leib und Seele der Schweiz erwandern. Die schönsten kann man die steilen Zacken der Lischana- Berglandschaften und Gipfelpanoramen sind Veranstalter der auf den Seiten 32/33 be- und Pisocgruppe zählen und sich mental auf einem dabei sicher. schriebenen Kulturwanderung ist der DAV den nächsten Wandertag einstellen. Als Zuckerl erwarten den Wanderer fachkun- Summit Club. Bei diesen Touren geht es dige Besichtigungen von Klöstern, Burgen nicht ums Gipfelstürmen, sondern darum, Scuol-Ramosch und Schlössern. Ortskundige Führer bringen den Wanderer mit einer speziellen Alpenre- Bei Motta Naluns oberhalb Scuol begibt man Landschaft, Land und Leute näher. Für kuli- gion, ihrer Historie, ihren landschaftlichen sich auf die dritte Etappe nach Ramosch. narische Entdeckungen aus Küche und Besonderheiten und natürlich auch ihren ku- Durch Blumenwiesen und Lärcheninseln Keller sorgen die jeweiligen Hotelköche. linarischen Schmankerln vertraut zu machen. quert man in ständigem Auf und Ab die Die Alpinen Kulturwanderungen beinhalten Etwas sportlich sollte man jedoch schon sein Südhänge Richtung Vastur. Stets das beein- jeweils sechs Übernachtungen mit Halb- und Kondition für Touren von etwa fünf bis druckende Gipfel-Triumvirat des Piz Lischa- pension, fachkundige Betreuung sowie die sieben Stunden mitbringen. Trittsicherheit na vor Augen geht es dann durch einige tief Transfers im Rahmen des Programms. Der und Höhentauglichkeit sind ebenfalls gefragt: eingeschnittene Täler und nach Sent hinab. Preis liegt zwischen € 610 und € 845. Die Einige der Touren verlaufen bis über 3000 Hier gibt es prachtvolle Häuser mit südlän- besten Wanderzeiten sind Juni bis Oktober. Meter. Der Veranstalter achtet allerdings dar- dischem Gepräge zu bestaunen, deren ge- auf, dass keine Tagestour im Aufstieg über schweifte Barockgiebel zum Markenzeichen 1000 Höhenmeter beträgt und auch das des Dorfes wurden. Gehtempo ist gemäßigt. Mit dem DAV Info Der Weiterweg führt ins hin- Summit Club lassen sich das Südtiroler DAV Summit Club, Tel.: 089/6 42 40-0, ein, wo man bald auf das nostalgische Kur- Vinschgau, das Engadin und das Wallis in Web: www.dav-summit-club.de haus trifft, dessen Prunkbau zu Beginn des 20.Jahrhunderts errichtet wurde.Die Bade-

30 DAV Panorama Nr. 2/2002 Bach überquert ist, folgt man dem Weg um den Bergrücken der Craistota herum nach Tschlin. Das alte, nach Landwirtschaft rie- chende Bauerndorf umfasst ein großes Gemeindegebiet und wurde nach vielen Bränden immer wieder aufgebaut.Wer will, Foto: Peter Donatsch Peter Foto: kann hier nach Strada absteigen, doch wür- anlagen der einzigen Arsenquelle in den Station und erwandert unschwierig den Piz de man dann die weiten Wiesenflächen von Alpen befinden sich schon seit längerem im Arina, einen über 2800 Meter hohen über- Pra Grond verpassen und die an einen Ur- Verfall.Heute wird das Kurhaus als Hotel ge- dimensionalen Rasenmugel, von dessen wald erinnernde Fläche von God d’Urezzas. führt,das insbesondere zu Familienurlauben Kuppe das ganze Engadiner Dolomiten- Bei Vadrain lockt eine weitere Abkürzung einlädt.Wählt man nicht die Abkürzung,son- Panorama bis hin zum Ortler und den Ötz- Richtung Martina, doch Ausdauernde wan- dern die ausgiebigere Variante durch den taler Bergen ersichtlich ist. dern weiter und grüßen ein letztes Mal zum Wald von Sinestra nach Zuort, Griosch und Piz Lad und zu den schroffen Engadiner Pra San Peder, kann man in stundenlanger Ramosch-Vinadi Dolomiten hinüber, bevor die Berge um Abgeschiedenheit nach Vna wandern. Von Die vierte und letzte Etappe des Panorama- Nauders mit ihrer von der Eiszeit abgerun- diesem Häuflein eigenwilliger Engadiner Höhenweges bringt den Wanderer auf be- deten Landschaft zum beherrschenden Häuser führt der Weg fast eben nach quemem Weg durch Wiesen und Matten ins Blickfang werden. Nachdem der schroffe Ramosch weiter, einem ehemals beliebten eingeschnittene Val Ruinains, wo die be- Mundin-Graben durchquert ist, geht es ab- Wallfahrtsort mit einer prächtigen gotischen herrschende Szenerie des Piz S-chalambert- schließend über eine Steilstufe und einen Kirche. Da es um Ramosch sehr wenig reg- Dadaint auf der gegenüberliegenden Talseite engen Talabschnitt nach Vinadi hinunter, net, erwarten den botanisch Interessierten langsam aus dem Blickwinkel verschwin- nach „Weinberg“, wo zwar nie Wein ge- als weitere Besonderheit Trockenhänge mit det. Stattdessen geht der Blick 1600 Meter wachsen ist, man aber im gleichnamigen ungewöhnlicher Flora. durch den Graben ungehemmt hinauf bis Gasthof auf die fantastische Wanderung Wer hingegen lieber einen weiteren zum Gipfel des , der höchsten Erhe- über den Höhenweg „Panorama Engiadina Gipfel „mitnehmen“ möchte macht in Vna bung der Samnauner Berge. Nachdem der Bassa“ anstoßen kann. Unterwegs IM UNTERENGADIN

Hinsehen statt Hochhechten

Schneebedeckte Dreitausender, prächtige Dörfer und dazwischen immer wieder der Blick auf den pastellgrünen Inn: das Engadin ist zum reinen Gipfelstürmen viel zu schade.

Etwas nervös war ich schon, als ich mich macht uns auf ökologische Zusammenhänge Paradiesisches Panorama beim DAV Summit Club für die Alpine Kultur- in Botanik und Tierwelt aufmerksam. Peters Zugegeben, etwas Muskelkater hatte ich wanderung ins Engadin angemeldet hatte, Liebe zur Natur und sein unerschöpfliches schon am nächsten Tag, doch auf der Bus- aber auch furchtbar neugierig. Vor allem die Repertoire an Geschichten und Erlebnissen fahrt nach Pontresina im Oberengadin war Frage nach meiner Kondition machte mir zu aus dem Nationalpark ziehen uns komplett in das schon fast vergessen: Ein gnadenlos schaffen: Ich bin zwar begeisterte Bergwan- seinen Bann. Wie im Flug vergehen die sonniger Tag erwartete uns und allein die derin und halte mich nicht für unsportlich, Stunden während unserer Wanderung durch Fahrt entlang des kühlen Inn, der im Engadin aber wie würde der Rest der Gruppe sein? den wilden Föhrenwald und schon sind wir seinen Ursprung hat, ließ Gedanken ans „Summit Club“ klingt schon etwas nach an unserem Rastplatz, kurz unter dem Foss- Jammern gar nicht erst aufkommen. Himalaya, nach Höhenmeterzählen und ganz Sattel (2317 m). Hier nehmen wir endgültig Nachdem wir uns in der romanischen Kirche viel Zähne zusammenbeißen. Doch schon Logenplätze im Naturtheater ein: Um uns Santa Maria ganz ausgiebig und sehr bildhaft beim ersten gemeinsamen Abendessen war balgen frech die Murmeltiere, während wir über diverse Höllenleiden schlau machen diese Sorge verflogen: Alles ganz normale Hirsche und Gämsen beobachten, die hier konnten, gab es nur eins: die Flucht nach Menschen zwischen 30 und 60 Jahren, völlig ungestört äsen. Auf unserem Weg vorne, steil und schattig hinauf ins Paradies. Donatsch Peter Foto: manche durchtrainiert, andere sogar unüber- zurück verlassen wir den Nationalpark, das So nennt sich der Kamm auf etwa 2500 sehbar übergewichtig – von endlosen Berich- Bühnenbild bleibt allerdings spektakulär: Bis Meter Höhe tatsächlich und – übertrieben ist ten zu knapp überlebten Extremtouren, von hinunter ins Val Plavna ist er zu bewundern, der Name nicht. Wie vor einer Freilichtbühne Verachtung gegenüber Genusswanderern der Piz Plavna Dadaint (3167 m), der als tummeln wir uns auf der Wiese vor dem ab- und alpiner Aufschneiderei keine Spur. schönster Gipfel des Unterengadin gilt. Der solut beeindruckenden Gipfelpanorama und würden am liebsten auch noch applaudieren. Immer wieder muss Bergführer Günther Heerdegen die Szene erklären: Piz Palü (3904 m) Bellavista 3890 m, Piz Bernina (4020 m) und Piz Morteratsch (3751). Das einzige, was ablenkt ist das Stück Engadiner Nusstorte, das uns neben anderen Leckerei- Guarda gilt als en als Proviant mitgegeben wurde: Eine eines der schönsten sofort süchtigmachende Kalorienbombe und Dörfer der Schweiz. neben beeindruckenden Bergfotos wahr- scheinlich das Hauptexportgut Engadiner Touristen. Nach der Rast teilt sich die Gruppe, Infokasten zur hier die Kaltduscher erklimmen den 3262 Meter vorgestellten Tour hohen Piz Languard, während wir Warm- siehe Seite 30. duscher gemächlich zum Lej Languard wan- dern und uns am Rand des eisbedeckten Sees ein Mittagsschläfchen in der Sonne Ein Tag im Nationalpark gönnen. Über den Steinbockweg geht’s zur Frühaufsteher sollte man allerdings schon Abstieg zieht sich, mehr als drei Stunden Bergstation der Seilbahn, die uns wieder ins sein: Um 6.30 Uhr wartete das Hotel Aurora, wandern wir durch Blumenfelder über ein Tal bringt. wo wir untergebracht waren, mit einem trockenes Flussbett, bis wir am Ende unserer kräftigen Frühstück auf und los ging’s von Tagestour Schloss Tarasp sehen. Jetzt noch Piz Buin & Sgraffito S-chanf über Scuol nach S-charl zum Park- zum Wahrzeichen des Unterengadin raufstei- Guarda am Eingang zum Val Tuoi dient als platz bei der Mingerbrücke (1664 m), unse- gen? Der „innere Schweinehund“ will sich Ausgangspunkt für unsere nächste Tour: rem Einstieg in den Schweizerischen National- drücken, doch dem Gruppenzwang sei dank, Durch Lärchenwald führt der Weg hinauf zur park. Peter Roth, unser Führer durch das hat sich niemand das Erlebnis einer Spezial- Alp Sura. Heute nieselt es, was dem feinen Schutzgebiet, führt ein hartes Regiment: Im führung durch das renovierte Schlösschen Nadelwald und seinem moosigen Boden Nationalpark ist der Mensch nur geduldeter entgehen lassen. Fast bekommt man Mitleid einen besonderen Zauber verleiht. Alle Grün- Zuschauer, Hauptdarsteller ist die Natur und mit dem Dresdner Fabrikanten Karl August und Grautöne sind jetzt vertreten. Eigentlich in die wird so wenig wie möglich eingegrif- Lingner, dem Hersteller des Mundwassers warten wir auf den Auftritt des großen Piz fen. Den Weg zu verlassen und das Pflücken Odol, der dieses mittelalterliche Bauwerk Buin (3312 m), der hier den Ton angibt. von Pflanzen ist strengstens verboten. Immer 1907 erstanden hat, sieben Jahre am Doch der hat es gar nicht nötig, sich zu prä- wieder weist Peter uns darauf hin, wie acht- Restaurieren und Renovieren war und dann sentieren. So bleibt uns nichts anderes, als

los wir eigentlich mit der Natur umgehen und kurz vor Ende der Arbeiten verstarb. ab und zu zwischen den dichten Wolken Herbert Blank (2) Fotos:

32 DAV Panorama Nr. 2/2002 einen Blick auf seine Majestät zu erhaschen. Eindrucksvoll Nach unserer Halbtagestour steht Kultur an: überragt der Piz Guarda verrät allerhand über die Geschichte Plavna Dadaint des Engadin und seiner so charakteristischen das Val Mingèr. Architektur. Typisch für die stattlichen Enga- diner Bauernhäuser sind die riesigen „Portale“. Kein Wunder, war es doch früher nötig, mit Pferd und Wagen direkt in den Stall zu gelangen. Auch die landesübliche Sgraffito- Kunst lässt sich hier bewundern, regelrechte Wettstreitigkeiten müssen unter den Engadi- ner Familien geherrscht haben, im Bemühen darum, ihre Fassaden immer aufwändiger und kunstvoller zu verzieren. Spät im Oktober Für uns ist der Tag gelaufen: Wir haben gut ist die Sommer- was für den Körper getan und unserer Bil- siedlung von dung kräftig nachgeholfen – das einzige, was S-charl bereits von jetzt noch interessiert, ist das nächste Stück ihren Bewohnern Engadiner Nusstorte. Christina Radzwill verlassen.

Nr. 2/2002 DAV Panorama 33 Unterwegs IM UNTERENGADIN Fotos: Rudi Lindner Fotos:

Die Chamanna dal Linard und ihr mächtiger Hausberg, der Piz Linard mit seinem Südostgrat (rechts im Bild). 2002 feiert die Linardhütte ihr hundertjähriges Bestehen und die jungen Wirtsleute freuen sich auf künftige Besucher. Der Südostgrat am Piz Linard bietet lohnende und nicht schwierige Urgesteinskletterei.

Auf den Höchsten tausender um einiges. Von allen Seiten er- guten Verhältnissen – Trittschnee im unte- im Unterengadin weckt der gewaltige Koloss einen düsteren, ren und aperem Fels im oberen Teil – können Natürlich bietet das Unterengadin nicht nur unzugänglichen, fast unersteigbaren Ein- trittsichere und schwindelfreie Bergsteiger Wanderern, sondern auch Bergsteigern in- druck,besonders von Zernez aus,das an die ohne klettertechnische Schwierigkeiten auf teressante Ziele. Wer es gerne etwas an- 2000 Höhenmeter tiefer liegt.Während die die Spitze kommen.Vom Fuß der Südwand spruchsvoll mag, der kann sich beispiels- Routen der Nordwest- bis Nordostseite geht es über Geröllrücken und durch weise am höchsten und formschönsten Gip- kaum begangen werden,vermittelt die Süd- Runsen (Steinsschlaggefahr) auf das große fel der Region versuchen,am Piz Linard.Die wand den Aufstieg auf mehreren Routen im Geröllfeld in der Mitte der Flanke. Weitere mächtige vierseitige Pyramide erhebt ihre gemäßigten Bereich.Von Lavin (1430 m) ge- Rinnen vermitteln den Zugang zum Süd- 500 bis 1300 Meter hohen dunklen Wände langt man in 2-2,5 Std. auf die kleine westgrat, der, immer schmaler werdend, steil und isoliert und überragt mit 3410 Linardhütte (2327 m), von dort führt der zum höchsten Punkt führt. Anregende Metern Gipfelhöhe die umliegenden Drei- Normalweg in 3-4 Std. auf den Gipfel. Bei Kletterei hingegen versprechen die Route von der Fuorcla da Glims entlang des Süd- westgrates (II,4-5 Std.) sowie der Südostgrat (III, 3,5-4 Std.).Wie immer man auf den Piz Linard gelangt, er bietet erfahrenen Berg- steigern eine großartige Hochtour und eine Aussicht, von der sich nur in Superlativen schwärmen lässt. Denn dank der abgesetz- ten Lage des Berges eröffnet das Wahr- zeichen des Unterengadin die gewaltigste Rundschau in der Silvretta und eine der um- fassendsten im Alpenraum.

Aussicht vom Linardgipfel auf die Umgebung des Val Lavinuoz, links Chapütschin und , rechts hinten die dunklen Südabstürze des Piz Buin. Ganz rechts der Piz Fliana. Die Berge der südlichen Silvretta sind für erfahrene Alpinisten ein hervorragendes Ziel und bieten einsame Touren in ursprünglicher Landschaft.

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