Plenarprotokoll 15/28

Deutscher

Stenografischer Bericht

28. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Inhalt:

Erweiterung der Tagesordnung ...... 2127 A Ulrike Flach FDP ...... 2137 C , Parl. Staatssekretär BMBF ...... 2139 A Zur Geschäftsordnung: CDU/CSU ...... 2139 D Jürgen Koppelin FDP ...... 2127 D Christa Nickels BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2141 B Walter Schöler SPD ...... 2129 A Detlef Parr FDP ...... 2142 D CDU/CSU ...... 2129 D Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos ...... 2143 D BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2130 D René Röspel SPD ...... 2144 C Hubert Hüppe CDU/CSU ...... 2146 A Tagesordnungspunkt 3: Dr. SPD ...... 2147 B a) Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ Barbara Lanzinger CDU/CSU ...... 2148 D DIE GRÜNEN: Einsetzung einer Dr. Carola Reimann SPD ...... 2150 A Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ CDU/CSU ...... 2151 A (Drucksache 15/464) ...... 2132 A Helga Kühn-Mengel SPD ...... 2152 B b) Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU ...... 2153 B CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ Jörg Tauss SPD ...... 2154 C DIE GRÜNEN: Neue Initiative für ein internationales Verbot des Klonens menschlicher Embryonen starten Tagesordnungspunkt 4: (Drucksache 15/463) ...... 2132 A a) Unterrichtung durch die Bundesregie- c) Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach, rung: Straßenbaubericht 2002 , weiterer Abgeordneter (Drucksache 15/265) ...... 2156 A und der Fraktion der FDP: Reproduk- tives Klonen weltweit verbieten – das b) Unterrichtung durch die Bundesregie- Machbare schnell umsetzen rung: Bericht zum Ausbau der Schie- (Drucksache 15/314) ...... 2132 A nenwege 2002 (Drucksache 15/280) ...... 2156 A Gudrun Schaich-Walch SPD ...... 2132 B Dr. Maria Böhmer CDU/CSU ...... 2133 C c) Erste Beratung über den von den Abge- ordneten (Bayreuth), Dr. Reinhard Loske BÜNDNIS 90/ Joachim Günther (Plauen), weiteren DIE GRÜNEN ...... 2135 D Abgeordneten und der Fraktion der FDP II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. , Donnerstag, den 20. Februar 2003

eingebrachten Entwurf einesDritten Zusatztagesordnungspunkt 4: Gesetzes zur Änderung des Verkehrs- Beschlussempfehlung und Bericht des wegeplanungsbeschleunigungsgesetzes Rechtsausschusses zu den Streitsachen (Drucksache 15/221) ...... 2156 B vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvE 1/02 und 2 BvE 2/02 in Verbindung mit (Drucksache 15/479) ...... 2178 A

Zusatztagesordnungspunkt 2: Tagesordnungspunkt 5: Erste Beratung über den von den Abgeord- neten , Dirk Fischer (Ham- a) Beschlussempfehlung und Bericht des burg), weiteren Abgeordneten und der Ausschusses für Verkehr, Bau- und Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Ent- Wohnungswesen zu dem Antrag der wurf eines Gesetzes zur Änderung des Abgeordneten Wolfgang Börnsen Verkehrswegeplanungsbeschleunigungs- (Bönstrup), Dirk Fischer (), gesetzes weiterer Abgeordneter und der Fraktion (Drucksache 15/461) ...... 2156 B der CDU/CSU: Seesicherheit optimie- ren – nationaler und europäischer Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister Handlungsbedarf nach Tankerunter- BMVBW ...... 2156 C gang der „Prestige“ Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) CDU/CSU 2158 C (Drucksachen 15/192, 15/370) ...... 2178 A Peter Hettlich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2160 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Horst Friedrich (Bayreuth) FDP ...... 2161 C Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu der Unterrichtung Sören Bartol SPD ...... 2163 C durch die Bundesregierung:Bericht CDU/CSU ...... 2165 B der Bundesregierung zur „Mariti- men Sicherheit auf der Ostsee“ Siegfried Scheffler SPD ...... 2165 D (Drucksachen 14/9487, 15/345 Nr. 69, Albert Schmidt (Ingolstadt) BÜNDNIS 90/ 15/488) ...... 2178 B DIE GRÜNEN ...... 2168 B Wolfgang Börnsen (Bönstrup) CDU/CSU 2178 B Renate Blank CDU/CSU ...... 2168 D , Parl. Staatssekretärin Eduard Lintner CDU/CSU ...... 2170 A BMVBW ...... 2180 B Karin Rehbock-Zureich SPD ...... 2172 C Hans-Michael Goldmann FDP ...... 2181 B Gerhard Wächter CDU/CSU ...... 2174 A Rainder Steenblock BÜNDNIS 90/ Siegfried Scheffler SPD ...... 2175 C DIE GRÜNEN ...... 2182 B (Zingst) CDU/CSU ...... 2183 C Zusatztagesordnungspunkt 3: Annette Faße SPD ...... 2184 D a) Erste Beratung über den vom Bundesrat Dr. Wolfgang Methling, Minister eingebrachten Entwurf eines ... Straf- (Mecklenburg-Vorpommern) ...... 2186 A rechtsänderungsgesetzes – Graffiti- CDU/CSU ...... 2186 C Bekämpfungsgesetz – (... StrÄndG) (Drucksache 15/404) ...... 2177 B b) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU Tagesordnungspunkt 6: und der FDP: Für eine Internationale Antrag der Abgeordneten Birgit Homburger, Sicherheitsinitiative für Nordostasien Dr. Christian Eberl, weiterer Abgeordneter (Drucksache 15/469) ...... 2177 C und der Fraktion der FDP: Ökologisch sinnvolle und effiziente Alternativen zum Zwangspfand auf Getränkever- Tagesordnungspunkt 12: packungen (Drucksache 15/315) ...... 2188 A a) – d) Birgit Homburger FDP ...... 2188 B Beschlussempfehlungen des Petitions- ausschusses: Sammelübersicht 15, 16, Gerd Friedrich Bollmann SPD ...... 2189 B 17 und 18 zu Petitionen Birgit Homburger FDP ...... 2192 B (Drucksachen 15/424, 15/425, 15/426 und 15/427) ...... 2177 C Gerd Friedrich Bollmann SPD ...... 2192 C Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 III

Werner Wittlich CDU/CSU ...... 2192 D Jörg van Essen FDP ...... 2212 A Dr. Antje Vogel-Sperl BÜNDNIS 90/ Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ 2212 C DIE GRÜNEN ...... 2195 C Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) CDU/CSU 2213 C Kristina Köhler (Wiesbaden) CDU/CSU . . . 2197 A Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 2215 A Tagesordnungspunkt 7: Dirk Manzewski SPD ...... 2216 A Antrag der Abgeordneten Peter Weiß (Em- SiegfriedKauder(BadDürrheim) CDU/CSU 2217 A mendingen), Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ Nächste Sitzung ...... 2217 D CSU: Neue Initiative zur Wiederbele- bung des kolumbianischen Friedenspro- zesses international unterstützen Anlage 1 (Drucksache 15/203) ...... 2198 B Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 2219 A Hartwig Fischer (Göttingen) CDU/CSU . . . 2198 C Karin Kortmann SPD ...... 2199 C Anlage 2 Dr. FDP ...... 2200 D Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Rolf Thilo Hoppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2201 C Stöckel, , Siegmund Ehrmann, Klaus-Jürgen Hedrich CDU/CSU ...... 2202 D Gabriele Frechen, , Jelena Hoffmann (Chemnitz), Eike Hovermann, Anke Hartnagel SPD ...... 2203 D Eckhart Lewering, Lothar Mark, Dr. Erika Ober, Silvia Schmidt (Eisleben), , Karsten Schönfeld, Rita Streb-Hesse, Dr. Marlies Tagesordnungspunkt 10: Volkmer, Dr. , Karin Evers-Meyer, Erste Beratung über den vom Bundesrat Sören Bartol und Dr. Margit Spielmann (alle eingebrachten Entwurf einesGesetzes SPD) zu der Abstimmung über den Antrag: Neue über eine einmalige Entschädigung an Initiative für ein internationales Verbot des Klo- die Heimkehrer aus dem Beitrittsgebiet nens menschlicher Embryonen starten (Heimkehrerentschädigungsgesetz) (Drucksache 15/463) (Tagesordnungspunkt 3) 2219 C (Drucksache 15/407) ...... 2204 D

Hartmut Büttner (Schönebeck) CDU/CSU 2205 A Anlage 3 Gerold Reichenbach SPD ...... 2206 C Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Petra Dr. CDU/CSU ...... 2207 D Selg, (Berlin), Dr. Uschi Eid und (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Klaus Haupt FDP ...... 2208 D NEN) zu der Abstimmung über den Antrag: BÜNDNIS 90/ Neue Initiative für ein internationales Verbot des DIE GRÜNEN ...... 2209 C Klonens menschlicher Embryonen starten (Drucksache 15/463) (Tagesordnungspunkt 3) 2219 D Arnold Vaatz CDU/CSU ...... 2210 B Horst Rasch, Staatsminister (Sachsen) . . . . . 2210 D Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Tagesordnungspunkt 11: Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn), Georg Erste Beratung über den von den Abgeord- Fahrenschon, und Ursula Heinen neten Jörg van Essen, , weite- (alle CDU/CSU) zu der Abstimmung über den ren Abgeordneten und der Fraktion der FDP Antrag: Neue Initiative für ein internationales eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zum Verbot des Klonens menschlicher Embryonen verbesserten Schutz der Intimsphäre starten (Drucksache 15/361) ...... 2211 D (Drucksache 15/463) (Tagesordnungspunkt 3) 2220 C

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2127

(A) (C)

28. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident : Von der Frist für den Beginn der Beratung soll – soweit erforderlich – abgewichen werden. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Außerdem wurde vereinbart, den Tagesordnungs- Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene punkt 10 – Heimkehrerentschädigungsgesetz – und den Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen Tagesordnungspunkt 11 – Schutz der Intimsphäre – be- vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: reits heute nach Tagesordnungspunkt 7 aufzurufen. 1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU zu Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – den Antworten der Bundesregierung auf die dringlichen Fragen Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos- in Drucksache 15/460 sen. 2. Erste Beratung des von den Abgeordneten Arnold Vaatz, Dirk Fischer (Hamburg), , weiteren Abgeordneten Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, haben wir und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines einen Geschäftsordnungsantrag zu behandeln. Die Frak- (B) Gesetzes zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbeschleuni- tion der FDP hat fristgerecht beantragt, die heutige Ta-(D) gungsgesetzes (Drucksache 15/461) gesordnung um die Beratung ihres Antrags auf Druck- Überweisungsvorschlag: sache 15/458 mit dem Titel„Haushaltsentwurf 2003 Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) überarbeitet vorlegen“ zu erweitern. Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Kollege Jürgen 3. Überweisungen im vereinfachten Verfahren Koppelin, FDP-Fraktion. a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs ei- nes ... Strafrechtsänderungsgesetzes – Graffiti-Bekämpfungs- Jürgen Koppelin (FDP): gesetz – (... StrÄndG) (Drucksache 15/404) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Fraktion der Freien Demokraten verlangt in ihrem Antrag, Innenausschuss dass der Haushalt von Bundesfinanzminister Eichel zu- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit rückgezogen und überarbeitet wird. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (Antje Hermenau [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- b) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: NEN]: Keine Büttenrede!) Für eine Internationale Sicherheitsinitiative für Nordostasien (Drucksache 15/469) Wir möchten diesen Antrag heute diskutieren. Die rot- grüne Koalition lehnt die Aufsetzung des Antrags auf die Überweisungsvorschlag: Tagesordnung und damit die Diskussion heute ab. Das Auswärtiger Ausschuss (f) Verteidigungsausschuss nennt man Arroganz der Macht. Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Wir bedauern sehr, dass wir nun mit einer Geschäftsord- 4. Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache nungdebatte versuchen müssen, zu erreichen, dass dieser (Ergänzung zu TOP 12) Antrag auf die Tagesordnung gesetzt wird. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechts- ausschusses (6. Ausschuss zu den Streitsachen vor dem Bun- Heute soll der Haushaltsentwurf 2003 im Haushalts- desverfassungsgericht 2 BvE 1/02 und 2 BvE 2/02 (Drucksa- ausschuss des Bundestages abschließend beraten werden. che 15/479) Jede Kollegin und jeder Kollege im Deutschen Bundestag Berichterstattung: konnte in den letzten Wochen erkennen, dass der von Bun- Abgeordneter Andreas Schmidt (Mülheim) desfinanzminister Eichel vorgelegte Haushaltsentwurf 2128 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Jürgen Koppelin (A) 2003 nicht den Tatsachen entspricht, sondern geschönt wir das gleiche Szenario wie im letzten Jahr erleben:(C) und unrealistisch ist. Maastricht-Kriterien nicht erfüllt – wie im letzten Jahr –, ein Nachtragshaushalt ist nötig – wie im letzten Jahr –, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) noch mehr Schulden – wie im letzten Jahr. Bundesfinanzminister Eichel ist zur Haushaltswahr- Auch im Jahr 2002 wurde von Rot-Grün ein Haushalt heit verpflichtet; aber auch der Deutsche Bundestag – wir beschlossen, der an der Realität vorbeiging. Die Zahlen alle – ist zur Haushaltswahrheit verpflichtet. Es ist daher waren manipuliert. Da wurde getrickst und getäuscht und völlig unverständlich, dass ein Bundeshaushalt 2003 ver- die Öffentlichkeit belogen. Es war ja Bundestagswahl. abschiedet werden soll, von dem jeder im Bundestag Und das alles, obwohl die Fakten und die Tatsachen jedem weiß, dass wichtige Daten und Zahlen nicht stimmen und Mitarbeiter im Bundesfinanzministerium bekannt und dass er höchstens noch ein Dokument einer verfehlten Ar- klar waren. Die Aussagen des Staatssekretärs Overhaus beitsmarkt- und Konjunkturpolitik sowie besonders auch vom Bundesfinanzministerium vor dem Untersuchungs- einer verfehlten Steuerpolitik ist. Weder der im Haushalts- ausschuss haben deutlich gemacht, dass Bundesfinanz- entwurf 2003 vorgesehene Ansatz für die Arbeitslosen- minister Eichel den Bezug zur Realität längst verloren hat. hilfe noch das Vorhaben, ohne Zuschuss für die Bundes- anstalt für Arbeit auszukommen, ist realistisch. Die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) schwache Konjunktur hat keine Berücksichtigung im Deswegen wagen nicht einmal die höchsten Mitarbeiter Bundeshaushalt gefunden. Die im Bundeshaushalt 2003 im Finanzministerium, diesem Bundesfinanzminister die angenommenen Steuereinnahmen sind allein Wunsch- Zahlen überhaupt noch vorzulegen: weil er sie nicht wahr- denken des Bundesfinanzministers. nehmen will. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Das zeigt auch der Bundeshaushalt 2003. Bundes- der CDU/CSU) finanzminister Eichel hat dem Deutschen Bundestag ei- Heute können Sie im „Handelsblatt“ lesen: Eichel bre- nen Haushaltsentwurf zur Verfügung gestellt und zur Be- chen die Einnahmen weg, allein um 22 Prozent gegenüber ratung vorgelegt, zu dem man nur sagen kann: Empfänger dem Vorjahr. Das sind doch Zahlen, an denen man nicht verweigert Annahme. Eine andere Reaktion ist da über- vorbei kann. haupt nicht möglich. Um den Haushalt überhaupt ausgleichen zu können, Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bundesfinanzminis- greifen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, nun zu Me- ter Eichel hat nicht mehr die Kraft, einzugestehen, dass thoden einer Bananenrepublik. sein Haushaltsentwurf 2003 bereits nicht einmal mehr das Papier wert ist, auf dem er steht. (Widerspruch bei der SPD) (B) (D) (Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der Da sollen plötzlich Milliarden aufgrund eines Steuer- SPD) amnestiegesetzes fließen. Ein Amnestiegesetz ist richtig; aber ob die Höhe der geschätzten Steuereinnahmen richtig Das konnten wir auch gestern im Haushaltsausschuss er- ist, wissen Sie überhaupt nicht. Ich nenne Ihnen einmal ein leben. Diejenigen, die zurufen, waren nämlich dabei. Sie paar Zahlen aus dieser Woche, immer veröffentlicht vom wissen, dass es so ist. Daher muss der Deutsche Bundes- Finanzministerium. Dienstagmorgen: geschätzte Einnah- tag die Kraft haben, diesen Haushaltsentwurf an den Bun- men durch die Steueramnestie: 1 Milliarde Euro. Bereits desfinanzminister zurückzuüberweisen. Dienstagabend: Schätzung durch den Finanzminister: Der Bundeshaushalt ist das Schicksalsbuch der Nation. 2 Milliarden Euro. Mittwochmorgen vermelden die Me- dien: Bundesfinanzminister hofft auf 5 Milliarden Euro (Zurufe von der SPD: Oh! – René Röspel [SPD]: Steuereinnahmen. – Das ist peinlich; das ist unseriös; das Damit haben Sie 16 Jahre Erfahrung!) hat mit vernünftiger Haushaltspolitik nichts zu tun. Bundesfinanzminister Eichel macht aus diesem Schick- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) salsbuch das Märchenbuch der Nation. Sie können heute unseren Wunsch nach einer Debatte ablehnen. Dafür ha- Glauben Sie doch nicht, dass Sie Einnahmen in dieser ben Sie voraussichtlich die Mehrheit. Die Konsequenz Höhe bekommen! Wenn Sie hier in Deutschland keine wird nur sein, dass Bundesfinanzminister Eichel mit dem vernünftige Steuerpolitik machen, wird niemand sein Ka- Haushaltsentwurf 2003 seinen letzten Haushaltsentwurf pital zurückholen. Deshalb werden Sie mit Einnahmen in diesem Deutschen Bundestag vorgelegt hat. Er wird die- dieser Höhe nicht rechnen können. ses Jahr nicht mehr als Bundesfinanzminister überstehen. Aufgrund der schlechten, hausgemachten Konjunktur- (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜND- entwicklung haben wir steigende Arbeitslosenzahlen: NIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Koppelin, das ist 4,6 Millionen; andere rechnen bereits mit 5 Millionen. Wunschdenken!) Der Bundesfinanzminister ignoriert diese Zahlen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, man hat bei Ihnen den Bundesfinanzminister Eichel träumt weiter den Traum Eindruck, der rot-grünen Koalition und dem Bundeskanz- vom Wirtschaftswachstum, ohne mit seinem Haushalts- ler wäre das sogar recht. entwurf der falschen Daten und Zahlen überhaupt Im- pulse dafür zu geben. Wenn dieser Haushalt, den der Bun- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Franz destag in Kürze beschließen soll, nicht umgehend von Müntefering [SPD]: Können Sie das alles noch Bundesfinanzminister Eichel überarbeitet wird, werden einmal wiederholen?) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2129

(A) Präsident Wolfgang Thierse: wirkungen auf die Steuern, mit ihren Auswirkungen auf (C) den Arbeitsmarkt. Genau diese Aktualisierungen, die Sie Ich erteile das Wort Kollegen Walter Schöler, SPD- mit Ihrem Antrag ja fordern, werden heute durch den Fraktion. Haushaltsausschuss vollzogen. In diesen Ausschuss gehören sie auch. (SPD): Walter Schöler Halten Sie uns also nicht länger mit der Posse auf, die Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Sie heute Morgen veranstalten! Lassen Sie uns lieber un- glaube, du, Jürgen Koppelin, merkst gar nicht und diesere Arbeit tun! FDP-Fraktion merkt ebenfalls nicht, dass ihr euch mit die- (Dr. [FDP]: Beim Nach- sem Antrag hier nur lächerlich macht. tragshaushalt kommen wir wieder darauf (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zurück!) DIE GRÜNEN) – Herr Gerhardt, das gehört in den Haushaltsausschuss. Ebendeshalb gehört dieser Antrag heute nicht auf die Ta- Sie werden erleben, wie Ihre drei Kollegen gleich wieder gesordnung. Wir sind nicht bereit, Haushaltsberatungen, brav in diesem Ausschuss sitzen und mit entscheiden wer- die im März stattfinden werden, auf heute vorzuziehen. den. Wer wie die FDP einen solchen Antrag stellt und – das (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des füge ich hinzu – wer einen solchen Antrag heute unter- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) stützt, der stellt nicht nur die schwierige und ernsthafte Wir lehnen Ihren Antrag ab und sind nicht bereit, die- Arbeit des Haushaltsausschusses und seiner Mitglieder sen Antrag auf die Tagesordnung der heutigen Sitzung zu infrage, sondern auch sich selbst. Das geschieht mit die- setzen. sem Antrag. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Sie lenken nicht nur von der eigenen Konzeptlosigkeit bei Präsident Wolfgang Thierse: den Beratungen der letzten Wochen ab, sondern wollen Ich erteile das Wort Kollegen Dietrich Austermann, auch noch aus bestimmten Gründen die Öffentlichkeit CDU/CSU-Fraktion. täuschen.

Gerade heute ist diese Koppelin-Show völlig fehl am Dietrich Austermann (CDU/CSU): (B) Platz. Denn Fakt ist doch: Der Bundeshaushalt 2003 ist (D) wie jeder Haushalt zuvor nach dem bewährten Verfah- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer gestern rensablauf bearbeitet und beraten worden. Das heißt, er Nachmittag den Bundesfinanzminister im Haushaltsaus- ist nach den aktuellen Erkenntnissen der Regierungschuss erlebt hat, der hat den Eindruck gewinnen können, Ende letzten Jahres erstellt worden. Er ist – im Übrigen der Mann hat kapituliert. mit Zustimmung der FDP-Fraktion; von wegen „An- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und nahme verweigert“ – im Dezember in erster Lesung hier der FDP – Lachen bei der SPD) behandelt worden und danach dem Haushaltsausschuss zur Beratung überwiesen worden. Damit ist er von der Er hat kapituliert vor der Situation, die sich heute für ihn im Untersuchungsausschuss ergibt. Das ist der Tag und Bundesregierung in die Hand des Parlaments überge- die Stunde der Wahrheit. Er hat kapituliert vor der Ver- gangen. pflichtung, einen Haushalt vorzulegen, der mit der Rea- Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den letzten zehn Wo- lität in Einklang steht und nicht völlig von dem abgewandt chen hat der Haushaltsausschuss – das war sicherlich für ist, was sich in Deutschland tut. Der Haushaltsentwurf, alle nicht unbedingt immer eitel Freude – diese Beratun- den Sie vorgelegt haben, ist eine Addition von Zahlen gen in zahlreichen Berichterstattergesprächen und Aus- ohne jede Perspektive und ohne jeden Bezug zur Realität. schusssitzungen sehr konzentriert durchgeführt. Gerade Ich will das an fünf kurzen Beispielen deutlich machen. heute stehen wir vor der abschließenden Befassung mit Erstens. Sie unterstellen nach wie vor 1 Prozent diesem Entwurf, der so genannten Bereinigungssitzung, Wachstum; im Entwurf waren es noch 1,5 Prozent, im die wir jetzt wegen Ihres Antrages um eine halbe Stunde letzten Jahr waren es noch 2,5. Der Bundesfinanzminister verschoben haben. hat gestern – ich finde, dass darauf die Aufmerksamkeit (Dr. [FDP]: Das ist ja furcht- der Öffentlichkeit gelenkt werden sollte – im Haushalts- bar! Das ist ja ein Schicksalsschlag!) ausschuss gesagt: Wenn das Wachstum die Marke von 1 Prozent nur geringfügig unterschreitet, werden wir die Wie alle kundigen Thebaner und zumindest einige Kolle- Messlatte der Maastricht-Kriterien reißen. Da inzwischen gen von der FDP genau wissen, werden bei der Bereini- jeder weiß, dass dieses Wachstum von 1 Prozent kaum gungssitzung wie in jedem Jahr auch in diesem Jahr die noch zu erreichen ist, aktualisierten Einschätzungen – sie liegen allen vor und (Peter Dreßen [SPD]: Woher wissen Sie das?) sind noch gestern morgen in einer Berichterstatterrunde diskutiert worden, im Übrigen im Beisein Ihres Kollegen es sei denn, man macht eine völlig andere Wirtschafts-, Rexrodt – in den Haushalt eingearbeitet, mit ihren Aus- Finanz-, Haushalts- und Sozialpolitik, kann auch jeder 2130 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Dietrich Austermann (A) erkennen, dass man sich von der Einhaltung der Maastricht- – Herr Tauss, Sie als Gewerkschafter haben doch eine ge- (C) Kriterien verabschiedet hat. wisse Erfahrung. Es muss Sie doch bedrücken, wenn Sie feststellen, dass die Zahl der Langzeitarbeitslosen immer (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) weiter steigt. Wenn die Zahl der Langzeitarbeitslosen im- Deswegen sage ich: Der Mann hat kapituliert, weil Re- mer weiter steigt, muss man bei der Arbeitslosenhilfe von zepte, um das Steuer herumzureißen, nicht erkennbareinem höheren Betrag ausgehen. Sie dagegen senken ihn sind. Diese hätte er zumindest vorschlagen sollen. um 2,7 Milliarden. Auch deshalb muss man sagen, das Ganze hat mit der Realität nichts zu tun. (Walter Schöler [SPD]: Im Dezember war Ihre Prognose auch falsch!) Dann schauen wir uns das Thema Steuern an – mein vierter Punkt –: Sie gehen davon aus, dass Sie Steuer- Sie, Herr Kollege Schöler, haben gesagt, Sie hätten in mehreinnahmen haben werden, trotz sich vermindernden den Beratungen – heute findet ja die Bereinigungssitzung Wachstums und höherer Arbeitslosigkeit. Sie begründen statt – das Ihrige getan, um die Entwicklung aufzufangen. das, wie der Kollege Koppelin schon gesagt hat, mit die- Nun sage ich einmal, was in den vier Wochen der Haus- sem neuen so genannten Steuerehrlichkeitsgesetz. In ei- haltsberatungen bisher passiert ist: Sie haben die Ansätze nem halben Jahr wollen Sie 20 Milliarden Euro nach bis zum heutigen Stand genau um 229 Millionen verän- Deutschland zurückholen und daraus 5 Milliarden Euro dert. für die öffentliche Hand abschöpfen. Was sollte eigentlich (Walter Schöler [SPD]: Falsch!) die Menschen dazu veranlassen, 25 Prozent Steuern auf einen bestimmten Betrag für die gesamte Zeit, in der sie Das sind noch nicht einmal 0,1 Prozent Veränderung be- ihr Geld im Ausland hatten, zu zahlen? zogen auf das Gesamtvolumen des Haushalts. Ich glaube, das spricht für sich selbst und zeigt, dass (René Röspel [SPD]: Sie haben ständig das mit Realität nichts zu tun hat. Weil Sie selber nicht da- Erhöhungsanträge gestellt!) ran glauben, versehen Sie das Ganze mit Kontrollmittei- Bei den Steuereinnahmen unterstellen Sie trotz sich ver- lungen und möglicherweise dem Versuch, dasBank- mindernden Wachstums eine Zunahme. Das macht doch geheimnis aufzubrechen. deutlich, dass Sie überhaupt nicht erkennen, wie die Rea- (Walter Schöler [SPD]: Sie schützen die lität in Deutschland tatsächlich aussieht. Steuerhinterzieher, Herr Austermann!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) So kann man das nicht betreiben. Das Gleiche trifft auf meinen zweiten Punkt, das Der Bundesfinanzminister hat einen Lieblingsspruch. Thema Arbeitsmarkt, zu. Wir haben im letzten Jahr Er sagt immer, der Haushalt sei auf Kante genäht. Wir sa- (B) 5,6 Milliarden Euro Zuschuss an die Bundesanstalt für (D) gen, der Haushalt ist auf Sand gebaut. Weil er auf Sand ge- Arbeit vorgesehen. Im Haushaltsgesetz haben Sie eine baut ist, muss er weg. Das gilt in gleicher Weise für den Liquiditätsreserve für die Bundesanstalt – das heißt, der Bundesfinanzminister. Bund darf der Bundesanstalt helfen – in einer Größenord- nung von 7 Milliarden Euro eingeplant – wobei dieser An- (Walter Schöler [SPD]: Keine Argumente!) satz deutlich gestiegen ist. Das heißt, Sie glauben selber – Doch, ich habe es Ihnen genau vorgerechnet, Herr nicht, dass die Bundesanstalt ohne einen Zuschuss aus- Schöler. kommt. Im Haushaltsplan unterstellen Sie aber, dass das so sein wird. 7 Milliarden Euro zusätzlich wären in etwa Wer in schamloser Weise wie vor der Bundestagswahl angebracht, weil man wegen Ihrer Politik leider davon mit dem ersten Entwurf für diesen Haushalt und nach der ausgehen muss, dass die Arbeitslosigkeit in diesem Jahr Bundestagswahl mit dem zweiten Entwurf die Öffentlich- steigt. Wenn Sie bei geringerer Arbeitslosigkeit im letzten keit und den Souverän belogen und betrogen hat, der hat Jahr schon 5,6 Milliarden Euro in die Hand nehmen muss- dieses Amt nicht länger verdient. Er muss die Konse- ten, dann müssen es in diesem Jahr noch mehr sein. Sie quenzen ziehen und kann seinen Haushaltsentwurf gleich sprechen aber von einem Nullzuschuss. Das hat mit der mitnehmen. Realität nichts zu tun. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Widerspruch bei der SPD) Wenn man dann noch sieht, dass die Zuständigen, Herr Gerster und Herr Clement, wie die Kesselflicker streiten, Präsident Wolfgang Thierse: (Walter Schöler [SPD]: Meinen Sie Merz oder Ich erteile das Wort Kollegin Anja Hajduk, Bündnis 90/ Merkel?) Die Grünen. ist nicht davon auszugehen, dass irgendetwas von dem, (Jörg Tauss [SPD]: Jetzt wird es wieder was als Hartz-Konzept bezeichnet wird, geeignet ist, die seriös!) Arbeitslosigkeit wesentlich zu verringern. Ich will Ihnen ein drittes Beispiel nennen: Arbeitslo- Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): senhilfe. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- (Jörg Tauss [SPD]: Nein! Geschäftsordnung ren! Der haushaltspolitische Sprecher der großen Opposi- haben wir!) tionsfraktion, der hier gerade lautstarke Worte gefunden Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2131

Anja Hajduk (A) hat, der sich zwei Wochen vor Abschluss des Haus-kann, dass wir positive Basiseffekte aus den Steuerein-(C) halts 2002 um 8 Milliarden Euro vertan hat, als er sagte, nahmen haben. Das wird sich fortsetzen. Darüber hinaus dass dieser Haushalt noch einmal 8 Milliarden Euro drauf- bekommen wir eine Zinsabgeltungsteuer, über die Sie satteln müsse – was erwiesenermaßen falsch war und nur gerade sogar einen positiven Nebensatz verloren haben. Sprücheklopferei in diesem Hause bedeutete –, der hat Das Thema wurde aufgegriffen, vielleicht nicht so, wie seine Seriosität doch schon vor zwei Monaten verspielt. Sie es wünschen; aber das Argument, dass das Thema Steuereinnahme nicht aktualisiert sei, stimmt nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Zweitens: Steuervergünstigungsabbaugesetz. Es ist schlicht falsch, was in Ihrem Antrag steht. In dem Antrag Zu dem Antrag der FDP – „Haushaltsentwurf 2003 der Bundesregierung ist genau das gleiche Volumen wie überarbeitet vorlegen“ –, über den wir hier beraten, kann im Haushalt enthalten. Haben Sie Ihren Antrag zu früh ge- ich nur sagen, sehr geehrter Kollege Koppelin: Wir sitzen schrieben? Das Risiko besteht darin, dass im Bundesrat seit acht Wochen intensiv zusammen und beraten diesen viele unionsgeführte Länder vertreten sind. Deshalb ha- Haushalt. ben wir ein Problem. Man muss sich den Realitäten an- (Jürgen Koppelin [FDP]: Aber ihr bewegt ja passen, meine Damen und Herren, und überlegen, ob man nichts! – Lachen bei der SPD) nicht in einem gewissen Maße dieEinnahmebasis der Länder und Kommunen stabilisieren muss und dafür Jetzt diesen Antrag vorzulegen ist eine Sonderinszenie- selber Verantwortung trägt. rung Ihrer Partei. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- und bei der SPD – [CDU/ SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) CSU]: Mehr Wachstum ist nötig!) Sie zwingen uns mit gespieltem Ernst eine Debatte auf. Im Zum dritten und vierten Punkt. Das ist mein Hauptan- Grunde zeigt das nur, dass Sie zur Spaß- und Gagfraktion liegen; in diesem Zusammenhang möchte ich auf den Ihrer Partei gehören. Kollegen Austermann eingehen. Kernpunkt der Haus- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haltsberatungen und im Grunde auch der politischen De- und bei der SPD – Dr. Wolfgang Gerhardt batte der letzten Monate ist doch, dass wir Strukturrefor- [FDP]: Können Sie mal was zum Haushalt sa- men und Änderungen auf dem Arbeitsmarkt brauchen. Sie gen?) scheinen zu kapitulieren, weil Sie davon sprechen, dass die Arbeitslosenhilfezahlungen höher liegen werden und Das passt aber eigentlich nicht zu der schwierigendass die Bundesanstalt für Arbeit einen Zuschuss braucht. Lage, in der wir uns befinden. In diesem Punkt haben wir (B) keine Differenz. Wir haben eine schwierigewirtschaft- Ich fordere Sie daher auf: Stellen Sie Anträge, die kon- (D) liche und finanzpolitische Lage. sumptiven Ausgaben im Haushalt 2003 zu erhöhen! Wir werden Ihnen dabei aber nicht folgen; denn wir sind be- ( [CDU/CSU]: Und eine reit, Strukturreformen auf den Weg zu bringen und Ein- schlechte Regierung!) sparungen vorzunehmen. Sie müssten einmal selber er- kennen, welche Hilflosigkeit Sie zeigen, indem Sie immer Dazu passt nicht, dass man nach acht Wochen Beratungen nur Pessimismus ausstrahlen. sagt, es sei alles so schwierig und man wolle noch einmal von vorne anfangen. Das ist schlicht und ergreifend (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lächerlich. und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich komme abschließend zum Fazit. Eine solide Politik, und bei der SPD) auch Finanzpolitik, muss sich auch unter schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen bewähren. Was sich eigentlich zeigt – ich will durchaus auf die Sa- che eingehen, denn das Thema ist es wert, in der Sache zu (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP]) streiten –, ist, dass Sie vor diesen wirtschaftlichen und fi- Sie muss Orientierung geben. Man darf aber nicht die nanzpolitischen Schwierigkeiten kapitulieren oder ange- Hände in den Schoß legen und sagen, es werde alles viel sichts dessen zumindest unentschlossen sind. schlimmer. Ich fordere Sie auf, bei den Strukturmaßnah- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN men in einen Wettbewerb mit uns zu treten, aber nicht mit und bei der SPD) Bitterkeit auf die Ergebnisse des Jahres 2002 zurückzu- blicken. Das hilft uns nicht weiter. Wir packen an. Unsere Ich kann das auch belegen, und zwar anhand Ihrer vier Pläne sind nach vorne gerichtet. Eine ausführliche De- Punkte; Sie haben sich ja Mühe gegeben, das aufzu-batte darüber führen wir bei den abschließenden Haus- schreiben. Sie schreiben, der Haushalt sei unter der An- haltsberatungen im März. nahme eines Wirtschaftswachstums von 1,5 Prozent auf- gestellt worden. Richtig! Wir haben in diesem Hause (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN öffentlich diskutiert, dass wir mittlerweile ein Wirt- und bei der SPD) schaftswachstum von 1 Prozent erwarten. Daraus haben wir Konsequenzen gezogen. Sie waren doch dabei! Wir Präsident Wolfgang Thierse: werden nach der alten Kalkulation Steuermindereinnah- men von 1 Milliarde Euro haben. Dazu gibt es mittler- Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den weile den Haushaltsabschluss 2002, in dem man erkennen Aufsetzungsantrag der Fraktion der FDP? – Wer stimmt 2132 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Präsident Wolfgang Thierse (A) dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Der Aufset- In meinem folgenden Beitrag werde ich mich auf die (C) zungsantrag ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/ Wiedereinsetzung der Enquete-Kommission konzentrie- Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP ren. Alle diesen Antrag tragenden Fraktionen waren sich bei Stimmenthaltung der beiden fraktionslosen Abgeord- in der Diskussion sehr bald einig, dass die Arbeit der En- neten abgelehnt. quete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Me- dizin“ fortgesetzt werden sollte. In diesem Wunsch Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf: drücken sich meiner Meinung nach zwei Dinge aus. Zum einen ist es gelungen, das verfassungsrechtlich a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, geschützte ganzheitliche Menschenbild und die Wahrung der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN der Menschenwürde gemäß Art. 1 des Grundgesetzes in Bezug zur heutigen biomedizinischen Entwicklung zu Einsetzung einer Enquete-Kommission „Ethik setzen. Es ist auch gelungen, zukunftsweisende Antwor- und Recht der modernen Medizin“ ten zu entwickeln. Die fachlich herausragenden Stellung- – Drucksache 15/464 – nahmen und Berichte der Kommission waren Basis der Diskussion im Bundestag. Sie ermöglichten die fundierte b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, Auseinandersetzung im Spannungsfeld zwischen Ethik der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE und Forschung und führten letztlich zu Normensetzun- GRÜNEN gen, die mit breiter Mehrheit getroffen werden konnten. Neue Initiative für ein internationales Verbot Zum anderen müssen wir aber auch feststellen: Es sind des Klonens menschlicher Embryonen starten Fragen offen geblieben und neue hinzugekommen. – Drucksache 15/463 – Die Enquete-Kommission der letzten Legislaturperi- ode hat sich zugunsten der Qualität ihrer Arbeit Beschei- c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike denheit auferlegt. Sie hat sich für einige Fragestellungen Flach, Cornelia Pieper, Christoph Hartmannentschieden, diese in die Tiefe gehend behandelt und be- (Homburg), weiterer Abgeordneter und der Frak- rechtigt gehofft, in dieser Legislaturperiode weiterarbei- tion der FDP ten zu können. Reproduktives Klonen weltweit verbieten – das In Zeiten, in denen sich Forschung und moderne Tech- Machbare schnell umsetzen nologie in geradezu explosionsartiger Geschwindigkeit – Drucksache 15/314 – entwickeln, laufen wir Gefahr, von der Entwicklung über- rollt zu werden, wenn wir uns nicht die Zeit nehmen, die (B) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln zu ergründen und (D) Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen zu bewerten. Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Kollegin Gudrun Schaich-Walch. Das Parlament hat gerade bei diesen Fragestellungen eine herausgehobene Führungsrolle. Es muss Anstoß zu einer Gudrun Schaich-Walch (SPD): tief gehenden öffentlichen Diskussion geben. Dafür Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und braucht die Kommission fundierte Grundlagen. Kollegen! Wir haben heute die Möglichkeit, in verbunde- Die im Deutschen Bundestag zu diesen grundlegenden ner Debatte sowohl über die Einsetzung der Enquete-Fragestellungen jenseits von Fraktionsgrenzen vertretene Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ als Meinungsvielfalt spiegelt die Situation in unserer Gesell- auch über den Antrag „Klonverbot“ zu beschließen. Der schaft wider. Die einen stehen den sich aus der modernen letztgenannte Antrag basiert auf der Diskussion und den Forschung ergebenden Möglichkeiten fasziniert, die an- Ergebnissen der Enquete-Kommission „Recht und Ethik deren vorsichtig bis ablehnend gegenüber. Beide Positio- der modernen Medizin“ der letzten Legislaturperiode. nen und alle dazwischenliegenden Facetten sind in der Ich möchte dies als ein positives Omen für die Arbeit Regel wohl begründbar und damit respektabel. Deshalb der kommenden Kommission bewerten. wäre es falsch, hierauf mit einer Kommission zu reagie- ren, die diese verschiedenen Haltungen oberflächlich zu- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sammenbringt, indem sie möglichst vage formulierte Ant- Ich möchte mich aber auch bei den Kolleginnen und Kol- worten anbietet, die zwar alle Positionen einschließen, legen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der aber schlussendlich nichts mehr wirklich deutlich ma- CDU/CSU sowie der eigenen Fraktion dafür bedanken, chen. Deshalb ist es für unsere Arbeit wichtig, nicht nur dass es uns gelungen ist, diese von drei Fraktionen getra- den Willen zum Konsens, sondern auch zutage getretene genen Anträge schnell und trotz des heiklen Themas in ei- Konflikte deutlich zu machen. nem, wie ich finde, sehr pfleglichen Umgang miteinander Unser Mandat verpflichtet jeden Einzelnen von uns, zu erarbeiten. Dafür ganz herzlichen Dank. sich am Ende der Debatte seiner Verantwortung zu stel- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ len, dort, wo es einer rechtlichen Regulierung bedarf, um DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der eine gemeinverträgliche Lösung zu ringen und schließlich CDU/CSU) Entscheidungen zu treffen – und dies auch dann, wenn Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2133

Gudrun Schaich-Walch (A) diese von einer Tragweite sind, die an unseren Grund- wechselseitiger Achtung ausgetragen werden. Ich bin(C) überzeugungen und manchmal auch an unseren Möglich- überzeugt, dass wir, wenn bei uns allen die Bereitschaft be- keiten rühren. steht, abweichende Meinungen zu respektieren, uns mit den anderen Argumenten sachlich auseinander zu setzen, Den bisher geschilderten Aufgaben und der Kultur, mit politisch überzeugende Lösungen finden werden, die den der in der letzten Legislaturperiode gearbeitet wurde,Ansprüchen der Menschen gerecht werden und die letzt- sollte sich eine neu zu bildende Kommission verpflichtet endlich auf einer breiten Basis beruhen und eine Binde- fühlen. Als inhaltlicher Leitfaden werden die im Ab-kraft in unserem Volk entwickeln können. schlussbericht der letzten Kommission dargestellten, offen gebliebenen und neu hinzukommenden Fragen dienen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie bitten, dem vorliegenden Antrag zur Einsetzung einer Enquete- Die neue Kommission wird sich mit einer Reihe von Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ Problemen beschäftigen. Zwei Punkte möchte ich heraus- zuzustimmen, die Arbeit dieser Kommission ebenso be- greifen: Wie können wir therapeutische Angebote fürherzt wie kritisch zu begleiten und sie für die von Ihnen Menschen entwickeln, die nicht in der Lage sind, ihre per- künftig zu fällenden Entscheidungen als ernst zu neh- sönliche Einwilligung im Forschungsprozess zu geben? mende Hilfestellung in Anspruch zu nehmen. Wir werden Antworten auf die Fragen derer finden müs- sen, die sich wünschen, dass mehr transplantiert wird, die Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. aber meiner Meinung nach in diesem Wunsch weit über (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ das Ziel hinausschießen, wenn sie glauben, es gebe in die- DIE GRÜNEN) ser Gesellschaft einen berechtigten Anspruch darauf, dass lebenden Menschen Organe abgekauft werden könnten. Wir werden uns damit auseinander setzen müssen, ob es Präsident Wolfgang Thierse: auch andere Möglichkeiten derOrgangewinnung gibt. Ich erteile das Wort Kollegin Maria Böhmer, CDU/ Ich hoffe, wir werden für die Beantwortung auch dieser CSU-Fraktion. Fragen zu einer guten Entscheidungsgrundlage kommen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir uns heute Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): dafür entscheiden, diese enormen Herausforderungen nicht in unserem normalen Alltagsgeschäft abzuwickeln, Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und sondern im Rahmen einer Enquete-Kommission, dann tun Kollegen! Es ist angebracht, einen Moment innezuhalten, wir dies, weil wir die sich aus der biomedizinischen For- denn wir legen heute zwei gemeinsame Anträge vor: ei- schung ergebenden Herausforderungen annehmen und nen Antrag zur Wiedereinsetzung der Enquete-Kommis- (B) deren Auswirkungen in ihrer ganzen Tragweite gerecht sion „Ethik und Recht der modernen Medizin“ und einen (D) werden wollen. Antrag für ein internationales generelles Klonverbot. Die Tatsache, dass wir uns zu einem solchen gemeinsamen Die einzusetzende Kommission ist deshalb gut beraten, Vorgehen zusammengefunden haben, veranlasst mich, nicht nur ihre Zielsetzungen und den abzuhandelndenherzlichen Dank zu sagen an alle Kolleginnen und Kolle- Fragenkatalog zu definieren, sondern auch hinsichtlich gen, die beteiligt waren und die es möglich gemacht ha- ihrer Grenzen Klarheit zu schaffen. ben, dass wir mit diesen Anträgen heute im Deutschen Jeder Parlamentarier ebenso wie jedes Mitglied der Bundestag ein so klares Signal setzen können. Kommission hat persönliche Wertvorstellungen, Ideale (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem oder Grundüberzeugungen einzubringen, die die Diskus- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sion bereichern, aber nicht dominieren sollen. Denn auch wenn der Einzelne das Menschenwürdeprinzip aus seiner Dieses Signal bedeutet, dass wir in diesem Hohen Hause christlichen Grundüberzeugung ableitet und verteidigt, eine breite und nachdrückliche Übereinstimmung für den muss uns die Einsicht einen, dass das Institut derMen- Schutz des menschlichen Lebens und für die unbedingte Wahrung der Menschenwürde haben. Darum geht es schenwürde ebenso aus anderen Grundüberzeugungen und das gilt es heute wieder zum Klingen zu bringen. abgeleitet werden kann. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP) Wir zeigen auch, dass wir den Weg, den wir in der ver- Diese Einsicht, liebe Kolleginnen und Kollegen, mag gangenen Legislaturperiode und auch davor eingeschla- sie uns heute noch manchmal banal erscheinen, sollten gen haben, weiter gehen wollen. Der Deutsche Bundestag wir nie aus dem Blick verlieren, auch und insbesondere war, ist und bleibt der Ort der Beratung, der Diskussion dann nicht, wenn die einen oder die anderen glauben, die und der Entscheidung in diesen wesentlichen Fragen des Wahrheit auf ihrer Seite zu haben. Letztlich wird auch menschlichen Lebens. Das kann nicht durch Kommissio- diese Kommission nichts daran ändern, dass es oftmals nen oder Gremien außerhalb ersetzt werden. Hier müssen die letzte Wahrheit nicht gibt und dass es oftmals auch, je die Entscheidungen gefällt werden und dessen sind wir nachdem, auf welcher Seite man steht, für den Einzelnen uns als Abgeordnete sehr wohl bewusst. mehrere Wahrheiten geben kann. Sie wird aber neben Er- kenntnisgewinn einen wichtigen Beitrag zur Weiterent- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wicklung unserer Streitkultur im Bundestag leisten können, neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE wenn die in der Diskussion zutage getretenen Konflikte in GRÜNEN) 2134 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Dr. Maria Böhmer (A) Wir sind uns auch bewusst: Der Mensch muss seine meinsamen Antrag auf ein weltweites generelles Klon-(C) Grenzen sehen und er muss sie achten. Wir sind Ge-verbot. Wir folgen damit der Position, die wir im letzten schöpfe und nicht Schöpfer. Wir stehen in der Verantwor- Juni im Deutschen Bundestag beschlossen haben und von tung, die Schöpfung zu bewahren. Davon ausgehend ha- der wir wissen, dass sie zur Richtschnur für die Bundes- ben wir vor 13 Jahren mit dem Embryonenschutzgesetz regierung in den Verhandlungen bei den Vereinten Natio- eine klare Grenzziehung vorgenommen, die wir mit dem nen werden muss. Stammzellgesetz bekräftigt haben. Viele werden natürlich fragen, warum wir ein umfas- Wir sind von einer Grundposition ausgegangen, und sendes Klonverbot erreichen wollen. Reicht es denn nicht, diese Grundposition ist auch heute für die Frage „Wie nur das reproduktive Klonenzu ächten? Muss es denn verhalten wir uns beim internationalen umfassendenauch das so genannte therapeutische Klonen sein? Liegen Klonverbot?“ von entscheidender Bedeutung. Menschli- darin denn nicht Heilungschancen für Menschen? Könnte ches Leben ist von Anfang an, das heißt schon ab dem das denn nicht vielen Menschen helfen, die heute nicht frühen Stadium der Totipotenz, zu schützen. Menschli- wissen, ob die Medizin jemals einen Weg findet, um sie ches Leben steht nicht in der Verfügung anderer. Mensch- von einer schweren Krankheit zu heilen? lichem Leben kommt in jeder Phase, vom Beginn bis zum Hier ist es wichtig, zu verdeutlichen, was das so ge- Ende, die volle Menschenwürde zu. Das ist Ausdruck von nannte therapeutische Klonen überhaupt ist und was die Art. 1 und Art. 2 des Grundgesetzes. Das ist die Richt- Forscher hierzu sagen. Das haben wir in unserem Antrag schnur für unsere Entscheidung und für unser Handeln in sehr deutlich gefasst. Wir haben niedergelegt – das ent- diesem Land. spricht der Wissenschaft –, dass der Weg bis hin zum Ent- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- stehen des Embryos beim reproduktiven und beim so ge- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nannten therapeutischen Klonen identisch ist: Es wird eine Eizelle entnommen; sie wird entkernt; in sie wird der Nicht nur national, sondern global werden wir mit Kern zum Beispiel einer Hautzelle eingesetzt; dann findet Schlüsselfragen der Menschheit konfrontiert wie nie zu- Teilung statt; das Ergebnis ist ein Embryo. EinEmbryo vor. Eine dieser Schlüsselfragen lautet, wie wir als Men- ist aber doch ein Mensch und nichts anderes. Er ist kein schen in Zukunft existieren wollen. Diese Frage betrifft Zellhaufen und auch nicht – wie die FDP schreibt – ein jeden Einzelnen, also das Individuum, sie betrifft aber unvollständiger Mensch. Ich frage mich, was denn ein un- auch unsere gesamte Gattung. Sie ist nicht nur für unsere vollständiger Mensch ist. Ab wann ist denn ein Mensch Gesellschaft wichtig, sondern für die globale Gesellschaft vollständig? Ist er das ab dem dritten Tag, ab dem 14. Tag der Menschen. Es geht um die Klärung, wie wir mit dem oder erst ab Geburt? Ich glaube, eine solche Festsetzung immer weiter anwachsenden biomedizinischen Wissen wäre Willkür. Deshalb müssen wir ganz klar und deutlich (B) umgehen sollen. Es geht darum, zu klären, in welchen Be- (D) sagen: Dort, wo ein menschlicher Embryo ist, ist mensch- reichen wir bereit sind, dieses Wissen auf unsere eigene liches Leben. Das haben wir als Gesetzgeber im Stamm- Gattung anzuwenden, und wo wir sagen, hier sind Gren- zellgesetz auch so definiert. Ich rate allen, dort § 3 Abs. 4 zen zu beachten und zu respektieren. Diese Grenzen wol- nachzulesen. Dort haben wir festgeschrieben – die FDP len wir nicht nur national, sondern auch international ge- hat übrigens zugestimmt –: würdigt sehen. Im Sinne dieses Gesetzes ... ist Embryo bereits jede (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) menschliche totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen Bei der Diskussion um ein internationales umfassen- der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen des Klonverbot – ich will mich darauf konzentrieren, zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln weil die Kollegin Schaich-Walch schon sehr ausführlich vermag. zur Enquete-Kommission gesprochen hat – wird die Das ist die Grundlage, von der wir ausgehen. ganze Wucht und Brisanz dieser Frage deutlich. Die Empörung war einmütig, als in der Weihnachtszeit die (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- Raelianersekte behauptete, es sei das erste Klonbaby ge- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten boren. Unabhängig davon, ob diese Behauptung wirklich der SPD) wahr ist – das bezweifle ich wie viele andere –, gilt es Ich finde es höchst bedenklich, wenn uns mit dem Be- trotzdem, ein deutliches Signal zu setzen. Wir müssen griff therapeutisches Klonen etwas suggeriert wird, von festhalten: Das Klonen von Menschen ist in jeder Hinsicht dem uns die Wissenschaftler sagen, dass es nicht einlösbar verantwortungslos und verwerflich. ist. Therapeutisches Klonen, das suggeriert in der Tat, Hei- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem lung könnte morgen greifbar sein. Professor Winnacker BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- hat aber in seiner Neujahrsansprache bei der Deutschen ordneten der FDP) Forschungsgemeinschaft klar erklärt: Therapeutisches Klonen ist ein Irrweg. Er begründet das in dreierlei Hin- Die Meinungen zu dem so genannten therapeutischen sicht. Ich will hier nur einen Aspekt nennen. Er sagt: Aus Klonen sind dagegen gespalten. Das erleben wir heute den Stammzellen, die dem Embryo entnommen werden, auch im Deutschen Bundestag. Es liegt ein Antrag der können sich genauso gut auch Tumorzellen entwickeln. FDP vor, der im Grunde genommen das Bemühen wider- spiegelt, die Tür offen zu halten. Aber was Not tut, ist, Was bedeutet das? Wir haben es bei der Gentherapie Klarheit in der Sache und in der Entscheidung zu schaf- in der Klinik Necker in Paris gerade erlebt. Dort bestand fen. Darum muss es gehen. Wir zielen mit unserem ge- die Hoffnung, dass Kindern, die eine große Immun- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2135

Dr. Maria Böhmer (A) schwäche haben, durch die Gentherapie geholfen werden nicht beschreiten. Deshalb sind wir für ein internationales (C) könnte. Das Ergebnis ist erschreckend: Viele dieser Kin- Klonverbot. der sind heute leukämiekrank. Ich halte es für nicht ver- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem antwortbar, zu Möglichkeiten zu greifen, die nicht über- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schaubar sind und die den Menschen statt Heilung neues Leid bringen. Ich bin sehr froh, dass wir diese Einigung im Deut- schen Bundestag erzielen, auch wenn immer wieder an- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem gezweifelt wurde, dass der Weg richtig ist. Wir leiten hier BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) eine Strategieveränderung ein, sodass bei derUN nicht Wenn man mit Wissenschaftlern, die wahrlich nicht auf zwei Stufen verhandelt wird. Wir wollen stattdessen, aus der zweiten oder dritten Reihe kommen, spricht, stellt dass auf einer Stufe verhandelt und beides zugleich er- sich ein Zweites heraus. Die Nobelpreisträgerin Nüsslein- reicht wird. Weil es ansonsten schwer erreichbar wäre, ha- Vollhard sagt – ich möchte es mit meinen Worten wieder- ben wir uns sehr intensiv darüber verständigt. Ich habe die geben –, dass es von den Methoden und vom Verfahren Signale der Bundesregierung aufgenommen, dass sie be- her fast utopisch ist, zu einem therapeutischen Klonen zu reit ist, diesen Weg mitzugehen. kommen, weil schon das Entwickeln einer Blastozyste na- Angesichts der neuen Entwicklungen im amerikani- hezu unmöglich ist. Daraus Stammzellen zu gewinnen ist schen Senat und angesichts der Entwicklungen bei der mit erheblichen Schwierigkeiten behaftet. Sie spricht da- französischen Regierung – ganz in unserem Sinne ist man von, dass wahrscheinlich selbst die verbissensten For- dort im Bereich der Gesetzgebung für Bioethik und Gen- scher von dieser Methode Abstand nehmen und zu viel- technologie vorangeschritten – schätze ich es so ein, dass versprechenderen Methoden überwechseln werden. es eine gute Chance gibt, diesen Weg gemeinsam mit (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Dann können Frankreich weiterzuentwickeln und auf UN-Ebene zu ei- wir es doch abwarten! Warten wir es doch ein- ner internationalen Konvention zu kommen, die es mal ab!) möglich macht, beides zugleich zu ächten. Das muss alle Kraftanstrengung wert sein. Ich hoffe, dass die Bundesre- – Herr Gerhardt, als Antwort auf Ihren Zwischenruf sage gierung diese Kraft aufbringen und einsetzen wird. ich: Wir dürfen keinen Weg beschreiten, der Utopien und falsche Heilungserwartungen bedient. (Beifall bei der CDU/CSU) (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Richtig! Lassen Sie mich zum Schluss sagen – dies bedeutet die Einverstanden!) Einbettung in die neue Enquete-Kommission –: Wir wer- den nicht nur mit einer Schlüsselfrage konfrontiert sein, Wir müssen Wege beschreiten, die ethisch verantwortbar (B) sondern wir haben eine Vielzahl von Fragen zu beantwor- (D) sind und zum medizinisch Machbaren führen, damit Men- ten; denn die Entwicklung führt uns in immer neue Grenz- schen wirklich Hilfe zuteil wird und damit wir die Kräfte bereiche. Ich will an einen Satz aus Faust II erinnern. dort konzentrieren können, wo es einen Sinn macht, wo Mephisto ist im Laboratorium und fragt Wagner: Was gibt wir also nicht in die falsche Richtung laufen. Deshalb ist es denn? – Wagner antwortet ihm: Es wird ein Mensch ge- unsere Position an dieser Stelle so klar. macht. Ein großer Vorsatz scheint im Anfang toll. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem Wir werden in der Tat mehr können, als wir dürfen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Aber es kommt jedes Mal unvermeidbar die Frage auf uns Ich will noch einen weiteren Aspekt zur Sprache brin- zu, die Dieter Grimm aufgeworfen hat: Man muss immer gen. Ich frage Sie: Was würde es bedeuten, wenn das so fragen, ob man das, was möglich ist, auch wollen soll. Wir genannte therapeutische Klonen entgegen allen Erwar- können diese Frage nur auf der Grundlage unser Verfas- tungen tatsächlich gelingen könnte, wir also Therapien er- sung und unseres Menschenbildes beantworten: Die halten könnten? Der Nobelpreisträger Jaenisch hat uns Würde des Menschen ist unantastbar. auf einen Punkt aufmerksam gemacht: Wir bräuchten eine Ich danke Ihnen. Vielzahl von Eizellen. Um für 17 Millionen Diabetespati- enten allein in den USA Therapien bereitstellen zu kön- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nen, bräuchte man hochgerechnet 850 Millionen Eizellen. neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Jetzt frage ich Sie: Wo wollen Sie 850 Millionen Eizellen herbekommen? Jaenisch sprach hier von einer sich ab- zeichnenden neuen Form der Prostitution von Frauen. Präsident Wolfgang Thierse: Das würde besonders Frauen in der Dritten Welt betref- Ich erteile dem Kollegen Reinhard Loske, Bündnis 90/ fen, die in einer neuen Art und Weise ausgebeutet werden Die Grünen, das Wort. würden. Ich muss Sie fragen: Ist es von uns wirklich verant- (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wortbar, einen solchen Weg auch nur zu erwägen? Wir Dr. Reinhard Loske müssen sowohl das, was ethisch geboten ist, als auch das, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! was von der Forschung her überlegenswert ist, sowie die Nachdem sich der Deutsche Bundestag in der letzten Le- Tatsache, dass Frauen nicht als neue Rohstofflieferantin- gislaturperiode ausgiebig mit der Frage der Stammzellen- nen missbraucht werden dürfen, berücksichtigen. Das ist forschung befasst hat, stehen in dieser Legislaturperiode ein zweiter Grund dafür, zu sagen: Diesen Weg wollen wir nicht minder schwierige biopolitische Fragen an. Ich 2136 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Dr. Reinhard Loske (A) nenne nur einige: die Frage der Biopatentierung, Fragen schen wesentlich schwerer fällt als die des reproduktiven (C) der Fortpflanzungsmedizin, wie der Präimplantationsdia- Klonens, weil für diese Technologie auch mit den Argu- gnostik, die internationale Regulierung des Klonens und menten des Heilsversprechens und der Forschungsfreiheit andere Fragen der roten und der grünen Gentechnik. geworben wird. Ich meine aber, dass die Einwände – ich werde sie kurz vortragen – im Abwägungsprozess letzt- Man kann wohl sagen: Es ist der gemeinsame Wille des Hauses, die anstehenden Debatten auf der Grundlagelich wesentlich schwerer wiegen. möglichst umfassender Informationen und im Geiste Das erste Argument ist am schwerwiegendsten: wechselseitigen Respekts zu führen. Diese gute Tradition, Menschliches Leben oder Vorformen desselben werden die wir in der letzten Legislaturperiode begonnen haben, für bestimmte Zwecke verfügbar gemacht. Es wird pro- sollten wir fortsetzen. Wir sollten das auf der Basis der Ar- duziert und dann als medizinischerRohstoff benutzt. beit der Enquete-Kommission tun, deren Einrichtung wir Hans-Jochen Vogel hat es folgendermaßen formuliert: heute beschließen. Sie hat in der letzten Legislaturperiode Der Embryo erhält Warencharakter. sehr gute Arbeit geleistet. Ich bin davon überzeugt, dass sie das auch in dieser Legislaturperiode tun wird. Sicherlich wird nicht jeder schon dem Mehrzeller in der Petrischale die Menschenwürde zusprechen wollen. Heute befassen wir uns mit der Frage einer interna- Wer das aber nicht will, muss glaubhaft begründen, an tionalen Regelung des Klonens, des reproduktiven Klo- welcher Stelle das menschliche Leben stattdessen be- nens und des so genannten therapeutischen oder auch ginnt: mit der Einnistung im Mutterleib, dem Abschluss Forschungsklonens. Beide Techniken sind in Deutsch- der Organentwicklung oder erst mit der Geburt. Jürgen land durch das Embryonenschutzgesetz verboten. Das Habermas hat vor etwa einem Jahr dafür plädiert – dem reproduktive Klonen – sollte es beim Menschen jemals Grundgesetz folgend –, den Embryo in Antizipation wie gelingen – zielt darauf ab, die Kopie eines existierenden eine Person zu behandeln, die sich verhalten könnte. Er Menschen zu erzeugen, also ein genetisches Duplikat. warnte vor einer Denkweise, die alles außerhalb des eige- Eine weibliche Eizelle wird entkernt – das wurde gerade nen Subjekts nur noch als Ding betrachtet. Dieser Sicht- von Frau Böhmer beschrieben –, die Erbinformationen weise können sich sicherlich viele Menschen anschließen. eines existierenden Menschen werden injiziert und der Ich jedenfalls kann das. so entstandene Embryo wird in den Mutterleib einge- pflanzt. Als zweites wesentliches Argument aus einer gesell- schaftspolitischen Perspektive sind vor allem die Ökono- Ein solches Verfahren – ich glaube, das kann ich im misierungstendenzen in der Biomedizin anzuführen. Namen des ganzen Hauses sagen – ist moralisch voll-Wer wirklich ernsthaft in das so genannte therapeutische kommen unverantwortbar. Es verletzt elementar die Men- Klonen einsteigen will, der benötigt dafür Hunderttau- (B) schenwürde und macht den Menschen vom Subjekt zum sende – eben war sogar von Millionen die Rede – Eizel- (D) Objekt, vom gezeugten zum produzierten Wesen. Dem len. Das würde die Frau praktisch auf die Rolle einer geklonten Menschen würde eine sehr schwere Bürde hin- Rohstofflieferantin reduzieren. Ich meine, dass diese sichtlich seiner Identität und seiner Individualität auf- Vorstellung nicht akzeptabel ist. Es gehört nicht viel Fan- geladen. Der Schweizer Ethikrat hat dazu festgestellt: Wer tasie dazu, sich vorzustellen, dass der schwunghafte Han- als Kopie erzeugt wird, dürfte es sehr schwer haben, zum del mit der Ware Eizelle vor allem in den Entwicklungs- Original zu werden. Die französische Regierung will das ländern stattfinden würde. Das wäre eine sehr fragwürdige reproduktive Klonen als Verbrechen nicht nur gegen die Praxis, die wir auf keinen Fall unterstützen sollten. Menschlichkeit, sondern auch gegen die Menschheit ahn- den und dafür drakonische Strafen verhängen. Dieser Weg (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- weist in die richtige Richtung. Wir sollten uns überlegen, wie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/ ob wir ihm folgen. CSU) Das Forschungsklonen, das so genannte therapeuti- Es muss immer wieder gefragt werden, ob es nicht bes- sche Klonen, so es denn jemals gelingen sollte – diese sere Heilverfahren gibt, die ethisch und gesellschafts- Einschränkung muss man immer wieder machen; Frau politisch weniger fragwürdig sind, etwa die Forschung an Böhmer hat die Ursachen dafür beschrieben –, ist von der adulten Stammzellen. Vonseiten der Politik sollten wir al- Technik her mit dem reproduktiven Klonen identisch. Das les tun, damit diese Forschung angemessen unterstützt dürfen wir nicht vergessen. Auch hier wird das gleiche wird. Verfahren angewandt: Eine Eizelle wird entkernt, in sie Was die Wissenschaftsfreiheit betrifft, so ist dieFor- wird die DNA eines existierenden Menschen injiziert. Der schungsfreiheit – das sage ich als jemand, der selber Unterschied besteht technisch gesehen darin, dass der so lange in der Forschung tätig gewesen ist – zwar ein wich- geklonte Embryo nach einem bestimmten Stadium der tiges Argument, das durchaus ernst zu nehmen ist. Es geht Zellteilung mit dem Ziel „verbraucht“ wird, embryonale aber nicht an, den gesamten Bereich der Biomedizin im Stammzellen für die Forschung zu gewinnen. Für diese Wesentlichen der wissenschaftlichen Selbstkontrolle zu Methode wird von den Befürwortern mit dem Argument überlassen, wie es beispielsweise der Genforscher Detlef geworben, dass damit in Zukunft vielleicht einmal Ge- Ganten vorschlägt. Ich meine vielmehr, dass die Gesell- webe und Organe gezüchtet werden, die dann vom Emp- schaft insgesamt und die Politik im Besonderen Verant- fänger nicht abgestoßen würden. wortung trägt, und zwar sowohl für das Schaffen von Es ist sicherlich nachvollziehbar, dass die moralische Handlungsräumen als auch für das Ziehen von Grenzli- Beurteilung des Forschungsklonens den meisten Men- nien. Aus dieser Verantwortung kann uns niemand entlas- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2137

Dr. Reinhard Loske (A) sen. Wir müssen und wir wollen diese Verantwortungnur so können wir international zu einer überzeugenden (C) wahrnehmen. Regelung kommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/ Wir unterstützen die Bundesregierung bei einem ein- CSU) stufigen Verfahren, um auf UN-Ebene zu einer möglichst Das gilt nicht nur auf nationaler, sondern auch auf in- umfassenden Regelung zum Verbot des Klonens zu kom- ternationaler Ebene. Ich meine sogar, es gilt besonders auf men. Das Hohe Haus gibt der Bundesregierung für diese internationaler Ebene. Denn ebenso wie die Nichtverbrei- Verhandlungen breite Unterstützung. tung von Atomwaffen, die Menschenrechte oder der Kli- Danke schön. maschutz bedarf auch dieZiehung von bioethischen Grenzen der internationalen Regelung. Deshalb halte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- ich es für ein großes Verdienst der deutschen wie auch der wie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/ französischen Regierung, dass sie das Verbot des Klonens CSU) auf die internationale Tagesordnung gesetzt haben; denn das Thema wurde dort vorher nicht berücksichtigt. Dafür Präsident Wolfgang Thierse: möchte ich der Bundesregierung meinen Dank ausspre- chen. Das Wort hat nun Kollegin Ulrike Flach, FDP-Frak- tion. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Ulrike Flach (FDP): Richtig ist aber auch, dass im November 2002 die Bemühungen auf internationaler Ebene zumindest vor- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich werde läufig gescheitert sind. Es gab eine Konstellation, in der mich jetzt nicht zur Enquete-Kommission äußern – das auf der einen Seite unter Führung der USA die Staaten wird gleich mein Kollege Parr tun –, sondern mich auf das Thema konzentrieren, das die Menschen in unserem standen, die sofort beide Formen des Klonens verbieten Lande umtreibt: das Klonen von Menschen. An den An- wollten; auf der anderen Seite stand mit Großbritannien, fang stelle ich, dass niemand in diesem Hause, am aller- Israel, China und Singapur eine Gruppe von Staaten, die wenigsten die FDP, gegen ein Verbot des reproduktiven das therapeutische Klonen zulassen wollten. Die deutsch- Klonens ist. französische Initiative vertrat eine Position in der Mitte und hat zunächst für ein zweistufiges Verfahren plädiert, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (B) nämlich erst das reproduktive Klonen zu ächten und dann der SPD) (D) das therapeutische Klonen zu regeln. Dieser Weg führte Das Klonen von Menschen, wie es dubiose Wissenschaft- wie auch alle anderen Wege nicht zum Ziel. Jetzt stehen ler und Sekten vorhaben oder bereits durchgeführt haben, wir vor einer neuen Situation und müssen in den vor uns muss weltweit geächtet und verboten werden. Diese For- liegenden acht oder neun Monaten bis zur nächsten UN- derung, meine Damen und Herren, hat in diesem Hause Vollversammlung das Fenster der Möglichkeiten nutzen. die FDP als erste Fraktion erhoben. Kern des Antrages ist, dass der Deutsche Bundestag die Bundesregierung und die französische Regierung darin (Beifall bei der FDP) unterstützt, international für eine möglichst weit gehende Aus diesem Grunde können Sie sicherlich nachemp- Ächtung des Klonens zu werben. finden, dass ich die Auffassung vertrete, dass ein Verbot (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- des Klonens schnell erreicht werden muss. Deutschland wie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/ und Frankreich hatten im Oktober vergangenen Jahres ei- CSU) nen, wie wir meinen, sehr guten Antrag bei den Vereinten Nationen eingebracht. Seine Grundaussage lautete, das Ganz kurz zur Situation in anderen Ländern: In Frank- reproduktive Klonen sofort zu verbieten und andere For- reich hat der Senat beschlossen, dass beide Formen des men des Klonens, das therapeutische Klonen, später und Klonens verboten werden sollen. Damit wäre die Rechts- differenzierter anzugehen. Dieser Antrag – das haben wir lage in Deutschland und Frankreich gleich, sodass wir eben gehört – fand ebenso wie der Antrag der USA, Spa- international sehr glaubwürdig agieren könnten. In den niens und Italiens, alle Formen des Klonens zu verbieten, Vereinigten Staaten gibt es bislang eine Glaubwürdig- keine Mehrheit. keitslücke; das muss man ganz klar sagen. Die US-Regie- rung tritt international für eine sehr weit gehende Rege- Jetzt haben sich einige Kollegen von SPD, Grünen und lung, nämlich ein vollständiges Verbot beider Formen des CDU/CSU – aber eben nicht die Fraktionen; das ist eine Klonens, ein, regelt aber auf nationaler Ebene praktisch falsche Darstellung – gar nichts. Bischof Fürst aus Rottenburg hat vor wenigen (Zuruf von der SPD: Aber überwiegend!) Tagen, als er von einer USA-Reise zurückkam, gesagt, eines anderen besonnen und einen Antrag eingebracht, der Präsident Bush sei zwar gegen das Klonen, um seine reli- die deutsch-französische Regierungsposition aufgibt und giös-konservativen Anhänger zu beruhigen, lasse aber un- die amerikanische Position übernimmt. ter dem Deckmantel dieser Rhetorik die Fruchtbarkeits- industrie gewähren. Daher erwarten wir, dass dieDa es für uns das entscheidende Kriterium ist, wie wir US-Regierung ihre Glaubwürdigkeitslücke schließt; denn möglichst schnell zu einem weltweiten Verbot des Klonens 2138 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Ulrike Flach (A) von Menschen kommen, muss man sich dieErfolgs- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C) chancen dieser Anträge ansehen. Ministerin Bulmahn der SPD) – ich mache mir jetzt natürlich Gedanken darüber, warum Wenn die Forschung an embryonalen Stammzellen ei- sie heute ebenso wie Kollege Fischer, der bei dieser An- nes Tages zum Erfolg und damit zuTherapiemöglich- gelegenheit federführend ist, nicht anwesend ist – keiten führen sollte – wir alle wissen nicht, was dann sein (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wird –, dann wollen die meisten Länder dieser Welt frei der CDU/CSU) über deren Einsatz entscheiden können. Genau das will auch die FDP. hat noch im Januar erklärt, es gehe darum, „das zurzeit Mögliche zu erreichen“; eine „rechtliche und ethische Be- (Beifall bei der FDP) wertung ist noch nicht abgeschlossen“. Ich erinnere auch Das verbieten Sie in Ihrem Antrag. Sie müssen sich des- an die erstaunliche Einschätzung des Staatssekretärs halb zu Recht fragen lassen, warum Sie glauben, mit Chrobog vom Auswärtigen Amt in der letzten Woche im höheren Forderungen schneller ans Ziel zu kommen. Das Ausschuss für Bildung und Forschung, dass Ihr Antrag in- ist ungefähr so, als packten Sie einem Läufer noch viele ternational keine Chance auf Durchsetzbarkeit habe. Steine in seinen Rucksack, damit er schneller ans Ziel (Beifall bei Abgeordneten der SPD) kommt. Der Staatssekretär erklärte, es gebe drei Gruppen: Die Offenbar sehen das auch viele Kolleginnen und Kolle- Maximalisten seien die USA, Spanien, der Vatikan und, gen in der SPD-Fraktion und, wie ich höre, auch in der sofern Ihr Antrag beschlossen wird, auch Deutschland. Fraktion der Grünen so, denn uns liegen eine Reihe von Dann gebe es die Minimalisten, die nach Möglichkeit kein Erklärungen vor, die besagen, sie könnten nicht für den ge- Verbot wollen. Schließlich gebe es die Realisten; dasmeinsamen Antrag von Rot-Grün und Union stimmen. Ich seien bis zum heutigen Tage Deutschland und Frankreich würde mich freuen, liebe Kollegen, wenn Sie die Tradition mit der damaligen Initiative, die Sie jetzt verlassen und in der Debatte über das Stammzellgesetz beibehalten und die wir, die FDP, in unserem Antrag unterstützen. in diesem Falle unseren Antrag unterstützen würden. Ähnlich hat sich übrigens auch der Vorsitzende des (Beifall bei der FDP) Nationalen Ethikrates, Simitis, geäußert. Auch er hält Lassen Sie mich noch ein Argument vertiefen: Mich offensichtlich nichts davon, den Kernpunkt der Debatte, hat etwas erstaunt, wie kritiklos einige der Antragsteller das Klonen von Menschen, durch weitere Forderungen zu aus der SPD und von den Grünen die Position der USA überfrachten. hinsichtlich des internationalen Klonverbots überneh- (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Sehr richtig!) men. Fakt ist, dass die USA auf nationaler Ebene keine (B) (D) Regelungen betreffend das Verbot des Klonens haben, Es macht keinen Sinn, das therapeutische Klonen in den sich aber international zum Vorreiter von Maximalforde- Forderungskatalog einzubeziehen. rungen machen. Diese Position ist aus meiner Sicht alles (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten andere als moralisch überzeugend. der SPD) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Das therapeutische Klonen soll helfen, Zellgewebe der SPD) zum Beispiel für Herz-, Leber- oder Muskelzellen zu ge- Zumindest ist es seltsam, dass die Kolleginnen und Kol- winnen. Das Verfahren beginnt zwar ähnlich wie das des legen von Rot-Grün, die den USA sonst immer sehr skep- reproduktiven Klonens, tisch gegenübertreten, (Jörg Tauss [SPD]: Völlig identisch!) (Widerspruch bei der SPD) aber es dient ausdrücklich nicht dazu, einen Menschen zu nun gerade beim Verbot des Klonens diese Position of- reproduzieren, und das ist es doch, wovor die Menschen fensichtlich vorbehaltlos übernehmen. Angst haben. Simitis fordert deshalb eine differenzierte Bewertung und damit hat er vollkommen Recht. (René Röspel [SPD]: Aber wir handeln auf Basis der Gesetzeslage!) In Deutschland gibt es zurzeit keinen einzigen seriösen Wissenschaftler, der auf die Idee käme, ein Forschungs- – Wir auch, liebe Kollegen. vorhaben zum reproduktiven Klonen zu beantragen. Wir fordern die Bundesregierung auf: Bleiben Sie bei (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Das ist ja der Position, die einen schnelleren Abschluss einer welt- auch verboten!) weiten Konvention gegen das Klonen von Menschen er- möglicht. Ich bin sehr froh, dass es hierüber in der Wissenschafts- community einen breiten Konsens gibt. (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Das ist doch gerade gescheitert!) Beim therapeutischen Klonen allerdings sehen viele Wissenschaftler zwar kurzfristig keinen Durchbruch hin- Belasten Sie diese Verhandlungen nicht übermäßig. Hal- sichtlich der Entwicklung neuer Therapien – hier bin ich ten Sie Kurs. Ich will es ganz direkt sagen: Es geht hier mit ihnen absolut einer Meinung –, aber sie wollen diese um die Hilfe für Menschen, die an sehr schwer zu thera- Option langfristig nicht ausschließen. Denn es geht doch pierenden Krankheiten leiden. Es geht nicht darum, die darum, kranken Menschen zu helfen. deutsche Debattenkultur noch weiter zu erhöhen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2139

Ulrike Flach (A) Herzlichen Dank. lichst umfassendes internationales Klonverbot zu errei-(C) chen. (Beifall bei der FDP) Wir wissen, dass die Auffassungen über diese Fragen international nicht einheitlich sind und der Versuch, in ei- Präsident Wolfgang Thierse: nem ersten Verhandlungsgang zu einem solchen Verbot zu Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatsse- kommen, gescheitert ist. Wir wissen, dass es eine relativ kretär Christoph Matschie. breite Mehrheit für ein Verbot des reproduktiven Klonens gibt und die Frage des therapeutischen Klonens sowohl in diesem Haus als auch international unterschiedlich beur- Parl. Staatssekretär bei der Christoph Matschie, teilt wird. Deshalb wird der Erfolg einer neuen deutsch- Bundesministerin für Bildung und Forschung: französischen Initiative nicht nur von einer möglichst Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir breiten Unterstützung in den beiden Parlamenten, sondern setzen heute in diesem Haus eine Debatte fort, die sich mit auch von der Qualität und der Überzeugungskraft unserer den ethischen und rechtlichen Grenzziehungen im Zu- Argumente abhängen. sammenhang mit den Möglichkeiten moderner Medizin Die Bundesministerin für Bildung und Forschung, und Forschung beschäftigt. Es ist gut, dass sich dieses , hat daher zu einerinternationalen Haus mit diesen Fragen immer wieder in einer breiten und Konferenz vom 14. bis 16. Mai eingeladen. Diese inter- intensiven Debatte auseinander setzt, denn die Erfahrun- nationale Konferenz soll sich mit dem gegenwärtigen gen der vergangenen Jahre haben gezeigt: Dieses Parla- Stand der Forschung und ihre ethischen Bewertungen so- ment muss die Entscheidungen im Hinblick auf diese Fra- wie den daraus zu ziehenden rechtlichen Konsequenzen gen fällen, niemand sonst. auseinander setzen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall bei Abgeordneten der SPD) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es wird eine Konferenz mit Teilnehmern aus Forschung, Wir haben in den Debatten der vergangenen Jahre – ich Politik, Wirtschaft und Verbänden sein, weil wir glauben, erinnere nur an die Auseinandersetzungen um dieFor- dass es nur unter der Voraussetzung eines weltweiten Pro- schung mit embryonalen Stammzellen– erlebt, dass zesses der interdisziplinären Verständigung letztendlich dieses Parlament über diese Fragen in großer Verantwor- zu überzeugenden Grenzziehungen und einem gemeinsa- tung und großem gegenseitigen Respekt für dieunter- men internationalen Vorgehen kommen kann. schiedlichen Positionen diskutiert hat und zu überzeu- genden Antworten gekommen ist. Wir alle haben in diesen Wir stehen in der Bundesrepublik Deutschland mit (B) Diskussionen erlebt, dass die Fortschritte der modernen dem Embryonenschutzgesetz, das ganz klar beide For- (D) Forschung und der modernen Medizin immer auf der ei- men des Klonens ausschließt, in dieser Frage rechtlich auf nen Seite zu neuen Hoffnungen auf Heilungschancen ge- einer sehr klaren Basis. führt, auf der anderen Seite aber natürlich auch die Sorge, Wir diskutieren heute auch über die Einsetzung einer dass der Mensch zur Verfügungsmasse werden könnte, neuen Enquete-Kommission, die sich mit Fragen von geweckt haben. In dieser Diskussion müssen wir uns mit Ethik und Recht in der modernen Medizin beschäftigt; beidem, mit den Hoffnungen und Chancen auf Heilung denn es gibt in anderen Bereichen offene Fragen, bei de- und mit der Sorge, dass Menschen zur Verfügungsmasse nen wir noch nicht zu einer solch klaren Entscheidung ge- gemacht werden könnten, auseinander setzen. kommen sind, wie uns das beim Embryonenschutzgesetz (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des oder beim Stammzellgesetz gelungen ist. Die neue En- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) quete-Kommission wird sich mit der Ziehung ethischer Grenzen und der Schaffung rechtlicher Regelungen aus- Ich bin überzeugt, dass die allermeisten Forscher und einander setzen müssen. Ich bin überzeugt, dass diese En- Mediziner ihrer Arbeit in sehr großer Verantwortung nach- quete-Kommission eine gute Voraussetzung dafür ist, gehen. Aber klar ist auch, dass die Meldungen der letzten dass dieses Parlament auch auf neue Fragen und Heraus- Wochen über Versuche, Menschen zu klonen,alle alar- forderungen moderner Medizin und Forschung überzeu- mieren müssen. Nicht allein die Tatsache, dass ein solcher gende Antworten finden wird. Versuch gelungen sein könnte, sondern schon die Tatsa- che, dass solche Versuche mit menschlichen Embryonen Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. durchgeführt werden, muss uns alle aufrütteln und dazu (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des bringen, möglichst schnell zu einem internationalen Ver- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) bot des Klonens von Menschen zu kommen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Präsident Wolfgang Thierse: BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Das Wort hat nun Kollege Thomas Rachel, CDU/CSU- Abg. [CDU/CSU]) Fraktion. Deshalb bin ich froh, dass uns heute ein Antrag vor- liegt, der von einer breiten Mehrheit dieses Hauses unter- (CDU/CSU): stützt wird. Der Antrag baut auf dem auf, was in der letz- Thomas Rachel ten Legislaturperiode als Ziel für die internationalen Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Verhandlungen formuliert worden ist, nämlich ein mög- Kollegen! Die biomedizinische Forschung ist eine der 2140 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Thomas Rachel (A) großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Mit ihr sches Klonen „Sackgasse und Irrweg“ sei, teile ich. The- (C) verbinden sich große Hoffnungen, Menschen besser hel- rapeutisches und reproduktives Klonen führen zu einem fen zu können. Zugleich stellt sie uns vor die Frage, wo Embryo, der einmal verworfen und das andere Mal zur die ethischen Grenzen menschlichen Forschens und Han- Herstellung eines identischen Menschen genutzt wird. delns liegen. Als Gesetzgeber haben wir die besondere Die beim therapeutischen Klonen entstehenden Zellen Verantwortung, diese Entwicklung zu begleiten. können Tumorzellen sein und vorzeitig altern. Für dieses Verfahren ist eine enorme Zahl von Eizellspenden erfor- Als Christ bin ich dem Schutz der Menschenwürde derlich. Dies lehne ich aus moralischen Gründen ab. verpflichtet, zu der für mich auch eine Ethik des Heilens gehört. Der Wille zu heilen, entspricht dem humanitären (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie Auftrag, Alten, Schwachen und Kranken zu helfen. In der des Abg. René Röspel [SPD] und des Abg. Dr. letzten Legislaturperiode haben wir gesehen, dass große Wolfgang Wodarg [SPD] und der Abg. Christa Fortschritte in Medizin und Biotechnologie der ethischen Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Begleitung bedürfen. Dieser Aufgabe wollen wir uns auch mit der neuen Enquete-Kommission stellen. Dabei müs- Professor Winnacker hat als Alternative für therapeuti- sen sich naturwissenschaftliche Erkenntnisse und neue sche Zwecke so genannte Stammzellbanken in die Dis- medizinische Möglichkeiten an dem Bild vom Menschen kussion gebracht. Dies wäre eine Sammlung von Zelllinien messen lassen, wie es in der Verfassung verankert ist und mit jeweils unterschiedlicher Gewebeverträglichkeit. Da- der christlichen Anthropologie entspricht. mit würde das Problem der immunologischen Abwehr für viele Patienten entfallen. Die Enquete-Kommission könnte (Beifall bei der CDU/CSU) die rechtlichen, die wissenschaftlichen und die ethischen Wir brauchen Entwicklungsmöglichkeiten für die Bio- Chancen von Stammzellbanken kritisch überprüfen. und Gentechnologie vor allem, weil diese Forschung es Die Errungenschaften der modernen Lebenswissen- uns ermöglichen kann, menschliches Leben zu bewahren schaften haben Einzug in unser Leben gehalten. Mit der und Leiden zu lindern. Aber dieser Freiraum findet seine Gendiagnostik kann man frühzeitig Krankheitsrisiken er- Grenze am absoluten Wert des Menschen, an der Men- kennen, sodass der Krankheit mit geeigneten Maßnahmen schenwürde. Manche der sich abzeichnenden Möglich- entgegengewirkt werden kann. keiten der Biomedizin haben eine völlig neue Qualität. So scheint die Möglichkeit auf, den Menschen in seiner bio- (René Röspel [SPD]: Wenn es sie gibt!) logischen Ausstattung selber zu verändern. Manche wol- Dies ist eines von vielen Beispielen, die zeigen: Ethisch len ihn sogar genetisch neu entwerfen. Dies wäre eine ab- begleiteter Fortschritt dient der Menschenwürde. schreckende Vision. Mit der vollständigen Entschlüsselung des menschli- (B) Für uns Christdemokraten ist in Übereinstimmung mit (D) chen Genoms verbindet sich die Hoffnung, mit den Mit- den beiden großen Kirchen klar, dass mit der Verschmel- teln der Gentherapie schwere Krankheiten zu besiegen. zung von Ei und Samenzelle menschliches Leben ent- Aber auch in diesem Bereich liegen Chancen und Risiken steht. Diese Auffassung kann nur eine Konsequenz haben: nah beieinander. Hoffnungsvolle Ansätze müssen immer Wir müssen ein weltweites Klonverbot erreichen. Hier auch auf die unbeherrschbaren Nebenwirkungen unter- ist die Bundesregierung gefordert, entschieden zu han- deln. Mit dem heute eingebrachten interfraktionellen An- sucht werden. Wir haben in der Enquete-Kommission da- trag fordern wir ein Verbot des reproduktiven und des the- rauf zu achten, welche Aufgaben die Politik und welche rapeutischen Klonens. Die Position der deutschendie Medizin hat. Bundesregierung muss dabei kristallklar sein. Jedes Jahr sterben in Deutschland Menschen, weil ihr (Beifall bei der CDU/CSU) dringender Wunsch nach einem Organ mangels Verfüg- barkeit nicht erfüllt werden kann. Lange Wartelisten und Deshalb irritiert das Interview der Forschungsministe- illegaler Organhandel sind bedrückend. Seit einigen Jah- rin Bulmahn in der „Berliner Zeitung“ vom 10. Januar ren forscht die Wissenschaft, ob auf diesem Gebiet durch 2003. Wörtlich antwortet sie dort: die Übertragung von Gewebe und Organen von Tieren Im Bereich des therapeutischen Klonens sind ver- Abhilfe geschaffen werden kann; das Stichwort lautet schiedene Verfahren denkbar, einige davon könnten „Xenotransplantation“. Drei zentrale Fragen stellen sich als ethisch unbedenklich erweisen. Damit hätte sich bei dieser Forschung: die Überwindung der Ab- ich dann keine Probleme. stoßung; die Gewährleistung der physiologischen Funk- tionalität und die Beherrschung der Infektionsrisiken. Frau Bulmahn, wir wollen wissen, was Sie dabei für ethisch unbedenklich halten. Ist dieser Weg aber ethisch verantwortbar? Problema- tisch ist nicht nur, dass noch ungeklärt ist, ob durch solche (Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Das ist längst Verpflanzungen bislang unbekannte Infektionen von Tie- klargestellt!) ren auf den Menschen übertragen werden können. Wel- Bereits im Mai 2001 hat die Deutsche Forschungsge- chen Stellenwert hat eigentlich das Tier, dessen besonde- meinschaft erklärt, dass „sowohl das reproduktive als ren Schutz durch das Grundgesetz wir im letzten Jahr im auch das therapeutische Klonen ... weder naturwissen- Bundestag beschlossen haben? Andererseits dient das schaftlich zu begründen noch ethisch zu verantworten Tier dem Menschen seit der Urzeit als Nahrungsquelle, ja, sind und daher nicht statthaft sein können“. Die Auffas- im Wortsinne als Lebensmittel. Als Mittel zum Leben sung des DFG-Präsidenten Winnacker, dass therapeuti- wäre auch ein Xenotransplantat zu verstehen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2141

Thomas Rachel (A) John F. Kennedy verdanken wir den wertvollen Ge- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ (C) danken: Eine medizinische Revolution hat die Lebenser- DIE GRÜNEN und der CDU/CSU) wartung unserer Alten verlängert, ohne ihnen die Würde Das ist aber nur die halbe Wahrheit; denn diese Him- und die Sicherheit zu geben, die sie in ihren letzten Jah- melsstürmerei kann zum Absturz führen und sich sogar in ren verdienen. Damit sind wir bei dem ernsten Thema ihr Gegenteil, in Barbarei, verkehren. Fortschritt, der „Sterbebegleitung und Sterbehilfe“. Viele Menschen fürchten sich vor einem schmerzhaften, einsamen und oft nicht über sich selbst reflektiert und sich nicht selbst be- würdelosen Sterben. grenzt, verkehrt sich in sein Gegenteil. Das hat nichts, aber auch gar nichts mit religiösem Fundamentalismus zu Unser christlich abendländisches Menschenbild ver- tun, sondern genau das ist der Grundgedanke der Dialek- pflichtet, die Menschenwürde am Anfang, im Verlauf tik der Aufklärung. und am Ende des Lebens sicherzustellen. Diesem Ziele weiß sich auch die Palliativmedizin verpflichtet, deren Die Erfolgsgeschichte sämtlicher demokratischer Zi- Möglichkeiten wir mit der Enquete-Kommission neben vilgesellschaften beruht darauf, dass sie gelernt haben, ei- dem Ausbau der Hospizarbeit stärken müssen. Etwanem ungezügelten Machbarkeitswahn Zügel anzulegen 3 000 Patienten in den Niederlanden bekommen jedesund Grenzen zu setzen. Die Entwicklung der universa- Jahr aktive Sterbehilfe – auf ausdrückliches Verlangen der len Menschenrechte hätte es nicht gegeben ohne die Ein- Patienten. Zusätzlich werden bei etwa 1 000 Patienten sicht darin, dass sich die Gesellschaft und der Staat selbst lebensverlängernde Maßnahmen ohne deren Einverständ- Grenzen setzen müssen und dass der Einzelne Abwehr- nis abgebrochen. Dies sind alarmierende Zahlen. rechte gegen den Zugriff von Staat und Gesellschaft so- wie gegen kollektive Begehrlichkeiten hat. Diese Einsicht Sterbende Menschen haben nach Erkenntnis der Kir- verdanken wir Art. 1 unseres Grundgesetzes: che vor allem vier Grundbedürfnisse, an denen sich Ster- bebegleitung orientieren muss: im Sterben nicht allein ge- Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu ach- lassen zu werden; die letzten Dinge regeln zu können; die ten und zu schützen ist Verpflichtung aller staat- Frage nach einer über den Tod hinausgehenden Hoffnung lichen Gewalt. stellen zu können; vor allem nicht unter Schmerzen leiden zu müssen. Entscheidend ist dabei, dass dieseMenschenwürde je- dem menschlichen Leben zukommt. Sie muss weder ver- Deutschland liegt aber auf dem Gebiet der Palliativ- dient werden noch kann sie verloren werden. medizin ziemlich weit hinten. Es hat im Bereich der Schmerztherapie im Vergleich zu anderen europäischen Aber wann sind die Grenzen dessen erreicht, was wir Ländern noch einiges aufzuholen. In Deutschland haben tun dürfen? Wo finden wir die Kriterien für die nötige wir für 1 Million Menschen ganze drei Palliativbetten. Grenzziehung? Die Grenze ist da erreicht, wo getötet (B) (D) Der Stärkung der Palliativmedizin sollte sich die neue En- wird, um zu heilen, oder wo Töten sogar als Heilen aus- quete-Kommission deshalb als einer wichtigen Aufgabe gegeben wird. Bei der Präimplantationsdiagnostik wird stellen. Ethisch begleiteter Fortschritt dient der Men-ein kranker Embryo nicht geheilt, sondern er wird selek- schenwürde. tiert und getötet. Beim therapeutischen Klonen werden Embryonen hergestellt und anschließend getötet – in der Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Hoffnung, damit Heilmittel für andere Menschen zu ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- winnen. Menschliches Leben wird hierbei instrumentali- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) siert und für fremde Zwecke vernutzt. Damit ist die Men- schenwürde in ihrem Kern angetastet. Präsident Wolfgang Thierse: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- wie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/ Ich erteile der Kollegin Christa Nickels, Bündnis 90/ CSU) Die Grünen, das Wort. In der Präambel unseres neuen Grundsatzprogramms verpflichten wir Bündnisgrünen uns zur Parteinahme für Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): die Schwächsten. Das ist keine weltfremde Gefühlsduse- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Die lei, sondern das gibt einen ganz konkreten Maßstab für un- ganze Geschichte der Medizin ist eine Geschichte dessere Politik vor. Machen wir uns doch nichts vor! Wir alle Machbarkeitswahns“, erklärte Professor Kentenich, ein sind nicht nur am frühesten Beginn unseres Lebens, son- hoch angesehener Fortpflanzungsmediziner, auf einerdern in gleicher Weise am Ende unseres Lebens, wenn es Bioethikveranstaltung unserer Fraktion Anfang Februar. ans Sterben geht, existenziell ausgeliefert. Auch im Laufe (Jörg Tauss [SPD]: Ohne den lebten wir noch unseres Lebens wird es keinem von uns erspart bleiben, auf Bäumen!) solche Phasen des Ausgeliefert-Seins durchstehen zu müs- sen. Daher ist es gut, wenn man in einer Gesellschaft leben Ja, richtig: Ohne das Sich-nicht-Abfinden-Können und kann, die an den Schwächsten Maß nimmt. Davon werden das Sich-nicht-Abfinden-Wollen mit den Leiden derwir alle, jeder einzelne von uns, egal wie die Konstitution Menschheit, ohne die Revolte gegen den Fatalismus, ohne ist, wie es einem geht, nur profitieren können. Es ist ein das Streben nach Glück und Erkenntnis gäbe es viele der Garant für ein gutes Leben für alle. technischen und medizinischen Errungenschaften nicht, die den Menschen in den entwickelten Industriestaaten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein gutes Leben bis ins hohe Alter ermöglichen. sowie bei Abgeordneten der SPD) 2142 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Christa Nickels (A) Morgen wird in Magdeburg das Europäische Jahr der im Wesentlichen bestätigt. Darum glaube ich, dass es in (C) Menschen mit Behinderung eröffnet. Diese Gelegenheit dieser Legislaturperiode, in der wir einen riesengroßen sollten wir nutzen, um uns erneut mit der Frage auseinan- Wechsel der Mitglieder haben, auch darum geht, das zu der zu setzen, worum und um wen es denn eigentlich geht, tradieren, was das Koordinatensystem unserer gewachse- wenn wir davon sprechen, Leid vermeiden zu wollen.nen Auffassung von Menschenwürde ist; ob es Bestand Geht es dabei wirklich um das Wohl der Behinderten? Be- haben kann und soll oder ob sich dieses Koordinatensys- hinderte verwahren sich vehement dagegen, dass man sie tem grundlegend verschieben soll. Diejenigen, die diese um anderer Interessen willen instrumentalisiert. Der eme- langen Prozesse miterlebt und mitgestaltet haben, können ritierte Mikrobiologe Professor Zähner, Parkinsonpatient, sich nicht einfach auf den Standpunkt zurückziehen, dass sagt: Wenn die Parkinsonpatienten als konkrete Nutz-es für das gewachsene Menschenwürdeverständnis gute nießer der Stammzellforschung ins Gespräch gebracht Gründe gibt. Den neuen Mitgliedern dieses Parlamentes oder in den Medien sogar vorgeführt werden, sehe ich und der nächsten Generation der Parlamentarier werden darin einen erniedrigenden Missbrauch. wir es nicht ersparen können, sich dieser komplizierten und schwierigen Debatte in allen Einzelungen und Facet- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ ten zu stellen. DIE GRÜNEN und der SPD) Zum anderen haben wirrechtliche Regelungen vor Professor Zähner wehrt sich dagegen, dass Patienten in- uns. Das Fortpflanzungsmedizingesetz ist spätestens seit strumentalisiert werden, um andere Interessen zu legiti- 1994 überfällig. Es geht hier um eine grundlegende, we- mieren oder Widerstände, die sich dagegen erheben, aus- sentliche Herausforderung für die Art unseres Zusammen- zuhebeln. lebens, für die Grundkoordinaten unseres Menschenwür- Behinderte fordern ganz klar ein, dass die Gesell-dekonzeptes. Im Sinne des Wesentlichkeitsgebots können schaft – wir leben in einer reichen Gesellschaft – alle Res- wir diese Aufgabe weder der Regierung noch Kommis- sourcen zur Verfügung stellt, damit sie die Lebensfreude sionen überlassen. Hier müssen wir schon als Parlamen- und die Lebensqualität, die jedem Leben Eigen sind, auch tarier selbst handeln. umsetzen können. Darum frage ich: Worum und um wen Ich bin sehr froh, dass wir jetzt die Voraussetzungen geht es eigentlich, wenn wir davon sprechen, Leid ver- geschaffen haben, und hoffe, dass das ganze Parlament meiden zu wollen, wenn die Ethik des Heilens immer wie- engagiert daran teilnimmt. Dabei geht es nicht um die De- der als Nonplusultra beschworen wird? Es wird davon ab- battenkultur im Sinne von „Kunst für die Kunst“. Es geht gesehen, dass manches Leiden eben nicht mehr geheilt hier um wichtige und grundlegende Fragen. Das Parla- werden kann, aber gelindert werden muss, dass die Men- ment wird hier ganz dringend gebraucht. schen begleitet werden müssen, dass alles getan werden (B) muss, damit sie ein gutes Leben haben – auch im Leid und Danke schön. (D) ebenfalls dann, wenn sie in die Sterbephase eintreten. Hier (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- ist es meiner Meinung nach ganz wichtig zu erwähnen, wie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/ dass wir als Gesellschaft Sterben und nicht heilbares Leid CSU) kollektiv verdrängen und uns damit nicht mehr auseinan- der setzen wollen. Es ist kein Wunder, dass das Sterben in Krankenhäuser verlagert worden ist. Präsident Wolfgang Thierse: Täuschen wir uns nicht! Das ist keine rein ethisch-mo- Ich erteile das Wort Kollegen Detlef Parr, FDP-Frak- ralische Frage, sondern eine ganz handfeste Frage, die uns tion. noch oft, zum Beispiel an vielen einzelnen Punkten in der Debatte um die Gesundheitsreform, einholen wird. Ohne (FDP): klare Grundsätze werden wir als Gesellschaft diese De- Detlef Parr batte nicht unbeschadet überstehen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eigentlich ist die Fortsetzung der Arbeit der Enquete-Kommission (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN „Recht und Ethik der modernen Medizin“ nur folgerich- sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/ tig. CSU) Auch in der 15. Legislaturperiode Deshalb bin ich froh und stolz, dass wir als Parlament es gleich zu Beginn einer neuen Legislaturperiode und – so bringt es der vorliegende Antrag treffend zum Aus- trotz der international schwierigen Lage schaffen, erneut druck – eine Enquete-Kommission „Ethik und Recht der moder- steht der Gesetzgeber vor der Herausforderung, auf nen Medizin“ einzusetzen. Diese Enquete-Kommission die ... rasante Entwicklung in der modernen Biome- wird zwei wesentliche Aufgaben haben: dizin vorausschauend reagieren zu müssen. Zum einen geht es darum, den Fundus an Wissen und Das steht außer Zweifel. Unterscheidungskriterien weiterzugeben, den sich der Deutsche Bundestag zu diesen grundlegenden Fragen in Der Bundestag braucht also ein Gremium zur Vorbe- den letzten 20 Jahren erarbeitet hat. Die Enquete-Kom- reitung und Begleitung von Gesetzesverfahren, von par- mission der 14. Wahlperiode hat sich dieser Unterschei- lamentarischen Diskussionen in bioethischen Streitfra- dungskriterien auf dem modernsten Stand der Möglich- gen. Er braucht dieses Gremium umso mehr, als mit dem keiten der Technik noch einmal vergewissert und hat sie Nationalen Ethikrat durch den Kanzler eine Institution Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2143

Detlef Parr (A) geschaffen worden ist, die in keiner Weise demokratisch gestellungen verbunden sind. Auf eine Enquete-Kommis- (C) legitimiert ist. Wir Abgeordneten dürfen es nicht zulassen, sion mit Maulkorb können wir gerne verzichten. dass dem Nationalen Ethikrat eine Alleinstellung zu- (Beifall bei der FDP) kommt. Wir sind es, die über die Enquete-Kommission dazu beitragen müssen, dass es zu gesetzgeberischem und Wenn sich auch viele Menschen durch neue biotech- adminstrativem Handeln in Bezug auf bioethische Zu- nologische Möglichkeiten in ihren moralischen oder reli- kunftsfragen kommt und der öffentliche Diskurs darüber giösen Überzeugungen verletzt sehen: Ein wesentlicher in Gang gesetzt wird. So weit sind wir uns einig. Freiheitsgehalt des demokratischen Verfassungsstaates liegt doch darin – ich zitiere aus der Stellungnahme des (Beifall bei der FDP) Nationalen Ethikrats zur PID –: Staatliches Recht Umso überraschter waren wir, als der Einsetzungsan- lässt im Übrigen jedem die Freiheit, seinen eigenen trag, der heute vorliegt, ohne Beteilung der FDP formu- und über den staatlich garantierten Standard weit liert worden war. Frau Flach und ich haben noch Ände- hinausreichenden sittlich-moralischen Überzeugun- rungsvorschläge eingebracht, leider ohne Erfolg. Liebe gen gemäß … zu leben und seine Lebenspraxis ent- Kolleginnen und Kollegen, das empfinden wir als sprechend zu gestalten. schlechten demokratischen Stil. Gerade im Bereich der persönlichen Lebensgestaltung (Beifall bei der FDP) bedürfen regulative staatliche Eingriffe besonderer Schauen Sie den vorliegenden Text sehr genau durch! Rechtfertigung. Das gilt auch für dieFreiheit der Wis- Er lässt mehr als die Vermutung aufkommen, dass diesenschaft. Kommission einer VerschiebepolitikVorschub leisten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten soll. Denn es heißt in dem Antrag: Themen, die in der letz- der CDU/CSU) ten Legislaturperiode „nicht in befriedigender Weise“ un- tersucht werden konnten, sollen neu aufgerollt werden. Eine der wesentlichen Aufgaben der Enquete-Kommis- Meine Damen und Herren, was heißt denn „in befriedi- sion muss nach unserer Auffassung die Erarbeitung von gender Weise“? Sollen wir Themen so lange diskutieren, Vorschlägen sein, die auf einem Ausgleich des individu- bis wir zu dem Ergebnis kommen, das sich die Mehrheit ellen Freiheitsanspruchs auf der einen und dem Schutz hier wünscht? Das wollen wir nicht. allgemeiner Rechtsgüter durch den Staat auf der anderen Seite basieren. Davon müssen wir Handlungsvorgaben (Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Das ist doch ge- ableiten, die auch international den Anschluss an die Ent- nau aufgeführt!) wicklung der modernen Medizin möglich machen. – Herr Wodarg, manche Bereiche der modernen Medizin (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (B) sind längst entscheidungsreif. Der Bundestag darf sich (D) nicht davor drücken, bald die notwendigen Beschlüsse zu Diesem Abwägungsprozess wollen und müssen wir fassen. uns stellen. Das wird auch und gerade die FDP tun; nicht aber auf der Grundlage einer Aufgabenbeschreibung, die, (Beifall bei der FDP – Dr. Wolfgang Wodarg wie sie uns heute vorliegt, einen solchen Prozess nur ein- [SPD]: Tut er doch nicht!) geschränkt und unter Bedingungen zulässt. Puristische – Doch, das tut er sehr wohl. – Es macht zum Beispiel we- Verhinderungsstrategien tragen wir nicht mit. Wir sind für nig Sinn, wenn bereits abgehandelte Themen wie dieeine Enquete-Kommission als Stätte des offenen Dialogs Präimplantationsdiagnostik wieder Gegenstand der Be- und eines ergebnisorientierten Prozesses, aber gegen die- ratungen werden sollen, wie zu erahnen ist, Herr Wodarg. sen Antrag. (Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Will ja keiner!) (Beifall bei der FDP) – Ich bin gespannt. – Hierzu liegt der ausführliche Ab- schlussbericht der Enquete-Kommission der letzten Le- Präsident Wolfgang Thierse: gislaturperiode vor; die Stellungnahme des Nationalen Ich erteile das Wort Kollegin Gesine Lötzsch. Ethikrates haben wir vorliegen. Die Argumente des Für und Wider sind sorgfältig erarbeitet worden. Die Vorbe- reitung einer Entscheidung ist damit abgeschlossen. Jetzt Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): muss jeder von uns den Mut haben, darüber abzustimmen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir als Wir werden einen entsprechenden Antrag einbringen. PDS begrüßen die Initiative des Bundestages für ein in- (Beifall bei der FDP) ternationales Verbot des Klonens menschlicher Embryo- nen. In dieser Frage gibt es einen breiten gesellschaftli- Es ist einfach falsch, wenn die Kommission Grenzen chen Konsens. In der Bundesrepublik ist das Klonen medizinischen Handelns bei Forschung, Diagnostik und bereits seit 1990 verboten. Wie Sie wissen, hat der Euro- Therapie definieren soll. Meine Damen und Herren, so päische Gerichtshof die Herstellung von Menschen, die einseitig und einschränkend darf die Aufgabenstellung genetisch identisch mit anderen Menschen sind, 1998 doch wohl nicht sein. verboten. (Beifall bei der FDP) Jetzt ist die Frage, ob es wirklich gelingt, ein interna- Die FDP will offen und tabulos die Chancen und Risiken tionales Verbot durchzusetzen. Da bin ich eher skeptisch. zur Sprache bringen, die mit den neu auftauchenden Fra- Der Antrag von SPD, CDU/CSU und Grünen verlangt, 2144 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Dr. Gesine Lötzsch (A) das reproduktive und therapeutische Klonen zu verbieten. tuation in den Pflegeheimen, auf die Behandlung von psy- (C) Das ist zwar gut und richtig, aber es scheint mir, meine chisch Gehandikapten oder auf gesundheitsschädigende Kolleginnen und Kollegen, international nicht durchsetz- Arbeitsbedingungen. bar zu sein. Ich finde, gerade diese Frage der internatio- Das oberste Gebot der Menschenwürde, meine Damen nalen Durchsetzbarkeit hätte hier in dieser Debatte mehr und Herren, ist allerdings, dass es keinen Krieg gibt. Da- Raum verdient. rüber müssen wir uns hier so einig sein wie in der letzten (Beifall der Abg. [fraktionslos] so- Woche: kein Krieg nirgends, kein Krieg gegen den Irak. wie der Abg. Ulrike Flach [FDP]) (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Ansonsten müssen Sie sich schon die Frage gefallen las- sen, ob diese resolute Forderung nicht nur als Beruhigung Präsident Wolfgang Thierse: für einige gedacht ist. Ich erteile das Wort Kollegen René Röspel, SPD-Frak- Meine Damen und Herren, wir müssen zwischenre- tion. produktivem und therapeutischem Klonen unterschei- den. Beim reproduktiven Klonen soll ein vollständiger Organismus entstehen; das wird von allen in diesem René Röspel (SPD): Hause abgelehnt. Beim therapeutischen Klonen geht es Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- um die Herstellung körpereigener Ersatzgewebe wie zum ren! In den letzten Wochen werde ich sehr häufig gefragt: Beispiel Herzmuskelzellen oder Nervengewebe. Diese Was ist denn eigentlich so schlimm am so genannten the- Entwicklung ist, wenn wir es realistisch betrachten, wohl rapeutischen Klonen? Warum sollen wir das nicht zulas- nicht aufzuhalten. sen? (René Röspel [SPD]: Hätte Herr Seifert aber Ja, was ist denn eigentlich so schlimm oder unethisch wohl anders gesehen!) daran, einer Frau eine hohe Hormondosis zu geben, damit – Es mag sein, dass das andere anders beurteilen. Ich ver- sie möglichst viele Eizellen produziert, ihr die Eizellen zu trete hier meine Meinung. – Ich denke auch, dass For- entnehmen, den weiblichen Zellkern zu entfernen und zu schungsministerin Bulmahn diesem Antrag nur mitersetzen, zum Beispiel durch einen Zellkern, der aus einer Bauchschmerzen zugestimmt hat, da sie die internationa- meiner Hautzellen gewonnen werden könnte? Geschaffen len Forschungsrealitäten kennt. würde auf diesem Wege eine genetische Kopie, einKlon, eine neue „Eizelle“, mit meiner Erbinformation versehen. Die inhaltliche Fortsetzung der Arbeit der Enquete- Sie könnte sich unter geeigneten Bedingungen zu passen- (B) Kommission in der letzten Wahlperiode durch eine neue dem Zellersatzgewebe entwickeln oder, nach Einpflanzung (D) Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ in eine Gebärmutter, in einen kompletten Menschen – halten wir für sinnvoll und unterstützen wir. Die Bundes- mein Jahrzehnte nach mir geborener Zwillingsbruder! regierung hat einen Nationalen Ethikrat berufen. Es ist das Recht und die Pflicht der Bundestagsabgeordneten, ihre Diese neue „Eizelle“ wäre ein Embryo. Ich gebe zu, ich Möglichkeiten zu nutzen, um sich auf diesem sehr kom- habe mich, auch zu Beginn der Arbeit der letzten Enquete- plizierten Gebiet sachkundig zu machen und verantwor- Kommission, gefragt: Ist das eigentlich ein Embryo, der tungsvolle Entscheidungen zu treffen. auf diesem Weg geschaffen wird? Ist Embryo nicht das, was auf normalem Weg, nämlich durch Verschmelzung Eine wichtige Frage in diesem Zusammenhang ist die von Ei und Samenzelle, entsteht? Ich habe während der Ar- Einführung der Präimplantationsdiagnostik, abgekürzt beit der letzten Enquete-Kommission sehr schnell gelernt: PID. Der Ethikrat hat sich dafür, die Enquete-Kommis- Es ist ein Embryo. Es hat alle Veranlagung, zu einem Le- sion dagegen ausgesprochen. Ich habe – das muss ich Ih- bewesen zu werden; es ist ein Lebewesen. nen ganz ehrlich sagen – den Eindruck, dass hier in einem großen Konsens das internationale Klonverbot propagiert Oder anders ausgedrückt: So wie ich hier vor Ihnen wird – in dem Bewusstsein, dass das sowieso nicht durch- stehe, sehen Sie mir nicht an, ob ich auf dem Weg des zusetzen ist –, um dann unterhalb dieser Frage dafür zu „therapeutischen“ Klonens oder auf dem üblichen, kon- sorgen, dass sich die Enquete-Kommission langsam in ventionellen Weg entstanden bin. Richtung Ethikrat bewegt. (Jörg Tauss [SPD]: Wir vermuten mal!) (Jörg Tauss [SPD]: Das ist PDS-Logik!) Um Sie zu beruhigen: Meine Eltern haben mir noch ges- Aber das werden wir dann im Ergebnis sehen. Ich will die tern das Letztgenannte bestätigt. Ergebnisse nicht vorwegnehmen, ich möchte jedoch auf Auch wenn ich das Klonschaf Dolly heute hätte mit- diesen Fakt hinweisen. bringen können, hätten Sie nicht sehen können, ob es auf Allerdings bin ich schon etwas über die ungewöhnliche dem Weg des „therapeutischen“ Klonens oder auf natürli- Einmütigkeit der Diskussionsredner – bis auf die FDP – chem Weg entstanden ist. In jedem Fall muss das Em- irritiert. Es wurde in getragenem Ton viel von der Würde bryostadium durchlaufen werden und in jedem Fall, beim so genannten therapeutischen und beim reproduktiven des Menschen gesprochen. Ich wünschte mir, dass wir in Klonen, wird ein Embryo hergestellt. diesem Hause häufiger über die Würde des Menschen sprächen, beispielsweise auch wenn es um lebende, kon- In Deutschland würden wir mit dieser Methode nicht krete Menschen geht, zum Beispiel in Bezug auf die Si- nur eine juristische Grenze überschreiten. Aus meiner Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2145

René Röspel (A) Sicht würden wir auch die Grenze des ethisch Verant-im Bereich der Leukämie bereits vor 40 Jahren mit Kno- (C) wortbaren überschreiten. chenmarkzellen. Die adulten Stammzellen werden die Zellen sein, denen die Zukunft gehört und die zur Heilung (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ beitragen werden. Der Umweg des therapeutischen Klo- DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hubert Hüppe nens würde mehr schaden als nutzen. Wer das reproduk- [CDU/CSU]) tive Klonen verhindern will, muss auch das „therapeuti- Ein Embryo zu Forschungszwecken oder auch nur in der sche“ verbieten; denn es ist ein und dieselbe Technologie. Hoffnung, ihn zur Heilung einsetzen zu können, ist für Das Ergebnis ist nicht unterscheidbar. Nur die Intention mich nicht akzeptabel. derer, die die Zellen aus der Petrischale nehmen und in die Gebärmutter einpflanzen, ist eine andere. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Aber ist diese Methode nicht wissenschaftlich interes- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sant?, wird gefragt. Der Präsident der Deutschen For- Es ist gut, dass wir heute einen interfraktionellen An- schungsgemeinschaft, Professor Winnacker, hält dastrag für ein umfassendes internationales Verbot des „therapeutische“ Klonen für einen „Irrweg“. Ich bin Klonens verabschieden. Es ist gut, dass diesem Antrag so überzeugt, er hat Recht. Es gibt in der Zellbiologie die viele Abgeordnete der meisten Fraktionen zustimmen These, dass Zellen nach etwa 50 Teilungen zugrunde ge- werden. Dass das so ist, hat sicherlich auch damit zu tun, hen. Das ist der natürliche Prozess des Alterns und Ster- dass die beratende Arbeit der Enquete-Kommission bens, aufgehoben nur bei Krebszellen. Die Hautzelle aus „Recht und Ethik der modernen Medizin“ aus der letzten meinem Anfangsbeispiel war 38 Jahre lang meine Haut- Legislaturperiode viel an Aufklärung und Information ge- zelle. Sie hat sich 38 Jahre lang damit beschäftigt, Haut- leistet hat. Sie hat ihre Aufgabe, das Parlament in schwie- zelle zu sein, sich unzählige Male in andere Hautzellen zu rigen Fragen zu beraten und Entscheidungsgrundlagen für teilen. Die Chromosomen sind irreversibel verkürzt und die Abgeordneten bereitzustellen, gut erfüllt. Sie hat die geschädigt. Nach einem Zellkerntransfer allerdingsBasis bereitet für Debatten über „therapeutisches“ Klo- müsste dieser Hautzellkern als Embryo funktionieren, nen, Stammzellforschung und Präimplantationsdiagnos- und zwar sehr rasch. Dass damit eine Vielzahl nicht über- tik auf hohem Niveau und in gegenseitigem Respekt. schaubarer Probleme, auch wissenschaftlicher Probleme, entstehen, liegt auf der Hand. Das Klonschaf Dolly ist im Deshalb ist es gut, dass wir auch heute für die noch of- Alter von sechs Jahren gestorben. Schafe haben norma- fenen und für die neuen Fragestellungen wieder eine lerweise eine Lebenserwartung von zehn bis zwölf Jah- Enquete-Kommission mit breitem Konsens einsetzen ren. Das zeigt, dass diese Probleme sehr ernst genommen werden. Ihre Themen werden vielleicht nicht mehr so (B) – sie kann man auch nicht durch Beschluss eines FDP- spektakulär sein wie die der letzten Enquete-Kommission (D) Parteitages aus der Welt schaffen – wie beispielsweise mit der Stammzellforschung. Aber sie werden auch nicht mehr so spekulativ sein. (Ulrike Flach [FDP]: Jetzt nehmen Sie mir alle Hoffnung!) Die Fragen bezogen auf die Forschung an nicht einwilli- gungsfähigen Menschen, die Frage, wer es sich künftig leis- und wissenschaftlich berücksichtigt werden müssen. ten kann, von moderner Medizin profitieren zu können, die Bedeutet der Verzicht auf das „therapeutische“ Klonen medizinischen Perspektiven der Nanobiotechnologie oder automatisch Verzicht auf Therapie? Ich sage: Nein. Der die Selbstbestimmung des Menschen an seinem Leben- einzige Vorteil der durch Klonen hergestellten Zellen ge- sende werden für viel mehr Menschen Bedeutung haben, genüber anderen embryonalen Stammzellen, zum Beispiel als es embryonale Stammzellen jemals werden haben kön- die fehlende Abstoßungsreaktion – das ist das einzige Ar- nen. Die Themen werden wechseln; die Aufgabe der gument, das das Klonen rechtfertigen würde –, wird in na- Kommission wird bleiben: parlamentarisch und demokra- her Zukunft vielleicht durch gentechnische Manipulation tisch legitimiert, schwierige Fragestellungen ethisch, reduziert – dazu gibt es neuere Arbeiten, die allerdings rechtlich und wissenschaftlich fundiert aufzuarbeiten und auch auf adulte Stammzellen zutreffen – oder aber, wie dem Parlament und der Gesellschaft zur Verfügung zu Professor Winnacker es vorschlug und Frau Böhmer schon stellen. erwähnte, durch die simple Schaffung vonStammzell- banken ausgeglichen. Wer an „therapeutisches“ Klonen Ich persönlich habe in der letzten Enquete-Kommis- zur Heilung von Krankheiten glaubt, muss heute schon sion viel dazu gelernt, übrigens auch über mich selbst. Ich darlegen, welche Frauen denn die Hunderttausenden von freue mich, mit Ihnen zusammen wieder mitarbeiten zu Eizellen spenden sollen, die dafür unabweisbar benötigt dürfen. werden. Auch dazu wurde schon genug gesagt. Herzlichen Dank. Das Wichtigste in Bezug auf Therapie und Hei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lungschancen ist: Alle bereits heute vorliegenden erfolg- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der versprechenden Therapie- oder Heilungsversuche beim CDU/CSU) Menschen sind mit adulten Stammzellendurchgeführt worden, Präsident Wolfgang Thierse: (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Ich erteile das Wort Kollegen Hubert Hüppe, CDU/ CDU/CSU) CSU-Fraktion. 2146 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

(A) Hubert Hüppe (CDU/CSU): (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der (C) SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue NEN) mich darüber, dass wir heute beschließen werden, die Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Auf jedes einzelne Mitglied der Enquete-Kommission Medizin“ wieder einzusetzen. Ich freue mich vor allen wird damit eine enorme Arbeit zukommen. Wir werden Dingen auch deswegen, weil man sich diesmal sehruns dieser Aufgabe stellen, weil wir wissen, dass wir die schnell zwischen den verschiedenen Fraktionen hat eini- Norm- und Regelsetzung an niemanden delegieren kön- gen können. Ich denke, das ist ein gutes Zeichen dafür, nen. Die entsprechenden Entscheidungen muss und kann dass die Arbeit dort so weitergeführt wird, wie es in der letztlich nur ein Gremium treffen: das Parlament – und letzten Legislaturperiode der Fall gewesen ist: ohnenicht Ethikräte, wobei man sich fragen muss, warum in Rücksicht auf Fraktionsgrenzen. Das ist bei diesemEthikräten häufig mehr Forscher als Ethiker sitzen. Ich Thema, bei dem es um die Ethik geht, sehr wichtig. sage dies auch in Hinsicht auf den so genannten Nationa- Für die Dringlichkeit dieser Enquete-Kommissionlen Ethikrat. Da ich auch für die Belange behinderter spricht sicherlich, dass sie die erste ist, die in dieser Le- Menschen zuständig bin und wir in diesem Jahr unter dem gislaturperiode eingesetzt wird. Das war nicht immer so. Motto „Nichts über uns ohne uns“ das Europäische Jahr Denn in der letzten Legislaturperiode hat es immerhin an- der Menschen mit Behinderungen haben, halte ich es im- derthalb Jahre gedauert, bis die Enquete-Kommissionmer noch für einen Skandal, dass nicht ein einziger Be- eingesetzt werden konnte, und es bestand nicht überall Ei- hinderter Mitglied im Nationalen Ethikrat ist; das darf nigkeit im Hinblick auf die Notwendigkeit einer solchen man an dieser Stelle vielleicht einmal erwähnen. Enquete-Kommission. Aus diesem Grunde war in der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der letzten Legislaturperiode der Zeitdruck so groß, dass viele SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Themen nicht behandelt oder nur angerissen werden NEN) konnten. Dennoch haben wir in der Gesellschaft viel An- erkennung für unsere Arbeit und unseren Abschlussbe- Wenn wir darüber sprechen, dass das Parlament Ver- richt erhalten. Vielleicht haben sich auch deswegen sehr antwortung übernehmen muss, dann gilt das auch für den viele gesellschaftliche Gruppen, zum Beispiel die Kir- zweiten Antrag, den wir heute behandeln. Es geht dort da- chen sowie Frauen- und Wohlfahrtsverbände, vor allen rum, auf UN-Ebene eine neue Initiative zu starten mit dem Dingen aber auch Behindertenverbände, dafür stark ge- Ziel, jegliches Klonen von Embryonen – es geht nicht macht, dass diese Enquete-Kommission wieder eingesetzt um Zellen – international zu verbieten. Ich hoffe, dass wir wird. heute mit deutlicher Mehrheit beschließen, dass das Klo- nen menschlicher Embryonen – egal zu welchem Zweck – (B) In dem vorliegenden Einsetzungsantrag wird deutlich mit der Menschenwürde unvereinbar ist. (D) gemacht, wie umfassend unserThemenspektrum sein wird: neue Aspekte der Organtransplantation, Fragen der Frau Flach, zur Ehrlichkeit der Diskussion darf ich an Fortpflanzungstechniken, Forschung an nicht Einwilli- dieser Stelle anfügen – Sie wissen das; denn Sie beschäf- gungsfähigen und Biobanken; um nur einige Themen zu tigen sich mit diesem Thema –: Hier geht es nicht um ein nennen. Dabei bin ich allerdings sicher, dass im Laufe un- ähnliches Verfahren der Herstellung. Embryonen werden serer Kommissionsarbeit neue Themen, die sich bereits – egal zu welchem Zweck, ob zu Forschungszwecken, ob aus der Weiterentwicklung der Forschung ergeben, hinzu- zur Reproduktion; einen therapeutischen Zweck gibt es ja kommen werden. gar nicht – immer auf die gleiche Art hergestellt. Ent- scheidend ist: Lässt man diesen Embryo leben oder tötet Allerdings sollten wir nicht nur hinterfragen, was neu man ihn? auf uns zukommt, sondern auch – das ist mir sehr wich- tig –, ob es nicht schon in der Vergangenheit zu Fehlent- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wicklungen gekommen ist. Ich denke zum Beispiel an das Ich denke, es ist ein deutliches Zeichen, wenn jetzt Thema Pränataldiagnostik. Wenn wir über die Forschung Deutschland, möglicherweise gemeinsam mit Frankreich, und den medizinischen Fortschritt sprechen, dürfen wir diese Initiative, die andere Staaten schon gestartet haben, nicht nur die Risiken sehen, sondern in Hinsicht aufmit unterstützt. Herr Loske, Sie sagten, in den Vereinigten kranke Menschen gerade auch die Chancen der For-Staaten sei es wahrscheinlich gar nicht so, dass man es schung. verbieten wolle. Es gibt aber schon genügend Initiativen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der im Parlament. Wenn wir uns jetzt auf die Seite der vielen SPD und der FDP) anderen Länder stellen würden, die das völlige Verbot des Klonens menschlicher Embryonen wollen, würden wir Welche Grenze wir aber auf jeden Fall zu beachten ha- auch die Situation dort mit beeinflussen, schon gar, wenn ben, ist in unserem Antrag festgelegt: die Wahrung der Frankreich mitmacht. Die Chancen stehen übrigens nicht Menschenwürde. Hier kann und darf es keine Ausnahme schlecht; denn in Frankreich gibt es inzwischen auch par- geben, und zwar unabhängig davon, ob in anderen Län- lamentarische Initiativen, die das Klonen ganz strikt ver- dern andere Bestimmungen gelten. Dazu verpflichtet uns bieten wollen. Dagegen ist unser Embryonenschutzgesetz unser Grundgesetz. Das sollten wir auch nicht verbergen, noch liberal. wenn es zum Beispiel um internationale Abkommen geht. Im Gegenteil: Für die unteilbare Menschenwürde, die kei- Meine Damen und Herren, man muss sich auch vor Au- ner Abwägung zugänglich ist, dürfen und müssen wirgen halten: Was würde eigentlich passieren, wenn man auch international eintreten. tatsächlich nur dasreproduktive Klonen verbieten Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2147

Hubert Hüppe (A) würde, also nur das Klonen mit dem Ziel, dieses Kind wir unser Gesetz zum Import von Stammzellen noch un- (C) auch auszutragen? Das würde bedeuten, dass man das ter der Prämisse verabschiedet haben, dass embryonale Klonen von Embryonen zwar zulässt, dass der Forscher Stammzellen zwar pluripotent, aber nicht totipotent sind, sich aber nur dann gesetzestreu verhält, wenn er auf jeden zeigten sie, dass das nicht mehr stimmt. Sie stellen ganze Fall diesen Embryo vor seiner Geburt tötet. Ein Tötungs- identische Mäuselinien oder Mäuseserien aus Stammzell- gebot ist meiner Meinung nach mit unserer Verfassung kulturen her, die auch genetisch verändert werden kön- überhaupt nicht in Gleichklang zu bringen. Auch das muss nen, die auf Blastozysten wachsen und dann sogar als man an dieser Stelle sagen. weibliche und männliche Mäuse miteinander wieder neue Mäuse zeugen können, alle mit gleicher genetischer Aus- Was würde denn passieren, meine Damen und Herren, stattung. Hier kann man sagen: Dolly ist tot, Klonen ist wenn es bei tatsächlich vorhandenen Klonembryonen out. Denn es gibt inzwischen neue Technologien. Das – das wäre ja die Folge – bald einen internationalen meinte Herr Winnacker vermutlich, als er von Stamm- Markt gibt? Wer will kontrollieren, wer auf dem interna- zellbanken sprach und in diesem Zusammenhang neue tionalen Markt geklonte Forschungsembryonen in Auf- trag gibt? Wer will kontrollieren, wer Embryonen dann Technologien in den Vordergrund stellte. importiert, kauft oder verkauft? Wer will überwachen, ob Was bleibt, was wir bei alledem nicht vergessen dürfen mit solchen Embryonen, wenn sie erst einmal vorhanden und was Angehörigen, Pflegekräften und Ärzten in den sind, nicht auch Schwangerschaften herbeigeführt wer- Wohnungen, in den Praxen, in den Heimen und in den Kli- den? Diese Kontrolle ist doch gar nicht möglich. Wasniken täglich vor Augen steht, sind Schweiß, Kot, Blut, würde passieren, wenn eine Frau dann wirklich mit einem Schmerz und die Angst derer, die unsere Sorge und Hilfe solchen Embryo schwanger ist? Wollen Sie dann das Ver- brauchen, jetzt und ganz konkret. Ihnen müssen wir hel- bot des reproduktiven Klonens durchsetzen, indem Sie die fend und aufrichtig gegenübertreten. Sie sind diejenigen, Frau zu einer Abtreibung zwingen? Das kann doch nicht die die Qualität unserer Medizin letztlich am besten beur- gewollt sein. teilen können. Ihnen dürfen wir keine falschen Illusionen über die Vergänglichkeit menschlichen Lebens, über das Meine Damen und Herren, meine Redezeit ist leider zum Leben gehörende Sterben machen, auch wenn uns vorbei. Ich möchte Sie noch einmal aufrufen: Lassen Sie die eigene Angst vor diesem Schicksal nur allzu oft dazu uns heute ein deutliches Zeichen setzen. Lassen Sie uns verleitet. schnell und rechtzeitig handeln. Stimmen Sie dem inter- fraktionellen Antrag zu Visionen, Wagemut und Forschung sind trotzdem not- wendig, auch wenn dies den heute Kranken und Sterben- Vielen Dank. den nur noch wenig nützt. Wir wollen in der neuen En- (Beifall bei der CDU/CSU) quete-Kommission „Ethik und Recht der modernen (B) Medizin“ den praktischen Nutzen von Innovationen meh- (D) ren, wir wollen dem Gesetzgeber Instrumente und Regeln Präsident Wolfgang Thierse: vorschlagen, um Wirkung und Nebenwirkung genauer zu Ich erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang Wodarg, unterscheiden und wir wollen, dass Irrwege und Risiken SPD-Fraktion. in der Forschung und Entwicklung minimiert werden und die bedarfsgerechte Nutzung des medizinischen Fort- schritts erleichtert wird. Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): Welche konkreten Aufgaben stehen uns ins Haus? Es Herr Präsident! „Was neu ist, wird alt, und was gestern gilt, zum Beispiel folgende Frage zu beantworten. Dürfen noch galt, stimmt schon heut’ oder morgen nicht mehr“, an nicht einwilligungsfähigen Menschen Forschungen singt Hannes Wader. Sehr geehrte Kolleginnen, sehr ge- oder klinische Erprobungen durchgeführt werden, auch ehrte Kollegen, das stimmt natürlich in besonderem Maße wenn diese selbst davon keinen direkten Nutzen haben? für den Bereich der molekularen Biologie. Das, was die Wie gehen wir mit jenen um, die uns Ergebnisse von Stu- Enquete-Kommission noch vor einem Jahr über Stamm- dien präsentieren, die im Ausland unter bei uns verbote- zellen diskutiert hat, ist heute zum Teil schon technolo- nen Bedingungen durchgeführt wurden? Welcher interna- gisch auf dem Abstellgleis. Da gibt es neue Entwicklun- tionale Regelungsbedarf ist erforderlich, damit wir in gen. Deutschland, wenn wir die Lücken der Bioethik-Konven- Seit einigen Jahren wird uns vor Augen geführt, wie tion geschlossen haben, gemeinsame Richtlinien und durch die Technik des Klonierens genetisch weitgehend Grenzen für die Forschung in Europa oder Forschungs- identische Kopien von Lebewesen hergestellt werdenfelder – wenn man es positiv ausdrückt – definieren kön- können. Das jetzt vorzeitig gestorbene Schaf Dolly oder nen? das Bild von der Pipette voller Wunschgene, die in eine Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es gibt ein weiteres entkernte Eizelle injiziert werden, sind, genau wie die Thema, das drängt. Die Kinderärzte sagen uns, sie brauch- DNS-Spirale, moderne Ikonen der Biotechnologie, mit ten mehr Erfahrungen mit den Medikamenten, die bei denen Hoffnungen und Spekulationen verbunden werden, Kindern angewendet werden. In diesem Bereich müssen, die oft schon fast einen religiösen Charakter anzunehmen und zwar durch klinischen Studien, Erfahrungen gesam- scheinen. melt werden. Kinder können dem, was mit ihnen gemacht Wie schnell sich die Erkenntnisse zum Beispiel in der werden soll, nicht zustimmen. Deswegen müssen wir Re- Stammzellforschung ändern, haben uns Forscherteams geln entwickeln, mit denen Erfahrungen gesammelt wer- aus Wisconsin und Köln erst kürzlich gezeigt. Während den können, damit wirksame Medikamente für Kinder 2148 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Dr. Wolfgang Wodarg (A) hergestellt werden können, die nicht über- oder unterdo- insgesamt erlaubt? Was darf man am Lebensende? Was(C) siert sind, sondern die ihnen wirklich effizient helfen. soll verboten bleiben? Hier gibt es einen Streit und einen Wettbewerb in der Diskussion in Europa. Wir haben weitere wichtige Themen in den Antrag auf- genommen. Eines dieser Themen, das noch etwas fremd Man schaut mit großen Erwartungen auf Deutschland. anmutet, ist die Nanobiotechnologie. Die Nanobiotechno- In Deutschland hat es in der vergangenen Legislaturpe- logie verwischt in einer bisher unbekannten Weise die riode einen sehr fruchtbaren Streit über diese Themen ge- Grenzen zwischen Physik und Biologie, zwischen Tech- geben. Wir haben gezeigt, dass es gut ist, wenn sich die nik und Natur sowie zwischen Maschine und menschli- Bundesregierung einerseits und das Parlament anderer- chem Körper. So waren kürzlich beispielsweise Berichte seits für diese Debatte wappnen. Wir haben gesehen, dass über ein US-amerikanisches Forschungsprojekt zu lesen, das Interesse der Öffentlichkeit gerade dann steigt, wenn in dem es darum geht, die Funktionsweise von Nerven- nicht nur ein einziges Spezialistengremium arbeitet, son- zellen durch Nanochips zu simulieren. Diese Chips könn- dern wenn es auch zu Spannungen und unterschiedlichen ten, so die Überlegung, später ins Gehirn implantiert wer- Meinungen kommt. Das ist nichts Schlechtes. den, um ausgefallene Hirnzellen, zum Beispiel bei einer Ich muss meinem Kollegen Hüppe widersprechen. Ich Alzheimererkrankung etwa in der Region des Gedächt- finde es gut, dass der Kanzler denNationalen Ethikrat nisses, zu ersetzen. Man könnte so, wenn man das weiter- hat und dass das Parlament die Ethik-Enquete-Kommis- spinnt, sozusagen eine externe Festplatte entwickeln, die sion hat. Wir in Deutschland werden uns streiten. Das tun an das Gehirn angedockt werden kann. wir fair und nach demokratischen Regeln. Dabei sollen Ich denke, dieses Beispiel zeigt jedem deutlich, wie Kompromisse herauskommen, hinter denen wir alle ste- viel versprechend die medizinischen Perspektiven dieser hen können und die für die Menschen in unserem Lande neuen Technologie einerseits sind, wie andererseits aber gut sind. ganz neue ethische Fragen auftauchen, wenn wir in die Ich bedanke mich. Lage kommen, mit Maschinen und Schaltkreisen auf der Nanoebene in die Strukturen und Prozesse des menschli- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ chen Lebens einzugreifen. DIE GRÜNEN) (Beifall des Abg. René Röspel [SPD] und der Abg. Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE Präsident Wolfgang Thierse: GRÜNEN]) Ich erteile der Kollegin Barbara Lanzinger, CDU/ Die Nanotechnologie ist daher, wie ich denke, ein sehr CSU-Fraktion, das Wort. gutes Beispiel dafür, wie die neue Enquete-Kommission (B) (D) ihre Verantwortung wahrnehmen könnte, nämlich ethisch Barbara Lanzinger (CDU/CSU): relevante Themen vorausschauend anstatt reaktiv zu durchdenken. Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bedanke mich bei den Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des der Fraktionen – für meine Fraktion nenne ich stellvertre- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tend Frau Dr. Böhmer –, die die beiden Anträge „Einset- Wir wollen dabei versuchen, dass wir die anstehenden zung der Enquete-Kommission ‚Ethik und Recht der Themen nicht doppelt behandeln. Wir müssen uns mit modernen Medizin‘“ und „Neue Initiative für ein interna- dem Nationalen Ethikrat und mit anderen Gremien, die tionales Verbot des Klonens menschlicher Embryonen sich über Ethik und Recht in der Medizin Gedanken ma- starten“ ganz entscheidend mit auf den Weg gebracht ha- chen, abstimmen und können so Synergieeffekte errei- ben. chen. Das Thema Biobanken ist ein Thema, dessen sich (Beifall bei der CDU/CSU) bereits der Nationale Ethikrat angenommen hat, das wir aber auch in der Enquete-Kommission behandeln müs- Wir befinden uns in einem ungeheuren Spannungs- sen; denn es gibt eine Richtlinie aus Brüssel, die versucht, und Konfliktverhältnis: einerseits eine immens rasante Maßstäbe für die Gewinnung, Lagerung, Behandlung und und immer schnellere Machbarkeits- und Selektions- Verteilung von Zellen, von menschlichen Geweben zu medizin und andererseits klare ethische Wertvorstellun- entwickeln, die wir ins nationale Recht umsetzen müssen. gen, die auf einem christlichen Menschenbild, dem Men- Hier gilt es ganz konkret etwas zu tun. Genauso müssen schenbild der christlich-europäischen Wertetradition, wir in Deutschland die Umsetzung der Richtlinie zurbasieren. Die Forschung an embryonalen Stammzellen, Good Clinical Practice in nationales Recht vorbereiten. die Präimplantationsdiagnostik, die Pränataldiagnostik, Hierbei geht es um Nichteinwilligungsfähige und um die Abtreibungen, Spätabtreibungen, Euthanasie und Sterbe- hilfe berühren die elementaren Grundwerte unserer Ge- Bedingungen, unter denen klinische Versuche mit ihnen sellschaft. Sie berühren aber auch die Fragen nach dem durchgeführt werden dürfen. Inhalt und der Reichweite elementarer Verfassungsprinzi- Die neue Enquete-Kommission stellt auch im Namen pien wie die Menschenwürde, den Lebensschutz oder die die Ethik vor das Recht und lädt die Öffentlichkeit inWissenschaftsfreiheit. Deutschland und auch unsere Nachbarn zur Diskussion (Vorsitz: Vizepräsident Dr. ) über diese Themen ein. Es gibt ethisch und rechtlich sehr unterschiedliche Regelungen in Europa. Was darf die Verehrte Kolleginnen und Kollegen, in vielen Begeg- Forschung mit Embryonen tun? Was ist am Lebensanfang nungen, Begleitungen und Gesprächen mit schwerstkran- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2149

Barbara Lanzinger (A) ken und sterbenden Menschen wird uns in derHospiz- Ich halte es für enorm wichtig, wie Kant im Imperativ (C) bewegung Tätigen immer wieder sehr bewusst und deut- zu sprechen: Achte die Menschheit in jedem Menschen! lich vor Augen geführt, was es heißt zu leben und wieEs darf kein „lebenswert“ oder „lebensunwert“ geben. wichtig es ist, gerade am Lebensende über sein Leben, sei- Der Wunsch nach einem Kind darf nicht das Kind nach nen Wert, seine unendlichen Zufälligkeiten, das Warum Wunsch und Maß sein. Wie soll sich ein Mensch ange- und Wieso und darüber, was es bedeutet, noch oder trotz- nommen fühlen, wenn er von Anfang an weiß, dass er für dem da zu sein, nachzudenken. bestimmte Wünsche instrumentalisiert wurde oder dass er nicht existieren würde, wenn er die „Endauswahl“ nicht Ich sehe es als eine der zentralen politischen und ge- überstanden hätte? samtgesellschaftlichen Aufgaben an, Werteorientierung zu schaffen und zu leben: vom Beginn des Lebens an, für Ich habe in meiner Beratungstätigkeit viele Frauen und die Art des Individuums und für das Lebensende. Nicht Familien erlebt, die die Möglichkeiten der modernen Me- nur als Landesvorsitzende des Bayerischen Hospiz-Ver- dizin oftmals verwünschten, nämlich dann, wenn die bandes ist es mir ungeheuer wichtig, im Namen derDiagnose stand: Ihr ungeborenes Kind ist behindert. Die schwerstkranken und sterbenden Menschen für ein men- Entscheidung, ein behindertes Kind zu wollen oder nicht, schenwürdiges Leben bis zuletzt einzutreten und dazu müssen die Frauen letztendlich alleine treffen. Der psy- klare Vorstellungen in die heute zu beschließende En-chosoziale Druck, die tiefen Emotionen und Gedanken quete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Me- müssen größtenteils ebenso wie die daraus vielfach ent- dizin“ einzubringen. stehenden Beziehungskonflikte alleine getragen werden. Eine Pflichtberatung nicht nur bei der Pränataldiagnostik Gerade in einer Zeit von Kostendruck und Wirtschaft- wäre hier dringend anzudenken, wenn nicht sogar zu for- lichkeit besteht die Gefahr, dass die Menschlichkeit und dern. die Zeit im Umgang mit schwerstkranken, hilfsbedürf- tigen, alten, behinderten und sterbenden Menschen auf (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. der Strecke bleibt. Ich denke, wir alle gemeinsam tragen Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]) die Sorge und das Bemühen, der Gefahr vorzubeugen, Ge- Ich sehe es als wichtige Aufgabe der Enquete-Kom- danken an bezahlbar oder nicht bezahlbar, wert oder un- mission an, sich unter dem Gebot der Achtung der unter- wert gar nicht erst aufkommen zu lassen. schiedlichen Persönlichkeiten, der Meinungen, Fragen, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Argumente, Erfahrungen und Standpunkte die Zeit zum neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zuhören und zum Austausch zu nehmen. Wir haben mit dem Embryonenschutzgesetz, mit einer fraktions- und Ich meine schon, dass es in der heutigen Debatte er- parteiübergreifenden Bereitschaft im Bundestag für ein laubt sein muss, laut zu formulieren, dass nicht alles, was (B) internationales Verbot des reproduktiven und therapeu-(D) auch wissenschaftlich mach- und planbar ist, alles, was tischen Klonens menschlicher Embryonen einzutreten, erstrebenswert erscheint und ist, in der Konsequenz auf eine gute und wichtige Basis für unsere Entscheidungs- Dauer richtig ist. Nicht alles Mögliche darf machbar sein. findungen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Es ist dringend erforderlich, auf diesen Grundlagen in neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE einen breiten öffentlichen und gesellschaftlichen Dialog GRÜNEN) zu den vielen noch offenen und neuen Fragestellungen Ich meine auch, dass wir für heute und für die Zukunft zum Beispiel zu Biobanken, Gentests, zur Gentechnik bei klar Stellung beziehen müssen, was Menschsein letztend- Menschen und Pflanzen, zur Sterbebegleitung und Pallia- lich für uns bedeutet, was wir selbst wert sind, was wir uns tivmedizin, zu Tod und Sterben, einzutreten und, wenn wert sind, was der Mensch überhaupt und uns noch wert möglich, auch bei aller Unterschiedlichkeit einen Kon- ist. Was sind wir für Menschen in einer Gesellschaft, de- sens und gemeinsame Antworten zu finden. ren aktuelle Trends sind: perfekt, maßgeschneidert, frei Ich möchte mit dem Gedicht einer behinderten Frau von Belastungen, be- und verurteilt nachNützlichkeit schließen, die sich in der politischen und gesellschaft- und Leistungsfähigkeit, nach die Gesellschaft und die lichen Diskussion zu Ethik und Biomedizin mit allen da- Allgemeinheit belastenden Erkrankungen? mit zusammenhängenden Themen als betroffen bezeich- Auch in der Politik müssen wir den Mut haben, unsere net. Angst zu formulieren. Lebenswert (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- „im“ Fernsehen, wieder Diskussion, neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE ob ich es wert wäre zu leben. GRÜNEN) Eugenik, Vorgeburtliche Diagnostik, Euthanasie. Nicht die Angst davor, welche Perspektiven, welche Vor- Und ich denke mir, mit 15 wäre ich gestorben ohne und Nachteile die medizinische Forschung eröffnet, son- den medizinischen Fortschritt. dern die Angst davor, ob wir es uns zutrauen, politisch und Vor 60 Jahren wäre ich vergast worden aufgrund rechtlich all das abzusichern und in den Griff zu bekom- des ideologischen Fortschritts. men, was unwägbar ist und deshalb Angst macht. Ich In ein paar Jahren würde ich wegen beidem nicht möchte klar und deutlich formulieren und dafür einstehen, geboren werden. was wir am Ende für uns und die nachfolgenden Genera- Wie soll ich leben mit dieser Vergangenheit in tionen wollen. Zukunft? 2150 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Barbara Lanzinger (A) Danke schön. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) DIE GRÜNEN sowie des Abg. Helmut (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Heiderich [CDU/CSU]) neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zum anderen beschränkt sich die grundgesetzliche For- derung von Chancengleichheit aber nicht auf die Abwehr von Fehlentwicklungen. Wir sind darüber hinaus auch ge- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: halten, aktiv an der Schaffung von gleichen Vo- Ich erteile Frau Dr. Reimann, SPD-Fraktion, das Wort. raussetzungen und gleichen Chancen für alle mitzuwirken. Was hat moderne Medizin nun mit Chancengleichheit Dr. Carola Reimann (SPD): zu tun? Noch immer ringen wir mit einer Vielzahl von Krankheiten, die die Betroffenen aus der Mitte des Lebens Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich reißen und für die es bislang kein anderes Rezept gibt, als möchte Sie bitten, den Antrag zur Einsetzung der En- sie als Schicksal zu akzeptieren. Das Risiko unheilbarer quete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Me- Krankheiten – ich will keine nennen, um keine auszu- dizin“ zu unterstützen. Viele der neuen Erkenntnisse in grenzen – ist nur in wenigen Fällen wirklich beeinfluss- der modernen Medizin können einen erheblichen Einfluss bar. Es kann jeden und jede treffen, weil der blinde Zufall auch auf die Lebenswirklichkeit jedes Einzelnen entfal- das einzige Prinzip ist. ten. Damit ist auch die Politik gefordert. Wir als Parla- mentarierinnen und Parlamentarier im Bundestag müssen Meine Damen und Herren, es ist ein Menschheits- uns damit auseinander setzen, um das, was wir wollen, traum, die Macht solcher Schicksalsschläge zu mindern können oder dürfen, gegebenenfalls neu zu justieren. oder gar gänzlich aus der Welt zu schaffen. Es gibt wohl keine größere Ungerechtigkeit als dieUnausweichlich- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten keit einer Erkrankung, die jeden ohne eigenes Ver- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der schulden treffen kann. Wir werden immer mit Krank- Abg. Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]) heiten leben müssen. Aber dort, wo sich aus der Häufig wird der Politik vorgeworfen, der dynamischen medizinischen Forschung Optionen zur Behandlung von Entwicklung hinterher zu hinken. Die Enquete-Kommis- Krankheiten ergeben, sind wir verpflichtet, das Mögliche sion eröffnet die Chance, die Entwicklung auf Augenhöhe zu tun, um den Erkrankten die gleichen Chancen zu eröff- zu verfolgen und zu begleiten. Deshalb kann der Bundes- nen, die für die Gesunden selbstverständlich sind. tag als das gesetzgebende Organ unseres Landes nicht da- (Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei rauf verzichten, ein solches Expertengremium einzuset- Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. (B) zen. Denn hier werden die Entscheidungen fallen. Das (D) Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- haben auch schon viele meiner Vorrednerinnen und Vor- NEN]) redner betont. Die Enquete-Kommission soll rechtliche, ethische, soziale und politische Aspekte der Entwicklung Heilungschancen sind Lebenschancen, die wir den Be- bewerten und Handlungsvorschläge für uns, den Gesetz- troffenen nicht ohne weiteres verweigern dürfen. Dazu geber, erarbeiten. verpflichtet uns auch der Gedanke der Chancengleichheit. Das Feld, auf dem diese Diskussion innerhalb der En- Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit sind die Koor- quete-Kommission stattfinden wird, ist durch das Grund- dinaten sichtbar, innerhalb deren wir die Diskussion in der gesetz bereitet. In Amerika gibt es das so genannte Pursuit Enquete-Kommission zu führen haben. Wir begeben uns of Happiness, das Recht eines jeden Menschen auf ein in ein Spannungsfeld, in dem sich die Teilziele unserer glückliches und erfülltes Leben. In unserer Verfassung ist Verfassung nicht selten in Widerspruch zueinander befin- ein solches Recht nicht direkt als staatliche Garantie ver- den. Hier werden wir sicherlich schwierige Debatten zu ankert. Dennoch enthält unser Grundgesetz eine Reihe führen haben, denn einfache Antworten gibt es auf die von Regelungen, die allen Bürgerinnen und Bürgern un- komplexen Fragen der Biopolitik nicht. seres Landes die gleichen Chancen zur Führung eines (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten glücklichen Lebens garantieren sollen. Ich meine damit des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des die allgemeinen Menschenrechte und die Schutzrechte, Abg. Helmut Heiderich [CDU/CSU]) die die Bürgerinnen und Bürger vor gesellschaftlichen Fehlentwicklungen bewahren sollen mit dem Ziel, dass Eine intensive Auseinandersetzung, die von Akzeptanz jeder und jede die gleichen Möglichkeiten erhält, seine und Respekt aller Standpunkte getragen sein muss, ist not- bzw. ihre Lebenschancen zu realisieren. wendig, um in Bezug auf eine Fortentwicklung biomedi- zinischer Forschung unsere Koordinaten zu bestimmen Für unsere Diskussion leitet sich daraus zum einen die und diese Diskussion in die breite Öffentlichkeit zu tragen. Pflicht ab, uns schützend vor den Menschen zu stellen, wenn ihm die Gefahr droht, zu einem rein ökonomischen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) oder materiellen Faktor reduziert zu werden. Lebens- Dafür ist die Enquete-Kommission meiner Ansicht nach chancen dürfen überdies nicht von vermeintlichen Leit- das geeignete Instrument; deshalb bitte ich Sie, ihrer Ein- bildern biologischer Superiorität abhängig sein. Wir sind setzung zuzustimmen. auf der Basis unseres Grundgesetzes verpflichtet, die Menschenwürde des Individuums gegen den optimierten Des Weiteren bitte ich Sie, dem interfraktionellen An- Menschen zu verteidigen. trag „Neue Initiative für ein internationales Verbot des Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2151

Dr. Carola Reimann (A) Klonens menschlicher Embryonen starten“ zuzustimmen. Enquete-Kommission wird sich ebenfalls mit den Fragen (C) Niemand will das Klonen von Menschen, ich auch nicht. des Rechts und der Ethik der modernen Medizin befassen. Deshalb habe ich von Anfang an an diesem interfraktio- Von rund 30 000 Krankheitsbildern können wir unge- nellen Antrag mitgearbeitet. fähr 10 000 mehr oder weniger gut behandeln. DieGe- Das Entsetzen und das Unverständnis über die Ankün- nomforschung und die Molekularbiologiewerden die digung der Geburten angeblicher Klonkinder, die in der Medizin revolutionieren. Trotzdem wird es immer ein Le- letzten Woche wieder die Runde machte, ziehen sichben mit Krankheiten geben. Technologieentwicklung und durch alle gesellschaftlichen Gruppen und alle Fraktio- -anwendung auch im Bereich der Medizin sind konkrete nen in diesem Haus. Ich begrüße es deshalb, dass wir menschliche Handlungen. Sie sind in unser historisches, diese gemeinsame Ablehnung durch einen gemeinsa- kulturelles und rechtliches Umfeld eingebettet, das wir men interfraktionellen Antrag betonen und die Bundes- gestalten. Technik kommt also nicht von außen über uns; regierung unterstützen, sich auf der Grundlage unserer sie ist deshalb nicht als solche gut oder schlecht. nationalen Gesetzgebung bei den internationalen Ver- Auch die Annahme, Wissenschaft und Technik seien handlungen für ein möglichst umfassendes Klonverbot voneinander zu trennen, man solle sich mit dem reinen einzusetzen. Verstehen begnügen, das gewonnene Wissen jedoch nicht Ich danke Ihnen. anwenden, führt in die Irre. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall des Abg. Rolf Stöckel [SPD]) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Eine Gesellschaft, die das Wissen über komplexe Vor- CDU/CSU) gänge unseres Lebens als Problem und nicht als Chance für die Zukunft begreift, geht in eine Sackgasse. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Nächste Rednerin in der Aussprache ist die Kollegin bei Abgeordneten der SPD) Katherina Reiche, CDU/CSU-Fraktion. Die Biotechnologie ist für die erste Hälfte des 21. Jahr- hunderts wohl das, was der Computer für die letzte Häl- Katherina Reiche (CDU/CSU): fte des 20. Jahrhunderts war. Die Folgen sind ungeheuer, ihr potenzieller Nutzen ist riesig. Es gibt Zweifler, die sa- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ent- gen, Aspekte dieser wissenschaftlichen Forschung seien wicklung der biomedizinischen Forschung vollzieht sich grundsätzlich unerwünscht, und es gibt Apologeten der sehr rasant. Die Fortschritte in der Intensiv- und Trans- Machbarkeit um jeden Preis. Ich sage Ihnen: Lassen wir (B) plantationsmedizin, in der Humangenetik und in derunsere Wissenschaft doch erst einmal Fakten herausfin- (D) Embryologie brachten die Medizin immer näher an die den und urteilen wir danach. Unsere verantwortlich han- Grenzen der Ethik und der Menschenrechte heran oder delnden Wissenschaftler haben es verdient, dass wir ihnen überschritten sie gar. Gerade hatten wir das Klonschaf und ihrer Arbeit das nötige Vertrauen entgegenbringen. Dolly verdaut, entschlüsselte Craig Venter das humane Genom. Im letzten Jahr wollten verbrecherische Scharla- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie tane gar ein Kind geklont haben. bei Abgeordneten der SPD) Gleichwohl leisten Forschung und Technologie einen Die Menschen wissen, dass ihr Leben immer umfas- bedeutenden Beitrag zur Bewältigung der gesellschaft- sender von Wissenschaft und Technik abhängt. Sie wissen lichen, ökonomischen und ökologischen Herausforderun- aber auch: Die moderne Wissenschaft und die moderne gen im 21. Jahrhundert. Sie bieten die Chance, zur Lösung Technik haben sich in einem ungeheuren Ausmaß als dem zahlreicher globaler Probleme im Zusammenhang mit Leben dienlich, lebenserhaltend und lebenserleichternd Gesundheit, Alter, Ernährung, Bevölkerungswachstum, erwiesen. Welternährung, Umwelt und nachhaltiger Entwicklung Wissenschaftliche Erkenntnis und Ethik gehören zu- beizutragen. Die Reichweite des wissenschaftlich-techni- sammen. Sie bestimmen gemeinsam den Fortschritt der schen Fortschrittes wirft jedoch dort, wo neue Optionen Menschheit. Die wissenschaftliche Innovation ist der Mo- des Eingriffs in Mensch und Natur geschaffen werden, tor und die Ethik der Fahrer. So haben die gentechnische Fragen an die Verantwortung der Wissenschaft und der Revolution und neue Wege in der medizinischen Grund- Gesellschaft auf. Es geht um unsere Verantwortung für die lagenforschung die Frage nach der Würde des Menschen eine Umwelt ebenso wie für den Schutz der Würde des sowie nach dem Verhältnis zwischen elementaren Men- Menschen und die Wahrung der Grundrechte und Grund- schenrechten und der Freiheit von Wissenschaft und For- freiheiten, die im Grundgesetz und in der Konvention des schung in den Mittelpunkt der öffentliche Debatte ge- Europarates verankert sind. rückt. Die Enquete-Kommission der vergangenen Legislatur- Viele wissenschaftliche und ethische Fragen der Bio- periode hat mit ihrer Arbeit zu einer breiten öffentlichen medizin konnten in der Enquete-Kommission der vergan- Debatte über die Chancen und Risiken der Gentechnik genen Wahlperiode nicht angesprochen werden, wie zum in der Gesellschaft beigetragen. Sie hat zudem verdeut- Beispiel Gene Farming, Nanobiotechnologie, Pharmako- licht, dass solche wichtigen Entscheidungen in den Deut- genomik, Nahrungsmittel, Nahrungsmittelsicherung. Aber schen Bundestag und nicht in außerparlamentarischeauch Fragen im Zusammenhang mit dem Ende des Kommissionen, Räte oder Runden gehören. Die neuemenschlichen Lebens wurden nicht untersucht. Es geht 2152 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Katherina Reiche (A) um den Umgang unserer Gesellschaft mit neuen Erkennt- Menschenwürde berühren. Diesen Diskussionen Raum zu (C) nissen und Möglichkeiten, aber auch um die Frage, wie schaffen, daraus auch gesetzgeberische Initiativen zu ent- sie mit ihren grundlegenden Werten umgehen will. Diese wickeln, das ist Aufgabe der Enquete-Kommission, die Entwicklungen haben erst begonnen, unser Leben zu be- jetzt fortgeführt werden soll, was wir alle begrüßen. einflussen, und stellen künftig in noch höherem Maße Zwischen Ablehnung und Akzeptanz, zwischen Furcht eine Herausforderung an die Gesellschaft dar. vor dem Machbaren und Hoffnung auf therapeutische Dies alles geschieht in eineminternationalen Rah- Möglichkeiten entsteht das gesellschaftliche Konflikt- men. Wer internationale Vereinbarungen daran misst, ob potenzial, über das hier diskutiert werden muss. Dem Wis- sie die eigenen sittlichen Überzeugungen hinlänglich zum senschaftler unterstellen wir eine wichtiges Forschungs- Ausdruck bringen, verwechselt Recht und Ethik. Wer völ- ziel, wenn er Stammzellen verwendet, um Therapien kerrechtliche Vereinbarungen über Mindestnormen als gegen Diabetes zu entwickeln. Wenn aber Geschwister- Bedrohung nationaler Rechtsregeln betrachtet, verkennt kinder als lebende Organspender geplant werden, sehen den Sinn dieses Rechts und traut zudem dem Rechtsbe- wir, wo die Grenzen der Möglichkeiten – sie bringen viele wusstsein im eigenen Land wenig zu. ethische Fragen mit sich – entstehen. (Beifall des Abg. Rolf Stöckel [SPD]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Immer dort, wo unterschiedliche Traditionen in Recht des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der und Ethik berücksichtigt werden müssen, sind Verein- CDU/CSU) barungen ganz besonders schwierig zu erreichen. Die Wir Abgeordnete sind in der Pflicht, dem Deutschen Durchsetzung eigener Maximalforderungen gelingt leider Bundestag ein Instrument in die Hand zu geben, mit dem selten, während Kompromisse der Normalfall sind. dem Parlament die Ergebnisse einer breit geführten Dis- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie kussion zur Verfügung gestellt werden. Die letzte Kom- bei Abgeordneten der SPD) mission hat genau diesen Diskurs in – so meine ich – vor- bildlicher Weise initiiert, sie hat das Spannungsfeld Wir sind aufgefordert, verbindliche und unseren ethi- zwischen Ethik und moderner Medizintechnologie aufge- schen Überzeugungen entsprechende rechtliche Standards griffen, widergespiegelt und eine vertiefende Diskussion zu entwickeln, die zugleich eine Weiterentwicklung, eine geleistet. Sie hat alle betroffenen Gruppen, Institutionen praktische Anwendung der wissenschaftlichen Erkennt- und Verbände, viele Wissenschaftler und Wissenschaftle- nisse zugunsten von Mensch, Natur und Umwelt ermög- rinnen berücksichtigt und damit unter Beweis gestellt, lichen. Die Forscher wiederum sind aufgefordert, an der dass man diese schwierigen Fragen aufbereiten und in die Erarbeitung dieser Standards mitzuwirken. Es geht um parlamentarische Diskussion einbringen kann. (B) unsere gemeinsame Verantwortung gegenüber der Würde (D) des Menschen, gegenüber der natürlichen Umwelt und Die Kommission war dabei sehr erfolgreich. Ich erin- ebenso gegenüber dem hohen Gut der unabdingbarennere an wichtige Themen, die aufgegriffen wurden und in Freiheit von Wissenschaft und Forschung. In Bezug auf gesetzgeberische Initiativen mündeten. Ich erinnere an die ethischen Prinzipien und Werte, die für einzelne bio- die Europäische Grundrechte-Charta – das Europä- medizinische Felder relevant sind, muss ein angemesse- ische Jahr der Menschen mit Behinderung ist angespro- ner Ausgleich angestrebt werden. Eine Verengung auf ein chen worden –; die Enquete-Kommission hat dafür ge- einziges Prinzip ist wenig hilfreich. Es ist die Pflicht von sorgt, dass der Artikel gegen die Diskriminierung Staat und Wissenschaft, die Forschung für Prävention, verankert wurde. Er bezieht sich nicht nur auf die Diskri- Diagnostik und Therapie zu unterstützen. Die moralische minierung wegen des Geschlechts oder der Zugehörigkeit Verpflichtung zu gesundheitsbezogener Forschung zu einer ethnischen Gruppe, sondern das Diskriminie- muss stärker als in der Vergangenheit Eingang in den Dis- rungsverbot bezieht sich auch auf die genetische Ausstat- kurs finden. In diesem Sinne wünsche ich mir die Arbeit tung. Diese ganz wichtige Ergänzung wurde zu Beginn der Enquete-Kommission. der Arbeit der letzten Enquete-Kommission geleistet. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Abgeordneten der SPD) Wir haben zum Stammzellenimport, zur Biopatent- richtlinie, zur Präimplantationsdiagnostik, zur Stammzel- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: lenforschung und zu den genetischen Daten wichtige Dis- kussionen geführt. Dank der engagierten Debatte mit Das Wort hat nun die Kollegin Kühn-Mengel, SPD- Sachverständigen und Verbänden haben wir die Gesetz- Fraktion. gebungsverfahren begleitet. Die Arbeit der Kommission hat entscheidend dazu beigetragen, für einen zugespitzten Helga Kühn-Mengel (SPD): bioethischen Konflikt in kürzester Zeit eine weithin ak- zeptierte Kompromisslösung zu finden. Denken Sie an den Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kollegin- Bereich der Forschung mit embryonalen Stammzellen. nen! Es ist vornehmste und originäre Aufgabe einer Enquete-Kommission, Raum zu geben für die ethischen, Bei all dem haben wir größten Wert darauf gelegt, dass rechtlichen, wissenschaftlichen, ökonomischen und For- Transparenz und Beteiligung der Öffentlichkeit gewähr- schungsfragen, die mit dem Tempo fortschreitender Ent- leistet waren. Nur selten hat eine Kommission so viel Be- wicklungen in Biologie und Medizin zusammenhängen achtung in der Bevölkerung und den gesellschaftlichen und die auch das im Grundgesetz verankerte Konzept der Gruppen gefunden; das war gewollt und muss auch dieses Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2153

Helga Kühn-Mengel (A) Mal Ziel sein. Ich möchte nur an die große Veranstaltung möchte ich mich ausschließlich mit dieser Frage ausei- (C) in Bethel erinnern, bei der wir mit den Betroffenen und nander setzen. ihren Familien und mit den Verbänden über unsere Arbeit Warum haben wir uns nach unserem Besuch mit einer diskutiert haben. kleinen Gruppe beim deutschen UN-Botschafter für ein Auch die Themen, die jetzt noch zu behandeln sind, Verbot dieser Technologie so stark gemacht? Gibt es doch sind hoch brisant. Darauf haben wir auch im Abschluss- noch immer die Argumentation, dieser sei ein Weg zur bericht hingewiesen. Sie reichen von Gentests über Ein- Heilung chronischer oder degenerativer Krankheiten und griffe in das menschliche Erbgut, reproduktives unddeswegen dürfe man diesen Weg nicht verbauen. therapeutisches Klonen, Forschung an nicht einwilli- gungsfähigen Menschen bis hin zur Übertragung tieri- (Ulrike Flach [FDP]: Das ist doch noch unklar, scher Organe auf Menschen und den damit verbundenen Herr Heiderich!) ethischen Fragen. Dazu gehört auch all das, was sich zu Welches sind die Versprechungen, die immer wieder Beginn und am Ende des Lebens abspielt, auch das ist vorgetragen werden, Frau Flach? Ich möchte sie einmal schon einige Male angesprochen worden. Bitte vergessen auflisten: Erstens. Man hofft, durch Übertragung eines er- Sie auch nicht die Auswirkungen auf die gesellschaft-wachsenen Zellkerns in eine menschliche Eizelle Zellma- lichen Gruppen, so sind beispielsweise die frauenpoliti- terial zu gewinnen, das keine Immunabwehr auslöst, schen Aspekte bei vielen Diskussionen zu kurz gekommen. wenn es in den Körper des Patienten rückübertragen wird. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dieser Effekt erscheint zwar theoretisch möglich, ist aber bisher völlig unbewiesen. Die Pluralität der Weltanschauungen in unserer Gesell- schaft bringt Wertevielfalt, aber auch Werteunsicherheit (Ulrike Flach [FDP]: Das sagen Sie!) mit sich. Ich glaube, dass die Enquete-Kommission dazu Überhaupt beinhalten alle Argumente, die von den Befür- beitragen kann, eine geordnete und gleichzeitig breitewortern dieser Technologie angeführt werden, mehr Hoff- Diskussion zu führen und gute Grundlagen für gesetzliche nung als Heilung. Sie sind mehr Science-Fiction als Regelungen zu schaffen. Insofern wünsche ich der neuen Science. Bei den Versuchen, die bisher unternommen Enquete-Kommission, die jetzt „Ethik und Recht“ statt worden sind – es gibt ja einige Hinweise –, hat sich eher „Recht und Ethik“ heißt, für ihre Arbeit guten Erfolg. gezeigt, dass es doch zu einer Immunreaktion kommt, of- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ fenbar weil die verbliebene mitochondriale DNA der Ei- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der zelle nicht ohne Auswirkung auf den Klon bleibt. CDU/CSU) Zweitens. Die nächste Hoffnung, die verbreitet wird, besteht darin, schwere genetische Erkrankungen durch (B) (D) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Klonen von Zellkernen sozusagen in der Petrischale ab- bilden, den Patienten also auf seinen Klon reduzieren zu Ich erteile das Wort dem Kollegen Helmut Heiderich, können. Am geklonten Zellmaterial sollen dann die mu- CDU/CSU-Fraktion. tierten Gene aufgespürt und soll die krankheitsverursa- chende Expression herausgefunden werden. An diesen Helmut Heiderich (CDU/CSU): Invitro-Modellen menschlicher Krankheiten könne man die molekularen Zellmechanismen unabhängig vom Pati- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In enten erforschen. Hätte man sozusagen die Modelle ein- einem Bereich herrscht international – ich denke, auch un- zelner Patienten, könnte man daran auch weitergehende ter uns – nahezu Einmütigkeit: Das Klonen zur Erzeugung pharmazeutische und chemische Behandlungsmethoden menschlicher Duplikate wird fast unisono abgelehnt.testen, ohne den Kranken selbst belasten zu müssen. So Selbst die Chinesen, denen häufig eher ein lockerer Um- weit die Versprechungen. gang mit bioethischen Fragen nachgesagt wird, haben letzte Woche öffentlich und entrüstet die Meldung zurück- Wie aber sind die Fakten? Mitte vergangenen Jahres gewiesen, in China sei möglicherweise ein geklonteshat die Firma ACT in Wisconsin einen solchen Klonver- Menschenkind geboren worden. such unternommen. Von 19 Eizellen mit ausgetauschtem Zellkern ließen sich 16 nicht zum Leben erwecken. Die Anders ist die Situation bei dem, was man hierzulande drei verbliebenen stellten im Sechszellstadium jede wei- üblicherweise „therapeutisches Klonen“ nennt, ein, wie tere Entwicklung ein. Andere Spitzenwissenschaftler ha- ich meine, völlig irreführender Begriff. ben uns berichtet, dass nach ihren Forschungen prinzi- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und pielle biologische Barrieren bestünden – man muss wohl der SPD) sagen: glücklicherweise –, die solche Klonvorgänge viel- Deswegen setze ich mich sehr dafür ein, dass diese Form leicht dauerhaft verhinderten. des Klonens anders, nämlich so genannt wird, wie sie Nehmen wir aber einmal an, dass es wirklich gelänge, tatsächlich ist: „destruktives Klonen“. Wir sollten begin- solches Klonen möglich zu machen. Was würde das be- nen, diese Begriffe gegeneinander auszutauschen. deuten? Man bräuchte – darauf ist schon vorhin hinge- wiesen worden – Tausende menschlicher Eizellen, um die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Behandlung eines einzigen Menschen zu ermöglichen. der SPD) Das heißt doch, in den Petrischalen der Labors müsste Ich habe oft den Eindruck, dass in der Debatte über die- tausendfach junges Leben heranwachsen, um dann zer- sen Punkt doch manches durcheinander geht. Deswegen stört und zu medizinischem Rohstoff für einen einzigen 2154 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Helmut Heiderich (A) Kranken verarbeitet zu werden. Das ist der Hintergrund Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (C) dessen, was man so euphemistisch als therapeutisches Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Jörg Klonen bezeichnet. Tauss, SPD-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ist das wirklich die Hoffnung, für die wir dieses For- Jörg Tauss (SPD): schungsfeld offen halten sollten? Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- Ich meine, es gibt längst andere und langfristig bessere ren! Gestatten Sie mir, zusammenfassend einige Aspekte Wege. Vor kurzem hat zum Beispiel die Gruppe vonanzusprechen. Ich begrüße es sehr, dass der gemeinsame Francis Thomson in Wisconsin mit dem deutschen Kolle- Antrag für ein internationales Verbot des Klonens zu- gen Thomas Zwaka das Ein- und Ausschalten einzelner stande gekommen ist. Hierzu gab es bereits im letzten Jahr Gene im menschlichen Zellkern möglich gemacht. Damit eine klare rot-grüne Position. Es wäre meines Erachtens könnte man zukünftig Krankheitsbilder in der Petrischale nicht unbedingt notwendig gewesen, dem etwas folgen zu simulieren, ohne Menschen klonen zu müssen. Anderen lassen. Aber nachdem es über Weihnachten eine reichlich Forschern ist es im Tierversuch gelungen, schon ausdiffe- unseriöse Pressekampagne einer, was das Klonen anbe- renzierte Zellen über zwei Stufen zurückzuentwickeln. langt, wesentlich unseriöseren Sekte gab, ist die politische Die damit verbundenen Erkenntnisse könnten der For- Diskussion über dieses Thema neu aufgeflammt. Das Er- schung mit adulten Stammzellen ein völlig neues Poten- gebnis, das uns vorliegt, ist gut, auch wenn sein Zustan- zial geben. dekommen auf einer, wie gesagt, weniger seriösen Grund- lage beruht. Es gibt also nach meiner Auffassung – es ist mir ganz wichtig, darauf hinzuweisen, weil immer wieder Gegen- Allerdings führte und führt dieser Ausgangspunkt bei teiliges behauptet wird – auch keinen wissenschaftlichen einigen Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause – auch Grund, Klonen, gleich welcher Art, als Hoffnungsstrate- bei solchen aus unserer Fraktion – durchaus zu Unwohl- gie zu betrachten. Auch deswegen fordere ich dazu auf, sein. Ich verstehe diese Empfindungen durchaus. Sie resul- nicht länger von therapeutischem, sondern von destrukti- tieren aus der Sorge, dass durch ein striktes Nein seriöse vem Klonen zu sprechen. Forschung zum Wohle der Menschen möglicherweise ge- fährdet wird. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Ich meine, dass wir auch der Biowissenschaft insge- CDU/CSU) samt einen Dienst erweisen, wenn wir diese zweifelhafte und unakzeptable Art und Weise wissenschaftlicher For- Ich sage deutlich: Ich teile diese Sorge nicht. Auch die (B) (D) schung von vornherein ausschließen und damit die Bio- Deutsche Forschungsgemeinschaft hat klar zum Aus- wissenschaften von dem Ruch befreien, ethisch und mo- druck gebracht, dass das therapeutische Klonen aus wis- ralisch fragliche Technologien anzuwenden. Meinersenschaftlicher Sicht kein Thema ist. Frau Flach, wir Meinung nach gibt es für uns eine moralische und ethi- brauchen wirklich nicht wissenschaftlicher als die Wis- sche Verpflichtung, den Weg zur breiten Anwendung ei- senschaft selbst zu sein. Das ist nicht unsere Aufgabe. ner solchen menschenverachtenden Technologie rechtzei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der tig zu verbarrikadieren. Deswegen muss unser Antrag von CDU/CSU) nun an auch international umgesetzt werden. An dieser Stelle können wir auf die Wissenschaft hören. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE Aus diesem Grunde spricht auch nichts dagegen, GRÜNEN]) diese Position, die wir hier gemeinsam haben, in die in- ternationalen Verhandlungen einzubringen. Ich kann Dafür zu sorgen ist unser Auftrag und ist unsere morali- nur nochmals betonen: Dieser Bundesregierung gebührt sche Pflicht. Dem müssen wir gemeinsam nachkommen. das Verdienst, in diesem Bereich als erste international Auch in den USA – das ist vorhin hier angesprochen tätig geworden zu sein. Das ist ein Erfolg deutscher worden – gibt es längst vergleichbare Initiativen. Mir liegt Außenpolitik. Wir werden diesen Weg weiter beschrei- ein Antrag vor, der vor wenigen Wochen im amerikani- ten. schen Senat eingebracht worden ist. Auch in diesem An- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten trag wird dazu aufgefordert, alle Verfahren des Klonens des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zu verbieten. Der ganze Antrag umfasst – den Amerika- nern gelingt das manchmal sehr schön – nicht mehr als Alle diese Argumente sind seriös genug, um hier keine eine Seite. Vielleicht können wir uns daran ein Beispiel Horrorszenarien frankensteinscher Art entwerfen zu müs- nehmen. Man spricht sich in diesem Antrag sehr deutlich, sen. Herr Hüppe, Sie haben immer wieder eine paar fran- sehr einfach und sehr klar gegen diese Form der Entwick- kensteinsche Ansätze gehabt. Ich teile Ihre Kritik, dass in der Ethikkommission mehr Forscher als Ethiker seien, in lung, die ich destruktives Klonen nenne, aus. keiner Weise. Wer dies so formuliert, impliziert damit, Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. dass Forschung als solche nicht ethisch sei und dass die Forscher nicht ethisch arbeiteten. Dies müssen wir (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, zurückweisen. der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2155

Jörg Tauss (A) Ich habe großen Respekt vor der Arbeit desNationa- Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Frak- (C) len Ethikrats. Ich weiß überhaupt nicht, wie man dazu tionen der SPD, der CDU/CSU und des Bündnisses 90/ Die kommen kann, dieses Gremium einer demokratisch ge- Grünen auf Drucksache 15/464 mit dem Titel: „Einset- wählten Regierung als undemokratisch zu bezeichnen. zung einer Enquete-Kommission ‚Ethik und Recht der Ich danke Herrn Simitis und den Mitgliedern des Ethik- modernen Medizin‘“. Wer stimmt für diesen Antrag? – rats ausdrücklich für die Arbeit, die sie in der Vergangen- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist heit geleistet haben. mit den Stimmen der SPD-Fraktion, der CDU/CSU-Frak- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) tion und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen ge- gen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen. Damit Auch wenn ich einer derjenigen bin, die gern Schärfe ist die Enquete-Kommission „Ethik und Recht der mo- in die Debatte bringen und in Diskussionen kein Kind von dernen Medizin“ eingesetzt. Traurigkeit sind – ich räume dies durchaus ein; Sie setzen sich damit ja gelegentlich auch fröhlich auseinander –, Ich darf hinzufügen, dass die von den Fraktionen zu be- muss ich doch eines sagen, Kollegin Nickels. Ich emp- nennenden Mitglieder die guten Wünsche des ganzen fehle, bei Themen wie PID und Behinderte sprachlich et- Hauses bei der Erledigung dieser ebenso wichtigen wie was abzurüsten. Viel von dem, was Sie hier gesagt haben, schwierigen Aufgabe begleiten. kann ich absolut nicht akzeptieren. (Beifall bei allen Fraktionen) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir stimmen nun ab über den Antrag der Fraktionen der der FDP) SPD, der CDU/CSU und des Bündnisses 90/Die Grünen Sie haben davon gesprochen, dass als Nonplusultra die auf Drucksache 15/463 mit dem Titel: „Neue Initiative für Ethik des Heilens beschworen wird. Niemand hat hier ein internationales Verbot des Klonens menschlicher Em- eine Ethik des Heilens beschworen. Die Ethik des Heilens bryonen starten“. Dazu liegen mir drei Erklärungen zur ist aber durchaus ein Wert. Abstimmung vor, die jeweils von mehreren Abgeordneten unterschrieben sind. Frau Böhmer, die Interpretation dessen, was in Art.1 des Grundgesetzes zum Thema Menschenwürde steht, würde Es gibt eine Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung ich schon ganz gern weiterhin dem Bundesverfassungsge- der Abgeordneten Rolf Stöckel, Kurt Bodewig, Siegmund 1) richt überlassen. Es kann hierbei nicht um Positionen von Ehrmann und anderer – ich muss die Namen nicht im Ein- Personen gehen, die ich persönlich sehr respektiere, zelnen verlesen; das wird ja im Protokoll festgehalten –, mit der diese Kollegen begründen, warum sie dem Antrag (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Das ist gel- nicht zustimmen können. tendes Verfassungsrecht!) (B) Es gibt eine weitere Erklärung zur Abstimmung der(D) die aber – auch dies sollte klar gesagt werden – in vielen Kollegen Petra Selg, Werner Schulz, Dr. Uschi Eid und Punkten mit der Rechtsprechung zu Art. 1 nicht im Ein- Jerzy Montag, die diesem Antrag zwar zustimmen wollen, klang stehen. für ihr Abstimmungsverhalten aber eine persönliche Er- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) klärung abgeben möchten.2) Mit diesen Fragen und mit den Grenzen des medizini- Drittens schließlich gibt es eine Erklärung zur Abstim- schen Fortschritts wird sich die Enquete-Kommission aus- mung der Kollegen Dr. Martin Mayer, Georg einander zu setzen haben. Sie wird sich viele neue span- Fahrenschon, Peter Hintze und Ursula Heinen, die diesem nende Themen auf die Tagesordnung setzen. Ich war am Antrag nicht zustimmen wollen.3) Anfang sehr skeptisch, ob es Sinn macht, eine solche En- Ich stelle nun den Antrag auf Drucksache 15/463 zur quete-Kommission wieder einzurichten, möglicherweise Abstimmung. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer auch zu Themen, die bereits in der letzten Legislaturperi- stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Der ode abgehandelt worden sind. Es sind wichtige neue Fra- Antrag ist mit den Stimmen der großen Mehrheit der Mit- gen, beispielsweise zum Sterben, aufgeworfen worden. glieder der SPD-Fraktion, der CDU/CSU-Fraktion und Ich hoffe, dass die Enquete-Kommission diese Fragen auf- der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stim- greift. Ich hoffe auch sehr, liebe Kolleginnen und Kollegen men der FDP-Fraktion bei einigen Enthaltungen aus der – das geht an diejenigen, die Mitglied der Enquete-Kom- CDU/CSU-Fraktion angenommen. mission sein werden –, dass diese Enquete-Kommission in der Lage sein wird, jenseits von Vorfestlegungen unvor- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Und eingenommen an ihre Aufgaben heranzugehen. Gegenstimmen aus der SPD!) Ich freue mich auf spannende Diskussionen zur For- – Es gab einige Gegenstimmen bei der SPD-Fraktion. schungspolitik zwischen Ihnen und mit Ihnen. (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Zahlreiche, Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Herr Präsident! – Weiterer Zuruf von der CDU/ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten CSU: Fast die Mehrheit!) der CDU/CSU)

1) Anlage 2 Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: 2) Anlage 3 Ich schließe die Aussprache. 3) Anlage 4 2156 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) – Davon kann sicher keine Rede sein, Herr Kollege. Über Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die (C) das Mehrheitsverhältnis gibt es ganz offenkundig keine Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Dazu höre ich kei- Meinungsverschiedenheit. nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Damit ist dieser Antrag angenommen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Bundesminister Manfred Stolpe. Wir kommen zum Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/314 mit dem Titel „Reproduktives Klonen weltweit verbieten – das Machbare schnell umsetzen“. Dr. h. c. Manfred Stolpe,Bundesminister für Ver- Abweichend von der Tagesordnung soll über den Antrag kehr, Bau- und Wohnungswesen: heute abgestimmt werden. Wer stimmt für diesen Antrag Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- der FDP-Fraktion? – Wer stimmt gegen den Antrag? – ren! Ihnen liegen Berichte zum Straßenbau und zum Aus- Wer enthält sich der Stimme? – Dieser Antrag ist mit der bau der Schienenwege im Jahr 2001 vor. Das sind zwei großen Mehrheit der Stimmen aus allen anderen Fraktio- Dokumente, die in die Hand zu nehmen sich lohnt. Sie alle nen bei einigen Enthaltungen sowohl aus der SPD-Frak- sind nämlich irgendwo davon betroffen und, wie ich tion als auch aus der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt. hoffe, damit auch weithin zufrieden. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 sowie den Zu- Wir haben die gute Erfahrung gemacht, dass dieses satztagesordnungspunkt 2 auf: Parlament für dieses Jahr 8,5 Milliarden Euro für die Aus- baumaßnahmen bei Straße und Schiene bereitgestellt hat. 4. a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- Wir haben dankbar erleben können, dass Planungsbehör- gierung den der Länder und des Bundes in enger, intensiver Zu- sammenarbeit dazu beigetragen haben, dass die zum Teil Straßenbaubericht 2002 schwierigen Projekte bewegt werden konnten. Wir haben – Drucksache 15/265 – erlebt, dass Projektanten, Architekten, Ingenieure, leis- tungsstarke Unternehmen und nicht zuletzt Tausende von Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Fachleuten dazu beigetragen haben, dass sich die Ver- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit kehrsinfrastruktur in Deutschland ein Stück weit verbes- Ausschuss für Tourismus sern konnte. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gierung Meine Damen und Herren, diese Maßnahmen halfen Bericht zum Ausbau der Schienenwege 2002 (B) dabei, Staus abzubauen; so wurden – das brauchen wir(D) – Drucksache 15/280 – dringend – Brücken über Rhein und Main gebaut. Die A2 Überweisungsvorschlag: von Hannover bis Berlin ist fertig geworden. Vom Kame- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) ner Kreuz wurde die A 1 in Richtung Wuppertal weiter Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ausgebaut. Nicht zuletzt ist auch der Bau der Bahnstrecke Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit von Köln in die Region Rhein-Main schon in jenem Jahr Ausschuss für Tourismus erheblich vorangekommen. Ähnliches gilt für Strecken in Bayern, so von Nürnberg über Ingolstadt nach München. c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Horst Dabei sind aber auch Verkehrsbauten, die benachteiligte Friedrich (Bayreuth), Joachim Günther (Plauen), Regionen besser an das Wirtschaftsleben in Deutschland (Münster), weiteren Abgeordneten insgesamt anbinden; hier ist speziell im Schienenbereich und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eine Menge im Osten Deutschlands getan worden. Auch eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Ver- der Bau der A20 ist in jenem Jahr, aber auch im letzten Jahr kehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes erheblich vorangetrieben worden. Hier ist viel bewegt wor- – Drucksache 15/221 – den; sie wird insgesamt eine große Bedeutung gewinnen. Überweisungsvorschlag: Lassen Sie mich bei einer solchen Gelegenheit auch sa- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) gen: Da wurden Verkehrsbauten errichtet, die Architektur- Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und Ingenieurgeschichte schreiben und auf die wir stolz sein können. ZP 2 Erste Beratung des von den Abgeordneten Arnold (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vaatz, Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, weiteren Abgeordneten und der Fraktion derIch kann nur raten, sich gewisse Brückenbauten einmal in CDU/CSU eingebrachten Entwurfs einesGeset- Ruhe anzusehen, zum Beispiel die, die in Thüringen er- zes zur Änderung des Verkehrswegeplanungs- richtet wurden. Darauf können wir durchaus mit Freude beschleunigungsgesetzes schauen. – Drucksache 15/461 – Aber nicht nur das schnellere Vorankommen des Ein- zelnen im Verkehrsgetriebe, auf das wir stolz sind und Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) worüber wir uns freuen, ist die Aufgabe von mobilitäts- Rechtsausschuss verbessernden Maßnahmen und Verkehrsbauten. Nein, Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Mobilität ist mehr: Mobilität ermöglicht modernes Le- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2157

Bundesminister Dr. h. c. Manfred Stolpe (A) ben. Mobilität ermöglicht Produktivitätssteigerung. Wir vorne sehe ich die Notwendigkeit derStaubeseitigung. (C) müssen einfach zur Kenntnis nehmen, dass ungefähr die Das betrifft Wachstumsregionen. Darauf werden wir uns Hälfte der gesamten Produktivitätsleistung in Deutsch- noch stärker zu konzentrieren haben. land abhängig von den Verkehrsleistungen des Systems Ich sehe zum Zweiten die Notwendigkeit, dass wir uns ist. Nicht zuletzt schafft Mobilität auch Arbeit. Mehr als auf den noch immer vorhandenenNachholbedarf kon- 10 Prozent aller Arbeitsplätze in Deutschland sind unmit- zentrieren. Das betrifft zum einen Strecken im Osten, die telbar mit dem Erbringen von Verkehrsleistungen verbun- geschaffen werden müssen, die Autobahnen A 14 und den; indirekt hängen davon weitaus mehr ab. A 72, zum anderen aber auch die zwingend erforderliche (Renate Blank [CDU/CSU]: Sehr gut, dass das Schließung von Lücken etwa bei der A1 oder auch bei der einmal erkannt wird!) A 31, wo wir in bestimmten Regionen unerträgliche Si- Ich möchte dafür werben, dass Verkehrsinfrastruktur tuationen haben. eine Vorrangaufgabe bleibt. Zu dem jetzigen Verkehrsvo- Wir haben drittens im Berichtsjahr 2001 70Ortsum- lumen, das auf dem derzeitigen Netz zu bewältigen ist, gehungen fertigstellen können. Nach meiner Schätzung kommt noch der zu erwartende Anstieg desVerkehrs- und nach Auskunft der Experten brauchen wir in Deutsch- aufkommens. Wir können auch bei behutsamen Schät- land noch rund 300 Ortsumgehungen, die wir vordring- zungen davon ausgehen, dass etwa 20 Prozent mehr Per- lich angehen sollten. sonenverkehr und rund 65 Prozent mehr Güterverkehr bewältigt werden müssen. Die Erweiterung der Europä- Wir müssen – das darf ich als vierten Schwerpunkt un- ischen Union wird den Druck auf das Transitlandserer Verkehrspolitik einbringen – die technischen Errun- Deutschland, das es aufgrund seiner zentraleuropäischen genschaften, die wir haben, die Möglichkeiten der Infor- geographischen Lage ist, noch vergrößern. Hier sind wir mations- und Kommunikationstechnologiestärker gefordert und hier müssen wir uns noch ganz erheblich nutzen und stärker erschließen, mehr Mühe geben, um diese große Aufgabe zu bewälti- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Sehr wahr!) gen. Wenn wir nicht versuchen, das stärker zu beeinflus- sen, wird der Zuwachs allein auf den Straßen stattfinden um über Telematik, und wir werden massive Belastungen von Autobahnen (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Keine Autobahn und anderen Straßen erleben und wichtige Bereiche – das ohne Telematik!) sind in der Regel die Wachstumsbereiche – werden im Verkehr ersticken, wenn wir nicht dagegen angehen. über Verkehrssteuerung eine bessere Verteilung des Ver- kehrsaufkommens zu erreichen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) In diese Überlegung, moderne Technologie für die Be- (B) wältigung des Verkehrsaufkommens zu erschließen,(D) Ich sehe es als allererste Aufgabe für Verkehrspolitik in gehört für mich auch die Notwendigkeit, die Bemühungen Deutschland an, ein integriertes, leistungsfähiges, ökolo- um eine Magnetbahntechnik zu verstärken und vonsei- gisch verantwortbares Verkehrssystem zu schaffen. Nach ten des Bundes zu unterstützen. Wir müssen auch Zu- meiner Überzeugung müssen wir dafür unsere Bemühun- kunftswege erschließen. Wir dürfen nicht nur in Zeiträu- gen um den kombinierten Verkehrvergrößern. Das men von wenigen Jahren denken, sondern müssen gerade heißt, stärker die Leistungspotenziale von Straße, Schiene in diesem Bereich weit über Legislaturperioden hinaus- sowie Binnen- und Hochseeschifffahrt zu verbinden. Wir denken. brauchen insbesondere in den Häfen Terminals, die die Verbindungen zwischen Hochseeverkehr und Kurz- (Beifall bei allen Fraktionen) streckenverkehr sicherstellen. Wir brauchen aber auch Auch der Umweltschutz muss bei unserer Verkehrs- Strategien, um den kombinierten Verkehr zu fördern. Wir politik ein strategisches Ziel sein. Wir müssen uns weiter- müssen ihn gezielt unterstützen. Ich freue mich, dass wir hin um alternative Antriebe bemühen. Wir müssen aber in der Zwischenzeit auch schon mehrere Trimodal Termi- auch die Maßnahmen des Lärmschutzes verstärken, nicht nals haben, die die Verbindung von Wasserstraßen, Schie- nur bei Neubauvorhaben, sondern auch beim Bestand, so- nenwegen und Straßen ermöglichen. Auch da wird noch wohl bei der Schiene als auch bei der Straße. Das sollte mehr geschehen können. ebenfalls ein Schwerpunkt unserer Bemühungen sein. Nicht zufrieden – das will ich Ihnen offen sagen – bin Lassen Sie mich als einen weiteren Punkt nennen, dass ich mit der Situation der „rollenden Landstraße“. Da die Fragen der Sicherheit im Verkehr weiterhin große Be- könnte eigentlich noch mehr geschehen. Dem steht aber deutung haben müssen. Aufgrund der internationalen Ka- offenbar die Marktsituation entgegen. Hier für ein Um- tastrophen, die in diesem Bereich eingetreten sind, haben schwenken zu sorgen ist eine Aufgabe, der wir uns stärker wir unlängst die Bemühungen um die Tunnelsicherheit stellen müssen; immer vor dem Hintergrund der Tatsache, verstärkt. dass die Bahn auf dem Schienenweg noch mehr zur Be- wältigung der riesigen Güterverkehrsströme, die auf uns (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zukommen, beitragen kann. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Nicht zuletzt werden wir auch alles tun müssen, um des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Verfahrensbeschleunigungen zu erreichen. Meine Damen und Herren, die Verkehrspolitik in (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das nützt natür- Deutschland muss weiterhin Schwerpunkte setzen. Ganz lich nichts, wenn das Geld nicht da ist!) 2158 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Bundesminister Dr. h. c. Manfred Stolpe (A) Ich kann hier nur noch einmal von den guten Erfahrungen Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (CDU/CSU): (C) berichten, die wir mit dem Bundesverkehrswegepla- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- nungsbeschleunigungsrecht in Ostdeutschland gemacht ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, haben. Wir werden den Bericht zum Jahresende 2003 vor- nach Ihrer Rede muss ich feststellen, dass sie eine Konse- legen. Ich freue mich auf die Diskussion, die wir dann alle quenz der Politik der Bundesregierung ist: Sie sprechen miteinander haben werden, auch vor dem Hintergrund davon, dass Sie eigentlich etwas tun müssen und tun sol- von Anträgen, die ich heute gelesen haben. len. Aber Sie sagen nie konkret, wann Sie etwas tun wol- Meine Damen und Herren, alles in allem sind das ge- len. waltige Aufgaben, die angegangen werden müssen. Wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sehen zugleich, dass das, was wir für Verkehrsinfrastruk- tur an Geld zur Verfügung stellen – im Jahr 2003 werden Wenn Sie schon einen Termin nennen, Herr Minister, das 11,5 Milliarden Euro sein –, nicht ausreichen wird, um dann ist dies immer mit dem Hinweis verbunden, dass Sie die Aufgaben zu bewältigen. Wir brauchen zusätzliche Fi- schon wieder etwas verschoben haben. Der Bundesver- nanzierungswege. Wir brauchen die Maut. Bitte unter- kehrswegeplan ist überfällig; er sollte schon längst vor- stützen Sie uns, damit wir die Maut rechtzeitig einführen liegen. Ein entsprechender Kabinettsbeschluss sollte in können. Wir brauchen Betreibermodelle, wie sie schon diesem Monat erfolgen; das ist nicht geschehen. Jetzt set- angedacht sind, wie wir sie zum Beispiel beim Warnow- zen Sie wieder ein späteres Datum. Herr Bundesver- tunnel oder auch beim Wesertunnel haben werden. kehrsminister, das macht deutlich: Es gibt viele schöne Wir sollten auch miteinander darüber nachdenken, wel- Sprüche, aber bei der Umsetzung gibt es ein Manko nach che weiteren Möglichkeiten privater Beteiligung an Ver- dem anderen. kehrsbauten erschlossen werden können. Denn wir stehen Herr Minister, Ihre Darstellung war beschönigend. Sie in einem Wettlauf: Auf der einen Seite steht der Aufwuchs haben nicht deutlich gemacht, vor welchen Engpässen wir des Verkehrsaufkommens, bei dem schon jetzt messbar ist, stehen. Die Zahl der Staus hat zugenommen; die Zahl der was auf uns zukommen wird; auf der anderen Seite stehen Verspätungen bei der Bahn nimmt ebenfalls zu. Insgesamt die Verbesserungen der Infrastruktur. Nach meiner Über- ist festzuhalten – Sie können das jetzt als kleinlich ab- zeugung müsste unser gemeinsames Ziel sein, diesen Wett- tun –, dass die Verspätungen bei der Bahn zu immer mehr lauf zu gewinnen, um nicht im Stau zu ersticken. Verärgerung bei den Menschen führen, die morgens (Beifall bei der SPD) 20, 30 Minuten bis zu einer Stunde warten müssen. Diese Menschen erhalten keine Antwort auf ihre Klagen und Wir haben für den künftigen Bundesverkehrswegeplan können Ihren Äußerungen auch nicht entnehmen, wann es bereits jetzt 1 800 Anmeldungen. Wir wollen einen Bun- zu Verbesserungen kommen wird. Das sind die Punkte, an (B) (D) desverkehrswegeplan entwickeln, der bis 2015 gilt. Den denen Sie konkret ansetzen müssen. „Sollen“ und „wol- Entwurf dazu wollen wir im ersten Halbjahr erstellen. Ich len“ reichen nicht aus, sondern Sie müssen ganz konkret hoffe, dass er rechtzeitig fertig wird und dann diskutiert etwas tun. werden kann. Dazu werden wir mit Ihnen und gerade mit denen, die regionale Erfahrungen mitbringen, das Ge- Ich vermisse ebenfalls ein wesentlich konkreteres Vor- spräch führen. Außerdem werden wir mit den Ländern in gehen und Vordenken im Zusammenhang mit der EU-Ost- sehr engem Kontakt stehen. erweiterung. Wir werden allerdings – das zeigt schon die Zahl 1 800 – (Beifall bei der CDU/CSU) um eine Prioritätensetzung nicht herumkommen. Das Sie wissen, dass wir gewaltige zusätzliche Verkehrs- bedeutet, dass wir die Kosten-Nutzen-Frage und dieströme zu erwarten haben. Herr Minister, um diese Ver- Raumentwicklungsmöglichkeiten, die sich durch die Ver- kehrsströme aufzufangen, müssen die Planungen jetzt kehrsbauten ergeben, prüfen müssen. Das bedeutet nicht erfolgen und die Umsetzungsmaßnahmen eingeleitet wer- zuletzt, dass wir Fragen der Umweltverträglichkeit zuden. Bei der Schnelligkeit der Osterweiterung bestünde berücksichtigen haben. Diese drei Kriterien wollen wir ansonsten die Gefahr, mit diesen Maßnahmen völlig in mit Ihnen diskutieren. Ich hoffe sehr, dass wir vor dem Verzug zu geraten. Eine Antwort darauf habe ich Ihrer Sommer einvernehmlich einen Bundesverkehrswegeplan Rede nicht entnehmen können. Sie haben lediglich mit ei- aufstellen können. nem Satz auf die EU-Osterweiterung hingewiesen. Aber Intensive Gespräche sind nötig. Ich bin bereit, sie zu es fehlen Angaben, wie wir die Probleme in diesem Zu- führen, und bitte Sie alle, dass wir diese große Aufgabe in sammenhang bewältigen können, welche Projekte es gibt Bezug auf Mobilität und Zukunftsentwicklung gemein- und wie sie in den Verkehrswegeplan eingebunden wer- sam bewältigen. den. Deshalb müssen Sie Ihre Position in der Zukunft deutlicher machen. Schönen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Sie haben von derLKW-Maut gesprochen. Herr Minister, Sie haben in diesem Punkt völlig Recht. Wir werden Sie darin unterstützen. Aber ich sage Ihnen auch Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: ganz offen: Wir werden Ihren Ansatz, wie er sich jetzt dar- Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Lippold,stellt, nicht unterstützen. Sie selbst haben von mehr Mit- CDU/CSU-Fraktion. teln gesprochen, die wir dringend brauchen, um Straße Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2159

Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (A) und Schiene zu bauen. Wenn aber über die Maut in erster zwei Jahren, wenn die EU-Osterweiterung erfolgt ist, son- (C) Linie der Haushalt von Herrn Eichel finanziert wird, die dern zu einem früheren Zeitpunkt, sodass wir uns recht- Einnahmen aber nicht für Maßnahmen zur Verbesserung zeitig darauf vorbereiten können. der Verkehrsinfrastruktur zur Verfügung gestellt werden, Herr Minister, wir wollen auch – das habe ich bislang dann ist das, was Sie sagen, beschönigend und entspricht nicht angesprochen –, dass Sie als Anteilseigner der Bahn nicht der Realität. Ihre Verantwortung wahrnehmen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU) Wir fordern, dass die Mittel, die über die Maut einge- Ich kann die Ankündigungen, dass der Verkehr von der nommen werden, nicht in den Haushalt eingestellt wer- Straße auf die Schiene verlagert werden soll, nicht mehr den, sondern dass sie in vollem Umfang für Verkehrspro- hören. Die Bahn zieht sich immer mehr aus der Fläche jekte zur Verfügung stehen. Dabei müssen wir auch den zurück und schließt Annahmestellen für den Güterkraft- Sachverhalt berücksichtigen, dass wir für das deutsche verkehr, spricht aber weiterhin davon, dass alles beim Al- Güterverkehrsgewerbe in Bezug auf die Harmonisierung ten bleiben soll. Wenn sie sich schon zurückzieht, dann eine Verdoppelung der Mittel brauchen. Ich gehe davon sollten Sie zumindest daran mitarbeiten, dass die Wettbe- aus, dass auch Sie, Herr Minister, das Güterverkehrs-werber die Strecken, aus denen sich die Bahn zurückzieht, gewerbe in der Bundesrepublik Deutschland halten und betreiben können und hier keine Blockade erfolgt. nicht zum Abzug zwingen wollen. Wenn wir keine Har- monisierung durchführen, werden die Belastungen für das (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und mittelständische Güterverkehrsgewerbe in Deutschland der FDP) unerträglich. Dies sollten Sie tun, damit wirklich Verkehr von der Falls Sie entgegnen sollten: „Diese Belastungen ent- Straße auf die Schiene verlagert werden kann. So wie es stehen in gleicher Weise für das Gewerbe in anderen Län- jetzt angelegt ist, läuft es nicht. dern“, dann antworte ich Ihnen darauf: Derjenige, dem Ihr Vorgänger, Minister Bodewig, war nicht in der das Wasser bis zur Oberlippe steht, wird bei einer weite- Lage, sich in dieser Frage gegen Herrn Mehdorn durch- ren Erhöhung der Belastung absaufen und diejenigen, zusetzen. Diese Bewährungsprobe müssen Sie, Herr denen das Wasser nur bis zur Brust steht, können weiter Minister, noch bestehen. Ich hoffe, dass Sie dabei Erfolg konkurrieren. Das kann nicht sein. Ich meine deshalb, haben und Sie sich nicht so überrumpeln lassen wie Ihr dass die Einnahmen aus der Erhebung der Maut – es gibt Vorgänger. Das würde nämlich nicht den Erhalt der Bahn ja Hinweise, dass mit wesentlich höheren Einnahmen ge- in der Fläche bedeuten und würde nicht zu der Verkehrs- rechnet wird; ich möchte Sie bitten, das gelegentlich klar- verlagerung führen, wie wir alle sie uns vorstellen. Also, (B) zustellen – voll in die Verkehrsinfrastruktur, in erster Li- mehr Wettbewerb auf der Schiene! Ich erwarte, dass Sie (D) nie in den Bereich der Straße, zu investieren sind. Dabei auch dazu ein klares Wort sagen. sollte es keine Quersubventionierung geben, wie sie sich Dass wir Straßenlücken schließen müssen und dafür immer wieder abzeichnet. sorgen müssen, dass insbesondere auf den Autobahnen im (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ost-West-Bereich der Verkehr flüssig läuft, darin unter- stützen wir Sie. Wir unterstützen Sie auch darin, dass der Ich bin auf der einen Seite selbstverständlich der Mei- Infrastrukturausbau in den neuen Bundesländern schnell nung, den Umweltschutz in diesem Zusammenhang zu und zügig erfolgt. Er ist eine Voraussetzung dafür, die integrieren. Herr Minister, auch hier werden Sie uns an schwierige Situation in den neuen Bundesländern besser Ihrer Seite haben; das ist überhaupt keine Frage. Wir bewältigen zu können. Ich meine, das sollten wir durch brauchen aber auf der anderen Seite eine weitere Be- konkrete Taten untermauern. schleunigung der Planungs- und Genehmigungsverfah- ren. Dies muss einhergehen mit der Sicherung der Fi- Noch einmal: Die Mittel, die aus dem Bereich der nanzierung. Denn nur eine Verfahrensbeschleunigung Straße im Rahmen der Maut aufgebracht werden, sollten vorzusehen, wenn wir hinterher nicht auch Straßenschlussendlich auch für diesen Bereich verwendet wer- bauen, tut es nicht. Diese Beschleunigung ist dringend den. Das deutsche Mautsystem muss kompatibel sein mit erforderlich. Aus Gründen der EU-Osterweiterung soll- dem, was auf EU-Ebene geplant wird. Wir brauchen im ten wir auch überlegen, wie wir eine solche Beschleuni- Zuge der EU-Osterweiterung – ich sage es einmal so – gung effizient auf den Gesamtbereich der Bundesrepu- Verkehrsprojekte „Europäische Einigung“. Darauf sollten blik erstrecken können. Es muss darüber nachgedacht wir uns gemeinschaftlich verständigen, damit es hier werden, wie wir dies ermöglichen, ohne dass wir uns im schneller vorangeht als bei den Verkehrsprojekten „Deut- gerichtlich-bürokratischen Gestrüpp der Bundesrepu- sche Einheit“, die es früher einmal gab bzw. jetzt noch blik Deutschland verlieren. Die Rahmenbedingungen gibt. Das sind sinnvolle Instrumente, um die Situation in müssen also geklärt und insgesamt muss hier etwas ge- unserem Lande besser zu bewältigen. tan werden. Dies sind Ihre Aufgaben. Ich wäre dankbar, wenn Sie dazu gelegentlich etwas sagen würden. Wenn es um die Herr Minister, lassen Sie mich kurz zusammenfassen: Umsetzung geht, finden Sie uns an Ihrer Seite. Aber Sie Wir brauchen ein konkretes Gesamtverkehrskonzept; dies sollten umsetzen und nicht nur ankündigen! erwarten wir von Ihnen. Wir erwarten von Ihnen die um- gehende Vorlage des Bundesverkehrswegeplans und ein (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Konzept zur EU-Osterweiterung – und dies nicht erst in Abgeordneten der FDP) 2160 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

(A) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Der Bau von Ortsumgehungen – der Minister hat eben (C) gesagt, dass im letzten Berichtsjahr 70 Ortsumgehungen Nun hat das Wort der Kollege Peter Hettlich, Bünd- für insgesamt 480 Millionen Euro gebaut wurden – dient nis 90/Die Grünen. in vielen Fällen der Entlastung von Ortskernen und damit natürlich auch der dort lebenden Bürgerinnen und Bürger. (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Peter Hettlich Für die Beseitigung von Bahnübergängen und damit Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und für eine deutliche Verbesserung der Verkehrssicherheit Kollegen! Es ist gerade einmal ein Monat vergangen, seit- und des Verkehrsablaufs wurden insgesamt rund 90 Mil- dem wir den Straßenbaubericht 2001 in diesem Hause dis- lionen Euro aufgewendet. Und last but not least: Im Rad- kutiert haben. Insofern war ich als Neuling überrascht, als wegebau an Bundesstraßen konnten im Berichtsjahr wei- ich den Straßenbaubericht 2002 bereits in dieser Woche tere 360 Kilometer fertig gestellt werden. auf der Tagesordnung vorfand. Er wurde am 16. Dezem- Bevor ich zu den Anträgen zum Verkehrswegepla- ber dem Deutschen Bundestag zugeleitet, also deutlich nungsbeschleunigungsgesetz komme, möchte ich Ihre früher als die bisherigen Straßenbauberichte. Da sich der Aufmerksamkeit noch kurz auf die Situation im Bereich Berichtszeitraum, zum Teil jedenfalls, bis zum 31. Juli des der Unterhaltsmaßnahmen für Fahrbahnbefestigungen Vorjahres erstreckt, ist es wichtig, diesen Bericht zeitnah und Ingenieurbauwerke lenken. Insbesondere der Zustand zu betrachten und zu diskutieren. Daher möchte an dieser der Brückenbauwerke sollte uns allen Anlass zur Beunru- Stelle den Zuständigen im Bundesverkehrsministerium higung geben; denn für zwei Drittel der Brücken stehen ausdrücklich für die schnelle Erstellung und Zuleitung kurz- und mittelfristig Instandsetzungsmaßnahmen an. danken. Die Hochrechnungen haben sich gegenüber dem letzten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Straßenbaubericht nochmals deutlich verschlechtert. Nur und bei der SPD) noch 30 Prozent unserer Brücken befinden sich in einem guten bzw. sehr guten Zustand. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch im Berichtsjahr 2001 hat sich die Gesamtfahrleistung um 0,4 Prozent (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: So ist es!) leicht verringert. Damit wird ein Trend bestätigt, der sich Auch der aktuelle Gebrauchswert der Bundesstraßen bereits im letzten Straßenbaubericht angedeutet hatte: Die macht deutlich, dass uns in Zukunft und über einen län- Verkehrsleistung auf Deutschlands Straßen sinkt bzw. geren Zeitraum erhebliche Aufwendungen ins Haus ste- stagniert und widerlegt damit die bisherigen Prognosen hen werden. Dieser Tatsache werden wir auch im neuen eines stetigen Verkehrswachstums. Bundesverkehrswegeplan Tribut zollen; denn schließlich (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Aber nur steht der Bestandserhalt an erster Stelle und die zur Ver- (B) auf den Bundesstraßen, Herr Kollege!) fügung stehenden Mittel sind nun einmal beschränkt. Wir (D) werden nur die Projekte in den Bundesverkehrswegeplan – Diese Zahlen können wir uns näher angucken. Dazu aufnehmen können, die wir letztendlich auch solide fi- kommen wir heute gar nicht. nanzieren können. Das sind wir unseren Bürgerinnen und (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Darüber Bürgern schuldig. brauchen wir nicht zu streiten! Die Zahlen ste- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hen im Bericht!) und bei der SPD) Auch wenn manche in diesem Haus es nicht gern Mit dem aktuellen Verkehrswegeplanungsbeschleuni- hören: Die seit 1998 vorgenommenen Veränderungen der gungsgesetz, welches zum 31. Dezember 2004 ausläuft, verkehrspolitischen Rahmenbedingungen – dazu gehört sollten in den neuen Bundesländern durch strenge Frist- auch die Ökosteuer – zeigen Wirkung. Diese Zahlen bele- setzungen für Behörden, vereinfachte Enteignungsver- gen, dass die rot-grüne Koalition hinsichtlich der Ziele der fahren und Einschränkungen des Rechtsweges zügige Verkehrsvermeidung und der Verkehrsverlagerung den Planungsverfahren ermöglicht werden, um den Rück- richtigen Weg eingeschlagen hat. stand bei Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen aufzuholen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die FDP-Fraktion hat am 18. Dezember 2002 den Ent- und bei der SPD) wurf eines Gesetzes eingereicht, mit dem dieGeltungs- dauer bis zum 31. Dezember 2010 verlängert werden Zu einer vorausschauenden und umweltverträglichen soll. Darüber hinaus sollen die Vorschriften auch in den Verkehrspolitik gehören nicht nur Erneuerungen, Mo- alten Bundesländern erprobt werden. Die CDU/CSU dernisierungen und Bestandserhaltung, sondern auch der wollte dem nicht nachstehen und hat zum 18. Februar die- Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor den Schatten- ses Jahres einen Gesetzentwurf vorgelegt, der sogar eine seiten des Verkehrs, zum Beispiel Abgasemissionen und Verlängerung bis zum Jahr 2019 vorsieht. Lärm. Dafür wird sich die rot-grüne Koalition auch in Zu- kunft einsetzen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das würde bedeuten, dass noch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung eine Aus- Allein im Berichtsjahr 2001 wurden für Umwelt- und nahmeregelung die Regel ist und damit insbesondere die Lärmschutzmaßnahmen 122 Millionen Euro aufgewendet. Bürgerrechte bei der Überprüfung von Planungsbeschlüs- Nicht zu vergessen sind die Aufwendungen für Land- sen in unangemessener Weise beeinträchtigt werden. Dem schafts- und Biotoppflege und für Naturschutzmaß- können und werden wir so nicht zustimmen. nahmen im Rahmen von Straßenbaumaßnahmen in einer Größenordnung von rund 200 Millionen Euro. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2161

Peter Hettlich (A) Bereits jetzt beschwert sich das Bundesverwaltungs-keinen Handlungsbedarf mehr. Die meisten Eigentums-(C) gericht offen darüber, dass es als einzige Instanz mit der verhältnisse sind geklärt. Die geringe Zahl der Fälle, die Überprüfung von Planungsbeschlüssen beschäftigt wird noch nicht geklärt sind, rechtfertigt keine Verlängerung und dementsprechend überlastet ist. der Geltungsdauer bis zum Jahr 2019. Aus diesem Grund können und werden wir Ihren Gesetzentwürfen nicht zu- Wenn ich mir die Fakten anschaue, dann frage ich stimmen. mich, welche Infrastrukturprojekte wir eigentlich noch beschleunigen wollen. Der Stand bei der Realisierung der Danke für Ihre Aufmerksamkeit. Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ ist bereits so hoch, dass aus meiner Sicht eine Planungsbeschleunigung nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mehr notwendig ist. Auch die wenigen großen Projekte, und bei der SPD) die möglicherweise im neuen Bundesverkehrswegeplan stehen werden, rechtfertigen eine derart lange Ausnahme- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: regelung nicht. Das Wort hat nun der Kollege Horst Friedrich, FDP- Bei den meisten neuen Projekten, die vermutlich in den Fraktion. Bundesverkehrswegeplan aufgenommen werden, handelt es sich um Ortsumfahrungen. Dabei können, weil eine Verkehrsverlagerung stattfindet, Konflikte mit Bürgerin- Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): nen und Bürgern auftreten. Wenn Sie der Meinung sind, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr dass solche kleineren Maßnahmen eine Fristverlängerung verehrter Herr Minister, Sie haben in zugegebenermaßen im Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz recht- sehr schönen Bildern den Straßenbaubericht und den fertigen, dann müssen Sie mich davon erst überzeugen. Schienenwegeausbaubericht erläutert. Aber immer dann, Ich sehe allerdings nicht, dass Ihnen das gelingen könnte. wenn es spannend wurde, nämlich dann, wenn Sie hätten (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Offenbar konkret werden müssen, haben Sie geschwiegen. haben Sie den Straßenbaubericht nicht gelesen, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Herr Kollege!) In Ihrem Bericht haben Sie heute dargestellt – das war – Herr Friedrich, Sie müssen noch erhebliche Überzeu- der eigentliche Punkt –, dass Kombiverkehr die Lösung gungsarbeit leisten. des Problems beim Güterverkehr sei. Und tatsächlich, in Wenn es um die strengen Fristsetzungen für Behör- Ihrem Bericht ist zu lesen, dass im Kombiverkehr im den geht, dann haben Sie mich auf Ihrer Seite. Aber dafür Jahr 2001 36,3 Millionen Tonnen Güter befördert worden sind. Im Verhältnis zu der Gesamtgütermenge von 4 Mil- (B) brauchen wir dieses Gesetz nicht. Ich will ein positives (D) Beispiel aus der Vergangenheit nennen: Die Landesbau- liarden Tonnen, die in Deutschland befördert wird, ist ordnungen haben in den letzten zehn Jahren zu einer er- diese Menge allerdings zu vernachlässigen. Das heißt heblichen Beschleunigung bei der Erteilung von Bauge- nicht, dass man den Kombiverkehr abschaffen sollte. nehmigungen geführt. In meiner Heimatstadt Oschatz in Aber setzen Sie endlich auf das richtige Pferd und reden Sachsen werden Baugenehmigungen innerhalb von sechs Sie nicht nur über Randerscheinungen, die das Problem bis acht Wochen erteilt. angeblich lösen können! (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Für ein Sie drücken sich vor der Beantwortung der wirklich Wohnhaus!) entscheidenden Fragen, nämlich wie die von Ihnen pro- gnostizierten 64 Prozent Zuwachs im Güterverkehr – Das gilt auch für andere Bereiche. Sie können gerne ein- tatsächlich bewältigt werden können, und das gerade vor mal zu uns kommen. Ich stelle Ihnen dann unseren Bür- dem Hintergrund der EU-Osterweiterung. Sie und Ihre germeister vor. Sie können sich das dann ansehen. Fraktionen haben unsere Anträge auf besondere Finanzie- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Sie können rung und Planung hinsichtlich der Osterweiterung immer auch zu mir kommen! Das geht in drei Wo- abgelehnt. Ich frage mich, wie Sie bis Mai 2004, wenn die chen!) EU-Osterweiterung ansteht, Antworten auf die Fragen bei der Infrastruktur geben wollen. – Herr Friedrich, ich werde Sie gerne auf den neuesten Sachstand bringen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Renate Blank [CDU/CSU]: Darauf gibt es keine Antworten!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: In diesem Zusammenhang wäre es auch interessant, zu Meine Herren, die Vorstellung der Bürgermeister er- erfahren, wie Sie sich beim Finanzminister durchsetzen folgt aber bitte außerhalb dieser Debatte. Herr Hettlich, wollen, der vor dem Hintergrund der Beschlüsse von Rot- achten Sie bitte auf die verbleibende Zeit. Grün die Belastungen für Autofahrer seit 1. April 1999 in Deutschland gewaltig angehoben hat. Die Investitions- Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): quote, also das, was in die Straße zurückfließt, ist dagegen bestenfalls gleich geblieben. Wenn Sie die Investitions- Ich komme zum Schluss. quote um den Prozentsatz anheben würden, um den Sie Die CDU/CSU-Fraktion hat die Vereinfachung von die Belastung für den Autofahrer gesteigert haben, hätten Enteignungen thematisiert. In diesem Bereich sehe ich wir ein paar Probleme weniger. Herr Minister, auch dazu 2162 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Horst Friedrich (Bayreuth) (A) sind Sie, zumindest bis jetzt, die Antwort schuldig geblie- gesetz. Wenn ich alles richtig verstanden habe, haben(C) ben. Sie in Ihrer Regierungserklärung an dieser Stelle er- klärt, dass es durchaus angebracht wäre, die positiven (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Erfahrungen mit dem Verkehrswegeplanungsbeschleu- der CDU/CSU) nigungsgesetz, die in den neuen Ländern gemacht wor- Herr Kollege Hettlich, den wesentlichen Punkt imden sind, auf die alten Länder zu übertragen. Ich habe Straßenbaubericht haben Sie nicht dargestellt, nämlich Ihnen damals schon gesagt, dass Sie das gerne tun kön- dass die Fahrleistungen auf der Autobahnnicht abge- nen. Einen entsprechenden Gesetzentwurf gab es be- nommen, sondern zugenommen haben. Die Regierung reits in der letzten Legislaturperiode. Sie haben das in hat festgestellt – das ist bemerkenswert –, dass durch die einem Interview in der „Berliner Zeitung“ am 1. Fe- überdurchschnittliche Auslastung der Fahrzeuge im Fern- bruar nochmals bekräftigt und das bis heute nicht verkehr die Anteile der Verkehrsleistungen auf den Bun- zurückgenommen. desfernstraßen deutlich über denen der Fahrleistungen Heute blieben Sie wiederum sehr nebulös; denn genau liegen. Das steht aber genau im Gegensatz zu dem Argu- ein solcher Antrag liegt Ihnen nun vor. Die FDP hat einen ment, warum Sie die Maut einführen wollen. Sie sagen Antrag vorgelegt, wonach dieGeltungsdauer des Ver- doch, dass die Maut dazu dient, die Leerfahrten auf Auto- kehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes bis zum bahnen zu reduzieren. Was denn nun? Entweder sind auf 31. Dezember 2010 verlängert und gleichzeitig der Gel- den Autobahnen die Güterleistung und die Auslastung der tungsbereich auf die alten Bundesländer ausgedehnt wer- LKW überproportional gestiegen – das ist Ihre Aussage – den soll. oder es stimmt Ihr Argument für die Einführung der Maut. Irgendetwas ist hier nicht schlüssig. (Zuruf von der FDP: Das ist auch vernünftig!) (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Das ginge relativ einfach. In der Überschrift über das Ge- samtgesetz müsste man nur die Wörter „in den neuen Län- Deswegen wäre es ganz interessant, Sie dazu zu hören. dern sowie im Land Berlin“ streichen und in § 1 die Gel- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das müssen wir tungsdauer verlängern. Das ist alles, was Sie machen aufklären!) müssen. Sie müssen es nur wollen. Noch etwas wurde im Straßenbaubericht festgestellt: (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das können wir Die Mittel, die für den Bereich der Straße zur Verfügung heute noch tun!) gestellt wurden, wurden auch tatsächlich ausgegeben.Aber nach dem, was ich höre, glaube ich, dass Sie bei Das ist ein Unterschied zumSchienenwegeausbaube- Ihren eigenen Fraktionen auf Granit beißen werden. (B) richt. Dort wurde sinnigerweise nicht der Vergleich zwi- (D) schen den zur Verfügung gestellten Mitteln und den aus- (Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Warten wir gegebenen Mitteln gezogen. Es wurde nur aufgeführt, einmal ab!) was ausgegeben worden ist. Wie will man denn erklären, dass die EU-Osterweite- (Renate Blank [CDU/CSU]: Viel zu wenig!) rung ein Problem ist – das haben Sie selbst festgestellt – und dass die Verkehrswege in Deutschland, insbesondere Im Bereich der Schiene ist man seit 2000 – das setzt in Ost-West-Richtung, erkennbar nicht ausreichend sind, sich also fort – offensichtlich nicht in der Lage, die für In- um die Verkehrsleistungen aller Verkehrsträger, also nicht vestitionen zur Verfügung gestellten Mittel auch tatsäch- nur der Straße, sondern auch der Schiene, auszugleichen, lich abzurufen. Vielleicht wäre es interessant, im nächsten wenn man sich gleichzeitig weigert, bei den entscheiden- Ausbaubericht für Schienenwege einen reellen Soll-Ist- den Punkten, nämlich dem Planungsrecht, das sich in den Vergleich anzustellen. In ihm muss stehen, welche Inves- neuen Ländern am Anfang einem harten Widerstand von titionen tatsächlich getätigt wurden. Es geht nicht um die Rot-Grün ausgesetzt sah – das muss man auch einmal do- Mittel, die als Sonderleistungen vorher schon weggenom- kumentieren; Sie hätten dasPlanungsrecht der alten men wurden, sodass die Bahn mit kleineren Zahlen arbei- Bundesrepublik gerne auf die neuen Länder übertragen –, ten konnte. Es wäre schon interessant, zu erfahren, wie etwas zu tun? das funktioniert. Wie hätten wir die deutsche Einheit infrastrukturmäßig Es ist auch hochinteressant, dass Sie sagen, dass die bewältigen sollen, wenn man für große Verkehrsprojekte Schiene gestärkt werden muss. Gleichzeitig höre ich näm- eine Planungs- und Realisierungszeit von im Schnitt zwi- lich, dass bezüglich der so bedeutsamen Schienenstrecke schen 25 und 33 Jahren benötigt hätte, wie es im Westen München–Mühldorf–Freilassing erklärt wird, dass es im vor der deutschen Einheit üblich gewesen ist? Nein, durch Jahre 2001 keine Bauleistungen gegeben hat. Wenn die das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz, das Schienenwege wirklich zur Ertüchtigung der Transit-von uns mitinitiiert wurde, haben wir es geschafft, dass in strecken dienen sollen, muss man auch einmal über diese den zehn Jahren nicht nur Verkehrsmaßnahmen geplant, Schienenstrecke nachdenken. Sie befindet sich seit Jahr- sondern auch Schienen und Straßen gebaut werden konn- zehnten im Ausbau, aber für das Jahr 2001 wurde für diese ten. Mittlerweile fahren sogar schon Züge und Autos da- Strecke kein Euro angesetzt. rauf. Herr Minister, viel interessanter sind allerdings Ihre Das alles hätte es mit dem alten Planungsrecht in die- Haltung und Ihre Aussagen zu den vorliegenden Gesetz- ser Form nicht gegeben. Deswegen verstehe ich nicht, entwürfen zum Verkehrswegeplanungsbeschleunigungs- warum Sie sich heute angesichts der Vorlage dieser Ge- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2163

Horst Friedrich (Bayreuth) (A) setzentwürfe nicht etwas intensiver und deutlicher zu dem Sören Bartol (SPD): (C) Thema geäußert haben. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der heute vor- der CDU/CSU) liegende Bericht bestätigt, was meine Kollegin Petra Weis zum Straßenbaubericht 2001 gesagt hat: Der Bundesfern- Zum Gesetzentwurf der Union kann ich nur sagen: straßenbau ist kein Stiefkind der Verkehrspolitik dieser Ko- Liebe Freunde, ihr seid mal wieder auf dem halben Wege alition. Die Behauptung von Herrn Lippold und der gesam- stehen geblieben; ten Opposition, die Bundesregierung würde den Straßenbau (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das geht jetzt zu vernachlässigen, wird durch Wiederholung nicht richtiger. weit, Herr Friedrich! – Wilhelm Schmidt [Salz- gitter] [SPD]: Politisches Zerwürfnis!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) denn es ist zwar sehr probat, einfach nur die Geltungs- dauer zu verlängern, es löst aber keine Probleme. Hier Im Gegenteil: Wurden im Jahr 2000 für die Bundes- gebe ich dem Kollegen Hettlich ausnahmsweise Recht. fernstraßen noch 5 Milliarden Euro verausgabt, so waren es 2001 5,58 Milliarden Euro. (Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Du willst auch bloß bis 2010!) (Siegfried Scheffler [SPD]: So ist es!) – Man kann das Sonderrecht nicht für eine Seite bis 2019 Damit erreichen wir eine Rekordhöhe. Nur 1992 lagen die verlängern. Damals lautete die Begründung, dass es die Mittel für den Straßenbau aufgrund von Sondermitteln für Planungsinstitute, die Einrichtungen und vor allem die den Aufbau Ost höher, sonst immer niedriger. 70 Ver- Oberverwaltungsgerichte noch nicht gegeben hat. Es ist kehrsfreigaben bei Ortsumgehungen, insgesamt 150 Ki- zu einfach, das einfach fortzuschreiben. Wir wollen etwas lometer neue und erweiterte Bundesstraßen, 78 Kilometer anderes. Wir wollen, dass in ganz Deutschland die Bedin- erweiterte Autobahnstrecken und zusätzlich 77 Kilometer gungen gemäß dem Verkehrswegeplanungsbeschleuni- an Autobahn zeigen, dass die Bundesregierung 2001 viel gungsgesetz gelten. Ein erster Test soll bis 2010 durchge- erreicht hat. führt werden. Wenn die Ergebnisse positiv sind, was ich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten erwarte, dann kann man es unbefristet übernehmen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Renate Blank [CDU/CSU]: Dann fehlt aller- Wir tragen damit der Tatsache Rechnung, dass ein mo- dings das Geld!) dernes, gut ausgebautes und leistungsfähiges Verkehrssys- Herr Minister Stolpe, wenn Sie nicht dafür sorgen, dass tem Voraussetzung und Motor für Wachstum und Be- schäftigung ist. Ohne Zweifel werden die Straßen und (B) Rot-Grün wenigstens einen dieser Gesetzentwürfe zum (D) Planungsrecht tatsächlich übernimmt und verabschiedet, insbesondere die Bundesfernstraßen auch in Zukunft eine herausragende Rolle bei den Verkehrsleistungen spielen. (Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Vielleicht Auch für 2001 bestätigt der Verkehrsbericht: Die Bedeu- dürfen wir auch etwas Eigenes machen!) tung der Bundesfernstraßen bleibt mit 51 Prozent der Jah- dann sind Sie in Zukunft nicht mehr nur der Minister für resfahrleistungen hoch. Die Bedeutung der Autobahnen Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, sondern wahrschein- hat sogar weiter zugenommen. Die Autobahnen mussten lich auch der zuständige Minister für das Zünden riesen- 2001 56 Prozent der Autofahrten und 72 Prozent der großer Luftballons ohne Inhalt, gewissermaßen der Car- LKW-Fahrten bewältigen. Die seit längerem beobachtete golifter der Bundesregierung. Konzentration des Straßenverkehrs auf den Autobahnen setzt sich somit ungebrochen fort. (Beifall bei der FDP) Die Kolleginnen und Kollegen von der Opposition lie- Sie haben angekündigt, zusätzlich 1 Milliarde Euro für gen falsch mit der Annahme, die gegenwärtigen Probleme die neuen Ländern bereitzustellen. Dies wurde dannließen sich nur durch weiteren Straßenbau lösen. Ihre wie- schamhaft auf die alten Länder ausgeweitet, ohne bisher derholte Forderung, die Einnahmen aus der LKW-Maut konkret zu sagen, woher Sie das Geld nehmen wollen. Die in erster Linie für die Straße zu nutzen, zeigt deutlich ihre Goldschätze der Bundesbank sind offensichtlich verschlos- einseitige, ideologisch begründete Orientierung. sen. Sie kündigen ein neues und modernes Planungsrecht an – das ist zugegebenermaßen richtig –, aber haben offen- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sichtlich nicht die Kraft, um dies tatsächlich umzusetzen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Wir werden Sie an Ihren Aussagen messen, und zwar so- Klaus W. Lippold [Offenbach] [CDU/CSU]: Er wohl bei der Gesetzesberatung im Ausschuss als auch bei hat es immer noch nicht begriffen!) der zweiten und dritten Lesung hier im Bundestag. Uns stellen sich angesichts des zu erwartenden weite- Danke sehr. ren Verkehrswachstums zwei große Herausforderungen: Erstens. Wir müssen die Leistungsfähigkeit der Fern- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten straßen durch eine hohe Qualität ihres Ausbaus sicher- der CDU/CSU) stellen. Zweitens. Wir müssen den Weg weiter beschrei- ten, Verkehr auf Schiene und Wasserstraße zu verlagern Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: und die Schnittstellen zwischen den verschiedenen Ver- kehrsträgern zu optimieren. Ich erteile dem Kollegen Sören Bartol, SPD-Fraktion, das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 2164 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Sören Bartol (A) Nicht nur die begrenzten finanziellen Ressourcen, son- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) dern auch die begrenzte Verfügbarkeit von Flächen setzen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) einem Ausbau des Straßennetzes Grenzen. In der EU wer- Der Bericht macht insgesamt den großen Stellenwert den 1,2 Prozent aller Flächen vom Verkehr benutzt, davon deutlich, den die Verkehrssicherheit für die Bundesregie- 90 Prozent von der Straße. Die Sicherstellung von Leis- rung einnimmt. Dies wird auch durch das neue Instrument tungsfähigkeit und Qualität der Fernstraßen verlangt in der Sicherheitsaudits bei der Straßenplanung unterstrichen, zunehmendem Maße, in denErhalt des bestehenden die den Ländern aufgrund der Forschungen des Bundes Netzes zu investieren. Diese Notwendigkeit muss bereits empfohlen werden und mit denen schon bei der Straßen- heute gesehen werden, selbst wenn erst im Straßenbaube- planung Sicherheitsbelange berücksichtigt werden. richt 2003 die Ergebnisse der Untersuchungsperiode 2001/2002 zur Bewertung der Fahrbahnbefestigungen der Ganz oben auf der Tagesordnung der nächsten Monate Bundesautobahnen vorliegen werden. Auf dieser Grund- steht der neue Bundesverkehrswegeplan, Herr Lippold. lage werden dann die sich ergebenden angemessenen In- (Dr. Klaus W. Lippold [Offenbach] [CDU/CSU]: vestitionsentscheidungen getroffen werden. Das sagen Sie schon seit drei Jahren! – Renate Gefragt sind bei begrenzten Ressourcen intelligente Blank [CDU/CSU]: Seit November 1998!) Lösungen, die eine effiziente und sichere Nutzung des Der Bericht stellt den Stand der Überarbeitung des Plans Straßennetzes ermöglichen. Ein hervorragender Ansatz ist bis 2002 dar und macht damit noch einmal deutlich, dass das Programm zur Verkehrsbeeinflussung auf Bundes- die Bundesregierung ein modernisiertes, wissenschaftlich autobahnen, das im letzten Jahr gestartet wurde und die fundiertes Vorgehen gewählt hat, das Umwelt, Raumord- Förderung von Telematiklösungen fortsetzt. Für die Jahre nung und Städtebau und deren Wechselwirkungen und 2002 bis 2007 stehen dafür insgesamt 200 Millionen Euro Wechselbeziehungen stärker als bisher schon bei der Pro- bereit. Damit sollen auf 350 Kilometern Streckenbeein- jektbewertung berücksichtigt und fachlich integriert. flussungsanlagen – zusätzlich zu den bestehenden auf 850 Kilometern Länge – installiert werden. Der Entwurf für den Bundesverkehrswegeplan wird bald vorliegen und die Ausbaugesetze werden vom Parla- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ment beschlossen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Renate Blank [CDU/CSU]: Der Entwurf liegt Bis zu 30 Prozent weniger Unfälle auf unfallträchtigen doch schon längst vor! Er muss vom Kabinett Strecken sind ein beachtlicher Erfolg. beschlossen werden!) Von einer weiteren Idee zur Verbesserung des Ver- Anders als der von der CDU verantwortete Plan von (B) kehrsflusses, die der Bericht darstellt, kann man sich in 1992 wird es kein ungedeckter Scheck sein, sondern eine (D) Hessen auf der A 5 zwischen dem Bad Homburger Kreuz verlässliche Planungsgrundlage. und der Abfahrt Friedberg in Richtung Norden überzeu- (Beifall bei der SPD) gen. Durch die Nutzung des Seitenstreifens ist der Ver- kehrsfluss auf diesem überlasteten und staugefährdeten Wir werden sicherlich noch ausreichend Gelegenheit ha- Abschnitt wieder besser geworden. ben, das in den Ausschüssen und auch im Plenum zu dis- kutieren. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wer hat denn den Bau betrieben?) (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Da bin ich gespannt! – Gegenruf des Abg. Siegfried Die Verkehrsbeeinflussungsanlage auf der A5, die bereits Scheffler [SPD]: Ihr werdet euch noch wun- seit 1989 in Betrieb ist, wurde damit um eine weitere dern!) Komponente ergänzt. Wir haben dabei das Verkehrssystem als Ganzes im Blick. Die Seitenstreifennutzung, die seit Anfang 2002 mög- Es ist falsch, nur auf einen Verkehrsträger zu setzen, wenn lich ist, ist sicherlich nur eine temporäre, aber sehr intel- wir das zu erwartende Mobilitätswachstum bewältigen ligente Lösung für Zeiten mit Spitzenbelastungen. Klar wollen. ist, dass die Nutzung des Seitenstreifens nicht auf Kosten der Verkehrssicherheit gehen darf. Aber das Risiko von Der Bericht bestätigt den Handlungsbedarf: Den Auffahrunfällen ist bei stockendem Verkehr und Stau be- Löwenanteil der zurückgelegten Personenkilometer macht sonders hoch, sodass die Vorteile der Kapazitätserhöhung nach wie vor mit fast 83 Prozent der motorisierte Indivi- die Nachteile des entfallenden Seitenstreifens aufwiegen, dualverkehr aus. Schiene und öffentlicher Straßenver- da sich dadurch dieses Risiko vermeiden lässt. kehr erreichen bei leicht gesteigerten Personenkilometer- zahlen nur einen Anteil von unter 9 Prozent. Es lässt sich auch ein anderes Risiko verringern, indem die Sicherheit in Straßentunneln durch Ergänzung der be- Beim Güterverkehr hat sich die Zahl der Tonnenkilo- triebstechnischen Ausstattung erhöht wird. Hierfür sind in meter sogar zuungunsten von Schiene und Schifffahrt ent- den kommenden Jahren entsprechende Mittel vorgese- wickelt. Ihr Leistungsanteil nahm um 2,2 bzw. 2,6 Prozent hen. Diese eigenen Maßnahmen zusammen mit denab. Die Zunahme der Güterverkehrsleistung wurde im Wesentlichen von der Straße getragen, wobei entgegen Bemühungen der Bundesregierung um eine Erhöhung der der vielfach geäußerten Vermutung die Steigerung durch Sicherheitsstandards in Tunneln im Bereich der Europä- inländische Lastkraftwagen erfolgte. ischen Union sind ein sinnvoller Ansatz zur Erhöhung der Sicherheit der Verkehrsteilnehmer. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: So ist es!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2165

Sören Bartol (A) Dem können wir nicht durch eine einseitige Orientie- auf die Konkretisierung der Verkehrspolitik wollen wir(C) rung auf die Straße begegnen, wie sie CDU/CSU und FDP Ihnen Ihre Träume nicht nehmen. Ich bin gespannt, ob die propagieren. Vielmehr brauchen wir eine integrierte Ver- Bundesregierung und Sie, der Sie von allen Verkehrsträ- kehrspolitik, die auf die unterschiedlichen Stärken der gern sprachen, bereit sind, auch denTransrapid in den einzelnen Verkehrsträger setzt. Bundesverkehrswegeplan aufzunehmen. (Beifall bei der SPD – Horst Friedrich [Bay- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – reuth] [FDP]: Wie wollen Sie Güterverkehr un- Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ ter 100 Kilometern auf die Schiene bringen? DIE GRÜNEN]: Immer dieselbe Leier! Haben Sie darüber schon mal nachgedacht?) Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Nahverkehrs- projekte kommen nicht in den Bundesverkehrs- Wir haben dies finanzpolitisch in Angriff genommen, wegeplan!) indem wir nicht nur die Investitionen in den Straßenbau auf ein hohes Niveau angehoben haben, sondern auch Meine Damen und Herren, vor vier Wochen haben wir Schritt für Schritt die Investitionen für den Schienenver- den Straßenbaubericht 2001 diskutiert, der die geringsten kehr erhöht haben, Investitionen in die Infrastruktur aufwies, solange Sie dafür zuständig sind. Jetzt reden wir über den Straßen- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ich habe baubericht 2002. Wir tun dies wahrscheinlich deshalb so ganz konkret nach Güterverkehr unter 100 Ki- schnell, um von den schlechten Zahlen des Berichts 2001 lometern gefragt! Wie wollen Sie diesen auf die abzulenken. Schiene bringen?) Die Ausgaben für Investitionen – nicht die Gesamtaus- sodass sie mit den Straßeninvestitionen mithalten können, gaben – sind wichtig. Sie betrugen für die alten Bundes- Herr Friedrich. Wir brauchen, wie es in dem Bericht ver- länder rund 2,7 Milliarden Euro und für die neuen Bun- deutlicht wird – vielleicht lesen Sie ihn einfach noch ein- desländer 2 Milliarden Euro. In D-Mark gerechnet sind es mal –, insgesamt rund 9 Milliarden DM. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Im Unter- schied zu Ihnen haben wir ihn gelesen!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: eine Verkehrsplanung, die alle Ansprüche an eine mobile Frau Kollegin Blank, gestatten Sie eine Zwischenfrage Zukunft integriert, des Kollegen Scheffler? (Dr. Klaus W. Lippold [Offenbach] [CDU/CSU]: (Zuruf von der CDU/CSU: Sie hat doch noch Dann macht sie doch! Nicht immer nur: „Wir gar nicht angefangen!) (B) brauchen“!) (D) die neben ökonomischen auch ökologische Anforderun- (CDU/CSU): gen akzeptiert, ebenso wie sie gesellschaftliche und so- Renate Blank ziale Notwendigkeiten und Bedürfnisse einbezieht. Auf Ja. dieser Basis wird ein Verkehrssystem entstehen, das zu- kunftsfähig und nachhaltig zugleich ist und das zuvor- Siegfried Scheffler (SPD): derst dem dient, wozu es geschaffen ist: dem Menschen das Leben zu erleichtern. Doch, Sie hatte schon angefangen. – Vielen Dank, liebe Kollegin Blank. Sie haben darauf abgehoben, ob Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. der Transrapid – ich gehe davon aus, dass Sie den Me- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ trorapid und das bayerische Projekt vom Flughafen nach DIE GRÜNEN) München Hauptbahnhof meinen – in den Bundesver- kehrswegeplan aufgenommen wird. Da Sie dem Hohen Hause schon sehr lange angehören, müssten Sie wissen, Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: dass diese Projekte keine Bundesprojekte sind und dass Herr Kollege Bartol, das war Ihre erste Rede im Deut- wir Nahverkehrsprojekte nicht in den Bundesverkehrs- schen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratuliere. Das wegeplan aufnehmen. verbinde ich mit allen guten Wünschen für die weitere (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Warum parlamentarische Arbeit. gibt der Bund so viel Geld aus, wenn es nicht (Beifall – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Ganz seine Projekte sind?) schön mutig für den Anfang!) – Es ist ein Zuschuss des Bundes. Nun hat die Kollegin Renate Blank, CDU/CSU-Frak- tion, das Wort. Renate Blank (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU) Kollege Scheffler, es ist schon etwas seltsam. Man muss nur an die Verpflichtungsermächtigungen für Pla- Renate Blank (CDU/CSU): nungskosten in Nordrhein-Westfalen denken. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Bartol, Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede! Im Hinblick DIE GRÜNEN]: Zuschüsse!) 2166 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Renate Blank (A) – Es sind Zuschüsse, aber es ist auch Bundesgeld. Im Die Bundesregierung muss endlich einsehen, dass der (C) Übrigen weise ich darauf hin, dass wir damals die Strecke Erhaltung einer gebrauchsfähigen Verkehrsinfrastruktur Hamburg–Berlin in den Bundesverkehrswegeplan aufge- große Bedeutung zukommt. nommen haben. (Siegfried Scheffler [SPD]: Richtig! Das ha- (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ ben Sie jahrelang vernachlässigt!) DIE GRÜNEN]: Das war ja auch ein Fern- verkehrsprojekt! – Siegfried Scheffler [SPD]: Die in die Straßen investierten Vermögenswerte müssen Berlin–Hamburg war wohl eindeutig ein Fern- in ihrer Substanz und ihrem Nutzwert nachhaltig bewahrt verkehrsprojekt!) werden. Sie können das nachmachen, indem Sie den Metrorapid (Eduard Oswald [CDU/CSU]: So ist es! Sehr und den bayerischen Transrapid in den Bundesverkehrs- wahr!) wegeplan aufnehmen. Es handelt sich immerhin um ein Bruttoanlagevermögen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – von rund 176 Milliarden Euro, das von den Steuerzahlern Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ im Laufe der Jahre aufgebracht wurde. DIE GRÜNEN]: Dann können wir auch die Im Übrigen verschlechtert sich auch der Zustand der S-Bahn in Wuppertal aufnehmen! Ich hätte Brückenbauwerke im Zuge von Bundesfernstraßen ra- auch noch eine Straßenbahn in Augsburg!) pide; denn die Bereiche mit kritischem Bauwerkszustand, Herr Minister Stolpe, die vorhin genannten Zahlen ma- also mit Zustandsnoten zwischen drei und vier, machen chen deutlich, dass wir neben dem Aufbau Ost dringend bereits 15 Prozent des Gesamtbestandes an Brückenbau- auch den Ausbau West brauchen. Diese Aussage haben werken aus. Sie vor dem Verkehrsausschuss getroffen. An dieser wirk- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Unglaublich!) lich wichtigen Aussage werden wir Ihr Handeln in den nächsten Wochen und Monaten messen. Erstmals – man Hier ist eine Instandsetzung bzw. Erneuerung zur Auf- muss ja auch einmal die Bundesregierung loben – seit rechterhaltung der Verkehrssicherheit dringend erforder- Ihrer Übernahme der Regierungsverantwortung lich. (Beifall bei der SPD – Eduard Oswald [CDU/ Wir haben im Jahr 1992 richtig gehandelt, als wir CSU]: Ihr wisst noch gar nicht, was kommt! den Verkehrsprojekten „Deutsche Einheit“ Vorrang Dankbar seid ihr!) einräumten, denn sie dienen dem Zusammenwachsen Deutschlands und der Mobilität unserer Bürgerinnen und – warten Sie es ab – wurde im Berichtszeitraum wieder (B) Bürger. Außerdem gehören Standortpolitik und Wirt-(D) mehr Geld für Straßenbauinvestitionenzur Verfügung schaftswachstum zusammen; sie benötigen jedoch eine gestellt. Dieses Geld kommt allerdings aus dem Zukunfts- gut ausgebaute Verkehrsinfrastruktur. investitionsprogramm 2001 bis 2003. Dass Sie damit die Straßenbaumittel nach einer Kürzung – ich rechne jetzt (Zuruf von der CDU/CSU: Genau!) noch in D-Mark – von rund 5 Milliarden DM um 2,7 Mil- liarden DM erhöhen konnten, war nicht Ihr Verdienst, Allerdings reduzierten Sie die Plafondierung für die Ver- sondern ist auf unsere Vorarbeit zu den UMTS-Lizenz- kehrsprojekte „Deutsche Einheit“ von 1,2 Milliarden Euro erlösen zurückzuführen. Meine Damen und Herren von im Jahr 2001 auf 1,1 Milliarden Euro im Jahr 2002. Sie Rot-Grün, ich erinnere daran, dass damals die Minister- sollten aber Ihr besonderes Augenmerk zum Beispiel auf präsidenten Schröder und Eichel der Liberalisierung des den Ausbau der A 9 in Thüringen, Sachsen und Sachsen- Telekommunikationsmarktes nicht zugestimmt haben. Anhalt lenken. Auf dieser wichtigen Nord-Süd-Verbin- Die Einnahmen daraus nimmt man aber sehr gerne und dung gibt es zunehmend Staus, sehr zum Ärger der be- selbstverständlich entgegen. troffenen Bürger, zumal ein Ausweichen auf die Bahn von Berlin nach Nürnberg nicht möglich ist, da die Bahnfahrt (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ zu lange dauert. DIE GRÜNEN]: Aber wofür man sie verwen- det, ist die Frage!) Ich bin schon gespannt, Herr Minister Stolpe, wann endlich die Finanzierungsvereinbarung zwischen Bund Zurück zum Straßenbaubericht 2002: Interessant ist, und Bahn für die Verbindung Nürnberg–Erfurt–Berlin un- dass erstmals die Abbildung zumGebrauchswert der terzeichnet wird. Fahrbahnen der Bundesstraßen nicht mehr im Bericht enthalten ist; das betrifft Seite 9, wenn Sie es nachschla- (Siegfried Scheffler [SPD]: Die hätte doch gen wollen. Es gibt nur eine Beschreibung der drei Ge- schon der Wissmann unterschreiben können! brauchsfähigkeitsklassen, aber keine Grafik, aus der Das hat er auch nicht getan!) leicht ersichtlich wäre, dass die Zahl der Straßen mit ein- Der Bahnchef Mehdorn hat seine Vorliebe für dieses Pro- geschränkter Gebrauchsfähigkeit in allen Bundesländern jekt entdeckt. Im Grunde genommen müsste man diese immer mehr zunimmt. Mit anderen Worten: Der Zustand Strecke doch unter Verwendung der nicht verbauten der Bundesfernstraßen wird immer schlechter. Schieneninvestitionsmittel in Angriff nehmen können, (Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Deswegen ha- denn für die Schienenprojekte wurde im Berichtszeitraum ben wir im Bundesverkehrswegeplan die Be- nur ein Betrag von 4,5 Milliarden DM für Investitionen standserhaltung verstärkt!) zur Verfügung gestellt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2167

Renate Blank (A) (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Und Sie sind der Daniel (C) DIE GRÜNEN]: Das stimmt doch gar nicht! – Küblböck der deutschen Verkehrspolitik!) Karin Rehbock-Zureich [SPD]: Euro!) Nehmen Sie doch bitte zur Kenntnis, dass das Auto das – Kollege Schmidt, eigentlich müssten die Grünen bei Verkehrsmittel Nummer eins in Deutschland bleibt. Wir diesem Thema doch fürchterlich aufheulen. brauchen ein gut ausgebautes Straßennetz, damit die Mo- bilität für alle Bürgerinnen und Bürger gewährleistet ist. (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Der Straßenbaubericht zeigt, dass Sie viel zu wenig Geld DIE GRÜNEN]: Warten Sie einmal ab! Ich bin sowohl für den Neubau als auch für den Unterhalt aus- ja gleich dran!) geben. Durch diese erheblichen Engpässe im Bundesfern- Sie wollten doch immer die Investitionen in die Schiene straßennetz sind Staus, die volkswirtschaftliche Verluste erhöhen. Im Berichtszeitraum gaben Sie jedoch nur die zur Folge haben, vorprogrammiert, von der Umweltbelas- Hälfte des Geldes, das für die Straße eingesetzt wurde, tung ganz zu schweigen. aus. Meine Damen und Herren, es muss sich doch herum- (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ gesprochen haben, dass Verkehrsinvestitionen in Höhe DIE GRÜNEN]: Das stimmt doch gar nicht!) von 1 Milliarde Euro rund 20 000 Arbeitsplätze schaffen. Sie sollten etwas für die Schaffung der dringend benötig- – Aber natürlich! Lesen Sie es doch nach. Im Übrigen ten Arbeitsplätze tun. konnten seit Beginn der Bahnreform 12 Milliarden DM von der Bahn nicht verbaut werden. Das müssten Sie als Nun noch einige Anmerkungen zum Trauerspiel Bun- ehemaliges Aufsichtsratsmitglied doch auf jeden Fall bes- desverkehrswegeplan. Vom ersten Verkehrsminister Ih- ser wissen als wir. rer Regierung – vielleicht erinnern Sie sich noch, dass er Müntefering hieß – war im November 1998 für das Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einige An- Jahr 1999 versprochen worden, man wolle einen völlig merkungen zur Freigabe von Standstreifenfür den neuen Bundesverkehrswegeplan vorlegen. Man hat dann fließenden Verkehr machen. Bayern als Transitland Num- ganz schnell gemerkt, dass es nicht ganz so einfach ist, ei- mer eins in Deutschland wurde von Rot-Grün in den letz- nen neuen Bundesverkehrswegeplan vorzulegen. Seitdem ten Jahren im Hinblick auf Straßenbaumittel stiefmütter- schiebt man dieses Vorhaben ständig vor sich hin. lich behandelt, (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das (Widerspruch bei der SPD) müsste Ihnen doch passen! Sie waren doch da- nach dem Motto des Kanzlers: Für die Bayern Steine statt gegen!) Brot. (B) Im letzten Jahr wurde uns versprochen, im Februar(D) Das können Sie nachlesen. Die A3 als die am höchsten würde ein vom Bundeskabinett beschlossener Bundesver- belastete Straße mit täglich über 90 000 Fahrzeugen ist in kehrswegeplan vorgestellt. Er liegt immer noch nicht vor keinem Ihrer vielfältigen Programme enthalten. Für die und heute hören wir, dass er auf jeden Fall in der zweiten Autofahrer entstehen tagtäglich unerträgliche Staus. Des- Jahreshälfte vorgelegt werden soll. Ich bin gespannt, halb hat die Bayerische Staatsregierung sich mit demwann uns endlich ein vom Bundeskabinett beschlossener Verkehrsministerium in Verbindung gesetzt und eineBundesverkehrswegeplan vorliegen wird. Das, was uns zeitweise Inanspruchnahme von Standstreifen für denim letzten Jahr präsentiert wurde, war nur ein Sammelsu- fließenden Verkehr vorgeschlagen. Nach umfangreichen rium von Rohdaten. Es sollte nur darüber hinwegtäuschen, Untersuchungen zur Verkehrssicherheit und zum Ver-dass ein Bundesverkehrswegeplan fehlt. kehrsablauf kann nun auf staugefährdeten Autobahnen in (Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Das waren Zeiten hoher Verkehrsbelastung der Standstreifen zum Daten, die die Länder eingereicht haben! Von Befahren freigegeben werden. Diese kurzfristige Lösung wegen „Sammelsurium“!) ist aus unserer Sicht nur eine Übergangslösung; tatsäch- lich brauchen wir nämlich mehr Geld für den Straßenbau. Frau Staatssekretärin Mertens sprach in der vergange- nen Woche davon, dass Rot-Grün eine mutige Verkehrs- Der Ausbau der Bundesverkehrswege gerät weiter ins politik mache. Ich sage Ihnen: Sie haben den Mut, unser Abseits, wenn der riesige Betrag, der durch die Ein- Transportgewerbe zu ruinieren und die Infrastruktur ka- führung der LKW-Maut abgezockt wird, hauptsächlich puttzumachen; Sie sind aber nicht in der Lage, eine zu- dem allgemeinen Haushalt zufließt. Das ist ein Skandal. kunftsweisende Verkehrspolitik zu gestalten. Schon wieder muss der Straßenverkehr herhalten, um die Löcher im rot-grünen Haushalt zu stopfen, statt dass (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lücken im alten Fernstraßennetz geschlossen werden. Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Von der Mineralölsteuer über die Ökosteuer bis zur KFZ- DIE GRÜNEN]: Das Wetter ist auch schlechter, Steuer werden die Autofahrer jährlich mit weit über seit wir regieren!) 60 Milliarden Euro belastet; trotz dieser Summe stehen sie weiter im Stau, denn nur rund 4,7 Milliarden Euro wer- den in den Ausbau der Straßen investiert. Der Autofahrer Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: ist die Melkkuh der Nation. Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Ich könnte ihr noch Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ stundenlang zuhören, Herr Präsident!) 2168 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

(A) Renate Blank (CDU/CSU): – Sie können jede einzelne Zahl nachlesen; es sind Istzah- (C) len, keine Sollzahlen – 3,6 Milliarden Euro, also 700 Milli- Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Herr Minis- onen mehr, für den Schienenbau eingestellt. Die gleiche ter Stolpe, Sie haben nun eine gute Chance, von allen ver- wirrenden Programmen, die sich als untaugliche Finan- Größenordnung gilt für das Haushaltsjahr 2000. Der Mittel- zierungsinstrumente erwiesen haben und nie mit denabruf, Herr Kollege Friedrich, betrug 105 Prozent im Jahr Ländern abgestimmt waren, Abstand zu nehmen. Mit ei- 1999 und 102 Prozent im Jahr 2000; das heißt, es wurde so- nem stimmigen Bundesverkehrswegeplan, in dem auch gar mehr abgerufen, als im Plan vorgesehen war. das Thema EU-Osterweiterung berücksichtigt wird, kön- nen Sie wieder zur Klarheit und Wahrheit in der Ver- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: kehrspolitik zurückkehren und mehr Geld für den Straßenbau zur Verfügung stellen; denn die Straße ist seit Herr Kollege Schmidt, sind Sie geneigt, eine Zwi- Jahrtausenden die wichtigste Verbindung zwischen Men- schenfrage der Kollegin Blank zuzulassen? schen und Regionen. (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE DIE GRÜNEN]: Seit Jahrtausenden? Seit der GRÜNEN): Steinzeit! Zurück in die Steinzeit!) Ich möchte diesen Gedankengang noch zu Ende Wenn Sie eine zukunftsweisende Verkehrspolitik ma- führen. Dann darf Frau Blank gerne eine Zwischenfrage chen, Herr Minister Stolpe, haben Sie uns an Ihrer Seite. stellen. – Als im Jahr 2001, Frau Kollegin Blank, nach dem Verkauf der UMTS-Funklizenzen das Zukunftsinves- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) titionsprogramm aufgelegt wurde, war es das Verdienst dieser Koalition – darauf bin ich noch heute stolz; ich Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: danke von dieser Stelle aus Reinhard Klimmt, der hier auch ein Wörtchen mitgeredet hat –, Bevor ich dem Kollegen Albert Schmidt für das Bünd- nis 90/Die Grünen das Wort gebe, nehme ich den Zwi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schenruf des Kollegen Oswald, er könne der Kollegin sowie bei Abgeordneten der SPD) Blank noch stundenlang zuhören, zum Anlass, darauf hin- nicht einmalig, sondern für drei Jahre jeweils 2 Milliar- zuweisen, dass die Begeisterung über die gehaltenen Re- den DM – ich betone: drei mal zwei; das ist eine Steige- den im Präsidium nicht geringer ist als in den jeweiligen rung der Mittel im Schienenbautitel um rund 50 Prozent – Fraktionen, dass wir dennoch gehalten sind, die Abwick- zu mobilisieren. Dass die Bahn im Jahr 2001 Mühe hatte, lung der Tagesordnung in dem Zeitrahmen vorzunehmen, das viele Geld umzusetzen, ist richtig. Deshalb hat in die- (B) den die Fraktionen untereinander vereinbart haben. sem Jahr der Mittelabfluss nur 87 Prozent betragen. Aber (D) (Heiterkeit – Eduard Oswald [CDU/CSU]: bereits 2002 lag der Mittelabfluss bei 97 Prozent. Wir ha- Herr Präsident, Sie haben leider Recht!) ben bei den Schieneninvestitionen ein Rekordniveau er- reicht, von dem Sie, als Sie regiert haben, nicht einmal Nun hat der Kollege Schmidt das Wort. träumen konnten. Das sind die Fakten. Alles andere ist Märchenstunde. Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN GRÜNEN): und bei der SPD) Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Bitte, Frau Blank, jetzt sind Sie dran. „Wahrheit und Klarheit“ waren ein gutes Stichwort, Frau Kollegin Blank. Wollen wir also zu den Fakten zurück- kehren: Als wir 1998 die Regierungsverantwortung über- Renate Blank (CDU/CSU): nommen haben, hatten die Investitionen in die Schiene Kollege Schmidt, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu neh- in Deutschland einen historischen Tiefstand von nur noch men, dass im Jahre 1998 – dies war also noch während un- 2,9 Milliarden Euro erreicht. Allein in diesem einen Jahr serer Regierungsverantwortung – die Investitionen für – unter Waigels und Wissmanns Verantwortung – wurden Neu- und Ausbaumaßnahmen – nur davon spreche ich – sie um 1 Milliarde DM, also um ungefähr eine halbe Mil- liarde Euro, gekürzt. Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE Das Ergebnis: Das Bestandsnetz war verrottet, man GRÜNEN): fuhr auf Verschleiß, es hat geholpert und gerumpelt und die Fahrpläne wurden nicht mehr eingehalten. Ich auch. (Lachen bei der CDU/CSU) Renate Blank (CDU/CSU): Das war Ihre Hinterlassenschaft im deutschen Schienen- netz; das sind die Fakten. – 5,4 Milliarden DM betragen haben – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kommen wir zu den Fakten, jetzt ist Schluss mit der Mär- chenstunde. Wir haben bereits in den Bundeshaushalt 1999 D-Mark! Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2169

(A) Renate Blank (CDU/CSU): Zweitens. Wir müssen das Ganze mit Mitteln aus den (C) mautfinanzierten Projekten im Sinne des Anti-Stau-Pro- – richtig, D-Mark –, während im Bericht „Schienenwege- ausbau 2000“ nur 4,5 Milliarden DM für Neu- und Aus- gramms ergänzen. Auch darüber sind wir uns, hoffe ich, baumaßnahmen ausgewiesen wurden? Das ist von der einig. Eigentlich wollen Sie ja die Mittel nur für die Straße Bundesregierung schriftlich vorgelegt worden. Nehmen ausgeben. Sie das bitte zur Kenntnis. Es mag zwar sein, dass in an- Drittens. Wir müssen – das haben wir bereits getan – deren Bereichen der Bahn weitere Mittel ausgegebendafür Sorge tragen, dass auch Investitionen aus dem Re- wurden. Aber ich habe nur von den Investitionen für Neu- gionalisierungsgesetz ins Netz fließen. Wir haben mit und Ausbaumaßnahmen gesprochen. dem Regionalisierungsgesetz bis zum Jahr 2007 eine ver- lässliche, wachsende Finanzgrundlage für die Länder Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE geschaffen, wodurch allein jedes Jahr etwa 850 Mil- GRÜNEN): lionen Euro zusätzlich zu den Ländermaßnahmen auch in die Verbesserung der Infrastruktur fließen. Das muss man Es ist wunderbar, dass Sie mir Gelegenheit geben,zu den Kosten für die Schieneninvestitionen addieren. meine Redezeit zu verlängern. Ich antworte Ihnen – das tue ich gerne – Folgendes: Es trifft zu, dass im Haushalts- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN jahr 1998 exakt 2,9 Milliarden Euro – das ist ein histori- und bei der SPD) scher Tiefststand – an Schienenbaumitteln geflossen sind. Des Weiteren haben wir dafür gesorgt, dass das Gemein- Das waren 500 Millionen Euro weniger, als im Plan ei- deverkehrsfinanzierungsgesetz fortentwickelt wurde. Auch gentlich vorgesehen waren; denn es hat eine Anweisung dadurch kann die Infrastruktur des Bahnnetzes verbessert gegeben, im laufenden Haushaltsjahr eine entsprechende werden. Kürzung vorzunehmen. Es trifft weiterhin zu, dass in dem Berichtszeitraum – das ist das Haushaltsjahr 2001 –, den Das heißt im Klartext: Wir müssen gemeinsam dafür Sie ansprechen und über den wir heute diskutieren, exakt Sorge tragen, dass das Erreichte erhalten bleibt und fort- 2,3 Milliarden Euro für Investitionen im Sinne der Be- entwickelt wird. Das ist eine Garantie dafür, dass die darfsplanmaßnahmen verausgabt wurden. Zugleich sind Schiene gegenüber der Straße weiterhin gleichberechtigt aber im selben Zeitraum – Frau Blank, wenn Sie schon ist und dementsprechend behandelt wird. nachlesen, dann müssen Sie die entsprechende Seite im Bericht auch zu Ende lesen – zusätzlich 1,5 Milliarden Euro Wir werden außerdem darauf dringen müssen, dass die an Investivmitteln für die Erneuerung des Bestandsnetzes Bundesförderung in einem sinnvollen Umfang erweitert geflossen. Das macht nach Adam Riese zusammenwird. Ich möchte dazu zwei Punkte nennen: 4,3 Milliarden Euro, also circa 8,6 Milliarden DM. Das Erstens: Gleisanschlussprogramm im Güterverkehr. (B) (D) sind 50 Prozent mehr als in Ihrem letzten Regierungsjahr. Ein solches Programm brauchen wir. Wir benötigen eine Das sind die Fakten. Nehmen Sie sie zur Kenntnis! Förderrichtlinie, um zusätzliche Potenziale für den Schie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nengüterverkehr – und zwar vom Werkstor an – zu er- und bei der SPD) schließen. Wir haben 2001 aber nicht nur die Schienenbaumittel Zweitens. Auch die Lärmschutzmaßnahmen am Fahr- erhöht. Wir haben vielmehr auch zinslose Darlehen, die zeug müssen gefördert werden. Die Ersetzung der alten nach alter Rechtspraxis der Bahn für Bestandsnetzinves- Graugussbremsen durch Kunststoffbremsen schafft we- titionen gewährt wurden, in Baukostenzuschüsse umge- sentlich mehr Lärmschutz als jeder Lärmwall, der für viel wandelt. Jeder, der schon einmal Bauplanung gemacht Geld errichtet wird und nur dort eine Wirkung entfaltet, hat, weiß, was das bedeutet. Das heißt nämlich, dass Maß- wo er nun einmal steht. Ein modernisierter Güterwaggon nahmen, die vorher unwirtschaftlich waren, plötzlichverursacht überall, wo er fährt, viel weniger Lärm als ein wirtschaftlich waren und angepackt werden konnten. Wir Güterwaggon, der mit der alten Technologie ausgestattet haben allein auf diese Weise eine ganze Reihe von Maß- ist. nahmen auf den Weg gebracht, die auf Darlehensbasis nach der alten Rechtspraxis niemals hätten verwirklicht werden können. Auch das ist eine großartige Leistung, auf Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: die ich stolz bin. Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE Zuletzt möchte ich noch einen Blick in die Zukunft GRÜNEN): werfen. Wir stehen vor schwierigen Aufgaben. Die Sanie- Ein letzter Punkt. Im Hinblick auf den neuen Bundes- rung des Netzes ist noch nicht beendet. Wir müssen die verkehrswegeplan werden wir bei den Ausbau- und Neu- Modernisierung des Netzes buchstäblich Kilometer für bauprojekten insbesondere die Erweiterung der Europä- Kilometer vervollständigen. Das bedeutet, dass wir das ischen Union nach Osten im Auge haben müssen. erreichte Investitionsniveau auf vier Säulen verstetigen müssen: (Renate Blank [CDU/CSU]: Um Jahre zu spät!) Erstens. Das betrifft im Bundesschienenwegeausbau- gesetz die Bedarfsplanmaßnahmen, die Bestands- und Er- Wir müssen die Verbindungen nach Osten im Sinne des neuerungsmaßnahmen. vordringlichen Bedarfes aufwerten. 2170 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Albert Schmidt (Ingolstadt) (A) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: In den „Investitionsprogrammen für den Ausbau der(C) Schienenwege“ von 1999 heißt es – ich möchte einmal Verehrter Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. eine dieser markigen Aussagen zitieren –: Das deutsche Verkehrsnetz trägt die Hauptlast des (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE Albert Schmidt Transitverkehrs in Europa und hat damit einen we- GRÜNEN): sentlichen Beitrag zur wirtschaftlichen Integration Von Berlin, aber auch von Nürnberg aus muss es in Europas zu leisten. Richtung baltische Republiken und Tschechien eine qua- Dazu kann ich nur sagen: Bravo, das ist ganz richtig! litativ hochwertige Schienenverbindung geben. Ich hoffe, es wird unser gemeinsames Ziel sein, diesbezüglich neue (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Akzente und neue Schwerpunkte zu setzen. Ich freue Als Ziel dieser Verkehrspolitik wird genannt: mich schon auf die entsprechenden Beratungen im Aus- schuss. ... damit bundesweit die zur Verkehrsabwicklung notwendigen Kapazitäten verfügbar sind. Vielen Dank. Auch das ist richtig. Nur: Es ist nicht wahr. Worte und Ta- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ten klaffen auseinander. Die Tatsachen sprechen eine ganz und bei der SPD) andere Sprache. Um das zu belegen, möchte ich noch einige Zahlen an- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: führen – weiter möchte ich Sie damit dann nicht belästi- Verehrter Herr Kollege, wenn die Wachstumsrate im gen –: Verkehrsetat so eindrucksvoll wäre wie die, die das Präsi- Der Umfang des Güterverkehrs auf der Schiene hat dium Ihrer Redezeit zugestanden hat, dann könnte diese in Ihrer Regierungszeit abgenommen und nicht zugenom- Debatte fast entfallen. men. (Heiterkeit) (Renate Blank [CDU/CSU]: Richtig!) Nun hat der Kollege Eduard Lintner das Wort. Dass nicht zwangsläufig globale Tendenzen dahinter stecken, zeigt das Beispiel Österreich. Dort ist das Trans- Eduard Lintner (CDU/CSU): portaufkommen auf der Schiene von 1995 bis 2001 um sage und schreibe 22 Prozent gestiegen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben (B) wieder einmal eindrucksvolle Beispiele für den Kern die- (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ (D) ser Verkehrspolitik gehört, nämlich allgemeine Bekun- DIE GRÜNEN]: Bei uns ist es in diesem Zeit- dungen und Ankündigungen, raum auch gestiegen!) (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Offenbar gibt es Rezepte, bei deren Befolgung man das, DIE GRÜNEN]: Fakten habe ich aufgezählt!) was Sie dauernd als Ziel propagieren, erreicht. In Öster- reich ist in der Tat manches anders als bei uns gemacht die in der Regel recht entschlossen und zukunftsweisend worden. Sie selbst haben ein Beispiel erwähnt; allerdings formuliert werden. Herr Schmidt, Ihre Zahlenspielereien haben Sie nur die halbe Wahrheit gesagt. Die Deutsche bringen schon allein deshalb nichts, Bahn hat Gleisanschlüsse in großem Umfang stillgelegt (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ und jetzt verlangen Sie ein neues staatliches Programm DIE GRÜNEN]: Das sind doch keine Zahlen- zur Wiederherstellung dieser Gleisanschlüsse. Wider- spielereien!) sprüchlicher kann Verkehrspolitik wirklich nicht gestaltet werden. weil Sie zwei Rahmenbedingungen nicht genannt haben: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Erstens. Dank unserer Vorarbeit erzielte diese Regie- rung nach der Versteigerung der UMTS-Lizenzen Erlöse Österreich hat es durch eine derartige Förderung von in Höhe von 50 Milliarden Euro, die sie großzügig hat Gleisanschlüssen immerhin geschafft, dass jetzt – die einsetzen können. Zahl ist recht eindrucksvoll – 7,3 Millionen Tonnen Güter pro Jahr mehr auf der Schiene transportiert werden als (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ vorher. DIE GRÜNEN]: Aber wir haben sie an der rich- tigen Stelle eingesetzt! Das ist der Punkt!) (Vorsitz: Vizepräsident Dr. ) – Herr Kollege Schmidt, darauf werde ich noch zu spre- chen kommen. Die deutsche Regierung hat bislang leider nur das Gegen- teil zustande gebracht. Zweitens. Die Bahn war bisher überhaupt in keinem Jahr in der Lage, die zur Verfügung gestellten Mittel Es gibt eindrucksvolle Beispiele für diese Fehlentwick- tatsächlich vollständig abzurufen. Daher handelt es sich lung, die ja nach wie vor anhält. In der letzten Ausgabe der bei vielen der von Ihnen genannten Zahlen sozusagen um „Deutschen Verkehrs-Zeitung“ ist einiges aufgelistet wor- Luftnummern; diese Zahlen sind zum Beweis nicht taug- den. Beispielsweise sollen auf denrechtsrheinischen lich. Hauptgleisen demnächst – so schreibt die Zeitung – fast Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2171

Eduard Lintner (A) 40 Prozent aller Weichen ersatzlos entfallen und außer- ben der Verkehrspolitik von der Bahn auch erfüllt werden (C) halb der Hauptgleise sollen noch weitere 25 000 Weichen können. Die Bahn hat sich unternehmerisch zu orientieren abgebaut werden. Die Folgen kann man leicht vorhersa- – das ist ganz klar –, gen: Die Kapazität für die Aufnahme von Zügen wird (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: drastisch reduziert, weil der Bahnbetrieb natürlich noch Wettbewerb tut Not!) unflexibler und noch störanfälliger wird, als er ohnehin schon ist. aber es muss ihr ermöglicht werden, die Vorgaben der Ver- kehrspolitik im Rahmen der unternehmerischen Tätig- Mit dieser Maßnahme wird vielleicht sogar noch Fol- keit zu realisieren. Da liegt die ganz spezielle Verantwor- gendes beabsichtigt: Damit wird natürlich auch der Zu- tung des Bundesverkehrsministers. gang von Mitbewerbern zum Schienennetz ganz erheb- lich weiter erschwert oder gar unmöglich gemacht. Im (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ergebnis stehen bei dieser reduzierten Kapazität für Züge, neten der FDP – Horst Friedrich [Bayreuth] die nicht zur DB AG gehören, quasi keine Zeitfenster, [FDP]: Der Wettbewerb muss her!) keine Slots, mehr zur Verfügung. Dass das die Folge die- ser Maßnahme ist, hat übrigens auch einer, der es wissen – Der Wettbewerb muss her. Auch das ist richtig, Herr muss, bestätigt, nämlich der frühere Bundesbahndirek- Kollege Friedrich. tionspräsident Alfons Thoma. Ich muss feststellen: Bis heute ist weit und breit nichts Es gibt weitere krasse Beispiele. So soll die „Rheini- zu sehen, was als ernsthafte Konzeption der deutschen sche Bahn“ stillgelegt werden. Alle, die sich da ein biss- Verkehrspolitik zur Erreichung der selbst gesetzten Ziele chen auskennen, bestätigen, dass es sich dabei um diegedeutet werden könnte. letzte freie Bahnstrecke im Ruhrgebiet handelt, auf der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) überhaupt noch Güterverkehr zusätzlich stattfinden kann. Stilllegungen, wie sie da geplant sind, stehen in einem Dabei steht fest – vorhin ist diese Zahl schon einmal kurz diametralen Gegensatz zu einem Grundsatz der Schie- genannt worden –: Allein von 1997 bis 2015 werden die nengüterverkehrspolitik, der da lautet, dass Personen- und Güterverkehrsmengen um 64 Prozent wachsen. Die Güterverkehr entflochten werden müssen, wenn der Gü- Schiene soll davon 24 Prozent übernehmen. Wenn das so terverkehr auf der Schiene gesteigert werden soll. Auch käme, würde das eine Verdoppelung der Verkehrsleistung hier gilt wieder: Handeln und Taten stehen in einem kras- von 1997 bedeuten. Zurzeit liegen wir bei knapp 8 Prozent. sen Gegensatz zueinander. Wie wollen Sie Ihre hehren Ziele erreichen, wenn Sie Man könnte noch viele Beispiele dafür nennen, etwa nicht wirklich für eine Trendwende in Ihrer Verkehrspoli- tik sorgen? (B) dass Überholstrecken und Begegnungsmöglichkeiten (D) weiter abgebaut werden. Das Ergebnis ist immer das- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: selbe: weniger Kapazität auf der Schiene und damit Luftblasen!) weiter erschwerter Zugang von Mitbewerbern. Das Kartellrecht und die Regeln, die das Eisenbahn-Bun- Diese Verkehrspolitik ist einfach zu sehr mit Ideologie be- desamt durchsetzen und kontrollieren soll, werdenhaftet. Man träumt immer von Schienenverkehrsanteilen, durch die Schaffung von Fakten praktisch ständig un- die mit dieser Politik nicht zu erreichen sind. terlaufen. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das sind die (Beifall bei der CDU/CSU) 99 Luftballons der Verkehrspolitik dieser Re- gierung!) Es kommt noch hinzu, dass auch die Zahl derGü- terverkehrsannahmestellen – die Kollegin Blank hat Gleichzeitig tut man aber inkonsequenterweise zu wenig, das, glaube ich, schon erwähnt – reduziert worden ist. um das Straßennetz so herzurichten und so zu erhalten, Wohin wir auch schauen: Es wird alles Mögliche getan, dass wenigstens dort der Verkehr einigermaßen reibungs- um die Verkehrskapazitäten einzuschränken, statt sie zu los laufen kann. erweitern, was angesichts der Entwicklungen, die hier (Beifall bei der CDU/CSU) schon genannt worden sind, aber eigentlich notwendig wäre. Meine Damen und Herren, Sie stecken, was die zukünftige Entwicklung angeht, den Kopf einfach in den Man darf es der Regierung nicht durchgehen lassen, Sand. Dafür, dass wir das kritisieren und dass wir Sie auf- dass sie sich immer dann, wenn es um diese ganz konkre- fordern, das endlich zu ändern, haben Sie sicher Ver- ten Maßnahmen geht, sozusagen auf das Argument von ständnis. Vielleicht schafft es der vierte Verkehrsminister der unternehmerischen Selbstständigkeit der Bahn zu- in vier Jahren doch einmal, eine Trendwende in der Ver- rückzieht und sich damit herausreden möchte; denn die kehrspolitik herbeizuführen. Wir werden das aufmerksam Regierung ist für die Ausrichtung der Verkehrspolitik zu- prüfen. In Kürze werden wir schriftlich haben und nach- ständig. lesen können, ob es gelungen ist, die nötigen Kurskorrek- (Beifall bei der CDU/CSU) turen vorzunehmen, nämlich wenn der Bundesverkehrs- wegeplan, auf den wir jetzt schon jahrelang warten, noch Das bedeutet natürlich auch, dass sie ganz speziell für heuer vorgelegt wird. die Erreichung dieser verkehrspolitischen Ziele die Ver- antwortung trägt. Notfalls muss sie die Rahmenbedingun- Meine Damen und Herren, in aller Kürze stichwortar- gen für die Bahn so gestalten, dass die politischen Vorga- tig noch ein paar andere Dinge. 2172 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Eduard Lintner (A) Herr Bundesverkehrsminister, ein ständiges Ärgernis Ich hoffe, es gelingt Ihnen – wie gesagt, im vierten An- (C) ist die Tatsache, dass die Bahn jedes Jahr eingestehen lauf, als vierter Bundesverkehrsminister –, die Dinge end- muss, dass sie die Investitionsmittel, die ihr eigentlich lich zu ändern. Wir halten Ihnen jedenfalls die Daumen. zur Verfügung stehen, nicht vollständig hat ausgebenDas wäre für das Land und für die Bewältigung der Zu- können. kunftsaufgaben außerordentlich wichtig. (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Fast Vielen Dank. 1 Milliarde Euro im letzten Jahr!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wenn es daran liegen sollte, dass die Bahn nicht in aus- Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ reichendem Umfange eigene Planungskapazitäten hat, DIE GRÜNEN]: Mit diesem Niveau sollten Sie dann soll sie doch um Gottes willen auf private Planungs- keinen Verkehrsminister stellen!) kapazitäten zurückgreifen. (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: DIE GRÜNEN]: Tut sie doch! Leute, ihr steckt Das Wort hat jetzt die Kollegin Karin Rehbock-Zureich den Kopf in den Sand und wollt die Realitäten von der SPD-Fraktion. nicht zur Kenntnis nehmen!) Wenn es daran liegen sollte, dass, wie Herr Mehdorn seit Karin Rehbock-Zureich (SPD): neuestem sagt, die Auftragnehmer die Rechnungen nicht rechtzeitig stellen, dann kann er das ja abstellen. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Lintner, Sie reden immer von Veränderungen in der (Renate Blank [CDU/CSU]: Er kann auch Verkehrspolitik und meinen damit die einseitige Festle- pünktlich zahlen!) gung aller Mittel zugunsten der Straße. Da muss ich Ihnen Aber ich habe schon den Eindruck, dass hier immer doch einfach einmal sagen: Wer eine solche Verkehrspo- Luftnummern angeboten werden. Da werden Beträge in litik betreibt, lebt verkehrspolitisch in der Steinzeit. den Haushalt gestellt, mit denen man, wie hier, in der Dis- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kussion glänzen will; in Wirklichkeit handelt es sich aber DIE GRÜNEN) um eine Art stille Haushaltsreserve, die dann im Laufe des Jahres anderweitig verbraten wird. Wer hier den Kopf in den Sand steckt, (Beifall bei der CDU/CSU – Reinhard Weis (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Der kriegt [Stendal] [SPD]: 97 Prozent fließen ab! So viel irgendwann keine Luft mehr!) (B) ist doch noch nie abgeflossen!) das sind nämlich Sie. Sie sprechen von 64 Prozent Wachs- (D) tum im Bereich Güterverkehr. Wie bekommen wir das in Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: den Griff? Wenn Sie keine ideologische Verkehrspolitik betreiben wollen, muss Ihnen doch völlig klar sein, dass Herr Kollege Lintner, kommen Sie bitte zum Schluss. dies nicht ausschließlich auf der Straße abzuwickeln ist. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Eduard Lintner (CDU/CSU): BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es geht dabei bei weitem nicht nur um ein paar hundert Wenn Sie hier die Haushaltszahlen von 1997 und 1998 Millionen, sondern um über 1 Milliarde Euro. hervorkehren, um darzustellen, was die CDU/CSU-Frak- (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ tion Großes im Bereich Schiene geleistet hat, DIE GRÜNEN]: Das ist doch Quatsch! So ein (Dr. Uwe Küster [SPD]: Fehlleistungen und Schmarren! Frei erfunden!) nicht Leistungen!) Das zeigt die Tatsache, dass mit diesen Mitteln beispiels- so will ich Ihnen noch einmal sagen, was auch der Kollege weise vorzeitig Tilgungen für die Strecke Nürnberg–Schmidt schon gesagt hat. Ingolstadt geleistet oder dieKostenüberschreitungen beim Lehrter Bahnhof usw. gedeckt werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Albert (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- DIE GRÜNEN]: Was ihr verbockt habt, haben NEN]: Das ist die Wahrheit!) wir an dieser Stelle korrigiert! Gott sei Dank! Dort wird gebaut!) Vorgesehen waren bei der Bahnreform einmal mindes- tens 10 Milliarden DM, also 5 Milliarden Euro, als Fi- Denn das sind andere Zwecke. Diese Gelder waren für et- nanzmittel. Aber nicht einmal 3 Milliarden Euro haben was ganz anderes vorgesehen. Deshalb müssen Sie diese Sie 1998 für die Schiene ausgegeben. Milliarde eigentlich zu den nicht verbrauchten Mitteln (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Nein, das hinzuzählen. steht nirgendwo!) (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Damit war ein trauriger Tiefpunkt erreicht. Hinterher haben DIE GRÜNEN]: Quatsch!) Sie beklagt, dass der Schienenverkehr von der Substanz le- Dann sind Sie bei ganz erklecklichen Größenordnungen. ben musste. Der Erfolg Ihrer Politik war nämlich ein maro- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2173

Karin Rehbock-Zureich (A) des Netz, da keine Investitionen in den Bestand getätigt Wir haben – das ist ein ganz wichtiger Einstieg – die(C) wurden. Das heißt, die Schiene gammelte vor sich hin. LKW-Maut auf den Weg gebracht. Ab Sommer 2003 werden LKWs an ihren Wegekosten beteiligt. Die hier- Wir haben endlich damit Schluss gemacht undNeu- durch eingenommenen Mittel fließen nicht ausschließlich und Ausbaumaßnahmen finanziert: Wir haben 4,3 Mil- in den Verkehrsträger Straße, sondern nur zu 50 Prozent; lionen Euro – Sie können das im vorliegenden Bericht 50 Prozent kommen der Schiene und den Wasserstraßen nachlesen – ins Bestandnetz und 6,8 Milliarden Euro in zugute. Dies ist im Gegensatz zu Ihrer Steinzeitpolitik den Nahverkehr und die Regionalisierung investiert. Das wirklich ein integrierter Ansatz. hätten Sie während Ihrer 16-jährigen Regierungszeit erst einmal erreichen müssen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Als ganz wichtig sehen wir es auch an, hier nicht nur für Wettbewerb zwischen den Verkehrsträgern, sondern Obwohl die Mittel für die Schiene massiv angehoben auch für Wettbewerb auf der Schiene zu sorgen. Unser wurden, kam es in den ersten Jahren angesichts der zu ge- Ziel ist dabei ein flächendeckendes Schienennetz. Da ringen Planungskapazitäten für den Ausbau zu wirklichen müssen alle Wettbewerber gleich behandelt werden; alle Problemen. Der komplette Mittelabfluss wurde im ersten müssen die gleichen Chancen haben. Jahr, nachdem die ZIP-Mittel geflossen sind, nicht er- reicht. Diese fairen Wettbewerbsbedingungen brauchen wir, Herr Lintner, für die Verdoppelung des Güterverkehrs auf (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Er wurde der Schiene, die nötig ist, damit wir nicht alle im Stau ste- auch im zweiten Jahr nicht erreicht!) hen. 2002 jedoch sind von den zur Verfügung stehenden (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das glaubt Mitteln nur 3,5 Prozent nicht abgerufen worden, also ja nicht mal die Bahn, dass ihr das schafft!) 150 Millionen Euro. – Das glaubt die Bahn sehr wohl. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wer sagt denn das? – Gegenruf des Abg. Albert Schmidt (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Nein!) [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Weg dahin ist die Sanierung des Netzes, die wir in Wir!) Gang gesetzt haben. Das ist die Voraussetzung für funk- Es kann doch niemand sagen, dass der Mittelabfluss im tionierende Güterverkehre auf der Schiene. Außerdem Schienenverkehr nicht funktioniert, wenn bis zu 97 Pro- müssen wir dafür sorgen, dass mehr Unternehmen als bis- (B) zent der Mittel abgerufen und 4,1 Milliarden Euro verbaut her an die Schiene angebunden werden. (D) werden. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wie (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Die Bahn wollen Sie das denn machen?) behauptet, es seien nur 44 Millionen! Was stimmt So ist es sehr wohl richtig und wichtig, dass wir Gleis- denn nun?) anschlüsse fördern, die direkt an das Schienennetz ange- Selbstverständlich erwarten wir als Parlamentarier, dass bunden sind. alle Mittel abfließen; das ist ganz klar. Hier hat die Bahn (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des natürlich auch die unternehmerische Verpflichtung, Bau- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Horst projekte fortzusetzen, Planungen zügig in Gang zu setzen Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Nachdem die Bahn und Baumaßnahmen noch besser als bisher abzustimmen. sie abgebaut hat!) (Beifall des Abg. Reinhard Weis [Stendal] Man kann der Meinung sein, das Gleisanschlussprojekt, [SPD]) das Georg Leber gefordert und eingeführt hat und dessen Der erheblich erweiterte Finanzrahmen macht deut- verrostete Gleise wir heute vor Augen haben, habe nicht lich, was dieses Parlament und diese Koalition erreicht funktioniert, weil es nicht nach Bedarf eingerichtet wor- haben. Wir haben erreicht, dass einerseits der Verkehrs- den sei. träger Schiene mit der Straße gleichgesetzt wurde, dass (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist doch andererseits aber auch die Kontrollfunktionen in Bezug Unsinn! Die Gleisanschlüsse werden nicht auf die Haushalte immer wahrgenommen wurden. Wir mehr bedient! Das ist Realität!) werden das in Zukunft bei der Verabschiedung der Be- darfspläne genauso tun. Die Österreicher sind für uns ein wichtiges Vorbild, weil sie es geschafft haben, mit Beteiligung der Unternehmen Wir haben auch die Rahmenbedingungen für den Ver- mehr Güterverkehr auf die Schiene zu bringen. kehrsträger Schiene verbessert: Auf europäischer Ebene bringt die Öffnung der Netze mehr Wettbewerb auf der Wenn Sie immer beklagen, dass wir nicht ausreichend Schiene. Mit der Öffnung werden grenzüberschreitende, Güterverkehr auf die Schiene bekommen, dann fordere lang laufende Verkehre möglich. Dies ist die Chance für ich Sie auf: Tragen Sie doch zur Entwicklung dieses Pro- die Zukunft. Dies müssen wir voranbringen. gramms bei und stimmen Sie zu, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN]: Genau!) 2174 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Karin Rehbock-Zureich (A) wenn wir dafür sorgen wollen, dass Finanzmittel auch für rung der notwendigen Investitionen in den Ausbau und(C) die Förderung von neuen Gleisanschlüssen zur Verfügung Erhalt vor allem im Straßenbereich haben, der am nötigs- gestellt werden! Ich denke, es ist nicht sinnvoll, den Ver- ten Geld braucht. Denn der Straßenverkehr ist und bleibt kehrsträger Straße einseitig zu bevorzugen. Wir benötigen der Motor unserer Wirtschaft. Wir wissen, dass in alle Verkehrsträger. Kehren Sie zu einer Politik zurück, Deutschland jeder siebte Arbeitsplatz vom Auto abhängt die alle Verkehrsträger integriert sieht, zum Wohle von und dass das Auto das Verkehrsmittel Nummer eins ist uns allen und gegen den Stau! und weiterhin bleiben wird. Da ich aus dem ländlichen Raum komme, kann ich das besonders gut beurteilen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Das Ergebnis der vierjährigen rot-grünen Politik ist – trotz aller gegenteiligen Darstellungen –, dass das deut- sche Autobahnnetz kaum noch europäisches Mittelmaß Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: erreicht. Das Wort hat jetzt der Kollege Gerhard Wächter von (Widerspruch bei der SPD) der CDU/CSU. Gemessen an der Ausstattung mit Autobahnen im Ver- (Beifall bei der CDU/CSU) gleich zum Fahrzeugbestand befindet sich Deutschland im europäischen Vergleich nur noch auf Rang zehn. Hier Gerhard Wächter (CDU/CSU): hat uns mittlerweile – das kann man nachlesen – sogar Portugal überholt. Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst zu Ihnen, Frau Rehbock-Zureich. Wenn Sie sa- (Lachen der Abg. Karin Rehbock-Zureich gen, dass Herr Lintner in der Steinzeit lebt, weil er auf die [SPD]) Probleme des Straßenverkehrs hinweist, dann muss ich Das kann sich der Wirtschaftsstandort Deutschland nicht Sie fragen: Wo leben Sie eigentlich? Jedenfalls leben Sie leisten. Er kann sich auch – das müssen wir besonders be- nicht in der Realität, wo wir entsprechende Probleme tag- achten – die staubedingten Kosten in Höhe von 100 Mil- täglich feststellen. liarden Euro pro Jahr nicht leisten. Das ist eine unglaub- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) liche Verschwendung. Meine Damen und Herren, in fast allen Debatten- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Wahnsinn!) beiträgen wurde zu Recht betont, dass Mobilität und ein Alle Prognosen zeigen eindeutig, dass Deutschland als (B) hoch entwickeltes Verkehrssystem entscheidende Voraus- (D) Land in der geographischen Mitte Europas in den nächs- setzungen für wirtschaftliches Wachstum sowie für den ten Jahren und Jahrzehnten durch die Entwicklung des Erhalt und die Schaffung von Arbeitsplätzen sind. Das Personen- und Güterverkehrs vor großen Herausforde- war in der Vergangenheit so und das wird für die Zukunft rungen steht. Bis 2015 müssen wir in Richtung Osten mit von noch größerer Bedeutung sein. Es ist ja schon auf die einem Zuwachs beim grenzüberschreitenden Verkehr um EU-Osterweiterung hingewiesen worden, die wir in ei- circa 200 Prozent rechnen. Schätzungen für die Zunahme nigen Monaten zu erwarten haben. im Bereich des Personenverkehrs liegen zwischen 25 und Es gilt: Zukunftssicherung des Wirtschaftsstandortes fast 70 Prozent. Deutschland ist auf diese Entwicklung Deutschland heißt Zukunftssicherung und Optimierung nicht vorbereitet, unter anderem auch deswegen, weil die der Verkehrsinfrastruktur. bis zum Regierungswechsel 1998 eingeleiteten Maßnah- men seit vier Jahren stagnieren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist das Pro- Für uns Verkehrspolitiker ist das gewiss unbestritten, aber blem! – Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Da sind für andere durchaus keine Selbstverständlichkeit, wenn es Sie uns den Beweis noch schuldig geblieben!) darauf ankommt, die immer knapper werdenden Haus- haltsmittel zu verteilen und zu beurteilen, wo das Geld am Das wird sich bitter rächen. notwendigsten gebraucht wird und letztendlich hin soll. Anfang September soll endlich die Maut für LKWs Wenn man im Blick hat, dass wir wieder mit 2 Milliar- kommen. Ich habe allerdings Zweifel, ob sie funktionie- den Euro weniger Steuereinnahmen zu rechnen haben, ren wird; denn der Bundesverband Güterkraftverkehr hat wird man schnell feststellen, wie dieser Verteilungskampf bekanntlich mit einem Boykott des Einbaus der Maut- aussehen wird. erfassungsgeräte gedroht. Man spricht vom so genannten Schuld daran ist die Bundesregierung, die nicht in der „Super-GAU Maut“. Grund dafür ist, dass die Bundes- Lage ist, die Weichen so zu stellen, dass endlich ein Ruck regierung nur 300 Millionen Euro für die Harmonisierung durch Deutschland geht, dass Unternehmer und Arbeit- zahlen will. Dieser Betrag reicht bei weitem nicht aus, nehmer wieder Hoffnung schöpfen und Licht im Tunnel um die mautbedingten Wettbewerbsnachteile auch nur sichtbar wird. Das ist die Wahrheit. annähernd auszugleichen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU) So sicher wie das Amen in der Kirche wird diesIch will noch einmal deutlich betonen, dass die zwangsläufig auch Folgen für die zukünftige Finanzie- CDU/CSU-Fraktion diese Entscheidung der Bundes- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2175

Gerhard Wächter (A) regierung für völlig inakzeptabel hält; denn die Maut wird diesem Zeitpunkt der Solidarpakt II auslaufen wird. Vor (C) die schon jetzt äußerst angespannte Situation der Branche allen Dingen geben wir damit den neuen Bundesländern weiter verschärfen und noch mehr Betriebe in diesem mit- ein richtiges Signal, nämlich Planungssicherheit für einen telständischen Gewerbe in den Ruin treiben. Das bedeu- langen Zeitraum. Dieses Signal und diese Sicherheit brau- tet gleichzeitig, dass zigtausend Arbeitsplätze verloren chen die neuen Bundesländer. gehen und dass die Wahrscheinlichkeit von 5 Millionen Arbeitslosen immer größer wird. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Bundesregierung hat vollmundig versprochen, die Ich hoffe, dass wir im Interesse der Bürgerinnen und Maut werde zur Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur Bürger in den neuen Bundesländern im weiteren Verlauf vor allem im Straßenbau genutzt. Tatsache ist aber, dass der Beratungen zu einem Konsens kommen werden. der größte Teil – darauf ist schon hingewiesen worden – Ich danke Ihnen vielmals. zur Sanierung des Haushalts in die Kassen des Finanzmi- nisters fließt und nicht der direkten Finanzierung der Ver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- kehrsinfrastruktur zugute kommt. Es muss gelten: Wer die neten der FDP) Zeche zahlt, hat einen Anspruch darauf, dass dafür adä- quate Gegenleistungen erbracht werden, und zwar 1 : 1. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ansonsten handelt es sich um reine Abzockerei. Herr Kollege Gerhard Wächter, ich beglückwünsche (Beifall bei der CDU/CSU) Sie zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herz- Was den Schienenverkehr betrifft, ist es eine reinelichen Glückwunsch! Wunschvorstellung – das ist schon gesagt worden –, (Beifall) durch die Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene den Anteil des Schienenverkehrs zu verdoppeln. Ich will Das Wort hat jetzt der Kollege Siegfried Scheffler von in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass seit 1999 der SPD-Fraktion. deutlich mehr als 100 regionale Schienenstrecken von rund 1 300 Kilometer Länge, insbesondere in ländlichen Siegfried Scheffler (SPD): Räumen, stillgelegt und dass mittlerweile rund zwei Drit- tel der Containerbahnhöfe geschlossen worden sind. Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- gen! Herr Kollege Wächter, auf zwei Drittel Ihrer Rede (Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Wie viele ge- könnte man eine ganze Menge entgegnen. Ich stimme hen denn davon auf das Konto von CDU/CSU- aber ausdrücklich dem zu, was Sie zuletzt im Hinblick auf geführten Ländern?) (B) das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz an- (D) Aber auch da, wo Stadt und Kreis bereit waren, sich an der gesprochen haben. Wir haben in den neuen Bundeslän- Finanzierung der Einrichtung eines Containerbahnhofs zu dern aufgrund dieses Gesetzes viel erreicht. Dazu hat die beteiligen, hat die Bahn – wie zum Beispiel bei mir im alte Bundesregierung beigetragen und dazu trägt seit 1998 Kreis Paderborn – klar abgewinkt. natürlich auch die rot-grüne Bundesregierung bei. Da kommt wenig Hoffnung auf, ein solch ehrgeiziges Herr Kollege Friedrich bzw. Frau Kollegin Blank, Sie Ziel zu erreichen. Wir als Politiker und insbesondere die haben Minister Stolpe vorgeworfen, er sei auf dieses Pro- Bundesregierung sind verpflichtet, die Bahn auf ihre Ver- blem nicht sehr detailliert eingegangen. antwortlichkeit hinzuweisen. Sie bekommt viel Geld aus dem Haushalt. Dies muss sie dem Steuerzahler gegenüber (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist rechtfertigen. sein Markenzeichen!) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich brauche den Minister nicht in Schutz zu nehmen, kann ihn aber, da er früher Ministerpräsident war, als Kronzeu- Abschließend zu den beiden vorliegenden Gesetzent- gen heranziehen. Denn gerade Brandenburg – damals un- würfen; einiges ist dazu schon vorgetragen worden. Wich- ter Ministerpräsident Stolpe – war Mitinitiator einer Bun- tigstes Ziel war 1991, für den Aufbau einer ausreichenden desratsinitiative, die dazu führte, dass die Geltungsdauer Verkehrsinfrastruktur in den neuen Bundesländerndieses Gesetzes 1995 und dann noch einmal 1999 verlän- schnellere Zulassungs- und Verwaltungsverfahren zugert wurde. schaffen, als sie es in den alten Bundesländern gibt. Es handelt sich also um Sonderrechte für die neuen Bundes- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das stellt länder. Wir können mit Genugtuung feststellen, dass sich ja keiner in Abrede!) das bestehende Gesetz sehr positiv auf den Aufbau Ost Insofern zeigt sich bei Minister Stolpe Kontinuität. Er hat ausgewirkt hat. mehrfach darauf hingewirkt, dass gerade in den neuen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Bundesländern die positiven Aspekte dieses Gesetzes neten der FDP) zum Tragen kommen. Aber der Aufbauprozess ist noch lange nicht abge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schlossen und wird auch nicht bis zum Ende des Jahres 2004 des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Horst erledigt sein. Deshalb ist eine erneute Verlängerung der Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Was soll das? Es Geltungsdauer dieses Gesetzes notwendig. Aus unserer hat doch niemand eine entsprechende Frage ge- Sicht sollte eine Verlängerung bis 2019 erfolgen, weil zu stellt!) 2176 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Siegfried Scheffler (A) Herr Kollege Wächter, Sie haben ausdrücklich betont, Das Urteil liegt mir schriftlich vor. – Kollege Oswald, ich (C) dass es dabei um ein Sondergebiet, um die neuen Bun- bin der letzte Redner und ich möchte meinen Debatten- desländer, geht. Zudem ist die Geltungsdauer dieses Ge- beitrag hier zu Ende bringen, auch weil ich mit Ihnen ja setzes zeitlich beschränkt. Als Abgeordneter aus dendarin übereinstimme, dass das Investitionsmaßnahmege- neuen Bundesländern möchte ich natürlich darauf hin- setz etwas anderes ist, weisen – darin stimme ich mit Ihnen vollkommen überein –, (Horst Friedrich [Bayreuth[ [FDP]: Meinen Sie dass wir mit dem geltendenBundesverkehrswegeplan mich oder den nicht mehr anwesenden Kolle- noch nicht das erreicht haben, was wir uns vorgenommen gen Oswald?) haben. Ich stimme mit Ihnen von der Opposition auch überein, dass wir zukünftig mit Blick auf den neuen Ver- aber im Urteil wird auch auf das Verkehrswegeplanungs- kehrswegeplan, aber auch – das sage ich so deutlich wie beschleunigungsgesetz abgehoben. – Entschuldigung, ich Sie – mit Blick auf die EU-Osterweiterung zusätzliche meine natürlich Horst Friedrich. Verkehrswege – ob Schiene, Wasserstraße oder Straße – benötigen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Auch deshalb müssen wir uns überlegen, ob wir die Wollen Sie eine Zwischenfrage zulassen? Geltungsdauer des jetzigen Verkehrswegeplanungsbe- schleunigungsgesetzes verlängern. Ich meine, wir stim- men hier im Hause darin überein, dass wir eine solche Siegfried Scheffler (SPD): Verlängerung benötigen. Aber ob diese Verlängerung bis Nein, ich möchte meine Rede fortsetzen. 2019, wie im CDU/CSU-Antrag gefordert, bzw. bis 2010, wie die FDP es wünscht, gehen sollte, das sollten wir uns (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Kalt genau überlegen. erwischt, Herr Kollege!) Wir können uns als Politiker wünschen – wir wünschen Ich habe mich in Vorbereitung auf diese Debatte beim uns ja manchmal etwas nach dem Prinzip Wunsch und 4. und beim 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts in Wolke –, dass dieses Gesetz eine lange Geltungsdauer hat, Leipzig sehr detailliert sachkundig gemacht. aber wir sollten uns auch fragen, ob es immer rechtlich (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Offenbar Bestand haben kann. Wir sollten also nicht Gesetze vor- nicht!) formulieren, bei denen von Anfang an erhebliche rechtli- che Bedenken bestehen. In diesem Fall haben die Justiz- Wir stimmen ja in einigen Dingen überein, Kollege minister der Länder ihre rechtlichen Bedenken seitFriedrich. Außerdem hatte ich heute ein längeres Ge- etlichen Jahren vorgetragen. Ich selbst hatte als Staatsse- spräch mit dem Präsidenten des Bundesverwaltungsge- (B) (D) kretär 1999 die Gelegenheit, im Vermittlungsausschuss richts, Herrn Hien, geführt. Herr Präsident Hien war – das mit den Vertretern des Bundesrates über die Verlänge- sage ich jetzt vielleicht ein bisschen flapsig – schlichtweg rung der Geltungszeit des Gesetzes zu diskutieren, und wir entsetzt über eine eventuelle Geltungsdauer bis 2019 und sind zu einem Kompromiss – Verlängerung bis 31. Dezem- – jetzt komme ich zum Antrag der FDP – über die Aus- ber 2004 – gekommen. Aber auch aus Ihren Reihen sind weitung auf die alten Bundesländer. schon damals rechtliche Bedenken vorgetragen worden. Weil es auch im öffentlichen Raum sehr viele rechtli- Wir sollten deshalb nicht darum kämpfen, ob die Gel- che Bedenken gibt, möchte ich darum bitten, dass wir uns tungsdauer des Gesetzes nun bis 2009 oder bis 2010 ver- an das halten, was wir selbst uns als Bundesgesetzgeber längert werden soll. auf die Fahne geschrieben haben. Der Deutsche Bundes- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wir wollen tag hat in seiner 63. Sitzung am 28. Oktober 1999 – das ist es nicht verlängern, wir wollen es überneh- vielleicht für die Kolleginnen und Kollegen von der FDP men!) sehr interessant – im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens eine Beschlussempfehlung angenommen, aus der ich jetzt In Vorbereitung auf die heutige Diskussion habe ich zitiere: mich auch mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts beschäftigt, in dem es allerdings – Sie wissen das – nicht Die Bundesregierung wird gebeten, dem Bundestag um das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz, ein Jahr vor dem Auslaufen des in seiner Gültigkeit sondern um das Investitionsmaßnahmegesetz geht, verlängerten Verkehrswegeplanungsbeschleunigungs- gesetzes, das heißt bis zum 31. Dezember 2003, ei- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist et- nen Erfahrungsbericht vorzulegen, der Aufschluss was ganz anderes!) über die nach diesem Gesetz geplanten Verkehrspro- in dem aber in vier Kapiteln extra auf das Verkehrswege- jekte und die beschleunigten Effekte nach diesem planungsbeschleunigungsgesetz abgehoben wird. Darin Gesetz gibt. wird detailliert dargelegt, dass es nur für ein begrenztes Interessant ist, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Gebiet und für eine begrenzte Zeit gilt. – Herr Friedrich, FDP, dass der Entschließungsantrag seinerzeit von Ihrer ich habe ja vom Urteil zum Investitionsmaßnahmegesetz Fraktion eingebracht wurde. gesprochen und stimme Ihnen insofern ausdrücklich zu, (Dr. Uwe Küster [SPD]: Das haben sie verges- dass das etwas anderes ist. sen! – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Nie- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Darum mand hindert uns daran, die Erkenntnisse geht es hier gar nicht!) schneller zu haben!) Deutscher Bundestag – 15. 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Siegfried Scheffler (A) – Das ist ja auch vernünftig. Sie brauchen sich doch gar Überweisungsvorschlag: (C) nicht zu überholen. Rechtsausschuss (f) Innenausschuss (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Warum Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit denn nicht?) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen In der DDR gab es früher das Schlagwort „Überholen ohne einzuholen“. Nach dem Motto handeln Sie jetzt ein b) Beratung des Antrags der Fraktionen der bisschen. CDU/CSU und der FDP (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Der Minis- Für eine Internationale Sicherheitsinitiative für ter hat selber festgestellt, dass die Erfahrungen Nordostasien positiv sind! Da stimmen wir ihm ausdrücklich – Drucksache 15/469 – zu! Überweisungsvorschlag: – Dem stimmen wir doch allgemein zu. Trotzdem haben Auswärtiger Ausschuss (f) Verteidigungsausschuss wir keine Eile. Wir sollten ganz gelassen den Bericht der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Bundesregierung abwarten, der spätestens zum 31. De- Entwicklung zember vorliegen wird. Die Bundesregierung hat ja schon Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union signalisiert, dass er eventuell früher vorliegt. Vor allen Dingen sind auch die Länder – auch da habe ich selbst- Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. verständlich nachgefragt – nicht in der Lage, vor dem im Bundesrat vereinbarten Termin 30. Juni 2003 der Bun- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an desregierung zuzuarbeiten. Wir müssen doch den Ländern die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu und der Bundesregierung die notwendige Zeit geben, Fak- überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der ten zusammenzutragen und diesen Bericht dem Deut-Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. schen Bundestag zuzuleiten. Das ist die Grundlage, um Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a bis 12 d sowie Zu- über das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz satzpunkt 4 auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu in einem ganz normalen parlamentarischen Gesetzge- Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. bungsverfahren diskutieren und dann entscheiden zu kön- nen. Tagesordnungspunkt 12 a: Es muss – ich glaube, darüber sind wir uns alle einig – Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- eine Verlängerung geben. Über alle anderen Fragen, bei- ausschusses (2. Ausschuss) (B) spielsweise über Zeitraum, Ausdehnung und die rechtli- (D) chen Bedenken, sollten wir gemeinsam nach Vorliegen Sammelübersicht 15 zu Petitionen des Berichtes diskutieren. Wir müssen natürlich sehen, – Drucksache 15/424 – dass es, wenn man zukünftig die Zuständigkeit nur einer Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- rechtlichen Instanz auf ganz Deutschland ausdehnen hält sich? – Sammelübersicht 15 ist damit einstimmig an- sollte, einen riesigen Verwaltungsaufwand und -stau und, genommen. wie ich glaube, auch juristische Probleme für das Bun- desverwaltungsgericht geben wird. Deshalb nochmals, Tagesordnungspunkt 12 b: liebe Kolleginnen und Kollegen: Lassen Sie uns ganz ge- lassen die Berichte abwarten. Darüber werden wir dann Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Anfang des Jahres 2004 diskutieren. ausschusses (2. Ausschuss) Vielen herzlichen Dank. Sammelübersicht 16 zu Petitionen – Drucksache 15/425 – (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tungen? – Sammelübersicht 16 ist ebenfalls einstimmig angenommen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Tagesordnungspunkt 12 c: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- den Drucksachen 15/265, 15/280, 15/221 und 15/461 an ausschusses (2. Ausschuss) die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- Sammelübersicht 17 zu Petitionen schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. – Drucksache 15/426 – Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Ich rufe die Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf: tungen? – Sammelübersicht 17 ist ebenfalls einstimmig angenommen. a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes Tagesordnungspunkt 12 d: – Graffiti-Bekämpfungsgesetz – (... StrÄndG) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- – Drucksache 15/404 – ausschusses (2. Ausschuss) 2178 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Sammelübersicht 18 zu Petitionen vor der Küste Spaniens hat auch die Bürger unseres Lan- (C) – Drucksache 15/427 – des erkennen lassen: Wir leben in Sachen Seesicherheit auf einem Pulverfass. Der Schiffsverkehr nimmt welt- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- weit zu, Öl- und Chemikalientanker werden immer größer hält sich? – Sammelübersicht 18 ist mit den Stimmen der und 40 Prozent der Welttankerflotte sind älter als 20 Jahre. Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktionen Meldungen über Seeunfälle reißen nicht mehr ab. Seit der von CDU/CSU und FDP angenommen. Havarie der „Prestige“ vor drei Monaten hat es fünf wei- tere Schiffsunglücke in europäischen Meeren gegeben. Zusatzpunkt 4: Wir sind derzeit nur einen Herzschlag von neuen Seeka- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- tastrophen entfernt. Die Bedrohung für Mensch und Na- richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) tur wächst täglich. Die Bundesregierung und die EU- Kommission reagieren auf diese Herausforderung mit zu den Streitsachen vor dem Bundesverfas- Ankündigungen und Absichtserklärungen. Das reicht sungsgericht 2 BvE 1/02 und 2 BvE 2/02 nicht aus. – Drucksache 15/479 – (Beifall bei der CDU/CSU) Berichterstattung: Abgeordneter Andreas Schmidt (Mülheim) Können, müssen und sollen – Stolpe muss endlich han- deln und nicht nur wollen. Die Bürger wollen keine Be- Der Rechtsausschuss empfiehlt, in den verfassungsge- schreibung der Handlungsmöglichkeiten nach Ölkatastro- richtlichen Verfahren Stellung zu nehmen und den Präsi- phen auf See. Sie wollen den Vollzug von Maßnahmen. denten zu bitten, einen Prozessbevollmächtigten zu be- Dazu gehören: Einhüllentanker gehören weltweit außer stellen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Dienst gestellt, Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be- schlussempfehlung ist einstimmig angenommen. (Beifall bei der CDU/CSU)

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf: in gefährlichen Seegebieten ist sofort eine Schiffsmelde- und Lotsenpflicht einzuführen, Radar- und Schiffsidenti- a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- fizierungssysteme sind in Risikoregionen auf See sofort richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- undund unverzüglich zu installieren und schrottreife Seelen- Wohnungswesen (14. Ausschuss) zu dem Antrag verkäufer haben auf Weltmeeren nichts mehr verloren. der Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), (Beifall bei allen Fraktionen) Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Wir benötigen endlich eine europäische Küstenwache. (B) Nationale Schutzmaßnahmen reichen nicht mehr aus. Wir (D) Seesicherheit optimieren – nationaler und euro- wollen keine Diskriminierung der Seeschifffahrt und päischer Handlungsbedarf nach Tankerunter- keine Einschränkung des Seehandels. Wir wollen aber, gang der Prestige dass den fliegenden Holländern auf See endlich das Hand- – Drucksachen 15/192, 15/370 – werk gelegt wird. Berichterstattung: Bereits vor dem verheerenden Ölunfall des Tankers Abgeordnete Annette Faße „Erika“ vor Frankreichs Küste im Jahre 1999 haben Union und FDP auf die Schwachstellen der Seesicherheit b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- aufmerksam gemacht. Ich will zugestehen, dass es in richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh- Randbereichen Verbesserungen für mehr Seeschutz gege- nungswesen (14. Ausschuss) zu der Unterrichtung ben hat. In der grundsätzlichen Gefahrenabwendung hat durch die Bundesregierung sich seitdem aber fast gar nichts getan. So ist es bei der Bericht der Bundesregierung zur „Maritimen Deadline für Einhüllentanker im Jahre 2015 geblieben. Sicherheit auf der Ostsee“ Wir sagen: Das ist viel zu spät. Der Termin ist vorzuzie- – Drucksachen 14/9487, 15/345 Nr. 69, 15/488 – hen. Berichterstattung: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Abgeordneter Wolfgang Börnsen (Bönstrup) Nach Angaben des Werftenverbandes könnte die Umrüs- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die tung der Welttankerflotte auf Doppelwandbootein Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre dreieinhalb Jahren erfolgen. keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Bei vier Verkehrsministern, die Herr Schröder in fünf Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Jahren hat anmustern lassen, kann es weder ein Konzept Kollege Wolfgang Börnsen von der CDU/CSU-Fraktion noch eine Kontinuität für mehr Seesicherheit geben. Es das Wort. brauchte vier Jahre, um nach dem Unglück der „Pallas“ (Beifall bei der CDU/CSU) das Havariekommando in Cuxhaven einzuführen. Vier verlorene Jahre lagen dazwischen. Bei diesem Kom- mando handelt es sich um ein Managementsystem bei Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Seeunfällen. Unter anderem sollen ökologische Seeschä- Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! den eingedämmt werden. Schutzmaßnahmen sind nach Der folgenreiche Untergang des Ölgroßtankers „Prestige“ unserer Auffassung nur ein Teil der optimierten See- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2179

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (A) sicherheit. Die eigentliche Ausrichtung von Seesicherheit chung noch ein funktionierendes Schiffsidentifizierungs- (C) muss es sein, Seeunfälle zu verhindern, also vorzubeugen. system. Tag für Tag sind hier aber tickende Zeitbomben unterwegs. Einhüllengroßtanker gehören dazu. Das (Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/ „Flensburger Tageblatt“ schrieb von „Öl-Geisterschif- DIE GRÜNEN und der FDP) fen“. Nicht Sicherheitslücken registrierte Greenpeace in Das ist zum Beispiel auch eine verdienstvolle Forde- einer kenntnisreichen Dokumentation in diesem Seege- rung der Schutzgemeinschaft Deutsche Nordseeküste. Es biet, sondern ein dramatisches Sicherheitsloch. geht bei uns wie in anderen Ländern auch um ein ganz- heitliches Sicherheitssystem. Es geht um Safety and Russland blockiert seit Jahren durch seine Verweige- Security und nicht nur um einen Teil davon. rung der Kooperation eine europäische Ostsee-Sicher- heitslösung. Ich hätte mir gewünscht, dass Bundeskanzler Die Union verfolgt mit ihrem heutigen Antrag dieses Schröder bei seinen häufigen Gesprächen mit Putin dieses Ziel. Er wird von der Mehrheit des Hauses heute abge- Fehlverhalten Russlands zur Sprache gebracht hätte; denn lehnt werden. nur internationale Abkommen helfen der Ostsee. (Zuruf von der CDU/CSU: Unverständlich!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nach dem parlamentarischen Verständnis von Rot-Grün Der Öl- und Gastransport von russischen Häfen durch die darf es einen Erfolg der Opposition nicht geben. Vor vier Ostsee wächst sprunghaft an. Die Sicherheit jedoch Wochen haben wir einem ähnlichen Antrag von Rot-Grün wächst nicht mit. Im Gegenteil: Da unter anderem die Ver- zugestimmt, weil man nach unserer Auffassung bei der einigten Staaten ein Einlaufverbot für Einhüllentanker nationalen Sicherheit endlich die parteipolitischen Scheu- praktizieren, steigt die Anzahl der Risikoschiffe im euro- klappen ablegen muss. päischen Raum. Überspitzt formuliert: Der Schrott weicht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf nach Europa aus. Das ist der Tatbestand. von der SPD: Der Antrag war auch vernünftig! Auch die „Prestige“ hatte Schweröl aus Russland ge- – Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Um den bunkert. Doch statt knallhart und konsequent wie die Karren aus dem Dreck zu ziehen, sind wir ge- Amerikaner zu reagieren, beklagen EU-Kommission und rade noch gut genug!) leider auch die Bundesregierung die Lage und entschei- Ich komme zur Sache zurück. Über 25 000 Tonnen gif- den nur zögerlich. Man kann, man müsste, man sollte – tigen Schweröls sind durch den Untergang des Großtan- Fachmann dafür ist Bundesverkehrsminister Stolpe. kers „Prestige“ ins Meer und an die Küste gelangt. 50 000 (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Tonnen befinden sich noch in den Tanks. Das Wrack liegt Als in diesen Tagen der russische Öltanker „Minerva (B) in einer Tiefe von 3 600 Metern. Täglich strömen noch (D) große Mengen Öl aus. Die Ölpest ist nicht zu Ende. Die Nounou“ mit 100 000 Tonnen Rohöl im finnischen Meer Begrenzung der Katastrophe durch das Einschleppen der im Eis festsaß, hat es Moskau abgelehnt, einen Eisbrecher „Prestige“ in einen Nothafen hat es nicht gegeben, weil es zu entsenden. Dabei war die Lage überaus dramatisch. eine verbindliche Nothafenregelung weder national, Der in Griechenland registrierte Tanker war nur für Eis- noch europäisch, noch international gibt. stärken bis 30 Zentimeter zugelassen. Er hätte bei einer Eisdecke von 60 Zentimetern und einem Packeis von Seit den Unglücken der „Pallas“ und der „Erika“ ist 2 Metern gar nicht auslaufen dürfen. Nur unter großem dieser Tatbestand bekannt, als sich dänische und französi- Einsatz gelang es Finnland, die Fahrrinne freizumachen. sche Häfen weigerten, die Havaristen aufzunehmen. Vier Damit ist in letzter Minute eine Ölkatastrophe in der Ost- Jahre lang hat es durch die Bundesregierung Problembe- see verhindert worden. Einhüllentanker gehören nicht in schreibungen, aber keine wirklichen Problemlösungen die Ostsee! gegeben. Auch jetzt noch weigert sich Bundesminister Stolpe, Nothäfen zu benennen, obwohl ihn die EU-Kom- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- mission dazu verpflichtet hat. In einer Antwort auf meine neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Anfrage hat man mir gestern mitgeteilt, man sei dabei, und der FDP) Daten zu sammeln. Eine Benennung der angekündigten Die Verweigerung Russlands kann von niemandem ge- 40 Nothafenliegeplätze gibt es nicht. duldet werden. Gemeinsame Seesicherheit ist das Gebot Dabei hätte ein Ölunfall vom Ausmaß der „Prestige“ im für alle Ostseeanrainer. Dazu gehört auch ein verstärkter ökologisch hochsensiblen Wattengebiet der Nordsee ebenso Schutz bei Risikoschiffen vor terroristischen Angriffen verheerende Folgen wie im Fastbinnenmeer der Ostsee. Von und Piraterie. Der Terroranschlag auf den französischen einer solchen Katastrophe sind wir derzeit nur einen Wim- Tanker „Limbourg“ im Jemen hätte auch in Kiel oder pernschlag entfernt. Täglich passieren Risikogroßtanker im Cuxhaven passieren können. Das Attentat auf den US- Alter der „Prestige“ von 26 Jahren in der Kadetrinne zwi- Zerstörer „Cole“, bei dem 17 US-Soldaten ums Leben ge- schen dem dänischen Falster und dem deutschen Darß diese kommen sind, wäre auch in Warnemünde und Wilhelms- enge, gefährliche Zone. In dieser Gefahrenzone gibt es pro haven möglich gewesen. Jahr 65 000 Schiffsbewegungen, davon sind 8 200 Tanker. An Nord- und Ostseeküste registrieren wir jährlich Es ist eine der am stärksten befahrenen und eine der gefähr- mehr als 200 000 Schiffsbewegungen, im Nord-Ostsee- lichsten Schiffsrouten in Europa. Kanal fast 35 000. Weder das Havariekommando noch die Es gibt weder eine Meldepflicht noch eine Lotsenan- beiden Bundesküstenwachen, die Landesküstenwachen nahmepflicht, weder eine ausreichende Radarüberwa-und die Zentren der Wasserschutzpolizeien sind dafür 2180 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (A) ausreichend ausgerüstet und mit genügend Kompetenzen Vielleicht können wir aber noch einmal sozusagen bi- (C) ausgestattet. lateral über dieses Thema sprechen, damit Sie uns nicht vorwerfen, wir würden keine Nothäfen ausweisen. Es Die Union bleibt dabei: Wir benötigen mehr denn je muss immer eine Einzelfallentscheidung getroffen wer- eine nationale Küstenwache bzw. ein Seesicherheitszen- den. Havarierte Schiffe mit bestimmten Problemen kön- trum, das Bundesgrenzschutz und Bundesmarine mit nen nicht überall hingebracht werden. Insofern rate ich zu einschließt. Derzeit scheint die Bundesregierung aber mehr Gelassenheit. keine Kraft zu haben, durch einen Staatsvertrag oder eine Grundgesetzänderung dafür zu sorgen. Die Ostsee ist ein junges und flaches Gewässer, das erst vor ungefähr 17 000 Jahren entstanden ist. Die Küsten Die zunehmende Bedrohung durch terroristische sind einmalig. Es gibt Fjorde und Schärenküsten, die Bod- Anschläge, um die Seetransportkette zu zerstören, ver- denküste in Mecklenburg-Vorpommern, die Förde in langt aber auch eine Überprüfung der Trägerkompetenz. Schleswig-Holstein, das Kliff und die Ausgleichsküsten, Ist es eigentlich in Zukunft vertretbar, dass der Verkehrs- an denen man so schön am Strand liegen kann. Auch die minister dafür zuständig ist, oder wäre nicht eventuell der Haff- und Nehrungsküste gehört dazu. Bundesinnenminister mit seinen 30 Sicherheitsboten bes- ser dafür geeignet? Es ist also eine einzigartige Küste, die wir in zweifa- cher Hinsicht schützen müssen. Wir müssen sie aus öko- Auf jeden Fall gilt: Zur Sicherheit der Bürger, zumlogischen wie auch aus ökonomischen Gründen schützen. Schutz der Meere, zur Aufrechterhaltung des Seehandels Denn Küstenregionen sind bei uns in der Bundesrepublik und um unserer Verantwortung für eine intakte Umwelt traditionell strukturschwach. Deshalb kommt dem Touris- gerecht zu werden, benötigen wir eine Seesicherheit, die mus eine besondere Bedeutung zu. Gerade auch deshalb Safety and Security umfasst. müssen wir bei der Sicherheit auf der Ostsee hohe Maß- Danke schön. stäbe anlegen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der vorliegende Bericht gibt Auskunft über internatio- nale, nationale wie auch regionale Maßnahmen. Er gibt auch Auskunft über Maßnahmen, die sich derzeit in der Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Umsetzungsphase befinden. Wir haben schon viel er- Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärinreicht. So haben wir das Maßnahmenpaket Erika I bereits Angelika Mertens. vollständig umgesetzt und befinden uns derzeit in der Umsetzung von Erika II. Wir betreiben die Umsetzung mit Hochdruck und sind ebenfalls mit Hochdruck mit der Angelika Mertens, Parl. Staatssekretärin beim Bun- schnellen Umsetzung des im Dezember vergangenen Jah- (B) (D) desminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: res vom Europäischen Rat beschlossenen Maßnahmenpa- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- kets zu mehr Sicherheit auf See befasst. ren! Lieber Herr Börnsen, man könnte fast glauben, den Wir ziehen also durchaus Konsequenzen aus den Ostseeverkehr gäbe es erst seit 1998. schweren Schiffsunglücken, vor allen Dingen aus dem der (Annette Faße [SPD]: Sehr richtig!) „Prestige“. Diese Maßnahmen werden sich auch nachhal- tig auf die Ostsee auswirken. Sie reagieren mit einer Aufgeregtheit, Schärfe und Bitter- keit, die ich aus Ihrer Sicht fast verstehen kann. Ich habe Neben der bereits erwähnten Beschleunigung der be- nämlich in den Debatten über die Schiffssicherheit aus schlossenen Maßnahmen wurden und werden weitere den vergangenen Jahren nachgelesen. Dabei ist mir eine Schritte unternommen, zum Beispiel die Optimierung der Debatte aus dem Jahre 1993 besonders aufgefallen, in der Schiffswegeführung in der Kadetrinne. Im Rahmen die- Sie ähnliche Forderungen wie eben erhoben haben. ser Maßnahme wurde eine Verlängerung des Verkehrs- trennungsgebietes vorgenommen, die auch von der IMO (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sehr ordent- angenommen wurde. Diese Regelung trat schon im Januar lich!) letzten Jahres in Kraft. Es handelt sich um so etwas wie In Ihrer Fraktion sind Sie damit jedoch nicht durchge- einen virtuellen Mittelstreifen. Er hat sich bis jetzt wirk- drungen. lich bewährt; seitdem ist dort nichts mehr passiert. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Börnsen, jetzt werden Es bleibt aber immer ein Restrisiko. Dieses Restrisiko Sie eingeholt!) noch weiter zu minimieren muss eine vordringliche Auf- gabe sein. Wir streben deshalb eine Lotsannahmepflicht Sie können aber jetzt ganz entspannt zuhören, wenn ich für Tankschiffe in der Kadetrinne und auch auf anderen vortrage, welche Maßnahmen wir ergriffen haben. kritischen Schifffahrtswegen an. Zu den Nothäfen möchte ich anmerken – ich habe die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Unterlagen gestern unterschrieben –, dass wir keine Not- DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hans-Michael häfen ausweisen. Das macht übrigens mit Ausnahme von Goldmann [FDP]) Norwegen niemand. Wir haben Ihnen in unserer Antwort Daher begrüßen wir natürlich auch den Antrag, der ges- deutlich gemacht, dass wir Notliegeplätze vorhalten. Da tern im Ausschuss gestellt wurde. Sie von der Küste stammen, ist Ihnen sicherlich bekannt, dass jede Reede und jeder Hafen als Notliegeplatz dienen (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Gemein- können. sam!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2181

Parl. Staatssekretärin Angelika Mertens (A) – Den gemeinsamen Antrag; genau, Herr Goldmann. – Im dass unsere Wasserwege, dass unser maritimer Sektor ins- (C) Interesse aller Ostseeanrainer ist es, zum Beispiel so ge- gesamt Sicherheit ausstrahlt. nannte unternormige Schiffe von der Ostsee fernzuhalten. Mein Redebeitrag folgt dem Motto: Wir sind auf einem (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ guten Wege – ich betone das „wir“ –, aber wir müssen DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hans-Michael noch besser werden. Ich bin froh darüber, dass die FDP- Goldmann [FDP]) Fraktion ihre Oppositionsrolle bei der anstehenden Auf- gabenstellung besonders engagiert wahrgenommen hat. Ein großer Erfolg ist die weltweit verbindliche Ein- führung der Pflicht zur Ausrüstung mit einem automati- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Wolfgang schen Schiffsidentifizierungssystem. Tankschiffe wer- Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]) den ab 1. Juli dieses Jahres damit ausgerüstet sein müssen, Wir haben viele Kleine Anfragen und Anträge gestellt und alle anderen spätestens bis Dezember 2004. Die landge- Kongresse durchgeführt. Heute können wir gemeinsam stützten AIS-Stationen werden voraussichtlich bis Ende feststellen, dass SPD und Grüne wie auch CDU/CSU und 2003 in Betrieb gehen; so lange wird Warnemünde diese FDP den richtigen Weg eingeschlagen haben. Erste Aufgabe übernehmen. Schritte haben bereits zu Verbesserungen geführt. Wir ha- Wir haben internationales Lob für die Einrichtung ei- ben aber auch noch viel zu tun; Kollege Börnsen hat das nes Havariekommandos bekommen. Frau Kollegin am Beispiel der Einhüllentanker deutlich gemacht. Ich bin Annette Faße wird darüber sicherlich noch Auskunft ge- mit ihm einer Meinung, weise aber darauf hin, dass die ben, zumal dieses Kommando in Cuxhaven angesiedelt Umsetzung nicht ganz so einfach wie die Verkündung der ist. Botschaft ist. ( [CDU/CSU]: Das ist das Im Bereich der IMO, der Internationalen Maritimen Schöne daran!) Organisation, sind wir Vorreiter geworden. Das ist eine gute Entwicklung. Wir müssen um eine Lotsannahme in Es gab noch nie eine so gute Ausstattung wie jetzt; dies der Kadetrinne kämpfen. Ich denke, darin sind wir uns gilt für Nord- und Ostsee. völlig einig. Wir haben aber zum Beispiel auch eine (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hans- höhere Eigentümerverantwortung bei der Entsorgung der Michael Goldmann [FDP]) Schiffswracks erreicht. Bei den Notfallschleppern sind wir ebenfalls auf einem richtigen Weg. Ich bin froh, dass In der Ostsee sind zwei moderne Notschlepper in Rostock- wir den Kampf um den Tiefgang erfolgreich abgeschlos- Warnemünde und Saßnitz stationiert. Ich habe mir neulich sen haben und dass die unsinnige Tiefgangsbeschränkung die „Fairplay 26“ angesehen; sie ist ein sehr interessantes von sechs Metern gefallen ist. Auch bin ich froh, dass wir (B) Schiff. Ein Notschlepper ist in der Kieler Förde statio- (D) bei den Hafenstaatkontrollen eine gute Bilanz vorzuwei- niert. Hinzu kommen die „Scharhörn“ und der Neubau ei- sen haben und bei den Notliegeplätzen wohl ebenfalls auf nes notschleppfähigen Mehrzweckschiffes, das wir im dem richtigen Wege sind. Es könnte in diesem Bereich al- Jahre 2004 in Betrieb nehmen wollen. lerdings noch ein bisschen konkreter, handfester und Ich wünsche mir noch mehr Prävention, damit die Be- praktischer werden. satzungen der eben genannten Schiffe, der Schlepper auf Bei der Sicherheitsfragestehen wir vor neuen He- der Nordsee sowie der Schiffe der Deutschen Gesellschaft rausforderungen. Sie wissen, dass unsere Häfen Anstren- zur Rettung Schiffbrüchiger nicht nur jederzeit eine gungen unternehmen müssen, um der Terrorismusgefahr Handbreit Wasser unter dem Kiel, sondern möglichst auch zu begegnen. Dadurch kommen Kosten auf die Hafenbe- immer eine ruhige Wache haben. treiber und natürlich auch auf diejenigen zu, die diese Hä- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ fen anlaufen. Es berührt mich schon sehr, dass nun auch DIE GRÜNEN) in deutschen und europäischen Häfen Großcontainerkon- trollen durchgeführt werden müssen. Auch angesichts dessen sollten wir nicht auseinander driften, sondern Ge- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: meinsamkeit in der Sache herstellen, um diesen Bereich Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Goldmann von so sicher wie möglich zu gestalten: zum Wohle unseres der FDP-Fraktion. Landes, zum Wohle der Umwelt und auch zum Wohle der Schifffahrt insgesamt. Hans-Michael Goldmann (FDP): (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erst einmal möchte ich der Deutschen Seeree- Lassen Sie mich noch ein Wort zumHavariekom- derei in Rostock, die heute einen parlamentarischenmando sagen. Wir finden es gut, dass es das Havarie- Abend durchführt, zu ihrem 50-jährigen Jubiläum herzli- kommando gibt. Wir werden im Mai einen Kongress dazu che Glückwünsche aussprechen. durchführen; ich werde Kollegen, die sich mit dem mari- timen Bereich befassen, zur Teilnahme daran einladen. Wir (Beifall) werden danach ein Fazit ziehen müssen, ob wir den Weg mit Dieser Anlass passt deshalb gut zu unserem heutigendem Havariekommando weiter beschreiten oder ob wir Thema, weil es um die Sicherheit der in diesem Bereich eventuell zu der von Ihnen, Herr Börnsen, angesprochenen tätigen Menschen und Unternehmen geht. Dazu gehört, nationalen Küstenwache kommen. Diesbezüglich gibt es 2182 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Hans-Michael Goldmann (A) sicherlich unterschiedliche Positionen. Mir geht es imwir darüber geführt haben, wissen Sie, dass wir in Bezug (C) Grunde genommen darum, dass wir gemeinsam für ein auf die Erfordernisse der Schiffssicherheit deckungsglei- Durchgriffsrecht des Chefs des Havariekommandos sor- che Positionen haben. 80 bis 85 Prozent dessen, was die gen, damit klar ist, dass eine von ihm gegebene Anwei- CDU/CSU in ihrem Antrag hier vorgelegt hat, können wir sung zum Einschreiten gilt und umzusetzen ist. unterschreiben. Das Problem ist jedoch, dass Sie diese (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Debatten immer noch dazu benutzen, populistisch zu der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS- agieren. SES 90/DIE GRÜNEN) Die Ausführungen in dem CDU/CSU-Antrag zu dem Alle vor Ort müssen dann wissen, dass der Mann befugt Havariekommando in Cuxhaven sind in der Sache falsch. ist, Anweisungen zu geben. Auch die rechtlichen und ver- Die Beschimpfungen in Richtung der schleswig-holstei- sicherungsrechtlichen Bedingungen sind so auszugestal- nischen Landesregierung sind so falsch wie überflüssig. ten, dass sich dies so effektiv durchsetzen lässt, wie wir es Auch das, was Sie zum Standort der europäischen uns gemeinsam wünschen. Schiffssicherheitsagentur, der EMSA, sagen, geht an der Sache vorbei. Wenn Sie all das rausgelassen hätten, hät- Im Zusammenhang mit dem Gesichtspunkt Sicherheit ten wir uns auch verständigen können, denn wir sind uns dürfen wir den Bereich der Ausbildungsqualität derjeni- ja einig: gen, die auf den Schiffen fahren, nicht aus den Augen ver- lieren. IMO-Übereinkommen sind gut, aber wir müssen Die Häfen in Europa werden in jedem Jahr von Schif- sicherlich noch einmal darüber nachdenken, ob dasfen mit einer Gesamtladung von 800 Millionen Tonnen Öl STCW-Übereinkommen in seiner Ausrichtung so klug angelaufen. Der gefährlichste und giftigste Teil dieser angelegt ist, wie es notwendig ist. Fracht, 15 Prozent von diesen 800 Millionen Tonnen, sind Schweröle, also schwere Heizöle und schwere Rohöle. Die CDU/CSU hat heute einen Antrag zum „Prestige“- Auf diesen Schiffen befindet sich im Grunde genommen Unglück vorgelegt. Ich habe im Lexikon nachgesehen, Sonderabfall und je giftiger die Fracht ist, desto älter und was Prestige bedeutet, wenn es keine Schiffsbezeichnung unsicherer sind die Pötte, auf denen die Fracht befördert ist. Positiv ausgedrückt bedeutet es Ansehen und Geltung, wird. Das ist ein unerträglicher Zustand. Die Sicherheit negativ ausgedrückt bedeutet es Blendwerk. Ich wähle der Schiffe auf unseren Meeren ist mit dem Begriff den Mittelweg: In dem Antrag stehen viele schöne Dinge; „Russisches Roulette“ zum Teil noch sehr harmlos um- wir aber sollten das Machbare schnellstens realisieren. schrieben. Lassen Sie uns gemeinsam für die ökonomischen Wei- Wir müssen alle gemeinsam die Sicherheitsstandards chenstellungen auf der Basis von mehr Sicherheit arbei- erhöhen. Das ist überhaupt keine Frage. Deshalb bin ich ten. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass der maritime (B) froh, dass wir heute einen gemeinsamen Antrag vorliegen (D) Bereich für Deutschland einer der großen Zukunftsberei- che überhaupt ist. Dieser Bereich muss sicher sein; nur haben. Ich weiß auch Ihre Initiative, Herr Börnsen, sehr dann kann er seine Qualität entfalten. zu schätzen. Herzlichen Dank. Ich möchte Ihnen zur Illustration einen kurzen Auszug aus einem Bericht in der „Deutschen Schifffahrtszeitung“ (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie über einen Prozess vorlesen. Darin wird ein Kapitän be- bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNIS- fragt, der sagt: SES 90/DIE GRÜNEN) Ich hatte keine Ahnung, dass das Wrack dort lag. Ich sah einige Leuchttonnen, verstand aber deren Bedeu- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: tung nicht und warum sie dort lagen. Ich versuchte, Das Wort hat jetzt der Kollege Rainder Steenblock von den Kurs nach Steuerbord zu ändern. Die Sicht war Bündnis 90/Die Grünen. normal und ich konnte Brandung sehen. Plötzlich wusste ich, dass es sich um ein Wrack handeln (Werner Kuhn [Zingst] [CDU/CSU]: Das ist ein musste. Mann, der eine leidvolle Erfahrung hinter sich hat! Das war die Aussage des Kapitäns der „Vicky“ – der Tanker war mit 70 000 Tonnen Kerosin beladen –, die vor wenigen Wochen auf das Wrack der „Tricolor“ aufgelau- Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- fen ist. So hat der Kapitän die Situation wahrgenommen. NEN): Das kann nicht wahr sein. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kol- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!) lege Börnsen, wir wissen, dass Sie ein begnadeter Frei- zeitkabarettist sind. Es macht wirklich immer wieder Deshalb muss die Frage danach, was auf den Schiffen Spaß, Ihnen an dieser Stelle zuzuhören. los ist – der Kollege Goldmann hat das bereits angespro- chen –, ernsthaft aufgegriffen werden. Häufig sind die (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Sie soll- Schiffe sicher, aber die Besatzung ist nicht in der Lage, ten die Sache etwas ernster nehmen, Herr Kol- Gefahrensituationen zu erkennen. So war es im Ärmelka- lege!) nal, aber auch in der Kadetrinne in der Ostsee, obwohl Unser Problem besteht nicht darin, dass wir in den Zielen dort jede halbe Stunde gewarnt wird. Kapitäne und Be- nicht übereinstimmten. Aufgrund der vielen Debatten, die satzungsmitglieder, die nicht in der Lage sind, gefährliche Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2183

Rainder Steenblock (A) Situationen richtig einzuschätzen, gehören nicht auf sol- Gestatten Sie mir zum Schluss noch eine Bemerkung: (C) che Schiffe. Bei der Begeisterung für denSchutz unserer Mee- resumwelt durch verstärkte Anforderungen bei der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schiffssicherheit sollten wir nicht außer Acht lassen, dass und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der die größte Belastung für unsere Meeresumwelt aus der At- CDU/CSU und der FDP) mosphäre und aus den Flüssen kommt. Aus ihnen kom- Die Schiffsbesetzungsverordnung betrifft also eine men die Hauptschadstoffe, die immer noch jeden Tag zentrale Frage. Die EU ist auf dem Weg, die Mindestan- chronisch eingeleitet werden. Leider ist unsere Medien- forderungen an Zeugnisse von Seeleuten aus Drittländern landschaft nicht so, dass die chronischen Beeinflussun- anzuheben. Darüber hinaus brauchen wir aber auch Ver- gen, also das alltägliche Leiden unserer Meere, die ihnen einbarungen, um die Sprachanforderungen an die Schiffs- gebührende Aufmerksamkeit erhalten, sondern nur die besatzungen zu erhöhen. Es kann nicht sein, dass auf den Skandale. Aber wir sollten das nicht außer Acht lassen, Schiffen keine Kommunikation zwischen den Beschäftig- wenn wir die Ursachen der Meeresverschmutzung ernst- ten möglich ist. Es kann nicht sein, dass zwischen den haft bekämpfen wollen. Schiffen oder zwischen Schiff und Land keine Kommuni- kation möglich ist. Deshalb müssen wir gemeinsam mit Vielen Dank. der EU an dieser Stelle nachbessern. Solche Ausbil- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dungsdefizite dürfen auf den Hightech-Tankern nicht vor- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der handen sein. Während die Technologie auf den Schiffen FDP) immer weiter entwickelt wurde, sind die Qualitätsanfor- derungen an das Personal immer weiter gesunken. Das kann so nicht weitergehen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- Das Wort hat jetzt der Kollege Werner Kuhn von der wie bei Abgeordneten der SPD und der FDP) CDU/CSU-Fraktion. An dieser Stelle sollten wir uns gemeinsam bemühen; (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) das Argument mit der Konkurrenz darf nicht mehr Platz greifen. Hierbei spielt auch das Ausflaggen eine große Werner Kuhn (Zingst) (CDU/CSU): Rolle. Wir müssen möglichst viele Schiffe unter deutscher Flagge behalten; dazu müssen wir aber die wirtschaftli- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und chen Rahmenbedingungen im Auge behalten und dieKollegen! Ich habe sehr aufmerksam verfolgt, wie die Standards bezüglich der Qualifikation innerhalb der EU Frau Kollegin Staatssekretärin in ihrer Rede die Schiffs- (B) angleichen. sicherheit auf der Ostsee beschrieben hat. Das hat mich (D) schon beeindruckt; denn während Sie behauptet haben, Darüber hinaus brauchen wir den Zugriff auf die Flag- man habe alles im Griff – ich füge hinzu: auf einem sin- genstaaten. Deshalb bin ich sehr dafür, ein externes Au- kenden Schiff –, bin ich der Meinung, dass hier Gefahr im dit vorzuschreiben. Bemühungen dazu gibt es in der IMO Verzug ist. Auf der Ostsee gibt es ständig 30 Tanker. 60 Tan- bereits. Diese sollten wir unterstützen. Ein externes Audit, ker werden kontinuierlich beladen; in den Häfen und auf das die Flaggenstaaten bei der Wahrnehmung ihrer Auf- See. Einer davon ist unter Garantie – das haben die wilden gaben kontrolliert, wird dazu führen, dass die Konkur- Gesellen von Greenpeace anhand ihrer statistischen Erhe- renz, die heute mit Dumpingstandards auf ihren Schiffen bungen nachgewiesen – ein so genannter Einhüllentanker die Sicherheit unserer Küsten gefährdet, internationalmit einem technischen Standard, wie ihn die „Prestige“ ausgeschlossen wird und die Flaggenstaaten tatsächlich hatte. Ich sage Ihnen – Herr Steenblock hat das richtig ihre Verantwortung übernehmen. dargestellt –: Wir spielen russisches Roulette; denn es ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- nur eine Frage der Zeit, bis das nächste Tankerunglück mit wie bei Abgeordneten bei der SPD und der noch nie da gewesenen wirtschaftlichen und ökologi- FDP) schen Schäden auf der Ostsee geschehen wird. Deshalb muss schnell gehandelt werden. Lassen Sie mich noch einige Stichworte anfügen: Es gibt die Ausweisung von PSSA-Gebietenmit der Mög- (Beifall bei der CDU/CSU – Reinhard Weis lichkeit, dort regulierend einzugreifen, bereits für die [Stendal] [SPD]: Dass Sie sich hier echauffie- deutsche Nordseeküste. Diese sollten wir auch in der Ost- ren, ändert nichts daran! Was soll diese künstli- see verstärkt ausweisen, um besondere Auflagen für die che Aufregung?) Schifffahrt durchzusetzen. Ich habe die Situation im Ausschuss so beschrieben, Daneben müssen wir die Hafenstaatkontrollen – auch wie ich sie wahrgenommen habe, als die „Prestige“ vor das ist schon gesagt worden – deutlich ausweiten. Darüber der galizischen Küste auseinander gebrochen ist und hinaus sollten wir die Häfen in den baltischen Ländern 35 000 Tonnen Schweröl die wunderbaren Strände und die – ich stimme mit dem überein, was zu Russland gesagt Fischgründe verseucht haben. Auch den Menschen an der worden ist – stärker unterstützen, damit sie in die Lage Ostsee, zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern und versetzt werden – sie wollen die Hafenstaatkontrolle aus- in Schleswig-Holstein, stockte der Atem, als sie festge- üben, aber sie müssen dabei von uns verwaltungsmäßig stellt haben, dass die „Prestige“, die in einem russischen unterstützt werden –, diese strengen Kontrollen selber Erdölhafen betankt wurde, die Ostsee durch die Kadet- durchzuführen. rinne, einen der kompliziertesten Schifffahrtswege der 2184 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Werner Kuhn (Zingst) (A) Weltmeere, überquert hat. Wir haben großes Glück ge- – Das ist eben noch nicht geregelt; sonst wäre (C) die habt, dass dieses Schiff nicht vor unseren Küsten ausei- „Acushnet“ im Kattegat nicht auf Grund gelaufen. Kein nander gebrochen ist und dass sich nicht 35 000 Tonnen Mensch wusste genau, welche Ladung sie hat, welche Schweröl zwischen Darßer Ort und Gedser ausgebreitet Route sie eingeschlagen hatte, wie die Besatzung ausge- haben. Wenn das geschehen wäre, dann hätten Sie zu Fuß bildet ist, ob eine Hafenstaatkontrolle stattgefunden hat nach Dänemark laufen können. Man kann also nicht ein- und ob es ein GPS-System gibt, ohne das man in Amerika fach behaupten, dass wir alles im Griff hätten, auch wenn überhaupt nicht mehr arbeiten kann. wir über entsprechende Schleppkapazitäten und Öl- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und bekämpfungsschiffe verfügen. Hier muss sofort gehandelt der FDP – Annette Faße [SPD]: Das ist viel- werden. Solche Tanker gehören auf die schwarze Liste und leicht eine unglaubwürdige Debatte hier!) müssen mit sofortiger Wirkung verboten werden. – Das ist keine unglaubwürdige Debatte. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich muss darauf hinweisen, dass ich überhaupt nicht In dem Bericht der Bundesregierung wird Bedauern verstehen kann, dass Herr Methling als Umweltminister über das Desaster bei der Havarie der „Baltic Carrier“ von Mecklenburg-Vorpommern einer der Avantgardisten geäußert, die sich im Jahr 2001 in der Kadetrinne ereig- auf dem Gebiet der Offshore-Windkraftanlagen ist. Ich nete. Darin steht weiter, dass man sofort etwas tun müsse. halte diese Anlagen zwar für technisch vertretbar; aber ich Ich kann dazu nur sagen: Hier ist Deutschland noch ein- kann überhaupt nicht verstehen, dass in unmittelbarer mal mit einem blauen Auge davongekommen. Wenn der Nähe der Kadetrinne eine solche Anlage gebaut werden Wind anders gestanden hätte, dann wären unsere Strände soll. Sie ist ein zusätzliches Sicherheitsrisiko, mit dem wir verschmutzt gewesen. Vor den dänischen Stränden ergos- uns in Mecklenburg-Vorpommern überhaupt nicht einver- sen sich damals 2 700 Tonnen Schweröl und Masut ins standen erklären können. Meer. Das war die größte Ölkatastrophe, die die Dänen je zu bewältigen hatten. Was lernen wir daraus? Die Bun- Angesichts der Probleme, die bei der Kontrolle dieser desregierung hat bisher keine Aktivitäten gezeigt. BisTanker in den schwierigen Fahrwassern bestehen, ist jetzt wurde keine Taskforce eingerichtet und es gab auch natürlich nicht nur eine ausreichende Schleppkapazität keine wirkungsvolle Konferenz mit allen Ostseeanrainer- notwendig; vielmehr brauchen wir für den Katastrophen- staaten. Eine solche Konferenz müsste die Russische Fö- fall auch mehrere funktionsfähige Ölauffangschiffe, un- deration zwingen, nicht nur ihre Erdölhäfen auszubauen, abhängig davon wie viel Öl ausläuft. Die „Strelasund“ ist sondern auch keine Seelenverkäufer für den Transport auf einer rheinland-pfälzischen Werft gebaut worden. Sie von Erdöl auf den Weltmeeren einzusetzen. liegt jetzt leider in Stralsund an der Kette und kann nicht zum Einsatz kommen. Herr Minister, dort ist Gefahr im (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie wissen doch, (B) Verzug. Sie müssen alles daransetzen, dass sämtliche(D) dass die gar nicht mehr im Markt sind!) Garantieleistungen sofort erbracht werden. Wir können es – Das ist der entscheidende Punkt, Herr Goldmann. Das nicht hinnehmen, dass die mecklenburg-vorpommerische hat nur wenig mit dem Unglück der „Prestige“ zu tun. Küste einem solchen Sicherheitsrisiko ausgesetzt wird. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das wird Wir fordern das sofortige Verbot des Fahrens von der Sache nicht gerecht!) Einhüllentankern auf der Ostsee. Wir brauchen eine United Coast Guard in der Europäischen Union.Sie Sie müssen sich einmal vorstellen, wie die Menschen soll es schließlich in der Zukunft geben. Sie sagen, es han- in Mecklenburg-Vorpommern – das ist eine sehr struk- dele sich dabei um eine unglaubwürdige Forderung. Wo turschwache Region –, deren einziges Faustpfand für die sind Ihre Aktivitäten, bitte schön? Wenn es eine United wirtschaftliche Entwicklung die Naturschönheiten der Coast Guard gäbe, dann hätte die Bundesmarine am Ostseeküste sind und die darauf ihre gesamten wirtschaft- Skagerrak eine richtige Aufgabe. Sie würde verhindern, lichen Aktivitäten ausgerichtet haben, auf solche Kata- dass Einhüllentanker auf der Ostsee fahren. strophen reagieren, während sie täglich die Nachricht in den Medien lesen und hören, dass der Transport von Unsere Forderungen lauten: Verbot der Einhüllentan- Schweröl mit Tankern auf der Ostsee zunimmt. Es muss ker, Lotsenpflicht für die Kadetrinne und sofortiger Voll- zug aller notwendigen Maßnahmen, damit die deutsche deshalb sofort die Lotsenpflicht in der Kadetrinne ein- Ostseeküste geschützt wird. geführt werden. Ich sage Ihnen: Wellen und Wogen ru- schen wie mien Weigenlied. Ich bin in Zingst, also in un- Herzlichen Dank. mittelbarer Nähe der Ostsee, zur Welt gekommen. Von (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- dort aus ist die Kadetrinne nur einen Steinwurf entfernt. wie bei Abgeordneten der FDP) Sie müssen verstehen, dass die Menschen an der Küste Sorge um ihre Existenz haben. Deswegen müssen wir so- fort eingreifen. Ich fordere nicht nur das Einsetzen einer Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Taskforce, sondern auch einflächendeckendes Über- Das Wort hat jetzt die Kollegin Annette Faße von der wachungssystem, das auf den Hauptschifffahrtslinien SPD-Fraktion. Radare einsetzt. Wir sind uns völlig einig darüber, dass man nachvollziehen können muss, wo sich diese Frachter tatsächlich bewegen. Annette Faße (SPD): (Angelika Mertens, Parl. Staatssekretärin: Das Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich ist doch alles schon geregelt!) erinnere mich sehr gut an Debatten über dieses Thema, als Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2185

Annette Faße (A) wir in der Opposition waren. Damals haben wir, Gila Die „Neuwerk“ hat vor der Küste Spaniens sehr(C) Altmann und ich, für den Hochseeschlepper „Oceanic“ schwere Arbeit geleistet. Ich sage an dieser Stelle noch gekämpft. Damals wurde sehr in Zweifel gezogen, dass einmal ein herzliches Dankeschön an die Besatzung für wir ein solches Schiff überhaupt brauchen. Es hieß – da- die außergewöhnliche Leistung. Ich begrüße es sehr, dass ran erinnere ich mich sehr gut –: Unsere Konzepte für Minister Stolpe demnächst auch nach Cuxhaven kom- die Nordsee sind super; es besteht kein Handlungsbe- men wird, um den Menschen dort ein Dankeschön zu sa- darf. gen. Heute ist Deutschland nicht nur in der EU, sondern (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ weltweit Vorreiter auf dem Gebiet der Schiffssicherheit. DIE GRÜNEN – Hans-Michael Goldmann Dass wir das erreicht haben, liegt an unserer konsequen- [FDP]: Dann soll er zur WSD Nord gehen!) ten Politik in den letzten viereinhalb Jahren. Darauf soll- Ich möchte noch speziell zu zwei Punkten Stellung ten wir stolz sein. nehmen, die aus dem Acht-Punkte-Programm von Minis- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ter Stolpe, das er in die EU eingebracht hat, hervorzuhe- ben sind. Ein Punkt betrifft dieNotliegeplätze . Lassen Prävention vor Schadensbekämpfung ist selbstver- Sie uns diesen Begriff verwenden. „Nothäfen“ ist ein ständlich. Im Hinblick auf alle Anträge, die wir hier mit- falscher Begriff, weil es wirklich immer von der Situation einander diskutiert und beraten haben, bestand in diesem abhängen wird, wo man ein Schiff sicher parken oder Punkt immer Konsens. Man sollte hier daher heute nicht auch ver- oder entsorgen kann. Wir müssen auch auf dem so tun, als würde man etwas Neues erfinden. Gebiet der Forschung und Technologie vorankommen Ich möchte Herrn Börnsen und Herrn Kuhn daran er- und eine Technologie entwickeln, die es ermöglicht, ein innern, dass ein von der SPD eingebrachter Antrag, der Schiff, das gesunken ist, unter Wasser zu entladen, auch sehr viel umfassender war als der, der heute zur Abstim- wenn die Ladung aus Öl besteht. Wir merken jetzt bei der mung steht, mit den Stimmen von CDU/CSU beschlossen „Prestige“, dass es da große Probleme gibt, dass wir da worden ist. Das war bei allen Anträgen, die wir bisher be- technologisch noch nicht so weit sind. raten haben, das erste Mal, was ich auch hoch achte. Nur Die Forderungskataloge liegen aufEU-Ebene und sollte man sich auch daran erinnern, was man hier be- sehr wohl auch derIMO vor. In dem Zusammenhang schlossen hat. Unter anderem ist darin genau aufgelistet muss ich Herrn Kuhn noch etwas sagen. Man kann das worden, was die Bundesrepublik Deutschland bisher ganz Rechtsverständnis, das Sie, Herr Kuhn, haben, fast schon konsequent und ganz konkret getan hat. Angesichts des- belächeln. Sie tun so, als ob Deutschland dazu mal eben sen halte ich es schon für ein Stück Unverfrorenheit – das so Beschlüsse fassen könnte. Sie wissen aber, dass wir das sage ich noch einmal deutlich –, wenn sich einige heute (B) nicht können. Sie wissen, dass wir an EU-Recht und auch (D) hier hinstellen und sagen, es sei nichts geschehen. Das ist an internationales Recht gebunden sind. Wenn Deutsch- schlicht und einfach falsch. land hier allein handeln könnte, sähe die Situation anders (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Silke aus. Ich gebe allerdings allen Recht, die sagen: Wir müs- Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sen konsequenter Druck machen – auf die EU, aber auch NEN]) auf die IMO. Auf nationaler Ebene haben wir zum 1. Januar dieses Die Fragen im Zusammenhang mit dem Umgang mit Jahres das Havariekommandoeingerichtet. Da kann einem Wrack haben mich – das muss ich deutlich sagen – man fragen, warum das nicht schneller gegangen ist. Auch erschüttert. Bisher kann der Schiffseigentümer nach ei- wir hätten das gern ein bisschen schneller gehabt, nur ist nem Unfall außerhalb der Hoheitsgewässer das Eigentum es natürlich nicht einfach, so etwas zu konzipieren. Wir an dem zum Wrack gewordenen Schiff oder an gesunke- haben gesagt: Wir wollen keine Grundgesetzänderung, nen Ladungsteilen schlicht und einfach aufgeben. Er sagt sondern wir wollen Vereinbarungen schließen. Jedes Bun- lediglich: Das gehört mir jetzt nicht mehr. Damit kann er desland hat seine eigenen Regeln für solche Vereinbarun- sich zulasten des betroffenen Küstenstaates jeder Verant- gen. Es sind umfangreiche Verhandlungen mit den Län- wortung für die Bergung entziehen. dern geführt worden, mit dem letzten Land im Dezember letzten Jahres. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wir haben gemeinsam mit den Ländern besonders die Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin. Brandschutzstrukturen in der Ostseeverändert. Wir haben das Verkehrstrennungsgebiet für die Ems, die Jade, die Weser, die Elbe und auch für die Kadetrinne einge- Annette Faße (SPD): richtet. Es ist also nicht so, dass wir auf nationaler Ebene Diese Lücke im internationalen Seerecht muss ge- nicht gehandelt haben. Ich möchte gar nicht auf alle an- schlossen werden. deren Punkte hinweisen, aber auch mit Polen haben wir bilaterale Verträge geschlossen. Wir haben das erste Mal (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ein Schlepperkonzept für Nord- und Ostsee aufgestellt; Ich gehe davon aus, dass wir zu der großen Gemein- das gab es vorher nicht. Die Ausschreibungen für die Auf- samkeit, die bei dem Thema eigentlich bestand – eine träge für die nächsten Schiffe, die wir dann entweder char- Ausnahme bildet die CDU/CSU in dieser öffentlichen De- tern oder erwerben werden, laufen. Angesichts dessen zu batte –, beim Schutz der Küsten zurückfinden und unsere sagen, es sei nichts passiert, ist falsch. Arbeit weltweit konsequent fortführen werden. 2186 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Annette Faße (A) Danke schön. Dr. Wolfgang Methling,Minister (Mecklenburg- (C) Vorpommern): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hans-Michael Ja, gerne. Goldmann [FDP]) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr von Klaeden, bitte. Das Wort hat jetzt der Umweltminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Dr. Wolfgang Methling. Eckart von Klaeden (CDU/CSU): (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Herr Minister, Sie haben gerade erklärt, dass der Ver- käufer eines Fahrzeuges für den technischen Zustand ver- Dr. Wolfgang Methling,Minister (Mecklenburg- antwortlich sei. Sind Sie nicht mit mir der Ansicht, dass Vorpommern): der Käufer und Halter des Fahrzeuges für den technischen Zustand eines Kfz verantwortlich ist? Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ren! Ich darf mich zunächst sehr herzlich für die Mög- lichkeit bedanken, an Ihrer Debatte teilzunehmen und Er- Dr. Wolfgang Methling,Minister (Mecklenburg- fahrungen und Positionen aus Mecklenburg-Vorpommern Vorpommern): hier einzubringen. Es geht um ein neues Schiff. Ich kann wie bei der Diskussion zum Bundesnatur- (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das war ja schutzgesetz feststellen: Ich fühle mich wie zu Hause. Die Ihr Beispiel!) Diskussionen laufen hier ganz genau wie zu Hause. Die CDU-Opposition trägt laufend vor, welche Versäumnisse Ich will nicht sagen, dass es in Mecklenburg-Vorpom- der im Moment verantwortlichen Regierung zu beklagen mern vielleicht besser gebaut worden wäre. Fest steht seien. Die rot-grüne Regierung in Berlin und die rot-rote aber, dass es um Mängel geht, die abgestellt werden müs- Regierung in Schwerin sind scheinbar dafür verantwort- sen. Ihre Devise, die Sie auch an anderen Stellen wählen lich zu machen, dass die Schiffssicherheit seit 1998 so ge- – Sie rufen „Haltet den Dieb!“ und zeigen auf den Falschen –, kann wohl nicht zielführend sein. fährdet ist. In Mecklenburg-Vorpommern kommt noch hinzu, dass ein PDS-Politiker als Umweltminister Verant- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktions- wortung trägt. los] und der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) (B) (D) Herr Kollege Kuhn, wir kennen uns aus manchen Dis- Es gibt mit Sicherheit Nachbesserungsbedarf. Ich kussionen. Was Sie vorgetragen haben, klingt wie Revol- glaube, da sind wir uns alle einig. Die häufigen Havarien verheldentum. Das muss ich Ihnen wirklich sagen. und Fasthavarien – letztere machen mir noch mehr Sor- gen – machen das immer wieder überdeutlich. Zur Fair- (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der ness würde gehören, dass Sie, meine sehr geehrten Damen SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und Herren von der CDU-Opposition, an Versäumnisse in sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktions- Ihrer eigenen Regierungszeit denken. Denn manche Pro- los] und der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) bleme, die wir jetzt zu lösen haben, gehen auf Versäum- Sie wissen, dass es andere Verhältnisse gibt. Auf dienisse, die Sie zu verantworten haben, zurück. Windkraftargumentation will ich hier gar nicht eingehen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Werner Kuhn [Zingst] [CDU/CSU]: Was ist BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der mit der „Strelasund“, Herr Minister? Sagen Sie Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos] und der doch einmal!) Abg. Petra Pau [fraktionslos]) – Wissen Sie, ich bin ganz erstaunt, dass man einen Auto- Ich bin seit 1998 im Amt und weiß sehr wohl, welche käufer, der ein schlechtes Auto kauft, dafür verantwortlich Versäumnisse existieren. Ich kenne auch die Gründe, die macht, dass das Auto schlecht ist. Nein, den Autobauer dazu geführt haben. muss man zur Verantwortung ziehen. Das tun wir und das (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Sie sind wissen Sie, Herr Kuhn. genau der Richtige dafür!) (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktions- Diese Gründe erwähnen Sie nur, wenn Sie selbst in der los] und der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Verantwortung sind, und nicht, wenn andere in der Ver- Ich finde es wirklich absonderlich, dass wir laufend antwortung sind. solche Diskussionen führen. Fast alle Diskussionsredner Warum Mecklenburg-Vorpommern besonders von bringen die gleichen Argumente. der Schiffssicherheit abhängig ist, ist wohl klar. Wir leben vor allen Dingen vom Tourismus. Wir haben eine maritime Wirtschaft, die davon abhängig ist. Wir haben eine wun- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: derschöne Ostseeküste, eine sensible Natur. Deswegen ist Herr Minister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des für Mecklenburg-Vorpommerns Regierung und für sein Kollegen von Klaeden? Parlament die Schiffssicherheit in gleicher Weise prioritär. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2187

Minister Dr. Wolfgang Methling (Mecklenburg-Vorpommern) (A) Die vielen Gefährdungen der Ostsee sind schon be- teressenlagen erschwert wird. All dieses wissen Sie, aber (C) schrieben worden. Ich will aber noch einmal darauf hin- ignorieren es. Im Übrigen will ich darauf hinweisen: Auch weisen, was Herr Steenblock hier gesagt hat: Wir sollten Deutschland und ebenso die EU bringen nicht nur Gutes die täglichen, die chronischen Gefährdungen und Belas- für diesen Prozess. Auch dort gibt es Versäumnisse. So tungen der Ostsee und der Meere überhaupt höher schät- habe ich beispielsweise gehört, dass die Stadt Lübeck zen. Ich habe einmal am Horizont eine gelbe Wolke gese- viele Argumente genannt hat, warum ihr Hafen kein ge- hen. Da habe ich gefragt: Was ist das? – Mir wurdeeigneter Nothafen bzw. ein Hafen für Notliegeplätze sei; geantwortet: Das sind Dieselrückstände, die ständig über das verweist doch auf ein Problem, das wir bei uns haben. dem Wasser liegen und eine Gefahr darstellen. – Die Ge- Wir müssen nämlich dafür sorgen, dass auch bei uns im fahren gehen also viel weiter. Land Notliegeplätze ausgewiesen werden. Das ist nicht so Hauptursachen der Seeunfälle, die in der Ostsee und einfach. insbesondere in der Kadetrinne stattgefunden haben, sind (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch menschliches Versagen, Mängel in der Schiffsführung [fraktionslos]) und technische Mängel an den Fahrzeugen. Darauf müs- sen wir uns neben den anderen Dingen konzentrieren. Bis- Ich glaube, die Bundesregierung geht richtig heran, indem her haben wir Riesenglück gehabt. Aber wir können si- sie dieses so fixiert. Ich könnte da auch noch andere Bei- cherlich nicht jeden Tag Wunder erwarten. spiele nennen. Deswegen haben wir aus Mecklenburg-Vorpommern (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Haben Sie zahlreiche Vorschläge und Forderungen an Bund, EU, schon welche genannt?) baltische Länder und IMO eingebracht: Doppelhüllentan- Ich warne vor einseitigen Feindbildern, übrigens auch ker, Lotsenpflicht, AIS, Radar, Meldepflicht, Hafenstaat- in diesem Raum; ich höre ja ab und zu mal Bemerkungen kontrollen und Notliegeplatzkonzept. Ich könnte noch von Ihnen. Ich denke, hier geht es um konkrete Inhalte, vieles nennen, was wir eingebracht haben, Dies zeigt, wo die abzuarbeiten sind, nämlich von der Beseitigung der wir versuchen, selber unsere Schularbeiten zu machen. Einhüllentanker bis hin zu Eisklassenschiffen in der Ost- Es ist ja erfreulich, dass wir aus Havarien richtigesee, die zwar vorgeschrieben sind, aber die man nicht mit Schlussfolgerungen ziehen. Aber eigentlich ist es maka- Kanonen in Gendarmenmanier durchsetzen kann. Man ber, dass viele Schlussfolgerungen erst dann gezogen wer- darf hier nicht wie Klaus Störtebecker vorgehen. Das geht den, wenn es zu Havarien gekommen ist. Aber das ist auch nicht; das muss man auf einem anderen Wege tun. in anderen Bereichen der Gesellschaft so. Insofern muss Für Mecklenburg-Vorpommern haben sich für uns das nicht wundern. Die Namen sind ja Legende: be- 2002/2003 – ich will nur darüber sprechen – eine Reihe (B) ginnend bei „Pallas“ bis hin zu „Prestige“. Darüber hinaus von Verbesserungen ergeben, die ich hier noch einmal(D) gibt es genügend andere warnende Beispiele. nennen möchte: die AIS-Ausrüstung der Revierzentrale in Ich bedanke mich bei der Bundesregierung, obwohl ich Warnemünde, Bereitstellung von Schleppkapazitäten, das ihr in manchen Phasen sehr kritisch gegenübergestanden hier schon angesprochene Ölbekämpfungsschiff – wir habe, für ihr entschlossenes Handeln und zunehmend kon- hoffen, in wenigen Tagen sagen zu können, dass es funk- sequentes Umsetzen der Empfehlungen derGrobecker- tioniert – und die Bereitstellung von Notliegeplätzen, die Kommission und auch für ihre internationalen Akti- übrigens bei uns durch ein Abkommen mit kommunalen vitäten. Ich hoffe, dass wir so schrittweise vorankommen, Hafenbetreibern vorbereitet wird. Ich hoffe, das wird wo- auch wenn wir uns hin und wieder hart streiten: Als ich anders auch gelingen. zum Beispiel die Forderung nach einer Lotsenannahme- Ich hoffe, meine sehr geehrten Damen und Herren, pflicht gestellt habe, wurde mir gesagt, das sei nicht nötig dass es Bund und Ländern gemeinsam gelingen wird, und nicht möglich. Heute sehen wir das anders; hoffent- schnell weitere Erfolge im eigenen Land zu erzielen, fort- lich alle und auch in Zukunft. schrittliche Vereinbarungen mit internationalen Partnern Wir wissen auch, dass der Föderalismus manches nicht und Organisationen, übrigens auch von außerhalb der EU, einfach macht. Der Föderalismus stellt meiner Einschät- abzuschließen. Höhere Sicherheitsstandards und effi- zung nach einen großen Gewinn dar, hat aber in Bezug auf ziente Kontrollen gehören dazu. Meines Erachtens kann das Havariekommando einige Probleme mit sich ge- dazu auch sehr gut das Wirken von Parlamenten beitra- bracht. Ich war am 3. Januar beim Havariekommando und gen. Das haben wir bei der Ostseeparlamentarierkonfe- habe mich überzeugt, wie dieses arbeiten kann. Ich denke, renz mitbekommen. Das wird aber wohl nur bei einem es ist auf gutem Wege, auch wenn noch einiges zu tun ist. parteiübergreifenden Konsens gelingen. Ich will auch Die Umweltminister der Nord- und Küstenländer undnoch einmal ein Wort, das hier schon gefallen ist, aufneh- auch der Bundesumweltminister bringen sich dort aktiv men: Dies bedeutet, parteipolitische Scheuklappen abzu- ein, obwohl wir diejenigen sind, die in erster Linie dafür legen. Manchen scheint dieses nicht zu gelingen: Anträge, zuständig sind, den Dreck wegzuräumen, der im Grunde die bereits Erreichtes oder bereits veranlasste Maßnah- genommen vorher schon woanders angefallen ist. Wir ha- men einfordern, sind nicht dazu geeignet, den Zustand zu ben entsprechende Vorschläge bei der Umweltminister- verbessern, sondern sind eher als Schaulaufen auf der Bühne zu betrachten. Es wäre eigentlich wichtiger, die konferenz der Nordländer in Nieklitz, Mecklenburg- Pflicht zu erfüllen. Darum würde ich alle sehr herzlich bit- Vorpommern, eingebracht. ten, in Zukunft dazu beizutragen, das Schaulaufen zu be- Ich will auch noch darauf hinweisen, dass manches enden und sich erst der Pflicht und dann der Kür mit hof- durch internationale, wirtschaftliche sowie rechtliche In- fentlich besseren Ergebnissen zuzuwenden. 2188 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Minister Dr. Wolfgang Methling (Mecklenburg-Vorpommern) (A) Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Denn man muss feststellen: Ohne ökologischen Sinn (C) werden im Augenblick Verbraucherinnen und Verbrau- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ cher durch das Zwangspfand zusätzlich belastet. Herr DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine Trittin, dass Sie zwischenzeitlich eingesehen haben, dass Lötzsch [fraktionslos] und der Abg. Petra Pau die bisherige, von Ihnen in Kraft gesetzte Regelung zu [fraktionslos]) kompliziert ist, zeigt Ihr Entwurf. Aber wenn Sie konse- quent wären, dann müssten Sie auf der einen Seite das Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zwangspfand sofort aussetzen und auf der anderen Seite eine Novelle der Verpackungsverordnung vorlegen, die Ich schließe die Aussprache. den wissenschaftlichen Erkenntnissen in ökologischer Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- Hinsicht Rechnung trägt und die Chance einer Neurege- ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Drucksa- lung ergreift, um die Quote durch ein Lizenzmodell zu er- che 15/370 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit setzen. Das wäre dann auch ökonomisch sinnvoll. dem Titel „Seesicherheit optimieren – nationaler und eu- ropäischer Handlungsbedarf nach Tankeruntergang der (Beifall bei der FDP) ‚Prestige‘“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag aufIch stelle also fest: Die Erkenntnis ist da, es gibt aber Drucksache 15/192 abzulehnen. Wer stimmt für diesekeine Konsequenz. Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Wenn man sich die Eckpunkte anschaut, sieht man, Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der dass zwischen ökologisch vorteilhaften und ökologisch Fraktionen der CDU/CSU und der FDP angenommen. nicht vorteilhaften Verpackungen unterschieden werden soll. Es ist sinnvoll, das zu tun. Aber man hätte das längst Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus- machen können und machen sollen. Die FDP-Bundes- schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auftagsfraktion hat sofort, nachdem die neuen wissenschaft- Drucksache 15/488. Der Ausschuss empfiehlt, in Kennt- lichen Erkenntnisse vorlagen, hier einen entsprechenden nis des Berichts der Bundesregierung auf DrucksacheAntrag gestellt. Dasselbe fordern wir in dem jetzt vorlie- 14/9487 zur maritimen Sicherheit auf der Ostsee eine Ent- genden Antrag. schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschluss- empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Zusätzlich zu der Unterscheidung zwischen ökologisch sinnvoll und ökologisch nicht sinnvoll sehen Sie, Herr Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Trittin, eine gesonderte Ausweisung des Mehrweganteils (B) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgitvor, und zwar durch eine jährliche Bekanntmachung im (D) Homburger, Dr. Christian Eberl, Daniel BahrBundesanzeiger. Ich frage Sie: Warum eigentlich? Die (Münster), weiterer Abgeordneter und der Fraktion Unterscheidung zwischen Einweg und Mehrweg ist der FDP Schnee von gestern; sie ist überholt. Die Mehrwegquote ist ökologisch nicht mehr relevant. Ökologisch sinnvolle und effiziente Alternativen zum Zwangspfand auf Getränkeverpackungen Deswegen fordern wir Sie auf: Machen Sie endlich ei- – Drucksache 15/315 – nen sauberen Schnitt, verabschieden Sie sich von den al- ten Regelungen und unterscheiden Sie ausschließlich Überweisungsvorschlag: zwischen ökologisch sinnvoll und ökologisch nicht sinn- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit voll. Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und (Beifall bei der FDP – Widerspruch des Abg. Landwirtschaft Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die – Wie ich an Ihrer Reaktion sehe, sehen Sie das nicht ein. Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die FDP fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wider- Mit dem, was Sie jetzt machen, vereinfachen Sie die spruch. Dann ist das so beschlossen. bisherige Regelung nicht etwa, sondern Sie verkomplizie- ren sie, indem Sie das eine Kriterium der Vergangenheit Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die – die Unterscheidung zwischen Einweg und Mehrweg – Kollegin Birgit Homburger von der FDP-Fraktion das durch zwei Kriterien – jetzt zusätzlich dieUnterschei- Wort. dung zwischen ökologisch sinnvoll und ökologisch nicht sinnvoll – ersetzen und weitere Ausnahmeregelungen Birgit Homburger (FDP): schaffen wollen, die das ergänzen, und zwar in der Form, dass nicht auf die Verpackungsart, sondern auf den Inhalt Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir abgestellt werden soll. Genau das haben Sie an der alten debattieren heute über einen Antrag der FDP zum Regelung kritisiert. Jetzt wollen Sie das fortführen. Was Zwangspfand, der hochaktuell ist. Am Wochenende gab Sie hier vorlegen, ist aus unserer Sicht inkonsequent. es eine Vereinbarung zwischen dem Bundesumweltmi- nister und einigen wenigen Landesumweltministern. Des- Eine gesonderte Ausweisung der Mehrwegquote macht wegen finde ich es gut, dass wir heute die Gelegenheit zu es erforderlich, dass sie – zusätzlich zur Erfassung von einer parlamentarischen Aussprache in dieser Sache ha- ökologisch sinnvollen und ökologisch nicht sinnvollen ben. Verpackungen – erfasst werden muss. Das bedeutet statis- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2189

Birgit Homburger (A) tischen Aufwand. Die Bundesregierung hat erklärt, sie system und für die Müllvermeidung ist es sicherlich ein (C) wolle Bürokratie abbauen. Aber was Sie machen, ist ge- wichtiges Thema. nau das Gegenteil; denn nach Ihren Vorschlägen muss Als ich den Antrag der FDPgelesen habe, fragte ich eine weitere Quote erfasst werden. Dieser bürokratische mich allerdings, worüber wir heute hier debattieren sollen. Aufwand ist ohne ökologischen Nutzen und wird von der FDP abgelehnt. (Zuruf von der CDU/CSU: Über Blech!) (Beifall bei der FDP – Joachim Günther Fünf Forderungen dieses Antrages sind überholt. Sie wa- [Plauen] [FDP]: Entschieden!) ren es zum größten Teil schon, als der Antrag gestellt wurde. Die beiden einzigen Punkte, die nicht von uns um- Sie wissen, dass das Zwangspfandökologisch und ökonomisch unsinnig ist. Der Sachverständigenrat für gesetzt wurden, sind realitätsfremd, umweltschädlich und Umweltfragen der Bundesregierung hat in seinem Um- nicht durchführbar. Mit anderen Worten: Dieser Antrag ist weltgutachten davon gesprochen, dass das Zwangspfand eine Farce. „von zweifelhafter ökologischer Effektivität und ökono- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ misch ineffizient ist“. Genau das ist der Punkt: Das DIE GRÜNEN) Zwangspfand setzt bei den Verbraucherinnen und Ver- brauchern an, die die Verpackungen zurücktragen sollen. Die FDP trauert offensichtlich den verlorenen Schlach- Der Handel wird Rücknahmeautomaten aufstellen. Ins- ten gegen das Dosenpfand vor den Gerichten nach. gesamt ist dies ein aufwendiges und sehr teures Verfahren. (Werner Wittlich [CDU/CSU]: Keine Ahnung Demgegenüber steht der Vorschlag im FDP-Antrag, haben Sie!) ein Modell handelbarer Abfülllizenzen für ökologisch Der Antrag liegt ganz auf der Linie früherer Oppositions- nicht vorteilhafte Getränkeverpackungen einzuführen. anträge: durch freiwillige Vereinbarungen das Pflichtpfand Der Anknüpfungspunkt liegt bei den Herstellern. Investi- zu verhindern und damit zugunsten von Großbrauereien, tionen in Rücknahmeautomaten sind demnach nicht er- Großhandel und Dosenherstellern eine umweltfreundliche forderlich. Das wäre das deutlich bessere Modell; es wäre und umweltschonende Regelung zu hintertreiben. günstiger und billiger. Man würde das ökologische Ziel auf ökonomisch sinnvolle Weise erreichen. (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das sind die Schlachten der Vergangenheit!) (Beifall bei der FDP – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Bravo!) Wir Sozialdemokraten dagegen stehen hinter dem Pfand als Instrument zur Förderung und Stützung des Herr Trittin, Sie könnten sich auch das Problem mit der Mehrwegsystems. Allerdings halten wir einen geteilten (B) Clearingstelle ersparen. Sie wissen doch ganz genau, Markt für Einweggetränke mit und ohne Pfand nicht für (D) dass dieses Problem im Augenblick noch nicht gelöst ist. den besten Weg. Daher haben wir schon vor zwei Jahren Die FDP teilt die Kritik des Bundeskartellamts am Ver- ein allgemeines Pfand für ökologisch nachteilige Ein- fahren. Wir wollen kein neues Monopol, sondern Wett- wegverpackungen vorgeschlagen. bewerb. Wir wollen den Unternehmen die Möglichkeit eröffnen, in diesem Bereich tätig zu werden. (Marco Bülow [SPD]: Genau so ist es!) Wir bieten Ihnen ausdrücklich die Zusammenarbeit im Dem Mehrwegsystem wäre dadurch geholfen gewesen Rahmen des Verfahrens an, das jetzt kommen wird. Wir und ökologisch vorteilhafte Verpackungen wie Getränke- haben einige Änderungsvorschläge, die aber zu einerkarton und Schlauchbeutel wären vom Pfand ausgenom- deutlichen Verbesserung beitragen würden. Ich hoffe im men worden. Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher sehr, Die Fehler der alten Pfandregelung, meine Damen und dass wir insgesamt zu einer ökologisch und ökonomisch Herren von der Opposition, wollten SPD und Bünd- vernünftigen Lösung kommen. Der Vorschlag der FDP nis 90/Die Grünen also bereits im Frühjahr 2001 korri- liegt auf dem Tisch. Wir hoffen auf Ihre Kooperation. gieren. Leider ist dieser Vorschlag einer Verpackungsver- Vielen Dank. ordnung aber im Bundesrat gescheitert. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Wir Sozialdemokraten begrüßen daher ausdrücklich Peter Paziorek [CDU/CSU]: Die Zielrichtung die Einigung zwischen dem BMU, den Ländern und der ist okay!) Industrie, (Werner Wittlich [CDU/CSU]: Es gibt noch gar Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: keine Einigung! Bisher haben wir noch nichts! – Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Den Tag nicht Das Wort hat jetzt der Kollege Gerd Friedrichvor dem Abend loben!) Bollmann von der SPD-Fraktion. durch die eine ökologisch und ökonomisch sinnvolle Neuregelung des Dosenpfandes in unserem Sinne zum (SPD): Gerd Friedrich Bollmann 1. Oktober dieses Jahres möglich ist. Diese Einigung auf Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und eine ökologische und verbraucherfreundliche Novelle Kollegen! Der Dauerbrenner Dosenpfand wird zum wie- wäre aber ohne Umsetzung des Dosenpfandes zu Beginn derholten Male im Deutschen Bundestag debattiert. An- dieses Jahres nicht möglich gewesen. Das hat die FDP gesichts der Bedeutung des Pfandes für das Mehrweg- vehement bekämpft. Durch diese Einigung ist der Antrag 2190 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Gerd Friedrich Bollmann (A) der FDP erst recht überflüssig. Trotzdem möchte ich auf (Werner Wittlich [CDU/CSU]: Das ist Ihnen (C) einige besonders unsinnige Punkte und falsche Darstel- egal! Das interessiert Sie gar nicht!) lungen Aber nicht erwähnt wird, dass die Kurzarbeit die Dosen- (Ulrike Mehl [SPD]: Genau!) abfüllung betrifft, eingehen. (Birgit Homburger [FDP]: Und das Recyceln!) Es gab kein Chaos bei derEinführung des Dosen- bundesweit aber im Mehrwegsystem zusätzliche Arbeits- pfandes – das hätten Sie sich vielleicht gewünscht –, das stunden anfallen. Erwähnt wird nicht, dass der Getränke- haben wir alle selber im Januar in den Geschäften fest- fachhandel und mittelständische Brauereien mehrere stellen können. 100 Millionen Euro in den Ausbau des Mehrwegsystems (Birgit Homburger [FDP]: Darauf beziehen investiert haben, Investitionen, die durch die Pfandpflicht wir uns nicht!) geschützt werden. Die Umweltverbände bestätigen dies. Die jetzt noch vor- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des handenen Schwierigkeiten sind Folgen der Mängel des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Merkel-Pfandes Laut Roland Demleitner, dem Geschäftsführer des Bun- (Werner Wittlich [CDU/CSU]: Dummes Zeug! desverbandes mittelständischer Privatbrauereien, werden Dümmer geht es wirklich nicht!) weitere Investitionen in den Mehrwegbereich folgen. Da- mit werden durch das Dosenpfand 250 000 Arbeitsplätze und des Boykotts von Teilen des Handels und der Her- im Bereich der Mehrwegwirtschaft gesichert. steller. Hätte die Opposition im Jahre 2001 zugestimmt, wäre eine neue Regelung des Dosenpfandes bereits jetzt Erwähnt wird nicht, dass sich über 800 Privatbrauereien Gesetz. und rund 10 000 Getränkefachhändler im September letz- ten Jahres in einem offenen Brief für das Dosenpfand aus- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gesprochen haben. Brauereien, Getränkeabfüller, Brunnen DIE GRÜNEN – Werner Wittlich [CDU/ sowie Getränkegroßhandel und -einzelhandel befürwor- CSU]: Keine Ahnung!) ten das Pflichtpfand. Dies erklärte im Übrigen auch Außerdem wäre eine verbraucherfreundliche Umset- Hartmut Koschyk von der CSU am 18. Mai 2001 in einer zung möglich gewesen, hätten nicht einige Großbraue- Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung des Deutschen reien sowie Teile des Großhandels und der Dosenherstel- Bundestages. ler ihre Mitarbeit verweigert. Seit neun Monaten ist der Meine Damen und Herren von der FDP, Sie betonen (B) Einführungstermin bekannt. Aber anstatt entsprechende doch sonst immer Ihre Rolle als Kämpfer für den Mittel- (D) Vorbereitungen durchzuführen, klagten Teile von Indus- stand. Jetzt bekämpfen Sie eine Regelung, die von der trie und Handel. mittelständischen Brauwirtschaft und dem Fachhandel (Werner Wittlich [CDU/CSU]: In einem begrüßt wird. Die Erfüllung Ihrer Forderung würde zur Rechtsstaat ist das ganz normal!) Existenzvernichtung mittelständischer Betriebe und zur Vernichtung von Arbeitsplätzen führen. Sie setzten auf einen Wahlsieg von CDU/CSU und FDP in der Hoffnung, Edmund und Guido würden es schon rich- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ten und die Einführung des Pfandes verhindern. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Birgit Homburger [FDP]: Völliger Quatsch! – Werner (Ulrike Mehl [SPD]: Hat nicht geklappt!) Wittlich [CDU/CSU]: Alles Blech!) Durch dieses Schmierentheater wurden das Pfandclearing Schauen Sie sich doch die Entwicklung an: Einzelne und ein einheitliches Rücknahmesystem verhindert. Die Großbrauereien und Teile des Handels überschwemmten Folgen der Verweigerung müssen jetzt die Verbraucher den Markt mit billigem Dosenbier und -wasser. Ziel war austragen. es, mithilfe der Dose kleine und mittlere Brauereien und Sie, meine Damen und Herren von der FDP, sind durch Brunnen zu verdrängen. Mit ihren Forderungen unter- Ihr Nein zur Novelle zur Verpackungsverordnung und stützt die FDP Interessen, deren Ziel die Vernichtung mit- durch Ihre Wahlkampfaussagen zum Dosenpfand mitver- telständischer Unternehmen ist. antwortlich für die derzeitigen Ungereimtheiten. Nun er- (Franz Obermeier [CDU/CSU]: So ein dreisten Sie sich, die von Ihnen mitverschuldeten Pro- dummes Zeug!) bleme zum Anlass zu nehmen, eine Abschaffung der Pfandregelung zu fordern. Im Übrigen wissen Sie, dass Diese Politik ist mittelstandsfeindlich. durch die Vereinbarung des Bundesumweltministers mit Kurz möchte ich noch einen Punkt des FDP-Antrages den Bundesländern verbraucherunfreundliche Mängel streifen: Bürgerinnen und Bürger, die freiwillig die Land- spätestens bis zum 1. Oktober behoben sind. schaft von Müll säubern, sollen Geld aus einem Fonds (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das ist doch der Getränkewirtschaft erhalten. Wie soll das funktionie- nicht ausreichend!) ren? Stellen Bürger, die beim Sonntagsspaziergang Do- sen sammeln, beim Fonds einen Antrag auf Geldzuwei- Ein weiteres Argument der FDP gegen die Pfandpflicht sung? ist eine Meldung über Kurzarbeit bei einem großen Ge- tränkehersteller. (Marco Bülow [SPD]: Unglaublich!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2191

Gerd Friedrich Bollmann (A) Oder werden Dosensammelvereine gegründet und finan- Verpackungen unter eine Quote von 72 Prozent sinkt. Ge- (C) ziell unterstützt? Dieser Punkt des FDP-Antrages ist so tränkehersteller und Handel hatten sich verpflichtet, den realitätsfremd, dass es nicht lohnt, näher darauf einzu- Mehrweganteil stabil zu halten. Das ist aber nicht gelun- gehen. gen. Einige Discounter und große Getränkeabfüller haben ihre aggressive Wachstumsstrategie unter anderem auf (Marco Bülow [SPD]: Das zum Thema Büro- Einwegverpackungen ausgerichtet, um zusätzliche Markt- kratieabbau! – Birgit Homburger [FDP]: Das anteile zu gewinnen. Das Ergebnis: Seit rund fünf Jahren war von der Getränkewirtschaft vorgeschlagen! wissen wir, dass die Mehrwegquote sinkt; inzwischen lag Sie haben keine Ahnung!) sie nur noch bei rund 53 Prozent. Konkret zurückgegan- Jeder erfahrene Kommunalpolitiker würde die Händegen sind die Mehrweganteile bei Bier, Mineralwasser und über dem Kopf zusammenschlagen. Limonaden. Freiwillige Vereinbarungen taugen ohne ihre (Ulrike Mehl [SPD]: Genau! – Birgit Homburger Einhaltung also nichts. [FDP]: In anderen Ländern funktioniert es!) Zum Glück für Umwelt, Verbraucher und mittelständi- Aber dieser Punkt zeigt, wie die Liberalen zum Müllpro- sche Brauereien sind die Pläne der Opposition zur Ab- blem stehen. Erst soll der Müll in die Landschaft, dann schaffung des Pfandes endgültig ad acta gelegt. sollen die Bürger ihn einsammeln und die verursachende (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Industrie darf sich mit einem Trinkgeld freikaufen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Werner Wittlich [CDU/CSU]: Es ist unerhört, Denn nun gibt es die Vereinbarung des Umweltministers was Sie für einen Käse hier verzapfen! Es ist nicht mit den Ländern und der Industrie über eine Änderung der zu glauben! Blödsinniger geht es wirklich nicht!) Verpackungsverordnung. Nichtsdestotrotz wird nun ver- Sinnvolle Umweltpolitik sieht anders aus. Wir Sozial- sucht, das Wettbewerbsrecht auszuhebeln und Geschäfte demokraten treten dafür ein, Landschaftsvermüllung von zulasten der Verbraucher zu machen. Klare kartellrecht- vornherein zu vermeiden. liche Vorgaben an ein Pfandclearingsystem mussten erst gestern von Ulf Böge in Erinnerung gebracht werden. Der (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das will Kartellamtspräsident begründete Vorbehalte seiner doch jeder!) Behörde gegen das System vor allem mit dem Verfahren, Durch das Dosenpfand wird die Vermüllung wirksammit dem das Duale System Deutschland als Clearingstelle bekämpft ausgewählt wurde. Böge sagte, das Verfahren hätte eine ordnungsgemäße Ausschreibung erfordert, um keinen (Werner Wittlich [CDU/CSU]: Ihr macht doch Wettbewerber zu diskriminieren. Allerdings könne die (B) nur Müll in der ganzen Politik!) Ausschreibung jederzeit nachgeholt werden und es liege (D) und wir wissen, dass der überwiegende Teil der Bevölke- an Handel und Industrie, ein ordnungsgemäßes Vergabe- rung unseres Landes unsere Auffassung teilt. verfahren durchzuführen. Gleichzeitig stellte Ulf Böge dar, dass das Kartellamt nicht gegen das geplante Pfand- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ system als solches ist. DIE GRÜNEN) Wir gehen davon aus, dass eine kartellrechtlich ein- Meine Damen und Herren, vor allem aber zeigen die- wandfreie Lösung gefunden wird, damit die Novelle der ser Antrag und frühere Aussagen die wahre Haltung der Verpackungsverordnung pünktlich zum 1. Oktober in Kraft FDP zur Umweltpolitik. Die FDP fordert im Umwelt- treten kann. Ich hoffe, meine Damen und Herren von der schutzbereich freiwillige Vereinbarungen, Opposition, Sie akzeptieren nun endlich die umwelt- und (Birgit Homburger [FDP]: Das steht doch gar verbraucherfreundliche Regelung des Pflichtpfandes und nicht drin! Das ist doch absoluter Quatsch!) hören auf, Verbraucher und Wirtschaft zu verunsichern. EU- oder weltweite Abkommen, um damit notwendige (Georg Girisch [CDU/CSU]: Halleluja!) Umweltschutzmaßnahmen zu verzögern oder gar zu ver- Die Neuregelung sieht einePfandpflicht bei allen hindern. Genau dieses ist ja auch das Ziel. Unterstützung Einweggetränkeverpackungen vor, außer für ökologisch der Wirtschaft und ihrer Forderungen rangieren bei der vorteilhafte Einweggetränkeverpackungen, Wein, Sekt, FDP und bei Teilen der Union immer noch vor demSpirituosen und diätetische Lebensmittel. Eine ähnliche Schutz der Umwelt. Regelung wollten Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Gerade die Entwicklung bei der Verpackungsverord- Grünen schon vor einem Jahr durchsetzen. nung beweist, dass freiwillige Vereinbarungenoftmals Diese Novelle beseitigt die Fehler der alten Regelung. nicht zum Ziel führen. Das Töpfer-Pfand von 1991 um- Ich begrüße, dass die unionsgeführten Bundesländer nach fasste eine freiwillige Vereinbarung zur Einhaltung der Angaben des bayerischen Umweltministers Schnappauf Mehrwegquote – eine Vereinbarung, die von Teilen der ihre Bereitschaft zur Zustimmung signalisiert haben. Getränkeindustrie nicht eingehalten wurde. Töpfer selbst hatte weiter gehende Vorstellungen für die Verpackungs- (Werner Wittlich [CDU/CSU]: Wenn Sie so verordnung. Er wurde damals vor allem von der FDP ge- weitermachen, dann nehmen sie die wieder bremst, die massiv die Interessen des Handels vertrat. zurück!) Ein Pfand auf Einwegverpackungen für Getränke war Ich hätte es noch mehr begrüßt, wenn die FDP angesichts für den Fall vereinbart, dass der Mehrweganteil an den dieser Einigung ihren Antrag zurückgezogen und damit 2192 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Gerd Friedrich Bollmann (A) ihre Unterstützung für eine umwelt- und verbraucher-Verbraucher kostengünstiger ist. Das ist der Unterschied. (C) freundliche Verordnung signalisiert hätte. Ich bitte Sie, dies zur Kenntnis zu nehmen. Wir Sozialdemokraten lehnen den Antrag der FDP ab (Beifall bei der FDP) und stehen hinter dieser Novelle. Mit derNeuregelung des Dosenpfandes werden das Mehrwegsystem gestützt, mittelständische Betriebe geschützt und die Landschafts- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: vermüllung bekämpft. Mit der Einführung eines einheitli- Möchten Sie erwidern, Herr Kollege Bollmann? – chen Pfandes auf Getränkeverpackungen setzen Sozialde- Bitte schön. mokraten und Bündnis 90/Die Grünen ihre erfolgreiche Umweltpolitik der letzten Jahre fort und folgen dem Ge- Gerd Friedrich Bollmann (SPD): bot der Nachhaltigkeit. Frau Kollegin Homburger, wenn ich nach meiner ers- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ten Rede eine solche Kurzintervention zu hören be- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) komme, dann ist das, wie ich denke, ein Zeichen dafür, Die gefundene Regelung ist aber nicht nur ein Erfolg dass ich die Diskussion zumindest angeregt habe. Pole- der rot-grünen Bundesregierung, die Neuregelung istmik ist dabei in der letzten Zeit gerade von Ihrer Seite zur auch ein Erfolg der parlamentarischen Demokratie über Genüge gekommen. Lobbyismus und Einzelinteressen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Was ich mit meiner Rede deutlich machen wollte, war DIE GRÜNEN) in erster Linie folgender Punkt: Sie haben maßgeblich dazu beigetragen, dass die Ungereimtheiten, die es zurzeit in einigen Geschäften gibt, überhaupt existieren. Das ist Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ihr „Verdienst“. Nun kritisieren Sie das, was Sie ange- Herr Kollege Bollmann, Sie haben gerade Ihre erste richtet haben, und versuchen, daraus Nutzen zu ziehen Rede im Deutschen Bundestag gehalten. Herzlichenund das Verfahren mit diesem Antrag doch noch zu stop- Glückwunsch! pen. Das wird Ihnen aber nicht gelingen. Ich denke, der bessere Weg des Dosenpfands wird sich durchsetzen. (Beifall) Vielen Dank. Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der Kol- (B) legin Birgit Homburger. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (D) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Birgit Homburger (FDP): Herr Kollege Bollmann, als Reaktion auf Ihre Rede Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: möchte ich Ihnen Folgendes sagen. Zu dem, was Sie hier Das Wort hat jetzt der Kollege Werner Wittlich von der vorgetragen haben, muss ich Sie fragen: Wissen Sie es CDU/CSU-Fraktion. nicht besser? (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Werner Wittlich [CDU/CSU]: Das muss man annehmen!) Werner Wittlich (CDU/CSU): Sie haben eine Art und Weise der Auseinandersetzung ge- Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- wählt, die wir bisher nicht gewöhnt waren. Wir sind hier gen! Herr Kollege Bollmann, mit Ihrer Rede haben Sie Diskussionen wie auch Auseinandersetzungen über unter- deutlich gemacht, dass Sie von der Thematik nichts ver- schiedliche Auffassungen gewöhnt. Sie dagegen haben stehen. Und davon verstehen Sie sehr viel. nichts anderes getan, als das, was im Antrag der FDP steht, auf eine absolut polemische und unverschämte Art (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – zu verdrehen. Das muss ich Ihnen sehr deutlich sagen. [SPD]: Keine Beleidigung!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – – Das ist keine Beleidigung. Dr. Uwe Küster [SPD]: Das ist typisch (Widerspruch bei der SPD) Homburger!) – Ich will versuchen, meine Rede etwas sachlicher zu hal- Ich möchte klarstellen: Die FDP möchte eine ökolo- ten. gisch und ökonomisch sinnvolle Regelung finden. Wir ha- ben deswegen den Vorschlag gemacht, zum Schutz öko- Wenn ich die Debatte der vergangenen Tage und Wo- logisch sinnvoller Verpackungen ein Lizenzmodellchen verfolge, dann fühle ich mich wie Moses, der die einzuführen. Wir sind also mitnichten, wie Sie gesagt ha- Kinder Israels durch die Wüste führt und auf der Flucht ben, für irgendeine Art von freiwilliger Vereinbarung. Wir vor den Ägyptern am Ufer des Roten Meeres ankommt. haben einfach nur ein anderes Modell vorgeschlagen, von Er fleht zum Himmel und tatsächlich schaut Gott aus den dem wir überzeugt sind, dass es einfacher, unbürokrati- Wolken und sagt: Warum jammerst du, Moses? Höre also: scher und für die Gesamtheit der Verbraucherinnen und Ich habe eine gute Nachricht und eine schlechte. Ich Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2193

Werner Wittlich (A) werde das Meer teilen, damit dein Volk trockenen Fußes permarkt zurückbringen und über das Rücknahmesystem (C) ins gelobte Land kann. entsorgen lassen musste. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Kommen Sie zum Herr Hermann, Sie werden mir vielleicht Recht geben, Thema!) dass dieses Anliegen berechtigt ist. Das Fazit dieses Zei- tungsartikels war ernüchternd: Parallel fahrende Lastwa- Großartig, sagt Moses, und wie lautet die schlechte Nach- gen und parallel sortierende Müllmänner und Verbrau- richt? Daraufhin sagt Gott: Ich brauche zuerst die Um- cher, die Zettelchen und Märkchen sammeln müssen, weltverträglichkeitsprüfung eines unabhängigen Sach- führen zu mehr verbrauchtem Kraftstoff, zu mehr verta- verständigen. ner Zeit und zu unnötig ausgegebenem Geld, das in die- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU sowie sen Zeiten sinnvollerweise ganz woanders Verwendung bei Abgeordneten der FDP – Lachen beim finden sollte. Herr Trittin, dieses Beispiel zeigt im Klei- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nen sehr anschaulich die Absurdität Ihrer Verordnung. Genau hier liegt das Problem. Wir haben zu viel (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) unnötige Bürokratie. Deshalb sollten wir heute einmal Wer immer auch von der Pfandregelung profitieren mag – darüber reden, was uns davon befreien könnte. Ich nenne die Umwelt ist es sicher nicht. die Deregulierung. CDU/CSU und auch die Industrie for- dern bereits seit längerem eine umfassende Novelle der Meine Damen und Herren, alles Jammern hilft nicht; Verpackungsverordnung; denn die 1991 unter dem dama- denn das Zwangspfand auf Einwegverpackungen ist inzwi- ligen Umweltminister Töpfer von CDU/CSU und FDP er- schen Realität. Wir haben das Schlechte, das wir nicht woll- lassene Verpackungsverordnung war sehr erfolgreich. ten, und müssen jetzt sehen, wie wir damit klarkommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Ulrike Mehl [SPD]: Die Verordnung haben Sie doch selber einmal gemacht! Wieso wollen Sie Sie hat dazu geführt, dass in Deutschland mehr Ver- sie auf einmal nicht mehr?) packungen gesammelt und verwertet werden als in ir- gendeinem anderen Land der Welt. Wir stehen vor der Situation, dass die Bürgerinnen und Bürger sowie natürlich auch der Handel mit großen Pro- (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Genau so blemen kämpfen. In meiner Heimat – das ist schon ange- ist es!) sprochen worden – gibt es beispielsweise zwei größere Dosenwerke, die akut gefährdet sind. Die Unternehmen Das damals bestehende Problem des Müllnotstandes klagen über immense Umsatzverluste. Investitionen von ist heute weitgehend gelöst. Die geltende Verpackungs- 100 Millionen Euro werden gestrichen und allein in einem verordnung hat außerdem auf dem Gebiet des Mehrweg- der Werke sind über 800 Mitarbeiter in Kurzarbeit. (B) schutzes die richtigen Signale gesetzt. (D) (Vorsitz: Vizepräsident Dr. h. c. Susanne (Beifall bei der CDU/CSU) Kastner) Dies gilt gerade auch für die Getränkeverpackungen. Das Herr Trittin, ich kann nur fragen: Haben Sie das wirk- Beispiel Altglasrecycling zeigt, dass sich das Sammeln lich so gewollt? Vonseiten des BMU – Herr Bollmann, das von Getränkeverpackungen für viele Bürger zum Inbe- haben Sie eben auch gesagt – wird immer wieder behaup- griff gelebten Umweltschutzes entwickelt hat. Insofern tet, dass der Handel und die Getränkewirtschaft ausrei- war es nötig, die alte Verpackungsverordnung umfassend chend Zeit zur Vorbereitung gehabt hätten, zu novellieren und den veränderten Bedingungen anzu- passen. (Marco Bülow [SPD]: Hatten sie auch!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nämlich über neun Monate, und zwar von März 2002 bis Januar 2003. Die von der Bundesregierung eingeführte Pfandrege- lung wird dem allerdings nicht gerecht. Ein findiger Jour- Ich sage Ihnen: So stimmt das doch überhaupt nicht. nalist aus meinem Heimatwahlkreis hat vor einigen Tagen ( [BÜNDNIS 90/DIE den Praxistest gemacht. Er hat zwei PET-Flaschen aus ei- GRÜNEN]: Natürlich stimmt das!) nem Supermarkt vom Einkauf bis in den Ofen, in dem sie eingeschmolzen wurden, begleitet. Beide Flaschen ent- Kurz vor dem Termin des In-Kraft-Tretens der Pfandpflicht hielten Zitronentee, die eine mit, die andere ohne Koh- herrschte in Deutschland überhaupt noch keine Rechtssi- lensäure. Während beide Flaschen im Regal noch ein- cherheit bezüglich des Umgangs mit Getränkeverpackun- trächtig nebeneinander standen, musste Kundin gen. B Die Entscheidung der höchsten Gerichte stand noch zusätzlich zum Kaufpreis 25 Cent Pfand bezahlen, weil aus. sie ihren Tee lieber mit Kohlensäure trinkt. (Ulrike Mehl [SPD]: Wer hat denn geklagt?) (Zuruf von der SPD: Das sind aber doch die Man muss den Unternehmen und Verbänden doch die Länder! – Gegenruf des Abg. Dr. Peter Paziorek Möglichkeit einräumen, den Rechtsweg vollständig aus- [CDU/CSU]: Hört euch das doch einmal an! Er zuschöpfen, bevor sie Investitionen in Milliardenhöhe hat doch Recht!) tätigen. Ein Pfandsystem für Einwegverpackungen lässt sich nicht einfach mal eben so etablieren. Nach dem Verzehr konnte Kundin A ihre Flasche bequem in der gelben Tonne entsorgen, während Kundin B ihre be- (Ulrike Mehl [SPD]: Sie hatten neun Jahre pfandete Flasche in den einige Kilometer entfernten Su- Zeit!) 2194 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Werner Wittlich (A) Es muss eine riesige Infrastruktur geschaffen werden, de- Auch die jüngsten Novellierungsvorschläge werden(C) ren Einrichtung Milliarden kosten wird. Auch wesentliche den Anforderungen nicht gerecht. Wir von CDU und CSU Fragen des Aufbaus und Betriebs eines solchen Systems würden die Neuregelung grundsätzlich begrüßen, wenn müssen noch geklärt werden. sie zu einem Weniger an Bürokratie und einem Mehr an Flexibilität führte. Dies gilt beispielsweise für die Bereitstellung der not- wendigen Infrastruktur, den Aufbau eines so genannten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zentralen Pfandclearings und die Einführung fäl- schungssicherer Kennzeichen bei den betroffenen Ver- Die Neuregelung bietet uns die einmalige Chance, mit packungen. den Forderungen nach einer Deregulierung des Umwelt- rechts ernst zu machen. CDU/CSU sehen aber auch in (Ulrike Mehl [SPD]: Das weiß der Handel seit den vor wenigen Tagen vereinbarten Kompromissvor- Jahren!) schlägen noch viele offene Fragen. Die Ankündigung des Dem von uns geforderten Moratorium bis Oktober 2003 Bundesumweltministeriums und der Länder, künftig nur haben Sie leider nicht zugestimmt. Bis dahin hätten we- noch an das Kriterium der ökologisch vorteilhaften Ver- nigstens die Dosen, die bereits produziert worden sind, packung anzuknüpfen, halten wir für einen Schritt in die sinnvoll verwendet werden können. richtige Richtung. Wenn überhaupt, müssen Einwegver- packungen nach Art der Verpackung und nicht nach dem (Ulrike Mehl [SPD]: Das wissen die seit Inhalt bepfandet werden. Jahren!) (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Richtig!) – Arbeitsplätze und Unternehmen interessieren Sie nicht. Allein in dem gerade genannten Werk liegen 200 Milli- Es ist aber davor zu warnen, dieses Kriterium bürokra- onen Dosen auf Halde, die derzeit nicht verkauft werden tisch zu betrachten und an langwierige Entscheidungs- können. prozesse zu binden. (Marco Bülow [SPD]: Stellen Sie diese Arbeits- Stellen Sie sich einmal folgenden Fall vor: Eine Ver- plätze wenigstens den anderen gegenüber!) packung, die derzeit noch nicht ökologisch vorteilhaft ist, wird in einem Prozessverfahren zurökologisch vorteil- Lediglich 0,8 Prozent des gesamten Abfalls, der inhaften Verpackung, was durch entsprechende Gutachten Deutschland anfällt, besteht aus Einwegverpackungen. und Ökobilanzen belegt wird. Muss dann jedes Mal die ge- Für diese geringe Abfallfraktion betreiben wir einen derart samte Verwaltungsmaschinerie in Gang gesetzt werden? überzogenen Verwaltungsaufwand. Alwin Münchmeyer hat einmal gesagt: Das Vaterunser hat 56 Wörter. Die (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Eine sehr gute Zehn Gebote haben 297 Wörter. Aber die Verordnung der Frage!) (B) (D) EU-Kommission über den Import von Karamellen und Müssen sich dann Umweltministerium, Bundestag und Karamellprodukten zieht sich über 26 911 Wörter hin. – Bundesrat wieder mit einer Novellierung der Ver- Dies zeigt: Je unwichtiger die Dinge werden, desto kom- packungsverordnung befassen, um den neuen Erkenntnis- plizierter sind die Regeln. sen Rechnung zu tragen? Schließlich handelt es sich bei (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – einer Ökobilanz – das haben Sie in der Regierungsbefra- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gung selbst gesagt – um einen formalisierten Vorgang, der NEN]: Was hat das mit Dosen zu tun?) internationalen Standards genügt. Müssen wir demnächst eigentlich auch Zigaretten- Wir fordern daher, die Freistellung ökologisch vorteil- schachteln oder Kaugummipapierchen bepfanden, um der hafter Verpackungen von der Pfandpflicht in einer so ge- Landschaftsvermüllung Herr zu werden? nannten Innovationsklausel festzuschreiben. (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU) GRÜNEN]: Das ist eine gute Idee!) Sie soll die Voraussetzungen verbindlich festlegen, unter Herr Trittin, wie handhaben Sie es mit Bechern, in die bei- denen eine Freistellung von der Pfandpflichtgewährt spielsweise Buttermilch abgefüllt ist? Was denken Sie sein soll. Das heißt ganz konkret: Wenn sich eine Ver- sich denn dazu aus? Rund 800 MillionenMilchver- packung als ökologisch vorteilhaft herausstellt, muss sie packungen, die über das Duale System bisher reibungs- umgehend, das heißt auf Antrag, von der Pfandpflicht aus- los entsorgt werden, sollen nach Auskunft des BMU jetzt genommen werden. bepfandet werden. Wie das unter hygienischen Bedingun- gen funktionieren soll, steht in den Sternen. In der letzten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Konsequenz Ihrer Regel müssten Sie sogar die kleinen neten der FDP) Kaffeemilchdöschen, die Sie Ihren Besuchern auf die Un- Auch an anderer Stelle verträgt die geltende Ver- tertasse legen, zurückbringen. packungsordnung Vereinfachungen. Es wäre wünschens- (Jürgen Trittin, Bundesminister: Das gibt es bei wert, künftig ein einheitliches Pfand in Höhe von 25 Cent uns nicht!) zu erheben. Damit würde die Verpackungsrücknahme vereinfacht und die finanziellen Mittel der Verbraucher – Sie trinken also nur Tee ohne Milch. Insofern freue ich würden nicht unnötig gebunden. mich, dass selbst der Umweltminister inzwischen erkannt hat, dass seine Zwangspfandregelung nicht das Ei des Abschließend fordern wir, Getränkeverpackungen ab Kolumbus ist. drei Liter von der Verpackungspflicht auszunehmen. Las- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2195

Werner Wittlich (A) sen Sie mich diese Forderung an einem Beispiel erläutern. Vielen Dank. (C) Sie, Herr Trittin, feiern mit Ihren Freunden eine Party und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – kaufen für diesen Anlass ein Fünf-Liter-Partyfass Ihrer Ulrike Mehl [SPD]: Um Gottes willen!) Lieblingsmarke. (Georg Girisch [CDU/CSU]: Er kauft 100 Liter!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächste Rednerin ist die Kollegin Antje Vogel-Sperl, – Er sagt, er trinke nur noch Wein. – Bisher konnten Sie Bündnis 90/Die Grünen. dieses Fass bequem in der gelben Tonne entsorgen. Jetzt müssen Sie feststellen, dass das Fass leider nicht in die üb- lichen Rücknahmeautomaten passt. Für Abfüller und Dr. Antje Vogel-Sperl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Handel wäre es mit einem immensen Aufwand verbun- NEN): den, ein eigenes Rücknahme- und Pfandsystem zu schaf- fen. Auch eine Mehrfachbefüllung scheidet wegen der Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und unvermeidbaren Korrosion des Weißbleches aus. Wegen Kollegen! Im vorliegenden Antrag der FDP wird erklärt, des vergleichsweise geringen Marktanteils droht dem Par- die Pfandpflicht für Einweggetränkeverpackungen sei tyfassvertrieb langfristig das Aus. Seien wir doch ehrlich, „durch aktuelle Erkenntnisse aus Ökobilanzen obsolet ge- meine Damen und Herren: Haben Sie es schon erlebt, dass worden“. Tatsächlich ist jedoch der Vorschlag der FDP jemand sein Partyfass am nächsten Morgen vom Balkon obsolet. aus in die unberührte Natur wirft? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Friedrich und bei der SPD) Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die zum 1. Januar 2003 eingeführte Pfandpflicht ist ein Was glauben Sie, was wir alles finden!) großer Erfolg für die Umwelt und ein weiterer Schritt zu Diese Probleme haben Handel und Verbraucher bisher einer funktionsfähigen Kreislaufwirtschaft. noch zähneknirschend hingenommen. Nun aber hat das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bundeskartellamt auch Bedenken gegen das vorgeschla- sowie bei Abgeordneten der SPD) gene einheitliche Rücknahmesystem angemeldet. Mit ei- nem Schlag ist deshalb der Aufbau eines bundesweiten Das prognostizierte Chaos ist ausgeblieben. Die ersten Rücknahmesystems überraschend in Gefahr geraten. Wochen dieses Jahres belegen eindeutig eine ökologische Lenkungswirkung. Das Pfand führt dazu, dass der bis- (Ulrike Mehl [SPD]: Überhaupt nicht!) herige Wettbewerbsvorteil der Einwegverpackungen ge- (B) Jetzt sind Sie gefordert, Herr Trittin. Sie müssengenüber den Mehrwegsystemen aufgehoben wird. Viele (D) schnellstens eine Lösung finden. Ich prophezeie Ihnen, Händler haben Einwegprodukte aus ihrem Sortiment aus- dass Ihnen sonst Handel und Industrie das einheitliche gelistet und die Abfüller von Mehrwegprodukten ver- Rücknahmesystem vor die Füße werfen werden. zeichnen deutliche Absatzsteigerungen. (Beifall bei der CDU/CSU – Ulrike Mehl [SPD]: Werte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie ir- Sie sind doch wie die Geier hinterher!) ren, wenn Sie von einer kontraproduktiven Wirkung des Dosenpfandes ausgehen. Dass die Pfandpflicht eine ge- Dann stünden wir vor einem riesigen Scherbenhaufen und eignete Maßnahme zur Stärkung von Mehrwegsystemen der Karren wäre endgültig gegen die Wand gefahren. Das ist, hat unter anderem das Umweltbundesamt bestätigt. sind Fragen, über die wir reden müssen. Sie bestätigen es sogar selbst, indem Sie sich um Arbeits- Wenn sich der Bundesumweltminister nicht unseren plätze bei der Einwegabfüllung sorgen. Interessanter- immer wieder vorgetragenen Änderungsvorschlägen ent- weise haben Sie diese Sorge mit Blick auf die rund zogen hätte, wäre jetzt manches leichter. Bis heute ver- 250 000 Arbeitsplätze, die im Mehrwegbereich auf dem schließen Sie sich einer vernünftigen Lösung und versu- Spiel stehen, bisher nicht geäußert. chen stattdessen, die angerichteten Schäden mit(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN geringfügigen kosmetischen Änderungen zu mildern. und bei der SPD – Ulrike Mehl [SPD]: Das ist Ich möchte abschließend darauf drängen – – spannend!) In der gegenwärtigen Situation immer noch die Augen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: vor der Realität zu verschließen ist sicher nicht ziel- führend. Die von Ihnen vorgebrachten Argumente werden Ja, Herr Kollege, ich bitte darum, dass Sie zum Schluss durch ständige Wiederholung auch nicht richtiger. Die kommen. Forderung nach einem Aussetzen der eingeführten Pfand- pflicht lehnen wir entschieden ab. Von einer Rechtsunsi- Werner Wittlich (CDU/CSU): cherheit kann heute keine Rede mehr sein. Vor dem Hin- tergrund der inzwischen erreichten Einigung mit den Ich komme sofort zum Ende, Frau Präsidentin. – Ich Bundesländern hat diese Forderung zudem jegliche Rele- möchte abschließend darauf drängen, den vorgelegten vanz verloren. Novellierungsentwurf nochmals zu überarbeiten. Ich biete dafür für die CDU/CSU unsere konstruktive Mitar- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN beit an. und bei der SPD) 2196 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Dr. Antje Vogel-Sperl (A) Ist es nicht vielmehr so, dass seit gut zehn Jahren sei- Diese haben Sie aber doch erst mit der Novelle von 1998 (C) tens des Handels versucht wird, die bereits unter Klaus eingeführt. Sie waren an der Regierung beteiligt. Töpfer erlassene Verpackungsverordnung konsequent zu (Birgit Homburger [FDP]: Das Problem ist ignorieren, zu unterlaufen und zu boykottieren? Ihre Umsetzung!) (Ulrike Mehl [SPD]: Genau so ist es!) – Ich würde gern fortfahren. Tatsache ist, dass seit 1991 klar ist, was auf den Handel (Birgit Homburger [FDP]: Das dürfen Sie zukommt, wenn die vorgeschriebene Mehrwegquote von gerne!) 72 Prozent unterschritten wird. Dies ist bereits 1997 erst- mals geschehen. In den nachfolgenden Jahren ist die In dieser Novelle wurde die ökologisch unsinnige Un- Quote kontinuierlich weiter gesunken. terscheidung nach Getränkearten eingeführt. Wir haben indes schon immer eine Ausrichtung der Verpackungsver- Statt konstruktiv zusammenzuarbeiten, haben Groß- ordnung nach ökologischen Kriterien gefordert und ent- brauereien und Handelsketten bis zuletzt auf einen Regie- sprechende gesetzliche Initiativen auf den Weg gebracht. rungswechsel spekuliert Eine Novellierung der Verpackungsverordnung nach öko- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) logischen Gesichtspunkten ist im Jahr 2001 im Bundes- rat aufgrund rein parteipolitischen Kalküls gescheitert. und, nachdem diese Hoffnung nicht in Erfüllung gegan- gen ist, das Land mit unzähligen Gerichtsverfahren über- (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: So war es zogen. So sollte die fälligeUmsetzung der Ver- nicht! – Werner Wittlich [CDU/CSU]: Das ist packungsverordnung doch noch verhindert werden. nicht wahr! Es waren jede Menge SPD-Länder Spätestens mit der Entscheidung des Oberverwaltungsge- dabei! – Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Wie richts in Leipzig vom Januar dieses Jahres sind auch diese war es mit Clement aus Nordrhein-Westfalen? – Versuche endgültig gescheitert. Ulrike Mehl [SPD]: Stoiber gehört auch in die Reihe!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Schon vor zwei Jahren hätten wir genau das erreichen können, worüber jetzt Konsens zwischen der Bundes- Das Pfand sichert Arbeitsplätze im Mittelstand. In der regierung und den Ländern erzielt wurde. Vergangenheit haben vor allem Großbrauereien ihre Er- zeugnisse in Einwegverpackungen zu Dumpingpreisen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) auf den Markt geworfen. Gleichzeitig wurde die Gefähr- dung von Tausenden von Arbeitsplätzen in mittelständi- Draußen versteht dies kein Mensch mehr, zumal es hier (B) schen Betrieben in Kauf genommen, die bisher traditio- auch um Deregulierung geht. (D) nell auf Mehrwegsysteme gesetzt haben. Das Pfand stärkt Die Pfandpflicht soll künftig für alle Einweggetränke- die regionale Vermarktung von Getränken, da vor allem verpackungen gelten mit Ausnahme von erstens ökolo- regionale Anbieter in der Vergangenheit auf Mehrweg ge- gisch vorteilhaften Einweggetränkeverpackungen wie setzt und dafür auch umfangreiche Investitionen getätigt Getränkekartons und Schlauchbeutel für Milch, zweitens haben. Wein, Spirituosen und allen Mixgetränken mit einem (Birgit Homburger [FDP]: Das Gegenteil ist überwiegenden Anteil davon und drittens bestimmten diä- der Fall!) tetischen Lebensmitteln. Ein Pfand in einer einheitlichen Höhe, wie von Ihnen vorgeschlagen, lehnen wir indes ab. Wenn zurzeit bei einigen Einwegabfüllern Probleme auf- treten und teilweise Kurzarbeit angesetzt wurde, liegt dies (Werner Wittlich [CDU/CSU]: Das warten wir darin begründet, dass sich die Wirtschaft viel zu lange mal ab, ob Sie es ablehnen!) geweigert hat, sich auf das frühzeitig angekündigte Pfand Auch auf die Mehrwegquote als auslösendes Element einzustellen. für die Pfandpflicht wird zukünftig verzichtet. In § 1 Ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN packungsverordnung wird das Ziel aufgenommen, dass und bei der SPD) der Anteil der in ökologisch vorteilhaften Getränkever- packungen abgefüllten Getränke mindestens 80 Prozent Das Pfand ist aber vor allem ein sinnvolles Instrument, betragen soll. Um gleichzeitig Anreize zu schaffen,um- um ökologisch vorteilhafte Verpackungen zu fördern. Es weltverträgliche Verpackungen zu entwickeln, wird ge- wird im Übrigen von der großen Mehrheit der Bevölke- währleistet sein, dass Verpackungen, die sich zukünftig rung akzeptiert und befürwortet. Das Pfand führt zu einer als ökologisch vorteilhaft erweisen, von der Pfandpflicht sortenreinen Sammlung der Verpackungsabfälle und so- ausgenommen werden können. Allerdings sind wir der mit zu einer besseren Verwertung der Rohstoffe. Es trägt Meinung, das dies ohne jeglichen Automatismus gesche- dazu bei, Müll im Vorfeld zu vermeiden, anstatt ihn im hen sollte. Die Entscheidung darüber sollte dem Parla- Nachhinein aufwendig sammeln und entsorgen zu müs- ment nicht vorenthalten werden. sen. Hier bedarf es übrigens auch keines Fonds für Land- Lassen Sie uns die unendliche Geschichte der Dose zu schaftsschutz. Ende bringen und uns weiteren wichtigen Fragen der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Kreislaufwirtschaft zuwenden. Liebe Frau Kollegin Homburger, Sie beschweren sich (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Ja, das ist ein über die bisherigen Ungereimtheiten bei der Pfandpflicht. gutes Wort! Das geht an den Minister!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2197

Dr. Antje Vogel-Sperl (A) Lassen Sie uns gemeinsam konstruktiv die Novellierung Wir kritisieren, dass mit dem Pfand nicht bis zu einer (C) der Verpackungsverordnung auf den Weg bringen! Auch Novellierung der Verpackungsverordnung gewartet Industrie und Handel müssen jetzt konsequent dazu bei- wurde. Dies hat enorme Probleme und Belastungen für tragen, dass das bundesweit einheitlicheRücknahme- die Wirtschaft und für die Verbraucher mit sich ge- system spätestens zum 1. Oktober bereitsteht und die bis- bracht. Wie die FDP sind auch wir der Auffassung, dass herige Blockadepolitik nicht auf anderen Feldern wie dem das Problem der Landschaftsvermüllung anders zu lö- Kartellrecht fortgeführt wird. Das Bundeskartellamt hat sen ist. Ich denke dabei beispielsweise an unser Frank- frühzeitig signalisiert, ein bundesweites Rücknahme-furter Modell, das wir jetzt auch in meinem Wahlkreis system mit einer Clearingstelle für den Ausgleich derWiesbaden eingeführt haben: Völlig egal, ob eine Ziga- Pfandzahlungen unter Einhaltung bestimmter Kriterien zu rettenschachtel oder eine Einwegflasche im Gebüsch genehmigen. Es liegt nun an der Wirtschaft, ein entspre- landet, zahlt derjenige, der das dahin wirft. Das ist der chendes Konzept vorzulegen und nicht den schwarzen richtige Weg. Peter der Kartellbehörde unterzuschieben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Vielen Dank. Birgit Homburger [FDP]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN In diesen Tagen wurde nun zwischen Bund und Län- und bei der SPD) dern eine Einigung über die Eckpunkte einer Novelle er- zielt. Darin wurde die wesentliche Forderung der CDU/ CSU berücksichtigt, nämlich dass das Pfand an eine ne- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: gative Ökobilanz geknüpft ist. Daher begrüßen wir diese Frau Kollegin Vogel-Sperl, ich gratuliere Ihnen recht Einigung grundsätzlich. herzlich zu Ihrer ersten Rede hier in diesem Hohen Hause (Ulrike Mehl [SPD]: Das hättet ihr schon vor und wünsche Ihnen politisch und persönlich alles Gute. zwei Jahren haben können!) (Beifall) Ein Kompromiss ist also gefunden, Herr Trittin. Es liegt Nächste Rednerin ist die Kollegin Kristina Köhler,nun an Ihnen, eine Novelle zu erarbeiten. Ich bitte Sie CDU/CSU-Fraktion. aber, dabei einige Punkte zu beachten. Sosehr wir auch die Ankündigung begrüßen, dass die Pfandpflicht künftig al- (Beifall bei der CDU/CSU) lein an die Ökobilanz geknüpft ist, bitten wir Sie dennoch, Herr Trittin: Ersparen Sie uns eine bürokratisch aufge- Kristina Köhler (Wiesbaden) (CDU/CSU): blähte Regelung, die zur Beurteilung der Ökobilanz neuer Verpackungen langwierige Entscheidungsprozesse hier (B) Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- (D) im Parlament nötig macht. gen! Die Einführung des Zwangspfands zum 1. Januar war ein klassischer Fehlstart. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Herr Trittin, wir wollen doch in diesem Hohen Hause in Ulrike Mehl [SPD]: Nein!) Zukunft nicht immer wieder über Bierdosen und Eistee reden. Deutschland hat doch wirklich wichtigere Pro- Chaotischer geht es wirklich nicht: eine Regelung, die bleme. jeglicher Logik entbehrt, Händler, die darauf nicht vorbe- reitet waren, und verzweifelte Kunden, die in jedem Su- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) permarkt und an jedem Kiosk mit einer neuen Regelung Wir fordern daher, eineInnovationsklausel einzu- für die Rückgabe ihrer Dosen konfrontiert wurden. führen, in der verbindliche Kriterien für die Freistellung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) vom Dosenpfand festgelegt werden. Wenn eine neue Ver- packung erfunden wird, von der wir vielleicht heute noch Statt zuerst mit allen Beteiligten nach einer praktika- gar nichts ahnen, und diese den Kriterien genügt, sich so- blen Lösung zu suchen und anschließend ein Zwangs- mit als ökologisch vorteilhaft erweist, muss diese Ver- pfand einzuführen, hat Herr Minister Trittin lieber genau packung ohne großen bürokratischen Aufwand von der umgekehrt gehandelt, nach dem Motto: Erst handeln; den- Pfandpflicht befreit werden. ken können wir ja später immer noch. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Birgit Homburger [FDP]) Wir wollen also eine Verpackungsverordnung, die sich automatisch dem technischen Fortschritt anpaßt, damit Der Antrag der FDP greift wichtige Argumente der nicht nach jeder Innovation der Verpackungsindustrie CDU/CSU auf. Wir kritisieren ebenfalls, dass sich das wieder alle politischen Entscheidungsgremien beschäftigt Pfand derzeit nicht nach der Ökobilanz richtet, sondern an werden. Es ist nicht Aufgabe dieses Hauses, über die eine Mehrwegquote gekoppelt ist. Das ist ökologisch Ökobilanz des Capri-Sonne-Trinkpacks zu diskutieren. vollkommen sinnlos, denn der Umwelt ist es wirklich to- tal egal, ob in einem Eistee Kohlensäure enthalten ist oder (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nicht. Wenn es Ihnen mit der Entbürokratisierung ernst ist, (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. dann beginnen Sie dort, wo es möglich ist. Vermeiden Sie Birgit Homburger [FDP]) von Anfang an zu viel Bürokratie und geben Sie unserer 2198 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Kristina Köhler (Wiesbaden) (A) Forderung nach einer so gestalteten Innovationsklausel Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege (C) nach. Hartwig Fischer, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das ist Umweltschutz!) Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): In der Einigung wird des Weiteren festgelegt, dass der Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Her- Mindestanteil ökologisch vorteilhafter Verpackungenren! Die politische und soziale Situation in Kolumbien 80 Prozent betragen soll. Als Zielvorgabe, an der sich hat sich in den vergangenen Jahren stark verschlechtert. Wirtschaft und Verbraucher orientieren können, ist das in Nach Analysen der Vereinten Nationen sind die Ko- Ordnung. Wir lehnen aber ab, dass das Unterschreiten die- kaanbauflächen in Kolumbien im Vergleich zu 1996 um ser Quote Sanktionen nach sich zieht, denn dann wären 300 Prozent vergrößert worden. Die Schreckensmacht wir wieder bei einer ökologisch unsinnigen Quotenrege- der linken und rechten Guerilla, die sich hauptsächlich aus lung, von der wir gerade weg wollten. dem Drogenhandel finanzieren, konnte nicht durchbro- chen werden. Vielmehr haben die Gewalttaten massiv zu- (Beifall bei der CDU/CSU) genommen, und zwar nicht nur auf dem Land, sondern ge- Herr Minister Trittin, zeigen Sie mit der Novelle, dass rade auch in den Städten. Entführungen, Erpressungen und es die Bundesregierung mit der Entbürokratisierung ernst Morde – etwa 30 000 jährlich – verursachen immer häufi- meint. Berücksichtigen Sie unsere Forderung nach einer ger Angst und Schrecken in Kolumbien. Innovationsklausel und stellen Sie sicher, dass Eva- Vor etwa einem Jahr sind die Friedensgespräche zwi- luierung und Anpassung der Verpackungsverordnungschen der kolumbianischen Regierung und der Rebellen- nicht immer wieder dieses Parlament beschäftigen, dann gruppe „Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens“, FARC, können Sie auch mit der Unterstützung von CDU/CSU abgebrochen worden und konnten bis heute nicht wieder rechnen. aufgenommen werden. Das Bombenattentat der FARC in Bogota vor wenigen Tagen lässt erkennen, dass die Gue- Danke. rillas ihren Kampf nun vom Land wieder in die Städte ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) legen. Dabei konnten die Guerillas während der letzten Jahre ihre Position in den ländlichen Regionen unter Aus- nutzung des konzilianten politischen Ansatzes des ehe- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: maligen Präsidenten Pastrana ausbauen. Schätzungsweise Frau Kollegin Köhler, Sie hielten heute Ihre erstesind 50 Prozent der Fläche Kolumbiens nicht unter staat- Rede. Herzlichen Glückwunsch. Ich wünsche auch Ihnen licher Kontrolle, sondern unter der bewaffneter Gewalt- gruppen. Um die Finanzierung dieser Gruppen durch den (B) politisch und persönlich alles Gute. (D) Drogenhandel ebenso wie die Unterdrückung der Indige- (Beifall) nen und der sonstigen Landbevölkerung zu beenden, Ich schließe die Aussprache. muss also vor allem dasstaatliche Gewaltmonopol in ganz Kolumbien hergestellt werden. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 15/315 an die in der Tagesordnung auf- Eingedenk der Tatsache, dass die Friedensinitiativen geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- des Vorgängers des heutigen Präsidenten Uribe von der verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Guerilla nicht honoriert wurden, muss eine erfolgreiche so beschlossen. Politik für Kolumbien daran ansetzen, das Land innenpo- litisch zu stabilisieren, notfalls auch unter Einsatz von Po- Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf: lizei und Militär. Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Weiß (Beifall bei der CDU/CSU) (Emmendingen), Dr. Christian Ruck, Dr. Friedbert Darin sollte Präsident Uribe von den internationalen Ko- Pflüger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion operationspartnern unterstützt werden. Dabei muss die der CDU/CSU rechtsstaatliche Überprüfung der Notstandsmaßnahmen Neue Initiative zur Wiederbelebung des kolum- Uribes gewährleistet sein. Derartige Maßnahmen sind bianischen Friedensprozesses international un- aber nur dauerhaft wirksam, wenn sie von entsprechenden terstützen strukturellen und sozialen Maßnahmen flankiert werden, gerade weil sich die Spannungen in Kolumbien in den – Drucksache 15/203 – letzten Monaten verschärft haben. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Für CDU und CSU ist es im Gegensatz zur Meinung Entwicklung (f) des BMZ nicht damit getan, im Rahmen des übergeord- Auswärtiger Ausschuss neten Schwerpunktes „Krisenprävention und Friedens- Innenausschuss entwicklung“ nur punktuelle Beiträge zur Lösung des in- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ternen Konflikts zu leisten. Wir sehen in umfassenden Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Reformen von Legislative, Parteien, Justiz und Verwal- tung ein Kernstück einer dauerhaften Friedenspolitik für Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Kolumbien. Wir begrüßen daher ausdrücklich die finan- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei- zielle Unterstützung des UN-Menschenrechtsbüros in nen Widerspruch, dann ist das so beschlossen. Bogota durch die Bundesrepublik Deutschland. Aber, Frau Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2199

Hartwig Fischer (Göttingen) (A) Ministerin Wieczorek-Zeul, das ist wieder einmal nur eine Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Tribüne ver- (C) Politik der Symbolik. Sie haben Ihre Möglichkeiten, ge- folgen Gäste aus Kolumbien unsere Debatte. Dies sind der rade im Rahmen der EU-Entwicklungszusammenarbeit Präsident des kolumbianischen Kongresses, Señor auf eine nicht nur bezüglich der Menschenrechte einheitli- Alfredo Ramos Botero, und die anderen Mitglieder sei- chere und vorurteilslose Politik gegenüber Kolumbienner Delegation. Herzlich willkommen im Deutschen hinzuwirken, bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Bundestag! (Klaus-Jürgen Hedrich [CDU/CSU]: Richtig!) (Beifall) Am US-amerikanischen „Plan Colombia“ kann man Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Karin durchaus berechtigte Kritik üben. Aber es ist doch nur Kortmann, SPD-Fraktion. sinnvoll, mit den Vereinigten Staaten als wichtigstem Kooperationspartner der kolumbianischen Regierung eng zusammenzuarbeiten und sich abzustimmen. Karin Kortmann (SPD): Über den Antrag der CDU/CSU-Fraktion hinaus möchte Sehr geehrte, liebe Frau Präsidentin! Liebe Kollegin- ich zwei konkrete Vorschläge machen: Erstens. Drogen- nen! Liebe Kollegen! Buenas tardes señores senadores del anbau und Drogenhandel sind die Hauptfinanziers des Parlamento Colombiano! Unfriedens in Kolumbien. Deshalb muss die Förderung (Beifall) von Alternativen zum Drogenanbau im Rahmen einer integrierten ländlichen Entwicklung wieder in das Zen- Knapp 30 Jahre Bürgerkrieg in Kolumbien hinterlas- trum der deutschen und der europäischen Entwicklungs- sen Spuren: Inzwischen sind etwa 2,5 Millionen Men- zusammenarbeit rücken. schen aufgrund der bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Militär, Guerilla und Paramilitärs sowie auf- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei grund der unzureichenden Drogenpolitik des kolumbiani- Abgeordneten der FDP) schen Staates auf der Flucht. Alle bewaffneten Gruppen Bei den im zweiten Halbjahr 2003 anstehenden Regie- verletzen seit Jahrzehnten nachweislich die Menschen- rungsverhandlungen sollte die Hilfe für Kolumbien nicht, rechte und das humanitäre Völkerrecht. wie von der Bundesregierung geplant, gekürzt, sondern Diese Situation in Kolumbien beschreiben Sie in Ihrem aufgestockt werden. Wenn schon derzeit der Kaffeeanbau Antrag sehr korrekt, liebe Kollegen und Kolleginnen der angesichts des Preisverfalls keine Alternative darstellt, Union. Allerdings stimme ich Ihnen in Bezug auf die dann könnte zumindest die Umwandlung in rentable Pro- Konsequenzen, die Sie aus Ihrer Analyse ziehen, und auf duktiv- und Schutzwälder eine große Chance eröffnen. Ihre Handlungsaufforderungen an die Bundesregierung in Alternative Anbauprodukte brauchen aber vor allem einen (B) keiner Weise zu. Sie konterkarieren und widersprechen(D) Markt. Den könnten die Industrieländer durch einen Ab- der in diesem Hause beschlossenen Kolumbienpolitik. bau der Zollbarrieren schaffen. Dass gerade Deutschland Wir haben uns vor anderthalb Jahren dafür eingesetzt, das Gegenteil tut, zeigt die morgen anstehende Verab- schiedung der neuen Steuergesetze. Kolumbien fürchtet dass es zu einer Rückgewinnung der staatlichen Autorität, als zweitgrößter Blumenexporteur der Welt zu Recht um der Herstellung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, seine Absatzchancen, wenn Rot-Grün die Mehrwertsteuer der Wahrung der Menschenrechte, der Versöhnung der be- auf Schnittblumen erhöht. waffneten Konfliktparteien und vor allem zu einer regio- nalen Stabilisierung kommt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Unter der Überschrift „Neue Initiative zur Wiederbele- Zweitens. Grundvoraussetzung für einen Friedenspro- bung des kolumbianischen Friedensprozesses internatio- zess ist die Respektierung der demokratisch gewählten nal unterstützen“ fordern Sie gar die Unterstützung des Institutionen. Mehrere Mitglieder des kolumbianischen „Plan Colombia“. Diese Forderung zieht sich wie ein ro- Kongresses sind derzeit entführt und können ihr Abge- ter Faden durch Ihren Antrag. Das ist nicht nur ein Griff ordnetenmandat nicht wahrnehmen. Ein Drittel aller Bür- in die Mottenkiste, sondern ein äußerst gefährliches Un- germeister kann das Amt nicht ausüben oder sie müssen terfangen, den Friedensprozess mit militärischen Mitteln von anderer Stelle ihre Tätigkeit ausüben als vom Rathaus wiederzubeleben. aus, in das sie gewählt wurden. Wir, der Deutsche Bundes- tag, sollten zusammen mit Parlamentariern anderer Län- Ich erinnere: Der von der Regierung Pastrana im der eine gemeinsame Initiative starten, um den Druck auf Jahr 2000 ausgearbeitete nationale Entwicklungsplan die Guerilla zur Freilassung unserer Kolleginnen undsollte die Basis für eine Befriedung des Landes schaffen; Kollegen und zur Gewährleistung freier Mandatsaus-das Hauptgewicht wurde aber auf die Bekämpfung des übung deutlich zu erhöhen. Drogenanbaus und des Drogenhandels mit militärischen Mitteln gelegt. Aus diesem Grund hat ein breites Bündnis (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) internationaler Menschenrechtsorganisationen, kirch- licher Hilfswerke, der EU, auch und gerade der deutschen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Bundesregierung und des Deutschen Bundestages den „Plan Colombia“ abgelehnt. Wenn Sie sich schon Anträge Herr Fischer, auch Ihnen herzliche Glückwünsche zu von Nichtregierungsorganisationen schreiben lassen, Ihrer ersten Rede in diesem Hohen Hause. Ich wünsche dann verfolgen Sie bitte auch deren Intention, was den Ihnen persönlich und politisch alles Gute. „Plan Colombia“ angeht, und nehmen Sie keine Verdre- (Beifall) hungen im Antragstext vor! 2200 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Hartwig Fischer (Göttingen) (A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Amtsübernahme von Präsident Uribe wurden bestimmte (C) DIE GRÜNEN) Grundrechte wie die Bewegungs-, die Versammlungs- und die Pressefreiheit eingeschränkt und gleichzeitig dem Großflächige Besprühungen von Drogenkulturen mit Militär polizeiliche Aufgaben übertragen. Pestiziden aus der Luft zerstören nicht nur Kokafelder, sondern jegliche landwirtschaftliche Produktion in den Menschenrechtsverletzter können in Kolumbien nach betroffenen Gebieten. Außerdem bedrohen sie die Ge- wie vor mit weitgehender Straflosigkeit rechnen. Das ist sundheit der Bevölkerung. Daher setzt die Bundesregie- ein Schlüsselproblem des bewaffneten Konflikts, da man- rung unter Federführung des BMZ im Rahmen der EU auf gelnde Strafverfolgung ein Hauptanreiz für weitere eine entwicklungsorientierte, alternativeBekämpfung Gewalt ist. Das Büro des VN-Hochkommissariats für Men- des Drogenanbaus, zum Beispiel durch die Substitution schenrechte in Bogotá hat Kolumbien nach wie vor man- von Drogenpflanzungen durch andere, legale Anbaukul- gelnde Strafverfolgung in hohem Maß, mangelndes Vorge- turen sowie durch Aufforstungsmaßnahmen im Rahmen hen gegen Angehörige des Staatsapparates und eine unklare einer nachhaltigen Waldwirtschaft, die vom BMZ verant- Trennung zwischen ziviler und militärischer Gerichtsbar- wortet wird. keit bescheinigt sowie Empfehlungen zur Bekämpfung der mangelnden Strafverfolgung ausgesprochen. Die kolum- In betroffenen Regionen, zum Beispiel Cauca, hat sich bianische Regierung muss diese Maßnahmen endlich um- gezeigt, dass durch die Besprühungsaktionen die Zahl der setzen, gerade im Hinblick darauf, dass eine stärkere Mitt- Binnenvertreibungen ansteigt und das ökologische lerrolle der internationalen Staatengemeinschaft im Gleichgewicht massiv zerstört wurde. Ein solches Pro- kolumbianischen Konflikt von Präsident Uribe ausdrück- blem macht auch an den Landesgrenzen nicht Halt. Das lich gewünscht ist. gilt gerade im Fall Kolumbien, dessen bewaffneter Kon- flikt auf die Nachbarländer übergreift. Zu diesem Problem gehört auch, dass Kolumbien kürz- lich dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs zwar Wir brauchen nicht nur eine kolumbianische, sondern beigetreten ist, allerdings mit einem siebenjährigen Vor- auch eine regionale Perspektive. behalt für Verbrechen gemäß Art. 8. Das bedeutet, dass (Klaus-Jürgen Hedrich [CDU/CSU]: Das ist erst in sieben Jahren Kriegsverbrecher für Vergehen, die richtig!) sie dann begehen, international zur Verantwortung gezo- gen werden können. Diese muss Alternativen zu den militärisch-repressiven Komponenten des „Plan Colombia“ und der daraus wei- Selbstverständlich muss der kolumbianische Staat terentwickelten „Andean Regional Initiative“ der Bush- sein Gewaltmonopol wieder herstellen, um die Wahrung Administration bieten; sonst ist eine Militarisierung der der Menschenrechte sowie der Rechtsstaatlichkeit über- (B) gesamten Region zu befürchten. haupt zu garantieren und auch eine Ausweitung eines(D) Konflikts auf die gesamte Andenregion zu verhindern. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit engagiert Hierzu bedarf es aber unserer Begleitung und Unterstüt- sich sowohl im Rahmen der EU als auch im Rahmen ih- zung in den Bereichen Rechtsstaatsförderung, Verteidi- rer bilateralen staatlichen Entwicklungszusammenarbeit gung der Menschenrechte, Kampf gegen Ursachen der für eine Verbesserung der Lage in Kolumbien. Neben Gewalt, Schutz der Biodiversität und Bekämpfung des Umwelt- und Ressourcenschutz sind Friedensentwicklung Drogenanbaus durch eine nachhaltige ländliche Ent- und Konfliktbewältigung die Schwerpunkte. Während der wicklung und nicht einer Unterstützung des „Plan Co- Regierungsverhandlungen im April 2001, Herr Fischer, lombia“. hat die Bundesregierung gar eine Verdoppelung ihrer bila- teralen Unterstützungsleistungen zugunsten des Friedens- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ prozesses vorgenommen. Damit hat Heidemarie DIE GRÜNEN) Wieczorek-Zeul einen Demokratiebonus für die Pastrana- Regierung und den Friedensprozess gegeben. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Nächster Redner ist der Kollege Dr. Werner Hoyer, DIE GRÜNEN) FDP-Fraktion. Allerdings müssen wir feststellen, dass Pastrana mit seinem „Plan Colombia“ gescheitert ist und dass die Po- (FDP): litik, die Sie meine Damen und Herren von der Union, Dr. Werner Hoyer jetzt auch noch unterstützen wollen, sicherlich nicht sehr Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zukunftsfähig ist. Kolumbien braucht und verdient unsere Aufmerksamkeit. Kolumbien ist ein geschundenes Land. Die Kolumbianer Die so genanntePolitik der harten Handseines sind ein geschundenes Volk. Sie verdienen unsere unein- Nachfolgers, Präsident Uribe, die vor allem auf eine mi- geschränkte Unterstützung. Ich habe mich übrigens litärische Konfliktlösung setzt, muss von der internatio- besonders darüber gefreut, Herr Fischer, dass Sie die So- nalen Staatengemeinschaft äußerst kritisch beobachtet lidarität mit unseren parlamentarischen Kollegen ange- werden. mahnt haben. (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Na, na!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie – Selbstverständlich, Herr Ruck; schauen Sie hin! – Mit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE der Erklärung des Ausnahmezustands kurz nach der GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2201

Dr. Werner Hoyer (A) Es ist ein unglaublicher Skandal, den wir, egal wo wir po- und geschärft werden, auch durch unsere Hilfe. Aber ich (C) litisch stehen mögen, nicht einfach hinnehmen dürfen. finde es doch schon sehr bedenklich, wenn wir uns sehr stark auf die militärische Dimension des Problems stüt- (Klaus-Jürgen Hedrich [CDU/CSU]: Richtig!) zen. Problematisch sind Reaktionen weit über die Putu- Ich habe bei der Vorbereitung auf diese Rede noch ein- mayo-Region hinaus. mal die Debatte vom 5. Juli 2000 nachgelesen. Ich bin zu Gleichzeitig sind in den letzten Jahren unsere Ansätze dem Schluss gekommen, dass es zwei Möglichkeiten gibt: für Polizeihilfe in den Etats sowohl des Außenministers dass ich entweder die Rede von damals zu Protokoll gebe als auch des Innenministers immer weiter zurückgefahren oder sie einfach noch einmal vorlese, ohne dass jemand merken wird, dass sie vor drei Jahren schon einmal ge- worden. Hier war in den letzten Jahren hervorragende Ar- halten worden ist; denn die Probleme haben sich nicht beit geleistet worden. nachhaltig geändert. Es ist keine wesentliche Besserung (Beifall bei der FDP) eingetreten. Bestimmte Dinge haben sich eher noch ver- schärft. Die Situation ist fast noch verzweifelter gewor- Ich will es bei diesen wenigen kritischen Anmerkun- den. Wir müssen nur einige Namen ändern. Es ist eingen, die in 180 Sekunden möglich sind, belassen. Ich sage neuer Präsident im Amt, der mit großem Engagement ver- noch einmal: Die FDP-Fraktion geht unvoreingenommen sucht, an die Dinge heranzugehen, und dabei bisher er- in die Diskussion in den Ausschüssen. Ich möchte aber staunlicherweise keinen Abbau seiner hohen Popularitäts- eine gewisse Skepsis, gerade was die sehr starke Fokus- werte in Kauf nehmen muss, obwohl er den Menschen sierung auf den „Plan Colombia“ angeht, nicht verhehlen. weiß Gott viel abverlangt. Danke schön. Die Schwierigkeiten sind nach wie vor enorm groß. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die Kollegin und der Kollege haben das sehr nachdrück- lich vorgetragen. Ich verzichte darauf, das zu wiederho- len. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Die Sicherheitslage bzw. die Unsicherheitslage – so sa- Nächster Redner ist der Kollege Thilo Hoppe, Bünd- gen wir wohl besser – ist neben der Korruption sicherlich nis 90/Die Grünen. der größte Hemmschuh für Auslandsinvestitionen, für Tourismus, für eine wirtschaftliche Entwicklung und ins- Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): besondere für eine Verbesserung der sozialen Lage der Menschen. In dieser Situation ist die Europäische Union Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sehr viel mehr gefordert, als das in Brüssel offensichtlich „Hundert Jahre Einsamkeit“ – das ist der Titel des be- (B) gesehen wird. Wir sind im Hinblick auf den europäischen kannten Buches von Gabriel García Márquez, des kolum- (D) Ansatz für Kolumbien gegenüber der Debatte, die wir vor bianischen Literaturnobelpreisträgers. Angesichts der drei Jahren geführt haben, noch nicht entscheidend wei- Tragödie, die sein Land zurzeit durchlebt, erhält dieser Ti- tergekommen. Wir sollten dort weiterhin Druck machen. tel eine ganz neue Bedeutung: 50 Jahre latenter Bürger- krieg und kein Ende in Sicht. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]) Seit 1998 hat sich die Lage aufgrund der Wirtschafts- krise noch weiter zugespitzt: Jahr für Jahr Tausende von Dass es hier und da Fortschritte gegeben hat, ist nicht Ermordeten, Tausende von Entführten und mehr als zwei zuletzt auch der Initiative vieler Nichtregierungsorganisa- Millionen Flüchtlinge. Nächsten Sonntag ist es ein Jahr tionen und der Kirchen zu danken. Deren Engagement mit her, dass die grüne Präsidentschaftskandidatin Ingrid vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die ein großes Betancourt von der FARC-Guerilla entführt wurde. Mit persönliches Risiko eingehen, sollten wir an dieser Stelle ihr gemeinsam befinden sich 23 weitere Politiker in Gei- würdigen. selhaft der Guerilla. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ich will dieses Szenario des Schreckens nicht noch der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS- weiter ausbreiten. Es ist von den Rednerinnen und Red- SES 90/DIE GRÜNEN) nern vor mir schon ausreichend dargestellt worden. Ich halte es für zwingend erforderlich, dass wir in ei- Es liegt jetzt ein Antrag der CDU/CSU-Fraktion vor. ner ganz beachtlichen Breite die Zusammenarbeit mit Ko- Richtig an dem Antrag ist die grundlegende Aussage, dass lumbien suchen. Ich fürchte – das ist der Punkt, bei dem sich etwas ändern muss, dass die internationale Gemein- ich zwar unvoreingenommen, aber doch mit einer gewis- schaft nicht länger wegsehen darf, dass Kolumbien Un- sen Grundskepsis an den „Plan Colombia“ und den jetzt terstützung braucht. Bitter notwendig – im wahrsten vorliegenden Antrag der Unionsfraktionen herangehe –, Sinne des Wortes: Not wendend – sind neue Impulse für die schärfere Fokussierung der militärischen Dimension einen Friedensprozess, einen Prozess, der international kann es nicht sein. begleitet und unterstützt werden muss. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich möchte keinen Zweifel daran aufkommen lassen, Ich bin durchaus nicht so naiv, davon auszugehen, dass dass insbesondere die FARC-Guerilla schwerste Verbre- wir nur mit alternativen Anbauprojekten oder mit Sozial- chen begangen hat und begeht. Das muss beim Namen ge- projekten die Probleme in den Griff kriegen könnten. Die nannt werden, auch von allen Fraktionen im Deutschen repressive Dimension muss mit Sicherheit vorhanden sein Bundestag. Schlimmste Gewaltverbrechen gehen aber 2202 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Thilo Hoppe (A) auch auf das Konto der ultrarechten Paramilitärs. Darin müssen. In Abstimmung mit den Vereinten Nationen und (C) liegt ein Problem, weil zwischen den Paramilitärs und den der Organisation Amerikanischer Staaten sollte sich die offiziellen Regierungstruppen immer wieder eine Kom- EU viel stärker in diesen Prozess einbringen. Auch der plizenschaft beobachtet werden kann. UN-Hochkommissar für Menschenrechte muss in diesen multilateralen Friedensprozess aktiv einbezogen werden. Die Menschenrechtslage ist diffus. Menschenrechts- Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit sollte diesen verletzungen werden den verschiedenen Guerillaverbän- Prozess noch stärker als bisher mit der Förderung der den, den Paramilitärs, der Drogenmafia, aber auch den so nachhaltigen Land- und Forstwirtschaft, mit Projekten genannten Sicherheitskräften der Regierung vorgewor- des zivilen Friedensdienstes und mit Hilfen bei der Re- fen. form des Justizwesens und der öffentlichen Verwaltung Aus dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion spricht für flankieren. Ein Menschenrechtsmonitoring ist unerläss- mich eine zu unkritische Haltung gegenüber der Regie- lich. rung von Álvaro Uribe. Grundlegende Reformen im Be- Es gibt viel zu tun in Kolumbien und für Kolumbien. reich des kolumbianischen Militärs und der Polizei sind Die Untätigkeit der internationalen Gemeinschaft könnte unbedingt notwendig. Menschenrechtsstandards müssen dazu führen, dass der Konflikt auf die Nachbarstaaten endlich eingehalten werden. Die Verbrechen der Parami- übergreift. Wie gesagt: Es gibt viel zu tun. Der „Plan Co- litärs müssen verfolgt werden. Darüber wurde meistens lombia“ ist jedoch das falsche Mittel. Deshalb lehnen wir stillschweigend hinweggegangen. den Antrag der CDU/CSU-Fraktion ab. Wir setzen auf zi- Im Mittelpunkt des CDU/CSU-Antrags steht der „Plan vile Mittel, auf Verhandlungen, auf die Beseitigung der Colombia“. Sie wissen, EU und Bundesregierung stehen Ursachen des Konflikts und nicht auf Gewalt. Den Frie- diesem „Plan Colombia“ mit großer Skepsis gegenüber. den mit Mitteln anzustreben, die ihm nicht zuwiderlaufen, Viele Nichtregierungsorganisationen und besonders auch darauf kommt es an. Wir werden einen neuen Antrag ein- die kirchlichen Hilfswerke halten diesen Plan für ein ganz bringen, der in diese Richtung geht. untaugliches Mittel. Ich schließe mich dieser Einschät- Danke schön. zung an. Der „Plan Colombia“ verschlimmert die Situa- tion eher, als dass er einen Lösungsweg aufzeigen könnte. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Erinnern wir uns an seine Entstehung: Der ehemalige Staatspräsident Pastrana ließ diesen Plan von seinen Un- terhändlern in ganz enger Abstimmung mit dem US State Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Department ausarbeiten. Monatelang lag dieser Plan nur Nächster Redner ist der Kollege Klaus-Jürgen Hedrich, (B) auf Englisch vor. In diesem Plan geht es vor allem um CDU/CSU-Fraktion. (D) Waffenlieferungen und Flugeinsätze mit Entlaubungsmit- teln. Klaus-Jürgen Hedrich (CDU/CSU): (Klaus-Jürgen Hedrich [CDU/CSU]: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen Haben Sie ihn nicht gelesen?) und Kollegen! Ich will nicht verhehlen, dass es mich be- Soll eine tragfähige Grundlage für wirklichen Frieden sonders freut, dass mehr oder weniger durch einen Zufall und nicht Friedhofsruhe entstehen, dann kann dies nicht auch mein Freund Alfredo Ramos, Präsident des kolum- mit Mitteln des Vietnamkrieges geschehen. bianischen Kongresses, heute an dieser Diskussion teil- nehmen kann. Nehmt bitte auch unsere Sympathien für Die EU hat sich darauf verständigt, zivile Programme die besondere Problematik in Kolumbien zur Kenntnis. zu unterstützen, die auf die Bekämpfung der wirklichen Ursachen der Gewalt abzielen. Die Menschen in Kolum- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bien brauchen eine Perspektive. Bauern, die sich in einer des Abg. Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/DIE wirtschaftlichen Notlage befinden und sich deshalb ge- GRÜNEN]) zwungen sehen, Koka anzubauen, sollten mit staatlicher Wir haben in diesem Hause in den letzten Jahren des und internationaler Hilfe die Möglichkeit bekommen, auf Öfteren zum Ausdruck gebracht, dass wir es nicht zulas- den Anbau anderer Produkte umzusteigen. Es laufen be- sen dürfen, dass sich weltweit bzw. über die Welt zerstreut reits Projekte, mit denen versucht wird, besonders im Be- Zonen der Ordnungslosigkeit bilden. Das gilt nicht nur für reich der nachhaltigen Land- und Forstwirtschaft neue Afghanistan, nicht nur für den Irak, nicht nur für Somalia, Einkommensquellen zu erschließen. Eine Landreform ist sondern natürlich auch für Teile des geschundenen Lan- dringend notwendig. Insbesondere die kleinbäuerliche des – das sehen ja alle genauso – Kolumbien. Landwirtschaft braucht dringend Unterstützung. All das ist segensreicher als Militäraktionen und das Besprühen Der Ansatz der neuen Administration – übrigens nicht der Kokafelder aus der Luft mit Gift; denn das Gift zer- nur der Regierung, sondern auch der Mehrheit des neu ge- stört nicht nur die Kokapflanzen, sondern auch die Böden wählten Kongresses – ist im Unterschied zu Pastrana, der und macht Landwirtschaft für eine längere Zeit unmög- übrigens gerade von der politischen Klasse stark gewür- lich. digt wird, nicht allein auf den Frieden an sich zu setzen; denn die Menschen in Kolumbien haben den neuen Präsi- Nötig sind neue Impulse für umfassende Friedensver- dent gerade deswegen gewählt, weil er dem Punkt Si- handlungen, die transparent und – das ist ganz wichtig – cherheit eine stärkere Bedeutung einzuräumen versprach, unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft geführt werden als es in der Vergangenheit der Fall war. Ich kann dazu nur Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2203

Klaus-Jürgen Hedrich (A) sagen: Wenn es nicht gelingt, im Land ein größeres Maß Unterhalten Sie sich einmal mit den Repräsentanten(C) an Sicherheit herzustellen und schrittweise wieder mehr ausländischer Firmen, auch einer Reihe von deutschen Regionen unter die Kontrolle der gewählten und demo- Firmen, in Bogotá. Diese werden Ihnen mitteilen, dass sie kratisch legitimierten Regierung von Kolumbien zu brin- in dem Konflikt in Kolumbien in der letzten Zeit in dieser gen, dann wird sich auch mittel- und langfristig nicht viel klassischen Form zum ersten Mal durch die Guerilla be- in diesem Lande ändern. droht werden. Auch dadurch wird deutlich: Dieser Kon- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) flikt ist nicht einzig und allein ein nationaler. Natürlich hat die Frau Kollegin Kortmann Recht, wenn Deshalb habe ich durchaus Verständnis dafür, wenn die sie darauf verweist, dass militärische Aspekte allein nicht kolumbianische Regierung in bestimmten Fragen von ausreichen. Aber, werter Kollege Hoppe, ich habe den dem Konzept „Zero Tolerance“ ausgeht. Wer sich nicht Eindruck – ich bitte, es mir nicht übel zu nehmen, wenn nach den demokratischen Spielregeln richten will, wer ich das so deutlich formuliere –, Sie haben den „Plan Co- – wie im Fall der Guerilla und der Regierung Pastrana – lumbia“ nicht gelesen – abgesehen davon, dass er nicht nicht bereit ist, ausgestreckte Hände zu ergreifen, der darf im Zentrum unseres Antrages steht, den Sie wahrschein- sich nicht wundern, wenn die Mehrzahl der Bürger ir- lich auch nicht richtig gelesen haben. gendwann sagt: Jetzt reicht es, jetzt erwarten wir, dass die staatliche Autorität so handelt, dass wir in Frieden und Es geht um Folgendes: Der „Plan Columbia“ hat auch Freiheit leben können. eine militärische Komponente, aber es überwiegen ein- deutig die nicht militärischen Komponenten. Das sollten Die FARC, die Guerilla – sie ist ja die Hauptkraft; wir ebenfalls einmal zur Kenntnis nehmen. natürlich spielen auch die Paramilitares eine unange- nehme Rolle, um keine andere Formulierung zu wählen – Die Bürger dieses Landes gehen davon aus, dass die Regierung Sicherheit gewährleisten muss. Ich nenne Ih- (Anke Hartnagel [SPD]: Eine große Rolle!) nen ein Beispiel. Ich habe vor Jahr und Tag – das ist viel- ist letzten Endes der eigentliche Störfaktor in diesem leicht schon zehn Jahre her – mit einer Delegation von An- Lande. Deshalb sind wir klug beraten, wenn wir in Ko- gehörigen der indigenen Bevölkerung aus dem Caucalumbien alle Gruppen unterstützen, die darauf ausgerich- gesprochen. Sie haben mir damals gesagt, dass ihr vor- tet sind, freiheitliche, marktwirtschaftliche und demokra- rangiges Interesse darin bestehe, dass sie mit dem gesam- tische Reformen durchzusetzen. Das liegt nicht nur im ten Konflikt in Kolumbien nichts zu tun haben wollen Interesse des Volkes von Kolumbien, sondern auch in un- (Karin Kortmann [SPD]: Das sagen sie heute serem eigenen Interesse. auch noch!) Herzlichen Dank. (B) – einen Augenblick! –, sondern in Ruhe gelassen werden (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wollen. Ich habe bereits damals gesagt: Meine Erfahrun- gen aus anderen Regionen der Welt zeigen mir, dass man in einem Bürgerkrieg langfristig nicht neutral bleiben kann, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: dass man irgendwann Partei ergreifen muss. Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Anke Die gleiche Delegation war jetzt auf Einladung von Hartnagel, SPD. Pax Christi Holland in Deutschland. Insbesondere der Gouverneur, ein Indigina, hat mir gesagt, für sie sei es klar: Sie unterstützten den Ansatz des neuen Präsidenten, Anke Hartnagel (SPD): weil sie hofften, dass mittelfristig mehr Sicherheit für die Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Señoras Bürger eintrete. y señores! Jede mögliche Unterstützung zur Verbesserung Wir sollten uns nicht täuschen, indem wir glauben, das der Situation der Bevölkerung in Kolumbien, die seit Jahr- sei ein Konflikt, für den wir uns nur als Außen- und Ent- zehnten unter den Konflikten leidet, ist recht, aber nicht wicklungspolitiker interessieren. Nein, die Vorgänge in jedes Mittel. Das sage ich hier eindeutig. Kolumbien berühren unmittelbar unsere eigene Sicher- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten heit. Das müssen wir uns immer wieder vor Augen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) führen. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, in Ihrem Es ist ganz eindeutig, wie der letzte Anschlag zustande Antrag vermisse ich einige Punkte, zum Beispiel dieSi- gekommen ist. Die FARC wird von allen Terroristen-tuation der Binnenflüchtlinge. Die Situation in Kolum- experten für nicht fähig gehalten, einen solchen Anschlag bien kommt einer humanitären Katastrophe gleich. In- alleine durchzuführen. So war es kein Wunder, dass vor zwischen sind über 2,5 Millionen Menschen, darunter vor kurzem drei Angehörige der IRA in Bogotá verhaftetallem Frauen und Kinder, im eigenen Land auf der Flucht; wurden, die hinter diesem Anschlag steckten. das sind mehr als die Bevölkerung der Stadt Hamburg. Wir wissen seit langem, dass es Kontakte zwischen der Die gewaltsamen Vertreibungen haben damit einen dra- IRAund der Guerilla und Kontakte zwischen der ETAund matischen Höhepunkt erreicht und es ist keine Besserung der Guerilla gibt. Das macht deutlich: Es handelt sichder Situation in Sicht. Im Gegenteil: Die Zivilbevölke- nicht nur um einen regionalen Konflikt, sondern um einen rung wird immer mehr in den gewaltsamen Konflikt zwi- Konflikt, der uns unmittelbar berührt. Darauf sollten wir schen Guerilla, Paramilitärs, Drogenmafia und Armee uns entsprechend einstellen. hineingezogen. Diese vier Gruppen muss man einmal klar 2204 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Anke Hartnagel (A) benennen. – Sie können ruhig zuhören, Herr Kollegedie Gewerkschaften deshalb auf internationale Solidarität (C) Hedrich. und Kooperation angewiesen. Waren im Jahr 2000 43 Prozent der Gemeinden von (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten interner Vertreibung betroffen, so hat sich diese Zahl al- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) lein in den letzten zwei Jahren auf 86 Prozent verdoppelt. Die Situation der Journalisten sieht nicht viel besser Das bedeutet: Das Problem hat sich von der lokalen Ebene aus. Sie müssen unter Druck und Angst arbeiten. Obwohl auf das gesamte Staatsgebiet ausgeweitet. Regierungsver- Präsident Uribe die Pressefreiheit unter keinen Umstän- treter behaupten nun, die Flüchtlinge würden gut versorgt den einschränken will, haben einige Studien inzwischen und die Kinder könnten zur Schule gehen. Aber in der erschreckend festgestellt: Die Kriegssituation zwingt die Realität sieht das ganz anders aus. Oft werden die Men- Presse vermehrt zum Schweigen, die Informationsqualität schen, insbesondere die indigenen Volksgruppen und die und die Ausdrucksfreiheit verschlechtern sich in Kolum- ländliche Bevölkerung, weiter verfolgt. Von vernünftiger bien weiter. Ernährung oder gar Schule kann überhaupt nicht die Rede (Zuruf von der CDU/CSU: Sie verbessert sein. sich!) Die längst überfällige Landreform, von der auch Sie Die Tageszeitung „El Espectador“ hat sich in eine Wo- schon gesprochen haben – von Pastrana bereits angekün- chenzeitung umgewandelt. Damit bleibt nur noch eine digt und auch von Uribe versprochen –, die die Rechte der einzige Zeitung mit nationaler Verbreitung, nämlich „El Landbevölkerung verbessern kann, kommt nicht. Im Ge- Tiempo“. genteil: Immer mehr Menschen fliehen in die Stadt. Ihre soziale Situation ist verheerend und verschlechtert sich Noch zwei Bemerkungen: Der „Plan Colombia“ ist immer weiter. 67 Prozent der kolumbianischen Bevöl- richtig und gut. Aber er wird meines Erachtens – das ist kerung leben offiziell unter der Armutsgrenze. Mehr als das Problem – nur einseitig umgesetzt, und zwar mi- 3 Millionen Kinder und Jugendliche haben keinen Zu- litärisch. Die anderen Maßnahmen, die angekündigt wor- gang zu einer Ausbildung. Während die Regierung Uribe den sind, sind bisher keineswegs in Angriff genommen worden. immer wieder ihr soziales Engagement betont, wird doch deutlich: Uribes Politik der harten Hand steht im Vorder- (Klaus-Jürgen Hedrich [CDU/CSU]: Das ist grund. sachlich falsch!) Natürlich muss alles dafür getan werden, das staatliche – Nein. – Es wäre wünschenswert – das möchte ich aus- Gewaltmonopol wieder durchzusetzen, den Drogenhan- drücklich sagen –, wenn sich das Parlament noch mehr del zu bekämpfen und die Friedensverhandlungen wieder einmischen und den „Plan Colombia“ unterstützen würde. (B) (D) aufzunehmen, aber nicht mit jedem Mittel und nicht zu je- Ein letzter Satz zu den USA: Die USA würden es be- der Bedingung. grüßen, wenn sie im Hinblick auf die IRA und andere Ter- Besorgniserregend sind vor allem die Maßnahmen der rorgruppen in diesem Land, deren Mitglieder sie festge- Regierung, um die Zivilbevölkerung einer fast vollständi- nommen haben, letztendlich dazu kommen könnten, die gen Kontrolle zu unterwerfen. Insbesondere spreche ich Antiterrorgesetze in Kraft zu setzen. Das, so denke ich, ist eine gefährliche Situation. den Ausbau eines zivilen Netzes von Informanten an, wie zum Beispiel private Wach- und Sicherheitsdienste, von Vielen Dank, meine Damen und Herren. denen eigentlich jeder weiß, wie schlecht bezahlt und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schlecht kontrolliert sie werden. Das halte ich für sehr be- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) denklich. Der Ausbau eines Informationsnetzes und die privaten Sicherheits- und Wachdienste haben in einer Ge- sellschaft, die so viel Ressentiments angestaut hat und so Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: viel Armut kennt, fatale Folgen. Jeder und jede wird ver- Ich schließe die Aussprache. dächtigt und jeder kann jeden denunzieren. Das ist eine äußerst gefährliche Entwicklung, der unbedingt entge- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf gengewirkt werden muss. Drucksache 15/203 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Zwei letzte wichtige Aspekte, die im Antrag der CDU/ verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung CSU leider völlig außer Acht gelassen werden, sind noch so beschlossen. zu erwähnen: die Situation der Gewerkschaften und die der Medien und Journalisten. Die paramilitärischen Grup- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: pen selektieren bei ihren Auftragsmorden zunehmend. Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Ihre Hauptopfer sind Gewerkschafter und Journalisten. Entwurfs eines Gesetzes über eine einmalige Ent- 151 Gewerkschaftsführer wurden im Jahr 2002 ermordet, schädigung an die Heimkehrer aus dem Beitritts- 75 Journalisten wurden bedroht, 12 entführt und vier er- gebiet (Heimkehrerentschädigungsgesetz) mordet. Aufgrund der kontinuierlichen Bedrohung und – Drucksache 15/407 – des großen Verlustes an Führungskräften ist die Gewerk- schaftsbewegung Kolumbiens in ihrem Kampf um die Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Wahrung der Arbeitnehmerrechte und für eine verbesserte Rechtsausschuss soziale Situation stark beeinträchtigt. Mehr denn je sind Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2205

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die der Heimkehrerstiftung zur Linderung einer aktuellen so- (C) Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre zialen Notlage gibt es seit 1993 auch für Betroffene in den keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. neuen Ländern. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Heute wird vielfach gesagt, das Schicksal dieser Men- Hartmut Büttner, CDU/CSU-Fraktion. schen sei ohnehin nicht mit Geld ungeschehen zu machen. Das ist wohl richtig und wahr. Wer so argumentiert, über- sieht aber, dass sich die Spätheimkehrer bereits in der (Schönebeck) (CDU/CSU): Hartmut Büttner DDR als Menschen zweiter Klasse fühlen mussten. Sie Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ange- wurden häufig sogar als Kriegsverbrecher hingestellt. Ih- sichts dessen, dass es bei der SPD einen Regiefehler ge- nen wurde ein großes Maß an Schuld für die Schandtaten geben hat – der Kollege Gerold Reichenbach, der als ers- des Nationalsozialismus aufgetragen. ter Redner vorgesehen war, ist noch nicht anwesend –, Auch das vereinte Deutschland unternahm leider beginne ich natürlich gerne als erster Redner zu diesem nichts, um die nach Ostdeutschland entlassenen Spät- Tagesordnungspunkt. heimkehrer ihren Westkollegen gleichzustellen. Die Entschädigung von Spätheimkehrern, welche auf (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE das Gebiet der früheren DDR entlassen worden sind, ist GRÜNEN]: Wer war das denn?) wahrlich kein Ruhmesblatt für den Deutschen Bundestag, und zwar für alle Fraktionen, einschließlich meiner eige- Ich bekenne freimütig, liebe Frau Stokar, dass auch ich nen. die ganze Dimension des persönlichen Zurückgesetzt- seins dieser ehemaligen Kriegsgefangenen zunächst nicht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) erkannt habe. Erst seit sich Zusammenschlüsse der Allerdings hat unser Parlament in den vergangenen zwölf Kriegsgefangenen auch in meinem Wahlkreis gebildet ha- Jahren eine ganze Reihe von Unterstützungsleistungen ben, bin ich auf die tiefe Verbitterung dieser Menschen ge- und Entschädigungen für die unterschiedlichsten Opfer- stoßen. „Es war doch derselbe Krieg, in dem wir unseren gruppen beschlossen. Es handelte sich sowohl um Opfer Kopf hinhalten mussten, wir hatten doch den Hunger, die des SED-Regimes als auch um Opfer des Zweiten Welt- Zwangsarbeit, die Entbehrung genauso zu ertragen wie krieges, die in der DDR keinerlei Unterstützung bekom- unsere Leidenskollegen, die auf die deutsche Sonnenseite men haben. So konnte das vereinte Deutschland beientlassen worden sind“ war nur eine der vielen bitteren vielen Betroffenen zumindest nachträglich für etwas Ge- Aussagen. Die Verbitterung wuchs noch, seit bekannt rechtigkeit sorgen. wurde, dass die deutsche Gesellschaft 10 Milliarden DM als Wiedergutmachung für ausländische Zwangs- und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (B) Sklavenarbeiter zu zahlen bereit ist. Davon zahlt allein(D) der FDP) 7,5 Milliarden DM der deutsche Steuerzahler. Nur eine Gruppe von Menschen mit einem besonders Es ist ziemlich zwecklos, den Betroffenen den juris- schweren Schicksal ist bisher völlig vernachlässigt wor- tischen Unterschied zwischen Kriegsgefangenen und den: Es handelt sich um Menschen, die zwei oder mehr Zwangsarbeitern erläutern zu wollen. Das Gefühl man- Jahre in Kriegsgefangenschaft waren. Die letzten von ih- gelnder Gerechtigkeit treibt sie um und die mangelnde nen sind im Jahre 1955 aus sowjetischer Kriegsgefangen- Gerechtigkeit schreit nach einer schnellen und pragma- schaft entlassen worden. Ich erinnere an die ergreifenden tischen Lösung. Szenen, als sie endlich im Lager Friedland ankamen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Kriegsgefangenen, die in das westliche Deutsch- land entlassen worden sind, erhielten Leistungen nach Deshalb hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bereits in dem so genannten Kriegsgefangenenentschädigungsge- der letzten Legislaturperiode einen Vorschlag des inter- setz. Für jeden Monat des Festhaltens in fremdem Ge- fraktionell besetzten parlamentarischen Beirats des wahrsam gab es für die nach 1947 Entlassenen zunächst Heimkehrerverbandes aufgegriffen. Der Beirat hatte einmal eine monatliche Entschädigung von 30 DM. Wenn eine Entschädigung so einfach wie möglich mit drei Jahres- sie nach 1949 entlassen wurden, erhielten sie pro Haft- stufen bis zu 3 000 DM vorgeschlagen. Schnell und ein- monat 60 DM. Die Gesamtentschädigung war auf einen fach musste diese Entschädigung kommen, denn die jüngs- Höchstbetrag von 12 000 DM gedeckelt. Kriegsgefan- ten Spätheimkehrer waren damals schon 75 Jahre alt. gene mit dem gleichen Schicksal, die in die SBZ bzw. die Meine Damen und Herren, vorhin kam der Zwi- spätere DDR entlassen worden sind, erhielten außer schenruf „Was haben Sie denn gemacht?“. Wenn kritisiert 50 Ostmark keine weitere Entschädigungsleistung. wird, Union und FDP hätten in ihrer Regierungszeit eine Die westdeutschen Bestimmungen sind nach der Wie- befriedigende Regelung für die Spätheimkehrer treffen dervereinigung nicht auf die Leidensgefährten in denkönnen, dann ziehe ich mir diese Jacke ganz bewusst an. neuen Bundesländern übertragen worden. Jawohl, das ist richtig. Bei derAufhebung des Kriegs- folgenbereinigungsgesetzes im Jahr 1992 gab es aller- (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Genau!) dings weder von meiner Fraktion noch von der FDP, aber Ein Hauptgrund für die Entschädigungsleistungen imauch nicht von SPD, Grünen oder PDS einen entspre- Westen sei der Aspekt der Eingliederung in die deutsche chenden Antrag. Wir alle gemeinsam haben also zu ver- Gesellschaft gewesen. Dieser Aspekt sei jedoch 45 Jahre antworten, dass wir diese Menschen im Stich gelassen ha- nach Kriegsende abgeschlossen gewesen. Nur Leistungen ben. Erklärend, nicht entschuldigend will ich hinzufügen: 2206 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Hartmut Büttner (Schönebeck) (A) Ich kenne außer den Spätheimkehrern allerdings auchDie noch lebenden Berechtigten – sie sind hochbetagt – (C) keine andere gesellschaftliche Gruppe in unserem Land, haben keine Zeit mehr darauf zu warten, bis die Situation die überhaupt keine Fürsprecher – in Neudeutsch auch bei unseren Staatsfinanzen etwas positiver aussieht. Lobby genannt – hat. Im Gegensatz zu anderen Verbän- Es wäre eine Schande für diesen Deutschen Bundestag, den – ich nenne hier beispielhaft nur die Verbände der wenn wir diesen Antrag erneut ablehnten. Heimatvertriebenen – hat es Anfang der 90er-Jahre auch keine besonderen Bemühungen der westdeutschen Heim- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kehrerverbände gegeben. Zumindest habe ich davon Ich appelliere vor allem an Sie, an die Abgeordneten der nichts gemerkt. Regierungskoalition: Wir sollten jetzt die allerletzte Eine Entschädigungszahlung wäre damals wahrlich Chance für die Heimkehrer ergreifen und ein deutliches möglich gewesen. Allein für die Einmalleistung an die Zeichen für soziale Gerechtigkeit in Deutschland setzen. Heimatvertriebenen in den neuen Bundesländern haben Besonders wir Abgeordneten aus den neuen Ländern ha- wir aus dem Bundeshaushalt 5,2 Milliarden DM ausgege- ben die Verpflichtung, uns auf die Seite der Menschen, die ben. Nimmt man die großen finanziellen Aufwendungen keinerlei Lobby haben, zu stellen. Ich hoffe, dass wir das für andere Opfergruppen, beispielsweise für die SED-Op- in den Ausschüssen schaffen werden. fer, noch hinzu, dann hätten auch die 90 Millionen DM für Danke schön. die Spätheimkehrer aufgebracht werden können. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Jetzt wende ich mich an Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und der SPD: Es war ein moralisches und politisches Armutszeugnis, dass Sie vor Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: zwei Jahren die Chance niedergestimmt haben, wenigstens Nächster Redner ist der Kollege Gerold Reichenbach, etwas späte Gerechtigkeit in Deutschland zu schaffen. SPD-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Eine große Chance ver- (SPD): tan! – Dirk Manzewski [SPD]: Was haben Sie Gerold Reichenbach gemacht? Genau das Gleiche!) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor circa einem Jahr hat sich dieses Haus schon einmal Lediglich das Kapital der Heimkehrerstiftung stockten mit dem Gesetzentwurf für eine einmalige Entschädigung Sie im Jahr 2001 mit 5 Millionen DM etwas auf. der Heimkehrer aus dem Beitrittsgebiet befasst. Es han- Ich habe bereits erwähnt, dass diese Leistungen seit delt sich – das wurde schon genannt – um den Gesetzent- (B) 1993 auch auf die Heimkehrer, die auf das Gebiet derwurf der CDU/CSU-Fraktion vom 26. September 2000, (D) neuen Bundesländer entlassen wurden, ausgedehnt wor- der nach zweiter Lesung abgelehnt wurde. den sind. Allerdings erhalten Mittel der Stiftung nur die Heute beraten wir eine Neuauflage dieses Gesetzent- ehemaligen Kriegsgefangenen und auch ihre hinterblie- wurfes in Gestalt eines Antrags der Freistaaten Sachsen benen Ehegatten, die heute noch zum Kreis der sozial be- und Thüringen, eingebracht als Gesetzentwurf des Bun- dürftigen Personen gehören. Damit hat nur ein kleiner Teil desrates. Dieser Gesetzentwurf konnte in der ausgehen- der Spätheimkehrer aus den neuen Bundesländern diese den Legislaturperiode aus Zeitgründen nicht mehr beraten Leistungen erhalten. Die übergroße Mehrheit erhielt über- werden. Der Bundesrat beschloss deshalb am 20. Dezem- haupt nichts. ber 2002 die erneute Einbringung des Entwurfes in un- Jetzt hat der Bundesrat erneut einen Gesetzentwurfveränderter Form, mit dem wir uns heute befassen. vorgelegt, der auf eine Initiative der Länder Thüringen Die beiden Gesetzentwürfe gleichen sich teilweise bis und Sachsen zurückzuführen ist und im Wesentlichen mit aufs Wort. Sie haben lediglich andere Aufhänger und et- dem Gesetzentwurf meiner Bundestagsfraktion aus dem- was veränderte Schwerpunkte. September 2000 inhaltlich übereinstimmt.Berechtigte, welche 1947 und 1948 entlassen worden sind, sollen (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: 500 Euro, die Entlassungsjahrgänge 1949 und 1950 Statt DM steht jetzt Euro drin!) 1 000 Euro und diejenigen, die nach 1951 entlassen wor- Im Jahre 2000 wurde als Aufhänger die Entschädigung den sind, 1 500 Euro erhalten. Es könnten so Gesamtko- von ehemaligen NS-Zwangsarbeitern gewählt. Die dama- sten von bis zu 50 Millionen Euro zusammenkommen. lige Gesetzesinitiative der CDU/CSU sorgte für erhebli- Allerdings sind von den vor zwei Jahren noch lebenden che Aufregung bei den Heimkehrerverbänden und letzt- 30 000 berechtigten ehemaligen Kriegsgefangenen und lich für Enttäuschung und Frustration ob der unnötig den circa 20 000 Geltungskriegsgefangenen – das sind geweckten Erwartung. Jetzt wird eine neue Argumenta- verschleppte Zivilpersonen mit gleichem Schicksal – be- tion verfolgt, nämlich dass eineBenachteiligung der reits viele verstorben. Die genaue Zahl der heute noch le- Kriegsgefangenen und so genannten Geltungskriegs- benden Berechtigten konnte uns die Bundesregierunggefangenen – das sind Zivilpersonen, die aus militäri- nicht nennen. schen Gründen in Gewahrsam genommen wurden –, die in die ehemalige DDR entlassen wurden, bestehe. Zu den Verstorbenen zählen auch die Herren Walter Melzer und Robert Fauk aus Staßfurt in Sachsen-Anhalt, Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sich die welche mir in meinen Bürgersprechstunden die ganzeInitiative des Bundesrates genau wie der von der Tragweite der Ungerechtigkeit vor Augen geführt haben. CDU/CSU vor zwei Jahren eingebrachte Gesetzentwurf Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2207

Gerold Reichenbach (A) gegen das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz wendet, ein Verteilung der Unterstützungsleistungen. Von den vom (C) Gesetz, das der gesamtdeutsche Gesetzgeber vor rund1. Januar 1970 bis zum 31. Dezember 2002 gewährten zehn Jahren in diesem Hause – übrigens einmütig – be- Unterstützungs- und Rentenzusatzleistungen sind nahezu schlossen hat. Bis zum Ende Ihrer Regierungszeit 1998 15 Prozent an Antragsteller in den neuen Ländern geflos- haben Sie dieses Gesetz offensichtlich als gerecht und sen, obwohl diese erst seit 1993 antragsberechtigt sind. ausgewogen angesehen und keine Initiative ergriffen. Anders ausgedrückt: An die Antragsteller in den neuen Ländern wird jetzt ungefähr dreimal mehr ausgezahlt als (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: an die Antragsteller in den alten Bundesländern. Dort be- Das habe ich doch alles gesagt!) steht natürlich auch ein Nachholbedarf. Rentenzusatzleis- Erst als Sie in der Opposition gelandet waren, sahen Sie tungen und Unterstützungsleistungen für ehemalige plötzlich Handlungsbedarf. Demjenigen, der andere Hin- Heimkehrer wurden mehr als 23 000 Personen in den tergründe zu sehen meint, bleibt dies unbenommen. neuen Bundesländern in einer Höhe von rund 31 Milli- onen Euro gewährt. Die aktuellen Antragszahlen sind Wir erinnern uns: Das Kriegsfolgenbereinigungsge- übrigens weiter steigend. setz löste im Zuge der Wiedervereinigung zum 1. Januar 1993 das alte Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz ab. In diesem Zusammenhang möchte ich auf noch etwas Ohnehin – auch darauf muss hingewiesen werden – konn- hinweisen: Unterstützungsleistungen der Heimkehrerstif- ten seit dem 1. Januar 1968 nur noch Sowjetzonenflücht- tung können bei Fortbestehen der Voraussetzungen wie- linge oder Aussiedler eine Entschädigung erhalten; denn bei derholt gewährt werden. Bei Nachweis einer Notlage ist ihnen wurde unterstellt – das war die alte Systematik in der eine einmalige Unterstützung von maximal 4 090 Euro Gesetzgebung der Bundesrepublik –, dass noch eine Ein- möglich. Zum Vergleich: In Ihrem Gesetzentwurf ist eine gliederungssituation vorlag. Damit war eindeutig festge- Entschädigung in Höhe von 500 bis 1 500 Euro vorgese- stellt, dass die Kriegsgefangenenentschädigung immer den hen. Ich kann also beim besten Willen keine fortbeste- Charakter einer Eingliederungshilfe hatte. Ehemaligehende Benachteiligung der Heimkehrer in die neuen Bun- Heimkehrer oder Geltungskriegsgefangene in den neuen desländer erkennen. Ländern waren – auch das war damals Ihre eigene Begrün- dung – nach dieser Maßgabe nicht mit einzubeziehen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Habe ich was anderes gesagt? Sagen Sie mal Kollegen Bergner? was zu den neuen Argumenten!) Darüber bestand auch in der CDU/CSU ein allgemeiner (SPD): (B) Konsens. Gerold Reichenbach (D) Aber gerne. Ich möchte dies anhand der Begründung des Gesetz- entwurfs über das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz bele- gen – ich darf zitieren –: Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): Einer uneingeschränkten Übertragung des Kriegsge- Herr Kollege, weil ich den Betroffenen über die De- fangenenentschädigungsgesetzes steht entgegen,batte berichten möchte, frage ich Sie selbst auf die Gefahr dass auch dort inzwischen mehr als 45 Jahre vergan- hin, dass ich Sie zu Wiederholungen von Aussagen gen sind. Die Betroffenen sind eingegliedert. zwinge: Kann ich Ihre Aussagen so verstehen, dass Sie die Zielgruppe, die mit dieser Gesetzgebung erreicht werden (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: soll, weder moralisch noch rechtlich für berechtigt halten, Das habe ich auch gesagt!) eine entsprechende Zusatzleistung zu empfangen? Das waren Ihre eigenen Worte. Dies hat die Union 1992 (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Das ist in der Begründung geschrieben. doch eine polemische Frage!) Diese rechtliche Ausgangssituation hat sich nicht geän- dert. Es gibt jedoch eine soziale Dimension. Dieser wurde (SPD): mit dem Heimkehrerstiftungsgesetz, welches insbeson- Gerold Reichenbach dere mit Blick auf die ehemaligen Kriegsgefangenen in Die Frage ist erstens polemisch und trifft zweitens den neuen Ländern erlassen wurde, Rechnung getragen. nicht den Kern der Sache. Ich werde in meiner Rede noch darauf eingehen, weil ich mir dachte, dass so etwas (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: kommt. Man muss doch nicht immer das vortragen, was man aufgeschrieben hat!) (Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das ist Ablen- kung! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Wie Um soziale Härten abzufedern, können nach dem Heim- wäre es jetzt mit einer Antwort?) kehrerstiftungsgesetz Unterstützungsleistungen zur Lin- derung von Notlagen oder Leistungen zum Ausgleich von Das Rechtliche haben Sie selbst geregelt. Ich gehe doch Nachteilen in der gesetzlichen Rentenversicherung ge- davon aus, dass Sie dem Gesetz damals zugestimmt ha- währt werden. ben. Insofern müssten Sie Ihre Frage beantworten. Dass das Heimkehrerstiftungsgesetz seine Funktion er- (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: füllt hat und nach wie vor erfüllt, zeigt ein Blick auf die Wir haben gesagt, dass es ein Fehler war!) 2208 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Gerold Reichenbach (A) Ich bin zwar neu in diesem Bundestag, aber es gibt einen Das halte ich für unredlich. (C) Unterschied zwischen Ihnen und mir: Ich würde meine Viel Leid und schwere Lebenswege sind die unver- Position nicht ändern, wenn ich in die Opposition wech- meidbaren Folgen eines jeden Krieges gewesen. Dies seln müsste. kann durch nichts entschädigt werden. Es gibt Millionen Die CDU/CSU konnte von 1992 bis 2000 – das wurde unterschiedlichster Biografien: von Opfern, aber auch eben deutlich – auch keine Benachteiligung erkennen. Mit von Tätern, von Mitläufern wie von unschuldig in den Genehmigung der Frau Präsidentin darf ich Ihren Frak- Strudel eines verbrecherischen Krieges Hineingerissenen. tionskollegen, Herrn , aus dem Ple- Erlittenes Leid und Unrecht lassen sich aber nicht wieder narprotokoll von 1992 – es geht um die zweite und dritte gutmachen. Gerade in diesem Zusammenhang gilt auch: Lesung des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes – zitieren. Gerechtigkeit lässt sich nicht durch Aufrechnung herstel- – Dies gehört im Übrigen noch zu meiner Antwort auf Ihre len. Zwischenfrage. – Er sagte: Den tiefen Respekt vor dem Schicksal aller Betroffe- Darüber hinaus begrüße ich die Ausdehnung dernen, den Heimkehrern und Verschleppten, hat der Deut- „Heimkehrerstiftung“ und der „Stiftung für ehema- sche Bundestag zum Ausdruck gebracht. Im Namen mei- lige politische Häftlinge“ auf die neuen Bundeslän- ner Fraktion möchte ich diese Würdigung ausdrücklich der. Denn das hat zur Folge, dass denjenigen flexibel bekräftigen. Ich möchte nachdrücklich würdigen, dass und entsprechend ihrer Bedürftigkeit geholfen wer- die damaligen Heimkehrer in die sowjetische Besat- den kann, die in Kriegsgefangenschaft waren, die zungszone bzw. in die ehemalige DDR ein wesentlich verschleppt waren, die in den Gefängnissen der ehe- schwereres Schicksal als ihre Kameraden hatten, die in maligen DDR leiden mussten und die aufgrund der die alte Bundesrepublik zurückkehrten. Ihnen wurde Rechtslage keine gesetzlichen Leistungen erhalten nicht in dem Maße bei der Wiedereingliederung in ein können. Leben nach dem Krieg geholfen. Diese Tatsache gilt es zu würdigen. Unredlich ist es aber, so zu tun, als ließe Hierfür, meine Damen und Herren, wird eine ausrei- sich durch ein Gesetz das Rad der Geschichte zurückdre- chende finanzielle Ausstattung der beiden Stiftungen hen. zu gewährleisten sein. Auch dafür wollen wir uns einsetzen; auch dafür wollen wir kämpfen. Denn das Was wir tun können, ist, soziale Härten, die durch das ist gerecht, meine Freunde. Kriegsschicksal entstanden sind, auszugleichen. Das tun wir. Dafür steht die Heimkehrerstiftung, die von uns fi- Die ausreichende finanzielle Ausstattung, um die Herr nanziell aufgestockt wurde. Das ist der richtige Weg. Auf Marschewski kämpfen wollte, haben wir herbeigeführt. diesem Weg bleiben wir. Es wurde bereits angesprochen: Im Jahre 2000 wurden als (B) Stiftungskapital 5 Millionen DM und jetzt erneut 1 Mil- (Beifall bei der SPD) (D) lion Euro zur Verfügung gestellt. Auch im aktuellen Haus- halt sind 1 Million Euro für die Stiftung eingestellt. Damit bleiben wir auf einem bewährten Weg. Die Heimkehrer- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: stiftung begrüßt diese Entscheidung der Regierungskoali- Nächster Redner ist der Kollege Klaus Haupt, FDP- tion ausdrücklich. Fraktion. Ich stelle fest: Erstens. Das Heimkehrerstiftungsgesetz ist ein wirksames Instrument, soziale Härten auszuglei- Klaus Haupt (FDP): chen und bedürftigen Antragstellern zu helfen. Zweitens. Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute, fast 60 Jahre nach dem Krieg, ist eine Entschädi- Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt den vor uns liegen- gung im Sinne einer Eingliederungshilfe nicht mehr nach- den Gesetzentwurf des Bundesrates uneingeschränkt; vollziehbar. denn er beseitigt eine auch noch nach mehr als zwölf Jah- Eine Wiederbelebung des Kriegsgefangenenentschädi- ren nach der Wiedervereinigung bestehende Gerechtig- gungsgesetzes, wenn auch in veränderter Form, würde als keitslücke. Präzedenzfall wirken, und zwar mit unübersehbaren (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) rechtlichen und finanziellen Folgen. Es würde eine Dis- kussion über weitere ausgelaufene Rechtsnormen insbe- Worum geht es? Es gab mehr als 11 Millionen deutsche sondere im Kriegsfolgen- und Lastenausgleichsrecht ent- Kriegsgefangene, die über die ganze Welt verstreut wa- fachen. Das ist die eine Seite. ren. Ich erinnere hier nur an die sowjetischen Gulags; sie waren aber ebenso in anderen Ländern interniert. Nach ih- Die andere Seite dieses Gesetzentwurfes über die ein- rer Haftentlassung sind diese Kriegsgefangenen entweder malige Entschädigung von Heimkehrern in den neuen in die Westzonen bzw. in die Bundesrepublik Deutschland Ländern ist in meinen Augen noch bedenklicher. Erneut oder in die SBZ bzw. in die DDR zurückgekehrt. Letztere werden bei den meist hochbetagten betroffenen Men- haben nichts erhalten. Erstere sind entschädigt worden. schen Hoffnungen geweckt. Zudem wird der Eindruck vermittelt, die ehemaligen Heimkehrer in den neuen Län- (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: der wären noch heute gegenüber den Menschen in den al- So ist es!) ten Ländern mit gleichem Schicksal benachteiligt. Die Kriegsgefangenen, die das Glück hatten, in den (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Westen entlassen zu werden, haben nach dem dort be- Das ist doch so!) schlossenen Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz eine Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2209

Klaus Haupt (A) Abfindung erhalten – darauf wurde verwiesen –, nicht nur Danke. (C) als Eingliederungshilfe, sondern auch als Anerkennung (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) für den Schaden, den sie erlitten haben, und für ihr schwe- res Schicksal. In der DDR wurde diese Tatsache – wie so vieles andere auch – im wahrsten Sinne des Wortes tot- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: geschwiegen. Diese Ungerechtigkeit darf man heute, fast Nächste Rednerin ist die Kollegin Silke Stokar von 60 Jahre nach Kriegsende und über zwölf Jahre nach der Neuforn, Bündnis 90/Die Grünen. deutschen Wiedervereinigung, so nicht mehr stehen las- sen. (BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Silke Stokar von Neuforn GRÜNEN): Bei den Opfern handelt es sich übrigens nicht nur um Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Männer. Auch viele Frauen mussten Zwangsarbeit leisten. Sie mich damit beginnen: Wir Grüne bekennen uns zu der Diesen damals jungen und missbrauchten Frauen und Verantwortung gegenüber den Opfern von Krieg und Männern kann man nicht pauschal die Schuld Nazi- Gewalt. Ich möchte aber auch betonen: Ich meine, dass es deutschlands aufladen, auch wenn dies manche aus ideo- für die Opfer – unabhängig davon, um welche Opfer es logischen Gründen heute immer noch tun. Auch sie waren sich handelt – besonders wichtig ist, dass sie über ihre Op- Opfer und keine Täter. Das haben viele von uns bewusst ferrolle reden können und als Opfer des furchtbaren Zwei- oder unbewusst verdrängt. ten Weltkrieges angenommen werden. Ich halte es daher für notwendig und richtig, dass sich Ich hatte gehofft, dass wir in dieser 15. Wahlperiode et- der Deutsche Bundestag jetzt, nachdem die Frage der Ent- schädigung ausländischer Zwangsarbeiter gelöst werden was weiter sein würden als in den Debatten der 14. Wahl- konnte, endlich auch der deutschen Zwangsarbeiter er- periode. Ich habe das Protokoll über die Debatte in der innert. Die Feststellung, dass es auch deutsche Zwangsar- 14. Wahlperiode zu demselben Thema gelesen. Mir liegt beiter gegeben hat, ist aus Sicht der FDP-Fraktion legitim auch die Rede meines Kollegen Cem Özdemir vor. Ich und notwendig. hätte es mir jetzt auch leicht machen und dieselbe Rede halten können, so wie Sie es gemacht haben. Aber es bringt uns nicht weiter, die Geschichte zu ver- drängen; wir müssen uns ihr stellen, und zwar nach Mög- Ich würde gern darüber reden, ob wir in der Diskus- lichkeit gemeinsam. Zur Aufarbeitung unserer Geschichte sion um die Anerkennung von Opfern des Zweiten Welt- gehört, dass wir nach mehr als 50 Jahren nicht nur den kriegs – dabei handelt es sich um eine sehr aktuelle Dis- ausländischen Zwangsarbeitern Gerechtigkeit widerfah- kussion – nicht den Schritt weiter gehen sollten, der zum (B) ren lassen, sondern auch den deutschen, die bislang nur Beispiel in dem Buch „Der Brand“ aufgezeigt worden(D) deshalb leer ausgingen, weil sie in den Osten entlassen ist, nämlich noch einmal von vorne mit der Diskussion worden sind. zu beginnen: Wer waren die deutschen Opfer dieses Krieges? Es ist ein sehr formales Argument, Kollege Reichenbach, wenn die Bundesregierung in ihrer Stellung- Ich kann mit meiner Familie beginnen, und zwar mit nahme zu dem Gesetzentwurf darauf verweist, dass über meiner Mutter, die die Bombennacht in Dresden mitge- diesen Sachverhalt schon einmal befunden worden ist. macht hat, oder mit meiner Großmutter, die als Trägerin Mit dem Heimkehrerstiftungsgesetz von 1993 war man des Mutterverdienstkreuzes mit neun Kindern viele der Ansicht, mit der Kriegsfolgenentschädigung zu einem Jahre auf ihren Mann gewartet hat. Ich selber bin 1953 Abschluss gekommen zu sein. Das ist zwar richtig, aber geboren, in dem Jahr, als Stalin – ich sage dies be- es ist nur die halbe Wahrheit; denn die Umsetzung des Ge- wusst – endlich starb und als Adenauer große Anstren- setzes in der Praxis gestaltet sich schwierig. gungen unternommen hat – das ist eines seiner größten Verdienste gewesen –, die vielen Tausende von ver- Ich meine, es ist zu formal, sich darauf zu berufen.schwiegenen, unterschlagenen Kriegsgefangenen zu- Wenn ein Problem in der Vergangenheit falsch behandelt rückzuholen. worden ist, ist dies doch keine Berechtigung dafür, in der gleichen Weise fortzufahren. Vielmehr muss endlich eine Meine Damen und Herren, ich glaube, dass es den Op- Lösung erreicht werden. fern nicht gerecht wird, wenn wir uns hier die einschlägi- gen Gesetze um die Ohren hauen. Deshalb will ich mich (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) an dieser Debatte nicht beteiligen. Zimmermann und Das, was bisher getan wurde, reicht nach Auffassung Kanther waren diejenigen, die sich gegen jede finanzielle der FDP nicht aus. Das Parlament muss endlich die not- Entschädigung für die erlittenen Kriegsfolgeschicksale wendigen Mittel bereitstellen, um den Betroffenen noch ausgesprochen haben. Das waren ja nicht wir, sondern zu Lebzeiten Gerechtigkeit durch ein wenig Entschädi- ihre Innenminister. gung für das Erlittene widerfahren zu lassen. Darauf hat (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: mein Kollege sehr emotional und eindrucksvoll hinge- Das habe ich eingestanden! Aber Sie machen ja wiesen. Gestatten Sie mir als Sachsen eine kurze Be- auch nichts! Warum machen Sie denn nichts, merkung: Damit könnte der Deutsche Bundestag dazu Frau Stokar?) beitragen, die innere Einheit, die wir alle wollen und – so hoffe ich – gemeinsam anstreben, weiter zu vollen- Statt einer Entschädigung gab es damals lediglich eine den. Eingliederungshilfe. 2210 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Silke Stokar von Neuforn (A) Ich gebe zu, dass ich nicht weiß, was der richtige Wege auch die Grundlage der von Ihrer Mehrheit verabschiede- (C) ist, was im Hinblick auf diejenigen gerecht ist, die in die ten Gesetze darstellte. Insofern glaube ich nicht daran, damalige DDR heimgekehrt sind. dass es ein Versäumnis war. Vielmehr war es eine durch- dachte politische Entscheidung. Die Gründe für diese (Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Jetzt zustim- durchdachte politische Entscheidung gelten heute noch. men! Das wäre der richtige Weg!) Ich mache mir Gedanken darüber, wie wir diesen Opfern In diesen Zeiten des Kalten Krieges durften sie noch nicht in Würde gerecht werden können. Damit ist Ihre Frage, einmal darüber reden. Es gab damals die „guten“ Heim- wie ich hoffe, beantwortet. kehrer in die BRD, die als Opfer von Stalin würdig in die Ich möchte noch auf die Frage zu sprechen kommen, Gesellschaft aufgenommen worden sind, und diejenigen, wie wir, abgesehen von der finanziellen Entschädigung die ihr Schicksal verschweigen mussten und deren – ich halte den Weg, den wir diesbezüglich eingeschlagen Schicksal tabuisiert wurde. Mein Problem ist, dass ich haben, für richtig –, die Rolle der Opfer als Zeitzeugen po- jetzt, fast 40 Jahre danach, nicht mehr die Entscheidung litisch weiterhin unterstützen können. Wie können wir ih- treffen kann, wie man diesen Biographien gerecht werden nen Raum geben, in der Öffentlichkeit in stärkerem Maße kann, zu berichten? (Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Wo ein Wille Damit komme ich zu meinem Schlusssatz: Mein ist, ist ein Weg! Sie können zustimmen!) Wunsch ist es, dass wir in Deutschland nie wieder einen die ein Teil der Folgen des Zweiten Weltkriegs sind und Heimkehrerverband gründen müssen; deswegen halte ich etwas mit den zwei unterschiedlichen Staaten zu tun ha- es für so wichtig, dass wir denjenigen, die Krieg als bit- ben. Ich kann dieses DDR-Unrecht heute nicht wieder tere Erfahrung erlebt haben und darüber berichten kön- gutmachen. nen, Möglichkeiten einräumen, dies in den Schulen ge- genüber der jungen Generation zu tun. Denn ich glaube, Meine Damen und Herren, ich halte den von Rot-Grün dass solche Berichte von Zeitzeugen der beste Weg sind, beschrittenen Weg, hier mit einem Heimkehrerstiftungs- um Friedenspolitik in der Gesellschaft zu verankern. gesetz zu arbeiten, für den richtigen Weg. Da meine Rede- zeit abläuft, sage ich zum Schluss: Ich glaube, dass es für Ich danke Ihnen. die Opfer viel wichtiger wäre – – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Gestatten Sie trotzdem eine Zwischenfrage des Kolle- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (B) gen Vaatz? Das Wort hat der Sächsische Staatsminister des Innern, (D) Horst Rasch. Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Horst Rasch, Staatsminister (Sachsen): Ich erlaube eine Zwischenfrage. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 5. April 2001 wurde der Gesetzentwurf der Arnold Vaatz (CDU/CSU): CDU/CSU-Fraktion zur einmaligen Entschädigung der ostdeutschen Kriegsheimkehrer in der Sitzung des Bun- Frau Kollegen Stokar, in den vorhergehenden Reden ist destages abgelehnt. Nunmehr steht ein Gesetzentwurf zur mehrfach erwähnt worden, dass die Vertreter der früheren einmaligen Entschädigung der ostdeutschen Kriegsheim- Regierungskoalition die Tatsache, dass das Problem un- kehrer erneut auf der Tagesordnung. Wir wollen mit diesem gelöst blieb, als ein Versäumnis ihrerseits einräumen. Sind Gesetzentwurf unseren politischen Willen bekräftigen, eine Sie der Meinung, dass die ausbleibende Korrektur dieses Entschädigung für die benachteiligte Personengruppe der Versäumnisses die Benachteiligten tragen müssen? ostdeutschen Heimkehrer zu leisten. Heimkehrer, die nach ihrer Gefangenschaft in die ehe- Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- malige sowjetische Besatzungszone bzw. in die DDR NEN): zurückgekehrt sind, sollen eine einmalige Entschädigung Nein, das bin ich nicht. Werter Herr Kollege, ich bin al- für Reparationsleistungen, die sie gewissermaßen durch lerdings nicht davon überzeugt, dass es sich hier um ein Zwangsarbeit erbracht haben, erhalten. Versäumnis handelt. Ich nehme Ihnen ab, dass Sie bei den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Verhandlungen um den Einigungsvertrag an die Lösung dieses Problems nicht gedacht haben. Es gibt aber bis in Es ist tatsächlich so, wie auch Kollege Haupt deutlich die 60er-Jahre zurückreichende Äußerungen von CDU- machte: Sie haben dort für uns Schuld abgearbeitet. Es ist Innenministern, die immer wieder darauf hingewiesen ha- im Interesse der Gerechtigkeit und Menschlichkeit gebo- ten, diesen Sachverhalt anzuerkennen. ben – diese Überlegung habe auch ich hier eben ange- stellt –, dass es einfach keine gerechte Entschädigung Mit dem Gesetzentwurf soll die Ungleichbehandlung dieser fürchterlichen Kriegsfolgen gebe. Das ist nichtzwischen den Kriegs- und den Geltungskriegsgefange- meine Position; das war schon vor der Wiedervereinigung nen, die aus dem Gewahrsam in die ehemalige DDR ent- die Position der Minister Zimmermann und Kanther, die lassen worden sind, im Vergleich zu denen, die in die alte Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2211

Staatsminister Horst Rasch (Sachsen) (A) Bundesrepublik entlassen worden sind, dem Grunde nach eine finanzielle Grundlage für ihre Eingliederung in die (C) aufgehoben werden. Auf die erheblichen finanziellen Un- aufnehmende Gesellschaft zu verschaffen. Es trifft auch terschiede, die dabei eine Rolle gespielt haben und die wir zu, dass die ostdeutschen Heimkehrer in die Gesellschaft auch nicht mehr egalisieren können, hat Herr Kollegeeingegliedert sind. Büttner in seinem Beitrag hingewiesen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist aber Für die Kriegsgefangenen und Zivilinternierten, die nicht Sinn und Zweck dieses Gesetzentwurfs. Sinn und nach der Beendigung ihrer Gefangenschaft in die sowje- Zweck des Gesetzentwurfs ist es, mit einer einmaligen tische Besatzungszone bzw. die DDR zurückgekehrt sind, Entschädigungsleistung das erlittene Schicksal der vielen kommt neben der fehlenden finanziellen Entschädigung ostdeutschen Kriegsheimkehrer und Zivilinternierten noch hinzu, dass zu DDR-Zeiten das erlittene Schicksal während ihrer Gefangenschaft im Zweiten Weltkrieg – für der Gefangenschaft während des Zweiten Weltkrieges viele auch lange Zeit danach – in angemessener Form zu und auch danach von den Machthabern des SED-Regimes würdigen. Es soll eine einmalige Zahlung sein, gestaffelt ignoriert und geleugnet wurde. So wie man die alte Bun- nach der Dauer des Gewahrsams, und damit gerade keine desrepublik als das Staatswesen ansah, das in der alleini- wiederkehrende Rentenleistung bzw. Eingliederungsleis- gen Verantwortung für deutsche Kriegsschuld stand – so tung und auch keine Unterstützungsleistung entsprechend sahen es die DDR-Machthaber –, war man geneigt, dieje- der individuellen Bedürftigkeit – darum geht es nicht. nigen mit sich und ihrem Schicksal allein zu lassen, die, in die alte DDR zurückgekehrt, auch für die Ostdeutschen Es ist für den Freistaat Sachsen und den Freistaat dieses Stück Kriegsschuld mit abgetragen hatten. Thüringen als Vertreter der neuen Bundesländer ein be- sonderes Anliegen, den ostdeutschen Heimkehrern die ih- Der Zeitzeuge weiß auch um die Zufälligkeiten, nach nen gebührende symbolische Anerkennung zuteil werden denen Männer wie Frauen in Gefangenschaft gerieten und zu lassen. an verschiedenen Orten festgehalten wurden, an denen sie unter extremen Bedingungen arbeiten mussten. Es war (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) auch weitgehend Zufall, wann man den Weg zurück nach Für ein Zeichen der Anerkennung des erlittenen Schick- Hause antreten konnte. sals der ostdeutschen Heimkehrer mag es spät sein, bis Seit 1993 können nun die ostdeutschen Heimkehrer jetzt ist es aber noch nicht zu spät. Leistungen nach dem Heimkehrerstiftungsgesetz erhal- Frau Stokar hat von den Erfahrungen ihrer Eltern ge- ten; das ist richtig. Eine Pflicht zur Zahlung besteht nicht. sprochen. Wir, die Jahrgänge, die wir mitten im Leben ste- Es ist eine Kannbestimmung. Es geht nach der individu- hen, können es nur noch aus dem Munde unserer Eltern ellen Bedürftigkeit der Einzelpersonen. Die Regelungen erfahren haben, was sie tatsächlich erlitten haben. Wir (B) des Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes sind für meinen schon, dass es notwendig ist, einen letzten Akt der (D) die Betroffenen in den neuen Ländern dagegen auch wei- Gerechtigkeit unserer Elterngeneration gegenüber in die- terhin nicht zur Anwendung gekommen. Der Zustand der ser Weise auszusprechen und anzuerkennen, welches Leid Ungleichbehandlung zwischen den Heimkehrern hat bis sie haben ertragen müssen, welches Schicksal sie haben heute im vereinigten Deutschland keine Änderung erfah- annehmen müssen – ob verschuldet oder unverschuldet. ren. Das ist es, was die Betroffenen als tiefe Kränkung empfinden, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: eine tiefe Kränkung, die sie nicht lautstark in der Öffent- Ich schließe die Aussprache. lichkeit vortragen, die aber in Gesprächen deutlich wird. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- Mit unserer Gesetzesinitiative wollen wir endlich, fast wurfes auf Drucksache 15/407 an die in der Tagesordnung 13 Jahre nach der Vereinigung Deutschlands, durch eine aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einmalige Entschädigungsleistung das erlittene Schicksal einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei- der ostdeutschen Heimkehrer würdigen. Neben der materi- sung so beschlossen. ellen Entschädigung, die das Leid der Betroffenen wahrlich nicht aufwiegen kann, ist es für sie wie für uns wichtig, dass Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf: wir auch ein politisches Zeichen der Mitmenschlichkeit set- zen. Wir beabsichtigen damit, ein Zeichen der Anerken- Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörg van nung für den Schaden, den sie erlitten haben – oftmals ein Essen, Rainer Funke, , weiteren Ab- Gesundheitsschaden –, ein Zeichen der Anerkennung für geordneten und der Fraktion der FDP eingebrach- erlittenes Schicksal zu setzen. ten Entwurfs eines Gesetzes zum verbesserten Schutz der Intimsphäre Die Bundesregierung teilt in ihrer Stellungnahme mit, dass der Gesetzentwurf die Umkehrung einer Entschei- – Drucksache 15/361 – dung anstrebe, die der gesamtdeutsche Gesetzgeber 1992 Überweisungsvorschlag: im Kriegsfolgenbereinigungsgesetz getroffen habe. Es ist Rechtsausschuss (f) richtig, dass die Funktion der Leistung nach dem Kriegs- Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefangenenentschädigungsgesetz darin bestand, den in die Bundesrepublik Deutschland heimgekehrten Kriegs- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gefangenen, Aussiedlern oder Sowjetzonenflüchtlingen Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP 2212 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wider- Ich weiß aus der letzten Debatte, dass in diesem Hause (C) spruch. Dann ist das so beschlossen. große Offenheit dafür besteht, die hier angesprochene letzte Regelungslücke im Bereich des Schutzes der Pri- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege vat- und der Intimsphäre zu schließen. Ich finde, dass wir Jörg van Essen, FDP-Fraktion. jetzt, nachdem wieder ein Jahr ins Land gegangen ist, die Verpflichtung haben, das schnell umzusetzen. Meine Jörg van Essen (FDP): Hoffnung, dass wir das schaffen werden, ist durchaus be- rechtigt; denn die Bundesregierung hat vor einem Jahr an- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gekündigt, hier initiativ zu werden. Wie ich aus dem Wir haben diese Thematik bereits vor ziemlich genau ei- Hause höre, wird die Formulierung ähnlich der der FDP nem Jahr debattiert. Leider ist es nicht zu einem Geset- sein. Ich denke, dass unsere Bürger einen Anspruch auf zesbeschluss gekommen, sodass die FDP-Bundestags- Schließung dieser Regelungslücke haben. Das wird ins- fraktion ihre Initiative erneut in den Deutschen Bundestag besondere dann deutlich, wenn man sich die Fälle vor Au- eingebracht hat. Dass diese Initiative notwendig ist, haben gen führt, die ich vorhin genannt habe. wir auch im letzten Jahr wieder erfahren können. Wir ha- ben Berichte gelesen, wonach zum Beispiel Arbeitgeber Herzlichen Dank. Kameras in den Damentoiletten installiert haben, um da- (Beifall bei der FDP, der SPD und der mit ihre Mitarbeiterinnen aufzunehmen. Es war auch zu CDU/CSU) lesen, dass zum Teil in Solarien entsprechende Einrich- tungen installiert worden sind, um Personen, die sich dort bräunen, aufzunehmen. Das alles ist unbefugt erfolgt und Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ist völlig inakzeptabel. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Alfred (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Hartenbach. – Herr Hartenbach, Sie haben das Wort. der SPD) (Heiterkeit) Es ist nicht nachzuvollziehen, dass die Gespräche, die beispielsweise an den gerade von mir beschriebenen Ört- Parl. Staatssekretär bei der Bun- lichkeiten unbefugt aufgenommen worden wären, eine Alfred Hartenbach, desministerin der Justiz: Strafe zur Folge gehabt hätten, während die Aufnahmen bisher straflos erfolgen können. Die Rechtsprechung hat Frau Präsidentin, ich bitte um Nachsicht. Ich hielt es in der Vergangenheit Wege zur Beseitigung dieses Miss- für angebracht, mit den Kollegen von der FDP-Fraktion, verhältnisses aufgezeigt. Ich denke etwa an die unbefugte die genauso verloren dasitzen wie die meiner Fraktion, ein (B) Veröffentlichung von Fotos Prominenter. Das Hanseati- paar freundliche Worte zu wechseln. (D) sche Oberlandesgericht hat im Fall einer Prinzessin aus (Jörg van Essen [FDP]: Aber wir sind genauso einem Mittelmeeranrainerstaat eine entsprechende Ent- stark wie Ihre Fraktion!) scheidung getroffen und in der Begründung gesagt, die zugesprochene Entschädigung sei deshalb so hoch ausge- – Ich habe gesagt: genauso verloren dasitzen wie die mei- fallen, weil man damit eine Sanktion verbinden wolle. ner Fraktion. Aber Strafen auszusprechen ist nicht die Aufgabe des Zi- Verehrtes Präsidium! Verehrte Kolleginnen! Verehrte vilrechts, sondern des Strafrechts. Deshalb schlagen wir Kollegen! Die FDP-Fraktion hat erneut einen Entwurf ei- als FDP-Fraktion vor, eine entsprechende Vorschrift in nes Gesetzes zum verbesserten Schutz der Intimsphäre in das Strafgesetzbuch aufzunehmen. den Bundestag eingebracht. Die Bundesregierung stimmt Wir wollen – für diesen Begriff haben wir uns ent- – wie auch schon in der letzten Legislaturperiode – dem schieden – die Intimsphäre schützen. Dieser Begriff ist in Anliegen des Gesetzentwurfs in den Grundzügen zu. Es der Rechtssprache bekannt und wird beispielsweise vom ist richtig, dass in den strafrechtlichen Vorschriften zum Bundesverfassungsgericht immer wieder im Sinne eines Schutz des persönlichen Lebens- und Geheimnisbereichs unantastbaren Kernbereichs der privaten Lebensge- eine Strafbarkeitslücke besteht, die durch einen neuen staltung verwendet. Ich denke, dass genau dieser Kern- § 201 a des Strafgesetzbuches geschlossen werden könnte. bereich geschützt werden muss. Es geht darum, den Schutz der Intimsphäre, also des (Beifall bei der FDP und der SPD) höchstpersönlichen Lebensbereichs, vor unbefugten Bild- aufnahmen und Beobachtungen zu verbessern. Zu Recht Wir wollen wie im Übrigen schon vor einem Jahr – der wird in diesem Gesetzentwurf eine Parallele zu § 201 des Kollege Manzewski hat das in der damaligen Debatte kri- Strafgesetzbuches gezogen, der die Verletzung der Ver- tisiert – auch den Versuch, diesen Kernbereich zu verlet- traulichkeit des Wortes unter Strafe stellt. Das Recht am zen, unter Strafe stellen. Die Begründung ist ganz einfach: eigenen Bild sollte strafrechtlich nicht schlechter als das Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, der immer Recht am eigenen Wort behandelt werden. wieder auf diese Regelungslücke hingewiesen und uns gebeten hat, im Bundestag für die Schließung dieser Dieser Gesetzentwurf entspricht einer Forderung, die der Lücke zu sorgen, hat genau dies angeregt. Ich halte die Bundesbeauftragte für den Datenschutz in seinem 18. Tätig- Anregungen des Bundesdatenschutzbeauftragten immer keitsbericht erhoben hat. Schon vor Veröffentlichung die- für überlegenswert. Deshalb sind wir auch diesmal seiner ses Berichts und unabhängig davon hat das Bundesminis- Anregung gefolgt. terium der Justiz einen Entwurf erarbeitet, der sich mit Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2213

Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach (A) dem von der FDP vorgelegten Entwurf in wesentlichen Vielen Dank, Herr Grosse-Brömer!) (C) Punkten deckt. Nur ein Schelm würde jetzt sagen: Das ist wie in der letzten Legislaturperiode beim Rechtsanwalts- Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (CDU/CSU): vergütungsgesetz. Aber es ist ja nicht schlimm, wenn man gleiche Gedanken hat. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man darf etwas überrascht sein, dass wir heute über einen (Jörg van Essen [FDP]: Gute Gedanken dürfen – von der FDP dankenswerterweise vorgelegten – Ge- mehrere haben! – Dirk Manzewski [SPD]: Die setzentwurf diskutieren. urheberrechtliche Seite müssen wir noch klären! – Joachim Stünker [SPD]: Wer hat bei wem ab- Kommen wir einmal auf den parlamentarischen Vor- geschrieben?) lauf zu sprechen. Am 13. März 2001 – nicht 2002! – hat der Bundesbeauftragte für den Datenschutz eine Lücke in Zweifel habe ich allerdings, Herr van Essen, an der im einem Grundrecht festgestellt. Jeder hat das Recht auf die vorliegenden, von der FDP eingebrachten Gesetzentwurf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. Dieses Recht hat enthaltenen Strafbarkeit des Versuchs und an dem Quali- der Staat zu garantieren. Zur freien Entfaltung seiner Per- fikationstatbestand für Amtsträger. Ich meine – ich möchte sönlichkeit gehört auch, dass der Staat die Privatsphäre Dirk Manzewski nicht vorgreifen; er wird sicherlich ein des Bürgers garantiert. Durch diesen Bericht des Bundes- paar gute Beispiele präsentieren –, dass die Strafbarkeit da beauftragten für den Datenschutz war diese Lücke also etwas zu weit gehen könnte. Handelt es sich um einen straf- bekannt. Der Kollege van Essen hat aufgrund dieses befreienden Rücktritt vom Versuch, wenn ich etwa mit mei- Sachverhalts eine Frage an die Bundesregierung gerich- nem elektronischen Fotoapparat zwei Sumpfrallen – das tet. Die Antwort darauf gab Professor Dr. Pick, der dama- sind Wasservögel; Federvieh – fotografieren möchte, das lige Parlamentarische Staatssekretär, prompt – ich zitiere –: aber nicht tue, weil sich im Hintergrund zufällig eine Per- son befindet? Im Bundesministerium der Justiz wird derzeit eine Vorschrift vorbereitet, wonach unbefugte Bildauf- Ich denke auch an die wirklich armen Polizeibeamten nahmen und die unbefugte Beobachtung mit einem (Zuruf des Abg. Jörg van Essen [FDP]) technischen Gerät ... mit Strafe bedroht werden sol- len. – Herr van Essen, jetzt bin ich wieder sehr ernst –, die Seither lässt man den Bürger, der Anspruch darauf hat, noch nicht den mit § 100 StPO ff. verbundenen Auftrag dass seine Privatsphäre umfassend geschützt wird, im Re- haben. Möglicherweise haben sie noch nicht einmal den gen stehen. Auftrag, jemanden zu beobachten. Wir wissen, dass es im Hinblick auf den Beginn von Ermittlungen und auf Ob- (Joachim Stünker [SPD]: Das haben Sie vor- (B) servierungen Grauzonen gibt; deswegen glaube ich, dass her 16 Jahre lang auch gemacht!) (D) man sich die Regelung mit den Amtsträgern noch einmal – Herr Stünker, ist Rot-Grün an der Regierung sehr genau überlegen sollte. (Jörg van Essen [FDP]: Und zwar jetzt seit fast Das Bundesministerium der Justiz vertritt die Auffas- fünf Jahren!) sung, dass wir trotz dieser Übereinstimmungen sehr sorg- fältig vorgehen müssen. Die bisher bekannt gewordenen oder sind wir es? Reaktionen – es gab sie schon in der letzten Legislaturpe- (Joachim Stünker [SPD]: Unglaublich!) riode – zeigen durchaus, dass nicht alle mit diesem Vor- schlag einverstanden sind. Wir sollten dieses Vorhaben – Herr Stünker, passen Sie bitte auf. Ich erkläre Ihnen sehr exakt und sehr sorgfältig – möglicherweise auch im auch, wie es geht. Hören Sie doch bitte wenigstens zu, Rahmen einer Anhörung im Ausschuss und durch behut- (Joachim Stünker [SPD]: Ich höre schon zu!) same weitere Gespräche – prüfen. Das sind wir dem Schutz der Intimsphäre schuldig. wenn ich versuche, Ihnen das beizubringen. Frau Präsidentin, Sie sehen, dass ich mich trotz meiner (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ kleinen Vorrede an die Zeit gehalten habe. DIE GRÜNEN]: Herr Oberlehrer!) Vielen Dank. – Sie dürfen doch noch etwas dazu sagen, Frau Kollegin. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. ) DIE GRÜNEN) Man hätte eigentlich erwarten dürfen, dass die Bun- desregierung einen Gesetzentwurf vorlegt. Das ist nicht geschehen. Es ist ein Versäumnis, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat der Kollege Siegfried Kauder, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) CDU/CSU-Fraktion. dass die FDP-Fraktion mit ihrem Gesetzentwurf beheben will. Dafür muss man ihr dankbar sein. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Jetzt kommt endlich Substanz in diese Debatte! – Nun zum Gesetzentwurf selbst. Herr Kollege van Gegenruf des Abg. Joachim Stünker [SPD]: Das Essen, ich schätze die Art, in der Sie vorgetragen haben. wäre was Neues, Herr Kollege! Diese jungen Aber erlauben Sie mir, zu versuchen, Lücken offen zu le- Kollegen! – Jörg van Essen [FDP]: Sehr nett! gen, über die wir reden müssen. 2214 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (A) Sie wollen mit Ihrem Gesetzentwurf einen Schutz der delt. Wir brauchen § 193 StGB nur in Abs. 3 Ihres Ge-(C) Intimsphäre erreichen. Den Begriff der Intimsphäre kennt setzentwurfs zu übernehmen und haben dann das, was Sie das Verfassungsrecht, aber nicht das Strafrecht. Wir tun wollen, und zwar auch juristisch bereits abgesichert, weil uns viel leichter, wenn wir nicht neue Begriffe kreieren, es genügend Rechtsprechung zur Abwägung zwischen sondern auf althergebrachte aus dem Strafrecht zurück- Art. 2 und Art. 5 Grundgesetz gibt. greifen. Einen solchen Begriff gibt es in Form der so ge- Herr Staatssekretär, an einer Stelle in der Diskussion nannten Privatsphäre. Zum Begriff der Privatsphäre gibt haben Sie zu kurz gegriffen. Sie sagten, wir sollten uns es auch genügend Rechtsprechung, auf die wir dannüberlegen, ob das höhere Strafmaß für Amtsträgerge- zurückgreifen können. Deswegen die Bitte, zu überlegen, rechtfertigt sei. – Genau das brauchen wir. Es soll Fälle ob wir den Begriff Intimsphäre nicht gegen den Begriff gegeben haben – damit trete ich den Polizeibehörden Privatsphäre austauschen sollten. nicht zu nahe –, dass auf Polizeidienststellen Frauen, die (Jörg van Essen [FDP]: „Intimsphäre“ ist verhört wurden, nackt aufgenommen wurden und dass enger!) diese Fotos verkauft wurden. Das dürfen wir nicht zulas- sen. Das wollen wir nicht zulassen. Gerade Amtsträger Eine Lücke bleibt in diesem Gesetzentwurf, die wir haben eine besondere Verpflichtung. Deswegen ist dieses dringend schließen müssen. Bestraft werden soll nur, wer erhöhte Strafmaß gerechtfertigt. unbefugt etwas auf Bildträger aufnimmt und die Auf- nahme dann verwendet. Es gibt aber auch die folgende Si- (Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/ tuation: Lebenspartner fotografieren sich gegenseitig; DIE GRÜNEN und der FDP) diese Fotos sind dem Intimbereich zuzurechnen. Dann Herr Kollege van Essen, einem Problem müssen wir geht die Beziehung auseinander. Es ist also ein befugtuns schon stellen. Es gibt bereits eine ähnlich gelagerte aufgenommenes Foto, aber nach der Trennung der priva- Vorschrift, die Sie in Ihrer Begründung auch zitiert haben, ten Beziehung möchte keiner der beiden, dass der andere nämlich § 33 Kunsturhebergesetz. Sie haben das ein sein Foto ins Internet stellt. bisschen mit links abgearbeitet und gesagt, es sei eine alte, Das sind die Fälle, die wir immer wieder haben. Deswe- überkommene Vorschrift. Das Moderne im Recht ist aber gen bitte ich, zu überlegen, in Art. 1 in dem neuen § 201 a nicht immer das Bessere. Wir können nicht so verfahren, in Abs. 1 eine Nr. 3 anzufügen, nach der auch befugt her- dass wir in einem neu zu schaffenden Straftatbestand eine gestellte Aufnahmen nicht verbreitet werden dürfen,Höchststrafe von zwei Jahren vorsehen und parallel dazu wenn die Zustimmung nicht gegeben wird. eine Vorschrift im Kunsturhebergesetz belassen, die den fast gleichen Straftatbestand mit einem Jahr Freiheits- (Jörg van Essen [FDP]: Guter Hinweis!) strafe belegt. Da klafft eine Lücke, die wir schließen müs- (B) Dann bitte ich zu bedenken, dass in Abs. 2 ein Ver- sen. (D) suchstatbestand aufgeführt ist. Danach soll ebenso be- Jetzt können wir natürlich sagen: Das richten nachher straft werden, wer mit einem Bildaufnahmegerät einen die Gerichte; die schalten das im Wege der Gesetzeskon- Dritten beobachtet. Das ist die Vorbereitungshandlung zur kurrenz aus. – Das dürfen wir als Gesetzgeber aber nicht Aufnahme. Sie wollen dann auch noch den Versuch be- zulassen. Es ist unsere Verpflichtung, den Richtern Vor- straft wissen. Das heißt, Sie kommen rechtlich zu dem Er- gaben zu machen. Also müssen wir dieses Spannungsver- gebnis, dass der Versuch des Versuchs bestraft wird. Das hältnis zwischen dem von Ihnen gewünschten § 201 a kennen wir in der Rechtspraxis nur in Ausnahmefällen. Strafgesetzbuch und dem bestehenden § 33 Kunsturhe- Ich bitte also, auch darüber nachzudenken, den Abs. 2 völ- bergesetz klären. Ich bin der Meinung, auch das lässt sich lig aus dem Gesetzentwurf herauszunehmen. relativ einfach lösen. Denn die Vorschriften des Kunstur- Noch komplizierter wird es in Abs. 3. Die FDP glaubt, hebergesetzes beinhalten nichts anderes als Rechtferti- da eine Bagatellklausel einführen zu müssen und dies mit gungsgründe. Diese Rechtfertigungsgründe können wir, einem Rechtfertigungsgrund verbinden zu können. Die wenn wir Abs. 3 Ihres Gesetzentwurfs abspecken und in etwa inhaltsgleich zu § 193 StGB ausgestalten, dort noch Tat soll nur strafbar sein, wenn sie geeignet ist, berech- einfügen. tigte Interessen der verletzten Person zu beeinträchtigen. Bitte aufpassen! Damit hat wieder einmal das Opfer die Meine Damen und Herren, Sie sehen: Wenn man sach- Beweislast. Der Richter wird fragen: Wo sehen Sie sich lich argumentiert, lassen sich Lösungen erarbeiten. Ich denn in Ihrer privaten Sphäre beeinträchtigt? – Das darf freue mich, dass ich da Zustimmung auch von Ihrer Seite nicht sein. Derjenige, der in der Privatsphäre fotografiert bekomme. Nur eines ärgert mich – das muss man den und damit ein Grundrecht eines Bürgers verletzt, muss be- Menschen, die draußen zuhören, wenn wir hier diskutie- legen, warum es aus übergeordneten Interessen notwen- ren, auch sagen –: Wir haben schlicht und ergreifend seit dig war. dem Jahr 2001 Arbeitszeit, die der Bürger bezahlt – er be- zahlt ja auch die Parlamente –, verplempert. Ich bin mir Wir müssen das Strafgesetzbuch nicht mit immer neuen fast sicher: Wenn der Kollege van Essen nicht gewesen Begriffen und komplizierten Regelungen aufblasen, wenn wäre, wäre niemand auf der Regierungsbank auf die Idee es einfacher geht – und es geht einfacher. Was Sie von der gekommen, eine bestehende Gesetzeslücke mit einem Ge- FDP berechtigterweise wollen, ist schon in anderem Zu- setz, das den Konsens in diesem Haus findet, zu schließen. sammenhang im Gesetz dokumentiert. Bei denStraftat- Das darf nicht sein; das dürfen wir nicht zulassen. beständen der Beleidigung gibt es in § 193 StGB einen Rechtfertigungsgrund. Ein solcher Grund liegt vor, wenn Ich kann Ihnen versichern: Das ist nicht der einzige Ge- der Täter in Wahrnehmung berechtigter Interessen han- setzentwurf, der in den Schubladen der Ministerien dieser Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2215

Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (A) Regierung versackt. Dagegen müssen wir vorgehen. Der neuen Polizeigesetz mit tatkräftiger Unterstützung der(C) Bürger hat einen Anspruch auf eine zeitnahe Lösung, ins- FDP besondere dann, wenn seine Grundrechte berührt werden. (Klaus Haupt [FDP]: Wer hat Ihnen das aufge- Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn wir auch dazu einen schrieben?) Konsens finden würden. die Ausweitung der polizeilichen Befugnisse bei der Te- Vielen Dank. lekommunikationsüberwachung und beim Lauschangriff (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zu betreiben. (Jörg van Essen [FDP]: Ich dachte, der Innen- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: minister würde von der SPD gestellt! Sie ko- alieren doch mit denen!) Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Irmingard Schewe- Gerigk. Liebe Kolleginnen und Kollegen, machen wir uns nichts vor: Vor diesem Hintergrund ist die Ungeduld, mit der die FDP diesen Antrag im Namen des Schutzes der Privat- Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE sphäre erneut eingebracht hat, wenig überzeugend. GRÜNEN): Das Strafrecht muss immer Ultima Ratio der Rechts- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ordnung sein. Wenn wir in die Begründung zu dem Ge- Der Kollege van Essen hat gerade darauf hingewiesen: setzentwurf schauen, stellen wir fest, dass sie wenig auf- Vor einem Jahr hatten wir eine ähnliche Debatte. Schon schlussreich ist. Wir sind in diesem Fall nicht davon damals wurde über den Tätigkeitsbericht des Bundes- überzeugt, dass die bestehenden rechtlichen Mittel nicht beauftragten für den Datenschutzgesprochen. Sinn- ausreichen. Es gibt für die Betroffenen schon jetzt eine gemäß steht darin: Wer sich bewusst der Öffentlichkeit Reihe von rechtlichen Mitteln, mit denen sie sich zur entzieht, muss oder soll sich darauf verlassen können,Wehr setzen können; der Kollege Kauder hatte vorhin an dass von ihm ohne Einwilligung keine Aufnahmen ge- einige erinnert. Es stehen zivilrechtliche Beseitigungs- macht werden und auch keine Aufnahmen in der Öffent- und Unterlassungsansprüche sowie Schadensersatz- und lichkeit verbreitet werden. Schmerzensgeldansprüche zur Verfügung. Zudem gibt es Mit dieser Formulierung wird ein Aspekt des Rechts die Strafvorschrift in § 33 des Kunsturhebergesetzes, die, auf informationelle Selbstbestimmung beschrieben. Sie wie Herr Kauder ja vorhin erwähnte, das Veröffentlichen alle wissen, dass wir Grüne dem Recht auf informatio- von Abbildungen ohne Einwilligung des Abgebildeten nelle Selbstbestimmung große Bedeutung beimessen. Wir unter Strafe stellt. (B) (D) haben uns immer für den Datenschutz und auch für die (Jörg van Essen [FDP]: Aber nur das Veröf- Achtung der Privatsphäre eingesetzt. Für uns handelt es fentlichen!) sich hier sozusagen um ein Heimspiel. Deshalb versteht es sich für uns von selbst, dass wir den Bericht des Bun- Schließlich scheint mir die von Ihnen vorgeschlagene desbeauftragten ernst nehmen. Dementsprechend lautet Strafvorschrift an vielen Stellen nicht ganz ausgegoren. die gute Nachricht, Herr Kollege van Essen: Wir haben Die bereits erwähnte Vorschrift im Kunsturhebergesetz Sympathie für das Anliegen, das Ihrem Antrag zugrunde stellt die schwerwiegendste Verletzung des Persönlich- liegt. keitsrechts unter Strafe. Leider muss ich unmittelbar auch eine schlechte Nach- (Jörg van Essen [FDP]: Deswegen will das Bun- richt anschließen: Unsere Sympathie für Ihr Bemühen um desjustizministerium eine sehr ähnliche!) den Schutz der Privatsphäre hält sich leider in Grenzen. Nun wollen Sie nicht nur das Veröffentlichen bestrafen, Zu frisch ist bei uns noch die Erinnerung an die Zeiten, in sondern auch das Herstellen einer Bildaufnahme, und denen Sie als Regierungspartei das Grundrecht auf Un- nicht nur das: Sie wollen auch noch den Versuch der Her- verletzbarkeit der Wohnung mit dem großen Lauschan- stellung unter Strafe stellen. griff mit Füßen getreten haben. (Jörg van Essen [FDP]: Wie der Bundesbeauf- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – tragte für Datenschutz vorgeschlagen hat!) Zuruf von der CDU/CSU: Das war ein Fort- schritt!) Der Herr Staatssekretär hat gerade anhand des Beispiels mit den Sumpfrallen – die habe ich erst jetzt kennen ge- Die Folge war: Die Justizministerin hat ihr Amt aufge- lernt, aber es ist ja gut, dass man jeden Tag dazulernt – geben. Seitdem hat ja auch nicht etwa ein Gesinnungs- deutlich gemacht, wie schwer es ist, so etwas überhaupt wandel bei den Liberalen stattgefunden. Deutschland zu machen. ist bereits jetzt Weltmeister im Abhören. Diesen Titel haben wir – leider, muss ich sagen – der FDP zu ver- (Jörg van Essen [FDP]: Warum schlägt es denn danken. der Bundesbeauftragte für Datenschutz vor?) (Jörg van Essen [FDP]: Das ist doch schlimmer – Jetzt habe ich das Wort, Herr Kollege. – Damit sich nicht Unsinn und Sie wissen, dass es Unsinn ist!) jeder, der mit einer Kamera im Park oder in einem Wohn- gebiet spazieren geht, dem Verdacht einer strafbaren Das hindert jedoch auch die rheinland-pfälzische Landes- Handlung aussetzt, wollen Sie den Anwendungsbereich regierung nicht daran, in ihrem aktuellen Entwurf zum des Tatbestandes wieder eingrenzen. Dafür wollen Sie ei- 2216 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

Irmingard Schewe-Gerigk (A) nen neuen unbestimmten Rechtsbegriff einführen, der, lichen Bereichen, die dann vor allem im Internet übertra- (C) wie Sie selbst sagen, bisher nicht in der Gesetzgebung gen wurden und bei denen die Betroffenen weder von der auftaucht. Die Begründung dafür liefern Sie auch gleich Aufnahme noch von deren Verbreitung etwas ahnten, ma- mit, indem Sie sagen, die abstrakte Umschreibung der In- chen die Problematik deutlich. timsphäre sei nicht möglich. Ich halte es nicht für sinnvoll Aber nicht nur diese medienwirksamen Fälle geben – da stimme ich ausdrücklich dem Herrn Kollegen Kauder meiner Auffassung nach Anlass, tätig zu werden. Gerade zu –, hier einen neuen Begriff, nämlich den der Intim- die Entwicklungen in der Videotechnik und im Internet, sphäre, einzuführen. die es möglich machen, Bilder unbemerkt aufzunehmen Wir wollen keinen Straftatbestand, der eine Vielzahl und weltweit zu verbreiten, zwingen uns, den Schutz der von Alltagssituationen erfasst, deren StrafwürdigkeitBürger zu verstärken. Dazu gehören auch die extrem klei- fraglich ist, und der in der Praxis auch nicht handhabbar nen Kameras, sehr weit reichende Teleobjektive und an- ist. Stattdessen wollen wir genau prüfen, ob ein zusätzli- dere Geräte, die dem Eingriff in die Privatsphäre Tür und cher § 201 a Strafgesetzbuch nötig ist. Dies werden wir Tor geöffnet haben. Das Medium Internet, das die Mög- mit Bedacht tun. Den geeigneten Rahmen dazu stellt die lichkeit der kurzfristigen und weltweiten Verbreitung Überarbeitung des Besonderen Teils des Strafgesetz- eröffnet, hat ein Übriges getan. Sie alle haben völlig buchs dar, die die Koalition noch in dieser Legislaturpe- Recht, wenn Sie sagen, dass unsere Bürger einen An- riode vornehmen wird. Dabei wird das sicher ein wichti- spruch darauf haben, hiervor geschützt zu werden. ger Punkt sein. Ich freue mich schon sehr auf die Es ist schon öfter angesprochen worden: Der Bundes- Ausschussberatungen. beauftragte für den Datenschutz hat in seinem letzten Vielen Dank. Tätigkeitsbericht festgestellt, dass es in diesem Zusam- menhang immer öfter zu Eingriffen in die Persönlich- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN keitsrechte kommt. Ich teile seine Einschätzung, genau und bei der SPD) wie ich Ihre Grundeinschätzung teile, dass es hier einer gesetzlichen Regelung bedarf. Die unterschiedliche Be- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: handlung von heimlichen Tonbandaufnahmen und heim- lichen Bildaufnahmen ist nicht nachzuvollziehen. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dirk Manzewski. Aber – dazu muss ich noch einiges sagen, Herr Kollege van Essen – das sieht auch die Bundesregierung so. Be- Dirk Manzewski (SPD): reits auf Ihre Anfrage – das ist angesprochen worden – ist Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir de- mitgeteilt worden, dass das BMJ an einer entsprechenden battieren hier über einen Gesetzentwurf, der ein Thema Vorschrift arbeitet, wonach unbefugte Bildaufnahmen (B) (D) berührt, mit dem wir uns schon kurz am Ende der letzten und das unbefugte Beobachten mit einem technischen Legislaturperiode beschäftigt haben, der Kollege vanGerät mit Strafe bedroht werden sollen. Essen hat darauf hingewiesen. Das Grundanliegen, Herr (Jörg van Essen [FDP]: Nur ein bisschen lang, Kollege, wird dabei von uns geteilt, weil sich in der Ver- Herr Kollege!) gangenheit – da haben Sie völlig Recht – immer wieder gezeigt hat, dass hier wohl eine Lücke im Strafgesetzbuch – Darauf komme ich jetzt. existiert. Zwar ist im Bereich des Persönlichkeitsrechts Daran hat sich natürlich nichts geändert. Sie und der im Strafgesetzbuch einiges geregelt, zum Beispiel die Ver- Kollege Kauder haben Kritik geübt. Aber bei der Argu- letzung des Briefgeheimnisses, das unbefugte Ausspähen mentation ist einiges verschwiegen worden. Das BMJ hat von Daten und einiges Weitere; aber es existiert ebengesagt: Wir schaffen eine entsprechende Regelung, aber nichts Vergleichbares, das die Menschen wirksam vor dem wir halten es nur für sinnvoll, wenn dies in einem großen unbefugten Aufnehmen von Bildern und deren Veröffent- Kontext geschieht, weil sich in der Vergangenheit heraus- lichung schützt. Allein das Zivilrecht gibt den Betroffenen gestellt hat, dass in dem einen oder anderen Bereich des bislang die Möglichkeit, sich gegen solches Verhalten zu Besonderen Teils des Strafrechts Änderungen notwendig wehren. Aber in diesen Fällen geht es – das ist von den sind und es eigentlich nicht sinnvoll ist, hier ein be- Kollegen schon angedeutet worden – allein um Beseiti- stimmtes Einzelproblem herauszunehmen, schon allein gung, Unterlassen, Schadenersatz oder Schmerzensgeld. deswegen, weil – das muss man berücksichtigen – Straftat- Sie haben völlig Recht: Nicht zuletzt der bekannte Fall bestände häufig ineinander übergehen. der noch bekannteren Prinzessin – die immerhin ein ho- (Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD]) hes Schmerzensgeld bekommen hat, weil unbefugt Fotos von ihrer Privatsphäre aufgenommen worden sind – hat Das Herauslösen oder Vorziehen einzelner Vorschriften die Tendenz der Gerichte gezeigt, dass ein Eingriff in die könnte im Nachhinein zu viel größeren Problemen führen, Privatsphäre in dieser Form nicht akzeptabel ist. als wenn man etwas wartet. Sie haben auch Recht, wenn Sie sagen, dass die Verun- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sicherung in der Bevölkerung nicht zuletzt dadurch ver- DIE GRÜNEN) stärkt worden ist, dass in den Medien in der Vergangen- heit immer wieder von Fällen berichtet worden ist, in Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: denen gegen das Persönlichkeitsrecht in geradezu scham- loser Weise verstoßen wurde. Insbesondere heimliche Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Duschaufnahmen oder Aufnahmen aus anderen persön- Kauder? Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2217

(A) Dirk Manzewski (SPD): ten müssen, ob alles, was in Ihrem Gesetzentwurf steht, (C) richtig ist. Ja, natürlich. Abgesehen von seiner Kritik an die Bundesregierung hat Herrn Kauder natürlich zu Recht zwei oder drei in- Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (CDU/CSU): haltlich richtige Punkte genannt. Die Polemik hätte ich Herr Kollege, nehmen Sie es mir bitte nicht übel. Sie mir an seiner Stelle allerdings gespart. Auch ich meine, sind wie ich Jurist. Können Sie sich vorstellen, dass es ei- dass wir uns noch einmal ganz in Ruhe darüber unterhal- nem Mädchen, das nackt im Internet publiziert wird, völ- ten müssen, ob es wirklich Sinn macht, einen Qualifika- lig egal ist, ob diese Rechtsvorschrift im Kontext mit an- tionstatbestand für Amtsträger zu schaffen. Trotz des deren erlassen wird oder nicht? Für dieses Mädchen ist Beispieles von Herrn Kauder ist es mir noch nicht ganz wichtig, dass es Schutz bekommt. Die Regierung kennt einsichtig, weil ich glaube, dass man den neu zu schaf- die Probleme seit dem Jahr 2001. Wie lange muss es noch fenden § 201 a StGB nicht zwingend mit § 201 StGB ver- dauern? gleichen kann, weil diesem eine andere Intention zu- grunde liegt. Wie gesagt, darüber müssen wir reden. Dirk Manzewski (SPD): Möglicherweise wird uns die Diskussion in diesem Zu- Herr Kollege, Gesetzgebung ist wichtig und wir müs- sammenhang dann auch dahin führen, dass meine Zweifel sen auch reagieren. Aber das bedeutet nicht, dass wir in ausgeräumt werden. Solche habe ich natürlich weiterhin, puren Aktionismus verfallen dürfen. Herr Kollege, solange Ihrer Auffassung nach bereits der Versuch des Delikts unter Strafe gestellt werden soll. Meine (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Zweifel habe ich aber insbesondere deshalb, weil ich in der Es ist zwar mittlerweile ein Jahr seit der Vorlage des Be- späteren Praxis erhebliche Probleme sehe, diese Tat zu be- richtes vergangen, Herr Kollege; aber das Problem istweisen. Wer wird denn schon nachweisen können, dass doch schon länger bekannt. Deshalb müssen sich auch an- zum Beispiel die Beobachtung mit dem Fernglas nicht der dere fragen lassen, warum sie nicht die Notwendigkeit ge- Natur, sondern dem Liebespaar in dieser dienen sollte? sehen haben, etwas zu unternehmen. Wir sind aufgefordert, nur Gesetze zu schaffen, die der (Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD]) Justiz helfen und die Justiz nicht belasten. Ich bitte ein- fach darum, dass wir uns darüber noch einmal intensiv un- Für mich ist es wichtiger, etwas vernünftig auf den Weg terhalten. Wir dürfen uns auch nichts vormachen: Lö- zu bringen, als das voreilig zu tun. Ich hoffe, dass wir das sungen hängen nicht allein von neuen Gesetzen und auch in diesem Zusammenhang tun werden. Ich meine, Regelungen ab. Zu Recht verweist der Bundesdaten- (B) dass voreiliges Handeln eher zu Nachteilen für die Be- schutzbeauftragte darauf – ich nehme noch einmal Bezug (D) troffenen führt und sie im Grunde genommen nicht wei- auf ihn –, dass vielmehr das Verständnis für die Notwen- terbringt. digkeit des Respekts vor dem Persönlichkeitsrecht aller Ich möchte noch die Tatsache ansprechen – das geht ja Menschen in Verbindung mit entsprechenden technischen nicht von meiner Zeit ab –, dass Sie immer nur auf den und organisatorischen Maßnahmen in den Köpfen aller Bundesbeauftragten verweisen. Es ist ja gut, dass derwachsen muss, die mit personenbezogenen Daten umge- Bundesbeauftragte diesen Bericht veröffentlicht hat; man hen wollen und müssen. Das sollten wir bei den anste- muss ihn auch ernst nehmen. Aber die Meinung des Bun- henden Beratungen nicht unberücksichtigt lassen. desbeauftragten, Herr Kollege Kauder, ist ja nun nicht das Ich danke Ihnen. Allheilmittel; er ist auch nicht der Allwissende. Das heißt, wir sollten uns als freie Abgeordnete offen lassen, inwie- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE weit wir dies bewerten und in welchem Zusammenhang GRÜNEN und der FDP) wir die von ihm gemachten Vorschläge sinnvoll umsetzen wollen. Nur allein auf den Bericht des Bundesbeauftrag- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: ten zu verweisen, halte ich offen gestanden für nicht ganz richtig. Ich schließe die Aussprache. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Siegfried Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/CSU]: Es stimmt auf Drucksache 15/361 an die in der Tagesordnung auf- nicht, was Sie sagen! – Zuruf von der FDP: Da- geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einver- rüber wurde schon 1969 diskutiert!) standen? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. – Lassen Sie mich weiter reden. Ich will das zum Ende bringen. Wir sind damit zu ungewohnt früher Stunde am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Gleichwohl, Kollege van Essen, haben Sie diesen Ein- zelpunkt schon herausgegriffen. Ich meine, es ist völlig in Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- Ordnung, dass wir darüber diskutieren, weil es uns mög- tages ein auf morgen, Freitag, den 21. Februar 2003, aus- licherweise den späteren Ablauf etwas erleichtern kann. nahmsweise erst um 9.15 Uhr, ein. Aber wir werden – ich werde in den verbliebenen andert- Die Sitzung ist geschlossen. halb Minuten meiner Redezeit noch auf ein paar Einzel- heiten eingehen – uns dann tatsächlich darüber unterhal- (Schluss: 17.23 Uhr)

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2219

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2

Erklärung nach § 31 GO entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich der Abgeordneten Rolf Stöckel, Kurt Bodewig, Siegmund Ehrmann, Gabriele Frechen, Kerstin Griese, Jelena Hoffmann (Chemnitz), Eike Bahr (Münster), Daniel FDP 20.02.2003 Hovermann, Eckhart Lewering, Lothar Mark, Büttner (Ingolstadt), SPD 20.02.2003 Dr. Erika Ober, Silvia Schmidt (Eisleben), Hans Carsten Schneider, Karsten Schönfeld, Rita Streb-Hesse, Dr. Marlies Volkmer, Dr. Rainer Deittert, Hubert CDU/CSU 20.02.2003* Wend, Karin Evers-Meyer, Sören Bartol und Dr. Margrit Spielmann (alle SPD) zu der Ab- Dobrindt, Alexander CDU/CSU 20.02.2003 stimmung über den Antrag: Neue Initiative für Ernstberger, Petra SPD 20.02.2003 ein internationales Verbot des Klonens mensch- licher Embryonen starten (Drucksache 15/463) Dr. Faust, Hans Georg CDU/CSU 20.02.2003 (Tagesordnungspunkt 3) Dr. Gauweiler, Peter CDU/CSU 20.02.2003 Die oben genannten Abgeordneten können diesem An- trag nicht zustimmen und geben dazu folgende persön- Göbel, Ralf CDU/CSU 20.02.2003 liche Erklärung ab: Götz, Peter CDU/CSU 20.02.2003* Internationale Initiativen gegen das reproduktive Klonen mit dem Ziel, eine Konvention der Vereinten Nationen zu ** Höfer, Gerd SPD 20.02.2003 ethischen Fragen der Biomedizin zu erreichen, sind zu be- Hoffmann (Chemnitz), SPD 20.02.2003 grüßen.Wünschenswert ist eine bessere Harmonisierung der Jelena bioethischen Standards, die internationale Kontrollmecha- nismen mit forschungsfreundlichen Regelungen vereinbart. * Jäger, Renate SPD 20.02.2003 Wir sind nicht einverstanden, dass unter Begrifflich- Kossendey, Thomas CDU/CSU 20.02.2003** keiten wie „umfassendes Klonverbot“ reproduktives und therapeutisches Klonen gleichgesetzt und beides damit (B) Künast, Renate BÜNDNIS 90/ 20.02.2003 in einen negativen Diskussionszusammenhang gebracht (D) DIE GRÜNEN wird. Gerade in einer Zeit rasanter wissenschaftlicher Entwicklungen mit vielfältigen, durchaus berechtigten Müller (Köln), Kerstin BÜNDNIS 90/ 20.02.2003 Hoffnungen auf eine verbesserte medizinische Versor- DIE GRÜNEN gung und Heilung brauchen wir einen offenen, aufklä- Nitzsche, Henry CDU/CSU 20.02.2003 renden gesellschaftlichen Diskurs über Chancen und Ri- siken der Gentechnik, der Stammzellenforschung und des Raidel, Hans CDU/CSU 20.02.2003** „therapeutischen Klonens“. Rauber, Helmut CDU/CSU 20.02.2003** Zurzeit kann noch nicht eingeschätzt werden, in welcher Art und Weise, in welchem Umfang und in welchen Zeiträu- Schmidt (Eisleben), SPD 20.02.2003 men Ergebnisse der Forschung mit embryonalen Stammzel- Silvia len sowie des „therapeutischen Klonens“ klinisch relevant werden.MöglicheChancendürfenabernichtdurchgenerelle Thiele, Carl-Ludwig FDP 20.02.2003 Verbote verbaut werden. Unter strengen Auflagen sollte die Volquartz, Angelika CDU/CSU 20.02.2003 Forschung zugelassen werden. Dies ist allerdings nur dann vertretbar, wenn mit staatlichen Rahmenbedingungen und Weisskirchen SPD** 20.02.2003Kontrollmechanismen Forschungsprojekte sowie neue Dia- (Wiesloch), Gert gnose- und Therapiemöglichkeiten begleitet und in einem gesellschaftlichen Dialog transparent gemacht werden. Wettig-Danielmeier, SPD 20.02.2003 Inge Der Deutsche Bundestag wird in diesem Zusammen- hang auch in Zukunft mit wichtigen Fragestellungen und Widmann-Mauz, CDU/CSU 20.02.2003Anforderungen konfrontiert werden, denen wir uns nicht Annette durch absolute Verbote entziehen können und sollten. Wimmer (Neuss), Willy CDU/CSU 20.02.2003** Zapf, Uta SPD 20.02.2003** Anlage 3 * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- Erklärung nach § 31 GO sammlung des Europarates ** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- der Abgeordneten Petra Selg, Werner Schulz sammlung der OSZE (Berlin), Dr. Uschi Eid und Jerzy Montag (alle 2220 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003

(A) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zu der Abstim- sollte die Forschung zugelassen werden. Dies ist allerdings (C) mung über den Antrag: Neue Initiative für ein in- nur dann vertretbar, wenn mit staatlichen Rahmenbedin- ternationales Verbot des Klonens menschlicher gungen und Kontrollmechanismen Forschungsprojekte so- Embryonen starten (Drucksache 15/463) (Tages- wie neue Diagnose- und Therapiemöglichkeiten begleitet ordnungspunkt 3) und in einem gesellschaftlichen Dialog transparent ge- macht werden. Die oben genannten Abgeordneten werden diesem An- trag zwar zustimmen, aber geben dazu folgende persönli- Der Deutsche Bundestag wird in diesem Zusammen- che Erklärung ab: hang auch in Zukunft mit wichtigen Fragestellungen und Anforderungen konfrontiert werden, denen wir uns nicht Internationale Initiativen gegen das reproduktive Klo- durch absolute Verbote entziehen können und sollten. nen mit dem Ziel, eine Konvention der Vereinten Natio- nen zu ethischen Fragen der Biomedizin zu erreichen, sind zu begrüßen. Anlage 4 Wünschenswert ist eine bessere Harmonisierung der bioethischen Standards, die internationale Kontrollmecha- Erklärung nach § 31 GO nismen mit forschungsfreundlichen Regelungen vereinbart. der Abgeordneten Dr. Martin Mayer (Siegerts- Wir finden es unangemessen, dass unter Begrifflich- brunn), , Peter Hintze und keiten wie „umfassendes Klonverbot“ reproduktives und Ursula Heinen (alle CDU/CSU) zu der Abstim- therapeutisches Klonen gleichgesetzt und beides damit in mung über den Antrag: Neue Initiative für ein in- einen gleichgewichtigen negativen Diskussionszusam- ternationales Verbot des Klonens menschlicher menhang gebracht wird. Gerade in einer Zeit rasanter wis- Embryonen starten (Drucksache 15/463) (Tages- senschaftlicher Entwicklungen mit vielfältigen, zum Teil ordnungspunkt 3) auch berechtigten Hoffnungen auf eine verbesserte medi- Wir befürworten nachdrücklich ein weltweites Verbot zinische Versorgung und Heilung brauchen wir einen of- des reproduktiven Klonens beim Menschen. Allerdings fenen, aufklärenden gesellschaftlichen Diskurs über verlangt der Antrag ein weltweites Verbot jeglichen Klo- Chancen und Risiken der Gentechnik, der Stammzellenfor- nens bei menschlichen Zellen. Er verlangt damit auch ein schung und des so genannten therapeutischen Klonens. Verbot der Transplantation menschlicher Zellkerne zu Zurzeit kann noch nicht eingeschätzt werden, in welcher Forschungszwecken. Auch wenn umstritten ist, ob dieser Art und Weise, in welchem Umfang und in welchenWeg einmal zu therapierelevanten Erkenntnissen führen Zeiträumen Ergebnisse der Forschung mit embryonalen kann, so sollten die möglicherweise darin liegenden (B) Stammzellen sowie des so genannten therapeutischen Klo- Chancen nicht von vornherein ausgeschlossen werden.(D) nens klinisch relevant werden. Unter strengen Auflagen Deshalb können wir diesem Antrag nicht zustimmen.

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