DÖW DOKUMENTATIONSARCHIV DES ÖSTERREICHISCHEN WIDERSTANDES

FOLGE 203 Mitteilungen OKTOBER 2011

DAS DÖW TRAUERT UM JONNY MOSER UND ALFRED STRÖER

Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes betrauert den Verlust seiner Gründungsmitglieder Prof. Dr. Jonny Moser und Abg. a. D. Prof. Alfred Ströer, die beide in den Sommermonaten 2011 im Abstand von nur wenigen Wochen verstarben. (Kurzbiographien von Jonny Moser und Alfred Ströer siehe auf S. 2 f.) Beide gehörten zu jenen Menschen, die das „andere Österreich“ repräsentierten, die während der NS-Zeit auf der Seite der Opfer standen – und diese Erfahrung als Zeitzeugen im Dokumentationsarchiv, in Schulen, bei verschie- densten Veranstaltungen und auf publizistischem Weg über Jahrzehnte weitergaben. Beide engagierten sich ebenso leidenschaftlich für Menschenrechte, Demokratie und die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit Österreichs wie sie entschieden gegen rechtsextreme Tendenzen, Rassismus, Antisemitismus und Intoleranz in der österreichischen Politik und Gesellschaft ankämpften. Beiden war die Arbeit des Archivs immer ein besonderes Anliegen – Jonny Moser und Alfred Ströer sind für das DÖW im wahrsten Sinn des Wortes unersetzlich.

Jonny Moser Alfred Ströer 10. Dezember 1925 – 23. Juli 2011 3. Dezember 1920 – 20. August 2011 2 Mitteilungen 203

gen protokolliert worden waren, steckte Jonny Moser (1925–2011) man uns in den Gemeindearrest [...] Gegen zwei Uhr nachmittags wurden wir Prof. Dr. Jonny Moser, Historiker, Zeitzeuge, Mitbegründer des DÖW und seit 1964 von zwei martialisch aussehenden Gen- Mitglied des DÖW-Vorstands, starb am 23. Juli 2011 im 86. Lebensjahr. darmen (csendör) abgeholt. [...] Die bei- den Gendarmen brachten uns per Autobus Jonny Moser wurde am 10. Dezember kationen zur NS-Judenverfolgung veröf- nach Köhida (Steinabrückl), wo sie uns im 1925 in Parndorf () geboren, fentlichte er 2006 seine Erinnerungen un- Hof des dortigen Zuchthauses für wo seine Eltern eine Gemischtwarenhand- ter dem Titel Wallenbergs Laufbursche. Schwerstverbrecher wie Ladegut vorerst lung betrieben. Als im April 1938 die Na- Jugenderinnerungen 1938–1945. abstellten. [...] tionalsozialisten die jüdische Bevölkerung Von 1964 bis 1996 war Jonny Moser Be- Als die Dämmerung hereinbrach, holten aus Parndorf nach Ungarn abschoben, be- zirksrat der SPÖ im 1. Wiener Gemeinde- sie uns ab und trieben uns über die Grenze gann auch die rund siebenjährige Flucht bezirk. Bis zuletzt war er im Vorstand und auf deutsches Gebiet zurück. Des Weges des damals 13-jährigen Jonny Moser mit Stiftungsrat des DÖW und im Bundes- unkundig gingen wir im Gänsemarsch seiner Familie – zunächst nach Wien, spä- vorstand der Sozialdemokratischen Frei- durch den Wald. Es dauerte nicht lange, ter nach . Nach der überraschen- heitskämpferInnen, Opfer des Faschismus bis uns eine deutsche Grenzpatrouille auf- den Entlassung aus einem Internierungs- und aktiver AntifaschistInnen vertreten. stöberte. Sie hatte uns durch das Unterholz lager im Sommer 1944 lernte Jonny Wenige Tage vor seinem Tod wurde der brechen gehört. Sie trieb uns sogleich auf Moser den schwedischen Diplomaten vielfach Ausgezeichnete für seine Ver- ungarisches Territorium zurück. Nach ei- kennen. Letzterer konn- dienste um die Republik Österreich mit niger Zeit verloren wir jede Orientierung. te ab August 1944 Tausende Juden und dem Bundes-Ehrenzeichen geehrt. Wir hielten an und beschlossen, auf einer Jüdinnen – sowohl ungarische als auch Bundeskanzler würdigte Lichtung den Tagesanbruch abzuwarten. nach Ungarn geflohene wie Jonny Moser in einem Nachruf Mosers Engagement [...] und seine Familie – vor Erschießung und und Wirken: Als wir bei Sonnenaufgang aufbrachen, Deportation retten, indem er ihnen schwe- „Wenn man ein solches Engagement mit fielen wir schon kurz darauf einer ungari- dische Schutzpässe ausstellte bzw. mehr allen Risken für das eigene Leben eingeht, schen Zöllnergruppe in die Hände. [...] Bei als 15.000 Personen in 31 „Schutzhäu- dann müssen wir, die heute politisch Ver- Anbruch der Dunkelheit aber brachten uns sern“ unterbrachte und verpflegte. Als antwortlichen, den größten Respekt für Gendarmen wieder zur deutschen Grenze. Mitarbeiter Wallenbergs überlebte Jonny diese besondere Kraftanstrengung und Dieses Mal wurden wir bei Fertörákos Moser die Shoah in Ungarn. diesen beeindruckenden Einsatz unter (Groisbach) abgeschoben. [...] Bei unse- größter Gefahr zollen. Professor Moser rem Herumirren im Wald hörten wir plötz- gehörte zu jenen großen Österreichern, die lich Geräusche vor uns und vernahmen stets das Gemeinsame über das Trennende dann auch Stimmen. Es waren Deutsche gestellt haben und die nicht müde gewor- auf Patrouillengang. Wir konnten noch den sind, auf die Gefahren, die gegen un- rechtzeitig anhalten und verhielten uns sere Demokratie gerichtet sind, aufmerk- still, sodass sie uns nicht bemerkten. Als sam zu machen.“ sie vorbei waren, beschlossen wir, neuer- lich im Wald zu übernachten. Im Morgen- In seinen Erinnerungen schildert Jonny grauen zogen wir weiter und landeten Moser die Abschiebung der jüdischen nach einem längeren Marsch wieder beim Familien aus Parndorf am 21. April 1938 Gasthaus ‚Hubertus‘. Wir waren die ganze über die ungarische Grenze und die darauf Zeit im Kreis herumgeirrt. [...] Schwedischer Legitimationsausweis folgende tagelange Odyssee: Am Sonntag, dem 24. April 1938, es war von Jonny Moser der vierte Tag unserer Odyssee, brachten „Endstation der Fahrt war Mörbisch am uns die Ungarn schon mittags mit mehre- Nach Kriegsende kehrte die Familie nach See. Von Grenzpolizisten und den beiden ren Polizeiautos zum deutschen Grenz- Österreich zurück. Jonny Moser begann SS-Leuten wurden wir mit dem Zuruf posten in Mörbisch. Im Niemandsland das Studium der Geschichte an der Uni- ‚Gemma, gemma, schneller!‘ aus dem Bus zwischen den beiden Staatsgrenzen hieß versität Wien, seine Dissertation widmete geholt und zur ungarischen Grenze ge- uns ein ungarischer Polizeioffizier warten, er dem damals noch tabuisierten Thema bracht. Sie zeigten uns die Richtung, in während er sich zum deutschen Kontroll- Antisemitismus in Österreich. 1966 legte die wir gehen sollten, um nach Sopron punkt begab. Von weitem konnten wir be- er im Rahmen der in Zusammenarbeit mit (Ödenburg) zu gelangen. Mit einem la- obachten, wie der Ungar heftig gestikulie- dem DÖW erschienenen Reihe Mono- chenden ‚Auf Nimmerwiedersehen!‘ jag- rend mit den deutschen Zöllnern stritt und graphien zur Zeitgeschichte eine erste ös- ten sie uns davon. [...] dabei immer wieder auf uns deutete. [...] terreichische Arbeit zur Judenverfolgung Als wir, eine Gruppe von vierzehn Per- Es begann schon zu dämmern, als wir be- in Österreich vor, in der er aufgrund statis- sonen, mit Rucksack bepackt und Taschen merkten, dass die Deutschen, die mehrere tischer Berechnungen erstmals die Zahl tragend, am frühen Morgen die idyllische Telefonate geführt hatten, zurücksteckten, von mehr als 65.000 österreichischen Ho- Kleinstadt Sopron betraten, erregten wir sich ruhiger verhielten. Sie mussten den locaustopfern nannte, die in beeindrucken- allgemein Aufsehen. Sehr bald erspähte Auftrag erhalten haben, uns zurückzuneh- der Weise durch das Projekt Namentliche uns auch ein Polizist, der uns anhielt und men.“ Erfassung der österreichischen Holo- nach den ersten Fragen sogleich erkannte, (Aus: Jonny Moser, Wallenbergs Lauf- caustopfer empirisch bestätigt werden dass wir illegal über die Grenze gekom- bursche, Jugenderinnerungen 1938–1945, konnte. Nach zahlreichen weiteren Publi- men waren. [...] Nachdem unsere Aussa- Wien 2006, S. 21–25.) Oktober 2011 3

niemand hat geglaubt, dass das jahrelang Alfred Ströer (1920–2011) dauert.“ (Aus: Erzählte Geschichte, Bd. 1, Berichte Abg. a. D. Prof. Alfred Ströer, Widerstandskämpfer, Zeitzeuge, Gründungsmitglied von Widerstandskämpfern und Verfolgten, und viele Jahre Vizepräsident des DÖW (bis zu seiner Verabschiedung im März hrsg. vom DÖW, S. 234 f.) 2011 aus gesundheitlichen Gründen), starb am 20. August 2011 im 91. Lebensjahr. Am 12. März 1940 wurde Alfred Ströer Am 3. Dezember 1920 als Sohn einer geht hervor, dass ich tatsächlich der Letzte wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zu Arbeiterfamilie in Wien-Simmering gebo- war in diesem ‚Komplex‘ – so hat das da- einem Jahr Gefängnis (unter Anrechnung ren, wuchs Alfred Ströer im „Roten Wien“ mals geheißen. Meine Freunde haben na- der Untersuchungshaft) verurteilt. 1942 der Zwischenkriegszeit auf und engagierte türlich gezittert zu Hause, weil die haben wurde er zur berüchtigten Strafeinheit 999 sich früh in der Gewerkschaftsbewegung. sich gesagt: Jetzt werden sie den ja fragen, eingezogen und geriet gegen Kriegsende Nach dem „“ 1938 setzte die im mit wem er seine Abende verbracht hat. auf der Insel Rhodos in britische Kriegs- „Ständestaat“ halblegale Gewerkschafts- Das war eine Art Schneeballsystem: Wenn gefangenschaft. jugendgruppe, der Ströer, damals Werk- sie einmal einen erwischt haben und dann Nach seiner Rückkehr Ende 1946 nach zeugmacherlehrling in der Simmeringer noch einen Zweiten und der hat wieder Wien schloss er sich der SPÖ an und enga- Maschinen- und Waggonfabrik, angehör- drei Namen gesagt und die drei haben gierte sich im neu gegründeten Österrei- te, ihre Aktivitäten fort: wieder einen Namen gesagt. Und so haben chischen Gewerkschaftsbund. 1956–1959 sie verhaftet, 40, 50 waren auf einmal in war Ströer Jugendsekretär des ÖGB, 1959 „Und in Simmering, also in meinem Be- einem ‚Komplex‘ ... Ich bin, wie gesagt, wurde er zum Leitenden Sekretär bestellt. zirk, hat sich das dann so entwickelt, dass einige Male verhört worden. Die führen- 1966–1972 gehörte er für die SPÖ dem wir uns zusammengefunden und natürlich den Funktionäre, das war gut, die hätte ich Nationalrat an. Anschließend war er als diskutiert haben. [...] Und im Dezember, gar nicht nennen können. Weil natürlich Vorstandsvorsitzender bzw. in der Folge Jänner 1938/39 wurde dann eine Flug- waren ab und zu Leute gekommen und ha- Aufsichtsratsvorsitzender der BAWAG tä- blattaktion gestartet. Den Text haben wir ben uns Neuigkeiten erzählt, aber ich tig. bekommen. In der Wohnung zweier wusste weder, wie der hieß, noch wo der Als Zeitzeuge setzte sich Alfred Ströer Freunde wurden die Flugblätter hergestellt wohnte, beim besten Willen nicht. [...] Das auch im Ruhestand unermüdlich gegen und verteilt, hinterlegt, in die Briefschlitze war damals schon, Gott sei Dank, von den rechtsextreme und rassistische Tendenzen hineingeworfen, bei den Trafiken zu den Älteren ein bisschen klüger eingefädelt. ein. „Alfred Ströer war ein großes Vorbild Zeitungen gelegt usw. Das war ein Aufruf: Und ich sage noch einmal: Wir haben alle im Kampf gegen den Nationalsozialismus. Österreicher, wehrt euch gegen den Fa- nicht gewusst, was uns blüht. Wir waren Bis zuletzt setzte er sich gegen Ausgren- schismus. Und: Hitler bedeutet Krieg. alle, das kann man zugeben, gutgläubige zung, Rassismus und gegen das Vergessen Also die üblichen Parolen damals. Dieses Idealisten. Wir haben geglaubt, wenn sie ein. Mit Ströer verliert die Sozialdemo- Flugblatt war für die der Anlass uns erwischen, dann werden wir halt wie kratie einen großen und bedeutenden Mit- zuzuschlagen.“ in der Zeit zwischen ’34 und ’38 ein paar streiter“, betonte Bundeskanzler Werner (Aus: Erzählte Geschichte, Bd. 1, Berichte Wochen oder ein paar Monate sitzen, aber Faymann in einer Presseaussendung. Ne- von Widerstandskämpfern und Verfolgten, ben seiner Funktion im DÖW war Alfred hrsg. vom DÖW, S. 234.) Ströer 1995–2007 Vorsitzender und später Ehrenvorsitzender des Bundes Sozialde- Alfred Ströer wurde im Februar 1939 ver- mokratischer FreiheitskämpferInnen, Op- haftet und in das Hauptquartier der fer des Faschismus und aktiver Antifa- Gestapo Wien am Morzinplatz gebracht: schistInnen. Außerdem war er Direktor der Bruno Kreisky Stiftung für Verdienste „Die Fragen waren natürlich nicht immer um die Menschenrechte, Vizepräsident sehr angenehm, nachdem schon elf oder des Vereins für Geschichte der Arbeiter- zwölf von uns in Haft waren, hat man ja bewegung und bis zuletzt Mitglied des nie genau gewusst, was die gesagt haben. Kuratoriums des Österreichischen Natio- Die wollten immer wissen, wer, wer. nalfonds. Er war auch in verschiedenen ‚Kennst du den? Kennst du den?‘ Wir wa- Kommissionen, z. B. in der Opferfürsor- ren ja per du. Und die haben uns Fotos ge- gekommission des Sozialministeriums zeigt. Natürlich, das habe ich irgendwie und in der Arbeitsgemeinschaft der Op- gespürt: Wenn man da überall ‚nein‘ sagt, ferverbände tätig. Für seine publizistische dann haben sie einem eine Ohrfeige gege- Tätigkeit in der Geschichtswissenschaft ben oder etwas auf den Kopf gehaut. [...] wurde er 2000 mit dem Berufstitel Profes- Es war ein Trick, man muss dann etwas sor ausgezeichnet. zugeben. Und ich habe zugegeben: ‚Ja, ich Auskunft über sein Leben geben die Pu- habe Geld hergegeben zur Unterstützung blikation Alfred Ströer. Eine Biografie. von Inhaftierten.‘ Die Frage, ob ich ge- Vom Volksgerichtshof in die Gewerk- wusst hätte, wer, für wen, beantwortete schaftsspitze von Wilhelm Toth sowie die ich: ‚Nein, ich wurde einmal aufgefordert, Urteil des Oberlandesgerichts Wien, von Peter Dusek und Georg Madeja ge- 12. März 1940: Alfred Ströer wurde Geld herzugeben.‘ Aber mehr habe ich drehte Dokumentation Alfred Ströer – Vom wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ nicht gesagt und habe auch keine weiteren zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Widerstandskämpfer zum Gewerkschafts- Namen gesagt. Aus meinen Unterlagen boss – Fragen an einen Zeitzeugen. 4 Mitteilungen 203

zung des DÖW erstellte Datenbank Opfer WIR BETRAUERN WIR GRATULIEREN der Shoa des 3. Bezirks gibt Namen, Schicksale und Adressen wieder und ist auf der Website des Vereins zugänglich: www.steinedesgedenkens.at Die Grazer Widerstandskämpferin Hertha Leopold Engleitner feierte am 23. Juli Erfasst sind alle Jüdinnen und Juden, die Mandl-Narodoslavsky starb am 2. Juli 2011 seinen 106. Geburtstag und ist damit 1938 im 3. Bezirk wohnten, also nicht nur 2011 im 89. Lebensjahr. Sie schloss sich Österreichs ältester KZ-Überlebender. die Todesopfer, sondern auch jene, die den 1942 einer kommunistischen Gruppe in Wegen seiner Zugehörigkeit zu den Zeu- Holocaust im KZ oder als „U-Boot“ über- Graz an, die die Angehörigen von Inhaf- gen Jehovas wurde er im April 1939 ver- lebten oder die noch rechtzeitig flüchten tierten und Hingerichteten unterstützte. haftet und war vom Oktober 1939 bis Juli konnten. Recherchen sind durch Eingabe Ihre Mutter wurde im Zuge des NS-Eutha- 1943 in den KZ Buchenwald, Nieder- des Familiennamens oder der Straße in das nasieprogramms „T4“ in Hartheim ermor- hagen und Ravensbrück in Haft. Als er dafür vorgesehene Suchfeld möglich. det, ihr Vater galt nach den „Nürnberger Mitte April 1945 den Einberufungsbefehl Gesetzen“ als „Mischling“. Hertha Mandl- zur Deutschen Wehrmacht erhielt, flüchte- Narodoslavsky war u. a. Ehrenmitglied te er in die Wälder und hielt sich bis Stolpersteine in des Zentralverbandes der Pensionisten Ös- Kriegsende versteckt. Der Autor Bernhard Wiener Neustadt terreichs und der Israelitischen Kultus- Rammerstorfer hat Engleitners Biographie gemeinde Österreichs. in der Publikation Ungebrochener Wille. Der außergewöhnliche Mut eines einfa- Mittlerweile 54 Stolpersteine erinnern in chen Mannes – Leopold Engleitner, geb. Wiener Neustadt an die Opfer des Natio- 1905 aufgearbeitet. Noch bis 2009 konnte nalsozialismus, die letzten 33 wurden am Ernst Degasperi Leopold Engleitner als Zeitzeuge Vor- 4. und 5. Juli 2011verlegt. (1927–2011) tragsreisen durch die USA und Europa Das Projekt wird von der Arbeitsgruppe unternehmen. Stolpersteine für Wiener Neustadt durch- Der Graphiker und Maler Commen- geführt, die vom Verein Aktion Mitmensch datore Prof. Mag. art. Ernst Degasperi, Vier Funktionäre des Bundes Sozialdemo- und der Straßenzeitung Eibisch-Zuckerl Mitglied des DÖW-Kuratoriums sowie kratischer FreiheitskämpferInnen, Opfer ins Leben gerufen wurde. (Information: langjähriger Freund und Förderer des des Faschismus und aktiver Antifa- www.stolpersteine-wienerneustadt.at; hier DÖW, starb am 17. Juli 2011 im Alter schistInnen wurden wegen ihres Beitrags sind auch die einzelnen Tafeln dokumen- von 84 Jahren. im Kampf gegen die NS-Diktatur bzw. tiert.) Ein Buch über die Wiener Neu- wegen ihrer publizistischen und organisa- städter „Stolpersteine“ wird im November Ernst Degasperi, am 7. Mai 1927 in Meran torischen Tätigkeit ausgezeichnet: 2011 erscheinen und im Rahmen eines geboren, übersiedelte 1939 mit seiner Prof. Hugo Pepper, Vorstandsmitglied des Festakts präsentiert werden. Mutter nach Nürnberg und 1942 nach DÖW, wurde das Goldene Verdienstzei- Stolpersteine sind ein Projekt des deut- Wien. Hier engagierte er sich in der Pfarr- chen der Republik Österreich verliehen, schen Bildhauers Gunter Demnig, der seit jugend Breitenfeld und absolvierte eine Peter Weidner, seit 2011 im Vorstand des 1997 Gedenktafeln aus Messing in den Feinmechanikerlehre. Kurz vor Kriegs- DÖW, und Landtagsabgeordnete a. D. Gehsteig vor dem letzten selbstgewählten ende, im Februar 1945, wurde er zur Deut- Gertrude Spieß erhielten das Silberne Wohnort bzw. der Wirkungsstätte von NS- schen Wehrmacht eingezogen. Ehrenzeichen für Verdienste um die Repu- Opfern einlässt. Nach 1945 besuchte Ernst Degasperi eine blik Österreich. Maturaschule und begann anschließend an Mit dem Bundes-Ehrenzeichen ausge- der Akademie der bildenden Künste zu zeichnet wurde Prof. Dr. Jonny Moser, Young studieren. Nach Abschluss des Studiums Gründungsmitglied des DÖW, der wenige im Gespräch 1952 war er als Diplomgraphiker tätig. Tage später am 23. Juli 2011 verstarb (sie- Ein Aufenthalt 1963 in der israelischen he S. 1 f.). Wüste beeinflusste maßgeblich seine Der Verein KunstPlatzl dokumentiert die künstlerische Entwicklung: Seither ver- Die Kärntner Slowenin Maja Haderlap Geschichte von früheren Young Austrians, stand er sich als „Künstler mit religiösem gewann den Ingeborg-Bachmann-Preis Mitgliedern der Jugendbewegung im Exil Anliegen“, der zwischen den verschiede- 2011. In dem von ihr vorgelesenen Text in Großbritannien, die vor allem eine rege nen Religionen und Weltanschauungen schildert die Autorin die Vergangenheit ih- Kulturarbeit entfaltete. Sekretär von vermitteln wollte. Immer wieder themati- res Heimatortes Bad Eisenkappel. Young Austria war ab 1940 Herbert sierte er in seinen Arbeiten die Verfolgung Steiner (1923–2001), der Gründer und durch das NS-Regime – etwa in seinen langjährige wissenschaftliche Leiter des Werken zu Sr. Maria Restituta (Helene Steine des Gedenkens DÖW, der als Jugendlicher nach Großbri- Kafka) oder Franz Jägerstätter – und ins- tannien flüchten musste. Für März 2012 besondere den Holocaust. Im DÖW wur- wird eine Ausstellung in der Volkshoch- den 1988/89 Graphiken Degasperis in der Seit Ende 2007 bemüht sich der Verein schule Hietzing vorbereitet. Sonderausstellung Splitternacht präsen- Steine des Gedenkens, die Erinnerung an In Kooperation mit erinnern.at berichten tiert. die Opfer des Holocaust im 3. Wiener nun ZeitzeugInnen für SchülerInnen und Ernst Degasperi wurde für sein Schaffen Gemeindebezirk wachzuhalten. Die von Interessierte über ihr Leben in Wien vor mehrfach ausgezeichnet, u. a. wurde ihm Prof. Karl Hauer, dem Leiter des Bezirks- 1938, die Flucht, das Exil in England, den 1979 der Berufstitel Professor verliehen. museums Wien-Landstraße, mit Unterstüt- Kampf für ein freies, demokratisches und Oktober 2011 5 unabhängiges Österreich und die Rück- kehr nach Österreich. NEUES VON GANZ RECHTSN Vorgesehen sind fünf Termine vom 9. November bis 7. Dezember 2011; die Teilnahme an den Gesprächen ist kosten- Extreme Rechte dent Jean Marie Le Pen, sprach lapidar los (pro Termin maximal 80 Personen). nach den Morden von einem „Unfall“ und meinte, dass die Zur Vorbereitung auf das Gespräch be- „Naivität“ des liberalen und multikulturel- kommen LehrerInnen Informationsmate- len Norwegen im Umgang mit Einwan- rial über die ZeitzeugInnen. Der Anschlag von Oslo und das Massaker derung, „Islamismus“ und „Terrorismus“ Ort: Bezirksmuseum Hietzing, Am Platz von Utøya mit insgesamt 77 Toten, ge- schlimmer sei als die Tat. 2, 1130 Wien plant und begangen von einem antisozia- In Österreich lag es einmal mehr an FPÖ- Anmeldungen für Schulklassen und Inter- listischen, rassistischen und paranoiden NAbg. Werner Königshofer, für den ent- essierte: Tel. 804 55 24. Abendlandretter, hat quer durch Europa sprechenden Skandal zu sorgen: Zuerst Weitere Informationen auf der Website des nicht nur einen Schock, sondern auch eine empörte er sich in einem Internetposting DÖW: www.doew.at. Debatte über die Mitverantwortung rechts- über einen Redakteur, der in einem Kom- populistischer und rechtsextremer Parteien mentar zu den Morden in Oslo von der und Internet-Zusammenhänge ausgelöst. „rechten Gefahr“ geschrieben hatte: „Un- „Und was hat das Während die Frontleute dieser Parteien fassbar, von diesem ‚feinen Herrn‘ hat mit mir zu tun?“ empört jede Verantwortung für das gesell- man noch nie etwas von der islamistischen schaftliche Klima, das solche Taten erst Gefahr gehört, obwohl diese in Europa ermöglicht, zurückweisen, wird an den schon tausendmal öfter zugeschlagen Unter dem Titel „Und was hat das mit mir Reaktionen der zweiten Reihe deutlich, hat.“ Kurz darauf verlangte der FPÖ-Spit- zu tun?“ befasst sich eine wissenschaftli- wie berechtigt die Kritik ist. zenpolitiker in einem Kommentar: „Im che Veranstaltung im Bruno Kreisky So meinte etwa Lega Nord-MEP Mario Angesicht dieser schrecklichen Ereignisse Forum für internationalen Dialog vom Borghezio, Rechtsausleger mit guten Kon- in Norwegen sollte man in ganz Europa 17.–20. November 2011 mit Perspektiven takten zur FPÖ bzw. zu MEP Andreas einmal tiefgehender über den Wert des der Geschichtsvermittlung zu Nazismus Mölzer, die Ideen des Attentäters und menschlichen Lebens nachdenken. Auch und Holocaust in der Migrationsgesell- Massenmörders seien – „abgesehen von darüber, dass in Europa jedes Jahr Millio- schaft. Geplant ist eine Mischung aus der Gewalt“ – „gut, in manchen Fällen so- nen ungeborener Kinder schon im Mutter- Workshop und Konferenz: Nach einem er- gar sehr, sehr gut“: „Es sind Ideen, die leib getötet werden.“ öffnenden Abendvortrag sollen in einem hundertprozentig mit vielen Positionen Damit hatte Königshofer endgültig den Workshop-Segment drei Themenfelder von Bewegungen übereinstimmen, die der- Bogen überspannt, am 28. Juli wurde er mit den geladenen ExpertInnen diskutiert zeit alle Wahlen in Europa gewinnen. In nach entsprechenden Aufforderungen aus werden: Europa denken 100 Millionen Menschen Boulevardmedien von Heinz-Christian z Marginalisierte Erinnerungen zu so.“ Borghezio wollte auch nach dem Strache persönlich aus der Partei und dem Nazismus, Zweitem Weltkrieg und Blutbad von seiner Parlamentsklub ausgeschlossen. Holocaust; öffentlichen For- Auch FPÖ-MEP Andreas Mölzer z Geschichtsvermittlung in postnazisti- derung nach einem Juli/August 2011 reagierte – auf seine Art. In sei- schen Migrationsgesellschaften; neuen „Kreuzzug“ nem Wochenblatt Zur Zeit, das z Gedenkstätten als Kontaktzonen. gegen den Islam nur von einer „Bluttat eines Frei- Neben pädagogischen sollen auch spezi- und seine linken Verbündeten nicht ab- maurers“ zu berichten wusste, echauffierte fisch museologische Implikationen, etwa rücken. Die Reaktion der Lega, immerhin er sich, dass es den Medien nicht reiche, für die Gedenkstättenarbeit, berücksichtigt Regierungspartei in einem EU-Staat, den Täter zum Wahnsinnigen zu erklären: werden. spricht Bände: Dieses Lob für das Mas- „Für sie muß es schon ein rassistischer Veranstalter: Wiener Wiesenthal Institut senmörderprogramm stelle nur die „wirren Rechtsextremist sein, der hier auf Basis für Holocaust-Studien (VWI), Büro tra- Fieberfantasien“ eines Einzelnen dar – der seiner politisch-ideologischen Motivation fo.K & Dirk Rupnow in Kooperation mit weiterhin an führender Stelle in der Partei mordet. Merkwürdig, daß man dies in den Mauthausen Memorial mit Unterstützung bleiben darf. Medien nicht oft genug betonen kann, von Fondation pour la Mémoire de la Auch Marine Le Pen, die neue Vorsitzende während man umgekehrt den linksextre- Shoah, Paris. des Front National (FN), hat ihre liebe men Hintergrund von Gewalttätern, den Programm und weitere Informationen auf Not mit den Reaktionen aus der Partei: islamistischen oder den ethnischen bei der Website des DÖW: www.doew.at. Weil etwa Lokalpolitiker Jacques Coutela irgendwelchen Diebesbanden aus Südost- wissen ließ, dass der Massenmörder vom europa verschweigt oder kleinredet.“ (Zur 22. Juli 2011 „ein Widerstandskämpfer, Zeit 30/2011) Diese Zeitung ist eine von eine Ikone“ sei, weil er „gegen die musli- Drei Ausgaben zuvor war in Zur Zeit übri- 1.800 aus dem Leseprogramm von mische Invasion“ gekämpft habe, musste gens noch von der „Verwandlung der rosa- EISENBACHER GmbH er umgehend seine Parteiämter ruhen las- roten Multikultiwelt in ein Schlacht- und MEDIENBEOBACHTUNG sen. Hingegen fiel Le Pen, die gerade ge- Trümmerfeld“ zu lesen. Diese apokalypti- gen massiven innerparteilichen Wider- sche Vision von der systematischen Zer- 1060 WIEN, LAIMGRUBENGASSE 10 stand versucht, aus dem rechtsextremen störung der „abendländischen Kultur“ TEL.: 01/36060 - 5401; FAX: 01/36060 - 5699 Front eine rechtspopulistische Partei zu nimmt ihren Ausgang bei den „grünen und E-MAIL: [email protected] INTERNET: www.eisenbacher.net machen, zu einem anderen Skandal wenig roten“ Sozialisten, welche die „Moham- ein. Ihr berühmter Vater, FN-Ehrenpräsi- medaner [...] zum Auffüllen der eigenen 6 Mitteilungen 203 ausgetrockneten Wählerreservoire drin- sich geradezu in Lobeshymnen auf die Tat die Zustimmungsbekundungen etwas we- gend“ benötigen würden, und endet mit und den Täter. Eine Neonazi postete: „Ich niger wurden. Bereits am 30. Juli stellte dem Aufruf, dass „heimattreue Österrei- habe gerade auf ntv gesehen welche ‚Ju- der internationale, zeitweise auch von Ös- cher schon jetzt Strategien zum künftigen dendliche‘ das Blutbad (Kein Brausebad!) terreich aus agierende US-amerikanische (Über)Leben [...] in einem postdemokrati- auf der Insel überlebt haben und was dazu Neonazi-Netzwerker David Duke ein Vi- schen islamischen Europa finden müssen. sagen dürften. Es waren Kanacken, Neger deo ins Netz, in dem er eine Verantwor- Solidarität, Zusammenhalt und die Zu- und wieder Kanacken wahlweise auch de- tung des „Zionismus“ für den Terror in sammenarbeit aller nichtlinken Kräfte ren Bastarde. Der Norweger Breivik hat Norwegen behauptet. werden künftig von existentieller Bedeu- wohl erkannt das es sich um eine von Auf dem stark FPÖ-affinen anonymen tung sein.“ (Zur Zeit 27/2011, S. 16) staatlichen Stellen bereitgestellte und fi- Rassistenblog SOS Österreich waren In der deutsch-österreichischen Neonazi- nanzierte Verkanackungsanlage handelt. ebenfalls zahlreiche zustimmende und szene brach – wie nicht anders zu erwar- Eine Insel zum zwecke der Runterrassung schadenfrohe Postings zu finden, ein ten – helle Begeisterung für den „gewalt- und Rassenschande.“ [sic!] Neonazi nannte die Tat etwa eine „war- tätigen Anti-Sozialdemokratenprotest in Nach ein paar Tagen zogen jedoch in die nung für alle anderen volksverräter in po- Norwegen“ (altermedia) aus. Im Schutz Neonazi-Foren die obligaten Verschwö- litik, wirtschaft und justiz“. der Internet-Anonymität überschlug man rungsmythen (Mossad!) ein, woraufhin

Heinz Arnberger / Claudia Kuretsidis-Haider Gedenken und Mahnen in Niederösterreich

In den 1990er Jahren wurde im DÖW mit einer umfangreichen und seither laufend aktualisierten Materialsammlung für das Projekt Gedenken und Mahnen, in dessen Rahmen die österreichische Erinnerungskultur betreffend Widerstand, Verfolgung, Exil und Be- freiung nach 1945 dokumentiert werden sollte, begonnen. Federführend war der damalige Bibliothekar des DÖW, Herbert Exenberger (1943–2009), der 1998 gemeinsam mit Heinz Arnberger die vom DÖW herausgegebene Publikation Gedenken und Mahnen in Wien vorlegte. Seine Recherchearbeiten waren auch eine wesentliche Grundlage des im Sommer 2011 erschienenen Bandes Gedenken und Mahnen in Niederösterreich, der u. a. in Kooperation mit dem DÖW von Heinz Arnberger und Claudia Kuretsidis-Haider heraus- gegeben wurde und Herbert Exenberger gewidmet ist. Kernstück der nun vorliegenden Publikation ist eine geographisch-biographische Dokumentation, die mehr als 450 Erinnerungs- zeichen in Niederösterreich auflistet. Zu rund 2.200 Personen, die auf diesen Erinnerungszeichen angeführt sind, konnten die biogra- phischen Daten, in vielen Fällen auch erlittene Verfolgungsmaßnahmen eruiert werden. Neben den zentralen Gedenkstätten sowie namhaften Personen werden damit auch das Schicksal und der Leidensweg unzähliger, nunmehr bereits in Vergessenheit geratener Menschen in den Blickwinkel gerückt. Darüber hinaus wird in wissenschaftlichen Beiträgen die Gedächtniskultur der Zweiten Republik dargestellt. Die Publikation wurde erstmals am 7. Juli 2011 in der Niederösterreichischen Landesbibliothek in St. Pölten vorgestellt und wird am 10. Oktober 2011 auch in Wien präsentiert werden (siehe S. 8). Nachfolgend ein leicht modifizierter Auszug aus den editorischen Anmerkungen von Claudia Kuretsidis-Haider und Heinz Arnberger.

Ziel des wissenschaftlichen Forschungs- derstand, Verfolgung, Exil und Befreiung fer und der Verfolgungsmaßnahmen sowie und Dokumentationsprojekts Gedenken im Zeitraum zwischen 1934 und 1945, die die Analyse der Erinnerungskultur in der und Mahnen ist die Dokumentation von Rekonstruktion der Biographien der auf Zweiten Republik. Es ist aber auch dem Erinnerungsstätten für die Opfer von Wi- diesen Erinnerungszeichen genannten Op- Gedenken an die Opfer von Widerstand und Verfolgung verpflichtet, deren Schicksal oft noch immer nicht bzw. nicht entsprechend gewürdigt wird. Heinz Arnberger Claudia Kuretsidi-Haider Die Konzeption des Forschungsvorhabens (Hrsg.) erfolgte vor dem Hintergrund eines wis- senschaftlichen Desiderats: in Österreich Gedenken und Mahnen in fehlen nach wie vor systematische und Niederösterreich kontextualisierende wissenschaftliche Erinnerungszeichen zu Widerstand, Grundlagenarbeiten zur Erfassung und Verfolgung, Exil und Befreiung Dokumentation der regionalen und loka- len Gedächtniskultur für die Opfer des Mandelbaum Verlag 2011 NS-Regimes. Das Forschungsinteresse fokussierte auf 712 Seiten die Analyse der Gedächtniskultur der EUR 39,90 Zweiten Republik, die sich an der kultur- wissenschaftlichen Gedächtnisforschung ISBN: 978385476-367-3 orientiert. Der Blick richtete sich dabei vor allem auf historical sites als materielle Oktober 2011 7

Ausdrucksformen des „österreichischen Gedächtnisses“ und der Herausarbeitung von spezifischen regionalen Erinnerungs- landschaften. Da Denkmäler und andere Erinnerungszeichen vielfach einen indivi- duell-biographischen Zugang zu den Op- fern von Widerstand und Verfolgung er- möglichen, stand die Rekonstruktion de- ren Schicksals im Mittelpunkt der Recher- chen. Die auf den Erinnerungszeichen an- geführten Namen werden mit konkreten Einzelschicksalen verknüpft und damit dem Vergessen entrissen, den zum Ver- stummen gebrachten, ermordeten Opfern wird eine Stimme gegeben.1 Durch An- gaben von Alter, Beruf, politischen Akti- vitäten und erlittenen Verfolgungsmaß- nahmen, also mit der Dokumentation der Einzelschicksale, können die Dimensio- nen der Gewaltherrschaft konkret und nachvollziehbar gemacht, eine „Topogra- fie des Terrors“ gezeichnet und nachhaltig Denkmal für die Opfer des Faschismus auf dem Wiener Neustädter Friedhof, 1949 im kollektiven Gedächtnis verankert wer- Foto: Walter Baumgartner den. Die Verortung von Widerstand und Ver- folgung in Form ihrer materiellen Kristal- lisation als Erinnerungszeichen im lokalen Kontext, die Rekonstruktion von konkre- Neuere Formen der materiellen ten Einzelschicksalen ermöglicht die Aus- Zeichensetzung einandersetzung mit den Verbrechen „vor Ort“ und vor allem die Erinnerung an jene, rechts: die sich aufgelehnt haben, und eröffnet die Maria Gugging, Am Campus: Möglichkeit der Identifikation mit den Memorial im Park des IST Austria für Opfern. Damit werden abstrakte Begriffe die Opfer der NS-Medizinverbrechen, wie Widerstand, Verfolgung oder Zwangs- 2009 präsentiert arbeit an konkreten Einzelbiographien im lokalen Umfeld nachvollziehbar. Dies ist unten: gerade auf lokaler Ebene, wo das Schick- Jüdischer Friedhof in Krems an der sal der Opfer oft dem Verschweigen und Donau: 48 Meter langes Stahlband Vergessen anheimgefallen ist, von Bedeu- mit den Namen von 114 Kremser tung und die Voraussetzung einer nachhal- Opfern der Shoah, 1995 tigen Weitergabe der Erinnerung an zu- künftige Generationen. Fotos: Heinz Arnberger „Gedenken und Mahnen“ ist somit nicht bloß eine wissenschaftliche Dokumenta- tion, sondern stellt selbst ein „Denkmal“ dar, konkret ein Denkmal an einem „Nicht-Ort“2, an dem Erinnerungsarbeit direkt in der Gesellschaft geleistet wird, und ist somit auch selbst ein Medium der Erinnerung. Durch die elektronische Er- fassung der Rechercheergebnisse sowie durch die Erstellung einer Fotodoku- mentation, die sich im DÖW befindet, ist

1 Siehe dazu Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Ge- schichtspolitik, München 2006, S. 49. 2 Georg Schöllhammer, Kunst – Denkmal – Öf- fentlicher Raum, in: Spurensuche im 20. Jahr- hundert. Anregungen für Schülerinnen- und Schülerprojekte, hrsg. vom Bundesministerium für Unterricht und Kunst, Abteilung politische Bildung, Wien 1993, S. 34. 8 Mitteilungen 203 es nunmehr möglich, das von Jan und Aleida Assmann apostrophierte „kulturelle Langzeit-Gedächtnis“, das nach ihrer The- Buchpräsentation se nur über vielfältige Medien der Schrift- lichkeit, des Bildes oder der elektroni- Heinz Arnberger / Claudia Kuretsidis-Haider (Hrsg.) schen Medien gespeichert werden kann, und das „kommunikative Kurzzeit-Ge- Gedenken und Mahnen in Niederösterreich dächtnis“, welches hauptsächlich durch Erinnerungszeichen zu Widerstand, die Erinnerung von ZeitzeugInnen leben- dig gehalten wird, allerdings aufgrund der Verfolgung, Exil und Befreiung größer werdenden zeitlichen Distanz im- mer mehr hinter das Langzeitgedächtnis Begrüßung GenDir. Hon.-Prof. Dr. Lorenz Mikoletzky tritt, zu ergänzen.3 Hon.-Prof.in Univ.-Doz.in Dr.in Brigitte Bailer

„Mit ‚Gedenken und Mahnen in Zum Buch Dr. Heinz Arnberger Niederösterreich‘ haben Heinz Arnberger Mag.a Dr.in Claudia Kuretsidis-Haider und Claudia Kuretsidis-Haider eine Michael Baiculescu (Mandelbaum Verlag) umfassende Dokumentation der Gedenkstätten für die Opfer von Ansprache PDin Dr.in Heidemarie Uhl Widerstand und Verfolgung 1934–1938 und 1938–1945 in Niederösterreich Statement PDin Dr.in Eleonore Lappin erstellt und damit ein Standardwerk vorgelegt, dessen Relevanz weit über den Projektvorstellung HRin Dr.in Katharina Blaas-Pratscher regionalen Kontext hinausgeht und das als beispielhaft für ähnliche Wege der Erinnerung in Erlauf – oder: Wir erinnern uns Forschungsvorhaben gelten kann.“ vielleicht gar nicht gerne

Heidemarie Uhl Zeit Montag, 10. Oktober 2011, 18.30 Uhr Ort Dachfoyer des Haus-, Hof- und Staatsarchivs, Möchte man die These von Pierre Nora Minoritenplatz 1, 1010 Wien über die lieux de mémoire, die nicht nur konkret räumlich aufgefasst, sondern auch topologisch konstituiert werden, aufgrei- Mit Beiträgen von: fen und weiterführen, so ist die Konservie- Heinz Arnberger | Edith Ruth Beinhauer | Katharina Blaas-Pratscher | Ernst rung dieses Langzeitgedächtnisses – bei- Bruckmüller | Stefan Eminger | Herbert Exenberger | Wolfgang Form | Friedrich spielsweise in Form von Gedenken und Grassegger | Johannes Kammerstätter | Claudia Kuretsidis-Haider | Eleonore Mahnen – ein Kristallisationspunkt histo- Lappin-Eppel | Christoph Lind | Wolfgang Neugebauer | Alexander Prenninger | rischen Gedächtnisses. Peter Salner | Ursula Schwarz | Robert Streibel | Heidemarie Uhl | Joachim Mit der Erfassung, Dokumentation und Weninger Analyse von Erinnerungszeichen (Mahn- male, Gedenkstätten, Denkmäler, Gedenk- Kooperationspartner des/der HerausgeberIn: räume, Gedenksteine, Gedenktafeln, Ge- DÖW | Verein Erinnern für die Zukunft | Niederösterreichisches Landesarchiv | denkkreuze, Kapellen, Grabdenkmale, Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Synagogen, Museen, Benennungen von Akademie der Wissenschaften Wohnhausanlagen, öffentlichen Gebäuden wie Schulen und Verkehrsflächen) zu Wi- derstand, Verfolgung, Exil, Zwangsarbeit Ort durch zeilenidente Abschrift der der Enthüllungs- bzw. Benennungs- und Befreiung geht Gedenken und Mah- Textierung (Inschrift, Namen der Op- feier, RednerInnen (VertreterInnen des nen weit über bisherige Arbeiten zu dieser fer, Widmung etc.), bei fremdsprachi- öffentlichen Lebens etc.); Thematik hinaus. gen Texten auch durch die deutsche z biographische Angaben: Geburtsda- Die Recherche erfolgte in mehreren Übersetzung; tum, beruflicher Werdegang, Art des Arbeitsschritten: z Beschreibung der Erinnerungszeichen Widerstandes und der Verfolgung, To- Formen des Gedenkens (Gedenktafel, desdatum und Todesart bzw. bei Über- Dokumentation: Mahnmal, Stele, Büste, Verkehrsflä- lebenden weitere Lebensdaten; z Fotografische Dokumentation und Er- che, Wohnhausanlage, Grabstätte), z Presseberichterstattung, Debatten und fassung der Erinnerungszeichen vor Angaben zur Stiftung (Initiative, Fi- Kontroversen um das Erinnerungszei- nanzierung), chen; Angaben zur Gestaltung (künstlerische z Quellen und Literatur. 5 Vgl. dazu: Alaida Assmann / Jan Assmann, Das bzw. architektonische AutorInnen- Gestern im Heute. Medien und soziales Ge- schaft). Die Recherchen wurden zum überwiegen- dächtnis, in: Klaus Merten / Siegfried Schmidt / Siegfried Weischenberg (Hrsg.), Die Wirklich- den Teil durchgeführt: keit der Medien. Eine Einführung in die Recherchen: Kommunikationswissenschaft, Opladen 1994, z Entstehungsgeschichte des Erinne- z im DÖW: Auswertung von Akten der S. 199 ff. rungszeichens: Datierung, Gestaltung Opferfürsorgestellen und der KZ-Ver- Oktober 2011 9

bandsakten, Recherche in den Daten- Abstammung, Religion oder Na- banken der Projekte Namentliche Er- tionalität durch Maßnahmen ei- fassung der österreichischen Holo- nes Gerichtes, einer Verwaltungs- caustopfer sowie Namentliche Erfas- (im besonderen einer Staatspo- sung der Opfer politischer Verfolgung, lizei-) Behörde oder durch Ein- Auswertung der Spezialsammlung Er- griffe der NSDAP einschließlich zählte Geschichte, in der lebensge- ihrer Gliederungen in erhebli- schichtliche Interviews mit Personen, chem Ausmaße zu Schaden ge- die während des NS-Regimes Wider- kommen sind.“ stand leisteten bzw. Verfolgungen aus- gesetzt waren, sowohl in Abschrift als Darüber hinaus wurden aber auch auch als Tonbandkassette dokumen- – gemäß dem gegenwärtigen wis- tiert sind, Durchsicht der DÖW-Bun- senschaftlichen Erkenntnisstand desländerdokumentationen Widerstand zu Widerstand und Verfolgung – und Verfolgung; ZwangsarbeiterInnen, Kriegsge- z im niederösterreichischen Landesar- fangene, EmigrantInnen, Homo- chiv; sexuelle sowie Personen des un- z in Stadtarchiven, Gemeinde- und politischen Widerstandes bzw. Pfarrämtern, Stadt- und Heimatmuseen Personen, die von der NS-Justiz sowie Kulturvereinen. wegen „Heimtücke“, „Wehrkraft- zersetzung“ und/oder „Rundfunk- Neben diversen lokalen Tageszeitungen vergehens“ verfolgt wurden, er- und Zeitschriften wurden Beiträge in Zei- fasst. Weiters sind Erinnerungs- tungen und Zeitschriften der Widerstands- zeichen für namhafte Politiker und Opferorganisationen herangezogen. der Zweiten Republik (z. B. Ein eigener Abschnitt der Publikation ist den sowjetischen Kriegsgräberanlagen in Leopold Figl, Adolf Schärf, Niederösterreich gewidmet. Als Kriterium zur Erfassung der personen- Theodor Körner, Karl Renner), bezogenen Erinnerungszeichen zu Wider- die in unterschiedlicher Weise Lagerfriedhof an der Straße von stand und Verfolgung diente die Definition und Intensität politisch verfolgt Sommerein nach Kaisersteinbruch des § 1 Abs. 2 des Opferfürsorgegesetzes: wurden (obwohl ein Bezug dazu Foto: Adolf Ezsöl „Als Opfer der politischen Verfolgung im auf den Erinnerungszeichen in Sinne dieses Bundesgesetzes sind Per- den meisten Fällen fehlt), sowie sonen anzusehen, die in der Zeit vom für Personen, die, zwar Opfer der natio- (wie z. B. Robert Stolz) durch Straßen- 6. März 1933 bis zum 9. Mai 1945 aus po- nalsozialistischen Verfolgung, aber auf benennungen, Gedenktafeln o. Ä. geehrt litischen Gründen oder aus Gründen der Grund ihrer künstlerischen Leistungen wurden, Bestandteil der Publikation.

REZENSIONENN

der rechtsextremen Szene in Schweden. Biographie ist allerdings dem Journalisten Pettersson, Jan-Erik: Stieg Larsson. Im Magazin Expoo veröffentlichte Larsson gewidmet: Ausführlich behandelt Eine politische Biographie. Berlin: Larsson zahlreiche Artikel mit genauen Petersson dessen Recherchearbeit, die ihn Aufbau-Verlag 2010. 298 S. Angaben zu Personen, Strukturen und tiefe Einblicke vor allem in den gewaltbe- Zusammenhängen von den Neonazis bis reiten Teil des Rechtsextremismus in- und Stieg Larsson (1954–2003), der schwedi- zu den Sverigedemokraterna. Auf diese außerhalb Schwedens gewinnen ließ. Of- sche Krimiautor, steht mit seiner Millen- Aktivitäten geht der Journalist Jan-Erik fenbar wollte Larsson mit seinen Krimis nium-Trilogie, die aus den Romanen Ver- Pettersson in seinem Buch Stieg Larsson. auch diese Aufklärungsarbeit finanzieren, blendung, Verdammnis und Vergebung be- Eine politische Biographie ausführlich stand das Projekt mit seinem Magazin steht, nicht nur im deutschsprachigen ein. Expoo doch immer wieder vor großen fi- Raum auf den Bestsellerlisten. Die Bücher Es untergliedert sich in die drei Kapitel nanziellen Problemen. Seinen Erfolg als erschienen in 64 Ländern und erreichten Der Aktivist, Der Kartograph und Der Krimiautor, der am Ende des Buchs im eine Gesamtauflage von 26 Millionen Krimiautor, womit auch die drei Haupt- Zentrum steht, erlebte Larsson dann aber Exemplaren. Auch die Verfilmungen wa- tätigkeitsfelder von Larsson genannt sind. nicht mehr. ren in zahlreichen Ländern ein Renner. Pettersson geht zunächst auf die Jugend Pettersson hat eine informative Lebens- Über den Autor Larsson ist den meisten und Politisierung ein, engagierte sich beschreibung des Bestsellerautors vorge- seiner LeserInnen aber wenig bekannt – Larsson doch schon früh gegen den Viet- legt. Sie ist nicht nur für die zahlreichen allenfalls, dass er noch vor Beginn dieses namkrieg im Umfeld trotzkistischer Orga- Krimifans interessant. Weitaus größere Erfolges überraschend verstarb. Larsson nisationen. Darauf folgende Reisen in ver- Beachtung verdienen die Darstellungen war aber bereits zuvor als Buchautor und schiedene Länder der Dritten Welt kon- zum schwedischen Rechtsextremismus, Journalist mit investigativer Ausrichtung frontierten ihn mit den dortigen politi- der offenbar gegenwärtig eine Renaissan- aktiv und gehörte zu den besten Kennern schen Umbrüchen. Der größte Teil der ce erlebt. Larsson hatte immer wieder auf 10 Mitteilungen 203 diese Entwicklung hingewiesen und die leitung mit Ausführungen zu Datenbasis, rechtsextremer Einstellungen vor, was politischen Kontexte der mitunter bürger- Forschungsstand und Fragestellungen geht aber auch gar nicht die erklärte Absicht lich-seriös auftretenden Rechtsextremisten der Autor zunächst ausführlich auf das seiner Studie war. Sie bringt die For- benannt. Dabei hebt Pettersson auch Ausmaß, die Auswirkungen und Dimen- schungsdiskussion in diesem Punkt aber Larssons Distanz gegenüber einem ge- sionen der Prekarisierung der Arbeits- und einen entscheidenden Schritt weiter – wo- waltgeneigten jugendlichen „Antifaschis- Lebensverhältnisse in Deutschland seit möglich hätte es dafür aber nicht eines mus“ hervor. Dies alles geschieht journa- 1990 ein. Danach erörtert er die Zusam- solchen enormen Aufwandes einer Ana- listisch, wobei es manchmal etwas un- menhänge von sozialer Prekarisierung und lyse empirischer Studien bedurft. strukturiert wirkt. Gelegentlich hat man rechtsextremen Einstellungen anhand der Armin Pfahl-Traughber den Eindruck, Pettersson musste mit Aus- Daten aus unterschiedlichen sozialwissen- führungen zu randständigen Themen die schaftlichen Erhebungen zwischen 1994 Seiten füllen. Was bezüglich der histori- und 2008 (ALLBUS, FIAB, GMF, Fuhrer, Armin: Ernst Thälmann. schen Aspekte des schwedischen Rechts- SIREN). Und schließlich geht Sommer Soldat des Proletariats. München: extremismus noch angemessen ist, muss auf Basis der empirischen Daten und theo- Olzog Verlag 2011. 352 S. bei den ausschweifenden Schilderungen retischer Modelle auf dieses Verhältnis nä- zur schwedischen Krimiliteratur als etwas her ein, wobei er insbesondere auf die Nach Ernst Thälmann (1886–1944) sind überflüssig gelten. Gleichwohl ist die Funktion der Ressentiments für die Per- auch heute noch Hunderte von Straßen in Larsson-Biographie nicht nur den Millen- sonen mit rechtsextremen Einstellungen den ostdeutschen Bundesländern benannt. nium-Fans zu empfehlen. abstellt. In der DDR galt der Vorsitzende der Kom- Armin Pfahl-Traughber Entsprechend seiner Hypothese betont der munistischen Partei Deutschlands (KPD) Autor, „dass Zusammenhänge zwischen in der zweiten Phase der Weimarer Re- Prozessen der sozialen Prekarisierung und publik als Heldengestalt des Proletariats, Sommer, Bernd: Prekarisierung und der Entstehung und Verbreitung rechtsex- was sich in der Benennung von Betrieben, Ressentiments. Soziale Unsicherheit tremer Orientierungen bestehen – jedoch der Errichtung von Denkmälern und der und rechtsextreme Einstellungen in nicht in der Zwangsläufigkeit und Pau- Huldigung in Reden artikulierte. In der Deutschland. Wiesbaden: VS Verlag für schalität, wie sie in öffentlichen, aber auch „alten“ Bundesrepublik fand Thälmann Sozialwissenschaften 2010. 318 S. in Fachdebatten häufig suggeriert wer- demgegenüber nur wenig Aufmerksam- den“. (S. 22) Hinzu kommen müsste die keit. Dies gilt auch für eine kritische Per- Fragt man nach den Gründen für rechtsex- Einsicht, dass derartige Einstellungen für spektive, gehörte der KPD-Vorsitzende treme Einstellungen, so weisen Feuille- ihre Anhänger in bestimmten Problem- doch zu den Opfern der NS-Herrschaft. tons und PolitikerInnen gern auf die Folge lagen einen Nutzen hätten. Denn: „Die Hierbei ignorierte man gleichwohl, dass von Arbeitslosigkeit als entscheidende Ur- Analyse hat gezeigt, dass rechtsextreme Thälmann die eine Diktatur Hitlers durch sache hin. Auch unter Sozialwissenschaft- Ressentiments für Personen, die sich so- die andere Diktatur Stalins ersetzt sehen lerInnen findet diese Deutung große Ak- zial verunsichert fühlen oder prekarisie- wollte. Die mit dieser Erkenntnis einher- zeptanz, wobei sie allerdings etwas diffe- rungsbedingt Abwertungserfahrungen ma- gehende Einsicht prägt die Biographie renzierter vorgetragen wird. Oberflächlich chen, verschiedene Funktionen einnehmen Ernst Thälmann. Soldat des Proletariats, betrachtet sprechen auch einige Fakten für können. Dabei ist neben der Möglichkeit, welche der als Journalist arbeitende Histo- eine solche Interpretation, belegen doch sich mittels Ideologien der Höher- und riker und Politikwissenschaftler Armin Umfragen zu rechtsextremen Einstellun- Minderwertigkeit in Verteilungskonflikten Fuhrer vorgelegt hat. Sie richtet sich an gen bezüglich der sozialstrukturellen Zu- um knappe Ressourcen Vorteile zu ver- ein breiteres Publikum und bettet das Le- sammensetzung ihrer Anhänger einen re- schaffen, vor allem die selbstwertdienli- bensbild in die historische Entwicklung lativ hohen Anteil von Arbeitslosen. Allein che Funktion von Ressentiments themati- ein. auf theoretischer Ebene lassen sich aber siert worden.“ (S. 290) Sie wurzelten in Inhaltlich liegt damit eine klassische Bio- dagegen auch Einwände formulieren: Die einem bestimmten sozialen Gepräge von graphie mit historisch-chronologischer Angst vor oder die Folge von Arbeitslo- Empfindungs- und Verhaltensmustern. Struktur vor: Der Autor beschreibt sigkeit mag Orientierungslosigkeit und Sommers Arbeit kommt das große Ver- Thälmanns persönlichen und politischen Unmut erklären, aber nicht notwendiger- dienst zu, die eindimensionale Fixierung Lebensweg vom Aufwachsen im Arbeiter- weise deren Verarbeitung im Sinne rechts- für die Erklärung von rechtsextremen milieu über die Hinwendung zur Sozial- extremer Ideologieelemente. Einstellungen auf Modernisierungsopfer demokratie und die Radikalisierung in Der Sozialwissenschaftler Bernd Sommer, und Prekarisierung in Frage gestellt zu ha- Richtung des Kommunismus nach dem wissenschaftlicher Mitarbeiter im Kul- ben. Zwar hatten vor ihm schon andere Ende des Ersten Weltkriegs. In der Wei- turwissenschaftlichen Institut Essen, will Autoren auf eine notwendige Ergänzung marer Republik stieg Thälmann in der diesem Zusammenhang in seiner Studie dieses Gesichtspunktes um den Faktor der Hierarchie der KPD bis an die Spitze auf. Prekarisierung und Ressentiments nach- politischen Kultur hingewiesen. Sommer Fuhrer betont dabei folgende Gesichts- gehen. stützt die theoretische Einschätzung aber punkte: Erstens gehörte Thälmann bereits Als deren Zielsetzung benennt er, „das durch umfangreiches empirisches Material von Anfang an zu den rigorosen Gegnern Verhältnis zwischen Prekarisierung und ab. Damit wendet er sich auch gegen die der damaligen Demokratie, äußerte er Ressentiments anhand der Auswertung Entweder-oder-Perspektive in der bisheri- doch bereits im März 1921: „Diesen Staat empirischer Untersuchungen und Materia- gen Diskussion und betont zutreffend: bekämpfen wir so lange, bis er nicht mehr lien sowie unter Berücksichtigung ver- „Nur die Berücksichtigung beider Per- als Staat existiert. Wir machen daraus ab- schiedener Bezugstheorien zu analysieren spektiven ermöglicht eine hinlängliche Er- solut kein Hehl. Wir haben keine Veran- und zu diskutieren“. (S. 26) Entsprechend klärung“. (S. 293) Damit legt Sommer lassung, in dieser oder jener Beziehung strukturiert ist das Buch: Nach einer Ein- zwar nicht die Erklärung für das Entstehen gegen diese oder jene Person schonend Oktober 2011 11 vorzugehen.“ (S. 154) Das Parlament und mindest indirekt zum Weg der Hitler- Jaspers, die juristische Deutung Die natio- Wahlen seien für den KPD-Vorsitzenden Partei an die Macht beigetragen hatte. Die nalsozialistische Herrschaftsordnung von lediglich Mittel zur Agitation und Mobili- Einschätzung, er sei ein „schuldbeladener Fritz von Hippel von 1946, Spruchkam- sierung der Massen gewesen, woraus sich Wegbereiter“ (S. 331) gewesen, mag mit mer-Prozesse gegen Kurt Gerstein und in diesem Punkt auch eine formale Ge- einer solchen Formulierung etwas über- Konrad Morgen in der Nachkriegszeit, die meinsamkeit mit Hitlers Strategie ergebe. spitzt wirken. Gleichwohl trug Thälmanns Verurteilung von Adolf Eichmann und die Und zweites erklärt sich der Aufstieg Politik indirekt durch seine Fehler neben Sicht der „NS-Moral“ bei dem Schrift- Thälmanns in der Partei durch die Unter- anderen Gesichtspunkten zu dieser Ent- steller Martin Walser. stützung aus der Sowjetunion: „Mit wicklung bei. In der Einleitung und im Schlusswort geht Thälmann hat Stalin [...] eine Marionette Armin Pfahl-Traughber Gross noch auf die Forschungslage zum an der Spitze der KPD installiert, die ihm Thema ein. Insgesamt konstatiert er – trotz intellektuell bei weitem nicht gewachsen einiger innovativer Ansätze – eine Lücke. ist und von der er daher auch keinen Ärger Gross, Raphael: Anständig geblieben. Seine Studien könnten sie nicht schließen, zu befürchten braucht. Darin liegt auch Nationalsozialistische Moral. gleichwohl Anregungen zur weiteren Stalins ‚Wertschätzung‘ für den deutschen Frankfurt/M.: S. Fischer-Verlag 2010. Beschäftigung mit der „nationalsozialisti- Spitzengenossen begründet, der für ihn 278 S. schen Moral“ geben. Denn: „Gegenüber eine rein funktionale Bedeutung hat.“ Analysen, die den Schwerpunkt auf die (S. 193) Fuhrer veranschaulicht dies zum Angesichts der Dimension von Verbre- Ideologie legen, betont der moralge- einen anhand der Wiedereinsetzung chen, die mit dem Nationalsozialismus schichtliche Ansatz die Verankerung ge- Thälmanns in das Amt des Parteivorsit- verbunden sind, mag die Rede von der sellschaftlicher Normen und Werte in der zenden durch Stalin, hatte man ihn doch „nationalsozialistischen Moral“ irritieren. Gefühlsstruktur der Menschen.“ Hierin davon aufgrund einer Korruptionsaffäre Nutzt man aber die Bezeichnung „Moral“ liege nicht zuletzt ein Grund für das Fort- zeitweilig entbunden. Da der sowjetische wie der Historiker Raphael Gross in einem wirken der NS-Moral nach 1945. Der- Diktator aber kein wirkliches Interesse an beschreibenden und nicht in einem norma- artige Prägungen seien – als spontane Thälmann besaß, ging von ihm auch kein tiven Sinne, so kann von einer „national- Beurteilungen, emotionale Reaktionsfor- Engagement zur Rettung in der Ära des sozialistischen Moral“ als formalen und men und übernommene Verhaltensweisen Hitler-Stalin-Paktes zwischen 1939 und inhaltlichen Wertvorstellungen sehr wohl – stärker in der gesellschaftlichen Kultur 1941 aus. Der ehemalige KPD-Vorsit- gesprochen werden. Eine solche Auffas- verankert als ideologische Überzeugun- zende blieb nach seiner Verhaftung 1933 sung will auch die damit gemeinten Nor- gen. Und weiter heißt es: „Moralgeschich- in NS-Haft. Im Konzentrationslager Bu- men nicht neutralisieren oder relativieren. te will nicht eine politisch-soziale Sprache chenwald wurde er wohl 1944 durch Ge- Es geht in dieser Perspektive vielmehr da- rekonstruieren, sondern fragt nach den ge- nickschuss hinterrücks ermordet. rum, die Inhalte und den Nutzen bestimm- teilten moralischen Normen und Werten Fuhrer nutzte zwar für seine Thälmann- ter Moralvorstellungen zur Zeit des Natio- und danach, wie diese sich auf die Hand- Biographie einige Archivquellen. Wirklich nalsozialismus zu untersuchen. Genau lungen der Individuen auswirken.“ (S. 13) neue Erkenntnisse leitete er daraus aber dies beabsichtigt der in Frankfurt und Demnach versteht Gross seinen Sammel- nicht ab. Der Nutzen und Wert seiner Le- London lehrende Gross in seinem Buch band – denn um einen solchen handelt es bensbeschreibung ergibt sich vielmehr Anständig geblieben. Nationalsozialisti- sich eigentlich – als Anstoß zu Debatte durch eine kritische Darstellung des bisher sche Moral. Der Haupttitel bezieht sich und Forschung und nicht als Grundlagen- Bekannten, wobei immer wieder die Kor- dabei auf eine Aussage Himmlers, wonach werk und Handbuch. Nimmt man diesen rektur der Verfälschung von Thälmanns die SS-Leute auch bei den Massenmorden reduzierten Anspruch zur Kenntnis, kann politischem Wirken durch die DDR-Ge- „anständig geblieben“ seien. Die fehlen- man die einzelnen Beiträge mit Gewinn schichtsschreibung Aufmerksamkeit ver- den Anführungszeichen auf dem Buch- lesen. Allerdings geben sie dann mehr dient. Fuhrer bekundet gegen Ende zwar cover können somit einen falschen Ein- über das jeweilige Thema im Besonderen seinen persönlichen Respekt für druck erwecken. denn über die NS-Moral im Allgemeinen Thälmann, hatte dieser doch in NS-Haft Darüber hinaus suggeriert der Titel, es Auskunft. Mitunter wirkt denn auch der nicht andere Genossen denunziert. Aller- handele sich um eine Gesamtdarstellung Band inhaltlich etwas „zusammengestop- dings macht der Autor deutlich, dass zum Thema. Dies ist aber nicht der Fall, pelt“, frei nach dem Motto: Irgendwie Thälmann durch die Fixierung auf die So- enthält der Band doch nur Aufsätze, die passt dieser alte Aufsatz auch noch zum zialdemokratie als Hauptfeind und die Un- bereits an anderer Stelle erschienen. Im Themenkomplex. Gleichwohl macht terschätzung des Nationalsozialismus zu- Einzelnen geht es in den neun Beiträgen Gross überzeugend auf die Notwendigkeit um so unterschiedliche Fälle wie die einer Moralgeschichte des Nationalsozia- Auffassung von „Schande“ und „Schuld“ lismus aufmerksam. Man sollte in der Tat

An der Herstellung dieser Nummer wirkten mit: in dem NS-Propagandafilm Jud Süß, die nicht unterschätzten, wie stark sich ent- Heinz Arnberger, Eva Kriss, Claudia Kuretsidis-Haider, „Rassenschande“-Ideologie in den „Nürn- sprechende Prägungen auf das Alltags- Willi Lasek, Andreas Peham, Armin Pfahl-Traughber. berger Gesetzen“, die Deutung von Reli- verhalten und die Wertvorstellungen von

Impressum: Verleger, Herausgeber und Hersteller: gion in Hitlers Verständnis von „positivem Menschen auswirken. Diktaturen „funk- Dokumentationsarchiv des österreichischen Christentum“, die SS-Formel „Meine Ehre tionieren“ nicht nur mit Repression, son- Widerstandes, Wipplingerstraße 8 (Altes Rathaus), heißt Treue“ und deren filmische Aufar- dern auch mit Überzeugungen. Ein Per- 1010 Wien; Redaktion ebenda (Christa Mehany-Mitterrutzner, beitung in dem NS-Streifen Hotel Sacher spektivenwechsel in der historischen For- Tel. 22 89 469/322, e-mail: [email protected]; und dem Nachkriegsfilm Der Untertan, schung in diese Richtung verspricht er- Sekretariat, Tel.: 22 89 469/319, Fax: 22 89 469/391, die Interpretation „deutscher Schuld“ höhten Erkenntnisgewinn. e-mail: [email protected]; web: http://www.doew.at). 1946 anhand der Erinnerungen von Traudl Armin Pfahl-Traughber Junge und der Reflexionen von Karl Ich bestelle folgende Publikationen zum Sonderpreis für Abonnenten der Mitteilungen:

Österreicher im Exil. Mexiko 1938–1947. Eine Dokumentation, DÖW, Katalog zur permanenten Ausstellung. Wien 2006, hrsg. v. DÖW. Deuticke 2002, 704 S., Bildteil. Leinen oder 207 S., 160 Abb., i 24,50 ... Stück Karton i 15,– Leinen ... Stück Karton ... Stück DÖW, Catalog to the Permanent Exhibition, Wien 2006, 95 S., über 100 Abb., i 14,50 ... Stück Florian Freund, Concentration Camp Ebensee. Subcamp of Mauthausen, 2nd revised edition, 1998, 63 S., i 4,30 Wolfgang Stadler, „... Juristisch bin ich nicht zu fassen.“ Die ... Stück Verfahren des Volksgerichts Wien gegen Richter und Staatsanwäl- te 1945–1955, LIT Verlag 2007, 397 S., Ladenpr. i 29,90 Jonny Moser, Demographie der jüdischen Bevölkerung Öster- ... Stück reichs 1938–1945, Wien 1999, 86 S. i 4,30 ... Stück Erich Fein, Die Erinnerung wach halten. Widerstand & Verfol- gung 1934–1945 und der Kampf um Anerkennung und Entschä- Josef Hindels, Erinnerungen eines linken Sozialisten, Wien digung der Opfer, Wien 2008, 128 S., i 12,– ... Stück 1996, 135 S. i 6,50 ... Stück Bewahren – Erforschen – Vermitteln. Das Dokumentations- Kombiangebot archiv des österreichischen Widerstandes, Wien 2008, 190 S., Gedenken und Mahnen in Wien, Gedenkstätten zu Widerstand i 13,50 ... Stück und Verfolgung, Exil, Befreiung. Eine Dokumentation, hrsg. v. DÖW, Wien 1998 und Gedenken und Mahnen in Wien. Martin Niklas, „... die schönste Stadt der Welt“. Österreichi- Ergänzungen I, Wien 2001. i 13,– (statt i 15,–) sche Jüdinnen und Juden in Theresienstadt. Wien 2009, ... Stück 232 S., i 19,90 ... Stück

Brigitte Bailer, Wiedergutmachung kein Thema. Österreich und Rudolf Agstner / Gertrude Enderle-Burcel / Michaela Follner, die Opfer des Nationalsozialismus. Löcker Verl. Wien 1993. Österreichs Spitzendiplomaten zwischen Kaiser und Kreisky. 309 S. Ladenpr. i 27,60 ... Stück Biographisches Handbuch der Diplomaten des Höheren Auswär- tigen Dienstes 1918 bis 1959, Wien 2009, 630 S., i 29,90 Gerhardt Plöchl, Willibald Plöchl und Otto Habsburg in den ... Stück USA. Ringen um Österreichs „Exilregierung“ 1941/42, Wien Günther Morsch / Bertrand Perz, Neue Studien zu nationalso- 2007, 288 S., Ladenpr. i 9,90 ... Stück zialistischen Massentötungen durch Giftgas. Historische Be- deutung, technische Entwicklung, revisionistische Leugnung, Wolfgang Form/Oliver Uthe (Hrsg.): NS-Justiz in Österreich. Metropol Verlag 2011, 446 S., Ladenpr. i 24,– ... Stück Lage- und Reiseberichte 1938–1945. Schriftenreihe des DÖW zu Widerstand, NS-Verfolgung und Nachkriegsaspekten, Bd. 3, Heinz Arnberger / Claudia Kuretsidis-Haider (Hrsg.), Gedenken LIT Verlag 2004, LVIII, 503 S., Sonderpreis i 25,– ( Ladenpr. und Mahnen in Niederösterreich. Erinnerungszeichen zu Wi- i 49,90) ... Stück derstand, Verfolgung, Exil und Befreiung, Mandelbaum Verlag 2011, 712 S., Ladenpr. i 39,90 ... Stück Hans Landauer, Erich Hackl, Lexikon der österreichischen Spa- Jahrbuch 2010, hrsg. vom DÖW, Schwerpunkt: Vermittlungs- nienkämpfer 1936–1939, 2. erw. Aufl., Theodor Kramer Gesell- arbeit mit Jugendlichen und Erwachsenen, Wien 2010, 273 S., schaft 2008, 270 S., Ladenpr. i 29,90 i 13,50 ... Stück ... Stück Jahrbuch 2011, hrsg. vom DÖW, Schwerpunkt: Politischer Wi- Institut Theresienstädter Initiative/DÖW (Hrsg.) Theresien- derstand im Lichte von Biographien, Wien 2011, 302 S., i 13,50 städter Gedenkbuch. Österreichische Jüdinnen und Juden in ... Stück Theresienstadt 1942–1945, Prag 2005, 702 S., i 29,– ... Stück Florian Freund, Die Toten von Ebensee. Analyse und Dokumen- tation der im KZ Ebensee umgekommenen Häftlinge 1943–1945, Herbert Exenberger/Heinz Riedel, Militärschießplatz Kagran, Braintrust, Verlag für Weiterbildung 2010, 444 S., i 29,– Wien 2003, 112 S., i 5,– ... Stück ... Stück

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