Das Rüfendorf Rueun

Autor(en): Capol, Georges

Objekttyp: Article

Zeitschrift: Bündner Jahrbuch : Zeitschrift für Kunst, Kultur und Geschichte Graubündens

Band (Jahr): 32 (1990)

PDF erstellt am: 22.06.2016

Persistenter Link: http://dx.doi.org/10.5169/seals-550647

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http://www.e-periodica.ch Das Rüfendorf Rueun

rorc Georges Gogo/

Das Dorf Rueun, oder mit dem deutschen Na- lin erlebt, wobei die Schutzfunktion des Wal- men Ruis, zählt zu jenen romanischen Gemein- des, um den Wasserhaushalt in solch steilen den des Ründner Oberlands, die für ihre histo- Gebieten zu regulieren, klar zutage trat. rische und geographische Vielfalt bekannt Auch in Ruis wurde wahrscheinlich der Tal- sind, deren Geschichte aber weitgehend noch boden in ähnlicherWeise verschüttet und dann weisse Flecken aufweist. Der Ortsname Rueun, wieder abgetragen, so dass sich eine Terrasse, Ruano, Ruwis usw. soll auf die vorrömische Be- auf der heute der ältere Dorfkern liegt, bildete. Zeichnung «rova» zurückgehen, was soviel wie Im Laufe der Zeit musste dann selbst der «Erdschlipf, Riss, Sturz» bedeutet. Gemeint ist Schmuerbach - was bis heute ersichtlich ist - zweifelsohne der Schuttkegel, auf dem das seinen direkten Zugang zum mäandrierenden Dorf steht und welcher vom Dorfbach, nicht Rhein abknicken. Das stete Nagen am Ruiser aber vom Schmuerbach, der vom Panixerpass Felssturztrassee und die rege Tätigkeit des herunterführt, gebildet wurde. Dass Rueun Dorfbaches, der dauernd weiteren Rüfen- just wegen diesem - heute allerdings gebän- schutt nachlieferte, prägten das heute einzig- digten - Dorfbach ein Rüfendorf ist, zeigt der artige Landschaftsbild, das eine typische in- vorliegende Beitrag. neralpine Flora und Fauna aufweist. Rhein, Die Geologie des Vorderrheins gehört zu den Schmuerbach und Dorfbach gehören zu den interessantesten und abwechslungsreichsten formbildenden Kräften der einmaligen Ruiser Gebieten der Schweiz überhaupt. Die Rhein- Rüfenlandschaft. In jüngster Zeit verändern Schlucht und zahlreiche Funde von Boden- aber auch bauliche Eingriffe der Bewohner die schätzen (z. B. Gold in Disentis) beweisen dies alte Geologie, ein Kulturlandschaftswandel, ohne weiteres. Wenn wir auf der geologischen der aufmerksam zu beobachten ist. Karte der Schweiz (Massstab 1:500 000, Bern Die ersten Ruiser Siedler haben dieses Rii- 1980) die tektonische Umgebung von Rueun fentrassee, das sich prägnant vom Talboden betrachten, stellen wir fest, dass das Gebiet abhebt, vermutlich nicht nur wegen der klima- oberhalb Rueun (Ual da Valdun) - bestehend tisch geschützten Lage, den Bergquellen, Ak- aus dem Gestein des Ilanzer Verrucano (Perm) kerböden usw. ausgewählt, sondern auch we- - tropfenförmig als präglaziale Fels- und gen seiner guten strategischen Lage. Funde Schuttwanne eingezeichnet ist. Seit Urzeiten von Bronzebeilen bei Quellwasserfassungen waren aus diesem Rutschhang in grösseren können kaum als Zeichen einer ersten Dauer- und kleineren Portionen Erd- und Gesteinsma- besiedlung gedeutet werden. Die These, dass terial lawinenartig zu Tale gerutscht, um so die Rueun wegen seiner Position als Passfussort heute noch gut sichtbare Dorfterrasse von Ruis grösste verkehrspolitische Bedeutung gehabt zu formen. Einen ähnlichen geologischen hatte, lässt sich ebenfalls kaum erhärten, da Hangrutsch haben wir ja 1987 im oberen Veit- der Panixerpass historisch und überregional

132 Am Dorfeingang. nie wichtig war. Die frühe Besiedlungsge- Ort («Agrum trans Flumen») südlich des schichte von Rueun liegt also völlig im Dunkeln Rheins erwähnt, heute in einem Gebiet gele- und weiteren Spekulationen ausweichend, gen, das in jüngster Zeit durch die Aufschüt- verzichten wir hier auf Bezüge zu den nahen tung und Planierung von Ausbruchmaterial prähistorischen Fundstätten in , und des Panixer-Druckstollens aufgefüllt und zum . Zwecke der Rheinkorrektion erheblich verän- Urkundlich erfassbar sind die ersten Ruiser dert wurde. Noch heute besitzt die Gemeinde Bewohner erst im Frühmittelalter. Der im tel- in der Nähe bei Pardella und der nahen Bahn- Ionischen Testament um 765 erwähnte Her- station Land. Aus dem Tello-Testament geht renhof von Brigels besass nämlich Güter in zudem hervor, dass zu jener Zeit vorzugsweise Waltensburg und Rueun. In dem durch den auf den geschützten Talflanken gerodet und Rhein beherrschten Talboden finden sich be- gesiedelt wurde. So führte der alte Talweg von zeichnenderweise praktisch keine Güterauf- , wo eine Brücke oder Furt bestand, längs Zählungen. Von Rueun ist dennoch ein einziger der linken Talseite nach Rueun, von hier aber,

Blick von Chislun bei auf Rueun (links oben Brücke über Riife).

133 Blick von Flond aufRueun.

dem Rhein ausweichend, auf die Anhöhe von werden u.a. Leute aus Ruis verdächtigt, die Waltensburg, dann nach Brigels und weiter enge, verschwörerische Beziehungen zu den Richtung Disentis. adligen Herren auf dem Waltensburger Kir- Im Reichsguturbar aus dem Jahre 831 kön- chenkastell unterhielten. nen wir in Nordbünden zehn königliche Vasal- Mit den Zeiten änderten die Herrscher. len-Lehensgüter (Benefizien) ausmachen. Händler, Pilger, Ritter, Edle, Bauern und Nach Angaben von Martin Bundi («Besied- Handwerker durchstreiften auf ihrem Weg lungs- und Wirtschaftsgeschichte Graubiin- durch die Surselva das Dorf Rueun. Die Besit- dens im Mittelalter») überschritt das zu jener zungen des in der manessischen Liederhand- Zeit aufgezählte Ackerland von Ruis nicht die schrift erwähnten Ritteradels namens Frauen- Grösse von 45 Hektaren. Der Weinbau, damals berg, die in der Gruob auf verschiedenen Bur- bedeutend in Sagogn, ist für Ruis nicht nachge- gen herrschten, stellen einen weiteren Bezug wiesen. Die Ruiser Vasallen zinsten deshalb zum mittelalterlichen Ruis dar. Ihr Hauptsitz ihre Weingaben ab einem gepachteten Malan- war eine Burg, deren Ruinen in Ruschein noch ser Rebgut. Bedeutender waren die Alp- und sichtbar sind. Die Frauenberger Ritter besas- Wiesenrechte Richtung Panix, die während sen denn nicht im Dorf Ruis selbst, jedoch Jahrhunderten an die unterschiedlichsten In- oberhalb, auf halbem Weg nach Panix, einen teressenten verpachtet wurden und bis heute Grosshof mit Namen «Valsins». Die Bauern auf kaum erforscht sind. Das hoch gelegene Panix diesem Gehöft zinsten ihren Herren Geld oder gehörte bis ins Jahr 1667 zur Ruiser Pfarrei. Naturalien, und sie mussten Waffendienst oder Verschiedene Güter in Vuorz (Waltensburg) handwerkliches Tagwerk, z.B. zum Unterhalt und Andiast waren zudem schon zur telloni- von Weg und Steg, leisten. sehen Zeit der Ruiser Kirche zinspflichtig. Zu dieser Zeit sind in Rueun zwei Handwer- Wie schon erwähnt, wird der Ort «Ruans» im ker, ein Schmied namens «Faber» und ein Churrätischen Kirchenstaat verschiedene Schuhmacher namens «Cuonzen», bekannt. Male zusammen mit den umliegenden Ort- Warum gerade diese beiden Handwerker auf- Schäften genannt. Rueun trat zu dieser Zeit ein tauchen, ist vielleicht typisch für das Dorf Ru- weiteres Mal hervor. Bei der Ermordung von eun. Dass der Beruf des Schmieds in Graubün- Bischof Berthold I. von Chur im Jahre 1233 den seit dem Mittelalter so Verbreitung fand,

134 liegt unter anderem an den vielfältigen Aufga- ben, die diese zu erledigen hatten. Eine Viel- zahl deutscher und romanischer Geschlechts- namen leitet denn auch Konrad Huber in sei- nem Rätischen Namenbuch auf den Schmiede- beruf zurück. Die Schmiede hatten anfänglich nicht nur Waffen und Rüstungen für die Ritter herzustel- len, sie waren vielmehr auch verantwortlich für den Wegunterhalt, die Wagenreparaturen, Werkzeugherstellung usw. Der in Ruis heimi- sehe Schmied beschlug sicher manches lahme Pferd eines Durchreisenden. Der Schuhma- eher unterstützte die Arbeit des Schmieds in ähnlicher Weise; er verarbeitete allerlei Le- derartikel, Riemen, Pferdegeschirr, Schuh- werk usw., seine Kunden waren hauptsächlich die rund um Ruis lebenden Bauern und gege- benenfalls Händler und Reisende. Solche bäuerliche Handwerker passten also gut in diese Gegend, wo ein steigender Durchreise- verkehr zu verzeichnen war. Ruis, an der Hauptverkehrsader im Vorder- rheintal gelegen, ist gewiss kein Strüssendorf Unteres Deflorinhaus wie z.B. Domat/Ems oder Zizers, obwohl der alte Talweg einst durchs Dorf führte, heute sie passpolitisch wohl ihren Höhepunkt. Fried- aber die Hauptstrasse das Dorf umfährt. Man rieh Barbarossa und seine Truppen zogen auf hat hier kaum Probleme mit dem Durchgangs- ihren Kriegszügen gegen Mailand über den verkehr, hatte es auch nicht in der Vergangen- Lukmanier. Es folgten später in friedlicher Ab- heit, da sich der Passverkehr Richtung Disentis sieht zahllose Pilger und Handelsleute, die nie zum Massentransit entwickelte. Trotzdem möglichst sicher die Alpen überqueren woll- war die Lukmanierroute historisch bedeut- ten. Für die Lagerung der Waren und für kurze sam. Im Zeitalter der Hohenstaufen erreichte Ruhepausen wurden deshalb von den Einhei-

Blick auf das bewaldete Rüfengebiet des Uaul da Valdun (Bildmitte, oben).

135 sens zu betrachten, weshalb auch leicht zu ver- stehen ist, dass bei der Bildung des sog. Oberen Teils (part sura) 1395 die Oberländer Einwoh- ner einige wesentliche handelspolitische Inter- essen zu vertreten wussten. Streifen wir noch kurz einiges aus der Ruiser Dorfchronik. Im hohen Mittelalter gehörte Ru- eun zur Herrschaft Jörgenberg, dann zum Hochgericht Waltensburg im Oberen Bund. Ebenfalls prägend für die Dorfgeschichte war die relative Nähe des Klosters Disentis, des frei- her oft begangenen Panixerpasses und des Bundeshauptortes llanz. Einziges und wichti- ges Ereignis in der Geschichte von Rueun war das Jahr 1621, mitten in den Bündner Wirren, als Jörg Jenatsch und seine Anhänger über den verschneiten Panixerpass ins Glarnerland flie- hen wollten, aber von verfolgenden Bauern aus Rueun im letzten Moment eingeholt wur- den. Allein über dieses Ereignis liesse sich ein ausführlicher Artikel schreiben. 1 734 trennte sich das Hochgericht Waltens- bürg in die protestantische Dorfschaft Wal- Romanischer Turm der St. Andreaskirche. tensburg und in das neue Gericht Ruis mit den dazugehörigen Dörfern Siat, Andiast, Schlans mischen Susten errichtet, dies auch an der und Panix. Das Kloster Disentis liess sich dabei Lukmanierroute. noch 1766 seine oberhoheitlichen Ansprüche Susten an der Oberländer-Route werden zu bestätigen. Dies nur wenige Jahre vor dem dieser Zeit urkundlich erwähnt in Trin, Laax, Durchmarsch fremder, napoleonischer und Ruis mit seiner Kapelle zu Gulam Trun und österreichisch-russischer Truppen durch die drei weiteren Stationen am Lukmanierpass. Cadi. Die Überquerung des Panixerpasses so- Von llanz aufwärts besassen die Freiherren wie der Aufenthalt und die Einquartierung er- von Rhäzüns und die Abtei von Disentis Haupt- schöpfter Truppen General Suworows im rechte am Verkehr und den Zolleinnahmen. Jahre 1799 sind weitere Merkpunkte für Ru- Nach 1472, beim Kaufakt der Herrschaft Jör- eun und die umliegenden Dörfer. genberg, gehörte auch die Sust mit der Port Bekannt in der Dorfchronik ist auch die von Ruis dem Kloster Disentis an. Wo die Rui- Eisenverhüttung auf Ruiser Gemeindegebiet, ser Sust stand, ist unbekannt. welche bereits im Mittelalter auf der Alp Re- Der Warentransport - typisch nicht nur in nasca begann. Heute haben die Einwohner je- diesem Transitgebiet Graubündens - wurde doch durch den Kraftwerkbau auf Alp Panix jedenfalls von Einheimischen besorgt und erklecklichere Einnahmequellen. stellte nebst der Landwirtschaft den weitaus Soweit einige Stationen in der bekannten Ge- grössten Erwerbszweig seit mittelalterlicher meindechronik von Rueun. Geographisch kön- Zeit dar. Handel und Verkehr im kleinen Dorf nen wir noch einiges hinzufügen: Das Dorf Ruis waren vom Nord-Süddurchgang auf Ge- zeichnet sich aus durch eine berggeschützte deih und Verderb abhängig. Die bündnerische Lage auf rund 800 m ü.M. Ein aus dem Rüfe- Staatenbildung ist deshalb eng mit der Ent- schutt ausgegrabener mächtiger Eichenstrunk Wicklung des Verkehrs- und Alpenstransitwe- liegt heute im Naturhistorischen Museum Chur

136 und beweist eine andersartige Vegetation vor rund 8000 Jahren. Hier wurden auch seit jeher eifrig Obst- und Nussbäume gezogen. Noch in den 1920er Jahren leitete der Dorfpfarrer gut besuchte Obstbaumkurse. Betrachten wir die Siedlungsstruktur des Dorfes. Leicht erhöht auf einem Schuttkegel stehen die Häuser eng aneinandergebaut in Form einer Haufensiedlung, wobei drei histo- rische Gebäude dem Dorf prägende Gestalt ge- ben. Es ist dies zunächst die katholische Pfarr- kirche St. Andreas mit ihrem prächtigen roma- nischen Turm. Die Andreas-Verehrung geht auf den Apostel Andreas, den Bruder des Si- mon Petrus zurück, dessen Gebeine und Reli- quien von Konstantinopel übers Habsburgi- sehe nach Italien, Burgund und Spanien usw. gebracht wurden. Im Spätmittelalter ist An- dreas auch Schutzpatron der Bergknappen und bei den Bauern war vor allem der An- dreasmarkt (30. November) beliebt. Die Kirche St.Andreas von Rueun kann man übrigens nach Angaben von P. Iso Müller («Frühes Chri- stentum»), ähnlich wie das Kir- karolingische Das Obere Deflorinhaus. chenkastell von Waltensburg und die von Bi- schof Tello erwähnte Siedlung Andest, ins 7. Jahrhundert zurückdatieren. Interessant ist die Lage der Kirche, denn sie Wer durchs Dorf spaziert, dem fallen unwei- steht leicht erhöht mit Sichtkontakt zu den gerlich zwei stattliche Herrenhäuser auf. Es Kirchtürmen der umliegenden Dörfer. Der ro- sind dies die beiden Deflorin-FIäuser, die im manische Turm gehört zur ursprünglichen 17. Jahrhundert erbaut wurden, einem Zeital- Kirche, er steht gleichsam als fassbarer Mega- ter, als in Graubiinden eine grosse Bauwelle lith in der Landschaft. Eine Glocke stammt an- von Bürgerhäusern aufkam, die allesamt von geblich von der Jörgenburg, eine andere ver- einflussreichen Häupterfamilien errichtet briiderte hängt heute in Vuorz. Der Überliefe- wurden. rung gemäss sollen beim ersten Kirchbau in Das obere Deflorinhaus wurde 1610, wahr- der Nähe des Dorfbaches die gesetzten Steine scheinlich kurz nach einem verheerenden Rii- jeweils fortgerollt sein, was als schlechtes Zei- fenniedergang des Dorfbaches, an seinem jet- chen gedeutet wurde, darum erbaute man die zigen geschützten Standort neu erbaut. Besit- Kirche am heutigen Platz. Im Jahre 1633 hat- zer war der damalige Landrichter Johann Si- ten dann Kapuziner die verwahrloste Kirche meon Deflorin, der mit Anna von Capol ver- neu gestaltet. Noch bei ihrer Ankunft mussten mählt war, was leicht aus einer Inschrift und die tüchtigen Patres im Freien unter Nussbäu- dem Allianzwappen über der Saaltiire im 2. men übernachten bis ihre Arbeit anerkannt Stock erkennbar ist. Das Flaus ist nicht unter- wurde. Die Kapuziner wirkten den Umständen kellert; dies war für ein schnell benötigtes der Zeit entsprechend von 1616-1633 in Ru- Wohnhaus, das auch für Gerichtssitzungen be- eun, deshalb auch der italienisch geprägte nutzt wurde, nicht nötig. Der Innenausbau Charakter der Kirche. wurde jedoch um so prachtvoller gestaltet, das

137 Täfer stammt aus dem Jahre 1671; acht Jahre Im Stadtarchiv Chur befindet sich ein Schrei- danach folgte ein erneuter Ausbau durch ben unter den Ratsakten, das sich auf diesen Joachim Deflorin. Das gut erkennbare untere Rüfenniedergang von Rueun bezieht: Deflorinhaus, auch «Casa alva» genannt, wohl Im Jahre 1641 wurde auf Antrag der Churer wegen seines einstigen geweisselten An- Behörden in Zizers ein Frau vor Gericht zitiert. Strichs, wurde 1662 durch Johann Simeon De- Catharina Miilleri, des Christen Gerbers Frau, florin dem Jüngeren erbaut. Er war mit einer wurde verhört, weil sie wiederholt behauptet Faustina von Salis vermählt, wie uns eine hatte, sie hätte von einer anderen Frau von Un- Grabplatte in der Dorfkirche verrät. Ansonsten tervaz gehört, wie vor etlichen Jahren zu hat Rueun vorwiegend Bauernhäuser, Holz «Ruohiss» (Ruis) eine Rüfe niedergegangen herrschte als Baustoff vor, die Häuser wurden sei. Die «Rüffe oder das Wasser habe etliche hier teilweise kunstvoll durch Schindeln iso- Heusser zerschleizt» und «do habe der Rhyn liert, die gestrickten Stallbauten geben insge- etliche Kinder abgetragen» bis nach Chur, wo samt den Eindruck eines typischen Oberländer sie dann nur auf dem (Ufer-)Sand bestattet Bauerndorfes. worden seien. Als die Churer Behörden, ob die- Wer in den Dorfchroniken blättert, wird sen Behauptungen natürlich erbost, vom Zi- ohne Mühe die obigen Angaben bestätigt er- zerser Ammann Bericht wollten, ob solches halten. Was jedoch selbst Einheimischen unbe- wahr sei, konnte sich niemand vom Gericht, kannt und aufgrund der früheren Nichtbesied- auch nicht ältere Leute, an ein solches Unwet- lung längs des Dorfbaches leicht erkennbar ist, ter erinnern. Dieses Gerücht sei nur einer «ein- das ist die Rüfenlage des Dorfes, die in moder- faltigen» Frau entsprungen. Etliche Personen ner Zeit durch Neubauten praktisch in Verges- wurden befragt - Archive gab es damals noch senheit gerät. Bis heute sind bei Hochwasser- keine - ob einer oder der andere je dergleichen lagen und heftigen Niederschlägen zwar wenig Sachen gehört hat, und «keiner nüt darvon Schäden durch diese Dorfrüfe bekannt. Auch wollen wüssen» und «niemand dergleichen ge- in den Chroniken wusste niemand etwas zu be- hört denken, noch reden». Auf Rufmord wurde richten. Aus der Vogelperspektive und aus al- früher viel rigoroser reagiert. ten Karten ist jedoch erkennbar, dass früher Diese Frau wurde, ähnlich wie in einem He- im Schuttfeld- und Fliessbereich des heute gut xenprozess, aufgrund ihrer vagen Behauptung verbauten Dorfbaches, der in den sumpfigen angeklagt und scharf verhört, glücklicher- Wiesen der Sether Berge entspringt, nicht ge- weise aber nicht verurteilt. Man hätte ihr Un- siedelt wurde, was ältere Einwohner bestäti- recht getan. Im Jahre 1610, also 31 Jahre vor- gen. her, fand tatsächlich ein schrecklicher Riifen- Am 3. November 1914 wurden bei der Fun- niedergang in Rueun statt, der die Leute so damentierung des Schulhauses in Bachnähe nachhaltig beeindruckte, dass sich einige mehrere Rüfeschichten durchstossen und da- Bündner noch Jahre später daran erinnerten. bei kamen Funde zu Tage (Eisenteile, Stein- Ein einziger Chronist und Zeitgenosse, der be- fliessen, Knochen usw., an einem anderen Ort rühmte Dorfschullehrer und Malerpoet Hans gar eine gotische Statue), die Verwunderung Ardüser (1557-1618), berichtet uns davon hervorriefen. Niemand konnte damals etwas kurz und prägnant. Er schreibt in seiner Chro- über einen solchen katastrophalen Rüfennie- nik folgenden Sachverhalt: Am St.Margre- dergang berichten. Einzig vor Jahren hatte thentag, einem Sonntag, (15. Juli 1610) hat zu man bei der Neufassung einer Quelle bronzene Ruis im Oberland der stark angeschwollene Beile gefunden, die stammten aber aus einer Dorfbach 14 Ställe und Häuser weggerissen, in anderen Zeitepoche. der darauffolgenen Nacht brach der Summa- Zur Klärung dieses Rüfenniedergangs, den prader Wildbach bei Thusis los. Womit nach- wir heute dank gut erschlossenen Archivquel- träglich zur Entlastung der Angeklagten bestä- len besser verstehen, sei folgendes erzählt. tigt wird, dass Rueun ein Rüfendorf ist.

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