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Politikwissenschaftliche und geschichtsphilosophische Interventionen

Herausgeber Dr. Matthias Lemke Hochschule Vechta, ISP – Wissenschaft von der Politik Daniel Kuchler, M. A. State University of New York at Albany (SUNY) – Department of Political Science Sebastian Nawrat Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Board of Reviewers Prof. Dr. Johanna Bödege-Wolf Hochschule Vechta, ISP – Politikwissenschaft Prof. Dr. Karl-Heinz Breier, Vechta Hochschule Vechta, ISP – Politikwissenschaft und ihre Didaktik Prof. Peter Breiner, PhD State University of New York at Albany (SUNY) – Department of Political Science Prof. Dr. Martin Kintzinger Westfälische Wilhelms-Universität Münster – Historisches Seminar Dr. Martin Lücke Freie Universität , Friedrich-Meinecke-Institut Prof. em. Dr. Lothar Maier Heidelberg Prof. Dr. Renate Martinsen Universität Duisburg-Essen, IfP – Politische Theorie Prof. Dr. Peter Nitschke Hochschule Vechta, ISP – Wissenschaft von der Politik Dr. Stephan Sandkötter Hochschule Vechta, ISP - Soziologie Prof. Morton Schoolman, PhD State University of New York at Albany (SUNY) – Department of Political Science Prof. Dr. Hans Rainer Sepp Karls-Universität Prag – Humanwissenschaftliche Fakultät PD Dr. Mirko Wischke Taras Shevchenko National University of Kyiv, Ukraine

Redaktion Bastian Walter, M.A. Westfälische Wilhelms-Universität, Münster – Historisches Seminar Ines Weber, M.A. Hochschule Vechta, ISP – Wissenschaft von der Politik Inhalt Editorial

Se b a s t i a n Na w r a t , Ma t t h i a s Le m k e , Da n i e l Ku c h l e r Se i t e | 1 Erfolgsmodell oder Krisendiagnose?

Politische Theorie

Ma r c u s Sc h u l z k e Se i t e | 3 The Weakness of Constructed Nationality as the Basis for Citizenship

St e f a n i e Re n a t u s Se i t e | 20 Der Trend zum Totalitären. Herbert Marcuse und die Studentenbewegung

Innenpolitik

Sv e n Sc h ö n f e ld e r Se i t e | 29 Rechtsextremismus in Deutschland. Aktuelle Entwicklungen

Thema: 60 jahre Bundesrepublik Deutschland

A) Das Selbst

St e v e n Zu r e k Se i t e | 41 Das Grundgesetz – vom Provisorium zur vollwertigen Verfas- sung. Ein historischer Überblick

Ju l i a Ki e s o w Se i t e | 49 Die Soziale Marktwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Der 60-jährige Werdegang einer neuen Wirtschaftsordnung

Ch r i st i a n Bu n n e n b e r g Se i t e | 58

(2) 2009 Heiße oder kalte Krieger? Bundesdeutsche Ministerien und der Einsatz (west-)deutscher Söldner während der Kongo-Krise 1964/65

Ja n Sc h u l t e Sü d h o f f Se i t e | 71 Mehr Umweltschutz wagen. Anfänge und Ursprünge soziallibe- kurs raler Umweltpolitik 1969–1974

Kl a u s Sc h r o e d e r Se i t e | 86 Das wiedervereinigte Deutschland Dis| Wo l f g a n g Gr ü n d i n g e r Se i t e | 114 Die Zukunft des Grundgesetzes unter Nachhaltigkeitsaspekten

B) Das Andere

Jo c h e n St a a d t Se i t e | 123 Deutsch-Deutsche Beziehungen von 1949 bis 1989

St e f f e n Al i s c h Se i t e | 156 Die DDR von Stalin bis Gorbatschow. Der sowjetisierte deutsche Teilstaat 1949 bis 1990

Be n j a m i n Ma g o f s k y Se i t e | 185 Geteiltes Lachen? Die Rezeption von Filmkomödien über die deutsche Teilung in der Geschichte der Bundesrepublik

c) Innen und AuSSen

Ma r t i n Ki n t z i n g e r Se i t e | 199 Lange Schatten der Vergangenheit? Deutsch-französische Bezie- hungen vor der Moderne. Ein Essay

Je a n -Lu c Ga r r e t Se i t e | 207 Von der Erbfeindschaft zur Erbfreundschaft. Die deutsch-franzö- sischen Beziehungen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges

d) Abgründiges

He i k e Ra d v a n Se i t e | 219 Antisemitismus in der DDR – Die Notwendigkeit eines öffentlichen Diskurses

tagungsberichte

Hi ld e g a r d St e g e r -Ma u e r h o f e r Se i t e | 231 (2) 2009 Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie – warum ein Frauenthema?

Ma r i o n Lö f f l e r Se i t e | 238 Staat und Familie. Ideologie und Realität in der Familienpolitik kurs Dis| Gelesen

In e s We b e r Se i t e | 248 Theoretiker oder aktiver Bürger. Zur Gewichtung von philosophi- schen und politischen Schriften

Se b a s t i a n Na w r a t Se i t e | 253 Legitimitätsprobleme der Marktsozialdemokratie

Autorinnen und Autoren Se i t e | 257

Beiträge Se i t e | 261

Impressum Se i t e | 262 (2) 2009 kurs Dis| Editorial

Editorial Erfolgsmodell oder Krisendiagnose?

Sebastian Nawrat, Matthias Lemke, Daniel Kuchler

Dass eine kinderlose Physikerin aus der ehemaligen DDR und ein schwuler Anwalt die Bundesregierung anführen, hätte sich wohl die Mehrheit der Bevölkerung bei der Gründung der Bundesrepublik vor 60 Jahren kaum träumen lassen. Rechtfertigt aber allein das neue Regierungsduo Merkel/Westerwelle von einem Erfolgsmodell Bundesrepublik zu sprechen? Nicht nur. Aber die einschlägigen Überblickdarstellungen zur Bundesrepublik geben durchweg das (Selbst-)Bild einer Erfolgsgeschichte wieder.1 Unabhängig davon, ob die Historiographie an die Westintegration, die neue Ostpolitik, die Deutsche Einheit oder an die auch in Krisenzeiten bewährte soziale Marktwirtschaft erinnert, die ent- scheidenden Weichenstellungen zur Konsolidierung eines demokratisch verfassten Gemeinwesens nach der Befreiung vom Nationalsozialismus erscheinen durchweg geglückt. Bemerkenswert erscheint es auch, dass die großen Kontroversen offensicht- lich entschieden sind. Die alten Deutungskämpfe in der Außen- und Sicherheitspo- litik sind kein Thema mehr. Nur in Nuancen unterscheiden sich die Volksparteien in der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Klimaschutz und Ökologie sind in ihrer Evidenz völlig unumstritten. Nach dem Abschied vom Provisorium durch die Errichtung ei- ner wiedervereinigten Berliner Republik endete offensichtlich der deutsche Sonder- weg.2 Sogar Patriotismus wird plötzlich wieder schick und die Bundeswehr verteidigt „uns“ am Hindukusch. Und alles – historisch ziemlich kontraintuitiv – ohne das Vor- handensein entsprechender Mythen zur Stimulierung einer nationalen Identität.3 Und doch vermitteln eher populär orientierte Veröffentlichungen ein ganz anderes Bild von der Bundesrepublik. Sie beschreiben eine veritable Krisenstimmung, die sich über das Land gelegt habe.4 Die Krisendiagnose erstreckt sich von überlaste- ten sozialen Sicherungssystemen, über überforderte öffentliche Finanzen bis hin zur

1 Z. B. Wolfrum, Edgar: Die geglückte Demokratie. Bonn 2007; Görtemaker, Manfred: Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bonn 2004; Rödder, Andreas: Die Bundesrepublik Deutschland 1969–1990. München 2004; Jarausch, Konrad: Die Um- kehr. Deutsche Wandlungen 1945–1995. Bonn 2004; Morsey, Rudolf: Die Bundesrepub- lik Deutschland. Entstehung und Entwicklung bis 1969. 4. Auflage. München 2000. 2 Winkler, Heinrich August: Der lange Weg nach Westen II. Deutsche Geschichte 1933–1990. Bonn 2004. 3 Münkler, Herfried: Die Deutschen und ihre Mythen. Berlin 2009. 4 U. a. Kirchhoff, Paul: Das Gesetz der Hydra. München 2006; Nolte, Paul: Riskante Moderne. München 2006; Sinn, Hans-Werner: Ist Deutschland noch zu retten? München 2003; Miegel, Meinhard: Die deformierte Gesellschaft. Berlin 2002.

Dis | kurs 1 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 anhaltend hohen Arbeitslosigkeit in Ost und West. Von der Finanzkrise und ihren Ursachen ist allerdings nicht die Rede. Apropos Osten: Kann eine Bestandsaufnahme über die Bundesrepublik ohne Würdi- gung und Behandlung der DDR, der „sowjetischen Satrapie“5, auskommen? Gründe genug für Diskurs, die Frage zu besprechen, für was die Bundesrepublik zum 60. Jahrestag ihrer Gründung eigentlich steht. Diskurs widmet sich in der aktuellen Ausgabe den großen wie den kleinen Themen, die die Bundesrepublik in ihrer Ge- schichte und Gegenwart bewegt haben.

5 Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 5: Bundesrepublik und DDR 1949–1990. München 2008.

2 Dis | kurs Politische Theorie

Politische Theorie

The Weakness of Constructed Nationality as the Basis for Citizenship

Marcus Schulzke State University of New York at Albany (SUNY), Rockefeller Centre E-Mail:

Keywords On Nationality, David Miller, Citizenship, Nationality, Identity, Constructionism

Throughout his book On Nationality David Miller approaches nationality with a neutral tone uncharacteristic of this contentious topic. He neither says that national- ity is good in itself, nor does he consider it intrinsically dangerous. Instead, he treats it functionally. Despite the often negative connotations of the words “nationality” and especially “nationalism”, he thinks that the concept of nationality can and must play a role in a liberal democracy. It can do this by serving as the basis for citizenship. He defends nationality not out of some sentimental attachment to a traditional life but because he sees it as a necessity. Its value rests only on its ability to shape and give grounds for social and political life. If it is true that Miller “boldly reaffirms explic- itly what almost every contemporary political theorist – both individualist and com- munitarian – simply assumes implicitly”1, then a detailed consideration of Miller’s argument amounts to a consideration of the assumptions made by many political theorists. Though Miller’s argument is a strong one, this paper will argue against it and in favor

1 Walker, R. B. J.: Citizenship after the Modern Subject. In: Hutchings, K. et al. (Eds.): Cosmopolitan Citizenship. London 1999, p. 185

Dis | kurs 3 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 of a cosmopolitan conception of citizenship. Whereas Miller thinks that citizenship is best defined with reference to a nation, this essay will show that his reasons for this are ultimately unconvincing. Cosmopolitan citizenship is based on supra-national unifying identities. Theories of this kind seek to ground political life on the broadest basis – ideally including all of humanity rather than just a narrow segment of it. The argument presented here is against Miller in particular, but shows the flaws in any argument defending national identity while still considering it a constructed identity. It will take a detailed look at Miller’s argument, how it runs into problems, and how a cosmopolitan theory of citizenship can improve on it. The critique will support the argument that moral obligation to all of humanity can and should supersede na- tional attachment. A proponent of cosmopolitan citizenship can accept all of Miller’s premises while still rejecting the conclusion that national identity is the right basis for citizenship. Two of the most serious attacks on the concept of nationality are that it is a vacuous concept that cannot withstand careful examination and that it lends itself too easily to violent and authoritarian purposes. Employing the nation as an integral part of a theory of politics can be objectionable both because of the former, theoretical objec- tion that it is meaningless and on the basis of the practical problems created by na- tionalism. Miller tries to avoid both of these arguments by giving nationality a mini- mal definition that is nonetheless substantive. It is phrased to take a middle course between each of these counterarguments. He defines nationality as “the conscious creations of bodies of people, who have elaborated and revised them in order to make sense of their social and political surroundings.”2 There are three key elements to this. The first is that nationality is constructed. This distinguishes Miller from the tradi- tion of political scientists who argue that nationality is perennial (based on some in- trinsic unity of a group of people) or primordial (a deeply rooted, though not innate identity). While the perennial position is unpopular among contemporary political scientists, there are number of noteworthy proponents of primordialism in political science and the other social sciences.3 These scholars often argue that nationality is closely associated with ethnicity making the two terms nearly synonymous4 and must be distinguished primarily because not every ethnicity formed a national identity. By taking nationality as a construction, Miller attenuates the concept enough to di- vorce it from destructive uses. The common fear associated with nationality is that

2 Cf. Miller, David: On Nationality. Oxford 1995. 3 Cf. Kohn, H.: The Nature of Nationalism. In: The American Political Science Review, 30 (1939), p. 1001–1021; cf. Geertz, Clifford: The Interpretation of Cultures. New York 1973; cf. Smith, A.: National Identity. New York 1991. 4 Cf. ibid.; cf. Hastings, Adrian: The Construction of Nationhood: Ethnicity, Religion and Nationalism. Cambridge 1997.

4 Dis | kurs Politische Theorie it will inspire nationalist violence. Part of the appeal of the cosmopolitan position is that by abandoning national identity we might also be able to end these vicious displays of nationalism. Miller skillfully avoids defining nationality in a way that sup- ports this kind of nationalism by redefining nationality as a constructed rather than a natural group division. As a construction, nationality could still be used of harmful ends, but this seems far less likely. People will be less motivated to kill for a recently created distinction between themselves and the other than one that is biological or rooted in centuries of tradition. The second element of Miller’s definition of the nation is that the construction made consciously and deliberately by a group of people who make it for the utilitarian purpose of producing a collective identity and stable social and political orders. This builds on the popular constructivist approach to nationality, but denies that it is an elite construction or an accidental byproduct of technological change. It is a liberal, pluralist viewpoint. Many constructivists about nationality, especially those coming from a Marxist perspective, consider nationality to be an identity imposed on the masses by elites (Marx 1882; Hechter 2000).5 By defining nationality as a popular construction Miller can portray it in a far more positive light. If the nation were an elite construction then we would also have grounds for opposing it since such a top- down imposition of identity runs contrary to the way democracies are supposed to work. However, if it is a popular construction then we cannot simply rejected nation- ality as a form of domination. Only the collective wish of a group of people to see themselves as distinct from others gives them this identity, which means that “National identities are, in a strong sense, mythical”.6 This definition puts Miller close to Ernst Renan7 and Benedict Anderson8, both of whom think that nationality emerges through self-identification. This is also similar to Anthony Giddens’ The Nation-State and Violence, in which Giddens ar- gues that nationality is a functional construct to preserve political integrity.9 The third significant dimension of the definition of nationality is its functionality. It is used to make sense of social and political contexts, to give individuals identity, and to instill a common morality – functions that Miller thinks makes it useful. He suggests that the construction of national identity was originally for this purpose and that it continues to be reproduced, consciously and unconsciously, for the same reasons.

5 Cf. Marx, Karl: The Manifesto of the Communist Party. The Marx-Engels Reader. New York 1882; cf. Hatcher, Michael: Containing Nationalism. Oxford 2000. 6 Miller, David: On Nationality, p. 33. 7 Cf. Renan, Ernest: What is a Nation. Nationalisms. H. A. Smith. Oxford 1882. 8 Cf. Anderson, Benedict: Imagined Communities. New York 1983 9 Cf. Giddens, Anthony: The Nation-State and Violence. Berkeley 1987.

Dis | kurs 5 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009

Miller believes that it is the functional necessity of nationality that accounts for its origins and continued existence. This definition of the nation may be controversial, but it is important to see that it is the best definition for supporting nationality in a liberal democracy. The elements of the definition fit well with the kind of regime that Miller supports. Rather than attacking Miller’s definition directly, this essay will ac- cept it while still showing that the conclusions drawn from it are not necessary and possibly not justified at all. Despite his formulation of nationality in such a minimal form, Miller argues that this identity is necessary for individual and political life. The three traits he associates with nationality are: that it forms part of identity, that it implies special ethical duties to members of the same group, and that there is a political dimension of it in so far as it justifies self-determination.10 Throughout On Nationality he tries to show how identification with a nationality is crucial for individual identity, that we both do and should make national identity a basis for ordering ethical duties, and that political unity depends on a feeling of social unity. His conclusion is that because it fills each of these three requisites, national identity serves as a more solid basis for citizenship than competing views like cosmopolitan citizenship. The paradox of Miller’s definition is that he is trying to situate the concept of nation- ality, which he makes almost devoid of force through detaching it from any primor- dial characteristics, in a central and necessary place in modern life. It is a mythical identity, but one that he considers unavoidable because it serves as the basis of citi- zenship it plays the crucial role in a democratic society of determining the demos and assigning moral responsibility. Through trying to make nationality a substan- tive concept without actually having enough weight to serve destructive ends Miller leaves open the space for the counterargument that another form of identity, which is less problematic than nationality, could take its place and serves as a more successful model for citizenship. Constructed Nationality If nationality is constructed, and self-consciously so, then this means there must have been a time before nationalities existed and that there is a historical process of forming nations. The existence of pre-national people suggests two important consequences: that there are other bases on which to establish individual and group identity, and that nationality is not intrinsic or part of human nature. Miller’s insis- tence on the mythical nature of nationality means that in order to save his argument’s coherence he would have to consent to both of these claims. Throughout his book he does allude to these creation acts, especially with the creation of languages. It serves

10 Cf. Miller, David: On Nationality, p. 11.

6 Dis | kurs Politische Theorie as one of his primary examples. Language, he says, is often used as the justification for unity, but national languages are not natural products. People commonly think that they are the outcome of a process of slow evolution and that entire countries have always been linguistically unified by a common developmental path. This is not the case. They are constructed through standardizing education, making dictionar- ies, altering texts, and enforcing a uniform language within the national territory.11 Instead of contemporary languages being the result of long processes of evolution, he thinks that they developed over a short period of time and in a way that certainly would have been disorienting for some of those who were forced to change. It is only in the modern age when this can be effectively accomplished, and once it has been the language gets retrospective justification as a primordial fact. Other elements that serve as the basis for national identity work in the same way, but there is rarely any sense of contradiction because the constructed story fills in blank spots in history where there is no hard evidence to contradict it.12 With this example Miller alludes to pre-national times when personal identity must have been constructed based on a local identity or familiar relationships. He sees it as essential that the individual character is partially derived from group member- ship, so it follows from this that there are pre-national groups that fill the same role as nationality does today. The sudden transformation from a situation in which there is no national identity to one where there is seems suspicious considering Miller’s claims of the necessity of national identity. Nevertheless, he can explain this by ar- guing that there are earlier group memberships that play the same role or that large group identification only becomes necessary with the rise of large political organiza- tions. In either case, the transformation of language must be a quick one taking place in a relatively short period of time and probably resulting in some disorientation and discomfort to those whose languages were replaced or modified. Although this was probably be the case, the language transition happens and a new linguistic identity is established. The change in all the characteristics of nationality would have to take place in a similar way. This shows that even if we accept the argument that group membership is integral to a person’s character, people are still capable of changing themselves or at the very least instigating a change that will shape future generations. This is an essential point for the following discussion of Miller’s particular arguments. The fact that the nation is a recent product that can be constructed out of more primitive elements shows that it is not fixed or eternal. For Miller’s argument to work there must be times when a people shift from a small group identity or regional identity to one that is national.

11 Cf. ibid., p. 33. 12 Cf. ibid., p. 37.

Dis | kurs 7 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009

He must acknowledge this because this presupposition is built into the claims that we cannot live without some orientation toward society and politics and that nationality was, at least in part, made possible with modern technology. At one point Miller does say that there are recognizable national cultures that existed before modernity.13 This part of nationality preceded the modern era, but cannot serve as a counterexample identity construction because it was not associated with politics or used to establish citizenship. This complicates the argument because with this addition there is only a partial commitment to the idea that nationality can go through rapid transformation. The solution from the cosmopolitan perspective must be to either treat these more primitive national traits themselves as prone to altera- tion, like language, or to create a political structure that is open enough to allow peo- ple of different groups to pursue their own interests without coming into conflict. If the construction is one that is self-imposed by a group of people, as Miller claims that it is, then the process of redefining the group seems to be a relatively peaceful process, even though it may come at the price of discomfort and inconvenience. The change must come without violence or coercion, otherwise the voluntary aspect of the association must be removed from his definition. This line of reasoning leads to the conclusion that if Miller is right about the way nationality is formed, then it is possible to imagine it being superseded by other kinds of group association. As long as there is another kind of group membership to take its place, people can voluntarily adapt themselves. The only move that is not left open is rejecting group membership entirely. It is reasonable and in keeping with Miller’s premises that people can adapt to a cosmopolitan orientation without any more difficulty than accepting a new na- tional identity. If we can move from small group membership to national member- ship, then why not take one more step? Each transformation of identity would only need to take place according to Miller’s presuppositions. Miller’s argument can be turned against him by showing that a successful cosmopoli- tan idea of citizenship could not only accept all of his premises, but also reach all the goals that he thinks citizenship based on nationality does. Cosmopolitan citizenship also has a strong added benefit of avoiding any reliance on nationality, which even in Miller’s attenuated form could be used to justify coercive actions. To do this, cosmo- politan citizenship must be able to serves as the basis for individual identity, giving ethical duties, and serving as the basis for self-determination as well as, or better than, nationality. Cosmopolitan Citizenship A range of arguments for cosmopolitan citizenship can accept the Miller premises

13 Cf. ibid., p. 30f.

8 Dis | kurs Politische Theorie and use them to reach much different conclusions. In his essay “Cosmopolitan Citi- zenship” Andrew Linklater explains two versions of Kantian international citizenship and shows some of the basic assumptions that they hold in common. The first version is that individuals have moral duties to humanity as a whole that can overrule those duties toward members of their own community.14 This argument conflicts most di- rectly with Miller’s second trait of nationalism, its ability to inform moral decisions. The second version is that citizenship can be detached from the state.15 Both for- mulations are vague, but these definitions show where the key conflicts with Miller are. For the second kind of cosmopolitanism, that of detaching citizenship from the nation-state, Miller would probably argue that all three needs: identity, morality, and self-determination, go unmet, but they can actually be satisfied by the cosmopolitans as well as in his own argument. David Held’s book Democracy and the Global Order is a good model for a general formulation of cosmopolitan citizenship. He takes the stronger, Kantian argument. This is the model that will be defended here against Miller, as a successful defense of the strong formulation is also a defense of the weaker. In this form cosmopolitan citi- zenship is based on the maintenance of national boundaries and a consensual sub- mission of authority on issues of international importance to a federal or confederal international governing body.16 To establish a single international government with complete authority is impractical and unnecessary. Such a state would fall victim to the Republican critique of cosmopolitanism – that it does not allow for sufficient citizen engagement. In principle, this government would also be undesirable because it would leave control over local and regional politics to those with no understanding of the local and regional concerns. The exact makeup and institutional arrangement of the state is unimportant to spec- ify here, as long as it meets several requirements. It must allow for citizens to have a role in deciding all issues that affect them. This follows from the premises that deci- sions should be made in the most democratic way possible and that a democratic decision is one that is decided on by everyone who has an interest in it. This requires citizenship to be transformed into either an international citizenship or multiple group citizenships that are based on the distribution of power rather than geographi- cal borders. The international organization must also be recognized as a legitimate authority that is able to enforce law within national borders.17

14 Cf. Linklater, Andrew: Cosmopolitan Citizenship, p. 39. 15 Cf. ibid., p. 41. 16 Cf. Held, David: From City-States to a Cosmopolitan Order? Prospects for Democracy. Stanford 1993, p. 230. 17 Cf. ibid., p. 233.

Dis | kurs 9 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009

Identity It is trivial to assert that nationality forms part of a person’s identity. Whether peren- nial, primordial, or constructed, few would object to this. What is debatable is the extent to which it does this and its necessity. Miller argues that nationality does make up part of a person’s character and explains several of the mechanisms by which it does this. Each involves the derivation of individual traits from characteristics shared by the group like language or culture. It is no easy task to isolate the national char- acteristics which help to make personal identity, but Miller’s examples are at least some of the many that could be found. He introduces them in support of his account of nationality as the proper basis for citizenship; nevertheless, it is possible to show that a form of cosmopolitan identity can plausibly fill the same roles in constituting identity. Language is among Miller’s best examples of something constitutive of national iden- tity and empirically we can see that it is often the cause of conflict between nationali- ties. Minorities, such as the Quebecois in Canada, show how central the maintenance of linguistic rights is to preserving a minority culture.18 In France there is the same defense of language on a national scale as the country tries to defend itself against the growing incursions of English while at the same time suppressing regional dialects. Since human thought and interaction is so heavily dependent on discourse, language naturally forms an important part of a person’s outlook on the world. The extent of this influence and its nature are contested, but any influence whatsoever suggests that there are important differences in perception and interaction between linguistic groups. Miller seems to think that language shapes the thought and action of agents, but it does not follow from this that people are limited to membership in a single unchang- ing language group. Some people have multiple native languages because they live in bilingual countries or bilingual families. In such cases a person would have an identity that is made from two or more national groups. Similarly, people are capable of becoming fluent in other languages even as second language. In other words, if national language does indeed make up an essential part of someone’s character, this does not prevent him from being a member of multiple linguistic communities. One can transcend national barriers when they are constructed along linguistic lines by simply learning more than one. Not only do individuals overcome linguistic divi- sions, entire languages adapt by borrowing words. This is especially common in the age of English’s dominance as the international second language. Its vocabulary for new technology like computers and the internet is prevalent around the world, in

18 The Quebecois, most of whom speak French as their first language, continually resist the intrusion of English in a country where it is the dominant language.

10 Dis | kurs Politische Theorie spite of the persistence of traditional linguistic division. The discourse surrounding new technology is a cosmopolitan discourse. The alterability of language is evident at both individual and group levels. The utility of language as the basis of drawing national lines is therefore limited. None of these claims about language should be objectionable for a constructivist since the idea that nationality can be created usually involves elevating a single dialect as the exemplar of the entire language. The construction of nationality involves building a high form of a language as opposed to the low forms. According to Miller’s own argument, there was a point in the formation of each nation where dialects had to be consolidated into one relatively unified language that could be imposed on everyone within a given territory.19 For such a process to have worked there must have been a quick transformation in which adults were reeducated into a second language and children were raised as native speakers of the new one. The result is either an elimina- tion of the old dialects or, as we see in the Catalan regions of France and Spain, the persistence of regional language alongside the national language. The same argument works against this part of the identity argument as against the importance of language. Since Miller’s constructivist view holds that nationality is based solely upon common recognition of relevant traits, one may surpass the limits of nationality simply by recognizing commonalities with members of other groups in addition to their own. Examples of this phenomenon abound. Among them is the expansion of disparate Christian identities into a single relatively unified identity. Before the twentieth century, there were deep divisions between Catholics and Prot- estants and between the various Protestant factions. Throughout the last century, at least in North America, the religions have remained distinct, but largely forgotten past divisions and established a unified Christian identity. The pressure of secularism, especially coming from communism, and the increasing contact with other religions led many Christians to see their commonalities as outweighing their differences. In the United States unification has gone even farther than this as Jews and Christians have cooperated to a previously unthinkable extent for such projects as pressuring the U.S. government to continue supporting Israel.20 Miller’s argument leaves open the possibility that personal identity can either be transformed into an identification with international groups through the recognition of new unifying traits or that nationality might be preserved as an identity without much political significance within an international federal system. These options would lead to much different outcomes and the first requires a much deeper transfor-

19 Cf. Miller, David: On Nationality, p. 33. 20 Cf. Maersheimer, John / Walt, Stephen: The Israel-Lobby and U.S. Foreign Policy. New York 2008.

Dis | kurs 11 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 mation of identity, but either is compatible with cosmopolitan citizenship as formu- lated by David Held21 and others. In the first case individuals would have to consent to the change to remain consistent with Miller’s premises and voluntarily enforce it. An example of this in practice is the evolution of American identity since interstate unity of the United States was initially only a supervening commonality that was based on a more fundamental identification with the home state. However, over time and especially through the influence of the Civil War22 (McPherson 2003)the two became identities became mutually realizable and the larger, national identity came to have precedence over the state. The European Union may become an additional example as citizens of each state preserve their old national identities while also rec- ognizing a common European identity. If this process is successful then Europe will be an even stronger example than the United States since it involves actual nations. Even if none of the preceding claims about remaking language and or expanding the recognition of common traits is accepted, the nationalist argument is still unsound. Division based on language or other traits do not serve as sufficient basis for justify- ing national citizenship. There is nothing about sharing common identity with one group of people that prevents someone from sharing other parts of their identity with other nationalities or from establishing an international identity that coexists with the national identity. There are many attributes, both chosen and ascribed, which cut across national lines and can serve as the basis of personal identity. Opponents of cosmopolitan citizenship might make the counterargument that even though nationality could still exist within the framework of regional or global institu- tions, large power structures like these would end up suppressing minority groups or that these minorities would have no power to preserve their cultural integrity. This counterargument is not decisive as a proponent of cosmopolitan citizenship can either accept it and maintain that the loss of minority cultures is necessary, or work to design an institutional structure that could guarantee that certain minority rights are legally protected against the majority. The solution of rejecting national identity within larger political systems is not as callous as it sounds since this solution is im- plied by Miller’s own account nationality. It should be clear that this objection would only be significant for someone who considers the nation perennial or primordial. For a constructivist the nation is the product either of deliberate manipulation by elites, a historical accident brought about by modernity, or a deliberate falsification by members of a group. In any case, it would be strange for a constructivist to defend

21 Cf. Held, David: From City-States to Cosmopolitan Order? and cf. Held, David: Democra- cy and the Global Order: From the Modern State to Cosmopolitan Governance. Palo Alto 1995. 22 Cf. McPherson, John: Battle Cry of Freedom: The Civil War Era. New York 2003.

12 Dis | kurs Politische Theorie the nation since it has so little substance. The second solution, protecting minority rights, is probably a more palatable solution and one that has been successful. To return to the example of Canada we can see that the Quebecois have preserved a heavily French culture and even continued using the French culture because of the protection afforded by the country’s laws. Miller does think that there is “considerable room for critical reflection”23 on inher- ited identities, by which he means that even traits that are frequently taken as given by birth are open to revision. Many ascribed identities can be accepted or rejected, Miller admits. In his example a person may always be labeled a Jew because he has Jewish parents, but this does not mean that the person has attachment to Judaism or has involvement in it as a religion and culture. However, Miller rejects “the radical chooser” view of personal identity that we can pick and choose all parts of ourselves as if we started with a blank sheet and could make unbiased decisions in our own formation.24 Instead, we can only choose to change our existing identity rather than completely constructing a new one. Identity “is always a provisional one, and new events, or further critical thought, may cause us to revise it”.25 Even if people are not really radical choosers free to pick out their own character, they are still capable of deciding what parts of themselves they will use to establish links with group identities. A native English speaker cannot change this fact, but he can still choose to link himself to other people on the basis of shared humanity, thus developing a cosmopolitan orientation, rather than connecting to others on the basis of his language, which would lead to a national orientation. In fact, according to Miller’s own argument any trait that is used as the basis of national membership must act in this role through the free choice of every member. This means that although we may not be radical choosers of ourselves, every person must be a radical chooser of their nationality. Certain traits cannot be chosen or changed, but free agents can decide which traits to use as the basis for their membership in a group. Held argues that individual groups would have to sacrifice their beliefs or values in a federal in- ternational system.26 These values would still be able to inform decisions made at all levels, though no particular set is guaranteed to win. This is already true with na- tional democracies. The fact that certain groups often conflict with majority opinion so their policy preferences are rejected does not stop these groups from existing. The preceding argument shows that there are many ways that cosmopolitan citizenship can exist through the transformation of or coexistence with national identity.

23 Miller, David: On Nationality, p. 43. 24 Cf. ibid., p. 44. 25 Ibid., p. 45. 26 Cf. Held, David: From City-States to Cosmopolitan Order?, p. 282.

Dis | kurs 13 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009

Ethics Making ethical judgments with preference for members of the national group over those outside is objectionable for those who recognize universal moral duties. Few, if any, of the major moral philosophies make deeper duties for those who we recognize as being more like us. For a utilitarian, for example, giving preference to a country- man over a foreigner is completely unjustified by the logic of producing the greatest happiness for the greatest number of people (John Stuart Mill). Miller boldly opposes the strong tradition of moral universalism by arguing that impartiality in applying norms does not require taking a universal perspective.27 First, moral universalism is implausible, according to Miller, because it supposes that people make moral deci- sions that go against their personal identities. This kind of mental bifurcation is not something people are normally capable of and it is unrealistic for moral theories to require it. This is not because of any flaw with universal moral codes; it is instead a statement about human thought. People naturally rank moral duties, and Miller actually thinks that this fact can be used to support his argument for national citi- zenship.28 Impartiality does not require universalism, only that each member of a given group is treated in the same way. Foreigners need not enter into the calculation because our moral judgments are usually focused on problems within a given group. Miller thinks that any recognition of group membership amounts to recognition of cer- tain rights to other group members that are not extended to outsiders. For every moral agent there is a hierarchy of loyalties extending from family and friends then to strangers in the national community and finally to those outside it. The nation is distinct because the precise character of the members’ obligations is indeterminate. Nevertheless, they are usually extended very far and the nation judged worth of loy- alty and sacrifice.29 This is very strange given that the obligations to the nation are to an almost completely unknown group of people who are only associated through the acceptance of a common identity. Three aspects of this line of argument need to be addressed. First: is the claim that special treatment is given to strangers with a common identity correct? Second: is this the most desirable and fair basis for making moral judgments? Finally: are we capable of making moral judgments without recourse to group preferences? The an- swer to the first is unclear, but the second and third should be answered with a no and a yes respectively. Regardless of how the first question is resolved we should not reject

27 Cf. Miller, David: On Nationality, p. 54. 28 Cf. ibid., p. 64. 29 Cf. ibid., p. 70.

14 Dis | kurs Politische Theorie universal codes of morality simply because they are harder to follow. In principle, Miller’s claim that the concept of nationality is constructed and without any intrinsic meaning is too weak to justify special treatment. Empirically special treatment is often given, but this does not mean that it is right to do so. Instead, this only shows a pervasive problem of individual moral judgment. It is true that preference is often given to people with whom we have close relation- ships. We are more loyal to family members and friends and often transgress uni- versal moral codes in order to help these people. However, it is much less clear that moral action based on nationality works in the same way. The special treatment of family and friends is the result of personal acquaintance with them, whereas, as Mill- er himself points out, the nation is an abstract idea that incorporates a body of people that is almost entirely unknown. People do fight wars in the interest of strangers, but this is not the only reason they fight. It remains to be shown that nationality is really a significant motivation. It is also questionable that people feel more moral obligation to strangers that have more in common with the agent. This seems like a plausible assumption, but an assumption nevertheless. The second difficulty is that many group identities cut across national boundaries. An individual American, for example, might feel a special loyalty to other citizens of The United States, but also unity with people from other countries on the basis of shared relation, language, religion, ethnicity, culture, gender etc. All preferential treatment based on these fits into Miller’s claim that we make moral choices with regard to group commonalities and though they are among the factors that draw na- tional lines, they also transcend them. There is not a single English speaking nation, nor a single Christian nation. Religious membership, in particular, is very strong and might have precedence over nationality when informing moral decisions. Self-Determination The final of the three key traits of nationality is creating the basis for self-determi- nation. Of the three traits, this is probably Miller’s weakest as he admits that self-de- termination of every nation is practically impossible. In practice, countries are more often multinational than national.30 It is difficult to identify many modern states of significant size that are composed of a single, unified nationality, though there is al- ways the possibility that the nation could be redefined to fit the state boundaries. It is only in very strong formulations of cosmopolitan citizenship, those which would abolish the nation-state for regional or global states, that self-determination is under- mined. The creation of a world-state would deprive certain groups of this ability, but in Held’s version the international government is only federal or confederal, which

30 Cf. ibid., p. 81.

Dis | kurs 15 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 would still give some amount of self-determination. In such a model of cosmopolitan government, self-determination is not a difficult goal for to meet in those cases where a given issue is only relevant at the national level. Nations would still be free to make up their own local rules. In most cases problems transcend national barriers and in such cases self-determination would be neglected by cosmopolitan citizenship in fa- vor of international cooperation. On such issues cosmopolitan citizenship fails to do the same work as national citizenship, but this is a strength rather than a weakness. To be democratic, decisions on international issues must be made by an international constituency. In Democracy and Its Critics Robert Dahl sets out five good criteria for determin- ing how democratic a government is. These are effective participation, equal voting rights at the decisive stage, enlightened understanding, control over the agenda, and the demos must be formed by all competent adults in the society.31 Achieving these should be the goal of every democratic polity and they show why national-self deter- mination should be superseded by international concerns when considering issues of broad relevance. When decisions are being made that reflect regional or international concern then the only way to meet these democratic criteria is with a more expansive model of citizenship. Global warming is a perfect example of such a problem. It is now almost universally acknowledged to be a major threat to human existence and one that must be solved immediately. It is caused by actions taken on a number of governmental levels, but enforcing a solution is left largely up to the nation-state or the conscientious ac- tions of individuals. One of the major difficulties in arriving at a solution is that some nation-states choose not to work with international organizations in solving the problem and some even have an incentive in continuing to be environmentally irresponsible. If national self determination is valued above a higher good of human preservation then the consequences could be catastrophic. The relevance of Dahl’s five criteria is that they show that even though most Western- ers accept the democratic process as the most effective way to solve problems, deci- sions at the international level are made in an undemocratic way. There is a conflict between our values and how we actually make policy decisions. There is no global demos that gets to participate in making international decisions, control the agenda, or vote at any stage. Decisions like those on global warming, which will have a huge impact on everyone’s lives, are left up to the whim of individual states pursuing their own self-interest. Establishing cosmopolitan citizenship would also bring with it the enlightened understanding that Dahl thinks is necessary for a democracy because it would show the importance of taking action on a larger scale than that of the nation-

31 Cf. Dahl, Robert: Democracy and its Critics. New Haven 1989.

16 Dis | kurs Politische Theorie state. The claims of self-determination are also often used in relation to a territorial claim that a nation has to a region. Anthony Smith makes the argument that na- tionalities have a connection to a specific area and this argument is one that Miller supports since for nationality to serve as the basis for citizenship, the nationality must be within the same state.32 The problem with this is that it assumes a relatively homogenous model of one nation per state and without nations residing in multiple locations. Held counters this emphasis on territory as the basis for claims to self-determina- tion by arguing that political communities very rarely exist as territorially bounded units.33 The power of the state transcends its own border and the border is also per- meated by the powers of other states. The relations of power operate in different net- works that are international or even global in scope. It is therefore illusory to think that any nation-state can have a high degree of self-determination, no matter how its citizenship is formed. Among the clearest instances of the breach of self-determination are those involv- ing military force. As Held says “autonomy can prevail in a political community if, and only if, it is unimpeded by threats arising from the action (or non-action) of other political communities”.34 At the national level autonomy is frequently subverted through the aggression of neighboring powers. A weaker state has no recourse in such situations but to be defeated or to appeal for help from other states. In other words, the only guarantor of autonomy when a strong state attacks a weaker one rests on the claim to a right to autonomy that transcends national barriers. Aggression makes self-determination difficult to maintain without an implicit claim to interna- tional rights. The only solution is to promote democratic law that operates within particular political communities and transcends them.35 Redistribution Although not one of the three primary arguments for nationality, the utility of na- tional loyalty in serving as the basis of redistributive policies is one of Miller’s stron- gest points. Arguments for the value of the nation often take a conservative direction, but Miller uses it to support the liberal welfare state. In order for redistributive social policies to work, he thinks, there must be a feeling of commonality between the citi- zens. Following this line of reasoning we can conclude that the more heterogeneous the society is, the harder it will be to enact redistributive policies because citizens will

32 Cf. Smith, Anthony: National Identity. 33 Cf. Held, David: From City-States to Cosmopolitan Order?, p. 225. 34 Ibid., p. 226. 35 Cf. Ibid., p. 226f.

Dis | kurs 17 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 feel less compassion toward each other. The key assumption is that group loyalty is enough to direct citizens toward higher goals than their own self-interest. As Thomas H. Marshall shows, social citizenship, the guarantee of adequate resourc- es to participate politically and in civil society, is a key dimension of citizenship in a liberal democracy.36 It ensures that there is a relatively equal distribution of economic resources; a necessary precondition for realizing the civil and political elements of citizenship because it lets citizens to operate autonomously. Among family members and friends acts of charity and help are common because the feeling obligation comes with the relationship and the personal contact. These charitable acts among acquain- tances are certainly insufficient to serve as a broad enough source of redistribution. However, extending these same feelings to a much larger group presents problems for those in favor of redistribution because there must be a motivation for giving. Miller’s argument depends on the premise that redistribution only works because of a feeling of group solidarity. If it were the case that redistribution is only supported out of self-interest, as in the case of someone who thinks that it is worth paying for others now in anticipation of future hardship where government help will be needed, then group membership becomes irrelevant. In this model the redistribution works like any kind of insurance which means that the agents involved care about being protected against loss rather than promoting a common good. Instead Miller thinks that there is an obligation felt toward other citizens that leads actors to support redis- tribution without regard to personal security alone. Charitable acts certainly extend far past national borders, but the cosmopolitan argument does not even need to ap- peal to this. Within a federal or confederal international order, redistribution could still take place within national boundaries or internationally. The point is that such a system is very flexible and can adapt to either mode. Even international redistribution does not present an insurmountable problem. The reason that national redistribution is accepted, according to Miller, is on the basis of group membership. If a constructed identity can have this much power, then reori- enting citizens to international membership should be able to achieve similar goals as long as it is constructed along similar lines as national identity was. Cosmopolitan- ism expands the scope of duties considerably, but it could still be established based on the same model of a consensually formed identity that is expanded into a moral community. If this provides a strong enough link to justify national welfare policies, regardless of the size of the nation, then expanding the group based on the same logic should not be problematic.

36 Cf. Marshall, Thomas H.: Citizenship and Social Class. Sociology at the Crossroads and Other Essays. London 1963.

18 Dis | kurs Politische Theorie

Conclusion In his concluding chapter Miller argues that nationality not only serves the various purposes which have already been described, but that it is also something that people are too attached to for any change. This charge is harder to answer in this context than the others because it is a more directly empirical claim. However, there is good reason to think that this is still incorrect. Throughout the twentieth century and into the twenty-first there has been mass immigration between countries and movement within then. This often comes with some price, though it still shows the extent of hu- man malleability. Miller’s definition of the nation depends on our ability to partially constitute ourselves through voluntary association in groups, and even though the nature of these groups may change, the way of establishing them remains the same. David Miller’s argument in On Nationality that citizenship based on nationality is necessary because it shapes individual identities, it creates a basis for morality, and it allows for national self-determination makes a strong case for the usefulness of the nation. In spite of the merits of this line of thinking, the conclusion is unjustified be- cause cosmopolitan citizenship is able to meet these goals. The only place where it is somewhat weak is on self-determination on policies with international significance, but in these cases it is undesirable for groups to make self-serving decisions at the expense of others.

Dis | kurs 19 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009

Politische Theorie

Der Trend zum Totalitären Herbert Marcuse und die Studentenbewegung

Stefanie Renatus Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Institut für Politikwissenschaft E-Mail: [email protected]

Schlüsselwörter Kritische Theorie, Neue Linke, Studentenbewegung, fortgeschrittene Industriegesellschaft, technologische Rationalität, Massen- und Kulturin- dustrie

Die 1960er Jahre gelten nahezu weltweit als ein bewegtes Jahrzehnt. Die Bürger- rechtsbewegung in den USA gipfelte im Tod von Malcom X und Martin Luther King. Der musikalische Höhepunkt der Hippie-Bewegung zeigte sich im Woodstock-Fes- tival. Der Kalte Krieg führte mit der Kuba Krise beinahe zu einem Dritten Welt- krieg. Die Deutsche Demokratische Republik errichtete die Mauer. Es bildete sich eine Außerparlamentarische Opposition in der Bundesrepublik Deutschland. Der Prager Frühling endete mit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes. In China kam es zur Kulturrevolution. Ernesto Che Guevara wurde ermordet. Der Viet- namkrieg führte zur Friedensbewegung und erheblichen Protesten in den USA und Westeuropa. Es bildete sich vor allem in den USA und Westeuropa eine Neue Linke. Es kam zu erheblichen Protesten, welche vor allem von Studenten getragen wurden und in den Universitäten ihren Ursprung hatten. In den westeuropäischen Ländern und den USA demonstrierten und protestierten Studenten gegen die konservative, vom Zweiten Weltkrieg geprägte Elterngeneration sowie gegen Hochschul-, Innen- und Außenpolitik. Viele von ihnen waren beeinflusst von der Neuen Linken. Die Neue Linke war von Strömungen verschiedener Parteien bzw. Parteiflügel, einzelnen Gruppen und politischen Bewegungen geprägt, welche von den Ideen individueller

20 Dis | kurs Politische Theorie und kollektiver Emanzipation, Gesellschafts- und Kulturkritik, kultureller und sozi- aler Revolution beeinflusst wurden. Verbunden wurden die verschiedenen Strömun- gen durch gesamtgesellschaftliche Utopien, welche in der Tradition der Sozialutopi- en von Saint-Simon, Fourier, Proudhon, Marx und Bakunin standen.1 „Man las Theodor W. Adorno, und Ernst Bloch, Herbert Marcuse und Jean-Paul Sartre, allesamt wichtige Denker des 20. Jahrhunderts […]. Soziologie und Philosophie waren die Leitwissenschaften dieser regelrechten Theoriesucht, die nicht selten zur Theorieg- läubigkeit wurde.“2 Die protestierenden Studenten fanden in den Aussagen der Kriti- schen Theorie der Frankfurter Schule eine Grundlage für ihre Kritik. Die Kritische Theorie stand in der Tradition der marxistischen Philosophie und ver- folgte eine kritische Überprüfung des Marxismus. Sie hatte das Ziel einzelne Katego- rien der marxistischen Vorstellungen zu aktualisieren und weiter zu entwickeln.3 Herbert Marcuse war einer der meist rezipierten Vertreter der Kritischen Theorie in den 1960er Jahren. Er wurde am 19. Juli 1898 in Berlin geboren und studierte neuere deutsche Geschichte, Philosophie und Nationalökonomie. Der Soziologe und Philo- soph floh 1933 vor den Nationalsozialisten nach Genf und konnte 1934 in die USA auswandern. Marcuse beantragte die amerikanische Staatsbürgerschaft und war für einige Zeit am Institut für Sozialforschung der Columbia University in New York angestellt. Lediglich für Fachvorträge und Vortragsreihen kam er für kurze Zeit nach Deutschland zurück. Er verstarb am 29. Juli 1979 in Starnberg.4 Sein Werk Der Ein- dimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft erschien 1964 in den USA und wurde 1967 auch in Deutschland veröffentlicht. Diese Schrift hat die Studenten in beiden Ländern in ihrer politischen, kulturellen sowie gesellschaftlichen Sichtweise inspiriert und ihnen die theoretischen Grundlagen für ihre Proteste geliefert.5 Nachfolgend wird anhand von Marcuses Überlegungen und kurzen Einschüben zur Situation der Studenten in Deutschland gezeigt, in wiefern Der eindimensionale Mensch die Denkweise der jungen Menschen widerspiegelte und beeinflusste. Dies

1 Hierzu ausführlicher vgl. Gilcher-Holtey, Ingrid: Die 68er Bewegung. Deutschland – Westeuropa – USA. München 32005, S. 11–17. 2 Mohr, Reinhard: Die Liebe zur Revolution. Vom Richtigen und Falschen. In: Cohn-Ben- dit, Daniel / Dammann, Rüdiger (Hrsg.): 1968. Die Revolte. Frankfurt am Main 2007, S. 19–46, hier S. 36. 3 Zur Kritischen Theorie und der neuen Linken vgl. Gilcher-Holtey, Ingrid: Eingreifendes Denken. Die Wirkungschancen von Intellektuellen. Weilerswist 2007, S. 163–183. 4 Vgl. Kailitz, Susanne: Von den Worten zu den Waffen. Frankfurter Schule, Studentenbe- wegung, RAF und die Gewaltfrage, Wiesbaden 2007, S. 91–92. 5 Vgl. Hecken, Thomas: 1968. Von Texten und Theorien aus einer euphorischen Zeit. Bielefeld 2008, S. 21.

Dis | kurs 21 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 wird mittels seiner Ausführungen zu den Auswirkungen des technischen Fortschritts auf die Gesellschaft, seinen Vorstellungen vom integrierten Proletariat und seinen Erläuterungen zur Situation der Entwicklungsländer dargestellt. Mein abschließen- des Fazit steht unter dem Gesichtspunkt der Aktualität Marcuses in der Gegenwart. Der Trend zum Totalitären Die Gesellschaftskritik, die Marcuse inDer eindimensionale Mensch formuliert, trifft Mitte bis Ende der 1960er Jahre auf die Zustimmung vieler Intelektueller und auf die Sympathie der Studenten. Dies ist zurückzuführen auf Marcuses Befund, dass selbst nach dem Nationalsozialismus weltweit der Trend zu einem totalitären Staat nicht endgültig verschwunden sei und die Kontrolle über die Gesellschaft nicht mehr durch offene Gewaltmittel ausgeübt werde. Anstelle dieser sei die allumfassende Kontrolle des technologisch-administrativen Apparates getreten.6 Ausgehend von der Unzufriedenheit der Studenten mit einer technokratischen Hochschulreform, der Kritik an den Notstandsgesetzen und die damit verbunden Protestaktionen muss Marcuses Gesellschaftskritik auf eine junge Generation, welche sich im Konflikt mit dem Althergebrachten befand, alarmierend und bestätigend gewirkt haben. Hinter Marcuses Kritik liegt der Gedanke an die Möglichkeit der Verbesserung der menschlichen Lebensumstände verborgen.7 Obwohl er als Vertreter der Neuen Lin- ken einen neuen Entwurf der sozialistischen Gesellschaftsordnung vor Augen hat, zielt seine Gesellschaftsanalyse nicht ausschließlich auf die westlichen kapitalisti- schen Gesellschaften ab, sondern tangiert auch die gesellschaftlichen Entwicklungen innerhalb der damaligen sozialistischen Staaten.8 Er kritisiert, dass die technischen Errungenschaften der fortgeschrittenen Industriegesellschaft nicht zum Wohl der Freiheit und Freizeit der Menschen eingesetzt werden, nämlich zum „[…] »Zweck« technologischer Rationalität […]“9. Stattdessen greift die Technik nicht nur in die Ar- beitswelt, sondern auch in die private und politische Sphäre ein. In der Form wie die fortgeschrittene Technologisierung die politische Macht so- wie die Wünsche und Bedürfnisse der Menschen beeinflusst, erkennt Marcuse den Trend zum Totalitären. „Denn »totalitär« ist nicht nur eine terroristische politische

6 Vgl. Hecken, Thomas: Von Texten und Theorien aus einer euphorischen Zeit, S. 21. 7 Zu Marcuses kritischer Theorie und Philosophie vgl. Jansohn, Heinz: Philosophische Be- gründung und der Absolutheitsanspruch in Marcses Gesellschaftskritik. In: Text+Kritik. Zeitschrift für Literatur. 98 (1988), S. 3–20. 8 Hierzu vgl. Reiche, Reimut: Der eindimensionale Mensch. In: Honneth, Axel / Institut für Sozialforschung (Hrsg.): Schlüsseltexte der kritischen Theorie. Wiesbaden 2006, S. 352–359, hier S. 352. 9 Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch. Studien zur fortgeschrittenen Indus- triegesellschaft, München 62008, S. 22–23.

22 Dis | kurs Politische Theorie

Gleichschaltung der Gesellschaft, sondern auch eine nicht-terroristische ökonomisch- technische , die sich in der Manipulation von Bedürfnissen durch alt- hergebrachte Interessen geltend macht.“10 Mit dem Tod des Studenten Benno Ohnesorg 1967 erreichten die Studentenproteste in Deutschland ihren Höhepunkt. Der totalitäre Charakter eines Staates, in dem ein Polizist einen Studenten erschießt, muss für die belesenen jungen Menschen offen- sichtlich gewesen sein.11 Marcuse geht davon aus, dass durch den Einfluss der Massenmedien und der Kultur- industrie12, welcher von politischen Institutionen und Parteien missbraucht werde, um die Individuen in ihrem Denken und Handeln – vor allem hinsichtlich des Kon- sums – zu beeinflussen, entstehe der eindimensionale Mensch bzw. die eindimensio- nale Gesellschaft. Unter der Begrifflichkeit der Eindimensionalität fasst Marcuse das Fehlen von pluralistischen sowie individuellen Gedanken und Handlungen inner- halb der Gesellschaft. Hierbei bewegte ihn besonders die Identifikation der Indivi- duen mit der gesamten Gesellschaft. In Folge dessen wirft er dem technologisierten und manipulativen Apparat vor, das Entstehen einer Opposition zu verhindern.13 Die politische Macht liege dort gebündelt, wo die Kontrolle über den Produktionsabläufe und den totalitären Apparat zusammenführe.14 Der technische Fortschritt, der sich auch in Deutschland durch die Massenmedien verkörperte, hat einen enormen Einfluss auf die Bevölkerung ausgeübt. Abgesehen von der Beeinflussung der jungen studentischen Generation durch die überkonti- nentale Verbreitung von Musik und medialen Bildern, welche die Studenten durch- aus genossen haben15, entsprangen der unkritischen Berichterstattung über den Viet- namkrieg seitens der Springer-Presse erhebliche Proteste. Denn die gesellschaftliche wie politische Macht und Manipulation, die ein Pressekonzern mit fast monopolarti- ger Aufstellung auf dem Markt ausübte, war für die Studenten schwer zu übersehen. Das integrierte Proletariat In seiner Gesellschaftskritik unterscheidet Marcuse zwischen richtigen und falschen Bedürfnissen. Wobei es sich bei den durch Massenmedien und der Konsumindustrie

10 Ebd., S. 23. 11 Ausführlicher zum Ablauf der verschiedenen Ereignissen vgl. Frei, Norbert: 1968. Ju- gendrevolte und globaler Protest. Bonn 2008, S. 77 – 130. 12 Angelehnt an Adornos und Horkheimers Ausführungen in Dialektik der Aufklärung. 13 Hierzu ausführlicher vgl. Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, S. 30. 14 Vgl. ebd., S. 23. 15 „Ohne die Rockmusik, die unglaubliche Energien und Phantasien freisetzte, wäre 1968 und alles, was damit zusammenhing, überhaupt nicht denkbar gewesen.“ Mohr, Rein- hard: Die Liebe zur Revolution, S. 23.

Dis | kurs 23 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 beeinflussten Wünschen und Bedürfnissen offensichtlich um die falschen handelt. Diese sogenannten falschen Bedürfnisse seien eine Anlehnung an Marx‘ Kategorie des „falschen Bewusstseins“. Marx bezieht sich jedoch noch auf die Klasse der „Un- terdrückten“ und „Unterworfenen“.16 Marcuse hingegen kann kein unterdrücktes Proletariat mehr ausmachen. Er nimmt die Integration der Arbeiter in den Kapi- talismus wahr. Diese Integration werde nicht nur durch die Manipulation zu einem falschen Bewusstsein hergestellt, sondern sei durch weitere Faktoren erkennbar. So produziere der manipulative Charakter der Kulturindustrie, welcher mit Hilfe der Massenmedien den Alltag durchdringe, ein „glückliches Bewusstsein“, dass nicht mehr in der Lage sei, die eigene Situation kritisch zu reflektieren. Auch sei durch den erhöhten Lebensstandard und die technologischen Fortschritte in der Arbeitswelt innerhalb der fortgeschrittenen Industriegesellschaft nicht mehr von einem Proleta- riat zu sprechen.17 Aufgrund und trotz der Kritik an der Instrumentalisierung der Technik sowie der Integration des Proletariats in die Gesellschaft, formuliert Marcuse folgende zwei Hypothesen hinsichtlich der Möglichkeit eines gesellschaftlichen Wandels: „1. dass die fortgeschrittene Industriegesellschaft imstande ist, eine qualitative Änderung für die absehbare Zukunft zu unterbinden; 2. daß Kräfte und Tendenzen vorhanden sind, die diese Eindämmung durchbrechen und die Gesellschaft sprengen können.“18 Marcuse betrachtet die Rationalität des technologischen Fortschritts als problema- tisch für die Manipulation der Gesellschaft. Mit der Manipulation begründet er die Unfreiheit der Menschen und ihre Unterwerfung unter den technischen Apparat.19 Die fortgeschrittene Industriegesellschaft stellt für ihn die irrationalste gesellschaft- liche Entwicklung dar, die zugleich in der Lage sei einen gesellschaftlichen Wan- del zu unterdrücken.20 Dennoch stellt für ihn die Vollendung der technologischen Wirklichkeit die Vorbedingung und rationale Grundlage für die gesellschaftliche Veränderung dar.21 Diese sei erreicht, wenn das Individuum durch den technischen

16 Vgl. Reiche, Reimut: Der eindimensionale Mensch, S. 353. 17 Vgl. Breuer, Stefan / König, Helmut: Realismus und Revolte. Zur Ambivalenz von Her- bert Marcuses Version der Kritischen Theorie. In: Text+Kritik. Zeitschrift für Literatur. 98 (1988), S. 21–43, hier S. 30. 18 Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, S. 17. 19 „In diesem Universum liefert die Technologie auch die große Rationalisierung der Unfreiheit des Menschen und beweist die »technische« Unmöglichkeit, autonom zu sein, sein Leben selbst zu bestimmen. Denn diese Unfreiheit erscheint weder als irrational noch als politisch, sondern als Unterwerfung unter den technischen Apparat, der die Bequemlichkeit des Lebens erweitert und die Arbeitsproduktivität erhöht.“ Ebd., S. 173. 20 Vgl. Brunkhorst, Hauke / Koch, Gertrud: Herbert Marcuse. Eine Einführung. Hamburg 1987, S. 84. 21 Hierzu vgl. Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, S. 242.

24 Dis | kurs Politische Theorie

Fortschritt die Freiheit von der Arbeit erlange und aufgrund dessen sein Leben ohne Zwang der Erwerbstätigkeit selbst bestimmen kann. Diese Bedingungen sind nach Marcuse in den 1960er Jahren bereits weitgehend vor- handen.22 Obwohl er kein Proletariat innerhalb der Gesellschaft erkennen kann, im- pliziert er mit seiner zweiten Hypothese, dass eine Revolution möglich, ja notwendig sei. „Die fortgeschrittene Industriegesellschaft nähert sich dem Stadium, wo weiterer Fortschritt den radikalen Umsturz der herrschenden Richtung und Organisation des Fortschritts erfordern würde.“ 23 Unter radikalem Umsturz versteht Marcuse auch die Bereitschaft der Anwendung von Gewalt, um einen gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen.24 Im Übrigen ergibt sich bei der Frage nach der Gewaltanwendung um einen gesell- schaftlichen Umbruch herbeizuführen interessanterweise eine Art Wechselwirkung zwischen Marcuse und den protestierenden Studenten. Hatten die theoriehungrigen Studenten das Gefühl theoretische Zusammenhänge verstehen zu wollen und die Welt daraufhin praktisch zu revolutionieren25, so konnten Marcuses Ausführungen als Grundlage dafür rezipiert werden. Im gleichen Zug radikalisierte sich Marcuses Ansicht über die Gewaltfrage, mit der Zunahme der oppositionellen Bestrebungen der Studenten in den USA und in der Bundesrepublik.26 Die Entwicklungsländer als Faktor der Revolution Der eindimensionale Mensch entstand vor dem Hintergrund der bipolaren Auftei- lung der Welt und der Einflussnahme der zwei Blöcke auf die Entwicklungsländer. Marcuse erkennt in den Entwicklungsländern die Möglichkeit einer „dritten Kraft“, welche zu einer relativ unabhängigen Macht werden könnte. Neben den westlichen und sozialistischen fortgeschrittenen Industriegesellschaf- ten würden vor- und antiindustrialisierte Kulturen existieren. Die Bevölkerung der Entwicklungsländer sei hinsichtlich der technologischen Rationalität noch un- erfahren. Das Streben nach Einfluss und Machtgewinn seitens der jeweiligen Blö- cke auf diese Länder sei offensichtlich. Marcuse entwickelt zu dieser Beobachtung drei Optionen. Einerseits formuliert er wie folgt: „[…] die rückständigen Gebiete

22 Zur falschen Nutzung der Möglichkeiten der Technik und der Optimierung der Produk- tionsplanung vgl. Hecken, Thomas: Von Texten und Theorien aus einer Zeit euphorisch- er Kritik, S. 24. 23 Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, S. 36. 24 Zur Frage der Gewalt bei Marcuse vgl. Kailitz, Susanne: Von den Worten zu den Waffen, S. 91–101. 25 Vgl. Mohr Reinhard: Die Liebe zur Revolution. Vom Richtigen und Falschen, S. 36. 26 Vgl. Kailitz, Susanne: Von den Worten zu den Waffen, S. 97.

Dis | kurs 25 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 werden wahrscheinlich entweder einer der verschiedenen Formen des Neokolonialis- mus unterliegen oder einem mehr oder weniger terroristischen System ursprünglicher Akkumulation.“ 27Andererseits erkennt er eine mögliche Alternative: den Widerstand der Entwicklungsländer gegenüber der Industrialisierung und Einführung der Tech- nik von außen. Ein sogenannter einheimischer Fortschritt erfordere eine Politik, die angepasst an die Traditionen sowie Lebens- und Arbeitsweisen der Bevölkerung der unterentwickelten Länder agiere. Als Vorbedingungen für diese Alternative gelten für Marcuse soziale Revolution, Agrarreform und die Abnahme der Überbevölke- rung.28 Problematisch an dieser Überlegung sind für ihn jedoch zwei Variablen. Ers- tens könne eine solche Revolution zur Abschaffung der Unterdrückung nicht spon- tan erfolgen und zweitens sei eine Veränderung der Politik der beiden Machtblöcke notwendig.29 Die Ausführungen Marcuses zu den Entwicklungsländern und dem Machtstreben der beiden Blöcke wurden auch von Studierenden in den USA und in Westeuropa unter anderem in den Kontext des Vietnamkrieges gestellt. Es ist Spekulation, ob die Studentenproteste gegen diesen Krieg nun teilweise aufgrund Marcuses Über- legungen angefacht wurden oder sich zumindest einige Studenten schlichtweg in ihrem Tun bestätigt sahen. Auf jeden Fall aber trifft Marcuse mit seinen Beschrei- bungen – nicht nur hinsichtlich der Entwicklungsländer – den Zeitgeist der pro- testierenden Studenten.30 So äußert er sich beispielsweise vor dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) hinsichtlich des Vietnamkrieges. „Er erklärt die Opposition gegen den Vietnamkrieg zur „moralischen Pflicht“ aller Dozenten und Stu- denten an den Universitäten der Bundesrepublik.“31 Wenn laut Marcuse eine Transformation der Gesellschaft nur durch das Zusammen- schließen der zwei Pole – „Privilegierte“ und „Unterprivilegierte“32 – zu einer Oppo- sition möglich sei und die Entwicklungsländer dabei eine erhebliche Rolle spiele, ist seine Argumentation für die protestierenden Studenten Ansporn und Bestätigung zugleich gewesen.

27 Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, S. 67. 28 Vgl. hierzu ebd. 29 Vgl. ebd, S. 68. 30 Zu weiteren Texten und Theorien in Bezug auf den Vietnamkrieg vgl. Hecken, Thomas: Von Texten und Theorien aus einer Zeit euphorischer Kritik, S. 24–29. 31 Gilcher-Holtey, Ingrid: Die 68er Bewegung, S. 39. 32 Zu den Privilegierten sind abgesehen von den Intellektuellen auch die Studenten zu zählen. Die Unterprivilegierten setzen sich aus Minoritäten, Randgruppen wie Arbeits- lose und Arbeitsunfähige und den Befreiungsbewegungen der Dritten Welt zusammen. Hierzu vgl. Gilcher-Holtey, Ingrid: Die 68er Bewegung, S. 54.

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Der eindimensionale Mensch der Gegenwart Die politische Situation, nämlich die bipolare Teilung der Welt in zwei Blöcke, auf welche sich Marcuses Werk bezieht, ist Geschichte. Aus diesem Grund ist die Bewer- tung seines Werkes seit 1989 kein leichtes Unterfangen. Sowohl das Auflösen des so- zialistischen Blocks als auch das Entstehen einer globalisierten Welt machen die Re- zeption von Marcuses Gesellschaftsanalyse und -kritik schwierig. Auch erscheinen die Veränderungen innerhalb der gesellschaftlichen Lebens- und Wertvorstellungen vor der Schablone seiner Ausführungen als problematisch. Dennoch haben seine Ausführungen zur Kritik an der Totalität der Technik und der Massenmedien nicht an Aktualität verloren. Im Zeitalter der Globalisierung und des Web 2.0, ist die Technik noch weit fortschrittlicher geworden als Marcuse es sich viel- leicht vorstellen konnte. Im Zuge dieses Fortschritts hat die Abhängigkeit der Men- schen zugenommen. Die Gesellschaftskritik vom eindimensionalen Menschen, der geprägt durch die Massenmedien nicht mehr in der Lage ist, die richtigen Bedürfnisse von den falschen zu unterscheiden, erscheint damit dramatischer denn je. „Der Pro- duktionsapparat und die Güter und Dienstleistungen, die er (der Produktionsapparat) hervorbring, »verkaufen« das soziale System als Ganzes oder setzen es durch. Die Mittel des Massentransports und der Massenkommunikation, die Gebrauchsgüter Wohnung, Nahrung, Kleidung, die unwiderstehliche Leistung der Unterhaltungs- und Nachrich- tenindustrie gehen mit verordneten Einstellungen und Gewohnheiten, mit geistigen und gefühlsmäßigen Reaktionen einher, die die Konsumenten mehr oder weniger angenehm an die Produzenten binden und vermittels dieser ans Ganze.“ 33 Das Fernsehgerät, wel- ches nur noch selten zum individuellen und pluralistischen Denken anregt, sondern nur die neusten „Bedürfnisse“ weckt, ist in der Gegenwart allgegenwärtig. Das Mo- biltelefon und das Internet scheinen die technischen Errungenschaften zu sein, auf welche die Menschen weltweit am wenigsten verzichten können. Kann der Student der Gegenwart sich vielleicht noch mobilem Telefonieren lossagen, aber an der Nut- zung des Computers und des Internets kommt er nicht vorbei. Nicht zu vergessen die Printmedien, welche zwar langsam an Bedeutung verlieren, aber sich dennoch zur Aufgabe gemacht haben, Meinungen zu bilden. Trotz des enormen technologischen Fortschritts ist die Arbeit immer noch ein Hauptbestandteil des menschlichen Lebens und hat an Relevanz zugenommen. Die Entwicklungsländer – eingebunden in der Globalisierung – werden nicht mehr von zwei unterschiedlichen Blöcken beeinflusst, sondern von der Staatengemeinschaft, je nach wirtschaftlicher oder sicherheitspolitischer Relevanz unterstützt bzw. gesi- chert.

33 Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, S. 33.

Dis | kurs 27 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009

Warum Marcuses Ausführungen heute nur noch für die Manipulation durch den technischen Fortschritt Gültigkeit haben, liegt daran, dass die sozialistische Ideologie den Kalten Krieg „verloren“ hat. Mit Ende der bipolaren Teilung der Welt hat auch die Anziehungskraft von Ideologien, von neuen Gesellschaftordnungen und revolu- tionären Umstürzen in weiten Teilen der Welt und unter den Studenten nachgelas- sen.34 Die Individuen haben sich in eine leistungs- und konsumorientierte Gesellschaft ein- gegliedert. Auch die Studenten verkörpern dieses Phänomen. Kaum ein Student de- monstriert gegen eine Verschulung und Technokratisierung der Hochschulen oder gegen Kriege, die in Entwicklungsländern geführt werden. Nur wenige Studenten beschäftigen sich mit alten oder neuen Theorien zu Gesellschaftsordnungen oder Träumen vom neuen Menschen. Obwohl Marcuse heute zumindest in Teilen noch aktuell und in jedem Fall lesenswert ist, würde er kaum einen Studenten so bewegen wie in den 1960er Jahren.

34 Ich bin mir im Klaren darüber, dass sich natürlich Organisationen wie ATTAC und Green- peace an einer nicht unerheblichen Mitgliederzahl erfreuen. Auch gibt es Bewegungen, die sich besonders der Umwelt und des ökologischen Lebens verschrieben haben. Jedoch kann nicht von einer Studentenbewegung gesprochen werden, welche sich einer bestimmten politischen Ideologie oder eines sozialen Umbruchs verschrieben hat.

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Innenpolitik

Rechtsextremismus in Deutschland Aktuelle Entwicklungen

Sven Schönfelder Universität Oldenburg, Institut für Sozialwissenschaften E-Mail: [email protected]

Schlüsselwörter Rechtsextremismus, Gewalt, Parteien, Wähler, Einstellungen

Die Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus stellt die Bundesrepublik Deutschland auch 60 Jahre nach ihrer Gründung vor eine politische und gesellschaft- liche Herausforderung, die sich für die freiheitliche Demokratie als eine Belastungs- probe erweist und deren Reichweite und Konsequenzen nur schwer abzuschätzen sind. Vor allem der in Parteien und anderen Gruppierungen organisierte Rechtextre- mismus hat in der Geschichte der Bundesrepublik unterschiedliche Entwicklungen durchlaufen und für ihn typische, mitunter durchaus erfolgreiche parlamentarische wie auch außerparlamentarische Strategievarianten und Verhaltensweisen (Formen des Auftretens) entwickelt, die ihm zeitweise und regional begrenzt einen gewissen Bedeutungszuwachs beschert haben. Als politisches, soziales und kulturelles Phäno- men gibt es dabei neben zyklisch wiederkehrenden Wahlerfolgen auch immer wie- der Wellen der rechtsextrem motivierten Gewalt.1

1 Der organisierte Rechtsextremismus entwickelt sich nach 1945 in mehreren Phasen: In der ersten Phase (1945-1961) ist ein vergleichsweise hoher Organisationsgrad zu erken- nen, der aber rasch abnimmt. Hinzu kommen einige regionale Wahlerfolge der SRP, die 1952 wegen ihrer offenen Bezugnahme auf die NSDAP verboten wird. Die zweite Phase (1962-1982) ist in den sechziger Jahren durch den politischen Aufstieg der 1964 gegrün-

Dis | kurs 29 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009

Der Zusammenhang von Rechtsextremismus, Gewalt und Demokratiegefährdung stand Anfang der neunziger Jahre weitgehend im Mittelpunkt der politischen, öffent- lichen und wissenschaftlichen Debatten. Nachdem jedoch die Gewaltwelle der Jahre 1991/92 abgeebbt und der organisierte Rechtsextremismus im Wählerzuspruch ver- loren hatte, war das Thema in der öffentlichen Diskussion kaum noch präsent. Das änderte sich allerdings mit den wieder steigenden Zahlen rechtsextrem motivierter Straf- und Gewalttaten ab 1995 sowie mit den Erfolgen der Republikaner bei den Kommunalwahlen 1997 in Hessen und dem hohen Wählerzuspruch für die DVU bei der Landtagswahl 1998 in Sachsen-Anhalt. In den letzten Jahren ist es vor allem die NPD, deren Einzug in die Landtage von Sachsen (2004, 2009) und Mecklenburg- Vorpommern (2006) ein politischer Aufwind für die extreme Rechte bedeutet. So- wohl der NPD als auch anderen rechtsextremen Gruppierungen, wie z. B. den „Frei- en Kameradschaften“, scheint es dabei gelungen zu sein, vorrangig in den ländlichen, strukturschwachen Regionen Ostdeutschlands politisch wie auch ideologisch „Fuß zu fassen“ und sich dort über den Status einer reinen Protestorganisation hinaus zu etablieren. Die Frage nach einer angemessenen wie ebenso wirkungsvollen politischen und ar- gumentativen Auseinandersetzung mit der extremen Rechten steht seit den Wahl- erfolgen der NPD und mit dem provokativen Verhalten ihrer beiden Landtagsfrak- tionen, aber auch infolge des gescheiterten NPD-Verbotsverfahrens und mit der Forderung nach einem erneuten Verbotsantrag wieder verstärkt in der öffentlichen Diskussion. In einem solchen Suchprozess kann der Blick auf ein aktuelles Lagebild des gesamtdeutschen Rechtsextremismus hilfreich sein, um Entwicklungen, Tenden- zen und Potentiale zu erkennen und um Hinweise für mögliche Umgangs- und Ge-

deten NPD (und deren Abstieg nach der verlorenen Bundestagswahl 1969) sowie in den siebziger Jahren durch Provokation und zunehmende Militanz sowie durch die Gründung von sog. Wehrsportgruppen und der DVU (1971 als Verein, 1987/88 als Partei) geprägt. In der dritten Phase (1983-1990) sind es vor allem die Wahlerfolge der 1983 gegründe- ten Republikaner (in West-Berlin und bei der Europawahl 1989), die mit einem Anstieg der Mitgliederzahlen im rechtsextremen Lager einhergehen. In der vierten, gesamtdeut- schen Phase (ab 1990) stehen neben einer Zunahme an Gewalttaten gegen Ausländer und Asylbewerber (u. a. in Hoyerswerda 1991 und in Rostock-Lichtenhagen 1992) auch die Wahlerfolge der DVU in Sachsen-Anhalt (1998) und Brandenburg (1999, 2004) sowie der Einzug der NPD in die Landtage von Sachsen (2004, 2009) und Mecklenburg- Vorpommern (2006). Die Mitgliederzahlen erreichen ihren (bisherigen) Höhepunkt im Jahr 1993 mit ca. 65.000 Personen. Ein überdurchschnittlicher Organisationsgrad in den neuen Bundesländern, die wiederholten Wahlerfolge auf kommunaler und Länderebene sowie das erhöhte Einstellungspotential in der Bevölkerung führen in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre zu einer Gewichtsverlagerung rechtsextremer Organisationen und Orientierungen von West nach Ost (Stöss, Richard: Rechtsextremismus im Wandel. Ber- lin 2005, S. 75ff., 113ff.; Jaschke, Hans-Gerd: Politischer Extremismus. Wiesbaden 2006, S. 77ff.).

30 Dis | kurs Innenpolitik genstrategien zu erhalten.2 Es sind dabei fünf zentrale Entwicklungsdimensionen zu benennen, mit denen sich die demokratische Kultur und Zivilgesellschaft sowie die rechtsstaatlichen Institutionen der Bundesrepublik derzeit und wohl auch zukünftig auseinandersetzen müssen. Erste Dimension: Rechtsextrem motivierte Straf- und Gewalttaten In der Bundesrepublik hat man sich seit der deutschen Wiedervereinigung – bei allen zeitlichen Schwankungen und notwendigen Differenzierungen – geradezu an eine alltägliche fremdenfeindliche und rassistische (Bereitschaft zur) Gewalt und an die Allgegenwart unkontrollierter, destruktiver Aggression von Einzelnen oder Gruppen gewöhnt und sich auf sie eingestellt. Dies gilt für Delikte wie Propaganda, Randale, Überfälle, Schlägereien, Anschläge, Schändungen von Friedhöfen, Schmierereien und auch Mord(versuche), die insbesondere von militanten und gewaltbereiten ju- gendlichen Cliquen ausgehen, von vorwiegend männlichen Tätern aus der rechtsex- trem organisierten Nazi- und Skinhead-Szene, aus den stark ideologisierten „Freien Kameradschaften“ oder aus den eher lose organisierten Gruppierungen der „Auto- nomen Nationalisten“. Hier kann durchaus von einem Gewöhnungs- und Norma- lisierungsprozess3 gesprochen werden, der nur noch in (öffentlichkeitswirksamen) Ausnahmefällen von einer politisch-moralischen Empörung und gesellschaftlichen Gegenwehr durchbrochen wird.4 Die Verfassungsschutzberichte des Bundes und der Länder belegen jedenfalls, dass die Anzahl der „politisch rechts motivierten Straf- und Gewalttaten mit extremisti- schem Hintergrund“ (so die offizielle Bezeichnung) deutlich zugenommen hat. Die aktuellen Zahlen des Bundesinnenministeriums zeigen für 2008 eine im Vergleich zum Vorjahr starke Zunahme rechtsextrem motivierter Gewalttaten um gut 6 Pro- zent auf 1.042 (2007: 980) bei einer gleichzeitig um fast 16 Prozent gestiegenen Ge- samtzahl von 19.894 (2007: 17.176) Straftaten bundesweit. Bezogen auf das Jahr 2003

2 Hafeneger, Benno / Schönfelder, Sven: Politische Strategien gegen die extreme Rechte in Parlamenten. Folgen für kommunale Politik und lokale Demokratie. Berlin 2007; Begrich, Pascal / Weber, Thomas: Zwei Jahre NPD-Vertreter/innen in den Kreistagen Sachsen-Anhalts. Ein Forschungsbericht. Magdeburg 2009; Bogitzky, Jenny / Buch- stein, Hubertus / Heil, Torsten: Kein Platz für Rechtsextremisten in Kommunalparlamen- ten. Greifswald 2009. 3 Reif-Spirek, Peter: Der Rechtsextremismus und das Sommerloch. In: Journal der Ju- gendkulturen, Heft 3 (2000), S. 27–36, hier S. 28; Pfeiffer, Thomas u. a.: Vom Aufstand der anständigen Presse. In: Butterwegge, Christoph u.a.: Themen der Rechten – The- men der Mitte. Opladen 2002, S. 267–288. 4 Ein Beispiel hierfür ist die Hetzjagd auf eine Gruppe von Indern im sächsischen Mügeln vom August 2008, die eine verstärkte Reaktion in Politik, Medien und Öffentlichkeit nach sich zog.

Dis | kurs 31 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 fällt der Anstieg mit 37 Prozent bei den Gewalttaten (759) und 84 Prozent bei allen Straftaten (10.792) noch deutlicher aus.5 Der Anteil der Gewalttaten an der Gesamt- zahl rechtsextrem motivierter Straftaten lag 2008 wie schon im Vorjahr bei ungefähr 5 Prozent und ist damit gegenüber 7 Prozent im Jahr 2003 leicht zurückgegangen.6 Unter den „politisch rechts motivierten Gewalttaten mit extremistischem Hintergrund“ fallen im aktuellen Berichtszeitraum 2 Tötungsdelikte, 4 versuchte Tötungsdelikte, 893 Körperverletzungen, 29 Brandstiftungen, 46 Fälle von Landfriedensbruch, 4 gefährliche Eingriffe in den Bahn-, Luft-, Schiffs- oder Straßenverkehr, 1 Freiheits- beraubung, 10 Fälle von Raub und 6 von Erpressung sowie 47 Widerstandsdelikte. Die sonstigen Straftaten setzen sich vor allem aus Sachbeschädigungen (1.197), Pro- pagandadelikten (14.262) und Straftaten wie insbesondere Volksverhetzung (3.217) zusammen.7 Die Zahl der gewaltbereiten Personen (vor allem Skinheads und auch Personen, die bereits die Anwendung von Gewalt befürworten) wird mit 9.500 (ge- genüber 10.000 im Jahr 2007) angegeben; im Jahr 1995 waren es noch 6.200 Personen. Blickt man auf die regionale Verteilung der Gewalttaten mit rechtsextremistischen Hintergrund innerhalb der Bundesrepublik, dann lag der Schwerpunkt im Jahr 2008 – bezogen auf Gewalttaten je 100.000 Einwohner – in den neuen Bundesländern und in den beiden großen Stadtstaaten: An der Spitze liegt der Vorjahreszweite Sachsen- Anhalt (4,15), gefolgt von Sachsen (2,99) und dem Vorjahresspitzenreiter Branden- burg (2,80) zusammen mit Thüringen (2,80), mit etwas Abstand folgen Hamburg (2,54), Mecklenburg-Vorpommern (2,50) und Berlin (2,28).8 Zweite Dimension: Politischer Aufwind und Wählerpotential Die Geschichte rechtsextremer Parteien bei Kommunal- und Landtagswahlen in der Bundesrepublik ist von einem ständigen „Auf und Ab“ gekennzeichnet. Zu ihren Erfolgen – d.h. ihrem wiederholten Einzug in Parlamente – haben spezifische, zeit- bezogene Konstellationen und Faktoren beigetragen. Dazu zählen gesellschaftliche Krisenentwicklungen, eine popularisierende und radikalisierende „Aufladung“ von politischen Streitthemen und Kontroversen, von Stimmungen und Unsicherheiten in Teilen der Bevölkerung sowie die erfolgreiche Mobilisierung ihres Wählerpotentials durch „zugkräftige“ Akteure im recht(sextrem)en Lager (erinnert sei an Populisten wie Franz Schönhuber oder Ronald Schill). Nach den Wahlerfolgen der Republikaner in den achtziger und neunziger Jahren mit hohen Quoten auf kommunaler Ebene in

5 Aufgrund des zum 1. Januar 2001 neu eingeführten Definitionssystems „Politisch moti- vierte Kriminalität“ ist der unmittelbare Vergleich mit älteren Daten nicht möglich. 6 Bundesministerium des Innern (BMI): Verfassungsschutzbericht 2008. Berlin 2009, S. 27f.; BMI: VS-Bericht 2004. Berlin 2005, S. 39f. 7 BMI: VS-Bericht 2008. Berlin 2009, S. 28. 8 BMI: VS-Bericht 2008. Berlin 2009, S. 36.

32 Dis | kurs Innenpolitik

Bayern, Baden-Württemberg und Hessen von mancherorts über 20 Prozent sind es seit einigen Jahren die Resultate von NPD und DVU bei Kommunal- und Landtags- wahlen in Ostdeutschland, die gezeigt haben, dass es nicht nur, aber doch vorrangig in den neuen Bundesländern ein entsprechendes Wählerpotential für fremdenfeind- liche, demokratiekritische und (neo)nazistisch-völkische Politikkonzepte gibt. Das bis heute beste Landtagswahlergebnis einer rechtsextremen Partei verbuchte die DVU im Jahr 1998 in Sachsen-Anhalt. Die Mobilisierung von politischer Unzufrie- denheit und fremdenfeindlichen Haltungen in der Bevölkerung bescherte der Partei ein zweistelliges Wahlergebnis von fast dreizehn Prozent (12,9%), das sie allerdings politisch weder nutzen noch konservieren konnte. Ein Jahr später gelang der DVU mit 5,3 Prozent auch der Sprung in den Brandenburger Landtag; bei der Wahl 2004 gelang ihr – sogar mit leichtem Zugewinn von fast einem Prozentpunkt (+0,8%) – die Wiederholung dieses Erfolges. Die NPD konnte 2004 in Sachsen mit einem offensiv bis aggressiv ausgerichteten Wahlkampf gegen die Sozialreformen der rot- grünen Bundesregierung einen Stimmenanteil von 9,2 Prozent für sich verbuchen und schaffte mit 5,6 Prozent bei der Wahl 2009 erstmals in ihrer Geschichte den Wiedereinzug in ein Landesparlament, wenn auch mit deutlichen Verlusten. Im Jahr 2006 erreichte die NPD in Mecklenburg-Vorpommern einen Stimmenanteil von 7,3 Prozent, und obwohl sie nicht flächendeckend angetreten war, kam die Partei bei den Kommunalwahlen 2009 landesweit auf immerhin 3,2 Prozent (+0,8% gegenüber dem Jahr 2004). Die mitunter deutlichen Resultate jenseits der Fünf-Prozent-Hürde lassen vermuten (und darauf deuten auch die Wahlanalysen von Infratest dimap9 und der Forschungsgruppe Wahlen10 hin), dass es der NPD gelungen ist, „Wähler- und Mitgliedergruppen sowohl der rechtsextremen Subkulturen als auch der demokra- tischen Mehrheitskultur“11 anzusprechen und für sich zu mobilisieren. Die extreme Rechte – federführend die NPD – sieht sich daher seit geraumer Zeit im politischen Aufwind und bezüglich ihrer Selbstwahrnehmung und Selbstein- schätzung in einer vermeintlichen „nationalen Aufbruchstimmung“, d.h. weg vom Verlierer- und Outlawimage, raus aus dem Nischendasein.12 Vor dem Hintergrund tiefgreifender wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Probleme und Umbruchpro-

9 Infratest dimap: Analyse der Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg am 19. Sep- tember 2004. Ein Debakel für die Großen. Berlin 2004. 10 Forschungsgruppe Wahlen e. V.: Landtagwahlen in Sachsen und Brandenburg, 19. Sep- tember 2004: NPD und DVU. Mannheim 2004. 11 Vgl. Backes, Uwe: Extremismus und Populismus von rechts. Ein Vergleich auf europäi- scher Ebene. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B46-47 (1990), S. 3-14, hier S. 13. 12 Hier kommt die Vision einer „rechten Volksfront“ zum Tragen, wie sie von NPD-Funkti- onären immer wieder beschworen wird, wenn auch bisher ohne Erfolg. Der mittlerweile gescheiterte „Deutschland-Pakt“ zwischen NPD und DVU sollte dazu beitragen, diese Vision zu realisieren.

Dis | kurs 33 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 zesse, die sich häufig mit materieller, sozialer und auch emotionaler Ausgrenzung und Verunsicherung sowie mit (drohender) Arbeitslosigkeit und Abstiegsängsten verbinden, sieht die extreme Rechte vielversprechende Mobilisierungschancen für ihre simplen und komplexitätsreduzierenden, nationalisierenden und ethnisieren- den Interpretations- und Lösungsangebote, die eine beruhigende Überschaubarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse verheißen und die (nicht mehr nur) bei Teilen der unteren sozialen Schichten eine Sehnsucht nach Halt und Geborgenheit bedienen. Die angesprochenen Problemlagen und Stimmungen in der Gesellschaft, die vielfäl- tigen Unzufriedenheiten und Unsicherheiten, die Zukunftsängste und Mentalitäts- bestände in größeren Teilen der Bevölkerung lassen die extreme Rechte zunehmend selbstbewusst(er) auftreten. Sie versucht – bisher durchaus erfolgreich – mit ihren rhetorischen Figuren, ihren propagandistischen Parolen und populistischen Meta- phern dieses Potential wahltaktisch auf „ihre Mühlen“ und Stimmzettel zu lenken. Mit ihren Themen und Antworten sehen sich die Rechtsextremen im bundesdeut- schen – vor allem im ostdeutschen – Alltag in der „Mitte der Gesellschaft“ ange- kommen und werden von einem Teil der Bevölkerung als potentielle Wahlalternati- ve positiv wahrgenommen und akzeptiert. Neuere wissenschaftliche Studien zeigen hier in der Tat eine breite Resonanz und Akzeptanz rechtspopulistischer wie auch rechtsextremer Einstellungen.13 Die eigene Analyse repräsentativer Umfragedaten aus dem Jahr 2003, die im Rahmen des an der Universität Bielefeld durchgeführten Projekts „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ erhoben wurden, verweist auf ein autoritär-nationalistisches Einstellungspotential aus Law-and-Order-Forderungen, Fremdenfeindlichkeit, Etabliertenvorrechten und sekundärem Antisemitismus von 19,4 Prozent in der deutschen Bevölkerung, das damit ein breites Reservoir zur Mo- bilisierung durch alte und neue Rechtsparteien darstellt und das im Osten mit 24,5 Prozent signifikant höher ausfällt als im Westen mit 18,1 Prozent.14 Dritte Dimension: Kooperations- und Integrationsbemühungen Die Mitgliederzahlen im rechtsextremen Lager (inklusive politischer Parteien und anderer Gruppierungen) haben sich laut Verfassungsschutzbericht 2008 leicht ver- ändert. Danach gab es in der Bundesrepublik 156 rechtsextremistische Organisatio- nen und Personenzusammenschlüsse, während es im Jahr 2007 noch 180 waren. Die Gesamtsumme ihrer Mitglieder sowie der nichtorganisierten Rechtsextremen liegt

13 Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.): Deutsche Zustände. Folgen 1–7. Frankfurt/Main 2002– 2009; Stöss, Richard: Rechtsextremismus im Wandel. Berlin 2005; Decker, Oliver / Brähler, Elmar: Bewegung in der Mitte. Berlin 2008. 14 Schönfelder, Sven: Rechtspopulismus. Teil Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Schwalbach/Ts. 2008, S. 93f.

34 Dis | kurs Innenpolitik aktuell mit 30.000 etwas unter der Zahl des Vorjahres (31.000).15 Davon gehören der NPD rund 7.000, ihrer Nachwuchsorganisation, den „Jungen Nationaldemokraten (JN)“, rund 400 Personen an; rückblickend auf 5.000 Mitglieder im Jahr 2003 konnte sich die NPD also deutlich steigern.16 Die DVU hat dagegen im Vergleich zum Jahr 1999 fast zwei Drittel Ihrer Mitglieder verloren und kommt aktuell auf 6.000 von ehemals 17.000 Personen.17 Die Republikaner werden mittlerweile vom Bundesamt und mehreren Landesämtern für Verfassungsschutz nicht mehr als „rechtsextremis- tisch“ eingestuft und sind seit 2007 nicht mehr in der bundes- und landesamtlichen Beobachtung; zuletzt kam die Partei laut Verfassungsschutzbericht 2006 auf eine Mitgliederzahl von rund 6.000 Personen (gegenüber 14.000 im Jahr 1999).18 Neben diesen Zahlen sind weitere Veränderungen im rechtsextremen Lager zu beobachten, die auf eine Restrukturierung, einen „nationalen Aufbruch“ und pers- pektivisch – so jedenfalls die Hoffnung einiger Propagandisten der Szene – auf die Bildung einer „rechten Volksfront“ oder alternativ auf die Gründung einer neuen, vereinheitlichten Rechtspartei abzielen. Diese Forderungen sind nicht neu, bisher aber immer an ideologischen Differenzen und Streitigkeiten über die führende Rol- le innerhalb des rechtsextremen Lagers und aufgrund personeller wie persönlicher Animositäten gescheitet. So wurde der im Jahr 2005 zwischen NPD und DVU ver- einbarte „Deutschland-Pakt“, der vorsah, dass beide Parteien bis Ende 2009 nicht bei Landtags-, Bundes- oder Europawahlen gegeneinander antreten sollten, am 27. Juni 2009 wieder aufgekündigt, nachdem sich die NPD wiederholt nicht an diese Abma- chung gehalten hatte. Es bleibt auch abzuwarten, ob die Absprachen, Kooperationen und Arbeitsteilungen zwischen der NPD und der rechtsextremen aktionsorientierten Szene (den „Freien Kameradschaften“ und diversen neonazistischen Kleingruppen) wirklich tragfähig sind. Darüber hinaus hat der NPD-Sonderparteitag vom April 2009 gezeigt, dass die Partei sowohl inhaltlich und strategisch als auch personell kei- neswegs geschlossen dasteht, wie die innerparteilichen Machtkämpfe (insbesondere der mächtigen Fraktionen aus Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern mit der Par- teispitze) belegen. Eine Entwicklung hin zu einer parteipolitisch gebundenen rechts- extremen oder rechtspopulistischen Sammlungsbewegung mit „charismatischen Führern“ (wie in Österreich oder Italien) ist jedenfalls nicht in Sicht. Ferner bleibt offen, ob die NPD den Spagat zwischen aggressiv-neonazistischer und deutschnati- onaler Partei schafft, um damit in ein erweitertes Wählerspektrum hineinreichen zu können.

15 BMI: VS-Bericht 2008. Berlin 2009, S. 52. 16 BMI: VS-Bericht 2004. Berlin 2005, S. 61; BMI: VS-Bericht 2008. Berlin 2009, S. 64, 88. 17 BMI: VS-Bericht 2000. Berlin 2001, S. 77; BMI: VS-Bericht 2008. Berlin 2009, S. 90. 18 BMI: VS-Bericht 2000. Berlin 2001, S. 88; BMI: VS-Bericht 2006. Berlin 2007, S. 52; BMI: VS-Bericht 2007. Berlin 2008, S. 52.

Dis | kurs 35 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009

Vierte Dimension: Erneuerung und Modernisierung Innerhalb des rechtsextremen Lagers haben unverrückbare ideologische Weltan- schauungen bis heute Bestand, dennoch gab es in den vergangenen Jahrzehnten auch immer wieder programmatische, organisatorische und personelle Veränderungen bzw. Erneuerungen. Thematisch geht es jedoch nach wie vor um den„Identitäts-, In- klusions- und Exklusionsdiskurs“, der auf die Unterscheidung zwischen der (ethnisch definierten) Eigengruppe und einer oder mehreren Fremdgruppen abzielt (Wir und die Anderen, wer gehört zu uns und wer nicht). Die Mobilisierungsthemen und die dazu gehörende Rhetorik zentrieren sich seit Mitte der neunziger Jahre vor allem um vier Kerne:19 Erstens: Die Ethnisierung der sozialen Frage. Diese ist gekennzeichnet durch eine Selbststilisierung als „national und sozial“, als Organisator von Sozialprotest; ferner geht es um die Selbstinszenierung als „Vertreter der deutschen Interessen“ und als „An- walt der kleinen Leute“, welche sich nach Meinung der extremen Rechten „betrogen und zu kurz gekommen fühlen“. Zweitens: Demokratie- und Systemkritik soll die Parteien-, Politik- und Demokratie- verdrossenheit in großen Teilen der Bevölkerung aufnehmen und funktionalisieren; es gehen hiermit oftmals Forderungen nach einem autoritären, vormundschaftlichen und fürsorglichen Staat sowie die ideologische Metapher der nationalen, sozialen und kulturellen „Schicksalsgemeinschaft“ einher. Drittens: Fremden- und Ausländerfeindlichkeit zielt auf die Bindung und Mobilisie- rung von Vorurteilen, Mentalitäten und Schuldzuweisungen, die in Teilen der Bevöl- kerung vorzufinden sind und die dort häufig keine Einzelmeinung darstellen. Auch die Themen Kriminalität und innere Sicherheit werden hier in fremdenfeindliche, rassistische Ressentiments mit eingebunden. Viertens: Völkisches Denken, ausgeprägter Nationalismus und offener Rassismus so- wie Antisemitismus und Antiamerikanismus sollen nationale Tabubrüche und eine breite öffentliche Wahrnehmung erzeugen. Verbunden mit der Verharmlosung und Relativierung der NS-Zeit und der Kriegsschuld werden hierbei Täter und Opfer neu konstelliert und instrumentalisiert. Die Ethnisierung von Ängsten und Problemen macht aus der sozialen eine nationale Frage, deren Ziel es ist, ein „Klima“ der gesellschaftlichen Akzeptanz für national bzw. nationalistisch (um)gedeutete soziale Inhalte zu schaffen. Ausländer, Asylbewerber und „Fremde“ werden als „Sozialschmarotzer“ diffamiert und in populistischer Agi-

19 Hafeneger, Benno: Die extreme Rechte – neuere Entwicklungen und Strategievarian- ten. In: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.): Demokratische Strategien zur Bekämpfung des Rechtsextremismus. Bonn 2005, S. 29–37, hier S. 31.

36 Dis | kurs Innenpolitik tation zu Schuldigen von strukturell verursachten Problemlagen und Krisen erklärt. Materielle Abstiegsängste, gefährdeter Wohlstand, hohe Arbeitslosigkeit, bezahlbare Wohnungen und sozialstaatliche Leistungen geraten auf diese Weise in den Vorder- grund des Themenhaushalts. Zudem wird Einwanderungs- und Integrationspolitik mit einer angeblichen Gefährdung der „inneren Ordnung und Sicherheit“ gleichge- setzt, indem Ausländer und Asylbewerber pauschal für steigende Kriminalität und Gewalt verantwortlich gemacht werden. Dem folgt der Ruf nach staatlicher Härte (in Form von Gesetzen) und der Durchsetzung einer rigiden Ausländer- und Asylpo- litik, von Sauberkeit und Ordnung gegen den angeblichen kulturellen „Verfall“ und „Niedergang“ des deutschen – homogen postulierten – Volkes bzw. der deutschen „Schutz- und Schicksalsgemeinschaft“. In den letzten Jahren hat die Erneuerung des rechtsextremen Lagers auch und ins- besondere auf der organisatorischen und personellen Ebene stattgefunden, weil hier eine junge Generation nachgewachsen ist, die Merkmale mitbringt, die es bisher bei den Akteuren der extremen Rechten nicht gegeben hat. Neben ihrer politischen Ka- dersozialisation kommen viele jüngere Funktionäre und Akteure sowohl beruflich als auch sozial aus der bürgerlichen „Mitte der Gesellschaft“, auf die sie mit ihrer Öffent- lichkeitsoffensive verstärkt zielen. Führende Akteure sind zugleich gesellschaftlich etabliert, bürgerlich angepasst und äußerlich adrett, aber auch aggressiv-kämpferisch und militant-provokativ. Als neuer, selbstbewusster und geschult-professionalisierter Funktionärstypus beherrschen sie neben dem „stillen“, „inkompetenten“ und „faulen“ Funktionärstyp (den es nach wie vor gibt) vor allem die innerparteiliche Bühne der extremen Rechten. Sie treten (bisher) geschlossen und diszipliniert auf, sind in Par- lamenten vertreten und beherrschen (bisher) formal korrekt, fleißig und rhetorisch bzw. instrumentalisierend den parlamentarischen Betrieb; sie besetzen lokale und landespolitische Themen, stellen Fragen und debattieren mit. Die den Rechtsextre- men über lange Zeit zugewiesene Formel „rechts und dumm“ trägt hier nicht mehr und führt dazu, dass auch die Umgangs- und Gegenstrategien in der parlamentari- schen wie außerparlamentarischen Auseinandersetzung mit der extremen Rechten neu ausgerichtet und entsprechend der Situation vor Ort angepasst werden müssen. Fünfte Dimension: Präsenz und Radikalisierung Durch die Entwicklung von Organisation und Vernetzung, durch die öffentliche Prä- senz in Parlamenten und im Alltag sowie durch die Einrichtung von Treffpunkten und Schulungszentren ist es der extremen Rechten gelungen, lokal und regional – vor allem in den östlichen Bundesländern – als konkrete Akteure aufzutreten und kommunikationsstrategische Kompetenz zu gewinnen.20 Sie sind vielerorts – gerade

20 Staud, Toralf: Moderne Nazis. Die neuen Rechten und der Aufstieg der NPD. Köln 2005;

Dis | kurs 37 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 in ländlichen Gegenden – im sogenannten vorpolitischen Raum weniger als Partei- en denn als „Kameradschaften“ öffentlich wahrnehmbar; sie besetzen Themen und bringen ihre Agitation „an den Mann“; mit einem hohen Konformitätsdruck binden sie in einigen ostdeutschen Orten und Regionen ein sympathisierendes Umfeld, das sie vor allem in der jungen Generation finden.21 Die Analyse der Landtagswahlen von 2004 in Brandenburg und Sachsen zeigt nach einer Untersuchung von Infratest dimap, dass die rechtsextremen Parteien „erheblichen Zulauf unter Erstwählern und hier wiederum unter jungen Männern [fanden]. Die DVU erreichte in Brandenburg jeden sechsten männlichen Wähler zwischen 18 und 21 Jahren, die NPD in Sachsen sogar jeden Vierten.“22 Das Wahlverhalten der jungen Männer und vor allem das derjenigen aus den unte- ren sozialen Schichten und bildungsfernen Elternhäusern ist nicht nur ein Protest- wählerverhalten, sondern geht einher mit breiten Gesinnungen und einer gelebten rechtsextremen Subkultur. Vorrangig in den östlichen Bundesländern hat sich eine Jugendkultur entwickelt und verfestigt, die ihre perspektivlosen wie ereignisarmen Lebensverhältnisse und ihre „verbitterten“ Befindlichkeiten an Mentalitäten von Fremdenfeindlichkeit und Gewalt bindet und diese teilweise in Jugendcliquen, „Ka- meradschaften“ und der Skinhead-Szene organisiert und auch rechtsextrem wählt. Als Ergebnis eines langjährigen Sozialisationsprozesses, der nicht selten mit Rück- sichtslosigkeit und Gefühlskälte sowie mit der Abwesenheit von Scham- und Schuld- gefühlen verbunden ist, hat sich die subjektive Überzeugung verfestigt, Gewalt als ein legitimes Mittel der Konfliktbewältigung und Machtdemonstration zu begrei- fen.23 Innerhalb rechter Jugendkulturen ist körperliche Gewalt zu einem hochgradig

Steglich, Henrik: Die NPD in Sachsen. Organisatorische Voraussetzungen ihres Wahler- folgs 2004. Göttingen 2005; Baier, Katharina u. a.: Die NPD in den kommunalen Parla- menten Mecklenburg-Vorpommerns. Greifswald 2006; Klärner, Andreas / Kohlstruck, Michael (Hrsg.): Moderner Rechtsextremismus in Deutschland. Bonn 2006; Regionale Arbeitsstelle für Jugendhilfe, Schule und interkulturelle Arbeit (RAA) Mecklenburg- Vorpommern e. V. (Hrsg.): Rechts oben. Vorpommern als Modellregion der extremen Rechten. Waren/Müritz 2007. 21 Röpke, Andrea / Speit, Andreas (Hrsg.): Braune Kameradschaften. Die neuen Netz- werke der militanten Neonazis. Berlin 2004; Borstel, Dierk: Rechtsextreme Strukturen, Szenen und Umfelder. In: Backes, Uwe / Steglich, Henrik (Hrsg.): Die NPD. Erfolgsbe- dingungen einer rechtsextremistischen Partei. Baden-Baden 2007, S. 261–280; Staud, Toralf: „Ich gelte als Nestbeschmutzerin“. Bianca Richter und die Bürgerinitiative „De- mokratie anstiften“ aus Sachsen. In: Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.): Deutsche Zustände. Folge 5. Frankfurt/Main 2007, S. 315–322. 22 Vgl. Infratest dimap: Analyse der Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg am 19. September 2004. Ein Debakel für die Großen. Berlin 2004, S. 3. 23 Schubarth, Wilfried: David gegen Goliath? Aktuelle Herausforderungen der Jugendar- beit beim Umgang mit Rechtsextremismus. In: deutsche jugend, Heft 7/8 (2007), S. 311–316, hier S. 312f.

38 Dis | kurs Innenpolitik anerkannten und rangordnungsbildenden Kommunikationsmittel geworden, das sich mental und real über einen mehrjährigen Zeitraum etabliert hat. Die Nähe und Alltagspräsenz im kommunalen öffentlichen Leben sowie die lebens- weltliche Verankerung durch szenespezifische Musik, Kleidung und Sprache führen zu zwei strategisch wichtigen Entwicklungen: Erstens zu einem politisch-sozialisato- rischen „Stufenkonzept“ der Ansprache, organisatorischen Einbindung und Radika- lisierung; zweitens zur Akzeptanz, Normalisierung und Normalität rechtsextremer Politik, Kultur und Denkmuster. Mit Präsenz, Themen und Begriffen wird die öf- fentliche Meinung beeinflusst. Der Einzug rechtsextremer und rechtspopulistischer Rhetorik in die politische Alltagskultur macht NPD und DVU im anfälligen Wäh- lerpotential als „alternative“ Parteien auch mehrfach und dauerhaft wählbar. Die Kombination von vorpolitischem und politischem Raum durch Cliquen, „Kame- radschaften“ und Parteien ist dabei eine neue „Mischung“ rechtsextremer Präsenz, die vor allem das demokratische Gemeinwesen in den Städten und Kommunen vor immense Probleme stellt.24 Fazit: Rechtsextremismus als Herausforderung für die Demokratie Die fünf skizzierten Entwicklungsdimensionen des deutschen Rechtsextremismus zeigen, mit welchen Normalisierungseffekten und (wahl)politischen Wirkungen wir es seit Mitte der neunziger Jahre zu tun haben. Sie markieren die Weiterentwicklung der extremen Rechten wie auch ihrer politischen Mentalitäts- und Sozialisationsan- gebote; sie binden und verfestigen eine neue politische Kultur vor allem (aber nicht nur) in den östlichen Bundesländern. Insbesondere die NPD, die sich dort seit einigen Jahren in einem politischen Aufwind befindet, ist deshalb – auch nach dem Scheitern des „Deutschland-Paktes“ mit der DVU – bestrebt, ihre Kooperations- und Integrati- onsbemühungen im rechtsextremen Lager voranzutreiben und ihre gesellschaftliche Akzeptanz sowie ihre Verankerung in strategisch aussichtsreichen Regionen noch weiter auszubauen. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung läuft hier Gefahr, durch autoritär-nationalistische Politik- und Gesellschaftskonzepte ausgehöhlt und ersetzt zu werden, die ihre Menschen- und Demokratiefeindlichkeit offen zum Aus- druck bringen.25 Jede Debatte, die Rechtsextremismus und Gewalt lediglich als ein

24 Hafeneger, Benno: Der Kampf um die Köpfe. In: Frankfurter Rundschau, 01.03.2005, http://www.fr-aktuell.de/fr_home/startseite/?cnt=639305. 25 Legge, Sandra / Reinicke, Jost / Klein, Anna: Das Kreuz des Wählers. Die Auswirkungen von politischer Entfremdung und Fremdenfeindlichkeit. In: Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.): Deutsche Zustände. Folge 7. Frankfurt/Main 2009, S. 53–72; Klein, Anna / Küpper, Be- ate / Zick, Andreas: Rechtspopulismus im vereinigten Deutschland als Ergebnis von Be- nachteiligungsgefühlen und Demokratiekritik. In: Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.): Deutsche Zustände. Folge 7. Frankfurt/Main 2009, S. 93–112. Wagner, Bernd / Borstel, Dierk: Der

Dis | kurs 39 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 jugendspezifisches Phänomen beschreibt, greift deshalb zu kurz und verdeckt eher den Blick auf die Ursachen, als sie zur Lösung des Problems beträgt. Politik und Gesellschaft, aber auch der Rechtsstaat und die Medien werden sich mit den beschriebenen Dimensionen verstärkt auseinandersetzen müssen, wenn sie an- gemessene, offensive und vor allem wirkungsvolle und nachhaltige parlamentarische wie auch außerparlamentarische Antworten auf diese qualitativ und quantitativ neu- en Herausforderungen finden wollen. Es geht dabei um die seriöse Erörterung von (sozialen, ökonomischen und kulturellen) Ursachen, um politisches Handeln und die Präsenz demokratischer Kräfte, um eindeutige Positionierungen in einer offenen Einwanderungsgesellschaft sowie um die Verstärkung polizeilicher und juristischer Repression gegenüber (gewalttätigen) Gruppen und Einzelakteuren aus der rechts- extremen aktionsorientierten Szene.26 Die Frage nach den Erscheinungsformen und Erfolgsbedingungen darf sich nicht nur auf einen „kleinen Rand“ beziehen; sie muss sich auch intensiv mit den Veränderungen in den fließenden Übergängen und Ent- wicklungen (Mentalitäten, Vorurteilen, Metaphern) in der „Mitte der Gesellschaft“ beschäftigen.27 Es ist gerade hierin ein Mobilisierungspotential für die extreme Rech- te zu erkennen, mit dem sich die Demokratie in der Bundesrepublik auseinanderset- zen muss.

Rechtsextremismus und sein gesteigertes Bedrohungspotential. In: Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.): Deutsche Zustände. Folge 7. Frankfurt/Main 2009, S. 284–293. 26 Hafeneger, Benno: Die extreme Rechte – neuere Entwicklungen und Strategievarianten. In: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.): Demokratische Strategien zur Bekämpfung des Rechtsextremismus. Bonn 2005, S. 29–37, hier S. 36f. 27 Decker, Oliver / Brähler, Elmar: Vom Rand zur Mitte. Rechtsextreme Einstellungen und ihre Einflussfaktoren in Deutschland. Berlin 2006; Schönfelder, Sven: Rechtspopulisti- sches Potential in der Bundesrepublik Deutschland. In: Backes, Uwe / Steglich, Henrik (Hrsg.): Die NPD. Erfolgsbedingungen einer rechtsextremistischen Partei. Baden-Baden 2007, S. 103–118; Heitmeyer, Wilhelm: Leben wir noch immer in zwei Gesellschaften? 20 Jahre Vereinigungsprozess und die Situation Gruppenbezogener Menschenfeindlich- keit. In: ders. (Hrsg.): Deutsche Zustände. Folge 7. Frankfurt/Main 2009, S. 13–49.

40 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland

Thema: 60 Jahre Bundesrepublik deutschland a) Das Selbst B) Das Andere c) Innen und Außen D) Abgründiges

Das Grundgesetz – vom Provisorium zur vollwertigen Verfassung Ein historischer Überblick

Steven Zurek Hochschule Vechta, Institut für Sozialwissenschaften und Philosophie E-Mail: [email protected]

Schlüsselwörter Grundgesetz, Entstehungsgeschichte, Entwicklung, Legitimation

Mit 60 Jahren ist das Grundgesetz die langlebigste Verfassung, die ein deutscher Staat jemals hatte. Berücksichtigt man die Entstehungsgeschichte, so ist dies einigermaßen erstaunlich. Denn es war ursprünglich nur als eine Art Provisorium gedacht, dessen Bestand nur so lange andauern sollte, bis sich ein geeintes Deutschland eine „richti- ge“ Verfassung geben konnte. Dies kommt nicht nur in der Bezeichnung – nämlich eben „Grundgesetz“ und nicht etwa „Verfassung“ – zum Ausdruck, sondern wird auch in der ursprünglichen Präambel ausdrücklich angesprochen. So heißt es in der Präambel des Grundgesetzes von 1949: „[...] hat das deutsche Volk [...] um dem staat- lichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben [...] dieses Grundge- setz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen. [...]“.1 Um dies erklären zu können, ist ein Blick auf die Entstehungsgeschichte des GG und die Umstände im Deutsch- land der 40er Jahre notwendig. Im Folgenden soll ein kurzer Abriss der Ereignisse nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges gegeben werden, die für die Entstehung des Grundgesetzes von Bedeutung waren.

1 Zitiert nach Franz, Günther: Staatsverfassungen. Eine Sammlung wichtiger Verfassun- gen der Vergangenheit und Gegenwart in Urtext und Übersetzung. Oldenburg / München 21964, S. 226.

Dis | kurs 41 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009

Vorgeschichte und Entstehung des Grundgesetzes In der Berliner „Erklärung in Anbetracht der Niederlage Deutschlands und der Über- nahme der obersten Regierungsgewalt“ der Alliierten Siegermächte vom 5.6.1945 proklamierten die vier Militärbefehlshaber die Übernahme der öffentlichen Gewalt, betonten dabei aber, dass es sich dabei nicht um eine Annexion Deutschlands han- delte. Gleichzeitig wurde der Alliierte Kontrollrat mit Sitz in Berlin geschaffen, der aus den vier Militärbefehlshabern bestand. Jeder dieser Militärbefehlshaber verwal- tete seine Besatzungszone nach den Weisungen seiner eigenen Regierung, während Kontrollratsbeschlüsse einstimmig getroffen werden mussten.2 Auf der Potsdamer Konferenz vom 17.7. bis 2.8.1945 erließen die vier Regierungschefs der Siegermächte einige Beschlüsse, die „Deutschland als Ganzes“ betreffen sollten, die allerdings nur zum Teil realisiert wurden. Insbesondere zur Bildung zentraler deutscher Verwal- tungsbehörden, welche als Keimzellen eines späteren deutschen Staates hätten dienen können, ist es, besonders auf Grund französischen Widerstandes, nicht gekommen. So forderte als Bedingung für die Zustimmung zur Einrichtung einer deut- schen Zentralverwaltung, dass die linksrheinischen Gebiete und das Ruhrgebiet von Deutschland abgetrennt werden sollten. Diese Forderung war offensichtlich nicht durchsetzbar und diente wohl nur dem Zweck, einen Grund zu haben, die Vorhaben bezüglich einer zentralen Verwaltung zu blockieren.3 Zwischen 1946 und 1947 traten die deutschlandpolitischen Gegensätze der West- alliierten und der Sowjetunion immer stärker hervor. Lediglich über die Auflösung Preußens konnte man sich 1947 noch im Alliierten Kontrollrat einigen. Bereits seit 1945 begann man in der sowjetischen Besatzungszone einen de facto Einparteien- staat zu errichten, in dem SED-Kader sämtliche Schlüsselpositionen besetzten, wo- durch dieser Teil schon frühzeitig von den anderen Besatzungszonen isoliert wurde. Dies wurde von den Westalliierten bereits vor dem wirklichen Beginn des Kalten Krieges mit großem Misstrauen beobachtet.4 Interesse der Westalliierten, insbesondere der Amerikaner und Briten, war es da- her, möglichst schnell einen stabilen, gesunden deutschen Weststaat zu schaffen. Zu diesem Zweck gründete man zum 1.1.1947 die „Bizone“ - offiziell „Vereinigtes Wirtschaftsgebiet“ genannt – in der die britische und amerikanische Besatzungszone wirtschaftlich und verwaltungstechnisch miteinander verschmolzen werden sollten,

2 Vgl. Kroeschell, Karl: Rechtsgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. Göttingen 1992, S. 120, vgl. auch Lehmann, Hans Georg: Deutschland-Chronik. 1945–2000. Bonn 2000, S. 48. 3 Vgl. Görtemaker, Manfred: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Grün- dung bis zur Gegenwart. München 1999, S. 34. 4 Ebd., S. 34.

42 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland mit Option der späteren Miteinbeziehung der französischen Zone. Dabei verfolgten die Amerikaner das Ziel, Westdeutschland vor allem durch wirtschaftliche Stärkung unempfindlicher gegen Einfluss aus der Sowjetunion zu machen.5 Die Sowjets wur- den bewusst außen vor gelassen. Des Weiteren setzten sich besonders die Amerika- ner für die möglichst baldige Bildung einer vorläufigen deutschen Regierung ein.6 In den westlichen Besatzungszonen gründete man auch wieder Länder. Diese ent- sprachen allerdings nicht den historisch gewachsenen Ländern, wie sie bereits zuvor bestanden hatten, sondern sie entstanden eher aus besatzungstechnischen Zufäl- ligkeiten. Diesen wurden in den meisten Fällen Verfassungen gegeben, die in der Mehrzahl durch Volksabstimmungen bestätigt wurden, und es wurde ein Mehrpar- teiensystem eingeführt. Die Ministerpräsidenten wurden zunächst von den Alliier- ten ernannt und, nachdem Wahlen stattgefunden hatten, dann von den Länderparla- menten. Bei den von den Länderparlamenten Gewählten handelte es sich allerdings oft um die zuvor von den Alliierten Ernannten. Eine Sonderrolle spielte das Saarland. In seiner Verfassung von 1947 wird das Ziel erklärt, sich politisch vom Deutschen Reich zu trennen, wahrscheinlich auf Druck der Besatzungsmacht Frankreich, wel- che vorhatte, es seinem Staatsgebiet anzugliedern.7 Vom 25.11. bis 15.12.1947 fand in London eine Konferenz der Außenminister der Siegermächte statt. Auf dieser sollte die weitere Zukunft Deutschlands behandelt werden. Sie musste allerdings ergebnislos abgebrochen werden, da sich zu große, un- überbrückbare Differenzen in der Deutschlandpolitik der Sowjetunion und der der Westmächte entwickelt hatten. Daher trafen sich die drei westlichen Siegermächte und die Benelux-Staaten vom 23.2. bis zum 6.3.1948 zu einer Sechsmächtekonferenz in London, zu der man die Sowjetunion nicht mehr einlud. In dieser ersten Sitzungs- periode empfahl man, ein föderatives Regierungssystem in Westdeutschland zu er- richten und es am Marshallplan sowie an der Ruhrkontrolle zu beteiligen. Frankreich verzichtete unter amerikanischem Druck auf eine eigenständige Politik gegenüber Deutschland und der Sowjetunion.8 Am 20.3.1948 stellte die Sowjetunion aus Protest gegen die Empfehlungen der Londo- ner Sechsmächtekonferenz, sowie gegen die Gründung der „Westunion“ ihre Arbeit im Alliierten Kontrollrat endgültig ein, welcher seitdem nicht mehr zusammen trat, da er beschlussunfähig geworden war. Dadurch wurde die gemeinsame Herrschaft

5 Ebd., S. 39. 6 Ebd., S. 37. 7 Vgl. Wesel, Uwe: Geschichte des Rechts. Von den Frühformen bis zur Gegenwart. Mün- chen 22001, S. 531. 8 Vgl. Görtemaker, Manfred: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, S. 39.

Dis | kurs 43 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 der vier Besatzungsmächte in Deutschland faktisch beendet.9 In der zweiten Sit- zungsperiode der Londoner Sechsmächtekonferenz vom 20.4. bis 2.6.1948 beschloss man, dem deutschen Volk die Möglichkeit zu geben, sich eine freie und demokra- tische Regierungsform zu geben und allmählich volle Regierungsverantwortung zu übernehmen. Dazu sollten die Militärgouverneure die westdeutschen Ministerpräsi- denten zur Einberufung einer „Verfassunggebenden Versammlung“ ermächtigen.10 Als nächsten Schritt auf dem Weg zur Schaffung eines neuen Staates beschloss man, die darnieder liegende Wirtschaft durch eine Währungsreform anzukurbeln. Bisher war man im Nachkriegsdeutschland größtenteils zu Tauschwirtschaft übergegangen, da die Reichsmark keinen Wert mehr hatte. Der Aufbau einer leistungsfähigen Wirt- schaft, geordnete Verhältnisse, sowie eine Beteiligung Westdeutschlands an Geldern aus dem Marshallplan, waren unter diesen Umständen unmöglich.11 Am 18. 6. erließen die drei westlichen Militärregierungen ein Gesetz, nach dem, mit Wirkung vom 20.6.1948, die Währung von Reichsmark auf Deutsche Mark umge- stellt werden sollte. Die Sowjetunion protestierte heftig, aber nachdem Verhandlun- gen zwischen Finanzexperten der vier Besatzungsmächte am 22.6. ergebnislos ge- blieben waren, wurde die D-Mark auch in Berlin eingeführt. Die Sowjets reagierten mit der Blockade des Westteils , was jedoch nicht den gewünschten Erfolg eines Einlenkens der Westmächte brachte, sondern im Gegenteil die Solidarisierung im Westen förderte und, bedingt durch die Hilfslieferungen der Amerikaner an die Berliner Bevölkerung, ein enges Vertrauensverhältnis zwischen Westdeutschen und Amerikanern entstehen ließ.12 Damit war eine Trennung Deutschlands in einen West- und einen Ostteil so gut wie sicher. Am 1.7.1948 übergaben die Militärgouverneure der Westalliierten den Ministerprä- sidenten der elf westdeutschen Länder die „Frankfurter Dokumente“, in denen diese aufgefordert wurden, eine verfassunggebende Versammlung bis zum 1.9. einzube- rufen, um eine Verfassung für einen neuen Staat auszuarbeiten. Außerdem wurden die Regierungschefs beauftragt, über die innerdeutschen Ländergrenzen zu bera- ten, und erhielten Leitsätze für ein Besatzungsstatut, welches die Beziehungen einer künftigen deutschen Regierung zu den drei Westmächten regeln sollte.13 Die Minis- terpräsidenten reagierten zunächst zögerlich, da sie zu Recht befürchteten, dass ein Teilstaat die deutsche Einheit gefährden würde. Nach einem Treffen in Rüsselsheim

9 Vgl. Kroeschell, Karl: Rechtsgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, S. 121, vgl. auch Lehmann, Georg Hans: Deutschland-Chronik. 1945 bis 2000. Bonn 2000, S. 24. 10 Vgl. Lehmann, Georg Hans: Deutschland-Chronik. 1945 bis 2000. Bonn 2000. S. 24. 11 Vgl. Görtemaker, Manfred: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. S. 41. 12 Vgl. ebd. S. 42, 43. 13 Vgl. ebd. S. 49, 50.

44 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland am 21. und 22.7. einigten sie sich auf den Kompromiss, dass sie zwar das Angebot der Westalliierten annehmen wollten, aber mit der Einschränkung, dass sie keine Verfassung ausarbeiten wollten, sondern nur ein Grundgesetz, welches wie eine Ver- fassung wirken, aber doch keine vollständige und endgültige Verfassung sein sollte. Dieses Grundgesetz solle daher nicht von einer von den Bürgern gewählten verfas- sunggebenden Versammlung beschlossen und auch nicht durch eine Volksabstim- mung bestätigt werden. Statt der Bürger sollten die Länderparlamente die Akteure sein, welche Abgeordnete für einen Parlamentarischen Rat wählen sollten, der dann das Grundgesetz beschließen sollte. Bestätigt werden sollte das Grundgesetz dann wiederum von den Parlamenten. Die Alliierten gaben dazu ihre Zustimmung.14 In der Folge entwarf vom 10. bis 23.8. ein Verfassungskonvent aus von den Länder- regierungen berufenen Sachverständigen auf Schloss Herrenchiemsee grundgesetz- liche Richtlinien für einen „Bund deutscher Länder“ auf föderaler Basis. Am 1.9. kam dann der Parlamentarische Rat zusammen, um das Grundgesetz auszuarbeiten. Seine 65 Mitglieder wurden von den elf westdeutschen Landtagen gewählt, wobei die CDU/CSU und die SPD je 27 Abgeordnete entsandten, FDP/DVP/LDP fünf und Zentrum, DP und KPD je zwei. Herausragendste Personen waren dabei der Präsident des Rates, Konrad Adenauer von der CDU und Carlo Schmid von der SPD, welcher Vorsitzender des Hauptausschusses war.15 Auf der Deutschlandkonferenz vom 5. bis 8.4.1949 beschlossen die Außenminister der USA, Großbritanniens und Frankreichs die Fusion des französischen Besatzungsgebiets mit der Bizone zur Trizone, die Be- endigung der Militärregierung und die Einsetzung der Alliierten Hohen Kommissa- re zur politischen Kontrolle sowie die endgültige Fassung des Besatzungsstatuts und die Stärkung der Wirtschaft durch Reduzierung des Demontageprogramms.16 Mit diesem Schritt stand der Gründung eines westdeutschen Staates auch von Alli- ierter Seite nichts mehr entgegen. Am 8.5.1949 verabschiedete der Parlamentarische Rat in dritter Lesung das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland mit 53 gegen 12 Stimmen. Am 10.5. wählte der Parlamentarische Rat in geheimer Abstimmung sehr knapp Bonn zur vorläufigen Bundeshauptstadt. Daraufhin genehmigten am 12.5. die Militärgouverneure der Westalliierten das Grundgesetz vorbehaltlich der Bestimmungen des Besatzungsstatuts, womit das Grundgesetz in Kraft treten konnte, sofern zwei Drittel der Landtage es billigten. Dies taten diese mit Ausnahme des bayerischen Landtags auch, weshalb das Grund- gesetz am 23.5.1949 vom Parlamentarischen Rat verkündet werden konnte.17

14 Vgl. Wesel, Uwe: Geschichte des Rechts, S. 538. 15 Vgl. Lehmann, Georg Hans: Deutschland-Chronik, S. 29. 16 Vgl. ebd., S. 25. 17 Vgl. ebd., S. 30, 31.

Dis | kurs 45 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009

Entwicklung zur Vollwertigen Verfassung Diese knappe Darstellung der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes zeigt, dass seine Mütter und Väter mit einigen schwerwiegenden Problemen zu kämpfen hatten. Es war nicht nur klar, dass die Deutschen in der sowjetischen Besatzungszone bei der Schaffung einer neuen Verfassung außen vor bleiben mussten. Die westlichen Alli- ierten, in deren Besatzungszonen das Grundgesetz einmal gelten und somit einen neuen Staat schaffen sollte, behielten sich zudem das Recht vor, die Entwürfe erst zu prüfen, und gegebenenfalls Änderungen vorzunehmen, bevor diese an die Länder- parlamente zur Abstimmung weiter gegeben werden konnten. Außerdem sollten die Bestimmungen des Besatzungsstatuts weiter gelten, so dass eine volle Souveränität des zu schaffenden Staates nicht gegeben war. Daher entschied man sich dafür, eine vorübergehende Verfassung zu schaffen, ein Provisorium, das so lange gelten sollte, bis es möglich wäre, dass sich das ganze deut- sche Volk in voller Selbstbestimmung eine Verfassung geben könne. Da das Grund- gesetz nur eine vorübergehende Verfassung sein sollte, konnte man über einige Män- gel hinwegsehen, die der Schaffung einer „echten“ demokratischen Verfassung im Wege gestanden hätten, insbesondere dem der mangelnden demokratischen Legiti- mation.18 Denn verfassunggebende Gewalt, oder pouvoir constituant, kann bei einer solchen Verfassung nur das Volk sein. Dieses war bei der Schaffung des Grundgeset- zes aber – abgesehen von der völligen Nichtbeteiligung der Ostdeutschen – nur sehr indirekt über die Abgeordneten der Länderparlamente vertreten und ein Interesse der Westdeutschen am Entstehungsprozess ihrer neuen Verfassung war kaum vor- handen.19 Durch diese mangelnde Beteiligung des Volkes am Entstehungsprozess hatte das Grundgesetz zunächst wenig integrative Wirkung, und das Interesse an ihm blieb auch in den 50er Jahren noch sehr gering. Dies änderte sich erst, als es im Zuge der großen Grundsatzdebatten um Wiederbewaffnung, Westintegration, Notstandsver- fassung und die Reformpolitik der 70er Jahre immer mehr in das öffentliche Be- wusstsein trat und ihm im Laufe der Konflikte immer größere Bedeutung als das Symbol für den demokratischen Rechtsstaat und dessen Werte gewann.20 So bildete sich im Laufe dieser Konflikte eine neue Art des Patriotismus heraus, näm- lich jener „Verfassungspatriotismus“, wie ihn Dolf Sternberger 1979 diagnostizierte, wodurch das Grundgesetz nach und nach zu dem wurde, dem die Bürger der Bun-

18 Vgl. Wesel, Uwe: Geschichte des Rechts, S. 540. 19 Vgl. Vorländer, Hans: Die Deutschen und ihre Verfassung. In: Aus Politik und Zeitge- schichte. Heft 18–19/2009, S. 8. 20 Vgl. ebd., S. 8–9.

46 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland desrepublik die höchste Achtung entgegenbrachten.21 Diese Sympathie und Anerken- nung führten dann auch dazu, dass das Grundgesetz die Wiedervereinigung über- lebte. Zu diesem Zeitpunkt hatte es seine ihm ursprüngliche angedachte Funktion als Platzhalter erfüllt und hätte eigentlich durch einen Nachfolger, also eine „echte“, gesamtdeutsche Verfassung abgelöst werden sollen. Aber nun war es im Bewusstsein der Bundesbürger längst nicht mehr die provisorische Übergangsverfassung, als die es von seinen Müttern und Vätern vorgesehen war. Daher wurde die Vereinigung mit der DDR über einen „Beitritt“ der ostdeutschen Länder in den Geltungsbereich des Grundgesetzes gemäß Artikel 23 geregelt, womit sich die Schaffung einer neuen Verfassung gemäß des alten Artikels 146 erübrigt hatte und das Grundgesetz zur gesamtdeutschen Verfassung wurde.22 Und obwohl es einige Stimmen gab, die 1989/90 forderten, eine neue Verfassung durch eine verfassunggebende Versammlung erarbeiten und dann vom ganzen deut- schen Volk verabschieden zu lassen, wie ja eigentlich auch vorgesehen war, bewirk- ten der Wunsch nach einer möglichst baldigen Wiedervereinigung und die hohe Akzeptanz, die das Grundgesetz in der Bundesrepublik genoss, dass man diesen Schritt nicht ging, sondern die Lösung des Beitritts wählte. Einige sahen und sehen darin eine verpasste Gelegenheit, vor allem in der Hinsicht, dass man es verpasste, ein identitätsstiftendes integratives Element für alle Deutschen zu schaffen.23 Denn die Ausarbeitung einer Verfassung gilt als wichtiges integratives Element im Prozess des nation-building.24 Vielleicht hätte das gemeinsame Ausarbeiten einer neuen Verfassung nach der Wie- dervereinigung das Zusammenwachsen von Ost und West auf Bürgerebene und die Identifikation mit dem gemeinsamen Staat erleichtert und verhindert, dass sich ei- nige schwer tun, sich mit Werten wie Rechtsstaat und Demokratie zu identifizieren. So waren ja auch die Westdeutschen in den ersten Jahren wenig am Grundgesetz interessiert, unter anderem sicher auch, weil sie an der Entstehung kaum mitwir- ken konnten. Erst nach einigen Jahren und überstandenen Konflikten gewann das Grundgesetz in der damaligen Bundesrepublik an Popularität. Allerdings sprechen Erhebungen in ganz Deutschland dafür, dass sich das Grundgesetz mittlerweile gro- ßer Akzeptanz und Beliebtheit erfreut. Zwar ist die Akzeptanz im Westen immer noch höher als im Osten, aber auch dort spricht sich eine deutliche Mehrheit für

21 Vgl. ebd., S. 11–12. 22 Vgl. ebd. S. 12–13. 23 Vgl. ebd. S. 13. 24 Vgl. Dobner, Petra: Skeptischer Verfassungspatriotismus. In: Stein, Tine / Buchstein, Hubertus / Offe, Claus (Hrsg.): Souveränität, Recht, Moral. Die Grundlagen politischer Gemeinschaft. Frankfurt/Main 2007, S. 72.

Dis | kurs 47 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 das Grundgesetz aus.25 Nach dem großen Staatsrechtler Georg Jellinek ist die Aner- kennung der Herrschaft im Volk der einzig entscheidende Faktor bei der Bewertung völkerrechtlicher Legitimität staatlicher Herrschaft und damit auch der Verfassung eines Staates.26 Auch wenn das deutsche Volk nicht direkt (weder 1949 noch 1990) über das Grundgesetz abstimmen konnte, so legitimiert es das Grundgesetz doch durch die allgemeine Akzeptanz und Wertschätzung und macht es dadurch zu einer gelungenen Verfassung.

25 Vgl. Vorländer, Hans: Die Deutschen und ihre Verfassung, S. 15. 26 Vgl. Jellinek, Georg: Allgemeine Staatslehre. Darmstadt 31960, S. 341–342.

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Thema: 60 Jahre Bundesrepublik deutschland a) Das Selbst B) Das Andere c) Innen und Außen D) Abgründiges

Die Soziale Marktwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland Der 60-jährige Werdegang einer neuen Wirtschafts- ordnung

Julia Kiesow Universität Gießen, Institut für Politikwissenschaft E-Mail: [email protected]

Schlüsselwörter Ordoliberalismus, Freiburger Schule, Sozialpolitik, Wohlfahrtsstaat

60 Jahre Bundesrepublik bedeuten auch 60 Jahre Frieden, Wohlstand und soziale Si- cherung. Aber worin liegen eigentlich die Wurzeln dieses heutigen, im internationa- len Vergleich so komfortablen Zustandes? Einen Aspekt der Antwort auf diese Frage versucht der vorliegende Artikel zu erläutern, indem er die in der Bundesrepublik vorherrschende Wirtschaftsordnung der Sozialen Marktwirtschaft im Hinblick auf ihre sozio-politische Integrationsleistung näher untersucht. Zunächst stellt sich die Frage, warum sich gerade die Wirtschaftsordnung der So- zialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik durchsetzen konnte, wo doch das Grundgesetz ausdrücklich keine Wirtschaftsverfassung vorgeschrieben hatte. In die- sem Zusammenhang ist außerdem bedeutend, wer die Begründer dieser ordnungs- politischen Idee sind, „deren Ziel es ist, auf der Basis der Wettbewerbswirtschaft die freie Initiative mit einem gerade durch die marktwirtschaftliche Leistung gesicherten sozialen Fortschritt zu verbinden. Auf der Grundlage einer marktwirtschaftlichen Ordnung kann ein vielgestaltiges und vollständiges System sozialen Schutzes errich- tet werden“?1

1 Müller-Armack, Alfred: Soziale Marktwirtschaft. In: Wirtschaftsspiegel, 1947, zitiert

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Ausgangslage nach dem Zweiten Weltkrieg War die Wirtschaftspolitik der Besatzungsmächte nach dem Zweiten Weltkrieg durch Reparationen, Demontage der Industrien oder auch durch staatliche Kontrol- len der Ein- und Ausfuhr gekennzeichnet, so stellt doch der Marshall-Plan, welcher den Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft vorantreiben wollte, den Wendepunkt dieser Entwicklung dar. Auf Grundlage des Marshall-Plans entstanden weitere wich- tige Voraussetzungen für die Durchsetzung der hauptsächlich von Alfred Müller- Armack entwickelten und von Ludwig Erhard in die Praxis umgesetzten Idee der Sozialen Marktwirtschaft. So legten unter anderem die 1948 durchgeführte Wäh- rungsreform, die Aufhebung von Bewirtschaftungsvorschriften, aber auch eine Steu- erreform, durch welche die Spitzen- und die Körperschaftssteuer abgesenkt wurden, den Grundstein für die neue Wirtschaftsordnung. Erst unter diesen neuen Bedingungen gelang es Ludwig Erhard, der damals Direktor der Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebietes war, und Alfred Müller-Armack, Professor für Nationalökonomie, entgegen dem Zeitgeist, der von der Vorstellung einer sozialistischen Ordnung und von staatlicher Lenkung geprägt war, ihr Modell einer freiheitlichen, nicht sozialistischen Wirtschaft durchzusetzen. Gründungsphase der neuen Wirtschaftsordnung Müller-Armacks und Erhards Idee der Sozialen Marktwirtschaft fand ihre Ursprün- ge einerseits im sogenannten Ordoliberalismus der Freiburger Schule um Walter Eucken und Franz Böhm.2 Andererseits bezog Müller-Armack sozialethische Wert- vorstellungen aus christlichem Hintergrund in seine Überlegungen mit ein. Diese basierten auf den Vorstellungen der philosophischen Anthropologie, nach denen der Mensch ein in seinen Entscheidungen freies Wesen ist, das gleichzeitig sozial orien- tiert ist und somit nur in einer Gesellschaft überleben kann. Dadurch ist der Einzelne nicht nur verpflichtet, eigenverantwortlich zu handeln, sondern gleichzeitig für ein gerechtes und soziales Miteinander in der Gesellschaft zu sorgen. Um dem einzelnen Individuum dennoch genügend Freiheiten für dessen persönli- che Entfaltung einräumen zu können, wird auf das Subsidiaritätsprinzip zurückge- griffen, welches staatliche Eingriffe solange ablehnt, wie der Einzelne in der Lage ist, aus eigenen Kräften sein Leben zu bestreiten.3

nach Lampert, Heinz / Bossert, Albrecht: Die Wirtschafts-und Sozialordnung der Bun- desrepublik Deutschland im Rahmen der Europäischen Union. München 162007, S. 93. 2 Vgl. Lampert, Heinz / Bossert, Albrecht: Die Wirtschafts- und Sozialordnung der Bun- desrepublik Deutschland im Rahmen der Europäischen Union. München 162007, S.17ff. 3 Vgl. Clapham, Ronald: Entstehung und Entwicklung des Konzepts der Sozialen Mark- twirtschaft. In: Andersen, Uwe (Hrsg.): Soziale Marktwirtschaft. Schwalbach 22007, S.

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Ordoliberalismus Der Ordoliberalismus, die zweite Säule der Sozialen Marktwirtschaft in Müller-Ar- macks Konzept, entspringt der Wirtschaftsschule des Neoliberalismus. Während der Neoliberalismus jegliche Interventionen des Staates in die Wirtschaft ablehnt, zeich- net sich der Ordoliberalismus (der auch als deutsche Variante des Neoliberalismus angesehen wird) gerade dadurch aus, dass ein starker Staat existieren darf und soll, der durch eine entsprechende Wettbewerbsordnung dafür Sorge zu tragen hat, den Wettbewerb zu garantieren. Der Staat soll also auf die Ordnung der Wirtschaft ein- wirken, darf aber nach Ansicht der Ordoliberalen gerade keine Prozesspolitik betrei- ben, indem er, wie zum Beispiel im keynesianischen Konzept, aktiv versucht, in den Konjunkturzyklus einzugreifen. Neben der Sicherung des freien Wettbewerbs hat der Staat aber noch eine weitere Aufgabe. Denn er soll darüber hinaus auch Vorkehrungen dagegen treffen, dass sich wirtschaftliche Machtgruppen bilden, die eventuell negative Auswirkungen auf den freien Wettbewerb haben könnten.4 Das Kernelement der ordoliberalen Schule bildet also der uneingeschränkte Wett- bewerb, der durch eine bestimmte Wettbewerbsordnung aufrecht erhalten werden soll. Zur Herstellung dieser hat Eucken sieben konstituierende Prinzipien entwickelt. Zum einen muss ein Preissystem der vollständigen Konkurrenz sichergestellt werden. Des Weiteren muss eine Währungsverfassung den Geldwert bewahren und darüber hinaus müssen offene Märkte garantiert werden. Außerdem sind die Vertragsfrei- heit und das Privateigentum an Produktionsmitteln besonders wichtig. Wenn zuletzt noch für die volle Haftung der Marktteilnehmer und die Stetigkeit der Wirtschafts- politik gesorgt ist, sind die konstituierenden Prinzipien erfüllt. Um die durch die gerade beschriebenen Mechanismen hergestellte Wirtschaftsord- nung auch funktionsfähig zu halten, sollten die sogenannten vier regulierenden Prin- zipien erfüllt werden. Diese setzen sich aus einer aktiven Monopolpolitik durch ein unabhängiges Monopolaufsichtsamt, einer progressiven Einkommenssteuer, einer Mängelbehebung der rein privaten Wirtschaftsrechnung und einer Korrektur von anormalem Angebotsverhalten zusammen.5 Unterschied von Sozialer Marktwirtschaft zum Ordoliberalismus Basierend auf den Grundannahmen der Freiburger Schule unterscheidet sich Müller-

12ff. 4 Vgl. Schmid, Josef / Buhr, Daniel u. a.: Wirtschaftspolitik für Politologen. Paderborn 2006, S.159ff. 5 Vgl. Clapham, Ronald: Entstehung und Entwicklung des Konzepts der Sozialen Markt- wirtschaft, S. 15.

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Armacks Vorstellung der neuen Wirtschaftsordnung auch vom Ordoliberalismus. Zwei Aspekte sind dabei von besonderer Bedeutung. Zum Einen wird der staatlichen Institution in Müller-Armacks Konzeption ein weit- aus größerer Interaktionsspielraum zugestanden. Das bedeutet, dass sich der Staat gerade nicht nur auf reine Ordnungspolitik, wie von den Ordoliberalen angedacht, beschränken muss, sondern auch aktiv in die Prozesspolitik der Wirtschaft eingreifen darf. Konkret hat der Staat also die Möglichkeiten, die im Konjunkturzyklus auftre- tenden Schwankungen zu glätten und damit unerwünschte Nachteile wie beispiels- weise inflationäre Tendenzen abzuwenden. Trotz dieser Eingriffszugeständnisse hat die staatliche Institution aber äußerst genau darauf zu achten, dass sie durch ihre Maßnahmen die Marktwirtschaft in ihrer Koordination nicht beeinflusst.6 Einen Niederschlag fand die Komponente der aktiven Prozesspolitik im „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums“ von 1967. In diesem Gesetz wurden unter anderem die vier gesamtwirtschaftlichen Ziele, die aus der Preisniveaustabili- tät, einem hohen Beschäftigungsstand, einem außenwirtschaftlichen Gleichgewicht und einem stetigem Wirtschaftswachstum bestehen, festgelegt. Es ist jedoch bisher in der Bundesrepublik noch nie gelungen, diese vier Zielsetzungen gleichzeitig zu verwirklichen.7 Zum Anderen findet sich eine Abgrenzung von Sozialer Marktwirtschaft zum Ordo- liberalismus in der von der Sozialen Marktwirtschaft ausdrücklich erwünschten So- zialpolitik, die für einen sozialen Ausgleich im engeren Sinne und für soziale Gerech- tigkeit im weiteren Sinne sorgen soll. War die Freiburger Schule davon ausgegangen, dass es bei einer vom Staat gestalteten Wettbewerbsordnung automatisch zu sozialer Zufriedenheit in der Gesellschaft kommt, so genügt diese Annahme Müller-Armack nicht aus. 8 Er spricht vielmehr von einem „getragene(n) und gestärkte(n) System der sozialen Hilfen“9. Das Sozialstaatsprinzip aus Artikel 20 I GG ist die gesetzliche Verankerung der sozia- len Gerechtigkeit und der sozialen Sicherheit. Eine Sozialpolitik im Sinne Müller-Ar- macks umfasst also die staatlichen Aufgaben der Fürsorge, der Versorgung und der statusabsichernden Versicherung. Aufgrund dieser Gestaltung der Sozialen Markt- wirtschaft lässt sie sich zusammenfassend als eine „Synthese zwischen rechtsstaatlich

6 Vgl. ebd., S. 15ff. 7 Vgl. Kromphardt, Jürgen: Konzeptionen und Analysen des Kapitalismus. Göttingen 42004, S. 207ff. 8 Vgl. Clapham, Ronald: Entstehung und Entwicklung des Konzepts der Sozialen Markt- wirtschaft, S. 15ff. 9 Müller-Armack, Alfred: Der humane Gehalt der Sozialen Marktwirtschaft. In: Ders: Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft. Bern 21981, zitiert nach: Clapham, Ronald: Entstehung und Entwicklung des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft, S. 19.

52 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland gesicherter Freiheit, wirtschaftlicher Freiheit (…) und den sozialstaatlichen Idealen der sozialen Sicherheit und der sozialen Gerechtigkeit“10 beschreiben. Die letztliche Durchsetzung dieser entwickelten Idee einer neuen Wirtschaftsord- nung ist Ludwig Erhard zu verdanken. Für ihn waren dabei besonders die Freiheit der Wirtschaft und die Selbstverantwortung jeder Einzelperson, die ihrerseits zur Sicherung der Freiheit beitragen sollte, von besonders großer Bedeutung. Konkret hatte Erhard eine Wirtschaftsordnung vor Augen, die einerseits auf Preisstabilität, soziale Sicherung, Wohlstand und Vollbeschäftigung ausgerichtet war, gleichzeitig aber auch im Gebiet der öffentlichen Haushalte ihre Verantwortung den späteren Generationen gegenüber wahrnahm. Diese Vorstellungen versuchte er im Amt des „Direktors der Verwaltung für Wirt- schaft“ durchzusetzen, was aber äußerst schwierig war, denn sowohl unter Wissen- schaftlern als auch unter Politikerkollegen stand er massiv unter Kritik. So wurde seine Soziale Marktwirtschaft als „‚getarnter Kapitalismus‘ und damit als Propagan- datrick [angesehen], um eine ‚unsoziale‘ Politik durchzusetzen, die auf Kosten der ein- fachen Leuten den Reichen und Mächtigen nutzt.“11 Erst der nach 1949 folgende wirtschaftliche Aufschwung und die sich ausbreitende soziale Zufriedenheit sorgten dafür, dass Erhards Konzept Zustimmung fand. Doch auch diese währte nur solange bis sich Erhard aus der aktiven Politik zurückgezogen hatte. Alsbald nach seinem Rücktritt begann, wie im Folgenden anhand der verschie- denen Phasen der Sozialen Marktwirtschaft gezeigt werden soll, eine andere Wirt- schaftspolitik.12 Variationen der Sozialen Marktwirtschaft Zwar herrscht in der Bundesrepublik, seitdem sie existiert, ununterbrochen die So- ziale Marktwirtschaft vor, doch hatte sie in ihrer 60-jährigen Geschichte verschiede- ne Schwerpunkte und hat unterschiedliche Phasen durchlaufen. Die Übergänge der einzelnen Zeitabschnitte sind fließend, sodass auch in der Literatur Diskrepanzen hinsichtlich einer einheitlichen Einteilung der Stadien bestehen. Dennoch erscheint eine Unterteilung der Sozialen Marktwirtschaft nach Clapham in drei Phasen und eine Einordnung dieser nach folgendem Schema als sinnvoll: von 1948 bis 1966/67 kennzeichnete der Wettbewerb die Soziale Marktwirtschaft. Nach

10 Lampert, Heinz / Bossert, Albrecht: Die Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesre- publik Deutschland im Rahmen der Europäischen Union, S.93. 11 Wünsche, Horst Friedrich: Soziale Marktwirtschaft - Die aktuelle Wirtschaftsordnung und die Ordnungsvorstellungen von Ludwig Erhard. In: Andersen, Uwe (Hrsg.): Soziale Marktwirtschaft, S. 61. 12 Vgl. ebd., S. 50ff.

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1967 gewann die Globalsteuerung deutlich an Bedeutung, bevor ab Mitte der 1970er- Jahre eine gesteigerte Umverteilung zum zentralen Merkmal der Wirtschaftspolitik wurde. Seit 1990 steht die Soziale Marktwirtschaft unter dem Zeichen und der He- rausforderung der deutschen Wiedervereinigung, die allerdings von Clapham nicht als eigenständiges Stadium der Sozialen Marktwirtschaft gesehen werden soll. Die erste Phase direkt nach dem Zweiten Weltkrieg, die nach der Herstellung der oben besprochenen Voraussetzungen entstehen konnte, war vor allem von einer De- zentralisierung der Wirtschaftspläne der privaten Wirtschaftssubjekte geprägt. Diese Wirtschaftspläne wurden durch die im Wettbewerb frei gebildeten Marktpreise abge- stimmt. Und um genau diese Abläufe zu sichern, betrieb der Staat eine Ordnungspo- litik, die jeglichem Aufkommen von Wettbewerbsbeschränkungen vorbeugen sollte. Ein weiteres Kennzeichen, das diesem Zeitabschnitt der Sozialen Marktwirtschaft eigen war, war das Subsidiaritätsprinzip, nach dem derartige Rahmenbedingungen geschaffen werden sollten, dass jeder Bürger zunächst eigenverantwortlich handeln konnte bevor staatliche Hilfen griffen. Staatliche Unterstützung war somit quasi ulti- ma ratio. Doch auch obwohl eine Ordnungspolitik betrieben wurde, die einen mög- lichst freien Wettbewerb garantieren sollte, gelang es bestimmten Interessengrup- pen, erheblichen Einfluss auf die Wirtschaftsordnung zu nehmen, sodass es, auch beschleunigt durch die Wirtschaftskrise 1966/67, zu einer Variation der Sozialen Marktwirtschaft kam. Diese Veränderungen führten folglich zu der zweiten Phase der deutschen Wirtschaftsform. Besonders der damalige Wirtschaftsminister Karl Schiller war mit für diese Umge- staltung verantwortlich. Er sah es als sein Ziel an, die bisher „naive“ Marktwirtschaft zu einer „aufgeklärten“ Wirtschaftsform zu machen. Dazu bediente er sich besonders des Mittels der Globalsteuerung, durch die man die gezielte Beeinflussung der Kon- junktur zum Zweck des Krisenausgleichs antreben wollte. Durch die Globalsteuerung und die unter anderem damit verbundene antizyklische Konjunkturpolitik fanden Elemente der keynesianischen Lehre Einzug in die Wirtschaftspraxis. Dies ist gerade vor dem Hintergrund, dass die Soziale Marktwirtschaft ursprünglich dem Ordolibe- ralismus, und damit auch dem Neoliberalismus entspringt, bemerkenswert. Jedoch wies diese praktizierte Globalsteuerung derartige Mängel in ihrer Ausfüh- rung auf, dass diese ab Mitte der 1970er-Jahre nicht weiter betrieben wurde. Stattdes- sen wurde seit dieser Zeit der Schwerpunkt immer weiter auf den Verteilungsaspekt gelegt, was zur dritten Erscheinungsform der Sozialen Marktwirtschaft führte. An der Grundvoraussetzung, dass über die Produktionsmittel privat verfügt wur- de, wurden zwar keine Änderungen vorgenommen. Wie die daraus erwirtschafteten Erträge aber verteilt werden sollten, wurde mehr und mehr vom Staat vorgeschrie- ben. Dabei war besonders, dass nun nicht mehr nur zugunsten der sozial Schwachen

54 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland umverteilt wurde, sondern alle sozialen Schichten von der neuen Verteilungspolitik profitieren sollten. Kennzahlen für eine solche Änderung innerhalb der dritten Pha- se der Sozialen Marktwirtschaft hin zu einer verteilungsausgerichteten Wirtschaft stellen die volkswirtschaftliche Staatsquote13 und die Abgabenquote14 dar. Während die Staatsquote nämlich 1960 bei 30 Prozent lag, stieg sie bis ins Jahr 2002 bis auf 48,5 Prozent an. Die Abgabenquote nahm indes einen ähnlichen Verlauf und stieg von ebenfalls 30 Prozent 1960 auf 40,4 Prozent im Jahr 2002 an. Somit hatte sich seit Mitte der 1970er Jahre eine Veränderung von einer vom Wettbewerb gesteuerten Marktwirtschaft hin zu einer verteilungsgesteuerten Wirtschaft vollzogen.15 Wiedervereinigung In seiner dreigliedrigen Einordnung der Zeitabschnitte der Sozialen Marktwirtschaft sieht Clapham allerdings sowohl in der Regierungspolitik Kohls, in der eine dere- gulierende, angebotsorientierte Wirtschaftspolitik bestimmend war, als auch in der Zeit nach der Wiedervereinigung kein eigenständiges Stadium der Sozialen Markt- wirtschaft. An dieser Stelle soll aber dennoch kurz auf die Herausforderungen an die Wirtschaftsordnung, die sich mit der deutschen Wiedervereinigung einstellten, ein- gegangen werden. Obwohl in der westdeutschen Wissenschaft davon ausgegangen wurde, dass mit der Vereinigung ein zweites Wirtschaftswunder stattfinden würde16, gestaltete sich die Realität schwieriger. So befand sich die Bundesrepublik bereits 1993 in einer scharfen Rezession und auch die Arbeitslosenzahlen nahmen keinen erfreulichen Verlauf, sodass 1997 eine gesamtdeutsche Arbeitslosenquote von 12,7 Prozent zu beklagen war. Besonders letzteres war auf drei Faktoren zurückzuführen. Zum Einen gingen östliche Absatzmärkte wegen ihres Zusammenbruches verloren. Zum Anderen verteuerten sich bedingt durch die Umstellung auf Westmark die Pro- dukte erheblich. Und des Weiteren waren die ehemaligen Staatsunternehmen nicht in der Lage, mit der Wettbewerbsfähigkeit der freien Märkte mitzuhalten. Gleichzeitig stieg auch die Verschuldung der öffentlichen Haushalte enorm an, der Anteil der öffentlichen Verschuldung am BIP stieg demnach bis ins Jahr 1997 um 17,2 Prozentpunkte auf 59,8 Prozent an.17

13 Bezeichnet die Gesamtausgaben des Staates in Prozent des BIP. 14 Bezeichnet die Steuern und Sozialabgaben in Prozent des BIP. 15 Vgl. Clapham, Ronald: Entstehung und Entwicklung des Konzepts der Sozialen Markt- wirtschaft, S. 15ff. 16 Vgl. Abelshauser, Werner: Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945. München 2004, S. 402ff. 17 Vgl. Schmid, Josef / Buhr, Daniel u. a.: Wirtschaftspolitik für Politologen, S. 203ff.

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Finanzmarktkrise Eine ähnliche Herausforderung an den deutschen Staat und seine Wirtschaftsord- nung wie die Wiedervereinigung wird in der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise gesehen. Denn auch heute stellt sich wie damals unter anderem die Frage, wie der Staat mit den in ihm ansässigen Unternehmen umzugehen hat und nach welchen Kriterien er sich für eine eventuelle staatliche Rettung aussprechen würde.18 Des Weiteren stellt sich aber noch viel mehr die Frage, ob und in welcher Form der Staat eine wirtschaftliche Ordnungspolitik betreiben soll. Er steht vor der Entschei- dung, deregulierende Tendenzen weiter voran zu treiben oder sich auf die Idee des Ordoliberalismus analog zurückzubesinnen und dem Staat damit mehr Interventi- onsmöglichkeiten beispielsweise durch eine gezielte Ordnungspolitik zu geben. Altkanzler Helmut Schmidt fordert ähnliches in seinen sechs Schritten, die Spekula- tionen einschränken sollen. Unter anderem hält er es für unerlässlich, alle zum Markt zugangsberechtigten Finanzinstrumente derselben Banken-und Finanzaufsicht zu unterstellen, die u. a. unter Strafe den Finanzinstituten verbieten kann, Geschäfte zu tätigen, die sich nicht innerhalb der angehörigen Bilanz befinden.19 Schmidt ist folg- lich der Auffassung, dass „ohne tief greifende hoheitliche Korrekturen der Finanzin- dustrie (…) das verlorene Vertrauen nicht zurückgewonnen und die Rezession nicht überwunden werden [kann].“20 Schmidt gesteht der staatlichen Institution durch- aus einen nicht unerheblichen Interventionsspielraum in Wirtschaft und Finanzen zu und greift, wenn auch mit einer anderen Akzentuierung, auf das Konzept der Ordnungspolitik der Freiburger Schule zurück. So zeigt sich, dass das Konzept des Ordoliberalismus und die darauf beruhende Idee der Sozialen Marktwirtschaft heute genauso aktuell sind wie zum Zeitpunkt ihrer Ursprünge vor 60 Jahren. Wenn sich Werner Abelshauser also letztendlich die Frage stellt, „was hat den schnel- len Wiederaufstieg der westdeutschen Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg be- wirkt? War es (…) jene spezifische (west)deutsche Ordnungspolitik, die noch heute als ‚soziale Marktwirtschaft‘ zur Rhetorik deutscher Wirtschaftspolitik gehört, oder eine außerordentlich günstige Konstellation der Produktionsfaktoren (…), die für eine schnelle Rekonstruktion der westdeutschen Wirtschaft gute Voraussetzungen schuf?“21, so lässt sich abschließend festhalten, dass natürlich die Voraussetzungen, die von den Alliierten zum wirtschaftlichen Wiederaufbau Deutschlands geschaffen

18 Vgl. Brost, Marc / Dausend, Peter: Überflieger oder Pleitegeier - In der Krise gerät der Staat an seine Grenzen. In: DIE ZEIT Nr.10 vom 26.02.2009, S. 3. 19 Vgl. Schmidt, Helmut: Wie entkommen wir der Depressionsfalle? In: DIE ZEIT Nr.4 vom 15.01.2009, S.19–20. 20 Ebd., S. 20. 21 Abelshauser, Werner: Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, S. 402.

56 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland wurden, wesentlich für die weitere Entwicklung waren. Die Soziale Marktwirtschaft ist aber dennoch ohne die persönlichen Leistungen ihrer Gründungsväter nicht denkbar und wäre ohne sie keiner Weise bis zum heutigen Zeitpunkt derart erfolg- reich gewesen. Denn wie bereits gezeigt besinnen sich viele Wirtschaftspolitiker und auch Helmut Schmidt nach einer langen Politik der Deregulierung in Krisenzeiten auf die Kernelemente der Sozialen Marktwirtschaft zurück.

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Thema: 60 Jahre Bundesrepublik deutschland a) Das Selbst B) Das Andere c) Innen und Außen D) Abgründiges

Heiße oder kalte Krieger? Bundesdeutsche Ministerien und der Einsatz (west-) deutscher Söldner während der Kongo-Krise 1964/65

Christian Bunnenberg Universität zu Köln, Historisches Seminar I E-Mail: [email protected]

Schlüsselwörter Kalter Krieg, Neokolonialismus, Bundesdeutsche Ministerien, Kongo- Krise, Söldner

In seiner Erklärung zu den seit Anfang des Jahres 1964 in der Demokratischen Re- publik Kongo1 herrschenden bürgerkriegsähnlichen Zuständen machte ein Sprecher des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten der Deutschen Demokratischen Republik am 26. August 1964 sehr deutlich, wo er die Anstifter und vor allem Unter- stützer dieses Konfliktes sah. Neben den USA und anderen (ungenannten) NATO- Staaten machte er vor allem „die Bonner Regierung“ verantwortlich, denn „mit ihrer Hilfe und Duldung [würden] Deutsche als Söldner für Tshombe2 geworben und von Westdeutschland und Südafrika aus im Kongo eingesetzt“.3 Nach einer großangeleg-

1 In diesem Beitrag steht „Kongo“ für das Gebiet der heutigen Demokratischen Republik Kongo. 2 Moise Kapenda Tshombé (auch: Tschombé), 1919–1969, kongolesischer Politiker. Tshombé erklärte im Juli 1960 die kongolesische Provinz Katanga als unabhängig. 1963 wurde Katanga wieder angegliedert und Tshombé ging ins Exil. Durch Präsident Kas- avubu (1910–1969) wurde Tshombé 1964 bis zum zweiten Putsch durch Joseph Désiré Mobutu (1930–1997) im November 1965 als Ministerpräsident der Demokratischen Republik Kongo eingesetzt. Von Müllenheim-Rechberg, Burkhard: Entführung und Tod des Moise Tshombé. Das Ende einer Hoffnung für den Kongo. Münster 1998. 3 Vgl. Hänisch, Werner / Willumeit, Heinz (Hrsg.): Dokumente zur Außenpolitik der Deut-

58 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland ten Luftlandeoperation US-amerikanischer und belgischer Fallschirmjäger im Raum der kongolesischen Provinzhauptstadt Stanleyville4 am 24. November 1964 verurteil- te der Sprecher erneut den „hinterhältigen Anschlag auf die Befreiungsbewegung des kongolesischen Volkes [als] eine offene imperialistische Operation“. „Besondere Empö- rung [aber müsse] die Unterstützung der Terroraktion durch die Bonner Regierung her- vorrufen. Durch die Duldung und Unterstützung der Anwerbung von westdeutschen Söldnern und hohe finanzielle Zuwendungen an das Tshombé-Regime machen sich die herrschenden Kreise der westdeutschen Bundesrepublik mitschuldig an den blutigen Massakern, die unter [der] kongolesischen Bevölkerung von den weißen Söldnertrup- pen angerichtet werden.“ 5 Noch konkreter wurde der Abgeordnete Schirmer am 4. Februar 1965 im Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten der Volkskammer der DDR. Die Bonner Regierung hätte Tshombé bei seinem Besuch in Westdeutschland als „Held der freien Welt“ ge- feiert und ihm eine „Mordbeihilfe von 10 Millionen Mark“ zugesagt.6 Ein Viertel der sogenannten „weißen Tshombé-Söldner“ wären zudem Westdeutsche – unter ihnen ein „gewisse[r] Captain Müller, ein ehemaliger SS-Sturmbannführer“ – die mit ihren „Schockgruppen“ im Kongo wüten würden.7 Im direkten Zusammenhang wird auch der Empfang Tshombés durch Bundespräsident Lübke gesehen, der beweise, dass die Bonner Regierung im Kongo eine imperialistische und neokolonialistische Politik betreiben würde.8 Die Bundesrepublik Deutschland als imperialistischer Akteur? Die hier zitierten Vorwürfe durch die Vertreter der DDR wiegen schwer. Der vor- liegende Beitrag möchte den Vorwürfen nachgehen und klären, inwiefern die Re- gierung und die Ministerien der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1964 und 1966 in die Kongo-Krise verstrickt waren. Schwerpunkt des Interesses liegt dabei auf der angesprochenen materiellen und personellen Unterstützung des kongolesischen Ministerpräsidenten Tshombé – vor allem durch die wiederholt angesprochene Ver- mittlung und den Einsatz (west-)deutscher Söldner. Aussagekräftige Quellen konnten im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes und

schen Demokratischen Republik 1964. Band XII. Berlin 1966. S. 829. 4 Die Namen der kongolesischen Ortschaften werden aus den Quellen zitiert. 1966 wurden diese teilweise geändert (z. B. Léopoldville in Kinshasa, Stanleyville in Kisangani). 5 Vgl. ebd. S. 830. 6 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.): Dokumente zur Deutsch- landpolitik. IV. Reihe/Band 11 (1. Januar bis 31. Dezember 1965), 1. Halbband (1. Januar bis 31. Mai 1965). Frankfurt a. M. 1978. S. 134. 7 Vgl. ebd. S. 134. 8 Vgl. ebd. S. 137.

Dis | kurs 59 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 im Bundesarchiv Koblenz eingesehen werden – allerdings nur für das Auswärtige Amt, das Präsidialamt und das Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen.9 Weiterhin sind in den vorliegenden Quellen Hinweise auf die Tätigkeiten von Söldnern und/ oder den Kenntnisstand des Bundesministeriums des Inneren, des Verteidigungs- ministeriums und des Bundeskanzleramtes enthalten. Bei den Quellen handelt es sich fast ausschließlich um Behördenakten, vor allem um Drahtberichte aus den deutschen Botschaften und Konsulaten in Afrika an das Auswärtige Amt, internen Schriftverkehr der Ministerien, aber auch um Eingaben von Bundesbürgern und de- ren Beantwortung. Ein Überblick über die historische und politikwissenschaftliche Forschungsliteratur zum deutschen Engagement in Zentralafrika zeigt ein zunehmendes Interesse an Fragestellungen zur deutschen Afrikapolitik nach 1949.10 Dabei wird in jüngster Zeit vermehrt das Handeln beider deutscher Staaten in den Blick genommen und vor der Folie des „Kalten Krieges“ vergleichend untersucht.11 Hinsichtlich der Demokra- tischen Republik Kongo sind die Kongo-Krise und der Einsatz deutscher Söldner in diesem Konflikt auch bereits verschiedentlich bearbeitet worden.12 Während sich in Mitteleuropa nach zahlreichen politischen Krisen immer mehr eine Patt-Situation abzeichnete, kämpften die USA und die Sowjetunion als führen- de Mächte der bipolaren Weltordnung in sogenannten kleinen heißen Kriegen an der politischen und geographischen Peripherie des „Kalten Krieges“ um die jeweilige Durchsetzung ihrer Position in den jungen Nationalstaaten Afrikas und Asiens. In Afrika versuchten beide Seiten durch finanzielle, personelle und materielle Unter-

9 Von 1949 bis 1969 „Ministerium für gesamtdeutsche Fragen“, ab 1969 bis 1991 „Minis- terium für innerdeutsche Beziehungen“. 10 z. B.: Ndumbe III., Kum’a: Was will Bonn in Afrika? Zur Afrikapolitik der Bundesrepublik Deutschland. Pfaffenweiler 1992; Eyinla, Bolade Michael: The foreign policy of towards Africa. Ibadan 1996; Engel, Ulf: Die Afrikapolitik der Bundesrepublik Deutschland 1949–1999. Rollen und Identitäten. Münster 2000. 11 Husemann, Bettina: Die Afrikapolitik der DDR. Hamburg 1994; Schulz, Brigitte H.: Development Policy in the Cold War era. The two Germanies and the Sub-Saharan Africa. Münster 1995; Engel, Ulf / Hans-Georg Schleicher (Hg.): Thesen zur Afrikapolitik der beiden deutschen Staaten. Hamburg 1997; Engel, Ulf: Die beiden deutschen Staaten in Afrika: Zwischen Konkurrenz und Koexistenz 1949–1990. Hamburg 1998; Engel, Ulf: Afrikapolitik im Schatten der Hallstein-Doktrin. Leipzig 1998; Heyden, Ulrich van der: Solidarität und Wirtschaftsinteressen.: die „geheimen“ Beziehungen der DDR zum süd- afrikanischen Apartheidregime. Münster 2005. An der HU Berlin erstellt zur Zeit Torben Gülstorff eine Arbeit, die auf breiter Quellenbasis das Engagement beider deutscher Staaten in Zentralafrika zwischen Nachkriegszeit und Ölkrise darstellen möchte. 12 Wirz, Albert: Krieg in Afrika. Die nachkolonialen Konflikte in Afrika in Nigeria, Sudan, Tschad und Kongo. Wiesbaden 1982; Kazca, Thomas: Die Kongo-Krise 1960–1965. Paffenweiler 1990; Odom, Thomas D.: Dragon Operations. Hostage Recues in the Congo, 1964–1965, in: Leavenworth Papers, Nr. 14/1988; Bunnenberg, Christian: Der „Kongo- Müller“: Eine deutsche Söldnerkarriere. Münster 2007.

60 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland stützung einer verbündeten Partei Einfluss auf die politische Entwicklung zu neh- men. Auch der als „Kongo-Krise“ bezeichnete kongolesische Bürgerkrieg entwickelte sich unter diesen Vorzeichen zu einem Stellvertreterkrieg – gewährleisteten auf west- licher Seite amerikanische und belgische Militärberater, exil-kubanische Piloten und international zusammengesetzte Söldner eine Unterstützung der kongolesischen Zentralregierung, so standen auf der Gegenseite eine sino-sowjetische Militärhilfe und – als populärstes Beispiel – der südamerikanische Revolutionär Ernesto „Che“ Guevara.13 Auslöser für diesen nachkolonialen Konflikt war vor allem die umfang- reiche Einflussnahme der ehemaligen Kolonialmacht Belgien, die – durch die USA unterstützt – sich den Zugang zu den reichen Rohstoffvorkommen, vor allem bei Kupfer und Uran-Erz, sichern wollte.14 Die Kongo-Krise 1960-1965 Das Jahr 1960 sollte aufgrund der Entlassung zahlreicher afrikanischer Kolonialge- biete in die Unabhängigkeit das „Jahr Afrikas“ werden.15 Im Gegensatz zu den meis- ten ehemaligen kolonialen Besitzungen durchlief die Demokratische Republik Kon- go keinen relativ reibungslosen Dekolonisationsprozess. Erheblichen Anteil daran hatten eine mangelnde Politisierung und eine restriktive belgische Bildungspolitik gegenüber der kongolesischen Bevölkerung, die von Belgien mit wenig mehr als ei- nem Jahr Vorbereitung in die Unabhängigkeit entlassen wurde. Staatspräsident Ka- savubu16 und Ministerpräsident Lumumba17 sahen sich bereits unmittelbar nach der Unabhängigkeitsfeier am 30. Juni 1960 mit einer Vielzahl politischer und sozialer Probleme konfrontiert. Gleichzeitig zu einer Meuterei der Nationalarmee kam es in der Bergbauprovinz Katanga unter Tshombé zu seperatistischen Bewegungen.18 Die offensichtliche Unterstützung Tshombés durch belgische Minengesellschaften und das belgische Militär wurden als Ausdruck eines anhaltenden belgischen Paternalis- mus gesehen. Die Ermordung Lumumbas im Zuge eines erfolgreichen Putschversu- ches des kongolesischen Obersts Mobutu führte schließlich zwischen 1960 und 1965

13 Zur westlichen Unterstützung: Kacza: Kongo-Krise. S. 166. Zur Unterstützung des Ostblocks: Berner, Wolfgang: Peking und der kongolesische Partisanenkrieg. In: Ost- Probleme. Nr. 20/1966. S. 610–614; Guevara, Ernesto Che: Der afrikanische Traum. Das wiederaufgefundene Tagebuch vom revolutionären Kampf im Kongo. Köln 2000. 14 Mollin, Gerhard Th.: Die USA und der Kolonialismus: Amerika als Partner und Nachfol- ger der militärischen Macht in Afrika 1939–1965. Berlin 1996. S. 291ff; Wirz: Krieg in Afrika. S. 479. 15 Kacza: Kongo-Krise. S. 7. Von 1847 bis 1960 waren neun Staaten in die Unabhängigkeit entlassen worden, 1960 bis 1993 folgten weitere 23 Staaten. 16 Joseph Kasavubu, 1910(?)–1969, kongolesischer Staatspräsident 1960–1965. 17 Patrice Émery Lumumba, 1925–1961 (ermordet), kongolesischer Ministerpräsident 1960. 18 Stöver: Der kalte Krieg. S. 70ff.

Dis | kurs 61 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen, denen auch eine großangelegte Entsendung von UN-Truppen kaum Einhalt gebieten konnte. Im Spannungsfeld zwischen Hauptstadt und Peripherie, lokalen Unruhen in unzureichend kontrollier- baren Provinzregionen und einer zunehmend chaotischen wirtschaftlichen und fi- nanziellen Lage des Landes geriet der Kongo in eine äußerst instabile Sicherheitslage. Ab 1962 formierte sich der Widerstand gegen die Zentralregierung unter den Oppo- sitionsführern Mulélé, Soumialot und Gbenyé.19 „Basierend auf einer grob vereinfach- ten marxistischen Interpretation der Lage im Kongo“20 versuchte Mulélé ab Juli 1963 in der Provinz Kwilu Erfahrungen eines Chinaaufenthaltes politisch umzusetzen. Träger des „revolutionären Kampfes“ gegen die Regierungstruppen war die Jugend- organisation „Jeunesse“. Nach Abzug der UN-Truppen Mitte 1964 konnten die Re- bellen auf breiter Front militärische Erfolge erzielen und riefen nach der Besetzung der Provinzhauptstadt Albertville durch Soumialot die Volksrepublik Kongo aus.21 Wegen des weitgehenden Kontrollverlustes über Armee und Land rief Staatpräsident Kasavubu den Provinzpolitiker Tshombé aus dem Exil zurück und übertrug ihm die Regierungsverantwortung. Angesichts der für ihre wirtschaftlichen und politischen Interessen bedrohlichen Situation im Kongo billigten die USA und Belgien Anfang August den Einsatz einer internationalen Söldnertruppe, da weder sie noch eine an- dere europäische Macht in den Konflikt eingreifen wollten.22 Am 21. August 1964 trafen die ersten 38 Söldner auf dem Flugplatz von Kamina im Kongo ein – unter ihnen drei Deutsche: Müller, Köhlert und Nestler. Deutsche Söldner für den Kongo? Einer der zentralen Vorwürfe an die Regierung der Bundesrepublik Deutschland durch die Vertreter der DDR war die Duldung und Hilfe bei der Anwerbung von Söldnern für den Kongo auf dem Boden Westdeutschlands. Tatsächlich verfolgte das Auswärtige Amt seit 1961 das Thema „Söldner im Kongo“ äußerst sensibel. Bereits Anfang 1961 wurden in Kairos großen Tageszeitungen Pressemeldungen gedruckt, nach denen 300 Deutsche in Katanga als Teil einer internationalen Söldnertruppe für Tshombé kämpfen sollten. Eine Überprüfung durch das Auswärtige Amt brachte kei- ne entsprechenden Ergebnisse, es wurde aber angemerkt, dass die „Meldung in fünf

19 Kacza: Kongo-Krise. S. 159; Wirz: Krieg in Afrika. S. 356ff. 20 Wirz: Krieg in Afrika. S. 535. Im folgenden Teil der Ausführungen wird die in der For- schung gebräuchliche Aufteilung der Konfliktparteien in Regierungseinheiten (Armée Nationale Congolaise (ANC), Söldner, Exil-Kubaner, Militärberater) und Rebellen (Jeu- nesse, Armée Populaire de Libération (APL), Kubaner um Che Guevara) benutzt. 21 Kacza: Kongo-Krise. S. 161; Wirz: Krieg in Afrika. S. 540. 22 Gleijeses, Piero: Flee! The white giants are coming! The United States, the mercenaries, and the Congo 1964–1965. In: Diplomatic history. The society for Historians of American Foreign Relations. Nr. 18 (1994). S. 207–237. Hier: S. 215ff.

62 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland von sechs Kairoer Zeitungen gut platziert“ war.23 Nur wenige Tage später meldete der deutsche Konsul aus dem kongolesischen Elisabethville, dass tatsächlich Freiwillige aus Deutschland bei der sogenannten Katangalegion eingetroffen seien, ohne jedoch nähere Informationen geben zu können.24 Nachdem sich die Bundesregierung aus- drücklich von diesem Vorgang distanziert hatte, folgten in den folgenden Monaten Meldungen mit unterschiedlichen Inhalten zur Anwesenheit deutscher Söldner im Krisengebiet. Erst nach Verlauf eines Jahres wurden von dem Journalisten Scholl- Latour konkrete Zahlen und Namen genannt: es hielten sich nachweislich nur zwei deutsche Söldner in Katanga auf.25 Auch die Gerüchte um einen Mr. Bissat, der von der Regierung Katangas 300 Pfund erhalten haben soll um ein Werbebüro in der Bundesrepublik eröffnen zu können, erwiesen sich als substanzlos.26 Die Niederschlagung der Sezessionsbewegung Katangas beendete auch die Diskus- sion um die Deutschen im Krisengebiet, allerdings nur vorerst. Mit der Rückkehr Tshombés aus dem Exil im Sommer 1964 kamen auch die ersten Hinweise auf den Aufbau einer neuen Söldnertruppe für den Kampf gegen die Rebellen.27 Dass diese wiederum ungenau waren oder jeglicher Grundlage entbehrten, zeigt die Meldung über 200 weiße Söldner auf der kongolesischen Militärbasis Kamina, einen Monat bevor die ersten drei Dutzend Söldner dort eintrafen.28 Die wenigen Deutschen, die sich vor Ort sammelten – im Verlauf des gesamten Konflikts werden kaum mehr als 40 bis 50 von ihnen im Kongo gewesen sein – hielten sich bereits auf dem afrikani- schen Kontinent auf, vornehmlich in Südafrika und Rhodesien29, wo offen für den Söldnerdienst geworben wurde. Nach Auskunft eines Journalisten wurde ein Groß- teil der „Söldner deutscher Staatsangehörigkeit […] von Deutschen gestellt […], die vor einigen Jahren in die Südafrikanische Republik ausgewandert“ seien.30 So war nicht nur Müller in Südafrika angeworben worden, sondern auch drei weitere Deutsche oder Deutschstämmige, die wegen des Söldnerdienstes in deutschen Bot- schaften vorsprachen. Aus diesem Grund bat der deutsche Botschafter in Südafrika um eine Handlungsanweisung aus dem Auswärtigen Amt, da „zwei in Johannesburg wohnhafte Deutsche die Ausstellung eines deutschen Reisepasses beantragt [hätten],

23 Auswärtiges Amt (AA) Politisches Archiv (PA) B34 160, 25.1.1961. 24 AA PA B34 161, 27.1.1961. 25 AA PA B34 351, 10.2.1962. 26 AA PA B34 163, 22.4.1961. 27 AA PA B34 501, 18.7.1964. 28 AA PA B34 497, 25.7.1964. 29 Heute: Simbabwe/Sambia. 30 Vgl. AA PA B34 501, 5.9.1964.

Dis | kurs 63 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 um in kongolesischen Heeresdienst zu treten“.31 Der Botschafter verwies auf das Pass- gesetz, das ein Passversagen vorsah, wenn sich ein Deutscher „unbefugt zum Wehr- dienst außerhalb der Bundeswehr verpflichten will“ und auf das Wehrpflichtgesetz, nach dem sich „Wehrpflichtige […] nur mit Zustimmung des Bundesministeriums der Verteidigung zu einem Wehrdienst außerhalb der Bundeswehr verpflichten“ dürfen.32 Mit einem bereits eingereisten Deutschen musste sich zeitgleich der Botschafter in Leopoldville beschäftigen. Bei ihm hatte sich ein 1942 in Deutschland geborener und nun in Johannesburg lebender junger Mann gemeldet, der einen nur zehn Tage dau- ernden Aufenthalt im Kongo bereits zu bereuen schien und um die „Heimschaffung zu seiner Mutter“ nach Deutschland bat.33 Er habe sich „in Johannesburg für die Söld- nertruppe der kongolesischen Regierung anwerben“ lassen und seit seiner Landung in Kamina nur Enttäuschungen erlebt. So war ihm weder der versprochene Sold aus- gezahlt worden, noch hatte eine Ausbildung begonnen: „Er habe deshalb seine Rück- beförderung nach Johannesburg verlangt, stattdessen sei er nach Leopoldville gebracht worden, wohl weil er Sportflugzeuge fliegen könne und deshalb als Pilot für die kongole- sische Luftwaffe vorgesehen sei.“34 Auch hier wurden Handlungsanweisungen erbeten, die Reaktionen des Auswärtigen Amtes sind leider nicht in den Akten überliefert. Die Vorgänge zeigen aber, dass es keine großangelegten Werbekampagnen auf deut- schem Boden gab, von denen vor allem ab September 1964 wiederholt in der nati- onalen und internationalen Presse zu lesen war. Aus verschiedenen afrikanischen Staaten kamen über die Botschaften Meldungen, dass die Presse über ein „geheimes Anwerbungsbüro in [der] Bundesrepublik“ berichten würde, das „laufend weitere Söld- ner verpflichte“.35 Urheber der Meldung schien die sowjetische Nachrichtenagentur TASS zu sein.36 Das Auswärtige Amt ließ daraufhin über sämtliche Vertretungen ein Dementi verbreiten, nach dem die „in der nordafrikanischen Presse verbreitete TASS- Meldung, dass ehemalige deutsche Fremdenlegionäre durch [ein] geheime[s] Anwer- bungsbüro in der Bundesrepublik Deutschland zum Dienst als Söldner der Regierung Tschombé rekrutiert“ würden frei erfunden sei. Nach dem deutschen Strafgesetzbuch sei das Anwerben Deutscher für einen fremden Wehrdienst unter Strafe gestellt und werde entsprechend verfolgt.37 Die gleiche Antwort findet sich auch in einer Akten- notiz zu der Anfrage des Bundestagsabgeordneten Biechle (CDU/CSU), der von der

31 Vgl. ebd., 4.9.1964. 32 Vgl. ebd. Zitate: Passgesetz §7 Abs. 1 (5), Wehrpflichtgesetz §8. 33 Vgl. AA PA B34 501, 10.9.1964. 34 Vgl. ebd. 35 Vgl. ebd., 24.9.1964. 36 Vgl. ebd. 37 Vgl. ebd., 1.10.1964.

64 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland

Bundesregierung zu den Anschuldigungen ebenfalls eine Stellungnahme wünschte – nebst dem Zusatz, dass sich die Bundesregierung ausdrücklich gegen den Söldner- dienst deutscher Staatsangehöriger aussprechen würde.38 Ein Passentzugsverfahren ohne Folgen Mit der zunehmenden Presseberichterstattung in den westdeutschen Printmedien im Spätherbst 1964 rückte ein deutscher Söldner immer mehr ins Zentrum der öf- fentlichen und auch ministeriellen Aufmerksamkeit. Siegfried Friedrich Heinrich Müller war die zentrale Figur einer mehrwöchigen Reportage in der Illustrierten STERN, die den „Kongo-Müller“ zu dem vermeintlichen Prototyp des deutschen Afrika-Söldners stilisierte. Dabei war Müller geradezu ein Gegensatz zu dem meist unerfahrenen deutschen oder deutschstämmigen Mittzwanziger, der sich für den Einsatz im Kongo gemeldet hatte. Als Angehöriger des Jahrgangs 1920, erzogen in einem nationalkonservativen Elternhaus mit einer durch den Offiziersberuf des Va- ters geprägten Erziehung, hatte Müller bereits im Zweiten Weltkrieg gekämpft. Auch nach dem Krieg bleibt er der Soldatenprofession treu, zunächst als Angehöriger ei- ner Wachschutzeinheit der Amerikaner auf dem Fliegerhorst Ramstein, später als Minenexperte für eine britische Erdölfirma. Im Kongo übernahm Müller auf Grund seiner Offiziersausbildung eine eigene Einheit und kämpfte mit dieser gegen Re- bellen im Großraum Boende. Für die nationale und internationale Presse war der Deutsche vor allem wegen seines einprägsamen Namens und sein im Kongo ständig zur Schau getragenes Eisernes Kreuz äußerst interessant, gewährleisteten diese doch einen hohen Wiedererkennungseffekt. Weiterhin handelte es sich bei Müller um ei- nen Offizier im fortgeschrittenen Alter, dem man im Gegensatz zu seinen jugendlich wirkenden Mitstreitern die Formulierung vermeintlich höherer Ziele, wie die von ihm selbst propagierte Verteidigung des freien Westens gegen den Kommunismus, durchaus glaubte.39 Obwohl Müller bereits Ende 1964 durch die Medien deutschlandweit bekannt war, wurden deutsche Ministerien erst ein Jahr später auf seine Person aufmerksam. Am 19. Dezember 1965 enthüllte die BILD-Zeitung, dass der „legendenumwobene Major Müller – der deutsche Spezialist für afrikanischen Partisanenkampf –“ in einen politi- schen Konflikt in Rhodesien eingreifen würde. So sei geplant, dass„Müller […] seine Legionen nach Salisbury“ verlegen würde, um zu verhindern, dass „mit rotchinesischer Hilfe aus Rhodesien ein afrikanisches Vietnam gemacht werde.“ Dem Artikel folgte am 20. Dezember eine dpa-Meldung gleichen Inhalts. Im Januar verbreitete die BILD- Zeitung, dass Müller durch Deutschland reisen und in Köln und Hamburg Söldner

38 AA PA B34 497, 2.12.1964. 39 Zu Biographie, Einsatz und Medienrezeption Müllers: Bunnenberg: Kongo-Müller.

Dis | kurs 65 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 rekrutieren würde.40 Aus der ghanaischen Hauptstadt Accra wurde dem Auswärti- gen Amt daraufhin mitgeteilt, dass sich das„ghanaische Präsidialamt über diese Mel- dung sehr besorgt“ zeigen würde und die deutsche Botschaft um Auskünfte in dieser Sache gebeten habe.41 Das Auswärtige Amt entschloss sich umgehend, Müller den Reisepass zu entziehen, da er „unbefugt in fremde Heere eingetreten“ sei und zudem „erhebliche deutsche Staatsbelange gefährden“ würde.42 Sofortiger Handlungsbedarf wurde vor allem gesehen, weil das „Sichverdingen deutscher Staatsangehöriger an das rhodesische Rebellenregime […] die deutsch-britischen und deutsch-afrikanischen Be- ziehungen“ stark belasten und außerdem der „SBZ-Propaganda […] Vorschub leisten“ würde.43 Deren Aktionen wurden bereits seit 1961 äußerst aufmerksam verfolgt. So hatte es unmittelbar nach der Ermordung Lumumbas in Accra eine „von der SBZ- Handelsvertretung“ gelenkte Demonstration mit 2-3000 Teilnehmern gegeben; die aufgebrachte Menge zerriss vor der Botschaft eine UN-Fahne und skandierte Parolen wie „Down with west german imperalism!“, „West germany militarists clear out!“ und „Shame to Adenauer!“.44 Der plötzliche Aktionismus des Auswärtigen Amtes verwundert zu diesem Zeit- punkt, lagen doch über das Tun Müllers im Kongo seit Monaten detaillierte Berich- te vor, die im Gegensatz zu den BILD-Meldungen auch der Wahrheit entsprachen. Obwohl ein Söldnereinsatz in Rhodesien von Müller nie geplant war, wurde in ei- ner Dienstbesprechung über den Fall Müller am 19. April 1966 festgelegt, dass das Auswärtige Amt gerne „drastische Maßnahmen […] sehen“ würde, da „die Teilnahme deutscher Staatsangehöriger an bewaffneten Auseinandersetzungen in Afrika außen- politisch sehr unerwünscht“ sei.45 Rückfragen beim Bundesministerium des Inneren ergaben nur, dass Müller über keinen gültigen Reisepass mehr verfügte, sich bereits 1963 nach Südafrika abgemeldet hatte und zum gegenwärtigen Zeitpunkt in Paris vermutet wurde. Dem Auswärtigen Amt bot sich also keine Möglichkeit zum Ein- greifen. Verschärft wurde die Situation zusätzlich dadurch, dass im DDR-Fernsehen zeitgleich zum eingeleiteten Passentzugsverfahren mehrere Dokumentarfilme mit stark propagandistischen Inhalten über Müller gezeigt wurden. Besondere Aufmerk- samkeit erfuhr ein Interview, das Müller ahnungslos über die Herkunft seiner Ge- sprächspartner und unter dem zunehmenden Einfluss von Alkohol einer Gruppe

40 BILD, 18.1.1966 41 Vgl. AA PA B82 1116, 23.12.1965. 42 Vgl. ebd. 43 Vgl. ebd. 44 Vgl. ebd. 16.2.1961. 45 Vgl. ebd.

66 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland ostdeutscher Filmemacher gegeben hatte.46 Obwohl die „Kampagne in zahlreichen Staaten einen publizistischen Widerhall gefunden und erhebliche Belange der Bun- desrepublik Deutschland gefährdet“ hatte, wurde in dem Abschlussbericht zum Ver- fahren gegen Müller festgestellt, dass „die Schädigung des deutschen Ansehens“ nicht ausreichen würde, um „passbeschränkende Maßnahmen gegen „Kongo-Müller“ zu rechtfertigen“.47 Ein weiteres Verfahren wurde nicht eingeleitet, so dass Müller bis zu seinem Tod 1983 in Südafrika von deutschen Behörden unbehelligt blieb. Brief an einen Bundesminister Die bundesdeutsche Öffentlichkeit reagierte allerdings zum Teil sensibler auf die ersten STERN-Berichte aus dem Kongo. In den Akten sind Eingaben von Bundes- bürgern an den Bundeskanzler und verschiedene Ministerien erhalten geblieben, die erschrocken und empört Auskünfte über die Tätigkeiten deutscher Söldner ver- langen und die Regierung zum Handeln aufrufen. Vor allem aber die Konfrontati- on mit den Filmen über die deutschen Kongo-Söldner verstörte Betrachter aus der Bundesrepublik. So schrieb am 22. Juli 1966 eine aus der „Zone zurück[gekehrte]“ besorgte Bürgerin an den Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen, dass sie und ihre Tochter während ihres Besuchs „immer wieder in einer schrecklichen Sache an- gesprochen [worden waren], von der [sie] aber nie gehört hatten und nichts wussten.“ Weiter schrieb sie: „In der Zone wird ein Film gezeigt […]. Es sollen so entsetzliche Dinge gezeigt werden, dass die Menschen sich abdrehen oder zum Teil das Kino verlas- sen. Es wird gesagt, dass Reporter […] aus der Zone diesen Herrn Müller, (man nennt ihn Kongo-Müller) besucht hätten […]. Ist das alles wahr, Herr Minister […]? Ich habe den Leuten versprochen mich bei Ihnen zu erkundigen.“ 48 Die Antwort des Ministers wurde im Ministerium sorgfältig vorbereitet und mehr- fach korrigiert. Es wurde vor allem deutlich gemacht, dass „der ehemalige Wehr- machtsoffizier Müller [und] dieser Film“ bekannt wären. Mit Verweis auf das Grund- recht der Freizügigkeit im Grundgesetz wäre es aber „jedem unbenommen, auch im Ausland einer Tätigkeit nachzugehen“. Müller habe sich „für eine Tätigkeit im Kon- go anwerben“ lassen und sei von General Mobutu, „also einem Kongolesen, mit dem Kommando betraut“ worden. Die Einsätze der Söldner wurden als „Polizeiaktionen“ bezeichnet, die „immer ein Bild der Grausamkeit“ bieten würden, „besonders dann, wenn man sie mit der Absicht filmt und veröffentlicht, mit der Darstellung […] einen bestimmten politischen Effekt zu erzielen.“ Der Film sei zudem nicht mit der Intenti-

46 Kommando 52 (1965), Der lachende Mann (1966), PS. zum lachenden Mann (1966), Der Fall Bernd K. (1967). 47 Vgl. AA PA B82 1116, 10.2.1967. 48 Vgl. Bundesarchiv Koblenz (BA) B137/13525.

Dis | kurs 67 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 on gedreht worden „das Gewissen der Welt gegen Unmenschlichkeit und Grausamkeit aufzurütteln, sondern um gegen den Westen und vor allem gegen die Bundesrepublik Deutschland zu agitieren.“ Besonders deutlich würden dies die Szenen zeigen, „die mit der Tätigkeit des Major Müllers absolut nichts zu tun [hätten]: Tschombé […] be- sucht den Bundespräsidenten. Der Zuschauer soll[e] daraus folgern, dass die Bundesre- publik Deutschland die Polizeiaktionen im Kongo unterstützen [würde].“49 Die Besuche Tshombés im Dezember 1964 und Juni 1965 waren nach Akten des Prä- sidialamtes Privatbesuche; im Dezember wurde er währenddessen allerdings auch von Bundespräsident Lübke empfangen. Die Beziehungen zwischen dem Kongo und der Bundesrepublik Deutschland wurden als freundschaftlich angesehen, auf gute Beziehungen viel Wert gelegt. Dafür waren aus deutscher Sicht auch die umfangrei- chen Bodenschätze des Kongos ein ausschlaggebender Grund, und die Tatsache, dass die Bundesrepublik nach den USA und Belgien drittgrößtes Lieferland für den zen- tralafrikanischen Staat war. Die Ausfuhr belief sich 1963 auf rund 63 Millionen DM gegenüber einer Einfuhr von rund 114 Millionen DM. Für die Kongolesen war die deutsche Wirtschaftshilfe und technische Hilfe von großem Interesse.50 In den von der DDR erstellten Filmen und Publikationen über „Kongo-Müller“ nahm dies Tref- fen zwischen Tshombé und Lübke einen zentralen Platz in der Argumentation ein. Sehr wahrscheinlich war es dem Bundesminister deswegen so wichtig, auch diesen Sachverhalt aufzuklären. Anhand von dem Antwortbrief beigefügten kopierten Pres- seartikeln sollte zudem deutlich gemacht werden, dass auch in der Bundesrepub- lik über „das Tun Müllers im Kongo“ nicht geschwiegen werde. Zum Abschluss des Schreibens bemühte der Minister dann aber seinerseits die politische Polemik, in- dem er auf die „Grausamkeiten […] im kommunistischen Machtbereich“ verwies: „Die grauenhaften Morde an der Mauer in Berlin oder an der Demarkationslinie zwischen der Bundesrepublik und der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, der Aufstand des ungarischen Volkes gegen seine sowjetischen Bedrücker und andere Ereignisse“ würden ebenfalls ausreichend Anschauungsmaterial bieten.51 Fazit Dieser Brief ist die einzige erhaltene Antwort eines Mitglieds der Bundesregierung auf eine Anfrage aus der Öffentlichkeit. Obwohl nur an eine Einzelperson gerich- tet, wurde in den Entwurf des Schreibens viel Zeit investiert, mehrfach Korrekturen eingearbeitet und mit den Zeitungsberichten zusätzliche Argumentationshilfe beige- fügt. Während das Auswärtige Amt vor allem auf die Vermeidung einer schlechten

49 Vgl. ebd. 50 BA Koblenz B122/5341. 51 Vgl. BA Koblenz B137/13525.

68 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland

Außenwahrnehmung durch deutsche Söldner achtete, bemühte sich das Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen im vorliegenden Fall ausschließlich um die Aufklärung und Relativierung der DDR-Propaganda. Auffällig dabei ist, dass das Auswärtige Amt nicht bereits während der Phase des aktiven Einsatzes der deutschen Söldner gegen Ende des Jahres 1964 Maßnahmen ergriff, sondern erst nach den erwähnten Presseberichten und konkreten Anfra- gen aus dem Ausland. Anscheinend gab es bezüglich der Kongo-Krise die generelle Wahrnehmung, dass die Söldner 1964 auf der „richtigen“ Seite kämpfen würden. Bei der von der Presse angezeigten – und letztendlich nicht erfolgten – Teilnahme Mül- lers an Kampfhandlungen in Rhodesien vertrat man nachweislich eine andere Auf- fassung. Hier schien die Außenwahrnehmung deutscher Politik durch die Söldner erheblichen Schaden nehmen zu können, was anscheinend das rasche aber erfolglose Vorantreiben des Passentzugsverfahrens notwendig machte. Ansonsten wurde bei den deutschen Kongo-Söldnern nur im Einzelfall und auf Anfrage der Botschaften und Konsulate Entscheidungen getroffen – eine generelle Maßnahme gegen deutsche Söldner im Kongo durch das Auswärtige Amt lässt sich nicht nachweisen, ebenso wenig wie eine konkrete Unterstützung der Werbung und Zuführung von Söldnern aus dem Gebiet der Bundesrepublik. Das Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen hingegen war umfassend über Müller und die mit seiner Person zusammenhängende Propagandatätigkeit der DDR infor- miert. Das Antwortschreiben offenbart allerdings auch eine bestimmte Darstellung, die den Vorgängen im Kongo nur bedingt bis gar nicht gerecht werden konnten. Das durchaus kriegsmäßige Vorgehen der Söldner gegen die Rebellen mit automatischen Waffen und schwerem Gerät wie Mörsern oder Radpanzern entspricht nicht den gängigen Vorstellungen einer „Polizeiaktion“. Dem Vergleich der Situation im Kongo mit den Zuständen an der innerdeutschen Grenze und im osteuropäischen Machtbe- reich der Sowjetunion kann ebenfalls nur äußerst bedingt zugestimmt werden, da im Kongo die Einflussnahme auswärtiger Kräfte weitaus ausgeprägter war. Obwohl die beiden deutschen Staaten in die weltpolitische Systemauseinanderset- zung des „Kalten Krieges“ eingebunden waren, ließen sie sich nicht direkt in den nachkolonialen Konflikt im Kongo involvieren. Trotzdem war das zentralafrikani- sche Gebiet „einer der wichtigsten Austragungsorte für den innerdeutschen Sonderkon- flikt im Kalten Krieg“.52 Dies äußerte sich vor allem auf der Ebene der ideologischen Auseinandersetzung und dem Versuch die eigene Deutung des Konfliktes möglichst international zu platzieren. Als wesentliches Mittel diente dazu die Presse, was vor allem an dem Fall des „Kongo-Müller“ deutlich wird. Während in der bundesdeut- schen Presselandschaft eine exotische Geschichte aus dem kongolesischen Urwald

52 Vgl. Stöver, Bernd: Der kalte Krieg. München 2003. S. 69.

Dis | kurs 69 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 mit verwegen inszenierten Kämpfern gezeichnet wurde, standen die deutschen Söld- ner in der DDR als Beweis für eine umfangreiche (neo-)imperialistische Tätigkeit der Bundesrepublik Deutschland in Afrika. Ein – wie in den eingangs zitierten Texte postuliertes – geplantes Eingreifen der Bundesrepublik Deutschland in die Kongo- Krise durch die Werbung und den Einsatz von Söldnern und umfangreiche Finan- zierungen des Bürgerkrieges können allerdings nicht nachgewiesen werden. Viel- mehr wurde die Lage im Kongo durch die Ministerien zwar aufmerksam verfolgt, ein großes Interesse wurde den deutschen Söldnern aber nur in den dargestellten Einzelfällen entgegengebracht.

70 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland

Thema: 60 Jahre Bundesrepublik deutschland a) Das Selbst B) Das Andere c) Innen und Außen D) Abgründiges

Mehr Umweltschutz wagen Anfänge und Ursprünge sozialliberaler Umweltpolitik 1969–1974

Jan Schulte Südhoff Referendar am Alexander-von-Humboldt-Gymnasium Neuss E-Mail: [email protected]

Schlüsselwörter Umweltpolitik, sozialliberale Koalition, Hans-Dietrich Genscher, Siebziger Jahre

Zum sechzigsten Geburtstag der Bundesrepublik Deutschland ist die Umweltpolitik endgültig angekommen in den Programmen der Bundestagsparteien.1 Die SPD fordert eine „nachhaltige Energiepolitik und Mobilität“ sowie einen „verantwortungsvolle[n] Umgang mit Umwelt und Natur“. Im Programm der Unionsparteien lauten die ent- sprechenden Schlagworte „Energie – sicher, sauber und bezahlbar“ sowie „Umwelt- und Klimaschutz – Für die Zukunft unserer Erde“. Bündnis 90/Die Grünen setzen sich für einen „grünen Neuen Gesellschaftsvertrag“ ein, während die FDP Fortschritte

1 Die Zitate sind den Programmen der Parteien zur Bundestagswahl 2009 entnommen: SPD-Parteivorstand: Sozial und demokratisch. Anpacken. Für Deutschland. Das Re- gierungsprogramm der SPD. 09.07.2009, http://www.spd.de/de/pdf/parteiprogramme/ Regierungsprogramm2009_LF_navi.pdf; CDU/CSU: Wir haben die Kraft – Gemeinsam für unser Land. Regierungsprogramm 2009-2013. 09.07.2009, http://www.cdu.de/doc/ pdfc/090628-beschluss-regierungsprogramm-cducsu.pdf; Bündnis 90/Die Grünen: Der grüne Neue Gesellschaftsvertrag. 09.07.2009, http://www.gruene.de/fileadmin/user_up- load/Dokumente/Wahlprogramm/BTW_Wahlprogramm_2009_final_screen_060709. pdf; FDP: Die Mitte stärken. Deutschlandprogramm der Freien Demokratischen Partei. 09.07.2009, http://www.liberale.de/files/653/FDP-Bundestagswahlprogramm2009.pdf; Die Linke: Konsequent sozial. Für Demokratie und Frieden. 09.07.2009, http://die-linke. de/fileadmin/download/wahlen/pdf/LinkePV_LWP_BTW_090703b.pdf.

Dis | kurs 71 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 in der Umwelt- und Energiepolitik durch moderne Technik fordert. Auch Die Lin- ke steht den übrigen Parteien in nichts nach, wenn sie sich für einen ökologischen Umbau der Gesellschaft ausspricht. Diese wenigen Auszüge mögen als Beleg dafür genügen, dass keine der etablierten Parteien ohne eindeutig umweltpolitische Forde- rungen in den Bundestagswahlkampf zieht. Das war nicht immer so. Erst die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt machte Umweltpolitik überhaupt zu einem eigenständigen Politikbereich. Ein Umweltmi- nisterium im heutigen Sinne gab es allerdings auch zu jener Zeit noch nicht. Um- weltpolitisch zuständig war das Bundesinnenministerium. Erst 1986 richtete die damalige Bundesregierung ein Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ein. Dazu haben maßgeblich der „Schock von Tschernobyl“ und die damit verbundene große und lang anhaltende Besorgnis in der deutschen Be- völkerung beigetragen.2 Weniger offensichtlich sind allerdings die Hintergründe der eigentlichen Initiierung staatlicher Umweltpolitik in den frühen sozialliberalen Jah- ren. Hier gab es kein ähnlich einschneidendes Ereignis wie die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, das die Politiker zum Handeln gezwungen hätte. Daher begibt sich der vorliegende Artikel auf die Suche nach den Ursprüngen eines Politikfeldes, das heute angesichts von Klimawandel und einer immer länger werdenden Liste immer schwerwiegenderer Umweltprobleme aktueller ist denn je. Möglicherweise erhalten die Erkenntnisse über die Anfänge bundesrepublikanischer Umweltpolitik aus der angesprochenen aktuellen Bedeutung des Politikfeldes auch eine gewisse Relevanz für die Gegenwart.3 Denn die Frage Klaus-Georg Weys aus dem Jahre 1982, „wie unsere gewachsenen verfassungsrechtlichen Strukturen in Ein- klang mit ökologischen Erfordernissen gebracht und wie unsere Parteien und Politiker empfindsamer für die Belange des Umweltschutzes gemacht werden können“,4 muss auch heute noch als in vielerlei Hinsicht unbeantwortet angesehen werden. Dies gilt angesichts der zunehmend globalen umweltpolitischen Herausforderungen etwa im Zusammenhang mit dem Klimawandel insbesondere auf internationaler Ebene, wie jüngst die Diskussionen um ein neues Weltklimaabkommen belegen können. Der Elan des zuständigen Ministers Hans-Dietrich Genscher schreibt rückblickend über die Anfänge der bundesrepubli- kanischen Umweltpolitik, für die er in seinen Jahren als Innenminister (1969-1974)

2 Weder, Dietrich Jörn: Umwelt. Bedrohung und Bewahrung. Bonn 2003, S. 86f. 3 Vgl. zu etwaigen politischen Implikationen umweltgeschichtlicher Arbeiten allgemein Uekötter, Frank: Von der Rauchplage zur ökologischen Revolution. Eine Geschichte der Luftverschmutzung in Deutschland und den USA 1880–1970. Essen 2003, S. 18 und 507. 4 Wey, Klaus-Georg: Umweltpolitik in Deutschland. Kurze Geschichte des Umweltschutzes in Deutschland seit 1900. Opladen 1982. S. 232.

72 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland verantwortlich war: „Anfang der 70er Jahre hat die sozial-liberale Koalition dem bis dahin nur im wissenschaftlichen Feuilleton – wenn überhaupt – behandelten und für die Politik eher peripheren Umweltproblem einen Spitzenplatz in der politischen Prio- ritätenliste auf Dauer gesichert.“5 Ob es tatsächlich ein Spitzenplatz war, den die so- zialliberale Koalition dem Umweltschutz sicherte, sei dahingestellt; fest steht aber, dass zu Beginn der siebziger Jahre umweltpolitische Maßnahmen in qualitativer wie quantitativer Hinsicht eine neue Dimension erreichten. So wurde ein Umweltpro- gramm vorgelegt, dessen Grundsätze – Verursacher-, Vorsorge- und Kooperations- prinzip – bis heute maßgeblich sind. Weitere wichtige Bestandteile der sozialliberalen Umweltpolitik waren die Einberufung eines Sachverständigenrates für Umweltfragen 1971 sowie die Einrichtung des Umweltbundesamtes 1974. Hinzu kommt eine Flut umweltpolitisch relevanter Gesetze; dazu gehören unter anderem das Fluglärmge- setz (1971) und das wegweisende Bundesimmissionsschutzgesetz (1974). Dies sind nur einige wenige Beispiele für den Stellenwert, den die sozialliberale Koalition Um- weltfragen einräumte. Es würde deutlich zu weit führen, diese Umweltpolitik hier in allen Einzelheiten darzulegen, zumal sich bereits eine Vielzahl anderer Autoren diese Mühe gemacht hat.6 Vielmehr stellt sich wie oben bereits angedeutet die bislang kaum oder nur sehr unzureichend beantwortete Frage, wie es zu diesem umweltpo- litischen Schub kam, wer also dafür verantwortlich war. Genscher spricht in diesem Zusammenhang noch relativ abstrakt von der „sozial- liberale[n] Koalition“, während einige seiner früheren Weggefährten deutlich kon- kreter werden: Genscher sei es gewesen, der die Abteilung Umweltschutz im In- nenministerium eingerichtet habe,7 und zwar aufgrund seiner Einsicht in „das weltökologische Umweltdilemma als Schlüsselerlebnis der Grenze für gewohnte Lebens- und Wirtschaftsformen“8. Standardwerke über die Geschichte der Bundesrepublik haben diese Einschätzung übernommen, wenn sie davon sprechen, dass der umwelt- politische Elan der Regierung Brandt/Scheel „vor allem der FDP und in besonderem Maße ihrem Innenminister Hans-Dietrich Genscher zu verdanken“ gewesen sei.9 Einen

5 Genscher, Hans-Dietrich: Zum Geleit: Anmerkungen zum Umweltbundesamt. In: Schenkel, Werner / Storm, Peter-Christoph (Hrsg.): Umwelt. Politik, Technik, Recht. Festschrift Heinrich von Lersner. Berlin 1990, S. 17–22, S. 17. 6 Vgl. etwa den kurzen, aber prägnanten Überblick über „Das sozial-liberale Reformfeuer- werk“ bei Weder, Dietrich Jörn: Umwelt, S. 83. 7 Lersner, Heinrich von: Initiator der deutschen Umweltpolitik. In: Kinkel, Klaus (Hrsg.): In der Verantwortung. Festschrift Hans Dietrich Genscher. O. O. 1997, S. 151–154, S. 151. 8 Menke-Glückert, Peter: Der Umweltpolitiker Genscher. In: Kinkel, Klaus (Hrsg.): In der Verantwortung. Festschrift Hans-Dietrich Genscher. O. O. 1997, S. 155–168, S. 157. 9 Jäger, Wolfgang: Die Innenpolitik der sozial-liberalen Koalition 1969–1974. In: Bra- cher, Karl Dietrich / Jäger, Wolfgang / Link, Werner: Republik im Wandel 1969–1974.

Dis | kurs 73 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 solchen Elan hat Genscher möglicherweise im Laufe seiner fünfjährigen Amtszeit als Innenminister entwickelt. Doch gestand Genscher noch 1969 ein, dass er selbst nicht wisse, was eigentlich Umweltschutz bedeute.10 Somit kann er nicht als eigentlicher Initiator der bundesdeutschen Umweltpolitik gelten – womit möglicherweise auch die eher abstrakte Formulierung Genschers im Eingangszitat zu erklären ist. Dem- entsprechend muss der Kreis von Personen und Institutionen, die als umweltpoliti- sche Initiatoren in Frage kommen, erweitert werden. Einen Anhaltspunkt liefert das 1971 von Genscher selbst auf den Weg gebrachte Umweltprogramm der Bundesre- gierung, das ausdrücklich auf eine „lange gute Tradition“ des Umweltschutzes hin- weist.11 Gab es möglicherweise doch bereits in der Vergangenheit viel versprechende umweltpolitische Vorhaben und Initiativen, die von der sozialliberalen Koalition – möglicherweise nur in neuem Gewand – fortgeführt werden konnten? Ist also die Aussage Genschers, nach der Umweltschutz für die Politik bis Anfang der siebziger Jahre keinen besonders hohen Stellenwert gehabt hat, haltbar? Die „lange gute Tradition“ des politischen Umweltschutzes Erste Ansätze der im Umweltprogramm benannten langen guten Tradition des po- litischen Umweltschutzes lassen sich im Zusammenhang mit den Umweltschäden ausmachen, die infolge der Industrialisierung aufgetreten sind. Für Politiker war es unmöglich, diese Umweltschäden zu ignorieren, da sie schlicht unübersehbar gewor- den waren, wie das Karl Liebknecht zufolge „bekannte Witzwort, daß, wer als Natio- nalliberaler auf der einen Seite [in die Wupper] hineinspringt, auf der anderen als Zen- trumsmann herauskommt – so schwarz soll sie sein“12, zeigt. Allerdings verdienen die nachfolgenden Maßnahmen etwa zur Reduzierung der Verunreinigung der Flüsse den Namen Umweltschutz nicht, wie wiederum ein Vorschlag Liebknechts belegen kann. Demnach sollten Abwässer nach englischem Vorbild direkt ins Meer geleitet

Die Ära Brandt. Stuttgart 1986 (= Bracher, Karl Dietrich et al. (Hrsg.): Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 5.1), S. 15–160, S. 146; vgl. Bieber, Horst: Langsam stirbt der Umweltschutz. In: Die Zeit 42/1978, 13.10.1978, S. 33–36, S. 33f. Diese Sichtwei- se wird bis heute vertreten, wie jüngst ein Artikel im Kölner Stadt-Anzeiger (Quorin, Marianne: Der bekannteste Außenminister der Welt. In: Kölner Stadt-Anzeiger 114/2009, 18.05.2009, S. 3) zeigt: „Er [Genscher] modernisierte das Bundeskriminalamt, machte die innere Sicherheit und – lange vor dem Auftauchen der Grünen – den Umweltschutz zum Thema.“ 10 Menke-Glückert, Peter: Der Umweltpolitiker Genscher, S. 161f. 11 Bundesministerium des Innern (Hrsg.): Umweltschutz. Das Umweltprogramm der Bundesregierung. Stuttgart 1972, S. 33. 12 Zitiert nach Brüggemeier, Franz-Josef: „Blauer Himmel über der Ruhr“. Zur Wahrneh- mung der Umwelt durch die Sozialdemokratie. In: Faulenbach, Bernd / Högl, Günther (Hrsg.): Eine Partei in ihrer Region. Zur Geschichte der SPD im Westlichen Westfalen. Essen 1988, S. 149–155, S. 149f.

74 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland werden, da dieses schließlich groß genug sei, um alles aufnehmen und klären zu kön- nen. Nicht der Schutz der Umwelt stand demnach im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Vordergrund, sondern der Schutz der Gesundheit der Bevöl- kerung.13 Entsprechende Ansätze und Initiativen waren meist räumlich beschränkt und nur auf ein bestimmtes Umweltmedium – im obigen Fall das Wasser – bezogen; zudem fehlte es oft an einer ausreichenden und langfristigen Koordinierung, zumal ökologische Zusammenhänge noch weitgehend unbekannt waren.14 Erst in den 1950er Jahren gibt es erste Anzeichen für ein Umdenken und vertiefte Einsichten in komplexe ökologische Zusammenhänge auch in der Politik. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf die Interparlamentarische Arbeitsgemeinschaft (IPA) für naturgemäße Wirtschaftsweise, ein Zusammenschluss von 73 Abgeordne- ten des Bundestages und der Länderparlamente, und ihre im Jahre 1953 dargeleg- ten Grundsätze. Darin werden unter anderem ein sparsamer Verbrauch endlicher Ressourcen sowie eine naturgemäße Wirtschaft gefordert, die sich dem Nachhaltig- keitsprinzip verpflichten solle. Begründet wird dies unter anderem damit, dass die Ressourcen in einem „unmittelbaren Wirkungszusammenhang stehen [und] schon die Schädigung eines Teiles das Gleichgewicht im Gesamthaushalt der Natur nachhaltig stören“ könne.15 Die weitere Argumentation bleibt zwar stark von menschlichen Be- langen und Interessen geprägt, doch erscheinen Umwelt und Natur hier erstmals auch in Ansätzen als an sich wertvoll und schützenswert. Dementsprechend wur- den die IPA-Grundsätze als „ihrer Zeit voraus“ bewertet.16 Allerdings handelte es sich bei der Arbeitsgemeinschaft um eine„überparteiliche Minderheit“, deren Arbeit sich

13 Brüggemeier, Franz-Josef: „Blauer Himmel über der Ruhr“ weist dies anhand der frü- hen ‚Umweltpolitik‘ der SPD nach. 14 Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.): Umweltschutz, S. 33; Jörgens, Helge: Die Institutionalisierung von Umweltpolitik im internationalen Vergleich. In: Jänicke, Martin (Hrsg.): Umweltpolitik der Industrieländer. Entwicklung – Bilanz – Erfolgsbedingungen. Berlin 1996, S. 59–111, hier S. 79; Uekötter, Frank: Erfolglosigkeit als Dogma? Revisio- nistische Bemerkungen zum Umweltschutz zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der „ökologischen Wende“. In: Brüggemeier, Franz-Josef /Engels, Jens Ivo (Hrsg.): Natur- und Umweltschutz nach 1945. Konzepte, Konflikte, Kompetenzen. Frankfurt/Main 2005, S. 105–123, S. 121. 15 Zitiert nach Burhenne, Wolfgang / Kehrhahn, Joachim: Neue Formen parlamentarischer Zusammenarbeit. In: Vogel, Hans Jochen / Simon, Helmut / Podlech, Adalbert (Hrsg.): Die Freiheit des Anderen. Festschrift Martin Hirsch. Baden-Baden 1981, S. 311–329, hier S. 324. 16 Burhenne, Wolfgang / Kehrhahn, Joachim: Neue Formen parlamentarischer Zusam- menarbeit, S. 324; vgl. Wey, Klaus-Georg: Umweltpolitik in Deutschland, S. 157; Müller, Edda: Innenwelt der Umweltpolitik. Sozial-liberale Umweltpolitik – (Ohn)Macht durch Organisation? Opladen 21995, S. 53–54 sowie Burhenne, Wolfgang: Der deutsche Ein- stieg in die internationale Umweltpolitik. In: Köller, Henning von (Hrsg.): Umweltpolitik mit Augenmaß. Gedenkschrift Günter Hartkopf. Berlin 2000, S. 279–285, S. 279.

Dis | kurs 75 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 nicht in einer regierungsamtlichen Umweltpolitik niederschlug und von der das po- litische Klima „so gut wie unberührt“ blieb.17 Zu einem Wahlkampfthema wurden Aspekte des Umweltschutzes erstmals 1961. Das Ruhrgebiet war zu jener Zeit trotz erster Maßnahmen zur Reduzierung von Schadstoffen (unter anderem auf Initiative des IPA-Mitglieds Otto Schmidt) eine der am stärksten belasteten Regionen weltweit. Daher forderte die SPD in ihrem Regierungsprogramm: „Reine Luft, reines Wasser und weniger Lärm dürfen keine papierenen Forderungen bleiben. […] Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden!“18 Was auf den ersten Blick wie der erste Auftritt der Umweltpolitik auf der großen politischen Bühne erscheint, kann bei genauerer Betrachtung jedoch wiederum als rein gesundheitspolitisch motiviert entlarvt werden. So begründet die SPD ihre Forderung damit, dass „erschrecken- de Untersuchungsergebnisse […] im Zusammenhang mit der Verschmutzung von Luft und Wasser eine Zunahme von Leukämie, Krebs, Rachitis und Blutbildverän- derungen sogar schon bei Kindern“ nachgewiesen haben. Damit fällt dieser anthro- pozentrische Umweltbegriff deutlich hinter denjenigen der IPA-Grundsätze zurück, und Willy Brandt mahnte bei der Vorstellung des Regierungsprogramms nicht einen intensiveren Umwelt-, sondern einen verstärkten Gesundheitsschutz an.19 Unter- strichen wird diese Einschätzung durch die ‚Politik des hohen Schornsteins‘, die die NRW-SPD nach ihrer Regierungsübernahme 1966 vorantrieb. Hohe Schornsteine sollten schädliche Stoffe in höhere Luftschichten ableiten, wodurch die Schadstoffbe- lastung zwar in der unmittelbaren Umgebung, nicht jedoch grundsätzlich und damit für die Umwelt insgesamt verringert wurde.20 Dieser gesundheitspolitisch ausge- richtete ‚Umweltschutz‘ zieht sich als roter Faden durch die Parteiprogrammatik der

17 Küppers, Günter / Lundgreen, Peter / Weingart, Peter: Umweltforschung – die gesteu- erte Wissenschaft? Eine empirische Studie zum Verhältnis von Wissenschaftsentwicklung und Wissenschaftspolitik. Frankfurt/Main 1978, S. 103; vgl. Müller, Edda: Innenwelt der Umweltpolitik, S. 54; Hünemörder, Kai F.: Die Frühgeschichte der globalen Umweltkrise und die Formierung der deutschen Umweltpolitik (1950–1973). Wiesbaden / Stuttgart 2004, S. 100–102. 18 Vorstand der SPD (Hrsg.): Jahrbuch der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1960/61. Bonn o. J., S. 478–495, hier S. 483. 19 Vgl. Brüggemeier, Franz-Josef: „Blauer Himmel über der Ruhr“, S. 154; Weichelt, Rai- ner: Der „verzögerte blaue Himmel“ über der Ruhr. Die Entdeckung der Umweltpolitik im Ruhrgebiet aus der Not der Verhältnisse 1949–1975. In: Barbian, Jan-Pieter / Heid, Ludger (Hrsg.): Die Entdeckung des Ruhrgebiets. Das Ruhrgebiet in Nordrhein-Westfa- len 1946–1996. Essen 1997, S. 259–284, S. 278; Hünemörder, Kai F.: Die Frühgeschich- te der globalen Umweltkrise, S. 96; Ditt, Karl: Die Anfänge der Umweltpolitik in der Bundesrepublik Deutschland während der 1960er und frühen 1970er Jahre. In: Frese, Matthias / Paulus, Julia / Teppe, Karl (Hrsg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik. Paderborn 22005, S. 305–347, S. 312. 20 Vgl. Hünemörder, Kai F.: Die Frühgeschichte der globalen Umweltkrise, S. 73–75.

76 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland

SPD in den sechziger Jahren.21 Das Regierungsprogramm von 1969 stellt in dieser Hinsicht gar einen Rückschritt dar, denn Umweltschutzaspekte kommen in keiner denkbaren Form explizit vor. Es gelang der SPD also bis 1969 nicht, ihre stark anthropozentrisch geprägte Sichtwei- se auf Umwelt- und Naturschutz zu überwinden. Dieser Befund darf allerdings kei- neswegs auf die Sozialdemokraten beschränkt bleiben. Das belegt etwa eine umfang- reiche Analyse der Presseberichterstattung der Zeit, die das Fehlen eines „allgemeinen Engagements für eine in größeren Zusammenhängen gesehene Umweltsicherung“22 in Politik und Gesellschaft konstatiert. Andere Parteien wie CDU und CSU blieben in ‚umweltpolitischer‘ Sicht gar hinter der SPD zurück, wovon Reaktionen der Unions- parteien auf die Forderungen der Sozialdemokraten von 1961 zeugen.23 Der Bun- destagsabgeordnete Herbert Gruhl brachte noch 1973 in einem Schreiben an seinen Fraktionsvorsitzenden Karl Carstens mit dem Titel „Die Stellung unserer Partei zum Bereich Umwelt“ zum Ausdruck, dass die CDU in seinen Augen das umweltpolitische Schlusslicht darstelle, da sie bisher „dieses neue und entscheidende Problem weitge- hend den anderen Parteien“ überlassen habe.24 Auch die programmatischen Dokumente der FDP aus den fünfziger und sechziger Jahren stellen in umweltpolitischer Hinsicht keine positive Ausnahme dar. Das Ber- liner Programm von 1957 lässt Umweltthemen gänzlich unerwähnt.25 Diese finden erstmals Eingang in das 1967 verabschiedete Hannoveraner Aktionsprogramm, in dem im Zuge der Ausführungen zur Gesundheitspolitik (!) auf die Notwendigkeit überregionaler Maßnahmen für die „Luft-, Wasser- und Bodenhygiene“ sowie die Lärmbekämpfung hingewiesen wurde.26 Dahinter fällt das Wahlprogramm der freien Demokraten von 1969 wiederum zurück, da hier – wie bei der SPD – ein expliziter Umweltbezug nicht mehr nachweisbar ist.

21 Dies ergab eine Durchsicht der jeweils vom Vorstand der SPD herausgegebenen Proto- kolle der Verhandlungen und Anträge der Parteitage von Hannover (1960), Köln (1962), Karlsruhe (1964), Dortmund (1966) und Nürnberg (1968) sowie ausgewählter Jahrbücher der SPD. 22 Rat der Sachverständigen für Umweltfragen: Umweltgutachten 1978. Stuttgart/Mainz 1978, S. 441; vgl. auch Hünemörder, Kai F.: Die Frühgeschichte der globalen Umweltkri- se, S. 33, demzufolge im Ruhrgebiet eher ein frühes „Luftverschmutzungsbewusstsein“ als ein Umweltbewusstsein ausgeprägt war. 23 Ein Beispiel dafür führt Willy Brandt rückblickend selbst an: Brandt, Willy: Die „Qualität des Lebens“. In: Die Neue Gesellschaft 10 (1972), S. 739–742, hier S. 739. 24 Zitiert nach Vierhaus, Hans-Peter: Umweltbewusstsein von oben. Zum Verfassungsge- bot demokratischer Willensbildung. Berlin 1994, S. 82–83. 25 Kaack, Heino: Zur Geschichte und Programmatik der Freien Demokratischen Partei. Grundriss und Materialien. Meisenheim 1976, S. 77–87. 26 Kaack, Heino: Zur Geschichte und Programmatik der Freien Demokratischen Partei, S. 96.

Dis | kurs 77 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009

Das Ergebnis der Analyse der Parteiprogrammatik der sechziger Jahre fällt also in umweltpolitischer Hinsicht mehr als ernüchternd aus.27 Die eigentliche Überra- schung aber ist, dass dies sogar noch für die Regierungserklärung Willy Brandts vom 28. Oktober 1969 gilt. Sie lässt kaum etwas vom umweltpolitischen Elan der Koa- lition erahnen, der kurz darauf einsetzte.28 Die Forderung nach einem „Schutz der Menschen vor Risiken für die Gesundheit, die durch die technisierte und automatisierte Umwelt entstehen“29, steht ganz in der gesundheitspolitischen Kontinuität der voran- gegangen Jahre. In diesem Zusammenhang stellte Brandt Gesetze zur Bekämpfung von Luft- und Wasserverunreinigungen sowie von Lärmbelästigungen in Aussicht. Als ein weitgehendes Novum darf die Forderung, „dem Schutz der Natur, von Er- holungsgebieten, auch dem Schutz der Tiere, mehr Aufmerksamkeit“ zu schenken,30 gelten. Doch folgen unmittelbar darauf und deutlich ausführlicher Erläuterungen zum Verkehrswesen, die mit ihrem Ziel eines verstärkten Ausbaus des Autobahn- und Bundesstraßennetzes in einem deutlichen Widerspruch zu dem geforderten Naturschutz stehen. Zusammenfassend ist Hans-Dietrich Genscher also weitgehend zuzustimmen, wenn er davon spricht, dass Umweltprobleme bis in die sozialliberale Anfangszeit politisch eher ein Schattendasein gefristet haben.31 Wenn nun aber die Koalition aus SPD und FDP dem Umweltschutz – mit Genschers Worten – auf Dauer einen Spitzenplatz in der politischen Prioritätenliste gesichert hat, aber der zuständi- ge Minister Genscher, Bundeskanzler Willy Brandt und auch die Politiker der Koali- tionsparteien als entscheidende Initiatoren weitgehend ausscheiden und zudem ein gesellschaftlicher Druck im Hinblick auf Umweltschutz zu jener Zeit noch so gut wir nicht existierte32, so stellt sich die Frage, welche Personen oder Institutionen dann noch als ausschlaggebende Impulsgeber infrage kommen.

27 Vgl. Hünemörder, Kai F.: Die Frühgeschichte der globalen Umweltkrise, S. 167 und S. 234. 28 Vgl. Weder, Dietrich Jörn: Umwelt, S. 83; Wey, Klaus-Georg: Umweltpolitik in Deutschland, S. 201; Müller, Edda: Innenwelt der Umweltpolitik, S. 55; Hünemörder, Kai F.: Die Frühgeschichte der globalen Umweltkrise, S. 154; Ditt, Karl: Die Anfänge der Umweltpolitik, S. 320. 29 Pulte, Peter (Hrsg.): Regierungserklärungen 1949–1973. Berlin 1973, S. 248. 30 Pulte, Peter: Regierungserklärungen, S. 246. 31 Vgl. etwa Weder, Dietrich Jörn: Umwelt, S. 82: „Nur wer die trübe Ausgangslage der Sechziger und beginnenden Siebzigerjahre vor Augen hat, wird den Kraftakt des Großrei- nemachens in der Umwelt recht würdigen können, der mit dem Amtsantritt der sozial- liberalen Regierung 1969 einsetzte.“ 32 Vgl. etwa Müller, Edda: Innenwelt der Umweltpolitik, S. 95 und S. 86–89; Vierhaus, Hans-Peter: Umweltbewusstsein von oben, S. 97; Hünemörder, Kai F.: Die Frühge- schichte der globalen Umweltkrise, S. 14 und S. 97f.; Ditt, Karl: Die Anfänge der Um- weltpolitik, S. 331 und S. 343.

78 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland

Die umweltpolitisch „wirklich Sachkundigen“ in der Bundesrepublik Einen ersten Hinweis darauf, um wen es sich bei diesen offensichtlich„wirklich Sach- kundigen“ handeln könnte, die sich „fast schon verzweifelt fragen […], wie wohl den Nichteingeweihten – Politikern und Wählern etwa – das wahre Ausmaß der Bedro- hung ins Bewußtsein gerückt werden könne“33, liefert uns rückblickend Gerhart Baum. Baum war von 1978 bis 1982 Bundesinnenminister und stellt mit Blick auf ausge- wählte Beamte, die im Innenministerium unter seinem Vor-Vorgänger Genscher tätig waren, fest, dass die Etablierung der Umweltpolitik „gerade und nicht zuletzt auf die tatkräftige und über das normale Engagement weit hinausgehende Tätigkeit dieser hochqualifizierten Fachleute zurückzuführen“ sei.34 In jedem Ministerium gibt es solche Fachleute als Teil des Verwaltungspersonals, dem als „Hilfsorgan der po- litischen Führung“35 traditionell Exekutivaufgaben obliegen, etwa die Ausführung und Umsetzung von Gesetzen. Demnach erscheint es unwahrscheinlich, dass aus diesen Reihen entscheidende Impulse für die ‚legislative‘ Etablierung einer umfas- senden Umweltpolitik gekommen sein sollen. Doch sieht die politische Wirklichkeit anders aus: Viele Entscheidungen über die Initiativen zu Gesetzentwürfen und deren Formulierung fallen bereits in den Bundesministerien, und die Ministerialbeamten sind zum festen Bestandteil der politischen Führung geworden. Und der vorliegende Fall liefert ein anschauliches Beispiel für die „zentrale Rolle der Ministerialbürokratie im politischen System“36. Wie sah diese Rolle der Ministerialbürokratie nun konkret aus? Drei Personen sind in diesem Zusammenhang von herausgehobener Bedeu- tung: Günter Hartkopf, Staatssekretär im Innenministerium, Peter Menke-Glückert, Leiter der Abteilung Umweltschutz im Innenministerium sowie Ulrich Sahm, Mi- nisterialdirigent im Bundeskanzleramt. Sahm spielte eine wichtige Rolle bei organi- satorischen Maßnahmen etwa zur Neuregelung ministerialer Zuständigkeiten, die

33 O. A.: Morgen kam gestern. In: Der Spiegel 41/1970, 05.10.1970, S. 75–96, S. 80. 34 Schreiben des Bundesministers des Innern Baum an das Geschäftsführende Vorstands- mitglied des BBU e. V. Schumacher vom 16.10.1980, veröffentlicht vom Pressedienst des BMI in: „Der Bundesminister des Innern teilt mit“ (Archiv für Christlich-Demokratische Politik (ACDP) VIII 002 Nr. 165/1), zitiert nach Vierhaus, Hans-Peter: Umweltbewusst- sein von oben, S. 123. Vgl. Wey, Klaus-Georg: Umweltpolitik in Deutschland, S. 205 und S. 232; Müller, Edda: Innenwelt der Umweltpolitik, S. 95; Hünemörder, Kai F.: Die Frühgeschichte der globalen Umweltkrise, S. 98 und S. 167; Ditt, Karl: Die Anfänge der Umweltpolitik, S. 331. 35 Sontheimer, Kurt / Bleek, Wilhelm: Grundzüge des politischen Systems Deutschlands. Bonn 2002, S. 324. 36 Sontheimer, Kurt / Bleek, Wilhelm: Grundzüge des politischen Systems Deutschlands, S. 325. Die Autoren weisen darauf hin, dass der Bedeutungszuwachs der Ministerialbüro- kratie auch kritisch betrachtet werden muss. Ausführlich am Beispiel der Umweltpolitik geht darauf Vierhaus, Hans-Peter: Umweltbewusstsein von oben, ein.

Dis | kurs 79 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 wiederum eine Voraussetzung für die Etablierung einer umfassenden Umweltpolitik waren. So wurde im November 1969 die Abteilung III „Wasserwirtschaft, Reinhaltung der Luft, Lärmbekämpfung“ aus dem Geschäftsbereich des Gesundheitsministeriums in denjenigen des Innenministeriums verlagert. Dadurch konnten dort Personal und wichtige Kompetenzen im Bereich Umweltschutz konzentriert werden. Auch Vor- schläge zur Benennung dieses neuen Aufgabengebietes mit ‚Umweltschutz‘ – eine Übersetzung des englischen environment(-al) protection – kamen aus dem Kanzler- amt. Sahm war es, der diese neue Bezeichnung bereits am 5. November 1969 benutz- te, als er Kanzleramtsminister Horst Ehmke vorschlug, er möge bei Bundeskanzler Willy Brandt die Ernennung eines Bundesbeauftragten für Umweltfragen anregen.37 Ehmke griff diesen Vorschlag Sahms dann auch tatsächlich auf, und wenn er letzt- endlich auch nicht in die Tat umgesetzt wurde, so ist seine Bedeutung dennoch kaum zu überschätzen. Denn Hans-Dietrich Genscher, der mittlerweile offensichtlich das Potential des Themas Umweltschutz zur Profilierung seines Ministeriums sowie sei- ner eigenen Position erkannt hatte, wollte die volle umweltpolitische Zuständigkeit für das Innenministerium. Um dessen Kompetenz unter Beweis stellen zu können, wies Genscher – unter anderem in Reaktion auf eine vom Bundeskanzleramt ange- forderte Stellungnahme zum Gedanken der Einsetzung eines Umweltbeauftragten – am 3. März 1970 seine Abteilungsleiter an, ein eigenes vorläufiges Arbeitsprogramm zum Umweltschutz zu erstellen.38 Damit war der entscheidende Schritt getan, und das sozialliberale Reformfeuerwerk in Sachen Umweltpolitik konnte beginnen. Spätestens an dieser Stelle kommen nun Peter Menke-Glückert und Günter Hart- kopf ins Spiel. Hartkopf war 1969 Staatssekretär geworden und kam erst zu diesem Zeitpunkt mit dem Thema Umweltschutz in Berührung. Er verstand es aber schnell als „eine Sache des Gemeinwohls, dem man zu dienen hat“39, und setzte sich dement- sprechend engagiert dafür ein. Von herausgehobener Bedeutung ist, dass Hartkopf einen umfassenden, ökologisch-systemaren Ansatz von Umweltpolitik vertrat40 und seinen entsprechenden Standpunkt auch Wirtschaftsvertretern gegenüber vehement zu vertreten wusste.41 Wenn er damit auch kein entscheidender Impulsgeber für die eigentliche Initiierung der bundesdeutschen Umweltpolitik war, so war er doch

37 Ditt, Karl: Die Anfänge der Umweltpolitik, S.322f. 38 Ditt, Karl: Die Anfänge der Umweltpolitik, S. 322–325 und S. 343. 39 Köller, Henning von: Widmung. In: Köller, Henning von (Hrsg.): Umweltpolitik mit Augenmaß, S. 7–12, S. 7. 40 Vgl. Hartkopf, Günter: Das Umweltprogramm der Bundesregierung. Rede anlässlich des 14. Mainauer Gesprächs am 20.04.1972. In: Bundesminister des Innern (Hrsg.): Günter Hartkopf. Reden 1969–1979. Bonn 1979, S. 97–112, S. 103. 41 Vgl. O. A.: Morgen kam gestern. In: Der Spiegel 41/1970, 05.10.1970, S. 75–96, S. 90–93; Köller, Henning von: Widmung, S. 8.

80 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland in ihren frühen Jahren einer ihrer maßgeblichen Ausgestalter. Ähnliches lässt sich über Peter Menke-Glückert sagen, der auf Bitten seines Studienfreundes Genscher mit am Umweltprogramm der Bundesregierung arbeitete42 und die wichtige Posi- tion des Leiters der Abteilung Umweltschutz im Innenministerium übernahm. Im Gegensatz zu Hartkopf war Menke-Glückert schon vor 1969 mit dem Thema Um- weltschutz in Berührung gekommen, unter anderem als Abteilungsleiter für Wissen- schaftsressourcen bei der OECD in Paris. Zudem war er an der UNESCO-Konferenz „Mensch und Biosphäre“ 1968 beteiligt. Diese Vergangenheit weist Menke-Glückert als Experten in Sachen Umweltschutz aus, der Probleme der Luftreinhaltung und des Gewässerschutzes als Teil „weltökologischer“ Gefährdungen ansah und auf den weltweiten Zusammenhang der Verschmutzungs- und Ressourcenprobleme hinge- wiesen hatte.43 Zu einem solchen Experten ist er offensichtlich durch seine Mitarbeit in internationalen Gremien und auf ebensolchen Konferenzen geworden. Ähnliches gilt für Ulrich Sahm, der als vormaliger Vertreter des Auswärtigen Amtes in einem „Ausschuss für die Probleme der modernen Gesellschaft“ (inkl. Umweltprobleme) der NATO mitgearbeitet hatte.44 Somit gehörten beide einem unter anderem auf inter- nationalen Umweltkonferenzen entstandenen, informellen „Expertennetzwerks“ etwa für Luftreinhaltung, Hygienemedizin, Vegetationskunde und Naturschutz an, das laut Hünemörder die „Basis der umweltpolitischen Wende der frühen 1970er- Jahre“ darstellte.45 Internationale Organisationen wie NATO, OECD und verschiede- ne UN-Sonderorganisationen bündelten in den sechziger Jahren also offensichtlich umweltrelevante Erkenntnisse und Prognosen und gaben diese über ‚Vermittler‘ wie Menke-Glückert und Sahm auf die nationale Ebene, hier die der Bundesrepublik Deutschland, weiter.46

42 Menke-Glückert, Peter: Der Umweltpolitiker Genscher, S. 172. 43 So Hünemörder, Kai F.: 1972 – Epochenschwelle der Umweltgeschichte? In: Brügge- meier, Franz-Josef /Engels, Jens Ivo (Hrsg.): Natur- und Umweltschutz nach 1945, S. 124–144, S. 129, in Anlehnung an Menke-Glückerts Arbeitspapier „Eco-Command- ments for world citizens”, das dieser auf der UNESCO-Konferenz 1968 vorgestellt hatte; vgl. Genscher, Hans-Dietrich: Umweltschutz mit Augenmaß. In: Köller, Henning von (Hrsg.): Umweltpolitik mit Augenmaß, S. 17–26, S. 20; Hünemörder, Kai F.: Die Frühge- schichte der globalen Umweltkrise, S. 156 f. 44 Ditt, Karl: Die Anfänge der Umweltpolitik, S. 321f. 45 Hünemörder, Kai F.: Vom Expertennetzwerk zur Umweltpolitik. Frühe Umweltkonferen- zen und die Ausweitung der öffentlichen Aufmerksamkeit für Umweltfragen in Europa (1959–1972). In: Archiv für Sozialgeschichte 43 (2003), S. 275–296, 276; vgl. Vierhaus, Hans-Peter: Umweltbewusstsein von oben, S. 160; Jörgens, Helge: Die Institutionalisie- rung von Umweltpolitik, S. 86f. („Kontaktnetzwerk“). 46 Vgl. Hünemörder, Kai F.: 1972 – Epochenschwelle der Umweltgeschichte? S. 128; Jörgens, Helge: Die Institutionalisierung von Umweltpolitik, S. 86 f.; Küppers, Günter / Lundgreen, Peter / Weingart, Peter: Umweltforschung – die gesteuerte Wissenschaft? S. 122f.

Dis | kurs 81 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009

Anstöße „aus westlicher Richtung“ Allerdings ist weitgehend unstrittig, dass allein die Weitergabe von Erkenntnissen und Prognosen in den seltensten Fällen ausreicht, um verantwortliche Politiker zu einem umfassenden Handeln zu bewegen. Tatsächlich ging mit der Erweiterung des Wissensstandes in Umweltfragen ein gewisser politischer Druck „aus westlicher Richtung“47 einher, der ebenfalls internationalen Ursprungs war und ohne den es wohl nicht zu der bereits mehrfach erwähnten umweltpolitischen Wende gekommen wäre. Die Historiker Kai F. Hünemörder und Karl Ditt haben die entsprechenden Vorgänge im Spätherbst 1969, gestützt auf Dokumente etwa des Bundesarchivs in Koblenz, genauer rekonstruiert. Demnach ist ein entscheidender Anlass für die Ini- tiierung der deutschen Umweltpolitik in der Forderung des US-Präsidenten Richard Nixon nach Berücksichtigung einer third dimension durch die NATO zu sehen. Nixon hatte bereits im April 1969 die Ergänzung der traditionellen Aufgaben der Nordatlantik-Organisation – militärischer Schutz und politische Beratung – um eine dritte angeregt, deren Fokus auf der Entwicklung von Lösungsvorschlägen für die gesellschaftspolitischen Probleme der Zeit, darunter Umweltschutz, liegen sollte. Der damalige Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger hatte daraufhin gegenüber NATO- Generalsekretär Manlio Brosio die Mitarbeit der Bundesregierung an dieser neuen Aufgabe zugesagt.48 Wenn der Vorstoß Nixons auch bisweilen durchaus kritisch gese- hen wurde, so bestand nach der Zusage Kiesingers die Gefahr von Prestigeeinbußen, sollte sich die Bundesregierung der Mitarbeit doch noch versagen. Für die Umwelt- politik der Bundesrepublik war dies von entscheidender Bedeutung, denn auf die Initiative des US-Präsidenten hin war es zur „vielleicht ersten internen umweltpoliti- schen ‚Grundsatzdebatte’“ gekommen, und insbesondere die Arbeitsgruppe „Innen- politische Grundsatzfragen“ im Innenministerium sowie das Auswärtige Amt hatten sich den neuen Themen gestellt.49 In diesem Kontext ist im Übrigen auch der bereits beschriebene und überaus bedeutsame Vorschlag Ulrich Sahms zur Ernennung eines Bundesbeauftragten für Umweltfragen zu sehen, denn Sahm war Vorsitzender des interministeriellen Ausschusses zur Koordinierung der Vorarbeiten für die NATO. Die Initiative Richard Nixons war der wohl entscheidende Anlass für die umweltpo- litische Wende in der Bundesrepublik. Dass aus dieser Initiative aber innerhalb eines verhältnismäßig kurzen Zeitraums eine durchaus ambitionierte Umweltpolitik er- wachsen konnte, ist neben der Mitarbeit umweltpolitischer ‚Experten’ in der Minis- terialbürokratie weiteren Begebenheiten auf dem internationalen Parkett zu verdan- ken. Dazu zählt die für das Jahr 1972 geplante UN-Umweltkonferenz in Stockholm

47 Bieber, Horst: Langsam stirbt der Umweltschutz, S. 33. 48 Ditt, Karl: Die Anfänge der Umweltpolitik, S. 321 f. 49 Hünemörder, Kai F.: Die Frühgeschichte der globalen Umweltkrise, S. 145.

82 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland und die vorbereitenden Arbeiten. Anlässlich Besorgnis erregender Untersuchungs- ergebnisse über den Ferntransport von Luftschadstoffen wurde von Schweden, ei- nem der betroffenen Länder, eine internationale Konferenz zur Behandlung solcher und weiterer Umweltfragen bei den Vereinten Nationen angeregt.50 Im Zuge der fast vierjährigen Vorlaufzeit – die entsprechende Resolution wurde im Dezember 1968 angenommen – befassten sich viele Mitgliedsstaaten erstmals systematisch mit Um- weltproblemen; „in vielen Staaten [verbreitete sich] eine neue Einsicht in die weltwei- ten ökologischen Zusammenhänge und über den Stellenwert der jeweiligen, eigenen Umweltprobleme“51. Dies gilt auch für die Bundesrepublik Deutschland, die zu jener Zeit zwar noch nicht UN-Mitglied war, aber dennoch an der Konferenz-Vorbereitung beteiligt und später auch offiziell in den Kreis der Teilnehmer aufgenommen worden ist. Beteiligt an den deutschen Vorarbeiten waren ‚alte Bekannte’, allen voran Peter Menke-Glückert sowie Wolfgang Burhenne, Geschäftsführer der IPA. Der politische Druck zur Mitarbeit bestand für die Bundesrepublik nun darin, dass einerseits eine Verweigerungshaltung mit Prestigeeinbußen einhergehen musste und andererseits auf solchen Konferenzen „Weichenstellungen für die künftige Verteilung von ökonomi- schen Macht- und Marktchancen vorgenommen wurden“52. Somit sorgten Organisationen wie NATO und UNO für einen gewissen umwelt- politischen Handlungsdruck auf die Bundesrepublik Deutschland. Zudem hat die Behandlung von Umweltproblemen in einem internationalen Rahmen „wesentlich dazu beigetragen, unsere Kenntnisse zu vertiefen und die Diskussionen auf eine sachbezogene Ebene zu bringen“.53 Doch dabei blieb es nicht; auch bei der konkreten Ausgestaltung der Umweltpolitik halfen neben den bereits angesprochenen ‚Umwelt- experten’ in der Ministerialbürokratie internationale Vorbilder. Gemeint sind ins- besondere die Vereinigten Staaten von Amerika, die zu jener Zeit auf dem Gebiet der Umweltpolitik eine Art Vorreiterrolle innehatten. Es würde zu weit führen, diese Vorreiterrolle hier anhand von Institutionen, Gesetzesinitiativen usw. zu konkretisie- ren sowie die Hintergründe dieser Entwicklung darzulegen.54 Festzuhalten ist aber,

50 Vgl. Kilian, Michael: Umweltschutz. In: Wolfrum, Rüdiger (Hrsg.): Handbuch Vereinte Nationen. München 21991, S. 868–876, S. 869; Menke-Glückert, Peter: Stockholm- Deklaration. In: Kimminich, Otto / Lersner, Heinrich von / Storm, Peter-Christoph (Hrsg.): Handwörterbuch des Umweltrechts. Bd. 2. Berlin 21994, Sp. 1888–1897. 51 Hünemörder, Kai F.: Die Frühgeschichte der globalen Umweltkrise, S. 245. 52 Küppers, Günter / Lundgreen, Peter / Weingart, Peter: Umweltforschung – die ges- teuerte Wissenschaft? S. 123. 53 Genscher, Hans-Dietrich: Umweltpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. In: Bundesministerium des Innern (Hrsg.): Umweltschutz. Das Umweltprogramm der Bundesregierung, S. 8–18, S. 16. 54 Vgl. dazu etwa Ditt, Karl: Die Anfänge der Umweltpolitik, S. 314–318; Hünemörder, Kai F.: Die Frühgeschichte der globalen Umweltkrise, S. 115 und S. 120; Küppers, Günter /

Dis | kurs 83 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 dass beispielsweise der Bericht des amerikanischen Präsidenten Nixon vom August 1970 zur Lage der Nation „starken Einfluss auf die deutsche Umweltpolitik“ ausübte. „Dieser Einfluß und breitester Sachverstand stießen den Prozeß an, der zur Abfassung des Umweltprogramms führte.“55 Hans-Dietrich Genscher unternahm darüber hin- aus zum Erfahrungsaustausch zusammen mit Peter Menke-Glückert eine Reise in die USA und sprach wie viele andere seiner Kollegen im Innenministerium immer wieder von „amerikanischen Vorbildern“ für eigene umweltpolitische Initiativen in gesetzgeberischer wie institutioneller Hinsicht.56 Und auch der Begriff Umweltpolitik ist wie bereits angedeutet eine wörtliche Übersetzung von environmental policy aus dem Amerikanischen.57 All das fasst Peter Menke-Glückert folgendermaßen zusam- men: „Amerika stand Pate für Genschers Umweltdesign, nicht Herman Löns, Anzen- gruber und andere Naturschwärmer.“58 Zusammenfassend ist daher Karl Ditt zuzustimmen, demzufolge es zu Beginn der siebziger Jahre in der Bundesrepublik wohl kaum zu einem Aufschwung der Um- weltpolitik gekommen wäre, wenn nicht die internationale Entwicklung entschei- dende Anstöße gegeben hätte.59 Zusammenfassung und Ausblick Hans-Dietrich Genscher hat der sozialliberalen Koalition vollkommen zu Recht das Verdienst zugeschrieben, dem Umweltproblem Anfang der siebziger Jahre einen Spitzenplatz in der politischen Prioritätenliste auf Dauer gesichert zu haben. Aller- dings geht diese Initiative keineswegs auf die beteiligten Parteien und eine wohlmög- lich fortschrittliche umweltpolitische Programmatik zurück, denn eine solche gab es bis 1970 nicht. Auch von einem nennenswerten gesellschaftlichen Druck kann nicht die Rede sein. Vielmehr waren internationale Akteure von zentraler Bedeutung für

Lundgreen, Peter / Weingart, Peter: Umweltforschung – die gesteuerte Wissenschaft? S. 106–112. 55 Genscher, Hans-Dietrich: Umweltschutz mit Augenmaß, S. 21. 56 Vgl. etwa Genscher, Hans-Dietrich: Zum Geleit, S. 18–20; Genscher, Hans-Dietrich: Erinnerungen. Berlin 1995, S. 131 und S. 134; Lersner, Heinrich von: Initiator der deut- schen Umweltpolitik. In: Kinkel, Klaus (Hrsg.): In der Verantwortung, S. 152; Menke- Glückert, Peter: Der Umweltpolitiker Genscher, S. 157; Genscher, Hans-Dietrich: Umweltschutz mit Augenmaß, S. 23. 57 Menke-Glückert, Peter: Der Umweltpolitiker Genscher, S. 157. 58 Menke-Glückert, Peter: Der Umweltpolitiker Genscher, S. 157; vgl. Rat der Sach- verständigen für Umweltfragen: Umweltgutachten 1978, S. 444; Küppers, Günter / Lundgreen, Peter / Weingart, Peter: Umweltforschung – die gesteuerte Wissenschaft? S. 106; Wey, Klaus-Georg: Umweltpolitik in Deutschland, S. 201; Vierhaus, Hans-Peter: Umweltbewusstsein von oben, S. 121; Müller, Edda: Innenwelt der Umweltpolitik, S. 52. 59 Ditt, Karl: Die Anfänge der Umweltpolitik, S. 314 und S. 343; Hünemörder, Kai F.: Die Frühgeschichte der globalen Umweltkrise, S. 13.

84 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland die die Initiierung der bundesrepublikanischen Umweltpolitik. Zum einen lieferten internationale Aktivitäten im Rahmen der NATO (Nixons third dimension) und UNO (Vorbereitung der Stockholmer Umweltkonferenz) unmittelbare Anlässe zur Beschäftigung mit Umweltthemen in Deutschland, zum anderen standen die USA in gesetzgeberischer wie institutioneller Hinsicht Pate bei der konkreten umweltpo- litischen Ausgestaltung. Dabei konnten sich die genannten internationalen Einflüsse nicht nur über direkte internationale politische Kontakte der Bundesregierung ent- falten, sondern auch über international erfahrene Umweltexperten etwa in den Mi- nisterialverwaltungen. Damit ist im Übrigen auch eine bis heute weit verbreitete Annahme widerlegt, nach der der berühmte „Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit“ der entschei- dende umweltpolitische Impulsgeber gewesen sei. Denn die Abhandlung über die „Grenzen des Wachstums“ erschien 1972 und damit zu einem Zeitpunkt, als die bun- desrepublikanische Umweltpolitik bereits in vollem Gange war. In dieser Zeit haben auch die Parteien verstärkt Umweltthemen aufgegriffen. Allerdings dürfte ihnen da- bei die Hoffnung auf wählerwirksame Profilierung – auch die Bevölkerung wurde zunehmend sensibel für Umweltschutzbelange – ein stärkeres Anliegen gewesen sein als neu gewonnene Einsichten in ökologische Zusammenhänge und die Not- wendigkeit von Umweltschutzmaßnahmen. Die Schnelligkeit, mit der umweltpoliti- sche Ambitionen infolge von Öl- und Weltwirtschaftskrise in die Defensive gedrängt werden konnten, belegt dies eindrucksvoll. Einem bis heute immer wiederkehrenden Muster folgend,60 mussten umweltpolitisch Ambitionierte nun ihre Stellung zuguns- ten von Politikern räumen, die wirtschaftliche Belange über solche des Umweltschut- zes stellten. Bestes Beispiel dafür ist Helmut Schmidt, der Mitte der siebziger Jahre in Anlehnung an die frühere Forderung Willy Brandts spöttelte, dass eines Tages die Kumpel unter blauem Himmel vor den Arbeitsämtern im Revier Schlange stehen werden.61

60 Vgl. zum Verhältnis zwischen Umwelt- und Wirtschaftspolitik in der gegenwärti- gen Wirtschafts- und Finanzkrise etwa Siegloff, Roland: Klimaschutz steht wegen Wirtschaftskrise auf dem Spiel. 07.08.2009, Der Tagesspiegel, http://www.tagesspiegel. de/politik/international/EU-Gipfel-Europa-Klimaschutz-Wirtschaftskrise;art123,2682594. 61 Zitiert nach Bieber, Horst: Langsam stirbt der Umweltschutz, S. 33.

Dis | kurs 85 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009

Thema: 60 Jahre Bundesrepublik deutschland a) Das Selbst B) Das Andere c) Innen und Außen D) Abgründiges

Das wiedervereinigte Deutschland

Klaus Schroeder Freie Universität Berlin, Forschungsverbund SED-Staat E-Mail: [email protected]

Schlüsselwörter Prozess der Wiedervereinigung, Politische Kultur

Die Mauer fiel, die Einheit kam – unverhofft und schnell, herbeigesehnt oder be- fürchtet. In jenen turbulenten Monaten im Spätherbst des Jahres 1989 beschleunigte die Weltgeschichte ihren Lauf: Gleichsam über Nacht stürzte zusammen, was seit 1945 Bestand hatte. Das Freiheitsstreben der aus dem sowjetischen Machtbereich drängenden ost- und mitteleuropäischen Länder brachte auch den Deutschen die von vielen nicht mehr für möglich gehaltene und von nicht wenigen nicht gewollte Einheit in Freiheit. In der Nacht, in der die Mauer fiel, zeigten die Deutschen aus Ost und West, was sie sich selber schon lange nicht mehr zugestanden hatten: Geradezu euphorisch und unter vielen Tränen freuten sie sich über das Wiedersehen nach fast 45 Jahren Tei- lung. Der 9. November – ein deutscher Schicksalstag – brachte 1989 die tatsächliche Wende in der deutschen Teilungsgeschichte. Der Zug Richtung Wiedervereinigung nahm erst langsam und dann gewaltig Fahrt auf und führte schließlich am 3. Oktober 1990 zur Besiegelung der deutschen Einheit. Schon unmittelbar nach dem Fall der Mauer skandierten Leipziger Montagsdemonstranten „Deutschland, einig Vaterland“ und „Wir sind e i n Volk“ und kaum noch wie zuvor „Wir sind das Volk“. Bei den Demonstrationen waren nicht nur in Leipzig mehr und mehr schwarz-rot-goldene

86 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland

Fahnen mit herausgeschnittenem DDR-Emblem zu sehen, die den Wunsch nach schneller Wiedervereinigung symbolisierten. Ein lange verschüttetes und verdräng- tes Nationalbewusstsein wurde sichtbar – im Osten deutlich stärker als im Westen. Es war ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, der gemeinsamen Identität als Deutsche und kein Anknüpfen an unselige nationalistische Großmachtphantasien. Die Hoff- nungen rechtsextremistischer Gruppen, die Wiedervereinigungseuphorie könne zu einer Renaissance einer nationalistischen Bewegung führen, erfüllten sich nicht. Die Euphorie über die gewonnene Freiheit und die Aussicht auf Einheit stieß aller- dings schnell an Grenzen. In West-Berlin zeigten sich diese schon einen Tag nach dem Mauerfall, als Bundeskanzler Kohl auf einer Veranstaltung vor dem Schöne- berger Rathaus von tausenden linken Demonstranten lautstark ausgepfiffen wurde, obschon er seine Freude über den Mauerfall mit einer Warnung vor radikalen natio- nalistischen Parolen verknüpfte. Der damalige Regierende Bürgermeister von West- Berlin, Walter Momper, trat ebenfalls auf die nationale Bremse, sprach vom „DDR- Volk“ und der Notwendigkeit der weiteren Eigenständigkeit der DDR, die er als Hort „sozialer Verantwortung und Abneigung gegen die Ellbogengesellschaft“ lobte. Bald folgte auf die Euphorie der Katzenjammer. Spätestens seit Mitte der neunziger Jahre, als die schnelle Wohlstandsangleichung ins Stocken geriet und der erhoffte, sich selbst tragende wirtschaftliche „Aufschwung Ost“ ausblieb, wurde die im Kern imponierende Vereinigungsbilanz von einer negativen öffentlichen Stimmung über- schattet. Auch neunzehn Jahre nach der Vereinigung will, was zusammengehören soll, nicht so recht zusammenwachsen. Die gefühlte Nähe der Deutschen zu ihren Landsleuten im ehedem anderen Landesteil entspricht in etwa derjenigen von Deut- schen zu Österreichern. Das Unbehagen an der Einheit ist gleichermaßen unter Ost- und Westdeutschen vorhanden, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven. Viele Ostdeutsche halten das durch gewaltige Finanztransfers aus dem Westen in ihren Landstrichen und Haus- halten Geschaffene für selbstverständlich und sehen weitergehende Ansprüche als nicht erfüllt an. Unter Westdeutschen entwickelten sich angesichts der hohen Ver- einigungskosten, die für sie nachhaltige Wohlstandseinbußen bedeuten, ebenfalls Zweifel an der Einheit und vor allem an dem von der Politik eingeschlagenen Verei- nigungspfad. Wie konnte es hierzu kommen und in welcher Weise hat sich Deutsch- land seit der Wiedervereinigung verändert? Weichenstellungen Nach dem Fall der Mauer und der Öffnung der innerdeutschen Grenze war im deutsch-deutschen Verhältnis nichts so wie in der Zeit zuvor. Bis zum 20. Novem- ber konnten etwa acht Millionen Ostdeutsche bei ihrem Besuch in der Bundesre-

Dis | kurs 87 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 publik leibhaftig erfahren, wie groß die Wohlstandsdifferenz zwischen den beiden deutschen Staaten war. Bei vielen stieg nun der Zorn hoch; sie fühlten sich um die Früchte ihrer Arbeit, nicht wenige sogar um ihr bisheriges Leben betrogen. Der aus dieser Stimmung in der ostdeutschen Bevölkerung erwachsene Druck bestimmte die Entwicklung in den nachfolgenden Monaten. Der letzte von der SED nominierte und mit nur einer Gegenstimme – das zumindest war neu – in der Volkskammer gewählte Ministerpräsident Hans Modrow versuchte, die politischen Kräfte einschließlich der Oppositionsgruppen in seine Politik einzu- binden und hoffte auf großzügige finanzielle Hilfe der Bundesrepublik, um die DDR zu sanieren und im Sinne der SED zu reformieren. Modrows Modell einer „Vertrags- gemeinschaft“ zwischen DDR und Bundesrepublik, das er in seiner Regierungserklä- rung unterbreitet hatte, trug jedoch eher programmatischen als realpolitischen Cha- rakter. In erster Linie ging es ihm um eine Gegenoffensive zur Wiedervereinigung, die sich in den Köpfen der ostdeutschen Bevölkerung langsam herauszukristallisie- ren begann. Doch die Bundesregierung durchschaute diese Strategie und knüpfte ein wirtschaftliches Engagement der Bundesrepublik in der DDR an grundlegende Reformen, die in Richtung auf ein freiheitlich-demokratisches System zielten. Am 28. November prallten die unterschiedlichen eingeschlagenen Wege zur Rege- lung des innerdeutschen Verhältnisses öffentlich unmittelbar aufeinander. In der DDR veröffentlichte eine von SED-kritischen, aber staatsbejahenden DDR-Intel- lektuellen und Teilen der Opposition gegründete Initiative den Aufruf „Für unser Land“, in dem sie sich gegen westdeutsche Bestrebungen zur Vereinnahmung der DDR aussprachen und für eine fortbestehende Eigenständigkeit der DDR einsetzten. In der Bundesrepublik verkündete Bundeskanzler Helmut Kohl anlässlich der Haus- haltsdebatte sein 10-Punkte-Programm für Deutschland, das mehrere Stationen zwischenstaatlicher Zusammenarbeit mit dem letztendlichen Ziel der staatlichen Einheit Deutschlands vorsah. Mit dieser weder mit dem Koalitionspartner und der CDU noch mit den westeuropäischen Verbündeten abgesprochenen Initiative gelang es Kohl, der einige Monate zuvor in der eigenen Partei unter Druck geraten war und in der Öffentlichkeit gemeinhin als „Zauderer“ oder „Aussitzer“ galt, die politischen Akteure im eigenen Land und in der DDR in die Defensive zu drängen. Der Kanzler wurde zum „Frontrunner“, der sich die deutschlandpolitische Initiative bis zum Ok- tober des nächsten Jahres nicht mehr aus der Hand nehmen ließ. In einer Regierungserklärung unmittelbar nach seinen Gesprächen mit dem KPdSU- Generalsekretär Gorbatschow und dem DDR-Ministerpräsidenten Modrow skiz- zierte Helmut Kohl am 15. Februar 1990 seine geplante Vereinigungspolitik. Bereits hier wurden die bis heute sichtbaren Stärken und Schwächen dieser Politik deutlich. „Über eines kann kein Zweifel bestehen: In einer politisch und wirtschaftlich normalen

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Situation wäre der Weg ein anderer gewesen, und zwar derjenige schrittweiser Re- formen und Anpassungen mit der gemeinsamen Währung erst zu einem späteren Zeitpunkt. Vor diesem Hintergrund – ich sagte es – gibt es kritische Stimmen von Experten. Auch der Wirtschaftssachverständigenrat hat sich in dieser Weise geäußert. Wir nehmen die Argumente ernst. […] Die krisenhafte Zuspitzung der Lage in der DDR macht mutige Antworten erforder- lich. Politische und gesellschaftliche Umwälzungen haben zu einer dramatischen Verkürzung des Zeithorizonts geführt, so dass für – wie auch immer definierte und auch ökonomisch begründete – Stufenpläne aus meiner Sicht die Voraussetzungen entfallen sind. In einer solchen Situation geht es um mehr als um Ökonomie, so wichtig Ökonomie ist. Es geht jetzt darum, ein klares Signal der Hoffnung und der Ermutigung für die Menschen in der DDR zu setzen. Deswegen und nur deswegen haben wir in dieser konkreten Situation die in der Tag historisch zu nennende Entscheidung getroffen, der DDR jetzt das Angebot einer Währungsunion und Wirtschaftsgemeinschaft zu machen – ein Angebot, für das es kein vergleichbares Beispiel gibt. Für die Bundesrepublik Deutschland – das sage ich auch ganz bewusst an die Adresse der Kritiker in der DDR, von denen ja nicht wenige Hauptverantwortung dafür tragen, dass die DDR in diese katastrophale Lage gekommen ist – bedeutet das, dass wir damit unseren stärksten wirtschaftlichen Aktivposten einbringen: die Deutsche Mark. Wir beteiligen so die Landsleute in der DDR ganz unmittelbar und direkt an dem, was die Bürger der Bundesrepublik in jahrzehntelanger beharrlicher Arbeit aufgebaut und erreicht haben.“1 Dieses Signal, mit dem Kohl die soziale Problematik und nicht wirtschaftliche As- pekte in den Vordergrund stellte, bestimmte die nachfolgenden innenpolitischen und innerdeutschen Schritte bis zur Vereinigung. Weil weiterhin täglich tausende Menschen die DDR verließen und in die Bundes- republik umsiedelten und Hans Modrow Bundeskanzler Kohl am Rande des Welt- wirtschaftsforums in Davos die Situation in der DDR als aussichtslos beschrieben hatte, da Produktion und staatliche Autorität kaum noch aufrecht zu erhalten seien, unterbreitete die Bundsregierung der DDR Anfang Februar 1990 das Angebot einer schnellen Währungs- und Wirtschaftsunion. Der neue und entscheidende Vorstoß

1 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.): Texte zur Deutschlandpo- litik. Reihe III/Band 8a. Bonn 1990, S. 115.

Dis | kurs 89 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 der Bundesregierung in Richtung deutsche Wiedervereinigung zielte auch und viel- leicht sogar in allererster Linie auf eine Stabilisierung der DDR und einen Rück- gang der Übersiedlung. Letzteres gelang tatsächlich. Allein mit der Ankündigung der Wirtschafts- und Währungsunion konnte die Abwanderung aus der DDR einge- dämmt werden. Während im Februar noch knapp 64.000 und im März etwas über 46.000 Menschen die DDR verließen, waren es im April nur noch knapp 25.000. Bereits in dem Angebot zur Währungsunion findet sich allerdings die illusionäre Vor- stellung, die Einheit könne ohne zusätzliche Einnahmen und Verschuldung finanziert werden. Kurz vor den ersten und einzigen freien Volkskammerwahlen kündigte der Bundeskanzler nicht zuletzt aus wahltaktischen Gründen an, kleinere Sparguthaben, Löhne, Gehälter und Renten würden im Verhältnis 1 : 1 umgetauscht. Zu diesem für die DDR-Bevölkerung günstigen Umtauschkurs von DDR-Mark in D-Mark kam es nicht zuletzt auch deshalb, weil auf einer Vielzahl von Demonstrationen massiv bis aggressiv eine paritätische Währungsumstellung gefordert wurde. Hierin bestand der Minimalkonsens nahezu aller politischen Kräfte in der DDR. Damit war freilich das bis heute andauernde Dilemma der ostdeutschen Wirtschaft vorprogrammiert: der Wettbewerbsnachteil ostdeutscher Wirtschaftsunternehmen. Das Spannungs- verhältnis zwischen der niedrigen Produktivität der ostdeutschen Wirtschaft, die an- fangs pro Arbeitsstunde bei etwa 20 % des westdeutschen Niveaus lag, und raschen Lohnsteigerungen konnte zumindest im ersten Jahrzehnt der Wiedervereinigung nicht aufgelöst werden. Die Wirtschafts- und Währungsunion wurde auf Druck der DDR-Seite und der westdeutschen Gewerkschaften, aber auch der SPD, um die So- zialunion ergänzt. Sie beeinträchtigte wegen der hierdurch notwendigen Anhebung der Sozialbeiträge die Wettbewerbsfähigkeit der westdeutschen Wirtschaft massiv und führte zu einer lang andauernden Stagnation der Wirtschaftsentwicklung. Einer Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung schwante schon zu diesem Zeit- punkt, dass die Wiedervereinigung eine teure Angelegenheit werden würde. Bei einer Allensbach-Umfrage im Februar 1990 bejahten etwa drei Viertel der Bundes- bürger die Ansicht, man müsse jetzt vor allem auch an die Kosten denken und nicht aufs Spiel setzen, was in der Bundesrepublik geschaffen worden sei. Eine individuelle Opferbereitschaft war nur bei einer Minderheit von etwa jedem vierten Befragten vorhanden. Insofern lässt sich die innere Haltung vieler Westdeutscher zur Wieder- vereinigung als widersprüchlich beschreiben: Wiedervereinigung ja, aber bitte nicht auf meine Kosten. Nach der Einführung der D-Mark im Juli 1990 ging es „nur“ noch um die außenpo- litische Einbettung und Absicherung sowie den Zeitpunkt der Wiedervereinigung. Trotz einiger Widerstände, vor allem in Großbritannien, Polen und auch in Frank- reich, gelang es Bundeskanzler Helmut Kohl, durch vorbehaltlose Unterstützung sei- tens der USA auch das schwer zu erwartende, aber erhoffte Einverständnis der So-

90 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland wjetunion bei fortbestehender Integration des vereinten Deutschlands in die NATO und den Westen zu erlangen. Mit der ersten frei gewählten DDR-Regierung unter dem Unionspolitiker Lothar de Maizière verständigte sich die Bundesregierung auf einen weiteren Staatsvertrag, den so genannten Einigungsvertrag, der die rechtlichen und institutionellen Grundlagen zur Schaffung einheitlicher Lebensverhältnisse in Deutschland festlegte. Die nach relativ kurzer Verhandlungszeit von knapp acht Wo- chen zustande gekommene Vereinbarung wurde im und in der Volkskam- mer mit jeweils großen Mehrheiten verabschiedet. Obwohl die DDR-Vertreter aus einer Position der Schwäche verhandelten, setzten sie sich in wesentlichen Punkten durch. Die gegen den Widerstand der westdeutschen Länder vereinbarte schrittweise Aufnahme der neuen Länder in den Länderfinanzausgleich wie auch die Übernahme des Treuhandgesetzes in Artikel 25 und die weitgehende Einschränkung des Prinzips „Rückgabe vor Entschädigung“ gingen auf ihr Konto. Zwar wurde der Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung“ mit Ausnahme der zwischen 1945 und 1949 erfolgten Enteignungen in Artikel 41 des Einigungsvertrages endgültig festgeschrieben, erfuhr aber mit dem gleichzeitig fixierten Investitionsvorrang eine weitere Restriktion. Das zwei Jahre später verabschiedete „zweite Vermögensänderungsgesetz“ reduzierte die Rückgabeansprüche noch weiter. Am 2. Oktober löste sich die DDR-Volkskammer auf und einen Tag später wurde Deutschland nach 45 Jahren der Teilung wiedervereinigt. Ergebnisse Diese Weichenstellungen führten zwangsläufig zu hohen materiellen Vereinigungs- kosten und zu einer Finanzierungsstruktur, die nachhaltig die Sozialversicherungen belastete. Schon 1990 überwies die Bundesrepublik insgesamt etwa 33 Mrd. Euro in die DDR und die neuen Länder, damit diese ausstehende Löhne und Renten be- zahlen konnten. Am Ende des Jahres 2007 dürften sich die Vereinigungskosten, die nur bis 1998 von der Bundesregierung detailliert ausgewiesen wurden, geschätzt auf brutto über 1,8 Billionen Euro (netto: ca. 1,45 Billionen Euro) belaufen haben. Die West-Ost-Transfers umfassen neben den verfassungsrechtlich vorgesehenen Umver- teilungs- und Ausgleichszahlungen im Bereich der Länderfinanzen und der Sozi- alleistungen auch befristete Sonderzahlungen, die nur den neuen Ländern zugute kommen. Die im Solidarpakt I und II vereinbarten Transfers sollen mit dem Jahr 2019 enden. Ob die neuen Länder bis dahin finanziell auf eigenen Füßen stehen, kann derzeit eher bezweifelt als angenommen werden. Der konsumorientierte Transformationspfad brachte den allermeisten ostdeutschen Haushalten binnen kürzester Zeit eine Wohlstandsexplosion. Bis Mitte der neun- ziger Jahre wuchsen die realen Haushaltsnettoeinkommen auf fast 90 % des west- deutschen Niveaus. Dieser schnelle Angleichungsprozess verdankt sich insbesondere

Dis | kurs 91 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 den sozialen Transfereinkommen. Im Jahre 2003 erreichten sie die gleiche Höhe wie die Nettolohnsumme der Arbeitnehmer, d. h. jeder zweite Euro, der ostdeutschen Haushalten zur Verfügung stand, war Resultat des West-Ost-Transfers. Diese Ent- wicklung drückt sich auch in der ostdeutschen Sozialleistungsquote aus, die immer noch bei fast 50 % gegenüber etwa 30 % im Westen liegt. Anders als anfangs verspro- chen konnte die Vereinigung nicht aus der „Portokasse“ finanziert werden, sondern erforderte massive Steuererhöhungen und eine enorme Zunahme der öffentlichen Verschuldung. Neben dem Solidaritätszuschlag, der seit 1991 in West- und seit 1994 auch in Ostdeutschland erhoben wird und eine verschleierte Steuererhöhung dar- stellt, wurden andere Steuern – zuletzt die Mehrwertsteuer – erhöht. Allerdings gab es auch – insbesondere während der rot-grünen Regierungszeit – Steuersenkungen, die die vereinigungsbedingten Belastungen der westdeutschen Haushalte etwas mil- derten. Die öffentlichen Haushalte mussten sich seit 1991 deutlich stärker als in den Jahren zuvor verschulden. Die Gesamtschulden erhöhten sich zwischen 1991 und 2006 von knapp 600 Mrd. auf etwa 1,5 Billionen Euro, was einem Anstieg der Schuldenquo- te (Anteil der Schulden am Bruttoinlandsprodukt) von 38,8 % im Jahre 1991 über 54,6 % (1995) auf etwa 64 % im Jahre 2006 entspricht. Faktisch liegt die Gesamtver- schuldung freilich noch erheblich höher als die offiziell ausgewiesenen 1,5 Billionen Euro, da die Verpflichtungen aus den Sozialsystemen und den Pensionslasten hin- zu gezählt werden müssen. Demnach beläuft sich die deutsche Staatsschuld derzeit auf etwa 5 Billionen Euro, was in etwa dem Bruttosozialprodukt zweier Jahre ent- spricht. Die Wohlstandsexplosion ohne wirtschaftliches Fundament in Ostdeutschland er- möglichte den Haushalten eine schnelle Angleichung der Wohlstandsattribute be- zogen auf die Ausstattung privater Haushalte mit langlebigen Konsumgütern. Der bereits nach zehn Jahren Vereinigung erreichte annähernd gleiche Ausstattungsgrad kann als sichtbarer Ausdruck des schnellen und geradezu atemberaubenden Anglei- chungsprozesses zwischen Ost und West angesehen werden. In einigen Bereichen haben die ostdeutschen Haushalte die westdeutschen ein-, in anderen – vierzig Jahre nach der Prophezeiung Walter Ulbrichts – gar überholt. Ein gleicher Ausstattungs- grad mit Telefonen und PKW wurde zum Beispiel innerhalb von fünf Jahren er- reicht, während ein vergleichbarer Entwicklungssprung in Westdeutschland drei- zehn bis fünfzehn Jahre gedauert hatte. Selbst bei Wohneigentum und Vermögen sind die Ostdeutschen – jedenfalls im Durchschnitt – den Westdeutschen deutlich näher gekommen. So stieg das Geldvermögen je Haushalt im Ost-West-Vergleich von knapp 18,7 % im Jahr der Wiedervereinigung auf knapp 52 % im Jahre 2003. Unter Berücksichtigung kapitalisierter Ansprüche an die gesetzliche Rentenversi- cherung dürfte das durchschnittliche Vermögen in den neuen Ländern zu diesem

92 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland Schaubild 1: Ausstattung privater Haushalte

West Ost

51,6 Internet-Anschluss 55,2

65,5 Mikrowelle 67,3

66,6 PC 69,0

99,6 Kühlschrank 99,0

99,8 Telefon 99,2

74,3 Fahrrad 81,1

74,1 PKW 77,5

75,3 Handy 76,7

70,2 Videorecorder 70,0

0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 %

Schaubild 1: Ausstattung privater Haushalte. AusstattungsgradAusstattungsgrad je 100 privaterje 100 Haushalte privater ohne Haushalte Haushalte von ohneSelbstständigen Haushalte und Landwirten von Selbstständigen und ohne Haushalte mitund einem monatlichen Haushaltsnettoeinkommen von über 18.000 Euro (in Prozent) im Jahr 2005. Landwirten und ohne Haushalte mit einem monatlichen Haushaltsnettoeinkommen vonQuelle: über Statistisches 18.000 Bundesamt Euro (in Prozent) im Jahr 2005. Quelle: Statistisches Bundesamt Zeitpunkt sogar etwa 80 % des westdeutschen Niveaus erreicht haben. Da die Finan- zierung dieser Wohlstandsexplosion vornehmlich über den Staat und die Sozialver- sicherungen erfolgte, wurden die westdeutschen sozialversicherungspflichtigen Ar- beitnehmer am stärksten durch die Vereinigungskosten belastet. Sie zahlen, anders als Beamte, Selbstständige und Rentner, die Vereinigung nicht nur über überhöhte Sozialbeiträge, sondern zusätzlich – wie alle Steuerpflichtigen – über die Steuern. Für einen durchschnittlichen westdeutschen Arbeitnehmerhaushalt haben sich die Ver- einigungskosten seit 1991 auf eine beträchtliche Summe addiert. Die westdeutschen Haushalte mussten seit der Wiedervereinigung unter dem Strich Reallohnverluste hinnehmen. Materielle Gewinner der Vereinigung sind vor allem die Rentner in den neuen Ländern. Durch die Übertragung des bundesdeutschen Rentensystems auf die Bevölkerung des Beitrittsgebietes entstanden hier als Folge der Sozialunion gleich-

Dis | kurs 93 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 sam über Nacht aufgrund der längeren Lebensarbeitszeiten kapitalisierte Ansprüche an die gesetzliche Rentenversicherung in beträchtlicher Höhe. Die tatsächlich ausge- zahlten gesetzlichen Renten liegen bei den Männern und vor allem bei den Frauen in Ostdeutschland seit der Frühphase der Wiedervereinigung deutlich über den durch- schnittlichen westdeutschen Renten. Der materielle Unterschied zwischen Ost und West betrifft seit mehreren Jahren nur noch kleine Teile der Bevölkerung, die „oberen Zehntausend“. Dass diese sich auf Westdeutschland konzentrieren, kann angesichts der Vorgeschichte nicht überra- schen. So gesehen, ist die „innere Einheit“ materiell inzwischen erreicht, wenngleich dies noch nicht ins öffentliche Bewusstsein vor allem bei der Bevölkerung der neuen Länder gedrungen ist. Ein besonderes, wenn nicht das zentrale Problem stellt zwei- fellos die im Vergleich zum Westen deutlich höhere Arbeitslosigkeit in Ostdeutsch- land dar. Sie ist Ergebnis einer höheren Erwerbsneigung ostdeutscher Frauen, die zudem erheblich weniger als ihre westdeutschen Geschlechtsgenossinnen einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen. Während die staatliche Arbeitsmarktpolitik in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung den Prozess des Arbeitsplatzwandels und –abbaus, der sich zwangsläufig durch den Wechsel von der staatlichen Planwirt- schaft zur sozialen Marktwirtschaft einstellte, mit dreistelligen Milliardenbeträgen sozial abfederte, beobachten wir seit Mitte der neunziger Jahre und – noch einmal beschleunigt – seit der Jahrtausendwende – eine stärkere Zunahme der Langzeit- arbeitslosigkeit in den neuen Ländern. Dieser Prozess resultiert einerseits aus der unterschiedlichen konjunkturellen Entwicklung, andererseits aber auch aus demo- graphischen und wanderungsbedingten Faktoren. Da vor allem die im Osten anteilig stärker vertretenen Älteren überdurchschnittlich häufig von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen und weniger mobil sind, dürfte sich die Schere auch in den nächsten Jahren weiter öffnen. Die geschlechtsspezifische Betrachtung des Arbeitsmarktes zeigt seit Mitte der neunziger Jahre einen überdurchschnittlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit bei ostdeutschen Männern. Bei Frauen geht die Quote dagegen leicht zurück, so dass seit der Jahrtausendwende – entgegen der weit verbreiteten Vermutung – Frauen in Ostdeutschland seltener von Arbeitslosigkeit betroffen sind als Männer. Trotz des massiven Rückgangs der Arbeitslosenquote seit Anfang 2005 hat sich die unterschiedliche Entwicklung zwischen alten und neuen Ländern nicht aufgelöst. Weiterhin ist die Arbeitslosigkeit im Osten mehr als doppelt so hoch wie im Westen. Die Unterschiede in Erwerbsneigung und Einstellung zur Teilzeitarbeit begünsti- gen ebenso wie das sinkende Qualifikationsniveau der im Osten verbliebenen Ar- beitsbevölkerung diese Entwicklung, zumal die Arbeitsmarktpolitik nur begrenzt erfolgreich war. Anstatt die in der Bundesrepublik erprobten Instrumente auf das Beitrittsgebiet zu übertragen, hätte eine speziell für die neuen Länder konzipierte Politik den sozialen und gesellschaftlichen Voraussetzungen Rechnung tragen müs-

94 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland sen. Eine andere Verteilung von Arbeit und Einkommen könnte dabei als Modell für den Westen dienen, wo sich die Erwerbsneigung von Frauen generationsspezifisch allmählich dem ostdeutschen Niveau nähert. Zwar sehen wir auch knapp 19 Jahre nach der Wiedervereinigung ausgeprägte Ost- West-Unterschiede im Wohlstand, die sich aber unter Berücksichtigung der in der Bundesrepublik immer schon vorhandenen regionalen Disparitäten relativieren. Wenngleich die Verfassung den Bund verpflichtet, einheitliche bzw. seit 1994 gleich- wertige Lebensverhältnisse im Bundesgebiet herzustellen, blieb und bleibt offen, was unter „einheitlich“ bzw. „Gleichwertigkeit“ verstanden wird. Durch den Finanzaus- gleich und diverse Bundeszuschüsse hat der Bund die Voraussetzungen geschaffen, dass auf Länderebene „gleichwertige Lebensverhältnisse“ entstehen und erhalten wer- den können. Dabei geht es aber nicht – wie oft angenommen wird – um gleiche Einkommen oder individuelle Lebensverhältnisse, die ohnehin von zusätzlichen Faktoren abhängen, sondern um Infrastruktur, Bildung und Verkehr sowie andere staatliche Garantien, die gleiche Lebenschancen ermöglichen sollen. Das regionale Wohlstandsgefälle in Deutschland fällt – im West-Ost-Vergleich, aber auch innerhalb des Ostens und insbesondere des Westens – beträchtlich aus. Seit der Vereinigung vergrößerten sich die regionalen Wohlstandsunterschiede in den alten Bundesländern, in den neuen nahmen sie dagegen ab. Dabei liegen einige Regionen im Westen durchschnittlich weiter auseinander als Ost und West. Die dynamischsten Standorte in Ostdeutschland haben inzwischen den Anschluss an Westdeutschland gefunden, was sich auf der Ebene der individuellen Einkommen niederschlägt. Die- ser Trend wird allerdings durch die verschiedenen Umverteilungssysteme gedämpft. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland mit seinen regionalen Disparitäten freilich nur im Mittelfeld. In Ländern wie Schweden und den Niederlanden fallen sie geringer, in Frankreich oder Großbritannien stärker aus. Mehr als jede andere Institution hat die Treuhandanstalt (THA) im Laufe des Ver- einigungsprozesses Kritik vornehmlich von ostdeutscher Seite hervorgerufen. Da- bei wird zumeist übersehen, dass sie von der Modrow-Regierung ins Leben gerufen wurde und in ihr unterhalb der direkten Führungsebene mehrheitlich ostdeutsche Mitarbeiter tätig waren. Die Treuhandanstalt konnte ihre Aufgabe – rasche Priva- tisierung, entschlossene Sanierung und behutsame Stilllegung – nicht im geplanten Sinn umsetzen, da sich viele Betriebe in einem kaum vorstellbaren maroden Zustand befanden. Gleichwohl leistete diese Einrichtung Beträchtliches: Bis Ende 1994 pri- vatisierte sie etwa zwei Drittel der in ihrem Portfolio befindlichen Unternehmen, erzielte Erlöse von etwa 67 Mrd. D-Mark und erhielt Zusagen für Investitionen von über 200 Mrd. D-Mark und 1,5 Mio. Arbeitsplätze. Obschon die Zusagen nicht im- mer eingehalten wurden und erhebliche Schäden durch dubiose Geschäfte und kri- minelle Machenschaften zu verzeichnen waren, kann der Erfolg ihrer Arbeit nicht

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übersehen werden. Das von der THA hinterlassene Gesamtdefizit von über 200 Mrd. D-Mark deutet auf die Dimension dieser historisch beispiellosen Aufgabe hin: eine von der Politik zentralistisch gelenkte und von westlichen Finanzspritzen in den achtziger Jahren nur künstlich am Leben gehaltene Mangelwirtschaft in eine gesunde und wettbewerbsfähige Wirtschaft zu transformieren. Von ostdeutscher Seite wurde an der Arbeit der Treuhandanstalt bemängelt, dass der Vorrang der Privatisierung vor der Sanierung zu einem erheblichen Abbau von Arbeitsplätzen geführt habe; der geringe Anteil ostdeutscher Investoren befrem- dete; außerdem wurde behauptet, das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung hätte Ostdeutsche benachteiligt und Investitionen verhindert und schließlich erregten nicht eingehaltene Arbeitsplatzversprechungen oder kriminelle Transaktionen wie Subventionsbetrug die Gemüter. Letzteres scheint – wie ein Blick auf die Erfahrun- gen in anderen Transformationsländern zeigt – unvermeidlich zu sein und war in Ostdeutschland noch vergleichsweise gering ausgeprägt. Auch der erste Einwand geht am Kern der Sache vorbei, da ein Vorrang der Sanierung zu Dauersubventio- nen und erheblich höheren Belastungen und keineswegs zur dauerhaften Sicherung von Arbeitsplätzen geführt hätte. Zum Teil berechtigt erscheint die Kritik des Ei- gentumvorbehalts. Die Privatisierung durch Management-Buyout (MBO), d.h. die Übertragung des Unternehmens an die Beschäftigten, hätte konsequenter genutzt werden können. Hierdurch wäre wahrscheinlich eine andere Einstellung zum Eigen- tum entstanden oder zumindest befördert worden. Jedoch stellt sich die Frage, ob es überhaupt ein entsprechendes Potenzial an ostdeutschen Käufern gegeben hätte. Summa summarum haben ostdeutsche Investoren 26 % der „Vollverkäufe“ und etwa 9 % der „Teilverkäufe“ erworben, Ausländer 5,4 % bzw. 4,5 %. Den staatlichen Rest übernahmen westdeutsche Käufer. Die neuen Bundesbürger hatten faktisch keine reguläre bzw. legale Möglichkeit, sich am Erwerb „ihres“ Sachvermögen zu beteiligen. Natürlich waren sie davon formell nicht ausgeschlossen, sie wurden dennoch auf vielfältige Weise benachteiligt. Vor allem verfügten sie in der Regel nicht über ausreichende finanzielle Mittel, um sich in größerem Ausmaße am Bieterprozess um ostdeutsche Unternehmen zu beteiligen. In der DDR existierten keine Anreize zur Vermögensbildung, da Privateigentum an Produktivkapital – abgesehen von Handwerksbetrieben – spätestens seit der Enteig- nungswelle von 1972 nicht mehr zugelassen war. Unter diesen Bedingungen waren die vorhandenen beträchtlichen privaten Ersparnisse eher Ausdruck eines Güterman- gels; wegen zentraler Preis- und Mengenfestsetzung gab es für private Ersparnisse kein Ventil. Vielen Ostdeutschen erscheinen die Privatisierung bis zum heutigen Tag als „Ausverkauf “ und die Einführung des marktwirtschaftlichen Systems weitgehend als „Kolonialisierung“ durch den Westen, womit die eine Herrschaft lediglich durch eine andere abgelöst worden sei. Auf viele, die dem alten System kritisch gegenüber-

96 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland standen, wirkte zusätzlich demoralisierend, dass nach der Vereinigung Nomenkla- turkader des alten Systems die ihnen verbliebenen informellen Kanäle einmal mehr zur individuellen Bereicherung ausbeuten konnten. Trotz des Unverständnisses und der Wut über die Privatisierungsstrategie der Treuhand scheint es doch fraglich, ob bei einer von einigen Bürgerrechtlern vorgesehenen Überführung von „Volkseigen- tum“ in Anteilsscheine viele Ostdeutsche bereit gewesen wären, ihr Geldvermögen entsprechend umzutauschen. Einen Versuch wäre es gleichwohl wert gewesen. Trotz einiger offensichtlicher Fehlentscheidungen und krimineller Machenschaften im Zusammenwirken von Ost- und westdeutschen Seilschaften hat die Treuhand eine historische Leistung vollbracht, die ihresgleichen sucht, gerade angesichts des Drucks von Politik, Verbänden und Öffentlichkeit auf ihre Arbeit. Sie bereitete – bis- weilen mit brachialer Gewalt – einem Strukturwandel in Ostdeutschland den Weg, für den es in der alten Bundesrepublik nie eine Parallele gab. Sämtliche in die Dis- kussion eingebrachten Alternativen (zum Beispiel die stärkere Sanierung, Verlang- samung des Privatisierungstempos, Überführung in Gemein- oder Staatseigentum usw.) wären höchstwahrscheinlich mit massiveren Problemen und vor allem deutlich höheren Kosten verbunden gewesen. Generell dürfte der eingeschlagene Weg, über die Treuhandanstalt das Staatseigentum zu privatisieren und damit die Überführung der Plan- in die Marktwirtschaft umzusetzen, alternativlos gewesen sein. Aus Sicht der Regierenden jedenfalls war die Errichtung der THA eine strategische und takti- sche Meisterleistung, da sie eine Schutzfunktion für sie ausübte und einen Legitima- tionsbruch seitens der Bevölkerung wenn nicht verhinderte, so doch abschwächte. Vor allem aber war diese Institution Blitzableiter für die Wut vieler Ostdeutscher an- gesichts der mit hoher Arbeitslosigkeit verbundenen, strukturellen wirtschaftlichen Umbrüche. Das im Einigungsvertrag fixierte Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“ brachte keineswegs – wie öffentlich heute noch unterstellt wird – eine tatsächliche Rückgabe vieler Liegenschaften. Durch die Einschränkungen des Rückgabeprinzips, die Ausklammerung der Enteignungen 1945 bis 1949 und die Berücksichtigung ei- nes „redlichen Erwerbs“ von Grundstücken fielen – ohne Berücksichtigung der Rück- gabe an jüdische Eigentümer – die Rückgaben eher bescheiden aus und dürften im Ergebnis in etwa das gleiche Niveau haben wie der Grundstückserwerb von Ost- deutschen, unter ihnen viele Funktionsträger des SED-Staates, durch ein von der Modrow-Regierung erlassenes Gesetz. Einstellungen und Mentalitäten Trotz der von breiten Mehrheiten – im Osten etwas stärker als im Westen – positi- ven Grundeinstellung zur Wiedervereinigung meinen viele West-, aber auch Ost- deutsche, sie hätten durch die Wiedervereinigung mehr Verluste als Gewinne er- fahren. Dabei beklagen die einen die stagnierende oder zurückgehende individuelle

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Wohlstandsentwicklung, die anderen die hohe Arbeitslosigkeit und die verbliebene Wohlstandsdifferenz. Dennoch sehen eine knappe absolute Mehrheit in den alten und eine breite in den neuen Ländern die Vereinigung eher mit Freude als mit Sorge. Nach der Jahrtausendwende stieg der Anteil derjenigen, die lieber keine Wiederver- einigung gehabt hätten, in beiden Landesteilen jedoch wieder an – im Westen auf etwas über, im Osten etwas unter 20 %. Mit dem Aufbau Ost sind nur wenige aus allerdings unterschiedlichen Gründen – im Osten nur jeder Zehnte, im Westen jeder

FünfteSchaubild 2:– Vzufrieden.ereinigung: Gr und zur Freude oder Sorge? Unification: A Reason for Joy or Warries?

Grund zur Freude Grund zur Sorge Reason for Worries 80% Reason for Joy 80% 70% 70%

60% 60% 50% 50% 40% 40% 30% 30%

20% 20% 10% 10% 1990 1992 1994 1996 1998 2001 2003 2007 1990 1992 1994 1996 1998 2001 2003 2007 West-West Ost-East West-West Ost-East

Westdeutschland Ostdeutschland West Germany 80% 80%

70% 70%

60% 60%

50% 50%

40% 40%

30% 30%

20% 20%

10% 10% 1990 1992 1994 1996 1998 2001 2003 2007 1990 1992 1994 1996 1998 2001 2003 2007 Freude-Joy Sorge-Worries Freude-Joy Sorge-Worries

Datenbasis: Institut für Demoskopie Allensbach. Schaubild 2: Vereinigung: Grund zur Freude oder Sorge? Datenbasis: Institut für Demoskopie Allensbach

Die Schwierigkeiten des Vereinigungsprozesses und das Unbehagen an der Einheit können freilich nicht angemessen erklärt werden, wenn die jahrzehntelange Teilung und das Leben in diametral entgegen gesetzten Gesellschaftssystemen nicht berück- sichtigt werden. Im Oktober 1990 standen sich zwei deutsche Teilgesellschaften gegenüber, die sich vor allem in Sozialstruktur und Alltagskultur stark unterschie- den. Die alte Bundesrepublik war sozial und kulturell eine mittelschichtsdominier- te, die DDR eine verproletarisierte Gesellschaft. Eine hochgradig individualisierte und pluralisierte, substanziell in den Westen integrierte Gesellschaft stieß auf ein institutionell sowjetisiertes, im mentalen Kern aber doch eher typisch deutsches

98 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland

Gemeinwesen in einem sehr herkömmlichen, eher altmodischen Sinn. Die Verei- nigung erfolgte nicht auf Augenhöhe, gewissermaßen von gleich zu gleich, sondern als Beitritt eines kollabierenden Staates zu einem größeren deutschen Kernstaat. Fast alle DDR-Bewohner erstrebten die Einheit, um so schnell wie möglich so leben zu können wie die Westdeutschen. Diese wiederum wollten in ihrer weit überwie- genden Mehrheit weder den Lebensstil ihrer „Brüder und Schwestern“ noch die „sozialistische Errungenschaften der DDR“ übernehmen. Die identitätsstiftende ost- deutsche Trotzreaktion erklärt sich ebenso wie westdeutsche Überlegenheitsgefühle aus dieser Ausgangslage. Hieran hat sich bis heute wenig geändert.

Trotz der nie abreißenden innerdeutschen Kontakte waren sich die Menschen nach 45 Jahren Teilung fremd geworden; nach neunzehn Jahren gemeinsamen Lebens in einem Staat sind sich viele in Ost und West immer noch nicht näher gekommen. In der Selbstbeurteilung werden erstaunliche Unterschiede deutlich. Die ehema- ligen DDR-Bewohner schreiben sich und ihren „Leidensgenossen“ vor allem posi- tive Eigenschaften zu. Sie bewerten sich als sozial eingestellt, gefühlsstark, fleißig, friedfertig und engagiert. Die Westdeutschen dagegen beurteilen sich zwar ebenfalls durchaus positiv, sind aber auch wesentlich selbstkritischer und bejahen zum Teil die ihnen von Ostdeutschen zugeschriebenen negativen Eigenschaften, überheblich, machtgierig, ehrgeizig und egoistisch zu sein. Die Ostdeutschen sehen sie in einem eher milden Licht und halten sie vor allem für hilfsbereit, freundlich, ehrlich und zuverlässig, aber auch für unzufrieden, misstrauisch, ängstlich und bequem. Beide Seiten vermuten tiefgreifende Unterschiede in der jeweiligen Lebensweise, der Art zu denken und zu fühlen sowie in dem, was sie im Leben für wichtig halten. Nicht einmal jeder Fünfte sagt, die Landsleute im ehedem anderen Teil Deutschlands stün- den ihm nahe. Die nicht zu übersehenden alltagskulturellen und mentalen Differenzen lassen sich vor allem auf unterschiedliche Sozialisationserfahrungen zurückführen. Die kollek- tive und autoritäre Form der Erziehung in der DDR und des Umgangs miteinander erstreckte sich nicht nur auf den politisch-ideologischen, sondern insbesondere auch auf den mentalen Bereich und prägte die Menschen unbewusst. Schon in Kinder- garten und Schule, aber auch in ihrer Freizeit wurden Kinder und Jugendliche zur Unterordnung unter Kollektiv und Partei erzogen. Diese Form des Umgangs setzte sich bei der Organisation des Erwachsenenalltags fort – Ergebnis war eine Tendenz zur Infantilisierung. Die staatliche Erziehung sollte Individualität hemmen und den eigenen Willen bre- chen, sofern er nicht den gewünschten Vorgaben entsprach. Obschon sich viele gegen diese Anmaßungen wehrten und Fluchtpunkte jenseits des Offiziellen suchten, konn-

Dis | kurs 99 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 ten sich Individualität, abweichendes Verhalten und Denken jedenfalls nicht im öf- fentlichen Raum entfalten. Gerade die Ausschaltung von Pluralität und öffentlichem Austausch kennzeichnet totalitäre Systeme und verhindert die Herausbildung einer zivilen Gesellschaft. Der in der Bundesrepublik durch die 68er-Bewegung angestoße- ne oder zumindest beschleunigte Wertewandel führte im Schul- und Hochschulbe- reich und in vielen Familien zu einem veränderten Erziehungsverhalten. Liberalität und Toleranz, aber auch Gleichgültigkeit und Lieblosigkeit prägten infolgedessen seit den späten sechziger Jahren den Umgang der Generationen miteinander. In der DDR dagegen blieben autoritäre Erziehungsmuster weitgehend ungebrochen erhal- ten. Die sozialistische Untertanenproduktion stieß erst in den achtziger Jahren mehr und mehr auf den – zumeist passiven, aber äußerlich sichtbaren – Widerstand vieler Jugendlicher, die sich vor allem alltagskulturell den aus ihrer Sicht kleinbürgerlich- spießigen Verhaltensmustern entzogen. Die Nachwehen totalitärer Sozialisation sind gleichwohl bis heute noch in ostdeutschen Familien und Schulen spürbar. Auch die private Lebensführung in West- und Ostdeutschland unterschied sich auf- grund systembedingter Zwänge und Freiräume in erheblichem Maße. Das Privat- verhalten in der späten DDR erinnerte zumindest in den Grundeinstellungen wie Ordnungsliebe, Autoritätsgläubigkeit, Verlässlichkeit und Regelmäßigkeit an die Lebensführung in der Bundesrepublik der späten fünfziger und frühen sechziger Jahre. Bis zum Ende war die Kleinfamilie in der DDR allerdings keineswegs ein ab- geschotteter, durchprivatisierter Lebensbereich wie zumeist in der Bundesrepublik, sondern blieb eine in erheblichem Umfang von offiziellen Vorgaben durchdrungene und nicht selten von ihren Mitgliedern instrumentalisierte Lebenssphäre. Das Ver- halten nicht weniger Eltern gegenüber ihren Kindern kann keineswegs pauschal als besonders fürsorglich oder verantwortungsvoll beschrieben werden. So verdreifach- ten sich in den achtziger Jahren die angezeigten Verletzungen der Unterhaltspflicht. Nach Öffnung der Grenzen verließen zehntausende Elternteile, vor allem Väter, ihre Familien. Die Nachwirkungen unterschiedlicher Sozialisationen vermengen sich besonders bei den mittleren und älteren Generationen seit neunzehn Jahren mit den Erfahrungen im Vereinigungsprozess, so dass sich alte Vorurteile reproduzieren und nostalgische Stimmungen auftreten. In der Beurteilung der neuen politischen und gesellschaftli- chen Ordnung stimmt eine sehr breite Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung eher mit der anderer ost-mitteleuropäischer Transformationsländer überein als mit der westdeutschen. Im Kern ist die ostdeutsche Gesellschaft auch neunzehn Jahre nach der Wiedervereinigung immer noch vor allem eine postsozialistische. So verschieden sich die Deutschen in Ost und West in der wechselseitigen Wahrneh- mung vorkommen mögen und es tatsächlich sind, so ähnlich werden sie von außen gesehen. Die gemeinsamen, als typisch deutsch erachteten Züge treten in der Außen-

100 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland beobachtung stärker hervor als die Differenzierungen und Gräben. Auch lassen sich erhebliche erhalten gebliebene Kontinuitäten feststellen, so die Neigung zum Perfek- tionismus, zu technischen Tüfteleien (jedenfalls bei den Männern), das Beharren auf dem Unbedingten und der Wechsel von einem Extrem ins andere. Eine Mehrheit der Deutschen verbindet zudem ein ausgeprägter Hang zum Materiellen, der naturge- mäß aufgrund nachholender Effekte im Osten stärker als im Westen ausgeprägt ist. Die Deutschen sind sich also ähnlicher, als Äußerungen und Umfragen vermuten lassen, auch wenn Einstellungs- und Wertemuster auf der Zeitachse verschoben sind. Vordergründig systembedingt nachwirkende unterschiedliche Mentalitäten lassen sich insofern durchaus auch auf einen gemeinsamen Kern zurückführen. Selbstge- rechtigkeit und Selbsterniedrigung erscheinen damit als zwei Seiten ein und dersel- ben Medaille deutscher Identität. Die Ängste vieler prominenter Vereinigungsgegner – mit dem späteren Nobelpreis- träger Günter Grass an der Spitze –, die die Gefahr einer Wiederkehr einer natio- nalistischen Grundhaltung angesichts der Wiedervereinigung geradezu beschworen hatten, erwiesen sich als unberechtigt. Die Deutschen in Ost und West besannen sich stattdessen auf ihre gemeinsame Fähigkeit zum Jammern, beklagten die jewei- ligen vermeintlichen Nachteile und pflegten die in Zeiten der Teilung entstandenen wechselseitigen Vorurteile. Das Zusammengehörigkeitsgefühl unter Bezug auf das gemeinsame Vaterland schien vergessen. Als etwa zehn Jahre später der damalige CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer öf- fentlich bekundete, er sei „stolz, Deutscher zu sein“, beschied ihm der grüne Umwelt- minister Jürgen Trittin, er habe nicht nur das Aussehen, sondern die Mentalität eines Skinheads. Damit war die Debatte wieder da angekommen, wo sie zu Zeiten der Bundesrepublik herkam: Jeder, der ein Bekenntnis zur Nation abgab, für die Wie- dervereinigung eintrat, Nationalbewusstsein oder gar Nationalstolz kundtat, wurde schnell in die rechtsradikale Ecke gestellt. Das Bekenntnis zur eigenen Nation, das in anderen Ländern selbstverständlich ist, konnte sich in Deutschland auch im ers- ten Wiedervereinigungsjahrzehnt nicht aus dem Schatten des Nationalsozialismus lösen. Mit der Ablehnung einer Beteiligung am Irak-Krieg und der Frontstellung gegen die USA durch den sozialdemokratischen Kanzler Gerhard Schröder und seine rot-grü- ne Regierungskoalition kam unverhofft – und vielleicht unbeabsichtigt – die Wen- de. Nun galt der besondere „deutsche Weg“ wieder als etwas Positives, eine stärkere Rolle Deutschlands in der Weltpolitik wurde befürwortet und dem Kanzler ob seiner markigen Worte starke Führungsqualitäten zugesprochen. Endlich konnten auch diejenigen, die einen positiven Bezug auf das eigene Land immer abgelehnt hatten, stolz auf Deutschland sein.

Dis | kurs 101 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009

Der eigentliche Durchbruch bei der Herausbildung eines neuen Nationalbewusst- seins, das sich spielerisch gab und andere Nationen nicht abwertete, entwickelte sich indes 2006 anlässlich der Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land. Millionen Fußballfans verwandelten öffentliche Plätze und Stadien in ein schwarz-rot-goldenes Fahnenmeer, zeigten im wahrsten Sinne des Wortes Flagge und schauten nicht mehr verschämt nach unten, wenn die Nationalhymne ertönte. Für fast zwei Drittel der Deutschen – so die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage – symbolisierten die Deutschlandfahnen während der Weltmeisterschaft, dass es hierzulande ein Natio- nalgefühl ebenso wie in anderen Länder gebe. Immerhin etwa jeder zweite Befragte äußerte gegenüber Allensbach, dass andere Nationen es gut fänden, wenn die Deut- schen sich so mit ihrem Land identifizierten. Die Fahnen seien ein Zeichen für ei- nen angenehmen, fröhlichen Patriotismus. Gleichzeitig wurde deutlich, dass jüngere Generationen ein anderes Verständnis von Deutschland haben als ältere. Wenn eine Mehrheit der Jüngeren die unzähligen Deutschlandfahnen anlässlich der Fußball- weltmeisterschaft für selbstverständlich hielten, wurde diese Auffassung umso weni- ger geteilt, je älter die Befragten waren. Im Jahre 2006 bekundeten erstmals mehr Ostdeutsche, sie fühlten sich eher als Deut- sche denn als Ostdeutsche. Zwar lag die Quote immer noch unter der im Westen, aber immerhin fühlte sich zu diesem Zeitpunkt eine absolute Mehrheit als Deutsche und sah sich nicht mehr in einem Ost-West-Verhältnis. Diese Identität als Deutsche finden wir in den alten Ländern quer durch alle Generationen, aber besonders aus- geprägt unter den Jüngsten und den Ältesten. In den neuen Ländern unterscheiden sich dagegen die Auffassungen der Jüngeren deutlich von denen der Älteren. Sie be- trachten sich zu 77 % als Deutsche gegenüber etwa 50 % bei den älteren Landsleuten. In einer Forsa-Umfrage bekannten im letzten Jahr sogar 86 % der 14-18-Jährigen, stolz auf ihre Identität als Deutsche zu sein; nur etwa jeder Zehnte war weniger und nur 3 % waren überhaupt nicht stolz. Für viele dieser Alterskohorte ist der Stolz ein nicht weiter begründbares Grundgefühl, andere äußerten, Deutschland sei ein tolles Land oder erwähnten die wirtschaftliche Stärke Deutschlands. Ob dieses gemeinsame Identitätsgefühl Bestand haben wird, ist derzeit offen, da nach einer anderen Allensbach-Umfrage eine breite Mehrheit zwar einen typisch deut- schen Nationalcharakter vermutet, aber nur knapp 30 % im Westen und 35 % im Os- ten von einem gemeinsamem Nationalcharakter Ost- und Westdeutscher ausgehen. Trotz dieser skeptischen Einschätzung einer Zusammengehörigkeit bejahen gut zwei Drittel in beiden Landesteilen die Frage, ob sie stolz darauf seien, Deutscher zu sein. Selbst eine Mehrheit der Abiturienten und Studenten schließt sich inzwischen dieser Auffassung an. Auch wenn diese Anteile deutlich unter denen anderer Nationen lie- gen, scheint die deutsche Ausnahmesituation zu verblassen. Jedenfalls ging bisher mit diesem „Stolz, ein Deutscher zu sein“ keine Ausbreitung von Nationalchauvinismus

102 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland

Ostdeutschland 80%

Mehr als Ostdeutscher 70% 60% 60% 54%

50%

40%

Eher als 30% 35% 35% Deutscher 20%

10%

0% 1992: Jan 1992: Juni 1993 1994 1996 1997 1999 2000 2002 2004 2006

Westdeutschland 80% 71% Eher als 70% Deutscher

60%

50% 57%

40%

30% 34% Mehr als Westdeutscher 20% 24%

10%

0% 1992 1994 1996 1999 2002 2004 2006

SchaubildAntwort auf die 3:Frage: Identitätsgefühl „Fühlen Sie sich im allgemeinen in Ost eherund als West. Deutscher oder mehr als Ost- bzw. Antwort auf die Frage: „Fühlen Sie sich im allgemeinen eher als Deutscher oder mehr als Ost- bzw. Westdeutscher?“. Datenbasis: Institut für Demoskopie Allensbach einher. Insgesamt hat sich die politische und mentale Spaltung zwischen den beiden deutschen Teilgesellschaften im Laufe der letzten neunzehn Jahre eher verfestigt als verflüchtigt. Die Wahlerfolge Helmut Kohls überdeckten diese Tatsache bei den ers- ten beiden Bundestagswahlen. Kohl wurde jedoch in erster Linie in Ostdeutschland nicht deshalb gewählt, weil er bestimmte christliche, liberale oder konservative Posi- tionen vertrat, sondern weil sich ostdeutsche Wähler von ihm schnellen Wohlstand und soziale Sicherheit erhofften. Als Mitte der neunziger Jahre der Wohlstands- sprung beendet war, wandten sie sich stärker den linken Parteien SPD und PDS zu, von denen sie die soziale Absicherung des einmal Erreichten erwarteten. Bei den letzten beiden Bundestagswahlen hätten bei getrennten Wahlgebieten die Ergebnisse im Osten und Westen zu unterschiedlichen Mehrheiten und Regierungskoalitionen geführt. Die Wahl der Ostdeutschen zur Bundeskanzlerin im Herbst

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2005 ist weniger das Ergebnis herausragender Stimmenanteile der Union im Osten als eines tradierten und nur kurzzeitig unterbrochenen Vorsprungs im Westen. Viele Ostdeutsche sehen die Bundeskanzlerin zudem weniger als Ostdeutsche denn als Po- litikerin, die sich die Gepflogenheiten des Westens zu eigen gemacht hat. Die neuen Institutionen sind vielen Ostdeutschen äußerlich und fremd geblieben; sie entsprachen nicht ihren idealisierten Vorstellungen. Die Ernüchterung über die Realität führte nicht nur bei ewig Gestrigen zu einer Renaissance sozialistischen Ge- dankenguts, wonach die kapitalistische Bundesrepublik von sozialer Kälte und Klas- sengegensätzen beherrscht wird, auch Normalbürger sahen sich als vom Westen bzw. vom Kapitalismus unterdrückt und ausgebeutet. Von diesem schon bald nach der Vereinigung eingetretenen Einstellungswandel profitierte vor allem die PDS, die bei Wahlen ihren relativen Stimmenanteil in Ostdeutschland verdoppeln konnte. Nach ihrem Zusammenschluss mit der WASG und ihrer Umbenennung in Die Linke brei- tete sich die ehemalige Staatspartei der DDR auch auf den Westen aus. Nach Umfra- gen vom April 2008 liegt sie im Osten mit etwa 30 % deutlich vor der SPD und der Union und im Westen mit etwa 6 % knapp hinter den Grünen und der FDP. Mit der praktizierten Demokratie zufrieden ist inzwischen nur etwa jeder dritte Ostdeutsche; eine gute Meinung über das Wirtschaftssystem äußert sogar nur noch jeder fünfte. Doch auch unter Westdeutschen bröckelt die Zustimmung. Waren es zu Beginn der Vereinigung etwa 80 % bzw. 60 %, die mit der Demokratie und dem Wirtschaftssystem zufrieden waren, sind es inzwischen nur noch 73 % bzw. 39 %. Es besteht also weiterhin eine Differenz in der positiven Beurteilung der politischen Ordnung und des Wirtschaftssystems, aber die Erosion in beiden Landesteilen lässt sich nicht mehr übersehen. In Ostdeutschland wünscht sich sogar knapp jeder Vierte eine autoritäre Staatsform mit einem starken Mann an der Spitze anstelle der De- mokratie. Dieser Auffassung schließt sich freilich nur jeder zehnte Westdeutsche an. Während die abnehmende Zustimmung in Westdeutschland wahrscheinlich auf die realen Wohlstandsverluste seit der Vereinigung zurückzuführen ist, hätte eine Mehr- heit der Ostdeutschen mit der Wiedervereinigung, die sie gegenüber dem Status quo deutlich favorisierte, offensichtlich lieber eine Neuorganisation des Staates verbun- den gesehen. Nur ein geringer Teil der Ostdeutschen, die sich im vereinten Deutschland unwohl fühlen und Zweifel an der praktizierten Demokratie haben, will freilich die DDR zurück. Stattdessen halten viele eine Verbindung von Sozialismus und Demokratie für möglich. Schon im Jahre 2000 stimmten 41 % (West: 24 %) der Auffassung zu, freiheitliche Demokratie und Sozialismus seien keine unüberwindbaren Gegensätze, auch im Sozialismus könne es wirkliche Demokratie geben. Vor diesem Hintergrund erstaunt nicht, dass inzwischen in Ostdeutschland nur noch etwa jeder Dritte damit

104 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland zufrieden ist, dass sich mit der Vereinigung der bundesdeutsche Staat durchgesetzt hat. Knapp 40 % hätten lieber einen neuen Staat gehabt. In Westdeutschland sind zwar immer noch 68 % der Befragten zufrieden, dass sich die Bundesrepublik und ihr Gesellschaftsmodell durchgesetzt haben, aber zu Beginn des Vereinigungsprozes- ses waren es deutlich mehr. Nach dem Regierungswechsel 2005 ist in beiden Landes- teilen der Anteil derjenigen, die zufrieden sind, dass sich das bundesrepublikanische Gesellschaftsmodell durchgesetzt hat, wieder angestiegen. Ob sich hier ein grundle- gender Meinungswechsel andeutet oder nur die Einsicht, dass die historische Realität nicht mehr zu hinterfragen ist, bleibt derzeit offen. Die Skepsis gegenüber der praktizierten Demokratie ist dennoch geblieben und hat sich sogar noch verstärkt. Zwar scheint es verfehlt oder zumindest verfrüht, von ei- ner Legitimationskrise des politischen Systems bzw. der praktizierten Demokratie zu sprechen, aber im November 2007 glaubte nur knapp jeder zweite Westdeutsche und lediglich jeder vierte Ostdeutsche, die Demokratie könne die aktuellen Prob- leme in Deutschland lösen. Diese fatalistische Haltung gegenüber der Politik und den Politikern spiegelt sich in nachlassenden Wahlbeteiligungen und höheren Antei- len für radikale und extremistische Parteien wider. Diese Entwicklung sollte Anlass sein, über das Wahlrecht und den Zustand der staatstragenden Parteien intensiver nachzudenken. Bei den Antworten auf die Frage nach der persönlichen Priorität von Freiheit oder Gleichheit wurden die Einstellungsdifferenzen zwischen Ost und West bis zum Jahre 2006 besonders deutlich; Ostdeutsche bevorzugen – abgesehen von der ersten Befragung im Vereinigungsjahr, wo in etwa Parität zu beobachten war – immer deutlich ausgeprägt die Gleichheit; Westdeutsche dagegen votierten, wenn- gleich mit leicht fallender Tendenz, für die Freiheit. Im Erhebungsjahr 2004 fielen in beiden Landesteilen die Freiheitsbefürworter anteilsmäßig erneut ab und im Jahre 2006 favorisierte auch in Westdeutschland erstmalig eine relative Mehrheit von fast jedem Zweiten Gleichheit gegenüber Freiheit. Unter den Ostdeutschen dagegen stieg der Anteil der Freiheitsbefürworter leicht an, der Kreis derjenigen, die für Gleichheit votierten, fiel dagegen auf knapp 60 %. Ein Jahr später lagen die Freiheitsbefürworter in den alten Ländern – wahrscheinlich bedingt durch die anziehende Konjunktur – wieder vor den Gleichheitsbefürwortern. Gleichwohl signalisiert die Angleichung der Deutschen bei der Präferenz für Gleichheit den seit einigen Jahren zu beobachtenden Zeitgeist, wonach soziale Sicherheit und Gerechtigkeit, was immer der Einzelne dar- unter verstehen mag, als grundlegende Werte und politische Ziele besonders betont werden. Die politisch-ideologische Kampfformel „soziale Gerechtigkeit“ dominiert seither viele öffentliche Debatten über den Zustand der deutschen Gesellschaft. Die Kritik an der Vereinigung geht bei vielen Ostdeutschen einher mit einer nostal- gischen Verklärung der DDR. Eine Mehrheit erinnert sich inzwischen mehr an gute als an schlechte Seiten, hält die damaligen Verhältnisse für keineswegs so unerträg-

Dis | kurs 105 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 Schaubild 4: Neue Staatsform?

"Hätte lieber neuen Staat gehabt"* 60% 52% 48% 47% 46% 50% 41% 39% 40% 40% 39% 40%

30% 16% 14% 20% 13% 12% 11% 10% 9% 8% 9% 10%

0% 1990 1992 1993 1994 1997 2000 2002 2004 2007

Westdeutschland Ostdeutschland

"Bin zufrieden, dass sich die BRD durchgesetzt hat"

90% 80% 79% 78% 74% 72% 73% 70% 69% 69% 68% 60% 62% 50% 40% 41% 38% 33% 33% 34% 35% 34% 30% 28% 28% 20% 10% 0% 1990 1992 1993 1994 1997 2000 2002 2004 2007

Westdeutschland Ostdeutschland

Schaubild 4: Neue Staatsformen? *Antworten auf das Statement: „Kürzlich sagte uns jemand: ‚Bei der Wiedervereini- gung wurde wirklich die Chance vergeben, eine neue Staatsform zu schaffen, in der Marktwirtschaft, Menschlichkeit und Sozialismus miteinander verbunden werden.‘ Hätten Sie auch lieber einen neuen Staat gehabt, oder sind Sie zufrieden, dass sich die Staatsform der Bundesrepublik durchgesetzt hat?“ Datenbasis: Institut für Demoskopie Allensbach lich, dass sich etwas Grundlegendes hätte ändern müssen. Im Nachhinein beurteilt sie die DDR als einen Staat, in dem vieles besser war als heute und in dem vor allem soziale Absicherung und Gerechtigkeit herrschten; die negativen Seiten werden zu- nehmend ausgeblendet. Eine breite ostdeutsche Mehrheit möchte schon lange einen Schlussstrich unter die Aufarbeitung von Diktatur und Stasi ziehen. Eine verklärende Sicht der Vergangenheit haben überraschenderweise nicht nur älte- re ehemalige DDR-Bewohner verinnerlicht, sondern auch viele jüngere Ostdeutsche schließen sich dieser Auffassung an. Die im persönlichen Umfeld überlieferten Er- innerungen an das Leben in der DDR prägen somit bis zu einem gewissen Grad die

106 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland

Schaubild: Demokratie als Problemlöser?*

in Prozent 80 70 60 67,0 50 65,0 57,0 60,0 40 55,0 52,0 53,0 48,0 30 41,0 39,0 39,0 36,0 36,0 20 34,0 26,0 10 25,0 0 1991 1994 1997 2001 2003 2005 2006 2007

Westdeutschland Ostdeutschland

Schaubild*Bejahende Antworten 5: Demokratie auf das Statement: als "Wenn Problemlöser? jemand sagt: ,Mit der Demokratie können wir die Probleme lösen, die wir in der Bundesrepubli *Bejahendehaben.´ - Würden Antworten Sie dem zustimmen?" auf das Statement: „Wenn jemand sagt: ,Mit der Demokratie könnenDatenbasis: wirInstitut die für DemoskopieProbleme Allensbach lösen, die wir in der Bundesrepublik haben.´ – Würden Sie dem zustimmen?“ Datenbasis: Institut für Demoskopie Allensbach Geschichtsbilder derjenigen, die die DDR nur als Kinder oder gar nicht mehr erlebt haben. Das private Bild der DDR unter Ostdeutschen entspricht nicht dem öffentlich diskutierten. Dieses werten knapp 40 % der Ostdeutschen als einseitig und zu negativ und ebenfalls knapp 40 % als teilweise zu negativ. So verwundert nicht, dass mehr als jeder zweite Ostdeutsche annimmt, die ständige Abwertung der DDR durch Medien und Politik würde das Zusammenwachsen von Ost und West erschweren. Nun sind rückblickend positive Bewertungen des eigenen Lebens und seines Um- feldes nichts Außergewöhnliches und beileibe kein nur auf Ostdeutsche bezogenes Phänomen. Generell neigen die meisten Menschen dazu, im Rückblick auf die Ver- gangenheit eher die positiven als die negativen Aspekte zu betonen. Was auf der in- dividuellen Ebene hinnehmbar ist, erweist sich als problematisch, wenn die positive Beurteilung des eigenen Lebens mit einem schöngefärbten Bild der Gesellschaft, in diesem Fall einer Diktatur, einhergeht. Die Differenzierung zwischen Lebenswelt und Systemgeschichte fällt gerade den Menschen, die in einer von totalitären Ansprüchen geformten Gesellschaft gelebt haben, schwerer als denen, die in einer offenen und pluralistischen Umwelt sozialisiert wurden. Die idealisierte Wahrnehmung der DDR als sozialistische Menschengemeinschaft erfährt eine nachhaltige mediale Unterstützung durch das öffentliche Wirken ehe- maliger Funktionsträger. Vor allem ältere ehemalige SED-Wissenschaftler und -Ideo- logen üben eine erbitterte Vereinigungskritik, da sie über das mit dem individuellen Verlust an Status und Ansehen verbundene Ende ihres Staates nicht hinwegkommen. Für sie ist die Kritik am vereinten Deutschland ein Stück Lebensbewältigung: Alte

Dis | kurs 107 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009

Schaubild 6: Freiheit oder Gleichheit?

Was ist wichtiger in Westdeutschland?1 Was ist wichtiger in Ostdeutschland?1 80% 80%

60% 60%

40% 40%

20% 20%

0% 0% 1990 1993 1995 1998 2000 2003 2005 2007 1990 1993 1995 1998 2000 2003 2005 2007

Freiheit Gleichheit Freiheit Gleichheit

Wichtigkeit der Freiheit2 Wichtigkeit der Gleichheit3 80% 80%

60% 60%

40% 40%

20% 20%

0% 0% 1990 1993 1995 1998 2000 2003 2005 2007 1990 1993 1995 1998 2000 2003 2005 2007 West Ost West Ost

Aussagen: 1"Wenn ich mich entscheiden müsste, ist mir die Freiheit/Gleichheit wichtiger" 2"Wenn ich mich entscheiden müsste, ist mir die Freiheit wichtiger" 3"Wenn Schaubildich mich entscheiden 6: müsste, Freiheit ist mir die Gleichheit oder wichtiger".Gleichheit? Aussagen:Datenbasis: Institut für1: Demoskopie „Wenn Allensbach ich mich entscheiden müsste, ist mir die Freiheit/Gleichheit wich- tiger“ 2: „Wenn ich mich entscheiden müsste, ist mir die Freiheit wichtiger“ 3: „Wenn ich mich entscheiden müsste, ist mir die Gleichheit wichtiger“. Datenbasis: Institut für Demoskopie Allensbach Vorurteile gegen die Bundesrepublik und den Westen schlechthin werden in die öf- fentliche Debatte transportiert. Die grundsätzliche Kritik an der Vereinigung und der heutigen politischen und gesellschaftlichen Ordnung geht mit der Aufwertung und Verharmlosung der SED-Diktatur einher. Damit versuchen sie, die bittere Er- kenntnis zu kompensieren, dass von der DDR institutionell wie materiell so gut wie nichts übrig blieb. Dies mag für die Betroffenen schmerzlich sein, lässt sich aber, un- abhängig davon, wie individuelle Lebensleistungen generell beurteilt werden mögen, nicht ändern oder wegdiskutieren. Veränderungen Für die ehemalige DDR-Bevölkerung hat sich durch den Systemwechsel das Leben in vielerlei Beziehung geändert. Sie verloren die gewohnte Alltäglichkeit, aber auch die diktatorischen Rahmenbedingungen und gewannen Freiheit, Demokratie, verbun- den mit höheren Anforderungen an individueller Verantwortung. Der institutionelle Wandel vollzog sich dabei schneller als der mentale. Die Schwerkraft menschlicher Einstellungen und Verhaltensweisen kam hier ebenso zum Tragen wie der durch die Globalisierung bewirkte permanente Wandel nach dem Systemwechsel. Die Wieder- vereinigung hat Deutschland insgesamt und damit die alte bundesrepublikanische Gesellschaft mehr verändert, als den meisten bewusst ist. Die Folgen zeigen sich in

108 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland der Politik ebenso wie im alltäglichen Leben und den Einstellungen. Dabei ist das vereinte Deutschland nicht westlicher, sondern eher östlicher, eher linker als rechter, eher sozialdemokratischer als liberal-konservativer sowie eher staats- als marktbezo- gener geworden. Zwar existieren zwischen alten und neuen Bundesbürgern weiter- hin deutliche Unterschiede in Einstellungen, Werteordnungen und politischen Auf- fassungen, aber der Veränderungsprozess läuft schon lange nicht mehr ausschließlich von Ost nach West, sondern in mancher Hinsicht in umgekehrter Richtung. Die „in- nere Einheit“ – gleichermaßen materiell wie wertemäßig – wird sich in den nächsten Jahren nicht auf dem alten bundesdeutschen Niveau einpendeln, sondern irgendwo zwischen Ost und West. Jenseits der Banalität, dass Deutschland größer und international einflussreicher ge- worden ist, werden die wichtigsten Veränderungen vor allem auf folgenden Feldern sichtbar: Die Zusammensetzung der Bevölkerung hat sich seit 1989/90 nicht nur durch die Vereinigung, sondern auch – was häufig übersehen wird – durch die millionenfa- che Zuwanderung von Ausländern und deutschstämmigen Spätaussiedlern gera- dezu dramatisch gewandelt. Mehr als jeder dritte in Deutschland Lebende wurde in einem anderen gesellschaftlichen und politischen System sozialisiert und traf auf eine Mehrheitsgesellschaft, die sich ihm gegenüber weitgehend verschloss, indem sie auf eine aktive Integrationspolitik verzichtete. Die Zuwanderung von Millionen Menschen überforderte das (west)deutsche Sozial- und Bildungssystem. Eine falsch verstandene Toleranz gegenüber Einstellungen und Verhaltensweisen, die mit denen einer zivilen Gesellschaft nicht kompatibel sind, führte zu subkulturellen Inseln und „Parallelgesellschaften“, die die Republik nicht kulturell bereichern, sondern vor har- te, nicht nur rechtliche Bewährungsproben stellt. Der in Westdeutschland seit den sechziger Jahren vorhandene breite Konsens über die politische und gesellschaftliche Ordnung ist seit der Vereinigung im Westen deutlich geschrumpft und im Osten mehrheitlich weiter nicht vorhanden. An den sozialen und politischen Rändern der Gesellschaft erleben fundamentalistische po- litische und religiöse Strömungen einen Aufschwung, der die gesellschaftliche Ord- nung langfristig bedrohen könnte. Die Zivilgesellschaft gerät mancherorts in die Defensive. Der weit überdurchschnittliche Anteil von jugendlichen Gewalttätern aus Emigrantenfamilien sowie die hohe Gewaltbereitschaft in einigen ostdeutschen Regionen signalisieren zudem das Aufbegehren von zumeist geringer gebildeten und minderqualifizierten Jugendlichen, die für sich keine Chance zur Integration in die Gesellschaft, geschweige denn zum sozialen Aufstieg sehen. Der Teufelskreis von fa- miliärer Verwahrlosung, mangelhafter Bildung und Ausbildung, sozialer Exklusion sowie bis zur Gewalttätigkeit reichende Verhaltensauffälligkeiten hat sich für eine zunehmende Zahl von Kindern und Jugendlichen geschlossen.

Dis | kurs 109 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009

Deutschland hat zwar den „langen Weg nach Westen“ (August Heinrich Winkler) mit der Vereinigung abgeschlossen, es jedoch nicht vermocht, den neu hinzugekomme- nen Staatsbürgern die Werte einer liberalen westlichen Gesellschaft überzeugend zu vermitteln. Ein aufgrund der jüngsten Vergangenheit nur schwach ausgeprägtes, auf patriotischen Einstellungen basierendes Nationalbewusstsein und die Weigerung, über eine „Leitkultur“ mit für alle verbindlichen Grundwerten zu diskutieren, ha- ben Beliebigkeit und ein Sinn-Vakuum entstehen lassen, das auch von antiwestli- chen Ideologien gefüllt werden kann. Eine Mehrheit der politischen Klasse und der Funktionseliten hat es versäumt, das Selbstverständnis der deutschen Republik, das auf abendländisch-christlichen Werten basiert, offensiv zu vertreten. Dabei geht es nicht um Religionszugehörigkeit oder Glauben in einem unmittelbar transzendenten Sinn, sondern um eine Werteordnung und Grundüberzeugungen, wie sie auch in der Verfassung niedergeschrieben sind. Erst auf einer solchen Grundlage kann kulturelle Vielfalt in einer Vereinigungs- und Einwanderungsgesellschaft produktiv werden. Die Zeit der Wohlstandszuwächse ist vorbei – für eine Mehrheit der Westdeutschen seit der Vereinigung und für die meisten Ostdeutschen seit der Wohlstandsexplosi- on bis Mitte der neunziger Jahre. Auf absehbare Zeit wird es in Deutschland nichts Zusätzliches mehr zu verteilen geben, sondern vor allem um die Verteilung der Res- sourcen gestritten werden. Angesichts des demographischen Wandels gerät zukünf- tig eine älter werdende Gesellschaft in härtere Verteilungskämpfe. Ob und inwieweit sich die in Deutschland immer noch vorhandene Sozialstaatsmentalität und Besitz- standsansprüche zurückdrängen lassen, ist mehr als fraglich. Schließlich basierten der Wunsch einer breiten Mehrheit der Ostdeutschen zur schnellen Vereinigung und der Entschluss von Ausländern und deutschstämmigen Zuwanderern, nach Deutschland zu emigrieren, auf der Erwartung hoher sozialstaatlicher Leistungen und der Hoffnung auf fortwährende Prosperität. Die hohen Ansprüche der Ostdeutschen und ihre erfolgreiche Interessenpolitik beim Aushandeln der Wiedervereinigungsbedingungen, eine überzogene Lohnpolitik und die Fehler vor allem bei der Finanzierung der Einheit ziehen Vereinigungskosten in kaum vorstellbarer Höhe nach sich. Die Wiedervereinigung wird auf unabsehbare Zeit Staat und Gesellschaft jährlich mit etwa 100 Mrd. Euro belasten, die weit über- wiegend von Westdeutschen zu erbringen sind. Zwar konnte durch einen kleinen wirtschaftlichen Aufschwung seit 2005/2006 die Neuverschuldung gesenkt werden, gleichwohl dürfte die nicht nur vereinigungsbedingte Staatsverschuldung den Bewe- gungsspielraum nachfolgender Generationen stark einschränken. Als Erbe der DDR etablierte sich die umbenannte SED, die inzwischen Die Linke heißt, fest im deutschen Parteiensystem. Der hierdurch erfolgte Wechsel vom Vier- zum Fünf-Parteien-System veränderte – wie die Bundestagswahl 2005 und die letzten Landtagswahlen offenbaren – das politische System maßgeblich. Zukünftig werden

110 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland vermutlich jenseits von Koalitionen zwischen Union und SPD nur noch Drei-Par- teien-Koalitionen möglich sein. Ob es den möglichen Partnern gelingen wird, die zwischen ihnen und schon in ihren Parteien vorhandenen divergierenden Kräfte zu einen und sie auf eine gemeinsame Regierungspolitik zu verpflichten, scheint frag- lich, aber möglich. Ob Dreierkoalitionen mehr als große Koalitionen leisten, wird sich zeigen. Auf jeden Fall kommt im nächsten Jahrzehnt der Partei der Bündnis- Grünen eine Schlüsselrolle zu, weil sie entscheiden wird, welche Dreierkoalition sich durchsetzt. Vor allem die Sozialdemokratie, aber bis zu einem gewissen Grad auch die Union, wird durch die linkspopulistischen Forderungen und Programmatiken der ehemaligen DDR-Staatspartei unter Druck gesetzt; diese Partei könnte trotz des Linksschwenks der SPD zumindest in den neuen Ländern zur stärksten Kraft wer- den. Insgesamt stehen sich mit den linken und den liberal-konservativen Parteien derzeit in Deutschland zwei in etwa gleich starke politische Blöcke gegenüber. Da- bei darf nicht übersehen werden, dass in Union, SPD und bei den Bündnis-Grünen unterschiedliche, mitunter sogar gegensätzliche politische Strömungen vorhanden sind. Die im Herbst 2005 gebildete Große Koalition konnte die bereits in der alten Bundes- republik vorhandene und durch die Vereinigung verstärkte Reformblockade bisher nicht aufheben. Weder in der Arbeitsmarkt- noch in der Gesundheitspolitik gelang es den Koalitionären, eine zustimmungsfähige und weitreichende Reform zu kon- zipieren, geschweige denn durchzusetzen. Im Gegenteil: Einige von der rot-grünen Vorgängerregierung eingeleitete soziale Reformen wurden verwässert. Die Bewe- gungsunfähigkeit wird derzeit noch überdeckt von der konjunkturellen Erholung, die sich inzwischen auch positiv auf dem Arbeitsmarkt niedergeschlagen hat. Gleich- wohl verfügt die Große Koalition über keine gemeinsame Vision, wie die Republik reformiert und modernisiert werden könnte. Die Vereinigung zeigte und verstärkte sehr deutlich die Schwächen der alten Bundesrepublik, denn viele der der Vereini- gung zugeschriebenen Probleme gab es in Ansätzen schon zuvor. Gleichzeitig wer- den in Ostdeutschland auf dem Arbeitsmarkt, im Geschlechterverhältnis und viel- leicht auch in politischen und mentalen Einstellungen Entwicklungslinien sichtbar, die auch die Bevölkerung der alten Länder erfassen oder zumindest beeinflussen können. Die sinkende Akzeptanz des politischen und gesellschaftlichen, vor allem des wirtschaftlichen Systems, aber auch die überraschende Renaissance der Staats- gläubigkeit, sind erste Anzeichen hierfür. Der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums und das Ende des Kalten Krieges führten zur Erweiterung des Weltmarktes und zur Beschleunigung der Globalisie- rung. Dadurch erhöhte sich der Wettbewerbsdruck auch für Deutschland. Während große Konzerne durch ihre Internationalisierung und ihren hohen Exportanteil an Stärke gewinnen konnten, verschlechterten sich die Bedingungen für kleine und mitt-

Dis | kurs 111 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 lere Unternehmen nicht nur in den neuen Ländern vor allem aufgrund der Konkur- renz aus Ost- und Mitteleuropa. Zusätzlich zu den immensen Vereinigungskosten, die vor allem die Sozialkassen und damit auch die Wirtschaft belasten, verursachte die Zuwanderung von Millionen deutschstämmigen Spätaussiedlern seit 1988/89 weitere Kosten in Milliardenhöhe. Der in Zeiten hoher Wachstumsraten ausgebaute Sozialstaat, der sicherlich über lange Jahrzehnte zur hohen sozialen und politischen Stabilität der Bundesrepublik beigetragen hat, ist zukünftig nicht mehr finanzierbar und in seiner jetzigen Struktur nicht zukunftsfähig. Sich dieser Einsicht zu versper- ren, kann sich langfristig für die politische Klasse und die Gesellschaft insgesamt als verhängnisvoll erweisen. Nach den Anschlägen des September 2001 entwickelten sich die USA und die meisten europäische Ländern in vielerlei Hinsicht auseinander. Vor allem in Deutschland breitete sich eine latent bei Linksintellektuellen und im Bürgertum sowie in der ostdeutschen Mehrheitsbevölkerung vorhandene antiame- rikanische Stimmung weiter aus. Ein gespaltener Westen wird sich angesichts der neuen weltpolitischen Herausforderungen nur schwer behaupten können. Insofern bleibt es vordringliche Aufgabe, die Einheit und politisch-ökonomische Vitalität des Westens wiederherzustellen. Die Herstellung oder Vollendung einer neuen Weltord- nung, die den ökonomischen, sozialen und ökologischen Herausforderungen gerecht wird und gleichzeitig nicht auf die Einhaltung universaler Menschenrechte verzichtet, wird ohne einen geeinten und starken Westen nicht möglich sein. Die zentrifugalen Kräfte vor allem im asiatischen und arabischen Raum werden im nächsten Jahrzehnt die westlichen Staaten höchstwahrscheinlich einer Bewährungsprobe unterziehen, deren Dimension bisher nur geahnt und nicht prognostiziert werden kann. Die zulasten der Vertiefung des westlichen Kerneuropas aus ordnungs- und geopoli- tischen Gründen vorgenommene Erweiterung der EU stoppte den Prozess der Inte- gration der Staaten und der Identifikation der Bevölkerungen mit der EU. Entgegen der Annahme vieler Politiker und Linksintellektueller ist Europa bisher nicht in ein postnationales Zeitalter übergegangen. Die alten Nationalstaaten bleiben vielfach die Bezugsgrößen der Menschen. Dabei besteht die Gefahr, dass sich in einigen Län- dern nicht ein auf den jeweiligen Nationalstaat bezogener aufgeklärter Patriotismus, sondern ein unberechenbarer Nationalismus herausbildet. Anzeichen hierfür gab es nicht nur in Polen unter der Präsidentschaft von Kacynski. Berlin ist nicht Bonn, aber Berlin ist auch nicht Weimar. Die „neue“ Bundesrepublik ist derzeit nicht in Gefahr, steht aber aufgrund der veränderten Bedingungen vor ernsten Bewährungsproben, die ein „Weiter so“ in Politik und Gesellschaft nicht rat- sam erscheinen lassen. Jenseits ihrer fortbestehenden Institutionen ist in der größer gewordenen Republik vieles in Bewegung geraten, was die bisherige politische und soziale Stabilität in Frage stellen könnte. Wie die anhaltenden und leider zunehmen- den Differenzen zwischen Ost und West zeigen, lässt sich mit Geld zwar vieles, aber

112 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland nicht alles bewerkstelligen. Finanzielle Solidarität ist eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für das Zusammenwachsen. Zugleich aber können die Deutschen auf das nach der Vereinigung Geschaffene in Ost und West mit einigem Recht durchaus stolz sein, denn schließlich ist erreicht worden, was kaum noch für möglich gehalten wurde: Deutschland hat sich friedlich und in Freiheit vereint und bisher keine Großmachtallüren gezeigt. Die Tür zur deutschen Vereinigung – dies haben viele schon vergessen – stieß freilich erst die ostdeutsche Bevölkerung im Herbst 1989 auf. Wie schon am 17. Juni 1953 lehnte sie sich gegen die sozialistische Diktatur auf, erzwang dessen Sturz und forderte das Recht auf Selbstbestimmung, in dessen Ausübung sie mehrheitlich für eine schnelle Wiedervereinigung votierte. Es ist das Verdienst von Helmut Kohl, die Chance zur Wiedervereinigung erkannt und gegen alle Widerstände realisiert zu haben. Trotz aller Probleme und weiterhin absehbarer Schwierigkeiten verlief angesichts der Rahmenbedingungen die deutsche Vereinigung besser als es die Stimmung in Ost und West ausdrückt. Positiv gesehen wurde das vereinte Deutschland als eine Gesell- schaft, deren Sonderbedingungen entfallen sind und die nun mit den gleichen Prob- lemen zu kämpfen hat wie andere Länder. Negativ gesehen, steht Deutschland durch die Veränderungen vor der Herausforderung, ob die in Zeiten des Wohlstands ent- standene Akzeptanz der freiheitlich-demokratischen und pluralen Ordnung stärker als in Ländern mit ungebrochener demokratischer Tradition bedroht ist. Nüchtern betrachtet, mangelt es Deutschland vor allem an einem Konsens über Grundüber- zeugungen, einem Zusammengehörigkeitsgefühl und Leitlinien, wie die Zukunft aussehen soll. Nach wie vor wissen wir nur unzureichend, wer wir sind und was wir wollen – darin liegt das eigentliche Defizit. Das angesichts der unheilvollen gemein- samen Vorgeschichte im internationalen Vergleich unterentwickelte Nationalgefühl erschwert immer noch die Entwicklung eines Zusammengehörigkeitsgefühls und einer gemeinsamen Identität. Wir sollten nicht vergessen, dass angesichts der gleichzeitigen Einwanderung von Millionen Menschen diese gewaltige und ohne Vorbild vollzogene Aufgabe der Verei- nigung zweier über Jahrzehnte geteilter Landesteile ebenso wie der vorangegangene, von den Ostdeutschen erreichte friedliche Sturz der Diktatur eine historisch beispiel- lose Leistung war und ist. Beides kann und sollte ebenso wie das „Wirtschaftswunder“ und der Ausbau des Sozialstaates in der alten Bundesrepublik ein positiver Bezugs- punkt für eine gemeinsame Identitätsbildung sein. Der weithin als selbstverständlich genommene Wert, in einer freiheitlich-demokratischen und pluralistischen Gesell- schaft zu leben, muss dabei der Kern der identitätsstiftenden Grundüberzeugungen der in Deutschland lebenden Menschen sein. Der Beitrag ist zuerst erschienen in: Schwarz, Hans-Peter (Hrsg.): Die Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz nach 60 Jahren. München 2008.

Dis | kurs 113 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009

Thema: 60 Jahre Bundesrepublik deutschland a) Das Selbst B) Das Andere c) Innen und Außen D) Abgründiges

Die Zukunft des Grundgesetzes unter Nachhaltigkeitsaspekten

Wolfgang Gründinger University of California, Santa Cruz E-Mail: [email protected]

Schlüsselwörter Grundgesetz, Nachhaltigkeit, Bundesrepublik Deutschland

In den vergangenen sechzig Jahren sind mit dem materiellen Wohlstand auch die Lasten gestiegen, die wir unseren Nachkommen hinterlassen: eine Neuverschuldung in historischer Rekordhöhe bei gleichzeitig tendenziell fallenden Zukunftsinves- titionen, eine Rentengarantie zulasten der Jungen, Studenten rufen zum Bildungs- streik gegen überholte wie überladene Lehrpläne auf, absaufende Atommüll-Lager, und eine menschheitsbedrohende ökologische Krise, die in Rohstoffpreiskrisen und Naturkatastrophen bereits einen ersten Vorgeschmack darauf liefert, was uns noch blüht. Die Gegenwart lebt auf Kosten der Zukunft. Die Folgen dieser Entwicklungen müssen nachrückende Generationen ausbaden, während die heute verantwortlichen Entscheidungsträger längst nicht mehr verant- wortlich gemacht werden können. Unser politisches System braucht Regulative, die Generationengerechtigkeit gewährleisten helfen, also – so die von der Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen vorgelegte Definition – sicherstellen, dass „die Chancen zukünftiger Generationen auf Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse mindes- tens so groß sind wie die der heutigen Generation“.1

1 Tremmel, Jörg: Generationengerechtigkeit – Versuch einer Definition. In: Stiftung für die

114 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland

Die Verherrlichung der Gegenwart Diese zu beobachtende Gegenwartsorientierung ist in demokratieinhärenten struk- turellen Ursachen zu suchen: Denn die relativ kurzen Wahlperioden verführen dazu, eine Politik zu betreiben, die mehr die Interessen der eigenen Klientel und der Wahl- bevölkerung im Blick hat denn die Rechte künftiger Generationen, um das eigene Mandat zu erhalten. Die Demokratie gerät unter diese Funktionslogik des Kurzfrist- denkens. „In dem Maße, wie die[se] Funktionslogik dominiert“, so der Verfassungs- rechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde, „und es liegt von der Struktur der Demokratie her nahe, dass sie dominiert –, wird die demokratisch organisierte politische Entschei- dungsgewalt selbst zu einem bloßen Teilsystem neben den anderen, ohne davon abge- hobene übergreifende Sachlogik, und handelt entsprechend. Sie sucht die Einwirkungen und Forderungen der anderen Teilsysteme – in denen ihre eigenen Legitimationsspen- der, die Bürger, als jeweilige Rollenträger agieren – so zu verarbeiten und so darauf zu reagieren, dass die eigene Stabilität und Funktionslogik nicht in Frage gestellt wird. Das politische System bleibt bei begrenzten Anpassungsstrategien im Hinblick auf Naherfol- ge bei Wahlen stehen und stecken.“2 Die Entwicklung einer Zukunftsethik wird dadurch strukturell erschwert. Altbun- despräsident Richard von Weizsäcker weiß: „Allgemein gesagt ist jede parlamentari- sche Demokratie auf einem Strukturproblem aufgebaut, nämlich der Verherrlichung der Gegenwart und der Vernachlässigung der Zukunft. Es ist nun einmal so, das wir nicht anders regiert werden können und regiert werden wollen als durch auf Zeit gewählte Vertreter, die mit ihrem Angebot zur Lösung der Probleme gar keinen weiteren Dispo- sitionsspielraum zur Verfügung gestellt bekommen als den ihrer Legislaturperiode. Da- mit will ich nicht behaupten, dass die gesamte politische Repräsentanz keinen Sinn für langfristige, zukünftige Aufgaben hätte. Nur steht sie vor der Notwendigkeit, sich Mehr- heiten zu beschaffen.“3 Bei dieser Mehrheitsbeschaffung können allerdings die künfti- gen Generationen nicht mitwirken – und selbst nicht einmal die erste nachrückende, also die heute junge Generation, da sie vom Wahlrecht ausgeschlossen wird. Zusätzlichen Sprengstoff bringt der demografische Wandel mit sich. Das Medianalter der Wahl­bevölkerung liegt heute noch bei 47 Jahren und wird bis 2030 auf 54 Jahre

Rechte zukünftiger Generationen (Hrsg.): Handbuch Generationengerechtigkeit. Mün- chen 2004, S. 27–79, hier S. 34 2 Böckenförde, Ernst-Wolfgang: §22 Demokratie als Verfassungsprinzip. In: Kirchhof, Paul / Isensee, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland – Band I: Grundlagen von Staat und Verfassung. Heidelberg 1987: S. 887–953, Rn. 73 3 zit. n. Frierich, Holger / Mändler, Max / Klimakowitz, Ernst von (Hrsg.): Die Herausfor- derung Zukunft: Deutschland im Dialog. Berlin 1998, S. 53.

Dis | kurs 115 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 steigen.4 Jeder dritte Wähler hat schon heute seinen 60. Geburtstag bereits hinter sich. In der CDU kletterte der Anteil der über 60jährigen von 1990 bis 2007 von 29 auf 48 Prozent, in der SPD von 25 auf 47 Prozent.5 Bei der Linkspartei sind seit Jah- ren konstant um die 70 Prozent der Mitglieder jenseits der 60. Allein FDP und vor allem Grüne haben sich noch etwas jünger gehalten.6 Angesichts der sich verändern- den Altersstruktur warnt Altbundespräsident Roman Herzog: „Ich fürchte, wir sehen gerade die Vorboten einer Rentner-Demokratie: Die Älteren werden immer mehr, und alle Parteien nehmen überproportional Rücksicht auf sie. Das könnte am Ende in die Richtung gehen, dass die Älteren die Jüngeren ausplündern.“7 Der einflussreiche Unionspolitiker Alois Glück, langjähriger Vorsitzender der CSU- Grundsatzkommission, beklagt derweil die unzeitgemäße „Jugendfixierung“ der Po- litik. Dadurch entstehe die Gefahr, dass sich die „dominante ältere Wählergruppe“ nicht mehr angesprochen fühle. Deswegen müsse man auch im Landtag wieder die „richtige Mischung“ der Altersgruppen finden (also: noch mehr Alte ins Parlament!).8 Der frühere SPD-Chef Hans-Jochen Vogel stimmte in das Kriegsgeschrei ein und erklärte, wir bräuchten mehr alte Abgeordnete in den Parlamenten, weil die Alten derzeit unterrepräsentiert seien.9 Es zeigt sich, wer das Sagen hat Der solidarische Generationenvertrag sieht vor, dass die Rentner an der Wohl- standsentwicklung der Gesellschaft beteiligt werden sollen. Steigen die Löhne, stei- gen entsprechend auch die Renten. Sinken die Löhne, müssten logischerweise auch die Renten sinken. Ansonsten handelt es sich um eine einseitige Bevorzugung der Alten zulasten der Beitragszahler. Die außerplanmäßige Rentenerhöhung des Jahres 2008, von der Großen Koalition als Wahlgeschenk durch­gesetzt, setzte diese Logik – zunächst einmalig – außer Kraft und erhöhte das Rentenvolumen um zwölf Milliarden Euro, Geld, das an anderer Stelle für Zukunftsinvestitionen­ hätte ausgegeben werden können. Für viele Beobachter war dies das deutlichste Anzeichen für die wachsende Alten- macht. Der Direktor des Hamburger Weltwirtschaftsinstituts, Prof. Thomas Straub-

4 Sinn, Hans-Werner / Übelmesser, Silke: Wann kippt Deutschland um? Ifo-Schnelldienst Nr. 28–29/2000, S. 20–26. 5 Dausend, Peter: Rentner an der Macht. In: Die Zeit Nr. 16/2008, S. 14. 6 o.A.: „Die neue Macht der Alten“, in: Bild, 11.4.2008, S. 2. 7 zit. n. Blome, N. / Hoeren, D. / Koch, E.: Roman Herzog warnt vor Rentner-Demokratie. In: Bild, 11.04.2008, S. 1. 8 o.A.: Landtagspräsident Alois Glück kritisiert „Jugendfixierung“ der Parteien, ddp, 24.02.2005. 9 Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 11.3.2007, S. 4.

116 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland haar kommentierte: „Zum ersten Mal hat die ältere Generation den Jüngeren gezeigt, wer im Land künftig das Sagen hat.“ Der Parteienforscher Prof. Jürgen W. Falter sag- te: „Künftig wird es weitere Zugeständnisse an Senioren geben. Immerhin stellen sie mehr als 50 Prozent der Wähler.“10 Die kürzlich beschlossene Rentengarantie, wonach die Renten prinzipiell nicht mehr sinken können, ist die logische Fortsetzung dieser Politik. Eine Verankerung einer Rentenverfassung im Grundgesetz, welche die Logik der Rentenformel und einige weitere grundsätzliche Regeln der Rentenpolitik fest- schreibt und somit dem politischen Tagesgeschäft entzieht, würde dem Diskussi- onsklima in unserem Lande gut tun und das Vertrauen in den Generationen­vertrag stärken. Auch die Jungen müssen auf eine sichere Rente vertrauen können – nichts anderes verlangt die Maxime der Generationengerechtigkeit. Die Schuldenbremse ziehen – aber richtig! So symbolisch der Rentenstreit für die Gerechtigkeitsfrage zwischen Jung und Alt auch ist, so sehr ist er ein Nebenkriegsschauplatz. Gewichtiger ist die Frage der Staats- finanzen. In der Finanzverfassung des Grundgesetzes ist der Nachhaltigkeitsgedanke bereits implizit verankert. Mit seiner „Goldenen Regel“ schreibt Art. 115 Abs. 1 GG eine Obergrenze für die Schuldenaufnahme vor: „Die Einnahmen aus Krediten dür- fen die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten; Ausnahmen sind nur zulässig zur Abwehr einer Störung des gesamtwirt- schaftlichen Gleichgewichts.“ Diese Regel hat sich empirisch jedoch als „Gummiparagraf“ entpuppt: Dies gilt zu- nächst für den schwammigen Investitionsbegriff, denn alle möglichen Ausgaben können als „Investition“ verbucht werden – selbst Milliardengräber wie der Schnelle Brüter oder der Transrapid. Es wird unterstellt, dass jede wild ins Land gebaute Stra- ße oder Brücke eine sinnvolle Investition ist. Die Goldene Regel büßt so ihre gedachte Lenkungsfunktion ein. Laut Bundesver- fassungsgericht ist es die „normative Zielsetzung dieser Bestimmung, die Staatsver- schuldung zu begrenzen“. Karlsruhe hat den Gesetzgeber daher ausdrücklich darauf hingewiesen, was „der Sinn und normative Gehalt des ihm erteilten Regelungsauftrags“ ist, nämlich „anhand und unter Berücksichtigung der bislang gewonnenen Erfahrun- gen den Investitionsbegriff so [zu] präzisieren, dass er seiner Funktion möglichst ge- recht werden kann, einer Staatsverschuldung vorzubeugen, die den Bundeshaushalt für die Zukunft zu stark belastet und den notwendigen Entscheidungsspielraum künftiger Haushaltsgesetzgeber, dessen diese zur Lösung der dann vordringlichen Probleme be- dürfen, über Gebühr beschneidet. Dieser Aufgabe kann der Gesetzgeber sich nicht ent-

10 zit. n.: o.A.: „Die neue Macht der Alten“, in: Bild, 11.4.2008, S. 2.

Dis | kurs 117 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 ziehen, indem er – ohne eine eigene Regelung zu treffen – auf eine Staatspraxis zurück- greift, die auf einer im Verwaltungswege getroffenen Abrede zwischen den Regierungen von Bund und Ländern besteht und einen weiten Investitionsbegriff zugrunde legt […] [Der Gesetzgeber] wird bei der ihm aufgetragenen eigenen Regelung [des Investitions- begriffs] vor allem zu prüfen und zu entscheiden haben […], wie weit der derzeit in der Staatspraxis verwendete Investitionsbegriff – auch und gerade im Hinblick auf die gewonnenen Erfahrungen – der normativen Intention der Art. 109 Abs. 2 GG und Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG (noch) angemessen ist.“11 Diesem Auftrag ist der Gesetzgeber bislang nicht nachgekommen. Der Investitionsbegriff müsste enger gefasst werden: Abschreibungen sind herauszu- rechnen, da bloße Ersatzinvestitionen zum Erhalt von Infrastruktur keinen Wertzu- wachs generieren, und Einnahmen aus Privatisierungserlösen sind abzuziehen. Da viele Investitionen keinen oder kaum Werte für künftige Generationen schaffen, ist zudem ein pauschaler Abschlag von zum Beispiel einem Drittel auf die Investiti- onssumme vorzunehmen. Als neue Kreditobergrenze gilt also: Nettokreditaufnahme maximal in Höhe der Nettoinvestitionen (= Investitionsausgaben minus kalkulatori- sche Abschreibungen minus Privatisierungserlöse minus ein Drittel). Obwohl damit eine Schuldenfinanzierung öffentlicher Zukunftsinvestitionen in en- gerem Rahmen verfassungs­technisch weiterhin gestattet bleiben soll, wäre es wün- schenswert, dass die Ausgaben für Zukunftsinvestitionen aus laufenden Einnahmen finanziert werden. Bei dauerhaft konstanter Investitionsquote wären alle Generati- onen im Zeitverlauf nämlich gleich belastet, ohne dass auf das Instrument der Ver- schuldung zurückgegriffen werden müsste. Die Kosten der Investitionen würden also vorher erwirtschaftet. Die neue Maxime der Finanzpolitik lautet: Save before you use! – Spare, bevor du nutzt!12 Neben dem Investitionsbegriff ist auch die Ausnahmeklausel problematisch, die eine höhere Verschuldung für den Fall einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleich- gewichts, dass heißt in einer Rezession, erlaubt. Diese Klausel basiert auf der Logik des Deficit Spending. Jedoch fehlt eine Vorschrift zur zeitnahen Begleichung der Schulden im Aufschwung – weshalb zwar Schulden aufgenommen werden dürfen, aber nicht zurückgezahlt werden müssen, was die Idee des Deficit Spending jedoch ad absurdum führt. Ferner unterliegt die Feststellung, wann denn eigentlich eine Stö-

11 BVerfG vom 18.4.1989. In: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 79, S. 354 f. 12 Becker, Thorsten: Staatsverschuldung oder Der Fluch der späten Geburt. Eine schwere Hypothek: Die Staatsverschuldung als Zukunftsproblem. In: Gesellschaft für die Rechte zukünftiger Generationen (Hrsg.): Ihr habt dieses Land nur von uns geborgt. Hamburg 1997, S. 115–147, hier S. 127f.; Schlesinger, Helmut: Staatsverschuldung – ohne Ende? Zur Rationalität und Problematik des öffentlichen Kredits. Darmstadt 1993, S. 217–231.

118 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland rung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts vorliegt, dem willkürlichen Urteil der Regierung. Die Ausnahmeklausel hat sich damit als zu unpräzise und nicht jus- tiziabel herausgestellt. Die Maxime, die Ausgaben dürften die konjunkturbereinigten Einnahmen nicht übersteigen, ist auch die zugrunde liegende Logik der Schuldenbremse, wie sie kürz- lich beschlossen wurde. Der Bund soll sich ab 2016 nur noch in Höhe von 0,35 Pro- zent des BIP strukturell (dass heißt konjunkturbereinigt) neu verschulden dürfen, für die Länder gilt ab 2020 ein Neuverschuldungsverbot. Ausnahmen sind nur bei schweren Rezessionen oder Naturkatastrophen möglich. Der Ausgleich der kon- junkturbedingten Verschuldung soll über ein Ausgleichskonto erfolgen und über die Konjunkturwellen hinweg bei null liegen. An der beschlossenen Regelung können mehrere entscheidende Details hinterfragt werden: Erstens wird die Goldene Regel abgeschafft. Es dürfen neue Schulden bis 0,35 Prozent des BIP aufgenommen werden, deren Zukunftswirkung jedoch überhaupt nicht geprüft wird. Was vermutlich zuerst leiden wird, sind diejenigen Ausgaben, bei denen mit geringstem Widerstand gespart werden kann – dies sind die zukunftsge- richteten Ausgaben. Zweitens werden das Neuverschuldungsverbot für die Länder und die tendenziell aufgrund methodischer Probleme zu restriktive Berechnung des konjunkturbedingten Verschuldungsbedarfs eher Anreize zu prozyklischer statt zur anvisierten antizyklischen Politik setzen, was dem Ziel der Regelung zuwiderläuft. Drittens kommt die Bremse erst 2016 beziehungsweise 2020: Heute können also ruhig Rekordschulden gemacht werden, rückzahlen sollen das spätere Gesetzgeber. Viertens sind praktische Durchführungsschwierigkeiten vorherzusehen, da die Be- rechnung der konjunkturellen Verschuldung mit ernsten methodischen Problemen behaftet ist und tendenziell, wie bereits erwähnt, zu restriktiv ausfällt. Überdies glaubt in der politischen Szene kaum jemand, dass die Bremse tatsächlich jemals „gezogen“ wird: Es handele sich vielmehr um Symbolpolitik, wie es in Kreisen der Regierungsfraktionen heißt. Denn die einfachgesetzlichen Detailvorschriften könnten die grundgesetzlichen Normen leicht umgehen. Dabei wäre eine klügere Konstruktion der Schuldenbremse durchaus denkbar. Die Handhabung des Ausgleichskontos könnte etwa mit einem „Schuldensoli“, wie ihn der Wirtschaftssachverständigenrat vorschlägt, wesentlich erleichtert werden: Wird das Konto nicht planungsgemäß wieder gefüllt, tritt automatisch ein vorüberge- hender Zusatzbeitrag zum Beispiel auf die Einkommens- oder Vermögenssteuer in Kraft, bis das Konto wieder schwarze Zahlen schreibt. Die Goldene Regel müsste erhalten bleiben, um Investitionen nicht zu gefährden, jedoch müsste der Begriff auf die wachstums- und zukunftsgerichteten Investitionen begrenzt werden. Interessant wäre übrigens auch eine „Steuersenkungsbremse“, wie vom Wirtschaftsweisen Peter

Dis | kurs 119 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009

Bofinger vorgeschlagen, die Steuerentlastungen so lange verfassungsrechtlich verbie- tet, bis die Schuldenstandsquote wieder deutlich unter der 60-Prozent-Grenze des Maastricht-Vertrages liegt.13 Wie reich die künftigen Generationen sein werden, hängt nicht nur von der Staats- verschuldung ab, sondern mindestens ebenso vom Aufbau an Sach- und Humanka- pital. Ein Staat, der in bessere Infrastruktur und Bildung investiert, macht seine Kin- der reicher – trotz Haushaltsdefizit. Spart Deutschland zur falschen Zeit an falscher Stelle, geht das zulasten künftiger Generationen. Kinder an die Macht Es liegt auf der Hand, dass nachrückende Generationen dem gegenwärtig stattfin- denden Abschieben der Lasten in die Zukunft, nämlich auf sie, nicht zustimmen würden. Doch in einer Demokratie brauchen die Verantwortlichen nicht auf deren Interessen Rücksicht zu nehmen, da das Grundgesetz nur die Rechte bereits Gebo- rener schützt und nur ihnen eine Beteiligung an der allgemeinen Willensbildung zusichert. Könnten die künftigen Generationen mit abstimmen, würde eine auf die Gegenwart ausgerichtete Politik keine Mehrheit mehr finden. Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, be- zeichnete es daher als eine der größten verfassungsrechtlichen Herausforderungen der Zukunft, das Sozialstaatsprinzip für einen Ausgleich zwischen gegenwärtigen und zukünftigen Zukunftsperspektiven und -chancen nutzbar zu machen.14 Im Jahr 2005 haben daher 105 Abgeordnete einen Antrag für mehr Generationengerechtig- keit im Grundgesetz eingebracht. Der Antrag sieht vor, Nachhaltigkeit als Staatsziel aufzunehmen und die Berücksichtigung künftiger Generationen bei der Aufnahme öffentlicher Schulden vorzuschreiben. Beide neuen Klauseln wären aber wieder nur deklaratorisch und damit unverbindlich – und zudem so allgemein formuliert, dass sie nach dem politischen Kalkül der Regierung oder im Zweifel durch das Bundes- verfassungsgericht erst interpretiert werden müssen. So wichtig das Anliegen der Abgeordneten also auch ist, ihre Vorschläge werden kaum zur Stärkung der Genera- tionengerechtigkeit beitragen.15 In einer parlamentarischen Demokratie, wie wir sie kennen, besteht das Dilemma darin, dass die Zukunft in keinem Gremium vertreten ist und daher auch keine Stim-

13 Bofinger, Peter: Schweizer Schuldenbremse verpatzt Elch-Test. In: Financial Times Deutschland, 12.4.2007. 14 Papier, Hans-Jürgen: Überholte Verfassung? In: ZFSH/SGB 2004, S. 67-74, hier S. 67, 73. 15 Gründinger, Wolfgang: Nachhaltigkeit als politisches Leitbild und ihre Verankerung im deutschen Grundgesetz. In: Vordenken Nr. 6/2005; Tremmel, Jörg: Generationengerech- tigkeit in der Verfassung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 8/2005, S. 18–27.

120 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland me hat. Ein spannender Ansatz, dieses Dilemma zu neutralisieren, ist die Einrich- tung einer Kommission für künftige Generationen (oder eines Zukunftsrates, oder wie immer man dieses Gremium auch nennen mag). Dieser Kommission, zusam- mengesetzt aus unabhängigen, renommierten Persönlichkeiten mit ausgewiesenen Fachkenntnissen auf dem Gebiet der Generationen­gerechtigkeit, käme die Aufgabe zu, die Interessen künftiger Generationen zu erahnen, zu formulieren und in den demokratischen Willensbildungsprozess einzuspeisen. Derartige Gremien sind zwar bereits in Ansätzen vorhanden, insbesondere mit dem Nachhaltigkeitsrat der Bundesregierung, doch sämtlich derartige Gremien sind zahnlose Tiger. Um der Rolle als Sprachrohr der Zukunft wirklich gerecht werden zu können, bräuchte ein solcher Zukunftsrat eine starke Stellung durch Verankerung in der Verfassung, durch ein Recht auf Gesetzesinitiative und ein Begutachtungsrecht.­ Auch ein aufschiebendes Vetorecht wäre zu diskutieren. Eine weitere – und zudem demokratisch gebotene – Möglichkeit, der nachrückenden Generation mehr Gehör zu verschaffen, ist die Senkung des Wahlalters. Fast 14 Mil- lionen junge Menschen werden heute allein wegen ihres Alters willkürlich von de- mokratischer Mitsprache ausgeschlossen. Nur weil sie jünger als 18 Jahre sind, wird ihnen das Wahlrecht verweigert. Hätten auch Kinder und Jugendliche eine Stimme, bliebe dies kaum ohne Auswirkungen auf das Verhalten der Entscheidungsträger. Ebenso würde auf diese Weise das fundamentale Defizit unserer Demokratie, näm- lich der Ausschluss eines beträchtlichen Teils des Staatsvolkes von der politischen Partizipation, beseitigt. Im September 2003 legten 46 Abgeordnete aller Fraktionen, darunter der damalige Bundestagspräsident und zwei seiner Stellvertreter, einen Antrag mit dem Titel „Mehr Demokratie wagen durch ein Wahlrecht ab Geburt“ vor. Gefordert wurde, Kindern und Jugendlichen auch unter 18 Jahren das Wahlrecht zu verleihen und dieses bis zur Volljährigkeit den Eltern zur treuhänderischen Ausübung anzuvertrauen. Nach einer Plenardebatte wurde der Antrag im April 2005 abgelehnt. Begründet wurde die Ablehnung mit verfassungsrechtlichen Bedenken und dem Argument, für Kinder und Jugendliche seien andere Formen der politischen Partizipation geeigneter. Die Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen spricht sich dafür aus, das Wahlalter mittelfristig auf null zu senken, anstatt die Eltern wählen zu lassen. Dies würde nicht nur viele problematische Fragen umgehen (Welcher Elternteil darf wäh- len? Wie ist bei geschiedenen oder verwitweten Eltern zu verfahren? Stimmen die Eltern wirklich im Sinne des Kindes ab? etc.), sondern würde auch den jungen Men- schen selbst das Recht geben, ihre Meinung in den politischen Prozess einzuspeisen, und ihnen das Gefühl geben, ernst genommen und als Subjekt anerkannt zu wer- den. Die häufige Vorstellung, es würden dann Säuglinge in die Wahlkabine krab-

Dis | kurs 121 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 beln, ist freilich irreführend; der Vorschlag verlangt nur, dass jeder Mensch wählen dürfen soll, sobald er es will. Die geheime Wahl gilt dabei unverändert; die Eltern können die Wahlentscheidung also weder kontrollieren und noch vorgeben. Nach- dem eine „politische Reife“, die in diesem Kontext gelegentlich als Voraussetzung für das Wahlrecht bei Jugendlichen gefordert wird, auch von Volljährigen nicht verlangt wird (und schlechterdings nirgends definiert ist), kann sie nicht zur Bedingung ge- macht werden. Angesichts der die Jüngeren massiv betreffenden Belastungen, von denen die größte Bürde vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Umweltkrise und des demogra- phischen Umbruchs erst in der Zukunft liegt, ist es daher notwendig, die ursprüng- lich lediglich räumlich definierte, historische Maxime„no taxation without represen- tation“ – keine Besteuerung ohne Repräsentation – auf die Alters- beziehungsweise Zeitdimension auszuweiten. Themen wie Umwelt, Schule, Familie, Erziehung (zum Beispiel stärkere Ächtung von Ohrfeigen als elterliches Machtinstrument) oder Jugendrechte (zum Beispiel Partizi- pation, Wehrpflicht, Drogenpolitik) würden mehr Gewicht in der politischen Agen- da gewinnen und stärker nach den Ansichten der Betroffenen – eben der Kinder und Jugendlichen – gestaltet werden. Bei Jugendlichen angesehene Akteure – wie zum Beispiel Umweltschutzorganisationen – bekämen mehr politischen Einfluss. Erwachsene würden anfangen, Kinder und Jugendliche ernster zu nehmen und ih- nen eine Subjektrolle als Träger von eigenen Rechten und Präferenzen zuzuschrei- ben. Politik würde zum Diskussionsgegenstand in Familie, Freundeskreis und Schu- le. Die jungen Menschen selbst würden sich ihrer Rechte und ihrer Verantwortung eher bewusst. Sie würden wieder das Gefühl entwickeln, nicht von einer Übermacht der älteren Generation erdrückt zu werden, und bekämen wieder mehr Vertrauen in den Generationenvertrag. Das Verhältnis zwischen den Generationen würde sich verbessern. Da die jungen Menschen frühzeitig mit Wahlen und politischer Ausei- nandersetzung konfrontiert würden, würden sie von den Kinderschuhen an lernen, was Demokratie bedeutet. Das Wahlrecht ab Geburt ist ein überfälliger Schritt in der Entwicklung unserer Demokratie, in der das Prinzip „one person – one vote“ noch nicht umgesetzt ist und eine von drei Generationen keinen Einfluss nehmen kann. Kinder nicht an die Macht – aber reale Mitspracherechte. Denn nur wer wählt, der zählt.

122 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland

Thema: 60 Jahre Bundesrepublik deutschland a) Das Selbst B) Das Andere c) Innen und Außen D) Abgründiges

Deutsch-Deutsche Beziehungen von 1949 bis 1989

Jochen Staadt Freie Universität Berlin, Forschungsverbund SED-Staat E-Mail: [email protected]

Schlüsselwörter Innerdeutsche Grenze, SED, Innerdeutsche Parteibeziehungen

Die Beziehungen der beiden deutschen Staaten bewegten sich vom Beginn der deut- schen Teilung bis zur Wiedervereinigung innerhalb der von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs bestimmten Rahmenbedingungen. Die Entstehung zweier deutscher Staaten mit unterschiedlichen politischen Gesellschaftsordnungen brachte eine scharfe Systemkonkurrenz und Versuche des Einwirkens auf die Bürger und die politischen Akteure im jeweilig anderen Deutschland mit sich. Bedeutende innen- politische Entscheidungen standen beiderseits der Zonengrenze unter dem Druck von Bündniszugehörigkeiten, aber auch Stimmungs- und Meinungsentwicklungen in der Bevölkerung. Die deutsche Frage blieb bis zum Ende der DDR trotz aller Ver- drängungsversuche in Ost und West virulent. Sie spielte offen und verdeckt in der Bundesrepublik eine erhebliche Rolle in allen Bundestagswahlkämpfen und trug in der DDR zur Entscheidung manch innerparteilicher Machtkämpfe bei.1

1 Siehe grundsätzlich hierzu Lilge, Herbert (Hrsg.): Deutschland 1945–1963, Hannover 1967; Deuerlein, Ernst: Deutschland 1963-1970. Hannover 1972; Staadt, Jochen: Die geheime Westpolitik der SED 1960–1970. Von der gesamtdeutschen Orientierung zur sozialistischen Nation, Berlin 1993; Korte, Karl-Rudolf: Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft. Regierungsstil und Entscheidungen 1982–1989. Stuttgart 1998.

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Das Ziel eines deutschen Nationalstaates wurde 1949 sowohl im Grundgesetz als auch in der DDR-Verfassung verankert. Auch die neue DDR-Verfassung von 1968 hielt ausdrücklich am Ziel der Wiedervereinigung beider deutschen Staaten fest. An- lässlich des 25. Jahrestages der DDR strich dann die Volkskammer im Jahr 1974 die deutsche Einheit aus der DDR-Verfassung. Die SED präsentierte sich bei ihrer Grün- dung als Partei der deutschen Einheit. Ihre aus der KPD stammenden Spitzenfunkti- onäre hatten jedoch einer anderen Option Rechnung zu tragen. Unmittelbar nach der Konferenz von Jalta hatte Georgi Dimitroff die Führung der Moskauer Exil-KPD zu sich gebeten und darüber informiert, „daß Berlin geteilt wird, daß Deutschland geteilt wird“.2 Neben und nahmen auch und seine Lebensgefährtin Elli Schmidt an diesem Treffen teil. Elli Schmidt erinnerte sich 1966 in einer SED-internen Zeitzeugenbefragung an die damalige Unterredung mit dem Europabeauftragten der KPdSU. Seit dem Gespräch mit Dimitroff sei sich die KPD-Führung sicher gewesen, „daß der Kapitalismus wenigstens in einem Teil Deutschlands seine Existenz behaupten wird“. Am 4. Juni 1945 bestellte Josef Stalin die KPD-Führer Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht, Anton Ackermann und Gustav So- bottka nach Moskau, um ihnen die sowjetische Nachkriegspolitik in Deutschland zu erläutern. Stalin verkündete folgende „Perspektive“: „Es wird zwei Deutschlands geben – trotz aller Einheit der Verbündeten.“3 Die Verantwortung für die Teilung Deutsch- lands sollte jedoch den Westmächten angelastet werden. Folgerichtig vertrat die SED bis zum Volksaufstand vom 17. Juni 1953 einen nationalistischen und antiwestli- chen Kurs. Am 19. September 1946 beschloss der SED-Parteivorstand die Erklärung „Grundrechte des deutschen Volkes“, in der es hieß: „Das deutsche Volk kann nicht leben ohne die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands.“4 Der erste Grundsatz dieser Erklärung lautete: „Deutschland ist eine unteilbare demokratische Republik. Das Gebiet der Republik besteht aus den Gebieten der deutschen Länder. Es gibt nur eine Staatsangehörigkeit der deutschen Republik.“ Nachdem sich die Bildung eines an parlamentarisch-demokratischen Verfassungsgrundsätzen orientierten Weststaates abzeichnete, antworteten SMAD und SED in der SBZ am 15. und 16. Mai 1949 mit Wahlen zu einem verfassungsgebenden Deutschen Volkskongress, der bald darauf die Legitimation zur DDR-Gründung zu liefern hatte. Als Reaktion auf den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 und die in seinem Verlauf erhobenen Forderungen nach freien gesamtdeutschen Wahlen veränderte die SED

2 Ackermann, Anton: Der deutsche Weg zum Sozialismus. Selbstzeugnisse und Dokumen- te eines Patrioten, hrsg. von Schumann, Frank Das neue Leben. Berlin 2005. 3 Ebd. 4 Beschluß des Parteivorstandes der SED „Die Grundrechte des deutschen Volkes“ vom 19. September 1946, in: Autorenkollektiv (Vorsitzender Walter Ulbricht): Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung. Bd. 6. Berlin 1966, S. 423 ff.

124 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland ihre Position. Sie gab die Forderung nach einem einheitlichen deutschen Staat auf und verlangte nunmehr die staatliche Anerkennung der Zweistaatlichkeit Deutsch- lands. Gleichwohl hielt sie an dem Grundsatz der nationalen Einheit fest und legte diverse Vorschläge zur Bildung einer Konföderation beider deutschen Staaten vor.5 Alle diese Initiativen waren jedoch propagandistischer Natur und sahen im Unter- schied zu den Vorstellungen der westdeutschen Parteien erst als letzten Schritt des Wiedervereinigungsprozesses allgemeine und freie Wahlen vor. Die SED betrachtete die DDR als Kernstaat und Modell, dessen Gesellschaftsord- nung früher oder später auf die ganze Nation übertragen werden solle. Sie griff die Bundesrepublik anfangs als illegitimen „Separatstaat“ an, der die Einheit der Nation verraten und sich den „imperialistischen Interessen“ der Westmächte unterworfen habe. Mit einer Kampagne „Deutsche an einen Tisch“, die stark nationalistische und antiamerikanische Züge trug, versuchte die SED, parallel zu diplomatischen Initiati- ven der UdSSR wie der Stalinnote von 1952, die Westintegration der Bundesrepublik zu verhindern. In dieser Zeit beanspruchte die SED für die DDR zeitweilig einen na- tionalen Alleinvertretungsanspruch und rief zum „Sturz des Adenauerregimes“ auf. Bis zum Verbot der KPD im Jahr 1956 verfügte die SED über einen eigenen Parteiap- parat in der Bundesrepublik. Die KPD, die von einem „Arbeitsbüro“ im ZK der SED angeleitet wurde, hatte allerdings nach dem Korea-Krieg und der Niederschlagung des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 jegliche innenpolitische Glaubwürdigkeit in der westdeutschen Bevölkerung verloren. Der V. Parteitag der SED erklärte im Juli 1958 die DDR zum einzig „rechtmäßigen deutschen Staat“. Gleichwohl bemühte sich das SED-Regime auch in dieser Zeit um die staatliche Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik. Diesem Ziel dien- te auch die erstmals 1956 offerierte Bildung einer deutschen Konföderation. Neben der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR verband die SED-Führung mit dem Vorschlag auch die Forderung nach der Unveränderbarkeit des sozialistischen Ge- sellschaftssystems. Walter Ulbricht erklärte, als er 1960 den „Deutschlandplan des Volkes“ als Antwort auf den „Deutschlandplan der SPD“ vorstellte, eine gleichberech- tigte Konföderation beider Staaten sei nur bei Akzeptanz der Tatsache möglich, dass die Bürger der DDR „längst und endgültig über ihre staatliche und gesellschaftliche Ordnung entschieden“ hätten. Somit enthielt der Konföderationsvorschlag der SED

5 1956 mit der „Deklaration der Nationalen Front des demokratischen Deutschland für die Sicherung des Friedens, für Verständigung und Abrüstung, für die demokratische Einheit Deutschlands“; 1958 im Rahmen der Initiative der DDR und der UdSSR für den Abschluß eines deutschen Friedensvertrages; 1960 mit dem „Deutschlandplan des Volkes“. Beide Dokumente sind abgedruckt in: Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 8. Berlin 1966, S. 438 ff. und S. 556. Walter Ulbricht erneuerte den Vorschlag zur Bildung einer deutsch-deutschen Konföderation in seiner Festansprache zum 20. Jahrestag der SED-Gründung am 21. April 1966. Vgl. NY 4182/733, Nachlass Walter Ulbricht.

Dis | kurs 125 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 von vornherein die Ablehnung der deutschlandpolitischen Grundsatzpositionen al- ler Parteien des Bundestages, die einem aus allgemeinen und freien Wahlen hervor- gegangenen gesamtdeutschen Parlament die Entscheidung über die Verfassung des vereinten Deutschlands übertragen wollten. Ende der sechziger Jahre veränderte die SED ihre Position erneut. Am 21. Novem- ber 1970 erklärte Walter Ulbricht vor den Funktionären der SED-Bezirksleitung in Leipzig: „Wenn Herr Brandt jetzt von einer deutschen Nation spricht, spricht er von irgendeiner, sagen wir mal von einer Fata Morgana, die irgendwo im Himmel schwebt. Wenn man ihn fragt, worin besteht denn nun eigentlich nach ihrer Meinung diese Na- tion, kann er nicht ein einziges Argument anführen, denn a) es gibt kein gemeinsames Wirtschaftsgebiet, sondern es gibt getrennte, es gibt zwei prinzipiell entgegengesetzte Gesellschaftsordnungen, es gibt keine gemeinsame Staatsordnung, sondern es gibt prin- zipiell entgegengesetzte und es gibt nicht einmal mehr eine gemeinsame Kultur. Denn diese amerikanisierte westdeutsche Sumpfkultur kann man nicht als deutsche Kultur bezeichnen.“ 6 Ulbrichts Amtsnachfolger als Erster Sekretär der SED, , verkündete auf dem VIII. Parteitag der SED (15. bis 19. Juni 1971), „zwischen der sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik, in der sich die sozialistische Nation entwickelt, und der monopolkapitalistischen BRD, in der die alte bürgerliche Nation existiert, kann und wird es niemals sogenannte ‚innerdeutsche Beziehungen’ geben“. Auf dem IX. Par- teitag der SED (18. bis 22. Mai 1976) wurde die veränderte Position in der nationalen Frage auch in das SED-Programm eingearbeitet. „In der Deutschen Demokratischen Republik entwickelt sich die sozialistische deutsche Nation“, hieß es darin. Mit der so- zialistischen Revolution und der Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft seien in der DDR „auch Grundlagen, Inhalt und Formen des nationalen Lebens qualitativ verändert“ worden. Die SED leite „planmäßig den Prozeß der weiteren Entwicklung der sozialistischen Nation in der Deutschen Demokratischen Republik, ihres Aufblü- hens auf den gesellschaftlichen Grundlagen des Sozialismus und ihrer Annäherung an die anderen sozialistischen Nationen“ ein. In der Bevölkerung der DDR wie auch in der Bundesrepublik stieß die Zwei-Nationen-Theorie der SED durchgängig auf Ab- lehnung. Die Bundesrepublik Deutschland hielt bis zur Wiedervereinigung daran fest, dass es nur eine deutsche Staatsbürgerschaft gibt. Trotz allen Drängens der SED gaben die Bundesregierungen Brandt, Schmidt und Kohl in dieser Frage nicht nach. Allerdings zeigten sich in den achtziger Jahren einige Politiker der SPD und der Grü- nen in Gesprächen mit SED-Funktionären zur Anerkennung einer eigenen DDR-

6 Ulbricht, Walter: Rede des Genossen Walter Ulbricht, Erster Sekretär des ZK der SED, auf der Sitzung der Bezirksleitung in Leipzig am 21.11.1970, SAPMO-BArch, IPA, vorl. SED, 41656, Bestand Büro Honecker.

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Staatsbürgerschaft bereit. Die Deutschlandpolitik der SED bewegte sich bis 1986 im Rahmen der sowjetischen Europapolitik. Die SED bezeichnete ihre Deutschlandpoli- tik als Westpolitik, gleichsam als Pendant zur Ostpolitik Westdeutschlands. Während die politischen Parteien und Verbände der Bundesrepublik in Fragen der Ostpolitik unterschiedliche und oft kontroverse Positionen vertraten, stand die Deutschlandpo- litik aller Parteien und Massenorganisationen der DDR unter der Richtlinienkompe- tenz der SED-Führung. Lediglich die evangelische und die katholische Kirche sowie die jüdischen Gemeinden in der DDR verfügten zunächst noch über eigenständige deutschlandpolitische Handlungsspielräume, die das SED-Regime jedoch nach dem Mauerbau 1961 weitestgehend einschränkte. Die innerdeutsche Grenze Walter Ulbricht hatte übrigens einen Sinn für historische Symbolik. Er datierte einen Brief, den er am 16. Januar 1961 an den sowjetischen Partei- und Staatschef Nikita Chruschtschow verfasste, auf den 18. Januar. Der 90. Jahrestag der Kaiserproklama- tion zu Versailles war für den Staatsratsvorsitzenden und Ersten Sekretär der SED genau der richtige Tag, um nachdrücklich die vertragliche Herauslösung der DDR aus dem geschichtlichen Kontext des Deutschen Reiches zu fordern. „Teurer Genosse Nikita Sergejewitsch!“, begann Ulbricht höflich, „nach der Aussprache zwischen uns im November 1960 halten wir es für notwendig, daß wir uns mit dem Präsidium des ZK der KPdSU über einige Hauptfragen der Deutschlandpolitik und der ökonomischen der DDR im Jahr 1961 konsultieren.“ 7 Auf den ersten Seiten erging sich Ulbricht zunächst in allerlei Vorschlägen, wie „im Jahr 1961 bei der friedlichen Lösung der Westberlin- Frage und der Herbeiführung eines Friedensvertrages vorwärts zu kommen“ sei. Die Möglichkeiten, wenigstens einen Teil der in Berlin entstandenen Nachkriegskons- tellation „abzubauen“, waren seiner Meinung nach besonders günstig, weil „die Ade- nauer-Regierung in der Zeit der Bundestags-Wahlkampagne nicht an einer Zuspitzung der Lage interessiert ist und Präsident Kennedy im ersten Jahr seiner Präsidentschaft ebenfalls keine Verschärfung der Lage wünscht“. Adenauer werde den Abschluss eines Friedensvertrages der Teilnehmerstaaten des Zweiten Weltkrieges mit beiden deut- schen Staaten ablehnen und ungeachtet aller Angebote den Kalten Krieg verschärfen. Dabei werde der Kampf gegen die DDR „hauptsächlich mit ökonomischen Waffen“ geführt. Ulbricht schlug vor, den Druck auf die Westmächte zu erhöhen, und auf internatio- naler Ebene für „die Notwendigkeit der Beseitigung der Reste des Krieges in Deutsch- land und speziell der anomalen Lage in Westberlin“ zu werben. Ulbricht bekräftigte

7 Das Schreiben Ulbrichts vom 16. Januar 1961 findet sich unter SAPMO-BArch, DY 30, J IV 2/202/ 129, Bestand Büro Ulbricht.

Dis | kurs 127 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 die Forderung nach Umwandlung West-Berlins in eine „Freie Stadt“. Damit meinte er: „Beseitigung des Besatzungsregimes in Westberlin, d. h. Auflösung der Komman- dantur und Verzicht der auf Grund des Besatzungsstatuts ausgeübten Rechte“ bis hin zum „vollständigen Abzug“ der Westalliierten. Die DDR werde dann in vertraglichen Vereinbarungen mit dem West-Berliner Senat alle Fragen regeln, die den Transit- verkehr und die Versorgung der Stadt beträfen. Ulbricht forderte weiterhin, dass „die Autorität der DDR bei künftigen Verhandlungen“ erhöht werden müsse. Die Sowjetunion möge nachdrücklich erklären, „daß der Abschluß eines Friedensvertra- ges zwischen der Sowjetregierung und der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik unter Beteiligung der Staaten der Anti-Hitler-Koalition, die dazu bereit sind, unvermeidlich wird, wenn die Westmächte nicht im Verlauf der nächsten Monate auf einen Kompromiß eingehen“.8 Um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen, schilderte der SED-Chef im zwei- ten Teil seines Schreibens ausführlich die dramatische Fehlentwicklung der DDR- Wirtschaft und ihr weiteres Zurückfallen gegenüber der Bundesrepublik. Die„Steige - rung der Bruttoproduktion in Westdeutschland betrug 1960 etwa 12 Prozent, während die Produktionssteigerung in der DDR 8 Prozent betrug.“ Die westdeutsche Wirtschaft bringe ihre Betriebe auf technischen Höchststand, „erhöhte die Löhne im Jahre 1960 um ca. 9 Prozent und verkürzte die Arbeitszeit, so daß bereits in einem Teil der Be- triebe die Fünftagewoche besteht“.9 Bis 1965 solle sogar in einigen Industriezweigen die 40-Stunden-Woche eingeführt werden. „Bei uns sind solche Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen nicht im Plan enthalten.“ Ohne weitere Kredite aus der Sowjetunion, werde das Lebensniveau der Bevölkerung unter den Stand von 1960 sinken. „Der konjunkturelle Aufschwung in Westdeutschland, der für jeden Einwohner der DDR sichtbar war, ist der Hauptgrund dafür, dass im Verlaufe von zehn Jahren rund zwei Millionen Menschen unsere Republik verlassen haben.“ Ulbricht rechnete mit ernsten Krisenerscheinungen, falls nicht bald „die Entwicklung der Volkswirt- schaft der DDR stabil gemacht wird und möglichst weitgehende Garantien gegen die Störung des sozialistischen Aufbaus in der DDR von Seiten der imperialistischen Kräfte in Westdeutschland geschaffen werden“.10 Chruschtschow antwortete am 30. Januar 1961, die sowjetische Führung stimme „mit den Erwägungen betreffs der Maßnahmen“ überein, „die in Zusammenhang mit der Beseitigung der Überreste des Krieges und der Normalisierung der Lage in West- Berlin durchgeführt werden sollen“. Es bedürfe aber noch einiger Zeit, um Kennedys Position in der Deutschlandfrage deutlicher zu erkennen. Für den Fall, dass es zu

8 Ebd. 9 Ebd. 10 Ebd.

128 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland keiner Einigung mit den Vereinigten Staaten über „gegenseitig annehmbare Beschlüs- se“ komme, müsse die Angelegenheit „auf der Basis eines Friedensvertrages mit der Deutschen Demokratischen Republik gelöst werden“. Es werde dann notwendig sein „die in Ihrem Brief behandelten Maßnahmen, die sich unter gewissen Umständen als notwendig erweisen werden, mit dem Abschluß eines Friedensvertrages zu koppeln“. Ulbricht unterstrich das Wort „Maßnahmen“, über die es in Chruschtschows Brief weiter heißt: „Wenn es nicht gelingen wird, mit Kennedy zu einer Verständigung zu kommen, werden wir, wie vereinbart, gemeinsam mit Ihnen den Zeitpunkt ihrer Durchführung bestimmen.“11 Ulbricht hatte in seinem Schreiben zwar nicht von irgendwelchen Maßnahmen ge- sprochen – er hatte sich lediglich auf seine mündlichen Erörterungen mit der KPd- SU-Spitze bezogen, die am Rande des Moskauer Treffens der kommunistischen und Arbeiterparteien am 10. November 1960 stattgefunden hatten – aber er wusste ge- nau, was Chruschtschow meinte, wenn er versprach, es werde dann „wie vereinbart“ gemeinsam der Zeitpunkt zur Durchführung der „Maßnahmen“ bestimmt, „die sich unter gewissen Umständen als notwendig erweisen werden“. Über diese „Maßnah- men“ nämlich, hatte man sich im Groben schon im November 1960 verständigt. In unbestimmter Weise zieht sich die Begrifflichkeit „Maßnahmen“ durch das gesamte Schriftgut der SED- und Regierungsstellen, die mit der Vorbereitung des Mauerbaus befasst waren. Erst am 13. August 1961 wurde die sprachliche Kaschierung fallen gelassen. Noch am 11. August beschloss die Volkskammer der DDR pauschal, es seien „Maßnahmen gegen Menschenhandel, Abwerbung und Sabotage zu treffen“. Der Ministerrat ordnete am folgenden Tag „Maßnahmen zur Unterbindung der feindli- chen Tätigkeit der revanchistischen und militaristischen Kräfte Westdeutschlands und Westberlins“ an und verkündete zynisch, es werde „eine solche Kontrolle an den Grenzen der Deutschen Demokratischen Republik einschließlich der Grenze zu den Westsektoren von Groß-Berlin eingeführt, wie sie an Grenzen jedes souveränen Staates üblich ist“. Selbst im Mobilmachungsbefehl, den DDR-Innenminister Karl Maron am Mittag des 12. August an die Stabschefs seiner bewaffneten Einheiten herausgab, ist von „Maßnahmen“ die Rede, die „mit X-Zeit zur Einschränkung des Verkehrs“ nach West-Berlin eingeleitet werden sollen.12 Die Frage, wann genau die Vorbereitungen für den „Tag X“ und die „X-Zeit“ be- gannen, ist bislang ungeklärt. Im März 1961 waren sie jedenfalls als Option schon sehr konkret im Gange. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kann da-

11 Die Antwort Chruschtschows ebd. 12 Vgl. Befehl des Ministers des Inneren Nr. 002/61, Aufgaben der Deutschen Grenzpolizei zur verstärkten Sicherung der Grenzen am Außenring von Groß-Berlin und an der Staats- grenze West. BArch Lichterfelde, DO 1/2.2./58293.

Dis | kurs 129 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 von ausgegangen werden, dass die endgültige Entscheidung für den Mauerbau un- mittelbar nach dem für Chruschtschow negativen Ausgang der Wiener Gespräche mit dem amerikanischen Präsidenten Kennedy fiel. In groben Worten hatte sich der sowjetische Staatschef dort am 4. Juni 1961 gegenüber Kennedy über West-Berlin ge- äußert: „Wir wollen diesen Splitter herausziehen, dieses Geschwür am Körper Europas beseitigen und dies so tun, daß keinem der interessierten Staaten ein Nachteil daraus entsteht.“ Auf Kennedys Nachfrage, ob das bedeute, dass auch der amerikanische Zugang nach West-Berlin gesperrt werde, antwortete Chruschtschow lakonisch: „Sie haben richtig verstanden, Herr Präsident.“ Obwohl Chruschtschow im Fortgang des Gespräches unverhohlen mit Krieg drohte, lehnte Kennedy die geforderte „radikale Änderung“ des Berlin-Status ab und bekräftigte seine Entschlossenheit, alle „juristi- schen Verpflichtungen in dieser Frage zu erfüllen“. Kennedy erklärte darüber hinaus: „Wir sind überzeugt, daß unsere Anwesenheit in Berlin von der Bevölkerung West- Berlins unterstützt wird, der gegenüber wir bestimmte Verpflichtungen übernommen haben.“ Während Kennedy am 25. Juli 1961 noch einmal vor der Weltöffentlichkeit die ame- rikanischen Garantien für West-Berlin bekräftigte, bereitet in Ost-Berlin bereits ein geheimer Operationsstab den Mauerbau vor. Die politische Leitung dieses Stabes, der am 12. August 1961 seine Kommandozentrale im Präsidium der Volkspolizei Berlin aufschlug, lag in den Händen des für Sicherheitsfragen zuständigen ZK-Sekretärs Erich Honecker. Nachdem Ulbricht als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungs- rates formell die X-Zeit bestätigt hatte, traten die an der Grenze eingesetzten Sonder- einheiten der Volkspolizei, das Berliner MfS-Wachregiment, die Grenzpolizei, die Transportpolizei und ausgewählte Betriebskampfgruppen in Aktion. Die Nationale Volksarmee befand sich in zweiter Linie in Bereitschaft und sowjetische Truppen hielten sich als dritte Staffel im Hintergrund. Sie sollten nur im Falle einer militäri- schen Reaktion der Westalliierten zum Einsatz kommen.13 Den faktischen Schießbefehl für die DDR-Grenzeinheiten beschloss das SED-Polit- büro neun Tage nach dem Beginn des Mauerbaus in Berlin am 22. August 1961. Formal entschied das Gremium „die vorgesehenen Maßnahmen“ zum „Übergang von der 1. Etappe zur 2. Etappe der Grenzsicherung“. Aus der erläuternden Anlage des Beschlusses, den Walter Ulbricht verfasst hatte, geht jedoch hervor, was „2. Etappe“ bedeutete. „Nach der verleumderischen Rede Brandts“ – gemeint war ein Appell des Regierenden Bürgermeisters von Berlin an die DDR-Grenzer „Schießt nicht auf die eigenen Landsleute“ – sollten „durch Gruppen, Züge oder Kompanien schriftliche Er-

13 Vgl. MdI, (Hrsg.), Dickel, Friedrich (Leiter des Autorenkollektivs), Seifert, Willi (Gene- ralleutnant a. D., Mitgl. d. Hauptredaktion): Geschichte der Deutschen Volkspolizei. Bd. I. Berlin 1987, S. 338.

130 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland klärungen abgegeben werden, um was es geht und daß jeder, der die Gesetze unserer Deutschen Demokratischen Republik verletzt - auch wenn erforderlich - durch Anwen- dung der Waffe zu Ordnung gerufen wird“.14 Bereits am nächsten Tag erschienen im SED-Zentralorgan „einstimmig abgegebene“ Erklärungen, in denen sich DDR-Grenzeinheiten verpflichteten,„die Einhaltung der Gesetze der DDR zu sichern und wenn es erforderlich ist, durch Anwendung der Waffe diejenigen zur Ordnung zu rufen, die diese Gesetze der Arbeiter-und-Bauern-Macht mit Füßen treten wollen.“15 Günter Litfin wurde im Alter von vierundzwanzig Jahren das erste Opfer des Schieß- befehls. Der Schneidergeselle starb am 24. August 1961, als er in der Nähe des heu- tigen Berliner Hauptbahnhofs versuchte, die Spree zu durchschwimmen. Die genaue Zahl der Menschen, die nach dem 13. August 1961 bei Fluchtversuchen ums Leben kamen, ist bis heute nicht bekannt. Nach Berechnungen der Mauergedenkstätte am Checkpoint Charlie verloren bis zum Ende der deutschen Teilung insgesamt 1245 Menschen an der innerdeutschen Grenze ihr Leben. Obwohl die DDR ihre Sperran- lagen nach dem 13. August 1961 fortgesetzt perfektionierte, wagten zahlreiche DDR- Bürger die riskante Flucht in den Westen. Einzelkämpfer der Stasi hatten seit 1968 den Auftrag, an der DDR-Grenze auch auf Frauen und Kinder zu schießen. In einem Befehl an eine verdeckt arbeitende „Einsatzkompanie“ der Hauptabteilung I des MfS – zuständig für die Überwachung der DDR-Grenzeinheiten – wurden hauptamtliche Stasileute in die regulären DDR- Grenztruppen eingeschleust, um dort Fahnenflucht zu verhindern und mit extre- mer Härte gegen zivile Flüchtlinge vorzugehen. Der „Auftrag“ zum Töten wurde im Oktober 1973, knapp drei Wochen nach dem UNO-Beitritt der DDR erneuert. Als Zeitsoldaten getarnt sollten sich die Stasi-Einzelkämpfer an ihre Kameraden in den Grenzkommandos heranmachen, „um schnell Kontakt herzustellen und diesen zu einem scheinbaren Vertrauensverhältnis auszubauen“. Besonderes Augenmerk war dabei auf die „Bearbeitung fahnenflüchtig verdächtiger Personen“ zu richten. Für den Fall einer drohenden Fahnenflucht, lautet der „Auftrag“ an die Stasispezialisten, „die Schußwaffen konsequent anzuwenden, um den Verräter zu stellen bzw. zu liquidieren“. Es gelte umsichtig und konsequent zu handeln, die „Gefährlichkeit und Hinterhältig- keit der Verräter“ habe sich in der Praxis immer wieder herausgestellt. „Zögern Sie nicht mit der Anwendung der Schußwaffe, auch dann nicht, wenn die Gewaltdurchbrü- che mit Frauen und Kindern erfolgen, was sich die Verräter schon oft zu nutze gemacht

14 Protokoll Nr. 45/61 der Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees der SED am Dienstag dem 22. August 1961, DAPMO-BArch, DY 30, J IV 2/2/787, Bestand Politbüro des ZK. 15 Vgl. o. A.: Gesinnungslosen Lumpen fahren wir übers Maul! in: Das Neue Deutschland, 23.08.1961.

Dis | kurs 131 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 haben.“16 Die zweite Hälfte des„Auftrags“ an die „konspirativ arbeitenden“ Angehöri- gen der „Einsatzkompanie“ gab Hinweise zur Bespitzelung von Kameraden im Grenz- kommando. Zu achten war dabei auf „Erscheinungsformen der politisch-ideologischen Diversion“ wie der Empfang von westlichen Radio- und Fernsehsendungen, die Lek- türe oder Verbreitung westlicher Zeitungen oder auf negatives Verhalten „gegenüber positiv auftretenden Genossen“. Sogar auf Grenzsoldaten, die „Gegenstände westlicher Herkunft“ besaßen oder Kontakt zu Zivilpersonen im Grenzgebiet aufnahmen, müs- se ein besonderes Augenmerk gelegt werden. Die Stasi-Einsatzkompanie zur Über- wachung der Grenztruppen wurde im Jahr 1985 aufgelöst. Bis zum Ende des SED- Regimes gelang rund 2.800 Angehörigen der DDR-Grenztruppen die Flucht. Vom 13. August 1961 bis Ende 1966 gelang 51.624 Menschen die Flucht in den Wes- ten. Nachdem die DDR seit dem 1. Januar 1963 offiziell die Übersiedlung in den Westen gestattet hatte, nutzten bis Ende 1966 etwa 200.000 Personen diese Möglich- keit. Nach DDR-Angaben wanderten angeblich 85.000 Personen aus der Bundesre- publik im gleichen Zeitraum in die DDR ein.17 Innerdeutsche Beziehungen auf staatlicher Ebene Der Mauerbau am 13. August 1961 offenbarte den Misserfolg der SED-Deutsch- landpolitik. Nicht die DDR, sondern die Bundesrepublik hatte sich für die große Mehrheit in Ost und West zum „Modell Deutschland“ entwickelt. Nach der Bildung der Großen Koalition in Bonn ließ die SED zahlreiche institutionelle innerdeutsche Bindungen zerstören. Über 10.000 DDR-Bürger mussten 1967 ihre Mitgliedschaft in 148 Fachverbänden und Vereinigungen, die von der SED als „gesamtdeutsche Ein- richtungen“ eingestuft wurden, beenden und ihre Mitarbeit in den Redaktionen von 72 Fachzeitschriften einstellen. Für die innerdeutschen Belange war in Westdeutschland seit 1949 als Koordinati- onszentrum das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen zuständig, das von der sozial-liberalen Koalition 1969 in Bundesministerium für innerdeutsche Fra- gen umbenannt wurde. Die praktische Deutschland- und Vertragspolitik lag indes unmittelbar in der Verantwortung des Bundeskanzleramtes. In der DDR sollte der 1954 gegründete Ausschuss für Deutsche Einheit als zentrale innerdeutsche Instanz

16 MfS, HA I, Äußere Abwehr: Einsatzbefehl zur Verhinderung von Grenzdurchbrüchen, 25. April 1972 / 1. Oktober 1973, BStU, Ast. Magdeburg, Abt II Nr. 31, Pg. 90-96. 17 Vgl. Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (Hrsg.): SBZ von A–Z. Ein Ta- schen- und Nachschlagebuch über die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands. Bonn 1966, S. 143 ff.; Vgl. auch Protokoll Nr. 3/71 der Sitzung des Politbüros des Zentralkomi- tees am 6. Juli 1971 (Arbeitsprotokoll), TOP 5. „Beschluß zur Analyse über begangene Republikfluchten“ (Anlage „Beschluß des Ministerrats zur Analyse begangener Republik- fluchten vom 23. Juni 1971“). SAPMO-BArch, IPA, Signatur: J IV 2/2A/1524.

132 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland fungieren. Es gelang diesem Ausschuss jedoch nie, sich gegenüber dem Bundesmi- nisterium für gesamtdeutsche Fragen oder anderen westdeutschen Dienststellen als offizielle innerdeutsche Instanz der DDR ins Spiel zu bringen. Auch das 1954 in der Bundesrepublik gegründete parteiübergreifende Kuratorium Unteilbares Deutsch- land lehnte es ab, mit dem Ausschuss für Deutsche Einheit in Beziehung zu treten. Walter Ulbricht ließ 1965 ein „Staatssekretariat für gesamtdeutsche Fragen“ einrichten, das sich als Regierungsorgan unter seiner unmittelbaren Anleitung den innerdeut- schen Beziehungen widmen sollte. 1967 wurde diese Einrichtung in „Staatssekreta- riat für westdeutsche Fragen“ umbenannt. Am 7. Juli 1971 ist das Staatsekretariat im Zuge der Neuorientierung der SED auf die Zwei-Nationen-Theorie aufgelöst wor- den. Es war ohne Bedeutung geblieben, da es von westdeutschen Regierungsstellen nicht als Verhandlungspartner akzeptiert wurde. Das Staatssekretariat trat über die Zeit seines Bestehens lediglich mit einigen propagandistischen Veröffentlichungen zur Deutschlandpolitik der DDR hervor. Im Ministerium für Auswärtige Angele- genheiten (MfAA) der DDR war eine Abteilung für die Bundesrepublik und eine weitere für West-Berlin zuständig. Da die Bundesrepublik die DDR jedoch nie als Ausland betrachtete, blieben diese Abteilungen für die innerdeutschen Beziehungen von nachrangiger Bedeutung. Zwischen dem Auswärtigen Amt der Bundesrepublik und dem MfAA der DDR bestanden bis 1989 keine Arbeitsbeziehungen. Im Frühjahr 1966 versuchte die SED letztmalig eine offensive deutschlandpolitische Initiative, indem sie der SPD einen Redneraustausch anbot. Als dieser Vorschlag jedoch in seine Realisierungsphase trat, sagte die SED-Führung den bereits ausge- handelten Auftritt führender SPD-Politiker in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) unter ei- nem Vorwand wieder ab. Tatsächlich befürchtete sie Sympathiebekundungen für die westdeutschen Politiker. Ähnliches ließ sich beim Treffen von Bundeskanzler Willy Brandt und dem Vorsitzenden des DDR-Ministerrates Willy Stoph in Erfurt 1970 nicht verhindern. In den folgenden Jahren konzentrierte sich die SED-Deutschland- politik bis zum Ende der SED-Diktatur auf die politische und ökonomische Absiche- rung der DDR und die Durchsetzung ihrer vollen völkerrechtlichen Anerkennung durch die Bundesrepublik und ihre Verbündeten. Nach den vertraglichen Regelun- gen der innerdeutschen Beziehungen durch Transitabkommen, Verkehrsabkommen und Grundlagenvertrag versuchte Generalsekretär Erich Honecker 1980, mit den Geraer Forderungen die völkerrechtliche Anerkennung der DDR zur Vorbedingung menschlicher Erleichterungen in den innerdeutschen Beziehungen zu machen. Bei fast jedem der über 80 Spitzengespräche, die Honecker bis 1989 mit westdeutschen Politikern führte, wiederholte er seinen Geraer Forderungskatalog. Erreicht wurden Zug um Zug vor allem Zugeständnisse hinsichtlich der Auflösung der Zentralen Er- fassungsstelle Salzgitter und Zusagen zur Verlegung der Elbgrenze in die Strommitte. Von besonderer Bedeutung für das innerdeutsche Verhältnis waren die Gipfeltreffen

Dis | kurs 133 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 zwischen Bundeskanzler Helmut Schmidt und Erich Honecker (11. bis 13. Dezem- ber 1981 am Werbellinsee/DDR) und zwischen Bundeskanzler Helmut Kohl und Erich Honecker (September 1987 in Bonn). Nachdem Michail Gorbatschow 1986 die Breschnew-Doktrin von der beschränkten Souveränität der sozialistischen Staaten aufgehoben hatte, konnte die SED in den letzten Jahren der DDR ihre Deutschland- politik in zunehmender Unabhängigkeit von der Außenpolitik der UdSSR entwi- ckeln. Erich Honecker hatte bis 1987 seinen Staatsbesuch in der Bundesrepublik auf Druck der sowjetischen Führung dreimal verschoben. Die SED-Führung sah in dem ehrenvollen Empfang des DDR-Staatsratsvorsitzenden und SED-Generalsekretärs durch Bundeskanzler Helmut Kohl ein für die von ihr erwünschte faktische völker- rechtliche Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik. Bis 1970 hatte die SED offiziell an der Perspektive einer künftigen Wiedervereini- gung Deutschlands festgehalten. Am 26. August 1970 erläuterte Erich Honecker den Abteilungsleitern im ZK der SED die deutschlandpolitischen Konsequenzen des Moskauer Vertrages zwischen der Sowjetunion und Bundesrepublik: „Man muß auf- passen und solchen Auffassungen entgegentreten, als ob durch den Vertrag etwa eine Annäherung an die kapitalistische Bundesrepublik eingeleitet würde; ganz im Gegenteil steht vor uns der Prozeß der weiteren Abgrenzung.“ Der sowjetische Parteichef Leonid Breschnew schrieb am 21. Oktober 1970 an Walter Ulbricht, die Politik der Regie- rung Brandt ziele „mit ihrem Akzent auf die sogenannte ‚Einheit‘ der deutschen Nation, dem ‚besonderen Charakter‘ der Beziehungen zwischen der DDR und der BRD“ nach wie vor darauf, „die gesellschaftlichen und ökonomischen Grundfesten der DDR zu er- schüttern. Der prinzipielle Kurs der SED auf eine konsequente Abgrenzung der sozia- listischen Deutschen Demokratischen Republik vom imperialistischen Westdeutschland war und bleibt die wirksamste Antwort auf die nationalistischen und antikommunisti- schen Tendenzen in der Politik der BRD.“18 Breschnew hielt die Lösung der nationalen Frage durch die DDR für einen entscheidenden Schritt der Abgrenzung gegenüber Westdeutschland. Nach dem Abschluss des Grundlagenvertrages zwischen beiden deutschen Staaten reagierte die KPdSU-Führung auf jeden Fortschritt in den inner- deutschen Beziehungen mit verstärkten Abgrenzungsforderungen an die Adresse der SED. Dieser sowjetische Druck hatte u. a. die Erhöhung des Zwangsumtausches und die Geraer Forderungen im Jahr 1980 zur Folge sowie die Absage eines für Septem- ber 1984 vorgesehenen Arbeitsbesuches von SED-Generalsekretär Honecker in der Bundesrepublik. Trotz Zweistaatlichkeit, Blockbindung, Bau der Berliner Mauer und Abgrenzungspolitik blieben die beiden deutschen Staaten über alle Jahre durch ein enges Beziehungsgeflecht auf menschlicher und institutioneller Ebene miteinander

18 Breschnew, Leonid: Schreiben vom 21. Oktober 1970 an Walter Ulbricht, Betr. zusätz- liche Überlegungen zu den Fragen, die während der Konsultationen im August erörtert wurden. SAPMO-BArch, IPA, vorl. SED 41656, Bestand Büro Honecker.

134 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland verbunden. Vor allem die freundschaftlichen und familiären Bindungen zwischen den Bürgern und die gemeinsame Kultur erhielten das Fundament der nationalen Einheit. Alle Versuche der SED, die menschlichen Bindungen zwischen Ost- und Westdeutschen zu unterbrechen, sind letztendlich gescheitert. Ein Indikator hier- für waren die Besucherströme in beide Richtungen aufgrund der Passierscheinver- einbarungen. Seit November 1964 durften Rentner aus der DDR ihre Verwandten in der Bundesrepublik einmal im Jahr besuchen. Von dieser Möglichkeit machten zwischen 1965 und 1985 jährlich 1,2 bis 1,5 Millionen DDR-Bürger Gebrauch. Im Vorfeld des Honecker-Besuches 1987 gewährte die DDR-Regierung Rentnern und Bürgern unter sechzig Jahren erhebliche Reiseerleichterungen. Das führte zu 3,8 Mill. Rentnerreisen (Mehrfachbesuche waren nun möglich) und zu 1,2 Mill. Besu- chen in dringenden Familienangelegenheiten von DDR-Bürgern unterhalb des Ren- tenalters. Im Jahr 1987 stieg die Zahl der Rentnerreisen auf 6,7 Mill. Die Besuche in dringenden Familienangelegenheiten lagen bei 1,1 Mill. Vom Mauerbau 1961 bis zu den umfassenden vertraglichen Regelungen im Jahr 1973 bewegte sich die Zahl der westdeutschen DDR-Besucher zwischen 1,4 und 1,8 Mill. pro Jahr, danach lag sie einschließlich West-Berlins zwischen 4,8 und 6,2 Mill. jährlich. Die Zahl der Besu- che, die West-Berliner dem Ostteil ihrer Stadt und der DDR abstatteten, summierte sich von 1972 bis 1989 auf ca. 40 Millionen. Die zweite Säule der Innerdeutschen Beziehungen bildete der Handel, der seit 1951 vertraglich geregelt war. Der Sonderstatus des innerdeutschen Geschäftsverkehrs wurde 1957 im Rahmen der EWG-Gründung durch ein Zusatzprotokoll in die Rö- mischen Verträge einbezogen. Die Wirtschafts- und Finanzbeziehungen weiteten sich nach dem Abschluss des Viermächte-Abkommens über Berlin, des Transitab- kommens und des Grundlagenvertrages zu Beginn der siebziger Jahre ebenso rasch aus wie die nichtkommerziellen öffentlichen und privaten Transferleistungen. In den achtziger Jahren geriet die DDR aufgrund der innerdeutschen Wirtschafts- und Finanzverflechtungen gegenüber der Bundesrepublik in wachsende Abhängigkeit. Zwei Milliardenkredite westdeutscher Bankenkonsortien, für welche die Bundesre- gierung bürgte, bewahrten die DDR vor der Zahlungsunfähigkeit auf dem internati- onalen Kreditmarkt. Als Gegenleistung für die Ausreichung dieser Kredite und an- derer Finanzhilfen wurden die Selbstschussautomaten und die Bodenminen an der innerdeutschen Grenze entfernt. Der 1980 zur Drosselung des Besucherverkehrs auf 25,- DM erhöhte Mindestumtausch für Kinder bis 14 Jahre wurde aufgehoben und für Rentner auf 15,- DM gesenkt. Die DDR-Regierung erhöhte die Aufenthaltsdauer für westdeutsche Besucher von vier auf sechs Wochen und führte weitere Erleichte- rungen beim „Kleinen Grenzverkehr“ ein. Als Gegenleistung für überhöhte westdeut- sche Zahlungen im Post- und Paketverkehr erweiterte die DDR die Zahl der direk- ten deutsch-deutschen Telefonverbindungen. 1.106 von 1.500 Ortsnetzen der DDR

Dis | kurs 135 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 waren 1986 durch Selbstwahl in den innerdeutschen Telefonverkehr einbezogen. Die zahlreichen Transferzahlungen, von denen die DDR profitierte, summierten sich bis 1989 auf insgesamt 21 Mrd. DM; darunter befanden sich die Transitpauschale mit 7,8 Mrd., der private Mindestumtausch mit 4,5 Mrd. und die 1964 vom Gesamtdeut- schen Ministerium unter Rainer Barzel eingeleiteten Freikäufe politischer Häftlin- ge (Häftlingsfreikauf) mit 3,4 Mrd. DM. Weitere Bestandteile der innerdeutschen Beziehungen waren der vertraglich geregelte Post- und Fernmeldeverkehr, Wissen- schafts-, Sport- und Kulturbeziehungen (Kulturabkommen) sowie die Verbindungen zwischen Kirchen und Glaubensgemeinschaften. Die eigentlichen Schaltstellen der deutsch-deutschen Beziehungen waren auf Seiten der DDR das Politbüro der SED und in den siebziger und achtziger Jahren dessen spezielle Arbeitsgruppe für die Beziehungen zur Bundesrepublik. In dieser Arbeits- gruppe, als deren Sekretär Alexander Schalck eine Schlüsselfunktion einnahm, wur- den alle wesentlichen Entscheidungen des Politbüros bzw. des SED-Generalsekretärs zu den innerdeutschen Beziehungen vorbereitet. Die Arbeitsgruppe war für sämtli- che Grundsatzfragen des innerdeutschen Handels, der Verkehrs- und Kulturbezie- hungen, des Tourismus und Besucherverkehrs zuständig. Durch vertragliche Rege- lungen in den achtziger Jahren konnten die innerdeutschen Beziehungen auf vielen Gebieten ausgeweitet und abgebrochene Verbindungen wieder hergestellt werden. Von besonderer Bedeutung waren dabei vertragliche Regelungen der Wissenschafts- Sport- und Kulturkontakte, aber auch Städtepartnerschaften. Die SED lehnte Partnerschaften zwischen Gemeinden der beiden deutschen Staa- ten bis 1985 ab, obgleich DDR-Städte seit 1960 dem „Weltbund der Partnerstädte“ angehörten. Als Voraussetzung für die Aufnahme von Städtepartnerschaften mit westdeutschen Städten verlangte die SED-Führung von der Bundesrepublik die völ- kerrechtliche Anerkennung der DDR. Zahlreiche Städte der Bundesrepublik hatten sich seit den fünfziger Jahren auf kommunaler Ebene um Partnerschaften mit DDR- Städten bemüht. 1986 lagen über 300 entsprechende Partnerschaftswünsche vor. Auf Bitte des saarländischen Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine (SPD) stimmte das SED-Politbüro am 19. November 1985 der ersten deutsch-deutschen Städtepart- nerschaft zwischen Eisenhüttenstadt und Saarlouis zu. Sie wurde am 19. September 1986 in Saarlouis und am 6. Oktober 1986 in Eisenhüttenstadt vertraglich besiegelt. Bis zum Mauerfall am 9. November 1989 genehmigte das ZK-Sekretariat der SED insgesamt 62 Städtepartnerschaften. Von Seiten der SED wurden die Partnerschafts- beziehungen zentral gesteuert und möglichst auf Kontakte unter kommunalen Funk- tionsträgern beschränkt, während die westdeutschen Städte sich im Rahmen der Partnerschaftsbeziehungen um die Einbeziehung örtlicher Vereine und den Ausbau der menschlichen Beziehungen zwischen Ost- und Westdeutschen bemühten.

136 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland

Innerdeutsche Parteibeziehungen in den siebziger und achtziger Jahren Neben den zwischenstaatlichen Beziehungen zur jeweiligen Bundesregierung unter- hielt die SED im Rahmen ihrer Westpolitik ein weit gespanntes Netz von informellen Kontakten zu Bundes- und Landespolitikern aller Parteien der Bundesrepublik. Her- bert Häber, ZK-Abteilungsleiter für die Westpolitik der SED, war zehn Jahre – von 1975 bis 1985 – in Westdeutschland ein gefragter Mann. Bedeutende Politiker und solche, die es werden wollten, suchten seine Nähe, wann immer er in Bonn und den verschiedenen Landeshauptstädten weilte. Häber galt als Erich Honeckers Ohr.19 1984 wurde er Politbüromitglied, im November 1985 verschwand er sang- und klanglos von der Bildfläche und landete in der Psychiatrie. Die KPdSU-Führung hatte im August 1984 Erich Honecker gezwungen, seinen geplanten Besuch in der Bundesrepublik abzusagen. Häber, der die Westreise des SED-Chefs vorbereitet hat- te, musste ausbaden, was Moskau an der mit westdeutschen Milliardenkrediten er- kauften „Verständigungsbereitschaft“ der SED-Führung missfiel. Die spektakulärsten Resultate der vertraulichen deutschlandpolitischen Kanalarbeit waren die 1983 und 1984 zwischen DDR-Staatssekretär Alexander Schalck-Golodkowski und dem bay- erischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß ausgehandelten Milliardenkredite sowie das am 27. August 1987 veröffentlichte SED-SPD-Grundsatzpapier über den „Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“. Innerhalb des Machtzentrums der SED existierten in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre zwei Vorstellungen von der Arbeit mit dem Westen: prioritäre Herstellung von Gemeinsamkeiten mit der SPD sowie pragmatische Zusammenarbeit mit der CDU- geführten Bundesregierung. Dabei versuchten der „Braintrust“ um Hermann Axen einerseits und der Wirtschaftsapparat um Günter Mittag und Alexander Schalck andererseits kontroverse Konzeptionen durchzusetzen. In diesem Zusammenhang wurden auf Initiative Hermann Axens bereits die Analysen erarbeitet, die „SED-Re- former“ 1989/90 als Fundus der „neuen“ SED/PDS-Theorie aus der Tasche gezogen haben. Der „Axen-Apparat“ betrieb die Orientierung auf einen Regierungswechsel in der Bundes­republik, um mit einer SPD-geführten Bundesregierung von der „Sicherheits- partnerschaft“ zu „gemeinsamem Handeln“ in Grundfragen der Deutschlandpolitik zu gelangen, sprich zur vollen völkerrechtlichen Anerkennung der DDR. Bei der Liquidierung der „Lebenslüge“ von der Wiedervereinigung. Aus dieser Perspektive kam dem gemeinsamen SED-SPD-Papier, „Der Streit der Ideologien und die gemein- same Sicherheit“, besondere Bedeutung zu. In theoreti­schen Grundsatzpapieren wur-

19 Vgl. Nakath, Detlef / Stephan, Gerd-Rüdiger, Gerd-Rüdiger (Hrsg.): Die Häber-Proto- kolle. Schlaglichter der SED-Westpolitik 1973–1985. Berlin 1999.

Dis | kurs 137 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 de in diesem Zusammenhang die prinzipielle Friedensfähigkeit des westlichen Ge- sellschaftsmodells als möglich bezeichnet und damit eine Revision der Lenin­schen Imperialismus-Theorie durch „SED-Reformer“ vollzogen.20 Dem gegenüber setzte der „Mittag-Schalck-Apparat“ auf eine vertraglich geregelte Zusammenarbeit mit der unionsgeführten Bundesregierung. In den Augen dieser einflussreichen Gruppe in der Partei- und Staatsführung konnte nur ein rascher Ausbau der volkswirtschaftlichen Kooperation zum gegenseitigen Nutzen die DDR vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch retten. Die Mittag-Schalck-Gruppe trieb durch Schaffung vollendeter Tatsachen die Westpolitik mit den Regierungsparteien der Bundesrepublik voran und suchte unter dem Konzept der „Verantwortungsge- meinschaft“ die Anti-CDU/CSU-Positionen in der SED-Führung zurückzudrängen.­ 21 Bis zum Ende des SED-Regimes konnte sich keine der beiden Optionen durchsetzen, obwohl Erich Honecker in den achtziger Jahren zunehmend unter dem Druck der Realitäten keine andere Wahl hatte, als der Mittag-Schalck-Gruppe weitgehenden Manövrierspielraum zu gewähren. Das galt insbesondere für die Sonderbeziehungen Alexander Schalcks zu Franz Josef Strauß, die der DDR zwei Milliardenkredite und andere finanzielle Leistungen durch die Bundesrepublik einbrachten. Als Gegen- leistung erreichte der bayerische Ministerpräsident humanitäre Zugeständnisse des SED-Regimes und Erleichterungen im gegenseitigen Besucherverkehr. Ungeachtet der unterschiedlichen Positionen gegenüber dem SED-Regime nutzten die meisten westdeutschen Politiker ihre Gespräche mit SED-Vertretern auch zur konkreten Lösung humanitärer Fragen. Eine genaue Statistik der von bundesdeut- schen Politikern übergebenen Bitten um die Regelung humanitärer Anliegen führte

20 Vgl. das im Auftrag Hermann Axens von einem Autorenkollektiv ausgearbeitete Stra- tegiepapier: „Der Kampf der Arbeiterbewegung und des Sozialismus für Frieden und friedliche Koexistenz. Theoretische Grundlagen, historische Erfahrungen und aktuelle Erfordernisse“. In diesem Papier wird u. a. die Möglichkeit des „Übergangs zu einer dauerhaft friedensfähigen Variante des staatsmonopolistischen Kapitalismus“ erörtert. Dem Autorenkollektiv gehörten u. a. an: Harald Neubert, Max Schmidt und Dieter Klein. SAPMO-BArch, DY 30/2/2035/14, Büro Hermann Axen. 21 So wertete Alexander Schalck in einem Schreiben an Günter Mittag im August 1988 eine kritische Stellungnahme, die der SPD-Obmann im Bundestagsauschuss für innerdeut- sche Beziehungen, Hans Büchler, zur Neuregelung des Genex-Geschenkdienstes bzw. des Einkaufs mit „Forum-Schecks“ abgegeben hatte, als „widersprüchlich und teilweise unrealistisch“. Büchler habe „eindeutig die Vorteile der neuen Vereinbarungen für die DDR in den Mittelpunkt gerückt“ und kritisiert, dass der Mindestumtausch nicht in die Verhandlungen einbezogen worden sei sowie eine höhere Verfügung der DDR-Bürger über Sperrkonten in der Bundesrepublik nicht durchgesetzt wurde. „In dieser Stellung- nahme wird sichtbar, daß gegenwärtig die BRD-Regierung auf dem Gebiet des nicht- kommerziellen Zahlungsverkehrs eine realistischere Politik als die SPD betreibt“, schrieb Schalck. Sein Schreiben, das Erich Honecker zur Kenntnisnahme erhielt, findet sich in SAPMO-BArch, DY 30/vorl. SED 41788/2, Büro Mittag.

138 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland das Ministerium für Staatssicherheit. Nach dieser Quelle wurden zwischen dem 1. Januar 1981 und dem 31. Dezember 1988 von westdeutschen Politikern 14.500 Ein- zelfälle mit humanitären Anliegen an ihre DDR-Gesprächspartner herangetragen. 57 Prozent davon wurden positiv entschieden. Die Stasi-Statistik für das zweite Halb- jahr 1985 registrierte folgende Zahlen der von westdeutschen Politikern vorgebrach- ten Bitten um Lösung humanitärer Anliegen: An der Spitze lag Franz Josef Strauß mit 514 Anträgen, gefolgt von Hans-Jochen Vogel mit 218 Anträgen, Johannes Rau stellte 129 Anträge, Willy Brandt 109, Wolfgang Schäuble 80, Hans-Dietrich Gen- scher 34, Oskar Lafontaine 9. SPD und SED Vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen mit KPD und SED verfolgte die SPD bis in die sechziger Jahre einen entschieden antikommunistischen Kurs. In freier Interpre- tation der veränderten amerikanischen Europapolitik leiteten Willy Brandt und Egon Bahr 1963 einen Wandel der SPD-Politik durch vorsichtige Annäherungsschritte an die SED ein. Egon Bahr schrieb 1965 seine Einschätzung zur deutschen Frage in ei- nem ausführlichen Manuskript nieder. Dieser Text wurde erst mehr als dreißig Jahre später im Rahmen einer Dissertation auszugsweise veröffentlicht.22 1965 waren diese Gedanken so brisant, dass sie Willy Brandt als Kanzlerkandidat der SPD beschädigt hätten. So blieben sie in einem unveröffentlichten Manuskript versteckt. Darin ging Egon Bahr von der Annahme aus, dass die Wiedervereinigung Deutschlands nicht ein einmaliger historischer Akt sein werde, sondern ein „geschichtlicher Prozess“. Um aktiv in diesem Prozess wirksam zu sein, müssten die Beziehungen zwischen den Menschen in Ost- und Westdeutschland aufrechterhalten und ausgebaut werden. „Wenn das Bewußtsein der Nation weiterleben soll, dann ist es zu einer der drängends- ten Aufgaben geworden, neue menschliche Bindungen und Verbindungen zu schaffen.“ Als eine Gefahr der entspannungspolitischen Grundorientierung sah es Egon Bahr damals an, „daß man statt einer Politik der Entspannung eine Entspannung ohne Poli- tik macht, daß man also sowjetische Wünsche erfüllt, ohne einen Gegenwert dafür zu bekommen“. In diesem Manuskript wurde von Bahr auch formuliert, dass in einem gesamteuropä- ischen Sicherheitssystem „der Schlüssel zur deutschen Frage“ liegen werde. Befürch- tungen hegte Egon Bahr, falls die europäische Integration eine rein westeuropäische würde, die, wenn sie erst einmal weit vorangeschritten sei, eine deutsche Wieder- vereinigung „nur noch als Anschluß denkbar“ mache oder als „Abfallprodukt des An- schlusses auch anderer osteuropäischer Staaten an diese Gemeinschaft“. Es gehöre zu

22 Vgl. Vogtmeier, Andreas: Egon Bahr und die deutsche Frage. Zur Entwicklung der sozialdemokratischen Ost- und Deutschlandpolitik vom Kriegsende bis zur Vereinigung. Bonn 1996, S. 80 ff.

Dis | kurs 139 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 viel Phantasie dazu, schrieb Bahr 1965, „um eine derartige Möglichkeit noch in den Bereich politischer Überlegungen zu ziehen“. Zugespitzt meinte er: „Die Fortsetzung der Integration verbaut den Weg zu Einheit“. Die Wiedervereinigung hatte damals für Egon Bahr Vorrang vor der politischen Integration Westeuropas. In einigem erhielt Bahr von der Geschichte Recht. Seine These allerdings zur Wir- kung der europäischen Integration wurde durch einen umgekehrt verlaufenen Pro- zess falsifiziert. Gerade der Fortgang der europäischen Integration übte seit Mitte der achtziger Jahre auf Osteuropa eine Sogwirkung aus. Niemand – auch nicht die Sowjetunion unter Gorbatschow – wollte draußen vor den Türen des europäischen Hauses bleiben. Schon in den siebziger Jahren wurden von Seiten der SPD die Fühler zu offiziellen Parteibeziehungen ausgestreckt. Erich Honecker informierte 1979 das Mitglied des KPdSU-Politbüros Boris Ponomarjow, dass Willy Brandt vor einiger Zeit offiziel- le Parteibeziehungen vorgeschlagen habe. „Jetzt stellen Ehmke und Bahr die gleiche Frage. Die DDR strebt nach normalen Beziehungen zur BRD und es ist gut bekannt, wodurch diese Beziehungen immer wieder belastet werden. Aber die Beziehungen mit der SPD wollen wir nicht herstellen.“23 Man werde Brandt mitteilen, „daß unseres Er- achtens der Zeitpunkt für die Aufnahme von Beziehungen noch verfrüht wäre“. Der richtige Zeitpunkt aber war erreicht, nachdem die SPD aus der Bundesregierung ausgeschieden war und Helmut Schmidts transatlantisches Konzept in der SPD keine Mehrheit mehr gefunden hatte. „Was die Parteibeziehungen anbelangt“, sagte SPD-Präsidiumsmitglied Hans-Jochen Vogel anfangs Dezember 1982 zu dem SED- Politbüromitglied Joachim Herrmann, „könne man jetzt, wo die SPD keine staatliche Verantwortung trage, einen unmittelbaren Kontakt herstellen“.24 Zu den vielen westdeutschen Ministerpräsidenten, die in den achtziger Jahren un- bedingt mit Erich Honecker zusammentreffen wollten, gehörte auch Johannes Rau. Zunächst musste sich der nordrhein-westfälische Ministerpräsident aber mit dem Politbüromitglied Joachim Herrmann begnügen, der ihn am 11. November 1983 im Gebäude des SED-Zentralkomitees empfing. Als Herrmann für den Fall der Umset- zung des NATO-Nachrüstungsbeschlusses durch die Bundesrepublik mit unverzüg- lichen Gegenmaßnahmen der DDR drohte, antwortete Rau, er sei „bekanntlich über

23 Information über das Gespräch des Genossen Erich Honecker, Generalsekretär des ZK der SED, mit dem Kandidaten des Politbüros und Sekretär des ZK der KPdSU, Genossen B. N. Ponomarjow, am 26. Januar 1979, SAPMO-BArch, IPA, DY 30, J IV/856, Bestand Erich Honecker. 24 Seidel, Karl, Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR: Vermerk über das Gespräch zwischen dem Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK der SED, Genossen Joachim Herrmann, mit dem Mitglied des Präsidiums der SPD, Dr. Hans-Jochen Vogel, am 9. Dezember 1982 im Hause des ZK, SAPMO-BArch, vorl. SED 37086/2.

140 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland die Frage der Wiederbewaffnung der BRD in die Politik gekommen. Er komme von der Gesamtdeutschen Volkspartei Heinemanns, er habe sogar seine Enkelin geheiratet. Er sei auch jetzt in allen Fragen der Friedenssicherung sehr engagiert. Dieses Engagement sei für ihn ungebrochen. Er müsse hier nicht erklären, wie er zur ‚Nachrüstung‘ und zum Doppelbeschluß stehe.“25 Das kam damals gut an in der Hauptstadt der DDR, weswegen Erich Honecker sich einiges von Johannes Rau erwartete, als er ihn drei Jahre später schon als den „Bun- deskanzler von morgen“ begrüßte. Als Wahlhilfe für Raus Kanzlerkandidatur stoppte die SED-Führung im September 1986 den Zustrom von Asylbewerbern, die via Flug- hafen Berlin-Schönefeld über West-Berlin in die Bundesrepublik einreisten. Egon Bahr, der als fliegender Bote für Rau die Angelegenheit ausgehandelt hatte, versprach in Raus Namen im Falle eines SPD-Wahlsieges als Gegenleistung die Respektierung der DDR-Staatsbürgerschaft. Rau durfte dafür den Asylbewerberstopp vor der west- deutschen Presse bekannt geben.26 Soweit die Quellen es offenbaren, hatte der Dialog der beiden linken Staatsparteien viele Väter und eine lange Vorgeschichte. Die sieben Gesprächsrunden von Partei- leuten aus der SPD-Grundwertekommission und der SED-Akademie schufen im Zusammenhang der Annäherung durch Wandel auf beiden Seiten freilich eine neue Qualität, woran sich manche der Beteiligten nur ungern erinnern möchten. So ver- suchte Erhard Eppler, bald nachdem seine früheren Dialogpartner in die politische Bedeutungslosigkeit abgestürzt waren, die überbordende Betonung des Friedenswil- lens im gemeinsamen Papier schlicht als „Friedenslyrik“ abzutun, die man der SED- Seite zugestanden habe. Das gemeinsame Misstrauen gegen die Politik der Vereinig- ten Staaten war die eigentliche Folie, vor der das Ideologiepapier in den achtziger Jahren entstanden ist. Ob es sich um ein SED-SPD-Papier oder um ein SPD-SED-Papier handelte, ist bis heute unter den Beteiligten umstritten. Die SED hatte mehr Mitglieder als die SPD und wollte deswegen zuerst genannt werden. Unterschiedliche Darstellungen exis- tieren heute auch über alle möglichen Absprachen, die seinerzeit hinter den Kulissen getroffen wurden. Verbrieft ist freilich der offizielle Text des Dokuments über den

25 Seidel, Karl, Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR: Vermerk über das Gespräch zwischen Genossen Joachim Herrmann, Mitglied des Politbüros und Sektretär des ZK der SED, und Johannes Rau, Ministerpräsident des BRD-Bundeslandes Nordrhein-Westfalen und stellvertretender SPD-Vorsitzender, am 11. November 1983, SAPMO-BArch, DY 30, IV 2/2037/98. 26 Vgl. ausführlich hierzu Staadt, Jochen: Versuche der Einflußnahme der SED auf die po- litischen Parteien der Bundesrepublik nach dem Mauerbau. In: Materialien der Enquete- Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutsch- land“, 12. Wahlperiode, hrsg. Vom Deutschen Bundestag, Bd. V/3. Baden-Baden 1995, S. 2431 ff.

Dis | kurs 141 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009

„Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“. Mit dem Manifest beider Par- teien, das am 27. August 1987 auf Pressekonferenzen in Bonn und Ost-Berlin ins Licht der Öffentlichkeit gerückt wurde, schlossen SPD und SED das politische Som- merloch, das der gescheiterten Kanzlerkandidatur von Johannes Rau gefolgt war. Die sensationelle Kernpassage der SPD-SED-Deklaration ist auch heute noch denkwür- dig. Beide deutsche Staaten sollten sich, so der Wortlaut, „auf einen langen Zeitraum einrichten“, in dem sie „nebeneinander bestehen und miteinander auskommen müssen. Keine Seite darf der anderen die Existenzberechtigung absprechen. Unsere Hoffnung kann sich nicht darauf richten, daß ein System das andere abschafft. Sie richten sich darauf, daß beide Systeme reformfähig sind und der Wettbewerb der Systeme den Wil- len zur Reform auf beiden Seiten stärkt.“27 Koexistenz und gemeinsame Sicherheit müssten deswegen „ohne zeitliche Begrenzung“ gelten. Am Wortlaut der gemeinsamen Grundsatzerklärung hatten Funktionäre der Akade- mie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED und Mitglieder der Grundwerte-Kommission beim Parteivorstand der SPD lange gefeilt. Die Fe- derführung lag auf Seiten des SPD-Vorstandes bei Erhard Eppler und für das SED- Zentralkomitee bei Otto Reinhold. Im Februar 1984 trafen sich die Grundwerte- und SED-Ideologen erstmals in Wendisch-Rietz am Scharmützelsee. Zu wirklichen Scharmützeln kam es dort freilich nicht. Einem der SED-Teilnehmer, Erich Hahn vom Institut für marxistisch-leninistische Philosophie, blieb das erste Treffen zum Thema„Probleme der Arbeit und des wissenschaftlich-technischen Fortschritts“ in selt- samer Erinnerung. Während er und seine Leute sich bemüht hätten, „die Politik der SED auf wissenschaftlich-technischem und ökonomischem Gebiet darzustellen, warfen die Vertreter der SPD uns vor, dabei nicht genügend sozialistisch zu verfahren“.28 Am 12. und 13. März 1987 fand im Bonner Erich-Ollenhauer-Haus eine Tagung zum Thema „Erben Deutscher Geschichte – Bundesrepublik und DDR“ statt. Sie stand im Kontext der seinerzeit laufenden Gespräche zwischen der Grundwertekommission des SPD-Vorstandes und der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED. Unmittelbar nach der Begrüßungsansprache des SPD-Vorsitzenden Willy Brandt sprach auf dem Historikertreffen im Erich-Ollenhauer-Haus Jürgen Kocka, Mitglied der Historischen Kommission beim Parteivorstand der SPD, über „Prin- zipielle Unterschiede – gemeinsame Probleme“. Der Historiker plädierte für „‚joint ventures‘ im Forschungsbereich“ und erklärte: „Die Historiker in der Bundesrepublik

27 Grundwertekommission der SED, Akademie der Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED: Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit, in: Reißig, Rolf: Dialog durch die Mauer. Die umstrittene Annäherung von SPD und SED. Frankfurt/Main 2002, S. 394 ff. 28 Hahn, Erich: SED und SPD. Ein Dialog. Ideologie-Gespräche zwischen 1984 und 1989. Berlin 2002, S. 18.

142 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland und in der DDR haben heute mehr gemeinsam als vor zehn oder zwanzig Jahren. In vielen Einzelbereichen der empirischen Forschung verfolgt man ähnliche Fragestellun- gen, benutzt man gleiche Methoden und lernt voneinander.“29 Als Zeitzeuge konnte sich Jürgen Kocka später an diese Begegnung offenbar nicht mehr erinnern. Im Jahre 1993 erklärte er: „Unsere Kontakte mit den DDR-Historikern waren vor 1988/89 fast Null“.30 Den im Auftrag der SED in der Bundesrepublik Kontakt suchenden Historikern fie- len jedenfalls solche westdeutschen Kollegen positiv auf, die sich kritisch zur Frage der Wiedervereinigung äußerten. Hier sah man Ansatzpunkte für eine zeitgeschicht- liche Kooperation, die für die DDR-Seite von eminenter politischer Bedeutung war. Das betraf natürlich gerade auch programmatische Überlegungen, wie sie auf dem SPD-SED-Historikertreffen von 1987 u. a. von Jürgen Kocka vorgetragen wurden: „Sicherlich folgt aus der gemeinsamen Geschichte allein nicht der Beweis, daß eine sys- temübergreifende deutsche Nation weiterhin besteht (obwohl man für deren Existenz durchaus Argumente beibringen kann). Und zur Begründung des Sinns einer staatli- chen Wiedervereinigung taugt die deutsche Geschichte erst recht nicht. Im Gegenteil: Die Existenz mehrerer Staatswesen bzw. Herrschaftsgebiete war der Normalfall deut- scher Geschichte, das Projekt der deutschen Nationalstaatsbildung in der Mitte Europas hatte von Anfang an große ‚Kosten‘ und mittelfristig katastrophale Folgen.“ 31 Es wurde aber im Verlauf dieser SED-SPD-Historikerkonferenz kein sonderlicher Wert darauf gelegt, Argumente für die Existenz einer systemübergreifenden deut- schen Nation beizubringen, und es wurde auch kein Wert darauf gelegt, neben der viel beschworenen „Verantwortungsgemeinschaft“ für den Frieden jener vorsichtig, aber immerhin doch gestellten Frage Jürgen Kockas nachzugehen, ob man „vielleicht […] auch gemeinsame Verantwortung gegenüber anderen Normen menschlichen Zu- sammenlebens wie Freiheit und Pluralismus, Demokratie und soziale Gerechtigkeit“32 habe. Die SED-Seite hatte an dieser Diskussion aus verständlichen Gründen kein gesteigertes Interesse und die sozialdemokratischen Historiker rückten diese Thema- tik gleichfalls nicht weiter in den Vordergrund. Am 11. September 1988 hielt Willy Brandt im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Berliner Lektionen“ einen Vortrag zum Thema „Deutsche Wegmarken“. Brandts Lektion über die deutsche Teilung laute- te, diese sei von einer „Doppel-Illusion der Nachkriegsgeschichte“ begleitet worden, nämlich erstens dem Wunschdenken, dass sich die Siegermächte in Potsdam oder

29 Vgl. Miller, Susanne / Ristau, Malte (Hrsg): Erben deutscher Geschichte, DDR-BRD: Protokolle einer historischen Begegnung. Reinbek 1988, S. 26. 30 Vgl. Streitgespräch mit Stefan Wolle, abgedr. in: Wochenpost, 28.10.1993. 31 Kocka, Jürgen: Prinzipielle Unterschiede – gemeinsame Probleme. In: Miller, Susanne / Ristau, Malte: Erben deutscher Geschichte, S. 32. 32 Ebd.

Dis | kurs 143 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 danach „verpflichtet hätten, unsere staatliche Einheit zu bewahren oder wiederherzu- stellen“ und zweitens der Vorstellung „vom Provisorium und von der kurzen Dauer der Teilung“. Brandt sagte, er wisse, „daß die Geschichte ein letztes Wort nicht kennt“. Das Grundgesetz enthalte in seiner Präambel die Verpflichtung „in freier Selbstbestim- mung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“. Später sei aus Einheit auch in höchstrichterlicher Interpretation Wiedervereinigung geworden. Mit der Theorie vom Fortbestand des Deutschen Reiches – Carlo Schmid habe von der „gesamtdeut- schen Hoheitsgewalt in Westdeutschland“ gesprochen – „haben wir uns den Umgang mit der Problematik der deutschen Einheit gewiß nicht leichter gemacht. Durch den Kalten Krieg und dessen Nachwirkungen gefördert, wurde die ‚Wiedervereinigung‘ zu jener spezifischen Lebenslüge der zweiten Republik.“ Genau ein Jahr und zwei Mo- nate später korrigierte sich Brandt mit den Worten: „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört.“ Ein Zusammengehen mit der SED war damit ausdrücklich nicht gemeint. Als sich das Ende der SED-Diktatur abzeichnete, war die SPD deutschlandpolitisch handlungsunfähig. Hermann Axen legte dem SED-Politbüro im September 1989 noch einmal „Schlußfolgerungen zu aktuellen Entwicklungen in der SPD im Zusam- menhang mit der gegenwärtigen Anti-DDR-Kampagne“ vor. Egon Bahr, Henning Voscherau, Walter Momper hätten sich in widersprüchlicher Weise über die inne- re Entwicklung in der DDR geäußert, „jedoch vor einer offenen Destabilisierung der DDR und den damit verbundenen Gefahren für den Entspannungsprozeß in Europa“ gewarnt. „Auffallend ist, daß solche Politiker, wie Oskar Lafontaine, Björn Engholm, Gerhard Schröder, Karl-Heinz Hiersemann, Rudolf Scharping, sich bisher weitgehend zurückhalten.“ Vogel habe seine bisherige Position in der Frage der Respektierung der DDR-Staatsbürgerschaft verlassen und sei auf die Position der CDU/CSU über- gegangen.33 Ganz so war es nicht, obgleich Hans Jochen Vogel tatsächlich zu jenen gehörte, die den Prozess der Wiedervereinigung in der SPD positiv und nicht widerwillig beglei- tet haben. CDU/CSU und SED Im Januar 1983 informierte die Spionageabteilung des MfS Erich Honecker, Willy Stoph, Günter Schabowski und andere SED-Führer über jüngste Erkenntnisse aus Bonner SPD-Kreisen zur Einschätzung des neuen Bundeskanzlers. Helmut Kohl habe sich überraschend gut eingearbeitet und verhalte sich taktisch geschickt. Es zeige sich,

33 Axen, Hermann / Rettner, Gunter: Vorlage vom 8. September 1989 an das Politbüro des ZK der SED betr. Information und erste Schlußfolgerungen zu aktuellen Entwicklungen in der SPD im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Anti-DDR-Kampagne. SAPMO- BArch, IV 2/2035/81, Bestand Büro Hermann Axen.

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„daß er in Wirklichkeit bei weitem nicht so provinziell ist, wie in der Vergangenheit in Teilen der BRD-Öffentlichkeit angenommen wurde.“ Seine biedere Unverbindlichkeit und sein vordergründiger Optimismus kämen bei vielen Wählern in der BRD gut an. Das alles mache ihn für die SPD im Wahlkampf schwer angreifbar. Wenn er keinen Fehler begehe, sei sein Erfolg bei den Bundestagswahlen sehr wahrscheinlich. Kohl werde Kanzler bleiben. Aus Industriekreisen sei der SPD-Führung bedeutet worden, dass die CDU/CSU/FDP-Regierung bereits nach kurzer Zeit ein insgesamt günstiges Klima für die Wirtschaft geschaffen habe. Es sei damit zu rechnen, dass die FDP aus dem Bundestag ausscheide. Dann werde der Einfluss von Strauß steigen. „Wenn es Strauß gelingt, Außenminister und Vizekanzler zu werden, werde eine neue Ostpolitik spruchreif. Die realistischen Kräfte in der CDU wie Stoltenberg seien zu schwach, um sich gegen die Vertreter einer restriktiven Politik gegenüber dem sozialistischen Lager durchzusetzen. Die Union beabsichtige, die Ergebnisse der Reformpolitik seit 1969 so schnell wie möglich rückgängig zu machen und eine Umverteilung von unten nach oben in Gang zu setzen.“34 Einige Monate später, nachdem die CDU/CSU/FDP-Regierung durch eine Bundes- tagswahl im Amt bestätigt worden war, schwand bei den Stasi-Beobachtern die Furcht vor der Regierung Kohl. Der Bundeskanzler sprach Mitte der achtziger Jahre in einer Rede über die grundlegenden Pfeiler seiner Deutschlandpolitik und bezog sich da- bei, neben der im Grundgesetz der Bundesrepublik niedergelegten Wiedervereini- gungsklausel, auf die Ostverträge der Regierung Brandt samt Briefen zur deutschen Einheit, auf den Grundlagenvertrag zwischen beiden deutschen Staaten und auf die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes vom Juli 1973 und vom Juli 1975. Er zitierte sodann die am 9. Februar 1984 mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen das Votum der Grünen gefasste Resolution des deutschen Bundestages „Zum Bericht zur Lage der Nation und zur Deutschlandpolitik“: „Unser Land ist geteilt, aber die deutsche Nation besteht fort. Aus eigener Kraft können wir Deutschen den Zu- stand nicht ändern. Wir müssen ihn aber erträglicher und weniger gefährlich machen. Ändern wird er sich nur im Rahmen einer dauerhaften Friedensordnung in Europa. Es bleiben unsere Aufgaben‚auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt’. Der Deutsche Bundestag bekräftigt das dem deutschen Volk zustehende Recht auf friedliche Verwirklichung seines Selbstbestimmungsrechtes.“35

34 MfS, HV A: Äußerungen und Einschätzungen führender SPD-Politiker zu den Wahlvor- bereitungen in der BRD und zur aktuellen Situation in der SPD. BStU, ZA, MfS, HVA Nr. 20. 35 Der Text der Bundestagsentschließung findet sich in: Bundesministerium für innerdeut- sche Beziehungen (Hrsg.): Texte zur Deutschlandpolitik, Reihe III/Band 2 Hrsg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen. Sonnefeld 1985, S. 45.

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Ein Jahr nach der Veröffentlichung des gemeinsamen SED-SPD-Papiers kam es auch in der CDU zu Diskussionen über eine vorsichtige Neuorientierung in deutschland- politischen Fragen. Helmut Kohl musste sein gesamtes Gewicht auf die Waagschale legen, um 1988 im Vorfeld des Wiesbadener CDU-Parteitages eine Aufweichung der Grundsatzpositionen seiner Partei zu verhindern. Eine von Heiner Geisler geleitete Kommission hatte für den Parteitag einen Leitantrag vorbereitet, aus dem mehre- re Passagen wieder entfernt werden mussten, so die Formulierung, „die Lösung der deutschen Frage ist gegenwärtig nicht zu erreichen“, und der Vorschlag entsprechend einer der Geraer Forderungen Honeckers, offizielle Beziehungen zwischen Bundes- tag und DDR-Volkskammer aufzunehmen. Während CDU und CSU in programmatischer Hinsicht ihre Distanz zum SED-Re- gime wahrten, entwickelte sich in der „operativen Deutschlandpolitik“ ein vertrau- liches Beziehungsgeflecht zwischen einzelnen Politiker der Union und ihren SED- Verhandlungspartnern. Insbesondere Franz-Josef Strauß und Alexander Schalck hatten in jahrelangen Ge- heimverhandlungen ein stabiles Vertrauensverhältnis aufgebaut. Wie weitreichend sich diese beiden Pragmatiker seit 1983 miteinander verständigt hatten und welche Vorhaben sie am Ende realisieren wollten, geht aus einem Bericht Schalcks über eine Unterredung mit Strauß im Mai 1988 hervor. Schalck teilte seinem politischen Vorgesetzten, dem Politbüromitglied Günter Mittag, mit, er habe gegenüber Strauß einleitend die Verwirklichung der während des Besuches von Erich Honecker getrof- fenen Vereinbarungen hervorgehoben. Im Zusammenhang mit der Neufestsetzung der Transitpauschale müsse auch über die erheblich gewachsenen Valutaaufwendun- gen gesprochen werden, die der DDR durch die Ausdehnung des Besucherverkehrs in die Bundesrepublik entstünden. Schalck beziffert die anfallende Pauschalsumme für die Abwicklung des Transitverkehrs mit künftig jährlich 890 Millionen DM, bis- her 525 Millionen. Strauß sei auch über die laufenden Sondierungsgespräche über einen Ausbau der Elektrifizierung einer Eisenbahntransitstrecke in Kenntnis gesetzt worden. Zusammenfassend habe er gegenüber Strauß betont, dass die DDR kons- truktiv im Sinne des vereinbarten gemeinsamen Kommuniques zu der Einleitung einer neuen Etappe in den Beziehungen beitragen werde. Strauß habe „mit der Bitte um äußerste Vertraulichkeit“ über eine Strategiediskussi- on bezüglich der Politik gegenüber der DDR im Zehnerausschuss der CDU/CSU- Fraktion informiert. „Strauß stellte dazu fest, daß zwei politische Konzeptionen zur Diskussion stünden: • Die Politik der Konfrontation mit allen ökonomischen Konsequenzen: Wegfall des Swing, keine ‚EG-Beteiligung‘ mehr, Korrektur der ‚römischen Verträge‘, strenge Regelung über die Kreditausreichung unter Inkaufnahme aller sich dar-

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aus für die BRD und Berlin (West) ergebenden negativen Folgen. • Die Politik des Dialogs, des Aufeinanderzugehens, Fortsetzung der positiven all- seitigen Entwicklung der Zusammenarbeit in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Technik, Verkehr, Kultur und ein garantierter Reise- und Besucherverkehr, Einschränkungen des Niveauunterschiedes in Wirtschaft und Warenangebot, Abschluß von langfristigen Vereinbarungen über das ‚politisch Machbare‘. Das Gremium hat sich eindeutig für den zweiten Weg entschieden, weil es auch nach Auffassung von Strauß dazu keine Alternative gibt. Die BRD-Seite beobachtet, daß in einer Reihe von sozialistischen Ländern, darunter auch der DDR, die Verschuldung ansteigt, ohne sichtbare Anzeichen einer Erhöhung der Exporte, die zur Sicherung der Liquidität erforderlich wären.“ Strauß habe sich erinnert, dass er aus guten Grün- den seinerzeit für die Kreditgewährung an die DDR eingetreten sei. „Er war und ist nicht daran interessiert, daß durch eine Zuspitzung dieser Problematik Prozesse ins Rollen kommen, die für die weitere Entwicklung der Beziehungen zwischen der DDR und der BRD schädlich wären.“ Im Zusammenhang mit den von der DDR dargeleg- ten Vorstellungen über die Transitpauschale sei er mit Schäuble einig, dass hier eine für beide Seiten interessante Lösung gefunden werden könne. „Veröffentlichungen in der letzten Zeit, besonders in den USA, in denen Konzeptionen zur Abkoppelung der Mitgliedsstaaten des Warschauer Vertrages von der Sowjetunion durch gezielte politi- sche und ökonomische Maßnahmen entwickelt werden, finden nicht seine Unterstüt- zung. Sie sind nicht real und dürfen nicht Bestandteil einer ernsthaften Politik werden.“ Er habe sich nachdrücklich für eine friedliche Lösung aller anstehenden Probleme ausgesprochen. Im Wettstreit zwischen den Systemen müsse es der Geschichte vor- behalten bleiben, welches System nach 20 oder 30 Jahren gesiegt habe. Das sei auch der entscheidende Grund dafür, „daß er die Politik der KPdSU und der Sowjetunion unterstützt. Sollte es der Sowjetunion nicht gelingen, bis Ende dieses Jahrhunderts eine prinzipielle Veränderung der Wirtschaftsstruktur und Dynamik, die jetzt auf Kohle und Stahl aufgebaut ist, vorzunehmen und eine moderne Industriegesellschaft zu ge- stalten, so wird die Sowjetunion am Ende dieses Jahrhunderts keine Weltmacht mehr, sondern ein Staat zweiter Ordnung sein.“ 36 Schalck wusste, dass Strauß Recht hatte. Von einer Auflösung der Sowjetunion hat aber weder er noch Franz Josef Strauß damals zu träumen gewagt.

36 Schalck, Alexander: Information über ein Gespräch zwischen dem Ministerpräsidenten von Bayern und Vorsitzenden der CSU, F. J. Strauß, und Genossen Schalck am 5.5.1988. SAPMO-BArch, ZPA, Vorl. SED 42181, Bestand Büro Günter Mittag.

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SED-Einfluss auf die westdeutsche Innenpolitik Im Unterschied zu den westdeutschen Parteien, die im Zuge der Entspannungspo- litik ihre Ostbüros auflösten, blieb die SED über den gesamten Zeitraum der Zwei- staatlichkeit mit ihrem Interventionsapparat gesamtdeutsch wirksam. Ungeachtet ihrer Forderung nach „Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten“ verfügte die SED über vielfältige Einwirkungsmöglichkeiten auf die westdeutsche Innenpolitik. Organisatorische Träger hierfür waren u. a.: • die KPD und nach deren Verbot im Jahr 1956 die Deutsche Friedensunion (DFU), • die Deutsche Kommunistische Partei (DKP), 1968 zugelassen, • deren Vorfeldorganisationen, Publikationsorgane und Verlage sowie • ca. 20.000 Inoffizielle Mitarbeiter des DDR-Staatssicherheitsdienstes in der Bun- desrepublik, von denen einige sogar in politische Schlüsselpositionen eindran- gen. Die außerparlamentarische Protestbewegung der sechziger Jahre und vor allem die Friedensbewegung der frühen achtziger Jahre boten der SED-Westpolitik vielfältige Möglichkeiten zu wirkungsvollen Interventionen in der Bundesrepublik. Z. B. lan- cierte die Desinformationsabteilung des DDR-Staatssicherheitsdienstes Kampagnen gegen Bundespräsident Heinrich Lübke, um ihn auf der Grundlage präparierter Do- kumente als „KZ-Baumeister“ zu diskreditieren, gegen Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger, der zum einflussreichen NSDAP-Mitglied stilisiert wurde oder gegen Her- bert Wehner, Minister für Gesamtdeutsche Fragen in der CDU/CSU/SPD-Koalition von 1966 bis 1969, den falsche Zeugenaussagen über seine schwedischen Emigrati- onsjahre zum Gestapo-Kollaborateur machen sollten. Dennoch lag die SED-Propaganda in der NSDAP-Frage sachlich nicht ganz schief. Anlässlich der öffentlichen Präsentation des „Braunbuches“ über „Kriegs- und Nazi- verbrecher in der Bundesrepublik und Westberlin“ sagte das Politbüromitglied Albert Norden auf einer internationalen Pressekonferenz am 2. Juli 1965, der westdeutsche Staat trage „ein militärisches, ein imperialistisches, ein neonazistisches Gesicht“. 1.350 Blutrichter seien noch in der westdeutschen Justiz tätig. Die DDR habe die Namen übermittelt und die Verantwortung für 1.580 Todesurteile nachgewiesen. Sie seien nicht bestraft worden. In dem Braunbuch seien 1.800 Namen von schwer belasteten Kriegsverbrechern enthalten, die heute im westdeutschen Staat bzw. in der Wirtschaft an verantwortlichen Stellen beschäftigt seien. Darunter 21 Minister

148 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland und Staatssekretäre, 100 Generale und Admirale, 828 hohe Justizbeamte, 245 lei- tende Beamte des Auswärtigen Amtes und der Bonner Botschaften und Konsulate, 297 mittlere und hohe Beamte der Polizei und des Verfassungsschutzes.37 Leider traf, ein Teil der im „Braunbuch“ aufgeführten Fakten zu. Unbestreitbar waren tatsächlich in westdeutschen Institutionen zu dieser Zeit noch immer zahlreiche Personen be- schäftigt, die durch ihre nationalsozialistische Vergangenheit schwer belastet waren. Folgerichtig fielen auch deswegen die von Norden inspirierten SED-Kampagnen bei vielen jüngeren Menschen in Westdeutschland auf fruchtbaren Boden und führten neben berechtigter Kritik an der oft verhaltenen Auseinandersetzung mit Schuld und Verantwortung auf Seiten der Elterngeneration auch zu überschießenden Reaktio- nen bis hin zur Ablehnung des gesamten politischen Systems der Bundesrepublik. Auch in die Kampagnen gegen die Notstandsgesetze und den Axel Springer-Verlag mischten sich Gewährsleute der SED und des DDR-Staatssicherheitsdienstes erfolg- reich ein. Die Studentenbewegung im Westen genoss im Politbüro der SED seit 1967 eine kritische Wertschätzung. Walter Ulbricht hat dies auch verschiedentlich öffent- lich geäußert. Qua Amt war Albert Norden für diese Thematik zuständig. Er war der verantwortliche ZK-Sekretär für die Westarbeit und legte gegenüber Ulbricht großen Wert darauf, wie sehr seine Leute bei den westdeutschen Studentenunruhen die Fin- ger im Spiel hatten. „Mit recht hast Du“, schrieb Norden im August 1967 an Ulbricht, „in Deinem heutigen Telefonat die Frage der Westberliner Studenten angeschnitten. Tatsächlich stehen wir in sehr engem Kontakt mit ihnen, beraten sie, besonders was die Führung der sozialdemokratischen und sozialistischen Studenten betrifft, die ihre Aktionen mit uns abstimmen. Das gilt besonders für die Vorbereitung dessen, was nach Schluß der Semesterferien unternommen wird.“38 Am 16. April 1968 drängte Nordens Mitarbeiter Karl Wildenberger auf eine Entscheidung über finanzielle Hilfen für die West-Berliner APO. Norden möge ihm mitteilen, „inwieweit wir in der Lage sind, über unsere Genossen in Westberlin den ‚Solidaritätsfond der Freunde der außerparlamen- tarischen Opposition‘ zu stützen. Dieser Solidaritätsfond wird getragen vom SDS, vom Republikanischen Klub und von der FDJ Westberlin. Unsere Genossen schätzen, daß in Vorbereitung des 1. Mai 1968 und der bis dahin stattfindenden Aktionen eine Summe von ca. 20.000 Westmark erforderlich wäre. Selbstverständlich würde diese Summe in Raten auf das Konto des Solidaritätsfonds über Mittelsmänner eingezahlt werden. Mit Genossen Karl Raab habe ich bereits gesprochen. Er ist sofort bereit, die Mittel zur

37 Rede von Albert Norden auf der internationalen Pressekonferenz am 2. Juli 1965 in Berlin anlässlich der Übergabe des Braunbuches SAPMO-BArch, NY 4217/61, Bestand Albert Norden. 38 Norden, Albert: Schreiben an Walter Ulbricht vom 11. August 1967 betr. Einflußnahme auf Studentenbewegung und SDS, SAPMO-NArch, DY 30, IV A2/2028/139, Bestand Büro Norden.

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Verfügung zu stellen, wenn er von Dir die entsprechende Anweisung erhält.“39 Norden erteilte die Weisung und das Geld ging bei der APO via West-Berliner SED ein. Auf Anweisung des Ministers für Staatssicherheit, Erich Mielke, unterstützte die Stasi seit 1970 Terroristen aus der Bundesrepublik, indem sie ihnen die Ein- und Ausreise ermöglichte und logistische Hilfe gewährte. Erstmals reisten Mitglieder der Roten Armee Fraktion (RAF), die in einem palästinensischen Trainingslager eine Ausbildung an Waffen erhalten hatten, unter Mitnahme ihrer Handfeuerwaffen 1970 über den Ost-Berliner Flughafen Schönefeld nach West-Berlin. Verschiedene internationale Terrororganisationen nutzten die DDR als Transitland, Ruheraum und Ausbildungsbasis. 1980 bis 1983 unterwiesen Experten der „Arbeitsgruppe des Ministers für Sonderaufgaben“ RAF-Mitglieder im Umgang mit Handfeuerwaffen, Schnellfeuergewehren, Panzerfäusten und Sprengstoff. Seit 1982 versteckte das MfS zehn RAF-Aussteiger unter falscher Identität in der DDR. Der international gesuchte Terrorist „Carlos“ (Ilich Ramirez Sanchez) und Mitglieder seiner Gruppe hielten sich mehrfach in die DDR auf und arbeiteten mit dem MfS zusammen. Im Vorfeld des Bombenanschlages auf das „Maison de France“ in West-Berlin (ein Toter, 21 Verletz- te) erhielt das Mitglied der Carlos-Gruppe Johannes Weinrich auf Vermittlung der syrischen Botschaft den vom MfS beschlagnahmten Sprengstoff zurück, mit dem das Attentat am 25. August 1983 verübt wurde. Weinrich wurde 2001 von einem Ber- liner Gericht wegen des Bombenanschlags zu lebenslanger Haft und der Leiter der „Terrorabwehr“ des MfS, Helmut Voigt, als Beihelfer zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt. Ohne die Hilfe des Ministeriums für Staatssicherheit und das Hinterland DDR hätten die RAF und andere Terrorgruppen weit weniger gegen die westdeut- schen Sicherheitsorgane ausrichten können, als das bis 1989 der Fall war. In ihrer Propaganda gerierte sich die SED hingegen als Kraft des Friedens. In der westdeutschen Friedensbewegung bildeten die DKP und ihre Unterorganisationen mit dem „Krefelder Appell“ 1980 einen starken Flügel, der sich mit einigem Erfolg jeglicher Kritik an der sowjetischen Hochrüstung widersetzte und Kontakte zur un- abhängigen Friedensbewegung der DDR zu unterbinden suchte. Agenten der DDR- Staatssicherheit brachten 1982 die einflussreiche Gruppe „Generale für den Frieden“ zusammen und führten ihr jährlich 100.000,- DM aus dem Haushalt des MfS zu.40 Der nachhaltigste Erfolg für die DDR-Staatssicherheit war jedoch der Stimmenkauf beim konstruktiven Misstrauensvotum der CDU/CSU gegen Bundeskanzler Willy Brandt am 27. April 1972. Dem christdemokratischen Kanzlerkandidaten Rainer Barzel fehlten die beiden Stimmen der vom Staatssicherheitsdienst bestochenen CDU/CSU-Abgeordneten. Ausgezahlt haben sich die SED- und MfS-Interventionen

39 SAPMO-BArch, ZPA, IV A2/2028/20, Bestand Büro Norden. 40 Wolf, Markus: Spionagechef im geheimen Krieg. Erinnerungen. München 1997, S. 343.

150 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland in der Bundesrepublik am Ende allerdings nicht. Gegen das politische, wirtschaftli- che und kulturelle Erfolgsmodell einer demokratischen Gesellschaft blieb der „real- sozialistische“ Gegenentwurf DDR letztendlich ohne Chance. Die Ausstrahlungskraft des westlichen Gesellschaftsmodells trug vor allem ihre Früchte durch die millionen- fachen menschlichen Begegnungen zwischen Deutschen aus beiden Staaten sowie durch die Wirkung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in der DDR. Kommunizierende Röhren Der Himmel über Deutschland war nicht geteilt. Alle Störversuche der SED und des MfS gegen die mediale Nation der deutschen Radiohörer und Fernsehzuschauer blieben ohne Erfolg. Bei ARD und ZDF saßen auch die Ostdeutschen in der ers- ten Reihe. Fernseh- und Hörfunksender der Bundesrepublik trugen in den Jahren der staatlichen Teilung entscheidend zur Aufrechterhaltung der mentalen deutschen Einheit bei. Die Westorientierung einer Mehrheit von DDR-Bürgern blieb auch nach dem Mauerbau vor allem dank der Informations-, Unterhaltungs- und Konsuman- gebote der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten bestehen. Gleichsam als zweite Lebenswelt existierte eine oftmals idealisierte Bundesrepublik selbst in den Phan- tasien von jüngeren DDR-Bürgern, die nach dem Mauerbau aufgewachsen waren und keine Möglichkeit hatten, Westdeutschland zu besuchen. Ihr Bild des anderen Deutschland setzte sich aus den Alltagserzählungen im Familien- und Freundeskreis sowie der medialen Gegenwelt zusammen, die ihnen der westliche Hörfunk und das Fernsehen anboten. Die SED-Führung sah in den westdeutschen Hörfunk- und Fernsehsendungen, die in der DDR empfangen wurden, eine elementare Bedrohung der von ihr angestreb- ten weltanschaulichen Hegemonie. Der Staatssicherheitsdienst hatte den Auftrag, sowohl alle von westlichen Sendeanstalten ausgehenden Einflüsse auf die DDR-Be- völkerung zu bekämpfen, als auch im „Operationsgebiet“ gegen „Feindzentralen“ und „Feindpersonen“ in den Sendeanstalten der Bundesrepublik vorzugehen. Die SED und das MfS sahen in den Hörfunk- und Fernsehanstalten der ARD direkte Pro- pagandazentralen der Bundesregierung. Die Aufgabe dieser Medien bestand nach Auffassung von SED und MfS in der Verherrlichung des kapitalistischen Systems, in der Propagierung der westlichen Lebensweise sowie in der Beeinflussung von DDR- Bürgern gegen die sozialistische Ordnung. Für die Mehrheit der DDR-Bürger hin- gegen stellten die Westmedien eine Gegenöffentlichkeit zu den gleichgeschalteten DDR-Medien her. In den siebziger und achtziger Jahren erschwerte die westliche Be- richterstattung offene Repressionsmaßnahmen des Regimes gegen Dissidenten und Oppositionelle. Die Erklärungsmuster, mit denen sich SED und Stasi ihren Reim auf die westdeutsche Medienlandschaft machten, blieben im Prinzip von Anfang bis zum Ende des „Arbeiter- und Bauernstaates“ unverändert. In ihren Analysen über-

Dis | kurs 151 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 trugen die Medientheoretiker der SED die im eigenen Systemzusammenhang er- lebten Funktionsmechanismen der staatlichen Lenkung und Kontrolle schlicht und einfach auf das westliche System. Hörfunk- und Fernsehanstalten der Bundesrepu- blik waren demnach von den Machtzentren der „imperialistischen BRD“ gesteuerte Propagandaorgane, riesige Meinungsmanipulationsmaschinen, deren Aufgabe es war, das Bewusstsein „der Werktätigen“ zu vernebeln und sie an das kapitalistische System zu binden. Gegenüber der DDR-Bevölkerung verfolgten die westlichen Sen- der angeblich das Ziel, künstliche Widersprüche zur „Partei der Arbeiterklasse“ und ihrem sozialistischen Projekt zu erzeugen. Zudem sollten die „westliche Lebensweise“ propagiert und oppositionelle Regungen unter DDR-Bürgern mit einem „zurückge- bliebenen Bewusstsein“ gefördert werden. Mit dem Begriff der „politisch-ideologischen Diversion“ bezeichneten SED und MfS die Wirkung westlicher Medien in der DDR. Die „Funktion“ der „politisch-ideologi- schen Diversion“ und die Aufgabe, die den elektronischen Medien Westdeutschlands nach Auffassung des Staatssicherheitsdienstes in diesem Kontext zukam, bestand in den Augen des MfS „darin, daß der Gegner seine gesamte Feindtätigkeit darauf konzentriert, unsere Menschen aufzuhetzen, aufzuwiegeln und von den Positionen des Marxismus-Leninismus abzubringen, sie für seine Pläne reif zu machen.“ 41 Im Sep- tember 1961, einen Monat, nachdem die Westgrenze der DDR durch Sperranlagen und Schießbefehl unpassierbar gemacht worden war, versuchte das SED-Regime mit einer massiven Kampagne gegen Hörer westlicher Sendestationen vorzugehen. „In diesen Tagen waren 25.000 FDJ-Agitatoren im Einsatz, um mit jenen zu diskutieren, die die Gefährlichkeit der NATO-Politik und ihrer Sender noch nicht begriffen haben“, hieß es dazu in einem zeitgenössischen FDJ-Bericht. FDJler kletterten in zahlreichen Städten und Gemeinden auf die Dächer von Wohnhäusern, um die „Antennen in Richtung Sozialismus einzustellen“. Diese Aktion hatte den Sinn, „überall offen den Kampf gegen die Kanäle der psychologischen Kriegsführung aufzunehmen“.42 In den siebziger und achtziger Jahren nahm jedoch die Beliebtheit westlicher Ra- dio- und Fernsehsendungen unter den DDR-Bürgern stetig weiter zu. Im Auftrag des damals für die DDR-Medien verantwortlichen Politbüromitglieds Werner Lam- berz führte das Leipziger Jugendforschungsinstitut im Jahr 1976 eine Untersuchung über die Bewusstseinsbildung bei jungen DDR-Bürgern durch. Die Arbeitsgruppe,

41 MfS, HA XX: Schulungsmaterial aus dem Jahr 1960 zur Lektion „Die politisch-ideologi- sche Diversion - die gegenwärtige Hauptmethode des Gegners im Klassenkampf“, BStU, ZA, MfS, HA XX 6192. 42 Die stenographische Niederschrift dieses Rapports der FDJ-Führung findet sich in den Anlagen zum Protokoll Nr. 50/61 der außerordentlichen Sitzung des Politbüros des ZK am Montag, den 18. September 1961. SAPMO-BArch, DY/J IV 2/2/787, Bestand Politbüro des ZK.

152 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland der neben Lothar Bisky noch die DDR-Jugendforscher Hans-Georg Mehlhorn Kurt Starke und Peter Voß angehörten, ermittelte durch repräsentative Umfragen, dass die Eltern und andere Familienangehörige für 41 Prozent der Jugendlichen die ent- scheidenden Faktoren bei der politischen Urteilsfindung waren; es folgten die Lehrer und Meister mit 32 Prozent sowie Presse, Rundfunk und Fernsehen mit 21 Prozent. 68 Prozent der Jugendlichen gaben an, dass die Medien ihre politische Haltung mit beeinflussten, elf Prozent hielten sie für unbedeutend. Kirchliche Einflüsse hielten sechs Prozent für entscheidend, und immerhin 70 Prozent meinten, sie würden von den Kirchen mit beeinflusst, das heißt, die Kirchen übertrafen in dieser Hinsicht die Medien. Über den „Einfluß imperialistischer Sender“ stellte die Gruppe um Bisky fest, „54 Pro- zent der befragten Jugendlichen hören mehrmals wöchentlich imperialistische Rund- funksender, davon 21 Prozent täglich und nur 6 Prozent überhaupt nicht“. Mehrmals wöchentlich sahen 37 Prozent der Jugendlichen Westfernsehen, davon 13 Prozent täglich; 20 Prozent gaben an, sich keine Sendungen des Westfernsehens anzuschau- en. Die Untersuchung konstatierte eine stetige Zunahme der Jugendlichen, die seit 1971 Westfernsehen ansähen. Am beliebtesten waren unter den jungen DDR-Bür- gern westliche Unterhaltungssendungen. Die politischen Magazine wie „Report“, „Monitor“ und „Panorama“ erreichten 14 Prozent der Jugendlichen, „Kontraste“ kam auf zehn Prozent, erstaunliche 21 Prozent gaben an, sich immer oder ab und zu „Aus- landskorrespondentenberichte“ anzuschauen. Die Untersuchung kam zu dem Ergeb- nis, dass sich 47 Prozent der daran interessierten Jugendlichen über das politische Geschehen vorwiegend durch DDR-Sender informierten, 43 Prozent aber für ihre politische Meinungsbildung gleichermaßen West- und Ostprogramme nutzten. Die Autoren sahen insbesondere „eine Gefahr darin, daß über Unterhaltung, Filme, Musik, Fragen des ‚alltäglichen Lebens‘ usw. bürgerliche Ideologie und Lebensweise infiltriert wird bzw. Reste kleinbürgerlichen Denkens wirksam verstärkt werden. Dieser Einfluß- bereich ist eventuell sogar wirksamer, als der der unmittelbaren politisch-ideologischen Einflußnahme. Nach wie vor zeigt sich, daß die Entwicklung einer festen sozialistischen ideologischen Position die wichtigste Bedingung im Kampf gegen Einflüsse bürgerlicher Ideologie und Lebensweise ist.“ 43 Eine repräsentative Untersuchung, die 1987 im Auftrag des Zentralrates der FDJ an- gestellt wurde, kam zu Ergebnissen, die für die SED- und MfS-kontrollierten DDR- Medien noch negativer ausfielen als die Leipziger Umfragen der späten siebziger Jahre. Die Umfrageergebnisse von 1987 wurden damals freilich ebenso wie zuvor

43 Bisky, Lothar / Mehlhorn, Hans-Georg u.a., Institut für Jugendforschung, Leipzig: Ausgewählte Ergebnisse der Jugendforschung. Zuarbeit für Genossen Werner Lamberz vom September 1976. SAPMO-BArch, Bibliothek, FDJ/B 6318.

Dis | kurs 153 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 jene aus den Siebzigern nur dem engsten Kreis der Spitzenfunktionäre des Jugend- verbandes und der SED sowie den zuständigen MfS-Einheiten zugänglich gemacht. „In der Nutzung der Sender der DDR durch Jugendliche zeigt sich eine stark rückläufige Entwicklung“, stellten die Verfasser fest. Im Vergleich zu 1985 hörten 1987 statt 48 Prozent nur noch 29 Prozent der Lehrlinge täglich den DDR-Rundfunk, unter Stu- denten hatte sich die Zahl der DDR-Radiohörer in diesem Zeitraum von 64 Prozent auf 32 Prozent halbiert, und unter jungen Arbeitern war sie von 41 Prozent im Jahr 1985 innerhalb von zwei Jahren auf 35 Prozent gesunken. „Diese in allen sozialen Schichten zu beobachtende Entwicklung vollzog sich zugunsten des Rundfunks der BRD, ist also nicht als Zunahme der Radioabstinenz aufzufassen“, hieß es weiter in der Hörerstudie. „Mindestens ein Drittel der Jugendlichen unseres Landes konnte 1985 als ständiger Hörer der Jugendsendungen des DDR-Rundfunks bezeichnet werden, wo- bei allerdings der Anteil der täglichen Hörer gering ist. Ein bemerkenswert großer Teil nimmt Jugendsendungen unserer Station indessen überhaupt nicht zur Kenntnis.“44 Eine nach bestimmten DDR-Sendungen ausgerichtete Zielgruppenumfrage brachte ein noch niederschmetterndes Ergebnis: „Hörten noch 1982 z. B. 24 Prozent der Lehr- linge täglich eine der erfragten Sendungen, so sind es 1985 nur noch 6 Prozent bzw. 3 Prozent. D.h. während 1982 noch jeder vierte Lehrling unsere Jugendsendungen täglich hörte, ist es heute nur jeder zwanzigste!“ Der „Klassengegner“ wende ein „beträchtli- ches Potential (und Erfahrung) auf, um unter der Jugend der DDR immer wieder neu an Einfluß zu gewinnen“. In der BRD und West-Berlin würden 35 Rundfunkvollpro- gramme produziert, von denen meist mehrere in praktisch allen Regionen der DDR in UKW-Stereo-Qualität zu empfangen seien, und zwar „nicht selten besser als das Programm von Jugendradio DT 64“.45 Bis zum Ende ihres Regimes gelang es SED und MfS auch nicht, der Probleme Herr zu werden, die sie sich 1972 mit den Korrespondentenregelungen im deutsch-deut- schen Grundlagenvertrag eingehandelt hatten. Der Staatssicherheitsdienst konnte gegenüber den westlichen Korrespondenten nicht handeln, wie er wollte, weil die SED-Führung dies um ihrer internationalen Reputation willen unterband. Warnend verwiesen leitende Stasioffiziere des Öfteren auf ein angebliches Zitat Fritz Pleitgens, das schließlich sogar – als Mahnung zur Wachsamkeit gegenüber Westkorrespon- denten – in Schulungskursen der MfS-Spionageabwehr Verwendung fand: „Was wir in der Bundesrepublik kaum oder nicht erreichen, schaffen wir in der DDR: Wir erzie-

44 Felber, Holm / Müller, Margit / Stiehler, Hans-Jörg: Diskussionsmaterial, Überlegungen zur weiteren Entwicklung eines Rundfunkprogramms für die junge Generation. FDJ-Zen- tralrat, ZAG. SAPMO-BArch, Altsignatur B 6005 (FDJ-Archiv, Standort Berlin, Thulestra- ße). 45 Ebd.

154 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland len Wirkung, wir nehmen Einfluß auf das politische Leben.“46 Der Zitierte kann sich zwar heute nicht erinnern, dies gesagt zu haben. Am zutreffenden Kern der Aussage ändert das aber nichts. Auch für den Verlauf der friedlichen Revolution in der DDR war die Berichterstat- tung von ARD und ZDF von großer Bedeutung. Ehe das DDR-Fernsehen auf die sich überschlagenden Ereignisse in den DDR-Städten überhaupt reagieren konnte, sorg- ten die westlichen Sendeanstalten dafür, dass die Botschaft der großen Demonstrati- onen und der kleinen oppositionellen Gruppen im ganzen Lande verbreitet wurde. Der Sturz des SED-Regimes und die Wiedervereinigung Deutschlands sind gleicher- maßen internationalen und nationalen Entwicklungen zu verdanken. Dabei waren die innerdeutschen Beziehungen auf politischer, wirtschaftlicher, kultureller und all- täglich menschlicher Ebene wesentliche Voraussetzungen für das, was 1989 geschah und wider alle Erwartung in einem glücklichen Jahr zur selbst bestimmten deut- schen Einheit führte. Damit endeten freilich auch die behüteten Jahre der Bonner Republik. Der Beitrag ist zuerst erschienen in: Schwarz, Hans-Peter (Hrsg.): Die Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz nach 60 Jahren. München 2008.

46 Handschriftliche Aufzeichnung einer Arbeitsbesprechung mit dem Leiter der MfS-Spio- nageabwehr am 23. Mai 1979. BStU, ZA, MfS - Hauptverwaltung II, Nr 22825.

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Thema: 60 Jahre Bundesrepublik deutschland a) Das Selbst B) Das Andere c) Innen und Außen D) Abgründiges

Die DDR von Stalin bis Gorbatschow Der sowjetisierte deutsche Teilstaat 1949 bis 1990

Steffen Alisch Freie Universität Berlin, Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft E-Mail: [email protected]

Schlüsselwörter sowjetische Beziehungen zur DDR, Entwicklungen in der DDR

Der sowjetische Diktator Josef Stalin formulierte im Jahre 1944 gegenüber dem Stellvertreter des jugoslawischen Marschalls Josip Broz Titos, Milovan Djilas, sei- ne Vorstellungen vom Nachkriegseuropa überaus deutlich: „Dieser Krieg ist nicht wie in der Vergangenheit; wer immer ein Gebiet besetzt, erlegt ihm auch sein eigenes gesellschaftliches System auf. Jeder führt sein eigenes System ein, soweit seine Armee vordringen kann. Es kann gar nicht anders sein.“1 Dies galt erst recht für das Territo-

1 Vgl. Djilas, Milovan: Gespräche mit Stalin, Frankfurt/M. 1962, S.146. Grundlegende Literatur zum Thema: Agethen, Manfred / Jesse, Eckhard / Neubert, Ehrhart (Hrsg.): Der missbrauchte Antifaschismus, Freiburg/Basel/Wien 2002; Alisch, Steffen: „Die Insel sollte sich das Meer nicht zum Feind machen!“ Die Berlin-Politik der SED zwischen Bau und Fall der Mauer, Stamsried/München 2004; Behnen, Michael (Hrsg.): Lexikon der deutschen Geschichte 1945-1990, Stuttgart 2002; Deutscher Bundestag (Hrsg.): Mate- rialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED- Diktatur in Deutschland“ (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), Baden-Baden 1995; ders. (Hrsg.): Materialien der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit“ (13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), Baden-Baden 1999; Eppelmann, Rainer / Möller, Horst / Nooke, Günter / Wilms, Dorothee (Hrsg.): Lexikon des DDR-Sozialismus, Paderborn/München/Wien/ Zürich 1996; Gieseke, Jens: Der Mielke-Konzern. Die Geschichte der Stasi 1945-1990,

156 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland rium des Hauptfeindes der Sowjetunion, des nationalsozialistischen Deutschlands. Anfang 1944 begann die im Moskauer Exil lebende KPD-Führung auf sowjetische Anweisung mit der Ausarbeitung von Konzeptionen für die politische Gestaltung Nachkriegsdeutschlands. Da die westlichen Alliierten eine direkte Integration ganz Deutschlands in den sowjetischen Machtbereich nicht zuließen, verfolgte Moskau in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine Doppelstrategie: Während in der eigenen Be- satzungszone die Weichen sehr schnell auf eine „sowjetisierte“ politische und gesell- schaftliche Ordnung gestellt wurden, waren die Sowjets weiterhin bestrebt, möglichst die Vorherrschaft auch über Westdeutschland zu gewinnen bzw. die Westzonen we- nigstens zu neutralisieren und sich die Option auf einen neutralen, aber sowjetisch dominierten gesamtdeutschen Staat offen zu halten. Die sowjetischen Besatzungsbehörden besetzten systematisch und konsequent die Schaltstellen der – zunächst nur sehr begrenzt handlungsfähigen – ostdeutschen Verwaltungen mit ihnen treu ergebenen kommunistischen Kadern, die größten- teils direkt aus dem sowjetischen Exil kamen. Diese deutschen Emigranten – von Peter Erler mit dem treffenden Begriff „Moskau-Kader“ bezeichnet – hatten sowohl den Nationalsozialismus als auch die mörderischen Säuberungen im sowjetischen Exil überlebt und sich spätestens damals ein absolut stromlinienförmiges Verhal- ten gegenüber der „Parteilinie“ aneignen müssen. Eigenständige Vorstellungen der in Deutschland verbliebenen Kommunisten oder der so genannten Westemigranten wie auch Kritik an sowjetischen Entscheidungen bzw. Aktionen wurden von Anfang an rigoros unterbunden. Durch die stringente Personalpolitik und die Vertreibung der alten Eliten mittels Entlassungen aus dem Staatsdienst, Bodenreform oder Ent- eignungen legte die Besatzungsmacht einen ersten sozialstrukturellen Grundstock

München 2006; Herf, Jeffrey: Zweierlei Erinnerung. Die NS-Vergangenheit im geteil- ten Deutschland, Berlin 1998; Hertle, Hans-Hermann / Wolle, Stefan: Damals in der DDR. Der Alltag im Arbeiter-und-Bauern-Staat, München 2004; Heydemann, Günter: Die Innenpolitik der DDR, München 2003; Holzweißig, Gunter: Die schärfste Waffe der Partei, Weimar 2002; Jäger, Manfred: Kultur und Politik in der DDR 1945–1990, Köln 1994; Kuhrt, Eberhard (in Verbindung mit Hannsjörg F. Buck und Gunter Holzweißig im Auftrag des Bundesministeriums des Innern): Am Ende des realen Sozialismus. Beiträ- ge zu einer Bestandsaufnahme der DDR-Wirklichkeit in den achtziger Jahren, 4 Bände, Opladen 1999; Leide, Henry: NS-Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergan- genheitspolitik der DDR, Göttingen 2005; Mitter, Armin / Wolle, Stefan: Ich liebe Euch doch alle. Befehle und Lageberichte des MfS, Berlin 1990; Müller-Enbergs, Helmut / Hoffmann, Dieter / Wielgohs, Jan (Hrsg.): Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ost- deutscher Biographien, Berlin 2006; Neubert, Ehrhart: Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989, Bonn 1997; Scholtyseck, Joachim: Die Außenpolitik der DDR, München 2003; Schroeder, Klaus (u. Mitarb. v. Alisch, Steffen): Der SED-Staat, München 1998; Veen, Hans-Joachim (Hrsg.): Lexikon Opposition und Widerstand in der SED-Diktatur, Berlin/München 2000; Weber, Hermann: Die DDR 1945-1990, München 2006; Wolle, Stefan: Die heile Welt der Diktatur, Berlin 1998; Wentker, Hermann: Außenpolitik in engen Grenzen. Die DDR im internationalen System 1949–1989, München 2007.

Dis | kurs 157 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 für die angestrebte sozialistische Diktatur. Auf der politischen Ebene sollte ein frei- lich stark kontrollierter Pluralismus den Anschein demokratischer Verhältnisse we- cken. Dazu wurde formell ein Mehrparteiensystem etabliert, neben KPD und SPD (die mit dem deutlich linkeren Programm antrat) erhielten mit CDU und LDP auch zwei bürgerliche Parteien die Lizenz. Voraussetzung zur Zulassung war die Bereit- schaft zur Zusammenarbeit mit den anderen Parteien in dem von sowjetischen und deutschen Kommunisten kontrollierten so genannten „Block der antifaschistisch- demokratischen Parteien“. Im Juni 1946 entstand unter massivem Einsatz von Zwang und Gewalt aus den beiden Arbeiterparteien SPD und KPD eine „Sozialistische Einheitspartei Deutschlands“. Diese sprach zunächst von der Notwendigkeit einer „antifaschistisch-demokratischen Umwälzung“ und proklamierte einen „besonderen deutschen Weg zum Sozialismus“. Diese Maske ließ sie aber schon ab 1947/48 schrittweise wieder fallen und identifi- zierte sich offensiv mit dem sowjetischen Gesellschaftsmodell. Die Partei wurde von ihrer Führung zielstrebig in eine marxistisch-leninistische Massen- und Kaderpartei „neuen Typs“ umgestaltet. Auch wenn SED-Funktionäre mit Duldung der Sowjets immer offener eine Füh- rungsrolle in allen Bereichen von Verwaltung und Wirtschaft einnahmen, blieb die politische Macht weiterhin uneingeschränkt bei sowjetischen Organen. Die DDR als sowjetischer Homunculus Auch die Gründung einer so genannten „Deutschen Demokratischen Republik“ am 7. Oktober 1949 änderte an dieser Lage nicht viel. Pjotr Abrassimow, langjäh- riger „Regierender Botschafter“ der Sowjetunion in der DDR, beschrieb in einem am 11.August 1992 veröffentlichten Interview mit der früheren sowjetischen Partei- zeitung „Iswestija“ die DDR als einen in der sowjetischen Retorte gezüchteten Ho- munculus, der Moskauer Einfluss sei„präzedenzlos“ gewesen. Man habe die DDR in erster Linie als „unsere vorgeschobene Verteidigungslinie“ betrachtet. Formell wurde allerdings mit der Etablierung eines ostdeutschen Teilstaates die So- wjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) durch eine Sowjetische Kontrollkommission (SKK) ersetzt und ein Teil des Personals abgezogen, ein ande- rer fungierte nunmehr als „Berater“. Doch die SED versuchte das Tempo der Über- tragung des Moskauer Gesellschaftsmodells sogar noch zu steigern und schoss im Bemühen, unumkehrbare Tatsachen zu schaffen, aus sowjetischer Sicht gelegentlich über das Ziel hinaus. So ordnete die Führung der KPdSU Anfang Juni 1953 eine teilweise Rücknahme der 1952 von der SED beschlossenen Maßnahmen im Kontext des damals propagierten „Aufbau der Grundlagen des Sozialismus“ an. Dennoch konnte der aus lang aufgestauter politischer und sozialer Unzufriedenheit resultie-

158 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland rende Volksaufstand vom 17. Juni 1953 nicht mehr verhindert werden. Hier zeigte sich, wie wenig die SED trotz ihrer proklamierten Volksnähe auf die Unterstützung durch die DDR-Bevölkerung bauen konnte. Ihre Sicherheitskräfte sahen sich nicht einmal in der Lage, den Aufstand eigenständig niederzuschlagen und mussten dies sowjetischen Truppen überlassen. In der Folge versuchte die SED-Führung, die eige- ne Mitgliedschaft mit neuen Säuberungen weiter zu disziplinieren, gleichzeitig baute man den Sicherheitsapparat massiv aus. Fortan konnte die SED-Führung ihren uneingeschränkten Herrschaftsanspruch nach innen weitgehend durchsetzen. Der 17. Juni blieb aber bis 1989 ein Trauma für Herrscher und Beherrschte – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Die SED fürchtete sich seither vor der Macht der Straße. Der Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, fragte am 31. August 1989 seine Untergebenen im Zuge der Lageein- schätzung: „Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?“2 Dagegen wusste die Be- völkerung sehr genau, dass die Sowjets nicht zögern würden, mit ihren bis zu 400.000 in der DDR stationierten Soldaten auch ein zweites Mal jede Freiheitsbewegung niederzuschlagen. In diesem überwältigenden Drohpotenzial jenseits der ohnehin gigantisch anwachsenden DDR-Sicherheitskräfte und nicht etwa in einer mehrheitli- chen Akzeptanz der Legitimität der SED-Herrschaft (so aber Sigrid Meuschel) oder der „Etablierung einer konsensorientierten Sinnordnung“ (Martin Sabrow) lag bis zuletzt der eigentliche Grund für die vermeintliche Stabilität des SED-Staates. Als der letzte Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, den sowjetischen Satellitenstaaten spätestens ab 1987 mehr Freiheiten gewährte, aber ihnen auch deut- lich machte, dass diese ihre eigenen Probleme jetzt zunehmend selbst lösen mussten, geriet dementsprechend auch die SED-Diktatur ins Wanken. Glasnost und Peres- troika in der Sowjetunion und die darauf folgende schrittweise Abkehr der SED- Führung von der Losung „Von der Sowjetunion lernen heißt Siegen lernen“, die sich im neuen Leitbild vom „Sozialismus in den Farben der DDR“ äußerte, verunsicher- ten viele Funktionäre und einfache Parteimitglieder zutiefst. Doch verfügte die SED- Führung unter Erich Honecker zu diesem Zeitpunkt noch über erfolgversprechende Alternativen zu ihrer reformfeindlichen Haltung? Hätte Honecker damals wirklich einer gewissen Lockerung auch des DDR-Sozialismus zustimmen können, ohne die Macht der von ihm beherrschten Partei widerstandslos aus der Hand zu geben? Wahrscheinlich verhielt sich der mit allen stalinistischen Wassern gewaschene Saar- länder machtpolitisch viel rationaler als der zuweilen ausgesprochen naiv agierende Gorbatschow, der wohl als idealistischer Konkursverwalter des bankrotten Sozialis- mus in die Geschichte eingehen wird.

2 Dienstbesprechung beim Minister für Staatsicherheit, BStU, MfS, ZAIG Bl 215.

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Machtstrukturen im SED-Staat Zwei SED-Generalsekretäre bestimmten als „starke Männer“ für jeweils zwei Jahr- zehnte die Geschichte der DDR. Der lang gediente kommunistische „Apparatschik“ Walter Ulbricht hatte schon kurz nach der Gründung der SED faktisch die gesamte administrative Parteiarbeit in der Hand. Wie schon Stalin, so stützte sich auch sein Protégé Ulbricht vorwiegend auf den Parteiapparat, dessen offizielle Leitung er 1949 übernahm. Seine faktische Machtfülle übertraf damit bereits die der beiden SED- Vorsitzenden Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl. Der III. Parteitag im Juli 1950 ak- klamierte Ulbricht schließlich zum Generalsekretär. Nachdem es ihm 1953 und 1956 zweimal gelungen war, bedrohliche innenpolitische Gegner auszuschalten, herrschte er unangefochten. 1960 übernahm er als Vorsitzender des Staatsrats auch das höchste Staatsamt. Bezeichnenderweise gelang es erst seinem Kronprinzen Erich Honecker mit Unterstützung aus Moskau, den im Alter zusehends starrsinnigen und zuweilen gegen den sowjetischen Stachel lockenden Diktator 1971 abzulösen. Honecker, der das Politbüro zügig nach eigenem Gusto umgestaltete, verfügte ab 1976 – als er eben- falls in Personalunion Staatsratsvorsitzender wurde – über die gleiche Machtfülle wie sein Vorgänger in den sechziger Jahren. Alle Vorlagen, die in die wichtigsten Parteigremien Politbüro und ZK-Sekretariat eingebracht werden sollten, liefen über seinen Schreibtisch. Seine schriftlichen und mündlichen Kommentare waren prak- tisch verbindlich, die formale Absegnung der entsprechenden Entschlüsse durch die eigentlich zuständigen Instanzen bildete in der Regel nur noch das schmückende Beiwerk. Mit diesen höchst voluntaristischen Entscheidungswegen wurde die SED-Führung nicht einmal ansatzweise dem eigenen Statut gerecht, das als höchstes Parteiorgan den Parteitag vorgesehen hatte. Tatsächlich konnte erst der XII. Parteitag im Dezem- ber 1989 nach dem Zerfall der eigentlichen Machtzentren erstmals die vorgesehene Funktion ausfüllen. Die elf Parteitage vorher dienten der SED-Führung ausschließ- lich als vollkommen manipulierte Propagandavorstellungen. Auch das Zentralko- mitee als formell höchstes Gremium zwischen den Parteitagen wurde unter Hone- cker nicht mehr in den tatsächlichen Entscheidungsprozess einbezogen und diente ebenfalls als reines Akklamationsorgan. Dennoch war mit der ZK-Mitgliedschaft im SED-Staat ein erheblicher Prestigegewinn verbunden. Für die „Durchstellung“ und konkrete Realisierung der Beschlüsse der SED-Führung war der ebenfalls regional gegliederte Parteiapparat zuständig, der von den ZK-Se- kretären „angeleitet“ wurde. Einem Sekretär unterstanden jeweils mehrere der über vierzig Abteilungen des zentralen Apparats. Die SED-Führung begnügte sich nicht mit einer einfachen Doppelstruktur von Partei und Staatsapparat zur Anleitung und Kontrolle, sondern verknüpfte alle staatlichen und gesellschaftlichen Bereiche auf

160 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland vielfältige Weise mit der Partei und ihrem Apparat. Als zentrale Mechanismen zur Aufrechterhaltung der Macht der Parteiführung sind u. a. zu nennen: Wichtigstes Herrschaftsinstrument über die Parteigliederungen war das Prinzip des sog. demokratischen Zentralismus. Nachgeordnete Instanzen hatten den Beschlüs- sen der Zentrale und der übergeordneten Gliederungen in ihrem Bereich Folge zu leisten. Die Basis blieb einem strengen Kontroll- und Disziplinierungsregiment un- terworfen, so dass innerparteiliche Kritik nahezu unmöglich gemacht wurde. Alle wichtigen Leitungsfunktionen in den Parteien, in Staat, Wirtschaft und gesell- schaftlichen Organisationen (mit Ausnahme der Kirchen) wurden nach einem sog. Nomenklatursystem besetzt, das der SED einen direkten personellen Zugriff gestat- tete. „Kader“auswahl und –politik beruhten auf einem mehrstufigen hierarchisierten System, in dem die jeweilige zuständige Parteiinstanz immer die letzte Entscheidung traf. Der zentrale Parteiapparat sowie seine regionalen Gliederungen waren den staatli- chen und gesellschaftlichen Leitungs- und Abteilungsstrukturen vorgelagert. Diese „party machine“ leitete die staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen an und kontrollierte sie gleichzeitig. In allen staatlichen Verwaltungen, den wichtigsten Betrieben, gesellschaftlichen In- stitutionen usw. existierten Parteiorganisationen und –gruppen, deren Leitungen eine gesonderte Kontrollfunktion und zum Teil auch die direkte Führungsrolle ein- nahmen. SED-Mitglieder waren ohnehin nicht zuerst ihrem Vorgesetzten, sondern immer vorrangig der Parteidisziplin unterworfen. Durch ein umfassendes Berichts- system sowie die Arbeit des Ministeriums für Staatssicherheit verschaffte sich die SED-Führung zusätzliche Informationen, die als Grundlage für weitere Eingriffs- möglichkeiten dienten. Exekutive, Legislative und Jurisdiktion lagen somit in den Händen der SED-Führung, die für die verhasste bürgerliche Demokratie charakteris- tische Gewaltenteilung wurde durch eine „Gewalteneinheit“ ersetzt. Eine zentrale Rolle bei der Absicherung der SED-Herrschaft spielte die politische Justiz. Das Recht galt als „Waffe im Klassenkampf“, Rechtsfragen als Machtfragen. Eine unabhängige Justiz wäre somit systemfremd gewesen. Die politische Steuerung der Justiz lag vor allem in den Händen der ZK-Abteilung für Staat und Recht, die im Bereich des politischen Strafrechts schwerpunktmäßig mit der Abteilung IX des MfS zusammenarbeitete, die als Untersuchungsorgan fungierte, während die Abteilung XIV Untersuchungshaftanstalten betrieb. Die für politische Strafsachen zuständigen Staatsanwälte, die vor ihrem Einsatz von SED und MfS überprüft wurden, übernah- men die von der Staatssicherheit vorformulierten Anklageschriften häufig unverän- dert. Vermeintlich bzw. tatsächlich Oppositionelle oder „Antragsteller auf ständige Ausreise“ wurden seitens der SED nicht nur mit Gesinnungsstrafrecht, sondern zum

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Teil auch mit arbeits- bzw. familienrechtlichen Maßnahmen bekämpft. Obwohl es etwa im Zivilrecht durchaus auch korrekt ablaufende Verfahren gab, konnten SED und MfS jederzeit in laufende Prozesse eingreifen und das Recht nach Belieben beu- gen. So galt das „Recht auf Arbeit“ für einen „Ausreisekandidaten“ nicht mehr, zum Teil wurde ihm sogar mit fadenscheinigen Begründungen das Sorgerecht für seine Kinder entzogen. Ein Legalitätsprinzip existierte im SED-Staat ebenso wenig wie eine Verwaltungs- gerichtsbarkeit zur Überprüfung staatlicher Entscheidungen. Anstelle letzterer tra- ten die so genannten Eingaben, die die sozialistischen Untertanen an ihre Herrscher richten konnten und die diese dann nach Gutdünken beantworteten, eine quasi feu- dalistische Praxis. Das Ministerium für Staatssicherheit wurde über Jahrzehnte zu einem flächende- ckenden Überwachungs-, Manipulations- und Unterdrückungsapparat ausgebaut, der den totalen Herrschaftsanspruch der SED-Führung gegenüber der eigenen Be- völkerung um jeden Preis sichern sollte. Darüber hinaus hatte es umfassende exter- ne Aufklärungs- und Diversionsmaßnahmen vor allem gegen die Bundesrepublik durchzuführen. Die Stasi war politische Geheimpolizei, Ermittlungsbehörde bei „po- litischen Straftaten“ und Nachrichtendienst in einem. Schon deshalb liegen Welten zwischen dem Imperium des langjährigen Ministers für Staatssicherheit, Erich Miel- ke, und Verfassungsschutzorganen bzw. Nachrichtendiensten in demokratischen Ordnungen. Die besondere Gefährlichkeit des MfS bestand in der Bündelung um- fassender Aufgaben und Kompetenzen, die keinerlei administrativer und parlamen- tarischer, sondern nur der Kontrolle durch die SED-Führung unterlagen. Die Stasi selbst verstand sich als „Schild und Schwert“ der SED. Aufgaben und Kompetenzen des MfS waren in der DDR nicht gesetzlich geregelt. Neben diversen Dienstanwei- sungen, Befehlen und Ähnlichem existierte ab 1955 lediglich ein internes Statut, das 1969 eine bis zuletzt gültige Neufassung erhielt. Die Tätigkeit des MfS konzentrierte sich danach lt. §1, 3 auf die „Aufklärung und Abwehr zur Entlarvung und Verhinde- rung feindlicher Pläne und Absichten der aggressiven imperialistischen Kräfte und ihrer Helfer …“.3 Das MfS verfolgte nicht nur tatsächlich begangene „Taten“, sondern verstand sich auch als „Ideologiepolizei“ (Siegfried Mampel). Insbesondere in den siebziger und achtziger Jahren bemühte sich der Staatssicherheitsdienst immer stärker um flä- chendeckende Überwachung aller auch nur potenziellen Gegner und versuchte, op- positionelle Aktionen schon im Vorfeld zu verhindern. Die Stasi beschränkte sich nicht auf die bloße Beobachtung so genannter „feindlich-negativer“ Kräfte, indem sie im Zusammenwirken mit anderen Institutionen deren Leben und Verhalten vom

3 Bundestagsdrucksache 12/3462.

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Beruf bis zur Intimsphäre mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln im wahrsten Sinne des Wortes ausschnüffelte. So wurden zum Beispiel für die operative Arbeit „Geruchskonserven“ mit dem Schweiß wichtiger „Feinde“ angelegt. Man entwickel- te auch Maßnahmepläne, die die „Zersetzung“ bestimmter Personen zum Ziel hat- ten. Darunter verstand das MfS die „Zersplitterung, Lähmung, Desorganisierung und Isolierung feindlich-negativer Kräfte“ auf konspirativer Basis.4 Der Betroffene sollte am Arbeitsplatz und in seinen persönlichen Beziehungen isoliert und diskreditiert, persönlich verunsichert oder sogar kriminalisiert werden. Das Mielke-Ministerium stützte sich dabei auf Erkenntnisse der so genannten „operativen Psychologie“. Ziel war etwa, oppositionelle Gruppen mit künstlich ausgelösten internen Streitigkeiten zu beschäftigen, um sie von politischen Aktivitäten abzulenken. Insbesondere bei in die Bundesrepublik geflohenen „Überläufern“ aus den eigenen Reihen, aber auch bei Fluchthelfern, schreckte die Stasi selbst vor Mord nicht zurück. Über den Umgang mit potenziellen bzw. tatsächlichen „Verrätern“ aus dem MfS äu- ßerte sich Mielke intern am 19. Februar 1982 sehr deutlich: „Wir sind nicht gefeit, lei- der […] dass auch mal ein Schuft unter uns sein kann. […] Wenn ich einen jetzt wüss- te, der würde ab morgen schon nicht mehr leben, ganz kurzen Prozess. Aber weil ich Humanist bin, deshalb habe ich solche Auffassung. Lieber Millionen Menschen vorm Tode retten, als wie einen Banditen leben lassen, der uns also die Toten bringt. Muss ich mal richtig erklären, warum man so hart sein muss? Weil wir sprachen von wegen und so weiter, nicht hinrichten und nicht Todesurteil. Alles Käse, Genossen. Hinrichten die Menschen, ohne Gesetze, ohne Gerichtsbarkeit usw.“5 Im Oktober 1989 standen etwa 91.000 hauptamtliche Mitarbeiter beim MfS in Lohn und Brot, davon gehörten mehr als 11.000 dem sog. Wachregiment an, das damit zuletzt Divisionsstärke erreichte. Dessen Mitglieder schützten Regierungs- und Par- teigebäude und waren für einen eventuellen Bürgerkrieg geschult und ausgerüstet. Das MfS war militärisch organisiert und beschäftigte die meisten seiner Mitarbei- ter (ca. 85 Prozent) als Berufssoldaten, nur Personen- und Objektschützer dienten zum Teil auf Zeit, außerdem gab es (wenige) Zivilbeschäftigte. Zuletzt waren 2.232 „Offiziere im besonderen Einsatz“ (OibE) – ausgestattet mit einem Tarnbeschäfti- gungsverhältnis – verdeckt in sicherheitspolitisch bedeutsamen Positionen inner- und außerhalb der DDR tätig. OibE besetzten zum Beispiel zentrale Positionen in anderen „bewaffneten Organen“, entschieden in Betrieben über den Einsatz von „Reisekadern“ im westlichen Ausland oder agierten als MfS-Vertreter (Residenten)

4 Vgl. Suckut, Siegfried (Hrsg.): Das Wörterbuch der Staatssicherheit, Berlin 1996, S. 422 f. 5 Zit. nach: Schwan, Heribert: Erich Mielke. Der Mann, der die Stasi war, München 1997, S. 248.

Dis | kurs 163 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 und Wachkräfte in DDR-Auslandsvertretungen. Neben den hauptamtlichen agier- ten 1989 noch einmal 174.000 Inoffizielle Mitarbeiter (IM). Wichtige Einsatzfelder bildeten neben den vermeintlich oder tatsächlich oppositionellen Milieus vor allem die anderen Sicherheitsorgane (zum Beispiel waren je nach Region 10 Prozent bis 20 Prozent der Volkspolizisten neben der dienstlichen Kooperationspflicht auch als inoffizielle Mitarbeiter an das MfS gebunden) und die Wirtschaft. Abgesehen von der direkten Bekämpfung oppositioneller Bestrebungen ging es um die präventive Sicherung zentraler gesellschaftlicher Schaltstellen. Der SED-Parteiapparat sowie die Führungsgremien durften allerdings nicht mit IM durchdrungen werden, auch die Überwachung bestimmter Parteifunktionäre war nur mit Genehmigung höchster Parteistellen möglich. Zusätzlich zu den DDR-IM agierten bis 1989 schätzungsweise 20.000 „Inoffizielle“ in der Bundesrepublik, von denen die meisten für ihren Landes- verrat nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden können, da fast alle Straftaten inzwischen verjährt sind. Zur Überwachung und Kontrolle der Bevölkerung standen der SED neben dem MfS u. a. die „Deutsche Volkspolizei“, die ebenfalls über 175.000 „freiwillige Helfer“ ver- fügte, sowie die freiwilligen Helfer der Grenztruppen zur Verfügung. Auch die Na- tionale Volksarmee bzw. ihre Vorgängerin, die Kasernierte Volkspolizei, konnten im Spannungsfall im Innern eingesetzt werden, hinzu kamen die ebenfalls mit schweren Waffen ausgerüsteten „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“. Letztere kamen bewaffnet (zur Absicherung des Mauerbaus) oder unbewaffnet (bei den Demonstrationen im Herbst 1989) auch gegen den „inneren Feind“ zum Einsatz. Alle Sicherheitskräfte wurden auf regionaler Ebene durch so genannte Bezirks- bzw. Kreiseinsatzleitungen koordiniert, an deren Spitze die ersten Sekretäre der jeweiligen Bezirks- bzw. Kreis- leitungen der SED standen. Blockparteien und Massenorganisationen sollten als Transmissionsriemen der SED- Politik die Interessen derjenigen Bevölkerungsschichten, die auf anderen Wegen nicht erreichbar waren, aufnehmen und systemimmanent kanalisieren. Während die Blockparteien aufgrund ihrer vergleichsweise geringen Mitgliederzahl (etwa 500.000) und ihres schlechten Rufs in der Bevölkerung („Blockflöten“) diese Funktion nur be- grenzt erfüllen konnten, erreichten die Massenorganisationen sehr viel mehr Men- schen und erlangten für die SED deshalb eine deutlich größere Bedeutung. Die größte und wichtigste Massenorganisation der DDR war der Freie Deutsche Ge- werkschaftsbund (FDGB), der 1989 knapp 98 Prozent aller Arbeitnehmer organisier- te. Dieser verfügte zwar über den am weitesten ausgebauten politischen Apparat der DDR, dennoch besaß er gegenüber der SED keinerlei politische Eigenständigkeit. Für die „Anleitung“ des FDGB war die ZK-Abteilung Gewerkschaften und Sozialpolitik zuständig. Daneben bestand eine eigene Kreisleitung der SED für die zentralen Or- gane des FDGB und seine marginalisierten Branchenverbände. Der Vorsitzende des

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Gewerkschaftsbundes und dessen Stellvertreter waren Nomenklaturkader des Polit- büros, deren Einsetzung durch die Delegierten des FDGB-Kongresses nur noch zu bestätigen war. Ideologische Richtlinien und Handlungsanweisungen wurden stets von oben nach unten durchgestellt; die Rückkopplung sich in den Betrieben mani- festierender gesellschaftlicher Interessen weitgehend durch ideologische Kontrolle auf allen Ebenen ersetzt. Mittels Aktivitäten zur Verbesserung der Arbeitszufrieden- heit und durch Kampagnen („sozialistischer Wettbewerb“) versuchte der FDGB bei der Ankurbelung der Produktion mitzuhelfen. Klassische Gewerkschaftsfunktionen erfüllten die Betriebsgewerkschaftsleitungen (die auf betrieblicher Ebene anstelle der 1948 abgeschafften Betriebsräte agierten) am ehesten bei der Mitwirkung bei Perso- nalentscheidungen (insbesondere bei Disziplinarverfahren, Umsetzung von Arbeits- kräften usw.) und Arbeitszeitregelungen sowie im Gesundheits- und Brandschutz. Auf dieser Ebene wurden sie von den Beschäftigten zumindest partiell als Interes- senvertreter anerkannt. Gleichwohl bestand der wichtigste Grund für eine Mitglied- schaft im FDGB neben der Vermeidung politischer „Unannehmlichkeiten“ für viele Beschäftigte aber eher in dessen zentraler Rolle bei der Verteilung sozialpolitischer Leistungen. Der Gewerkschaftsbund fungierte als Verwalter der Sozialversicherun- gen, deren Leistungen häufig direkt im Betrieb ausgezahlt wurden, und vermittelte jährlich ca. fünf Millionen Urlaubsreisen, vorwiegend in gewerkschaftseigene oder betriebliche Ferienheime der DDR. Mangels individueller Möglichkeiten der Ur- laubsgestaltung war dies von großer Bedeutung für viele Beschäftigte. Als zweite große Massenorganisation fungierte die Freie Deutsche Jugend (FDJ), die nahezu alle sich in der Ausbildung befindlichen Jugendlichen ab 14 Jahre organisier- te. Jüngere Schulkinder gehörten der ebenfalls an die FDJ angeschlossenen Pionier- organisation „Ernst Thälmann“ an. Die FDJ verstand sich selbst als „Kaderreserve“ der SED, jenseits der Quasi-Zwangsmitgliedschaft (nach Abschluss ihrer Berufsaus- bildung bzw. des Studiums verließen viele die Jugendorganisation) fühlten sich aber nur wenige Jugendliche von der politischen bzw. inhaltlichen Arbeit der FDJ wirklich angesprochen, auch wenn die Funktionäre versuchten, attraktive Freizeitangebote zu gestalten. Eine wichtige Funktion erfüllte die FDJ auch bei der Militarisierung der Gesellschaft. Sie war zusammen mit der „Gesellschaft für Sport und Technik“ (GST) u. a. für die Förderung der Wehrbereitschaft der Jugendlichen zuständig. Ideologische Grundlagen Aufbauend auf ihrer vermeintlich „wissenschaftlichen Weltanschauung“, dem Mar- xismus-Leninismus, und der darin enthaltenen „historischen Mission der Arbeiter- klasse“ beanspruchte die SED ein totales Wahrheitsmonopol. Der Marxismus-Leni- nismus – eine vorrangig aus machttaktischen Erwägungen Stalins in den dreißiger Jahren entstandene Klassikerexegese – trug eher die Züge einer quasi religiösen

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Heilslehre als einer Wissenschaft und wurde von der SED auch entsprechend genutzt. So verbreitete die auf der Basis einer angeblich „materialistischen“ Weltanschauung operierende Einheitspartei zum Beispiel die den eigenen Wahrheitsanspruch offen transzendierende Losung „Die Lehre von Marx und Engels ist allmächtig, weil sie wahr ist.“ Jede Trennung zwischen Philosophie und politischer Praxis war in diesem Den- ken aufgehoben, was den Marxismus-Leninismus zu einer fast beliebig dehnbaren Gummiideologie mit gleichwohl wissenschaftlichem Anspruch machte, mit der sich „realpolitische“ Veränderungen in den kommunistischen Staaten immer rechtferti- gen ließen. Den angestrebten „neuen Menschen“, die „sozialistische Persönlichkeit“, die die eigene Arbeit und alle Lebensbereiche nach dem Willen der Partei ausrichten sollte – auch dies natürlich mit religiösen Ansprüchen vergleichbar –, suchte die SED mit einer permanenten ideologischen Indoktrination „von der Wiege bis zur Bahre“ zu errei- chen. Eben diese die eigentliche politische Sphäre weit übersteigende „ganzheitliche“ Wahrheitsbehauptung, mit der sie eine vollkommene Gesellschaft herbeizwingen wollte, begründete den totalitären Charakter des Herrschaftsanspruchs der SED- Diktatur. Diese Intension zur völligen politischen und sozialen Homogenisierung der Gesellschaft, die die Etablierung eines neuen Wertesystems mit metaphysischen Zügen einschließt, charakterisierte Martin Drath schon 1958 als „Primärphänomen“ des Totalitarismus, demgegenüber die dabei angewandten Mittel und Instrumente von sekundärer Bedeutung seien. Mit der Konstatierung eines totalitären Herrschaftsanspruchs der SED-Führung wird allerdings keineswegs – wie häufig unterstellt – dessen vollständige Durchsetzung behauptet. „Sein“ und „Sollen“ lagen auch im SED-Staat oft weit auseinander. Kristal- lisationspunkte gegen den totalitären Anspruch der marxistisch-leninistischen Par- tei bildeten sich im Raum der Kirchen und der – wenn auch meist schwachbrüstigen – oppositionellen Gruppen. Auch der totalitäre Anspruch selbst erschien zum Ende der DDR hin nicht mehr unvermindert wirkungsmächtig: In den sechziger Jahren setzte die SED noch FDJ- Gruppen in Marsch, die nach Westen ausgerichtete Fernsehantennen abbrechen soll- ten („Aktion Blitz gegen NATO-Sender“); Mitte der achtziger Jahre dagegen billigten lokale Funktionäre Bürgerinitiativen, die auf eigene Kosten Gemeinschaftsantennen aufstellten, die ausdrücklich den Empfang westlicher Programme ermöglichen bzw. verbessern sollten. Zu diesem Zeitpunkt versuchte die SED also nicht einmal mehr, ihr Medienmonopol aufrecht zu erhalten. Als zentrales Feindbild im ideologischen und politischen Kampf diente der „Imperia- lismus“. Die SED-Ideologen bezogen sich bis zuletzt auf die Leninsche Definition des Begriffs, die dieser vor allem in seiner 1916 im Züricher Exil verfassten und weniger

166 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland aus wissenschaftlichen Motiven als im Interesse des praktischen politischen Kampfes entstandenen Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ ent- wickelt hatte. Trotz ihres begrenzten theoretischen Wertes erhielt sie später kanoni- schen Rang in der kommunistischen Welt. Von Lenins Vorstellungen durfte in der DDR trotz ihrer erkennbar geringen Prognosekraft nur marginal – entsprechend den jeweiligen SED-Vorgaben – abgewichen werden. Das war umso fataler, als die gesamte wissenschaftliche Beschäftigung mit den westlichen Staaten unter „Imperi- alismusforschung“ subsumiert wurde. Politik und „Wissenschaft“ gingen deshalb ein symbiotisches Verhältnis ein. Dies wurde auch offen zugegeben. So enthielt ein im Juni 1975 entstandenes Gutachten über ein im Ost-Berliner „Institut für Internatio- nale Politik und Wirtschaft“ entstandenes Manuskript folgende erhellende Passage: „Wir betreiben Wissenschaft mit dem Ziel, die Arbeiterklasse und ihre Verbündeten immer besser zu befähigen, ihrer historischen Mission gerecht zu werden […]. Es ist ein Grundprinzip für marxistische Wissenschaftler, stets die Einheit von Politik und Wissenschaft zu wahren. Vom Standpunkt der Parteilichkeit her ist uns jeglicher Objek- tivismus wesensfremd, denn nur von dieser Position aus gelingt es uns, die bürgerlichen Positionen des Pluralismus und des Liberalismus zu zerschlagen.“6 Dies war keineswegs ein intellektueller Ausrutscher. Der zuständige ZK-Sekretär Kurt Hager höchstpersönlich verdeutlichte mit seinem Schlusswort auf einer Tagung der „Kommission der Leiter der gesellschaftswissenschaftlichen Institute beim Politbüro“ im Dezember 1977 das Niveau dieser Auseinandersetzungen mit dem „Objektivismus“: „Eine zentrale Aufgabe der Imperialismusforschung ist und bleibt es, die Gebrechen und Verbrechen des Imperialismus, sein menschenfeindliches Wesen aufzudecken und diese Unmenschlichkeit des Imperialismus zu dokumentieren und deutlich zu beweisen. […] Und dabei ist es notwendig, immer wieder von der Leninschen Analyse des Imperialis- mus auszugehen, von der Rolle der Monopole und ihrer Stellung im gesellschaftlichen Leben des Imperialismus […]. Insbesondere muss es darum gehen, die Monopole heute bildhafter darzustellen, wieder daran zu arbeiten, das Bild der Monopole zu persona- lisieren […].“7 Angesichts derartig abstruser Auslassungen, die sicherlich selbst bei einigen dama- ligen Zuhörern des „Ideologiepapstes“ Kopfschütteln verursacht hatten, liegt es auch nahe, dass der Antiimperialismus je nach Bedarf mit einem anderen zentralen Topos der SED-Ideologie, dem Antifaschismus, vermengt wurde. Die Bundesrepublik galt nicht nur als imperialistischer, sondern auch als halbfaschistischer Staat. Im SED-

6 Gutachten zu Peter Hess: Materialistische Dialektik oder spekulative Konstruktion der Staatsfrage. Fundort: Bundesarchiv, Bestand: Institut für Internationale Politik und Wirt- schaft, DC 204, Akte 3. 7 Fundort: Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesar- chiv, DY 30, IV/B2/2024/36.

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Deutsch besonders beliebt war der auf die Berliner Mauer bezogene Begriff „antifa- schistischer Schutzwall“ – hier kommt diese ideologische Konstruktion vielleicht am prononciertesten zum Ausdruck. Herfried Münkler spricht mit Recht vom Antifaschismus als „Gründungsmythos“ der DDR. Der Faschismus galt laut SED-Ideologie als eine Epoche im weltpolitischen Kampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus, in der die aggressivsten und reaktio- närsten Gruppen des Monopolkapitals an die Macht gelangt waren. Nach dem Ende der faschistischen Diktatur habe man in der DDR die politische und wirtschaftliche Macht dieser Gruppierungen vollständig beseitigt und sich damit an die Seite der sowjetischen „Sieger der Geschichte“ gestellt. Der Begriff „Nationalsozialismus“ wurde in der DDR gemieden, u. a. weil man sich nicht mit den sozialistischen Aspekten der NS-Ideologie und ihrem speziellen Fokus auf die deutschen Arbeiter auseinandersetzen wollte. Die spezifisch deutschen Vor- aussetzungen für den Aufstieg Hitlers gerieten ebenso aus dem Blick. So konnte man einerseits die Bundesrepublik als „kryptofaschistisch“ denunzieren, da dort ja noch immer die „Monopolkapitalisten“ an der Macht seien, andererseits die Schuld für die durch Deutsche begangenen Verbrechen einer kleinen Gruppe von Nationalsozialis- ten zuweisen und insbesondere die Arbeiterschaft in einer Art „Kollektivamnestie“ von jeder Verantwortung freisprechen. Gegner der SED wurden gerade in der Früh- zeit der DDR sehr oft undifferenziert mit der „Faschismuskeule“ bekämpft. Der beschriebene Tunnelblick auf den Nationalsozialismus verkannte insbesonde- re auch die zentrale Bedeutung des Antisemitismus für die NS-Ideologie. Eine öf- fentliche Auseinandersetzung mit antisemitischen Haltungen erfolgte nicht, so dass entsprechende Vorurteile in der Bevölkerung, aber auch in weiten Kreisen der SED, fortbestanden, auch wenn der spezifisch rassistische Antisemitismus der National- sozialisten der SED-Ideologie fremd war. Deren Substanz bestand vor allem aus ei- nem aggressiven Antikapitalismus, der sich insbesondere Ende der vierziger/Anfang der fünfziger Jahre auch traditionell „rechter“ Kritik am westlichen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem bediente. Die Aversion gegen einen „wurzellosen Kosmopolitis- mus“, der allein den Interessen des US-Finanzkapitals entspräche, verbunden mit na- tionalistischen und antizionistischen Elementen, knüpfte in erschreckendem Maße an entsprechende nationalsozialistische Stereotypen an. Diese ideologischen Entglei- sungen entsprangen nicht zuletzt taktischen Überlegungen, weil die SED zur Legi- timation der eigenen Ordnung ein möglichst populäres Feindbild benötigte. Hier klang aber auch die Sehnsucht nach einfachen Antworten auf komplexe Fragen, nach „organischen“ Denkmodellen und „gemeinschaftsorientierten“ Lebensformen an. Vor dem Hintergrund massiver Judenverfolgungen in der Sowjetunion und anderen osteuropäischen Staaten, die im November 1952 ihren Höhepunkt im Prozess ge-

168 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland gen den ehemaligen Generalsekretär der tschechoslowakischen KP, Rudolf Slanský, erreichten – dieser wurde zusammen mit zehn weiteren Beschuldigten hingerich- tet –, plante die SED ebenfalls einen antisemitischen Schauprozess. Als Hauptan- geklagter war der im Dezember 1952 verhaftete Paul Merker – Westemigrant und bis 1950 Mitglied des SED-Politbüros – vorgesehen. In einem öffentlich verbreiteten Beschluss des ZK der SED vom 20. Dezember 1952 wurde dem Nichtjuden Merker u. a. vorgeworfen, ein „Agent der Zionisten“ zu sein, die wiederum als „Agentur des amerikanischen Imperialismus“ geschmäht wurden. Indem Merker für Entschädi- gungszahlungen auch an nichtrückkehrwillige deutsche Juden eintrat, habe er die „Verschiebung deutschen Volksvermögens“ gefordert. Außerdem habe er „die aus den deutschen und ausländischen Arbeitern herausgepressten Maximalprofite der Mono- polkapitalisten in angebliches jüdisches Eigentum des jüdischen Volkes“ umgefälscht: „In Wirklichkeit sind bei der ‚Arisierung’ dieses Kapitals nur die Profite ‚jüdischer’ Mo- nopolkapitalisten in die Hände ‚arischer’ Monopolkapitalisten übergewechselt“ – so die bemerkenswerte Interpretation des ZKs sieben Jahre nach dem Ende des NS-Regi- mes. Merker erkenne einerseits offiziell die Schuld„des gesamten deutschen Volkes am Sieg des Faschismus“ an, leugne diese aber „in doppelzünglerischer Weise […], indem er die jüdische deutsche Bevölkerung von dieser Schuld ausdrücklich freispricht […]“.8 Da diesen ideologischen Ausfällen auch Aktivitäten des MfS gegen jüdische Gemein- den folgten, empfahl der Berliner Rabbiner Nathan Peter Levinson zur Jahreswende 1953/53 allen Juden aus Angst vor neuen Pogromen, die DDR zu verlassen; dieser Aufforderung kamen etwa 550 Personen nach. Auch nach Abebben der Verfolgungs- und Verhaftungswelle blieb das Verhältnis der SED zu Juden und jüdischer Kultur zwiespältig. Einerseits wurden Funktionäre und Mitarbeiter der wenigen verbliebe- nen jüdischen Gemeinden staatlich finanziert und Subventionen zur Pflege des reli- giösen und kulturellen Erbes gewährt, andererseits erwartete die SED den Verzicht auf eine authentische jüdische Identität, die Verleugnung eigener Traditionen und die Abschottung gegenüber Verwandten und Freunden außerhalb der DDR, insbe- sondere auch in Israel. Bei der Berichterstattung der DDR-Presse über den Nahost- Konflikt kamen unter dem Deckmantel des Antizionismus regelmäßig antisemitische Haltungen zum Vorschein. Israel wurde als Brückenkopf des „Weltimperialismus“, finanziert von internationalen Bankenkonsortien, eingebunden in anglofranzösische Aggressionsabsichten und den „Neokolonialismus der westdeutschen Bundesrepu- blik“ dargestellt. Folgerichtig lehnte die SED auch jegliche „Entschädigungszahlun- gen“ gegenüber dem jüdischen Staat ab.

8 „Lehren aus dem Prozess gegen das Verschwörerzentrum Slansky“, Beschluss des ZK der SED vom 20. Dezember 1952.

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Gegenkräfte – Kirchen, unabhängige Oppositionsgruppen und Ausreisewillige Die Kirchen als einzige der SED nicht untergeordnete Großorganisationen stellten einen Fremdkörper in der „sozialistischen Gesellschaft“ dar. Unabhängig von der gro- ßen Bandbreite politischer Haltungen, die von Kirchenleitungen, Mitarbeitern und Laien vertreten wurden, widersprach allein die bloße Existenz religiösen Lebens dem weltanschaulichen Totalitätsanspruch des Marxismus-Leninismus. Entgegen der offiziellen Rhetorik von der „anerkannten Rolle der Kirchen im Sozialis- mus“, die insbesondere nach dem Treffen zwischen Honecker und dem Vorstand des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR im Jahre 1978 immer wieder betont wurde, bestand das Nahziel der SED-Kirchenpolitik in der Einschränkung und Ka- nalisierung kirchlicher Aktivitäten sowie einer Beschleunigung der Entchristianisie- rung der DDR-Gesellschaft. Am Ende sollte die völlige Zerschlagung dieser „legalen Organisation des Gegners“ (Erich Mielke) stehen. Obwohl offiziell Religionsfreiheit herrschte, wurden gerade Kinder und Jugendliche aus christlichen Elternhäusern im atheistisch geprägten Bildungssystem stark behindert oder benachteiligt. Christliche Betätigung wertete die SED vor allem dann negativ, wenn sie sich nicht auf ein religiöses Ghetto beschränkte, sondern politische Folgerungen implizierte, die sich nicht mit den Vorstellungen der Partei deckten. Zur Eindämmung dieser Aktivitäten setzte die SED vielgestaltige Sanktionen ein, die von beruflicher Diskri- minierung über die „Bearbeitung“ durch das MfS bis hin zu strafrechtlicher Verfol- gung reichten. Ein interessengeleiteter kirchlicher Pragmatismus, durchmischt mit sozialroman- tischen Ordnungsvorstellungen, führte die evangelischen Kirchenleitungen nach langen Auseinandersetzungen letztlich zur Anerkennung des SED-Staates als einer legitimen Obrigkeit. Erst im September 1989 stellten sich die evangelischen Kirchen deutlich erkennbar auf die Seite von Demokratie und Freiheit. Bis dahin hatten sie zwar immer wieder für Glaubens- und Gewissenfreiheit gefochten, jedoch das Enga- gement für politische Freiheitsrechte zumindest teilweise dem Arrangement mit der Parteidiktatur untergeordnet. Dennoch machten viele Christen vor Ort keinen Hehl aus ihrer Ablehnung der SED-Ideologie, was ihnen häufig berufliche Nachteile oder sogar politische Verfolgung einbrachte. Auch in den Oppositionsgruppen spielten Christen immer eine wichtige Rolle. Während diese in der Frühzeit der DDR, insbesondere in den fünfziger Jahren, noch auf eine grundlegende Veränderung der Gesellschaftsordnung der DDR mit freien Wahlen und die anschließende Wiedervereinigung hofften, trat spätestens nach dem Mauerbau Resignation ein. Die sich ab den siebziger Jahren unter dem Dach der Kirche neu formierenden Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen strebten

170 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland mehrheitlich einen „dritten Weg“ zwischen dem „real existierenden Sozialismus“ und der parlamentarischen Demokratie westlichen Zuschnitts an. Eine echte politische Opposition bildete sich erst im Spätsommer 1989 wieder. Die neuen Gruppierungen hatten vor allem eine wichtige Katalysatorfunktion für den wachsenden Unmut in der Bevölkerung. Da sie anders als deren Mehrheit der deutschen Wiedervereini- gung sehr skeptisch gegenüberstanden, wurden sie schnell wieder marginalisiert. Zwischen Oktober 1949 und November 1989 verließen etwa 3,5 Millionen Menschen die DDR Richtung Westen, die umgekehrte Richtung nahmen nur 500.000 Personen. Der SED-Staat bekam die schon seit 1957 auch strafrechtlich verfolgte sog. „Repub- likflucht“ Zeit seiner Existenz trotz brutalster Mittel und Methoden nie vollständig in den Griff. Nach dem Mauerbau gingen zwar die Flüchtlingszahlen stark zurück, je- doch bestimmten insbesondere in den achtziger Jahren die so genannten „Antragstel- ler auf ständige Ausreise“ das Klima in der DDR-Gesellschaft in wachsendem Maße mit. Deren Alltag war extrem problemgeladen, da sie meist sofort aus qualifizierten Arbeitsverhältnissen entlassen wurden, häufig jahrelang auf gepackten Koffern sa- ßen, immer mit der Ausweisung innerhalb von 24 Stunden rechnen mussten und oft selbst von Nachbarn und ehemaligen Arbeitskollegen „geschnitten“ wurden. Auch das Verhältnis zwischen Oppositionellen und Ausreisekandidaten war aufgrund der unterschiedlichen Interessenlagen nicht selten gespannt. Im Herbst 1989 verstärkten sich jedoch die von beiden Gruppen ausgehenden Wirkungen wechselseitig, wie Al- bert O. Hirschman überzeugend darlegte. Diejenigen Ausreisewilligen, die ihre Ausbürgerung durch Kontaktaufnahme zu westlichen Medien oder Politikern zu befördern suchten, gingen ein erhebliches Ri- siko ein, wegen „ungesetzlicher Verbindungsaufnahme“ zum Teil jahrelang inhaftiert zu werden. Ähnlichen Sanktionen unterlagen auch andere öffentlichkeitswirksame Aktivitäten mit demselben Ziel, vor allem Demonstrationen. In den Haftanstalten trafen die „Delinquenten“ dann auf diejenigen, die beim Versuch eines „illegalen Grenzübertritts“ (bzw. häufig schon in dessen Vorfeld) gefasst worden waren. Auch der Vorwurf „staatsfeindlicher Hetze“ führte häufig zu politischen Verurteilungen, wobei sich gerade die Kriterien für diesen Straftatbestand permanent änderten. Während des vierzigjährigen Bestehens der DDR wurden ca. 200.000 Menschen we- gen politischer Delikte inhaftiert, knapp 35.000 von ihnen wurden ab 1963 von der Bundesregierung freigekauft. Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit im antifaschisti- schen Staat Die SED, die nach dem eigenen Selbstverständnis den „Faschismus“ mit den Wurzeln ausgerottet hatte, kennzeichnete bis in die Spätphase der DDR hinein jegliche rechts- extremistischen Äußerungen und Verhaltensweisen als vom Westen gesteuert bzw.

Dis | kurs 171 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 beeinflusst und ignorierte in der Regel entsprechende Provokationen, selbst wenn sie politisch motiviert waren. Ging es um Jugendliche, war offiziell zumeist die Rede von asozialem Verhalten oder Rowdytum. Während der ganzen Existenz der DDR gab es immer wieder Vorfälle mit rechtsextremem Hintergrund, wobei die jeweiligen Täter nicht immer über ein geschlossenes rechtsextremistisches Weltbild verfügten, zumal wenn es sich um Jugendliche handelte. Sie benutzten jedoch nationalsozialistische Symbole, um die Herrschenden zu provozieren und ihre Ablehnung des realsozia- listischen Systems auszudrücken. Die SED und die Sicherheitsorgane registrierten Hakenkreuzschmierereien, „neofaschistische“ Pöbeleien, positive Bezugnahmen auf Hitler und die NS-Zeit, antikommunistische Parolen, aber auch gewalttätige Über- griffe. Selbst in den „bewaffneten Organen“ kam es immer wieder zu rechtsextremistischen Vorfällen. So registrierte die für die Sicherung und Überwachung der NVA sowie der Grenztruppen zuständige MfS-Hauptabteilung I zwischen 1965 und 1980 2.400 politische Delikte, davon 730 mit rechtsextremistischem Hintergrund. Häufig äußer- ten die Beteiligten Sympathie für Hitler und das NS-Regime und machten aus ihrer antikommunistischen, fremdenfeindlichen und antisemitischen Gesinnung keinen Hehl. Auch Schüler und Lehrlinge fielen immer wieder durch rechtsextremistische Aktivitäten auf. SED und MfS differenzierten allerdings wenig zwischen den verschiedenen Formen antisozialistischer Haltungen bei Jugendlichen. Deshalb wurden zum Beispiel auch eher linke Punks oder Hippies schnell in die rechte Ecke gestellt. Die tatsächlich vorhandenen rechtsextremistischen Einstellungen konnten mit solch einer undiffe- renzierten Strategie natürlich nur schwer bekämpft werden, zumal man vor einer schonungslosen Ursachenforschung zurückschreckte und stattdessen routinemäßig „westliche Imperialisten“ für solche Tendenzen verantwortlich machte. Immerhin musste der Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, im Juni 1977 vor führenden FDJ-Funktionären die Existenz rechtsextremistischen Gedankenguts, bzw. entsprechender Gruppierungen einräumen: „Nicht zu unterschätzen sind auch bestimmte Auswirkungen der wesentlich verstärkten Propagandakampagne in der DDR und in Westberlin zur Verherrlichung des deutschen Militarismus und Faschismus. Un- ter einigen Jugendlichen, vor allem Schülern, zeigen sich Tendenzen der Nachahmung von faschistischen und militaristischen Traditionen bis hin zur Verwendung faschisti- scher Terminologie und Parolen. Das zeigt sich auch in der Bildung einzelner Grup- pierungen mit faschistischen Bezeichnungen, der Verwendung entsprechender Symbole und den Hetzschmierereien mit faschistischem Inhalt.“9

9 Vortrag vor FDJ-Funktionären an der Jugendhochschule „Wilhelm Pieck“. BStU, MfS 183/77.

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In der Folgezeit, insbesondere in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, nahm die In- tensität rechtsextremistischer Aktivitäten weiter zu, gewaltbereite Skinheads spielten eine immer wichtigere Rolle. Ein Skinheadüberfall auf Besucher eines Konzerts der West-Berliner Band „Element of Crime“ beschäftigte auch die internationale Presse, nicht zuletzt deshalb, weil vor Ort befindliche „Volkspolizisten“ nicht eingriffen. Immerhin gaben Partei und Sicherheitsorgane jetzt bei Jugendforschern Gutach- ten zur Bedrohung durch den Rechtsextremismus in Auftrag. Da diese neben der üblichen Beschreibung negativer Einflüsse aus dem Westen auch innere Ursachen, etwa Versäumnisse in Bildung und Erziehung sowie mangelnden gesellschaftlichen Widerstand gegen rechtsextremistisches Gedankengut aufzeigten, verschwanden sie aber weitgehend in der Schublade, eine gesellschaftliche Diskussion über diese Er- gebnisse fand nicht statt. So blieb es oppositionellen Gruppen vorbehalten, vor den Gefahren der sich zunehmend radikalisierenden und vernetzenden Szene zu war- nen. Ein publizistisches Warnsignal setzte im März 1989 der Dissident und Regisseur Konrad Weiß mit dem in der Samisdat-Zeitschrift „Kontext“ veröffentlichten viel zi- tierten Aufsatz „Die neue alte Gefahr. Junge Faschisten in der DDR“. Als im Verlauf des revolutionären Umbruchs ab Herbst 1989 der zuletzt verstärkte Verfolgungsdruck der DDR-Sicherheitsorgane auf die Skinheads wieder nachließ, konnten diese nunmehr ihr rechtsextremistisches Gedankengut und ihre Gewalt- bereitschaft weitgehend ungehindert ausleben – mit den bekannten Folgen. Rechts- extremistische Einstellungen bzw. entsprechendes Verhalten sind in Ostdeutschland allerdings kein Produkt der neunziger Jahre – hier gab es ebenso wenig eine Stun- de Null wie bezüglich der Ausländerfeindlichkeit, die im SED-Staat ebenfalls, wenn auch meist im Verborgenen, grassierte. Diese ist im Nachhinein recht schwer erklär- lich, da in der DDR nur sehr wenige Ausländer (1989: 1,2 Prozent der Bevölkerung) lebten. In den fünfziger Jahren kamen erste Gaststudenten, vorwiegend aus Entwicklungs- ländern, deren Studium zunächst als „Solidaritätsleistung“ von der DDR finanziert wurde, später folgten ihnen auch so genannte kommerzielle Studenten vor allem aus arabischen Ländern, deren Herkunftsstaaten mit Devisen zahlten. Ende der siebziger Jahre schloss die DDR-Führung zur Linderung des chronischen Arbeitskräfteman- gels mit „befreundeten Ländern“ Verträge über den Import von Arbeitskräften, mit denen diese Staaten in der Regel ihre Schulden bei der DDR bezahlten. Obwohl die SED-Führung immer „Völkerfreundschaft“ propagierte, lebten und arbeiteten Aus- länder, die auf der Basis dieser Vereinbarungen in die DDR gekommen waren, meist unter erbärmlichen Bedingungen. In Wohnheimen gettoisiert – dort standen ihnen vertragsgemäß fünf Quadratmeter Wohnfläche zu –, blieben sie auch in der Frei- zeit meist unter sich. Von rituellen „Solidaritätsveranstaltungen“ abgesehen, deren Besuch für deutsche und ausländische Arbeitskräfte obligatorisch war, tat das SED-

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Regime nichts, um die Isolierung der Gastarbeiter zu überwinden – im Gegenteil: Entsprechende Bemühungen von Gruppen im Umfeld der Kirchen wurden höchst misstrauisch beobachtet. Die ausländischen Billigarbeiter bekamen ihren Lohn meist nur teilweise ausgezahlt, den Rest verrechnete die DDR mit den Heimatländern. Sprachkenntnisse, die über das unmittelbar für die Arbeit nötige Elementarniveau hinausgingen, wurden nur selten vermittelt. Wer durch Arbeitsunfall oder Krankheit arbeitsunfähig wurde oder sich etwa für bessere Aufenthaltsbedingungen engagierte, wurde nach Hause zurückgeschickt. Auch schwangere Frauen hatten die Wahl zwi- schen Abtreibung oder Heimreise. Unter den 191.000 Ausländern, die zuletzt in der DDR lebten, waren 70 Prozent Männer, meist zwischen 20 und 40 Jahren. Vietname- sen, Polen, Kubaner, Angolaner und Mocambiquaner stellten die größten Gruppen. Hinzu kamen noch einmal bis zu 400.000 sowjetische Soldaten, die von der Bevöl- kerung streng abgeschirmt wurden, private Kontakte zu Deutschen waren ihnen untersagt. Mannschaftsdienstgrade durften die Kasernen nur unter Begleitung eines Offiziers in Gruppen verlassen und selbst Offiziere zeigten sich ohne Auftrag selten in der Öffentlichkeit. Die Lebensbedingungen der sowjetischen Soldaten, etwa ihre Unterbringung oder Verpflegung, lagen weit unter DDR-Niveau. Trafen die einfachen sowjetischen „Muschkoten“ noch auf einiges wohlwollendes Mitleid unter der DDR-Bevölkerung, wurden die ausländischen Studenten und Gastarbeiter von den Einheimischen dagegen mit einigen Vorurteilen konfrontiert. Man unterstellte ihnen häufig Schwarzhandel mit Mangelwaren oder neidete ihnen die Möglichkeit, nach West-Berlin zu reisen. Gelegentlich wurden Vorbehalte gegen Ausländer auch von „offiziellen Stellen“ geschürt, etwa als das MfS während der Streiks in Polen Anfang der achtziger Jahre antipolnische Witze in Umlauf brachte. Andere Kulturen blieben der DDR-Bevölkerung auch deshalb fremd, weil sie nur begrenzt ins Ausland reisen konnte. Die auf Isolation und nicht auf Integration zielende res- triktive SED-Ausländerpolitik förderte nicht den Kontakt zwischen Einheimischen und Ausländern, sondern beließ diese in der Rolle von Exoten. Letztlich waren die weit verbreiteten ausländer-/fremdenfeindlichen Einstellungen der Bevölkerung Re- sultat einer abgeschotteten totalitären Erziehungsdiktatur. Die Erziehung zum Hass gegenüber dem Klassenfeind war konstitutiver Bestandteil der DDR-Volksbildung, das für totalitäre Ideologien gleich welcher Natur typische Freund-Feind-Denken überstand den Wechsel vom Nationalsozialismus zum „Realsozialismus“. Die Milita- risierung in der Schule und im Alltag ließ Gewalt als selbstverständliches Mittel der Auseinandersetzung erscheinen. Eine Konfliktkultur, die Andersdenkende tolerierte, konnte und sollte so nicht entstehen.

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Außenpolitik Die Außenbeziehungen der DDR konzentrierten sich zunächst primär auf die Siche- rung der staatlichen Existenz, später auf den Ausbau der internationalen Anerken- nung. Auf außenpolitischem Feld waren die Abhängigkeiten von der sowjetischen Führungsmacht besonders groß, der Spielraum des SED-Staates entsprechend klein. Die relevanten Entscheidungen fielen auch in diesem Bereich auf Parteiebene, das Außenministerium hatte eher eine dienende Funktion. Gefragt waren bis zuletzt nicht innovative Außenpolitiker, sondern treue subalterne Parteisoldaten. Außen- politische Innovationen wurden bereits durch die Entscheidungsstrukturen im SED- Staat stark limitiert. Hinzu kam, dass Handlungsroutinen, normative Grunddispo- sitionen und die politische Sozialisation der relevanten Akteure zu einer falschen Perzeption der Lage, insbesondere einem weitgehend statischen Bild des Westens, beitrugen. Obwohl die Ideologie zweifellos immer wieder zur Legitimation der SED- Politik herangezogen wurde, war sie keineswegs bloße „Magd machtpolitischer Inter- essen“. Stattdessen wurden „mit der Muttermilch aufgesogene“ ideologische Prinzipien in aller Regel so lange durchgehalten, bis sie so dramatisch mit der außenpolitischen Realität kollidierten, dass nach pragmatischen Alternativen gesucht werden musste. Gerade im außenpolitischen Bereich verschob sich das Verhältnis zwischen ideolo- gischen und pragmatischen Elementen der SED-Politik aufgrund der dramatischen Devisenverschuldung immer mehr zugunsten der Letzteren, materielle Aspekte ge- wannen an Gewicht. Aus Sicht der SED waren auch die Beziehungen zur Bundesre- publik Außenpolitik, auf diesem Feld wurden die meisten materiellen und ideellen Ressourcen investiert. Jochen Staadt behandelt die innerdeutsche Problematik in einem eigenen Beitrag dieses Bandes, so dass hier nur einige Bemerkungen zum Spe- zialfall West-Berlin folgen sollen. Die alte Reichshauptstadt Berlin hatte für die SED eine überaus hohe politische Be- deutung. Die Sozialistische Einheitspartei nahm die Westsektoren Berlins von An- fang an als „Pfahl im Fleische“ des eigenen Herrschaftsbereichs wahr. Alle Anstren- gungen zu dessen Beseitigung schlugen fehl – auch nach zwei von der sowjetischen Führungsmacht der deutschen Kommunisten vorsätzlich ausgelösten großen Berlin- Krisen, die die Gefahr eines Weltkriegs in sich bargen, blieb das Problem bestehen. Die im Sommer 1961 von US-Präsident John F. Kennedy in seinen „three essentials“ klar formulierte westliche Interessenpolitik zur Erhaltung des Status quo für West- Berlin ließ den Ost-Berliner Machthabern und ihren Moskauer Unterstützern zur Eindämmung der Fluchtwelle nur die Möglichkeit der vollständigen Abriegelung ihres Teilstaates, wenn man nicht kriegerische Konflikte mit dem Westen riskieren oder die SED-Herrschaft fundamental in Frage stellen lassen wollte. Die Entscheidung zum Bau der Berliner Mauer wurde erst nach einem langwieri-

Dis | kurs 175 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 gen Diskussionsprozess zwischen Moskau und Ost-Berlin getroffen. Sie entsprach möglicherweise nicht den Präferenzen Ulbrichts, der wohl eher zu radikaleren Maß- nahmen wie der Kontrolle des Luftverkehrs zwischen Westdeutschland und West- Berlin durch DDR-Behörden neigte. Die Sowjetunion wählte indes eine weniger riskante Strategie, die von den USA als weitgehend definitiv eingeschätzt wurde. Da- mit fand die Entflechtung und Abgrenzung der Einflusssphären der Großmächte in Deutschland einen menschlich brutalen, aber in der Logik des Konfliktes liegenden Abschluss. Im Kontext dieser zweiten großen Berlin-Krise zeigten sich erste bedeutsame Inter- essengegensätze zwischen SED und KPdSU. Die DDR konnte zwar durch den Mau- erbau das für sie existenziell gewordene Problem der von der eigenen Bevölkerung praktizierten „Abstimmung mit den Füßen“ zunächst lösen. Dennoch blieb West-Ber- lin in den Augen des Ulbricht-Regimes als „Schaufenster des Westens“ ein permanen- tes Ärgernis. Die Bereitschaft, für dessen Beseitigung politische oder gar militärische Risiken einzugehen, war bei den deutschen Kommunisten sehr viel stärker als bei ihren in globalen Kategorien denkenden sowjetischen Gesinnungsgenossen. Die Sowjetunion sicherte der SED über Jahrzehnte in der Berlin-Frage immer wieder „brüderliche Solidarität“ zu, unterstützte sie aber in der Praxis nur so weit, wie es der eigenen Interessenlage entsprach. Das zeigte sich beim Vier-Mächte-Abkommen über Berlin 1972 besonders deutlich. Die Sowjetunion hatte an dessen Zustande- kommen ein sehr hohes Interesse, da die Bundesregierung ein Junktim zwischen der Ratifizierung des Moskauer Vertrages zwischen der Sowjetunion und der Bun- desrepublik und Fortschritten in der Berlin-Frage aufgestellt hatte. Die DDR muss- te mit der vertraglichen Zusicherung der Sowjetunion, „dass der Transitverkehr von zivilen Personen und Gütern zwischen den Westsektoren Berlins und der Bundesre- publik Deutschland auf Straßen, Schienen- und Wasserwegen durch das Territorium der Deutschen Demokratischen Republik ohne Behinderungen sein wird, dass dieser Verkehr erleichtert werden wird, damit er in der einfachsten und schnellsten Weise vor sich geht, dass er Vergünstigungen erfahren wird“, einen schweren Rückschlag für den eigenen Souveränitätsanspruch über die Transitstrecken zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik hinnehmen. Sowohl der Transitverkehr als auch die Reisemög- lichkeiten für West-Berliner nach Ost-Berlin und in die DDR wurden durch die Neu- regelungen entscheidend verbessert. Trotz aller Verträge hielt die SED allerdings an ihrem langfristigen Ziel fest, ganz Berlin in die DDR einzugliedern. Ihre „Rechtsauffassung“, West-Berlin sei Teil der „Hauptstadt der DDR“ und widerrechtlich von den Westmächten besetzt, wurde aus Opportunitätsgründen in späteren Jahren nicht mehr öffentlich ausgesprochen, in- tern aber nie revidiert. Noch für die letzte Dekade der SED-Herrschaft lassen sich konkrete militärische Pläne für die Eroberung der Westsektoren nachweisen, die

176 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland durch Verhaftungslisten und sogar Personalvorschläge für künftige Besatzungsbe- hörden im „befreiten“ West-Berlin ergänzt wurden. Militärisch war die DDR in den 1955 gegründeten Warschauer Pakt eingebunden, der nicht zuletzt zur Sicherung der politischen Kontrolle der Sowjetunion über ihre Satelliten diente. Diese hielt die Vertragspartner in weitgehender rüstungstechni- scher, logistischer und militärökonomischer Abhängigkeit. Im nie eingetretenen Fall eines Angriffs von außen auf einen der Mitgliedsstaaten bestand für die anderen eine sofortige Beistandspflicht. Tatsächlich wurden Mitglieder des Warschauer Pakts zweimal militärisch angegriffen (Ungarn 1956, Tschechoslowakei 1968). Allerdings ging die Aggression von den Bündnispartnern aus und galt als „sozialistische Bruder- hilfe“. Drei Jahrzehnte nach dem Einmarsch der Deutschen März 1939 in Prag hatte die SED keine Skrupel, von einer erfolgreichen Teilnahme der NVA an der Militärintervention gegen die „konterrevolutionären Kräfte“ in Prag zu schwad- ronieren, obwohl die ostdeutschen Kampfverbände die tschechoslowakische Grenze gar nicht überschritten hatten. Bereits im September 1950 war die DDR als Vollmitglied in den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW – im Westen als bekannt) aufgenommen wor- den. Dieser erreichte jedoch aufgrund der wirtschaftlichen Schwäche und der man- gelnden Integrationsbereitschaft seiner Mitglieder nie die Bedeutung der EWG. Wirtschafts- und Sozialpolitik Obwohl die wirtschaftliche Ausgangslage in beiden deutschen Staaten nach Kriegs- ende ähnlich war, geriet die SBZ/DDR schnell ins Hintertreffen. Neben höheren Re- parationszahlungen und Demontagen waren hierfür vor allem Enteignungen und die Vertreibung der wirtschaftlichen Eliten verantwortlich. Schritt für Schritt wurde bis Anfang der siebziger Jahre das Privateigentum im Produktionsbereich (abgese- hen von kleinen Handwerksbetrieben und Einzelhändlern) abgeschafft. Bereits 1947 entstand die Deutsche Wirtschaftskommission (DWK), mit der die institutionelle Voraussetzung für eine gesamtwirtschaftliche Planung, Lenkung und Kontrolle des Wirtschaftsprozesses geschaffen wurde. Der Ausbau der Schwerindustrie Priorität hatte – ähnlich wie in der Sowjetunion – Priorität. Die weitgehende Verstaatlichung der Wirtschaft bildete aus Sicht der Partei eine wichtige Voraussetzung für die Steu- erung der gesamten Gesellschaft. Bis Mitte der fünfziger Jahre wurde eine Zentral- verwaltungswirtschaft sowjetischer Provenienz etabliert. Die Überwachung und Steuerung der Ökonomie war eine staatliche Aufgabe (Ministerrat/Zentrale Plan- kommission). Wie in allen anderen Bereichen der Gesellschaft definierte auch hier die Parteiführung und ihr zentraler Apparat die Grundlinien und kontrollierte deren Ausführung. Im Laufe der Zeit wurde die Wirtschaft immer stärker zentralisiert und in Industriekonglomeraten, den so genannten Kombinaten, zusammengefasst. Von

Dis | kurs 177 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 dieser Zentralisierung erwartete man insbesondere eine Steigerung der Arbeitspro- duktivität durch Anwendung großtechnischer Verfahren, einen effektiveren Einsatz der Investitionsmittel und des vorhandenen Forschungs- und Entwicklungspoten- zials sowie die effektivere Nutzung der vorhandenen Ressourcen. Allerdings konnte auch die SED trotz aller Anstrengungen die der Planwirtschaft inhärenten gravieren- den Defizite nicht beseitigen. Als ökonomisch besonders problematisch erwies sich immer wieder das nach po- litischen Vorgaben erstellte Preissystem. Da diese „politischen Preise“ nur höchst selten die realen Knappheitsrelationen widerspiegelten, konnten sie ihre zentrale Steuerungsfunktion nicht ausfüllen. Aus der hohen Subventionierung von Gütern und Dienstleistungen des täglichen Lebens (Grundnahrungsmittel, Wasser, Ener- gie) resultierte ein verschwenderischer Umgang mit Ressourcen. So war es etwa für kleine Tierhalter günstiger, ihre Schweine mit Brot statt mit Kraftfutter zu füttern. Neben der ökonomischen Fehlsteuerung führte dies auch zu gravierenden ökologi- schen Schäden. Walter Ulbricht führte nach dem Mauerbau ein so genanntes „Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung“ (NÖSPL) ein, bei dem die direkte Lenkung der Ökonomie durch indirekte Steuerungsmethoden ergänzt werden sollte. Allerdings wurde das Experiment abgebrochen, bevor überhaupt potenzielle Erfolge sichtbar werden konnten. Erich Honecker nahm nach seinem Amtsantritt 1971 die Wirt- schaftsreformversuche seines Vorgängers endgültig und vollständig zurück. Er ver- suchte, die materiellen Bedürfnisse seiner Untertanen besser zu befriedigen und baute die DDR zu einem umfassenden Versorgungsstaat aus – auch wenn dessen finanzielle Leistungen bescheiden blieben und vorwiegend „produktiven“ Schichten zugute kamen. Die DDR-Gesellschaft war noch stärker als westliche Gesellschaften eine (erwerbs-)arbeitszentrierte, in der der Einzelne nur als „arbeitender Mensch“ Be- deutung hatte. Die DDR-Ruheständler dagegen mussten sich mit Rentenzahlungen von durchschnittlich 30–40 Prozent ihres letzten Nettoeinkommens begnügen, was nur einen geringen Lebensstandard sicherte. Auch die Situation von Behinderten in staatlichen Pflegeheimen etc. war häufig menschenunwürdig, da meist eine „Satt- und Sauberpflege“ betrieben wurde. Die starke Ausrichtung auf Konsumgüterproduktion sowie sozialpolitische Zuge- ständnisse (zum Beispiel Erhöhung der Mindestrenten und -löhne, Arbeitszeitver- kürzungen, mehr Urlaubstage, „Babyjahr“ usw.) überforderten nach einem kurzen Boom in der ersten Hälfte der siebziger Jahre die DDR-Ökonomie in hohem Maße. In den ersten zehn Jahren nach Verkündung der neuen Strategie, der so genann- ten „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“, wurden nach Schätzungen 200 Mrd. DDR-Mark mehr verbraucht als erwirtschaftet. Mittels umfangreicher westlicher Kredite, die für Industrieausrüstungen, aber auch für Konsumgüter verwendet wur-

178 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland den, sollten die Wirtschaft modernisiert und gleichzeitig die Bevölkerung materiell zufrieden gestellt werden. Doch die Refinanzierung der aufgenommenen Kredite gelang nicht. Die DDR musste schon 1977 erstmals Schulden machen, um alte Ver- bindlichkeiten zu bedienen. In dieser Zeit traten erste massive ökonomische Interessendifferenzen mit der Sow- jetunion auf, die sich vor allem um die sowjetischen Rohstofflieferungen und deren Preise drehten. Einen Höhepunkt der Auseinandersetzungen bildete die Kürzung der Rohöllieferungen durch die Sowjetunion im Jahre 1981 (von 19 auf 17 Mio. Tonnen). Die DDR hatte bis dahin durch die Veredlung des Rohöls und dessen Weiterver- kauf auf dem Weltmarkt hohe Devisenüberschüsse erzielt und damit ihre Handelsbi- lanz günstiger gestaltet. Dieses Geschäft wollten die Sowjets jetzt selbst machen und blieben trotz aller Einwände Honeckers, die materiellen Gewinne der Sowjetunion rechtfertigten die damit verbundene „Destabilisierung“ der DDR nicht, bei ihrem harten Kurs. In der Folge wurde in einem gigantischen Kraftakt die gesamte DDR-Wirtschaft so weit wie möglich wieder auf Braunkohle umgestellt, um weiter Öl exportieren zu können, was katastrophale ökologische Folgen hatte. Dennoch stand die DDR 1983 vor der Zahlungsunfähigkeit, da westliche Banken, durch den faktischen Bankrott Polens und Rumäniens gewarnt, jetzt restriktiver agierten. Nun konnte man nur noch auf den „Klassenfeind“ hoffen. Die beiden vom bayeri- schen Ministerpräsidenten Franz-Josef Strauß 1983 und 1984 vermittelten Milliar- denkredite halfen der DDR indes auch nur kurzfristig. Vorher hatte Honecker Strauß auf informellem Weg mit der massiven Abschottung der DDR von der Bundesrepub- lik gedroht, falls der innerdeutsche Handel eingeschränkt werden würde. Da sie diese Kredite nicht verbrauchte, sondern wieder anlegte und weitere Finanztricks anwand- te, täuschte die DDR der internationalen Bankenwelt erfolgreich Liquidität vor. Trotzdem blieb das Grundproblem bestehen: Die DDR-Ökonomie war international nicht wettbewerbsfähig, ihr Kapitalstock größtenteils verschlissen. Außerdem hat- te sie aufgrund des international hohen Zinsniveaus nach wie vor einen immensen Schuldendienst zu leisten. Einen letzten verzweifelten Versuch, den technologischen Rückstand aufzuholen, stellte das Mikroelektronikprogramm in der zweiten Hälf- te der achtziger Jahre dar, das Milliardenkosten in einheimischer sowie westlicher Währung produzierte. Doch auch dieses Vorhaben endete in einen Fiasko: Für einen auf dem Weltmarkt für zwei Dollar erhältlichen 256 Kbit-Chip mussten 1988 bei einem Industrieabgabepreis von 17 Mark 534 DDR-Mark aufgewendet werden – ein unglaubliches Subventionsgrab. Die Schulden der DDR betrugen 1989 nach verschiedenen Schätzungen zwischen 13 und 21 Milliarden US-Dollar. Um die Zahlungsfähigkeit der DDR ohne Hilfe von

Dis | kurs 179 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 außen zu sichern, hätte der Lebensstandard ihrer Bewohner um etwa 25–30 Prozent abgesenkt werden müssen, wie selbst interne SED-Analysen ergaben. Der langjährige ZK-Sekretär für Wirtschaft, Günter Mittag, musste im Herbst 1991 in einem Spiegel-Interview einräumen: „Ohne die Wiedervereinigung wäre die DDR einer ökonomischen Katastrophe mit unübersehbaren sozialen Folgen entgegengegan- gen, weil sie auf Dauer allein nicht überlebensfähig war […]. Man denke nur, angesichts dieser schwierigen Lage der Sowjetunion, was heute hier los wäre, wenn es die DDR noch gäbe. Unbeschreiblich. Da läuft es mir heiß und kalt über den Rücken. Mord und Totschlag, Elend und Hunger.“10 Die Sozialpolitik war zwar einerseits stark nivellierend ausgerichtet, andererseits ge- nossen SED-Funktionäre und Staatsbedienstete (insbesondere aus den „bewaffneten Organen“) erhebliche Privilegien, die sich während des Erwerbslebens vor allem im Gesundheitswesen bemerkbar machten, wo für diese Klientel exklusive Einrichtun- gen und Behandlungen zur Verfügung standen. Der große Einkommensunterschied zwischen einer Kaste von Politbürokraten und „Sicherheitsexperten“ auf der einen Seite (nur wenige „echte“ Leistungsträger erreich- ten ein annähernd ähnliches Einkommensniveau) und der „einfachen Bevölkerung“ auf der anderen Seite setzte sich durch ein unüberschaubares System von Zusatz- versorgungen auch im Rentenalter fort. Diese Differenzierungen haben zum Teil bis heute wenig verändert Bestand, da bundesdeutsche Gerichte die von der letz- ten – frei gewählten – DDR-Volkskammer beschlossenen Kürzungen der Renten aus bestimmten Zusatzversorgungssystemen nahezu vollständig wieder abschafften. So können sich ehemalige Stützen des Regimes für ihre häufig genug menschenverach- tende Tätigkeit heute in der Regel über eine weit höhere Rente freuen als ehemalige politische Häftlinge, die nicht selten nahe am Existenzminimum leben müssen. Nachdem vor allem in den sechziger Jahren der Wohnungsbau drastisch vernachläs- sigt worden war (die Altbaubestände verfielen ohnehin – der Volksmund formulierte drastisch „Ruinen schaffen ohne Waffen“), erklärte Honecker nach seinem Amtsan- tritt als Generalsekretär den Wohnungsbau zum „Kernstück der Sozialpolitik“. Das ambitionierte Wohnungsbauprogramm überstieg jedoch die finanziellen und mate- riellen Kapazitäten der DDR bei weitem, woraufhin man sich mit statistischen Fäl- schungen half, um trotzdem von einer Planerfüllung fabulieren zu können. Trotz aller Anstrengungen und der durchaus erreichten Verbesserungen blieb man auch auf diesem Feld weit hinter bundesdeutschem Niveau zurück. Nicht zuletzt aufgrund des allgegenwärtigen Rückstandes zu Westdeutschland gab es über den Wohnungsbau hinaus zahlreiche Fälle doppelter Buchführung bzw.

10 Der Spiegel, Nr. 37/1991.

180 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland

„kreativer“ Statistik, bis hin zur offenen Datenfälschung. Der SED-Parteiapparat überwachte und steuerte die Veröffentlichungspraxis der Staatlichen Zentralverwal- tung für Statistik sowie die äußerst restriktiv gehandhabte Weitergabe von Daten an staatliche Einrichtungen und sonstige Interessenten. Im Unterschied zur westlichen Praxis waren Mikrodaten (zum Beispiel Einzeldaten der Befragten) leicht zugäng- lich und wurden auch für nichtstatistische Zwecke verwendet, während Makrodaten aus Wirtschaft und Gesellschaft als umso geheimer galten, je stärker sie aggregiert waren. Die „parteiliche“ Manipulation statistischer Angaben diente neben direkten agitatorischen Zielsetzungen – allgemein bekannt zum Beispiel die absurde Legende, die DDR gehöre zu den zehn führenden Industrieländern der Welt und habe bereits Mitte der siebziger Jahre etwa Großbritannien und Italien hinsichtlich des Wohl- standes übertroffen – auch handfesten außenwirtschaftlichen Interessen. So ging es der SED-Führung u. a. darum, die internationale Kreditwürdigkeit ihres Staates durch Verschleierung des wachsenden Außenhandelsdefizits zu sichern. Die DDR hielt sich trotz entsprechender Verpflichtungen mit der Übergabe differenzierter und wahrheitsgetreuer Wirtschaftsdaten an internationale Organisationen wie die UNO sehr zurück. Diese Verschleierungstaktik wurde durch die „Blauäugigkeit“ man- cher westlicher Institutionen und Beobachter begünstigt. So ging das West-Berliner „Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung“ (DIW) prinzipiell davon aus, dass die amtlichen Zahlen aus der DDR zuverlässig seien und verwendete sie deshalb weit- gehend ungeprüft. Höchst geheim waren auch immer Umweltdaten aller Art. Die ökologischen Ver- werfungen gehörten zu den verheerendsten Hinterlassenschaften von vierzig Jahren SED-Diktatur. Das Desaster lag quasi vor jedermanns Haustür: Extreme Luftver- schmutzung in den Städten, das Waldsterben vor allem in den südlichen Mittelgebir- gen an der tschechoslowakischen Grenze, ungesicherte Mülldeponien, auf denen für harte Devisen auch zunehmend die Hinterlassenschaften der westdeutschen Kon- sumgesellschaft eingelagert wurden, und vieles mehr. Kein DDR-Bewohner oder Westbesucher, der sich nicht an die unnachahmliche Geruchsmischung in den In- nenstädten erinnern könnte, die durch die Abgase unzähliger Zweitaktmotoren und die Verbrennung minderwertiger Rohbraunkohle (im Volksmund „Blumenerde“ ge- nannt) entstand. Dagegen konnten damals nur Vermutungen über den Zustand der glücklicherweise nur wenigen Kernreaktoren angestellt werden. Die zwischen 1982 und 1989 verfassten Berichte der „Ständigen Kontrollgruppe Anlagensicherheit“, die erst 1990 durch den oppositionellen Physiker Sebastian Pflugbeil in die öffentliche Diskussion eingebracht werden konnten, lieferten Belege, dass auch die DDR nur knapp an einem Atomunfall im Ausmaß Tschernobyls vorbeigeschrammt war.

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Gesellschaft und Alltag Nach N. Luhmann sind moderne Industriegesellschaften durch die Ausdifferenzie- rung relativ selbstständiger Teilsysteme wie Politik, Ökonomie, Recht, Kultur usw. gekennzeichnet. Diese folgen vor allem ihrer eigenen Funktionslogik und können sich umso besser entwickeln, je weniger von außen eingegriffen wird. Die SED ver- suchte nach 1945, die bestehende Ausdifferenzierung der ostdeutschen Gesellschaft soweit wie möglich zurückzudrehen, indem sie alle Teilbereiche (weit stärker als die Nationalsozialisten vor ihr) dem Primat der Politik unterstellte. Die soziale Differen- zierung nach funktionalen Kriterien wurde weitgehend aufgehoben und durch eine neue soziale Gliederung nach politischen Kriterien ersetzt. Das Wechselspiel von so- zialem Wandel und wirtschaftlicher bzw. gesellschaftlicher Modernisierung wurde blockiert, was letztlich zu einer gesellschaftlichen Stagnation führen musste. Die Sozialstruktur der DDR erwies sich aufgrund ihrer politischen Verfasstheit als relativ stabil, aber auch als statisch, nachdem spätestens in den sechziger Jahren die Führungspositionen mit jungen systemloyalen Personen besetzt worden waren und nachfolgenden Generationen die Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg weitgehend versperrt blieben. Die geringer werdenden Aufstiegsmöglichkeiten führten zusam- men mit der Missachtung von Leistung, Qualifikation und individueller Verant- wortung bei gleichzeitiger Überbetonung der Systemloyalität zu einer wachsenden Unzufriedenheit, die sich auch immer wieder aus dem Vergleich mit der Bundesre- publik speiste. Der in den sechziger Jahren in der Bundesrepublik und anderen westlichen Staaten einsetzende Wertewandel konnte sich in der DDR nur ansatzweise durchsetzen, da einerseits das materielle Lebensniveau geringer war, andererseits die Pluralisierung der Lebensstile sowohl von den politischen Verhältnissen als auch von der ungebro- chen kleinbürgerlichen Prägung der DDR-Mehrheitsgesellschaft gebremst wurde. Helmut Schmidts „Sekundärtugenden“ (Ordnung, Fleiß, Sauberkeit usw.) hatten in der DDR bis zuletzt eine größere Bedeutung als in Westdeutschland. Dennoch re- bellierten insbesondere Teile der Jugend ähnlich wie im Westen gegen die ältere Ge- neration und ihre Werte; auch hier wurde dieser Protest vermittelt über Rockmusik, Kleidung und Lebensstil ausgedrückt. Die SED reagierte hilflos, je nach jugendpo- litischer Konjunktur versuchte sie, die Jugendlichen einzubinden („Niemanden fällt ein, der Jugend vorzuschreiben, sie solle ihre Gefühle und Stimmungen beim Tanz nur im Walzer- oder Tangorhythmus ausdrücken. Welchen Takt die Jugend wählt, ist ihr überlassen: Hauptsache, sie bleibt taktvoll“ – so im Jugendkommuniqué der SED vom September 1963 zu lesen.) oder mit aller Härte auf „Linie“ zu bringen: Im Dezember 1965 bliesen die Funktionäre im Gefolge des so genannten „Kahlschlagplenums“ des ZK der SED zum Frontalangriff gegen liberale Tendenzen in der Kultur und auch

182 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland gegen die Beatmusik als Symbol. Legendär ist Ulbrichts besonders kompetente Äu- ßerung in dieser Frage: „Die ewige Monotonie des ‚yeah, yeah, yeah‘ ist doch geistestö- tend und lächerlich.“ Die SED-Führung beschuldigte den „Gegner“, „diese Art Musik“ auszunutzen, „um durch die Übersteigerung der Beatrhythmen Jugendliche zu Exzes- sen aufzuputschen. Der schädliche Einfluss solcher Musik auf das Denken und Handeln von Jugendlichen wurde grob unterschätzt.“ Immer wieder weigerten sich aber gerade Jugendliche, sich vollständig in das häufig langweilige und stark normierte DDR-Alltagsleben einbinden zu lassen. Selbstver- ständlich gab es auch in der DDR eine „Alltagsnormalität“, die individuell verschie- den erlebt wurde. Aber der totalitäre Anspruch der SED auf eine umfassende Gestal- tung der Gesellschaft machte selbst vor dem Alltäglichen nicht Halt. Der Schatten möglicher Beobachtung und politischer Verfolgung legte sich auch auf den Alltag und das Familienleben. Eine echte „Nischengesellschaft“ – wie von Günter Gaus pos- tuliert – konnte es insofern nicht geben. Das Verhalten gegenüber der Obrigkeit blieb bei nahezu allen DDR-Bewohnern von einer tief verwurzelten Ängstlichkeit geprägt. Das ständige Pendeln zwischen Zivilcourage und Anpassung, das selbst den Alltag oppositioneller Kreise bestimm- te, konnte selten durchbrochen werden. Die Furcht davor, auch als „Normalbürger“ zum Staatsfeind gestempelt zu werden, hielt viele davon ab, der Diktatur entgegenzu- treten. An eine grundsätzliche Veränderung der Verhältnisse glaubte bis zum Herbst 1989 kaum jemand, eine DDR ohne das Machtmonopol der SED schien schlichtweg nicht denkbar. Stefan Berg, in der DDR Bausoldat und später Redakteur einer Kir- chenzeitung, beschreibt die „Geschichte der eigenen Angst“, die den Alltag mitprägte, in eindrucksvollen Worten: „Die allmächtige Partei brauchte nur noch in Ausnahme- fällen – an der Grenze zum Beispiel – die brutalen Herrschaftsinstrumente. Für den Alltag hatte sie ausgesorgt. Denn die Angst hatte sie in den Jahren zuvor tief in der Bevölkerung eingepflanzt. Nun konnte sie Anpassung ernten. Wie eine Erbkrankheit wurde sie von den Eltern an die Kinder weitergegeben. So verinnerlicht waren bestimm- te Erfahrungen, dass viele sie gar nicht machen mussten, um sich doch so zu verhalten, als hätten sie sie gemacht. Heute werden, auch aus Verärgerung über das eigene ange- passte Verhalten, vielfach der Verhältnisse umgedeutet: Es sei alles gar nicht so schlimm gewesen. So steht jeder besser da, vor allem vor sich selbst.“11 Die SED bemühte sich, den Alltag ihrer zunehmend säkularisierten Gesellschaft mit eigenen Ritualen zu durchsetzen – besonders durch Massenveranstaltungen aller Art, die das Volk von der Zukunft des Sozialismus überzeugen sollten. Äußerlich ähnelten Militärparaden, Fackelzüge und andere inszenierte Großdemonstrationen vergleichbaren Veranstaltungen in der NS-Zeit, doch fehlte im Gegensatz zu diesen

11 Berg, Stefan: Die Geschichte der eigenen Angst, in: Kurth (wie Anm. 1), Band 1: S. 38 ff.

Dis | kurs 183 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 weithin die innere Begeisterung der Teilnehmer. Selbst auf sportlicher Ebene klappte die Mobilisierung nicht im gewünschten Maß: So erhielten etwa dieselben Fußballer bei Vereinsbegegnungen oft lautstärkere Unterstützung als bei ihrem Auftritt im Tri- kot der „Sportnation DDR“. Die formale Durchführung eines von der SED vorgegebenen Rituals war bei weitem nicht immer mit einer Identifikation mit dessen Inhalten und Zielen verbunden. Die Jugendweihe, an der zuletzt 97 Prozent der Jugendlichen teilnahmen, kann als ein treffendes Beispiel für die „Privatisierung“ eines derartigen Verhaltensmusters ange- sehen werden. Aus Sicht der Partei sollte diese antikirchliche Prozedur die Jugend- lichen auf die Treue zum Staat und dessen Verteidigung verpflichten. Die meisten Familien ignorierten freilich den politischen und ideologischen Gehalt der Jugend- weihe und begriffen sie als eine Art Familienfeier, die an die Stelle der Konfirmation rückte. Die auch heute noch anhaltende Beliebtheit der Jugendweihe unter früheren DDR- Bewohnern dürfte bei manchem Beobachter Befremden auslösen. Die jetzt von Ver- einen getragenen Feierstunden bieten allerdings außer gut gemeinten Ermahnungen für den künftigen Lebensweg in der Regel keinerlei Inhalte mehr. Dieses Phänomen steht beispielhaft für die selektive Erinnerung nicht weniger Ostdeutscher an die SED-Zeit. Frühere Negativerfahrungen werden von heutigen Problemen überlagert, während gleichzeitig der DDR zugeschriebene positive Eigenschaften wie „soziale Sicherheit“ oder „größere Solidarität untereinander“ in der Erinnerung überhöht wer- den und den SED-Staat in mildes Licht rücken. Viele ostdeutsche Eltern und Lehrer geben ein solches verklärtes Bild der DDR auch an die nachfolgende Generation wei- ter. Die politische Bildung steht hier wohl noch jahrzehntelang vor der Aufgabe, dem mit Fakten über das reale Leben in der SED-Diktatur Aufklärung zu leisten, auch wenn dies oft genug als Sisyphusarbeit erscheint. Der Artikel ist zuerst erschienen in: Schwarz, Hans-Peter Schwarz (Hrsg.): Die Bundes- republik Deutschland. Eine Bilanz nach 60 Jahren. München 2008.

184 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland

Thema: 60 Jahre Bundesrepublik deutschland a) Das Selbst B) Das Andere c) Innen und Außen D) Abgründiges

Geteiltes Lachen? Die Rezeption von Filmkomödien über die deutsche Teilung in der Geschichte der Bundesrepublik

Benjamin Magofsky Wilhelm-Dörpfeld-Gymnasium Wuppertal E-Mail: [email protected]

Schlüsselwörter Spielfilm, deutsche Teilung, Erinnerungskultur, Zeitgeschichte, Humor

Lachen gilt gemeinhin als angeborene Ausdruckweise des Menschen auf als lustig empfundene Situationen. Daher kann es ein ,geteiltes‘ Lachen nicht geben, wohl aber kulturell, regional oder national ,geteilte‘ Gemeinsamkeiten bzw. entlang von Gren- zen ,geteilte’ Unterschiede in dem, was humorvoll erscheint. Ausgehend vom Thema dieses Heftes fragt der vorliegende Artikel daher nach Konstanten und Veränderun- gen in der Bereitschaft von Kinopublikum, Presse und Forschung in der Bundesrepu- blik, über Filmkomödien zur deutschen Teilung von 1945/49 bis 1989/90 zu lachen: Wer kann wann, wo und warum über die staatliche Trennung lachen, wer nicht? Teilen Ost und West nach der deutschen Einheit das Lachen oder bleibt es entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze geteilt? Zu diesen Fragen werden exem- plarische Filme analysiert, wobei die Filme selbst1 und ihre Rezeption in anderen

1 Im Zentrum dieses Artikels stehen die Filme One, two, three (Eins, zwei, drei, 1961), Meier (1986), Go, Trabi, Go (1990), Sonnenallee (1999) und Good Bye, Lenin! (2003). Vgl. zu den Filmen selbst u. a. Lindenberger, Thomas: Zeitgeschichte am Schneide- tisch. Zur Historisierung der DDR in deutschen Spielfilmen. In: Paul, Gerhard (Hrsg.): Visual History. Ein Studienbuch. Göttingen 2006, S. 353–372, und Magofsky, Benjamin: Berliner Mauer und Deutsche Frage im bundesrepublikanischen Spielfilm 1982-2007. Hamburg 2009.

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Staaten nur randlich berücksichtigt werden können. Denn während politische Ideale der Warschauer Vertragsstaaten selbstkritische Komödienproduktionen weithin ver- hindert haben,2 begann im Westen schon früh die ironische Auseinandersetzung mit dem Deutschland der Nachkriegszeit. Kein Lachen über die Teilung – Die „Rücksicht“ auf das deutsche Publikum Ein erstes Beispiel dafür ist Billy Wilders US-Liebeskomödie A foreign Affair (Eine auswärtige Affäre) von 1948. Da sich das zeitgleich heraufziehende Leitbild des Kal- ten Krieges aber offenbar noch nicht derart verfestigt hatte, um das in vier Sekto- ren geteilte Berlin für eine Satire zur Teilung Deutschlands und der Welt nutzen zu können, bezieht der Film seine Lacher aus Affären von US-Soldaten mit ehemaligen Nazis und einer rigiden US-Kongressabgeordneten. Dieser bereits von der US-Kritik zwiespältig beurteilte Film wurde vor dem Hintergrund der moralisierenden und tabuisierenden Erinnerungskultur in Westdeutschland aus „Rücksicht“3 auf das Pub- likum bis 1977 jedoch überhaupt nicht gezeigt. So wurden in der Bundesrepublik nur sehr wenige Filme über das heikle Thema der deutschen Teilung gedreht. Das Drama Flucht nach Berlin (1961) etwa musste mit US-Dollar finanziert werden, und wurde von der Presse als „Tabubruch“4 be- wertet. Hatten es im Rahmen des durch die staatliche Trennung im Scheitern be- griffenen Kultes um den deutschen Nationalstaat bereits ernste Filme schwer, die als „Kassengift“5 empfundene Teilung zu thematisieren, so war ein Konsens für eine humorvolle Auseinandersetzung gar nicht erst gegeben. Man lachte lieber über das entpolitisierte Unterhaltungskino des von Heinz Erhardt personifizierten Massen- konsums und Massentourismus im neuen Wirtschaftswunderland.6

2 Vgl. Stöver, Bernd: Der Kalte Krieg 1947–1991. Geschichte eines radikalen Zeitalters. Bonn 2007, S. 268. Ein Beispiel für die Grenzen des Humors ist der DEFA-Film Das Kleid (1961). 3 Karasek, Hellmuth: Billy Wilder. Eine Nahaufnahme. München ³1995, S. 338. Vgl. zur deut- schen Erinnerungskultur Thamer, Hans-Ulrich: Der Holocaust in der deutschen Erinne- rungskultur vor und nach 1989. In: Birkmeyer, Jens / Blasberg, Cornelia (Hrsg.): Erinnern des Holocaust? Eine neue Generation sucht Antworten. Bielefeld 2006, S. 81–93. 4 Dahl, Günter: Petronius an der Zonengrenze. In: Die Zeit 48/1961, 24.11.1961, S. 9. 5 Lindenberger, Thomas: Geteilte Welt, geteilter Himmel? Der Kalte Krieg und die Massenmedien in gesellschaftsgeschichtlicher Perspektive. In: Arnold, Klaus / Claassen, Christoph (Hrsg.): Zwischen Pop und Propaganda. Radio in der DDR. Berlin 2004, S. 27-42, hier S. 43. Vgl. zum Nationalstaatskult Wolfrum, Edgar: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948- 1990. Darmstadt 1999. 6 Vgl. Hake, Sabine: Filme in Deutschland. Geschichte und Geschichten seit 1895. Rein- bek bei Hamburg 2004, S. 201.

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Eins, zwei, drei – die falsche Satire zur falschen Zeit Im Sommer 1961 war Billy Wilder erneut in Berlin und drehte mit One, two, three (Eins, zwei, drei, 1961) eine Satire über die innerdeutsche Grenze überschreitende Ost-West-Liebe und -Propaganda. Entgegen Eine auswärtige Affäre war nun die Ideo- logie des Kalten Krieges jedoch zu einer derart unhinterfragten Erzählung geworden, dass Wilder es sich zur Aufgabe setzen konnte, „wenigstens für meinen Teil die ideo- logischen Nebel [zu] vertreiben, die unsere Welt vergiften“, um die „Komödienfiguren“7 hinter ihnen sichtbar zu machen. Durchaus ähnlich hatte Gotthold Ephraim Lessing schon 1767 den Nutzen der Komödie im „Lachen selbst [gesehen]; in der Übung un- serer Fähigkeit das Lächerliche zu bemerken; […] und die ganze Moral hat kein kräfti- gers, wirksamers, als das Lächerliche“8. Während man auch diesen Film in den USA uneinig beurteilte,9 blieben in der Bun- desrepublik Rezeptionen, die anerkennend auf „eine turbulente West-Ost-Farce“10 mit Persiflagen auf Chruschtschow,Coca-Cola und die SS verwiesen, die Ausnahme. Denn Billy Wilders „Klamotte“, so hieß es in der Zeit, „kalauert […] anderthalb Stun- den über Alte und Neue Welt, Ost und West, Kapitalisten und Kommunisten“, und ihre realitätsfernen Witze „speisen sie sich aus längst ranzigen Klischeevorstellungen“11. Obwohl sie primär auf Kosten militaristischer und unzivilisierter Sozialisten gehen, fanden viele Westdeutschen die Persiflage der eigenen Haltung im Kalten Krieg nicht komisch: „Die meisten Gags haben mehr historischen Tiefgang, als die Zuschauer damals anerkennen wollten.“12 So trat der in der zweiten Berlinkrise ohnehin schon eiskalte Krieg mit dem Bau der Berliner Mauer seit dem 13. August 1961 in eine neue Eiszeit ein, die auch den Humor der Zeitgenossen gefrieren ließ. Denn die für das Funktionieren der fiktiven Komödie notwendige Grenzüberschreitung des Ost-Berliner Sozialisten verhinderte durch die tatsächliche Existenz der Mauer ein Lachen der Zuschauer, gerade weil diese Grenze zunehmend als Betonierung der Teilung empfunden wurde und der Film zudem das Nationalsymbol Brandenburger Tor verwendete.13 Wilder erklärte das fehlende Lachen der Zeitgenossen damit, dass ein Mann, der

7 Wolff, Martin: Cola gegen Kommunisten. In: Spiegel Special. Geschichte, 3 (2008), S. 70. 8 Lessing, Gotthold E.: Hamburgische Dramaturgie. In: In: Göpfert, Herbert G. (Hrsg.): Gott- hold Ephraim Lessing: Werke. Band 4. München 1970 ff., S. 230-707, hier S. 363. 9 Vgl. Karasek, Hellmuth: Billy Wilder, S. 446 10 Ohne Verfasser: Eins, zwei, drei. In: Der Spiegel 53/1961, 27.12.1961, S. 80. 11 Ohne Verfasser: Eins, zwei, drei. In: Die Zeit 2/1962, 12.1.1962, S. 16. 12 Wolff, Martin: Cola, S. 70. 13 Vgl. zur Bedeutung dieses ehemaligen Stadttores als Nationalsymbol Reichel, Peter: Schwarz-Rot-Gold. Kleine Geschichte deutscher Nationalsymbole. Bonn 2005, S. 99–110.

Dis | kurs 187 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 hinfällt und wieder aufsteht zwar komisch sei, ein Sturz eines Mannes, der liegen bleibt, aber tragisch. Solch ein tragischer Fall war auch der Mauerbau, sodass der Film im Dezember 1961 unter völlig anderen Umständen ins Kino kam: Lachen war jetzt unmöglich geworden, wenn Menschen auf der Flucht aus der DDR an der Mau- er erschossen werden.14 Gerade national denkenden Zuschauern erschien eine Satire auf diese ,deutsche Tragödie’ daher als zynisches Grinsen, oder wie es in der Berliner Zeitung über den „scheußlichste[n] Film“ über Berlin hieß: „Wem das Elend der ge- teilten Stadt so nah ist, der ist nicht geneigt, darüber Witze zu machen. Aber Billy Wilder findet das komisch, was uns das Herz zerreißt“15. Insgesamt erforderte Eins, zwei, drei, ähnlich wie der DEFA-Flop Sonntagsfahrer (1963) und spätere Komödien eine Übereinkunft zwischen Filmemacher und Film- zuschauer über den Aspekt, der die Angelegenheit komisch macht. Diese Überein- stimmung war allerdings Ende 1961 auf beiden Seiten der Mauer nicht gegeben. Eins, zwei, drei fiel daher bei Presse und Publikum gleichermaßen durch und verschwand die nächsten 24 Jahre aus den deutschen Kinos. Die 1980er-Jahre – Gewöhnung an die Teilung und Bereitschaft zu lachen In den 1970er-Jahren begannen viele Westdeutsche aber allmählich, die Existenz von zwei deutschen Staaten zu akzeptieren und ihre Hoffnungen auf eine Wiedervereini- gung zu begraben. Selbst die Berliner Grenze wurde immer weniger als ,Todesmau- er’ wahrgenommen und immer mehr in den Alltag integriert.16 Die Enttabuisierung des satirischen Redens über die deutsche Teilung wurde ferner bestärkt durch die Abkehr von der antisowjetischen ,Politik der Stärke‘ der Ära Adenauer hin zum von Egon Bahr verkündeten ,Wandel durch Annäherung‘ sowie durch neue ironische Auseinandersetzungen mit der deutschen Teilung. Dies beginnt zu Zeiten des Grundlagenvertrages etwa mit der Fernsehserie Ein Herz und eine Seele17 und wird Ende der 1970er-Jahre durch die Neuauflage der Deutschen

14 Vgl. Karasek, Hellmuth: Billy Wilder, S. 444 f. 15 Zit. nach Schulze, Hartmut: Komische Cola. 24 Jahre nach ihrer erfolglosen Urauffüh- rung wird Billy Wilders Ost-West-Klamotte ,Eins, zwei, drei’ zum Kino-Hit der linken Szene. In: Der Spiegel 27/1985, 1.7.1985, S. 142–143, hier S. 143. 16 Vgl. zur Wahrnehmung der Mauer Wolfrum, Edgar: Die Mauer. In: François, Etienne / Schulze, Hagen (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte. Eine Auswahl. Bonn 2005, S. 385– 401. 17 Vor allem die Folgen Besuch aus der Ostzone (1973) und Der Frühjahrsputz (1974) persiflieren die bundesrepublikanische Kalte Krieger-Rhetorik Alfred Tetzlaffs, der als re- aktionärer BILD-Leser jedes Ostblock- und DDR-Klischee bedient und Berlin als „Symbol der Freiheit“ stilisiert.

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Frage in der Publizistik18 verstärkt. Daran und an die westliche Friedensbewegung schließen ernste Filme zur Teilung wie Himmel über Berlin (1987) und der oft zu Unrecht oft als „Klamotte“ und „Nummernrevue“19 verspottete Mann auf der Mauer (1982) an. Beide rebellieren gegen Gewöhnung und Desinteresse vieler Westdeut- scher an der DDR und der Berliner Mauer.20 Im Gegensatz zu diesen Dramen wurden Komödien von den Feuilletons nur selten wahrgenommen. 1979 drehte der Schweizer Niklaus Schilling, wie Wilder also kein Bundesdeutscher, seinen von der Presse gelobten Willi-Busch-Report.21 Sein Erfolg ebnete den Weg für Einmal Kudamm und zurück (1985) und Meier (1986). Für die Geschichte des Ost-Berliner Titelhelden Meier, der beim Mauerspringen SED-kritisch mit Witz zum Held der Arbeit aufsteigt, sei, so ein Kritiker der FAZ, das Genre der Komödie genau die richtige Wahl. Dabei ist der 1973 aus der DDR ausgewiesene Regisseur Peter Timm nicht auf Schadenfreude und Denunziation aus; im Sinne Lessings wirkt das Lachen im Film befreiend. „Er hat die makabre Mauer- und Trennungsabsurdität von der grotesken, der komödiantischen Seite betrachtet“ 22 und so Spaß und Nachdenken über die deutsche Teilung ermöglicht. Die Bereitschaft über die Teilung zu lachen, war aber nicht nur in den Feuilletons angelangt; auch deuten publikumswirksame Komödien wie Meier mit immerhin 264.000 Kinozuschauern in den sonst von Hollywood und Klamauk dominierten 1980er-Jahren auf einen von den Filmproduzenten erwarteten Konsens über die Ko- mik der Teilung hin. Da nun Komödien wie Dramen den im Westen weithin ver- schwundenen Glauben an eine gesamtdeutsche Nation belegen,23 scheint gerade die- se Gewöhnung auch die Bereitschaft zum Lachen gesteigert zu haben. All dies führte 1985 ebenfalls zur Wiederaufführung vonEins, zwei, drei, der nun zu einem Publikumshit wurde, zuerst in West-Berlin und der linken Szene junger Men- schen, die ein Berlin ohne Mauer überhaupt nicht kannten, dann auch im ganzen

18 Vgl. dazu Jesse, Eckhard: Die deutsche Frage rediviva. Eine Auseinandersetzung mit der neueren Literatur. In: Deutschland Archiv, 17 (1984), S. 397–414. 19 Wieser, Harald: Theo gegen die Mauer. In: Der Spiegel 40/1982, 14.10.1982, S. 250–252. 20 Vgl. zur Mauer- und Nationswahrnehmung Magofsky, Benjamin: Berliner Mauer, S. 42–83. 21 Dem Regisseur sei, so ein Kritiker der Süddeutschen Zeitung, trotz aller „Macken […] eine sehr deutsche Komödie über die deutsche Tragödie gelungen – also etwas schillernd Ambivalentes“ (Buchka, Peter: Einzelkämpfer an der Grenze. Niklaus Schillings vierter Film „Der Willi-Busch-Report“. In: Süddeutsche Zeitung 182/1980, 8.8.1980, S. 17). 22 Mischke, Roland: Raufaser und Hamwirnich. Im Kino: „Meier“, der Debütfilm von Peter Timm. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 132/1986, 11.6.1986, S. 26. 23 Vgl. Magofsky, Benjamin: Berliner Mauer, S. 54. f, 79 ff.

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Bundesgebiet.24 Jetzt erst lobte man die Überwindung und Persiflierung der Front- stellungen des Kalten Krieges mit seinen Klischees von Hacken schlagenden Ex-Na- zis und nach Profit strebenden, kulturlosen US-Amerikanern.25 Nun, im Rückblick auf die Teilung und die (atomare) Bedrohung des Kalten Krieges gilt Eins, zwei, drei als „ein komödiantisches Meisterwerk“, das „bis heute nichts von ihrem Witz verloren hat“26. Doch kaum konnte man sich damals an Teilung und Mauer gewöhnen und über beide lachen, wurden am 9. November 1989 die Grenzen geöffnet und die Ein- heit stand wieder auf der Tagesordnung. ,Ossis‘ und ‚Wessis‘ nach dem Mauerfall – Splatterfilme undR oad- movies Zunächst wurde die Geschichte der Teilung nur selten von Filmen erinnert, die dann wie Apfelbäume (1992) und Das Versprechen (1995) oft streng mit der von der Stasi verkörperten DDR abrechnen. Häufiger begleitet der Film uninteressiert an histori- scher Aufarbeitung in Form unpolitischer Beziehungskomödien die Gegenwart und die Probleme der ,inneren Einheit’ von West- und Ostdeutschen.27 Lange bevor aber die ersten Wende-Dramen und -Komödien auf die Leinwand ka- men, zeigt Christoph Schlingensief in Das deutsche Kettensägenmassaker (1990) eine westdeutsche Familie, die gen Westen ziehende Ostdeutsche zu Wurst verarbei- tet. Indem sich diese Groteske gegen jedes konventionelle Verständnis von Komik sperrt, hat sie wie kein zweiter Film zur deutschen Einheit bei der Mehrheit der Ki- nozuschauer und Kritiker Abscheu und Entsetzen hervorgerufen. Dennoch würdig- ten einige Rezensenten den Film als gelungene Persiflage sowohl auf Titel gebende US-Splatterfilme als auch auf die anfangs des Films gezeigten Freiheits- und Ein- heitsbilder.28 Gleichwohl blieben Grotesken wie Das deutsche Kettensägenmassaker oder der späte DEFA-Film Letztes aus der DaDaeR (1990) von der Presse kaum, vom

24 Vgl. Schulze, Hartmut: Komische Cola, S. 142 f. 25 Vgl. insgesamt Rother, Rainer: Feindliche Brüder. Der Kalte Krieg und der deutsche Film. In: Vorsteher, Dieter (Hrsg.): Deutschland im Kalten Krieg. 1945–1963. Berlin 1992, S. 101–111. 26 Wolff, Martin: Cola, S. 70. 27 Vgl. Hake, Sabine: Filme, S. 304 ff., vgl. zu den Nach-Wende-Filmen Naughton, Leonie: That Was the Wild East. Film Culture, Unification and the ,New’ Germany. Ann Arbor 2002. 28 Der Film gilt als „Antwort auf die deutsche Laubsägenpolitik: die Wiederzerstückelung Deutschlands. […] Seine Darsteller schlachten ,Ossis’, und der Film schlachtet Deutsch- land“ (Kilb, Andreas: Die deutsche Säge sägt. In: Die Zeit 45/1990, 2.11.1990, S. 66). Denn auf Willy Brandts Diktum über das Zusammenwachsen derer, die zusammenge- hören, antwortet das enfant terrible Schlingensief „mit der totalen Amputation“ (Seidel, Claudius: Von Menschen und Metzgern. „Das deutsche Kettensägenmassaker“. In: Der Spiegel 49/1990, 13.12.1990, S. 265).

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Massenpublikum überhaupt nicht beachtet. Anders war dies bei Peter Timms von 1,4 Mio. Kinozuschauern gesehenem Roadmovie Go, Trabi, Go (1990), der die Familie Struutz und ihren Trabi, dem Symbol des Sozialismus, von Bitterfeld über Bayern nach Italien begleitet. Im Gegensatz zu seiner vom Zusammenbruch der ostdeut- schen Wirtschaft geprägten FortsetzungDas war der wilde Osten (1992) umgeht der Film tunlichst politische brisante Themen.29 Dies schien für den zweiterfolgreichsten Films des Jahres 1991 ebenso publikumswirksam zu sein wie das Anknüpfen an die auf beiden Seiten der ehemaligen Grenze vorhandenen Klischees über die nun auch begrifflich stereotypisierbaren ,Ossis’ und ihren kulturell scheinbar weit entfernten ,Wessis‘. Trotz staatlicher Einheit blieb die Bereitschaft zu lachen entlang der ehemaligen Grenze getrennt: „In West-Kinos läuft der ,Trabi’ mit mäßigem Erfolg, im Osten ist er ein Renner“30. Gerade die westdeutsche Kritik schüttelte den Kopf. So reihe das schwache Drehbuch sich zu oft wiederholende „Stereotypen aneinander, hakt kurze Kabarett-Sketche ab“, sodass „der Film schlicht langweilig“31 ist. Nur selten werden die Gründe dieses ,geteilten Lachens’ bei Go, Trabi, Go und den beiden anderen über 500.000 Kinozuschauer zählenden Roadmovies Das war der wilde Osten und Wir können auch anders… (1993) erkannt. Denn gerade im Osten förderten sie ein Wir-Gefühl von Film und Publikum, und beschworen „Traumbil- der einer neuen Heimat“, um mit „erbaulichen Geschichten […] die Wünsche des Einzelnen mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit“32 im neuen Deutschland zu ver- söhnen. Entgegen düsteren, an den Kinokassen gescheiterten Wende-Dramen wie Ostkreuz (1991) verweisen diese – oft von Westdeutschen gedrehten – Komödien auf „the comical side of east Germany’s take-over by the west“33. Ob der Humor nun zur ,inneren Einheit’ beigetragen oder aber Ost-West-Kontakte erschwert hat, sei dahin gestellt. Jedenfalls waren die Probleme der ,Mauer in den Köpfen’ am Ende des Jahr- zehnts größer als zu Beginn.34

29 Vgl. Naughton, Leonie: Wild East, S. 165–205. 30 Ohne Verfasser: Sanfter Trabi, himmelblau. In: Der Spiegel 7/1991, 11.2.1991, S. 207b 31 Pa., A.: Go, Trabi, Go. In: film-dienst 3/1991, 5.2.1991 32 Hake, Sabine: Filme, S. 314 f. 33 Berghahn, Daniela: East German Cinema after Unification. In: Clarke, David (Hrsg.): Ger- man Cinema Since Unification. New York 2006, S. 79–104, hier S. 94 f. 34 Vgl. z. B. Neller, Katja: Getrennt vereint? Ost-West-Identitäten, Stereotypen und Fremd- heitsgefühle nach 15 Jahren deutscher Einheit. In: Falter, Jürgen W. u. a. (Hrsg.): Sind wir ein Volk? Ost- und Westdeutschland im Vergleich. München 2006, S. 13-36.

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Sonnenallee, ‚Ostalgie‘ und das „Schmierenkabarett mit Schun- kelmusik“ Was war geschehen? Kurz nach der Wiedervereinigung schien den meisten Ost- deutschen die DDR in fast allen Aspekten der Bundesrepublik als unterlegen, und auch die ehemaligen DDR-Produkte verschwanden aus den Regalen. Als Thomas Brussig 1991 den Sonnenallee–Stoff verfilmen wollte, wurde er ebenso wie ein Jahr später Wolfgang Becker und sein Good Bye Lenin!-Drehbuch mit der Antwort zu- rückgewiesen: ,Ost-Stoffe laufen nicht’. Erst der Erfolg von Brussigs Roman Helden wie wir von 1995 bewies das Gegenteil und ebnete den Weg für eine neue Art der Filmkomödie zur Teilung, die im Herbst 1999 mit seiner Romanverfilmung und mit Sonnenallee Einzug erhielt. Viel interessanter als der mit unter 200.000 Zuschauern nur mäßig erfolgreiche und oft kritisierte FilmHelden wie wir (1999)35 ist die Rezep- tionsgeschichte von Sonnenallee (1999). Angesichts des Comebacks vieler DDR-Produkte befürchtete man in der FAZ schon beim Nachbau der 70er-Jahre-Sonnenallee in den Filmstudios Babelsberg, die Szene- rie werde „jene Aura konkreter Geschichtserfahrung verströmen, die die Besucher der Mauergedenkstätte in der Bernauer Straße so schmerzlich vermissen […]. Nicht Auf- arbeitung, Verklärung ist diesmal das Ziel.“36 In der Tat sei es Aufgabe des Films, so Brussig, „daß der Westen neidisch wird, daß er nicht in der DDR leben durfte“37. Auch der ostdeutsche Regisseur Leander Haußmann will in seiner 1970er-Jahre-Jugend „einfach gefeiert“ und „viel gelacht“ 38 haben. Folglich startete der Film am 7. Oktober,

35 Nach einer einfallsreichen halben Stunde, sei die Literaturverfilmung, so die Kritik, insgesamt misslungen, der Film zu langatmig, zu voraussehbar und bleibe mit den schlechten Darstellern auf den Niveau einer Fernsehkomödie stehen, der weder Ost- noch Westdeutschen gefalle (vgl. etwa Osang, Alexander: Eine Packung Ostpralinen. Die Verfilmung des Thomas-Brussig-Romans „Helden wie wir“ erinnert an „Forrest Gump“ ­nur in den Farben der DDR. In: SpiegelOnline 8.11.1999, http://www.spiegel.de/kultur/ kino/0,1518,51416,00.html, und Platthaus, Andreas: Teddybär, geh du voran. Der erste Spielfilm des Theaterregisseurs Leander Haußmann bringt Farbe in die DDR. In: Frank- furter Allgemeine Zeitung 261/1999, 9.11.1999, S. 46). 36 Thomann, Jörg: Der neidische Westen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 195/1998, 24.8.1998. S. 42. 37 Ebd. 38 Gerade die Stasi konnte er „nie wirklich ernst nehmen […]: „Wir haben doch alle verarscht“ (Müller, Andrea / Rieger, Katharina: „Meine Mutter nähte Schlagho- sen für mich.“ In: Die Zeit 41/1999, 7.10.1999, http://pdf.zeit.de/1999/41/199941. gr._geschichte_d.xml.pdf). Entgegen der verbreiteten Forschungsmeinung ist Haußmann auch der Ansicht, dass systemkritischer Humor eine notwendige Grundbedingung des Lebens in der DDR war (vgl. Cafferty, Helen: Sonnenallee. Taking Comedy Seriously in Unified Germany. In: Constabile-Heming, Carol A. / Halverson, Rachel J. / Foell, Kristie A. (Hrsg.): Textual Responses to German Unification. Processing Historical and Social Change in Literature and Film. Berlin / New York. S. 253–271, hier S. 264 f.). Sicher

192 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland dem 50. Jahrestag der DDR; denn am 9. November als zehnten ,Todestag’ hätte man dagegen nur schlecht feiern können. Diese und weitere Zitate Brussigs und Hauß- manns heizten die unvergleichliche Presseresonanz des Films an und führten kombi- niert mit der vom Film nur am Rande thematisierten Teilung, seiner Sympathie mit den DDR-Figuren und ihrer Nicht-Wahrnehmung der Berliner Mauer zum Vorwurf der Verharmlosung der SED-Diktatur und der verklärenden ,Ostalgie’: „Garantierte Lustigkeit. Die DDR als gespielter Witz“39, titelte die Berliner Zeitung; von einem „Lügenmärchen“ zur Feier der „Verweigerung als Lebensprinzip“40, sprach die FAZ. Obgleich diese ,Ostalgie’ durchaus wie auch im Falle der beiden Sonnenallee-Produ- zenten von Westdeutschen mit getragen wurde,41 lenkte die Presse verkürzend den Blick auf die Ostdeutschen Haußmann und Brussig und die Rezeption in den neuen Bundesländern. Sonnenallee, Helden wie wir oder später NVA (2005) erschienen da- her als „feel-good movies about the GDR“, die auf das Bedürfnis vieler Ostdeutscher nach „reconciliatory retro-comedies“42 reagieren. Aufgrund der Verklärung der DDR und den Versuchen, biographische Kontinuität zu wahren,43 war das Lachen ost- deutscher Zuschauer auch Mittel des Widerstands gegen (westdeutsche) Versuche, eigene Erinnerungen an die DDR zu beseitigen.44 Laut Haußmann lachen im Kino

nicht zufällig räumt Haußmann heute, wo die Zeit der ‚Ostalgie‘-Filme vorbei scheint, ein: „Alles in der DDR war durch Angst untermauert. Noch heute träume ich manch- mal, dass ich unschuldig ins Gefängnis komme“ (Ohne Verfasser: Leander Haußmanns Panik vor dem Knast. In: SpiegelOnline 21.8.2008, http://www.spiegel.de/panorama/leu- te/0,1518,573481,00.html). 39 Junghänel, Frank: Garantierte Lustigkeit. Die DDR als gespielter Witz: Leander Hauß- manns Komödie ‚Sonnenallee‘ erzählt von früher. In: Berliner Zeitung 237/1999, 7.10.1999, S. 11. Vgl. zu Sonnenallee Magofsky, Benjamin: Berliner Mauer, S. 105 ff. 40 Platthaus, Andreas: Deutsche Dynamische Republik. Der erste Spielfilm des Theaterre- gisseurs Leander Haußmann bringt Farbe in die DDR. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 235/1999, 9.10.1999, S. 47. 41 Vgl. Dresen, Andreas: Der falsche Kino-Osten. Das Filmerbe der DDR wird vergessen oder verspottet und ihre Geschichte häufig vereinfacht. Brauchen wir neue Bilder? In: Die Zeit 17/2009, 16.4.2009, S. 41–42. 42 Berghahn, Daniela: East German Cinema, S. 96 f. 43 Dies ist auf die sozioökonomischen Probleme, steigende Arbeitslosigkeit, Desillusio- nierung, und Krisenfurcht der 1990er-Jahre zurückzuführen. Dies vergoldete die DDR retrospektiv, gerade die in Sonnenallee mit Stoßrichtung (alte) Bundesrepublik zitierte fehlende Obdachlosigkeit, Gleichheit und Preisstabilität. Das auch vom Film getragene Bekenntnis zu einer so nie da gewesenen ,DDR-Identität‘ ist ein „Versuch der Selbstbe- hauptung, der Identitätswahrung, der Rettung von Lebensvorstellungen“ (Fritze, Lothar: „Ostalgie“. Das Phänomen der rückwirkenden Verklärung der DDR-Wirklichkeit und seine Ursachen. In: Deutscher Bundestag (Hrsg.): Materialien der Enquete-Kommission ,Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit‘ (13. Wahl- periode des Deutschen Bundestages). Band V. Alltagsleben in der DDR und in den neuen Ländern. Baden-Baden 1999, S. 497-510, hier S. 500 f.) 44 Vgl. Cafferty, Helen: Sonnenallee, S. 265. Dagegen blieben die (wenigen) tragischen Mo-

Dis | kurs 193 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 die Ostdeutschen am meisten, vor allem, weil sie alle Gags verstehen. Doch die West- deutschen „lachen auch oft, aber manchmal an den falschen Stellen“45. Das geteilte Lachen ist auf unterschiedliche Erfahrungen zurückzuführen, wonach ein typischer DDR-Sprachusus („Mufuti“) ebenso wie einige historisch korrekte Details der DDR- Geschichte allein unter erwachsenen Ostdeutschen einen hohen Wiedererkennungs- wert besaßen, nicht aber im Westen. Da nur (gemessen an der Bevölkerungsverteilung) bzw. immerhin (gemessen an den ,Ostalgie’-Vorwürfen) ein Drittel der 2,6 Mio. Kinozuschauer aus dem Westen kamen,46 hatte der Film aber auch beim jüngeren Westdeutschen Erfolg, die damals ein 70er-Jahre-Revival erlebten. „Gerade weil die Autoren bewusst auf die Zutaten Sex, Drugs & Rock n Roll, das Grundrezept aller Spaßgenerationen, setzten, funk- tioniert der Film auch im Westen.“47 Zielgruppe des Films war daher die sich in ih- ren Interessen und Bedürfnissen, Werten und Sehgewohnheiten angleichende junge MTV-Generation in Ost und West; ihnen bietet der Film mehr Gemeinsamkeiten als etwa älteren und jüngeren Ostdeutschen.48 Das scheinbar unpolitische „Schmie- renkabarett mit Schunkelmusik“49 avancierte dadurch im Gegensatz zum DDR-kriti- scheren Helden wie wir zum Kultfilm in Ost und West. Dieses Phänomen, mit einer von Mauer und Teilung weithin absehenden DDR- Komödie ein „einhelliges Ost-West-Gelächter“50 bei den jüngeren zu ernten, spaltete jedoch das Lachen nicht nur zwischen Kino und Kritik, sondern auch zwischen den Generationen in Begeisterte, Verständnislose und Empörte. So blickten viele der ca. 60-Jähren fassungslos auf den von jüngeren – Brussig ist Jahrgang 1964, Haußmann 1959 –, für noch jüngere gemachten Film. Am deutlichsten wird dieses mehrfach geteilte Lachen bei der Strafanzeige der Hilfsorganisation für die Opfer politischer Gewalt Help gegen Leander Haußmann wegen Beleidigung der Maueropfer. Laut §

mente des Films wie Schüsse an der Mauer und Berufsverbote in der Rezeption seltsam unbeachtet. 45 Reich, Anja: Eastie in Manhatten. Leander Haußmann zeigt seinen Film „Sonnenallee“ in New York - und stellt fest, dass die Amerikaner an denselben Stellen lachen wie die Ostdeutschen. In: Berliner Zeitung 6/2000, 7.1.2000, S. 3. 46 Cafferty, Helen: Sonnenallee, S. 254. 47 Harmsen, Torsten: War die DDR so cool? In: Berliner Zeitung. 287/1999, 14.12.1999, S. 11. 48 Vgl. Lindenberger, Thomas: „Sonnenallee“. Ein Farbfilm über die Diktatur der Grenze(n). In: WerkstattGeschichte 26, (2000), S. 97–106. 49 Finger, Evelyn: Die unsinkbare Republik. Wolfgang Beckers Tragikomödie ,Good Bye, Lenin!’ kennt viele Arten von Gelächter. In: Die Zeit 7/2003, 6.12.2003, S. 40. 50 Schabowski, Günter: Unfidel in der Castro-Kaserne. Scheiße, wir müssen zur Armee: Leander Haußmann und Thomas Brussig haben sich in ihrem neuen Film der NVA ange- nommen. In: Der Spiegel 39/2005, 26.9.2005, S. 222.

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194, Strafgesetzbuch, steht die Beleidigung von Angehörigen einer unter einer Will- kürherrschaft verfolgten Gruppe unter Strafe. Genau dies geschähe, so Alexander Hussock, Jahrgang 1941 von Help, in Sonnenallee, wenn etwa DDR-Bürger vor der „Mordmauer“51 tanzen. Diese Behauptungen seien indessen laut Haußmann „banal und durch nichts zu halten“52. Auch wenn die Strafanzeige zurückgezogen wurde, zeigt sie wie die gesamte Rezeption des Films, dass zehn Jahre nach dem Mauer- fall das Lachen der Erwachsenen noch immer entlang der ehemaligen Grenze geteilt blieb, während sich die jüngere Generation bereits im Humor einander näherte. Höhepunkt und Ende der ,Ostalgie’ – Auf dem Weg zum Konsens- Humor? Der Erfolg von Sonnenallee an den Kinokassen öffnete den Markt für weitere iro- nische Auseinandersetzungen mit der deutschen Teilung, genauer: mit der DDR- Geschichte, die seit 1989/90 „vom Zankapfel zum Schmunzelthema herabgesunken“53 schien. Dagegen sind Komödien über die ,alte’ Bundesrepublik mit wenigen Ausnah- men wie Herr Lehmann (2003) deutlich unterrepräsentiert. 2003/04 wurde das Fern- sehen von einer Welle speziell an ostdeutsche Zuschauer gerichtete ,Ostalgie’-Shows überrollt. Diese beförderten neue Kinoproduktionen wie Kleinruppin forwever (2004) oder NVA (2005). Scheinbar folgerichtig ging es, wie dessen Trailer ankündigte, nun „[v]on der Sonnenallee in die NVA“. Ähnlich wie bei Helden wie wir blieben bei NVA aber Kritiken, die auf eine zwar unpolitische, doch erstaunlich gute Komödie verweisen,54 in der Minderheit gegen- über Vorwürfen der Albernheit, historischen Ungenauigkeit und des klischeehaften Erinnerns.55 Diese Rezensionen belegen ebenso wie die 800.000 Zuschauer bzw. die

51 Ohne Verfasser: Tanzbeleidigung. Schatten auf der Sonnenallee. In: Frankfurter Allge- meine Zeitung 24/2000, 28.1.2000, S. 43. 52 Ohne Verfasser: Haussmann nach Anzeige. „Anschuldigungen sind banal.“ In: Spiege- lOnline 27.1.2000, http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,62083,00.html. Brus- sig legte nach und verwies auf die im Grundgesetz verankerte Freiheit der Künste und darauf, dass die Beleidigung vielmehr im Desinteresse an den Opfern und der fehlenden Reue der Täter liege (Vgl. Ohne Verfasser: Beleidigung liegt außerhalb des Films. In: SpiegelOnline 28.1.2000, http://www.spiegel.de/kultur/kino/0,1518,62184,00.html). 53 Finger, Evelyn: Republik. 54 Vgl. Ehlert, Matthias: Wie lustig war die Nationale Volksarmee? In: Welt am Sonntag, 25.9.2005, http://www.welt.de/print-wams/article132627/Wie_lustig_war_die_Nationa- le_Volksarmee.html. 55 Regisseur Haußmann lasse, so heißt es in der Berliner Zeitung, in seiner „Militärklamotte […] kein Klischee aus“ und führe einige „Sinnlosigkeiten […] als eine Art verspäteter Nummernrevue“ vor (Westphal, Anke: Was nicht passt, wird passend gemacht. „NVA“ - der neue DDR-Film von Leander Haußmann. In: Berliner Zeitung 226/2005, 28.9.2005, S. 29). Am Kasernenleben gerade der NVA sei nichts Lustiges zu finden, gerade weil die historischen Hintergründe nicht thematisiert werden. Die Zeit sprach daher von „Zo-

Dis | kurs 195 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 nur 120.000 für Kleinruppin Forever, dass sich die „exotische Attraktion“56 des Ostens und die ,Ostalgie’ im Film inzwischen ausgelebt hatte. Umso größer wurde das Be- dürfnis nach kritischem und humorfreiem Umgang mit der DDR-Geschichte. Das belegen neuere Aufarbeitungsinitiativen57 ebenso wie die Rezeption ernster Spiel- filme. So ist die DDR in Der rote Kakadu (2005) „[z]um Glück […] weniger lustig unterhaltsam als in den Filmen eines gewissen Leander Haußmann. Seine letzte Farce NVA wirkte gerade wegen der beabsichtigten Dauerkomik völlig unwitzig.“58 Auch für die Medienkampagne für Das Leben der anderen (2006) musste Leander Haußmann als Negativbild einer ,viel zu lustigen’ DDR-Aufarbeitung hinhalten, während man nun „mit der Aufarbeitung auf fiktionalem Gebiet“59 beginne. Der Erfolg60 gibt diesem Anspruch scheinbar recht. Demnach bleibt Good Bye, Lenin! (2003) die bisher einzige Teilungs-Komödie, die annähernd einen Konsens wie Das Leben der anderen erzielen konnte. Dabei begann die Rezeption ähnlich wie bei Sonnenallee. Einerseits machten 6,5 Mio. Kinozuschau- er den Film zum bis dato vierterfolgreichsten deutschen Film überhaupt, verpassten ihm schnell das Prädikat ,Kultfilm’ und sicherten – im Gegensatz zu Sonnenallee – sogar seinen Verkauf bis nach Russland, Japan und die USA. Andererseits wahrten viele Kritiker bei diesem neuerlichen Kinoerfolg Marke Sonnenallee Distanz: Good Bye, Lenin! bediene treffsicher den Markt der „Ost-Erinnerei“ und sei „kein großer, aber ein charmanter Film mit allseitigen Versöhnungsangeboten“61. Kritisiert wurde die „skurrile Nummernrevue“62 der scheinbar fehlenden inhaltlichen Auseinanderset-

nenkindereien“ und „Klamauk“, und sah im Anschluss von NVA an den Millionenerfolg durch Sonnenallee eine „anbiedernde Infantilität des Haußmannschen Rückblicks. Ein Klischee-Erinnern, museal und anekdotisiert“ (Dieckmann, Christoph: Zonenkindereien. Alle Geschichte wird Klamauk: Anmerkungen zum Recycling der DDR aus Anlass von Leander Haußmanns Film ,NVA‘. In: Die Zeit 40/2005, 29.9.2005, S. 49). 56 Westphal, Anke: Was nicht passt, S. 29. 57 Vgl. Sabrow, Martin / Eckert, Rainer / Flacke, Monika / Henke, Klaus-Dietmar, Jahn, Roland (Hrsg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? Dokumentation einer Debatte. Bonn 2007. 58 Rebhan, Nana A. T.: Der rote Kakadu. In: ZeitOnline. 15.2.2006, http://www.zeit.de/ online/2006/07/arte_berlinale_kakadu. 59 Audiokommentar Florian Henckel von Donnersmarck auf der Kauf-DVD des Films. 60 Über 2,6 Mio. Kinozuschauer in Deutschland, Lob von Seiten der Politik, nationale und internationale Filmpreise belegen, dass mit dem Leben der anderen erstmals ein Gene- rationen, sowie Ost und West übergreifender, humorfreier Konsensfilm zur deutschen Teilung vorliegt. 61 Dieckmann, Christoph: Honis heitere Welt. Das Unterhaltungsfernsehen verklärt die DDR. Anmerkungen zu Wohl und Wehe der Ostalgie. In: Die Zeit 36/2003, 28.8.2003, S. 37. 62 Westphal, Anke: Was unterging, taucht nicht mehr auf. „Good Bye, Lenin!“ von Wolfgang Becker legt heiter Distanz ein - das macht traurig. In: Berliner Zeitung 34/2003, 8.2.2003,

196 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland zung mit der DDR, die historisch korrekte und tragische Formen des Erzählens von Teilung und Einheit verhindere. Dennoch waren im Gegensatz zu vorigen DDR-Komödien auch deutlich positive Stimmen zu vernehmen, die die ,Ostalgie’-Deutung kritisch hinterfragten. Good Bye, Lenin! unterscheidet sich denn auch von vorherigen DDR-Komödien „im Bemühen, die Balance von Tragik und Komik zu wahren“63. Selbstironisch setzt sich der Film mit DDR-Erinnerungen auseinander, indem er mit Witz und Ironie „das Bedürfnis aller Generationen anerkennt, Verlusterfahrungen zu verarbeiten“64. Dabei bezieht er seine Lacher aus dem Spiel mit Ikonen der DDR-Alltagskultur von Spreewaldgur- ken zur Aktuellen Kamera, während am Schneidetisch eine Illusion der DDR erzeugt wird, wie sie sich viele Ostdeutsche selbst gewünscht haben.65 Umso differenzierter ist das Lachen im „halb sentimentalen, halb sarkastischen Film“: herzhaft und höh- nisch, verständnisvoll und kalt, wiedererkennend, gepaart mit „ein paar Tränen der Rührung“66. Diese reflektierte Sichtweise tritt gerade in der zeitgeschichtlichen Forschung zutage. Diese verwies hier ebenso wie schon entgegen der Kritikermehrheit bei Sonnenallee auf die im Humor liegende Kritik an der DDR, da beide Filme „auch Verfolgung und das eingeschränkte Leben ,im Schatten der Mauer’ durchaus als ernsten Hintergrund thematisieren“67. Selbstkritisch gegen die eigene Zunft heißt es da aber auch: „Offen- bar hatte das Kinostück jenen Nerv der Aufarbeitungs- und Einheitsdebatte getroffen, den die Historiker bis dahin nicht gefunden hatten“68 . Der Erfolg bei Publikum, Filmkritik und Wissenschaft lies nicht nur Forderun- gen laut werden, der Film sei „ein guter Einstieg, um über die Wendezeit 1989 zu diskutieren“69; auch Politiker quer durch die Parteien spendeten Beifall.70 Überblickt

S. 9. 63 Ebd. ähnlich Finger, Evelyn: Republik. 64 Hake, Sabine: Filme, 327 f. 65 Vgl. Lindenberger, Thomas: Zeitgeschichte, S. 361 ff. 66 Finger, Evelyn: Republik, S. 51. 67 Gieseke, Jens: Stasi Goes to Hollywood. Donnersmarcks The Lives of Others und die Grenzen der Authentizität. In: German Studies Review, 3 (2008), S. 581. 68 Wolle, Stefan: Die Welt der verlorenen Bilder. Die DDR im visuellen Gedächtnis. Paul, Gerhard: Visual history. Ein Studienbuch. Göttingen 2006, S. 333-352, hier S. 333. 69 Reiche, Steffen: Jetzt oder nie, Ostalgie. In: SpiegelOnline, 12.3.2003 http://www.spiegel. de/unispiegel/wunderbar/0,1518,238974,00.html 2003. 70 Ohne Verfasser: Bundestag nimmt Abschied von Lenin. In: SpiegelOnline, 3.4.2003, http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,243206,00.html. Unlängst lobte noch Wolfgang Thierse am 26. April 2009 in der ARD-Talkshow Anne Will die u. a. in Good Bye, Lenin! praktizierte befreiende Funktion der Komödie. Wolfgang Schäuble sprach von den „zwei wunderbaren Filmen, die wir haben“: Das Leben der anderen und Good

Dis | kurs 197 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 man diese Rezeptionsgeschichte, so kann Good Bye, Lenin! neben dem Leben der anderen als zweiter deutscher Konsensfilm zur Teilung bezeichnet werden, und als bisher einziger, der ein weithin geteiltes Lachen hervorruft.

Die Rezeption der deutschen Teilung im Film: Ein mehrfach ge- teiltes Lachen Insgesamt fehlte in der Bundesrepublik zunächst ein Lachen über die deutsche Tei- lung aufgrund des (gescheiterten) Kultes um den deutschen Nationalstaat, der ver- stärkt durch den Mauerbau das Thema (auch) im Film tabuisierte. Presse und Pub- likum zeigten sich weithin humorresistent gegen Bundesrepublik-kritische Satiren zur Teilung, wie in der Rezeption von Eins, zwei, drei deutlich wurde. Erst Ende der 1970er-Jahre hielt mit der Gewöhnung an die beiden Staaten und der Neuauflage der Deutschen Frage eine Bereitschaft zur Persiflage der einst als ,nationaler Tragödie’ empfundenen Teilung Einzug. Diese Akzeptanz lies neben der Filmkritik gerade die jüngere Generation, die einen deutschen Staat gar nicht kannte, über Komödien wie Meier lachen und bescherte auch Eins, zwei, drei ein gefeiertes Comeback. Anfang der 1990er-Jahre zeigte sich dann, dass Wende-Komödien wie Go, Trabi, Go die meisten Lacher im Osten erzielten und das vereinte Deutschland im Humor noch entlang der ehemaligen Grenze geteilt blieb. Erst neuere DDR-Komödien seit Son- nenallee brachten mit dem Generationenwandel ein gemeinsam geteiltes Gelächter bei den jüngeren Kinozuschauern hervor. Dennoch wurden sie von Erwachsenen und Presse oft einseitig als verklärende ,Ostalgie‘ kritisiert, und boten so Angriffs- fläche für ,ernste’ Filme über die Teilung wie Das Leben der anderen. Mittlerweile scheint der Höhepunkt der ,Ostalgie‘ überschritten und auch die mittlere Generation nähert sich im Lachen einander an. So kennzeichnet die Rezeption von Good Bye, Lenin! trotz anfänglicher Kritikerschelte ein von Ost und West geteiltes, generatio- nenübergreifendes Lachen über die deutsche Teilung.

Bye, Lenin!, wo es natürlich erlaubt sei, zu lachen, da schließlich auch die Menschen in der DDR gelacht hätten.

198 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland

Thema: 60 Jahre Bundesrepublik deutschland a) Das Selbst B) Das Andere c) Innen und Außen D) Abgründiges

Lange Schatten der Vergangenheit? Deutsch-französische Beziehungen vor der Moderne. Ein Essay

Martin Kintzinger Westfälische Wilhelms-Universität Münster E-Mail: [email protected]

Schlüsselwörter Mittelalter, Deutschland, Frankreich

Noch in der heutigen Politik misst man verantwortliche Personen gern an ihren „Vo r - gängern“ aus früheren Jahren. Selbst angesichts der als historisches Novum insze- nierten Begegnung zwischen dem deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl und dem französischen Staatspräsidenten François Mitterand auf dem Soldatenfriedhof von Verdun 1984 war es nicht anders. Das gemeinsame Händehalten beider Staatsmän- ner sollte die Freundschaft ihrer Länder in Gegenwart und Zukunft symbolisieren – im gemeinsamen Gedenken an die Leiden, die durch die Gewaltexzesse des nati- onalsozialistischen Deutschland über Frankreich gekommen waren und die in den beiden Weltkriegen die Soldaten und die Zivilbevölkerung beider Länder zu ertragen hatten. Kommentatoren sahen in dem Akt von Verdun die langen Schatten der Vergangen- heit am Werk und erinnerten an die noch weitaus brisantere Verbindung zwischen dem ersten deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer und dem damaligen fran- zösischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle. Die Symbolik der Freundschaft zwi- schen den Staatsmännern (seit ihrer ersten informellen Begegnung 1958, dem ersten offiziellen Besuch 1962 und dem als Elysée-Vertrag bekannten Freundschaftsvertrag beider Länder 1963) prägte schon damals den fragilen Neubeginn der deutsch-fran-

Dis | kurs 199 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 zösischen Beziehungen. Unter den Regierungen Schröder und Chirac wie auch Mer- kel und Sarkozy ergab sich keine Neuauflage. Nach anfänglichem Zögern vor der Inanspruchnahme solcher historischer Symbolik fanden hingegen Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Sarkozy doch zu der (wie es in der deutschen Presse hieß) „Tradition der deutsch-französischen Freundschaftsgesten“ zurück. Am 11. November 2009, anlässlich der Feierlichkeiten des Ende des Ersten Weltkriegs, die in Frank- reich jährlich begangen werden und bei denen 2009 mit der Kanzlerin erstmals über- haupt ein amtierender bundesdeutscher Regierungschef persönlich vertreten war, gingen Merkel und Sarkozy eine kurze Strecke händehaltend gemeinsam. Weniger als förmlicher Staatsakt denn als persönlich und situativ inszenierter Ausdruck der programmatischen „Amitié franco-allemande“ verstanden, wurde die Geste in der Öffentlichkeit aufmerksam registriert. Vor allem in der französischen Presse war der Kommentar zum Verhältnis beider Länder zu lesen, dass aus ehemaligen Feinden nun beständige Freunde geworden seien. Die offizielle Selbstwahrnehmung beider Länder zielt gegenwärtig einerseits auf Be- kenntnisse zur Europäischen Union, andererseits auf ein wieder stärker auf die ei- gene Geschichte fokussiertes Geschichtsbild. Der von anderen häufig misstrauisch beobachtete Führungsanspruch der beiden Nachbarländer innerhalb Europas und die gern betonte wechselseitige Exklusivität ihrer bilateralen Beziehungen scheinen nicht mehr selbstverständlich zu sein. Ohnehin bleiben solche Ansprüche heute nicht unwidersprochen: Andere Staaten melden ebenfalls ihren Gestaltungswillen in der Europäischen Union an und treten der Neigung zur historischen Selbstvergewisserung gerade den Deutschen entgegen. Nicht nur eine deutsch-französische Meinungsführerschaft in Europa steht damit zur Disposition, sondern der unausgesprochene Vorranganspruch des Westens in- nerhalb Europas. Auch die US-amerikanische Regierung weiß zwischen den Mit- gliedern des politisch geeinten Europa bedarfsweise genau zu unterscheiden. Die Schelte, mit der die Regierung Bush zwischen Folgewilligen und den Widerständigen des Alten Europa im zweiten Irakkrieg seit 2003 unterschied, war hierfür ebenso be- zeichnend wie die Tatsache, dass ein Europa-Besuch des neugewählten Präsidenten Obama 2009 aus Anlass des Jubiläums der Landung der Alliierten 1944 in der Nor- mandie exklusiv nach Frankreich führte. Alle diese Akte politischer Symbolik sind in der europäischen Öffentlichkeit sehr bewusst wahrgenommen worden, und sie haben das deutsch-französische Verhältnis beeinflusst. Das Verhältnis der regierenden Personen wird gegen Ende der ersten De- kade des dritten Jahrtausends statt durch Zeichen der Freundschaft zwischen Staats- männern jetzt durch die Demonstration funktionaler Synergie ausgedrückt, wie im Rahmen der beständigen Arbeit für die Stärkung der Europäischen Union oder der aktuellen Reaktionen auf die Auswirkungen der Finanzkrise seit 2008.

200 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland

Alte Symbole sind dabei aber in Kraft geblieben: Wie seit langem üblich, führte den französischen Präsidenten Sarkozy sein erster Staatsbesuch nach Berlin und trotz eines persönlich eher spröden Umgangs miteinander betonten er und Bundeskanz- lerin Merkel, es handele sich um einen Besuch unter Freunden. Auch die historische Dimension wird nach wie vor mitgedacht und sie umspannt noch immer den gesamten Zeitrahmen der über 1200 Jahre gemeinsamer Geschichte von „Deutschen“ und „Franzosen“. Unterschiedliche Narrative sind dazu entstanden, die die lange Dauer des nachbarschaftlichen Verhältnisses beider Länder in Ge- schichtsbilder kleiden. Eine der unwürdigsten Deutungen ist inzwischen endgültig überwunden, die seit dem Krieg von 1870/71 gepflegte Vorstellung von einer „Erb- feindschaft“ beider Länder. Sie wurde 1948 von französischer Seite mit der Niederla- ge des preußisch-deutschen Staates als historisch überholt verstanden. Offiziell galt der Elysée-Vertrag von 1963 als dasjenige Dokument, das das Ende jener „Erbfein- schaft“ besiegelte. Derartige Vorstellungen waren mit der Entstehung eines politischen Nationalbe- wusstseins und entsprechenden Herkunftsmythen verbunden und sind daher erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu feststehenden Bildern ausgeformt worden. Interessenkonflikte zwischen beiden Ländern gab es hingegen schon weit früher, und auch sie führten mitunter zu verhärteten Positionen der gegenseitigen Wahrneh- mung. Einen wesentlichen Einschnitt bedeuteten hierfür die napoleonische Okku- pation und ihre Folgewirkungen für die Entstehung nationalstaatlicher Selbstwahr- nehmung. Zuvor hatten bereits politische, zumeist kriegerisch ausgetragene Auseinanderset- zungen die gegenseitige Abgrenzung in Konflikten territorial- und dynastiepoliti- scher Interessen bestärkt. Im 17. Jahrhundert war das Heilige Römische Reich Deut- scher Nation mit der beständig stärker werdenden Macht des westlichen Nachbarn konfrontiert, der im Westfälischen Friedens von 1648 als eine der Garantiemächte bestimmt wurde. Im Gegenzug sah sich Frankreich von den Machtinteressen der Habsburger in Spanien wie im Reich umgeben. Diese Konstellation hatte ihren Ur- sprung in einem während des 15. und dem 16. Jahrhunderts einzigartig erweiterten Machtbereich der Habsburger, in dem, wie man nach der Entdeckung der Neuen Welt sagte, die Sonne nicht unterging. Der überragende, global verstandene Autoritätsanspruch des Kaisers aus dem Haus Habsburg stand allerdings unvermittelt neben seiner faktisch schwindenden realen Machtbasis innerhalb der föderalen Struktur des Reiches. Einmal mehr durch die tiefgreifenden Auswirkungen der Konfessionalisierung seit dem ersten Drittel des 16. Jahrhunderts verstärkt, gewannen die dezentralen Kräfte im Reich an Gewicht gegenüber Kaiser Karl V., der nach machtvollem Auftreten dennoch 1556 resignier-

Dis | kurs 201 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 te. Hingegen konnte die französische Zentralmonarchie zur selben Zeit ihre inne- re Stabilität und ihr äußeres Gewicht wahren. Franz I. inszenierte ostentativ seine Machtstellung als König gegenüber dem Kaiser. Selbst die heftig ausgetragenen Kon- fessionskonflikte im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts taten der Stärke der Zentral- monarchie auf Dauer keinen Abbruch. Damit ist zugleich eine Situation beschrieben, wie sie zwischen beiden Ländern im Ganzen seit vierhundert Jahren gegeben war: Auf der einen Seite der singuläre und universale Geltungsanspruch des römisch-deutschen Königs und Kaisers, auf der anderen die zentralmonarchische, seit dem Spätmittelalter bereits nationalstaatlich konnotierte Machtstellung des Königs von Frankreich. Im Hintergrund stand der fundamentale Verfassungsunterschied zwischen der französischen Erbmonarchie, die seit dem 10. Jahrhundert eine ununterbrochene Sukzession der Kapetinger, seit 1328 der ihnen eng verwandten Valois erlebt hatte, und der Wahlmonarchie im römisch-deutschen Reich, die seit dem 12./13. Jahrhundert den Königen die Not- wendigkeit zu konsensualer Herrschaft gegenüber dem hohen Adel aufgegeben hatte und seit dem 13. Jahrhundert in ihrer dualen Ordnung zwischen König und Reichs- ständen zunehmend formal überformt wurde. Heftige Konflikte um die Machtvertei- lung im Königreich hat es selbstverständlich auch in Frankreich gegeben, und es ist wiederum die glättende Darstellung der Hofchronistik, die den Eindrucksuggeriert, als sei es anders gewesen. Doch blieb trotz allem die zentralmonarchische Ordnung erhalten. Ungeachtet solcher Verfassungsunterschiede und offenbar unberührt von aktuellen politischen Konfliktlagen zwischen beiden Ländern blieb die gleichzeitig nachhaltige Rezeption der französischen Hofkultur durch den europäischen, auch den deutschen Adel während des gesamten Hoch- und Spätmittelalters sowie der Frühen Neuzeit. Eine seit Generationen überkommene Orientierung an Frankreich ließ Adel und Höfe in ihrer Wahrnehmung des Nachbarlandes seit dem Spätmittelalter zwischen politischer Pragmatik und kultureller Prägung gespalten sein. Erst mit der allmäh- lichen Herausbildung einer erweiterten politischen Öffentlichkeit seit dem 17. Jahr- hundert relativierte sich diese Tradition. Der entstehende Nationalismus führte schließlich im 19. Jahrhundert zunehmend zu einer Dominanz des Politischen vor dem Kulturellen und zur Ausformung von Stereotypen der Wahrnehmung. Während die alteuropäische Adelskultur eine in weiten Bereichen konforme historische Erinnerung gepflegt hatte, wurde nun auch das Geschichtsverständnis politisch geprägt und führte zu einer durch programmati- sche Deutung gefärbten und zunehmend getrennten Wahrnehmung. In Denkmälern griff die offizielle Erinnerung auch auf zurückliegende Epochen aus, die als Vorzeit verstanden wurden, von der aus, so meinte man, die Entwicklung auf die eigene Ge- genwart hinführe.

202 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland

Es war diese nationale Erinnerung der Neuzeit, die sich in beiden Ländern auch auf herausragende Gestalten der vormodernen, insbesondere mittelalterlichen Ge- schichte bezog. Damit war aber ein Identifikationsproblem gegeben, denn die Ge- schichte „Deutschlands“ und „Frankreichs“ im Mittelalter war eine aus gemeinsamen Wurzeln im 9. Jahrhundert sukzessive und zunehmend im Bewusstsein wechselsei- tiger Absetzung geformte Eigenentwicklung. Konkurrenzen der divergenten Erin- nerungskulturen in beiden Ländern prägten das Denken während der Jahrhunderte des Mittelalters ebenso wie eine kontrastive Inanspruchnahme jener Elemente der mittelalterlichen Geschichte, die beiden gemeinsam waren. Der Idealtypus hierfür blieb die Figur Kaiser Karls des Großen, der in der Erinnerungskultur schon des Mittelalters und fortan bis zur nationalstaatlichen Geschichtspolitik des 19. Jahr- hunderts hier wie dort exklusiv reklamiert wurde. Albrecht Dürer malte im frühen 16. Jahrhundert das bis heute prägendste „Porträt“ Kaiser Karls als bärtigen, älteren Mannes, den er in den Krönungsornat aus der Zeit Ottos des Großen kleidete und mit der ottonischen Reichskrone schmückte. Dass dieses Bild historisch falsch ist, dürfte auch den Zeitgenossen bewusst gewesen sein. Indem man den Kaiser (zu dem keine gesicherte bildkünstlerische Darstellung aus seiner Zeit erhalten ist) ikonographisch und im Verwendungskontext seines „Por- träts“ als erstes und frühestes Haupt des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation darstellte, war er damit für dessen Geschichte reklamiert. Seither wurde der Bildtypus nach Dürers Gemälde vielfach imitiert. Erstaunlicherweise dasselbe Bildmuster, den bärtigen, älteren Mann mit der ottonischen Königskrone, diesmal kämpferisch zu Pferd sitzend, ließ man in der Mitte des 19. Jahrhunderts als überle- bensgroße Bronzestatute in Frankreich anfertigten. Sie steht bis heute auf der Platte vor dem Westwerk von Notre-Dame in Paris. In wessen Geschichte der erste Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gehören soll- te, war zwischen seinen Nachfahren umstritten und blieb es auch über die Deno- mination des Reiches als Deutscher Nation im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts hinaus. Seit Jahrhunderten hatte sich die französische Historiographie zu diesem Zeitpunkt bereits darauf verlegt, den römisch-deutschen König und Kaiser als „Kö- nig von Deutschland“ („Roi d´Allemagne“) zu titulieren, sobald man seinen Rang im publizistischen Streit mindern wollte. In der Realität stellte das deutsche Reich (nur in sehr wenigen, folgenlosen und kurzzeitigen Ausnahmefällen ein anderes) während des gesamten Mittelalters den Kaiser, und es war für die dessen Historio- graphen ein Leichtes, diese Tatsache als zwangsläufig und gottgewollt darzustellen. Die französische Historiographie vergaß hingegen nie, dass sich die Dinge auch ganz anders hätten entwickeln können. War es wirklich so, dass der vom Papst in Rom zum Kaiser gekrönte König in jedem Fall der deutsche König sein musste? Zwei sehr unterschiedliche Narrative entstanden auf diese Weise. In der Sicht der deutschen

Dis | kurs 203 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009

Geschichtsschreibung führte ein direkter Weg von den Kaisern des antiken Rom über die Franken und die Sachsen zu den Deutschen als Trägern des Kaisertums. Der französische Hof stellte sich auf die Gegebenheiten ein, gab aber seinen Anspruch auf den höchsten Rang unter den christlichen Fürsten niemals auf: Mehrfach und bis zum frühen 16. Jahrhundert versuchte die Krone Frankreichs, in Momenten der Vakanz des deutschen Thrones einen eigenen Kandidaten ins Spiel zu bringen und die Wahlfürsten durch gewaltige Geldzahlungen für diesen zu gewinnen. Es blieb vergebens. So verlegte sich die französische Hofhistoriographie schon frühzeitig darauf, dem ei- genen König einen neuen Titel zuzuschreiben, der zwar denjenigen des Kaisers nicht überbieten konnte, aber doch auf seine Art einzigartig war und eine solitäre Stellung seines Trägers anzeigte: Der König von Frankreich wurde seit dem 12. Jahrhundert zum Allerchristlichsten König („Rex christianissimus“) – eine Bezeichnung, die in der Mitte des 15. Jahrhundert zur offiziellen Titulatur erhoben wurde und nach innen wie nach außen und gegen das römisch-deutsche Reich dem König von Frankreich eine unverfügbar und uneinholbare singuläre Würde zuschrieb. Es waren die gelehrten Juristen am Hof des Königs und der Fürsten, die schließlich im 13. Jahrhundert eine folgenreiche Formulierung für die einzigartige Position des Königs von Frankreich in seinem Königreich wie gegenüber den anderen europäischen Mächten fanden: Er sei Kaiser in seinem eigenen Reich („Rex imperator in regno suo“). Er hatte im Streit um den Vorrang endgültig gleichgezogen mit dem deutschen König, so sollte die Botschaft sein. In heutiger Perspektive steckt noch mehr in diesem Anspruch: die Aussage, dass der König von Frankreich, jedenfalls für den Geltungsbereich seiner Herrschaft im Königreich, keine andere Autorität über sich anerkennen müsse, also souverän sei. Hingegen war die Handlungsfreiheit des römisch-deutschen Königs nach innen wie außen durch die notwendige Rücksichtnahme auf die Konsensualität ihrer Herrschaft und den ständischen Dualismus weitaus mehr eingeschränkt. Solche Vergleiche sind keineswegs erst ein Ergebnis moderner Forschung und die zitierten Aussagen zur Legitimation der Herrschaft waren nicht bloße Theorie. Die Aufmerksamkeit, mit der beide Seiten die Entwicklungen auf der jeweils anderen beobachteten und die Kenntnis von den inneren Verhältnissen dort blieben stets le- bendig. Mehr und mehr verdichteten sich die Kontakte zwischen den Höfen, durch Diplomaten und Gesandte ebenso wie durch Reisetätigkeiten von Angehörigen der königlichen Familien oder derjenigen der mächtigen Fürsten beider Reiche. Über die Jahrhunderte des Mittelalters gab es eine Fülle von Kontakten, Kooperationen und Konflikten zwischen den beiden Nachbarreichen, auf diplomatisch-politischer, auf wirtschaftlicher, auf wissenschaftlich-kultureller Grundlage. Stets prägend für die gegenseitige Wahrnehmung des „deutsch-französischen“ Ver- hältnisses blieb aber der ritualisierte Streit um den Vorrang zwischen dem König von

204 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland

Frankreich und dem Kaiser. Im Jahr 800 hatte schon Karl der Große, jedenfalls nach den Worten der Chronisten, bei der Annahme des Kaisertitels gezögert. Als Nach- fahre der antiken Cäsaren verstand sich bereits der Kaiser in Byzanz und er nahm den neuen Kaisertitel im Westen als Konkurrenzerklärung auf. Mit dem Wechsel dieses westlichen Kaisertitels von den Franken auf die Sachsen unter Otto I. war das Problem der Legitimität noch immer nicht gelöst und Otto legte demonstrativ Wert darauf, sich selbst sichtbar in die fränkische Tradition des Kaisertitels wie in die sächsische seiner eigenen Herkunft zu stellen. Erst im folgenden 11. Jahrhundert begann man in der Chronistik, Otto als König eines deutschen Reiches zu sehen und die Bindung zwischen dessen König und dem Kaisertitel zu behaupten. Gleichzeitig verdichteten, wie erwähnt, die französischen Chronisten den exklusi- ven Titel ihres Königs. Die Entwicklung, wonach der deutsche König Kaiser werden würde, konnten sie dennoch nicht mehr umkehren. Deshalb formten Sie weiter das Bild der Einzigartigkeit ihres Königs. Dabei machten sie auch vor einer Umdeutung der historischen Bedeutung Karls des Großen nicht halt. Wenn sich die deutschen Könige und römischen Kaiser auf Karl den Großen zurückführten, so gingen die französischen Könige einen Schritt weiter: Der erste von einem Bischof gesalbte, also christliche König, war demnach der Merowinger Chlodwig im späten 5. Jahrhundert. In der Chronistik schrieb man ihm eine Generation nach den Ereignissen zu, wie ein neuer Konstantin aus der Taufe durch den Bischof von Reims hervorgegangen zu sein. Der fränkische König setzte demnach die Tradition der byzantinischen Kaiser fort, nicht erst Karl der Große drei Jahrhunderte später. Direkter Nachfahre mythi- scher Königsgestalten, begründete er in dieser Deutung die Geschichte der Könige von Frankreich als deren erster. Karl der Große blieb bei alledem eine einzigartige Herrscherfigur, auf die man sich hier wie dort berief. Aber in der Reihe der Könige des eigenen Reiches folgte er aus französischer Sicht Chlodwig. Durch die wechselseitige Bezogenheit lagen Abgrenzung und Gemeinsamkeiten in den „deutsch-französischen“ Beziehungen während des Mittelalters stets dicht bei- einander. Dass auf beiden Seiten erst der Zusammenhalt eines Verbandes entstand, der sich seiner kulturellen Identität bewusste wurde, zugleich der Formen seiner Herrschaftsordnung, und erst danach auch der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Land, hat die Forschung herausgearbeitet. Vielfältig blieben beide Seiten während aller Jahrhunderte des Mittelalters aufeinander angewiesen, seit sie durch Teilung des ehemaligen karolingischen Großreiches, des große Teile Mitteleuropas umfassen- den Herrschaftsgebietes Karls des Großen, seit der Mitte des 9. Jahrhunderts eigene Wege der Entwicklung gingen. Bald schon war man sich bewusst, andere Sprachen zu sprechen und eigene Ordnungen zu haben, die von denen der anderen Seite un- terschieden waren. Zunächst hielt man noch an der Vorstellung fest, dass die nun selbständigen Teile des ehemaligen Großreiches weiterhin eine ideelle Gesamtheit

Dis | kurs 205 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 bildeten. Später gab man diese Vorstellung auf und kam von der Unterscheidung in ein ost- und ein westfränkisches Reich zur Differenzierung in ein fränkisches und ein deutsches Reich, später das Königreich Frankreich und das deutsche Königreich. Hierbei ging es, wie gesagt, um kulturelle und soziale Identitäten, auch um regionale und politische, weshalb man in der Forschung für die Zeit des 10. Jahrhunderts von Nationsbildung spricht. Frankreich war seit dem frühen 13. Jahrhundert auf dem Weg zu einer stabilen Zentralmonarchie, doch die Idee einer politischen Nation wird erst im Laufe des 15. Jahrhunderts greifbar. Das deutsche Reich erreichte während des Mittelalters niemals den Zustand einer Zentralmonarchie und konnte nach den Gesetzen zum Zusammenspiel von kaiserlicher und ständischer Gewalt im späten 12./frühen 13. Jahrhundert und der verbindlichen Regelung der Königswahl mit der Goldenen Bulle von 1356 erst in den letzten Jahren des 15. Jahrhunderts überhaupt zu zentralen Herrschafts- und Gerichtsinstanzen finden. Man hat hier von einem Entwicklungsrückstand in der politischen Entwicklung des Reiches gesprochen und zugleich die fortwährende Vorbildfunktion der französischen Hofkultur für den Adel des deutschen Reiches betont. Diese Annahmen sind neuerdings wieder in die Diskussion geraten. Von Entwicklungsunterschieden wird aber zweifellos zu spre- chen sein. Während des gesamten Mittelalters entstand weder in Frankreich noch in Deutsch- land ein Staat, der modernen Verhältnissen entsprochen hätte. Politik blieb we- sentlich von dem Handeln einzelner Personen geprägt und ihren Beziehungen als Funktionsträger. Personale Herrschaft war ein Kennzeichen der europäischen Vor- moderne. Auch deshalb können die Schatten der Vergangenheit bis heute wirksam werden, wenn französische und deutsche Politik einander begegnen und gemeinsam innerhalb wie außerhalb Europas handeln. Manche dieser Schatten können so lang sein, dass sie die Jahrhunderte überbrücken und sie mögen uns Heutige ermutigen, die Geschichtlichkeit der Gegenwart nicht als Hypothek, sondern als Ermutigung zu verstehen.

206 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland

Thema: 60 Jahre Bundesrepublik deutschland a) Das Selbst B) Das Andere c) Innen und Außen D) Abgründiges

Von der Erbfeindschaft zur Erbfreundschaft Die deutsch-französischen Beziehungen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges

Jean-Luc Garret Université Michel de Montaigne Bordeaux, CIRAMEC E-Mail: [email protected]

Schlüsselwörter Frankreich, Deutschland, de Gaulle, Elysée-Vertrag, Europäische Union

Wer sich ernsthaft mit den deutsch-französischen Beziehungen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges befassen will, muß bald vor dem Umfang dieses Themas zu- rückschrecken, über das schon seit Jahrzehnten unzählige Bücher und Artikel ver- fasst worden sind, die ganze Bibliotheken füllen. Man müßte also ziemlich eitel sein, falls man sich vornehmen wollte, all diesen gelehrten Texten etwas Bedeutendes hin- zuzufügen. Etwas anderes wird bezweckt dieser Artikel: hier geht es bloß darum, eine französische Auffassung der Sache illustrieren zu wollen. Ein einigermaßen gut informierter französischer Bürger möchte deutschen Lesern mitteilen, was manche Menschen diesseits des Rheins von den deutsch-französischen Beziehungen denken und wie sie sich bezüglich dieses Themenkreises die Zukunft vorstellen. Die äußerst intensiven und vertrauensvollen deutsch-französischen Beziehungen, wie wir sie schon seit Jahrzehnten kennen und die zu etwas Selbstverständlichem geworden sind, sind bekanntlich als paradoxe Folge einer dramatischen Entwicklung zu betrachten, die schließlich zu einem unvermeidlichen Umdenken, zu einer Um- kehr führte, die selbst dazu beitrug, die Gründung der heutigen Europäischen Union zu ermöglichen. Wer sich dafür interessiert, kann nicht umhin, diese drei Themen- kreise miteinander zu verbinden. Ein Rückblick ist unerläßlich, um besser einzuse-

Dis | kurs 207 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 hen, weshalb das, was wir heutzutage für selbstverständlich und banal halten, einmal anders gewesen ist, weshalb aus Erbfeindschaft Freundschaft wurde und weswegen hinsichtlich einer Schicksalsgemeinschaft, die nun die gesamte EU einbezieht, Deut- schen und Franzosen immer noch eine besondere Verantwortung zukommt. In der Tat hat sich die Welt seit sechzig Jahren derart verändert, dass jedes europäische Land, das früher mehr oder weniger Weltmachtansprüche erhob, nun einsehen muß, dass es auf der Weltbühne klein geworden und folglich heutzutage außerstande ist, auf eigene Faust irgendwelchen dauerhaften Einfluß auszuüben. Neue Großmächte behaupten sich, wie zum Beispiel Indien, Brasilien und vor allem die Volksrepublik China, die sogar Deutschland als erste Exportnation bald übertreffen werden. Die EU, die hauptsächlich deshalb gegründet wurde, weil Deutsche und Franzosen es gewollt haben, ist schon ein wirtschaftlicher Riese, zählt ungefähr 500 Millionen Bür- ger, bleibt aber als politischer Faktor klein und unentschlossen. Es liegt also auf der Hand, daß das Thema der deutsch-französischen Beziehungen, das immer weniger von der gesamteuropäischen Problematik zu trennen ist, nicht bloß die Vergangen- heit, sondern auch und vor allem die Zukunft betrifft, wobei unseren beiden Staaten eine eigenartige Verantwortung zukommt. Welche Rolle soll nun in der Zukunft das deutsch-französische Paar innerhalb des gesamten europäischen Prozesses spielen? Was wollen wir uns also gemeinsam vornehmen? Wer fernsieht oder Zeitungen liest, erlebt immer wieder, wie heutzutage Präsident Sarkozy und Frau Merkel bestrebt sind zu verdeutlichen, wie eng die deutsch-fran- zösischen Beziehungen sind. Sobald ein neuer Staats- oder Regierungschef gewählt wird, pilgert er sofort in die Hauptstadt seines bevorzugten politischen Partners und vor jeder Gipfelkonferenz, sei es auf europäischer oder internationaler Ebene, konfe- rieren beide miteinander, um einen gemeinsamen Standpunkt zu bestimmen. In bei- den Ländern ist so etwas längst zur Routine geworden und erst wenn vorübergehende Streitigkeiten oder Reibungen zwischen beiden Regierungen auftreten, interessieren sich wieder Presse und Fernsehen dafür. Wie läßt sich also diese Zusammenarbeit noch weiter vertiefen? Was hat von der Erbfeindschaft zur Erbfreundschaft geführt? Die Überwindung der schlechten alten Zeit 1945 wird gewöhnlich in Deutschland als Jahr null bezeichnet. Damals sah in Frank- reich die tatsächliche Situation kaum besser aus. Zwar war es Charles de Gaulle ge- lungen, eine provisorische Exilregierung zu etablieren, französische Divisionen hat- ten am Kampf gegen die Nazis teilgenommen und die Résistance hatte auf eigene Faust einige Städte und Gebiete befreien können aber das Land war ruiniert, manche Provinzen waren nur noch ein Trümmerfeld und das Odium der schandvollen Nier- derlage von 1940 und der darauffolgenden Collaboration galten weiterhin zugleich als schmerzhafte Wunde und Tabu im Bewusstsein der meisten Franzosen. Das gro-

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ße Leitmotiv französischer Politik hieß „nie wieder schwach werden“1 und diesmal war man fest entschlossen, die französische Besatzungszone auszunutzen, um nach so viel erlebter Greuel Deutschlands Macht endgültig zu brechen. Die deutsche Ge- fahr sollte endlich verschwinden. Unter solchen Voraussetzungen fragt man sich wirklich, wie Haß sich in Freundschaft verwandeln konnte. In der Tat waren beide Völker kriegsmüde. Außerdem trug der Umstand, dass so viele Franzosen in Deutschland und Deutsche in Frankreich Kriegsgefangene waren, paradoxerweise dazu bei, dass man allen Vorurteilen und Schwierigkeiten zum Trotz einander besser kennen und schätzen lernte2. Darüber hinaus wurde mehr denn je die Absurdität des Kriegs offenkundig. Wer zum Beispiel nach Ostfrankreich oder in die Normandie fährt, bekommt überall riesige Soldatenfriedhöfe zu sehen. In jedem Dorf kann man in den Kirchen oder auf dem Rathausplatz Denkmäler oder Gedenk- tafeln mit langen Listen von Gefallenen sehen. Hundertausende von jungen Män- nern wurden hinweggerafft, die beiden Weltkriege waren schließlich nichts anderes als ein furchtbarer Aderlass. Da erinnert man sich an den Geschichtsunterricht, an die vielen Siege des Sonnenkönigs und später Napoleons bis zur Dritten Republik, deren Namen man früher auswendig lernen musste – und preist sich glücklich, im 21. Jahrhundert zu leben. Beide Völker sind jahrhundertelang danach bestrebt gewe- sen, die eigene Macht und Größe dadurch zu behaupten, dass man das Nachbarland plünderte und unterjochte. Wer einen Krieg verloren hatte, dachte an Revanche. Erst dadurch, dass er in Sedan einen großen Sieg über Napoleon III. erringen konnte, gelang es Bismarck, das Zweite deutsche Reich als vergrößertes Preußen zu gründen. Nachdem Frankreich das Elsass und Lothringen hatte abtreten müssen, sann man auf Vergeltung, man blickte in Richtung der blauen Linie der Vogesen und jedes Jahr legten Studenten einen Kranz an der Statue nieder, die an der Place de la Concorde die Stadt Straßburg symbolisiert. Um ihre Legitimität zu festigen, brauchte die Dritte Republik ein Feindbild, während die deutschen Nationalisten alljährlich den Sedan- tag großspurig begingen. Das Diktat von Versailles demütigte das besiegte Reich, ohne dessen Macht wirklich zu brechen und hatte zur Folge, dass die Weimarer Re- publik, das erste wirklich demokratische Regime auf deutschem Boden, nie wirklich mit dem Odium der Niederlage fertig werden konnte und bald der Nazi-Diktatur weichen musste. Ein Friedensvertrag bedeutete also bloß eine mehr oder weniger lange Atempause zwischen zwei Kriegen. Überall wucherten in Europa nationalis- tische Neigungen, die gegenseitigen Hass schürten, deren letzter Ausbruch in den neunziger Jahren in Serbien und Bosnien noch so viele Opfer forderte. Dieser Teu-

1 Grosser, Alfred: Mit Deutschen streiten. München 1987, S.63, 64, sowie S. 42–45. 2 Seit einigen Jahren erzählen immer mehr einstige Kriegsgefangene von ihren Erlebnis- sen wie zum Beispiel Stricker, Johannes: Moi, prisonnier allemand en Bretagne. Sables d’Or 2005.

Dis | kurs 209 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 felskreis hatte letzten Endes zur Folge, dass auf europäischem Boden zwei Weltkriege ausbrachen, die an Scheußlichkeit unübertroffen sind. Wie kann man also begreifen, dass mit dem gegenseitigen Hass endlich Schluss gemacht werden konnte? Das Hauptergebnis des letzten Weltkriegs besteht vor allem darin, dass die drei eins- tigen europäischen Weltmächte ihre führende Rolle zugunsten von Amerika und Russland verspielt hatten. Sie sind derart geschwächt worden, dass sie füreinander keine Gefahr mehr bedeuten konnten, sie waren vielmehr von nun an auf die wirkli- chen Sieger angewiesen, die weitgehend ihr Schicksal bestimmten. Es war also höchs- te Zeit, mit dem Fluch der schlechten alten Zeit Schluss zu machen und dies haben damals Menschen guten Willens eingesehen, die meistens selbst an der Front gewe- sen waren oder unter den Folgen dieser endlosen Konflikte und Weltkriege gelitten hatten. Auf französischer Seite denkt man vor allem an Robert Schuman, der als Lothringer am eigenen Leibe erfahren hatte, wie absurd all diese Kriege waren sowie an Jean Monnet, dessen Memoiren3 zeigen, wie kühn man damals sein musste, um sich einfallen zu lassen, wie man die Ursachen der bisherigen Konflikte überwinden könnte. Der Schuman-Plan bedeutete in der Tat eine völlige Neuorientierung der französischen Außenpolitik Deutschland gegenüber und es ist interessant zu bemer- ken, dass beide Männer, Monnet und Schuman, einander kannten und schätzten. Auf deutscher Seite hat selbstverständlich Konrad Adenauer in dieser Hinsicht eine besonders hervorragende Rolle gespielt.4 Er wollte mit der traditionellen Schaukel- politik zwischen Ost und West Schluss machen und war schon seit den zwanziger Jahren davon überzeugt, dass eine Versöhnung mit Frankreich unerläßlich war. Ein geschwächtes, kriegsmüdes aber doch „siegreiches“ Frankreich war deshalb bereit, den Deutschen eine freundschaftliche Hand zu reichen, die ihrerseits mit Entschlos- senheit nach Westen blickten und unter englischer und amerikanischer Führung ein vorbildliches demokratisches Regime gegründet hatten, das sich seit sechzig Jahren glänzend bewährt hat. Es wurde also beschlossen, das, was erneut zum Krieg hätte führen können, dass heißt den Bergbau und die Schwerindustrie, einer ersten euro- päischen Gemeinschaft anzuvertrauen.5 Es ging um den ersten freiwilligen Verzicht auf Hoheitsrechte zugunsten einer übernationalen Autorität, was natürlich in Frank- reich vor allem bei konservativen und kommunistischen Kreisen auf heftige Kritik stieß.6 Robert Schuman und Jean Monnet wollten schon lange zur Gründung einer

3 Vgl. Monnet, Jean: Mémoires. Band 2, Le temps de l’union, Kapitel XI und XIV. Paris 1976. 4 Vgl. Grosser, Alfred: Mit Deutschen streiten, S. 49, 51 sowie Kapitel 3 und 4; vgl. ferner de Gaulle, Charles: Mémoires d’espoir, le renouveau. Paris 1970, S. 183–189 und von Uexküll, Gösta: Adenauer. Hamburg 1976, S. 84, 91. 5 Vgl. Monnet, Jean: Mémoires, S. 407, 493–500, 549–585. 6 Vgl. de Gaulle, Charles: Mémoires d’espoir, S. 188, 192.

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Schicksalsgemeinschaft beitragen, die sich allmählich weiterentwickeln und schließ- lich zu den Vereinigten Staaten von Europa führen würde.7 Alles was mit der Wirt- schaft zusammenhing, sollte als Mittel zum Zweck gebraucht werden, um eine sehr weitreichende Integration der europäischen Demokratien zu realisieren, die sich vom Ostblock bedroht fühlten. Für die damaligen französischen Regierungskreise war demzufolge die Alternative besonders klar: entweder beschloß man, die bisherige harte Linie beizubehalten, die sowieso in eine Sackgasse führte, weil die Amerikaner diese nicht bewilligten und weil die politische Situation auf deutschem Boden nun ganz anders aussah8, oder man ließ sich etwas ganz anderes einfallen. Die erstaunliche Größe von Robert Schu- man und Jean Monnet bestand darin, dies nicht bloß theoretisch, sei es aus realpoli- tischen oder idealistischen Gründen eingesehen zu haben: Sie hatten auch konkrete, in die Zukunft weisende Pläne erdacht, die für beide Regierungen akzeptabel waren. Sie nutzten ihren großen politischen Einfluss, um die damaligen Regierungskreise der Vierten Republik von der Richtigkeit ihrer Standpunkte zu überzeugen.9 Der Schuman-Plan wurde in Deutschland begrüßt und unterstützt, nicht zuletzt des- halb, weil dieser letzten Endes auch wieder zu einer vollen Gleichberechtigung der Bundesrepublik führte. In Frankreich wurde behauptet, die Franzosen allein wür- den Zugeständnisse machen10, das gegenseitige Vertrauen war noch sehr begrenzt. Auf dieses mangelnde Vertrauen könnte man unter anderem das spätere Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft im französischen Parlament zurück- führen. Aber der Mechanismus, der zur Versöhnung führen sollte, konnte trotzdem nicht mehr aufgehalten werden. Von der Versöhnung zur Freundschaft Was hat also beide Völker vom Jahr 1945 an und im Schatten des Kalten Kriegs zu einer allmählichen Versöhnung und dann zur Freundschaft bewogen? Es liegt auf der Hand, dass beide Völker nach so vielen Katastrophen nichts mehr von Krieg und blutigen Konflikten hören wollten. Beide Staaten hatten als Großmacht abgedankt und der „Sieg“ der Franzosen mit den anderen Alliierten war alles andere als ein Triumph. Allen Greueln zum Trotz mussten wieder Kontakte angeknüpft werden, zumal weitblickende Politiker in beiden Staaten schon seit vielen Jahren an einer Versöhnung arbeiteten. Vom Standpunkt der Realpolitik her war das die einzige ver- nünftige Lösung, zumal das geteilte Deutschland für Frankreich keine Gefahr mehr

7 Vgl. Monnet, Jean: Mémoires, Kapitel XIII und XVII. 8 Vgl. Grosser, Alfred: Geschichte Deutschlands seit 1945. München 1970, S. 142 f., 452. 9 Vgl. Monnet, Jean: Mémoires, Band 2, S. 445 bis 450 und 452, 455, 504, 505. 10 Vgl. de Gaulle, Charles: Mémoires d’espoir, S. 197.

Dis | kurs 211 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 bedeuten konnte.11 Als Menschen, die derart unter den Folgen der Kriege gelitten hatten, sehnten sich auch viele Leute nach einer dauerhaften, friedlichen Ausgestal- tung der einstigen Feindschaft. Die deutsch-französische Versöhnung war also auch indirekt die Folge der beiderseitigen Erschöpfung. Der Größenwahn, der sich so lange darin geäußert hatte, das Nachbarvolk unterjochen zu wollen, hatte schließ- lich mit dem Nazismus und dessen Konsequenzen die Büchse der Pandora wie nie zuvor geöffnet. Nun galt es einzusehen, dass es damit endgültig aus war. Charles de Gaulle und der Résistance war ja einerseits zu verdanken, dass Frankreich tatsächlich am Sieg über den Nazismus teilhaben konnte aber in Jalta oder auf der Potsdamer Konferenz, dass heißt dort wo die wirklich bedeutenden Entscheidungen getroffen wurden, die die Welt der Nachkriegszeit neugestalten sollten, waren die Franzosen nicht einmal vertreten, was vor allem de Gaulle empörte und sich als zusätzliches Trauma auswirkte. Als de Gaulle 1958 wieder an die Macht kam, hätte man befürchten können, dass er dem Traum von einem vereinigten Europa, so wie dieser von Jean Monnet und Robert Schuman entwickelt worden war, ein brutales Ende bereitet hätte.12 Eben das Gegenteil geschah. De Gaulle war zwar zum Teil ein Denker alten Schlags, der von nationaler Größe träumte und der nichts von integrierten, übernationalen Institu- tionen hielt. Zugleich aber hatte er eine realistische Auffassung von den Machtver- hältnissen auf dem europäischen Kontinent sowie in der damaligen Welt und da er sellest an beiden Weltkriegen teilgenommen hatte, sehnte er sich genauso wie Kon- rad Adenauer nach friedlichen und vertrauensvollen deutsch-französischen Bezie- hungen.13 In seinen Memoiren14 berichtet er ausführlich von den häufigen Verhand- lungen, die er mit dem Bundeskanzler, „seinem lieben Freund“, führte. De Gaulle nannte Adenauer einen „großen Patrioten“, was aus seiner Feder als größtmögliches Kompliment gilt. Besonders interessant und rührend ist die Erzählung von Adenau- ers Aufenthalt in de Gaulles Familienhaus in Colombey.15 Dabei ging es darum, nicht

11 Vgl. ebd., S. 181. « Pour moi j’ai, de tous temps, mais aujourd’hui plus que jamais, ressenti ce qu’ont en commun les nations qui la i.e. l’Europe, JLG] peuplent. » Vgl. hierzu auch Breitenstein, Rolf: Der häßliche Deutsche? München 1968, S. 57–61. 12 Vgl. de Gaulle, Charles : Mémoires d’espoir, S. 188: « J’indique à Adenauer que la France, du strict point de vue de son intérêt national et par profonde différence avec l’Allemagne, n’a pas, à proprement parler, besoin d’une organisation de l’Europe occi- dentale ». 13 Vgl. ebd., S. 185: « Je réponds au Chancelier que (…) je crois le moment venu pour mon pays de faire, vis-à-vis du sien, l’essai d’une politique nouvelle ». 14 Vgl. ebd., S.183–191. 15 Vgl. ebd., S. 184: « C’est à Colombey-les-deux Eglises que je le reçois, les 14 et 15 sep- tembre 1958. Il me semble en effet, qu’il convient de donner à la rencontre une marque exceptionnelle et que, pour l’explication historique que vont avoir entre eux, au nom de leurs deux peuples, ce vieux Français et ce très vieil Allemand, le cadre d’une maison

212 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland bloß politische Entscheidungen zu treffen, sondern vor allem auch, sozusagen im Familienkreis, die deutsch-französische Freundschaft zu besiegeln. Um dieses Bemühen um Annäherung noch besser einzusehen, bietet es sich an, den Text der gemeinsamen deutsch-französischen Erklärung vom 22. Januar 1963 noch einmal zu lesen.16 Darin ist von der „engen Solidarität der beiden Völker, sowohl hinsichtlich ihrer Sicherheit als auch hinsichtlich iher wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung“ die Rede. Und es wird darauf hingewiesen, dass „die Jugend sich dieser Solidarität bewußt geworden ist, und daß ihr eine entscheidende Rolle bei der Festi- gung der deutsch-französischen Freundschaft zukommt“. Beide Regierungen beton- ten auch, dass „die Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern ein unerläßlicher Schritt auf dem Wege zu dem vereinigten Europa bedeutet, welches das Ziel der beiden Völker ist“. Diese etwas langen Zitate stellen weitgehend eine Vorwegnahme mancher Artikel des Elysée-Vertrages, der am 22. Januar 1963 unterzeichnet wurde, dar. Diese Be- stimmungen sind besonders umfangreich und bezweckten in der Tat so etwas wie eine Schicksalsgemeinschaft: • „Die beiden Regierungen konsultieren sich vor jeder Entscheidung in allen wichtigen Fragen der Außenpolitik und in erster Linie in den Fragen von ge- meinsamem Interesse. (…) • „Auf dem Gebiet der Strategie (…) bemühen sich die zuständigen Stellen, (…) ihre Auffassungen einander anzunähern, um zu gemeinsamen Konzeptionen zu gelangen. (…) • Der Personalaustausch wird verstärkt. (…) • Die Gleichwertigkeit der Diplome wird angestrebt. (…) • Der Sprachunterricht wird entwickelt.“17 Bald darauf erklärte Adenauer vor den Mitgliedern der CDU: „Unser Geschick ist auch das Geschick Frankreichs“.18 All diese Dokumente sind wohlbekannt, lassen uns aber besser einsehen, wie eng beide Themenkreise, dieser der deutsch-französischen Beziehungen und jener der europäischen Integration, miteinander verflochten sind und welch zentrale Rolle in diesem Zusammenhung die deutsch-französischen Beziehungen von vorne herein

familiale a plus de signification que n’en aurait le décor d’un palais. Ma femme et moi faisons donc au Chancelier les modestes honneurs de la Boisserie ». 16 Wilharm, Irmgard: Deutsche Geschichte 1962–1983, Dokumente in zwei Bänden hrsg. und kommentiert von Irmgard Wilharm, Band 1. Frankfurt (Main) 1985, S. 84. 17 Ebd., S.85, 88. 18 Ebd., S. 88.

Dis | kurs 213 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 gespielt haben. In der Tat hat sich der Elysée-Vertrag, dessen Unterzeichnung so viele Hoffnungen weckte, allen unvermeidlichen Reibungen und Mißverständnissen zum Trotz bis heute bewährt. Er war und bleibt immer noch ein besonders solides Bin- deglied zwischen beiden Ländern und erwies sich als zukunftweisendes Dokument sowie als Vorbild für eine vertrauensvolle Beziehung und Zusammenarbeit auf eu- ropäischer Ebene. Sicherheit durch Westintegration und europäische Verständigung waren der Zweck der beiden wichtigsten europäischen Verträge die 1957 in Rom und 1963 in Paris unterzeichnet wurden. Die Tatsache, dass die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich gerade in dieser Phase besonders intensiv geworden sind, wurde übrigens auf symbolische Weise dadurch dokumentiert, dass beide Par- lamente anläßlich des 40. Jahrestags der Unterzeichnung des Elysée-Vertrages zu- sammen in Versailles tagten und dass danach ein großes Bankett in der Galerie des Batailles stattfand, in welcher so viele Bilder von großen Malern an die dramatische alte Zeit erinnern. Seit Jahrzehnten schon mehren sich symbolische Gesten, die vor den Massenme- dien beweisen sollen, dass beide Länder, fest entschlossen sind, eine gemeinsame Zukunft zu verwirklichen. Infolgedessen konnte die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten stattfinden, ohne dass in der französischen Bevölkerung irgend- welche Befürchtungen laut wurden. Man verfolgte vielmehr die Wende mit großem Interesse und Sympathie. Nach anfänglichem Zögern seitens des damaligen franzö- sischen Präsidenten wurde das, was zu erneuten Spannungen hätte führen können, also die Infragestellung des bisherigen europäischen Gleichgewichts, als Anlass zu weiteren Fortschritten in der deutsch-französischen Annäherung benutzt: 1990 trat die erste Stufe zur Wirtschafts- und Währungsunion in Kraft, 1992 wurden in Maas- tricht die Grundlagen für eine weitere Vertiefung der Gemeinschaft gelegt. Wenn die gegenseitigen Beziehungen zwischen Helmut Kohl und François Mitterand nicht so freundschaftlich gewesen wären, wenn nicht ein großer Staatsmann wie zum Bei- spiel Jacques Delors jahrelang für ein immer besser funktionierendes Europa gesorgt hätte, wäre wahrscheinlich die Wende, die in Wirklichkeit das glückliche Ende der Nachkriegszeit bedeutete, vor zwanzig Jahren innerhalb der Gemeinschaft nicht so glatt gelaufen. Nun leben wir im Euroland mit völlig offenen inneren Grenzen und halten das für so selbstverständlich, dass wir uns kaum noch vorstellen können, dass es nicht immer so aussah. Zugleich wurden aber als Folge der Wende zwei äußerst schwierige Auf- gaben so gut es ging in Angriff genommen: die Osterweiterung und die noch nicht völlig gelungene Neugestaltung der Institutionen der EU. Aus der Gemeinschaft wurde eine Union und der Europäische Rat in Laeken hat im Jahre 2001 den Euro- päischen Konvent zur Zukunft Europas einberufen, der im Konsensverfahren unter der Führung vom früheren französischen Präsidenten Valéry Giscard d’Estaing den

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Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa erarbeitete. Ein jeder weiß, dass es dabei vor allem um eine deutsch-französische Initiative ging, nachdem man eingesehen hatte, dass der mühsam ausgehandelte Nizza-Vertrag angesichts immer komplexerer Unionspolitiken nicht mehr ausreichte. Man weiß, was daraus wurde: Wie in den fünfziger Jahren, als das französische Par- lement den EVG-Vertrag zu Fall brachte, gelang es manchen Euroskeptikern die hiesigen Bürger davon zu überzeugen, dass diese Verfassung nicht ratifiziert wer- den dürfe. Man wies vor allem darauf hin, dass die in der per Volksabstimmung zu ratifizierenden Verfassung verankerte „freie und unverfälschte Konkurrenz“ als tro- janisches Pferd einer allzu liberalen Auffassung vom Kapitalismus aufzufassen war. Kurz, man gab den Wählern zu verstehen, dass dieser für politisch weniger interes- sierte Bürger nur schwer verständliche Vertrag keinen Fortschritt, sondern langfris- tig vor allem eine unannehmbare soziale Rückentwicklung mit sich bringen würde. Die Franzosen haben darüber hinaus immer noch eine plebizitäre Auffassung von solchen Volksabstimmungen. Es wird dann kaum noch auf die gestellte Feage geant- wortet: die Wähler nutzen meistens die sich ihnen bietende Gelegenheit, um ihren nationalen politischen Frustrationen freien Lauf zu lassen. Der mühsam vor allem infolge einer deutsch-französischen Initiative erarbeitete Vertrag scheiterte also im letzten Augenblick vor allem deshalb, weil es Demagogen gelang, die öffentliche Meinung zu verwirren und weil der Verfassungstext für eine Volksabstimmung denkbar ungeignet war. Diese Schlappe hätte natürlich dann eine Art Kettenreaktion auslösen können, wie wir es bald darauf in den Niederlanden erlebten und dies hätte die Europäische Union jahrelang lähmen können. Warum jedoch war dies diesmal nicht der Fall? Vor allem deshalb, weil sich schon wieder ein- mal deutsch-französische Zusammenarbeit bewährte. Jacques Delors pflegte einst, die EU mit einem undefinierten politischen Gegenstand («un objet politique non identifié») oder mit einem Fahrrad zu vergleichen und wies darauf hin, dass jemand, der nicht schnell genug radelt, umfällt. Die mißlungene Volksabstimmung und die unerlässliche, aber für manche Wähler etwas verwirrende Osterweiterung der EU hätten eine weitere Vertiefung und Konsolidierung der europäischen Beziehungen hemmen und also eventuell zu einer Rückentwicklung führen können. Es war zu befürchten, daß die EU unter dem Druck von vielen Euroskeptikern sich in eine bloße Freihandelszone hätte werwandeln können. Dem festen politischen Willen der deutschen Regierung und insbesondere demjenigen von Frau Merkel, die sich einer rückhaltlosen französischen Unterstützung erfreuen konnte, ist vor allem zu verdan- ken, dass im Konsensverfahren auf europäischer Ebene der Vertrag von Lissabon verfasst werden konnte, der wesentliche Aspekte der abgelehnten und totgeborenen Verfassung wiederaufnimmt. Ob diesmal (2009) die Ratifizierung unter Dach und Fach gebracht werden kann, bleibt noch eine offene Frage aber eines jeder kann fest-

Dis | kurs 215 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 stellen, nämlich dass deutsch-französische Initiativen weiterhin unerläßlich bleiben und als Katalysator für Europa fungieren. Einen ähnlichen Befund kann man im Übrigen auch hinsichtlich der gemeinsamen Außenpolitik formulieren. Als im Jahr 2008 der Konflikt zwischen Russland und Georgien ausbrach und Präsident Sarkozy als Vorsitzender der EU nach Moskau flog, konnte er vor allem auch deswegen die Russen gewissermaßen zum Einlenken bewegen, weil das deutsch-französische Zu- sammenhalten zu einem europäischen Konsens geführt hatte. Vor jeder großen Entscheidung oder Gipfelkonferenz pflegen Deutsche und Franzo- sen miteinander zu konferieren, um einen gemeinsamen Standpunkt zu entwickeln, der dann als Vorschlag und Verhandlungsbasis für weitere Diskussionen auf europä- ischer Ebene dient und meistens zur Bestimmung einer gesamteuropäischen Politik führt: infolgedessen wird die EU handlungsfähiger. Wenn es um lebenswichtige Fra- gen geht, wie zum Beispiel die notwendige Regulierung des heutigen Kapitalismus oder der noch drängendere Umwelt- und Klimaschutz, kommt infolge der bisheri- gen Nachkriegsgeschichte Deutschen und Franzosen eine besondere Rolle und Ver- antwortung zu. Der Konsens, den beide Regierungen meistens erreichen, kann zur Grundlage für eine wirksamere gesamteuropäische Außenpolitik werden. Zwar hätte man in dieser Hinsicht noch Riesenfortschritte zu machen, um gesamteuropäische Interessen zur Geltung zu bringen, wie zum Beispiel angesichts der gemeinsamen Bekämpfung der gegenwärtigen Wirtschafts- und Finanzkrise, andererseits aber ist manches schon erreicht worden. Vor dem Hintergrund der Globalisierung und der wachsenden ökonomischen Macht von Ländern wie China, Indien und Brasilien wird es jedoch unerlässlich sein, diesen Prozeß der Integration zu beschleunigen. Kein europäischer Staat wird künftig alleine diesen neuen Mächten gewachsen sein. Aus den „negativen“ Beweggründen, die zur Versöhnung und Freundschaft zwischen Deuschland und Frankreich führten, sind längst „positive“ Motivationen geworden. Früher wollte man mit einer tragischen Vergangenheit Schluss machen, nun gehört es sich, eine wirkliche in die Zunkunft weisende Schicksalsgemeinschaft zu gründen. Die zu stellende Frage lautet nun: Was wollen und können wir gemeinsam tun, das wir auf eigene Faust nie würden erreichen können? Schon seit Jahrzehnten kann sich niemand mehr in Frankreich vorstellen, dass die deutsch-französischen Beziehungen wieder problematisch werden könnten. Beide Länder sind in der Tat so sehr aufeinander angewiesen und füreinander so wich- tige Partner, dass dieses Thema kaum noch angesprochen wird. Es geht um etwas Selbstverständliches. Die Frage lautet nun, wie sich der einmal begonnene Prozess der gegenseitigen politischen, kulturellen, wirtschaftlichen und technischen Integ- ration als Teil eines gesamteuropäischen Prozesses noch weiter beschleunigen und vertiefen lässt?

216 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland

Freundschaft, Konkurrenz und Zusammenarbeit Gesamteuropäische Projekte, die meistens auf eine deutsch-französische Initiative zurückgehen, haben so viel Erfolg gehabt, dass man sich kaum noch vorstellen kann, dass es früher anders aussah. Wir leben aber keinesfalls in einer idyllischen Welt. Was etwa Airbus angeht waren neulich zwischen Toulouse und Hamburg Führungs- und Organisationsprobleme so akut geworden, dass man monatelung nicht in der Lage war, diese beizulegen. Im hochsensiblen Bereich der Atomkraft und der Ent- wicklung von neuen Atommeilern kam es sogar zum Bruch. Die Firmen Siemens und Areva unterbrachen plötzlich eine mehrjährige Zusammenarbeit und die Füh- rung von Siemens soll sich bemüht haben, Kontakte mit der russischen Konkurrenz zu knüpfen. In der französischen Presse kursierten sehr kritische Artikel über dieses Thema19, wobei die Schuld oft Anne Laubergeon, der Vorstandsvorsitzenden von Areva, zugeschoben wurde. Jedesmal geht es in diesen Konflikten darum zu bestim- men, wer konkret federführend sein soll. Es geht dabei um nichts Neues20, in inter- nationalen Projekten ist es immer schwer, auf Augenhöhe gleichberechtigt mitein- ander zusammenzuarbeiten. Sobald die Deutschen angeblich wieder nach Russland schielen, fragt man sich hierzulande, ob Deutschland nicht etwa wieder ein bißchen nach Osten abdriften würde. Man fragt sich auch, ob es nicht etwa für die gesamte EU gefährlich sun könnte, so viel Gas aus Sibirien zu beziehen. Denn ein jeder weiß, dass Energieträger auch als politische Waffe gebraucht werden könnten. Beispiele dieser Art könnte man noch weiter anführen und ein ähnlicher Verdacht soll auch ab und zu in der Bundesrepublik aufkommen, was die gesamte französische Poli- tik betrifft. Nationale Interessen haben noch allzu oft Vorrang vor den langfristigen Zielsetzungen, die die Union verfolgt. Freundschaft und Zusammenarbeit schließen aber keinesfalls Konkurrenz aus, die ab und zu Entgleisungen und Konflikte mit sich bringt. Solange aber der feste politische Wille zur Integration weiterbesteht, können jedoch eventuelle Fehlentscheidungen als Randproblem betrachtet werden. Glücklicherweise werden aber fast immer für beide Seiten befriedigende Kompro- misse ausgehandelt. Als letztes Jahr Präsident Sarkozy die Beziehungen der südeu- ropäischen Staaten zum Mittelmeerraum neu gestalten wollte, ohne die nordeuopäi- schen Mitglieder der Union einzubeziehen, war in Berlin die Empörung groß. Nach langen Diskussionen kamen aber Deutsche und Franzosen darin überein, die Union für das Mittelmeer für ein Thema zu halten, das alle Staaten der EU angeht. Infolge- dessen konnte im Pariser Grand Palais eine Gipfelkonferenz großen Stils inszeniert

19 Vgl. zum Beispiel die Bereichterstattung in Le Point, Nr. 1899, vom 5.2.2009, S.70–72, « Lauvergeon au coeur de la bataille Sarkozy-Merkel ». 20 Es geht immer wieder darum zu bestimmen, wer federführend sein soll. In allen Berei- chen der deutsch-französischen Zusammenarbeit wird diese Frage irgendwann akut.

Dis | kurs 217 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 werden, die die meisten Staats- und Regierungschefs der betroffenen Länder versam- melte – und zwar ohne dass noch jemand daran Anstoß nahm. Die Franzosen sollten also besser einsehen, dass sich die Deutschen aus geopolitischen Gründen eher nach Osten und Norden orientieren, während umgekehrt Frankreich, wie übrigens auch Spanien und Italien, mehr Wert auf Beziehungen zu südlichen Staaten legen. In der Tat sind beide Bereiche für die gesamte EU in gleichem Maße wichtig und bedeutend, was unsere gemeinsame Zukunft angeht. Diese Reibungen und Mißverständnisse wirkten sich diesmal wieder auf positive Weise aus und zwar deshalb, weil Entgegenkommen und Kompromißbereitschaft als Grundprinzip der deutsch-französischen Beziehungen gelten: schon wieder hatten sich diese bewährt. Ein historischer Rückblick auf die deutsch-französischen Beziehungen beweist also zur Genüge, dass man ruhig behaupten darf, dass diese Beziehung, diese Freund- schaft für einen Erfolg ersten Runges zu halten sind und zwar derart, daß parado- xerweise kaum noch davon die Rede ist. Wir leben alle in Euroland, innere Grenzen sind nur noch ein abstrakter Strich auf der Landkarte und erst, wenn man die EU verläßt, hat man das Gefühl, sich wirklich im Ausland zu bewegen. All diese Errun- genschaften, die nun als Selbstverständlichkeit empfunden werden, wären ohne die lanjährige deutsch-französische Freundschaft undenkbar gewesen. Dem deutsch- französischen Paar kommt es gerade aus diesem Grunde auch künftig zu, weitere Initiativen zu ergreifen, die zu noch größeren innen- und außenpolitischen Erfolgen beitragen sollen. Jahrhunderte lang hat Europa, im Guten wie im Schlechten, die Welt beherrscht, durch eigene Schuld die erhabensten Werte der eigenen Kultur verraten und schließ- lich zwei Weltkriege entfesselt, die an Scheußlichkeit unübertroffen sind. Nun erle- ben wir wahrscheinlich einen Neuanfang, eine Auferstehung, die damit begannen, dass Deutsche und Franzosen neue Wege der Politik eröffneten, die zur Versöhnung und Freundschaft führten. Endlich sah man ein, dass wir alle schließlich dieselbe Kultur haben, die in jedem Land auf eigenartige Weise zum Ausdruck kam, und eben deshalb ist unser Kontinent so faszinierend. Im politischen, kulturellen, wirtschaft- lichen und technischen Bereich gehen schließlich infolge der Globalisierung unsere langfristigen Interessen auf dasselbe hinaus. Alles, was man schon erreicht hat, lässt die EU als Vorbild gelten. Das Sendungsbewußtsein der Europäer sollte also wie- der erwachen und diesmal ausschließlich zum Frieden beitragen. Insbesondere für Deutsche und Franzosen stellt sich in Zukunft also folgende Frage: Was wollen wir nun gemeinsam erreichen und wie läßt sich das alles verwirklichen?

218 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland

Thema: 60 Jahre Bundesrepublik deutschland A) Das Selbst B) Das Andere c) Innen und Außen d) Abgründiges

Antisemitismus in der DDR – Die Notwendigkeit eines öffentlichen Diskurses

Heike Radvan Amadeu Antonio Stiftung / Freie Universität Berlin, Fachbereich Erziehungswissenschaften E-Mail: [email protected]

Schlüsselwörter Antisemitismus, DDR-Geschichte

Ergebnisse der Einstellungsforschung dokumentieren für 2002 / 2003 eine Zunah- me antisemitischer Einstellungen.1 Antisemitische Straf- und Gewalttaten bewegen sich auf hohem Niveau.2 Für zivilgesellschaftliche Initiativen stellt sich die Frage, was

1 Angesichts eines langfristigen Trends, der seit 1946 auf eine langsame, aber kontinuierli- che Abnahme antisemitischer Vorurteile verweist (vgl. Bergmann, Werner: Die Verbrei- tung antisemitischer Einstellungen in der Bundesrepublik Deutschland. Ergebnisse der empirischen Forschung von 1990 bis 2003. In: Bundesministerium des Innern (Hrsg.): Extremismus in Deutschland: Erscheinungsformen und aktuelle Bestandsaufnahme. Berlin 2004, S. 25–55), gelten diesbezügliche Schwankungen als anlassbezogen und werden oftmals als Periodeneffekt klassifiziert (vgl. Bergmann, Werner: Zur Entwicklung antisemitischer Einstellungen der Bevölkerung. Stellungnahme zur öffentlichen Anhö- rung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages zum Thema „Antisemitismus in Deutschland“ am 16. Juni 2008. 20.03.2009, http://www.bundestag.de/ausschuesse/ a04/anhoerungen/anhoerung14/stellungnahmen_sv/Stellungnahme_01.pdf.) Bergmann argumentiert auch, dass eine ablehnende Haltung, was die Übernahme von Verantwor- tung für die nationalsozialistischen Verbrechen betrifft, die sich in spezifischen Items abzeichnet, perspektivisch dazu führen könne, dass Antisemitismen zunehmend offen geäußert werden und es im öffentlichen Diskurs zu einer Verringerung antisemitischer Vorurteilsrepression komme könne (vgl. ebd.). 2 Die Statistiken des Bundes und der Landeskriminalämter verweisen auf einen Anstieg

Dis | kurs 219 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 getan werden kann, um heutige Judenfeindschaft zu thematisieren und ihr im öffent- lichen Raum wirksam entgegenzutreten. Für die Entwicklung diesbezüglicher Kon- zepte und Antworten ist es sinnvoll, gegenwärtige Erscheinungsformen in den Kon- text der jüngeren Geschichte des Antisemitismus zu stellen: Um zu verstehen, welche Funktion heutige Antisemitismen haben, ist es unabdingbar, deren geschichtliche Genese in den Blick zu nehmen. Aus der langjährigen Arbeit für eine demokratische Alltagskultur, gegen Rechtsextremismus und Rassismus, war den MitarbeiterInnen der Amadeu Antonio Stiftung3 bekannt, dass es bislang sehr wenig Wissen im öffent- lichen Diskurs darüber gibt, dass es in der DDR Erscheinungsformen von Antisemi- tismus gegeben hat. Vor diesem Hintergrund entstand im Jahr 2006 eine Ausstellung mit dem Titel „Das hat’s bei uns nicht gegeben! Antisemitismus in der DDR“. Sie wurde im April 2007 in Berlin eröffnet und war seither an 38 verschiedenen Orten zu se- hen. Bereits bei der Eröffnung zeichnete sich ab, dass die Ausstellung eine öffentliche Auseinandersetzung über ein Thema anregt, das sehr lange beschwiegen und ledig- lich im wissenschaftlichen Fachdiskurs thematisiert wurde. Die Präsentation wird in überregionalen und lokalen Medien diskutiert, die Rahmenveranstaltungen sind von angeregten Diskussionen der BesucherInnen begleitet. Im Fachdiskurs liegt mittlerweile eine Vielzahl von Veröffentlichungen zum -Ver hältnis der DDR zu Jüdinnen und Juden, zum Zionismus und zu Israel vor.4 Peter

antisemitisch motivierter Straftaten seit 1990. Ein zwischenzeitliches Hoch aus dem Jahr 1994 wird im Jahr 2000 mit einer Anzahl von 1378 Straftaten wieder erreicht. Seitdem bewegt sich die Anzahl der Straftaten auf hohem Niveau. Bundesminister des Inneren: Verfassungsschutzberichte 1990–2002. Bonn–Berlin; Bundesminister des Inneren: Ver- fassungsschutzberichte 2003–2008, http://www.verfassungsschutz.de/de/publikationen/ verfassungsschutzbericht. 3 Die Amadeu Antonio Stiftung unterstützt Initiativen und Projekte, die kontinuierlich gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus vorgehen, sich für demokra- tische Strukturen engagieren und für den Schutz von Minderheiten eintreten. Weitere Informationen unter www.amadeu-antonio-stiftung.de 4 Zum Verhältnis der DDR zu Zionismus und dem Staat Israel vgl. Timm, Angelika: Ham- mer, Zirkel, Davidstern. Das gestörte Verhältnis der DDR zu Zionismus und Staat Israel. Bonn 1997. Zu den jüdischen Gemeinden und dem Umgang mit ihnen staatlicherseits vgl. Mertens, Lothar: Davidstern unter Hammer und Zirkel. Die jüdischen Gemeinden in der SBZ / DDR und ihre Behandlung durch Partei und Staat 1945-1990. Hildesheim, Zürich, New York 1997; Offenberg, Ulrike: „Seid vorsichtig gegen die Machthaber“. Die jüdischen Gemeinden in der SBZ und der DDR 1945-1990. Berlin 1998; Keßler, Mario: Die SED und die Juden – zwischen Repression und Toleranz. Politische Entwicklungen bis 1967 (Zeithistorische Studien, Bd. 6). Berlin 1995. Zur antisemitischen Verfolgungs- welle Anfang der 1950er Jahre vgl. Weigelt, Andreas / Simon, Hermann: Zwischen Bleiben und Gehen. Juden in Ostdeutschland 1945 bis 1956. Zehn Biographien. Berlin 2008; Kießling, Wolfgang: Partner im „Narrenparadies“. Der Freundeskreis um Noel Field und Paul Merker. Berlin 1994. Zur Geschichte jüdischer Kommunisten in der DDR vgl. Hartewig, Karin: Die Geschichte der jüdischen Kommunisten in der DDR. Köln, Weimar, Berlin 2000; Völter, Bettina: Judentum und Kommunismus. Deutsche Familien-

220 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland

Ullrich verweist auf widerstreitende Positionen5: Neben einzelnen Autoren, die den Antisemitismus als Begleiterscheinung der SED-Diktatur betrachten, wird das Phä- nomen in der Mehrzahl der Untersuchungen als grundlegender Bestandteil der vor- herrschenden Ideologie betrachtet. Letztgenannte Position vertritt ebenso Thomas Haury. Anhand von Texten der kommunistischen Bewegung, der SPD des Kaiser- reichs und des spätstalinistischen Antizionismus rekonstruiert er Strukturprinzipien antisemitischer Semantik, als solche nennt er: „Personifizierung gesellschaftlicher Pro- zesse mit daraus resultierender Verschwörungstheorie; Konstruktion identitärer Kollek- tive; Manichäismus, der die Welt strikt in Gut und Böse teilt und den Feind zum exis- tentiell bedrohlichen, wesenhaft Bösen stilisiert, dessen Vernichtung das Heil der Welt bedeutet.“6 Haurys Untersuchung gibt nicht nur Antworten hinsichtlich der Funktio- nen des Antisemitismus für die DDR-Gesellschaft der 1950er Jahre. Sie kann auch als Grundlage für Untersuchungen dienen, die sich spezifischen Erscheinungsformen der späteren DDR zuwenden.7 Im Fachdiskurs werden verschiedene Argumente hin- sichtlich der Frage, ob die DDR antisemitisch war, als relevant diskutiert. Sie werden im Folgenden zusammenfassend vorgestellt, wobei auf die vorliegende Fachliteratur und auf Rechercheergebnisse der Ausstellung8 zurückgegriffen wird. Abschließend werden erste Ergebnisse aus der Bildungsarbeit mit der Wanderaus- stellung vorgestellt.

geschichten in drei Generationen. Opladen 2003. Zum jüdischen Leben in der DDR und der gesamtdeutschen Entwicklung vgl. Burgauer, Erica: Zwischen Erinnerung und Ver- drängung – Juden in Deutschland nach 1945. Hamburg 1993. Zum Verhältnis der DDR gegenüber Juden, Israel und Nahostkonflikt vgl. Wolffsohn, Michael: Die Deutschland- Akte. Juden und Deutsche in Ost und West. Tatsachen und Legenden. München 1995. 5 Vgl. Ullrich, Peter: Nationaler Kommunismus nach Auschwitz – die DDR und die Jü- dinnen und Juden. Ein Bilanzierungsversuch. In: UTOPIE kreativ, H. 199 (Mai 2007), S. 455–467, hier S. 456. 6 Haury, Thomas: Antisemitismus von links. Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der frühen DDR. Hamburg 2002, S. 158. 7 So lagen die von Haury rekonstruierten Strukturelemente antisemitischer Semantik bei der Erarbeitung der oben genannten Ausstellung als Heuristik zugrunde. 8 Die lokalen Fallgeschichten der Ausstellung wurden von acht verschiedenen Jugendgrup- pen aus den Neuen Bundesländern recherchiert, wobei sie von HistorikerInnen und Päd- agogInnen unterstützt wurden. Darüber hinaus arbeitete die Stiftung mit HistorikerInnen zusammen, die einzelne Fallgeschichten recherchierten. Der vorliegende Artikel greift auf Recherchen zurück von Konstanze Ameer, Dr. Martin Jander, Cornelia Möser und Regina Scheer. Die Konzeption der Ausstellung wurde erarbeitet von Dr. Bettina Leder und der Amadeu Antonio Stiftung. Für die Aktualisierung und Erweiterung der Ausstel- lung in 2009 zeichnet verantwortlich Dr. Frank Sobich. Mitglieder des wissenschaftlichen Fachbeirates waren: Dr. Dr. Lothar Mertens, Dr. Peter Fischer, Dr. Thomas Haury, Dr. Hermann Simon.

Dis | kurs 221 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009

Verweigerung von Restitution und Entschädigungszahlungen In den Nachkriegsjahren erfolgten in der sowjetischen Besatzungszone vereinzelt Rückgaben von Grundstücken und Immobilien an jüdische Gemeinden. Jedoch setzte sich die Rückgabe jeglichen geraubten Eigentums an Verfolgte des Nazire- gimes in der Sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR nicht durch.9 Eine diesbezügliche Verantwortung lehnte die SED mit dem Verweis auf die erfüllten Re- parationspflichten und die Überwindung aller Hinterlassenschaften des Faschismus ab. Die ablehnenden Argumentationen waren dabei auch antisemitisch konnotiert: Jüdischen NS-Opfern wurde die Rückgabe ihres Eigentums mit der Begründung ver- weigert, man wolle nicht „zionistische Großbesitzer“10 entschädigen. Entschädigungszahlungen für die Ermordung der europäischen Juden, wie sie die BRD seit 1952 an Israel zahlte, oder Kompensationszahlungen für die in der Verfol- gung erlittenen physischen und psychischen Schäden, lehnte die DDR grundsätzlich ab. Der Staat sah sich nicht in der Nachfolge des NS-Staates und lehnte jegliche Ver- antwortung mit dem Verweis auf den Aufbau des Sozialismus und die erfolgreiche Bekämpfung des Faschismus ab. Die Unterscheidung zwischen „Opfern“ und „Kämpfern“ Überlebende des Nationalsozialismus erhielten Rentenzahlungen und soziale Ver- günstigungen, u. a. die Möglichkeit, fünf Jahre eher in Rente zu gehen, zusätzliche Urlaubstage und Kuraufenthalte in Anspruch zu nehmen sowie öffentliche Verkehrs- mittel unentgeltlich zu nutzen. Nicht selten wurden diese Regelungen von Angehöri- gen der Mehrheitsgesellschaft zum Anlass genommen, sich judenfeindlich zu äußern; Antisemitismus wurde hier explizit.11 Die Einrichtung dieser gesetzlich verankerten Regelungen war nicht unumstritten, von Beginn an wurde hierbei zwischen „Opfern“ und „Kämpfern“ unterschieden. So vertrat die KPD im Juli 1945 folgende Position: „Opfer des Faschismus“ könnten nur diejenigen sein, „die unter Hitler heldenmütig für die Freiheit des deutschen Volkes“ gekämpft haben. Natürlich seien auch alle ande- ren Opfer, auch „die Juden, die als Opfer des faschistischen Rassenwahns verfolgt und

9 Eine detaillierte Rekonstruktion von zwei letztlich gescheiterten Versuchen, die Restitu- tion geraubten Eigentums in der SBZ und DDR rechtlich zu regeln, findet sich bei Mer- tens, Lothar: Davidstern unter Hammer und Zirkel, S. 229–246. Zur Praxis des bereits 1947 außer Vollzug gesetzten Wiedergutmachungsgesetzes in Thüringen vgl. Spannuth, Jan Phillip: Rückerstattung Ost. Freiburg 2000, S. 186 ff. 10 Timm, Angelika: Die DDR, die Schoah und der offizielle Antizionismus. In: Keßler, Mario (Hrsg.): Arbeiterbewegung und Antisemitismus. Entwicklungslinien im 20. Jahrhundert. Bonn 1993, S. 69. 11 Vgl. Burgauer, Erica: Zwischen Erinnerung und Verdrängung – Juden in Deutschland nach 1945, S. 141.

222 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland ermordet wurden.“ „Aber so weit können wir den Begriff ‚Opfer des Faschismus’ nicht ziehen. Sie haben alle geduldet und Schweres erlitten, aber sie haben nicht gekämpft.“12 Auch wenn diese Position geändert werden musste und die Deutsche Volkszeitung im September 1945 mit der Überschrift „Juden sind auch Opfer des Faschismus“13 titelt, blieb die vorgenommene Unterscheidung mit ihren problematischen Impli- kationen und diskriminierenden Auswirkungen bis zum Ende der DDR erhalten. So waren es häufig Jüdinnen und Juden, – wie der Historiker Helmut Eschwege und der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Leipzig, Eugen Gollomb14 – denen trotz ihrer aktiven Beteiligung am Widerstandkampf gegen die Nationalsozialisten der Status als „Kämpfer“ verweigert oder aberkannt wurde. Neben der willkürlichen und diskriminierenden Vergabe des Kämpfer- und Opferstatus enthielt diese Klassifizie- rung jedoch auch den impliziten Vorwurf, an der eigenen Verfolgung mitschuldig gewesen zu sein, da man nicht gekämpft habe. Wie zynisch und menschenverachtend diese Implikation gewirkt hat, davon berichten Zeitzeugen.15 Ab 1965 verstetigte sich diese Unterscheidung auch ökonomisch. „Kämpfer“ gegen den Faschismus erhielten nun eine Ehrenpension, die 1985 um 400 Mark höher war als die Rentenzahlungen an „Opfer“ des Faschismus. 16 Staatliche Verfolgung zu Beginn der 1950er Jahre Ausgehend von der KPdSU der Sowjetunion, die bemüht war, ihre Vormachtstel- lung im eigenen Land und in den Staaten des Ostblocks zu sichern, breiteten sich ab 1948 Kampagnen aus, die neben den anfänglichen Vorwürfen des „Titoismus“ und „bürgerlichen Nationalismus“ bald um die Zuschreibung des „Kosmopolitismus“ und „Zionismus“ erweitert wurden. Jüdische Parteifunktionäre wurden als Zionisten, Spi- one und Verräter verfolgt und verurteilt. Antisemitische Säuberungen und Schau- prozesse breiteten sich aus der Sowjetunion in die Ostblockstaaten aus. Auch in der DDR verhaftete der Geheimdienst seit 1950 kommunistische Funktionäre. Einige von ihnen wurden als angebliche Agenten der Gestapo und für ihre Unterstützung jüdischer Restitutions- und Wiedergutmachungsforderungen angeklagt. Ihnen wur- de jüdischer Nationalismus vorgeworfen. Privatpersonen und jüdische Gemeinden

12 Deutsche Volkszeitung, 1. Juli 1945. 13 Deutsche Volkszeitung, 26. September 1945. 14 Ausführliche Darstellungen vgl. Eschwege, Helmut: Fremd unter meinesgleichen. Erin- nerungen eines Dresdner Juden. Berlin 1991; Hollitzer, Siegfried: Die Juden in der SBZ und ihr Verhältnis zu Staat wie Kirche. In: Ephraim-Carlebach-Stiftung (Hrsg.): Judaica Lipsiensia: Zur Geschichte der Juden in Leipzig. Leipzig 1994. 15 Zeitzeugengespräche im Rahmen der Erarbeitung der Ausstellung „Das hat’s bei uns nicht gegeben! Antisemitismus in der DDR“. 16 Zur Ungleichbehandlung zwischen „Kämpfern“ und „Opfern“ vgl. Guckes, Ulrike: Opfer- entschädigung nach zweierlei Maß?. Berlin 2008.

Dis | kurs 223 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 wurden Opfer weit reichender Repressalien. Die in den Nachkriegsjahren für viele Überlebende existentielle Unterstützung der Hilfsorganisation „Joint Distribution Committee“ wurde staatlicherseits verwendet, um Spitzel- und Spionagetätigkeit für den US-Imperialismus sowie Kosmopolitismus zu unterstellen. Anhand vorliegen- der Listen über die Annahme der Hilfslieferungen wurden Privatwohnungen sowie Büroräume der Gemeinden durchsucht, Akten und religiöse Literatur beschlag- nahmt, Verhöre durchgeführt sowie Verhaftungen vorgenommen. Viele Jüdinnen und Juden, die sich religiös und gleichzeitig politisch engagierten, wurden aus öffent- lichen Stellungen und repräsentativen Ämtern entlassen. Viele Angeklagte wurden in den Vernehmungen antisemitisch beschimpft. Die Staatssicherheit überwachte die jüdischen Gemeinden, verhörte Gemeindefunktionäre und legte Listen mit Namen der Gemeindemitglieder an. Obwohl bereits vorbereitet, wurde ein antijüdischer Schauprozess in der DDR jedoch nicht durchgeführt. In Geheimprozessen wurden die Angeklagten zu Haftstrafen verurteilt. Im Frühjahr 1953 flohen infolge der antisemitischen Kampagne nahezu alle Gemeindevorstände und mehrere Hundert Mitglieder der Jüdischen Gemeinden aus der DDR. Hiermit war auch die relative Autonomie der Jüdischen Gemeinden beendet. Die SED war bemüht, Gemeindevorsitzende einzusetzen, die die Parteiin- teressen verfolgten. Antizionistische Propaganda Israel wurde ausgehend von der UdSSR in der polarisierten Darstellung zwischen sozialistischen und kapitalistischen Staaten spätestens seit den 1950er Jahren zum Feindbild erklärt. Der Nahostkonflikt und seine Genese wurden in der Folge in der DDR-Mediendarstellung weitgehend proarabisch beschrieben. Dabei wurden der Alltag und die Situation jüdischer Israelis nahezu vollständig ausgeblendet, im Vor- dergrund stand die Interpretation der Politik Israels als kriegstreiberisch. Antisemi- tische Stereotype wurden in Karikaturen, Kolumnen und politischen Reden verwen- det. Sehr häufig wurden israelische Politiker mit Hitler gleichgesetzt und der Staat Israel als NS-Staat bezeichnet. So sagte Karl Eduard von Schnitzler, Kommentator der propagandistischen Sendung „Der schwarze Kanal“ des DDR Fernsehens 1981: „Die Regierung von Tel Aviv hat nicht das geringste Recht, die jüdischen Opfer des deut- schen Faschismus zu Kronzeugen ihrer Politik zu machen, denn das Regime in Tel Aviv handelt selbst nach der faschistischen Lüge vom Volk ohne Raum, betreibt Landraub nach dem faschistischen Motto ‚Blut und Boden’, führt gegen das arabische Volk von Palästina einen Vernichtungsfeldzug, eine Ausrottungspolitik.“17 Während der Krisenzeiten im Nahostkonflikt nahm die Schärfe der antizionistischen

17 Mertens, Lothar: Davidstern unter Hammer und Zirkel, S. 327.

224 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland

Propaganda zu. Häufig lassen sich in diesen Zeiträumen auch ein Anstieg antisemi- tischer Gewalttaten und eine Zunahme antisemitischer Äußerungen im öffentlichen Raum konstatieren. So wurden im Herbst 1956 – zeitlich parallel zur Zuspitzung der Suezkrise - jüdische Friedhöfe in Eberswalde, Saalfeld und bei Görlitz geschändet. ArbeiterInnen im Traktorenwerk Schönebeck äußerten, „dass Hitler mehr Juden hät- te vernichten sollen, denn dann könnten diese Ägypten nicht angreifen“18 und ein Stim- mungsbericht der SED-Bezirksleitung Cottbus enthält im November 1956 die Aus- sage: „Da haben die Faschisten ja doch Recht gehabt, wenn sie sagten, dass die Juden immer einen neuen Krieg anzetteln.“19 Parallel zum Sechstagekriege 1967 wurden in Leipzig, Dresden und Magdeburg antisemitische Ausschreitungen registriert.20 Dass auch die Parteiführung den Zusammenhang zwischen antizionistischer Propaganda und auftretendem Antisemitismus erkannt hatte, darauf deutet eine Anweisung an alle Funktionäre für Propaganda und Agitation über eine durchzuführende Kampa- gne gegen den Antisemitismus.21 Auch in der Folge wandte sich die Regierung der DDR offen gegen Israel: So un- terstützte sie 1975 aktiv die UN Resolution 3379, in der Zionismus als „eine Form von Rassismus und Rassendiskriminierung“22 verurteilt wurde. Die antizionistische Propaganda blieb bis zum Ende der DDR erhalten. Lediglich ab Mitte der 1980er Jahre milderte sich der Ton, was im Kontext mit außenpolitischen Erwägungen des Staates zu sehen ist (s. u.). Antiisraelische Äußerungen waren häufig mit antiameri- kanischen und antiimperialistischen Argumentationen verbunden. Die Verbindung der Attribute „Kriegstreiber“ und „Aggressor“ mit dem Staat Israel, die ausschließliche Darstellung der arabischen Bevölkerung als Opfer und das Verschweigen arabischer Terrorakte unterstützte die vereinfachende, ideologische Einteilung der Konfliktpar- teien in „gut“ und „böse“. Bislang wenig erforscht ist die Unterstützung, die palästi- nensische Terrorgruppen durch die DDR erhielten. In den Akten des MfS, die für die Ausstellung recherchiert wurden, zeigt sich, dass Terroristen der Abu Nidal Gruppe, die weltweit für mehr als 100 Anschläge verantwortlich war, in der DDR militärisch und strategisch ausgebildet wurden, untertauchen konnten, medizinisch versorgt wurden und Waffenlieferungen erhielten.23 Markus Wolf, der zwischen 1951 und 1986 den Nachrichtendienst der DDR aufgebaut und geleitet hat, konstatiert Ende der 1990er Jahre in einem Interview über die Zusammenarbeit mit Terrorgruppen:

18 Mertens, Lothar: Davidstern unter Hammer und Zirkel, S. 322. 19 Vgl. ebd. 20 Vgl. Wolfssohn, Michael: Meine Juden – Eure Juden. München 1997, S.142. 21 Vgl. ebd. 22 Zitiert nach Timm, Angelika: Hammer Zirkel Davidstern, S. 252 f. 23 MfS HA II Nr. 18652; XV 3690/82 „Händler“ 7116/91.

Dis | kurs 225 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009

„Die Kontakte müssen aber heute so gesehen werden, dass damit faktisch terroristische Aktionen vom Territorium der DDR aus geduldet wurden. Mein Dienst und ich selbst sind fest von der Bedingung ausgegangen, dass das Gebiet der DDR für terroristische Handlungen nicht benutzt werden darf. Es bleibt unter dem Strich aber Verantwortung und Schuld dafür, etwas geduldet zu haben, was zu solchen Handlungen führte.“24 Ideologisch überformte Erinnerungspolitik In der offiziellen Geschichtsschreibung und Erinnerungspolitik der DDR herrschte ein ideologisch überformtes Bild über den Nationalsozialismus vor. Im Vordergrund des öffentlichen Erinnerns stand der kommunistische Widerstandskampf. Menschen, die aufgrund ihres Jüdischseins verfolgt wurden und die nicht im kommunistischen Widerstand tätig waren, erhielten einen benachteiligten Platz in der Erinnerung. In vielen Fällen wurde in offiziellen Mahn- und Gedenkstätten - und so auch in den in der Ausstellung beschriebenen - die eigentliche Identität und Herkunft der Opfer verschwiegen oder die Toten als Widerstandskämpfer vereinnahmt.25 Die Judenverfolgung wurde nicht verschwiegen, jedoch wurde die Rolle, die der An- tisemitismus in der Ideologie der Nationalsozialisten einnahm, weitgehend ausge- blendet. Dieses Verständnis stand im Zusammenhang mit einer Erklärung über die Ursachen des Nationalsozialismus, die bereits in den 1930er Jahren in der Arbei- terbewegung und der KPD als zentrales Argumentationsmuster vorherrschte.26 Der Argumentation folgend, die der Kommunist Georgi Dimitroff 1935 vor der Kom- munistischen Internationale entwickelte, erklärte sich der antifaschistische Staat als Gegenthese zum Faschismus. Für den Nationalsozialismus verantwortlich gemacht wurde ausschließlich das Monopol- und Finanzkapital. Diese vereinfachende, öko- nomistische Erklärung eröffnete Anschlussmöglichkeiten für Antisemitismen. Ein Ausblenden des Antisemitismus ging damit einher, dass Juden fast selbstverständ- lich mit „Geld“ in Verbindung gebracht wurden, wie sich im häufig verwendeten Bild vom jüdischen Kapitalisten zeigt. Neben der Rolle des Antisemitismus inner-

24 Jüdische Rundschau: Ex-DDR-Spionagechef Markus Wolf Verhältnis zum Judentum: Die Wurzeln sind immer präsent. 04.09.2009, http://www.hagalil.com/schweiz/rundschau/ inhalt/wolf.htm. 25 So waren als Mahnung und Erinnerung an die ermordeten Häftlinge des KZ-Außenlagers in Retzow Gedenksteine mit den Aufschriften aufgestellt: „224 im KZ Retzow-Waren ermordete antifaschistische Widerstandskämpfer Europas mahnen zum Frieden“ und „Die Toten mahnen uns“. Verschwiegen wurde, dass die Mehrzahl der Ermordeten jüdische Frauen waren. Diese pauschalisierende, vereinnahmende Art des Gedenkens trug eher zur Verdrängung bei als zu einer Erinnerung, die den konkreten Schicksalen der Opfer galt. So wurde die Inschrift „Die Toten mahnen uns“ von vielen Einwohnern als Erinnerung an die bei 300 Testflügen in der Region umgekommenen deutschen Piloten verstanden. 26 Ausführlich vgl. hierzu Haury, Thomas: Antisemitismus von links, S. 253–292.

226 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland halb der nationalsozialistischen Ideologie geriet mit dieser Erklärung jedoch auch die Beteiligung und Begeisterung der Mehrzahl der deutschen Bevölkerung für den Nationalsozialismus aus dem Blick. So wurde die Bevölkerung des sozialistischen Staates eher einem Opfer- als einem Täterkollektiv zugehörig erklärt, das jedweder Schuld oder Verantwortung für den Nationalsozialismus enthoben wurde. Bereits ab 1948 konnten ehemalige NSDAP- Mitglieder Aufnahme in der SED finden, die neu gegründete NDPD sprach gerade diese Zielgruppe an. Die Verfolgung von NS- Tätern, in den Nachkriegsjahren durchaus konsequent durchgesetzt, wurde im Zuge des kalten Krieges zunehmend instrumentell gegenüber Westdeutschland eingesetzt. In nicht wenigen Fällen hing nun eine strafrechtliche Verfolgung von einem propa- gandistischen Nutzen ab.27 Die ideologisch überformten Positionen dokumentieren sich auch im lokalgeschicht- lichen Umgang mit der Geschichte des Nationalsozialismus. So bleibt weitgehend unthematisiert, wie es dazu kommen konnte, dass in Städten und Gemeinden aus Nachbarn „Juden“ gemacht wurden und wie die Diskriminierung, Vertreibung und geplante Vernichtung konkret vonstatten ging. Eine kritische Auseinandersetzung mit antisemitischen und rassistischen Einstellungen blieb innerhalb der Bevölkerung weitgehend aus. Angesichts sozialpsychologischer Forschung kann davon ausgegan- gen werden, dass neben einer Tradierung von Stereotypen auch eine Umwegkom- munikation einsetzte: Mit der antizionistischen Propaganda war es legitim, sich isra- elfeindlich zu äußern.28 Instrumenteller Umgang mit den jüdischen Gemeinden und Sym- bolpolitik in den 1980er Jahren Ein instrumenteller Umgang staatlicherseits mit den jüdischen Gemeinden zeigt sich in Versuchen, die antiisraelische Politik durch die Unterstützung jüdischer Stimmen legitimieren zu lassen. Einzelpersonen und jüdische Gemeinden wurden zu den ver- schiedenen Krisen im Nahostkonflikt angefragt, in vielen Fällen mehr oder weniger offen unter Druck gesetzt, diesbezügliche Unterstützungserklärungen abzugeben, die dann öffentlichkeitswirksam eingesetzt wurden. So druckte das Neue Deutsch- land am 11. Juni 1967 parallel zum Sechstagekrieg eine „Erklärung jüdischer Bürger

27 Vgl. hierzu Leide, Henry: NS-Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangen- heitspolitik der DDR. Göttingen 2006. 28 Vgl. Heyder, Aribert / Iser, Julia / Schmidt, Peter: Israelkritik oder Antisemitismus? Meinungsbildung zwischen Öffentlichkeit, Medien und Tabus. In: Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg): Deutsche Zustände. Folge 3. Frankfurt am Main 2005, S. 144-165; Bergmann, Werner / Heitmeyer, Wilhelm: Antisemitismus: Verliert die Vorurteilsrepression ihre Wirkung? In: Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg): Deutsche Zustände. Folge 3. Frankfurt am Main 2005, S. 224–238.

Dis | kurs 227 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 der DDR“29. Für viele der angefragten Personen stellte der Inhalt der vorformulierten Erklärung eine Zumutung dar, sie verweigerten die Unterstützung. In den 1980er Jahren wurde den jüdischen Gemeinden öffentliche Aufmerksamkeit zuteil. Sie erhielten verstärkte Unterstützung für die Instandhaltung von Friedhöfen und für Sozial- und Kultureinrichtungen. Projekte, welche die Gemeinden bereits seit meh- reren Jahren vergeblich umzusetzen suchten, wurden nun staatlicherseits bewilligt und gefördert: Hierzu zählen u. a. die Gründung des Centrum Judaicum in Berlin und der Wiederaufbau der Synagoge in der Oranienburger Strasse. Gedenkveran- staltungen anlässlich des Pogroms vom 9. November 1938 erhielten im Gedenkjahr 1988 besondere öffentliche Aufmerksamkeit und waren häufig als offizielle Staatsakte organisiert.30 Diese Maßnahmen waren jedoch nicht ausschließlich auf die Unterstützung der Ge- meinden und des jüdischen Lebens gerichtet. Vielmehr waren sie vor dem Hinter- grund der wirtschaftlich desolaten Lage des Staates, die in den 1980er Jahren nicht mehr zu übersehen war, mit außen- und wirtschaftspolitischen Interessen verknüpft. Die politische Führung bemühte sich um eine Annäherung an Israel und die USA. Man ging von der Annahme aus, dass ein verbessertes Klima zu Israel finanzielle, wirtschaftliche sowie handelspolitische Verbesserungen mit den USA ermöglichen würde. Diese waren seitens der USA jedoch an Forderungen gebunden, sich der Fra- ge der Restitution und Entschädigungszahlungen für Opfer des Nationalsozialismus zu stellen. Die wirtschaftlichen Interessen wurden auf einer symbolischen Ebene verfolgt: So erwähnt Erich Honecker, Vorsitzender des Staatsrates der DDR und Generalsekre- tär der SED gegenüber dem Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden in Westberlin Heinz Galinski während dessen Besuch in der DDR im Juni 1988 das Vorhaben der DDR Regierung, Entschädigungszahlungen an Juden und Jüdinnen international zu tätigen.31 In der Rückschau lassen sich diese Absichtserklärungen jedoch als reine Lippenbekenntnisse werten: Entschädigungszahlungen waren zu keinem Zeitpunkt an Jüdinnen und Juden weder innerhalb noch außerhalb der DDR vorgesehen. Die instrumentelle Komponente der beschriebenen Unterstützungen zeigt sich auch in einem Bericht, den Klaus Gysi, Staatssekretär für Kirchenfragen, am 8. April 1987 an Erich Honecker richtete. Bei einem Aufenthalt in Washington habe er „ein neues

29 Neues Deutschland, 11. Juni 1967, S. 2. 30 Bislang wenig erforscht ist die Rolle einzelner zivilgesellschaftlicher Gruppierungen, die seit Mitte der 1980er Jahre gerade in größeren Städten des Südens der DDR, inoffiziell und selbst organisiert den jüdischen Opfern des NS häufig unter dem Dach der Kirche gedachten. In der eingangs genannten Ausstellung finden sich hierzu erste Dokumente. 31 Vgl.: Burgauer, Erica: Zwischen Erinnerung und Verdrängung – Juden in Deutschland nach 1945, S. 228.

228 Dis | kurs Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland

Interesse jüdischer Kreise in Washington [...] für die DDR“ vorgefunden: „Das ist in erster Linie auf die Maßnahmen zurückzuführen, die im letzten Jahr ergriffen wurden: Rekonstruktion und Eigentumsrückgabe bei zwei jüdischen Friedhöfen in Berlin, Be- schluß zur Rekonstruktion der Synagoge in der Oranienburger Straße […]“. Über ein Zusammentreffen mit dem Kongressabgeordneten Lehmann schrieb Gysi: „Das Au- ßenministerium mißt diesem Besuch eine große Bedeutung bei. […] Lehmann ist auch einer der USA-Politiker, die uns im Kampf um die Erreichung der Meistbegünstigung […] unterstützen können.“32 Es wurde davon ausgegangen, dass Lehmann einer be- sonders einflussreichen Gruppe angehören würde, welche letztlich die angestrebten Handelserleichterungen bewirken könne. Kaum versteckt zeigt sich hier die Ima- gination eines jüdischen Einflusses in den USA bzw. das Zerrbild einer „mächtigen jüdischen Lobby“, welche die Politik der USA lenkt und beeinflusst. Eine notwendige öffentliche Diskussion über ein lang beschwie- genes Thema? Betrachtet man die öffentliche Debatte, die im Anschluss an die Eröffnung der Aus- stellung im Berliner Roten Rathaus begonnen hat, zeigt sich ein großes Interesse an dem Thema. So liegt ein Pressespiegel vor, der mehr als 140 Artikel in überregionalen und lokalen Printmedien sowie verschiedene Radio- und Fernsehbeiträge umfasst. Mittlerweile sind drei Gästebücher gefüllt und anhand der Einträge lassen sich die Debatte und ihre verschiedenen Argumentationen nachvollziehen. Betrachtet man zudem die Vielzahl an Diskussionen, die im Rahmenprogramm der Wanderaus- stellung stattfanden, so lassen sich resümierend verschiedene Aspekte festhalten: Bislang gibt es wenig Wissen über spezifische Themen der Ausstellung, das betrifft insbesondere die Frage der Restitution und die staatliche Verfolgungswelle in den 1950er Jahren. In Rahmenveranstaltungen zu diesen Themen wird häufig Erstaunen geäußert über die Tatsache, dass es so wenige Jahre nach dem Holocaust auf deut- schem Boden eine staatliche Verfolgung gegen Juden und Jüdinnen gegeben hat. Auf öffentlichen Veranstaltungen, in verschiedenen Gästebucheinträgen und einzelnen Medienberichten ist ein Erstaunen über die diskutierten Themen auch mit einer Ab- wehr gegenüber der Fragestellung der Ausstellung verbunden. Solche Äußerungen beinhalten oft die Überzeugung, dass sich die DDR doch antifaschistisch verstan- den habe und es daher keinen Antisemitismus gegeben haben kann. Der Vorwurf, die Ausstellung wolle die DDR generell sowie deren antifaschistischen Charakter im Besonderen diffamieren, wird häufig mit einem Verweis auf die problematische Aufarbeitung des Nationalsozialismus in Westdeutschland sowie die antifaschisti- sche Erziehung in der DDR verbunden, die gegen Rassismus und Antisemitismus

32 Bundesarchiv DY/30 – 9051, S. 3.

Dis | kurs 229 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 immunisiert habe. Die häufig reflexartige Abgrenzung von Westdeutschland33 ist mit Diskussionen darüber verbunden, ob es in der DDR einen Antisemitismus von staatlicher Seite gab und wie die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust zu beurteilen sei. Die Überzeugung, dass die DDR der „bessere“ der beiden deutschen Staaten aufgrund des antifaschistischen Selbstverständnisses gewesen sei, verstellt dabei nicht nur den Blick auf Differenzie- rungen und auf Erkenntnisse der Geschichtsforschung. Deutlich wird, dass es sich häufig um Äußerungen handelt, die losgelöst von in der Ausstellung vermittelten Ergebnissen bleiben. Dabei zeigt sich, dass die Präsentation gerade mit ihren Lokal- geschichten eine Antwort auf solch ideologisch geführte Debatten geben kann: So enthält die Ausstellung konkrete Recherchen aus Städten und einzelnen Regionen der DDR. Hier lässt sich ganz konkret argumentieren, was antisemitisch an der Me- diendarstellung Israels in der Betriebszeitung vor Ort war, was problematisch am Missbrauch des jüdischen Friedhofes für eine Autowaschanlage der Stadtwirtschaft und die „Verwendung“ von Grabsteinen als Baumaterial zu beurteilen ist oder worin die antisemitischen Komponenten der Verfolgung eines jüdischen Einwohners 1953 bestanden. Insofern ist die Ausstellung auch ein Plädoyer für eine lokalgeschichtliche Aufarbeitung des Antisemitismus: Es ist beabsichtigt, Diskussionen und Recherchen darüber anzuregen, ob und wenn ja welche Formen der Antisemitismus im eigenen Wohnort angenommen hat. Die Projektpraxis zeigt, dass es durchaus einen Unter- schied hinsichtlich der Ausprägung heutiger demokratischer Kultur ergibt, wenn im lokalen Diskurs über die jüngere Geschichte geredet und ausgehandelt wird, was un- ter Demokratie letztlich verstanden wird.

33 Dass die Amadeu Antonio Stiftung sich zunächst dafür entschieden hat, die jüngere Geschichte des Antisemitismus in der ehemaligen DDR zu thematisieren, steht im Zusammenhang damit, dass es bislang keine öffentliche Thematisierung der Kontinuität und Ausprägung antisemitischer Erscheinungsformen in der DDR gegeben hat. Perspek- tivisch wäre es durchaus sinnvoll, den Focus auch auf die ehemalige BRD zu richten oder einen vergleichenden Zugang zu wählen.

230 Dis | kurs Tagungsberichte

Tagungsberichte

Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie – warum ein Frauenthema?

Hildegard Steger-Mauerhofer Politikwissenschaftlerin, Wien E-Mail: [email protected]

Schlüsselwörter Geschlechterdemokratie, Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, Frauenpolitik

Warum die Vereinbarkeit von Beruf und Familie immer wieder als Frauenthema an- gesehen wird, dazu sind meine beruflichen Erfahrungen am Renner-Institut, der po- litischen Akademie der Österreichischen Sozialdemokratie im Bereich der Frauen- politik ein Beleg dafür. Denn im Zentrum der bildungspolitischen Veranstaltungen stand das Anliegen, mehr Frauen für die politische Arbeit zu gewinnen und sie zu befähigen, Vertretungs- und Partizipationschancen auf allen Ebenen der Gesellschaft zu ergreifen. Dabei konnte immer wieder festgestellt werden, dass sich Frauen in der Gesellschaft einer Vielzahl von Barrieren gegenüber sehen. Gründe dafür sind im privaten wie auch im öffentlichen Bereich zu suchen. Denn nach wie vor treffen wir auf ein traditionelles Rollenverständnis von Frauen und Männern. Frauen tragen hauptsächlich die Verantwortung für die Versorgungsarbeit, wie Haushalt, Pflege von Kindern und älteren Angehörigen, selbst dann, wenn sie einer vollen Erwerbstätig- keit nachgehen. Für Männer steht hingegen die Berufstätigkeit an erster Stelle: Er gilt als der Ernährer. Das Ernährerprinzip schlägt sich in sozialpolitischen Regelungen nieder (zum Beispiel bei der Mitversicherung der Ehefrau in der Krankenversiche-

Dis | kurs 231 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 rung und bei der Witwenpension).1 Die Ungleichverteilung der Versorgungsarbeit zwischen den Geschlechtern hat für Frauen Benachteilungen am Arbeitsmarkt zur Folge, wie beispielsweise ein Abdrängen in die Teilzeitbeschäftigung und die daraus resultierenden Einkommensverluste. Damit die Vereinbarkeit von Beruf und Fami- lie für beide Geschlechter möglich ist, sind beispielweise Maßnahmen wie Arbeits- zeitverkürzung für Eltern, verstärkte Väterkarenz, Kinderbetreuungseinrichtungen, Ganztagsschulen, Pflegeeinrichtungen unabdingbar.2 Am Beispiel Schweden können wir sehen, dass durch ein Bündel von gesetzlichen Maßnahmen und mit Initiativen zur Bewusstseinsänderung Erfolge in der indivi- duellen und in der öffentlichen Einstellung erzielt worden sind. Im Unterschied zu Österreich wird in Schweden die dort gesetzlich geregelte Elternkarenz von Vätern eher in Anspruch genommen. Dies gelingt auch deswegen, weil durch gesetzliche Regelungen die Einkommensverluste in der Karenzzeit geringer sind als in Öster- reich, ein flächendeckendes Netz staatlicher Kinderbetreuungseinrichtungen vor- handen und eine Arbeitszeitverkürzung um ein Viertel der normalen Arbeitszeit (Sechs-Stunden-Tag) für Eltern bis zum 8. Lebensjahr des Kindes gewährleistet ist. Diese gesetzlichen Bestimmungen unterstützen Eltern, die Verantwortung für die notwendigen Versorgungsarbeiten gemeinsam zu tragen. In Schweden wird dieses Modell eine „Zweiversorgerfamilie“ genannt.3 Auch in Österreich hat es von 1995 bis 1997 Versuche gegeben, die partnerschaftliche Teilung der Versorgungsarbeit durch gesetzliche Maßnahmen im Ehe- und Famili- enrecht zu normieren. Mit einer öffentlichen Kampagne „Ganze Männer machen halbe/halbe“, die von Frauenministerin Helga Konrad initiiert wurde, sollte ein ent- sprechender Bewusstseinsbildungsprozess in der Bevölkerung in Gang gesetzt wer- den. Dieser wurde jedoch durch die Abberufung von Helga Konrad gestoppt. Das Gesetzesvorhaben wurde von ihrer Nachfolgerin Barbara Prammer, (sie ist der- zeit Präsidentin des Österreichischen Nationalrates) wieder aufgegriffen und einer gesetzlichen Regelung im Jahre 1999 zugeführt. Dieser Gesetzeswerdungsprozess wurde in meiner Diplomarbeit analysiert. Mittler- weile ist diese als Buch mit dem Titel „Halbe/Halbe – Utopie Geschlechterdemokratie“4 erschienen.

1 Vgl. Hieden-Sommer, Helga: ‚Frauenpolitik’ Geschlechterverhältnisse. Wissenschaftliche Grenzziehungen, Kärntner Druck- und Verlagsgesellschaft, Klagenfurt, 1995, S. 20–23. 2 Vgl. Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien (Hrsg.): AK-Frauenbericht 1995–2005. Arbeit – Chancen – Geld, Eigenverlag, Wien, 2006, S. 62. 3 Vgl. Kolbe, Wiebke: Elternschaft im Wohlfahrtsstaat. Schweden und die Bundesrepublik im Vergleich 1945–2000, Campus Verlag, Frankfurt /Main, 2002, S. 200–291. 4 Hildegard Steger-Mauerhofer: Halbe/Halbe Utopie Geschlechterdemokratie?, Milena Verlag, Wien, 2007.

232 Dis | kurs Tagungsberichte

Haupthindernis für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung ist ein wesentliches Hindernis für eine partnerschaftliche Teilung der Versorgungsarbeit. Dieser Zustand hat Geschichte. Die Wissenschafterin Anke Ochel5 zeichnet dies anhand der Entstehungsgeschich- te zur geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung nach, die sich nach Auflösung der agrarischen Feudalherrschaft durch den sich entwickelnden Kapitalismus vollzog. Ab Ende des 19. Jahrhunderts breitete sich die geschlechtlich zugeordnete Hausar- beit sowohl in bürgerlichen als auch in proletarischen Familien aus. Die ehemaligen Dienstboten wanderten in Fabriken ab, wo sie weniger persönlich abhängig waren und geregelte Arbeitszeiten hatten. Die damit verbundene größere Eigenständigkeit ermöglichte eine eigene Hausstandsgründung durch Heirat. Aus ehemaligen Dienst- mädchen wurden unbezahlte Hausfrauen. Die Dienstbotenverknappung wirkte auf die bürgerlichen Hausherrinnen zurück, die nun die Hausarbeit im eigenen Heim unbezahlt „aus Liebe“ verrichteten. Anke Ochel verweist auf die Reproduktion ge- schlechtsspezifischer Arbeitsteilung durch den Sozialisationsprozess: „Die im Sozia- lisationsprozeß vermittelten und angeeigneten Fähigkeiten sind also sowohl Folge wie Voraussetzung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung“.6 Die beiden Wissenschafterinnen Ilona Kickbusch und Barbara Riedmüller bezeich- nen die Analyse der Hausarbeit als „Schlüssel zum Verständnis der sozialen Wirklich- keit von Frauen“7, weil sie die Diskriminierung der Frauen auf dem Arbeitsmarkt und die gesellschaftliche Ungleichbehandlung von Frauen erklärt. Hier begegnen wir dem bürgerlichen Gesellschaftsverständnis in Form strikter Trennung von privat und öffentlich: Hausarbeit ist privat, Berufsausübung öffentlich. Die Hausarbeit wird in ihrem ökonomischen Wert kaum wahrgenommen und „verschwindet als nicht pro- fessionelle Versorgung der Angehörigen in den häuslichen vier Wänden“.8 Dem Mann obliegt der Broterwerb, weshalb den Männern die besseren Berufs- und Verdienstchancen zugestanden werden. Zur gleichen Zeit wird den Frauen die Haus- arbeit zugeordnet und selbst wenn Frauen auch auf einem marktvermittelten Ar- beitsplatz tätig sind, profitieren die Männer von der doppelten Arbeitsorientierung

5 Ochel, Anke: Hausfrauenarbeit. Eine qualitative Studie über Alltagsbelastungen und Bewältigungsstrategien von Hausfrauen, Profil Verlag München, 1989 (Reihe: Gemein- depsychologische Perspektiven, hrsg. von Heiner Keupp, Band 1). 6 Vgl. Ochel, Anke, S. 84–85. 7 Kickbusch, Ilona/ Riedmüller, Barbara (Hrsg.): (1984): Die armen Frauen. Frauen und Sozialpolitik, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, S. 7. 8 Becker-Schmidt, Regina: Doppelte Vergesellschaftung von Frauen: Divergenzen und Brückenschläge zwischen Privat- und Erwerbsleben, S. 62–71. In: Becker, Ruth/Korten- diek, Beate (Hrsg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 2004, S. 69.

Dis | kurs 233 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 erwerbstätiger Frauen. Sie bleiben von der Doppelbelastung verschont und werden auf dem Arbeitsmarkt bevorzugt.9 Die Überwindung geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung und der damit verbunde- nen Diskriminierung von Frauen setzt eine Neugestaltung von Produktionsformen, Arbeitszeiten und Arbeitsorganisationen sowie der notwendigen Infrastruktur, wie zum Beispiel im Bereich der Kinderbetreuung voraus.10 Österreich-Studien Eine Studie mit dem Titel: „Wo kommt unsere Zeit hin?“11 wurde 1992 zur Zeit- verwendung zwischen Frauen und Männern in Bezug auf Freizeit, Familie und Er- werbsarbeit erhoben. Dabei wurde festgestellt, dass im diesbezüglichen Vergleich der Daten von 1981 und 1992 „sich gesellschaftliche Wandlungen höchst langsam voll- ziehen – wenn überhaupt“.12 Denn im Vergleich zu 1981 zeigte sich, dass die Öster- reicherInnen 1992 knapp 20 Minuten mehr für ihre Erwerbsarbeit und Ausbildung aufgewandt haben, wodurch sich die Freizeit der Frauen entsprechend verkürzte. Die Zeit für den Beruf blieb bei den Männern in den vergangenen zehn Jahren nahezu gleich. Für Familie und Haushalt haben „die Durchschnittsmänner (...) etwa eine halbe Stunde pro Tag länger“13 aufgewendet. Trotzdem, so das Fazit der Studie zur Zeitverwendung, ist es bis zur partnerschaftli- chen Aufteilung noch weit: Drei Stunden und 20 Minuten Arbeit für Haushalt, Kin- der und Pflege trennen Frauen und Männer.14 Eine weitere Studie des Frauenbüros der Stadt Wien aus dem Jahre 2005, also mehr als zehn Jahre nach der zitierten Zeitbudgeterhebung, zeigt auf, wie langsam Verän- derungen bei der Aufteilung der Versorgungsarbeit zwischen den Geschlechtern vor sich gehen. Immer noch würden acht von zehn Frauen die meiste Arbeit im Haushalt verrichten und 44 % dabei gänzlich auf sich alleine gestellt sein. Trotzdem geben 62 % an, mit der Verteilung der Haushaltspflichten (sehr) zufrieden zu sein. Dies trifft allerdings nicht auf Frauen mit Kind/ern zwischen sechs und neun Jahren zu. In dieser Gruppe zeigten sich nur 38 % mit der derzeitigen Verteilung der Haushalts-

9 Vgl. Becker-Schmidt, Regina: Doppelte Vergesellschaftung von Frauen, S. 69. 10 Vgl. Notz, Gisela: Hausarbeit, Ehrenamt, Erwerbsarbeit, S. 420-428. In: Becker, Ruth/ Kortendiek, Beate (Hrsg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Me- thoden, Empirie, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 2004, S. 426. 11 Bundesministerium für Jugend und Familie, Abteilung II/1 (Hrsg.), (o. J.): Wo kommt unsere Zeit hin? Beruf – Familie – Freizeit. Das Zeit-Budget der österreichischen Famili- en. (Studie des Österreichischen Statistischen Zentralamtes), Wien, S. 7. 12 ebd. 13 ebd. 14 vgl. ebd.

234 Dis | kurs Tagungsberichte pflichten (sehr) zufrieden.15 Eine Erklärung für die grundsätzlich hohe Zufriedenheit mit der Aufteilung der Versorgungsarbeit trotz mangelnder Beteiligung der Männer könnte darin begründet liegen, dass Frauen patriarchale und bürgerliche Strukturen in der Gesellschaft, besonders in der Familie verinnerlicht haben16, wobei rechtliche Regelungen, wie beispielsweise Kinderbetreuungsgeld und Arbeitsmarktpolitik dazu beitragen, die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung aufrecht zu erhalten. Es wird mit der Flexibilität der Frauen gerechnet, die solange wie möglich für die unbezahlte Hausarbeit zuständig sein sollen.17 Im Frauenbericht der Arbeiterkammer Wien 2005 wird festgestellt: Geschlechtsspe- zifische Arbeitsteilung benachteiligt Frauen am Arbeitsmarkt, im Bereich der Ein- kommenssituation, der Qualifikation und der Teilhabe an öffentlicher Repräsentanz. Immer mehr Frauen werden in die Teilzeitbeschäftigung gedrängt (1995 lag die ent- sprechende Quote Österreichs unter dem EU-Schnitt, heute liegt sie mit 39% über dem EU-Schnitt von 31%18), die dadurch mit enormen Einkommensverlusten rech- nen müssen, die bis zur Alterspension ihre Fortsetzung finden. Frauen werden wegen ihrer Fähigkeit Kinder zu gebären am Arbeitsmarkt als un- sichere Arbeitskräfte angesehen, damit sinken ihre Karrierechancen. Die Fokussie- rung auf die Haus- und Betreuungsarbeit bringt für Frauen einen Qualifikationsver- lust und erhebliche Probleme beim beruflichen Wiedereinstieg mit sich. Berufstätige Frauen mit Kindern und (Ehe-) Partnern sind mit einer großen Arbeitsbelastung konfrontiert, die in Summe 71,8 Stunden pro Woche beträgt. Bei allein erziehenden berufstätigen Müttern liegt die Gesamtbelastung mit 68,5 Stunden unter jenen von Müttern mit Partnerschaften. Offensichtlich verursachen männliche Partner mehr an Hausarbeit für Frauen, als sie diesen abnehmen.19 Im internationalen Vergleich gibt Österreich zwar viel Geld für Familien aus, es wer- den jedoch den Geldleistungen Vorrang vor den Sachleistungen, wie der Infrastruk- tur für Kinderbetreuung eingeräumt. Diese Maßnahmen binden wiederum Frauen an eine traditionelle Arbeitsteilung und behindern Erwerbsarbeit von Frauen.20

15 Vgl. Frauenbarometer 2005, IFES Studie erstellt für die MA 57 – Frauenabteilung der Stadt Wien, Oktober 2005, S. 18. 16 Vgl. Metz-Göckel, Sigrid: Die zwei ungeliebten Schwestern. Zum Verhältnis von Frauen- bewegung und Frauenforschung im Diskurs der neuen sozialen Bewegungen. In: Beer, Ursula (Hg.): Klasse, Geschlecht, Feministische Gesellschaftsanalyse und Wissenschafts- kritik, Bielefeld, 1987, S. 28. 17 Vgl. Kickbusch, Ilona/Riedmüller, Barbara: Die armen Frauen, S. 177. 18 Vgl. AK-Frauenbericht, S. 7. 19 Vgl. AK-Frauenbericht, S. 72–73. 20 vgl. ebd., S. 10.

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Perspektive Geschlechterdemokratie Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie darf nicht länger ein Frauenthema bleiben, es müssen die patriarchalen Strukturen in der Familie aufgebrochen werden. Dies kann nur durch die Aufhebung der Trennung der öffentlichen von der privaten Sphä- re geschehen, denn dadurch wird ein wesentliches Hindernis für die Gleichstellung der Geschlechter, die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, aus dem Weg geräumt. Eine notwendige Voraussetzung zur Erreichung der Geschlechterdemokratie wird damit geschaffen. Der Begriff Geschlechterdemokratie wurde von Halina Bendkowski in die Debatte eingebracht und „steht für den feministischen und frauenpolitischen Anspruch auf ge- rechte Partizipation, faire Repräsentation und Frauenförderungspolitik“.21 Für Barbara Schaeffer-Hegel bedeutet das Projekt Geschlechterdemokratie ein um- fassendes gesellschaftliches Reformprojekt. Es macht die „grundlegende Neustruktu- rierung der sozial-, steuer-, renten- und versicherungspolitischen Infrastruktur unserer Gesellschaft erforderlich“.22 Voraussetzungen Der Schweizer Sozialwissenschafter Alberto Godenzi nennt einige Voraussetzungen auf dem Weg zur Geschlechterdemokratie: • Wir müssen die Bedingungen des Geschlechterverhältnisses kennen, wenn wir etwas verändern wollen. • Wir müssen die Funktionsmechanismen von Frauen und Männern kennen, wenn wir neue Bedingungen etablieren wollen. • Wir müssen uns unter anderem fragen, wie können Männer ermutigt werden, sich zu verändern, und wie können Männer gezwungen werden, sich zu verän- dern.23 Godenzi appellierte an die Einsicht, an den guten Willen, an die Moral und die Hoffnung auf eine beginnende Sensibilisierung. Diese müsse mit einer stattlichen Portion von verbindlichen Richtlinien, Verboten, Gesetzen kombiniert werden, die dafür sorgen, dass eine neue Struktur und Kultur entsteht, in der sich Männer neu zurechtfinden müssen.

21 Rosenberger, Sieglinde K./Sauer, Birgit (Hrsg.): Politikwissenschaft und Geschlecht. Konzepte – Verknüpfungen – Perspektiven, Facultas-Verlag, Wien, 2004, S. 144. 22 Schaeffer-Hegel, Barbara: Säulen des Patriarchats. Zur Kritik patriarchaler Konzepte von Wissenschaft – Weiblichkeit – Sexualität und Macht, Centaurus-Verlagsgesellschaft, Pfaffenweiler, 1996, S. 30. 23 Frau & Politik. Informationsdienst der SPÖ-Frauen:. Jg. 1994, 1995, 1996, 1997. Frau & Politik Nr. 6, Juni 1996, Wien, S. 13.

236 Dis | kurs Tagungsberichte

Maßnahmen zur Umsetzung Geschlechterdemokratie kann daher sehr wohl Wirklichkeit werden, wenn gewisse Rahmenbedingungen geschaffen werden, wie z.B.: 1. Flächendeckende Kinderbetreuungsformen und Ganztagsschulen – mit dem Schwerpunkt geschlechtssensibler Pädagogik. Das würde bedeuten: verfestigte, herkömmliche Geschlechterrollen/Rollenklischees müssen aufgebrochen und neue Formen des Miteinanders der Geschlechter bereits im Kindergartenalter eingeübt werden. 2. Förderung und Unterstützung durch Staat und Wirtschaft, damit mehr Männer für die Väterkarenz gewonnen werden bzw. diese aktiv in Anspruch nehmen. Positive Beispiele können wir in den Ländern Island und Schweden beobachten. Hier werden 80% des letzten Einkommens als Kinderbetreuungsgeld bezahlt. 3. Neue Formen der Arbeitszeitgestaltung für Eltern mit Kindern – in Schweden gibt es zum Beispiel den 6 Stunden Tag für Eltern bis zum 8. Lebensjahr. Die Schaffung gesetzlicher Maßnahmen, wie dies 1999 durch die Novellierung des Ehe- und Familienrechts in Österreich erfolgte, sind maßgeblich für die Entstehung eines gesellschaftlichen Bewusstseins, welches den Weg zu einer geschlechterdemo- kratischen Gesellschaft eröffnet. Damit würde das Thema Vereinbarkeit von Beruf und Familie kein Frauenthema mehr bleiben, denn das Ziel ist ja, die Versorgungsar- beit partnerschaftlich, also halbe/halbe, zwischen Frauen und Männer zu teilen.

Dis | kurs 237 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009

Tagungsberichte

Staat und Familie Ideologie und Realität in der Familienpolitik

Marion Löffler Universität Wien, Institut für Politikwissenschaft E-Mail: [email protected]

Schlüsselwörter Familie, Familienpolitik, Ideologiekritik, Frauenpolitik, Politische Ideenge- schichte, Staat

Staat und Familie werden als getrennte Sphären gedacht, zugleich stehen sie aber in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis.1 Der Staat braucht Familien als primäre Quelle für neue Staatsbürger und als ideologische Stütze seiner Herrschaft. Die Familie als reale Sozialform ist staatlich überformt. Sie ist ein Konstrukt, das mit- tels Familienpolitik immer wieder hergestellt und in ihrem Bestand gesichert wird. Familie ist soziale Realität. Sie ist aber auch Ideologie, jedoch eine, die tatsächlich in die Subjekte eindringt, die unser Denken präformiert und ausrichtet, weil wir alle in gewissem Sinne aus Familien kommen und in Familien leben. Familie ist eine Lebenswirklichkeit, eine alltägliche Erfahrung – und sei es nur die Erfahrung der Abwesenheit einer heilen Familie, die umso mehr den Wunsch nährt und das Ideal stärkt. Ideologie und Realität der Familie sind nicht zu trennen: Familie ist genau das, was eine erfolgreiche Ideologie ausmacht. Im politischen Denken – namentlich im konservativen und im liberalen – gerinnt

1 Diesem Beitrag liegen Vorarbeiten in Zusammenarbeit mit Eva Kreisky zugrunde: Kreis- ky, Eva/ Löffler, Marion: Staat und Familie: Ideologie und Realität eines Verhältnisses, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, (2003) Jg. 32, Nr. 4, S. 375–388.

238 Dis | kurs Tagungsberichte

Familie geradezu zum Inbegriff des Privaten. Auch real fungiert Familie mitunter als emotionaler Rückzugsort. Jeder Mensch braucht einen intimen Raum des Priva- ten, eine staatsfreie Zone, in der Gefühle gelebt werden können, in der Beziehungen nicht auf Konkurrenz beruhen, sondern auf Gegenseitigkeit, Anteilnahme und dem aufrichtigen Wunsch, dass es auch den anderen gut gehen möge. Umso schwieriger gestaltet sich Kritik an politischer Familienrhetorik. Eine Ideologiekritik der Familie wird zu leicht als Kritik an einer Lebensweise fehl interpretiert. Daher ist die Befrie- digung emotionaler Bedürfnisse zu unterscheiden von der politischen Konstrukti- on von Familie und der politischen Wirkmächtigkeit dieser Konstruktion. Denn als ideologische Form dient nicht jede familiale Lebensform, sondern das patriarchale Familienmodell – die „institutionell erzwungene Autorität von Männern gegenüber Frauen und ihren Kindern.“2 Das patriarchale Familienmodell ist als gelebte Sozialform in die Krise geraten. Fa- milien ähneln immer weniger dem Idealbild von Mutter, Vater, Kind als harmoni- sche Einheit, deren Harmonie durch die väterliche Autorität gesichert wird, sondern Menschen wechseln ihre Lebenspartner, leben in Patchworkfamilien; Familienmit- glieder wohnen nicht notwendig in einem gemeinsamen Haushalt; es gibt allein er- ziehende Mütter und Väter usw.. Dennoch gibt es im politischen Denken (noch) kein Substitut. Kein anderes Familienmodell hat ein Symbolsystem geschaffen, das den Staat zu legitimieren vermag. Kein alternatives Familienmodell wurde je mit der Stabilität der politischen Ordnung des Staates identifiziert. Es ist daher nicht ver- wunderlich, dass wir in den 1990er Jahren entgegen der realen Entwicklung von Fa- milien, eine Renaissance konservativer Familienrhetorik erleben konnten, die aus den USA auf Europa überschwappte: Neo-Konservative beklagten den moralischen Verfall der Gesellschaft, und die Schuld der Frauen und der Frauenbewegung an der Desintegration der Familie. Neo-Liberale propagierten den Abbau sozialstaatlicher Absicherung und die Familie als privates Modell der Abfederung sozialer Härten. Für die europäischen Staaten schließlich bekamen Familie und Familienpolitik eine neue legitimierende Nützlichkeit: Denn Familienpolitik bleibt trotz europäischer In- tegration ein nationalstaatliches Interventionsfeld. Familie als politische Ideologie Familie und Staat sind Grundmotive politischen Denkens seit der Antike. Schon bei Aristoteles galt die Familie als natürliche und für das soziale und politische Leben notwendige Grundlage. Die Theoretisierung der Trennung von Staat und Familie ist immer auch eine Theoretisierung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und

2 Castells, Manuel: Das Ende des Patriarchalismus. Soziale Bewegungen, Familie und Sexualität im Informationszeitalter. In: Ders.: Die Macht der Identität, Teil 2 der Trilogie: Das Informationszeitalter. Opladen 2002, S. 147–258, hier S. 147.

Dis | kurs 239 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 der geschlechtlichen Zuteilung von sozialen Sphären. Aristoteles konnte Frauen re- lativ leicht im Haus verankern, weil er von einer natürlichen Ungleichheit zwischen den Geschlechtern ausging. Dennoch entwarf er sehr wohl eine Strukturähnlichkeit zwischen Haus und Polis, indem er in beiden Sphären Formen von Regieren und Regiertwerden verortete.3 Aristoteles gab eine bestimmte Art der Thematisierung von Familie und Staat vor, die durchaus bis in die Gegenwart fortwirkt: Die „funkti- onierende“ Familie gilt als unerlässlich für den Staat, sie stellt „einen (Dienst-)Wert für den einzelnen und die Gesellschaft“4 dar; aus ihr geht die nächste Generation (voll- wertiger) Staatsbürger hervor. Nicht zuletzt stellte er die Familie als natürliche und zugleich politische Ordnungskategorie vor. Mit der Konzeptionalisierung des neuzeitlichen Staates setzte sich das familiale Ar- gumentationsmuster fort. Der konservative Vordenker Jean Bodin (1586) betrachtete den Staat als hierarchisch angeordnete Summe von Familien und Kollegien, die durch souveräne Gewalt vereinigt werden. Die patriarchale, herrschaftliche Binnenstruktur der Familie wird in Analogie zur Formation des Staates gesetzt, sodass letztlich der souveräne Herrscher quasi als Übervater erscheint. Daher galt ihm die Familie als „die wahre Quelle und der Ursprung des Staates [,die] ihn wesentlich konstituiert.“5 Gleichzeitig bildet die wohl regierte Familie die Grundlage sozialer und politischer Ordnung. Die Strukturanalogie von Staat und Familie wird sogar vom sonst so individualis- tisch argumentierenden Thomas Hobbes (1651) beibehalten: „[J]ede große Familie [ist], solange sie noch nicht zu einem bestimmten Staate gehört, hinsichtlich ihrer Rech- te ein kleiner Staat.“6 Dieses Bild der Familie als kleiner Staat und des Staates als große Familie zieht sich wie ein roter Faden durch die politische Ideengeschichte. Als Quelle kann sicher die „patria potestas“, die väterliche Gewalt des römischen Rechts, angegeben werden, die jedoch in der frühen Neuzeit kaum noch mehr als ein ideologisches Konstrukt war. Im frühneuzeitlichen Beginn liberalen Denkens, verlor sie auch im Kampf der Ideen ihre Relevanz. John Locke (1690) z.B. lehnte „väterliche Gewalt“ als Begründungsmotiv für politi- sche Gewalt ab, mit dem Argument, dass es väterliche Gewalt gar nicht gebe, sondern höchstens elterliche Gewalt über die Kinder – also auch eine Gewalt der Mutter. 7 Mit diesem Argument wendete sich Locke gegen die absolute Gewalt im Staat. Die elter-

3 Aristoteles: Politik. Hamburg 1994, hier S. 70. 4 Wingen, Max: Familienpolitik. Grundlagen und aktuelle Probleme. Bonn 1997, hier S. 41. 5 Bodin, Jean: Über den Staat. Stuttgart 1976, hier S. 13. 6 Hobbes, Thomas: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerli- chen Staates. Stuttgart 1998, hier S. 182. 7 Locke, John: Über die Regierung. Stuttgart 1996, hier S. 41.

240 Dis | kurs Tagungsberichte liche Gewalt betrachtete Locke als eine „natürliche“ Herrschaft der Eltern über ihre Kinder. Die Beziehung zwischen Mann und Frau jedoch sei ein „freiwilliger Vertrag“, dessen Ziel „die Erhaltung der Art“8 sei. Von der Familie als quasi natürliche und von der staatlichen Gesetzgebung lediglich überformte Art des Zusammenlebens von Menschen grenzte er politische Herrschaft ab, als eine Beziehung zwischen von Natur aus gleichen und freien Menschen (genauer: Männern), die ein bürgerliches Gesetz etablieren, dessen einzige Legitimation der Erhalt des privaten Eigentums ist – Leben, Freiheit, Besitz und nicht zuletzt der Familie. Jean-Jacques Rousseau (1762) griff die Strukturanalogie zwischen Staat und Familie erneut auf, indem er die Familie als „Urbild der politischen Gesellschaften“ 9 betrach- tete. Doch die spezifische Differenz wurde von ihm nun durch (natürliche) Liebe eingezogen. Daneben und zusätzlich wird die Familie zu einer moralischen Instanz (republikanische Mutterschaft), was wiederum ihre staatstragende Bedeutung be- gründet. Der ideengeschichtliche Fundus ist hiermit noch lange nicht erschöpft. Er sollte lediglich veranschaulichen, wie sehr im konservativen und liberalen Denken die Legitimation staatlicher Herrschaft an der Denkfigur „Familie“ hängt, und gerade deshalb eine staatliche Familienpolitik begründet oder nahe legt, die dieses ideolo- gische Leitbild der Familie unterstützen sollte.10 Im konservativen Denken soll die natürliche Sozial- und Herrschaftsform Familie geschützt und erhalten werden. Bei genauerer Betrachtung stellt sich aber gerade deren Natürlichkeit als politische Kon- struktion heraus. Darauf soll im Folgenden genauer eingegangen werden. Realität der Familie als staatliche Setzung Die historische Familienforschung hat mehrfach darauf aufmerksam gemacht, das die Standardform von Familie – die bürgerliche Kleinfamilie, bestehend aus Mut- ter, Vater und Kindern – Ausdruck einer historisch gewordenen gesellschaftlichen Konstellation ist.11 Der „Erfolg“ des patriarchalen Kleinfamilien-Modells ist auf drei einschneidende Veränderungen zurückzuführen, die durch staatliche Maßnahmen

8 Pateman, Carole: The Sexual Contract. Cambridge 1994, hier S. 59 f. 9 Rousseau, Jean-Jacques: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts. Stuttgart 1977, hier S. 7. 10 Vgl. auch Lüscher, Kurt: Familie und Familienpolitik im Übergang zur Postmoderne. In: Lüscher, Kurt/ Schultheis, Franz / Wehrspaun, Michael (Hrsg.): Die „postmoderne“ Fa- milie. Familiale Strategeien und Familienpolitik in einer Übergangszeit. Konstanz2 1990, S. 15–36, hier S. 28. 11 Sgritta, Giovanni B.: Wege der Familienanalyse: Ein Überblick über das letzte Jahrzehnt. In: Lüscher, Kurt / Schultheis, Franz / Wehrspaun, Michael (Hrsg.): Die „postmoderne“ Familie. Familiale Strategeien und Familienpolitik in einer Übergangszeit. Konstanz 21990, S. 329–345, hier S. 331.

Dis | kurs 241 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 flankiert wurden: Die„Erfindung der Kindheit“ 12, die Regulierung der Städte und die Emotionalisierung familialer Beziehungen. „Kindheit“ wurde erst seit dem 15. Jh. als eigenständige und schützenswerte Le- bensphase begriffen. Davor war die Vorstellung von Kind-Erwachsenen die Norm. Kinder waren in die Arbeit ihrer Eltern integriert. Diese Lebensweisen von Kindern veränderten sich mit gesellschaftlichen Reform- und Modernisierungsprojekten, die aus der bürgerlichen Aufklärung stammten. Den massivsten Beitrag zur „Erfindung der Kindheit“ leistete die Einführung einer allgemeinen Schulpflicht. In mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten war die Straße der zentrale soziale Kommunikationsort und Lebensraum. Die polizeiliche Regulierung der Städte ver- wies die Menschen in Wohnungen und andere Unterkünfte und reduzierte die Straße zunehmend auf einen Verkehrs- und Transitraum. Die Familie bildet in Bezug auf das reichhaltige Sozialleben der Straße einen sozialen Rückstand, und kann dement- sprechend als „Schlacke“ ausgelaugten Gemeinschaftslebens gedeutet werden.13 Die Emotionalisierung und Intimisierung der Familie schließlich steht in direkter Beziehung zur Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise, die zu einer strikten (auch räumlichen) Trennung von Produktions- und Reproduktionssphäre geführt hat. „Mit seiner Aufspaltung in Betrieb und Haushalt tritt der ‚Rationalität’ des Betriebes die ‚Sentimentalität’ der Familie gegenüber.“14 Die Familie zog sich zuneh- mend nach innen zurück und personifizierte Werte wie Häuslichkeit, Intimität und Privatheit. Die neue Familienordnung konnte faktisch nie von allen gleichermaßen gelebt wer- den. Klassen- und schichtspezifische Lebensbedingungen standen dem realiter ent- gegen. Doch die staatliche Arbeit an ihrer Herstellung war enorm: Nichtsesshaftigkeit und Familienlosigkeit wurden zunehmend geahndet. „Ordnungsgemäße Ehe, Stabili- tät der Beschäftigung des Mannes, Schulbesuch der Kinder, Absonderung der Familien, Trennung von der sozialen Gemeinschaft und Mäßigkeit in den Familiensitten, dies sind die Standards des Homo industrialis.“15 Konstante staatliche Arbeit formte und standardisierte die bürgerliche Einheits- und Zwangsform von Ehe und Familie. Für die Vorstellung von Familie als eine naturwüchsige und schützenswerte soziale

12 Ariès, Philippe: Geschichte der Kindheit. München 1978. 13 Meyer, Philippe: Das Kind und die Staatsräson oder Die Verstaatlichung der Familie. Ein historisch-soziologischer Essay. Reinbek bei Hamburg 1981, hier S. 13. 14 Brunner, Otto: Vom ‚ganzen Haus‘ zur ‚Familie‘. In: Rosenbaum, Heidi (Hrsg.): Seminar: Familie und Gesellschaftsstruktur. Materialien zu den sozioökonomischen Bedingungen von Familienformen. Frankfurt/Main 1978, S. 83–91, hier S. 89. 15 Meyer, Philippe: Das Kind und die Staatsräson, S. 21.

242 Dis | kurs Tagungsberichte

Einheit zeichnete staatliche „Setzungsarbeit“16 verantwortlich. Indem amtliche Sta- tistik und Bürokratie versucht hatten, die Objekte ihrer Verwaltungspraxis zu be- stimmen, z. B. durch Haushaltserhebungen, haben sie diese erst hergestellt, weil von nun an jeder Mensch einer solchen Einheit zugerechnet werden musste, und sich selbst zurechen muss. Bourdieu bezeichnet diesen zirkulären Prozess als „family dis- course“: „Der family discourse […] ist ein macht- und wirkungsvoller Setzungsdiskurs, der über die Mittel verfügt, die Bedingungen seiner eigenen Verifizierung zu schaffen.“17 Indem der Familiendiskurs eine Lebensweise beschreibt, schreibt er diese vor. Die Vorschrift offenbart sich aber nicht als solche, weil das soziale Konstrukt Familie als natürliches Verhältnis betrachtet wird. Familie ist eine realisierte soziale Fiktion, die ihrerseits in der Familie erworben wird. Als objektive soziale Kategorie bildet sie die Grundlage von Familie als subjektive soziale Kategorie, die „als mentale Kategorie, […] tausenden von Vorstellungen und Handlungen […] zugrunde liegt, die zur Repro- duktion der objektiven sozialen Kategorie beitragen. […] So ist die Familie durchaus eine Fiktion, ein soziales Artefakt, eine Illusion im ganz gewöhnlichen Sinne des Wortes, aber eine „wohlbegründete Illusion“, denn ihre Existenz- und Subsistenzmittel bekommt sie, da ihre Produktion und Reproduktion staatlich geschützt sind, vom Staat.“18 Obwohl die bürgerlich-patriarchale Familienordnung nie von allen gelebt wurde, nie von allen gelebt werden konnte und von kaum jemandem gelebt wird, wirkt sie als dominante Fiktion in den Köpfen. Sie bildet nach wie vor die Norm. Alternative familiale Konfigurationen gelten als Abweichungen. Ich möchte nun einige Überle- gungen darüber anstellen, welche Konsequenzen dies für Familienpolitik hat. Konsequenzen für Familiepolitik Familienpolitik als eigenständiges Politikfeld etablierte sich in Österreich und Deutschland erst nach dem Zweiten Weltkrieg. In der Wiederaufbauphase erschien die Familie als Chance sozialer Konsolidierung. Das sogenannte Familienernährer- Modell wurde zum Leitbild der Familienpolitik. Familienpolitik wird häufig mit So- zialpolitik gleichgesetzt. Doch ihre Spezifik liegt gerade in ideellen und normativen Maßnahmen19, die sich in steter Regelmäßigkeit am patriarchalen Familienmodell ausrichten. Susanne Schunter-Kleemann20 differenziert das Erscheinungsbild von

16 Bourdieu, Pierre: Familiensinn. In: Ders.: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Han- delns, Frankfurt/Main 1998, S. 126-136. 17 Ebd., S. 136. 18 Ebd. 19 Jurczyk, Karin: Familienpolitik als andere Arbeitspolitik. Wie die Arbeitskraft der Frauen verfügbar gehalten wird und was die Männer davon haben. Bremen 1990, hier S. 32. 20 Schunter-Kleemann, Susanne: Familienpolitik im europäischen Vergleich. In: Helfrich, Hede / Gügel, Jutta (Hrsg.): Frauenleben im Wohlfahrtsstaat. Zur Situation weiblicher

Dis | kurs 243 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009

Familienpolitik nach „deklarierten“ Zielsetzungen, wie den Ausgleich kindbedingter Kosten und Lasten oder Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, und „geheimen“ Nebenzielen, wie z. B. eine Entlastung des Arbeitsmarktes, bevölkerungs- politische Ziele oder Aufrechterhaltung traditioneller Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern. Diese Nebenziele können in Widerspruch zu den deklarierten Zielen treten, wenn familienpolitische Maßnahmen – wie z. B. das Steuersplitting oder das Elterngeld – so wirken, dass es zu einer sozialen Umverteilung von unten nach oben kommt, und allein erziehende Mütter in prekarisierte Arbeitsverhältnisse gezwungen werden. Familienpolitik treibt die Ideologisierung der Familie weiter voran, indem sie ein Leitbild schafft und dieses zwingend durchsetzt. Hinzu kommt, dass kaum ein anderes Politikfeld so massiv von moralisierenden, öffentlichen Diskursen begleitet wird. Die Familie dient dabei als Spiegel der Gesellschaft. Alle negativen Entwicklun- gen werden letztlich in den Schoß der Familie zurückgespielt. Und meistens wird die Hauptverantwortung bei den Frauen gesucht. Die Durchsetzung des familienpolitischen Leitbildes als objektive Realität bleibt aber immer fragmentarisch. Schon die Nachkriegs-Familienordnung scheiterte an aku- tem Männermangel, und viele Frauen mussten ihre Kinder selbst ernähren. Steigen- de Scheidungsraten und „Schlüsselkinder“ waren Alarmworte der politischen Fa- milienrhetorik in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren. Derart konservative Familienrhetorik ist ein stetig wiederkehrendes Element im politischen Diskurs. Vor allem in Krisenzeiten, werden Familienwerte beschworen, Untergangsszenarien ent- worfen und staatlicher Schutz der Familien gefordert. Überhöht wird dies in einem Schutzauftrag des Staates. Als familiale und damit staatliche Ordnung zersetzende Kräfte gelten Frauenpolitik, egalisierende Sozialpolitik und emanzipatorische Bestre- bungen „egoistischer“ Frauen. In den späten 1960er und frühen 1070er Jahren wurden die herrschenden Bezie- hungsmuster zwischen den Geschlechtern und damit auch „bürgerliche“ Familien- strukturen in Frage gestellt. Konservative Angriffe auf die Frauenbewegung folgten umgehend. Dennoch brachten die 1970er Jahre familienrechtliche Liberalisierungen. Ehe- und Familienrechtsreformen vermochten zumindest einige der patriarchalen Unterdrückungen zu entschärfen. Auch der Restbestand privater Gewalt wurde all- mählich21 juristisch strafbar und verfolgbar gemacht. Das gesetzliche Rahmenwerk hat sich seither zunehmend vom Leitbild der patriarchalen Familie entfernt. Als fa-

Existenzbedingungen. Münster 1996, S. 166–193, hier S. 166f. 21 Zum Teil erfolgte dies erst in unmittelbarer Gegenwart, in Österreich wurden zum Bei- spiel 1989 strafrechtliche Sanktionen gegen Vergewaltigung bzw. sexuelle Nötigung in der Ehe (oder in außerehelichen Lebensgemeinschaften) eingeführt und 1996 Maßnah- men gegen Gewalt in der Familie durch das Gewaltschutzgesetz, in dem ein „Wegweise- recht“ aus und ein „Rückkehrverbot“ in die gemeinsame Wohnung festgelegt wurden.

244 Dis | kurs Tagungsberichte milienpolitisches Leitbild hat es aber noch lange nicht ausgedient. Lebensrealitäten haben sich verändert: Eine Abfolge verschiedener Familienbiographien lassen Patch- works, Familiennetzwerke oder Mehrfachfamilien entstehen. Menschen der Gegen- wart weisen mehr Beziehungs- und folglich auch häufigere Trennungserfahrungen auf.22 Eheschließung und Kinder werden zu einer bewusster und freier gewählten Entscheidung. Umstritten bleibt, ob unverheiratete Paare mit gemeinsamen Kindern Familien im Sinne des Familienrechts darstellen. Nur sehr langsam geht in dieser Frage ein rechtliches Nachziehverfahren vonstatten. Trotz des realen Verschwindens der patriarchalen Familie, beherrscht seit den 1990er Jahren eine neo-konservative und anti-feministische Familienrhetorik Politik und Medien. Einmal mehr wird der moralische Verfall der Familie beklagt und zur Ursache vieler sozialer Probleme der Gegenwart stilisiert. Am radikalsten wurde diese Familiensicht in neo-konservativen Kreisen in den USA formuliert: Erosion von Familienwerten wurde für Jugendkriminalität, Analpha- betismus, Arbeitslosigkeit, Aids u. v. a. m. verantwortlich gemacht.23 Aus Sicht der Rechten könne nur die traditionelle Familie Männer und Frauen in ökonomischer und sexueller Hinsicht disziplinieren.24 Die Aufgabe des Staates liege darin, die Fami- lie als „natürliche“ und „gottgegebene“ Einheit zu schützen. Stattdessen untergrabe staatliche Politik Familienwerte, weil sie alternative Lebensweisen als gleichwertig behandle.25 Zudem wird ein Zusammenhang propagiert zwischen moralischem und ökonomischem Verfall. Rechte Familienideologien arbeiten so neo-liberaler Anti- Staatlichkeit in die Hände.26 Die Kleinfamilie ist „die billigste Einrichtung zur Ver- sorgung von Kindern, Pflegebedürftigen und alten Menschen.“27 Deshalb soll auch die Familie als „Frauenbetrieb“ erhalten bleiben. Obwohl nun die europäische Rechte vergleichsweise gemäßigt auftritt, wurden die ideologischen Einschreibungen über neo-liberale Politikstrategien mit importiert. Was als das Ende des Sozialstaats debattiert wird, ist zu einem nicht unerheblichen Teil das Ende staatlich konservierter und arbeitsmarkt-vermittelter patriarchaler Ge- schlechterverhältnisse. Wir erleben eine Feminisierung von Erwerbsarbeit: Der Nie- dergang des Familienernährer-Modells ist einerseits mit einer steigenden Zahl weib-

22 Vgl. Beck-Gernsheim, Elisabeth: Was kommt nach der Familie? Einblicke in neue Le- bensformen. München 1998. 23 Vgl. Tiger, Lionel: Auslaufmodell Mann. Wien/ München 2000. 24 Vgl. Abbott, Pamela / Wallace, Claire 1992: The Family and the New Right. London/ Boulder 1992, hier S. 9. 25 Ebd., S. 9–12. 26 Vgl. Ebd., S. 17. 27 Notz, Gisela: Verlorene Gewißheiten? Individualisierung, soziale Prozesse und Familie. Ein historisch-soziologischer Essay. Reinbek bei Hamburg 1998, hier S. 35.

Dis | kurs 245 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 licher Erwerbstätiger verbunden, andererseits aber mit der Absenkung „männlich“ kodierter Standards auf das Niveau „weiblicher“: Teilzeitarbeit, Flexibilisierung von Wochen- und Lebensarbeitszeit, diskontinuierliche Erwerbstätigkeit und Langzeit- arbeitslosigkeit. Die Wiederherstellung der heilen Familie, soll die Verunsicherung – vornehmlich von Männern – abfangen. Jörg Nowak28 identifiziert in seiner Analyse der gegenwärtigen Familienpolitik und der diese begleitende medialen Debatte zwei Hauptgruppen: Die eine – vertreten durch Eva Herman29 und Christa Müller30 - bezeichnet er als konservative Romanti- kerinnen. Sie plädieren für die freie Wahl der Frau für Familie und Kinder und grei- fen dabei alte Forderungen der Frauenbewegung nach Bezahlung für Hausarbeit auf. Die andere Gruppe – vertreten durch Thea Dorn31 und Silvana Koch-Mehrin32 - ist als liberal bzw. neo-liberal einzustufen. Sie plädieren für die Schaffung familienpoli- tischer Rahmenbedingungen, die es beruflich erfolgreichen Frauen ermöglichen soll, Karriere und Kinder zu vereinbaren. Diese Forderungen finden in der Familienpo- litik33 von deutlichen Anklang. Beide Debattenstränge bilden gleichsam eine Reinterpretation der US-Debatte. Wie dort, so auch hier, bildet sich unter der Hand eine anti-feministische Allianz auf dem Feld der Familienpolitik. Dies ist sehr verwunderlich, zumal alle Protagonistinnen der deutschen Debatte als erklärte Feministinnen auftreten. Wie kommt das? Die Lösung des Rätsels liegt in der Tatsache, dass Familie als Ideologie fortwirkt, die einfach nicht aufzubrechen ist. Das Familienernährer-Modell ist tatsächlich in eine Krise geraten, aber noch längst nicht als Leitbild der Familienpolitik abgelöst wor- den.34 Es gesellen sich zwei weitere Modelle hinzu: Das Zuverdienerinnen-Modell mit einem vollzeit-erwerbstätigen Mann und einer

28 Nowak, Jörg: Neoliberaler Feminismus und konservative Sozialkritik. Zur Klassenselekti- vität der neuen deutschen Familienpolitik. Unveröffentlichtes Manuskript 2008. 29 Herman, Eva: Das Eva-Prinzip. Für eine neue Weiblichkeit, unter Mitarbeit von Christine Eichel, München 2006. 30 Christa Müller ist familienpolitische Sprecherin der Linkspartei im Saarland, kooperiert aber wie Herman mit dem rechtskonservativen Familiennetzwerk, weshalb ihr Buch „Dein Kind will dich“ (2007) im St. Ulrich Verlag des Augsburger Bischofs Walter Mixa erschienen ist. 31 Thea Dorn ist Krimiautorin. Dorn, Thea: Die neue F-Klasse. Wie die Zukunft von Frauen gemacht wird. München/ Zürich 2006. 32 Silvana Koch-Mehrin ist Unternehmensberaterin und FDP-Politikerin. Koch-Mehrin, Silvana: Schwestern. Streitschrift für einen neuen Feminismus. Düsseldorf 2007. 33 Familienpolitik in Deutschland kreist derzeit um drei Komplexe: Ausbau der öffentlichen Kinderbetreuung, veränderte Freibeträge für Kinderbetreuung und das Elterngeld. 34 Der hohe Anteil an Zuverdienerinnen wird in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsfor- schung mitunter als „modifiziertes Familienernährermodell“ bezeichnet.

246 Dis | kurs Tagungsberichte teilzeit-erwerbstätige Frau ist vor allem für die soziale Unterschicht vorgesehen. Es soll möglichst viele Frauen in schlecht bezahlte Arbeitsverhältnisse zwingen. An die- sem Punkt setzt die neo-konservative Kritik an, die stattdessen das alte Alleinverdie- ner-Modell favorisiert. Das Doppelverdiener-Modell wendet sich an hoch qualifizierte und gut verdienende Paare, die sich den privaten Zukauf von Hausarbeit und Kinderbetreuung leisten können. Neo-liberale Feministinnen fordern einen Ausgleich der privat finanzierten Aufwendungen für Kinderbetreuung usw. durch öffentliche Mittel. Soziale Mobilität hingegen soll nicht gefördert werden, weshalb es sich um ein ausgesprochenes Eli- tenmodell handelt. Beide Modelle stellen aber die Grundstruktur des patriarchalen Familienmodells nicht in Frage: Die Natürlichkeit der Familie bleibt vorausgesetzt. Die Familie stellt einen zentralen Wert für die Gesellschaft dar. Das Idealbild ist ein heterosexuelles Paar, das Kinder aufzieht. Die Zuschreibung der Familienarbeit an Frauen bleibt unangetastet. Eine Intervention in die Binnenstruktur der Familie zum Ausgleich der geschlechts- spezifischen Arbeitsteilung wird abgelehnt. Männer können zwar zur freiwilligen Übernahme von Hausarbeit und Kinderbe- treuung motiviert, dürfen aber niemals dazu gezwungen werden. Das Familienernährermodell bleibt das geheime Ideal. Die Realität der Familie soll einmal mehr durch die Ideologie der Familie kaschiert werden. Da diese Ideologie aber immer auch in den Köpfen der Betroffenen veran- kert ist, führt Familienpolitik denjenigen, die aus welchen Gründen immer, dieses Ideal nicht leben können, ihre Unzulänglichkeit vor Augen. Auf diese disziplinieren- de und moralisierende Funktion von Familienpolitik wird so bald keine Regierung verzichten wollen.

Dis | kurs 247 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009

Gelesen

Theoretiker oder aktiver Bürger Zur Gewichtung von philosophischen und politischen Schriften

Ines Weber Hochschule Vechta, ISP E-Mail: [email protected]

Gerade der 80. Geburtstag von Jürgen Habermas in diesem Jahr bot vielen Wissen- schaftlern, Politikern und Journalisten erneut Anlass auf die lange Schaffenszeit des Soziologen, Politikwissenschaftlers und Philosophen zurückzublicken und zu seinen Ideen Stellung zu nehmen. Das Jubiläum war auch für den Metzler-Verlag Grund genug Jürgen Habermas in die nunmehr zehn Klassiker umfassende Reihe der Hand- bücher aufzunehmen. Nun ist in den letzten Jahrzehnten wahrlich schon eine gan- ze Reihe an Sekundärliteratur über Jürgen Habermas, sein philosophisches, sozio- logisches und politikwissenschaftliches Denken sowie sein politisches Engagement erschienen.1 Nichtsdestotrotz werden auch heute noch etliche Nachschlagewerke und Einführungen über den „international bedeutendsten lebenden Philosophen

1 So unter anderem die Standardwerke von McCarthy, Thomas A.: Kritik der Verständi- gungsverhältnisse. Frankfurt / Main 1980; Wiggershaus, Rolf: Jürgen Habermas. Ham- burg 2004; Iser, Mattias / Strecker, David: Jürgen Habermas zur Einführung. Hamburg 2009. Oder auch die insbesondere für Einsteiger geeignete Literatur von Resse-Schäfer, Walter: Jürgen Habermas. Frankfurt / Main 2001 und Horster, Detlef: Jürgen Habermas – Zur Einführung. Hamburg 2006.

248 Dis | kurs Gelesen

Deutschlands“2 herausgegeben. Ein Nachschlagewerk muss da schon allumfassend oder innovativ sein, um auf dem kaum überschaubaren Büchermarkt wahrgenom- men zu werden. Letzteres kann bei der Menge an Nachschlagewerken kaum noch ein Handbuch für sich beanspruchen, nähern sich doch die bereits erschienenen Standardwerke den Ideen Habermas von ganz unterschiedlichen Perspektiven. Das Metzler-Handbuch ist aber insofern innovativ, als dass es die bisher benutzten Zu- gänge zu Habermas über die Darstellung seiner veröffentlichten Werke, der theo- retischen Strömungen oder die Erklärung seiner Ideen mithilfe von Schlagworten in einem Buch vereint. Und hier liegt die Stärke des Handbuches, die darüber hin- aus auch durch die gut verständliche Darstellung der wichtigsten philosophischen Themen, mit denen sich Habermas beschäftigte, dieses Nachschlagewerk einem breiten Rezipientenkreis zugänglich machen wird. Denn anders als die meisten Ein- führungsbücher bieten die drei größten Kapitel im Handbuch (Kontexte, Texte und Begriffe) einen wirklich umfassenden, und nicht nur einführenden Überblick. Zu- sätzlich dazu findet sich am Anfang ein kurzer Abriss der„Intellektuellen Biographie“ sowie am Ende des Handbuches ein Stichwortverzeichnis und Personenregister so- wie eine Auswahl an weiteren, einschlägigen Nachschlagewerken. Die nochmalige Unterteilung dieses Kapitels in generelle Darstellungen über Habermas Werke und in themenspezifische Literatur ermöglicht einen einfachen und schnellen Überblick über die vorhandene Sekundärliteratur. Das Kapitel „Kontexte“ ist aufgrund seines thematischen Zugriffs und der Bandbreite besonders hervorzuheben. Denn es umreißt dezidiert die theoretischen Analyserah- men, mit denen Habermas sich beschäftigte, die ihn prägten, denen er entstammt und denen er Teile seiner Gesamttheorie entlehnt hat. Besonders schön ist, dass nicht nur auf die üblichen Hintergründe eingegangen wird wie etwa die Frankfur- ter Schule und der Kantianismus, die Auseinandersetzung mit der Luhmannschen Systemtheorie oder auch die in die Theorie des Kommunikativen Handelns einge- baute Sprechakttheorie nach Austin und Searle, die in fast jedem Einführungsbuch zu finden sind. Darüber hinaus beleuchtet das Metzler-Handbuch auch die für eine Gesamtauseinandersetzung wichtigen und leider nicht immer erwähnten Kontexte der Kognitiven Entwicklungspsychologie, der Psychoanalyse oder etwa des Neop- ragmatismus. Mehr noch, die für sicherlich nur wenige sofort zu knüpfende Ver- bindung zwischen Habermas und der jüdischen Ethik wird auf besonders schöne Weise herausgestellt. Denn im Kapitel selbst werden so wichtige Denker wie Hannah Arendt, Walter Benjamin, Gershom Scholem oder Theodor W. Adorno als die für die Auseinandersetzung mit der jüdischen Philosophie wichtigen Personen vorgestellt. Jedes Unterkapitel behandelt einen anderen Kontext und stellt in leicht verständli-

2 Reese-Schäfer, Walter. Jürgen Habermas.

Dis | kurs 249 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 cher Sprache die Auseinandersetzung zwischen Habermas und den Vertretern der jeweiligen Theorierichtung dar. So werden beispielsweise die von den Feministinnen vorgebrachten Einwände gegen die in Habermas Theorie zuwenig beachtete Gender- Problematik wiedergegeben. Oder der gut verständliche Cohen-Artikel zur Völker- rechtsverfassung: Er ist logisch strukturiert, nimmt die Intentionen und Revidierung Habermas mit auf und stellt das Verfassungsmodell klar und verständlich dar. Ähn- lich die weiteren Unterkapitel. Ein ringsherum gelungenes Gesamtkapitel also, das wirklich einen kompletten, und nicht nur einen einschlägigen Überblick über die Kontexte, in denen Habermas zu verorten ist, gibt. Ähnlich das Kapitel „Begriffe“. Denn es leistet mehr als die Definitionen in den meis- ten anderen Nachschlagewerken (sofern sie denn vorhanden sind): Es umfasst ins- gesamt 33 Schlagworte. Und die erklären nicht nur die für Habermas so wichtigen und neu konnotierten Begriffe wie Diskurs, Deliberation, Erkenntnisinteresse, Öffent- lichkeit oder auch System und Lebenwelt, sondern darüber hinaus auch Intellektuelle, Evolution, Kontrafaktische Voraussetzungen oder Macht. Sinnvoll ist dies durchaus, verfeinerte oder revidierte Habermas seine Ansicht über bestimmte gesellschaftliche oder politische Entwicklungen und deren Konsequenzen doch zum Teil gewaltig. Dieses Kapitel stellt diese Wandlungen sehr schön dar. Und das ist eine mehr als hilfreiche Leistung der Autoren. Denn dem Einsteiger wird das sich hinter einem Begriff stehende Konstrukt auf wenigen Seiten anschaulich und in einfachen Worten erklärt. Die Lektüre von mehreren Werken Habermas ist hier – zumindest für einen schnellen und groben Überblick – nicht nötig. Möchte der Leser mehr erfahren, so empfiehlt sich das seitenstärkste Kapitel „Texte“. Natürlich kann bei der Fülle der von Habermas publizierten Artikel und Monogra- phien kein Nachschlagewerk alle Texte berücksichtigen. Die Auswahl im Metzler- Handbuch deckt aber viele, für Habermas über seine gesamte bisherige Schaffenszeit wichtige, Themenspektren ab: Etwa seine bei Rothacker geschriebene Dissertation über Schelling und Marx, natürlich seine Habilitationsschrift Strukturwandel der Öf- fentlichkeit, die Theorie des Kommunikativen Handelns, seine wichtigsten Schriften zur Diskursethik, die in Faktizität und Geltung festgehaltenen Überlegungen zur de- mokratischen und rechtlichen Ausgestaltung einer Gesellschaft und deren Begrün- dung, die Überlegungen zur Verfassung Europas, der liberalen Eugenik oder auch der Völkerrechtsdebatte. Leider stößt die thematische Allumfasstheit des Handbuches (insbesondere in die- sem Kapitel) bei der Berücksichtigung des sich immer wieder auch politisch zu Wort meldenden, kritischen Bürgers der Bundesrepublik an ihre Grenze. Die Stellung- nahmen zu den Studentenunruhen,3 die daraus resultierende Linksfaschismusde-

3 Zusammengefasst in: Habermas, Jürgen: Kleine Politische Schriften I-IV, Frankfurt /

250 Dis | kurs Gelesen batte mit Rudi Dutschke,4 die Meinung zum NATO-Doppelbeschluss und die An- sicht ziviler Ungehorsam ist der „Testfall für einen demokratischen Rechtsstaat“,5 der 1986/87 geführte Historikerstreit6 – all das wird nur marginal mit aufgegriffen oder fehlt gänzlich. Lediglich den auf politik-praktischer Ebene angesiedelten Fragen zur Zukunft Europas sowie der Eugenik werden in dem Kapitel jeweils etwa zehn Seiten gewidmet. Das ist mehr als schade, hat doch Jürgen Habermas Zeit seines Lebens sei- ne philosophischen Erkenntnisse auch in politische Forderungen transformiert und umgekehrt – gewisse historische und biografische Ereignisse ihm erst Anstöße zur philosophischen Beschäftigung gegeben. Diese finden sich zumeist in den Kleinen politischen Schriften wieder, die zwar innerhalb der einzelnen Kapitel erwähnt wer- den, aber doch insgesamt zu kurz kommen. Dabei lässt sich erst durch die Berück- sichtigung des politisch-öffentlichen Engagements Habermas und seiner stetigen Einmischung in brisante Fragen ein wirklich komplettes Bild des Philosophen und des kritischen Bürgers zeichnen. Dafür hätte im Handbuch mehr Raum geschaffen werden können – auch vor dem Hintergrund der tatsächlichen Seitenzahl, die um etwa 60 Seiten geringer ist als das in derselben Reihe erschienene Foucault-Hand- buch. Diese Kritik gilt umso mehr, als dass die Herausgeber selbst den Anspruch erheben sich an ein „wissenschaftlich spezialisiertes wie an das politisch und philoso- phisch breiter interessierte Publikum“ zu richten.7 Darüber hinaus gibt es leider keine gesondert aufgeführte Kritik zu Habermas. Und das wäre mehr als sinnvoll gewesen, denn kaum ein Philosoph hat mehr aus ganz unterschiedlichen Richtungen kommende Seitenhiebe einstecken müssen als Jürgen Habermas. Wo sind die Vorwürfe der Naivität, der idealisierten Bedingungen, des zu anspruchsvollen Menschenbildes? Wo ist die (nicht unberechtigte) Kritik der un- möglichen Realisierung? Wo der Verweis auf die von postmodernen Wissenschaft- lern vertretene These der Auflösung universaler Geltungsansprüche und Normen?

Main 1981. 4 Die Entgegnungen der Studenten auf Habermas Kritik in: Negt, Oskar (Hrsg.): Die Linke antwortet Jürgen Habermas. Frankfurt / Main 1968. 5 Der Artikel wurde erstmals abgedruckt in: Glotz, Peter: Ziviler Ungehorsam im Rechts- staat. Frankfurt / Main 1983, S. 29–53. Als Nachdruck ist er außerdem erschienen in: Ha- bermas, Jürgen: Die Neue Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V. Frankfurt / Main 1985, S. 79–99. 6 Sämtliche zu diesem Thema erschienenen Texte sind abgedruckt in: Augstein, Rudolf (Hrsg.): Historikerstreit. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung. München / Zürich 1987. Habermas selbst wid- met sich in seinen Kleinen Politischen Schriften ebenfalls dieser Problematik. Habermas, Jürgen: Eine Art Schadensabwicklung. Kleine Politische Schriften VI, Frankfurt / Main 1987. 7 Brunkhorst, Hauke / Kreide, Regina / Lafont, Cristina (Hrsg.): Habermas-Handbuch, S. VII (Hervorhebung IW).

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Diese Kritik ist, wenn überhaupt, in den einzelnen Artikeln verstreut, aber nicht durch einen einheitlichen Aufbau innerhalb der Artikel (und damit formal stets als Kritik) kenntlich gemacht worden. Die Nichtberücksichtigung in den Artikeln selbst ist zum Teil dem Aufbau der Kapitel geschuldet, die – sinnvollerweise – mehr Wert auf eine verständliche Darstellung der Theorieentwicklung und –ausarbeitung als auf die Kritik legen. Andererseits spricht dieser Einwand nicht gegen ein gesondertes Kapitel, das die wichtigsten Kritiken an der Theorie aufgreift. Insbesondere vor dem Hintergrund des nicht einheitlichen Aufbaus der Handbücher untereinander wäre ein Kapitel, das die Kritik an den viel diskutierten Ideen zum Thema hat, möglich gewesen. Nichtsdestotrotz: Das Habermas-Handbuch bietet (wie die anderen Metzler-Hand- bücher auch) einen von mehreren theoretischen Richtungen ansetzenden Einblick in die Arbeit des Philosophen (und zum Teil des politischen Bürgers). Dass der Verlag Habermas bereits jetzt in die Reihe seiner Handbücher aufgenommen hat, erstaunt durchaus. Ist der Philosoph doch der einzige Denker aus der gesamten Reihe der Metzler-Handbücher, dem diese Ehre bereits zu Lebzeiten zuteil wird. Das beweist einerseits die seit Jahrzehnten bestehende, gegenwärtig ebenfalls existierende und auch in Zukunft zu erwartende Relevanz seiner Ideen und macht ihn bereits zu Leb- zeiten zu einem Klassiker. Andererseits zeigt es auch den Mut der Herausgeber, die sich schon jetzt an ein Nachschlagewerk gewagt haben, das, wie sie selbst betonen, aufgrund der noch zu erhoffenden Veröffentlichungen des Jubilars noch gar nicht abgeschlossen sein kann. Brunkhorst, Hauke / Kreide, Regina / Lafont, Cristina (Hrsg.): Habermas-Handbuch. Stuttgart / Weimar 2009, 392 Seiten, 49,95 €, ISBN: 978-3-476-02239-4.

252 Dis | kurs Gelesen

Gelesen

Legitimitätsprobleme der Marktsozialdemokratie

Sebastian Nawrat Westfälische Wilhelms – Universität Münster E-Mail: [email protected]

Die Dissertation von Oliver Nachtwey, die nunmehr unter dem Titel „Marktsozial- demokratie“ auf dem Markt ist, beschäftigt sich mit den wirtschafts- und sozialpo- litischen Paradigmen der beiden europäischen Schwesterparteien SPD und Labour Party in einem chronologischen Längsschnitt seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts bis hinein in die Gegenwart. In der Phase der vorkeynesianischen Sozialdemokratie nach dem Ersten Weltkrieg einte beide – ansonsten recht unterschiedlich aufgestellte – Parteien ein positives Staatsverständnis, das sie aber nicht befähigte, eine durchschlagende Antwort auf die Weltwirtschaftskrise zum Ausgang der 1920er Jahre zu geben. Denn der von Adam Przeworski einmal als „himmlisches Geschenk“ bezeichnete Keynesianismus brachte erst nach dem Zweiten Weltkrieg in beiden Ländern Bewegung in das Verhältnis von Wohlfahrtsstaat und Sozialdemokratie. Denn seit den fünfziger Jahren konnten SPD und Labour Party in einer Zeit von stetigem Wirtschaftswachstum und ungekannter Sozialstaatsexpansion agieren, die allerdings in den 1970er Jahre an ihre Grenzen ka- men. Sowohl die Labour-Regierung als auch die sozialliberale Koalition gaben eine keynesianisch ausgerichtete Wirtschaftspolitik noch im Verlauf der siebziger Jahre auf. Schön während, aber besonders nach dem Ende der Regierungen von Premier-

Dis | kurs 253 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 minister Callaghan und Bundeskanzler Schmidt erlebten beide Parteien in der Op- position ein böses Erwachen aus dem kurzen Traum immerwährender Prosperität: Für die Folgezeit der 1980er Jahre bietet Nachtwey ein Konglomerat bekannter Nie- dergangstheorien der Sozialdemokratien an, die bis zum von Dahrendorf ausgerufe- nen Ende des sozialdemokratischen Zeitalters reichen. Erst das Paradigma der Marktsozialdemokratie in den 1990er Jahren, gespeist vom neoliberalen Zeitgeist, entwickelt und erprobt von verschiedenen Sozialwissenschaft- lern (unter anderem Antony Giddens, Fritz W. Scharpf, Gosta Esping-Andersen oder Wolfgang Streeck) und adaptiert von den sozialdemokratischen Führern Blair und Schröder, sollte einen Ausweg aus der konzeptionellen Leere der europäischen Sozi- aldemokratien liefern. Und so liegt das Glanzvolle und das Innovative der Monographie darin, dass die Transformation von SPD und New Labour gleichermaßen mit dem Konzept einer Marktsozialdemokratie interpretiert wird, in das sich beide Parteien seit den neunzi- ger Jahren geflüchtet haben. Das Paradigma der Marktsozialdemokratie besagt, dass das Soziale in den Markt eingebettet und seinen Erfordernissen angepasst werden müsse. Obgleich sie eine radikalisierte Ökonomisierung der Gesellschaft betreibe, halte die Marktsozialdemokratie im Unterschied zum Neoliberalismus an einer regu- lierenden Ökonomie und einem sozialinvestivem Wohlfahrtsstaat fest (S. 247). Ihre Legitimationsprobleme, so Nachtwey, bestünden aber darin, dass es der Marktsozial- demokratie nicht gelinge, mit ihren Policies die sozialen Probleme zu lösen, sondern mittels zuweilen autoritärer und populistischer Nuancen zu ihrer Verschärfung bei- zutragen (S. 274–277). Ein Vergleich zweier sozialdemokratischer Parteien vor dem Hintergrund des wirt- schafts- und sozialpolitischen Paradigmas jener Marktsozialdemokratie hat Charme, wurden doch bislang tendenziell die Besonderheiten, Distinktionsmerkmale und Unterschiede akzentuiert, wenn sozialdemokratische Parteien in Europa miteinan- der verglichen wurden.1 Deutlich wird im Buch, welchen Standpunkt Nachtwey insbesondere gegenüber der deutschen Sozialdemokratie einnimmt. Es wird gewissermaßen noch einmal der Finger in die sozialdemokratische Wunde gelegt. Denn zu Recht weist der Autor darauf hin, dass während der Amtszeit des sozialdemokratischen Finanzministers

1 Krell, Christian: Sozialdemokratie und Europa. Die Europapolitik von SPD, Labour Party und Parti Socialiste. Wiesbaden 2009; Drögemöller, Marc: Zwei Schwestern in Europa. Deutsche und niederländische Sozialdemokratie 1945-1990. Berlin 2008; Jun, Uwe: Der Wandel von Parteien in der Mediendemokratie. Frankfurt (Main)/New York 2004; Fren- zel, Martin: Neue Wege der Sozialdemokratie. Dänemark und Deutschland im Vergleich (1982-2002). Wiesbaden 2002; Hörnle, Micha: What`s left? Die SPD und die British Labour Party in der Opposition. Frankfurt (Main) 2000.

254 Dis | kurs Autorinnen und Autoren

Hans Eichel damit begonnen wurde, „das Modell Deutschland, die kooperative Bezie- hung der Unternehmen, zu entflechten, zu liberalisieren und den Finanzmärkten an- zupassen.“ Auch ansonsten wird kaum ein gutes Haar an der SPD unter dem Vorsitz von Gerhard Schröder gelassen. Aussagen wie „Die Policies der Agenda 2010 hatten mit einer egalitären Verteilungsgerechtigkeit nur wenig zu tun“ (S. 220) oder: „Der Großteil der Parteispitze und zahlreiche jüngere Aktivisten haben längst die wirt- schaftsliberale Basisphilosophie und die Prämissen der Agenda 2010 übernommen“ (S. 222) oder: „Anfang der 1980er Jahre stand Helmut Schmidt mit seiner Position der Haushaltskonsolidierung innerparteilich fast alleine da, heute repräsentiert Finanzmi- nister Peer Steinbrück mit dieser Präferenz die Mehrheit der Partei“ (S. 221) klingen ein wenig anklagend. Zuzustimmen ist dem Autor, wenn er auf die Paradoxie hinweist, dass der „Sach- zwang“ der leeren Kassen, auf den von Regierungsseite während der rot-grünen Ko- alition vehement hingewiesen wurde, von der Politik selbst hergestellt worden ist (S. 216). Daher schadet diese Philippika an Kritik keineswegs, weil sie historisch- kritisch durchaus gerechtfertigt ist. Doch damit, wie dieser im Kern abschreckend wirkende Befund einer Marktsozialdemokratie, die von den apokalyptischen Reitern des Pragmatismus ins sozialpolitische Nirvana befördert wurde, zu erklären oder zu interpretieren sei, werden die Leserinnen und Leser allein gelassen. Etwas zu schnell wird die 16-jährige Phase der sozialdemokratischen Opposition während der Amtszeit Helmut Kohls in der Bundesrepublik zur Seite geschoben. La- pidar stellt Nachtwey fest: „Es gibt Jahrzehnte, in denen passiert fast nichts, und dann gibt es Jahre, in denen geschehen Jahrzehnte. Freilich überzogen, aber in groben Zügen ist dies die Geschichte vom Wandel des deutschen Sozialstaats und der SPD seit den 1980er Jahren.“ (S. 208) Einem abrupten Politikwechsel mit dem Schröder-Blair-Pa- pier und der Agenda 2010 wird also auch hier, wie in so vielen Stellungnahmen ohne quellengestützte Argumente, das Wort geredet. Während Labour zu New Labour im Kontext des Policy Reviews und der Diskussion um Dritte Wege programmatisch aufgemöbelt wurde, habe die SPD nichts Vergleichbares aufzubieten. Vielmehr habe sie eine Programmdebatte in den 1980er Jahren erlebt, die von industriegesellschaft- licher Dissidenz geprägt gewesen wäre. Freundlicher formuliert: Die alte Tante SPD habe eine „Begrünung“ erlebt (S. 210). Vor dem Hintergrund, dass in den anderen Kapiteln des Buches detailreiche, sorgfältige und eloquente Präsentationen geboten werden, sind diese Etikettierungen zwar zutreffend, aber sie bleiben zugleich auch generalisierend. Zusammengenommen gelingt es Nachtwey ausgesprochen bravourös, die parteipo- litische Entwicklung der beiden europäischen Schwesterparteien vor dem Hinter- grund der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts zu fassen. Daher ist diese Parteiengeschichte keine isolierte Geschichte von zwei sozialdemokrati-

Dis | kurs 255 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009 schen Parteien, sondern eine Parteiengeschichte, wie man sie sich wünscht. Wie der Policy Review und der Thatcherismus in Großbritannien für New Labour, so waren der Reformstau aus der Ära Kohl und die Agenda 2010 für die SPD der „point of no return“ (S. 220). Zwar wird abzuwarten sein, ob beide Parteien weiterhin Marktsozialdemokratien bleiben werden oder ob sie sich aus der einstweilen noch wirkmächtigen babyloni- schen Gefangenschaft ihres selbst geschaffenen oder übernommenen Paradigmas zu lösen vermögen. Mit der Zukunft beider Parteien steht und fällt gewissermaßen auch die Originalität von Titel und These. Grundsätzlich gilt: Ohne über die weitere Ent- wicklung von SPD und Labour Party spekulieren zu wollen, kann der aufmerksame Beobachter durchaus feststellen, dass es in beiden europäischen Schwesterparteien derzeit ziemlich rumort. Und wer mehr über die konzeptionellen Hintergründe des Rumorens erfahren möchte, der sollte Nachtweys Buch auf jeden Fall zu Rate zie- hen. Nachtwey, Oliver: Marktsozialdemokratie. Die Transformation von SPD und Labour Party. Wiesbaden 2009, 335 Seiten, 34,90 €, ISBN: 978-3-531-16805-0.

256 Dis | kurs Autorinnen und Autoren

Autorinnen und Autoren Steffen Alisch, Dr., geb. 1964, ab 1982 Bausoldat, pflegerische Hilfskraft, Buchhändler in der DDR; 1988-1990 Studium der evangelischen Theolo- gie in Leipzig, ab 1990 der Politischen Wissenschaft in Berlin; Seit 1996 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsverbund SED-Staat der FU Berlin.

Christian Bunnenberg, M.A., geb. 1979, 2000-2005 Magisterstudium der Fächer Neuere und Neueste Geschichte, Mittlere Geschichte und Deutsche Philologie und Lehramtsstudium Sek. II/I für die Fächer Deutsch und Ge- schichte in Münster; 2006-2008 Referendariat und Zweites Staatsexamen; Gymnasiallehrer in Hamm; seit 2009 am Historischen Seminar I der Uni- versität zu Köln.

Jean-Luc Garret, Prof. Dr. phil, geb. 1949; Professeur de Chaire supérieu- re (Bordeaux) Mitglied des Forschungsinstituts für Germanistik CIRAMEC (Bordeaux Frankreich).

Wolfgang Gründinger, B.A., geb. 1984, 2003-2007 Studium der Politikwis- senschaft und Soziologie in Regensburg; Seit 2005 Stipendiat der Fried- rich-Ebert-Stiftung; Seit 2007 Politikberater und Schriftsteller; Seit 2008 Studium der Sozialwissenschaften in Berlin mit dem Schwerpunkt Verglei- chende Demokratieforschung; Seit 2009 Studienaufenthalt in Santa Cruz (Californien); Sprecher der AG „Energie der Zukunft“ des Think Tank 30 (junger Think Tank des Club of Rome); Vorstandsmitglied der Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen; mehrere Auszeichnungen, u.a. Deut- scher Studienpreis 2006, Buchpreis der Deutschen Umweltstiftung 2006/07, Gewinner des Kreativwettbewerbs für Erneuerbare Energien 2009.

Julia Kiesow, geb 1985, Doppelstudium der Rechtswissenschaft und der Politikwissenschaft mit den Nebenfächern Mathematik und Soziologie an der Universität Gießen.

Martin Kintzinger, Prof. Dr. phil., geb. 1959, Studium der Geschichte und Germanistik; Promotion 1987 TU Braunschweig; Habilitation 1997 FU Ber- lin, 1999 bis 2002 Professur für Wissenschafts- und Universitätsgeschich- te an der Ludwig Maximilians-Universität München, seit 2002 Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

Dis | kurs 257 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009

Daniel Kuchler, MA, Jahrgang 1981, studierte Politikwissenschaft, Engli- sche Philologie und Literaturwissenschaft sowie Geschichte an der WWU Münster. Er schrieb seine Magisterarbeit zum Thema „The Relevance of Gramsci for Post-Modern International Politics“. Heute arbeitet er als Teaching Assistant und promoviert an der State University of New York (SUNY), University at Albany mit den Schwerpunkten Politische Theorie und Internationale Beziehungen. Er ist von der Universität mit einem Tuiti- on Scholarship und einem Stipendium ausgezeichnet worden.

Marion Löffler ist Assistentin am Institut für Politikwissenschaft sowie Projektmitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität Wien. Ihre Forschungsfelder sind Staatstheorien, Geschlechter-Theorien und Frauen- politik sowie Literatur in der politischen Ideengeschichte.

Benjamin Magofsky, M.A., geb. 1981. Studium der Geschichtswissen- schaft, Geographie, Germanistik, Philosophie und Erziehungswissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (2002-2009). Seit Sep- tember 2009 im Vorbereitungsdienst am Wilhelm-Dörpfeld-Gymnasium in Wuppertal.

Sebastian Nawrat, geb. 1981, Studium der Sozialwissenschaften, Geschich- te und Germanistik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Staatsexamen 2006, seither Promotionsstipendiat der Friedrich-Ebert-Stif- tung, Arbeitstitel: „Die sozial- und wirtschaftspolitische Programmdiskussi- on der SPD seit 1982“. Arbeitschwerpunkte liegen in der Parteienforschung, der deutschen Zeitgeschichte und der Geschichte Polens.

Heike Radvan, M.A., geb. 1974, Studium der Erziehungswissenschaften; arbeitet seit 2002 in der Amadeu Antonio Stiftung in den Bereichen „Zivil- gesellschaftliche Strategien gegen Antisemitismus“ und „Gender als Kate- gorie in der präventiven Arbeit gegen Rechtsextremismus“; koordinierte 2006 das Ausstellungsprojekt „Das hat´s bei uns nicht gegeben! Antise- mitismus in der DDR“ und ist verantwortlich für die inhaltliche Begleitung der Wanderausstellung; Momentan Abschluss der Promotion zum Thema „Pädagogisches Handeln im Umgang mit Antisemitismus in Einrichtungen der offenen Jugendarbeit“ am Fachbereich Erziehungswissenschaften der FU Berlin.

Stefanie Renatus, BA, geb. 1983, studierte Geschichte und Politik in Vechta und schrieb ihre Bachelorarbeit zum Thema „Failed States“; studiert MA Politikwissenschaft in Frankfurt am Main.

258 Dis | kurs Autorinnen und Autoren

Sven Schönfelder, Dr., geb. 1975, Studium der Dipl.-Sozialwissenschaften in Oldenburg (Oldb); Promotion im Rahmen des Graduiertenkollegs „Grup- penbezogene Menschenfeindlichkeit“ der Universitäten Marburg und Bie- lefeld; Projekt „Politische Strategien gegen die extreme Rechte“ (zus. mit Benno Hafeneger, finanziert durch die Friedrich-Ebert-Stiftung) am Institut für Erziehungswissenschaft der Philipps-Universität Marburg; Lehre und Forschung am Institut für Sozialwissenschaften der Carl von Ossietzky Uni- versität Oldenburg.

Klaus Schroeder, Prof. Dr., geb. 1949, Studium der Biologie, VWL und Politikwissenschaft in Berlin; 1978-1982 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der FU Berlin; 1982 Promotion in Fachbereich Sozio- logie, 1994 Habilitation im Fachbereich Politikwissenschaft; Leiter des For- schungsverbundes SED-Staat der FU Berlin sowie der Arbeitsstelle Politik und Technik des Otto-Suhr-Institutes.

Jan Schulte Südhoff, geb. 1981, Studium der Geschichte, Geographie und Mathematik an der Universität Münster; Staatsexamen 2007; seit 2008 Stu- dienreferendar am Alexander-von-Humboldt-Gymnasium in Neuss.

Marcus Schulzke, B.A., geb. 1984, Studium der Philosopohie und Poli- tikwissenschaft an der Rutgers University. Er promoviert im Fachbereich Politikwissenschaft an der State University of New York at Albany. Seine primären Forschungsinteressen sind Politische Theorie und Vergleichende Politikwissenschaft, mit einem besonderen Fokus auf zeitgenössische poli- tische Theorie. Er arbeitet derzeit an einer Dissertation über theoretische Präsuppositionen von verschiedenen Forschungsprogrammatiken in der Politikwissenschaft.

Jochen Staadt, Dr., geb. 1950, ab 1968 Studium der Germanistik und Poli- tischen Wissenschaft in Berlin; 1977 Promotion über Romane der DDR; da- nach wissenschaftliche und journalistische Tätigkeit in Berlin; Projektleiter im Forschungsverbund SED-Staat der FU.

Hildegard Steger-Mauerhofer, MMaga. phil., geb. 1946, Studium der Po- litikwissenschaft; Langjährige Mitarbeiterin im Renner-Institut – SPÖ -Bil- dungsakademie und für den Bereich Frauenpolitik tätig; ab 2003 in Pension und das bereits in den 80ziger Jahren begonnene Studium der Politikwis- senschaft fortgesetzt; 2006 Abschluss mit der Diplomarbeit „Politik und das Private. Die politische Gestaltung der partnerschaftlichen Teilung der Versorgungsarbeit“. Danach Studium „Gender Studies“ von 2006-2008 mit der Magisterarbeit „Das Geschlechterbild in Scheidungsurteilen von öster- reichischen RichterInnen“.

Dis | kurs 259 Dis | kurs – Jahrgang 5, Nr. 2, 2009

Ines Weber, M.A., geb. 1983, Studium der Politikwissenschaft, Kommuni- kationswissenschaft und Psychologie in Greifswald, 2006 Auslandssemes- ter an der Philosophischen Fakultät der Staatlichen Universität St. Peters- burg; seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Vechta; arbeitet an der Promotion im Fachbereich Politische Theorie zum Thema „Freiheit und Sozialismus in der DDR. Antitotalitäre Konzepte von Have- mann und Bahro“; Forschungsschwerpunkte sind Sozialismus, Rechtsext- remismus sowie Öffentlichkeit und Medien.

Steven Zurek, geb. 1982, studiert Geschichte und Politik (B.A. CS) an der Hochschule Vechta.

260 Dis | kurs Autorinnen und Autoren

Beiträge Beiträge für Diskurs, die sich entweder direkt mit einem Aspekt des Ti- telthemas eines Heftes auseinandersetzen, oder aber die inhaltlich andere Bereiche des sozial- und geisteswissenschaftlichen Themenspektrums ab- decken, schicken Sie bitte an die oben angegebene Adresse der Redaktion, entweder per E-Mail oder als CD auf dem Postweg. Beachten Sie bitte, dass Ihr Artikel zwischen acht und zwölf Standardseiten Text umfassen sollte und dass Sie die enthaltenen Informationen nach gän- gigem Muster wissenschaftlich belegen. Fügen Sie Ihrer Einsendung einen tabellarischen Lebenslauf bei. Nach Erhalt des Artikels wird dieser von uns und unseren Kooperationspart- nern nach inhaltlichen und wissenschaftlichen Kriterien geprüft. Kommen wir zu dem Schluss, dass wir den Artikel veröffentlichen wollen, setzen wir uns mit Ihnen für die Abwicklung des weiteren Verfahrens in Verbindung. Der Entschluss, eine Publikation nicht zu veröffentlichen, wird Ihnen eben- falls mitgeteilt. Dabei werden wir insbesondere darauf achten, die für die Ablehnung ausschlaggebenden Gründe mitzuteilen.

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Dis | kurs 261 Impressum

Redaktionsanschrift Dis|kurs. Politikwissenschaftliche und geschichtsphilosophische Interventionen Hochschule Vechta – Wissenschaft von der Politik Driverstrasse 22 D-49377 VECHTA

E-Mail: [email protected] Im Internet: www.diskursonline.de

Board of Reviewers (alphabetisch) Johanna Bödege-Wolf, Karl-Heinz Breier, Peter Breiner, Martin Kintzinger, Martin Lücke, Lothar Maier, Renate Martinsen, Peter Nitschke, Stephan Sandkötter, Morton Schoolman, Hans Rainer Sepp, Mirko Wischke

Herausgeber Matthias Lemke, Daniel Kuchler, Sebastian Nawrat

Redaktion Bastian Walter, Ines Weber

Verlag Meine Verlag | Im Wissenschaftshafen, Werner-Heisenberg-Str. 3, D-39106 MAGDEBURG

E-Mail: [email protected] Im Internet: www.meine-verlag.de | www.diskurs.meine-verlag.de

Titelgestaltung, Layout, Satz Meine Verlag

ISSN: 1865-6846 ISBN: 978-3-941305-09-0

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