CONTUREC 2

Perspektiven und Bedeutung von Stadtnatur für die Stadtentwicklung

Jörg Dettmar und Peter Werner (Hrsg.)

Tagungsbeiträge der 1. Tagung des Kompetenznetzwerkes Stadtökologie CONTUREC vom 26. – 28. Oktober 2006 in Darmstadt

Die Durchführung der Tagung und die Veröffentlichung des Tagungsbandes wurden unterstützt und finanziell gefördert von:

Technische Universität Darmstadt Institut Wohnen und Umwelt GmbH Wissenschaftsstadt Darmstadt Hessisches Ministerium für Wirtschaft, Verkehr und Landesentwicklung Stiftung Hessischer Naturschutz Merck KGaA Eigenbetrieb Abfallwirtschaft und Stadtreinigung der Stadt Darmstadt

Schriftenreihe des Kompetenznetzwerkes Stadtökologie

Darmstadt 2007

CONTUREC: Schriftenreihe des Kompetenznetzwerkes Stadtökologie Verantwortl. für die Hrsg. Peter Werner. – Darmstadt ISSN: 1862-0175 NE: Kompetenznetzwerk Stadtökologie; Werner, Peter [Hrsg.]

Perspektiven und Bedeutung von Stadtnatur für die Stadtentwicklung: Tagungsbeiträge der 1. Tagung des Kompetenznetzwerkes Stadtökologie CONTUREC vom 26. – 28. Oktober 2006 in Darmstadt ISSN: 1862-0175 NE: Dettmar, Jörg; Werner, Peter [Hrsg.]

© 2007 Kompetenznetzwerk Stadtökologie

Verantwortlich für die Herausgabe von CONTUREC: Peter Werner Geschäftsstelle des Kompetenznetzwerkes Stadtökologie Institut Wohnen und Umwelt GmbH, Annastr. 15, D-64285 Darmstadt

Bezug: Geschäftsstelle des Kompetenznetzwerkes Stadtökologie

Umschlag Layout: Sandra Murr, Frankenthal 2, 99192 Ingersleben Titelfoto: Jörg Dettmar CONTUREC 2 (2007)

Vorwort

„Stadtnatur“ von spontan bis angelegt – von Diese Bandbreite macht es notwendig, unter- bekämpft bis gefördert – von naturwissen- schiedliche Publikationsstile zu akzeptieren. schaftlich analysiert bis strategisch propagiert, Positiv formuliert bereichert die Vielfalt zwi- stand im Mittelpunkt der Tagung, die vom schen wissenschaftlich naturwissenschaftli- 26.10.2006 bis 28.10.2006 an der Techni- chem Fachtext und planerischer Skizzierung schen Universität Darmstadt stattfand. Natur in diesen Band. Wir wünschen entsprechend der Stadt und in urbanisierten Landschaften ist Erkenntnisgewinn und Perspektivenerweite- nicht mehr nur ein Thema für Biologen und rung bei der Lektüre. Biologinnen, Ökologinnen und Ökologen, son- Soweit in den Texten nur die männliche Form dern ein breit und spannend diskutiertes The- verwendet wird, schließt diese ungeschrieben ma in der Stadt- und Regionalentwicklung. die weibliche mit ein. In schrumpfenden Städten entstehen neue Wir danken allen Sponsoren und Institutionen, Grünflächen, naturbestimmte Areale im städti- die durch ihre finanzielle und praktische Hilfe schen Gefüge, dagegen sind in den weiter die Durchführung der Tagung und die Umset- stark wachsenden Agglomerationen, wie dem zung dieses Tagungsbandes erst ermöglicht Rhein- Gebiet, Freiflächen an vielen Stel- haben; den zahlreichen Helferinnen und Hel- len durch bauliche Nutzung bedroht. Zu viel fern von der Technischen Universität Darm- und zu wenig Stadtnatur, das ist zurzeit die stadt, vom Institut Wohnen und Umwelt, von Realität in deutschen Städten. der Verwaltung der Wissenschaftsstadt Darm- Stadtnatur ist entsprechend vielfältig, was die stadt und vom Planungsverband Ballungsraum Bedeutung des Begriffes, ihre Zusammenset- Frankfurt Rhein-Main, die hier nicht alle na- zung, ihre Funktionen für die Stadt und ihre mentlich aufgeführt werden können, sei an Rolle in der Planung angeht, um nur ein paar dieser Stelle noch einmal herzlich gedankt. Aspekte zu erwähnen. Namentlich hervorheben möchten wir Veronika Oelbermann vom Institut Wohnen und Umwelt, Die Tagung hat sich dem Thema auf unter- die viel Zeit und Geduld bei der Aufarbeitung schiedlichen Ebenen genähert, die sich auch der Manuskripte und der Korrespondenz mit in den Textbeiträgen dieses Tagungsbandes den Autoren aufbringen musste. Prof. Dr. Jür- widerspiegeln: gen Breuste (Salzburg), Prof. Dr. Norbert Mül- o auf grundsätzlich theoretischer, defini- ler (Erfurt), Dr. Matthias Richter (Leipzig) und torischer und kultureller Ebene; Prof. em. Dr. Dr. h.c Herbert Sukopp (Berlin) o in naturwissenschaftlich ökologischer haben sich die Mühe gemacht, die meisten der Analyse; Manuskripte zu lesen und zu kommentieren. o hinsichtlich der Funktion für den Na- Sie haben damit nicht nur den Herausgebern turkontakt insbesondere bei Kindern wertvolle Hilfen gegeben. und Jugendlichen; o der Integration, der Verwendung und Christopher Hay vom Übersetzungsbüro für Interpretation in konkreten Planungs- Umweltwissenschaften (Seeheim) hat die Zu- projekten und Entwürfen; sammenfassungen ins Englische übersetzt o sowie im Zusammenhang lokaler und bzw. die von den Autorinnen und Autoren er- regionaler Grünflächen- und Parkkon- stellten englischen Summaries auf ihre sprach- zepte. liche Korrektheit überprüft.

Darmstadt im Juni 2007

Prof. Dr. Jörg Dettmar Technische Universität Darmstadt FB Architektur, FG Entwerfen und Freiraum- planung Peter Werner Geschäftsstelle CONTUREC Institut Wohnen und Umwelt GmbH

CONTUREC 2 (2007)

Inhalt

PETER WERNER & JÖRG DETTMAR Vorwort zum zweiten Heft der Schriftenreihe CONTUREC

PERSPEKTIVEN UND BEDEUTUNG VON STADTNATUR FÜR DIE STADTENTWICKLUNG

KLAUS FEUCHTINGER, BERND ABELN & REINER ANDERL 1 Grußworte

STEFAN KÖRNER 5 Natur in der urbanen Landschaft Nature in the urban landscape

VERA VINCENZOTTI 15 Wildnis ist nicht gleich „Wildnis“ Überlegungen zu unterschiedlichen Wildnisvorstellungen in Stadtökologie, Landschaftsarchitektur und Städtebau Wilderness is not wilderness. Notions of wilderness in urban ecology, landscape architecture and urban planning

BARBARA BOCZEK 27 Freiräume in prosperierenden Agglomerationen – Transformationen durch Synergieprojekte Open spaces in prospering agglomerations – Transformation through synergism

JÖRG DETTMAR 35 Urbanisierte Landschaft – Kulturlandschaft der beschleunigten Gesellschaft Urbanized landscape – The cultural landscape of the accelerated society

RÜDIGER WITTIG 43 Welche Flächen sind Forschungsobjekt der Stadtökologie? Which areas are the objects of urban ecology?

PAUL STEGMANN & HERBERT ZUCCHI 47 Über die Bedeutung von Dynamik-Inseln in Urbanlandschaften On the importance of dynamic habitat islands in urban landscapes

UTA HOHN, CARSTEN JÜRGENS, KARL-HEINZ OTTO, GISELA PREY, SONJA PINIEK & THOMAS 53 SCHMITT Industriewälder als Bausteine innovativer Flächenentwicklung in postindustriellen Stadtlandschaften – Ansätze zu einer integrativen wissenschaftlichen Betrachtung am Beispiel des Ruhrgebietes Industrial woodlands as building blocks for innovative site development in post-industrial urban landscapes – Approaches to an integrated scientific analysis using the example of the region

PETER GAUSMANN, INGO HETZEL & THOMAS SCHMITT 69 Einbürgerungstendenzen thermophiler Gehölzsippen in Wäldern des Ruhrgebietes Trends in the naturalization of thermophilic woody taxa in woodlands of the Ruhr region

MICHAEL DOHLEN 75 Stoffliche Belastung von Stadtwäldern Material pressures upon urban woodlands CONTUREC 2 (2007)

THOMAS JUNGHANS 87 Urban-industrielle Flächen als „Hotspots“ der Blütenpflanzen-Vielfalt am Beispiel der Bahn- und Hafenanlagen von Mannheim (Baden-Württemberg) Urban-industrial sites as hotspots of flowering plant diversity – Exemplified by harbour and rail facilities in Mannheim, Baden-Württemberg

MARKUS DIETZ 95 Frankfurter Nachtleben – ein Projekt zum Schutz von Fledermäusen in der Stadt Frankfurt`s nightlife – a project for bat protection in the town

SIGURD KARL HENNE 107 Vegetationsmanagement als Methode der Landschaftsarchitektur für unentdeckte Freiräume Vegetation management as a method of landscape architecture for undiscovered open spaces

STEFANIE RÖßLER 117 Aktuelle Herausforderungen für die Freiraumplanung in schrumpfenden Städten Current challenges for green space planning in shrinking cities

MATTHIAS RICHTER 129 Den Wandel der Rahmenbedingungen für sinnvolle Konzepte der städtischen Grün- und Freiraumentwicklung in Deutschland nutzen Challenges and Opportunities of altering Framework Conditions for Urban Green and Open Space Development in

KONRAD REIDL, HANS-JOACHIM SCHEMEL & BALDO BLINKERT 141 Naturerfahrungsräume – Ein Ansatz zur Naturvermittlung in Stadtgebieten Places for nature discovery – Ways to provide an experience of nature in urban areas

JÜRGEN HEUSER 153 Wildnis für Kinder in der Stadt Wilderness for children in the city

SABINE GRESCH 159 Brachland – urbane Freiräume neu entdecken Fallow land – rediscovering urban open spaces

JÜRGEN H. BREUSTE 163 Stadtnatur der „dritten Art“ – Der Schrebergarten und seine Nutzung. Das Beispiel Salzburg Urban Nature of the „third kind “- the allotment garden and its utilization The example Salzburg

ULRIKE HACKE 173 Nachhaltige Stadtparks – Nutzungsgewohnheiten und Bedürfnisse Sustainable urban parks – User habits and needs

LARS IMWOLDE 179 Stadtnatur als kultivierter Freizeitraum Urban nature as a cultivated recreational space

JENS SCHELLER 187 Perspektiven für die regionale Stadtlandschaft. Das Beispiel Rhein-Main Prospects for the regional urban landscape – The -Main example CONTUREC 2 (2007)

ANDREAS THOMSCHKE 195 Quo vadis Regionalpark Rhein-Main Quo vadis Rhine-Main Regional Park

KLAUS HOPPE 203 „Mit der U-Bahn in die Wildnis“ – Ein ehemaliger Flugplatz im Frankfurter GrünGürtel “Taking the subway to the wilderness” - A former airport in the Frankfurt Greenbelt

DORIS FATH 211 Ziele und Maßnahmen der Grün- und Freiflächenplanung der Wissenschaftsstadt Darmstadt Aims and measures of the green area and open space planning in Darmstadt, City of Science

FRANK VOLG 219 Peripherie und Identität der Stadt – Die grüne Mitte der Stadt Rödermark Periphery and identity of a town – The Green Centre of Rödermark

JÖRG DETTMAR & GOTTFRIED TRAUTMANN 225 Das Grünflächenkonzept des Werkes Darmstadt der Merck KGaA A strategic action plan for green space design at the Darmstadt works of the Merck corporation

CONTUREC 2 (2007)

Grußworte

STADTRAT KLAUS FEUCHTINGER WISSENSCHAFTSSTADT DARMSTADT

Meine Damen und Herren, Natur finden sich darin ausgezeichnete Grund- lagen, um den wachsenden Problemen ge- als Grünflächen- und Umweltdezernent des recht zu werden, die sich aus der hohen An- Magistrats der Wissenschaftsstadt Darmstadt zahl von Arbeitsplätzen und der enormen Wirt- begrüße ich Sie herzlich in unserer Stadt und schaftkraft unserer Stadt ergeben. freue mich, dass das Tagungsthema Perspek- tiven und Bedeutung von Stadtnatur für die Heute suchen wir in der Stadt nicht mehr die Stadtentwicklung so zahlreiche, bundesweite Schutzfunktion gegenüber der Natur, sondern und internationale Interessenten gefunden hat. umgekehrt: wir haben die Natur vor unseren Wir hoffen, auch künftig attraktive Kongresse vielfältigen und einander widerstreitenden Inte- nach Darmstadt holen zu können. Denn gera- ressen zu schützen. Es geht darum, die öko- de entsteht im Herzen der Stadt das nomischen und sozialen Erfordernisse einer Darmstadtium, unser neues Wissenschafts- städtischen Gesellschaft mit dem berechtigten und Kongresszentrum. Interesse der Menschen an einer lebenswerten Umwelt so gut wie möglich zu vereinbaren. Ich freue mich sehr, dass die Technische Uni- Dabei stehen Flächenrecycling, die eindeutige versität Darmstadt und das Institut Wohnen Definition der Stadtränder sowie die Vernet- und Umwelt als Veranstalter der Tagung ein zung der Stadtbiotope mit der freien Land- prall gefülltes und äußerst interessantes Pro- schaft, der sorgfältige Umgang mit den gramm gestaltet haben. Neben den Unterstüt- Grundwasserbeständen, die Renaturierung der zern Land Hessen, Conturec, Fa. Merck, Fließgewässer und naturnahe Waldbaumetho- möchte auch die Stadt Darmstadt mit einem den im Vordergrund. Vortrag und einer Exkursion zum Gelingen des Kongresses beitragen. Es gab und gibt aber auch Versuche, die freie Natur in die Stadt zu integrieren. Sie haben Das Thema Stadtnatur begegnet uns gerade in sich meist als romantische Illusion erwiesen. dieser von einer rauchlosen Industrie gepräg- Die großzügigen Grünanlagen, wie z. B. im ten Wissenschaftsstadt an vielen Stellen. Berliner Hansa-Viertel, mit denen man gerade Darmstadt war nie ein Standort der Schwerin- einer urbanen Dichte begegnen wollte, die dustrie. Mangels Rohstoffvorkommen und doch erst Garant jener Lebendigkeit ist, die wir eines Flusses als Transportweg setzte die im öffentlichen Raum erwarten, laufen Gefahr, Entwicklung des Wirtschaftsstandortes seit den in gähnende Langeweile zu führen. Das Hun- frühesten Tagen der Industrialisierung auf dertwasserhaus, die so genannte Waldspirale, fertigungsintensive und technologisch hoch- die Sie hier im Bürgerparkviertel besichtigen wertige Produkte. Diese Tendenz fand in der können, weist in eine andere Richtung. Sie Nachkriegszeit ihren Höhepunkt in der Ausrich- kokettiert mit der Sehnsucht, die Natur unmit- tung des wirtschaftlichen Wiederaufbaus auf telbar mit den Baumassen der Stadt zu verbin- eine "Stadt der rauchlosen Industrie". In letzter den. Dabei schreit allerdings jedes dürre Konsequenz ist das heutige Leitbild "Wissen- Bäumchen den Naturfreund hilfesuchend an! schaftsstadt" eine Fortführung dieser Ausrich- tung, ergänzt um die Nutzung der einzigartigen Beiden Ansätzen ist jedoch das Bemühen um Potenziale, die wir im Bereich der Forschungs- den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen und Entwicklungseinrichtungen in Darmstadt gemeinsam. Im Spannungsfeld stadtspezifi- vorfinden. scher Faktoren - ich nenne beispielhaft die Verkehrsproblematik verbunden mit hoher Darüber haben wir nicht aus den Augen verlo- Lärm- und Luftbelastung - gewinnt Natur in der ren, dass ein immer noch üppiger, leider sehr Stadt zunehmend an Bedeutung und rückt gefährdeter Waldbestand, ausgedehnte Streu- immer wieder in den Fokus des öffentlichen obstwiesen, landwirtschaftlich genutzte Flä- Interesses. chen auf dem Oberfeld, städtische Parks mit sehr unterschiedlichem Erscheinungsbild und Meine Damen und Herren , ich verspreche mir ein kleiner Zoo, das Vivarium, das grüne, na- von der Tagung hierzu neue Einsichten, inte- türliche Gesicht dieser Stadt prägen. Zur Si- ressante Vorträge und freue mich auf die Be- cherung des Landschaftsschutzes haben wir gegnung mit Ihnen. Gelegenheit dazu besteht deshalb mit dem Landschaftsplan ein wichtiges auch beim Empfang heute Abend, zu dem ich Instrument geschaffen. Für den Schutz der Sie alle herzlich einlade. CONTUREC 2 (2007)

STAATSSEKRETÄR BERND ABELN HESSISCHES MINISTERIUM FÜR WIRTSCHAFT, VERKEHR UND LANDESENTWICKLUNG

Stadt und Natur werden oft als Gegensätze der Natur zu feiern. Es ist aber unsere Aufga- verstanden. Wo die Stadt sich ausbreitet, muss be, diese Lücken und Widersprüche als Chan- die Natur zurückweichen. Entweder Stadt oder cen der Stadtentwicklung zu begreifen und zu Natur, also: „Stadt“ statt „Natur“. entwickeln. Der Umgang mit den neuen Brü- chen und Lücken muss erst noch gelernt wer- Auch im Umgang mit unseren Naturschutz- den. Auch die Möglichkeiten, der Natur in der und Planungsgesetzen folgen wir in weiten Stadt, der Stadtnatur mehr Raum zu geben, Teilen dieser Sichtweise. Das gilt für die natur- gilt es als Chance zu nutzen. schutzrechtliche Eingriffs- und Ausgleichsbe- trachtung ebenso wie für den Artenschutz nach Unter dem Titel Stadtumbau West nehmen der Vogelschutz- und der Fauna-Flora-Habitat- Bund, Land und Kommunen die neuen Her- Richtlinie. Das gilt auch für die strategische ausforderungen der Stadtentwicklung an und Umweltprüfung, der wir seit dem Europa- setzen sich mit Strategien zur Bewältigung der rechtsanpassungsgesetz - EAG Bau - unsere Folgen der Veränderungen in Demografie und städtebaulichen Pläne unterziehen. Planung Wirtschaft aktiv und vorausschauend ausein- und Stadtentwicklung werden in erster Linie als ander. ein die Natur störender und zurückdrängender Dabei schließt Stadtumbau weiterhin auch die Vorgang begriffen, dessen nachteilige Auswir- ökologische Erneuerung und Weiterentwick- kungen es möglichst zu vermeiden gilt. Die lung unserer Städte und Gemeinden mit ein. Berücksichtigung der Belange der Natur kann Die energetische Optimierung der Siedlungen dazu führen, dass Planen und Bauen nicht und Gebäude gehören ebenso dazu wie die möglich ist. Die Natur steht der Entwicklung umweltverträgliche Gestaltung und Organisati- der Stadt entgegen. on des Verkehrs, die Schonung der natürlichen Der Begriff „Stadtnatur“ löst diesen Gegensatz Ressourcen Boden und Wasser oder die Re- auf, er versöhnt – zunächst erst einmal sprach- duktion umweltschädlicher Emissionen und der lich - die beiden Pole. Tatsächlich findet Natur Schutz vor Immissionen. Die naturnahe oder auch in der Stadt statt, sie lässt sich nicht aus- naturverbundene Gestaltung und Nutzung des grenzen. Ich halte es für wichtig, den Blick Stadtraumes ist ein wichtiger Baustein der unverstellt auf das reale und vermehrt mögli- ökologischen Erneuerung, der durch das che Mit- und Nebeneinander von Stadt und Brachfallen von Nutzungen eine besondere Natur zu richten. Deswegen begrüße ich die Bedeutung erlangt. Themenstellung dieser Tagung, die den Per- Das städtebauliche Förderprogramm Stadt- spektiven und der Bedeutung der Stadtnatur – umbau in Hessen legt einen besonderen also der mit der Stadt versöhnten Natur – für Schwerpunkt auf die Wieder- bzw. Umnutzung die Stadtentwicklung nachgeht. von innerstädtischen Brach- und Freiflächen. Stadtentwicklung findet im Zeichen des de- Dabei, so zeichnet es sich ab, müssen wir mografischen und wirtschaftlichen Wandels Abschied nehmen von der Vorstellung, die zukünftig unter veränderten Vorzeichen statt. Dinge auf Dauer planerisch und tatsächlich Dabei vollziehen sich diese Prozesse auch in fixieren zu wollen. Der erkennbare Wandel Hessen regional und innerregional sehr unter- fordert eine Auseinandersetzung mit der Ver- schiedlich. Gebieten relativer Stabilität mit gänglichkeit und den Veränderungen im zeitli- teilweise weiterhin großem Entwicklungsdruck chen Ablauf. Insofern, wenn Sie so wollen, - vornehmlich in Südhessen - stehen struktur- unterscheidet sich die Entwicklung der Städte schwache Bereiche mit beschleunigtem Bevöl- gar nicht so sehr von den Prozessen in der kerungsrückgang, vor allem in Nordhessen Natur. Auch Zwischennutzungen und eine gegenüber. Aber auch in den wirtschaftlich zeitlich begrenzte Neudefinition einer Brachflä- attraktiven Räumen führt die natürliche Bevöl- che gehören zukünftig zum Instrumentarium kerungsentwicklung mit dem Älterwerden der der Stadtentwicklungspolitik. Ich freue mich, Gesellschaft gleichermaßen zu Handlungsbe- dass auch verschiedene Beiträge dieser Ta- darf, z. B. bei der Infrastrukturbereitstellung gung das Thema der Nutzung und Pflege von und der Wohnungsversorgung. Parallel hierzu Brachland und der Zwischennutzung inner- entstehen auch in diesen Regionen durch den städtischer Freiflächen aufgreifen. wirtschaftlichen Wandel Brachflächen und Stadtentwicklung unter veränderten Bedingun- Leerstände. gen erfordert - mehr als bisher - einen integra- Zu kurz gegriffen wäre es, das Brachfallen tiven Ansatz, der alle für die Weiterentwick- baulich genutzter Flächen vorschnell als lung und Qualitätsverbesserung geeigneten

2 CONTUREC 2 (2007)

Ressourcen und Programme mit einbezieht Es sind also alle Akteure des privaten, des und zu einem Bündel von Maßnahmen und öffentlichen und des gemeinnützigen Sektors Projekten vereint. Stadtnatur und die Umwelt aufgerufen, im Sinne integrierter Stadtentwick- sind daher immer zusammen angesprochen lung bei den erforderlichen Anpassungs- und mit den Bereichen Erholung, Soziales und Umbauprozessen zusammenzuarbeiten Kultur, aber auch Wirtschaft, Beschäftigung Die Tagung Stadtnatur des Kompetenznetz- und Verkehr. Deshalb sind die neuen Pro- werks Stadtökologie CONTUREC greift die gramme der Städtebauförderung, die „Soziale Vielzahl von Ansprüchen an die Natur in der Stadt“ und der „Stadtumbau in Hessen“, als Stadt und die vielfältigen Formen der Aneig- Gemeinschaftsinitiativen ausgestaltet. Dabei nung von Stadtnatur auf. Sie ist, so scheint werden die Maßnahmen der verschiedenen mir, damit besonders geeignet, Verständnis Stellen im öffentlichen Verantwortungsbereich und Interesse für Stadt als Teil und als Träger gebündelt. Darüber hinaus wird versucht, auch der Natur zu wecken und damit die Vorausset- den privaten Sektor für den Gedanken der zungen zu schaffen für einen kreativen und Gemeinschaftsinitiative zu interessieren und respektvollen Umgang mit der Natur im Stadt- die aktive Mitgestaltung der im Gebiet leben- umbauprozess. den und arbeitenden Menschen zu gewinnen und sie zu ermutigen, Verantwortung für die In diesem Sinn wünsche ich der Tagung einen Durchführung von Projekten auf der örtlichen erfolgreichen Verlauf. Ebene zu übernehmen.

VIZEPRÄSIDENT PROF. DR.-ING. REINER ANDERL TECHNISCHE UNIVERSITÄT DER WISSENSCHAFTSSTADT DARMSTADT

forschendes Lehren und Lernen setzt auch Im Namen der Technischen Universität Darm- eine leistungsfähige Forschung voraus. Dazu stadt heiße ich Sie ganz herzlich an der Tech- haben wir bereits disziplinenübergreifend so nischen Universität Darmstadt zur 1. Tagung genannte Profil bildende Forschungsschwer- des Kompetenznetzwerks Stadtökologie punkte eingerichtet, in denen neue Innovatio- CONTUREC willkommen und überbringe Ih- nen an den Nahtstellen der Wissenschaftsdis- nen gerne die besten Grüße des Präsidiums ziplinen entstehen. Stadtforschung ist einer der Technischen Universität Darmstadt. unserer 12 Forschungsschwerpunkte. Die Tagung steht unter dem Motto „Perspekti- Meine Damen und Herren, im Namen der ge- ven und Bedeutung von Stadtnatur für die samten Technische Universität Darmstadt darf Stadtentwicklung“. Dies ist ein überaus wichti- ich Ihnen eine erfolgreiche Tagung und einen ges Thema mit dem wir uns intensiv beschäfti- angenehmen Aufenthalt an unserer Techni- gen müssen. Seine Bedeutung spiegelt sich schen Universität Darmstadt wünschen. auch in der Leitfrage wieder: Welchen Beitrag kann der qualifizierte und nachhaltige Umgang Viel Erfolg! mit Natur in urbanen Landschaften für die Ziele einer nachhaltigen Stadtentwicklung leisten? Den Veranstaltern, ist es gelungen, ein über- aus beeindruckendes und attraktives Ta- gungsprogramm zu organisieren. Die Themen gewinnen gerade vor dem Hintergrund der heutigen Zeit eine überaus hohe Bedeutung und wir, die Technische Universität Darmstadt unterstützen sehr gerne diese Aktivitäten. Die Technische Universität Darmstadt ist seit dem 1. Januar 2005 autonom und die erste autonome Universität in Deutschland. Wir ha- ben uns die Exzellenz und Internationalität zur Aufgabe gemacht und gehen damit neue We- ge in der Lehre und Forschung. So haben wir den Ansatz des forschenden Lehrens und Lernens entwickelt und eröffnen Studierenden damit neue Wege des Studierens. Gerade

3

CONTUREC 2 (2007) Seite 5 bis 13

Natur in der urbanen Landschaft

Nature in the urban landscape

STEFAN KÖRNER

Zusammenfassung Ausgehend von Definitionen der Begriffe Kulturlandschaft, Naturschutz und Stadtökologie sowie deren Verhältnis zur Planung wird insbesondere die Strategie des Ladenburger Kollegs der Gottlieb-Daimler- und Carl-Benz-Stiftung (2002-2005) zur Gestaltung der Zwischenstadt analysiert. In diesem Kolleg arbeiteten Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen zusammen. Vorausgesetzt wurde, wie im Beitrag gezeigt wird, bei gegenteiliger Intention ein weitgehend traditionalistisches Verständnis von Natur und Landschaft. Dieses Verständnis wird jedoch der Realität in den modernen urbanen Land- schaften nicht gerecht, obwohl hier immer auch herkömmliche, mithin arkadisch wirkende Land- schaftsbilder vorkommen bzw. durch modernes Naturmanagement, wie z. B. durch extensive Weide, auch neu entstehen. Was bezogen auf die Stadtnatur schon für verhältnismäßig „klassische“ Städte gilt, gilt daher erst recht für die Zwischenstadt: Es prägt sich verstärkt ein heterogenes Muster von Naturtypen aus, weil sich städtische und ländliche Strukturen durchdringen. Die urbane Landschaft ist somit keine räumliche „Ganzheit“ mit einer eindeutigen Identität. Daher kann ihre Gestaltung auch im Hinblick auf ein entsprechendes Vegetationsmanagement nicht darin bestehen, eine eindeutige Typik ausbilden zu wollen, sondern muss räumlich differenziert werden. Entsprechende Strategien werden angesprochen.

Urbane Landschaft, Kulturlandschaft, Naturschutz, Stadtökologie, Landschaftsarchitektur.

Summary

Starting from definitions for the terms cultural landscape, nature conservation, and urban ecology as well their relationship to planning, the focus of this paper is on analysing the strategy of the “Laden- burg Kolleg” of the Daimler-Benz Foundation (2002-2005) on designing the “Zwischenstadt” (“In- between city”). In this Kolleg scientists from different disciplines work together. As this contribution will demonstrate, a largely traditionalist understanding of landscape was taken for granted. However, such an understanding does not meet the requirements of the realities of modern urban landscapes, de- spite the fact that these also contain landscapes of conventional, indeed Arcadian quality, and land- scapes of such quality are being newly created by modern management of nature, such as extensively managed pastures. Regarding urban nature, that which applies to relatively “classic” cities, must cer- tainly apply to the “in-between city”: As urban and rural structures pervade each other, a heterogene- ous pattern of different types of nature is shaped. Thus the urban landscape is not a spatial “whole” with an unambiguous identity. Therefore its design, also with regard to the relevant vegetation man- agement, can not consist of trying to achieve an unambiguous style but must be spatially differenti- ated. Corresponding strategies are discussed in this paper.

1. Einleitung Daimler- und Carl-Benz-Stiftung. In diesem Kolleg wurde daher aus unterschiedlichen In den Ballungsgebieten verstädtern die Land- disziplinären Perspektiven über die gestalteri- schaften immer weiter. Ob sich hier eine neue sche Qualifizierung der Zwischenstadt nach- Stadtform, die Zwischenstadt, oder gar ein gedacht. Dabei sollte – weil es maßgeblich um neuer urbaner Landschaftstypus herausbildet, Natur und Landschaft ging – die „Ökologie“ ist in der Diskussion. Die Wahrnehmung dieser und die Landschaftsgestaltung eine herausra- Räume als Landschaften, die der Zwischen- gende Rolle spielen (vgl. ausführlich Körner, stadt ein identitätsstiftendes Rückgrat verlei- 2005). hen und dann als Kulturlandschaften qualifi- ziert werden sollen, reaktiviert den traditionel- 2. Was ist eine Kulturlandschaft? len Kulturlandschaftsbegriff und wendet ihn auf neue Kontexte an. Dies war das Programm „Eine Kulturlandschaft ist (…) vor allem als des Ladenburger Kollegs „Mitten am Rand – ausdrucksstarkes, spannungsreiches und den- Zwischenstadt. Zur Qualifikation der verstäd- noch harmonisches Bild präsent und bezieht terten Landschaft“ (2002-2005) der Gottlieb- gerade daraus ihre Faszination. Da wäre z. B. Stefan Körner

der überschauende, weit in den Raum ausgrei- starke kritische Potenzial, das sich mit dieser fende Blick, dem sich verschiedene Zeugnisse Idee verbindet. ‚Kulturlandschaft’ steht gegen menschlicher Nutzung und Gestaltung der den unkontrollierten instrumentell technischen Natur präsentieren, seien es Terrassen, Wege, Fortschritt und dessen Implikationen für das das Muster von Feldern, Siedlung und Wald soziale und kulturelle Leben, denn ‚Kultur’ ist oder wirkungsvoll platzierte Einzelbäume und etwas anderes – oder in anderer Lesart: mehr Gebäude. Bauwerke größerer Dimension wie als ‚Zivilisation’. Insofern ist es liegend, z. B. Brücken oder Türme können am Horizont dass der Begriff in Zusammenhängen auf- erscheinen. Sie geben dem Blick des Beob- taucht, in denen er auf die ‚Eindimensionalität’ achters Dynamik und Perspektive“ (Zutz & der herrschenden ökonomischen Realität auf- Kasal, 2005, S, 9 f.). Eine Kulturlandschaft zu merksam machen soll. Die Vorstellung von sehen ist also eine bestimmte Wahrnehmung, Kulturlandschaft lenkt so einerseits den Blick die dafür sorgt, dass eine äußere Gegend als darauf, was im liegt, sie hält aber auch – stimmungsvolles und vor allem sinnhaftes durch die in einer langen kulturellen Tradition Ganzes erlebt wird. Man nimmt diese Gegend entstandene Überzeugungskraft des Bildes – ästhetisch wahr und interpretiert die in ihr vor- die Hoffnung wach, dass es möglich sei, eine handenen Spuren menschlicher Tätigkeit als Einheit von Schönheit, Nutzen und Sittlichkeit Zeichen einer harmonischen Anpassung der dauerhaft zu etablieren“ (ebd., S. 10). Kultur an den vorliegenden Naturraum, der dadurch im Laufe der Geschichte gestaltet und überformt wurde. Die Landschaft erscheint wie ein sinnvolles Produkt aus Kultur und Natur, das sich durch eine immer spezifische Eigenart auszeichnet. Die Dordogne ist daher anders als der Kaiserstuhl und doch variieren beide das gleiche Thema.

Abb. 2: Klassisch zwischenstädtische Situation: Blick von Kassel nach Baunatal. Es verwundert also nicht, dass die Anwendung des landschaftlichen Blicks auf die modernen Stadtlandschaften den Impetus zur Verbesse- rung dieser „Landschaften“ beinhaltet. Daher sollten im Ladenburger Kolleg Wege aufge- Abb 1: Blick in die Dordogne. zeigt werden, wie die Defizite der Zwischen- Bei den verstädterten Räumen funktioniert stadt ausgeglichen werden und wie das im aber offenbar diese ästhetische Syntheseleis- Kulturlandschaftsbegriff angelegte kritische tung durch den „landschaftlichen Blick“, der Potenzial ohne plumpe Zivilisationskritik im das vorliegende Raumgebilde zu einem sinn- modernen urbanen Kontext zur Geltung ge- vollen Ganzen zusammenfasst, nicht mehr. bracht werden könnte. Die Frage war, wie sich Man nimmt nur noch fragmentarische Land- die Zwischenstadt als zeitgemäßer Ort des schaftsteile wahr, Siedlungen, Reste ehemali- Wohnens und Arbeitens annehmen und als ger landwirtschaftlicher Nutzungen und Inten- sinnhafte Kultur-Natur-Konstellation qualifizie- sivlandwirtschaft, Verkehrstrassen usw., ohne ren lässt. Daher sollte zuerst ihr spezifischer sie als einheitliches Bild fassen zu können. landschaftlicher Charakter identifiziert bzw. Man sieht somit eine „zerstörte“ Landschaft konstruiert werden, um aus ihm dann Leitlinien oder eine irgendwie von urbanen Strukturen für eine Gestaltung abzuleiten. überprägte und rein ökonomischen und in- Die Alternative zu diesem Ansatz, der eine strumentellen Interessen unterworfene Ge- identifizierbare Identität (Eigenart) als Maßga- gend, auf deren Eigenart keine Rücksicht ge- be von Stadtentwicklung beinhaltet, besteht nommen wird. Früher nannte man das Zivilisa- darin, die zivilisatorischen Strukturen der mo- tionslandschaften oder Zivilisationswüsten. dernen Stadt als Ausdruck einer ungebunde- Für die Wahrnehmung von Kulturlandschaft nen Entwicklung, d. h. die „generische“, identi- sind hingegen insbesondere zwei Gesichts- tätslose Stadt zu feiern, weil Identität als Ein- punkte bedeutsam. „Zum einen ist dies das engung interpretiert wird (vor allem Rem Kol-

6 Natur in der urbanen Landschaft

haas aber auch MVRDV etc.). Das Wuchern wieder notwendig, darauf zu verweisen, was der kapitalistisch entwickelten Stadt oder der Ökologie für die Planung und landschaftsarchi- Slums – euphorisch gesehen – als mitunter tektonische Gestaltung leisten kann, d. h. wie überraschende Überlagerung und Verdichtung zum einen ihr Verhältnis zum Naturschutz zu urbaner Potenziale in einer heterogenen und interpretieren und wie zum anderen mit dem fragmentierten Raumstruktur ist dann Aus- gängigen konservativen Weltbild des Natur- druck von unbegrenzter Autonomie. Man könn- schutzes umzugehen ist, wenn gleichzeitig ein te diese Position aber auch als zynisch anse- gestaltender Anspruch erhoben wird. Dabei hen, weil sie z. B. von denjenigen formuliert zeigte sich, dass man der konservativen Tradi- wird, die nicht in den Slums leben müssen. tion eines weiter gefassten und daher gestal- tenden Naturschutzes (als Heimatschutz) nä- Dagegen wird beim Thema Kulturlandschaft, her war, als man dachte. Denn die Landschaft wegen des Bezugs auf Landschaft, die grund- zum Maßstab einer gebundenen Kulturent- sätzliche Frage nach einem kultivierten wicklung als Gestaltungsaufgabe zu machen, Mensch-Naturverhältnis gestellt. Es geht nicht ist eine typisch konservative Denkfigur. Um um bindungslose Freiheit, sondern um die sich von diesem Konservatismus frei zu ma- Anerkennung eines der Kultur vorgegebenen chen, reichte es also nicht aus, dem konservie- Maßes, das angenommen werden muss. Die renden Naturschutz einfach ein gestaltendes Eigenart muss erkannt und durch Gestaltung architektonisches Aufgabenverständnis entge- so weiterentwickelt werden, dass moderne genzusetzen. urbane Nutzungen eine Bereicherung des

Ganzen darstellen. Die vordergründige Erklä- 3. Ökologie und Naturschutz rung im Kolleg für die sinngebende Rolle der Landschaft war, dass sich Landschaft und Im Hinblick auf die Rolle der Ökologie als Be- Stadt mittlerweile immer häufiger durchdrin- standteil von Planung galt es, darauf hinzuwei- gen, so dass es quasi zwingend sei, die Land- sen, dass sie sich sowohl allgemein als auch in schaft zum identitätsstiftenden Moment der Form der für urbane Gebiete besonders inte- Stadtplanung zu machen, wenn dies offenbar ressanten Stadtökologie auf widersprüchliche von den ausufernden urbanen Strukturen nicht Weise definieren lässt: entweder wird darunter mehr erwartet werden kann. Durch diese Bin- wie in Politik und Planung, somit also auch wie dung der Stadtplanung an landschaftliche Na- im Kolleg, eine „umweltverträgliche Stadtges- tur erhoffte man sich im Kolleg von der „Ökolo- taltung“ bzw. Naturschutz in der Stadt verstan- gie“, insbesondere von der Stadtökologie, den, oder aber Ökologie wird als ein Zweig der Auskünfte über ein neues (harmonisches) Naturwissenschaft Biologie definiert. Im ersten Zusammenleben von Mensch und Natur in der Fall hat Ökologie eine normative Bedeutung Stadt, so dass eine neue zeitgemäße kultur- und ist in Weltbilder eingebettet, die die Auf- landschaftliche Synthese entsteht. Der Begriff fassungen vom „guten“ und „richtigen“ Ökologie wurde überwiegend in seiner alltags- Mensch-Natur-Verhältnis strukturieren. Im weltlichen Bedeutung verwendet, d. h. in der zweiten hat sie eine analytisch-deskriptive Tendenz als eine Art Heilslehre aufgefasst, die Rolle und kann daher definitionsgemäß keine Auskünfte nicht nur über das „gute“, sinnhafte Bewertungen vornehmen (Sukopp & Trepl, Leben mit der Natur gibt, sondern auch über 1999). das quasi umweltpolitisch Notwendige. Daraus Die stadtökologische Forschung richtet sich als sollten Entwürfe abgeleitet werden, die typisch naturwissenschaftliche entweder auf die Ana- zwischenstädtische Biotope gestalten, um lyse der Natur in der Stadt mit ihrem durch die nicht nur den Charakter der Zwischenstadt als diversen Nutzungen hervorgebrachten charak- neue landschaftliche Natur-Kultur-Konstellation teristischen „Harlekin-Mosaik der Biotope oder herauszuarbeiten, sondern um auch ihre öko- auf die Natur des Stadtsystems insgesamt“ logische Intaktheit im Sinne harmonischer (Sukopp & Sukopp, 2002, S. 168). Unter „Har- Naturhaushaltsfunktionen zu gewährleisten. lekin-Mosaik“ versteht Sukopp die kontingente Sieverts als Leiter des Kollegs betonte immer und nicht etwa „organisch gewachsene“, somit wieder, man müsse neue Biotope schaffen: Es an ein buntes Harlekinkostüm erinnernde Ver- solle in der Zwischenstadt etwas geschaffen teilung von Naturtypen im Stadtraum, die als werden, „das in sich das Potenzial trägt, eines Effekt der unterschiedlichen urbanen Nutzun- Tages naturschutzwürdig zu werden“. Als Bei- gen entstehen. Die Stadtökologie erklärt diese spiele galten alte Parks, die ausschließlich Verteilung kausal, wobei „die Stadt der Ort für aufgrund kultureller Interessen angelegt wor- Untersuchungen der räumlichen Heterogenität den waren und sich dann nach einiger Zeit von Flächennutzungen als eines Faktors (an- quasi nebenbei zu naturschutzwürdigen Bioto- zusehen ist; S. K.), der entscheidend für das pen entwickelt hätten. Verständnis von Struktur, Funktion und Ge- Diese im Kolleg verbreitete Auffassung von schichte der Lebensräume ist“ (ebd.). Die Öko- Ökologie als Naturschutz machte es immer logie als Wissenschaft versucht in diesem 7 Stefan Körner

Kontext, allgemeine Gesetzmäßigkeiten zu gig davon, dass mit dem Einwandern fremder erfassen. Sie kann zwar instrumentelle, d. h. Arten gesundheitliche und wirtschaftliche Prob- technische Erkenntnisse für die Anpassung leme verbunden sein können, wird gerne die gesellschaftlicher Interessen an ökologische „ökologische“ Bedrohung durch das Fremde Funktionen liefern, ob aber etwas moralisch ausgemalt, weil es aus allen Weltgegenden richtig ist oder gut, kann sie nicht beantworten. kommt und ästhetisch sowie kulturell nicht ins Eigene, Heimische „passt“ (vgl. dazu Körner, Davon ist der Naturschutz zu unterscheiden. 2000). Ob jedoch etwas verfälscht wird – und Er stammt ursprünglich aus dem Heimatschutz hier zeigt sich die Differenz von Ökologie und und entsprang einer konservativen Zivilisati- Naturschutz –, ist streng genommen auf Basis onskritik, die gegen die industrielle Modernisie- naturwissenschaftlicher Erkenntnisse gar nicht rung, d. h. gegen die ausschließliche Gestal- zu beurteilen. Dennoch werden derartige Urtei- tung der Welt nach universellen Effizienzkrite- le gerne als naturwissenschaftlich-objektive rien, gegen die Ausbeutung der Natur und ausgegeben. In der entgegenstehenden unde- gegen die egalitären Prinzipien der Demokratie terminierten Natur- und Stadtkonzeption exis- gerichtet war und das Individualitätsprinzip tiert dagegen kein Begriff von Vollkommenheit. verteidigte. Daher richtete er sich gegen jede Hier ändern sich im Kontinuum des ständigen Form der Gleichmacherei, so dass die Völker Fließens lediglich die jeweiligen Konstellatio- ihre Natur in ihren Räumen gemäß ihrer jewei- nen, und das ist dann „gut“, weil es Ausdruck ligen Eigenart entwickeln, d. h. in letzter Kon- einer freien Dynamik ist. sequenz, ihre Landschaften in einem architek- tonischen Gestaltungsanspruch weiter aus- Im Alltag wird die Differenzierung zwischen bauen sollten. Der Naturschutz in seiner mo- naturwissenschaftlich-erklärender und norma- dernen, ökologisierten, d. h. naturwissen- tiver Ebene von Ökologie und Naturschutz schaftlich gestützten Form bezieht sich auf- selten vollzogen. Das Ladenburger Kolleg grund dieser Tradition noch heute als politi- spiegelte somit nur die allgemeine gesell- sches Handeln vor allem auf den Schutz indi- schaftliche Meinung wider. „Ökologie“ gilt dann vidueller Konstellationen von Lebensformen an pauschal als Wissenschaft, die Auskunft über konkreten Orten, d. h. auf den Schutz der so das „richtige“, umweltgerechte Leben in cha- genannten Biotope (Körner & Eisel, 2003). raktervollen Räumen gibt, so dass man von ihr Nicht eine beliebige, „frei fließende“ Natur ist durch Biotopgestaltung und Herstellung eines zu schützen, sondern in aller Regel eine regio- neuen kulturlandschaftlichen Ensembles in der nal typische, die im Laufe der Geschichte eine Zwischenstadt wieder eine neue Kultur-Natur- spezifische Eigenart ausgebildet hat. Bei aller Synthese erhoffte. Rede über den („ökologischen“) Artenschutz oder über Naturhaushaltsformen versteckt sich 4. Naturschutz zur Landschaftsarchitektur oft die traditionelle Eigenart als Wert hinter den Obwohl aufgrund des heutigen, oft eng gefass- Schutzkonzepten (vgl. ebd.). ten, konservierenden Arten- und Biotopschut- Deutlich wird das z. B. bei der überragenden zes die Differenzen von Naturschutz und Land- Wertschätzung von Artenvielfalt. Vielfalt ist als schaftsarchitektur erheblich sind, war im Hei- Wert von Eigenart abgeleitet, weil nur eine matschutz als Naturschutz im weiteren Sinne Welt, die individuell ist und nicht gleichförmig, eine aktive Landschaftsgestaltung konzeptio- lebenswert erscheint. Da Natur als evolutionä- nell ausgewiesen. Die heimatliche Kulturland- rer Prozess gedacht wird, der aber nicht belie- schaft sollte unter Wahrung ihrer im Land- big sein darf, differenziert sich dieser Auffas- schaftsbild zum Ausdruck kommenden Eigen- sung nach in der Entwicklung einer bestimm- art nach Maßgabe gesellschaftlicher Nutzungs- ten Vielfalt die Eigenart immer weiter aus und interessen immer weiter ausgestaltet werden. vervollkommnet sich. Nur jene Arten, die von Landschaftsgestaltung im Sinne von cultura als selbst und sukzessive aus benachbarten menschliche Nutzbarmachung und Umgestal- Räumen einwandern und sich quasi friedlich tung der Natur durch die Urbarmachung und „einnischen“, haben „Bleiberecht“. Sie gehören Bebauung der Landschaft ist damit in erster irgendwann dazu, wenn sie nicht stören. Der Linie ein unbewusstes Nebenprodukt bäuerli- Schutz der (Arten-)Vielfalt ist somit Schutz von cher Arbeit. In der Industriegesellschaft wird typischen Artenkonstellationen. Landschaftsgestaltung jedoch zunehmend eine Aufgabe bewusster landschaftsarchitektoni- Die in der Moderne beschleunigten weltweiten scher Tätigkeit, weil sich aufgrund der indus- Wanderbewegungen der Arten sind in dieser triellen Produktion und ihrer Ausrichtung an Wahrnehmung prekär: Sie werden nicht mehr universellen Effizienzprinzipien die alte kultur- als harmonischer Wachstumsprozess wahrge- landschaftliche Identität nicht mehr von selbst nommen, sondern als „biologische Invasion“, herstellt. Es entstehen – wie man im Heimat- die quasi die heimische Natur überflutet und schutz sagte – „Maschinenlandschaften“ oder z. B. zur „Florenverfälschung“ führt. Unabhän- jene „Zivilisationswüsten“ (z. B. Mattern, 1964). 8 Natur in der urbanen Landschaft

Die Landschaftsarchitektur versucht daher, nis des Heimatschutzes zu Industrie und moderne Funktionen und kulturelle Interessen Technik maßgeblich geprägt hat, darauf hin, gestalterisch in eine sinnhafte, d. h. individuelle dass die Bauwerke der damals noch modernen Form zu bringen. Moderne Nutzungen sind Industriearchitektur zwar gemeinhin als häss- somit schon im Heimatschutz zunächst grund- lich empfunden würden, dass sie aber auch sätzlich keine „Störungen“ einer als intakt an- sehr charakteristisch seien, d. h. Eigenart hät- gesehenen Natur oder „Eingriffe“, sondern im ten. Er sprach daher z. B. nicht nur Hochspan- besten Sinne kulturschaffende, d. h. die Land- nungsleitungen die Fähigkeit zu, eintönigen schaft bereichernde Tätigkeiten, wenn sie nicht Landschaften einen „neuartigen Reiz“ (ebd., S. nach rein ökonomischen Gesichtspunkten 88) zu verleihen, sondern führte auch aus, exekutiert werden. Man verwandte im Gegen- dass die Schlackehalden der Schwerindustrie teil viel Mühe darauf, zu zeigen, dass die Ori- im Ruhrgebiet ein wertvoller Beitrag zur regio- entierung an einer landschaftlichen Lösung nalen Eigenart seien: „Die mächtigen Schutt- einem wahrhaften, d. h. nicht kurzsichtigen und Schlackehalden im Ruhrgebiet möchte ökonomischen Kalkül entspringt, weil sich in man gar nicht mehr missen, und wir erkennen landschaftsverschönernder Tradition Schönheit in ihnen eine vom Berg- und Hüttenbetrieb und Zweckmäßigkeit zu einer „nachhaltigen“ unzertrennliche Begleiterscheinung und be- Lösung, wie man heute sagen würde, vereinen greifen sie unwillkürlich in das Heimatbild als lassen (siehe z. B. die Diskussionen über Teil ihres Stimmungswertes ein“ (ebd., S. 92). Windschutzhecken, die Trassenführung und Diese Anerkennung der Industrie als die Ei- Bepflanzung der Reichsautobahnen und über genart prägend wurde dann in den 1990er andere technische Infrastrukturen). Wegen der Jahren zum landschaftsarchitektonischen Pro- ästhetischen Komponente dieses Entwick- gramm, als sie durch den ökonomischen Struk- lungsmodells war der Naturschutz als Heimat- turwandel obsolet geworden war. Man könnte schutz und ist noch heute die Landschaftsar- aber sagen, dass der Heimatschutz schon chitektur bei aller Wahrung von Funktionsinte- einmal weiter war: Er äußerte sich zur Gestal- ressen einem eher künstlerischen Aufgaben- tung der damals zeitgemäßen Industrie, wäh- verständnis verpflichtet. Den traditionellen, auf rend sich im letzten Jahrzehnt des letzten die Eigenart der Landschaft ausgerichteten Jahrhunderts im Rückblick auf die nunmehr Konservatismus des Naturschutzes und der untergegangene alte Industriekultur heraus- Landschaftsgestaltung beantwortet die Land- stellte, dass etwas kulturell Sinnhaftes, Land- schaftsarchitektur quasi symbolisch damit, schaftliches entstanden war, das eine Eigenart dass sie sich von der alten ländlichen Kultur- aufwies. Die alte Industrie und ihre Artefakte landschaft abgewandt und ihr Interesse auf die waren Teil des kulturellen Erbes geworden und Gestaltung urbaner Gebiete als Orte moderner wurden musealisiert. Zivilisation ausgerichtet hat.

Diese „progressive“ Abkehr von der ländlichen 5. Die Gestaltung der altindustriellen Zo- Idylle, die zunächst zur Gestaltung altindus- nen und Natur in der Stadt trieller Zonen führte, ermöglicht aber nur teil- Insofern war die Gestaltung der altindustriellen weise ein Abstreifen der konservativen Wur- Zonen als „neue“ Landschaften nur halb so zeln, denn sie bleibt in den älteren heimat- revolutionär, wie es den Anschein hatte. Der schützerischen Traditionen gefangen, ohne revolutionäre Gestus resultierte vielmehr aus dass dies der Landschaftsarchitektur bewusst einer anderen Diskussion, nämlich der über die wäre. Es hat sich gezeigt, dass trotz ihrer ur- traditionelle Stadtfeindlichkeit des Naturschut- sprünglich bei Rudorff (1897) besonders zum zes aber auch von Teilen der Landschaftsar- Ausdruck kommenden grundsätzlichen zivilisa- chitektur. Sie sollte überwunden werden (vgl. tionskritischen Orientierung im Heimatschutz zu dieser Haltung in der Landschaftsarchitektur ab der Wende zum 20. Jahrhundert die Indust- Kienast, 1981). Der Landschaftsarchitektur rialisierung als Gestaltungsaufgabe verstanden wird daher nach Latz (1999, S. 14) die Aufga- wurde. Als Kulturleistung galt nicht nur die be zugeschrieben, Landschaftskonzepte zu Einordnung der industriellen Bauwerke in die entwickeln, die das zeitgenössische Naturver- landschaftliche Eigenart, etwa durch ihre Be- ständnis verändern und eine neue Diskussion pflanzung, durch die Verwendung von Natur- um Natur in der Stadt erzwingen sollen. Denn steinverkleidungen oder durch die Anpassung indem durch Gestaltung herausgearbeitet wer- der Reichsautobahn an die landschaftliche den soll, dass auch die Stadt eine vielfältige Topographie (vgl. dazu z. B. Seifert, 1941), und charakteristische Natur hervorbringt, sie sondern die Industriebauten konnten auch also als (Kultur-)Landschaft gesehen werden selbst die Landschaft prägen. Die Bedingung kann, soll gezeigt werden, dass sie für eine dafür war, dass sie Charakter haben mussten: „gute“ Existenz steht (vgl. Latz, 1999a). So wies Lindner (1926), der mit seinem Buch „Ingenieurwerk und Naturschutz“ das Verhält-

9 Stefan Körner

Ziel der Landschaftsarchitektur war es daher, Vor allem gilt dies für die Zwischenstadt. Denn die urban-industriellen Räume als großräumi- wenn festzustellen ist, dass der ländliche Na- gen landschaftlichen Kultur-Natur-Zusammen- turtyp auch innerhalb einer damals von ihrem hang lesbar zu machen, indem vor allem die urban-industrielle Natur auf den Brachen, so z. B. im Landschaftspark-Duisburg-Nord oder auf dem Berliner Südgelände, als Gestal- tungsobjekt aufgegriffen wurde. Dabei wurde u. a. das Pflanzen von Hainen, Alleen und Baumrastern als traditionelles Mittel einge- setzt, die Räume zu ordnen (vgl. Rebele & Dettmar, 1996, S. 129), oder aber Kunstwerke wurden als Kontrast zur freiwachsenden Bra- chenatur eingesetzt, um so diese spontane Natur gestalterisch in Wert zu setzen (zu wei- teren Gestaltungskonzeptionen vgl. Grosse- Bächle, 2005; Henne, 2005). Diese Ordnungs- bemühungen sollten die Sinnhaftigkeit der neuen Bilder gewährleisten, d. h. letztlich kul- turlandschaftliche Harmonie stiften, ohne dass die Ruppigkeit der Industriebrachen verfälscht wurde. Denn das wäre lediglich Landschafts- kitsch gewesen, der an der vorliegenden Ei- genart vorbeigegangen wäre. Diese Diskussion über die „neuen“, postindus- triellen Landschaften führte dazu, nun aus- schließlich den urban-industriellen Naturtyp, der als Spontannatur der Brachen hochgradig an Störungen angepasst und durch eine Viel- zahl fremder Arten gekennzeichnet ist, die durch die weltweiten Transportsysteme einge- führt wurden und werden, als adäquaten Na- turtyp der urbanen und mobilen Moderne an- zusehen. Die stadtökologischen Biotopkartie- rungen zeigten aber z. B. in Berlin, dass in der Stadt, verstanden als politische Gebietseinheit, immer auch andere Naturformen vorkommen. Die Natur der Stadt lässt sich daher nach Ko- warik in vier Typen mit unterschiedlicher Kul- turgeschichte einteilen: die „Natur der ersten Art“ als Reste ehemaliger Wildnis wie Moore, Gewässer und einzelne Partien alter Wälder, die „Natur der zweiten Art“ als Reste landwirt- schaftlich genutzter Natur, die „Natur der drit- ten Art“ als die gestaltete Natur der Gärten und Parks und die „Natur der vierten Art“ als Rude- Abb. 3, 4, 5: Der klassische Park und seine „arkadische“ Rückseite: Bergpark Wilhelmshöhe und angrenzende ralnatur in urban-industriellen Räumen (vgl. extensive Weidelandschaft. z. B. Kowarik, 1992). Der Befund, dass die Stadt Ort reichhaltiger Natur(bilder) ist, war Umland durch die Berliner Mauer klar getrenn- nicht nur überraschend, weil sie immer als das ten Stadt vorkam, so ist dies erst recht in den Gegenteil von Natur verstanden wurde. Es neuen Stadträumen der Fall, wo sich durch die zeigte sich zudem, dass sich oft historische Verstädterung landschaftliche Reste und Sied- ländliche Landschaftsformationen auf dem lung viel stärker durchdringen. Also muss auch Stadtgebiet sogar besser erhalten haben als in hier differenziert verfahren werden. Die aktuel- der „freien Landschaft“. Diese Heterogenität ist le Diskussion in der Landschaftsarchitektur, somit kennzeichnend für die Stadt, d. h. für wonach traditionell-ländliche, letztlich arkadi- ihre Eigenart. Geht es damit um deren Ausge- sche Landschaftsbilder antiquiert und mittels staltung, dann sind die in der Stadt vorkom- eines neuen Landschaftsbegriffs abzuschaffen mende Naturformen zu akzeptieren und gestal- seien, verhindert dagegen eine entsprechende terisch auszudifferenzieren, wenn es von den differenzierte Diskussion, u. a. schon deshalb, konkreten Funktionskontexten her möglich ist. weil dieser neue Begriff definitorisch unscharf

10 Natur in der urbanen Landschaft

ist (vgl. Prominski, 2004, kritisch dazu Körner, Sicherheitsprobleme produzieren. Daher ver- 2005, 2006)1. Dies gilt umso mehr, als sich suchte man ja auch bei der Gestaltung von auch empirisch zeigt, dass durch Methoden Industriebrachen die Räume zu ordnen. Die modernen Landschaftsmanagements, wie z. B. angesichts der knappen öffentlichen Mittel weit extensive Weide (wie in Berlin, Leipzig oder verbreitete Methode, die alltäglichen städti- Kassel) Landschaftsbilder entstehen, die man schen Freiräume unter Kontrolle zu halten und nur als arkadisch bezeichnen kann. Gerade pflegeleicht mit Rasen zu begrünen, ist als auch diese Formen extensiver Beweidung sind Alternative zur Verwilderung die simpelste und z. B. an die Stadt gebunden, wenn sie ökono- belangloseste Methode. Rasen ist, nachdem misch nicht ein reines Zuschussgeschäft sein die Cotoneasterwelle der 1980er Jahre in ei- sollen, weil nur in Stadtnähe der Markt für das nem gestalterischen und ökologischen Desas- erzielte Fleisch und die durch die Beweidung ter endete, das Resultat des administrativen entstehenden Erholungslandschaften existiert. Friedens auf dem kleinsten gemeinsamen Vor allem auch die Pferdehaltung sorgt dafür, Nenner: Die Fläche ist grün und von jeder- dass in den urbanen Ballungsgebieten weiter- mann ohne Fachkenntnisse zu pflegen. Den hin ländliche Landschaftsbilder entstehen bzw. meisten Menschen würde das vielleicht sogar erhalten werden. reichen, weil sie die Natur in der Stadt ohnehin nur als unspezifisches „Grün“ wahrnehmen. 6. Landschafts- und Vegetationsmanage- Nur darf man sich dann auch nicht über man- ment in urbanen Landschaften als Ge- gelnde Naturkenntnis und den mangelnden staltungsaufgabe Respekt vor dem „Grün“ beschweren. Eine solche Strategie untergräbt auch langfristig die Was heißt das für die Gestaltung der „Zwi- Legitimation der Gartenämter, denn Rasen schenstadt“ oder allgemeiner urbanisierter einsäen und mähen (oder Sträucher auf Ein- Landschaften? Wir haben nicht nur gesehen, heitshöhe kappen etc.) können auch andere, dass es grundsätzlich ein falscher Anspruch im Zweifelsfall auch das Tiefbauamt. ist, sich von der Ökologie als Naturwissen- schaft Rezepte für den sinnstiftenden Umgang Es bedarf also u. a. auch in den Ämtern der mit der Natur zu erwarten. „Ökologische“ Aus- Bereitschaft, sich auf neue Konzepte der künfte für das Naturschutzhandeln setzen Pflanzenverwendung im öffentlichen Raum normative Entscheidungen voraus, die immer einzulassen, nicht nur im Hinblick darauf, dass auch in politische Philosophien eingebunden man den öffentlichen Raum nicht aufgeben sind. Ferner hat es keinen Sinn, nur von einem und aktiv für Grünqualitäten werben sollte, urbanen und zeitgemäßen Naturtyp zu spre- sondern auch im Hinblick auf die funktionalen chen: Die Stadt ist ein heterogenes Gemisch Leistungen des Stadtgrüns. Zwar sind Haus- von Naturformen. haltsmittel knapp, oft ist das aber keine reine Frage des Geldes, denn nach wie vor wird viel Realistisch wäre also in urbanen Landschaften Geld durch falsche Planungen und Pflege ver- die Heterogenität urbaner Natur weiter auszu- schwendet. Vielerorts ist es mehr eine Frage gestalten, wenn dies aus Nutzungs- und Pfle- der Phantasie und des Willens. gegesichtspunkten sinnvoll ist. Dabei ist dann auf die jeweilige Typik des Raums einzugehen. Die Alternativen zur stadtgärtnerischen Mono- Verstädternde Boomregionen, in denen Land- tonie reichen dann von urbanen Wäldern, na- schaftsreste von den Siedlungen eingeschlos- turschutzorientierten Weidekonzepten an den sen werden, benötigen dabei einen anderen Stadträndern aber auch z. T. in innerstädti- gestalterischen Umgang als schrumpfende schen Bereichen, wie z. B. in Berlin Adlershof, Städte, in denen sich Brachen ausbreiten. bis hin zu Grabeländern für die Selbstversor- gung (vgl. Dettmar, 2003) und Formen neuer Eine solche differenzierte Gestaltung ist dann „naturalistischer“ Staudenverwendung. Letzte- nicht nur eine Frage neuer landwirtschaftlicher re wurden hauptsächlich durch die niederländi- Existenzformen, sondern auch eine zeitgemä- sche Pflanzenverwendung und die Diskussion ße Pflanzenverwendung: Bislang wurde im über die so genannten Präriestauden angesto- Kontext „neuer“ Landschaften vor allem das ßen und bezieht sich auf eine Pflanzenver- Zulassen einer gestalterisch eingehegten ur- wendung, die nach der „Ökowelle“ wieder stär- banen Wildnis diskutiert und praktiziert. Das ker ästhetische Gesichtspunkte in den Vorder- Zulassen von Wildnis kann in Einzelfällen eine grund rückt (z. B. nicht nur im Hinblick auf sinnvolle Strategie sein, wie z. B. in Berlin, das Blütenfarben und -formen sondern auch im hier durch seine jüngere Geschichte große Hinblick auf Texturen und Strukturen). Dabei Potenziale hat (Diplomatenviertel, Gleisdrei- wird der Anspruch erhoben, naturnah wirkende eck, Südgelände). Als Standardlösung bietet Pflanzenbestände aufzubauen. Neben der sich aber Verwilderung nicht an, denn sie wür- Entwicklung einer ganzen Reihe von extensi- de wohl eher als Kontrollverlust und Auflösung ven Staudenkombinationen mit marktgängigen der Städte interpretiert werden und u. a. auch Namen (z. B. Silbersommer etc.) ist vor allem 11 Stefan Körner

mit den Präriestauden das Versprechen ver- Schönheit in der konservativen und in der bunden, pflegeleichte Vegetationsbestände zu liberal-progressiven Naturschutzauffas- kreieren, die z. B. nur einmal im Jahr, im sung. In: Groenemeyer, R., Schopf, R. & Spätwinter, gemäht werden müssen. Ob sie Wießmeier, B. (Hrsg.). Fremde Nähe - Bei- diese Verheißungen tatsächlich erfüllen und ob träge zur interkulturellen Diskussion. Bd. sie auch gegen die normaler Sukzession auf 14. Münster. Hamburg/London. urbanen Standorten bestehen können, ist noch Körner, S. (2005). Natur in der urbanisierten nicht geklärt (vgl. als Überblick Kühn, 2005). Landschaft. Ökologie, Schutz und Gestal- Wenn man sich also entscheidet, Flächen nicht tung. Wuppertal. verwalden zu lassen, sondern als „offene Körner, S. (2006). Eine neue Landschaftstheo- Landschaften“ zu erhalten, ist es notwendig, rie? Eine Kritik am Begriff „Landschaft Konzepte für Hochstaudenfluren zu entwickeln, Drei“. Stadt und Grün 55 (10). S. 18-25. die bei minimaler Pflege mit den meist nähr- Körner, S. & Eisel, U. (2003). Naturschutz als stoffreichen städtischen Substraten zurande kulturelle Aufgabe – theoretische Rekon- kommen und in der Konkurrenz gegen die struktion und Anregungen für eine inhaltli- unweigerlich einwandernde Brennessel oder che Erweiterung. In: Körner, S., Nagel, A. & Goldrute auch optisch bestehen. Hier eröffnet Eisel, U.. Naturschutzbegründungen. Bonn- sich ein weites Forschungsfeld und die Not- Bad-Godesberg. S. 5-49 wendigkeit, extensive und damit naturnah wir- Kowarik, I. (1992). Das Besondere der städti- kende, gleichwohl attraktive und dauerhafte schen Flora und Vegetation. Deutscher Rat Staudenfluren zu entwickeln. Diese Bemühun- für Landespflege (61). S. 33-47. gen sind einzubinden in eine Diskussion über Kühn, N. (2005). Präriepflanzen in der Stadt – eine neue Gartenkultur in der Stadt, die nicht Kritische Reflexion eines neuen Trends. mehr länger akzeptiert, dass der Haushalt der Teil 1-3. Stadt und Grün 54 (7/8/9). S 22- Gartenämter Verfügungsmasse ist, gleichzeitig 28, S. 49-56, S. 43-49. aber auch eigene Versäumnisse der Vergan- Latz, P. (1999). Eine einfache Frage, keine genheit kritisch analysiert. einfache Antwort. DISP 138. Veröffentli- chung des Instituts für Orts-, Regional- und 1 Landschaft wird definiert als „dynamisches Sys- Landesplanung der ETH Zürich 35 (3). S. tem menschgemachter Räume“ (Prominski, 2004, 14-15. S. 59). Demnach ist alles eine Landschaft, was Latz, P. (1999a). Schöne Aussichten. Interview als Ausdruck menschlicher Aktivitäten in Raum in Architektur & Wohnen (5). S. 95-102. und Zeit interpretiert werden kann. Lindner, W. (1926). Ingenieurwerk und Natur- schutz. Hugo Bermühler Verlag. Berlin- Lichterfelde. Literatur Mattern, H. (1964). Gras darf nicht mehr wachsen. Berlin/Frankfurt/M./Wien. Dettmar, J. (2003). Brachflächen in der Zwi- Prominski, M. (2004). Landschaft entwerfen. schenstadt – Bausteine einer postindustriel- Zur Theorie aktueller Landschaftsarchitek- len Landschaft. Erfahrungen aus dem tur. Berlin. Ruhrgebiet. In: Arlt, G., Kowarik, I., Mathey, Rebele, F. & Dettmar, J. (1996). Industriebra- J. & Rebele, F.. Urbane Innenentwicklung chen. Ökologie und Management. Stutt- in Ökologie und Planung. IÖR-Schriften. gart. Bd.39. Dresden. S. 23-32. Rudorff, E. (1897). Heimatschutz. Nachdruck Grosse-Bächle, L. (2005). Strategies between 1994. Reichl Verlag. St. Goar. Interventing and Leaving Room. In: Kowa- Seifert, A. (1941). Im Zeitalter des Lebendigen. rik, I. & Körner, S. (eds.). Urban Wild Wood- Müllersche Verlagshandlung. Dresden/ lands. Berlin/Heidelberg. S. 231-246. Planegg. Henne, S. (2005). „New Wilderness“ as an Sukopp, H. & Trepl, L. (1999). Stadtökologie Element of Peri-Urban Landscape. In: Ko- als biologische Wissenschaft und als poli- warik, I. & Körner, S. (eds.). Urban Wild tisch-planerisches Handlungsfeld. In: Fried- Woodlands. Berlin/Heidelberg. S. 247-262. richs, J. & Hollaender, K. (Hrsg.). Stadtöko- Kienast, D. (1981). Vom Gestaltungsdiktat zum logische Forschung. Theorien und Anwen- Naturdiktat oder Gärten gegen Menschen? dung. Berlin. S. 19-34. Nachdruck in: Professur für Landschaftsar- Sukopp, H. & Sukopp, S. (2002). Von der Na- chitektur ETH Zürich (Hrsg.) (2002). Dieter turgeschichte zur Stadtökologie. Verhand- Kienast – Die Poetik des Gartens. Über lungen zur Geschichte und Theorie der Bio- Chaos und Ordnung in der Landschaftsar- logie, Bd. 8. Berlin. S. 167-185. chitektur. Birkhäuser Verlag. Basel/Berlin/ Boston. S. 33-46. Körner, S. (2000). Das Heimische und das Fremde. Die Werte Vielfalt, Eigenart und

12 Natur in der urbanen Landschaft

Zutz, A. & Kasal, I. (2006). Kulturlandschaft und Modernisierung. In: Kasal, I., Voigt, A., Weil, A. & Zutz, A. (Hrsg.). Kulturen der Landschaft. Ideen von Kulturlandschaft zwischen Tradition und Modernisierung. Berlin. S. 9-17.

Anschrift Prof. Dr. Ing. Stefan Körner Universität Kassel – Fachbereich 6 Landschaftsbau/ Vegetationstechnik Gottschalkstr. 26 D-34109 Kassel E-Mail: [email protected]

13

CONTUREC 2 (2007) Seiten 15 bis 25

Wildnis ist nicht gleich „Wildnis“. Überlegungen zu unterschiedlichen Wildnisvorstellungen in Stadtökologie, Land- schaftsarchitektur und Städtebau Wilderness is not wilderness. Notions of wilderness in urban ecology, landscape architecture and urban planning

VERA VICENZOTTI

Zusammenfassung Dieser Beitrag befasst sich mit der Unmöglichkeit und Unangemessenheit, Wildnis – verstanden als kulturelle Idee – mit naturwissenschaftlich-ökologischen Begriffen zu beschreiben. Dazu wird die Idee der Stadt-Wildnis differenziert, sie kann entweder Wildnis in der Stadt oder metaphorisch Stadt als Wildnis bezeichnen. Es werden drei fachkulturell bedingt verschiedene Umgangsweisen mit Wildnis unterschieden: Während die Ökologie i. e. S. „Wildnis“ mit rein naturwissenschaftlichen Methoden angeht, bezieht die Ökologie i. w. S. ökonomische und politisch-soziale Aspekte mit ein; gestaltende Disziplinen wie die Landschaftsarchitektur oder der Städtebau schließlich thematisieren Sinnfragen und ästhetische Aspekte. Im Hauptteil wird angedeutet, dass Wildnis kein Raum mit bestimmten Ei- genschaften oder eine zeitlose Erscheinung ist, sondern ein historisches Phänomen, eine kulturelle Idee. Über eine solche Idee kann die Naturwissenschaft Ökologie keine Aussagen machen, dazu be- darf es in der theoretischen Forschung kultur- und geisteswissenschaftlicher Methoden. In der Praxis der Stadt- und Landschaftsentwicklung können gestaltende Ansätze angemessen mit ästhetischen Fragen und Sinngehalten umgehen. Der Beitrag endet mit drei kurzen Schlussfolgerungen, die zu- sammenfassen, was das Gesagte für die Arbeit der Stadtökologie bedeutet.

Wildnis, Stadt-Wildnis, Stadtnatur, Zwischenstadt, Stadtökologie, Städtebau, Landschaftsarchitektur.

Summary This contribution shows that it is impossible and inappropriate to describe wilderness – conceived as a cultural idea – with scientific, ecological concepts. I first distinguish two ideas of city-wilderness: it can either be conceived as wilderness within the city, or as a metaphor for the city as a wilderness. Due to different professional cultures, one can distinguish three different ways of dealing with wilderness: while ecology in the strict sense analyses “wilderness” with scientific methods only, ecology in the broad sense integrates economic and socio-political aspects in its research; design disciplines like landscape architecture and urban design embrace the issues of meaning and aesthetics. In the main part, this contribution touches on the aspect that wilderness is not simply a space with certain charac- teristics or a timeless reality, but a historical phenomenon, a cultural idea. About such an idea, ecology as a natural science cannot make any statements. For theoretical research on wilderness, we need humanities or rather cultural sciences. In terms of practice, urban and landscape design can deal aptly with aesthetic aspects and issues of cultural meaning. The text finally presents three conclusions summing up what all this means for the work of urban ecologists.

1. Musil zum Einstieg andere bedeutsame Erscheinungen entspra- chen ihrer Voraussage in den astronomischen „Über dem Atlantik befand sich ein barometri- Jahrbüchern. Der Wasserdampf in der Luft sches Minimum; es wanderte ostwärts, einem hatte seine höchste Spannkraft, und die über Russland lagernden Maximum zu, und Feuchtigkeit der Luft war gering. Mit einem verriet noch nicht die Neigung diesem nördlich Wort, dass das Tatsächliche recht gut be- auszuweichen. Die Isothermen und Isotheren zeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur Es war ein schöner Augusttag des Jahres stand in einem ordnungsgemäßen Verhältnis 1913.“ zur mittleren Jahrestemperatur, zur Tempera- tur des kältesten wie des wärmsten Monats Robert Musil thematisiert in diesen ersten Sät- und zur aperiodischen monatlichen Tempera- zen aus Der Mann ohne Eigenschaften die turschwankung. Der Auf- und Untergang der Skurrilität, einen schönen Tag anders als all- Sonne, des Mondes, der Lichtwechsel des tagssprachlich und lebensweltlich, nämlich in Mondes, der Venus, des Saturnrings und viele naturwissenschaftlichen, hier mit meteorologi- Vera Vicenzotti

schen und astronomischen Begriffen, zu fas- danken, die den eigentlichen Hauptteil des sen1. Mit einem ähnlich gelagerten Problem Beitrages (Kapitel 3) ausmachen: systemati- befasst sich auch dieser Beitrag, dem ein Ver- sche Reflexionen darüber, um welche Art von ständnis von Wildnis als Idee, als kulturelles Gegenstand es sich bei Stadt-Wildnis als Idee Phänomen zugrunde liegt: Es geht um die handelt. Daraus leite ich dann einige Schluss- Unmöglichkeit und Unangemessenheit, eine folgerungen (Kapitel 4) ab. solchermaßen verstandene Wildnis mit natur- wissenschaftlich-ökologischen Begriffen zu 2. Zum Begriff der Stadt-Wildnis beschreiben. Dazu möchte ich Differenzierun- 2.1 Wildnis in der Stadt gen treffen, die beim Nachdenken über „Per- spektiven und Bedeutung von Stadtnatur für Wildnis in der Stadt ist vielleicht die erste As- die Stadtentwicklung“2 erforderlich sind. soziation beim Begriff Stadt-Wildnis. Man denkt an Tiere und Pflanzen in der Stadt, z. B. Zum einen handelt es sich um Unterscheidun- an die so genannte Spontanvegetation, an wild gen des Wildnisbegriffs. Ich werde sie anhand wuchernde Kletterpflanzen an Hauswänden, des Begriffs der Stadt-Wildnis vornehmen, an in Mülltonnen wühlende Waschbären, an denn beim Reden über Stadtnatur fällt immer Wildschweine in Berlin; oder man stellt sich auch schnell der Begriff der Wildnis. Wildnis Brachflächen im Gefüge der Stadt vor. Man und Stadt-Wildnis sind en vogue3. Stadt- könnte aber auch an problematische oder ge- Wildnis kann dabei erstens Wildnis in der Stadt fährliche Stadtviertel denken, also an etwas, bedeuten; damit ist vor allem die Tier- und das man als soziale Wildnis bezeichnen könn- Pflanzenwelt beispielsweise städtischer Brach- te. Um Letzteres wird es in diesem Beitrag flächen gemeint. Die Bezeichnung kann sich allerdings nicht gehen. zweitens auf Stadt als Wildnis beziehen4. Im Folgenden werde ich skizzenhaft darstellen, Zum anderen analysiere ich, wie verschiedene wie mit dieser Wildnis als Gegenstand in un- Fachgebiete Wildnis zu ihrem Gegenstand terschiedlichen Disziplinen umgegangen wird. machen. Ich möchte deutlich machen, dass die

Ökologie zu Wildnis als Idee keine Aussagen Stadt-Wildnis als Gegenstand der Stadtökolo- machen kann, weil und insofern es sich bei gie dieser um ein kulturelles Phänomen handelt und damit um etwas, das jener forschungslo- Die Perspektive der Stadtökologie auf Wildnis gisch nicht zugänglich ist 5. Die Ökologie kann in der Stadt hängt davon ab, was mit „Ökolo- immer nur das naturwissenschaftlich untersu- gie“ jeweils gemeint ist. Sukopp (2003, S. 4) chen, was im Alltagsverständnis Wildnis ist. trifft folgende Unterscheidung: Diese zwei grundlegenden Differenzierungen „Der Begriff Stadtökologie wird heute zwischen werden vor allem dann wichtig, wenn – wie es Wissenschaft, Planung und Politik auf zwei sich CONTUREC zum Ziel gesetzt hat – trans- grundverschiedene Weisen benutzt: und interdisziplinär gearbeitet werden soll. Denn eine solche Zusammenarbeit kann nur – im Sinne von ‘umweltverträglicher Stadt- erfolgreich sein, wenn Klarheit besteht über die gestaltung’ auf der Ebene von Politik und fachkulturell bedingt jeweils anderen Perspek- Planung; tiven auf das gemeinsame Problem. – als Teil der Naturwissenschaft, und zwar Zunächst, in Kapitel 2, werde ich Begriffe von der Ökologie, die sich mit urbanen Gebie- Stadt-Wildnis analysieren und herausarbeiten, ten beschäftigt.“ dass sie entweder Wildnis in der Stadt (Kapitel Gemäß dem ersten Verständnis ist mit „Stadt- 2.1) bezeichnet oder dass sie eine Metapher ökologie“ Stadtentwicklung unter Umwelt- und für die Stadt als Wildnis sein kann (Kapitel Nachhaltigkeitsgesichtspunkten gemeint. Das 2.2). Beide Begriffsverständnisse sind für das möchte ich als Ökologie im weiteren Sinne6. Tagungsthema relevant; ich werde mich in bezeichnen. Dazu könnte man Bereiche wie diesem Beitrag aber schwerpunktmäßig mit die politische Ökologie, ökologisch orientierte der ersten Auffassung, Wildnis in der Stadt, Landschaftsplanung und -entwicklung oder befassen. Im Teil 2.1 werde ich dazu darstel- auch städtischen Umwelt- und Naturschutz len, wie verschiedene Wissenschaften Wildnis zählen. Dieses weiter gefasste Verständnis in der Stadt behandeln. Dazu gehe ich typisie- von (Stadt-)Ökologie scheint mir auch dem rend und teilweise stark polarisierend vor, weil Kompetenznetzwerk Stadtökologie zugrunde es mir darauf ankommt, die prinzipiellen Unter- zu liegen. CONTUREC beschreibt sein Selbst- schiede der Perspektiven deutlich zu machen. verständnis folgendermaßen: „Stadtökologi- Ich gehe dabei nicht begriffsanalytisch vor und sche Forschung ist vielfach anwendungsorien- gebe keine Definitionen von (Stadt-)Wildnis tierte ökologische Forschung, die nicht losge- aus der Perspektive der jeweiligen Fachrich- löst von der gesellschaftlichen Funktion und tungen. Diese Darstellung leitet über zu Ge- 16 Wildnis ist nicht gleich „Wildnis“

Bedeutung der Städte durchgeführt werden oder eine Industriefläche ökologisch unter- kann. Sie leistet Beiträge für eine nachhaltige sucht. ‘Im Prinzip’ soll heißen: Alle vier sind für Stadtentwicklung. […] Das Kompetenznetz- ihn keine Symbole, sondern physisch-biotische werk Stadtökologie greift die Tradition einer Tatbestände, die er gleicherweise mit den naturwissenschaftlich orientierten ökologischen Mitteln der Naturwissenschaft angeht“ (Hard, Forschung auf, […] beschränkt aber die stadt- 1995, 15)9. Entsprechend gibt es auch keinen ökologische Forschung nicht auf naturwissen- prinzipiellen Unterschied zwischen einem wil- schaftliche Forschung. In der stadtökologi- den und einem nicht-wilden Ökosystem. Die schen Forschung ist die Zusammenarbeit zwi- Charakterisierung wild ist nämlich keine natur- schen Natur- und Sozialwissenschaften von wissenschaftliche, sondern eine, die auf kultu- grundlegender Bedeutung.“ (CONTUREC, relle Ideen Bezug nimmt und daher der Ökolo- 2006, „Wir über uns“, „Plattform“) „Wildnis“ gie nicht zugänglich ist (siehe dazu unten Kapi- wird innerhalb der Stadtökologie im weiteren tel 3). Sinne vielfach in dem eben erläuterten Sinne thematisiert. So zählt beispielsweise zu den Wildnis als Gestaltungsmittel der Landschafts- Literaturhinweisen auf der CONTUREC- architektur und des Städtebaus Homepage ein Buch, das sich mit Urban Wildli- Im Folgenden soll es um den Wildnisbegriff fe Management befasst. „The book focuses not aus der Perspektive der Landschaftsarchitektur only on ecological matters, but also incorpo- und des Städtebaus gehen – Disziplinen mit rates the political, economic, and societal is- einem expliziten Gestaltungsanspruch also. sues relevant to the development of proactive Dieser Anspruch bedingt einen neuen, einen management planning” (Ebd., „Publikationen”, dritten Blick auf Wildnis in der Stadt. Diese „Literaturhinweise”). Sichtweise auf Wildnis unterscheidet sich so- Gemäß dem zweiten Verständnis wird Stadt- wohl von der, die die Stadtökologie im eigentli- ökologie als Naturwissenschaft betrieben. Ich chen Sinne kennzeichnet (hier bezieht man möchte das Ökologie i. e. S. nennen. „Ökolo- sich ausschließlich auf naturwissenschaftliche gie ist in diesem Sinne als Wissenschaft von Aspekte) als auch von derjenigen der Stadt- Lebewesen bzw. biologischen Lebensgemein- ökologie im weiteren Sinne, die neben den im schaften in ihren Beziehungen untereinander engeren Sinne ökologischen Aspekten auch und mit ihrer Umwelt aufzufassen. Untersucht noch soziale und ökonomische Aspekte be- werden Struktur, Funktion und Geschichte rücksichtigt wissen will. urbaner Biozönosen und Ökosysteme“ (Su- Ein erstes Beispiel, an dem die Berücksichti- kopp, 2003, S. 4.). gung kultureller und gestalterischer Aspekte Wie wird nun „Wildnis“7 ökologisch untersucht? von Wildnis deutlich wird, ist ein Projekt des Dazu möchte ich hier betrachten, wie man im Landschaftsarchitekturbüros Gruppe F und der Rahmen der gerade skizzierten Ökologie Stadtentwicklungsgesellschaft Stattbau. Im i. w. S. auf die im engeren Sinne ökologische Berliner Plattenbaugebiet Marzahn haben die Forschung rekurriert. Denn mit ihrer interdis- Planer auf den Flächen abgerissener Gebäude ziplinären Herangehensweise erhebt sie den Steppen- und Wildstaudenfluren geplant, die Anspruch, ihren Gegenständen in umfassen- von den Anwohnern unterhalten werden sollen der Hinsicht gerecht zu werden, also nicht (Pütz, 2004). Gestaltungsprinzip war die Kop- „Wildnis“ zum Gegenstand zu haben, sondern pelung von „Extensivierung“ und „Aneignung“. tatsächlich Wildnis. „Der naturwissenschaftli- Mit Hilfe des Vegetationskundlers Norbert che Aspekt der Wildnisdebatte bietet sich dar Kühn habe man „neue Vegetationsbilder einer in Form von Fakten über den Ablauf von Suk- kultivierten Wildnis aus Steppen-, Pionier- und zessionsvorgängen und natürlichen Prozes- Wildstaudengesellschaften“ (ebd., S. 20; Her- sen, als Tatsachenwissen, wie sich selbst ü- vorh. V. V.) entstehen lassen. Als Vorteile die- berlassene Ökosysteme sich großflächig ver- ser Gestaltung nennen die Planer, dass die halten.“ (Jessel, 1997, S. 9) Wenn naturwis- sich selbst erhaltende natürliche Steppenvege- senschaftliche Aspekte von „Wildnis“ themati- tation im städtischen Kontext ebenso pflegeex- siert werden, dann geht es also beispielsweise tensiv wie ausreichend ungewöhnlich sei, um um Fragen der natürlichen „Walddynamik“, um den Charakter einer gezielten Gestaltung zu „Sukzessionsabläufe“, „zyklische bzw. raum- vermitteln – denn es gelte auf alle Fälle, den zeitlich versetzte dynamische Abläufe“ (alle Eindruck von Verwahrlosung zu vermeiden Zitate ebd.)8. – Es gibt aber keinen prinzipiel- (ebd.). len Unterschied in der methodischen Herange- Als ein zweites Beispiel möchte ich auf Ge- hensweise an ein Ökosystem in der Stadt und danken von Henne (2004) zu Gestaltungsmög- eines im Moor oder Regenwald. „Für den Na- lichkeiten der so genannten Zwischenland- turwissenschaftler als Naturwissenschaftler schaft eingehen. Er sieht in „Wildnisflächen“ macht es im Prinzip keinen Unterschied, ob er ein wichtiges Element zur Entwicklung urbaner einen Parkrasen, eine Kuhweide, einen Urwald 17 Vera Vicenzotti

Verdichtungsräume. Zu den Flächen, auf de- Bevor ich mich systematisch mit den Unter- nen sich neue Wildnisbereiche entwickeln schieden dieser Perspektiven befasse (Kapitel werden, zählt er Restflächen von Gewerbe und 3), möchte ich noch eine Gemeinsamkeit her- Verkehr, er prognostiziert Wildnisbereiche in vorheben, die sich im Gegensatz zu einer neuen Parks an der Peripherie und in grundlegend anderen Begriffsbedeutung von schrumpfenden Städten sowie in Retentions- Stadt-Wildnis zeigt. Während es bisher – bei bereichen von Flüssen oder auf Flächen, die aller Unterschiedlichkeit der Perspektive – um zur Biomasseproduktion dienen. Diese wilden Wildnis in der Stadt ging, wird im folgenden Flächen könnten „über Aspekte der Nachhal- Unterkapitel das metaphorische Begriffsver- tigkeit hinaus“ Bedeutung haben; sie sollten ständnis der Stadt als Wildnis erläutert. auch Beiträge leisten „für die Freizeit, die städ- tebauliche Entwicklung und die landschaftliche 2.2 Stadt als Wildnis Identität“ (beide Zitate ebd., S. 28; Hervorh. Mit der Anwendung der Metapher Wildnis auf V. V.). Als Bedingung dafür, dass die Wildnis- die Stadt drückt man aus, dass die Stadt ein flächen diese Beiträge tatsächlich leisten kön- unkontrollierter und unkontrollierbarer, ein nen, nennt Henne die Entwicklung differenzier- chaotischer Ort ist, aber eben auch ein Ort, der ter Gestaltvorstellungen für die jeweiligen Flä- bestimmte unkonventionelle Freiräume und chen. „Erst die ästhetische Vermittlung macht Möglichkeiten bietet10. Wildnis zu dem Kompensations- und Selbster- fahrungsraum der Erlebnisgesellschaft“ (Ebd.; Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wird im Hervorh. V. V.). Als Gestaltungsprinzip, das mit Umfeld geistiger Strömungen, die meist unter einfachen Mitteln eine solche ästhetische dem Begriff „konservative Kulturkritik“ zusam- Wahrnehmung bei den Betrachtenden ermög- mengefasst werden, die Vorstellung von Wild- licht, empfiehlt er „Kontrastierung“: Der Kon- nis auf Stadt übertragen. An den späteren trast von Wildnis und Gemachtem, also kulti- Begriffen der Betonwüste einerseits und des viert Wirkendem, eröffne „die symbolischen Asphaltdschungels andererseits werden zwei Bedeutungsebenen der Wildnis“ (ebd., S. 29; unterschiedliche Schwerpunkte der konservati- Hervorh. V. V.). ven Kultur- und Stadtkritik deutlich: Der Begriff der Betonwüste richtet sich gegen die Groß- Auch Becker und Giseke (2004, S. 22) be- stadt als Inbegriff der Lebensfeindlichkeit. Er- schäftigen sich mit der Frage, ob Wildnis ein starrung droht in Form einer alles Lebendige, „Baustein künftiger Stadtentwicklung“ sein alles Natürliche erstickenden Rationalität. kann. Wildnis sei nicht auf die Rückeroberung Großstadt wird als zu Stein gewordene Ratio- der Stadt durch die Natur zu verkürzen, „son- nalität imaginiert (Praxenthaler, 1996, dern als konzeptioneller Baustein in den ge- S. 83 ff.). Der Begriff des Asphaltdschungels genwärtigen Umstrukturierungsprozessen zu hingegen bezieht sich auf ein Bild der Groß- verstehen“ (Ebd., S. 23). Sie formulieren das stadt als lebendigen Ort, aber als bedrohlichen Prinzip „mit Landschaft Städtebau machen.“ Ort alles Unkontrollierbaren, triebhaft Wu- (ebd.) Diese Formel ist auch das Prinzip einer chernden und Ordnungsgrenzen Sprengenden Richtung des Städtebaus, die in den USA vor (Ebd., vgl. Haubl, 1999, S. 51 f.). etwa 10 Jahren begründet wurde und dort als Landscape Urbanism bezeichnet wird. „Across Wildnis in dieser übertragenen Bedeutung ist a range of disciplines, landscape has become ein Gegenstand aktueller Debatten der Stad- a lens through which the contemporary city is tentwicklung11. Mit der Wildnis-Metapher wer- represented and a medium through which it is den in der urbanistischen Diskussion zwei constructed” (Waldheim, 2006, S. 15). gegensätzliche Phänomene bezeichnet: einer- seits die Stadtschrumpfung, andererseits das Man kann also sagen, dass Landschaftsarchi- Verstädtern ganzer Regionen, die so genannte tektur und gestaltende Stadtentwicklung eine Zersiedlung der Landschaft, die Entstehung Dimension im Auge haben, die der Perspektive der „Zwischenstadt“. Das heißt, dass Stadt und der Stadtökologie, auch der im weiteren Sinne, Land bzw. Landschaft verschwinden zuguns- systematisch entgehen muss. Das ist die kultu- ten von etwas, das „weder Stadt noch Land ist, relle Dimension: das Thematisieren des Cha- aber Eigenschaften von beidem besitzt“ (Sie- rakters oder des Eindrucks eines Ortes, der verts, 1997/2001, S. 14), was also zwischen landschaftlichen Identität. Es geht den gestal- den herkömmlichen Kategorien liegt. Was ist terischen Disziplinen bei Wildnis also primär das Gemeinsame dieser beiden gegensätzli- um Fragen des kulturellen Sinns und seiner chen Entwicklungen? Einmal geht es doch um ästhetischen Vermittlung; thematisiert werden Stadtschrumpfung, einmal hingegen um wu- verschiedene kulturelle Ideen, wie beispiels- cherndes Wachstum? Die Idee der Wildnis weise Freiheit, Aneignung, Selbstverwirkli- bringt die Gemeinsamkeit zum Ausdruck. chung. (1) Sie hebt erstens hervor, dass beide als unkontrollierbare Prozesse wahrgenommen 18 Wildnis ist nicht gleich „Wildnis“

werden: Beide entziehen sich der planerischen von Broggi (1999, S. 4): Danach ist „Wildnis Kontrolle, die Städte führen ein in bestimmten […] jener Raum Aspekten bedrohliches Eigenleben – obwohl sie planerisch unerwünscht ist, gibt es die – in dem wir jede Nutzung und Gestaltung Stadt-Wildnis. bewusst unterlassen, (2) In beiden Fällen entsteht etwas, das nicht – in dem natürliche Prozesse ablaufen kön- mehr „richtige Stadt“ ist, aber auch kein „richti- nen, ohne dass der Mensch denkt und ges Land“; weder breitet sich die Stadt aus lenkt, noch kehrt das Land zurück. Es entsteht viel- in dem sich Ungeplantes und Unvorherge- mehr etwas Neues, etwas Drittes, etwas da- – sehenes entwickeln kann.“ zwischen. Weil dieses Dazwischen etwas Un- kontrolliertes ist, kann es als Wildnis angese- Ich vertrete demgegenüber die These, dass hen werden. ein Raum, in dem „der Mensch“ nicht denkt, niemals Wildnis sein kann. Denn so, wie auch Gleichzeitig ist an der Verwendung der Wild- Landschaft nicht einfach da ist, unabhängig nis-Metapher der Versuch ablesbar, diesen davon, ob man in die Natur schaut oder nicht, Prozessen der unkontrollierten Stadtschrump- sondern eine Konstitutionsleistung des „land- fung oder dem unkontrollierbaren Wuchern schaftlichen Auges“12 ist, so ist auch Wildnis bestimmte Qualitäten abzugewinnen. Wildnis (verstanden als Landschaft mit der Charakteri- ist nämlich auch mit einem Schwarm positiver sierung „wild“)13 eine kulturelle Konstitutions- Assoziationen umgeben (Freiheit, Zwanglosig- leistung des wahrnehmenden Subjekts14. In keit, Abenteuer, Selbstverwirklichung). Man diesem Sinne muss der Mensch „denken“, um hofft, dass sich diese positiven Assoziationen Wildnis überhaupt erst entstehen zu lassen15. auch an die Stadt, an die in der Zwischenland- schaft verschwindende Stadt oder die in Zwi- Wildnis ist wie Landschaft, ein historisches schenstadt verschwindende Landschaft heften Phänomen. Nash stellt folgenden Zusammen- und so ein positiver Blick auf die Stadt-Wildnis hang zwischen Umwelt, Kulturleistung und gelingen kann. Wahrnehmung von Wildnis her: „The domesti- cation of animals and plants had, of course, an 3. Was für ein Gegenstand ist Wildnis und impact on the earth, but for the present pur- was bedeutet das für Forschung, Pla- poses it is the impact on thought that is reveal- nung und Gestaltung von Stadtwildnis ing. For the first time humans saw themselves und Stadtnatur? as distinct from the rest of nature. One conse- quence was the creation of the concept of Im folgenden Hauptteil möchte ich genauer ‘wild’ to apply to those animals and those parts darauf eingehen, um welche Art von Gegen- of the earth not under human control. Civiliza- stand es sich bei Wildnis handelt. Ich möchte tion created wilderness” (Nash, 1967/1982, klarstellen, dass zwar Natur in der Stadt in S. xiii). Eine gewisse Stufe von Kultur scheint naturwissenschaftlicher Forschung behandelt also notwendig zu sein, damit sich überhaupt werden kann (wenn man Natur einen entspre- ein Begriff von Wildnis entwickeln kann. Nun chenden Sinn gibt), Wildnis aber definitiv nicht. ist aber nicht nur die Entstehung des Begriffes Dazu befasse ich mich im ersten Unterkapitel Wildnis kulturell und historisch bedingt, son- (3.1) genauer mit Wildnis als kultureller Idee. dern auch ihre maßgeblichen Bedeutungen Dass diese Wildnis kein Gegenstand der sind es; diese wandeln sich im Lauf der Ge- Stadtökologie i. e. S. mehr sein kann, führe ich schichte. Das heißt, die Wahrnehmung von in Kapitel 3.2 aus. Wie angemessen mit Wild- Wildnis – und viel deutlicher noch wird es an nis als Gegenstand der Forschung, Planung ihrer Wertschätzung – ist kein überzeitliches und Gestaltung in der Stadtökologie i. w. S. Phänomen, sondern sie ist zu einem bestimm- und in der Landschaftsarchitektur umzugehen ten Zeitpunkt entstanden. ist, erläutere ich im dritten Abschnitt dieses Kapitels (3.3). Viel mehr als ein Raum mit irgendwelchen Eigenschaften oder ein zeitloses Phänomen ist 3.1 Wildnis als kulturelles Phänomen Wildnis also ein kulturelles und historisches Phänomen. Bestimmten Landschaften oder In vielen der einschlägigen landschaftsplaneri- Orten kann dann die Charakterisierung wild schen Veröffentlichungen wird „Wildnis“ als zugewiesen werden. Diese Landschaften oder Raum mit bestimmten Eigenschaften charakte- Orte – das sei hier eingeräumt – müssen, um risiert: Sie sei beispielsweise ‘vom Menschen als „Wildnis“ wahrgenommen zu werden, zwar unberührte Natur’, zeichne sich durch ‘Dyna- bestimmte Charakteristika, wie beispielsweise mik’ von Naturprozessen aus, die Flächen die oben von Broggi genannten, aufweisen. müssten eine gewisse Größe aufweisen, um Aber man verkennt den Charakter von Wildnis, sich ‘ungestört’ entwickeln zu können usw. wenn man versucht, sie allein über Raumei- Eine in diesem Sinne typische Definition ist die 19 Vera Vicenzotti

genschaften zu definieren oder das Vorliegen bei sind ihre Bilder und Vorstellungen durch bestimmter Raumeigenschaften als hinrei- Kultur und Wertorientierung geprägt“ (Brouns, chend dafür anzusehen, dass es sich um 2004, S. 59). Trotz dieser Einsicht, dass die Wildnis handelt. Man handelt sich dadurch Gefühle, die die einzelnen Menschen bei der beispielsweise die Schwierigkeit ein, erklären Wahrnehmung von Wildnis erleben, durch zu müssen, warum ein und dieselbe Land- bestimmte Möglichkeiten, die in der Kultur schaft von einigen Menschen als Wildnis an- angelegt sind, vorstrukturiert sind, behandelt gesehen wird, von anderen jedoch nicht16. sie diese Gefühle dann an anderen Stellen doch wieder als bloß subjektive Emotionen. Natur, Landschaft und auch Wildnis in diesem Das zeigt sich beispielsweise an ihrer Forde- Sinne als kulturelle Idee zu thematisieren, hat rung, emotionale (und eben nicht kulturelle) in den Geistes- und Geschichtswissenschaften Aspekte bei der Planung von Wildnis-Gebieten Tradition. Schama (1996) vertritt die These, stärker zu berücksichtigen: „Die Besonderheit dass Mythen unsere Wahrnehmungsweise von bei der Realisierung von Wildnisprojekten liegt Natur und Landschaft prägen. „Anstelle der darin, dass Emotionen freigelegt und themati- Annahme, dass sich abendländische Kultur siert werden, die in anderen Naturschutzpro- und Natur gegenseitig ausschließen, möchte jekten nur unterschwellig hineinspielen. Diesen ich die Intensität betonen, mit der sie miteinan- emotionalen Aspekten ist in Wildnisprojekten der verbunden waren und sind“ (Ebd., S. 23). besondere Aufmerksamkeit zu schenken“ Auch Stremlow und Sidler (2002, S. 8) „be- (Ebd., S. 60). Bei Jessel (1997) löst sich die schäftigen sich mit der Wildnis als kulturellem kulturelle Dimension in der „psychologisch- Phänomen.“ Sie „verstehen Wildnis nicht als emotionalen“ und der „ethischen“ Dimension ein Ökosystem, sondern als eine Wahrneh- auf; eine eigene Kategorie wird ihr bei der mungsweise von Natur, die hinsichtlich ihrer Auseinandersetzung mit dem Wildnis-Begriff Bedeutung für die Gesellschaft untersucht 17 nicht zugestanden . Ich möchte nicht bestrei- wird.“ Groh und Groh (1991) thematisieren, wie ten, dass „Wildnis“ in diesen Dimensionen sich die Wahrnehmung wilder Gebirgsland- ebenfalls untersucht werden kann, jedoch schaften verändert hat und lassen sich dabei muss in erster Linie die kulturelle Dimension von folgender These leiten: „Die sinnliche, die berücksichtigt werden, denn – das habe ich ästhetische Wahrnehmung von Natur ist immer oben anzudeuten versucht – sie ist diejenige durch Ideen, durch Vorstellungen präformiert. Ebene, auf der Ideen über Wildnis überhaupt Ideen, Vorstellungen generieren zuallererst 18 erst entstehen . den Gegenstand der Erfahrung“ (Ebd., S. 95).

– Wildnis als kulturelles Phänomen zu themati- 3.2 Wildnis als Gegenstand der Ökologie? sieren bedeutet also, nicht in erster Linie über Raumeigenschaften nachzudenken, sondern Oben, im Kapitel 2.1, wurde ansatzweise deut- primär über Wahrnehmungsweisen sowie die lich, wie die Ökologie verfährt, wenn sie „Wild- Gründe und Bedingungen ihres Auftretens und nis“ zu ihrem Gegenstand macht: Sie übersetzt ihrer Veränderungen. die kulturelle Idee in Begriffe, die ihr zugäng- lich sind, wie „Dynamik“, „Sukzessionsabläufe“, Andere Definitionen oder Betrachtungsweisen, „Mosaik-Zyklus“ usw. Die naturwissenschaftli- die sich häufiger in landschaftsplanerischen che Dimension der Wildnisauseinandersetzung Texten zum Thema Wildnis finden lassen, befasst sich demnach zwar mit Natur – ver- legen den Fokus auf ‘Emotionen’ und das ‘sub- standen als eine Natur, die bestimmten Ge- jektive Erleben’. Damit soll dem Problem setzmäßigkeiten unterliegt –, aber nicht mit Rechnung getragen werden, dass verschiede- Wildnis. nen Menschen Unterschiedliches als Wildnis gilt. „One man’s wilderness may be another’s (1) Die Naturwissenschaft Ökologie, Ökologie roadside picnic ground“ (Nash, 1967/1982, im engeren Sinne also, kann gar keinen Begriff S. 1). Die Diskussion um Wildnis und die Rea- von Wildnis haben, weil dieser Begriff eine lisierung von Wildnis-Gebieten gestalte sich in kulturelle Idee ist. Eine kulturelle Idee kann als der Praxis deshalb so schwierig und sei so solche niemals Gegenstand einer Naturwis- schwer zu verhandeln, weil „einiges an Emp- senschaft sein. Die Ökologie kann nur etwas finden für Wildnis als subjektiv zu bewerten“ ökologisch untersuchen, was im Alltagsdenken (Broggi, 1997, S. 89) sei. Das Wildnis-Thema als Wildnis ausgewiesen wurde. Sie kann also sei „stark von Emotionen, von oft sehr persön- ebenso wenig etwas über Wildnis sagen, wie lichen, gefühlsmäßig begründeten Werthaltun- beispielsweise die Physik über Musik – diese gen geprägt“ (Jessel, 1997, S. 9). Aber sind kann immer nur Aussagen über Luftschwin- das wirklich (nur) „sehr persönliche“, „subjekti- gungen treffen19. Ökologinnen und Ökologen ve“ Werthaltungen? Brouns bemerkt, dass das, können einen Gegenstandsbereich gleicher was beim Wildniserleben emotional erfahren Extension untersuchen wie diejenigen, die wird, durch kulturelle Muster geprägt sei: diese Gegenstände Wildnis nennen20. Aber nur „Wildnis [wird] primär emotional erfahren, da- diese anderen können einen Gegenstand, 20 Wildnis ist nicht gleich „Wildnis“

dessen Intension Wildnis ist, behandeln. Zu aus einer Reihe von Gründen, die zwar teilwei- einem Gegenstand dieser Intension kann die se schon anklangen, hier aber noch einmal Ökologie keinerlei Aussagen machen21. – Das pointiert werden sollen: gilt allerdings nur, wenn Wildnis in ihrer Pri- Als kulturelle Idee ist Wildnis nicht mit erfah- märbedeutung (beispielsweise als Brachfläche, rungswissenschaftlichen Methoden erfassbar. Reste von Urwäldern etc.) gemeint ist: Dann Wenn daher wirklich Wildnis Thema der Stadt- kann jedes dieser Objekte, die in kulturwissen- ökologie im weiteren Sinne werden soll (und schaftlicher Perspektive Wildnisse sind, auch nicht „Wildnis“), müssen Disziplinen hinzuge- ökologisch untersucht werden. Ist mit Wildnis zogen werden, die sich mit kulturellen Bedeu- aber z. B. „Stadt als Wildnis“ oder gar „innere tungen beschäftigen: Das sind zum einen Wildnis“ gemeint, dann kann sich die Ökologie Geistes- bzw. Kulturwissenschaften. Sie reflek- gar nicht äußern. tieren theoretisch Bedeutungen von Wildnis: Aber auch die Ökologie im weiteren Sinne tut welche Natur unter welchen Bedingungen von sich bei näherem Hinsehen mit Wildnis wem als Wildnis angesehen werden kann und schwer: was gemeint ist, wenn sie als das angesehen wird. Zum anderen sind das die gestalteri- (2a) Wenn die Stadtökologie sich als politische schen Disziplinen wie die Landschaftsarchitek- Ökologie versteht und meint, dass sich die tur oder der Städtebau: Ihnen geht es in der Ziele gesellschaftlichen Handelns und die rich- gestalterischen Praxis um die ästhetische tige Politik aus ihrem naturwissenschaftlichen Vermittlung kultureller Ideen. Blick aufs Ganze ergeben, dann verfällt sie dem falschen Glauben, Handlungsziele aus Aus ökologischer Sicht spricht ein forschungs- naturwissenschaftlichen Ergebnissen ableiten praktischer Grund für eine Einbeziehung der zu können22. Sie müsste sich stattdessen ei- kulturell-symbolischen Bedeutungen von Natur nen bescheideneren Platz geben und sich und Wildnis: Ohne Kenntnis der symbolisch- „nur“ als angewandte Naturwissenschaft, die kulturellen Bedeutung ist es überall dort, wo sich ihre Ziele vorgeben lässt, verstehen. die Vegetation „anthropogen“ ist, wo sie also kulturell beeinflusst bzw. entstanden ist, un- (2b) Wenn sich die Ökologie aber als ange- möglich, beispielsweise Vegetationsmuster zu wandte Naturwissenschaft versteht, dann steht verstehen. Darauf hat Hard im Anschluss an sie vor der oben erläuterten Schwierigkeit, Schmithüsen immer wieder verwiesen (bei- dass ihr Wildnis als Naturwissenschaft (als spielsweise Hard, 1995). Trepl (1992, S. 32) angewandte zwar, aber eben doch als Natur- meint dazu, dass „die rein physische Beschaf- wissenschaft) aus forschungslogischen Grün- fenheit urbaner ökologischer Systeme und ihre den nicht zugänglich ist. Sie kann dann nur räumliche Verteilung davon abhängig ist, was Natur untersuchen, die immer nur unter einer die Stadtnatur als symbolische für die Stadt- anderen als der ökologischen Perspektive bewohner bedeutet und wie sich diese dem- Wildnis ist. nach ihr gegenüber verhalten. Man versteht Ökologische Stadtgestaltung kann also nie- z. B. ohne Rekurs auf Kulturgeschichte vieles mals ein umfassendes Programm sein, son- an der räumlichen Verteilung von Flora und dern immer nur einen allenfalls gleichberech- Vegetation einfach nicht.“ tigten Aspekt neben sozialer, ökonomischer Eine Herangehensweise, die diesen kulturellen und ästhetisch-kultureller Stadtgestaltung dar- Aspekt, die symbolische und ästhetische Be- stellen. Das würde bedeuten, dass sich die deutung von Stadtnatur und Stadt-Wildnis nicht stadtökologische Forschung im weiteren Sinne in ihr Forschungsprogramm integriert, muss als angewandte Naturwissenschaft von ande- sich also bewusst sein, dass sie eine Perspek- ren Wissenschaften, beispielsweise den Sozi- tive auf Stadt-Wildnis außer Acht lässt – und alwissenschaften, sagen lässt, auf welches zwar gerade die Perspektive, unter der es Problem, d. h. zu welchen Zwecken, die ökolo- (Stadt-)Wildnis überhaupt nur geben kann und gischen Erkenntnisse angewendet werden die unverzichtbar ist für die Auswahl, die man sollen. Genau das kann im Rahmen transdis- bei einer naturwissenschaftlichen Untersu- ziplinärer Zusammenarbeit geschehen – denn chung von Stadtnatur treffen muss und die es ist ja eben Zusammenarbeit, und nicht Ver- schließlich, wie eben gesehen, notwendig ist, schmelzung zu oder in einer Wissenschaft um die Beschaffenheit „anthropogener“ Natur höheren Typs. zu erklären.

3.3 Wieso soll und wie kann Wildnis als kultu- 4. Schlussfolgerungen relle Idee berücksichtigt werden? Was kann aus dem hier Gesagten für die Ar- Bei einer Beschäftigung mit Wildnis in der beit von Stadtökologinnen und -ökologen fol- Stadt muss es primär um die Ebene des kultu- gen? Ich möchte hier abschließend einige rellen Sinns und der Ästhetik gehen. Und das Punkte noch einmal aufgreifen und zuspitzen. 21 Vera Vicenzotti

(1) Wildnis ist ein kultureller Gegenstand. Auf Dank der physisch-materiellen Ebene und mit den Ludwig Trepl, Annette Voigt und Angela Weil Methoden der Naturwissenschaften kann zu danke ich für Anregungen und Kritik. Wildnis als Idee nichts ausgesagt werden. Bei einer naturwissenschaftlichen Beschäftigung mit „Wildnis“ erfährt man zwar etwas über die 1 23 Diese Interpretation ist stark vereinfacht; vgl. zu Natur (im naturwissenschaftlichen Sinn) auf einer kritischen Betrachtung gängiger Interpretati- diesen Flächen, aber nichts über Wildnis. Es onen Hoheisel (2002) mit weiterführenden Litera- muss folglich beim Thema Wildnis immer auch turangaben. um Sinnfragen gehen. Wenn es der Stadtöko- 2 So der Titel der 1. Tagung des Kompetenz- logie i. w. S. also tatsächlich um Wildnis geht, netzwerkes Stadtökologie CONTUREC, die vom muss sie nicht nur mit den (empirischen) Sozi- 26.–28.Oktober 2006 in Darmstadt stattfand, aus der dieser Band hervorgegangen ist. alwissenschaften, sondern auch, ja primär mit 3 Geistes- bzw. Kulturwissenschaften und in der So beschäftigten sich beispielsweise auch auf der Tagung „Perspektiven und Bedeutung von Praxis mit gestaltenden Disziplinen zusam- Stadtnatur für die Stadtentwicklung“ einige Vor- menarbeiten. tragende mit Wildnis. Überhaupt lässt sich in der (2) Problematisch ist eine naturwissenschaftli- Gesellschaft heute ein enorm gesteigertes Inte- che Behandlung von „Wildnis“ nur dann, wenn resse an „Wildnis“ und auch an „Wildnis in der Stadt“ beobachten. Das zeigt sich vor allem in ei- wirklich Wildnis thematisiert werden soll. Wenn ner Konjunktur von Freizeitaktivitäten wie „Aben- man im Rahmen der Stadtökologie beispiels- teuerurlaub“ und verschiedenen Extremsportar- weise fragt, welchen Beitrag eine Brachfläche ten, aber auch in der Werbung, in pädagogischen zur Erhaltung städtischer Biodiversität leistet, Konzepten und in Gestaltungen der Landschafts- dann ist das ein Thema angewandter Natur- architektur. Mit der Internetsuchmaschine Google, wissenschaften und bleibt von dem hier Ge- die es wohl erlaubt, grob gesellschaftliche Trends sagten unberührt. Wenn es aber tatsächlich auszumachen, finden sich interessanterweise um Wildnis gehen soll und die Menschen nicht mehr Treffer zu „Wildnis“ (2.010.000) als zu „Kul- nur als Sauerstoff veratmende Lebewesen turlandschaft“ (1.560.000). (Suchdatum 10. Janu- ar 2007). angesehen werden, sondern beispielsweise 4 Mich interessiert hier weniger, dass Stadt und als Personen mit bestimmten ästhetischen Wildnis ursprünglich extreme Gegensätze waren oder Erholungsvorlieben, dann wird das Aus- und dass zu Beginn der Kulturentwicklung gerade gehen von kulturellen Bedeutungen unerläss- die Stadt Schutz vor der Wildnis bot. Mittlerweile, lich. das sei hier kurz angedeutet, ist dieser Gegen- satz in bestimmter Hinsicht undeutlich geworden: (3) Dieser Beitrag soll nicht so missverstanden Stadt und Wildnis sind keine Gegensätze mehr, werden, dass ich Ökologinnen und Ökologen, es gibt Wildnis in der Stadt, und die Stadt selber weder im weiteren noch im engeren Sinne, kann als Wildnis betrachtet werden (siehe dazu oder auch Planerinnen und Planer davon ab- auch Kapitel 2.2). 5 halten möchte, den Begriff „Wildnis“ zur Be- Es soll hier nicht bestritten werden, dass die nennung ihres Forschungsgegenstandes zu Ökologie durchaus sinnvolle Aussagen zu etwas verwenden. Denn meist ist es tatsächlich das machen kann, was auch sie „Wildnis“ nennt. Sie Interesse an Wildnis als kulturellem Phäno- kann beispielsweise bestimmte Sukzession- sabläufe untersuchen, thema-tisiert dann aber men, das sie dazu bewogen hat, gerade in nicht Wildnis als Idee. Gebieten, die als Wildnis gelten, bestimmte 6 Die Differenzierung der Bezeichnungen „Ökolo- Prozesse zu erforschen. Den Wildnisbegriff um gie i. w. S.“ und die unten eingeführte „Ökologie jeden Preis vermeiden zu wollen, beispielswei- i. e. S.“ geht auf Sukopp & Wittig (1989) zurück. se weil er sich einer naturwissenschaftlichen Diese Bezeichnungen sind nicht so zu verstehen, oder überhaupt einer eindeutigen Definition dass sie einen quantitativen Unterschied, bei- entzieht und das als unwissenschaftlich ange- spielsweise des Gegenstands-bereiches, kenn- sehen wird, führt zur Verwendung von Um- zeichnen. Der Unterschied ist vielmehr qualitativ. schreibungen. Die wirken vielfach konstruiert, Die Bezeichnungszusätze „enger“ und „weiter“ sind jedoch in bestimmtem Sinne trotzdem ge- weil sie das eigentlich Gemeinte, Wildnis, e- rechtfertigt. Sie beziehen sich auf die Vorstellung, benso wenig treffen wie der schöne Augusttag dass „Ökologie i. w. S.“ nicht nur etwas Anderes im eingangs erwähnten Musil-Zitat durch ba- ist als „Ökologie i. e. S.“. „Ökologie i. w. S.“ ist in rometrische Minima, Maxima und Isotheren einem bestimmten Sinn wirklich „mehr“, weil sie getroffen wird24. Dieser Beitrag möchte viel- „Ökologie i. e. S.“ und anderes (nämlich den Kon- mehr auf ein Problem aufmerksam machen text: die politischen Interessen, oder, auf der E- und so zum Nachdenken und Forschen über bene der Wissenschaften, die sozialwissenschaft- Wildnis anregen. lichen Disziplinen, die sich mit diesen Interessen befassen, usw.) einschließt und dieses andere nicht nur einfach daneben stellt.

22 Wildnis ist nicht gleich „Wildnis“

7 „Wildnis“ steht immer dann in Anführungszei- ist auch Gegenstand beispielsweise folgender Ar- chen, wenn nicht – wie eingangs erläutert – Wild- beiten: Nash (1967/1982), Groh & Groh (1991), nis als Idee, als kulturelles Phänomen gemeint ist. Praxenthaler (1996), Schama (1996), Stremlow & 8 Die ausschließlich botanischen Beispiele, auf Sidler (2002), Elitzer et al. (2005), Hoheisel et al. die Jessel (1997) sich hier bezieht, sollten nicht (2005), Kangler (2006), Vicenzotti (2006), Kangler zu dem Schluss verleiten, dass sich Zoologen & Vicenzotti (2007), Siegmund (2007). nicht mit der Stadt befassen, vgl. dazu den Bei- 19 Der Zoologe Portmann hat diese Problematik trag von Markus Dietz zum „Frankfurter Nachtle- anhand eines Vergleichs mit einem Theaterstück ben“ in diesem Band, der sich mit Fledermauspo- veranschaulicht. „Meine Wissensbegierde kann pulationen in Frankfurt am Main beschäftigt, oder mich hinter die Bühne führen und dort eine Men- auch Arbeiten von Josef Reicholf. Ob sich die ge interessanter Dinge beobachten lassen. Da These halten lässt, dass zoologische Arbeiten entdecke ich, wie Geräusche gemacht werden, seltener als botanische von „Wildnis“ in der Stadt wie Lichteffekte erzeugt, wie die Schauspieler sprechen, wäre zu überprüfen. vorbereitet und geführt werden. […] Vor der Büh- 9 Damit soll natürlich nicht bestritten werden, ne aber sehen wir etwas ganz anderes als hinter dass es innerökologisch gute Gründe gibt, zwi- der Bühne. Wir erleben ein ‘Stück’, einen sinnvol- schen den ökologischen Vorgängen in einem len Ablauf. Und je weniger wir von der Apparatur Moor, oder Regenwald oder in der Stadt zu unter- hinter der Bühne wissen, desto stärker vermag scheiden. Aber prinzipiell ist die Methode diesel- dieser Ablauf, dieser eigentliche Sinn des Schau- be: „Natur ist im Verständnis der modernen Na- spiels, auf den hingegebenen Beschauer wirken“ turwissenschaften weniger ein bestimmter Ge- (Portmann, 1956/1978, S. 261; Hervorh. i. O.). genstandsbereich, der anderen Gegenstandsbe- Diesen Eindruck, den das Stück auf den Zu- reichen (z. B. ‘Geist’) gegenüberstünde, sondern schauer macht, kann man „als ergriffener Teil- das, was sich in einer bestimmten methodischen nehmer genießen“ (ebd.) oder aber kunsthisto- Einstellung ergibt. Charakteristisch für diese Me- risch, psychologisch und kultur-, theater- sowie thode ist zum einen, dass sie nach allgemeinen, literaturwissenschaftlich untersuchen. gesetzmäßigen Zusammenhängen sucht (‘no- 20 Und das sollen sie auch. Dieser Beitrag soll mothetisch’ verfährt), zum anderen die Wertfrei- nicht so missverstanden werden, dass ich der heit“ (Trepl et al., 2005, S. 686; Hervorh. i. O.). Stadtökologie i. e. S. abspreche, sinnvolle For- 10 Ausführlicher zur Wildnismetapher für die Stadt schung zu betreiben. Im Gegenteil: Ich argumen- Vicenzotti (2006). tiere für die richtige Wissenschaft am richtigen 11 Andeutungen zum Zusammenhang der Motive Platz und bestimmte Aspekte von „Wildnis“ kön- Dschungel und Wüste mit der stadt- und land- nen eben nur mit naturwissenschaftlichen Metho- schaftsplanerischen Diskussion finden sich in den erforscht werden. Kangler & Vicenzotti, 2007. 21 Schon Rickert weist darauf hin, dass der Un- 12 Dieser Ausdruck stammt von Riehl (1850). terschied zwischen den Naturwissenschaften und 13 Dass Wildnis auch eine Bedeutung als „Nicht- den Geistes- bzw. Kulturwissenschaften nicht dar- Landschaft“ im Sinne einer unbekannten Gegend in zu suchen ist, dass sie andere Gegenstände haben kann, zeigt Kangler (2006). untersuchen (Rickert, 1899, S. 15). Die Unter- 14 „Zur Landschaft [und also auch zur Wildnis] scheidung würde sich nicht auf einen materialen, gehört korrelativ ein Subjekt, das sich als indivi- sondern einen formalen Gesichtspunkt beziehen, duell versteht und sich deshalb auch die Natur in d. h. er verortet ihn in der Methode: „‘Die Wirk- dieser Weise vorstellt“ (Trepl et al., 2005, S. 691). lichkeit wird Natur, wenn wir sie betrachten mit Vergleiche zur Landschaft als durch das Subjekt Rücksicht auf das Allgemeine, sie wird Geschich- konstituiertes Objekt vor allem die klassischen te [allgemeiner: Gegenstand der Geistes- bzw. Texte von Simmel (1913/1957) und Ritter Kulturwissenschaften], wenn wir sie betrachten (1963/1989), sowie Piepmeier (1980), Groh & mit Rücksicht auf das Besondere.’ So habe ich Groh (1991) und Seel (1996). selbst, um zwei rein logische Begriffe von Natur 15 Man könnte auf einer viel grundlegenderen und Geschichte zu gewinnen, mit denen nicht Ebene anmerken, dass, wenn der Mensch nicht zwei verschiedene Realitäten sondern nur diesel- denkt, er überhaupt keine Begriffe haben kann, be Wirklichkeit unter zwei verschiedenen Ge- weder einen von Wildnis noch sonst irgendeinen. sichtspunkten gemeint ist, das logische Funda- 16 Das Schöneberger Südgelände, eine ehemali- mentalproblem einer Gliederung der Wissen- ge Berliner Bahnbrache, ist ein viel zitiertes Bei- schaften nach ihren Methoden zu formulieren spiel in der Literatur, an dem diese unterschiedli- versucht“ (Rickert, 1899, S. 38, mit Zitat von Win- chen Einschätzungen deutlich werden (vgl. z. B. delband). Kowarik et al., 2004.). 22 Siehe zu den Problemen einer Stadtökologie 17 Jessel (1997) unterscheidet mehrere „Dimen- mit diesem Selbstverständnis Trepl (1992 und sionen“, die die „Auseinandersetzung mit dem 1992a). Wildnisbegriff“ ihrer Ansicht nach wesentlich prä- 23 Natürlich kann sich die Naturwissenschaft nicht gen: die naturwissenschaftliche Dimension, die nur mit natürlichen, sondern auch mit artifiziellen psychologisch-emotionale, die ethische, die utili- Objekten befassen; siehe Fußnote 9. taristisch-zweckbestimmte Dimension sowie 24 „Dynamik-Inseln“ (Zucchi & Stegmann, 2006) „Wildnis“ als Schutzkategorie (alle Zitate Jessel, ist ein solcher Versuch, Wildnis zu umschrieben. 1997, S. 9 ff.). Obwohl die Autoren gute Gründe dafür geltend 18 Wie eine solche Berücksichtigung kultureller machen, den Begriff Wildnis nicht zu verwenden, Dimensionen beim Nachdenken über Wildnis aus- wirkt ihre Wortschöpfung doch sehr angestrengt: sehen kann, ist ansatzweise in Kapitel 2.2 deut- „Das Vorhaben ‘Machbarkeitsstudie und modell- lich geworden. Wildnis als kulturelles Phänomen hafte Erprobung des SON-Programms ,Dynamik- 23 Vera Vicenzotti

Inseln für die Kulturlandschaft'’ greift den relativ tät Bochum. URL. neuen Naturschutz-Ansatz der uneingeschränk- http://hdl.handle.net/2003/2959 (zuletzt ten Entwicklungsmöglichkeit von Natur (Wildnis- aufgerufen am 30.11.2006). entwicklung), der an vielen Stellen ‘schwelt’, mit Hoheisel, D., Trepl, L. & Vicenzotti, V. (2005). dem Ziel auf, ein Konzept für ‘Wildnisflächen vor Berge und Dschungel als Typen von Wild- der Haustür’ (Dynamik-Inseln in der Normalland- schaft) zu entwickeln“ (Zucchi & Stegmann, nis. – Berichte der ANL (29). S. 42-50. 2006a). Vor allem aber trifft der Begriff nicht das, Jessel, B. (1997). Wildnis als Kulturaufga- was gemeint ist. Wildnis muss nicht dynamisch be? – Nur scheinbar ein Widerspruch! Zur sein, sie kann auch „erstarrt“ sein wie die „Eis- Bedeutung des Wildnisgedankens für die wüste“. Naturschutzarbeit. In: Bayerische Akade- mie für Naturschutz und Landschaftspflege (ANL) (Hrsg.). Wildnis – ein neues Leit- Literatur bild!? Möglichkeiten und Grenzen unge- Becker, C. W. & Giseke, U. (2004). Wildnis störter Naturentwicklung für Mitteleuropa. als Baustein künftiger Stadtentwicklung. – Laufener Seminarbeiträge (1/97). Lau- Garten und Landschaft. 114. Jg. (2). S. 22- fen/Salzach. S. 9-20. 23. Jessel, B. (1997a). Einführung in das Thema Broggi, M. F. (1997). Wo ist Wildnis nötig und und Ergebnisse der Fachtagung vom 11.– sinnvoll? Gedanken zur Umsetzung in der 12. März 1997 in Eching bei München. In: Kulturlandschaft des Alpenraums vor dem Bayerische Akademie für Naturschutz und Hintergrund des Strukturwandels. In: Bay- Landschaftspflege (ANL) (Hrsg.). Wildnis – erische Akademie für Naturschutz und ein neues Leitbild!? Möglichkeiten und Landespflege (ANL) (Hrsg.). Wildnis – ein Grenzen ungestörter Naturentwicklung für neues Leitbild!? Möglichkeiten und Gren- Mitteleuropa. Laufener Seminarbeiträge zen ungestörter Naturentwicklung in Mit- (1/97). Laufen/Salzach. S. 5-8. teleuropa. Laufener Seminarbeiträge Kangler, G. (2006). Ideen vom Bayerischen (1/97). Laufen/Salzach. S. 87-92. Wald zwischen Wildnis und Kulturland- Broggi, M. F. (1999). Ist Wildnis schön und schaft. In: Kazal, I., Voigt, A., Weil, A. & "nützlich"? In: Konold, W.; Böcker, R. & Zutz, A. (Hrsg.). Kulturen der Landschaft. Hampicke, U. (Hrsg.). Handbuch Natur- Ideen von Kulturlandschaft zwischen Tra- schutz und Landschaftspflege. Ecomed. dition und Modernisierung. Landschafts- Landsberg. S. 1-7. entwicklung und Umweltforschung. Schrif- Brouns, E. (2004). Ist Wildnis planbar? – Na- tenreihe der Fakultät Architektur Umwelt tur und Landschaft. Jg. 79 (2). S. 54–63. Gesellschaft der Technischen Universität CONTUREC (2006). http://www.conturec.de/ Berlin. Bd. 127. Universitätsverlag der TU (letzte Aktualisierung: 28.08.2006; aufge- Berlin. Berlin. S. 237-255. rufen am 29.11.2006). Kangler, G. & Vicenzotti, V. (2007). Elitzer, B., Ruff, A., Trepl, L. & Vicenzotti, V. STADT.LAND.WILDNIS. Das Wilde in Na- (2005). Was sind wilde Tiere? – Berichte turlandschaft, Kulturlandschaft und Zwi- der ANL (29). S. 51-60. schenstadt. In: Bauerochse, A., Haßmann, Groh, R. & Groh, D. (1991): Weltbild und H. & Ickerodt, U. (Hrsg.). Kulturlandschaft. Naturaneignung. Zur Kulturgeschichte der Administrativ – digital – touristisch. Initiati- Natur. Suhrkamp. Frankfurt am Main. ven zum Umweltschutz. Bd. 67. Erich 176 S. Schmidt Verlag. Berlin. (Im Druck). Hard, G. (1995). Spuren und Spurenleser. Zur Kowarik, I., Körner, S. & Poggendorf, L. Theorie und Ästhetik des Spurenlesens in (2004). Südgelände: Vom Natur- zum Er- der Vegetation und anderswo. Universi- lebnispark. – Garten und Landschaft. 114. tätsverlag Rasch. Osnabrück. 197 S. Jg. (2). S. 24-27. Haubl, R. (1999). Angst vor der Wildnis – An Nash, R. (1967/1982). Wilderness and the den Grenzen der Zivilisation. In: Bayeri- American Mind. 3. Aufl. Vail-Ballou Press. sche Akademie für Naturschutz und Land- Binghamton. N.Y.. 425 S. schaftpflege (ANL) (Hrsg). Schön wild soll- Piepmeier, R. (1980). Das Ende der ästheti- te es sein… Wertschätzung und ökonomi- schen Kategorie 'Landschaft'. Zu einem sche Bedeutung von Wildnis. Laufener Aspekt neuzeitlichen Naturverhältnisses. Seminarbeiträge (2/99). S. 47-56. In: Westfälische Forschungen. Mitteilun- Henne, Sigurd (2004): Element der Zwischen- gen des Provinzialinstituts für Westfälische landschaft. – Garten und Landschaft, 114. Landes- und Volksforschung des Landes- Jg. (2). S. 28-29. verbandes Westfalen- 30. S. 8-46. Hoheisel, C. (2002). Physik und verwandte Portmann, A. (1956/1978). Biologie und Geist. Wissenschaften in Robert Musils Roman 2. Aufl. Suhrkamp. Frankfurt am Main. Der Mann ohne Eigenschaften.(dmoe) Ein 339 S. Kommentar. Dissertation an der Universi- 24 Wildnis ist nicht gleich „Wildnis“

Praxenthaler, J. (1996). Wildnis. Vom Ort des Trepl, L. (1992a). Stadt-Natur. Ökologie, Her- Schreckens zum Ort der Sehnsucht nach meneutik und Politik. In: Rundgespräche der Vergöttlichung – die Idee der Wildnis der Kommission für Ökologie. Verlag Dr. vor dem Hintergrund der Veränderungen Friedrich Pfeil. München. Bd. 4. S. 53-58. des Naturverständnisses in der Neuzeit. – Trepl, L.; Kirchhoff, T. & Voigt, A. (2005). Na- Diplomarbeit am Lehrstuhl für Land- tur. In: Akademie für Raumforschung und schaftsökologie der Technischen Universi- Landesplanung (ARL) (Hrsg.). Handwör- tät München. München. 112. S. URL: terbuch der Raumordnung. Verlag der http://www.wzw.tum.de/loek/forschung/ ARL. Hannover. S. 685-692. download/wildnis_dipl_praxenthaler.pdf Vicenzotti, V. (2006). Kulturlandschaft und (zuletzt aufgerufen am 10.01.2007). Stadt-Wildnis. In: Kazal, I., Voigt, A., Weil, Rickert, H. (1899). Kulturwissenschaft und A. & Zutz, A. (Hrsg.). Kulturen der Land- Naturwissenschaft. Ein Vortrag. J.C.B. schaft. Ideen von Kulturlandschaft zwi- Mohr (Paul Siebeck). Leipzig/Tübingen. schen Tradition und Modernisierung. 71 S: Landschaftsentwicklung und Umweltfor- Riehl, W. H. (1850). Das landschaftliche Au- schung. Schriftenreihe der Fakultät Archi- ge. In: Ders. (Hrsg.). Kulturstudien aus drei tektur Umwelt Gesellschaft der Techni- Jahrhunderten. Cotta'scher Verlag. Stutt- schen Universität Berlin. Bd. 127. Universi- gart/Berlin. S. 61-86. tätsverlag der TU Berlin. Berlin. S. 221- Ritter, J. (1963/1989). Landschaft. Zur Funkti- 235. on des Ästhetischen in der modernen Ge- Waldheim, Ch. (2006). Introduction: A Refer- sellschaft. In: Ders. (Hrsg.). Subjektivität. ence Manifesto. In: Ders. (Hrsg.). The Sechs Aufsätze. Suhrkamp. Frankfurt am Landscape Urbanism Reader. Princeton Main. S. 141–163; S. 172-190. Architectural Press. New York. S. 13-19. Schama, S. (1996). Der Traum von der Wild- Zucchi, H. & Stegmann, P. (2006). Zwischen- nis. Natur als Imagination. Kindler. Mün- bericht. Machbarkeitsstudie und modellhaf- chen. 704 S. te Erprobung des SON-Programms „Dy- Seel, M. (1996). Eine Ästhetik der Natur. namik-Inseln für die Kulturlandschaft“. Suhrkamp. Frankfurt am Main. 389 S. Stand: 24.07.2006. Fachhochschule Os- Siegmund, A. (2007). Vom Götterhain zum nabrück: 70 S. URL.: http://www.al.fh- ‘wilden Gärtnern’: die Geschichte der osnabrueck.de/uploads/media/ Zwischen- Wildnisvorstellungen in der Gartenkunst. bericht_2006_03.pdf (aufgerufen am In: Verhandlungen zur Geschichte und 11.01.2007). Theorie der Biologie. Bd. 14. (Im Druck). Zucchi, H. & Stegmann, P. (2006a). Machbar- Simmel, G. (1913/1957). Das Schöne und die keitsstudie und modellhafte Erprobung des Kunst. Philosophie der Landschaft. In: SON-Programms „Dynamik-Inseln für die Landmann, M. (Hrsg.). Brücke und Tür. Kulturlandschaft“. URL: http://www.al.fh- Essays des Philosophen zur Geschichte, osnabrueck.de/dynamikinsel.html (letzte Religion, Kunst und Gesellschaft. Koehler. Aktualisierung am 28.07.2006, aufgerufen Stuttgart. S. 141–152. am 30.11.2006). Stremlow, M. & Sidler, C. (2002). Schreibzüge durch die Wildnis. Wildnisvorstellungen in Anschrift Literatur und Printmedien der Schweiz. Dipl.-Ing. Vera Vicenzotti Bristol-Schriftenreihe. 8. Haupt. Bern/Stutt- TU München gart/Wien. 192 S. Lehrstuhl für Landschaftsökologie Sukopp, H. (2003). Vom Gegensatz ‘Stadt vs. Am Hochanger 6 Natur’ zur Entdeckung der Stadtnatur. Wie D-85350 Freising-Weihenstephan kam es zur Entdeckung der ‘StadtNatur‘ E-Mail: [email protected] als Gegenstand der Ökologie? In: Bayer.

Landesamt für Umweltschutz & Evang. Akademie Tutzing (Veranst.). StadtNatur – Bedeutung der Stadt für die Natur und der Natur für die Stadt (Augsburg 02./03. 06. 2003). Augsburg. S. 4. Sukopp, H. & Wittig, R. (1989). Stadtökologie. Ein Fachbuch für Studium und Praxis. 2. Aufl. Gustav Fischer Verlag. Stuttgart/ Jena/Lübeck/Ulm. 474 S. Trepl, L. (1992). Natur in der Stadt. – Schrif- tenreihe des Deutschen Rates für Landes- pflege. Bd. 5. Heft 61. S. 30–32.

25

CONTUREC 2 (2007) Seite 27 bis 33

Freiräume in prosperierenden Agglomerationen - Transformationen durch Synergieprojekte

Open spaces in prospering agglomerations – Transformation through synergism

BARBARA BOCZEK

Zusammenfassung In prosperierenden Metropolregionen wie der Rhein-Main-Region stehen Freiflächen weiterhin in Kon- kurrenz mit siedlungsbezogenen Nutzungen. Für ihren Erhalt bietet eine rechtliche Unterschutzstel- lung allein keine Gewähr. Zudem haben sich mit dem ökonomischen und dem sozialen Wandel die Anforderungen und Bedarfe an diese Freiflächen verändert. Der Beitrag zeigt auf, welche Strategien in Anbetracht der Flächenkonkurrenz möglich sind, um Frei- räume für aktuelle Anforderungen, insbesondere die Erholungsnutzung, zu qualifizieren. Beleuchtet wird der Handlungsspielraum von Kommunen und Verbänden in Anbetracht verringerter Haushalts- budgets und stetig fortscheitenden Veränderungen. Bei der Weiterentwicklung der Freiräume rücken mögliche Synergien aus kompatiblen Interessen unterschiedlicher Akteure in den Vordergrund. Gelingt es, diese für die Entwicklung einer bewussten, qualitätvollen Gestaltung der urbanen Landschaft zu gewinnen und zu vernetzen, kann über Partialin- teressen hinaus ein gesellschaftlicher Mehrwert erzielt werden.

Urbane Landschaft, Synergieprojekte, Akteursvernetzung, neue Kerne.

Summary In prospering metropolitan areas such as the Rhine-Main region, open spaces continue to compete with settlement-related land uses. Their statutory designation as protected does not suffice by itself to preserve such spaces. Moreover, in step with economic and social change the requirements and de- mands upon these open spaces have also altered. The paper highlights the strategies available when faced with competing land uses to qualify open spaces for present requirements, notably recreational use. It goes on to explore the scope for action available to local authorities and associations in view of tightening budgets and advancing changes. In the future development of open spaces, potential synergies between compatible interests of differ- ent stakeholders are gaining importance. Approaches which succeed in harnessing and integrating these synergies for the development of a targeted, high-quality shaping of urban landscapes will gen- erate societal added value above and beyond specific stakeholder interests.

Urbane Landschaft Flächentransformation Mit ‘urbaner Landschaft’ wird in diesem Bei- In den prosperierenden Metropolregionen führt trag der gesamte Raum einer Agglomeration Siedlungswachstum in der Regel zu Freiraum- bezeichnet, die besiedelten als auch die un- schrumpfung. Derzeit ist die Nutzungsvertei- besiedelten Teile. Von Letzeren ist im Fol- lung auf dem Gebiet des Planungsverbandes genden als den ‘Freiräumen’ die Rede. Der Frankfurt/Rhein-Main etwa gedrittelt: je ein Beitrag stützt sich auf ein Forschungsprojekt Drittel der Flächen sind landwirtschaftlich oder der Verfasserin im Rahmen des Forschungs- forstwirtschaftlich genutzt, ein weiteres Drittel verbundes ‘Qualifizierung der Zwischenstadt’ ist besiedelt. der Daimler-Benz-Stiftung zur urbanen Land- Die Besiedelung während der letzten 50 Jahre schaft am Beispiel der Rhein-Main-Region. hat sich trotz oder gerade wegen zahlloser

Einzelplanungen nicht zu einer im Raum ab- lesbaren Figur entwickelt (vgl. Sieferle, 1997), Barbara Boczek

sondern ergibt zusammen mit den gewachse- seines hohen ideellen Wertes in Deutschland nen Infrastrukturanlagen ein unübersichtliches halten. Konglomerat. Das Ergebnis dieses Wachstums von der Stadt zur Stadtlandschaft oder urba- Flächensicherung nen Landschaft ist ein Flickwerk mit sich stän- Zwar sind in der Rhein-Main-Region ca. 77 % dig wiederholenden Flicken aus Siedlungen der Gesamtfläche (LP UVF, 2001) – und somit und Reststücken von Freiflächen. Beide sto- nahezu die gesamten Freiräume – als Schutz- ßen unvermittelt aneinander oder werden gebiete ausgewiesen, doch auch eine rechtli- durch Verkehrsbänder weiter fragmentiert, was che Unterschutzstellung bietet letztendlich Zugänglichkeiten und Orientierung im Raum keine Gewähr, dass nicht andere Interessen der urbanen Landschaft erschwert. zum Wohle der Allgemeinheit eine gravierende Trotz einer demografischen Entwicklung hin zu Nutzungsänderung bewirken. So war eine einer Bevölkerungsstagnation in der Rhein- Woche vor Beginn der Tagung zu lesen, dass Main-Region (PVFRM et al., 2004) wird ein mit der Novellierung des Naturschutzgesetzes weiteres Siedlungswachstum – und damit ein die Landschaftsschutzgebiete in Hessen recht- weiterer Freiflächenrückgang – prognostiziert lich zurückgenommen werden (FR 20.10.06). (BMVBW, 2005). Dies liegt zum einen an stei- Daher braucht es ergänzende Strategien, um genden Flächenansprüchen der Nutzer und Belange des Naturschutzes oder der Landwirt- Akteure in prosperierenden Regionen, z. B. bei schaft durchzusetzen. Wohnraumflächen und zum anderen an der ökonomisch meist höheren Rentabilität bei Bedarf an Erholungsräumen einer Neubesiedelung von Freiflächen anstelle Während also der Bedarf an landwirtschaftli- einer Umnutzung von Brachflächen. Zudem chen Flächen aus volkswirtschaftlicher Sicht sind Brachflächen in der Rhein-Main-Region nicht mehr gegeben ist, so ist zunächst zu nur in begrenztem Maße vorhanden (Boczek, konstatieren, dass eine Nachfrage seitens der 2007, S. 133). Landwirte nach den äußerst fruchtbaren Böden

Frankfurts und seines nördlichen Umlandes nach wie vor vorhanden ist. Parallel dazu steigt aufgrund der Siedlungstä- tigkeit der Bedarf an Freiflächen für Kompen- sationsmaßnahmen im Rahmen der Eingriffs- Ausgleichsregelung (Kompensationsverord- nung, 2005), deren Sinnhaftigkeit hier nicht diskutiert werden soll. Feststellen lässt sich, dass es den Kommunen an Flächen mangelt, insbesondere an den im Rahmen von Biotop- vernetzungskonzepten im Landschaftsplan festgeschriebenen Flächen, so dass bei der Realisierung von Kompensationen oftmals Abb.1: Patchwork-Charakter urbaner Landschaft. Graphik: pragmatisch verfügbaren Standorten der Vor- Büro topos, Darmstadt. zug gegeben wird (Boczek, 2007).

Gleichzeitig nimmt der Bedarf an Freiräumen Bedeutungswandel für die Erholungs- und Freizeitnutzung zu, Bisher geht die Besiedlung im Wesentlichen zu nicht nur aufgrund der gestiegenen Bevölke- Lasten von Landwirtschaftsflächen, da sich die rung, sondern auch aufgrund der gestiegenen Bedeutung der Freiräume gewandelt hat. Die erwerbsfreien Zeit. Doch mit ca. 2 % in 2005 Versorgung der Stadt mit Nahrungsmitteln, ist im Gebiet des Planungsverbandes nur ein aber auch mit Wasser, Energie und Baustoffen sehr geringer Flächenanteil explizit der Erho- war die klassische Aufgabe ihres unmittelbaren lungsnutzung gewidmet (Hess. Statist. Lan- Umlandes. Mittlerweile wird die Versorgung in desamt und Stadt Frankfurt, 2005). den Stadtregionen der Industrienationen durch ein globales Netzwerk gewährleistet, was wie- Handlungsbedarf und -fähigkeit derum den Flächenbedarf für Güterverkehr Wie die Erfahrungen spätestens seit dem Pro- steigen lässt. jekt IBA Park 1989 – 1999 zeigen, Der Wald, der ähnlich der Landwirtschaft seine dient in strukturschwachen Regionen die Auf- ökonomische Bedeutung und Versorgungs- wertung der urbanen Landschaft als Erho- funktion in der Agglomeration verloren hat, lungslandschaft dazu, durch ein attraktives kann seinen Flächenanteil nicht nur wegen der Wohnumfeld Einwohner zu halten und neue Unterschutzstellung, sondern vor allem wegen Betriebe hinzuzugewinnen. In ökonomisch

28 Freiräume in prosperierenden Agglomerationen

prosperierenden Regionen ist die größte At- sammenarbeit mit den Akteuren vor Ort ge- traktivität das Arbeitsplatzangebot, was Akteu- schehen. re aus der Politik dazu zu verleiten scheint, Dabei ist zu prüfen, wie die Pluralität der Ak- sich nicht explizit um die Entwicklung der Frei- teure genutzt werden kann, um neue Allianzen räume zu bemühen. So leistet es sich die Re- und Kooperationen zu erzeugen bzw. deren gion Rhein-Main noch, wenig zu agieren und Vernetzungen zu unterstützen. Statt Flächen- zu investieren: Dem Planungsverband wurden konkurrenzen oder -abgrenzungen sollten bei die Aufgaben für überregionale Freizeiteinrich- Flächentransformationen künftig Projekte mit tungen entzogen, die neu gegründete Dachge- Nutzungsverknüpfungen von (mindestens sellschaft der Regionalpark GmbH muss im zwei) Akteursgruppen gefördert werden. Vergleich zu anderen Regionen ohne nen- nenswerte Mittel von Land und Kommunen Fragt man nach der Kooperationsbereitschaft auskommen. der Akteure, so mag diese nicht gleich offen- sichtlich werden. Die Motivation kann jedoch Es fehlen Angebote für Freizeit und Erholung, geweckt werden, wenn es gelingt, den Akteu- Flächen und Aufenthaltsräume in den so ge- ren zunächst die eigenen Vorteile zu verdeutli- nannten Außenbereichen. So drängen sich chen: Denn Kommunen sind durch abneh- Erholungsuchende und Freizeitsportler auf den mende Finanzmittel zunehmend sowohl auf Wegen und geraten in Konflikte untereinander bürgerschaftliches Engagement wie auf finan- und mit anderen Akteuren. Mit Mühe wurden zielle Unterstützung durch Unternehmen an- die Wegenetze für den Regionalpark Rhein- gewiesen. Andere Nutzer wie der Naturschutz, Main im Flächennutzungsplan festgeschrieben aber auch die Landwirtschaft oder Ver- und (auf den Regionalpark geht der Beitrag von Entsorgungsunternehmen haben gegenwärtig Andreas Thomschke in diesem Heft dezidiert ein Akzeptanzproblem, das sich durch Koope- ein). rationen mit anderen Nutzergruppen mögli- Landwirtschaft und Naturschutz sind in der cherweise verringern lässt. Regel nicht auf diese Erholungsbedürfnisse Kooperationen können nicht nur das Image ausgerichtet. Auch die Verkehrsplanung ver- verbessern, sondern Synergieprojekte zum folgt den Ausbau ihres übergeordneten Tras- Vorteil der Beteiligten hervorbringen. Bisher sennetzes mit nur geringfügiger Einbindung bilden solche Projekte in der Rhein-Main- anderer Funktionen, was sich u. a. in den we- Region noch die Ausnahme und nicht die Re- nigen Querverbindungen zeigt. So kommt es gel. Nachfolgend einige Beispiele, bei denen zu Nutzungskonflikten, weil immer mehr Akteu- mindestens zwei Akteure unterschiedlicher re mit steigenden Ansprüchen um die nicht Bereiche beteiligt sind. vermehrbaren Flächen ringen. Die eingangs beschriebene Entwicklung der urbanen Land- BEISPIELE VON SYNERGIEPROJEKTEN schaft zu einem schwer lesbaren Konglomerat lässt die Akteure an der selbstbezüglichen Naturschutz – Versorgung: Auskiesung Weiterentwicklung und Optimierung jeweils innerhalb eines Schutzgebietes ihres eigenen Systems festhalten. Eine Kooperation zwischen Naturschutz und Es besteht Handlungsbedarf, um Konflikte bei einem Ver- und Entsorgungsunternehmen der Nutzung von Flächen zu lösen oder zu- besteht im Nordwesten der Rhein-Main- mindest zu entschärfen und um neuen Anfor- Region u. a. im Rahmen des Kiesabbaus. derungen gerecht zu werden. Dabei ist die Bekanntlich entstehen durch Auskiesung Handlungsfähigkeit der öffentlichen Hand nicht neue Lebensräume, die durch einen deutli- nur durch Mittelknappheit eingeschränkt, son- chen Anstieg des Artenreichtums gekenn- dern auch durch veränderte Machtverhältnisse. zeichnet sind. Da nach dem Abschluss der An die Stelle eines Fürst Pückler oder eines Auskiesungen die Zahl der Arten wieder ab- Ernst May ist eine Pluralität von wirkmächtigen nimmt, ist also der Prozess der Geländebear- Akteuren vor Ort mit oft gegensätzlichen Inte- beitung und erneuten Stabilisierung für den ressen getreten. Auch die Zahl und Macht Naturschutz die interessanteste Phase. So einflussnehmender Akteure von außerhalb der kam man überein, dem Unternehmen den Region (EU oder global agierende Unterneh- Abbau in einem bestehenden Schutzgebiet zu men) steigt. erlauben, wobei in kleinen Abschnitten nach- einander ausgekiest und wieder verfüllt wird, Ziel und Strategie so dass der die Biotopvielfalt erzeugende Prozess möglichst lange andauert. Entgegen Bei einer Transformation der urbanen Land- der rechtlichen, monofunktionalen Planfestle- schaft ist daher eine Integration von unter- gung konnte ein Projekt initiiert werden, das schiedlichen Nutzungen auf einer Fläche an- für mehrere Akteure von Vorteil ist. Dabei zustreben. Dies sollte auf der Grundlage der wurde die Gruppe der Beteiligten mit der Re- örtlichen Gegebenheiten und vor allem in Zu- 29 Barbara Boczek

gionalpark GmbH als dritter Akteurin ausge- können, belegt ein Projekt in Mainz. Seit weni- weitet, die hier ihr Pilotprojekt umsetzen gen Jahren brüten die in ihrer Art bedrohten konnte. (An den Regionalparkrouten gelegene Weißstörche wieder in den Rheinauen bei Aussichtsstationen gewähren zumindest Ein- Mainz, wo sich zwei Arbeitskreise für den Er- blicke in das Naturschutzgebiet und über ein halt von Nahrungsräumen ehrenamtlich enga- Naturschutzzentrum sind Informationen und gieren (vgl. www.rheinauenstorch.de und Führungen erhältlich, die für die Belange der www.akumwelt.de/stoerche v. 18.10.06). anderen Nutzer sensibilisieren.) Der Betreiber einer Sauna bemerkte, dass vom

Freibereich seiner Freizeitanlage aus ein Stor- Ver-/ Entsorgungsunternehmen – Freizeit: chenhorst auf einem nahe gelegenen Um- Kletterpark Kraftwerk spannwerk beobachtet werden kann. Darauf- Zu den Akteuren, die Akzeptanzprobleme bei hin stellte er ein Fernglas und eine Sammel- ihrem Wirken in der Landschaft haben, zählen büchse für seine Gäste auf. Die Spenden wer- allgemein Entsorgungsunternehmen, deren den für die Pflege eines Feuchtbiotops ver- Großanlagen von ihrer Dimension her nicht in wendet, das den Weißstörchen als Revier zur klassische Landschaftsbilder passen. Eine Nahrungsfindung dient. Von dem Projekt profi- neue Strategie zur Erzielung von Akzeptanz tieren die geschützten Tiere, der Unternehmer beschritt ein Recycling-Unternehmen ebenfalls und die Besucher, gleichzeitig wird die Beson- im Nordwesten der Rhein-Main-Region derheit eines Ortes in ein neues Beziehungs- (www.mtr-gmbh.de/kletterwand.html vom geflecht eingebunden. 19.04.06). Beim Bau eines bis zu 30 Meter hohen Biomassekraftwerks inmitten einer Frei- fläche wurde eine künstliche Kletterwand in die Fassade integriert. Die ca. 20 m hohe Wand stellt ein Freizeitangebot dar, das in der relativ ebenen Landschaft am Untermain natürli- cherweise nicht vorhanden ist. Mit der Kletter- wand, die allen Klettererfahrenen zugänglich ist, kann man sich dieses Kraftwerks bemäch- tigen, es erobern. Dadurch wird über die Er- weiterung der realen Nutzung der urbanen Landschaft hinaus das Objekt Kraftwerk ak- zeptanzfähig. Die Akzeptanz der Großanlage in der Öffentlichkeit bestätigte der Geschäfts- führer als Gewinn des Unternehmens. Mit Hilfe der Kletterwand wird also das Landschaftsbild erweitert, im Sinne einer Integration neuer, urbaner Elemente. Abb. 3: Storchenhorst auf dem Umspannwerk [Mainz- Budenheim]. Foto: Jürgen Weidmann, AK Umwelt Mom- bach.

Landwirtschaft – Freizeit Im Folgenden zeigen mehrere Beispiele Syn- ergieprojekte zwischen Freizeit- und Erho- lungsnutzung einerseits und Landwirtschaft andererseits, denn die Landwirtschaft nutzt den Großteil der offenen Freiflächen in der Rhein-Main-Region, so dass sich Veränderun- gen hier großflächig auswirken. Eingangs wur- de darauf hingewiesen, dass sich die Land- wirtschaft im besonderen Maße dem Struktur- wandel anpassen muss. Dazu bietet die Stadt- nähe den Landwirten vielfältige Möglichkeiten durch die Marktnähe zu großen Bevölkerungs- Abb.2: Kletterpark Kraftwerk in Flörsheim–Wicker. Foto: teilen. In der Agglomeration eröffnen sich Boczek. Landwirten gegenwärtig neue Einkommens- Unternehmer – Naturschutz – Freizeit: Stor- quellen als Dienstleister für Freizeitsportler und chenhorst Erholungsuchende, die dadurch wiederum ihre Aktionsräume in der urbanen Landschaft er- Dass Synergieprojekte auch im Kleinen funkti- weitern können. onieren und quasi von jedem initiiert werden 30 Freiräume in prosperierenden Agglomerationen

Landwirtschaft – Freizeit – Naturschutz: Reiterhöfe Eine Interessengemeinschaft zwischen Land- wirten und Freizeitsportlern besteht bei den mittlerweile zahlreichen Reiterhöfen und Reit- anlagen, die für ein Drittel der Landwirte aus dem Untersuchungsraum zur Haupteinkom- mensquelle geworden sind (AGEULF 13.01.03). Durch die Pensionspferdehaltung wird nach dem Rückgang der Viehwirtschaft der Bedarf an Grünland zur Futtererzeugung wieder geweckt. Dadurch kann auf ökono- misch rentable Weise eine Form der Kultur- landschaft erhalten werden, die die urbane Landschaft mit ihren in den unbesiedelten Teilen dominierenden Ackerflächen ökologisch Abb. 4: Blühfeld in Dietzenbach. Quelle: Planungsverband und ästhetisch bereichert. Frankfurt/Rhein-Main.

Landwirtschaft – Freizeit: Blühfelder Landwirtschaft – Freizeit: Krautgärten Mün- An die Stelle der Ertragsmaximierung als dem chen Primat der Bewirtschaftung kann der Anbau in Teilbereichen der Feldflur stärker auf die Er- Neue Einkommensquellen für Landwirte, An- zeugung von Landschaftsbildern ausgerichtet eignungsmöglichkeiten von Natur und Land- werden, wie bei der Anlage von Blühfeldern schaft für die Bevölkerung und eine gegensei- oder der Bepflanzung von Flächen nach be- tige Akzeptanz sind durch das Projekt der stimmten Mustern oder Formen. Einer unbe- ‘Krautgärten’ im Münchner Grüngürtel entstan- wussten Prägung der Kulturlandschaft, wie sie den (www.muenchen.de v. 15.10.05). normalerweise im Zuge der Bewirtschaftung Dort verpachten einige Landwirte 60 qm große geschieht, folgt dann eine bewusste, formale Parzellen ihrer Flächen als Grabeland an Be- Gestaltung der bewirtschafteten Flächen. wohner der angrenzenden Siedlungen. Sie Damit wird die Bewirtschaftung der Felder säen ein, während die Pächter gießen, jäten stellenweise auf Erholungsuchende ausgerich- und ernten. Nach einem Jahr kann sich der tet, ohne jedoch zwangsläufig ein traditionelles Landwirt überlegen, ob er an gleicher Stelle Landschaftsbild zu reproduzieren. Verluste weiterverpachtet, den Standort wechselt oder durch einen geringeren Ernteertrag können es ganz sein lässt. Auch die Pächter binden z. B. im Rahmen von Ausstellungen und Ver- sich nur für einige Monate. anstaltungen (vgl. IBA Emscherpark, Hessen- Die Zeitspanne von jeweils einer Saison er- tag) kofinanziert bzw. ausgeglichen werden. laubt Flexibilität auf beiden Seiten und stellt Sind solche Projekte erstmalig über Events eine Möglichkeit dar, auf die im Beitrag von ermöglicht worden, verfolgen potenzielle Ak- Jörg Dettmar angesprochene Beschleunigung teure diese dann auch eigenständig weiter, wie von Veränderungen kurzfristig zu reagieren. z. B. ein Landwirt in Dietzenbach, der einige Die nur kurzzeitige Bindung trifft die Bedürfnis- Jahre nach dem vom Planungsverband initiier- se auf beiden Seiten, wie die steigende Nach- ten Blühbild zum Hessentag 2001 von sich aus frage mit über 500 Parzellen an 10 Standorten ein neues Blühfeld anlegte (PVFRM, 2005). belegt. In Beratungsgesprächen mit den Landwirten wird zudem Fachwissen an die Landwirtschaft – Freizeit: Maislabyrinthe Bewohner und Bewohnerinnen vermittelt und In den Metropolregionen finden sich immer gegenseitige Akzeptanz aufgebaut. Zum Ein- mehr Landwirte, die Maislabyrinthe anlegen fädeln und zur Betreuung der Projekte beauf- (vgl. Lohrberg, 2001). Was in Blühfeldern An- tragte die Stadt einen Vermittler. schauungsobjekt ist, wird in Maislabyrinthen zur ‘begehbaren Landwirtschaft’, zu einem Die genannten Projekte zwischen Landwirten saisonalen Raumerlebnis. Die reduzierte Ern- und Bewohnerschaft erhöhen die Vielfalt der temenge wird durch den Eintrittspreis ins Laby- Freiraumnutzung und bereichern die Land- rinth ausgeglichen. Das Labyrinth wird z. B. in schaft sowohl ästhetisch als auch ökologisch Götzenhain als Anlaufstelle genutzt, um auf durch das Erzeugen neuer Lebensräume, tra- den Hofladen aufmerksam zu machen oder gen also quasi beiläufig zur Artenerhöhung bei. Wissen und Verständnis über Landwirtschaft zu vermitteln (FR v. 25.07.05). 31 Barbara Boczek

Abb. 6: Neuer Treffpunkt: Sonntagscafé in der Alten Meie- rei [Darmstadt]. Abb. 5: Krautgärten im Münchner Grüngürtel.

Landwirtschaft – Freizeit – Soziale Belange FAZIT: INWERTSETZUNG VON LAND- – Information: Initiative Domäne Oberfeld SCHAFT ÜBER SYNERGIEPROJEKTE Abschließend ein Beispiel aus dem Tagungs- Handlungsmaxime ort. In Darmstadt haben sich Bürgerinnen und Alle genannten Projektbeispiele – unabhängig Bürger, die den letzten offenen Freiraum in von ihrer Dimension – erhöhen die Vernetzung Stadtnähe, das Oberfeld, als Naherholungs- von Akteuren in der vielschichtigen urbanen raum mit seiner landwirtschaftlichen Nutzung Landschaft, vermitteln Informationen überein- erhalten wollen, zu einem Verein zusammen- ander und fördern so die gegenseitige Akzep- geschlossen. Mit Unterstützung einer Stiftung tanz. Durch die Synergieprojekte entstehen für und durch Spenden fördern sie als Eigentüme- die Beteiligten win-win-Situationen. Als Maxi- rin der alten Hofmeierei und Pächterin der me ließe sich daher postulieren, dass jede Felder eine ökologische Landbewirtschaftung, künftige Transformation mehrere Nutzungen die auch das Landschaftsbild auf dem Oberfeld erfüllen und auf Synergieeffekte ausgerichtet beeinflussen wird. sein sollte. Die Initiative stützt sich auf drei Säulen: Neben der ökologischen Landwirtschaft soll der Hof Ästhetischer und gesellschaftlicher Mehr- als ‘Lebensort’ Menschen mit Behinderung wert Sozialtherapie, Wohn- und Arbeitsmöglichkei- Es entstehen neue Netzwerke zwischen den ten bieten. Durch den ‘Lernort Bauernhof’ sol- Akteuren und im Raum. Dadurch bilden sich in len der Bezug zu und das Wissen über Nah- der urbanen Landschaft neue Schnittstellen rungsmittelerzeugung anschaulich vermittelt multifunktionaler Nutzung, die neue Zugänge werden. Die Größe der Anlage erlaubt weitere eröffnen, neue Aufenthalts- und Möglichkeits- öffentlich zugängliche Nutzungen wie das von räume generieren. ehrenamtlichen Helfern betriebene Sonntags- café und einen künftigen Hofladen, der die Wo immer diese Schnittstellen entstehen, kön- erzeugten und in der geplanten Käserei und nen sie durch eine prägnante Form, eine be- Bäckerei weiterverarbeiteten Produkte dann wusste Gestaltung unterschiedliche Schwer- dem regionalen Markt zuführen soll punkte in der urbanen Landschaft sichtbar [www.oberfeld-darmstadt.de v. 10.10.06]. werden lassen. Dadurch wird die jeweilige Besonderheit innerhalb der Region oder Teil- Wenn die Projekte gelingen, wird mit der Do- region verdeutlicht und dem Kern eine über die mäne Oberfeld ein neuer, multifunktionaler Funktion hinausweisende Bedeutung verlie- Kern entstehen, der auf den ihn umgebenden hen. Freiraumfragmente im Gesamtraum – als Freiraum ausstrahlt und diesen ästhetisch und Patch im Patchwork – spezifizieren sich wahr- ökologisch bereichert. Unterschiedlichen Be- nehmbar. völkerungsgruppen bietet dieser Kern einen Damit bliebe der bisherige Patchwork- der wenigen Aufenthaltsorte in der urbanen Charakter urbaner Landschaft im Ganzen zwar Landschaft und einen Ort des sozialen Aus- erhalten, einzelne Patches entwickelten sich tauschs. Durch die vielfältigen Aneignungs- jedoch in Form und Funktion diversifizierter. und Nutzungsmöglichkeiten kann er zu einem Die urbane Landschaft als Ganzes wäre bes- Identität stiftenden Ort werden. ser lesbar und vielfältiger nutzbar. Die entste-

henden Partizipationsangebote ermöglichen

32 Freiräume in prosperierenden Agglomerationen

eine höhere Identifikationsmöglichkeit für den ben. Vom 1. September 2005 GVBI. I S. Einzelnen. Zugleich bliebe urbane Landschaft 624. § 2 (1). in ihrer Struktur flexibel genug, um sich einem Lohrberg, F. (2001). Stadtnahe Landwirtschaft weiteren Wandel anzupassen. in der Stadt- und Freiraumplanung. In: Wechselwirkungen. Jahrbuch 2001. He-

rausgegeben von der Universität Stuttgart. Stuttgart. LP UVF (2001). Landschaftsplan Umlandver- band Frankfurt/Main 2000. PVFRM et al. (2004). Planungsverband Bal- lungsraum Frankfurt Rhein-Main und Regierungspräsidium Darmstadt (Hrsg.) (2004). Leitbildentwurf für den Regionalen Flächennutzungsplan 2004. Frankfurt/Main. PVFRM – Planungsverband Ballungsraum Frankfurt/Rhein-Main (Hrsg.) (2005). Regi- onalpark Rhein-Main in Dietzenbach. Frankfurt/Main. Broschüre vom Aug. 2005. Sieferle, R. P. (1997). Rückblick auf die Natur. Abb. 7: Neue Kerne spezifizieren Teilbereiche im Patch- Eine Geschichte des Menschen und seiner work der urbanen Landschaft. Umwelt. München. Luchterhand. www.mtr-gmbh.de/kletterwand.html vom Planungsaufgaben 19.04.06 www.muenchen.de/Rathaus/plan/wir/projek- Die daraus abzuleitenden Planungsaufgaben te/grueng/155578/krautgaerten.html v. liegen vor allem in der Aufnahme von Impulsen 15.10.05 einzelner Akteure und der Initiierung von www.oberfeld-darmstadt.de/was wir wollen v. punktuellen Interventionen. Beides, Impulse 10.10.06 und Interventionen sollten die räumliche und www.rheinauenstorch.de v. 18.10.06 funktionale Vernetzung fördern, ebenso ist bei www.akumwelt.de/stoerche v. 18.10.06 allen Transformationen eine der Regionsprofi- lierung dienende Gestaltqualität von den Ak- Anschrift teuren zu fordern, aber auch zu fördern. Pla- nungsaufgaben erweitern sich um Aufgaben Dr. Barbara Boczek der Ermittlung von Interessen und Vermittlung Büro topos zwischen Interessen in einem permanenten Taunusstraße 52 Prozess der Veränderung. 64289 Darmstadt E-Mail: [email protected] Literatur

AGEULF (2003). Arbeitsgruppe Entwicklung

umweltgerechter Landwirtschaft. Protokoll zum 13.01.03. BMVBW – Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (2005). Nach- haltige Stadtentwicklung – ein Gemein- schaftswerk. Städtebaulicher Bericht der Bundesregierung 2004. Bonn. März 2005. Boczek, B. (2007). Transformation urbaner Landschaft – Ansätze zur Gestaltung in der Rhein-Main-Region. Wuppertal. FR – Frankfurter Rundschau v. 25.07.05. Göt- zenhainer Maislabyrinth. Frankfurt/Main. Hessisches Statistisches Landesamt (2005). Hessische Gemeindezahlen und Stadt Frankfurt (2005). Jahresbericht Stadt Frankfurt/Main. 2005. Kompensationsverordnung (2005). Kompensa- tionsverordnung. Verordnung über die Durchführung von Kompensationsmaß- nahmen. Ökokonten, deren Handelbarkeit und die Festsetzung von Ausgleichsabga-

33

CONTUREC 2 (2007) Seite 35 bis 42

Urbanisierte Landschaft – Kulturlandschaft der beschleunigten Ge- sellschaft

Urbanized landscape – The cultural landscape of the accelerated society

JÖRG DETTMAR

Zusammenfassung Urbanisierte Landschaft – Kulturlandschaft der beschleunigten Gesellschaft Es geht um die Frage der zukünftigen Gestalt urbanisierter Landschaften und ob sich eine Art „Kultur- landschaft der Turbo Moderne“ abzeichnet. Dynamik und konstanter Wandel bestimmen die urbani- sierten Landschaften und dies ist Ausdruck der postindustriellen Beschleunigungsgesellschaft mit immer rasanteren gesellschaftlichen Veränderungen. Charakteristisch ist die Gleichzeitigkeit von Wachstumsprozessen und Auflösungserscheinungen, die letztlich eine Trennung in Stadt und Land- schaft unmöglich machen. Die urbanisierte Landschaft ist eine individualisierte Landschaft ohne aus- definierten und durchschlagend prägenden kulturellen Hintergrund – sie ist geprägt von der „Kultur“ der beschleunigten Gesellschaft – schnell, flüchtig, reich an Erlebnismöglichkeiten und gebraucht von Nutzern mit wenig Zeit für Erfahrungen. Bei der Frage, ob die zugrunde liegenden Prozesse steuerbar und die davon betroffenen Räume gestaltbar sind, gibt es unterschiedliche Positionen in der Stadtpla- nung und der Landschaftsarchitektur.

Urbanisierte Landschaft, Kulturlandschaft, Beschleunigung, Informationszeitalter, Zwischenstadt, Na- turverständnis, Naturverhältnis.

Summary The paper addresses the question of the future shape of urbanized landscapes and whether a type of “cultural landscape of turbo-modernity” is emerging. Dynamics and constant change determine urban- ized landscapes, and this is an expression of the post-industrial “acceleration society” with ever swifter social changes. The simultaneity of processes of growth and dissolution is characteristic, ultimately making it impossible to distinguish between cityscape and landscape. The urbanized landscape is an individualized one without any fully-fledged or fully-characterizing cultural context – it is stamped by the “culture” of the accelerated society – rapid, ephemeral, rich in opportunities for experience yet used by people with little time to make experiences. There is some dispute among urban planners and landscape architects as to whether the underlying processes can be controlled and the affected spaces shaped.

1. Urbanisierte Landschaften nition von „städtisch“ zu überprüfen. Das gilt auch für den momentan stark strapazierten „Die Zukunft der Landschaft hat begonnen“ Begriff „Kulturlandschaft“. Wenn es wie in den (Kellner, 2007) und sie wird zu einem massi- neuen Leitlinien für die Raumentwicklung in ven Wandel der Nutzungen, der Gestalt, der Zukunft urbane Kulturlandschaften gibt, zeigt Vorstellungen und Wahrnehmungen von Land- dies einen wichtigen Aspekt der „Zukunft der schaften führen. Dazu gehört auch die Auflö- Landschaft“ (Alltschekow et al., 2006). Aber sung der Grenzen zwischen Stadt und Land. wiederum gilt, eine genauere Begriffsbestim- Im Informationszeitalter werden die Karten mung von „Urbanität, Urbanisierung und Ur- vollständig neu gemischt. Das Arbeitsfeld der ban“ erleichtert das Verständnis und die Ver- Stadtökologie ist entsprechend neu zu be- ständigung. schreiben, die Grenzen sind fließend und die

Untersuchung städtischer Biozönosen, Biotope und Ökosysteme setzt sicher voraus, die Defi- Jörg Dettmar

Abb. 1: Neue Leitbilder der Raumentwicklung in Deutschland 2006 - Leitbild 3 Ressourcen bewahren, Kulturlandschaften ge- stalten. Quelle: http://www.bbr.bund.de/cln_005/nn_22550/DE/ForschenBeraten/Raumordnung/RaumentwicklungDeutschland/LeitbilderKonzep te/Leitbild3/Leitbild3.html

Der Begriff Urbanität wird nicht nur in Architek- Zugang hat. Wenn man diese Aspekte hervor- tur- und Planerkreisen oft auf hohe städtische hebt, dann ist heute „urban“ eine moderne Dichte reduziert. Urbanes Leben war in der Lebensform der Informationsgesellschaft. Ur- Vergangenheit in der Tat an Städte gebunden banes Leben und Urbanisierung sind entspre- und u. a. gekennzeichnet durch folgende chend weltweit wirksame Phänomene mit al- Punkte: lerdings sehr unterschiedlichen räumlichen und sozialen Folgen. Dies ist letztlich eine logische – große Angebotsdichte (Waren, Dienstleis- Konsequenz der technischen, sozialen und tungen, Kultur), ökonomischen Entwicklung im Industriezeital- – vielfältige Erlebnis-, Informations- und ter. Und es ist auch ein Charakteristikum der Kommunikationsmöglichkeiten, Beschleunigungsgesellschaft im Informations- zeitalter. – unterschiedlichste Arbeits- und Erwerb- möglichkeiten, – Kontakt zu und ggf. auch Austausch mit Fremden und anderen gesellschaftlichen Gruppen, – größere Möglichkeiten zur Selbstverwirkli- chung, mehr Möglichkeitsräume für wirt- schaftliche und kulturellen Aktivitäten. Heute ist vieles davon weitgehend unabhängig von der Stadt geworden. Eine große Informati- ons-, Kommunikations- und Erlebnisdichte gibt es fast überall, zumindest solange der Zugang zu den entsprechenden Medien möglich ist. Genauso wie man inzwischen zu fast allen Abb. 2: Urbanes Leben im Park Andre Citroen Paris. Waren und Dienstleistungen über das Internet Foto: Dettmar 10/2006.

36 Urbanisierte Landschaft – Kulturlandschaft der beschleunigten Gesellschaft

Die räumlichen Konsequenzen der Urbanisie- sucht die Veränderung der Zeitstruktur als rung in Mitteleuropa haben sehr verschiedene zentralen Faktor gesellschaftlicher Wandlun- Facetten, dazu gehört sicher die anhaltende gen. Das bekannte Phänomen zunehmender bauliche Erschließung von unbesiedelten Be- Beschleunigung umfasst genauer betrachtet reichen, die immer noch zunehmende Subur- verschiedene Dimensionen, die sich gegensei- banisierung und das Wachstum von „Zwi- tig immer weiter antreiben und somit die Ge- schenstädten“, was man u. a. an der anhaltend schwindigkeit steigern – ich folge hier der Un- hohen Flächenumwandlung für Siedlungszwe- tersuchung von Hartmut Rosa (2005). Er un- cke von aktuell 92 ha/Tag (BBR, 2005) able- terscheidet drei Dimensionen der Beschleuni- sen kann. Genauer betrachtet gehören aber gung: auch die so genannten „Deurbanisierungspro- 1. Die technische Beschleunigung, das heißt zesse“ in den durch Strukturwandel und De- die intentionale Beschleunigung zielgerich- mografie schrumpfenden Städten und Regio- teter Prozesse. Unter diesem Blickwinkel nen dazu. Wachstum und Schrumpfung finden stellt sich die Moderne in erster Linie als ei- gleichzeitig statt und beeinflussen sich gegen- ne Geschichte der progressiven Beschleu- seitig; dabei spielen die Anforderungen, Kon- nigung von Transport, Kommunikation und sequenzen und Möglichkeiten einer zuneh- Produktion dar. mend mobilen urbanen Gesellschaft eine gro- ße Rolle. Auch die Transformation des ländli- 2. Die Beschleunigung des sozialen Wandels, chen Raumes durch den urbanen Lebensstil ist das heißt die Steigerung der sozialen Ver- eine Konsequenz. Und letztlich hängt auch das änderungsraten im Hinblick auf die Asso- Verschwinden der alten Kulturlandschaften ziationsstrukturen, die Wissensbestände damit zusammen. Resümierend kann man sowie die Handlungsorientierungen und feststellen, dass diese Wachstums- und Praxisformen der Gesellschaft. Damit sind Schrumpfungsprozesse zwei Seiten einer Me- u. a. die beschleunigte Veränderung der daille sind, die zunehmend zur Auflösung der Moden, Lebensstile, Beschäftigungsver- traditionellen Vorstellungen von Städten und hältnisse, Familienstrukturen sowie politi- Kulturlandschaften und zur Entstehung neuer scher und religiöser Bindungen gemeint. urbanisierter Landschaften führen. Beschleunigung des sozialen Wandels lässt sich danach definieren als die Steigerung der Verfallsraten von handlungsorientierten Erfahrungen und Erwartungen und als die Verkürzung der für die jeweiligen Sozial- sphären als Gegenwart zu bestimmenden Zeiträume. Dafür wird in der Soziologie auch der Begriff „Gegenwartsschrumpfung“ verwendet (Rosa, 2005, S. 463). Zygmunt Bauman, ein anderer Theoretiker der Mo- derne, beschreibt die Konsequenzen auf zwischenmenschliche Beziehungen folgen- dermaßen: „Menschliche Beziehungen sind auf flüchtigen Genuss beschränkt. Men- schen sind nur so lange wertvoll, wie sie Abb. 3: Mobilisierung der Materialien. Befriedigung verschaffen. Zwei elementare Foto: Fachgebiet Entwerfen und Freiraumplanung 2003. Bedürfnisse stehen einander in diesen Ge- sellschaften entgegen: der Wunsch im auf- 2. Ursachen und Triebfedern der Urbani- gewühlten Meer einen sicheren Hafen zu sierung haben und das Bedürfnis, zugleich unge- Es gibt eine Vielzahl von Ansätzen zu klären, bunden zu sein, die Hände frei zu haben, was die wesentlichen Ursachen der gesell- über Spielräume zu verfügen. Wer sich aus schaftlichen Veränderungen und damit auch Bindungen lösen kann, muss sich nicht an- Triebfedern der Urbanisierung sind. Je nach- strengen, um sie zu erhalten. Er kann sie dem welche Fachdisziplin die Frage stellt, gibt als freier Konsument genießen und dann es technisch (Kommunikationstechnologie), wegwerfen“ (Zitat aus einem Interview in ökonomisch (Globalisierung) oder sozial (Indi- der Zeit vom 17.11.05). vidualisierung) orientierte Antworten. Ich möch- 3. Die Beschleunigung des individuellen Le- te hier zur Beleuchtung der Ursachen einen benstempos; dies ist eine Reaktion auf die gesellschaftswissenschaftlichen Ansatz wäh- Verknappung von ungebundenen Zeitres- len, der mir interessant erscheint. Er beschäf- sourcen, was sich einerseits in der Erfah- tigt sich mit dem Phänomen der zunehmenden rung von Zeitnot und Stress manifestiert Beschleunigung in der Moderne und unter- und andererseits als Steigerung der Zahl

37 Jörg Dettmar

der Handlungs- und/oder Erlebnisepisoden rostat, DG Transport aus www.climnet.org/ pro Zeiteinheit bestimmt werden kann. publicawarness/verkehr.html Stichworte in diesem Zusammenhang sind – Stand 10/ 2006); Multitasking, parallele Organisation von Familie und Beruf, Freizeitstress. – höhere Attraktivität von Metropolräumen und Metropolen; diese „Rückkehr in die Was sind die Folgen der dadurch ausgelösten Zentren („Reurbanisierungstendenzen“) er- gesellschaftlichen Veränderung und welche folgt u. a. auch aus ökonomischen Grün- räumlichen Konsequenzen haben sie? Hier den aufgrund der steigenden Fahrtkosten sollen nur einige Phänomene stichwortartig aber auch aus Gründen der Zeitökonomie; aufgelistet werden, die man mit der zuneh- menden Beschleunigung in Verbindung brin- – zu erwarten ist eine zunehmende Attrakti- gen kann: vität von flexibel wechselbaren Mietwoh- nungen gegenüber eigenen Immobilien – Zunehmende Individualisierung der Ge- (Opaschowski, 2005). sellschaft, – Auflösung der traditionellen Familienstruk- turen (Patchwork-Familie, Lebensgemein- schaften auf Zeit), – mehr Singles und Singlehaushalte vor allem in Großstädten, – zunehmende Mobilisierung und Flexibili- sierung als Anforderung für beruflichen Er- Abb. 4: Überschrift und Grafik eines Zeitartikels vom folg (keine konstante Lebensplanungen, 18.08.2005. Quelle: Zeit. mehrere Berufe und Familien im Laufe ei- nes Lebens, viele Ortswechsel), Die wahrscheinliche Zunahme der Segregation als Folge der Spaltung der Gesellschaft in – abnehmender Ortsbezug – Ersatz von ökonomische Gewinner und Verlierer wird Heimat durch Lebensabschnittsheimat, zwangsläufig räumliche Konsequenzen haben. Eine einfache Einteilung der individualisierten – Förderung multipler oder zumindest flexib- Gesellschaft in Städten ist zwar genau ge- ler Identitäten. nommen nicht mehr möglich, eine vereinfa- Die Loslösung der persönlichen Identität von chende Beschreibung wie sie Walter Siebel einem festen Ort wird noch weiter radikalisiert. vorschlägt, scheint mir aber hilfreich. „In der Identität verliert ihre geografische Verortung, je Stadt entwickeln sich drei einander überla- mehr man sich im „Raum der Ströme“ selbst gernde Inselsysteme: die Stadt der Ausge- definiert und stabilisiert. In der klassischen grenzten als kaum vernetzte Inseln ortsgebun- Moderne ging Mobilität noch von einem festen dener Armutsmilieus; darüber die netzartig Wohnort aus, von dem aus größere Beweg- verknüpften Aktionsräume verschiedener Le- lichkeit möglich war und den man gelegentlich bensstilgruppen der integrierten Mittelschicht; wechselte. Immer mehr ist heute jedoch No- wiederum darüber das Netzwerk der internatio- madentum und Ortspolygamie gefordert (Rosa, nal eingebundenen hochqualifizierten Arbeits- 2005, S. 376). kräfte“ (Siebel, 2001). Natürlich ist dies verein- facht, so ist z. B. das Armutsmilieu sicher nicht Weitere räumliche Konsequenzen - ebenfalls nur statisch, sondern zumindest international stichwortartig aufgelistet - sind: betrachtet gibt es zahllose Armutsflüchtlinge, – die konstante Steigerung der durchschnitt- die lange unterwegs sind, um in Städten eine lichen Wohnfläche auf aktuell über 40 m² je Zukunft zu finden. Trotzdem lässt sich ein eher Person in Deutschland, statisches Armutsmilieu in unseren Städten schon heute in bestimmten Stadtteilen lokali- – die Zunahme an Wohnungen bei einer sieren. Hier ist der Bedarf nach öffentlicher Abnahme der Personen, Daseinsvorsorge besonders groß, auch im Sinne des Angebotes von öffentlichen Freiflä- – der kontinuierlich zunehmende Verkehr chen. Die Überlagerung der von Siebel be- und die anwachsenden Verkehrsflächen. schriebenen Inselsysteme führt zwangsläufig 1997 lag der Index km/Jahr/Person in zu Konflikten. „Sicherheit wird zu einer bedeut- Deutschland bei 10.091 km, insgesamt samen Dimension der sozialen Strukturierung stieg die Gesamtsumme der im Personen- von Raum, die die diffus werdende Differenz verkehr zurückgelegten Kilometer in von Öffentlichkeit und Privatheit durch die Dif- Deutschland von 1990 bis 1997 von 818,3 ferenz von sicheren und unsicheren Räumen Mrd/km auf 872,5 Mrd/km an (Quelle: Eu- überlagert“ (Siebel, 2001). 38 Urbanisierte Landschaft – Kulturlandschaft der beschleunigten Gesellschaft

Ein interessantes Phänomen ist, dass in der sprache weitgehend ortsunabhängig entwi- Vergangenheit (klassische Moderne) örtliche ckeln. Andererseits wird in Frankfurt der Neu- und zeitliche Ungebundenheit (Obdachlose – bau der nicht mehr vorhandenen mittelalterli- Sinti/Roma) eher als rückständig galt und zum chen Innenstadt rund um den Römerberg sozialen Ausschluss führte – heute ist es ge- ernsthaft diskutiert. nau umgekehrt, Ortsgebundenheit und man- Auch auf regionaler Ebene lässt sich diese gelnde Zeitsouveränität lassen die sozial unter- Parallelität feststellen. Einerseits gibt es den legenen Klassen rückständig und zurück- Versuch, über eine neue Regionalplanung geblieben erscheinen und führen zum Aus- (Regionaler Flächennutzungsplan) und die schluss (Zygmunt Baumann zitiert in Rosa, Entwicklung des Regionalparks RheinMain 2006). eine koordinierte überkommunale Siedlungs- Räumliche Konsequenzen, die mit der Segre- entwicklung und die Erhaltung und Entwicklung gation zusammenhängen sind z. B.: offener Landschaftsräume mit den Resten der alten Kulturlandschaft zu erreichen. Anderer- – zunehmende Privatisierung von öffentli- seits wird der Ausbau der global orientierten chen Räumen z. B. Passagen, Megainfrastruktur des Flughafens Rhein-Main – Einrichtung von Sicherheitszonen in den vorangetrieben. Dabei finanziert sich der Regi- Innenstädten mit Überwachung/Kontrolle, onalpark RheinMain zu einem nicht unmaß- geblichen Teil aus Ausgleichsgeldern, die der – Entwicklung abgegrenzter gesicherter Flughafenbetreiber zahlt. Wohnareale mit Eingangskontrolle („gated comunities“).

Abb. 5: Schrägluftbild der Innenstadt von Frankfurt/Main ca. 2000. Quelle: Werner Durth, Darmstadt.

Ob eine Konsequenz der sich steigernden Beschleunigung ein zunehmender Bedeu- tungsverlust der Orte ist, darüber kann man streiten. In jedem Fall ist aber von einem er- heblichen Bedeutungswandel der Orte auszu- Abb. 6 Regionalpark RheinMain – Übersicht. Quelle: gehen. Der Befürchtung einer starken Homo- Regionalpark RheinMain GmbH 1996. genisierung der Städte als Konsequenz der Das Rhein-Main Gebiet, als eine der zukunfts- Globalisierung kann man entgegenhalten, dass trächtigen Metropolräume ist gut geeignet für offensichtlich gerade dies die Bemühungen zur eine vertiefende Betrachtung einer besonders Stärkung und Hervorhebung der lokalen und typischen Erscheinungsform moderner urbani- regionalen Besonderheiten fördert. Dies lässt sierter Landschaft – die inzwischen hinlänglich sich ganz gut an der Konkurrenz der Metropol- als Zwischenstadt bekannt ist. regionen beobachten. Besonders in den Ker- nen, wie z. B. in Frankfurt im Rhein-Main- 3. Beispiel Zwischenstadt Metropolraum, findet globale Orientierung als internationale Metropole und lokal regionale Egal ob man bei dem Arbeitstitel Zwischen- Verankerung in der Geschichte gleichzeitig stadt bleibt oder von suburbanen Zonen der statt. Bausteine dabei sind einerseits eine glo- Metropolräume und Stadtregionen (Sieverts, bal orientierte Architektur und Landschaftsar- 2006) redet – jenseits aller theoretischen Be- chitektur, insbesondere für Banken, Versiche- trachtungen steigert sich das Ausmaß dieser rungen und Sitze anderer großer Unterneh- Räume und ihre Hässlichkeit (Rekittke, 2007). men. Dafür werden dann die entsprechenden Mit einer sehr hohen Entwicklungs- und Ver- Stararchitekten eingesetzt, die ihre Formen- änderungsgeschwindigkeit haben sie keine Zeit, um eine lokale Besonderheit auszubilden. 39 Jörg Dettmar

Sie stellen den real existierenden Kompromiss 4. Kulturlandschaften der beschleunigten aller Teilinteressen und Fachplanungen dar, Gesellschaft sie sind der Offenbarungseid der traditionellen Die aktuellen Leitbilder und Handlungsstrate- räumlichen Leitplanung – das planvolle Chaos. gien für die Raumentwicklung in Deutschland Es sind letztlich Orte des Kontrollverlustes, der (Alltschekow et al., 2006) geben im Leitbild mangelnden Möglichkeit von planerischer Kon- „Ressourcen bewahren, Kulturlandschaft ge- trolle in Zeiten der Beschleunigung. stalten“ für die Metropolräume das Ziel „Ge- Die Reaktion der Planer auf dieses Phänomen, staltung suburbaner und verstädterter Räume“ das vor allem die Metropolräume dominiert, ist an. Die alte Trennung zwischen Stadt und sehr unterschiedlich, die Palette reicht von: Landschaft wird als obsolet erklärt, der Kultur- landschaftsbegriff nicht mehr nur historisch – kapitulieren oder ignorieren wie es viele begründet verwendet, sondern mit dem politi- entwerfende Architekten tun, die ihre Auf- schen Anspruch einer nachhaltigen Entwick- merksamkeit lieber einzelnen Gebäuden lung verknüpft und eben auch auf Stadträume schenken (siehe Hamm, 2006), angewandt. – relativieren, indem man z. B. Vergleiche Traditionell waren Kulturlandschaften eine mit dem urban sprawl in den USA heran- Symbiose von Natur und Kultur, wie sie die zieht, vorindustrielle Landschaft des späten 18. und – euphorisieren und als Chance zur Selbst- 19. Jh. als prägende Chiffre eines besonderen verwirklichung begreifen, ohne zu viel Wertes darstellt (Neiss, 1999) – dies drohte in Rücksicht auf einen kulturellen oder städ- der Moderne mit der zunehmenden Industriali- tebaulichen Zusammenhang nehmen zu sierung verloren zu gehen. Aus dieser Befürch- müssen – analog dem Rem Kohlhaas Zitat tung resultierten zunächst Heimatschutz, Na- „fuck the context“, turschutz und letztlich auch Kulturlandschafts- – akzeptieren, analysieren, verstehen und schutz. Vorindustrielle Kulturlandschaften wa- neue Ansatzpunkte für eine geänderte, ren das Ergebnis der Bewirtschaftung unter sehr viel flexiblere Planungsstrategie zu Ausnutzung der jeweils verfügbaren Möglich- keiten/Techniken, auf der Basis von einge- suchen, wie z. B. neue, mehr oder weniger ungeplant entstandene Entwicklungskerne schränktem Informationsaustausch und nur oder Aktivitätszonen aufzuspüren und die- regional verfügbaren Materialien sowie be- grenzten Energieressourcen (Sieferle, 1997). se für eine planerische Qualifizierung zu verwenden (siehe z. B. Boczek, 2006), Die Landschaften des Industriezeitalters waren – forcieren der Weiterentwicklung von Regi- vielfach geprägt durch Ressourcenausbeutung onalplanung und Landschaftsgestaltung in und -verbrauch sowie die schnelle Umwand- der Hoffnung auf neue Planungsansätze lung von Flächen zum Zweck der Produktions- und den Mut zu Experimenten (siehe z. B. und Gewinnsteigerung. Rahmenbedingungen Koch & Schröder, 2006, Christaanse, dafür waren die technische Beschleunigung, 2005) der stetig steigende Informationsaustausch, global verfügbare Materialien und scheinbar – neu wahrnehmen, ästhetisieren, inszenie- unbegrenzte Energieressourcen. Das Ergebnis ren, wie es zum Beispiel im Rahmen der war eine zunehmende Homogenität. IBA Emscher Park im Ruhrgebiet versucht wurde. Postindustrielle Landschaften des Informati- onszeitalters sind urbanisierte Landschaften, geprägt durch wesentlich beschleunigte Ver- änderungsraten, u. a. aufgrund kurzfristiger wechselnder ökonomischer Rahmenbedingun- gen. Wachstums- und Schrumpfungsprozesse finden gleichzeitig statt und führen zu verstäd- terten Dörfern und eine Verdörflichung von Städten. Homogene Heterogenität mit vielen patchworkartigen Strukturen, wie wir sie heute schon in den Metropolregionen finden, wird sich weiter ausdehnen. Charakteristische Landschaftsbilder, wie wir sie von historischen Kulturlandschaften kennen, sind weder unter den Rahmenbedingungen einer intensivierten Abb. 7: IndustrieNatur als Element der Neuinterpretation Biomasseproduktion, noch unter Verwilde- einer postindustriellen Kulturlandschaft. rungsszenarien vorstellbar, um nur zwei mögli- Foto: Dettmar 1988. che Szenarien aus der aktuellen Landschafts- diskussion aufzugreifen. 40 Urbanisierte Landschaft – Kulturlandschaft der beschleunigten Gesellschaft

Wenn wir einem konstruktivistischen Land- des Informationsüberflusses und der Energie- schaftsbegriff folgen, dann lässt Landschaft knappheit ist etwas so Neues, dass wir mit sich – als soziale bzw. durch den Prozess der Blick auf die Vergangenheit nichts über sie Sozialisation begründete individuelle Konstruk- lernen können, so dass die Landschaft der tion verstehen. Diese Konstruktion von Land- Zukunft vollständig im Dunkeln bleibt“ (Sieferle, schaft kann man als gesellschaftliche Land- 2004). schaft, als ästhetisierte bewusstseinsinterne, sozial begründete Zusammenschau relational 5. Hilft ein neues Naturverständnis – Na- im Raum angeordneter Objekte und Symbole turverhältnis ? beschreiben (Kühne, 2006). Die übergeordne- Nach einem Jahrtausende langen Kampf mit ten kulturell geprägten „großen Erzählungen“ der Natur ums Überleben, folgte im Zuge des der alten Kulturlandschaften oder der europäi- Industriezeitalters der Versuch der Unterwer- schen Stadt werden zunehmend verloren ge- fung und die weitgehende Ausbeutung natürli- hen, weil sie keinen nachvollziehbaren Bezug cher Ressourcen, mit der Konsequenz der mehr zur Lebenswirklichkeit haben. Diese wird weitgehenden Umwandlung und auch Zerstö- sehr viel mehr bestimmt von dem Patchwork rung von vorindustriellen Kulturlandschaften, der individuellen Identitäten. Was in der Be- inklusive aller ökologischen Probleme. Das schleunigungsgesellschaft an Landschaft ge- Naturverständnis der westlichen Industriege- braucht wird, ist viel mehr eine Kulisse, als sellschaften war einerseits geprägt durch die eine Identitätsbasis. Sie muss Erlebnisreich- Euphorie der Moderne über die Möglichkeiten tum bieten und setzt Erfahrungen nicht voraus: der Naturbeherrschung und andererseits durch „Es gibt empirische Hinweise darauf, dass sich die schulderzeugende Wahrnehmung ihrer die individuellen Kosten-Nutzen-Kalküle auf- ökologischen Konsequenzen. grund der hohen subjektiven und objektiven

Instabilitäts- und Wandlungsraten zunehmend an kurzfristigen Erwartungen orientieren. Dies wiederum führt dazu, dass in einer Umwelt, in der etwa durch die Unterhaltungsindustrie zahllose Erlebnismöglichkeiten geschaffen werden, die sofortige Befriedigung bei minima- ler Zeit- und Energieinvestition versprechen, Handlungen, die nur unter langfristigen Stabili- tätsbedingungen Früchte tragen und einen beträchtlichen Zeit- und Energievorschuss erfordern, nicht mehr ausgeführt werden. Und dies gilt selbst dann, wenn sie im empirisch messbaren Erleben der Subjekte weit höhere Befriedigungswerte erzielen und daher von diesen selbst als wertvoller beurteilt und emp- funden werden“ (Rosa, 2005, S. 483). Sonst wäre wohl auch der stetige Anstieg des Fern- sehkonsums kaum nachvollziehbar. Die urbanisierte Landschaft ist eine individuali- Abb. 8: Naturschutz – Konservierung und Dynamik. sierte Landschaft ohne ausdefinierten und Foto: Dettmar 1989. durchschlagend prägenden kulturellen Back- Die technische Beschleunigung hat die natürli- ground – eine Landschaft ohne Sinn? Sie ist chen Prozesse gesteigert – siehe die Entwick- geprägt von der Kultur einer beschleunigten lung der Landwirtschaft – und natürliche Gren- Gesellschaft – insofern vielleicht die zeitgemä- zen überwunden. Damit verbunden war eine ße Kulturlandschaft. Diese wird allerdings wohl stetige Beschleunigung der Austauschprozes- kaum noch eine einheitliche Gestalt haben. se mit der Natur unter der Zielsetzung der Dies sind natürlich Spekulationen, noch dazu Ausbeutung. Der zunehmend wahrscheinlicher ziemlich grobschlächtige. Aussagen über die werdende „rasende Stillstand“ – also die unge- zukünftige Entwicklung unserer Landschaft richteten Bewegungen – auf den die Be- und daraus abgeleitete Handlungsempfehlun- schleunigungsgesellschaft zustrebt, lässt sich gen haben angesichts der grundlegenden Ver- vielleicht aus dem Naturverhältnis erklären, änderungen der Gesellschaft im Informations- das immer noch von den Vorstellungen der zeitalter durchaus ein großes Risiko, völlig Industriegesellschaft geprägt ist (nach Paul falsch zu liegen. Allerdings können Planer wohl Virilio zitiert in Rosa, 2005, S. 438). nicht so weit gehen, wie der Umwelthistoriker Im Informationszeitalter wird das Niveau an Rolf Peter Sieferle, der Aussagen über die Wissen und sozialer Organisation mit rasender Zukunft für unmöglich hält: „Eine Gesellschaft 41 Jörg Dettmar

Geschwindigkeit gesteigert, zumindest bei den nelle Strategien im regionalen Maßstab Gesellschaften oder Gesellschaftsteilen, die zu oder: Für ein raumplanerisches Entwer- den Gewinnern der Globalisierung zählen. Die fen. In: Bundesarchitektenkammer Bedeutung der immateriellen Informationen [Hrsg.]. Deutsches Architektenblatt. Die wird in der Wahrnehmung der global orientier- Zwischenstadt. 9/2006. S. 18-21. ten Eliten vermutlich immer weiter steigen – Kellner, U. (2006). Zur Zukunft der Kulturland- begrenzt nur durch ganz materiell reale Katast- schaft. Stadt + Grün. 12/2006. S.7 rophen z. B. Kriege, Terrorismus, Umweltprob- Kühne, O. (2006). Landschaft und ihre Kon- leme und Energieknappheit. struktion. Theoretische Überlegungen und empirische Befunde. Naturschutz Wenn als wertvoller (im Sinne der Wertschöp- und Landschaftsplanung 38. 5/2006. fung) Inhalt der ökonomischen Prozesse einer S.146-152. Gesellschaft die materiellen Ressourcen für Neiss, Th. (1999). Natur hat Geschichte – die industrielle Produktion an Bedeutung ab- Geschichte wird Natur: Die Industrie- nehmen und die immateriellen Ressourcen der landschaft als Kulturlandschaft. In: Dett- Informationserzeugung immer wichtiger wer- mar, J. & Ganser, K. [Hrsg.]. Industrie- den, kann sich dann die Wahrnehmung der Natur – Ökologie und Gartenkunst im Natur vom Ressourcenlieferanten und schutz- Emscher Park. Verlag Eugen Ulmer bedürftigen, zu regulierenden Objekt zu einem GmbH & Co. 1999. selbstbestimmten Prozess ändern? Ein Pro- Opaschowski, H.. W. (2005). Besser leben, zess in dem der Mensch zum integrierten Sub- schöner wohnen? Leben in der Stadt der jekt wird und nicht ein exklusives Element ist. Zukunft. Primus Verlag. Darmstadt. 265 S. Anders ausgedrückt, der alte Traum von der Rekittke, J. (2007). Eliminationsversuch mit Rückkehr ins Paradies wird in der Turbomo- Kollateralschaden. Landschaft mit Ord- derne neugeträumt ? nungsnummer ist längst Zwischenstadt.

Stadt + Grün. 1/2007. S.35-38. Rosa, H. (2005). Beschleunigung. Die Verän- derung der Zeitstruktur in der Moderne. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 537 S. Siebel, W. (2001). Ist die Europäische Stadt ein zukunftsfähiges Modell ? In: Rietdorf, W. (Hrsg.). Auslaufmodell Europäische Stadt ? Neue Herausforderungen und Fra- gestellungen am Beginn des 21. Jahrhun- derts. Verlag für Wissenschaft und For- schung. Berlin. S. 151-155. Sieverts, Th. (2006). Stadtregion als Lebens- Abb. 9: Traum von der Einheit – Skulptur im Lost Gardens of Heligan, Cornwall England. Foto: Dettmar 2002. raum. Zwischenstadt – Baukultur – Verant- wortung. Deutsches Architektenblatt. Literatur 9/2006. S.12. Sieferle, R. P. (1997). Rückblick auf die Alltschekow, P., Eyink, H. & Sinz, M. (2006). Natur. Eine Geschichte des Menschen Bewahren und entwickeln. Neue Leitbilder und seiner Umwelt. Luchterhand Verlag. der Raumentwicklung in Deutschland. Stadt München. 233 S. + Grün. 12/2006. S. 8-13. Sieferle, R. P. (2004). Die totale Landschaft. BBR – Bundesamt für Bauwesen und Raum- Topos 47. S. 6-13. ordnung (2005). Raumordnungsbericht 2005. Berichte Band 21. 371 S. Anschrift Boczek, B. (2006). Vernetzung. Freiräume in der Zwischenstadt. Deutsches Architekten- Prof. Dr. Jörg Dettmar blatt 9/2006. S. 22-24. Technische Universität Darmstadt Christiaanse, K. (2005). Städtebau als FB Architektur Landschaft. In: BDLA [Hrsg.].Spielräu- FG Entwerfen und Freiraumplanung me. Zeitgenössische deutsche Land- El-Lissitzky-Str. 1 schaftsarchitektur. Birkhäuser-Verlag für 64287 Darmstadt Architektur Basel. S. 50-56. E-Mail: [email protected] Hamm, O. G. (2006). Ästhetik und Verantwor- tung. Deutsches Architektenblatt 9/2006. S. 10. Koch, M. & Schröder, M. (2006). Zwischen- StadtEntwerfen. Plädoyer für konzeptio-

42 CONTUREC 2 (2007) Seite 43 bis 46

Welche Flächen sind Forschungsobjekt der Stadtökologie?

Which areas are the objects of urban ecology?

RÜDIGER WITTIG

Zusammenfassung Jede Wissenschaft sollte ein zumindest im Kern klar definiertes Forschungsobjekt besitzen. Da der ökologische Einfluss einer Stadt weit über ihre Grenzen hinausreicht, andererseits aber in Städten Ökosysteme existieren können, die an anderen Stellen weit außerhalb von Städten zu finden sind (z. B. Moore, Wälder, Heiden etc.), also dementsprechend als nicht-städtische Ökosysteme bezeich- net werden müssen, gestaltet sich die Frage nach einer klaren Definition des Forschungsobjektes der Stadtökologie auf den ersten Blick als schwierig. Nach Ansicht des Autors ist die Abgrenzung jedoch klar: Will man nicht eines Tages die gesamte Welt als Forschungsobjekt der Stadtökologie ansehen, so können nur solche Flächen Gegenstand der Stadtökologie sein, die außerhalb oder unabhängig von Städten nicht existieren, also typische Stadtbiotope wie Siedlungen, Industriegebiete, große Ver- kehrsanlagen etc.

Stadtökologie, Forschungsgegenstand, Wissenschaftstheorie.

Summary Each science should have a clearly defined research object, at least at its core. The ecological impact of a city reaches far beyond its boundaries. Moreover, ecosystems which are mostly found well outsi- de the cities, and must thus be termed non-urban habitats, can also exist within cities (e.g. peatlands, woodlands, heathlands etc.). The question as to a clear definition of the research object of urban eco- logy is thus a difficult one at first sight. However, in the author’s opinion the demarcation lines are clear: if one does not set out to eventually view the entire globe as the research object of urban ecolo- gy, then only those sites can be objects of urban ecological studies which do not exist outside of or independently of cities, i.e. typical urban habitats such as settlements, industrial areas, major transport infrastructure and so forth.

1. Einleitung und Fragestellung feld mehrerer Wissenschaften aus unter- schiedlichen Bereichen und von Planung mit Stadtökologie ist im engeren Sinne, zumindest dem Ziel einer Verbesserung der Lebensbe- bei logischer Interpretation des Wortes, derje- dingungen und einer dauerhaft umweltverträg- nige Teil der Ökologie, der sich mit dem Le- lichen Stadtentwicklung." Auch hier stellt sich bensraum Stadt beschäftigt. Sie ist daher als die Frage nach der räumlichen Abgrenzung "diejenige Teildisziplin der Ökologie, die sich des Arbeitsgebietes. Im Rahmen des vorlie- mit den städtischen Biozönosen, Biotopen und genden Aufsatzes steht allerdings die wissen- Ökosystemen, ihren Organismen und Stand- schaftliche Stadtökologie, also die Stadtökolo- ortbedingungen sowie mit Struktur, Funktion gie im engeren Sinne, im Vordergrund. und Geschichte urbaner Ökosysteme beschäf- tigt" zu definieren (Wittig & Sukopp, 1998, Wie nicht zuletzt die in diesem CONTUREC- S. 2). Fasst man, wie dies sowohl im wissen- Band veröffentlichten Beiträge zeigen, bei- schaftlichen als auch im populären Sprach- spielsweise aber auch aus McDonnell et al. (in gebrauch häufig der Fall ist, Biozönosen, Bio- prep.) hervorgeht, wird der Forschungsgegen- tope und Ökosysteme unter dem Oberbegriff stand der Stadtökologie von einigen Autoren „Natur“ zusammen, so ist der Forschungsge- sehr weit gefasst (Chapman et al., in prep.). genstand der Stadtökologie dementsprechend Manchmal drängt sich der Eindruck auf, die die Stadtnatur. Dass beispielsweise sogar gesamte Welt sei Gegenstand der Stadtökolo- Politiker und Umweltschützer Stadtnatur und gie. Im Folgenden wird daher der Frage nach- die Natur des Stadtumlandes nicht als iden- gegangen, was bei Einhaltung klarer Definitio- tisch ansehen, zeigt der Titel des Aufsatzes nen zur Stadtnatur gehört und damit For- von Königs (1994) "Stadt-Natur statt Natur- schungsgegenstand der Stadtökologie ist. Stadt". Exemplarisch werden hierbei Flora und Vege- tation behandelt. Im weiteren Sinne ist Stadtökologie (Wittig & Sukopp, 1998, S. 2) "ein integriertes Arbeits- Rüdiger Wittig

Innerhalb der politischen Grenzen einer Stadt oder den an eine Stadt angrenzenden Mee- finden sich unterschiedliche Typen von Natur. resbereich als Forschungsgebiet zu reklamie- Beispielsweise setzt sich die Vegetation des ren (s. die entsprechenden Beiträge in Mc- Stadtgebietes von Warschau nach Chojnacki Donnell et al., in prep.). (1991) aus natürlicher bzw. naturnaher Vege- tation (4,9 % der Fläche), halbnatürlicher Ve- 3. Schlussfolgerungen und Diskussion getation (Heiden, Grünland: 19,4 %), Vegetati- on des Ackerlandes (20,5 %), Ruderalvegeta- In Analogie zu obigen Beispielen sind als Ge- tion (13,6 %), Komplexbereichen aus Ruderal- genstand der Stadtökologie diejenigen Gebiete und Ackervegetation (18,4 %) und subsponta- zu nennen, die außerhalb von Städten nicht ner Vegetation (städtischer Rasen: 23,2 %) anzutreffen sind oder aber ihre Entstehung und zusammen. Sind nun all diese Vegetationsty- ihren Fortbestand ausschließlich der Stadt pen Stadtnatur und damit Forschungsgegens- verdanken. Diese typisch städtischen Gebiete tand von Stadtökologie? Die Beantwortung unterscheiden sich von nichtstädtischen durch dieser Frage soll durch Analogieschlüsse er- eine Ballung menschlicher Aktivitäten, Produk- folgen (s. Kap.2). te und Nutzungen. Im Einzelnen handelt es sich hierbei um: 2. Beispiele für logische räumliche Ab- grenzung des Forschungsgegen- – verdichtetes Wohnen, standes von Teildisziplinen der Ökolo- – Industrie, gie – Wirtschaft und Handel, Kein Hochgebirgsökologe wird die einem Ge- dichten Verkehr, birge vorgelagerte Ebene zu seinem For- – schungsgegenstand machen, obwohl die Ebe- – Verwaltung, ne in vielerlei Hinsicht vom Gebirge beeinflusst – Müllerzeugung und -entsorgung, wird (vom Gebirge kommende Fließgewässer, Geröll, Kaltluft, Fallwinde, Steigungsregen, – wohnungsnahe Erholung und Freizeit. dealpine Arten). Ebenso wenig wird ein Forst- wissenschaftler oder Waldökologe eine in ei- Alle Lebensräume, die ihre Entstehung über- nem Wald gelegene Stadt als seinen For- wiegend einem oder mehreren dieser Aktivitä- schungsgegenstand sehen. Dabei weiß selbst- ten verdanken, sind Gegenstand der Stadtöko- verständlich jeder Waldökologe, dass die im logie (bzw. bei "Wohnen im ländlichen Raum" Wald gelegene Stadt ökologisch in vieler Hin- der Dorfökologie). Stadtbiotope können dem- sicht vom Wald beeinflusst wird: Mit Sicherheit entsprechend durchaus über die Grenzen ei- gibt es klimatische Auswirkungen sowie deutli- ner Stadt ins Umland ausstrahlen oder sogar che Auswirkungen auf die Zusammensetzung Städte miteinander verbinden (Autobahnen, der Flora und Fauna dieser Stadt. Unbescha- große Bahnlinien) und auch isoliert als Exkla- det dieser Tatsache ist dem Verfasser jedoch ven außerhalb von Städten liegen (zentrale keine waldökologische Arbeit bekannt, die die Mülldeponien, große Kraftwerke etc.). Auch Stadt zum Forschungsgegenstand hat. Im Gewässertypen, die außerhalb von Städten Gegenteil: Seit einiger Zeit werden selbst bzw. anderer menschlicher Siedlungen nicht kleinste Waldbereiche, wenn sie in der Stadt vorkommen (Kleingewässer in Gärten, Parktei- gelegen sind, als „urban forest“ bezeichnet che, völlig eingeschalte Bäche im Zentrum der (Rowntree, 1988) und damit zum Gegenstand Ruhrgebietsstädte) können zu Recht Gegen- (eines speziellen Gebietes) der Forstökologie stand der Stadtökologie sein (vgl. Schuma- deklariert, womit sich zu Recht allerdings auch cher, 1988). Im Stadtgebiet gelegene Flüsse, Stadtökologen beschäftigen (Kowarik, 1995). Seen, Moore und andere Feuchtgebiete sind Anzumerken ist allerdings, dass die Waldöko- es dagegen genauso wenig, wie im Stadtbe- logie nicht nur den eigentlichen Wald im enge- reich gelegene Ackerflächen, Wiesen und na- ren Sinne im Visier hat, sondern auch all dieje- turnahe Wälder. Sich auf Deponien sowie In- nigen Biotope, die nur im Kontext des Waldes dustrie- und Verkehrsbrachen entwickelnde existieren, also z. B. Waldlichtungen, Waldwe- Stadtwälder (Kowarik & Körner, 2005) haben ge, Waldquellen, Wildwiesen, Wildäcker und dagegen kein Pendant in nichtstädtischen sogar im Wald gelegene Gebäude (Schutzhüt- Gebieten und verdanken Ihre Existenz eindeu- ten, Jagdhütten). tig den städtischen Nutzungen. Sie sind also ohne Zweifel "Stadtnatur" und damit Gegens- Besonders augenfällig ist das Beispiel einer tand der Stadtökologie. auf einer Insel gelegenen Stadt (vgl. Wittig, in prep.). Kein Limnologe oder Meeresbiologe Bemerkenswerter- und richtigerweise wurden wird diese Stadt zu seinem Forschungsgebiet die Untersuchungen zum Waldsterben, dessen erklären. Dagegen mehren sich die Versuche Ausgangspunkt eindeutig die Industriegebiete von Stadtökologen, in Städten gelegene Seen und der Kraftverkehr der Ballungsräume waren 44 Welche Flächen sind Forschungsobjekt der Stadtökologie?

(s. z. B. Ulrich, 1984, Prinz et al., 1984), nicht ban-rural gradients. Case studies in New als Stadtökologie deklariert, sondern als Teil York City and Louisville. Kentucky. In: von Waldökologie, Forstbotanik, Bodenkunde McDonnell, M.J., Breuste, J. & Hahs, A.K. und Klimatologie betrachtet oder unter Begrif- (eds.). Ecology of Cities and Towns. A fen wie Immissionsökologie, Immissionswir- Comparative Approach. kungsforschung, Waldschadensforschung etc. Chapman, G.M., Blockley, D., People, J. & abgehandelt (s. z. B. Ammer et al., 1986). Clynick, B. (in prep.). Effect of urban struc- Dabei ist beispielsweise in den Städten des tures on diversity of marine species. In: Ruhrgebiets unter dem Einfluss der dort über McDonnell, M.J., Breuste, J. & Hahs, A.K. Jahrzehnte hinweg herrschenden sehr starken (eds.). Ecology of Cities and Towns. A Immissionen ein Buchenwaldtyp entstanden, Comparative Approach. dessen Böden (stark versauert, hohe Belas- Chojnacki, J. (1991). Zróznicowanie przestr- tung mit Schwermetallen und PAK, Rußaufla- zenne roślinności Warszawy. Text- u. ge), Struktur (Krautschicht nur fragmentarisch Kartenband. Wydawnictwa Uniw. War- entwickelt) und Artenkombination (Fehlen aller szawskiego,.Warschau. 227 S. + Karten- für Buchenwälder bezeichnenden Kräuter) so band. stark gegenüber dem naturnahen Pendant Klotz, S., Kühn, I. & Durka, W. (2002). BIO- außerhalb der Industriegebiete verändert sind FLOR - Eine Datenbank mit biologisch- (Wittig & Werner, 1989), dass man von Stadt- ökologischen Merkmalen zur Flora von natur sprechen könnte. Aber selbst dieser Deutschland. Schr.R. Vegetationskde. 38. Waldtyp wird in der Regel nicht unter dem Bundesamt für Naturschutz. Bonn-Bad Thema Stadtvegetation oder Siedlungsvegeta- Godesberg. 334 pp. tion behandelt (Wittig, 1999, Wittig, 2002). Königs, T. (1996). Stadt-Natur statt Natur- Stadt. Geobot. Kolloq. 10. S. 3-6. Welche Arten städtische Biotope bevorzugen Kowarik, I. (1995). Zur Gliederung anthropo- und welche sie meiden, ist für die mitteleuropä- gener Gehölzbestände unter Beachtung ur- ische Flora sehr gut bekannt. Die von Wittig et ban-industrieller Standorte. Verhandl. Ges. al. (1985) vorgeschlagene Klassifizierung der Ökol. 24. S. 411-421. Arten als urbanophob, urbanoneutral und ur- Kowarik, I & Körner, S. (2005). Wild Urban banophil, die beispielsweise der Datenbank Woodlands – New Perspectives for Urban von Klotz et al. (2002) zu entnehmen ist, kann Forestry. Springer. Berlin/Heidelberg. daher im Zweifelsfall ein wertvoller Hinweis 299 pp. darauf sein, ob es sich bei einem Lebensraum McDonnell, M.J. and Pickett, S.T.A. (1993). um einen städtischen handelt oder nicht. Ecosystem structure and function along a Für das Verständnis der Besonderheiten von gradient of urbanization: an unexploited op- Stadtnatur ist der Vergleich mit dem Umland portunity for ecology. Ecology. 71. S. 1231- sehr wertvoll. Insbesondere haben sich Tran- 1237. sektuntersuchungen entlang eines urban- McDonnell, M.J., Pickett, S.T.A., Pouyat, R.V., ruralen Gradienten als nützlich erwiesen (Mc- Parmelee, R.W., Carreiro, .M., Groffmann, Donnell & Pickett, 1993, McDonnell et al., P.M., Bohlen, P., Zipperer, W.C. & Medley, 1997, Zipperer & Guntenspergen, in prep., K. (1997). Ecology of an urban-to-rural gra- Carreiro et al., in prep.). Gradientenanalysen dient. Urban Ecosystems. 1. p. 21-36. (Whittaker, 1967) sind allerdings keine Spezia- McDonnell, M.J., Breuste J. & Hahs, A.K. lität der Stadtökologie und damit auch kein (eds.) (in prep.). Ecology of Cities and Hinweis darauf, dass der im Rahmen eines Towns. A Comparative Approach. solchen Stadt-Land-Transektes untersuchte Prinz, B., Krause, G.H.M. & Jung, K.-D. ländliche Bereich zum Arbeitsgebiet der Stadt- (1984). Neuere Untersuchungen der LIS zu ökologie gehört. Bei Umkehrung der Tran- den neuartigen Waldschäden. Düsseldorfer sektrichtung würde dann nämlich die Untersu- Geobot. Kolloq.1. S. 25-36. chung von Städten als Ökologie des ländlichen Rowntree, R.A. (1988). Ecology of the Urban Raumes angesehen werden können. Forest: Introduction to Part III. Landscape and Urban Planning. 15. pp. 1-10. Literatur Schumacher, H. (1993). Stadtgewässer. In: Sukopp, H. & Wittig, R.. Stadtökologie. Ammer, U., Bosshard, W., Kroth, W., Rehfuß, G.Fischer. Stuttgart. S. 201-218. K.E., Schöpfer, W., Schütt, P. & Ulrich, B. Ulrich, B. (1984). Langzeitwirkungen von Luft- (Hrsg) (1986). Schwerpunktthema Wald- verunreinigungen auf Waldökosysteme. schadensforschung in München. Forstwis- Düsseldorfer Geobot. Kolloq. 1. S. 11-23. senschaftliches Centralblatt 105. 380 S. Whittaker, R.H. (1967). Gradient analysis of Carreiro, M.M., Pouyat, R.V., Triple, C.E. & vegetation. Bio.Rev. 49. pp. 207-264. Zhu, W.-Z. (in prep.). Carbon and nitrogen Wittig, R. (1999). Verbreitung und Standorte cycling in soils of remnant forests along ur- von Anemone nemorosa und Poligonatum 45 Rüdiger Wittig

multiflorum in Buchenwäldern des Ruhrge- bietes. Tucxenia 19. S. 173-177 Wittig, R. (2002). Siedlungsvegetation. Ulmer. Stuttgart. 252 S. Wittig, R. (in prep.). What is the object of urban ecology? Determining the demarcation us- ing the example of research into urban flora. In: McDonnell, M.J., Breuste, J. & Hahs, A.K. (eds.). Ecology of Cities and Towns.: A Comparative Approach. Wittig, R., Sukoppf, H. (1998). Was ist Stadt- ökologie? In: Sukopp, H. & Wittig, R. (Hrsg.). Stadtökologie. 2. Aufl.. G.Fischer. Stuttgart. Wittig, R. & Werner, W. (1989). Buchenwälder im Ruhrgebiet und in der Westfälischen Bucht. Eine vergleichende Untersuchung. Verhandl. Ges. Ökol. 18. S. 473-482. Wittig, R., Diesing, D. & Godde, M. (1985). Urbanophob – Urbanoneutral – Urbanophit. Das Verhalten der Arten gegenüber dem Lebensraum Stadt. Flora 177. S. 265-282. Zipperer, W.C. & Gutenspergen, G. (in prep.). Vegetation composition and structure of forest putches along urban-to-rural gradi- ents. In: McDonnell, M.J., Breuste, J. & Hahs, A.K. (eds.). Ecology of Cities and Towns: A Comparative Approach.

Anschrift Prof. Dr. Rüdiger Wittig Abteilung Ökologie und Geobotanik Institut für Ökologie, Evolution und Diversität Fachbereich Biowissenschaften J. W. Goethe-Universität Siesmayerstraße70 D-60323 Frankfurt am Main E-Mail: [email protected]

46 CONTUREC 2 (2007) Seite 47 bis 52

Über die Bedeutung von Dynamik-Inseln in Urbanlandschaften Gefördert mit Mitteln der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU, Osnabrück) und der Bristol-Stiftung (Zürich)

On the importance of dynamic habitat islands in urban landscapes Funded by the German Environmental Foundation (DBU, Osnabrück) and the Bristol Foundation (Zurich)

PAUL STEGMANN & HERBERT ZUCCHI

Zusammenfassung Im Rahmen eines Gemeinschaftsprojektes der Fachhochschule Osnabrück und der Stiftung für Orni- thologie und Naturschutz (Melle) entsteht in der genutzten „Normallandschaft“ des Osnabrücker Rau- mes ein Netz kleiner Prozessschutzflächen (= Dynamik-Inseln), die auf verschiedenen Wegen gewon- nen werden. Darin sind sowohl Wald- als auch Halboffen- und Offenlandareale sowie Sonderstandorte wie Bodenabbaugebiete einbezogen. Dieses Dynamik-Insel-Netz soll drei Flächenkategorien beinhal- ten: 1. der Umweltbildung dienende Flächen, 2. für ein Monitoringprogramm zur Verfügung stehende Flächen und 3. Ruheflächen, die nur ausnahmsweise begangen werden. Für ihre Auswahl ist eine ganze Reihe von Kriterien zu berücksichtigen, die in dieser Arbeit nicht näher ausgeführt werden. Erste Flächen mit insgesamt ca. 200 ha konnten bereits gewonnen werden, weitere folgen in Kürze. Von solchen Prozessschutzflächen können verschiedene positive Wirkungen für die Gesellschaft aus- gehen, besonders wenn sie im urbanen bzw. suburbanen Raum liegen. Gerade für Kinder stellen sie wichtige Naturerfahrungsräume dar, was sich positiv auf ihre Entwicklung auswirken und der Naturent- fremdung gegensteuern kann.

Prozessschutz, Wildnis, Dynamik-Inseln, suburbaner Raum, urbaner Raum, Naturerfahrungsräume, Osnabrück.

Summary Developing a network of small wilderness areas in the Osnabrück region is the aim of a joint project by the Osnabrück University of Applied Sciences and the Foundation for Ornithology and Nature Protec- tion (Melle). There are various options to maintain those wilderness areas in the densely populated and intensively used area. The “dynamic habitat islands” project includes forests as well as grassland and fallows. But also former mining areas are integrated in the network. The areas are classified in three categories: 1. environmental education areas, 2. monitoring areas and 3. areas which provide reserves for animals and plants – entering those areas is only exceptionally allowed. A large set of criteria is applied to select dynamic habitat islands in the anthropogenic landscape. First areas cover- ing about 200 ha have been acquired for the network, and more will follow soon. From these dynamic areas an array of positive effects can radiate to society, especially if they are situated in the urban or suburban sphere. Especially for children they represent important areas with regard to nature experi- ence, which can have a positive effect on their adolescence and can help prevent estrangement from nature.

1. Einleitung angestrebten Zustand vor Augen hat: Die Flä- chen sind, was sie sein werden. Konsequenter Mit der Bereitstellung von Flächen, die jegli- Prozessschutz auf Arealen der mitteleuropäi- cher wirtschaftlicher Nutzung, Pflege und Ge- schen Kulturlandschaft führt zu (sekundärer) staltung entzogen werden, beschreitet der Wildnis, die nach Broggi (1999) wie folgt defi- Naturschutz einen relativ neuen Weg, der eine niert ist: von mehreren möglichen Strategien zur Be- wahrung oder Wiederherstellung des nationa- „Wildnis ist jener Raum, len Naturerbes darstellt (Prokosch, 1992; Scherzinger, 2005). Auf solchen Arealen ste- – in dem wir jede Nutzung und Gestaltung hen nicht bestimmte Arten oder Biotope im bewusst unterlassen, Fokus der Bemühungen, sondern dynamische – in dem natürliche Prozesse ablaufen kön- Entwicklungen und Prozesse, die als eine nen, ohne dass der Mensch denkt und Grundeigenschaft aller lebendigen Systeme lenkt, anzusehen sind (Scherzinger, 1997; Zucchi & Stegmann, 2006). Naturschutz generiert be- – in dem sich Ungeplantes und Unvorherge- züglich dieser Dynamik-Flächen zum Prozess- sehenes entwickeln kann.“ schutz, der weder lenkend eingreift noch einen Paul Stegmann & Herbert Zucchi

Der vorliegenden Arbeit liegt ein Gemein- von Verkehrs- oder Energietrassen zerschnit- schaftsprojekt der Fachhochschule Osnabrück ten werden oder für die der Sukzession wider- (Fakultät Agrarwissenschaften u. Landschafts- sprechende Naturschutzziele definiert sind, architektur, Arbeitsgruppe Zoologie/Ökologie/ ausgeschlossen. Andererseits sind Areale mit Umweltbildung) und der Stiftung für Ornitholo- einer naturnahen Ausgangssituation (z. B. gie und Naturschutz (SON) mit Sitz in Melle Waldinseln mit hohem Altholzanteil) oder mit (Landkreis Osnabrück) zugrunde, das den Titel nur geringen anthropogenen Randeinflüssen „Machbarkeitsstudie und modellhafte Erpro- besonders willkommen. bung des SON-Programms ‚Dynamik-Inseln für Das geplante Dynamik-Insel-Netz, für das ein die Kulturlandschaft’“ trägt. Neben der DBU erster Pool von Flächen bereits akquiriert wer- und der Bristol-Stiftung gibt es eine Reihe wei- den konnte (vgl. Kap. „Bisher gewonnene Flä- terer Institutionen, die Fördergelder in kleine- chen“), soll Areale unterschiedlicher Aus- rem Umfang zur Verfügung gestellt haben. gangssituation (Offen-, Halboffen- und Wald- Im Gegensatz zu Prozessschutzflächen in flächen sowie Sonderstandorte wie Bodenab- Großschutzgebieten wie etwa Nationalparken, baugebiete), verschiedener Naturräume (Tief- wo sich Wildnis mit ihrer Dynamik auf einigen ebene, Hügel- und Bergland) sowie unter- tausend Hektar ausdehnen kann, geht es im schiedlicher Lebensraumtypen (Wald, Moor vorliegenden Fall um kleine bis kleinste Areale, etc.) umfassen und Anteile sowohl im Sied- die als Dynamik-Inseln in der genutzten „Nor- lungsbereich als auch siedlungsfern aufwei- mallandschaft“ liegen. Auch sie sollen einem sen. Dabei wird eine Einteilung in drei Flä- konsequenten Prozessschutz zugeführt wer- chenkategorien erfolgen: den und sich somit zu Sekundärwildnis-Inseln 1. Flächen, die für ein langfristiges Monito- entwickeln können. Ihre Ausgangsvorausset- ringprogramm genutzt werden, um ihre na- zungen unterscheiden sich aber sehr grund- turschutzfachliche Bedeutung zu ermitteln sätzlich von denen in Großschutzgebieten, da und ihre Entwicklung zu dokumentieren; sie erstens aufgrund ihrer geringen Größe in 2. Flächen, die der Entwicklung und Durch- erheblichem Maße den Einflüssen der umge- führung von Umweltbildungskonzepten benden Nutzlandschaft ausgesetzt sind (Ein- dienlich sein sollen, um Akzeptanz gegen- trag von Dünger und Pestiziden, klimatische über „wilder Natur“ zu schaffen und an ei- Einwirkungen etc.), zweitens aufgrund ihrer nem anderen, dynamikgeprägten Naturbild Lage mitten in genutzter Landschaft unter Um- mitzuwirken; ständen selbst Einflüsse auf diese haben und schnell zu Konflikten mit den Nutzern führen 3. Ruheflächen, die nur ausnahmsweise be- können (Wildkrautsamenflug, Borkenkäferaus- gangen werden, z. B. im Rahmen eines breitung etc.), drittens optisch stärker hervor- punktuellen Monitorings. stechen, was aufgrund ihrer „Wildheit“ auf Diese Kategorisierung wird bezüglich der Aus- Akzeptanzprobleme stoßen kann und viertens wahlkriterien berücksichtigt. So sollten etwa keinem gesetzlichen Schutz unterliegen. Wel- der Umweltbildung dienende Areale siedlungs- che Bedeutung solchen Flächen – insbesonde- nah oder Wanderwegen benachbart liegen, re im Halboffen- und Offenland – aus natur- Ruheflächen dagegen eher schwer zugänglich schutzfachlicher Sicht tatsächlich zukommt, ist sein. weitgehend unbekannt und kann nur in einem langfristigen Monitoringprogramm ermittelt und 3. Wege zu Dynamik-Inseln beurteilt werden. Grundsätzlich sind verschiedene Wege denk- Ein großer Vorteil dieser Dynamik-Inseln liegt und beschreitbar, mittels derer Flächen als in ihrer Präsenz in der genutzten „Normalland- Dynamik-Inseln aus Nutzung, Pflege und Ge- schaft“. Damit befinden sie sich praktisch vor staltung ausscheiden können. Erstens ist es der Haustür vieler Menschen, sind ohne lange der Ankauf von Flächen durch Stiftungen o. ä. Anreise erlebbar und somit für die Umweltbil- (hier der Stiftung für Ornithologie und Natur- dung siedlungsnah verfügbar, die sie für eine schutz), die sich der Förderung von Prozess- Akzeptanzschaffung gegenüber wilder Natur schutz und Wildnisentwicklung verschrieben nutzen kann. haben. Durch das Übergehen der Areale in ihr Eigentum ist deren dauerhafte Sicherung zwei- 2. Ziele des Dynamik-Insel-Projektes felsfrei am besten gewährleistet. Erfahrungen Im Rahmen des Projektes soll im Osnabrücker in der Praxis zeigen aber, dass es nicht leicht Raum (Stadt und Landkreis) ein Netz von Flä- ist, Geldgeber für den Ankauf solcher Flächen chen gewonnen werden, die sich ohne jegliche zu finden. Zweitens besteht die Möglichkeit Eingriffe eigendynamisch entwickeln können. des Anpachtens von Grundstücken, die im Für ihre Auswahl wurde ein Kriterienkatalog Besitz von Unternehmen, Privatpersonen, der entwickelt, der Negativ- wie Positivkriterien Kirche etc. sind. Eine langfristige Pacht und beinhaltet. Beispielsweise sind Flächen, die klare Verträge, die Eingriffe ausschließen, 48 Über die Bedeutung von Dynamik-Inseln in Urbanlandschaften

müssen aber gewährleistet sein. Drittens kön- erste Vorwaldstadien aufweist und über die nen Flächen kostenfrei von Eigentümern zur ebenfalls eine schriftliche Vereinbarung getrof- Verfügung gestellt werden, worüber dann eine fen wurde (Abb.1, Nr. 7 und Abb. 2). Sie ist eindeutige Vereinbarung getroffen werden ebenfalls am Stadtrand Osnabrücks gelegen muss, die konsequente Wildnisentwicklung und für Anwohner direkt erreichbar, so dass ermöglicht. Ein vierter Weg ist die Bereitstel- hier eine Öffnung im Sinne eines Naturerfah- lung von Dynamik-Inseln im Rahmen von rungsraumes sinnvoll erscheint. Ferner konn- Kompensationsmaßnahmen, beispielsweise ten im Nordkreis rund 160 ha Moor- und mittels eines Kompensationsflächenpools und Bruchwaldflächen über Ankauf oder langfristi- dessen Integration in die Flächenbilanzierung ge Verträge gesichert werden (Abb.1, Nr. 1 bis (Ökokonten) durch Landkreise, Gemeinden 4). Eine langfristige Vereinbarung mit der Nie- und andere öffentliche Träger. Dies entlastet dersächsischen Straßenbauverwaltung über Stiftungen beim Ankauf oder Anpachten von eine Brachfläche, die als Ausgleichsfläche für Flächen und ist daher eine kostengünstige einen Bundesstraßenausbau fungiert (Abb. 1, Variante, zumal die Kosten für Kauf oder Pacht Nr. 5), erfolgte ebenso. Schließlich konnte der Verursacher zu tragen hat. Dabei muss Ende des Jahres 2006 eine mündliche Verein- aber immer die langfristige Sicherung der Flä- barung mit der Nordwestdeutschen Forstlichen chen gewährleistet sein, wie es für Ausgleichs- Versuchsanstalt (NW-FVA) über die Natur- und Ersatzflächen generell gilt, d. h., sie müs- waldzelle „Großer Freeden“ getroffen werden sen dauerhaft als ungenutzte Landschaftsteile (Abb.1, Nr. 8). Die Naturwaldzelle steht vor- zur Verfügung stehen. Bezüglich Kompensati- rangig als Referenzfläche für das zoologisch- onsflächen, die der ungehinderten Sukzession vegetationskundliche Monitoring zur Verfü- und damit der Wildnisentwicklung zugeführt gung. werden, ist aber zu klären, wie sie im Vergleich Insgesamt sind damit bereits in den ersten mit Flächen, auf denen Pflege- und Entwick- eineinhalb Jahren unterschiedlichste Flächen lungsmaßnahmen vorgenommen werden müs- in den fünf wesentlichen Landschaftseinheiten sen, zu „verrechnen“ sind, d. h., hier ist mit der zwei naturräumlichen Regionen (Ems- Kostenäquivalenten zu operieren. Schließlich Hunte-Geest/ Dümmer-Geestniederung sowie können Dynamik-Inseln auch aus laufenden Osnabrücker Hügelland), die den Raum Osna- Flurneuordnungsverfahren hervorgehen. brück ausmachen (von Drachenfels, 1984), Anstrebenswert ist die Integration der Dyna- gesichert worden. Das Spektrum reicht dabei mik-Inseln in die Raumplanung, wobei über von siedlungsfernen Moorkomplexen im Nord- deren Instrumente eine frühzeitige Sicherung kreis über Grünlandflächen in der intensiv ge- erreicht werden kann. nutzten Agrarlandschaft des Südkreises bis hin zu den im suburbanen Bereich gelegenen 4. Bisher gewonnene Flächen Arealen. Zum Aufbau eines Dynamik-Insel-Netzes im Osnabrücker Raum sind die ersten Schritte bereits vollzogen: Dreizehn Flächen mit rund 200 ha konnten inzwischen als Prozessschutz- Areale gesichert werden. Zwei Waldflächen sind mit Eigenmitteln der SON angekauft wor- den (Abb.1, Nr. 12 + 13) und in deren Eigen- tum übergegangen. Eine Grünland- und eine Waldfläche konnten mit Mitteln der Bristol- Stiftung (Zürich), der Bürgerstiftung Melle und der Naturschutzstiftung des Landkreises Os- nabrück erworben werden und sind ebenfalls Eigentum der SON geworden (Abb.1, Nr. 9 + 10). Von der in der Stadt Bramsche (Landkreis Osnabrück) ansässigen Firma Dallmann wurde ein ehemaliges Sandabbaugebiet kostenfrei zur Verfügung gestellt (Abb.1, Nr. 11) und mit einer schriftlichen Vereinbarung langfristig gesichert. Eine Vereinbarung über die Bereit- stellung einer Kompensationsfläche für einen Gesteinsabbau im Piesberg am Stadtrand von Osnabrück mit der CEMEX GmbH ist ebenfalls erfolgt (Abb.1, Nr. 6 und Abb.3). Hinzu kommt eine Kompensationsfläche der Stadt Osna- brück, die sowohl Feuchtgrünland als auch Abb.1: Dynamik-Inseln in der Region Osnabrück.

49 Paul Stegmann & Herbert Zucchi

4. Im Zulassen von Dynamik-Flächen werden wir glaubwürdiger. Wenn wir von anderen Ländern den Erhalt ihrer Wildnis fordern, selber aber überwiegend nutzend, pfle- gend und gestaltend mit unserer Land- schaft umgehen, haben wir die Moral nicht auf unserer Seite. 5. Die demografische Entwicklung wird über kurz oder lang dazu führen, dass in Deutschland immer mehr Flächen aus der Nutzung fallen werden. Darauf kann der Naturschutz mit dem Prozessschutzkon- zept eine Antwort geben. Abb.2: Wildnis breitet sich in alter Kulturlandschaft aus 6. Dynamik-Flächen setzen einen deutlichen (Foto: Steffens). Kontrapunkt zur „Alles ist machbar- Mentalität“. Bewusstes Nichtstun, das – ebenso wie die Tätigkeit – zur Kultur von Menschen gehört, ist damit verbunden, zu- fällig und ungeplant Entstandenes zu res- pektieren und damit vom Prinzip allumfas- sender Kontrolle abzuweichen. 7. Der Kontakt mit Dynamik-Flächen ermög- licht die Entwicklung einer gegenüber heu- te anderen Ästhetik, zu der Alter, Siechtum und Tod ebenso gehören wie Neubeginn, Jugend und Vitalität. 8. Die Berührung mit Dynamik-Flächen er- möglicht ein anderes Zeitverständnis, denn

sie unterliegen anderen Zeitmaßen als un- Abb.3: Beginnende Verwilderung am Stadtrand von Osna- sere sich ständig beschleunigende Gesell- brück (Foto: Steffens). schaft. 5. Dynamik-Flächen: Eine Chance für un- 9. In Dynamik-Flächen ist die Welt nicht vor- sere Kultur gedacht. Begegnungen mit ihnen ermögli- Mit dem Prozessschutz unterliegenden Dyna- chen immer wieder, Neues zu erleben und mik-Flächen, die sich zu Sekundärwildnis ent- zu denken, was der Persönlichkeitsentfal- wickeln, hängen ganz unterschiedliche Aspek- tung dienlich ist. te zusammen, die aus kultureller Sicht von 10. Kindern wilde, unverplante, von uns „Gro- Bedeutung sind. Sie sind ausführlich bei Zuc- ßen“ nicht durch Ordnungsmaßnahmen chi (2006) erläutert und sollen hier nur sehr reglementierte Flächen, die wohngebiets- kurz dargelegt werden. nah liegen und immer wieder aufgesucht 1. Erst indem wir der Natur auf Teilflächen werden können, zur Verfügung zu stellen, unseres Landes die Möglichkeit zu einer vermag zahlreichen Entwicklungsstörun- uneingeschränkten Entwicklung geben und gen und der zunehmenden Naturentfrem- ihr damit ein Eigenrecht auf Existenz zubil- dung entgegenzuwirken (Zucchi, 2004). ligen, erkennen wir ihren Eigenwert wirk- All das sind Aspekte, die unserer Gesellschaft lich an, wie es auch das Bundesnatur- sehr gut zu Gesicht stehen würden. Insofern ist schutzgesetz im §1 fordert. Das aber be- Wildnis, die sich auf Dynamik-Flächen entwi- deutet den Verzicht der Einordnung in gut ckelt, auch eine Form von Kulturlandschaft, da und böse, schädlich und nützlich. sie mit soziokulturellen Facetten verbunden ist. 2. Mit der Bereitstellung von Dynamik- Flächen ermöglichen wir uneingeschränkte 6. Dynamik-Inseln in Urbanlandschaften Evolution und wirken damit an der Siche- Einige der bisher von uns akquirierten Dyna- rung der Biodiversität und unseres Natur- mik-Inseln liegen im urbanen bzw. suburbanen erbes mit. Raum der Stadt Osnabrück (vgl. Kap. „Bisher 3. Dynamik-Flächen ermöglichen uns neue gewonnene Flächen), weitere werden dort in Erkenntnisse über mitteleuropäische Na- absehbarer Zeit dazukommen. Sie ermögli- tur. chen der städtischen Bevölkerung die unmit-

50 Über die Bedeutung von Dynamik-Inseln in Urbanlandschaften

telbare Erlebbarkeit „kleiner Wildnisse“ im All- – Kinder auf Naturerfahrungsräumen berich- tag ohne großen Aufwand. Begleitende Um- ten ausführlicher, begeisterter und interes- weltbildungsveranstaltungen sollen aber immer sierter von ihren Spielen und dem, was sie wieder angeboten werden und transparent „den ganzen Tag gespielt haben“ als die machen, was auf den Flächen abläuft und Kinder der Vergleichsgruppe. Diese waren warum nicht mehr in ihre Entwicklung einge- oft einsilbig, äußerten sich knapp und hat- griffen wird. Dies könnte zu einem veränderten ten nichts zu erzählen und vermutlich auch Leitbild von Natur führen und Akzeptanz für nicht viel erlebt.“ „wilde Flächen“ schaffen. Ein Umweltbildungs- konzept wird im Jahr 2007 entwickelt und setzt Naturerfahrungsräume bieten den Kindern auf Kooperation mit bestehenden Umweltbil- demnach die Möglichkeit, sich ihre Umwelt dungsinstitutionen und Schulen. aktiv anzueignen. Sie können dort die Natur mit allen Sinnen erleben und die Vielfalt der Besonders bedeutsam sind solche ungestalte- natürlichen Elemente direkt spüren. Pflanzen ten Areale als so genannte Naturerfahrungs- und Tiere können in ihrem Lebensraum beo- räume (Schemel, 2002) für Kinder, da sie hier bachtet und eigenständig erforscht werden. die Möglichkeit haben, tief in die Natur einzu- Die Natur bekommt so ein „Gesicht“ und wird tauchen und sich dem unbeobachteten kreati- fassbar. Die emotionale Bindung an die Natur, ven Spiel hinzugeben. Dies wirkt sich einer- die für den späteren Einsatz zum Schutz der- seits förderlich auf ihre Entwicklung aus, ande- selben unabdingbar ist, entsteht nicht durch rerseits steuert es der Naturentfremdung ent- pädagogischen Zeigefinger, sondern entwickelt gegen, indem Natur einen sinnstiftenden Cha- sich einfach „nebenbei“. In diesem Sinne sind rakter für Menschenkinder bekommt (Gebhard, Dynamik-Inseln in urbanen und suburbanen 1994). Anfänglich können aber spezifische Räumen ein großer Gewinn. Veranstaltungsangebote nötig sein, um den Kindern den „Weg in die Wildnis“ zu weisen. Literatur Eine Untersuchung zur Bedeutung von städti- Arbeitskreis Städtische Naturerfahrungsräume schen Naturerfahrungsräumen für Kinder (2005). „Naturerfahrungsräume“ – neue brachte im Vergleich zu konventionellen Spiel- Chancen für Kinder und Natur in der Stadt. plätzen spannende Ergebnisse, die hier aus- Deutsches Kinderhilfswerk. Berlin. zugsweise aufgeführt seien (Arbeitskreis Städ- Broggi, M. (1999). Ist Wildnis schön und „nütz- tische Naturerfahrungsräume, 2005; vgl. auch lich“? In: Konold, W., Böcker, R. & Hampi- Reidl et al., 2005): cke, U. (Hrsg).: Handbuch Naturschutz und Landschaftspflege Kap. V-1.1. S. 1-7. eco- – „Die Naturerfahrungsräume-Kinder finden med. Landsberg. deutlich mehr unbeobachtete Freiräume Drachenfels, O. v. (1984). Beschreibung der und Freiheiten vor als Kinder der Ver- naturräumlichen Regionen Niedersachsens gleichsgruppe auf den Spielplätzen … als Grundlage für die Landschaftsrahmen- – Die Kinder auf den herkömmlichen Spiel- planung. Naturräumliche Region “Osnabrü- plätzen wären häufig lieber auf einem an- cker Hügelland“ u. “Ems-Hunte-Geest u. deren, etwas weniger konventionellen Dümmer Geestniederung“ im Auftrag des Spielplatz gewesen (allerdings nicht in der NLVA-Fachbehörde für Naturschutz. Han- Natur) als dort, wo sie sich tatsächlich auf- nover. hielten. Gebhard, U. (1994). Kind und Natur. Die Be- deutung der Natur für die psychische Ent- – Kinder auf Naturerfahrungsräumen spielen wicklung. Westdeutscher Verlag. Opladen. wesentlich häufiger komplexe oder sogar Prokosch, P. (Hrsg.) (1992). Ungestörte Natur hochkomplexe Spiele als Kinder der Kon- – Was haben wir davon? Tagungsbericht 6 trollgruppe dies tun. Bei der Kontrollgruppe der Umweltstiftung WWF-Deutschland. Hu- auf den Spielplätzen herrschen Spielabläu- sum. fe ohne große Komplexität vor, die zum Reidl, K., Schemel, H.-J. & Blinkert, B. (2005). Großteil auf monotonen Wiederholungen Naturerfahrungsräume im besiedelten Be- beruhen … reich. Nürtinger Hochschulschriften 24. Nür- tingen. – Kinder auf Naturerfahrungsräumen schei- Schemel, H.-J. (2002). Naturerfahrungsräume nen generell interessierter an ihrer Umge- auf kommunaler und regionaler Ebene als bung, sie besitzen Grundkenntnisse und Beitrag zur Wohnqualität und zur touristi- Interesse an Tieren (und Pflanzen) und schen Wertschöpfung. In: Forschungszent- wissen, dass man diese „vorsichtig“ beo- rum für Umwelt und Gesundheit, Hrsg.: bachten und wieder frei lassen sollte… Freizeit, Sport und Tourismus in Deutsch- land – Beispiele für nachhaltiges Manage-

51 Paul Stegmann & Herbert Zucchi

ment. GSF-Bericht 11/02. München. S. 37- 46. Scherzinger, W. (1997). Tun oder Unterlas- sen? Aspekte des Prozessschutzes und Bedeutung des „Nichts-Tuns“ im Natur- schutz. Laufener Seminarbeiträge 1/97. S. 31-44. Scherzinger, W. (2005). Welche Natur wollen wir schützen – und warum? - Wissenschaft & Umwelt INTERDISZIPLINÄR 9. S. 3 – 18. Zucchi, H. (2004). Über die Bedeutung von Naturbegegnungen und die Folgen von Na- turentzug bei Menschenkindern. Natur und Kultur 5. S. 105-114. Zucchi, H. (2006). Warum brauchen wir Wild- nis? In: Zucchi, H. & Stegmann, P. (Hrsg.): Wagnis Wildnis. Wildnisentwicklung und Wildnisbildung in Mitteleuropa. Oekom. München. S. 11-24; Zucchi, H. & Stegmann, P. (Hrsg.) (2006). Wagnis Wildnis. Wildnisentwicklung und Wildnisbildung in Mitteleuropa. Oekom. München.

Anschriften Paul Stegmann Prof. Dr. Herbert Zucchi Fachhochschule Osnabrück Fakultät Agrarwissenschaften und Land- schaftsarchitektur Oldenburger Landstraße 24 D-49090 Osnabrück E-Mail: [email protected] E-Mail: [email protected]

52 CONTUREC 2 (2007) Seite 53 bis 67

Industriewälder1 als Bausteine innovativer Flächenentwicklung in postindustriellen Stadtlandschaften – Ansätze zu einer integrativen wissenschaftlichen Betrachtung am Beispiel des Ruhrgebiets Industrial woodlands as building blocks for innovative site development in post- industrial urban landscapes – Approaches to an integrated scientific analysis using the example of the Ruhr region UTA HOHN, CARSTEN JÜRGENS, KARL-HEINZ OTTO, GISELA PREY, SONJA PINIEK & THO- MAS SCHMITT

Zusammenfassung Gerade im ehemals durch die Montanindustrie geprägten Ruhrgebiet bedingt der mit Arbeitsplatz- und Bevölkerungsverlusten verbundene Strukturwandel Polarisierungsprozesse und Fragmentierungen durch das räumliche Nebeneinander von Wachstum, Stagnation und Schrumpfung. Zugleich entfaltet er eine spezifische Raumwirksamkeit in Gestalt einer Perforierung der Stadtlandschaft durch ökono- misch nicht oder nur noch defizitär in Wert gesetzte Flächen. Das Brachflächenpotenzial der Region beträgt derzeit ca. 10.000 ha. Da das Flächenangebot die Nachfrage bei weitem übersteigt, geraten zahlreiche Brachen in eine Warteschleife und bieten Potenziale für eine temporäre oder auch dauer- hafte Nutzung als neue Freiflächen für die Bewohner und für eine Rückeroberung durch die Natur. Hierbei kommt den Industriewäldern im Ruhrgebiet eine besondere Bedeutung zu. Im Rahmen natür- licher Sukzessionsprozesse entsteht auf diesen Arealen eine besondere Form des städtischen Grüns, die sich von den dominierenden, geplanten und gepflegten Formen sehr deutlich unterscheidet. Gleichzeitig besitzen die Industriewälder als Erholungs- und Naturerlebnisräume aber auch vielfältige soziale Funktionen. Diese Multifunktionalität impliziert die Notwendigkeit eines integrativen Ansatzes bei der Frage nach der Bedeutung von Industriewaldflächen für die zukünftige Stadtentwicklung, der sowohl naturwissenschaftliche als auch sozialwissenschaftliche Aspekte einschließt. Denn für die Wahrnehmung, Akzeptanz und Aneignung der Flächen durch die Bevölkerung sowie die Einbindung in Maßnahmen der Umweltbildung kommt gerade der „wilden“ (nicht gepflegten) Natur eine besondere Bedeutung zu. Aus diesem Grund gliedert sich das vorgestellte Forschungsdesign in vier Module: 1. Erfassung und Bewertung stadtökologischer Funktionen von Industriewaldflächen, 2. retrospektive Analyse des Flächenwandels mittels Geo-Fernerkundung, 3. Industriewälder als außerschulischer Lernort: ein Beitrag zur Naturerfahrung im städtischen Um- feld, 4. akteurs- und handlungsorientierte Analyse zur Wahrnehmung, Bewertung und Aneignung von In- dustriewaldflächen durch spezifische Nutzergruppen (Schwerpunkt des Beitrags).

Industriewald, Stadtnatur, Brachfläche, Place Making, Local Governance, türkische Migranten, Ruhr- gebiet, Geographie, Luftbilder, Geo-Fernerkundung, GIS, Offene Ganztagsgrundschule, Lehrerfortbil- dung. Sachunterricht, ganzheitliches Lernen, Monitoring, Biodiversität, Schadstoffe.

Summary Especially in the Ruhr region which used to be characterized by the coal and steel industry, structural change with its loss of employment and decrease in population causes polarization processes and fragmentation through the spatial juxtaposition of growth, stagnation, and contraction. At the same time, structural change exerts a specific spatial impact in the form of a perforation of the urban land- scape with sites which do not or no longer generate economic value or are non-self financing. The stock of fallow sites in the region comprises some 10,000 hectares at present. As the supply of sites by far outstrips the demand, many fallow sites end up in a “holding pattern” and offer potential for tem- porary or even permanent use as open spaces for inhabitants and for nature to recolonize the lands. The urban-industrial woodlands in the Ruhr region are of particular importance in this regard. In these areas natural succession processes generate a special type of urban greenspace that clearly differs from the dominant planned and carefully maintained types. As recreational areas and spaces for ex- periencing nature the urban-industrial woodlands also fulfil many social functions. This multifunctional- ity implies the need for an integrated approach to assessing the importance of urban-industrial wood- lands for future urban development, i.e. an approach that incorporates aspects of both natural and Uta Hohn et al.

social sciences. “Wild” (not tended) nature is of special importance for the perception, acceptance and appropriation of such sites by the local population and their use for environmental education meas- ures. For this reason the research design presented here has been subdivided into four modules: 1. Recording and evaluation of urban ecological functions of industrial woodlands; 2. Retrospective analysis of land use changes using geo-remote sensing; 3. Urban-industrial woodlands as places for extracurricular learning: a contribution to experiencing nature in an urban context; 4. Actor and action-oriented analysis of the perception, acceptance and appropriation of urban- industrial woodlands by specific user groups (focus of this paper).

1. Einführung tragene Aneignungsprozesse im Sinne des Place Making. Dies ist vor allem deshalb von Die ökonomischen, sozialen und ökologischen Bedeutung, da diese aufgrund ihrer stadträum- Folgen räumlich selektiver, langfristig angeleg- lichen Lage für Flächeneigner und Investoren ter und in einem hochkomplexen Ursache- unattraktiven Areale häufig unmittelbar an Wirkungszusammenhang stehender Schrump- Quartiere mit einer vielfältig benachteiligten fungsprozesse verlangen nach der Entwick- Bevölkerung angrenzen. lung integrierter Handlungs- und Steuerungs- konzepte im Mehrebenensystem der Urban Die Funktion der Industriewälder für Mensch und Regional Governance2. Hierzu sind ganz- und Natur wird am Geographischen Institut der heitliche, unterschiedliche fachwissenschaftli- Ruhr-Universität Bochum von der AG In- che Aspekte integrierende Analysen unerläss- dustriewald4 integrativ im Rahmen von mitein- lich. ander vernetzten Modulbausteinen erforscht, d. h., die Prozesse und Strukturen auf den In- Gerade im ehemals durch die Montanindustrie dustriewaldflächen stehen im Mittelpunkt einer geprägten Ruhrgebiet bedingt der mit Arbeits- ganzheitlichen und multiperspektivischen Be- platz- und Bevölkerungsverlusten verbundene trachtung unter Einschluss von Fragestellun- Strukturwandel nicht nur die vielfach zu beo- gen der Humangeographie, Physischen Geo- bachtenden Polarisierungsprozesse und Frag- graphie, Geographiedidaktik und Geomatik. mentierungen durch das räumliche Nebenein- Das Forschungsdesign besteht aus vier Modu- ander von Wachstum, Stagnation und len, die im Folgenden näher erläutert werden, Schrumpfung, sondern er entfaltet zugleich wobei der Schwerpunkt auf dem Modul der eine spezifische Raumwirksamkeit in Gestalt Humangeographie liegt (vgl. Abb. 1). einer Perforierung der Stadtlandschaft durch ökonomisch nicht oder nur noch defizitär in Die vier Module des Forschungsansatzes sind: Wert gesetzte Flächen. Da das Flächenange- 1. Erfassung und Bewertung stadtökologi- bot die Nachfrage bei weitem übersteigt, gera- scher Funktionen von Industriewaldflä- ten zahlreiche Brachen in eine Warteschleife chen. und bieten Potenziale für eine temporäre oder auch dauerhafte Nutzung als neue Freiflächen 2. Retrospektive Analyse des Flächenwan- für die Bewohner3 und für eine Rückeroberung dels mittels Geofernerkundung. durch die Natur. Hierbei kommt den Industrie- 3. Industriewälder als außerunterrichtlicher wäldern im Ruhrgebiet eine besondere Bedeu- tung zu. Als „wilde“ Naturansiedlungen auf e- und -schulischer Lern- und Erlebnisort: Ein hemaligen Industrieflächen haben sie nicht nur Beitrag zur Natur- und Umwelterfahrung im städtischen Umfeld. einen ökologischen Wert, sondern überneh- men als neue Variante der Stadtnatur gerade 4. Akteurs- und handlungsorientierte Analy- in einer dicht besiedelten Metropolregion wich- se spezifischer Nutzergruppen zur Wahr- tige soziale Funktionen. Als Alternative zu nehmung, Bewertung und Aneignung von Parks und Gärten eröffnen sie den Bürgern Industriewaldflächen. Möglichkeitsräume für zivilgesellschaftlich ge-

54 Industriewälder als Bausteine innovativer Flächenentwicklung

Abb. 1: Integrative Analyse von Industriewäldern im Ruhrgebiet (Poster) - Quelle: AG Industriewald 2006.

55 Uta Hohn et al.

2. Brachflächen im Ruhrgebiet führt wurden. Ab den 1990er Jahren gingen verstärkt ehemalige Standorte der Stahl- und Den weitaus größten Anteil unter den Brach- Metallindustrie in den GSF ein (z. B. die ehe- flächen des Ruhrgebiets nehmen Flächen mit malige Henrichshütte in Hattingen oder die montanindustrieller Vornutzung ein, wobei sich Industriebrache Hoesch-Union in Dortmund). die Stahlindustriebrachen in der Regel durch Insgesamt konnten bis Ende 2004 Brachflä- eine innenstadtnahe Lage mit entsprechenden chen im Umfang von über 1.662 ha dem Wirt- Umnutzungspotenzialen auszeichnen, wäh- schaftskreislauf wieder zugeführt werden rend die Brachen des Bergbaus durch eine in (Heyer, 2005). Abhängigkeit von den geologischen Standort- faktoren disperse Lage sowie durch die Nach- Das prominenteste Beispiel einer regionalen barschaft zu den Wohnquartieren ihrer ehema- Restrukturierung ist die Internationale Bauaus- ligen Arbeiter gekennzeichnet sind. Hinzu stellung (IBA) Emscher Park (1989 - 1999). Die kommen aber auch brachgefallene Bahn-, Ha- IBA Emscher Park orientiert sich am Pla- fen- und Militärflächen (z. B. Ruhrland-Kaserne nungsparadigma des perspektivischen Inkre- in Essen-Kupferdreh, heute Neubaugebiet Dil- mentalismus. Dies bedeutet, dass mittels zahl- lendorfer Höhe). Ergänzt und vernetzt werden reicher an Leitthemen orientierter Einzelprojek- diese Flächen durch linienhafte Strukturen wie te in der industriell verbrauchten Emscherzone ehemalige Gleisanlagen (z. B. Bahntrasse der eine spürbare Aufwertung der Wohn-, Lebens- ehemaligen Hüttenwerke Oberhausen Aktien und Arbeitsbedingungen erreicht werden sollte. Gesellschaft, heute Radwanderweg zwischen Ziel war zugleich ein Imagewandel hin zu einer Duisburg und Oberhausen) oder das in natur- „guten Adresse“ (AIF, 2005). naher Umgestaltung befindliche Emscher- Im Rahmen der IBA Emscher Park wurde 1995 system. Eine allgemeine Definition subsumiert das damalige Restflächen-Projekt begonnen, unter Brachen alle Flächen, die nach Aufgabe das heute unter der Bezeichnung „Industrie- der vorhergehenden Nutzung über einen län- wald Ruhrgebiet“ fortgeführt wird. Es umfasste geren Zeitraum ungenutzt und – unter ökono- in der Startphase Industriebrachen der ehema- mischen Gesichtspunkten – funktionslos ge- ligen Zechen Rheinelbe (ca. 42 ha) und Alma worden sind. Aus unterschiedlichen Gründen (ca. 26 ha) in Gelsenkirchen sowie der Zeche können diese Brachflächen, trotz ihrer zuwei- Zollverein (ca. 41 ha) in Essen. Weitere Flä- len günstigen Lage, ökonomisch nicht in Wert chen wie z. B. die der Kokerei Hansa in Dort- gesetzt werden, so dass sich ein stadtentwick- mund oder der Zeche Waltrop kamen in der lungspolitischer Handlungsbedarf ergibt (BfLR, Folgezeit hinzu, wobei die Flächenaufnahme 1992). noch nicht abgeschlossen ist. Derzeit sind ca.

300 ha als Industriewald ausgewiesen (vgl. 2.1 Ansätze der Brachflächenreaktivierung Tab. 1). Die Projektbetreuung vor Ort hat die Zur Restrukturierung industrieller Restflächen Forststation Rheinelbe auf der gleichnamigen und ihrer Integration in neue urbane Kultur- Projektfläche in Gelsenkirchen übernommen. landschaften wurden in Nordrhein-Westfalen Gleichzeitig wird das Projekt, dessen Träger- (NRW) in Zusammenarbeit des Landes, der schaft die LEG NRW im Rahmen des GSF zu- Städte und bedeutender Unternehmen struk- sammen mit der Landesforstverwaltung NRW turpolitische Programme aufgelegt, die in ih- übernommen hat, von einem Sachverständi- rem innovativen Ansatz sowohl national als genrat mit Experten aus Wissenschaft und auch international besondere Beachtung er- Verwaltung gesteuert und unterstützt (vgl. langten. Eine besondere Rolle bei der Brach- Weiss, 2003 und Keil, 2002). flächenentwicklung spielt dabei in NRW der Das Projekt „Industriewald Ruhrgebiet“ hat seit 1980 von der Landesentwicklungsgesell- zum Ziel, die Bewaldung frei werdender Indust- schaft (LEG) NRW treuhänderisch verwaltete riebrachen durch natürliche Sukzession zu Grundstücksfonds Ruhr (GSF). Dieser Fonds fördern sowie den Wohnumfelddefiziten in den wurde als Instrument des Landes zum Ankauf umliegenden Quartieren durch die behutsame und zur Entwicklung von ehemaligen Brachflä- Erschließung der Industriewälder als neue Na- chen für neue Nutzungen geschaffen. Bis zum turerlebnis- und Erholungsräume zu begegnen 31.12.2004 wurden über den GSF 2.652 ha (vgl. MUNLV NRW, 2005). Industriewälder Fläche durch die LEG NRW im Auftrag des können als Zwischennutzung von Brachen Landes auf Antrag der Kommunen angekauft. dienen, die aufgrund fehlender Investoren ö- In den 1980er Jahren waren es überwiegend konomisch nicht in Wert gesetzt werden kön- Zechenbrachen, die übernommen und einer nen und für die es an öffentlichen Mitteln für Wiederaufbereitung bzw. Folgenutzung zuge- eine aufwändigere Neugestaltung mangelt. 56 Industriewälder als Bausteine innovativer Flächenentwicklung

2.2 Marktsituation und Kategorisierung der her nur durch die öffentliche Hand entwi- Brachenflächen im Ruhrgebiet ckelt werden oder fallen brach. Das Brachflächenpotenzial auf dem Gebiet des – D-Flächen: Diese Flächen verbleiben im Regionalverband Ruhr betrug 2001 8.544 ha Zustand der Brache, da kurz- bis mittelfris- und damit 1,9 % der Gesamtfläche (Dransfeld tig weder private Investoren noch die öf- et al., 2002). Andere Quellen gehen von etwa fentliche Hand Finanzmittel für eine Reak- 10.000 ha aus, wobei weiterhin Flächen – vor tivierung aufbringen werden. allem auch kleinteiligere Areale – hinzukom- men werden. Allein die Montan-Grund- Beispiele für Flächen der Kategorie “A” im stücksgesellschaft (MGG) hat 5.000 ha Fläche Ruhrgebiet sind vornehmlich Gewerbeflächen in der Nutzung, die noch brach fallen werden (z. B. IKEA in Essen) oder Niederlassungen (Ziegler-Hennings, 2005). von Logistikunternehmen. Die B-Flächen bein- halten eine Reihe von Gewerbeparks und Ein- Das heute schon existierende Problem, dass zelhandelsniederlassungen, die mit dem Ziel die funktionslos gewordenen Flächen keine subventioniert wurden, neue Arbeitsplätze zu Folgenutzung über den Markt finden, wird sich schaffen. Nicht alle diese Projekte hatten Er- damit weiterhin verschärfen. Zwar versuchen folg. Ein Indikator dafür ist die Belegungsrate die Großkonzerne im Rahmen eines „Corpora- von Gewerbeparks. Rund 19 % von ihnen ste- te Real Estate Management“ (CREM) über hen im Ruhrgebiet leer (ILS, 2005). Der Typ eigene Projektentwicklungsgesellschaften ihre “C” beinhaltet Freizeit- und Kultureinrichtun- Flächen zu entwickeln und an den Markt zu gen, die im öffentlichen Besitz sind oder von bringen, doch gestaltet sich dies angesichts der öffentlichen Hand gemanagt werden. Bei- einer stagnierenden Flächennachfrage zu- spiele dafür sind: Parkanlagen wie der Land- nehmend schwierig. Hemmfaktoren hinsichtlich schaftspark Duisburg Nord (Stadt Duisburg einer Wiedernutzung sind für Investoren nicht und LEG NRW), der Consol-Park in Gelsenkir- nur die möglichen chemischen oder baulichen chen (Stadt Gelsenkirchen und MGG), der Altlasten, die den wirtschaftlichen Ertrag einer Stadtpark West mit der Jahrhunderthalle in Vermarktung minimieren, sondern vor allem Bochum (Stadt Bochum und LEG NRW) und auch das Imageproblem von Brachen sowie der Stadtteilpark Recklinghausen (RVR und das Flächenangebot in neuen Gewerbegebie- der Förderverein Bergbau und Industriege- ten (Hennings, 2005). schichte) (Dransfeld et al., 2002). Zu den D- Im Kontext des „Concerted Action on Brown- Flächen zählen Butzin, Franz & Noll z. B. die field and Economic Regeneration Network“ Flächen der ehemaligen Firma Flottmann in (CABERNET) wurde 2005 ein von Ferber auf- Herne, ein Zulieferbetrieb des Bergbaus, oder bauend auf Dietrich entwickelter Ansatz zur den ehemaligen Verladehafen Pöppinghausen Brachflächenkategorisierung vereinfacht und der Zeche König Ludwig in Castrop-Rauxel als ABC-Modell präsentiert (Millar et al., 2005). (Butzin, Franz & Noll, 2006). Klassifiziert werden diese Flächen nach ihrem Grundstückswert, nach der Aufbereitung und 2.3 Neuer Wald auf alten Flächen den Aufbereitungskosten. Butzin, Franz & Noll Abseits einer unmittelbaren ökonomischen (2006, siehe auch Franz, Güles & Prey, 2007) Inwertsetzung der Brachflächen eröffnet die haben dieses Modell für schrumpfende Regio- montanindustrielle Vergangenheit des Ruhrge- nen zum ABCD-Modell erweitert: biets Chancen einer innovativen Flächenent- wicklung gerade auf solchen Arealen, die mit- – A-Flächen: Diese Flächen befinden sich in tel- bis langfristig keiner primär ökonomischen einer zentralen Lage und gutem Zustand Nutzung durch den Privatsektor zugeführt wer- und sind daher profitabel für Investoren. den können. Dies schließt jedoch eine Wert- Daher werden auf diesen Flächen Projekte schöpfung in Industriewäldern z. B. durch allein von privaten Investoren entwickelt. Holzverkauf oder Biomassenutzung keines- – B-Flächen: Projekte auf diesen Flächen wegs aus. Zudem kann durch die neuen grü- stoßen an die Grenzen der Profitabilität. nen Inseln in der Stadt und Prozesse der An- Sie sind daher nur mit Fördermitteln der öf- eignung dieser Flächen durch die Bevölkerung fentlichen Hand realisierbar (Public Private nicht nur deren vorher vielfach vorhandene Partnership). Barrierewirkung aufgebrochen werden, son- dern auch eine ökonomische Aufwertung im – C-Flächen: Projekte auf diesen Flächen Sinne weicher Standortfaktoren erfolgen. sind für private Investoren nicht mehr ge- winnbringend. Diese Flächen können da- 57 Uta Hohn et al.

Durch natürliche Sukzession entstehen auf Industriewälder sind Projekte der LEG NRW diesen Industrie- und Zechenbrachen neue und der Landesforstverwaltung NRW sowie Waldflächen als postindustrielle Stadtnatur, die teilweise Kooperationsprojekte zwischen der sich von der dominierenden, geplanten und MGG, DSK und der jeweiligen Kommune). Ak- gepflegten Form der Stadtnatur (z. B. Gruga- tuell sind, wie anhand Tabelle 1 zusehen, 16 park in Essen) sehr deutlich unterscheiden. Flächen ausgewiesen. Die so genannten „Industriewälder“ entspre- Tab. 1: Industriewaldflächen im Ruhrgebiet (Stand 2006). chen als neue Wildnis ursprünglichen Wäldern, die aufgrund der Dezimierung der Waldbe- stände für Siedlungs- und Industriezwecke in manchen Städten nur noch als Restareale zu finden sind. Bei den Industriewäldern handelt es sich um Standorte hoher Diversität, die vie- len Pflanzen und Tieren Lebensräume bieten. Neben ihrer ökologischen Bedeutung über- nehmen die Industriewälder auch wichtige so- ziale Funktionen. Gerade für hoch verdichtete Quartiere, die aufgrund ihrer Historie ein mas- sives Defizit an öffentlichen Freiflächen auf- weisen, haben diese neuen Formen des Wal- des die Funktion von Naherholungsflächen. „Der Industriewald bietet in diesem Kontext die Möglichkeit, der Natur nahe zu sein, da er als Quelle: Landesforstverwaltung NRW. „neue Wildnis“ eine eigene Form von unbe- rührter Natur mitten im hoch verdichteten 3. Der integrative und multiperspektivi- Quartier darstellt. Gerade in der Vermittlung sche Ansatz des Geographischen Insti- von neuartigen Naturerlebnissen, die selbst- tuts (GI) der Ruhr-Universität Bochum ständig erschlossen werden können, in Ver- Das Brachfallen industrieller Flächen und An- bindung mit Erholung und Ruhe ist ein wichti- lagen sowie deren Neunutzung, Umgestaltung ges Potenzial der Industriewälder für vom All- und Verwertung sind Prozesse, die zwangsläu- tag belastete Quartiersbewohner zu sehen“ fig nicht nur das Ruhrgebiet, sondern alle alt- (Hohn & Keil, 2006). industrialisierten Regionen Europas betreffen, Der besondere Stellenwert der Industriewälder wenn sie auch zeitlich versetzt und – je nach für das Ruhrgebiet sowohl in ökologischer als den konjunkturellen Rahmenbedingungen – in auch in soziokultureller Perspektive wird im unterschiedlicher Intensität auftreten können. Masterplan Emscher Landschaftspark (ELP) Es gibt heute und in Zukunft ein umfangreiches 2010 detailliert dargestellt (vgl. Projekt Ruhr Aufgabenfeld der Erforschung und Gestaltung GmbH, 2005). Der ELP gilt als bedeutendes post-industrieller Stadtlandschaften im Kontext europäisches Landschaftsexperiment und um- innovativer Flächenentwicklung und eines fasst mit einer Fläche von 436 m² den nördli- nachhaltigen Flächenmanagements, dem sich chen Bereich des RVR. Der Masterplan wurde das GI in seiner wissenschaftlichen Forschung aufgelegt, um innovative Konzepte für die ver- widmet. änderten und neuen Ansprüche an die ver- Hierbei wird von den verschiedenen Fachrich- schiedenen Formen von (Stadt-)Natur als Na- tungen (Humangeographie und Physische herholungs- und ökologische Ausgleichsgebie- Geographie, Geographiedidaktik und Geoma- te im Ballungsraum Ruhrgebiet zu entwickeln. tik) insbesondere der Industriewald als (tempo- Zwar nehmen die als solche deklarierten In- räre) Brachflächennutzung in einem innovati- dustriewaldflächen mit etwa 300 ha bislang nur ven, ganzheitlichen Ansatz analysiert (vgl. einen Anteil von rund 0,5 % an den Wäldern im Abb. 1), der sowohl naturwissenschaftliche als Einzugsbereich des RVR ein, dennoch kommt auch sozialwissenschaftliche Aspekte ein- diesem Stadtnaturtyp angesichts der Quantität schließt. Der besondere Fokus auf Industrie- der Brachflächen insbesondere in der Em- waldflächen erklärt sich durch die Zunahme scherregion zukünftig wachsende Bedeutung der Brachflächen, die momentan geringen An- zu. reize einer ökonomischen Folgenutzung, den Heute schon gibt es eine Vielzahl von Indust- hohen Stellenwert von Wohnumfeld- und Um- riewaldflächen im Ruhrgebiet (alle benannten weltqualitäten gerade in schrumpfenden Regi-

58 Industriewälder als Bausteine innovativer Flächenentwicklung

onen und die Potenziale dieser Flächen für In einem von der Staatskanzlei des Landes kreative Aneignungsprozesse durch die Bevöl- NRW und dem Ministerium für Umwelt und kerung – insbesondere auch durch Kinder, Naturschutz, Landwirtschaft und Verbraucher- Jugendliche und Menschen mit Migra- schutz des Landes NRW (MUNLV) geförderten tionshintergrund. Nicht zuletzt im Bereich der Pilotprojekt (Jürgens, 2006a, b) zur Geo- Umweltbildung bzw. der Bildung für eine nach- Visualisierung wird zunächst für den Industrie- haltige Entwicklung kommt daher der „wilden“ waldstandort Rheinelbe in Gelsenkirchen die Natur eine besondere Bedeutung zu. Geschichte der Industriewaldfläche mittels Luftbildern, Fotos, historischen Karten, Akten Im Folgenden werden die verschiedenen An- und Zeitzeugenbefragungen dokumentiert. Bei sätze vorgestellt und die bisher vorliegenden der Aufarbeitung der Quellen und Daten sowie Ergebnisse präsentiert. der Integration in ein Multimediainformations-

system soll die interaktive kartographische 3.1 Der Industriewald im Fokus der Land- Aufbereitung von Luftbildern und Karten den schaftsökologie: Erfassung und Bewer- Schwerpunkt bilden. Das Pilotprojekt der Ar- tung von Sukzessionsprozessen beitsgruppe Geomatik stellt somit einen ele- Dynamische Prozesse und weitgehende mentaren Baustein für die ganzheitliche Analy- Selbstregulation der Industriewälder bedingen se von Industriewaldflächen dar (weitere In- einen Grad an Natürlichkeit, der im urbanen formationen: www.geographie.ruhr-uni- Umfeld zur Steigerung und Sicherung der Bio- bochum.de/ag/geomatik/ und www.pm.ruhr- diversität beiträgt. Obwohl die räumliche Isola- uni-bochum.de/pm2006 /msg00401.htm). tion die Einwanderung von weniger mobilen Tier- und Pflanzenarten erschwert, belegen 3.3 Der Industriewald im Fokus der Geo- Vegetationsuntersuchungen, dass sich auf den graphiedidaktik: Industriewälder als Sukzessionsflächen sehr artenreiche Gehölz- außerunterrichtlicher/-schulischer bestände entwickeln können (Gausmann, Lern- und Erlebnisort – ein Beitrag zur 2006). Die Analyse der räumlichen und zeitli- Naturerfahrung im städtischen Umfeld chen Verbreitung der Arten, Populationen und Die Industriewälder im Ruhrgebiet besitzen Biozönosen sowie der Ursachen für deren Ver- große Potenziale, um durch Kindertagesein- teilungsmuster bildet einen Schwerpunkt der richtungen und Schulen als Aktions- und Lern- landschaftsökologischen Forschung in Indust- orte für Kinder und Jugendliche genutzt wer- riewäldern. Darüber hinaus werden Untersu- den zu können. Insbesondere im Rahmen des chungen zum Stoffhaushalt der Standorte offenen Ganztagsbetriebs an Schulen können (Dohlen & Schmitt 2003; 2006), inklusive (Industrie-)Waldprojekte gut realisiert werden. Schadstoffbelastung und -mobilität vorgenom- Die Umsetzungsmöglichkeiten hat die Geogra- men. Zielsetzung der Landschaftsökologie ist phiedidaktik der Ruhr-Universität Bochum ge- der Aufbau eines Monitoringsystems der ge- meinsam mit dem Institut für Geographie und nannten Umweltparameter in den Industrie- ihre Didaktik der Universität Dortmund unter wäldern des Ruhrgebietes. Über ein Monitoring dem Motto „Raus ins Vergnügen!“ im Auftrag wird ein wichtiges Informations- und Kontrollin- des MUNLV NRW erprobt. In Zusammenarbeit strument geschaffen, das systematisch Aus- mit verschiedenen Schulen, dem RVR sowie kunft über den Zustand, die aktuelle Entwick- weiteren Partnern wurden konkrete Umset- lung und zu erwartende Trends von Natur und zungsmöglichkeiten für die Durchführung von ihren Einflussfaktoren auf Industriewaldflächen Waldprojekten erarbeitet und praktisch erprobt. gibt. Basierend auf diesen Erfahrungen sind unter-

schiedliche Konzepte entstanden, die Ganz- 3.2 Der Industriewald im Fokus der Geoma- tagsgrundschulen bei der selbstständigen Er- tik – Retrospektive Analyse des Flä- schließung städtischer Naturräume als Lern- chennutzungswandels mittels Geofern- und Erlebnisorte nutzen können. Die Verknüp- erkundung fung von (Industrie-)Waldprojekten mit der Of- Der Beitrag der Geomatik besteht in der inte- fenen Ganztagsgrundschule verfolgt mehrere grativen Projektdatenanalyse, der Kartierung Zielsetzungen. Zum einen wird mehr Zeit für der Flächennutzung zu verschiedenen Zeit- individuelle Förderung, Spiel- und Freizeitge- punkten, der Dokumentation des Flächennut- staltung sowie eine bessere Rhythmisierung zungswandels (vgl. Abb. 2) und der Integration des Schultages geschaffen. Zum anderen aller Projektdaten in einem zentralen Raumin- werden in oft hoch verdichteten städtischen formationssystem (Jürgens, 2007). Quartieren der Industrieregionen Naturräume für Kinder wieder verfügbar gemacht, die hier

59 Uta Hohn et al.

vielfach in den letzten Jahrzehnten für kindli- 3.4 Der Industriewald im Fokus der Hu- ches Lernen und Erleben sowie Aneignung mangeografie: Akteurs- und hand- verloren gegangen sind. Die Pilotprojekte ha- lungsorientierte Analysen zur Wahr- ben auch Perspektiven zur Integration von nehmung, Bewertung und Aneignung Kindern mit Migrationshintergund aufgezeigt, von Industriewaldflächen durch spezi- wobei Begegnung und Spiel im Wald nicht zu- fische Nutzergruppen letzt auch einen kreativen Beitrag zum Abbau Industriewaldflächen können einen Beitrag von Sprachbarrieren zu leisten vermögen leisten, um die vielfach angrenzenden benach- (Stichwort: Sprachförderung und Sprachent- teiligten städtischen Quartiere zu stabilisieren, wicklung). Gerade in den an Industriewälder das Wohnumfeld attraktiver zu gestalten und angrenzenden Quartieren ist der Anteil von somit der Gefahr einer zunehmenden Polari- Bewohnern und insbesondere von Kindern mit sierung und Fragmentierung entgegenzuwir- Migrationshintergrund überdurchschnittlich ken. Es handelt sich um neue Freiräume für hoch. Mit seinem Facettenreichtum bietet der Mensch und Natur, die sich die Quartiersbe- Industriewald eine Ergänzung zum Klassen- völkerung als SpielRäume im Rahmen von zimmer, indem Kinder ihr kreatives Potenzial Place Making aneignen kann. Place Making zum selbsttätigen Erproben und selbstständi- bezeichnet „einen kollektiven Prozess der gen Entdecken entwickeln können (Keil/Otto, Raumgestaltung, mit dem Ziel, die Raumnut- 2004, S. 38 f.) Folgende im Kontext der Indust- zungs- und Lebensqualität zu verbessern und riewald-Forschung weiterführende Teilprojekte sich den Raum sozio-emotional ‚anzueignen’“ befinden sich derzeit in der Umsetzungsphase: (Fürst, Lahner & Zimmermann, 2004). 1. Konzeption, Durchführung und Evaluation von Lehrerfortbildungsmodulen, In Kooperation zwischen dem Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeographie des Geo- 2. Entwicklung, Erprobung und Evaluation graphischen Instituts in Bochum und dem Insti- eines Fortbildungsmoduls für an der tut für Geographie und ihre Didaktik in Dort- Durchführung von (Industrie-) Waldprojek- mund sind in einer akteurs- und handlungsori- ten in Offenen Ganztagsgrundschulen in entierten Analyse Wahrnehmung, Bewertung NRW beteiligte Försterinnen und Förster. und Aneignung von unterschiedlichen Stadtna- (Weitere Informationen: http://www.ruhr-uni- tur-Typen durch türkische Migranten analysiert bochum.de/industriewald/). worden. Die Studie „Stadtnatur – Wahrneh- mung, Bewertung, Aneignung durch türkische Migranten und Migrantinnen im nördlichen

Abb. 2: Poster zur Dokumentation des Flächennutzungswandels am Industriewaldstandort Rheinelbe in Gelsenkirchen.

60 Industriewälder als Bausteine innovativer Flächenentwicklung

Ruhrgebiet“ (Hohn & Keil, 2006) wurde zwi- schen Oktober 2004 und Dezember 2005 vom MUNLV NRW finanziert (weitere Informatio- nen: Piniek, Prey & Güles, 2007 und http://www.geographie.rub.de/ag/wsg/projekte/ forschungsprojekte.html). Entsprechend der Leitfrage „Welche Möglichkeiten bieten die Industriewaldflächen als neue SpielRäume den im Ruhrgebiet lebenden türkischen Migran- ten?“ stellte die Untersuchung Nutzungspoten- ziale der Industriewaldflächen im Ruhrgebiet für türkische Migranten den Schwerpunkt der Analyse aus sozialgeographischer Perspektive dar. Türkische Migranten standen im Fokus Abb. 3: Workshopteilnehmer November 2005. der Studie, weil besonders in der Nachbar- Quelle: eigenes Foto 2005. schaft von Industriewäldern im Ruhrgebiet die Wohnbevölkerung durch eine hohe Anzahl Abschließend wurden die Ergebnisse sowie türkischer Migranten charakterisiert ist. In die- erste Handlungsempfehlungen in drei Work- sen Quartieren leben viele ehemalige Arbeits- shops (vgl. Abb. 3) in den Untersuchungsquar- migranten, die sich während der Zeit der Ar- tieren rückgekoppelt und diskutiert. Bei den beitsmigration in den 1960er und 1970er Jah- Teilnehmern der drei Workshopgruppen han- ren um die damals noch existierenden Indust- delte es sich um Quartiersbewohner mit türki- riebetriebe angesiedelt und bis zu deren schem Migrationshintergrund sowie zuvor be- Schließung dort gearbeitet haben. Neben dem reits befragte Experten. Alle Befragungen sind hohen Migrantenanteil und der hohen Arbeits- in deutsch oder türkisch durchgeführt worden, losigkeit weisen diese vielfach benachteiligten während die Workshops durchgängig zwei- Quartiere Mängel im Wohnumfeld auf, die sprachig waren. durch die Nutzung von Industriewaldflächen als Naherholungsareal kompensiert werden 3.4.2 Die Untersuchungsgebiete könnten. Die drei Untersuchungsräume der Studie wur- den anhand der folgenden Kriterien ausge- 3.4.1 Forschungsdesign wählt: Die Analyse erfolgte mittels einer Kombination – Die Wohnbevölkerung im Umfeld der In- von Methoden der quantitativen und qualitati- dustriewaldflächen ist durch einen hohen ven Sozialforschung. Es wurden Literaturquel- Anteil an türkischen Migranten geprägt, len und sekundärstatistische Daten ausgewer- tet sowie Raumanalysen durchgeführt. Der – die Flächen verfügen über ungenutzte An- Schwerpunkt der Untersuchungen lag aber auf eignungspotenziale, der direkten Befragung der Bewohnerschaft und der Schlüsselakteure. Zunächst wurden – die Industriewaldflächen unterscheiden Bewohner mit türkischem Migrationshin- sich durch ihren unterschiedlichen Entwick- tergrund ab 15 Jahren (Stichprobe: 5 % der lungsstand. türkischen Bewohnerschaft) mit teil-standar- disierten Fragebögen in einem persönlich- Industriewald Rheinelbe: mündlichen Interview befragt. Daran schlossen Der Industriewald Rheinelbe in Gelsenkirchen- sich leitfadenorientierte Experteninterviews (16 Ückendorf/Bochum-Leithe (rund 42 ha) befin- Interviews mit 20 Experten) in allen Untersu- det sich bereits seit mehr als 70 Jahren in der chungsräumen an. Die erste, explorative Pha- Entwicklung. Es handelt sich um einen alten se verfolgte das Ziel, das Untersuchungsgebiet postindustriellen Wald auf dem Gelände der thematisch zu strukturieren, die Fragestellung 1930 stillgelegten Zeche Rheinelbe. Als erfolg- der Studie zu konkretisieren und erste Annah- reiches Projekt der IBA Emscherpark besitzt er men zu überprüfen. In der zweiten, Informatio- bereits ein positives Image. Der Bekanntheits- nen generierenden Phase stand – aufbauend grad des etablierten Freizeitraums mit guter auf den Ergebnissen der standardisierten Be- Zugänglichkeit, der in ein Netz weiterer Frei- wohnerbefragung – die Verdichtung, Ergän- räume integriert ist, ist auch bei den türkischen zung und Rückkopplung der bis dahin erzielten Migranten in den Quartieren als hoch einzustu- Erkenntnisse im Mittelpunkt. fen. Er wird als Wald, zum Teil sogar als unbe-

61 Uta Hohn et al.

rührte Natur bzw. Wildnis wahrgenommen und hinsichtlich der weiteren Entwicklung der Flä- wird als positive und wichtige Bereicherung che. Aber aufgrund eines Mangels an Freiflä- des eigenen Wohnumfeldes von der Bewoh- chen im direkten Wohnumfeld hat die Bewoh- nerschaft häufig und intensiv genutzt (vgl. Abb. nerschaft großes Interesse an der Nutzung der 4). Freifläche und einer Erweiterung des Angebots an Stadtnatur. Dabei dominiert der Wunsch einer Gestaltung als städtische Parkanlage. Die zahlreichen bisher noch ungenutzten Po- tenziale zur Aneignung sollten daher langfristig genutzt werden.

Industriewald Hansa Der Industriewald Hansa in Dortmund Huckar- de (ca. 20 ha) ist die jüngste Naturfläche der Untersuchung. Es handelt sich um einen noch im Entstehen begriffenen Industriewald auf dem Gelände der 1992 stillgelegten Kokerei. Er ist primär für diejenigen Bewohner attraktiv, die in direkter Umgebung wohnen und bietet eine Vielzahl von Aneignungspotenzialen. Die Abb. 4: Nutzung der Industriewaldfläche durch Bewohner. Quelle: eigenes Foto 2005. Freifläche Hansa hat sich in der Wahrnehmung der türkischen Bevölkerung in den letzten Jah- Der Industriewald Rheinelbe dient als Ort der ren als Erinnerungsraum vom Ort der Arbeit Entspannung und Ruhe und ist fester Bestand- auf der Kokerei zum Ort des Denkmals ge- teil im Lebensraum der Bewohner. Allerdings wandelt und wird daher bisher weniger als rei- wird er als Freiraum im Gesamtkontext mit der ner Naturraum wahrgenommen. Bei vielen der benachbarten Stadtnatur, dem Wissenschafts- Bewohner mit türkischem Migrationshin- park Gelsenkirchen und anderen Stadtparks tergrund aus der angrenzenden Nachbarschaft gesehen und kann von der Bewohnerschaft handelt es sich um ehemalige Kokereiarbeiter, überwiegend nicht von den übrigen Naturfor- die auch gegenwärtig als Zeitzeugen Nachbarn men abgegrenzt werden. Trotz der bereits ho- und Familienangehörigen von ihrer Arbeit auf hen Akzeptanz und starken Nutzung konnten der Kokerei berichten. Das Nutzungskonzept die Untersuchungen weitere Aneignungspo- der Stiftung für Geschichtskultur und Industrie- tenziale herausarbeiten. denkmalpflege mit einer Mischung aus Indust- riekultur und -natur auf dem Gelände der ehe- Industriewald Graf Bismarck maligen Kokerei stößt daher auf große Akzep- Der Industriewald (ca. 20 ha) auf Graf Bis- tanz. Während die Fläche zum einen mit dem marck in Gelsenkirchen-Bismarck/Schalke großen und vielfältigen Angebot an Stadtnatur Nord verfügt über einen geringen Bekannt- im Umfeld konkurriert, profitiert sie zum ande- heitsgrad bei der Bevölkerung mit türkischem ren durch einen sensiblen Umgang mit Stadt- Migrationshintergrund und wird entsprechend natur und durch ihre bereits vielfältige Integra- selten genutzt. Es handelt sich auch nicht tion in den alltäglichen Aktionsraum der Be- mehr um einen Erinnerungsraum, da die Ze- wohner. che Graf Bismarck und das Kraftwerk bereits 1966 geschlossen wurden. Die Fläche wird 3.4.3 Zusammenfassung der Ergebnisse und weniger als Industriewald und Freiraum wahr- Ausblick genommen und bewertet, sondern vielmehr als Die Ergebnisse der Studie zeigen ein differen- ungepflegte Industriebrache. Diese Untersu- ziertes Bild der Wahrnehmung, Bewertung und chungsergebnisse lassen sich maßgeblich auf Nutzung von (Stadt-)Natur durch türkische drei Ursachen zurückführen: Die Zerschnei- Migranten auf. Grundsätzlich wird Natur allge- dung des Quartiers durch Verkehrswege er- mein sehr viel positiver wahrgenommen und schwert den Zugang zur Fläche, von den türki- bewertet als Stadtnatur, die häufig mit negati- schen Migranten gewünschte gestalterische ven Assoziationen wie Verschmutzung und Elemente wie Wasserspender oder Sitzgele- Lärm verbunden wird. Insbesondere bei In- genheiten fehlen, und das Gelände ist teilwei- dustriewaldflächen bestehen hinsichtlich einer se stark verschmutzt. Hinzu kommen beste- möglichen Belastung durch Bodenkontaminati- hende Informationsdefizite der Bevölkerung on Bedenken: „Es ist wichtig zu wissen, ob

62 Industriewälder als Bausteine innovativer Flächenentwicklung

man sich dort aufhalten kann, ohne Risiken poräre SpielRäume, als Möglichkeitsräume einzugehen […] Erstmal eben, die Angst besei- kreativer Aneignung durch zivilgesellschaftli- tigen, dass es sich nicht um einen kontaminier- che Akteure. Neue Formen der Naturerfahrung ten Boden handelt, dass der Besuch unbe- könnten entstehen. Besondere Chancen erge- denklich ist“ (Integrationsstelle). Genauso rele- ben sich gerade für die in ihrer Entwicklung vant ist die empfundene Sicherheit bei der durch vielfache Benachteiligung und einen ho- Nutzung der Flächen, die durch die subjektive, hen Migrantenanteil gekennzeichneten Stadt- nicht unbedingt der realen Gefährdung ent- teile. sprechende Benennung von Angsträumen Die folgenden sieben planungsrelevanten und deutlich wird: „Alleine traue ich mich nicht. Al- anwendungsorientierten Handlungsempfeh- leine würde ich nicht auf die Fläche gehen“ lungen zur Nutzung und Aneignung von Indust- (Bewohnerin). „Ich kann alleine nicht hingehen, riewäldern durch türkische Migranten und an- weil es gefährlich ist. Ich würde wollen, dass dere Bevölkerungsgruppen in den Untersu- es sonnig und in einem offenen Zustand ist. Es chungsquartieren basieren auf den gewünsch- darf nicht bedrohlich wirken“ (Bewohnerin). ten Hilfestellungen der Bewohner mit Migrati- Weitere wesentliche Ergebnisse sind die religi- onshintergrund sowie den Empfehlungen der öse Beeinflussung der Naturbewertung ver- befragten Experten: bunden mit dem hohen religiösen Stellenwert Mehr Information und Kommunikation, mehr des Naturschutzes und der Wunsch nach mehr transparente Planung! gestalteter Natur mit einer Präferenz für Park- anlagen nach türkischem Vorbild: „Die werden 1. Mehr Sicherheit im Wald! lieber in einen kultivierten Park gehen, wie 2. Mehr gendersenistive Planung! z. B. Schüngelberg-Siedlung [in Gelsenkir- chen, Anm. d. Verf.], dort ist ja auch renaturiert 3. Mehr kultureller Gestaltungsmix! worden, als Parkanlagen, eher Parks, weniger Wälder“ (Integrationsstelle). Die Befragung der 4. Stärkere Aktivierung der Kindergärten und Bewohner und Schlüsselakteure hat deutlich Schulen! gezeigt, dass die zivilgesellschaftlichen Akteu- 5. Stärkere Einbindung der türkischen re in den Prozess der Aneignung von Stadtna- Migranten-Community! tur, insbesondere auf den Industriewaldflä- chen, eingebunden werden möchten. „Unsere 6. Stärkere Anwohnerpartizipation – For- Türken müssen dort, wo sie hingehen, unbe- schungsdesiderate! dingt etwas machen. Sie müssen den Ort nach Insbesondere die letzte der genannten Emp- ihren Vorstellungen verändern können“ (Be- fehlungen zeigt Perspektiven für Forschungs- wohner). projekte auf, die sich mit Prozessen des Place Die Studie konnte die wichtige Funktion der Making auf Industriewaldflächen und neuen Industriewälder für hoch verdichtete innerstäd- Formen der Steuerung von Flächenentwick- tische Quartiere aufzeigen (Hohn, 2005). Sie lung im Kontext von Local Governance be- leisten einen entscheidenden Beitrag zur Ver- schäftigen. So wird die Schaffung von Rah- besserung der Wohnumfeldqualität. Eine inno- menbedingungen, die eine Einbindung der vative Freiflächenentwicklung, die in integrierte Bewohnerschaft und sonstiger lokaler Akteure Handlungskonzepte eingebettet ist, bildet da- bei allen weiteren Entwicklungen ermöglichen, bei einen Baustein, um dem Prozess einer se- empfohlen. Entsprechend den Untersuchungs- lektiven Bevölkerungsschrumpfung entgegen- ergebnissen kann vor Ort überwiegend auf zuwirken. Zu einer Stabilisierung und Stärkung bestehendes Interesse der Bewohner an einer der Quartiere trägt auch die Mitwirkung der kreativen und selbstbestimmten Aneignung Bewohner an der Gestaltung der wohnortna- des Industriewalds zurückgegriffen werden. hen Freiflächen bei, denn sie erleichtert orts- Entsprechende Freiräume gilt es bereitzustel- gebundene Identifikationsprozesse sowie im len. Auch die „Plattform urbane Waldnutzung“ Rahmen des gemeinsamen Place Making den weist gerade den Industriewäldern großes An- Aufbau von Vertrauen im Sinne von Sozialka- eignungspotenzial zu (Lohrberg Landschafts- pital sowie von solidarischer Verantwortung architektur, 2005). Ebenso zeigen neuere Stu- und selbsttragenden, zivilgesellschaftlichen dien, dass natürliche Ressourcen wie z. B. Strukturen. Urbane Brachflächen mit industriel- Biosphärenreservate „Bindungen auf mehr als ler Vornutzung in hoch verdichteten Quartieren einer Bezugsebene auslösen“ können. Mit den eignen sich bei fehlendem ökonomischen Ent- Bindungen sind der ästhetische Wert der wicklungsdruck als dauerhafte oder auch tem- Landschaft, der Ressourcen-Nutzen und der Gestalteffekt (Heimat) gemeint, die zu Place- 63 Uta Hohn et al.

Effekten führen. Im Rahmen des Place Making rationen“ und „Nachbarschaftswälder“ legen bilden sich dann Gemeinschaften heraus, wo- den Schwerpunkt auf die Aneignung der Flä- bei sich die Interaktionen einer sozialen (z. B. chen durch verschiedene Gruppen, die sich Milieu-Effekte), politischen (z. B. politische Re- zum einen ethnokulturell und hinsichtlich ihrer präsentation) und kulturellen Bezugsebene Altersgruppenzugehörigkeit unterscheiden, (z. B. raumgebundene Identitätsbildung) zu- zum anderen aber auch durch ihren identi- ordnen lassen. Über Place Making könnten schen Ortsbezug gemeinsame Interessen ver- sich demnach neue partizipative und transpa- folgen. Die Zielsetzungen der Module richten rente Formen von Local Governance entwi- sich dementsprechend auch auf die Initiierung ckeln, die sich an einem gemeinwohlorientier- eines interkulturellen und generationenüber- ten, auf Solidarität und Integration ausgerichte- greifenden sowie eines ortsbezogenen Dialogs ten Wertesystem orientieren (Fürst, Lahner & über die Aneignung von Stadtnatur. Gemein- Pollermann, 2006). Wesentliche Kennzeichen sames Handeln in Nachbarschaftswäldern von Local Governance sind dabei, „dass die kann – so die These – die Nachbarschaftsbil- Akteure eines Raumes ihre Geschicke stärker dung fördern und mit einer Steigerung des selbst in die Hand nehmen, sich über Netzwer- Selbstwertgefühls einhergehen. Somit über- ke zu kollektivem Handeln organisieren und nehmen Nachbarschaftswälder zugleich sozia- über die Erledigung eines gemeinsamen Pro- le und integrative Funktionen für die Quartiers- jektes hinaus sich für die Gestaltung und Nutz- bewohner. barkeit ‚ihres’ Raumes engagieren“ (Fürst, Für eine erfolgreiche Umsetzung innovativer Lahner & Zimmermann, 2004). Aneignungsprojekte auf Industriewaldflächen Aufbauend auf den vorliegenden Ergebnissen müssen, dem Place Making Ansatz (Healy et soll ein Folgeprojekt nun aktuelle Forschungs- al., 2002) entsprechend, zivilgesellschaftliche fragen nach der Verbindung zwischen der so- Akteure wie Nachbarschaftsvereine, religiöse zio-emotionalen Bindung an einen Raum, Pla- Gemeinden und Schulen einbezogen werden. ce Making Prozessen und der Auslösung neu- Zugleich ist die Unterstützung beim Aufbau er Formen lokaler Selbststeuerung am Beispiel institutioneller Kapazitäten in Form von Wis- von Industriewaldflächen aufgreifen (vgl. Fürst, sensressourcen, Vertrauen, sozialem Verste- Lahner & Pollermann, 2006). Dabei kann ein hen und der Fähigkeit zu kollektivem Handeln solches Forschungsvorhaben von folgenden unabdingbar (vgl. Healy et al., 2002; Hohn, Annahmen ausgehen: Lötscher & Wiegandt, 2006). Idealerweise kommt es hier nicht nur zu einer Mitgestaltung - Wald auf urbanen Brachflächen kann sozi- des Raums durch unterschiedliche Akteure, ale und integrative Funktionen wahrneh- sondern es findet auch eine Übernahme von men. Verantwortung (problem owner-ship) für die - Stadtnatur auf Brachflächen kann Freiflä- Industriewaldfläche statt (Fürst, Lahner & Pol- chendefiziten in den angrenzenden Stadt- lermann, 2006). Um einer Überforderung der teilen mit vielfacher Benachteiligung und Schlüsselakteure und Multiplikatoren entge- hohem Migrantenanteil entgegenwirken. genzuwirken, die Ausgrenzung einzelner Grup- Dies setzt die Zugänglichkeit der Flächen pen (closed-shop Situation) zu verhindern, ein voraus. Höchstmaß an demokratischer Legitimation sicherzustellen und die Konsensfindung zu - Urbane Brachflächen eigen sich bei ent- unterstützen, ist eine Moderation und wissen- sprechender Lage und fehlendem ökono- schaftliche Begleitforschung unerlässlich. mischen Entwicklungsdruck als dauerhafte Das große Potenzial, das Industriewälder ins- oder auch temporäre SpielRäume für die besondere in den hoch verdichteten Quartieren Bevölkerung als Möglichkeitsräume kreati- des Ruhrgebiets für eine nachhaltige Gestal- ver Aneignung. tung des demographischen und sozio- Die Überprüfung der Gültigkeit der Thesen soll ökonomischen Wandels bieten, kann durch im Rahmen von drei Modulen erfolgen, die eine ganzheitliche Herangehensweise, die in- bereits während einer ersten Vorstellung im terdisziplinär und integrativ aus natur- und so- Rahmen der Impulstagung der Plattform urba- zialwissenschaftlicher Perspektive erfolgt, of- ne Waldnutzung im April 2005 breite Zustim- fen gelegt und genutzt werden. Eine multiper- mung erfahren haben, wie die Ausführungen spektivische, mehrebenen- und prozessbezo- im Zwischenbericht der Plattform zeigen gene Analyse ist dafür unerlässlich (Hohn, Löt- (MUNVL; Projekt Ruhr, 2005). Die denkbaren scher & Wiegandt, 2006). Module „Wald der Kulturen“, „Wald der Gene-

64 Industriewälder als Bausteine innovativer Flächenentwicklung

1 Die Industriewälder stellen eine besondere Form Dettmar, J. (2005). Forests for Shrinking Cit- der postindustriellen Stadtnatur dar. Darunter wird ies? The Project ”Industrial Forests of the hier nicht primär die biotische Ausstattung der städ- Ruhr”. In: Kowarik, I. & Körner, S. (eds.). tischen Teilräume verstanden, sondern im Mittel- Wild Urban Woodlands. New Perspectives punkt steht die soziale Funktion der Stadtnatur als for Urban Forestry. Berlin. S. 263-276. neuer SpielRaum für die Stadtbewohner. Die wil- Dohlen, M. & Schmitt, T. (2003). Konzept stoff- den, spontan entstandenen Industrienaturflächen bieten als „new wild woodlands“ (Keil 2005) und haushaltlicher Bilanzen in urbanen Ökosys- wohngebietsbezogene Freiräume der Bevölkerung temen dargestellt am Beispiel von Wäldern sowohl neuartige Formen des Naturerlebnisses als in Bochum. Bochumer Geographische Ar- auch bislang nicht gekannte Möglichkeiten der krea- beiten, Sonderheft 14. S. 21-27. tiven, wenig regulierten Aneignung. Dohlen, M. & Schmitt, T. (2006). Stoffhaushalt- 2 Der Begriff Governance umfasst die kollektive liche Untersuchungen in Bochumer Stadt- und institutionell verankerte Regelung von Entwick- wäldern. LÖBF-Mitteilungen 3/06, S. 35-39. lungsprozessen auf verschiedenen Maßstabsebe- Dransfeld, E., Boele-Keimer, G.. Musinszki, A. nen durch Akteure sowie Entscheidungsträger des & Häpke, U. (2002). Expertise Aktivierung staatlichen, privatwirtschaftlichen und zivilgesell- von Brachflächen als Nutzungspotenzial für schaftlichen Bereichs, „die in informelle und formel- le, flexible und dauerhafte Netzwerke mit horizonta- eine aktive Bauland- und Freiflächenpolitik len wie hierarchischen Strukturen und spezifischen für die Enquetekommission „Zukunft der Machtbalancen eingebunden sind. (…) Governance Städte in NRW“ des Landtags Nordrhein- (…) beinhaltet stärker kooperative, kommunikative, Westfalen. Dortmund. dialogische und kompetetive Komponenten (…) und Franz, M., Güles, O. & Prey, G. (2007). Non- zeichnet sich durch einen Bedeutungszuwachs in- viable brownfield sites and the potentials of formeller Instrumente und Verfahren sowie durch urban-industrial woodlands in the Ruhr. In: das Zusammenwirken von öffentlichen und privaten CABERNET (Hrsg.). Proceedings of CAB- Akteuren bei der Aushandlung, Formulierung und ERNET 2007. The 2nd International Con- Umsetzung von Politikinhalten aus“ (Hohn, Lötscher & Wiegandt, 2006). ference on Managing Urban Land. Stutt- 3 Aus sprachstilistischen Gründen werden im wei- gart. Im Druck teren Verlauf dieses Beitrages nur die männlichen Fürst, D., Lahner, M. & Pollermann, K. (2006). Endungen verwendet. Selbstverständlich beziehen Entstehung und Funktionsweise von Regi- sich die Ausführungen auf beide Geschlechter. onal Governance bei dem Gemeinschafts- 4 Zur AG Industriewald an der Ruhr-Universität in gut Natur und Landschaft. Analysen von Bochum zählen die Professoren Uta Hohn, Carsten Place-making- und Governance-Prozes-sen Jürgens, Karl-Heinz Otto und Thomas Schmitt so- in Biosphärenreservaten in Deutschland wie deren Mitarbeiter: Dr. Andreas Keil (Universität und Großbritannien. (= Beiträge zur räumli- Dortmund), Dr. Markus Oster, Kornelia Cors, Cemile chen Planung, H. 82). Hannover. Dömek, Orhan Güles, Sonja Piniek und Gisela Prey. Fürst, D., Lahner, M. & Zimmermann, K. Eine Erweiterung des Teams um die Professoren Bernhard Butzin, Heribert Fleer, Wilhelm Löwen- (2004). Neue Ansätze integrierter Stadtteil- stein, Bernd Marschner und Harald Zepp steht be- entwicklung: Place Making und Local Go- vor. vernance. (= REGIOtransfer 4). Erkner. Gausmann, P. (2006). Ökologische und vege- tationskundliche Untersuchungen an urban- Literatur industriellen Vorwäldern im Ruhrgebiet. Arbeitsgemeinschaft innovative Flächenent- Diplomarbeit Fakultät für Geowissenschaf- wicklung (AIF) (2005). Strategie-Papier. ten, Ruhr-Universität Bochum. Bochum (unveröffentlicht). Healey, P., Cars, G., Madanipour, A & De Ma- Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und galhaes, C. (2002). Transforming Govern- Raumordnung (BfLR) (Hrsg.) (1992). Stra- ance, Institutionalist Analysis and Institu- tegien zur Vermeidung zukünftiger Gewer- tional Capacity. In: Dies.. Urban Govern- bebrachen: Querschnittsthema im For- ance, Institutional Capacity and Social Mi- schungsfeld "Städtebau und Wirtschaft". (= lieux, Aldershot. Burlington USA. Singapo- Materialien zur Raumentwicklung, H. 48). re. Sydney S. 6-28. Bonn. Hennings, G. (2005). Wiedernutzung von Butzin, B.; Franz, M. & Noll, H.-P. (2006). Brachflächen. Von der Projektidee zur Rea- Strukturwandel im Ruhrgebiet unter lisierung. Vortrag im Rahmen der AIF- Schrumpfungsbedingungen. Patchwork- Ringvorlesung am 07.11.2005 (Download: Manage-ment als Herausforderung. In: http://www.aif- Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie. Jg. net.de/media/rv_vole_01_hennings.pdf). 50. H. 3-4. S. 258-276.

65 Uta Hohn et al.

Heyer, R. (2005). 25 Jahre Grundstücksfonds - postindustrieller Stadtlandschaften – Inter- Eine Bilanz nicht nur in Zahlen. In: Ministe- disziplinäre Ansätze aus Theorie und Praxis rium für Städtebau und Wohnen, Kultur und am Beispiel des Ruhrgebietes.- (= Materia- Sport des Landes Nordrhein-Westfalen lien zur Raumordnung, Band 70). Im Druck (MSWKS NRW) (Hrsg.). 25 Jahre Grund- Keil, A. (2005). Use and Perception of Post- stücksfonds. Zwischenbilanz. Düsseldorf. Industrial Urban Landscapes in the Ruhr. S. 12-13. In: Kowarik, I. & Körner, S. (eds.). Wild Ur- Hohn, U. (2005). Aneignungsformen urbaner ban Woodlands. New Perspectives for Ur- Wälder im Ruhrgebiet. Wahrnehmung und ban Forestry. Berlin. S. 117-130. Aneignung der Stadtnatur durch türkische Keil, A. (2002). Industriebrachen – Innerstädti- Migrantinnen und Migranten. Bochum (un- sche Freiräume für die Bevölkerung. Mikro- veröffentlichtes Vortragsmanuskript zum geographische Studien zur Ermittlung der Vortrag im Rahmen 1. Impulstagung der Nutzung und Wahrnehmung der neuen In- „Plattform urbane Waldnutzung im Ruhrge- dustrienatur in der Emscherregion. (= Duis- biet“). burger Geographische Arbeiten. Bd. 24). Hohn, U. & Keil, A. (Hrsg.) (2006). Stadtnatur – Dortmund. Wahrnehmung, Bewertung und Aneignung Keil, A. & Otto, K.-H. (Hrsg.) (2005). Ab- durch türkische MigrantInnen im nördlichen schlussbericht des Projektes. „(Industrie- Ruhrgebiet unter besonderer Berücksichti- )Wald als Lern- und Erlebnisraum für Kin- gung von Industriewaldflächen. Bochum der der offenen Ganztagsgrundschule in (unveröffentlichte Projektstudie im Auftrag NRW“. Bochum/Dortmund. des MUNLV NRW). Keil A. & Otto, K.-H. (2004). Raus ins Vergnü- Hohn, U., Lötscher, L. & Wiegandt, C.-C. gen. Wald als Lern- und Erlebnisraum, In: (2006). Governance – ein Erklärungsansatz Praxis Geographie. 2004. J. 34. Nr. 10. S. für Stadtentwicklungsprozesse. In: Berichte 38-39. zur deutschen Landeskunde. Bd. 80. H. 1. Keil, A. & Otto, K.-H. (2007). Industriewald S. 5-15. Ruhrgebiet – neue Natur auf alten Indust- Institut für Landes- und Stadtentwicklunsfor- riearealen. In: Heineberg, H. (Hrsg.). West- schung des Landes Nordrhein-Westfalen falen Regional (Siedlung und Landschaft in (ILS) (Hrsg.) (2005). Quartalsberichte zur Westfalen 35). Münster. S. 72-73. Landesentwicklung. Gewerbeflächen. Aus- Lohrberg Landschaftsarchitektur (2005). An- gabe 2/2005. Dortmund. eignung und Beteiligung. Impulspaper für Jürgens, C. (2006a): Abschlussbericht zum die 2. Tagung der „Plattform urbane Wald- Werkvertrag: „Organisation und Durchfüh- nutzung“. Stuttgart. rung eines Workshops zur Konkretisierung Millar, K., Ferber, U., Grimski, D. & Nathanail, des Vorhabens „Multimediale Geo- P. (2005). CABERNET: A Vision of Eco- Visualisierung zur Dokumentation der Ent- nomic Regeneration and Sustainable Land wicklung ausgewählter Industriewaldflächen Use. In: CABERNET (ed.). Proceedings of im Ruhrgebiet am Beispiel Rhein- CABERNET 2005 – The International Con- elbe/Gelsenkirchen“ im Projekt Industrie- ference on Managing Urban Land, LQM wald Ruhrgebiet der Landesforstverwaltung Ltd. Nottingham. S. 238-244. (Download: NRW“. Ruhr-Universität Bochum. Geogra- www.carbernet.org.uk). phisches Institut. AG Geomatik Ministerium für Umwelt und Naturschutz, Jürgens, C. (2006b). Abschlussbericht zum Landwirtschaft und Verbraucherschutz des Werkvertrag: Recherchearbeiten zur Landes Nordrhein-Westfalen (MUNLV Standortgeschichte des Industriewald- NRW); PROJEKT RUHR GmbH (2005). standortes Rheinelbe im Rahmen der Pro- Plattform urbane Waldnutzung. Düssel- jektskizze „Multimediale Geo-Visualisie- dorf/Essen. rung zur Dokumentation der Entwicklung MUNLV NRW (Hrsg.) (2005). Projekt „Indust- ausgewählter Industriewaldflächen im riewald Ruhrgebiet. Leitbild – Projektvor- Ruhrgebiet am Beispiel Rheinel- stellung – Einzelflächenvorstellungen. Bor- be/Gelsenkirchen“. Ruhr-Universität Bo- ken. (= Flyer) chum. Geographisches Institut. AG Geo- Otto, K.-H. (Hrsg.) (2007). Industriewald als matik Baustein postindustrieller Stadtlandschaften Jürgens, C. (2007). Möglichkeiten der Analyse – Interdisziplinäre Ansätze aus Theorie und von Industriewaldflächen des Ruhrgebietes Praxis am Beispiel des Ruhrgebietes.- (= anhand von Luftbildern. In: Otto, K.-H. Materialien zur Raumordnung, Band 70). Im (Hrsg.) (2007). Industriewald als Baustein Druck.

66 Industriewälder als Bausteine innovativer Flächenentwicklung

Piniek. S., Prey, G. & Güles, O. (2007). Stadt- natur. Wahrnehmung und Nutzung durch Türkische Migranten. In: Otto, K.-H. (Hrsg.) (2007). Industriewald als Baustein postin- dustrieller Stadtlandschaften – Interdiszipli- näre Ansätze aus Theorie und Praxis am Beispiel des Ruhrgebietes. (= Materialien zur Raumordnung, Band 70). S. 68 – 85. Projekt Ruhr GmbH (Hrsg.) (2005). Masterplan Emscher Landschaftspark 2010. Essen. Weiss, J. (2003). „Industriewald Ruhrgebiet“. Freiraumentwicklung durch Brachensuk- zession. In: LÖBF-Mitteilungen. Nr. 3. S. 55-59. Ziegler-Hennings, C. (2005). Ökologische und freiraumplanerische Aspekte bei der Ent- wicklung von Brachflächen. Brownfields to Greenfields. Vortrag im Rahmen der AIF- Ringvorlesung am 05.12.2005 in Dortmund. (Download: http://www.aif- net.de/media/rv_vole_05_ziegler_hennings. pdf).

Anschriften Prof. Dr. Uta Hohn, Dipl.-Geogr. Sonja Piniek Dipl.-Geogr. Gisela Prey Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialge- ographie - Geographisches Institut Ruhr-Universität Bochum Universitätsstraße 150, 44780 Bochum E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Carsten Jürgens Professur für Geo-Fernerkundung - AG Geo- matik - Geographisches Institut Ruhr-Universität Bochum Universitätsstraße 150, 44780 Bochum E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Karl-Heinz Otto Professur für Geographiedidaktik - Geographi- sches Institut Ruhr-Universität Bochum Universitätsstraße 150, 44801 Bochum E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Thomas Schmitt Lehrstuhl für Landschaftsökologie/ Bioge- ographie - Geographisches Institut Ruhr-Universität Bochum Universitätsstraße 150, 44780 Bochum E-Mail: [email protected]

67

CONTUREC 2 (2007) Seite 69 bis 74

Einbürgerungstendenzen thermophiler Gehölzsippen in Wäldern des Ruhrgebietes

Trends in the naturalization of thermophilic woody taxa in woodlands of the Ruhr region

PETER GAUSMANN, INGO HETZEL & THOMAS SCHMITT

Zusammenfassung In der Krautschicht urban-industrieller wie naturnaher Wälder des Ruhrgebietes konnten gebietsfremde Gehölzsippen nachgewiesen werden, bei denen es sich entweder um wärmeliebende sommergrüne bzw. immergrüne, meist aus Gärten verwildernde Arten handelte. Der Zusammenhang zwischen der Expansion dieser Gehölzsippen und der allgemeinen Klimaerwärmung wird diskutiert und der Einfluss des Stadtkli- mas beleuchtet. Weiterhin wird der floristische Status der Arten dargestellt und ein kurzer Ausblick über mögliche Forschungsfelder gegeben.

Wald, Ruhrgebiet, Klimawandel, thermophile Gehölze, Sippenstatus.

Summary Evidence is provided for the occurrence of non-native woody taxa in the herbaceous layer of urban- industrial and semi-natural forests in the Ruhr-Area. These non-native species are either thermophile de- ciduous or evergreen species most of them originating from gardens. The area expansion of these non- native woody taxa is discussed in relationship with global warming and the influence of the urban climate is highlighted. The article describes the floristic status of these species and proposes concepts for future research that further investigates climate-driven floristic changes of urban and semi-natural forests and vegetation in the Ruhr-Area.

1. Einleitung nach Paris und London der drittgrößte Bal- lungsraum Europas. Die urban-industriellen bis Das Ruhrgebiet (hier gemeint als Verbandsge- naturnahen Wälder sind durch zahlreiche biet des "Regionalverbandes Ruhrgebiet") anthropogene Großstadt-Faktoren geprägt (u.a. (Abb. 1) ist mit rund 5,3 Millionen Einwohnern Erholungsdruck, hohe Emissionen von SO2,

Abb. 1: Das Ruhrgebiet (Verbandsgebiet des „Regionalverbandes Ruhrgebiet“) mit den Orientierungen der Transekt- untersuchungen. Peter Gausmann et al.

NOx und Schwebstaub). Durch die Einfuhr fremdländischer Pflanzensippen (Kowarik 2003) und den städtischen Wärmeeffekt kann in Ver- bindung mit der viel diskutierten Klimaerwär- mung (IPCC, 2001) eine Expansions- und Ein- bürgerungstendenz so genannter thermophiler Gehölzsippen sowie ein möglicher „Laurophylli- sierungsprozess“ (klimatisch bedingte Zunah- me immergrüner Gehölze nach Walther et al., 2002) rezent auch für Waldökosysteme des Ruhrgebietes beobachtet werden. Hier führt das Auftreten gebietsfremder Gehölzsippen zu Abb. 3: Urban-industrieller Pionierwald im Landschaftspark einer markanten und vermutlich nachhaltigen Duisburg-Nord. Florenveränderung der Wälder (Fuchs et al., 2006). 3. Ergebnisse und Diskussion 2. Material und Methoden In urban-industriellen wie naturnahen Wäldern Entlang zweier Transekte, die jeweils einem des Ruhrgebietes konnten 18 verschiedene Klimagradienten folgen (Bergland-Tiefland; wärmeliebende Gehölzsippen nachgewiesen West-Ost), wurden in der Vegetationsperiode werden (Tab. 1), von denen es zum Teil bislang 2004 (s. Abb. 1) insgesamt 247 flächenhafte innerhalb der Viertelquadranten der Messtisch- Vegetationsaufnahmen (nach Braun-Blanquet) blätter (TK 25) noch keine Fundpunkte gab (z. B. durchgeführt (Gausmann, 2006a; Hetzel, 2005). Juglans regia, Castanea sativa (Abb. 5) (Haeupler et al., 2003). Diese expansiven Sip- pen profitieren möglicherweise sowohl von der allgemeinen Klimaerwärmung, als auch von den günstigen, im Gegensatz zum Umland wärmeren Bedingungen des Stadtklimas. Von den thermophilen Gehölzen sind zwar erst wenige fest im Ruhrgebiet eingebürgert (z. B. Mahonia aquifolium (Abb. 6), C. sativa, Ailanthus altissima) (Tab. 1), die meisten zeigen jedoch zumindest Expansionstendenzen, so dass in Zukunft mit einer Einbürgerung zu rechnen ist (z. B. J.regia, Paulownia tomentosa). Insbeson- dere die ergasiophygophytischen – also aus Abb. 2: Luzulo-Fagetum (Hainsimsen-Buchenwald) mit As- Gärten verwildernden – Wärmezeiger pekt von Ilex aquifolium (Stechpalme) bei Hattingen. M.aquifolium, A.altissima und P.tomentosa konn- ten wiederholt auch auf Industriebrachen im Der erste Transekt verläuft auf einer Länge von Ruhrgebiet nachgewiesen werden (Keil & Loos, ca. 70 km von Hattingen im Südosten bis Wesel 2004). im Nordwesten. In dieser Arbeit wurden natur- nahe Buchenhochwälder der Assoziationen Bemerkenswert waren die Neufunde von Quer- Periclymeno-Fagetum (Waldgeißblatt-Buchen- cus cerris (Abb. 6), da bislang nur wenige Nach- wälder) und Luzulo-Fagetum (Hainsimsen- weise dieser Sippe in Nordrhein-Westfalen und Buchenwälder) untersucht (Abb. 2) (vgl. auch insbesondere im Ruhrgebiet existieren (vgl. auch Hetzel et al., 2006). Der zweite Transekt ver- Gausmann, 2006b). Erste Einbürgerungsten- denzen wurden im klimatisch begünstigten Süd- läuft auf einer Länge von ca. 90 km von Duis- deutschland beobachtet, so dass die rezent fest- burg im Westen bis Kamen im Osten. Im Rah- stellbare vermehrte Ausbreitung im Ruhrgebiet men dieser Untersuchung wurden ausschließ- möglicherweise auf das hier wärmere Klima lich urban-industrielle Vorwälder auf Restflä- zurückzuführen ist. In den Vegetationsaufnah- chen von Kohle- und Stahlindustrie bearbeitet, men traten ferner fünf Gehölzsippen auf bei denen es sich überwiegend um Salweiden- (M.aquifolium, Prunus laurocerasus, Lonicera Weißbirken-Vorwälder handelt, also typische nititda, Ligustrum ovalifolium, Pyracantha cocci- Pionierwälder, wie sie in späten Sukzessi- nea), die als immergrüne Gehölze einen mögli- onsstadien auf Brachflächen im Ruhrgebiet chen „Laurophyllisierungstrend“ andeuten und häufig auftreten (Abb. 3).

70 Einbürgerungstendenzen thermophiler Gehölzsippen in Wäldern des Ruhrgebietes

Tab. 1: „Wärmeliebende“ Gehölzsippen innerhalb der Vegetationsaufnahmen

Taxen Deutscher Name Status im Temperaturzahl absolute Ruhrgebiet (in Ellenberg et Häufigkeit al., 1992) (n – 247) Thermophile gebietsfrem- Acer ginnala Feuer-Ahorn S k. A. 3 de Gehölze Ailanthus altissima Götterbaum E 8 1 Buddleja davidii Sommerflieder E 7 25 Castanea sativa Esskastanie S 8 4 Cotoneaster bullatus Runzlige Zwergmispel S k . A. 12 Juglans regia Walnussbaum S 8 10 Paulownia tomentosa Blauglockenbaum S 8 1 Populus alba Silber-Pappel S 7 6 Prunus mahaleb Felsen-Kirsche S 7 2 Quercus cerris Zerr-Eiche S 8 7 Rhus hirta Essigbaum S k. A. 4 Thermophile einheimische Rosa rubiginosa Wein-Rose I 6 26 Gehölze Rhamnus cathartica Kreuzdorn I 6 8 “Laurophylloide” Lonicera nitida Kriech-Heckenkirsche S k. A. 1 gebietsfremde Gehölze Ligustrum ovalifolium Ovalblattriger Liguster S k. A. 7 Mahonia aquifolium Gewöhnliche Mahonie E k. A. 6 Prunus laurocerasus Lorbeerkirsche S k. A. 1 Pyracantha coccinea Feuerdorn S k. A. 5 Immergrüne einheimische Ilex aquifolium Stechpalme I 5 117 Gehölze Hedera helix Efeu I 5 41 I: indigen (einheimisch) E: eingebürgert S: Status unklar (spontanneosynathrop) k. A.: keine Angaben

sich damit auf die Physiognomie der Ruhrge- die entsprechend förderlich für wärmeliebende, bietswälder auswirken. Von diesen Sippen hat wenig frosttolerante Sippen sind. sich M.aquifolium am weitesten in Nordrhein- Westfalen ausgebreitet. Sie kommt auch außer- halb stadtklimatisch begünstigter Bereiche vor und kann daher von diesen Sippen am ehesten als potenzieller Zeiger für einen Klimawandel gelten. Gestützt werden die floristischen Befunde durch klimatische und phänologische Daten. So weist die mittlere Jahresdurchschnittstemperatur in Bochum für die Messperiode 1960 - 2005 einen Anstieg von mehr als 1°C auf, der nicht als Einfluss der städtischen Wärmeinsel gedeutet werden kann. Bei der Analyse phänologischer

Daten zeigen viele Stationen im Ruhrgebiet ei- Abb. 4: Eintrittsdatum der Haselblüte an der Station Witten- nen deutlich erkennbaren Trend zur Verlagerung Stockum von Eintrittsdaten. Besonders auffällig wird die- ses Phänomen beim Eintrittsdatum der Haselblü- Die Beobachtungen immergrüner Sippen bestä- te (vgl. Abb. 4) als Indikator für den Beginn des tigen die Ergebnisse von Untersuchungen, die in Vorfrühlings. Für die Dekade 1960 - 1969 liegt anderen Gebieten Mitteleuropas eine Expansion ihr mittlerer Blühbeginn am 24. 02., dagegen in „laurophylloider“ Arten feststellen konnten der Dekade 1995 - 2005 am 03. 02., was eine (Dierschke, 2005, Meduna et al., 2002, Walther Vorverlegung des Vorfrühlings um 22 Tage be- et al., 2005). Die Ausbreitung immergrüner Arten deutet (Mörtl, 2006). wird dabei in Bezug zur globalen Klimaerwär- Diese Entwicklung, insbesondere die Tatsache, mung gesetzt, womit diese Untersuchungen dass in einigen Jahren der Blühbeginn schon vor einen floristischen Ansatz zum Nachweis von dem Jahreswechsel einsetzt, ist auf ausgespro- Klimaänderungen in Mitteleuropa liefern könn- chen milde, frostarme Winter zurückzuführen, ten.

71 Peter Gausmann et al.

Abb. 5: Juglans regia und Castanea sativa und ihre Verbreitung in Nordrhein-Westfalen; rote Punkte = Neufunde im Ruhrgebiet (Karten: verändert nach Haeupler et al., 2003, Fotos: Hetzel 2004).

Abb. 6: Quercus cerris und Mahonia aquifolium und ihre Verbreitung in Nordrhein-Westfalen; rote Punkte bei Q. cerris = Neufunde im Ruhrgebiet (Karten: verändert nach Haeupler et al., 2003, Fotos: Gausmann, 2004). 72 Einbürgerungstendenzen thermophiler Gehölzsippen in Wäldern des Ruhrgebietes

4. Ausblick in sommergrünen Laubwäldern. In: Ber. Reinh.-Tüxen-Ges. 17. S, 151-168. Zur Klärung des floristischen Status thermophiler Ellenberg, H., Weber, H.E., Düll, R., Wirth, V., Gehölzsippen in Wäldern des Ruhrgebietes sind Werner, W. & Paulißen, D. (1992). Zeigerwer- in den nächsten Jahren weitere Analysen not- te von Pflanzen in Mitteleuropa. 2. Aufl, Scr. wendig. In diesem Zusammenhang wäre auch Geobot.. Göttingen. der Frage nachzugehen, ob sich der heute prog- Fuchs, R., Hetzel, I., Loos, G.H. & Keil, P. nostizierte Klimawandel im Nachhinein durch (2006). Verwilderte Zier- und Nutzgehölze in diese Sippen belegen lässt und in wie weit die naturnahen Wäldern des Ruhrgebietes. AFZ- Ausbreitung immergrüner „laurophylloider“ Arten Der Wald 12/2006. S. 622-625. mit diesem Trend korrespondiert. Auch die Beo- Gausmann, P. (2006a). Industriewälder im bachtung weiterer Gartenflüchtlinge mit mögli- Ruhrgebiet. Diplomarbeit. Geographisches chen Expansionstendenzen (z. B. Taxus baccata Institut, Ruhr-Universität Bochum. (Eibe), Pachysandra terminalis (Japanischer Gausmann, P. (2006b). Die Zerr-Eiche – ein Ysander), Berberis julianae (Großblättrige Ber- Neuankömmling der Ruhrgebietsflora. Elekt- beritze), Aucuba japonica (Japanische Gold- ron. Aufs. Biolog. Station Westl. Ruhrgebiet orange), Rhododendron spec., immergrüne Co- 6.11. (www.bswr.de,Veröffentlichungen). toneaster- (Zwergmispel-)Sippen erscheint in- Gerstengarbe, F.-W. & Werner; P. C. (2005). nerhalb dieser Thematik von Interesse. Das NRW-Klima im Jahr 2055. In: LÖBF-Mitt. Gerstengarbe und Werner (2005) prognostizie- 02/05. S. 15-18. ren für Nordrhein-Westfalen bis zum Jahr 2055 Haeupler, H., Jagel, A. & Schumacher, W. einen weiteren konstanten Anstieg der Jahres- (2003). Verbreitungsatlas der Farn- und Blü- mitteltemperaturen um 2° C bei gleichzeitiger tenpflanzen in Nordrhein-Westfalen. Hrsg.: Zunahme der heißen Tage und der Sommertage Landesanst. Ökol. Bodenordn. Forsten sowie eine Abnahme von Frost- und Eistagen. Nordrh.-Westfal. (LÖBF NRW) Recklinghau- Berücksichtigt man, dass die Differenz in der sen. Lufttemperatur zwischen Stadt und Umland im Hetzel, I. (2005). Vegetationskundlich, boden- Jahresmittel etwa um 1 - 2° C (in klaren Nächten ökologische Analyse bodensaurer Buchen- sogar bis zu 5° C) betragen kann (Sukopp & wälder im Übergang Bergisches Land – Nie- Wurzel, 1995), dann ist in Zukunft im Ballungs- derrheinisches Tiefland. – Diplomarbeit. raum Ruhrgebiet von einer wachsenden Wär- Geographisches Institut. Ruhr-Universität Bo- mebelastung für Natur und Mensch auszugehen. chum. In der Konsequenz ist damit zu rechnen, dass Hetzel, I., Fuchs, R., Keil, P. & Schmitt, T. immer mehr wärmeliebenden Arten aus Gärten (2006). Pflanzensoziologische Stellung bo- die Einwanderung und Etablierung in stadtnahen densaurer Buchenwälder im Übergang vom Wäldern gelingt. Bergischen Land zum Niederrheinischen Tief- land. Tuexenia 26. Im Druck. Stadtnatur könnte zu Ausbreitungszentren wär- IPCC (Intergovernmental Panel on Climatemate nzenarten und somit zum Aus- meliebender Pfla Change) (2001). Climate Change 2001 – The gangspunkt von floristischen Veränderungen im Scientific Basis. Contribution of Working Zuge des Klimawandels werden. Group I to the Third Assessment Report of

the Intergovernmental Panel on Climate Danksagung Change. Cambridge University Press. Cam- Folgenden Personen sei an dieser Stelle für ihre bridge. New York. hoch geschätzte Unterstützung gedankt: Keil, P. & Loos, G. H. (2004). Ergasiophygophy- Herrn Prof. Dr. Haeupler (Bochum), Herrn Dr. ten auf Industriebrachen des Ruhrgebietes. Keil (Oberhausen), Herrn Loos (Oberhausen), In: Flor. Rundbr. (Bochum) 38 (1/2). S. 101- Frau Fuchs (Mülheim a. d. Ruhr), Herrn Dr. Ja- 112. gel (Bochum), Herrn Dr. Dohlen (Bochum) und Kowarik, I. (2003): Biologische Invasionen: Ne- Frau Dr. Hof (Bochum). ophyten und Neozoen in Mitteleuropa. Stutt- gart. Literatur Meduna, E., Schneller, J.J. & Holderreger; R. (2002). Prunus laurocerasus L., eine sich Dierschke, H. (2005). Laurophylllisation – auch ausbreitende nichteinheimische Gehölzart: eine Erscheinung im nördlichen Mitteleuropa? Untersuchungen zu Ausbreitung und Vor- – Zur aktuellen Ausbreitung von Hedera helix

73 Peter Gausmann et al.

kommen in der Nordostschweiz. In: Z. Ökolo- gie u. Naturschutz 8. S. 147-155. Mörtl, B. (2006). Ausgewählte phänologische Daten des DWD als Indikatoren der Klima- entwicklung im Großraum Ruhrgebiet. Bache- lor-Arbeit, Geographisches Institut. Ruhr- Universität Bochum. Sukopp, H. & Wurzel, A. (1995). Klima- und Flo- renveränderungen in Stadtgebieten. In: An- gewandte Landschaftsökologie 4. S. 103-130. Walther, G.-R., Post, E., Convey, P., Menzel, A., Parmesan, C., Beebee, T., Fromentin, J.-M., Hoegh-Guldberg, O. & Bairlein, F. (2002). Ecological responses to recent climate change. In: Nature 416. pp 389-395. Walther, G.-R., Berger, S. & Sykes, M. T. (2005). An ecological „footprint“ of climate change. In: Proc. R. Soc. B 272. pp 1427-1432.

Anschriften Peter Gausmann Ingo Hetzel Prof. Dr. Thomas Schmitt Geographisches Institut Ruhr-Universität Bochum Universitätsstr. 150 D-44780 Bochum E-Mail: [email protected]

74 CONTUREC 2 (2007) Seite 75 bis 85

Stoffliche Belastung von Stadtwäldern Herrn Dipl.-Ing. Helmut May zu seinem 88. Geburtstag gewidmet

Material pressures upon urban woodlands Dedicated to Dipl.-Ing. Helmut May upon the occasion of his 88th birthday

MICHAEL DOHLEN

Zusammenfassung Der vorliegende Aufsatz umfasst eine vergleichende Bewertung des Stoffhaushaltes – unter besonde- rer Berücksichtigung der Schwermetalle – zwischen drei verschiedenen Stadtwäldern in Bochum. Die dargestellten Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt „Stoffbilanzierung in urbanen Waldökosyste- men“ zeigen, dass vor allem die zurückliegende Beeinflussung durch atmosphärische Einträge und deren Akkumulation sowie technogen eingebrachtes Substrat zu einer erhöhten stofflichen Beeinflus- sung von urbanen Wäldern führen. Ferner konnte nachgewiesen werden, dass deponierte Schwermetalle in älteren, naturnahen Bestän- den wegen niedriger pH-Werte bereits verlagert werden, während jüngere Bestände auf rekultivierten Berge-Bauschutthalden – trotz höherer Gesamtgehalte – erst längerfristig zu einer potenziellen Belas- tungsquelle werden können. Durch die Hinzunahme von Daten aus der Untersuchung zur Erstellung der digitalen Bodenbelas- tungskarte konnten zusätzliche Erkenntnisse zur Belastung der Bochumer Wälder gewonnen werden. Die Auswertung dieser Daten hat ergeben, dass auch in alten und von Emittenten weiter entfernt lie- genden Wäldern in Bochum eine flächige Verbreitung von persistenten Schadstoffen in der Humus- auflage und im Oberboden nachzuweisen ist. Aufgrund der heterogenen Standortbedingungen – vor allem auf Sonderstandorten – die typisch für den urban-industriell geprägten Raum im Ruhrgebiet sind, war zwar keine generelle Repräsentanz für alle urbanen Waldstandorte in Bochum zu erreichen, grundlegende Erkenntnisse lassen sich jedoch sehr gut auch auf andere Stadtwälder übertragen. Für weitergehende Aussagen und zur Absicherung der zukünftigen Entwicklung sind allerdings längerfristige Beobachtungszeiträume notwendig.

Urbane Wälder, Stadtökologie, Stoffflüsse, Schwermetalle, Ruhrgebiet, Bochum.

Summary The work reported on here involves a comparative assessment of the material fluxes – with particular consideration of heavy metals – in three different woodlands in the urban area of Bochum, Germany. The findings of the research project “Material fluxes in urban forest ecosystems” have shown that past atmospheric inputs and their accumulation, in combination with technogenically introduced substrate, are the principal source of elevated pollutant levels in urban forests. It has further been shown that in older, semi-natural stands, because of their lower pH values, heavy metals are already migrating outwards, while more recent stands on recultivated piles of mine tailings and construction debris – despite higher overall contents – may only become a potential pollutant source over the longer term. Data derived from studies performed in connection with preparing a digital soil pollution map have yielded additional findings concerning pressures upon Bochum’s forests. Evaluation of these data has shown that a broad-scale presence of persistent pollutants in the forest floor and in the topsoil can even be found in old forests remote from emission sources. In view of the heterogeneous site conditions – especially the isolated patch habitats – which are char- acteristic of the urban-industrial Ruhrgebiet region, it was not possible to make statements generally representative of all urban forest sites in Bochum. Nonetheless, the basic findings generated by the project can be transferred very well to other urban woodlands. Longer-term monitoring periods will be necessary to gain a more complete picture and keep track of future developments.

Michael Dohlen

1. Einleitung Im dichtbesiedelten und industriell stark ge- prägten Ruhrgebiet mit all seinen drastischen Die Bedeutung urbaner Waldflächen als „grüne ökonomischen und ökologischen Veränderun- Oasen“ umgeben von dicht bebauten Wohn- gen in den letzten Jahrzehnten lassen sich die und Verkehrsflächen hat in Europa, wo zwei unterschiedlichen Nutzungsansprüche an den Drittel der Bevölkerung in Städten leben, in Wald in der Stadt sehr gut erforschen (vgl. den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung Otto, 2007, in press). Die Bandbreite der Un- gewonnen (vgl. Kowarik & Körner, 2005). Das tersuchungen umfasst dabei sowohl ökologi- wachsende Interesse an dem multidis- sche als auch soziale Analysen wie zum Bei- ziplinären Konzept „Urbane Forstwirtschaft“, spiel natürliche Sukzessionsentwicklungen auf das als „urban-foresty“ im anglo-amerika- ehemaligen Industrieflächen (Weiss et al., nischen und skandinavischen Raum fest etab- 2005) oder das Verhalten von Schulkindern liert ist (Konijnendijk et al., 2005), hat auch in und Jugendlichen in Industriewäldern (Keil, Deutschland zu einer intensiveren Beschäfti- 2005). gung von Forstleuten aber auch von Ökologen und Soziologen mit diesem wichtigen Bestand- Neben den typischen städtischen Begleiter- teil der Stadtnatur geführt. Im Ruhrgebiet ist scheinungen, wie hoher Besucherdruck, klein- beispielsweise eine Arbeitsplattform „Urbane flächige Habitatfragmentierung, Ablagerung Waldnutzung“ initiiert worden (Lohrberg & von Abfällen u. a. sind die Wälder im Ruhrge- Timpe, 2005), die sich mit unterschiedlichsten biet auch einer erhöhten stofflichen Beeinflus- Themenkomplexen – von der Flächenaneig- sung durch verschiedene Quellen ausgesetzt, nung durch türkischstämmige Migranten bis die zu Boden- und Grundwasserbeeinträchti- hin zur Biomassennutzung – beschäftigt und gungen führen können. Allerdings stellt sich einen interdisziplinären Austausch zwischen diese Situation wegen der Größe und der Dif- den verschiedenen Interessengruppen ermög- ferenzierung des Ruhrgebietes in unterschied- lichen und erleichtern soll. liche Nutzungstypen im Ganzen sehr hetero- gen dar. Vor allem ist zwischen der Standort- Aufgrund des großen Einflusses durch das lage, der Art und der Dauer der stofflichen umgebende städtische Umfeld und der starken Beeinflussung zu unterscheiden, aus der eine Betonung der Waldfunktionen Erholung und Belastung resultieren kann. In Abb. 2 bis 4 sind „Umweltqualität“ (Klima-, Biotop- und Wasser- ausgewählte (Schad-)Stoffquellen gezeigt, die schutzfunktion etc.), unterscheidet sich der allgemein einen großen Einfluss auf die stoffli- Stadtwald von den meisten außerstädtischen che Belastung von Wäldern im Ballungsraum (Wirtschafts-)Wäldern sehr deutlich (Dohlen, nehmen. 2006a). Die unterschiedlichen Funktionen von urbanen Wäldern sind in Abbildung 1 darge- stellt.

Urbaner Wald

Soziale Klima- und Ästhetische Ökologische Ökonomische Funktion Umweltschutz Funktion Funktion Funktion Funktion

Naherholung, Freizeit, Abkühlung, Lärmschutz, Naturerfahrung Trittsteinbiotope, (Kamin-)Holz- Sport… Luftverbesserung… bzw. -erlebnis… Rückzugsraum… verkauf…

Abb. 1: Verschiedene Funktionen von urbanen Wäldern.

76 Stoffliche Belastung von Stadtwäldern

führten dazu, dass die ungefilterten Emissio- nen überwiegend im nahen Umfeld der Quelle deponiert wurden. Heute wirken sich diese ehemaligen Stoffeinträge vor allem auf die Belastung der städtischen Böden aus. Flä- chen, die bereits zu dieser Zeit als Wald ge- nutzt wurden, weisen aktuell häufig erhöhte Gehalte auf, da wegen der Ausfilterung durch den Kronenraum auch die Einträge i. d. R. größer waren. Gegenwärtig werden aufgrund besserer Filter und höherer Schornsteine die industriellen Emissionen weiter weg verfrachtet (Abb. 3). Auch die Hausfeuerung mit Kohle

Abb. 2: Erhöhte Emissionen durch innerstädtische Fabri- spielt im Ruhrgebiet heute keine wichtige Rolle ken führen mit dem Beginn der industriellen Revolution im mehr. Hingegen stellt der Kfz-Verkehr aktuell Ruhrgebiet zu steigenden Schadstoffeinträgen vor allem eine bedeutende Belastungsquelle dar (Abb. im direkten Umfeld der Emittenten (Stadtansicht von Es- 4). Vor allem Stickoxide, aber auch verschie- sen um 1875). dene Schwermetalle aus dem Reifen- und

Bremsabbrieb stellen eine potenzielle Belas- tung dar, wenn sie direkt in die Wälder einge- tragen werden. Darüber hinaus können Wald- flächen im urban-industriellen Umfeld auch durch die Einbringung von Fremdmaterialien, wie z. B. Bergematerial bzw. industriellen Rückständen, zu einer Belastungsquelle für die Biosphäre oder das Grundwasser werden (Dohlen, 2006a). Wenn die städtischen Wälder den genannten multifunktionalen Nutzungsansprüchen auch zukünftig weiterhin genügen sollen, sind neben Aussagen zum sozialen Wert von Wäldern Abb. 3: Neben dem Kfz-Verkehr und der Energieerzeu- auch verlässliche Informationen über die Um- gung sind industrielle Produktionsprozesse die wichtigsten weltbelastungen der unterschiedlichen Wald- Ursachen für die Luftverschmutzung in Städten. Im Ruhr- gebiet hat sich die Luftqualität in den letzten Jahrzehnten ökosysteme zwingend erforderlich, um diesen durch strengere gesetzliche Vorgaben und den Struktur- gegebenenfalls entgegenzuwirken. wandel signifikant verbessert (Kokerei Prosper in Bottrop, eigene Aufnahme). Vor diesem Hintergrund werden im Weiteren ausgewählte Ergebnisse aus dem Projekt „Stoffbilanzierung in urbanen Waldökosyste- men“ für typische Waldbestände in Bochum dargestellt. Ziel des vorliegenden Aufsatzes ist es herauszustellen, welchen Einfluss Stoffein- träge und technogene Substrate auf die stoff- haushaltlichen Eigenschaften urbaner Wälder nehmen und welche potenziellen Umweltaus- wirkungen daraus resultieren können.

2. Untersuchungsgebiet und Methodik Die Stadt Bochum bot sich als Untersuchungs- raum an, da sie hinsichtlich der Bevölkerungs- Abb. 4: Der Straßenverkehr stellt eine der wichtigsten Quellen für den Stoffeintrag in die städtischen Wälder dar. dichte und der Verkehrsbelastung typische Insgesamt wurden die kraftfahrzeugbedingten Schadstoff- Eigenschaften einer Ruhrgebietsstadt wider- emissionen zwar durch immer strenger werdende Abgas- spiegelt. Des Weiteren kam es im Zuge der normen verringert, dieser Effekt wurde aber z. T. durch die industriellen Entwicklung zu einer massiven Zunahme des Kraftfahrzeugbestandes kompensiert (BAB 40 bei Bochum, eigene Aufnahme). Umgestaltung der Landschaft zum Beispiel in Form von Halden. Zu einer (schad-)stofflichen Abb. 2 verdeutlicht die stoffliche Belastung in Belastung der städtischen Böden, die zum Teil einer Ruhrgebietsstadt durch eine Vielzahl von bis heute anhält, tragen vor allem industrielle kleineren Fabriken und Hausbrand zu Beginn Stoffeinträge zusammen mit anderen lokalen der industriellen Revolution im 19. Jahrhun- Emittenten und der Kfz-Verkehr bei. dert. Die niedrigen Schornsteine und Kamine

77 Michael Dohlen

Waldflächen

0 2 km ° DOHLEN 2007

Abb. 5: Räumliche Verbreitung der urbanen Waldflächen im Stadtgebiet von Bochum. Deutlich werden der hohe Isolations- grad und die potentiellen Belastungen der Wälder durch unmittelbare Siedlungs-, Industrie- und Verkehrswegenähe.

Das Stadtgebiet von Bochum umfasst eine Fagetum ilicetosum standorttypische Buchen- Grundfläche von 145,4 km² mit einer Einwoh- waldgesellschaften (vgl. Papajewski, 1982). nerzahl von 377.730 (Stadt Bochum, 2006). Bei den meist kleinflächigen, isolierten Ge- Die Bevölkerungsdichte beträgt gegenwärtig hölzbeständen handelt es sich hauptsächlich etwa 2.598 Einwohner pro km² und ist folglich um jüngere Aufforstungs- bzw. Sukzessi- mehr als doppelt so hoch wie die durchschnitt- onsflächen von Ackerstandorten, Ödland, De- liche Dichte im Ruhrgebiet mit rund 1.199 Ein- ponien, Industrieflächen und ehemaligen wohnern pro km² (KVR, 2004). Der Waldanteil Zechengeländen. an der Gesamtfläche des Stadtgebietes von Der Bochumer Norden ist deutlich waldärmer Bochum beträgt etwa 6,3 % (917,2 ha). Im als das südliche Stadtgebiet. Dort finden sich Vergleich zum Ruhrgebiet mit 17,5 % muss der jedoch kleine, oft typisch ausgeprägte Relikte Waldanteil in Bochum als gering angesehen des Milio-Fagetum und des Carici remotae- werden. Allerdings bewirken gezielte Auffors- Fraxinetum (Peters, 1988). Meistens sind aber tungen, Rekultivierungsmaßnahmen und na- halbnatürliche Ersatzforste – überwiegend als türliche Sukzessionsentwicklungen auf (Indust- Eichen-Birkenwälder ausgebildet – anzutref- rie-)Brachflächen eine Zunahme des Waldan- fen. Auf älteren Brachflächen und Bergehalden teils. Dadurch erhöht sich auch die Vielfalt der haben sich auch lichte Pionierwälder (Epilobio- Waldflächen hinsichtlich der Artenzusammen- Salicetum capreae) gebildet (Keil & Loos, setzung und der Standortbedingungen. 2003; 2004). Die starke anthropogene Beeinflussung hat in Insgesamt werden durch die urbanen Einfluss- Bochum dazu geführt, dass nur wenige alte, faktoren wie Eutrophierung und mechanische naturnahe Wälder bzw. Waldbereiche zu fin- Störungen besonders eutraphente Arten ge- den sind. Es dominieren „urbane Waldgesell- fördert. Außerdem haben die flächenhaften N- schaften“, die sich von naturnahen Wäldern im Einträge durch Depositionen und wahrschein- Freiland besonders häufig durch das Auftreten lich auch durch intensives „Hundeausführen“ von Störungszeigern, wie z. B. Neophyten, zu einer Zunahme von Stickstoffzeigern, wie unterscheiden (vgl. AG LÖK, 2007). Sambucus nigra, Stachys sylvatica und Impa- Bei der aktuellen Verteilung der Wälder im tiens parviflora in der Krautschicht der Bochu- Stadtgebiet fällt auf, dass im Süden einige mer Wälder geführt. größere, zusammenhängende Waldgebiete Die aktuelle Waldvegetation besteht zu rund vorhanden sind (Abb. 5). Hierzu zählen auch 62 % aus Laubholzwäldern unterschiedlicher die weitgehend naturnahen Buchen- und Ei- Artenzusammensetzung (vorwiegend Quercus chen-Buchen-Altbestände, die überwiegend spec., Fagus sylvatica, Acer pseudoplatanus, den kollinen Hainsimsen-Buchenwäldern (Lu- Betula pendula, Prunus avium, Tilia spec. u. zulo-Fagetum) entsprechen. Des Weiteren a.). Die Buchenwälder besitzen nur einen An- bilden die bodensauren Bestände des Luzulo- 78 Stoffliche Belastung von Stadtwäldern

teil von 25 %. Neben diesen beiden dominan- liche Verkehrsaufkommen unterliegen. Die drei ten Waldtypen sind Eichen-Hainbuchen- Untersuchungsstandorte liegen in den nördli- Wälder im südlichen Stadtgebiet (5 %) sowie chen und nordöstlichen Bochumer Stadtteilen Birken- und Birken-Eichen-Buchenwälder Langendreer, Bergen und Werne (Abb. 6). (4 %) mit größerem Flächenanteil vertreten Um die eigene Datenbasis zu vergrößern, (Dohlen & Schmitt, 2003). wurden Ergebnisse von Bochumer Waldstand- a. Standorte orten aus der digitalen Bodenbelastungskarte (BBK) mit in die Darstellung hinein genommen. Für die Untersuchungen in den Bochumer Im Rahmen der BBK-Erstellung wurden Pro- Wäldern wurden Bestände gesucht, die einen ben von Humusauflagen und Oberböden ge- repräsentativen Teil der im Stadtgebiet vor- nommen und auf verschiedene Schwermetalle kommenden „Waldtypen“ abdecken. Um Be- hin analysiert. sonderheiten und Differenzen zwischen den Waldstandorten besser erfassen zu können, b. Methodik wurden die Flächen so ausgewählt, dass sie Für die Untersuchungen zur Einschätzung der sich hinsichtlich der Altersstruktur, der Arten- stofflichen Belastungen in urbanen Waldöko- zusammensetzung, des geologischen Unter- systemen wurde die Stoffbilanzierung als zent- grundes und der Bodenverhältnisse voneinan- rale Methode verwendet (vgl. Lauterbach, der unterscheiden. 2000), da sie Aussagen zum Zustand, der Art Die ausgewählten Wälder verteilen sich über und Intensität von Belastungen erlaubt. die verschiedenen Altersklassen und reichen Die Grundlage für die stoffhaushaltlichen Un- von Jung- über Mittel- bis Altbestand. Sie zäh- tersuchungen und die Bilanzierung bilden der len zu den vorherrschenden Baumartengrup-

! !

!

!

! ! !

! ! ! !

!

! ! ! ! ! ! ! ! !

! ! ! !

! !

! ! ! ! ! ! ! !

! !

! ! ! !

! Bergen !

! ! !

!

! ! !

! ! ! ! ! !

! ! ! !

! !

! ! !

!

! !

!

!

! !

! !

! ! !

! !

!

! ! !

!

! Werne

! !

! !

! !

!

! Waldflächen

! !

!

!

! BBK-Flächen !

!

!

!

!

!

!

!

!

!

! 02km

! !

!

! ! ! ! !

! ° DOHLEN 2007

Langendreer

Abb. 6: Lage der Hauptuntersuchungsstandorte und der zusätzlichen BBK-Standorte im Bochumer Stadtgebiet (Luftbil- der: KVR 2000). pen Laubholz bzw. Buche und stocken mit In- und Output in dem beobachteten System- Ausnahme des Standortes Werne auf den ausschnitt, die als Gesamtdeposition und als flächenmäßig vorherrschenden Lößlehmbö- Austrag mit dem Sickerwasser unterhalb des den, aus denen sich meist Braunerden und Hauptwurzelraums in 150 cm Tiefe gemessen Parabraunerden entwickelt haben. Ein weite- werden. res Auswahlkriterium war die räumliche Nähe Im Rahmen des Forschungsprojektes wurden zu Verkehrsflächen. Die Standorte befinden die Stoffeinträge im Freiland mit je zwei und im sich in unterschiedlicher Entfernung zu stark Bestand mit je acht Kunststoffsammlern im frequentierten Autobahnen, wodurch die Flä- Zeitraum von 2001 bis 2003 wöchentlich ge- chen neben den industriellen Beeinflussungen messen. Die Erfassung der Bodenlösung er- einer großen Belastung durch das unterschied- folgte mittels Kunststoff-Saugplatten bzw. 79 Michael Dohlen

Kunststoff-Saugkerzen in unterschiedlichen Bei der Betrachtung dieser Indikatorgröße ist Tiefenstufen. Die Entnahme und Analyse der zu beachten, dass Aussagen nur für den ge- Proben fand wöchentlich bzw. zweiwöchentlich messenen Zeitraum gültig sind. Aussagen zur statt. Die Schwermetall-Gesamtgehalte wurden Qualität und Quantität zeitlich zurückliegender im ICP-OES nach Totalaufschluss bestimmt. Stoffeinträge lassen sich mit dieser Erfas- Die Niederschlags- und Sickerwasseranalysen sungsmethode nicht treffen. erfolgten ebenfalls mittels ICP-OES. Die ge- Die Höhe der Schwermetalleinträge in die un- samten Untersuchungsmethoden sind ausführ- tersuchten Bestände in Bochum unterscheidet lich in Dohlen (2006a) dargelegt. sich bei den dargestellten Elementen signifi-

kant zwischen den drei Standorten (Abb. 7). 3. Ergebnisse und Diskussion Die Einträge sind in Werne - bis auf Blei im Im Weiteren werden die Beeinflussungen der Freilandniederschlag (FN) - am höchsten und Waldökosysteme durch eingetragene Deposi- weisen auf die starke Belastung durch die tionen und unterschiedliche Ausgangssubstra- Nähe der Autobahn (A 40) hin. Im Vergleich te für ausgewählte Schwermetalle gezeigt. hierzu liegen in Bergen und besonders in Lan- gendreer die Schwermetalleinträge auf einem Zuerst wird die aktuelle Belastung durch Stoff- deutlich niedrigeren Niveau. einträge in Abhängigkeit von der Entfernung zu potenziellen Emissionsquellen dargestellt. Im Bei den ausgewählten Schwermetallen sind Anschluss werden die Schwermetallgehalte die meisten Einträge in den nördlichen Stand- der Humusauflagen als Folge der atmosphäri- orten Bergen und Werne höher als in Lan- schen Beeinflussung präsentiert, da sie als gendreer. Außerdem weisen die Standorte Verbindungsglied zwischen Atmosphäre und Werne und Bergen deutlich höhere Korrelatio- Pedosphäre früher von Einträgen betroffen nen bei den Schwermetall-Gehalten auf als sind als der Mineralboden. Im Anschluss wird Langendreer, was auf ähnliche Stoffquellen auf die Gesamtgehalte im Boden in Abhängig- hindeutet. Die statistischen Auswertungen der keit von Substrat und Bodenentwicklung ein- kontinuierlichen Depositionsmessungen haben Werne Bergen Langendreer FN CrCd Ni Pb Cd Cr Ni Pb CrCd Ni Pb -1 -1 g ha a 16,1 25,5 23,4 110,9 2,0 4,1 4,7 130,9 Nn.n. Nn.n. 1,9 186,4

BN Cd Cr Ni Pb Cd Cr Ni Pb Cd Cr Ni Pb g ha-1 a -1 3,1 5,3 5,8 73,4 n n.n. Nn.n. 1,0 51,1 Nn.n. Nn.n. Nn.n. 65,5

Abb. 7: Jährliche Schwermetalleinträge (g ha-1 a-1) mit dem Freiland- (FN) und Bestandesniederschlag (BN) für die Untersu- chungsflächen in Bochum-Werne, -Bergen und -Langendreer (n. n. = nicht nachweisbar). gegangen. Den Schluss der stofflichen Be- gezeigt, dass für diese beiden Flächen die trachtung bildet der Stoffaustrag aus den drei Schwermetall-Einträge vermutlich insbesonde- untersuchten Wäldern, um Aussagen zu einer re aus dem Kfz-Verkehr und aus industriellen möglichen Belastung tieferer Schichten oder bzw. kommunalen Hochtemperaturprozessen des Grundwassers treffen zu können. stammen (Dohlen, 2006b). Einen besonders großen Einfluss übt in Werne die nahe gelege- a. Atmosphärische Stoffeinträge ne Autobahn aus. In Langendreer stammen die Eine große Bedeutung bei der Darstellung von höheren Bleieinträge vermutlich aus industriel- stofflichen Belastungen urbaner Waldökosys- len Prozessen im weiteren Umfeld der Mess- teme kommt dem atmosphärischen Eintrag zu. fläche und nicht aus dem Kfz-Verkehr. 80 Stoffliche Belastung von Stadtwäldern

Des Weiteren zeigt sich, dass es bei der Kro- Tab. 1: Schwermetallgehalte der Humusauflagen (Of- und Oh-Horizont) in Bochum-Bergen und Bochum-Langendreer nenraumpassage zu einer eindeutigen Sen- sowie im Mittel von acht Bochumer Wäldern aus der BBK- kung der Schwermetallgehalte kommt, da im Untersuchung (Stadt Bochum, 2004). Vergleich zum Freilandniederschlag die Schwermetall-Einträge im Bestandesnieder- Cd Cu Pb Zn -1 schlag deutlich reduziert sind. Durch die tem- mg kg TS poräre Speicherung – vorwiegend auf den Bergen Blättern – werden die Freilandeinträge zwar Of-Horizont 2,9 29,7 70,5 214,6 gesenkt, aber ein großer Teil der im Kronen- Langendreer O -Horizont 3,6 53,5 369,0 214,4 raum zwischengespeicherten Elemente ge- f Oh-Horizont 4,8 117,8 748,3 329,3 langt mit dem Streufall auf den Boden. Mittel 4,2 85,7 558,6 271,9 Stadt Bochum 0,8 72,6 385,0 231,3 b. Schwermetall-Akkumulation in der Hu- (2004) (n = 8) musauflage Der Humusauflage kommen in Waldökosyste- Die stärkere Schwermetallbelastung der Hu- men wichtige Funktionen bei der Speicherung musauflage von Langendreer im Vergleich zu und Freisetzung von atmosphärisch eingetra- Bergen wird daran sichtbar, dass die Gesamt- genen Depositionen zu. In Abhängigkeit von gehalte aller untersuchten Schwermetalle deut- der Lage zu verschiedenen Emissionsquellen lich höher sind (Tab. 1). (z. B. Schwerindustrie, Verkehrswege u. a.) Zu beachten sind besonders die Blei-Gehalte, handelt es sich häufig um Schwermetalle, die die in Langendreer im Mittel rund achtmal hö- in der Humusauflage akkumuliert werden (Wil- her sind als in Bergen. Das bestätigt die länge- cke et al., 1999). Im Einflussbereich von um- re Eintragszeit anthropogener Pb-Depositionen gebenden Industrieanlagen und durch die in den Altbestand in Langendreer gegenüber Verbrennung von fossilen Energieträgern Bergen, weil letzterer erst nach dem 2. Welt- kommt es dabei zu einer stärkeren Belastung krieg begründet wurde. mit Schwermetallen, vor allem mit Blei und Cadmium (Fiedler & Rösler, 1993). Der Vergleich zwischen den beiden Humusho- rizonten in Langendreer zeigt außerdem, dass Problematisch ist es, dass viele (Schad-)Stoffe die Pb-Gehalte im Oh-Horizont um das Doppel- in der organischen Substanz nur reversibel te höher sind als im Of-Horizont. Der Anstieg festgelegt werden. Auch nach dem Rückgang der Gehalte von oben nach unten in der Hu- der Einträge können im Zuge von Veränderun- musauflage geht auf die Komplexbildung und gen des pH-Wertes oder durch Mineralisie- die zunehmende Akkumulation des Bleis mit rungsprozesse vormals festgelegte Stoffe frei- steigendem Zersetzungsgrad der organischen gesetzt werden, wodurch die Auflage zu einer Substanz zurück (Lobe et al., 1998; Wilcke & Belastungsquelle wird (Marsh & Siccama, Wilke, 2004). Möglicherweise stammen die 1997; Lang & Kaupenjohann, 2004; Dohlen & höheren Gehalte im Oh-Horizont auch aus Wessel-Bothe, 2005). einer Zeit mit höheren Pb-Einträgen. In Tab. 1 sind die Schwermetall-Gesamtge- Auch bei den anderen Elementen liegen die halte in den Humusauflagen von Bochum- Gehalte im Oh-Horizont von Langendreer – Bergen und Bochum-Langendreer sowie aus beispielsweise für Cadmium um 25 % – höher den Untersuchungen zur Anfertigung der digi- als im darüber liegenden Of-Horizont. Auffal- talen Bodenbelastungskarte (BBK) von Bo- lend sind die Zink-Gehalte in den Of-Horizon- chum dargestellt. Bei der Interpretation der ten der beiden Auflagen, die mit 214,6 mg kg-1 Werte der „BBK-Wälder“ ist zu beachten, dass bzw. 214,4 mg kg-1 nahezu identisch sind. sie aus acht Standorten gemittelt wurden. Da weder das Bestandsalter noch Daten zur stoff- Verglichen mit den durchschnittlichen lichen Standortbeeinflussung vorliegen, kön- Schwermetallgehalten in den Humusauflagen nen die Daten nur als Anhalt dienen, um die der verschiedenen Bochumer Wälder zeigt eigenen Werte – bezogen auf das Stadtgebiet sich, dass die Elemente für alle untersuchten – besser einzuordnen. Bei der Interpretation Schwermetalle höher sind als in Bergen. Ge- der Schwermetall-Gesamtgehalte ist zu be- genüber den mittleren Gehalten in Lan- denken, dass sie die Belastung und nicht die gendreer sind sie aber durchgehend geringer. ökologische Verfügbarkeit der potenziell toxi- Allerdings fallen die Cd-Gehalte in den Hu- schen Elemente widerspiegeln. Da sich die musauflagen der acht untersuchten Wälder im Bochumer Stadtgebiet mit mittleren Cd- meisten Untersuchungen aber auf Gesamtge- -1 halte beziehen, wurden diese zum besseren Gehalten von 0,8 mg kg deutlich geringer aus Vergleich herangezogen. als in den vom Autor untersuchten Beständen. Die mittleren Zn-Gehalte in den Auflagen der

81 Michael Dohlen

acht BBK-Wälder liegen mit 231,3 mg kg-1 in c. Schwermetall-Verlagerung im Boden einer vergleichbaren Größenordnung wie in Die Stofffrachten, die sich aus der Zusammen- den Humusauflagen der beiden Standorte in setzung der Bodenlösung und der Sickerrate Bergen und Langendreer. ergeben, spiegeln die Unterschiede in den Um die Gehalte in Bochum regional einordnen bodenchemischen Eigenschaften der drei Un- zu können, werden sie in Tab. 2 mit den Hin- tersuchungsstandorte wider. tergrundwerten für Humusauflagen in Nord- rhein-Westfalen verglichen. Dies ermöglicht Der Unterboden des ehemaligen Haldenstand- eine Einordnung und Belastungsabschätzung ortes in Werne zeichnet sich durch eine verti- der gemessenen Werte, da es keine Grenz- kale Differenzierung mit höchst unterschiedli- werte für Humusauflagen gibt. chen stofflichen Eigenschaften aus, die vor allem durch die Zusammensetzung der einge- Tab. 2: Hintergrundwerte (50. und 90. Perzentil des Typ III) brachten Substrate geprägt sind. Einen wichti- für anorganische Stoffe in Humusauflagen (O-Horizont) in gen bodenchemischen Prozess stellt hier die Nordrhein-Westfalen (LUA NRW, 2003). Verwitterung des eingebrachten Bergemateri- Cd Cu Pb Zn als dar. mg kg-1 TS Hintergrundwerte Auffallend sind die höheren Pb-Austräge in 50. Perzentil 0,56 27 242 95 Werne. Anscheinend wird Blei trotz der neutra- 90. Perzentil 1,26 55 522 158 len bis schwach alkalischen pH-Werte (> 7) mobilisiert, was auf insgesamt höhere Pb- Im Vergleich mit den landesweiten Hinter- Gesamtgehalte und die Mobilisierung durch grundwerten für organische Auflagen in Bal- reduzierende Prozesse im Boden zurückzufüh- lungskernen (vgl. LUA NRW, 2003) zeigt sich ren ist. In Langendreer findet ebenfalls eine die erhöhte Belastung durch anthropogene Tiefenverlagerung von Blei statt, wobei die Einträge darin, dass die Hintergrundwerte – Grenzwerte der Trinkwasserverordnung (1990) hauptsächlich in Langendreer – die Gehalte für im Sickerwasser zum Teil überschritten wer- die untersuchten Elemente Cu, Pb und Zn im den. Mit einem erhöhten Transport in Richtung 90. Perzentil übertreffen (Tab. 2). In Bergen Grundwasser ist aber infolge der geringen Pb- können die Werte hingegen auch unter den Löslichkeit und der hohen Adsorptionskapazi- landesweiten Hintergrundwerten liegen (z. B. tät der Bodenbestandteile in tieferen Schichten Blei). Eine Besonderheit bilden die Cd- vorerst nicht zu rechnen. Allerdings muss trotz Gesamtgehalte, die an beiden Standorten der gesunkenen atmosphärischen Pb-Einträge deutlich über den Hintergrundwerten für orga- und wegen der gespeicherten Vorräte im Bo- nische Auflagen in Nordrhein-Westfalen liegen den auch künftig von einer Blei-Verlagerung (Tab. 1 und 2). aus dem Oberboden ausgegangen werden.

Werne Bergen Langendreer INPUT Cd Cu Ni Pb Cd Cu Ni Pb CuCd Ni Pb -1 -1 g ha a 16,1 84,0 23,4 110,9 2,0 69,2 4,7 130,9 nn.n. 74,7 1,9 186,4

60 cm 0,60 22,2 0,50 261,7 0,00 1,7 0,00 14,5 0,07 5,4 19,8 50,6

90 cm 0,00 17,8 0,22 235,9 0,00 1,1 0,01 7,9 0,00 4,1 18,3 41,0

OUTPUT 0,00 21,2 0,00 175,6 0,00 3,0 17,4 13,4 0,24 7,8 21,2 36,0 (= 150 cm)

Bilanz 16,1 62,8 23,4 - 64,7 2,0 66,2- 12,7 117,6 nn.b. 66,9 - 19,4 150,3

Abb. 8: Jährliche Schwermetallflüsse (g ha-1 a-1) mit dem Bodensickerwasser für die Untersuchungsflächen in Bochum- Werne, -Bergen und -Langendreer (n. n. = nicht nachweisbar, n. b. = nicht bestimmt).

82 Stoffliche Belastung von Stadtwäldern

Nickel ist in Werne bei den vorherrschenden sächlich der Oberboden die Freisetzung pH-Werten im Boden weitgehend immobil prägt. (Alloway, 1999), während es in Langendreer aufgrund der niedrigen pH-Werte die höchs- 4. Ausblick ten Stoffkonzentrationen im Sickerwasser Ein wichtiges Ziel zukünftiger Untersuchun- aufweist. gen sollte die Übertragung der in dem For- In Bergen spielt vor allem der Unterboden für schungsprojekt gewonnenen Erkenntnisse – die Höhe der Schwermetall-Konzentrationen vor allem im Hinblick auf die Stoffbelastung im Sickerwasser eine wichtige Rolle. Im Zuge von Wäldern – für eine praktische Anwendung eines geologischen Schichtwechsels von in der ökologisch orientierten Stadtplanung Lößlehm hin zu Castroper Höhenschottern sein. Wenn Waldstandorte, an denen mit ei- kommt es im Unterschied zu den anthropogen nem Austrag potenzieller Schadstoffe zu erhöhten Gehalten in Werne hier zu einer rechnen ist, weil hohe Gehalte leicht mobiler geogen bedingten Erhöhung. Schwermetalle im Boden gespeichert sind, einfach zu identifizieren sind, können die Eine potenzielle Gefährdung des tieferen kommunalen Fachämter diese Informationen Bodens geht an den beiden älteren bei ihrer Planung berücksichtigen, detaillierte Waldstandorten von den vorwiegend depo- Untersuchungen durchführen und gegebe- nierten Elementen aus, die bei niedrigen pH- nenfalls besondere Sanierungsmaßnahmen Werten eine erhöhte Löslichkeit und Mobilität wie zum Beispiel Kalkungen u. a. ergreifen. zeigen und weniger stark durch Komplexbil- Mit der Entwicklung eines Modellansatzes zur dung zurückgehalten werden, wie zum Bei- flächenhaften Ableitung der Stofffunktion mit- spiel Nickel. Im Vergleich dazu ist die Gefahr tels GIS auf der Grundlage verschiedener einer pH-Wert-abhängigen Verlagerung von Datenquellen wurde bereits ein erster Schritt Schwermetallen in Werne zurzeit gering. Al- in diese Richtung unternommen (Dohlen, lerdings gewinnt die Verlagerung von Metal- 2006a; Pabst, 2006). len wie Blei und Kupfer, in Form von organo- mineralischen Komplexen vermutlich an Be- Danksagung deutung. Trotz erhöhter Schwermetall- Gesamtgehalte im Boden waren die Konzent- Für die Unterstützung bei der Durchführung rationen im Sickerwasser mit Ausnahme des des Projektes „Stoffbilanzierung in urbanen Bleis äußerst gering, so dass anscheinend Waldökosystemen“ möchte ich mich beim kaum mobile Schwermetall-Verbindungen Geographischen Institut der Ruhr-Universität auftraten. Eine Gefährdung der Hydrosphäre Bochum und besonders bei meinem akade- ist auf der grundwasserfernen Halde damit mischen Lehrer, Herrn Prof. Dr. Thomas mittelfristig auszuschließen. Schmitt (Lehrstuhl für Biogeographie und Landschaftsökologie), für die jahrelange gute Insgesamt zeigt sich sehr deutlich, dass der Zusammenarbeit herzlich bedanken. aktuelle Stoffeintrag durch Depositionen hin- ter den Einfluss des Substrats zurücktritt. Literatur Betrachtet man abschließend die berechneten AG LÖK (= AG Landschaftsökologie der Stoffbilanzen, zeigt sich, dass Werne wegen Ruhr-Universität Bochum) (2007). Neophy- der hohen Beeinflussung durch das techno- ten im Ruhrgebiet. gene Substrat – mit Ausnahme von Blei – http://www.geographie.ruhr-uni- negative Bilanzen (rot dargestellt) aufweist. bochum.de/ag/landscha/Homepage Ne- Im Gegensatz dazu sind die Bilanzen in Ber- ophyten/home.htm (05.03.2007). gen und Langendreer bis auf Nickel positiv, Alloway, B. J. (Hrsg.) (1999). Schwermetalle das heißt, die Standorte stellen für diese E- in Böden. Analytik, Konzentrationen, Wech- lemente eine Senke dar (vgl. Abb. 8). selwirkungen. Berlin. Springer. Durch die hohen pH-Werte kommt es in Wer- Dohlen, M. (2006a). Stoffbilanzierung in ur- ne trotz höherer Gesamtgehalte bisher nicht banen Waldökosystemen der Stadt Bo- zu einer verstärkten Mobilisierung der chum. Bochumer Geographische Arbeiten Schwermetalle. Dagegen findet in Lan- 73. gendreer eine Verlagerung der akkumulierten Dohlen, M. (2006b). Deposition in Stadtwäl- Schwermetalle im Zuge der Bodenversaue- dern Bochums. Allgemeine Forstzeitschrift - rung statt. Festhalten lässt sich, dass auf der Der Wald 14/2006. S. 760-761. ehemaligen Abraumhalde in Werne das ein- Dohlen, M. & Schmitt, T. (2003). Konzept gebrachte technogene Substrat im Unterbo- stoffhaushaltlicher Bilanzen in urbanen den die weitere Bodenentwicklung und damit Öko-systemen; dargestellt am Beispiel von auch die Stofffreisetzung dominiert, während Wäldern in Bochum. In: Schmitt, T. (Hrsg.): in den beiden älteren Waldbeständen haupt- Themen, Trends und Thesen der Stadt- und

83 Michael Dohlen

Landschaftsökologie. Bochumer Geogra- für anorganische und organische Stoffe in phische Arbeiten, Sonderr. 14. S. 21-27. Oberböden Nordrhein-Westfalens - Auswer- Dohlen, M. & Schmitt, T. (2006). Stoffhaus- tung aus dem Fachinformationssystem haltliche Untersuchungen in Bochumer Stoffliche Bodenbelastung (FIS StoBo). Es- Stadtwäldern. LÖBF-Mitteilungen 3. S. 35- sen. 39. Marsh, A. S. & Siccama, T. G. (1997). Use of Dohlen, M. & Wessel-Bothe, S. (2005). Quan- formerly plowed land in New England to tifizierung der Auswaschung von Blei aus monitor vertical distribution of lead, zinc and der organischen Auflage unter Wald im copper in mineral soil. Water Air Soil Pollut. Ruhrgebiet. Mitteilungen der Österreichi- 95. S. 75-85. schen Bodenkundlichen Gesellschaft 72. Otto, K.-H. (Hrsg.) (2007). Industrie-(Wald) im S. 117-123. Ruhrgebiet. Materialien zur Raumordnung Fiedler, H. J. & Rösler, H. J. (1993). Spuren- 69. Bochum, in press. elemente in der Umwelt. 2., überarb. Aufl. Pabst, J. S. (2006). Regionalisierung von Jena. Fischer. Stofffunktionen in urbanen Waldökosyste- Keil, A. (2005). Use and perception of post- men. Bachelorarbeit. Ruhr-Universität Bo- industrial urban landscapes in the Ruhr. In. chum, Fakultät f. Geowissenschaften (un- Kowarik, I. & Körner, S. (Ed.). Wild urban veröffentlicht). woodlands. New perspectives for urban for- Papajewski, W. (1982). Vegetationskundliche estry. Berlin (Springer). S. 117-130. Untersuchung schützenswerter Biotope im Keil, P. & Loos, G. H. (2003). Urbane Wälder Bochumer Raum. Diplomarbeit. Ruhr- als ein Produkt von Kultur und Natur: Vor- Universität Bochum, Fakultät f. Biologie (un- waldgesellschaften der Industrie-, Gewerbe- veröffentlicht). und Bahnbrachen des Ruhrgebietes. - In- Peters, U. (1988). Pflanzenökologische und ternationale Fachtagung „Urwald in der bodenkundliche Untersuchungen an Quell- Stadt - Postindustrielle Stadtlandschaften standorten in Bochum. Dissertationes Bota- von morgen“ Institut für Ökologie der TU nicae 122. Berlin (Cramer). Berlin & Projekt Industriewald Ruhrgebiet. Sieghardt, M., Mursch-Radlgruber, E., Paolet- Dortmund 16.-18.10. 2003. S. 20. ti, E., Couenberg, E., Dimitrakopoulus, A., Keil, P. & Loos, G. H. (2004). Ergasiophygo- Rego, F., Hatzistathis, A. & Barfoed phytic trees and shrubs in the Ruhrgebiet Randrup, T. (2005). The abiotic urban envi- (West Germany). In: Kühn, I. & Klotz, S. ronment: Impact of urban growing conditi- (Hrsg.). Biological Invasions: Challenges for ons on urban vegetation. In: Konijnendijk, Science. Neobiota 3. S. 90. C. C., Nilsson, K.. Randrup, T. B. & Schip- Konijnendijk, C. C., Nilsson, K., Randrup, T. perijn, J. (Eds.). Urban forests and trees. B. & Schipperijn, J. (Eds.) (2005). Urban Berlin (Springer). S. 281-323. forests and trees. Berlin (Springer). Stadt Bochum (Hrsg.) (2006). Statistisches Kowarik, I. & Körner, S. (Eds.) (2005). Wild Jahrbuch der Stadt Bochum. 53. Jahrgang. urban woodlands. New perspectives for ur- Berichtsjahr 2005. Bochum. ban forestry. Berlin (Springer). Stadt Bochum (2004). Daten zur Bodenbelas- KVR (= Kommunalverband Ruhrgebiet) tung. (persönliche Mitteilung). (Hrsg.) (2004). Städte- und Kreisstatistik Trinkwasserverordnung (1990). Verordnung Ruhrgebiet 2003. Essen. über Trinkwasser und über Wasser für Le- KVR (= Kommunalverband Ruhrgebiet) bensmittelbetriebe (TrinkwV). Vom 5. De- (Hrsg.) (2000). Mittleres Ruhrgebiet. Atlas zember 1990. Karte und Luftbild. Essen. Weiss, J., Burghardt, W., Gausmann, P., Lang, F. & Kaupenjohann, M. (2004). Trace Haag, R., Haeupler, H., Hamann, M., Leder, element release from forest floor can be B., Schulte, A. & Stempelmann, I. (2005). monitored by ion exchange resin tubes. J. Nature returns to abandoned industrial land. Plant Nutr. Soil Sci. 167. S. 177-183. Monitoring succession in urban-industrial Lauterbach, G. (2000). Wasser- und Stoff- woodlands in the german ruhr. In: Kowarik, haushalt dreier Waldökosysteme des Ost- I. & Körner, S. (Hrsg.). Wild urban wood- erzgebirges. Diss. Univ. Göttingen. lands. New perspectives for urban forestry. Lobe, I., Wilcke, W., Kobza, J. & Zech, W. Berlin (Springer). S.143-162. (1998). Heavy metal contamination of soils Wilcke, W., Guschker, C., Kobza, J. & Zech, in northern Slovakia. Z. Pflanzenernähr. W. (1999). Heavy metal concentrations, Bodenkd. 161. S. 541-546. partitioning, and storage in Slovak forest Lohrberg, F. & Timpe, A. (2005). Plattform and arable soils along a depositions gradi- Urbane Waldnutzung im Ruhrgebiet startet. ent. J. Plant Nutr. Soil Sci. 162. S. 223-229. LÖBF-Mitteilungen 3. S. 59-61. Wilcke, W. & Wilke, B.-M. (2004). Grundla- LUA NRW (= Landesumweltamt Nordrhein- gen. Prozesse im Boden. In: Litz, N., Wil- Westfalen) (Hrsg.) (2003). Hintergrundwerte cke, W. & Wilke, B.-M. (Hrsg.). Bodenge- 84 Stoffliche Belastung von Stadtwäldern

fährdende Stoffe. Bewertung, Stoffdaten, Ökotoxikologie, Sanierung. Landsberg/Lech (ecomed). S. 1-38.

Anschrift Dr. rer. nat. Michael Dohlen FEhS - Institut für Baustoff-Forschung e.V., Abteilung für Umwelt und Verkehrsbau Bliersheimer Straße 62 D-47229 Duisburg E-Mail: [email protected]

85

CONTUREC 2 (2007) Seite 87 bis 94

Urban-industrielle Flächen als “Hotspots” der Blütenpflanzen- Vielfalt am Beispiel der Bahn- und Hafenanlagen von Mannheim (Baden-Württemberg)

Urban-industrial sites as hotspots of flowering plant diversity – Exemplified by har- bour and rail facilities in Mannheim, Baden-Württemberg

THOMAS JUNGHANS

Zusammenfassung Bei der floristischen Inventarisierung der Bahn- und Hafenanlagen von Mannheim (Baden- Württemberg) wurden bislang 370 Kormophyten-Sippen gefunden, darunter zahlreiche seltene und gefährdete wie z. B. Ornithogalum brevistylum und Fumana procumbens, was die Bedeutung derarti- ger anthropogener Flächen als Sekundärstandorte für den Habitat- und Artenschutz verdeutlicht. Un- terschiede zwischen der Bahn- und Hafenflora bezüglich des Vorkommens von Neophyten, Ergasi- ophygophyten etc. werden dargestellt und der Beitrag der urban-industriellen Flächen für die Bio- bzw. Kormophytendiversität im Siedlungsbereich beleuchtet.

Mannheim, Adventivfloristik, urban-industrielle Habitate, Sekundärstandorte, Bahn- und Hafenanla- gen.

Summary 370 taxa of ferns and flowering plants have been found within a study on the flora of harbours and railway stations in Mannheim (Baden-Württemberg), including many rare and endangered species like Ornithogalum brevistylum and Fumana procumbens. This shows the great importance of such man- made sites as secondary habitats for plant conservation. Differences between the flora of harbour and railway habitats according to the appearence of neophytes, ergasiophygophytes etc. are discussed and the contribution of such sites as hotspots for biodiversity in urban environments is pointed out.

1. Einleitung seit dessen Errichtung 1870/1871 Gegenstand von Untersuchungen (Lutz, 1885), wobei diese Das rund 307.000 Einwohner zählende Ober- Arbeit eine der frühesten Publikationen zur zentrum Mannheim liegt inmitten der Europäi- Adventivfloristik in Deutschland darstellt. Die schen Metropolregion Rhein-, ein 2,35 Kenntnisse zu Vorkommen und Verbreitung Millionen Menschen umfassendes Ballungsge- gebietsfremder Pflanzen in Mannheim wurden biet. Bis Ende des 19. Jahrhunderts war die in der Folge vor allem von Zimmermann Stadt am Zusammenfluss von Neckar und (1906/1907, 1907) und Lutz (1910), später Rhein Endpunkt der Rheinschifffahrt und damit auch von Heine (1952) in umfassenden Arbei- wichtigster Umschlag- und Lagerplatz in Rich- ten dargestellt. Seitdem wurden zahlreiche tung Süden. Aber auch nach der „Rektifikation“ floristische Erstnachweise für Baden- des Rheins nahm die Bedeutung Mannheims Württemberg (z. B. Chenopodium pumilio im stetig zu. Heute ist die Stadt größter Eisen- Rheinauhafen 1976 durch Schölch, in Seybold, bahnknotenpunkt in Südwestdeutschland und 1993, S. 483) oder andere bemerkenswerte verfügt zugleich über einen der wichtigsten Pflanzenvorkommen (z. B. Orchis militaris in Binnenhäfen Europas. einer trockenen beim Käfertaler Bahn- Die starke Konzentration von Verkehrsanlagen hof von Buttler U. Stieglitz, 1976) von den weckte sehr früh das Interesse von Botanikern Bahn- und Hafenanlagen Mannheims gemel- an gebietsfremden Pflanzenarten, die mit den det. Die vorliegenden Ergebnisse der seit 2004 Handelsgütern unabsichtlich eingeschleppt durchgeführten eigenen Untersuchungen sol- werden und aufgrund der Klimagunst des O- len hierbei die bislang bestehenden Kenntnis- berrheingebiets sowie geeigneter mikroklimati- se zur Floristik urban-industrieller Standorte im scher Bedingungen auf Böschungen, Gleisan- Raum Mannheim (z. B. Junghans 2001a, b, lagen und anderen, von Natur aus seltenen 2002, 2003b, 2005a, b, 2006; Junghans U. Sonderstandorten, im Bereich der Industriean- Fischer, 2005; Neff, 1998; Nowack, 1987; Phi- lagen zahlreiche Wuchsorte fanden. Unter den lippi, 1971a, b; Radkowitsch, 2003) erweitern Hafenanlagen ist vor allem der Mühlauhafen und vertiefen. Thomas Junghans

2. Untersuchungsflächen und Methodik wurden bis zum Eingang in den Ölhafen kar- tiert und aufgrund der Lage und räumlichen Im Rahmen der floristischen Bestandsaufnah- Nähe zum Altrheinhafen diesem zugerechnet. me der Bahn- und Hafenflora im Raum Mann- heim wurden 2004 zunächst die beiden Haupt- Die floristische Ähnlichkeit der Sippenbestände bahnhöfe von Mannheim und Heidelberg un- der einzelnen Untersuchungsflächen wurde mit tersucht (Junghans, 2007). Die Untersuchun- dem Gemeinschaftskoeffizienten nach Ellen- gen werden seitdem fortgeführt – die Daten berg 1956 (Gp = c/a + b + c x 100) paarweise entsprechend ergänzt – und seit 2005 auch auf berechnet, wobei a die Summe der nur in Ge- weitere Bahnflächen in Mannheim ausgedehnt biet A vorkommenden Sippen, b die nur in B (Bahnhof Käfertal, Bahnhof Rheinau, Güter- vorkommenden und c die Summe der in bei- bahnhof, Sammelbahnhof und Rangierbahn- den Gebieten vorkommenden Sippen bezeich- hof). Untersucht werden bahntypische Struktu- net. Eine Vergleichbarkeit der sehr heteroge- ren, dies sind am Hauptbahnhof und den klei- nen Flächen (z. B. hinsichtlich Größe, Struktur, neren Personenbahnhöfen (Käfertal und Rhei- Nutzungsgrad etc.) ist nur bedingt gegeben. nau) die Bahnsteige, der gesamte Gleiskörper, Die festgestellten Arten und die daraus errech- die Gleisrandbereiche, die Gleiszwischenbe- neten Werte können somit nur unter Vorbehalt reiche unmittelbar vor den Bahnsteigenden, diskutiert werden, grundlegende Tendenzen im die Abstell- und Verladegleise, die Rangierbe- Hinblick auf den Isolationsgrad der Bahn- und reiche sowie die Zwischengleisbereiche, so- Hafenanlagen bzw. deren Rolle als Ausbrei- weit diese öffentlich zugänglich bzw. gut ein- tungszentren lassen sich aber nach Ansicht sehbar sind. Hier wurde nach Möglichkeit ver- des Verfassers dennoch ableiten. mieden, nicht unmittelbar bahntypische Flä- Die Nomenklatur folgt weitgehend Wisskirchen chen, z. B. Brachflächen mit unterschiedlichen und Haeupler (1998). Sukzessionsstadien auf angrenzenden Ge- werbeflächen oder Parkplätzen, mit einzube- 3. Flora der Bahn- und Hafenanlagen von ziehen, da das Untersuchungsziel darin be- Mannheim steht, die Flora der für Personenbahnhöfe typischen Flächen inklusive der durch Funktion 3.1 Flora der Bahnanlagen: Gesamtsippen- und Betriebsabläufe bedingten Störungen und bestand, Status, Rote-Liste-Sippen Einflussgrößen zu dokumentieren. Im Bereich Auf den untersuchten Bahnanlagen konnten von Güter-, Sammel- und Rangierbahnhof bislang insgesamt 253 Pflanzensippen nach- wurden auch die Bahnflächen begrenzenden gewiesen werden (Stand: August 2006), sechs Wegränder, Böschungen etc. mitkartiert. Hier- Sippen (2,4 %) stehen auf der Roten-Liste von für wurden jeweils sämtliche auf den Untersu- Baden-Württemberg (siehe Tab.1). Von den chungsflächen auftretende Blütenpflanzen insgesamt 18,2 % Neophyten kommen folgen- sowie deren Wuchsort erfasst. Da nur zwei de Sippen auf allen untersuchten Flächen vor: Farne (Asplenium ruta-muraria und Dryopteris Ailanthus altissima, Centaurea diffusa, Robinia filix-mas) an einigen wenigen Stellen in Mauer- pseudoacacia und Senecio inaequidens. Ge- ritzen von Speicher- und Mühlengebäuden im ranium purpureum ist in stetiger Ausbreitung Mühlauhafen vorkommen, wurden diese bei begriffen und kommt bereits auf fünf der sechs der Auswertung vernachlässigt. Zusätzlich untersuchten Bahnanlagen vor. Noch relativ wurde die Anzahl der Individuen gezählt bzw. selten sind Chenopodium pumilio (nur Hbf), geschätzt, wenn eine Zählung nicht möglich Claytonia perfoliata (Gleisrandbereiche bei war, z. B. bei großen Dominanzbeständen Rangierbhf) und Paulownia tomentosa (nur oder nicht gut zugänglichen Stellen. Aufgrund Hbf). 20 Sippen (7,9 %) sind als Archäophyten fehlender bzw. nicht zu bekommender Ge- einzustufen, so dass sich der Anteil der Adven- nehmigungen mussten sehr umfangreiche tiven auf insgesamt 25,7 % (65 Sippen) be- Gleisfelder, die vor allem im Bereich des Ran- läuft. Wie Abb. 1 zeigt, kommen nur 15 Sippen gierbahnhofs große Flächen einnehmen und (darunter 4 Neophyten) auf allen Bahnhöfen seltene und gefährdete Arten wie Jurinea cya- vor, 25 Sippen kommen auf fünf Bahnanlagen noides beherbergen (nach Breunig U. Demuth, 2000b), größtenteils unberücksichtigt bleiben. vor etc., während 91 Sippen nur auf je einem Bahnhof vorkommen. Seit 2005 werden zusätzlich die vier großen Hafengebiete von Mannheim (Industriehafen, Der Rangierbahnhof Friedrichsfeld ist mit 143 Sippen (davon 23 Neophyten und 3 Rote-Liste- Rheinauhafen, Handelshafen und Altrheinha- fen) intensiv floristisch untersucht, wobei der Sippen) die artenreichste Bahnanlage, gefolgt Durchforschungsgrad vor allem von der Zu- von Sammelbahnhof (132 Sippen, 24 Neophy- ten, 1 Rote-Liste-Sippe) und Hauptbahnhof gänglichkeit der betreffenden Flächen abhängt, weshalb der umzäunte Ölhafen nicht berück- (121 Sippen, 24 Neophyten, 3 Rote-Liste- sichtigt werden konnte. Dessen wasserseitig Sippen). Etwas artenärmer sind Güterbahnhof (113 Sippen, 17 Neophyten, 3 Rote-Liste- begehbare Ufer- und Böschungsabschnitte 88 Urban-industrielle Flächen als „Hotspots“ der Blütenpflanzen-Vielfalt

Sippen), Bahnhof Käfertal (69 Sippen, 13 Ne- vier Hafengebieten vorhanden, andere wie ophyten, 2 Rote-Liste-Sippen) und Bahnhof z. B. Bassia scoparia ssp. densiflora, Euphor- Rheinau (69 Sippen, 15 Neophyten). bia maculata und Coronopus didymus sind (noch) sehr selten. Dittrichia graveolens zeigt Tab. 1: Rote-Liste-Sippen der Bahn- (B) und Hafengebiete in den letzten Jahren eine deutliche Zunahme, (H). Kategorien (Gefährdet (G3) und höher) nach Breunig ebenso wie die hochallergene Ambrosia arte- U. Demuth (2000a) / Sebald et. al. (1990-1998). S: Status misiifolia. Knapp 7 % der gefundenen Sippen (Indigen, Archäophyt, Neophyt) nach Buttler u. Harms (1998). stehen auf der Roten Liste von Baden- Württemberg (Kategorie gefährdet und höher; Sippe S RL H B siehe Tab. 1), betrachtet man sämtliche Ge- Anchusa arvensis I -/G3 X X fährdungskategorien, erhöht sich deren Anteil Anchusa officinalis A G3/G4 X auf 10,3 %! Unter diesen findet sich z. B. auch Aristolochia clematitis A V/G3 X Fumana procumbens, dessen Standorte in und Chenopodium botrys N -/G3 X um Mannheim als ausgestorben galten. Die Chondrilla juncea A G3/G2 X Verteilung der gefundenen Blütenpflanzensip- Corynephorus canes- I -/G3 X X pen auf Häufigkeitsklassen ergibt folgendes cens Bild (siehe Abb. 2): Nur 49 Sippen (darunter 14 Descourainia sophia I G3/G5 X Eryngium campestre I G3/- X X Neophyten und 2 RL-Sippen) kommen in allen Falcaria vulgaris A -/G3 X vier Hafengebieten vor, dies sind häufige und Fumana procumbens I G2/G2 X weitverbreitete Arten wie Achillea millefolium, Inula britannica N G3/G3 X Artemisia vulgare, Echium vulgare, Lactuca Leonurus cardiaca ssp. A G2/- X serriola, Securigera varia etc. Rund 40 % der cardiaca Sippen (darunter 35 Neophyten und 12 Rote Medicago minima A V/G3 X X Liste-Sippen) kommen nur in jeweils einem Muscari comosum I G3 X Hafengebiet vor. Muscari neglectum I G3 X Myosotis stricta I G3 X Nepeta cataria A -/G2 X X Onopordum acanthium A G3/G3 X 60 Ornithogalum brevi- N -/G1 X 50 stylum Parietaria judaica A -/G3 X X 40 Pulicaria vulgaris I G2/G1 X 30 Tragus racemosus N V/G2 X 20 10

0 60 1234 50 Sippen gesamt Neophyten 40 Rote Liste 30 20 10 Abb. 2: Häufigkeitsklassen der Pflanzensippen der Hafen- 0 gebiete (Häufigkeitsklasse 1: Anzahl der Sippen in %, die 123456 jeweils nur in einem Hafengebiet gefunden wurden, usw). Sippen gesamt Neophyten Rote Liste 3.3 Bemerkenswerte Pflanzensippen der Bahn- und Hafenanlagen

Abb. 1: Häufigkeitsklassen der Pflanzensippen der Bahn- Bei den im Folgenden aufgeführten Pflanzen- anlagen (Häufigkeitsklasse 1: Anzahl der Sippen in %, die sippen handelt es sich um eine kleine Auswahl jeweils nur in einem Bahnhofsgebiet gefunden wurden, von Neu(*)- bzw. Wiederfunden(#) (unter usw). Zugrundelegung der Daten aus Sebald et al.,

1990-1998 und Fritzsch et al., 2005) bzw. um 3.2 Flora der Hafenanlagen: Gesamtsip- seltene und bemerkenswerte Arten im Raum penbestand, Status, Rote-Liste-Sippen Mannheim. Sie sollen an dieser Stelle mit eini- Die Hafenflora von Mannheim umfasst bislang gen Anmerkungen kurz dargestellt werden, auf (Stand: August 2006) 321 Sippen von Farn- den Wiederfund von Ornithogalum brevistylum und Blütenpflanzen. Von den 98 (30,5 %) Ad- im Industriehafen (Junghans, 2006) sei hier ventivsippen sind 70 (21,8 %) Neophyten. nur kurz hingewiesen. Gebietsfremde Sippen wie Eragrostis minor, Acer saccharinum (*): Es finden sich einige Senecio inaequidens und Chenopodium pumi- offensichtlich hydrochor ausgebreitete (keine lio sind dabei sehr weit verbreitet und in allen Anpflanzungen in der Nähe), bis ca. 3 m hohe

89 Thomas Junghans

Individuen des Silber-Ahorns in den Bö- von Autobahnen beobachtet (Nowack, 1993; schungen von Industriehafen, Mühlauhafen Seybold, 1994). In jüngerer Zeit erfolgt offen- und Altrheinhafen (MTB 6416/4, 6516/2). sichtlich eine weitere Arealausdehnung durch Ähnliche Verwilderungen (z. B. entlang des den Fernverkehr in Richtung Innenstadt. So Neckarkanals in Mannheim-Pfeifferswörth) ist die Art im Jahr 2005 auf einer mittlerweile finden sich in Mannheim auch an anderen beseitigten Brachfläche in der Hafenstraße im Stellen, bislang konnte die Sippe aber noch Stadtteil Jungbusch aufgetreten, seit 2006 nicht fruchtend angetroffen werden. Eine zu- finden sich zahlreiche Individuen ca. 1 km künftige Einbürgerung ist aufgrund der Viel- Luftlinie von diesem Standort unter der ICE- zahl der subspontanen Vorkommen wahr- Trasse (siehe Chenopodium botrys). scheinlich. Eruca sativa (* MTB 6416/4): Zwei Populatio- Aristolochia clematitis (#): Entlang des Alt- nen (eine sehr kleine auf dem Gelände des rheinarms im Bereich der Friesenheimer Insel Sammelbahnhofs und eine größere, ca. 30 - sowie im Altrheinhafen (MTB 6416/4) findet 40 Individuen umfassende in der Böschung sich die im Rückgang befindliche Osterluzei des Industriehafens direkt unterhalb der Hil- an einigen Stellen, wo sie in der Steinbö- debrandsmühlen) seit einigen Jahren bestän- schung z. T. ausgesprochen große Teppiche dig. Durch die räumliche Nähe (Luftlinie ca. bildet. Offensichtlich in den letzten Jahren in 1,5 km) und die Verbindung über Industrie- langsamer Ausbreitung begriffen. bahngleise scheint ein Zusammenhang der Astragalus glyciphyllos (*): In der Böschung Vorkommen durchaus möglich, wobei die des Mühlauhafens einige wenige Individuen in Diasporen vermutlich mit Getreidesaatgut im der Steinböschung unterhalb der Studenten- Industriehafen eingeschleppt wurden und die wohnheime. Neu für das MTB 6516 (6516/2). weitere Ausbreitung dann in Richtung Sam- melbahnhof verlief. Chenopodium botrys (#): Der Klebrige Gänse- fuß ist mindestens seit den 1950er Jahren im Euphorbia maculata (MTB 6517/3): Die bis- Mannheimer Rheinauhafen eingebürgert und lang überwiegend auf Friedhöfen und in Gar- bildet dort eine eigene Pflanzengesellschaft tenanlagen subspontan auftretende Sippe (Philippi, 1971b). Neu- bzw. Wiederfunde besiedelt im Mannheimer Rheinauhafen an wurden in den letzten rund 30 Jahren nicht sehr wenigen Stellen bei der Wasserschutz- mehr gemeldet. Die Art kommt sehr zahlreich polizei Gleisschotter und sandig-grusige Weg- unterhalb der ICE-Trasse im Mühlauhafen vor ränder neben den Gleisen. (MTB 6416/4, 6516/2), wo sie zusammen mit Fallopia baldschuanica (* MTB 6516/2): Ver- Chenopodium pumilio und Dittrichia graveo- wildert (noch) selten und findet sich mit eini- lens die Pioniervegetation einer jungen In- gen Individuen auf dem Güterbahnhof im dustriebrache auf Rohboden bildet. Mögli- Gleisbereich. Wahrscheinlich aus benachbar- cherweise in langsamer Ausbreitung begrif- ten Gärten verschleppt. fen. Fumana procumbens (* MTB 6517/3): Das Chondrilla juncea (*): Der Knorpellattich ist Vorkommen von Fumana procumbens im seit einigen Jahren in Ausbreitung begriffen Rheinauhafen kann als kleine floristische und kommt nicht nur in den Böschungen des Sensation bezeichnet werden, da aktuell nur Rheinauhafens in z. T. sehr großer Zahl vor, ein Nachweis im nördlichen Oberrheingebiet sondern auch auf sandigen Ruderalflächen vorliegt (6617/4 Dünen bei Sandhausen). des Altrheinhafens sowie auf Verkehrsinseln Allerdings handelt es sich um ein einzelnes und entlang von Straßenrändern (Hafenbahn- Individuum, so dass befürchtet werden muss, straße, Kreuzung Herzogenriedstr./Zum Her- dass die Sippe hier vor dem Erlöschen steht. renried, Rudolf-Diesel-Str.; MTB 6416/4). Der Standort ist eine sandige Ruderalstelle Colutea arborescens (# MTB 6416/4, * MTB unter einer Brücke. 6516/2, * MTB 6517/3): Verwildert zuneh- Geranium purpureum (* MTB 6416/4, * MTB mend häufiger im Raum Mannheim; so finden 6417/3): Die Sippe breitet sich auch im Be- sich z. B. in den Zwischengleisbereichen am reich des Mannheimer Schienennetzes explo- Hauptbahnhof einige blühende und fruchten- sionsartig aus (Hügin et al., 1995, nennen de Individuen. Offensichtlich ist diese Zier- einen Fund bei MTB 6517/3) und ist bereits pflanze in langsamer Ausbreitung begriffen. auf fünf der sechs untersuchten Bahnanlagen Dittrichia graveolens (* MTB 6416/4, * MTB vorhanden. Besonders eindrucksvoll sind die 6516/2): Seit dem Fund der Art von Philippi großen linienartigen Massenvorkommen auf (1971a) im Rheinauhafen wurde die Pflanze dem Bahnhof Käfertal. im Raum Mannheim ausschließlich entlang

90 Urban-industrielle Flächen als „Hotspots“ der Blütenpflanzen-Vielfalt

Verbena bracteata (MTB 6517/3): Die noch sehr seltene Sippe kommt am Rande einer

Industriebrache im Rheinauhafen (Rotterdamer Str.) auf grusig-sandigem Boden vor (zusam- men mit Oenothera biennis und Conyza cana-

densis). Der von Sonnberger (2004) angege- bene Fundort auf der Friesenheimer Insel ist mittlerweile durch Überwachsung mit Artemisia absinthium erloschen. Weitere Verwilderungen in den nächsten Jahren vorausgesetzt, könnte sich die Sippe durchaus einbürgern.

4. Sind Bahn- und Hafengebiete Habitati- solate oder Ausbreitungszentren?

Bei einem Vergleich der Flora der Bahn- und

Hafenanlagen von Mannheim ergeben sich charakteristische Unterschiede, die an dieser Abb. 3: Auf den mehr oder weniger ruderal geprägten Stelle etwas näher beleuchtet und interpretiert Silbergrasfluren des Rheinauer Hafens kommen viele in werden sollen. Mannheim seltene Arten wie z. B. Jasione montana vor. Die Hafengebiete zeichnen sich insgesamt Ipheion uniflorum (* MTB 6416/4): Die aus durch eine größere floristische Ähnlichkeit aus Südamerika stammende Alliaceae kommt mit (zu methodischen Problemen siehe Kap. 2), einigen wenigen Individuen im Gleisschotter sie reicht von 31 % (Altrheinhafen/ Rheinauha- der Industriebahngleise im Industriehafen vor, fen) bis maximal 47,5 % (Mühlauhafen/ Rhei- wohin sie vermutlich mit Gartenabfällen ge- nauhafen). Im Durchschnitt der vier Hafenge- langt ist. biete ergibt sich eine floristische Ähnlichkeit von 38,8%. Die Bahnanlagen liegen mit 34 % Morus alba (* MTB 6416/4): Verwilderungen etwas darunter, wobei die Werte zwischen des Weißen Maulbeerbaums werden für 26,9 % (Bahnhof Rheinau/ Rangierbahnhof) Mannheim z. B. schon von Breunig U. Demuth und 43,3 % (Güterbahnhof/ Sammelbahnhof) (2000b) angegeben, haben aber noch nicht variieren. Eingang in die Florenwerke gefunden. Die Individuen in der Böschung des Industrieha- Dies spiegelt wohl die Tatsache wider, dass fens sind z. T. 3,5 bis 4 m hoch und fruchten die verschiedenen Hafenanlagen struktur- und reichlich, so dass eine zukünftige Einbürge- nutzungsbedingt deutlich gleichartiger sind als rung wahrscheinlich ist. die Bahnanlagen, wo die Nutzung (Personen- bahnhof, Güterbahnhof, Rangierbahnhof) grö- Muscari comosum (# MTB 6416/4, * MTB ßere strukturelle Unterschiede bedingt. Die 6516/2): Die Schopfige Traubenhyazinthe be- größere Homogenität der Hafenflächen hat siedelt die Böschungen von Industrie- und wohl auch zur Folge, dass deutlich mehr Sip- Mühlauhafen in z. T. größeren Beständen (sie- pen, nämlich insgesamt 49 Sippen (15,2 %), in he Abb. 4). allen untersuchten Hafengebieten vorkommen, während die hochsteten Sippen der Bahnanla- gen nur 5,9 % der Bahnflora ausmachen. Entsprechend der deutlich größeren Flächen- anteile der Hafenanlagen (Vorhalte- und La- gerflächen, Umschlagplätze, Verladeeinrich- tungen, Böschungen, Brachflächen unter- schiedlichster Sukzessionsstadien etc.) liegt die Hafenflora bezüglich der Artenzahl mit 321 Sippen deutlich über der Bahnflora mit 253 Sippen (mit ebenfalls deutlich größerem Anteil von Rote-Liste-Sippen). Funktionsbedingt (Vielzahl von Umschlag- und Lagerplätzen, Getreidemühlen etc.) treten in den Hafengebie- ten etwa 5 % mehr Adventivsippen auf als auf den untersuchten Bahnhöfen.

Abb. 4: Muscari comosum in der Böschung des Mühlauha- Bei der Betrachtung der Werte für die floristi- fens. sche Ähnlichkeit und der Entfernung der unter- suchten Flächen voneinander (siehe Abb. 5);

91 Thomas Junghans

wird ein weiterer grundlegender Unterschied entscheidende Rolle spielt. Im Gegensatz dazu zwischen Bahn- und Hafenanlagen deutlich: sind Hafengebiete eher als Habitatinseln anzu- Während die floristische Ähnlichkeit der Bahn- sehen, die aufgrund der Größe der Flächen anlagen mit zunehmender Entfernung abnimmt und ähnlicher Struktur eine größere floristische (Trendlinie (linear): y = - 0,296x + 35,701; R2 = Ähnlichkeit aufweisen. Die per Schiff einge- 0,042; durchschnittliche Entfernung zwischen schleppten Adventivsippen besiedeln hafenty- den Bahnanlagen: 5,9 km), ist dieser Zusam- pische Standorte, von denen aus kaum ein menhang bei den Hafengebieten nicht vorhan- Austausch mit benachbarten Flächen stattfin- den (Trendlinie (linear): y = 0,296x + 36,88; R2 det. Selbst die Vernetzung mittels Industrie- = 0,0326; durchschnittliche Entfernung zwi- bahngleisen trägt aufgrund der im Vergleich schen den Hafenanlagen: 6,4 km). Hier sind mit den „normalen“ Bahnanlagen außerordent- die Hafenflächen mit den größten Werten der lich geringen Frequenz und Geschwindigkeit floristischen Ähnlichkeit durchschnittlich 9,6 km der im Hafenbereich verkehrenden Züge of-

50 45 40 Hafengebiete: y = 0,296x + 36,88 35 30 25 Bahnanlagen: y = -0,296x + 35,701 20 15 10 Häf en Bahnanlagen 5 0 02468101214 Entfernung der Untersuchungsflächen in km

Abb. 5: Floristische Ähnlichkeit der Bahn- und Hafenanlagen von Mannheim in Abhängigkeit von der Entfernung der Flächen. voneinander entfernt. Die entsprechenden fensichtlich kaum zu einer nennenswerten Bahnanlagen sind durchschnittlich nur 2,9 km Ausbreitung von Sippen aus den Hafengebie- voneinander entfernt und verfügen außerdem ten bei. So entsteht, bedingt auch durch die über eine direkte Schienenverbindung sowie umgeschlagenen Güterhauptgruppen, Nut- über eine fernkraftverkehrstaugliche Anbin- zungsintensität etc., jeweils eine sehr eigene dung. Die Bahnflächen mit den geringsten Florula. Werten der floristischen Ähnlichkeit verfügen dagegen nicht über direkte Gleisverbindungen 5. Stadtnatur und Stadtplanung: Das Bei- und sind z. T. (Rangierbahnhof) auch nicht spiel „Uferpromenade am Verbindungs- direkt mittels Bundes- und Fernstraßen mitein- kanal“ ander verbunden. Dies verdeutlicht die Bedeu- Als Beispiel für die Einbeziehung einer ökolo- tung der Flächenvernetzung. gisch wertvollen urban-industriellen Fläche in Der Zusammenhang zwischen abnehmender städtebauliche Maßnahmen sei das Projekt floristischer Ähnlichkeit bei zunehmender Ent- „Uferpromenade am Verbindungskanal“ kurz fernung der Bahnanlagen spricht auch dafür, skizziert. Das rund 4,5 Mio € teure Projekt dass die Ausbreitung entlang des Schienen- umfasst die Umwandlung und Umnutzung netzes (ferroviatische Migration) bei Sippen einer etwa 15 Hektar großen, an der Schnitt- wie Geranium purpureum, Saxifraga tridactyli- stelle zwischen Hafen und Stadtzentrum gele- tes oder Buddleja davidii vor allem stetig ent- genen Industriebrache. Ziel ist die Schaffung lang der Strecke erfolgt und weniger sprung- von neuen Freiräumen wie Plätze, Promenade, haft von Bahnhof zu Bahnhof (siehe Abb. 4 in Spiel- und Aufenthaltsflächen und eine nach- Brandes, 2005). Insofern können Bahnhöfe haltige Verbesserung des Wohnumfeldes. bzw. Bahnanlagen ganz allgemein durchaus Nach einem Rückgang der hafenspezifischen als Ausbreitungszentren bezeichnet werden, Nutzungen eröffnen sich hier Perspektiven für wobei der Ausbreitungsvektor Eisenbahn die eine städtebauliche Neustrukturierung, wobei 92 Urban-industrielle Flächen als „Hotspots“ der Blütenpflanzen-Vielfalt

das Projekt von weiteren Maßnahmen zur brevistylum etc.) im Raum Mannheim bzw. in Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung, der gesamten nördlichen Oberrheinebene der Verbesserung der Infrastruktur etc. beglei- überwiegend, wenn nicht gar ausschließlich, tet wird. Inwieweit zukünftig auch die Entwick- auf Bahn- oder Hafenanlagen beschränkt sind. lung von spontanen Pflanzenvorkommen ge- Typisch für urban-industrielle Standorte ist das fördert, zumindest aber geduldet wird, bleibt Vorkommen verwilderter oder eingeschleppter abzuwarten. Erste Gehölzanpflanzungen ha- Zierpflanzen. So sind 21,9 % der auf den Flä- ben bereits ruderale Standorte ersetzt und die chen der Bahn- und Hafenanlagen von Mann- entlang des Hafenbeckens verlaufenden Glei- heim vorkommenden Pflanzenarten Ergasi- se, die als Habitate wie als Ausbreitungswege ophygophyten, von denen einige aufgrund der bedeutsam sind bzw. waren, wurden versie- erst neuerlich erfolgten Ausbreitung noch sel- gelt. Insgesamt ist das Nutzungskonzept wohl ten sind und nur mit jeweils wenigen Individuen eher als extensiv einzuschätzen, was aber vor vertreten sind, wie z. B. Ipheion uniflorum, allem an der Unzugänglichkeit der entspre- Sedum spurium, Bergenia spec., Viburnum chenden Flächen (Steinböschung des Hafen- rhytidophyllum etc. beckens, direkte Uferbereiche etc.) liegt als an einer sinnvollen Einbindung ökologischer Literatur Sachverhalte in die Projektplanung. Brandes, D (1983). Flora und Vegetation der 6. Ausblick Bahnhöfe Mitteleuropas. Phytocoenologia 11. S. 31-115. Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts wa- Brandes, D (1993). Eisenbahnanlagen als ren die Hafenanlagen Mannheims Gegenstand Untersuchungsgegenstand der Geobota- floristischer Untersuchungen, wobei zunächst nik. Tuexenia 13. S. 415-444. deren Bedeutung als Standorte für gebiets- Brandes, D. (2005). Zur Kormophytendiversität fremde Arten herausgestellt wurde. Wie die innerstädtischer Eisenbahnanlagen. Tue- Vielzahl der Pflanzensippen – darunter zahlrei- xenia 25. S. 269-284. che seltene und gefährdete Arten – verdeut- Breunig, Th. & Demuth, S. (2000a). Rote Liste licht, haben derartige urban-industrielle Flä- der Farn- und Samenpflanzen Baden- chen überdies eine überragende ökologische Württembergs. 2. Aufl.. Karlsruhe. 161 S.. Bedeutung als Makrohabitate im Siedlungsbe- Breunig, Th. & Demuth, S. (2000b). Naturführer reich (z. B. Brandes, 1983, 1993, 2005; Jung- Mannheim - Entdeckungen im Quadrat. 1. hans, 2006, 2007; Wittig, 2002). Zusammen Aufl.. Verlag Regionalkultur. Ubstadt- mit angrenzenden Flächen wie Industrie- und Weiher. 132 S.. Gewerbebrachen, Parkplätzen, Straßenrän- Buttler, K. P. & Stieglitz, W. (1976). Floristische dern, Böschungen, städtischen Grünanlagen Untersuchungen im Messtischblatt 6417 etc. bildet sich aufgrund der standörtlichen (Mannheim-Nordost). Beitr. naturk. Forsch. Vielfalt ein Mosaik zahlreicher und ausgespro- Südw.-Dtl. 35. S. 9-51. chen vielfältiger Lebensräume, die als Sekun- Buttler, K. P. & Harms, K. H. (1998). Florenliste därstandorte und Refugialräume dienen kön- von Baden-Württemberg. 1. Aufl.. Karlsru- nen. Der Wert von Sekundärstandorten zeigt he. 486 S.. sich dabei vor allem dort, wo benachbarte Ellenberg, H. (1956). Aufgaben und Methoden naturnahe Habitate einer sehr intensiven Nut- der Vegetationskunde. Ulmer. Stuttgart. zung unterliegen (mit entsprechenden Beein- 156 S.. trächtigungen bzw. Zerstörungen), wie dies in Fritzsch, K., Wörz, A., Engelhardt, M., Hölzer, den nordbadischen Sandgebieten (z. B. Jung- A., Thiv, M. (2005). Aktuelle Verbreitungs- hans, 2004) oder den Auenwaldresten an karten der Farn- und Blütenpflanzen Ba- Rhein und Altrhein (Junghans, 2003a, 2005c) den-Württembergs (FaBlüBaWü). an vielen Stellen der Fall ist. http://www.naturkundemuseum- Insgesamt kommen auf den Bahn- und Hafen- bw.de/stuttgart/projekte/flora. anlagen 370 Kormophytensippen vor (204 Heine, H. (1952). Beiträge zur Kenntnis der gemeinsame Sippen, 49 nur auf Bahn-, 117 Ruderal- und Adventivflora von Mannheim, nur auf Hafengelände), etwa ein Viertel der Ludwigshafen und Umgebung. Jahresber. Flora von Mannheim! Auch wenn die Gefähr- Ver. Naturk. Mannheim 117/118. S. 85- dung derartiger Standorte im Gegensatz zu 132. noch relativ naturnahen Habitaten anlage-, Hügin, G., Mazomeit, J., Wolff, P. (1995). Ge- struktur- und lagebedingt eher gering ist, soll- ranium purpureum - ein weit verbreiteter ten diese bei der Erstellung von Arten- und Neophyt auf Eisenbahnschotter in Süd- Biotopschutzprogrammen berücksichtigt wer- westdeutschland. Flor. Rundbr. 29 (1). den, da die Vorkommen einiger sehr stark S. 37-41. gefährdeten Pflanzensippen (z. B. Pulicaria Junghans, Th. (2001a). Mauerfugen als Le- vulgaris, Fumana procumbens, Ornithogalum bensraum für Farn- und Blütenpflanzen - 93 Thomas Junghans

Grundlagen zum Schutz der Mauervegeta- Nowack, R. (1987). Verwilderungen des Blau- tion im Raum Mannheim-Heidelberg. glockenbaums (Paulownia tomentosa 131 S.; Diplomarbeit (unveröffentlicht). U- (Thunb./Steud.) im Rhein-Neckar-Gebiet. niversität Koblenz-Landau. Flor. Rundbr. 21(1). S. 25-32. Junghans, Th. (2001b). Die Mauer lebt! - Na- Nowack, R. (1993) Massenvorkommen von turschutz in der Stadt. Umwelt Direkt 13 Dittrichia graveolens (L.) Greut. (Klebriger (4). S. 58-59. Alant) an Autobahnen in Süddeutschland. Junghans, Th. (2002). Mauern als „Modell- Flor. Rundbr. 27(1). S. 38-40. Ökosysteme“ zur Vermittlung von Um- Philippi, G. (1971a) Beiträge zur Flora der weltwissen. Biologen heute (Rundbrief d. nordbadischen Rheinebene und der an- Bayr. Landesverb.) 18 (1) Nr. 36. S. 57-66. grenzenden Gebiete. Beitr. naturk. Forsch. Junghans, Th. (2003a). Landschaftswandel Südw.-Dtl. 30 (1). S. 9-47. und Naturschutz am Beispiel von Mann- Philippi, G. (1971b). Zur Kenntnis einiger Ru- heim-Neckarau. Badische Heimat 83 (3). deralgesellschaften der nordbadischen S. 516-520. Flugsandgebiete um Mannheim und Junghans, Th. (2003b). Mannheimer Mauern Schwetzingen. Beitr. naturk. Forsch. als Lebensräume für Pflanzen. Badische Südw.-Dtl. 30 (2). S. 113-131. Heimat 83(3). S. 521-526. Radkowitsch, A. (2003). Chenopodium urbi- Junghans, Th. (2004). Vom Winde verweht - cum L. - Ein Wiederfund in der Nördlichen Binnendünen und Flugsandgebiete im Oberrhein-Niederung bei Mannheim. Ber. nördlichen Oberrheingebiet. Badische Bot. Arbeitsgem. Südwestdeutschland 2. Heimat 84 (3). S. 428-435. S. 87-91. Junghans, Th. (2005a). Zur Kormophytendi- Sebald, O., Seybold, S., Philippi, G., Wörz, A. versität der Mauern im Raum Mannheim- (1990-1998). Die Farn- und Blütenpflanzen Heidelberg (Baden-Württemberg). Baden-Württembergs. Ulmer. Stuttgart. http://www.ruderal- Seybold, S. (1993). Chenopodium. In: Sebald, vegetation.de/epub/kormophytendiv.pdf O., Seybold, S., Philippi, G.(Hrsg) (1993). Junghans, Th. (2005b). Die häufigsten Pflan- Die Farn- und Blütenpflanzen Baden- zenarten der Hauptbahnhöfe von Mann- Württembergs. 2. Aufl.. Ulmer. Stuttgart. heim und Heidelberg (Baden- S. 481-499. Württemberg). Seybold, S. (1994). Die aktuelle Verbreitung http://www.ruderalvegetation.de/epub/ des Klebrigen Alants (Dittrichia graveo- bahnhof_mannheim.pdf lens) in Baden-Württemberg. Flor. Rundbr. Junghans, Th. (2005c). Cucubalus baccifer L. 28 (1). S. 25-28. in der Nördlichen Oberrhein-Niederung: Sonnberger, M. (2004). Neue Fundorte - Bes- Ein bemerkenswerter Neufund in Mann- tätigungen - Verluste Nr. 342-371. Ber. heim. Flor. Rundbr. 39. S. 51-56. Bot. Arbeitsgem. Südwestdeutschland 3. Junghans, Th. (2006). Wiederfund von Orni- S. 80-86. thogalum brevistylum in Mannheim. Flor. Wisskirchen, R. & Haeupler, H. (1998). Stan- Rundbr. 40 (im Druck). dardliste der Farn- und Blütenpflanzen Junghans, Th. (2007). Der Hauptbahnhof von Deutschlands. Ulmer. Stuttgart, 765 S. Heidelberg als Lebensraum für Pflanzen - Wittig, R. (2002). Farne auf hessischen Bahn- Zur Bedeutung von Bahnanlagen für den höfen. Flor. Rundbr. 36 (1-2). S. 45-50. Naturschutz in der Stadt. Unser Land. Zimmermann, F. (1906/1907): Flora von Mann- S. 237-240. heim und Umgebung. Mitt. Bad. Bot. Ver. Junghans, Th. & Fischer, E. (2005). Sekundär- 212-214: 85-104, 215 & 216: 109-124, standorte für Kormophyten im Siedlungs- 125-137, 219-221: 141-158. bereich am Beispiel der Mauern im Raum Zimmermann, F. (1907). Die Adventiv- und Mannheim-Heidelberg (Baden-Württem- Ruderalflora von Mannheim, Ludwigshafen berg). Conturec 1. S. 35-52. und der Pfalz nebst den selteneren ein- Lutz, F. (1885). Die Mühlau bei Mannheim als heimischen Blütenpflanzen und den Ge- Standort seltener Pflanzen. Mitt. Bot. Ver. fäßkryptogamen. 1. Aufl.. (H. Haas). Kreis Freiburg 19. S. 164-168. Mannheim. 171 S. Lutz, F. (1910). Zur Mannheimer Adventivflora seit ihrem ersten Auftreten bis jetzt. Mitt. Anschrift Bad. Landesver. Naturk. 247/248. S. 365- 376. Thomas Junghans Neff, C. (1998). Neophyten in Mannheim - Rotdornweg 47 Beobachtungen zu vegetationsdynami- D-33178 Borchen-Alfen schen Prozessen in einer Stadtlandschaft. E-Mail: [email protected] Mannheimer Geographische Arbeiten 46. S. 65-110. 94 CONTUREC 2 (2007) Seite 95 bis 106

Frankfurter Nachtleben – ein Projekt zum Schutz von Fledermäusen in der Stadt

Frankfurt`s nightlife – a project for bat protection in the town

MARKUS DIETZ & CHRISTA MEHL-ROUSCHAL

Zusammenfassung Die Stadt Frankfurt am Main zeichnet sich neben der dichten Bebauung durch große und historisch gewachsene Parkanlagen und Waldreste mit altem Baumbestand aus. Um die Stadt als Lebensraum für gefährdete Tierarten zu untersuchen, hat das Umweltamt der Stadt Frankfurt am Main in 2004 ein Projekt initiiert, um Fledermäuse im Stadtgebiet systematisch zu erfassen. Die Ergebnisse des For- schungs- und Bildungsprojektes sollen dazu dienen, die Belange dieser nach der europäischen Fau- na-Flora-Habitat-(FFH-)Richtlinie streng geschützten Säugetiergruppe bei zukünftigen Planungen besser berücksichtigen zu können. Gleichzeitig wird mit dem erarbeiteten Wissen ein Naturbildungs- angebot aufgebaut, um die Stadterlebniswelt von Kindern und Jugendlichen, aber auch erwachsenen Bewohnern und Besuchern der Stadt durch das Naturerlebnis Fledermäuse („bat watching“) zu berei- chern. Umgekehrt erhöhen Exkursionen, Schulprojekte und besondere Themenabende, wie z. B. eine “live“-Übertragung der „Fledermaushochzeit“ aus Baumhöhlen alter Parkanlagen, die Akzeptanz ge- genüber Fledermäusen. In den ersten beiden Projektjahren bis Ende 2006 konnten 14 Fledermausar- ten (19 gibt es in Hessen) sowie wichtige Quartiere und Nahrungsräume für das Stadtgebiet Frankfurt identifiziert werden. Die Ergebnisse zeigen beispielhaft, dass auch Großstädte einen wesentlichen Anteil zur Erhaltung der biologischen Vielfalt beitragen können. Gleichzeitig wurde deutlich, dass durch die erlebnisreiche Vermittlung naturkundlichen Wissens die Motivation zur Beschäftigung mit Stadt-Natur bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen gefördert wird.

Fledermäuse, Naturbildung, FFH-Richtlinie, Artenvielfalt, Großer Abendsegler, Frankfurt am Main.

Summary Besides the city we found in Frankfurt/Main big historically park’s and forest remainders with old trees. The communal environmental department of the town initiated a program to investigate the urban area as a habitat for endangered animal species. This program, called “Frankfurt’s nightlife” was launched for recording bats in the urban area systematically. The results of that research and education project will be used to consider the interests of these mammals which are protected by the Habitats Directive (92/43/EEC) in future plannings. With the ac- quired knowledge there can be offered a nature education program for kids and teenagers as well as for adult citizens and visitors of the city. These programs enrich the nature experiences (“bat watch- ing”). The acceptance of bats can be increased in the public with bat walks, projects in schools and special events, e.g. live-show out of a tree roost in an old park (“bat wedding”). Within the first two years of the project until the end of 2006 there were found 14 bat species out of 19 existing species in , and a number of important roosts in old trees and foraging habitats in the urban area of Frankfurt/Main. These results show that even large cities can contribute an important amount for the conservation of biological diversity. At the same time it became clear that the imparting of science in a way that is rich of experience leads to a good motivation for being engaged in urban nature in kids, young and old persons.

1. Hintergrund und Ziele Hoppe, in diesem Band). Prägend für die In- nenstadt ist der Verlauf des Mains. Die Stadt Frankfurt am Main zeichnet sich neben der dichten Bebauung durch große und Auf den unbebauten Flächen des Stadtgebie- historisch gewachsene Parkanlagen und Wald- tes lastet ein permanenter Druck durch die reste mit altem Baumbestand aus. Umfasst anhaltende Entwicklung der Siedlungs- und wird die Stadt von einem der größten und äl- Verkehrsinfrastruktur; gleichzeitig sind viele testen Stadtwälder Deutschlands, der mit rund dieser Flächen unverzichtbare Räume für die 5.000 ha auch den wesentlichen Anteil des so erholungssuchenden Menschen wie auch für genannten Frankfurter GrünGürtels bildet (vgl. die Artenvielfalt in der Stadt. Letzteres wieder- Markus Dietz & Christa Mehl-Rouschal

um ist nicht nur für sich alleine ein Schutz- das Projekt „Frankfurter Nachtleben“) für grund, sondern auch ein wichtiger Teil der die Frankfurter Bevölkerung mit dem Ziel, Erholungsfunktion. die Stadterlebniswelt insbesondere von Kindern und Jugendlichen, aber auch von Um das Spannungsfeld Stadtentwicklung – erwachsenen Bewohnern und Besuchern Erholung – Schutz der Artenvielfalt sachkundig der Stadt durch das Naturerlebnis Fleder- bearbeiten zu können, ist ein detaillierter mäuse („bat watching“) zu bereichern. Kenntnisstand über die Verbreitung und Le- Umgekehrt soll die Akzeptanz gegenüber bensweise von Tier- und Pflanzenarten not- Fledermäusen als wesentliche Säule des wendig. Das Umweltamt der Stadt Frankfurt Fledermausschutzes gestärkt werden. hat aus diesem Grunde in 2004 ein Projekt initiiert, um die nach Europa-, Bundes- und Landesrecht streng geschützte Artengruppe1 2. Vorgehensweise der Fledermäuse im Stadtgebiet systematisch Fledermäuse sind nachtaktiv und aufgrund zu untersuchen. ihrer Flugfähigkeit hochmobil. Sie zu untersu- Fledermäuse stellen europaweit etwa ein Vier- chen erfordert spezielle Methoden und je nach tel aller Säugetierarten und sind nach den Untersuchungsgebiet und Fragestellung ein Nagetieren die artenreichste Säugetiergruppe entsprechendes Untersuchungsdesign. Die überhaupt. Im Gegensatz zu diesen weisen sie verlässliche Erhebung von Fledermausdaten jedoch eine vollkommen andere Lebenszyk- ist zeitintensiv, so dass wir im Rahmen des lusstrategie auf. Sie sind trotz ihrer geringen Projektes „Frankfurter Nachtleben“ in den Jah- Größe vergleichsweise langlebig und haben ren 2005 und 2006 zunächst exemplarisch in mit 1 - 2 Jungtieren pro Jahr eine geringe Re- 15 ausgewählten und repräsentativen Unter- produktionsrate. Bei den durchweg insektivo- suchungsgebieten tätig wurden und gleichzei- ren europäischen Fledermausarten korreliert tig über die Datenrecherche und Öffentlich- die energieintensive Reproduktionsphase mit keitsarbeit versuchten, die gesamte Fläche des den warmen und nahrungsreichen Monaten Stadtgebietes zu berücksichtigen. Bei den des Sommers. Der Winter wird im Winterschlaf ausgewählten Teiluntersuchungsgebieten er- überdauert, wofür je nach Art unterschiedlich folgte eine Kategorisierung in Wald, Parkanla- weite saisonale Wanderungen vollzogen und gen, strukturiertes Offenland und Innenstadt. meist spezielle Winterquartiere bezogen wer- Je nach Kategorie des Untersuchungsgebietes den. Da sie als Prädatoren Endglieder der setzten wir eine unterschiedliche Methoden- Nahrungskette sind, wirken sich Veränderun- kombination ein, um Hinweise auf Fledermäu- gen in der Landschaft kumulativ auf Fleder- se und ihre Teillebensräume zu bekommen: mäuse aus, was in den 1960er und 1970er Jahren zu dramatischen Bestandeseinbrüchen – Die akustische Erfassung von Fleder- geführt hat. Großflächige Landschaftsverände- mausarten, bei der die Ultraschallrufe mit- rungen und der massive Einsatz von chlorier- tels Fledermaus-Detektoren erfasst werden ten Pestiziden (Lindan) in der Land- und (Limpens, 1993; Tupinier, 1996). Forstwirtschaft sowie im Obst- und Gartenbau – Netzfänge, bei denen die Tiere mit sehr reduzierte das Nahrungsangebot erheblich und feinen Netzen, die in den Untersuchungs- führte teilweise zur direkten Vergiftung der gebieten aufgebaut werden, gefangen Tiere durch die Akkumulation der Schadstoffe werden können. Die Netze werden über im Fettgewebe und in der Muttermilch (Racey die gesamte Nacht dauerhaft betreut, so & Entwistle, 2003). dass die Fledermäuse sofort entnommen Die Ziele des Fledermausprojektes in der Stadt werden können. Anschließend wird die Art, Frankfurt am Main sind: das Geschlecht und der Reproduktionszu- stand bestimmt und die Tiere werden wie- – Die Erforschung der Fledermausarten und der frei gelassen (Jones et al., 1996). Über ihre Vorkommen im Stadtgebiet sowie ihre die Bestimmung des Reproduktionsstatus Bindung an prägende Frankfurter Lebens- der Fledermäuse können Teillebensräume räume wie die Stadtparks und Friedhöfe, von trächtigen und säugenden Weibchen die alten Waldreste, das Mainufer, das oder Jungtieren identifiziert werden, auf die strukturierte Offenland des GrünGürtels, sich schließlich die Artenschutzbemühun- aber auch die dicht bebaute Innenstadt. gen fokussieren können. Der Vernetzung zwischen den innerstädti- schen Habitaten, dem GrünGürtel Frank- – Die Quartiersuche mittels Mini-Sender. Die furt und dem Umland wird dabei große Be- gerade einmal 0,4 g leichten Sender wer- achtung geschenkt. den ausgewählten Fledermäusen mit Hautkleber ins Rückenfell geklebt. Über die – Die Entwicklung und Umsetzung eines ausgesandten Impulse des Senders kön- Naturerlebnisangebotes (realisiert durch nen die Tiere mit Hilfe eines Empfängers 96 Frankfurter Nachtleben – ein Projekt zum Schutz von Fledermäusen in der Stadt

bei ihrer nächtlichen Jagd verfolgt und da- etwa einem Fünftel der insgesamt vorkom- mit Nahrungsräume identifiziert werden. menden Säugetierarten in Hessen. Am Tage können über die Sender-Impulse Zu den 14 Fledermausarten ergaben sich die besonders wichtigen Quartiere ausfin- 1.772 Fundpunkte, die in die Datenbank auf- dig gemacht werden (Dietz & Simon, genommen werden konnten. Es überwiegen 2006). dabei deutlich die akustischen Nachweise – Die Kartierung, Markierung und Kontrolle mittels Fledermaus-Detektor (n=1.525, Abb. 2). von Baumhöhlen zur Sicherung der Le- Durch die Netzfänge konnte von insgesamt 93 bensstätten von baumbewohnenden Fle- Fledermäusen der Reproduktionsstatus be- dermausarten. stimmt werden, d. h., es wurde deutlich, ob diese Arten im Stadtgebiet von Frankfurt ein- schließlich der Wälder Jungtiere großziehen Über die begleitende Öffentlichkeitsarbeit soll- oder nicht. In 38 Fällen meldeten Frankfurter ten zudem Fledermausbeobachtungen aus der Bürger Fledermäuse, die sich z. B. in Woh- Bevölkerung in Erfahrung gebracht werden, nungen verflogen hatten. Für den Schutz der denn gerade die in Gebäuden wohnenden vorkommenden Fledermäuse sind die 67 Fledermausarten können so gefunden werden. Quartiernachweise von besonderer Bedeu- tung, da Fledermäuse eine sehr ausgeprägte Quartierstreue zeigen und über Jahre immer wieder die gleichen Schlafplätze aufsuchen. Gefunden wurden Wochenstubenquartiere (n = 9), in denen Weibchen ihre Jungtiere großziehen, Balz- und Paarungsquartiere (n = 26), Sommerquartiere, deren Funktion ungeklärt bleiben musste (n = 28), sowie Win- terquartiere (n = 4).

Eine Auswertung der Fundpunkthäufigkeit verdeutlicht, dass die in Gebäudespalten le- bende Zwergfledermaus mit 901 Fundpunkten die am häufigsten in Frankfurt anzutreffende Fledermausart ist. Am zweithäufigsten wurde mit 507 Fundpunkten der Große Abendsegler nachgewiesen, gefolgt vom Kleinen Abendseg- ler (142 Fundpunkte) und der Wasserfleder- maus (60 Fundpunkte). Die Verteilung der Fundpunkte wird im We- sentlichen von den Detektornachweisen be- stimmt, wobei sich dabei nicht nur die akusti- sche Auffälligkeit der eben genannten Arten widerspiegelt, sondern auch die untersuchten Lebensräume. Die beiden Abendseglerarten, die Zwergfledermaus und die Wasserfleder- maus sind charakteristische Arten von gewäs- Abb. 1: Im Projekt „Frankfurter Nachtleben“ werden natur- serreichen urbanen Lebensräumen mit alten kundliche Forschung und naturkundliche Bildung mitein- Waldresten und Parks (vgl. Dietz, 1993; Frank, ander verbunden. Kinder sind begeisterte Exkursionsteil- 1997). nehmer und gerade das unmittelbare Naturerlebnis Fle- dermäuse kann zu einer weiteren Beschäftigung mit der Mit Hilfe der Netzfänge lassen sich dagegen Stadt-Natur motivieren. auch die akustisch weniger auffälligen Fleder- Die Fledermausarten in Frankfurt am Main mausarten als Bewohner Frankfurts identifizie- ren. Hier sind vor allem die beiden nach An- Insgesamt konnten in Frankfurt am Main durch hang II der FFH-Richtlinie geschützten Arten die Untersuchungen und Recherchen im Rah- Bechsteinfledermaus und Großes Mausohr zu men des Projektes „Frankfurter Nachtleben“ 14 nennen, die ihren Vorkommensschwerpunkt in Fledermausarten nachgewiesen werden den peripheren Laubwäldern des Stadtwaldes (Tab. 1). Dies entspricht drei Viertel der 19 in haben, aber auch teilweise in umbauten Wald- Hessen vorkommenden Fledermausarten und resten wie dem Riederwald oder dem Fechen- heimer Wald zu finden sind.

97 Markus Dietz & Christa Mehl-Rouschal

900 800 700 600 500 400 300 200 Anzahl der Nachweise 100 0

i ii . s s t c u u tonii d e leri ll tinus s e o steini ran sp athusii r mae r h b attereriis n st / n pi yg se s us noctulas i p s bec l p u dauben Myot s s c is Myotis myotis rellu u tus austriacus si otis tacinu Myotis ll ellu Plecotuso spec. e s NyctalusNycta lei re r Plecotus auritus t My p Myot Pipist ist Vespertilio murinus E ip Plec P Pipist yotis my M

Abb. 2: Verteilung aller aktuellen und in der Datenbank registrierten Fundpunkte von Fledermäusen (n = 1.772) in Frankfurt am Main (bei den akustischen Erfassungen war in seltenen Fällen nur eine Bestimmung bis zur Gattung Myotis und Plecotus möglich).

Eine Gruppierung der Frankfurter Fleder- über Gewässerleitlinien und Gehölzstruk- mausarten nach ihren Lebensraumansprü- turen Lebensraumfragmentierungen im chen lässt eine Unterscheidung in drei Arten- Stadtbereich überwinden kann. gruppen erkennen: – Eng an den Siedlungsraum gebundene – Überwiegend an den Wald gebundene Fledermausarten, die ausschließlich oder Arten, die dort ihren Schwerpunkt bei der vor allem Gebäude als Tagesverstecke Nahrungssuche haben und/oder dort nutzen und von da aus in Parks, Alleen, Quartier beziehen und gleichzeitig durch offene Kulturlandschaften, in Wälder und ihren strukturgebundenen Flug stärker an Gewässer fliegen, um dort zu jagen. von Fragmentierungen betroffen sind als Hierzu zählen die Zwergfledermaus, die andere Arten. Hierzu zählen die Breitflügelfledermaus, das Graue Langohr Bechsteinfledermaus, das Große Maus- und die Zweifarbfledermaus. ohr, die Fransenfledermaus und das Bei dieser Einteilung ist zu berücksichtigen, Braune Langohr, deren Nachweisdichte in dass es Arten mit einem „sehr plastischem Stadtwaldflächen am größten ist. Verhalten“ gibt, die deswegen in allen drei – Baumbewohnende Arten, die halboffene Kategorien vorkommen können (wie die bei- Landschaften mit altem Baumbestand be- den Abendseglerarten und die Zwergfleder- vorzugen und deren typische Nahrungs- maus), und dass es Arten gibt, für die die räume neben Waldblößen an Gewässern, genannten Kriterien weitgehend ohne Aus- über Wiesen, in Parks und an beleuchte- nahme zutreffen, wie z. B. die Bechsteinfle- ten Plätzen im Stadtgebiet liegen. Hierzu dermaus. zählen vor allem die beiden Abendsegler- arten, die Rauhautfledermaus und bedingt auch die Wasserfledermaus, sofern sie

98 Frankfurter Nachtleben – ein Projekt zum Schutz von Fledermäusen in der Stadt

Tab. 1: Schutzstatus und Teillebensräume nachgewiesener Fledermausarten in Frankfurt am Main (* Nachweis, ♦ Wochen- stube, ● Sommerquartier, ▲ Balz- und Paarungsquartier).

Gefährdung Nachgewiesener Teillebensraum Nahrungs Som- Art Winter- RL H RL D. FFH raum merquar- quartier tier Breitflügelfledermaus 2 V IV Eptesicus serotinus * Bechsteinfledermaus 2 3 II+IV Myotis bechsteinii * ♦ ● Wasserfledermaus 3 n IV Myotis daubentonii * ● Großes Mausohr 2 3 II+IV Myotis myotis * Kleine/Große Bartfleder- mausi 3/2 3/2 IV * Myotis mystacinus/brandtii Fransenfledermaus 2 3 IV Myotis nattereri * Kleiner Abendsegler 2 G IV Nyctalus leisleri * ♦ ● Großer Abendsegler 3 3 IV Nyctalus noctula * ▲ ● * Rauhautfledermaus 2 G IV Pipistrellus nathusii * ● Zwergfledermaus 3 n IV Pipistrellus pipistrellus * ♦ ● Mückenfledermaus - - IV Pipistrellus pygmaeus * Braunes Langohr 2 V IV Plecotus auritus * ♦ Graues Langohr 2 2 IV Plecotus austriacus * Zweifarbfledermaus 2 G IV Vespertilio murinus *

idie beiden Arten lassen sich mit dem Detektor nicht differenzieren ● = Nachweis, RL H = Rote Liste Hessen, RL D = Rote Liste Deutschland, FFH = Fauna-Flora-Habitat Richtlinie, Kategorien der Roten Liste: 1 vom Aussterben bedroht, 2 stark gefährdet, 3 gefährdet, V Arten der Vorwarnliste, G Gefährdung anzunehmen, aber Status unbekannt, n derzeit nicht gefährdet (Angaben für Hessen nach Kock & Kugelschafter 1996; für Deutschland nach Boye et al. 1998).

99 Markus Dietz & Christa Mehl-Rouschal

a) b)

c) d)

e) f)

g) h)

Abb. 3: Vier Frankfurter Fledermausarten und repräsentative Ausschnitte ihrer Lebensräume. Die Zwergfledermaus (a) ist ein typischer Innenstadtbewohner, sucht Gebäudespalten auf und ist beim Insektenfang am beleuchteten Mainufer (b) gut zu beo- bachten. Der Große Abendsegler (c) ist ganzjährig ein typischer Bewohner alter Bäume in den Parkanlagen (d) der Stadt. Die baum- und manchmal auch brückenbewohnende Wasserfledermaus (e) ist charakteristisch für die Gewässer (f), über denen sie in geringem Abstand zur Wasseroberfläche nach Insekten jagt. Ganz unten die Bechsteinfledermaus, eine eng an die baum- höhlenreichen, alten Laubwälder (g) der Stadt Frankfurt gebundene Fledermausart, die fast ausschließlich in der Peripherie der Stadt, im so genannten Frankfurter GrünGürtel (h) zu finden ist.

100 Frankfurter Nachtleben – ein Projekt zum Schutz von Fledermäusen in der Stadt

3. Verteilung der Arten auf die städtischen Lebensräume mausfunde auf mittlerweile zehn Arten. Dies ist erklärbar durch die Nahrungs- und Leit- Die Fledermausarten in der Stadt Frankfurt funktion des Mains und einiger Grünanlagen sind nicht gleichverteilt in allen Lebensräu- sowie durch die Versteckmöglichkeiten für men anzutreffen, sondern abhängig von de- gebäudebewohnende Arten wie z. B. Zwerg- ren Strukturvielfalt und Lebensraumangebot. fledermaus, Breitflügelfledermaus und Zwei- Erwartungsgemäß waren mit 13 Fledermaus- farbfledermaus. Weiterhin ergaben sich für arten die meisten Arten in den Waldflächen zu die Innenstadt eine Reihe von Zufallsfunden, finden. Lediglich die Zweifarbfledermaus wie etwa Einflüge von Großen Mausohren in konnte dort nicht nachgewiesen werden, was Gebäude. Die auf Dachböden siedelnde Art jedoch eher auf deren sehr geringe Dichte ist sicherlich (noch) kein fester Bestandteil der und den damit verbundenen Nachweisschwie- Innenstadtfauna, aber es werden eben Pio- rigkeiten zurückzuführen ist. Die hohe Wertig- nierindividuen oder verirrte Tiere, die in Woh- keit der Frankfurter Wälder für Fledermäuse nungen einfliegen, gefunden und gemeldet. wird bestimmt von den Eichen- und Buchen- Ein klassischer Innenstadtbewohner ist die beständen, die aufgrund ihres hohen Alters Zweifarbfledermaus, von der zwischen Ban- eine hohe Baumhöhlendichte aufweisen. Die kenviertel und Dom einige Fundpunkte vorlie- Artenzahl in den Waldflächen nimmt insge- gen. Die Zwergfledermaus ist in der Innen- samt gemäß einer klassischen Arten-Areal- stadt allgegenwärtig und bildet Wochenstu- Kurve mit der Flächengröße zu, d. h., in den benkolonien in Gebäuden. kleinflächigen Waldresten des bebauten Be- reiches ist die Artenzahl geringer als in den Die Besiedlung der Innenstadt ist für Fleder- Wäldern der Peripherie. mäuse möglich, weil sie über ihre vergleichs- weise weiträumigen Flüge in der Lage sind, Das Artenspektrum in den Parks und Friedhö- Nahrungsräume aufzusuchen, die nicht unmit- fen ist vergleichbar dem kleinerer Waldflä- telbar an die Quartiere angrenzen. Ohne die chen im Stadtgebiet. Die Stetigkeit der Vor- Waldinseln und Parkanlagen, den Anlagen- kommen von Großem und Kleinem Abend- ring, Alleen und den Main als durchgehende, segler belegt die enorm hohe Bedeutung des wenngleich qualitativ sehr unterschiedliche alten Baumbestandes, in dem diese Arten Leit- und Nahrungsraumstruktur, wäre eine ihre Tagesschlafplätze aufsuchen. Neben der Besiedlung der Innenstadt nicht möglich. Quartierfunktion sind die alten Bäume mit ihren ausladenden Kronen sehr wichtig für die Die Detektorbegehungen zeigen ein realitäts- Qualität der Parks und Friedhöfe als Nah- nahes Bild von der Fledermaus-Artendichte- rungsräume. Sie sorgen unter dem Kronen- verteilung in Frankfurt am Main (s. Abb. 4). dach und in den Baumlücken für klimatisch Die meisten Arten und Individuen kommen – günstige, windstille Bereiche. Sind Gewässer wie schon erwähnt – im Stadtwald ein- vorhanden, erhöht dies die Strukturvielfalt und schließlich der Waldreste vor, gefolgt vom das Nahrungsangebot der Parkanlagen und strukturierten Offenland und schließlich den die Nachweisdichte für Fledermäuse steigt Parkanlagen und Innenstadtbereichen. Würde deutlich an. man anstelle der im „Frankfurter Nachtleben“ Die stichprobenhaften Untersuchungen im angewendeten Methodenkombination jedoch strukturierten Offenland ergaben bislang zehn ausschließlich Erfassungen mittels Detektor- Fledermausarten. Die Obstwiesenkomplexe, begehungen durchführen, so würden für ein Gewässerverläufe und Feldgehölze sind ein Artenschutzprojekt wesentliche Informationen wesentlicher Bestandteil des Frankfurter verloren gehen, wie z. B. die Nachweise von GrünGürtels und haben für Fledermäuse eine Arten, die akustisch nicht zu bestimmen sind sehr hohe Bedeutung als Leitstruktur und als oder der Reproduktionsstatus der vorkom- Nahrungsraum. Zudem besitzen die Obstwie- menden Arten. Für die bebaute Innenstadt sen und Ufergalerien ein nicht unerhebliches würden Informationen in Form von Zufallsfun- Quartierspotenzial sofern alte Bäume vorhan- den (Wohnungseinflüge, Todfunde, Quartier- den sind. meldungen) verloren gehen, die jedoch wich- tig sind, da sie zeigen, dass neben den klas- Mit der Frankfurter Innenstadt assoziiert man sischen Stadtbewohnern immer wieder auch zunächst keine fledermausrelevanten Struktu- Pionierindividuen anderer Arten (z. B. Großes ren und doch summieren sich die Fleder- Mausohr) in der Innenstadt vorkommen.

101 Markus Dietz & Christa Mehl-Rouschal

Mittelwert pro Begehung 12 Min. pro Begehung Max. pro Begehung Gesamtzahl der Arten 10

8

6 Anzahl der Arten 4

2

0 Wald Parkanlagen strukturiertes Innenstadt Offenland (Mainufer) Lebensraum

Abb. 4: Übersicht zu den akustischen Artnachweisen in den vier klassifizierten Lebensräumen der Stadt Frankfurt (n = 1.233 Detektorkontakte, N = 59 Begehungen).

4. Wohnen in alten Bäumen – eine Beson- de an eine Teleskopstange montiert, mit der derheit von Fledermäusen Baumhöhlen bis in einer Höhe von bis zu 13 Metern vom Boden aus kontrolliert werden Baumhöhlen sind, wie in den bisherigen Kapi- können (Abb. 6c). Die kartierten Höhlenbäume teln beschrieben, eine sehr hochwertige Le- wurden mittels GPS exakt verortet und an- bensraumstruktur für weitgehend alle Fleder- schließend mit einer Plakette markiert (Abb. mausarten, die in Frankfurt vorkommen. Von 6d). den bislang bekannten 67 Fledermausquartie- ren sind mehr als 50 in Baumhöhlen zu finden, darunter sehr bedeutende Wochenstuben- bäume des kleinen Abendseglers, der Bechsteinfledermaus und des Braunen Lang- ohrs. Rund 80 % der gefundenen Baumquar- tiere entfallen auf den Großen Abendsegler, der die Baumhöhlen ganzjährig für alle Le- benszyklusabschnitte nutzt. Wir kennen derzeit 26 Balzquartiere, neun Sommerquartiere mit nicht näher bestimmter Funktion sowie vier Winterquartiere des Großen Abendseglers in Frankfurter Baumhöhlen. Als Lebensräume streng geschützter Arten unterliegen Baumhöhlen nach § 42 BNatSchG ebenfalls einem strengen Schutz, der z. B. bei Baumpflege- und Verkehrswegesicherungs- maßnahmen berücksichtigt werden muss. Um den Schutz der Höhlenbäume und der damit assoziierten Fledermausarten und anderer Abb. 5: Beispiel für eine Ergebniskarte der Baumhöhlen- Baumhöhlenbewohner zu gewährleisten, wur- kartierung und Erfassung von Fledermausbäumen im den bislang im Rahmen des Projektes in acht Ostpark von Frankfurt am Main. Jeder einzelne Baum ist Parks und Friedhöfen systematische Baum- exakt verortet und mit seinen Eigenschaften in einer Da- tenbank gespeichert. höhlenkartierungen und Markierungen durch- geführt (Abb. 5 und 6). Speziell für die Kontrol- Es wurden je nach Untersuchungsfläche zwi- le von Baumhöhlen wurde eine Baumhöhlen- schen 15 und 125 Höhlenbäume kartiert. In der Kamera entwickelt, die einen Blick in das Inne- Summe ergaben sich 528 Höhlenbäume mit re von Baumhöhlen ermöglichte. Das Aus- 706 Baumhöhlen. Errechnet man die Höhlen- leuchten der Höhle erfolgte über Infrarot- baumdichte pro Fläche, so zeigt sich, dass mit Dioden, deren Licht von Fledermäusen nicht einem Mittelwert von 4,5 Höhlenbäumen/ha wahrgenommen wird. Die Kamera selbst wur- Dichtewerte von Waldbeständen mit mittlerer 102 Frankfurter Nachtleben – ein Projekt zum Schutz von Fledermäusen in der Stadt

(a) (b)

(c) (d) Abb. 6: Es sind die alten Laubbäume, durch die Friedhöfe und Parks so bedeutende Fledermauslebensräume in Frankfurt sind. In Spechthöhlen (a) und Spalten (b+c), fast ausschließlich in Laubbäumen, suchen sich Fledermäuse Tagesschlafplätze, die zur Aufzucht der Jungtiere, zur Balz und auch als Winterquartier genutzt werden. Bekannte Fledermaus- oder Höhlenbäume wer- den zur Sicherung mit einem Alu-Plättchen markiert (d) und mittels GPS exakt verortet und in eine Datenbank eingetragen.

Höhlendichte erreicht werden. Dabei ist zu natürlichen Leitstruktur, die von Fledermäu- berücksichtigen, dass die Baumdichte in Wäl- sen für großräumige, saisonale Wanderungen dern um ein Mehrfaches höher ist als in Park- genutzt wird. Die Flussniederung des Rhein- anlagen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, Main-Tieflandes ist zudem ein klimatisches dass in Parkanlagen deutlich mehr der auf der Gunstgebiet mit warmen Jahresdurchschnitts- Fläche stehenden Bäume eine Baumhöhle temperaturen und milden Wintern. Durch die und damit einen geschützten Lebensraum seit Jahrhunderten hohe Waldkonstanz – der aufweisen als im Wald. Die Wahrscheinlich- Frankfurter Stadtwald unterlag als Teil des keit einen Höhlenbaum bei der Parkpflege zu ehemaligen kaiserlichen Jagdgebietes „Bann- treffen ist damit sehr hoch. Das heißt, als wald Dreieich“ keiner mittelalterlichen Ro- Lebensraum von gesetzlich streng geschütz- dungswelle – konnte sich ein ausgedehnter ten Tierarten müssen die Höhlenbäume bei alter Laubwald erhalten. Die Summe dieser der Parkpflege eine besondere Berücksichti- Eigenschaften macht das Rhein-Main- gung erfahren und dürfen nur in Ausnahme- Tiefland für die vergleichsweise langlebigen fällen gefällt oder beschnitten werden. Zuvor Fledermäuse interessant, da sich traditionelle, ist eine Kontrolle der Höhlen notwendig und über Generationen wirkende Lebensraumnut- gegebenenfalls eine naturschutzrechtliche zungen aufbauen können. Befreiung von den Verbotstatbeständen nach Der Aufbau von Lebensraumtraditionen ist § 42 BNatSchG vorzunehmen. besonders wichtig für großräumig wandernde

Fledermausarten wie den Großen Abendseg- 5. Internationale Flugbeziehungen ler und die Rauhautfledermaus. Diese Arten Frankfurt vereint auf seinem Stadtgebiet aus sind bundesweit sehr ungleich verteilt. Die Sicht der Fledermäuse einige günstige Eigen- Weibchen leben im Sommer überwiegend im schaften. Die Stadt und ihre Umgebung liegen norddeutschen Tiefland und in angrenzenden an einem großen Fluss und damit an einer europäischen Regionen, wo sie Wochenstu-

103 Markus Dietz & Christa Mehl-Rouschal

benkolonien bilden und Jungtiere großziehen. Die Männchen sind überwiegend in der Mitte (z. B. Frankfurt) und im Süden Deutschlands zu finden. Im Spätsommer wandern sowohl die Weibchen wie auch die Jungtiere aus dem Norden in Richtung Süden, wo sie in den klimatisch günstigen Regionen potenzielle Winterschlafgebiete erkunden (vor allem die Jungtiere) und sich mit den Männchen zur Paarung treffen (die älteren Weibchen). Die wiederum erwarten die Weibchen im Spät- sommer schon in den Balzquartieren, so auch in Frankfurt. Ähnlich wie beim Phänomen des Vogelzugs konnten über markierte Fleder- mäuse Ortsveränderungen über große Dis- tanzen dokumentiert werden. Die in Frankfurt eingewanderten Individuen stammen aus dem Nordosten Deutschlands und sicherlich auch aus den nördlichen Tieflandregionen Polens (Kock & Altmann, 1994). Den Streckenrekord Abb. 7: In Frankfurt sind über das gesamte Stadtgebiet belegt bislang eine Rauhautfledermaus aus verteilt Balz- und Paarungsquartiere des Großen Abend- dem Süden Skandinaviens, die südlich von seglers zu finden, wobei die Zahl der besetzten Bäume im Spätsommer aufgrund der Wanderbewegungen sprunghaft Frankfurt gefunden wurde (Kock & Schwar- ansteigt. Im Winter konzentrieren sich dann manchmal ting, 1987). mehrere hundert Tiere in Winterschlafbäumen. In Frankfurt ist diese saisonale Einwanderung Die öffentlichen Exkursionen wurden nach den zur Paarungszeit und für den Winter ganz ersten Veranstaltungen jeweils mit Anmeldung offensichtlich – und hier liegt eine besondere durchgeführt und auf 30 Teilnehmer begrenzt, Verantwortung für die Stadt. Die Zahl der weil die Zahl der interessierten Besucher sonst Abendseglerbeobachtungen nimmt im Spät- zu groß wurde (bis über 100 Teilnehmer pro sommer deutlich zu, ein Sachverhalt, der Exkursion). Für die Schulen boten wir spezielle bereits Anfang des 20. Jahrhunderts be- Projekttage an, an denen das Thema Fleder- schrieben worden ist (Kobelt, 1912). Dieser mäuse sowohl facettenreich im Unterricht be- Anstieg der Beobachtungen ist ein deutlicher handelt wurde als auch durch nächtliche Ex- Hinweis auf die Paarungsaktivitäten, was sich kursionen in Parks und Wälder. auch in den 26 kartierten Balzquartieren aus- Aus den Veranstaltungen und einer umfangrei- drückt (Abb. 7). Dass die Großen Abendseg- chen Medienarbeit (Printmedien, Radio- und ler in den alten Bäumen der Stadtparks und Fernsehsender) ergaben sich 150 Meldungen des Stadtwaldes überwintern, konnten wir zu Fledermäusen im Stadtgebiet, die darauf über die Funde der Winterquartierbäume hindeuten, dass mit den bisherigen Erfassun- nachweisen. Erste veröffentlichte Hinweise gen längst nicht alle wichtigen Fledermausvor- auf Überwinterungen ergaben sich schon in kommen lokalisiert werden konnten. früheren Jahren, wobei beispielsweise im Januar 1985 durch die Fällung einer Eiche 7. Fazit aus dem Schwanheimer Unterwald über 500 Das Umweltamt der Stadt Frankfurt hat es sich winterschlafende Große Abendsegler zum mit dem Projekt „Frankfurter Nachtleben – Vorschein kamen (Kock & Altmann, 1994). Fledermäuse in der Stadt Frankfurt“ zum Ziel 6. Naturbildung mit Fledermäusen gesetzt, den Kenntnisstand über diese Tierar- tengruppe soweit zu erweitern, dass der stren- Eine bedeutende Zielsetzung des Projektes ge Schutz, der von der europäischen und nati- war die Einbindung der Frankfurter Bevölke- onalen Naturschutzgesetzgebung2 sowie inter- rung in das Projekt. Damit sollte zum einen nationalen Abkommen3 erwartet wird, auch eine gezielte Sympathiekampagne für Fleder- effizient umgesetzt werden kann. mäuse durchgeführt werden, um die Sensibili- tät und Toleranz gegenüber dieser Tiergruppe Die ausgewählten Erfassungsmethoden liefern zu erhöhen. Zum anderen verfolgten insbe- hierzu exakte Vorkommensdaten, die als sondere die Veranstaltungen das Ziel, den Grundlage der Artenschutzbemühungen, wie Menschen in der Stadt zu verdeutlichen, dass auch für die Kommunikation mit sachverwand- auch in städtischen Lebensräumen spannende ten Ämtern (Grünflächenamt, Bauamt), uner- Naturerlebnisse möglich sind und selbst streng lässlich sind. In der Folgezeit wird eine weiter- geschützte Arten störungsfrei beobachtet wer- führende Datenverdichtung notwendig sein, da den können (Dietz & Weber, 2003). 104 Frankfurter Nachtleben – ein Projekt zum Schutz von Fledermäusen in der Stadt

a) b) c)

d) e) f) Abb. 8: Die Frankfurter Fledermaushochzeit bildete den Höhepunkt der öffentlichen Veranstaltungen im Rahmen des „Frankfur- ter Nachtlebens“. Bei der Veranstaltung im Ostpark gab es Informationen, Spiel und Spaß sowie Kulinarisches rund um Fleder- mäuse (a – c). Die Fütterung eines Pfleglings (e) hielt die Besucher ebenso in Atem wie die anschließenden Exkursionen zu Paarungsquartieren im Ostpark. Dabei konnten die Abendsegler-Balzgesänge gehört werden. Höhepunkt der Veranstaltung war die Live-Schaltung zu einer Spechthöhle, die von einem balzenden Abendsegler besetzt war. Mit Hilfe einer Infrarot- Videokamera wurde das Balzverhalten des Großen Abendseglers direkt auf eine große Leinwand übertragen. Mit dieser Spezi- altechnik wurden den mehr als 300 Besuchern Einblicke in das Fledermausleben ermöglicht (f), die ansonsten nur Fledermaus- forschern zugänglich sind.

einige potenzialreiche Stadtgebiete, wie z. B. der Frankfurter Oberwald und einige Parkanla- gen, noch nicht bearbeitet werden konnten und Literatur die Ergebnisse der bisherigen Erfassungen Boye, P.; Hutterer, R. & Benke, H. (1998). verdeutlicht haben, dass laufende Gefähr- Rote Liste der Säugetiere (Mammalia). In: dungsfaktoren eine stabile Datengrundlage Rote Liste gefährdeter Tiere Deutschlands. erfordern. Hrsg.: Bundesamt für Naturschutz, S. 33- Vor allem aber hat das Projekt bei der Frank- 39. Bonn. furter Bevölkerung großen Anklang gefunden, Dietz, M. (1993). Untersuchungen zur Lebens- so dass eine Fortführung der Bildungs- und raumnutzung der Wasserfledermaus (Myo- Öffentlichkeitsarbeit sehr sinnvoll ist. Es hat tis daubentoni, Kuhl 1819) in einem urba- sich gezeigt, dass die Verknüpfung von natur- nen Untersuchungsgebiet in Mittelhessen. kundlicher Forschung verbunden mit der Ver- Diplomarbeit an der Justus-Liebig-Univer- mittlung naturkundlichen Wissens ein erfolg- sität Gießen. 93 S. versprechender Weg ist, um Kinder, Jugendli- Dietz, M. & Weber, M. (2003). Von Fledermäu- che und Erwachsene in der Stadt für Phäno- sen und Menschen. Ergebnisse und Erfah- mene in der Stadt-Natur zu sensibilisieren. rungen aus einem Modellvorhaben zum Schutz hausbewohnender Fledermäuse. 1 Bundesamt für Naturschutz (Hrsg.). 198 S. Fauna- Flora-Habitat-(FFH-)Richtlinie (Richtlinie Dietz, M. & Simon, M. (2006). Fledermäuse. In: 92/43/ EWG), BNatSchG § 42, „Abkommen zum Methoden zur Erfassung von Arten der An- Schutz der Fledermäuse in Europa (EUROBATS)“, Berner Konvention, Übereinkommen über die Bio- hänge IV und V der Fauna-Flora-Habitat- logische Vielfalt (offizielle Bezeichnung BMU. Richtlinie. Bearb.: Doerpinghaus, A., Ei- 2 Fauna- Flora-Habitat-(FFH-)Richtlinie (Richtlinie chen, C., Gunnemann, H., Leopold, P., 92/43/ EWG), BNatSchG § 42. Neukirchen, M. Petermann, J. & Schröder, 3 „Abkommen zum Schutz der Fledermäuse in E.. Naturschutz und Biologische Vielfalt 20. Europa (EUROBATS)“, Berner Konvention, wie vor. S. 318-373. 105 Markus Dietz & Christa Mehl-Rouschal

Dietz, M. & Birlenbach, K. (2006). Lebens- Linnéenne de Lyon. Editions Sittelle. Mens. raumfragmentierung und die Bedeutung der 136 S.. FFH-Richtlinie für den Schutz von Säuge- Weid, R. (1988) . Bestimmungshilfe für das tieren mit großen Raumansprüchen. NZH- Erkennen europäischer Fledermäuse – ins- Akademieberichte 5. Kleine Katzen – Gro- besondere anhand der Ortungsrufe. – ße Räume. Tagungsband. S. 21-32. Schriftenreihe Bayer. Landesamt für Um- Frank, R. (1997). Zur Dynamik der Nutzung weltschutz 81. S. 63-71. München. von Baumhöhlen durch ihre Erbauer und Folgenutzer am Beispiel des Philosophen- Anschrift waldes in Gießen an der . – Vogel und Dr. Markus Dietz Umwelt 9. S. 59-84. Institut für Tierökologie und Naturbildung Jones, C., McShea W. J., Conroy, M. & Kunz, Altes Forsthaus, Hauptstr. 30, T. H. (1996). Capturing Mammals. In: 35321 Gonterskirchen Measuring and Monitoring Biological Diver- E-Mail: [email protected] sity. Standard Methods for Mammals.

Hrsg.: Wilson, D. E., Cole, R. & Nichols, J., Christa Mehl-Rouschal Rasanayagam, R. & Foster, M. S.. Smitho- Umweltamt der Stadt Frankfurt nian Institution Press. S. 115-155. Stadtverwaltung - Amt 79 Klemmer, K. (1953). Ein bemerkens wertes Vorkommen von Zwergfledermäu sen. – Na- 60275 Frankfurt am Main tur & Volk 83 (6). S. 177-182. Frankfurt am E-Mail: christa.mehl-rouschal@stadt- Main. frankfurt.de Kobelt, W. (1912). Der Schwanhe im er Wald. II. Die Tierwelt. Berichte der sencken bergi- schen naturforschenden Gesellsc haft 43 (2). S. 156-188. Frankfurt am Main. Kock, D. & Altmann, J. (1994). Großer Abend- segler, Nyctalus noctula (Schreber 1774). In: Die Fledermäuse Hessens. Geschichte, Vorkommen, Bestand und Schutz. Hrsg.: Arbeitsgemeinschaft Fledermausschutz in Hessen (AGFH). Verlag M. Hennecke. Kock, D. & Kugelschafter, K. (1996). Rote Liste der Säugetiere, Reptilien und Amphibien Hessens. Teilwerk I, Säugetiere. 3. Fas- sung. Stand Juli 1995. Hrsg.: Hessisches Ministerium des Innern und für Landwirt- schaft, Forsten und Naturschutz. S. 7-21. Wiesbaden. Kock, D. & Schwarting, H. (1987). Eine Rauh- hautfledermaus aus Schweden in einer Po- pulation des Rhein-Main-Gebietes. – Natur und Museum 117 (1). S. 20-29. Frankfurt am Main. Kock, D. (1994). Fledermaus-Beringungen und Ringfunde in Hessen. In: Die Fledermäuse Hessens. Geschichte, Vorkommen, Be- stand und Schutz. Hrsg.: Arbeitsgemein- schaft Fledermausschutz in Hessen (AGFH). Verlag M. Hennecke. Limpens, H.J.G.A. (1993). Fledermäuse in der Landschaft – Eine systematische Erfas- sungsmethode mit Hilfe von Fledermausde- tektoren. – Nyctalus 4 (6). S. 561-575. Ber- lin. Racey, P. & Entwistle, E. (2003). Conservation Ecology of bats. In: T.H. Kunz & M.B. Fen- ton (Hrsg.). Bat Ecology,University of Chi- cago Press. London. S. 680-743. Tupinier,Y. (1996). Die akustische Welt der europäischen Fledermäuse. Hrsg.: Société

106 CONTUREC 2 (2007) Seite 107 bis 115

Vegetationsmanagement als Methode der Landschaftsarchitektur für un- entdeckte Freiräume

Vegetation management as a method of landscape architecture for undiscovered open spaces

SIGURD KARL HENNE

Zusammenfassung Aktuelle Parkprojekte an der Peripherie städtischer Verdichtungsräume zeigen die Bedeutung neuer extensiv genutzter Freiraumtypen für die Stadtentwicklung und die Identität suburbaner Landschaften. Auf Grund von Landschaftsveränderungen entstehen gleichzeitig Brachen und extensiv bewirtschafte- te Flächen mit Vegetationsbestand, als neue Aufgabe der Freiraumplanung. Um diese Räume zu ex- tensiven Freiflächen entwickeln und erhalten zu können, sind Methoden nötig, die über konventionelle gärtnerische Techniken hinausgehen. Planungskonzepte zur Revitalisierung industrieller Brachen zeigen den Wert besonderer Methoden der Vegetationsplanung. Sie können als Vegetationsmanage- ment der Landschaftsarchitektur beschrieben werden, weil sie Bestands-, Spontanvegetation und vegetationsdynamische Veränderungen als Gegenstand und Mittel eines freiraumplanerischen Ent- wurfs verstehen. Sie entwickeln differenzierte Gestaltungs- und Nutzungsziele für eine gesteuerte Vegetationsentwicklung. Sie ermöglichen durch unterschiedliche Vegetationstypen verschiedene Nut- zungen und durch die Gestaltung eine Umdeutung von Brachen und ihrer Vegetation als neue Frei- räume. Dieses freiraumplanerische Vegetationsmanagement ist eine Alternative zum Leitbild der ur- banen Wildnis, die städtische Brachen für den Arten- und Biotopschutz und ein urbanes Naturerlebnis durch selbstregulative Vegetationsdynamik entwickeln will. Extensive Freiräume bieten für ein „Vegetationsmanagement der Landschaftsarchitektur“ weitere po- tenzielle Aufgaben und die Möglichkeit, ein besonderes Methodenrepertoire zu erproben und zu un- tersuchen. Das Repertoire umfasst gestalterische und vegetationstechnische Methoden, die vegetati- onsökologische Veränderungsprozesse gezielt steuern und gestalten. Grundlage der Gestaltung ist eine kulturelle Interpretation von (scheinbar) freiwachsender Vegetation als symbolische Wildnis und ihre Bezüge zu Motiven der Gartenkultur. An Planungsbeispielen werden planerische und gestalteri- sche Methoden aufgezeigt. Sie zeigen eigene ästhetische Qualitäten, die versuchen, dem besonderen Charakter dieser extensiven Freiräume und ihrer dynamischen Vegetation gerecht zu werden.

Vegetationsmanagement, Vegetationsmanagement der Landschaftsarchitektur, Wildnis, Revitalisie- rung von Brachen, Freiräume der Zwischenstadt, Wahrnehmung und Interpreation von Spontanvege- tation.

Summary Current park projects on the periphery of urban agglomerations highlight the importance of new, ex- tensively used types of open spaces for urban development and for the identity of suburban land- scapes. Due to landscape changes, both fallow lands and extensively managed vegetated areas arise simultaneously and present a new task in open space planning. Developing and maintaining such spaces as extensive open spaces requires methods going beyond conventional horticultural tech- niques. Planning concepts for the revitalization of brownfield sites underline the value of special meth- ods in vegetation planning. These methods can be described as vegetation management as a method of landscape architecture, as they understand existing vegetation, spontaneous colonization and vegetation dynamics as both subject and means of open space design. They allow for the develop- ment of precise design and utilization objectives for controlled vegetation development. Different vege- tation types facilitate a variety of uses and the design allows for the reinterpretation of fallow sites and their vegetation as new open spaces. This design orientated vegetation management is an alternative to the urban wilderness model which aims at developing urban fallow lands through self-regulating vegetation dynamics for the purposes of species and habitat protection as well as for experiencing nature in urban areas. Further potential tasks and a special repertoire of methods can be examined for vegetation manage- ment in landscape architecture for extensive open spaces. These include design methods and vegeta- Sigurd Karl Henne

tion management techniques which can design and control processes of change in vegetation ecology in a targeted manner. The fundamental principle of design is a cultural interpretation of (seemingly) freely growing vegetation as symbolic wilderness and its references to motifs in garden design. Exam- ple plans can be used to demonstrate planning and design methods. They have their own aesthetic qualities and aim at doing justice to the special character of these extensive open spaces and their dynamic vegetation.

1. Einleitung 2. Potenzielle Flächen eines Vegetations- managements der Landschaftsarchitek- Aktuelle Parkprojekte zeigen die Bedeutung tur eines neuen Typs extensiver Freiräume für die Entwicklung der Landschaft städtischer Das mögliche Aufgabenspektrum eines frei- Verdichtungsräume. Als Beispiele hierfür raumplanerischen Vegetationsmanagements können die Internationale Bauausstellung hängt vor allem von verfügbaren Flächen mit Emscher Park und der Regionalpark Rhein- Planungsbedarf und ihren Bedingungen ab. Main genannt werden (Dettmar & Ganser, Einige potenzielle Flächentypen entstehen 1999). Brachen und extensiv bewirtschaftete durch die aktuellen und latenten Landschafts- Flächen an der Peripherie werden somit zu veränderungen städtischer Agglomerationen, einem neuen Aufgabentyp der Landschaftsar- die mit dem Modell der Zwischenstadt be- chitektur und Grundlage zur Entwicklung einer schrieben werden können (Sieverts, 1999). Die neuen Generation von Parks. Die Konzepte Veränderungen haben eine hoch urbanisierte zur Revitalisierung industrieller Brachen der Landschaft entstehen lassen, die für die Ent- IBA Emscher Park belegen dabei die Bedeu- wicklung von Agglomerationen ein zentrale tung eines besonderen Typs der Vegetations- Rolle spielt. Die zunehmenden Urbanisie- planung als neues Instrument der Freiraum- rungsprozesse lösen tiefgreifende Nutzungs- planung. veränderungen aus und lassen eine zuneh- mende Zahl von Brachen oder extensiv bewirt- Einige Projekte, wie beispielsweise der Land- schaftete Flächen entstehen, für die neue schaftspark Duisburg Nord, haben dafür eine (Zwischen-)Nutzungen und Pflegemethoden eigenständige Form des Vegetationsmana- gesucht werden (Losch, 1999).. gements entwickelt. Dieses entwerferische Die Urbanisierung führt darüber hinaus zu Vegetationsmanagement ist ein wesentliches einer Zunahme unbebauter "Restflächen", Element des neuen urban-industriellen Park- z. B. Verkehrsbegleitgrün oder Abstandsfrei- typs. Durch eine aktive Steuerung der vege- flächen von Gewerbe- und Wohngebieten, die tationsdynamischen Veränderungen werden bisher gärtnerisch angelegt und gepflegt wer- differenzierte Gestaltungs- und Nutzungsziele den. Mit dem wachsenden Kostendruck und verfolgt. Die Spontanvegetation wird dabei als auf Grund ökologischer Anforderungen wer- Objekt für freiraumplanerisches Entwerfen den Alternativen für ihre Herstellung und Pfle- interpretiert. ge gesucht. Dieser Typ des Vegetationsmanagements Eine weiteres Flächenpotential für ein Vegeta- durch Landschaftsarchitektur unterscheidet tionsmanagement sind ökologische Aus- sich damit grundlegend von den verschiede- gleichsflächen in der urbanisierten Landschaft, nen stadtökologischen Leitbildern des Vege- die durch gesetzliche Regelungen parallel zur tationsmanagements von Brachen, die städti- wachsenden Flächeninanspruchnahme ent- sche Brachen für Naturschutzziele und ein stehen. Sie werden bisher durch herkömmli- „urbanes Naturerlebnis“ weitgehend durch che Methoden der Landschaftspflege oder ein Prozessschutz entwickeln wollen (Kowarik & spezielles Biotopmanagement entwickelt, die Körner, 2005). die Biotopstrukturen der Kulturlandschaft oder Die Projekte und die Kontroversen über urba- spezielle Zielarten schützen sollen. Auf Grund ne Naturschutzziele machen aber deutlich ihres hohen Aufwandes und teilweise geringen (Kowarik et al., 2004), dass diese besondere Erfolges fordern neue Naturschutzleitbilder die Form des Vegetationsmanagements als In- Integration von natürlicher Dynamik als Pro- strument der Freiraumplanung noch nicht zessschutz, um diese Methoden zu ergänzen etabliert und methodisch noch weiterzuentwi- (Wulf, 1995). ckeln ist. Ein weiterer Kritikpunkt an der Landschafts- Als erste Grundlage soll ihr potenzielles Auf- pflege in Agglomerationsregionen ist, dass gabenspektrum dargestellt werden. wegen der Heterogenität der urbanisierten Landschaft eine Rekonstruktion von Struktu-

108 Vegetationsmanagement als Methode der Landschaftsarchitektur

ren der bäuerlichen Kulturlandschaft fragwür- Die Methoden eines Vegetationsmanagement dig ist. Das angestrebte (historisierende) der Landschaftsarchitektur werden besonders Landschaftsbild von Obstgärten und Hecken- durch den Charakter und die planerischen landschaften kann vor dem Hintergrund von Rahmenbedingungen der genannten Flächen großmaßstäblicher Gewerbegebieten und bestimmt, die im Folgenden dargestellt wer- Verkehrsinfrastrukturen nur fragmentarisch den. sein (Henne, 2004). Aus diesen Entwicklun- gen und Problembeschreibungen werden aber 3. Charakter und Bedingungen potenziel- auch Potenziale eines Vegetationsmanage- ler Flächen eines Vegetationsmanage- ments als Alternative für die Entwicklung die- ments der Landschaftsarchitektur ser Flächen für Naturschutzaufgaben und Viele dieser Flächen sind durch einen „wildnis- neue landschaftsästhetische Leitbilder sicht- artigen“ Vegetationsbestand sich selbst über- bar. lassener Pflanzungen, Spontanvegetation und Ein weiteres Flächenpotenzial bilden bereits Vegetationsdynamik geprägt. Vielfach sind es brachgefallene oder extensiv genutzte land- Brachen, die Probleme wie Altlasten oder bau- wirtschaftliche Flächen, die parallel zum Pro- liche Relikte aufweisen und die ein Gefahren- zess zunehmender landwirtschaftlicher Inten- potenzial darstellen, welches ihre zukünftigen sivierung entstanden sind. Einige stellen we- Entwicklungsmöglichkeiten und die damit ver- gen ihrer Lage und ihres Charakters ein Po- bundenen planerischen Aufgaben beeinflus- tenzial zur Entwicklung extensiver Freiräume sen. Oft sind es Flächen, die lange Zeit unzu- in der urbanisierten Landschaft dar. Beson- gänglich waren. Sie weisen deshalb keine ders Flächen, die spontane Vegetationsbe- geeignete Erschließung auf und sind als terra stände aufweisen, bieten potenzielle Aufgaben inkognita noch nicht im Bewusstsein der Be- für ein Vegetationsmanagement der Land- völkerung als Freiräume verankert. Oft liegen schaftsarchitektur. sie wie „Inseln“ an den Rändern der bebauten Bereiche der urbanisierten Landschaft. Gleich- Teilbereiche der bereits erwähnten Parks an zeitig sind gerade diese Bereiche langfristige der Peripherie der Stadtlandschaft sind schon Entwicklungszonen der Verdichtungsräume jetzt ein reales Aufgabenfeld für ein Vegetati- und wichtige Raumreserven der Zwischen- onsmanagement der Landschaftsarchitektur, stadt. Deshalb liegt oft schon ein breites Spekt- wie die Beispiele des Regionalparks Rhein- rum konkurrierender Nutzungsansprüche vor, Main oder des Bornimer Landschaftspark bei die zwischen landwirtschaftlicher Intensivie- Berlin zeigen. Auf Grund der Planungsbedin- rung, sekundärer Waldentwicklung, Natur- gungen, die für die Entwicklung und Pflege schutzzielen und neuen, extensiven Freiflä- großer Flächen geringe finanzielle Mittel vor- chenfunktion liegen, obwohl die zukünftige sehen, sind dort günstige Methoden der Her- Entwicklung meist noch unbestimmt ist. stellung und Pflege gefordert. Die Projekte zeigen eine ausgeprägte Differenzierung der 4. Aufgaben eines Vegetationsmanage- Pflegeintensitäten, die bis zu Teilbereichen mit ments „wildnisartigem“ Charakter reichen. Vor diesem Hintergrund liegen die Aufgaben Die Parkkonzepte auf der IBA Emscher Park für ein Vegetationsmanagement der Land- deuten an, dass auch andere Typen von In- schaftsarchitektur – besonders aus der Per- dustrie- und Gewerbebrachen ein Aufgaben- spektive der Stadtentwicklung – in ihrem Po- potenzial für ein Vegetationsmanagement der tenzial für eine nachhaltige Entwicklung der Landschaftsarchitektur darstellen. Auch hier urbanisierten Landschaft. Dieses Potenzial kann eine Steuerung der eigenständigen Ve- kann zum Beispiel in einer Kombination von getationsentwicklung zur Entwicklung unter- Naturschutzaufgaben, Ressourcenschutzzie- schiedlicher Vegetationstypen eine Methode len und neuen extensiven Freiraumfunktionen für die Herstellung neuartiger Freiräume sein. an der Peripherie liegen. Konkret kann ein Auf Grund der besonderen Bedingungen der Vegetationsmanagement eine Differenzierung urbanisierten Landschaft und möglichen Funk- unterschiedlicher Teilbereiche erreichen, die tionen der genannten Flächen erscheinen die entweder eher auf Habitatfunktionen mit einer herkömmlichen Elemente und gärtnerischen Betonung der natürlichen Vegetationsdynamik Herstellungs- und Pflegemethoden der Land- oder auf die Gestaltung als Räume für neue schaftsgestaltung und Landschaftspflege nur Freiraumfunktionen gerichtet sind. Die Kombi- wenig geeignet. Sie können zumindest teilwei- nation beider würden sowohl ein Erlebnis von se durch ein Vegetationsmanagement als „urbaner Wildnis“ und neuartig gestalteter Instrument zur Steuerung der „natürlichen“ „dynamischer Natur“ als auch ihre relativ freie Vegetationsentwicklung für (freiraum-) planeri- Nutzung ermöglichen. sche und städtebauliche Ziele ersetzt werden.

109 Sigurd Karl Henne

Abb. 1: Potenzielle Aufgaben von Flächen, die durch ein Vegetationsmanagement der Landschaftsarchitektur ent- wickelt werden.

Gerade Projekte wie der Landschaftspark wicklung urbanisierter Landschaften im größe- Duisburg Nord oder das Schöneberger Südge- ren Maßstab leisten, indem sie helfen, Flä- lände zeigen, dass es eine weitere wichtige chenressourcen zu schützen und zu entwi- Aufgabe eines Vegetationsmanagements ist, ckeln. Eine zielgerichtete, gesteuerte Entwick- durch gestaltende Maßnahmen eine neue lung von „wildnisartigen“ Vegetationsflächen positive Interpretation bisher negativ bewerte- könnte langfristig zum Grundgerüst zukünfti- ter Orte zu ermöglichen. Sie haben gezeigt, ger Freiraumstrukturen der Zwischenstadt dass gerade auf Basis des besonderen Cha- werden und durch die Schaffung wertvoller rakters der spontanen Bestandsvegetation Gehölze und Habitate diese langfristig vor eine neue Wahrnehmung des Ortes erreicht Umwandlung sichern (Henne, 2004). werden kann. Ein wichtiger Aspekt ist dabei, 5. Abgrenzung eines spezifischen Vegeta- dass die vorhandene „verwilderte“ Vegetation tionsmanagement als Methode der auf Grund ihrer Prägungen und besonderen Landschaftsarchitektur Substrate durch die früheren Nutzungen immer auch eine Erinnerungsspur der Geschichte des Als Grundlage zur Entwicklung eines spezifi- Ortes und damit seiner besonderen Identität schen Methodenrepertoires des Vegetations- ist. Dieser Umstand weist auf die Bedeutung managements der Landschaftsarchitektur ist eines respektvollen Umgangs mit der Be- auch eine inhaltliche Abgrenzung zum Mana- standsvegetation hin. Wegen der Dynamik der gement des (urbanen) Naturschutzes notwen- Spontanvegetation und dem Ziel der gestalte- dig. Die verschiedenen Ziele sind in Abbildung rischen Umdeutung führt dieser Respekt je- 1 zusammengefasst. doch nicht zu einer konservierenden Museali- Im Unterschied zu naturschutzorientierten sierung. Formen des Managements von Vegetation Über diese Aspekte hinaus können in ein Ve- und Habitaten, die eine unbeeinflusste natürli- getationsmanagement auch weitergehende che Vegetationsdynamik betonen, versteht ein funktionale Ziele integriert werden. Beispiele Vegetationsmanagement mit freiraumplaneri- hierfür sind die Sicherung von Altlastenflächen scher Perspektive die Steuerung vegetations- und die Produktion von Biomasse zur Energie- dynamischer Prozesse als Mittel aktiver Ges- gewinnung, die als Synergieeffekt den Auf- taltungsziele. wand des Vegetationsmanagements teilweise Der Unterschied zeigt sich konkret in der Be- refinanzieren könnten. tonung der Prozessschutzes und extensiven Flächen eines Vegetationsmanagements kön- Steuerung für Artenziele beim Naturschutz- nen auch einen Beitrag zur nachhaltigen Ent- management im Gegensatz zum Vegetati-

110 Vegetationsmanagement als Methode der Landschaftsarchitektur

Abb. 2: Ebenen und Prinzipien der Gestaltung wildnisartiger Bereiche. onsmanagement der Landschaftsarchitektur, eines Vegetationsmanagements der Land- welches Vegetationsflächen (auch) nutzbar, schaftsarchitektur. zugänglich und ästhetisch wahrnehmbar ma- 6. Grundlagen zur Entwicklung eines ge- chen soll. Dieser Unterschied wirkt sich auch stalterischen Methodenrepertoires auf das Spektrum der Vegetationsformen aus, die in das Management integriert werden. So Eine wichtige Grundlage eines Vegetations- zeigen die bisherigen Beispiele eines Vegeta- managements der Landschaftsarchitektur sind tionsmanagements der Landschaftsarchitektur deshalb Methoden zur Gestaltung von Spon- auch Kombinationen und Benachbarungen tanvegetation und ihrer Veränderungsprozes- von Spontan- und Bestandsvegetation mit se. Diese Gestaltungsansätze für (wirklich (gepflanzten) Kulturarten, die bei naturschutz- oder nur scheinbar) freiwachsende Vegetation orientierten Formen des Vegetationsmanage- und vegetationsdynamischer Prozesse lassen ment fehlen. sich an Beispielen wie dem alten Flugplatz Bonames und dem Park an der Rheinstraße in Grundlage dieser Unterschiede sind grund- Darmstadt zeigen. sätzlich verschiedene Perspektiven auf die Vegetation als Objekt des Managements und Ihre Gestaltungsansätze zeigen Methoden, um Form von Natur. Aus Sicht des Naturschutzes die besondere ästhetische Qualität „wildnisar- ist sie zunächst eine durch naturwissenschaft- tiger Bereiche“ und ihrer Vegetation zu beto- liche Methoden beschriebene Natur und zum nen (Dettmar & Ganser, 1999). Dabei werden Beispiel die Spontanvegetation auf Stadtbra- mehrere Grundlagen und Grundprinzipien der chen ein besonderer Typus, nämlich der einer Gestaltung deutlich, die in den Abbildungen 2 urban-industriellen „vierten“ Natur (S. Körner, und 3 dargestellt sind. 2005). Aus Sicht der Landschaftsarchitektur sind die Pflanzen darüber hinaus immer auch 7. Gestaltungsansätze über die Mecha- nismen der besonderen visuellen Wahr- „kulturelle Natur“ (Höfer, 2000). Das heißt, sie werden immer auch im Kontext der gartenkul- nehmung turellen Bezüge und Bedeutungen wahrge- Ein wichtiger Aspekt des „eigen-artigen“ äs- nommen. Dieser Aspekt ist eine wichtige thetischen Charakters der Spontanvegetation Grundlage der „gestalterischen Methodik“ liegt in ihrer besonderen visuellen Struktur.

111 Sigurd Karl Henne

Aus Sicht der Informationstheorie führt ihre und Vegetationsstrukturen und der Art der Vielfalt und strukturelle Indifferenz in der sinn- Erschließung, lichen Wahrnehmung zu einer Situation eines – das Herausarbeiten der Wahrnehmbarkeit Informationsüberangebots (Arnheim, 1972). von Grenzen oder strukturellen Unter- Das sinnliche Wahrnehmen einer überborden- schieden zwischen verschiedenen Vegeta- den, ungeordneten Vielfalt an Formen und tionstypen, Strukturen macht ihren besonderen visuellen Reiz aus. Seel 1991 beschreibt diesen Effekt – die Kontrastierung mit Artefakten, Garten- als wichtigen Aspekt der ästhetischen Natur- pflanzen oder klar ablesbaren Formen, die wahrnehmung, den er als kontemplativen As- als visueller Gegensatz zu den selbstähn- pekt bezeichnet. Auf dieser Grundlage lassen lichen Strukturen und Mustern der Spon- sich Gestaltungsansätze ableiten, die auf die tanvegetation wahrgenommen werden Wahrnehmung einer visuellen Totale dieser können und so eine Figur-Grundwahr- strukturellen Vielfalt abzielen, indem der Blick nehmung ermöglichen. beispielweise in Wildnisbereiche gelenkt wird, 8. Gestaltungsansätze über die Mecha- die ausschließlich von Spontanvegetation bestimmt werden. Die visuelle Überforderung, nismen der besonderen semantischen die durch diese Struktur ausgelöst wird, lässt Interpretation diesen Ansatz allein aber nicht tragfähig er- Ein weiterer grundsätzlicher gestalterischer scheinen. Ansatz für Bereiche mit wildnisartiger Struktur Ein zweites Gestaltungsprinzip, welches eben- arbeitet mit der semantischen Interpretation, falls auf der besonderen visuellen Wahrneh- als zweite wichtige Ebene ihrer ästhetischen mung von Spontanvegetation beruht, versucht Interpretation. Die semantische Interpretation von Bereichen mit (wirklich oder nur schein- eine „visuelle Ordnung“ im Bildraum zu erzeu- gen, in den die ungeordnete Vegetation integ- bar) freiwachsender Vegetation beruht auf den grundlegenden Mechanismen ästhetischer

a) Differenzierung der Vegetationstypen durch unterschied- b) Steuerung der Perspektive von Vegetation und Raum liche Pflegeintensitäten und lineare Grenzen. Park Darm- durch Lage der Erschließung. Alter Flugplatz Frankfurt stadt Rheinstraße. Bonames.

Abb. 3: Beispiele für Gestaltungsmethoden eines Vegetationsmanagements von extensiven Freiflächen. riert ist. Grundsätzlich arbeitet diese Methode Wahrnehmung. Wesentlich ist dabei, dass mit Relationen (Arnheim, 1972): Damit sind über Assoziation Bezüge zwischen der Spon- visuelle Bezüge zu optisch klar strukturierten tanvegetation und kulturell geprägten „Vor- Objekten oder Ordnungsmustern gemeint, die bildern“ von „freier Natur“ hergestellt werden. eine geordnete Wahrnehmung durch optische In der Landschaftsmalerei der erhabenen Vergleiche ermöglichen. Im Einzelnen sind es: schönen Natur der Berge werden dieser äs- – das Herstellen von räumlicher Perspektive thetisierten Rekonstruktionen von realer Wild- durch Erzeugen unterschiedlicher Raum- nis der Kunst deutlich, die auch Motive der

112 Vegetationsmanagement als Methode der Landschaftsarchitektur

Gartenkultur beeinflusst haben (s. Abb. 4). Die repräsentiert ihre positiven Konnotationen Möglichkeit, diese wilde Natur als „schön“ (Nebenbedeutungen), die sie transportiert (s. wahrzunehmen, beruht auf dem eines kulturel- Abb. 5). Der ästhetische Mythos Wildnis kann len Prozesses und zwar ihrer ästhetischen dabei u.a. positives Symbol sein für: Wiederaneignung auf Basis dieser kulturell – die Autoprozessualität freier Natur (ebd.), erzeugten Vorbilder (Grossklaus, 1993). Auch d. h. ihr vom Mensch unabhängiges Funk- die ästhetische Wahrnehmbarkeit der „frei“ tionieren, wachsenden Vegetation basiert auf den ästhe- tischen Prägungen durch diese künstlerisch – (funktionierende) hochkomplexe Systeme, gestalteten bildhaften Kunst- Wildnisse (Seel, 1991). Diese Vorbilder verankern (analog zur – die schöne Fremdheit der Natur, kulturellen Natur) eine „kulturelle Wildnis“ als – die Rückeroberung der Stadt durch die (wiederkehrenden) ästhetischen Topos im Natur, kollektiven Gedächtnis. – die „innere Wildnis“ psychischer Vorgänge - einen Freiheitsraum jenseits sozialer Kontrolle, – einen Selbsterfahrungsraum für die Erleb- nisgesellschaft. Der Mythos Wildnis wird deshalb als Bedeu- tungsträger für ganz unterschiedliche Bot- schaften, von der Naturpark- bis zur Zigaret- ten-Werbung, genutzt. Künstliche Rekonstruk- tionen von Wildnis werden deshalb als Trivial- schema von Ferienparadiesen bis zu Game- shows verwendet, um positive Interpretationen zu erzeugen (s. Abb. 6).

Abb. 4: Ästhetische Rekonstruktion der Wildnis als Ideal- landschaft (Bild von Frederic E. Church). Die jeweils aktuellen Bilder des ästhetischen Topos Wildnis transportieren dabei auch die jeweiligen kulturellen symbolischen (Be-) Deu- tungen von „Wildnis“. Die ästhetischen Wild- nisrekonstruktionen sind damit Träger der sich ändernden Konnotationen von „freier Natur“. Dieser Mechanismus wird deutlich am Wandel der Bedeutung vom realen wilden Arkadien zu seiner ästhetischen Rekonstruktion als schöne (Schein-) Wildnis arkadischer Gefilde, als bu- Abb. 6: Wildnis als ästhetische Konstruktion für die Wer- kolische Schäferidylle. bung (links) und als Trivialschema für die „Rekonstruktion“ von Ferienparadiesen (rechts). Auch die ästhetische Wahrnehmung von Spontanvegetation profitiert vom Mythos Wild- nis. Sie kann als Symbol für den ästhetischen Topos Wildnis und seine positiven Bedeutun- gen interpretiert werden, die selbst in wissen- schaftlichen Interpretationen der Funktion von Brachen mitschwingen (Keil, 2002). Diese Bedeutungsbeziehung bietet eine weite- re Grundlage von Gestaltungsansätzen für Flächen mit (wirklich oder nur scheinbar) frei- Abb. 5: Die Schönheit der natürlichen Vielfalt – die reale Wildnis als ästhetisches Objekt der Photokunst (Bild von wachsender Vegetation. Thomas Struth). Ein gestalterischer Ansatz ist es, Bezüge zur An aktuellen Beispielen der Werbung, Medien positiven Bedeutung der Autoprozessualität und Kunst zeigt sich, dass die „kulturelle Wild- von „Wildnis“ herzustellen, indem die selbst- nis“ inzwischen längst ein (ästhetischer) „My- ständigen Veränderungsprozesse der Spon- thos“ im Sinne R. Barthes geworden ist. Sie tanvegetation sichtbar gemacht und ästheti- stellt weniger die reale Wildnis dar, sondern siert werden.

113 Sigurd Karl Henne

Eine wichtigere gestalterische Strategie be- Gleichzeitig sind geeignete Darstellungsme- steht darin, durch Flächen mit Spontanvegeta- thoden zur Vermittlung der ästhetischen Quali- tion Assoziationen zu den Vorbildern der äs- täten von wildnisartigen Flächen und ihren thetischen Wildnisrekonstruktionen zu ermög- Veränderungen zu entwickeln. lichen und damit eine Semantisierung des Bildraums zu erzeugen. Dies kann durch Arte- fakte oder ähnliche Anordnungsmuster er- reicht werden. Ein Beispiel ist der assoziative Bezug zwischen den Hochofenrelikten mit Spontanvegetation im Landschaftsparks Duis- burg Nord und den künstlichen Ruinen mit ihrer naturhaften Vegetation im romantischen Landschaftsgarten. Die Ähnlichkeiten verwei- sen auf diese „Vorbilder“ und nutzen ihre posi- tiven Konnotationen wie ihre bereits tradierten Bildstrukturen (Henne, 2005).

Durch die Integration von Artefakten aus der Abb. 8: Planungsmethoden eines Vegetationsmanage- Geschichte des Ortes können darüber hinaus ments für extensive Freiräume (Studienprojekt TU Mün- neue semantische Bedeutungen oder auch chen Kokerei Hansa Dortmung). Oben: Aufgabe – Beschreibung des Bestandes und der freie Assoziationen erschlossen werden. planerischen Zielsetzungen. Die Projekte der IBA Emscher Park zeigen Unten: Lösungsansatz – Typisierung von Bestands- und Zielvegetationszonen. auch die Bedeutung von Vorort-Informationen als eine zentrale Aufgabe eines Vegetations- Ein Lösungsansatz zur planerischen Beschrei- managements der Landschaftsarchitektur. bung der meist hochkomplexen Struktur spon- Dabei wird durch die Erläuterung der besonde- taner Vegetationsbestände besteht in der Zu- ren Prozesse vor Ort eine Semantisierung und sammenfassung und flächenscharfen Abgren- Ästhetisierung des Ortes selber erreicht. zung von Vegetationstypen mit ähnlichen Ei- genschaften. Diese Kategorisierung ist nicht kongruent mit der vegetationsökologischen Zusammenfassung von Pflanzengesellschaf- ten u. ä., sondern ist an die planerischen Ziele und die Bestandssituation der jeweiligen Pla- nungsaufgabe anzupassen. Parameter für diese Einteilungen können geeignete visuelle, strukturelle und vegetationsökologische Merk- male sein. Die Typisierung von Vegetationsar- ten und Vegetationsstrukturen kann auch zur Beschreibung der planerischen Zielvorstellun- gen genutzt werden. Damit können geplante Abb. 7: Erschließen assoziativer Bezüge zu Vorbildern des ästhetischen Topos Wildnis durch Artefakte und Struktur Vegetationstypen beschrieben und flächen- (Bild von Claude Lorrain/ Skulptur von H. Prigans Skulptu- scharf lokalisiert werden. Allerdings sollten renpark Rheinelbe Gelsenkirchen). auch die Zwischenstadien der dynamischen Entwicklungsprozesse bedacht und dargestellt 9. Ansätze zur Entwicklung spezifischer werden. Planungs- und Darstellungsmethoden Für die notwendige Visualisierung der planeri- Eine weitere notwendige Grundlage eines schen Zieltypen bietet sich an, das „geplante“ eigenen Methodenrepertoires des Vegetati- Artenspektrum und die Struktur der jeweiligen onsmanagements der Landschaftsarchitektur Vegetationsfläche darzustellen. Hilfreich sind bilden Instrumente, die an die Bedingungen dabei Darstellungen der Höhenentwicklung, zur Planung und Darstellung von Flächen mit Struktur der Einzelpflanzen und des Gesamt- Spontanvegetation angepasst sind. bestandes und ihrer jahreszeitlichen Verände- Eine planerische Herausforderung stellt die rungen. nicht genau bestimmbare Verteilung der Arten Für die Visualisierung der komplexen Entwick- und Formen und die relative Unvorhersehbar- lungsprozesse können Phasenpläne und Ver- keit ihrer Entwicklung dar. Sie prägt das Aus- änderungsszenarien dienen, welche die Ver- sehen der Flächen, die durch die Spontanve- änderungen – je nach Präzision der Darstel- getation und ihrer Vegetationsdynamik be- lung – nachvollziehbarer machen. stimmt sind. Diese Charakteristik erfordert besondere Planungsmethoden, die diese Eine planerische Herausforderung stellt die strukturelle Unschärfe planbar machen. nicht genau bestimmbare Verteilung der Arten

114 Vegetationsmanagement als Methode der Landschaftsarchitektur

und Formen und die relative Unvorhersehbar- Anschrift keit ihrer Entwicklung dar. Sie prägt das Aus- Prof. Sigurd Karl Henne sehen der Flächen, die durch die Spontanve- Bresch Henne Mühlinghaus getation und ihrer Vegetationsdynamik Planungsgesellschaft Literatur Bahnhofstr. 13 D-64625 Bensheim Arnheim (1972). Anschauliches Denken. Zur E-Mail: [email protected] Einheit von Bild und Begriff. DuMont. Ost- fildern. Dettmar, J. & Ganser, K (1999). IndustrieNatur Ökologie und Gartenkunst im Emscher Park. Ulmer. Stuttgart. Grossklaus, G. (1993). Natur-Raum: von der Utopie zur Simulation. Iudicium-Verlag. München. Henne, S. K. (2005). „New Wilderness as an Element of the Peri-urban Landscape“ In: Kowarik I, Körner S 2005 (eds.). Wild Ur- ban Woodlands. Springer. Berlin/ Heidel- berg. S. 247-262. Henne, S. K. (2004). Urbane Wildnis - Element der Zwischenlandschaft, in: Garten und Landschaft 2004 /02. Höfer, W. (2000). Natur als Gestaltungsaufga- be. München. Keil, A. (2002). Industriebrachen: innerstädti- sche Freiräume für die Bevölkerung. Dortmunder Vertrieb für Bau und Pla- nungsliteratur, Duisburger Geographische Arbeiten. Band 24. Dortmund. Körner, S. (2005). New Wilderness as an Ele- ment of the Peri-urban Landscape, In: Ko- warik I. & Körner, S. (2005) (eds.). Wild Urban Woodlands. Springer. Berlin/ Hei- delberg. Kowarik, I., Körner, S. & Poggendorf, L. (2004). Vom Natur- zum Erlebnispark. Garten u. Landschaft 114. S. 24-27. Kowarik, I. & Körner, S. (2005) (eds.). Wild Urban Woodlands. Springer. Berlin/ Hei- delberg. Losch, S. (1999). Nutzungsanspruch Wohnen, Nutzungsanspruch Landwirtschaft. In: A- kademie für Raum- und Siedlungsentwick- lung/ Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.). Flächenhaus- haltspolitik Feststellungen und Empfehlun- gen für eine zukunftsfähige Raum- und Siedlungsentwicklung. ARL. Hannover. Seel, M. (1991). Eine Ästhetik der Natur. Suhr- kamp. Frankfurt am Main. Sieverts, T. (1999). Zwischenstadt. Birkhäuser. Frankfurt am Main. Wulf, A. (1995). Neue Wege im Naturschutz. LÖBF Mitteillungen 4/95.

115

CONTUREC 2 (2007) Seite 117 bis 127

Aktuelle Herausforderungen für die Freiraumplanung in schrump- fenden Städten

Current challenges for green space planning in shrinking cities

STEFANIE RÖßLER

Zusammenfassung Demografische und ökonomische Schrumpfungsprozesse führen zu einem anhaltenden und massiven Nachfragerückgang nach Wohn- und Gewerbebauten sowie Infrastruktureinrichtungen vor allem in ostdeutschen Städten. In der Folge werden Nutzungen aufgegeben, Gebäude abgerissen und Flä- chen brach fallen. In diesem Beitrag stehen die stadträumlichen Konsequenzen von Leerstand und Rückbau und der Umgang mit den frei werdenden Flächen im Mittelpunkt. Ein nachhaltiger Stadtum- bau unter Schrumpfungsbedingungen mit dem Ziel der Verbesserung der städtischen Lebens- und Umweltqualität bedarf zunehmend freiraum- und landschaftsplanerischer sowie stadtökologischer Handlungsansätze. Zunächst werden die veränderten Rahmenbedingungen der Freiraumplanung in schrumpfenden Städten erörtert. Vor diesem Hintergrund werden die Chancen und Herausforderun- gen für die Freiraumentwicklung aus gesamt- und teilstädtischer Perspektive dargestellt und mit eini- gen Beispielen aus schrumpfenden Städten illustriert. Zusammenfassend werden Forderungen an eine zukunftsfähige Freiraumplanung unter Schrumpfungsbedingungen formuliert.

Schrumpfung, Stadtumbau, Freiraumplanung, Wohnumfeld, Nachhaltigkeit, Demografischer Wandel, Leitbilder.

Summary Many cities in eastern Germany are affected by processes of demographic and economic shrinkage. Loss of population and economic downturn result in a fall in the demand for housing, commercial property and buildings of the social infrastructure, creating a surplus. Increasing vacancies call for the demolition of buildings, producing more empty spaces and transforming the urban fabric. This article focuses on the spatial perspective of shrinkage and the challenges for future urban and green space development. Urban restructuring is regarded as a strategic response to the current situation and a way of improving the quality of life and sustainable development in shrinking cities by revitalising ur- ban areas. On account of this, green space planning, landscape architecture and urban ecology are important fields of action in shrinking cities. At first the changing framework of urban green space planning in shrinking cities will be described. Against this background the opportunities and challenges for green space development will be outlined from different spatial perspectives and illustrated by ex- amples from shrinking cities. Summarising requirements for future sustainable green space planning under shrinking conditions will be stated.

1. Einleitung: Schrumpfende Städte Deindustrialisierungsprozesse im ostdeutschen Wirtschaftsraum führen zu ökonomischen Die Ursachen und Wirkungen der Schrump- Problemen in den betroffenen Städten. Eine fungsprozesse in ostdeutschen Städten sind Folge dieser Entwicklung ist eine Verschärfung eng miteinander verwoben und durch demo- der Finanznot der Kommunen. grafische, ökonomische und räumliche Vor- gänge gekennzeichnet (Hannemann, 2003; Ein zurückgehender Nutzungsdruck erzeugt Gatzweiler et al., 2003): Leerstand von innerstädtischen Wohn- und Gewerbebauten. Der Rückbau ungenutzter Demografische Prozesse bedeuten Verände- Gebäude und Infrastruktureinrichtungen führt rungen in der Bevölkerungszahl und -struktur. vor allem im Zusammenspiel mit einer gleich- Rückläufige Geburtenzahlen und Sterbeüber- zeitig feststellbaren fortschreitenden Suburba- schüsse führen zum Rückgang der absoluten nisierung und Flächeninanspruchnahme im Bevölkerungszahl und einer relativen Überalte- Umland der Städte zu einer Reduzierung der rung der Gesellschaft. Binnen- und Außen- baulichen Dichte der Städte. wanderungen haben inter- und intraregionale Umverteilungen von Menschen und weiterhin Die Folgen der Schrumpfungsprozesse können eine zunehmende Internationalisierung der jeweils für die „3 Dimensionen der Stadt“, die Bevölkerung zur Folge. in vielfältigen Wechselbeziehungen stehen, Stefanie Rößler

beschrieben werden: Gebaute Stadt, Stadt als Demografischer und gesellschaftlicher Wirtschafts- und Lebensraum und Stadt als Wandel politische Institution und administrative Körper- Demografische Veränderungen und der Wan- schaft (Mäding, 2003). del der Arbeits- und Lebenswelten können zu Für die räumliche Planung sind vor allem die veränderten qualitativen und quantitativen erheblichen räumlich-strukturellen Verände- Ansprüchen an Freiraumangebote sowie Ver- rungen sowohl innerhalb der Städte, als auch änderungen des Freiraumverhaltens verschie- der Stadtregionen sowie der peripheren und dener Bevölkerungsgruppen führen. ländlichen Bereiche Handlungsfeld (Kil et al., Die stetige Abnahme der Bevölkerungszahl 2003; Müller & Kilper, 2005). Die räumlichen kann zu geringeren Nutzerdichten und Nut- Folgen des demografischen und wirtschaftli- 1 zungsintensitäten einzelner Freiräume führen. chen Wandels sollen mit dem Stadtumbau als Durch Sparzwänge der Kommunen können zentrale planerische Strategie zum Umgang daraus vereinzelt eine Ausdünnung einzelner mit diesem „Mehr an Raum“ in der Stadt be- Freiraumangebote resultieren. Hingegen kann wältigt werden. Für die Städte der neuen Bun- in bisher sehr dichten und unzureichend mit desländer ist zu erwarten, dass die räumlichen öffentlichen und privaten Freiräumen ausges- Veränderungen größtenteils von dauerhafter tatteten Wohnquartieren der Nutzungsdruck Natur sein werden und daher langfristig tragfä- auf die einzelne Fläche sinken und zu einer hige Konzepte zum Umgang mit Leerstand, Qualitäts- und Nutzbarkeitsverbesserung des Abriss und Brachen entwickelt werden müs- Freiraums führen. Sinken die Nutzerzahlen in sen. Im Stadtumbauprozess entstehende Flä- einigen Gebieten allerdings erheblich, kann chenreserven sind dabei so aufzubereiten, dies auch mit einem Verlust sozialer Kontrolle dass sie ihren Potenzialen und künftigen Nut- einhergehen. Dies wiederum kann das indivi- zungen gerecht werden und im Sinne des An- duelle Sicherheitsempfinden nutzungsein- spruchs des Förderprogramms „Stadtumbau schränkend beeinflussen und evtl. Vandalis- Ost“ einen Beitrag zur Aufwertung und Attrakti- musprobleme verschärfen. vitätssteigerung der schrumpfenden Städte leisten (BMVBW & BBR, 2003). Dieses Bestre- Es ist anzunehmen, dass die Versorgung der ben erfordert vor allem in Zusammenhang mit Bevölkerung mit Grünflächen mit speziellen dem Zuwachs an freien Flächen freiraum-, Angeboten und entsprechender Ausstattung landschaftsplanerische und stadtökologische und Unterhaltungsintensität – legitimiert durch Handlungsansätze. Freiraum- und Umweltqua- entsprechend hohe Nutzerzahlen – in ange- lität ist dabei auch als ein Bestandteil der we- messener Entfernung zum Wohnort nicht mehr sentlichen Forderung des Stadtumbaus nach gleichwertig über das gesamte Stadtgebiet mehr Wohn- und Lebensqualität zu sehen und möglich sein wird. Hingegen ist zu erwarten, für eine nachhaltige Stadtentwicklung unent- dass extensiv gepflegte, naturnahe und wenig behrlich. nutzungsspezifische Freiräume in vielen bisher evtl. auch unterversorgten Stadtgebieten ei- Für das Handlungsfeld der Freiraumplanung in nem breiteren Bevölkerungsanteil zugänglich einer schrumpfenden Stadt bedeuten die sein werden, da von einem relativen Zuwachs räumlichen Anpassungserfordernisse in quanti- von Freiräumen ausgegangen werden kann. tativer Hinsicht einen Zuwachs an freien Flä- chen und damit potenziellen Freiräumen2. Die Neben den quantitativen Wirkungen der Bevöl- demografische Komponente wirkt sich weiter- kerungsentwicklung sind auch die Veränder- hin in qualitativer Hinsicht auf die Nutzung, die ungen in der Bevölkerungsstruktur von Bedeu- Funktion und die Gestalt von Freiräumen aus. tung. Dabei ist es sinnvoll, neben den rein Die ökonomische Komponente der Schrump- demografischen Faktoren (Alterung, Internati- fung beeinflusst die Möglichkeiten für die Fi- onalisierung), auch die davon nur bedingt zu nanzierung und Umsetzung der Freiraumpla- trennenden gesellschaftlichen und soziokultu- nung. rellen Veränderungen (Heterogenisierung, Pluralisierung) zu betrachten. Beide Sphären 2. Rahmenbedingungen für die Freiraum- sind eng miteinander verwoben und lassen – planung in schrumpfenden Städten wenn auch in unterschiedlichem Maße und bisher noch weitgehend unklare – veränderte Schrumpfungsprozesse wirken sich auf die Bedürfnisse und Anforderungen an die Funkti- städtischen Handlungsfelder recht unterschied- on und Gestalt von Freiräumen erwarten (Nohl, lich aus. Im Folgenden werden die zentralen 2002). Ob sich unterschiedliche Lebensstile Aspekte der Schrumpfung und deren räumli- tatsächlich auf das Freiraumverhalten oder che Konsequenzen hinsichtlich ihrer Wirkun- freiraumrelevante Nutzungsmuster auswirken gen für die Freiraumplanung als Rahmenbe- und es zu grundlegenden Veränderungen der dingungen der künftigen Entwicklung erörtert. Freiraumansprüche und damit Freiraumange- bote kommen wird, kann kaum vorausgesagt 118 Aktuelle Herausforderungen für die Freiraumplanung in schrumpfenden Städten

werden und bedarf empirischer Untersuchung ästhetischer und ökologischer Qualität verbun- (Tessin, 2004). den (Schröder, 1997). Wesentlich hingegen scheinen die demografi- Im Zusammenhang mit neuen Finanzierungs- schen und gesellschaftlichen Veränderungen, formen wird auch die Notwendigkeit einer „Re- die sich in der zahlenmäßigen Verschiebung strukturierung der kommunalen Freiflächen- einzelner Bevölkerungsgruppen äußern. Ein- planung“ diskutiert (BBR, 2004; auch Preisler- zelne Freiraumangebote könnten somit durch- Holl, 2004; Alberthauser, 2004). Die öffentliche aus verstärkt nachgefragt werden: z. B. stei- Hand als meist alleiniger Träger öffentlicher gender Bedarf wohnungsnaher Freiräume Grünflächen kann die Aufgaben der Bereitstel- durch den wachsenden Anteil älterer Men- lung und Unterhaltung sowohl aus finanziellen schen (Schmidt, 2005). Die Internationalisie- als auch organisatorischen Gründen nicht rung der Bevölkerung als Folge von Außenzu- mehr in gewohntem Umfang gewährleisten. Es wanderung kann neue, an den Bedarf von werden neue Lösungen der Kooperation mit Migranten angepasste Freiraumformen erfor- lokalen Akteuren benötigt, um Aufgaben aus- dern (z. B. Grabeland, Gemeinschaftsgärten). zugliedern und die Verwaltung auch finanziell Sollte die Nachfrage nach privat nutzbarem zu entlasten (Doehler-Behzadi et al., 2005). In Freiraum tatsächlich steigen (Milchert 1996), diesem Zusammenhang sollten auch die staat- kann dies eine Chance zur Entlastung der lichen Kernaufgaben überdacht und der Weg Flächeneigentümer sein, welche so Unterhal- vom versorgenden zum aktivierenden Staat tungsleistungen an Private abgeben können. geebnet werden (Giseke, 2004). Aktuelle Un- tersuchungen zum Stand der Praxis zeigen, Ökonomische Rahmenbedingungen dass für eine Entlastung der öffentlichen Hand privatrechtliche Vereinbarungen einen größe- Es wird davon ausgegangen, dass die demo- ren Rahmen einnehmen könnten. Hier wird grafischen Veränderungen die kommunalen auch die Notwendigkeit eines Überdenkens Haushalte und damit deren Handlungsspiel- der gegenwärtigen Fördermittelpolitik deutlich räume für die öffentliche Daseinsvorsorge (BBR, 2004). stark einschränken werden (Seitz, 2006). In

Zukunft wird die Frage nach der Finanzierbar- Stadtumbau keit des Freiraumbestandes und -zuwachses bei zunehmend enger werdenden finanziellen Die politisch forcierte Strategie des Stadtum- Spielräumen die entscheidende Rolle bei baus lässt die Schrumpfungsprozesse auch im Nachnutzungsüberlegungen spielen. Stadtbild deutlich werden. Zur Bewältigung des Leerstandproblems, der Konsolidierung des Finanzielle Einschränkungen der öffentlichen Wohnungsmarktes und der Attraktivitätssteige- Hand und teilweise der privaten Eigentümer rung schrumpfender Städte wird im Rahmen bedürfen insbesondere vor dem Hintergrund des Bund-Länder-Programms „Stadtumbau einer Zunahme an Freiräumen neuer Hand- Ost“ die Doppelstrategie des Rückbaus nicht lungsansätze. Dies betrifft die Anlage und Un- mehr benötigter Wohnbausubstanz und der terhaltung von Freiräumen sowie der institutio- Aufwertung verbleibender Stadtquartiere ver- nellen, organisatorischen und instrumentellen folgt. Rahmenbedingungen der Freiraumplanung. Neben Fördermitteln wird verstärkt der Einsatz Neben der Aufgabe von Wohngebäuden fallen privater Gelder und bürgerschaftlichen Enga- auch Gewerbe- und Verkehrsinfrastruktur- gements notwendig. Neue Finanzierungsan- standorte brach. Resultat des Abrisses und der sätze der aktuellen Stadtumbaupraxis sind Beräumung ist eine durch einen Zuwachs an teilweise bezüglich ihrer Eignung und Zu- freien Flächen geprägte Stadtstruktur. Die frei kunftsfähigkeit im Hinblick auf eine nachhaltige werdenden Flächen unterliegen in den seltens- und qualitätvolle Freiraumentwicklung kritisch ten Fällen einem ökonomisch Nachnutzungs- zu betrachten (u. a. Preisler-Holl, 2004; druck in Form von neuer Wohnbebauung oder Gottfriedsen, 2004). Insbesondere ist auf die Gewerbeansiedlung. In den meisten Fällen „Grenzen freiwilligen Handelns“ und des Han- wird derzeit eine temporäre Nutzung oder dau- delns ohne Geldfluss hinzuweisen, denn: erhafte Widmung als Freiraum zur Nachnut- „Qualität ist in der Regel nicht ohne Geld und zung in Frage kommen. Zeitaufwand herstellbar“ (BBR, 2004). Ebenso Betrachtet man die Realität der ostdeutschen kann die Abgabe kommunaler Aufgaben bei Städte, so findet in den meisten der von der Freiraumversorgung durch z. B. Privatisie- Schrumpfung betroffenen Städte kleinräumig rung und Sponsoring zu einer geldgeberbe- auch flächenmäßiges Wachstum statt. Auch stimmten Gestaltung und Nutzung von Frei- hier gelingt es nur teilweise, Flächenbedarfe räumen führen. Hiermit sind Gefahren der auf Brachflächen der bestehenden Stadt zu Ausgrenzung bestimmter Bevölkerungsgrup- lenken. Durch die Flächenneuinanspruchnah- pen und der Verlust von Öffentlichkeit sowie me am Stadtrand und im Umland der Städte 119 Stefanie Rößler

entstehen zusätzlich im Rahmen der Anlage bildet die Rahmenbedingungen für die ge- von Gewerbe- und Wohngebieten Freiräume samtstädtische Freiraumentwicklung. Vertei- als gestalteter Zwischenraum oder Wohnum- lung, Menge und Lage stellen unterschiedliche feld. In der Gesamtbilanz und aus Sicht der Anforderungen an die Gestalt und Nutzung der städtischen Grünverwaltungen ist somit von potenziellen Freiräume. Der Diskurs zur Stadt- einer Zunahme von Freiräumen im Siedlungs- entwicklung ist zwischen den beiden Polen (1) bereich auszugehen. der kompakten, der Idee der Europäischen Stadt folgenden Stadtmodelle und (2) der An- 3. Chancen für die Freiraumentwicklung in erkennung und bewussten Gestaltung des schrumpfenden Städten Trends zur Auflösung der Stadt in der Stadtre- gion folgenden Stadtmodelle angesiedelt Die entstehenden Flächen bieten – gepaart mit (Kühn, 2000; Hesse & Schmitz, 1998). Die einem Mangel an baulichen Nachnutzungsbe- Entscheidung für ein bestimmtes Stadtmodell darfen – Möglichkeiten einer Freiraumentwick- sagt immer auch etwas über die Bedeutung, lung frei von Legitimationsdruck und Nut- die künftig dem Freiraum beigemessen wird, zungskonkurrenzen. Im Gegenteil: Der Frei- aus. raumplanung wird in der schrumpfenden Stadt die Aufgabe zuteil, Nachnutzungsideen für die Das politische und durch die Nachhaltigkeits- frei werdenden Flächen zu liefern und damit diskussion bestimmte Paradigma der Reduzie- gleichzeitig einen Beitrag zur nachhaltigen und rung der Flächenneuinanspruchnahme und der lebenswerten Stadt zu leisten. Wiedernutzung innerstädtischer Brachflächen zur Befriedigung von Flächenbedarfen mündet Diese Gestaltungsspielräume beinhalten aber in der Regel in der Forderung nach einer kom- auch neue und teilweise unklare Aufgaben. So pakten Stadtstruktur (RNE, 2004; BMVBW, bewegen sich Freiräume in einem Spannungs- 2005). Dies erfordert insbesondere eine Aus- feld, wo sie zum einen „Standortmacher“ und einandersetzung mit den vorhandenen und zum anderen „Zwischenlösung“ sind (Giseke, entstehenden freien Flächen. Neue (grüne) 2002). Der Umgang mit den neuen Leerräu- Freiräume in der Stadt sind zum einen öffentli- men in schrumpfenden Städten ist geprägt von cher Raum für die Bevölkerung und erfüllen einer Gratwanderung zwischen den Chancen zum anderen auch stadtökologische Funktio- der Auflockerung, neuen Nutzungsmöglichkei- nen als Lebens- und Ausgleichsraum. Freie ten und Qualitäten einerseits und negativen Baulandflächen stellen aber auch Innenent- Wahrnehmungen des Verlusts und des Aufge- wicklungspotenziale dar, die im Hinblick auf bens andererseits (Doehler-Behzadi et al., den Schutz von Freiräumen im Außenbereich 2005). Im Zuge der Transformation der ge- nach Möglichkeit als Bauland vorgehalten und bauten Stadt unter Schrumpfungsbedingungen genutzt werden sollen. kann somit durchaus von einer wachsenden Bedeutung und einem veränderten Verständ- Die Diskussion um die Nachhaltigkeit der Stadt nis städtischer Freiräume ausgegangen wer- ist somit eng mit den verwendeten Modellen den (z. B. Kaltenbrunner, 2004; Doehler, 2003; bzw. Leitbildern der Siedlungsentwicklung Ganser, 2001). verbunden. Die Abwägung sozialer, ökologi- scher und ökonomischer Belange kommt ins- Gesamtstädtische Freiraumentwicklung besondere in der Frage der Nutzung freier Flächen in der Stadt zum Tragen. Für einen Der Umgang mit städtischen Schrumpfungs- Teil der Flächen ist eine bauliche Nachnutzung prozessen steht in engem Zusammenhang mit im Rahmen einer qualitativen Innenentwick- der gesamtstädtischen Freiraumentwicklung. lung sicher sinnvoll und erstrebenswert. Je- In Anlehnung an planungstheoretische Grund- doch bedarf ein zukunftsfähiger Freiraumbe- muster und Modelle der Stadtentwicklung ent- stand auch in der schrumpfenden Stadt eines wickeln betroffene Städte unterschiedliche konsequenten Bekenntnisses zu einer langfris- Zielvorstellungen zur räumlichen Umsetzung tig gesicherten Freiraumentwicklung (Hutter et des Stadtumbaus. Diese sind weiterhin abhän- al., 2004; Heiland, 2005). gig von den rechtlichen und ökonomischen Zwängen der Stadtumbaupraxis, der historisch Eine Rückführung der in der Regel auch ohne gewachsenen Stadtstruktur und dem jeweili- Schrumpfung mehr oder weniger zersiedelten gen Problemdruck. Stadtregionen auf einen kompakten und nut- zungsgemischten Stadtkörper entspricht Der Zuwachs an Freiflächen und die Verände- i. d. R. nicht der aktuellen Praxis der Stadtent- rungen in der Stadt- und Freiraumstruktur ist wicklung: Gebaut wird dort, wo Bauland preis- im Zusammenhang mit den künftigen Leitbil- wert und schnell verfügbar ist. Abgerissen wird dern der Freiraum- und Stadtplanung zu be- dort, wo Leerstand und vermeintlich nicht an trachten (u. a. Reuther, 2002b). Das Bekennt- aktuelle Wohnbedürfnisse anpassbare Woh- nis zu einem Stadtmodell, manifestiert in pla- nungen mit klaren Eigentümerverhältnissen nerisch und politisch formulierten Leitbildern, 120 Aktuelle Herausforderungen für die Freiraumplanung in schrumpfenden Städten

und der Verfügbarkeit entsprechender Förder- Vereinbarungen angestrebt, die eine zeitlich mittel zusammenkommen. Dementsprechend beschränkte Nutzung als öffentliche oder privat gestalten sich die Flächennutzungsmuster in genutzte Grünfläche ermöglichen, dem Eigen- schrumpfenden Städten. Rückbau findet in den tümer das Baurecht aber grundsätzlich erhal- Plattenbausiedlungen am Stadtrand genauso ten bleibt (z. B. Gestattungsvereinbarung). wie in den innenstadtnahen Altbauquartieren statt. Parallel dazu siedeln sich neue Nutzun- gen am Stadtrand an.

Statt einer oftmals einseitigen Forderung nach einer kompakten Stadt in der Tradition der

Europäischen Stadt – welche auch in der aktu- ellen Stadtumbaurealität trotz Planung und

Steuerungsanspruch oft nicht erreicht werden kann – sollte sich in Bezug auf die unterschied- lichen topografischen oder auch historischen

Voraussetzungen einzelner schrumpfender

Städte auch mit anderen möglichen (räumli- chen) Modellen einer nachhaltigen Stadtent- wicklung auseinandergesetzt werden (Doehler-

Behzadi et al., 2005). Leitbilder, die sich eher an einer gegliederten oder fragmentierten Abb. 1: Blockentkernung und Nachnutzung als Quartiers- Stadtstruktur orientieren, erscheinen ange- park in einem Leipziger Gründerzeitquartier (Foto: S. sichts der Stadtumbaupraxis oftmals realisti- Rößler). scher und sind unter diesen Voraussetzungen in einigen Städten eventuell auch die tragfähi- Die freiraumplanerischen Maßnahmen werden geren Leitbilder im Sinne einer nachhaltigen durch die Aufwertung der von Leerstand und Stadtentwicklung. Beispielsweise kann auch Niedergang betroffenen Wohnquartiere legiti- die Konzentration auf mehrere dichte Kerne zu miert. Allerdings sind die sozialen, gestalteri- einer nachhaltigen Stadtstruktur führen, wenn schen und ökologischen Qualitätsverbesse- sie eher den realen Gegebenheiten entspricht rungen im Wohnumfeld tatsächlich temporärer (Blume, 2005). Die Räume zwischen den „ur- Natur. Die viel beschworenen Vorteile sind banen Inseln“ stellen dabei Freiraumkategorien demnach so lange gut genug, bis – eventuell dar, die neue Nutzungs- und Gestaltoptionen sogar durch die Aufwertung und Stabilisierung für die in Fragmenten schrumpfende Stadt angezogene – Investitionen auf den Bauland- sowohl bereithalten, aber auch erfordern. flächen die langfristigen freiraumplanerischen Belange wieder nachrangig werden lassen Altbauquartiere (Beispiele für Freiraumangebote auf Basis von Gestattungsvereinbarungen siehe Abb. 2-4). Die kleinräumige Umsetzung des Stadtumbaus hängt auch von den städtebaulichen Voraus- setzungen in den einzelnen Stadtstrukturtypen ab. Daneben bestimmen die Flächenverfüg- barkeit und die Nutzungsanforderungen die Gestaltungsspielräume für die Nachnutzung der durch Rückbau frei werdenden Flächen.

Der Abriss einzelner Gebäude bis hin zu gan- zen Straßenzügen in Altbauquartieren lässt zunächst eine Entdichtung, mit den positiven Effekten eines potenziellen Freiraumzuwach- ses, in bisher meist mit Freiräumen unterver- sorgten Quartieren erwarten. Kleinräumig kön- nen so im direkten Wohnumfeld Flächen für die öffentliche und auch private Freiraumnut- zung bereitgestellt werden (Abb. 1).

Oft handelt es sich bei den Flächen jedoch um Baugrundstücke von einzelnen Privateigentü- mern, die an einer langfristigen Umwidmung ihrer Immobilie zur Grünfläche auf Grund des Wertverlustes nicht interessiert sind. Aktuell Abb. 2: Temporäre Begrünung einer Baulücke in Leipzig werden für diese Flächen meist privatrechtliche (Foto S. Rößler). 121 Stefanie Rößler

eine Rolle sowohl für den ökologischen Aus- gleich der Stadt als auch als stadtnaher Erho- lungsraum spielen. Hierfür können aber vor allem auch das einfache „Liegenlassen“ und die Möglichkeit zur Sukzession auf den Flä- chen in Frage kommen.

Abb. 5: Abrissfläche am Rand der Großwohnsiedlung Cottbus Sachsendorf Madlow (Foto: S. Rößler).

Nicht in all diesen Siedlungen gelingt die Um- Abb. 3 und 4: Abriss maroder Bausubstanz und Nachnut- zung eines Privatgrundstücks als Jugendtreffpunkt auf setzung der Strategie des Rückbaus von au- Grundlage einer Gestattungsvereinbarung, Dresden (Fo- ßen nach innen. Heterogene Eigentümerstruk- tos: S.Rößler, W. Reichel). turen, durch bereits erfolgte Sanierungen mit Krediten belastete Bestände und durch klein- Großwohnsiedlungen räumige Lagequalitäten bei den Bewohnern Der Großteil des gegenwärtigen Rückbauvo- beliebte und damit vermietbare Wohnungsbe- lumens wird derzeit in den zumeist randstädti- stände können die konsequente Umsetzung schen Großwohnsiedlungen in Plattenbauwei- des Rückbaus vom Rand her erschweren. se umgesetzt3. Abhängig von der Leerstands- Durch einen kleinteiligen, perforierenden struktur, dem Sanierungsstand und den Eigen- Rückbau werden die meist schon vorhandenen tumsverhältnissen kann man hier zwei unter- grünen und großzügigen städtebaulichen schiedliche Stadtumbauansätze unterschei- Strukturen weiter aufgeweitet und es entstehen den: (1) Rückbau von außen nach innen und weitere Freiflächen. Sowohl die finanziellen (2) Rückbau als kleinteilige Perforation. Mittel als auch der geringer werdende Nut- zungsdruck rechtfertigen meist nur eine einfa- Stadtplanerisch forciert wird der Rückbau gan- che Begrünung. Sozialräumliche Qualitäten zer Quartiere bestenfalls in randlicher Lage, können so nicht geschaffen werden. Im Ge- um zum einen das städtebauliche Gefüge der genteil, die Auflockerung der Wohngebiete, verbleibenden Bestände und zum anderen die welche einhergeht mit meist weiter hohem Betriebsbedingungen vor allem der techni- Leerstand, Abbau infrastruktureller Versorgung schen Infrastruktur günstig zu erhalten. und weiteren Abrissen, wird eher als Nieder- gang und Abwärtstrend wahrgenommen. Wir- Im Resultat entstehen große, zusammenhän- ken die Flächen dann auch noch – wenn auch gende Freiflächen, meist in direkter Nachbar- ökologisch durchaus wertvoll – verwahrlost, schaft zu Landschaftsräumen des Stadtumlan- kann sich dieser Eindruck noch verstärken des (Abb. 5). Nur selten bestehen Bemühun- (Rößler et al., 2005). Gegenwärtig fehlt es an gen bzw. Möglichkeiten, diese Flächen bei- Ansätzen, eine Inwertsetzung dieser Flächen spielsweise als Einfamilienhausstandorte wei- und damit auch der Quartiere durch freiraum- terzuentwickeln. Gelingt es, diese Flächen planerische Maßnahmen zu erreichen (Abb. 6). auch langfristig aus dem Bauflächenbestand Ein tatsächlicher Bedarf an mehr Freiräumen der Stadt herauszulösen, steht einer in diesem besteht nur vereinzelt und nutzergruppenspezi- Zusammenhang oft geäußerten Vorstellung, fisch. Angebote wie Grabelandflächen oder der „Rückgabe an die Natur“ nichts mehr im Mietergärten können für einzelne Flächen si- Wege. Pläne zur agrarischen Nutzung oder zur cher nachfragegerechte Ansätze bieten, aber Widmung als Forstflächen4 stellen auch lang- die Masse der Flächen wird nicht in dieser fristig tragfähige Strategien dar, welche zudem Intensität nutzbar sein (Abb. 7).

122 Aktuelle Herausforderungen für die Freiraumplanung in schrumpfenden Städten

Abb. 8 und 9: Ehemaliges Jahrtausendfeld in Leipzig- Abb. 6 und 7: Beispiele für die Nachnutzung von Abrissflä- Plagwitz und Nutzung einer Brachfläche als robuster chen in der Großwohnsiedlung Leipzig Grünau: Ohne Spielraum in Dresden Johannstadt (Fotos: S. Rößler). Gestaltung und Nutzung oder Verpachtung der genossen- schaftseigenen Parzellen an Mieter der angrenzenden Die bisherige Planungspraxis hält weitestge- eigenen Bestände (Fotos: S. Rößler). hend an konventionellen Freiraumtypen fest. 4. Zukunftsfähige Freiraumentwicklung in Auf Grund der finanziellen Einschränkungen schrumpfenden Städten werden diese allerdings meist mit reduzierten oder einfacheren Mitteln umgesetzt. Dies kann Die beschriebenen Rahmenbedingungen, Po- zu Qualitätsverlusten und Nutzungseinschrän- tenziale und Restriktionen stellen die Frei- kungen führen. Die Etablierung neuer Gestalt- raumplanung vor Herausforderungen bezüglich bilder und Nutzungsformen erfordert dabei der künftigen Funktion und Gestalt von städti- eine Auseinandersetzung damit, in welchen schen Freiräumen, der Finanzierung sowie der Bereichen der Stadt diese pflegearmen und Umsetzung. Es stellt sich die Frage, inwiefern damit leichter zu finanzierenden landschaftli- die bestehenden und neu entwickelten frei- chen Freiräume akzeptable freiraumplaneri- raumplanerischen Ansätze unter Schrump- sche Antworten für durch Rückbau entstehen- fungsbedingungen geeignet sind, diesen Her- de Freiflächen sein können. Denn insbesonde- ausforderungen zu begegnen. re von Rückbau betroffene Quartiere verlangen städtebaulich wirksame Freiräume, die trotz Die bisher in den Städten bekannten Freiraum- veränderter Gestaltungs- und Nutzungsintensi- typen sind unter den veränderten Rahmenbe- täten räumliche und funktionale Qualitäten dingungen nur teilweise zukunftsfähig. Intensiv bieten (Giseke, 2003). gestaltete Stadtteilparks, aufwändig gepflegte historische Parkanlagen, vielseitig nutzbare Reichlich vorhandene Flächen, geringe Nut- Sport- und Spielanlagen usw. werden künftig zungsbedarfe und geringe finanzielle Mittel vielleicht durch waldartige Pflanzungen, Suk- lassen schnell Ideen zu einer ökologischen zessionsflächen auf Brachen und größere Inwertsetzung der Freiflächen aufkommen. Die agrarisch genutzte Flächen in der Stadt – Schaffung von Naturerlebnisräumen und Le- wenn auch nicht ersetzt – aber doch ergänzt bensräumen bei gleichzeitiger Möglichkeit zur werden müssen (Becker & Giseke, 2004; Einsparung von Mitteln lassen die Etablierung Reuther, 2002a; Abb. 8 und 9). von Wildnis, Wald und Wiesen als willkomme- ne Lösung zur Verwertung der Flächen er- scheinen. Der nicht nur in schrumpfenden Städten verbreitete Trend zur Pflegeminimie-

123 Stefanie Rößler

rung in öffentlichen Grünflächen wird auch antwortlichen Planer, wird gern und häufig auf schon heute gern mit einer parallelen Steige- die Aneignungsbedürfnisse der Anwohner und rung ökologischer Qualitäten gerechtfertigt. Für die Aneignungspotenziale der neuen Freiräu- eine gewisse Anzahl von Flächen stellt dies me hingewiesen. Es gibt bereits Beispiele für sicher eine sinnvolle und zukunftsfähige frei- mehr oder weniger auf Eigeninitiative von An- raumplanerische Strategie dar, allerdings ist wohnern beruhende Aktivitäten, Brachflächen die gestalterische Ausformung ganz entschei- für die eigenen Freiraumbedürfnisse zu nutzen dend für die Nutzbarkeit und Wahrnehmung (Abb. 11 und 12). Dies für jegliche Flächen durch die Bewohner (Rink, 2004). vorauszusetzen, kann sicher nicht die einzige Lösung für Flächen ohne entsprechende Ver- Daneben gibt es aber auch Beispiele für neue wertungsansätze sein. Auch die aktive Nut- Freiraumformen. Versuche der Adaption bisher zung und Aneignung von Freiräumen braucht landschaftlicher Kategorien, z. B. Wald, Feld Anreize, die durch einen gewissen gestalteri- und Wildnis, sind eine Reaktion auf die teilwei- schen Rahmen, beispielsweise durch Abgren- se sehr groß dimensionierten Rückbauflächen zung von Verkehrs- oder öffentlichen Räumen, vor allem im Randbereich der Städte, für die gegeben werden. kaum konkrete Nutzungsbedarfe auszuma- chen sind und sehr enge finanzielle Spielräu- me bestehen. Die Realisierung solcher Ansät- ze ist jedoch mit einigen Schwierigkeiten ver- bunden. Wenn in Planungskonzepten Begriffe wie Wald und Wildnis verwendet werden, so verbinden viele Menschen damit Bilder von

Freiräumen, die im städtischen Umfeld zu- nächst schwer vorstellbar und teilweise auch gar nicht erwünscht sind. Auch wenn der dann tatsächlich entstehende Freiraum natürlich z. B. dem vorgestellten Wald nicht entspricht, so erzeugen diese Planungsansätze bei den betroffenen Anwohnern doch Vorbehalte und damit auch Skepsis gegenüber den vermeintli- chen Vorteilen des Stadtumbaus (Abb. 10).

Hinzu kommt, dass die Nutzungsmöglichkeiten in den neuen Freiräumen meist nicht dem bis- her üblichen städtischen Freiraumverhalten entsprechen. Fehlen diesen Räumen klare

„behavior settings“ in Form von Nutzungsmus- tern, so erfolgt eine Aneignung dieser Räume in der Regel nur zögerlich oder auch in unbe- absichtigter Form (Tessin, 2004).

Abb. 11 und 12: Aneignung und Eigeninitiative von An- wohnern auf unbebauten Grundstücken in einem Leipziger Altbauquartier (Nachbarschaftsgärten Josephstraße) und Aufforderung zur privaten Nutzung brach liegender Flä- chen in Dresden (Fotos: S. Rößler). Abb. 10: Temporäre Nachnutzung von Abrissgrundstücken in einem Leipziger Altbauquartier mit dem Planungsansatz des „Dunklen Waldes“ (Foto: S. Rößler). Die in einigen Fällen bei temporären Freiraum- nutzungen verfolgte Strategie der künstleri- Eine tatsächliche Qualitätssteigerung im Sinne schen Inwertsetzung einzelner Flächen vor einer Aneignung wird somit nicht automatisch allem in Altbauquartieren, kann zu einer ver- nur durch das Vorhandensein von Grün er- änderten Wahrnehmung und Initiierung von reicht. Fehlen Gestaltungs- und Nutzungsideen Folgenutzungen führen. Allerdings sind diese auf Seite der Flächeneigentümer und der ver- Ansätze in der Regel nicht flächendeckend 124 Aktuelle Herausforderungen für die Freiraumplanung in schrumpfenden Städten

praktikabel und stellen keine langfristigen Lö- durch die Schrumpfung betroffenen Handlungsfel- sungen für eine (alltägliche) Freiraumnutzung der verstanden (vgl. Weidner, 2005, S. 109). Im dar (Abb. 13). Sinne des Programms „Stadtumbau Ost“ wird Stadtumbau definiert als „… räumlich gezielter Rückbau auf Dauer nicht mehr benötigter Wohnun-

gen mit einer umfassenden städtebaulichen Aufwer- tung der vom Leerstand betroffenen Stadtteile und Wohnquartiere“ (BMVBW, 2001). In diesem Beitrag wird der Begriff „Stadtumbau“ im Sinne dieses För- derprogramms verwendet. 2 Freiflächen werden hier verstanden als innerhalb der Flächennutzungsdynamik entstandene oder vorgehaltene Flächen, welche frei bzw. befreit von Bebauung sind und zunächst auch frei von einer bestimmten oder zugeordneten Nutzung. Freiräume

hingegen sind überwiegend unbebaute Flächen innerhalb der Stadtregion, welche grün – im Sinne kulturlandschaftlicher Relikte – sind oder bewusst als begrünte oder befestigte Fläche – aber überwie- gend frei von Hochbauten – angelegt wurden. 3 In Sachsen wurde zwischen 2002 und 2006 der Abb. 13: Inwertsetzung von Brachflächen in Dresden- Friedrichsstadt durch künstlerische Interventionen (Foto: Rückbau zu 58 % in Plattenbaubeständen der Bau- S. Rößler). jahre ab 1971 und zu 18 % in Altbaubeständen der Baujahre 1914 bis 1948 gefördert (SAB 2006, S. 14 In diesem Zusammenhang ist nochmals auf f.). Betrachtet man alle neuen Bundesländer, so liegt der Rückbauanteil in den Großwohnsiedlungen das Problem der temporären Nachnutzungen sogar bei knapp 65 % (BMVBS, BBR 2006, S. 40). hinzuweisen. Soll langfristig die Chance einer 4 In der Großsiedlung Halle-Silberhöhe soll nach Neustrukturierung der schrumpfenden Stadt umfangreichen Rückbaumaßnahmen unter dem genutzt werden, so bedarf es gesamtstädti- Motto „Waldstadt“ auf 3,6 ha Wald aufgeforstet scher Freiraumentwicklungsstrategien, die werden. Es wird von einem Kostenaufwand von insbesondere die langfristige Widmung und 11.000 €/ha (entspricht 1,10 €/m²) ausgegangen Erhaltung dauerhafter Freiraumstrukturen for- (BBR 2004, S. 6). Zum Vergleich: eine einfache ciert. Begrünungsmaßnahme mit Rasenansaat, Wegebau und Baumpflanzungen kann mit ca. 20 €/m² ange- Vor dem Hintergrund enger werdender finan- setzt werden. zieller Spielräume der Kommunen aber auch privater Flächeneigentümer, sind sowohl die herkömmlichen als auch die neuen freiraum- Literatur planerischen Ansätze hinsichtlich einer vor allem langfristigen Finanzierung kritisch zu Alberthauser, E.-M. (2004). Humanes Lebens- bewerten. Die Nachnutzung jeder einzelnen umfeld. Stadtgrün trotz leerer Haushalts- Fläche erfordert Anstrengungen, alternative kassen. In: AKP. Heft 2. S. 54-58. Finanzierungsansätze, neue Kooperations- BBR (Bundesamt für Bauwesen und Raum- partner und die Potenziale der Nutzer in die ordnung) (Hrsg.) (2004). Zwischennutzun- Anlage und Unterhaltung einzubeziehen. gen und neue Freiflächen. Städtische Le- bensräume der Zukunft. Berlin. BBR. Die in der schrumpfenden Stadt beinahe Becker, C. W. & Giseke, U. (2004). Wildnis als zwangsläufig steigende Bedeutung des Frei- Baustein künftiger Stadtentwicklung. In: raums beruht zunächst nur auf seiner men- Garten + Landschaft. Heft 2. S. 22-23. genmäßigen Zunahme. In den meisten Städten Blume, T. (2005). Neue urbane Figurationen. wird diesem Bedeutungszuwachs noch nicht In: IBA-Büro (Hrsg.). Die anderen Städte. hinsichtlich einer Integration in stadtplaneri- IBA Stadtumbau 2010. Band 1. Experiment. sche und städtebauliche Entscheidungen Dessau. Jovis. S. 106-111. Rechnung getragen. Doch gerade dieses BMVBS & BBR (Bundesministerium für Ver- „Mehr an Freifläche“ erfordert und ermöglicht kehr, Bau und Stadtentwicklung; Bundes- Stadtmodelle, die auch vom Freiraum her ge- amt für Bauwesen und Raumordnung) dacht und entwickelt werden. (2006). Statusbericht. Stadtumbau Ost - Stand und Perspektiven. Berlin. BMVBW (Bundesministerium für Verkehr, Bau- 1 Der Begriff des Stadtumbaus wurde bereits in und Wohnungswesen; Bundesamt für Bau- früheren Epochen der Stadtentwicklungsplanung wesen und Raumordnung) (2001). Auslo- verwendet. Vor dem Hintergrund aktueller wirt- bung zum Wettbewerb Stadtumbau Ost: schaftlicher und demografischer Schrumpfungspro- Für lebenswerte Städte und attraktives zesse wird der Stadtumbau als gesamtgesellschaft- Wohnen. Berlin. liche Aufgabe für die Steuerung und Planung der

125 Stefanie Rößler

BMVBW (Bundesministerium für Verkehr, Bau- Nachhaltigkeit. In: Informationen zur und Wohnungswesen) (Hrsg.) (2005). Raumentwicklung. Heft 7/8. S. 435-453. Nachhaltige Stadtentwicklung - ein Ge- Hutter, G.; Westphal, Ch.; Siedentop, St.; Mül- meinschaftswerk. Städtebaulicher Bericht ler, B. & Janssen, G. (2004). Handlungsan- der Bundesregierung 2004. Berlin. sätze zur Berücksichtigung der Umwelt-, BMVBW & BBR (Bundesministerium für Ver- Aufenthalts- und Lebensqualität im Rahmen kehr, Bau- und Wohnungswesen, Bundes- der Innenentwicklung von Städten und Ge- amt für Bauwesen und Raumordnung) meinden - Fallstudien. UBA-Texte. Nr. 41. (2003). Auswertung des Bundeswettbe- Berlin. Umweltbundsamt. werbs "Stadtumbau Ost" - für lebenswerte Kaltenbrunner, R. (2004). Der subsidäre Städte und attraktives Wohnen. Bonn. BBR. Raum. Landschaftsersatz oder: Welchen Doehler-Behzadi, M.; Keller, D. A.; Klemme, Freiraum braucht die Stadt? In: Informatio- M.; Koch, M.; Lütke-Daldrup, E.; Reuther, I. nen zur Raumentwicklung. Heft 11/12. S. & Selle, K. (2005). Planloses Schrumpfen? 631-644. Steuerungskonzepte für widersprüchliche Kil, W.; Doehler, M. & Bräuer, M. (2003). Zu- Stadtentwicklungen. Verständigungsversu- kunft der Städte und Stadtquartiere Ost- che zum Wandel der Planung. In: DISP. deutschlands. In: Aus Politik und Zeitge- Heft 2. S. 71-78. schichte. Heft B 20. S. 25-31. Doehler, M. (2003). Freie Räume, leere Räu- Kühn, M. (2000). Vom Ring zum Netz? Sied- me - der öffentliche Raum im städtischen lungsstrukturelle Modelle zum Verhältnis Strukturwandel. In: Informationen zur von Großstadt und Landschaft in der Stadt- Raumentwicklung. Heft 1/2. S. 51-54. region. In: DISP. Heft 143. S. 18-25. Ganser, K. (2001). Auf der Suche nach neuen Mäding, H. (2003). Demographischer Wandel: Bildern für die Landschaft. In: Garten + Herausforderung an eine künftige Stadtpoli- Landschaft. Heft 11. S. 34-36. tik. In: Stadtforschung und Statistik. Heft 1. Gatzweiler, H.-P.; Meyer, K. & Milbert, A. S. 63-72. (2003). Schrumpfende Städte in Deutsch- Milchert, J. (1996). Die Zukunft der Freiraum- land? Fakten und Trends. In: Informationen planung: 10 Thesen zur Situation des zur Raumentwicklung. Stadtumbau, Heft Stadtgrüns im Jahre 2020. In: Stadt + Grün. 10/11. S. 557-574. Heft 8. S. 541-551. Giseke, U. (2002): Versorgungsgrün - kein Müller, B. & Kilper, H. (2005). Demographi- Leitbild für die perforierte Stadt. In: Korn- scher Wandel in Deutschland, Herausforde- hardt, D., Pütz, G. & Schröder, T. (Hrsg.). rung für die nachhaltige Raumentwicklung. Mögliche Räume. Hamburg. Junius. S. 167- In: Geographische Rundschau. Heft 3. S. 173. 36-41. Giseke, U. (2003). Über Irritationen zur Freiflä- Nohl, W. (2002). Freiraumplanung zu Beginn chenkultur. Im Leipziger Osten werden des 21. Jahrhunderts: Gesellschaftliche neue Wege des Stadtumbaus beschritten. Entwicklungen und ihr Einfluss. In: Stadt + In: DAB (Deutsches Architekten Blatt). Heft Grün. Heft 8. S. 9-16. 4. S. 11-13. Preisler-Holl, L. (2004). Freiflächenmanage- Giseke, U. (2004). Die zentrale Stellung der ment. Aspekte der Finanzierung, der Siche- Freiraumplanung bei der sozialen und kul- rung von Qualitätsstandards und des Un- turellen Ausgestaltung der postindustriellen terhalts. In: Informationen zur Raument- Stadt. In: Informationen zur Raumentwick- wicklung. Heft 11/12. S. 679-686. lung. Heft 11/12. S. 669-678. Reuther, I. (2002a). Das Equipment für Orte im Gottfriedsen, H. (2004). Berliner Parks und Wandel. In: TOPOS. Heft 41. S. 101-108. Plätze - Aspekte der Planung, des Baus Reuther, I. (2002b): Leitbilder für den Stadt- und der Pflege für die öffentliche Hand. In: umbau. In: BMVBW; BBR (Hrsg.): Fachdo- Informationen zur Raumentwicklung. Heft kumentation zum Wettbewerb "Stadtumbau 11/12. S. 687-693. Ost": Expertisen zu städtebaulichen und Hannemann, C. (2003). Schrumpfende Städte wohnungswirtschaftlichen Aspekten des in Ostdeutschland - Ursachen und Folgen Stadtumbaus in den neuen Ländern. Bonn. einer Stadtentwicklung ohne Wirtschafts- S. 12-24. wachstum. In: Aus Politik und Zeitgeschich- Rink, D. (2004): Ist wild schön? In: Garten + te. Heft B 20. S. 16-23. Landschaft. Heft 2. S. 16-18. Heiland, St. (2005). Urbane Räume im Wan- RNE (Rat für nachhaltige Entwicklung) (Hrsg.) del. Anforderungen an Naturschutz und (2004). Mehr Wert für die Fläche: Das "Ziel- Landschaftsplanung. In: Naturschutz und 30-ha" für die Nachhaltigkeit in Stadt und Landschaftsplanung. Heft 1. S. 21-28. Land. In: texte. Nr. 11. Berlin. Rat für nach- Hesse, M. & Schmitz, St. (1998). Stadtentwick- haltige Entwicklung. lung im Zeichen von "Auflösung" und Rößler, St.; Bernt, M. & Kabisch, S. (2005). Interessensgegensätze erfordern neue 126 Aktuelle Herausforderungen für die Freiraumplanung in schrumpfenden Städten

Umsetzungsstrategien. Freiraumentwick- lung und Stadtumbau in der Großsiedlung Leipzig-Grünau. In: Stadt + Grün. Heft 9. S. 15-20. SAB (Sächsische Aufbaubank) (2006): Woh- nungsbaumonitoring 2005/2006. Dresden. SAB. Schmidt, A. (2005). Konsequenzen aus der demographischen Entwicklung für den Um- bau der Grünflächen älterer Wohnsiedlun- gen und öffentlicher Parks. In: Raumfor- schung und Raumordnung. Heft 3. S. 210- 215. Schröder, T (1997). Der Park lebt nicht vom Staat allein. In: TOPOS. Heft 19. S. 68-74. Seitz, H. (2006). Nachhaltige kommunale Fi- nanzpolitik und demographischer Wandel. In: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.). Wegwei- ser Demographischer Wandel 2020. Analy- sen und Handlungskonzepte für Städte und Gemeinden. Gütersloh. S. 180-186. Tessin, W. (2004). Freiraumverhalten und Soziologie. Soziologische Aspekte der Nut- zung und Planung städtischer Freiräume. Eine Einführung. Wiesbaden. Verlag für Sozialwissenschaften. Weidner, S. (2005). Stadtentwicklung unter Schrumpfungsbedingungen. Leitfaden zur Erfassung dieses veränderten Entwick- lungsmodus von Stadt und zum Umgang damit in der Stadtentwicklungsplanung. Dissertation. Norderstedt Books on De- mand GmbH. Universität Leipzig. Institut für Baubetriebswesen, Bauwirtschaft und Stadtentwicklung.

Anschrift Stefanie Rößler Leibniz-Institut für ökologische Raumentwick- lung e. V. (IÖR) Weberplatz 1 01217 Dresden E-Mail: [email protected]

Der Beitrag ist im Rahmen eines laufenden Dissertationsvorhabens entstanden, gefördert durch das Stipendienprogramm der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU).

127

CONTUREC 2 (2007) Seite 129 bis 139

Den Wandel der Rahmenbedingungen für sinnvolle Konzepte der städtischen Grün- und Freiraumentwicklung in Deutschland nut- zen

Challenges and Opportunities of altering Framework Conditions for Urban Green and Open Space Development in Germany

MATTHIAS RICHTER

Zusammenfassung Die städtische Grün- und Freiraumentwicklung in Deutschland ist in den beiden Dekaden um die Jahrtausendwende mit einem deutlich erkennbaren Wandel der Rahmenbedingungen konfrontiert. Hierzu gehören die Alterung der Gesellschaft, die demographisch ungleiche Entwicklung, die Plu- ralisierung der Freizeitangebote und Freizeittätigkeiten, neue juristische Vorgaben auf unter- schiedlichen administrativen Ebenen und der verschärfte „Kampf um Fördermittel“ aus diversen Programmen. Es werden einige dieser Rahmenbedingungen erläutert und darauf aufbauend sinnvolle Prinzipien und Handlungsoptionen konkretisiert. Verbesserungen der Grün- und Freiraumsituation sollten schwerpunktmäßig dort vorangetrieben werden, wo sich die „Aktivitäts-Knotenpunkte des Alltags“ (z. B. Kindergärten, Schulen, Betriebe, Friedhöfe) und die „Aktivitäts-Knotenpunkte der Freizeit“ (z. B. Stadtparks, Westentaschenparks, Sportfelder, Kleingärten) befinden. Die Möglichkeiten, Grünraumkonnexstrukturen zu schaffen, sind in vorhandenen, dicht bebauten Stadtarealen sehr begrenzt und noch am ehesten entlang von Flüssen oder entlang von Bahnlinien realisierbar. In demographisch schrumpfenden Regionen oder solchen, die (in unterschiedlichen Vierteln) schrumpfen und wachsen, sollte die historische Gelegenheit genutzt werden, um eventuell vorhandene Grünraumdefizite zu verringern. Weiterhin erscheinen heute einhergehend mit der Individualisierung von Lebensstilen und Werten die Vorstellungen von und die Bedürfnisse nach Stadtnatur heterogener als früher.

Aktivitäts-Knotenpunkte, Grün- und Freiraumentwicklung, Freiraumnutzerbedürfnisse, Rahmenbe- dingungen, Finanzierungsmöglichkeiten, Naturwahrnehmung, Stadtnatur.

Summary The urban green and open space development in Germany is confronted with an obvious change of the framing conditions. These are the ageing society, the demographically heterogenous devel- opment, the diversification of leisure time offers and leisure activities, relevant changes in the regulatory framework on different administrative levels and a tougher „struggle for subsidies“ from diverse programmes. Some framing conditions are described and based on this, proposals for the urban green and open space development are given. The activities for improvements in urban green and open spaces should be directed to the „activity crosspoints of everyday life“ (e. g. kindergartens, schools, companies, graveyards) and to the „ac- tivity crosspoints of leisure time“ (e. g. city parks, pocket parks, sports fields, allotment gardens). The possibilities to realise green connecting structures are very limited in the given city structures. Along (former) railway tracks and along riversides there are still the best opportunities for this. In demographically shrinking cities or in those where we can find a divergent pattern of shrinkage and growth within on city the historical chance should be taken to reduce existing green space deficits. Furthermore we are faced with the individualization of lifestyles and values. As a consequence thereof the imagination of what „urban nature“ means today and which „urban nature“ we need in cities seems to be more heterogenous than in former times.

Matthias Richter

1. Einleitung 2. Rahmenbedingungen, die den Wan- del kennzeichnen bzw. ihn begleiten In den beiden Dekaden um die Jahrtau- sendwende (2000 n. Chr.) werden nicht nur 2.1 Alterung der Gesellschaft in Deutschland sondern auch in vielen ande- Nach einer Studie der Bertelsmann Stiftung ren Industrienationen gravierende gesell- wird sich das Durchschnittsalter der Bevölke- schaftliche Veränderungen wirksam, die sich rung in Deutschland beträchtlich erhöhen auf die städtischen Grün- und Freiräume (http://www.-aktion2050.de/wegweiser). Für auswirken. Wie sich diese Veränderungen in das Jahr 2030 wird die Zahl der über 60- einzelnen konkreten Grünflächen bemerkbar Jährigen in Deutschland auf 23 Millionen machen werden, ist schwer vorhersehbar. prognostiziert. Im Gegensatz zu den demo- Dennoch ist es möglich, die sich abzeich- graphischen Schrumpfungs- und Wachs- nenden Trends klar zu benennen und dar- tumstendenzen, die je nach Region in über zu reflektieren, welche Grün- und Frei- Deutschland und in Europa sehr heterogen flächenkonzepte zukünftig sinnvoll und reali- ausfallen (vgl. z. B. Müller, 2002), verläuft sierbar erscheinen. Das Ziel dieses Beitra- dieser Trend einheitlicher. Obwohl die Alte- ges ist es, Rahmenbedingungen zu benen- rung der Gesellschaft in Deutschland seit nen, die Auswirkungen auf städtische Grün- langem bekannt ist, hat sich die Grün- und und Freiraumplanung haben und einige Freiraumplanung relativ wenig mit planeri- Handlungsoptionen aufzuzeigen oder, als schen Konsequenzen hierzu auseinanderge- Frage formuliert: Wie kann und wie soll kon- setzt (FLL, 2003, Scherzer, 2004, Voskamp, krete Planung auf die heute feststellbaren 2007, Zeitz, 2007). Nach Scherzer (2004) heterogenen Rahmenbedingungen und existieren in Altenwohn- oder Pflegeeinrich- Trends reagieren und an welche Wertungs- tungen gute Ansätze zur Freiraumgestaltung. perspektiven kann sich Stadtnatur und Land- 1 Da jedoch nur ca. 5 % der Senioren in Hei- schaftsplanung in der Stadt halten? Welche men leben (Stand 2002/2003) und die meis- Lösungen als angemessen empfunden wer- ten Menschen möglichst lange ein selbstbe- den, hängt nicht zuletzt davon ab, welche stimmtes Leben jenseits von Heimen führen

Abb. 1: Die sich verändernden Rahmenbedingungen für städtische Grün- und Freiraumentwicklung evozieren differenzierte Reaktionen auf Seiten der (Stadt-, Grün-, Regional-)Planer und erfordern neue Gestaltungskonzep- te.

Natur(en) in der Stadt wir uns wünschen, wollen, ist die Aufgabe der Freiraumgestal- bzw. wie sich Stadtnatur im Geflecht der tung für die Nutzergruppe der Senioren sehr unterschiedlichen und sich verändernden viel umfangreicher. Nutzerinteressen darstellt. Alte Menschen sind zwar keine homogene In Abb. 1 sind einige der Rahmenbedingun- Gruppe, doch ein erhöhtes Sicherheitsbe- gen stichwortartig genannt, die in den weite- dürfnis, kombiniert mit einem oft einge- ren Kapiteln erörtert werden2. schränkten Bewegungsradius und einer Vor- 130 Den Wandel der Rahmenbedingungen für sinnvolle Konzepte der städtischen Grün- und Freiraumentwicklung in Deutschland nutzen

liebe für Blumenbeete (insbesondere ge- voneinander trennen. Bei der Wegeführung pflegte Staudenbeete) sind in gewissen haben sich getrennte Bereiche für die unter- Grenzen verallgemeinerbare Charakteristika schiedlichen Fortbewegungsmodi bewährt. (Spitthöver 2006). Die Grün- und Freiraumgestalter versuchen, die neu hinzugekommenen Nutzerbedürfnis- Einige wichtige Aspekte zur Freiraumgestal- se zu berücksichtigen. So wurde beispiels- tung, auch im Hinblick auf soziale Aspekte, weise im Leipziger Stadtteilpark Rabet ein werden herausgegriffen und in Tab. 1 darge- brombeerfarbenes „Aktivband“ von ca. einem stellt.

Tab. 1: Handlungs- und Gestaltungsvorschläge für Freiräume im Wohnumfeld von Senioren (verändert und ergänzt nach Scherzer 2004 und Zeitz 2007).

Übergeordneter Aspekt Handlungs- und Gestaltungsvorschläge Soziale Integration (Ghet- Orte zur geselligen Kommunikation (Sitzecken) bereitstellen toisierung vermeiden!) Teilhabe am Alltagsleben ermöglichen3 Hochbeete, um selbst gärtnern zu können, für „die Aktiven“ Kurze Rundwege mit angemessenem Belag für weniger mobile Se- nioren Aktivität und Freiraumerle- Möglichst Anschluss an gepflegte öffentliche Parkanlagen für die ben mobileren Senioren gewährleisten Kontakt mit Tieren ermöglichen und ein abwechslungsreiches aber übersichtliches, gut strukturiertes Bepflanzungskonzept Wiedererkennungseffekt vertrauter Elemente gewährleisten Rutschfestigkeit der Wege Sicherheit Ausreichende Wegebeleuchtung

Absehbare Nutzungskonflikte (soziales Umfeld!) vermeiden und auf lebensbiographische Unterschiede achten

Menschliche Naturwahrnehmung in der Stadt Kilometer Länge integriert, das Bereiche für wird zunehmend durch Senioren erfolgen, Spiel und Trendsportarten bereithält und auf deren Bedürfnissen Rechnung zu tragen ist. dem sich die Umrundung der Parkanlage auf Deren Einbindung in die Gesellschaft ist eine unterschiedliche Weise, zu Fuß, mit dem komplexe Aufgabe, wozu eine angemessene Rad oder mit den Rollerblades anbietet Freiraumqualität und -quantität nur einen (Stadt Leipzig, 2005). Zu den Trendsportar- kleinen, aber nicht unbedeutenden Beitrag ten gehört auch das Quadfahren (vgl. Abb. leisten kann. 2a und 2b).

Generell ist von einer Diversifikation der 2.2 Trendsportarten, die Diversifikation Freizeitbeschäftigungen auszugehen (Isen- der Freizeitbeschäftigungen und un- berg, 2007), die sich auch auf die städti- terschiedliche Wert-Perspektiven auf schen Freiräume auswirkt. Bei den in der „Stadtnatur“ Freizeit ausgeübten Tätigkeiten lässt sich Wenngleich nach wie vor „Bewegung an der einerseits ein allgemeiner Trend zur frischen Luft“ und soziale Kontaktbedürfnisse Verhäuslichung (Barth, 2007), d. h. von einer wichtige (weitgehend) altersunabhängige Zunahme inhäusiger Tätigkeiten einschließ- Nutzerbedürfnisse in Freiräumen darstellen, lich des Verbringens von Freizeit in so ge- so gibt es doch in den letzten 20 Jahren eine nannten „Secondhand-Wirklichkeiten“ fest- stark angewachsene Zahl von Trendsportar- stellen, während andererseits auch Zoobe- ten wie z. B. Inlineskaten, Nordic Walking suche, „Urban Farming“ (Bruns, 2004), und Mountain Biking, die auch in städtischen Waldkindergärten oder Naturerfahrungsräu- Grünanlagen und Freiflächen ausgeübt wer- me (Reidl et al., 2005) sehr beliebt sind. den. Dies ist nicht immer unproblematisch. So können sich Fußgänger durch Inlineska- Einhergehend mit der Pluralisierung von ter gestört fühlen oder Nordic Walking kann Lebensstilen und von Wertvorstellungen zu Schäden in Parkanlagen führen, wie sucht jedermann individuell oder in Interes- Smaniotto Costa et al. (2007) für den Gro- sengruppen organisiert die jeweils präferierte ßen Garten in Dresden konstatieren. In gro- Stadtnatur. So hat z. B. die Gruppe der ßen Grünflächen lassen sich unterschiedli- Kleingärtner andere Vorlieben (kümmert sich che Nutzergruppen, die hinsichtlich ihrer z. B. gern um Stauden und Obstbäume) als Nutzerbedürfnisse konfligieren, räumlich die durch den Prozessschutzgedanken be- 131 Matthias Richter

einflussten Naturschützer, die z. B. differen- 2.3 Rechtliche Aspekte zierte Sukzessionsstadien von Stadtwald Weitere Rahmenbedingungen für Land- vorziehen würden. Die Billigflugreisenden schaftsplanung in der Stadt und für kommu- suchen „ihre Natur“ z. B. an Stränden in Or- nale Freiraumplanung sind die sich ändern- ten mit Hotels, die zumeist von Städtern den Gesetzesvorschriften und Richtlinien auf bewohnt werden. Kaninchenzüchter finden EU-Ebene, in Deutschland und auch auf kommunaler Ebene. Es werden wegen ihrer Wichtigkeit einige davon genannt. Sie bedür- fen einer ausführlicheren Behandlung, auf die an dieser Stelle (aus Gründen des Bei- tragsumfanges) verzichtet wird. Es handelt sich auf europäischer Ebene um: Die noch nicht von Deutschland ratifizierte Europäische Landschaftskonvention (ELK)4 (vgl. Bruns, 2006), die Strategische Umwelt- prüfung (SUP) und die FFH-Rahmen- richtlinie, die zumindest auf städtisch- administrativem Gebiet (wenn auch in der Regel nicht im städtischen Innenbereich) zu neuen Schutzgebietsausweisungen geführt hat. In Deutschland sind die Erleichterungen zur Bebauung im Innenbereich zu nennen, die mit der Novelle des BauGB 2007 verknüpft sind. In § 13a BauGB-E werden Bebauungs- pläne behandelt, die „der Wiedernutzbarma- chung von Flächen, der Nachverdichtung oder anderen Maßnahmen der Innenentwick- lung“ dienen. Die Bebauungserleichterung besteht darin, dass in vielen Fällen eine (bis- her erforderliche) Umweltprüfung wegfallen wird.5 Insbesondere einschlägige Berufsverbände und Berufsorganisationen wie z. B. der Abb. 2a und 2b: Zu den in der Stadtregion Leipzig aus- geübten Trendsportarten gehört auch das Quadfahren. BDLA (Bund Deutscher Landschaftsarchitek- Eine Gruppe von Fahrern ist im Leipziger Südraum ten) und der BBN (Bundesverband Berufli- unterwegs, der durch den Braunkohletageabbau geprägt cher Naturschutz) beschäftigen sich intensiv ist. Fotos: T. Schulz mit den Auswirkungen dieser Vorgaben auf sich in Kaninchenzuchtvereinen zusammen, die Berufspraxis. die Liebhaber spektakulärer exotischer Natur gehen lieber in den Zoo. Der Grundstücks- 2.4 Finanzielle Verteilungsgerechtigkeit makler betrachtet Brachflächen als Spekula- im Wettbewerb der Städte und Stadt- tionsobjekt, der Bauherr als Bauland, für regionen? einige Jugendliche ist die gleiche Fläche ein interessanter Abenteuerspielplatz. Diese Hinlänglich bekannt ist weiterhin die ange- Aufzählung überzeichnet zwar die Perspekti- spannte finanzielle Lage der meisten kom- ven und simplifiziert sie, denn jedermann hat munalen Haushalte in Deutschland, die sich verschiedene Perspektiven auf Stadtnatur massiv auf die Grün- und Freiflächenpflege (nicht nur eine), doch soll verdeutlicht wer- und auch auf die Arbeitsorganisation aus- den, dass die wertenden Perspektiven im wirkt. Hierzu gehören die Verlagerung der Hinblick auf präferierte Stadtnatur sehr viel- Pflegeaufgaben auf Fremdfirmen und die fältig sind, ohne eine der skizzierten Per- Reduzierung oder Abschaffung oder Privati- spektive als ethisch richtig oder falsch be- sierung kommunaler Eigenbetriebe ebenso zeichnen zu wollen. Vielmehr spiegeln sie wie der Personalabbau bei Umwelt- und unterschiedliche Interessen und Vorlieben Grünflächenämtern. Nur die hoheitlichen wider, die im Verlauf von Jahrzehnten oder Aufgaben verbleiben (bislang?) bei den Jahrhunderten ebenfalls nicht statisch sind. Kommunen. Zur Aufstockung der knappen Haushaltsmittel haben viele städtische 132 Den Wandel der Rahmenbedingungen für sinnvolle Konzepte der städtischen Grün- und Freiraumentwicklung in Deutschland nutzen

Kommunen an diversen Förderprogrammen Finanzmittel findet offensichtlich auf diejeni- teilgenommen. Doch hat sich generell ge- gen Städte und Regionen statt, deren höhere zeigt, dass größere Städte eher in der Lage Kreativität und Aktivität zu besseren einge- sind, an Finanzmittel aus den öffentlichen reichten Projektanträgen führt. 6 Programmen zu gelangen wie z. B. aus Bund-Länder-Programmen (Städtebauliche Ein EU-weiter „Kampf um Fördergelder“ bei Erneuerung, Stadtumbau Ost, Stadtumbau dem es „Gewinnerstädte“ gibt und solche, West, Weiterentwicklung großer Neubauge- die leer ausgehen, wirkt sich auf die kommu- biete – WENIG) oder aus EFRE (Europäi- nalen Finanzen und auf die Realisierungs- scher Fonds für regionale Entwicklung). chancen konkreter stadt-, grün- und frei- Hierdurch konnten in vielen Kommunen in- raumplanerisch angestrebter Zielvorstellun- novative Projekte verwirklicht werden, die gen deutlich aus. wiederum Motoren für Stadtentwicklungspro- zesse waren und sind. Als Beispiel hierfür 2.5 Räumliche Unterschiede des demo- sei die durch URBAN II (Teil einer Gemein- graphischen Wandels und die Folgen schaftsinitiative im Rahmen von EFRE, Lauf- für die Grün- und Freiraumentwick- zeit 2000 bis 2006) mit finanzierte Gestal- lung tung entlang des Karl-Heine-Kanals in Leip- zig genannt, die mit dazu beitrug, dass der Auch Auswirkungen des demographischen Leipziger Ortsteil Plagwitz im Hinblick auf die Wandels haben großen Einfluss darauf, wel- Wohnzufriedenheit deutlich hinzugewinnt7 che Grünflächenkonzepte sich in welchen (vgl. Abb. 3). Bereits anläßlich der EXPO Stadtbereichen umsetzen lassen. Dies soll Abb. 4 veranschaulichen. In schrumpfenden Städten und Stadtregionen bieten sich viel- fältige Gelegenheiten, neue Grün und Frei- räume zu verwirklichen, insbesondere durch Nutzung der bereits vorhandenen Potenziale (z. B. durch Einbezug von aus Sukzession entstandener Vegetation). Dies ist gerade in gründerzeitlichen Vierteln, die oft aus histo- risch-ökonomischen Gründen mit Grünflä- chen unterversorgt sind (Richter, 2003), eine vordringliche Aufgabe.

Abb. 3: Das Foto zeigt einen Abschnitt des Karl-Heine- Kanals in Leipzig-Plagwitz, an dessen Böschung hier gerade Befestigungs- und Verschönerungsmaßnahmen, finanziert durch ein EU-Förderprogramm, durchgeführt werden. Foto: A. Schmiedel.

2000 waren unter dem Motto „Plagwitz – den Wandel zeigen“ finanzielle Mittel zur Aufwer- tung ausgewählter Bereiche des Stadtteils geflossen, z.B. zum Bau einer Brücke als Verbindungsstück zwischen einem überregi- onalen Rad- und Gehweg entlang des Ka- nals. Plagwitz war damals einer der Außen- standorte der EXPO 2000, mit Zentrum in Hannover.

Als Gründe für den geschilderten Standort- vorteil mittelgroßer und insbesondere großer Städte beim „Kampf um Fördermittel“ wirken Abb. 4: Zu den entscheidenden Rahmenbedingungen mehrere Faktoren zusammen: Die personell dafür, welche Grün- und Freiraumentwicklungskonzepte noch etwas bessere Ausstattung in größeren verwirklicht werden können, gehört der sehr heterogen Städten und insbesondere eine bessere verlaufende demographische Wandel (weitere Erläute- rungen im Text). Vernetzung hinsichtlich der relevanten In- formationsflüsse, die Erschließung von För- Die Möglichkeiten, Grünraumkonnexstruktu- dermitteln betreffend. Eine Lenkung der ren zu schaffen, sind in vorhandenen, dicht 133 Matthias Richter

bebauten Stadtarealen meist sehr begrenzt keit, Wildnis durch das Fernsehen vermittelt und noch am ehesten entlang von Flüssen „erleben“ zu können. Zumindest sind wir oder entlang von (ehemaligen) Bahnlinien den früher mit einem Leben in der Wildnis realisierbar. Demgegenüber kommt es in verknüpften Gefahren und Unannehmlich- wachsenden Regionen eher darauf an, vor- keiten nicht mehr ausgeliefert. Da ursprüng- sorgend ausgewählte städtische Bereiche liche Wildnis (Beispiel Regenwälder) ab- durch Grünschneisen und Grüngürtel von nimmt, und da wir in der Regel den damit neuer Bebauung frei zu halten. Beispiele für verbundenen Gefahren nicht mehr ausge- die zuletzt genannte Rubrik lassen sich setzt sind, wird sie nun zu etwas Seltenem weltweit finden. Einige wenige seien er- und Schützenswertem. Somit sind zwei wähnt: für Deutschland die Städte Köln Voraussetzungen für positive Konnotationen (Grüngürtel) und Frankfurt am Main (Grün- mit Wildnis bzw. mit Wildnis in der Stadt gürtel und Regionalpark), für Österreich die gegeben: Sie ist selten, zumindest in wach- Landeshauptstadt Wien (Grüngürtel), für senden Regionen und sie wird nicht als Südkorea Seoul (Grüngürtel) und für Kana- bedrohlich empfunden. Weiterhin sind die da Toronto (Grüngürtel).8 Orte, die Stadtwildnis repräsentieren, weit- gehend von zweckrationalen Zwängen be- In demographisch stark schrumpfenden freit, die den Alltag der meisten Menschen Städten greifen Konzepte zur Bewaldung prägen. Dadurch, dass Spuren der vergan- (z. B. in Schwedt9 oder in Halle/Saale10), zur genen Nutzung sichtbar sind, jedoch aktuell freien Sukzession oder zu Freiraumgestal- keine vorgefertigt definierte neue Nutzung tungen, die jedoch sehr unterschiedlich besteht, regen sie die Phantasie zu Nut- hinsichtlich des Umfangs der eingesetzten zungsvisionen an (vgl. auch Amidon und einsetzbaren finanziellen Mittel ausfal- 12 2001) . len (Bundesamt für Bauwesen und Raum- ordnung 2004). In schrumpfenden Regionen setzt häufig dort, wo die Menschen weg ziehen, eine 2.5.1 Assoziationen und Befunde zur „Negativ-Spirale“ ein, die unter anderem Wahrnehmung von Spontanvege- von einem Absinken des sozialen Milieus tation und von „Wildnis in der (bezogen auf die in den entsprechenden Stadt“ Vierteln verbleibenden Bewohner) und von Vermüllung/Verwahrlosung der Grundstü- In demographisch schrumpfenden Regio- cke begleitet wird. nen kommt es langfristig zu auffällig wer- denden Gebäudeleerständen und zu nicht mehr bewirtschafteten begleitenden Freiflä- sehr positiv 3 chen. In Leipzig sind mehrere Gebietskate- Ruinöses Gebäude gorien hiervon verstärkt betroffen: Gründer- 2 zeitliche Viertel, insbesondere entlang von Wild bewachsene 1 Fläche Hauptverkehrsstraßen, große Plattenbau- 0,6 gebiete und viele Wohngebäudekomplexe 0 Unbefestigter Parkplatz aus den 1920er Jahren. Weiterhin ohne

Bewertung -0,4 -1 Nutzung sind Teilbereiche von zumeist älte- -0,8 Ungenutztes -1,4 Garagengrundstück ren Industriegebieten, einige Bahnareale -2 und einige Flächen, die ehemals militäri- -1,7 Umzäunte -3 Rasenfläche schen Zwecken dienten. Die zuletzt ge- sehr negativ nannten Flächenkategorien sind nicht durch Raumkategorie die demographische Entwicklung brach gefallen, sondern durch ökonomische und Abb. 5: Die Graphik wurde auf der Basis numerischer Ergeb- politische Umbrüche. nisse erstellt, die bei Habermann und Heydenreich (2006/2007) publiziert sind und die auf eine Umfrage der ge- Auf den Freiflächen entwickeln sich be- nannten Autoren in Schönefeld rekurieren. Das negative Image von ungepflegten innerstädtischen Flächen wird hierdurch stimmte Sukzessionsstadien von Ruderal- eindeutig belegt. Am besten schnitten in diesem Vergleich die vegetation, die hinsichtlich der ihnen entge- umzäunten Rasenflächen ab (vgl. auch Abb. 6a, 6b und 7). gen gebrachten Werthaltung sowohl negativ (Unkraut) als auch in erster Linie positiv (Stadtwildnis) besetzt sein können. Wäh- Eine Umfrage von Habermann und Heyden- rend der Begriff „Unkraut“ als negativ emp- reich 2007 in einem teilweise durch Leer- funden wird, sind die Konnotationen zum stand gekennzeichneten Stadtteil in Leipzig Begriff (Stadt-)Wildnis differenzierter zu (Schönefeld) zeigt deutlich, dass „ruinöse betrachten11. Die meisten Menschen, die in Gebäude“ und „wild bewachsene Flächen“ Industrienationen leben, haben die Möglich- 134 Den Wandel der Rahmenbedingungen für sinnvolle Konzepte der städtischen Grün- und Freiraumentwicklung in Deutschland nutzen

tanvegetation schön zu finden, kann jedoch mit einem Trick gelingen: Man kann sie symbolisch überhöhen, z. B. indem man sie unmittelbar an intensiv gepflegte Flächen angrenzen lässt oder indem man sie mit künstlerischen oder natürlichen positiven Wertkategorieträgern durchsetzt (z. B. Kunstwerke).

2.5.2 Gleichzeitigkeit von demographi- scher Schrumpfung und demo- graphischem Wachstum innerhalb unterschiedlicher Viertel eines administrativen Stadtgebiets Interessante „städtische Laboratorien“ reprä- sentieren diejenigen Städte, welche in eini- gen Vierteln bzw. Stadtbereichen demogra- phisch schrumpfen und in anderen wachsen. Hierfür kann Leipzig als Beispiel dienen. Neue und landschaftsarchitektonisch inte- ressante Freiraumkonzepte, die eher reprä- sentative Funktionen erfüllen (Bsp. Neue Messe), finden sich dort ebenso wie innova- tive kleinräumige Ansätze, die Freiraumnut- zerbedürfnisse im Nahbereich abdecken und dem sozialen Miteinander dienen (Bsp. neue Westentaschenparks in Lindenau und Plag- witz auf ehemals verkommen wirkenden Grundstücken).

Abb. 6a und 6b: Die beiden Bilder, sind so oder ähnlich für Tausende von Grundstücken in schrumpfenden Städten oder in schrumpfenden/wachsenden Städten typisch. Zwischen zwei Häusern einer gründerzeitlich Abb.7: Das Foto zeigt eine abgezäunte und mit Rasen entstandenen Stadterweiterung ist ein Haus weggefal- eingesäte (unspektakuläre aber typische) Fläche in len. Von Weitem betrachtet erkennt man in der Baulü- Leipzig. Die Absperrung bedeutet für den Grundflä- cke/auf der Brachfläche spontan entstandene Gehölz- cheneigentümer, dass er hierdurch der gesetzlich ver- sukzession. Von Nahem, durch den Metallzaun geblickt, ankerten Verkehrssicherungspflicht nachkommt. Falls fällt insbesondere die Ablagerung von Müll und Schrott jemand den Zaun übersteigt, so haftet der Eigentümer negativ auf. Links hinten erkannt man vage einige zu nicht für Unfälle auf seinem Grundstück. Hätte der Zeiten der DDR entstandene und seit langem nicht mehr Eigentümer lediglich eine Absperrung ohne Rasenein- benötigte Autogaragen. Die Bilder entstanden in Leipzig, saat vorgenommen und die (Gehölz-)Sukzession er- Rosa-Luxemburg-Str. Fotos: M. Richter. möglicht, so wären erfahrungsgemäß Müllablagerungen sehr viel wahrscheinlicher. Foto: M. Richter. nach Ansicht der Anwohner ein negatives Image transportieren (s. Abb. 5). Der Entscheidend dafür, ob ein Freiraum von den „Durchschnittsbürger“ liebt saubere, ge- potenziellen Nutzern gut angenommen wird, pflegte Grünflächen (ohne Müllablagerun- ist in der Regel das jeweilige soziale Milieu gen, Graffitis und Vandalismuserscheinun- (bzw. dessen Erwartungshaltung) im Nahbe- gen) mit ganz bestimmten Gestaltqualitäten reich, d. h. im direkten Wohnumfeld. Der (siehe Abb. 6a, 6b und 7). Die „wilde“ Spon- entstehende oder erneuerte Freiraum sollte auf die Nutzerbedürfnisse13 abgestimmt sein. 135 Matthias Richter

Auch das lokal sehr unterschiedliche Poten- bzw. gemeinsam mit den Nutzern zu entwi- zial zum Vandalismus sollte berücksichtigt ckeln, ist ein wichtiger Beitrag zur menschli- werden. Dies kann z. B. bedeuten, in Parks chen Lebensqualität. Die „Aktivitäts- extrem robuste Bänke und Mülleimer zu Knotenpunkte des Alltags“ sind z. B. Kinder- installieren oder auf Staudenbeete gänzlich gärten, Schulen und Betriebe. Wenn man zu verzichten. Bei allen generellen Trends bedenkt, dass z. B. Schulkinder ca. ein Fünf- und Erfahrungen hinsichtlich der Freiraum- tel oder sogar mehr von ihrer Tageszeit in nutzung bzw. Freiraumentwicklung, die wis- Schulen und im Schulumfeld verbringen, senschaftlich belegt werden können, muss dann muss entsprechend auf die dortigen als zentraler Leitsatz dienen, dass die Anla- Freiräume geachtet werden, die auf die al- ge jeder lokalen Grünfläche einer lokal jus- tersbedingten Nutzerbedürfnisse abgestimmt tierten planerischen und politischen Ent- sein sollten. Die Aufwertung des Schulum- scheidung bedarf, die jedoch möglichst in feldes gehört in Leipzig zu den politischen gesamtstädtische Konzepte und stadtregio- Förderschwerpunkten. nale Entwicklungsszenarien eingebunden Mit „Aktivitäts-Knotenpunkt“ ist ein unter der sein sollte. Perspektive der Aufenthaltsdauer her be- trachteter Aufenthaltsschwerpunkt (hier be- 2.6 Empfehlungen auf gesamtstädtischer zogen auf Grün- und Freiräume) gemeint. Ebene Auf verkehrlichen Verbindungslinien (z. B. Auf gesamtstädtischer Ebene haben sich der Weg zur Arbeit, der Weg zur Schule, der Grünflächensysteme bewährt, die eine Mi- Weg zu den Freunden und Verwandten etc.) schung aus linearen Strukturen (z. B. Grün- zu den Orten hoher Aufenthaltsdauer (Ar- achsen und Grünkeile) und radialen Syste- beitsstätte, Schule etc.) wird Stadtnatur von men darstellen. Hierdurch wird es den Grün- den meisten Menschen primär als „grüne und Freiraumbesuchern ermöglicht, ab- Kulisse“ – als ein Teil der Alltagswelt, die wechslungsreiche Wegeführungen zu nutzen sich nicht sonderlich abhebt – betrachtet. (Rundwege anstatt identischer Hin- und Die „Aktivitäts-Knotenpunkte der Freizeit“ Rückwege). sind, was den städtischen „Outdoor-Bereich“ Größere Grünräume, die hohe Naturschutz- betrifft, sehr vielfältig und reichen von traditi- qualitäten aufweisen, lassen sich in den onellen Parks (unterschiedlicher Ausstattung gegebenen Stadtstrukturen zumeist eher am und Größe) über Botanische Gärten bis hin Stadtrand verwirklichen, während Stadtplät- zu Freizeit- und Themenparks. ze eher im zentrumsnahen Bereich den Nut- Zu den „Aktivitäts-Knotenpunkten des Alltags zerbedürfnissen entsprechen. Prinzipiell und/oder der Freizeit“ gehören ohne Zweifel erscheint ein „abgestuftes Naturnähekon- auch Hausgärten in Privatbesitz sowie ge- zept“ hinsichtlich der Freiraumqualitäten pachtete Kleingärten. Viele einkommens- sinnvoll, ohne dass jedoch im Umfeld bzw. starke Familien präferieren und schaffen sich im Aktivitätseinzugsbereich von Wohnorten eine Wohnlage, die ihnen die Nutzung eines naturnähere Bereiche grundsätzlich fehlen eigenen Gartens gestattet. Dies ist in ärme- sollten. Hierzu können Naturerlebnisräume ren Vierteln in Deutschland nicht die Regel oder Wildnisinseln in Stadtparks einen klei- und lässt öffentliche Grünanlagen oder nen Beitrag leisten. Auch entlang von Flüs- Kleingartenanlagen im Wohnumfeld als sinn- sen sind manchmal selbst in zentrumsnahen voll erscheinen. Doch kann dies nicht bedeu- Stadtteilen noch Reste von naturnaher Vege- ten, dass sich die Bedürfnisse nach einem tation erhalten, die bei geschickter Besucher- privaten Garten auf dem Grundstück einer lenkung und Besucherinformation erhalten Eigentumsparzelle durch einen Kleingarten werden können, ohne die Erholungsnutzung 14 oder die wohnumfeldnahe Nutzungsmöglich- der Bevölkerung zu unterbinden . keit eines Parks in allen Funktionsbereichen ersetzen ließen (Hacke, 2006). Dies gilt auch 2.7 Aktivitäts-Knotenpunkte in umgekehrter Betrachtungsrichtung. Es erscheint zeitgemäß, von planerischer Die Bereitstellung und Entwicklung eines Seite anstatt vorwiegend in Grünraumkon- Netzes von angemessenen und nutzbaren nexstrukturen stärker in aktivitätsorientierten Grün- und Freiräumen kann z. B. zur Ver- Grün- bzw. Freiraumknotenpunkten zu den- minderung des Aggressivitätspotenzials in ken. In der Nähe und im unmittelbaren Um- Städten einen wichtigen Beitrag leisten (Kuo feld der menschlichen Aufenthaltsorte adä- & Sullivan, 2001). quate Grün- und Freiräume bereitzustellen

136 Den Wandel der Rahmenbedingungen für sinnvolle Konzepte der städtischen Grün- und Freiraumentwicklung in Deutschland nutzen

3. Schlussbemerkung des hier nur angedeuteten Sachverhalts ist unter http://www.lvhm.de/DE/5_news/2006/10/BauGB2 Die kurz skizzierten Themenfelder und 007.php nachzulesen. Trends können die Rahmenbedingungen, 6 In Bezug auf infrastrukturelle Voraussetzungen unter denen städtische Grün- und Freiflä- detaillierter dargestellt wird dies bei Franz (2005, chenentwicklung betrieben wird, nicht voll- S. 15/16). 7 ständig abdecken (weitere Aspekte z. B. bei Bei der „Kommunalen Bürgerumfrage in Leipzig Wolf und Appel-Kummer 2005). Doch es im Jahr 2003 (vgl. Stadt Leipzig, Dezernat Stadt- wurden wichtige Umstände benannt, die das entwicklung und Bau, Stadtplanungsamt 2004) gaben über die Hälfte der Befragten an, dass heutige Verständnis und die Erlebnispoten- Plagwitz früher nicht attraktiv war, sich jetzt aber ziale von „Natur in der Stadt“ mit prägen. verbessert habe. 8 Die in der Einleitung aufgeworfene Frage, Zu den Voraussetzungen für Erfolge und Miss- welche Stadtnatur(en) wir brauchen und erfolge von Regionalparkkonzepten vgl. Rohler (2003). Die Geschichte des Wiener Grüngürtels wollen, kann nun näherungsweise beantwor- beschreibt Jedelsky (2004). tet werden. Entscheidend ist es, lokal ange- 9 Schwedt ist eine ostdeutsche Stadt, an der messene Lösungen für die Gestaltung der Grenze zu Polen gelegen, die im Rahmen der Grün- und Freiräume zu finden – dies mög- Veränderungen nach der politischen Wende lichst gemeinsam mit den Nutzern. Die Be- durch den Zusammenbruch des dominanten In- dürfnisse nach „Stadtnatur“ sind je nach dustriezweigs (Erdölraffinerie und -verarbeitung) Altersgruppe und sonstigen Wertvorstellun- unter extremem wirtschaftlichen Veränderungs- druck stand. gen sehr heterogen ausgeprägt. Ein gestuf- 10 tes Konzept zwischen „naturnäheren“ (groß- Merk (2006) beschreibt für Halle/Saale das „Konzept Waldstadt“, das im zweitgrößten Plat- räumigen) Strukturen im Außenbereich (z. B. 15 tenbaugebiet der Stadt, in Halle-Silberhöhe, zur Landschaftsschutzgebiete) und ein Akti- Anwendung kommt. onsknotennetz (bzw. Ruhezonenknoten- 11 Oerter (2004) betont: „Wildnis wird vor allem netz), welches Schulen, Westentaschen- dann positiv empfunden, wenn sie als abstrakter parks, Grüngürtel, Spielplätze, Naturerleb- Symbolträger fungiert; vor der eigenen Haustür nisbereiche, Brachen, Gewässerrandstreifen wird sie eher als Unordnung und Bedrohung an- und Friedhöfe im Innenbereich je nach Er- gesehen.“ Diese Einschätzung wird prinzipiell reichbarkeit und Nutzerbedürfnissen diffe- geteilt. Doch relativiert Oerter auch, dass Landwir- renziert, erscheint sinnvoll. te ein anderes Verhältnis zu Wildnis haben als die in der Baubranche Tätigen oder als „die Touris- Als planerisch günstiger Umstand kann sich musbranche“ und dass für Kinder innerstädtische erweisen, Künstler16 sowie externe Fachleu- Verwilderungsflächen ideale Streifräume darstel- te mit einzubeziehen, um neue Perspektiven len, die unreglementiertes Spiel zulassen und die für Gestaltungsmöglichkeiten zu gewinnen Phantasie anregen. Sehr anschauliche Beispiele aus Bern zu dem zuletzt genannten Aspekt liefern und neue Gestaltungsbeispiele zu erproben. Tschäppeler & al. (2007). Die finanziellen und personellen Ressourcen 12 Stadtbrachen werden schon seit langem von zur Grün- und Freiraumgestaltung sind im Stadtökologen untersucht, auch in Bezug auf das öffentlichen Sektor leider in den meisten Nutzerverhalten (vgl. Nolda 1990). Die Umin- Städten suboptimal. Es ist kaum zu erwar- terpretation von „Stadtbrache“ zu „Stadtwildnis“ ten, dass sich dies durch bürgerschaftliches geht damit einher, dass „Wildnis im Trend liegt“ (Oerter 2004). Engagement kompensieren ließe. Umso 13 wichtiger sind kreative neue Konzepte und Eine ältere, aber dennoch lesenswerte Analyse Betrachtungsweisen. zu Freiraumnutzerbedürfnissen stammt von Eick (1997). 14 Ein Beispiel hierzu bietet der Leipziger Auwald. 15 1 Bei den zur Veranschaulichung dienenden Bei- Hierzu können auch größere renaturierte Areale spielen bilden Leipziger Flächen einen Schwer- gehören wie z.B. im Leipziger Südraum die soge- punkt, nicht zuletzt aufgrund der hohen dortigen nannte Neuseenlandschaft im ehemaligen Braun- kohletagebaugebiet. Nutzungsdynamik. 16 2 Hierbei konnten nur einige besonders wichtig So befindet sich derzeit ein Skulpturenpark erscheinende Rahmenbedingungen herausgegrif- entlang der Leipziger Parthe (ein kleiner Fluß) in fen werden. der Planung, der mit dazu beitragen kann, dass 3 Ein positives Beispiel hierzu ist das Senioren- die Parthe, die relativ nah ans Stadtzentrum her- heim in Plagwitz, in dessen Nachbarschaft ein anreicht, auf neue Weise durch Fußgänger erleb- Mütterzentrum mit Spielbereichen für die Kinder bar wird. Maßgeblich an dieser Konzeption betei- eingerichtet wurde (vgl. http://www.urban- ligt ist das Atelier Latent (mdl. Mitteilung Weiss- leipzig.de/presse2.asp?id=144). haar, 2007) 4 Die ELK umfasst auch städtische und verstäd- terte Gebiete (vgl. ELK, Art. 2) 5 Weitere in der Gesetzesnovelle festgeschriebe- ne Änderungen und eine genauere Erläuterung 137 Matthias Richter

Literatur Müller, B. (2002). Reginalentwicklung unter Schrumpfungsbedingungen. Herausforde- Amidon, J. (2001). Radical Landscapes. rungen für die Raumplanung in Deutsch- Thames & Hudson. London. land. RuR 1-2. S. 28-42. Bruns, D. (2004). Ballungsräume und ihre Nolda, U. (1990). Stadtbrachen sind Grünflä- Freiflächen. Eine Einführung. In: Bruns, chen. Garten und Landschaft 8. S. 27-32. D. (Hrsg.). Ballungsräume und ihre Frei- Oerter, K. (2004). Wildnis in Rheinland-Pfalz. flächen. Arbeitsberichte des Fachbereichs In: Landesamt für Umwelt, Wasserwirt- Architektur, Stadtplanung. Landschafts- schaft und Gewerbeaufsicht (LUWG) planung 157. S. 5-12. Rheinland-Pfalz (Hrsg.). Dialogforum Na- Bruns, D. (2006). Die Europäische Land- turschutz 2001 und 2002. Materialien Na- schaftskonvention. Bedarf es eines deut- turschutz und Landschaftspflege 4. S. 24- schen Sonderweges? Stadt und Grün 12. 30. S. 14-19. Orbeck, M. (2000). Stadtteilpark fast fertig – Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung jetzt muss noch Gras drüber wachsen. (Hrsg.) (2004). Zwischennutzung und Artikel in der LVZ (Leipziger Volkszeitung) neue Freiflächen. Städtische Lebensräu- vom 23.05.2000. me der Zukunft. Reidl, K., Schemel, H.-J. & Blinkert, B. Eick, K. (1997). Anforderungen der Nutzer (2005). Naturerfahrungsräume im besie- an städtische Grünflächen und die sich delten Bereich. Ergebnisse eines interdis- daraus ableitenden Konsequenzen für die ziplinären Forschungsprojekts. Nürtinger Pflege. In: FLL Forschungsgesellschaft Hochschulschriften 24. Landschaftsentwicklung Landschaftsbau Richter, M. (2003). Die Bedeutung städti- e.V. – FLL-Symposium Anlage und Pflege scher Gliederungsmuster für das Vor- von Grünflächen in der Stadt. Teil 6. kommen von Pflanzenarten unter beson- FLL (Forschungsgesellschaft Landschafts- derer Berücksichtigung von Paulownia entwicklung Landschaftsbau e.V.) (2003). tomentosa (Thunb.) Steud. - dargestellt Fachbericht „Freiräume für Generationen“ am Beispiel Stuttgart. – Dissertation. 257 – Zum freiraumplanerischen Umgang mit S. mit Anhang. den demografischen Veränderungspro- Rohler, H.-P. (2003). Regionalparks – zessen. Eigenverlag. Bonn. Strategien zur Entwicklung der Land- Franz, P. (2005). Regionalpolitische Optio- schaft in Ballungsräumen. Essen. nen für schrumpfende Städte. ApuZ 3. S. Scherzer, U. (2004). „Hertha, ich geh’ mal 10-16. eben meine Runde“ – Freiräume für älte- Hacke, U. & Lohmann, G. (2006). Untersu- re Menschen. Wohnbund-Informationen chungsergebnisse zum Bundesfor- 4. S. 30-32. schungsforhaben „Nachhaltige Stadt- Smaniotto Costa, C., Scherzer, C. & Sutter- parks“ – Der Botanische Obstgarten Heil- Schurr, H. (2006). Tage im Grün. Nutzer- bronn aus sozialwissenschaftlicher Sicht. wünsche und Nutzungsverhalten im öf- IWU, Darmstadt. fentlichen Freiraum – eine Untersuchung Hoppe, K. (2006). Ein „GrünGürtel“ als Stra- in Dresden. Stadt und Grün 11. S. 12-19. tegie zur Vermeidung weiterer Zersied- Spitthöver, M. (2006). Bedeutung städtischer lung. Schr.-R. d. Deutschen Rates für Freiräume aus soziokultureller Sicht. Landespflege 78. S. 83-86. Schriftenreihe des Deutschen Rates für Jedelsky, B. (2004). Grüngürtel Wien 1995. Landespflege 78. S. 55-60. Von Lueger (1905) bis Häupl (2004). In: Stadt Leipzig, Dezernat Stadtentwicklung Bruns, D. (Hrsg.). Ballungsräume und ihre und Bau, Amt für Stadterneuerung und Freiflächen. Arbeitsberichte des Fachbe- Wohnungsbauförderung (2005). Stadter- reichs Architektur, Stadtplanung, Land- neuerung. Neue Freiräume im Leipziger schaftsplanung 157. S. 48-55. Osten. Kuo, F. E. & Sullivan, W. C. (2001). Aggres- Stadt Leipzig, Dezernat Stadtentwicklung sion and violence in the inner city. Effects und Bau, Stadtplanungsamt (2004). Klein- of environment via mental fatigue. Envi- räumiges Monitoring des Stadtumbaus in ronment and Behavior 33, 4. S. 543-571. Leipzig. Wohnen in Leipzig – Ausgewähl- Merk, E. (2006). Szenarien und Konzepte für te Ergebnisse der kommunalen Bürger- „Grüne Inseln“ und Freiräume am Fluss in umfrage 2003. Halle. In: Preisler-Holl, L. (Hrsg.) (Deut- Tschäppeler, S., Gresch, S. & Beutler, M. sches Institut für Urbanistik). Aktuelle (2007): Urbane Freiflächen neu entde- Konzepte und Maßnahmen der städti- cken. Haupt-Verlag. Bern. 128 S. schen Freiraumentwicklung. S. 39-49.

138 Den Wandel der Rahmenbedingungen für sinnvolle Konzepte der städtischen Grün- und Freiraumentwicklung in Deutschland nutzen

Voskamp, B. (2007). Silberne Landschaften – Goldene Aussichten. Stadt und Grün 4. S. 9-11. Wolf, A. & Appel-Kummer, E. (2005). Demo- graphische Entwicklung und Naturschutz. Perspektiven bis 2015. Überarbeiteter Abschlussbericht des F+E-Vorhaben: "Demografische Entwicklung und Natur- schutz" (UFOPLAN 2002 – FKZ: 802 81 040). Zeitz, A. (2007). Grünräume für Senioren. Stadt und Grün. S. 12-14.

Internetquellen Anmerkung: Die Monats- und Jahresanga- ben zu den Internetquellen beziehen sich auf den letzten Aufruf der entsprechenden URL durch den Autor.

Barth, S. (2007): Kindheitsräume in der Mo- derne. http://www.stephan-barth.de/kindheit.htm März 2007 Grahn, P. & Stigsdotter, U. K. (2007). Means for developing green city plans that pro- mote human health. http://en.sl.life.ku.dk/upload/p._grahn_and _u._stigsdotter.pdf - März 2007 Habermann, T. & Heydenreich, S. (2007). Bürgerschaftliche Zwischennutzung in der schrumpfenden Stadt – Funktionen und Fördermöglichkeiten. http://www.stadtteilar- beit.de/seiten/theorie/habermann/zwische nnutzung.htm - April 2007 Isenberg, W. (2007). Masterplan: grün. Der Bereich Naherholung, Freizeit und Tou- rismus. Kommentierung der touristischen Entwicklung in der Region Köln/Bonn. Studie_2004/Version 2.1. http://www.regionale2010.de/fileadmin/us er_sha- res/2010_archiv/gruen/vor_entwurf/Naher holung_Freizeit.pdf - März 2007 Will, R. (2007). „Treffpunkt Linde". Ein Dorf- platz mitten in Plagwitz – am Mütterzent- rum treffen sich nun Alt und Jung. http://www.urban- leipzig.de/presse2.asp?id=144 März 2007

Anschrift Dr. Matthias Richter Universität Leipzig, Institut für Geographie, Johannisallee 19a, 04103 Leipzig E-mail: [email protected]

139

CONTUREC 2 (2007) Seite 141 bis 151

Naturerfahrungsräume - Ein Ansatz zur Naturvermittlung in Stadt- gebieten

Places for nature discovery – Ways to provide an experience of nature in urban ar- eas

KONRAD REIDL, HANS-JOACHIM SCHEMEL & BALDO BLINKERT

Zusammenfassung In vier baden-württembergischen Städten – Stuttgart, Karlsruhe, Freiburg und Nürtingen – wurden geeignete Flächen als Naturerfahrungsräume abgegrenzt bzw. (um)gestaltet. Sodann wurde – teilwei- se im Vergleich zu konventionellen Spielplätzen – untersucht, wie sich Kinder und Jugendliche auf diesen Flächen verhalten und welche Naturerfahrungen sie hierbei machen. Die Vielfalt der natürlichen Elemente in Naturerfahrungsräumen bietet den Heranwachsenden mehr Gelegenheit zu abwechslungsreichen, selbst bestimmten Spielen als auf konventionellen Spielplätzen: die naturorientierte Ausstattung dieser Flächen zeigt eine höhere Aktionsraumqualität, die Spielabläu- fe sind komplexer (weniger monoton). Die Beobachtungen der Kinder im Alter zwischen 6 und 12 Jah- ren und die Interviews mit ihnen haben deutlich gemacht, dass geeignete naturbestimmte Flächen im Wohnumfeld für sie von großer Bedeutung sind. Die schriftliche Elternbefragung und ergänzende Gespräche mit Eltern haben ergeben, dass das An- gebot von Naturerfahrungsräumen hier auf große Zustimmung stößt und auf diesem Weg die Akzep- tanz für Naturschutz in der Stadt gefördert werden kann. Naturschutz in der Stadt, Naturerfahrung, Naturerfahrungsräume, Akzeptanz des Naturschutzes, Bio- logische Vielfalt.

Summary In four cities – Stuttgart, Karlsruhe, Freiburg and Nürtingen; all of them in the Land of Baden- Württemberg – suitable sites were defined and (re-)designed as areas for natural experience. After- wards it was investigated how children and teenagers behave on these sites compared to conven- tional playgrounds and what types of natural experience they gain. The diversity of natural elements on these sites offers more opportunity to young people for varied, self-determined games than on conventional playgrounds: the nature-oriented equipment of the sites provides greater quality as action space, the sequence of games is more complex (less monotonous). Observations of children between 6 and 12 years and interviews showed that suitable natural areas in the residential environment are of great significance to them. Written interviews of parents and supplementary interviews showed that a provision of sites for natural experience meets wide approval and can contribute to more acceptance of nature conservation in urban areas.

1. Einleitung Parallel dazu sind Entwicklungen im Gange, die nicht nur Erwachsene, sondern vor allem Naturschutz in der Stadt hat – wie der Natur- Kinder und Jugendliche der Natur immer mehr schutz allgemein – momentan erhebliche Ak- entfremden. Mittel- und langfristig kann das zeptanzprobleme. Die Gründe hierfür sind dazu führen, dass die gesellschaftliche Bedeu- vielfältig und sicherlich in erster Linie darin zu tung des Naturschutzes weiter absinkt, denn sehen, dass gegenwärtig radikale Verände- „die entscheidende Voraussetzung für gelin- rungen im Wirtschaftsleben (Stichwort: Globa- genden Naturschutz ist die Bereitschaft, mög- lisierung) sowie in der Gesellschaftsstruktur lichst vieler Menschen zur Übernahme von (Stichwort: Demographische Entwicklung) Verantwortung für den Erhalt unserer natürli- stattfinden. Dies hat dazu geführt, dass aktuell chen Umwelt“ (Hüther, 2005, S. 231). Diese andere Themen stärker im Vordergrund ste- Bereitschaft ist nicht angeboren, sondern sie hen, Umwelt und Naturschutz von vielen Men- muss rechtzeitig in den Menschen verankert schen als weniger wichtig wahrgenommen werden, was immer weniger stattfindet. werden. Konrad Reidl et al.

Der Naturschutz ist an dieser Entwicklung nicht hende bzw. umgestaltete Flächen, die die Be- ganz unschuldig. Zu lange wurden die Belange dingungen eines Naturerfahrungsraumes erfül- des ethisch begründeten Arten- und Biotop- len, hinsichtlich ihrer Nutzung und Akzeptanz schutzes mit denen des Naturschutzes über- untersucht. Die begleitende Forschung be- haupt gleichgesetzt. Der Schutz von Pflanzen, schäftigte sich mit folgenden analytischen und Tieren und ihren Lebensräumen wurde in den programmatischen Leitfragen: Mittelpunkt gestellt, der Mensch in vielen Fäl- – Wie werden die städtischen Naturerfah- len als „Hauptstörfaktor“ betrachtet. Das gilt rungsräume von Kindern und Jugendlichen sowohl für den ländlichen Raum als auch für angenommen und genutzt? den Stadtnaturschutz (vgl. Breuste, 1994). In vielen Fällen ist es zum Erhalt der biologischen – Welche Naturerfahrungen werden auf den Vielfalt selbstverständlich unverzichtbar, dass Flächen durch welche (spielerischen) Akti- ein strenger Schutz von Pflanzen, Tieren und vitäten gemacht? Lebensräumen umgesetzt wird. Fragwürdig – Wie wirken sich diese Erfahrungen auf das wird diese Vorgehensweise jedoch, wenn sie Umwelt- und Naturbewusstsein der Kinder auch im besiedelten Bereich kompromisslos und Jugendlichen aus? eingefordert wird. Gerade in den besiedelten Bereichen ergeben sich zahlreiche Möglichkei- – Welche Randbedingungen (beispielsweise ten, Naturerfahrung und Naturerleben im un- Größe, Lage, Erreichbarkeit und Ausstat- mittelbaren Wohnumfeld der Menschen zu tung der Flächen) sind dabei besonders etablieren, ohne dadurch die Zerstörung be- wichtig? sonders sensibler Naturbestände zu riskieren. Auch Sukopp & Weiler (1986) weisen auf die- – Welche Einstellung haben Eltern gegen- sen Sachverhalt hin: „Naturschutz in der Stadt über Naturerfahrungsräumen? dient nicht in erster Linie dem Schutz bedroh- – Wie verhalten sich die ausgewählten ter Pflanzen- und Tierarten; seine Aufgabe Kommunen und die einbezogene Bevölke- besteht vielmehr darin, Lebewesen und Le- rung zum jeweiligen Naturerfahrungsraum? bensgemeinschaften als Grundlage für den unmittelbaren Kontakt der Stadtbewohner mit – Welche Hinweise zur Schaffung von Na- natürlichen Elementen ihrer Umwelt gezielt zu turerfahrungsräumen können der städti- erhalten“. schen Verwaltung an die Hand gegeben werden? So berechtigt diese Forderung sicherlich ist: adäquate Verfahrensweisen des Stadtnatur- 2. Untersuchungsräume schutzes haben sich daraus bisher bestenfalls in Ansätzen entwickelt. Eine ausführliche Darstellung der Untersu- chungsflächen in den vier genannten Städten Ein Ansatz, der allgemeinen Naturentfremdung kann Reidl et al. (2005) entnommen werden. entgegenzuwirken und den Naturschutzgedan- An dieser Stelle werden daher lediglich einige ken positiv zu vermitteln, können Naturerfah- grundsätzliche Anmerkungen zur Typisierung rungsräume (NER) sein. Bei städtischen Na- gemacht. turerfahrungsräumen handelt es sich dabei um Grünflächen, die darauf abzielen, vor allem Bei den Untersuchungsräumen sind zwei Kindern und Jugendlichen in ihrem alltäglichen Grundtypen - der unveränderte und der um- Wohnumfeld Gelegenheit zu spielerischem gestaltete Naturerfahrungsraum – zu differen- Erleben von Natur zu bieten und auf diesem zieren, was entsprechend unterschiedliche Wege die naturschutzfachlichen Belange zu Vorgehensweisen erforderlich machte. In stärken. Bezüglich einer ausführlichen Definiti- Stuttgart, Nürtingen und Freiburg-Rieselfeld on des Begriffes sowie der Ziele und Aufgaben hatten wir es mit naturbestimmten Flächen zu von Naturerfahrungsräumen kann auf Schemel tun, die auf Grund ihrer strukturellen Vielfalt et al. (1998) sowie Reidl et al. (2005) verwie- von den Kindern bereits als spannender Erleb- sen werden. nisraum angenommen wurden und daher nicht verändert zu werden brauchten. In Freiburg- Die Studie, deren Ergebnisse im Folgenden in Weingarten und Karlsruhe ging es hingegen Auszügen vorgestellt werden, verfolgte vor um Flächen, die als Gesamtraum eher eintönig allem zwei Ziele: die bürgernahe Ausweisung wirkten (beispielsweise eine ruderalisierte bzw. (Um)Gestaltung von Naturerfahrungs- Wiese auf ebenem Gelände) und daher zu- räumen sowie – mit Hilfe von begleitender mindest auf Teilflächen einer „Initialgestaltung“ Forschung – die Gewinnung von Erkenntnis- bedurften, um durch eine größere strukturelle sen über die Akzeptanz, Nutzung und Wirkung Vielfalt, beispielsweise ein bewegtes Relief, durch bzw. auf Kinder, Jugendliche und Er- ihre Eignung für das Naturerleben zu verbes- wachsene. In Stuttgart, Freiburg, Karlsruhe sern. In diesen Fällen wurde – in enger Zu- und Nürtingen wurden in diesem Sinne beste- 142 Naturerfahrungsräume

sammenarbeit mit den betroffenen Kindern und se im Vergleich zum Spielverhalten auf kon- Jugendlichen – mit einem kurzfristigen Bag- ventionellen Spielplätzen – bearbeitet. Bei dem gereinsatz eine Art „Mondlandschaft“ geschaf- Vergleich der Situation von Kindern in Wohn- fen, die sich selbst überlassen blieb. quartieren mit und ohne Naturerfahrungsraum ist beispielsweise die Frage wichtig, ob die

Kinder in einem Wohnquartier mit Naturerfah-

rungsraum sich häufiger draußen zum Spielen

aufhalten als die Kinder in dem Vergleichsge-

biet. Unter qualitativen Gesichtspunkten stellt

sich die Frage, ob sich Kinder auf einem Na-

turerfahrungsraum anders verhalten als Kin-

der, die nur zu einem konventionellen Spiel-

platz Zugang haben. Um dies herauszufinden,

wurden Kinder auf verschiedenen ausgewähl-

ten konventionellen Spielplätzen und Naturer-

fahrungsräumen beim Spielen beobachtet und

anschließend befragt.

Ebenfalls durch systematische Beobachtungen Abb. 1: Aktionstag in Karlsruhe – Kinder gestalten „ihren“ und gezielte Befragungen wurde die Frage Naturerfahrungsraum (Foto: K. Reidl). untersucht, welche Naturerfahrungen die Kin- der und Jugendlichen auf den Naturerfah- Eines der Ziele des Projektes bestand darin, rungsräumen machen und welche Qualitäten die Unterschiede in der Nutzung zwischen sich hieraus für diese naturbestimmten Flä- eher „technisch“ geprägten und natur- chen ableiten lassen, die konventionelle Spiel- bestimmten Spielräumen zu ermitteln, um auf flächen nicht besitzen. dieser Grundlage die besondere Qualität und Bedeutung naturbestimmter Flächen aufzuzei- Um die Einstellung der Eltern zu Naturerfah- gen. In Freiburg und Nürtingen wurden daher rungsräumen zu ermitteln, wurden diese mit- gleichzeitig auch konventionelle Spielplätze im tels Fragebögen – geschickt an alle Eltern im Hinblick auf das Verhalten der Kinder und die Einzugsbereich der Spielorte – schriftlich be- Einstellung der Eltern untersucht. fragt. Ausführliche Einzelgespräche mit einer kleineren Anzahl von Eltern ergänzten diese 3. Forschungskonzeption und ausgewähl- Befragung. te Ergebnisse Ein weiterer Untersuchungsbereich besteht in Die Konzeption des Forschungsprojekts wurde der Erfassung der biologisch-ökologischen von Reidl & Schemel (2003) sowie Reidl et al. Gegebenheiten in den Naturerfahrungsräumen (2005) dargestellt. An dieser Stelle sollen da- und ihrer Veränderung durch das Spiel der her lediglich einige Hinweise zur methodischen Kinder. Diesem Zweck dienten floristisch- Bearbeitung der Schwerpunkte gegeben wer- vegetationskundliche Kartierungen und die den. Zudem werden einige ausgewählte Er- Analyse von Nutzungsspuren. Nutzungsspuren gebnisse dargestellt. können darüber hinaus Beobachtungen und Befragungen ergänzen, da sie Aktivitäten do- Die Ergebnisse beziehen sich insbesondere kumentieren können, die außerhalb der Beo- auf folgende Aspekte: bachtungszeiten stattfinden. – Bedeutung der Naturerfahrungsräume für Kinder und Jugendliche, 3.1 Bedeutung der Naturerfahrungsräume für Kinder und Jugendliche – Beurteilung der Naturerfahrungsräume durch Eltern, Um die Bedeutung der städtischen Naturerfah- rungsräume für Kinder und Jugendliche zu – Erarbeitung floristisch-vegetationskund- ermitteln, wurden im Zeitraum zwischen April licher Grundlagen und Kartierung von Nut- und November 2003 an insgesamt 96 Tagen zungsspuren, Kinderbeobachtungen und Interviews mit Kin- – Empfehlungen zur Planung und Gestal- dern der Altersgruppe 6 bis 12 Jahre in Frei- tung von Naturerfahrungsräumen. burg und Nürtingen durchgeführt. Die Spielak- tivitäten von 823 Kindern wurden auf Naturer- Die zentrale Frage nach der Bedeutung der fahrungsräumen und auf konventionellen Naturerfahrungsräume für Kinder und Jugend- Spielplätzen zu bestimmten Zeiten protokol- liche wurde in erster Linie durch systematisch liert. Hinzu kamen weitere Beobachtungen von durchgeführte Beobachtungen und Befragun- spielenden Kindern an 16 Tagen außerhalb gen in den naturbestimmten Flächen – teilwei- der festen Beobachtungstermine, die in natur-

143 Konrad Reidl et al.

bestimmten Räumen aller vier Städte durchge- den oftmals vorhandenen Begleitpersonen führt wurden und 124 verschiedene Kinder (z. B. Großvater, der die Schaukel anstößt). erfassten. In der über mehrere Wochen an- Es ist zu vermuten, dass die Kinder, die Natur- dauernden besonders heftigen Hitzeperiode erfahrungsräume nutzen, einen engeren Be- des Sommers 2003 konnten Kinder allerdings zug zu „ihrem“ Spielort haben, als die Kinder fast nur in Spielräumen mit Wasser angetroffen auf den konventionellen Spielplätzen. werden.

Nutzung der Spielorte Alter Bedeutende und signifikante Unterschiede Die Altersverteilung der durch Leitfadeninter- konnte in den Antworten auf die Frage „Wie oft views befragten Kinder ist anders, da Kinder bist du auf diesem Platz? Wie oft in der Woche unter sechs Jahren weitgehend nicht befragt kommst du hierher? zwischen „NER-Kindern“ werden sollten. Der Anteil von 6 % (n= 10) in und „Spielplatz-Kindern“ festgestellt werden: den Gesamtinterviews kam zustande, da in einigen Fällen erst im schon begonnenen In- 43 % der Kinder besuchten den Naturerfah- terview festgestellt wurde, dass das betreffen- rungsraum jeden oder fast jeden Tag im Ge- de Kind noch keine sechs Jahre alt war. Das gensatz zu nur 24 % der Kinder, die auf einem Kind hatte bereits zugestimmt und wenn das konventionellen Spielplatz angetroffen wurden. Interview sinnvoll durchgeführt werden konnte, “Mehrmals pro Woche” bzw. “fast jeden Tag“ wurde es nicht abgebrochen. sind drei Viertel der Kinder“ auf den Naturer- fahrungsräumen am Spielen, aber nur lediglich Somit ergibt sich für die insgesamt 174 Inter- die Hälfte der Kinder auf den herkömmlichen views die folgende Altersverteilung: Spielplätzen. – 6 % (n= 10) der Kinder waren noch unter sechs Jahren, – 39 % (n= 65) der Kinder waren sechs und sieben Jahre,

– 28 % (n= 46) der Kinder waren acht und neun Jahre, – 20 % (n= 33) der Kinder waren zehn und elf Jahre, – 7 % (n= 11) der Kinder waren zwölf Jahre und älter.

Die Verteilung der Altergruppen der tatsächlich auf den Flächen anwesenden Kinder – laut den Abb. 2: Häufigkeit der Nutzung der Plätze durch die Kin- detaillierten Beobachtungsprotokollen – weicht der. davon ab, wie folgende Abbildung zeigt: Nur 9 % der Kinder sind noch seltener als circa dreimal pro Monat auf ihrem Naturerfahrungs- raum, aber 23 % der Kinder auf den konventi- onellen Spielplätzen suchen diese (sehr) sel- ten auf.

Obwohl das hohe Ergebnis von 23 % vermut- lich auch damit zusammenhängt, dass einige der auf den konventionellen Spielplätzen be- fragten Kinder sich auf Besuch bei Verwandten befanden bzw. mit ihren Großeltern oder ande- ren Bezugspersonen auf dem Spielplatz waren und nicht in der Nähe wohnen, sind die Unter- schiede signifikant. Immerhin 14 % der Kinder Abb. 3: Nutzung der Spielorte nach Altersgruppen. (n=25) konnten aus diesen Gründen keine Angabe über die Wegstrecke zu ihrem Zuhau- Der große Anteil von 45 % Kleinkindern auf se machen. Diese Kinder waren auch (bis auf den herkömmlichen Spielplätzen ist darauf drei) nicht mit anderen Kindern zum Spielen zurückzuführen, dass viele der Spielgeräte – verabredet, spielten größtenteils alleine (in und insbesondere die Sandkästen – speziell neun Fällen mit den Geschwistern) bzw. mit für diese Altersgruppe konzipiert sind. Die Kinder kommen in Begleitung ihrer Eltern oder

144 Naturerfahrungsräume

anderer Bezugspersonen auf die konventionel- Wo hast du dich aufgehalten, mit was hast du len Spielplätze, sehr oft dienen diese auch als dich beschäftigt?“ geantwortet haben, gibt Treffpunkt der (sie überwiegend begleitenden) Tabelle 1. Die Frage wurde in nahezu allen der Mütter. Kleine Kinder sind meist mit ihren 174 Interviews beantwortet und es wurden in Spielkameraden nicht direkt verabredet, son- fast allen Fällen zahlreiche Angaben (Mehr- dern stark von den Verabredungen bzw. der fachnennungen) gemacht. Zum Vergleich und Terminplanung der Eltern abhängig. zur Erweiterung der 174 Kinderinterviews wer- den noch zusätzlich 823 Kinderbeobachtungen Aktivitäten herangezogen. Um einen Gesamtüberblick zu ermöglichen, bezieht sich die Darstellung der Einen Überblick darüber, was die Kinder auf Beobachtungen auf alle Kinder. die Fragen: „Was hast du heute hier gemacht?

Tabelle 1: Spielverhalten auf dem Naturerfahrungsraum und auf konventionellen Spielplätzen in Freiburg und Nürtingen.

Was wurde gespielt? Leitfadeninterviews Beobachtungen

Naturer- konv. Naturer- konv. fahrungs- Spielplatz fahrungs- Spielplatz raum raum

Allg. Antwort: mit Freunden zusammen ge- wesen / rumgesessen 4 % 7 % 8 %

Allg. Antwort: Picknick, Eis essen, Flohmarkt 8 % 5 % 4 % 5 % machen ...

Nutzung von konventionellen Geräten: 3 % 66 % 67 %

Davon: Konventionelle Spielgeräte genutzt 3 % 64 % 56 % Davon: Konventionelle Klettergeräte genutzt 23 % 21 % Davon: Im Sandkasten gespielt 8 % 19 %

Sport (Fußball, Federball, Rad etc.) 8 % 21 % 1 % 15 %

Interaktives Spielen: Verstecken, Fangen etc. 7 % 9 % 10 % 3 %

Sehr komplexes Rollenspiel (Detektiv etc.) 5 % 1 % 4 % 4 %

Anderes: Karten, ferngesteuerte Autos, Un- 7 % 7 % 5 % 6 % sinn gemacht, mit anderen gestritten

Spielen mit direktem Naturbezug 75 % 3 % 82 % 4 %

Davon: Mit Natur allgemein beschäftigt 8 % 19 % 3 % Davon: Im / mit Wasser gespielt (gestaut etc.) 54 % 59 % Davon: Tiere und Pflanzen beobachtet etc. 32 % 47 % 1 % Davon: Hütte bauen / Baum klettern / Ver- 20 % 3 % 23 % 2 % steck haben

Gesamt (Mehrfachnennungen) 100 % 100 % 100 % 100 % (n = 91) (n=166) (n=267) (n=974)

145 Konrad Reidl et al.

Was gefällt Kindern besonders gut? Der Antwortkomplex „Spielen mit Naturbezug“ unterscheidet sich quasi nicht von den Antwor- Auf die Frage, was ihnen an ihrem Spielort ten zum Spielverhalten. Eine übergroße Mehr- besonders gut gefällt, hat keines der „NER- heit aller „NER-Kinder“ nennt Wasser, Tiere, Kinder“ Spielgeräte oder Sport genannt – im Pflanzen und die eigenen Hütten und Geheim- Gegensatz zu sehr vielen diesbezüglichen verstecke als wichtige Kriterien. 66 % aller Antworten der „Spielplatz-Kinder“, wo fast zwei Nennungen der “NER-Kinder” beziehen sich Drittel aller einzelnen Nennungen sich auf die auf den Bach bzw. Teich, dazu kommen 41 % konventionellen Spielgeräte bezogen – nicht Nennungen zum Thema „Tiere und Pflanzen erstaunlich, da diese ja den Sinn und Daseins- beobachten und untersuchen“ – besonders zweck des Spielplatzes darstellen. Fische. Und vor allem die in „Bandenstruktu- Vereinzelt wurde „viel Platz zum Spielen“ als ren“ organisierten Kinder nennen ihre Geheim- besonders positiv hervorgehoben und die Ant- verstecke und Hütten als wichtigen Punkt. wort „keine Störungen durch Erwachsene“ Wiederum ein verschwindender Anteil von wurde von 3 % der “NER-Kinder” und 2 % der „nur“ 5 % der Nennungen der Kinder auf den “Spielplatz-Kinder” genannt. herkömmlichen Spielplätzen stellen auf diese Frage einen Naturbezug her, genannt werden selbstgebaute Hütten.

Tabelle 2: Was gefällt Kindern besonders gut? (Freiburg und Nürtingen).

Was gefällt Kindern besonders gut? NER konv. Spielplatz

Nennungen ohne direkten Spielbezug: Nähe zum eigenen Haus etc. 2 % 8 %

Nennungen ohne direkten Spielbezug: “alles” 5 % 7 %

Nennungen ohne direkten Spielbezug: Freunde hier / Freunde treffen 5 % 10 %

Nutzung von konventionellen Geräten: 60 %

Davon: Konventionelle Spielgeräte 51 % Davon: Konventionelle Klettergeräte 19 % Davon: Sandkasten 3 %

Sportmöglichkeiten (Tore zum Fußballspielen etc.) 9 %

Interaktives Spielen: Verstecken, Fangen etc. 2 % 3 %

Sehr komplexes Rollenspiel (Detektiv etc.) 3 %

Anderes: Kartenspiele etc. 2 %

Viel Platz zum Spielen 2 % 9 %

keine Störungen (durch Erwachsene) 3 % 2 %

Spielen mit direktem Naturbezug 85 % 5 %

Davon: Die Natur allgemein (z.B. Bäume, Blumen) 3 % 1 % Davon: Das Wasser allgemein (plantschen etc.) 66 % Davon: Tiere und Pflanzen beobachten / fangen 41 % Davon: Hütte bauen / Baum klettern / Versteck haben 20 % 3 %

Gesamt (Mehrfachnennungen) 100 % 100 % (n = 91) (n=143)

146 Naturerfahrungsräume

Ohne hier auf alle Details der Befragungen und Interesse an Tieren (und Pflanzen) und Beobachtungen eingehen zu können, soll auf wissen, dass man diese „vorsichtig“ beo- folgende bedeutende Unterschiede zwischen bachten und wieder frei lassen sollte. Kindern, die auf Naturflächen spielten und – Kinder auf Naturerfahrungsräumen fertigen Kindern, die sich auf konventionellen Spielplät- selbst Dinge an und gestalten sich ihre zen aufhielten, hingewiesen werden: Umgebung. Sie bauen komplizierte Hütten – Die Kinder, die Naturerfahrungsräume oder fertigen Käscher mit Hilfe von Ästen nutzen, spielen dort häufiger und lieber als und Dosen an, bauen Staudämme und die Vergleichsgruppe auf den Spielplätzen. ähnliches. Sie handeln planvoll, gezielt und kreativ. Ein solches Verhalten wurde auf – Auf die Naturerfahrungsräume begeben Spielplätzen erheblich seltener beobachtet. sich die Kinder öfter ohne begleitende und Einfluss nehmende Erwachsene und aus – Kinder auf Naturerfahrungsräumen berich- eigenem Antrieb. teten ausführlicher, begeisterter und inte- ressierter von ihren Spielen und dem, was – Die Naturerfahrungsraum-Kinder finden sie „den ganzen Tag gespielt haben“ als deutlich mehr unbeobachtete Freiräume die Kinder der Vergleichsgruppe. Diese und Freiheiten vor als die Kinder der Ver- waren oft einsilbig, äußerten sich knapp gleichsgruppe auf den Spielplätzen. und hatten nichts zu erzählen und vermut- – Kinder auf den Naturerfahrungsräumen lich auch nicht viel erlebt. spielen erheblich häufiger mit anderen Aus diesen Ergebnissen lassen sich hinsicht- Kindern statt alleine und erheblich häufiger lich der Bedeutung von Naturerfahrungsräu- in großen Gruppen statt nur zu zweit. Sie men und anderen naturbestimmten Spielberei- bezeichnen sich erheblich häufiger Kinder- chen für die Entwicklung von Kindern und Ju- gruppen und Banden zugehörig. gendlichen zusammenfassend einige verall- – Kinder, die auf Naturflächen spielen, nen- gemeinerungsfähige Grundaussagen treffen: nen diese häufiger ihre Lieblingsorte und – Naturerfahrungsräume sind geeignet, He- lehnen Spielplätze häufiger ab. Sie beurtei- ranwachsende dazu zu motivieren, sich im len die Flächen auch insgesamt positiver. Freien aufzuhalten, weil die Vielfalt der na- – Die Kinder auf den herkömmlichen Spiel- türlichen Elemente mehr Gelegenheit zu plätzen wären häufig lieber auf einem an- interessanten Spielen bietet (Spielabläufe deren, etwas weniger konventionellen mit höherem Komplexitätsgrad und weni- Spielplatz gewesen (allerdings nicht in der ger Monotonie, höhere Aktionsraumquali- Natur) als dort, wo sie sich tatsächlich auf- tät). hielten. – Naturerfahrungsräume fördern in besonde- – Kinder auf Naturerfahrungsräumen spielen rem Maße Kreativität und Konzentrations- wesentlich häufiger komplexe oder sogar vermögen der hier spielenden Kinder und hochkomplexe Spiele als die Kinder der Jugendlichen. Kontrollgruppe dies tun. Bei der Kontroll- – Naturerfahrungsräume sprechen nicht nur gruppe auf den Spielplätzen herrschen ganz bestimmte, sondern alle Altersgrup- Spielabläufe ohne große Komplexität vor, pen an und tragen daher zu einer stärke- die zum Großteil auf monotonen Wiederho- ren sozialen Kompetenz ihrer jungen Nut- lungen beruhen. zer bei. – Naturerfahrungsräume bieten Möglichkei- – Naturerfahrungsräume fördern die Wahr- ten für alle Alterstufen. Spielplätze sind oft nehmungsfähigkeit der Kinder für ihre nicht altersgerecht und nur für ganz be- Umwelt. Sie lernen spielerisch, mit den stimmte Altersgruppen und Interessen Tieren und Pflanzen aufmerksam und konzipiert. achtsam umzugehen. – Kinder auf Naturerfahrungsräumen bleiben – Kinder in Naturerfahrungsräumen entwi- „länger bei der Sache“ und lassen sich ckeln eine stärkere emotionale Bindung an nicht von ihren komplexen Tätigkeiten ab- ihren Spielort, den sie mit intensivem Na- lenken. Die Kontrollgruppe wirkte oftmals turerleben verbinden. gelangweilt und nur kurzfristig interessiert. – Die Beobachtungen der Kinder und die – Kinder auf Naturerfahrungsräumen schei- Interviews haben deutlich gemacht, dass nen generell interessierter an ihrer Umge- für Kinder geeignete Naturflächen im bung, sie besitzen Grundkenntnisse und Wohnumfeld von großer Bedeutung für die

147 Konrad Reidl et al.

Ausbildung ihrer Umweltwahrnehmung, Tabelle 3: Bewertung von Aussagen über Naturerfahrungs- von Interaktionspotenzialen – also positi- räume. bin vem Sozialverhalten – und damit für ihre dem das unent- gesamte Entwicklung sind. stimme lehne insges. schie- ich zu ich ab den 3.2 Beurteilung der Naturerfahrungsräume durch Eltern Naturflächen sind für Kinder überflüssig, wenn es genü- Mit der schriftlichen Elternbefragung wurde in gend Grünanlagen, Spiel- und Sportplätze gibt 6,2% 10,0% 83,8% 100,0% allen vier Städten die Einstellung der Eltern zu naturbestimmten Flächen erhoben, teilweise Naturflächen sind wichtig für (in Freiburg und Nürtingen) im Vergleich zu Kinder, denn hier können sie beim Spielen ihre Kreativität konventionellen Spielplätzen. Die Fragebögen entfalten 95,8% 3,2% 1,1% 100,0% wurden an alle Haushalte mit Kindern im Alter von 6 bis 12 Jahren verschickt, die in einem Naturflächen sind als Spiel- Radius von ca. 500 Metern um die entspre- orte ungeeignet, weil es dort keine Spielgeräte gibt 2,2% 8,4% 89,4% 100,0% chenden Naturerfahrungsräume und konventi- onellen Spielplätze wohnen, das sind 382 Fa- Naturflächen sind wichtig, milien mit 501 Kindern. Geantwortet haben 107 weil Kinder dort wild- wachsende Pflanzen und Haushalte (Rücklaufquote 28 %). Tiere kennen lernen können 92,1% 7,1% 0,8% 100,0% Im Rahmen der schriftlichen Befragung wurde Naturflächen sind für Kinder den Eltern z. B. folgende Frage vorgelegt: ungeeignet, weil diese sich “Was halten Sie von Naturflächen als Spiel- dort schmutzig machen können 0,8% 3,5% 95,7% 100,0% räume für Kinder? Damit meinen wir die Mög- lichkeit, dass es in der Nähe Ihrer Wohnung Naturflächen sind für Kinder neben gestalteten Grünflächen (Parks, Spiel-, ungeeignet, weil man mit Verletzungsgefahren rech- Sportplätze) auch Flächen mit spontan entwi- nen muss 2,4% 15,1% 82,4% 100,0% ckelter, „wilder“ Natur gibt, auf denen Kinder spielen können. Wie beurteilen Sie die folgen- Naturflächen sind für Kinder den Meinungsäußerungen dazu?” (Statements wichtig, damit sie sich frei und ohne Aufsicht bewegen mit vorgegebene Antworten: „dem stimme ich können 86,2% 8,8% 5,0% 100,0% zu“, „bin unentschieden“, „das lehne ich ab“).

Die Bewertung durch die Eltern ist bemer- kenswert eindeutig. Deutlich mehr als 80 % der Ergänzend zu der schriftlichen Elternbefragung Eltern heben bei allen Aussagen die positive wurden in Stuttgart, Freiburg und Karlsruhe Bedeutung von Naturerfahrungsräumen hervor Einzelgespräche – Dauer jeweils 30 bis 50 und weisen negative Aussagen über Naturer- Minuten – mit insgesamt 17 Eltern(paaren) und fahrungsräume zurück. Die überwiegende zwei Lehrern geführt. Voraussetzung für die Mehrheit der Eltern meint, dass Naturerfah- Auswahl war ihre Aufgeschlossenheit für Be- rungsräume gebraucht werden, lange der Kinder im Stadtviertel. Alle Eltern (bis auf eine Ausnahme) wohnen in einem – weil Kinder dort ihre Kreativität entfalten Radius von 250 um den Naturerfahrungsraum. können, Diese ergänzenden Gespräche sind wegen – weil Kinder dort wild wachsende Pflanzen ihrer geringen Stichprobenzahl nicht repräsen- und Tiere kennen lernen, tativ. Sie sind trotzdem geeignet, auf zusätzli- che Aspekte aufmerksam zu machen, die bei – weil Kinder sich dort frei und ohne Aufsicht der Beurteilung von Naturerfahrungsräumen bewegen können. eine Rolle spielen. Und ebenfalls die ganz überwiegende Mehrheit In den intensiv geführten Gesprächen haben lehnt die Vorstellung ab, Naturerfahrungsräu- nahezu alle Eltern naturbestimmte Flächen als me seien überflüssig, wenn es genügend ges- Aufenthalts- und Spielorte für ihre Kinder als taltete Grünanlagen, Spiel- oder Sportplätze sehr positiv eingestuft. Sie sehen das Anre- gibt, Naturerfahrungsräume seien als Spielorte gungspotenzial, das Naturflächen bieten und ungeeignet, weil es dort keine Spielgeräte gibt, äußern sich auch nur sehr selten über mögli- weil Kinder sich dort schmutzig machen könn- che Nachteile und Risiken. ten oder mit Verletzungsgefahren gerechnet rechnen müsse. Bei den Gesprächen haben mehrere Eltern auch ihre Sorge zum Ausdruck gebracht, dass ihre Kinder außerhalb der Schulzeit zu viel Zeit in geschlossenen Räumen verbringen und zu wenig ins Freie gehen, was mit Medienkonsum

148 Naturerfahrungsräume

und anderen attraktiven Freizeitangeboten werden, hat sich nicht bestätigt. Die relativ zusammenhängt. Solche Hinweise der Eltern geringfügigen Tritteinwirkungen haben in den decken sich mit Ergebnissen aus der Kind- untersuchten Fällen den naturschutzfachlichen heitsforschung (zusammenfassend siehe Blin- Wert der naturbestimmten Flächen nicht ver- kert, 1996). In empirischen Studien ist die mindert. Solche Beeinträchtigungen sind erst problematische Tendenz zur „Verhäuslichung dann zu erwarten, wenn die Besucherfrequenz der Kindheit“ beobachtet worden (Zinnecker, pro Fläche zu hoch ist. Dem kann durch aus- 1990, Zeiher & Zeiher, 1994). Binnenräume reichende Flächengröße der Naturerfahrungs- gewinnen gegenüber Außenräumen an Bedeu- räume oder durch das Angebot zusätzlicher tung, der öffentliche Raum wird von Kindern Naturerfahrungsräume im gleichen Einzugsbe- immer weniger genutzt. In diesem Zusammen- reich entgegengewirkt werden. In den vorste- hang steht der Trend zur „organisierten Kind- hend dargestellten Beispielen wurden in meh- heit“ und zur „Medienkindheit“, d. h. die ver- reren Fällen durch Neugestaltungsmaßnah- stärkte Hinwendung der Kinder zu kontrollier- men (Erdaufschüttungen, Mulden) neue ten bzw. zu fiktiven Räumen. Wie Blinkert Standortbedingungen geschaffen, die eine (1996 und 1997) nachweisen konnte, ist die höhere pflanzliche Artenvielfalt nach sich ge- Beschaffenheit des Wohnumfeldes in hohem zogen haben, ohne dass dies zu Lasten ande- Maße für diese problematischen Trends ver- rer Arten oder Gemeinschaften gegangen wä- antwortlich. Je schlechter die Aktionsraumqua- re. In anderen, von uns nicht untersuchten lität im Wohnumfeld ist, desto weniger spielen Fällen, in denen die Ausgangssituation (bei- Kinder ohne Aufsicht außerhalb der Wohnung, spielsweise intensiv genutzte Ackerflächen, desto länger müssen sie bei ihrem Spielen Vielschnittrasen) naturschutzfachlich negativ beaufsichtigt werden, desto größer ist der Be- zu bewerten ist, kann sogar erwartet werden, darf nach einer organisierten Nachmittags- dass durch die Entwicklung von Naturerfah- betreuung und desto häufiger wird das Fern- rungsräumen eine Verbesserung der Flächen sehen bereits am Nachmittag eingeschaltet. als Lebensraum für Pflanzen und Tiere erzielt werden kann. Kinder-Experten sind sich darin einig, dass in der hier untersuchten Altersgruppe das unbe- 4. Planung und Gestaltung von Naturer- aufsichtigte und spontane Spielen außerhalb fahrungsräumen der Wohnung von großem Wert für die Le- bensqualität und für die Entwicklungschancen Um die im Verlauf der Untersuchung gesam- von Kindern ist. melten Erfahrungen für die Praxis auszuwer- ten, werden in der Studie Handlungsanleitun- Die Studie hat u. a. ergeben, dass die Art und gen für Kommunen zusammengestellt, wie Weise, wie der Kinderalltag verläuft, relativ Naturerfahrungsräume mit hoher Anziehungs- stark vom Vorhandensein von natur- kraft und Akzeptanz geschaffen werden kön- bestimmten Flächen beeinflusst wird. Die Zeit, nen. Auf solche Empfehlungen, von denen im die Kinder draußen ohne Aufsicht spielen, Folgenden die wichtigsten zusammengefasst hängt in hohem Maße vom Angebot naturbe- sind, kann zurückgegriffen werden, wenn es in stimmter Flächen ab. Das gilt selbst für Quar- den Gemeinden darum geht, die notwendigen tiere mit einer bereits guten Aktionsraumquali- Arbeitsschritte zur planerischen Ausweisung tät, wo die Existenz eines Naturerfahrungs- und Herrichtung einer solchen Grünfläche zu raumes noch zusätzlich dazu beiträgt, dass organisieren. Kinder länger unbeaufsichtigt draußen spielen. Ausgleich von Freiraumdefiziten: Die Ein- 3.3 Auswirkungen auf die Vegetation richtung von Naturerfahrungsräumen ist dort am dringendsten, wo es bisher an solchen In allen Naturerfahrungsräumen wurden flori- naturbestimmten Bereichen mangelt, die für tisch-vegetationskundliche Untersuchungen Kinder und Jugendliche gut erreichbar und für durchgeführt, auf die hier nicht näher einge- Spielaktivitäten attraktiv sind. Da in den Innen- gangen werden kann. Dabei ging es un- städten und in anderen besonders dicht be- ter anderem um die Frage, in welcher Weise bauten Bereichen meist nicht mehr hinreichend sich die Nutzungen dieser naturbestimmten große Flächen für Naturerfahrungsräume zur Flächen auf die Pflanzenwelt auswirken und ob Verfügung stehen, kann hier nur noch versucht durch die Aktivitäten der naturschutzfachliche werden, naturbestimmte Spielräume zumindest Wert der Flächen vermindert wird. Als Ergeb- kleinflächig zu schaffen. Im Rahmen unserer nis sei in diesem Rahmen nur so viel fest- Studie konnten geeignete Standorte nur in gehalten: weniger dicht besiedelten Bereichen am Stadt- Die gelegentlich geäußerte Befürchtung, durch rand gefunden werden. das Spiel der Kinder könnten wertvolle Pflan- Nahe Zuordnung zu Wohnquartieren: die zenarten und -gemeinschaften beeinträchtigt Entfernung zwischen Naturerfahrungsraum 149 Konrad Reidl et al.

und den Wohnungen der Heranwachsenden nahmen sind vielmehr im Einzelfall – ange- sollte nicht mehr als 300 m betragen und muss passt an die jeweils gegebenen Rahmenbe- leicht und gefahrlos (ohne Barrieren) erreich- dingungen – zu entwickeln und umzusetzen. bar sein. Wird die genannte Distanz erheblich Von besonderer Bedeutung ist, dass dies auf überschritten, ist damit zu rechnen, dass der jeden Fall in enger Zusammenarbeit mit den Naturerfahrungsraum nicht angenommen wird. betroffenen Anwohnern erfolgen sollte. Der Einzugsbereich eines Naturerfahrungs- Konkurrierende naturbetonte Flächen: raumes umfasst das Umfeld eines Wohnge- Wenn im Umkreis eines Naturerfahrungsrau- biets, in dem eine größere Anzahl von Kindern mes weitere naturbetonte Bereiche vorhanden im Alter von 6 bis 12 Jahren lebt. Die Natur sind, gewinnen die Faktoren Erreichbarkeit kann so Teil ihrer Alltagserfahrung werden. (Strecke zwischen Naturerfahrungsraum und „Berührungsvorteile“ durch räumlichen Wohnung) und Ausstattung (insbesondere Zusammenhang: an Naturerfahrungsräume standörtliche und strukturelle Vielfalt) des Na- angrenzende Bolzplätze und andere gestalte- turerfahrungsraums ausschlaggebende Bedeu- ten Gelegenheiten für Sport und Spiel wirken tung für seine Anziehungskraft bzw. Besucher- sich positiv auf die Anziehungskraft solcher frequenz. Naturerfahrungsräume aus. Einbeziehung von städtischen Ämtern: Ne- Strukturelle Vielfalt der Fläche: das Angebot ben den primär zuständigen Garten- oder von Wasser, stark bewegte Geländeformen, Grünflächenämtern sollte von vornherein Kon- der Wechsel von bewaldeten und offenen Be- takt auch mit den Ämtern aufgenommen wer- reichen und/oder vielfältige Vegetationsstruktu- den, die für Sport, für Kinder und Jugendliche, ren (Pioniergesellschaften, Hochstaudenfluren, für Schulen sowie für Stadtplanung und für Gebüsche) machen naturbestimmte Flächen Umwelt- und Naturschutz zuständig sind. Die für Kinder und Jugendliche in besonderer Wei- Vertreter dieser in ihrem Aufgabenfeld berühr- se attraktiv. ten Ämter sollten so früh wie möglich in ge- meinsamen Besprechungen nicht nur infor- Notwendigkeit der Umgestaltung: Es hat miert, sondern vom Nutzen der Naturerfah- sich – wie erwartet – gezeigt, dass ebene, rungsräume überzeugt werden. wenig strukturierte Flächen als Naturerfah- rungsraum für Heranwachsende wenig attrak- Aufgeschlossenheit der Wohnbevölkerung: tiv sind. In solchen Fällen wird es daher erfor- Ein ausschlaggebendes Kriterium für die Eig- derlich, eine Umgestaltung vorzunehmen bzw. nung eines Standortes ist die Offenheit und Maßnahmen zur Entwicklung der Flächen Zustimmung der Bevölkerung im angrenzen- durchzuführen. Von besonderer Attraktivität den Wohnquartier. Im Stadtteil aktive Organi- sind Wasserflächen, so dass – soweit die Mög- sationen und Initiativen, die sich für die Inte- lichkeit hierzu besteht – die Einbeziehung und ressen von Kindern und Jugendlichen einset- naturnahe Entwicklung von Gewässern durch- zen (z. B. Schulen, Elterngruppen, Sport- und geführt werden sollte. Auch die Schaffung Jugendvereine, Naturschutzgruppen, Agenda- einer interessanten Geländeform (Erdhügel 21-Gruppen, kirchliche Gruppen), sind wichtige und Mulden) auf einer größeren Teilfläche des Ansprechpartner. Vor den ersten Schritten der Naturerfahrungsraumes hat sich als geeignet Ausweisung bzw. Umgestaltung einer Fläche erwiesen, um die Anziehungskraft zu erhöhen. zum Naturerfahrungsraum sollte Kontakt zu Dazu genügen allerdings keine kleinen Erdhü- solchen organisierten Bürgern geknüpft wer- gel. Die zu schaffenden Hügel sollten vielge- den, um ihre Unterstützung zu gewinnen im staltig sein und unterschiedliche Höhen auf- Sinne einer „Lobby für mehr Natur für Kinder in weisen, wobei mindestens an einer Stelle eine der Stadt“. Auch rechtzeitige Kontakte zu Me- Höhe von circa 5 m erreicht werden sollte. dien und zu politischen Instanzen im betroffe- Auch die Vegetationsstrukturen sollten ent- nen Stadtteil (z. B. Bürgerverein, einzelne sprechend entwickelt werden. Besonders Stadtteilpolitiker) sind hilfreich. günstig ist ein vielfältiger Wechsel unter- Wecken von Aufmerksamkeit: Um einen schiedlicher Vegetationsstrukturen (Pionierge- neuen Naturerfahrungsraum und seine beson- sellschaften, Hochstauden, Gebüsch- und deren Qualitäten den Kindern und Eltern be- Waldgesellschaften), wobei eine gewisse kannt zu machen, sollten in der ersten Zeit Durchdringbarkeit gegeben sein muss. Aus geeignete Spielaktionen durchgeführt werden, diesem Grunde kann es erforderlich sein, bei- vorwiegend in Zusammenarbeit mit Lehrern spielsweise zu dichte Hochstauden an der der Grundschule oder Realschule. Im Rahmen einen oder anderen Stelle aufzulichten (z. B. der Einweihungsveranstaltung hat sich ein bei Schneiden von „Wiesenwegen“). Die genann- Kindern sehr beliebter Baggereinsatz zur Um- ten Maßnahmen können nur beispielhaft sein gestaltung des Geländes bewährt. Da das und es gibt keine Patentlösung für die Gestal- unreglementierte Betreten von Naturräumen tung eines Naturerfahrungsraumes. Die Maß- 150 Naturerfahrungsräume

ungewohnt ist, kann ein Schild mit Erläuterun- Danksagung gen zum Naturerfahrungsraum aufgestellt wer- Wir danken der Stiftung Naturschutzfonds des den. Dies kann auch zweckmäßig sein, um auf Landes Baden-Württemberg für die finanzielle einen etwas abgelegenen Naturerfahrungs- Förderung des Projektes. raum hinzuweisen.

Literatur Anschriften Blinkert, B. (1996). Aktionsräume von Kindern Prof. Dr. Konrad Reidl in der Stadt. FIFAS Schriftenreihe Bd. 2. Institut für Angewandte Forschung Centaurus. Pfaffenweiler. Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen- Blinkert, B. (1997). Aktionsräume von Kindern Geislingen auf dem Land. FIFAS Schriftenreiche Bd. Postfach 1349, 72603 Nürtingen 5. Centaurus. Pfaffenweiler. E-Mail: [email protected] Breuste, J. (1994). „Urbanisierung“ des Natur- schutzgedankens. Diskussion von gegen- Dr. Hans-Joachim Schemel wärtigen Problemen des Stadtnaturschut- Büro für Umweltforschung, Stadt- und Regional- zes. Naturschutz und Landschaftsplanung entwicklung 26. S. 214-220. Altostrasse 111, 81249 München Gebhard, U. (2001). Kind und Natur – Die Be- deutung der Natur für die psychische Ent- Prof. Dr. Baldo Blinkert wicklung. 2. Aufl. Wiesbaden. Freiburger Institut für Angewandte Sozialwissen- Hüther, G. (2005). Die Bedeutung emotionaler schaften (FIFAS) Bindungen an die Natur als Voraussetzung Erasmusstr. 16, 79098 Freiburg für die Übernahme von Verantwortung ge- genüber der Natur. In: Gebauer, M. & Gebhard, U. (Hrsg.). Naturerfahrung. We- ge zu einer Hermeneutik der Natur. Die Graue Edition. S. 219-233. Reidl, K. & Schemel, H.-J. (2003). Naturerfah- rungsräume im städtischen Bereich. Kon- zeption und erste Ergebnisse eines an- wendungsbezogenen Forschungsprojekts. Naturschutz und Landschaftsplanung 35 (11). S. 325-331. Reidl, K., Schemel, H.-J. & Blinkert, B. (2005). Naturerfahrungsräume im besiedelten Be- reich. Ergebnisse eines interdisziplinären Forschungsprojekts. Nürtinger Hochschul- schriften Nr. 24. 282 S. + 4 Karten. Schemel, H.-J. et al. (1998). Naturerfahrungs- räume. Ein humanökologischer Ansatz für naturnahe Erholung in Stadt und Land. – Angewandte Landschaftsökologie. Heft 19. Bundesamt für Naturschutz. Bonn-Bad Godesberg. Sukopp, H. & Weiler, S. (1986). Biotopkartie- rung im besiedelten Bereich der Bundes- republik Deutschland. Landschaft + Stadt 18/1. S. 25-38. Zeiher, H.J. & Zeiher, H. (1994). Orte und Zei- ten der Kinder. Soziales Leben im Alltag von Großstadtkindern. Weinheim/ Mün- chen. Zinnecker, J. (1990). Vom Straßenkind zum verhäuslichten Kind. In: Behnken, I. (Hrsg.). Stadtgesellschaft und Kindheit im Prozeß der Zivilisation. Opladen.

151

CONTUREC 2 (2007) Seite 153 bis 157

Wildnis für Kinder in der Stadt

Wilderness for children in the city

JÜRGEN HEUSER

Zusammenfassung "Wildnis für Kinder" Die Bedeutung von Stadtnatur liegt maßgeblich in ihrer positiven Wirkung auf das Heranwachsen unserer Kinder. Pädagogen und Psychologen stellen fest, dass das unreglementierte und unbeobach- tete Spiel in der Natur die motorische, psychische und soziale Entwicklung von Kindern in hervorra- gender Weise fördern kann. Auch der Naturschutz selbst profitiert davon: Wertschätzung für Natur entwickelt sich am leichtesten und tiefsten während ausgiebiger Naturkontakte in der Kindheit.

Das Projekt "Wildnis für Kinder" der BIOLOGISCHEN STATION ÖSTLICHES RUHRGEBIET bemüht sich des- halb in Herne um ein Netz von Freiflächen in hinreichender Entfernung zu den Siedlungsschwerpunk- ten, für die als Hauptfunktion die des Naturerfahrungsraumes anerkannt ist. Im Ruhrgebiet hat der Niedergang der Montanindustrie viele tausend Hektar Brachen und Halden freigesetzt, die sich spontan und ungelenkt entwickeln. Diese "Industrienatur" erweist sich als ideale Kulisse für die "Wildnis für Kinder". Der vorliegende Beitrag erläutert die Arbeitsansätze des Projektes.

Biologische Station östliches Ruhrgebiet, Biophilie, Industriebrache, Industrienatur, Naturentfremdung, Naturerfahrungsraum, Ruhrgebiet, Wildnis für Kinder

Summary The importance of nature in the cities is substantially based on its positive impact on our children as they grow up. Educators and psychologists have established that children’s’ unregimented and unob- served play in nature can remarkably foster their motor, mental, and social development. Moreover, nature conservation itself benefits: An appreciation of nature is easiest and most deeply developed through considerable experience of nature during childhood.

The "Wildnis für Kinder" (“Wilderness for Children”) project run by the BIOLOGISCHE STATION ÖSTLICHES RUHRGEBIET (Eastern Ruhr Region Biological Research Centre) thus tries to establish a network of open spaces in the city of Herne at an adequate distance to settlement foci for which the recognized primary function is the opportunity to experience nature. The decline of the coal and steel industry in the Ruhr Region has released thousands of hectares of industrial fallow land and mining spoil heaps which are developing spontaneously and uncontrolled. This “industrial nature” proves to be an ideal backdrop for the “Wilderness for Children” project. The contribution presented here explains the approaches taken to work in the project.

1. Einleitung ihrem Wirkungsbereich Herne und Bochum eine Sonderstellung ein: Eine Bevölkerungs- Die BIOLOGISCHE STATION ÖSTLICHES RUHRGE- dichte von 3.203 bzw. 2.628 Einwohnern pro BIET gehört zu einem Netz von fast 40 öffent- Quadratkilometer (Quelle: Internetauftritt der lich geförderten Naturschutzeinrichtungen in genannten Städte; Stand Oktober 2006) be- Nordrhein-Westfalen. Sie wurden seit Beginn deutet einen besonderen Naturschutzauftrag der 1990er Jahre eingerichtet, um die Situation im hoch verdichteten Ballungsraum. Die Sen- des Naturhaushaltes im Zeichen von Arten- sibilisierung der Einwohner für die "Natur vor rückgang und Flächenverbrauch im bevölke- der Haustür" wird damit zwingend zum Aufga- rungsreichsten deutschen Bundesland zu benschwerpunkt für eine Biologische Station in verbessern. der Kernzone des Ruhrgebietes. Die Kernaufgabe besteht in der Betreuung von Schutzgebieten im Rahmen eines gleicherma- 2. Der Wert von Stadtnatur für Kinder ßen wissenschaftlichen wie praktischen Bio- Respekt und Engagement der Menschen für topmanagements. Flora, Fauna, intakte Landschaft und Umwelt Innerhalb dieses Netzwerkes nimmt die BIO- sind jedoch keine Selbstverständlichkeit. Wert- LOGISCHE STATION ÖSTLICHES RUHRGEBIET mit schätzung und Liebe zur Natur sind Grundbe- Seitenzahl Jürgen Heuser

dingung dafür und setzen ausgiebige, intensive Gestützt durch die zitierten Fachdisziplinen Naturkontakte in der Kindheit voraus. sieht die BIOLOGISCHE STATION ÖSTLICHES RUHRGEBIET die Bedeutung der Stadtnatur Es ist das beruhigende und gleichermaßen immer auch in ihrem Wert für die Entwicklung anregende Sein in der Natur, sinnlich und kör- der Heranwachsenden: Motorische, psychi- perlich als Heranwachsender zu erfahren, das sche und soziale Kompetenzen werden durch zur Entwicklung von Wertschätzung und Ver- Naturkontakte bestens gefördert, und auch die antwortungsbewusstsein gegenüber der Um- Entwicklung von Wertschätzung für die Natur welt eine unerlässliche Voraussetzung zu sein bekommt so eine reale Chance. scheint. Heuser (2006) beschreibt, wie für Kinder beiläufig eine Liebesbeziehung zur Natur entsteht, wenn sie ausgiebig Gelegen- heit bekommen, in naturnahe Landschaft ein- zutauchen, selbstvergessen, nur sich selbst genügend, unbeobachtet, unreglementiert, ohne Zeitdruck. Diese Beobachtungen korres- pondieren mit der von Wilson (1984) formulier- ten Biophilie-Hypothese. Menschen fühlen sich danach aufgrund der ihnen angeborenen Bi- ophilie zu anderen Lebewesen hingezogen. Er schließt nicht aus, dass der Kontakt mit der Natur zu einem gewissen Maße unentbehrlich ist, um gesund zu bleiben und sich verwirkli- chen zu können. Den Wert von Naturkontakten für Heranwach- sende schätzen auch andere, entwicklungs- psychologisch ausgerichtete Fachdisziplinen: Kaplan & Kaplan (1989), Gebhard (1994) und Kahn & Kellert (2002) verweisen auf die wohl- tuende Wirkung für die Psyche des Kindes. Abb. 1: Was Kinderspiel zuweilen in der Natur anrichtet, muss im Naturerfahrungsraum toleriert sein. Der Pädagoge Schüler (2003) etablierte in einer Grundschule wöchentliche "Draußenta- ge", an denen die Schüler einmal pro Woche 3. "Wildnis für Kinder" – das Projektvor- im Freien, am besten im Wald, tun können, haben der BIOLOGISCHEN STATION ÖSTLI- "was in ihnen ist". Was diese Tage so wertvoll CHES RUHRGEBIET macht, fasst er zusammen: "Was Kinder drau- Vor diesem Hintergrund hat die BIOLOGISCHE ßen tun, tut ihnen in einer Weise gut, die stüt- STATION ÖSTLICHES RUHRGEBIET in Herne das zend, zuweilen gar heilend bis in den Unter- Projekt "Wildnis für Kinder" ins Leben gerufen. richt wirkt. Mit dem Draußentag geht es also In der Emscher-Stadt sollen trotz ihres gerin- nicht nur um einen Beitrag zur Öffnung des gen Freiflächenanteils möglichst viele Kinder Unterrichts, sondern um eine Bestärkung der im alltäglichen Wohnumfeld Gelegenheit fin- Kinder für den Unterricht, der ihnen abverlangt, den, Natur im selbstbestimmten, freien Spiel was ihnen nicht zu ersparen ist." zu erleben. Bei der Frage, welche Bedingun- Am Beispiel der Romanfigur Huckleberry Finn gen eine Fläche als „Naturerfahrungsraum“ für erörtert der Arzt und Suchttherapeut Schiffer die Altersgruppe der 7- bis 14jährigen qualifi- (2001), was es in der Entwicklung für einen zieren, kommen uns die Ergebnisse einer Mo- jungen Menschen braucht, um auch bei einer dellstudie aus Baden-Württemberg zugute desolaten sozialen Situation die eigene Welt (Reidl & Schemel, 2003). Danach sollten fol- nicht durch Drogen bereichern zu müssen. " gende Voraussetzungen erfüllt sein: Was an dem literarischen Huckleberry Finn – Vorrangnutzung Naturerfahrung aufgezeigt werden soll, ist, dass solches Erle- Naturschutzaspekte sind auf den ausge- ben der Welt mit allen Sinnen - die Erfahrung wählten Flächen nachrangig. „Eingriffe“ der eigenen "Kompetenz" – eine fehlende Ge- von Kindern, der Bau von Buden bei- borgenheit ersetzen kann." Er zählt vor allem spielsweise, sind hier zu tolerieren (s. Abb. die Beschäftigung mit Naturelementen (Wald, 1). Fluss, Floß) auf, mit denen Huckleberry Finn schöpferisch, ohne Leistungsdruck, seinen – Wohngebietsnähe Fantasien Flügel wachsen lassen konnte. Eine Entfernung von 300 bis 500 Metern zu den Wohnungen sollte angesichts der

154 Wildnis für Kinder in der Stadt Seitenzahl

fokussierten Altersgruppe nicht überschrit- Strukturen für einen Naturerfahrungsraum ten werden. aufweist. Da die Fläche ehemals in das Be- triebsgelände der stillgelegten Zeche Julia – Mindestgröße eingebettet war, ist sie auch heute noch von Damit das angestrebte unbeobachtete und einer hohen Mauer eingefriedet. Allein durch unreglementierte Spiel wirklich stattfinden die Öffnung der Fläche könnte hier also „Wild- kann, sollte die Mindestgröße je nach Zu- nis für Kinder“ realisiert werden. schnitt der Flächen ein bis zwei Hektar betragen. – Attraktive Strukturen Je größer die Vielfalt der strukturierenden Elemente, desto interessanter wird die Flä- che als Aufenthaltsort für Kinder: Eine Kombination aus offener Landschaft, Bäu- men, Dickicht, ebenen Bereichen, Hügeln und Wasserkörpern in jeder Form bietet ideale Voraussetzungen. Als eine besondere Chance zur Realisierung dieser Vorgaben entpuppt sich der dramati- sche Strukturwandel, der das Ruhrgebiet in der jüngeren Vergangenheit ergriffen hat. Ge- Abb 3: Wildnis für Kinder zugänglich machen. schätzte 10.000 ha innerstädtischer Brachflä- Flächen attraktiver machen chen hat die Montanindustrie im gesamten Ruhrgebiet hinterlassen, Flächen, die oft kei- Planungs- oder eigentumsrechtliche Hinder- ner wirtschaftlichen Nutzung zugeführt werden nisse stehen der Umsetzung der Projektidee können. Zu einem großen Teil sind dies Ber- im nachfolgenden Beispiel nicht im Wege: Auf gehalden, Deponien und ehemalige Industrie- dem citynahen Gelände der früheren Maschi- flächen. Birkenwälder verstecken hier alte nenfabrik Beien entstand in den 90er-Jahren Bahngleise, Goldrute und Sommerflieder über- ein kinderreiches Wohnquartier. Die parallel wuchern ehemalige Anlagen, und so entstehen neu entstandene Parkfläche und ein Eisen- an vielen Orten der Region geheimnisvolle bahn-Lärmschutzwall (Gesamtgröße ca. 1 ha) Kulissen aus Verfall und ungehemmter grüner stehen dem Projekt zur Verfügung, sind jedoch Eroberung. "Strukturell sind diese Stadtbra- im aktuellen Zustand für Kinder eher langwei- chen nach wenigen Jahren einem Urwald al- lig: Zusätzliche offene Bereiche sind innerhalb lemal mehr verwandt als unsere Wirtschafts- des Dickichts auf dem Lärmschutzwall vorge- wälder" (Dettmar, 1999). sehen. Die Parkwiese könnte mit Hügeln und Mulden modelliert werden. Als Sofortmaßnah- me wurde von der Biologischen Station ange- regt, den Grünschnitt bis zum Herbst auszu- setzen, dafür aber schmale Pfade so frei zu mähen, dass während des Sommers ein Laby- rinth entsteht.

Abb. 2: Ideale Naturerfahrungsräume sind im Ruhrgebiet oftmals Industriebrachen. "Wildnis für Kinder" lautet deshalb auch der Name des Projekts, in dem verschiedene Ar- beitsansätze in der Emscherstadt Herne zum Zuge kommen können: Flächen öffnen Abb. 4: Das Beiengelände direkt neben der Biologischen Im Ortsteil Wanne konnte sich ungelenkt auf Station kann durch Initialgestaltung zur „Wildnis für Kin- einem ca. 1ha großen Areal seit den 40er Jah- der“ aufgewertet werden. ren ein Wald entwickeln, der gut geeignete

155 Seitenzahl Jürgen Heuser

Flächen sichern so, als verflüchtige sich das jugendliche Natur- bewusstsein allmählich in die Obskurität einer Idealer Naturerfahrungsraum und entspre- unbedeutenden Nische des Alltagslebens." chend genutzt ist das ca. 11 ha große Flott- mann-Gelände im Herner Süden, ebenfalls Aufgrund eigener Erfahrungen mit stark natur- Standort einer ehemaligen Maschinenfabrik. entfremdeten Kindern hat sich die Biologische Zur Abdeckung von Altlasten wurden dort vor Station entschieden, im Rahmen des Herner einigen Jahren große Mengen Lößlehm ver- Projektes auch Veranstaltungen mit Animati- bracht. Die vorgesehene Einplanierung der so onscharakter anzubieten. Auf gemeinsamen entstandenen Lößlehmmieten an den belaste- Expeditionen in die Wildnis vor der Haustür ten Standorten wurde aber bis heute ausge- treffen Kinder mit Erwachsenen zusammen, setzt, so dass sich im Zuge der Sukzession die sich selber als leibhaftige Vorbilder dafür eine abwechslungsreiche „Hügellandschaft“ begeistern, was es draußen zu sehen, hören, entwickelte. riechen und zu tun gibt. Im Fall des Flottmanngeländes ist der Arbeits- ansatz des Projektes primär politischer Natur: Der Bebauungsplan sieht Wohnbebauung und eine Parkanlage vor: Wünschenswert im Sinne von „Wildnis für Kinder „ ist es, so viel wie möglich von diesem absichtslos angelegten „Abenteuerspielplatz“ zu erhalten, wobei das Ausschließen potentieller Kontaminationspfade natürlich Vorrang vor allen weiteren Überle- gungen haben muss. Die notwendige Lobby- arbeit wird dabei erleichtert durch den zu- kunftsweisenden Schritt der Stadt Herne, in der Aktualisierung ihres stadtökologischen Beitrages (StöB) 2007 erstmalig die Flächen- kategorie "Wildnis für Kinder" einzuführen. Überschrift "Wildnis für Kinder" muss sich schließlich auch mit der Frage auseinandersetzen, ob Kinder automatisch den Weg zum selbstbestimmten, kreativen Spiel in der Natur finden, wenn nur die oben skizzierten Voraussetzungen gege- ben sind. Schemel et al. (2005) gehen davon Abb. 5: Aktionen, um Kinder an die Natur heranzuführen, aus, „dass die sich frei entwickelnde Natur sind Teil des Konzeptes der Biologischen Station. genügend Gelegenheiten und Anreize bietet, Ebenso gilt es, frühzeitig breite Akzeptanz für damit sich Kinder und Jugendliche in ihr spiele- die Naturerfahrungsräume durch gezielte Öf- risch betätigen“. Zucchi (2002) diskutiert die fentlichkeitsarbeit vor Ort mit Bürgerveranstal- Auswirkungen der Naturentfremdung und fragt: tungen und Aktionstagen unter Einbeziehung „Was ist mit Kindern geschehen, dass ihnen in von Elterninitiativen, Kommunalpolitik, Stadt- einer anregenden, zum Abenteuer einladenden verwaltung und Polizei zu schaffen (vgl. Stadtrandlandschaft zunächst nichts einfällt, Brouns, 2004). Gute Multiplikatoren und Ko- was sie hier tun könnten?“ operationspartner sind die Schulen im Umfeld Der Jugendreport Natur 2006 belegt eine der Projektgebiete. Hier erweist sich die Aus- wachsende Naturentfremdung. Brämer (2006) weitung der Offenen Ganztagsgrundschule in resümiert dazu in seiner Pressemitteilung vom NRW, die den (Industrie-)Wald als Lern- und 12. Mai 2006: Erlebnisraum für Kinder propagiert, als hilf- reich. "Im Vergleich zu den Vorgängerstudien doku- mentiert der Jugendreport Natur 2006 ein zu- Auch wenn es bei „Wildnis für Kinder“ vielfach nehmendes Verschwinden der Natur aus dem um Brachflächen geht, die sich ungelenkt ent- alltäglichen Horizont junger Menschen. Inte- wickeln sollen, wird eine kontinuierliche resse und Erfahrungen haben weiter abge- Betreuung unerlässlich bleiben, um uner- nommen, der altersmäßige Abschied von der wünschte Entwicklungen (Müllablagerungen, Natur setzt früher ein, die Konsumwelt über- Überhandnehmen von undurchdringlichem deckt mit ihrem medialen Glamour das Wissen Gebüsch etc.) frühzeitig zu stoppen. Im Ideal- um unsere grundlegende Abhängigkeit von fall lassen sich dazu Patenschaften in der Be- den natürlichen Ressourcen. Es scheint fast völkerung initiieren.

156 Wildnis für Kinder in der Stadt Seitenzahl

Als Projektinitiatorin wird die BIOLOGISCHE STA- Anschrift TION ÖSTLICHES RUHRGEBIET die Entwicklung Jürgen Heuser der Flächen in den kommenden Jahren weiter Biologische Station östliches Ruhrgebiet begleiten, um dafür Sorge zu tragen, dass sich Vinckestraße 91 „Wildnis für Kinder“ in möglichst intakter Natur 44623 Herne abspielt. Dieser Aspekt ist für den Naturschutz E-mail: [email protected] der Zukunft von großer Bedeutung, denn die

Maßstäbe für die Umwelteinstellungen als Erwachsener werden im Wesentlichen in der Kindheit festgelegt (Kahn 2002). Nicht zuletzt aus purer "kindlicher" Neugier heraus wird „Wildnis für Kinder“ ein Schwerpunktthema für unsere Naturschutzeinrichtung mitten im Bal- lungsraum Ruhrgebiet bleiben.

Literatur Brouns, E. (2004). Ist Wildnis planbar? Natur und Landschaft 79 (2). S. 57-63. Brämer, R. (2006). Natur obskur, Wie Jugend- liche heute Natur erfahren. München. Dettmar, J. (1999). Wildnis statt Park? Topos 26. S, 24-42. Gebhard, U. (1994). Kind und Natur. Die Be- deutung von Natur für die psychische Ent- wicklung. Opladen. Heuser, J. (2006). Wildnis für Kinder. In: Zuc- chi, H. & Stegemann, P. (Hrsg.). Wagnis Wildnis. München. S. 131 – 137. Kahn, P. H. Jr. (2002), Children’s affiliations with nature. In: Kahn, P. H. Jr. & Kellert, S. R. (eds.) Children and nature: Psychologi- cal, Sociocultural, and Evolutionary Inves- tigations. Cambridge / London. Kahn, P. H. Jr. & Kellert, S. R. (2002). Chil- dren and nature.: Psychological, Sociocul- tural, and Evolutionary Investigations. Cambridge / London Kaplan, R. & Kaplan, S. (1989), The experi- ence of nature: A psychological Perspec- tive. Cambridge. Reidl, K. & Schemel, H.-J. (2003). Naturerfah- rungsräume im städtischen Bereich. Na- turschutz und Landschaftsplanung 35 (11). S. 325-331. Schemel, H.-J., Reidl, K. & Blinkert, B. (2005). Naturerfahrungsräume im besiedelten Be- reich. Naturschutz und Landschaftspla- nung 37 (1). S. 5-14. Schiffer, E. (2001). Warum Huckleberry Finn nicht süchtig wurde. Geesthacht. Schüler, H. (2003). Draußen sein, damit es drinnen besser geht. Die Grundschulzeit- schrift 162. S. 6-9. Wilson, O. (1984). Biophilia. Cambridge Zucchi, H. (2002). Naturentfremdung bei Kin- dern und was wir entgegensetzen müssen. In: Gerken, B.; Görner, M.( Hrsg.). Planung contra Evolution? Natur- und Kulturland- schaft 5. Höxter/Jena.

157

CONTUREC 2 (2007) Seite 159 bis 162

brachland – urbane Freiräume neu entdecken

Fallow land – rediscovering urban open spaces

SABINE GRESCH

Zusammenfassung Auslöser des Projekts brachland war die Zwischennutzung einer ehemaligen Kiesgrube im Berner Weissenstein-Quartier. Daraus entstand die Idee, die Zwischennutzung naturnaher Brachflächen durch die Quartierbevölkerung auch andernorts zu fördern. Die IG brachland hat seit 2005 verschiedene Zwischennutzungsprojekte in Bern selber initiiert, begleitet oder evaluiert. Die Erfahrungen flossen in das Buch „brachland – urbane Freiräume neu entdecken“ ein, welches im April 2007 im Haupt Verlag Bern erschienen ist. Das Buch vermittelt fachliche Grundla- gen, erzählt Geschichten von Zwischennutzungsprojekten und gibt Tipps für jene, die eine Brachfläche in einen wirklichen Freiraum verwandeln wollen.

Brachflächen, Zwischennutzungen, Stadtökologie, Empowerment, Sozialraum.

Summary Untouched wilderness behind wooden planks, grassy mounds, stone heaps, and big puddles – fallow land can also be found in urban areas. Perhaps it is a decommissioned industrial site or (as yet) unde- veloped zoned land. Near-natural fallow lands offer many opportunities to people which are worth dis- covering: Space for lively children's games involving water, sand, and stones, as well as meeting places for the district’s inhabitants. The aim of the brachland (“fallow land”) project is to improve the usability of fallow urban open spaces for city-dwellers. The resultant book entitled brachland – urbane Freiflächen neu entdecken (fallow land – rediscovering urban open spaces) (Haupt Verlag, April 2007) provides the technical background, tells the stories of “intermediate use projects” and gives advice to those who wish to turn a fallow site into a true open space.

1. Ausgangslage Eine Folge der Verdichtung im städtischen Raum ist das Fehlen qualitativ hochwertiger Freiräume. Es fehlt an Begegnungs- und Be- wegungsorten. Der soziale Austausch ver- schiebt sich zunehmend in Privaträume und die mangelnde Bewegung führt zu Einschränkun- gen des physischen Wohlbefindens (vgl. De- gen-Zimmermann, 1992). Selbst wo als attraktiv wahrgenommene, sprich schön gestaltete, Grün- und Freiräume in Städ- ten existieren, kann insbesondere das Bedürf- nis nach freiem Spiel und Naturerlebnissen nicht befriedigt werden. In diesen Räumen be- wegt sich der Mensch als Konsument, eine aktive Aneignung oder kreatives Gestalten ist nicht möglich (siehe dazu Tessin, 2004). Abb. 1: Brachflächen im urbanen Raum sind oft nicht zu- gänglich für die Bevölkerung. Foto: Sabine Tschäppeler.

Sabine Gresch

Das Fehlen von attraktiven Freiflächen im Sied- sammenhänge exemplarisch aufgezeigt. Seit lungsgebiet führt weiter zu einem verstärkten 2002 organisieren Anwohner/innen vielfältige Druck auf Naherholungsgebiete. Dabei zeigt Aktivitäten wie Ostereier suchen, Neophyten sich, dass Flusslandschaften resp. Auengebiete jäten, ein Kunstprojekt, Konzerte, Boule spielen eine besondere Anziehung auf städtische Nah- etc.. Weiter hat die Stadt Bern über den Dach- erholungssuchende ausüben. Die vielfältigen verband offene Jugendarbeit Spielnachmittage Nutzungsmöglichkeiten am und im Wasser, auf für Kinder angeboten und damit die Zwischen- Kiesbänken und in Pionierwäldern, kurz der nutzung zusätzlich attraktiviert. Aufenthalt in der wilden Natur, sind für das Freizeiterlebnis zentral. Durch den Erholungs- druck entstehen in diesen Räumen aber zahl- reiche Nutzungskonflikte, welche es wiederum zu mindern gilt. Ein mit Auenlandschaften vergleichbares Er- lebnispotenzial bieten naturnahe Brachflächen mit ähnlichen Vegetationsstrukturen: Bauerwar- tungsland, stillgelegte Gewerbeareale oder Kiesgruben. Dem per se definitionslosen Raum kann mit aktiv-aneignenden Tätigkeiten Bedeu- tung verliehen werden. Die Liste der Möglich- keiten ist unbeschränkt: Hütten bauen, Natur entdecken, Feste feiern (siehe dazu Schemel et al., 1998 sowie Schemel & Reidl, 2005). Brachliegende Freiflächen, das belegen zahl- reiche Untersuchungen, weisen aber auch eine große Biodiversität auf. Sie können eine Funk- tion als Ersatzlebensräume für seltene Arten, Abb. 3: Theaterprojekt für Kinder in der ehemaligen Kies- insbesondere für auentypische Pionierpflanzen grube Weissenstein, Bern. Foto: Sabine Tschäppeler. übernehmen. Werden naturnahe Brachflächen genutzt, kann sich die wertvolle Pioniervegeta- 2. Das Projekt brachland tion dank der ständigen Störung erhalten, wo- mit der Verbuschung und Einwaldung punktuell Mit dem Ziel, die positiven Erfahrungen aus der entgegengewirkt wird (vgl. Tschäppeler, 1997). Kiesgrube Weissenstein auch anderorts zu ermöglichen, hat das Büro naturaqua pbk im Jahr 2005 das Projekt brachland gestartet. Dabei standen die Fragen nach den Wider- ständen, welche Brachflächennutzungen im Wege stehen können, und die diesbezüglichen Lösungsansätze im Vordergrund. Inzwischen umfasst die Projektgruppe Fachleu- te aus den Bereichen Stadtökologie, Soziolo- gie, Kunst, Sozialarbeit und Raumplanung. Das Projekt fand Unterstützung u. a. bei der Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz, dem Bundes- amt für Umwelt und der Stadt Bern. Die Widerstände lassen sich in drei verschie- dene Sachverhalte verorten: 1. Im kulturellen Verständnis. Die Heterogeni- tät, die fehlende Gestaltung von Brachen löst beim Nutzer ein Gefühl der Unkontrol- lierbarkeit, der Verunsicherung aus.

Abb. 2: Die ehemalige Kiesgrube Weissenstein, Bern als 2. Die gemeinschaftliche Nutzung von Brach- Begegnungsort. Foto: Sabine Tschäppeler. flächen hat keine gesellschaftliche Traditi- Ein Zwischennutzungsprojekt in der ehemali- on. gen Kiesgrube Weissenstein in Bern hat diese 3. Organisatorische Widerstände wie Haftung, sozialräumlichen und stadtökologischen Zu- Abfall, wildes Parkieren.

160 brachland – urbane Freiflächen neu entdecken

den Abraumhalden, welche der Tunnelbau generiert, weitergeführt. Um das diesbezügliche Wissen zu verdichten, wurden im Sommer 2006 zwei weitere Pilotpro- Die Beurteilung der Vegetation anhand der jekte durchgeführt und ein drittes Zwischennut- Artenzusammensetzung (Tschäppeler, 2006) zungsprojekt, welches bereits seit einigen Jah- zeigte, dass die ehemalige Waldfläche innert ren lief, wurde untersucht. kurzer Zeit von über 80 Arten besiedelt wurde, darunter auch seltene und Rote Liste-Arten. Die 3. Pilotprojekte Studerstein und Gaswerk- sozialräumliche Nutzung wurde in einer Er- areal folgskontrolle ausgewertet (Beutler, 2006) Bei den beiden initiierten Projekten war je eine Im zweiten Pilotprojekt ging es darum, ein e- Institution der Quartierarbeit involviert. Die bei- hemaliges Gaswerkareal für die Quartierbevöl- den Flächen waren sehr verschieden geartet, kerung zu attraktivieren. Die Sozialinstitution wodurch auch eine breite Palette von Erkennt- „Kinderhexe und Zaubermann“ hat an zwei nissen gewon nen werden konnte. Nachmittagen pro Woche Betreuung und Ani- mation auf dem Areal angeboten. Das Pilotprojekt ‚Studerstein’ beinhaltete die Zwischennutzung einer Waldschneise, welche Eine Nachnutzung des Gaswerks wurde bereits für den Bau eines Straßentunnels geschlagen vor 15 Jahren angelegt, als ein „Naturpark“ auf wurde. Der Studerstein ist ein direkt an das dem Areal realisiert wurde. Der Naturpark hat in Berner Länggass-Quartier angrenzendes Nah- seiner Eigenschaft, ziemlich wild zu sein, ins- erholungsgebiet. Dort wo die Waldschneise besondere bei den Quartierbewohner/-innen geschlagen wurde befand sich vorher ein be- keinen Anklang gefunden. Es kursierten Ge- liebter Waldspielplatz. Viele Leute, vor allem schichten von Alkoholikern im Gelände, von Eltern und Kinder, reagierten entsetzt auf diese Leuten mit Kampfhunden. Rodung, die Vorstellung, diese Verwüstung Es zeigte sich, dass die Befürchtungen über positiv zu nutzen, lag fern. Doch dies war Randgruppen und Hunde nur Gerüchte waren. durchaus möglich, wurden doch die Wurzelsto- Als reelles Problem stellte sich hingegen die cke mit neuer Häckseltechnik zu großen Häck- Distanz zum Quartier, und die Überquerung selbergen. Ein Hindernis war, dass die Fläche einer vielbefahrenen Straße heraus. Es ist ge- wegen des unebenen Terrains kaum zugäng- plant das Projekt 2007 fortzuführen um das Ziel lich war. Um diesem Widerstand zu begegnen eines nachhaltigen Effekts erreichen zu kön- wurden in der Folge mit einem kleinen Bagger nen. Auch für dieses Pilotprojekt wurde die Wege durchs Gelände freigelegt. Im Laufe des Vegetation anhand der Artenzusammensetzung Sommers wurden diese Wege dann auch mehr beurteilt sowie eine Erfolgskontrolle der Nut- und mehr genutzt, insbesondere als Velocross- zung durchgeführt (Tschäppeler, 2006, Beutler, Pisten. 2006). brachland wird auch im Jahr 2007 weiterge- führt: In Bern laufen drei neue Zwischennut- zungen auf oder im Zusammenhang mit Gross- baustellen.

4. Das Buch Ein (Zwischen-)Produkt des Projekts ist das Buch „brachland – urbane Freiräume neu ent- decken“. Das Buch versteht sich als Plädoyer für die Zwischennutzung von Brachflächen. Es Abb. 4: Velocross auf der zwischengenutzten Waldschnei- bietet fachliche Grundlagen, erzählt Geschich- se Studerstein, Bern. Foto: Sabine Tschäppeler. ten von Zwischennutzungsprojekten und gibt

Tipps für die flexible Reaktion auf die vorhan- In einem rückwärtigen Bereich wurde die Anla- denen Gegebenheiten und Widerstände. ge von Velocross-Spezialisten in freiwilliger Arbeit weiter ausgebaut. Die Zwischennutzung Literatur kam dadurch im Spätsommer richtig ins Laufen, Beutler, M. (2006). Pilotprojekte brachland in jenem Moment, als den Baggern gewichen 2006 – Evaluationsbericht, Bern werden musste. Die Zwischennutzung wird Degen-Zimmermann, D., Hollenweger, J. & nun, in Absprache mit der Bauherrschaft, auf Hüttenmoser, M. (1992). Zwei Zwelten. Zwi-

161 Sabine Gresch

schenbericht zum Projekt „Das Kind in der Stadt“. Marie-Meienhofer-Institut für das Kind, Zürich Schemel, H.-J. et al. (1998). Naturerfahrungs- räume. Angewandte Landschaftsökologie, Heft 19, Bundesamt für Naturschutz, Bonn- Bad Godesberg Schemel, H.-J &, Reidl, K. (2005). Naturerfah- rungsräume im besiedelten Bereich. – In: Naturschutz und Landschaftsplanung 1/2005. S. 5-14. Verlag Eugen Ulmer, Stutt- gart Tessin, W. (2004). Freiraum und Verhalten. Soziologische Aspekte der Nutzung und Planung städtischer Freiräume. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden Tschäppeler, S., Gresch S. & Beutler, M. (2007). brachland – urbane Freiräume neu entdecken. Haupt Verlag, Bern Tschäppeler, S. (1997). Stadtgrün, die Stadt Bern als Lebensraum für Pflanzen. – In: Lüthi, Ch. & Meier, B. (Hrsg.): Bern, eine Stadt bricht auf. S. 263-282. Haupt Verlag, Bern Tschäppeler, S. (2006). Beurteilung der Vege- tation anhand der Artenzusammensetzung auf den brachland-Pilotflächen Studerstein und Gaswerkareal, Bern

Anschrift Sabine Gresch naturaqua PBK Elisabethenstr. 51 CH-3014 Bern E-Mail: [email protected]

162 CONTUREC 2 (2007) Seite 163 bis 171

Stadtnatur der „dritten Art“ - Der Schrebergarten und seine Nutzung Das Beispiel Salzburg

Urban Nature of the „third kind “- the allotment garden and its utilization The example Salzburg

JÜRGEN H. BREUSTE

Zusammenfassung Das Kleingartenwesen in Salzburg begann erst verhältnismäßig spät, zeichnet aber allgemeine Prin- zipien der Nutzung und sozialen Gruppenbildung nach. Kleingärtner sind eine definierbare soziale Gruppe mit untereinander verbindenden Lebensstilelementen. Sie sind gekennzeichnet durch spezifi- sches Naturbewusstsein, Sozialverhalten, Naturbezogenheit, definiert durch Altersstruktur, Erwerbstä- tigkeit und freizeitbezogene Aktionsstrukturen (Gartennutzung, Nutzung alternativer Naturangebote, Freizeit- und Umweltverhalten etc.). Trotz sich wandelnder Gesellschaftsstrukturen sind Kleingärtner in ihrem Verhalten beständig. Auch in Zukunft ist, angesichts des sich vollziehenden demographi- schen Wandels, mit einem nicht unerheblichen Zuwachs dieser Gruppe, zumindest aber mit einer stabilen Bedeutung zu rechnen. Die Kleingartenflächen gehören zur Naturausstattung der Städte und sind als Teil der städtischen Grün- und Gartenflächen in Mitteleuropa von Bedeutung. Die Kleingartennutzung ist durch den Wan- del der Nutzungsweisen vom Obst- und Gemüsegarten zum Freizeitgarten und die Reduzierung der Pflegeintensität gekennzeichnet. Gleichzeitig sind Kleingärten bedingt durch mangelnde Aufmerksam- keit in Politik und Planung und mangelnde Flächensicherung die am meisten gefährdete Grünflächen- kategorie. Dies nimmt keinerlei Bezug zu ihrer überragenden Nutzungsintensität, Nutzungszufrieden- heit und zu ihrer prognostizierten Nachfrage. Kleingärten sind wertvolle Grünflächen mit hoher sozialer Funktionalität, gehören stadtstrukturell zum Wohnumfeld, haben noch unzureichend genutzte ökologische Potenziale und sind zu unrecht gegen- über anderen Grünräumen oft planerisch benachteiligt.

Stadtgrün, Schrebergarten, Gartennutzung, Stadtnatur.

Summary The allotment gardens movement in Salzburg began only relatively late but represents general princi- ples of utilization and social grouping. Allotment gardeners are a definable social group interconnected by common life-style elements. They are characterized by specific nature consciousness, social be- haviour, by age structure, employment, and leisure referred action structures (garden use, use of alternative nature offers, leisure and environmental behaviour etc.). Despite changing social structures allotment gardeners are steady in their behavior. In view of the demographic change also in the future is to count on a not insignificant increase of this group, at least however on a stable meaning. The allotment areas belong to the urban nature equipment of the cities and are important as part of the urban green and garden areas in Central Europe. The utilization of allotment gardens is character- ized by the change of utilization from the fruit and vegetable garden to the recreational garden and the reduction of the maintenance intensity. There is simultaneously a lack of attention for allotment gar- dens in politics and planning and they are most endangered green space category. This is not con- nected to the especially intensive utilization, satisfaction of users and to their prognosticated demand. Allotments are valuable green spaces with high social functionality, belonging urban to the urban resi- dential neighborhoods, have still insufficiently used ecological potentials and are too wrongly opposite other green spaces often disadvantaged by planning.

Jürgen H. Breuste

1. Einleitung: Kleingärten und ihre Bedeu- Der Ursprung des Kleingartens und des Klein- tung als Teil des Stadtgrüns garten-Vereinswesens ist die Industriegesell- schaft. Gleichzeitig ist ein Teil des vorindus- „Kleingärten sind wichtige Bestandteile der triellen Landlebens, das sich bis in unsere Zeit Stadt. Sie sind die letzten Verbindungen des erhalten hat und damit auch aus der Industrie- Städters zum Lande, woher der größte Teil gesellschaft herausgewachsen ist. Diese Per- der heutigen Stadtbewohner einmal gekom- sistenz der individuellen städtischen Kleingär- men ist. Der Kleingartenverein ist ein wichti- ten zeugt von einer besonderen Bedeutung ger kultureller Faktor, er ist Ort des Lernens, dieses „Stadtnaturtyps der 2. Art“ (Kowarik, der Erholung und der Begegnung. Kleingar- 1992). Viele Akzente des Kleingartens haben tenkolonien in der Stadt sind Grünräume, sich im Laufe der Entwicklung gewandelt, sein welche die bebauten Räume erst bewohnbar Kern, der gestaltende Umgang mit der Natur machen” (Schiller-Bütow, 1976). ist geblieben und im modernen Stadtleben Kleingartenanlagen bilden in vielen mitteleu- heute so aktuell wie früher. Unter dem Ge- ropäischen Städten einen bedeutenden Teil sichtspunkt der ökologisch orientierten Stadt- der städtischen Grünflächen. Beträchtliche entwicklung, der Gesunderhaltung des Men- Teile der Bevölkerung verbringen ihre Freizeit schen, der Freizeitgestaltung im Stadtraum als Pächter oder deren Familienmitglieder in besonders der Großstädte hat das Kleingar- Kleingärten. tenwesen auch am Ende des 20. und zu Be- ginn des 21. Jahrhunderts weiterhin große Im letzten Viertel des vergangenen Jahrhun- Bedeutung. derts entwickelte sich in mitteleuropäischen Großstädten das organisierte Kleingartenwe- 2. Kleingartenwesen in Österreich sen. Die Kleingartenanlagen waren meist nur befristet nutzbares Pachtland, das in der Nä- Begründet durch die spätere Industrialisierung he der Mietswohnviertel lag und später be- tritt die Kleingartenentwicklung in Österreich im baut wurde. Nur in ungünstigen, für die Be- Vergleich zu Deutschland einige Jahrzehnte bauung ungeeigneten Lagen hatten die Gär- später auf, vollzieht jedoch einen vergleichba- ten der Anfangszeit längeren Bestand. ren Entwicklungsprozess. Im Jahre 1916 wur- de der heutige Dachverband “Zentralverband In vielen Städten, besonders in Nord- und der Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter Mitteldeutschland, entstanden Kleingärten in Österreichs” (seit 1951) gegründet (Neurath, besonders großer Zahl zwischen den beiden 1923). Ebenso wie Deutschland zuvor 1909 Weltkriegen und prägen noch heute die Grün- (Gründung des "Zentralverbandes deutscher struktur der Städte. In einigen ehemaligen Arbeiter- und Schrebergärten") kam es damit Industriestädten nehmen sie heute ebenso und mit der folgenden Gesetzesregelung zu viel Fläche ein wie alle übrigen städtischen einer "gesellschaftlichen Institutionalisierung Grünflächen (außer Stadtwäldern) zusammen des Kleingartenwesens" (Koller, 1988). 1918 (z. B. Halle, Leipzig). zählte der österreichische Verband bereits 31 Viele ältere Kleingartenanlagen liegen heute Vereine mit insgesamt 4.131 Mitgliedern, 1929 mitten im Stadtgebiet und gehören zum Stadt- 252 Vereine und über 32.000 Mitglieder. Der viertel wie andere Einrichtungen auch. Ge- absolute Mitgliederhöchststand wurde 1952 mit genwärtig findet jedoch gerade hier ein Ver- 78.000 Mitgliedern erreicht. Damit wurde in drängungsprozess zugunsten baulicher Nut- Österreich eine Entwicklung parallel zu der in zungen statt. Dies mindert jedoch die wohn- Deutschland vollzogen. gebietsstabilisierenden Funktionen, die Klein- Die Aufgaben des Verbandes waren (Zentral- gartenanlagen besonders in dichter Ge- verband, 2001): schossbebauung mit wenig Grün haben. – Pacht und Erwerb von Land für Gartenko- Als Teil des Grünsystems der großen Städte lonien („Schrebergartensiedlungen“), können Kleingärten u. a. für eine Verbesse- rung von Stadtklima und Lufthygiene, eine – Einrichtung von Unterrichtskursen über Erhöhung der Biodiversität durch Lebens- Landwirtschaft und Gartenbau, raumangebote sorgen. Sie sind damit wertvol- – Errichtung von Erholungsstätten für Kinder le Elemente im Stadtökosystem. Kleingärten und Pflege des Kinderspiels, sind wichtige Erholungsräume in der Stadt, die einer großen Zahl von Stadtbürgern eine – Abhaltung von Vorträgen über innere Sied- andernorts nicht ausgleichbare Form von lungen, Gartenstädte, landwirtschaftliche Erholung bieten. Kleingärten tragen zu einer Ansiedlungen und Pflege des Schönen im abwechslungsreichen Stadt- und Land- Gartenbau und schaftsgestaltung und zu lebenswerten Städ- – Herausgabe einer Zeitschrift. ten bei.

164 Stadtnatur „der dritten Art“ - Der Schrebergarten und seine Nutzung

Ab Mitte der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts Im nationalen Vergleich nehmen die Kleingar- wurden mehr und mehr Kleingärten zugunsten tenvereine des Bundeslandes Salzburg eine öffentlicher Bauvorhaben beseitigt. Die Mitglie- untergeordnete Position ein. Salzburg liegt derzahl des Kleingärtnerverbandes sank auf nach der Größe der Flächen und Mitglieder- 33.580 (1976). Der Raum Wien – das domi- zahlen hinter Wien, Niederösterreich, Oberös- nante Zentrum der österreichischen Kleingar- terreich und Steiermark an fünfter Stelle. Dabei tenbewegung – verzeichnete dabei die größten muss beachtet werden, dass das Bundesland Verluste an Kleingartenfläche (besonders ab Salzburg in Relation zu den genannten Bun- 1970). Seit 1992 wurden allein in Wien 20.000 desländern, sowohl flächen- als auch einwoh- der 34.000 städtischen Kleingärten für Wohn- nerbezogen am kleinsten ist. Zudem wohnen und Infrastrukturzwecke umgewidmet. 51,0 % der Bürger in Ein- und Zweifamilien- häusern (Stadt Salzburg, 1996). Damit kann Heute sind im österreichischen Zentralverband mit einem geringeren Bedarf an Kleingärten als beinahe so viele Mitglieder wie 1970 vertreten in Städten mit einem hohen Anteil an Ge- (37.000 Kleingärtner), allerdings nur etwas schosswohnungen, wie etwa in Wien, gerech- mehr als 1929! Die 364 Vereine bewirtschaften net werden. in Österreich 896,5 ha Kleingartenflächen in Generalpacht von den Liegenschaftseigentü- Abgesehen von den bisher genannten Sied- mern (Zentralverband, 2004). lungen existieren in der Stadt Salzburg noch private Anlagen, die nicht den Regeln des Dem Kleingartenbestand in der Republik Ös- Landesverbandes bzw. des “Zweigverein terreich sind außerdem 120 ha Gartenfläche Salzburg” unterliegen. und weitere 16.000 Kleingärtner der “ÖBB-

Landwirtschaft” (Österreichische Bundesbah- Tab. 2: Gesamtzahl der Salzburger Kleingärten. nen) hinzuzurechnen (Verband der ÖBB- Organisation bzw. Landwirtschaft 2004). Über weitere Kleingar- Gärten Fläche in m² tenanlagen, die von privaten Verpächtern be- Verein trieben werden, besteht keine genaue Über- Landesverband Salzburg 491 200.349 sicht. Es kann jedoch in Österreich derzeit von 53.000 Kleingärtnern ausgegangen werden ÖBB-Landwirtschaft 93* 22.124 Schrebergartenanlage 64 18.254 (Atzensberger, 2005). “Robinighof”

3. Kleingärten in der Stadt Salzburg ‛wilde’ Kleingartenkolonien Nicht bekannt 41.999 Die erste Kleingartenanlage in Salzburg wurde Salzburg insgesamt 648 282.726 1940 errichtet und besteht heute noch (“Dau- In 8 Gartenanlagen, andere Nutzungen bleiben unberück- erkleingartenverein Thumegg”). 1958 wurde sichtigt. Quelle: Stadt Salzburg – Raumplanung und der “Landesverband der Kleingärtner Salzburg” Verkehr, 1998 mit Sitz in Salzburg gegründet. Im Landesver- band sind neben den acht Vereinen im Stadt- Im Stadtgebiet von Salzburg nehmen 648 gebiet noch fünf weitere Anlagen organisiert, Kleingärtner eine Fläche von 28,3 ha ein. Das die außerhalb Salzburgs liegen. Im Salzburger ist im Vergleich zur Stadtfläche von 6.567 ha Landesverband sind heute 13 Vereine mit 652 ein nur geringer Anteil von 0,4 %. 1960 waren Mitgliedern vertreten. das noch 51,4 ha. Seit 1960 sind damit aller- dings 23,1 ha (= 48,2 %) Kleingartenflächen Tab. 1 Im “Landesverband der Kleingärtner Salzburg” für andere Nutzungen verwendet worden. Al- organisierte Anlagen der Stadt Salzburg – Erhebung 2005. lein von 1988 bis einschließlich heute gingen Nr. 5 Anlage Gegr. Eigentümer Größe Gär- 243 Gärten und ca. 5,6 ha Kleingartenfläche in m² ten verloren.

1 Thumegg 1940 Stadt Salzburg 27.177 68 4. Zielstellung und Arbeitsmethoden der 2 Leopoldskron 1956 Stadt Salzburg 23.500 54 empirischen Untersuchung 3 Kasern 1964 Stadt Salzburg 42.000 96 Ziel einer empirischen Untersuchung (Daten- Pfarre Siezen- erhebung Atzensberger 2005) (Interviewver- 4 Taxham 1971 heim und 10.964 35 Zentralverband fahren) war es, die Nutzungssituation der

5 Liefering-Herrenau 1982 Privateigentum 54.000 125 Kleingärten, die sozialen Verhältnisse der Kleingärtner und deren Motivationen, Aktivitä- 6 Kendlersiedlung 1988 Privateigentum 15.652 42 ten sowie ihr Umweltverständnis beispielhaft

7 Pulvermacherweg 1991 Privateigentum 15.583 37 zu analysieren.

8 An der Glan 1998 Privateigentum 11.473 34 Von folgenden Hypothesen wurde dabei aus- gegangen: Quelle: Atzensberger, 2005 200.349 491

165 Jürgen H. Breuste

1. Der Kleingartenbesitz gestaltet in hohem sind mit 1,5 % und die Akademiker mit 0,4 % Maße das Alltagsleben seiner Nutzer. vertreten. 2. Kleingärten werden häufig und intensiv genutzt. 3. Kleingärten werden hauptsächlich von Erwerbstätigkeit Anwohnern umgebender Wohngebiete ge- nutzt. 72,1% 4. Die Kleingärtner bilden eine soziale frei- Pensionisten 3,0% zeitbezogene Interessengemeinschaft. Hausfrauen/männer 1,5% Zu folgenden Themenbereichen wurde befragt: Selbständige/Freie Berufe 0,4% Dauer und Motive der Gartennutzung, Wohnsi- Akademiker 19,3% tuation, Nutzung von anderen Stadtgrünflä- Angestellte/Beamte 3,3% chen, Bewirtschaftungsformen der Gärten, Arbeiter/Facharbeiter Nutzungsfrequenz, Erreichbarkeit der Gärten 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% und persönliche Lebenssituation. Prozent Die Untersuchung wurde 2004 in 14 der 19 Salzburger Kleingartenanlagen durch standar- Abb. 2: Erwerbstätigkeit der Salzburger Kleingärtner (At- disierte Interviews mit 269 Personen (von 484 zensberger 2005). Angefragten = 55,6 %) durchgeführt. Bezogen auf 648 Salzburger Gärten sind dies 41,5 % Dauer des Kleingartenbesitzes: Die Anschaf- aller Gärten, was als repräsentativ angesehen fung eines Kleingartens stellt eine langfristige werden kann. Investition dar, die normalerweise auf Dauer geplant wird und eine freizeitbezogene Le- 5. Untersuchungsergebnisse bensentscheidung ist. Dies kann man an den 5.1 Die Kleingärtner relativ langen und stabilen Pachtverhältnissen ablesen. Immerhin besitzt jeder achte Pächter Altersstruktur: Von den 269 Befragten gehören seinen Garten schon mehr als 30 Jahre, 63,5 % (171 Personen) in die Altersgruppe der 38,7 % über 20 Jahren. Lediglich 14,1 % der über 60-Jährigen. Auf die Altersgruppe der 50- Kleingärtner gehören zu den Neupächtern 60-Jährigen entfallen 23,8 %. Der Anteil der (unter 5 Jahren Pachtdauer). 40-50-Jährigen beträgt 9,3 %. Die wenigsten Befragungen (mangels Vorhandensein) fanden Die Mehrheit (56,9 %) der Salzburger Klein- in den Altersgruppen der 30-40-Jährigen mit gärtner nutzt ihre Gärten seit mehr als 16 Jah- 3,0 % und der 20-30-Jährigen mit 0,4 % statt. ren. Dies repräsentiert weitgehend die generelle

Alterstruktur Salzburger Kleingärtner. Pachtdauer

Altersstruktur über 30 13,8% 21 bis 30 24,9%

16 bis 20 18,2% über 60 63,5% 11 bis 15 11,2% 23,8% 50-60 6 bis 10 10,4%

40-50 9,3% 0 bis 5 14,1%

30-40 3,0% 0% 5% 10% 15% 20% 25% 30% Prozent 20-30 0,4%

0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% Abb. 3: Pachtdauer der Salzburger Kleingärten (Atzens- Prozent berger 2005).

Abb. 1: Altersstruktur der Kleingärtner (Atzensberger, Motivation für die Kleingartennutzung: Fast alle 2005). Befragten haben mehrere Motive (1.004 Nen- nungen). 21,5 % der Salzburger Kleingärtner Erwerbstätigkeit: 24,5 % der Befragten sind geben als Motiv ihrer Gartenhaltung Entspan- erwerbstätig, 72,1 % sind Pensionisten. Hin- nung und Erholung an. Jeder fünfte Kleingärt- sichtlich der beruflichen Stellung dominiert ner stimmt dem Motiv Garten als Hobby zu. unter den Kleingärtnern die Gruppe der Ange- 14,8 % benennen Naturverbundenheit als stellten und Beamten, die 19,3 % einnimmt. Grund für die Kleingartennutzung. Zudem wer- 3,3 % gehören der Gruppe der Arbeiter und den die Motive Ausgleichsbeschäftigung zum Facharbeiter an, gefolgt von 3,0 % Nicht- Berufsleben, Gemeinschaftssinn, Selbstver- Berufstätige. Freiberufler und Selbstständige sorgung mit Obst und Gemüse sowie Ersatz

166 Stadtnatur „der dritten Art“ - Der Schrebergarten und seine Nutzung

für fehlenden Balkon oder Terrasse für be- Befragten haben oder hatten ehrenamtliche deutend empfunden. Die 77 Nennungen zur Funktionen im Verein übernommen. Selbstversorgung deutend darauf hin, dass 68,7 % aller Kleingärtner sind in einer weite- eine wirtschaftliche Bedeutung des Kleingar- ren Organisation oder Vereinigung als Mit- tens für Einzelne bzw. ein Zusammenhang glied eingeschrieben. Der Beteiligungsgrad in mit gesunder Lebensführung besteht. sozialen Organisationen spielt eine marginale Rolle.

Motive Wohnstandort: Als Wohnstandort geben 18,2 % der befragten Kleingärtner Lehen, Entspannung/Erholung 21,5% 11,9 % Taxham und 10,0 % Gnigl-Sam an. 5,0% Spielfläche f. Kinder Viele Kleingärtner wohnen in der Bahnhofs- Ausgleich zum Beruf 11,7% 7,7% gegend 9,7 % in Itzling und 7,4 % in der Eli- Selbstversorgung 7,9% sabeth-Vorstadt. 7,8 % der Befragten kom- Gemeinschaftssinn 14,8% Naturverbundenheit men aus dem Stadtteil Nonntal. Diese Stadt- Garten als Hobby 20,1% teile haben deutlich mehr Geschosswoh- neue Kontakte knüpfen 2,4% nungsbau als im Durchschnitt. Ersatz (Balkon/Terrasse) 7,3%

Sonstiges 1,6% Einige Kleingärtner leben außerhalb der Stadt

0% 5% 10% 15% 20% 25% Salzburg (7,1 %). Aus Schallmoos kommen fast 5,0 % der Kleingärtner, 3,7 % aus Prozent Maxglan. Auf die Standorte Alpensiedlung und Lieferung entfallen jeweils 2,6 %. Abb. 4: Motive für die Gartennutzung (Atzensberger 2005). 2,2 % geben Salzburg-Süd und 1,9 % Parsch als Wohnort an. Den geringsten Anteil neh- Auf die Frage “Waren bei der Anschaffung men die Stadtteile mit (außer Altstadt) haupt- Ihres Kleingartens bereits die gleichen Motive sächlich Ein- und Zweifamilienhausbebauung ausschlaggebend?” antworteten 97,0% aller Aigen, Neustadt und Riedenburg mit jeweils Gartenhalter mit „ja“. 0,7 % bzw. die Altstadt, Leopoldskron und Moos mit 0,4 % ein. Sozialverhalten und Gemeinschaftsleben in der Kleingartenanlage: Der Kleingarten in der 5.2 Wegebeziehungen von der Wohnung Kleingartenanlage bietet für die meisten viel- zum Kleingarten fältige Möglichkeiten des Sozialkontaktes. Erreichbarkeit des Kleingartens von der Woh- nung: Der PKW ist das dominante Verkehrs- Intensität der sozialen Kontakte mittel zum Erreichen des Kleingartens (44,7 %). Immerhin 35,3 % der Kleingarten- pächter benutzen ein Fahrrad, 13,1 % gehen 0,7% keine Kontakte zu Fuß. Äußerst gering ist die Bedeutung des 18,5% Grüße/Höflichkeitsbezeugungen öffentlichen Nahverkehrs. Nur 5,8 % nehmen 30,9% übern Gartenzaun diesen in Anspruch. Das Aufsuchen der Par- 23,1% Gartenbesuche zelle per Moped oder Motorrad ist mit 0,8 % 4,5% Besuche zu Hause vernachlässigbar. 20,1% im Vereinsheim/auf Festen 1,9% Sonstiges Verkehrsmittel 0% 5% 10% 15% 20% 25% 30% 35%

Prozent ÖVKM 5,8% 44,7% Abb. 5: Intensität der sozialen Kontakte in den Kleingar- Auto 0,8% tenvereinen (Atzensberger, 2005). Moped/Motorrad 35,3% Fahrrad 52,4 % der Befragten nehmen regelmäßig an 13,1% zu Fuß Vereinsaktivitäten teil. Auffallend hoch ist allerdings der Anteil derjenigen, die keine 0% 10% 20% 30% 40% 50% Angaben machten (37,2 %). Ausflüge, Kurz- Prozent reisen und Tagesfahrten gehören oftmals zum offiziellen Vereinsangebot. 20,4 % zählen zu Abb. 6: Verkehrsmittel zum Erreichen der Kleingärten den regelmäßigen Teilnehmern. 29,0 % der (Atzensberger, 2005).

167 Jürgen H. Breuste

Entfernung Kleingarten – Wohnung: 42,7 % Besuchshäufigkeit im Sommerhalbjahr der befragten Kleingärtner antworten, dass sie für den Weg zwischen Wohnung und Gar- 34,5% ten maximal 10 bis 20 Minuten brauchen. Mehr täglich als ein Drittel erreicht den Kleingarten in weni- mehrmals wöchentlich 51,8% ger als 10 Minuten. 17,1 % benötigen zwi- 1,0% schen 20 und 30 Minuten und 4,5 % nehmen nur am Wochenende 2,0% sogar über eine halbe Stunde in Kauf. mehrmals im Monat 10,4% verbringe auch Urlaub dort 0,3% seltener Wegdauer 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% Prozent

über 30 min 4,5% 17,1% Abb. 9: Häufigkeit der Nutzung im Sommerhalbjahr (At- 20-30 min zensberger, 2005). 42,7% 10-20 min bis 10 min 35,7% Besuchshäufigkeit im Winterhalbjahr

0% 10% 20% 30% 40% 50%

Prozent 4,8% täglich

21,3% Abb. 7: Zeitaufwand Wohnung – Kleingarten (Atzensber- mehrmals wöchentlich ger, 2005) 5,1% nur am Wochenende

29,0% 5.3 Die Kleingärten mehrmals im Monat 23,2% Größe der Kleingärten: 65,4 % aller befragten seltener Personen nahm Stellung zu ihrer Gartengröße. 0% 5% 10% 15% 20% 25% 30% 35% 40%

In Salzburg stellen die Größenklassen zwi- Prozent schen 301 und 350 m² den Hauptanteil dar. Abb. 10: Häufigkeit der Nutzung im Winterhalbjahr (At- Parzellengröße zensberger, 2005).

451-500 0,4% Überwiegend werden 3 bis 6 Stunden im Gar- 401-450 3,7% ten verbracht (42,8 %). Hoch ist die Anzahl 351-400 9,3% derjenigen, die 6 bis 9 Stunden im eigenen 301-350 17,8% Garten verweilen (24,9 %). 11,9 % geben an, 251-300 16,7% über 9 Stunden in den Salzburger Gartenanla- 201-250 10,4% gen zu verbringen. 13,8 % nutzen den Garten 3,0% 151-200 werktags 1 bis 3 Stunden, weniger als 1,0 % 4,1% 100-150 der Kleingärtner hält sich maximal eine Stunde 0% 2% 4% 6% 8% 10% 12% 14% 16% 18% 20% im Garten auf. Prozent

Abb.: 8: Kleingartengröße in Salzburg (Atzensberger, Aufenthaltsdauer an Werktagen 2005).

Nutzung der Kleingärten: 51,8 % der Befrag- über 9 h 11,9% ten suchen ihren Garten im Sommerhalbjahr mehrmals wöchentlich auf. 34,5 % besuchen 6-9 h 24,9% ihn sogar täglich. Zudem gibt jeder zehnte 3-6 h 42,8% Befragte an, dass der Urlaub im Kleingarten 1-3 h 13,8% verbracht wird. bis zu 1 h 0,7% Im Winterhalbjahr ist die Nutzungshäufigkeit naturgemäß geringer. Der überwiegende Teil 0% 10% 20% 30% 40% 50% der Kleingartenpächter besucht diesen trotz- Prozent dem mehrmals im Monat (29,0 %), 21,3 % der Kleingärtner halten sich selbst im Winter Abb. 11: Aufenthaltsdauer in Stunden nach Werktagen mehrmals wöchentlich im Garten auf. 4,8 % (Atzensberger, 2005). der befragen Personen suchen die Parzelle auch im Winter täglich auf.

168 Stadtnatur „der dritten Art“ - Der Schrebergarten und seine Nutzung

Somit halten sich durchschnittlich 66,0 % der Wandel der Gartenstruktur: 26,4 % der be- Befragten am Wochenende mehr als 6 Stun- fragten Kleingärtner geben an, dass derzeit auf den im Garten auf. Kleingartenanlagen kommt 20-30 % der Gartenfläche Obst- und Gemüse- damit eine bedeutende Rolle für die Wochen- anbau betrieben wird. Bei 46,8 % nimmt die endgestaltung zu. 19,3 % verweilen zwischen Rasen- und Zierfläche den Hauptanteil des 3 und 6 Stunden im Garten. 4,1 % besuchen Gartens ein. 29,4 % geben an, dass die be- die Anlage für 1 bis 3 Stunden, 0,4 % bis zu baute Fläche 10-20 % beträgt. Die Selbstver- einer Stunde. sorgung mit Obst und Gemüse hat an Bedeu- tung verloren. Trotzdem ist diese Nutzung nach wie vor prägend, da immerhin jeder fünfte Aufenthaltsdauer an Wochenenden Salzburger Kleingärtner über 30 % der Grund- stücksfläche mit Obst- und Gemüsepflanzun- gen nützt. über 9 h 40,5% Tab. 3: Gliederung der Salzburger Kleingartenfläche. 6-9 h 25,7% Obst- und Gemü- Rasen- und verbaute Fläche 3-6 h 19,3% seanbau Zierfläche < 10 4,1% 20,1 % 0,4 % 20,4 % 1-3 h % 0,4% 10- bis zu 1 h 20 22,3 % 0,4 % 29,4 % % 0% 10% 20% 30% 40% 50% 20- 30 26,4 % 6,0 % 26,0 % Prozent % 30- 40 11,9 % 24,5 % 9,3 % Abb. 12: Aufenthaltsdauer in Stunden nach Wochenenden % 40- (Atzensberger, 2005). 50 5,9 % 15,2 % 3,0 % % > 50 2,6 % 46,8 % 0,4 % Übrige Freizeitaktivitäten der Kleingärtner: Das % Spektrum der Freizeitaktivitäten der Befragten ist sehr breit. An erster Stelle steht Rad fahren (Atzensberger, 2005):

(14,1 %). Ebenfalls wichtig sind Fernsehen Kritik und Verbesse rungswünsche: 79,9 % sind (12,1 %) sowie Wandern (11,8 %) und Lesen mit dem Kleingartenve rein volla uf zufrieden (11,7 %). 9,1 % aller befragten Personen ge- und äußern keine Verbesserungs- oder Verän- ben an, dass sie gerne reisen. 8,1 % bevorzu- derungswünsche. Nur 15,6 % der befragten gen Spaziergänge und für 6,6 % bedeutet Personen halten ihr Vereinsleben in einem Freizeit, Freunde und Bekannte zu besuchen. oder mehreren Punkten für verbesserungs- Wenn man alle Aktivitäten, die in der Natur würdig. ausgeübt werden, zusammenrechnet, so ergibt dies einen Anteil von fast 50,0 %. Dies belegt Nur jeder vierte Interviewte fühlt sich in irgend- den hohen Stellenwert, den die Natur für die einer Weise in seinem Kleingartenfrieden ge- Freizeitgestaltung hat. 80,7 % fühlen sich be- stört. Ein Teil der Kleingärtner (12,4 %) ver- sonders naturverbunden. spürt eine massive Beeinträchtigung durch die Nähe von Straßen und Industrie. Nur wenige Befragte führen andere Belästigungen an. Freizeitaktivitäten 6. Diskussion

Reisen 9,1% Wesentliche Aspekte der für Mitteleuropa der- Schwimmen 5,5% zeit vorliegenden Studien zum Kleingartenwe- Hobby betreiben 6,0% sen und zur Kleingartennutzung konnten weit- Ausruhen 6,4% 8,1% Bummeln/Spazieren gehen gehend auch in Salzburg bestätig werden. Besuche machen 6,6% Damit ist die Ableitung von allgemeinen Anga- Konzert/Theater 6,1% ben zu Nutzern, dem Nutzungsobjekt und zur 2,3% Ausgehen 11,7% Nutzungsart gerechtfertigt (s. Bargmann et al., Bücher/Zeitschriften lesen 12,1% Fernsehen 1989, Darmstadt; Breuste 1992, Halle/Saale; 11,8% Wandern Breuste & Breuste 1994, Halle/Saale; Koller 14,1% Rad fahren 1988, Regensburg; Farny & Kleinlosen 1986, 0% 2% 4% 6% 8% 10% 12% 14% 16% Westberlin; Matthäi 1989, Westberlin; sowie Prozent Weber & Neumann 1993, Osnabrück; Bun- desministerium 1976): Abb. 13: Freizeitaktivitäten der Kleingärtner (Atzensberger, Die Kleingärtner als soziale Gruppe: Der Al- 2005). tersaufbau der Interviewpersonen zeigt, dass

169 Jürgen H. Breuste

die älteren Altersgruppen deutlich stärker ver- Ausgleich und Naturverbundenheit sind die treten sind als andere. Dies entspricht den dominanten Motive der Nutzung. Der Kleingar- bisher vorliegenden Studien, wenn auch in ten als ehemaliger Strukturraum der Industrie- Salzburg in noch größerem Ausmaß als dort gesellschaft wandelt sich hinsichtlich seiner (s. o.). Der Vergleich der Altersgruppen der Nutzungsklientel in einen Raum für die dienst- Kleingärtner mit der Gesamtbevölkerung der leistungsdominierte Gesellschaft. Stadt Salzburg macht deutlich, dass Kleingär- Nutzungsintensität: Kleingärten haben eine ten überproportional von älteren Menschen sehr große Bedeutung für ihre Nutzer, die hier genutzt werden. Da besonders diese Bevölke- den größten Teil der persönlichen Freizeit im rungsgruppe auch zukünftig eine besondere Freien verbringen und den Garten zum zweiten Wachstumsgruppe ist, kommt den Gärten da- Lebensmittelpunkt machen. Bei keiner anderen mit ebenfalls eine wachsende Bedeutung zu. Grünflächennutzung ist die Einbeziehung in

Tab. 4: Altersstruktur der Salzburger Kleingärtner und der den täglichen Lebensablauf so weitgehend Stadtbevölkerung. und umfangreich. Die angestrebte häufige Nutzung der Kleingärten setzt eine relativ enge Salzburger Klein- Bevölkerung

gärtner Salzburgs räumliche Beziehung zum Wohnstandort vor- aus. Die durch kurze Wegezeiten überbrückba- 20-30 J. 0,4 % 20-29 J. 13,1 % re Entfernung Wohnung – Garten ist Grundla-

30-40 J. 3,0 % 30-39 J. 16,8 % ge für eine häufige und intensive Nutzung. Es konnte bestätigt werden, dass fast alle Klein- 40-50 J . 9,3 % 40-49 J. 14,7 % gärtner (95,5 %) vom Wohnstandort aus weni- ger als 30 Minuten Wegezeit benötigen (s. a. 50-60 J. 23,8 % 50-59 J. 13,9 % Breuste & Breuste, 1994). Die Anwesenheits- > 60 J. 63,5 % > 60 J. 22,8 % dauer im Garten nimmt mit zunehmendem Alter zu. Dies trifft nicht nur an Werktagen, Quellen: Amt der Salzburger Landesre gierung, H 2003: Atzensberger, 2005. sondern auch an Wochenenden bei gleich viel zur Verfügung stehender Freizeit zu. Die Mehrzahl der Befra gten sind o der waren Angestellte und Beamten, Arbeiter waren Tab. 5: Wochenendliche Anwesenheit in Stunden nach Altersstruktur. kaum vertreten. Dies spiegelt die spezifische Erwerbstätigenstruktur Salzburgs wider, konn- 20-30 J. 30-40 J. 40-50 J. 50-60 J. über 60 J. te aber auch in Darmstadt (Bargmann et al., 1989) bestätigt werden. Die Gartennutzung ist < zu 1 h 0,4 % mit gemeinschaftsbildenden Aspekten des 1-3 h 0,4 % 3,7 % Vereinslebens verbunden. Kleingärtner be- zeichnen sich selbst als besonders naturver- 3-6 h 0,7 % 1,1 % 4,1 % 13,4 % bunden. Eine überdurchschnittliche Naturver- 6-9 h 1,5 % 7,8 % 16,4 % bundenheit lässt sich zumindest teilweise durch beobachtete Verhaltensweisen bestäti- > 9 h 0,4 % 1,9 % 5,9 % 10,4 % 21,9 % gen. Der Kleingartenbesitz gestaltet in hohem Quelle: Atzensberger, 2005. Maße das Alltagsleben seiner Nutzer und qua- lifiziert, belegbar durch mehrere Verhaltenskri- Die Nutzung erfolgt überwiegend harmonisch terien, die Kleingärtner als soziale Gruppe und interessenkonform, Konflikte treten nur hinsichtlich ihres Freizeitverhaltens. marginal auf. Damit wird ein außergewöhnlich Der Kleingarten wird überwiegend über mehr hoher Grad an Nutzungszufriedenheit erreicht, als 20 Jahre andauernd genutzt und wandelt den keine andere Grünflächennutzung erreicht. sich im Rahmen der einzuhaltenden Bestim- mungen von einem überwiegenden Nutzgarten Literatur zu einem Mischgarten, in dem Rasen und äs- Amt der Salzburger Landesregierung (Hrsg.) thetische Gestaltungselemente immer größere (2003). Bevölkerung per 1.1.2003. Ergeb- Flächen einnehmen. Trotz mehr Freizeit wird nisse der Bevölkerungsfortschreibung für diese weniger in aufwändige Obst- und Gemü- die Salzburger Gemeinden. Salzburg. seproduktion investiert. Der Kleingarten wird Atzensberger, A. (2005). Kleingärten in Salz- neben dem Produktivitätsfaktor zunehmend burg – Nutzung und soziale Aspekte. Salz- auch zum kontemplativen Aufenthalts- und burg, Univ., unveröff. Diplomarbeit Erholungsraum. Seine geringe Größe (unter Bargmann, H., Eigler, H. & Zabel, J. (1989). 400 m2) ändert sich wegen des Weiterbeste- Parzellierte Idyllen in der Stadt - eine Un- hens der Rahmenbedingungen nicht, sehr tersuchung zur sozialen Struktur, Nut- wohl jedoch der Grad an infrastruktureller, zungspräferenzen und Umweltbewußtsein freizeitbezogener Ausstattung. Regeneration, Darmstädter Kleingärtner. - In: Darmstäd-

170 Stadtnatur „der dritten Art“ - Der Schrebergarten und seine Nutzung

ter Kleingartenanlagen. Entwicklung, Nut- meinschaft Angewandte Geographie zung und Belastung aus soziologischer Münster e.V.. Bd. 23). und geoökologischer Sicht. S. 27-61. Zentralverband der Kleingärtner, Siedler und Breuste, I. (1992). Empirische Untersuchungen Kleintierzüchter Österreichs (Hrsg.) (2001). zur Kleingartennutzung in der DDR am Festschrift 1916 – 2001. Visionen vom gro- Beispiel der Stadt Halle. - In: Greifswalder ßen Paradies – eine Chronik. Wien. Beiträge zur Rekreationsgeografie/Freizeit- Zentralverband der Kleingärtner, Siedler und und Erholungsforschung. Bd.3. Greifswald. Kleintierzüchter Österreichs (Hrsg.) (2004). S. 153-168. – URL: http://www.kleingaertner.at, Stand: Breuste, I. & Breuste, J. (1994). Ausgewählte 19.07.2004 Aspekte sozialgeographischer Untersu- chungen zur Kleingartennutzung in Hal- Anschrift le/Saale. - In: Greifswalder Beiträge zur Jürgen H. Breuste Rekreationsgeografie/Freizeit- und Tou- Lehrstuhl Stadtökologie, Raum- und Umwelt- rismusforschung. Bd.5. Greifswald. S. 171- planung - Paris-Lodron-Universität Salzburg 177. Fachbereich Geography and Geology Bundesministerium für Raumordnung, Bauwe- Hellbrunnerstraße 34 sen und Städtebau (Hrsg.) (1976). Sozial- A – 5020 Salzburg, Österreich, politische und städtebauliche Bedeutung E-Mail: [email protected] des Kleingartenwesen. Schriftenreihe 03

"Städtebauliche Forschung". H.03045. Bonn-Bad Godesberg. Farny, H. & Kleinlosen, M. (1986). Kleingärten in Berlin (West) - Die Bedeutung einer pri- vaten Freiraumnutzung in einer Großstadt. Berlin. Koller, E. (1988). Umwelt-, sozial-, wirtschafts- und freizeitgeographische Aspekte von Schrebergärten in Großstädten, dargestellt am Beispiel Regensburgs. In: Regensbur- ger Beiträge zur Regionalgeografie und Raumplanung. Bd. 1. Kowarik, I. (1992). Das Besondere der städti- schen Flora und Vegetation. In: Natur in der Stadt - der Beitrag der Landespflege zur Stadtentwicklung. Schriftenreihe des Deutschen Rates für Landespflege. H. 61. 1992. S. 33-47. Neurath, O. (1923). Österreichische Kleingärt- ner- und Siedlerorganisation. Wien..Verlag Schiller-Bütow, H. (1976). Kleingärten in Städ- ten. Hannover-Berlin. Stadt Salzburg – Amt für Stadtplanung (Hrsg.) (1996). Die Entwicklung der Stadt. Räumli- ches Entwicklungskonzept der Landes- hauptstadt Salzburg. Gesamtstädtische Überarbeitung 1994 (REK 1994). Salz- burg. Stadt Salzburg – Raumplanung und Verkehr (Hrsg.) (1998). Flächenwidmungsplan 1997. Darstellung des Flächenwidmungs- planes der Landeshauptstadt Salzburg. Gesamtstädtische Überarbeitung. Salz- burg. Verband der ÖBB-Landwirtschaft – URL: http://www.bbl.at.tf, Stand: 02.08.2004 Weber, P. & Neumann, P. (1993). Freiraumsi- cherung versus Wohnraumbeschaffung. Bewertung und Bedeutung von Gartenflä- chen im Stadtteil Osnabrück/Kalkhügel. Münster (=Arbeitsberichte d. Arbeitsge-

171

CONTUREC 2 (2007) Seite 173 bis 178

Nachhaltige Stadtparks – Nutzungsgewohnheiten und Bedürfnisse

Sustainable urban parks – User habits and needs

ULRIKE HACKE

Zusammenfassung Parks in der Stadt sind für die Wohnbevölkerung wichtig und nicht wegzudenken. Sie werden gern und häufig aufgesucht – unabhängig vom Geschlecht, dem Alter, der Familiensituation und der sozia- len Herkunft. Ein mehr oder weniger regelmäßiger Parkbesuch ist multifunktional, beinhaltet die ver- schiedensten Motive und entsprechend vielfältige Aktivitäten. Neben dem generellen Bedürfnis nach Ruhe und Erholung sind die Präferenzen dabei insbesondere abhängig vom Alter und der Familiensi- tuation. Dennoch sehen die Befragten sehr wohl Verbesserungspotenziale öffentlicher Grünflächen, die sich einerseits in einem Wunsch nach mehr Information zu botanischen Themen, aber auch in einem weit reichenden Interesse an einer Ausweitung der Attraktivität und Erlebnisqualität von Parks äußerten. Genau diesen Aspekten widmet sich der Forschungsverbund „Nachhaltige Stadtparks“, der modellhaft in zwei bestehenden Parks (Westfalenpark Dortmund und Botanischer Obstgarten Heilbronn) einen neuen städtischen Grünflächentyp entwickelt, erprobt und evaluiert.

Nachhaltiger Stadtpark, Nutzungsbedürfnisse und Nutzungsgewohnheiten der Stadtbevölkerung.

Summary Urban parks are important for the resident population and urban areas can not be envisaged without them. People enjoy visiting them and do so frequently – independent of gender, age, family status, or social background. More or less regular visits to a park are multifunctional and are undertaken for a variety of motives and correspondingly result in a variety of activities. Apart from the general need for quiet and recreation, people’s preferences are particularly dependent on age and family status. Nevertheless, interviewees clearly see room for improvement in public green spaces, expressing a desire for more information on botanical themes and also a far-reaching interest in increasing the at- tractiveness of parks and the quality of the human experience therein. It is precisely these aspects to which the Forschungsverbund “Nachhaltige Stadtparks“ (“Sustainable Urban Parks” Research Asso- ciation) has devoted its work, developing, testing, and evaluating a new type of urban green space, using two existing parks as models (the Westfalenpark Dortmund and the Botanischer Obstgarten Heilbronn).

1. Einleitung 2. Zum Hintergrund Der Beitrag widmet sich empirischen Befunden Stadtparks repräsentieren den Wunsch einer zu den Nutzungsgewohnheiten und Motiven für urbanisierten Gesellschaft, im Kontakt mit der den Besuch von Parks in der Stadt. Diese Natur zu bleiben (Bell et al., 2001). Sie bilden Befunde wurden im Rahmen des aktuell lau- als Freiräume mit hoher Vegetationskonzentra- fenden und vom Bundesforschungsministerium tion einen Kontrast zur gebauten Umwelt und geförderten Forschungsverbunds „Nachhaltige ermöglichen den Kontakt mit Natur in Wohn- Stadtparks mit neuen Erlebnisqualitäten zur nähe (Amar, 1986). Parks und Grünflächen Verbesserung des städtischen Wohnumfelds“ können städtische Probleme kompensieren erhoben. Ziel dieses Forschungsvorhabens ist helfen, weil sie einen Ausgleich für Lärm, Be- die modellhafte Entwicklung, Erprobung und engtheit und städtische Hektik schaffen (Tuan, Evaluierung eines neuen öffentlichen Grünflä- 1978). Sie zeichnen durch ihre Multifunktionali- chentyps – des Nachhaltigen Stadtparks – in tät aus, weil sie einen Einfluss auf das Stadt- zwei Modellparks: dem Westfalenpark Dort- klima haben, die Begegnung mit anderen er- mund und dem Botanischen Obstgarten Heil- möglichen, Aufenthalträume im Freien sind, bronn. das Stadtbild prägen und zur Gliederung des städtischen Gefüges beitragen (Breuer, 2003). Grün- und Freiflächen gehören zu den Plus- Punkten von Städten, indem sie das Spektrum Ulrike Hacke

an individuellen Erlebens- und Handlungsräu- pflege und der Verbesserung der Parkqua- men erweitern und das Erscheinungsbild, das lität zugute. Image und die Lebensqualität in der Stadt – Soziale Dimension: positiv beeinflussen (Hayward, 1989). Ihre Die Besucherinnen und Besucher können positiven Wirkungen auf und vielfältigen Funk- den Park nach wie vor je nach ihren Be- tionen für die Stadtbevölkerung sind bereits dürfnissen individuell nutzen. Sie finden häufig empirisch untersucht worden – eine Ruhe und Erholung, eine Plattform für so- gute Auflistung liefert bspw. die Expertise von ziale Kontakte und Anregungen in Form Flade (2004). von Gartenkunst, Informationen und Bera- Gleichwohl ist die Anlage und Pflege städti- tung rund um das Thema Garten und auch scher Parks und Grünanlagen auch ein Kos- in Form von eigenen Lern- und Gestal- tenfaktor kommunaler Haushalte und somit tungsmöglichkeiten. Zudem verfolgt das Einsparzwängen ausgesetzt. Das oben ge- Konzept partizipatorische Ansätze, indem nannte Forschungsprojekt hat in diesem Zu- ein lokales Netzwerk aufgebaut werden sammenhang einen neuen städtischen Grün- soll, welches alle am Park Interessierten flächentyp – den Nachhaltigen Stadtpark – und Beteiligten integriert und in dem ein entwickelt, der ökologische, planerisch- Förderverein eine wichtige Rolle einneh- gestalterische, sozial-integrative und ökonomi- men soll. sche Funktionen vereint (Lein-Kottmeier, 1999). Er kombiniert die Erholungsfunktion 4. Zum Forschungsprojekt: Struktur, Ziele städtischer Parks mit Konsumangeboten und und Vorgehensweise Umweltbildungsmöglichkeiten unter Berück- Entsprechend dieser dreidimensionalen Aus- sichtigung der Nutzerbedürfnisse und will über richtung arbeiten drei Institutionen im Verbund den Verkauf und die Vermarktung der im Park (siehe Abb. 1): federführend das Institut für erzeugten Produkte Einnahmen erzielen, die Regionalwissenschaft der Universität Karlsru- der Anlagenpflege und der Verbesserung der he (verantwortlich für die Ausarbeitung der Parkqualität zugute kommen (Flade & Lein- gestalterisch-planerischen Aspekte des Nach- Kottmeier, 2004). haltigen Stadtparks), die Agentur für Koopera-

tion und Organisationsdesign Saarbrücken 3. Zum Konzept des Nachhaltigen Stadt- (verantwortlich für die Analyse der Wirtschaft- parks lichkeit und der geschaffenen bzw. zu schaf- Zu den wesentlichen Konzeptelementen des fenden Kooperationsstrukturen) und das Insti- Nachhaltigen Stadtparks, die sich am Leitbild tut Wohnen und Umwelt Darmstadt (verant- der Nachhaltigkeit orientieren, gehören: wortlich für die sozialwissenschaftlichen Fra- gestellungen). – Ökologische Dimension:

Der Nachhaltige Stadtpark soll das ganze Jahr über – also auch in den Wintermona- ten – attraktive Blühflächen heimischer Gartenpflanzen bieten, die mit allen Sin- AfOK nen genossen werden können. Gleichzei-

tig wird so ein wichtiger Beitrag zur Erhal- Agentur für Organisation tung der Biodiversität geleistet, weil belieb- und Kooperationsdesign Saarbrücken te Gartenpflanzen in ihrer ganzen Sorti- mentsvielfalt gezeigt werden. Hinzu kommt, dass Fachwissen zu den Themen Nachhaltiger Stadtpark Pflanzung, Pflege und Vermehrung von Praxispartner: Westfalenpark Dortmund, Gartenpflanzen angeboten wird – in Ver- IfR Botanischer Obst- IWU anstaltungen, Ausstellungen, Führungen garten Institut für Regionalwissen- Institut Wohnen und usw.. Heilbronn schaft der Universität Umwelt GmbH – Ökonomische Dimension: Karlsruhe Darmstadt Im Park angebaute Erzeugnisse (Kräuter, Schnittblumen, Staudenpflanzen etc.), die den Anlagen unter Wahrung des ästheti- Vergleichspark schen Gesamtbildes durch Fachpersonal Praxispartner: Schau- und Sichtungsgarten Hermannshof Weinheim entnommen werden, werden in den Re- staurants, im Laden oder in der Pflanzen- Abb. 1: Kooperationsstruktur im Forschungsverbund werkstatt, in der die Besucherinnen und „Nachhaltige Stadtparks“. Besucher auch selbst tätig werden kön- nen, weiterverarbeitet und vermarktet. So erzielte Einnahmen kommen der Anlagen- 174 Nachhaltige Stadtparks – Nutzungsgewohnheiten und Bedürfnisse

Praxispartner sind die beiden Modellparks und Bedürfnisse in Bezug auf Stadtparks all- Westfalenpark Dortmund und Botanischer gemein ging, entnommen2. Obstgarten Heilbronn. Als Kontroll- bzw. Ver- gleichspark, der im Unterschied zu den Mo- 5. Ergebnisse dellparks im Zeitverlauf nicht verändert wird, wurde der Schau- und Sichtungsgarten Her- Parks in der Stadt haben für die Bevölkerung mannshof in Weinheim einbezogen. einen großen Stellenwert – egal welcher Her- kunft und welchen Alters die Befragten sind, ob Forschungsziel ist die Entwicklung, Erprobung sie Kinder haben oder einen eigenen Garten. und Evaluation des Konzepts „Nachhaltiger Parks sind den Bewohnerinnen und Bewoh- Stadtpark“ in den beiden Modellparks Dort- nern wichtig, Frauen dabei sogar noch deutli- mund und Heilbronn, um auf der Grundlage cher als Männern. Ein Park in Wohnnähe wird der Ergebnisse Empfehlungen für andere für den Fall eines notwendigen Umzugs als Kommunen abzuleiten und zu verbreiten. Qualitätsmerkmal der neuen Wohnung ange- Dementsprechend ist das Forschungsprojekt in sehen. Dass sich ein Park in der Nähe der drei Phasen gegliedert: In der bereits abge- neuen Wohnung befindet, war älteren Befrag- schlossenen Konzeptphase wurden tragende ten sogar noch wichtiger als jüngeren. Grundsätze erarbeitet, die im Kern die Berück- Parks werden häufig aufgesucht. Knapp die sichtigung der Nachhaltigkeitsaspekte, die Hälfte der Befragten nutzt mindestens einmal nutzerorientierte Freiraumplanung, die Analyse pro Woche einen Stadtpark. Ein Viertel der von öffentlich-privaten Partnerschaften und Befragten besucht Parks sogar mehrmals pro besten Praktiken für Grünflächen und Parks Woche. Das sind vor allem jüngere Befragte umfassen. Darüber hinaus wurden die vorlie- bis 50 Jahre und solche, die privat nicht über genden Erkenntnisse über die Wirkung von einen Garten verfügen können. Insbesondere Natur und Grün auf den Menschen gesichtet 1 für diese Personen stellen Parks eine gute und ausgewertet . Zur Berücksichtigung der Alternative zum eigenen Garten dar. verschiedenen Nutzerbedürfnisse wurden re- präsentative Telefonbefragungen der Stadtbe- völkerung und face-to-face-Interviews mit 100% Parkbesuchern durchgeführt, die einer vertie- 87,7% fenden und nach Besuchergruppen differenzie- 79,5% renden Motivanalyse dienten, Hinderungs- 80% gründe für den Parkbesuch identifizierten und schließlich das Interesse der Bewohner- und 60% der Besucherschaft am neuen Grünflächentyp feststellten.

40% In der derzeit andauernden Realisierungspha- se wird der Nachhaltige Stadtpark in den bei- den Parkanlagen verwirklicht. Das projektbe- 20% 14,0% gleitende Monitoring umfasst dabei ökonomi- 10,6% 6,5% sche Aspekte ebenso wie landschaftsarchitek- 1,7% tonische und gartenbauliche Fragestellungen, 0% sehr wichtig/wichtig teils/teils unwichtig/sehr unwichtig die nach der Erprobung in Form von Empfeh- lungen für nachfolgende Projekte aufbereitet Wie wichtig sind für Sie persönlich Parks und Grünanlagen? werden. Wenn Sie umziehen müssten: Wie wichtig wäre es Ihnen, dass ein Park bzw. Grün in der Nähe Ihrer neuen Wohnung ist? In der Betriebs- und Erprobungsphase nach der Eröffnung der neuen Parkanlagen findet Abb. 2: Subjektive Wichtigkeit von Parks. dann die Evaluation statt. Betrachtet wird die Akzeptanz des neuen Grünflächentyps bei den Die wenigen, die sehr selten Parks aufsuchen, kommunalen und gesellschaftlichen Akteuren, begründen dies dagegen vorrangig mit dem der Stadtbevölkerung und insbesondere den Vorhandensein eines Gartens, weil man dort Parkbesuchern. Es erfolgen die Überprüfung selbst schalten und walten kann und mehr der Zielsetzungen, eine Bündelung der Emp- Privatheit vorfindet. Zu viel Arbeit und zu wenig fehlungen und die Veröffentlichung der Ergeb- Zeit stellen ebenfalls Gründe für den Nichtbe- nisse. such dar. Aber auch soziale Incivilities3 wie Die hier vorgestellten sozialwissenschaftlichen das im Park mögliche Antreffen von Woh- Ergebnisse entstammen der Konzeptphase nungslosen oder Suchtabhängigen können und sind im Wesentlichen der telefonischen Gründe für den Nichtbesuch sein. Vorherbefragung, in der es neben der Umges- taltung des konkreten Parks auch um Motive

175 Ulrike Hacke

auch weil der Wandel der Jahreszeiten als 40% faszinierend empfunden wird.

30% 29,0% Weitläufigkeit 10,5%

25,5% Grün, Natur, Tiere 16,7%

Kindgerechtheit, Familienfreundlichkeit 17,0% 20,6% 20% Ort der Kommunikation 19,3% 16,4% Being Aw ay 19,4%

Erfreuen an Ästhetik der Anlage 22,2%

frische Luft 23,1% 10%

Sport und Bew egung 29,8% 4,5% 3,9% Erholung, Entspannung 75,7%

0% 20% 40% 60% 80% 0% mehrmals pro einmal pro ein- bis viertel- bis einmal im seltener/nie Woche Woche dreimal im halbjährlich Jahr Monat Abb. 5: Motive für den Parkbesuch.

Wie oft besuchen Sie Parks? Die Motive, die mit einem Parkbesuch ver- knüpft sind, sind vielfältig und erfüllen die ver- Abb. 3: Häufigkeit des Besuchs von Parks in der Stadt. schiedensten Bedürfnisse. Generell wird Erho- Die meisten Befragten favorisieren die Wo- lung und Entspannung Finden als wichtigstes chenenden und Feiertage für den Besuch. Motiv angesehen. Aber auch das an der fri- Ältere Menschen mit einem vermutlich größe- schen Luft Sein und das Being Away-Gefühl, ren Zeitbudget bevorzugen einen Besuch unter also das Gefühl mal draußen und raus aus der Woche. dem Alltag zu sein, stellen generalisierbare Motive dar. Männer schätzen mehr als Frauen An welchen Tagen besuchen Sie Parks? die Möglichkeiten für Sport und Bewegung. verschieden, besondere Frauen und Familien mit Kindern betonen die Anlässe; nur am Möglichkeiten der Parks für Kinder, die dort 17,5% Wochenende rumtoben, Tiere sehen können usw.. Jüngere und an empfinden die Weitläufigkeit von Parks als Feiertagen; werktags wohltuend fürs Auge angesichts der Beengt- und am 40,7% Wochenende; heit der Städte. Ältere nehmen Parks als Orte 16,6% der Kommunikation wahr und erfreuen sich vor allem an der Ästhetik der Anlage und an der nur w erktags; Bepflanzung. Gartenbesitzer sind dabei immer 25,2% auf der Suche nach Anregungen für den eige- nen Garten – sei es die Bepflanzung oder die Abb. 4: Zeiten der Parkbesuche. Gestaltung betreffend. Im Alltag werden vor allem solche Parks auf- gesucht, die sich in unmittelbarer Nähe zur Gleichwohl formulierten die Befragten auch Wohnung oder Arbeitsstätte befinden, während Möglichkeiten, die Parkqualität zu verbessern beispielsweise solch ein Park wie der Westfa- und äußerten in gewissem Umfang auch ein lenpark eher als Ausflugsziel fungiert, in dem Interesse am persönlichen Engagement. Na- man mit Kind und Kegel seinen Sonntag ver- türlich bezogen sich die Verbesserungsvor- bringt. Dafür spricht auch, dass organisierte schläge vornehmlich auf den jeweils konkreten Feste und kulturelle Veranstaltungen in Parks Modellpark. Aus den Ergebnissen lassen sich häufige Anlässe für Parkbesuche darstellen – aber auch verallgemeinerbare Aspekte ablei- genauso wie private Feiern und der Besuch ten. von Verwandten und Freunden. Dabei wird Einen sehr wichtigen Aspekt stellt dabei das z. B. der Westfalenpark als Sehenswürdigkeit vorhandene hohe Interesse an Botanik dar. verstanden, die man seinen Besuchern gerne Wie Abb. 6 zeigt, würden 40 % aller Befragten vorführt. Dass Parks ferner auch kommunikati- gern mehr über bei uns wachsende Pflanzen- ve Orte sind, zeigt sich schon allein darin, dass arten in Garten und Natur erfahren und wün- sie selten allein, sondern zumeist in Begleitung schen sich diesbezüglich mehr Informationen, aufgesucht werden. Frauen und ältere Befragte noch ausgeprägter. Aus den face-to-face-Interviews ist bekannt, Das dürfte mit ursächlich dafür sein, dass – im dass die wärmeren Monate zwar bevorzugt Hinblick auf das Nachhaltige Stadtparkkonzept genutzt werden, grundsätzlich aber das ganze – das Interesse an den Konzeptelementen des Jahr über in Parks gegangen wird – gerade Nachhaltigen Stadtparks, wie die Möglichkeit, 176 Nachhaltige Stadtparks – Nutzungsgewohnheiten und Bedürfnisse

das ganze Jahr über blühende Pflanzen zu matisierte Interesse an Botanik und Garten- sehen und der Besuch von Veranstaltungen zu themen sowie die Partizipationsbereitschaft. Gartenthemen, mit die höchsten Zustimmun- gen erhielten. D. h. die Befragten halten es für Eine Überprüfung der Zufriedenheit der Stadt- sehr wahrscheinlich, den umgestalteten Park bevölkerung und Parkbesucherschaft mit dem dann häufiger oder auch überhaupt aufzusu- in Heilbronn und Dortmund modellhaft umge- chen. Denn immerhin ein Fünftel derjenigen, setzten Nachhaltigen Stadtpark findet im Rah- die bislang nie Parks nutzen, befänden den men einer Evaluation statt, die im Jahr 2007 Park dann für einen Besuch wert. In diesem beginnt und in 2008 abgeschlossen sein wird. Zusammenhang auch erwähnenswert ist die Tatsache, dass ein Großteil der Befragten dann auch bereit wäre, einen Eintrittspreis zu 1 Zu den psychologischen Wirkungen von Natur auf zahlen. den Menschen ist folgende Expertise erarbeitet worden: Flade, A. (2004). Parks und Natur in der

50% 47,6% 45,2% Stadt. Konzepte und Wirkungen. Darmstadt: Insti- 39,7% 41,1% 40,7% tut Wohnen und Umwelt. 40% 2 34,3% Stichproben der Vorherbefragung: telefonisch N = 300 (Dortmund), N = 301 (Heilbronn); face to face 30% 25,7% N = 74 (Dortmund), N = 73 (Heilbronn), N = 85

20% (Weinheim) 3 Mit dem Begriff „Incivilities“ werden physische und 10% soziale Zeichen der Verwahrlosung zusammen- gefasst. Sie bezeichnen Verhältnisse im öffentli- 0% gesamt Frauen Männer unter 30 30 bis 49 50 bis 65 über 65 chen Raum, die einen destabilen Zustand des Or- Jahre Jahre Jahre Jahre tes/Gebietes signalisieren (vgl. z.B. Perkins et al., Ich w ürde gerne mehr über bei uns w achsende Pflanzenarten in Garten und Natur erfahren. 1993).

Abb. 6: Interesse an Weiterbildung.

Publikationen Ein Drittel der repräsentativ Befragten wäre zudem bereit, sich selbst zu engagieren. Das Für die jeweiligen Parks liegen bereits Ergeb- Spektrum belief sich dabei von richtigem nisberichte der Konzeptphase vor – auch eine Handanlegen – also Mithilfe bei der Pflege der kurze Studie zum Hermannshof Weinheim. Anlage – über bürgerschaftliches Engagement in einem Bewohnerbeirat oder Förderverein bis Breuer, B., Hacke, U. & Lohmann, G. (2006). Der Schau- und Sichtungsgarten Her- hin zu Baumpatenschaften und Spenden. mannshof aus sozialwissenschaftlicher

Sicht. Befragungsergebnisse 2005. Darm- Fazit und Projektausblick stadt. Institut Wohnen und Umwelt GmbH. Wie die Ergebnisse zeigen, werden städtische 28 S.. Parks und Grünanlagen gern und häufig auf- Hacke, U., Rölle, D. & Lohmann, G. (2006). gesucht – unabhängig vom Geschlecht, dem Untersuchungsergebnisse zum Bundesfor- Alter, der Familiensituation und der sozialen schungsvorhaben „Nachhaltige Stadtparks“. Herkunft der Befragten. Das Vorhandensein Der Dortmunder Westfalenpark aus sozial- von Parks in der Stadt ist der Bevölkerung wissenschaftlicher Sicht. Befragungsergeb- wichtig, der Besuch erfüllt die verschiedensten nisse 2005. Darmstadt. Institut Wohnen und Bedürfnisse und umfasst entsprechend vielfäl- Umwelt GmbH. 91 S.. tige Aktivitäten. Die jeweiligen Präferenzen Hacke, U. & Lohmann, G. unter Mitarbeit von sind dabei vor allem abhängig vom Alter und Martin Hofmann (2006). Untersuchungser- der Familiensituation, d.h. sie werden insbe- gebnisse zum Bundesforschungsvorhaben sondere auch dadurch bestimmt, ob Kinder im „Nachhaltige Stadtparks“. Der Botanische Haushalt leben oder nicht. Parks bieten Ruhe Obstgarten Heilbronn aus sozialwissen- und Erholung vom Alltag, Sport und Bewe- schaftlicher Sicht. Befragungsergebnisse gung, frische Luft, Naturerleben und Kommu- 2005. Darmstadt. Institut Wohnen und Um- nikationsgelegenheiten. Insbesondere für die- welt GmbH. 80 S.. jenigen, die keinen privaten Garten nutzen Die Publikationen sind im IWU erhältlich. können, haben Parks eine Ersatzfunktion. Literatur Wenngleich die Umsetzung des Nachhaltigen Amar, L. (1986). Parks und Plätze in Paris. Stadtparks in den beiden Modellanlagen noch Eine sozialpsychologische Analyse städti- andauert, lassen sich dennoch schon erste - Befunde ableiten, die auf eine hohe Wert- scher Freiraumqualitäten. München. Miner va Publikationen. schätzung des neuen Grünflächentyps schlie- ßen lassen. Dazu zählen bspw. das hier the-

177 Ulrike Hacke

Bell, P.A.; Greene, T.C.; Fisher, J.D. & Baum, A. (2001). Environmental psychology, 5. Aufl.. Fort Worth: Harcourt College Publish- ers Breuer, B. (2003). Öffentlicher Raum – ein multidimensionales Themen. Informationen zur Raumentwicklung. Heft 1/ 2. S. 5-13. Flade, A. (2004). Parks und Natur in der Stadt. Konzepte und Wirkungen. Darmstadt. Insti- tut Wohnen und Umwelt GmbH. Flade, A. & Lein-Kottmeier, G. (2004). Der nachhaltige Stadtpark. Bestandsaufnahme und Ausblicke aus sozialwissenschaftlicher Sicht. Zeitschrift für Sozialmanagement. Bd. 2, 2. S. 77-95. Hayward, J. (1989). Urban Parks. In I. Altman & Zube, E.H. (Hrsg.). Public places and spaces. New York. Plenum Press. S. 193- 216. Lein-Kottmeier, G. (1999). Stängelwirtschaft – ein Erlebnisgarten in der Stadt. Garten + Landschaft. Heft 8. S. 27-30. Perkins, D.; Wandersman, A.; Rich, R. & Tay- lor, R. (1993). The physical environment of street crime: Defensible space, territoriality and incivilities. Journal of Environmental Psychology 13(1). S. 29-49. TuanY.F. (1978). Children and the natural environment. In: Altman, I. & Wohlwill. J.F. (Hrsg.). Children and the environment. New York. Plenum Press. S. 5-32.

Anschrift Ulrike Hacke Institut Wohnen und Umwelt GmbH Annastraße 15 64285 Darmstadt E-Mail: [email protected]

178 CONTUREC 2 (2007) Seite 179 bis 186

Stadtnatur als kultivierter Freizeitraum

Urban nature as a cultivated recreational space

LARS IMWOLDE

Zusammenfassung Bereitstellung und Wahrnehmung des kulturellen Angebots in einer Stadt vom klassischen Museum und Theater über kommerzielle Kinos und viele andere Einrichtungen und Angebote kennzeichnen unter anderem urbane Lebensqualität. Dabei wird deutlich wie sich das moderne Freizeitleben stark ausdifferenziert und mit welchen unterschiedlichen Anforderungen Freizeitstätten bzw. der Freizeit- raum und potenziell nutzbare Stadträume konfrontiert werden. Für die Bürger bieten öffentliche Räu- me die Möglichkeit sich zu präsentieren, sich zu treffen und vieles mehr. Stadtnatur wird nur dann von der Stadtbevölkerung wahrgenommen und bewertet, wenn sie nicht unscheinbar gegenüber Einkaufspassagen, Marktplätzen und anderen Attraktionen bleibt. Stadtnatur muss sich als eigenständiges Angebot behaupten. Dafür wäre eine identifizierbare Gestaltung, wie sie z. B. Parkanlagen aufweisen, vorteilhaft. Am Beispiel des Englischen Gartens in München wird dargestellt, wie kultivierte Naturausstattung freizeitkulturell von den Münchnern und ihren Gästen genutzt wird. Eine anerkannte und gleichermaßen be- und geliebte Stadtnatur, wie die traditionsreiche Parkanlage Englischer Garten, weist Qualitätsmerkmale auf, die eine Orientierung für die zukünftige Gestaltung von Stadtnatur bieten können. Dabei könnte Stadtnatur von der gegenwärtig zu beobachtenden Re- naissance der Stadtparks profitieren. Ob Stadtnatur zukünftig ein eigenes Profil ausbildet oder vor- handene Grünräume/-züge (z. B. Parkanlagen) erweitert werden, sollte auch unter dem Blickwinkel einer nutzerorientierten Stadtplanung diskutiert werden.

Kultivierter Freizeitraum, neue Freizeitansprüche, neue kulturelle Räume, Orientierung an Lebenssti- len, traditionsreiche Parkanlagen in neuer Funktion.

Summary Urban quality of life is characterized by, amongst other things, the provision and use of cultural oppor- tunities in a town, ranging from classic museums and theatres to commercial cinemas and many other facilities and offers. Looking at the range of opportunities it becomes clear how strongly differentiated modern recreation and leisure has become and how varied the requirements are to which leisure fa- cilities and recreational spaces as well as potentially utilizable urban spaces are being subjected. For the citizens, public spaces offer the opportunity to present themselves, to meet up, and much more. The urban population is only aware of urban nature and values it, if is not inconspicuous compared to malls, markets and other attractions. Urban nature must hold its position as an independent presence. Identifiable design such as can be found in parks for example would be beneficial to this end. Using the example of the English Garden in Munich, it is explained how cultivated natural resources are used for recreation by the citizens of Munich and their guests. An established part of urban nature which is both popular and well-loved, such as the “English Gar- den” park and its rich tradition, it has certain qualities which can give orientation to future designs for urban nature. In this context, urban nature might benefit from the current renaissance of the town park. The discussion as to whether urban nature will in the future develop its own profile or whether existing green spaces and corridors will be extended should also consider the viewpoint of user-oriented urban planning.

Lars Imwolde

1. Einleitung insbesondere öffentliche Räume die Möglich- keit sich zu präsentieren, sich zu treffen und Von der ursprünglichen Isarauenlandschaft vieles mehr. und dem Jagdrevier vor den Toren der Stadt zum kultivierten Freizeitraum war es für den Heute kann beobachtet werden, wie insbeson- Englischen Garten in München ein langer Weg dere moderne Lebensstilgesellschaften, wie von 200 Jahren. sie in deutschen Großstädten z. B. in Berlin und München zu finden sind, ein besonderes In dem folgenden Beitrag wird eine mögliche Verhältnis zur Freizeit entwickelt haben Perspektive für eine Entwicklung von Stadtna- (Schmals, 2006). tur vorgestellt. Stadtnatur kann einen Beitrag zur Steigerung des Stellenwertes von öffentli- Über viele Generationen hinweg definierte sich chem Grün und damit auch des freizeitkulturel- Freizeit ausschließlich über seine Erholungs- len Wertes einer Stadt leisten, wenn sie zum und Unterhaltungsfunktion. Mit dem Wandel in kultivierten Freizeitraum entwickelt wird. Als der Arbeitswelt und der Individualisierung der kultivierte Freizeiträume können urbane Räu- Gesellschaft hat Freizeit eine weitere Funktion me mit naturnaher Ausstattung und großer erhalten: Freizeit ist zu einem wichtigen Bau- Ausdehnung bezeichnet werden, die durch ein stein der Identitätsbildung geworden. historisch gewachsenes kulturelles und gast- Seit der mittelalterlichen Stadtgesellschaft, die ronomisches Angebot verfügen. Dies trifft ins- mit den Zünften und Gilden Berufsstände aus- besondere auf traditionsreiche Parkanlagen wies, wurde die gesellschaftliche Stellung über zu. Ein kultivierter Freizeitraum sollte für le- den Beruf definiert. Dementsprechend organi- bensstilbasierte Freizeitmilieus geeignete Akti- siert war die Teilnahme am gesellschaftlichen ons- und Präsentationsmöglichkeiten bieten. Leben. In der Industrie, die zu ihren besten Ausgehend von einer freizeitorientierten Nut- Zeiten eine 24-Stunden Produktion fährt, war zung von Stadtnatur werden einleitend einige der Arbeiter einer Schicht zugehörig und ent- neue Betrachtungen zum Lebensbereich „Frei- wickelte über diese eine soziale Identität (Hra- zeit“ vorgestellt. Am Beispiel des Englischen dil, 1999) Gartens lässt sich konkret darstellen, wie ein Heute erfährt der Nachweis bestimmter frei- kultivierter Freizeitraum aussehen kann. zeitlicher Aktivitäten eine Anerkennung in der Die beiden folgenden Teile des Beitrages sind Gesellschaft, wie z. B. Freiwilligen Agenturen Auszüge einer Fallstudie zum Englischen Gar- zeigen oder das Engagement von Bürgern in ten in München, die im Rahmen der Ab- Agenda 21-Projekten oder Teilnahmen an schlussarbeit des Autors an der Fakultät Sportwettbewerben (z. B. Stadtmarathons). Raumplanung an der Universität Dortmund Damit werden neben beruflichen Positionen entstanden ist. Identitäten in der Freizeit aufgebaut und aus- gelebt. Diese erhält man, wenn man eine be- Im dritten Teil wird versucht, eine Entwick- stimmte Freizeitbeschäftigung oder ein Amt lungsperspektive für Stadtnatur als kultivierten übernimmt, besonders im Trend ist bzw. zu Freizeitraum aufzuzeigen. den Trendsettern gehört oder ein besonderes

Erlebnis hinter sich hat. 2. Die neue Freizeit Freizeit als ein Baustein der persönlichen Iden- Bereitstellung und Wahrnehmung des kulturel- titätsbildung funktioniert primär über Anerken- len Angebots vom klassischen Museum und nung vergleichbar wie im Beruf. Theater über rein kommerzielle Angebote wie z. B. Kinos, kennzeichnen unter anderem ur- In diesem Zusammenhang steht zum einen der bane Lebensqualität. Dabei wird deutlich, wie zunehmende Drang, sich in der Öffentlichkeit sich das moderne Freizeitleben stark ausdiffe- zu präsentieren und zum anderen, sich auch in renziert und mit welchen unterschiedlichen Gruppen und Gemeinschaften zu integrieren. Anforderungen Freizeitstätten bzw. der Frei- Somit ist eine aktive und identitätsstiftende zeitraum und potenziell nutzbare Stadträume Gestaltung der Freizeit zu einer wichtigen All- konfrontiert werden. Klassische Hochkultur tagsaufgabe geworden. wird ebenso nachgefragt wie avantgardistische Neue Anforderungen und auch neue Funktio- Ausflüge einzelner Künstlerkreise mit Erobe- nen, die Freizeitstätten bzw. Orte der Freizeit rungen verlassener Quartiere und Produkti- zu erfüllen haben, sind bei der Entwicklung von onsstätten, Großveranstaltungen für alle Lösungen für neue freizeitorientierte Rauman- Stadtbürger (z. B. Museumsnächte, Straßen- gebote, wie sie mit Stadtnatur möglich sind, zu kulturfeste etc.) und Szenetreffs für Kreative beachten. und hippe Menschen, die in gestylten Clubs ihre eigene Kultur pflegen, entfalten ganz ei- Die Voraussetzungen von Parkanlagen als gene Raumansprüche. Für die Bürger bieten Orte der Freizeit sind traditionell vorhanden:

180 Stadtnatur als kultivierter Freizeitraum

„Der Aufenthalt im Park dient der Entspan- Die ca. 373 ha große Anlage (ohne Hofgarten nung, Erholung und sozialen Entlastung, und und Maximiliananlagen) gehört zum Vermögen ein freundlich-tolerantes Verhalten ist im Park der Bayerischen Verwaltung der staatlichen gewissermaßen als Verhaltensform institutio- Schlösser, Gärten und Seen. nalisiert; d. h. es ist im Park gegenüber nicht Um den Englischen Garten in München als rollengemäßem Verhalten, wenn es nicht gar Beispiel für einen kultivierten Freizeitraum zu störend ist, ein liberales Klima vorauszuset- vorzustellen, ist ein historischer Rückblick hilf- zen“ (Tessin, 2002). reich. Die gegenwärtig zu beobachtende Besuchs- Tab. 1: Der Englische Garten in München – eine Zeitreise Renaissance von Parkanlagen, die u. a. auch durch zwei Jahrhunderte. Ausdruck des gestiegenen Interesses der Be- völkerung an den Themen Natur, Garten, Ge- 1789 Gründung des Englischen Gartens (zuerst Carl-Theodor Park) sundheit und Heimat ist und der Wunsch sich 1795 Das erste Volksfest im Englischen Garten in der Freizeit: 1811 Eröffnung der Gaststätte zum Aumeister, – zu erholen / zu entspannen, Treffpunkt für Jäger 1880 ´Kocherlball` Frühtanz morgens um 6 Uhr – zu unterhalten, im Sinne von Spaß haben, für Dienstmädchen, Boten und anderem Hauspersonal – als aktives Mitglied einer Gemeinschaft 1891 Eislauf-Meisterschaft auf dem oder Gruppe zu engagieren, ´Kleinhesseloher See` – sich in der Öffentlichkeit zu präsentieren 1919 Die ´Hirschau` ist kein Forst mehr. Parkbe- und wirtschaftung startet. 1933 Bau des Hauses der Deutschen Kunst – in eine andere „Welt“ bzw. Umgebung 1972 Olympia-Austragungsort für Marathon und einzutauchen. Bogenschießen 1973 Freigabe der Wiesen für Sport und Spiel stehen in einem engen Zusammenhang. 1985 Erste Schleppjagd im Englischen Garten Zusammenfassend lassen sich folgende Grün- 1985 Blütezeit der Nackerten-Kultur de nennen, die vor dem Hintergrund der dar- 1987 Erste Wellenreiter auf dem gestellten Entwicklungen im Lebensbereich 2002 Versuche Golf zu spielen werden verboten Freizeit für einen kultivierten Freizeitraum sprechen: In den vergangenen zwei Jahrhunderten ha- ben neue Nutzergruppen den Naturraum Eng- – Freizeit gliedert sich neu: Erholung + Un- lischer Garten für sich entdeckt und neue frei- terhaltung + Identität; zeitkulturelle Nutzungen in ihm ihren Platz gefunden. Die landschaftsarchitektonische – Zunehmend finden Freizeitaktivitäten in Gestaltung und die infrastrukturelle Ausstat- der Öffentlichkeit statt; tung sind dabei wichtige Elemente für die Nut- – Intensität und Art der Freizeitgestaltung zungsintensität. erfordern besondere Raumqualitäten. Was kennzeichnet einen kultivierten Freizeit- Ein anerkannter und gleichermaßen be- und raum wie den Englischen Garten? geliebter urbaner Naturraum wie der traditions- Die klassischen Elemente, die der Englische reiche Englische Garten in München, weist Garten als Landschaftsgarten und Volkspark Qualitätsmerkmale auf, die eine Orientierung aufweist, sind grundlegend für seinen heutigen für die zukünftige Gestaltung von Stadtnatur freizeitkulturellen Wert. bieten können. Der Englische Garten ist durch Bäume, Bü- 3. Der Englische Garten in München als sche, Wiesen, Hügel und durch Bäche, Seen Beispiel für einen kultivierten Freizeit- und Inseln reich gegliedert. Gestaltet von raum Friedrich Ludwig von Skell (1750 – 1823), nach dem Vorbild der klassischen englischen Land- Der Englische Garten in München ist für viele schaftsgärten, stellt sich im Englischen Garten Münchner mehr als nur eine Grünanlage mit das Eintauchen in eine andere Welt, das so Biergärten. Er ist das grüne, bunte und pulsie- genannte „being away“ schnell ein und bietet rende Herz in München. Eben mehr als nur die Erholung pur (Imwolde, 2007). grüne Lunge der Stadt. Der Englische Garten ist ein Wahrzeichen der Stadt, das nationale Die großzügigen Wiesenflächen wie z. B. die und internationale Bekanntheit genießt und Werneckwiese als Mekka für alle Ballartisten, jährlich etwa 3,5 Mio. Besucher verzeichnet. insbesondere die Fußballer, werden intensiv genutzt.

181 Lars Imwolde

Abb. 1: Volleyballspiel.

Abb. 2: Fußballteam. Neben dem Sport sind die großzügigen Wie- sen des Englischen Gartens auch von Grup- Abb. 3: Chinesischer Turm. pen, Familien und Paaren bevölkert, die die Die Attraktion „Englischer Garten“ funktioniert Natur, Gespräche, ein Buch oder ein Picknick unter anderem durch die Möglichkeiten, sich genießen. hier „selbst zu inszenieren“ und sich eine Büh- Die intensive Nutzung und Frequentierung wird ne bzw. einen Laufsteg zu schaffen. Im Engli- durch die vielfältige gastronomische Ausstat- schen Garten sind es die Carl-Theodor-Straße, tung gefördert. Das Japanische Teehaus, die die Seestraße und der Friedrich-Ludwig-von- großen Biergärten (Chinesischer Turm, Hir- Skell-Weg, die Promenaden-Charkater haben schau, Seehaus und Aumeister), das Restau- und die architektonischen Highlights wie den rant Seehaus und vier Kioske stellen ein ab- Chinesischen Turm und den Monopteros zei- wechslungsreiches Angebot dar, das dem gen, den Kleinhesseloher See umkreisen oder individuellen Geschmack aller Besucher, ob direkt zum Biergarten Aumeister führen. High-Society, Rentnern, Familien, Touristen und Studenten gerecht wird. Freizeit ist – wie eingangs erläutert – mehr als nur Erholung und Unterhaltung, sie dient viel- fach der Pflege des Lebensstils und damit der eigenen Identitätsarbeit. Als entscheidende Elemente für einen kulti- vierten Freizeitraum lassen sich für den Engli- schen Garten folgende zuordnen.

Abb.4: Carl-Theodor-Straße.

182 Stadtnatur als kultivierter Freizeitraum

Abb. 6: Reitausflug im Englischen Garten. Abb. 5: Biergarten. Neben den Freizeitsportlern, Rentern, Obdach- Die große Vielfalt an Natur und Gastronomie, losen und Familien sind es damit auch die im Prinzip die klassischen Elemente bieten Geschäftsleute, die Manager, Direktoren, Pro- rahmengebend für verschiedene Lebensstil- jektleiter und auch die Prominenten und Tou- gruppen eine Vielzahl an individuellen Entfal- risten, die den Englischen Garten zu schätzen tungsmöglichkeiten, die als offene Onsite- wissen. Aktivitäten bezeichnet werden können. So sind es neben den individuellen freizeitsportli- Welche Rolle einzelne Gruppen als Akteure für chen Aktivitäten (z. B. Fußball, Reiten, Inline- einen kultivierten Freizeitraum wie den Engli- Skaten, Joggen, Frisbee, Volleyball etc.) auch schen Garten spielen, wird im Folgenden er- Musiker-Treffen, Familienausflüge und Stamm- läutert. tische in den Biergärten, die für eine gelebte Zu den entscheidenden Akteuren zählen und zum Teil inszenierte Freizeitkultur stehen. „moderne“ Gemeinschaften, wie sie im Engli- Der Englische Garten ist damit ein wichtiger schen Garten insbesondere im Bereich des Präsentations- und Aktionsraum, der viele Sports anzutreffen sind. Sie entwickeln sich zu Gestaltungsfreiheiten lässt und auch Rück- einem informellen Zusammenschluss bei der zugsräume mit zum Teil privatem Charakter Ausübung einer bestimmten Freizeitsportart (Orte für Verliebte, zum Träumen oder Meditie- oder Freizeitaktivität, wobei z. B. Equipment, ren) bietet. Outfit und Interaktionsgrad verbindend wirken. Die unmittelbare Nachbarschaft zur Universi- Die modernen Gemeinschaften im Englischen tät, der Akademie der Künste, Kultureinrich- Garten nutzen die landschaftsarchitektoni- tungen (wie z. B. der Bayerischen Staatsbiblio- schen Qualitäten der Anlage, die alle Voraus- thek), Sportanlagen, Hotellerie und zu Unter- setzungen für die Ausübung von Freizeitsport nehmen, (Firmensitze der Allianz Versiche- bzw. Freizeitaktivitäten bietet, wie z. B. das rungs AG, Münchner Rück, HypoVereinsbank Spielfeld Werkneckwiese für die Fußballer, das usw.), die den Englischen Garten einrahmen, 78 km lange Wegenetz für die Jogger- zeigt das große dauerhafte Offsite-Angebot. Gemeinde und die Forststraße für die Inline- Vor diesem Hintergrund hat sich ein wechsel- Skater oder der Eisbach für die Surfer. - volles Spiel zwischen Arbeit, Kultur und Frei- ne Gemeinschaften können auch in mancher zeit entwickelt: Hinsicht mit dem Begriff „Szene“ umschrieben werden, wenngleich dort die persönlichen Kon- – Joggen vor der Arbeit, takte noch enger sind (Schulze, 1992). – Spaziergang und Biergarten-Besuch in der Mittagspause, – Geschäftsessen im noblen Restaurant ‚Seehaus’, – Einbindung in einen touristischen Kultur- pfad, beginnend mit dem Prinz-Carl-Palais und dem Haus der Kunst, – Freunde treffen nach der Arbeit oder ein Tennis-Match, – Ausritte der Reitschule der Universität und des SportScheck Hotels. Abb. 7: Joggerduo.

183 Lars Imwolde

Abb. 8: Surfer am Eisbach. Moderne Gemeinschaften sind für einen kulti- vierten Freizeitraum wie den Englischen Gar- Abb. 10: Capoeira-Gruppe unterhalb Monopteros. ten wichtig, weil sie oft außergewöhnlich, pro- den gesellschaftlichen historischen Hinter- vokant und dominant erscheinen und damit grund wird dieses Gartenkunstwerk von über- Impulsgeber sind, Diskussionen hervorrufen regionaler Bedeutung einer intensiven Frei- und als Attraktion Aufsehen erregen. Wie etab- zeitnutzung nicht standhalten. Die Eigenver- liert der Englische Garten als insbesondere antwortung aller Nutzergruppen ist gefordert!“ sportlicher Freizeitraum ist, zeigen die Grup- pen, die sich hier als moderne Gemeinschaften Auf neue Freizeitansprüche zu reagieren und präsentieren oder offiziell organisiert sind: gleichzeitig den Englischen Garten als Garten- kunstwerk zu erhalten, erfordert ein Monitoring – Rentner in ihrem Stockschießen-Verein in beiden Bereichen. Nicht nur die Überwa- auf der Bahn an der Gysslingstraße, chung der botanischen und infrastrukturellen – die Reitgesellschaften der Universität und Entwicklung der Parkanlage Englischer Gar- Reitgruppen des SportScheck Hotels, ten, sondern auch regelmäßige Untersuchun- gen des Besucherverhaltens bringen die not- – die Capoeira-Gruppe ABADA, die im wendigen Informationen, die für einen dynami- Sommer regelmäßig unterhalb des Monop- schen Raum, wie den kultivierten Freizeitraum teros trainiert, wichtig sind. Die zuständigen Einrichtungen – die Tennisspieler auf dem Court an der rücken in die Rolle einer „lernenden und len- Gasstätte Hirschau. kenden Verwaltung“. Wie ein Blick in die Geschichte des Englischen Der Englische Garten in seiner Funktion als Gartens zeigt, sind es immer wieder neue Landschaftspark und kultivierter Freizeitraum, Strömungen, mit denen sich die Parkverwal- stellt für die benachbarten Einrichtungen und tung auseinandersetzen muss. Die Herausfor- Unternehmen einen besonderen Standortfaktor derung formuliert Herr Köster, Verwaltungsdi- dar. rektor des Englischen Gartens, wie folgt (Tho- Wie bereits oben dargestellt, gibt es vielfältige mas Köster, zitiert nach Imwolde, 2003): Verknüpfungen zwischen Arbeit, Kultur und „Seit etwa 30 Jahren hat sich das Nutzerver- Freizeit, die durch die Lage am Englischen halten des Parkbesuchers im Sinne der Libera- Garten entstehen. Dabei zeigt sich auch, wie lisierung drastisch geändert. Der Nutzer darf- sich unterschiedliche Lebensstile auf Raum- nicht nur zum Benutzer werden, denn ohne strukturen auswirken. So hat sich der Engli- sche Garten im Verlauf der Zeit zu einem kulti- vierten Freizeitraum entwickelt.

4. Von Stadtnatur zum kultivierten Frei- zeitraum – eine Entwicklungsperspekti- ve Stadtnatur kann einen Beitrag zur Steigerung der Akzeptanz von öffentlichem Grün und da- mit auch des freizeitkulturellen Wertes einer Stadt leisten, wenn sie zum kultivierten Frei- zeitraum entwickelt wird. Stadtnatur hat den Vorteil, dass sie entwick- lungsfähig ist und für sie gegenwärtig keine genormten Festschreibungen existieren. Abb. 9: Monopteros.

184 Stadtnatur als kultivierter Freizeitraum

Die Erhaltung und Sicherung des Englischen Süden vom Botanischen Garten Rombergpark Gartens als Gartenkunstdenkmal erfordert (ca. 65 ha) eingerahmt. Die Qualität und Größe viele Anstrengungen, die für Stadtnatur nicht dieser beiden historischen Parkanlagen sowie zwingend sind. ihr heutiger freizeitkultureller Wert für die Dortmunder und ihre Anziehungskraft für die Sowohl für die ökologische Entwicklung als Region zeigen, das gestiegene Interesse der auch die Möglichkeiten einer freizeitkulturellen Bevölkerung an naturnahen Erholungs- und Nutzung bietet Stadtnatur daher mehr Potenzi- Erlebnismöglichkeiten. In den nächsten Jahren al als herkömmliche Parkanlagen. Allerdings kann sich damit ein großer, kultivierter Freizeit- sind sowohl Historie als auch infrastrukturelle raum entwickeln, der je nach Parkanlage un- Ausstattung, wie sie bei traditionsreichen terschiedliche freizeitkulturelle Qualitäten bie- Parkanlagen vorhanden sind, für die Akzep- tet. tanz seitens der Bürger sehr wichtig. Variante: Stadtnatur solo Der zum Teil stark lastende freizeitkulturelle Nutzungsdruck auf dem Englischen Garten, Erlauben die räumlichen Voraussetzungen nur der ökologische Schäden, wie die Entstehung eine eigenständige Entwicklung von Stadtnatur von Trampelpfaden und die Zerstörung der in definierten Grenzen ohne den Anschluss an Grasnarbe verursacht, sowie die steigenden einen bestehenden Park, dann wären auf dem Kosten für die Beseitigung von Abfällen zei- Weg zum kultivierten Freizeitraum einige Fak- gen, wo die Empfindlichkeiten traditioneller toren zu beachten und die klassischen und Parkanlagen wie dem Englischen Garten lie- entscheidenden Elemente zu installieren, die gen und welche Belastungen sich aus seiner sich bei beliebten Parkanlagen wie dem Engli- gesellschaftlich überformten Funktion als kulti- schen Garten als erfolgreich erwiesen haben. vierter Freizeitraum ergeben können. Mit der Diese sind teilweise auch aus anderen Pla- Einbeziehung von Stadtnatur könnte Entlas- nungszusammenhängen bekannt und zugleich tung geschaffen werden. in ihrer Einsatzfähigkeit sehr genau bei einem neuen Planungsraum wie den oben genannten Eine Entwicklungsperspektive von Stadtnatur Stadtnatur-Flächen zu prüfen. zum kultivierten Freizeitraum könnte in den zwei folgenden Varianten liegen. Stadtnatur Stadtnatur müsste sich bei dieser Variante wird hier als eine konkrete räumliche Situation, nicht zwingend als Park qualifizieren, sondern z. B. eine Brachfläche oder einen Abschnitt als eigenständiger neuer Nutzungsraum. Die eines Grünraums beschrieben, der neue oder Möglichkeiten der Profilbildung wären ganz erweiterte freizeitkulturelle Nutzungen erlaubt. andere und Nutzungsarten und damit Nut- zungsvielfalten könnten sich, ohne Restriktio- Variante: Stadtpark plus Stadtnatur nen durch gartenkünstlerischer Belange, Bei entsprechender räumlicher Lage von schneller entwickeln. Stadtnatur wäre eine Angliederung an eine Beide Varianten zeigen die Möglichkeit auf, bestehende Parkanlage denkbar. Bei dieser wie bestimmte Stadtnatur-Flächen zum kulti- Verknüpfung profitiert Stadtnatur von einer vierten Freizeitraum entwickelt werden können existierenden und in der Regel etablierten bzw. wie diese Flächen die Nutzungsvielfalt Infrastruktur und dem Stammpublikum des eines Stadtparks erhöhen können. Parks. Der Park würde in seinem neuen Teil Stadtnatur mehr Freiheiten erlauben können 5. Fazit und so insgesamt für seine Benutzer und seine Der Englische Garten in München ist heute bis dato Nicht-Benutzer attraktiver werden. mehr als ein Gartenkunstdenkmal und die Der Englische Garten hat mit der Erweiterung grüne Lunge Münchens. Die Entwicklung des um die Hirschau im Jahr 1919 und mit dem Englischen Gartens zu einem kultivierten Frei- Kauf des ehemaligen 30 ha großen Maffei- zeitraum zeigt, dass eine klassische Parkanla- Geländes 1943 zweimal bewiesen, dass eine ge neue Funktionen übernehmen kann. Angliederung erfolgreich sein kann. Neben dem Englischen Garten finden sich in Für das Thema ´Stadtnatur` lassen sich im einigen deutschen Großstädten weitere kulti- Ruhrgebiet vielfältige Beispiele finden, auch für vierte Freizeiträume, wenngleich in anderer die hier skizzierte Variante der Verknüpfung Ausprägung. Der Berliner Tiergarten, der von Stadtpark plus Stadtnatur. Im Rahmen der Stuttgarter Schlosspark oder der Düsseldorfer Revitalisierung der ehemaligen Hoesch- Volkspark sind hier Beispiele. Industriebrache in Dortmund entstehen in drei Durch eine An- oder Einbindung von bei- großen Abschnitten der Phoenix-See, der spielsweise Brachflächen oder sonstigen Grün- Hochtechnologie-Park Phoenix West und der räumen in eine bestehende und bekannte ca. 30 ha große Phoenix Park. Dieser wird im Parkanlage, ergeben sich im Ganzen mehr Norden vom Westfalenpark (ca. 70 ha) und im

185 Lars Imwolde

Möglichkeiten für freizeitbezogene Nutzungen. Dies dürfte dazu beitragen, den Stellenwert von öffentlichem Grün zu erhöhen. Nicht zu- letzt auch vor dem Hintergrund der neuen Funktion von Freizeit. Der Aufwand für die Variante ‚Stadtnatur solo’ dürfte zwar beträchtlich sein, jedoch sind Rea- lisierungen dieser Variante nicht komplett aus- zuschließen. Stadtnatur sollte von der langen deutschen Parktradition profitieren können. Ein kultivierter Freizeitraum ist ein guter Weg, der sich für einige Großstädte anbietet.

Literatur:

Hradil, S. (1999). Soziale Ungleichheit in Deutschland. Imwolde, L.. (2007). Metropolitane Parkland- schaften. Der Englische Garten in München im Wandel. Imwolde, L. (2003). Freizeit & Freiraum Patch- work. Folder. Schmals, K. M. (2006). Das Rollenspiel sozia- ler Gruppen in öffentlichen Gärten. In: Dutt- ge, G. & Tinnefeld, M. T. (Hrsg.): Gärten, Parkanlagen und Kommunikation. Schulze, G. (1992). Die Erlebnisgesellschaft. Tessin, W. (2002). Historische Parks zwischen Gartendenkmal und Freizeiteinrichtung. In: Die alte Stadt.

Anschrift Lars Imwolde Alter Mühlenweg 56 44139 Dortmund E-Mail: [email protected]

186 CONTUREC 2 (2007) Seite 187 bis 194

Perspektiven für die regionale Stadtlandschaft. Das Beispiel Rhein-Main

Prospects for the regional urban landscape – The Rhine-Main example

JENS SCHELLER

Zusammenfassung Das Rhein-Main Gebiet ist trotz Suburbanisierung und Zersiedlung eine polyzentrische Region geblie- ben, bei der Siedlungskanten und eine Trennung zwischen verschiedenen Gemeinden noch erkenn- bar sind. Dieses ist auch ein Erfolg der räumlichen Planung in der Region. Die Darstellung von Regio- nalen Grünzügen in den verschiedenen landschaftsplanerischen und regionalen Planwerken stellt dabei das wichtigste freiraumplanerische Instrument dar. Dennoch zeigt die Praxis vieler Gemeinden und Städte in der Region – neben einer Reihe positiver Beispiele – zahlreiche Defizite, wenn es um die Umsetzung der landschaftspflegerischen Ziele geht. Schwächen in der Umsetzung, organisatori- sche und finanzielle Defizite, die sich zum Teil auch auf das Vorbildvorhaben Regionalpark Rhein- Main auswirken, sind einige der Gründe. Die sich veränderten Rahmenbedingungen in der Siedlungs- entwicklung, in der Landwirtschaft, durch den Klimawandel und bei den rechtlichen Grundlagen (z. B. Auswirkungen der EU-Richtlinine) stellen neue Herausforderungen dar. Um diese zu bewältigen, ist die Reflexion der bisherigen Erfahrungen umso wichtiger und neue auch unkonventionelle Wege sind zu beschreiten.

Region Rhein-Main; Regionale Flächennutzungsplanung; Landschaftsplanung; Freiraumsicherung; Kompensation; Regionalpark; Landwirtschaft; ehrenamtliches Engagement.

Summary Despite suburbanization and urban sprawl the Rhine-Main region has remained a polycentric region where settlement fringes and the divisions between different municipalities are still visible. This is due in part to successful spatial planning in the region. In this context, the delineation of regional green- belts in the various landscape and regional plans is the most important instrument of open space planning. Nevertheless, the reality in many municipalities and towns is that while there are many posi- tive examples, there are also many deficits in terms of the implementation of landscape management objectives. Some of the reasons include weaknesses in implementation, organizational and financial deficits. To an extent these also impact on the Rhine-Main Regional Park model project. Changed framework conditions in settlement development, agriculture and climate change, and in the legal ba- sis (e.g. impact of EU directives) present new challenges. In order to deal with these challenges it has become ever more important to reflect on previous experiences. New and unconventional paths must sometimes be taken.

Noch 1850 war das, was heute als Rhein- Die klare Trennung zwischen Stadt und Land, Main-Gebiet bezeichnet wird, eine kleinbäuer- besser: Siedlungen und der offenen, meist liche Agrarlandschaft, durchsetzt mit einer land- und forstwirtschaftlich genutzten Land- Vielzahl mehr oder weniger bedeutender Städ- schaft ist in den letzten Jahrzehnten vielerorts te. unscharf geworden. Suburbanisierung, Zersie- delung und Flurbereinigung haben eine Land- Viele dieser Städte, wie Königstein, Kronberg, schaft produziert, die mit dem immer wieder Friedberg und Büdingen, natürlich auch Wies- beschworenen Leitbild von der Europäischen baden, Darmstadt und Bad Homburg, hatten Stadt kontrastieren. über kurz oder lang Residenzfunktionen zu erfüllen. Dies und die überregionale Rolle Dennoch sind in der Region Rhein-Main Sied- Frankfurts als Messe- und Handelsplatz haben lungskanten meist erkennbar, sind Gemeinden ganz wesentlich zur reich gegliederten, vielfäl- nur stellenweise zusammengewachsen. Das tigen Siedlungsstruktur geführt (Krenzlin, ist durchaus auch ein Erfolg der räumlichen 1961), die uns von den meisten deutschen und Planung: „Die größte Gefahr für ein Ballungs- europäischen Ballungsräumen wegen ihrer gebiet ist die zäsurlose Ausdehnung der zent- enormen Freiraumpotenziale unterscheidet. ralen Siedlungsbereiche. (…) schon heute Jens Scheller

Rhein-Main: Regionale Stadtlandschaft (Schwarzplan)

Metropol– Region

Frankfurt RheinMain

Abb. 1: Regionale Stadtlandschaft Rhein-Main. müssen die Voraussetzungen geschaffen wer- (Christ, 1994). Im Rahmen der Leitbilddebatte den, die dem Raum auch bei einer maximalen zum Regionalen Flächennutzungsplan ist es Besiedlung (…) seine Attraktivität erhalten“ gelungen, die Themen Freiraumsicherung, (RPU, 1968). Seit dem hier zitierten ersten Natur- und Ressourcenschutz unter der Ziel- Regionalplanentwurf der „Regionalen Pla- setzung „Region der attraktiven Landschaft nungsgemeinschaft Untermain“ (RPU) von und Kultur“ prominent zu platzieren: 1968 stellen die „Regionalen Grünzüge“ das „Das Besondere der Region sind ihre Kontras- wichtigste planerische Instrument zur Frei- te. Sie bietet eine hohe Lebensqualität: Kultur, raumsicherung dar. Mit dem großen Projekt urbane Räume, Erholungsgebiete. Die Le- „Regionalpark Rhein-Main“ soll seit 1994 diese bensqualität wollen wir steigern und dazu bei- abstrakte Planungskategorie „in etwas für je- tragen, dass die Menschen sich hier wohl füh- dermann Anschauliches“ übersetzt werden len. Wir wollen das Angebot an Kultur, Frei-

Rhein-Main: Regionale Stadtlandschaft

Abb. 2: Regionale Grünzüge in der Praxis.

188 Perspektiven für die regionale Stadtlandschaft

zeiteinrichtungen und attraktiver Landschaft Partizipation und Abstimmung mit den Kom- verbessern und dazu den Regionalpark aus- munen, Interessensverbänden sowie den bauen“ (Planungsverband/ RP Darmstadt, Fachbehörden gemeinsam erarbeitete Biotop- 2005). vernetzungskonzept vielerorts nicht zur Grund- lage naturschutzrechtlicher Ausgleichsmaß- Das klingt verheißungsvoll. Doch: wie soll es nahmen geworden. gemacht werden? Existiert ein gemeinsames Bild von dieser Landschaft, die natürlich immer Es gibt auch positive Beispiele, Gemeinden, noch eine Kulturlandschaft ist? Was hat das die konzeptionell unterlegt und vorausschau- mit Planung zu tun? Werden sich die Rahmen- end mit Ökokonten operieren. Das 1999 wäh- bedingungen für die Freiraumentwicklung än- rend der Landschaftsplanerstellung formulierte dern? Ziel, „ein Band von zahlreichen ökologisch wertvollen Flächen wie Feuchtgebiete, Hoch- Der Planungsverband hat den gesetzlichen staudenfluren, extensivem Grünland, Streu- Auftrag, für 75 Städte und Gemeinden den obstflächen und zahlreichen kleinflächigen bundesweit größten Landschaftsplan aufzu- Biotopvernetzungselementen“ entstehen zu stellen. Gemeinsam mit dem Regierungspräsi- lassen, wurde aber weitgehend verfehlt. Die dium Darmstadt als Geschäftsstelle der Regio- große Chance, die in einer gemeindeübergrei- nalversammlung Südhessen erarbeitet er zu- fenden konzeptionellen Vereinbarung für Aus- dem erstmals einen Regionalen Flächennut- gleichs- und Ersatzmaßnahmen und die Um- zungsplan (RegFNP). In den zurückliegenden setzung des Landschaftspflegekonzeptes der Jahren gelang es, in Zusammenarbeit mit den ehemaligen Ämter für Regionalentwicklung, beteiligten Städten und Gemeinden, das Ver- Landwirtschaft und Landschaftspflege liegt, ist bandsgebiet flächendeckend landschaftsplane- nicht entschlossen genutzt worden. Jedes Jahr risch zu bearbeiten. werden Millionenbeträge in die Freiräume der Die Landschaftsplanung ist integrationsfähig Region Rhein-Main investiert, darunter im zur Bauleitplanung abgefasst. Wesentliche Rahmen naturschutz- oder forstrechtlicher Teile des Biotopverbundsystems, die Regio- Ausgleichsverpflichtungen in Aufforstungen auf nalparkrouten und damit die für Ausgleichs- allerbesten landwirtschaftlichen Böden in der und Ersatzmaßnahmen festgesetzten und Wetterau. Wie kommt es zu dieser unbefriedi- geplanten Flächen, konnten trotz des für die- genden Situation? Die Gründe dafür sind viel- sen Zweck schlecht geeigneten Maßstabes fältig. von 1:50.000 in den RegFNP-Vorentwurf integ- Die Besitzverhältnisse sind ein zentrales Prob- riert werden. Im Zusammenhang mit der land- lem. Die meisten der landschaftsplanerisch schaftsplanerischen Arbeit und im Rahmen der gewünschten Flächen befinden sich nicht in rechtlich vorgeschriebenen Umweltprüfung öffentlichem Besitz. Der Erwerb oder aufwän- zum RegFNP wurde eine hervorragende Basis dige Flächentauschverfahren überfordern viele an Umweltdaten erarbeitet, derer sich die Kommunen. Ein gemeindeübergreifendes Kommunen, Fachämter und freie Büros bei Ausgleichsflächenmanagement und die struk- weitergehenden Planungen unterdessen re- turelle Verknüpfung mit der Landschaftspla- gelmäßig bedienen. Ein kartografisches Daten- nung und dem Projekt Regionalpark fehlen und tool hilft dabei, mögliche Flächennutzungen mit sind mit den Spielregeln des Ballungsraumge- den verschiedenen Umweltbelangen zu ver- setzes schlecht zu vereinbaren (s. u.). Land- schneiden. Über das Einstellen immer weiterer schaftspflegeverbände, als gemeinsame Foren Datenebenen in den interaktiven Kartenserver und Handlungsebene von Verwaltungen, Na- auf www.planungsverband.de werden die er- turschützern und Naturnutzern, führen oft ein wähnten Diskussionsgrundlagen öffentlich Schattendasein. Seit Jahren ist eine personelle zugänglich gemacht. Damit und mit dem um- Auszehrung der Fachverwaltungen auf den fänglichen Umweltbericht zum RegFNP- verschiedenen Ebenen der Naturschutz- und Planentwurf wurde eine gute Grundlage für Forstbehörden sowie in vielen Umweltämtern eine Stärkung der Umweltbelange im Rahmen der Kommunen zu beobachten. Überforderung der anstehenden Plandiskussion gelegt. und Resignation, ein Rückzug in sektorales Gemessen an den eingangs formulierten Ziel- Denken und hoheitlicher Vollzug nach „Sche- setzungen verliert dieses positive Bild jedoch ma F“ sind vielleicht nicht alltäglich aber leider erheblich an Glanz. Die letzten Jahre haben für auch nicht ungewöhnlich. Die spürbare Öko- das 43 Kommunen umfassende Gebiet des nomisierung des politisch-administrativen ehemaligen Umlandverbandes Frankfurt mit Handelns macht die Sache nicht einfacher. Nur seinem seit dem Jahr 2000 rechtsgültigen, so werden Entwürfe wie der zum neuen Hessi- fachlich sehr anerkannten Landschaftsplan schen Naturschutzgesetz überhaupt erklärbar, (Umlandverband Frankfurt am Main, 2001) wo die Landesregierung „im Interesse der ge- erhebliche Steuerungs- bzw. Umsetzungsdefi- deihlichen wirtschaftlichen Entwicklung weiter- zite offenbart. So ist das nach einer intensiven 189 Jens Scheller

LEGENDE

Ökologisch bedeutsame Flächennutzung mit Maßnahmen zum Schutz, zur Pflege und zur Entwicklung von Boden, Natur und Landschaft

Vorranggebiet für Natur und Landschaft

Vorbehaltsgebiet für Natur und Landschaft

Abb. 3: Ökologisch bedeutsame Flächen – Kompensationsflächen im RegFNP-Entwurf.

Landschaftsplanung: Kompensationspraxis und Biotopverbund

Biotopverbundsystem Realisierte Kompensationsflächen

Abb. 4: Biotopverbundsystem und Kompensationspraxis.

190 Perspektiven für die regionale Stadtlandschaft

gehende Vereinfachungen und Entschärfun- Etablierung starker regionaler Verwaltun- gen des Naturschutzrechts für geboten“ hält gen beantwortet. Nicht so Rhein-Main: Es und eine faktische Reduzierung von beinahe wird nun darauf ankommen, die im Bal- 50 % der Schutzgebietsflächen, darunter lungsraumgesetz vorhandenen Effizienzre- mehrere weiträumige Landschaftsschutzge- serven zu erschließen (Scheller, 2004). biete im Rhein-Main-Gebiet, vornimmt 1. Dabei stellen sich den „regionalen Land- Durch die Etablierung einer eigenständigen schaften“ neue Herausforderungen: Regionalpark-Dachgesellschaft, die personell Der demografische Wandel erfordert einen und finanziell allerdings nur schwach ausge- Paradigmenwechsel der räumlichen Pla- stattet wurde, verliert diese großartige Idee nung. Der Soziologe und Raumforscher als planerisches Instrument für Freiraumsi-

Tabelle 1: Regionale Organisation nach dem Ballungsraumgesetz.

Rhein-Main: Regionale Organisation nach Ballungsraumgesetz

Planungsverband Rat der Region Offene kommunale Frankfurt / Rhein-Main Zusammenarbeit

„ Regionaler Flächennutzungsplan „ Organisation der „ Standortmarketing interkommunalen „ Regionalpark „ Landschaftsplan Zusammenarbeit „ Verkehrsmanagement „ Geschäftsstelle Rat der Region „ Kommunalkonferenzen „ Überörtl. Kultureinrichtungen „ Mitwirkung bei kommunaler Überörtliche Sport-, Freizeit- „ Zusammenarbeit mit und Erholungsanlagen Zusammenarbeit angrenzenden Regionen „ Abfall; Wasser, Abwasser

„ Wer? Vertreter aller Städte „ Wie? Aufgabenbezogene „ Wer? Oberbürgermeister Zweckverbände, GmbH´s und Gemeinden im Verband: und Landräte, „ Prinzipiell freiwillig, 75 Städte mit 93 Stimmen Kreisvertreter Landesregierung kann Pflichtverbände anordnen

cherung und Biotopvernetzung erkennbar an Walter Siebel spricht davon, dass „der Sub- Wert. Nach 10 Jahren Regionalpark-Praxis urbanisierung das Personal“ ausginge (Sie- wäre eine Generalrevision dringend ange- bel, 2006). In Rhein-Main gewinnt das The- bracht. Was kann aus den bisherigen Erfah- ma zunächst unter dem Teilaspekt „Alte- rungen mit den oft enorm kostspieligen und rung“ hohe Bedeutung. Haushaltsgrößen, pflegeintensiven Investitionen gelernt wer- sinkende Siedlungsdichten im Bestand, den? Wie können die Bürgerinnen und Bürger Auslastung der umlage- wie der steuerfi- stärker in die Regionalpark-Planungen einbe- nanzierten öffentlichen Infrastruktur, Auf- zogen werden? Wie kann der Regionalpark rechterhaltung der Nahversorgung, Integra- wieder flächenhafter gedacht werden (s. auch tion – das sind Stichworte, die bei vielen Thomschke in diesem Band)? Amtsleitern und auch bei Bürgermeistern durchaus angekommen sind. Leider ohne Die Ausgründung der Regionalpark-Dachge- den Flächenbevorratungsreflex im Rahmen sellschaft reflektiert die suboptimalen instituti- der Aufstellung des RegFNP bislang bre- onellen Rahmenbedingungen in der Region. chen zu können. Einem Flächennachfra- Das Ballungsraumgesetz, die Grundlage regi- gemodell des Planungsverbandes zufolge onaler Kooperationsbemühungen in der Regi- besteht bis 2020 im gesamten Ballungs- on Rhein-Main, trennt scharf zwischen Pla- raum Rhein-Main ein Bedarf von weniger nung, Koordinations- und Umsetzungsaufga- als 500 Hektar an neuen Gewerbeflächen. ben und ignoriert damit den Fachdiskurs der Dies ist nicht erstaunlich, bei einer Betrach- letzten 20 Jahre, der von Plädoyers für eine tung der erheblichen Leerstände, die rech- verstärkt umsetzungs- und projektorientierte nerisch allein auf dem Frankfurter Büro- Planung getragen war (Langhagen & Schel- markt mehreren zehntausend neuen Ar- ler, 2004). Andere Regionen, wie Stuttgart beitsplätzen Raum bieten könnten, ferner und Hannover, haben die Debatte mit der die erheblichen Konversionspotenziale

191 Jens Scheller

aufgegebener Bahn- und Militärareale. Dem Auch der Klimawandel wird uns massiv gegenüber stehen im Planentwurf nun über beschäftigen. Der neue Klimabericht der 2700 Hektar Gewerbeflächenpotenziale, eine UN spricht von in Deutschland bislang un- Menge, die selbst die „Rhein-Main-Zeitung“ bekannten Hitzewellen und Dürreperioden, der FAZ (vom 22.02.06) ihren Kommentar mit sogar von der Gefahr, dass Flüsse trocken den Worten „Einfach zu üppig“ überschreiben fallen könnten (TAZ, 2006). Die Bundesfor- ließ. Die Erfahrungen der letzten 10 Jahre schungsanstalt für Landwirtschaft hofft in zeigen allerdings, dass großzügige Gewerbe- Ihrem neuesten Forschungsreport hinge- flächenreserven trotz zahlreicher fragwürdiger gen auf den „CO²-Düngeeffekt“, zeigt sich Entscheidungen im Einzelfall nichts an einer allerdings enttäuscht darüber, dass die im im Vergleich zu früheren Jahrzehnten insge- Labor erzielten Ertragszuwächse von bis zu samt geringeren Flächeninanspruchnahme 30 % im Feldversuch deutlich unterschrit- ändern konnten. Der Druck auf die Freiräume ten wurden (TAZ, 2006). Es ist klar, dass zwischen den Siedlungskörpern im Allgemei- veränderte Klimate sich nicht nur auf nen und auf die Regionalen Grünzüge im Wachstum, sondern z. B. auch auf den Besonderen wird daher wahrscheinlich nicht Wasserbedarf und die Schädlingsresistenz in dem Maß ansteigen, wie die schlecht be- auswirken werden. Das führt zum Thema gründbaren planerischen Flächenzuwächse biologische Vielfalt zurück: Forscher pro- dies suggerieren. phezeien hier einen dramatischen Arten- verlust von bis zu 30 % aller heute in Noch gravierender könnten die Veränderun- Deutschland heimischen Tier- und Pflan- gen in der Landwirtschaft sein: Die FAZ ätzte zenarten. unlängst über die „bukolischen Visionen einer Landschaft, der die Ökobauern das Gepräge Wie gehen wir mit diesem Konglomerat an geben, die den Städtern Ziegenkäse und Erkenntnissen, institutionellen Rahmenbe- Lammbraten auftischen. „(…) EU-Subventio- dingungen und neuen Herausforderungen nen fließen derzeit offiziell in die Dörfer, damit um? die Bauern die aus dem 18. und 19. Jahrhun- Auf der Ebene der Verwaltungen, der Be- dert stammenden Kulturlandschaften musea- hörden, der Verbände müssen die Kräfte lisieren und einen Erholungsraum für Besu- gebündelt werden. Im Planungsverband cher aus der Stadt unterhalten“ (FAZ vom wurde in den vergangenen Jahren eine 14.10.06). Vielzahl von Kommunikationsinstrumenten Vielen der CONTUREC-Netzwerker dürfte und Vernetzungen – von regelmäßigen nun innerlich ein „schön wär’s“ entschlüpfen. Amtsleitertreffen über eine Hochschulko- Die Landwirte als Partner für Landschafts- operation bis hin zu EU-geförderten inter- pflege und den Regionalpark, als Garanten regionalen Freiraumprojekten2 – etabliert. regionaler Versorgungskreisläufe, dieses Besonders dem Landschaftsplanungsbei- Wunschbild trifft nur im Einzelfall zu; es weiter rat, in dem u. a. Vertreter der Naturschutz- mit all seinen Problemen auszumalen, wäre behörden, des Frankfurter Umweltamtes sicherlich einen eigenen Textbeitrag wert. Die aber auch der Landwirtschaft und von Ver- FAZ schreibt im vergangenen Monat jeden- bänden wie dem BUND mitarbeiten, kommt falls von der Rückkehr der „früheren existen- für das hier behandelte Thema eine hohe tiellen Bedeutung“, von der „geopolitischen Bedeutung zu. Planung muss sich immer Ressource“ Landwirtschaft. Im Industriepark selbst hinterfragen; sie muss wirkungs-, Höchst hat der Konzern Cargill auf einem umsetzungs- und beteiligungsorientiert Hektar Betriebsfläche eine neue Biodiesel- sein, wenn sie erfolgreich sein will. Eine Anlage mit einer Kapazität von 200.000 Ton- Arbeitsgruppe des Beirats und der Fachab- nen pro Jahr errichtet. Die Signale aus der teilung im Verband diskutiert intensiv die Politik sind eindeutig. Von 2007 an wird eine gemischte Bilanz der landschaftsplaneri- Beimischung von fünf Prozent Biotreibstoff zu schen Entwicklung der vergangenen 10 Diesel und Benzin vorgeschrieben sein. Wir Jahre. In einem Pilotgebiet soll zudem ge- sind auf dem Weg zu „Bioindustriellen Ener- meinsam mit der Regionalpark- gieerzeugungslandschaften“ (Schwägerl, Gesellschaft, dem betroffenen Landkreis 2006). Die Frage ist zunächst, ob und inwie- und zwei Kommunen versucht werden, den weit das auch in Ballungsräumen mit ihren Dreiklang aus Landschaftsplanung, Regio- ganz speziellen Anforderungen so sein wird nalparkprojekten und Kompensationsmaß- und ganz generell wie es gelingen kann, Viel- nahmen in Harmonie zu bringen, auch un- falt in den Mix aus (Energie-)Pflanzen zu ter Beteiligung der Landwirtschaft. bringen, um Monokulturen und eine krasse Reduktion der biologischen Vielfalt zu verhin- Von zentraler Bedeutung ist die stärkere dern. Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger. Die besonders in der Region Rhein-Main 192 Perspektiven für die regionale Stadtlandschaft

zu beobachtende Verlagerung von Entschei- einem Artikel in den Frankfurter Statistischen dungsprozessen aus der öffentlichen, auch Berichten (4/2005) zu den Wanderungsmotiven presseöffentlichen Zugänglichkeit der Parla- heißt es hierzu: "Dieser enorme Austausch be- mente in die Aufsichtsräte einer stetig wach- trifft allerdings nur die eine Hälfte der Frankfurte- rinnen und Frankfurter, die andere Hälfte lebt senden Vielzahl von privatrechtlich organisier- schon seit über 14 Jahren in der Stadt." ten Gesellschaften, auch beim Regionalpark- Projekt, macht dies nicht leichter. Dazu kommt, dass die ehrenamtliche Arbeit in den Literatur in Deutschland gewohnten Formen, in Ver- bänden, Vereinen und natürlich auch politi- BMELV (2006). Landwirtschaft im Zeichen schen Parteien in einer tiefen Krise steckt. des Klimawandels. In: Forschungsreport Das hat sehr viel mit den Flexibilisierungspro- S/2006. Bundesforschungsanstalt für zessen und der hohen Mobilität unserer post- Landwirtschaft. Braunschweig. S. 30-33. industriellen Gesellschaft zu tun. Die Bevölke- Christ, W. (1994). Regionalpark Rhein-Main. rung der Stadt Frankfurt hat sich statistisch Strukturkonzept. Gutachten im Auftrag gesehen zwischen 1992 und 2005 komplett des Umlandverbandes Frankfurt. Darm- ausgetauscht3. Wenn Menschen von vornher- stadt. ein von einer Verweildauer von nur wenigen Die Tageszeitung 25.9.06. UN Klimabericht

Jahren ausgehen, tun sie sich schwer mit "alarmierend" dem jahrelangen Hochdienen in den klassi- Krenzlin, A. (1961). Werden und Gefüge des schen Formen des ehrenamtlichen Engage- Rhein-Mainischen Verstädterungsgebie- ments. Notwendig ist deshalb eine Senkung tes. In: Festschrift zur 125-Jahrfeier der von Beteiligungsschranken in Parteien, Ver- Frankfurter Geographischen Gesell- bänden und Vereinen. Wir brauchen auch schaft. Frankfurter Geographische Hefte neue Formen des projektbezogenen, befriste- 37. S. 311-388. ten ehrenamtlichen Engagements, wie sie in Langhagen, Ch. & Scheller, J. (2004). England beispielsweise auch bei Freiraum- Rhein-Main: Interkommunale Planung projekten ganz üblich sind. Der praktische und Regionalmanagement unter Bedin- Nutzen für die Allgemeinheit gibt sich dabei gungen einer Kultur der Konkurrenz? In: die Hand mit wünschenswerten individuellen Institut für Kulturgeographie, Stadt- und Identifikations- und Kennenlernprozessen. Regionalforschung (Hrsg.). Raument- wicklung und Raumplanung in Europa. Die engagierte Debatte um die Ausweisung Rhein-Mainische Forschungen Band von Windkraftvorranggebieten im RegFNP hat 125. Frankfurt am Main. S. 75-96. gezeigt, dass viele Bürgerinnen und Bürger Planungsverband RP Darmstadt (Hrsg.) mit dem Thema Landschaft, insbesondere (2005). Frankfurt/ Rhein-Main 2020. „Landschaftsbild“ zu mobilisieren sind. Weit- Leitbild für den Regionalen Flächennut- gehend unerheblich war dabei übrigens, ob zungsplan und den Regionalplan Süd- das lokal betroffene Landschaftsbild überwie- hessen. Frankfurt/ Darmstadt. S. 19. gend kleinteilig und abwechslungsreich oder Regionale Planungsgemeinschaft Unter- ganz monoton war; ob eine hohe Dichte an main (1968). Regionaler Raumord- Elementen der naturraumtypischen Kultur- nungsplan. Entwurf 1968. Frankfurt am landschaft oder gerade nicht vorliegt – um Main. S. 11. einige Kriterien des planerisch erforderlichen Scheller, J. (2002). Kooperations- und Or- Versuches einer Landschaftsbildbewertung zu ganisationsformen für Stadtregionen - erwähnen. Die Identifikation mit der heimatli- Modelle und ihre Umsetzungschancen. chen Landschaft vollzieht sich offenbar jen- In: Mayr, Alois, Meurer, Manfred und seits dieser Kriterien. Joachim Vogt (2002). Stadt und Region Es gilt, dieses Potenzial an Engagement und – Dynamik von Lebenswelten. Ta- Identifikation für die regionale Stadtlandschaft gungsbericht und wissenschaftliche Ab- Rhein-Main zu erschließen. handlungen. 53. Deutscher Geogra- phentag Leipzig. S. 692-701. Schwägerl, Christian (2006). Bioraffinerien 1 http://www.hmulv.hessen.de/irj/HMULV_Internet ? statt Bioziegenkäse. Pflanzenenergie uid=e5210711-8ff1-2701-be59-263b5005ae75; vgl. gibt dem ländlichen Raum geopolitische auch http://www.fuer-ein-gutes- Bedeutung. FAZ vom 14.10.2006. naturschutzgesetz.de/links.html Siebel, Walter (2006). Die Zukunft der euro- 2 http://www.saulproject.net/; http://www.sos- päischen Stadt. Vortrag im Rahmen der project.org/aboutsos/index.php 3 ZukunftsWerkStadt Saarbrücken. Von einem tatsächlichen Austausch der Bevölke- 05.04.2006. Im Internet unter rung kann man wegen der hohen Mobilität bestimm- www.saarbruecken.de/deepwebcms/ser ter Personengruppen jedoch nicht sprechen. In vlet/download?pubid=4173

193 Jens Scheller

Umlandverband Frankfurt (2001). Land- schaftsplan UVF. Beschluss der Gemein- dekammer vom 13.12.2000. Frankfurt am Main.

Anschrift Jens Scheller Planungsverband Ballungsraum Frank- furt/Rhein-Main Poststr. 16 D-60329 Frankfurt am Main E-Mail: [email protected]

194 CONTUREC 2 (2007) Seite 195 bis 202

Quo vadis Regionalpark Rhein-Main

Quo vadis Rhine-Main Regional Park

ANDREAS THOMSCHKE

Zusammenfassung Der Regionalpark Rhein-Main wurde vor über 10 Jahren konzipiert, um verbliebene Freiflächen zwi- schen den Siedlungen im Verdichtungsraum Rhein-Main zu sichern und diese für Erholung suchende Menschen der Region zu erschließen. Die Grundidee damals war, dass es eine regionale Anstren- gung wert sei, die Landschaft des Ballungsraumes als Erholungs- und Erlebnisraum aufzuwerten. Die Region Frankfurt Rhein-Main hat im Gegensatz zu den anderen großen europäischen Ballungsräu- men, mit denen sie sich im Wettbewerb befindet, noch viele offene Landschaften bis in den Kern hin- ein. Mit diesem Pfund muss die Region wuchern. Der Regionalpark Rhein-Main ist konzipiert als ein Netz von parkartig gestalteten Wegen und Anla- gen, den Regionalparkrouten. Sie durchziehen die regionalen Grünzüge und verbinden sie miteinan- der. Das ca. 450 km lange Wegenetz soll sich einmal von den Naturparks bis zum Hessischen Ried, vom Rheingau bis zur Wetterau und ins Kinzigtal erstrecken. Als Kernstück umfasst der Regionalpark auch den GrünGürtel Frankfurt und den Grünring vom Main zum Main in Offenbach. Die Realisierung geschieht in vielen Abschnitten und Teilprojekten an vielen verschiedenen Orten. Es wird einige Jahre dauern, bis das gesamte geplante Regionalparknetz realisiert sein wird. Die Konzeption des Regionalparks Rhein-Main wurde seit 1994 vom früheren Umlandverband Frank- furt und heutigen Planungsverband Ballungsraum Frankfurt Rhein-Main entwickelt. Er hat zur Reali- sierung jeweils mit mehreren Kommunen Durchführungsgesellschaften gegründet oder Vereinbarun- gen mit einzelnen Gemeinden zur Umsetzung des Projektes abgeschlossen. Im Jahr 2005 hat die Regionalpark-Dachgesellschaft – die Regionalpark Ballungsraum Rhein-Main gemeinnützige GmbH – diese Rolle des Planungsverbandes übernommen. Der Regionalpark ist ein langfristiges Vorhaben. Die Knappheit der öffentlichen Haushalte führt dazu, dass die Umsetzung langsamer und sparsamer stattfindet als in den vergangenen Jahren. Wenn auch an der Grundidee festgehalten wird, werden Veränderungen in der strategischen Ausrichtung und Realisierung nicht ausbleiben. Der Beitrag versucht die Neuausrichtung des Regionalparks Rhein- Main aufzuzeigen und einer kritischen Bewertung zu unterziehen.

Regionalpark Rhein-Main, Planungsverband,

Summary The Rhine-Main Regional Park was conceived more than ten years ago with the aim of safeguarding remaining open spaces between settlements in the Rhine-Main agglomeration and to develop these for recreational use by inhabitants of the region. At the time, the basic idea was that it would be worth a regional effort to increase the value of the agglomeration’s landscapes as spaces for recreation and experience. As opposed to other major European conurbations with which it is in competition, the Frankfurt/Rhine-Main region still has many open landscapes stretching right into its core. The region must use these to good account. The Rhine-Main Regional Park is devised as a network of park-like paths and green space features, the regional park routes. They traverse and connect the regional green corridors. The planned network of paths, approximately 450 km in length, is to reach from the region’s Nature Parks to the Hessische Ried lowlands, from the Rheingau hills to the Wetterau area and into the valley. At its core the regional park also includes the Frankfurt Greenbelt and the ‘Main to Main’ green space ring in Offen- bach. The project is being implemented in many stages and project parts in many different places. It will take a number of years to realize the entire planned regional park network. The concept for the Rhine-Main Regional Park has been developed since 1994 by the former Um- landverband Frankfurt (municipal association of the greater Frankfurt area) and the current Planungs- verband Ballungsraum Frankfurt Rhein-Main (Frankfurt/Rhine-Main Conurbation Planning Associa- tion). To realize the project, the association has established implementing institutions with a number of municipalities at a time or has entered into agreements with individual local communities. In 2005 the holding company for the Regional Park – the Regionalpark Ballungsraum Rhein-Main gemeinnützige Andreas Thomschke

GmbH (Rhine-Main Conurbation Regional Park Ltd., a non-profit limited liability company) took over the role of the planning association. The regional park is a long-term project. Public budget shortages have entailed slower and more fru- gal implementation than in previous years. While the basic idea is being adhered to, changes in stra- tegic orientation and implementation will be inevitable. This paper outlines and critically evaluates the reorientation of the Rhine-Main Regional Park.

1 Einleitung Begriff des „Regionalparks“ als ein Verschmel- zen zweier Ideen zu einer neuen Qualität: Als der Umlandverband Frankfurt vor über 10 Jahren das Projekt Regionalpark Rhein-Main - Die Städte und Landschaften im Rhein- konzipierte, gab es einige Skepsis und manche Main-Raum sollen im Bewusstsein ihrer Ablehnung. Damals konnte niemand mit Si- Bürgerinnen und Bürger zur Region zu- cherheit sagen, wie sich das Projekt „Regio- sammenwachsen . nalpark Rhein-Main“ entwickeln würde. - Der Park als Inbegriff einer schönen Na- Der folgende Beitrag gliedert sich in drei Ab- turlandschaft soll in Zukunft das Bild der schnitte. In einer kurzen Darstellung wird die Freiräume in der eng verflochtenen und Grundidee zum Regionalpark aufgezeigt. Da- weiter sich verdichtenden Stadt-Land- nach werden die bisherigen Erfolge zur Um- schaft prägen. setzung des Regionalparks im Gebiet des Planungsverbandes Ballungsraum Frankfurt Rhein-Main vorgestellt. Dabei wird auch auf die Finanzierungsmöglichkeiten und die Orga- nisation des Regionalparks hingewiesen. Der letzte Abschnitt beschäftigt sich mit der weite- ren Entwicklung des Regionalparks. Hierbei werden Ansätze für die zukünftige Ausrichtung skizziert.

Abb. 2a u. 2b: Kulturhistorische und künstlerische Identifi- kationselemente. Der Regionalpark soll also eine Sichtweise auf die Region Rhein-Main als landschaftlichen Abb. 1: Der Regionalpark – Ausschnitt aus dem Planungs- Raum vermitteln. Er soll verbliebene Freiflä- gebiet. chen zwischen den Siedlungen im Verdich- tungsraum Rhein-Main sichern und diese für Grundidee war, das Konzept der Regionalen Erholung suchende Menschen der Region Grünzüge weiterzuentwickeln. Grünzüge soll- erschließen. Er ist somit ein Flächen und ten begreifbar werden. Prof. Wolfgang Christ, Raumkonzept zur Erhaltung und Entwicklung der maßgeblich an den ersten Überlegungen der Grünzüge. zum Regionalpark beteiligt war, definierte den

196 Perspektiven und Bedeutung von Stadtnatur

Grundidee damals war, dass es eine regionale Hessischen Ried, vom Rheingau bis zur Wet- Anstrengung wert sei, die Landschaft des Bal- terau und ins Kinzigtal erstrecken. Als Kern- lungsraumes als Erholungs- und Erlebnisraum stück umfasst der Regionalpark den GrünGür- aufzuwerten. Die Region Frankfurt Rhein-Main tel Frankfurt und den Grünring vom Main zum hat im Gegensatz zu den anderen großen Main in Offenbach. Vom Planungsverband europäischen Ballungsräumen, mit denen sie Ballungsraum Frankfurt erfolgte 2005 eine sich im Wettbewerb befindet, noch viele offene ergänzende Konzeption der Regionalparkkor- Landschaften bis in den Kern hinein. Mit die- ridore für die westlichen Teile der Wetterau sem Pfund muss die Region wuchern, d. h. und den südlichen Bereich des Main-Kinzig- diese Ressource sollte erschlossen werden, Kreises. um die Bedeutung von Stadtnatur sowie Per- Tab. 1: Regionalpark RheinMain – Zahlen und Fakten. spektiven für die Stadtentwicklung zu verdeut- lichen und aufzuzeigen. Regionalrouten und Pro- Strecken / Anzahl Zusammenfassend formuliert lassen sich fol- jekte gende Ziele des ursprünglichen Regionalpark- Gutachtens festhalten: Ausgebaute Wegestrecke ca. 100 km Š Konkretisierung der Regionalen Grün- Verbleibende Ausbaustre- ca. 400 km cke züge Realisierte Maßnahmen über 100 Einzelpro- Š Freiräume zwischen den Siedlungen jekte in 30 Kommu- freihalten nen Š Identifikationsmöglichkeiten mit der Region neu schaffen Š Region als Erholungs- /Erlebnisraum und als Natur- /Landschaftsraum auf- werten

Abb. 4: Realisierte Maßnahmen – Projekte.

Abb. 3: Netz der Regionalparkkorridore (Stand 2000). Der Regionalpark Rhein-Main ist in seinen ersten Jahren als Netz von parkartig – also mit deutlichem Raum- und Flächenbezug – gestal- teten Wegen und Anlagen, den Regionalpark- routen konzipiert. Sie durchziehen die regiona- len Grünzüge und verbinden sie miteinander. Die Realisierung geschieht in vielen Abschnit- ten und Teilprojekten an vielen verschiedenen Abb. 5: Realisierte Maßnahmen – Routen. Orten. Es wird einige Jahre dauern, bis das Insgesamt wird der Regionalpark sich einmal gesamte geplante Regionalparknetz realisiert auf einer Strecke von ca. 500 km im Gebiet wird. Um so beachtlicher ist es, was in den des Ballungsraumes Frankfurt Rhein-Main letzten elf Jahren durch den Regionalpark erstrecken. Davon sind bisher 100 Kilometer Rhein-Main realisiert werden konnte. Zu Recht realisiert. Der längste zusammenhängende kann für die Region Rhein-Main in diesem Abschnitt besteht mit 28 Kilometern in den Zusammenhang von einer Erfolgsgeschichte Städten Hattersheim, Flörsheim und Hoch- gesprochen werden. heim. Im Gebiet dieser drei Städte wurde 1996 Der Regionalpark soll sich einmal von den in Form eines Pilotprojektes damit begonnen, Naturparks Taunus und Vogelsberg bis zum den Regionalpark zu realisieren.

197 Andreas Thomschke

Mit über 100 Einzelprojekten in 30 Kommunen tät, was sich durch eine starke Frequentierung konnte in den letzten Jahren das Erschei- belegen lässt. Die Idee des Regionalparks nungsbild des Regionalparks vielfältige Kontu- konnte in diesem Raum erfolgreich umgesetzt ren gewinnen. Das Spektrum der Anlagen werden und scheint nunmehr bereits über ei- reicht von intensiv gestalteten Gärten, zum nen längeren Zeitraum auch zu tragen. Beispiel das Rosarium in Hattersheim, der Für die bisherige Realisierung wurden in den historische Park Bad Weilbach oder der Kur- zurückliegenden Jahren nicht unbeträchtliche park Kronthal - um nur einige zu nennen - bis Finanzmittel durch den Planungsverband Bal- zu naturnahen Arealen wie zahlreichen Streu- lungsraum Frankfurt Rhein-Main – vormals obstwiesen, Schafweiden oder Bachauen zum Umlandverband Frankfurt/Main - den jeweili- Beispiel im Gebiet des Pilotprojektes. gen Gemeinden von Sponsoren und aus Zu- Kunstwerke und Zeugen der Industriege- schüssen des Landes Hessen erbracht. Für schichte, Landmarken - als auch kulturhistori- einige Regionalparkprojekte konnten Förder- sche Landschaftselemente - sowie zahlreiche mittel der EU sowie Ausgleichsmittel des Na- Einzelanlagen für die Erholung und zum Spie- turschutzes akquiriert werden. len wie Kinderspielplätze, Aussichtstürme, Tab. 2: Sponsoren und Finanzierung. Gaststätten und Straußwirtschaften kenn- zeichnen die Fülle der Regionalparkhigh- Partner Haushalts- Anteil (%) lights(s. Abb. 2, 4 u. 5). mittel UVF / Planungs- 10,9 Mill. € 39 verband

Partnerkommunen 4,6 Mill. € 16

Land Hessen 2,2 Mill. € 8

Europäische Union 2,2 Mill. € 8

Europäische Union 9,0 Mill. € 29

Gesamtsumme 29,0 Mill € 100

Bisher wurde für den Regionalpark Rhein-Main in der Zeit von 1999 bis 2006 Haushaltsmittel Abb. 6: Pilotgebiet Hattersheim, Flörsheim und Hochheim. in Höhe von 29 Mio. € für Projekte ausgege- Im Pilotgebiet Hattersheim, Flörsheim und ben. Die Hauptlast der Aufwendungen tragen Hochheim hat der Regionalpark einen hohen – wie Tabelle 2 zeigt – bisher die öffentlichen Erfüllungsgrad seiner Ausgestaltung erfahren Haushalte. und konnte optimal umgesetzt werden. Dies Das Volumen von 29 Mio. € konnte nur des- kommt besonders durch die zahlreich integrier- halb erreicht werden, weil viele Akteure durch ten ökologisch und freizeitbezogenen Flächen den Regionalpark gemeinsame Interessen entwickelt und verfolgt haben. Gerade diese Vielfalt, gepaart mit einer intensiven Öffentlich- keitsarbeit, stiftet die Allianz, die das Projekt erfolgreich machen. Der Regionalpark ist in- zwischen nicht nur ein bedeutendes Anliegen der öffentlichen Hand, also der Städte und Gemeinden, der Landkreise und des Landes Hessen, sondern hat inzwischen Sponsoren auch aus der Wirtschaft, wie etwa die Fraport AG, als auch aus dem privaten Bereich ge- wonnen. Gemeinsamkeiten entstehen da- durch, dass bereits in einem sehr frühen Pla- nungsstadium alle Akteure bzw. Einzelbeiträge der Kommunen und Bürger mit einbezogen werden. Neben der Integration der ortsansäs- Abb. 7: Von Sponsoren finanzierte Projekte. sigen Landwirtschaft – als auch von Natur- schutzverbänden –, ist ein langfristiges Enga- zum Ausdruck, womit eine starke Raumausbil- gement von lokalen Vereinen eine wichtige dung hervorgerufen worden ist. Der Raum Säule in der Ausgestaltung des Regionalparks. gewinnt damit für die Bevölkerung an Attraktivi-

198 Perspektiven und Bedeutung von Stadtnatur

bandsgebietes Signalwirkung entfalten. Mög- lich war dies durch ein hohes Maß an persönli- chem Engagement, durch eine breite Basis an Gemeinsamkeiten und die Bereitschaft not- wendige Finanzmittel für die Realisierung be- reitzustellen. Für eine zukünftige und zielführende Umset- zung der Grundideen des Regionalparks ist eine sachgerechte und verbindliche Kooperati- on sicherzustellen. Mit der Dachgesellschaft wurde eine Institution geschaffen, die hierfür Abb. 8: Organisation- und Verwaltungsstrukturen. das erforderliche Management übernehmen Die Konzeption des Regionalparks Rhein-Main und voranbringen kann. Das wird allerdings wurde seit 1994 vom früheren Umlandverband nur gelingen, wenn unter Einschluss und An- Frankfurt und heutigen Planungsverband Bal- docken aller relevanten Kooperationen, etwa in lungsraum Frankfurt Rhein-Main entwickelt. Er Form einer Regionalpark Charta, feste Verein- hat zur Realisierung jeweils mit mehreren barungen verankert werden, so wie dies schon Kommunen Durchführungsgesellschaften ge- bereits einmal beim früheren Umlandverband gründet oder Vereinbarungen mit einzelnen Frankfurt initiiert wurde. Die Charta ist durch Gemeinden zur Umsetzung des Projektes alle Kooperationspartner also Dachgesell- abgeschlossen. Im Jahr 2005 hat die Regio- schaft, Städte und Gemeinden, Landkreise, nalpark-Dachgesellschaft – die Regionalpark Land Hessen usw. fest zu vereinbaren. Durch Ballungsraum Rhein-Main gemeinnützige sie kann ein wichtiger Schritt zur Kooperation GmbH – diese Rolle des Planungsverbandes und zum Zusammenwachsen des Ballungs- übernommen. Die Dachgesellschaft hat insbe- raumes Frankfurt Rhein-Main erfolgen. Die sondere für den Regionalpark die Aufgaben durch den früheren Stadtrat der Stadt Frankfurt einer übergreifenden Planung, d. h. die Koor- am Main Tom Koenigs, Tom Koenigs war 1993 dination aller Aktivitäten zum Regionalpark, - 1997 Stadtkämmerer und von 1989 bis 1999 Projekt- und Maßnahmenplanung, übergrei- Dezernent für Umwelt, Energie und Brand- fende Öffentlichkeitsarbeit, Akquisition, Kon- schutz in Frankfurt/M., initiierte und 1991 ein- trolle und Service. Sie wird getragen vom stimmig beschlossene „Grüngürtel Verfassung“ Hochtaunus- und Maintaunuskreis, dem Kreis ist ein gelungenes Beispiel, wie solche Verein- Offenbach, den Kreisen Groß-Gerau, Main- barungen und Gemeinsamkeiten tragfähig Kinzig und Wetterau. Ferner durch die Städte gestaltet werden können. Frankfurt am Main, Offenbach am Main, Ha- nau, Bad Homburg vor der Höhe und Rüssels- Der Regionalpark ist ein langfristiges Vorha- heim sowie dem Planungsverband Ballungs- ben. Zwar wurde in den zurückliegenden Jah- raum Frankfurt Rhein-Main. ren viel erreicht, gleichwohl darf die Ausrich- tung des Regionalparks sich aber nicht nur auf Wichtige neue Regionalparkprojekte, die direkt Einzelprojekte oder Teilabschnitte konzentrie- durch die Dachgesellschaft gefördert werden, ren. Es gilt, das gesamte Vorhaben im Sinne sind die Villa Rustica in Friedrichsdorf, die eines Netzes im Blickfeld zu behalten und in Wasserburg in Seligenstadt, der 50. Breiten- ein umfassendes System von Freizeit, Erho- grad in Rödermark und die Regionalparkroute lung und Tourismus einzubetten. entlang der Bieder in Heusenstamm. Darüber hinaus gibt zahlreiche Projekte, die unmittelbar durch die Fraport AG als Sponsor gefördert werden (s. Abb. 7). Die Aufgabenverteilung zwischen den Akteuren wird aus Abb. 8 er- sichtlich. Aus ihr wird deutlich, dass insbeson- dere die Umsetzung und Pflege der Projekte bei den lokalen Regionalpark GmbH’s liegen und die Korridor- und Routenplanung in enger Abstimmung mit dem Träger der vorbereiten- den Bauleitplanung – Planungsverband – und der Regionalplanung erfolgen muss. Die Entwicklung des Regionalparks ist also in der Tat eine Erfolgsgeschichte, über die sich die Region zur Recht freuen kann. Innerhalb Abb. 9: Erweitertes Regionalparkkorridornetz (Stand relativ kurzer Zeit konnte dieses Projekt Fuß 2006). fassen und weit über die Grenzen des Ver-

199 Andreas Thomschke

Der Ansatz der Dachgesellschaft, ein zusam- digkeiten ändern oder Träger entfallen. Die menhängendes und in der Landschaft erkenn- Dauerhaftigkeit des Regionalparks wird sich bares Routennetz zu konzipieren, dürfte der daran messen lassen. Es gibt in der Vergan- richtige Schritt hierzu sein. Nach nun elfjähri- genheit leider zahlreiche Beispiele in denen gem Bestehen des Regionalparks ist es wich- bedeutende und sinnstiftende Projekte auf tiger denn je, ein geschlossenes Routennetz Grund der Nichtbeachtung solcher Rahmen- vorzufinden. Von einem solchen Projekt wird bedingungen nicht „überlebt“ haben. erwartet, dass Erholungssuchende ohne Un- Ein typisches Beispiel für das Scheitern von terbrechungen auf einem gut erkennbaren Freizeitprojekten sind die in den 1980er Jahren Weg von Bad Nauheim bis nach Egelsbach in zahlreichen Städte und Gemeinden konzi- oder von Wiesbaden bis nach Aschaffenburg pierten und errichteten Waldlehr- und Trimm- fahren können. dich-Pfade. Zum Teil sind diese heute nicht mehr vorhanden oder befinden sich in einem Zustand, der ihre Nutzung in Frage stellt. Ur- sache hierfür sind in der Regel die nicht aus- reichend bedachten Pflege- und Unterhal- tungskonzepte oder sie gelten schlicht nicht mehr als zeitgemäß. Wenn auch in der strategischen Ausrichtung und Realisierung Veränderungen nicht aus- bleiben, muss an der Grundidee festgehalten werden. Das heißt, insbesondere der Flächen- und Raumbezug des Regionalparks sollte Abb. 10: Regionalparkstele. wieder stärker in den Focus rücken. Es gilt, die Dazu gehört ein schlüssiges Tourismus- und Prioritätensetzung von einer zunehmenden Marketingkonzept, was insbesondere Bedürf- Wege- und Objektplanung gegenüber einem nisse des leiblichen Wohls, Übernachtungs- Flächen- und Raumbezug zu überdenken und möglichkeiten, Konzeptionen von Tages- oder neu auszurichten. Mehrtagestouren, Kultur und sonstigen Frei- Veränderte planerische Rahmenbedingungen zeitmöglichkeiten beinhaltet. Ansätze wie zum (s. Tab. 3) erfordern zunehmend ein aktives Beispiel im Bereich des Vulkanradweges wei- Handeln und effektive Abstimmungsverfahren sen auch für den Regionalpark eine mögliche zwischen dem Regionalpark-Management und Richtung auf. weiteren Planungsakteuren in der Region. Der Die Knappheit der öffentlichen Haushalte wird Regionalpark muss, wenn er Perspektiven für dazu führen, dass die Umsetzung langsamer die Region und für die Stadtentwicklung auf- und sparsamer stattfindet als in der Vergan- zeigen will, sich hierzu frühzeitig positionieren genheit. Insbesondere die in den nächsten und eigene Vorstellungen entwickeln im Sinne Jahren auf die Kommunen zukommenden von „agieren ist besser als reagieren“. Pflege- und Unterhaltungsverpflichtungen wer- Tab. 3: Flächen- und Raumstrategien. den zugleich die wünschenswerten Haushalts- budgets weiter belasten. Daher ist es notwen- Raumstrategien Flächenstrategien dig, ein tragfähiges Pflege- und Unterhaltungs- Künftige Bedeutung der Grünflächenkonzept – konzept insbesondere in enger Abstimmung Regionalen Grünzüge „Grünes Band Ballungs- mit den Kommunen zu entwickeln. Es genügt in der Regionalplanung raum Rhein-Main“ nicht, Wege neu anzulegen oder Einzelprojek- te zu eröffnen. Es kommt indessen darauf an, Veränderung der Verlust der Eingriffsrege- diese Projekte mit Leben zu erfüllen und in Landwirtschaft lung – keine Flächen- ihrer Funktion und Qualität langfristig zu erhal- kompensation ten. Die Städte und Gemeinden können mit Europäische Land- Vorranggebiet Regional- einer solchen Aufgabe nicht alleine gelassen schaftskonvention park – Flächen- bzw. werden. Raumabgrenzung Ein Pflege- und Unterhaltungskonzept setzt die Definition von Qualitätsstandards, Finanzie- An einigen wenigen Beispielen soll verdeutlicht rungsabläufe sowie langfristige Vereinbarun- werden, warum dies notwendig ist: gen zwischen den Regionalparkträgern voraus. Für einzelne Regionalparkprojekte gibt es be- 1. Im Rahmen des Aufstellungsverfahrens reits Ansätze für ein Pflegeprogramm. Inwie- zum Regionalen Flächennutzungsplan und weit diese auch langfristig tragen, ist zu über- zum Regionalplan Südhessen gibt es erste prüfen, insbesondere dann, wenn sich Zustän- Hinweise, dass das Planungsinstrument der Regionalen Grünzüge – die Aus-

200 Perspektiven und Bedeutung von Stadtnatur

gangspunkt der Regionalpark Überlegun- die geordnete städtebauliche Entwicklung, gen waren – neu diskutiert und gegebe- wie zum Beispiel für die Grünflächen zu nenfalls auch neu abgegrenzt werden sol- erstellen. In einer Regionalparkkonzeption len. Dabei spielt die Problematik der Auf- könnten solche Inhalte integriert und zum hebung von Landschaftsschutzgebiets- Steuerungsinstrument für die Siedlungs- Verordnungen für Großlandschaftsschutz- ränder entwickelt werden. Langfristig könn- gebiete im Rahmen der Hessischen Natur- te der Regionalpark Rhein-Main sich damit schutznovelle im Sinne einer planerischen zum Fundament eines neuen „Grünban- Ersatzkategorie genauso eine Rolle, wie des“ entwickeln, das den Grüngürtel die in Frage stehende Kompensationser- Frankfurt in Gänze – vor allem durch die fordernis von Grünzügen bei Abweichun- nördlichen angrenzenden Gemarkungen gen im zukünftigen Regionalplan. Es kann der Stadt Frankfurt – einbindet. Seine Aus- zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht ausge- läufer könnten sich bis in die westlichen schlossen werden, dass sich damit der Main-Taunus-Gemeinden erstrecken so- Raumbezug für den Regionalpark ändern wie Teilräume der westlichen Wetterau mit wird. einbeziehen. In Kooperation mit dem Pla- nungsverband Ballungsraum Frankfurt 2. Im „Strukturkonzept Regionalpark Rhein- Rhein-Main können solche planerischen Main“ von 1994 ging Prof. Christ davon Überlegungen im Rahmen des Aufstel- aus, dass unter dem Druck europäischer lungsverfahrens für einen zukünftigen und internationaler Produktionsbedingun- Landschaftsplan erarbeitet und verankert gen von der Landwirtschaft Flächen auf- werden und durch eine Integration in den gegeben werden. Diese Entwicklung wur- regionalen Flächennutzungsplan ein stär- de damals von vielen Fachleuten mitgetra- keres Gewicht bekommen. gen und es wurde sogar vom Rückzug der Landwirtschaft gesprochen. Nichts ist aber Weitere Faktoren, die in den nächsten Jahren so schnelllebig wie die Landwirtschaft. für den Regionalpark von Bedeutung sein Heute steht die Landwirtschaft dank der könnten, müssten aufgeführt und diskutiert Entwicklung in der Bioenergie vor grundle- werden. Zu nennen sind die Eingriffsregelung genden Änderungen. Der ländliche Raum gemäß Bundesnaturschutzgesetz, die aus wird wieder zur geopolitischen Ressource, Gründen des Abbaus von Standortnachteilen wie erst kürzlich in der Zeitung zu lesen im Rahmen eines europäischen Vergleichs zur war. Züchterisch verbesserter Energiemais Disposition steht oder die Europäische Land- wird vielleicht in Zukunft weite Agrarflä- schaftskonvention, die über die Definition von chen auch im Ballungsraum Frankfurt historischen Kulturlandschaften in der europäi- Rhein-Main bedecken. Eine solche Um- schen und nationalen Rechtsprechung an Ge- stellung wird eine Veränderung der Land- wicht gewinnt und zukünftig zu beachten ist. schaft bewirken. Strukturreiche Land- Ferner die Darstellung des Regionalparks im schaftsräume werden seltener, wodurch Regionalen Flächennutzungsplan und im Re- die ästhetische Zielsetzung des Regional- gionalplan Südhessen in Form eines „Vorrang- parks zunehmend in Frage gestellt sein gebietes“ ohne klaren Flächen- und Raumbe- kann. zug. 3. Die Verringerung der Flächeninanspruch- nahme durch Stärkung der Innenentwick- lung ist wesentliche Zielsetzung der Natio- nalen Nachhaltigkeitsstrategie. Mit der Ein- führung eines beschleunigten Verfahrens für Bebauungspläne der Innenentwicklung trägt der Gesetzgeber dieser Zielvorgabe Rechnung. Dieses beschleunigte Verfah- ren eröffnet den Städten und Gemeinden nicht unbedeutende städtebauliche Ent- wicklungen. Eine eindeutige und klare Ab- grenzung des Innenbereiches gegenüber den Freiflächen ist nicht immer gegeben Abb. 10: Zukünftige Rahmenbedingungen und eröffnet Spielräume, wo Ortsränder und Übergangsbereiche zwischen Sied- Eine umfassende Auseinandersetzung mit lungsflächen und Freiräumen betroffen allen diesen Aspekten würde den Rahmen des sind. Um dem zu begegnen und Entwick- Beitrages sprengen. Der Regionalpark hat lungsmöglichkeiten für Freizeit und Erho- einen ihm immanenten Bezug zum umgeben- lung zu wahren, wird es erforderlich sein, den und ihn tragenden Landschaftsraum und ausgereifte und detaillierte Konzepte für damit letztlich auch zur Stadtnatur. Mit den 201 Andreas Thomschke

Komponenten, wie Erlebnisqualität der Routen und Zielpunkte sowie der Erlebnisqualität der Anschrift einbettenden Landschaft gewinnt der Regio- Andreas Thomschke nalpark seine Identität und seinen Wert. Beide Abteilungsleiter Landschaft / Umwelt Komponenten bedienen sich wechselseitig. Planungsverband Ballungsraum Frankfurt / Erstere hat bisher wesentlich zur Erfolgsge- Rhein-Main schichte des Regionalparks beigetragen. Poststraße 16 Wenn diese Geschichte fortgeschrieben wer- 60329 Frankfurt am Main den soll, muss die Herausarbeitung und Be- E-Mail: andreas.thomschke wahrung der jeweiligen Eigenartmerkmale der @planungsverband.de Landschaft stärker als bisher in den Blick rü- cken. Mit dem Instrument der Landschaftsplanung kann der Planungsverband dazu wichtige Er- gebnisse, wie insbesondere die Bestimmung der Qualitäten von Landschaftsräumen, bei- steuern und in enger Kooperation mit dem Regionalpark Management zum weiteren Ge- lingen des Regionalparks Rhein-Main beitra- gen. Auch wenn die Verwirklichung des Regio- nalparks Rhein-Main ein langfristiges Vorha- ben ist, kann diese Vision, wie die letzten elf Jahre gezeigt haben, Realität werden. Sie führt zu neuen Qualitäten von Stadtlandschaft und zeigt Perspektiven von Stadtnatur für die Stadtentwicklung im Ballungsraum Frankfurt Rhein-Main auf. Dazu bedarf es einer umfas- senden Betrachtungsweise, verlässlicher Part- ner, des Muts auch neue Wege zu gehen, Geduld und Durchhaltevermögens. Literatur Königs, T. (Hrsg.) (1991). Vision offener Grün- räume – GrünGürtel Frankfurt. – Frankfurt a.M./ New York. Umlandverband Frankfurt, (Hrsg.) (1994). Re- gionalpark Rhein-Main – Strukturkonzept – Verf. Christ, W., Mediastadt. Darmstadt. Umweltamt der Stadt Frankfurt am Main (Hrsg.) (2003). GrünGürtel Frankfurt - Schriftenreihe Lebendige Stadt. Bd. 2. Frankfurt/M. Planungsverband Ballungsraum Frankfurt Rhein-Main (Hrsg.) (2004). Regionalpark RheinMain – Der Landschaft einen Sinn, den Sinnen eine Landschaft. – 3. Aufl.. Frankfurt/M. Rautenstrauch, L. (2006). Kulturlandschaftsbe- zogene Steuerungsansätze in Stadtregio- nen am Beispiel des Regionalpark Rhein- Main. Tagung des Instituts für Umweltpla- nung der Universität Hannover und des Leibniz-Instituts für Regionalentwicklung und Strukturplanung am 17.03.2006 in Hannover. www.irs-net.de/download/Kulturlandschaft- Rautenstrauch-Text.pdf

202 CONTUREC 2 (2007) Seite 203 bis 209

„Mit der U-Bahn in die Wildnis“ Ein ehemaliger Flugplatz im Frankfurter GrünGürtel

“Taking the subway to the wilderness” A former airport in the Frankfurt Greenbelt

KLAUS HOPPE

Zusammenfassung Der Städter sehnt sich nach dem Erlebnis einer möglichst unverfälschten Natur in seiner unmittelbaren Wohnortnähe – eigentlich ein Widerspruch, denn gerade die Stadt steht ja für die Überwindung eben- dieser ungezähmten Natur. Er sehnt sich nach den Beobachtungen und Erfahrungen des Verfassers nach sehr unterschiedlichen Erscheinungsformen von „Natur“. Wie kann diese „Wilde Natur“ der Stadt aussehen? Vermag sie der Städter überhaupt zu lesen? Oder wirft er nur seinen Müll hier hin, weil sich niemand mehr um die Fläche zu kümmern scheint? Es ist Aufgabe der Planer in ihren Planungen mitzudenken, wie der Wert von Natur in der Stadt und ihre verschiedenen Erscheinungsformen zu vermitteln sind. Dazu sind geeignete Partner zu finden. Sind Planer mit der Vermittlung nicht in ihrem Berufsalltag überfordert? Wären hier nicht erlebnispä- dagogisch geschulte Vermittler gefragt? Planer sollten jedoch angepasst für die Stadtlandschaft die gestalterischen Voraussetzungen dazu schaffen. Das Pädagogische müssen sie wenigstens partiell „mitdenken“. Denn gerade vor dem Hintergrund immer knapper werdender kommunaler Mittel zur Freiflächenpflege ist das Zulassen von Wildnis eine mögliche Alternative. Doch dies erfordert einen klaren gestalterischen Rahmen, ein neues ästhetisches Werten und eine Vermittlung dynamischer natürlicher Prozesse. Am Alten Flugplatz in Frankfurt-Bonames wurde der Versuch unternommen, eine Fläche weitgehend der natürlichen Sukzession zu überlassen und gleichzeitig Menschen in diesen für den Naturschutz wertvollen Lebensräumen zuzulassen. Ein „arkadisches“ Miteinander von Freizeit und Naturerlebnis wird gesucht. Die Natur des Ortes ist eine sehr spezifische. Sie entspricht nicht den „Biologiebüchern“. Der ehemali- ge Flughafenbetrieb und das enge Nebeneinander von unterschiedlichen Biotoptypen haben eine einzigartige Kombination entstehen lassen, die sich im steten Wandel befindet. Die Stadt versucht die Besonderheit des Ortes zu wahren und gleichzeitig Veränderung zu akzeptieren. Naturschonende Maßnahmen werden kommuniziert und es wird auf ein wachsendes Verständnis der Besucher ge- setzt.

Konversionsfläche, Freiflächenplanung, Wildnis, Sukzession, Erlebnisorte, Pädagogik.

Summary The city dweller longs to experience nature in as pure a form as possible and in immediate proximity to his place of residence. But what does this “wild nature” in the city look like? Can the city dweller even recognize it? Or does he just dump his rubbish there because the site seems vacant? It is the planners’ task to communicate the value of urban nature in its various manifestations. Given dwindling municipal funds, “allowing” nature to take its course is a real alternative. This does however require a clear design setting and a new aesthetic appraisal. At the old airport at Frankfurt-Bonames an attempt has been made to largely leave a site to natural succession and at the same time to allow people into these habitats of conservation value. The aim is to find an “Arcadian” combination of recreation and experiencing nature. Nature at this site is very specific. It does not match what biology textbooks might lead one to expect. The previous use as an airport and the close juxtaposition of habitats have allowed for the develop- ment of a unique combination in constant flux. The city is trying to preserve the special qualities of the site and at the same time to allow change. Measures with as limited an impact on nature as possible are communicated and hopes are pinned on visitors’ growing understanding.

Klaus Hoppe

Einleitung Flugplatzes steht vollständig unter Land- schaftsschutz und ist Teil des Frankfurter Das ehemalige Maurice-Rose Airfield in Frank- GrünGürtels, einem 80 km² großen, ringförmi- furt am Main ist ein ganz besonderer Ort. Aus gen Freiraumes um die Kernstadt Frankfurts. dem ehemals von 1948 bis 1992 militärisch genutzten Fluggelände wurde nach dem Ab- Damit gab es als Interessenskonflikt nur noch zug der US-amerikanischen Streitkräfte der „den Naturschutz“ auf der einen und „die Frei- „Alte Flugplatz“, ein Erlebnisort städtischer zeitnutzung“ auf der anderen Seite. Während die Naturschützer die ursprüngliche Auenland-

Abb. 1: Vorstellungen von Natur. Quelle: FAZ.

Natur. schaft mit den Mitteln der Ausgleichsabgabe wiederherstellen wollten, meldeten verschie- Der Beitrag beschäftigt sich mit dem Thema dene Sportvereine ihre Wünsche an. Nach der der städtischen Wildnis bzw. der Phantasie Öffnung des zuvor abgeschirmten Militärge- des Stadtbewohners von einer wilden Natur in ländes hatten sich die Menschen aus den be- der Stadt und wie dieses Thema bei der Ges- nachbarten Stadtteilen bereits selbst für eine taltung des Alten Flugplatzes von Seiten der Nutzung entschieden. Während die Planungen Stadt Frankfurt interpretiert worden ist. noch liefen, hatten sie die freien Flächen „in

Besitz genommen“: zum Inlineskaten, Fahrrad- Was lässt sich aus einem ehemaligen Hub- fahren, Drachensteigen und Durchatmen. Die- schrauber-Flugplatz machen? Wie lassen sich se Form der Erholung überzeugte und wurde Gebäude, Abstellplätze, Betonflächen, Lande- kurzerhand als tragendes Element in das Kon- bahn nutzen? Diese Fragen standen am An- zept aufgenommen. Auch „die Natur“ hatte fang. Begehrlichkeiten gab es viele. Gewerbli- sich schon Flächen erobert (s. Abb. 2 u. 3). che Nutzer waren als erstes da, die große versiegelte Fläche mitten im Grünen schien vielen interessant. Der GrünGürtel Beschluss der Stadt Frankfurt am Main hatte eine solche Folgenutzung jedoch vorsorglich von Anfang an ausgeschlossen (nachzulesen unter www.grüngürtel.de). Das Gelände des Alten

Abb. 3: Rückeroberung des Alten Flugplatzes durch die Natur – Impressionen 2. Planungs- und Gestaltungsziele

Abb. 2: Rückeroberung des Alten Flugplatzes durch die Das Ergebnis des Planungsprozesses ist ein Natur – Impressionen 1. Kompromiss: Das friedliche Nebeneinander von Naturschutz und (nicht motorisierter) Frei- zeitnutzung.

204 "Mit der U-Bahn in die Wildnis"

Bei der Umgestaltung 2003, nach der Planung zum „wilden Wald“ – dort wo der Mensch nicht des Büros GTL aus Kassel, wurde auf gut eingreift. Wie im klassischen Landschaftsgar- einem halben Kilometer die Landebahn erhal- ten wirkt die Szenerie der Stadt als „borrowed ten. Andere Asphalt- und Betonflächen wurden landscape“ immer wieder in den Ort hinein zum Teil vollständig entsiegelt, zum Teil auf- gebrochen, das Material zerkleinert und an Ort Ziel ist es, einen Zustand zwischen „Sparta“ und Stelle belassen. Dieser „Kompromiss“ ist (was gemeinhin für Militär und Naturfeindlich- schließlich 2005 vom Bund der Deutschen keit steht) und „Arkadien“ (die arkadische Landschaftsarchitekten mit dem ersten Preis Landschaft, in der Löwe und Schaf einträchtig ausgezeichnet worden. nebeneinander liegen) zu erreichen, der offen in seiner Entwicklung ist und auf menschliche Pflegeeingriffe verzichtet. Der gestalterische Rahmen muss dafür streng und klar sein. Linien wurden auf den befestig- ten Flächen gezogen und ausgefräst - sie blei- ben als scharfe Kanten einer ehemaligen Nut- zung erhalten: Eine schmale Asphaltspur im letzten Drittel der Landebahn, die in regelmä- ßigen Abständen liegen gelassenen Betonplat- ten im Flugvorfeld, der Asphaltpfad zu den ehemaligen Hubschrauberabstellplätzen. Große Teile des Flugvorfeldes wurden zerschreddert und in verschiedenen Fraktionie- rungen in shedartigen Feldern wieder einge- baut. Der Abraum, vor Ort produziert, sollte keine Deponie fernab erhöhen, sondern verblieb als Ausgangsmaterial für einen Neu- anfang am Ort. Naturprozesse An diesem Ort soll das prozesshafte der Natur sichtbar gemacht werden, der Gestaltungswille stets ablesbar bleiben. Es wird damit deutlich, dass die „Überwucherung“ durch die Natur gewollt ist. Offene Bereiche werden verwalden. Freie, leere Flächen werden sich füllen und zu geschlossenen Waldflächen entwickeln. Der Abb. 4 a u. b.: Das Ende der Rollbahn in einem zeitlichen Alte Flugplatz wird also zum Großstadt- Abstand von einem Jahr dschungel. Das Kunststück liegt in der Kom- Der Alte Flugplatz war ein Ort des Militärs. munikation: das Unterlassen von Pflegeeingrif- Auch wenn das Militär erst im Kalten Krieg in den Niddawiesen Stellung bezog, steht doch Krieg und Militär nicht zuletzt für Zerstörung. Der Flugplatz hat durch seinen Bau die traditi- onelle Auenlandschaft zerstört und großflächi- ge Versiegelung an seine Stelle gesetzt. Die Trümmervegetation, die jetzt an seiner statt Raum greift, war als Sinnbild der zerbombten Städte lange Zeit negativ besetzt, weil sie Sinnbild der Zerstörung eben jener Städte war. Nun findet eine Umdeutung dieser Konnotation statt. Am Alten Flugplatz wurde aus dem ehemals militärisch genutzten Ort ein Ort des Friedens. Mit dem Akt der Umwidmung war eine Zerstö- rung von Teilen der alten Flughafenflächen verbunden. Die Vegetation der „Stunde Null“ darf sich jetzt das Areal erobern. Diese Erobe- rung ist keine Interimseroberung, sondern ist Abb. 5: Das kleinfrüchtige Weidenröschen (Epilobum dauerhaft. Die Stadtbrache wird so langfristig brachicardum)

205 Klaus Hoppe

fen als Konzept einer breiten Öffentlichkeit zu Wie von Wissenschaftlern des Forschungszentrums für vermitteln. Ein bisschen Pflege gibt es doch. Ökologie und Hydrologie Dorchester/UK und des Umwelt- forschungszentrums Leipzig jetzt herausgestellt wurde, An bestimmten Stellen wird die Weite der zeigt die kürzlich von einem weiteren internationalen For- Auewiesen durch Mahd aufrechterhalten. Denn scherteam aus Dänemark, Taiwan und den USA rekon- erst durch das Erleben des Kontrastes entsteht struierte Evolutionsgeschichte der Maculinea- das spannungsreiche Bild einer neuen Stadt- Ameisenbläulinge, einer Schmetterlingsart, welch ver- steckte genetische Vielfalt sich hinter äußerlich vermeint- landschaft. lich identischen Lebewesen verbirgt. Das Charakteristikum dieses Parks bleibt je- Obwohl hübsch aussehend und filigran wirkend, zeichnet die Ameisenbläulinge eine für Schmetterlinge recht brutale doch sein deutlich erkennbarer steter Wandel. Lebensweise aus, die oft den Tod von Ameisen nach sich Die Welt verändert sich, Welten vermischen zieht. Wie die meisten anderen Schmetterlinge, legen die sich, Neues entsteht. Mit Hilfe der Pflanzenso- Bläulinge ihre Eier auf ausgewählte Pflanzen. Die Raupen ziologie lässt sich dieser Prozess trefflich be- vervollständigen ihren Lebenszyklus aber nicht auf diesen Pflanzen, sondern werden stattdessen zu Parasiten von schreiben. Das Senckenberg-Institut be- bestimmten Ameisen, den so genannten Knotenameisen. schreibt diesen Veränderungsprozess über die Weil die Falterlarven dieselben Erkennungssubstanzen Jahre von der Stund Null an. So wissen wir wie die Ameisenlarven erzeugen, tragen die Ameisen die sehr genau, wer kommt und wer geht. Raupen freiwillig in ihr Nest, vermutlich in der Annahme, dass es sich um eigene Brut handelt. Einmal im Nest Der Alte Flugplatz ist in dieser Hinsicht ein „hot angelangt, fangen die Raupen entweder an, Eier und Larven der Ameisen zu verzehren, oder sich wie Ku- spot“. Durch den Flughafenbetrieb wurden ckuckskücken von den Arbeiterinnen der Ameisen füttern Pflanzen unabsichtlich eingebracht und nicht zu lassen. wenige von ihnen konnten sich diesem neuen Durch diesen bizarren Lebensstil zählen die Ameisenbläu- Standort etablieren. Das kleinfrüchtige Wei- linge zu den bemerkenswertesten Insekten Europas. Unglücklicherweise führt ihre doppelte Abhängigkeit – von denröschen ist beispielsweise so eine Art, die der richtigen Pflanze und der richtigen Ameise – dazu, offenbar an den Sohlen der amerikanischen dass nur an wenigen Stellen in der freien Natur diese Soldatenstiefel klebte (s. Abb. 5). Sie ist auf Bedingungen gegeben sind. Es ist daher nicht überra- allen Standorten der Amerikaner in Frankfurt schend, dass alle fünf europäischen Maculinea-Arten auf zahlreichen Roten Listen stehen und nach der IUCN zu finden – und zwar nur hier – nun scheint sie (World Conservation Union) auch als global gefährdet zu sich langsam von dort aus auszubreiten. betrachten sind. Selbst kleinste Veränderungen in der Landnutzung können dazu führen, dass die richtigen Wirtsameisen nicht mehr in Kombination mit der geeigne- ten Pflanze anzutreffen sind und so ganze Schmetterlings- populationen ausgelöscht werden. Vor fünf Jahren startete das dänisch, taiwanesisch, ameri- kanische Forschungsprojekt, das die genetischen Unter- schiede innerhalb der Maculinea–Ameisenbläulinge sowie ihrer weltweit nächsten Verwandten klären sollte. Die Rekonstruktion ihrer Evolutionsgeschichte ergab, dass sie vor über fünf Millionen Jahren entstanden sind. Die Vorfah- ren dieser parasitischen Schmetterlinge zeigten mutualisti- sche (auf Gegenseitigkeit beruhende) Interaktionen mit Ameisen. Dabei wurde von den Raupen produzierte Nah- rung eingetauscht gegen den Schutz vor Feinden, der durch die Präsenz von Ameisen gewährleistet wurde. Die Forschungsergebnisse zeigen auch, dass die zwei grund- sätzlich verschiedenen Lebensweisen der Ameisenbläulin- ge – entweder als Räuber der Ameisenbrut oder als Ku- ckuck im Nest – zwei getrennte Evolutionspfade repräsen- tieren, die sich relativ früh in der Entwicklungsgeschichte Abb. 6: Der dunkle Wiesenknopfbläuling (Maculina nau- aufspalteten. sithos). Insgesamt zeigen die Forschungsergebnisse, dass Einiges an konventionellem Wissen über den Gefährdungsstatus Der dunkle Wiesenknopfbläuling ist eine sehr der Ameisenbläulinge revidiert werden muss, wenn so viel spezialisierte Schmetterlingsart, die auf den wie möglich von ihrer einzigartigen Diversität erhalten alten Auewiesen am Alten Flugplatz zu finden werden soll. Ein effektiver Schutz der Ameisenbläulinge erfordert bei- ist. Sie benötigt zum Überleben den dunklen spielsweise zusätzliches Wissen zur komplexen Populati- Wiesenknopf als Raupenfutterpflanze und eine onsdynamik der Tiere. Insbesondere ist hierbei der Ein- spezielle Ameisenart, die die Larven des Tag- fluss der Landnutzung und des Managements zu nennen. falters in einem seiner vier Entwicklungssta- Diese werden seit etwa zweieinhalb Jahren im Rahmen des EU Projektes MacMan durch 8 Partner aus Deutsch- dien ernährt. Das komplexe Abhängigkeitsver- land, England, Frankreich, Dänemark, Polen und Ungarn hältnis wurde in einem internationalen For- untersucht (unter Beteiligung von über 30 weiteren Part- schungsprojekt (siehe dazu Kasten rechts) nern aus über 15 europäischen und außereuropäischen gerade erst tiefer erforscht und wissenschaft- Ländern). Koordinator des Projektes ist das UFZ (Macu- linea Butterflies of the Habitats Directive and the European lich präzisiert. Einmal mehr wurde damit der Red List as Indicators and Tools for Conservation and Beweis erbracht, dass das Unbekannte vor der Management; Haustür liegt. Selbstverständlich findet sich www.macman-project.de).

206 "Mit der U-Bahn in die Wildnis"

dieser unscheinbare Schmetterling auf der danach aber nie mehr erreicht werden, denn Liste des europäischen Artenschutzes. die zunehmende Verwaldung wird einheitliche- re Lebensbedingungen kreieren. Kulturerleben Der Ort mit seiner gestaltgebenden militäri- schen Vergangenheit hat auch eine Geschich- te davor. Eine dieser Geschichten behaupten wir einfach: Friedrich Hölderlin gelangte auf seinen Wanderungen von Bad Homburg nach Frankfurt mit großer Wahrscheinlichkeit an diesem Ort auf halber Strecke vorbei. Er muss- te nämlich nach Bad Homburg fliehen, nach- dem seine Liebesbeziehung mit einer verheira- teten Frau aus Frankfurt bekannt geworden

Abb. 7: “Insektenstaubsauger” im Einsatz zur anschlie- ßenden Untersuchung von Insekten mit der Lupe. In Insekten- und Forscherwerkstätten für Kin- der versuchen wir Interesse und Begeisterung für solche Themen zu wecken, die einmal mehr beweisen, wie viel unbekannte Natur vor unserer Haustür existiert. Der Alte Flugplatz ist aufgrund der Vielzahl der nebeneinander liegenden Lebensräume be- sonders artenreich. Diese Vielzahl der Lebens- räume ist durch eine weit reichende, jedoch Abb. 9: Hölderlin-Spaziergang im September 2006. nicht vollständige Vernichtung der ursprüngli- war. Verborgen hielten die beiden Ihre Bezie- chen Auewiesenlandschaft durch den Militär- hung durch den Austausch von Liebesbriefen flugplatz entstanden. Nach dem gezielten Auf- noch eine Zeitlang aufrecht. Um ihre Briefe bruch der alten Flugplatzflächen entstandene heimlich auszutauschen, wanderte Hölderlin trockene und vernässte Schuttfelder in ver- viele Male die ca. 20 km lange Strecke in schiedenen Körnungen, feuchte Grabenberei- sehnsüchtigem Verlangen nach Frankfurt. Eine che und Flächen in verschiedenen Sukzessi- unerfüllte Liebe am Wegesrand, die Teil der onsstadien auf verschiedenen Substraten. großen Literatur wurde. Was kann diesem Ort besseres passieren? Klar, dass der neu aus- gewiesene Hölderlinpfad hier vorbeiführt und durch eine Station repräsentiert ist.

Abb. 8: Momentaufnahmen der Vielfalt mit Schilf, Graurei- her, Weiden und im Hintergrund der ehemalige Tower. 2005 wurden 54 Vogelarten, 13 Tagfalter- und Heuschreckenarten, 50 Laufkäferarten, 81 Abb. 10: Caspar David Friedrich auf dem Alten Flugplatz. Spinnen- und Weberknechte arten sowie vier Unser kollektives Bild von „Wildnis“ ist stark Amphibienarten gezählt. Diese hohe Artenzahl durch Vorbilder der deutschen Romantik ge- ist nur eine Momentaufnahme in der Geschich- prägt. Die Ruinen im Rheintal wurden erst te des Ortes. Sie wird sich wahrscheinlich in nach der romantischen Transformation positiv den nächsten Jahren noch etwas erhöhen, 207 Klaus Hoppe

besetzt und erlebten in der Folge einen rasan- nicht auf den ersten Blick sichtbaren Aspekte ten Aufschwung bis hin zum Nachbau ganzer sollen lesbar gemacht werden: Aquarien zei- „historischer“ Burgenszenerien. Am Alten gen die Fische, die im trüben Fluss leben. Flugplatz gibt es auch einen Caspar David Versteckt lebende Vögel werden in Exkursio- Friedrich zu entdecken. Der Baggerführer mo- nen beobachtet und unscheinbare Pflanzen in dellierte den Teil mit den aufgebrochenen Be- ihrer Besonderheit erklärt. tonschollen nach dem Bild „Das Eismeer“ von Am Ende der Vogelbrutzeit gibt es gegen Friedrich. Pfand Drachen im Towercafe auszuleihen. Das Das Bild ist allerdings nur ein Bild in der Zeit. Signal ist: die Vögel haben ihre Jungen groß- Die Pflanzen werden es schon bald überwu- gezogen, die Wiesen sind gemäht – nun darf chern. man sich als Mensch wieder freier bewegen, ohne zu zerstören. Kleine, unaufdringliche Hinweistafeln erläutern die natürlichen Veränderungsprozesse. Im Towercafe gibt es bald eine Art Schatzsuche für Kinder, die auf ihre Eltern im Cafe warten müssen. Eine Aeronautenwerkstatt versucht den Geist des Ortes auf andere Art zu bewahren. Fliegen als uralter Menschheitstraum wird gepaart mit Bionik zu einem spannenden Erfahrungsbe- reich für Kinder und Jugendliche. Solarzeppe- line, Papierflieger, Walkalongglider – alles was sich ohne Krach und sanft bewegt ist erlaubt. Ein umfassendes Bildungsprogramm ermög- Abb. 11: Informationstafel als beiläufiger Hinweis mit licht spannende Erfahrungen. Erläuterungen von natürlichen Prozessen. Wasserraketenwettbewerb und Vogeltag bie- Vielfalt von Lern- und Erlebnisorten ten ergänzend ein ungewöhnliches Sonntags- Der Alte Flugplatz entwickelt eine Anziehungs- programm für die ganze Familie. kraft für viele Menschen. Dadurch entstehen Konflikte. Die Modellflieger stören während der Vogelbrutzeit die bodenbrütenden Vögel, frei- laufende Hunde tragen ebenso ihr Scherflein zur Beunruhigung der naturbelassenen Berei- che bei. Das Umweltamt versucht mittels ver- schiedener Kommunikationsstrategien die Konflikte zu steuern. Letztendlich müssen je- doch die Nutzer vor Ort ein Miteinander finden.

Abb. 13: Wasserraketenwettbewerb. Die Wildnis darf nicht vermüllen. Mit nur einer weggeworfenen Coladose verliert die Wildnis augenblicklich ihren Nimbus des Neuen, Un- entdeckten und Wilden. In Kooperation mit der Werkstatt Frankfurt, einer Initiative zur Rein- tegration von Langzeitarbeitslosen, wird ver- sucht, die Wildnis müllfrei zu halten. Ein von dieser Werkstatt erfolgreich betriebe- nes Cafe steht nicht im Widerspruch zur Wild- Abb. 12: Naturexkursionen. nis. Im Gegenteil. Durch diesen rege besuch- ten Attraktionspunkt wird eine soziale Kontrolle Nicht das Verbot steht im Vordergrund, son- des Gesamtgeländes unterschwellig etabliert. dern die Besonderheit des Ortes zu erläutern, Sozial eher problematischere „Randnutzun- zu erklären, um Verstehen zu werben. Die gen“, wie sie manches Mal auf Stadtbrachen

208 "Mit der U-Bahn in die Wildnis"

zu finden sind, die diese schnell zu „Unorten“ er durchaus alle Elemente des klassischen für Freizeitnutzungen werden lassen, können Landschaftsgartens aufweist – aber das ist sich nicht etablieren. Und was spricht dage- eine andere Geschichte), sondern auf das gen, sich vor einer Expedition in die Wildnis mit Erleben von Wildnis/Natur im städtischen Um- Kaffee und Kuchen zu stärken? feld setzt.

Anschrift Klaus Hoppe Umweltamt der Stadt Frankfurt am Main Galvanisstr. 28 D-60468 Frankfurt am Main Tel.: 069/2123915 E-Mail: [email protected]

Abb. 14: Das Tower Cafe ist auch Ausgabestelle für Infor- mationen über den Ort. In der Wildnis gibt es das Unbekannte, das noch nicht – gekannte – Wesen, deren Exis- tenz und Lebensweisen wir erst noch erfor- schen müssen. Jeder kann noch „unverbrauch- te“ neue Erfahrungen machen. Das im Grün- Gürtel von Robert Gernhardt erstmals beo- bachtete GrünGürtel-Tier ist ein solches We- sen voller Geheimnisse. Es existiert bisher nur in Zeichnungen, der photographische Nach- weis eines lebenden Spezies steht noch aus.

Abb. 15: GrünGürtel-Brückentier mit Passantinnen.

Dieses Tier ist „real“ in Bronze auf der Brüs- tung der Brücke zu sehen. Und es entzieht sich doch üblichen Erklärungen. Assoziationen an die Wasserspeier gotischer Kathedralen sind erlaubt. Hatten doch auch in der Gestal- tung dieser Wesen einst die sonst einem strengem Formenkanon verpflichteten Bild- hauer einen Freiraum, den sie weidlich und phantasievoll ausnutzten. Der Alte Flugplatz ist zu einem Park geworden. Allerdings zu einem Park, der sich nicht der „üblichen Formensprache“ bedient (wenngleich

209

CONTUREC 2 (2007) Seite 211 bis 217

Ziele und Maßnahmen der Grün- und Freiflächenplanung der Wis- senschaftsstadt Darmstadt

Aims and measures of the green area and open space planning in Darmstadt, City of Science

DORIS FATH

Zusammenfassung Der Vortrag gibt anhand von Bildern und Plänen einen Überblick über die Grün- und Freiflächensitua- tion in Darmstadt. Er geht sowohl auf den Bestand an historischen Parkanlagen als wichtiges garten- kulturelles Erbe wie auch auf die Entwicklung der Grün- und Freiräume auf der Ebene der Land- schaftsplanung aus heutiger Sicht ein. Der Landschaftsplan bildet die Grundlage für die weitere Ent- wicklung von innerstädtischen Grün- und Freiflächen, die über Grünzüge mit der freien Landschaft verbunden werden sollen. Die Ziele und Maßnahmenvorschläge aus der Landschaftsplanung werden in einem kurzen Überblick grob skizziert. Der Bestand an Grün- und Freiflächen ist nach dem Krieg stetig gewachsen. Heute stehen für die Bevölkerung rund 260 ha gestaltete Grün- und Freiflächen sowie historische Parkanlagen zur Verfü- gung. Diese werden ergänzt durch ca. 5.900 ha Wald sowie ca. 2.300 ha landwirtschaftliche Nutzflä- chen. Mehr als 50 % der Gemarkungsfläche Darmstadts stehen unter Landschaftsschutz. Im Jahr 2002 hat sich Darmstadt um die Landesgartenschau beworben. Die Bewerbung war zwar nicht erfolgreich, aber die planerischen Vorarbeiten werden als Arbeitsgrundlagen weiter genutzt. So wurde aus der Machbarkeitsstudie zur Landesgartenschau das Programm Gärten und Parks entwi- ckelt. Dieses Programm sieht Ziele und Maßnahmen für die wichtigsten historischen Parkanlagen in der Stadt sowie für wichtige Grünverbindungen vor. Das Programm enthält auch eine Vision, nämlich die Entstehung einer neuen Parklandschaft am innerstädtischen Badesee Woog. In der Objektplanung werden aufgrund des Kostendrucks auch in Darmstadt neue Wege probiert. Die für die Pflege der bestehenden und neu hergestellten Grünflächen zur Verfügung gestellten Mittel werden immer knapper, so dass die Verantwortlichen gezwungen sind, neue Lösungsansätze für ein extensives und kostengünstiges Grünflächenmanagement zu suchen. Geschichtliche Entwicklung des Grünflächenbestands, Landschaftsplanung, Flächennutzungen, Pfle- gemanagement, Gärten, Parks.

Summary The paper uses images and plans to provide an overview of the situation relating to green areas and open spaces in the city of Darmstadt. It presents the inventory of historical parks in the city, which are a valuable part of local heritage in terms of garden culture, and discusses the development of green and open spaces in terms of landscape planning from the modern perspective. Official landscape planning provides the basis for the further development of inner-urban green and open spaces, which are to be linked up with the open landscape through corridors. The goals and measures proposed in the landscape plan are briefly outlined. The inventory of green areas and open spaces has grown steadily throughout the post-war period. Today, Darmstadt’s citizens can make use of some 260 hectares of designed green and open spaces, as well as historical parks. These are joined by approx. 5,900 ha forest and approx. 2,300 ha of agri- culturally utilized areas. More than 50% of Darmstadt’s territory consists of designated landscape con- servation areas. In 2002 Darmstadt put in a bid to host the Hessian horticultural exhibition. While the bid was not suc- cessful, the planning work performed as part of the preparatory process can now be used. The feasi- bility study performed for the horticultural exhibition was thus taken as a basis from which to develop the Gardens and Parks Programme. This programme sets out goals and measures for the most im- portant historical parks in the city, and for key green corridors. The programme also contains a vision, namely the emergence of a new park landscape around the Woog, the public bathing lake located within the city. Doris Fath

Cost constraints are causing new avenues to be tried in site planning – Darmstadt is no exception. The financial resources available for the management of existing and new green areas are becoming increasingly tighter, forcing the authorities to search for new approaches for extensive and economical green area management.

1. Einleitung schaftsgarten Ende 18. Jahrhundert) und der Park Rosenhöhe (Englischer Landschaftsgar- Der nachfolgende Beitrag gibt einen kurzen ten mit Rosarium Anfang des 19. Jahrhun- Überblick über die Grün- und Freiflächensitua- derts). Diese Parkanlagen befinden sich heute tion in Darmstadt. Er geht sowohl auf den Be- – mit Ausnahme des Prinz-Georgs-Gartens als stand an historischen Parkanlagen als wichti- Teil des ehemaligen Schlossgartens, im Eigen- ges gartenkulturelles Erbe wie auch auf die tum der Stadt Darmstadt. Entwicklung der Grün- und Freiräume auf der Ebene der Landschaftsplanung aus heutiger Darmstadt gehörte in der ersten Hälfte des 19. Sicht ein. Auf die Ebene der Objektplanung Jahrhunderts zu einer der baum- und park- (d. h. Beispiele für gestaltete Grün- und Frei- reichsten europäischen Städte mit rund 25.000 flächen) wird nicht eingegangen. Einwohnern. Darmstadt, die Stadt im Walde, ist auch heute noch von sehr viel Wald umge- Der Beitrag gliedert sich in folgende Abschnit- ben. te: Die Bedeutung und Wertschätzung der Grün- – Darmstadts gartenhistorisches Erbe. und Parkanlagen in Darmstadt kommt auch – Rahmenbedingungen für die Grün- und dadurch zum Ausdruck, dass Darmstadt Mitte Freiflächenentwicklung. des 19. Jahrhunderts Sitz berühmter Garten- bauverbände wie z. B. der Deutschen Rosen- – Programm Gärten und Parks. und der Deutschen Dahliengesellschaft war – Landschaftsplan Darmstadt – Grundlage und im Jahr 1905 eine bedeutende Garten- für die zukünftige Freiraumentwicklung in bauausstellung im Orangeriegarten stattfand, Darmstadt. die insbesondere durch die von Joseph Maria Olbrich gestalteten Farbgärten bundesweit – Ziele der Landschaftsplanung. beachtet wurde. – Maßnahmenvorschläge des Land- Durch die Zerstörungen, insbesondere wäh- schaftsplans. rend des letzten Weltkrieges, ging in Darm- – Ausblick. stadt viel an Grünsubstanz verloren. So wur- den viele Grün- und Freiflächen während der Wiederaufbauphase bebaut, um die herr- 2. Darmstadts gartenhistorisches Erbe schende Wohnungsnot zu lindern. Darmstadt verfügt über eine ausgeprägte Seit Mitte der 1960er Jahre des 20. Jahrhun- Grünstruktur, deren Ursprünge bis ins 16. derts wird wieder kontinuierlich am Auf- und Jahrhundert zurückreichen. Ursprünglich war Ausbau des städtischen Grünsystems in Form das Land dünn besiedelt. Die Landschaft war von Schaffung neuer Grünflächen sowie Grün- geprägt von einer Vielzahl gärtnerisch genutz- verbindungen gearbeitet. In die Straßen wur- ter Anwesen, Weinberge und Ländereien, in den zahlreiche Bäume gepflanzt, neue Bauge- die kleinere Siedlungen eingestreut waren. Die biete wurden durchgrünt und historische Park- erste gestaltete Park- bzw. Gartenanlage in anlagen schrittweise restauriert. Allerdings Darmstadt entstand im 16. Jahrhundert. An- gehen durch die bauliche Entwicklung auch grenzend an das Schloss wurde der sog. Hof- weiterhin unbebaute Grundstücke und damit garten als ehemaliger Küchengarten in geo- Grünflächen verloren. metrischem Muster angelegt, der später viel- fach Erweiterungen und Veränderungen erfuhr. 3. Rahmenbedingungen für die Grün- und Heute ist dieser Garten, der so genannte Freiflächenplanung Herrngarten im Zentrum der Stadt, im Stil ei- nes Landschaftsgartens mit Volksparkcharak- Die Fläche der Stadt Darmstadt umfasst ca. ter erlebbar. In der Folgezeit wurden weitere 12.224 ha. Davon werden ca. 19 % landwirt- Parkanlagen von den hier ansässigen Groß- schaftlich genutzt, 20 % sind Siedlungsfläche, herzögen und später auch von gut situierten 10 % sind Verkehrsfläche, 49 % sind Waldflä- bürgerlichen Familien angelegt. Dazu zählen che und nur rund 2 % sind Park- und Grünan- der Orangeriegarten (Barockgarten von Louis lagen. Remy de la Fosse Anfang 18. Jahrhundert), der Prinz-Emil-Garten (Englischer Land-

212 Historisches Erhalten – Neues Gestalten

Flächenbestand Stadt Darmstadt Gesamtfläche 12.224 ha 2350 ha landwirtschaft- liche Nutzfläche 2460 ha 19% Siedlungsfläch e 260 ha 20% Grün- und Parkanlagen 1256 ha 2% Verkehrsfläche 10%

5900 ha Waldfläche 49%

Abb. 1: Nutzungsverteilung.

Mehr als die Hälfte der Fläche Darmstadts ßende Gewässer umfassen 50 km Gewäs- (54 %) ist als Landschaftsschutzgebiet aus- serstrecke. Weiterhin gibt es 32 ausgewie- gewiesen. 6,7 % der Fläche sind Natur- sene Naturdenkmale, bei denen es sich in schutzgebiete. Darmstadt ist relativ wasser- der Regel um prägende Einzelbäume oder arm. Die Wasserfläche von Seen und Tei- Baumalleen handelt. chen beträgt insgesamt nur rund 80 ha, flie-

Abb. 2: Gewässer und Schutzgebiete.

213 Doris Fath

Auf dem erst kürzlich genehmigten Flächen- nutzungsplan ist Darmstadt mit seiner kom- pakten Kernstadt und den 3 Stadtteilen Wix- hausen, Arheilgen im Norden und Eberstadt im Süden gut zu erkennen. Die landwirt- schaftlichen Flächen befinden sich als Relik- te überwiegend im Norden des Stadtgebie- tes. Der Wald umschließt Darmstadt wie ein grüner Ring.

Abb. 5: Blick auf das Paulusviertel. Foto: Heiss, Denkmal- pflege Darmstadt.

Abb. 6 zeigt einen Blick auf die neue Tele- kom-City. Der Bebauung liegt ein Rahmen- plan zugrunde, der eine intensive Durchgrü- nung des Areals vorsieht. Die Durchgrünung wird von den Entwicklungsträgern auch als sehr positiv für die Vermarktung empfunden.

Abb. 3: Flächennutzungsplan Darmstadt 2006.

Die Abbildungen 4 bis 6 geben einen Ein- druck von der Qualität der Landschaft bzw. von der relativ gut durchgrünten Siedlungs- struktur. Selbst das neu entwickelte Tele- kom-Areal am Westeingang der Stadt wurde als Dienstleistungsstandort gut durchgrünt und hat Vorbildcharakter. Abb. 6: Die neue Telekom-City. Foto: Heiss, Denkmalpfle- ge Darmstadt. Der Bestand an ausgebauten Grünflächen hat sich seit 1985 (Beginn der systemati- schen Erfassung) von 200 ha bis ins Jahr 2006 auf 260 ha stetig steigend entwickelt. In der gleichen Zeit wuchs der Baumbestand von rund 24.000 Bäumen auf rund 33.000 Straßen- und Parkbäume. Die räumliche Verteilung der Grünflächen ist in der Abb. 7 erkennbar. Darmstadt ist entgegen dem bundesweiten Abb. 4: Das Oberfeld im Darmstädter Osten. Foto: Heiss, Trend eine wachsende Stadt. Die Stadt hat Denkmalpflege Darmstadt. heute ca. 139.000 Einwohner. Es fehlt an Das Oberfeld ist in der ansonsten vom Wald preiswertem Wohnraum für junge Familien mit umschlossenen Stadt die einzige stadtnahe Kindern. Allerdings sind der weiteren baulichen größere offene Erholungsfläche (s. Abb. 4). Entwicklung in Darmstadt Grenzen gesetzt, die aus baulichen und politischen Restriktionen Abb. 5 zeigt einen Blick vom Paulusviertel. herrühren. Der Norden ist für die weitere bauli- Das Paulusviertel wurde Anfang des 20. che Entwicklung aus Lärmschutzgründen Jahrhunderts entwickelt. Das Villengebiet ist (Flughafenerweiterung Frankfurt) tabu. Im geprägt von seiner umfangreichen Grünsub- Westen und Osten ist Darmstadt von einem stanz. Die Grundstücke sind vergleichsweise Landschaftsschutzgebiet (Schutzwald) umge- groß.

214 Historisches Erhalten – Neues Gestalten

male aber auch zur Weiterentwicklung der Grünsubstanz im innerstädtischen Grünsystem mit Übergang zu angrenzenden Landschafts- räumen dar. Das Programm soll genutzt wer- den, um die freiraumplanerischen Ziele nach Maßgabe der zur Verfügung stehenden Haus- haltsmittel im Laufe der Jahre umzusetzen. Ziel des Programms ist die – Wiedergewinnung des öffentlichen Rau- mes durch Ausbau und Erweiterung von innerstädtischen Grün- und Freiflächen. – Qualifizierung bestehender Freiräume durch Verbesserung ihrer Nutzbarkeit, ihrer Ausstattung und ihrer ökologischen Quali- täten. – Verbesserte Anbindung der Grünanlagen an angrenzende Quartiere durch Neuges- taltung von Zugängen, Abbau von Barrie- ren. – Förderung der Gartenkultur durch gärtneri- sche Maßnahmen – Restaurierung historischer Gärten und Parks als Dokumente ortstypischer Gar- tenkunst. Abb. 7: Räumliche Verteilung des Flächenzuwachses seit 1975. – Stärkung des prägenden Landschaftsbe- zuges in ihrem naturräumlichen Zusam- ben, so dass dort Bebauungsmöglichkeiten nur menhang. noch in sehr geringem Umfang gegeben sind. – Eingliederung der Grün- und Freiflächen Dies hat zur Folge, dass die innerstädtischen als spezifische Bausteine in den Verbund Areale zu Gunsten des Außenraums mit all des gesamtstädtischen Grünsystems. den damit verbundenen Nachteilen verdichtet werden. Es findet aber auch ein Stadtumbau Thematische Schwerpunkte des Programms statt, indem z. B. nicht mehr genutzte Gewer- sind die be- und Industrieflächen einer anderweitigen – Sanierung historischer Grünanlagen in der Nutzung zugeführt werden und zum Teil auch Innenstadt-Ost (Herrngarten, Orangerie- militärische Flächen konvertiert werden. Die garten, Park Rosenhöhe, Erich-Ollenhauer US-Militärstandorte bieten für die Zukunft noch -Promenade). reichlich Potenzial für Wohnraum- und Gewer- beentwicklung. – Neuordnung von Grün- und Freiflächen im Grünzug Darmbach-Woog (Ziel: attraktiver 4. Programm Gärten und Parks Spiel-, Sport- und Freizeitpark). Im Jahr 2002 wurde eine Machbarkeitsstudie Die erste Priorität liegt dabei auf der garten- zur Bewerbung für die Landesgartenschau denkmalpflegerischen Rekonstruktion des 2010 fertig gestellt. Die Machbarkeitsstudie Herrngartens auf der Basis des 1994 erarbeite- enthielt ein ehrgeiziges Investitionsprogramm ten Parkpflegewerks. Leider wurden bislang in einer Größenordnung von 40 Millionen Euro. die Mittel für die Umsetzung der Maßnahmen Darmstadt hat den Zuschlag für die Ausrich- politisch nicht beschlossen. tung leider nicht erhalten. Die in der Machbar- keitsstudie enthaltenen Ziele und Maßnah- 5. Landschaftsplan Darmstadt – Grundla- menvorschläge haben jedoch für die weitere ge für die zukünftige Freiraumentwick- städtebauliche Entwicklung der Stadt nach wie lung in Darmstadt vor Gültigkeit. In der Folge wurde vom Grün- Der Gesamtlandschaftsplan Darmstadt wurde flächen- und Umweltamt aus der Machbar- im Jahr 2004 vom Regierungspräsidium ge- keitsstudie das Programm Gärten und Parks nehmigt. Er stellt die Grundlage für die wei- mit einem reduzierten Investitionsprogramm tere grün- und freiraumplanerische Entwick- (20 Millionen Euro) entwickelt. Das Programm lung in der Stadt dar. Neben der Bestandser- stellt einen Beitrag zur Sicherung und Restau- fassung mit umfangreicher Biotoptypenkar- rierung vorhandener historischer Gartendenk-

215 Doris Fath

Landschaftsplan Darmstadt

a) Bewertung Biotope b) Leitbild Biotope c) Grünverbindungen

Abb. 8: Beispiele für thematische Karten des Landschaftsplans Darmstadt.

tierung wurden Leitbilder für die verschiede- – Naturgemäße standortgerechte Waldbe- nen Potenziale sowie Ziele und Maßnah- wirtschaftung, qualitative Verbesserung der menvorschläge erarbeitet. Wälder, Erhaltung von großen, unzer- schnittenen und naturnahen Laubwäldern. Die Bewertung der Bestandsaufnahmen zeigt das hohe ökologische Potenzial der Stadt auf. – Erhalt stadtbildprägender Alleen. Die Karte zum Leitbild Biotope zeigt die wert- – Verhinderung von Zersiedlung der Land- vollen Biotope, die Biotopentwicklungsflächen schaft. und die Biotopergänzungsflächen auf und macht Vorschläge zum Erhalt bzw. zur Neu- – Erhaltung der Auen und Waldwiesen, kon- schaffung und Verbesserung wichtiger linearer sequenter Schutz der Quellen und Bäche. Vernetzungsbiotope. – Erhaltung der Streuobstwiesen im Osten. Im Siedlungsbereich werden insbesondere stark versiegelte Flächen identifiziert, deren 5.2 Maßnahmenvorschläge Biotopwert durch entsprechende Maßnahmen Die Vorschläge für Maßnahmen zur Erreichung (im Wesentlichen durch Entsiegelung) verbes- sert werden soll. Der Landschaftsplan enthält der oben genannten Ziele werden nachfolgend weiterhin u. a. eine Karte mit Aussagen zu den auszugsweise wiedergegeben: Grünverbindungen, die sich teilweise bis in die – Gewässerrenaturierung (Molkenbach, Innenstadt erstrecken. Das System der Grün- Darmbach, Hetterbach, Modau). verbindungen soll auch zukünftig weiter aus- gebaut und verbessert werden. – Durchgrünung von dicht besiedelten Ge- bieten (Sanierung Mollerstadt, Sanierung Martinsviertel). 5.1 Ziele der Landschaftsplanung – Schaffung wohnungsnaher Angebote für – Die Ziele der Landschaftsplanung werden Freizeit und Erholung im Zusammenhang nachfolgend auszugsweise wiedergege- mit der Entwicklung neuer Baugebiete. ben: – Schaffung von Grünverbindungen mit An- – Schutz und Aufwertung von Freiflächen schluss an die freie Landschaft (z. B. An- wie Parks, Obstwiesen, Stadtbrachen, bindung Westwald durch TZ-Areal). Fließgewässer und Uferzonen. – Pflanzung von Feldholzinseln. – Sicherung eines zusammenhängenden vernetzten Freiraumsystems sowie die Si- – Anlage von Hecken und Feldgehölzen. cherung der natürlichen Lebensgrundla- – Pflanzung von Baumreihen an Feldwegen. gen. – Entsiegelung von Baumstandorten. – Entwicklung und Sicherung eines Biotop-

verbundnetzes. 216 Historisches Erhalten – Neues Gestalten

6. Ausblick Anschrift Darmstadt verfügt über ein hohes landschafts- Doris Fath ökologisches Potenzial in der unbesiedelten Magistrat der Stadt Darmstadt Landschaft. Die Stadt selbst ist mit einem gut Grünflächen- und Umweltamt strukturierten Netz an Grün- und Freiräumen Bessunger Str. 125 ausgestattet, das die historischen Parkanlagen D-64295 Darmstadt als zentrale Grün- und Erholungsanlagen mit E-Mail: [email protected] einschließt. Damit ist Darmstadt sowohl quali- tativ als auch quantitativ gut ausgestattet. In der Zukunft gilt es, die aus Sicht des Natur- schutzes und der Naherholung wertvollen Flä- chen (auch im Innenbereich) zu sichern, zu schützen und in ihrer ökologischen Qualität zu verbessern. Diese Aufgabe wird angesichts der finanziellen Rahmenbedingungen immer schwieriger. Schon heute fehlen die Mittel, um die Grünflächen im Bestand in ihrem jetzigen Pflegestandard zu erhalten und zu pflegen. Mit einem neu geschaffenen Grünzug an der Rheinstraße in Darmstadt wird der Versuch unternommen, ökologische Ansprüche mit den Ansprüchen der erholungssuchenden Bevölke- rung zu verbinden, indem kleine Wildnisse geschaffen wurden, die in ihren unterschiedli- chen Sukzessionsstadien „kultiviert“ werden sollen. Darüber hinaus soll die extensive Pfle- ge des Grünzugs auf Dauer auch mit dazu beitragen, die Unterhaltungskosten zu senken. Ob dieses Experiment gelingt wird die Zukunft zeigen.

217

CONTUREC 2 (2007) Seite 219 bis 224

Peripherie und Identität der Stadt – Die Grüne Mitte der Stadt Rödermark Periphery and identity of a town – The Green Centre of Rödermark

FRANK VOLG

Zusammenfassung Die Peripherie hat für die junge Stadt Rödermark besondere Bedeutung. Zwischen den beiden wich- tigsten Stadtteilen Rödermarks, ehemals selbstständigen Gemeinden, liegt ein Freiraum, der als „Grüne Mitte“ entwickelt werden soll. Die Aufwertung dieses Freiraumes eröffnet die Möglichkeit, die für die Entstehung Rödermarks wichtige Landschafts- und Siedlungsgeschichte erfahrbar zu machen. Eine hervorgehobene Stellung nimmt dabei der Bach, die Rodau, ein, der renaturiert werden soll. Durch die Strukturierung der Landschaft in drei Landschaftsbänder und das Umgestalten eines Ver- kehrsbauwerks in ein Tor zwischen den Stadtteilen, soll zusätzlich die gemeinsame Identität der Stadtteile gestärkt werden.

Peripherie, Landschaftsgeschichte, Rödermark, Stadtentwicklung, Freiraumplanung, grüne Mitte, Identität.

Summary For the young town of Rödermark its periphery is of particular importance. Situated between the two major parts of Rödermark, both formerly autonomous municipalities, is an open space which is to be developed as the “green centre”. Enhancing the status of this open space will provide opportunities for the hands-on interpretation of the landscape and settlement history which has been of great impor- tance to Rödermark’s development. A centrepiece in this context is the small river Rodau which is to be restored to a natural state. Plans to structure the landscape into three landscape bands and to redesign a transport structure into a gate between the two districts also aim at strengthening the joint identity of the districts.

1. Einleitung rung der Identität mit der Gesamtstadt ist da- her für die Entwicklung der Stadt wünschens- Die Peripherie einer Stadt beherbergt einer- wert und wird angestrebt. seits landschaftliche und naturräumliche Ele- mente und zeigt andererseits auch eine Mi- schung urbaner und kulturlandschaftlicher Nutzungen der Landschaft durch die Men- schen. Für die Identität einer Stadt kann die Peripherie dadurch eine besondere Bedeutung erlangen. Dies trifft z. B. für die Stadt Röder- mark zu, auf die im Folgenden näher einge- gangen wird.

2. Rödermarks Identität Rödermark ist eine relative junge Stadt im Rhein-Main-Gebiet südöstlich von Frankfurt am Main. Sie entstand 1980, wenige Jahre nach der Gebietsreform, aus dem Zusammen- schluss der vorher selbstständigen Gemeinden

Urberach und Ober-Roden (Stadt Rödermark, 1980). Da die einzelnen Gemeinden, die jetzi- Abb.1: Siedlungsflächen des Rhein-Main-Gebiets (weiß), die Flächen Rödermarks sind orange hervorgehoben gen Stadtteile, eine viel längere Historie auf- (verändert nach Speer & Partner, 1990). weisen, ist eine Identifikation mit den jeweili- gen Stadtteilen entsprechend hoch. Die Ident- fikation mit der Stadt, der Verbindung der Stadtteile zu einem Ganzen, ist erwartungs- gemäß weniger stark ausgeprägt. Eine Förde- Frank Volg

3. Peripherie: Der Raum zwischen den – Grünland, Ackerflächen und sonstige Stadtteilen landwirtschaftliche Nutzung. Zur Peripherie Rödermarks gehört der zwi- – Brachflächen, schen den Stadtteilen Urberach und Ober- – besonders geschützte Biotope nach § 15d Roden verlaufende Landschaftsraum. Er bildet HENatG 2005, derzeit gewissermaßen den räumlichen Kitt für den Zusammenhalt der Stadtteile. Der Flä- – Gehölze und Gehölzflächen. chennutzungsplan des Planungsverbandes Frankfurt Region Rhein-Main zeigt, dass ne- Der Oberlauf der Rodau, ein Nebenbach des Mains, durchfließt das Gelände von West nach ben einer baulichen Entwicklung, die die Sied- lungsflächen der Stadtteile zusammenwachsen Ost. ließe, mitten zwischen den Stadtteilen eine Das Bodenmosaik ist kleinräumig sehr hetero- große Grünfläche als Zentrum der Stadt ent- gen. Die Böden sind vorwiegend nährstoffarm stehen soll (Umlandverband Frankfurt, 1991): und wenig ertragreich (Planungsverband Dies ist eine interessante Entwicklungsoption Frankfurt Region Rhein-Main, 2001). für die Stadt. Neben den durch die oben erwähnte Nutzung bedingten Biotopen wurden bei Biotopkartie- rungen z. B. folgende zum Teil besonders schützenswerte Biotope (§ 15d HENatG, Stand 2005) festgestellt: – Magergrünland (§ 15d), – Fettwiese/-weide, – Streuobst mit Fettwiese (§ 15d), – Feldgehölz (§ 15d), – Ruderalflur,

– Gehölzpflanzung, Abb.2: Ausschnitt aus dem Flächennutzungsplan (Um- landverband Frankfurt) vom 31.03.2001: Die zentrale – Sandrasen (§ 15d), dunklere grüne Fläche zeigt das Planungsgebiet. – Großseggenried (§ 15d), 4. Die Grüne Mitte – das Konzept – feuchte Hochstaudenflur (§ 15d). Rödermark soll eine grüne Mitte erhalten. Ein Die Biotope liegen verstreut im Gelände und Ideen- und Entwicklungskonzept sollte erarbei- reflektieren unter anderem die Heterogenität tet werden. Dies konnte keine normale Land- der Bodenverhältnisse vor dem Hintergrund schaftsplanung sein, wie sie der Gesetzgeber der geringen Ertragskraft des Bodens. vorsieht. Die Planung musste auch über die Ordnung und Berücksichtigung funktionaler Das landschaftliche Erscheinungsbild des Pla- Anforderungen hinausgehen. Ein Herausarbei- nungsgebietes stellt sich folgendermaßen dar: ten der Bedeutung der Grünen Mitte für die Das Angrenzen der Flachlandschaft der Un- Identität der Stadt Rödermark war notwendig. termainebene an das Messeler Hügelland lässt sich im Gelände ablesen. Zwischen den land- 4.1 Nutzungen und Landschaftsbild wirtschaftlichen Nutzflächen haben sich noch zahlreiche Flächen mit naturnaher Vegetation Im etwa 45 ha großen Planungsgebiet findet oder allenfalls extensiver Nutzung behaupten sich ein Nebeneinander verschiedener Nut- können, die nun das Landschaftsbild beleben. zungen (Volg, 2002a), die nicht ungewöhnlich Ebenso gibt es eine Vielzahl von Einzelgehöl- sind für die Peripherie einer Stadt. So z. B.: zen, Gehölzgruppen und ein Feldgehölz, die – Bundesstraße B 459 – Rödermarkring und den Raum insbesondere nahe der Bahnlinie Landesstraße L 3097 Rodaustraße, Main- und südlich davon gliedern und bereichern. Im zer Straße, Frühjahr fallen dem Besucher die zahlreichen Blütensträucher und Blütenbäume, wie Schle- – Bahnlinie, hen und wilde Kirschen, Mirabellen und – Rodau (Fließgewässer), Zwetschgen auf. – Kleingartenvereinsgelände und Freizeit- Der parkartige Charakter mit einem Wechsel gärten z. T. mit Hühnerhaltung, von offenen landwirtschaftlichen Flächen und dichteren Gehölzbereichen wird von vielen – zwei Sportanlagen. Menschen als sehr angenehm empfunden. Als 220 Peripherie und Identität einer Stadt

anthropogene Elemente fallen insbesondere von 1742 sind Wiesen in der Rodauniederung der Rödermarkring und die Bahnlinie wegen zu erkennen. ihrer Lage auf Dämmen ins Auge. Die Klein- Das entscheidende Landschaftselement wel- gartenanlage wirkt eher als Ausläufer der Sied- ches der Grund für die Entstehung der Ansied- lung denn als Teil der Landschaft, wenngleich lungen Urberach und Ober-Roden an genau sie sehr gut durchgrünt ist und zahlreiche Ge- jenen Stellen war, an denen heute die histori- hölze aufweist. Das Planungsgebiet wird be- schen Zentren der Stadtteile zu finden sind, ist reits jetzt zu Erholungs- und Sportzwecken die Rodau. Die Karte von 1742 macht dies genutzt. Dies gilt für die Klein- und Freizeitgär- plastisch deutlich. Die damaligen Dörfer liegen ten sowie für die Reit-, Sport- und Spielplätze. wie Perlen auf einer Kette entlang der Rodau. Aber auch die Wege, der Oberwiesenweg und Die Rodau lieferte das Lebensmittel Wasser der Heiligtenweg, die die Stadtteile verbinden, für Mensch und Vieh. Sie barg die Energie werden rege für das Radfahren, Joggen, Spa- zum Betreiben der Mühlen. Mit der auf die zierengehen, Hundeausführen, Inliner- und Rodungen folgenden Nutzung entstand die Skateboardfahren genutzt. Gehölzflächen und charakteristische Gliederung der Landschaft abgeschiedene Bereiche an den Böschungen mit den Auewiesen, den Feldern und dem der Brücke werden von Jugendlichen als nicht Wald. reglementierte Spiel- und Rückzugsorte aufge- sucht. Die Rodau ist begradigt und bietet nur einen geringen Erlebniswert. Ein Erreichen der 4.3 Leitbild und Ideenkonzept Ufer und die Wahrnehmung des Wassers sind Es wurde ein Leitbild mit den folgenden sieben wegen der steilen Böschungen kaum möglich. Leitgedanken als Ideen für die zukünftige Ent- wicklung der „Grünen Mitte Rödermark“ formu- 4.2 Landschaftsgeschichte liert: Der Name der Stadt Rödermark ist eng mit der 1. Die Grüne Mitte ist eine gemeinschaftliche örtlichen Landschaftsgeschichte verbunden. Freifläche. Sie ist damit auch für die Identität der Stadt von besonderer Bedeutung. 2. Die Grüne Mitte stärkt die Identität von Rödermark und macht Rödermark unver- Die geringe Bodenfruchtbarkeit dürfte ein wechselbar. Grund gewesen sein, warum der Raum erst spät in größerem Umfang besiedelt wurde 3. Die Grüne Mitte bietet landschaftsbezoge- (Leuschner & Schallmayer, 1986). Auf der ne Spiel-, Freizeit- und Erholungsangebo- Karte von 1742 lässt sich die Schneise, die im te. Rahmen der Besiedlung in den vorhandenen Wald gerodet wurde, gut ablesen. Rödermark 4. Die Grüne Mitte lässt den Besucher Natur bedeutet „gerodete Mark“. Der Name Röder- und Kulturlandschaft erleben. mark war ursprünglich der Name einer alten 5. Die Grüne Mitte verbindet die Stadtteile. Markgenossenschaft, die hier beinahe 1000 Jahre Bestand hatte (Stadt Rödermark, 1980). 6. Die Grüne Mitte erweckt Phantasie und In dieser Markgenossenschaft wurde die ge- Poesie. 7. Die Grüne Mitte lebt durch die Bürger und Nutzer. Die einzelnen Leitgedanken wurden als Basis für eine Diskussion näher erläutert und Ziele daraus abgeleitet (Volg, 2003b, 2005). Hier soll hauptsächlich auf die im 2. Leitgedanken an- gesprochene Identität eingegangen werden. Mit der erneuten gemeinschaftlichen Nutzung der Freiflächen in Anlehnung an die ehemalige Markgenossenschaft bekommt die Grüne Mitte Abb. 3: Historische Karte von 1742 (Stadt Rödermark, eine besondere Symbolkraft für den Zusam- 1980). menhalt der ehemals selbstständigen Stadttei- le und den Namen der Stadt. meinschaftliche Nutzung der Mark durch ver- Einige Elemente und die Gliederung der Land- schiedene Orte, darunter Ober-Roden und schaft werden im Hinblick auf ihre Bedeutung Urberach, geregelt. Gemeinschaftlich genutzt für die Identität Rödermarks im Folgenden wurden einerseits die umgebenden Wälder näher betrachtet. und andererseits die Wiesen. Auf der Karte 221 Frank Volg

Die Rodau Die Rodau hat für Rödermark auch durch ihren Die besondere Bedeutung der Rodau für die Ehrenbürger und Heimatdichter Nikolaus Landschafts- und Siedlungsgeschichte Rö- Schwarzkopf eine besondere Bedeutung. dermarks wurde bereits oben deutlich. Die Schwarzkopf hat in seinem Aufsatz „Der som- Rodau befindet sich heute jedoch in einem merliche Bach“ seine besondere Wertschät- degradierten Zustand. Zwar gab es auch zung und Liebe zur Rodau im Abschnitt zwi- schon früher Verlegungen des Gewässerlaufs schen Urberach und Ober-Roden zum Aus- zur Nutzung der Wasserkraft, doch ist die Ro- druck gebracht. Dieser Bedeutung kann eine dau heute in einem Zustand, der nicht dem naturnähere Rodau wieder besser gerecht natürlichen Bild eines Baches entspricht. Der werden. Bach verläuft annähernd geradlinig, die Ufer haben steile und gleichförmige Trapezprofile. Um ihrer Funktion für die Identität der Stadt gerecht werden zu können, soll die Rodau aus diesem Korsett befreit werden und sich wieder einen naturnäheren Lauf schaffen können.

Abb. 6: Ausschnitt aus der Planung zur Renaturierung der Rodau (Volg, 2006).

Drei Landschaftsbänder In der Karte von 1742 (Abb. 3) lässt sich die ursprüngliche Gliederung der Landschaft mit den als Grünland genutzten Niederungsflächen an der Rodau und den sich beidseitig der Nie- derung erstreckenden Ackerflächen, die wie- derum von Wald flankiert werden, erkennen. Diese historische, an den landschaftlichen Gegebenheiten orientierte Gliederung soll als Gestaltungsthema für die Grüne Mitte aufge- griffen und interpretiert werden. Drei Land- schaftsbänder sollen die beiden Stadtteile symbolisch verbinden. Abb. 4: Begradigte Rodau. Foto: Volg, 2002. Die Rodau wird damit neben den Wegen zum wichtigsten verbindenden Element zwischen den ehemals selbstständigen Orten Ober- Roden und Urberach. Durch die Aufwertung der Rodau wird diese als symbolisches Band zwischen Ober-Roden und Urberach hervor- gehoben und bleibt durchgängig sichtbar.

Abb. 7: Drei Landschaftsbänder (Volg, 2005).

Mit den Landschaftsbändern wird im Konzept eine Ordnung und Gestaltung vorgegeben. Zentrales verbindendes Element wird das Landschaftsband mit der naturnah rückge- bauten Rodau und den daran anschließend Abb. 5: Ideen- und Entwicklungskonzept „Grüne Mitte“ der vorgesehenen naturnahen Bereichen. Dieses Stadt Rödermark: Entwicklungsplan (Volg, 2004). Landschaftsband dient vorrangig dem Naturer- 222 Peripherie und Identität einer Stadt

lebnis und der Entwicklung naturnaher und extensiv genutzter Flächen, größtenteils durch Sukzession. Es wird beidseitig flankiert von zwei weiteren Landschaftsbändern, die haupt- sächlich intensivere Nutzungen einer heutigen Kulturlandschaft beinhalten. Dazu gehören z. B. zum Teil schon vorhandene Kleingarten- Abb 8: Das Rödermark-Tor (Volg, 2004). und Sportanlagen, landwirtschaftliche Flächen, Spielplätze und -flächen, Reitplätze und Liege- 5. Fazit wiesen. Die drei Landschaftsbänder spiegeln Am Beispiel Rödermarks lässt sich erkennen, dann die ursprüngliche Gliederung der Land- dass die Peripherie einer Stadt landschafts- schaft mit den Niederungsflächen an der Ro- und siedlungsgeschichtliche Zeugnisse und dau und den links und rechts der Niederung Elemente beherbergen kann, die die Entste- sich entlangziehenden Kulturflächen wider. hungsgeschichte dokumentieren und damit für

die Identität der Stadt eine wichtige Rolle spie- Das Rödermark-Tor len. Es kann sich dort die Möglichkeit bieten, Eine besondere Herausforderung ist der Um- solche geschichtlich bedeutenden Elemente gang mit dem von Nord nach Süd durch das gestalterisch herauszuarbeiten und damit für Plangebiet verlaufenden Straßen- und Brü- die Bürger erlebbar zu machen. Eine zeitge- ckenbauwerk des Rödermarkringes mit den mäße Nutzung ist dennoch möglich, die At- über 7 m hoch geschütteten Auffahrtsrampen. traktivität des Freiraums für die Bürger kann Das Bauwerk stellt sich damit als Barriere ge- gesteigert werden. Das bewusste Freihalten nau quer zwischen die zu verbindenden Stadt- von Teilen der Peripherie von Bebauung er- teile. Für dieses unübersehbare Element in der möglicht diese Qualitäten. Für die Identität ansonsten flachen Landschaft der Untermain- einer Stadt kann die Peripherie dadurch eine ebene musste eine zum Konzept passende wesentliche Funktion übernehmen. Gestaltung gefunden werden: Das Rödermark- Tor. Glücklicherweise hat die Brücke eine rela- Literatur tiv große Spannweite, sodass ein weiter Leuschner, J., Schallmayer, E. (1986). 1200 Durchlass von West nach Ost erhalten blieb. Jahre Ober-Roden in der Rödermark. Rö- Dieser Durchlass soll als Tor zwischen den dermark. Stadtteilen thematisiert werden. Planungsverband Frankfurt Region Rhein-Main Das Tor steht symbolisch für die ehemalige (2001). Landschaftsplan UVF. Frankfurt/ Rodung der Mark. Ein Tor in der Landschaft, Main. weil durch die Rodungen dieser Raum erst Schwarzkopf, N. (1975). Der sommerliche zugänglich und besiedelbar wurde und so das Bach. In: Gemeindevorstand der Gem. heutige Rödermark entstehen konnte, dessen Urberach (Hrsg.). Chronik der Gemeinde Name, wie im Abschnitt Landschaftsgeschichte Urberach. Urberach. dargestellt wurde, diese Entstehungsgeschich- Speer, A. & Partner (1990). Zielvorstellungen te beinhaltet. Dieser landschaftsgeschichtliche für die Gestaltung eines engeren Lebens- Vorgang des Rodens des Waldes in der Mark raumes. Frankfurt a. M.. zur Schaffung von Kulturland soll durch die Stadt Rödermark (Hrsg.) (1980). Rödermark. „Umgestaltung“ des Straßen- und Brücken- Festschrift zur Stadtrechtsverleihung am bauwerks deutlich gemacht werden. Dazu 23.08.1980. Rödermark. werden „Waldstreifen“ vor den Straßen- Karte (1887). Urberach um 1887, erste Ausga- böschungen mit standortheimischen Baumar- be der Höhenschichtkarte 1: 25.000. Auf- ten angelegt, die wie Kulissen die landschaft- genommen durch das Großherzogl. Hess. suntypischen Auffahrtsrampen ausblenden und Katasteramt. Darmstadt. den ehemaligen Wald zeigen. Zur Lärmver- Umlandverband Frankfurt (1991). Flächennut- minderung in der Grünen Mitte werden entlang zungsplan UVF. Frankfurt(/Main. der Fahrbahn Lärmschutzwände angeordnet. Volg, F. (2002a). Ideen- und Entwicklungskon- Im Bereich der Brücke wird die Lärmschutz- zept „Grüne Mitte“ der Stadt Rödermark. wand durch sich überlagernde „Blätter“ herge- Planungsvorgaben und Rahmenbedin- stellt. Dieses „Laubtor“ steht dann symbolisch gungen. Groß-Bieberau. für die Öffnung der Landschaft durch die Ro- Volg, F. (2002b): Ideen- und Entwicklungskon- dung des Waldes. Es schafft die Öffnung zwi- zept „Grüne Mitte“ der Stadt Rödermark: schen den Stadtteilen und wird zu einem posi- Leitbild und Zielkonzept. Groß-Bieberau. tiv wahrgenommen Merkzeichen in der Grünen Volg, F. (2004). Ideen- und Entwicklungskon- Mitte, einem neuen Wahrzeichen Rödermarks. zept „Grüne Mitte“ der Stadt Rödermark: Entwicklungsplan. Groß-Bieberau.

223 Frank Volg

Volg, F. (2005). Freiraumplanung als Chance zur Realisation von Biotopverbundmaß- nahmen. Das Beispiel: Die Grüne Mitte der Stadt Rödermark. Artenschutzreport Heft 18/2005. S. 38-43. Volg, F. (2006). Landschaftsband Rodauaue West 1 der „Grünen Mitte“ der Stadt Rö- dermark. Entwurfsplan. Groß-Bieberau.

Anschrift Dr.-Ing. Frank Volg Planungsbüro für Freiraum, Landschaft und Stadt Am Hohen Rain 9 64401 Groß-Bieberau E-Mail: [email protected]

224 CONTUREC 2 (2007) Seite 225 bis 229

Das Grünflächenkonzept des Werkes Darmstadt der Merck KGaA

A strategic action plan for green space design at the Darmstadt works of the Merck corporation

JÖRG DETTMAR & GOTTFRIED TRAUTMANN

Zusammenfassung Als Standort eines international tätigen umweltbewussten Unternehmens hat Merck das Anliegen ei- nen strategischen Umgang mit vorhandenen Ressourcen im Bereich der Arten- und Biotopvielfalt in dem Stammwerk Darmstadt zu nutzen und so die Belange von Wirtschaft und Naturschutz auf Dauer möglichst weitgehend in Einklang zu bringen sowie ästhetisch qualitative Freiräume zugunsten der Menschen und ihrer Umwelt zu gestalten.. Für diese Aufgabenstellung ist ein strategisches Hand- lungskonzept für die Grünflächengestaltung in Zusammenarbeit mit der Technischen Universität Darmstadt entwickelt worden. Das Konzept definiert verschiedene Gestaltungsbereiche, die sich an den notwendigen Nutzungen auf dem Werksgelände orientieren und für die jeweils unterschiedliche zielorientierte Maßnahmen erarbeitet worden sind. Die Einbindung zuständiger Behörden und beste- hender Bebauungspläne in die Werksplanung garantieren die Umsetzung städtebaulicher und land- schaftsplanerischer Vorgaben. Die weitere Entwicklung des Werkes soll durch das Handlungskonzept in Zukunft begleitet und mitbestimmt werden. Summary As a globally operating, environmentally conscious corporation, it falls to Merck at their headquarters in Darmstadt to strategically use existing resources in terms of species and habitat diversity and thus to sustainably reconcile as much as possible the interests of nature conservation with their economic activities, and to create open spaces of aesthetic quality to the benefit of people and their environ- ment. To deal with this task, a strategic action plan for green space design has been developed in cooperation with Darmstadt Technical University. The plan defines a variety of design focuses, guided by the required uses at the premises, for each of which different targeted measures were developed. The involvement of the authorities and the integration of existing local statutory development plans into the plan for the site will guarantee the implementation of urban development and landscape man- agement objectives. In the future, the site’s further development is to be guided and influenced by the action plan.

Das Werk Darmstadt Stadt als auch des Unternehmens. 1901 wurde mit dem Bau der neuen Fabrik entlang der Merck ist ein weltweit tätiges Pharma- und Straße nach Frankfurt begonnen. 1903/04 zog Chemie-Unternehmen, das auf eine über drei- das gesamte Werk aus der Stadt heraus an hundertjährige Geschichte in Darmstadt zu- den heutigen Standort. Damals auf die grüne rückblicken kann. Wiese gebaut, grenzt es jetzt unmittelbar an den zum Stadtteil gewordenen ehemalig ei- genständigen Ort Arheilgen.

Der heutige Standort des Werkes in Darmstadt Heute arbeiten von den rd. 35.000 Mitarbeitern entstand in den Jahren 1901-1904 infolge der des Unternehmens etwas 8700 im Werk notwendig gewordenen Verlagerung der Fabrik Darmstadt, der gleichzeitig der Hauptsitz der durch das permanente Wachstum sowohl der Merck-Gruppe ist. Am Standort Darmstadt wird

Jörg Dettmar & Gottfried Trautmann

neben der Produktion von Chemie- und Phar- zept werden Möglichkeiten aufgezeigt, ökolo- maprodukten auch die Forschung gisch orientierte Bestrebungen zu realisieren, und Entwicklung neuer Produkte durchgeführt. ohne die Flächenverfügbarkeit für Bauzwecke Darüber hinaus sind hier auch Bereiche be- einzuschränken oder die Werksfunktionen zu heimatet, die zentrale Dienstleistungen für die beschneiden. gesamte Merck-Gruppe erbringen. Aus diesen Rahmensetzungen für das Freiflä-

chenmanagement lassen sich folgende, mögli- Die Zielsetzung des Konzepts che Maßnahmen ableiten: Das Unternehmen Merck KGaA hat das Fach- – Zwischenbegrünung zeitweilig nicht ge- gebiet Entwerfen und Freiraumplanung im nutzter Baufelder - auf den hier vorhande- Fachbereich Architektur der TU Darmstadt nen mageren Sandböden kann eine An- beauftragt, für die Grünflächen im Werk Darm- saatmischung mit Sandtrockenrasenarten stadt ein Entwicklungskonzept zu erstellen. verwendet werden. Ziel war es, Möglichkeiten zu finden, die Grün- flächen entsprechend einem industriellen Um- – Dauerhafte Maßnahmen zur Steigerung feld zweckentsprechender, noch attraktiver des Arten- und Biotopschutzpotentials auf und naturschutzbezogener zu gestalten. langfristig nicht genutzten Freiflächen, z.B. Extensivierung der Pflege. Mit einem Flächenanteil von circa 30 Prozent des rund 120 Hektar großen Geländes haben – Anlegen von Trockenbiotopen auf dem die Grünanlagen einen prägenden Einfluss auf Plateau der Werksdeponie. die äußere Gestaltung des Werkes. Durch die mittel- bis langfristige, allmähliche Um- bezie- Das Konzept strebt mit dem Freiflächenmana- gement konkret an, dass hungsweise Neugestaltung von Teilen der Grünflächen soll ein einheitliches und an eine – der Bestand vorhandener Grünflächen Industrieanlage angepasstes Erscheinungsbild weitgehend genutzt und gezielt eingesetzt erreicht werden. Hierzu sollen die Grünflächen werden kann, je nach Lage im Werk und entsprechend ihrer jeweiligen Funktion so gestaltet werden, dass – die vorgesehenen Extensivierungsmaß- repräsentative Bereiche qualitativ aufgewertet, nahmen auch eine Steigerung der Arten- die Funktionalität von Betriebsflächen verbes- und Biotopvielfalt bedeuten, sert und der ökologische Wert von Freiflächen – alle Maßnahmen etappenweise erfolgen, weiterentwickelt werden. was gleichermaßen ökologisch und öko- nomisch sinnvoll ist. Gestaltungsrahmen, Freiflächen- Management und Naturschutz Gestaltungsbereiche und Gestaltungsvor- Das Konzept ist richtungsweisender Gestal- schläge tungsleitfaden und soll die weitere Werksent- Die Werksflächen werden in unterschiedliche wicklung begleiten und mitbestimmen. Anhand Funktionsbereiche eingeteilt. Das Konzept einer langfristigen Strategie sollen die Belange entwickelt für diese Bereiche eine an die jewei- von Naturschutz, Funktionalität und Ästhetik ligen Funktionen angepasste Freiflächenges- umgesetzt werden. taltung mit geeigneten Materialien und einer Folgende Aspekte sind maßgebend für die passenden Vegetation sowie den Festlegun- zukünftige Grünflächengestaltung: gen einer darauf abgestimmten Pflege. Die Funktionsbereiche werden wie folgt differen- – die Umsetzung landschaftsplanerischer ziert: und grüngestalterischer Festsetzungen der gültigen Bebauungspläne, – Repräsentationsbereiche / Verwaltung, – Chemie / Umweltschutzanlagen, – die Rekultivierungsplanung für die Werks- deponie, – Lager, – Pharma / sonstige Produktionsanlagen, – die Einbindung städtebaulicher Aspekte im Dialog mit den zuständigen Behörden. – Straßenraum / Hauptverkehrsachsen, – Grünflächen mit ökologischem Potential. Als umweltbewusstes Unternehmen war Merck bei der Erarbeitung des Konzeptes auch daran Die Verteilung dieser Funktionsbereiche auf interessiert, die Arten- und Biotopvielfalt auf dem Werksgelände könnten der Abb. 3 ent- dem Werksgelände im Rahmen der vorhande- nommen werden. nen Möglichkeiten auszubauen. Mit dem Kon-

226 Das Grünflächenkonzept des Werkes Darmstadt der Merck KGaA

Abb. 1: Funktionsbereiche auf dem Werksgelände

Abb. 2: Gestaltungsvorschläge

227 Jörg Dettmar & Gottfried Trautmann

Zusammenfassend sollen die Gestaltungs- nehmbaren Flächen. vorschläge und die daraus abgeleiteten – Umwandlung einiger besonders intensiv Maßnahmen folgende Ergebnisse erzielen: gestalteten Grünanlagen zu eher extensi- – Entwicklung einer angemessenen wieder- ven Bereichen. erkennbaren attraktiven Grünflächenges- – Intensivierung von Arten- und Biotopvielfalt taltung. auf den dafür möglichen Flächen. – Stärkere Gliederung und Verknüpfung der Ziel ist es neben ökologischen Gesichtspunk- unterschiedlichen Werkszonen. ten dabei vor Allem, im industriellen Umfeld – Stärkere Integration der Betriebsflächen in Anwohnern, Kommune und Mitarbeitern ein das Begrünungskonzept. harmonisches Erscheinungsbild zu bieten. – Bessere Eingrünung der von außen wahr-

Abb. 3: Die Umsetzung des Konzepts

Die Umsetzung des Konzepts Die vorgeschlagenen Extensivierungsmaß- nahmen von Grünanlagen können über ent- Das Konzept ist für eine mittel- bis langfristige sprechend neu formulierte Pflegeaufträge und Realisierung ausgelegt. Die Umsetzung der Bepflanzungsvorschläge geregelt werden. Die Gestaltungsvorschläge erfolgte ab dem Jahr naturschutzbezogenen Aufwertungsmaßnah- 2006 schrittweise im Rahmen anstehender men werden mit Detailplanungen untersetzt. baulicher Maßnahmen. Für die Umgestaltung Neugestaltung von Flächen und Fassaden des der Flächen bildet das Konzept die Grundlage Repräsentationsbereichs entlang der Frankfur- und liefert die entsprechenden Gestaltungs- ter Straße werden in einer integrierten Planung grundsätze, die dann jeweils in einer konkreten unter Einschluss des städtebaulichen Gesamt- Ausführungsplanung umgesetzt werden. konzepts und in Zusammenarbeit mit den zu- 228 Das Grünflächenkonzept des Werkes Darmstadt der Merck KGaA

ständigen Behörden erfolgen. Anschriften:

Prof. Dr. Jörg Dettmar Der Standpunkt von MERCK TU Darmstadt Als Standort eines international tätigen um- Fachbereich Architektur weltbewussten Unternehmens hat Merck Fachgebiet Entwerfen und Freiraumplanung El-Lissitzky-Str. 1 das Anliegen einen strategischen Umgang mit 64287 Darmstadt vorhandenen Ressourcen im Bereich der Ar- E-Mail: [email protected] ten- und Biotopvielfalt in dem Stammwerk

Darmstadt zu nutzen. Dr. Gottfried Trautmann Der bedachte Umgang mit diesen Ressourcen Abteilungsleiter WL-FM wird als Aufgabe begriffen. Als strategischer Merck KGaA Handlungsrahmen soll das Konzept für die Frankfurter Straße 250 Grünflächen die weitere Werksentwicklung 64293 Darmstadt begleiten und mitbestimmen. Die Einbindung zuständiger Behörden und bestehender Be- bauungspläne in die Werksplanung garantie- ren die Umsetzung städtebaulicher und land- schaftsplanerischer Vorgaben. Merck verfolgt hiermit das Ziel, anhand einer langfristigen Strategie die Belange von Wirt- schaft und Naturschutz auf Dauer möglichst weitgehend in Einklang zu bringen sowie äs- thetisch qualitative Freiräume zugunsten der Menschen und ihrer Umwelt zu gestalten.

229