Miszelle

Klaus Mayer

Eine authentische Halder-Ansprache? Textkritische Anmerkungen zu einem Dokumentenfund im früheren Moskauer Sonderarchiv

Im November 1938, vier Wochen nach seiner Verabschiedung als Chef des Gene- ralstabs des Heeres (GenStdH), verfaßte z.V. eine »grundsätzliche Betrachtung« über das Thema »Deutschland in einem kommen- den Krieg«1, deren Fazit lautete: »Ein Krieg, den Deutschland beginnt, wird sofort weitere Staaten als den an- gegriffenen auf den Plan rufen. Bei einem Krieg gegen eine Weltkoalition wird Deutschland unterliegen und dieser schließlich auf Gnade und Ungnade aus- geliefert sein2.« Zu der militär- und zeitgeschichtlich wichtigen Frage, wie nach Becks Abgang sein Nachfolger (ab 1. September 1938), General , das Problem eines »kom- menden Krieges« ansah, wurde in jüngster Zeit von Christian Hartmann, wissen- schaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) München, und Sergej Slutsch, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Moskauer Institut für Slawistik und Bal- kanistik der Akademie der Wissenschaften Rußlands, in den »Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte« ein bisher unbekanntes Halder-Dokument publiziert3, das nach Auffassung des deutsch-russischen Editorenteams in »gewisser Weise« sogar mit Hitlers geheimen Ansprachen (5. November 1937, 23. Mai und 22. August 1939) vergleichbar sei4. Der Moskauer »Zufallsfund«5, ein undatierter acht Seiten langer, mit Maschi- ne geschriebener Text ohne Verfasserangabe, deponiert im Fond 1525 des ehe- maligen sowjetischen »Sonderarchivs« in Moskau6, dem heutigen Zentrum zur Aufbewahrung historisch-dokumentarischer Sammlungen (CChlDK)7, enthält die wörtliche Mitschrift eines Vortrages, den Halder, so die Datierung von Hartmann und Slutsch8, in der zweiten Aprilhälfte 1939, nach dem 13. April, vor Generalen

1 Zum Text seiner Denkschrift siehe Ludwig Beck, Studien. Hrsg. und eingel. von Hans Spei- del, Stuttgart 1955, S. 51-64. 2 Ebd., S. 63. 3 Christian Hartmann und Sergej Slutsch, Franz Halder und die Kriegsvorbereitungen im Frühjahr 1939. Eine Ansprache des Generalstabschefs des Heeres, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 45 (1997), S. 467-^95. 4 Vgl. ebd., S. 469. 5 Vgl. ebd., S. 468. 6 Zum Moskauer »Sonderarchiv« siehe Götz Aly und Susanne Heim, Das Zentrale Staats- archiv in Moskau (»Sonderarchiv«). Rekonstruktion und Bestandsverzeichnis verschol- len geglaubten Schriftguts aus der NS-Zeit, Düsseldorf 1992. 7 Zum CChlDK vgl. Gerhard Jagschitz und Stefan Karner, »Beuteakten aus Österreich«. Der Österreichbestand im russischen »Sonderarchiv« Moskau, Graz, Wien 1996 (= Veröf- fentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Bd 2), S. XL-XLVII. 8 Vgl. Hartmann/Slutsch, Franz Halder (wie Anm. 3), S. 469 f.

Militärgeschichtliche Mitteilungen 58 (1999), S. 471-527 © Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam 472 MGM 58 (1999) Klaus Mayer und Generalstabsoffizieren über das Thema »Der kommende Krieg« gehalten ha- be. Nach dieser Mitschrift soll Halder seinen Zuhörern erklärt haben, »daß Polen in der kürzestmöglichen Zeit vollkommen erledigt werden muß«9. Es müsse in der Vernichtung des polnischen Gegners ein »Rekord an Schnelligkeit« aufgestellt wer- den. In »spätestens drei Wochen«, »möglichst schon in 14 Tagen«, müsse der »schlag- artige Uberfall auf Polen« zu Ende sein10. Bei einem Eingreifen von Frankreich und England in den Konflikt seien »schwerste Luftraids« vorgesehen, »um durch Ver- nichtung von Paris und auch Londons die Moral des Gegners zu treffen«11. Wie der Vortragstext ausweist, scheute Haider offenbar weder den militärischen Konflikt mit den Westmächten noch mit der Sowjetunion. Nach der Beendigung des Polen-Feldzuges werde es, so Halders Botschaft, »von den Russen abhängen, ob die Ostfront zum europäischen Schicksal wird oder nicht. In jedem Fall wird darin eine siegreiche Armee, erfüllt mit dem Geist gewonnener Riesenschlachten, bereitstehen, um entweder dem Bolschewismus entgegenzutreten oder [...] nach dem Westen geworfen zu werden, um dort die Entscheidung rasch, aber gründlich zu erringen12.« Mit dem brisanten Inhalt des Moskauer CChlDK-Dokuments wird posthum der Nachkriegsautor Halder als Zeitzeuge gründlich diskreditiert, da der einstige, von Hitler am 24. September 1942 in die »Führerreserve« entlassene Generalstabschef des Heeres in seiner literarischen Abrechnung mit dem »Feldherrn Hitler« aus dem Jahre 1949 die Verantwortung für den militärischen Angriff auf Polen einzig dem politischen Führer anlastete: »Die Entwicklung der polnischen Krisis im Jahre 1939 zeigt, [...] wie der Politi- ker Hitler die Krise schafft und schürt, um zu der Gewaltlösung zu kommen, die ihm offenbar, trotz aller Warnungen von militärischer Seite, von Anfang an vorgeschwebt hat. Die ihm immer wieder vor Augen gestellten Grenzen der militärischen Leistungsfähigkeit überschreitet er mit der Versicherung, es nicht zum Zweifrontenkrieg kommen zu lassen >wie die unfähigen Menschen des Jahres 1914<13.« »Ich veranlaßte«, so schilderte ein Jahr später Halder sein Antikriegsengagement im Gespräch mit Peter Bor, »den Oberbefehlshaber des Heeres und den Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Hitler eindringlich zu warnen, und zwar stets mit dem Tenor, ein deutsch-polnischer Konflikt würde unweigerlich England und Frankreich auf die Seite Polens bringen und damit für Deutschland die Lage des Zweifron- tenkrieges schaffen. Ein gesellschaftliches Zusammentreffen mit dem engli- schen Botschafter gab mir dann Gelegenheit, ihn zu bitten, England möge sei- ne Entschlossenheit, Polen beizustehen, Deutschland gegenüber so eindeutig aussprechen, daß auch Hitler davon überzeugt werde. Sir Nevile Henderson versprach seine Unterstützung. Das Ergebnis war ein Brief Chamberlains an Hitler, der freilich auf diesen keine Wirkung hatte14.«

9 Vgl. ebd., S. 483. 10 Vgl. ebd., S. 492 und 495. 11 Vgl. ebd., S. 489 f. 12 Vgl. ebd., S. 495. " Franz Halder, Hitler als Feldherr, München 1949, S. 26. 14 Vgl. Peter Bor, Gespräche mit Haider, Wiesbaden 1950, S. 127 f. Eine authentische Halder-Ansprache? 473

Für die beiden Editoren des Moskauer CChlDK-Dokuments trägt dagegen das »Führungszentrum der deutschen Streitkräfte« eine »Mitverantwortung an der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs«; sie sind sich völlig sicher, daß Halder »zu- mindest in den entscheidenden Monaten im Frühjahr und Sommer 1939 nichts an- deres war, ja nichts anderes sein wollte als ein Handlanger der Hitlerschen Kriegs- politik«15. Nun weist das Moskauer Haider-Dokument in seiner Authentizität al- lerdings einen kompromittierenden Makel auf. Von unbekannter Hand stammend, trägt das Dokument als Überschrift nämlich den Vermerk: »Auszug aus einem Vor- trag des Chefs des Generalstabs Halder, gehalten vor Generalen und General- stabsoffizieren im Rahmen eines Zyklus der -Akademie«16. Zunächst muß man dazu anmerken, daß die Bezeichnung »Chef des General- stabs Halder« in der militärischen Nomenklatur gänzlich unkorrekt war, da es in der Wehrmacht gleich zwei amtierende Generalstabschefs gab: Neben Halder als Chef des Generalstabs des Heeres fungierte im Jahre 1939 Generalmajor Hans Je- schonnek als Chef des Generalstabs der . Deshalb mußte die korrekte Be- zeichnung im Dokumenten ti tel lauten: Chef GenStdH GendArt Halder. Wesentlich gravierender für die Frage der Authentizität ist aber die Angabe des Vortragsortes in der Dokumentenüberschrift. Die Wehrmachtakademie, eine ab dem 15. Oktober 1935 bestehende Einrichtung zur Weiterbildung von höheren Ge- neralstabsoffizieren aller drei Wehrmachtteile, hatte im Frühjahr 1939 ihre Tore schon längst geschlossen. »In den Jahren 1935 und 1936 hat diese Wehrmacht-Aka- demie«, so Halders Nachkriégsauskunft, »je einen Jahreskurs abgehalten, kam dann aber doch, infolge des Widerstandes der drei Wehrmachtteile, zum Erlie- gen«17. Quellenmäßig belegt bzw. im Text vorhanden sind einige Vorträge, die von ver- schiedenen Generalstabsoffizieren aus den drei Wehrmachtteilen in den Jahren 1935/36 an der Wehrmachtakademie gehalten wurden18. Für das Jahr 1937 existiert ein Quellenhinweis zu einem Vortrag, den Graf v.d. Schulenburg, der deutsche Bot- schafter in Moskau, vor der Wehrmachtakademie hielt19. Vermutlich fand die Wehrmachtakademie deshalb ihr Ende, weil sie am 3. Ja- nuar 1938 unter dem Titel »Kriegführung« den Entwurf einer Vorschrift für den gemeinsamen Einsatz aller drei Wehrmachtteile unter einem Oberkommando in Umlauf brachte20. Der Teil II dieses Entwurfs behandelte die Befehlsverhältnisse

,s Hartmann /Slutsch, Franz Halder (wie Anm. 3), S. 472. 16 Vgl. ebd., S. 479. 17 Vgl. Bor, Gespräche (wie Anm. 14), S. 77. Zur Wehrmachtakademie siehe auch die Aus- kunft von Freiherr Geyr v. Schweppenburg, Erinnerungen eines Militärattaches. London 1933-1937, Stuttgart 1949, S. 62: »In der Zuteilung qualitativ hochwertiger Hörer wurde sie von der Armee lau und vom Luftministerium und Auswärtigen Amt praktisch über- haupt nicht unterstützt.« 18 Vgl. dazu die näheren Angaben mit Nachweis der Signatur des Bundesarchiv-Militär- archivs (BA-MA) bei Jehuda L. Wallach, Das Dogma der Vernichtungsschlacht. Die Leh- ren von Clausewitz und Schlieffen und ihre Wirkungen in zwei Weltkriegen, München 1970 (= dtv 701 ), S. 320 f. und 429 f. 19 Vgl. die Erwähnung des Schulenburg-Vortrags im Brief des deutschen Militâr-Attachés in Moskau, Generalleutnant Köstring, vom 25.12.1937 an den Oberquartiermeister IV im GenStdH, Oberst i.G. v. Tippelskirch; abgedruckt in: General Ernst Köstring. Der mi- litärische Mittler zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion 1921-1941, be- arb. von Hermann Teske, Frankfurt a.M. 1966 (= Profile bedeutender Soldaten, Bd 1), S. 185. 20 Vgl. Wallach, Dogma (wie Anm. 18), S. 322. 474 MGM 58 (1999) Klaus Mayer und die Koordinierung der Kommandogewalt im Kriegsfalle. Damit berührte der Entwurf der Wehrmachtakademie den operativen Führungsanspruch des Gene- ralstabes des Heeres unmittelbar21. Ohne die Bestimmung eines Nachfolgers wurde der ab Oktober 1935 an der Spit- ze der Wehrmachtakademie stehende General von der Leitung der Akademie abgelöst; Adam übernahm am 1. April 1938 die Führung des Heeres- gruppenkommandos 2 in Kassel22. In der »Stellenbesetzung des Heeres 1938«, die im Oktober 1938 vom Heerespersonalamt als Geheimsache herausgegeben wurde, trat die Wehrmachtakademie im Abschnitt »Akademien« nicht mehr in Erscheinung23. Für die Editoren Hartmann und Slutsch ist der angegebene Vortragsort »Wehr- machtakademie« jedoch kein hinreichender Grund zur Skepsis. Möglicherweise sei, so ihre Vermutung, die Wehrmachtakademie mit der Kriegsakademie, der traditio- nellen Ausbildungsstätte für die Generalstabsoffiziere des Heeres, verwechselt wor- den24. »Diktion und Terminologie«, die »offenkundige Vertrautheit des Vortragen- den mit der französischsprachigen Fachliteratur«, die »intimen militärischen wie außenpolitischen Kenntnisse sowie verschiedene Anspielungen und Zahlenanga- ben, von denen nur Eingeweihte etwas wissen konnten«, seien, so versichern die Edi- toren, verläßliche Kriterien für die Authentizität des Halder-Vortrags25. Man habe zu- dem das Dokument »Satz für Satz« auf seine Authentizität überprüft und mit den Ergebnissen der Forschung sowie mit dem Inhalt ergänzender Quellen konfrontiert26. Wie die Editoren allerdings selbst einräumen, überrasche, ja frappiere der »hoch- gestimmte Ton, die geradezu vermessene Siegeszuversicht« Halders; sein »forscher Optimismus« sei »relativ ungewöhnlich für einen Generalstäbler«27.

21 Vgl. dazu die undat. Denkschrift »Organisation der Wehrmachtführung« des OQu I im GenStdH (v. Manstein) als Faksimile in Rüdiger von Manstein und Theodor Fuchs, Man- stein. Soldat im 20. Jahrhundert. Militärisch-politische Nachlese, München 1981, S. 385-388. Zur Datierung der Denkschrift siehe Jodls dienstliches Tagebuch (Chef L) 1937/39, in: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Mi- litärgerichtshof in Nürnberg. 14. November 1945 bis 1. Oktober 1946, Bd 28, Nürnberg 1948, Dok. 1780-PS, S. 370: »Ob. d.H. übersendet seine Denkschrift Organisation der Wehrmachtführung« (Eintrag vom 8.3.1938). 22 Vgl. Fritz Frhr. v. Siegler, Die höheren Dienststellen der deutschen Wehrmacht 1933-1945, München 1953, S. 14. und 112. 23 Vgl. ihren fotomech. Neudruck: Das deutsche Heer 1939. Gliederung, Standorte, Stel- lenbesetzung und Verzeichnis sämtlicher Offiziere am 3.1.1939. Hrsg. von Hans-Hen- ning Podzun, Bad Nauheim 1953, S. 787-795. 24 Zur Begründung für diese Vermutung führen Hartmann/Slutsch, Franz Halder (wie Anm. 3), S. 479, Anm. 2, an: Man könne aus den wenigen Akten des BA-MA-Bestandes über die Kriegsakademie (RH 16) erkennen, »daß an der Kriegsakademie neben der Lehr- gangsausbildung [...] regelmäßig Vortragszyklen veranstaltet wurden, für die man Spit- zenvertreter aus Armee, Staat und Partei zu gewinnen suchte.« — Bei diesen Vortrags- zyklen handelte es sich jedoch um den sog. »Nationalpolitischen Lehrgang« an der Kriegs- akademie, dessen Themenplan und Referentenauswahl ausschließlich von der Abtei- lung Inland des OKW, Gruppe II (»Nationalsozialistische Weltanschauung und nationalpolitische Zielsetzung in der Wehrmacht«), bestimmt wurde. Ein Vortrag des Chefs GenStdH über »taktische und strategische Erwägungen« zu einem Krieg mit Po- len gehörte aber mit Sicherheit nicht zu den Themen des nationalpolitischen Unterrichts. Zu den tatsächlichen Vortragsthemen und Vortragenden für den »Nat. Pol. Lehrgang Kriegsakademie« im Zeitraum 1.10.1938 bis 30.6.1939 vgl. Manfred Messerschmidt, Die Wehrmacht im NS-Staat. Zeit der Indoktrination, Hamburg 1969, S. 220-222. 25 Vgl. Hartmann / Slutsch, Franz Halder (wie Anm. 3), S. 468. 26 Vgl. ebd., S. 469, Anm. 6. 27 Vgl. ebd., S. 470. Eine authentische Halder-Ansprache? 475

Für die Editoren gibt es jedoch eine plausible Erklärung für den ungewohnten Halder-Ton; sie lassen den Chef GenStdH die Rolle eines Propagandisten und Über- zeugungs-»Täters« übernehmen: Halders Zuhörer, so die Ansicht von Hartmann und Slutsch, »waren davon zu überzeugen, daß schnell gehandelt werden muß- te«28. Aber diese Interpretation des Redeverhaltens Halders verliert rasch an Über- zeugungskraft, wenn man berücksichtigt, was Oberst i.G. Eduard Wagner, der spä- tere Generalquartiermeister, am 24. August 1939, einen Tag nach der Unterzeich- nung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrages in Moskau, seinem Tage- buch anvertraute: »9 Uhr spricht General Halder sämtliche Generalstabsoffiziere. Vom Ernst getragen, Möglichkeiten des Zweifrontenkrieges, Führer glaubt nicht daran. Polnische Frage wird mit der Waffe gelöst werden. Ziel die Vernichtung Po- lens29.« Mit diesem Tagebucheintrag eines der engsten Mitarbeiter Halders im OKH/GenStdH ist wohl eindeutig dokumentiert, daß der Chef GenStdH in der akuten Krisensituation des Sommers 1939 keinen »forschen Optimismus« im OKH verbreitete, sondern vor den versammelten Offizieren des Generalstabes offen sei- ne Meinungsdifferenz zum »Führer« kundtat: Im Gegensatz zu Hitler30 rechnete Halder auch nach der Moskauer Vertragsunterzeichnung mit der Gefahr eines Zweifrontenkrieges, mit einem militärischen Eingreifen der Westmächte in den deutsch-polnischen Konflikt. Weshalb, so muß man quellenkritisch fragen, hat der Halder-Biograph Christi- an Hartmann31 das Redeverhalten Halders nicht anhand des »einzig erhaltenen notizartigen Konzept einer Ansprache Halders vom 3.4.1940 vor jungen General- stabsoffizieren«32 überprüft? Bei einer derartigen Überprüfung wären die Edito- ren nämlich auf die folgenden Diktionsunterschiede gestoßen: In seiner Ansprache vom 3. April 1940 erwähnte Halder neunmal den Gene- ralstab; im Moskauer CChlDK-Text fehlt dagegen jeder Hinweis auf den General- stab. Statt dessen ist nur zweimal die Rede vom »Offizierkorps«, wobei allerdings auffällt, daß Halder diese Vokabel ausgerechnet bei der folgenden Feststellung be- nutzt haben soll: »Sie wissen, meine Herren, daß es nie Sache des deutschen Offizierskorps ge- wesen ist, den Gegner zu unterschätzen33.« Im preußisch-deutschen Heere gehörte aber die Einschätzung des militärischen Gegners eindeutig zu den zentralen dienstlichen Aufgaben des Generalstabes34.

28 Vgl. ebd., S. 471. 29 Zit. nach Eduard Wagner, Der Generalquartiermeister. Briefe und Tagebuchaufzeich- nungen des Generalquartiermeisters des Heeres, General der Artillerie Eduard Wagner. Hrsg. von Elisabeth Wagner, München, Wien 1963, S. 93. 30 Vgl. dazu die Ansprache Hitlers vor den Führungsspitzen der Wehrmacht auf dem Berg- hof am 22.8.1939, in: Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht (Wehr- machtführungsstab) 1940-1945. Im Auftr. des Arbeitskreises für Wehrforschung hrsg. von Percy Ernst Schramm, Bd 1, Frankfurt a.M. 1963, Dok. Nr. 1, S. 948 f. (KTB OKW). 31 Vgl. seine Darstellung: Haider. Generalstabschef Hitlers 1938-1942, Paderborn 1991. 32 In Auszügen abgedruckt bei Heidemarie Gräfin Schall-Riaucour, Aufstand und Gehor- sam. Offizierstum und Generalstab im Umbruch. Leben und Wirken von Generaloberst Franz Halder, Generalstabschef 1938-1942, Wiesbaden 1972, S. 110-112. 33 Vgl. Hartmann/Slutsch, Franz Halder (wie Anm. 3), S. 483. 34 Dazu bereits Paul Bronsart von Schellendorff [weil. General der Infanterie], Der Dienst des Generalstabes, neu bearb. von Meckel, 3. Aufl., Berlin 1893, S. 7: »Die als >großer Ge- 476 MGM 58 (1999) Klaus Mayer

Noch gravierender ist freilich die unterschiedliche sprachliche Handhabung der Schwert-Metapher in den beiden Redetexten: In seiner Ansprache vor den jungen Generalstäblern gebrauchte der Chef GenStdH die Schwert-Metapher in der folgenden Weise: »Zur Tat, zu der wir aufgerufen sind, befähigt uns [...] nur das rastlose und gründliche geistige Ringen um neue Wege, die der eigenartigen politischen Schlagkraft unseres Staates das schnelle und scharfe Schwert zur Verfügung stellen, dessen er bedarf35.« Diese Ausdrucksweise entspricht völlig der offiziellen Rollendefinition der Wehr- macht im NS-Staat, wie sie schon 1937 in einer von der Heeresführung speziell für die Offizierausbildung bestimmten Schrift formuliert war: »Soldat sein im Sinne preußisch-deutschen Soldatentumes [...] heißt Schwert in der Hand der Volks- und Staatsführung sein36.« Im Moskauer CChlDK-Text »führt« hingegen die Wehrmacht selber das Schwert: »Die deutsche Wehrmacht hat das Schwert zu führen [...]«37. Die Metapher der »schwertführenden« Wehrmacht bringt aber einen für Halders Diktion ungewöhnlichen38 Pleonasmus, ja sogar eine Tautologie zum Ausdruck, da schon der Begriff »Schwert« als metaphorisches Synonym bzw. Wortäquivalent für das preußisch-deutsche Heer39 und später für die Wehrmacht verwandt wur-

neralstab< zu bezeichnende Zusammenfassung der nicht bei den Truppen eingeteilten Generalstabsoffiziere bearbeitet unter der oberen Leitung des Chefs des Generalstabes der Armee die Vorbereitung der möglichen Kriegshandlung [...] durch Kenntnis und ver- gleichende Abwägung der Verfassung der verschiedenen Heere Europas [...]« — Vgl. ferner Horst v. Metzsch, Krieg ohne Feldherrn?, Oldenburg i.0.1932 (= Schriften an die Nation, 12), S. 65: »Die Friedensurteile des deutschen Generalstabes über die einzelnen europäischen Heere [...] waren von geradezu klassischer Richtigkeit«. 35 Zit. nach Schall-Riaucour, Aufstand (wie Anm. 32), S. 112. 36 Dr. Bruno H. Jahn, Die Weisheit des Soldaten. Versuch einer Deutung und Einordnung, 44.-127. Taus., Berlin 1940, S. 12. — In seinem Geleitwort vom 25.11.1936 (vgl. ebd., S. 5) attestierte der Oberbefehlshaber des Heeres, Generaloberst Frhr. v. Fritsch, dem Autor Jahn, seine »wohlgelungene« Schrift sei ein »wertvoller Beitrag zum militärischen Schrift- tum der Gegenwart«. 37 Vgl. Hartmann/Slutsch, Franz Halder (wie Anm. 3), S. 479, 38 Laut Schall-Riacour, Aufstand (wie Anm. 32), S. 113, besaß Haider eine »seltene Präzisi- on im Ausdruck«. 39 Schon bei Clausewitz, im 8. Kapitel des sechsten Buches seines Werkes »Vom Kriege«, fin- det man den synonymen Gebrauch von »Schwert« und »Streitkraft«: »wenn ein feindli- ches Heer aus bloßem Mangel an Lebensmitteln seinen Rückzug antritt, so entsteht doch dieser erst aus der Einschränkung, in welcher unser Schwert dasselbe hält; wäre unsere Streitkraft gar nicht vorhanden, so würde es schon Rat zu schaffen wissen.« Zit. nach Carl v. Clausewitz, Vom Kriege. Hinterlassenes Werk des Generals Carl von Clausewitz, 18. Aufl. Vollständige Ausg. im Urtext mit völlig Überarb. und erweit, historisch-krit. Würdigung von Werner Hahlweg, Bonn 1973, S. 655. — In seinem »Erlaß an das Heer« vom 1.1.1900 erinnerte Kaiser Wilhelm II. an jene Heerführer, »die Preußens Schwert ge- schärft und, als die Stunde des Kampfes schlug, sein Heer von Sieg zu Sieg geführt ha- ben«. Zit. nach Reden Kaiser Wilhelms II. Zsgest. von Axel Matthes, München 1976, S. 79; vgl. femer Generalleutnant a.D. Constantin ν. Altrock, Zur Geschichte des Preußischen Offizierkorps, in: Vom Sterben des Deutschen Offizierkorps. Die Gesamtverluste unse- rer Wehrmacht im Weltkrieg, hrsg. von Constantin ν. Altrock, 2. Aufl., Berlin 1922, S. 18: »Über vier Jahrzehnte hatte das deutsche Offizierkorps [...] an der Ausbildung des Hee- res gewirkt und in nimmermüder Arbeit das deutsche Schwert zur gewaltigsten Kriegs- waffe geschmiedet, die je die Welt gesehen hat. Heute ist trotz Schlieffens Genius unser Schwert zerbrochen«; Major Gürtler, Zur Geschichte des Bayerischen Offizierkorps, in: Altrock, ebd., S. 23: »Nicht das unbesiegte deutsche Heer, sondern das deutsche Volk [...] Eine authentische Halder-Ansprache? 477 de40. Und aus diesem Grunde haben die militärischen und zivilen Autoren deut- scher Zunge die Schwert-Metapher auch handlungsmäßig nicht dem militärischen Instrument zugeordnet, sondern immer mit einer übergeordneten Autorität (z.B. mit Preußen41, mit der deutschen Nation42, mit dem Feldherrn43 bzw. Monarchen44,

hat den Krieg verloren. Das deutsche Schwert wurde durch deutsche Hände zerbro- chen«; Generalleutnant z.D. Otto v. Moser, Ernsthafte Plaudereien über den Weltkrieg, 2. Aufl., Stuttgart 1937, S. 94: »Über zwei >blitzende Schwertes (Clausewitz) hatte Deutsch- land bei Kriegsausbruch verfügt [...]: über das [...] draufgängerische deutsche Heer und über die ebenso wagemutig gesinnte deutsche Schlachtflotte«; Metzsch, Krieg (wie Anm. 34), S. 89: »Hindenburg-Ludendorff fanden bei der Übernahme der Führung [der OHL im Jahre 1916, K.M.] [...] ein Schwert mit tiefen Scharten vor«; Erich Ludendorff, Mei- ne Kriegserinnerungen 1914-1918, Berlin 1919, S. 5: »Solange [...] unsere Feinde so blie- ben, wie die Menschheit bisher war, hieß es [...] für den Generalfeldmarschall [Hinden- burg, K.M.] und mich als verantwortliche militärische Führer, das Schwert festzuhalten und es immer wieder von neuem zu schärfen.« Schließlich sei noch General Walther Reinhardt, der letzte preußische Kriegsminister und erste Chef der Heeresleitung (1919/20), mit seiner Studie über »Führer- und Feldherrntum« zitiert: »Der Feldherr [.. J muß [...] seine Waffe, das Heer, im Zustand bester Härte und Schärfe sich wünschen [...]« Zit. nach Waither Reinhardt [weil. General der Infanterie], Wehrkraft und Wehrwille. Aus seinem Nachlaß mit einer Lebensbeschreibung hrsg. von Generalleutnant a.D. Ernst Reinhardt, Berlin 1932, S. 45. 40 Vgl. dazu Generalleutnant z.V. Horst v. Metzsch, Wehrpolitik. Wegweiser und Winke, Berlin 1939 (= Veröffentlichungen der Hochschule für Politik, Forschungsabt., Sachgebiet: Wehrpolitik, Bd 1), S. 37: »Nur das schlagende Instrument der Wehrmacht [...] pariert den feindlichen Hieb, führt den Gegenhieb.« Vgl. auch die folgende Stelle aus dem Vor- trag »Betrachtungen über den Krieg«, den Generaloberst Beck am 24.4.1940 vor der Mitt- wochsgesellschaft in seinem Hause in Berlin-Lichterfelde gehalten hat: »[...] Deutsch- land [kann] [...] einen Krieg immer nur durch Waffenentscheidungen gewinnen — ver- lieren freilich auch auf andere Weise. Aber auch im letzteren Fall ist die stärkste Siche- rung dagegen seine Wehrmacht. So wird [...] Deutschlands Schicksal in einem Kriege in erster Linie immer auf der Spitze seines Schwertes ruhen [...]« Zit. nach Beck, Studien (wie Anm. 1), S. 135. 41 Vgl. dazu den 1. Redeentwurf Moltkes für das Zollparlament aus dem Jahre 1868: »Was bisher an wirklicher Einigung zu Stande gekommen ist, das verdanken wir dem Zwang, den Preußen [...] durch [...] sein Schwert geübt hat.« In: Reden des General-Feldmar- schalls Grafen Helmuth von Moltke, Berlin 1892 (= Gesammelte Schriften und Denk- würdigkeiten des General-Feldmarschalls Grafen Helmuth v. Moltke, Bd 7), S. 13. 42 Vgl. dazu Moltkes Reichstags-Rede vom 1.3.1880: »Hat der deutsche Michel überhaupt jemals das Schwert gezogen, als um sich seiner Haut zu wehren?« In: Reden (wie Anm. 41), S. 128. — Generalleutnant Colmar Freiherr v.d. Goltz, Das Volk in Waffen. Ein Buch über Heerwesen und Kriegführung unserer Zeit, 5. Aufl., Berlin 1899, S. 10: »Nur diejenige Nation ist sicher, welche sich in jedem Augenblicke bereit hält, ihre Un- abhängigkeit mit dem Schwerte in der Hand zu verteidigen.« — General der Kavalle- rie z.D. Friedrich v. Bernhardi, Vom heutigen Kriege, Bd 1, Berlin 1912, S. 12: »Wenn wir [Deutschen] unserem Volk die ihm gebührende Weltstellung erringen wollen, so müs- sen wir unserem Schwerte vertrauen [...]« — Generalleutnant Frhr. v. Freytag-Loring- hoven, Folgerungen aus dem Weltkriege, Berlin 1917, S. 104: »Ein langer Friede, der dem Weltkriege voraufging, hatte vielfach übersehen lassen, daß es nicht die [...] schö- nen Reden waren, die uns [Deutschen] den Krieg fern hielten, sondern die Macht un- seres Schwertes [...]« — Metzsch, Wehrpolitik (wie Anm. 40), S. 10: »Wenn der Puls der arbeitenden Nation schwach schlägt, wird auch der Schwertschlag der fechtenden Na- tion matt sein.« 43 Vgl. dazu Anm. 39 (Reinhardt). 44 Vgl. dazu Veit Valentin, Friedrich der Große, Berlin 1927, S. 63: »[...] Friedrich mußte nach wenigen Wintermonaten der Ruhe wieder das Schwert ziehen, um zum Sonder- frieden von Breslau zu kommen (1742)«. 478 MGM 58 (1999) Klaus Mayer

mit dem Staat und seiner Regierung45 oder mit der Politik46) verbunden, da be- kanntlich ein Schwert, eine Fechtwaffe, sich nicht selber führen kann. Interessan- terweise gehört die fragwürdige Schwert-Metapher zu einem Satz, der auch noch einen grammatikalischen Defekt aufweist: »Die deutsche Wehrmacht hat das Schwert zu führen, aber sie hat sich nicht darüber zu entscheiden [sie!], ob und wann es zu ziehen ist47.« Kurios ist auch die folgende Textstelle zur technischen Rückständigkeit der polni- schen Armee gegenüber der Wehrmacht: »es ist der Fußsoldat48 und der Reiter, die antreten sollen gegen ein, ich möchte sagen, mit allem Komfort49 der Neuzeit50 aus- gerüstetes51 Heer52.«

45 Vgl. dazu die folgende Bemerkung aus Clausewitz' Aufsatz »Uber die politischen Vor- teile und Nachteile der Preußischen Landwehr«: »Jede Regierung muß [...] darauf ge- faßt sein, [...] das Schwert als die letzte Stütze ihres Rechtes und ihres Verhältnisses an- zusehen. Dieses Schwert aber ist eine schwache Stütze, wenn sie es nicht allein führt.« Zit. nach Karl Schwartz, Leben des Generals Carl von Clausewitz und der Frau Marie von Clausewitz geb. Gräfin von Brühl. Mit Briefen, Aufsätzen, Tagebüchern und anderen Schriftstücken, Bd 2, Berlin 1878, S. 289. — Mit dem Staat verband die Schwert-Meta- pher Generaloberst Beck in seinem Vortrag »Die Lehre vom totalen Kriege«, gehalten im Juni 1942 vor der Berliner Mittwochsgesellschaft: »Das letzte Mittel im politischen Ver- kehr der Staaten untereinander wird auch in Zukunft deren bewaffnete Macht bleiben. Das Schwert aber, das jeder Staat grundsätzlich berechtigt ist bereit zu halten, braucht nicht nur zu dem Zwecke seines sofortigen Gebrauchs scharf gehalten zu werden, sondern sein Vorhandensein allein wird oft genügen und sein Ziehen entbehrlich machen.« Zit. nach Beck, Studien (wie Anm. 1), S. 251 f. 46 Im 6. Kap. des achten Buches seines Werkes »Vom Kriege« konstatiert Clausewitz: »So macht also die Politik aus dem alles überwältigenden Element des Krieges ein bloßes In- strument; aus dem furchtbaren Schlachtschwert, was mit beiden Händen und ganzer Lei- beskraft aufgehoben sein will, um damit einmal und nicht mehr zuzuschlagen, einen leich- ten, handlichen Degen, der zuweilen selbst zum Rapier wird, und mit dem sie Stöße, Fin- ten und Paraden abwechseln läßt.« Zit. nach Clausewitz, Vom Kriege (wie Anm. 39), S. 992. 47 Vgl. Hartmann/Slutsch, Franz Halder (wie Anm. 3), S. 479. 48 Bei Halder läßt sich für die Zeit nach 1945 die Ausdrucksweise »Fußkämpfer« nachwei- sen; vgl. dazu Bor, Gespräche (wie Anm. 14), S. 245: eine »Armee von Fußkämpfern«. 49 Das englische Wort »Komfort« ist laut Duden ein Synonym für »Bequemlichkeit«, »Be- haglichkeit« und »behagliche Einrichtung«; vgl. dazu Duden, 9. Aufl., Leipzig 1926, S. 250; Knaurs Konversationslexikon A-Z. Hrsg. von Richard Friedenthal, Berlin 1932, Sp. 773; Der Große Duden, 11. Aufl., Leipzig 1934, S. 288; Meyers Lexikon, 8. Aufl., Bd 6, Leipzig 1939, Sp. 1325. Es findet daher im Deutschen keine Anwendung auf militärische Ausrü- stungsgegenstände (Waffen und Gerät), die eine waffentechnische bzw. kampftaktische Überlegenheit garantieren. Zum tatsächlichen Gebrauch des Wortes »Komfort« in der deutschen Soldatensprache vgl. die folgende Stelle aus einem Brief, den Oberleutnant v. Hößlin, der Führer der 3. (schw.) Komp./PzAufklAbt 33, am 13.1.1942, nach dem Rück- zug der Panzergruppe Afrika auf die Gazala-Linie, an seinen Großvater, Generalleutnant a.D. Richard v. Hößlin, schrieb: »Wenn das Afrikakorps auch in seinem Gefüge uner- schütterlich ist, haben wir doch viel zurücklassen müssen, zunächst einmal die Dinge des täglichen Lebenskomforts [...]« Zit. nach August Graf von Kageneck, Zwischen Eid und Gewissen. Roland von Hößlin. Ein deutscher Offizier, Berlin, Frankfurt a.M. 1991, S. 50. 50 Vgl. dazu aber den häufigen adjektivischen Gebrauch bei Halder, Hitler (wie Anm. 13), S. 7 (»Der neuzeitliche Krieg«), S. 9 (»eine neuzeitliche Luftwaffe«), S. 16 (»die operati- ve Verwendung des Panzers in neuzeitlicher Form«) und S. 24 (»das Kunstwerk einer neuzeitlichen Generalstabskarte«). 51 Das sprachlich richtige Verb zu Komfort in Verbindung mit der Präposition »mit« heißt im Deutschen »ausstatten« (statt »ausrüsten«!). Dies ist auch die tatsächliche Wortwahl von Halder; vgl. dazu ebd., S. 12 (»kaum mit Waffen ausgestattet«), S. 15 (»die Ausstattung der Truppe mit modernsten Kampfmitteln«), S. 59 (»mit begrenzter Munitionsausstattung«) und S. 60 (»einer mit allen Kampfmitteln reichlich ausgestatteten erdrückenden Ubermacht«). 52 Vgl. Hartmann/Slutsch, Franz Haider (wie Anm. 3), S. 486. Eine authentische Halder-Ansprache? 479

Trotz der von Hartmann und Slutsch reklamierten »Satz-für-Satz«-Überprü- fung des Moskauer CChlDK-Textes muß man aber dennoch quellenkritisch fra- gen: Bieten die von den Editoren angeführten Kriterien wirklich eine hinreichen- de Gewähr für die Echtheit des Moskauer Dokuments? Kann z.B. die richtige Iden- tifizierung einer Anspielung im Dokumententext bereits ein verläßlicher Garant für die Authentizität des Halder-Vortrags sein? Zur Beantwortung dieser Fragen soll zunächst der Authentizitätsgehalt des Kriteriums »Anspielung« an einem Beispiel aus dem Text des Halder-Vortrags näher untersucht werden. Die dazu ausgewählte Textpassage lautet: »Mit der Beseitigung der Tschechoslowakei ist [...] vor allem jener von einem französischen Minister so laut gepriesene >Flugzeugträger< nähe unseren In- dustriezentren ausgeschieden53.« Von den Editoren wurde anhand einer Aufzeichnung aus den Akten des deutschen Auswärtigen Amtes (AA) der französische Minister identifiziert: Gemeint sei Pier- re Cot, der französische Luftfahrtminister im Zeitraum von 1936 bis 193854. Der in den AA-Akten erwähnte Aufsatz Cots war am 14. Juli 1938 im Londo- ner »News Chronicle« erschienen. Auf diesen Beitrag Cots, den der Leitartikler des »Völkischen Beobachters« mit einer heftigen Gegenattacke beantwortete55, nahm auch Hitler mehrfach bei seinen öffentlichen Auftritten Bezug, wie z.B. in seiner Schlußrede auf dem Nürnberger Parteitag (12. September 1938)56, auf den Kundgebungen im Berliner Sportpalast (26. September 1938)57 und vor dem Wil- helmshavener Rathaus (1. April 1939)58 sowie in seiner Reichstagsrede in der Ber- liner Kroll-Oper am 28. April 193959.

53 Vgl. ebd., S. 480 f. 54 Vgl. ebd., S. 481, Anm. 9. 55 Zu Cots Aufsatz und zum Artikel des »Völkischen Beobachters« vom 16.7.1938 vgl. die näheren Angaben in Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, 54 (1938), Bd 79, Mün- chen 1939, S. 119 f. 56 Über Cot äußerte Hitler am 12.9.1938: »Ich spreche von der Tschechoslowakei [...] Der franz. frühere Luftfahrtmin. Pierre Cot hat sie uns vor kurzem erläutert. Die Tschechei ist nach ihm dazu da und bestimmt, im Falle eines Krieges die deutschen Orte und In- dustrien mit Bomben anzugreifen.« Vgl. dazu den Abdruck der Hitler-Rede vom 12.9.1938 in Schulthess (wie Anm. 55), S. 135-141. Zitat: S. 136. 57 Uber Cot äußerte Hitler am 26.9.1938: »Man machte [...] gar kein Hehl mehr daraus, daß dieser Staat [die Tschechoslowakei, K.M.] dazu bestimmt war, wenn notwendig, gegen Deutschland eingesetzt zu werden. Ein franz. Luftfahrtmin., Pierre Cot, hat diesen Wunsch ganz nüchtern ausgesprochen: >Den Staat brauchen wir<, sagte er, >weil von diesem Staat aus die deutsche Wirtschaft, die deutsche Industrie am leichtesten mit Bomben zu zer- stören sind.«< Vgl. dazu den Abdruck der Hitler-Rede vom 26.9.1938 in Schulthess (wie Anm. 55), S.. 148-157. Zitat: S. 153. 58 Über Cot äußerte Hitler am 1.4.1939: »Wenn [...] ein franz. früherer Luftfahrtmin. in ei- ner Zeitung schreibt, daß es die Aufgabe dieser Tschechei auf Grund ihrer hervorragen- den Lage sei, im Kriege Deutschlands Industrie durch Luftangriffe ins Herz zu treffen, dann wird man verstehen, daß das für uns nicht ohne Interesse ist und daß wir dann be- stimmte Konsequenzen ziehen. Es wäre an England und Frankreich gewesen, diese Luft- basis zu verteidigen.« Vgl. dazu den Abdruck der Hitler-Rede vom 1.4.1939 in Schulthess (wie Anm. 55), 55 (1939), Bd 80, München 1940, S. 76-80: Zitat: S. 78. 59 Über Cot äußerte Hitler am 28.4.1939: »Was man von diesem Staat [Tschechoslowakei, K.M.] erwartet hatte, geht am eindeutigsten aus der Feststellung des franz. Luftfahrt- min. Pierre Cot hervor, der es ruhig aussprach, daß es die Aufgabe dieses Staates wäre, in jedem Konfliktfall Bomberlande- und Bomberabflugplatz zu sein, von dem aus man die wichtigsten deutschen Industriezentren in wenigen Stunden würde vernichten kön- nen. Es ist daher verständlich, wenn die deutsche Staatsführung ihrerseits ebenfalls den 480 MGM 58 (1999) Klaus Mayer

Die Äußerungen Hitlers zum Cot-Aufsatz geben aber keinen Hinweis auf die tatsächliche Verwendung der Flugzeugträger-Metapher durch den französischen Minister. Dies gilt auch für das von den Editoren angeführte Zitat aus Cots Schrift »L'Armée de L'Air« aus dem Jahre 193960, so daß man quellen- und sprachkritisch die Frage prüfen muß: Ist die Flugzeugträger-Metapher, bezogen auf die Tsche- choslowakei, überhaupt im Wortschatz der »LTI«, wie der Romanist Victor Klem- perer die Sprache des Dritten Reiches (Lingua Tertii Imperii) in seinem Tagebuch bezeichnete61, nachweisbar? Der Begriff »Flugzeugträger«^ die wortgetreue Übersetzung der englischen Be- zeichnung »Aircraft Carrier«, wurde schon vor 1933 im amtlichen Schriftverkehr der Reichsmarine62 bzw. des Reichswehrministeriums63 verwendet. Nach 1933 fin- det man den Begriff z.B. in Hitlers Reichstagsrede vom 21. Mai 1935 (»man schritt zur Konstruktion besonderer gigantischer Flugzeugträger«) zur Verkündung des Wehrgesetzes64, in der Meldung des Deutschen Nachrichtenbüros (DNB) vom 8. Ju- li 1935 zu den Neubauten der auf der Grundlage des deutsch-briti- schen Flottenabkommens65 sowie in Görings Taufrede beim Stapellauf des ersten (und einzigen), aber nicht in Dienst gestellten deutschen Flugzeugträgers, der »Graf Zeppelin«, in Kiel am 8. Dezember 193866. Eine sprachliche Variante zum Flugzeugträger-Begriff praktizierte der Gothai- sche »Diplomatenkalender«, der den französischen Flugzeugträger »Béarn« und die Aircraft Carriers der Royal Navy und der US Navy als »Flugzeugmutterschiffe« klassifizierte67, obwohl ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Schiffs- typen besteht: Der Flugzeugträger ist eine schwimmende Start- und Landeplattform für den Großeinsatz von Radflugzeugen; das Flugzeugmutterschiff dient hingegen nur als schwimmende Basis für den Katapultstart von See-(Wasser-)Hugzeugen68.

Entschluß faßte, diesen Bomberabflugplatz zu vernichten.« Vgl. dazu den Abdruck der Hitler-Rede vom 28.4.1939, ebd., S. 91-119. Zitat: S. 95. 60 Vgl. Hartmann/Slutsch, Franz Haider (wie Anm. 3), S. 481, Anm. 9. 61 Vgl. Victor Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen, 8. Aufl., Leipzig 1985, S. 15. 62 Vgl. dazu z.B. die im Mai 1929 in der Flottenabteilung (A II) der Marineleitung entstan- dene Denkschrift »Braucht Deutschland große Kriegsschiffe?«: Hier wird der »Flug- zeugträger, der die Handelszerstörer durch Aufklärungstätigkeit unterstützt«, als reines Kampfinstrument für den »Wirtschaftskrieg gegen die lebensnotwendigen Seeverbin- dungen des Gegners« angesehen. Zum vollen Wortlaut der Denkschrift siehe Werner Rahn, Reichsmarine und Landesverteidigung 1919-1928. Konzeption und Führung der Marine in der Weimarer Republik, München 1976, S. 281-286. Zitat: S. 282. 63 Vgl. dazu die Mitteilung von Reichswehrminister v. Schleicher vom 15.10.1932 an Reichsaußenminister Frhr. v. Neurath über die Rüstungsziele der Reichsmarine: Hier wird der Neubau eines 27 000-t-»Flugzeugträgers« verlangt. Zum vollen Wortlaut der Angaben des Reichswehrministers vom 15.10.1932 siehe Akten zur deutschen auswär- tigen Politik 1918-1945 (ADAP), Serie B: 1925-1933, Bd 21, Göttingen 1983, Nr. 113, S. 239-245. Zitat aus Ani. II, 243. — Im Jahre 1931 hatte die Marineleitung im Rahmen ih- rer langfristigen Planung lediglich den Bau eines 10 000-t-»Flugdeckkreuzers« anvisiert; vgl. dazu Rahn, Reichsmarine (wie Anm. 62), S. 193. 64 Zum Wortlaut der Reichstagsrede Hitlers vom 21.5.1935 siehe Schulthess (wie Anm. 55), ; 51 (1935), Bd 76, München 1936, S. 100-124. Zitat: S. 109. 65 Zum Text der DNB-Meldung siehe ebd., S. 139. 66 Zur gekürzten Wiedergabe der Taufrede Görings siehe ebd., 54 (1938), Bd 79, München 1939, S. 202. 67 Vgl. dazu z.B. Gothaisches Jahrbuch für Diplomatie, Verwaltung und Wirtschaft, 169 (1932), Gotha 1931, S. 156, 338 und 670. 68 Zur Begriffsklärung siehe das Stichwort »Flugzeugträger« in Meyers Lexikon, 8. Aufl., Bd 4, Leipzig 1938, Sp. 326 f. Eine authentische Halder-Ansprache? 481

Ein Paradebeispiel für die offenbar vom »Gothaischen Jahrbuch« geprägte Spracheigenheit des deutschen Diplomaten ist die Mitteilung über die voraus- sichtliche britische Schlachtschiff tonnage für Ende 1943, die Botschafter v. Dirksen am 10. März 1939 dem Auswärtigen Amt übermittelte69. In seiner Note vom 4. März 1939 hatte das Foreign Office Dirksen bezüglich der Kategorie »Aircraft Carriers« die Auskunft erteilt: »The figure for aircraft carriers includes the Fleet Air Arm Supply and Repair Ship, H.M.S. UNICORN of 14,750 tons [...] His Majesty's Government are pre- pared to regard the vessel as falling technically within the aircraft carrier cate- gory as defined in [the Anglo-German Naval Agreement].« Von Botschafter Dirksen wurde diese Passage des britischen Notentextes jedoch in die folgende Version übertragen: »Zu der Kategorie der Flugzeugmutterschiffe wird bemerkt, daß die Britische Regierung das Flugzeugreparaturschiff UNICORN [...] im Sinne des deutsch- englischen Flotten Vertrages vom 17. Juli 1937 als Flugzeugmutterschiff anse- he.« Die A A- Akten sind es auch, die den ersten Hinweis auf die Verwendung der Flug- zeugmutterschiff-Metapher, bezogen auf die Tschechoslowakei, enthalten. Noch im Jahre 1933 hatte Generaloberst v. Seeckt, der frühere Chef der Hee- resleitung (1920-1926), über die Tschechoslowakei geurteilt, diesem Staat fehle die »aggressive Stimmung gegen uns«70. Mit der Unterzeichnung des tschechoslowa- kisch-sowjetischen Beistandspaktes in Prag am 16. Mai 1935, dem eine geheime französisch-tschechoslowakische Generalstabskonvention über die Zusammenar- beit beider Luftwaffen im Kriegsfalle folgte71, veränderte sich die Berliner Perzep- tion der tschechoslowakischen Außenpolitik in jäher Weise. In einem Runderlaß für die deutschen Auslandsvertretungen bewertete Ministerialdirektor Richard Mey- er, der Leiter der Ostabteilung des AA, das tschechisch-russische Abkommen als »Ereignis von ausschlaggebender Bedeutung«: »In der internationalen Presse ist schon mehrfach darauf hingewiesen worden, daß die Tschechoslowakei das Aufmarschgebiet [...] für die russische Luftflot- te werden würde, und daß dafür schon im Frieden Vorbereitungen getroffen werden sollen. (Einrichtung von Flugplätzen usw.) [...] Der von französischer Seite gebrauchte Ausdruck, daß die Tschechoslowakei das russische Flug- zeugmutterschiff werden würde, kennzeichnet treffend die ganze Lage72.« Anfang Juli 1935 berichtete Botschafter François-Poncet nach Paris, zu einem Bot- schafterkollegen habe der Staatssekretär des AA, Bernhard W. v. Bülow, geäußert: »Selon une définition que je trouve excellente, la Tchécoslovaquie est devenue le na- vire porte-avions de la Russie73.«

69 Vgl. dazu ADAP, Ser. D: 1937-1945, Bd 4, Baden-Baden 1951, Nr. 328, S. 369-371. 70 Vgl. Generaloberst Hans v. Seeckt, Deutschland zwischen West und Ost, 2. Aufl., Ham- burg 1933, S. 33. 71 Zum Text der französisch-tschechischen Generalstabskonvention vom 1.7.1935 siehe Do- cuments diplomatiques français 1932-1939 (DDF). Ed.: Ministère des relations extérieu- res. Commission de publication des documents relatifs aux origines de la guerre 1939-1945, Serie 1, Bd 11, Paris 1982, Nr. 185, S. 288-291. 72 Zum Text des AA-Runderlasses vom 25.5.1935 siehe ADAP, Ser. C: 1933-1937, Bd 4,1, Göttingen 1975, Nr. 105, S. 194 f. Zitat: S. 194. 73 Vgl. A. François-Poncet an Außenminister Laval, Tel. Nr. 1727 vom 5.7.1935, in: DDF, Nr. 213, S. 321. 482 MGM 58 (1999) Klaus Mayer

Am 21. Februar 1936 führte der tschechische Staatspräsident Eduard Benesch ein Gespräch mit dem neuen deutschen Gesandten Eisenlohr, bei dem der Ge- sandte die »tiefe Besorgnis« schilderte, die der »Russenpakt« auf deutscher Seite ausgelöst habe: »Bei einer kürzlichen Anwesenheit in Berlin sei mir in allen Amtszimmern, die ich betrat, zum Beginn jedes Gesprächs das Wort >die Tschechoslowakei ist Flugzeugmutterschiff Sowjetrußlands < zitiert worden. In der Presse und in privaten Gesprächen sei immer wieder die Befürchtung ausgesprochen wor- den, die Tschechoslowakei bereite für die russischen Luftstreitkräfte Flugplätze vor, errichte Fabriken zur Reparatur der russischen Flugzeuge, ein russisches Geschwader sei schon hier stationiert. Benes [...] stritt [...] nicht ab, daß das Wort vom Flugzeugmutterschiff zuerst in der tschechischen Presse geprägt und dann erst von ausländischen Blättern übernommen worden ist, aber er sagte, das sei eine >sondage< gewesen, ein Versuch, auf den er sich nicht ein- gelassen habe74.« In Berlin stießen die Versicherungen des tschechischen Staatspräsidenten nur auf negative Resonanz. »Benesch lügt wie immer«, notierte der Reichsminister des Auswärtigen Freiherr v. Neurath auf den Bericht des Prager Gesandten75, und in ei- ner vertraulichen »Aufzeichnung über die militärpolitischen Rückwirkungen des französisch-sowjetischen und tschechoslowakisch-sowjetischen Beistandspaktes in der Tschechoslowakei und in Rumänien«, die das AA einige Monate später, am 20. Juni 1936, zur »Regelung der Sprache« an die wichtigsten deutschen Aus- landsvertretungen übersandte, wurde der Tschechoslowakei erneut attestiert, sie sei als »Basis für Luftangriffe der sowjetischen Fliegergeschwader auf Deutschland ausersehen« und trage daher mit Recht die Bezeichnung »Flugzeugmutterschiff der Sowjetunion«76. In aller Öffentlichkeit, in seiner Rede auf dem Nürnberger Parteitag am 10. Sep- tember 1936, brandmarkte Reichsleiter Alfred Rosenberg, der Chef des Außenpo- litischen Amtes (APA) der NSDAP, den tschechischen Nachbarn als Komplize der »jüdisch geleiteten Sowjetarmee«; die Tschechoslowakei sei das »Flugzeugmut- terschiff Sowjetjudäas«77. Ebenfalls im September 1936 konstatierte Generalleutnant a.D. Horst v. Metzsch, der Leiter der wehrpolitischen Abteilung der Deutschen Hochschule für Politik (Berlin) und frühere Inspekteur des Erziehungs- und Bildungswesens in der Reichs- wehr (1924-1928): »Die Tschechoslowakei muß bekanntlich als das Flugzeugmutterschiff betrachtet werden, das Frankreich und die Sowjetunion im mitteleuropäischen Völker- meer verankert habendum in den deutschen Raum vorzudringen78.«

74 Zum Bericht Eisenlohrs vom 23.2.1936 an das AA vgl. ADAP, Ser. C, Bd 4,2, Göttingen 1975, Nr. 580, S. 1152-1158. Zitat: S. 1156. 75 Vgl. ebd., S. 1158, Anm. 8. 76 Zum Wortlaut der vertraulichen AA-Aufz. vom 17.6.1936 siehe ADAP, Ser. C, Bd 5,2, Göttingen 1977, Nr. 392, S. 613-618. Zitat: S. 615. 77 Zum Text der Rosenberg-Rede vom 10.9.1936, die auch unter dem Titel »Der entschei- dende Weltkampf« als Separatdruck erschien (München 1936), siehe Dokumente der Deutschen Politik. Reihe: Das Reich Adolf Hitlers (DDP). Hrsg. vom Franz Alfred Six, Bd 4, 6. Aufl., Berlin 1942, Nr. 6, S. 78-91. Zitat: S. 90. 78 Generalleutnant a.D. Horst v. Metzsch, Der einzige Schutz gegen die Niederlage. Eine Fühlungnahme mit Clausewitz, Breslau 1937, S. 55. Eine authentische Halder-Ansprache? 483

Am 15. August 193879, in seiner Ansprache vor der höheren Generalität im Offi- zierkasino der Artillerieschule Jüterbog, rechtfertigte Hitler seinen Entschluß, die »tschechische Frage« noch »in diesem Herbst mit Gewalt zu lösen«, mit dem Ar- gument: »Für Deutschland [...] sei es eine Notwendigkeit, die Tschechoslowakei, dieses >sowjetrussische Flugzeugmutterschiff^ zu beseitigen, will es nicht gezwungen sein, bei jeder kriegerischen Auseinandersetzung von vornherein mit zwei Fron- ten zu kämpfen80.« Und in seiner Geheimrede vor Vertretern der deutschen Presse in München (10. No- vember 1938) erklärte der Diktator zum gleichen Thema: »Das Flugzeug-Mutterschiff im Herzen Deutschlands hätte sich immer mehr ausgebaut und ausgepanzert, und alle zusätzlichen Waffen unserer Aufrüstung wären allmählich verschlungen worden von der Aufgabe, bei jedem Kampf zunächst dieses Problem militärisch zu lösen81.« Dem Emissär des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, Under Secretary of State Sumner Welles, suggerierte dagegen der Oberbefehlshaber der Luftwaffe, Gene- ralfeldmarschall H. Göring, nach Kriegsbeginn, am 3. März 1940, bei einem Ge- spräch in Karinhall: »Die Tschechoslowakei würde vielleicht heute noch bestehen, wenn nicht die- se deutschfeindliche Richtung bei ihr vorgeherrscht hätte, die sie nach den Wor- ten des französischen Luftfahrtministers Pierre Cot zu einem Flugzeugmutter- schiff gegen Deutschland gemacht hatte82.« Diese Beispiele belegen, daß die Metapher von »Flugzeugträger Tschechoslowa- kei«, wie sie im Text des Halder-Vortrags zu finden ist (der »so laut gepriesene >Flugzeugträger<«), nicht dem tatsächlich praktizierten Sprachgebrauch im Drit- ten Reich entsprach. Die authentische Metapher hieß »Flugzeugmutterschiff Tsche- choslowakei«, und sie war bereits drei Jahre vor der Veröffentlichung des Cot-Auf- satzes im »News Chronicle« ein Topos der LTI. Auch Generaloberst Halder hat of- fenbar — wie nach ihm noch im Jahre 1960 der frühere Kommandierende General des XIV. Panzerkorps, General der Panzertruppen a.D. von Senger und Etterlin83 — den Ausdruck vom Flugzeugmutterschiff verwendet. Die »Gespräche mit Halder« verzeichnen nämlich die wohl nur von Haider stammende Angabe, Hit-

79 Zur Datierung vgl. David Irving, Hitlers Weg zum Krieg, Herrsching o.J. (1. Aufl. 1978), S. 238. 80 Niederschrift von General der Infanterie a.D. Liebmann aus dem Jahre 1939, zit. nach Hermann Foertsch, Schuld und Verhängnis. Die Fritsch-Krise im Frühjahr 1938 als Wen- depunkt in der Geschichte der nationalsozialistischen Zeit, Stuttgart 1951 (= Veröffent- lichungen des Deutschen Instituts für Geschichte der nationalsozialistischen Zeit, 1), S. 174. 81 Zum Text der Hitler-Rede vom 10.11.1938 siehe »Es spricht der Führer«. 7 exemplarische Hitler-Reden, hrsg. von Hildegard v. Kotze und Helmut Krausnick, Gütersloh 1966, S. 268-286. Zitat: S. 271 f. 82 Zur Unterredung zwischen Göring und Sumner Welles siehe die Aufzeichnungen des Ge- sandten Schmidt vom 4.3.1940, in: ADAP, Ser. D, Bd 8, Frankfurt a.M. 1961, Nr. 653, S. 669-678. Zitat: S. 672. 83 Vgl. dazu Frido v. Senger und Etterlin, Krieg in Europa, Köln, Berlin 1960, S. 327: »Von Flugzeugmutterschiffen startende Jäger schaffen [in Zukunft] einen dem Aktionsradius der Flotten selbst entsprechenden Einsatzraum.« An gleicher Stelle auch die folgende Metapher: »[...] Sardinien und Korsika [...], diese beiden dem Festland vorgelagerten In- seln waren so gut wie Flugzeugmutterschiffe.« 484 MGM 58 (1999) Klaus Mayer

1er habe 1941/42 die Krim als mögliches »Flugzeugmutterschiff« für sowjetische Luftangriffe auf die rumänische Ölbasis betrachtet84. Somit ergibt die Analyse des Kriteriums »Anspielung« (Flugzeugträger-Metapher), vorsichtig formuliert, kei- nen positiven Anhaltspunkt für die Authentizität des Moskauer Halder-Vortrags- textes. Der Moskauer Text verlangt offensichtlich eine viel rigorosere Überprüfung sei- ner Authentizität, wobei die analoge Anwendung der sog. »Morelli-Methode« wei- terhelfen kann. Der italienische Kunsthistoriker und Parlamentsabgeordnete Giovanni Morel- li (1816-1891), der seine Forschungsresultate anfänglich, in den Jahren 1874 bis 1876, unter dem russischen Pseudonym »Iwan Lermolieff« in der »Zeitschrift für bildende Kunst« veröffentlichte, gilt als der Begründer der sog. »Kennzeichenleh- re«85. In einer kurzen Zusammenfassung schildert der italienische Historiker Car- lo Ginzburg Morellis Methode folgendermaßen: »Die Museen, so sagte Morelli, sind voll von Bildern, deren Autoren nur un- genau ermittelt sind [...] Sehr oft hat man es mit Werken zu tun, die nicht sig- niert, die vielleicht übermalt oder schlecht erhalten sind. In solchen Fällen ist es unbedingt notwendig, die Originale von den Kopien unterscheiden zu können. Man dürfe sich daher, so Morelli, nicht — wie es sonst üblich ist — auf die be- sonders auffälligen und daher leicht kopierbaren Merkmale der Bilder stützen: die gen Himmel gerichteten Augen der Figuren Peruginos, das Lächeln der Ge- stalten Leonardos usw. Man solle stattdessen mehr die Details untersuchen, de- nen der Künstler weniger Aufmerksamkeit schenkt und die weniger von der Schule, der er angehört, beeinflußt sind: Ohrläppchen, Fingernägel, die Form von Fingern, Händen und Füßen. Auf diese Weise entdeckte Morelli die für Botticelli, die für Cosimo Tura typische Form der Ohren und katalogisierte sorg- fältig alle diese Merkmale, die in den Originalen, nicht aber in den Kopien vor- kommen. Mit dieser Methode revidierte er die Zuordnung zahlreicher Gemäl- de aus einigen der wichtigsten Museen Europas86.« Ähnlich wie Morelli hatte schon 1788 der Freiherr von Knigge in seinem Werk als Maxime bei der Beurteilung von Menschen empfohlen: »Richte deine Achtsamkeit auf die kleinen Züge, nicht auf die Haupthandlun- gen, zu denen Jeder sich in seinen Staatsrock steckt87.« Nach Auskunft der Editoren Hartmann und Slutsch wurden im Text des Haider- Vortrags »offensichtliche Rechtschreib- und Interpunktionsfehler [...] stillschweigend korrigiert«88. Aber im gedruckten Text des Haider-Vortrags sind dennoch zwei in- teressante orthographische Fehler (OF) vorhanden, die im Sinne Morellis und Knig-

84 Vgl. Bor, Gespräche (wie Anm. 14), S. 217. 85 Zu Morelli vgl. die biographischen Angaben in Meyers Großes Konversations-Lexikon, 6. Aufl., Bd 14, Leipzig, Wien 1909, S. 139 f. 86 Carlo Ginzburg, Spurensicherungen. Uber verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis, München 19S8.(= dtv 10974), S. 79 f. 87 Adolph Freiherr v. Knigge, Uber den Umgang mit Menschen, Leipzig o.J. (Reclam-Ausg.), S. 79, Ziff. 58. Einen ähnlichen Rat gibt auch Schopenhauer in seinen Gedanken zur Ethik: »Wer die kleinen Charakterzüge unbeachtet läßt/hat es sich selber zuzuschreiben, wenn er nachmals aus den großen den betreffenden Charakter, zu seinem Schaden, kennen lernt.« Vgl. dazu Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena: kleine philosophi- sche Schriften, Bd 2, Leipzig o.J. (Reclam-Ausg.), § 118, S. 237. 88 Hartmann/Slutsch, Franz Haider (wie Anm. 3), S. 479, Anm. 1. Eine authentische Halder-Ansprache? 485

ges jene Details bzw. Minizüge darstellen, die der historische Analytiker näher un- tersuchen sollte. OF1 : »Daß [...] die ukrainische Empörung gefördert werden wird, versteht sich von selbst. Hier stehen bereits seit dem vorigen Herbst gewisse Kaders zur Ver- fügung89.« Nach der Duden-Ausgabe von 1926, die auf dem preußischen amtlichen Regel- buch in der Fassung von 1914 basiert, ist die Schreibung des Wortes »Kader« mit einem Plural-s unzulässig (im Gegensatz zu Österreich)90. Man findet aber trotzdem Beispiele (B) für den Gebrauch der regelwidrigen Pluralform mit dem sog. »Plu- ralis Borussicus«91: Bl: In der ersten Jahreshälfte 1914 konstatierte der aus der preußischen Pio- niertruppe hervorgegangene Militärschriftsteller Herman Frobenius (1877-1881 Lehrer für Befestigungskunst und FeStungskrieg an der Kgl. Preuß. Kriegsakademie92), »daß mit der Wahrscheinlichkeit einer kriegeri- schen Lösung in nicht allzuferner Zeit wird gerechnet werden müssen«93 und wies zugleich auf eine Störung des militärischen Gleichgewichts nach Einführung der dreijährigen Dienstzeit in Frankreich hin: »die Vermehrung der deutschen Kaders und infolge dessen der Rekruten hielt in Deutschland nicht mit dem Anwachsen der Bevölkerung Schritt«, während man in Frank- reich »nicht nur drei, sondern sogar vier Jahrgänge im nächsten Jahr in der stehenden Armee haben kann, d.h. eine größere Stärke der Kaders, als für den Kriegsstand notwendig ist«94. B2: Im Jahre 1918 bekundete Generalleutnant Hugo Frhr. v. Freytag-Loringho- ven, der frühere Chef der Kriegsgeschichtlichen Abteilung I des Großen Ge- neralstabes, in seinem Plädoyer gegen ein künftiges Milizheer: »Der krie- gerische Geist [.„] erhält sich nur in starken Friedenskaders95.« B3: In seinen »Grundsätzliche[n] Gedanken zu dem Organisationsplan >Heer<« formulierte Generalfeldmarschall v. Manstein im November 1955: »Soweit ich unterrichtet bin, sollen nach dem derzeitigen Zeitplan alle Kaders, sowohl für die >Grundverbände< wie für die Heerestruppen gleichzeitig aufgestellt und im gleichen Zeitplan aufgefüllt werden96.« Mit der Formulierung »gewisse Kaders« wird im Halder-Vortragstext auf die seit 1937 bestehenden Kontakte des deutschen militärischen Nachrichtendienstes, der Abwehr, zur Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) angespielt97. Nach

89 Ebd., S. 492. 90 Vgl. Duden, 9. Aufl., Leipzig 1926, S. 223; Der Große Duden, Leipzig 1934, S. 259. 91 Vgl. dazu Gustav Wustmann, Allerhand Sprachdummheiten. Kleine deutsche Gram- matik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen, 4. Aufl., Leipzig 1908, S. 23. 92 Vgl. Oberst a.D. Bernhard Schwertfeger, Die großen Erzieher des deutschen Heeres. Aus der Geschichte der Kriegsakademie, Potsdam 1936, S. 142. 93 Oberstleutnant a.D. Herman Frobenius, Des Deutschen Reiches Schicksalsstunde, 11. Aufl., Berlin 1914, S. 6. 94 Ebd., S. 71 und 73. 95 Generalleutnant Frhr. v. Freytag-Loringhoven, Geschultes Volksheer oder Miliz? Kriegs- lehren aus Vergangenheit und Gegenwart, 4. Aufl., Berlin 1918, S. 113. Vgl. auch ders., Fol- gerungen (wie Anm. 42), S. 28, zur k.u.k. Armee: »Die schwachen Friedenskaders hatten die Erziehung zu einer wirklichen Schlachtentaktik nicht ermöglicht.« 96 Zum Abdruck der »Grundsätzliche[n] Gedanken Mansteins siehe Manstein/ Fuchs, Man- stein (wie Anm. 21), S. 389-405. Zitat: S. 393. 97 Vgl. dazu Oscar Reile, Geheime Ostfront. Die deutsche Abwehr im Osten 1921-1945, München, Wels 1963, S. 234 f. 486 MGM 58 (1999) Klaus Mayer

Auskunft von Oberstleutnant a.D. Oscar Reile, zuletzt (1944/45) Kommandeur der Frontaufklärung III West, wurden von der Abteilung II (Abwehr II), der zuständi- gen Abteilung des Amtes Ausland/Abwehr (A Ausl./Abw.) im Oberkommando der Wehrmacht (OKW) für den »Einsatz von Minderheiten«, ukrainische »Ver- trauensleute der Abwehr« als Saboteure geschult: »Die Ausbildung der als geeignet befundenen Ukrainer erfolgte ab 1938 teils in einem abseits gelegenen Ferienheim am Chiemsee, teils in Laboratorien der Abwehrabteilung II in Tegel bei Berlin, teils auf dem Quenzgut bei Branden- burg98.« Am 1. September 1939, zu Beginn des Polen-Feldzuges, erklärte die 1. (Operati- ons-) Abteilung des GenStdH zu einer Anfrage von Abw. II, daß »kein militärisches Interesse« an einem Einsatz des ausgebildeten ukrainischen Kontingentes (Tarn- bezeichnung: »Bergbauernhilfe«) in einer Stärke von 250 Mann seitens des Ober- kommandos des Heeres (OKH) bestünde99. Zu einer militärischen Einheit wurden die Ukrainer von der Abw. II aber erst im Winter 1940/41 zusammengefaßt. Im Lager Neuhammer bei Liegnitz stellte der militärische Kampfverband der Abwehr, das Lehrregiment Brandenburg z.b.V. 800, unter der Tarnbezeichnung »Nachtigall« ein ukrainisches Bataillon auf100, das al- lerdings noch im gleichen Jahr wieder aufgelöst wurde101. Der französische Begriff »Cadre«102 wurde aber im preußisch-deutschen Hee- re, wie man z.B. anhand der Diktion des preußischen Kriegsministers Albrecht v. Roon103 und des Chefs des Großen Generalstabes, Generalfeldmarschall Graf Helmuth v. Moltke104 feststellen kann, nur für aktive Militärpersonen (Offiziere und Unteroffiziere), die den Stamm bzw. »Rahmen« von regulären militärischen Ver- bänden bildeten, verwandt. Eine Erweiterung seines Bedeutungsinhalts erfuhr der Kaderbegriff aber im kommunistischen Sprachgebrauch, speziell in der früheren UdSSR. Hier wurde er auch außerhalb der militärischen Sphäre105 auf Leitungspersonal bzw. Spezialisten

98 Ebd., S. 245. 99 Vgl. dazu Helmuth Groscurth, Tagebücher eines Abwehroffiziers 1938-1940. Mit weite- ren Dokumenten zur Militäropposition gegen Hitler. Hrsg. von Helmut Krausnick und Harold C. Deutsch, Stuttgart 1970 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd 19), S. 252 (Diensttagebuch vom 1.9.1939). Erst am 10.9.1939 erfolgte die Einsatzfrei- gabe für die »Bergbauernhilfe«, jedoch nur »zu polizeilichen Zwecken«; vgl. ebd., S. 266 (Diensttagebuch vom 10.9.1939). 100 Vgl. Reile, Geheime Ostfront (wie Anm. 97), S. 366. 101 Vgl. dazu Russell Miller, Die Kommandotruppen, Eltville a.Rh. 1994, S. 136. 102 Zur historischen Entwicklung des Kaderbegriffs vgl. den von Christoph Müller verfaß- ten Artikel in Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft. Eine vergleichende Enzy- klopädie, hrsg. von Claus-Dieter Kernig, Bd 3, Freiburg, Basel, Wien 1969, Sp. 453-456. 103 Für Roon waren die »Kadres« die »bleibenden organischen Elemente« der Armee. Vgl. hierzu speziell seine »Bemerkungen und Entwürfe zur vaterländischen Heeresverfas- sung« (1858); gekürzter Abdruck in Deutsches Soldatentum. Dokumente und Selbst- zeugnisse aus elf Jahrhunderten deutscher Wehrgeschichte, hrsg. vori Johannes Ullrich, Stuttgart 1941, S. 203-224. Zitat: S. 218. 104 Vgl. dazu seine Reden (wie Anm. 41), S. 110 (Reichstagsrede vom 16.2.1874), S. 123 (24.4.1877), S. 130 (1.3.1880) und S. 133 (4.12.1886). 105 Für den militärischen Bereich vgl. z.B. den Bericht des Vorsitzenden des Staatlichen Ver- teidigungskomitees in der Festsitzung des Moskauer Sowjets am 6.11.1943, in: Josif Sta- lin, Uber den Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion, Berlin 1945, S. 89 f.: »Die- ses Jahr war das Jahr dés Umschwungs auch deshalb, weil es der Roten Armee gelun- gen ist, in verhältnismäßig kurzer Frist die erfahrensten alten Kader der faschistischen Eine authentische Halder-Ansprache? 487 in allen staatlichen und gesellschaftlichen Bereichen angewandt106. Auf diese Wei- se war der »magische«107 Begriff natürlich auch ein fester Bestandteil der Tscheki- stensprache, wie die folgenden Sätze aus dem 1979 in Moskau publizierten Buch von Generalmajor S.S. Ostrjakow belegen: »Um die Staatssicherheitsorgane mit zuverlässigen Kadern zu stärken, dele- gierte die Partei vor dem Krieg Hunderte von erfahrenen Partei-, Sowjet- und Militärfunktionären in das NKWD. Die Führungskader der Sonderabteilungen wurden [...] mit Kommunisten aus der Armee, Kommandeuren und Politar- beitern mit abgeschlossener Ausbildung an Militärakademien sowie mit er- probten Tschekisten aus den territorialen Organen des NKWD aufgefüllt [...] Diese Kader hatten bei der Organisation des Kampfes der Armee- und Flot- tentschekisten gegen den faschistischen deutschen Geheimdienst im Großen Vaterländischen Krieg die Hauptlast zu tragen108.« In der deutschen Heeressprache verlor der Kadres-Begriff nach 1900, dank der Bemühungen der »Sprachreiniger«109, die im preußisch-deutschen Heere von Al- lerhöchster Stelle gefördert wurden110, seine Präsenz. Hatte der preußische Kriegs- minister v. Einem bei seiner Dienstkorrespondenz mit dem Großen Generalstab im Jahre 1904 noch den Kadres-Begriff benutzt111, so dokumentiert ein Schreiben des Großen Generalstabes vom 11. März 1909 an das preußische Kriegsministerium, bei dem es um die Organisation der Reservekorps ging, den inzwischen vollzoge- nen Sprach wandel. In diesem vom Chef der 2. Abteilung des Großen Generals ta- bes, dem damaligen Oberstleutnant Erich Ludendorff, konzipierten Schreiben, das mit der Gegenzeichnung von General v. Stein (Oberquartiermeister I) und der Un- terschrift von General Helmuth v. Moltke d J. (Chef des Großen Generalstabes) ver-

deutschen Truppen zu zerschlagen und aufzureiben und gleichzeitig in den erfolgrei- chen Angriffskämpfen im Laufe des Jahres die eigenen Kader zu stählen und zu ver- größern [...] Heute ist die faschistische deutsche Armee schon nicht mehr das, was sie zu Beginn des Krieges war. Hatte sie zu Beginn des Krieges eine genügende Menge er- fahrener Kader, so ist sie heute verwässert mit neugebackenen jungen unerfahrenen Of- fizieren [...] Ein ganz anderes Bild bietet jetzt die Rote Armee. Ihre Kader sind in den er- folgreichen Offensivkämpfen des abgelaufenen Jahres gewachsen und stahlhart gewor- den. Die Zahl ihrer kampferprobten Kader wächst und wird weiter wachsen, da das Vor- handensein der notwendigen Offiziersreserven ihr die Zeit und die Möglichkeit gibt, die jungen Offizierskader zu schulen und sie auf verantwortliche Posten zu stellen.« 106 Vgl. dazu die Angaben der Great Soviet Encyclopedia. A Translation of the Third Editi- on, Vol. 11, New York, London 1976, S. 20 f., zu »Cadres« sowie das Stichwort »Kader« im Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie. Hrsg. von Georg Assmann [u.a.], Berlin (Ost) 1977, S. 325 f. 107 So in Anlehnung an Karl Korn, Sprache in der verwalteten Welt, München 1962 (= dtv 79), S. 64. ios Ygj ¿¿g deutsche Ausgabe: Sergej Sacharowitsch Ostrjakow, Militärtschekisten, Berlin (Ost) 1985, S. 119 f. 109 Vgl. dazu Wustmann, Sprachdummheiten (wie Anm. 91), S. 433. 110 ; »Um die Reinheit der Sprache in Meinem Heere zu fördern«, bestimmte Kaiser Wilhelm II. am 1.1.1899, daß die bisherigen Rangbezeichnungen »Offizier-Aspirant«, »Portepee- Fähnrich«, »Sekonde«-, »Premier«-, »Oberst«- und »Generallieutenant« sowie die Be- griffe »Charge«, »Funktion«, »Avancement« und »Anciennetät« durch deutsche Wörter zu ersetzen seien. Zum vollen Wortlaut der Allerhöchsten Kabinets-Ordre vom 1.1.1899 siehe D.V.E. Nr. 362: Kompendium über Militärrecht. Hrsg. vom Kgl. Preuß. Kriegsmi- nisterium, Berlin 1911, S. X. 111 Vgl. dazu General Erich Ludendorff, Mein militärischer Werdegang. Blätter der Erinne- rung an unser stolzes Heer, München 1937, S. 93. 488 MGM 58 (1999) Klaus Mayer sehen war, tauchte der Kadres-Begriff nicht mehr auf; an seine Stelle war das deut- sche Wort »Stamm« getreten112. Diese neue Sprachmanier, die sich auch in der militärischen Fachliteratur ma- nifestierte113, wurde, wie die Beispiele (B4) bis (B15) belegen, nach dem Ersten Welt- krieg in der deutschen Heeressprache beibehalten: B4: »der Weltkrieg [erschüttert] die These, daß große stehende Heere Vorbe- dingung einer Landesverteidigung sind. Es genügen verhältnismäßig klei- ne Stämme, die zur Bildung des Führer- und Ausbildungspersonals im Frie- den unterhalten werden114.« B5: In seiner Denkschrift vom 30. September 1926 konzipzierte Oberstleutnant Wilberg, der Leiter des Fliegerstabes im , das geheime Ausbil- dungsprogramm für den »Fliegerwaffenstamm« des Reichsheeres an der deutschen Fliegerschule in Lipezk (UdSSR)115. B6: In seiner Abhandlung über »Moderne Heere« verwendete Generaloberst v. Seeckt den Begriff »Stamm«116. B7: In seinen Gedanken zur »Landesverteidigung« schrieb General der Infan- terie Walther Reinhardt, der erste Chef der Heeresleitung (1919/20): »die Amerikaner [...] entwickeln ein großes Reserve-Offizier-Training-Korps an ihren technischen und allgemeinen Hochschulen [...] Als Lehrerkorps und Stamm dient das 10 000 Köpfe starke aktive Offizierkorps117.« B8: »die Stämme der Waffenschulen müßten in das 100 000-Mann-Heer mit ein- gerechnet werden118.« B9: Im Jahre 1935 empfahl Oberstleutnant Nehring (Reichswehrministerium, zuletzt General der Panzertruppen und Oberbefehlshaber der 1. Panzerar-

112 Vgl. die Wiedergabe des Schreibens vom 11.3.1909 ebd., S. 133 f. Der betreffende Passus lautet: »ich [halte] die Zuteilung eines größeren Stammes von aktiven Offizieren und Unteroffizieren zu den einzelnen Reserveformationen von allerentscheidendster Be- deutung.« 113 In seiner Studie über die Kriegführung mit Massenheeren konstatierte General der In- fanterie z.D. Ludwig Frhr. v. Falkenhausen: »Die Größe der zu erwartenden Aufgaben [zukünftiger Kriegshandlungen] verlangt eine Ergänzung des eigentlichen Feldheeres durch [...] Neubildungen, die aus schwachen Stämmen aufgebaut werden müssen.« Vgl. ders., Der große Krieg der Jetztzeit. Eine Studie über Bewegung und Kampf der Mas- senheere des 20. Jahrhunderts, 2. Aufl., Berlin 1911, S. 7. 114 Major a.D. George Soldan [Archivrat und Mitglied des Reichsarchivs], Der Mensch und die Schlacht der Zukunft, Oldenburg i.0.1925, S. 81. 115 Vgl. dazu T.A. (L), Nr. 550/26 V.II.Ang.geh. Kdos.«z« betr. Ausbildung des Fliegerwaf- fenstammes 1926/27 vom 30.9.1926. In: Karl-Heinz Völker, Dokumente und Dokumen- tarfotos zur Geschichte der deutschen Luftwaffe. Aus den Geheimakten des Reichs- wehrministeriums 1919-1933 und des Reichsluftfahrtministeriums 1933-1939, Stuttgart 1968 (= Beiträge zur Militär- und Kriegsgeschichte, Bd 9), Dok. Nr. 26, S. 107 f. 116 Vgl. dazu Generaloberst v. Seeckt, Gedanken eines Soldaten, Berlin 1929, S. 96 f., wo der frühere Chef der Heeresleitung zur Ergänzung eines Berufsheeres den folgenden Aus- bildungsmodus vorschlug: »Neben und in engster Verbindung mit diesem Heer steht ein aus Offizieren, Unteroffizieren und Mannschaften zusammengesetzter Ausbil- dungsstamm, durch dessen Übungsformationen und Schulen die gesamte waffenfähige Jugend des Landes hindurchläuft mit kurzer erster Ausbildungszeit und den erforder- lichen Wiederholungskursen.« 117 Zit. nach Reinhardt, Wehrkraft (wie Anm. 39), S. 102. 118 Oberst a.D. Bernhard Schwertfeger, Das Landheer, in: Zehn Jahre Versailles, Bd 2: Die politischen Folgen des Versailler Vertrages. Hrsg. von Heinrich Schnee und Hans Drae- ger, Berlin 1929, S. 140. Eine authentische Halder-Ansprache? 489

mee) die »Verwendung starker Stämme von Berufssoldaten für motorisier- te und vor allem für Panzertruppen«119. BIO: In seiner 1935 erstmals publizierten Schrift »Der totale Krieg« gab General Ludendorff die folgende Erläuterung: »(Reserve-)Divisionen [...] werden aus Mannschaften der Reserve-Jahrgänge zusammengesetzt unter Zutei- lung stärkerer Stämme des Friedensheeres120.« Bll: Im Jahre 1935 umschrieb »Gallicus«, der wohl im Potsdamer Militärmilieu zu suchende Übersetzer der Studie »Vers l'Armée de métier« des damali- gen Oberstleutnants Charles de Gaulle, die von de Gaulle gebrauchte Vokabel »cadres« mit den Begriffen »Offizier- und Unteroffizierkorps«, »Rahmen« bzw. »Truppe«121. B12: Im Jahre 1937 bezog das Leipziger Bibliographische Institut den Kader(Ca- dre)-Begriff, definiert als »Stamm« bzw. »Rahmen«122 ausschließlich auf nichtdeutsche Militärverbände123. B13: In seiner im Januar 1939 abgeschlossenen Einführungsschrift zur Wehrpo- litik versicherte Generalleutnant z.V. von Metzsch: »das kleine britische Landheèr [...] ist so gegliedert, daß Teile rasch für bedrohte Punkte des Welt- reichs verfügbar sind, aber nicht so, um den Stamm für eine Kitchner-Armee Nr. 2 zu bilden124.« B14: Uber die personelle Situation bei den Reserve-, Landwehr- und Ersatz-Di- visionen des deutschen Heeres im September 1939 berichtete General West- phal, zuletzt Chef des Generalstabes des OB West: »Bei allen 46 Divisionen hatte keine Kompanie mehr als 8 % aktive Stamm-Mannschaften125.« B15: In der von Generaloberst Haider unterzeichneten »Weisung für die Kampf- führung im Osten nach Abschluß des Winters« des OKH vom 12. Februar 1942 wurde zur künftigen Sicherung der Schlagkraft des Heeres verlangt, »die gut ausgebildeten und im Kampf erprobten, hochwertigen Spezialisten aller Waffen, besonders aber der schnellen Verbände und Heerestruppen, sobald als möglich aus dem infanteristischen Einsatz herauszuziehen, um sie [...] als Stämme für spätere Neuaufstellungen zur Verfügung zu haben126.« Vor diesem Sprachentwicklungshintergrund stellt sich natürlich die Frage: Gehör- te das Wort »Kader« tatsächlich zum militärischen Sprachrepertoire von General- oberst Halder? Aus zwei Gründen hält dies der Verfasser für sehr unwahrscheinlich: Erstens: In seinem »Verdeutschungswörterbuch« aus dem Jahre 1918 hat der Schriftsteller Eduard Engel für »Kader« u.a. auch den deutschen Ausdruck »Ge-

119 Vgl. Walther Nehring, Heere von morgen. Ein Beitrag zur Frage der Heeresmotorisie- rung des Auslandes, Potsdam [1935], S. 65. 120 Erich Ludendorff, Der totale Krieg, München 1936, S. 65. 121 Vgl. dazu Charles de Gaulle, Frankreichs Stoßarmee. Das Berufsheer — die Lösung von morgen, Potsdam 1935, S. 41, 82 und 84 bzw. den französischen Originaltext in der TB- Ausg.: Charles de Gaulle, Vers l'armée de métier, Paris 1963, S. 61,172 und 178. 122 Vgl. Meyers Lexikon, 8. Aufl., Bd 6, Leipzig 1939, Sp. 676. 123 Vgl. ebd., Bd 2, Leipzig 1937, Sp. 352. 124 Metzsch, Wehrpolitik (wie Anm. 40), Berlin 1939, S. 41 f. 125 Siegfried Westphal, Heer in Fesseln. Aus den Papieren des Stabschefs von Rommel, Kes- selring und Rundstedt, Bonn 1950, S. 110. 126 Zum Text der OKH-Weisung vom 12.2.1942 siehe KTB OKW (wie Anm. 30), Bd 1, Dok. 115, S. 1097 f. 490 MGM 58 (1999) Klaus Mayer

rippe« vermerkt127. Diese Verdeutschung des Kaderbegriffs taucht aber in Halders Schrift über den »Feldherrn Hitler« in dem folgenden Satz auf: »So kamen einige frische und zahlenstarke, aber völlig unerfahrene junge Kampfverbände in die Front der bis auf ein Führungs- und Nachschub-Gerippe ausgebrannten kampfer- probten Ostdivisionen128.« Zweitens: Die »Gespräche mit Halder« geben die folgende Bemerkung des Ge- neralobersten über den Aufbau der Volkspolizei in der SBZ als wörtliches Zitat wieder: »Die Volkspolizei weist sich unzweideutig als eine Armee für den Bür- gerkrieg aus. Eine straffe Organisation und [...] in den Spitzen erprobte Kämpen der internationalen Bürgerkriege f...]129.« Halder belegte also die Volkspolizei-Führungs- kader mit dem antiquierten Ausdruck »Kämpen«. OF2: »es darf gar nicht dazu kommen, daß sich die polnische Armee nach den ersten Chocks noch einmal >setzt<130.« Nach Angabe der Editoren entstammt der Begriff »Chock« der Kavalleristenspra- che; für seine Verwendung durch den Chef GenStdH offerieren sie eine biogra- phische Erklärung: »Haider [...] hatte als Artillerist intensiven Reitunterricht ge- nossen131.« Merkwürdigerweise fehlt aber bei Hartmann der wichtige Hinweis, daß die in der Niederschrift des Halder-Vortrags vorkommende Schreibung »Chock« ortho- graphisch unrichtig ist; die richtige Schreibweise lautet (als französisches Wort) »Choc«132 bzw. (nach der Orthographischen Konferenz im Juni 1901) »Chok«133. Im Halder-Vortrag wurde der kavalleristische Zentralbegriff »Chok«134 in der Wortbedeutung »Zusammenstoß«135 verwendet. Genau in diesem Sinne gebrauchte man tatsächlich den Chok-Begriff im preußisch-deutschen Heere. So benutzte ihn z.B. Major Arnold Frhr. v. Hammerstein-Equord, der (der preußischen Gardein- fanterie136 entnommene) deutsche Miiitârattaché in Rom, in seinem Bericht vom

127 Vgl. Eduard Engel, Entwelschung. Verdeutschungswörterbuch für Amt, Schule, Haus, Leben, Leipzig 1918, Sp. 233. Zur Übersetzung von »cadre« mit dem deutschen Wort »Gerippe« vgl. auch Major Nagel, Der englische Dolmetscher, 2. Aufl., Berlin 1936, S. 58 und 112. 128 Halder, Hitler (wie Anm. 13), S. 10 f. 129 Vgl. Bor, Gespräche (wie Anm. 14), S. 244. 130 Hartmann/Slutsch, Franz Haider (wie Anm. 3), S. 493. 131 Ebd., S. 468, Anm. 4. 132 So noch bei Heros v. Borcke und Justus Scheibert, Die große Reiterschlacht bei Brandy Sta- tion — 9. Juni 1863, Berlin 1893 (reprograph. Nachdr.: Wyk a. Föhr 1992), S. 63 und 166: hier die dt. Ubersetzung der Instruktionen des Gen. J.E.B. Stuart für den Kampf der kon- föderierten Kavallerie, die dem »Choc« das größte Gewicht beimessen: »Diesem letzten Stoße kann nicht Gewalt genug gegeben werden; denn in dem Gewicht des Anpralls der Pferde liegt das Geheimnis des Gelingens der Reiter-Attacken.« 133 Vgl. Duden, 9. Aufl., Leipzig 1926, S. 74. 134 In seiner 1860 verfaßten Denkschrift »Uber die Grundsätze der Kriegs- und Gefechts- führung« vertrat H. v. Moltke die Auffassung, das »Entscheidende« beim Einsatz der Kavallerie sei die »Vehemenz des geschlossenen Anrennens«, die er folgendermaßen de- finierte: »Der Stoß ist das Produkt aus der Masse, multipliziert mit der Geschwindigkeit [...] Die Vehemenz des Choks hängt freilich nicht allein von Masse und Geschwindig- keit, sondern wesentlich [...] von dem Willen des Reiters ab.« Zum gekürzten Abdruck der Denkschrift siehe Deutsches Soldatentum (wie Anm. 103), S. 237-246. Zitat: S. 243. 135 Nach Meyers Großes Konversations-Lexikon, 6. Aufl., Bd 4, Leipzig, Wien 1908, S. 87, ist »Chok« der »gewaltsame Zusammenstoß zweier Körper«. 136 Zu A. Frhr. v. Hammerstein-Equord vgl. Gothaisches Genealogisches Taschenbuch der Freiherrlichen Häuser, 50 (1900), S. 289: hier die Angabe: Komp.-Chef im 1. GRgt. z.F. Eine authentische Haid er-Ansprache? 491

20. März 1906, worin er zum wahrscheinlichen Verlauf eines militärischen Kon- flikts zwischen Österreich und Italien die Ansicht vertrat, »daß Italien in erster Li- nie mit einem Einmarsch der Hauptkräfte der Österreicher auf den Straßen südlich Udine rechnet, somit ist anzunehmen, daß das V. und VI. Armeekorps bestimmt sind, den ersten Chok am Tagliamento auszuhalten137.« Aber auch der Chok-Begriff war kein konstantes Element der preußisch-deut- schen Heeressprache. Noch im Winter 1902 hatte Generalmajor v. Bernhardi, der da- malige Kommandeur der 31. Kavallerie-Brigade, in seiner Zusammenstellung der wichtigsten Gefechtsnormen für das Gefecht gegen Kavallerie mit Hinweis auf den § 313 des Exerzier-Reglements für die Kavallerie den Chok ausdrücklich erwähnt: »Der Erfolg darf nicht durch Überlegenheit der Zahl, sondern muß durch die größere Wucht des Choks erstrebt werden (§ 313). Es muß daher auf Geschlos- senheit das größte Gewicht gelegt werden138.« In der am 22. März 1908 von Kaiser Wilhelm II. genehmigten Felddienst-Ordnung wurde aber die gleiche Gefechtsnorm ohne die Verwendung des Fremdwortbe- griffs »Chok« sanktioniert: »Für den Erfolg eines Kavallerieangriffs [...] Gegen Kavallerie kommt es vor al- lem auf geschlossenen, kräftigen Stoß an139.« Das offizielle Verwendungsende für den Chok-Begriff kam mit dem Erlaß des neu- bearbeiteten Exerzier-Reglements für die Kavallerie im Jahre 1909. In dieser Aus- bildungsvorschrift wurde das Wort »Chok« durch den deutschen Ausdruck »Stoß- kraft« ersetzt140. Auch die militärische Fachliteratur folgte diesem sprachlichen Substitutions- akt, wofür die Kompendien von Oberstleutnant Balck141 (1899 Lehrer für Kriegs- geschichte an der Königlich Preußischen Kriegsakademie142) und Oberst Imma- nuel143 (1904 Lehrer für Kriegsgeschichte und Taktik ebd.144) sowie die Schriften von Major/Oberstleutnant Hoppenstedt145 (1887 Kriegsakademie-Dozent für Waf- fenlehre146) exemplarische Belege liefern. Somit war also der Chok-Begriff schon in offizieller Form aus der deutschen Heeressprache getilgt, bevor der junge bayerische Feldartillerieoffizier Franz Haider

137 Zu Hammersteins Bericht vom 20.3.1906 siehe Die Große Politik der Europäischen Ka- binette 1871-1914. Sammlung der Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes, Bd 21/2, Berlin 1927, Nr. 7175, S. 412^14. Zitat: S. 413. 138 Friedrich v. Bernhardi, Unsere Kavallerie im nächsten Kriege. Betrachtungen über ihre Verwendung, Organisation und Ausbildung, 2. Aufl., Berlin 1903, S. 165. 139 Vgl. D.V.E. Nr. 267: Felddienst-Ordnung (F.O.), Berlin 1908, S. 173, Ziff. 585 f. 140 Vgl. Oberst Friedrich Stuhlmann, Die Sprache des Heeres. Eine heeresgeschichtlich- sprachliche Untersuchung, Berlin 1939, S. 61, Nr. 31. 141 Vgl. Balck, Taktik, 4. Aufl., Bd 4, Berlin 1909, S. 204 (hier der dt. Ausdruck »Zusammen- stoß«) und die folgende Aussage auf S. 205: »Je näher wir an den Feind kommen, um so größer wird die Wahrscheinlichkeit des Aufeinanderprellens der beiderseitigen Kaval- lerien«. 142 Vgl. Schwertfeger, Erzieher (wie Anm. 92), S. 138. 143 Vgl. Friedrich Immanuel, Lehnerts Handbuch für den Truppenführer, 37. Aufl., Berlin 1915, S. 65, Nr. 158 (Attacke gegen Kavallerie) und S. 197, Nr. 431 (Kavallerie im Kampf mit Kavallerie). 144 Vgl. Schwertfeger, Erzieher (wie Anm. 92), S. 138 und 140. 145 Vgl. Hoppenstedt, Ein neues Wörth. Ein Schlachtenbild der Zukunft, Berlin 1909, S. 187 und 189: »Anprall«; ders., Deutschlands Heer in der Entscheidungsschlacht, Berlin 1913, S. 57 und 59-61: »Anprall«, »Stoß«, »Zusammenprall« und »Zusammenstoß«. 146 Vgl. Schwertfeger, Erzieher (wie Anm. 92), S. 141. 492 MGM 58 (1999) Klaus Mayer

(geb. 1884) seine wichtigste und intensivste militärwissenschaftliche Ausbil- dungsperiode antrat: Der Leutnant (ab 7. März 1912 Oberleutnant) Halder vom 3. bayerischen Feldartillerie-Regiment Prinz Leopold (München) besuchte von 1911 bis 1914 die Bayerische Kriegs-Akademie in München147. Nun hat aber Halder an der Bayerischen Kriegs-Akademie »weitreichende Stu- dien der französischen Kriegskunst« betrieben148, so daß ihm das französische Mi- litäridiom natürlich geläufig war. Doch selbst dieses Faktum bietet keineswegs die Gewähr für die tatsächliche Verwendung des Chokbegriffs durch Halder, wie das Sprachverhalten eines anderen bayerischen Offiziers demonstriert, der ebenfalls eine genaue Kenntnis des französischen Militärwesens besaß. Am 5. Februar 1912 hielt der zur Zentralstelle des Königlich bayerischen Generalstabes kommandier- te Oberleutnant im Königlich bayerischen Infanterie-Leib-Regiment Franz End- res149 in der militärischen Gesellschaft in München einen Vortrag über das Thema »Moderne französische Taktik in ihren charakteristischen Merkmalen«. Vom Vor- tragenden wurde der Chokbegriff nicht artikuliert, obwohl Endres bei der Darle- gung des französischen Angriffsverfahrens das »Aufeinanderprallen zweier ge- schlossener Linien« erwähnte150. Sogar beim Zitieren aus dem Werk »Deux con- férences. La notion de sûreté et l'engagement des grandes unités« von Grandmai- son151 bediente sich Endres in seiner Ubersetzung einer rein deutschen Ausdrucksweise und sprach vom »taktischen Zusammenstoß«152. Auch die folgenden Beispiele (B16) bis (B26) belegen die Elimination des Chok- begriffs aus der deutschen Heeressprache: B16: »Der Operationsplan [...] umfaßt nach Moltkes Ausspruch mit einiger Si- cherheit nur die Maßnahmen bis zum ersten Zusammenstoß mit den feind- lichen Hauptkräften153.« B17: »die Massenbildungen führen lediglich zu Angriffen gegen die Front mit unzureichenden Kräften, zu aufeinanderfolgenden, immer schwächer wer- denden Stößen, die nahezu wirkungslos bleiben154.« B18: »[...] Ludendorff sagte mir, daß wir mit unseren 2 braven Divisionen vom IX. R.K. schon in nächster Zeit an andre Stellen müssen, wo man zunächst star- ken Anprall erwartet155.«

147 Zum Lebenslauf Halders vgl. Schall-Riacour, Aufstand (wie Anm. 32), S. 334 f. 148 Vgl. ebd., S. 148. 149 Zu F.C. Endres siehe die biographischen Angaben in Hermes Handlexikon: Die Frie- densbewegung. Organisierter Pazifismus in Deutschland, Österreich und in der Schweiz, hrsg. von Helmut Donat u. Karl Holl, Düsseldorf 1983, S. 102 f. 150 Vgl. Franz Endres, Moderne französische Taktik in ihren charakteristischen Merkmalen, Oldenburg i.Gr. 1912, S. 29. 151 Zu Oberstleutnant de Grandmaison, Chef der Operationsabteilung des französischen Generalstabes und Verkünder der »offensive à l'outrance«, vgl. Basil Henry Liddell Hart, Foch. Der Feldherr der Entente, Berlin [1938], S. 45 f. 152 Vgl. Endres, Moderne französische Taktik (wie Anm. 150), S. 41. In seinem Vortrag ge- brauchte Endres auch die Begriffe »Entscheidungs«- (S. 28 f. und 33), »Frontal«- (S. 32) und »Massenstoß« (S. 28). 153 Falkenhausen, Der große Krieg (wie Anm. 113), S. 37. Vgl. auch ebd., S. 75-171, den 3. Ab- schnitt seiner Studie: »Die ersten Zusammenstöße der Heere«. 154 Generalfeldmarschall Graf Alfred v. Schlieffen, Cannae, 3. Aufl., Berlin 1936, S. 213. 155 Generalmajor a.D. Albrecht v. Thaer, Generalstabsdienst an der Front und in der O.H.L. Aus Briefen und Tagebuchaufzeichnungen 1915-1919, hrsg. von Siegfried A. Kaehler, Güttingen 1958 (= Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phi- lologisch-Historische Klasse, Dritte Folge, 40), S. 107 (Brief vom 25.3.1917). Eine authentische Halder-Ansprache? 493

B19: »Die Kampfwagen vereinigen Feuer und Stoßkraft [...] Eigentlicher Träger der Stoßkraft der Angriffe aber bleibt der Infanterist156.« B20: »Je näher der Einbruch bevorsteht, um so dichter muß sich die Gruppe her- anhalten, damit zum Einbruch genügend Stoßkraft zur Hand ist157.« B21: Die nur noch auf Gleisketten fahrende »armée de choc«, deren Aufstellung 1934 der Oberstleutnant Charles de Gaulle als Instrument für Strafunter- nehmungen und für den Vorbeugungskrieg gefordert hatte, wurde von »Gal- licus« (vgl. Bll) sprachlich in die »Stoßarmee« verwandelt158. B22: In seiner Aufmarschstudie für eine strategische Verteidigung mit den deut- schen Hauptkräften auf dem Westkriegsschauplatz 1914 erläuterte General der Infanterie Wetzell, in der 3. OHL unter Ludendorff Chef der Abt. Ia (Operationen) und 1925/26 Chef des Truppenamtes: »Da die französisch- englischen Hauptkräfte eine mehrtägige Rechtsschwenkung durch Belgien hindurch zu machen haben, konnte mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit da- mit gerechnet werden, daß ein Zusammenstoß in Lothringen früher statt- finden mußte, als in Luxemburg und an der deutsch-belgischen Grenze159.« B23: Zu der im Jahre 1937 gültigen Aufmarschplanung »Rot« teilte Generalfeld- marschall v. Manstein, damals Chef der Operationsabteilung und Ober- quartiermeister I (OQu I) im GenStdH, in seinen Erinnerungen mit: »Die Masse der deutschen Kräfte [...] sollte versuchen, den ersten französischen Stoß am Rhein aufzufangen160.« B24: Zum französischen Angriffsverfahren bei der Winterschlacht in der Cham- pagne (Mitte Februar bis Mitte März 1915) stellte 1938 der OQu V im GenStdH fest: »Aus dem Verlauf dieser Kämpfe konnte gefolgert werden, [...] daß der Erfolg von der Schnelligkeit und Wucht des ersten Ansturmes abhängt161.« B25: Generalleutnant Heusinger, von Oktober 1940 bis Juli 1944 Chef der Ope- rationsabteilung OKH/GenStdH, formulierte in seinen Erinnerungsszenen: »Wir müssen uns auf den Zusammenprall mit überlegenen Kräften gefaßt machen162.« B26: Aus belgischer Sicht urteilend, bemerkte Generaloberst Halder zur befe- stigten Maas-Linie Lüttich-Namur-Givet in seiner Darlegung der Genese des Operationsplanes für den Westfeldzug 1940: »Der im Frieden durchge- führte Ausbau als befestigte Linie rechtfertigte wohl das Vertrauen, mit ihr den Anprall eines überraschenden Angriffs auffangen zu können163.«

156 Generalleutnant a.D. Max Schwarte (unter Mitarbeit von Oberstleutnant a.D. Benary), Der Krieg der Zukunft, Leipzig 1931, S. 68. 157 Major a.D. Bodo Zimmermann, Die Soldatenfibel (S.F.), 3. Aufl., Berlin 1933, S. 92, Ziff. 62 (Die Gruppe im Angriff). 158 Ygj ¿g Gaulle, Frankreichs Stoßarmee (wie Anm. 121) in der deutschen Ausgabe, S. 50 und im französischen Originaltext, S. 97, zur Bezeichnung »l'armée de choc«: S. 140 und 148. 159 Wilhelm Wetzell, Der Bündniskrieg. Eine militärpolitisch operative Studie des Welt- krieges, Berlin 1937, S. 39. 160 Erich v. Manstein, Aus einem Soldatenleben 1887-1939, Bonn 1958, S. 228. 161 Generalleutnant Waldemar Erfurth, Die Überraschung im Kriege, Berlin 1938, S. 116. 162 Adolf Heusinger, Befehl im Widerstreit. Schicksalsstunden der deutschen Armee 1923-1945, Tübingen, Stuttgart 1950, S. 71. 163 Vgl. Bor, Gespräche (wie Anm. 14), S. 158. Vgl. auch ebd., S. 160, die folgende Halder- Äußerung: »Wo diese Krisis [für die Heeresgruppe Β nach ihrem Einmarsch in Belgien, 494 MGM 58 (1999) Klaus Mayer

So ist es äußerst unwahrscheinlich, daß der Chokbegriff tatsächlich zu Halders Sprachrepertoire gehörte, zumal man den Gebrauch der deutschen Begriffe »Stoß- kraft«164, »Stoßflügel«165 und »Stoßrichtung«166 bei ihm nachweisen kann. Merkwürdigerweise wurde das mit dem Chok-Begriff in Verbindung stehende Verb (setzt) in Anführungszeichen gesetzt. Stehen diese Anführungszeichen be- reits im Original, in der maschinenschriftlichen Ausfertigung des Halder-Vortrags, so ist dies ein signifikantes Indiz: Er verrät nämlich, daß die Person, die die Nie- derschrift des Halder-Vortrags angefertigt hat, mit einer Sprachusance des deutschen Heeres, die schon für den Ersten Weltkrieg galt167, nicht vertraut war. Der Aus- druck »setzt« gehörte nämlich zur gängigen Befehlssprache der Wehrmacht, wie man dem folgenden Divisionsbefehl der von Generalmajor Feldt geführten 1. Ka- vallerie-Division aus dem Westfeldzug 1940 entnehmen kann: »Divisionsbefehl für den 24. Mai 1940: 1. Feind ist heute morgen vor der Front der Division ausgewichen. Es ist damit zu rechnen, daß er sich hinter dem Kanal de la Lys erneut setzt. 2. Die Division verfolgt den ausgewichenen Feind und verhindert, daß er sich er- neut hinter dem Kanal de la Lys setzt168.« Zu den beiden orthographischen Fehlern kommen noch zwei Formulierungsun- achtsamkeiten (FU) im Text des Halder-Vortrags hinzu, deren Urheberschaft je- doch nach Ansicht des Verfassers nicht bei Generaloberst Halder zu suchen ist. FUI : »Zeit zum Rückzug darf den Polen nicht gelassen, es muß ihnen das Can- nae bereitet werden, das, wie Sie wissen, immer unser Ideal war169.« K.M.] räumlich auftrat, hing natürlich davon ab, ob der Feind seine Kräfte vor dem Zu- sammenprall aufmarschieren lassen oder die herankommenden Verbände [...] dem An- griff entgegenwerfen würde.« 164 Vgl. ebd., S. 128 und 247: »geschlossener Stoß [von Panzern]«. 165 Vgl. Halder, Hitler (wie Anm. 13), S. 29. 166 Vgl. ebd., S. 41. 167 Vgl. dazu z.B. Haup tmann Waither Vogel, Die Befreiung Siebenbürgens und die Schlach- ten bei Targu Jiu und am Argesch, Oldenburg i.Gr. 1918 (= Der große Krieg in Ein- zeldarstellungen, 33), S. 35: »Der Feind stellt seinen Druck auf die Front der 1. Kavalle- rie-Truppen-Division ein, die sich sofort wieder ζμΓ hartnäckigsten Verteidigung setzt«; Generalleutnant Curt ν. Morgen, Meiner Truppen Heldenkämpfe. Aufzeichnungen, Ber- lin 1920, S. 79: »Der Versuch des Feindes, sich in der bei Rakischki vorbereiteten Stellung wieder zu setzen, wurde durch unsere ununterbrochene Verfolgung vereitelt«; Oberst a.D. Immanuel, Der Weltkrieg 1914/1918, in: Das deutsche Volk in Waffen. Der Welt- krieg 1914-1918. Hrsg.: Verband deutscher Kriegs-Veteranen, Berlin 1921, S. 200: »Daß [...] der Durchbruch [bei Gorlice-Tarnow, 2. bis 13.5.1915, K.M.] [...] so glänzend gelang, lag vor allem daran, daß Mackensen mit eiserner Faust den Anfangserfolg durch scharfes Nachstoßen auch wirklich auszunutzen verstand und den Feind nicht dazu kommen ließ, sich wieder zu setzen« sowie den von Kronprinz Wilhelm erlassenen »Befehl für die Angriffskorps«, A.O.K. 5, Ia. Nr. 418g vom 27.1.1916, Ziff. 3: »für die gesamte Kampf- handlung um die Festung Verdun [kommt es] unbedingt darauf an, den Angriff niemals ins Stocken kommen zu lassen, damit die Franzosen keine Gelegenheit finden, sich in rückwärtigen Stellungen erneut zu setzen« Zum vollständigen Abdruck des Angriffs- befehls siehe Die Tragödie von Verdun 1916. T. 1: Die deutsche Offensivschlacht, Ol- denburg i.O., Berlin 1926 (= Schlachten des Weltkrieges, Bd 13), Ani. 1, S. 258 f. 168 Zit. nach Leo Leixner, Von Lemberg bis Bordeaux. Fronterlebnisse eines Kriegsberich- ters, München 1941, S. 193. Vgl. dazu ferner das Werk des früheren Referenten für Aus- wertung taktischer Kampferfahrungen im OKH/GenStdH/Ausbildungsabt.: Eike Mid- deldorf, Taktik im Rußlandfeldzug. Erfahrungen und Folgerungen, Frankfurt a.M. 1956, S. 130: »Hat sich der Feind erneut gesetzt und kann er nicht umgangen werden, so ist ein planmäßiger Angriff anzusetzen.« 169 Hartmanii/Slutsch, Franz Haider (wie Anm. 3), S. 490 f. Am 2.8.216 v. Chr. errang der Eine authentische Halder-Ansprache? 495

Im Jahre 1928 schrieb ein ziviler Autor über den schwedischen König Karl XII.: »Das Schlachtideal, dem er nachstrebte, war seinem Wesen nach das Cannä Hannibals«170. In der Formulierung »das Cannä Hannibals« ist die Verwendung des sächlichen Ar- tikels völlig korrekt171. Dies ändert sich freilich, wenn der Begriff »Cannä« ohne den Feldherrnzusatz gebraucht wird. Dann sind im Deutschen nur zwei gramma- tikalisch korrekte Sprachvarianten möglich: Man schreibt »Cannä« ohne Artikel172 oder nur mit dem unbestimmten Geschlechtswort. Wie die folgenden Beispiele (B27) bis (B36) belegen, hielten sich auch die Exponenten des preußisch-deutschen Ge- neralstabes an diese Sprachregel: B27: »Leuthen173 konnte nur ein verstümmeltes Cannae werden174.« B28: »Zweimal hatte ein Cannae geschlagen werden können175.« B29: »die Franzosen [sollten] von den >fechtend ausweichenden< deutschen Vor- truppen [in eine Riesenfalle] hineingezogen werden, um zwischen Mosel und Saar ein Cannae zu erleben176.« B30: »Die Vernichtungsschlacht von Tannenberg [...] ist ein echtes >Cannae<, wie es dem Grafen Schlieffen vorgeschwebt hat177.« B31: »Was half es, daß im Osten im Schlieffenschen Sinne ein vollendetes >Can- nae< geschlagen wurde [,..]178.« B32: »Um die Wirksamkeit der Umfassung zu erweisen, brauchten wir nicht bis auf Cannae zurückzugehen179.« B33: »Ein gewaltiges Cannä bahnt sich [...] für den unglücklichen Gegner an«180.

karthagische Feldherr Hannibal mit einem 50 000-Mann-Heer in der apulischen Ebene, bei dem nahe der Mündung des Flusses Aufidus (Ofanto) gelegenen Ort Cannae, einen Vernichtungssieg über das insgesamt 79 000 Mann starke römische Heer, an dessen Spit- ze der Konsul Gaius Terentius Varrò stand. Für Graf Alfred v. Schlieffen, Chef des Großen Generalstabes der preußischen Armee (1891-1906), war die Schlacht bei Cannae das Mu- sterbeispiel für eine »vollkommene Vernichtungsschlacht«; vgl. dazu Schlieffen, Cannae (wie Anm. 154), S. 1-3. 170 Otto Haintz, Delbrück, Karl XII. und der schwedisché Generalstab, in: Am Webstuhl der Zeit. Eine Erinnerungsgabe. Hans Delbrück, dem Achtzigjährigen von Freunden und Schülern dargebracht. Hrsg. von Emil Daniels und Paul Rühlmann, Berlin 1928, S. 72. 171 Ebenso in folgender Wortzusammensetzung: »Der Feldherr sollte es wohl für sein Vor- recht halten, das End-Cannä zu bereiten«. Vgl. dazu die Betrachtungen über »Führer- und Feldherrntum« in: Reinhardt, Wehrkraft (wie Anm. 39), S. 55. 172 Vgl. dazu den folgenden Eintrag vom 10.6.1940 im Halder-KTB, Bd 1, S. 346: »>Cannae< tritt in den Vordergrund.« Franz Halder, Kriegstagebuch. Täglich Aufzeichnungen des Chefs des Generalstabes des Heeres 1939-1942. Bearb. von Hans-Adolf Jacobsen, 3 Bde, Stuttgart 1962-1964. 173 Zur Schlacht von Leuthen am 5.12.1757 siehe Christopher Duffy, Friedrich der Große. Ein Soldatenleben, Zürich, Köln 1986, S. 213-221. 174 Schlieffen, Cannae (wie Anm. 154), S. 5. 175 Ebd., S. 149 (zur Schlacht von Königgrätz am 3.7.1866): 176 Generalmajor a.D. Artur Baumgarten-Crusius, Deutsche Heerführung im Marnefeldzug 1914. Beiträge zur Beurteilung der Schuldfrage, Berlin 1921, S. 23; vgl. auch ebd., S. 204 f.: »die Nachgiebigkeit der O.H.L. gegenüber den Sonderwünschen der A.O.K.s 5 und 6 [verhinderte] ein Cannae in Lothringen.« 177 General der Infanterie z.D. Hugo Frhr. v. Freytag-Loringhoven, Heerführung im Welt- kriege. Vergleichende Studien, Bd 1, Berlin 1920, S. 133. 178 Generalleutnant a.D. Wilhelm Groener, Das Testament des Grafen Schlieffen. Operative Studien über den Weltkrieg, Berlin 1927, S. 11. 179 Seeckt, Gedanken (wie Anm. 116), S. 18. 180 Schwarte, Krieg (wie Anm. 156), S. 59. 496 MGM 58 (1999) Klaus Mayer

B34: »Graf von Schlieffen [beschränkte sich] auf eine formale Untersuchung der Frage, [...] wie die eigenen und die feindlichen Kräfte zur Schlacht gegliedert und herangeführt werden müssen, damit ein Cannae zustande kommen kann181.« B35: »General Sir E. Allenby wollte sich nicht mit einem >ordinären< Siege be- gnügen; seine Absicht war, dem Gegner ein Cannä zu bereiten182.« B36: »Hier hätte sich ein Riesen-Cannae entwickeln können«183. FU2: »Die Verfolgung muß über Stock und Stein fortgesetzt werden, bis der Geg- ner die Waffen fortwirft184.« Aus zwei Gründen ist die Verwendung der Formulierung »über Stock und Stein«, die in ihrer Bedeutung dem Wort »querfeldein« entspricht185, durch Halder eher unwahrscheinlich: 1. Als Manöverteilnehmer (z.B. beim Kaisermanöver von 1909186) kannte der Bat- terieoffizier187 Haider gewiß die folgende Bestimmung der Manöver-Ordnung zur Vermeidung von Flurschäden: »Es ist verboten, daß Truppenabteilungen oder einzelne Reiter nach Beendi- gung einer Übung noch weitere Flurschäden lediglich deshalb machen, um durch Marschieren querfeldein den Weg nach den Quartieren usw. abzukür- zen188.« Obwohl das Marschieren »über Stock und Block« noch bei Clausewitz, in seinen »Bemerkungen über den siebenjährigen Krieg«, erwähnt wird189, entsprach die Re- dewendung »über Stock und Stein« jedoch nicht der typischen Ausdrucksweise des deutschen (Generalstabs-) Offiziers190; zu seiner Sprachmanier gehörte, wie man anhand von Beispielen aus der Militärliteratur vielfach belegen kann, ein- deutig die Benutzung des Wortes »querfeldein«191.

181 Erfurth, Überraschung (wie Anm. 161), S. 3; vgl. auch ebd., S. 113: »ein vollkommenes Cannae«. 182 General der Artillerie a.D. Friedrich Frhr. Kreß v. Kressenstein, Mit den Türken zum Su- ezkanal, Berlin 1938, S. 272. 183 Generalfeldmarschall a.D. Albert Kesselring, Gedanken zum Zweiten Weltkrieg, Bonn 1955, S. 112. 184 Hartmann/Slutsch, Franz Halder (wie Anm. 3), S. 493. 185 Vgl. dazu Wörter und Wendungen. Wörterbuch zum deutschen Sprachgebrauch. Über- arb. Neufassung der 14. Aufl., hrsg. von Erhard Agricola, Mannheim 1992, S. 613 (unter »Stock«, Nr. 2). 186 Zu Anlage und Verlauf des Kaisermanövers 1909, an dem fast die gesamte bayerische Ar- mee (darunter auch das III. bayerische Armeekorps/zu dem Halders Regiment gehör- te) teilnahm siehe Generalleutnant a.D. Franz v. Lenski, Lern- und Lehrjahre in Front und Generalstab, Berlin 1939, S. 294-308, sowie General Erich von Gündell. Aus seinen Tagebüchern. Hrsg. von Oberstleutnant a.D. Waither Obkircher, Hamburg 1939, S. 66-70. 187 Vgl. Schall-Riacour, Aufstand (wie Anm. 32), S. 312. 188 D.V.E. Nr. 270: Bestimmungen für die größeren Truppenübungen. — Manöver-Ordnung — (M.O.), Berlin 1908, S. 49, Ziff. 145. 189 Vgl. Hinterlassene Werke des Generals Carl von Clausewitz über Krieg und Kriegführung, 2. Aufl., Bd 10, Berlin 1863, S. 53: »mit der geschlossenen Schlachtordnung eines Ganzen [kann] [...] man [...] nicht weit über Stock und Block marschiren«. 190 Zu ihrem Nicht-Gebrauch vgl. etwa Goltz, Volk in Waffen (wie Anm. 42), S. 33: »Über freies Feld [...] wird man der natürlichen Hindernisse, der Gräben, Hecken, Zäune, des Sturzackers oder des Getreides halber, nur kürzere Strecken zurücklegen können«. 191 Vgl. z.B. Clausewitz, Vom Kriege (wie Anm. 39), S. 553 (5. Buch, 10. Kap.): »man [wird] innerhalb einer Stunde rechts und links der Straße, auf welcher man marschiert, in den kultivierten Ländern Mitteleuropas meistens auch Seitenwege finden, welche man für den Eine authentische Halder-Ansprache? 497

2. Im deutschen militärischen Denken, angefangen mit dem vierten Buch (12. Kap.) des Werkes »Vom Kriege«192 und den Verordnungen für die höheren Truppen- führer vom 24. Juni 1869193, lag beim Taktikbereich »Verfolgung« die Emphase nicht auf der Bodenbeschaffenheit des Verfolgungsterrains, sondern auf der schonungslosen Einsatzintensität der kämpfenden Truppe in der Verfolgung, wofür der nächtliche Verfolgungsbefehl Blüchers auf dem Schlachtfeld von Bel- le-Alliance (18. Juni 1815)194 sowie die folgenden Beispiele (B37) bis (B47) den eindeutigen Beleg liefern:

Marsch benützen kann, ohne, wie das im Siebenjährigen Kriege so oft geschah, quer- feldein zu marschieren«; Carl v. Decker, Praktische Generalstabswissenschaft (Niederer Theil). Oder: Dienst des Generalstabes für die bei einer Division im Kriege angestellten Offiziere, 3. Aufl., Berlin 1862 (1. Aufl.: 1830), S. 137, Ziff. 283: »Die Artillerie wird [...] nur da quer über das Feld geführt, wo sie sich zu weit von der vorgeschriebenen Rich- tung entfernen würde«; Major a.D. Heinrich Beitzke, Geschichte der Deutschen Frei- heitskriege in den Jahren 1813 und 1814,2. Aufl., Bd 1, Berlin 1859 (1. Aufl.: 1854), S. 301: »alle auf der Straße noch vorrückenden Truppen [...] mußten umkehren und mit Ge- schütz und Munition querfeldein >über die grüne Saat< in der Richtung des Kampfes vorgehen«; Bronsart v. Schellendorff, Dienst (wie Anm. 34), S. 388: »Zuweilen sieht man sich zum Verlassen eines vorhandenen Weges und zum Marsch querfeldein genöthigt, um eine Kolonne der feindlichen Beobachtung oder dem feindlichen Feuer zu entzie- hen«; Goltz, Volk in Waffen (wie Anm. 42), S. 206: »Kommandant Bernard [...] marschirte [mit seinen »Chasseurs des Voges<] auf schlechten Wegen, oft sogar querfeldein, durch Wälder und Berge bei tiefem Schnee mit 1100 Mann in der Nacht zum 19. Januar 1871 an 40 Kilometer«; Balck, Taktik (wie Anm. 141), S. 238 (Marschregel für Radfahrerabteilun- gen): »Im Verein mit Kavallerie wird querfeldein am besten in geöffneter Linie vorge- gangen«; Hoppenstedt, Wörth (wie Anm. 145), S. 217: »Nach einer Biwaksnacht sind stark 50 Kilometer querfeldein [...] keine Kleinigkeit«; Schließen, Cannae (wie Anm. 154), S. 215: »Bei Annäherung an den Feind müssen [die Marschkolonnen] [...] in zwei oder womöglich in vier Kolonnen geteilt werden, welche Nebenwege benutzen, oder wo sich solche nicht finden, querfeldein vorwärts zu kommen suchen«; Bernhardi, Vom heutigen Kriege (wie Anm. 42), S. 235: »beim Querfeldeinmarschieren wird man heute stellen- weise immer Wege [...] benutzen können«; Sch. [d.i. Generalleutnant a.D. Max Schwar- te], Die Motorisierung und ihre Einwirkung auf die Kriegführung, in: Wehr und Waffen (WuW), 1934, H. 7, S. 299: »für die Querfeldeinfahrt [leichter Batterien] [...] sind noch Raupenschlepper nötig« und Middeldorf, Taktik (wie Anm. 168), S. 71: »Panzerverbän- de [können] in der Annäherung durch weitaufgelockerten Marsch abseits der Haupt- straßen auf Nebenwegen und auch querfeldein im Angriff durch Wahl des taktisch gün- stigsten Geländes ihre Kampfkraft [...] zum Einsatz bringen«. 192 Vgl. Clausewitz, Vom Kriege (wie Anm. 39), S. 474-485. Laut Clausewitz wurde der »Wert des Sieges« »hauptsächlich« von der »Energie« der Verfolgung bestimmt; vgl. ebd., S. 480. 193 Vgl. dazu den Teil 3 (Gefechtsführung — Verfolgung) der Verordnungen, worin es u.a. heißt: »So lange [...] in Mann und Pferd überhaupt noch Kräfte zum Vorwärtskommen vorhanden sind und so lange der Feind diesem Druck noch nachgibt, so lange darf auch die Verfolgung nicht ruhen. Reichen die Kräfte des Feindes zum Weitermarschieren noch aus, so müssen es auch die unsrigen! Was die Strapazen einer rastlosen Verfolgung kon- sumierten, das wird durch die von Tag zu Tag sich steigernde Schwächung und Zerset- zung des Gegners hundertfach ersetzt. Eine in dieser Art rastlos vorschreitende Verfol- gung kann [...] ein derartiges Resultat ergeben, daß eine einzige große Waffenentschei- dung zugleich die Erfüllung des gesamten Kriegszweckes herbeiführt.« Zum gekürzten Abdruck der Verordnungen siehe Die großen Meister der Kriegskunst. Clausewitz — Moltke — Schlieffen, hrsg. von Ihno Krumpelt, Frankfurt a.M. 1960, S. 193-203. Zitat: S. 202 f. 194 Vgl. dazu den von Gneisenau verfaßten Armeebericht der preußischen Armee vom Nie- derrhein vom 20.6.1815: »Der Feldmarschall [...] befahl, daß der letzte Hauch von Mensch und Pferd zur Verfolgung aufgeboten werden sollte [...] Rastlos verfolgt, geriet das fran- zösische Heer bald in eine völlige Auflösung.« In: Gneisenau. Eine Auswahl aus seinen 498 MGM 58 (1999) Klaus Mayer

B37: »Der Augenblick nach gewonnener Schlacht«, kons tatierte Generalleutnant Colmar Frhr. v.d. Goltz in seinem erstmals im Jahre 1883 erschienenen Buch über Kriegführung, »ist gerade derjenige, in welchem die oberste Heer- führung die äußerste Rastlosigkeit entfalten sollte«195. B38: Von den Verfolgungskräften (Kavallerie, Radfahrer und Infanterie) verlangte General der Kavallerie z.D. von Bernhardi das »äußerste an Marschleistung«196. B39: In seiner im Dezember 1912 vollendeten Darstellung schrieb Oberstleutnant Hoppenstedt zur Verfolgung: »In keinem deutschen Offizier kommt der Ge- danke auf, dem Geschlagenen goldene Brücken zu bauen, in Hunderten von Befehlen wird ausgedrückt, was General v. Goeben [der Befehlshaber des VIII. preußischen Armeekorps im deutsch-französischen Krieg von 1870/71, K.M.] seinen Generalen sagt: >Machen Sie kurzen Prozeß mit allem, was den reißen- den Strom der Verfolgung hemmt. Seien Sie bis zu grausamer Härte rück- sichtslos gegen die Truppe und — sich selbst. Sehen Sie kaltblütig an, wenn tausende vor Erschöpfung zusammenbrechen, die Hälfte der Pferde unter Kantschuhieben eingeht, die Geschütze zu Dutzenden abgängig werden [...] hetzen Sie die Truppen mit allen Mitteln, mit schärfsten Drohungen, mit locken- den Verheißungen, daß sie den Ausreißern auf den Hacken bleiben, sie über- holen, sich in ihnen verbeißen, wecken Sie vor allem in jedem Offizier jenen Geist, der auch den mattesten Körper unablässig wieder aufpeitscht^97.« B40: »Von der Kavallerie [...] Äußerstes verlangen: [...] vorwärts bis zum letzten Hauch von Mann und Pferd!«198. B41: »Nun schmetterte [...] das Signal zur Verfolgung bis zum letzten Hauch von Mann und Roß für die Divisionen des Kavallerie-Korps Schmettow199.« B42: »die Verfolgung [...] ist [...] mit Maschinen und Beinen bis zum letzten Hauch jedes Kämpfers [...] durchzuführen200.« B43: »Ist die feindliche Tiefenzone durchstoßen, so schließt sich die unaufhalt- same Verfolgung an [...] Das Beispiel des Gruppenführers spornt die Schüt- zen zur Hergabe der äußersten Kraft an201.« B44: »Ermüdung der Truppe darf nie der Grund sein, die Verfolgung zu unter- lassen. Der Führer ist berechtigt, unmöglich Erscheinendes zu fordern, Kühn- heit und Rücksichtslosigkeit müssen ihn gleicherweise leiten. Jeder muß das Letzte hergeben202.« B45: »Es war der 11. Juni [1940]. Überall in Frankreich jagte eine rastlose Verfol- gung hinter den geschlagenen Franzosen drein203.« B46: »Die Truppe muß dem weichenden oder fliehenden Feind ständig auf den Fersen bleiben204.«

Briefen und Denkschriften. Hrsg. von Wilhelm Capelle, Leipzig, Berlin 1911 (= Deutsche Charakterköpfe, Bd 8), S. 151 f. 195 Goltz, Volk in Waffen (wie Anm. 42), S. 340. 196 Bernhardi, Vom heutigen Kriege (wie Anm. 42), S. 324. 197 Hoppenstedt, Deutschlands Heer (wie Anm. 145), S. 153 f. 198 Immanuel, Lehnerts Handbuch (wie Anm. 143), S. 104, Ziff. 256 f. 199 Vogel, Befreiung Siebenbürgens (wie Anm. 167), S. 96. 200 Schwarte, Krieg (wie Anm. 156), S. 71. 201 Zimmermann, Soldatenfibel (wie Anm. 157), S. 92, Ziff. 61. 202 H.Dv. 300/1: Truppenführung. (T.F.), 1. Teil, Berlin 1936, S. 171, Ziff. 410. 203 Oberleutnant Fritz Fillies, Großdeutsche Grenadiere im Kampf, Berlin 1941, S. 90. 204 Reibert: Der Dienstunterricht im Heere. Ausgabe für den Pionier. Neubearb. von Haupt- mann Hermann Meitzer, 12. Aufl., Berlin 1941, S. 233. Eine authentische Halder-Ansprache? 499

B47: »Das Gesetz des Krieges verlangt eine pausenlose Verfolgung — >bis zum letzten Hauch von Mann und Pferd<205.« Daß FUI und FU2 tatsächlich von Generaloberst Halder herrühren, dürfte somit wohl eher unwahrscheinlich sein. Gibt es also einen »Ghostwriter«, der den Text des Halder-Vortrags geschaffen hat? Um diese Frage weiter klären zu können, soll nun das Mittel der Wortschatz- Analyse verwandt werden. Dabei geht es um eine semantische Überprüfung, die ihr Augenmerk auf die Frage richtet: Sind im Text des Halder-Vortrags Worte bzw. Begriffe enthalten, die nicht dem von Generaloberst Halder nachweislich benutz- ten Wortschatz entsprechen? Im folgenden können insgesamt neun solcher Wortschatz-Anomalien (WSA) dargelegt werden: WSA1 : »Ich betone dabei, daß es sich natürlich um keinen >Kriegsplan< handelt206. « Im Text des Halder-Vortrags ist der Begriff »Kriegsplan« mit Anführungszeichen versehen, obwohl diese Schreibart bei deutschen Militärautoren nicht üblich war, wie man anhand der folgenden Beispiele (B48) bis (B56) ersehen kann: B48: »in früheren Zeiten [wurde] oftmals ein sich auf alle Einzelheiten bis zur Erreichung des Kriegszwecks erstreckender Kriegsplan entworfen und von einem Kriegsrat hervorragender Generale festgestellt207.« B49: »Es entstanden Kriegspläne [im Großen Generalstabe] für die wahrschein- lichsten Fälle in vielfachen Wandlungen nach der politischen Lage208.« B50: »Schlieffen selbst verzichtete in seinem Kriegsplan gegen Frankreich durch- aus auf das Anstreben der Doppelumfassung zugunsten der Verstärkung des entscheidenden rechten Flügels209.« B51: »Der Feldherr ist eben der Schlachtenmeister und der Kriegspläne schmie- dende Stratege210.« .B52: »Unsere Kriegspläne [...] müssen das Ergebnis sorgfältigster und umfas- sendster Gedankenarbeit unter Beteiligung der maßgebenden Stellen sein211.« B53: »Es muß sich [...] auch der militärische Kriegsplan in der Richtung der bis- herigen Politik bewegen212.« B54: »Jeder Krieg erfordert einen Kriegsplan. Das Staatsoberhaupt stellt ihn auf13.«

205 Senger und Etterlin, Krieg (wie Anm. 83), S. 116. 206 Hartmann/Slutsch, Franz Haider (wie Anm. 3), S. 480. 207 So Oberst z.D. Heinrich v. Löbell in seinem Beitrag »Krieg« für die Allgemeine Ency- klopädie der Wissenschaften und Künste. Zweite Section. Hrsg. von August Leskien, Bd 39, Leipzig 1886, S. 383. Zu Löbell (1816-1901) vgl. Biographisches Jahrbuch und Deut- scher Nekrolog, hrsg. von Anton Bettelheim, Bd 6, Berlin 1904, S. 316 f. 208 General der Infanterie z.D. August v. Janson, Moltke. Ein Lebensbild für das deutsche Volk, Berlin, Wien 1915, S. 106. 209 Seeckt, Gedanken (wie Anm. 116), S. 19. 210 Reinhardt, Wehrkraft (wie Anm. 39), S. 56. 211 General der Artillerie Ludwig Beck, Denkschrift »Der Oberbefehlshaber des Heeres und sein erster Berater« vom 9.12.1935; zit. nach Wolfgang Foerster, Ein General kämpft ge- gen den Krieg. Aus nachgelassenen Papieren des Generalstabchefs Ludwig Beck, Mün- chen 1949, S. 35. 212 Metzsch, Wehrpolitik (wie Anm. 40), S. 88. 213 Oberstleutnant (im OKW) Herbert Moeller und Oberst (im OKH) Georg Reinicke, Der Krieg wie er ist! Erfahrungen und Lehren der Truppe, Bd 1, Berlin 1942, S. 10. 500 MGM 58 (1999) Klaus Mayer

B55: »das OKH [hatte] in jener Aufmarschanweisung [zum Fall »Gelb«, K.M.] einen Kriegsplan herausgegeben [...], der ihm von Hitler aufoktroyiert wor- den war214.« B56: »Die Operationen befassen sich [...] mit der Durchführung des Kriegspla- nes auf den einzelnen Kriegsschauplätzen zu Land, zur See und in der Luft215.« Nun könnte aber der Gebrauch von Anführungszeichen beim Begriff »Kriegs- plan« eine bewußte militärtheoretische Reminiszenz an Clausewitz bedeuten, da das achte und letzte Buch seines Werkes »Vom Kriege« den »Kriegsplan« behan- delt216. Aber Generaloberst Halder gehörte — im Gegensatz zu seinem Amtsvorgän- ger Ludwig Beck217 — nicht zu jenen Offizieren des Generalstabes, die eine beson- dere Vorliebe für Clausewitz besaßen. Es ist wohl bezeichnend, daß Halder in sei- ner Schrift über den »Feldherrn Hitler« Clausewitz nur ein einziges Mal erwähnt — als militärische Autorität, die Hitler gegen den Generalstabschef des Heeres aus- spielte: »Hitler war nicht zu überzeugen [...] Seine Begründung war: Der Russe sei tot. Mit der Winteroffensive [1941/42, K.M.] habe er seine letzte Kraft verbraucht. Es komme nur darauf an, das schon Fallende zu stoßen. Nietzsche und Clau- sewitz wurden zitiert, um diesen >heroischen< Feldherrnentschluß zu begrün- den218.« Haiders militärische Leitfigur war Generalfeldmarschall Graf Helmuth v. Molt- ke219. Ausdrücklich bekannte der Generaloberst seine Zugehörigkeit zur »Moltke- schen Schule«220. Moltke, seit 1858 Chef des Generalstabes der preußischen Armee, benutzte je- doch, wie bereits seine Denkschrift »Über die Grundsätze der Kriegs- und Ge- fechtsführung« aus dem Jahre 1860 belegt221, die Termini »Operations-«222 bzw. »Feldzugsplan«223.

214 Generalfeldmarschall Erich v. Manstein, Verlorene Siege, Frankfurt a.M. 1966, S. 68. Vgl. auch ebd., S. 169: »Eine Stelle, die rechtzeitig einen Kriegsplan auch gegenüber England vorbereitet hätte«. Mit Anführungszeichen dagegen ebd., S. 304: »Das Fehlen eines >Kriegs- plans<, der eine zeitgerechte Vorbereitung der Invasion [Englands, K.M.] ermöglicht hät- te, hatte [...] ein Versagen der Wehrmachtführung, also Hitlers, deutlich gemacht.« 215 Kesselring, Gedanken (wie Anm. 183), S. 44. 216 Vgl. Clausewitz, Vom Kriege (wie Anm. 39), S. 949-1040. 217 Vgl. dazu besonders seine undatierte Studie »Strategie. Einige Beiträge zur Klärung«, worin Beck Clausewitz als den »bedeutendstein], in den Grundfragen der Kriegführung immer modern bleibende[n] Kriegstheoretiker« hervorhob. Abdruck in: Beck, Studien (wie Anm. 1), S. 69-85. Zitat: S. 70. 218 Haider, Hitler (wie Anm. 13), S. 49. Dagegen erwâhntë oder zitierte Halder in seiner Hit- ler-Schrift jeweils viermal Moltke (vgl. ebd., S. 20, 24 und 62) und Schlieffen (vgl. ebd., S. 20, 44,53 und 63). 219 Vgl. dazu Bor, Gespräche (wie Anm. 14), S. 67: »Halder kam im Gespräch immer gern auf die Gestalt Moltkes zurück« sowie die Haider-Äußerung auf S. 147: »ich komme immer wieder auf Moltke zurück«. 220 Vgl. ebd., S. 85. 221 Vgl. dazu Deutsches Soldatentum (wie Anm. 103), S. 239: »Operationsplan [der Armee]«. 222 Vgl. dazu Die großen Meister (wie Anm. 193), S. 136 f. und 203. 223 Vgl. dazu Moltkes »Geschichte des deutsch-französischen Krieges von 1870-71 «, in: Ge- sammelte Schriften (wie Anm. 41), 2. Aufl., Bd 3, Berlin 1891, S. 3, 8 und 64. Eine authentische Halder-Ansprache? 501

In Halders Wortschatz dominierte eindeutig224 der Begriff »Operationsplan«225; mit diesem Ausdruck bezeichnete Halder »die Summe der Überlegungen, die in der Gruppierung der Kräfte und in den an die Heeresgruppen und Armeen erteilten Aufträgen ihren Ausdruck findet. Im Operationsplan finden alle Überlegungen ihren Niederschlag über den Feind und seine vermutlichen Absichten, über die eigenen Möglichkeiten, diese zu durchkreuzen, über das Wann und Wo zu erwartender Krisen und über die Mittel, ihnen zuvorzukommen oder sie zu überwinden226. Der Operationsplan ist ein Kunstwerk227.« WSA2: »wirklich ausreichende Stocks an Waffen«228. Laut »Trübners Deutsches Wörterbuch« wird der Begriff »Stock« auch für »Samm- lung, Vorrat« gebraucht229. Im Zweiten Weltkrieg verwendete man im OKH/GenStdH, in der Dienststelle »Generalquartiermeister« (GenQu), dement- sprechend tatsächlich die Ausdrucksweise »Stockierung von Waffen, Munition, Gerät, Kraftfahrzeugen usw.«230. Von Halder wurde aber das Wort »Vorrat« be- nutzt, wie man aus der folgenden Textstelle aus seiner Hitler-Schrift zur sog. »Al- penfestung« ersehen kann: »Wären in den deutsch-österreichischen Alpen [...] wenigstens auf Jahresfrist aus- reichende, gewaltige Vorräte gestapelt gewesen [...] Es war nichts vorhanden, garnichts — außer den überreichlichen Vorräten aller Art in Hitlers Hochburg auf dem Obersalzberg231.« Nun lautet der Satz mit dem Ausdruck »Stocks« in vollständiger Zitierung: »Hier liegt schon ganz nahe die Gefahr, daß Polen sein zahlenmäßig großes Heer gar nicht einmal in primitivster Form bewaffnen kann, weil es, wie ein solcher Kenner wie der französische General Weygand schon betont, infolge der chronischen Geldknappheit gar nicht in der Lage war, sich wirklich aus- reichende Stocks an Waffen hinzulegen232.«

224 Zum Nicht-Gebrauch des Begriffes »Kriegsplan« vgl. die folgende Halder-Äußerung über Hitler in Bor, Gespräche (wie Anm. 14), S. 23: »Er besaß [...] nicht einmal einen Ge- neralplan für den Krieg.« 225 Vgl. dazu 1) Halder, Kriegstagebuch (wie Anm. 172), Bd 1, S. 160 (17.1.1940) und S. 228 (13.3.1940); 2) die wörtlichen Halder-Zitate in Bor, Gespräche (wie Anm. 14), S. 136: »Der deutsche Operationsplan« (gegen Polen), S. 143: »Unser Operationsplan für Polen«, S. 154: »der Operationsplan gegen die holländische Armee«, S. 160: »den ersten Operations- plan, entstanden im Herbst 1939« (für den Westfeldzug), S. 164: »der zweite Operati- onsplan für die Heeresgruppe B«, S. 190: »der fertige Operationsplan des Generalstabes des Heeres« (gegen die Sowjetunion), S. 191: »Unser Operationsplan konnte sich nur auf die ersten Ziele erstrecken«, S. 218: »In unserem Operationsplan« sowie 3) die Halder- Briefzitate in Schall-Riaucour, Aufstand (wie Anm. 32), S. 107 f. und 143. 226 Vgl. dazu die übereinstimmende Haider-Äußerung in Bor, Gespräche (wie Anm. 14), S. 218: »Jede Operation hat ihre Krisis [...] Diese Krise vorauszusehen und die Mittel zu ihrer Meisterung bereit zu halten, ist die wesentliche Aufgabe und das Kernstück des Operationsplanes.« 227 Halder, Hitler (wie Anm. 13), S. 30. 228 Hartmann/Slutsch, Franz Halder (wie Anm. 3), S. 487. 229 Vgl. Trübners Deutsches Wörterbuch, Bd 6 (S), hrsg. von Walther Mitzka, Berlin 1995, S. 604. 230 Vgl. dazu Oberst i.G. a.D. Otto Eckstein, Die Tätigkeit des Generalquartiermeisters Eduard Wagner, in: Wagner, Generalquartiermeister (wie Anm. 29), S. 281. 231 Haider, Hitler (wie Anm. 13), S. 61. 232 Hartmann / Slutsch, Franz Halder (wie Anm. 3), S. 487. 502 MGM 58 (1999) Klaus Mayer

Vor einem Zuhörerkreis aus Generalen und Generalstabsoffizieren war die expli- zite Angabe der Nationalität von General Weygand, »den wir 1918 als einen zwar sehr scharfen, aber klugen und ritterlichen Gegner schätzen gelernt haben« (so Reichswehrminister Groener in seiner Etatrede vor dem Reichstag am 21. Mai 1930233), völlig überflüssig. Als Stabschef von Marschall Foch234, dem »Commandan- ten-Chef« der alliierten Armeen in Frankreich (ab 14. April 1918), empfing Gene- ral Maxime Weygand am 8. November 1918 im Walde von Compiègne die Vertre- ter der deutschen Waffenstillstandsdelegation; aus seinem Munde erfuhren die deutschen Delegierten im Salonwagen Fochs die rigorosen alliierten Waffenstill- standsbedingungen235. Als »Generalmajor der alliierten Armeen« führte Weygand in Rethondes und danach in Trier die direkten Verhandlungen mit den deutschen Militärunterhändlern Generalmajor v. Winterfeldt und (ab 1. Februar 1919) Gene- ralmajor Frhr. v. Hammerstein-Gesmold236. Nach der Unterzeichnung des Versailler Verträges (28. Juni 1919) war Weygand- als Generalsekretär des Interalliierten Militärkomitees der unumstrittene Herrscher in diesem Gremium237. Als Nachfolger von General Debeney übernahm Weygand am 3. Januar 1930 den Posten des Generalstabschefs der französischen Armee238. Von Februar 1931 bis Januar 1935 fungierte Weygand als Vizepräsident des Conseil supérieur de la guerre und Generalinspekteur der französischen Armee239. Nach dem Tode von Marschall Foch (20. März 1929) und dem Ausscheiden von Marschall Pétain aus dem aktiven Dienst (1931) war General Weygand die zen- trale militärische Autorität Frankreichs, der sogar die kardinale Machtposition in der Dritten Republik nachgesagt wurde: Am 7. August 1931, bei einem Spazier- gang im Park der Villa d'Esté, bemerkte Mussolini zu Reichsaußenminister Curti- us, daß Weygand »der eigentliche Herrscher Frankreichs [wäre]. Alle anderen wären,nur Puppen«240. Hatte Generalleutnant a.D. von Metzsch in seinem nach der Reichstagswahl vom 14. September 1930 im Berliner Scherl-Verlag erschienen Buch »Wehrwende?« noch formuliert:

233 Vgl. Verhandlungen des Reichstags, IV. Wahlperiode 1928, Bd 428, Stenographische Be- richte, 169. Sitzung vom 21. Mai 1930, S. 5228 C. 234 Zu Fochs hoher Wertschätzung für Weygand siehe Raymond Recouly, Marschall Foch. Erinnerungen. Von der Marneschlacht bis zur Ruhr, [1929], S. 244-246. 235 Vgl. dazu Liddell Hart, Foch (wie Anm. 151), S. 302 f. 236 Vgl. dazu den Text des Vortrags von Frhr. v. Hammerstein-Gesmold vor dem Reichska- binett am 4.3.1919 über die Arbeit der deutschen Waffenstillstandskommission, in: Ha- gen Schulze, Das Kabinett Scheidemann. 13. Februar bis 20. Juni 1919, Boppard a. Rh. 1971 (= Akten der Reichskanzlei, Weimarer Republik), Dok. Nr. 5b, S. 12 f. 237 So die Einschätzung des deutschen Botschafters in Paris; vgl. dazu Dr. Mayers Schreiben vom 21.11.1922 an das AA, in: ADAP, Ser. A: 1918-1925, Bd 6, Göttingen 1988, Nr. 247, S. 512. 238 Zur Bewertung Weygands durch die deutsche Botschaft in Paris siehe den Bericht von Botschaftsrat Rieth an das AA vom 31.10.1930, in: ebd., Ser. Β: 1925-1933, Bd 16, Nr. 31, S. 71-73. 239 Zu Weygands Rolle in der französischen Militärpolitik siehe Philip C.F. Bankwitz, Ma- xime Weygand and Civil-Military Relations in Modern France, Cambridge, Mass. 1967. 240 Vgl. dazu die Aufzeichnungen von Curtius vom 9.8.1931, in: ADAP, Ser. Β, Bd 18, Göt- tingen 1982, Nr. 124, S. 247. Eine authentische Halder-Ansprache? 503

»Der französische General Weygand, der gegen die Bolschewisten führte241, erklärte, Polen sei reif für die vierte und letzte Teilung«242, so war für die politische243 und mi- litärische Funktionselite des Dritten Reiches, wie die folgenden Textbeispiele (B57) bis (B59) deutlich machen, »General Weygand« die gebräuchliche Benennungsweise: B57: In seinem im Januar 1939 abgeschlossenen Abriß zur Wehrpolitik führte der Leiter der wehrpolitischen Abteilung der Berliner Hochschule für Politik, Generalleutnant z.V. von Metzsch, aus: »Wenn wir betonten, daß im Kriege der Geist >alles entscheide< — eine Auffassung, die wir nicht nur mit Clau- sewitz und dem Ersten Napoleon, sondern auch mit General Weygand und General Fuller244 teilen [...]245.« B58: Aus Bukarest telegrafierte am 11. September 1939 der deutsche Gesandte Fabricius dem AA: »Minister des Äußeren [G. Gafencu, K.M.] [...] bat [...], den zahlreichen Gerüchten keinen Glauben zu schenken; insbesondere sei falsch: [...] Anwesenheit oder Durchreise Generals Weygand246.« B59: In seiner Denkschrift Nr. IV vom 31. Oktober 1939 schrieb Generaloberst Beck: »Die Stationierung der Generale Weygand und Wavell247 in Beirut [,..]«248, und in einer anderen Denkschrift mit dem Titel »Die russische Fra- ge für Deutschland, eine Skizze« aus dem gleichen Zeitraum konstatierte der Amtsvorgänger von Generaloberst Halder: »Das >Wunder an der Weich- sel·, wo General Weygand die Polen führte249, rettete Polen250.« Last not least enthält der Weygand-Satz des Halder-Vortrags eine im Deutschen unübliche Verbkonstruktion: Man legt Stocks oder Vorräte nicht »hin«, sondern an.

WS A3: »schwerste Luftraids«251.

241 Als Berater des polnischen Generalstabes (vom 29.7. bis 14.8.1920) konnte Weygand kei- ne Führungsrolle im russisch-polnischen Krieg ausüben. Zu seiner Tätigkeit in Warschau und zur Weygand-Legende siehe die Dissertation von Zdzislaw M. Musialik, General Maxime Weygand and the Battle of the Vistula, 1920, Ann Arbor, Mich. 1973. Zur Schlacht vor Warschau im August 1920 aus deutscher Sicht vgl. Erfurth, Überraschung (wie Anm. 161), S. 105-109 und Friedrich Wilhelm v. Oertzen, Das ist Polen, 4. Aufl., Mün- chen 1939, S. 32 ff. Der Autor v. Oertzen präsentierte in seinem Polen-Buch, das von 1931 bis zum Frühjahr 1939 eine Auflagenhöhe von 25 000 Exemplaren erzielte, Weygand als den »Retter« der polnischen Hauptstadt vor den Angriffsverbänden der sowjetischen »Westfront« unter General Tuchacevskij. 242 Horst v. Metzsch, Wehrwende? Ein Buch für Soldaten und Nichtsoldaten, Berlin 1930, S. 129. 243 Vgl. dazu bereits den folgenden Tagebucheintrag Rosenbergs vom 11.7.1934: »Ganz ver- traulich wird über Weygands Besuch [in London, K.M.] gesagt« Zit. nach Das politische Tagebuch Alfred Rosenbergs 1934/35 und 1939/40. Hrsg. von Hans-Günther Seraphim, München 1964 (= dtv 219), S. 50. 244 Zu Fuller siehe Anm. 263. 245 Metzsch, Wehrpolitik (wie Anm. 40), S. 95. 246 Zum Cito-Tel. Nr. 504 des Gesandten Fabricius vom 11.9.1939 siehe ADAP, Ser. D, Bd 8, Nr. 50, S. 37. 247 Zu Wavell, dem Oberbefehlshaber der britischen Streitkräfte im Mittleren Osten, siehe Charles Clarke, Wavell in Afrika, in: General Sir Archibald Wavell, Der Feldherr, Zürich, New York 1941, S. 41-64. 248 Zum Text von Becks Denkschrift Nr. IV (»Zwischenpause nach dem Mißerfolg des deut- schen Friedensangebotes«) vom 31.10.1939 siehe Groscurth, Tagebücher (wie Anm. 99), Dok. 66, S. 483-486. Zitat: S. 484. 249 Vgl. hierzu aber Anm. 241. 250 Zu Becks Denkschrift »Die russische Frage für Deutschland, eine Skizze« vom Herbst 1939 siehe Groscurth, Tagebücher (wie Anm. 99), Dok. 68, S. 490^92. Zitat: S. 491. 251 Hartmann/Slutsch, Franz Halder (wie Anm. 3), S. 490. 504 MGM 58 (1999) Klaus Mayer

Die Editoren führen den Ausdruck »Luftraid« auf die »Kavalleristensprache« in der Periode vor 1914 zurück; man habe damals unter dem Begriff »Raid« »selb- ständige kavalleristische Streifzüge« verstanden252. Bei dieser Erklärung blieb aber der folgende Entwicklungstrend der deutschen Heeressprache außer acht: Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Raid-Begriff im deutschen militärischen Schrifttum auf die »kühne[n] Raids der mechanischen Erd- waffen, der Straßenpanzerwagen und Kampfwagen« (so Max Schwarte, der ver- antwortliche Hauptredakteur von »Wehr und Waffen«, der »Monatsschrift für al- le artilleristischen und technischen Fragen des Reichsheeres« im Jahre 1931253) über- tragen. Auf diese Weise mutierte der »Raid« zum »Panzer-Raid«254. Militärische Autoren, wie z.B. Generaloberst Guderian255, Generalfeldmarschall v. Manstein256, der Generalquartiermeister Wagner257, General Westphal258, Generalleutnant Bay- erlein259, Generalmajor Dethleffsen260 und der frühere Panzertruppenoffizier Wolf- gang Paul261, bezogen daher den Raid-Begriff ausschließlich auf die Erdoperatio- nen mit gepanzerten Verbänden — im Unterschied zu Frankreich262, Großbritan- nien263 und zum Politiker Hitler264. Auch der zur Luftwaffe gehörende General-

252 Vgl. ebd., S. 468, Anm. 4. 253 Vgl. Schwarte, Krieg (wie Anm. 156), S. 53 f. 254 Vgl. dazu Meyers Lexikon, 8. Aufl., Bd 8, Leipzig 1940, Sp. 845 (Stichwort »Panzertrup- pen«) und 1661 (Stichwort »Raid«). 255 Vgl. , Die Panzertruppen und ihr Zusammenwirken mit den anderen Waffen, 3. Aufl., Berlin 1940, S. 30, wo u.a. der Ansatz von Panzertruppen in »rassenrei- nen Verbänden« zu »weit ausholenden Raids tief in Feindesland« erwähnt wird. 256 VgL insbesondere das 8. Kap. (»Ein Panzer-Raid«) seiner Kriegserirmerungen: Manstein, Verlorene Siege (wie Anm. 214), S. 172-205. Hier schildert Manstein den Vorstoß des LVI AK(mot) auf Dünaburg im Juni 1941, wobei er sogar ins Schwärmen gerät: »Kaum je würde ich wieder etwas Gleiches erleben, wie den stürmischen Raid des 56. Panzer-Korps [...], die Erfüllung aller Träume, die ein Panzerführer haben kann.« (S. 204) 257 Vgl. dazu Wagners Tagebuch vom 4.9.1939: »Besonders weit vor 1. (u.) 4. Panzer-Divi- sion bei 10. Armee, für die heute ein großer Raid angesetzt ist.« Zit. nach Wagner, Ge- neralquartiermeister (wie Anm. 29), S. 126. 258 Vgl. Westphal, Heer (wie Anm. 125), S. 168: »Das von seinem erfolglosen Raid zurück- kehrende Afrikakorps war so zerrupft, daß es eine Wendung zum Guten nicht mehr her- beiführen konnte.« 259 Vgl. seinen zusammenfassenden Uberblick in Generalfeldmarschall Erwin Rommel, Krieg ohne Haß. Hrsg. von Lucie-Maria Rommel und Fritz Bayerlein, ehem. Chef des Stabes der Panzerarmee Afrika, 3. Aufl., Heidenheim/Brenz 1950, S. 77-80. (»Der Raid nach Ägypten«). 260 Vgl. Erich Dethleffsen, Das Wagnis der Freiheit, Stuttgart 1952 (= Schriftenreihe der Wirt- schaftspolitischen Gesellschaft von 1947,1), S. 29 f.: »Die Gefahr eines kurzfristigen so- wjetischen Raids in das Ruhrgebiet wird erst dann behoben sein, wenn der Westen ost- wärts des Rheins stark ist«. Dethleffsen, geb. 1904, zuletzt Chef des Generalstabes Hee- resgruppe Weichsel, avancierte nach 1945 zum Leiter der Abteilung III (Auswertung) im Bundesnachrichtendienst (BND) unter General Reinhard Gehlen. Seine 43seitige Druck- schrift ist ein wichtiges Belegstück für die verdeckte Informationspolitik der damaligen »Organisation Gehlen« zur bundesdeutschen Wiederbewaffnung. 261 Vgl. die Schilderung des »Panzerraids« der 1. Panzerdivision zum Wolga-Brückenkopf Kalinin (13.10. bis 3.11.1941) in Wolfgang Paul, Erfrorener Sieg. Die Schlacht um Mos- kau 1941/42, 3. Aufl., Esslingen 1976, S. 224-230. Der Autor Paul war 1941 Führer der 2. Kompanie/Schützen-Regiment 52 im Verband der 18. Panzerdivision. 262 Vgl. z.B. de Gaulle, Vers l'armée (wie Anm. 121), S. 75: »Les raids d'escadres aériennes«. 263 Vgl. z.B. Major-General J.F.C. Füller, The First of the League Wars. Its Lessons and Omens, London 1936, S. 207: »The fear engendered by air raids, especially among uninstructed civilians, is out of all proportion to the damage done.« 264 Am 5.12.1940, nach Anhörung von Halders Vortrag über die geplante »Ost-Operation«, Eine authentische Halder-Ansprache? 505 feldmarschall Kesselring gebrauchte den Raid-Begriff nur für den terrestrischen Kampfbereich265. Der »Luftraid« war somit kein authentischer Ausdruck der deutschen Heeres- sprache, wie sie im Generalstab praktiziert wurde266; in seiner 1938 in Buchform vorgelegten Studie »Die Überraschung im Kriege« behandelte Generalleutnant Er- furth, als OQu V verantwortlich für die 7. Abt./GenStdH, den Luftkriegsaspekt seines Themas ohne die Verwendung des Raid-Begriffs267. Von Halder wurde der Raid-Begriff ebenfalls auf Erdoperationen, in der Be- deutung »Panzerraid«, bezogen, wie seine folgende Beschreibung eines sowjeti- schen Großangriffs auf Westeuropa ausweist: »Vierzig bis fünfzig erstklassige, neuzeitliche Divisionen [der Roten Armee, K.M.], dazu die Volkspolizei — das könnte über Westdeutschland in Richtung auf die Kanalküste hinwegströmen. Ein solches Unternehmen wäre als >raid< zu bezeichnen: der Versuch, in der Art des Blitzkrieges Deutschland und Frankreich zu überrennen268.« Für Luftoperationen verwendete Halder dagegen, wie sein Kriegstagebuch belegt, die deutschen Termini »Luftangriff«269, »Fliegerangriff«270 und »Luftüberfall«271. WSA4: »mit unserer Luftwaffe, besonders mit den Schlachtfliegern«272 Am 1. September 1939 verfügte die deutsche Luftwaffe nur über eine einzige Schlachtfliegergruppe mit insgesamt 40 Doppeldeckern des bereits veralteten Typs Henschel Hs 123 (Bewaffnung: 2 starre MGs und eine 250-kg-Bombe); die Haupt- masse der zur unmittelbaren Unterstützung des Heeres vorhandenen taktischen Luftwaffe bestand dagegen aus den 9 Stukagruppen mit insgesamt 366 Sturz- kampfbombern vom Typ Junkers Ju 87273.

postulierte Hitler: »Der Vormarsch müsse so weit nach Osten durchgeführt werden, daß [...] für die deutsche Luftwaffe [...] Raids zur Zerstörung der russischen Rüstungsgebie- te möglich wären.« Zit. nach KTB OKW (wie Anm. 30), Bd 1, Dok. 41, S. 982. Bei Halder, Hitler (wie Anm. 13), S. 37 f., wird diese operative Forderung Hitlers nicht erwähnt. 265 Vgl. Kesselring, Gedanken (wie Anm. 183), S. 145: »Das Mittelmeergebiet war das alli- ierte Invasions-Übungsfeld, auf dem Erfahrungen für kleine umfassende Raids und Groß- landungen gesammelt und ausgewertet wurden.« 266 Vgl. dazu Freytag-Loringhoven, Folgerungen (wie Anm. 42), S. 36: »Geschwaderflüge in das feindliche Land hinein«; Schwarte, Krieg (wie Anm. 156), S. 33: »Flugzeugge- schwader-Vorstöße«; Reinhardt, Wehrkraft (wie Anm. 39), S. 99: »Luftgeschwader«, die »Grenzen [...] überfliegen und sengend und zerstörend über die Lande [...] gehen«; Seeckt, Gedanken (wie Anm. 116), S. 92: »Luftangriff auf das Hinterland«. Die am 17.10.1933 für das Reichsheer erlassene Vorschrift »Truppenführung« verwendete nur das deutsche Wort »Luftangriff«; vgl. dazu H.Dv. 300/1 (wie Anm. 202), S. 81 f. (Ziff. 235 f.), S. 84 f. (Ziff. 240), S. 117 (Ziff. 311) und S. 175 (Ziff. 425), 267 Vgl. Erfurth, Überraschung (wie Anm. 161), S. 139 f. Erfurth gebrauchte hier in sprach- licher Übereinstimmung mit der H.Dv. 300/1 die Vokabel »Luftangriff«. 268 Vgl. Bor, Gespräche (wie Anm. 14), S. 245. 269 Vgl. dazu die folgenden Eintragungen im Halder-KTB (wie Anm. 172), Bd 1, S. 367 (22.6.1940): »Luftangriffe auf Bordeaux«; Bd 2, S. 31 (22.7.1940): »Luftangriff auf unsere Hydrieranlagen«; ebd., S. 32: »feindliche Luftangriffe gegen Berlin«. 270 Ebd., Bd 3, S. 18 (26.6.1941): »Fliegerangriff auf Odessa«. 271 Vgl. dazu ebd., S. 334 (8.12.1941): »Japan scheint durch Luftüberfälle und Angriff von Flotteneinheiten gegen Honolulu, femer gegen Shanghai und gegen Malaya die Feind- seligkeiten gegen Amerika und England eröffnet zu haben.« 272 Hartmann/Slutsch, Franz Haider (wie Anm. 3), S. 491. 273 Vgl. dazu Carl Hans Hermann, Deutsche Militärgeschichte. Eine Einführung. Hrsg. im Auftrag des Arbeitskreises für Wehrforschung, Frankfurt a.M. 1966, S. 437: Taf. XIII,3. 506 MGM 58 (1999) Klaus Mayer

Die alleinige Heraushebung bzw. Betonung der »Schlachtflieger« manifestiert somit ein gravierendes Authentizitätsmanko im Text des Halder-Vortrags. Beson- ders augenfällig wird dieses Manko, wenn man zum Vergleich jene Textpassage aus dem Abschlußbericht des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) über den Feldzug in Polen vom 23. September 1939 heranzieht, wo es zum Einsatz der Luft- waffe heißt: »In engster Zusammenarbeit mit dem Heere haben in ununterbrochenem Ein- setzen Schlacht- und Sturzkampfflieger Bunkerstellungen, Batterien, Truppen- ansammlungen, Marschbewegungen, Ausladungen usw. angegriffen274.« Nun mutmaßen jedoch die Editoren, daß Halder mit dem aus dem Ersten Welt- krieg275 stammenden Begriff »Schlachtflieger« »vermutlich« [!] in erster Linie die Sturzkampfverbände der Luftwaffe gemeint habe276. Anhand seines Kriegstage- buches läßt sich aber eindeutig nachweisen, daß der Generalstabschef des Heeres die »Stukas« als eigenständige Kampfformation wahrnahm und sie keineswegs unter den Begriff »Schlachtflieger« subsumierte277. Noch 1941 schenkte Halder den »Schlachtfliegern« keine spezielle Beachtung; in seinen Notizen zur Luftlage an der Ostfront unterschied er nur zwischen »Jagd- und Kampffliegern«278. Für sowjetische Armeeverhältnisse war hingegen die exklusive Erwähnung bzw Hervorhebung der »Schlachtflieger« völlig normal, wie man der folgenden Ausführung des DDR-Luftkriegshistorikers Olaf Groehler entnehmen kann: »In keinem imperialistischen Staat [...] wurde der Weg zur Entwicklung von Schlachtflugzeugen beschritten und wurden dementsprechende Konstruktions- lösungen gefunden [...] Allein in der Sowjetunion wurden — wenn auch nach langwierigen Auseinandersetzungen — für die leichten Bombenfliegerkräfte spe- zielle Schlachtflugzeuge konzipiert und in die Bewaffnung eingeführt. Die 11-2 war jahrzehntelang Spitzen- und Mustererzeugnis dieser Flugzeuggattung279.« WSA5: »Petroleumquellen in Galizien«280

274 Zum Text des OKW-Berichts vom 23.9.1939 siehe DDP, 2. Aufl., Bd 7/1, Berlin 1942, Dok. Nr. 52, S. 298-308. Zitat: S. 307. 275 Zum Begriff »Schlachtflieger« siehe Vorschriften für den Stellungskrieg für alle Waffen, T. 14. Hrsg.: Chef des Generalstabes des Feldheeres (vom 1.1.1918): Der Angriff im Stel- lungskrieg, S. 58 f., Ziff. 95. 276 Vgl. Hartmann/Slutsch, Franz Haider (wie Anm. 3), S. 491, Anm. 55. 277 Vgl. dazu die folgenden Eintragungen im Halder-KTB (wie Anm. 172): Bd 1, S. 12 (14.8.1939): »Graudenz: [...] Sturzbomber kaum möglich«, »Luftangriff Gdingen: 8 Stu- ka-Gruppen«; S. 18 (17.8.1939): »Sturzkampfflugzeuge als Helfer«; S. 21 (19.8.1939): »1 Sturzkampfgruppe«, S. 55 (2.9.1939): »Stukaverbindungsmann behauptet«; S. 107 (16./17.10.1939): »Gegen Artillerie Stuka«; S. 135 (2.12.1939): »Klärung des Einsatzes Stu- ka gegen Kanalbrücken nötig«; S. 227 (12.3.1940): »1 Stukagruppe bei 12. Armee«; S. 362 (19.6.1940): »Wirkungen von Stuka-Angriffen auf Flüchtlingskolonnen«; Bd 2, S. 41 (29.7.1940): »Stuka«; S. 83 (31.8.1940): »Hilfe durch Sturzkampfverbände«; Bd 3, S. 314 (28.11.1941): »Angebot von Stukagruppen« und S. 524 (20.9.1942): »Bei Woronesh haben Stukas fühlbare Erleichterung gebracht.« 278 Vgl. dazu z.B. ebd., Bd 3, S. 216 (6.9.1941) und S. 341 (12.12.1941): hier nur Trennung zwi- schen »Jagd- u. Kampfflugzeugen«. 279 Olaf Groehler, Geschichte des Luftkriegs 1910 bis 1980, Berlin (Ost) 1981, S. 180; zur 11-2 Sturmowik, dem »Fliegenden Panzer«, die bis 1945 in einer Stückzahl von 36 136 Ma- schinen produziert wurde, vgl. ebd., S. 330 f. und 349 sowie Russell Miller, Die Sowjet- union im Luftkrieg, Eltville a.Rh. 1993, S. 89 und 128 f. Vgl. ferner das Stichwort »Schlacht- fliegerkräfte« im Wörterbuch zur deutschen Militärgeschichte, Bd 2 (Mi-Z), Berlin (Ost) 1985 (= Schriften des Militärgeschichtlichen Instituts der DDR), S. 861 f. 280 Hartmann/Slutsch, Franz Haider (wie Anm. 3), S. 492. Eine authentische Halder-Ansprache? 507

Die »antiquierte« Vokabel »Petroleumquelle« gehörte nach Auskunft der Editoren zu Halders »Wortschatz«, der in der Zeit vor bzw. während des Ersten Weltkrieges »geprägt« worden sei281. In seiner Schrift über den »Feldherrn Hitler« spricht der Generaloberst jedoch von den »russischen Ölquellen«282. Auch die »Gespräche mit Halder« und die Ein- tragungen in seinem Kriegstagebuch belegen, daß der Chef des Generalstabes des Heeres das Wort »Ol« durchgängig gebrauchte283. WSA6: »die Besetzung des Landes [wird] in weitem Maße von den paramilitärischen Formationen der Partei vorgenommen«284 Nach Ansicht der Editoren ist diese Textpassage ein deutlicher Hinweis auf den bevorstehenden Einsatz der Sicherheitspolizei und des SD in Polen; es sei nun »of- fensichtlich«, daß Halder »über die Vorbereitungen der Einsatzgruppen und über deren geplante Kooperation mit der Wehrmacht wohl informiert war, denn um nichts anderes konnte es hier gehen«285. In einem Brief vom 28. Juli 1964 an den französischen Autor Jacques Benoist- Méchin, Verfasser der »Histoire de l'Armee Allemande depuis l'armistice«, schil- derte Halder die ständigen Eingriffe Hitlers in die Aufmarschplanung des Heeres gegen die Tschechoslowakei im Jahre 1938 jedoch mit den folgenden Worten: »von ihm [sind] bis zum letzten Augenblick [...] für die Einbeziehung von mi- litanten Parteiverbänden neue Anordnungen erfolgt«286. Hier sprach Halder also von »militanten Parteiverbänden«287 und nicht, wie im Text des Moskauer Dokuments formuliert wurde, von den »paramilitärischen For- mationen der Partei«. Tatsächlich gehörte der Ausdruck »paramilitärische Formationen der Partei« nicht zum parteiamtlichen Vokabular der LTP8; in der offiziellen Terminologie des »Dritten Reiches« trugen SA, SS, NSKK (Nationalsozialistisches Kraftfahr-Korps) und NSFK (Nationalsozialistisches Fliegerkorps) die Bezeichnung »Kampfver- bände« bzw. »Kampforganisaitionen« der NSDAP289.

281 Vgl. ebd., S. 468, Anm. 4. 282 Vgl. Halder, Hitler (wie Anm. 13), S. 43. 283 Vgl. dazu Bor, Gespräche (wie Anm. 14), S. 216 f.: »Erdölquellen«, »Ölbrigaden« und »rumänische Olbasis«. Zu den Eintragungen im Halder-KTB (wie Anm. 172) siehe ins- besondere Bd 1, S. 142 (14.12.1939): »Wir haben angeblich so viel Öl, daß wir an Italien liefern!«; S. 152 f. (8.1.1940): »Rumänische Öllieferung sehr im Rückstand«; Bd 2, S. 33 (22.7.1940): »Rumänische Ölzentren schützen«; S. 50 (31.7.1940): »Ölgebiet Baku«; S. 79 (27.8.1940): »Rumänien: Im Ölgebiet«; S. 80 (28.8.1940): deutsches »Interesse an dem Öl- gebiet« Rumänien; S. 107 (20.9.1940): im rumänischen »Ölgebiet nur Luftschutz«; Bd 3, S. 283 (8.11.1941): russisches »Ölgebiet«; S. 420 (28.3.1942): »Ölquellen für Russen un- entbehrlich«; S. 471 (3.7.1942): russisches »Ölgebiet« und S. 514 (31.8.1942): »Soweit Kräf- te, vor allem schnelle, verfügbar, Vortreiben auf Grosny, um Hand auf Ölgebiet zu le- gen.« 284 Hartmann/Slutsch, Franz Haider (wie Anm. 3), S. 493. 285 Vgl. ebd., S. 476. 286 Zit. nach Schall-Riaucour, Aufstand (wie Anm. 32), S. 141. 287 Auch Manstein bezeichnete die »SA-Formation« als eine »militante Parteigliederung«; vgl. ders., Soldatenleben (wie Anm. 160), S. 178. 288 Zur LTI siehe neuerdings Cornelia Schmitz-Beming, Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin 1998. 289 Zur Bezeichnung »Kampfverbände« vgl. Meyers Lexikon, 8. Aufl., Bd 8, Leipzig 1940, Sp. 144 (Stichwort »Nat.-soz. Deutsche Arbeiterpartei«); zu »Kampforganisation« siehe ebd., Sp. 152 (für NSFK). In seiner Reichstagsrede vom 13.7.1934 zur Röhm-Krise erklärte Hitler: »Ich habe seit 14 Jahren unentwegt versichert, daß die Kampforganisationen der 508 MGM 58 (1999) Klaus Mayer

Der Terminus »paramilitärische Formation« — der erst nach 1945290, ab den 50er Jahren, vor allem bei Hannah Arendt (»the importance of paramilitary formations for totalitarian movements«), seine rein deskriptive Begriffskarriere antrat291 — war vor der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht durch Hitlers Proklama- tion vom 16. März 1935 ein verhandlungstaktischer Schlüsselbegriff der französi- schen Diplomatie292 und Militärführung293 in der Frage der deutschen Wieder- aufrüstung. Am 11. Mai 1933 votierte die Mehrheit des Technischen Effektivkomitees der Genfer Abrüstungskonferenz für den Beschluß, daß die SA-, SS- und Stahlhelm-Ver- bände als »militärisch verwendbar anzusehen und daher auf die deutschen Hee- resstärken anzurechnen seien«294. In völliger Übereinstimmung mit der Reichswehrführung295 wies Hitler in sei- ner Regierungserklärung vor dem Reichstag am 17. Mai 1933 den Genfer Komi- teebeschluß als unakzeptabel zurück: »Wenn heute in Genf versucht wird, diese ausschließlich innerpolitischen Zwecken dienenden Organisationen [SA/Stahlhelm und SS, K.M.] auf die Wehr- macht anzurechnen, dann könnte man genau so gut die Feuerwehr, die Turn- vereine, die Wach- und Schließgesellschaften und andere als Wehrmacht an- rechnen296.«

Partei politische Institutionen sind, die nichts zu tun haben mit dem Heere.« Zum Text der Rede Hitlers vom 13.7.1934 siehe Schulthess, 50 (1934), Bd 75, München 1935, S. 171-187. Zitat: S. 179. 290 Bei Franz Neumánn, Behemoth. The Structure and Practice of National Socialism 1933-1944, 2. ed., New York 1944, wird dieser Begriff noch nicht für SA und SS ange- wandt; vgl. ebd., S. 62 (zu SA), 69 f. und 546-548 (zu SS). Als »para-military organizati- on« findet nur der von Thorvald Thronsen geführte Kampfverband »Hird« der norwe- gischen »Nasjonal Sämling«, die 1933 von Vidkun Quisling gegründet wurde, eine kur- ze Erwähnung; vgl. ebd., S. 570. 291 Vgl. dazu Hannah Arendt, The Origins of Totalitarianism, New York 1951, S. 357-363 sowie die deutsche Ausgabe: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt a.M. 1955, S. 586-592; Brigadier General Telford Taylor, Sword and Swastika. Generals and Nazis in the Third Reich, New York 1952, S. 58 (SA, »a private political paramilitary< body«) und S. 75 (Emst Röhm, »an ideal leader of the Party's >paramilitary< formations«); John W. Wheeler-Bennett, The Nemesis of Power. The German Army in Politics 1918-1945, London 1953, S. 163 (SA, »a paramilitary formation«); Wolfgang Sauer, Die Mobilma- chung der Gewalt, in: Karl Dietrich Bracher, Wolfgang Sauer und Gerhard Schulz, Die na- tionalsozialistische Machtergreifung. Studien zur Errichtung des totalitären Herr- schaftssystems in Deutschland 1933/34, Teil 3, Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1974 (= Ull- stein 2994), S. 203: »Die SA [...] eine paramilitärische Formation« und Joachim C. Fest, Das Gesicht des Dritten Reiches. Profile einer totalitären Herrschaft, München 1963, S. 197: SA, »der von Röhm geführte paramilitärische Verband«. 292 Vgl. dazu u.a. die Berichte von Botschafter François-Poncet vom 14. und 21.12.1933 an Außenminister Paul-Boncour über die SA als »formation paramilitaire«. In: DDF, Serie 1, Bd 5, Nr. 132, S. 259-263 und Nr. 163, S. 320-322. 293 Vgl. dazu u.a. die Aufzeichnungen von General Weygand vom 8.3.1934, in: ebd., Nr. 477, S. 900: »les effectifs des formations paramilitaires«. 294 Vgl. dazu die AA-Aufzeichnung vom 15.5.1933, in: ADAP, Ser. C, Bd 1,1, Göttingen 1971, Nr. 239, S. 431-134. 295 Vgl. dazu die von Reichswehrminister v. Blomberg unterzeichneten »Abrüstungs-Noti- zen« vom 15.5.1933 für die Regierungserklärung am 17.5.1933, in: ebd., Nr. 238, S. 429-131. 296 Zum Text der Reichstagsrede Hitlers vom 17.5.1933 siehe Deutschlands Kampf um Gleich- berechtigung. Tatsachen und Probleme der Verhandlungen über Abrüstung und Gleich- berechtigung 1933/1934. Hrsg. von Richard Schmidt und Adolf Grabowsky, Berlin 1934, Dok. 1, S. 201-214. Zitat: S. 209. Zur kritischen Analyse der Komiteearbeit aus deutscher Eine authentische Halder-Ansprache? 509

Im Dezember 1933 kündigte die Reichsregierung die Umwandlung der Reichs- wehr in ein 300 000-Mann-Heer mit »kurzer Dienstzeit« an297. Am 1. Januar 1934 ant- wortete die französische Regierung mit einem Aide-mémoire: Bei der geplanten Erhöhung der deutschen Truppenzahl auf 300 000 Mann müsse eine Anrechnung der »militärähnlichen Organisationen« (im französischen Originalwortlaut: »or- ganisations paramilitaires«) erfolgen298. Ein weiteres Aide-mémoire, das Außen- minister Barthou am 13. Februar 1934 nach Berlin übersandte, bekräftigte diese Forderung der französischen Regierung zu den »formations paramilitaires alle- mandes«299, die in Berlin natürlich nach dem Muster der Reichstagsrede Hitlers vom 17. Mai 1933 erneut zurückgewiesen wurde: Den SA- und SS-Verbänden kön- ne »kein militärischer Charakter beigemessen werden«, teilte die Reichsregierung in ihrem Antwortmemorandum vom 13. Mai 1934 lapidar der französischen Re- gierung mit300. Am 26. März 1935, bei seinem Schlußgespräch mit dem britischen Außenmi- nister Sir John Simon und Lordsiegelbewahrer Eden, versicherten sowohl Hitler als auch sein Sonderbeauftragter für außenpolitische Fragen, der spätere Reichsaußenminister v. Ribbentrop, daß in Deutschland keine paramilitärischen Formationen vorhanden seien301. Konnte vor diesem politischen Hintergrund der Generalstabschef des Heeres im Frühjahr 1939 vor einem militärischen Auditorium wirklich von den »parami- litärischen Formationen der Partei«302 sprechen? Dies ist wohl ziemlich unwahrscheinlich, da Halder nach eigener Schilderung zu jenen »denkenden Soldaten« der gehörte, die nur ein Gedanke be- wegte: »wie diese kleine Truppe bei günstiger Zeitentwicklung erweitert und in ihrem Gefüge so ergänzt werden könnte, daß sie den Schutz deutschen Bodens wieder gewährleisten kann«303. Damit war es aber wohl völlig ausgeschlossen, daß der Generalstäbler Halder gerade jenen Ausdruck in den Mund nahm, der von der französischen Diplomatie nur kreiert worden war, um dem Aufbau der deutschen Heeresstärke nach 1933 entgegenzuwirken304.

Sicht vgl. Generalleutnant a.D. Horst v. Metzsch, Die Behandlung der Wehrverbände auf der Abrüstungskonferenz, in: ebd., S. 106-120. 297 Vgl. dazu das Memorandum der Reichsregierung vom 18.12.1933. Abdruck ebd., Dok. 9, S. 255. 298 Zum französischen Text des Aide-mémoire vom 1.1.1934 siehe DDF, Serie 1, Bd 5, Nr. 182, S. 383-388. Abdruck der deutschen Übersetzung in Deutschlands Kampf (wie Am 296), Dok. 11, S. 259-264. 299 Zum französischen Text des Aide-mémoire vom 13.2.1934 siehe DDF, Serie 1, Bd 5, Nr. 373, S. 691-693. Abdruck der deutschen Ubersetzung in Deutschlands Kampf (wie Anm. 296), Dok. 16, S. 287-290. 300 Zum Text des deutschen Memorandums vom 13.3.1934 siehe ebd., Dok. 17, S. 290-294. Zitat: S. 292, Ziff. 4. 301 Vgl. dazu die »Notes of Anglo-German Conversations« vom 25./26.3.1935, in: Docu- ments on British Foreign Policy 1919-1939 (DBFP), 2nd Ser., Vol. 12, Nr. 651, S. 736: »Mr. Eden enquired about para military formations. Herr Hitler replied that there were no para military formations in Germany. He added that in foreign countries para military organisations received training with rifles even at Eton. Herr Ribbentrop said that it was a wrong conception; and that there were no para military organisations in Germany.« 302 Man beachte bei diesem Begriff, daß noch im Jahre 1969 General a.D. Johann Adolf Graf Kielmansegg LTI-korrekt formulierte: »Kampforganisationen [der Partei]«; vgl. dazu sei- ne Einführung zu Messerschmidt, Die Wehrmacht im NS-Staat (wie Anm. 24), S. VIII f. 303 Zit. nach Schall-Riacour, Aufstand (wie Anm. 32), S. 323. 304 Erst nach dem Kriege sprach der frühere OQu V im GenStdH völlig undifferenziert von 510 MGM 58 (1999) Klaus Mayer

WSA7: »die Polen [...] werden [...] sich im Räume von Polnisch-Schlesien gegen die aus der Linie Rosenberg-Ratibor-Mährisch-Ostrau-Zilina vorgehenden Heeresgruppen 1 und 3 zur Wehr setzen305.« »Zilina« (magyarisch »Zsolna«) ist der erst seit dem Bestehen der Tschechischen Republik (1918) verwendete amtliche Name für die nordostwärts von Preßburg gelegene slowakische Stadt Sillein an der Waag (in der k.u.k. Monarchie zum un- garischen Komitat Trentschin gehörend306). Nach der Errichtung des sog. »Protek- torats Böhmen und Mähren« (16. März 1939) forcierten die NS-Behörden eine Re- Germanisierung der tschechischen Ortsnamen307, was natürlich auch den Sprach- gebrauch der Wehrmacht betraP08. Vor diesem sprachpolitischen Hintergrund ist es wohl auszuschließen, daß der Chef GenStdH gerade den tschechischen Namen von Sillein benutzte; tatsächlich vermerkte General Haider am 28. August 1939 in seinem KTB den Anmarsch der 2. Panzer-Division auf »Sillein«309.

WSA8: »die Bombensalve der ganzen Bomberflotte Polens [ist] so gering«310, Von den Editoren wird der Ausdruck »Bombensalve« einfach als »antiquierter« Ter- minus ausgegeben, der »in der Zeit vor bzw. während des Ersten Weltkrieges geprägt worden« sei311. Tatsächlich ist das Wort »Bombensalve« jedoch kein Kompositum der deutschen Sprache312: Im Deutschen wird die »Bombenlast« — so der richtige Fach- ausdruck313 — aus Flugzeugen abgeworfen31*; die Salve wird dagegen abgefeuert315.

den »vier großen paramilitärischen Gruppen, die das politische Leben in Deutschland vor dem 30. Januar 1933 beunruhigten«: »Rote Front und Reichsbanner«, »die braune Ar- mee (SA und SS)« und »die graue Armee (Stahlhelm und Kyffhäuserbund)«; vgl. dazu Waldemar Erfurth, Die Geschichte des deutschen Generalstabes von 1918 bis 1945, Göt- tingen 1957 (= Studien zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges, Bd 1), S. 155. 305 Vgl. Hartmann/Slutsch, Franz Halder (wie Anm. 3), S. 493 f. 306 Vgl. dazu Meyers Großes Konversations-Lexikon, 6. Aufl., Bd 18, Leipzig, Wien 1909, S. 471 (Stichwort »Sillein«). 307 Vgl. dazu Amtliches Deutsches Ortsbuch für das Protektorat Böhmen und Mähren. Hrsg. vom Reichsprotektor in Böhmen und Mähren, Prag 1939. 306 Vgl. dazu die Schilderung des zur 7. Infanteriedivision abkommandierten Kriegsbe- richters Leo Leixner vom 31.8.1939: »Marschziel Sillein, Slowakei, Meldung bei einer In- fanteriedivision.« Leixner, Lemberg (wie Anm. 168), S. 9. 309 Vgl. dazu Halder-KTB (wie Anm. 172), Bd 1, S. 40: »16.15 Uhr 2. Pz.Div. bereits nach Sil- lein im Gange. 1. Geb.Div. halb über Sillein«. 310 Hartmann/ Slutsch, Franz Halder (wie Anm. 3), S. 486. 3,1 Vgl. ebd., S. 468, Anm. 4. 312 Zum sog. »Salvo Bombing« von Seezielen, das zum ersten Male am 23.9.1933 im großen Stil erprobt wurde, vgl. Gl., Luftangriffe auf die Flotte bei den englischen Herbstübun- gen 1933, in: WuW, 1934, H. 5, S. 210. 313 ygl seing Anwendung in Adolf-Victor v. Koerber, Deutsche Heldenflieger, Bielefeld, Leipzig [1917] (= Velhagen & Klasings Volksbücher, 137), S. 33; Schwarte, Krieg (wie Anm. 156), S. 53; Generalmajor a.D. Helmuth Wilberg, Die Luftabrüstung als Kernfrage der Abrüstungsverhandlungen, in: Deutschlands Kampf (wie Anm. 296), S. 89 f.; Bom- benflugzeuge und Sprengbomben in französischer, englischer und amerikanischer Auf- fassung, in: WuW, 1934, H. 8, S. 376 u. 378; Oberst a.D. Blümner, Flugzeug-Kanonen, in: ebd., H. 11, S. 492; Köstring, Der militärische Mittler (wie Anm. 19), S. 175 (Beilage I zum Ber. 13/36 vom 4.5.1936) und Rommel, Krieg (wie Anm. 259), S. 148. 314 Vgl. dazu u.a. als Textbelege Hitlers Reichstagsrede vom 21.5.1935 (in: DDP, Bd 3, S. 98): »Wird der Bombenabwurf [...] als völkerrechtswidrige Barbarei gebrandmarkt«; Luden- dorff, Der totale Krieg (wie Anm. 120), S. 64: »Kein Feldherr kann denken, durch das Be- werfen der feindlichen Bevölkerung mit Bomben [...] ohne weiteres den Sieg zu errin- gen« und Rommel, Krieg (wie Anm. 259), S. 211: »Im Reihenwurf warfen starke Bom- berverbände [der RAF] ihre Sprengbomben auf meine Truppen«. 315 Im Duden von 1926 (9. Aufl.), S. 414, wird die Salve als ein »gleichzeitiges Schießen aus Eine authentische Halder-Ansprache? 511

WSA9: »Sicher werden sich die Polen in Westpreußen (Pommerellen) gegen die aus Ostpreußen und Pommern vorgehenden Truppen des I. und II. Korps schlagen [,..]316« Die äquivalente Verwendung der Territorialbegriffe »Westpreußen (Pommerel- len)«, wie sie hier der Chef GenStdH angeblich gebrauchte, ist ein eindeutiges Fäl- schungsindiz, denn in der deutschen Heeressprache wie in der LTI gab es für die Trennungszone zwischen Ostpreußen und dem übrigen Reichsgebiet nur eine ein- zige politisch korrekte Wortwahl. Bereits dem jungen Reichswehr-Rekruten wurde zu Beginn seiner Ausbildung eine Kartenskizze Deutschlands präsentiert, auf der ein dicker schwarzer Pfeil mit der Beschriftung »Polen: Im Krieg ca. 3 1/4 Million [Mann]« in Richtung »Poln. Korridor« wies317. Am 1. September 1939 verkündete Hitler gleich zu Beginn seiner Rede vor dem Reichstag: »Der Korridor war und ist deutsch318!« Und in seinem Tagesbefehl vom 6. September 1939 wandte sich der Oberbefehls- haber des Heeres, Generaloberst v. Brauchitsch, mit den folgenden Worten an die Truppen des Ostheeres: »Soldaten! [...] Der Korridor trennt nicht mehr Ostpreußen und Danzig vom deutschen Mutterland319.« In sprachlicher Übereinstimmung mit Hitler und Brauchitsch verwendeten das OKW320, die Heeresgeneralität (als Beispiele seien nur Guderian321, Manstein322 und Wagner323 angeführt) und natürlich auch der Chef GenStdH, wie man mit seinem

mehreren Gewehren oder Geschützen« definiert. Auch »Der Große Duden« von 1934 (11. Aufl.), S. 483, bezieht die Salve nur auf »Feuerwaffen«. Zur Wiedereinführung der Feuerart-Bezeichnung »Salve« im Januar 1934 vgl. Major Schlieper, Die neuen Hefte der Ausbildungsvorschrift für die Artillerie, in: WuW, 1934, H. 2, S. 50 und Generalleutnant a.D. Marx, Betrachtungen zur neuen A.V.A., in: ebd., H. 5, S. 201. 316 Vgl. Hartmann/Slutsch (wie Anm. 3), S. 493. 317 Vgl. dazu Zimmermann, Soldatenfibel (wie Anm. 157), S. 7 (Hervorhebung im Original). 318 Zu Hitlers Reichstagsrede vom 1.9.1939 vgl. Keesings Archiv der Gegenwart vom 1.9.1939, 4199 G. 319 Zum vollen Wortlaut von Brauchitschs Tagesbefehl vgl. ebd., 6.9.1939, 4215 H. 320 Vgl. dazu die OKW-Berichte in ebd., 1.9.1939,4201 C (»Im Korridor nähern sich unsere Truppen der Brahe«), 2.9., 4203 F (»Die im nördlichen Korridor befindlichen polnischen Heeresteile sind abgeschnitten«) und 3.9.1939,4207 A (»Ein Versuch der im Korridor ab- geschnittenen polnischen Truppen, nach Süden durchzubrechen, wurde abgewiesen«) so- wie den OKW-Abschlußbericht über den Feldzug in Polen vom 23.9.1939, in: DDP, Bd 7/1, Dok. 52, S. 303 (»eine sehr starke Armee im Korridor. Die Aufgabe der Korridor-Armee war, den Freistaat Danzig zu besetzen«; »die weitaus stärkste polnische Armee [...] soll- te im Falle eines deutschen Angriffs gegen den Korridor [...] die Flanke dieses Angriffs bedrohen«) und S. 306 (»Der Vernichtung der polnischen Armee im Korridor«), 321 Vgl Heinz Guderian, Erinnerungen eines Soldaten, 10. Aufl., Neckargemünd 1977, S. 58 (»Mein Auftrag lautete, [...] die im sogenannten >polnischen Korridor< stehenden polni- schen Verbände abzuschneiden und zu vernichten«), S. 64 (»Der Korridor war durch- stoßen«) und S. 65 (»Das Vertrauen der Männer in die Überlegenheit ihrer Waffe war duch den Erfolg im Korridor stark gewachsen«). 322 Vgl. Manstein, Verlorene Siege (wie Anm. 214), S. 26 (»Aufgabe der Heeresgruppe war es, zunächst den Korridor zu durchstoßen«), S. 27 (»Im Korridor versammelte sich die Armee Pommerellen«), S. 31 (»Halten des Korridors«), S. 32 (»starke Kräfte in den Kor- ridor«) und S. 33 (»im Korridorgebiet«). 323 Vgl. dazu Wagners Tagebuch vom 30.8. (»Bezüglich der polnischen Kräftegruppierung ist die starke Massierung im Korridor [...] nicht verständlich«), 2.9. (»Es ist zu hoffen, 512 MGM 58 (1999) Klaus Mayer

Kriegstagebuch belegen kann324, den polit-geographischen Ausdruck »Korridor«, wenn sie sich mit politisch-militärischen Vorgängen im Gebiet der 1919 durch den Versailler Friedensvertrag entstandenen Wojewodschaft Pommerellen (polnisch Pomorze) beschäftigten. Die bisherige Analyse zeigt, daß der Moskauer Archivtext des Halder-Vortrags schon in sprachlicher Hinsicht nicht das Prädikat »no glaring errors«325 erhalten kann. Doch neben den aufgezeigten Sprachanomalien enthält der Text des Haider- Vortrags auch noch eine Anzahl faktischer Anomalien (FA), die erstaunlicherwei- se von den Historikern Hartmann und Slutsch nicht bemerkt worden sind. Sie sol- len deshalb im Folgenden dargestellt werden. FAI : »Wir haben in den Jahren der guten Beziehungen zu Polen ausreichend Gele- genheit gehabt (und haben diese Gelegenheiten auch ausgenutzt), um die pol- nische Armee zu studieren und auf ihren wahren Wert prüfen zu können326.« Mit den »Jahren der guten Beziehungen zu Polen« ist offensichtlich jene Zeitpha- se gemeint, die von der Unterzeichnung des deutsch-polnischen Nichtangriffs- vertrages327 (26. Januar 1934) bis zu seiner von Hitler im Reichstag vollzogenen öf- fentlichen Aufkündigung328 (28. April 1939) währte. Doch der Nichtangriffspakt mit Polen eröffnete der Reichswehr/Wehrmacht keineswegs »ausreichende Gele- genheiten« zum unmittelbaren Studium der polnischen Armee. Eine militärische Kooperation, wie sie zuvor zwischen Reichswehr und Roter Armee praktiziert worden war329 — an der auch Halder mitgewirkt hatte330 —, gehörte nicht zu den Folgen des Vertrages vom 26. Januar 1934. Es gab keine gegenseitigen Manöver- besuche und natürlich auch keine Zusammenarbeit der beiden Generalstäbe in Berlin und Warschau. Dem ersten deutschen Militârattaché in Polen verbot Mar- schall Pilsudski sogar ausdrücklich den »unmittelbaren Verkehr mit der Truppe«331.

daß heute der Ring um den Korridor geschlossen wird«), 3.9. (»Der Korridor wird uns morgen gehören«) und 4.9.1939 (»16 000 Gefangene, noch nicht ganz zu übersehen, was im Korridor vereinnahmt wird«); zit. nach Wagner, Generalquartiermeister (wie Anm. 29), S. 107,121 und 126. 324 Vgl. dazu die folgenden Eintragungen im Halder-KTB (wie Añm. 172), Bd 1, S. 34 (26.8.1939: »Danzig-Korridor«), S. 41 (28.8.1939: »Wir fordern Danzig, Korridor durch Korridor«), S. 42 (29.8.1939: »Korridor: [...] es wäre vielleicht möglich, in dem Korridor Minderheiten unterzubringen«), S. 46 (30.8.1939: »Korridor 2-3 Div. mehr«), S. 54 (1.9.1939: »Abgeschossener Aufklärer über Korridor«, 2.9.1939: »Prüfung, ob es zweckmäßig ist, aus Korridor Kräfte nach Ostpreußen zu führen«), S. 56 (2.9.1939: »Korridor: Rückmarsch- bewegungen«), S. 65 (7.9.1939: »Korridor abgeben [...] an Wehrkreis Kdo II«) und S. 72 (12.9.1939: »mit Ost-Oberschlesien und Korridor«). 325 So die Formulierung französischer »intelligence experts« in ihrer Authentizitäts-Beur- teilung eines nur in Fotokopie vorgelegten internen persischen Regierungsdokuments; vgl. dazu Thomas Sancton, The Tehran Connection. An exclusive look at how Iran hunts down its opponents abroad, in: Time, 21.3.1994, S. 31. 326 Hartmann/Slutsch, Franz Haider (wie Anm. 3), S. 488. 327 Zum Vertragstext siehe Reichsgesetzblatt, 1934II, S. 117. 328 Vgl. dazu Keesings Archiv der Gegenwart, 1939, 4048 B. 329 Vgl. dazu Manfred Zeidler, Reichswehr und Rote Armee 1920-1933: Wege und Stationen einer ungewöhnlichen Zusammenarbeit, München 1993 (= Beiträge zur Militärgeschichte, Bd 36). 330 Vgl. dazu die folgenden Halder-Äußerung in Bor, Gespräche (wie Anm. 14), S. 243: »Stets waren, auf taktischen Übungsreisen, die sowjetischen Offiziere die aufmerksamsten Schüler. Unablässig schrieben sie mit, kamen am nächsten Morgen und fragten, wenn sie etwas nicht verstanden hatten.« 331 Vgl. dazu den Bericht Nr. 25 von Generalmajor Max J. Schindler vom 10.5.1933 über sei- Eine authentische Halder-Ansprache? 513

Für das »Studium« der polnischen Armee standen dem Generalstab des Hee- res auch nach 1934 nur die »klassischen« Wege der Nachrichtenbeschaffung zur Verfügung: die Auswertung der sog. »offenen« Quellen332, der geheime Melde- dienst des Heeres (Abw. IH)333 und die Horchergebnisse der Funkaufklärung334. FA2: »Von Ostpreußen, wahrscheinlich auch durch Litauen, von Pommern, Bran- denburg, Schlesien, Mähren und durch die Slowakei werden sich unsere Armeen konzentrisch nicht etwa nur auf Warschau sondern auch auf einen Punkt weit hinter Warschau bewegen335.« Dieser Satz enthält gleich zwei faktische Anomalien: 1. »wahrscheinlich auch durch Litauen« In seiner »Weisung für die einheitliche Kriegsvorbereitung der Wehrmacht für 1939/40« vom 11. April 1939 hatte Hitler zum »Fall Weiß« (Krieg mit Polen) ünter Ziffer 2 aber nur angeordnet: »Gegen die Randstaaten, insbesondere gegen Litauen, sind Sicherungsmaß- nahmen für den Fall eines polnischen Durchmarschs zu treffen336.« Auch in Ziffer 3 (»Aufgaben der Wehrmacht«) wiederholte Hitler seine Weisung zu einer rein defensiven Grenzsicherung gegenüber Litauen: »gegen Litauen ist zu si- chern«337. 2. »von [...] Brandenburg« Von der preußischen Provinz Brandenburg erfolgte kein deutscher Angriff auf das polnische Territorium. Im Räume ostwärts Küstrin-Frankfurt/O., zwischen Birn- baum und dem Bahnknotenpunkt Bentschen (polnisch Zbaszyn), stand bei Kriegs- beginn nur schwacher deutscher Grenzschutz der polnischen Armee »Poznan« (Oberbefehlshaber: General Tadeusz Kutrzeba) gegenüber. Die polnische Posen- Armee hätte also, wie Generaloberst Halder nach Kriegsende erläuterte, »ziemlich

ne Antrittsaudienz bei Marschall Pilsudski am 8.5.1933, in: ADAP, Ser. C, Bd 1,1, Nr. 221, S. 397-399. 332 Im OKW-Abschlußbericht vom 23.9.1939 werden als »offene« Quellen erwähnt: die pol- nische »Tagesjoumalistik«, die »allgemeine und wehrwissenschaftliche Literatur Polens« sowie »rednerische Ergüsse polnischer Militärs«; vgl. dazu DDP, Bd 7/1, Dok. 52, S. 301 und 303. 333 Informationen über die polnische Aufmarschplanung erhielt die Abwehr von einem in ständigen Geldnöten steckenden Major des polnischen Generalstabes, der beim Gene- ralinspektorat der polnischen Armee in Warschau tätig war: »Im Verlauf eines halben Jahres lieferte er ausführliche und klare Unterlagen über die Zusammensetzung von drei polnischen Armeen im Mobilmachungsfall und ihre Aufmarschräume.« Vgl. dazu mit weiteren Einzelheiten Reile, Geheime Ostfront (wie Anm. 97), S. 203-205. Zitat: S. 205. Reiles Angaben sind einem Bericht entnommen, den Oberstleutnant a.D. Hans Horac- zek, der frühere IH der Abwehrstelle Ostpreußen, dem Autor zur Verfügung stellte. Zu den Abwehr-Agenten auf regionaler Ebene gehörte z.B. ein polnischer Sergeant tsche- chisch-deutscher Abstammung, der ab 1935 dem Stabe der 6. polnischen Infanterie-Di- vision in Krakau zugeteilt war und sich aufgrund seiner Dienststellung Einblick in den geheimen Schriftverkehr des Divisionsstabes verschaffen konnte;, vgl. dazu ebd., S. 210. 334 Im Jahre 1937 gelang die vollständige, 14tägige Verfolgung eines großen polnischen Ar- meemanövers »bis ins Einzelne« durch die Horchstellen des Wehrkreises II. Vgl. dazu Doron Arazi, Die deutsche militärische Funkaufklärung im Zweiten Weltkrieg. Versuch eines Überblicks, in: Der Zweite Weltkrieg. Analysen, Grundzüge, Forschungsbilanz. Im Auftr. des MGFA hrsg. von Wolfgang Michalka, München, Zürich 1989, S. 504. 335 Hartmann/Slutsch, Franz Halder (wie Anm. 3), S. 490. 336 Zur Weisung Hitlers vom 11.4.1939 siehe ADAP, Ser. D, Bd 6, Nr. 185, S. 186-189. Zitat: S. 187. 337 Vgl. ebd., S. 188. 514 MGM 58 (1999) Klaus Mayer

ungestört auf Berlin marschieren können, doch ihr war wohl deutlich, daß sie mit jedem Kilometer in westlicher Richtung ihre Lage fortschreitend verschlechtern würde, und so rückte sie endlich gen Osten — rechtzeitig genug, um noch in den Kessel von Kutno zu gelangen [...] Die stärkste polnische Armee hat uns jedenfalls, auf Grund einfacher psychologischer Überlegungen keine Kopfschmerzen berei- tet«338. FA3: »mit unseren Panzer- und leichten Divisionen«339 Hier fehlt die Erwähnung der Infanteriedivisionen (mot) als drittes Formations- element der Armeekorps (mot)340, die sogar der OB der Luftwaffe in seiner Rede vor der Belegschaft der Berliner Rheinmetall-Borsig-Werke am 9. September 1939 nicht vergaß: »Überall dort, wo motorisierte Verbände, leichte Divisionen und unsere Pan- zer vorgegangen sind, ist der Feind vertrieben worden341.« FA4: »von Süden her [wird] die durch deutsche Armeekorps verstärkte italieni- sche Armee via Nizza und Modena und von Tripolis her die italienische Ko- lonialarmee gegen Tunis — und vielleicht Ägypten — vorgehen342.« Nach Meinung der Editoren können diese »Äußerungen [Halders] über eine itali- enische Kriegführung im Mittelmeerraum sehr wohl als Reflex auf die ersten deutsch-italienischen Sondierungsgespräche verstanden werden, die am 5./6. April [1939, K.M.] in Innsbruck stattfanden«343. Die Wehrmachtsbesprechungen mit Italien, deren Gegenstand die Darlegung des beiderseitigen Kriegspotentials (potentiel de guerre) war, führte auf deutscher Sei- te der Chef des OKW, Generaloberst Keitel, auf italienischer Seite General Pariani, der Chef des Generalstabes des italienischen Heeres. Am 12. April 1939 unterrichtete der Chef des OKW, nachdem er am Vortage dazu die Genehmigung von Hitler erhalten hatte, die Chefs der Generalstäbe des Heeres und der Luftwaffe (also die Generäle Halder und Jeschonnek) sowie den Chef des Stabes der Seekriegsleitung (Ski), Konteradmiral Schniewind, mündlich über den Verlauf der Innsbrucker Besprechungen344. Die Mitteilungen Keitels über sein Gespräch mit General Pariani wurden von Konteradmiral Schniewind in einer Aufzeichnung schriftlich fixiert. Von Schnie- winds Aufzeichnung fertigte dann Korvettenkapitän Neubauer, ein Angehöriger der Operationsabteilung der Ski, ein handschriftliches Resümee mit der genauen Wiedergabe des Dialogs Keitel-Pariani an345. Laut dieser Niederschrift Neubauers erklärte General Pariani als »Beauftrag- ter des Duce«346 in Innsbruck dem Chef des OKW: 338 So die Haider-Äußerung in Bor, Gespräche (wie Anm. 14), S. 141. 339 Hartmann/Slutsch, Franz Halder (wie Anm. 3), S. 491. 340 Vgl. dazu die deutsche Kräftegliederung gegen Polen am 1.9.1939 in Burkhart Mueller- Hillebrand, Das Heer 1933-1945. Entwicklung des organisatorischen Aufbaues, Bd 2, Frankfurt a.M. 1956, Tab. 8 auf S. 18 f. 341 Zum Text der Rede Görings vom 9.9.1939 siehe Keesings Archiv der Gegenwart, 1939, 4218 K-4222. Zitat: 4219. 342 Hartmann/Slutsch, Franz Halder (wie Anm. 3), S. 489. 343 Vgl. ebd., S. 470. 344 Zum Termin der Unterrichtung vgl. die Weisung des Chefs OKW vom 17.4.1939, in: AD AP, Ser. D, Bd 6, Anh. I, Dok. IV, S. 934. 345 Zur Neubauer-Aufzeichnung siehe ebd., Dok. III, S. 932-934. 346 So Enno v. Rintelen, Mussolini als Bundesgenosse. Erinnerungen des deutschen Mi- litârattachés in Rom 1936-1943, Tübingen, Stuttgart 1951, S. 60. Eine authentische Halder-Ansprache? 515

»Im Falle eines Krieges Italien-Frankreich verlange Italien nur materielle Hilfe, — keine Soldaten347.« Da das Pariani-Diktum (keine Entsendung deutscher Truppen nach Italien) zu je- nen Informationen gehörte, die der Chef des OKW auf Anweisung Hitlers dem Chef GenStdH am 12. April 1939 mitteilte, ergibt sich im Hinblick auf die Aus- führungen Halders, wie sie im Text des Moskauer Archivdokuments enthalten sind, ein eindeutiger Widerspruch: Nach dem 13. April 1939 kündigte laut CChlDK- Ansprachetext der Chef GenStdH seinen militärischen Zuhörern an, daß im Kriegs- falle deutsche »Armeekorps« (also mindestens zwei Armeekorps!) als Verstär- kungskräfte der italienischen Armee bei einem Angriff gegen die französische Al- penfront zum Einsatz kämen. Dabei sollte die italienische Armee mit ihren deutschen Unterstützungskräften — so die wörtliche Formulierung im CChlDK-Text — »via Nizza und Modena« gegen den französischen Gegner vorgehen. Die Erwähnung von Modena348 ergibt aber keinen operativen Sinn, da diese italienische Provinzhauptstadt bekanntlich völlig außerhalb des italienisch-französischen Grenzgebietes liegt. Nach dem Aufzeigen der Anomalien im Text des »Halder«-Dokuments soll nun der Versuch unternommen werden, Licht in das Dunkel der Herkunft349 bzw. Genese des CChlDK-Dokuments zu bringen. Bereits seit dem Jahre 1970 bietet der »Index to the >Green< or Secret Papers« zu den im Public Record Office (PRO) in London aufbewahrten Akten des Foreign Office (FO) unter »Halder, General« einen Hinweis auf eine »Address« Halders vor der »Wehrakademie« »on Germany's military outlook«350. Das vierseitige FO-Dokument (heutige PRO-Sign.: FO 371 /22975) enthält die ma- schinenschriftliche »Summary« einer Haider-Ansprache, die inhaltlich mit dem im CChlDK aufgefundenen »Halder«-Vortragstext in den meisten Punkten nahezu vollständig übereinstimmt. Anhand der FO-Aktenüberlieferung im PRO läßt sich auch der Weg zum mutmaßlichen »Urheber« des »Halder«-Textes zurückverfol- gen. Am 19. Juli 1939 erhielt Ivo Mallet, einer der Privatsekretäre des britischen Außenministers Viscount Halifax351, einen Brief von Henry Wickham Steed, worin der frühere Herausgeber der »Times«352 mit dem folgenden Hinweis um eine Un- terredung im FO bat:

347 Vgl. AD AP, Ser. D, Bd 6, Anh. I, Dok. III, S. 932. 348 Es muß wohl richtig heißen: »Modane«, denn dieser im Tal der Are gelegene französi- sche Gebirgsort wurde nach Beginn der italienischen Alpenoffensive (21.6.1940) von Ver- bänden der Heeresgruppe Kronprinz Umberto besetzt. Vgl. dazu Rintelen, Mussolini (wie Anm. 346), S. 90. 349 Nach Auskunft der Editoren sind am »Fundort« (also im Moskauer CChlDK) »keine Be- zugsdokumente« zum Text . des »Halder«-Vortrags vorhanden. Vgl. dazu Hartmann/Slutsch, Franz Halder (wie Anm. 3), S. 468. 350 Vgl. Indexes to the »Green« Or Secret among the General Correspondence of The Foreign Office — 1939, Nendeln 1970, S. 135 (hier mit der früheren FO-Registrier-Nr. Cl 0981/ 15/18). 351 Laut The Diaries of Sir Alexander Cadogan O.M. 1938-1945. Ed. by David Dilks, New York 1972, S. 94: Asst. Private Sec. to the Secretary of State, 1938-41. Zu I. Mallet vgl. auch John Col ville, Downing Street Tagebücher 1939-1945, Berlin 1988, S. 21 (Eintrag vom 2.10.1939). 352 Von Februar 1919 bis November 1922. Zu H.W. Steed (1871-1956) siehe den Artikel von A.P. Robbins in: The Dictionary of National Biography, Vol. 28: 1951-1960. Ed. by E.T. Williams and Helen M. Palmer, Oxford 1971, S. 921-923. 516 MGM 58 (1999) Klaus Mayer

»I [...] may be able to bring you [...] a digest of a confidential address recently delivered to the German Wehrakademie by General Haider, Chief of the Ger- man General Staff353.« Von Mallet eingeladen, erschien Steed am Nachmittag des 20. Juli 1939 im FO und übergab die Summary der Halder-Ansprache zusammen mit einem kurzen Be- gleitbrief für Außenminister Halifax354. Über die Zuverlässigkeit seiner Informationen wurde Steed im FO offenbar nicht befragt355. Daher gibt nur die Präambel der Summary die einzige Erläuterung zur Herkunft seiner Angaben über den Inhält der »streng geheimen« Haider-An- sprache vor der »Wehrakademie«: »Late in June or early in July — the exact date is uncertain356 — General Haider [...] addressed the German Military Academy (Wehrakademie) upon the military outlook [...] Though the address was strictly confidential, one officer357 made short- hand notes of it and allowed a former Austrian Staff358 officer to read the tran- script359. The [...] summary is a digest of this Austrian officer's notes upon it360.« Aber genau zu dem in der Summary-Präambel angegebenen Zeitraum (Ende Ju- ni/Anfang Juli 1939) befand sich der Chef GenStdH überhaupt nicht in Berlin; am 24. und 25. Juni besuchte Halder Ostpreußen, um von dort aus nach Estland (26.6.-29.6.1939) und Finnland (29.6.-3.7.1939) weiterzureisen361. Kolportierte somit H.W. Steed, der Propaganda-Veteran des Ersten Weltkrie- ges362, eine gefälschte Halder-Ansprache ins FO? Die folgenden Punkte sprechen eindeutig für diese Vermutung: 1. Im Unterschied zum CChlDK-Text (vgl. dazu FA4) kündigte »Halder« seinen Zuhörern laut Summary eine gemeinsame Offensive deutscher und italieni-

353 H.W. Steed an I. Mallet, Brief vom 19.7.1939, in: PRO, FO 371 /22975. 354 Vgl. H.W. Steed an Viscount Halifax, Brief vom 20.7.1939, in: ebd. 355 Vgl. dazu die handschriftliche Aufzeichnung von I. Mallet über sein Gespräch mit H.W. Steed am 20.7.1939, in: ebd. 356 Vgl. dazu aber Anm. 357 und 359. 357 Dieser Offizier müßte doch als Zuhörer das Ansprache-Datum gekannt haben. 358 Das Wort »Staff« wurde von H.W. Steed handschriftlich in den maschinenschriftlichen Text der Summary eingefügt. 359 Bei der Langschriftübertragung eines Ansprachetextes erwartet man eigentlich einen Datumsvermerk. 360 Hier fehlt jegliche Angabe zum Ubermittlungsweg nach London: Wie konnte der Inhalt der angeblichen Notizen des früheren österreichischen Stäbsoffiziers überhaupt in die Hände von H.W. Steed gelangen? — Laut FO-Index übergab Steed nur im Zeitraum 1934-1936 dem FO Berichte zur militärischen und politischen Lage in Österreich und Deutschland, deren Verfasser ein »Capt. Glas« war. Vgl. dazu Index to the Correspondence of The Foreign Office for the Year 1934 ff., Nendeln 1969, Part 2 (zu Capt. Glas), S. 698 (1934), S. 842 f. (1935) und S. 134 (1936) bzw. Part 4 (zu W. Steed), S. 1593 (1934), S. 1893 (1935) und S. 208 (1936). 361 Vgl. dazu Hartmann, Halder (wie Anm. 31), S. 128 f. 362 Im Frühjahr 1918 leitete Steed die »Inter-Allied Propaganda Commission« beim italie- nischen Armee-Hauptquartier in Padua; vgl. dazu Peter Schuster, Henry Wickham Steed und die Habsburgermonarchie, Wien, Köln, Graz 1970 (= Veröffentlichungen der Kom- mission für Neuere Geschichte Österreichs, Bd 53), S. 179-181. Zum Einsatz der »Inter- Allied Propaganda Commission« an der italienisch-österreichischen Front siehe auch die in den US Military Archives befindliche maschinenschriftliche Aufzeichnung »Psycho- logical Warfare and the Breakup of the Austro-Hungarian Empire in 1918«, abgedr. in: William E. Daugherty and Morris Janowitz, A Psychological Warfare Casebook, 3. ed., Bal- timore 1964, S. 356-358. Eine authentische Halder-Ansprache? 517

scher Truppen »against Egypt from Libya« an. Diese Ankündigung steht aber im krassen Gegensatz zu der völlig negativen Attitüde Halders gegenüber ei- ner Angriffsoperation auf dem nordafrikanischen Kriegsschauplatz zur Er- oberung Ägyptens und des Suezkanals363. 2. Laut Summary verlangte »Halder« die Beendigung des polnischen Feldzuges »in three weeks at longest, if possible in a fortnight«364 und wies den Heeres- gruppen 1 und 3 die nahezu vertikale Aufmarschlinie »Rosenberg-Rati- bor-Mährisch-Ostrau-Zilina (Sillein)« zu. Diese Aufmarschlinie entsprach aber nicht dem tatsächlichen deutschen Aufmarsch (der Heeresgruppe Süd) gegen Polen365. Der Heeresgruppen-Nordflügel wurde nicht durch das oberschlesische Auf- marschgebiet »Rosenberg« begrenzt, sondern erstreckte sich bis nach Mittelschle- sien (nordwestlich von Rosenberg lagen die folgenden Aufmarschgebiete: 10. Ar- mee um den oberschlesischen Bahnknotenpunkt Kreuzburg und 8. Armee ostwärts Oels), damit die 8. Armee die Nordflanke des deutschen Angriffsstoßes, ausge- führt von der 10. Armee, gegen die polnische Armee »Lodz« abdecken konnte. Und auf dem Südflügel der Heeresgruppe begrenzte nicht Sillein bzw. das Waagtal den Aufmarsch der deutschen Angriffsverbände; vielmehr reichte der vor- gestaffelte rechte Hügel der 14. Armee bis-in die Osthälfte der Slowakei, um durch einen Angriff über die Karpathen-Pässe rasch in Richtung San, Przemysl und Lem- berg vorstoßen zu können. 3. Nach der Beendigung des polnischen Blitzfeldzüges sollte laut Summary so- gleich ein »Durchbruch«366 nach Rumänien erfolgen: »we must take possession of the oil wells above all.« Hier wurde, ohne Rücksicht auf die Negativ-Erfah- rung des Rumänien-Feldzuges von 1916367, dem Chef GenStdH ein ganz ab-

363 Vgl. dazu Halder, Hitler (wie Anm. 13), S. 34 (hier mit dem Diktum im Sperrdruck: »Eng- land in Nordafrika entscheidend zu schlagen, war unmöglich«); Rommel, Krieg (wie Anm. 259), S. 393 f. und David Irving, Rommel. Eine Biographie, 2. Aufl., Hamburg 1979, S. 93. — Zur Genese von Hitlers Weisung Nr. 22 vom 11.1.1941 (Entsendung eines deut- schen Panzer-»Sperrverbands« nach Tripolitanien zur Stärkung der Abwehrkraft der ita- lienischen Heeresgruppe Graziani nach der Vernichtung der italienischen 10. Armee durch die britische Western Desert Force unter Generalmajor Richard O'Connor) siehe Charles B. Burdick, Unternehmen Sonnenblume. Der Entschluß zum Afrika-Feldzug, Neckargemünd 1972 (= Die Wehrmacht im Kampf, Bd 48). 364 Nach Kriegsende erklärte Halder jedoch im Gespräch mit Peter Bor: »wir haben Polen und seine Armee eher überschätzt. Ich habe nicht vorausgesehen, daß die Operationen im wesentlichen in achtzehn Tagen beendet sein würden.« Vgl. Bor, Gespräche (wie Anm. 14), S. 143. Tatsächlich erwartete man im OKH/GenStdH eine viel längere Feld- zugsdauer in Polen. »Wir rechnen«, notierte am 5. Mobilmachungstag (30.8.1939) Oberst i.G. Eduard Wagner in seinem Tagebuch, »daß der polnische Feldzug in 6 Wochen zu Ende wäre und nach etwa 4 Wochen etwa V3 der Kräfte für anderweitige Verwendung frei würden.« Zit. nach Wagner, Generalquartiermeister (wie Anm. 29), S. 107; vgl. auch Wagners Tagebuch-Eintrag vom 5.9.1939: »Es geht über alles Erwarten schnell vorwärts.« (ebd., S. 127). 365 Zum deutschen Aufmarsch gegen Polen vgl. Manstein, Verlorene Siege (wie Anm. 214), Karte auf S. 32/33. 366 Im englischen Wortlaut der Summary: »we break through to Roumania.« Im CChlDK- Text wird nur die »rasche Besitznahme der Petroleumquellen in Galizien« erwähnt. Vgl. dazu Hartmann/Slutsch, Franz Halder (wie Anm. 3), S. 491 f. 367 Bei der Einnahme des rumänischen Erdölzentrums Ploesti durch die 12. bayrische In- fanteriedivision am 6.12.1916 war die Stadt, so die Aufzeichnung von Morgen, Hel- denkämpfe (wie Anm. 167), S. 113, »in den Qualm der brennenden Petroleumtanks gehüllt 518 MGM 58 (1999) Klaus Mayer

surdes Operationsszenario untergeschoben, weil nämlich der NS-Staat bereits mit den Mitteln der Wirtschaftsdiplomatie368 im Jahre 1939 zum größten Erd- ölkunden Rumäniens avanciert war369. An einer Stelle der Summary hat jene Person, die für ihre Niederschrift verant- wortlich ist, unbedacht ihren intellektuellen »Fingerabdruck« hinterlassen, dort nämlich, wo angeblich der Chef GenStdH die Kampfqualitäten des polnischen Sol- daten als äußerst minderwertig charakterisierte: »the Polish soldier is the stupidest in the world. He is dull, bigotted370, incredibly slow and totally inferior to the human material of Germany.« Für den gläubigen Christen Halder, der die religiöse Bindung des Feldherrn aus- drücklich bejahte371, für den Sohn eines katholischen Berufsoffiziers in der König- lich bayerischen Armee372, wäre es sicherlich undenkbar gewesen, gerade den Ka- tholizismus des polnischen Soldaten als ein Element von militärischer Kampf- schwäche zu begreifen. Dagegen entsprach das abfällige Diktum »the Polish soldier [...] is [...] bigotted« genau der »äußerst kritische[n] Einstellung des Protestanten Steed zur katholi- schen Kirche«, die im Laufe der Zeit sogar zu einer »definitiv antikatholischen Hal-

[...] Der englische Oberst Thompson hatte diese Brände wie die Zerstörungen der Son- den im Petroleumgebiet von Campina angeordnet.« Vgl. dazu auch die Darstellung des flämischen Erdölexperten Louis Gerard Nauwelaerts, Petroleum. Macht der Erde, Leip- zig 1937, S. 199: »es gelang nicht, die Versorgung der deutschen Armee zu sichern, da die abziehenden rumänischen Truppen nicht nur viele technische Anlagen total un- brauchbar gemacht hatten, sondern auch reiche Petroleumquellen einfach in Brand steck- ten und viele Zehn tausende von Tonnen der Vernichtung preisgaben. Wochenlang glich die Erde Rumäniens einem Feuerherd, und die deutschen Soldaten hatten alle Hände voll zu tun, um eine Quelle nach der anderen zu löschen.« Zu der ab 26./27.11.1916 un- ter der Leitung von Colonel John Norton-Griffiths (so der richtige Name!) ausgeführten Zerstörung der rumänischen Ölindustrie vgl. auch Daniel Yergin, Der Preis. Die Jagd nach Öl, Geld und Macht, Frankfurt a.M. 1991, S. 232-235. 368 Zum Text des deutsch-rumänischen Wirtschaftsvertrages vom 23.3.1939 siehe ADAP, Ser. D, Bd 6, Dok. Nr. 78, S. 76-80. — Am 1.9.1939 drahtete der deutsche Gesandte in Bu- karest z.Hd. des Oberbefehlshabers der Luftwaffe, Generalfeldmarschall Hermann Göring: »Rumänische Regierung und Firmen zur Weiterlieferung Erdöls bereit. Rumänische Re- gierung freigab allein in vergangener Woche zusätzliche Erdölausfuhr in Höhe von 8 Millionen Reichsmark. Weitere Bezugsmöglichkeiten im Clearing sind vorhanden, falls deutsche Rüstungslieferungen weiter erfolgen.« Vgl. dazu das Citissime-Tel. Nr. 406 vom 1.9.1939 des Gesandten Fabricius für das Reichsluftfahrtsministerium, in: ebd., Bd 7, Dok. Nr. 506, S. 406.,— Zum Gesamtkomplex des deutsch-rümänischen Verhältnisses vgl. Andreas Hillgruber, Hitler, König Carol und Marschall Antonescu. Die deutsch-rumä- nischen Beziehungen 1938-1944,2. Aufl., Wiesbaden 1965 (= Veröffentlichungen des In- stituts für europäische Geschichte Mainz, Bd 5). 369 Vgl. dazu die folgenden Briefzitate von Oberst i.G. E. Wagner: »z.Zt. [läuft] stark die Öleinfuhr aus Rumänien an« (Brief vom 6.10.1939); »Rumänien ist außerordentlich lie- ferwillig in Öl« (Brief vom 12.1.1940). Zit. nach Wagner, Generalquartiermeister (wie Anm. 29), S. 139 und 154. — Die rumänische Mineralölausfuhr stieg von 9334 (1938) auf 11 227 (1939) und der rumänische Export nach Deutschland von 8665 (1939) auf 16 316 (1940). Alle Zahlenangaben (in Mio. Lei) nach Alfred Oesterheld, Wirtschaftsraum Eu- ropa, 2. Aufl., Oldenburg, Berlin 1943, S. 452 f. 370 Laut Cassell's German and English Dictionary, 9. ed., London [u.a.] 1951, Part 2, S. 51: »frömmelnd; blind eingenommen (für)«. 371 Für Halder lag »die Kraft, aus der wahres Feldherrntum schöpfen muß«, in der »demüti- ge[n] Beugung vor Gott.« Vgl. Halder, Hitler (wie Anm. 13), S. 63. 372 Zu Generalmajor Maximilian Halder vgl. Schall-Riacour, Aufstand (wie Anm. 32), S. 311. Eine authentische Halder-Ansprache? 519 tung« wurde373. Auch anhand von Sprachindizien, aufgelistet in der folgenden Ge- genüberstellung, läßt sich nachweisen, daß die Summary der angeblichen Ge- heimrede des Chefs GenStdH vor der »Wehrakademie« das literarische Produkt des Autors H.W. Steed war. »Halder«-Summary bzw. sprachliche Übereinstimmung mit Steed: 1. »General Halder [...] addressed the German Military Academy [...] upon the military outlook.« »Herr Hitler addressed his Storm Troops at Erfurt«374 »the British outlook [...] upon foreign affairs«375 - »It is in accordance with this outlook«376 - »everybody who should dare to doubt the Tightness of the National Social- ist outlook«377 - »Professor Banse's [book] is [...] typical of the Nazi outlook«378. 2. »many German officers disliked both the present political system in Germany and the ideas which it expresses.« - »The Nazi system in Germany, like the Italian Fascist system«379 - »the ideas from which Hitlerism itself has sprung«380 3. »The army and the corps of officers« - »The corps of army officers and the higher officials were still mainly Ger- man«381 4. »the Führer whose genius had always found the right moment« »Lueger was a demagogue of genius«382 »True genius, he declares«383 »The genius of the German race«384 5. »The army had only to draw the sword at the Führer's command.« »Italy would soon have to defend with the sword her newly-won unity«385 - »the sword must be the first plough«386. 6. »His hearers would remember the treaties of friendship< with Poland« - »Many hearers who took interest in a course of public lectures«387 7. »As soldiers they were interested mainly in the warpotenial of the future foe.« - »democracy is capable of a free efficiency which none of its foes can rival«388. 8. »the Polish soldier [...] is dull« »the masses are dull-minded«389

373 Vgl. dazu Schuster, Steed (wie Anm. 362), S. 16. 374 Wickham Steed, Hitler. Whence and Whither? 2. ed., London 1934, S. 172. 375 Ebd., S. VII. 376 Ebd., S. 163. 377 Ebd., S. 172. 378 Ebd., S. 182. 379 Ebd., S. 187. 380 Ebd., S. 184. 381 Ebd., S. 60. 382 Ebd., S. 46, 383 Ebd., S. 91. 384 Ebd., S. 176. 365 H.W. S. [d.i. H.W. Steed], Artikel über Italien (1870-1902), in: The Encyclopaedia Britan- nica, 11. ed., Vol. 15, Cambridge 1911, S. 62. 386 Steed, Hitler (wie Anm. 374), S. 66. 387 Ebd., S.V. 388 Ebd., S. 189. 389 Ebd., S. 82. 520 MGM 58 (1999) Klaus Mayer

9. »The Polish air arm is small« »All the other arms of the Polish army« - »The Fifth Arm«390 10. »The sole task of the German army is the total annihilation of Poland« »The practical annihilation of the old Right in the elections of 1876 opened á new parliamentary era391.« »Toselli's column, 2000 strong, [...] was almost annihilated by the Abyssini- an vanguard of 40 000 men«392. - »the Huguenots [...] were annihilated«393 11. »the blow will be so swift and crushing that Poland will capitulate« »The general attack [...] will be carried [...] with such swiftness« »After this crushing initial blow Poland will probably retreat« »Had the blow thus struck at Italian influence in the Mediterranean«394 »the Clericals, who were enraged at the blow thus struck at the restoration of the pope's temporal power«395 »Mr. Asquith talks of the severe blow dealt at Young Turkey by the Austro- Bulgarian action«396. »Dr. Goebbels agreed, adding [...] that it would be necessary to hit the Jews very swiftly«397 »Göring [...] recommended that the Nazis should [...] hit the Jews very swiftly«398 »Italy and Great Britain [...] are the natural allies of Germany against mili- taristic France, who must be crushed«399 12. »The question of Danzig« - »the questions of Morocco and Bulgaria«400 - »In the Armenian question«401 »the Polish question«402 13. »In a measure hitherto undreamt of« »many underlying tendencies, hitherto hidden«403 »the essence of Hitlerism as it has hitherto developed«404.

390 So der Titel eines Buches, das Steed im Jahre 1940 im Verlag Constable & Co. (London) veröffentlichte. 391 Steed, Italien (wie Anm. 385), S. 72. 392 Ebd., S. 77 f. 393 Steed, Hitler (wie Anm. 374), S. 34. 394 Steed, Italien (wie Anm. 385), S. 68. 395 Ebd., S. 70. 396 H.W. Steed, unpublizierter Artikel über »Baron Aehrenthal«; Abdruck in Schuster, Steed (wie Anm. 362), S. 200. 397 Steed, Hitler (wie Anm. 374), S. 145. 398 Ebd. 399 Ebd., S. 181. Vgl. außerdem Steed, Italien (wie Anm. 385), S. 62 (»crushing taxation«), S. 67 (»Italy [...] made no attempt to crush an agitation«), S. 76 (»the whole movement crushed in a few weeks«, »A [...] insurrection at Massa-Carrara was crushed«), S. 77 (»Menelek [...] had an interest in allowing Mangashà to be crushed«) und S. 79 (»Rudi- ni in March 1897 [...] conducted the general election in such a way as to crush [...] the partisans of Crispí«). 400 Ebd., S. 75. 401 Ebd., S. 77. 402 Steed, Hitler (wie Anm. 374), S. 183. 403 Ebd., S. VI. 404 Ebd., S. IX. Eine authentische Halder-Ansprache? 521

14. »The Great Ukrainian movement will be let loose« »the Zionist movement«405 »the pan-German movement in Austria«406 »Lueger's Christian Social antisemitic movement«407 »The young National Socialist movement«408. Kompiliert hat Steed die inhaltlichen Hauptpunkte der Summary offenbar aus den folgenden drei Ereignis- bzw. Literatur-Zutaten: 1. Die Idee einer gemeinsamen Offensive deutscher und italienischer Truppen »against Egypt from Libya« resultierte wohl aus dem sechstägigen Aufenthalt des Oberbefehlshabers des Heeres, Generaloberst v. Brauchitsch, in der italie- nischen Kolonie Libyen Anfang Mai 1939409. 2. Der Halder in den Mund gelegte emphatische Drang nach einer Eroberung der galizischen und rumänischen Ölfelder dürfte von einem Buch herrühren, das im Frühjahr 1939 durch die »Editions Prométhée« in Paris veröffentlicht wur- de. Darin prognostizierte der Autor Albert Schreiner (im spanischen Bürger- krieg u.a. Stabschef der XIII. Internationalen Brigade)410 mit Hinweis auf die Ausführungen Ludendorffs zum »totalen Krieg«: »Wir zitierten [...] die Worte Ludendorffs, daß er, um den >Oeldurst< im Welt- krieg zu stillen, den Krieg gegen Rumänien vom Zaune brach411. Das Dritte Reich ist drauf und dran, das Gléiche zu tun. Denn ohne Oel kann es keinen Krieg führen, eher wird es zunächst den Krieg um das Oel führen412.« 3. Die in der Summary breit ausgemalte Vernichtung der polnischen Armee durch eine deutsche Blitzoffensive orientierte sich offenbar an der Negativbewertung der polnischen Abwehrkraft durch den Militärkorrespondenten und »adviser on defence in general« der »Times«, Captain B.H. Liddell Hart, der in seinem am 17. Juli 1939 publizierten Buch »Die Verteidigung Britanniens« für die »küh- nen Reitersmänner« Polens eine »Katastrophe« vorhersagte413. Welche politische Absicht verfolgte nun Steed mit der Anfertigung der Pseudo- Halder-Geheimrede-Summary? Steed handelte wohl in ähnlicher Weise wie der kaiserliche Rat und Bibliothe- kar am Wiener Theresianum, Joseph Edler v. Sartori, mit seiner im Jahre 1811 bei

405 Ebd., S. 57. 406 Ebd., S.'64. 407 Ebd. 408 Ebd., S. 93. 409 Zu Brauchitschs Libyen-Besuch vgl. Rintelen, Mussolini (wie Anm. 346), S. 62-64. 410 Zu Schreiner vgl. Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd 1. Hrsg. von Wemer Röder und Herbert A. Strauss, München [u.a.] 1980, S. 668. 411 Schreiner bezog sich hier auf die folgende Angabe Ludendorffs: »Die Deckung der Treib- mittel für Heer und Marine bereitete mir im Weltkriege schwere Sorgen. Sie fehlten über- all. Ihre Beschaffung wurde [...] ein Ziel der Eroberung der Walachei.« Vgl. Ludendorff, Der totale Krieg (wie Anm. 120), S. 44. 412 Albert Schreiner, Vom totalen Krieg zur totalen Niederlage Hitlers. Eine kritische Aus- einandersetzung mit der Wehrmachtsideologie des Dritten Reiches, Paris 1939 (Reprint: Köln 1981), S. 79 (Hervorhebung im Original). 413 Liddell Hart und Steed gehörten zu der von Winston S. Churchill angeführten sog. »Fo- cus Group«; vgl. dazu Harold Nicolson, Diaries and Letters 1930-1939. Ed. by Nigel Ni- colson, 5. ed., London 1973, S. 327 f. (Brief vom 2.3.1938) und S. 371 f. (Tagebucheintrag vom 29.9.1938). — Zum letzten »Focus«-Treffen am 27.7.1939 und zu den Ausführungen seines Buches über die polnische Armee vgl. B.H. Liddell Hart, Lebenserinnerungen, Düsseldorf, Wien 1966, S. 459 f. 522 MGM 58 (1999) Klaus Mayer

Cotta in Tübingen herausgebrachten »Sammlung der hinterlassenen Schriften des Prinzen Eugen von Savoyen«. Mit dieser Fälschung wollte Sartori »seine eigenen politischen Ideen unter dem Namen des großen Eugen an den Mann bringen«414. Unter dem Deckmantel einer angeblichen Geheimrede des deutschen Gene- ralstabschefs, vermutlich nach dem Vorbild einer britischen Presseveröffentlichung aus dem Jahre 1938415, lancierte Steed seine Botschaft vom »coming war« (wie er in der Summary General Halder ausdrücklich erklären ließ) an den britischen Außen- minister: Der Krieg mit dem nazistischen Deutschland und dem faschistischen Ita- lien, mit den Diktatoren Hitler und Mussolini, ist für Großbritannien unaus- weichlich. Bereits im Herbst 1933 hatte Steed, der sich aufgrund seiner Wiener Korre- spondententätigkeit für die »Times« vor dem Ersten Weltkrieg416 als den qualifi- ziertesten britischen Hitler- bzw. »Nazism«-Experten ansah417, als »Lecturer on Central European History with especial reference to Roumania and the Near East« am Londoner King's College418 auf die dauerhafte Unmöglichkeit einer friedlichen Koexistenz zwischen dem Dritten Reich und den westlichen Demokratien hinge- wiesen. Es sei einfach notwendig zu begreifen, erläuterte Steed damals in seinen Vor- lesungen am King's College über den »Hitlerism«, »that the Nazis live in a totally different mental world from that of the statesmen of countries which are still un- der the liberal, capitalistic, parliamentary system«419. Hitlers außenpolitische Doktrin sei fixiert auf die »acquisition of new territory in Europe to support an increasing Nordic population«420. Das Streben nach einer friedlichen Konfliktlösung auf internationaler Ebene sei daher mit der NS-Ideologie völlig unvereinbar: »National Socialists believe that war is not only an inevitable part of the lives of nations and of men, but that it is a desirable institution for their develop- ment. The genius of the German race is expressed in the superiority of its war- riors on the field of battle. War affords an opportunity for the display of the no- blest of human virtues421.«

414 Vgl. Bruno Böhm, Die »Sammlung der hinterlassenen politischen Schriften des Prinzen Eugen von Savoyen«. Eine Fälschung des 19. Jahrunderts, Freiburg i.Br. 1900 (= Studien und Darstellungen aus dem Gebiete der Geschichte, Bd 1, H. 1), S. 106. 415 Im Juli 1938 enthüllte der »News Chronicle« eine angebliche Geheimrede des Generals v. Reichenau über die deutschen Ziele im spanischen Bürgerkrieg. Zu den näheren Ein- zelheiten vgl. Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 54 (1938), Bd 79, S. 119. 416 Zur zehnjährigen Tätigkeit (1902-1913) Steeds in Österreich-Ungarn vgl. die ausführli- che Darstellung von Schuster, Steed (wie Anm. 362), S. 20-120. 417 Dies brachte Steed in der Einleitung zu der Buchausgabe seiner am King's College ge- haltenen Vorlesungen über den »Hitlerism« klar zum Ausdruck: »Since Hitler himself is a product of Austrian conditions in the decade before the War, and since those were con- ditions which, as correspondent of The Times in Austria-Hungary, I then lived under and observed, it seemed expedient that I should attempt to analyse both Hitler's own mind and the peculiar mental quality which he imparted to his movement. Very few Englishmen went through the Austrian mill at that time as I went through it. For this reason I am perhaps in a better position than that of other observers to understand thè background of Hitlerism.« Vgl. Steed, Hitler (wie Anm. 374), S. VII. 418 Zu den Vorlesungen Steeds am King's College vgl. die Angaben in Schuster, Steed (wie Anm. 362), S. 202. 4,9 Steed, Hitler (wie Anm. 374), S. 176 f. 420 Ebd., S. 177. 421 Ebd., S. 176. Eine authentische Halder-Ansprache? 523

Deshalb dürfe man sich auch nicht von der Friedenspropaganda Hitlers täuschen lassen: »He is probably sincere in saying that Germany does not want a war yet. He would undoubtedly prefer an interval of two or three years before fighting422.« Mit seiner für die Chamberlain-Regierung423 häretischen Ansicht vom »coming war« stand Steed auch im deutlichen Gegensatz zu der Auffassung von Sir Alex- ander Cadogan, dem »Permanent Under-Secretary of State for Foreign Affairs« im FO424. Im Sommer 1939 rechnete der Berufsdiplomat Cadogan weniger mit der Ge- fahr eines »coming war«, sondern glaubte eher an einen erneut von Hitler insze- nierten »War of Nerves«425; noch am Abend des 31. August 1939 befand der Per- manent Under-Secretary des FO: »it does seem to me Hitler is hesitant and trying all sorts of dodges, including last-minute bluff426.« Für die außenpolitischen Auguren von Whitehall war Steeds Halder-Elaborat mit seinem Schreckgespenst einer deutsch-italienischen Kriegführung gegen die West- mächte im östlichen Mittelmeerraum wohl nur ein Stück »gossip«427, zumal es in völligem Widerspruch zu den vertraulichen Mitteilungen der Gebrüder Kordt stand. General Haider glaube nicht an die »Unvermeidlichkeit« (inevitability) eines deutschen Sieges, hatte schon am 13. Juni 1939 Botschaftsrat Theodor Kordt428, der Geschäftsträger an der Deutschen Botschaft in London, nach seiner Rückkehr von einem Kurzaufenthalt in Berlin, einem Kontaktmann zum News Department des FO mitgeteilt429, während sein Bruder Erich, der Leiter des Ministerbüros im AA, nur drei Tage später, zu Beginn eines Privataufenthalts in England, über den Lon- doner Vertreter der französischen Nachrichtenagentur »Havas« die beruhigende Nachricht an die britische Regierung gelangen ließ, daß mit einem Kriegseintritt Ita-

422 Ebd., S. 180 (Hervorhebung im Original). 423 Am 23.7.1939 schrieb der britische Premier an seine Schwester Ida: »One thing is I think clear namely that Hitler has concluded that we mean business and that the time is not ripe for the major war [...] Unlike some of my critics I go further and say the longer the war is put off the less likely it is to come at all as we go on perfecting our defences and building up the defences of our allies.« Chamberlains außenpolitische Grundüberzeugung lautete, wie er seiner Schwester anvertraute: »I never accept the view that war is inevi- table«. Zit. nach William Manchester, The Last Lion. Winston Spencer Churchill. Alone: 1932-1940, New York 1989, S. 436 f. 424 Interessanterweise wählte Steed für seine FO-Visite einen Zeitpunkt der Abwesenheit des Permanent Under-Secretary; vom 12.7. bis 7.8.1939 verbrachte Cadogan seinen Ur- laub auf seinem Cottage »High Corner« in Sussex. Vgl. Cadogan-Diaries (wie Anm. 351), S. 191-193. 425 Vgl. ebd., S. 196 (Eintrag vom 18.8.1939) und S. 200 (Eintrag vom 23.8.1939). Schon am 12.8.1939 hatte Cadogan in seinem Tagebuch vermerkt: »Hitler has decreed >Spannung< for the 15th, which means the opening of the »battle of nerves<. Hope mine will be all right!« Vgl. ebd., S. 195. 426 Ebd., S. 206 (Hervorhebung im Original). 427 »If Geni. Haider really spoke as reported he is even more optimistic than the Polish Gen- eral Staff«, lautete der lakonische Aktenvermerk, den der Privatsekretär des britischen Außenministers am 20.7.1939 der Summary beifügte. Vgl. dazu Anm. 355. 428 Zu Kordt vgl. insbesondere Cadogan-Diaries (wie Anm. 351), S. 94 f. (Eintrag vom 6.9.1938). 429 Zu Kordts Mitteilungen vgl. DBFP, 3rd Ser., Vol. 6, App. I, Dok. V, S. 708. 524 MGM 58 (1999) Klaus Mayer liens auf deutscher Seite aufgrund der italienischen Rüstungslage nicht zu rech- nen sei430. Das martialisch-aggressive und zugleich überaus Hitler-loyale Image, das Steed im Juli 1939 von General Haider projizierte, wurde wenige Wochen später, im Au- gust 1939, auch von den Meldungen des britischen SIS (Secret Intelligence Service) konterkariert431. Noch am 31. August 1939 übergab der britische Militarattaché in Paris dem Deuxième Bureau des französischen Generalstabes einen Geheimbe- richt432 mit (völlig falschen!) Informationen über einen schweren, die Operationen gegen Polen betreffenden Konflikt zwischen Hitler und dem GenStdH: General Halder sei am Vortage von seinem Amte zurückgetreten und durch General v. Rei- chenau ersetzt worden. Nur in einer Hinsicht scheint die »Halder«-Summary eine Folgewirkung er- zielt zu haben. Offenbar ist der Moskauer CChIDK-«Halder«-Vortragstext die voll- ständig in wörtliche Rede gebrachte »positive Interpolation«433 des Steed-Elabo- rats. Ein Indiz hierfür könnte die merkwürdige Etikettierung des CChlDK-Textes (»Auszug aus einem Vortrag«) sein, »obwohl es sich doch um einen in sich ge- schlossenen Text handelt« (so die ratlose Kommentierung der Editoren)434. In sei- nem Brief vom 19. Juli 1939 an Ivo Mallet und in der Präambel der Summary hat- te aber Steed sein Halder-Elaborat ausdrücklich als »digest« — in deutscher Über- setzung: »Auszug«!435 — charakterisiert. Noch bemerkenswerter sind freilich die folgenden inhaltlichen Unterschiede zwischen den beiden Texten: »Halder«-Summary »Czechoslovakia might have served the Western Powers as a dangerous aircraft base [...] By dispelling this dream of the Western Powers the Führer's genius had lifted a heavy burden from German military hearts. He had set free at least 40 divisions which could now be used to advantage against the chief enemy — Poland.« »a new and unknown weapon — propaganda — will be employed by the ge- nius of Dr. Goebbels.« CChlDK-Text »Mit der Beseitigung der Tschechoslowakei [...] sind mindestens 40 Divisionen [...] und vor allem jener von einem französischen Minister so laut gepriesene >Hugzeugträger< nahe unseren Industriezentren ausgeschieden436.«

430 Zu Kordts Mitteilungen vgl. die Aufzeichnungen von W. Ridsdale (FO News Dept.) vom 16.6.1939, in: ebd., Dok. III, S. 705 f. 431 Vgl. dazu Cadogan-Diaries (wie Anm. 351), S. 202 (Eintrag vom 27.8.1939): »>C< has in- formation of dissensions in German General Staff«. »C« war die Deckbezeichnung für den Chef des SIS, Admirai Sinclair. 432 Vgl. den Abdruck seiner französischen Ubersetzung in DDF 1932-39, Ser. 2, Bd 19, Dok. Nr. 284, S. 286 f. Der Bericht wurde General Gamelin und dem französischen Minister- präsidenten/Kriegsminister Daladier vorgelegt. Als Informationslieferant nannte der Bericht: »Un Allemand en contact étroit avec le ministère de la Guerre allemand«. 433 Zum Begriff »positive Interpolation« vgl. Ahasver v. Brandt, Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften, 11. Aufl., Stuttgart 1986, S. 100. 434 Vgl. Hartmann/Slutsch, Franz Haider (wie Anm. 3), S. 469. 435 Vgl. Cassell's Dictionary (wie Anm. 370), P. 2, S. 158 (unter »Digest«, Nr. III). 436 Vgl. Hartmann/Slutsch, Franz Haider (wie Anm. 3), S. 480 f. Eine authentische Halder-Ansprache? 525

»wir [werden] uns diesmal unserer ausgezeichnet organisierten Propaganda als Waffe bedienen«437. Im CChlDK-Text fehlt also das Genie-Attribut, das »Halder« laut Summary den NS-Führern Hitler und Goebbels zuerkannte. Offenbar, so muß man wohl vermu- ten, mochte der »Produzent« des Moskauer CChlDK-Textes aus ideologischen Gründen nicht die Genie-Glorifizierung der beiden NS-Führer beibehalten; statt dessen attestierte er Hitler lediglich eine »instinktsichere Politik«438. Ein gefälschtes Dokument, so die Auskunft von Ladislav Bittman, von 1964 bis 1966 stellvertretender Leiter der Abteilung 8 (Desinformation) des tschechoslo- wakischen Geheimdienstes, wird »zuerst in der Sprache des jeweiligen Geheim- dienstes verfaßt und dann übersetzt [...] Grobe sprachliche Fehler finden sich in den Fälschungen vor allem, weil die Geheimdienstagenten dem Übersetzer eine abgeänderte, unvollständige Version geben, damit er die Zusammenhänge und das Bestimmungsland nicht ausmachen kann439.« Offenbar wurde auch der CChlDK-Text des »Halder«-Vortrags parzelliert, d.h. von mehreren Übersetzern, ins Deutsche übertragen. Ein sprachliches Indiz hier- für dürfte die Benennungsvariation der Wehrmachtteile Heer (»Reichsheer«440, »Heer«441 und »Armee«442) und Luftwaffe (»Luftflotte«443, »Luftwaffe«444 und »Flug- waffe«445) auf den acht Seiten des CChlDK-Vortragstextes sein, da Halder in sei- ner Schrift über den »Feldherrn Hitler« auf nahezu 60 Druckseiten konstant nur die Termini »Heer«446 und »Luftwaffe«447 benutzt hat. Wenn man nun den CChlDK-Text des »Halder«-Vortrags aufgrund der hier vorliegenden textkritischen Analyse als nicht authentisch betrachten muß, so stellt sich natürlich automatisch die Frage nach dem Zweck der Fälschung. Nach Ansicht des Verfassers richtet sich die Fälschung nicht primär gegen die Person Halders, obwohl der frühere Chef GenStdH, schon wegen seiner Tätigkeit

437 Ebd., S. 492. 438 Ebd., S. 480. 439 Ladislav Bittman, Geheimwaffe D, Bern 1973, S. 238 (Hervorhebung durch mich, K.M.). 440 Vgl. Hartmann/Slutsch, Franz Haider (wie Anm. 3), S. 485. Mit dem Terminus »Reichs- heer«, der schon in der Amtssprache des Kaiserreiches auftaucht — Beispiel: die »Al- lerhöchste Verordnung, betreffend die Klasseneinteilung der Militärbeamten des Reichs- heeres und der Marine« vom 1.8.1908, in: D.V.E. Nr. 362 (wie Anm. 110), S. 202a-202m — wurden von 1921 bis 1935 offiziell die Landstreitkräfte der Reichswehr bezeichnet; vgl. dazu Wehrgesetz vom 23.3.1921, in: Reichsgesetzblatt, 1921, S. 329; Erlaß des Chefs der Heeresleitung, General v. Seeckt, über die Grundlagen der Erziehung im Heer vom 1.1.1921, in: Heeresverordnungsblatt, 1920, S. 1041: »Das Reichsheer ist fertig gebildet. Ein neuer Abschnitt deutscher Heeresgeschichte beginnt.« — Ab 1935, mit der Schaffung der Wehrmacht, lautete aber die offizielle Bezeichnung für die deutschen Landstreit- kräfte »Heer«; vgl. dazu Reibert (wie Anm. 204), S. 96. 441 Vgl. Hartmann/Slutsch, Franz Halder (wie Anm. 3), S. 489. 442 Vgl. ebd., S. 493 und 495. 443 Vgl. ebd., S. 489. In seinem KTB hat Halder nur vereinzelt den Terminus »Luftflotte« als Bezeichnung für die gesamte Luftwaffe verwendet; vgl. dazu Bd 2, S. 31 (22.7.1940) und S. 65 (15.8.1940). 444 Vgl. Hartmann/Slutsch, Franz Halder (wie Anm. 3), S. 491. 445 Vgl. ebd., S. 494. Von Göring wurde die Bezeichnung »Flugwaffe« vor der offiziellen Eta- blierung der Luftwaffe verwendet; vgl. dazu sein Vorwort zu Manfred Freiherr v. Richt- hofen, Der rote Kampfflieger. Eingel. und erg. von Bolko Freiherr v. Richthofen, Berlin 1933 S. 2. 446 Vgl. Halder, Hitler (wie Anm. 13), S. 9-11,14-19, 21 f., 30,32,38,42-^8 und 61. 447 Vgl. ebd., S. 9,11,21,26,29 f., 32-34,47,54 und 61. 526 MGM 58 (1999) Klaus Mayer

als »Chief Consultant« und Leiter der »Historical Liaison Group, Headquarters, United States Army, Europe« von Juni 1946 bis Juni 1961448, von sowjetischer Sei- te als »reaktionärer Memoirenschreiber« bekämpft wurde449. Offenbar verbirgt sich das Fälschungsmotiv in den beiden folgenden Sätzen des »Halder«-Vortrags: »Daß [...] natürlich auch die ukrainische Empörung gefördert werden wird, ver- steht sich von selbst. Hier stehen bereits seit dem vorigen Herbst gewisse Ka- ders zur Verfügung450.« Nach Beginn des Polen-Feldzuges wollte nur eine einzige höhere Charge im OKH, der für die Abteilung Fremde Heere Ost und Fremde Heere West sowie für die Attachégruppe zuständige OQu IV, Generalmajor Kurt v. Tippeiskirch, tatsächlich einen »Volksaufstand« in der Ukraine entfachen; dies wurde aber sogleich vom A A abgelehnt451. Am 10. September 1939 vermerkte Oberstleutnant Groscurth, der Leiter der Abwehr-Verbindungsgruppe beim OKH/OQu IV, in seinem Diensttagebuch: »Russen haben erklärt, daß Einmarsch in die [polnische, K.M.] Westukraine er- folge, falls dort Volksaufstand ausbräche. Ukraine ist von Deutschland als rus- sische Interessensphäre anerkannt452.« Dagegen suggeriert der CChlDK-Text des »Halder«-Vortrags das folgende Denk- szenario: Die deutsche Heeresführung, das OKH, plant einen Blitzfeldzug gegen Polen im Bunde mit der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN). Mit Hilfe der OUN soll in Ostgalizien ein Volksaufstand ausgelöst werden, um auf diese Weise den Rückzug der polnischen Armee und die Fortführung ihres Widerstandes in der Westukraine zu verhindern453. Damit entstünde jedoch in Ostgalizien, in unmittelbarer Grenznachbarschaft zur Sowjetukraine, unter deutschem Protektorat ein ukrainisches »Piemont«, die politische Keimzelle für eine großukrainische Irredenta454.

448 Zu Halders historischer Forschungsarbeit bei der »Historical Division« der US-Armee vgl. Schall-Riaucour, Aufstand (wie Anm. 32), S. 332 f. 449 Vgl. G.A. Deborin, G.F. Sastawenko und B.S. Telpuchowski, Zu den Ursachen der Nie- derlage des deutschen Imperialismus in den beiden Weltkriegen, in: Sowjetwissenschaft- liche Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge, 1959, H. 9 (Sept.), S. 1018. — In seiner Schrift über den »Feldherrn Hitler« hatte Haider zum »Barbarossa-Befehl« die »feste und nicht unbegründete Überzeugung« Hitlers erwähnt, »daß Rußland sich zum Angriff auf Deutsch- land rüste« und im Sperrdruck (!) den Satz hinzugefügt: »Wir wissen heute aus guten Quel- len, daß er damit Recht hatte.« Vgl. dazu Haider, Hitler (wie Anm. 13), S. 36. 450 Hartmann/Slutsch, Franz Halder (wie Anm. 3), S. 492. — Dagegen enthielt die Sum- mary noch keinen Hinweis auf die Existenz ukrainischer »Kaders« unter deutscher Re- gie; laut Summary text beschränkte sich »Halder« nur auf die Ankündigung: »The Great Ukrainian movement will be let loose and supported by every means until the Ukraini- ans rise against the Poles.« 451 Vgl. dazu Groscurth, Tagebücher (wie Anm. 99), S. 203 (Privat-Tagebuch vom 11.9.1939) u. 267 (Dienst-Tagebuch vom 11.9.1939). 452 Vgl. ebd., S. 266 bzw. 202 f. (Privat-Tagebuch vom 10.9.1939). Am 24.9.1939 verlangte das AA auch die »Einstellung jeglicher Propaganda in der Ukraine«, womit sich das Amt Ausland/Abwehr einverstanden erklärte; vgl. ebd., S. 278 (Dienst-Tagebuch vom 24.9.1939). 453 Vgl. dazu die folgende Textpassage des »Halder«-Vortrags (wie Anm. 3), S. 494: »Ost- galizien [wird] in den Händen der ukrainischen Aufständischen sein, so daß ein Rück- zug dorthin nicht mehr möglich ist.« 454 Vgl. dazu Roman Ilnytzkyj, Deutschland und die Ukraine 1934-1945. Tatsachen Eu- Eine authentische Halder-Ansprache? 527

Dieser Gefahr kann aber wirkungsvoll begegnet werden, wenn man sowjeti- scherseits mit der politischen Führung des Reiches, mit Hitler, einen vertraglichen Modus vivendi über eine gemeinsame Aufteilung Polens herbeiführt (so dann auch vereinbart mit der Grenzlinie »Narew, Weichsel und San« im Geheimen Zusatz- protokoll vom 23. August 1939455). Es ist wohl naheliegend, wenn man in logischer Schlußfolgerung aus diesem ge- danklichen Szenario zu dem Endresultat kommt, daß der CChlDK-Text des »Halder«-Vortrags ein plausibles »Dokument«-Alibi für den Abschluß des Nicht- angriffspaktes, speziell für das Geheime Zusatzprotokoll zur »Abgrenzung der beiderseitigen Interessensphären in Osteuropa«456, durch die Kremlführung mit Hitler darstellen soll.

ropäischer Ostpolitik. Ein Vorbericht, 2. Aufl., Bd 1, München 1958, S. 236 f.: »Die poli- tische Planung der OUN-Führung hielt an der These fest, daß nach der deutschen Be- setzung Polens die West-Ukraine ihre eigene Regierung erhalte und zum Ausgangspunkt der Befreiungspolitik der gesamten Ukraine werden würde.« 455 Zum Text des deutsch-sowjetischen Zusatzprotokolls vom 23.8.1939 vgl. Das national- sozialistische Deutschland und die Sowjetunion 1939-1941. Akten aus dem Archiv des Deutschen Auswärtigen Amts. Deutsche Ausgabe, hrsg. von Eber Malcolm Carroll und Fritz Theodor Epstein, Washington: Department of State, 1948, Dok. Nr. 55, S. 86. 456 So die Formulierung in der Präambel des Geheimen Zusatzprotokolls vom 23.8.1939. www.oldenbourg-verlag.de Geschichte Zeitgeschichte Collegium Carolinum Oldenbourg Konfliktgemeinschaft, Katastrophe, 1996 91 Seiten, DM 20,- Entspannung ISBN 3-486-56287-8

Skizze einer Darstellung der deutsch- Herausgeber: Gemeinsame tschechischen Geschichte seit dem 19. deutsch-tschechische Jahrhundert Historikerkommission

In einer Erklärung der Außenminister der BRD und der Tschechischen und Slowakischen Föde- rativen Republik von 1990 ist die »Gemeinsame Historikerkommission« gegründet worden, um die »gemeinsame Geschichte der Völker beider Länder, vor allem in diesem Jahrhundert, gemeinsam zu erforschen und zu bewerten«. Thesenartig skizziert vorliegender Band das deutsch-tschechische Verhältnis seit dem 19. Jh. Er konzentriert sich dabei vor allem auf die politische und sozioökonomische Geschichte.

Jan Kren 2000. Studienausgabe (Nachdruck Die Konfliktgemeinschaft der Ausgabe von 1996) 408 Seiten, DM 48,- Tschechen und Deutsche 1780-1918 ISBN 3-486-56449-8

Pressestimmen zur ersten Auflage »Wie noch (Übersetzung aus dem Tschechischen von Peter kein Autor vor ihm zeichnet er die vielen Heumos) vergebenen Gelegenheiten für einen Ausgleich zwischen Deutschen und Tschechen nach.« Philipp Ther, FAZ

»Provocative, intelligently, and compellingly argued, and wide-ranging, this book should appeal to anyone interested in Czech and/or German history, Central European History, more broadly, nationalism, or international relations generally.« Karl F. Brahm, The International History Review

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