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Titel „Dort sitzen Stammtischstrategen“ Interview mit FDP-Generalsekretär Guido Westerwelle über Theo Waigels Forderung nach einer Kabinettsreform und sozialliberale Planspiele für Hamburg SPIEGEL: Herr Westerwelle, welche SPIEGEL: Die betreibt Kohl fast im Wirkung hat Theo Waigels Rück- Alleingang. zug in Raten auf das Ansehen der Westerwelle: Von meiner Meinung, Koalition? daß Klaus Kinkel der richtige Au- Westerwelle: Theo Waigel hat sich ßenminister für dieses Land ist, keinen Gefallen getan, aber selbst- werden Sie mich nicht abbringen. verständlich auch nicht der Koali- Wer in Anbetracht der Globalisie- tion. Ich vermute, er weiß es. Die rung eine Renationalisierung der Bürger müssen längst das Gefühl Politik fordert, ist als Meinungs- haben, daß die politische Kaste mit führer in der Außenpolitik wenig Nebensächlichkeiten beschäftigt geeignet. ist, während über vier Millionen SPIEGEL: Das ist jetzt in Richtung Menschen auf der Straße stehen CSU gesagt, wo die Europa-Skep- und arbeitslos sind. tiker sitzen. SPIEGEL: Waigel will Helmut Kohl Westerwelle: To whom it may con- zu einer Reform des Kabinetts cern, wer auch immer sich ange- zwingen. Hat er damit den Kanz- sprochen fühlt. ler in seiner politischen Hand- SPIEGEL: Suchen Sie für den Wahl- lungsfähigkeit beeinträchtigt? kampf eine ähnliche Konfrontation Westerwelle: Diese Interpretation wie früher mit Franz Josef Strauß? scheint mir zu weitgehend. Aber Damals ging es um die Ostpolitik, wenn einer in diffizilen Personal- heute heißt die Parole Europäer fragen etwas ändern will, dann gegen Nationalisten. sollte er auf PR verzichten und Westerwelle: Die Union steht ge- zum Telefonhörer greifen.Auf alle wiß von der Parteispitze bis zur Fälle entsteht natürlich, egal, ob Basis geschlossen hinter der Au- der Kanzler im Kabinett etwas än- ßenpolitik der Regierung. dern wollte oder nicht, der Ein- SPIEGEL: Das meinen Sie doch nicht druck, er müsse zu einer Entschei- ernst? dung erst gedrängt werden. Westerwelle: Wenn ich sage, to SPIEGEL: Wäre es nicht sinnvoll, whom it may concern, dann richtet wenn Kohl noch vor der Wahl eine sich das zunächst an die Politiker neue, frische Mannschaft benen- von Rot-Grün. Denn auch dort sit- nen würde? zen Stammtischstrategen, geplagt Westerwelle: Wenn man etwas än- von der Angst vor Europa. Dort dern möchte, dann sollten Roß und herrscht immer noch keine Klar- Reiter genannt werden. Ich kenne heit, ob in der Außenpolitik der keine Namen. Theo Waigel müßte radikal pazifistische oder ein real- dann mit dem Bundeskanzler klar politischer Ansatz gilt. Joschka besprechen, wer aus der Union Fischer wäre als Außenminister je- weg oder rein soll. Für mich ist das SANDBERG T. denfalls Gefangener seiner Funda- kein Thema. Freidemokrat Westerwelle mentalisten.Aber es mag sich auch SPIEGEL: Die Zielrichtung ist ein- „Lafontaine kann sich auf den Kopf stellen“ mancher in der CSU angesprochen deutig: Waigel will den von der fühlen. FDP gestellten Bundesaußenminister Kin- man Wahlen, dann bekommt man Ver- SPIEGEL: Für die FDP ist ein Nord-Süd- kel beerben. antwortung in bestimmten Ressorts. Die Konflikt mit der CSU doch nützlich. Westerwelle: Klaus Kinkel ist einer der Tatsache, daß liberale Außenminister hi- Westerwelle: Nein. Das Hickhack der letz- beliebtesten Minister. Ich sehe gar kei- storische Weichen gestellt haben, sei es ten Woche schadet allen. nen Anlaß, ihn zur Diskussion zu stellen. für die Ostpolitik, sei es für die deutsche SPIEGEL: Läßt sich der Schaden begren- Und: Kinkel ist das ideale Kontrastpro- Einheit, spricht nur für die FDP. zen? gramm zu dem grünen außenpolitischen SPIEGEL: Gibt es denn heute noch ähnlich Westerwelle: Wir sollten die Meinungs- Flickflack eines Joschka Fischer. historische Weichenstellungen wie da- führerschaft zurückgewinnen, indem Re- SPIEGEL: Die CSU will aber „Erbhöfe“ im mals? formprojekte durchgesetzt werden. Die Kabinett nicht akzeptieren. Westerwelle: Der Ost-West-Konflikt ist Einigung über ein neues Hochschulrah- Westerwelle: Natürlich gibt es in einer De- weggefallen, aber jetzt kommt die große mengesetz war ein wichtiges Signal für mokratie keine Erbhöfe. Erst gewinnt Aufgabe der europäischen Integration. viele Menschen, daß die Politik noch in 26 der spiegel 35/1997 der Lage ist, sich auf Reformen zu ver- ständigen. SPIEGEL: Das zentrale Projekt der Steuer- reform aber ist gescheitert … Westerwelle: … das zentrale Thema ist die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit durch eine Belebung der Konjunktur. Die Steuerreform ist nur eine Maßnahme. Dazu gehört auch die Reduzierung der Lohnzusatzkosten durch eine Reform der sozialen Sicherungssysteme. Der Abbau der bürokratischen Regelungsdichte ist eine dritte Aufgabe. Wenn ich der Mei- nung wäre, die Steuerreform sei nicht rea- lisierbar, hätte ich einem zweiten Ver- mittlungsverfahren niemals zugestimmt. Die Frage wird bei der Wahl in Hamburg entschieden. SPIEGEL: Sie wollen Henning Voscherau mit Ihrem Koalitionsangebot aus der von Oskar Lafontaine angeführten Front her- ausbrechen? Westerwelle: Das ist eine sehr brachiale Wortwahl.Aber wir wollen ihn schon be- freien aus dieser babylonischen Gefan- genschaft. Für uns ist Hamburg nicht die Filiale von Saarbrücken. SPIEGEL: Eine optimistische Annahme. M. DARCHINGER Westerwelle: Wenn die FDP in Hamburg Koalitionspartner Schäuble, Gerhardt ins Parlament kommt und Verantwortung Westerwelle: Da kann Oskar Lafontaine Kandidaten fürs Kabinett gemeinsam mit der SPD übernimmt, sich auf den Kopf stellen und mit den Oh- dann gibt es eine neue Mehrheit im Bun- ren wackeln: Nicht er entscheidet, son- Streitpunkt Solidaritätszuschlag desrat. dern der Wähler in Hamburg. Henning SPIEGEL: Und wenn nicht mal der Einzug Voscherau hat klar gesagt, daß er Rot- Hermann Otto Solms, FDP in die Bürgerschaft gelingt? Grün nicht möchte. Ich habe allerdings am 30.6.1997 im SPIEGEL Westerwelle: Er wird.Aber auch wenn die auch Zweifel, ob er sich ohne FDP in der SPD im Bundesrat ihre Blockadepolitik Bürgerschaft gegen seine eigene Partei „Wer von der Soli- fortführt, können wir unsere Reform- durchsetzen könnte, die ja in Rot-Grün Senkung abrückt, begeht themen durchsetzen, auch in der Steuer- vernarrt ist. politik … SPIEGEL: Ist dieses sozialliberale Bündnis, Wortbruch gegenüber den SPIEGEL: … indem Sie die Senkung des das Sie in Hamburg anstreben, ein bun- Steuerpflichtigen.“ Solidaritätszuschlags in ein eigenes Ge- desweites Signal, daß Ihre Partei in Bonn setz packen … nicht auf ewig in der babylonischen Ge- Ministerpräsident Bernhard Vogel, CDU Westerwelle: So ist es. Nach der Abschaf- fangenschaft der Union bleiben möchte? am 13.7.1997 in der WELT AM SONNTAG fung der Vermögen- und der Gewerbe- Westerwelle: Es spricht derzeit viel für „Wir haben erreicht, daß er kapitalsteuer ist das immerhin der dritte die Fortsetzung dieser Koalition. Lafon- Schritt einer Steuersenkung. taines Blockadepolitik auf Bundesebene 1997 nicht gesenkt SPIEGEL: Für die Steuerreform braucht die ist keine verlockende Perspektive. wurde, und mit Blick auf Koalition aber im Bundesrat die Mehr- SPIEGEL: Auch in Nordrhein-Westfalen heit der Ja-Stimmen. Die hätten Sie bei strebt die FDP ein sozialliberales Bünd- 1998 hat sich an meiner einer sozialliberalen Koalition in Ham- nis an. In Rheinland-Pfalz regiert sie Meinung nichts geändert.“ burg immer noch nicht. schon mit der SPD. Wird die Tendenz Westerwelle: Die Mehrheitsverhältnisse nicht allmählich verwirrend für Ihren zwischen den sogenannten koalitions- Bonner Koalitionspartner? und Devisenreserven der Bundesbank beeinflußten Stimmen im Bundesrat Westerwelle: Wir sind ja auch nicht ver- zur Deckung seiner Etatlöcher umwidmen und denen, die ohne Koalitionseinfluß wirrt, obwohl die Union in den Ländern wollte. sind, verändern sich jedenfalls. Zudem Große Koalitionen eingegangen ist. Ich Unter anderen Bedingungen hätte ein wäre das politische Signal nach Saar- appelliere jetzt an die Union, zur Sach- Finanzminister mit einer solchen Minus- brücken eindeutig, wenn sich die Ham- arbeit zurückzukehren und sich für Re- bilanz sein Amt wohl abgeben müssen. burger Wähler gegen die Blockade ent- formen in Deutschland einzusetzen. In Schon in den vergangenen Wochen be- scheiden. der Union stehen noch zu viele mit einem obachteten die sozialdemokratischen Un- SPIEGEL: Glauben Sie denn, Voscherau Bein auf der Bremse. Wenn die Koalition terhändler bei Steuergesprächen, daß Wai- werde sich von seiner bisherigen, mit nicht die Nerven verliert, hat sie eine gute gels Autorität schwand. „Steuerpolitische dem Parteivorsitzenden Lafontaine ab- Chance. Wenn sie bei den Reformen zu Vorschläge“, sagt der Finanzpolitische gestimmten Linie verabschieden? spät kommt, straft sie der Wähler. Sprecher der SPD-Fraktion, Joachim Poß, „werden längst ohne Waigels Wissen und Zustimmung von CDU/CSU-Fraktionschef der spiegel 35/1997 27.