Dr. Henning Voscherau Ehemaliger Erster Bürgermeister Hamburg Im Gespräch Mit Werner Reuß

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Dr. Henning Voscherau Ehemaliger Erster Bürgermeister Hamburg Im Gespräch Mit Werner Reuß BR-ONLINE | Das Online-Angebot des Bayerischen Rundfunks Sendung vom 23.10.2007, 20.15 Uhr Dr. Henning Voscherau Ehemaliger Erster Bürgermeister Hamburg im Gespräch mit Werner Reuß Reuß: Verehrte Zuschauer, ganz herzlich willkommen zum alpha-forum. Unser heutiger Gast ist Dr. Henning Voscherau, in den Jahren 1988 bis 1997 Erster Bürgermeister und Präsident des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg. Das war mit neun Jahren die bisher längste Amtszeit in der Nachkriegszeit, die ein Erster Bürgermeister in Hamburg regierte. Hamburg ist ein Stadtstaat mit rund 1,8 Millionen Einwohnern und damit eines der 16 Bundesländer und vertreten im Bundesrat. Henning Voscherau war u. a. auch Präsident des Bundesrates, er war Vorsitzender des Vermittlungsausschusses von Bundestag und Bundesrat und er war langjähriges Präsidiumsmitglied seiner Partei, der SPD. Ich freue mich, dass er hier ist, herzlich willkommen, Herr Dr. Voscherau. Voscherau: Guten Tag. Reuß: "Ein Hanseat ist ein Mensch, der international denkt, der mit Handschlag Verträge schließt und sie auch hält, der Wert auf eine gepflegte anglophile Erscheinung legt, den man als Freund erst gewinnen muss, dann aber hat man ihn ein Leben lang." Dieser Satz stammt von Ihnen, Sie sind in Hamburg geboren, Sie haben in Hamburg studiert, Sie haben Hamburg regiert: Sind Sie ein Hanseat durch und durch? Voscherau: Das kann man sich selbst ja nicht bescheinigen, das müssen die Bürger einem bescheinigen. Und da gibt es vielleicht doch einige, die das bejahen würden. Reuß: "Politik ist Kampf um Macht, aber eben auch wertendes Streiten und streitendes Werten darüber, wie wir leben und wie wir dezidiert nicht leben wollen." Dieser Satz stammt von Ihrem Parteifreund, dem ehemaligen Bundesminister Erhard Eppler. Sehen Sie das auch so? Oder, anders gefragt, was ist Politik für Henning Voscherau? Voscherau: Ich sehe das genauso. Politik ist für mich die Bereitschaft des Einzelnen, sich zeitweise – am besten wirklich nur zeitweise – für das Gemeinwesen einzusetzen und Pflichten zu übernehmen – von Pflichten wird in diesem Zusammenhang heute ja nur noch wenig gesprochen – und nach bestem Wissen und Gewissen etwas dazu zu tun, dass wir so leben können, wie wir leben wollen, und dass wir nicht so leben müssen, wie wir nicht leben wollen. Da hat er ganz Recht. Reuß: Politik wird ja immer komplexer und schwieriger und es wird auch immer schwieriger zu vermitteln, wie Entscheidungen fallen und welche Entscheidungen gefällt werden müssen. Vom französischen Moralisten Joseph Joubert stammt der schöne Satz: "Politik ist die Kunst, die Menge zu leiten, nicht wohin sie gehen will, sondern wohin sie gehen soll." Das ist ein Satz, der sicherlich ambivalent ist. Dennoch: Muss die Politik nicht auch in einer Mediendemokratie, auch in einer parlamentarischen Demokratie manchmal führen und Entscheidungen auch gegen Mehrheiten in der Bevölkerung fällen? Voscherau: Ja, und zwar selbst auf das Risiko hin, dass man dafür abgestraft und abgewählt wird. Denn es ist in schwieriger werdenden Zeiten – also in Zeiten eines zu befürchtenden Niedergangs – ja doch so, dass die Bürger oftmals nicht so gerne wissen wollen, wo es hingeht und was man an unbequemen Dingen vielleicht jetzt schon tun sollte, und zwar als eine segensreiche Investition in eine gute Zukunft. Wenn man das absieht und wenn man glaubt zu wissen, was nun geschehen muss, dann muss man erstens den Mut haben, das auch auszusprechen; dann muss man zweitens die Kenntnis haben zu erklären, warum das so ist; und dann muss man drittens die Bürger bitten mitzuziehen. Das Letztere passiert aber oft nicht und dann muss man eben manchmal ins Gras beißen als Politiker. Reuß: Die Politiker und die Politik stehen ja immer in heftiger Kritik. Wenn man einen Saal zum Kochen bringen will, dann muss man heutzutage eigentlich nur über Politiker schimpfen, dafür gibt es immer Applaus. Aber auch von hochrangigen Politikern gab es schon Kritik in dieser Richtung. Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat vor vielen Jahren ebenfalls harte Kritik an den Parteien geübt und auch an den Politikern. Er sagte: "Bei uns ist ein Berufspolitiker im Allgemeinen weder ein Fachmann noch ein Dilettant, sondern ein Generalist mit dem Spezialwissen, wie man politische Gegner bekämpft." Sie haben ja nun über Jahrzehnte hinweg die Politik verfolgt und selbst Politik gemacht. Wie war Ihre Erfahrung diesbezüglich? Stimmt denn das Rekrutierungsverfahren für Politiker noch? Muss es die Ochsentour sein oder brauchen wir nicht doch mehr Seiteneinsteiger – denn so habe ich Ihr Eingangsstatement verstanden –, die auf Zeit Politik machen? Es gab ja bereits Bundeskanzler, die das versucht haben: Helmut Kohl damals mit Rita Süssmuth und Ursula Lehr oder Gerhard Schröder mit Werner Müller und Walter Riester. Stimmt also das alte Rekrutierungsverfahren noch? Ist die Kritik von Richard von Weizsäcker auch heute, nach so vielen Jahren, noch berechtigt? Voscherau: Sie war berechtigt, sie ist berechtigt. Er ist ja damals von Bundeskanzler Helmut Kohl, immerhin einem Parteifreund, massiv verprügelt worden für dieses Buch, das er damals geschrieben hat. Das Gegensatzpaar Ochsentour versus Seiteneinsteiger trifft nicht wirklich ins Schwarze. Nichts gegen die Ochsentour, denn man braucht viele nette, engagierte, fleißige Menschen, die Plakate kleben und irgendwo aufstellen oder Handzettel verteilen oder in Wahllokalen Stimmen auszählen usw. Ich finde es wunderbar, dass sich diese Menschen dazu bereit erklären. Einige davon wollen dann wirklich etwas werden in der Politik. Das sind also nur einige – aber alle anderen werden mit diesen diskriminiert. Aber man braucht auch Seiteneinsteiger. Niemand sollte sich jedoch einbilden, dass Seiteneinsteiger meinetwegen von einem Lehrstuhl oder aus einem Unternehmensvorstand, der also bereits bewiesen hat, dass er's kann, deswegen automatisch in der Lage wäre, in einer politischen Führungsaufgabe Erfolg zu haben. Genau das ist oftmals nicht der Fall. Und deswegen ist für mich das Entscheidende, wie man die Rekrutierungssysteme verbessern kann, wie man mehr Offenheit, wie man mehr direkten Einfluss der Parteimitglieder, vielleicht sogar der Stammwählerinnen und Stammwähler auf die Auswahl von Kandidatinnen und Kandidaten erreichen kann und weniger Nominierungsmacht, weniger Nominierungsmonopol von kleinen Seilschaften, die irgendwo in Hinterzimmern tagen. Denn dieses Nominierungsmonopol von engen Funktionärszirkeln, denen es auch um die eigene Macht, die eigene Karriere geht, dieses Monopol muss gebrochen werden. Es braucht also mehr Öffnung. Wenn wir das schaffen, dann haben wir meiner Meinung nach sehr bald eine bessere Republik. Und dann bekämen wir übrigens auch recht bald einen besseren Deutschen Bundestag. Reuß: Aber besteht da nicht die Gefahr, dass sich nur mehr das Populäre, um nicht zu sagen das Populistische durchsetzt? Voscherau: Nein, das glaube ich nicht. Wenn man z. B. einen Wahlkreiskandidaten für den Deutschen Bundestag unmittelbar durch die Mitglieder in diesem Wahlkreis aufstellen ließe anstatt durch kleine Funktionärsschichten, also durch Delegierte, dann wissen die einfachen Mitglieder, denen es wirklich um die Sache, um die großen Idee, um Ideale geht, sehr genau, ob einer was taugt oder nicht, ob er nur Sprüche macht oder was drauf hat. Ich glaube, dass eine solche Veränderung des Systems wirklich sehr segensreich wäre. Reuß: Ich will kurz versuchen, Sie ein bisschen zu verorten. Es gab ja in der SPD die so genannte Enkelgeneration: dazu zählten Björn Engholm, Gerhard Schröder, Oscar Lafontaine, Rudolf Scharping usw. Sie selbst haben sich jedoch immer ein bisschen davon distanziert, so scheint es mir jedenfalls, wenn ich das alles nachlese. Von Ihnen soll z. B. auch das Bonmot stammen, Sie seien eher der Neffe von Helmut Schmidt. War das nur scherzhaft gemeint oder steht dahinter schon auch ein anderes politisches Bekenntnis? Haben Sie also politisch gesehen Helmut Schmidt näher gestanden als Willy Brandt? Voscherau: Nun, erstens hat ja einmal Erhard Eppler, ein Ziehvater der Enkelgeneration, öffentlich über die Enkel, als sie in Bonn die Macht über die SPD übernommen hatten, gesagt: "Die können's nicht!" Und mein Ehrgeiz war immer, wenn ich etwas machte, das dann auch tatsächlich zu können. Das vielleicht die eine Antwort, die eine Erklärung – obwohl ich nicht alle Enkel, falls sie diese Sendung sehen sollten, in einen Topf werfen möchte. Hinzu kommt natürlich die landsmannschaftliche Verbundenheit mit Helmut Schmidt: Ich war bereits vor Jahrzehnten im Wahlkreis von Helmut Schmidt aktiv und habe Versammlungen mit ihm gemacht. Heute bin ich mit ihm und seiner Frau persönlich befreundet. Da gibt es also einfach eine gewisse Nähe. Ich kenne die beiden wohl schon seit Anfang der 50er-Jahre, da war ich noch ein Junge. Willy Brandts politische Leistung beeindruckt mich heute im Rückblick deutlich mehr, als das damals der Fall war. Und das spricht eher gegen mich als gegen Willy Brandt. Reuß: Nun werden ja Politiker auch in ihrer eigenen Partei gerne ein bisschen sortiert nach links und rechts. Heiner Geißler meinte zwar einstens, das sei ein Begriff aus der parlamentarischen Gesäßgeographie. Dennoch: Wenn Sie sich selbst einordnen müssten, wo sehen Sie sich eher? Auf der linken Seite der SPD oder auf der rechten Seite? Voscherau: Nun, in der Flügelgeographie der streitenden Bürgerkriegs-SPD von vor 20 Jahren war ich eindeutig rechts. Wenn man das allerdings inhaltlich beurteilt, ist das von Themenbereich zu Themenbereich, von Politikgebiet zu Politikgebiet
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