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Sendung vom 23.10.2007, 20.15 Uhr

Dr. Ehemaliger Erster Bürgermeister im Gespräch mit Werner Reuß

Reuß: Verehrte Zuschauer, ganz herzlich willkommen zum alpha-forum. Unser heutiger Gast ist Dr. Henning Voscherau, in den Jahren 1988 bis 1997 Erster Bürgermeister und Präsident des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg. Das war mit neun Jahren die bisher längste Amtszeit in der Nachkriegszeit, die ein Erster Bürgermeister in Hamburg regierte. Hamburg ist ein Stadtstaat mit rund 1,8 Millionen Einwohnern und damit eines der 16 Bundesländer und vertreten im Bundesrat. Henning Voscherau war u. a. auch Präsident des Bundesrates, er war Vorsitzender des Vermittlungsausschusses von Bundestag und Bundesrat und er war langjähriges Präsidiumsmitglied seiner Partei, der SPD. Ich freue mich, dass er hier ist, herzlich willkommen, Herr Dr. Voscherau. Voscherau: Guten Tag. Reuß: "Ein Hanseat ist ein Mensch, der international denkt, der mit Handschlag Verträge schließt und sie auch hält, der Wert auf eine gepflegte anglophile Erscheinung legt, den man als Freund erst gewinnen muss, dann aber hat man ihn ein Leben lang." Dieser Satz stammt von Ihnen, Sie sind in Hamburg geboren, Sie haben in Hamburg studiert, Sie haben Hamburg regiert: Sind Sie ein Hanseat durch und durch? Voscherau: Das kann man sich selbst ja nicht bescheinigen, das müssen die Bürger einem bescheinigen. Und da gibt es vielleicht doch einige, die das bejahen würden. Reuß: "Politik ist Kampf um Macht, aber eben auch wertendes Streiten und streitendes Werten darüber, wie wir leben und wie wir dezidiert nicht leben wollen." Dieser Satz stammt von Ihrem Parteifreund, dem ehemaligen Bundesminister Erhard Eppler. Sehen Sie das auch so? Oder, anders gefragt, was ist Politik für Henning Voscherau? Voscherau: Ich sehe das genauso. Politik ist für mich die Bereitschaft des Einzelnen, sich zeitweise – am besten wirklich nur zeitweise – für das Gemeinwesen einzusetzen und Pflichten zu übernehmen – von Pflichten wird in diesem Zusammenhang heute ja nur noch wenig gesprochen – und nach bestem Wissen und Gewissen etwas dazu zu tun, dass wir so leben können, wie wir leben wollen, und dass wir nicht so leben müssen, wie wir nicht leben wollen. Da hat er ganz Recht. Reuß: Politik wird ja immer komplexer und schwieriger und es wird auch immer schwieriger zu vermitteln, wie Entscheidungen fallen und welche Entscheidungen gefällt werden müssen. Vom französischen Moralisten Joseph Joubert stammt der schöne Satz: "Politik ist die Kunst, die Menge zu leiten, nicht wohin sie gehen will, sondern wohin sie gehen soll." Das ist ein Satz, der sicherlich ambivalent ist. Dennoch: Muss die Politik nicht auch in einer Mediendemokratie, auch in einer parlamentarischen Demokratie manchmal führen und Entscheidungen auch gegen Mehrheiten in der Bevölkerung fällen? Voscherau: Ja, und zwar selbst auf das Risiko hin, dass man dafür abgestraft und abgewählt wird. Denn es ist in schwieriger werdenden Zeiten – also in Zeiten eines zu befürchtenden Niedergangs – ja doch so, dass die Bürger oftmals nicht so gerne wissen wollen, wo es hingeht und was man an unbequemen Dingen vielleicht jetzt schon tun sollte, und zwar als eine segensreiche Investition in eine gute Zukunft. Wenn man das absieht und wenn man glaubt zu wissen, was nun geschehen muss, dann muss man erstens den Mut haben, das auch auszusprechen; dann muss man zweitens die Kenntnis haben zu erklären, warum das so ist; und dann muss man drittens die Bürger bitten mitzuziehen. Das Letztere passiert aber oft nicht und dann muss man eben manchmal ins Gras beißen als Politiker. Reuß: Die Politiker und die Politik stehen ja immer in heftiger Kritik. Wenn man einen Saal zum Kochen bringen will, dann muss man heutzutage eigentlich nur über Politiker schimpfen, dafür gibt es immer Applaus. Aber auch von hochrangigen Politikern gab es schon Kritik in dieser Richtung. Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat vor vielen Jahren ebenfalls harte Kritik an den Parteien geübt und auch an den Politikern. Er sagte: "Bei uns ist ein Berufspolitiker im Allgemeinen weder ein Fachmann noch ein Dilettant, sondern ein Generalist mit dem Spezialwissen, wie man politische Gegner bekämpft." Sie haben ja nun über Jahrzehnte hinweg die Politik verfolgt und selbst Politik gemacht. Wie war Ihre Erfahrung diesbezüglich? Stimmt denn das Rekrutierungsverfahren für Politiker noch? Muss es die Ochsentour sein oder brauchen wir nicht doch mehr Seiteneinsteiger – denn so habe ich Ihr Eingangsstatement verstanden –, die auf Zeit Politik machen? Es gab ja bereits Bundeskanzler, die das versucht haben: damals mit Rita Süssmuth und Ursula Lehr oder Gerhard Schröder mit Werner Müller und Walter Riester. Stimmt also das alte Rekrutierungsverfahren noch? Ist die Kritik von Richard von Weizsäcker auch heute, nach so vielen Jahren, noch berechtigt? Voscherau: Sie war berechtigt, sie ist berechtigt. Er ist ja damals von Bundeskanzler Helmut Kohl, immerhin einem Parteifreund, massiv verprügelt worden für dieses Buch, das er damals geschrieben hat. Das Gegensatzpaar Ochsentour versus Seiteneinsteiger trifft nicht wirklich ins Schwarze. Nichts gegen die Ochsentour, denn man braucht viele nette, engagierte, fleißige Menschen, die Plakate kleben und irgendwo aufstellen oder Handzettel verteilen oder in Wahllokalen Stimmen auszählen usw. Ich finde es wunderbar, dass sich diese Menschen dazu bereit erklären. Einige davon wollen dann wirklich etwas werden in der Politik. Das sind also nur einige – aber alle anderen werden mit diesen diskriminiert. Aber man braucht auch Seiteneinsteiger. Niemand sollte sich jedoch einbilden, dass Seiteneinsteiger meinetwegen von einem Lehrstuhl oder aus einem Unternehmensvorstand, der also bereits bewiesen hat, dass er's kann, deswegen automatisch in der Lage wäre, in einer politischen Führungsaufgabe Erfolg zu haben. Genau das ist oftmals nicht der Fall. Und deswegen ist für mich das Entscheidende, wie man die Rekrutierungssysteme verbessern kann, wie man mehr Offenheit, wie man mehr direkten Einfluss der Parteimitglieder, vielleicht sogar der Stammwählerinnen und Stammwähler auf die Auswahl von Kandidatinnen und Kandidaten erreichen kann und weniger Nominierungsmacht, weniger Nominierungsmonopol von kleinen Seilschaften, die irgendwo in Hinterzimmern tagen. Denn dieses Nominierungsmonopol von engen Funktionärszirkeln, denen es auch um die eigene Macht, die eigene Karriere geht, dieses Monopol muss gebrochen werden. Es braucht also mehr Öffnung. Wenn wir das schaffen, dann haben wir meiner Meinung nach sehr bald eine bessere Republik. Und dann bekämen wir übrigens auch recht bald einen besseren Deutschen Bundestag. Reuß: Aber besteht da nicht die Gefahr, dass sich nur mehr das Populäre, um nicht zu sagen das Populistische durchsetzt? Voscherau: Nein, das glaube ich nicht. Wenn man z. B. einen Wahlkreiskandidaten für den Deutschen Bundestag unmittelbar durch die Mitglieder in diesem Wahlkreis aufstellen ließe anstatt durch kleine Funktionärsschichten, also durch Delegierte, dann wissen die einfachen Mitglieder, denen es wirklich um die Sache, um die großen Idee, um Ideale geht, sehr genau, ob einer was taugt oder nicht, ob er nur Sprüche macht oder was drauf hat. Ich glaube, dass eine solche Veränderung des Systems wirklich sehr segensreich wäre. Reuß: Ich will kurz versuchen, Sie ein bisschen zu verorten. Es gab ja in der SPD die so genannte Enkelgeneration: dazu zählten Björn Engholm, Gerhard Schröder, Oscar Lafontaine, Rudolf Scharping usw. Sie selbst haben sich jedoch immer ein bisschen davon distanziert, so scheint es mir jedenfalls, wenn ich das alles nachlese. Von Ihnen soll z. B. auch das Bonmot stammen, Sie seien eher der Neffe von Helmut Schmidt. War das nur scherzhaft gemeint oder steht dahinter schon auch ein anderes politisches Bekenntnis? Haben Sie also politisch gesehen Helmut Schmidt näher gestanden als ? Voscherau: Nun, erstens hat ja einmal Erhard Eppler, ein Ziehvater der Enkelgeneration, öffentlich über die Enkel, als sie in Bonn die Macht über die SPD übernommen hatten, gesagt: "Die können's nicht!" Und mein Ehrgeiz war immer, wenn ich etwas machte, das dann auch tatsächlich zu können. Das vielleicht die eine Antwort, die eine Erklärung – obwohl ich nicht alle Enkel, falls sie diese Sendung sehen sollten, in einen Topf werfen möchte. Hinzu kommt natürlich die landsmannschaftliche Verbundenheit mit Helmut Schmidt: Ich war bereits vor Jahrzehnten im Wahlkreis von Helmut Schmidt aktiv und habe Versammlungen mit ihm gemacht. Heute bin ich mit ihm und seiner Frau persönlich befreundet. Da gibt es also einfach eine gewisse Nähe. Ich kenne die beiden wohl schon seit Anfang der 50er-Jahre, da war ich noch ein Junge. Willy Brandts politische Leistung beeindruckt mich heute im Rückblick deutlich mehr, als das damals der Fall war. Und das spricht eher gegen mich als gegen Willy Brandt. Reuß: Nun werden ja Politiker auch in ihrer eigenen Partei gerne ein bisschen sortiert nach links und rechts. Heiner Geißler meinte zwar einstens, das sei ein Begriff aus der parlamentarischen Gesäßgeographie. Dennoch: Wenn Sie sich selbst einordnen müssten, wo sehen Sie sich eher? Auf der linken Seite der SPD oder auf der rechten Seite? Voscherau: Nun, in der Flügelgeographie der streitenden Bürgerkriegs-SPD von vor 20 Jahren war ich eindeutig rechts. Wenn man das allerdings inhaltlich beurteilt, ist das von Themenbereich zu Themenbereich, von Politikgebiet zu Politikgebiet anders. Im Hinblick auf Bürgerrechte, Menschenrechte, Freiheitsrechte war ich eher – und bin ich es noch – links von der Mitte. Auf diesem Gebiet war ich also, wenn Sie so wollen, ein Linkssozialliberaler. Ähnliches gilt auch für die heutige Situation in Bezug auf die Außen- und Friedenspolitik: Hier bin ich keineswegs mit allem einverstanden, was in Berlin beschlossen wird. Aber bei den Sektoren Wirtschaftspolitik, Strukturpolitik, Wettbewerbsfähigkeit, Erwirtschaftung von Wohlstand, den man verteilen kann, Stärkung von Steuerkraft – und auch von sozialstaatlicher Finanzierungskraft, denn das, was man da verteilt, muss ja erst einmal erwirtschaftet werden – stehe ich eher rechts von der Mitte und betrachte mich als einen pragmatischen Realisten. Ich lehne jede Form von Illusion oder Ideologie strikt ab, die glaubt, sich der Frage entheben zu können, woher das Geld kommen soll, das man für gute Zwecke verteilen will. Ich bestreite also nicht die guten Zwecke, ich sage nur, dass man dazu zuerst einmal das nötige Geld haben muss. Reuß: Sie haben es indirekt schon beantwortet, dennoch würde ich es gerne noch ein wenig genauer wissen. Wenn sie drei Eigenschaften nennen müssten, die einen guten Politiker ausmachen, welche wären das? Voscherau: Er sollte ehrlich an den Menschen und der Sache arbeiten wollen, also nicht für sich selbst. Er sollte fleißig sein und diszipliniert. Und ein bisschen Intelligenz schadet sicherlich auch nicht. Reuß: Ich würde hier gerne inhaltlich eine kleine Zäsur machen, um unseren Zuschauern den Menschen Henning Voscherau näher vorzustellen. Sie sind am 13. August 1941 in Hamburg geboren, Jahre später war das der Tag des Mauerbaus. Voscherau: Genau, an meinem 20. Geburtstag wurde die Mauer gebaut: ein schrecklicher Tag, an den ich mich bis heute genau erinnern kann. Reuß: Ihr Vater war der Schauspieler Carl Voscherau, der u. a. am Thalia Theater spielte. Ihr Onkel war ebenfalls Schauspieler und spielte am Ohnsorg- Theater. Wie war Ihre Kindheit? Wie sind Sie aufgewachsen? Voscherau: Ach, was ist Kindheit? Ich erinnere mich an die Bombenangriffe auf Hamburg, so albern es klingt, denn damals war ich noch nicht ganz zwei Jahre alt. Daran sehen Sie, dass meine frühkindlichen Erinnerungen und meine Kindheit durch den Krieg geprägt wurden, durch die damit verbundene Anspannung, die Ängste und auch den Hunger. Ich wurde noch 1951 wegen Unterernährung aufs Land verschickt. Meine Mutter hat mich noch während des Krieges streng, nach meinem damaligen Empfinden viel zu streng diszipliniert. Leider war das aber notwendig gewesen. Was war passiert? Eine Nachbarin war zu uns gekommen und hatte zu meiner Mutter gesagt: "Frau Voscherau, Ihr kleiner Henning läuft durch die Nachbarschaft und erzählt allen Leuten, bei ihm zu Hause würde das Radio 'bummbummbumm bumm!' machen." Das war das Zeichen von BBC! Von da an wurde ich vergattert. Ich als kleiner Junge fand natürlich, dass ich zu stark vergattert wurde. Aber das war, wie ich im Rückblick sagen muss, ganz einfach überlebensnotwendig gewesen. Nun gut, danach hatte ich eine wunderschöne, freie, ungebundene Kindheit vom Ende des Krieges bis zur Währungsreform: Es gab nichts, aber wir hatten ein lustiges Leben. Und die Sorgen lagen bei meinen Eltern, nicht bei uns Kindern. Ich hatte dann auch eine unbeschwerte Schulzeit. Wissen Sie, von meiner Einschulung Ostern 1948 bis zu meinem Abitur Ostern 1961 war für die Bundesrepublik hier im Westen eine ganz prägende Zeit des Wiederaufstiegs. Das hat mir ein Zeitgefühl dafür verschafft, wie langsam so ein Prozess über Jahre hinweg beginnt und wie er sich dann erst so allmählich beschleunigt. 1989/90, als wir die Wende erlebten, kam mir das sehr zugute, weil ich da eine parallele Entwicklung spürte. Ich wusste, das wird lange dauern und das wird sehr schwer werden. Reuß: Die Einschätzungen dieses Prozesses waren damals ja sehr, sehr unterschiedlich, vielleicht auch politisch bedingt. Sie kommen also aus einer Schauspielerfamilie. Lothar Späth, der ehemalige Ministerpräsident von Baden-Württemberg, meinte einmal auf die Frage, welche Politiker denn einen guten Schauspieler abgäben: "Die meisten, aber in ungewollten Rollen!" Und Peter Glotz meinte einmal: "Der Unterschied zwischen einem Schauspieler und einem Politiker ist graduell, nicht prinzipiell." Teilen Sie diese Auffassung? Voscherau: Nein. Nein, die teile ich nicht. Richtig ist, dass jemand, der Bürgerinnen und Bürger motivieren will, in der Lage sein muss, glaubhaft zu verkörpern, was er den Bürgern predigt. Sicherlich ist es von großem Vorteil, wenn man in der Lage ist, frei und verständlich reden zu können, wenn man in der Lage ist, Gedankengänge gut darstellen zu können. Aber es wäre ein Irrtum zu glauben, dass man auf Dauer damit durchkommt, in eine fremde Rolle zu schlüpfen und etwas vorzugeben, etwas vorzuspielen, was man nicht ist und was man selbst nicht glaubt. So etwas fliegt immer auf! Schauspieler hingegen müssen ja Verwandlungskünstler sein. Sie müssen in ganz andere Menschen hineinschlüpfen können. In der Politik wäre das geradezu gefährlich, denn ein guter Schauspieler "macht" das nicht, sondern wird das, ist das. Wenn man aber in der Politik so ein "Chamäleon" wäre, dann wäre das überhaupt nicht gut. Reuß: Sie haben einmal gesagt: "Ich komme aus einer traditionsgebundenen Arbeiterfamilie und ich bin durch die christlichen Werte geprägt wie die meisten Europäer." Wenn ich das richtig nachgelesen habe, dann sind Sie konfessionslos. Welche Werte galten in Ihrer Familie, welche Werte waren und sind Ihnen heute noch wichtig? Voscherau: Zunächst einmal ist es so: Mein Vater war Schauspieler, weil er 1933 von den Nazis wegen politischer Unzuverlässigkeit entlassen wurde und dann irgendwie anders klarkommen musste. Deshalb rutschte er dann in diesen Beruf hinein, den er in der Weimarer Republik bereits einmal studiert hatte. Meine Vorfahren waren aber ansonsten alle Arbeiter und auch immer Mitglieder in der SPD - ich lege aus aktuellem Grund Wert auf die Feststellung, dass sie immer in der Mehrheits-SPD waren - und sie haben mich entsprechend erzogen. Mein Vater und mein Großvater – so haben sie es jedenfalls immer erzählt, ich war ja nicht dabei und habe das auch nicht nachgeprüft – sind beide gemeinsam am Tage des Inkrafttretens des Gesetzes des Weimarer Reichstages, dass man aus einer Kirche austreten könne, zur entsprechenden Stelle gegangen und ausgetreten. Ich glaube, diese Bescheinigung besitze ich sogar noch. Da sie das gemacht hatten, haben sie später den kleinen Henning natürlich auch nicht taufen lassen. Sie lebten nach dem Motto, Religion sei Opium für das Volk. Aber ich habe an meinem Gymnasium immer sehr intensiv am Religionsunterricht teilgenommen. Wir hatten eine wunderbare Religionslehrerin, die mir die Werte der Bergpredigt wirklich vermitteln konnte. Daran hänge ich bis heute, dass man nämlich Nächstenliebe zu üben hat, dass man für den Nächsten eintreten soll. Auch wenn ich selbst nicht allzu sehr dazu neige, auch noch die andere Wange hinzuhalten, ist dieser Grundsatz in einer Konfliktsituation doch gelegentlich ein guter Hinweis, es nicht auf die Spitze zu treiben. Sonst, im Alltag des Arbeitslebens, bin ich wie Helmut Schmidt ein Anhänger der von Herrn Lafontaine sogenannten Sekundärtugenden. Denn auch die sind für das Zusammenleben in einer Gesellschaft wichtig. Reuß: Gemeint sind damit Pünktlichkeit, Fleiß, Ordnungsliebe usw. Voscherau: Wenngleich man diese Tugenden nicht mit Zielen verwechseln darf, denn damit hatte Lafontaine damals ja Recht: Mit Zielen darf man diese Tugenden nicht verwechseln. Um aber an der Sache dran bleiben zu können, um Ziele erreichen zu können und um in einer Massengesellschaft ein gedeihliches Zusammenleben organisieren und etwas erreichen zu können, sind sie wichtig. Es wäre übrigens Herrn Lafontaine selbst auch besser bekommen, wenn er sich in seinem Genussleben öfter daran gehalten hätte. Reuß: Kommen wir noch einmal zurück zu Ihrer Biographie. Wenn ich das richtig nachgelesen habe, dann sind Sie mit elf Jahren in einen Hockeyclub eingetreten und haben leidenschaftlich Hockey gespielt. Wieso gerade Hockey? Voscherau: Reiner Zufall! Der Hockeyplatz des Klipper Tennis- und Hockey-Clubs liegt gerade einmal 150 Meter von meinem Elternhaus entfernt. Ich war damals zusammen mit meinem Bruder nachmittags scheinbar unterbeschäftigt, jedenfalls standen wir immer mit sehnsüchtigen Augen da und guckten zu. Plötzlich stieß ich ihn an und sagte zu ihm: "Glaubst du, dass man da eintreten kann?" Und so sind wir dann eben hingegangen und eingetreten. Das war eine sehr schöne Jugendzeit. Wissen Sie, der Mannschaftssport als Leistungssport – aber auf Amateurebene, also ohne die Versuchungen des großen Geldes – ist für die Charakterbildung eines jeden jungen Menschen unglaublich positiv. Reuß: Sie haben dann 1961 Abitur gemacht und studierten dann Rechtswissenschaften und Volkswirtschaft an der Universität Hamburg. 1966 machten Sie Ihr erstes Staatsexamen, 1969 die Promotion und 1971 das zweite Staatsexamen. Warum haben Sie gerade Jura studiert? Hatten Sie denn bereits einen ganz bestimmten Berufswunsch? Was hat da den Ausschlag gegeben? Voscherau: Ich war eingeschrieben für Volkswirtschaftslehre und studierte bei Karl Schiller und Heinz-Dietrich Ortlieb. Es gab dort auch so etwas Ähnliches wie Nebenkurse mit dem Titel "Rechtswissenschaft für Anfänger" oder "Rechtswissenschaft für Wirtschaftswissenschaftler" usw. Ich habe dann zwei Semester lang erlebt, dass mir das mehr lag als die Volkswirtschaftslehre. Ich habe dann umgesattelt und es auch nie bereut. Die Volkswirtschaftslehre habe ich allerdings immer etwas nebenher weiterbetrieben, auch nach dem ersten juristischen Examen noch einmal neu. Denn ich dachte mir: Die Wirtschaft bewegt die Welt, davon muss man etwas verstehen. Und das stimmt auch so. Reuß: Sie sind 1966 im Alter von 25 Jahren in die SPD eingetreten. Dieses Jahr war ja ein sehr spannendes Jahr: Ludwig Erhard wurde zum Bundesvorsitzenden der CDU gewählt, Willy Brandt kurz zuvor zum Bundesvorsitzenden der SPD. Ebenfalls in diesem Jahr 1966, nämlich im Oktober, zerbrach die Koalition aus CDU/CSU und FDP an haushaltsrechtlichen Fragen. Im November trat dann auch Ludwig Erhard als Bundeskanzler zurück und es kam schließlich zur ersten Großen Koalition mit und Willy Brandt. Waren das Ereignisse, die Sie bewogen haben, in die SPD einzutreten? Oder war das davon völlig unabhängig? Voscherau: Das war davon völlig unabhängig. Wie gesagt, ich bin ja Sozialdemokrat in der vierten Generation. Mein mütterlicher Urgroßvater war bereits 1875 aktenkundig geworden. Ich stamme also von beiden Elternseiten aus einer sozialdemokratischen Familie. 1963 starb mein Vater, 1964 starb mein Großvater und ich war sozusagen derjenige, der dann die Fahne hochhalten musste. Ich konnte das aber nach dem Tod meines Vaters während meines Studiums überhaupt nicht, sondern musste mich bereits nach sieben Semestern zum Examen anmelden – wegen Schmalhans Küchenmeister. Auch so eine Erfahrung ist in der Jugend übrigens mal ganz nützlich. Ich bin also erst unmittelbar nach meinem ersten juristischen Staatsexamen in die SPD eingetreten. Reuß: Wenn ich das richtig nachgelesen habe, dann waren Sie zunächst einmal nicht so richtig aktiv tätig in der SPD. Sie waren zunächst einmal Notarassessor und sind seit 1974 mit Ausnahme der Jahre, in denen Sie Erster Bürgermeister von Hamburg waren, als Notar tätig. Sie selbst haben einmal gesagt: "Ich habe mich erst nach meinem Studium für einen politisches Engagement entschieden." Warum nicht schon vor dem Studium oder während des Studiums, um Erfahrungen zu sammeln, um, wie Sie selbst vorhin gesagt haben, auch mal Plakate zu kleben, einen Infostand zu betreiben usw.? Sie hätten damals ja auch schon Netzwerke knüpfen und von den Altvorderen lernen können. Wieso gab es bei Ihnen das Bekenntnis zu warten, bis Sie fertig sind, und sich erst dann möglicherweise politisch zu engagieren? Voscherau: Wenn ich ganz offen sein darf und auch auf das Risiko hin, dass nun viele junge Parteimitglieder das nicht lustig finden, was ich jetzt sage: Ich bin kein Anhänger davon, dass sich junge Menschen mit 16 oder 18 Jahren dazu entscheiden, lebenslang Berufspolitiker zu werden und sie dann die "übliche" Karriere einschlagen: vom Abgeordnetenassistenten über die "Ermordung" des Abgeordneten im politischen Sinne bis zum Antreten von dessen Nachfolge. Ich halte das für ganz falsch, denn das sind alles Leute mit Scheuklappen, die das wirkliche Leben der Normalbürger aus der Arbeits- und Berufswelt nie kennengelernt haben. Dies macht die Politik eng und entfernt sie von der Wirklichkeit. Bei mir war es eben so gewesen: Ich musste sehr schnell studieren und hatte keinerlei Chance, viele Abende diskutierend in irgendwelchen anderen Gremien zuzubringen, denn ich wollte ja auch ein gutes Examen machen. Ich habe mich also dazu entschieden, dass die Priorität darin besteht, schnell und erfolgreich zu studieren und dann erst etwas mit Politik anzufangen. Abgesehen davon, dass ich ja gar nicht Politiker werden wollte, sondern ich wollte eigentlich nur das Bekenntnis abliefern, dass ich nun in der vierten Generation quasi das Staffelholz übernommen habe und mich zur SPD bekenne. Aber Politiker werden wollte ich nicht. Reuß: Sie gehörten dann ab 1970 der Bezirksversammlung in Hamburg- an. Sie waren dort auch Fraktionsvorsitzender, bis Sie 1974 erstmals in die Hamburger Bürgerschaft, also ins Landesparlament gewählt wurden. Sie wurden dann auch gleich in den Fraktionsvorstand Ihrer Partei gewählt. Bis zum Ende der 90er-Jahre war die Hamburger Bürgerschaft ja ein sogenanntes Feierabendparlament, dessen Sitzungen wohl frühestens um 16 Uhr begonnen haben. War dieses Feierabendparlament nicht doch eine schlechte Einrichtung? Ist man da als Abgeordneter nicht noch stärker abhängig von der Exekutive, die man ja eigentlich kontrollieren soll? Voscherau: Nein. Ich habe das stattdessen als einen großen Vorzug empfunden. Dies setzt naturgemäß voraus, dass man seinen eigenen Beruf weiter ausüben kann: Dadurch ist man frei von der existentiellen, auch von der materiellen Abhängigkeit von parteipolitischen Zirkeln. Also muss man sich auch nicht anbiedern und auch nicht anpassen. Man muss sich auch nicht verbiegen. Insofern wäre es für die deutsche Politik von großem Vorteil, wenn man so eine Art von politischer Betätigung noch verstärken könnte. Für mich war das also ein Vorteil. Und jemand, der seine Sache einfach "drauf" hat, der ist auch in der Lage, in Kernfragen die Regierung zu kontrollieren, wenn er von acht Uhr morgens bis 15.30 nachmittags in seinem eigenen Büro gesessen hat. Die Interessen, die dann gegen Ende der 90er-Jahre zu einer Veränderung geführt haben, waren nicht zuletzt auch individuelle Karriereinteressen: Die sind aber doch eigentlich von nachrangiger Wichtigkeit in der Politik, bzw. sollten jedenfalls nachrangiger sein. Nein, das war schon sehr gut mit dem Feierabendparlament. Ein Kernproblem von parlamentarischer Arbeit, dieses Problem des Ertrinkens von Parlamentariern in Akten und Papierbergen, rührt ja daher, dass viele Parlamente und viele Fraktionen viel zu unbedacht Nebenregierung spielen. Das Parlament ist aber in seinem operativen Handeln nun einmal keine Nebenregierung. Es soll vielmehr Leitlinien geben, es muss die Regierungen, den Kanzler oder den Ministerpräsidenten usw. wählen, es beschließt den Haushalt und erlässt Gesetze usw., aber es soll nicht selbst regieren. Der Alltag der Ausschüsse und der Fraktionssitzungen besteht jedoch darin, Regierung sein zu wollen. Ich sehe das jedenfalls als eine Fehlentwicklung. Reuß: Sie waren dann auch Ausschussvorsitzender, bevor Sie 1982 Fraktionschef der SPD in der Bürgerschaft wurden. Das war ja eine ziemlich spannende Zeit damals: 1978 hatte die SPD noch eine satte Mehrheit nicht nur der Mandate, sondern auch der Stimmen in der Wahl zur Bürgerschaft bekommen. 1982 wurde hingegen erstmals die CDU stärkste Partei mit einem ganz knappen Vorsprung. Es kam dann aber zu keiner Mehrheitsbildung unter Führung der CDU und so gab es für einige Zeit einen Minderheitssenat unter dem bisherigen Bürgermeister . Waren Sie da als Fraktionsvorsitzender besonders gefordert, besonders stark? Denn Sie mussten damals ja immer wieder Mehrheiten organisieren im Senat für Klaus von Dohnanyi. Voscherau: Ja, das war sehr spannend und das hat auch meinen sportlichen Ehrgeiz besonders herausgefordert. Denn im sportlichen Wettkampf mochte ich noch nie gerne verlieren – und das gilt auch für die Politik so. Meine Aufgabe in der Zeit, als die CDU unter Führung von Walther Leisler Kiep im Hamburger Senat einen Sitz mehr hatte als die SPD, bestand darin, dafür zu sorgen, dass wir nicht in der Ecke mit dem Rücken zur Wand stehen. Und das ist uns eigentlich immer gelungen. Diese Zeit macht mir auch im Rückblick immer noch großes Vergnügen. Reuß: Dass Sie ein unabhängiger Kopf waren und sind, konnte man an einer Begebenheit im Jahr 1985 sehen. Es gab damals einen Skandal in der Hamburger Stadtreinigung: Aus Ihrer Sicht hat sich damals der Senat nicht hinreichend um Aufklärung bemüht. Daraufhin haben Sie jedoch mit Ihrem Rücktritt gedroht und gesagt: "Das muss aufgearbeitet werden!" Worum ging es da und was war Ihnen daran so wichtig, dass Sie Ihre Funktion in die Wagschale warfen, denn es ist ja immer Ultima Ratio, wenn man mit Rücktritt droht. Voscherau: Nun gut, ich war Notar, ich hatte ein eigenes Büro, ich musste nicht Politik machen. Es gibt einfach ein paar Prinzipien, die man um des Alltagsgeschäfts willen nicht hintanstellen darf. Ich hatte vertrauliches Material von einem Mitarbeiter der Stadtreinigung bekommen über Unregelmäßigkeiten dort. Dieses Material wirkte erschreckend und plausibel zugleich. Es waren natürlich nicht in dem Sinne gerichtsverwertbare Beweise, also wollte ich, dass das aufgeklärt und abgestellt wird. Heute redet alle Welt im Zusammenhang mit der Korruption von Transparency und Korruptionsbekämpfung, und dies völlig mit Recht. Bei uns im kühlen Norden an der Elbe galt damals Korruption noch als eine südliche Erscheinung – ganz leise sage ich: als eine süddeutsche Erscheinung. Wir konnten uns also gar nicht vorstellen, dass es auch bei uns im Norden so etwas geben könnte. Ich hatte aber den Eindruck, dass hier doch etwas übergeschwappt sein könnte und dass das gleich zu Anfang bekämpft werden müsse. Aber die politischen Gesetze führen manchmal dazu, dass der Mantel der Nächstenliebe über solche Dinge ausgebreitet wird. Damit wollte ich jedoch nicht leben, damit wollte ich nichts zu tun haben. Wenn das Realität geworden wäre, dann wäre ich rausgegangen: Also war für mich klar, dass ich sagen musste: entweder - oder. Reuß: Es blieb turbulent in Hamburg: 1986 bei der Bürgerschaftswahl musste die SPD wieder dramatische Verluste hinnehmen. Ich glaube, es waren damals zehn Prozentpunkte, die die SPD einbrach. Es gab erneut keine Mehrheit im Senat, es gab erneut eine Minderheitsregierung. Man sprach damals landauf landab von "Hamburger Verhältnissen". 1987 kam es dann zu einer Neuwahl der Bürgerschaft, in deren Folge es eine sozialliberale Koalition gab. Für viele ganz überraschend stellten Sie jedoch kurz darauf den Fraktionsvorsitz plötzlich zur Verfügung: Wenn es stimmt, was man darüber lesen kann, dann geschah das offensichtlich wegen der zu nachgiebigen Haltung des damaligen Bürgermeisters Klaus von Dohnanyi in der Frage der Hausbesetzer in der Hafenstraße. War dieser Schritt nicht auch eine Schwächung des Ersten Bürgermeisters? Voscherau: Tja, das war es wohl, aber ob er deswegen ein Dreivierteljahr später erklärt hat, aufhören zu wollen, weiß ich gar nicht. Wir haben damals sehr eng zusammengearbeitet und verstehen uns persönlich auch heute noch gut. Reuß: Hat er Ihnen damals diesen Schritt übel genommen? Voscherau: Ich weiß es nicht. Wir hatten eigentlich schon zwei Jahre vorher eher private Diskussionen darüber, ob jemand, der das jahrelang gemacht hat, nach dem 60. Lebensjahr immer noch weiter machen solle. Er zweifelte jedenfalls daran, ob er das machen sollte. Ob mein Rücktritt dann dafür mit ursächlich war, dass er aufgehört hat, weiß ich nicht. Mein Rücktrittsgrund war jedenfalls ein sehr schwieriger. Die Fraktion war mehrheitlich gegen seinen Kurs in der Hafenstraße. Sein Kurs war, wenn ich das so salopp ausdrücken darf, eine Form von Appeasement-Vertrag. Man kann langfristig und rückblickend nicht bezweifeln, dass er recht hatte: Das hat ganz eindeutig zur Deeskalation geführt und dramatische und bürgerkriegsähnliche Zuspitzungen zwischen 3000 Demonstranten des sogenannten Schwarzen Blocks und 4000 Polizisten mit schrecklichen Folgen verhindert. Aber die Fraktion war mehrheitlich dagegen. Und die Bewohner der Hafenstraße haben auch wirklich die Geduld des demokratischen Rechtsstaats über alle Maßen strapaziert. Das reichte bis zu solchen Vorfällen, dass Gehwegplatten aus dem dritten Stock auf Polizisten geworfen wurden usw. Das sind einfach Dinge, die gehen nicht. Punkt! Als Fraktionsvorsitzender ist man da natürlich in einer ganz schwierigen Lage. Wir haben uns bemüht, die Sache hinter den Kulissen in den Vorbesprechungsrunden in der Sache kontrovers zu diskutieren: Das ging lange Zeit gut, aber dann gab es im Sommer 1987 in einer solchen Runde – ich weiß es noch genau, es war Montag, der 11. August 1987 – einen erheblichen Knall, dies aber gar nicht mit mir, sondern mit einem meiner Stellvertreter. Gut, ich habe dann gesagt: "Klaus, hier kann jeder seine Meinung sagen!" Daraufhin griff er auch sehr persönlich mich an. Dann habe ich bis zehn gezählt, anschließend meine Sachen gepackt, bin gegangen und nicht wiedergekommen. Reuß: Haben Sie das mal bereut? Voscherau: Nein. Reuß: Sie haben es vorhin schon angedeutet: Im Mai 1988 erklärte Klaus von Dohnanyi den Rücktritt von seinem Amt als Erster Bürgermeister. Der SPD- Landesvorstand hat Sie dann einstimmig nominiert für seine Nachfolge. Sie haben allerdings Bedingungen gestellt. Sie haben gesagt: "Ich mache das nur, wenn ich nicht nur Primus inter Pares bin, sondern wenn ich erstens eine Art Richtlinienkompetenz bekomme und wenn ich zweitens meine Senatoren selbst aussuchen darf." Denn dies war bis dato nicht der Fall gewesen. Wie haben denn Partei und Fraktion darauf reagiert? Denn die wurden dadurch in ihrem Einfluss ja eindeutig geschwächt. Voscherau: Kein Regierungschef, selbst wenn er solche Möglichkeiten hat, ist gut beraten, ohne jede Rücksichtnahme auf die Fraktion und die Partei und ohne jedes harmonisierende Gespräch von oben per Ordre zu ernennen und zu regieren. So etwas würde auf Dauer niemals gut gehen. Aber es befreite den Bürgermeister doch von der Abhängigkeit der geheimen Abstimmung über jede einzelne Personalie. Das war sehr wichtig. Und das haben sie dann geschluckt – gut, nicht so gerne, aber die Einstimmigkeit, mit der ich nominiert worden war, beruhte ja auch nicht auf echter Zustimmung bei jedem, der dafür gestimmt hat, sondern beruhte z. T. schon auch auf der Einsicht in die Lage und die Notwendigkeit. Das konnte ich doch recht gut unterscheiden. Reuß: "Die Hamburger SPD und Henning Voscherau waren nie eine Liebesbeziehung, sondern immer eine Vernunftehe", hat die "Welt" einmal über Sie geschrieben. Teilen Sie diese Einschätzung? Voscherau: Nein, die teile ich eigentlich nicht. Denn ich bin nun einmal, wie Sie vielleicht aus meinen Schilderungen bezüglich der vierten Generation SPD- Mitgliedschaft herausgehört haben, ein sentimentaler und damit auch durchaus emotionaler Sozialdemokrat; dies muss ja nicht heißen, dass ich alle Parteipositionen inhaltlich teile. Das hat sich bis heute nicht verändert. Richtig ist aber, dass in den Großstadtparteien der SPD, also in Berlin, in Frankfurt, in München, in Hamburg, in Köln in den 70er-Jahren eine gewisse Re-Ideologisierung eingesetzt hatte, die dann 20 Jahre lang vorhielt und zu massiven Auseinandersetzungen innerhalb dieser Großstadtparteien geführt hat. In diesen Kämpfen habe ich für eine Linie der pragmatischen Vernunft gestritten – und Freund und Feind schieden sich darüber. Das heißt, ich habe z. T. polarisiert. Dies merkt man übrigens bis heute und die heutige Lage der Hamburger SPD hat damit zu tun. Gut, ich habe also keine Liebesbeziehung zu Teilen der Hamburger SPD, aber zu der Partei als solcher habe ich doch sehr wohl eine emotionale Beziehung, denn das klingt doch etwas sachlicher als der Begriff "Liebesbeziehung". Reuß: Sie haben dann die Koalition mit der FDP zunächst fortgesetzt bis zur Bürgerschaftswahl 1991. Dabei haben Sie dann knapp die absolute Mehrheit gewonnen und konnten damit seit langer Zeit wieder Zugewinne für die SPD schaffen. Es war allerdings nur eine hauchdünne Mehrheit von einem Mandat in der Bürgerschaft. Sie selbst hatten, wie man nachlesen kann, immer deutlich mehr Zuspruch als Ihre Partei. Der Zuspruch zu Ihrer Person lag bei um die 60 Prozent, während das Wahlergebnis für die SPD 1991 bei 48 Prozent lag. Worauf haben Sie denn diese Diskrepanz zwischen der Zustimmung zu Ihnen als Person und der Zustimmung zur SPD zurückgeführt? Voscherau: Na ja, diese größere Zustimmung darf man nicht so persönlich nehmen. Wissen Sie, in solchen Ämtern unterliegt man immer der Versuchung, ein Schulterklopfen als ehrliche Zustimmung zur eigenen Person anzusehen. Ich habe jedoch immer versucht, mich dem zu entziehen. Wer ein so herausgehobenes Amt wie das eines Großstadtbürgermeisters, eines Ministerpräsidenten oder das des Bundeskanzlers innehat und das einigermaßen gut macht und einigermaßen in Übereinstimmung mit den Bürgern, der hat selbstverständlich einen Amtsbonus. Er müsste sich also eingehende Fragen stellen, wenn er nicht deutlich vor seiner Partei läge. Das ist also gar kein persönliches Verdienst, sondern eine Folge der Konstellation. Natürlich hat man die Aufgabe zu versuchen, diesen Bonus für die eigene Partei in den Wahlen dann auch einzubringen. In Hamburg haben mir durchaus einige Parteifreunde zum Schluss nachgetragen, dass mir das aus ihrer Sicht nicht ausreichend gelungen war. Es kann sein, dass so etwas auch noch Frau Merkel passiert. Reuß: Die Wochenzeitung "Die Zeit" nannte Sie einmal neben Helmut Schmidt und Karl Schiller einen "Traumtöter" und schrieb: "Für sie galt der alte Spruch von Herbert Wehner, 'es muss gesagt werden, was ist'." Voscherau: Dieser Satz stammt eigentlich von Rosa Luxemburg und ganz genau genommen sogar von Ferdinand Lassalle. Reuß: Ist das etwas, das manchmal ein Vorteil, manchmal aber auch ein Nachteil war? Böse Zungen haben Ihnen nämlich auch nachgesagt, Ihnen würden die politischen Visionen fehlen. Voscherau: Ja, das haben mir viele nachgesagt. Aber diese Ansicht habe ich nie geteilt, sondern sie immer nur als Begleiterscheinung des Meinungskampfes um die Mehrheit innerhalb der Hamburger SPD und der norddeutschen SPD- Landesverbände angesehen. Wenn da einer ist, der seine Sache gut macht, und den die Bürger mögen, den man selbst aber weg haben möchte, dann muss man den eben irgendwie bekämpfen, z. B. mit so einem dummen Spruch. Reuß: Anfang der 90er-Jahre gab es ein Gesetz, das heftige Kritik auslöste, nämlich das Gesetz zur Erhöhung der Abgeordnetendiäten. Es ging auch, wie es hieß, um eine üppige Altersversorgung der Fraktionsvorsitzenden. Selbst aus Ihrer Partei wurde an den Parteioberen deswegen heftige Kritik geübt. Man sprach von "schwerem Realitätsverlust", man sprach von der "Sahnekelle", mit der man sich da bediene. Ist es – im Nachhinein betrachtet, denn diese Diskussion gibt es ja immer wieder, wenn es um Abgeordnetendiäten geht – nicht vielleicht ein Systemfehler, dass Abgeordnete selbst über ihre Diäten entscheiden müssen? Wäre es nicht besser, ein externes Gremium, das nicht selbst von diesen Erhöhungen profitiert, damit zu beauftragen? Voscherau: Meiner Meinung nach wäre das immer noch zu kurz gesprungen, denn meiner Meinung nach muss es einen noch weitergehenden Systemwechsel geben, der allerdings gemäß der gegenwärtigen Auslegung des Artikels 3 des Grundgesetzes, nämlich des Gleichheitsgrundsatzes, vermutlich Schwierigkeiten bereiten würde in Karlsruhe. Wissen Sie, in Wahrheit ist es doch so: Wer sich für das Gemeinwesen einsetzt und wer sich in ein Parlament wählen lässt, der soll davon keine persönlichen Vorteile haben, er soll aber auch keine Nachteile haben. Da aber das Volk in seiner ganzen Bandbreite hineingewählt wird, z. B. vom ehemaligen Fraktionsvorsitzenden der Grünen im Hamburger Senat Thomas Ebermann, der davor, wenn ich mich nicht irre, Sozialhilfe bezogen hatte, bis zu Otto Graf Lambsdorff, der vorher Vorstand in der Victoria-Versicherungsgruppe gewesen ist, wäre es im Sinne von kein Vorteil und kein Nachteil doch das Beste, wenn es eine Lohnfortzahlung gäbe, die vielleicht mit einer unteren und einer oberen Kappungsgrenze versehen ist. Das heißt, jeder Abgeordnete wird weiterhin so bezahlt, wie er selbst im Durchschnitt der vorherigen drei, vier Jahre verdient hat. Auch sein Altersversorgungssystem wird fortgeführt, auf Steuerzahlerkosten selbstverständlich. Und wenn er Lust hat, dann kann er ja diesbezüglich noch mehr als das tun. Meiner Meinung nach muss man also die horizontale Gleichbezahlung aller Abgeordneten wegnehmen. Übrigens hätte man dann auch erst wirklich ein Eingangstor für Seiteneinsteiger aller Art. Die weitverbreitete Ansicht, man muss endlich die Politiker besser besolden, damit mehr Seiteneinsteiger kommen, halte ich für einen wirklichen Irrglauben. Denn was glauben Sie, was derjenige, der heute mit Zähnen und Klauen sein Mandat verteidigt für das, was heute als Entschädigung bezahlt wird, erst macht, wenn es das Vierfache gibt: Da werden dann die Seiteneinsteiger erst recht weggebissen. Ich halte also die Gleichbesoldung aller Abgeordneten für einen Fehler. Stattdessen sollte in diesem Fall Gleichheit bedeuten: Gleichheit des gewählten Abgeordneten mit sich selbst in seinem vorherigen Berufsleben. Reuß: Es gäbe noch vieles, das wir erwähnen könnten und müssten, aber mit Blick auf die Uhr kommen wir nun nicht mehr dazu. Ein Punkt wäre z. B., dass Sie ein Stück weit um Ihre absolute Mehrheit gebracht worden sind, weil das Verfassungsgericht diese Wahl für ungültig erklärt hat, und zwar aufgrund undemokratischer Kandidatenaufstellung bei der CDU. Voscherau: Das war ein grundgesetzwidriges Landesverfassungsgerichtsurteil! Denn es ist ein Unding, dass man ein gewähltes Parlament in die Wüste schickt, weil eine Fraktion nicht korrekt aufgestellt worden war. Ich sage Ihnen, wenn in der Wahl vorher die CDU nach 40 Jahren die Mehrheit gewonnen hätte, dann hätte dasselbe Gericht niemals den Mut gehabt, nach zwei Jahren diese frisch gewählte CDU-Mehrheit in die Wüste zu schicken. Reuß: Jedenfalls kam es dann zu einer Neuwahl und 1997 gab es dann wieder eine Bürgerschaftswahl. Sie haben damals vier Prozentpunkte verloren und kamen auf 36 Prozent. Das war damals das schlechteste Nachkriegsergebnis der SPD in Hamburg. Heute jedoch wäre das wieder ein sehr gutes Ergebnis. Die CDU kam 1997 auf 30 Prozent. Sie selbst hatten sich eine Schmerzgrenze bei 38 Prozent gesetzt. Deswegen haben Sie danach gesagt: "So, das war's! Ich gehe!" Irgendwann später haben sie dann einmal gemeint: "Ich habe meinen Rücktritt immer bedauert, aber nie bereut." War es dennoch ein Fehler gewesen, davor eine Schmerzgrenze zu setzen, wenn Sie sehen, dass , der heute mit absoluter Mehrheit regiert, einige Jahre später zunächst einmal sogar mit nur 26 Prozent Erster Bürgermeister werden konnte. Voscherau: Ja, dies aber nur mit dem Steigbügelhalter , der sich ja inzwischen selbst entlarvt hat als ein Scharlatan vom rechten Rand. Nein, ich glaube nicht, dass das ein Fehler war. Wissen Sie, das hängt auch damit zusammen, dass ich ja schon fast zehn Jahre in diesem Amt gewesen bin. Wenn ich drin geblieben wäre, dann wären es 13 Jahre geworden. Wenn man aber ein Freiberufler ist, dann fängt man irgendwann an, darüber nachzudenken: "Willst du überhaupt noch einmal zurück in den Beruf?" Wenn ich drin geblieben wäre, dann hätte ich auf Dauer in der Politik bleiben müssen. Insofern habe ich mir im Vorhinein überlegt, wo meine Schmerzgrenze liegt. Der damalige norwegische Ministerpräsident hatte diese Schmerzgrenze ebenfalls, Gerhard Schröder in Hannover hatte sie sich ebenfalls gesetzt. Wie gesagt, das ist kein Gottes-, aber ein Wählerurteil: "Wenn sie dich behalten wollen, dann sollen sie dich gefälligst gegenüber der eigenen Partei, der Hamburger SPD, stärken!" Denn man kann in so einem schwierigen Umgang miteinander nur von den Wählern mit der notwendigen Autorität ausgestattet werden, die man braucht. Das trat nicht ein und deswegen war das das Ende. Reuß: Man könnte noch sehr vieles besprechen, aber unsere Zeit ist leider schon zu Ende. Ich darf mich bei Ihnen, Herr Dr. Voscherau, ganz herzlich für Ihr Kommen und das jedenfalls für mich sehr angenehme Gespräch bedanken. Ich würde gerne, wenn Sie erlauben, mit einem Zitat über Sie enden. Es stammt aus der Tageszeitung "Die Welt" und lautet: "Henning Voscherau, ein Mixtum compositum aus komödiantischen Neigungen und juristischer Geistesdisziplin, aus Sachkompetenz bis ins Detail und der sensorischen Fähigkeit zum Erspüren von Stimmungen, wird als ein bedeutender Bürgermeister in die Stadtgeschichte Hamburgs eingehen. Er war der erste und bedauerlich lange einer der ganz wenigen prominenten Sozialdemokraten, die ehrliche Freude über Deutschlands Einheit nicht nur empfunden, sondern auch geäußert haben." Noch einmal ganz herzlichen Dank, Herr Dr. Voscherau. Verehrte Zuschauer, das war unser alpha- forum, heute mit Dr. Henning Voscherau, dem ehemals Ersten Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg. Herzlichen Dank für Ihr Interesse und fürs Zuschauen, auf Wiedersehen.

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