MANFRED WITT / VISUM WITT MANFRED

Werner Marnette, 63, war von 1994 bis 2007 Vorstands- Juli 2008 wurde er Minister für Wissenschaft, Wirtschaft und Verkehr in vorsitzender der Norddeutschen Affinerie AG, die unter seiner Führung zum der von (CDU) geführten Landesregierung von größten Kupferproduzenten Europas aufstieg. Von 1998 bis 2002 saß Schleswig-Holstein. Am 29. März trat er, aus Protest gegen den Kurs der er im Präsidium des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI). Im Regierung zur Rettung der HSH Nordbank, von diesem Amt zurück. „Das ist einSPIEGEL-GESPRÄCH Wahnsystem“

Der zurückgetretene schleswig-holsteinische Wirtschaftsminister Werner Marnette (CDU) über die Gründe seines Abgangs, die Grabenkämpfe im Kieler Kabinett und den leicht- fertigen Umgang der Politik mit den Milliardenrisiken der teilweise landeseigenen HSH Nordbank.

SPIEGEL: Herr Marnette, Sie haben mehr naten anders erlebt. Ich hatte es mit Poli- ner Wiegard hatte ich den Eindruck, dass als ein Jahrzehnt lang ein großes Unter- tikern zu tun, die sich scheuten, Zahlen die gar nicht richtig an die Zahlen ran- nehmen geführt. Würden Sie einem Ihrer zur Kenntnis zu nehmen und sich damit wollten. Bloß nicht festlegen, nicht an- ehemaligen Kabinettskollegen die Leitung auseinanderzusetzen. Frei nach dem Mot- greifbar machen war deren Devise. eines solchen Unternehmens anvertrauen? to: Wer sich gründlich mit Zahlen be- SPIEGEL: Aber Carstensen und Wiegard ha- Marnette: Nein. schäftigt, wird zum Mitwisser und kann als ben sich doch – wie ihre Hamburger Kol- SPIEGEL: Warum nicht? solcher haftbar gemacht werden. legen Ole von Beust und Michael Freytag Marnette: Weil die Führung eines Unter- SPIEGEL: Wollen Sie damit sagen, dass Ihren – festgelegt und eine Eigenkapitalspritze nehmens ganz andere Anforderungen Kabinettskollegen im Zusammenhang mit von drei Milliarden Euro plus weitere zehn stellt. Da gibt es nachvollziehbare Fakten, den Milliardenverlusten der HSH Nord- Milliarden als Bürgschaft beschlossen. an denen Sie gemessen werden. Da haben bank Zahlen egal waren? Marnette: Aber ohne wirklich aussagekräf- Sie Ihre Quartalsergebnisse, Ihre Jahres- Marnette: Ute Erdsiek-Rave, die Bildungs- tige Zahlen der Bank zu kennen. Etwa eine ergebnisse. Da gibt es Zahlen, an denen Sie ministerin und stellvertretende Minister- Bilanz und eine Gewinn- und Verlustrech- nicht vorbeikommen. präsidentin, und Uwe Döring, der Justiz- nung des Geschäftsjahres 2008. Ich habe SPIEGEL: Die gibt es in der Politik auch. minister, haben immer wieder kritisch Vermerke geschrieben, Fragenkataloge Marnette: Schon möglich. Aber ich habe nachgehakt. Auch die Abgeordneten des ausgearbeitet, um an solche Zahlen zu das in den vergangenen Wochen und Mo- Landtags haben viel Gespür für die Trag- kommen. All diese Papiere habe ich an die weite der anstehenden Entscheidungen ge- Staatskanzlei und das Finanzministerium Das Gespräch führten die Redakteure Beat Balzli, Kon- zeigt. Doch bei Ministerpräsident Peter geschickt und bin ins Leere gelaufen. Da ist stantin von Hammerstein und Gunther Latsch. Harry Carstensen und Finanzminister Rai- nie eine Antwort gekommen, noch nicht

48 15/2009 Deutschland einmal die Standardausrede, dass meine Bein geschworen, das sei alles werthaltig. Forderungen politisch nicht durchsetzbar 1,2 Sein Nachfolger Dirk Jens Nonnenmacher seien. Ich kenne kein Unternehmen, in hat in seinem Konzept behauptet, dass das dem so gearbeitet wird. Zeug um die 18 Milliarden Euro wert sei. SPIEGEL: Wollen Sie damit sagen, dass in SPIEGEL: Warum sind Sie dann, trotz all der der Politik nur nach der Durchsetzbarkeit 39,1% 40,9% bösen Ahnungen, im Juli 2008 Wirt- und nicht nach sachlichen Notwendigkei- schaftsminister des Landes Schleswig-Hol- ten gefragt wird? LAND STADT stein geworden? SCHLESWIG- Marnette: Das habe ich in den vergangenen HOLSTEIN Marnette: Dass es so ein Desaster werden Monaten so erlebt. Eigentümer würde, habe ich nicht für möglich gehalten. SPIEGEL: Sachlich gebotene Entscheidun- Das Ganze war ja noch vor der Lehman- gen wurden nicht gefällt, weil sie als nicht Brothers-Pleite im September, die der Kri- vermittelbar angesehen wurden? 12,7% 7,3 % se erst so richtig Schub gegeben hat. Und: Marnette: Ja, der Fall HSH Nordbank be- INVESTOREN Ich war ja der Wirtschafts- und nicht der UM J.C. FLOWERS SPARKASSEN legt das. Hier geht es doch nicht um Ent- Finanzminister. wicklungen der letzten Wochen und Mo- SPIEGEL: Wann ist Ihnen klargeworden, nate. Schon Anfang 2008 war für jeden in- dass die HSH Nordbank auch Ihr politi- in Mrd. € teressierten Laien erkennbar, dass da etwas Operatives Ergebnis sches Dasein beherrschen würde? aus dem Ruder lief. Von 2006 auf 2007 war Marnette: Das ist mir erst klargeworden, das Jahresergebnis fast atomisiert worden; 0,15 2008 als HSH-Chef Berger das erste Mal bei uns ein Gewinn von 1,2 Milliarden Euro war im Kabinett war. binnen eines Jahres auf rund 150 Millionen 2006 2007 SPIEGEL: Wann war das? geschrumpft, weil man bereits damals Marnette: Gleich nach der Lehman-Pleite, Schrottpapiere aus dem Kreditersatzge- als sich die Nachrichten überstürzten. Das schäft in einer Größenordnung von 1,3 Mil- Löcher über Löcher war eine unglaubliche Vorstellung. Da wer- liarden Euro abschreiben musste. den die Weltfinanzmärkte von einem Be- SPIEGEL: Sie waren damals Vorsitzender des Krisenchronik der HSH Nordbank ben bislang unbekannter Stärke erschüt- Beirats der Bank, warum haben Sie nicht APRIL 2008 tert, und Berger erzählt dem Kabinett, dass Alarm geschlagen? HSH-Chef Hans Berger beziffert die bei ihnen, von kleineren Problemen abge- Marnette: Habe ich doch. Ich war schon im Abschreibungen aufgrund der Finanz- sehen, alles in Ordnung sei. Der hatte noch April, es war der 15., bei Carstensen und krise für das Jahr 2007 auf 1,3 Mrd. €. nicht einmal einen Zettel dabei. habe ihm gesagt, dass ich dringend davon Kurz zuvor hatte er betont, dass damit SPIEGEL: Keine Zahlen, keine Präsentation? abrate, die für Mai 2008 geplante Auf- sämtliche Risiken aus der US-Subpri- Marnette: Nichts, null. Noch nicht einmal stockung des Eigenkapitals um zwei Mil- me-Krise vollständig bereinigt seien. eine grobe Übersicht, wo die Bank steht. liarden Euro mitzumachen, weil meiner An- MAI 2008 Gar nichts. Das war der Hammer. sicht nach nicht klar war, welche weiteren Die Stadt Hamburg bewilligt einen Teil SPIEGEL: Gab es Proteste? Risiken in der Bank noch schlummerten. der geplanten Kapitalspritze. Finanz- Marnette: Ich habe natürlich gefragt, nach SPIEGEL: Was hat der Ministerpräsident Ih- senator Michael Freytag: „Um eine den Kreditersatzgeschäften und der Ge- nen geantwortet? solche Bank werden wir beneidet.“ samtertragslage der Bank, aber ich hatte Marnette: Er wolle sich darum kümmern. JULI 2008 damals schon den Eindruck, Finanzminis- SPIEGEL: Hat er sich gekümmert? Die Eigentümer stimmen einer ter Wiegard ist mehr Vorstand als Berger. Marnette: Ich habe in dieser Sache nichts Kapitalerhöhung in einem Umfang Der hat das alles abgewürgt und mir zu mehr von ihm gehört, und die Kapitaler- von fast 2 Mrd. € zu. verstehen gegeben: Da hast du dich nicht höhung wurde durchgeführt. SEPTEMBER 2008 einzumischen. SPIEGEL: Hätten Sie als Vorsitzender des Die Bank kündigt die Streichung von SPIEGEL: Hat Carstensen das auch signali- Beirats Ihre Zweifel nicht lauter und nicht 750 ihrer weltweit 4300 Stellen an. siert? nur unter vier Augen äußern müssen? NOVEMBER 2008 Marnette: Man konnte das spüren, aber es Marnette: Von heute aus gesehen schon. Die HSH Nordbank begibt sich unter war damals noch nicht so verhärtet wie Aber das war damals mehr eine Ahnung den Schirm des Soffin und erhält später. wegen der gigantischen Abschreibungen 30 Mrd. € Liquiditätsgarantien. SPIEGEL: Hat Carstensen in dieser Sitzung in der Bilanz 2007. Konkrete Zahlen für HSH-Chef Berger tritt ab, Dirk Jens Fragen gestellt, oder haben Sie das Thema das laufende Geschäftsjahr hatte ich zu die- Nonnenmacher wird sein Nachfolger. anschließend diskutiert? sem Zeitpunkt nicht. Und im Gegensatz FEBRUAR 2009 Marnette: Am 26. September war ich mit zum Aufsichtsrat haben Sie als Beirat ja Die HSH gibt für 2008 vorläufig einen dem Ministerpräsidenten zu Besuch auf keine Kontrollfunktion. Das ist ein Hono- Verlust im operativen Geschäft von der Fregatte „Schleswig-Holstein“ der ratiorenzirkel aus Politik und Wirtschaft, 2,8 Mrd. € bekannt. Darin enthalten Deutschen Marine. Da habe ich ihn abends der die Bank beraten soll, mehr nicht. sind Abschreibungen in Höhe von zur Seite genommen und gesagt, Herr SPIEGEL: Dennoch hätte Ihr Wort Gewicht 1,6 Mrd. €. Weitere 350 Mitarbeiter Carstensen, da braut sich was zusammen. gehabt. Schließlich waren Sie mehr als ein sollen entlassen werden. Ich höre aus der Hamburger Geschäftswelt Jahrzehnt der Vorstandsvorsitzende des MÄRZ 2009 – da war und bin ich gut verdrahtet –, dass größten europäischen Kupferproduzenten. Schleswig-Holsteins Wirtschafts- die Sache mit der Nordbank weitaus dra- So jemand wird nicht ignoriert. minister Marnette tritt aus Protest matischer ist, als sie uns dargestellt wird. Marnette: Als ich dem damaligen HSH-Vor- gegen das Krisenmanagement der Ich glaube, wir werden belogen. standsvorsitzenden Hans Berger nach ei- Politik zurück. SPIEGEL: Wie hat er reagiert? ner Beiratssitzung im Juni 2008 vorhielt, APRIL 2009 Marnette: Er hat gesagt, wir setzen uns dass meiner Ansicht nach mindestens 50 Die Landtage in Schleswig-Holstein nächste Woche mit Rainer Wiegard zu- Prozent der Kreditersatzpapiere, die mit und Hamburg stimmen einer Kapital- (vorläufig) sammen. Das war’s. Danach habe ich nichts rund 30 Milliarden Euro in der Bilanz 2007 erhöhung von 3 Mrd. € und Garantien –2,8 mehr gehört. Es ist nie was draus geworden. standen, faul seien, hat er mir Stein und von 10 Mrd. € zu. SPIEGEL: Und Sie haben nicht nachgehakt?

der spiegel 15/2009 49 Deutschland

Marnette: Nicht wegen dieses sind. Das Geld war ja auch für Gesprächs, aber sonst ständig. zukünftige Haushalte fest ein- Ich war da schon hartnäckig. geplant. Womöglich spielte Am 21. November hatte der auch ein gewisses Schuldge- Sonderfonds Finanzmarktsta- fühl eine Rolle, weil es die Ak- bilisierung (Soffin) der HSH tionäre waren, die die Bank Nordbank Bürgschaften in dazu getrieben haben, auf Höhe von 30 Milliarden Euro einem sich immer schneller zugesagt. Alle taten so, als sei- drehenden Karussell immer en die Probleme der Bank da- größere Risiken einzugehen. mit gelöst. Dank meiner Kon- Die wollten Rendite sehen – takte nach Hamburg wusste und die beiden Nordländer ich aber, dass wir erst die Spit- sind nun mal die größten An- ze des Eisbergs kannten und teilseigner. Das können die der neue Vorstandsvorsitzen- Herren Wiegard, Freytag, de Nonnenmacher uns genau- Carstensen und Beust doch so zum Narren hielt wie sein nicht abstreiten. Nicht um- Vorgänger. Das habe ich Cars- sonst schreibt Herr Nonnen-

tensen und Wiegard deutlich MICHAEL AUGUST macher in sein Konzept zur gesagt. Regierungsmitglieder Wiegard, Carstensen: „Bloß nicht festlegen“ Neuausrichtung der Bank, SPIEGEL: Wann und wie? dass er ab 2011 wieder Divi- Marnette: Am 22. November denden ausschütten will. habe ich per SMS und Fax an SPIEGEL: Sie meinen, es waren beide Folgendes geschrieben: nicht die von der EU verlangte „Ich bin nach wie vor bestürzt Abschaffung der Sonderstel- über unsere gestrige Sitzung lung der Landesbanken und und die fortwährende Nicht- der Druck des Marktes, die die Informationspolitik des HSH- HSH Nordbank Richtung Wall Vorstandes gegenüber dem Street und in Steueroasen wie Aufsichtsrat und der Landes- die Cayman-Inseln getrieben regierung. Den dramatischen haben, sondern die Politiker Liquiditätsverlust, der die der Bundesländer Hamburg Bank bald handlungsunfähig und Schleswig-Holstein? macht, kann ich ohne Bilanz- Marnette: Ja, selbstverständ- und Gewinn- und Verlustda- lich. Es war doch nicht das Ma- ten nicht nachvollziehen. Der nagement allein, das neue Teil- Vorstand muss tagesgenau die haber wie den Finanzinvestor Ausfallrisiken kennen, sonst Christopher Flowers an Bord wären das im Geschäftsbericht geholt hat. Da waren doch die 2007 beschriebene Risiko- Vertreter der Hauptanteilseig- management und das des ner mit von der Partie. Wenn Aufsichtsrat-Risikoausschusses Sie so einen mit im Boot ha- nicht existent. Ich bleibe bei ben, dann haben Sie – ich will meiner Schätzung des Verlust- das mal mit einem Bild aus risikos von vor 14 Tagen – da Marnette-SMS (Ausdruck): „Es droht der Verlust des Eigenkapitals“ dem Rudersport verdeutlichen hatte ich das Carstensen schon – natürlich einen anderen Ach- einmal gesagt – in einer Höhe von bis zu Marnette: So war es, leider. Später hat ter am Start als den Ratzeburger Altherren- zehn Milliarden Euro, die bislang noch Carstensen mich im Beisein anderer ge- Achter. Die Tragödie dieser Entwicklung nicht dementiert worden ist. Es droht da- deckelt, „da kriegt man sogar nachts SMS besteht darin, dass man dem gemächlichen her der völlige Verlust des Eigenkapitals. und E-Mails von dem Kerl“, und mich Landesbankgeschäft, wo aus strukturpoli- Ich bitte dringend um ein persönliches Ge- barsch gefragt, „muss das denn sein, dass tischen Gründen auch mal nicht so er- spräch.“ Sie mir immer was schreiben“. Aber ich tragsstarke Deals gemacht wurden, das ex- SPIEGEL: Wie haben die beiden reagiert? habe weiter geschrieben. trem renditeorientierte Denken überge- Marnette: Gar nicht. Ich habe keine Ant- SPIEGEL: Was und wann? stülpt hat. Das musste schiefgehen. wort bekommen. Sehen Sie, hier ist ein Marnette: Etwa um die Jahreswende. Da SPIEGEL: Und jetzt haben dieselben Politi- Ausdruck der SMS. Unten rechts habe ich habe ich Carstensen vorgeschlagen, eine in- ker ein Rettungskonzept beschlossen … vermerkt: Keine Reaktion. terministerielle Arbeitsgruppe zur Bewälti- Marnette: … das das Papier nicht wert ist, SPIEGEL: War damals schon bekannt, dass gung der HSH-Krise zu bilden, angereichert auf dem es geschrieben ist; eine absolute der Chef der Bundesanstalt für Finanz- mit externen Fachleuten, Wissenschaftlern Katastrophe. Ich erinnere mich noch genau dienstleistungsaufsicht (BaFin), Jochen Sa- und Bankern beispielsweise. Das hat er am an jenen Freitag, den 13. Februar, als Non- nio, Hamburgs Ersten Bürgermeister Ole 28. Dezember kategorisch abgelehnt. nenmacher beide Kabinette für 15 Uhr in von Beust angerufen und ihm erklärt hat- SPIEGEL: Haben Sie eine Erklärung dafür? die HSH-Nordbank-Zentrale einbestellte, te, dass er die Bank dichtmachen würde, Marnette: Es mag verrückt klingen, aber um sein Machwerk vorzustellen. Um 13.15 wenn nicht schleunigst Liquidität nachge- ich glaube, Carstensen und Wiegard hoff- Uhr wurde mir das Papier auf den letzten schossen werde? ten damals noch auf ein Wunder. Die woll- Drücker ins Auto gereicht. Als ich auf der Marnette: Nicht öffentlich, aber intern ten vielleicht einfach nicht wahrhaben, Fahrt nach Hamburg darin blätterte, wäre schon. Die Situation war dramatisch. dass die schönen Zeiten, in denen die Bank ich am liebsten gleich wieder umgekehrt. SPIEGEL: Und dennoch haben Sie keine jedes Jahr 50 bis 70 Millionen Euro in den Da standen nur wolkige Worte drin und Antwort bekommen? Haushalt gebuttert hat, endgültig vorbei nicht eine einzige Zahl.

50 der spiegel 15/2009 SPIEGEL: Wann haben Sie denn durfte ich nicht mitbringen. erstmals Zahlen bekommen? Auch Kopien machen war Marnette: Am gleichen Nach- verboten. Und so habe ich mittag in Hamburg, nachdem da von sieben Uhr morgens Nonnenmacher schon eine halbe bis zwölf Uhr mittags ganz Stunde lang sein Konzept erläu- allein gesessen und hand- tert hatte. Da kam er dann zur schriftlich notiert, was mir Seite elf der Vorlage und dem wichtig erschien. Sogar Gra- entscheidenden Bild. „Vorläufige fiken habe ich da abgemalt. Gewinn- und Verlustrechnung Wollen Sie mal sehen? 2008 in Milliarden Euro. Opera- SPIEGEL: Gern. tives Ergebnis: Minus 2,8 Mil- Marnette: Herr Nonnenma- liarden Euro.“ Das muss man cher geht in seinem Szena- sich mal vorstellen. Und Non- rio davon aus, dass die Ei- nenmacher behandelte dieses genkapitalquote die von der Riesendefizit als eine Art Rand- EU und dem Soffin gefor- notiz seiner Präsentation. Das derten sieben Prozent der ist doch eine Unverschämtheit. Bilanzsumme in den nächs-

Ich habe dann nachher erfahren, / DPA BRANDT MARCUS ten Jahren nicht unter- dass diese Präsentation schon Finanzsenator Freytag in Hamburg: „Ganz brutal getaktet“ schreitet. Und jetzt sehen Wochen vorher fertig war. Sie mal, was die Berater für SPIEGEL: Und warum hat man den sogenannten Stressfall dann so lange gewartet? annehmen: eine Kernkapi- Marnette: Um Druck auszuüben talquote von 4,4 Prozent in und zum Nachdenken 2010 und von 4,9 in 2012. zu reduzieren. Am 13. Februar SPIEGEL: Wie ist der Stress- die Präsentation, am 24. Febru- fall definiert? ar die Kabinettsentscheidung. Marnette: Nonnenmacher Das ist ganz brutal getaktet wor- legt seinen Zahlen unter an- den. derem einen nur mäßigen SPIEGEL: Von wem? Einbruch der Konjunktur Marnette: Von Wiegard und zugrunde. Alles, was deut- Freytag, ganz eiskalt. lich schlechter ist, gilt als SPIEGEL: Wenn Sie recht haben, Stressfall. wäre das ja eine Art Milliarden- SPIEGEL: Die OECD geht betrug, den die beiden da durch- mittlerweile davon aus, dass gezogen haben. die Wirtschaftsleistung in Marnette: Es war zumindest eine Deutschland um 5,3 Prozent Riesenvernebelungsaktion. schrumpft. Heißt das, der SPIEGEL: Dennoch haben Sie die- Stressfall wird mit Sicher- ses Konzept im Kabinett mitge- heit eintreten? zeichnet. Am 19. März haben Sie Marnette: Na klar. Die Drei- im Finanzausschuss sogar gesagt: Milliarden-Spritze ist Ende

„Ich stehe zu der Entscheidung PRESS LANGBEHN / ACTION dieses Jahres schon verfrüh- der Landesregierung, die HSH HSH-Nordbank-Chef Nonnenmacher: „Edukation“ für den Minister stückt. „Im Stressszenario Nordbank durch die Gewährung ab 2010 weitere Unterstüt- einer Kapitalspritze von drei Milliarden Marnette: Weil ich am Vormittag nach wo- zung durch die Eigentümer und/oder Euro und die Gewährung einer Garantie- chenlangem Hinhalten endlich Gelegen- Soffin erforderlich.“ Das stand da auf der summe von zehn Milliarden Euro zu un- heit bekommen hatte, die als Projektstudie ersten Seite. Da kommen dann die meiner terstützen. Ich bekenne mich auch dazu.“ zusammengefassten Unterlagen der HSH Ansicht nach völlig unterbewerteten Risi- Marnette: Da habe ich gelitten. Das ist mir Nordbank und der von den beiden Lan- ken im Bereich Schiffsfinanzierung noch noch nie passiert. Ich bin ein harter Kno- desregierungen beauftragten Beratungs- obendrauf. chen, aber ich bin am Abend zuvor von unternehmen einzusehen. Danach war mir SPIEGEL: Wieso unterbewertet? Carstensen so unter Druck gesetzt wor- klar: Es gibt nur noch eine Lösung – der Marnette: Die HSH Nordbank hat gut 33 den, wie ich das noch nie zuvor erlebt Soffin muss rein. Aber die Lektüre fand Milliarden Euro Volumen bei der Schiffs- habe. Er hat gesagt, wenn Sie sich morgen unter Umständen statt, die für einen Minis- finanzierung. Wollen Sie mir erzählen, dass nicht klar hinter die Position der Landes- ter unangemessen waren. das Ausfallrisiko da unter einem Prozent regierung stellen, kann ich nicht länger mit SPIEGEL: Mussten Sie den Ministerpräsi- liegt? Sehen Sie mal, das musste ich mir al- Ihnen zusammenarbeiten. Und lassen Sie denten auf Knien bitten? les mühselig per Hand notieren: weniger sich nicht vom Geschwätz aus dem Kreis Marnette: Nein, aber ich meine es ernst. als ein Prozent dieser Summe – das ist die der CDU-Fraktion irritieren. Das sind Leu- Ich bin kein Ehrheini, glauben Sie mir, Risikovorsorge der Bank für die Jahre bis te, die ihre Hausaufgaben in ihrer Schlos- aber das war schon hammerhart. Ich muss- 2012. Und das, obwohl aus den Unterla- serei oder ihrem Elektrogeschäft nicht hin- te mir die Unterlagen im Büro einer Mit- gen, die ich in der knappen Zeit einsehen kriegen, die aber hier große Finanzwelt arbeiterin des Finanzministeriums anse- konnte, hervorgeht, dass 64 Prozent des spielen wollen. Das hat er fast wörtlich so hen, die gerade auf Dienstreise war. Meh- finanzierten Schiffsportfolios von den Ra- gesagt. An dem Abend habe ich gedacht, rere hundert Seiten Kopien in schlechter ting-Agenturen schlechter als A eingestuft schmeißt du jetzt hin? Ich war so weit. Qualität. Ein sachkundiger Berater war wurden. Das sind alles Wackelkandidaten. SPIEGEL: Warum haben Sie es dann doch von Wiegard abgelehnt worden, und eige- SPIEGEL: Was heißt das für die Zehn-Mil- nicht gemacht? ne Leute aus dem Wirtschaftsministerium liarden-Bürgschaft?

der spiegel 15/2009 51 Marnette: Herr Nonnenmacher hat mir nach der Akteneinsicht, noch am gleichen Tage, in einer – er nennt das – „Eduka- tion“ dargelegt, dass die Puffer, die von der Bank vorgesehen sind, völlig ausrei- chen. SPIEGEL: Hat er das wirklich Edukation, Er- ziehung, genannt? Marnette: Ja, so nennt er das. Und es war bereits meine zweite. Die erste habe ich er- halten, als er mir wie einem Schuljungen mathematische Theorien erörterte, die be- weisen sollten, dass die Kreditersatzpapie- re, die er nach wie vor in der Bilanz stehen hat, werthaltig sind. SPIEGEL: Sind die zehn Milliarden Euro nun gefährdet oder nicht? Marnette: Ich bin ein positiv denkender Mensch. Sagen wir mal, die werden kräftig angeknabbert – und um noch einmal auf Ihre Frage zurückzukommen, warum ich nicht schon am 18. März zurückgetreten bin: Mir war klar, dass der Soffin unbedingt einstei- gen muss, und das ging, so wie verhandelt worden war, nicht ohne das 13-Milliarden- Paket. Aber so weit hätte es nicht kommen müssen, wenn die beiden Landesregierungen rational an die Sache herangegangen wären. ERZIEHUNG SPIEGEL: Was meinen Sie mit rational? Marnette: Es ist nie ernsthaft versucht wor- Kleine Einsteins den, die Bank frühzeitig unter die Kon- trolle des Soffin zu stellen. Der SPD-Frak- tionsvorsitzende Ralf Stegner hat in einer Psychologen vermelden einen Ansturm von Eltern, die ihre Kinder Sitzung des Kabinetts am 21. Februar, an der neben den Fraktionschefs auch die Fi- für hochbegabt halten. Selbst schlechtes Benehmen nanzexperten der im Parlament vertrete- wird dabei gern in überdurchschnittliche Intelligenz umgedeutet. nen Parteien teilgenommen haben, etwas gesagt, an dem ich mich seitdem aufgerie- ie „Blaue Lehmkuhle“ in Eutin ist wuchs berichtet, der laut Beate Zeller ben habe. Ich habe das damals wörtlich eines dieser typisch deutschen Neu- „endlich, endlich“ richtig gefördert und ge- mitgeschrieben. Er habe mit dem Bundes- Dbaugebiete voller rotgeklinkerter fordert werden müsse. Die Mutter ist übri- finanzminister gesprochen, und Peer Stein- Häuser, geräumiger Familienvans und ge- gens bei der Deutschen Gesellschaft für brück habe ihm gesagt, wenn die Länder pflegter Gärten mit Sandkasten und Plas- das hochbegabte Kind (DGhK) aktiv. das nicht können und wenn die Länder das tikrutsche. Nichts deutet darauf hin, dass Nach allem, was Forscher wissen, hat wollen, dann werden wir auch helfen. die Menschen hier deutlich klüger sind als sich indes kein Evolutionssprung ereignet SPIEGEL: Aber die Verantwortlichen in Kiel anderswo. in der Blauen Lehmkuhle und anderen So- und Hamburg wollten nicht? Dann aber trifft man auf die vierfache ziotopen der Republik: Der Anteil der Marnette: Wiegard hat immer gesagt, wenn Mutter Beate Zeller, und die kann einiges Hochbegabten mit einem IQ von über 130 der Bund einsteigt, werden unsere Anteile erzählen über all die kleinen Nachbarn, liegt konstant bei etwa zwei Prozent. verwässert. Dann haben wir keinen Einfluss die erfolgreich an Mathe-Olympiaden teil- Geändert hat sich nur, dass das Thema mehr, und uns gehen die Dividenden flöten. nehmen, Lesewettbewerbe gewinnen oder „Hochbegabung“ nicht mehr anstößig ist, SPIEGEL: Bis zum Untergang die Konsoli- in der Schule so unterfordert sind, dass sie sondern in Mode gekommen ist. dierung verhindern, damit man die Divi- eigentlich eine Klasse überspringen müss- Pädagogen und Psychologen in ganz dende bekommt? ten. „Etwa zwanzig Kinder“, schätzt die Deutschland berichten, dass immer mehr Marnette: Ganz genau. Das ist ein Wahn- 42-Jährige, gelten hier als hochbegabt, dar- Eltern mit mikroskopischem Blick nach In- system. unter auch ihr eigener Nachwuchs. Drei dizien fahnden, die die Geistesgröße ihrer SPIEGEL: War das der tiefere Grund Ihres ihrer Sprösslinge sei bei Tests ein Intelli- Kinder belegen. Verhaltensauffälligkeiten Rücktritts? genzquotient (IQ) von über 130 attestiert werden dabei regelmäßig in Unterforde- Marnette: Ja und nein. Der Tropfen, der worden, dem vierten zumindest eine „ma- rung, schlechte Noten in Protestverhalten, das Fass endgültig zum Überlaufen brach- thematische Teilleistungsstärke“, sagt sie. fehlende Freunde in den Neid der Mit- te, war Carstensens Rede anlässlich der Nun könnte man annehmen, dass es das schüler umgedeutet. ersten Lesung des HSH-Rettungsgesetzes elterliche Schicksal mit Beate Zeller ein- So kommt es, dass Angebote für mut- am 25. März. Da hat er allen Ernstes ge- fach nur besonders gut gemeint hat. Doch maßlich Hochbegabte Hochkonjunktur ha- sagt, die von verschiedenen Seiten vorge- zieht man weiter, trifft Eltern, Kinderärzte, ben. Schulpsychologen, die in Köln, Mün- tragene Kritik an diesem Konzept sei wi- Jugendpsychologen und Grundschullehrer, chen und anderen Großstädten Intelligenz dersprüchlich und fadenscheinig. Das hat bekommt man den Eindruck, dass hinter messen, vermelden Wartezeiten von mehr mich getroffen. Da hat etwas zu rumoren deutschem Rotklinker in jedem dritten als drei Monaten und müssen doppelt so begonnen, das nicht mehr aufgehört hat. Kinderzimmer ein kleiner Einstein wohnt. viele Anfragen zum Thema bearbeiten wie SPIEGEL: Herr Marnette, wir danken Ihnen Überall wird von hochbegabtem oder zu- vor fünf Jahren; Praxen, die gegen einen für dieses Gespräch. mindest erheblich unterschätztem Nach- Kostenbeitrag von 250 Euro und mehr

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