StandpunktE

Rechtsstaat auf sächsisch Schnittstellen: Dialog, Synergien und Macht Finanzindustrie – Begriff, volkswi­ rtschaftliche Bedeutung, Kritik Braunkohlerepublik Brandenburg?DIE LINKE, Israel und der Antisemitismus: Thema beendet? Sanktionen bei Hartz IV: unbedingt verfassungswidrig! Die gekaufte Schlammschlacht Griechenlandd –– vor der Wahl ist nach der Wahl Ein umstrittener Dialog und seine Folgen Zurück zuzurr WWähleählerrschaftschaft Betriebssysteme und die Krise der Demokratie: Verweigerte Wiedergutmachung g Stiftung

r Bedrohung Salafismus? Wahn und Wirklichkeit mbu e Hier steuert der Staatsschutz

a Lux Vier Tage im August s

Ro Auf dem Weg zum Einwanderungsland IMPRESSUM STANDPUNKTE 2012 Herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Februar 2013 V. i. S. d. P.: Henning Heine Franz-Mehring-Platz 1 · 10243 Berlin · www.rosalux.de Satz/Herstellung: MediaService GmbH Druck und Kommunikation Gedruckt auf Circleoffset Premium White, 100 % Recycling Rosa-Luxemburg-Stiftung Standpunkte 2012 Mit den Beiträgen in ihrer Reihe «Standpunkte» interveniert die Rosa-Luxemburg-Stiftung in gesellschaftliche Debatten über Kapitalismus, Demokratie sowie sozialökologischen Um- bau und bezieht Stellung in Auseinandersetzungen auf den Feldern der Geschichts- und Kulturpolitik. Emanzipatorische Positionen sollen dabei prägnant zum Ausdruck kommen. «Standpunkte»-AutorInnen kritisierten im vergangenen Jahr etwa den Abbau von BürgerIn- nenrechten, erneute staatliche Repressionsversuche des linken politischen Spektrums und die Sanktionspolitik bei Hartz IV. Andere Verfasser riefen vehement die rassistischen Pogrome von Rostock-Lichtenhagen des Jahres 1992 und ihre skandalösen politischen Begleitumstän- de in Erinnerung, befassten sich mit den Auswirkungen des Antikommunismus' der frühen Bundesrepublik auf den heutigen Umgang deutscher Behörden mit ihrer nationalsozialisti- schen Vergangenheit oder rekapitulierten die mehr als ein halbes Jahrhundert verschleppte Wiedergutmachung in Deutschland für den Massenmord an europäischen Sinti und Roma. Die «Standpunkte» geben aber ebenfalls Raum für Diskussionen innerhalb der gesellschaftli- chen Linken. Reflektiert wurden etwa das heutige Verhältnis von Linken in der Bundesrepublik zum Staat Israel, die Energiepolitik der rot-roten Landesregierung in Brandenburg sowie der einstige Umgang der DDR mit den so genannten VertragsarbeiterInnen. Der vorliegende Sammelband bietet erstmals einen Überblick über sämtliche «Standpunkte» eines Jahrgangs. Die Beiträge sind einschließlich der Angaben zu den Autorinnen und Auto- ren in der Fassung ihrer Erstveröffentlichung dokumentiert. Wir wünschen den Leserinnen und Lesern eine aufschlussreiche Lektüre. INHALTSVERZEICHNIS

Mit den Beiträgen in ihrer Reihe «Standpunkte» interveniert die Rosa-Luxemburg-Stiftung STANDPUNKTE 01/2012 STANDPUNKTE 09/2012 in gesellschaftliche Debatten über Kapitalismus, Demokratie sowie sozialökologischen Um- 5 Vorstand des Republikanischen 47 Horst Kahrs, Harald Pätzolt bau und bezieht Stellung in Auseinandersetzungen auf den Feldern der Geschichts- und Anwältinnen- und Anwältevereins Zurück zur Wählerschaft Kulturpolitik. Emanzipatorische Positionen sollen dabei prägnant zum Ausdruck kommen. Rechtsstaat auf sächsisch «Standpunkte»-AutorInnen kritisierten im vergangenen Jahr etwa den Abbau von BürgerIn- STANDPUNKTE 10/2012 nenrechten, erneute staatliche Repressionsversuche des linken politischen Spektrums und STANDPUNKTE 02/2012 53 Volker Eick die Sanktionspolitik bei Hartz IV. Andere Verfasser riefen vehement die rassistischen Pogrome 8 Christoph Nitz Hier steuert der Staatsschutz von Rostock-Lichtenhagen des Jahres 1992 und ihre skandalösen politischen Begleitumstän- Schnittstellen: Dialog, Synergien und Macht de in Erinnerung, befassten sich mit den Auswirkungen des Antikommunismus' der frühen STANDPUNKTE 11/2012 Bundesrepublik auf den heutigen Umgang deutscher Behörden mit ihrer nationalsozialisti- STANDPUNKTE 03/2012 57 Rolf Reißig schen Vergangenheit oder rekapitulierten die mehr als ein halbes Jahrhundert verschleppte 12 Ulrich Busch Ein umstrittener Dialog und seine Folgen Wiedergutmachung in Deutschland für den Massenmord an europäischen Sinti und Roma. Finanzindustrie – Begriff, Die «Standpunkte» geben aber ebenfalls Raum für Diskussionen innerhalb der gesellschaftli- volks­wirtschaftliche Bedeutung, Kritik STANDPUNKTE 12/2012 chen Linken. Reflektiert wurden etwa das heutige Verhältnis von Linken in der Bundesrepublik 61 Markus Mohr zum Staat Israel, die Energiepolitik der rot-roten Landesregierung in Brandenburg sowie der STANDPUNKTE 04/2012 Vier Tage im August einstige Umgang der DDR mit den so genannten VertragsarbeiterInnen. 21 René Schuster Der vorliegende Sammelband bietet erstmals einen Überblick über sämtliche «Standpunkte» Braunkohlerepublik Brandenburg? STANDPUNKTE 13/2012 eines Jahrgangs. Die Beiträge sind einschließlich der Angaben zu den Autorinnen und Auto- 66 Helge Meves/Tobias Schulze ren in der Fassung ihrer Erstveröffentlichung dokumentiert. Wir wünschen den Leserinnen STANDPUNKTE 05/2012 Betriebssysteme und die Krise der Demokratie: und Lesern eine aufschlussreiche Lektüre. 25 Mario Keßler/Klaus Lederer Was lernen wir aus dem Aufstieg der Piraten? DIE LINKE, Israel und der Antisemitismus: Thema beendet? STANDPUNKTE 14/2012 71 Wolfgang Wippermann STANDPUNKTE 06/2012 Verweigerte Wiedergutmachung 33 Isabel Erdem und Wolfgang Nešković Sanktionen bei Hartz IV: STANDPUNKTE 15/2012 unbedingt verfassungswidrig! 77 Sebastian Friedrich/Hannah Schultes Bedrohung Salafismus? STANDPUNKTE 07/2012 36 Ethan Young STANDPUNKTE 16/2012 Die gekaufte Schlammschlacht 83 Jörg Roesler Auf dem Weg zum Einwanderungsland STANDPUNKTE 08/2012 41 Dominic Heilig und Torsten Haselbauer STANDPUNKTE 17/2012 Griechenland – vor der Wahl 88 ist nach der Wahl Wahn und Wirklichkeit

STANDPUNKTE 01/2012

Vorstand des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins Rechtsstaat auf sächsisch Einschätzungen zu den staatlichen Reaktionen auf die antifaschistischen Ak tivitäten zum 13. und 19. Februar 2011 gegen den (ehemals) gröSSten Neona ziaufmarsch Europas

Im Februar 2011 haben in Dresden vielfältige, von einem Dies sollte bezwecken, dass sich am 13. und 19. Febru- breiten antifaschistischen Bündnis getragene Aktivitäten ar 2011 in einem Gebiet mit rund 300.000 EinwohnerInnen stattgefunden. Dabei ist es am 19. Februar 2011 erneut ge- ausschließlich AnhängerInnen der extremen Rechten ver- lungen, den größten Neonaziaufmarsch in Europa zu verhin- sammeln können. Ein derart weiträumiges innerstädtisches dern. Was in der öffentlichen Debatte als großer Erfolg der Versammlungsverbot zur Durchsetzung eines Neonaziauf- Zivilgesellschaft gegen die extreme Rechte wahrgenommen marsches dürfte wohl bisher einmalig gewesen sein. wurde, ist den sächsischen Sicherheitsbehörden ein Dorn im Die Argumentation der Behörde, nur durch eine natürli- Auge. Das zivilgesellschaftliche Engagement ist zu selbstbe- che Barriere die gegnerischen Lager trennen und dadurch stimmt, zu innovativ und politisch erfolgreich. Statt wohlwol- Ausschreitungen und eventuelle Störungen des Neonazi- lender Unterstützung gehen die Sicherheitsbehörden mas- aufmarsches verhindern zu können, erscheint dabei als vor- siv gegen die antifaschistischen Aktivitäten vor. geschoben. Nicht nur die von der Stadt für den 13. Febru- Die präventiven und repressiven Maßnahmen haben 2011 ar 2011 mitinitiierte Menschenkette, die sowohl die Alt- als eine ungeahnte Qualität und ein neues Ausmaß erreicht. Die auch die Neustädter Seite umfasste, sondern auch die kirch- Summe der Beispiele macht nicht nur deutlich, mit welcher lichen Mahnwachen am 13. und 19. Februar 2011 waren Vehemenz staatliche Stellen in Sachsen gegen Antifaschis- von dem Versammlungsverbot ausdrücklich nicht betroffen. tInnen vorgehen. Sie zeigt auch in eindrucksvoller Weise, Eine solche Maßnahme auf der Altstädter Seite war für die wie flexibel der Rechtsstaat sein kann, wenn die Staatsräson Versammlungsbehörde politisch nicht durchsetzbar. Die Ab- es verlangt – nicht nur an einzelnen Punkten, sondern syste- sperrung der Brücken und damit eine rigorose Durchsetzung matisch. Das von einem obrigkeitsstaatlichen Geist geprägte des Trennungskonzeptes konnten also von vorneherein nicht sächsische Vorgehen darf nicht Schule machen. Hier liegt erfolgen. Auch intern begründete die Polizeidirektion Dres- ein wesentliches Feld kommender politischer Auseinander- den ein derart weiträumiges Versammlungsverbot nicht mit setzungen, nicht nur für die Bürgerrechtsbewegung. einer Abwehr von konkreten und unmittelbaren Gefahren, sondern lediglich mit der Notwendigkeit eines dadurch eröff- Versammlungsfreiheit nur für Neonazis neten polizeitaktischen Handlungsraums. Für den 13. und 19. Februar 2011 hatte die Dresdener Stadt- Die obrigkeitsstaatliche Art, Auflagen zu erlassen, hatte al- verwaltung in Absprache mit der Polizeidirektion Dresden ein so lediglich das Ziel, die Arbeit der Polizei zu erleichtern, den vollständiges Versammlungsverbot für zivilgesellschaftliche Neonaziaufmarsch möglichst störungsfrei ablaufen zu las- und antifaschistische Kräfte auf der Altstädter Seite der Elbe sen und zivilgesellschaftlichen und antifaschistischen Pro- erlassen, auf die der Neonaziaufmarsch von der Versamm- test in Hör- und Sichtweite zu unterbinden. Versuche, das lungsbehörde verlegt worden war. Das von der Polizeidirek- Grundrecht auf Versammlungsfreiheit der Gegendemonst- tion Dresden in Absprache mit der Versammlungsbehörde rantInnen zu gewährleisten, wurden von den Dresdner Be- schon am 14. Februar 2010 angewandte Trennungskonzept hörden nicht unternommen. sah vor, dass die «gegnerischen Lager» durch eine natürli- che Barriere in Form der Elbe voneinander getrennt werden Unbedingte Kriminalisierung sollten. von Blockaden Sämtliche Protestveranstaltungen, die auf der «falschen» Die antifaschistischen Proteste, denen es gleichwohl gelang, Seite angemeldet worden waren, wurden örtlich «wegbe- den Neonaziaufmarsch zu verhindern, waren geprägt von 5 auflagt». Eine Einzelfallprüfung wurde nicht vorgenommen. Blockaden als Formen des zivilen Ungehorsams. Die Dresd- ner Strafverfolgungsbehörden lassen es sich dennoch nicht sung einer von Artikel 8 des Grundgesetzes geschützten Ver- nehmen, diese Aktionen strafrechtlich zu verfolgen. Antifa- sammlung bedeutete. schistInnen werden nach § 21 Versammlungsgesetz krimi- Nach den Maßstäben eines sächsischen Rechtsstaats nalisiert, weil sie durch ihre körperliche Präsenz an einem be- scheint die Funkzellenabfrage ein Standardinstrument zu stimmten Ort ihren Willen zum Ausdruck gebracht haben, sein, dessen Einsatz niemals an einer Unverhältnismäßig- die Neonazis nicht marschieren zu lassen. keit scheitern könnte. Die Grundrechtsferne der zuständigen Von diesem politischen Vorgehen lässt sich die Staats- Strafverfolgungsbehörden wurde durch die Untersuchung anwaltschaft Dresden auch nicht dadurch abbringen, dass des sächsischen Datenschutzbeauftragten zu den Funkzel- das Sächsische Versammlungsgesetz durch den Sächsi- lenabfragen manifest. In seinem Bericht wird ein Schreiben schen Verfassungsgerichtshof im April 2011 rückwirkend der Polizeidirektion Dresden zitiert, wonach sie einen Eingriff für nichtig erklärt worden ist und daher am 19. Februar 2011 in die Versammlungsfreiheit der betroffenen Personen mit keine Geltung hatte. Die nunmehr durch die Staatsanwalt- dem Argument ablehnt, wegen der Heimlichkeit der Maß- schaft Dresden vorgenommene Anwendung des § 21 des nahme würden die Betroffenen doch überhaupt nicht von Versammlungsgesetzes des Bundes stellt einen Verstoß ge- der Wahrnehmung ihrer Grundrechte abgehalten. gen das verfassungsrechtlich garantierte Rückwirkungsver- bot dar. Es verstößt zugleich gegen das Bestimmtheitsgebot, Das Konstruk t einer weil das Bundesversammlungsgesetz einen höheren Straf- kriminellen Vereinigung rahmen vorsieht. Sie stellt sich damit bewusst und offen ge- Im Laufe des Jahres 2010 genügte es den sächsischen Si- gen den zentralen strafrechtlichen Grundsatz «Keine Strafe cherheitsbehörden aber nicht mehr, direkt gegen die antifa- ohne Gesetz» aus Artikel 103 Abs. 2 des Grundgesetzes. Da- schistischen Proteste rund um den 13. Februar vorzugehen. nach darf eine Handlung nur bestraft werden, wenn sie zum Sie wollten die antifaschistischen Aktivitäten nachdrück- Zeitpunkt ihrer Begehung gesetzlich verboten war. Das ist lich bekämpfen und entsprechend kontinuierlich gegen al- für den 19. Februar 2011 nicht der Fall, da das Sächsische le Personen und Strukturen vorgehen, die tatsächlich oder Versammlungsgesetz nichtig ist und das Bundesversamm- scheinbar den Protest tragen. Zu diesem Zweck konstru - lungsgesetz zu diesem Zeitpunkt bereits außer Kraft gesetzt ierten die Dresdner Strafverfolgungsbehörden eine krimi- war. nelle Vereinigung gemäß § 129 StGB. Damit standen und stehen ihnen quasi alle Ermittlungs- und Ausforschungsin- Immunität gilt nicht strumente zur Verfügung, die das deutsche Strafverfahren bei praktiziertem Antifaschismus zu bieten hat. Wohl einmalig in der deutschen Nachkriegsgeschichte dürf- Bei der Konstruktion der kriminellen Vereinigung bewie- ten auch die Fälle von und Dr. André Hahn sen die Sicherheitsbehörden ein erstaunliches Maß an Krea- sein. Den Vorsitzenden der Fraktionen der LINKEN im säch- tivität, Weitsicht und Kaltschnäuzigkeit. Einzelne in Gruppen sischen und thüringischen Landtag wurde mit den Stim - verübte Straftaten zu unterschiedlichen Zeiten an verschie- men von FDP und CDU, in Sachsen sogar gemeinsam mit denen Orten wurden kurzerhand als Straftaten einer nicht der NPD, die parlamentarische Immunität genommen, weil näher definierten kriminellen Vereinigung deklariert. Keine sie am 14. Februar 2010 an Versammlungen gegen Neonazis Rolle spielte es, dass kaum einer der TäterInnen an den je- teilgenommen hatten. weiligen Tatorten identifiziert werden konnte. Zu Mitgliedern der Vereinigung wurden diejenigen erkoren, bei denen die Ein «elektronischer Polizeikessel» Staatsanwaltschaft Dresden davon ausging, dass sie der (Wolf Wetzel) sächsischen Antifa-Szene angehören. Die Annahme, dass Die sächsischen Sicherheitsbehörden wollen den antifa- es sich dabei um eine Vereinigung im Sinne des § 129 StGB schistischen Protest um jeden Preis unter ihre Kontrolle be- handele, wurde mit der augenscheinlichen körperlichen Fit- kommen. Zu diesem Zweck haben sie eine Bespitzelungs- ness der vermeintlichen TäterInnen begründet. Aus der Tat- aktion gestartet, die in ihrem Umfang in der Bundesrepublik sache, dass bei den Taten keine Kommandos gegeben wur- ohne Beispiel ist. Rund um den 19. Februar 2011 wurden auf den, leitet die Staatsanwaltschaft zudem ein bestimmtes Antrag der Staatsanwaltschaft Dresden bei mehreren Dut- «Kennverhältnis» ab. Mitglied in dieser Vereinigung soll üb- zend Funkzellen, insbesondere in der Dresdner Südvorstadt, rigens auch der Jenaer Jugendpfarrer Lothar König sein, der alle an diesem Tag angefallenen Telekommunikationsver- zwar nicht für seine körperliche Fitness, aber für seine Me- kehrsdaten abgefragt. Dies führte zur Erhebung von insge- gafon- und Lautsprecherdurchsagen bei Demonstrationen samt mehr als einer Million Datensätzen. Von über 54.000 bekannt ist. MobilfunknutzerInnen wurden die persönlichen Stammda- ten erhoben. Betroffen war das Gebiet, in dem sich an die- Sächsische MaSSstäbe sem Tag ein vielfältiges Versammlungsgeschehen abspielte Die zuständigen Sicherheitsbehörden, allen voran Polizei und sich bekanntlich – neben Tausenden von Demonstran- und Staatsanwaltschaft in Dresden, versuchen mit allen Mit- tInnen – Abgeordnete, Geistliche, RechtsanwältInnen, Jour- teln, gegen die antifaschistischen Proteste vorzugehen. Die nalistInnen und sonstigen BerufsgeheimnisträgerInnen auf- martialische Razzia im Haus der Begegnung am 19. Februar hielten. 2011, der Einsatz von Pepperballgeschossen gegen Antifa- Weder Polizei oder Staatsanwaltschaft noch das die Maß- schistInnen, die Überwachung aus der Luft mit Drohnen, der nahme anordnende Amtsgericht sahen hierin ein Problem. Einsatz von Wasserwerfern bei Minusgraden gegen nicht Eine Verhältnismäßigkeitsprüfung wurde nicht vorgenom- gewalttätige Menschenmengen und die bundesweit durch- men. Sonst wäre schnell deutlich geworden, dass bereits geführten Durchsuchungen bei AktivistInnen sind weite- Dauer und Umfang der Maßnahme deren Rechtswidrigkeit re Beispiele hierfür. Es geht darum, sämtliche Facetten des indiziert – ganz abgesehen davon, dass sie die Totalerfas- Protestes zu kriminalisieren, die sich nicht auf die Teilnahme 6 an einer Menschenkette weitab vom Neonaziaufmarsch re- Fazit duzieren lassen. Sie scheinen für die Behörden das eigentli- Das massive Vorgehen der sächsischen Allianz hat das Po- che Problem zu sein, nicht der (ehemals) größte Neonaziauf- tenzial, bundesweit Schule zu machen. Sicherheitsbehörden marsch Europas. anderer Länder und des Bundes werden die Vorgehensweise Exemplarisch für dieses Vorgehen steht die Einschätzung der Dresdner Strafverfolgungsbehörden sehr aufmerksam der Polizeidirektion Dresden, dass es sich bei der Blockade beobachten, um gegebenenfalls daraus ihre Schlussfolge- von Neonaziaufmärschen um eine «Straftat von erheblicher rung zu ziehen. Dresden muss daher auch als Versuchsla- Bedeutung» handelt. Neben dem militanten Antifaschis- bor für das Vorgehen gegen soziale Bewegungen angesehen mus wird vor allem das Konzept der Blockaden ins Visier der werden. Die politischen und rechtlichen Auseinandersetzun- Ordnungsbehörden und des politischen Konservatismus gen um das Vorgehen der Sicherheitsbehörden und das da- genommen. Das Durchfließen von Polizeikräften wird von mit entstehende Klima könnten bundesweit die rechtlichen dieser Allianz als Gewalttätigkeit diffamiert und es werden und politischen Maßstäbe sicherheitsbehördlichen Han- entsprechende Konsequenzen gefordert. Gleichzeitig gera- delns verschieben – sei es bei der Funkzellenabfrage, der ten diejenigen ins Visier, die Menschen aufgefordert haben Konstruktion krimineller Vereinigungen oder dem Vorgehen sollen, durch die Polizeiketten hindurch zu den Blockaden zu gegen zivilen Ungehorsam und andere Formen zivilgesell- kommen. Polizei und Staatsanwaltschaft zielen damit aus- schaftlichen Protests. drücklich auf das Aktionsbild und den Aktionskonsens des 1. Bei der Verfolgung antifaschistischer und zivilgesellschaft- Bündnisses «Dresden Nazifrei» ab. licher Aktivitäten gegen den ehemals größten Neonaziauf- In dieser politischen Auseinandersetzung sind die säch- marsch in Europa greifen die Strafverfolgungsbehörden sischen Sicherheitsbehörden offenbar zu allem bereit. Die systematisch zu offensichtlich rechtswidrigen Maßnah- oben angeführten Beispiele stellen nicht bloß einzelne Über- men. Diese Repression richtet sich nicht gegen einzelne schreitungen rechtsstaatlicher Grenzen dar. Sie bedeuten «Gewalttäter», sondern betrifft sämtliche Formen des Pro- vielmehr eine systematische Missachtung und Umdeutung testes gegen den Neonaziaufmarsch und die Aktionsform bislang geltender rechtsstaatlicher Grundsätze. In Dresden des zivilen Ungehorsams im Besonderen. gilt offenbar ein eigenes Demokratie- und Rechtsstaatsver- 2. Die zuständigen Sicherheitsbehörden und das sie unter- ständnis, das sich in vielen Behörden tief eingegraben zu stützende mediale und politische Spektrum spielen das haben scheint. Dies zeigt sich auch darin, dass die dortigen Spiel der Neonazis. Den Beteiligten ist bewusst, dass sie AmtsträgerInnen immun gegen jede diesbezügliche Kritik mit ihrem Vorgehen alles dafür tun, den Neonazis wieder sind und ihre offensichtlich rechtswidrigen Maßnahmen gar einen Aufmarsch zu ermöglichen. Dies gilt es, zu benen- offensiv verteidigen und weiterhin fortsetzen. Während in nen und politisch zu skandalisieren. Das Problem ist der anderen Bundesländern angesichts der erfolgreichen Ver- Neonaziaufmarsch, nicht die Aktivitäten dagegen. hinderung der Neonaziaufmärsche ein leises Zurückrudern 3. Die obrigkeitsstaatlich geprägten sächsischen Maßstäbe, begonnen hätte, wird in Dresden eine aktive Vorwärtsvertei- die von der dortigen konservativen Allianz durchgesetzt digung praktiziert. Dabei werden die Sicherheitsbehörden werden, dürfen nicht Schule machen. Wie die Beispiele sowohl von der Allianz aus CDU, FDP und NPD unterstützt, zeigen, stellen rechtsstaatliche Grundsätze nur eine sehr als auch medial angefeuert durch die Sächsische Zeitung flexible Grenze für staatliche Macht und Willkür dar. Umso und Bild Dresden. mehr folgt daraus, dass die Begrenzung und Einhegung Bemerkenswert ist, dass es dieser konservativen Allianz staatlicher Macht in politischen Auseinandersetzungen in diesem Fall nicht um die Verteidigung eines besonderen täglich neu erkämpft werden muss. Projektes, sei es eines Bahnhofs, eines Energiekonzepts oder 4. Für den Aufmarsch 2012 in Dresden ist es umso wichtiger, eines Gipfeltreffens, geht, sondern darum, Europas größten dass Antifa, Zivilgesellschaft, BürgerrechtlerInnen, Ge- Neonaziaufmarsch durchzusetzen. Während MitarbeiterIn- werkschaften, parteipolitischen Organisationen und viele nen in demokratisch verfassten Institutionen aufatmen wür- andere solidarisch zusammenwirken – denn es geht nicht den, wenn der braune Spuk sein Ende genommen hätte, tun nur um den Kampf gegen Neonazis, sondern auch um die in Dresden die Verantwortlichen alles dafür, den erfolgrei- Verteidigung von Freiheits- und Grundrechten sowie die chen antifaschistischen Protest als das eigentliche Problem Durchsetzung von legitimen Aktionen des zivilen Unge- zu diffamieren. horsams. Wohlgemerkt, es geht hier um die Verhinderung eines Neonaziaufmarschs in einem Bundesland, in dem Neona- ziterroristInnen und rassistische Mörder jahrelang unbehel- Der Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) ligt von den Behörden Kapitalverbrechen planen und bege- ist ein bundesweiter Zusammenschluss von Rechtsanwältinnen hen konnten; einem Aufmarsch, der das zentrale Treffen der und Rechtsanwälten. Seit seiner Gründung im Jahr 1979 tritt der deutschen und europäischen Neonaziszene darstellt. Statt RAV für das Ziel ein, Bürger- und Menschenrechte gegenüber wohlwollend zur Kenntnis zu nehmen, dass durch die Akti- staatlichen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Macht­ vitäten des Bündnisses «Dresden Nazifrei» und allen ande- ansprüchen zu verteidigen und auf eine fortschrittliche Entwick- ren zivilgesellschaftlichen und antifaschistischen Kräften lung des Rechts hinzuwirken. Besonderes Augenmerk gilt dabei nunmehr die Möglichkeit besteht, den Neonaziaufmarsch dem Kampf um die freie Advokatur, denn die Freiheit von staat ­ endlich auf dem Müllhaufen der Geschichte zu entsorgen, licher Bevormundung stellt für die anwaltliche Tätigkeit eine setzen die sächsischen Sicherheitsbehörden alles daran, den notwendige Bedingung dar, um diese Aufgabe wahrnehmen zu Neonazis den Weg freizumachen. Ob dieser Effekt politisch können. Weitere Informationen: www.rav.de gewollt ist, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls ist er die Folge ihres Vorgehens. 6 7 STANDPUNKTE 02/2012

Christoph Nitz Schnittstellen: Dialog, Synergien und Macht Welche Herausforderungen bringt die digitale Gesellschaft für links-alternative Medienschaffende

Reicht es für linke Medienmacher, sich im Kontext von Poli- Erste Erkenntnis: Echter Dialog ist tik und Kommunikation angesichts der Megatrends Digita- typisch für Schnittstellen lisierung und Multi-Kommunikation lediglich mit Aspekten «Ich stamme von einem Ende und Yoko vom gegenüberlie- der Professionalisierung auseinanderzusetzen? Oder sollte genden Ende der Welt.»1 John Lennon über Yoko Ono man die Frage diskutieren, welche großen Herausforderun- Zwei Menschen aus unterschiedlichen Kulturen, mit ver- gen eine «digitale Gesellschaft» mit sich bringt, sowohl für schiedenen künstlerischen Ansichten, durchaus nicht ho- die Medien als auch für deren Nutzer? In der Debatte der mogenen politischen Überzeugungen und gegensätzli - technologischen Veränderungen mischen viele Akteure mit, chen Temperamenten treffen sich Mitte der 1960er Jahre. doch geht es meist über fachspezifische Blicke nicht hinaus. Wer konnte ahnen, dass aus beiden einmal ein Synonym für Was häufig fehlt, ist eine gesamtgesellschaftliche Betrach- künstlerische, aber auch politische Avantgarde werden soll- tung von Kommunikation, eine Bewertung des Zusammen- te? Yoko Ono und John Lennon brachten das jeweils Eigene spiels von Kultur, Medien und Gesellschaft. Denn bei all den in die Beziehung und schufen etwas völlig Neues, noch nicht Errungenschaften der digitalen Revolution handelt es sich Dagewesenes. hier immer noch um Instrumente, mit denen Menschen Einige gemeinsam produzierte Titel zeugen vom politi- kommunizieren. schen Output, der durch die Verbindungen und Schnittstel- Ein sinnvoller Fokus für die Auseinandersetzung mit dem len entstehen konnte, die beide Künstler in ihrer Partner - Thema könnten die Schnittstellen zwischen Kultur, Me- schaft vereinigten und neu erzeugten. Typisch für Ono und dien und Gesellschaft sein. Dabei ist es wichtig, den Be - Lennon ist dabei der Dialog, den sie miteinander suchten, griff «Schnittstellen» (engl. Interface) nicht nur auf den Be- privat und über die Öffentlichkeit. reich zwischen Mensch und Maschine (oder Maschine und Ihre Happenings fanden explizit unter Einschluss der Öf- Mensch) zu verengen (also auf den Teil des Systems, der fentlichkeit statt: So entstand beispielsweise bei einem Bed- der Kommunikation dient), sondern das Nachdenken über In in Montreal das Lied «Give Peace a Chance», das bis heute die Schnittstellen weiter zu fassen. Es sind im Wesentlichen eine populäre Hymne bei Friedensprotesten ist und welt- drei Erkenntnisse, die das Schnittstellen-Thema zu einem ge- weit Verbreitung gefunden hat. Nicht zu vergessen den wirt- samtgesellschaftlich relevanten Issue machen. schaftlichen Erfolg, den beide gemeinsam hatten. Erstens: Nur an Schnittstellen entsteht echter Dialog – der Das Beispiel dieser Weltkünstler zeigt uns die Schnittstel- Dialog ist förmlich das Wesen von Schnittstellen. Zweitens: len zwischen Kultur und Medien, Kultur und Gesellschaft re- Erst Schnittstellen, die unterschiedliche – auch vermeintlich spektive Politik und in gewisser Weise auch die Schnittstel- gegensätzliche – Bereiche miteinander verbinden, führen zu len zwischen Kultur und Wirtschaft. Statt nur das rein Private den Lösungen, die wir angesichts der großen gesellschaft- künstlerisch zu suchen – oder das rein Politische – blieben lichen und politischen Herausforderungen benötigen. Drit- Yoko Ono und John Lennon offen für Innovationen. Ohne tens: Politische Macht wächst mit der Vielzahl und Qualität den Dialog, der immer einen Austausch zwischen verschie- von Schnittstellen, die bewusst eingesetzt werden. denen Perspektiven provoziert, wäre dieses Experiment wohl nicht so erfolgreich und populär geworden. Schnittstellen entstehen erst durch den Dialog: Es sind die Berührungspunkte, über welche die Kommunikation statt- 1 Nick Johnston (Hg.): Yoko Ono – Talking, Berlin 2008. findet. Das freie, unzensierte Gespräch oder die unbehinder- 8 te Meinungsäußerung in den digitalen sozialen Netzwerken gen steht nicht das Wissen im Vordergrund, sondern die sind solche Schnittstellen, die zwischen den Dialogpartnern Einsicht. Also geht es nicht nur um den Dialog, der an einer entstehen. Und sie sind durchlässig. Schnittstelle stattfindet, sondern auch um ein gemeinsames Der Philosoph Martin Buber betrachtet den Dialog weit- Verstehen des Dialogpartners. Das gegenseitige Verständnis aus existenzieller, nämlich als anthropologisches Prinzip des wiederum ist Voraussetzung für Lösungen, die gemeinsam Menschen: «Alles wirkliche Leben ist Begegnung.»2 Anders entwickelt werden können. ausgedrückt: Leben findet dort statt, wo Begegnung stattfin- Im Laufe der Zeit rückte der universale Gedanke in den det. Insofern ist die Begegnung die Schnittstelle, das Inter- Wissenschaften in den Hintergrund. Mit dem Einsetzen der face, wo es zum Austausch zwischen einem Ich und einem Aufklärung stand zunehmend die Spezialisierung im Vor- Du kommt. Auf der Grenzfläche kommt es zum grenzüber- dergrund, Geistes- und Naturwissenschaften gingen fortan schreitenden Treffen. mehrheitlich getrennte Wege. Johann Wolfgang von Goe- Es macht Sinn besonders aus linker Sicht, sich mit der Phi- the, der vielen als Typus des Universalgelehrten gilt, setz- losophie des Dialogs zu beschäftigen – auch wenn man sich te diesem Denken eigene interdisziplinäre Ideen entgegen. in linken Kreisen eher den diversen Schulen der Dialektik an- Seine Naturlehre, sein fachübergreifendes Forschen, das schließt. Die Dialogphilosophie fragt unter anderem ganz Zusammenbringen von Wissenschaft und Kunst und nicht richtig, wie über sinnvolle Dialoge humane Zukunft gestaltet zuletzt seine Ausflüge in die Politik machen ihn zu einem be- werden kann. Darum soll es gehen, wenn Schnittstellen im deutenden europäischen Denker der Interdisziplinarität. Als links-alternativen Kontext thematisiert werden. Minister in Weimar war er unter anderem zuständig für Berg- In seinem Buch «Die TAZ. Eine Zeitung als Lebensform» und Ackerbau, Holzwirtschaft, Bildung und Finanzen und beschreibt Jörg Magenau einen wichtigen Kommunikations- führte später seine naturwissenschaftlichen Arbeiten auf und Begegnungsort, das taz Café: «Das Café ist ein Ort zwi- diese Zeit zurück. schen drinnen und draußen, Schnittstelle zur Welt, wo Leser Solche Einzelpersonen der Zeitgeschichte finden sich und Schreiber sich bewegen können.»3 Und auf der Internet- häufig. Der chilenische Literaturnobelpreisträger Pablo Ne- seite der taz ist zu lesen: «Das taz Café ist eine gläserne Zei- ruda vereinte für eine Zeitspanne seines Lebens ganz un- tungsmanufaktur, die von der Dutschke-Straße aus einseh- terschiedliche Disziplinen: So war er nicht nur Dichter und bar ist (…) – das Café ist eine Schnittstelle zwischen Zeitung Schriftsteller, sondern für lange Zeit auch im diplomatischen und Lesern, Schreibenden und zu Beschreibendem.»4 Also Dienst und strebte 1969 sogar das Präsidentenamt an. Er kommt es zum Austausch von verschiedenen Welten nicht wurde von der Kommunistischen Partei für die Kandidatur nur innerhalb der «taz-Welt», sondern auch außerhalb. nominiert, verzichtete aber zugunsten seines Freundes Sal- Unterschiedliche Lebens-, Erfahrungs- und Wissenshori- vador Allende darauf. zonte begegnen sich an verschiedenen Schnittstellen, die Bei diesen Beispielen handelt es sich um eine Form von von einem zentralen Ort ausgehend zur Verfügung gestellt «innerer Interdisziplinarität»: Die Schnittstellen werden in der werden oder, besser ausgedrückt, an einem zentralen Ort Person selbst gebildet. Typisch ist allerdings der Austausch, entstehen. Hier wird ein weiterer philosophischer Gedan- der zwischen den genannten Persönlichkeiten und Kollegen, ke deutlich, den Jürgen Habermas in seiner «Theorie des Freunden und Anhängern stattgefunden hat und von dem kommunikativen Handelns»5 entwickelt. Kommunikatives viele Briefwechsel zeugen. Handeln – und was wäre der Dialog anderes, als eine kom- Die Zeiten ändern sich aber wieder, mit großen Auswirkun- munikative Handlung? – ist bei ihm der grundlegende «Re- gen für die Gesellschaft. Menschen aus verschiedenen Diszi- produktionsbegriff» von allen Gesellschaften. Gesellschaften plinen bilden heute zunehmend gemeinsame Schnittstellen. begreift Habermas als System und als Lebenswelt. Und wie Für die Wissenschaften kann man exemplarisch die Sozial- im taz Café differenzieren sich die unterschiedlichen Hand- ökonomie nennen. Karl Marx, Max Weber, Émilie Durkheim, lungssysteme über die jeweiligen Lebenswelten aus und ver- Pierre Bourdieu und andere versuchten in ihren Arbeiten, schränken sich über die Schnittstellen im Dialog. die Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft, Politik, Wirt- schaft und Ökologie zu durchdringen und zu beschreiben. Zweite Erkenntnis: An Schnittstellen In diesem Forschungs- und Wissenschaftszweig gehört der werden Lösungen erzeugt interdisziplinäre Zugang aus unterschiedlichen Perspektiven «Wir sind der Überzeugung, dass die wesentlichen Proble- zum Wesen der wissenschaftlichen Arbeit – und ist heute ak- me, die die Menschheit heute hat, nur disziplinübergreifend tueller denn je. zu lösen sind. Zum Beispiel ist Stuttgart 21 kein finanzielles In der autorisierten Biografie einer das 20. und 21. Jahr- Problem, es ist auch kein technisches Problem, sondern es ist hundert sehr prägenden Gestalt, des Apple-Gründers Steve ein Problem der Politik und des Bewusstseins in der Gesell- Jobs, findet sich ein weiterer Hinweis auf interdisziplinäre schaft. Die spannenden Themen liegen an der Schnittstelle Schnittstellen: «Edwin Land von Polaroid sprach einmal über zwischen den Disziplinen.»6 Hans Müller-Steinhagen, Rektor die Schnittstelle von Geistes- und Naturwissenschaften. Ich der TU Dresden mag diese Schnittstelle. Dieser Ort hat etwas Magisches an Überhaupt nicht neu ist die Erkenntnis, dass Lösungen im sich. (…) Ich glaube, dass große Künstler und große Inge- Austausch zwischen den Disziplinen gefunden werden. In nieure sich dahin gehend ähneln, dass beide das Bedürfnis der Geschichte der Philosophie finden sich viele bedeuten- haben, sich selbst zum Ausdruck zu bringen. Große Künstler de Denker, die fachübergreifend gedacht haben. In der grie- chischen Klassik ist es zum Beispiel Aristoteles: Die Quint- essenz seiner Arbeit liegt nicht nur in den Fragen «Warum?» 2 Martin Buber: Ich und Du, Ditzingen1995. 3 Jörg Magenau: Die TAZ. Eine Zeitung als Lebensform, München 2007. 4 www.taz.de/zeitung/tazcafe, abgerufen am und «Wozu?» begründet, sondern auch in der Erkenntnis, 19.12.2011. 5 Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bände, Berlin dass in der Praxis Annahmen nicht allgemeingültig sind. 7 1995. 6 «Probleme sind nur interdisziplinär zu lösen.» Interview mit Hans Müller-Steinha- gen, Rektor der TU Dresden. In: Der Tagesspiegel, 29.12.2010. 7 Aristoteles: Topik (Neu- 8 9 Sie müssen vom Gegenüber anerkannt werden. Deswe- übersetzung), Ditzingen 2004. wie Leonardo da Vinci und Michelangelo waren auch große ter dem so unterschiedliche Absender wie Google, Fraun- Naturwissenschaftler. Michelangelo wusste eine Menge da- hofer Institut, Universität Salzburg oder Wikimedia stehen. rüber, wie man Steine brach, nicht nur darüber, wie man als «Co:llaboratory» kommuniziert den Anspruch, «Motor für Bildhauer arbeitet.»8 Diskussionen oder Aktionen» zu sein– und weist darauf hin, Steve Jobs Beispiel macht deutlich, dass ein bloßes Ne- dass Schnittstellen nicht nur Lösungen, sondern auch Bewe- beneinander unterschiedlicher Disziplinen nicht zu Innovati- gung erzeugen. onen führt. Wirkliche Interdisziplinarität entsteht erst, wenn Schnittstellen gebildet werden und dann verschiedene Blick- Dritte Erkenntnis: Politische Macht winkel zusammengebracht werden. Und so kann an den entsteht an und wirkt durch Schnitt- Schnittstellen Neues entstehen. stellen Auch zivilgesellschaftlich gewinnt die Schaffung von «Politik handelt von dem Zusammen- und Miteinandersein Schnittstellen an Bedeutung. In der Broschüre «Miteinander der Verschiedenen.»12 Hannah Arendt Stadt Entwickeln. Stadtentwicklung, Zivilgesellschaft und Schnittstellen, die Bewegung erzeugen? Eine einfache Re- bürgerschaftliches Engagement»9 des Programms Nationale cherche im Internet mithilfe von Suchmaschinen bringt zuta- Stadtentwicklungspolitik werden sechs wichtige Schnittstel- ge: An den «Schnittstellen der Macht» scheint es interessant lenfaktoren für die Stadtentwicklung genannt: 1. Einbezie- zu sein, aber wenn man dort ist, ist es irgendwie auch nicht hung von Bürgerinnen und Bürgern in Beteiligungsprozesse, ganz richtig. Das Lesen der Suchergebnisse verschafft den 2. «Klassisches» Ehrenamt von Bürgerinnen und Bürgern, Eindruck, als wäre es etwas Unanständiges – dort zu sein, 3. Gezielte Einbeziehung der institutionalisierten Zivilgesell- wo Macht ist oder Macht entsteht. Oder wo man vielleicht schaft, 4. Institutionalisierte Zivilgesellschaft, die mitmischt, selbst Macht ausüben kann. 5. Bürgerinnen und Bürger, auch im Zusammenschluss, Der WDR produzierte 2005 eine Dokumentation un- 6. Zusammenschlüsse in Arenen, Foren und Dialogformen. ter dem Titel «Die Flüsterer»13: »Sie stehen im Schatten der Kurz gefasst, handelt es sich um die Erzeugung von im- Großen. Sie haben einen der unsichtbarsten Berufe an den mer neuen Schnittstellen zwischen den verschiedenen zi- Schnittstellen der Macht. In Nachrichtenbildern erkennt man vilgesellschaftlichen Akteuren untereinander, aber auch um sie daran, dass sie nahe bei den wichtigen Akteuren ste- Schnittstellen, die zwischen diesen Akteuren und Politik und hen.«14 Erst bei weiterem Lesen wird klar, dass es sich bei Verwaltung erzeugt werden. diesem Film um, so ein Programmhinweis des Senders arte, Ähnliches greift der österreichische Blog «Sozialer Zu- den ersten Dokumentarfilm überhaupt handle, der sich der sammenhalt» unter der Überschrift «Praxis trifft Wissen- Berufsgruppe der Dolmetscher widmet. Doch der Titel ist schaft trifft Verwaltung» auf. Auf die Frage «Wie können recht hintersinnig: Bedeutet das, dass den Mächtigen et- wir eine Schnittstelle/Dialog zwischen aktiven BürgerInnen was eingeflüstert wird? Und somit die Macht der Mächtigen und professionellen WissensträgerInnen (Fachleuten) er- durch vielleicht weniger Mächtige beeinflusst wird? Die Be- zeugen?» antwortet die Geschäftsführerin des Vereins Lo- schreibung könnte auch auf die «Profession» eines Spin Doc- kale Agenda 21 in Wien: «In den Projekten entstehen diese tors passen – also auf den Strippenzieher im Hintergrund, Schnittstellen automatisch. Wenn ich einen Park umgestal- der der Politik einen bestimmten Dreh, eine Richtung gibt. te und BürgerInnen sind vom Anfang bis zum Ende dabei, Die Nähe zur Macht (hier die Macht in Behörden, Regie- dann kommt irgendwann die Diskussion mit Fachleuten um rungen und Verwaltungen) hat aber auch etwas Anziehen- verschiedene ‹technische Details› (zumeist die größten Hür- des. Kirsten Schiekiera schrieb 2009 in der Berliner Mor - den). Wesentlich ist, wie die Schnittstelle gestaltet wird, da- genpost unter der Überschrift «Sehr begehrt: Arbeitgeber mit die unterschiedlichen Formen von Wissen auch genutzt Bundesregierung»: «Ein Schreibtisch im Bundeskanzleramt, werden können. Nicht zu vergessen gibt es auch eine Wis- ein Büro im Bundesfinanzministerium – das Privileg, an den senshierarchie also das Wissen von Fachleuten und das von Schnittstellen der Macht zu arbeiten, bleibt nicht alleine Poli- Unimenschen hat meist mehr Gewicht, Bedeutung als das tikern vorbehalten.»15 Gerade in Krisenzeiten sei der Öffentli- Alltagswissen.»10 che Dienst als Arbeitgeber besonders anziehend. Insgesamt wird in vielen Bereichen von Kultur, Medien, Die Vorzimmer zur Macht also. Es geht um die Sekretä- Gesellschaft, Wissenschaft und Politik das Paradigma der re, Assistenten und Berater, die den Zugang zur Macht ha- Interdisziplinarität immer bedeutsamer. Die bisher noch vor- ben, «zum Machthaber», wie Carl Schmitt sagt. Ausgerech- herrschende Verspartung wird zunehmend überbrückt. Da net Carl Schmitt! Wer aber auf dem rechten Auge nicht blind an den immer wieder neu entstehenden Schnittstellen Lö- sein will, sollte dennoch hinsehen. In seinem immer wieder sungen möglich werden, die vorher womöglich nicht gese- neu aufgelegtem Büchlein «Gespräch über die Macht und hen werden konnten, rückt der gesellschaftliche Nutzen von den Zugang zum Machthaber»16 behauptet er, dass nicht der Schnittstellen immer mehr in den Blickpunkt. Machthaber der eigentlich Mächtige sei, sondern jene Perso- Unter dem Label «Co:llaboratory» besteht im Internet ei- nen, die den Zugang zum Machthaber haben. Der Zugang, ne offene Kollaborationsplattform, die Internetexperten aus das «Vorzimmer» beispielsweise, ist die Schnittstelle, um allen gesellschaftlichen Bereichen zusammenbringt, «die die Veränderungen der digitalen Welt analysieren und Nut- zen formulieren können, den die Gesellschaft aus diesen 8 Walter Isaacson: Steve Jobs: Die autorisierte Biografie des Apple-Gründers, München Entwicklungen ziehen kann. Es soll einen Beitrag zum ge- 2011. 9 Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hrsg.): Miteinander Stadt Entwickeln. Stadtentwicklung, Zivilgesellschaft und bürgerschaftliches Engagement, sellschaftlichen Diskurs in Deutschland leisten und dabei zu Berlin 2010. www.nationale-stadtentwicklungspolitik.de. 10 Blog »Sozialer Zusammen- aktuellen Diskussionen beitragen, z. B. zu Verfassungsbe- halt« der Agentur kon-text Raumbezogenes Management & sozialwissenschaftliche Bera- tung (Wien), www.socialpolis.wordpress.com, abgerufen am 19.12.2011. 11 www.colla- schwerden, Petitionen oder zur Arbeit der Enquete-Kommis- boratory.de. 12 Hannah Arendt: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass, München sion ‹Internet und Digitale Gesellschaft› des Bundestages.»11 2003. 13 Die Flüsterer (Deutschland, 2005, 57 Min.), WDR, Regie: David Bernet. 14 Programmhinweis, www.arte.tv, abgerufen am 19.12.2011. 15 Kirsten Schiekiera: Sehr Die Plattform selbst ist ein Multi-Schnittstellen-System, hin- begehrt: Arbeitgeber Bundesregierung. In: Berliner Morgenpost, 1.11.2009. 10 die es geht. Und es scheint, dass die Schnittstelle bedeut- ten Text von Henry David Thoreau «Über die Pflicht zum Un- samer ist als die Person, für die das Vorzimmer bestimmt ist. gehorsam gegen den Staat» eine «formulierte Aufforderung Die Schnittstelle als Schaltzentrale, die über den Zugang zur zum Gesetzesbruch« enthalten sei, die zum »Kern des zivilen Spitze entscheidet. Schmitt spricht an dieser Stelle von ei- Ungehorsam wurde»18: «Wenn aber das Gesetz so beschaf- nem Korridor zur Macht und beschreibt den «Kampf um den fen ist, dass es notwendigerweise aus dir den Arm des Un- Korridor». rechts an einem anderen macht, dann, sage ich, brich das Jeder Machthaber ist, so Carl Schmitt, «auf Berichte und Gesetz.»19 Informationen angewiesen und von seinen Beratern abhän- Ursprünglich von Thoreau als individuelle Gewissensfrage gig. Eine Unmenge von Tatsachen und Meldungen, Vor- formuliert, führt Kastner dazu aus: «Verschiedene Bewegun- schlägen und Vermutungen dringt Tag für Tag und Stunde gen (entwickelten) aus der Pflicht zum Ungehorsam politi- für Stunde auf ihn ein. Aus diesem flutenden, unendlichen sche Konzepte. Diese waren auf verschiedene Arten kollek- Meer von Wahrheit und Lüge, Wirklichkeiten und Mög- tiven Handelns zugeschnitten und dem jeweiligen Kontext lichkeiten kann auch der klügste und mächtigste Mensch angepasst. Die antikoloniale Befreiungsbewegung um M. K. höchstens einige Tropfen herausschöpfen.» Bereits bei Er- Gandhi praktizierte massenhaft Formen zivilen Ungehor- scheinen des 1954 ursprünglich als Radioessay konzipierten sams, für die Schwarze Bürgerrechtsbewegung der 1960er Textes regte sich – natürlich – Widerspruch. Wollte da einer in den USA wurden sie zentral.»20 seine eigene Verstrickungen während der NS-Zeit unter den Eine Frage ist nun die, was im Spannungsfeld zwischen Tisch fallen lassen, von sich auf «den Korridor» lenken? Folgt Verweigern und Gestalten das politisch Richtige ist. Eine an- man seinen Ausführungen allerdings, so wird erst recht sei- dere, globalere Frage aber im Kontext von Schnittstellen und ne Verantwortung deutlich, ist er doch selbst als Philosoph, ihrer Macht ist die, die Verantwortung dafür auch wahrzu- Jurist und eben auch Politiker eine bedeutende Schnittstelle nehmen. Diese hier angesprochene Macht kann diejenige gewesen. Seine Arbeit hatte während der NS-Zeit unmittel- sein, die interessen- und zielgeleitete Netzwerke haben – de- bare Auswirkung auf die Politik – und nicht ohne Grund ist ren Knoten die Schnittstellen sind. Fazit: Im digitalen Zeitalter er in der Bundesrepublik nicht wirklich rehabilitiert worden kommt es darauf an, alle Möglichkeiten zu nutzen, um po- (wenngleich sein Einfluss immer noch zu spüren ist). litisch-gesellschaftlich motiviert den grenzüberschreitenden Und was geschieht mit dieser Macht der Schnittstellen? Dialog zu suchen, Netzwerke zu knüpfen, Schnittstellen zu Betrachten wir Machtstrukturen und Schnittstellen auch in bilden. So führt eine schnittstellenbewusste Multi-Kommu- Kultur, Medien und Gesellschaft, scheint es, dass Schmitt mit nikation dazu, die Macht auszuüben, die man hat – um eine seinem machtphilosophischen Destillat nicht unrecht hat: humane Zukunft zu gestalten. «Sie (die Macht) ist eine eigenständige Wirklichkeit und zieht jeden, auch den Machthaber, in ihre Dialektik.» Er schildert das etwas abstrakt so: «Die Macht ist dem Menschen noch Eine Gelegenheit, sich konkret mit anderen über Schnittstellen mehr als die Technik aus der Hand geglitten. Die Macht, die auszutauschen, Networking zu betreiben, Neues zu erlernen, ist von einer Erfindung ausgeht, übersteigt die Macht des Er- die 9. Akademie für Journalismus, Bürgermedien, Öffentlichkeits- finders bei weitem. Macht und Ohnmacht stehen sich heute arbeit & Medienkompetenz vom 21. bis 25. März 2012 in Berlin nicht mehr als Personen Auge in Auge gegenüber. Die Wirk- unter dem Motto «Schnittstellen /// interfaces» – #LiMA12. lichkeit der Macht geht über die Wirklichkeit des Menschen Weitere Informationen: www.lima-akademie.de hinweg.» Man kann das wie folgt lesen: Wenn ein Boule- vardblatt knapp zwei Wochen vor Weihnachten Details über Privatkredite des Bundespräsidenten veröffentlicht und mit Christoph Nitz, Kommunikationswissenschaftler, ist Geschäfts- Vorwürfen versieht (und dann die großen politischen Maga- führendes Vorstandsmitglied des Vereins Die Linke Medienaka- zine und Wochenzeitungen mit eigenen Recherchen und In- demie e. V. (LiMA). terviews nachziehen) – dann entwickelt dieser Gegenstand eine eigene «Wirklichkeit der Macht». Selbst wenn das Bou- levardblatt eine Woche später umsteuern wollte, würde es ihm vermutlich nur unter größtem Aufwand gelingen. Der Gegenstand hat sich durch die ihm eigene Macht bereits so- weit verselbstständigt, dass es letztlich nicht mehr die Frage ist, was wahr ist oder nicht, sondern lediglich, wie sämtliche Akteure damit umgehen.

Was ist nun für die Linke hierzulande wichtig? Es gibt auch andere Lesarten von Macht. Hannah Arendt zum Beispiel sieht die sozialen Aspekte: «Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder et- was zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschlie- ßen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht

verfügt niemals nur ein Einzelner. Sie ist im Besitz einer Grup- 16 Carl Schmitt: Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber, Stuttgart pe und bleibt nur so lange existent, wie die Gruppe zusam- 2008. 17 Hannah Arendt: Macht und Gewalt, München 1970. 18 Jens Kastner/Elisabeth Bettina Spörr (Hg.): nicht alles tun/cannot do everything: Ziviler und sozialer Ungehorsam 17 menhält.» an den Schnittstellen von Kunst, radikaler Politik und Technologie/Civil and … between art, Jens Kastner, koordinierender Redakteur der IG Bildenden radical politics and technology, Münster 2008. 19 Henry David Thoreau: Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat (1849), Zürich 2004. 20 Kastner/ Spörr (Hg.): nicht alles 10 11 Kunst in Österreich, weist darauf hin, dass in dem berühm- tun. STANDPUNKTE 03/2012

Ulrich Busch Finanzindustrie – Begriff, volks­wirtschaftliche Bedeutung, Kritik

Ein neuer Begriff Andererseits stellt der Fachausdruck «Industrie» in Kom- Schlägt man heutzutage die Zeitungen auf, so ist man bination mit dem Finanzbegriff eine ungewöhnliche und auf schnell mit Begriffen konfrontiert, die bislang als «Unworte» den ersten Blick irritierende Wortverbindung dar. Werden galten, zumindest aber als ungewöhnlich oder unseriös. Zu doch beide Termini gewöhnlich als Repräsentanten dicho- ihnen gehört der Begriff «Finanzindustrie» (Financial Indus- tomer und einander ausschließender Bereiche, als Protago- try). Er findet sich in Zeitungsartikeln, Pressemitteilungen, nisten der Geld- beziehungsweise der Realsphäre, wahrge- Fernsehberichten sowie im Internet, aber kaum in offiziellen nommen. Hier aber, im Begriff «Finanzindustrie», fällt beides Verlautbarungen oder wissenschaftlichen Publikationen. Ei- zusammen. Dadurch erlangt der Finanzbegriff eine völlig ne Ausnahme bilden die Bücher Der gute Kapitalismus von neue Relevanz. In gewissem Sinne legt diese Wortwahl na- Sebastian Dullien, Hanjörg Herr und Christian Kellermann he, dass an die Stelle der «alten» Industrie jetzt eine «neue» (2009), wo von den «Interessen der Finanzindustrie» die Re- Industrie getreten ist, dass sich eine ökonomische Transfor- de ist (S. 38), und Freiheit statt Kapitalismus von Sahra Wa- mation vollzogen hat, eine Transformation vom Industrieka- genknecht (2011), wo dieser Begriff als Synonym für mone- pitalismus zum Finanzkapitalismus. Die Wortverbindung «Fi- täre Finanzinstitute verwendet wird (S. 76). Lexika kennen nanzindustrie» erweist sich daher auf den zweiten Blick als diesen Terminus bisher jedoch genauso wenig1 wie offiziel- durchaus sinnvoll und den veränderten Gegebenheiten ad- le Dokumentationen, etwa der Deutschen Bundesbank, des äquat. Sie wird sich daher weiter ausbreiten und im Sprach- Bundesministeriums der Finanzen (BMF) oder der Europä- gebrauch zunehmend durchsetzten. ischen Zentralbank (EZB). Dass er trotzdem rasch populär wurde, ist vielleicht darauf zurückzuführen, dass er ein neu- Was ist unter «Finanzindustrie» artiges Phänomen der Ökonomie pointiert beschreibt und zu verstehen? besser als jede andere Kategorie «auf den Begriff» bringt. Zuerst und zuvörderst die «monetären Finanzinstitute» Vor allem wegen seiner kategorialen «Breite» und relativen (MFIs). In Deutschland sind das derzeit knapp 2.000 2: Und Unbestimmtheit, aber auch wegen der Kombination zweier zwar 286 Kreditbanken, darunter 4 Großbanken (Deutsche vermeintlich gegensätzlicher Inhalte unter dem Dach eines Bank AG, Commerzbank AG, UniCreditbank AG und Deut- Begriffs. sche Postbank AG), 171 Regionalbanken und 111 Zweig- Als übergreifendes Synonym für die Geld- und Finanz- stellen ausländischer Banken, ferner 10 Landesbanken, branche umfasst der Begriff Finanzindustrie alle finanziellen 427 Sparkassen, 23 Bausparkassen, 2 Genossenschaftli- Dienstleister, also nicht nur die Banken, Sparkassen, Versi- che Zentralbanken, 18 Realkreditinstitute, 1.121 Kreditge- cherungen usw., sondern auch die geschäftsvermittelnden nossenschaften, 18 Banken mit Sonderaufgaben, 151 Aus- und -begleitenden Intermediäre, Kontrollinstitutionen, Ratin- landsbanken, diverse Geldmarktfonds usw. Zweitens zählt gagenturen usf. Das heißt, die ganze Vielfalt monetärer und hierzu die private Versicherungswirtschaft mit ihren Ver- finanzieller Institutionen und Prozesse wird hier gänzlich un- zweigungen: Personenversicherung (Lebens-, Renten-, differenziert und unterschiedslos unter einen Begriff subsu- Kranken-, Unfall-, Sterbeversicherung), Sach- und Vermö- miert. Dadurch erhalten Geld und Finanzen, welche in der traditionellen Ökonomie unterschiedlichen Bestimmungen unterliegen, per se eine allgemeinere Bedeutung und ein grö- 1 Bei Wikipedia findet der Begriff «Finanzindustrie» zwar Erwähnung, wird dort aber nicht definiert (www.wikipedia.de). 2 Vgl. Deutsche Bundesbank: Monatsberichte, 63. Jg. (2011) ßeres Gewicht. 12, S. 24*. 12 gensversicherung (Feuer-, Hausrat-, Haftpflicht-, Rechts- tion her, nicht aus der Sicht temporärer Fehlentwicklungen schutz-, Transport-, Reise-, Kraftfahrzeugversicherung usw.) und momentaner Entartung, keineswegs so etwas wie ein sowie die kapitalstarken Rückversicherungen. Drittens: Pri- Kropf am Wirtschaftskörper der bürgerlichen Gesellschaft, vate Fonds, Geldanlagegesellschaften, Vermögensverwal- also überflüssig und störend zugleich, sondern das empfind- tungen, Investmentbanken, Geldverleiher, Wechselstuben, liche «Herz» funktionierender Volkswirtschaften, das nicht Münzhändler. Viertens: Renten- und Pensionsfonds. Fünf- aufhören darf zu schlagen. tens: Schattenbanken, Offshore-Banken, außerbörslich Der für die Finanzbranche insgesamt charakteristische agierenden Finanzakteure, große und kleine Spekulanten. hohe Stellenwert innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft Sechstens: Unternehmens- und Vermögensberatungsunter- und die Interdependenz sowie Systemrelevanz ihrer Teile nehmen, Wirtschaftsprüfgesellschaften, Rating-Agenturen sind kein Zufall. Sie resultieren aus der Wirtschaftsverfas- usw. – Dies sind die wichtigsten, größtenteils zur Privatwirt- sung und der Geldordnung moderner Volkswirtschaften. schaft zählenden Teilbereiche der Finanzindustrie. Besondere Bedeutung kommt dabei dem Kreditcharakter Im weiteren Sinne sind zur Finanzindustrie aber auch staat- des Geldes zu sowie der Synchronität von Forderungen und liche und international agierende Institutionen zu zählen, so Verbindlichkeiten, welche verschiedenen Subjekten, die un- zum Beispiel die Notenbanken, in der Euro-Zone die Euro- terschiedlichen Bereichen angehören können, zuzurechnen päische Zentralbank (EZB), die Deutsche Bundesbank, die sind. Ferner der Zweistufigkeit des Bankensystems (Zentral- Landeszentralbanken, die Bundesanstalt für Finanzdienst- bank und Geschäftsbanken) und der daraus resultierenden leistungsaufsicht (BaFin), nationale und internationale Auf- abgestuften Form der Kreditschöpfung und Geldemission, sichts- und Kontrollinstitutionen, der Internationale Wäh- der Existenz unterschiedlicher Qualitäten von Geld (Zentral- rungsfonds (IWF), die Weltbank, die Bank für Internationalen bankgeld und Geschäftsbankengeld, Quasigeld, Derivate Zahlungsausgleich (BIZ). usw.), verschiedener Abgrenzungen der Geldmenge (M1, Hinzu kommen die institutionalisierten Finanzmärkte, wo- M2 usw.) und den fließenden Übergängen zwischen den Ak- runter alle Geld-, Kapital-, Vermögens-, Devisen- und Sor- tivposten (Assets) einer Volkswirtschaft. tenmärkte, insbesondere die Effektenbörsen und deren Ab- Bei der Darstellung einzelner Komponenten der Finanz- leger, gehören. – Ein kaum zu überblickender und zudem industrie können institutionelle und funktionale Aspekte un- außerordentlich differenziert strukturierter und vielfältig ver- terschieden werden. Das heißt, die Finanzindustrie kann als netzter Bereich! ein riesiges Konglomerat finanzieller Institutionen aufgefasst Nicht zur Finanzindustrie hingegen zählt das Finanzwe- werden, bestehend aus Banken, Versicherungsgesellschaf- sen im engeren Sinne, der Fiskus, also die öffentlichen Haus- ten, Investmentfonds, Rating-Agenturen usw. Ebenso aber halte, die Steuerbehörden, die staatliche Münze usw. Auch auch als die Gesamtheit der Finanzmärkte, als der Sphäre fi- nicht dazu zu rechnen sind die Finanzen der Unternehmen nanzieller Transaktionen und Interaktion. Beide Sichtweisen resp. der Wirtschaft und die Geldbeziehungen und Geld- haben ihre Berechtigung. Und beide lassen erkennen, dass fonds Bevölkerung bzw. der privaten Haushalte und privaten sich hier in den letzten Jahrzehnten bedeutsame Verände- Organisationen ohne Erwerbszweck. Diese bilden jeweils rungen vollzogen haben. Diese betreffen Anzahl, Größe, Bi- besondere Sektoren der Volkswirtschaft und werden statis- lanzsumme, Geschäftsvolumen, Verflechtungsumfang usw. tisch gesondert erfasst. Wir wollen uns im Folgenden auf die der Finanzinstitute, mehr aber noch deren Stellung in Wirt- zuerst genannten sechs Teilbereiche, also auf die Finanzin- schaft und Gesellschaft, ihre ökonomische und gesellschaft- dustrie im engeren Sinne, und auf die institutionalisierten Fi- liche Machtposition, ihren Einfluss auf andere Bereiche der nanzmärkte, als deren Betätigungsfeld, beschränken. Volkswirtschaft und ihr Verhältnis zum Staat. Die hier betrachteten Institutionen bilden ein sowohl un- So ist in der Bundesrepublik Deutschland zum Beispiel tereinander als auch mit anderen, mit staatlichen und inter- die Anzahl der monetären Finanzinstitute kontinuierlich ge- nationalen Finanzinstitutionen, vielfältig verflochtenes und schrumpft, von 13.359 Kreditinstituten im Jahr 1957 auf interdependentes System, welches sich durch mannigfa- 4.297 Institute 1989. Für das vereinigte Deutschland ver- che Hierarchien, Untergliederungen und Subordinationen zeichnet die Statistik für 2011 1.905 Institute. Die Zahl der auszeichnet. Die Finanzindustrie ist in der Tat eine Industrie. Kreditbanken verringerte sich von 364 (1957) auf 321 (1989). Das heißt, ihre Funktionsweise erschließt sich erst, wenn Heute sind es noch 286 (2011). Aber auch die Großbanken man ihre Elemente und Teilsysteme im Zusammenhang und sind im Zeitverlauf weniger geworden. Ihre Zahl schrumpfte in ihrem Zusammenwirken betrachtet. Eine isolierte Beob- von 8 (1957) auf 6 (1989) und 4 (2011), wovon nur noch zwei achtung einzelner Segmente ist kaum möglich. Jede Ab- (Deutsche Bank AG und Commerzbank AG) selbständig agie- grenzung ist relativ. Alle sind mit allen verbunden und alle ren. Besonders markant ist der Rückgang bei den Sparkas- hängen von allen ab. Dies macht ihre Stabilität aus, eben- sen und bei den Genossenschaftsbanken: die Zahl der Spar- so aber auch ihre Fragilität. Selbst relativ kleine und für sich kassen sank von 871 Instituten mit 8.192 Zweigstellen (1957) betrachtet unbedeutende Institute erlangen dadurch, dass auf 583 Institute mit 17.359 Zweigstellen (1989).4 Gegenwär- sie arbeitsteilig agieren und bilanziell in größere Netze ein- tig gibt es in Deutschland 427 Sparkassen. Diese Zahlen ste- gebunden sind, Systemrelevanz.3 Eine Insolvenz derartiger hen für einen beschleunigten Konzentrations- und Zentrali- Institute könnte Kettenreaktionen und Dominoeffekte aus- sationsprozess im Geld- und Kreditgewerbe, aber auch für lösen und stellt deshalb für eine Volkswirtschaft ein unkal- einen strukturellen Umbruch im Finanzsektor. An die Stelle kulierbares Risiko dar. Dieses zu bewerten aber ist wegen traditioneller Bankhäuser sind Direktbanken im In- und Aus- der systemischen Intransparenz von Finanztransaktionen land getreten und kleinere Unternehmen fusionieren mit grö- beinahe unmöglich. Es bleibt daher ein wohl behütetes Ge- ßeren, um sich im Wettbewerb behaupten zu können. Der heimnis. Mithin genießt die Finanzbranche insgesamt die be- sondere Aufmerksamkeit der Gesellschaft und besonderen 3 Vgl. Deutsche Bundesbank: Finanzstabilitätsbericht 2011, November, S. 67 ff. 4 Deut- 12 13 staatlichen Schutz. Sie ist, von ihrer grundsätzlichen Funk- sche Bundesbank: Monatsberichte 42. Jg. (1990) 12, S. 44*f.; 63. Jg. (2011) 12, S. 24*. Rückgang der absoluten Zahl der Banken weist aber auch auf genen 200 Jahren gravierend verändert. Insgesamt ist eine eine Bedeutungsverschiebung zwischen Kreditinstituten und enorme Bedeutungszunahme des Geldes und der Finanz- Kapitalmarkt hin. sphäre zu konstatieren, welche sich in der wechselnden Be- Gleichwohl ist die Bilanzsumme des Bankensektors stetig grifflichkeit – Handelskapitalismus, Industriekapitalismus, Fi- gestiegen. Sie lag Ende 2011 bei 8.403,3 Mrd. Euro für alle nanzkapitalismus – widerspiegelt. Parallel dazu hat sich eine MFIs. Ein Viertel davon entfiel allein auf die vier Großbanken: Verschiebung in der Hierarchie der Märkte und im Verhält- 2.124,5 Mrd. Euro.5 Dies entspricht rund 83 Prozent der ge- nis zwischen Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft vollzo- samtwirtschaftlichen Wertschöpfung des Jahres 2011. Ins- gen, welche ebenfalls Eingang in die Begrifflichkeit gefun- gesamt betrug die Bilanzsumme der MFIs fast das Dreiein- den hat: Von einer «Wirtschaftsgesellschaft» spricht man halbfache des Bruttoinlandsprodukt (BIP). 1989 belief sich erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts9, nachdem die Wirt- der Vergleichswert für die sechs Großbanken lediglich auf schaft die Gesellschaft weitestgehend determiniert und be- 19,9 Prozent und das Geschäftsvolumen aller Banken auf herrscht, von einer Dominanz der Geld- und Kreditwirtschaft rund das Doppelte des BIP.6 Für diese Veränderung gibt es ist seit Anfang des 20. Jahrhunderts10 die Rede, von der Vor- viele Ursachen, nicht zuletzt aber ist sie Ergebnis der Finan- herrschaft der Finanzindustrie aber erst seit zwanzig bis drei- zialisierung von Wirtschaft und Gesellschaft und somit ein ßig Jahren. Während für erstere Prozesse die Termini «Kom- Phänomen der finanzmarktkapitalistischen Transformati- modifizierung», «Monetisierung» und «Kommerzialisierung» on, wie sie sich seit den 1980er Jahren, ausgehend von den stehen, findet der aktuelle Vorgang im Begriff «Finanzialisie- USA und Großbritannien, nach 1990 aber verstärkt auch in rung» seine zutreffende Charakterisierung. Deutschland und Europa vollzieht. Übereinstimmend mit diesen Prozessen haben sich im Charakteristisch für diesen Prozess ist eine beispiellose Verhältnis der Märkte gravierende Veränderungen vollzo- Zentralisation ökonomischer Macht bei wenigen Global Play- gen. Diese betreffen insbesondere den rapiden Bedeutungs- ers, aber auch die Konzentration dieser Macht im Finanzsek- zuwachs der Finanzmärkte in Relation zu den Gütermärkten. tor und die Vernetzung der Finanzindustrie mit dem Rest der Aber auch den relativen Bedeutungsverlust der Kreditban- Volkswirtschaft und der großen Politik. ken und der von ihnen kontrollierten Geld- und Kreditmärkte Eine kürzlich erschienene Studie der ETH Zürich7 erbrach- gegenüber den Kapitalmärkten (Börsen) während der beiden te den Nachweis, dass die Welt heute von einer verhältnis- letzten Jahrzehnte. In der Gegenwart ist die Dominanz der mäßig kleinen Zahl von Unternehmen beherrscht wird: Von Finanzmärkte gegenüber den anderen Märkten, aber auch 37 Millionen erfassten Unternehmen sind 43.000 internati- gegenüber den staatlichen Institutionen, insbesondere den onal agierende Konzerne. Innerhalb dieser Gruppe sind es Finanzinstitutionen, offensichtlich. Die Banken partizipieren 1.318 Firmen (3,1 Prozent), die im Durchschnitt 20 andere hieran nur, sofern sie als Akteure im Investmentgeschäft prä- Unternehmen und damit vier Fünftel des globalen Umsatzes sent sind und mit den mächtigen Fondsgesellschaften, Pen- kontrollieren. Davon verfügen 147 Konzerne über dermaßen sionsfonds usw. zu konkurrieren vermögen. Andernfalls sind viel Macht, dass sie faktisch die Weltwirtschaft kontrollieren. sie eher zu den Verlierern dieser Transformation zu zählen. Bemerkenswert ist, dass die mächtigsten dieser Unterneh- Bezeichnend für den Umbau der bürgerlich-kapitalisti- men Finanzinstitute sind. Ihr Anteil liegt bei 75 Prozent. Engt schen Gesellschaften in finanzkapitalistisch geprägte Wirt- man die Analyse auf die 50 einflussreichsten Superunterneh- schaftsgesellschaften ist auch, dass die EZB innerhalb der men ein, so sind 49 davon Finanzkonzerne! Das heißt, «der Europäischen Union zunehmend Aufgaben wahrnimmt, die Kreis der 50 mächtigsten Unternehmen ist ein fast exklusi- eigentlich in die Verantwortung der Staaten gehören (ähnli- ver Club von Banken, Fondsgesellschaften und Versicherun- che Prozesse vollziehen sich auch in den USA) und dass ei- gen»8. An der Spitze stehen Firmen wie die britische Barclays nige Staaten nur noch überleben können, wenn sie von Fi- Bank, die US-amerikanische Capital Group und der franzö- nanzexperten regiert werden, zum Beispiel Griechenland sische AXA-Versicherungskonzern. Die einzigen deutschen und Italien. Unternehmen dieser Kategorie sind die Deutsche Bank und die Allianz-AG. Sie bekleiden die Ränge 12 und 28. Das ein- Finanzinstitutionen und zige Nicht-Finanzunternehmen unter den 50 Großen ist die institutioneller Wandel China Petrochemical Group. Von den klassischen Industrie- Die Wirtschafts- und Finanzgeschichte zeichnet ein getreu- unternehmen findet sich kein einziges in diesem Kreis. es Bild vom Aufstieg der Banken und Finanzinstitutionen im Auf Grund der globalen Bedeutung der Finanzkonzerne Laufe der Geschichte.11 Auffällig ist dabei die enge Verbin- und der internationalen Ausrichtung ihrer Geschäftstätigkeit dung zwischen der Genesis und Reifung des Kapitalismus ist es nicht verwunderlich, dass ihre Größe (Bilanzsumme) als Produktionsweise und dem Siegeszug der Geldwirt - mitunter die Wirtschaftskraft ganzer Volkswirtschaften er- schaft. «Das Kapital kömmt zunächst aus der Zirkulation her, reicht oder diese wie in Island, Irland, Großbritannien oder und zwar vom Geld als seinem Ausgangspunkt.» Das Geld ist der Schweiz sogar übertrifft. Die Finanzindustrie erweist sich «der erste Begriff des Kapitals und die erste Erscheinungs- damit nicht nur für bestimmte Volkswirtschaften und für die form desselben, […] die erste Form, worin das Kapital als Weltwirtschaft insgesamt als fundamental und wirtschaft- lich bedeutsam. Von ihrer Leistungskraft und mehr noch ih- rer Stabilität hängen inzwischen das Wohl und sogar, wie die 5 Deutsche Bundesbank: Monatsberichte, 63. Jg. (2011) 12, S. 24*. 6 Deutsche Bundes- jüngste Krise offenbart hat, die Existenz ganzer Staaten ab. bank: Monatsberichte 42. Jg. (1990) 12, S. 32* und 69*, eigene Berechnungen. 7 Vitali, S./ Glattfelder, J.B./Battiston, S.: The network of global corporate control. arXiv preprint. 19. Ein zweiter Aspekt betrifft die Rolle der Finanzmärkte in- September 2011. Ms. 8 Baumann, D./Schlandt, J.: 147 Firmen kontrollieren die Welt, in: nerhalb des Wirtschaftsgeschehens. Hierauf soll im dritten Berliner Zeitung vom 25.10.2011, S. 9. 9 Vgl. Weber, M.: Wirtschaft und Gesellschaft [1922], Neu Isenburg 2005. 10 Vgl. Keynes, J. M.: Allgemeine Theorie der Beschäftigung, Abschnitt ausführlicher eingegangen werden. An dieser des Zinses und des Geldes [1936], Berlin 1983. 11 Vgl. hierzu M. North: Das Geld und sei- Stelle sei nur so viel gesagt: die volkswirtschaftliche Rele- ne Geschichte, München 1994; E. Kaemmel: Finanzgeschichte, Berlin 1966; W. Bagehot: Lombard Street. A Description of the Money Market [1873], Düsseldorf 1996; Marx, K.: Das vanz der Banken und Finanzinstitute hat sich in den vergan- Kapital. Dritter Band [1894], in: MEW, Bd. 25, Berlin 1969, 5. Abschnitt, S. 350–626. 14 solches erscheint.»12 Die Entwicklung des Kapitalismus lässt die Kapitalverwertung, die Beschleunigung der Waren- wie sich folglich anhand der Geschichte des Geldes nachvollzie- der Geldzirkulation bei gleichzeitiger Minimierung der Zirku- hen. Will man begreifen, was der Kapitalismus ist, so muss lationskosten. Die Erfindung der Banknote und der Einsatz man diesen als «gesteigerte Geldwirtschaft»13 verstehen. In von Giralgeld dienten ebenso diesem Zweck wie die Demo- der Entfaltung der Geldwirtschaft, ihrer Expansion und Ver- netisierung des Goldes, welche in Kontinentaleuropa 1914 tiefung, in der Kommerzialisierung und Monetisierung des zum Abschluss kam, die Einführung neuer Zahlungsinstru- Wirtschaftslebens, dokumentiert sich die Entwicklungsge- mente (Akkreditiv, Scheck usw.) und die Hervorbringung effi- schichte des Kapitalismus. zienzsteigernder Finanzinnovationen. Fristeten Geldwechsler, Geldhändler und Geldverleiher Der Kapitalismus des 19. Jahrhunderts war industriell ge- «in den Poren» der alten Gesellschaften, in der Antike und prägt. Die industriemäßige Produktion materieller Güter, vor im Mittelalter, noch ein vergleichsweise bescheidenes Da- allem von Produktionsgütern (der Abteilung I), bildete seine sein, so veränderte sich dies mit der Zunahme des Handels Basis. Die Konsumgüterproduktion (der Landwirtschaft wie und der Ausbreitung des Geldverkehrs an der Schwelle zum der Industrie, Abteilung II) trat dahinter zurück, ebenso der bürgerlichen Zeitalter grundlegend14: Ausgehend von Ober- Dienstleistungsbereich. Der klassische Kapitalismus war italien15 gewinnt jetzt eine Wirtschaftsform an Bedeutung, aber auch eine Geld- und Kreditwirtschaft, wobei die Ban- welche auf der Verwertung von Kapital, der Kapitalakkumu- ken gegenüber der Produktion eine dienstleistende Funk- lation und der wirtschaftlichen Entwicklung, beruht und wo- tion inne hatten und der Kredit der Realisierung des Mehr- für Geld- und Kredit eine unerlässliche Voraussetzung bilden. produkts und der Akkumulation von Kapital diente. Gegen «Welthandel und Weltmarkt eröffnen im 16. Jahrhundert die Ende des Jahrhunderts kam es hier jedoch zu einschnei- moderne Lebensgeschichte des Kapitals.»16 denden Veränderungen: Nach Überwindung der «großen Im Handelskapitalismus des 16. bis 18. Jahrhunderts nah- Depression» (1873–1893) gelang dem Kapital ein weltwei- men Banken und Börsen einen zentralen Platz ein, fanden ter Aufschwung.21 Die Grundlage dafür bildete zum einen Finanzinnovationen wie Wechsel, Banknoten, Giroverkehr, der Beginn der zweiten industriellen Revolution, der «elekt- Diskont usw. rasche Verbreitung und setzte sich die Geld- rotechnischen Revolution», zum anderen aber ein Wechsel wirtschaft mehr und mehr durch. Ferdinand Braudel hebt in in der Produktionsweise. In der Literatur wird dieser Prozess diesem Zusammenhang Florenz, Venedig und Mailand her- vor allem mit der Konzentration und Zentralisation des Kapi- vor, erwähnt aber auch die «unglaubliche Raffinesse der Ge- tals, der Monopolisierung, erklärt. Nicht weniger bedeutsam nuesen in Finanzdingen», welche das Jahrhundert zwischen jedoch war die gewachsene Rolle der Banken in jener Zeit, 1550 und 1650 zum «Zeitalter der Genueser Bankiers»17 wer- ihr verändertes Verhältnis zur Industrie. den lässt. Dieser maßgeblich vom Fernhandel und der Spe- Rudolf Hilferding prägte dafür, für die neue Erscheinungs- kulation getragene Prozess hat sich als wesentlich erfolgrei- form des Kapitalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts, den cher und zukunftsträchtiger erwiesen als das Arrangement Begriff «Finanzkapital»22. Er sah in ihm «alle partiellen Kapi- einiger Geldhäuser mit feudalen Mächten. Es ist daher kein talformen zur Totalität vereinigt»23. Das Finanzkapital verkör- Zufall, wenn dieses mit dem Ruin ihrer Akteure endete (siehe pert das Zusammengehen von Industrie- und Bankkapital, die Geschichte der Fugger und Welser18), während jener zu zugleich aber auch die Konzentration und Zentralisation des Reichtum, Einfluss und Macht führte und zum historischen Kapitals in wenigen Händen, also die Bildung großer, bran- Aufstieg der Handelsnationen Holland und England. chenübergreifender Konzerne unter der Vorherrschaft der Die eigentlich bedeutsame Zäsur bildete jedoch die Indus- Banken, der Finanzindustrie. trialisierung, welche im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts W. I. Lenin griff 1916 diesen Ansatz auf und definier - begann und bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hin- te das Wesen des Finanzkapitals als «Verschmelzung oder ein andauerte. Mit der «großen Industrie» schuf sich das Ka- Verwachsen der Banken mit der Industrie»24. Zugleich aber pital seine adäquate materielle Grundlage. Sie bildete die Vo- betonte er die «neue Rolle» und Dominanz der Banken in - raussetzung für die «reelle Subsumtion der Arbeit unter das nerhalb dieser Struktur, das «Übergewicht des Finanzka- Kapital». Erst dadurch wurde die kapitalistische Produktions- pitals über alle übrigen Formen des Kapitals», was faktisch weise zur «allgemeinen, gesellschaftlich herrschenden Form «die Vorherrschaft des Rentners und der Finanzoligarchie» in des Produktionsprozesses»19 und trat sie in ihr reifes Stadium Wirtschaft und Gesellschaft bedeutete.25 ein. Zugleich mit der Industrie gelangte die Geldwirtschaft Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Feststel- in Gestalt der Kreditwirtschaft zur vollen Blüte. Dies war ne- lung, dass das Finanzkapital als Geldkapital in Erscheinung ben der Ausdehnung der Warenproduktion und des Handels tritt und folglich auch dessen Bewegungsform G-G’ besitzt. insbesondere der kapitalistischen Akkumulation geschul- Dies markiert einen bedeutsamen Unterschied gegenüber det, der Notwendigkeit eines Kapitalvorschusses auf immer dem Kapitalkreislauf, wie ihn Karl Marx mit den Formeln G- höherer Stufenleiter. Im Industriekapitalismus ist der Kredit W…P…W‘-G‘, P…W‘-G‘-W‘…P und W‘-G‘-W…P…W‘ der Produktion notwendig vorausgesetzt und das Bank- und Kreditwesen mithin eine unerlässliche Bedingung für die

Produktion. Die wirtschaftliche Entwicklung erforderte die 12 Marx, K.: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie [1857/58], in: MEW, Bd. 42, Konzentration und Zentralisation des Geldes bei den Banken Berlin 1983, S. 178. 13 Plenge, M. E., Geleitwort zu: Das Herz der Weltwirtschaft. Die Lom- bardenstraße, Essen 1920, S. V. 14 Vgl. Sombart, W.: Die Juden und das Wirtschaftsleben, und dessen Mobilisierung über den Kredit sowie die Ökono- Leipzig 1911, S. 13 ff. 15 Vgl. Braudel, F.: Modell Italien 1450 – 1650, Berlin. 16 Marx, K.: miesierung der Geldzirkulation, da diese Kosten verursacht, Das Kapital. Erster Band [4. Aufl. 1890], in: MEW, Bd. 23, Berlin 1969, S. 161. 17 Braudel, F., a.a.O., 14. 18 Vgl. Ogger, G.: Kauf dir einen Kaiser. Die Geschichte der Fugger, München Zirkulationskosten, welche für das Kapital unproduktiv sind, 1978. 19 Marx, K.: Das Kapital. Erster Band, a.a.O., S. 533. 20 Marx, K.: Das Kapital. Zwei- «faux frais»20, und den Profit schmälern. All dies leistete das ter Band [2. Aufl. 1893], in: MEW Bd. 24, Berlin 1969, S. 138. 21 Vgl. Spiethoff, A.: Die wirt- schaftlichen Wechsellagen, Aufschwung – Krise – Stockung, Teil I, Tübingen/Zürich 1955, Bankwesen, sowohl die Aufbringung der enormen Finanz- S. 114 ff. und Schumpeter, J. A.: Konjunkturzyklen, Bd. 1, Göttingen 1961, S. 314 ff. 22 Hil- mittel für die Industriealisierung und den regelmäßigen Kapi- ferding, R.: Das Finanzkapital [1923], Berlin 1955. Die erste Auflage des Werkes erschien bereits 1910. 23 Ebd., S. 350. 24 Lenin, W. I.: Der Imperialismus als höchstes Stadium des 14 15 talvorschuss als auch die Mobilisierung aller Ressourcen für Kapitalismus [1917], in: Werke, Bd. 22, S. 230. 25 Ebenda, S. 224, 242. beschrieben hat, wobei er hinzufügte, dass der «wirkliche genüber früher bedeutend größeres Engagement des Staa- Kreislauf des industriellen Kapitals […] nicht nur Einheit von tes in sozialer Hinsicht, aber auch was die Gestaltung der Zirkulations- und Produktionsprozess (ist)», sondern immer Rahmenbedingungen für die Wirtschaft anbetrifft. Theore- die «Einheit aller seiner drei Kreisläufe»26. Dadurch fanden tisch geht der Entwurf der neuen Wirtschaftsordnung u. a. die jeweilige Spezifik und die Logik aller drei Kapitalformen – auf John Maynard Keynes zurück.32 Praktisch stellt er eine des Geldkapitals, des produktiven Kapitals und des Waren- Konsequenz aus der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jah- kapitals – quasi gleichberechtigt Eingang in den Reprodukti- re dar. Keynes sah die entscheidende Schwäche des bishe- onsprozess des industriellen Kapitals. rigen Systems in einem systematischen Zurückbleiben der Der Kreislauf des Finanzkapitals unterscheidet sich hier- effektiven Nachfrage gegenüber der Produktion. Er favori- von explizit, indem er einseitig der Logik des Geldkapitals sierte daher einen Lösungsansatz, der auf eine Stärkung der und dessen Zirkulationsform G-G‘ folgt. Hilferding begrün- Nachfrage durch die größere Teilhabe der Arbeiter und ein dete dies damit, dass das Finanzkapital den Unternehmen umfangreicheres Engagement des Staates setzt. «als Geldkapital» zur Verfügung gestellt wird, und zwar «in Die Hochzeit des fordistischen «Teilhabekapitalismus» in den beiden Formen des Leihkapitals und des fiktiven Kapi- Deutschland waren die 1950er und 1960er Jahre. 33 Mit der tals. […] Die Vermittlung besorgen die Banken, die […] dem «großen Krise» der 1970er Jahre, beginnend mit der Geld- Finanzkapital damit die Form von Bankkapital geben. Dieses und Währungskrise 1971/72 über die Rezession 1975 bis Bankkapital wird immer mehr die bloße Form – Geldform – zur Öl- und Rohstoffkrise 1976/80 und den nachfolgen- des wirklich fungierenden Kapitals […]. Zugleich wird die den Prozessen von Inflation und Stagnation (Stagflation), Selbständigkeit des kommerziellen Kapitals immer mehr scheiterte das keynesianische Modell einer fiskalischen beseitigt, während die Trennung des Bankkapitals und des Regulierung und Globalsteuerung. Zugleich erodierte das produktiven Kapitals im Finanzkapital aufgehoben wird.»27 fordistische Produktions- und Sozialmodell eines auf Wirt- Indem die Banken im Wirtschaftsprozess als «Schaltstel- schaftswachstum und sozialen Ausgleich angelegten Kapi- len» fungieren, Geld in Bankkapital transformieren und Kre- talismus. Die Aufgabe des internationalen Regelwerks von dite vergeben, erlischt jeder besondere Charakter des Kapi- Bretton-Woods 1972, die Freigabe der Wechselkurse 1973, tals und erscheint dieses im Finanzkapital als «einheitliche die Praxis neomonetaristischer Geldpolitik seit 1974, der the- Macht», welche «den Lebensprozess der Gesellschaft sou- oretische Bruch mit dem Keynesianismus und die Wende verän beherrscht».28 zum Neoliberalismus in Politik und Ideologie schufen neue Lenin zog aus dieser Beobachtung den Schluss, dass mit Bedingungen für das Finanzkapital. Zuerst in Großbritannien den von Hilferding 1910 analysierten Veränderungen «der (1979) und den USA (1980), schließlich auch in Deutschland Wendepunkt vom alten zum neuen Kapitalismus» eingetre- (1982). Auf ökonomischem Gebiet bedeutete diese gesell- ten sei, «von der Herrschaft des Kapitals schlechthin» zur schaftspolitische «Wende» forcierte De-Regulierung, Re-Pri- «Herrschaft des Finanzkapitals»29. Ökonomisch markiert die- vatisierung, Ent-Staatlichung und Ent-Sozialisierung, aber ser Punkt die Transformation vom Industriekapitalismus der auch eine durchgreifende Finanzialisierung. Auf diese Weise freien Konkurrenz zum Finanzkapitalismus der Monopole, gelang es schließlich, der Stagflationsfalle zu entkommen, Oligopole und transnationalen Konzerne. Die Begrifflichkeit wieder Wachstum zu generieren, wirtschaftliche Dynamik, weist dabei auf das Neue in der Wirtschaft hin, auf die ver- Stabilität und Wohlfahrtsgewinne. Diese aber kommen nun- änderten Reproduktionsbedingungen und Marktformen, die mehr, in der postfordistischen Gesellschaft, nur noch einem sich wandelnde Akteursstruktur, die Machtverschiebung kleinen Teil der Bevölkerung zugute, während die Mehrheit usw., nicht aber auf eine Umwälzung der Produktionsba- leer ausgeht und ihre sozialen Besitzstände zunehmend ge- sis. Dies ist richtig, denn die Basis des Finanzkapitalismus fährdet sieht. Einkommens- und Vermögenspolarisierung, jener Zeit bildete nach wie vor die Großindustrie, wenn auch Prekarisierung der Arbeitswelt usw. sind die Folgen. Paral- eine substanziell und strukturell inzwischen sichtlich ver- lel hierzu kommt es in der Wirtschaft zu strukturellen Ver- änderte, vom Finanzkapital gesteuerte und von finanziellen änderungen: die Industrie verliert an Gewicht, während der Verwertungsbedürfnissen abhängige Industrie. In den Jah- Dienstleistungssektor an Bedeutung gewinnt. Hinter dieser ren vor dem Ersten Weltkrieg, während des Krieges und in Strukturverschiebung verbirgt sich eine veränderte Wert- der Nachkriegszeit konnte das finanzkapitalistische Produk- schöpfungsstruktur: Kamen in der klassischen Industrie- tions- und Verwertungsregime insbesondere in Deutschland gesellschaft 70 bis 80 Prozent des BIP aus der materiellen und in den USA beträchtliche ökonomische Erfolge verbu- Produktion, so sinkt dieser Anteil jetzt auf 10 bis 25 Prozent, chen. Im Herbst 1929 geriet dieses System jedoch weltweit während rund drei Viertel der Wertschöpfung immateriell, in eine tiefe Krise, deren Überwindung in Deutschland 1933, im tertiären Sektor, erfolgen. Vor diesem Hintergrund muss in den USA aber erst im Verlaufe des Zweiten Weltkrieges, auch der Beitrag der Finanzindustrie neu bewertet werden: infolge des rüstungsbedingten Konjunkturaufschwungs ge- In Großbritannien zum Bespiel trägt die Finanzindustrie heu- lang. Nachhaltiger jedoch hat hierzu der Übergang zu einem veränderten Produktions-, Konsum- und Regulationsmodell 26 Marx, K.: Das Kapital. Zweiter Band, a.a.O., S. 107. 27 Hilferding, R.: Das Finanzkapital, beigetragen, der in den USA mit dem New Deal unter Präsi- a.a.O., S. 350. 28 Ebd. 29 Ebd., S. 229. 30 Vgl. Land, R.: Schumpeter und der New Deal dent Franklin D. Roosevelt30 verknüpft war. In Europa wur- (1933–1937), in: Berliner Debatte Initial, 20. Jg. (2009) 4, S. 49–61. 31 Vgl. hierzu Busch, U./Land, R.: Teilhabekapitalismus – Fordistische Wirtschaftsentwicklung und Umbruch in de dieser Regimewechsel nach dem Ende des Zweiten Welt- Deutschland 1950–2009, in: Forschungsverbund Sozioökonomische Berichterstattung krieges vollzogen. (Hrsg.): Berichterstattung zur soziökonomischen Entwicklung. Zweiter Bericht, Wiesbaden 2012, S. 111–152. 32 Keynes, J. M.: Allgemeine Theorie, a.a.O., S. 20 ff. Vgl. auch die Ver- In die Literatur figuriert dieses neue Modell unter dem Be- öffentlichung von Texten von Keynes im Anhang zu Reuter, N.: Wachstumseuphorie und griff «Fordismus». Sein ökonomischer Kern besteht in der Verteilungsrealität, Marburg 2007, S. 123–164. 33 Dies gilt für die Bundesrepublik Deutsch- land. Für die DDR trifft diese Aussage nur bedingt zu und dann eher für die 1960er und Teilhabe der Werktätigen am Produktivitätsfortschritt, also 1970er Jahre. Generell ist der reale Sozialismus als eine Variante des fordistischen Produk- in der Kopplung der Lohn- und Konsumentwicklung an die tions- und Sozialmodells anzusehen (vgl. Busch, U.: Die DDR als staatssozialistische Vari- ante des Fordismus, in: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Entwicklung der Arbeitsproduktivität.31 Hinzu kommt ein ge- 3/2009, S. 34–56). 16 te zu mehr als 30 Prozent zum BIP bei, während der Beitrag des Finanzsektors «zum Dienstleister» zu vertreten38; an der der Industrie nur noch 11 Prozent beträgt. Demgegenüber Realität und den Herausforderungen unserer Zeit geht eine ist Deutschland mit einem Anteil des Verarbeitenden Gewer- solche Sicht jedoch vorbei. Dies betrifft auch die Forderung bes an der Bruttowertschöpfung von rund 23 Prozent immer linker Politiker nach einer «Neuordnung des Bankwesens», noch ein Industrieland. Der Anteil der Finanzindustrie wächst in deren Zentrum «eine Rückbesinnung hinsichtlich der öko- jedoch beständig.34 nomischen Kernfunktionen des Bankensektors» stehen soll. In der Hauptsache bedeutet dies, «den Finanzsektor wieder Funktionen der Finanzwirtschaft auf die Rolle eines Dienstleisters für die Gesamtwirtschaft und funktionaler Wandel zurückzustutzen», das heißt, auf seine Funktion als Vermitt- «Weitgehend unstrittig ist, dass der Finanzsektor in einer ler eines «kostengünstigen Zahlungsverkehrs», als Unterhal- entwickelten Marktwirtschaft eine erhebliche gesamtwirt- ter von «Kapitalsammelstellen» für Sparer und als Finanzi- schaftliche Bedeutung hat.»35 In der wirtschaftswissen- er von «Investitionen der Unternehmen und des Staates».39 schaftlichen Theorie wird dies vor allem mit den Funktionen Dafür aber bräuchte man keine multifunktional arbeitenden des Finanzsektors begründet. Diese reichen von der Siche- und global agierenden Kreditinstitute. Das könnten auch die rung der Geldzirkulation und der Kreditversorgung der Wirt- Sparkassen und die Volks- und Raiffeisenbanken. schaft über die Vermittlung der gesamtwirtschaftlichen In der Aussage differenzierter, in der Zielstellung aber ähn- Reproduktion bis hin zur Bereitstellung wichtiger Infrastruk- lich, argumentiert Sahra Wagenknecht, indem sie eine «er- turleistungen und der Entwicklung innovativer Finanzpro- hebliche Schrumpfung des Finanzsektors» fordert.40 Dafür dukte. Das Funktionsspektrum der Finanzwirtschaft umfasst sollen nicht nur die «Zockerinstrumente» beseitigt, sondern damit gleichermaßen Aufgaben einer effizienten Allokation auch die sekundäre Geldschöpfung abgeschafft, die «Geld- und Sicherung volkswirtschaftlicher Effizienz wie der terti- maschine im Keller» also stillgelegt werden. «Das gesamte ären Wertschöpfung und der wirtschaftlichen Entwicklung. Finanzsystem würde so kleiner, biederer, unspektakulärer, Im Einzelnen ließe sich dies jeweils spezifizieren. Beschrän- aber es bestünde eine reale Chance, dass es seine eigent- ken wir die Analyse auf die monetären Finanzinstitute, so liche Aufgabe wieder wahrnimmt.» Und «die Aufgabe ei- sind folgende Funktionen hervorzuheben: ner Bank sind: «Ersparnisse einsammeln und Kredite verge- – Kreditvergabe und sekundäre Geld- und Kreditschöpfung; ben»41, mehr nicht! – Verknüpft man diese Forderungen mit – Konzentration der Ersparnisse von Nichtbanken, deren der Vorstellung «regionaler Kreisläufe» als Basis volkswirt- Verwaltung und Anlage; schaftlicher Reproduktion und bindet zudem die Kreditver- – Abwicklung des baren und unbaren Zahlungsverkehrs; gabe der Banken an deren «Eigenkapitalausstattung», wie – Realisierung des produzierten Mehrprodukts mittels Kre- Matthes dies vorschwebt42, so wären dadurch, falls es zu ditexpansion; einer Realisierung dieser romantischen Utopie käme, nicht – Ermöglichung wirtschaftlichen Wachstums und erweiter- nur die parasitären Auswüchse der Finanzindustrie besei- ter Reproduktion; tigt, sondern die Grundlagen wirtschaftlicher Entwicklung – Losgrößentransformation (Ausgleich zwischen Kreditan- und kreditinduzierter Dynamik gleich mit. Es ist hier nicht gebot und -nachfrage); der Platz, dies argumentativ auszuführen, es soll deshalb – Fristentransformation (temporaler Ausgleich zwischen auf entsprechende Literatur verwiesen werden: Von D. Ri- Geldanlagen und Krediten); cardo und K. Marx über J. A. Schumpeter, C. Menger, J. M. – Risikotransformation (zwischen Sparern und Kreditneh- Keynes, L. A. Hahn, N. Kaldor, F. Haberler, I. Fisher, M. Ka- mern); lecky, H. P. Minsky und andere bis hin zu J. Tobin, J. A. Kre- – Dienstleistungserbringung (Leasing-, Factoring-, Bro- gel, R. Dornbusch, W. Gebauer, C. A. E. Goodhart, F. A. Lutz, king-, Consultinggeschäft); H. Riese, H. Herr, O. Steiger usw. erstreckt sich das Spek- – Investment (Wertpapieremission und -handel). trum wissenschaftlicher Nachweisführung, warum die re- Zusammengefasst sind es vor allem zwei Aspekte, worauf lative Verselbständigung der Geld-, Kreditschöpfungs- und sich die volkswirtschaftliche Relevanz der Banken gründet, Finanzprozesse eine notwendige Voraussetzung für ökono- erstens die Kreditemission und Geldschöpfung, ohne die der mische Prosperität und Entwicklung ist und dass die Funkti- Kapitalkreislauf als Reproduktion auf erweiterter Stufenlei- on der Banken, Finanzmärkte etc. im modernen Kapitalismus ter überhaupt nicht möglich wäre. Und zweitens die Mini- durchaus eine produktive ist.43 Dass dies nicht uneinge- mierung der gesamtwirtschaftlichen Transaktionskosten. schränkt gilt, es hier vielmehr zu dramatischen Fehlentwick- Beides dient der Innovationsfähigkeit und Entwicklung der Wirtschaft und ist damit für die kapitalistische Produktions- weise existenziell.36 Hieraus erklärt sich die Systemrelevanz 34 Der direkte Anteil der Kredit- und Versicherungswirtschaft an der Bruttowertschöpfung wird lediglich mit 4–5 Prozent ausgewiesen (2009: 4,3 Prozent). Da hier im Wesentlichen des Bankensektors im Allgemeinen und bestimmter Kredit- aber nur die Zinseinnahmen erfasst werden, nicht jedoch die kapitalmarktbezogenen Ein- und Großbanken im Besonderen.37 nahmen und Erträge aus Dienstleistungen, liegt der tatsächliche Beitrag deutlich höher (vgl. AG Alternative Wirtschaftspolitik: Memorandum 2011, Köln 2011, S. 204 ff.). 35 Ebenda, Für den gesunden Menschenverstand, der sich gern an S. 204. 36 Vgl. Schumpeter, J.: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung [4. Aufl. 1934], Berlin 1997, S. 140 ff.; Binswanger, H. C.: Die Wachstumsspirale, Marburg 2006; Binswan- überlebten Mustern früherer Zeiten orientiert, scheint es aus- ger, H. C./Flotow, P. v. (Hrsg.): Geld & Wachstum. Zu Philosophie und Praxis des Geldes, gemacht, dass die Produktion und der Verbrauch materiel- Stuttgart/Wien 1994. 37 Dies wird durch die Größe der Banken, gemessen an ihrer Bilanz- summe im Verhältnis zum gesamtwirtschaftlichen BIP, unterstrichen: Deutsche Bank ler Güter das zentrale Anliegen der Ökonomie ist, während 76,9 Prozent, Commerzbank: 30,4 Prozent, Hypo Real Estate: 13,2 Prozent (2010). 38 Mat- Geld und Finanzen hier lediglich eine «dienende Rolle» zu thes, H.: Eine vorläufige Bilanz der Finanzkrise, in: Rosa-Luxemburg-Stiftung: Standpunkte Nr. 20/2011, S. 11. 39 Troost, A.: Die Vergesellschaftung der Banken konkret denken, in: spielen haben. Man kann niemandem verbieten, so zu den- Neues Deutschland, 27.09.2010, S. 10. 40 Wagenknecht, S.: Freiheit statt Kapitalismus, ken und entsprechende politische Forderungen nach einer Frankfurt am Main 2011, S. 250. 41 Ebenda, S. 232. 42 Matthes, H., a.a.O., S. 11. 43 Vgl. hierzu auch Land, R.: Zur Unterscheidung von Wirtschaftswachstum und wirtschaftlicher strikten Bindung der «Geld- und Finanzkreisläufe» an «reale Entwicklung, in: Thomas, M. (Hg.): Transformation moderner Gesellschaften und Überle- materielle Wirtschaftsbewegungen» und deren «quantitati- ben in alten Regionen, Münster u. a. 2011, S. 99–138 sowie Busch, Ulrike: Theorie der Gel- schöpfung durch Banken: Zur Bedeutung der Annahme einer exogenen oder endogenen 16 17 ver Begrenzung» durch diese sowie einer «Zurücksetzung» Geldbasis (DA), J. W. Goethe Universität, Frankfurt am Main 2002. lungen und Krisen kommen kann, welche durch geeignete det den Finanzkapitalismus vom Kapitalismus des 19. Jahr- Reformen des Finanzsystems und einen Umbau der Finanz- hunderts, wo der Zins «nichts als ein Teil des Profits», den architektur überwunden werden müssen, liegt auf der Hand. der fungierende Kapitalist an den Geldverleiher zahlt, war.46 Diese Probleme können jedoch grundsätzlich nur auf zwei Die zinsabhängige Investitionsnachfrage als «Ausfluss der Wegen behoben werden: entweder durch radikale, aber auf Bedingungen des Vermögensmarktes» bestimmt sodann dem Erreichten aufbauende und dieses demokratisch ge- das Geschehen auf dem Gütermarkt und wird dadurch zum staltende Reformen oder durch einen Systembruch, einen «Scharnier zwischen Vermögens- und Gütermarkt» 47. Die Wechsel der Wirtschaftsordnung, wodurch «das Geldkapital Konsumnachfrage – als nächstes Glied in der Ableitungsket- ganz fort(fällt), also auch die Verkleidungen der Transaktio- te – ist der Investitionsnachfrage nachgeordnet, da erst in- nen, die durch es» bedingt sind44, und wodurch die Banken, folge getätigter Investitionen Einkommen generiert werden, Versicherungen usw., die Finanzindustrie überhaupt, über- aus welchen sich der Konsum speist. Die Arbeitsnachfrage flüssig werden würden. Die oben zitierten Ansätze einer «Zu- schließlich hängt vom Produktionsvolumen ab und damit rücksetzung» und «Schrumpfung» des Finanzsektors jedoch vom Gütermarkt. Das Angebot an Arbeit erklärt sich vor al- stellen den untauglichen Versuch einer historischen Kehrt- lem aus der Bevölkerungsentwicklung. wende dar, einer Rückkehr in vorfinanzkapitalistische Zeiten. Das Ergebnis dieser Konstellation ist eine eindeutige Hie- Eine solche retrograde «Zeitreise» aber wird nicht stattfin- rarchie der Märkte mit dem Vermögens- bzw. Finanzmarkt den, denn die Entwicklung geht vorwärts. Der Appell wird an der Spitze und dem Arbeitsmarkt am Ende. Unter Einbe- daher ebenso verhallen wie einst die Forderung «Zurück zur ziehung des Geldmarktes und weiterer Faktoren lässt sich Natur» von J. J. Rousseau. hieraus ein formales Modell einer Marktkonstellation ablei- Mit dem Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungs- ten, wie es für den Finanzkapitalismus zutreffend ist. Berück- gesellschaft und der Ablösung des fordistisch geprägten sichtigt man zudem, welche Entwicklung die Wirtschaft im Teilhabekapitalismus durch den neoliberal verfassten Finanz- Laufe der letzten Jahrzehnte genommen hat, so sind dem marktkapitalismus haben sich in Wirtschaft und Gesellschaft bisherigen Erklärungsmuster noch einige weitere Bestim- gravierende Veränderungen vollzogen, denen eine wissen- mungsmomente hinzuzufügen: so zum Beispiel die Ausdeh- schaftliche Analyse gerecht werden muss. Dazu gehört es, nung der Kreditbeziehungen über den Unternehmenssektor anzuerkennen, dass es unterschiedliche Märkte gibt und die- hinaus (Staat, private Haushalte), die Zunahme der Verschul- se sich in einem hierarchischen Verhältnis befinden, das sich dungsintensität auf breiter Front und in immer neuen For- im Zeitverlauf verändert. So kommt im Industriekapitalismus men, die globale Dimension, welche die Gläubiger-Schuld- dem Gütermarkt, insbesondere dem Markt für Investitions- ner-Beziehungen inzwischen annehmen, zum Beispiel durch güter, eine zentrale Stellung zu. Die anderen Märkte sind die- Verbriefung usw. Mit den finanzwirtschaftlichen Innovatio- sem unter- bzw. nachgeordnet, was impliziert, dass selbst nen, der Unzahl neuer, immer komplexerer Finanzprodukte, dann, wenn sie der Güterproduktion vorausgesetzt sind, wie den kaum noch übersehbaren Vernetzungen, Abhängigkei- beim Kreditmarkt der Fall, sie nicht die Logik des Gesamt- ten und Verschlingungen der Kreditbeziehungen sind die Ri- prozesses bestimmen, sondern der Gütermarkt. Diese Kon- siken monetärer Aktivitäten explosionsartig gestiegen. Die stellation verändert sich jedoch mit dem Übergang zum Fi- dem Kapitalismus ohnehin systemimmanente Unsicherheit nanzkapitalismus. Jetzt sind es nämlich die Finanzmärkte, und Ungewissheit, die sich insbesondere in der Unsicherheit wo darüber entschieden wird, was auf den anderen Märk- langfristiger Geldvorschüsse für Investitionen manifestiert, ten, den Gütermärkten und dem Arbeitsmarkt, passiert. Das erhält durch die inhärente Instabilität des Finanzsystems und heißt, die Akteure auf den Finanzmärkten, die Großaktionä- dessen Dominanz im Gesamtsystem der Volkswirtschaft ei- re, Vermögenseigner, Spekulanten usw., entscheiden hierü- ne völlig neue, den gegenwärtigen Finanzmarktkapitalismus ber und beherrschen dadurch Wirtschaft und Gesellschaft. prägende, Qualität. Hyman P. Minsky machte dafür vor allem Die Logik dabei ist gegenwärtig, vereinfacht ausgedrückt, die «endogene Instabilität» der ausufernden Kreditbeziehun- folgende: Gütermärkte, Arbeitsmarkt, Geldmarkt und Kapi- gen verantwortlich48, andere Ökonomen verweisen dagegen talmärkte (Vermögensmärkte) befinden sich in funktionaler auf die gewachsene «Gier» der Akteure am Finanzmarkt oder Abhängigkeit von- und in bestimmter Relation zueinander. das «Schneeballsystem» globaler Finanztransaktionen. Die Innerhalb der Markthierarchie verfügen die Kapitalmärk- Grundlage für die zunehmende Instabilität bildet aber bereits te über eine dominante Position. Ihr bestimmendes Kalkül die marktmäßigen Vermittlung der Reproduktion der Gesell- besteht in der maximalen Verwertung von Vermögenswer- schaft in einer unregulierten und nur dem Kalkül der Gewinn- ten. Dies gilt für Produktivkapital wie für Finanzkapital. Da maximierung unterworfenen Geldwirtschaft. Je mehr die mit dem Übergang zum Finanzkapitalismus das Geldkapi- Wirtschaft von der Finanzindustrie beherrscht wird, finanzi- tal aber den Ton angibt45, erlangt nunmehr dessen Verwer- alisiert ist, umso stärker übertragen sich deren spezifische tungslogik (G-G‘) Priorität und entscheidet über die Verwer- Unsicherheit und Instabilität auf die Gesamtwirtschaft. Die tung des Gesamtkapitals. Dies zeigt sich unter anderem in Politik entwickelt Strategien, damit umzugehen49, hat dem der Übertragung des Renditeanspruchs des Geldkapitals auf aber kaum etwas entgegenzusetzen. Ihr Anspruch, gegen- die Gesamtwirtschaft. Die Vermittlung dieses Zusammen- über der Wirtschaft so etwas wie ein Primat zu besitzen, wur- hangs erfolgt über den Kreditmarkt: Die Kreditnachfrage der de im Finanzmarktkapitalismus weitgehend «paralysiert»50. Unternehmen stellt eine Funktion ihrer Investitionstätigkeit dar. Liegt der erwartete Gewinn über dem Zins, so steigt die

Kreditaufnahme, liegt er darunter, so fällt sie. Das Kreditan- 44 Marx, K.: Das Kapital. Zweiter Band, a.a.O., S. 316. 45 Vgl. Keynes, J. M.: Allgemeine gebot seitens der Banken und der Geldvermögensbesitzer Theorie …, a.a.O., S. 206. 46 Marx, K.: Das Kapital. Dritter Band, a.a.O., S. 383. 47 Herr, H.: Geld, Kredit und ökonomische Dynamik in marktvermittelten Ökonomien – die Vision hängt ebenfalls vom Zins ab, welcher damit zur entscheiden- einer Geldwirtschaft, München 1988, S. 121. 48 Vgl. Minsky, H.: John Maynard Keynes, den Steuerungsgröße nicht nur für die Investitionstätigkeit, New York 1975, S. 130. 49 Vgl. Böhle, F./Busch. S. (Hrsg.): Management von Ungewiss- heit, Bielefeld 2012 (im Erscheinen). 50 Bruns, T.: Die Welt ist aus den Fugen, in: perspek- sondern für die Wirtschaft insgesamt wird. Dies unterschei- tive 21, Heft 50, November 2011, S. 43. 18 Finanzmarktkapitalismus – eine dauerhafte Austeritätspolitik bereitet.52 Kontrastierend Versuch einer Klassifizierung dazu realisiert die Finanzbranche unvermindert Maximalge- Das Wirtschaftsregime, das sich seit den 1980er Jahren in winne und forciert die Umverteilung des Volkseinkommens den USA, in Europa und in anderen Teilen der Welt etabliert zu Gunsten der Kapitaleigner. hat, wird heute übereinstimmend als Finanzmarktkapitalis- Unter dem Regime flexibler Wechselkurse als wesentli- mus bezeichnet. Es stellt eine Variante des seit Beginn des cher Funktionsbedingung für globale Devisen- und Finanz- 20. Jahrhunderts vorherrschenden Finanzkapitalismus dar märkte, der Liberalisierung des Güter-, Personen- und Ka- und ist durch die Dominanz der Finanzindustrie in Wirtschaft pitalverkehrs, der Emission immer neuer Finanzprodukte und Gesellschaft charakterisiert. Weitere Bestimmungs- (Derivate, Optionen, Swaps, Futures usw.) und der Verbrie- merkmale sind eine postindustrielle, von Dienstleistungen fung von Forderungen und Verbindlichkeiten erfolgte ein dominierte, Wirtschaftsstruktur, die Regulation der gesell- Umbau des Finanzmechanismus, wodurch den national- schaftlichen Reproduktion über Marktbeziehungen und eine staatlichen Steuerungsaktivitäten und dem finanzpolitischen vorrangig am Kapitalmarkt und weniger direkt über Bankkre- Instrumentarium nach und nach der Boden entzogen wurde. dite erfolgende Finanzierung von Wirtschaft und Staat. Während die Machtpositionen der Kreditbanken, der staat- Im Vergleich zum traditionellen Finanzkapitalismus der lichen Finanzaufsicht und des Fiskus geschwächt wurden, 1910er und 1920er Jahre, aber auch gegenüber dem staat- erlangten die Akteure an den Finanzmärkten, insbesondere lich regulierten Wohlfahrtskapitalismus der fordistischen die großen und global operierenden Kapitalgesellschaften, Ära, verkörpert das gegenwärtige System ein eigenständi- institutionellen Anleger und Rating-Agenturen immer mehr ges Modell. Seine Durchsetzung markiert eine neue Stufe in Macht. Dies wird auch quantitativ evident, indem die Finanz- der Evolution der kapitalistischen Formation, lässt zugleich volumina, die von diesen Akteuren bewegt und kontrolliert aber auch Anzeichen einer ökonomischen, politischen und werden, den Umfang der Budgets mittelgroßer Staaten kulturellen Erosion erkennen. übersteigen und die Gewinne der Finanzbranche die Gewin- Wichtige Impulse für die finanzmarktkapitalistische Ent- ne anderer Branchen weit übertreffen.53 wicklung gingen von der Veränderung einer institutionellen Im Lichte des Varieties-of-Capitalism-Ansatzes erscheint Konfiguration aus, von der Ersetzung des Kredits als einem der finanzmarktkapitalistische Umbau als Übergang von ei- Vertrag zwischen Bank und Unternehmen durch die Aktie als ner «koordinierten» zu einer «liberalen» Marktökonomie. 54 Hauptfinanzierungsinstrument des Unternehmenssektors. Dies scheint aus heutiger Sicht jedoch, nachdem das gan- Damit erfuhren die Finanzmärkte (Börsen) eine enorme Auf- ze Ausmaß dieser Transformation sichtbar geworden ist, zu wertung. Ihre Funktionsweise wurde bestimmend für den kurz gegriffen. Zum einen, weil der finanzmarktorientierte Verwertungsprozess sowie für die wirtschaftliche wie ge- Umbau keineswegs nur das Regulationsregime betrifft, son- sellschaftliche Regulation. Dies hatte gravierende Auswir- dern fundamentale Determinanten der Wirtschaftsordnung. kungen auf die Akteure und deren Interessenlagen: Waren Zum anderen, weil mit dieser Transformation eine Bedeu- bisher die Kreditbanken und die Manager in den Produkti- tungsverschiebung zwischen Wirtschaft und Staat sowie onsunternehmen die zentralen Akteure im Wirtschaftsleben zwischen Finanzwirtschaft und Realwirtschaft verbunden und bestimmten deren Ziele einer langfristig-stabilen Kapita- ist, die sich nicht auf die Finanzsphäre, und auch nicht auf die lakkumulation ihr Handeln, so geben jetzt die Kapitaleigner, Wirtschaft allein, beschränkt, sondern letztlich die gesamte die Aktionäre, die Richtung vor, insbesondere die institutio- Gesellschaft betrifft. Da das finanzmarktkapitalistische Sys- nellen Anleger, die Investment- und Pensionsfonds. Da diese tem trotz periodisch auftretender Finanz- und Wirtschafts- international aufgestellt sind, erhält das Wirtschaftsgesche- krisen seit drei Jahrzehnten funktioniert und die Aussichten hen von vornherein eine auf den Weltmarkt bezogene Aus- auf einen Systemwechsel in diesem Zeitraum keineswegs richtung. Zentrales Kontrollinstrument sind die Eigentums- gewachsen sind, muss es als eine historisch relativ stabile rechte der Aktionäre, welche sich bei ihren Entscheidungen Erscheinung gewertet werden. Es handelt sich hierbei also vor allem von kurzfristigen Renditeerwartungen und von den weder um ein bloßes «Spielcasino» noch um ein «Ketten- Analysen internationaler Rating-Agenturen leiten lassen. brief-Unternehmen» oder «Kartenhaus»55, auch wenn be- Dem entspricht der Shareholder-Value als «Steuerungsprin- stimmte Züge dieser Art ihm durchaus eigen sind, sondern zip»51. Zugleich trägt diese Entwicklung der Globalisierung um ein Wirtschaftssystem, das durch die Dominanz der Fi- Rechnung, indem sie die Entnationalisierung des Kapitals nanzsphäre im Reproduktionsprozess und die Herrschaft der sowie der Kapitalverwertung und -akkumulation vorantreibt. Finanzindustrie geprägt ist. Bestimmte «Verrücktheiten des Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal betrifft die Rolle, Geldes» (Marx) und eine Finanzlogik, worin die Spekulation den Einfluss und die Machtbefugnisse des Staates und der zum «Normalfall finanzökonomischer Transaktion»56 gewor- nationalen Finanzpolitik im e. S. Mit dem Übergang zum glo- den ist, gehören zwangsläufig dazu. balen Finanzmarktkapitalismus agieren die Staaten zuneh- Versteht man unter Kapitalismus «eine bestimmte Art und mend defensiv. Lediglich im Krisenfall greifen sie als «Helfer Weise, das Verhältnis zwischen ökonomischen Prozessen, in der Not» massiv in den Wirtschaftsablauf ein. Ihr Engage- ment dient dann vor allem der Aufrechterhaltung der finanz- kapitalistischen Ordnung, der Sicherung der Funktionsfähig- 51 Dörre, K./Brinkmann, U.: Finanzmarkt-Kapitalismus: Triebkraft eines flexiblen Produkti- onsmodells?, in: Windolf, P. (Hrsg.): Finanzmarkt-KapitalismuS. Analysen zum Wandel von keit systemrelevanter Banken, der sozialen Befriedung der Produktionsregimen, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft Bevölkerung und der Sozialisierung der Kosten der Krisenbe- 45, Wiesbaden 2005, S. 86f. 52 Vgl. Busch, U.: Sparpolitik und Krisenmanagement, in: Berliner Debatte Initial, Heft 2/2011, S. 14–29. 53 Es erhöhte sich auch der Anteil der Ge- wältigung. In der Folge steigt die Staatsverschuldung mas- winne der Finanzbranche an den Gewinnen der Gesamtwirtschaft. In den USA steig er von siv an, wodurch der Spielraum der Finanzpolitik spürbar ein- 16 Prozent 1973 auf über 40 Prozent im Jahr 2007 (vgl. Peukert, H.: Die große Finanzmarkt- krise, Marburg 2010, S. 64). 54 Vgl. Hall, P./Soskice, D.: Varieties of Capitalism, Oxford geengt wird. Durch eine Reduzierung der Staatsausgaben, 2001. 55 Vgl. Wagenknecht, S.: Freiheit …, a.a.O., S. 80; N. Roubini/S. Mihm: Das Ende erzwungenes Sparen und Maßnahmen zur Begrenzung des der Weltwirtschaft und ihre Zukunft, München 2011, S. 59 ff.; Eichhorn, W./Sollte, D.: Das Kartenhaus des Weltfinanzsystems, Bonn 2010. 56 Vogl, J.: Das Gespenst des Kapitals, 18 19 Schuldenanstiegs («Schuldenbremse») wird der Boden für Zürich, 2010/11, S. 95. Sozialordnung und Regierungstechnologien nach den Me- Wohlfahrtsgesellschaft der 1960er und 1970er Jahre erbli- chanismen der Kapitalreproduktion zu organisieren»57, wie cken, einen «Spekulations- und Kasinokapitalismus»58, worin Joseph Vogl schreibt, so ist der Finanzmarktkapitalismus als die Finanzsphäre von der Realsphäre «entkoppelt» ist59, wo dasjenige System zu begreifen, wo diese Organisation ge- Billionen US-Dollar als «vagabundierendes Kapital» auf der mäß den Mechanismen der Finanzmärkte und unter der He- Suche nach einer renditeträchtigen Anlage unablässig um gemonie der Finanzindustrie erfolgt. Dadurch verschieben den Globus jagen60 und die Finanzindustrie die Gesellschaft sich für die Gesamtreproduktion der Gesellschaft entschei- «in Geiselhaft» hält61. Die verheerenden Folgen der jüngsten dende Prozesse von der Realsphäre in die Finanzsphäre und Finanzkrise scheinen den Kritikern Recht zu geben. Selbst es kommt zu entsprechenden politischen, ökonomischen hochrangige Akteure der Finanzindustrie wie der frühere und sozialen Umbrüchen, wovon die Einkommensströme, IWF-Chef Horst Köhler und der Hedgefonds-Manager Geor- mehr aber noch die Vermögen, tangiert werden. So ist der ge Soros warnen inzwischen vor den «Monstern» der Finanz- Übergang zum finanzmarktkapitalistischen Akkumulations- märkte und sehen im Finanzkapitalismus ein «ungeheuerli- regime mit massiven Vermögensumschichtungen und ei- ches System», welches sich «von den ethischen Grundlagen ner strukturellen Neuordnung der betrieblichen und privaten des Wirtschaftens verabschiedet» hat.62 Vermögen verbunden. Dabei spielen spekulative Verwer- Nichtsdestotrotz muss der Finanzmarktkapitalismus als tungsprozesse, aber auch enorme Vermögensentwertungen eine «Antwort» auf die Stagflationskrise der 1970er Jahre und -verluste, wie sie früher nur durch Kriege und Naturkata- begriffen werden. Vielleicht hat es bessere Antworten ge- strophen ausgelöst wurden, eine beachtenswerte Rolle. geben; diese haben sich aber nicht durchgesetzt. Als post- Als Pendant zu den Geldvermögen türmen sich enorme fordistische Variante kapitalistischer Reproduktion unter- Schuldenberge auf, werden riesige Volumina an Krediten scheidet sich der Finanzmarktkapitalismus historisch vom ausgereicht und verschulden sich Staaten, private Haus- Produktions- und Sozialmodell des Fordismus. Eine Rück- halte und Unternehmen in bisher unvorstellbarem Ausmaß. kehr zu diesem scheint ausgeschlossen. Das gegenwärtige Im Verlauf der jüngsten Krise nahmen beide Prozesse, die Finanzregime besitzt neben offensichtlichen Irrationalitäten Konzentration nominaler Vermögen und die Anhäufung von und Deformationserscheinungen aber auch Züge einer neu- Schulden, völlig neue, bisher unbekannte Dimensionen an. en (geld-)wirtschaftlichen Rationalität. Diese kontrastieren Zugleich aber wird es immer schwieriger, wirkliche Werte jedoch mit seiner Blindheit gegenüber den langfristigen Le- von fiktiven Größen zu unterscheiden und das wahre Aus- bensinteressen der Menschheit, gegenüber nachhaltigen maß der Gewinne und Verluste zu bestimmen. So handelt Produktionszielen und sozialer Gerechtigkeit. Hierin zeigt es sich zum Beispiel bei den als «Kosten» der Finanzmarkt- sich die Ambivalenz des Kapitalismus im Allgemeinen und krise 2007/09 apostrophierten Verlusten, Wertberichtigun- des Finanzmarktkapitalismus im Besonderen. Die damit ver- gen und Abschreibungen in Billionenhöhe vor allem um eine bundenen Gefahren zu bannen, die Chancen und Potenziale Entwertung von fiktivem Kapital. Die «echten» Vermögens- der Finanzmärkte für die Lösung der Zukunftsaufgaben aber verluste der Aktionäre, Sparer und Steuerzahler sind dage- zu nutzen, ist eine Herausforderung der Gegenwart. Inwie- gen deutlich geringer und werden zudem kaum realisiert, weit es gelingt, das Finanzkapital und die Finanzmärkte für sondern in die Zukunft verschoben, mit unklaren Folgen für die Bewältigung der großen, vor der Menschheit stehenden die Geldwertstabilität und das ökonomische Gleichgewicht Zukunftsaufgaben (Energiewende, Bevölkerungsentwick- der Volkswirtschaften in der Welt. lung, Ressourcenverknappung usw.) fruchtbar zu machen, Das finanzmarktkapitalistische System ist unter ande- ist jedoch fraglich. Auf jeden Fall bedarf es dazu mehr als ei- rem dadurch gekennzeichnet, dass das durchschnittliche ner bloßen Reduzierung der «Defekte» des gegenwärtigen Wirtschaftswachstum und die gesamtwirtschaftliche Wert- Systems durch Konventionen und institutionelle Arrange- schöpfung nicht mehr ausreichen, um alle Zinsforderungen, ments. Notwendig wären darüber hinaus eine globale Regu- das heißt die Ansprüche der Gläubiger resp. Geldkapitalbe- lierung und institutionell abgesicherte demokratische Kont- sitzer, zu befriedigen. Die Folge ist eine strukturelle Verschie- rolle der Finanzmärkte, eine Beschränkung der Spekulation bung bei den Primäreinkommen und eine kapitalmarktin- (insbesondere mit Rohstoffen und Lebensmitteln) sowie ei- duzierte Redistribution der Einkommen und Vermögen: Der ne strikte Einbindung der Finanzakteure in den Ordnungs- Anteil der Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Ver- rahmen der Weltwirtschaft. mögensbesitz wächst, während der Anteil der Arbeitsein- kommen am Volkseinkommen sinkt. Diese Umverteilungs- politik wird durch den Umbau des Sozialstaates, faktisch Ulrich Busch, Dr. oec. habil. – Bankkaufmann, Finanzwissen- dessen Rückbau, ergänzt. Parallel dazu vollzieht sich die be- schaftler, Dozent für Volkswirtschaftslehre, Schatzmeister der schleunigte Akkumulation von Geldkapital, auch in fiktiver Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V., Redakteur Form, während die realen Investitionen stagnieren. Auf diese des Journals Berliner Debatte Initial, Mitglied der Arbeitsgruppe Weise entsteht ein circulus viciosus, welcher zu sinkenden Alternative Wirtschaftspolitik (Memorandum). Investitionsquoten und niedrigen Wachstumsraten auf der einen Seite und einer auf eine kleine Schicht konzentrierten Geldakkumulation auf der anderen Seite führt. Im Extremfall mündet diese Entwicklung in eine Deflationsspirale, welche die Welt in einen Abgrund stürzen könnte. Im politischen Diskurs stößt der finanzmarktdominierte Kapitalismus auf immer heftigeren Unmut. Davon zeugt die 57 Ebd., S. 131. 58 Hickel, R.: Die Krise des Spekulationskapitalismus, in: Blätter für deut- weltweite occupy-Bewegung 2011 ebenso wie die Kritik al- sche und internationale Politik 10/2007, S. 1157–1161. 59 Zinn, K. G.: Jenseits der Markt- ternativer Ökonomen, welche in diesem System eine Defor- mythen, 1997, S. 93. 60 Bischoff, J.: Zukunft des Finanzmarkt-Kapitalismus, Hamburg 2006, S. 7. 61 Wagenknecht, S.: Freiheit …, a.a.O., S. 166. 62 Der Spiegel, mation der sozialstaatlich ausbalancierten Wachstums- und 13.10.2008, S. 28, 39f. 20 STANDPUNKTE 04/2012

René Schuster Braunkohlerepublik Brandenburg? Warum das Land sich gegen ein neues Kohlekraf t werk entscheiden muss

Als Ministerpräsident Matthias Platzeck 2007 gemeinsam mit dem Konzern Vattenfall neue Braunkohletagebaue und die Umsiedlung mehrerer brandenburgischer Dörfer als Ziel seiner Politik bekanntgab, verband er das mit der Zusage, Braun- kohleverstromung würde künftig klimafreundlich. Dies sollte durch die Technik der Kohlendioxid-Abscheidung und unter- irdischen Verpressung (CCS) sichergestellt werden. Forderungen nach einem «Plan B» erteilte er eine klare Absage. Auf die Frage, was passiere, wenn CCS nicht komme, antwortete er regelmäßig: «Dann haben wir alle ein Problem.» Seit Frühjahr 2011 wird immer deutlicher, dass es zu einer Anwendung von CCS in Brandenburg nicht kommen wird. Gegenseitige Schuldzuweisungen zwischen Bund, Ländern und Parteien stellen nur Symptome dar, den Ausschlag gaben Bürgerproteste in mehreren Bundesländern und Sicherheitsbedenken gegen die Verpressung. Anfang Januar 2012 legte die rot-rote Landesregierung den Entwurf ihrer Energiestrategie 2030 vor, in der sie aber noch immer den Bau eines neu- en Braunkohle-Großkraftwerkes anstrebt. Der hier vorliegende Artikel stellt einen Diskussionsbeitrag zur Frage dar, ob die künftige Energiestrategie des Landes ein solches Kraftwerk noch enthalten darf.

Die Ausgangslage dersetzung endete im Entwurf der Landesregierung für eine In Brandenburg sind derzeit Braunkohlekraftwerke in Jäns- neue Energiestrategie mit einem scheinbaren Sieg des Kli-

chwalde und Schwarze Pumpe in Betrieb, aktive Tagebaue maschutzes: Das neue Emissionsziel von 25 Mio. t CO 2 im existieren in Cottbus-Nord, Welzow-Süd I und Jänschwalde. Jahr 2030 bedeutet zwar eine Aufweichung des bisherigen

Für die neuen Tagebaue Welzow-Süd II und Jänschwalde- Ziels (22,8 Mio. t CO2), ermöglicht damit aber kein herkömm- Nord wurden Planverfahren eröffnet, für die Kohlefelder Ba- liches Braunkohle-Großkraftwerk mehr. Wegen fehlender genz-Ost und Spremberg-Ost soll dies um 2015 geschehen. Verbindlichkeit handelt es sich hierbei jedoch nur um einen Diese Planungen würden die Umsiedlung von etwa 1.700 scheinbaren Sieg. Eine nicht eindeutig formulierte Revisi- Menschen in Brandenburg erfordern, der Tagebau Noch- onsklausel stellt im Grunde alle Ziele der Strategie unter Vor- ten II auf sächsischem Gebiet weitere 1.500. Das Kraftwerk behalt, damit zwangsläufig auch die Klimaziele. Jänschwalde erreicht zwischen 2020 und 2030 das Ende seiner Lebensdauer. Von einem Neubau an diesem Stand- Leitprojekt Tagebau? ort hängt die Begründung neuer Tagebaue und Umsiedlun- Der Sieg des Klimaschutzes beschränkt sich zudem auf die gen wesentlich ab. DIE LINKE.Brandenburg hat sich in ihrem Zielformulierungen des Strategieentwurfes. Der beigefügte letzten Wahlprogramm klar gegen den Aufschluss neuer Ta- «Katalog der strategischen Maßnahmen» konkretisiert hin- gebaue positioniert. Unter Festschreibung einiger Bedingun- gegen, was die Landesregierung tatsächlich unternehmen gen ordnete sie sich im Koalitionsvertrag jedoch weitgehend will und schlägt die entgegengesetzte Richtung ein, indem der Energiepolitik der SPD unter. er die «Raumordnerische Sicherung von Tagebauvorhaben» als Leitprojekt benennt. Gemeint ist die Umsiedlung der Dör- Ringen um Klimaschutz fer Grabko, Kerkwitz, Atterwasch und Proschim. Ab August 2011 diskutierten Teile der Landesregierung of- Es stellt sich die Frage: Kann die Abbaggerung branden- fen über ein neues Braunkohlekraftwerk auch ohne CCS – burgischer Dörfer wirklich Leitprojekt rot-roter Energiepolitik obwohl dies klar den im Koalitionsvertrag festgeschriebenen sein? Zunächst ist festzuhalten, dass die Aufnahme dieses 20 21 Klimaschutzzielen widersprechen würde. Diese Auseinan- Projektes nicht in den von der Landesregierung eingeholten Gutachten empfohlen wurde. Diese hatten stattdessen ein Ein neues Kohlekraftwerk hat also bisher weder Strom- Leitprojekt zur Kraft-Wärme-Kopplung vorgeschlagen.1 Eine kunden, noch Fachkräfte. Auch die Investoren stehen nicht Vorgabe zur Inanspruchnahme des Tagebaues Jänschwal- Schlange, sondern sollen offenbar durch einen verbindlichen de-Nord geht zudem über den Kompromiss des Koalitions- Braunkohlenplan erst überzeugt werden, das neue Kraftwerk vertrages von 2009 hinaus, wo dieser Tagebau keine explizi- zu bauen. te Erwähnung findet. Dies ist wenig nachvollziehbar, da sich seit 2009 die Annahmen, vor allem bezüglich der CCS-Tech- Widersprüchliches zum Atomausstieg nologie eindeutig zu Ungunsten eines Kraftwerksneubaues Bereits in Brandenburgs Energiestrategie 2020 wurde bei am Standort Jänschwalde entwickelt haben. den Klimazielen von einem vollständigen Atomausstieg Ausdrücklich wird im Strategieentwurf nun eingeräumt, Deutschlands vor 2030 ausgegangen. Die Veränderungen dass man mit den Braunkohleplänen eine «Grundlage für ei- durch die nun von der schwarz-gelben Bundesregierung be- ne Investitionsentscheidung im Kraftwerksneubau» schaf- schlossenen Atomausstieg betreffen daher lediglich die Aus- fen will. Unter diesen Umständen könnte im Jahr 2015 die lastung bestehender, aber nicht mehr den Bau neuer Kraft- Genehmigung eines neuen konventionellen Kohlekraftwerks werke nach 2025. Was einige Politiker der Brandenburger beantragt werden, für das es nach heutiger Rechtslage kei- LINKEN offenbar nicht davon abhält, in jeder Situation die ne Möglichkeit gäbe, im Verfahren nach Bundesimmissions- Bundesregierung verantwortlich zu machen. Anfangs las schutzgesetz die Anwendung von CCS vorzuschreiben. Die sich das so: Klimagasemissionen würden dann für 40 bis 50 Jahre um «Mit billigem Atomstrom aber hätten es die erneuerbaren 10 bis 16 Millionen Tonnen (bei 2000 MW Leistung) höher Energien, mit denen wir die Braunkohle zurückdrängen wol- ausfallen, als es die jetzt festgelegten Klimaziele zulassen. len, wirtschaftlich viel, viel schwieriger.»4 Die Braunkohleplanung wäre unter einem Vorwand durch- Ist die Braunkohle folglich jetzt leichter zurückzudrängen? geführt worden, um die Rohstoffversorgung dieses klima- Offenbar nicht: War erst die Atomkraft an der Braunkohle schädlichen Kraftwerkes zu sichern. Zudem würde kurz da- schuld, ist es jetzt der Atomausstieg: rauf die Planung für einen weiteren Tagebau beginnen – um «Nach dem in 2011 gefassten Beschluss zur Abschaltung die zweite Hälfte der Kraftwerkslaufzeit zu sichern. Letztlich aller deutschen Atomkraftwerke bis 2022 (…) muss die wei- vermag also nur die zeitnahe Einstellung der Braunkohlen- tere Nutzung heimischer Energieträger neu bewertet wer- planverfahren wirklich die Glaubwürdigkeit der formulierten den.»5 Klimaziele herzustellen. Dass Braunkohlekraftwerke bei viel Windstromeinspei- sung nur schwer die Leistung drosseln können und die Kein Bedarf Stromnetze dadurch in ganz ähnlicher Weise verstopfen Die – nach dem Beschluss zum Atomausstieg aktualisier- können wie Atomstrom, wird in beiden zitierten Quellen ten – Energieszenarien der Bundesregierung gehen davon nicht erwähnt. aus, dass nach den jetzt im Bau befindlichen keine neuen Braunkohlekraftwerke mehr errichtet werden. Braunkohle Stromexportland Brandenburg als «Brückentechnologie» umfasst also den Betrieb der Be- Gern wird das Wort «Stromexportland» wie eine magische standskraftwerke bis zum Ende ihrer Laufzeit. Die nicht als Formel zur Begründung des Neubaukraftwerkes herangezo- radikal bekannten Gutachter der Bundesregierung belegen gen. 2007 hat Brandenburg etwa 59 % des hier erzeugten damit, dass ein Neubau für die Energieversorgung Deutsch- Stroms exportiert. Nach dem Zielszenario der Landesregie- lands nicht erforderlich ist.2 rung werden es im Jahr 2030 dann sogar 70 % sein. Denn zwischenzeitlich soll die Erzeugung aus Erneuerbaren ge- Keine Fachkräfte steigert und der Stromverbrauch gesenkt werden. Ob eine Seit den Massenentlassungen der frühen 1990er Jahre, die Exportrate von 70 % sinnvoll oder auch nur machbar ist, wur- das Selbstverständnis eines Kampfes um Kohle-Arbeitsplät- de an keiner Stelle untersucht. Lässt man aus diesem Ziels- ze in IGBCE und SPD offenbar bis zum blinden Reflex ge- zenario nun das auf 14,3 Terawattstunden geschätzte CCS- prägt haben, hat sich die Lausitz gewandelt. Wer das Kraft- Kraftwerk Jänschwalde heraus, kann Brandenburg immer werk Jänschwalde mit aufgebaut hat, wird sein Arbeitsleben noch 59 %, also mehr als die Hälfte seines erzeugten Stro- in der Regel dort abschließen können, wenn es bis nach mes exportieren. Was ist eigentlich so schlimm an dieser 2020 betrieben wird. Statt Arbeitslosigkeit heißt das Prob- Vorstellung? lem der Energiewirtschaft nun Fachkräftemangel. Das Gut- Dem nahe gelegenen Berlin kommt bei dieser Frage als achten des Wirtschaftsministeriums zur Fortschreibung der Stromabnehmer nur eine geringe Bedeutung zu. Es hat Energiestrategie formuliert dazu: keinen höheren Strombedarf als Brandenburg und erzeugt «Durch altersbedingte Ersatzbedarfe (vor allem in der klas- zudem einen Teil seines Stromes selbst in hocheffizienter sischen Energiewirtschaft) sowie wachstumsbedingte Erwei- Kraft-Wärme-Kopplung. Obwohl es für die Metropolenregi- terungsbedarfe (vorwiegend bei den Erneuerbaren Energien) on Berlin-Brandenburg keinerlei Verpflichtung gibt, als Net- müssen bereits bis 2020 zwischen 4.700 und 7.400 Fachkräf- te für die Branche gewonnen werden.»3

Es gibt keine günstigere Zeit, um den Wandel der Ener- 1 A.T. Kearney/Decision Institute 2011: Grundlagen für die Erstellung der Energiestrategie giewirtschaft sozialverträglich anzugehen, als die, in der die 2030 des Landes Brandenburg 2 Bei Braunkohle sinkt in diesem Szenario die installierte Leistung bis 2030 um 46 %, die Auslastung um 23 % und die Stromproduktion um 63 %. Beschäftigten erst noch «gewonnen» werden müssen. Noch Vgl. Kurzstudie «Kurzbewertung zur Rolle der Braunkohle in der vorgesehenen Energiestra- sind zehn Jahre Zeit, bis erste Kraftwerksblöcke abzuschal- tegie 2030 des Landes Brandenburg» des Öko-Institutes vom Dezember 2011 3 A.T. Kear- ney/Decision Institute 2011: Grundlagen für die Erstellung der Energiestrategie 2030 des ten wären. Je später freilich die Notwendigkeit des Wandels Landes Brandenburg, S. 66 4 «Papier zur Bewertung der Ergebnisse in den Koalitionsver- eingesehen wird, umso mehr persönliche Schicksale sind handlungen zur Energiepolitik», von Ralf Christoffers, Wolfgang Thiel, Thomas Falkner und Stefan Schwartz, Herbst 2009, S. 3 5 Zum Stand der Erarbeitung der Energiestrategie 2030, betroffen. Ralf Christoffers, November 2011 22 toexporteur von Strom zu fungieren, kann sie auch ohne ein Windstromeinspeisung­ nicht ausreichend heruntergeregelt Neubaukraftwerk auf Braunkohlenbasis im Jahr 2030 mehr werden, der Braunkohlestrom führt damit zu zusätzlicher Be- Strom exportieren, als Brandenburg selbst verbraucht. 6 lastung der Netze und teilweise auch zur erzwungenen Ab- Stromexport aus Brandenburg ist ein teilweise notwendi- schaltung erneuerbarer Anlagen. ges Mittel zur Erreichung des Zieles Versorgungssicherheit. Die eigentliche Entscheidung der Energiestrategie 2030 Er sollte aber nicht selbst zum Ziel oder zur Grundvorausset- besteht darin, ob für das Kraftwerk das Braunkohlenplanver- zung brandenburgischer Energiepolitik werden und ist auf fahren weitergeführt und die Umsiedlung der betroffenen den notwendigen und nachhaltigen Umfang zu beschrän- Dörfer weiter vorbereitet wird. Hier schafft die Landesregie- ken. Anders ausgedrückt: Brandenburg sollte nicht so viel rung rechtliche Fakten in Form von verbindlichen Zielen der wie möglich, sondern so nachhaltig wie möglich Strom er- Landesplanung. Wenn es zu einem Umsiedlungsbeschluss zeugen. Auch mit dem Argument «Stromexport» lässt sich kommt, ist es egal, ob dieser einem ausdrücklich befürwor- ein Kraftwerksneubau insofern nicht sinnvoll begründen. teten oder einem eventuellen Kraftwerk dient. Über den Braunkohlenplan zum Tagebau Jänschwalde-Nord soll bis Kommt CCS doch noch 2015 entschieden werden. Damit würden die Dörfer auf Ver- nach Brandenburg? dacht umgesiedelt – ohne jede Klarheit, ob und wofür die un- Vattenfall verkündete im Dezember 2011 offiziell das Aus für ter ihnen liegende Kohle verwendet wird. Enthielte der Plan

die geplante CO2-Verpressung in Brandenburg. Man werde stattdessen die Option, entweder gleich umzuziehen oder jedoch weiterhin an CCS festhalten. Die Verpressung würde die Entscheidung eines privaten Investors abzuwarten, sind dabei offenbar im Ausland oder unter der Nordsee erfolgen, diese Zustände den Dorfgemeinschaften noch weniger zu- was nach Vattenfalls Vorstellung eine «europäische Trans- mutbar. port- und Speicherinfrastruktur» absichern soll. Selbst man- Diese Entwicklung beobachten die betroffenen Gemein-

che Befürworter unterirdischer CO2-Verpressung lehnen das den mit großer Sorge. Sie befürchten, die Landesregierung Blockieren potenzieller europäischerer Endlager durch Koh- wolle ein verkaufsfähiges Produkt schaffen: Erst mit dem fer- leemissionen ab, da bei der Stromerzeugung bekanntlich tigen Braunkohlenplan in der Hand würde Vattenfall entwe-

ausreichend andere Möglichkeiten zur CO2-Verminderung der in ein Kraftwerk investieren oder aber einen Käufer für bestehen. Brandenburg benutzt jedoch die Frage der Emissi- Tagebaue und Kraftwerke finden, der sich zudem nicht an die onen aus Stahl- und Zementindustrie lediglich rhetorisch als Klimaziele des Konzerns gebunden fühlen müsste. Auf die- Argument, während es die Umsiedlung von Dörfern für den se Weise würde die Landespolitik den Kohle-Investor aktiv Bau eines CCS-Kohlekraftwerkes zu einem Leitprojekt seiner anlocken. Fertige Braunkohlenpläne als Verkaufsbedingung Energiepolitik machen will. sind kein Hirngespinst, sondern schon für die Privatisierung Beim Einsatz von CCS, etwa in der Nordsee, wäre der be- durch die Treuhandanstalt 1993/94 historisch belegt. hauptete Klimaschutzeffekt schnell dahin. Abscheidung,

Transport und Verpressung des CO2 verbrauchen in großem Die scheinbare Ohnmacht Umfang Energie, auch der Verbrauch an Kühlwasser steigt Darauf zu verweisen, das Land dürfe die Genehmigung für

enorm. Zusätzlich widersinnig erscheint es, CO2 aus der Lau- ein neues Kraftwerk nach Immissionsschutzrecht gar nicht sitz bis zur Nordsee zu transportieren, solange sich an deren versagen, greift zu kurz: Zum einen hat bisher niemand ei- Küsten bereits zahlreiche Kraftwerks- und Industriestandorte nen Antrag auf Kraftwerksgenehmigung auch nur angekün-

mit enormem CO2-Ausstoß befinden. Eine Wirtschaftlichkeit digt. Wie oben beschrieben würde sich die Landesregierung dieses Unterfangens ohne Milliardensubventionen darf be- selbst als Initiator des Kraftwerkes hervortun. Die Wehrlosig- zweifelt werden. Das bisher gern genutzte Attribut «subven- keit gegenüber einem imaginären Antragsteller zu betonen, tionsfrei» für die Braunkohle wurde in letzter Zeit aus dem während gleichzeitig öffentlich versucht wird, einen solchen Sprachgebrauch der brandenburgischen Ministerien gestri- überhaupt erst anzulocken, wäre keine glaubwürdige Politik. chen. Zum anderen gibt es grundsätzlich immer die Möglichkeit, die wasserrechtliche Erlaubnis zu verweigern. Hier hätte ein K ann man einfach später entscheiden? Antragsteller keinerlei Anspruch auf Genehmigung. Wo das Einen scheinbaren Ausweg aus diesen Widersprüchlichkei- Verdampfen vieler Millionen Kubikmeter Wasser im Kraft- ten bietet der Vorschlag, erst später über das neue Kraftwerk werkskühlturm den Wasserhaushalt schädigt – was der Fall zu entscheiden und diese Entscheidung von der «Herstel- sein dürfte – wird es an einer Begründung für diese Ableh- lung der Speicherfähigkeit» erneuerbarer Energien abhän- nung nicht mangeln. Im Fall der Brandenburger Braunkohle gig zu machen.7 Doch auch das ist aus zwei Gründen keine würde zudem die Verhinderung neuer Tagebaue auf landes- glaubwürdige Strategie: planerischer Ebene die Kraftwerksinvestition stoppen. Zum einen wird damit suggeriert, man könne erst auf ein Gelegentlich wird behauptet, das Land könne einen Tage- neues Braunkohlekraftwerk verzichten, wenn die Erneuer- bau sowieso nicht verhindern – zum Teil sogar von Politikern, baren voll speicher- und regelbar geworden sind. Tatsäch- die im Jahr 2007/08 die Volksinitiative «Keine neuen Tage- lich wird das Kraftwerk Jänschwalde bereits Jahre oder Jahr- baue – für eine zukunftsfähige Energiepolitik» unterstützten. zehnte vor diesem Zeitpunkt überflüssig. Denn zum einen Das Argument entkräftet sich damit selbst: Der damalige Ge- bliebe das neuere Kraftwerk Schwarze Pumpe auch nach der setzesentwurf beschrieb gerade eine der Möglichkeiten, wie Stilllegung von Jänschwalde in Betrieb. Zum anderen gelten in Landeszuständigkeit Tagebaue verhindert werden kön- Gaskraftwerke mit hoher Flexibilität (bei geringer Auslastung nen. und daher geringem Gasverbrauch) zu Recht als die einzig sinnvolle Brückentechnologie. Braunkohlekraftwerke wer- den auch in der nächsten Generation unflexibler sein, als 6 Detailliert dargestellt in der Stellungnahme der Umweltgruppe Cottbus zum Entwurf der Energiestrategie 2030 7 Pressemitteilung des bbg. Wirtschaftsministeriums vom 22 23 es Gaskraftwerke heute schon sind. Sie können bei starker 12.12.2011 Auf der Ebene der Landesplanung gibt es keinen Rechts- genstehende Ziele der Raumordnung, die das Land in eige- anspruch des Bergbautreibenden. Das Land ist hier souve- ner Zuständigkeit schaffen kann. rän, es kann einen Braunkohlenplan aufstellen oder nicht, ohne dass das Unternehmen darauf Einfluss hat. Dass der Fazit Bergbaukonzern nicht Antragsteller mit entsprechenden Die Landesregierung wie die im brandenburgischen Land- Rechten ist, zeigt sich auch darin, dass nie offiziell von einem tag vertretenen Parteien können und müssen die Planverfah- «Antrag», sondern recht umständlich von «verfahrenseinlei- ren für neue Tagebaue stoppen und den Abschied vom Kraft- tenden Unterlagen» gesprochen wird. werksstandort Jänschwalde klar benennen. Der Lausitz gibt Die Entscheidung nach dem Bundesberggesetz kommt eine solche Entscheidung die nötige Planungssicherheit zur erst dann ins Spiel, wenn ein Rahmenbetriebsplan-Antrag sozialverträglichen Gestaltung des Wandels und zur Regio- gestellt wird. Das ist bisher für keinen der neuen Tagebaue nalentwicklung in den noch bedrohten Räumen. erfolgt. Hier sind Unternehmen offensichtlich vorsichtig und warten die Entscheidung oder zumindest eine spätere Phase des landesplanerischen Verfahrens ab. Bei einer Positionie- Dieses Papier gibt den Stand der Diskussion am 10.02.2012 rung der Landesregierung gegen den Tagebau wären bereits wieder. aus politischen Gründen die Stellung eines Rahmenbetriebs- plan-Antrages und der Versuch, ihn gerichtlich durchzuset- zen mehr als fraglich. Davon abgesehen hat das Land auch dann Möglichkeiten, die Genehmigung zu versagen, wenn Dipl.-Ing. (FH) René Schuster, Jahrgang 1974, vertritt überwiegende öffentliche Interessen dem Bergbau entge- seit 1999 die Umweltverbände im Braunkohlenausschuss genstehen (§ 48 Bundesberggesetz), so zum Beispiel entge- des Landes Brandenburg.

24 STANDPUNKTE 05/2012

Mario KeSSler/Klaus Lederer DIE LINKE, Israel und der Anti- semitismus: Thema beendet?

Ohne Gegenstimme beschloss der Vorstand der Partei DIE raelischen Regierung mit dem Vorwurf des Antisemitismus LINKE am 21. Mai 2011: «Es gehört zum Bestand linker begegnet wird. Wir werden nicht zulassen, dass Mitglieder Grundpositionen, gegen jede Form von Antisemitismus in der unserer Fraktion und Partei öffentlich als Antisemiten denun- Gesellschaft vorzugehen. Rechtsextremismus und Antisemi- ziert werden, wenn sie eine solche Politik der israelischen Re- tismus haben in unserer Partei heute nicht und niemals einen gierung kritisieren. (…) Die inflationäre Verwendung des Be- Platz. DIE LINKE tritt (…) mit Partnern entschieden gegen an- griffs des Antisemitismus schadet dem Kampf gegen ihn.»6 tisemitisches Gedankengut und rechtsextremistische Hand- Dem ZDF-Magazin Berlin direkt gegenüber erklärte Bundes- lungen auf.»1 Die Bundestagsfraktion DIE LINKE folgte diesem tagsfraktionschef anschließend: «Ich glaube, Beschluss am 7. Juni 2011 einstimmig. Außerdem wurde hin- das Thema ist beendet.» zugefügt: «Wir werden uns weder an Initiativen zum Nahost- Ein Ende der oft von Extrempositionen bestimmten Kontro- Konflikt, die eine Ein-Staaten-Lösung für Palästina und Israel versen innerhalb der Partei DIE LINKE ist jedoch kaum zu er- fordern, noch an Boykottaufrufen gegen israelische Produkte warten. Warum nicht, sollen die folgenden Bemerkungen zei- noch an der diesjährigen Fahrt einer Gaza-Flottille beteiligen. gen. Zum Verständnis der Kontroversen ist als «Einstieg» ein Wir erwarten von unseren persönlichen Mitarbeiterinnen und wenigstens kursorischer Blick auf die Vorgeschichte des The- Mitarbeitern sowie den Fraktionsmitarbeiterinnen und Frakti- mas «Linke, Antisemitismus und Nahostkonflikt» vonnöten. onsmitarbeitern, sich für diese Position einzusetzen.»2 Nur kurze Zeit später wurde bekannt, dass sich ein Drit- Historische Positionen der Arbeiter­ tel der LINKE-Abgeordneten an dieser Abstimmung nicht bewegung zu Antisemitismus und Zio - beteiligt hatte. Fortgesetzt wurde diese Entscheidung nun nismus aus den eigenen Reihen kritisiert und auch explizit missach- Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass die Haltung zum tet. «Undemokratisch und gefährlich» sei dieser Beschluss, Antisemitismus und zum Zionismus in der Geschichte der so die Bundestagsabgeordnete Anette Groth gegenüber Linken immer ein widersprüchliches Feld war. der ARD, eine «Aufkündigung der internationalen Solidari- Nach anfänglicher Ignoranz oder ostentativer Abwehr, so tät»3. Der Beschluss, so ergänzt sie in einer persönlichen Er- durch Karl Marx, befasste sich die Arbeiterbewegung seit et- klärung, sei «nur durch psychologischen Druck zustande» wa 1880 mit dem Antisemitismus; der Schriftsteller Wilhelm gekommen und werde von ihr nicht mitgetragen. 4 Andere Marr hatte den Begriff soeben «hoffähig» gemacht. Schon Abgeordnete dagegen, so die Bundestagsvizepräsidentin früh zeichneten sich zwei Tendenzen ab: Einerseits bekämpf- Petra Pau5, verteidigten die gefundene Position vehement te die internationale Arbeiterbewegung den Antisemitismus, und nachdrücklich als existenziell für DIE LINKE. andererseits unterschätzte sie ihn; es gab Stimmen (so von Die Emotionalität der öffentlichen Debatte unter den Be- Victor Adler), die Antisemiten als irregeleitete Sozialisten sa- teiligten nahm Züge an, die Beobachter daran zweifeln lie- hen. Die ab 1896 entstehende zionistische Bewegung stieß ßen, dass die linke Bundestagsfraktion diese Auseinander- auf mehrheitliche Ablehnung. Es gab jedoch auch zionisten- setzung unbeschadet überstehen würde. Mit dem Ziel, die freundliche Stimmen, die aber oftmals, hier der bürgerlichen hochgepeitschten Wogen zu glätten, wurde dann am 28. Juni 2011 per Beschluss nachgelegt. «Wir werden als Lin- 1 http://die-linke.de/partei/organe/parteivorstand/parteivorstand20102012/beschluesse/ ke weiterhin die Politik der israelischen Regierungen gegen- linkeweistantisemitismusvorwuerfezurueck/ (gesehen am 24. Juli 2011). 2 Vgl. http://www. über den Palästinenserinnen und Palästinensern öffentlich linksfraktion.de/positionspapiere/entschieden-gegen-antisemitismus-2011-06-07/ (gese- hen am 24. Juli 2011). 3 http://www.tagesschau.de/inland/linkspartei300.html (gesehen kritisieren, wann immer dies wegen deren Völker- und Men- am 24. Juli 2011). 4 Vgl. www.groth.die-linke-bw.de. (gesehen am 11. Juni 2011). 5 http:// schenrechtswidrigkeit notwendig ist. (…) Es ist nicht hin- www.petrapau.de/17_bundestag/dok/110611_an_antisemitismus-beschluss.htm (gese- hen am 24. Juli 2011). 6 http://www.linksfraktion.de/positionspapiere/beschluss-fraktion- 24 25 nehmbar, wenn einer derartigen Kritik an der Politik der is- linke-28-juni-2011/ Meinung folgend, den Zionismus als kolonisatorisch-zivilisa- unvorhersehbaren und unvorstellbaren historischen Vorgang torisches Element inmitten des «wilden» Nahen Ostens an- der geplanten, fabrikmäßig organisierten Vernichtung der sahen, was zum Teil chauvinistische Positionen gegenüber Juden durch die Nazis erhielt der Zionismus eine furchtbare den Arabern Palästinas implizierte. Die Zukunft der Juden Rechtfertigung. Der deutsche Faschismus hatte Sympathi- aber läge in Europa, überdies würden sie sich immer mehr an en bei vielen europäischen Machthabern für sich verbuchen ihre nichtjüdische Umwelt angleichen. Sozialistische Theore- können, aber auch bei jungen Nationalbewegungen – etwa im tiker wie Karl Kautsky und Otto Bauer befürworteten konse- arabischen oder im indischen Raum. Die Flüchtlingskonferenz quenterweise die Integration der Juden durch Assimilation. von Evian 1938 hatte als Fiasko geendet, Vertreter von 28 Na- In Osteuropa sahen z. B. Lenin und Trotzki die Dinge diffe- tionen sahen sich nahezu komplett außerstande, irgendetwas renzierter. Dort seien die kompakt lebenden, meist Jiddisch für die von den Nazis und ihren Handlangern verfolgten Men- sprechenden Juden eine Nation, deren Streben nach nati- schen tun zu können. Es war schlicht zu konstatieren, dass onal-kultureller Autonomie sich aber der zweckgerichteten es der globalen Gemeinschaft nicht gelungen war, Millionen Einheit der Arbeiterbewegung unterzuordnen habe. Letztlich europäischer Juden vor der Vernichtung in Nazideutschland würde sich die «jüdische Frage» im Rahmen einer sozialisti- zu schützen und die Flüchtigen zu retten. Der ungeheure Zivi- schen Revolution, wie alle anderen nationalen Fragen, lösen. lisationsbruch von Auschwitz machte die Gründung einer ei- Die Bolschewiki lehnten deshalb den Zionismus, doch auch genen Heimstätte für das jüdische Volk zu einer Notwendig- national-jüdische Autonomiebestrebungen innerhalb der Di- keit, und zwar völlig unabhängig davon, ob sich die Mehrheit aspora ab, förderten hingegen zunächst die jiddische Kultur.7 der Einwanderer nach Israel als Zionisten verstand oder nicht. In der Weimarer Republik bekämpften trotz einiger Ent- Die SED hatte zunächst – wie die Sowjetunion – die Staats- gleisungen8 SPD und KPD den Antisemitismus der aufkom- gründung Israels mit Verweis auf die Erfahrung von Ausch- menden Nazibewegung, wenngleich sie oft dessen Dyna- witz begrüßt. Tschechische Waffen, auf Moskaus Geheiß an mik unterschätzten. Die Nationalsozialisten mussten erst den jungen Staat geliefert, sicherten ihm gegen den sofort die deutsche Arbeiterbewegung zerschlagen, bevor sie ans mit der Staatsausrufung begonnenen Angriff seiner arabi- «Werk» der Entrechtung, Vertreibung und schließlich Aus- schen Nachbarn im Unabhängigkeitskrieg wohl das Über- rottung der Juden gehen konnten. leben. Nachdem sich Stalins Erwartungen auf einen neuen Verbündeten im Nahen Osten jedoch nicht erfüllten und das 1945 bis 1990: Der Umgang mit kapitalistische Israel zudem unter sowjetischen Juden gro- dem Erbe in Ost und West ße Sympathie gewann, steuerte der Moskauer Diktator nicht Nach dem Ende des 2. Weltkriegs und der Niederwerfung nur einen anti-israelischen Kurs, sondern begann in antise- Nazideutschlands durch die Antihitlerkoalition war der An- mitischer Manier die sowjetisch-jüdischen Intellektuellen, tifaschismus der zentrale Bezugspunkt aller Strömungen von denen ihn nunmehr jeder an seinen Erzfeind Trotzki zu der Arbeiterbewegung. Die unmittelbare Nachkriegsphase erinnern schien, zu verfolgen. Die von der UdSSR abhängi- währte jedoch nicht lange: Der Umgang mit dem Erbe des ge DDR musste «nachziehen». Sie zog nach. Wie die Tsche- Antifaschismus begann entlang der Frontlinien des aufkom- choslowakei mit dem Slánský-Prozess sollte auch Ostberlin menden Kalten Krieges zu zerfallen. Antifaschismus und De- durch «Entlarvung» von «Parteifeinden» seine Unterordnung mokratie fielen auseinander. Vereinfacht gesagt, entstand unter Moskau zeigen – angesichts der jugoslawischen Re- in Westdeutschland eine funktionierende Demokratie mit volte gegen die sowjetische Vorherrschaft drängte Moskaus autoritären und antikommunistischen Zügen und zunächst Hoher Kommissar Wladimir Semjonow zur Eile. Ursprüng- ohne ausreichende Auseinandersetzung mit der Vergangen- lich ins Fadenkreuz geratene mögliche Kandidaten für einen heit, sprich: ohne ein antifaschistisches Bewusstsein. In Ost- Prozess wie Alexander Abusch oder Gerhart Eisler – zwei deutschland wurde der Antifaschismus zur Staatsdoktrin er- Juden – schieden jedoch aus. Sieben Jahre nach Ausch- klärt, doch es gab keinen demokratischen Diskurs über die witz wurde der Nichtjude und «Prozionist» Paul Merker, der jüngste Vergangenheit. sich besonders engagiert für eine «Wiedergutmachung» der Die DDR sah sich nicht in der Verantwortung für das Ge- deutschen Verbrechen an den Juden eingesetzt hatte, im De- schehene. Der KPD-Widerstand fand aus ihrer offiziellen zember 1952 zum Opferlamm. Merkers Forderung nach Ent- Perspektive in der Staatsgründung seine konstruktive Voll- schädigung für im Ausland lebende Juden wurde mit dem endung. Die DDR nahm für sich in Anspruch, den gesell- Nazi-Terminus der «Verschiebung von deutschem Volksver- schaftlichen Zustand, der die Nazidiktatur erst ermöglicht mögen» gebrandmarkt.9 Auch Stalins Tod am 5. März 1953 hatte, überwunden zu haben. Der nichtkommunistische verhinderte nicht Merkers Verurteilung und Inhaftierung – und der antistalinistische Widerstand fanden, trotz Anstren- nunmehr in einem Geheimprozess. 1956 wurde er aus der gungen einzelner Historiker, zunächst nur wenig Beach- Haft entlassen, doch nur halbherzig rehabilitiert. tung. Auch die Restitution geraubten Eigentums jüdischer In der DDR blieb das Schicksal Merkers ein Tabu, die Auf- Verfolgter auf dem Gebiet der (späteren) DDR wurde, nach arbeitung der eigenen Geschichte beeinflusste das nach- anfänglicher Offenheit in einigen Ländern der SBZ, mit der Begründung abgelehnt, die DDR stehe zum Nationalsozia- lismus – entgegen der Bundesrepublik – in keinerlei histo- 7 Vgl. u. a. Donald L. Niewyk, Socialist, Anti-Semite and Jew, Baton Rouge 1971; Robert S. Wistrich, Revolutionary Jews from Marx to Trotsky, London 1976; Edmund Silberner, Kom- rischer Kontinuität. Die neue «sozialistische Eigentums- munisten zur Judenfrage, Opladen 1983; Mario Keßler, Zionismus und internationale Arbei- ordnung» mache eine Rückgabe gestohlenen Eigentums terbewegung 1897-1933, Berlin 1994; Jack Jacobs, Sozialisten und die «Jüdische Frage» nach Marx, Mainz 1994; Enzo Traverso, Die Marxisten und die jüdische Frage. Geschichte unnötig und unmöglich. Mit den Reparationsverpflichtun- einer Debatte (1843-1943), Mainz 1995. 8 Vgl. Mario Keßler, Antisemitismus und Arbei- gen an die UdSSR im Rahmen der Übereinkünfte der Sieger- terbewegung in der Weimarer Republik, in: Christoph Koch (Hg.), Vom Junker zum Bürger. Hellmuth von Gerlach – Demokrat und Pazifist in Kaiserreich und Republik, München 2009, mächte sei ihrer historischen Verantwortung Genüge getan. S. 237-260. 9 Lehren aus dem Prozess gegen das Verschwörerzentrum Slánský. Beschluss 1948 wurde der Staat Israel gegründet. Nach dem selbst des ZK der SED vom 20. Dezember 1952, in: Dokumente der SED, Bd. 4, Berlin [DDR] 1954, S. 199-219; Teilnachdruck in: Mario Keßler, Die SED und die Juden – zwischen Repression für viele Vertreterinnen und Vertreter der Arbeiterbewegung und Toleranz. Politische Entwicklungen bis 1967, Berlin 1995, Zitat hier S. 154. 26 haltig und negativ. Der «erste sozialistische Staat auf deut- Volkskammer-Fraktionen ein Bekenntnis «zur Verantwor- schem Boden» bestand darauf, die Wurzeln von Faschismus tung der Deutschen in der DDR für ihre Geschichte und ihre und Antisemitismus «mit Stumpf und Stiel» ausgerissen zu Zukunft», in dem sie die Juden der Welt und das israelische haben. Es kam vor, dass aufgrund dessen antisemitische Volk um «Verzeihung (baten) für Heuchelei und Feindselig- Stereotypen und Vorfälle in der SBZ/DDR – trotz mutiger keit der offiziellen DDR-Politik gegenüber dem Staat Israel Thematisierung durch Einzelne – heruntergespielt und rela- und für die Verfolgung und Entwürdigung jüdischer Mitbür- tiviert wurden, Jüdinnen und Juden verließen nach wie vor ger auch nach 1945» in der DDR.11 das Land. 6 von 7 jüdischen Gemeindevorstehern, darunter Während die herrschende «Linke» in der DDR – und die auch der Kommunist Julius Meyer, hatten bis 1953 der DDR SED reklamierte die besten Traditionen der deutschen Ar- den Rücken gekehrt. Für die offizielle DDR war klar: mit der beiterklasse für sich – keine abweichende Meinung zu poli- Beseitigung der ökonomischen Verhältnisse, die die braune tischen Grundfragen zuließ, war dies in der Bundesrepublik Diktatur ermöglicht hatten, war auch das Thema Antisemitis- anders. Hier hatte sich die SPD von Anfang an zum Fürspre- mus «überwunden». Friedhofsschändungen, Beschimpfun- cher möglichst enger Beziehungen zu Israel gemacht – ge- gen und Verfolgungen hatten ihre Wurzeln ausschließlich in gen teilweise starke Widerstände der bürgerlichen Parteien der Vergangenheit oder beim «Klassengegner» im Westen – mit ihren zahlreichen Ex-Nazis in hohen Positionen. Gerade nicht in den Verhältnissen in der DDR, schon gar nicht in ihrer die Sozialdemokraten propagierten in der Bundesrepublik ein offiziellen Sicht auf den Staat Israel. Israel-Bild, in dem viel von den Aufbauleistungen, den sozia- Als die Sowjetunion eine israelfeindliche Position bezog, len Errungenschaften und der neuen Lebensweise im Kibbuz musste die DDR dies gleichfalls tun. Sie tat es aber mit beson- die Rede war. Mit zahlreichen Verfolgten des Nazi-Regimes in derer Vehemenz, hatte sie doch aufgrund des diplomatischen Spitzenpositionen – so Willy Brandt, Herbert Wehner, Heinz Boykotts durch die «Hallstein-Doktrin» der Bundesrepublik ein Kühn, Herbert Weichmann, Fritz Bauer – stand sie, allmählich spezifisches Eigeninteresse an guten Beziehungen zu Israels sogar in israelischen Augen, für ein besseres Deutschland. Feinden in der arabischen Welt. Ägypten und Syrien verspra- Wenn SPD-Autoren (oder in ihrem Umfeld aktive Theologen chen die Durchbrechung der diplomatischen Isolation. In der wie Helmut Gollwitzer) über das Verhältnis der Linken zu Is- Tat nahm die DDR zu einer Reihe arabischer Staaten – erst- rael schrieben, betonten sie, die Zionismus-Analysen der Vor- mals außerhalb des sozialistischen Lagers – diplomatische Be- kriegszeit seien obsolet geworden. Die moralische Hypothek ziehungen auf, nachdem die Bundesrepublik und Israel 1965 verbiete ohnehin fast jede deutsche Kritik an Israel. den Austausch von Botschaftern vereinbart hatten. So wurde Dieses idealisierte Denkgefüge brach im Sechstagekrieg der Feldzug gegen den Zionismus ein bis in die 1980er Jahre vom Juni 1967 zusammen. Einerseits ergriffen insbesondere hinein aus eigenem Antrieb gepflegter fester Kernbestandteil jüdische Emigranten und Überlebende der nazistischen To- der «internationalistischen und antiimperialistischen» DDR- deslager vehement Partei für Israel. Der jüdische Linksintel- Staatsdoktrin – bei gleichzeitiger Überhöhung der «nationalen lektuelle, schrieb Jean Améry, sei «kein Linksintellektueller Befreiungsbewegungen» im arabischen Raum zu «Verbünde- mehr, nur noch ein Jude: Denn hinter ihm liegt Auschwitz ten im Kampf gegen Imperialismus und beim Aufbau des So- und vor ihm vielleicht das seinen Stammesgenossen […] zialismus». Letztere wurden von den Staaten des Ostblocks zu bereitende Auschwitz II am Mittelmeer.»12 Diese Position mit Waffen beliefert, ideologisch und politisch aufmunitio- fand Unterstützung bei den Spitzen von SPD und DGB wie in niert. Im November 1975 unterstützte die DDR die UN-Reso- den Kirchen. Andererseits geriet die emotionale Solidarität lution 3379, die den Zionismus als eine «Form von Rassismus studentischer Linker mit den palästinensischen Opfern des und Rassendiskriminierung» brandmarkte und verurteilte. Krieges oft zu einer naiven Schwärmerei für den «antiimperi- Aus der legitimen Heimstätte des jüdischen Volkes wurde alistischen Befreiungskampf» und die «palästinensische Re- so ein «Vorposten des US-Imperialismus». In diplomatischen volution», in der die Palästinenser nur noch als ein abstraktes Noten hatte die DDR die Legitimität israelischer Staatlichkeit Subjekt der Geschichte gesehen wurden, nicht mehr als eine nicht immer als einen historischen und unumstößlichen Fakt Gesellschaft mit Klassen und ihren Widersprüchen. Dement- klar fixiert und betont.10 sprechend galten Israel als imperialistische Macht und nur Das Verhältnis zwischen Israel und der DDR war bis diejenigen Israelis als Verbündete, die sich gegen den jüdi- 1989/90 ein Nichtverhältnis, wenngleich das Bemühen der schen Staat wandten und einen abstrakten demokratischen DDR-Führung um Akzeptanz in den USA eine vorsichtige Einheitsstaat in Palästina den Vorzug gaben – in dem die Ju- Annäherung an Israel unterhalb diplomatischer Kontakte ein- den auf den Status einer nationalen Minderheit reduziert sein schloss. In der DDR-Gesellschaft erwachte in diesen Jahren würden. Im Falle einiger maoistischer Gruppen erwuchs aus ein neues Interesse an den jüdischen Wurzeln, am jüdischen diesem Weltbild die Befürwortung antijüdischer Gewaltakte Erbe und der jüdischen Kultur im Osten Deutschlands. Auf in der Bundesrepublik und Westberlin.13 Aber die israelkriti- die Eiszeit folgt ein Tauwetter. Angestoßen durch Perestroj- schen Positionen der Neuen Linken verdichteten sich oft zu ka und Glasnost in der UdSSR begann auch in der DDR-Ge- einer ganz allgemeinen antizionistischen Ideologie. Ein abs- sellschaft ein neuer und differenzierender Diskurs, der sich trakter Faschismusbegriff und ein oft ungenügendes histori- von der offiziellen DDR-Position unterschied. Zur Aufnah- sches Detailwissen ließen manchen Linken die Einzigartig- me diplomatischer Beziehungen kam es bis zum Ende der keit der nazistischen Judenvernichtung verkennen. staatlichen Existenz der DDR nicht mehr, wenngleich die Re- Die israelische Besetzung Südlibanons läutete 1982 eine gierungen Modrow und de Maiziere diesbezügliche Schrit- neue Runde im Verhältnis der westdeutschen radikalen Lin- te unternahmen – unter Einschluss von Fragen der «Wie- dergutmachung» für Auschwitz, also auch der Bereitschaft zur Übernahme vermögensrechtlicher Verantwortung. Die 10 Zu diesem Komplex vgl. Angelika Timm, Hammer, Zirkel, Davidstern. Das gestörte Ver- deutsch-deutsche Vereinigung warf ihre Schatten voraus. hältnis der DDR zu Zionismus und Staat Israel, Bonn 1997. 11 Ebenda, S. 353. 12 Jean Améry, Widersprüche, München 1990, S. 212. 13 Vgl. Martin W. Kloke, Israel und die deut- 26 27 Am 12. April 1990 verabschiedeten die Mitglieder aller DDR- sche Linke. Zur Geschichte eines schwierigen Verhältnisses, Frankfurt a. M. 1991, S. 90f. ken zum jüdischen Staat ein. Die mit israelischer Duldung Gewalt im Nahen Osten. Dies unterschlug die Tatsache, dass von Haddad-Milizen betriebenen Massaker in den Flücht- Israels Bevölkerung zu den Hauptleidtragenden des Konflik- lingslagern Sabra und Chatila führte zu einer Abrechnung, tes gehört. Solcher Art eines verkürzten Verständnisses von bei der mit Worten wie «Holocaust an den Palästinensern» Imperialismus und Antiimperialismus bot seit den 1990er nicht gespart wurde. «Mögen sich gute Deutsche», schrieb Jahren die Zeitung «Junge Welt» zunehmend Raum. der Leiter der Münchner Marxistischen Gruppe, «für den Völ- Die Auseinandersetzung mit den «Antiimperialisten» ge- kermord des III. Reiches verantwortlich fühlen, mehr als die bar neben einer Reihe notwendiger Widersprüche und In- Unterstützung der neudeutsch-israelischen Freundschaft terventionen bald eine neue Strömung unter den Linken, kommt aus diesem Untertanenbewusstsein sicher nicht her- die sich selbst als «antideutsch» bezeichnete. In ähnlich ver- aus. An Beirut können die Gewissenswürmer der deutschen kürzender materialistischer Analyse wendete sie die antina- Nation studieren, wohin das führt.»14 tionalistische Herangehensweise der sozialrevolutionären Doch signalisierte dieser Krieg auch einen beginnenden Arbeiterbewegung während des 1. Weltkriegs zur «Kollektiv- Wandel der Debatten. Allmählich geriet die Linke aus dem analyse»: Auschwitz habe die Deutschen zur Täternation ge- Fahrwasser eines drohenden Antisemitismus wieder her- macht, gegen dessen fortdauernde, wenngleich verborgene aus. Dafür verantwortlich waren der Druck seitens progres- Existenz der Hauptstoß zu richten sei. Eine Kritik an Israel und siver Kräfte des Auslandes, auch israelischer Linker, die zu- an dessen Hauptverbündeten, den USA, meine regelmäßig nehmende Relativierung des Holocaust unter der alten und mehr als sie vorgebe. Sie müsse «historisch-materialistisch» neuen Rechten, die Rückbesinnung auf einen linken Ehren- als das entschleiert werden, was sie sei, nämlich eine in Wis- kodex durch die meisten Grünen und Mitglieder der Alterna- senschaft gegossene und als Teil des humanitären Diskurses tiven Liste Berlin sowie eine neue Sensibilität innerhalb der firmierende Abwehrhaltung gegen Juden. Wie strukturell, Nach-68er-Generation. Dennoch zeigte die fortwährende af- wenn auch nicht argumentativ, ähnlich die «antideutsche» fektgeladene Aufrechnung nazistischer Verbrechen mit isra- Position der «antiimperialistischen» ist, wird oft übersehen: elischen Untaten ein weiter ungelöstes Problem unter den Trotz des scheinmarxistischen Vokabulars verzichten beide Linken, das auch mit ihrer schwierigen Position gegenüber Lager auf eine materialistische Analyse.17 Israel, die USA und «Deutschland» zu erklären war. Deutschland firmieren als kollektiv Handelnde, ohne dass die inneren Widersprüche oder die Beweggründe der verschie- 1990: Linker Neuanfang, denen Klassen und Interessengruppen präzise analysiert Israel und der Imperialismus werden. Dass zur Begründung der jeweils eigenen Position Die Frage der Positionsbestimmung stellte sich nach dem Zu- immer wieder jüdische Stimmen aus Israel und der «Dias- sammenbruch des «real existierenden Sozialismus» 1989/90 pora» hinzugezogen werden, zeigt auf fatale Weise, was so- für die Linke dann völlig neu. Linke Selbstkritik gehörte zu den wohl «Antiimperialisten» wie «Antideutsche» zwar leugnen, Merkmalen der deutschen Vereinigung, während das kon- doch praktizieren: Sie behandeln Israelis und Juden letztlich servative Lager und ein Großteil der Liberalen sich durch den als ein Kollektiv, dem gemeinsame Interessen (natürlich dem Gang der Geschichte bestätigt fühlten. Der Golfkrieg 1991 je eigenen Standpunkt angepasst) unterstellt werden. Dies wurde, mehr als zunächst ersichtlich, zu einer weiteren Zä- muss noch keinen Antisemitismus bedeuten, ersetzt aber sur innerlinker Auseinandersetzungen. Im Sog des Verfalls die präzise Gesellschaftsanalyse durch Konstruktionen. Eine einstiger linker Gewissheiten mutete die Parteinahme für den solche gemeinsame Basis scheinbar unvereinbarer Stand- Irak auch «wie der verzweifelte Versuch an, gegen die poli- punkte erklärt auch das Hinüberwechseln von einer Seite zur tischen Offenbarungen der Gegenwart elementare Bestim- anderen, wie das Beispiel Jürgen Elsässers zeigt. Die einsti- mungen eines linken Selbstbegriffs aufrechtzuerhalten.» 15 ge Ikone «antideutscher» Imperialismuskritik konnte, ohne Hierzu gehörte das Konzept der «Dritten Welt», die «gegen das eigene theoretische Selbstverständnis grundlegend zu den Imperialismus» stand. Die Unterstützung für die als ge- revidieren, zum «Antiimperialisten» werden. Nunmehr ent- recht vorausgesetzten Forderungen aus den früheren Kolo- deckte er Irans Präsidenten Ahmadinedschad als «Vorkämp- nien des Westens schien allein noch linker Opposition gegen fer» gegen den US-Imperialismus und seine Helfershelfer den «Zeitgeist» einen Sinn zu geben. Weniger als die blutige (zu denen natürlich Israel gehört). Nur so ist erklärbar, dass Realität am Golf war die Suche nach einer eigenen, neuen Ex-Linke wie Elsässer einen Politiker feiern, der im «eigenen» Identität und Stabilität der Beweggrund vieler Äußerungen. Land die Linke brutal unterdrücken lässt.18 Doch kam es dabei auch zu apokalyptischen Weltsichten, All das ließe sich als Sektengezänk abtun, fänden sich sol- die sich mit undifferenzierter Kritik an der vermeintlichen che Positionen nicht auch innerhalb der Partei Die Linke, «Geldgesellschaft» der USA verbanden. Hier liegt die Wurzel der wichtigsten politischen Kraft im linken Spektrum jenseits eines linken Populismus, der sich auch aus einem unreflek- von SPD und Grünen. Genau darum ging und geht es in den tierten Antikapitalismus speiste, der beispielsweise auf fun- leidenschaftlich geführten Auseinandersetzungen nicht nur dierte Interessen- und Klassenanalysen verzichtete. Die Kritik der jüngsten Vergangenheit. an der Geldwirtschaft und am daran geknüpften Vormacht- streben der USA war prinzipiell antiimperialistisch ausgerich- tet, doch auch mit Ressentiments verbunden. In ihnen geriet 14 Herbert L. Fertl, zit. nach: Ebenda, S. 156. 15 Dan Diner, Der Krieg der Erinnerungen der Staat Israel als bloßer «imperialistischer Militärstütz- und die Ordnung der Welt, Berlin 1991, S. 38. 16 Wohl keiner der Linken, die das Wort vom punkt» zur Ursache allen Übels im Nahen Osten schlecht- «imperialistischen Militärstützpunkt» Israel gebrauchten, wusste, dass es von Walter Ul- bricht stammte. Vgl. SAPMO-BArch, NL 182/721, Bl. 38f. (Nachlass Walter Ulbrichts). Ge- 16 hin. Solche rasch dahingeworfenen, ideologisch bald ver- fallen auf der Sitzung des DDR-Staatsrats am 12.3.1965, wurde es rasch offizielles DDR- festigten, doch theoretisch kaum reflektierten Schlagwörter Vokabular. 17 Ausführlich untersucht die Debatte Peter Ullrich, Die Linke, Israel und Palästina. Nahostdiskurse in Großbritannien und Deutschland, Berlin 2008. 18 Vgl. zu den boten, wenn auch nicht immer, Elementen eines Antisemi- diesbezüglichen Debatten ebd. und Matthias Brosch u. a. (Hg.), Exklusive Solidarität. Linker tismus Raum, der jedoch nicht rassistisch ausgerichtet war. Antisemitismus in Deutschland, Berlin 2007 sowie Marcus Hawel und Moritz Blanke (Hg.), Der Nahostkonflikt. Befindlichkeiten der deutschen Linken, Berlin 2010, online: http://www. Vielmehr sah er Israel als alleinigen Profiteur von Krieg und rosalux.de/publication/36933/der-nahostkonflikt.html. 28 Isr ael und DIE LINKE – pen und neopopulistische Rechtskräfte zeichneten, wenn Die Linke und ihre Widersprüche auch als Gegner, für eine Verschärfung und Verlagerung der Die Partei Die Linke verfügt unbestreitbar über ein personel- politischen Spannungen verantwortlich. Die neuen neopopu- les und mentales SED-Erbe. Als SED-PDS, PDS und Linkspar- listischen Kräfte sind, sofern sie den Islam ablehnen, (jeden- tei.PDS suchte sie in der Aufarbeitung dieses Erbes eine «ret- falls mehrheitlich und vordergründig) nicht mehr antisemi- tende Kritik»: Sie trennte sich in einem keineswegs leichten tisch und scheuen die sichtbare Nähe zum antisemitischen Prozess von der Staatsideologie des DDR-Antifaschismus mit Neonazismus. Zum Teil zeigen sie, wie der Niederländer Ge- dessen mythischer Überhöhung des kommunistischen Wi- ert Wilders, sogar eine geradezu aufgetragene Sympathie für derstandes. Sie bestand jedoch auch auf einem legitimen Er- die israelischen Rechtskräfte. Auch in Deutschland spiegelt be des Antifaschismus unter Einschluss seines kommunisti- sich dieser Diskurs wider, wenngleich hier die «Partei zum schen Teils. Diese Lernprozesse vollzogen sich inmitten einer Buch» (Thilo Sarrazins «Deutschland schafft sich ab») bislang starken Tendenz zur Delegitimierung des kommunistischen fehlt. Diese neue Konfliktstellung erforderte ein Durchdenken Widerstandes durch einen großen Teil der politischen Klas- und die Überprüfung bzw. Differenzierung manch einfacher se und des Medienmainstreams. Die Parteiführung der PDS Positionierung der Linkskräfte, die sich im klassischen Links- behielt die selbstkritische Sicht auf diesen Teil der DDR-Ge- Rechts-Schema global historisch klar verortet sahen. Zum schichte entgegen der teilweise sehr unsachlichen Behaup- anderen begann mit dem Prozess des Zusammenschlusses tung bei, sie leiste keine Aufarbeitung der Vergangenheit. 19 der Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG) In der Parteimitgliedschaft traten aber auch Stimmungen auf, mit der PDS die Bildung der neuen Partei DIE LINKE, die mit die auf eine unkritische Verteidigung der DDR abzielten.20 zunächst beträchtlichem Mitglieder- und Stimmenzuwachs Davon blieb der Problemkomplex Antisemitismus-Israel- eine relevante bundesweite Kraft wurde. Nahost nicht unberührt. Auf der als Stalinismus-Konferenz be- DIE LINKE startete als Erfolgsprojekt. Doch wurde bald zeichneten Tagung vom 17. und 18. November 1990 vollzog klar, dass zunächst nur rein äußerlich keine Rolle spielte, was die Partei auch geschichtspolitisch jenen Bruch mit dem Sta- in der Verschmelzung zur «linken Sammlungsbewegung» linismus, den der Sonderparteitag der SED ein knappes Jahr angelegt war: unterschiedliche historische, soziale und po- früher eingeleitet hatte. Auch die Defizite der Aufarbeitung litische Erfahrungen in der Mitgliedschaft wie auch eine Ver- antisemitischer Praktiken unter den Linken wurden angespro- schiebung des Kräfteverhältnisses zwischen den früheren chen.21 Die bei dieser Tagung erstmals öffentlich auftretende führenden Kräften in der PDS und den neuen Akteuren aus Historische Kommission der Partei veranstaltete zwei Jahre der WASG. Viele WASG-Aktivistinnen und -Aktivisten waren später, am 5. Dezember 1992, gemeinsam mit der Stiftung enttäuschte Sozialdemokraten und Gewerkschafter aus dem Gesellschaftsanalyse (dem Vorgänger der Rosa-Luxemburg- Westen, die mit der SPD der «Neuen Mitte» Gerhard Schrö- Stiftung) ein Symposium über «Arbeiterbewegung und Anti- ders gebrochen hatten. Ein Teil der Neumitglieder hatte seine semitismus».22 Die PDS engagierte sich in lokalen und regio- erste politische Prägung in den sogenannten K-Gruppen-Mi- nalen Initiativen gegen den in Ostdeutschland erstarkenden lieus der 1970/80er Jahre erfahren. In vielen dieser Grup- Rechtsextremismus. Dabei wurde auch über die Frage ge- pen hatte jedoch die These von Israel als imperialistischem stritten, inwieweit die Ursachen für dieses Problem den De- Vorposten der USA und vom Kollektiv der Palästinenser als fiziten der Vergangenheit bzw. den Verwerfungen durch den prinzipiell revolutionärem Subjekt überdauert. Anders als Einigungsprozess ab 1990 geschuldet waren.23 Die Arbeitsge- für Viele in der PDS waren für sie nicht der Zusammenbruch meinschaft Antifaschismus/Rechtsextremismus beim Partei- des Realsozialismus, sondern der rot-grüne Kriegseintritt vorstand der PDS, von Wissenschaftlern wie Reiner Zilkenat, der Bundesrepublik oder die «Agenda 2010» Anlass für ei- Horst Helas und Rolf Richter ins Leben gerufen, dokumentiert nen neuen Politisierungsprozess gewesen. Ein besonders in ihrem vierteljährlichen «Rundbrief» rechtsextreme Aktivi- gut organisierter, jüngerer Teil gehörte deren Nachfolgemi- täten und linke Gegenstrategien in Deutschland und Europa. lieu an. So übernahm etwa die gut vernetzte Organisation Die PDS warnte auch vor einem Extremismus der Mitte, den «Linksruck», heute «Marx21», eine wichtige Rolle als WASG- sie in Teilen der CDU, der CSU und der FDP sah.24 «Stabilisierungsmoment» im Verschmelzungsprozess zwi- Der Antisemitismus wurde in all seinen Formen klar verur- schen WASG und Linkspartei.PDS und konnte ihren Kadern teilt und er wurde in der Partei auch nicht als ernsthaftes Pro- auf diesem Weg eine einflussreiche Positionierung in den blem wahrgenommen. Eine linke Israelfeindschaft schien um Apparaten und Diskursen der neuen Partei sichern. etwa 2005-2006 nur noch Teil jener Vergangenheit, von der sich die PDS zumindest programmatisch, doch zunehmend 19 Hierfür repräsentativ: Konrad-Adenauer-Stiftung (Hg.), Der missbrauchte Antifaschis- auch im Diskurs gelöst hatte – jedenfalls an der Oberfläche. mus. DDR-Staatsdoktrin und Lebenslüge der deutschen Linken, St. Augustin 2002, hierzu Sie war, trotz der Rückschläge wie bei der Bundestagswahl bes. die Beiträge von Viola Neu, Patrick Moreau u.a. sowie Jochen Zehnthöfer. Differenzier- ter: Tim Peters, Der Antifaschismus der PDS aus antiextremistischer Sicht, Wiesbaden 2002, auf dem Weg zu einer, nach eigenem Verständnis, mo- 2006. 20 Aus der Fülle an Literatur zu diesem Thema sei auf folgende Titel verwiesen, die dernen europäischen Linkspartei. In ihr gab es verschiedene die unterschiedlichen Standpunkte deutlich machen: Annette Leo/Peter Reif-Spirek (Hg.), Helden, Täter und Verräter. Studien zum DDR-Antifaschismus, Berlin 1999; diesn. (Hg.), politische Strömungen von Kommunisten bis zu Reformso- Vielstimmiges Schweigen. Neue Studien zum DDR-Antifaschismus, Berlin 2000; Kurt Fin- ker, Zwischen Integration und Legitimation. Der antifaschistische Widerstandskampf in zialisten, doch die oft so bezeichnete kritische Solidarität mit Geschichtsbild und Geschichtsschreibung der DDR, Leipzig 1999. 21 Vgl. Der Stalinismus Israel bei Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes der in der KPD und SED. Wurzeln, Wirkungen, Folgen. Materialien der Konferenz der Histori- schen Kommission beim Parteivorstand der PDS am 17. und 18. November 1990, Berlin Palästinenser gehörte zum Grundkonsens der Partei. 1991, S. 25. 22 Vgl. Mario Keßler (Hg.), Arbeiterbewegung und Antisemitismus. Entwick- Zwei Entwicklungen, von denen die eine überhaupt nichts lungslinien im 20. Jahrhundert, Bonn 1993. 23 Vgl. hierzu die ausgewogenen Beiträge von Klaus Böttcher und Werner Bramke in: Roland Bach u. a. (Hg.), Antifaschismus als huma- und die andere nur mittelbar etwas mit Israel zu tun hat, schu- nistisches Erbe in Europa. Festschrift zum 60. Geburtstag von Prof. Dr. Rolf Richter, Berlin fen eine neue Lage. Zum einen veränderte sich die europäi- 2005. 24 Vgl. die «Rundbrief»-Hefte mit den entsprechenden Themenschwerpunkten: Vom «Rechten Rand» in die Mitte der Gesellschaft (Nr. 4/2006, Globalisierung, Wirtschaftskrise, sche Diskurslage zu den akuten globalen Problemen – nicht Rechtsextremismus (Nr. 1/200), Rechtspopulismus in Deutschland (Nr. 2/2011). Zu den dort zuletzt als Folge der Terroranschläge auf das World Trade regelmäßig publizierenden Autoren zählen mit ihren Themenschwerpunkten: Karl-Heinz Gräfe (Ost- und Ostmitteleuropa), Horst Helas (Antisemitismus), Günter Wehner (Antifa- 28 29 Center in New York, von «Nine-Eleven». Islamistische Grup- schismus in der Erinnerungskultur) und Reiner Zilkenat (Geschichte des Widerstandes). Dabei spielten außenpolitische Fragen auch in Bezug auf die sondern Momentaufnahmen des notwendigen sachlichen neue programmatische und strategische Verortung der jun- Verständigungsprozesses in der neuen LINKEN im Bemühen gen Partei – in Abgrenzung zu dem vermeintlich auf Regie- um eine mehrheitliche, zukunftstaugliche und realistische rungskurs «zu angepassten» bisherigen PDS-Zentrum – eine Position zu Israel und zum Nahostkonflikt. wichtige Rolle. Zu oft wurde die Abkehr bzw. Infragestellung Doch seit 2009 verschärften sich die innerparteilichen Aus- von klassischen «linken» Welterklärungsmustern mit der einandersetzungen, nachdem der Duisburger Linksfraktions- Anbiederung an die «neoliberale» bzw. «prokapitalistische» vorsitzende Hermann Dierkes zum Boykott israelischer Wa- «Einheitspartei» aus CDU/CSU/FDP/SPD/Bündnisgrüne ren aufgefordert hatte. Er habe lediglich einen Beschluss des identifiziert, um die Ausgangslage für innerparteiliche Aus- Weltsozialforums zitiert, verteidigt er sich gegen die inner- einandersetzungsprozesse zu vereinfachen und sich hierbei parteiliche und externe Kritik.28 Es häuften sich Vorfälle, die eine günstige strategische Startposition zu verschaffen. Das nahelegten, dass DIE LINKE in Bezug auf ihr Verhältnis zum Verhältnis zu Israel und zum Nahostkonflikt geriet damit in Nahost-Konflikt – zwischen Instinktlosigkeit, Geschichtslo- den Sog der strömungspolitischen Hegemoniekämpfe in der sigkeit und offenem Antisemitismus – ganz deutliche offene jungen LINKEN. Dabei waren die Hauptprotagonisten der Flanken bietet. Im Januar 2010 erhoben sich mehrere linke simplifizierten Israelkritik nicht ausschließlich aus der WASG Bundestagsabgeordnete bei der Begrüßung von Israels Prä- gekommen, nur hatten sie in der PDS bis dahin keine domi- sident Shimon Peres im mit der Begründung nicht nierende Position inne. von ihren Plätzen, sie wollten gegen Israels Okkupationspo- So gab es auch 2006 bereits innerparteiliche Auseinander- litik ein Zeichen setzen. Das trug ihnen auch parteiinterne setzungen zur Frage, ob – wofür der außenpolitische Spre- Kritik ein. Peres war vom Bundestag aus Anlass des 65. Jah- cher der Bundestagsfraktion Wolfgang Gehrcke eingetre- restages der Befreiung von Auschwitz eingeladen worden.29 ten war – die Hamas ein Verhandlungspartner für DIE LINKE Innerparteilich war ferner bereits des Öfteren kritisiert wor- sein könne. Und auch die Diskussion um die Rede des Bun- den, DIE LINKE demonstriere distanzlos «gegen Israel» ge- destagsfraktionschefs Gregor Gysi am 14. April 2008 zum meinsam mit islamistischen Gruppen und nationalistischen 60. Jahrestag der Staatsgründung Israels bei der Rosa-Lu- Bewegungen, die Israels Politik mit der des Nazireichs oder xemburg-Stiftung zeigte, dass es in der Partei nach wie vor mit dem Holocaust gleichsetzten.30 Entsprechende Fotos kur- Diskussionsbedarf gibt. Gysi forderte eine differenzierte Aus- sierten im Internet, offizielle Stellungnahmen von der oder einandersetzung mit der komplexen Wirklichkeit des Nahen für die Parteispitze gab es dazu –Gysis Rede bei der Rosa- Ostens. «Antiimperialistische Theorien, die die Politik Israels Luxemburg-Stiftung lag nun auch schon zwei Jahre zurück – als die eines aggressiven Imperialismus interpretieren und nicht. Im April 2011 wurde auf der Webpage des Duisburger kritisieren» würden hier ebenso wenig weiterhelfen wie «das Kreisverbandes der Partei, dem Hermann Dierkes angehört, ideologische Pendant zur antiimperialistischen Kritik, die so ein antisemitisches Flugblatt gefunden, auf dem Hakenkreuz genannten ‹Antideutschen›, deren Hauptfeind ein sich un- und Davidstern miteinander verschränkt waren.31 Niemand kenntlich machender Antisemitismus ist.» Die Linke könne gab Dierkes persönlich die Schuld daran, zumal der Kreisver- sich nicht darauf berufen, dass eine antiimperialistische Hal- band das Flugblatt nach Bekanntwerden dieser Tatsache so- tung sie per se auf Seiten des Guten platziere, Israel als Teil fort löschte und unmissverständlich seine Gegnerschaft zu des Weltimperialismus auf Seiten der reaktionären Kräfte. jederart Antisemitismus bekräftigte. Unklar blieb aber, wie Der Begriff des Imperialismus treffe «auf Israel auf jeden Fall lange das Flugblatt im Netz abrufbar gewesen war.32 nicht zu», und der Antizionismus könne für DIE LINKE «keine Wenig später machten Presseberichte die Runde, wonach vertretbare Position sein», da dieser stets dazu neige, Ausch- die Bundestagsabgeordnete , wie vorher schon witz in seiner Bedeutung herabzustufen.25 ihre Fraktionskollegin Inge Höger, öffentlich mit einem Schal Gysis Rede hatte in der Partei und ihrem Umfeld Wider- aufgetreten sei, der die Nahostregion ohne den Staat Israel spruch hervorgerufen. Israel missachte die Menschenrechte abgebildet habe. Die Bagatellisierung der von beiden Abge- ebenso wie alle UN-Erklärungen zum Nahostkonflikt und su- ordneten nicht abgeleugneten Tatsache konnte nur schwer- che mit seiner Siedlungspolitik in der Westbank die Palästi- lich überzeugen.33 Im Zusammenhang mit der geplanten, nenser zu Fremden im eigenen Land zu machen. Wenn das aber letztlich gescheiterten «Gaza-Flottille» 2011 wurde nun Ausblenden dieser Fakten Teil der deutschen «Staatsräson» mit größerer Heftigkeit auch über Legitimität und politische sei, der sich DIE LINKE anschließe, gebe sie Grundpositio- Wirksamkeit einer Teilnahme an derartigen Durchbrechungen nen marxistischer Imperialismuskritik preis, hieß es in einer der israelischen Blockade des Gaza-Streifens diskutiert. Ne- Stellungnahme der Kasseler AG Friedensforschung und ih- ben Inge Höger und Annette Groth hatte an der blutig geende- res Leiters Peter Strutynski. Zahlreiche Angehörige des Ge- sprächskreises Frieden und Sicherheit der Rosa-Luxem- 26 burg-Stiftung hatten diese Stellungnahme unterstützt. DIE 25 Abgedruckt in: Neues Deutschland, 15. April 2008. – Ob Israel permanent bedroht ist LINKE dürfe die Notwendigkeit des antiimperialistischen oder nicht, ist in der Partei umstritten. Ein Arbeitspapier hielt fest: «Israel ist heute von kei- ner arabischen Macht ernsthaft in seiner Existenz bedroht. […] Der größte Feind Israels ist Kampfes nicht infrage stellen und nicht aufhören, die israeli- zurzeit die Politik Israels selbst.», Wolfgang Gehrcke/Harri Grünberg, Über Gewissheiten und Konfusionen in der Nahost-Politik, undatiertes Arbeitspapier [ca. 2008], S. 17, im Besitz sche Regierungspolitik zu kritisieren. Diese Kritik bleibe auch von M. Keßler. Iran wird unter den Israel-Feinden in diesem Kontext nicht genannt. 26 ht- dann notwendig, wenn Israels Politik ohne Auschwitz nicht tp://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Israel/60jahre-gysi.html (gesehen am 19. Ju- li 2011). 27 www://die- linke.de/partei/zusammenschluesse/kommunistische_plattform_ zu denken sei, hieß es in einer Erklärung vorwiegend ost - der_partei_die_linke/dokumente/staatsraeson_und_regierungsbeteiligung (gesehen am deutscher Mitglieder der Kommunistischen Plattform, un- 19. Juli 2011). 28 Pascal Beucker, Linker auf israelfeindlichen Abwegen, in: Die Tageszei- tung, 25. Februar 2009. 29 Vgl. Stefan Reinecke, Linkspartei zofft sich wegen Israel, in: Die ter ihnen Ellen Brombacher, Sahra Wagenknecht, Detlef Jo- Tageszeitung, 2. Februar 2010. 30 Das entspricht dem unmittelbaren Erfahrungshorizont seph und Gregor Schirmer, unterstützt von (MdB) der Autoren, war regelmäßig Debattengegenstand innerhalb der Partei. Vgl. auch das In- terview von André Anchuelo mit Benjamin Krüger, «Da existiert eine Israel-Obsession», in: und Victor Grossman, im Koreakrieg aus der US-Armee in Jungle World, Heft 30/2011, vom 28. Juli 2011, S. 5. 31 Matthias Meisner, Antisemitische die DDR desertiert.27 Diese Positionen schienen jedoch keine Aktivitäten bei Duisburger Linken, in: Der Tagesspiegel, 27. April 2011. 32 Vgl. die Materi- alien und Berichte auf www.die-linke-duisburg.de. 33 Vgl. Matthias Meisner, Die Halstuch- Symptome eines tiefgehenden Risses in der Partei zu sein, Affäre, in: Der Tagesspiegel, 10. Juli 2011. 30 ten Flottille 2010 auch der frühere LINKE-MdB Norman Paech en Deutschland».43 «Wir müssen der Kritik [an Israel] Gren- teilgenommen. In dieser Diskussion spielte insbesondere die zen setzen», forderte Gysi in der «Tageszeitung».44 mögliche Kooperation und «Verbrüderung» mit islamistischen Allerdings ist die erforderliche Weiterführung dieser Dis- und nationalistischen Bewegungen eine zentrale Rolle. Ge- kussion kein Selbstläufer. Gregor Gysis eingangs zitierte Äu- genüber dem «Neuen Deutschland» rechtfertigte Groth in die- ßerung, das Thema sei beendet, macht deutlich, dass es Ten- sem Zusammenhang ihre Teilnahme an der Gaza-Flottille im denzen gibt, den Konflikt möglichst bald zu begraben. Die Jahr zuvor und lehnte «einen Sinnzusammenhang zwischen Debatte ist in einer Zeit voll ausgebrochen, in der DIE LIN- Antisemitismus und der Unterstützung für die Gaza-Flottil- KE – nach Jahren erfolgreicher Positionierung als neues, le» ab. Antijüdische Parolen, die andere beim Auslaufen der hoffnungsvolles linkes Parteiprojekt in Deutschland – den Schiffe aus der Türkei gehört hätten, habe sie nicht bemerkt.34 Eindruck erweckt, mehr auf der Suche nach sich selbst zu Immer wieder kam es zum Bekanntwerden von Aktivitä- sein als treibende Akteurin im politischen Kräfteparallelo- ten durch oder unterstützt von Mitgliedern der LINKEN, in gramm. Strategiepolitische Auseinandersetzungen, Hege- denen wahlweise einer «säkular-demokratischen Einstaa- monie-Kämpfe von Strömungspersonal in der jungen Partei, tenlösung», der Kooperation mit Hamas und Hisbollah, dem strategische Defizite und organisationspolitische Probleme notwendigen Boykott israelischer Waren, der einseitigen sind nur schwer zu übersehen. So ist das Bemühen der Füh- Verantwortung Israels für die Lage im Nahen Osten oder rungsspitzen der LINKEN dem Willen geschuldet, jegliche sogar Nazivergleichen das Wort geredet wurde. Die Dichte existenziellen Zerreißproben und öffentliche Debatten mit der Ereignisse und der hilflos wirkende Umgang damit in der hohem Sprengpotenzial in der Partei zu vermeiden. Partei ließen innerhalb wie außerhalb der Partei die Besorg- Das gilt ganz offensichtlich auch bei diesem Themenfeld. nis wachsen, DIE LINKE sei offen für obsessiven Israel-Hass, Das eher ungeschickte «Management» dieser Debatte hatte sie toleriere fundamentalistischen Antizionismus und leiste sich dem Ziel verschrieben, die existierenden Konflikte tief damit antisemitischen Stereotypen und Vorurteilen in ihren zu halten und nach außen das Bild großer Übereinstimmung eigenen Reihen und der Gesellschaft Vorschub. auch zu dieser Frage in der gesamten Partei zu erzeugen. Da- bei kommt dem Ruf nach einem Ende der Debatte zugute, Thema beendet? Hoffentlich nicht! dass manches Urteil über die Partei in seiner Pauschalität Die jüngsten, emotionalen Auseinandersetzungen innerhalb oder instrumentellen Verwendung die Debatte eher blockiert der Partei DIE LINKE zum Themenkomplex Nahostkonflikt als ermöglicht. Die Beschreibung, in der Partei DIE LINKE sei haben deutschlandweit und darüber hinaus Aufmerksamkeit der antizionistische Antisemitismus «zu einer weitgehend erregt. Das ist angesichts der historischen Wurzeln dieser konsensfähigen Position geworden»45, hat es der politischen Debatte nicht verwunderlich. Es gibt für DIE LINKE Gründe Konkurrenz ermöglicht, mit der Möglichkeit der «Selbstent- genug, sich mit ihrem Verhältnis zu Israel und dem Nahen lastung» Antisemitismus (pauschal und ausschließlich) zu ei- Osten einerseits und Antizionismus und auch Antisemitis- nem Problem der Linken zu erklären. Die Veröffentlichung mus andererseits auseinanderzusetzen. Wir haben hier nur des Aufsatzes hat aber auch die öffentlichen Positionierun- einige beispielhaft anführen können, sie mögen hier pars pro gen durch Partei- und Fraktionsgremien mit provoziert. Der toto stehen. Aber die Auseinandersetzung findet statt. Die Versachlichung der Debatte kam allerdings nicht entgegen, Zahl der Äußerungen, die sich für die eingangs beschriebe- dass die Autoren des Materials dieses Konfliktfeld unmittel- ne Position der Bundestagsfraktion zu Boykottforderungen bar mit dem in der jungen Partei ebenfalls noch immer stark gegenüber Israel, der Teilnahme an Flottillen nach Gaza und konfliktbehafteten Thema «Regierungsfähigkeit/Regierungs- zum Existenzrecht Israels aussprachen, kann hier nicht wie- beteiligung» verkoppelten. Schließlich erleichterten auch dergegeben werden. Stellungnahmen von Bundestagsabge- solch ersichtlich instrumentellen und geschichtsblinden The- ordneten wie Stefan Liebich35, Jan Korte36, Petra Pau37 und sen wie «Die Linke ist antisemitisch. Sie muss es sein, wenn Katja Kipping38 und aus Landesverbänden und Strömungen39 sie links sein will»46 alle Bemühungen, den Streit um den zeigen, dass die Diskussion eingefordert wird. Aber auch in Konflikt innerhalb der Partei zu unterbinden. Denn die Debat- der Parteibasis gibt es Wortmeldungen40, die die Debatte um die notwendige Trennschärfe bei der Abgrenzung der Partei

zu antizionistischen Akteuren und auch zu antisemitischen 34 Wollen Sie provozieren? Annette Groth im Interview mit Uwe Kalbe, in: Neues Deutsch- Mustern ganz klar befürworten. land, 10. Juni 2011. 35 Vgl. Meinungsbild oder Maßregel? Stefan Liebich im Interview mit Uwe Kalbe, in: Neues Deutschland, 11. Juni 2011. 36 Jan Korte, Die Diskussion findet statt, Manche Akteure berufen sich nicht zuletzt auf die in der in: jungle world, 26. Mai 2011, http://jungle-world.com/artikel/2011/21/43253.html (gese- PDS gewonnenen diskursiven Positionen zum Verhältnis hen am 24. Juli 2011). 37 Siehe bereits oben. 38 , Jenseits von Antizionismus und antideutschen Zuspitzungen, Erklärung vom 24. Mai 2011, http://www.katja-kipping. gegenüber Israel und dem Nahen Osten. Eine Gruppe von de/article/452.jenseits-von-antizionismus-und-antideutschen-zuspitzungen.html (gesehen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus der Partei – am 24. Juli 2011). 39 Etwa von linksjugend [‘solid] münchen und SDS München, vom Ko- Kreis der Emanzipatorischen Linken Berlin oder vom Forum Demokratischer Sozialismus. darunter der Mitbegründer der PDS in Baden-Württemberg, Vgl. auch Klaus Lederer im Interview mit Stefan Reinecke, «Israelkritik ist für manche eine der inzwischen 96-jährige Theodor Bergmann41 – publizier- Obsession», in: Die Tageszeitung, 27. Mai 2011. 40 So Thomas Lohmeier/Jörg Schindler, Ja zu klaren Grenzen. Anmerkungen zur Antisemitismusdebatte in der Linken, 22. Juni 2011, ten einen offenen Brief, der die Positionierung der Bundes- http://www.prager-fruehling-magazin.de/article/694.ja-zu-klaren-grenzen.html. 41 Berg- mann hat soeben ein Buch zum Thema vorgelegt: Der 100-jährige Krieg um Israel. Eine in- tagsfraktion unterstützt. Dort wird die notwendige Kritik an ternationalistische Position zum Nahostkonflikt, Hamburg 2011. 42 Erschienen in: Neues der rechten Politik in Israel gleichermaßen verteidigt wie der Deutschland, 21. Juni 2011. 43 Zwischen allen Stühlen. Gregor Gysi im Gespräch mit An- drej Hermlin, in: Neues Deutschland, 25./26. Juni 2011, Beilage. 44 «Wir müssen der Kritik «Bündnissuche» mit islamistischen Organisationen wie der Grenzen setzen». Gregor Gysi über Antisemitismus-Debatte, in: Die Tageszeitung, 16. Juni Hamas eine klare Absage erteilt.42 Der Musiker Andrej Herm- 2011. 45 Vgl. Samuel Salzborn/Sebastian Voigt, Linke als Koalitionspartner?, http://www. fr-online.de/blob/view/-/8467798/data/5567673/-/Studie+Antisemitismus+in+der+Links lin warnte davor, Antisemitismus innerhalb der Linken als partei.pdf (gesehen am 24. Juli 2011). Sie erschien später in der Zeitschrift für Politik. Vgl. Randproblem zu sehen. «Was sich in den letzten Wochen in auch die eine Versachlichung der Debatte einfordernde Erwiderung von Peter Ullrich & Al- ban Werner (Ullrich/Werner 2011: Ist «DIE LINKE» antisemitisch? Über Grauzonen der «Is- der LINKEN abgespielt hat, der ich immer noch angehöre, ist raelkritik» und ihre Kritiker, Zeitschrift für Politik 58 (4), S. 424-441. 46 So Michael widerlich. Seit Jahren sind wir Diskussionen aus dem Wege Wolffsohn, Die Linke muss antisemitisch sein, in: Financial Times Deutschland, 25. Juni 2011, http://www.ftd.de/politik/deutschland/:antisemitismus-die-linke-muss-antisemitisch- 30 31 gegangen», sagte er, von Gregor Gysi interviewt, dem «Neu- sein/60068113.html?page=2 (gesehen am 24. Juli 2011). te ist für die gesamte Partei schmerzhaft und bietet auch der Akteuren. Wir halten es für nicht hinnehmbar, wenn LINKE- politischen Konkurrenz Anknüpfungspunkte für Diffamie- Fahnen auf Demonstrationen mitgeführt werden, die in nicht rung, Simplifizierung und Pauschalisierung. Das wiederum überschaubarer Weise Solidarität mit nationalistischen oder befördert völlig konfliktblinde und eher für eine Wagenburg islamistischen Organisationen oder Netzwerken propagieren, als für eine politische Partei typische Solidarisierungsprozes- oder wo einer Gleichsetzung Israels mit den Nazis oder seiner se, die nur zur falschen Konsequenz führen können: einen Vernichtung Sympathie entgegenschlägt. Wir halten es für Schlusspunkt unter die Auseinandersetzung zu setzen. inakzeptabel, etwa den Iran als Anknüpfungspunkt für «linke» Die Partei- und Fraktionsspitze verfolgte mit ihrer Tendenz Hoffnungen auf Veränderung in der Region zu sehen, oder zur Beschwichtigung in einer für die Partei wie für die Fraktion nationale Erhebungen reflexhaft mit «antiimperialistischer» DIE LINKE schwierigen Situation ein durchaus nachvollzieh- «Befreiung» und Emanzipation zu identifizieren. bares Ziel: Sie wollte den Zusammenhalt der Fraktion sichern, Demokratisch-sozialistischer Internationalismus schließt der sichtlich beschädigt war. Damit aber hielt sie an zwei pro- eine blinde Wahl der Verbündeten nach der Logik «Der Feind blematische Grundkonstanten eines überkommenen linken meines Feindes ist mein Freund» aus. Er widmet sich der Wi- Selbstverständnisses fest: Erstens an der Annahme, dass in- dersprüchlichkeit der internationalen Beziehungen und der terne und externe Kritik an der Linken per se dem Interesse materialistischen Analyse der Verhältnisse innerhalb der na- «des Gegners» diene und deshalb zu unterbleiben habe. Zwei- tionalen Strukturen. DIE LINKE kann genauso wenig Men- tens, dass eine Linke, die sich dem Humanismus und dem so- schenrechtsverletzungen der israelischen Streitkräfte oder zialistisch-demokratischen Denken verschrieben habe, schon gezielte Tötungen von Menschen akzeptieren wie sie Selbst- deshalb gegenüber antisemitischen Stereotypen und Vorur- mordattentate und Granatenangriffe auf israelische Grenz- teilen immun sei. Wer sich um eine derartige Selbstimmuni- städte aus dem Gazastreifen heraus als «kollektive Notwehr sierung bemüht, hilft aber, jegliches Problembewusstsein zu des unterdrückten palästinensischen Volkes» rechtfertigen verdrängen und das Ende der Diskussion ohne tatsächliche oder herunterspielen darf. Sie kann sich genauso wenig Weiterentwicklung der Partei in dieser Frage zu befördern. In mit der israelischen Rechten verbünden wie mit den reak- der Beendigung der Diskussion durch «Ukas von oben» liegt tionären Kräften im Gazastreifen oder der Westbank. Ihr Ziel eine große Gefahr.47 Sie würde der Diskussionsoffenheit und müsste doch sein, durch die aktive Kooperation mit den ihr Entwicklungsfähigkeit der Partei DIE LINKE insgesamt scha- politisch nahestehenden Kräften auf beiden Seiten in den of- den und ihre politische Interventions- und Strategiefähigkeit fenen Austausch, in einen Lern- und Erfahrungsprozess, ein- in gesellschaftliche Prozesse lähmen – und hierin dürfte eine zutreten. Denn die Aneignung internationalistischer Positio- ausgesprochen teure Hypothek für die Zukunft liegen. nen ist letztlich immer so konkret wie praktisch. Ob das Problem der Linken im Verhältnis zu Israel, dem DIE LINKE muss ihren Blick schärfen für die Komplexität der Nahostkonflikt und dem Antisemitismus der «alte antizionisti- bestehenden globalen Konfliktlagen. Sie muss diese Debat- sche Geist der DDR»48 oder eine theoretisch verkürzte Imperi- te vor allem führen, um in einem zentralen Feld linker Politik, alismuskritik westlicher Linker ist – diese Frage sollte erörtern, nämlich in einer internationalistischen Außen-, Sicherheits- wer bereit ist, sich auf die politischen Positionen der Partei und Friedenspolitik, praktisch und politisch handlungsfähig zu DIE LINKE ernsthaft und kritisch einzulassen. Zweifellos hat werden und sich Spielräume und Perspektiven zu erarbeiten. die Debatte bereits jetzt in der Partei einiges in Bewegung ge- Schon deshalb ist sie in der Pflicht, diese Debatte sachlich, bracht. Das 2011 verabschiedete Parteiprogramm nennt das problembewusst und (selbst-)kritisch weiterzuführen. Existenzrecht Israels als unveräußerlichen Wert, für den DIE LINKE eintritt. Es ist erstmalig klar geworden, dass es einen Kanon von Positionen gibt, die DIE LINKE nicht vertritt und die Prof. Dr. Mario Keßler ist Mitglied der Historischen Kommission namens der LINKEN nicht vertreten werden können. der Partei DIE LINKE. Er arbeitet unter anderem zur Haltung der Damit ist in Gang gekommen, was dringend erforderlich internationalen Linken zum Antisemitismus. ist: eine Begriffsklärung herbeizuführen, was eine moder- Dr. Klaus Lederer ist Berliner Landesvorsitzender der Partei ne, emanzipatorische sozialistisch-demokratische Linke un- DIE LINKE und Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses. ter Antisemitismus versteht. Aus Sicht der Autoren gehö- Dort ist er rechtspolitischer Sprecher seiner Fraktion. ren folgende Sachverhalte unbedingt dazu: Das Abstreiten des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, die Gleichsetzung Israels mit «den Juden», gegebenenfalls ver- bunden mit der einseitigen Schuldzuweisung an den Staat Israel in Konfliktlagen oder das «Messen mit doppeltem Maß» bei der Bewertung der Politik seiner führenden politi- schen Kräfte. Das sehen wir etwa dort, wo die internationale Konfliktgeografie in obsessiver Weise auf den Nahen Osten reproduziert und an ihm ideologisch exerziert wird, während der übrige Globus völlig aus dem Blick gerät. Schon die Be- hauptung, der «Kritik an Israel» würde mit «Maulkörben» und «Denkverboten» begegnet, halten wir für ein von Ressenti- ment getragenes Vorurteil, weil wir uns selbst wiederholt mit der politischen Strategie rechtsgerichteter Kräfte in Israel, wie andernorts auch, auseinandergesetzt haben. 47 So diskutiert z. B. Peter Ullrich («Im Gespräch: Lautsprecher und Scheuklappen», Freitag Es geht – über das bisher Gesagte hinaus – auch um die vom 16.6.2011, http://www.freitag.de/politik/1124-lautsprecher -und-scheuklappen) in kri- Frage legitimer linker Bündnispolitik, wie etwa zum Verhältnis tischer Perspektive die Möglichkeiten einer «administrativen Lösung» des inhaltlichen Pro- blems. 48 So Dieter Graumann, Befreiung aus dem Kerker des Israel-Hasses, in: Süddeut- der Linken zu islamistischen Organisationen, Strategien oder sche Zeitung, 20. Juni 2011. 32 STANDPUNKTE 06/2012

Isabel Erdem und Wolfgang Neškovic´ Sanktionen bei Hartz IV: unbedingt verfassungswidrig!

Am 26. April 2012 hat eine Mehrheit der Parlamentarierinnen und Parlamentarier des Deutschen Bundestags gegen die Abschaffung von Leistungskürzungen bei Hartz IV und bei der Sozialhilfe gestimmt. Diese Mehrheit irrt. Sanktionen bei Grundsicherungsleistungen sind verfassungswidrig. Sie verletzen das Recht auf Zusicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums, das sich aus der Menschenwürdegarantie selbst ergibt. Gemäß unserer Verfassung gelten bürgerli- che Freiheiten und soziale Sicherheit gleichrangig neben- und miteinander. Artikel 20 Absatz 1 Grundgesetz lautet: «Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat». Doch in der Praxis steht es schlecht um unseren «Sozialstaat». Die Bedrohung geht vom Staat aus. Der Verfassungsbruch ist ständige Praxis der Jobcenter. Er ist Gesetzestext. Auf Grundlage verfassungswidriger Normen im Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II) werden Hartz IV-Emp- fängerinnen und Hartz IV-Empfängern bis zu 100 Prozent des ohnehin kaum ausreichenden Regelbedarfs und der Kosten für Unterkunft und Heizung gestrichen. Mehr als 912 000 solcher Sanktionen verhängten die Jobcenter im Jahr 2011. Das sind täglich etwa 2500 «legale» Eingriffe in das Recht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Es ist unwürdig, dass in einem der reichsten Länder der Welt eine solche Praxis existiert. Sie gehört gestoppt.

Staatliche Existenzsicherung Der falsche Grundsatz als individuelles Grundrecht vom «Fördern und Fordern» Das physische und psychische Überleben der Bürgerinnen Im deutschen Sozialrecht herrscht der Grundsatz des «För- und Bürger ist Grundvoraussetzung für die Wahrnehmung derns und Forderns». Er koppelt die Gewährung staatlicher aller freiheitlichen und sozialen Grund- und Teilhaberech- Leistungen für Hilfebedürftige an deren Mitwirkung, sozusa- te. Wird diese Grundlage nicht garantiert, sind alle übrigen gen als Gegenleistung.1 Sein Ausdruck sind unter anderem Rechte für die Betroffenen kaum das Papier wert, auf dem sie die Sanktionsnormen der §§ 31 a, 32 SGB II, die es erlauben, stehen. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit erlaubt sonst Hartz IV-Empfängerinnen und -Empfängern in bestimmten nichts weiter als die eigene Arbeitskraft zu schlimmsten Be- Fällen Leistungen zu streichen. Im vergangenen Jahr wur- dingungen zu verkaufen oder betteln zu gehen. Die Freizügig- den über 912 000 Sanktionen verhängt, mehr als je zuvor. 2 keit wird zum Recht, unter Brücken zu schlafen. Ein Staat, der Grund für die Leistungskürzung ist eine angebliche «Pflicht- allen Gesellschaftsmitgliedern nicht nur gleiche Rechte ein- verletzung». Pflicht ist dabei die Meldung beim Jobcenter, räumt, sondern sie tatsächlich verwirklicht sehen will, muss wobei das Jobcenter entscheidet, wann man sich zu melden zuerst die von Not und Leid freie Existenz seiner Bürgerinnen hat. Pflicht ist die Annahme jeder zumutbaren Arbeit, «zu- und Bürger sicherstellen. Deswegen gehört zu einem funkti- mutbar» ist fast alles. Pflicht ist auch die Erfüllung einer «Ein- onierenden Rechtsstaat auch ein funktionierender Sozialstaat gliederungsvereinbarung», die aus freiem Willen niemand mit einem entsprechend gut ausgebauten Sozialsystem. abschließen würde. Kommen mehrere Pflichtversäumnisse Bereits in der jakobinischen Verfassung von 1793 heißt es zusammen, wird die gesamte Leistung gekürzt. 100 Prozent in Art. 21: «Die öffentliche Unterstützung der Bedürftigen ist Kürzung von 374 Euro zuzüglich 100 Prozent Kürzung der eine heilige Verpflichtung. Die Gesellschaft übernimmt den Kosten für Unterkunft und Heizung macht 0,00 Euro pro Mo- Unterhalt der ins Unglück geratenen Bürger, sei es nun, dass nat. Wer rechtzeitig einen Antrag stellt und Glück hat, erhält sie ihnen Arbeit gibt oder denjenigen, welche arbeitsunfähig sind, die Mittel ihres Unterhalts zusichert.» Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland fehlt ein vergleichbarer Ar- 1 Nach Ansicht der Bundesregierung verlangt dieser Grundsatz, dass eine Person, die mit dem Geld der Steuerzahler in einer Notsituation unterstützt werde, im «Gegenzug» alles tikel. Dafür haben wir zwölf Sozialgesetzbücher, nach denen unternehmen muss, um ihren Lebensunterhalt wieder selbst zu verdienen, BT-Drucks. in einer persönlichen Notlage unterschiedliche Geld- und 17/3404, S. 110. 2 Bericht der Bundesagentur für Arbeit, zit.n. http://www.tagesschau.de/ inland/hartzvier212.html (4.4.2012). Zu detaillierten Zahlen von 2010, aus denen auch 32 33 Sachleistungen gewährt werden können. 100%-Kürzungen (5.870 Fälle) hervorgehen vgl. BT-Drucks. 17/6833 S. 9–11. zum Ausgleich Sachleistungen. Das macht 0,00 Euro plus betrag oder Sachleistungen festzulegen. Entsprechend kann das Gutdünken des Jobcenters. Durch das Prinzip des «För- danach in erster Linie das Berechnungsverfahren gerichtlich derns und Forderns» wird eine Art Vertragsverhältnis zwi- überprüft werden, nicht aber die konkrete Höhe der Leistun- schen Staat und Bürger, d. h. zwei völlig ungleichen Partnern, gen. Diese kann durch das Gericht angeblich nicht berech- vorgegaukelt: Der Bürger soll sich sein «unverfügbares» net werden und wird deshalb nur einer «Evidenzkontrolle» Grundrecht durch regelgerechtes Verhalten verdienen. Um unterzogen. Evident unterschritten ist das Existenzminimum sein Recht zu bekommen, muss er eine Gegenleistung ablie- offenbar nur, wenn die physische Existenz gefährdet ist. Ob- fern. Dem liegt ein Menschenbild zu Grunde, das von Faul- wohl das Grundrecht sich ja gerade auch auf die soziale, poli- heit und Betrug ausgeht und weder dem realen Menschen tische und kulturelle Teilhabe bezieht. noch unserer Verfassung entspricht. Dieses Prinzip führt da- Die Auffassung des Bundesverfassungsgericht ist unver- zu, dass die grundrechtlich geschützte Wahrnehmung von ständlich. Denn sie widerspricht der Annahme eines Leis- Freiheitsrechten wie Berufsfreiheit und Selbstbestimmung tungsgrundrechts. Es entspricht der Natur eines solchen plötzlich Bestrafung erfährt. Es führt dazu, dass in einem der Grundrechts, eine bestimmte Leistung zum Inhalt zu haben. reichsten Länder der Welt Menschen im Müll nach Pfand- Ein «unverfügbares» Leistungsgrundrecht, das keine be- flaschen suchen oder in Suppenküchen um Nahrungsmittel stimmte Leistung beinhaltet, ist wie eine Garantie ohne die betteln. Der Grundsatz des «Förderns und Forderns» ist sozi- Festlegung ihres Gegenstands. Zwar sind nicht alle Grund- alstaatsfeindlich und mit der Vorstellung allgemeiner Men- rechte im Einzelnen konkretisiert. Doch hat das Bundesver- schenrechte nicht vereinbar. fassungsgericht bei anderen wichtigen Grundrechten (z. B. beim Eigentumsrecht) zumindest den unberührbaren We- Das menschenwürdige Existenzmini- sensgehalt exakt ausdifferenziert. Nicht so beim Recht auf mum des Bundesverfassungsgerichts Existenzminimum. Dabei ergibt sich dieses aus der Men- Seit Jahrzehnten geht das Bundesverfassungsgericht da- schenwürde und dem Sozialstaatsprinzip, zwei Verfassungs- von aus, dass sich aus der Menschenwürdegarantie und sätzen, die gemäß Art. 79 Abs. 3 GG zum unverzichtbaren dem Sozialstaatsgebot ein die Existenz sicherndes Gewähr- Kern des Grundgesetzes gehören. Es muss daher in vollem leistungsrecht ergibt.3 Bereits 1954 hat das Bundesverwal- Umfang unberührbar und auch überprüfbar sein.7 tungsgericht ausgeführt, die Würde des Menschen verbie- te es, «ihn lediglich als Gegenstand staatlichen Handelns zu Pflicht des Parl aments betrachten, soweit es sich um die Sicherung des «notwen- zur Bestimmung/Berechnung digen Lebensbedarfs» (§ 1 der Reichsgrundsätze), also sei- Jedenfalls kann das Bundesverfassungsgericht seiner Mei- nes Daseins überhaupt, handelt.»4 Die Fürsorge für Hilfs- nung nach nicht über den Umfang des Existenzminimums bedürftige gehört nach dem Bundesverfassungsgericht zu entscheiden. Es weist jedoch dem Parlament den Auftrag zu, den «selbstverständlichen Pflichten eines Sozialstaates»; die es näher auszugestalten und in jedem Einzelfall zu garantie- staatliche Gemeinschaft müsse ihnen «jedenfalls die Min- ren. Dieser Auftrag ist zwingend, d. h. das Parlament kann destvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein si- sich ihm nicht entziehen. Dabei hat der Gesetzgeber bei der chern und sich darüber hinaus bemühen, sie soweit möglich Einschätzung des notwendigen Bedarfs einen Gestaltungs- in die Gesellschaft einzugliedern».5 Am 9.2.2010 hat das Ge- spielraum. Allerdings muss er den zum physischen Überle- richt schließlich ein unmittelbares verfassungsrechtliches Ge- ben und zur sozialen, politischen und kulturellen Teilhabe er- währleistungsrecht auf Zusicherung eines menschenwürdi- forderlichen Bedarf nachvollziehbar berechnen. Erst durch gen Existenzminimums hergeleitet. Es erstreckt sich auf alle eine solche Bedarfberechnung wird das Grundrecht konkre- Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen tisiert und erhält einen bestimmten Inhalt, der dann unmit- Daseins unbedingt erforderlich sind. Dazu gehört nicht nur telbar verfassungsrechtlich geschützt ist. Kommt das Parla- die physische Existenz des Menschen, sondern auch auch ment dieser Pflicht nicht nach, verstößt es selbst gegen das seine Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Bezie- Grundrecht auf Zusicherung eines menschenwürdigen Exis- hungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesell- tenzminimums. So verhielt es sich bei den alten Hartz IV- Be- schaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Das Recht stimmungen im SGB II. Das Bundesverfassungsgericht hat auf Zusicherung des Existenzminimums ist «dem Grunde 2010 ihre Verfassungswidrigkeit festgestellt und mit einem nach unverfügbar und muss eingelöst werden»; der gesetz- nicht nachvollziehbaren Berechnungsverfahren begründet. liche Leistungsanspruch muss stets den gesamten existenz- Bei der Berechnung der Regelleistungen waren willkürlich notwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers Ausgabepositionen im Verhältnis zu den Referenzhaushalten decken.6 weggekürzt worden. Dazu führte das Gericht aus: «Schät- zungen «ins Blaue hinein» laufen […] einem Verfahren rea- Unverfügbares Grundrecht litätsgerechter Ermittlung zuwider und verstoßen deshalb mit unbestimmtem Inhalt gegen Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaats- Zwar wird das menschenwürdige Existenzminimum in Ge- prinzip des Art. 20 Abs. 1 GG.»8 richtsentscheidungen häufig erwähnt, aber sein genauer In- Die Höhe des in einer Gesellschaft benötigten «Existenz- halt bleibt im Dunkeln. Das höchste deutsche Gericht, Hü- minimums» leitet sich also – man möchte meinen: logischer- ter der Verfassung und des darin enthaltenen Sozialstaats, hat bisher nicht die Bereitschaft erkennen lassen, einen kon- 3 V.a. BVerfG v. 29.5.1990 – BVerfGE 82, 60 und BVerfG vom 12.5.2005 – 1 BvR 569/05. kreten Leistungsumfang für das Existenzminimum festzule- 4 BVerwG v. 24.6.1954 – V C 78.54, juris Rn. 28. 5 BVerfG v. 18.6.1975 – 1 BvL 4/74, juris gen. Es hat ein Grundrecht konstruiert, dessen Inhalt es nicht Rn. 44. 6 Vgl. BVerfG Urteil v. 9.2.2010, Rn. 135 ff. 7 Allgemein zur Zurückhaltung Deutschlands bei der Umsetzung sozialer Grundrechte s. u. a. Arbeitsdokument des Euro- genau überprüfen kann. Es räumt dem Parlament nämlich päischen Parlaments zu Sozialen Grundrechten in Europa, PE 168.629, S. 12 f., 40 f. Zu die- einen politischen Spielraum ein: Nicht Aufgabe von Gerich- sem Themenkomplex s. auch Gesetzentwurf der Bundestagsfraktion DIE LINKE zur Auf- nahme sozialer Grundrechte in das Grundgesetz, BT-Drucks. 16/13791. 8 BVerfG Urteil v. ten, sondern des Gesetzgebers sei es, einen exakten Geld- 9.2.2010, Rn. 171. 34 weise – unmittelbar aus dem existenznotwendigen Bedarf der im Bundestag vertretenen Parteien verteidigt den Verfas- der Bürgerinnen und Bürger in dieser Gesellschaft ab. Und sungsbruch. Deutsche Behörden führen ihn aus. Auch die zwar nur aus diesem. Dieser Bedarf steht nicht unverändert Sozialgerichte haben bisher nicht das Bundesverfassungs- fest, sondern ist Schwankungen unterworfen. Er muss regel- gericht angerufen, um die Sanktionspraxis zu stoppen. 12 mäßig anhand statistischer Daten berechnet oder zumindest In der Wissenschaft und in der juristischen Literatur, in der begründet geschätzt werden. Rechtsprechung und in der öffentlichen Meinung dominiert der Gedanke, dass Menschen etwas tun müssen, bevor der Sanktionsnormen berechnen Staat ihnen Geld auszahlt. Bisher gelingt es uns Linken nicht, keinen Bedarf diesem politischen und verfassungsrechtlichen Irrglauben Die Kürzungsnormen im SGB II und SGB XII sind ganz of- wirkungsvoll entgegenzutreten. Es ist an der Zeit, auch sozi- fensichtlich keine auf einer Bedarfberechnung beruhenden, ale Grundrechte offensiv einzufordern. Hiervon wird es ent- das Grundrecht in diesem Sinne ausgestaltende Normen. scheidend abhängen, ob der Sozialstaat Tinte bleibt oder ge- Eine Sanktion führt nämlich zum Schwinden des «unver- sellschaftliche Wirklichkeit wird. fügbaren» Existenzminimums, einzig zum Zwecke der Be- Der Bund der Geächteten schrieb 1834 in einer Erklärung strafung. Es fehlt jeglicher Zusammenhang der nach einer der Menschen- und Bürgerrechte (Art. 1 ff.): «Der Zweck der Kürzung verbleibenden Leistungshöhe mit dem existenznot- Gesellschaft ist das Glück aller ihrer Glieder. […] Um dieses wendigen Bedarf der Betroffenen. Bereits deshalb sind die- Glück zu sichern, muß die Gesellschaft einem jeden verbür- se Regelungen verfassungswidrig. Die Voraussetzung für die gen: Sicherheit der Person; die Mittel, sich auf eine leichte Gewährung des Existenzminimums kann nämlich nur die Weise ein Auskommen zu verschaffen, welches ihm nicht nur gegenwärtige Bedürftigkeit, d. h. die objektive Notwendig- die Bedürfnisse des Lebens, sondern auch eine des Menschen keit sein. Der Gesetzgeber hat mit den Sanktionsnormen die würdige Stellung in der Gesellschaft sichert; Entwicklung sei- volle Erbringung der Leistungen zur Deckung des Existenz- ner Anlagen; Freiheit; Widerstand gegen Unterdrückung. […] minimums stattdessen an ein regelkonformes Verhalten der Da alle Bürger, wie groß immer die Verschiedenheit ihrer Kräf- Betroffenen geknüpft.9 Im Moment der Kürzung spielt über- te sein mag, ein gleiches Recht auf diese Zusicherung haben, haupt keine Rolle, was zum Überleben benötigt wird. so ist Gleichheit das Grundgesetz dieser Gesellschaft.» Diese Auffassung ist auch nach der Logik des Bundes- verfassungsgerichts zwingend: Wenn bereits Gesetzesvor- Dieser Text steht unter der Creative Commons Namensnennung schriften, die auf einer nicht nachvollziehbaren Berechnung 3.0 Deutschland Lizenz, https://creativecommons.org/licenses/ (aber immerhin auf einer Bedarfsschätzung) beruhen, gegen by/3.0/de/. das Grundrecht auf Sicherung eines Existenzminimums ver- stoßen, gilt dies erst recht für Normen, die die Höhe der Leis- Literaturhinweise tung überhaupt nicht an den aktuellen Bedarf, sondern an ein Ausführlich zum Thema Verfassungswidrigkeit von Sanktio- bestimmtes Verhalten der Bedürftigen knüpfen. nen bei Hartz IV: Neskovic/Erdem, Zur Verfassungswidrig- Sofern die neuen Hartz IV-Leistungsvorschriften in den keit von Sanktionen bei Hartz IV – Zugleich eine Kritik am Augen des Bundesverfassungsgerichts überhaupt ver- Bundesverfassungsgericht, in: Die Sozialgerichtsbarkeit fassungsgemäß sein sollten (was zweifelhaft ist10), hat der 03.12, S. 134 – 140. Gesetzgeber das Grundrecht auf Zusicherung eines men- Zur Verfassungswidrigkeit des Asylbewerberleistungsgeset- schenwürdigen Existenzminimums inhaltlich bestimmt. zes aus ähnlichen Gründen: Classen/Kanalan, Verfassungs- Den damit festgelegten Bedarf muss er in jedem Einzelfall mäßigkeit des Asylbewerberleistungsgesetzes, in: info also absolut gewähren. Jede Kürzung (nach SGB II oder SGB XII) 06/2010, S. 243 – 249. oder Unterschreitung des gesetzlichen Leistungsanspruchs Antrag der Fraktion DIE LINKE auf Abschaffung aller Leis- (z. B. durch das Asylbewerberleistungsgesetz) ist dann ver- tungskürzungen, BT-Drucks. 17/5174: fassungswidrig, ganz gleich ob sie ihrerseits durch Gesetz, http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/051/1705174.pdf Verwaltungs- oder Realakt vorgenommen wird. Das einmal Gesetzentwurf der Bundestagsfraktion DIE LINKE zur Auf- durch Gesetz ausgestaltete Grundrecht ist «unverfügbar»11. nahme sozialer Grundrechte in das Grundgesetz, BT-Drucks. Der Staat darf dieses Recht niemals verletzen. Selbst die ein- 16/1379: zelnen Personen können über dieses Recht nicht verfügen, http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/137/1613791.pdf indem sie etwa darauf verzichten oder es an andere abtreten.

Fazit und Überlegungen Isabel Erdem ist juristische Assessorin, ehemalige Studien­ zum Sozialstaat stipendiatin der Rosa-Luxemburg-Stiftung und aktiv im stipen­ Ein Staat, der für das Überleben von Hilfebedürftigen im Ge- diatischen Arbeitskreis Rechtspolitik & Menschenrechte. genzug ein bestimmtes Verhalten der Betroffenen fordert, ist Wolfgang Nešković ist Richter am Bundesgerichtshof a. D., kein Sozialstaat. Nicht nur freiheitliche, sondern auch soziale Mitglied des Deutschen Bundestags und Justiziar der Fraktion Grundrechte sind unverkäuflich und nicht verhandelbar. Das DIE LINKE. Prinzip des «Förderns und Forderns» ist mit der Idee allge- meiner Menschenrechte unvereinbar. Das Recht auf staat- liche Sicherung des Existenzminimums entspringt der Men- 9 Vgl. Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 17/3404, S. 110, 112, Vorb. zu den §§ 31 bis 32. 10 Am 25.04.2012 rief eine Kammer des Berliner Sozialgerichts das Bundesverfas- schenwürde selbst und ist unantastbar. Seine unbedingte sungsgericht an, weil es auch die Neuregelung für verfassungswidrig und die Höhe der Re- Einhaltung ist für den Sozialstaat konstitutiv. Sie ist zudem Vo- gelbedarfsleistungen für ungenügend hielt, s. http://www.berlin.de/sen/justiz/gerichte/sg/ presse/archiv/20120425.1035.369249.html. Vgl. auch Gutachten für die Hans-Böckler- raussetzung für einen funktionierenden Rechtsstaat. Stiftung zur Bedarfsberechnung, August 2011, http://www.boeckler.de/pdf/pm_ Durch Leistungskürzungen wie Sanktionen bei Hartz IV wsi_2011_09_05.pdf. 11 BVerfG v. 9.2.2010 – 1 BvL 1/09 u. a., Rn. 133. 12 Bisher hat noch kein Sozialgericht die Sanktionsnormen dem BVerfG zur Entscheidung vorgelegt – im Ge- 34 35 wird dieses Menschenrecht tagtäglich verletzt. Die Mehrheit gensatz zu den Normen zur Leistungshöhe, s. Fn. 10. STANDPUNKTE 07/2012

Ethan Young Die gekaufte Schlammschlacht Obama, Romney und der Kampf ums WeiSSe Haus

«Die größte Schlammschlacht aller Zeiten» – das könnte, so die vorherrschende Einschätzung der US-Medien, der Präsi- dentschaftswahlkampf in den Vereinigten Staaten werden. Denn die Anhänger des demokratischen Amtsinhabers, Ba- rack Obama, und seines republikanischen Herausforderers, des Multimillionärs und früheren Gouverneurs von Massachu- setts Mitt Romney, stünden sich unversöhnlich gegenüber. In der Tat haben sich die Republikaner zu keinem Zeitpunkt damit abgefunden, dass sie die Macht an den Demokraten Obama verloren haben. Die stramm rechte Tea-Party-Bewegung, die sich nach dem Amtsantritt des ersten afroamerika- nischen Präsidenten formierte, hat die Republikanische Partei weiter nach rechts getrieben. Seit im Herbst letzten Jahres, nach gewerkschaftlichen Abwehrkämpfen in mehreren Bundesstaaten, Occupy Wall Street die politische Bühne betreten hat, gibt es nun auch auf der Linken eine soziale Bewegung, wie sie das Land seit Jahrzehnten nicht gesehen hat. Aber sind die politischen Differenzen zwischen den beiden Lagern tatsächlich so groß, wie es in der medialen Polarisie- rung erscheint? Über welche Machtressourcen verfügen die Kandidaten? Wo liegen die Fallstricke ihrer Kampagnen? Und welche Rolle spielt die demokratische Linke?

Schon immer ist die US-Gesellschaft durch tiefgreifende net liefert das breiteste Medium für offenen Rassismus seit Verwerfungen gekennzeichnet, aber zu keiner Zeit in der der Bürgerrechtsbewegung – wobei hauptsächlich auf den Geschichte des Landes waren sie so klar erkennbar wie im Präsidenten und seine Familie abgezielt wird. Vorfeld dieser Präsidentenwahl. Dabei liegt der Grund nicht Eindeutige Rassismusbekundungen von Spitzenvertre- etwa in der Unterschiedlichkeit der beiden Kandidaten, wie tern der großen Parteien markieren eine Verschiebung der beide Seiten behaupten. Was das politische Denken der Normen, wie sie zu Hochzeiten der Bürgerrechtsbewegung Amerikaner von heute beschäftigt, ist die grundlegende Ver- geprägt wurden. All jene, die in den USA in den frühen 70er änderung der Stellung ihres Landes in der Welt, der Aufstieg Jahren groß wurden, wundern sich für gewöhnlich über den derer, die die Geschichte als «Minderheiten» klassifiziert hat, Hass (besonders dann, wenn er von etablierten Republika- sowie die krasse Abnahme des Lebensstandards der Durch- nern gepredigt wird) oder – wenn sie über ein Geschichts- schnittsbürger. Der Patriotismus Reaganscher Prägung hat bewusstsein verfügen – reagieren wütend. Die ideologische sich endgültig an der Realität einer Welt nach dem Kalten Polarisierung prägt nun die öffentliche Wahrnehmung der Krieg aufgebraucht. Wahlen. Jede Art von sozioökonomischem Wandel hat Auswir- Das Schisma zwischen Rechts und Mitte-Links verläuft kungen auf die allgegenwärtige Rassentrennung. Die hefti- unregelmäßig mitten durch rassische, geschlechtliche, städ- ge rassische Polarisierung dieser Tage ist eine Gegenreakti- tisch/ländliche, Generations- und Klassenzugehörigkeiten. on auf die Wahl des ersten afroamerikanischen Präsidenten, Es ist derzeit noch nicht absehbar, wie beide Seiten die nö- welche die Gesellschaft der USA trotz der lautstarken Eigen- tigen Stimmen aufbringen werden, um entscheidend zu ge- beweihräucherung über diesen historischen Durchbruch bis winnen. Denn ein entscheidender Sieg muss her. Wir alle ins Mark erschüttert hat. haben noch die knappe Wahl von 2000 im Gedächtnis, die Die «Angst vor einem schwarzen Planeten» (wie die Hip letztlich nicht durch die Stimme des Volkes, sondern durch Hop-Gruppe Public Enemy modernen Rassismus definierte) einen Beschluss des von Rechten dominierten Obersten hat eine Flut codierter Euphemismen in der öffentlichen De- Bundesgerichts entschieden wurde. Beide Kandidaten ha- batte ausgelöst: Dabei wird Obama als «Muslim», als «Sozi- ben schwierige Hürden zu überwinden, die zu einem wei- alist», als «Harvard-Schnösel» bezeichnet, der die Nöte der teren Zusammenbruch des Wahlsystems führen könnten. «wahren Amerikaner» nicht kennt, weil er nämlich – so die Momente solcher Instabilität haben in der Geschichte der indirekte Botschaft – gar keiner ist. Die Anonymität des Inter- Vereinigten Staaten bereits mehrfach zu einem Anstieg phy- 36 sischer Übergriffe der gut bewaffneten, sich immer paranoi- etablierten Medien in der Berichterstattung und der Kom - der gebenden extremen Rechten gegen ihre vermeintlichen mentierung seiner Kampagne anschlagen. Im Augenblick Feinde geführt. gilt Obama im politischen Panorama der etablierten Medi - en noch als Mann der Mitte. (Um das Etikett des Extremis - Obama: Gefährdet im Amt mus abzuwenden, hat die republikanische Führung es auch Es ist schwer zu sagen, wie viel Unterstützung Präsident für nötig befunden, den «moderaten» Romney ins Rennen Obama noch in der Bevölkerung genießt. Aktuelle Umfra- zu schicken, obwohl die Basis eindeutig einen Rechtsaußen- gewerte zeigen ihn vor seinem designierten Konkurrenten, Mann vorgezogen hätte.) Auch wenn es jetzt noch unwahr- Mitt Romney. Dieser Vorsprung kommt nicht ganz von unge- scheinlich anmutet, könnte die hysterische Hetzpropaganda fähr, ist Obama doch ein geschickter Kommunikator. Histo- der Murdoch-Sender noch vor November in der Medienland- risch gesehen ist es jedoch so, dass Amtsinhaber verlieren, schaft überwiegen. Sollte dies eintreten und Obama zusätz- wenn die Arbeitslosigkeit hoch oder die Lebenshaltungskos- lich zu den bezahlten Fernsehkampagnen der Opposition ten (z. B. die Benzinpreise) nahezu unerschwinglich werden. dauerhaft in den Fernsehnachrichten und den Tages- und Wo- Diese unerbittliche Tatsache erschwert Obamas Wahlkam- chenzeitungen in den Schmutz gezogen werden, würde das pagne, aber daneben muss er noch andere, weiter reichende bedeuten, dass die herrschenden Klassen sich von seiner spe- Probleme angehen. ziellen Marke «realpolitischer» Außenpolitik und seiner sich in So ähnelt seine Stellung zur aktiven Basis der seines poli- Grenzen haltenden Verteidigung des sozialen Netzes (Medi- tischen Mitdenkers und Vorgängers Bill Clinton. Anders als care, Soziale Sicherheit etc.) endgültig abgewendet haben. Clinton jedoch baute er seine Wahlkampagne 2008 auf ei- nem mächtigen Aufruf an die Linke für Frieden und Gleich- Die Rechtswende der Machteliten berechtigung auf. Schon jetzt kann man die neuerliche Rechtswende der Obamas Anbiederung als Amtsinhaber an das Militär, die Machtelite an der Vermehrung von Aktivistengruppen ab- Wall Street und die Privatisierung hat zur Abkehr oder bes- lesen, die einer sozialdarwinistischen Ideologie der freien tenfalls zur Indifferenz vieler seiner ehemaligen Unterstützer Marktwirtschaft anhängen, die den Notwendigkeiten des geführt. Sein Wahlkampfmotto 2008 – «Hope and Change» – Neoliberalismus gehorcht. Dazu gehören die Federalist So- hatte großen Enthusiasmus in der zersplitterten Linken aus- ciety, die Handelskammer der Vereinigten Staaten und der gelöst, insbesondere nach zwei Amtsperioden des entschie- American Legislative Exchange Council (ALEC). den reaktionären George W. Bush. Das Motto fand Eingang Bei der Federalist Society handelt es sich um eine kon- in die Viertel der Schwarzen und Latinos in den Innenstäd- servative Elite von Richtern, Anwälten und Professoren der ten und in die Wählergruppen, die am stärksten von den Rechtswissenschaften, die derzeit das Rechtssystem do- sozialen Bewegungen der Linken geprägt wurden: Frauen, minieren. Einer ihrer Gründer ist Robert Bork, dessen Be- geschlechtliche Minderheiten, Umweltschützer, Friedens- stellung an das Oberste Bundesgericht 1987 durch Reagan aktivisten etc. Wo Nichtregierungsorganisationen und Bür- von einer breiten Koalition unterbunden wurde. Bork ist jetzt gerinitiativen auf legale Weise Obama unterstützen und Romneys wichtigster Berater bei gerichtlichen Bestellungen. Kampagnen für ihn organisieren durften, taten sie dies auch. Die US-Handelskammer bezeichnet sich selbst als «die Die Gewerkschaften und der linke Flügel der Demokraten weltgrößte Unternehmensvereinigung, die mehr als drei sahen in ihm ihren Wunschkandidaten, und während seine Millionen Unternehmen und Organisationen jeder Größe, Appelle zu Themen wie einer nationalen Gesundheitsreform Branche und Region vertritt.» Ihre unternehmensfreundliche und der Besteuerung der Reichen begrüßt wurden, herrsch- Agenda spricht sich gegen Regulierungen und Reformen ten große Erwartungen, die eine Kampagne beflügelten, die vonseiten der Gewerkschaften und der sozialen Bewegun- selbst die Züge einer sozialen Bewegung aufwies. gen aus. Zu den maßgeblichen Kräften hinter der Handels- Als gewählter Präsident hat Obama versucht, sich von der kammer zählen die enorm einflussreichen Erdöl- und die Linken abzusetzen, parteiübergreifende Vereinbarungen mit Pharmaunternehmen. der Rechten im Kongress zu treffen (vergeblich), um sich auf ALEC wiederum dient als Mittler zwischen Konzernen und diese Weise als Mann der goldenen Mitte feiern zu lassen. So Abgeordneten der Bundesstaatenparlamente mit dem Ziel, rückte er von seinen Versprechen ab, das Gesundheitssys- Gesetze im Sinne der Konzerninteressen einzubringen oder tem zu entprivatisieren, die Organisationsrechte der Arbeiter entsprechend abzuwandeln. zu schützen und den Guantánamo-Gulag zu schließen, um nur einige gefährliche Konzessionen gegenüber der Bush- Führungsgestalt oder Paria? Agenda aufzuführen, gegen die er einst ankämpfte. Solange die Präferenz der gespaltenen Machteliten für einen So kann es nicht verwundern, dass ein erheblicher Anteil Präsidentschaftskandidaten noch nicht feststeht, muss man von Obamas aktiver Basis – all jene, die bei der Organisation, Obamas Position als doppelt heikel bezeichnen. der Einarbeitung und dem Wahlkampf von Tür zur Tür einge- Einerseits zeigen Umfragen, dass Obama weiterhin das spannt waren – nun mehr von der Angst vor einem Sieg der Vertrauen seiner Stammwählerschaft genießt: Republikaner als von Loyalität zu ihrem Kandidaten angetrie- – die zwei landesweit größten «nicht-weißen» ethnischen ben werden. Dies könnte bei einem knappen Wahlkampf gro- Gruppierungen, die Afroamerikaner und Latinos (mit Aus- ße Probleme aufwerfen, da es eine weit verbreitete Ernüchte- nahme der älteren Generation kubanischer Amerikaner); rung mit seiner wenig progressiven Amtsführung offenbart. – die jüngere Generation der «Millennials», insbesondere Aber da beide politische Parteien auf Kapital angewiesen Studenten; sind, gilt die größte Sorge Obamas der Vereinnahmung des – Angestellte und Fachleute mit universitärem Hintergrund, Großteils der Machtelite des Landes, egal wie knapp die - überwiegend im öffentlichen Sektor angestellt (z. B. Re- se auch ausfallen mag. Dies lässt sich schon an der Summe gierungsangestellte) sowie 36 37 seiner Unternehmensspenden und am Ton ablesen, den die – gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer. Zu diesen Gruppierungen müssen Millionen Frauen hinzuge- zu ihnen. Er entstammt der großen Politik (regierte einen zählt werden, die sich nach Romneys öffentlicher Absage an Bundesstaat im Nordosten mit dem Ruf eines sentimenta- eine Stärkung der Frauenrechte zugunsten sozialkonservati- len Liberalismus), der großen Geschäftswelt (Bain Capital, ver Wählerinnen und Wähler (besonders der religiösen Rech- berühmt-berüchtigt für den Tod kleiner Unternehmen), der ten) von den Republikanern abgewandt haben. «Ostküstenelite» (zwei Abschlüsse in Harvard), einem ererb- Aber Obama genießt immer noch zu wenig Unterstützung ten Vermögen (das er nicht verstecken kann, so sehr er sich von weißen Arbeitern mit geringer Bildung im mittleren Al- auch darum bemüht) sowie einem religiösen Hintergrund ter und älter, also der Gruppe, die man landläufig die Mittel- (Mormone), den die meisten Fundamentalisten als fremdar- schicht nennt. Zudem wird er vom Finanzsektor gefürchtet, tig und profan abtun. den er seit Beginn seiner Amtszeit so eifrig unterstützt hat. Kurzum: Die ultrakonservativen Ränge der Partei verfügen Für die Ängste der Mittelschicht kommen die steigende wirt- über einen Kandidaten, der all das verkörpert, was sie an der schaftliche Unsicherheit und der Rassismus als Erklärungs- moderaten, informierten Aristo-Bürokratie so hassen, die sie modelle in Frage (wozu die fest verwurzelte, schwelende glaubten, im Tea-Party-Tsunami von 2010 in Grund und Bo- Angst vor einer schwarzen Vergeltung zählt). Was den Fi- den geschmettert zu haben. nanzsektor angeht, ist eine ganz ähnliche Phobie am Werke: Romney kann allein aufgrund seiner persönlichen Aus- Denn die Wall Street selbst ist aufgrund ihrer öffentlich ge- strahlung nicht gewinnen. Seine Nominierung verrät mehr wordenen Verfehlungen und einem inhärenten Elitarismus über die uneingestandene Nebenrolle der radikalen Rech- selbst zum Paria geworden. ten als über die reale Mitte-Rechts-Gefolgschaft jenseits Profitjäger erschreckt die Möglichkeit des Aufkommens der Konzernunterhändler. Die republikanische Basis ist so einer populären Gegenbewegung, weil sie nur zu gut wissen, demoralisiert, dass sie sogar vor den Wahlen auseinander- wie glimpflich sie davongekommen sind. So tendieren sie fallen könnte. In diesem Fall hätte Romney nur noch weni- dazu, Romney als einen der ihren anzusehen, der dazu noch ge Trümpfe in der Hand. Aber diese Karten sind die wirklich die «richtige» Hautfarbe aufweist, und fürchten, dass Oba- wichtigen. mas Loyalität zu ihnen durch seine Wählerschaft und seinen Erstens: Romney ist bei dieser Wahl die einzige Alternati- Mangel an Unterstützung aus der Geschäftswelt kompromit- ve zu Obama. Alle, die entschlossen sind, den Präsidenten tiert werden könnte. aus dem Amt zu jagen, werden über ihren Schatten springen, Obama – der versucht, die erforderliche Unterstützung wie es so viele Linke so lange Jahre getan haben, und für das aus polarisierten sozialen Sektoren zu beziehen – ist selbst kleinere Übel votieren. Diese Aussicht könnte noch durch die zwischen verschiedenen Richtungen hin- und hergezogen. Wahl eines ultrarechten Vizepräsidentschaftskandidaten ver- Romney versucht das Problem durch kaltschnäuziges Lü- süßt werden (der Palin-Trick), aber dies könnte wiederum die gen und tägliche Kehrtwendungen und Selbstbetrügereien so begehrten unabhängigen «Wechselwähler» abschrecken. zu lösen. Obama dagegen wagt den Drahtseilakt zwischen Zweitens: Romney verfügt über unbegrenzte Geldmittel den sich nach Sicherheit sehnenden Wählerinnen und Wäh- für die Kampagnenwerbung, unabhängig davon, ob er den lern der Mittelschicht und der Regulierungsangst des Finanz- Löwenanteil der Machteliten auf sich vereinigen kann. Diese sektors, den er als zentrale Finanzierungsquelle nicht ver- Gelder werden zur Verunglimpfung Obamas eingesetzt. nachlässigen kann. Für beide Gruppen hat eine verbesserte Schlussendlich kann er einen Joker ausspielen: die Be - Ökonomie mehr Gewicht als die Botschaft seiner Wahlkam- schneidung des Wahlrechts auf Bundesstaatsebene. Dazu pagne. werden Gesetze in den Parlamenten der Bundestaaten durch- gesetzt, die wichtigen demokratischen Wählergruppen die Mitt Romneys Optionen Teilnahme an der Wahl erschweren. Diese Gesetze werden Da das reale Jobwachstum sich in Grenzen hält, könnte von rechten, konzerngestützten Think-Tanks entworfen und ­Obamas größte Hoffnung in Mitt Romneys Unzulänglich- dann von der seit 2010 bestehenden neuen republikanischen keiten bestehen. Der Kandidat der Republikaner macht ei- Mehrheit eingereicht (und manchmal verabschiedet). nen so deplatzierten Eindruck wie ein Theologiestudent in Die hysterischen Attacken, das Gerangel um die Begren- einem Striplokal. Er ist ein schwacher Selbstdarsteller, der zung des Wahlrechts und die Entschlossenheit, den Äther seiner Stammwählerschaft gegenüber den stramm rechten mit dauernder Kampagnenwerbung zu verstopfen, bezeu- Politiker geben muss, in der Öffentlichkeit aber Positionen gen die Panik der Republikaner, die Wahl am Ende zu ver- des Mitte-Rechts-Lagers (seine ursprüngliche Ausrichtung) lieren. Dabei verkünden sie, ob realistisch oder nicht, dass vertritt. diese Wahlen die «letzte Chance» darstellen, bevor ein Bob Wing, ein namhafter Organizer aus North Carolina, grundlegender Machtwechsel Amerika für immer verändern beschreibt das politische System so: «Parteien in den USA wird. Wie soll man diese Botschaft anders deuten denn als werden eher von Kandidaten und Amtsinhabern als von Appell an die weiße Paranoia? Langzeitparteiführern oder einer Ideologie, geschweige denn einer sozialen Basis geprägt. Parteien in den USA sind Links und Rechts breite Koalitionen, die von biegsamen Kandidaten/Mandats- Die Linke fristet derzeit in noch stärkerem Ausmaß als die trägern mit vagen politischen Überzeugungen geführt wer- Rechte eine Randexistenz, erholt sich aber langsam wie- den, die eine große Wählerschaft anziehen, nicht straff or- der – teils, weil Gewerkschaftspopulismus und Kosmopoli- ganisiert sind und oft widerstreitende Interessen vertreten.» tismus begonnen haben, Fremdenfeindlichkeit und sozialen An ihrer Basis ist die Republikanische Partei (unter dem Konservatismus offensiv anzugehen. Obwohl die Linke noch Einfluss des Konzernkapitals) zu einem Club kleiner Ge- Jahre vom Aufbau einer ernst zu nehmenden politischen schäftsleute, religiöser Rechter, libertärer Sonderlinge und Kraft entfernt ist, zeigen Umfragen eine breite Akzeptanz paranoider Schusswaffenfetischisten degeneriert, deren der Occupy-Bewegung, der gleichgeschlechtlichen Ehe, der Hass auf den Präsidenten schwelt. Romney gehört nicht Wohlstandsumverteilung, der Steuerprogression etc. 38 Auch wenn sie über die größere Anzahl organisierter An- lich republikanisch regierten) kommt dabei ein unverhältnis- hänger und über mehr Einfluss verfügt, verliert die radika- mäßiger Einfluss bei der eigentlichen Wahl des Präsidenten le Rechte Stoßkraft an die Occupy-Wall-Street-Bewegung über das Wahlmännerkollegium und im Senat zu. Bob Wing und leidet an ausbleibenden Kampagnen der Republikaner schreibt: gegen Gewerkschaftsrechte und soziale Bewegungen. Im «Die Gründer der Vereinigten Staaten waren Sklavenhalter Jahr 2011 wurde der Mittlere Westen von einer antidemo- und erfanden das Wahlmännerkollegium als ihre Interessen- kratischen und antigewerkschaftlichen Massenbewegung vertretung. […] Das Wahlmännerkollegium … [stattet] jeden erschüttert, die durch Maßnahmen neu gewählter Abge- Bundesstaat mit einer Anzahl an Wahlmännern aus, die der ordneter der Tea-Party-Rechten initiiert worden war. Dieser Größe seiner Delegation in beiden Häusern des Kongresses Kampf dauert an: Eine Kampagne zur Abwahl des Gouver- entspricht. Mit einer De-facto-Sperre auf Abgeordneten- neurs von Wisconsin würde den Staat wieder in die Hän- haus und Präsidentschaft dank der sogenannten Drei-Fünf- de der Demokraten überführen. Im November 2011 mobi- tel-Klausel hielten die Sklavenhalter 50 der ersten 72 Jahre lisierten die Gewerkschaften des Bundesstaates Ohio ihre [vor dem Bürgerkrieg] lang die Präsidentschaft inne. Seit re- Wähler, um ein gewerkschaftsfeindliches Gesetz mit 61 zu aktionäre Südstaatler als Zeichen des Protestes gegen die 39 Prozent zu kippen. Die Bürgerinnen und Bürger von Mi- Bürgerrechtsgesetzgebung der 60er Jahre massenhaft aus chigan sind wütend über Bestrebungen, gewählte Stadt- der Demokratischen Partei austraten, hat das Kollegium den regierungen durch bundesstaatlich eingesetzte, konzern- Republikanern einen ständigen Vorsprung beim Gewinn der gestützte «Notfall-Finanzmanager» zu ersetzen. Von den Präsidentschaft beschert. Massenprotesten wurden sowohl die politische Mitte als Das im System des Wahlmännerkollegiums verankerte auch die Rechte überrascht. rassische Ungleichgewicht ist die strukturelle Grundlage der Politische Maßnahmen der Republikaner haben darüber notorisch rassistischen und höchst erfolgreichen Strategie hinaus eine Wiederbelebung sozialer Bewegungen bewirkt. der Südstaaten, die die Republikaner in den letzten vierzig So hielt ein von der Waffenlobby beeinflusstes Gesetz die Jahren verfolgt haben. Das Wahlmännerkollegium mit sei- Polizei wochenlang davon ab, die Festnahme des Mitglieds nem Alles-oder-Nichts-Prinzip gewährleistet oder erfordert einer Bürgerwehr vorzunehmen, das einen unbewaffneten gar, dass rund die Hälfte der farbigen Wählerinnen und Wäh- schwarzen Jugendlichen namens Trayvon Martin aus Sor- ler marginalisiert oder gänzlich ignoriert werden … [Das] ge um die «Sicherheit» seines Viertels erschossen hatte. Der System verleiht den überwiegend konservativen und wei- Umfang und die Wut der darauf folgenden Proteste erinner- ßen Republikanern in den ländlichen Bundesstaaten dreimal ten an die Bürgerrechtsbewegung zu ihren Hochzeiten. Ver- mehr Stimmgewicht im Vergleich zu den Staaten mit großer, suche der Bundesstaaten, die Geburtenkontrolle zusammen rassisch gemischter und hauptsächlich demokratisch wäh- mit Abtreibungsrechten zu unterdrücken, trafen ebenfalls lender Bevölkerung. den Nerv der angeblich «post-feministischen» Generation. So hat zum Beispiel Wyoming wenig mehr als 240 000 Die Social Media verlinkten daraufhin unverzüglich Millionen Wählerinnen und Wähler, verfügt aber trotz seiner gerin- Nutzer mit der Protestbewegung und mobilisierten Tausen- gen Bevölkerung über drei Stimmen im Wahlmännerkolle- de Menschen vor Ort. gium. Obwohl die Durchschnittsbevölkerungsanzahl pro Sitz Ein weiterer Grund für die Schwäche der radikalen Rech- im Kongress etwa 700 000 beträgt (mit variierenden Zahlen ten ist ihre Verbitterung über die Hinhaltetaktik der Mitte- von Wählern, immer jedoch höher als Wyomings 240 000), Rechts-Republikaner angesichts ihrer Siege bei den Wahlen wird jedem Staat, wie klein er auch sein mag, ein Minimum 2010, denn die Bindungen, die ihre Koalition zusammenhal- von zwei Senatoren und einem Kongressabgeordneten ga- ten, sind alles andere als stabil. In den Rängen der Rechten rantiert, mit der Folge, dass Wyoming über eine Wahlmän- tummeln sich nicht nur bewaffnete Faschisten und unbeug- ner-Stimme für etwa 80 000 Wahlberechtigte verfügt. Im same Reaktionäre, sondern auch die Anhänger des rechts- Vergleich erhalten bevölkerungsreiche Bundesstaaten wie libertären Ron Paul, dessen Philosophie mehr auf den Indi- Kalifornien eine Wahlmännerstimme pro 220 000 Wahlbe- vidualismus und den persönlichen Wohlstand als auf einen rechtigte.» kollektiven Kreuzzug gegen Machtstrukturen und verwund- Dennoch spekuliert der Polit-Experte der linken Mitte Mi- bare soziale Gruppen abzielt. chael Tomasky darauf, dass das Wahlmännerkollegium Der effektive Ausschluss der radikalen Rechten aus dem ­Obama trotz sehr enger Umfragewerte sogar in die Karten Machtzentrum der Republikanischen Partei belastet ihre spielen könnte. Denn in den sogenannten Swing States – je- Loyalität und könnte sie gegen die etablierte Führungsrie- nen elf Staaten auf, in denen der Wahlausgang derzeit völlig ge aufbringen, welche wiederum gegen die radikal Rechten offen ist (Arizona, Colorado, Florida, Iowa, Missouri, Neva- vorgehen wird. Zwar könnten die Demokraten daraus zeit- da, New Hampshire, North Carolina, Ohio, Pennsylvania und weise Profit schlagen. Wenn jedoch politische Spannungen Virginia) – führt Obama in neun, Romney nur in zwei Staaten den sozialen Frieden bedrohen, besteht ebenfalls die Mög- (Arizona und Missouri), und das auch noch knapp. Die nö- lichkeit, dass sie einen Trend zu einem repressiveren Staat tige Mehrheit von 270 Wahlmännern zu erreichen, könnte beschleunigen könnten. für den republikanischen Kandidaten daher ein schwieriges Unterfangen werden: «Hätte die Republikanische Partei in Das Wahlmännerkollegium mit den letzten Jahren nicht alles in ihrer Macht Stehende getan, seinen eigenen Waffen schlagen die Latinos, die New-Economy-Angestellten und die jungen Das Wahlsystem der Vereinigten Staaten war ursprünglich Menschen abzuschrecken, wäre die Partei heute wettbe- so angelegt, dass nur weiße, besitzende und männliche Bür- werbsfähig», schreibt Tomasky. «Aber die Republikaner ha- ger das Wahlrecht verliehen bekamen. Seine Demokratisie- ben sich entschieden, keine solche Partei zu sein. Sie haben rung ist ein andauernder Prozess, dem noch ein langer Weg stattdessen dafür optiert, eine Partei des Hasses und des Ver- 38 39 bevorsteht. Kleinen, ländlich geprägten Staaten (hauptsäch- drusses zu sein.» Vor und nach der Wahl tiierten Wiederauflebens der Rechten – von Anhängern des Die Ungewissheit der Rechten einerseits und die Isolation «freien Marktes» bis zu bekennenden Rassisten –, die weder und das organisatorische Chaos der Linken andererseits Bundes- noch lokale Regierungen in die Schranken werden lassen für die kommenden Jahre nichts Gutes ahnen. Die weisen können. glühende Feindschaft der Rechten hat bereits gewalttätige Die «Hoffnung», die die fortschrittlichen Kräfte 2008 zu- Formen angenommen, wie sie sich besonders krass im fast sammengeführt hatte, hat sich auf die vielversprechenden tödlichen Attentat auf Gabrielle Gifford zeigten, einer gemä- Entwicklungen des letzten Jahres verschoben, wobei insbe- ßigten demokratischen Kongressabgeordneten. sondere Occupy Wall Street hervorzuheben ist. Aber solan- Sollte Obama gewinnen, wird dies erneut mit Hilfe einer ge das politische Vakuum der Linken nicht gefüllt ist, wird Basis gelingen, die links von ihm steht, auch wenn es keine die Macht in Amerika mehr oder weniger durch die Ängs- Anzeichen dafür gibt, dass er seine Regierungshaltung der te und Sorgen der konzerndominierten Mitte-Rechts-Strö- Mitte aufgeben wird. Um wirklich Einfluss auszuüben, be- mung geprägt. Kurz: Die Auseinandersetzung hat begon- nötigt die Linke einen Grad an Organisation und politischer nen – auf der einen Seite das Gedrängel um die kurzfristigen Raffinesse, der ihr gegenwärtig fehlt. Immerhin kann die Lin- Gewinnmargen; auf der anderen Seite Klimaschutz, Siche- ke bei einem Wahlerfolg Obamas ein schärferes politisches rung des nationalen Lebensstandards und geopolitische Al- Verständnis dafür gewinnen, was eine Amtsführung der De- ternativen zum endlosen Krieg. Wenn die Ziele der nächsten mokraten vermag und was nicht. Eine Wiederwahl Obamas Präsidentschaft mit dem Markt beginnen und enden, dann wird darüber hinaus die Ablehnung der breiten Bevölkerung steht der Wählerschaft 2016 womöglich eine Katastrophe gegen die Rechte stärken und verbreitern. Dies ist von gro- bevor. ßer Wichtigkeit, wird die radikale Rechte doch vermutlich von weiteren Extremen Gebrauch machen, die von Klage- wellen bis zu nackter Gewalt reichen können. Ethan Young lebt in Brooklyn. Er editiert den Blog «Economy Wenn Romney zum nächsten Präsidenten gewählt wird, Watch» für das New Yorker «Brecht Forum» (brechtforum.org/ werden wir vermutlich Zeuge eines heftigen, von oben ini- economywatch) und ist Moderator von «Portside.org».

40 STANDPUNKTE 08/2012

Dominic Heilig und Torsten Haselbauer Griechenland – vor der Wahl ist nach der Wahl

Für die rund elf Millionen GriechInnen endete mit den Parlamentswahlen vom 6. Mai 2012 eine knapp siebenmonatige Zeit des Wartens auf vorgezogene Neuwahlen. Die Wartezeit für die nächsten vorgezogenen Neuwahlen dürfte indes weit kürzer sein. Denn nach den gescheiterten Sondierungsgesprächen in Athen werden die GriechInnen am 17. Juni erneut an die Urnen gerufen. Grund dafür ist die gewaltig durcheinandergewirbelte Parteienlandschaft Griechenlands. Denn mit den Neuwahlen vom 6. Mai 2012 wurde das seit dem Ende der Militärdiktatur traditionell herrschende Zweiparteiensystem aufgebrochen. Und sofort hieß es in den (deutschen) Medien «Griechenland radikalisiert sich» und «Griechenland kurz vor dem Austritt aus dem Euro». Was war geschehen? Die Antwort auf diese Frage ist vordergründig recht einfach: Zum ersten Mal seit der Demokratisierung Griechenlands verfügte keine der beiden Volksparteien, also weder die sozialdemokratische PASOK noch die rechts-konservative Nea Di- mokratia (ND), über eine eigene Mehrheit. Mehr noch: Nicht einmal zusammengenommen hätten beide Parteien im Mai eine Koalitionsregierung mit eigener Mehrheit bilden können. Verantwortlich für dieses «neue Machtvakuum» und den aufgewirbelten Staub in ganz Europa ist auch der Wahlerfolg von SYRIZA, dem «Bündnis der radikalen Linken».

Eine kurze Erzählung gewählter Ministerpräsident seit der Militärdiktatur Spardikta- der griechischen Tragödie te für sein Land. Gleichzeitig wuchsen die sozialen Verwerfun- Bereits 2009 wurden in Griechenland, das zurzeit am gen im Land, die Arbeitslosigkeit stieg auf über 20 Prozent, schwersten von der seit 2007 anhaltenden Finanz- und Wirt- die Jugendarbeitslosenquote sogar auf über 40 Prozent. Es schaftskrise im Euroraum betroffen ist, vorgezogene Neu- kam zu massiven Lohn- und Rentenkürzungen, viele soziale wahlen abgehalten. Aus diesen Wahlen ging die sozialde - Ausgaben, besonders in den Bereichen des Gesundheits- und mokratische PASOK als Siegerin hervor. Daraufhin wurde ihr Bildungswesens, wurden gegen null heruntergefahren. Der Spitzenkandidat, Giorgos Papandreou, am 6. Oktober 2009 Schuldenstand war bereits Ende 2010 auf 142,8 Prozent des als Premierminister vereidigt. Rund zwei Jahre später, am Bruttoinlandsproduktes (BIP) gestiegen.1 Die Europäische 9. November 2011, erklärte Papandreou bereits seinen Rück- Kommission ging in ihrer Prognose vom Herbst 2010 von ei- tritt. Bis zuletzt hatte er sich an die Regierungsmacht geklam- nem weiteren Ansteigen der Verschuldung auf 150,2 Prozent mert, hatte seinen Landsleuten sogar in Aussicht gestellt, im Folgejahr aus2 – Tendenz weiter steigend. über den Verbleib Griechenlands in der Europäischen Union Eine historisch gewachsene Klientelpolitik und Korrupti- (EU) und der Eurozone in einer Volksbefragung abstimmen on sind zwei allgemeine Probleme in Griechenland, die bei- zu dürfen. Dies sorgte gegen Ende des vergangenen Jahres de Ausgaben und Einnahmen des Staates massiv beeinflus- nicht nur unter den Eliten in Griechenland selbst, sondern sen. Die Schattenwirtschaft blüht, Steuerhinterziehungen auch in Brüssel und bei den führenden EU-Wirtschaftsstaa- von Unternehmen sind keine Ausnahme. Zur Überwindung ten für Unruhe. Bevor es zu einem Plebiszit kommen konn- der Staatsfinanzkrise hatte die griechische Regierung be- te, dankte Papandreou unter dem Druck der Troika aus EU, reits am 3. März 2010 eine Erhöhung der Mehrwertsteu - Internationalem Währungsfonds (IWF) und Europäischer er auf 21 Prozent und eine Kürzung der Beamtengehälter Zentralbank (EZB), der konservativen Opposition im eigenen beschlossen. Dadurch sollten jährlich 4,8 Milliarden Euro Parlament und vor dem Hintergrund dramatisch sinkender eingespart werden.3 Bis 2013 sollen unter anderem durch Umfragewerte für seine PASOK ab. Er übergab am 11. No- vember 2011 die Regierungsgeschäfte an den Ex-Banker Lou- kas Papademos. Papademos stand seitdem einer Regierung 1 Vgl. Eurostat Pressemitteilung zu öffentlichem Defizit und Verschuldung. Abgerufen am aus sozialdemokratischer PASOK und rechts-konservativer 26. April 2011. 2 Vgl. Eurostat, European Economic Forecast Autumn 2010. 3 Vgl. http:// www.abendblatt.de/wirtschaft/article1404862/Griechenland-erhoeht-die-Steuern-und- 40 41 ND vor und verhandelte als erster nicht aus dem Parlament senkt-Gehaelter.html. Abbau von Verwaltungen und durch Gehaltssenkungen Die Linke im Mai-Wahlk ampf weitere 30 Milliarden Euro eingespart werden. Insgesamt Das alles bestimmende Thema des langen und erbittert ge- wurden mit der griechischen Austeritätspolitik die Staats- führten Wahlkampfes war die Bewältigung der Wirtschafts- ausgaben zunächst um zehn Prozent zurückgefahren, und und Finanzkrise, die sich 2011 zu einer politischen Krise das staatliche Haushaltsdefizit konnte bis August 2010 ausgeweitet hatte. Im Vordergrund standen vor allem der leicht reduziert werden. Im Gegenzug nahmen jedoch die Umgang mit den Diktaten der sogenannten Troika sowie Fra- Haushaltsdefizite bzw. Insolvenzen im privaten Bereich wie gen zur Fortsetzung der Haushaltskonsolidierung. auch die Anzahl der Arbeitslosen weiter zu. Die Investiti­ Über allem schwebte aber stets die Frage nach dem Ver- onen, das BIP und somit auch die darauf beruhenden Steu- bleib des Landes in der EU und der Eurozone. Während die ereinnahmen gingen drastisch zurück.4 Griechenland war beiden großen Volksparteien diese Frage mit einem klaren durch die Kürzungspolitiken nun endgültig in eine Abwärts- Ja beantworteten, sahen die Antworten an den politischen spirale geraten. Das griechische Parlament stimmte den- Rändern weit differenzierter aus. Während sich die Kommu- noch einem dritten Kürzungspaket der Regierung am 29. Ju- nisten für einen Austritt sowohl aus der EU als auch aus der ni 2011 zu. Bis 2015 will die griechische Regierung damit Eurozone aussprachen, bekannte sich das Linksbündnis SY- weitere 78 Milliarden Euro einsparen.5 RIZA zu einem Verbleib in der EU und stellte für einen Ver- Parallel zu den Kürzungsmaßnahmen der Regierung Pa- bleib in der Eurozone zahlreiche Bedingungen, wie zum Bei- pandreou bzw. der Großen Koalition unter Papademos und spiel, die Forderungen der Gläubiger vorerst nicht mehr zu dem über Monate ausbleibenden Urnengang wuchsen die bedienen. Die SYRIZA-Abspaltung DimAr hingegen bejahte Proteste im Land beinahe täglich an. So kam es vor allem den Verbleib in beiden Unionen eindeutig und forderte wei- in Athen zu Massendemonstrationen und Streiks, an de- tere Anstrengungen bei der Konsolidierung des Haushaltes. nen neben Gewerkschaften und sozialen Gruppen auch die Die Spielräume gleich welcher Partei in einer möglichen politische Linke teilnahm. Vor allem die Kommunistische Regierung wurden von den WählerInnen als nicht gerade Partei Griechenlands (KKE) und das Bündnis der radikalen groß eingeschätzt. Viele GriechInnen zeigten sich desillusi- Linken (SYRIZA) waren Träger des Protestes. Beide Partei- oniert von den politischen Parteien, vor allem aber von den en stimmten, wie auch die Demokratische Linke (DimAr), beiden Volksparteien. So war bereits vor dem Urnengang mit keinem der drei Kürzungspakte im Parlament zu. Die Posi- einer Stärkung der politischen Ränder und mit Verlusten bei tionen der linken Parteien zur möglichen Überwindung der den Volksparteien gerechnet worden. Das Dilemma zeigte Wirtschafts- und Finanzkrise waren und sind allerdings sehr sich insbesondere an zwei Zahlen: So sprachen sich 80 Pro- unterschiedlich. zent der GriechInnen für einen Verbleib in der EU und der Um den Erfolg von SYRIZA bei den vergangenen Wahlen Eurozone aus. Zur selben Zeit aber gaben ebenfalls rund 80 vom 6. Mai 2012 zu verstehen, ist zunächst ein kurzer Abriss Prozent an, den weiteren Sparkurs der Regierung nicht mehr des griechischen Parteien- und Wahlsystems hilfreich. mittragen zu wollen. Die Umfragen im Vorfeld der Wahlen sahen die Parteien Das griechische Wahlsystem der Linken vorn. Erstmals seit dem Ende der Militärjunta In Griechenland herrscht zwar Wahlpflicht, Sanktionen ha- war die Linke in Griechenland wieder ein ernst zu nehmen- ben Nicht-WählerInnen aber nicht (mehr) zu fürchten. Ge- der Machtfaktor geworden. Seit den 1980er Jahren vereinig- wählt wird nicht mit einem einzigen Wahlzettel, auf dem die te sie, wollte man die PASOK mitzählen, knapp 50 Prozent KandidatInnen aller Listen bzw. Parteien stehen, sondern der Stimmen auf sich – eine Mitte-Links-Koalition kam den- jede Partei hat eigene Stimmzettel, die allerdings im selben noch nie zustande. Nun wurden den Parteien links der Sozi- Format und auf gleichem Papier gedruckt werden müssen. aldemokratie im April 2012 allein schon 42 Prozent voraus- Die KandidatInnen werden nicht von regionalen (Partei-)Or- gesagt. Doch der Urnengang vom 6. Mai hielt auch für die ganisationen bestimmt, sondern von den jeweiligen Partei- Linke gleich mehrere Überraschungen bereit. vorsitzenden. Das griechische Parlament besteht aus einer Kammer, die Gemeinsamkeiten und Differenzen über 300 Sitze verfügt. Die Partei mit den meisten Stimmen in der griechischen Linken erhält 50 sogenannte Bonussitze – die übrigen 250 Sitze wer- Im Vorfeld der Mai-Wahlen war der Vorsitzende des Links- den nach Maßgabe der abgegebenen gültigen Stimmen an bündnisses SYRIZA, der 37-jährige Alexis Tsipras, mit allem die Parteien verteilt, die die Dreiprozenthürde überwunden Möglichem gleich gesetzt worden. Der deutsche Spiegel haben. Von den 300 Sitzen werden 288 regional vergeben. verglich ihn mit Elvis, wenn er die Bühne betrat. Die BILD Dabei gilt die sogenannte Kreuzwahl, das heißt, einen Sitz bezeichnete ihn als «Halbkriminellen», der «offen mit gewalt- erhalten die KandidatInnen, deren Namen die meisten Wäh- tätigen Anarchisten» sympathisiere und diese vermutlich lerInnen angekreuzt haben. Die übrigen zwölf Sitze werden finanziere. In Griechenland zeigte man sich unbeeindruckt anhand von besonderen Landeslisten verteilt, von denen je- von solchen Diffamierungen. Für 39 Prozent der GriechIn- de Partei eine zusammengestellt hat. nen war er der beliebteste Politiker. Aufmerksamkeit erhielt Mit der Regierungsbildung wird zunächst immer der der Vizevorsitzende der Europäischen Linken aber vor allem Parteichef der stärksten Partei im griechischen Parlament wegen der für sein Parteienbündnis SYRIZA guten Umfrage- beauftragt. Bislang war es in Griechenland unüblich, Ko - werte von rund zwölf Prozent und einer in Umfragen rechne- alitionsregierungen aus mehreren Parteien zu bilden. Die Re- risch möglichen linken Parlamentsmehrheit. Denn im Bünd- gierungsgewalt wechselte seit dem Ende der Militärdiktatur 1974 stets zwischen den beiden Volksparteien, der sozialde- mokratischen PASOK und der rechts-konservativen ND. Die- 4 Vgl. Corinna Jessen: Absturz der griechischen Wirtschaft – Erst Depression, dann Explo- ses jahrzehntelang eingeübte System sollte sich nach den sion, in: Spiegel-Online, 18. August 2010. 5 Vgl. http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/ europas-schuldenkrise/schuldenkrise-parlament-in-athen-stimmt-sparpaket-zu-12754. Wahlen vom 6. Mai 2012 erstmals radikal ändern. html. 42 nis mit der KKE, der ebenfalls zwölf Prozent der Stimmen mung, die dem «modernisierungsfreundlichen» Flügel von vorausgesagt wurden, und DimAr, die auf rund 18 Prozent PASOK sehr nahe stand und in den 1990er Jahren für eine in Umfragen kam, vereinigte die Linke noch im April über 40 Koalition mit der reformorientierten PASOK plädierte. Ende Prozent auf sich. der 1980er Jahre und mitten in einer skandalbedingten Kri- Dass aus der linken Mehrheit in den Umfragen nach den se der PASOK-Regierung formte die EAR mit dem verbliebe- Parlamentswahlen keine Regierungsmehrheit wurde, dafür nen marxistisch-leninistischen Teil der KKE «Synaspismos» ist auch das griechische Wahlrecht verantwortlich. Denn (Bündnis) als gemeinsame Wahlplattform. Im Jahr 1991 und dieses spricht dem Wahlsieger, sozusagen als Bonus, 50 im Zuge des Kollapses des real-existierenden Sozialismus ist zusätzliche Sitze im Parlament zu. Um diese Bonussitze zu das Bündnis bereits wieder zerbrochen. Wenig später aus- bekommen, hätten KKE, DimAr und SYRIZA im Vorfeld ei- getretene KKE-Funktionäre, die sich für eine Erneuerung des ne gemeinsame Wahlliste bilden müssen. Doch dazu kam es Parteiprogramms ausgesprochen hatten, und die EAR ent- nicht. Was nach dem Systemzusammenbruch 1989 in Ost- schieden daraufhin, das Bündnis Synaspismos in eine zuge- europa als Vorteil gedeutet wurde – die Pluralität der Linken lassene politische Partei umzuwandeln. und die daraus resultierende Existenz gleich mehrerer linker Diese neue Partei, ebenfalls Synaspismos genannt, rang Parteien in den Parlamenten –, erwies sich in Griechenland in den kommenden Jahren ständig darum, die Dreiprozent- als Bumerang. Der Verzicht auf eine gemeinsame Wahlliste hürde zu überwinden, und musste nach den Wahlen 2000 war aber nicht bloß ein Versäumnis, denn, so DimAr-Chef Fo- einige Abgänge des rechten Flügels in Richtung PASOK hin- tis Kouvelis, «politisch lässt sich das nicht addieren». Kouve- nehmen. In den darauffolgenden Jahren rückte Synaspis- lis war in Umfragen sogar noch populärer als sein Konterpart mos weiter nach links und bildete mit mehreren kleineren Tsipras. Beide kennen sich gut, denn sie konkurrierten 2008 Gruppen und Parteien erstmals vor den Parlamentswahlen um den Vorsitz von Synaspismos, der wichtigsten Partei im 2004 das Parteienbündnis SYRIZA, bestehend aus neun lin- Linksbündnis SYRIZA. Kouvelis verlor den Machtkampf und ken Parteien und Organisationen. Bei diesen Wahlen errang gründete 2010 die Demokratische Linke. Politisch steht Kou- SYRIZA 3,26 Prozent der Stimmen und sechs Mandate. Das velis’ DimAr irgendwo zwischen PASOK und SYRIZA und Bündnis zerfiel danach jedoch weitgehend, da es interne will mittels «konstruktiver Kritik» die Wettbewerbsfähigkeit Auseinandersetzungen, vor allem um die Rolle von Synas- griechischer Unternehmen steigern, um so die Krise zu über- pismos, gegeben hatte. 2007 wurde SYRIZA wiederbelebt. winden. SYRIZA forderte dennoch vor den Wahlen und auch Alekos Alavanos wurde zum neuen Präsidenten gewählt und danach eine Koalition aller linken, fortschrittlichen Kräfte. Di- führte einen weiteren Linksschwenk durch. Ihm folgte im Fe- mAr-Chef Kouvelis widersprach und sah keinerlei Möglich- bruar 2008 Alexis Tsipras. Weitere Gruppierungen schlossen keit der Kooperation. Er kritisierte ebenso wie die Sozialde- sich SYRIZA an. Bei den Parlamentswahlen 2007 hatte SYRI- mokraten die Unterstützung der radikalen Massenproteste ZA ein Ergebnis von 5,04 Prozent und 14 Sitze im Parlament durch Tsipras’ SYRIZA. Das sei ein «steriles Dagegensein». errungen. Bei den Parlamentswahlen 2009 ging der Stim- Die seit 20 Jahren amtierende Generalsekretärin der KKE, menanteil aber auf 4,6 Prozent zurück (13 Sitze). Aleka Papariga, warf ihrerseits SYRIZA im Wahlkampf vor, In dem Linksbündnis SYRIZA sind seither viele AktivistIn- sich mit den «Kapuzenträgern» (Autonomen) zu verbrü - nen der außerparlamentarischen Bewegung tätig. Als eini- dern. Mehr noch, es kam sogar zu gewaltsamen Ausein- gendes Band dient vor allem die Antiglobalisierungsbewe- andersetzungen zwischen den Linksparteien und ihren An- gung, und obwohl im Bündnis auch ehemalige stalinistische hängerInnen. So lieferte sich die der KKE zuzurechnende Gruppierungen zu finden sind, behielt Synaspismos immer Gewerkschaft «Militante Front aller Arbeiter» (PAME) mit De- die Oberhand. So wurde auch nach der Bildung von SYRIZA monstranten aus dem anarchistischen Spektrum in Athen innerhalb von Synaspismos die traditionelle Europafreund- Straßenschlachten. Die KKE lehnte vor diesem Hintergrund lichkeit der Partei nie radikal infrage gestellt. Kritik an der jede Form der Kooperation mit SYRIZA ab. Das ist nichts EU-Politik kam vor allem vom linken Flügel, die EU-Mitglied- Neues. Alle ihr nicht angeschlossenen oder nahestehenden schaft an sich ebenso wie der Verbleib in der Eurozone wur- Organisationen werden von der KKE kritisch beäugt. Als «re- den jedoch nicht hinterfragt. volutionäre Organisation» und «Avantgarde der Arbeiterklas- Der Streit zwischen den Flügeln spitzte sich erst nach Stu- se» sah sie stattdessen die «Stunde der Entscheidung» ge- dentenprotesten 2006 bis 2008 zu. Und als die Finanzkrise kommen und forderte dazu auf, sich gegen die griechische ihren Lauf nahm, entschied sich der größte Teil des rechten Plutokratie hinter der KKE zu versammeln. Das lehnten so- Flügels von Synaspismos, aus der Partei auszuscheiden und wohl Kouvelis als auch Tsipras ab. die Demokratische Linke als eine «konstruktive, linke Oppo- Und so kam es, wie es kommen musste: Ein Linksbünd- sition» zu gründen. Synaspismos hat das Ausscheiden des nis kam vor den Wahlen nicht zustande. Das ist vor allem rechten «erneuerungs-orientierten» Flügels relativ leicht in der Geschichte der drei Linksparteien selbst begründet. verkraftet. Die Parteiführung unter Alexis Tsipras hat nun- Die Demokratische Linke und der Hauptbestandteil von SY- mehr neue Spielräume gewonnen, und die verschiedenen RIZA, die Linkspartei Synaspismos, stammen beide aus der- Richtungen in Synaspismos scheinen zu einem Ausgleich selben Wurzel, dem eurokommunistischen Teil der KKE, der gekommen zu sein. Der bis 2010 ausgetragene Konflikt in- sich 1968 von der damals noch illegalen und deswegen im nerhalb von Synaspismos zwischen denen, die eine Macht- Ostblock «stationierten» griechischen KP getrennt hatte. verschiebung zugunsten SYRIZA anstrebten, und der Synas- Die eurokommunistische KKE wandte sich Ende der 1980er pismos-Führung, hat ebenfalls nachgelassen, und trotz der Jahre vom Marxismus-Leninismus ab und benannte sich in weiterhin bestehenden Meinungsverschiedenheiten hat Sy- «Griechische Linke» (EAR) um. Die Eurokommunisten und naspismos nicht an Handlungsfähigkeit verloren. später die EAR galten als Parteien des linken Bildungsbür- Was die verschiedenen Fraktionen innerhalb vom Synas- gertums. Bereits in diesem politischen Milieu entstand ei- pismos betrifft, so waren die in den letzten zwei Jahren er- 42 43 ne europafreundliche und reformorientierte politische Strö- gangenen Appelle der Parteiführung unter Tsipras an die frustrierte Parteibasis von PASOK erfolgreich, die Seiten zu Griechenland rückt nach links wechseln und mit SYRIZA zusammenzuarbeiten. Bereits vor und wählt neu den Neuwahlen vom Mai kooperierten im Parlament unter Wie bereits angedeutet, war der Wahlausgang vom 6. Mai dem Eindruck der rigiden Kürzungspolitik der Großen Koali- 2012 nicht nur für die beiden großen Volksparteien eine tion ausgeschiedene PASOK-Abgeordnete mit der SYRIZA- Überraschung. Auch für die Linke bot der Wahltag Über- Fraktion. Für Kontinuität und Stabilität innerhalb des Links- raschendes, und dies aus zwei Gründen. Zum einen lag bis bündnisses SYRIZA steht also vor allem Synaspismos. Denn zum Wahltag in Umfragen die Demokratische Linke mit bis bei den anderen Bündnispartnern in SYRIZA ist die Haltung zu 18 Prozent vorn. SYRIZA und KKE wurden beide zwischen oft unklar: Die meisten von diesen Gruppierungen stammen 10 und 13 Prozent gehandelt. Letztlich entschied SYRIZA mit aus dem Milieu der außerparlamentarischen und kommu- knapp 17 Prozent das Rennen unter den Parteien links von nistischen Linken. Ihnen ist es bislang nicht gelungen, das PASOK klar für sich, während DimAr auf knapp sechs Pro- Bild von SYRIZA nach außen entscheidend mitzubestim- zent der Stimmen abstürzte. Auch die KKE blieb mit knapp men bzw. sich bei wichtigen Punkten nach innen (Frage des neun Prozent hinter den Erwartungen zurück, was zumin- Verbleibs in der EU) durchzusetzen. Das (mediale) Missver- dest aus Sicht der politischen Linken die zweite Überra- ständnis, bei SYRIZA handele es sich um Linksradikale, kann schung war. und muss auf die Namensbezeichnung «Bündnis der radi- Was SYRIZA – auch im Unterschied zu den anderen linken kalen Linken» zurückgeführt werden. In SYRIZA sind zwar Parteien – zum Erfolg verholfen hat, war eine kühne Strate- linksradikale Gruppen und Personen aktiv, einen bestimmen- gie von Tsipras, der die Stimmung in der Gesellschaft richtig den Einfluss üben diese jedoch nicht aus. Im Gegenteil: SY- erahnt hatte. Der Zeitpunkt seines Aufrufs, eine «Regierung RIZA ist eine realpolitische linke Kraft im griechischen Partei- der Linken» zu bilden, war richtig gewählt und kam bei ver- ensystem, welche anders als die KKE beispielsweise nicht schiedenen frustrierten sozialen Schichten gut an. Gleich- auf Revolution und Volksaufstand setzt. Vor allem der konsti- zeitig war das Ansehen der beiden großen Regierungspar- tuierende Teil von SYRIZA, Synaspismos, ist der spanischen teien dahin. Die Zersplitterung der Parteienlandschaft – alle Izquierda Unida oder dem portugiesischen Bloco de Esquer- Parteien, die die Dreiprozenthürde nicht überwunden ha- da vergleichbar. Im Gegensatz zur deutschen LINKEN ver- ben, erhielten 19 Prozent der Stimmen – bestätigt zudem, steht sich Synaspismos nicht nur als Partei, sondern gleich- dass die GriechInnen sich von allen Bindungen und Zwän- zeitig als Bewegung. In der griechischen Linkspartei herrscht gen gelöst fühlten und «frei» wählten. Darauf setzte Tsipras. ein ausgeprägtes Verständnis von offener Debatte und so- Bemerkenswert ist auch, dass SYRIZA, dessen Zielgruppe lidarischem Streit. Die politische Strategie zur Einbindung traditionell das linksorientierte Bildungsbürgertum war, auch von PartnerInnen auch bei der Formulierung bzw. Vertretung in allen Arbeiterbezirken von Athen und Piräus, wo einst politischer Forderungen ist mit dem Herangehen der deut- PASOK herrschte, die meisten Stimmen bekam. schen LINKEN somit nicht vergleichbar. Nach dem Machtverlust von PASOK im November 2011 Eine zweite Linkspartei, die zu den Wahlen im Mai 2012 und dem Eintritt in eine Große Koalition hatte schließlich ein erstmals antrat, war die Demokratische Linke. DimAr ent- großer Teil des linken PASOK-Flügels die Partei verlassen und stand, wie erwähnt, im Juni 2010 als Abspaltung von Sy- sich SYRIZA oder DimAr angeschlossen. Zwar hatten die So- naspismos. Damals traten mehr als 550 Mitglieder des zialdemokraten mit herben Stimmenverlusten gerechnet, gemäßigten Synaspismos-Flügels, unter ihnen vier Parla- aber einen derart starken Einbruch hatten nur wenige im Vor- mentsabgeordnete, aus und gründeten ihre eigene Partei. feld vermutet. PASOK verlor über 30 Prozent ihrer Stimmen Die KKE als Dritte im Bunde ist die drittgrößte und älteste und wurde nur noch drittstärkste Kraft, hinter SYRIZA. politische Partei Griechenlands. Anknüpfend an ihre Rolle (Siehe Tabelle rechts: Wahlergebnis Mai 2012 7) in der Geschichte des modernen Griechenlands vertritt die Die in deutschen Medien seit dem 6. Mai 2012 gebets- Partei noch heute kommunistische Thesen in der Tradition mühlenartig wiederholte Einschätzung, die griechische Po- des internationalen Marxismus-Leninismus. Entsprechend litik habe sich – vor allem durch das gute Abschneiden von versteht sie sich nicht als reformistisch, sondern als revo- SYRIZA – radikalisiert, ist nicht haltbar. SYRIZA hat im Wahl- lutionär. Trotz zweier größerer Spaltungen der Partei, 1968 kampf Alternativen deutlich aufgezeigt. So punktete das und Anfang der 1990er Jahre, strebt sie weiterhin den Sturz Bündnis mit den Forderungen, die Kapitalflucht ins Ausland der kapitalistischen Gesellschaftsordnung an. Die KKE ver- zu stoppen, die Rückzahlungsvereinbarungen mit den Gläu- tritt die These, dass eine endgültige positive Entwicklung bigern (vorerst) auszusetzen, Privatisierungen rückgängig zugunsten der arbeitenden Bevölkerung nur durch die re- zu machen und schließlich Neuverhandlungen mit der Troi- volutionäre Machtübernahme der großen Volksmehrheit ka aufzunehmen. Gleichzeitig plädierte das Bündnis aber für und eine demokratisch gelenkte Wirtschaft in Staats- und einen Verbleib in der EU und der Eurozone, wenngleich un- Kollektivhand erreicht werden kann. Die Partei hat deshalb ter veränderten Bedingungen. Das Problem: SYRIZA fehlten jede Beteiligung an einer Linksregierung von vornherein ab- nach dem Urnengang vom 6. Mai die Partner. Denn obwohl gelehnt. Sie steht dem Bündnis SYRIZA vor allem wegen die Linke zusammen auf rund 31 Prozent der Stimmen kam, dessen proeuropäischer Haltung kritisch bis ablehnend ge- war die Bildung einer linken Minderheitsregierung unter Ein- genüber. SYRIZA wird von der KKE vorgeworfen, keinen schluss von DimAr und KKE nicht möglich. Zugleich hielt klaren Klassenstandpunkt zu vertreten, sondern Illusionen SYRIZA sich in den Sondierungsgesprächen an ihr Wahlver- über einen reformierten, menschlichen Kapitalismus zu ver- sprechen, nicht mit ND und PASOK koalieren zu wollen, die breiten. beide an den Kürzungsprogrammen festhalten. Und so ist Eine Einigung im innerlinken Konflikt ist aus den genan- die Linke in Griechenland trotz ihres historisch besten Ergeb- ten Gründen und angesichts der teilweise gemeinsamen, wechselhaften Geschichte der drei Parteien auch zukünftig 6 Vgl. Heilig, Dominic: Muss Griechenlands Linke die Neuwahlen fürchten?, in: neues unwahrscheinlich.6 deutschland vom 17. März 2012. 7 http://national12.ekloges.dolnet.gr/index.php?lang=en. 44 nisses sowohl Gewinnerin als auch Verliererin der vorgezo- Was nun? genen Neuwahlen. Nachdem weder die stärkste politische Kraft, die ND, noch Die KKE, die eine Regierungsbeteiligung auch für die Neu- SYRIZA Partner für die Bildung einer Koalitionsregierung ge- wahlen am 17. Juni ausschließt, konnte mit knapp neun Pro- funden hatten, sondierten schließlich die Sozialdemokraten. zent ihren gewohnten Stimmenanteil seit dem Ende der Mili- Kurzzeitig schien es so, als würde PASOK einen Kompromiss tärjunta in etwa beibehalten. Damit scheint klar, dass die KKE erzielen können. DimAr bot sich als Koalitionspartnerin für mit ihrer radikalen (Verweigerungs-)Haltung auf ein stabiles eine PASOK-ND-Regierung an. Unter einer Voraussetzung: Wählerreservoir zurückgreifen kann, aber keine neuen Wäh- SYRIZA sollte – obwohl rechnerisch nicht notwendig – Teil lerschichten mobilisiert. dieser Regierung werden. Tsipras jedoch lehnte ab und Neben PASOK musste auch die rechts-konservative ND durchschaute das Manöver von Kouvelis. Dieser hatte mit herbe Verluste hinnehmen. Sie verlor im Vergleich zu 2009 seinem Vorschlag nicht nur versucht, SYRIZA einzubinden, knapp 15 Prozent ihrer WählerInnen. Ausschlaggebend da- um den Protest auf den Straßen abzuschwächen, sondern für dürfte auch die ND-Abspaltung «Unabhängige Griechen» so auch den weiteren Höhenflug seines Links-Kontrahenten sein, die erstmals an Wahlen teilnahm und mit 10,6 Prozent auszubremsen. in das griechische Parlament einzog. Die ND-Abspaltung ist Das Stimmungshoch für SYRIZA dauert trotz oder wegen als rechtspopulistisch einzustufen und wurde erst am 24. Fe- der Koalitionsabsage von Tsipras ungebrochen an. Laut ei- bruar 2012 gegründet. ner Umfrage zwei Wochen nach der Wahl im Mai würde das Dritte Wahlverliererin ist die rechtspopulistische LAOS- Bündnis bei den angesetzten Neuwahlen am 17. Juni mit Partei. Diese hatte kurzzeitig an der Großen Koalition unter 23 Prozent der Stimmen sogar stärkste Kraft. Dennoch: Der Premier Papademos teilgenommen, war dann jedoch auf- Druck auf SYRIZA wächst. Denn die Bildung einer Regierung grund sinkender Umfragewerte Anfang 2012 aus der Koali- der Linken war nicht nur unmöglich, weil die Sitze dafür nicht tion ausgeschieden. LAOS konnte mit 2,9 Prozent nicht die reichten, sondern auch weil eine solche Zusammenarbeit Dreiprozenthürde überwinden; 2009 war ihr Stimmenanteil angesichts der Haltung der KKE, aber auch der Demokrati- mit 5,6 Prozent noch knapp doppelt so groß gewesen. Die- schen Linken in weiter Ferne lag und liegt. se auf den ersten Blick positive Nachricht, wird durch den Innerhalb der politischen Linken geht es nicht nur um Nu- erstmaligen Einzug der Partei Chrysi Avgi (Goldene Morgen- ancen, sondern um grundlegende Unterschiede: Für DimAr, röte) in das griechische Parlament mehr als nur getrübt. Die- die sich gern als «europatreue, verantwortungsvolle, regie- se Faschisten, die offen zur Jagd auf MigrantInnen aufrufen rungsbereite» Linke stilisiert, ist an dem Verbleib in der Euro- und über eigene Bürgerwehren verfügen, erzielten beinahe zone nicht zu rütteln. Das bedeutet, eine zu bildende Links- sieben Prozent der Stimmen. Sie dürften von enttäuschten regierung dürfe nichts unternehmen, was den Geldzufluss LAOS-WählerInnen profitiert und für sie mit ihrer radikalen nach Griechenland gefährden würde. SYRIZA sieht darin ei- Haltung eine echte Alternative dargestellt haben. nen zu eng gezogenen Spielraum und plädiert weiterhin für

Wahlergebnis Mai 2012

Parlamentswahl 2012 Parlamentswahl 2009

Differenz Partei Prozent Stimmen Sitze Prozent Stimmen Sitze in Prozent

Nea Dimokratia 18,85 1 192 054 108 -14,62 33,47 2 295 719 91

SYRIZA 16,78 1 061 265 52 +12,18 4,60 315 665 13

PASOK 13,18 833 529 41 -30,74 43,92 3 012 542 160

Unabhängige Griechen 10,60 670 596 33

KKE 8,48 536 072 26 +0,94 7,54 517 249 21

Chrysi Avgi 6,97 440 894 21 +6,68 0,29 19 624

Demokratische Linke 6,11 386 116 19

Grüne 2,93 185 366 +0,40 2,53 173 589

LAOS 2,90 183 466 -2,73 5,63 386 205 15

Demokratische Allianz 2,55 161 510

Wiedererschaffung! 2,15 135 932

Aktion-Liberale Allianz 1,80 114 094

Sonstige 6,70 423 210 +4,68 2,02 137 828

44 45 eine Aufkündigung der Sparprogramme als einzigen Weg für und die KKE. Beide Parteien sind in den letzten Umfragen mit wirkliche Neuverhandlung mit der Troika. Einen Austritt aus jeweils rund fünf Prozent der Stimmen nur sehr schwach ge- der Eurozone will SYRIZA zwar nicht in Kauf nehmen, schätzt handelt worden. Für DimAr wirkte sich deren Koalitionsbereit- aber anscheinend nicht jede Missmutsäußerung seitens der schaft mit PASOK und ND negativ aus. Auf der anderen Seite Troika schon als endgültige Drohung ein. gerät die KKE durch ihre fundamentale Absage an ein breites Aber auch innerhalb von SYRIZA zeichnen sich schon Aus- Linksbündnis in Regierungsverantwortung zunehmend – und einandersetzungen zwischen unterschiedlichen Strömun- stärker als in der Vergangenheit – unter Druck. gen ab. Tsipras spricht von einer Neuverhandlung mit den Eine verlässliche Vorhersage für den Wahlausgang am Gläubigern, befürwortet also keinen einseitigen Schulden- 17. Juni in Griechenland zu geben käme aber Kaffeesatzle- schnitt – anders als das in deutschen Medien berichtet wird. serei gleich. Auch SYRIZA kann von heute auf morgen ab- Der linke Flügel votiert hingegen nun offener für eine Nicht- stürzen. anerkennung des größten Teils der Schulden, was einem Austritt aus der Eurozone entsprechen würde. Man kann freilich nicht voraussagen, was passieren würde, wenn die Dominic Heilig, Diplom-Politikwissenschaftler aus Berlin, Troika – unterstellt, dass SYRIZA eine Regierung nach den analysiert aus Sicht der kandidierenden Linksparteien in unregel­ Wahlen vom 17. Juni bildet – an ihrer harten Haltung festhiel- mäßigen Abständen Parlamentswahlen in Mitgliedstaaten der te. Und so besteht Tsipras’ Dilemma in einem Spagat zwi- Europäischen Union. Zuletzt erschienen von ihm Analysen der schen dem Wunsch der Griechen, in der Eurozone zu verblei- Parlamentswahlen in Spanien, Dänemark und Portugal. Mehr ben, und dem eindeutigen Mandat, das Sparprogramm von Informationen unter www.dominic-heilig.de. Grund auf zu ändern. Wenn er überzeugend darlegen kann, Torsten Haselbauer, Politologe, Journalist und Autor, ist Refe- dass er diesen Spagat hinbekommt, dann sind die Aussich- rent für Kommunikation der LINKEN in Brandenburg und wissen­ ten bei Neuwahlen für SYRIZA gut. schaftlicher Mitarbeiter von Jan Korte, MdB DIE LINKE. Er hat Problematisch ist die Situation nach den gescheiterten Son- von 2001 bis 2006 in Athen gelebt und dort in diversen Links­ dierungsgesprächen allerdings für die Demokratische Linke bündnissen mitgewirkt.

46 STANDPUNKTE 09/2012

Horst Kahrs, Harald Pätzolt Zurück zur Wählerschaft Potentiale für DIE LINKE

Nachdem der Wechsel an der Spitze der Partei DIE LINKE auf dem Göttinger Parteitag vollzogen wurde, richtet diese nun den Blick nach vorn: auf die Bundestagswahl 2013 und die Europawahl 2014. Näher noch, dadurch fast schon wieder aus dem Blickfeld, gilt es die Landtagswahl in Niedersachsen zu bestehen. Gelingt die Konsolidierung der Partei in der Wähler- gunst über den Sommer, wofür derzeit einiges spricht, dann muss die Niedersachsenwahl nicht verloren gehen. Der Schriftsteller Manès Sperber hat den schönen Spruch getan: Erlebnisse hat man, Erfahrungen macht man. Die Zeit innerparteilicher Auseinandersetzungen vor Göttingen war einer ruhig sachlichen, Wissenschaft zu Rate ziehenden Verar- beitung der überwiegend bedrückenden Wahlerlebnisse in den Jahren 2010 und 2011 zu erfahrungsgesättigter Orientie- rung nach vorn nicht unbedingt zuträglich. Nun aber lohnt der Blick über die Schulter, auf die Wählerschaft, die der Partei DIE LINKE gefolgt ist und auf die Lücken in den Reihen, auf die Weggebliebenen und auf jene, welche sich in eine andere parteipolitische Richtung bewegt haben. Die große Frage, der sich dieser Standpunkt widmet ist: Wer ist eigentlich wem abhanden gekommen? Die Wählerschaft der Partei oder DIE LINKE ihrer Wählerschaft?

Eine Frage der Perspek tive kraft und Berechtigung beanspruchen können. Allerdings Die jüngsten Wahlergebnisse bei den Landtagswahlen 2012 dürfte der dritte, die unzureichende Verarbeitung von Verän- sowie die bundesweiten Umfragewerte zeigen: Potentielle derungen in der Wählerschaft, der entscheidende sein. Wählerinnen und Wähler der LINKEN haben ihre Ansichten Die Wählerschaft ist der Souverän und Auftraggeber. Par- über die Partei geändert. Zusammengefasst lautet, bei allen teien befinden sich in einer dienenden Rolle. Unterschieden, ihre gemeinsame Botschaft: Wir sehen keine Oft freilich ist die Sicht aus den Parteien heraus eine um- ausreichenden Gründe mehr, euch unsere Stimme zu geben. gekehrte. Die Wählerschaft erscheint als Masse, deren Un- DIE LINKE hatte kein hinreichend gutes, also «wettbewerbs- terstützung zur Zielerreichung der Parteien (Mandate, Ämter, fähiges» politisches Angebot. Einer rückläufigen Zustim- Programme) notwendig ist. mung kann eine Partei auf drei Wegen begegnen: Nehmen wir in diesem Papier also einen Perspektiven- – Der Rückgang kann hingenommen werden, weil die Ur- wechsel vor: Das Wort vom «Wählerauftrag» kennzeichnet sachen als nicht beeinflussbar bewertet oder frühere Zu- die Beziehung zwischen Wählenden und Gewählten. Die stimmungswerte als «Hype», der Rückgang also als «Nor- Bereitschaft, die Partei DIE LINKE zu beauftragen, ist in Ost- malisierung» interpretiert werden; deutschland teilweise geschwächt und in Westdeutschland – Der Rückgang kann verarbeitet werden als Resultat blo- droht mit dem Wahlergebnis von Nordrhein-Westfalen das ckierter Kommunikation: man sei in den Medien nicht Unternehmen «Aufbau einer neuen gesamtdeutschen linken durchgedrungen, man müsse es den Leuten nur besser Partei» symbolisch und tatsächlich zu scheitern. erklären, dann würden sie schon zustimmen; oder: «die Die Zukunft der Partei DIE LINKE als gesamtdeutsche Zeit» sei noch nicht reif gewesen; hängt von ihrem relativen Erfolg im Westen ab, ein weiterer – Der Rückgang kann verarbeitet werden als Resultat blo- Grund, weshalb der Schwerpunkt dieser Betrachtungen auf ckierter eigener Wahrnehmung: man hat nicht verstan- Zahlen aus dem Westen des Landes liegt. den, was die unzufriedenen Wählerinnen und Wähler wol- len; man hat Veränderungen im Alltagsbewusstsein, in A. Wahlanalysen: ihren Wertungen darüber, worauf es ankommt, und Ver- Akzeptanz und Potentiale änderungen in ihrer Wahrnehmung der Partei und ihres Akzeptanz meint eine Zustimmung zu Aussagen wie: Es ist in Verhältnisses zu anderen Parteien nicht berücksichtigt. Ordnung, dass es diese Partei gibt und sie sollte im Parlament Dieses Papier kommt in Auswertung der Wahlergebnisse, vertreten sein. von Umfragen und eigener Studien zu dem Ergebnis, dass Potential meint eine Zustimmung zu Aussagen wie: Ich 46 47 die zwei ersten Verarbeitungsmodi eine gewisse Erklärungs- könnte mir vorstellen, diese Partei auch zu wählen. In Westdeutschland ist DIE LINKE eine minoritäre Partei. Die nicht die gerade in traditionellen sozialdemokratischen Wäh- Behauptung, sie würde die Interessen der Mehrheit vertre- lerschichten Westdeutschlands verbreiteten antikommunis- ten, steht in einem offenkundigen Widerspruch zur Auffas- tischen Ressentiments unterschätzt werden. Ambivalenzen sung dieser Mehrheit. im Verhältnis zur DDR als Diktatur, zur Beschönigung der Un- Die Mehrheit der Wahlberechtigten in Nordrhein-Westfa- terdrückung von Freiheitsrechten («Mauer», «Kuba» etc.) ak- len, rund 885 von 1 000, war der Auffassung, dass DIE LIN- tualisieren da schnell Vorbehalte, wonach sich im Gewand KE nicht wieder im Landtag vertreten sein sollte/müsste. der neuen LINKEN doch nur die alte staatssozialistische Nur 115 von 1 000 Wahlberechtigten fanden es gut, wenn «Nachfolgepartei» verberge. sie wieder im Landtag vertreten wäre. Bei allen anderen Par- Die Ausweitung der Akzeptanz einer Partei wie der LIN- teien, auch bei der FDP und den Piraten, lagen diese Akzep- KEN ist ein längerfristiger Vorgang, schnelle Erfolge sind tanzwerte höher.Die Existenzder LINKEN, ihr bloßes Vorhan- kaum mehr zu erwarten. Vermutlich kann es mit Blick auf die densein als konkurrierende Partei ist bei den Anhängern der Bundestagswahl zuerst einmal nur darum gehen, weitere anderen Parteien und parteiungebundenen Wahlberechtig- Einbußen zu verhindern. Allerdings muss dafür eine Art und ten nicht (breit) akzeptiert. Weise gefunden werden, die zugleich den Grundstein für Die Zahl derjenigen, die sich im April und Mai in Nordrhein- eine Ausweitung legt. Es muss das Ziel sein, dass deutlich Westfalen vorstellen konnten, DIE LINKE auch zu wählen, mehr Wahlberechtigte es gut finden, wenn DIE LINKE in den war naturgemäß noch kleiner und betrug etwa 70 von 1 000 Parlamenten sitzt, auch wenn sie sie nach jetziger Ansicht Wahlberechtigten oder etwa 10 Prozent der wahlbereiten nie wählen würden. Dafür muss sie über kleine Zielgruppen Bürgerinnen und Bürger. Für über 90 Prozent der Wahlbe- hinaus eine öffentliche Funktion besitzen und diese glaub- rechtigten war DIE LINKE in NRW keine wählbare Partei. Die haft und ausdauernd kommunizieren. Zahlen für alle westlichen Länder mit Ausnahme des Saar- landes und der Stadtstaaten sind vergleichbar. «Das Potential» setzt sich aus heterogenen Sowohl die Zahlen für die «Akzeptanz» als auch die für das WählerInnenpotentiale zusammen «Potential» sind seit 2010 in der Tendenz rückläufig. Wenn vom Wählerpotential der LINKEN die Rede ist, stellt Im Ergebnis der Landtagswahl in NRW 2912 haben DIE das eine Verkürzung dar, die nur zulässig ist, wenn man weiß, LINKE 15 von 1 000 Wahlberechtigten (2010: 33; 2009: 56) dass es das Potential nicht gibt. Tatsächlich stand und steht auch gewählt. Die Wahrscheinlichkeit, im Alltag auf einen DIE LINKE in Beziehung zu ganz unterschiedlichen Wähler- anderen LINKE-Wähler zu treffen, hat sich mehr als halbiert. potentialen. Warum sich Wahlberechtigte vorstellen kön- Verbunden mit dem Image des Wahlverlierers ist die Aus- nen, eine Partei zu wählen und es dann tun oder lassen, ist sicht, dass außerhalb der aktiven Mitgliederkreise im Alltag gerade bei einem wenig homogenen, vielfältigem Potential positiv über DIE LINKE geredet wird, vermutlich dramatisch ein schwer ergründbarer Entscheidungsvorgang. Die Moti- gesunken. Hinzu kommt, dass gerade unter mit größerer ve der Wählerschaften zu verstehen, ist umso schwieriger, je Wahrscheinlichkeit politisch kommunizierenden Wahlbe- geringer oder einseitiger die Kommunikation zwischen Partei rechtigten (z. B. Gewerkschaftern) die Abwendung über- und potentiellen WählerInnen ausfällt. durchschnittlich war. Ausgegangen wird davon, dass DIE LINKE nach Ost und West unterscheidbare Wählerpotentiale hat. Aber sie unter- Naheliegende Schlussfolgerungen scheiden sich auch in Ost und in West. Die medial vermittelte Kommunikation über das Wollen und Die Wahlen 2011 verliefen vielfach nicht erfreulich, aber im Handeln der Partei bekommt im Verhältnis zum lebenswelt- Ergebnis zeigten sie hinsichtlich der Potentiale «stagnieren- lichen unmittelbaren Kommunizieren auf der Straße, im Be- de Stabilität». Zum Beispiel: In Baden-Württemberg verlor trieb, in der Universität, in Freundeskreisen einen (noch) grö- die Partei unterm Strich 1 000 Stimmen an die SPD, dahinter ßeren Stellenwert. Für die weitere soziale Verankerung der verbargen sich aber 20 000 Stimmen, die von der LINKEN zur Partei kann dies kontraproduktive Wirkungen haben. SPD gegangen waren und 19 000 Stimmen, die von der SPD Für eine Umkehr des gegenwärtigen Negativtrends gibt es gleichzeitig zur LINKEN gekommen waren – Zeichen eines ein kleines Zeitfenster. Es schließt sich für die Bundestags- lebendigen Austausches in einer zugespitzten politischen Si- wahl 2013, bei Ausbleiben schwerwiegender und zugleich tuation (Wechselstimmung), in der DIE LINKE als tatsächli- positiv wirkender äußerer Einflüsse, allerspätestens im Janu- che Option wahrgenommen würde. Ähnlich große Wande- ar 2013 mit der Wahl in Niedersachsen. rungsbewegungen verbergen sich hinter dem Saldogewinn Akzeptanz hängt vor allem vom Auftreten, vom Stil, vom von 2 000 SPD-Stimmen im Herbst 2011 in Berlin. Einen ver- Image einer Partei ab. DIE LINKE hat ein ausgeprägtes Nega- gleichbaren Austausch in beide Richtungen gab es mit den tivimage bei der überwiegenden Mehrheit der Wahlberech- Wahlenthaltern. Mit Ausnahme der Grünen in Baden-Würt- tigten (nebenbei ein Grund, warum die SPD in Westdeutsch- temberg und der Piraten in Berlin spielt der Austausch mit land keine Koalitionen einging, bevor dann noch die Aussicht anderen Parteien bei den Wahlen 2011 keine hier zu beach- hinzukam, die LINKE wieder aus den Parlamenten heraus- tende Rolle. halten zu können). Der Kern des Negativ-Images könnte da- Die Wahlen 2012 zeigen demgegenüber ein dramatisches rin bestehen, dass die Mehrheit die demonstrative Selbst- Versiegen dieser Austauschbeziehungen. Es gibt kaum nen- gewissheit, dass die Partei die«Interessen der Mehrheit» nenswerte Zuwanderungen von SPD und Nichtwählern, fast vertritt, als Hybris wahrnimmt, gerade wenn die Mehrheit nur noch Abwanderungen, und zwar in drei verschiedene von der Daseinsberechtigung eben dieser Partei gar nicht Richtungen1: überzeugt ist, weil sie ihre Interessen eben nicht nachhaltig in den politischen Auseinandersetzungen vertreten sieht. Hinsichtlich der Glaubwürdigkeit des Auftretens, der Ab- 1 Berücksichtigt werden die beiden jeweils größten Abwanderungsrichtungen. In Berlin, im Saarland und in Schleswig-Holstein zählt die Abwanderung von LINKE-Wählern zu den sichten und der Durchsetzungsbereitschaft sollten auch Piraten nicht zu den beiden dominierenden Bewegungen. 48 Erstens in Richtung Nichtwähler (vor allem in Schleswig-Hol- plexen und schwer durchschaubaren Welt in diesem oder je- stein, mit Abstand im Saarland). nen Lebensbereich tatsächlich anders gehen kann, dürfte bei Zweitens in Richtung SPD (vor allem Nordrhein-West - einer Wahlentscheidung ein wichtigeres Motiv sein als die falen, mit großem Abstand in Schleswig-Holstein und im «gefühlte Einsicht», dass es so nicht gut geht/gehen kann. Saarland). Die Abwendungsbewegungen können endgültige oder Drittens in Richtung Piraten (vor allem in Nordrhein-West- abwartende sein. In jedem Fall stellen sie eine Aufforderung falen). zur Selbstveränderung an die Partei DIE LINKE, bevor wieder ein Wählerauftrag an diese erteilt wird. Verlust an politischer Vielfalt und Qualität? Der politische Imperativ lautet also: Wir müssen unser Hinter diesen Bewegungen und Richtungen in der Abwen- Angebot verändern, weil sich die Wettbewerbssituation ge- dung verbergen sich demnach mindestens auch drei unter- ändert hat. Es ginge um die Anpassung an veränderte Um- schiedliche Motive und damit indirekte Aussagen über die weltbedingungen. Offensichtlich besteht in der (medialen) Unterschiedlichkeit der Potentiale bzw. des mit der Linken Öffentlichkeit die Bereitschaft, die Ergebnisse der Wahlen verbundenen «politischen Gebrauchswerts». auf dem Göttinger Parteitag als Signale der Bereitschaft, des Erstens: Es lohnt sich nicht, überhaupt zu wählen; ich ha- «Wir haben verstanden», verbunden mit einer entsprechen- be es mit der LINKEN nochmals versucht, es hat nichts ge- den Erwartungshaltung, anzunehmen. bracht und ich will keine andere Partei ausprobieren. Konse- quenz: Wahlenthaltung. Das Problem der Alleinstellung Zweitens: Ich will, dass – vielleicht: bei aller Kritik am Sys- Alles hat seine Zeit. Eine neue Partei muss betonen, warum tem – wenigstens sozialdemokratische Politik gemacht wird sie als neue Partei statt der anderen Parteien gewählt werden und von der LINKEN ist das – gewollt oder ungewollt – nicht muss, warum sie anders ist als die anderen. Nur: Wer gibt zu erwarten. Konsequenz: Abwanderung zur SPD, wenn die- sich auf Dauer damit zufrieden, eine Partei zu wählen, die an- se sich wieder (wie in NRW) deutlich sozialdemokratischer ders ist als die anderen, aber nichts bewegt? und volksnäher positioniert. Über das, was DIE LINKE bewegt hat, wurde eher am Ran- Drittens: Ich will mal wieder eine neue Partei ausprobieren de geredet, oder Tonfall eher beleidigter Empörung, weil «die (und bei den voraussichtlichen Wahlsiegern sein). Das bringt anderen» etwas geklaut hätten. Bewegung in alle Parteien. DIE LINKE ist ja schon keine neue Über das, was DIE LINKE unterscheidet, herrscht im Wäh- Partei mehr. Durch ihre Wahl kann ich keinen Protest mehr lerpotential mehr Klarheit als wir glauben. Bittet man reprä- ausdrücken und Unruhe ins Parlament bringen. Konsequenz: sentativ befragte Wahlberechtigte, die Parteien auf einer Hinwendung zu den Piraten.2 Links-Rechts-Skala von 1 bis 11 zu verorten, so steht die LIN- Es könnte sein, dass mit den jüngsten Wahlen bereits län- KE mit einem Abstand von bis zu 2 Punkten links von der ger anhaltende Abwendungsprozesse von den Wählenden SPD und den Grünen, mit denen sie andererseits gemein- «ratifiziert» worden sind. Sie haben sich nicht für bzw. sie ha- sam zum linken Lager, zu den Parteien links von der Mitte ben sich gegen die LINKE entschieden. Vor allem letzteres gezählt wird. (Die Piraten werden derzeit auch dort platziert.) könnte nur schwer wieder zu ändern sein. In diesem Fall han- Der Abstand zwischen LINKE und SPD ist meist größer als delte es sich um qualitative Verluste von Wählerpotentialen, derjenige zwischen SPD und CDU oder FDP, die rechts ver- die den Charakter der Partei selbst verändern. So wird die ortet werden. Rolle des «neuen Spielers» 2013 nach zwei erfolgreich ver- Auch die Wählerschaft der LINKEN – im Rückblick auf die laufenden Bundestagswahlen nicht wieder auszufüllen sein. vergangenen Jahre – ordnet sich ganz links ein und mit ei- DIE LINKE wird ihre Rolle unter den etablierten Parteien auf nem zweiten Schwerpunkt «links der Mitte». Diese Gruppen neue Weise definieren müssen. der Wählerschaft «leicht links von der Mitte» stimmen in ih- Die einseitige Hinwendung von Wählerpotentialen zur rer Selbstpositionierung stark mit der Positionierung aller SPD hingegen kann für einen qualitativen Verlust hinsichtlich Wahlberechtigten überein. Es sind, so ist nach den jüngsten der Funktion, absehbare Verbesserungen für Arbeitnehmer, Wahlergebnissen zu vermuten, jene, die LINKE nicht (mehr) Rentner, Arbeitslose durchsetzen zu können, stehen. gewählt haben. Die Abwanderung zu den Nichtwählern wiederum steht Insgesamt verorten sich die Wählerpotentiale der LINKEN womöglich für eine Abwendung von politischer Partizipati- vorwiegend selbst «leicht links von der Mitte», deutlich links on überhaupt, was einen qualitativen Verlust hinsichtlich der nur der kleinere Teil der aktuellen Potentiale. Bundesweit um- Fähigkeit zur Repräsentation bestimmter, an den Rand ge- fasste das Potenzial der LINKEN im Juni 2012 etwa 16 Pro- drängter oder von Ausgrenzung bedrohter Bevölkerungs- zent der Wahlberechtigten. Allerdings würde sich derzeit ein gruppen bedeuten könnte. knappes Viertel auch für die Wahl der Partei entscheiden. Bei diesen Interpretationen handelt es sich um – begründe- Knapp ein Fünftel würde sich für die SPD entscheiden, gut te – Spekulationen über die politischen Haltungen und Mo- jeder Zehnte für die Piratenpartei, knapp jeder Zehnte jeweils tive, aus denen heraus sich verschiedene Potentialgruppen für Gründe oder Union und ein Viertel würde nicht zur Wahl nicht für die LINKE entschieden haben. Sie finden in den sozi- gehen oder ist unentschlossen. alen Merkmalen der Stimmenverluste durchaus eine Bestäti- DIE LINKE hat offenbar allenfalls geringe Probleme, die gung. Es sind Verluste unter Erwerbslosen und formal niedrig sich ganz links verortenden Wählerpotentiale zu Wählern Gebildeten zu verzeichnen, vor allem aber auch unter den so- zu machen, wohl aber große Probleme, diejenigen, die sich zialstaatlich orientierten Wählergruppen über 45 Jahren und eher links der Mitte verorten, für eine positive Wahlentschei- Gewerkschaftsmitgliedern. Wenn hier die «Systemfrage» ge- stellt wird, trifft das zwar vorhandene Empörung und Unbe- hagen über die weitere Entwicklung, am Ende zählt aber die 2 Über 70 Prozent der WählerInnen der Piraten in NRW sagten, sie wählten die Piraten, weil sie eine «neue Partei» seien. Themenzuschreibungen («Soziale Gerechtigkeit») oder tatsäch- 48 49 pragmatische Antwort auf die «Frage». Wie es in einer kom- lich vertretene Inhalte (Netzpolitik) erreichten jeweils nur 5-10 Prozent. dung zu gewinnen. Für sie scheint im Zeitverlauf die Allein- rung. Viele ihrer Forderungen und Ideen werden für gut und stellung linksaußen zum Problem bei der Wahlentscheidung richtig befunden. Und mit Gysi und Lafontaine hat sie promi- geworden zu sein. nente Personen im Rampenlicht. Auch scheint sie ihren Idea- len treu zu bleiben. Es scheint also ein Problem des aktuellen B. Umfragen: Welches Problem haben konkreten Verhaltens der Partei zu ihren potentiellen Wählern die potentiellen Wähler der LINKEN mit zu sein. Es ist damit ein lösbares Problem. Auch das ist eine der Partei? Welches Bild haben sie von Botschaft aus den Untersuchungen. der «idealen Partei»? Potentielle WählerInnen sind im umgangssprachlichen Sinne Rollenverteilung Menschen, die sich vorstellen können, DIE LINKE zu wählen. In theoretischer wie empirischer Perspektive sind die Rollen Empirisch, also wissenschaftlich, kann diese Gruppe sehr un- zwischen Parteien und Bürgern klar verteilt. Die Bürger ha- terschiedlich bestimmt werden: Diejenigen, die DIE LINKE ben gewisse Erwartungen an die Politiker und die Politiker bei letzten Wahlen gewählt haben, solche, die bei der machen bestimmte Angebote an die Bürger. Es ist eine Be- «Sonntagsfrage» diese Partei präferieren, Leute, die mei- ziehung von Auftraggebern und Auftragnehmern, politikwis- nen, dass DIE LINKE ihre Interessen am besten vertreten senschaftlich sprechen wir von Prinzipal – Agent – Verhält- würde usw. usf. Entsprechend gibt es nicht das Potential, nissen. In bestimmtem Maße (die Leute wissen wohl um den sondern qualitativ und quantitativ unterschiedliche Potentia- engen Rahmen politischer Gestaltung) geht der Auftragge- le. Diese Klarstellung erscheint wichtig, weil diejenigen, wel- ber davon aus, dass sein Wohlergehen vom Handeln seiner che DIE LINKE gewählt haben, es vielleicht genau aus den Agenten Auftragnehmer abhängig ist. Gründen taten, die andere davon abhielten. Auf jeden Fall In den Untersuchungen ergab sich ein grobes Gesamtbild verweist der Begriff des Wählerpotentials auf ein mögliches davon, was die potentiellen Wähler der LINKEN unter «Wohl- Wählerverhalten, also auf ein Verhältnis zwischen Bürgern ergehen» verstehen. Die eigene Lebensqualität zu halten und und Parteien. Dass dieses Verhältnis ein erlebtes und erfah- möglichst zu verbessern und den gesellschaftlichen Zusam- renes, also ein durchaus Mitteilbares ist, das ist die Grundan- menhalt zu sichern ist der Auftrag. Dazu müsste in allen Le- nahme aller hier zu besprechenden Untersuchungen. bensbereichen menschliches Maß angelegt werden: Gute Arbeit, eine funktionierende Infrastruktur, Versorgungssi- Beziehungsprobleme cherheit, eine «natürliche» Umwelt. Zeit braucht der Mensch Die potentiellen Wähler der LINKEN haben aktuell ein Bezie- und Anerkennung für sich und seine Leistung. hungsproblem mit der Partei. Es erscheint zunächst ein Pro- Mobil soll er sein und mitbestimmen soll er können. Sozia- blem des Politikstils. le Nähe, Begegnungen, Gemeinschaft, das Sich umeinander Die Menschen wünschen sich schon eine Beziehung zu ei- Kümmern sind wichtig. Und klar ist es wohl allen, dass da- ner Partei, wenn auch keine allzu innige. Und die Menschen bei eine gewisse Gleichheit herrschen muss unter den Men- aus dem sogen. «linken Potential» wünschen sich eine Bezie- schen, werden Alte, Kranke, Schwache, Kinder, Migranten, hung zur LINKEN. Nur, so sagen sie, ist DIE LINKE zu einer Frauen, Gläubige, die vom Dorfe oder aus urbanen Brenn- neuen Beziehung zu uns wohl nicht bereit: punkten oder irgendwer aufgrund seiner Eigenart oder durch (1) Sie hängt noch einer alten Beziehung nach (DDR, Kom- Zufall, man selbst könnte es ja auch mal sein, ausgestoßen – munismus/Sozialismus). Was wiederum für einen (kleiner sinkt die eigene Lebensqualität, löst sich der soziale Zusam- werdenden) Teil der Kernwählerschaft wichtig ist, denn er ist menhang. diese Beziehung. So abstrakt und allgemein erscheint die Botschaft nur im (2) Diese Partei ist noch nicht offen für eine Beziehung. Sie Draufblick. Berlin, Niedersachsen und NRW – die befragten lebt ihr eigenes, gewohntes Leben (Ideologien, eigene Spra- Menschen, auch die potentiellen Wähler der LINKEN, arti- che, mangelnde Offenheit für Ideen) und ist mehr mit sich als kulieren ihre Ansprüche und Erwartungen an die Politik, die mit der Beziehungsaufnahme beschäftigt (interne Querelen). Partei DIE LINKE, aus sehr vielfältigen Lebenslagen und Situ- (3) Die Partei scheint nicht bereit, uns näher zu kommen, ationen heraus. Der immer wiederkehrende Vorwurf scheint, sich uns zu zeigen, Gesicht(er) zu bekommen (Sichtbarkeit in dass DIE LINKE kaum in der Lage und willens ist, diese viel- der Öffentlichkeit, Personen, Bürgernähe, Transparenz). fältigen Interessen aufzunehmen und zu aggregieren. Es Und (4) die Partei scheint nicht bereit, in eine Beziehung scheitert bereits an der Schwierigkeit, die Alltagsperspek- zu investieren (pragmatische Lösungsansätze, Kompromiss- tive einzunehmen, sich in die Situation/Lage des Prinzipals bereitschaft, realistische Konzepte, konstruktive Beteiligung, zu versetzen. Dazu müsste sie sich, hier sind die Befragten Transparenz, Gelegenheiten zur Beteiligung). Daher, so das hellwach und klar, eines andern Politikstils bedienen. Solange Fazit, erscheinen das Werben und also die Partei selbst als dies nicht geschieht bleibt der Verdacht, das Misstrauen, die durchaus unglaubwürdig. Skepsis und also der Konflikt, ob die Partei DIE LINKE nicht Wie denn also die ideale Partnerin/Partei für potentielle doch andre, eigene Ziele verfolgt als die des Prinzipals, man Wähler der LINKEN zu sein hätte, scheint klar: Transparenz, wendet sich ab und andern zu. Glaubwürdigkeit, Bürgernähe und Ermöglichung von Mit- Unser Vorschlag einer zusammenfassenden Bewertung bestimmung wären Charakterzüge. Im Verhalten ein realis- der Umfrageergebnisse lautet: Die Partei DIE LINKE würde, tischer Pragmatismus und die erforderliche Lösungskompe- wenn überhaupt, dann gewählt, wenn sie die beschriebe- tenz, Durchsetzungskraft und Stärke. Klare Werte und Ideale nen Merkmale eines anderen Politikstils mit ihrem wichtigs- ja, Ideologien als geschlossene Systeme mit einfachen Ant- ten positiven Image, eine Partei der sozialen Gerechtigkeit worten auf alles aber nein. Personen, die dafür in der Öffent- zu sein, verbindet. Sie muss ihre soziale Orientierung neu lichkeit stehen. erfahrbar machen, sich als Partei sozialer Gerechtigkeit auf Dabei käme DIE LINKE schon als Partnerin für potentielle neue Weise ins Gespräch bringen: alltagsnah, als jemand, Wähler in Frage. In erster Linie wegen ihrer sozialen Orientie- der immer die Nöte der kleinen Leute mit den Interessen der 50 solidarisch orientierten Mittelschichten verbindet, auf der Die Beratung mit den WählerInnen suchen: Wenn die Potenti- Suche, wie die Interessen derer, die in dieser Gesellschaft ale schrumpfen, der Wähler der LINKEN zum Exoten wird, ist «unten» sind, mit denen an deren Schichten zu einer Mehr- es um so dringender, das Gespräch zu suchen (also nicht für heit in einem und für ein solidarisches Gemeinwesen ver- einen Tag die Arbeit der Erzieherin machen oder «mitlaufen», bunden werden können. sondern mit ihr über ihre Probleme, Wünsche reden, darüber was muss und was geht, …). Beim öffentlichen Auftreten die C. Weichenstellungen sehr konkreten Probleme einzelner Menschen ansprechen Wechseln wir abschließend wieder die Perspektive und keh- und von dort die Frage zu stellen, was Not tun würde (nicht ren zur Sicht der Partei auf die Wählerschaft zurück. Das von «den Arbeitslosen», «den Hartz-IV-Empfänger», «den scheint nötig, damit ein Aspekt der Entscheidung stärker he- Rentnerinnen und Rentnern» reden, sondern von Menschen rausgestellt werden kann: Orientiert sich die Partei am Profil sprechen, die man gestern gesprochen hat, bei denen man der treuesten, sichersten Wähler? Hält sie, als Strategie, zu- war, die man kennt … und dies ganz konkret und nicht plaka- sammen, was noch da ist auf der bestehenden Beziehungs- tiv, aber durchgängig). Dann die konkreten Angebote und mit ebene oder orientiert sie sich am Potential und bauen dieses wem sie zu realisieren sind, weil sie vielen nützen, zur Sprache eben aus? Es ist ja augenfällig, dass die genannten Defizi- bringen. Gute Bildung oder gute Pflege verlangt eben auch ei- te von einem Teil ihrer Anhängerschaft als Tugenden gelebt nen Ausbau gut bezahlter und sicherer Arbeit im öffentlichen werden. Aus welchen Gründen auch immer, historischen, Dienst oder bei den sozialen Dienstleistungen. Und dann nicht kulturellen, aus Altersgründen etwa ist das Parteileben im vergessen: «Im Übrigen bin ich der Meinung, dass genau dies Osten wie im Westen durch einen gewissen linken Troglody- zeigt, dass wir eine andere Gesellschaft brauchen, in der Profit tismus gekennzeichnet. Hic Rhodos hic salta! nicht mehr unser Leben beherrscht.» Einige Aspekte der für den Westen Deutschlands be- Entwicklung lokaler Politik und Handlungs- und Mitmach- schriebenen Lage sind auch im Osten anzutreffen. Hierbei möglichkeiten sowie ihre Bündelung auf oberen instituti- handelt es sich vor allem um die ausbleibende Verjüngung onellen Ebenen (statt lokale Umsetzung von Bundes- und der Wählerpotentiale und die demokratische Repräsentati- Europapolitik) (bottom-up statt top-down – nicht zuletzt des- onsfähigkeit der Partei. Immerhin ist die Wahlenthaltung im halb, weil man der Partei DIE LINKE am wenigsten zutraut, Osten noch deutlich ausgeprägter als im Westen. oben etwas bewegen zu können; sie ist in dieser Frage genau Die Partei DIE LINKE kann sich entscheiden, ob sie von der eine Gegen-Merkel-Partei). Binnenlogik einer teilweise in die Isolation geratenen, sich durch Abgrenzung zur Gesellschaft und zu anderen (vor al- Die politischen Themen lem zur SPD) bestimmten Mitgliedschaft, der «splended Neuen Fragen, veränderten Einstellungen zugewandt: Zum isolation», ausgeht und dies kultiviert, oder aber das Poten- Beispiel die «Rente erst mit 67» ist in der Wahrnehmung noch tial dieser Binnenlogik (Fixierung auf die soziale Frage, die ein Skandal, weil fürs gleiche Geld länger gearbeitet werden Schwächeren in der Gesellschaft, die Einsicht, dass es mit soll, mehr und mehr wird im Alltag aber auch über flexiblere, dem Kapitalismus so nicht weiter geht und eine andere Ge- individualisiertere Formen des Übergangs gesprochen. Diese sellschaft gebraucht wird) nutzt, um neu und anders mit den gesellschaftlichen Diskussionen als Themen, die in der LIN- Bürgerinnen und Bürgern ins Gespräch zu kommen. Man KEN ihren Platz haben, an die Partei heranholen. könnte so ohne «jähe Wendungen» den Wahlkampf 2013 Der Erfolg der Piraten hat auch etwas mit technologischen bereits auch als Auftaktspiel für den Wahlzyklus bis 2017 be- und sozialen Veränderungen im Arbeitsprozess und in der trachten und nutzen. Arbeitsorganisation, in der Eigentumsfrage zu tun. Redet Wahlentscheidungen fallen in der Regel nicht rational die Partei da mit? Signalisiert sie, dass sie weiß, worum es durch ein Abwägen, einen Abgleich des Angebots an For- geht, dass man bei ihr richtig ist, wenn man nach Lösungen derungen und Vorschlägen einer Partei mit den eigenen Ein- sucht? Oder sagt sie durch ihre RepräsentatInnen nur, dass stellungen, Zielen Wertungen und Interessen. Wahlentschei- sie da entweder schon längst die besseren Konzepte habt – dungen kommen auf verschiedenen Stufen der Nähe zum oder aber höchstens eine private, persönliche Meinung? eigentlichen politischen Prozess zustande. Es reicht für ei- In beiden Fällen erschiene die Partei nicht als Ort, wo man nen Erfolg daher nicht aus, die Partei mit den besseren For- sich einmischen sollte. Es kann für die Gesamtpartei erfolg- derungen zu sein. Es geht auch um Image und Stil, es geht reich sein, auch Minderheitsmeinungen als solche nach au- um die Themen, für die «eine Partei steht», es geht um die ßen darzustellen, eben weil sie Vielfalt sichtbar machen. Das Forderungen und wie sie kommuniziert werden, es geht bedingungslose Grundeinkommen gehört dazu. Immer mit auch darum, welche Rolle eine Partei im Verhältnis zu den dem Gestus: Lasst uns darüber nachdenken, ob und was das anderen Parteien hat. für Menschen bringt.

Der politische Stil, das Auftreten, die politische Methode Die politischen Forderungen Kommunikativ und auf Augenhöhe mit den potentiellen Wäh- Gegenwärtig hat die Partei DIE LINKE zwei Kategorien von lerInnen (sie wissen, was gut und richtig für sie ist!), ein Ange- Forderungen: bot unterbreitend. Entschieden in der Sache, offen und um- – die großen bzw. abstrakten Forderungen, die nur indirekt gänglich im Stil. Wissend, dass die Alltagserfahrung besagt: mit dem Alltag und den Problemen unserer Wählerpoten- Ohne klare Ideale und generelle Zielvorstellung einerseits und tiale vermittelt sind (von der Euro-Krise bis zur Millionärs- ohne Kompromisse andererseits kommt man am Ende nir- steuer) gends weiter. – und die konkreten Forderungen, die oftmals nicht als sol- Darüber reden, was die Partei DIE LINKE will, und nicht da- che der LINKEN, sondern der SPD (oder auch Grünen) rüber, warum den anderen Parteien nicht zu trauen ist, wenn wahrgenommen werden und unterschiedliche Partikula- 50 51 sie Ähnliches wollen. rinteressen aufgreifen. Transformation zu einer Problem- und alltagsorientierten In- derzeit nicht, weil zu viele WählerInnen aus den sozial schwa- teressenbündelung: Statt sozialer Gruppen (Arbeitslose, chen, abgehängten und bedrohten Schichten gar nicht mehr Niedriglöhner, Frauen, Normalverdiener) soziale Probleme wählen gehen. Deshalb fehlt es an einer machtpolitischen konkret ansprechen, zum Beispiel die Probleme der «finan- Attraktivität, der realen Möglichkeit mit der Folge, dass auch ziell Bedrängten», die unabhängig von sozialer Lage und Art jenseits aller anderen gesellschaftlich formierten Motive, sich und Höhe des Einkommens Probleme haben, finanziell über nach oben zu orientieren und nach unten abzugrenzen, po- die Runden zu kommen, von Mietproblemen, Stromsperren, litische Oben-Mitte-Angebote eine hegemoniale Anziehung Überschuldung bedroht sind/sich bedroht sehen – was aber ausüben. Die strategische Aufgabe der LINKEN besteht dar- heißt: «Hartz IV muss weg» steht nicht zwingend im Mittel- in, die sozial Schwachen wieder für die politische Partizipati- punkt der Kommunikation, sondern: «Das Problem mit den on zu gewinnen und dies mit den Anliegen und Sichtweisen Stromkosten/Mieten/Klassenfahrten muss gelöst werden einer solidarischen Mitte zu verbinden. und da gibt es doch diese oder jene Möglichkeit. Wieso wird Und zwar nicht rationalistisch-instrumentell, sondern als sie nicht genutzt?!» organische Perspektive: etwa «Prekarität» nicht als Problem In diesem Zusammenhang können dann Forderungen bestimmter Gruppen auf dem Arbeitsmarkt oder des Verhält- nach frei zugänglichen öffentlichen/kollektiven Gütern statt nisses von Stammbelegschaften zu Leiharbeitern usw., son- Geldleistungen zum Kauf marktvermittelter Güter zu einem dern als Feld der Veränderungen in der ganzen Arbeitswelt. linken Markenzeichen werden, welches sich gut mit dem In kleinerem Maße ist das auch eine kurzfristige Möglich- sozialökologischen Umbau verbinden lässt. Es sind diese keit: Zu den Potentialen der LINKEN zählen auch Wahlent- Güter, auf denen soziale Sicherheit wie Freiheit/individuelle halter, die zwischen Wahl und Nichtwahl schwanken wie Selbstbestimmung basieren. zwischen der Entscheidung LINKE und Option X (Partei oder Nichtwahl), also Wechselwähler, Wähler ohne feste Bin- Die strategische Orientierung dung. Zudem könnten nicht wenige aus der solidarischen Das vielleicht Schwierigste zum Schluss: Kann DIE LINKE ei- Mitte sich für die Partei DIE LINKE entscheiden, wenn diese ne eigene und zugleich andere Kräfte überzeugende strategi- Funktion für ein Unten-Mitte-Bündnis, dieses Verständnis ei- sche Orientierung kommunizieren, um der «Falle des Allein- nes Richtungswechsels klarer würde. stehens» zu entkommen, trotzdem unterscheidbar zu bleiben In größerem Maße handelt es sich um eine Aufgabe, deren und einen eigenständigen Platz unter den Parteien zu bean- erfolgreiche Bewältigung durchaus nicht sicher ist. Erstens spruchen? gibt es die Nichtwähler nicht, sie haben unterschiedliche Par- DIE LINKE steht für einen politischen Richtungswechsel. teipräferenzen. Zweitens gibt es unter ihnen Gruppen, die Was das in der strategischen Orientierung heißt, bleibt in der sich grundsätzlich nicht für Wahlen und Politik interessieren. Kommunikation aber zu oft unklar. Zwei Dinge wären heraus- Tatsächlich hat die Wahlenthaltung in den sozial schwachen zustellen: Schichten und Vierteln in den vergangenen dreißig Jahren – einen Richtungswechsel gibt es nur, wenn er von gesell- viel stärker zugenommen als in den «bürgerlichen» Vierteln. schaftlichen Mehrheiten getragen wird; Die SPD (und andere) haben demgegenüber resigniert. Sie – einen Richtungswechsel gibt es nur, wenn diese Mehrhei- hatten den Enttäuschten kein neues Angebot zu machen, ten einen (koalitions-)politischen Ausdruck finden. vielmehr haben sie sich darauf eingestellt, dass dort nichts Diesen politischen Richtungswechsel gibt es nur mit einem mehr zu holen ist und um die verbliebenen wahlbereiten gesellschaftlichen «Unten-Mitte-Bündnis». Die Funktion der Schichten zu konkurrieren sei. LINKEN im Parteiensystem ist es, sich im Dienst deren zu Diese strategische Aufgabe zu bewältigen ist keine Angele- sehen, die sonst im Parteiensystem nicht zur Sprache kom- genheit (allein) von Wahlkämpfen, sondern eine strategische men (oder nur als «Opfer», als die «Armen», als die da «un- Aufgabe der Partei und ihres Aufbaus. Wahlstrategie 2013 ten») und sie für eine (Wieder-)Beteiligung an politischen und Parteiaufbau 2012/2017 müssen gleichzeitig, und nicht Entscheidungen zu gewinnen. Gleichzeitig ist DIE LINKE wie so oft bisher versprochen, nach einander angegangen aber keine «Unterschichten»- oder «Prekariatspartei», allein werden. Wahlen gewinnt man nicht erst in Wahlkämpfen. schon deshalb, weil sie auch Wählerschaften der solidari- schen Mitte erreicht, und allein schon deshalb, weil klar ist, dass die Interessen der sozial schwachen Gruppen nur eine Horst Kahrs arbeitet im Institut für Gesellschaftsanalyse Chance haben, wenn ihre Durchsetzung auch einer Mehrheit der Rosa-Luxemburg-Stiftung. hilft, in einer «besseren Gesellschaft» zu leben. Einen poli- Dr. Harald Pätzolt arbeitet beim Parteivorstand DIE LINKE. tischen Richtungswechsel wird es dann geben, wenn eine Der Text steht in alleiniger Verantwortung der beiden Autoren. Mehrheit von Wählenden aus den unteren und mittleren so- zialen Schichten dafür votiert und Parteien unterstützt, die dies wollen. Einen politischen Richtungswechsel zu wollen, heißt auch, die Tendenzen der sozialen Spaltung in der Wahl- beteiligung umkehren zu können. Was anzustreben wäre ist also eine Perspektivenverschrän- kung jener, die heute «Ganz unten» (Wallraff) sind und jener, die sich selbst sozial in der Mitte verorten. Es ginge darum, die Interessen der sozialen Mitte und der sozial Schwachen, wie sie sich in gemeinsamen Problemlagen zeigen, in den Mittelpunkt zu stellen. Darüber wäre zu reden, bevor über da- für notwendige Koalitionen zu reden ist. Dafür muss es aber eine Mehrheit unter den Wahlberechtigten geben. Sie gibt es 52 STANDPUNKTE 10/2012

VOLKER EICK HIER STEUERT DER STAATSSCHUTZ Das Bundesfinanzministrium möchte den verfassungsschutz über die Gemeinnützigkeit von Vereinen entscheiden lassen

Vereine, die der Inlandsgeheimdienst für «extremistisch» hält, sollen nach Plänen von Bundesfinanz- und Ex-Bundesin- nenminister Wolfgang Schäuble (CDU) ihre Gemeinnützigkeit und damit ihre steuerlichen Begünstigungen verlieren, die in vielen Fällen ihre Arbeit überhaupt erst ermöglichen. Das geht aus dem Entwurf des Jahressteuergesetzes 2013 hervor. Er wurde am 23. Mai 2012 vom Bundeskabinett beschlossen und wird ab Mitte September im Bundestag beraten. Wird der Regierungsbeschluss Gesetz, verlieren Organisationen, die in einem Verfassungsschutzbericht als «extremistisch» ge- listet sind, künftig automatisch ihre steuerlichen Privilegien. Um die Gemeinnützigkeit wiedererlangen zu können, müssen sie zunächst gegen die Mutmaßungen des Verfassungsschutzes vor Verwaltungsgerichten klagen – erst dann steht ihnen wieder der Weg zu Finanzamt und Finanzgerichten offen. Möglich macht das die Streichung des Wörtchens «widerleg- bar» in § 51 Absatz 3 Satz 2 der Abgabenverordnung (AO) von 2009. Sowohl den Betroffenen als auch den Finanzämtern und Finanzgerichten werden damit alle Möglichkeiten genommen, Mutmaßungen und Behauptungen der Inlandsgeheim- dienste «sachnah» entgegenzutreten. Finanzämter und Finanzgerichte würden ihr Mitspracherecht vollständig verlieren, Vereine und Körperschaften möglicherweise gar ihre Existenzgrundlage.

Der Referentenentwurf aus dem Hause Schäuble schlägt ho- «In § 51 Absatz 3 Satz 2 wird das Wort he Wellen. Am 22. März machte das Bundesnetzwerk Bür- ‹widerlegbar› gestrichen» …4 gerschaftliches Engagement in seinem Rundbrief auf die ge- Dass ausgerechnet der Verfassungsschutz über die Gemein- planten Veränderungen im Jahressteuergesetz für das Jahr nützigkeit von Organisationen entscheiden soll, klingt zu- 2013 aufmerksam.1 Die politische Initiative für eine bundes- nächst unglaublich. Das aber genau bezweckt der Gesetzent- weite Kampagne ergriffen Anfang Juni 2012 die Organisatio- wurf. In der Fassung der AO von 2009 hieß es bisher in § 51 nen Robin Wood und Greenpeace. In einem Offenen Brief an Abs. 3 in Satz 2 in Bezug auf die Voraussetzungen der Steu- alle Bundestagsabgeordneten zur ersten Lesung des Gesetz- erbegünstigung immerhin noch, «bei Körperschaften, die im entwurfs am 28. Juni machten sie mit weiteren 24 Nichtre- Verfassungsschutzbericht des Bundes oder eines Landes als gierungsorganisationen auf den politischen Vorstoß der Bun- extremistische Organisation aufgeführt sind, ist widerlegbar desregierung aufmerksam,2 mittlerweile ist der Brief von 130 davon auszugehen, dass die Voraussetzungen des Satzes 1 Organisationen unterzeichnet worden.3 Steuerrecht und Ver- nicht erfüllt sind».5 Die Neuerung liefe auf das Ende des Er- fassungsschutz? Es dauerte einen Moment, bis klar gewor- messensspielraums der Finanzämter ebenso hinaus wie auf den war, dass die vorgesehene Streichung des Wortes «wi- die Eliminierung der Möglichkeit der betroffenen Organisa- derlegbar» einen Automatismus auslöst: Fortan sollen die zu tion, bei Finanzgerichten Rechtsschutz zu suchen.6 Möglich Steuerbehörden mutierten Geheimdienste gesellschaftspo- litisches Engagement kriminalisieren und damit unmittelbar 1 Vgl. Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement: Verfassungsschutz und Jahres- das Ende des Gemeinnützigkeitsstatus herbeiführen können. steuergesetzentwurf 2013, in: Newsletter Nr. 6 (22.3.2012), S. 5. 2 Vgl. Attac: Verfassungs- Zu den direkten Steuererleichterungen, die im Übrigen in schutz-Klausel gefährdet gemeinnützige Organisationen (27.6.2012),. 3 Vgl. Robin Wood: Proteste gegen die geplante Verfassungsschutz-Klausel (7.8.2012), unter: http://www.ro- der deutschen Rechtstradition seit 1919 ungebrochen be- binwood.de/index.php?id=823. 4 Bundesregierung: Entwurf eines Jahressteuergesetzes kannt sind und kontinuierlich angepasst werden, gehören in 2013 (23.5.2012), S. 37. 5 Attac: Verfassungsschutz-Klausel gefährdet gemeinnützige Or- ganisationen, Pressemittelung vom 27.6.2012. 6 «Ist […] eine Körperschaft im Verfas- der Regel Befreiungen von Körperschafts-, Gewerbe-, Um- sungsschutzbericht des Bundes oder eines Landes als verfassungsfeindlich aufgeführt, ist satz-, Erbschafts- und Grundsteuer. Indirekt und mit großer ihr die Anerkennung als gemeinnützige Körperschaft zu versagen. Die Überprüfung, ob ei- ne Körperschaft trotz einer Nennung in einem Verfassungsschutzbericht doch die Anforde- Bedeutung für die Finanzierungsbasis von gemeinnützigen rungen nach § 51 Absatz 3 Satz 1 erfüllt, muss nach Streichung des Wortes ‹widerlegbar› Organisationen wirkt sich dabei die Spendenabzugsfähigkeit in Satz 2 nicht mehr durchgeführt werden. Sollte eine Körperschaft ihrer Ansicht nach zu Unrecht in einem Verfassungsschutzbericht aufgeführt worden sein, so obliegt es ihr, sich 52 53 nach dem Einkommensteuergesetz aus. dagegen in einem gerichtlichen Verfahren zur Wehr zu setzen», zit.n. ebd., S. 131. wird dies, weil bereits die nur unbestimmte Nennung einer Neu ist schließlich, so jedenfalls die nicht-rechtsverbind- als gemeinnützig anerkannten Organisation in einem der 16 liche Antwort der Bundesregierung auf die erwähnte Kleine jährlich veröffentlichten Verfassungsschutzberichte des Bun- Anfrage,17 dass der Gemeinnützigkeitsstatus solange erhal- des und der Länder – das Saarland veröffentlicht keinen Ver- ten bleiben soll, bis Klagen gegen die Entscheidungen des fassungsschutzbericht7 – zu einer unmittelbaren «Versagung Verfassungsschutzes beim jeweiligen Verwaltungsgericht der Steuervergünstigungen» bei den Finanzämtern führt.8 entschieden sind. Allerdings findet sich im vorliegenden Ge- Es bliebe daher lediglich ein – noch dazu langwieriger – setzentwurf eine solche Klausel nicht. letzter Weg, nämlich über die Verwaltungsgerichte: die Kla- ge gegen die veröffentlichten Mutmaßungen der Verfas- Schlecht in Form – schlecht informiert sungsschutzämter. Und das mit der Konsequenz, dass alle Dass dem Verfassungsschutz diese Zuständigkeit überhaupt Vergünstigungen während des Verfahrens ruhen – und da- übertragen wurde, ist freilich nicht ein Verdienst der gegen- mit auch die Möglichkeit, Spenden zu sammeln, für die dann wärtigen schwarz-gelben Bundesregierung, sondern das steuerbegünstigte Zuwendungsbescheinigungen (in Volkes der Großen Koalition. Denn es war der damalige Bundesfi- Mund: Spendenquittungen) ausgestellt werden können. Zu- nanzminister Peer Steinbrück (SPD), Träger des Big Brother dem können keine Förderanträge mehr gestellt werden. Ei- Award für die Einführung der lebenslangen Steueridentifi- ne Aberkennung der Gemeinnützigkeit kann empfindliche kationsnummer (Steuer-ID), der im April 2008 das Jahres- Nachforderungen der Körperschaftssteuer nach sich ziehen steuergesetz 2009 auf den Weg gebracht hatte und darin – und gilt als ein effektives Mittel, unliebsame Organisationen in besagtem § 51 AO – dem Verfassungsschutz eine neue in den finanziellen Ruin zu treiben; 9 über die zeitliche Wir- Aufgabe zukommen ließ. Glaubt man den entsprechenden kung der Erwähnung in einem Verfassungsschutzbericht auf Presseverlautbarungen, dann ging diese Innovation auf eine die Gemeinnützigkeit – also deren Rück- und/oder Nachwir- Anregung der Innenministerkonferenz vom Dezember 2007 kung – schweigt sich der neue Gesetzentwurf zudem aus. zurück, die damit – nach dem gescheiterten NPD-Verbots- Auf die Gesetzesvorlage reagierte auch die Bundespartei verfahren 2003 – vorwiegend rechten Organisationen die fi- DIE LINKE. Sie stellte eine entsprechende Kleine Anfrage. nanzielle Basis entziehen wollte.18 So erregte beispielsweise Die Antwort der Bundesregierung bekräftigt deren Absicht, der Verein Collegium Humanum unter seiner wegen Volks- dass zukünftig der Verfassungsschutz den Finanzämtern verhetzung vorbestraften Vorsitzenden Ursula Haverbeck und Finanzgerichten die Entscheidungsfreiheit über die ge- im Jahre 2008 einiges Aufsehen, weil er vom Verfassungs- meinnützige Förderfähigkeit von Vereinen und anderen Kör- schutz beobachtet, aber trotzdem als gemeinnützig behan- perschaften nehmen soll. Zudem beabsichtige sie, soweit delt wurde; die Gemeinnützigkeit wurde ihm auch nicht ent- Vereine oder andere gemeinnützige Körperschaften sich zogen, er wurde gleich ganz verboten.19 überhaupt eine auch mit Kosten verbundene Klage zutrau- Allerdings sind zahlreiche Bestrebungen der Verfassungs- en, nur noch die Verwaltungsgerichte als «die grundsätzlich schutzämter bekannt – und zwar bereits vor der Gesetzes- sachnähere Instanz über Extremismusfragen entscheiden zu änderung 2009 –, nicht rechten, sondern antifaschistischen lassen».10 Rechtsstaatliche Bedenken sieht sie keine, insbe- und linken Organisationen die Gemeinnützigkeit zu entzie- sondere weil es sich um eine jahrelange Praxis handele, Fi- hen: Darunter etwa der Vereinigung der Verfolgten des Na- nanzämter und Verfassungsschutzämter «als verschiedene ziregimes/Bund der Antifaschisten (VVN/BdA), die gleich Zweige der Exekutive» zuzurechnen seien und mithin nichts in drei Verfassungsschutzberichten als «extremistisch» be- Neues beschlossen werde.11 zeichnet wurde (Bayern: ab 2006, Baden-Württemberg: ab Dass sich das System grundlegend verändert, ist freilich evident: Neu ist zunächst, dass der Verfassungsschutz erst- 7 «Extremisten soll keine Gelegenheit gegeben werden, Rückschlüsse auf die Arbeitswei- mals exklusiv exekutive Aufgaben übernimmt. Ausgerech- se und die Erkenntnistiefe des Landesamtes ziehen zu können. Die Auswertungsergebnis- net er, möchte man angesichts der anhaltenden Skanda- se des LfV fließen aber in die jährliche Berichterstattung des Bundes mit ein», zit. n. Minis- terium für Inneres und Sport Saarland: Landesamt für Verfassungsschutz, unter: www. 12 le und Selbstbeschreibungen des Verfassungsschutzes saarland.de. 8 Attac: Verfassungsschutz-Klausel gefährdet gemeinnützige Organisationen, sagen, soll fortan über die Gemeinnützigkeit, also über das Pressemittelung vom 27.6.2012. 9 Von einer solchen Forderung war etwa die Informati- onsstelle Militarisierung (IMI) in Tübingen im Mai 2007 betroffen – also noch vor der Ände- Wohl und Wehe «zivilgesellschaftlich» tätiger Organisatio- rung im Jahressteuergesetz 2009 –, die auf Betreiben des baden-württembergischen Ver- fassungsschutzes rückwirkend ab dem Jahr 2001 alle Spenden mit 40 Prozent versteuern nen entscheiden (und nicht mehr andere, namentlich die Fi- sollte; vgl. Maja: Finanzamt und Verfassungsschutz Hand in Hand, in: Rote Hilfe Zeitung, nanzämter, aufgrund seiner Möchtegern-Expertise entschei- 38/2012. 10 Bundestags-Drucksache 17/10291 v. 12.7.2012, S. 3. 11 Ebenda, S. 4. Eine 13 solche Argumentation ist schon einigermaßen abenteuerlich, bedenkt man, dass die Auf- den lassen). gaben des Verfassungsschutzes – nach eigenen Angaben und nach Gesetzeslage – «die Neu ist ebenfalls, dass es de facto zu einer Beweislastum- Beobachtung und Analyse rechtsextremistischer, linksextremistischer und ausländerex­ tremistischer Bestrebungen sowie die Abwehr von Spionagetätigkeiten fremder Staaten kehr kommt. Nicht mehr das Finanzamt prüft auf Grundlage [sind]. Darüber hinaus ist auch die Unterrichtung der Öffentlichkeit ein gesetzlicher Auftrag», der mindestens dreijährlich einzureichenden umfassenden zit. n. Landesamt für Verfasungsschutz [sic!] : Der Verfassungsschutz – eine ge- meinsame Aufgabe von Bund und Ländern, unter: www.verfassungsschutzgegenrechts- Geschäftsunterlagen und Tätigkeitsberichte einer Organi- extremismus.de. 12 Vgl. Claus Peter Müller: «Wenn Sie es genau wissen wollen: Ich war sation entlang eines bundeseinheitlichen Katalogs,14 ob der betrunken», in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.7.2012; Otto Diederichs: Geheimdienst- liche Sumpfblüten – eine Skandalchronik, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 93/2009. 13 Zum Status der Gemeinnützigkeit gewährt werden kann. Sondern Wirken der Verfassungsschutzämter in «sachfremden» Feldern vgl. Ron Steinke: Wer wird Verfassungsfeind?, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 93/2009. 14 Bundestags-Drucksache eine im Verfassungsschutz genannte gemeinnützige Orga- 16/8711 v. 3.4.2008; Wolfram Schlosser: Auswirkungen eines Verfassungsschutzberichtes nisation muss fortan dem Verfassungsschutz nachweisen, auf die Gemeinnützigkeit eines islamischen Vereins (13.7.2012), unter http://tinyurl.com/ 15 brmo7f7: «Die objektive Feststellungslast für die Tatsachen, aus denen sich die Gemeinnüt- dass der «geheime Nachrichtendienst», der zudem seine zigkeit ergibt, trägt grundsätzlich die Körperschaft. Dass die Körperschaft im Rahmen ihrer vermeintlichen Quellen nicht offenlegen muss, die Organisa- tatsächlichen Geschäftsführung nicht gegen die Wertordnung des GG verstößt, ist aller- dings eine negative Tatsache, die von der Körperschaft nur dann darzutun ist, wenn die Fi- tion ungerechtfertigt als «extremistisch» einstuft. Insofern ist nanzbehörde konkrete Anhaltspunkte dafür vorträgt, dass das nicht der Fall ist.» 15 Norbert es irreführend, wenn die Bundesregierung behauptet, auch Pütter: Die Dienste der Bundesrepublik, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 93/2009. 16 Bun- destags-Drucksache 17/10291 v. 12.7.2012, S. 5. 17 Ebenda, S. 4. 18 Vgl. Christoph Seils: nach der Neufassung des Steuergesetzes entschieden «die Das Alibi-Programm, in: Die Zeit, 6.12.2007; Claus Hulverscheidt: Bundesregierung will Finanzbehörden über die Gewährung von Steuervergünsti- rechten Sumpf austrocknen, in: Süddeutsche Zeitung, 2.5.2008. 19 Vgl. Guido Kleinhub- bert: Laxer Umgang, in: Der Spiegel, 2.2.2008; Bundestags-Drucksache 16/8711 gungen».16 v. 3.4.2008. 54 2009; Rheinland-Pfalz: ab 2011), im Februar 2012 aber ge- (Extrem) gemein und nützlich richtsfest nachweisen konnte, dass die geheimdienstlichen Die falschen Beschuldigungen, publizierten Halbwahrhei- Vorwürfe haltlos sind.20 Schon 2003 entzog das Finanzamt ten und Einschüchterungen durch den Inlandsgeheimdienst in Leipzig dem Kulturzentrum Conne Island auf Zuruf des gegenüber als gemeinnützig anerkannten Vereinen setzten sächsischen Verfassungsschutzes die Gemeinnützigkeit, sich auch nach der geänderten Abgabenordnung von 2009 musste sie aber wegen fehlender Grundlagen bereits we- fort. Ob sie seitdem zugenommen haben, lässt sich wegen nige Wochen später wieder gewähren.21 Schließlich schei- fehlender Statistiken nicht belegen. Belegt ist aber, dass terte der sächsische Geheimdienst auch damit, einem in insbesondere Vereine in Brandenburg und Bayern mit dem Leipzig ansässigen salafistischen Moschee-Verein die Ge- Verfassungsschutz zu kämpfen hatten und haben. In Mün- meinnützigkeit ab dem Jahr 2008 entziehen zu lassen. Denn chen sieht sich seit Jahren etwa die Antifaschistische Infor- der Bundesfinanzhof hatte dem Inlandsgeheimdienst in sei- mations-, Dokumentations- und Archivstelle e.V. (a.i.d.a.) mit nem Urteil von April 2012, also nach vier Jahren, attestiert, dem Geheimdienst konfrontiert. Sie taucht als vermeintlich es «komme in dem Verfassungsschutzbericht für 2008 nicht «linksextremistische» Gruppierung alljährlich im bayerischen klar zum Ausdruck, dass der Kläger selbst extremistisch sei», Verfassungsschutzbericht auf, obwohl diverse Gerichte die vielmehr belegten dessen Unterlagen, «dass seine Aktivitä- Behauptungen des Verfassungsschutzes zurückgewiesen ten seiner Satzung entsprächen. Damit habe er die Aussagen und beide, Geheimdienst und Innenministerium, scharf ge- im Verfassungsschutzbericht hinsichtlich seiner Überzeu- rügt haben. Dass der Verein regelmäßig mit Preisen für sein gungen und seiner tatsächlichen Geschäftsführung wider- gesellschaftspolitisches Engagement bedacht wird, nützt legt.»22 ihm nichts.31 Zwar gibt es weder Statistiken über gemeinnützige Kör- In Brandenburg, wo eine Gruppe innerhalb der CDU und perschaften noch darüber, wie viele von ihnen vom Verfas- ein Verfassungsschutz – der dort keine eigenständige Be- sungsschutz beobachtet werden – geschätzt wird allerdings, hörde, sondern nur eine Abteilung des Innenministeriums dass es etwa 500.000 gemeinnützige Vereine und rund ist – sich gegenseitig instrumentalisieren, wird seit Jahren 15.000 gemeinnützige Stiftungen gibt23 –, doch ließe sich versucht, vor allem Jugendinitiativen wie etwa das Jugend- die Liste der unbegründeten «Extremismus»-Anwürfe durch wohnprojekt Mittendrin e.V. in Neuruppin zu kriminalisieren. Geheimdienste fortsetzen,24 und ein nur kursorischer Blick in Das Potsdamer Verwaltungsgericht musste aktiv werden, den Jahresbericht 2010 des Bundesamtes für Verfassungs- um dem Brandenburger Verfassungsschutz nachzuweisen, schutz offenbart, dass dort rund 220 Organisationen als «ex- dass er ungenau recherchiert und tendenziös über den Ver- tremistisch» gelistet sind. ein berichtet hatte, mit dem Ziel, die Arbeit des Vereins zu Schon Ende der 1990er Jahre hatte es vergleichbare Überle- diffamieren. Zwar erfolgte so im Jahr 2010 die gerichtlich an- gungen zum Entzug der Gemeinnützigkeit gegeben, die dem geordnete Löschung des Eintrags, doch bereits im Jahres- Einfluss von Scientology und dem anderer Sekten entgegen- bericht 2011 tauchte der Verein wieder auf. Diesmal wurde wirken sollten,25 und das Bemühen der Verfassungsschutz- noch vor einer erneuten Klage der Betroffenen das Innenmi- ämter, Politik zu betreiben, ist so alt wie die Inlandsgeheim- nisterium aktiv und veranlasste die Löschung der Passage. dienste selbst.26 Doch erst unter Steinbrück wurde die direkte Das Demokratische JugendFORUM Brandenburg, ein Beteiligung der Inlandgeheimdienste eingeführt und damit – Zusammenschluss verschiedener Jugendvereine, hat sich aus deutscher Perspektive nach fast 100 Jahren,27 aus bundes- jetzt mit einem Brief an den Ministerpräsidenten Branden- republikanischer nach mehr als 30 Jahren28 – mit einer Tradi- burgs gewandt und fordert unter anderem die Streichung tion gebrochen: dass nämlich Geheimdienste ausschließlich des § 51.32 Wie das Zusammenspiel zwischen rechtem Rand «geheim» gegen die Bürgerinnen und Bürger vorgehen. der CDU und Verfassungsschutz auch gegen andere Vereine Als selbstverständlich galt bis dahin erstens, dass «Ge- im Land Brandenburg funktioniert, lässt sich in einer Doku- meinnützigkeit» eine Sache der gesellschaftlichen Selbst­ mentation nachlesen.33 Da mit dem geplanten Jahressteu- organisation ist, die staatlicherseits aus lauteren und un- lauteren Motiven gefördert wird. Zweitens wurde seit 1977 20 Vgl. Christian Rath: Gefahr «kommunistisches Weltbild», in: die tageszeitung, in Form der AO «zivilgesellschaftliches» Engagement zwar 22.5.2012. 21 Vgl. Conne Island: Es ist niemals falsch das Richtige zu tun!, unter: http:// kampagne.conne-island.de/flugblaetter.html. 22 Bundesfinanzhof: Gemeinnützigkeit eines staatlicherseits eingehegt, aber nicht zuvörderst unter ge- islamischen Vereins trotz Erwähnung in Verfassungsschutzbericht (Urteil I R 11/11). Mün- heimdienstlichen Generalverdacht gestellt. Schließlich, drit- chen 2012. 23 Vgl. Bundestags-Drucksache 17/1712 v. 11.5.2010, S. 2. 24 Vgl. etwa die Kriminalisierungsversuche des Verfassungsschutzes gegen das Dritte-Welt-Haus in tens, darf Steinbrück für sich verbuchen, der einzige Bun- Frankfurt/M. (2008), den Verein Azadî in Düsseldorf (2010), das Bündnis Freiburg ohne Papst desminister zu sein, der ein Gesetz auf den Weg und ins (2011) – dort ohne Verlust der Gemeinnützigkeit – oder den Verein Canda Kurdistan in Osna- brück (2012). 25 Vgl. Bundestags-Drucksache 13/10950 v. 9.6.1998, vor allem S. 133, Bundesgesetzblatt gebracht hat, dass das Unwort «extre- 151. 26 Vgl. etwa Bürgerrechte & Polizei/CILIP 93/2009: Themenheft «Bundesdeutsche mistisch» in seinem Korpus trägt. Für den Begriff «Extremis- Geheimdienste – eine aufhaltsame Geschichte?». 27 Bereits in den Gesetzen zur Steuerho- heit der Länder waren bis 1919 Steuererleichterungen für gemeinnützige Betätigungen ge- mus» gibt es weder eine juristische Definition noch lässt er regelt und wurden in den nachfolgenden Jahren bei Erfüllung gemeinnütziger, mildtätiger sich nachvollziehbar herleiten noch wird er von den Inlands- oder kirchlicher Zwecke gewährt; die erste Gemeinnützigkeitsverordnung wurde im Dezem- ber 1941 erlassen; vgl. Michael Droege: Gemeinnützigkeit im offenen Steuerstaat. Tübingen geheimdiensten einheitlich verwandt.29 Vielmehr, darauf hat 2010. 28 Im Januar 1977 trat die Abgabenordnung in Kraft (AO 77), die das bis dahin gülti- ge Steueranpassungsgesetz und die Gemeinnützigkeitsverordnung aufhob; der Anwen- das Bundesverfassungsgericht bereits im Dezember 2010 dungserlass zur Abgabenordnung (AEAO) – quasi die Betriebsanleitung für die AO – wurde hingewiesen, ist die Bezeichnung «extremistisch» ausdrück- im September 1987 durch das Bundesfinanzministerium veröffentlicht; vgl. Heinz Kießling/ Johannes Buchna: Gemeinnützigkeit im Steuerrecht. Achim/Bremen 2008. 29 Vgl. Dirk lich «eine Frage des politischen Meinungskampfes und der Jäschke: Verstöße gegen die Rechtsordnung und Extremismus im Gemeinnützigkeitsrecht, gesellschaftswissenschaftlichen Auseinandersetzung. Sie in: Deutsches Steuerrecht, 48/2009; Ulrich Battis: Gutachten zur Zulässigkeit der «Extremis- musklausel» im Bundesprogramm «Toleranz fördern – Kompetenz stärken». Berlin 2010; steht in unausweichlicher Wechselwirkung mit sich wan- Friedrich Burschel: Geld gegen Gesinnung, in: Standpunkte der Rosa-Luxemburg-Stiftung, delnden politischen und gesellschaftlichen Kontexten und 11/2011; Harald Georgii: Bekenntnisklausel im Zuwendungsbereich (Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages). Berlin 2011. 30 Urteil der 1. Kammer des Ersten Senats des Bun- 30 subjektiven Einschätzungen.» Insoweit wäre es dringend desverfassungsgerichts: 1 BvR 1106/08 v. 8.12.2010. 31 Vgl. Thomas Stadler: Was der (bay- geboten, den § 51 ersatzlos zu streichen, statt ihn mit unge- erische) Verfassungsschutz so treibt (16.11.2011), unter: http://tinyurl.com/cowkoyf. 32 Vgl. Demokratisches JugendFORUM Brandenburg: Der Geheimdienst ist nicht das Finanzamt! 54 55 eigneten Mitteln und untauglichen Behörden zu verschärfen. (19.7.2012), unter: giselamueller.org. 33 Vgl. giselamueller.org/cdu-populismus. ergesetz einhergehen würde, dass der jeweils aggressivste, Es ist daher nicht ganz ohne Ironie, wenn es im baden- schludrigste und/oder oberflächlichste Verfassungsschutz württembergischen Verfassungsschutzbericht für das Jahr über das Wohl und Wehe gemeinnütziger Vereine entschei- 2003, wenn auch in anderem Zusammenhang, heißt, Tei- det, lässt sich leicht ausmalen, wie die Zahl vermeintlich «ex- le der «Linksextremisten» hätten die «soziale Frage» in den tremistischer» Vereine immer dann anwachsen würde, wenn «Mittelpunkt der politischen Agitation» gerückt und würden in einem Bundesland etwa politische Konstellationen zwi- die Reformvorhaben der Bundesregierung «bis hin zum … schen konservativen Kräften und (ehemaligen) Beschäftig- Steuerrecht» kritisieren.36 ten des Verfassungsschutzes bestehen wie derzeit in Bran- Mit Blick auf die aktuelle neoliberale Praxis (Neoliberali- denburg. sierung) ist es daher nicht nur konsequent, all das abzustra- Interessanterweise (und wenig überraschend) gibt es zur fen, was staatlich geförderten Kapitalinteressen in die Quere Abgabenordnung des jeweiligen Steuergesetzes einen Aus- kommen könnte oder den Vorstellungen der «guten», weil führungserlass (AEAO). Der aber kennt den Begriff «extre- verwertungslogisch eingepassten «Zivilgesellschaft» nicht mistisch» gar nicht und ist insoweit ein Erlass, der eine Aus- entspricht. Sondern konsequent ist es auch, kontinuierlich führung von etwas verordnet, das gar nicht «geordnet» ist. mit Abstrafung zu drohen und sich dafür der Geheimdienste Dort heißt es nämlich: zu bedienen. Mit Blick auf die aktuelle neoliberale Ideologie (Neolibera- «Eine Körperschaft i.S. des § 51 kann nur dann als gemein- lismus) – und darin läge eine andere, feinere Ironie – ließe nützig anerkannt werden, wenn sie sich bei ihrer Betäti- sich sogar ein «Vorschlag zur Güte» machen: Erstens, § 51 gung im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung hält. Abs. 3 AO wird zugunsten einer gesellschaftspolitischen Die verfassungsmäßige Ordnung wird schon durch die Auseinandersetzung gestrichen, die sich darum müht, her­ Nichtbefolgung von polizeilichen Anordnungen durch- auszufinden, wie wir leben wollen.37 Zweitens, alle Beteilig- brochen (BFH-Urteil vom 29.8.1984, BStBl 1985 II, S. ten behaupten glaubwürdig, die Streichung des Paragra- 106). Gewaltfreier Widerstand, z.B. Sitzblockaden, ge- phen sei eine klassische Win-Win-Situation: Den Apologeten gen geplante Maßnahmen des Staates, verstößt grund- des Neoliberalismus darf sie als Sieg im Kampf um weniger sätzlich nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung Staat und weniger Recht gelten,38 den freien gemeinnützigen (vgl. BVerfG-Beschluss vom 10.1.1995 – 1 BvR 718/89, 1 Trägern als Sieg im Kampf um mehr Gerechtigkeit. Drittens, BvR 719/89, 1 BvR 722/89, 1 BvR 723/89 – BVerfGE 92, der Verfassungsschutz wird – bei Gewährung aktiver Sterbe- 1-25)».34 hilfe und unter öffentlicher Anteilnahme39 – ganz im Einklang mit neoliberaler Entstaatlichungs-Ideologie40 eingemottet. Während hier also richtigerweise auf die «verfassungsmäßi- Weil: Weniger wäre wirklich mehr. ge Ordnung» abgehoben wird, gilt im Steuergesetz ein mehr schlecht als recht konstruiertes «Extremismus»-Verständnis als Richtschnur für geheimdienstliches Handeln zum Nach- Volker EICK war bis Juni 2012 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am teil gemeinnütziger Vereine. Ein Instrument dazu ist die hier Zentrum für Europäische Rechtspolitik (ZERP) der Universität in Rede stehende Abgabenordnung, die immerhin von 1977 Bremen, arbeitet gegenwärtig für die Vereinte Dienstleistungs- bis 2009 ohne einen einzigen Hinweis auf eine vermeintliche gewerkschaft (ver.di) und ist Mitglied im erweiterten Vorstand Verfassungsfeindlichkeit oder gar einen «Extremismus» aus- des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins (RAV). kam, ohne dass der Staat daran zugrunde gegangen wäre. Im Übrigen bleibt festzuhalten: Vor etwa 100 Jahren hat der Staat nicht etwa seine altruistische Ader entdeckt und verzichtet seitdem daher auf Steuereinnahmen oder Repres- sion für gemeinnützige Tätigkeit. Das Gegenteil ist der Fall. Die staatlichen Institutionen sollen und müssen durch «pri- vate» Initiative von ihren Aufgaben entlastet werden. Sie sind auf legitimatorische Kapazitäten freier Träger nachgerade angewiesen. Der Fiskus will Geld sparen – und muss dafür Anreize bieten; staatliche Institutionen wollen die Disziplinie- rung nicht allein verantworten, sondern die Sorge des Staa- tes um sich selbst auf viele Schultern legen. Dabei nimmt der Staat zur Kenntnis, dass eben diese gemeinnützigen Träger nicht nur billiger, sondern effizienter und sachgerechter, ja sogar gesellschaftlich akzeptierter als staatliche Institutio- nen agieren (können). Deswegen unterstützt der Fiskus die als «zivilgesellschaftliches» Engagement aufs Silbertablett 34 Bundesministerium der Finanzen: Anwendungserlass zur Abgabenordnung (AEAO). gehobene sogenannte private Selbstlosigkeit. Zur Kenntnis BMF-Schreiben v. 15.7.1998 (BStBI I S. 630), geändert durch BMF-Schreiben v. 17.1.2012 nimmt der Staat freilich auch, dass eben diese Initiativen eine (BStBl I S. 694), hier: S. 12. 35 Gemeinnützigkeit wird stets im Rückblick, also erst nach Prüfung gewährt. 36 Innenministerium Baden-Württemberg: Verfassungsschutzbericht eigene Vorstellung davon haben oder entwickeln (können), Baden-Württemberg 2003. Stuttgart 2004, S. 210, Hervorh. ve. 37 Zur Frontbestimmung wie eine demokratischere, gerechtere, kurz eine solidari- vgl. etwa Dieter Schnaas: Volkswirtschafts-Leere, in: WirtschaftsWoche, 32/2012. 38 Jes- sop hat ja richtig darauf hingewiesen, dass es dem Neoliberalismus um das Zurückdrängen schere Gesellschaft mit weniger Staat und vor allem weni- von Recht und Staat zutun ist, vgl. Bob Jessop: Liberalism, Neoliberalism, and Urban Gover- nance, in: Antipode, 34/2002; Bob Jessop: Kapitalismus, Regulation, Staat. Hamburg 2007. ger Kapitalinteressen aussehen und wie sie umzusetzen sein 39 Vgl. bereits jetzt Günter Bannas: Über Treppe, Tonfall und Tusche gestolpert, in: Frank- könnte. Deswegen revidiert der Staat regelmäßig seine Vor- furter Allgemeine Zeitung, 3.7.2012; Lorenz Maroldt: Verfassungsschutz: T wie Trottel, in: 35 Der Tagesspiegel, 3.7.2012; Jasper von Altenbockum: Das System Verfassungsschutz, in: stellungen davon, was – jeweils nachträglich – als «gemein- Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.7.2012. 40 Vgl. David Harvey: A Brief History of Neoli- nützig» gelten darf. beralism. Oxford 2005. 56 STANDPUNKTE 11/2012

Rolf ReiSSig Ein umstrittener Dialog und seine Folgen 25 Jahre gemeinsames Grundsatzpapier von SED und SPD

Dialog ist dort am nötigsten, wo er unmöglich scheint. In einer Zeit scharfer Ost-West-Konfrontation begannen 1982 zum ersten Mal regelmäßige Gespräche zwischen SPD und SED. Dabei rückte besonders der Grundsatzdialog zwischen der Grundwertekommission der SPD und der Akademie für Gesellschaftswissenschaften der SED in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Denn hier wurde über das diskutiert, was ansonsten als störend ausgeklammert blieb: die entgegenge- setzten ideologischen und Wertorientierungen. Das betraf vor allem die Werte Frieden, Fortschritt, Arbeit, Demokratie, Menschenrechte und gesellschaftlicher Wandel. 1987 präsentierten die beiden wissenschaftlichen Institutionen dann ein Grundsatzpapier, das in Ost und West großes Aufsehen erregte. Über die konkreten Zeitumstände hinaus ist diese Grundsatzerklärung erstaunlich aktuell: Die Verschärfung der globalen Konflikte heute verlangt die Rückbesinnung auf eine Kultur des Dialogs und eine neue globale gesellschaftliche Transfor- mation.

Die Überraschung war perfekt. Nach Jahrzehnten erbitterter Brandt aus. Dieser schlug nach dem Regierungsverlust der Auseinandersetzungen und Feindschaft zwischen SPD und SPD im Herbst 1982 in einem persönlichen Brief an den SED- SED präsentierten die Grundwertekommission der SPD und Generalsekretär vor, zusätzlich zu den offiziellen Regierungs- die Akademie für Gesellschaftswissenschaften der SED am kontakten zwischen Bonn und Berlin flankierende Parteien- 27. August 1987 erstmals ein gemeinsames Grundsatzpa- gespräche aufzunehmen. In Absprache mit Willy Brandt traf pier mit dem Titel «Der Streit der Ideologien und die gemein- sich dann Günter Gaus, vormals Leiter der Ständigen Vertre- same Sicherheit». Die Erklärung sorgte umgehend für Irrita- tung der Bundesrepublik bei der DDR, im November 1982 tionen. Nicht alle wussten sie produktiv zu nutzen. Statt die zu einem Vier-Augen-Gespräch mit Honecker, um das An- politischen Karten neu zu mischen, wurde das Resultat des liegen des SPD-Vorsitzenden zu erläutern. In den folgenden Dialogs nicht selten in die alten Schubladen einsortiert. Die Gesprächen zwischen SPD- und SED-Politikern standen Fra- Kritiker in der Bundesrepublik sahen darin einen «Verrat der gen des Abbaus der militärischen Spannungen und der prak- Sozialdemokratie an der westlichen Wertegemeinschaft», tischen Verbesserung der Ost-West-Beziehungen sowie der die in der SED eine beginnende «Sozialdemokratisierung» Situation der Menschen im geteilten Land im Mittelpunkt. der Staatspartei und eine «Aufweichung der DDR». Verwun- Von Ideologiegesprächen oder einem Grundwertedialog war dern kann das kaum, denn mit diesem Unterfangen wurde vorerst keine Rede; das sollte sich Anfang 1984 ändern. Neuland beschritten, was für beide Seiten Chancen und Ri- Der von 1984 bis 1989 stattfindende Dialog zwischen der siken barg. Grundwertekommission der SPD und der Akademie für Ge- Begonnen hatte das einzigartige Experiment knapp fünf sellschaftswissenschaften der SED war ein Sonderfall der Jahre zuvor, als SPD und SED 1982 direkte Gespräche mit- üblichen deutsch-deutschen Kontakte und auch in Hinsicht einander vereinbart hatten. Die Zuspitzung der menschheits- auf die anderen Gespräche zwischen SED und SPD etwas gefährdenden Konflikte – das atomare Wettrüsten zwischen Besonderes. Gegenstand dieses Grundsatzdialogs waren Ost und West, der Nord-Süd-Konflikt und der globale Um- nicht die kleinen (notwendigen) Schritte der Deutschlandpo- weltkonflikt – in den 1970er und 1980er Jahren hatte auch litik, sondern die großen ideologischen Streitfragen des Ost- innerhalb beider Parteien ein neues Denken und die Bereit- West-Konflikts. Damit wurde erstmals über das geredet und schaft zum Dialog befördert. gestritten, was ansonsten bewusst ausgeklammert blieb, Die erste Initiative zum Dialog ging übrigens nicht, wie in weil es beide Seiten seit jeher voneinander trennte, Kompro- 56 57 der DDR verbreitet, von Erich Honecker, sondern von Willy misse in den anstehenden Sachfragen verhinderte und des- halb als störend empfunden wurde: die entgegengesetzten tragen werden. Beide Seiten sollten danach nicht mehr auf Ideologien und Wertorientierungen der Systeme in Ost und Abschaffung des anderen Systems setzen, sondern auf des- West. Gespräche solchen Inhalts gehörten nicht in die Kom- sen Existenzberechtigung und dessen Friedens- und Re- petenz der Regierungen. Und nicht einmal Parteiführungen formfähigkeit. Notwendig sei die offene Diskussion über den waren dafür geeignet, eher schon wissenschaftliche Institu- Wettbewerb der Systeme, ihre Erfolge und Misserfolge, und te oder Intellektuelle aus Ost und West. Kein Wunder, dass dies in den jeweiligen Gesellschaften selbst, also auch in der die Idee für solche Gespräche nicht aus den Parteigremien DDR. Plädiert wurde für eine neue politische Kultur des Dia- kam, sondern zuerst von Helmut Seidel, einem Leipziger logs und der Demokratie in den Gesellschaften und für de- Philosophieprofessor, in einem Gespräch mit Erhard Eppler, ren Ko-Evolution. Kritik, auch in scharfer Form, dürfe nicht dem Vorsitzenden der Grundwertekommission der SPD, ge- mehr als Einmischung in die inneren Angelegenheiten zu- äußert wurde. rückgewiesen werden. Vielmehr sei ein breiter gesellschaft- Sowohl im Präsidium der SPD als auch in den Führungs- licher Dialog zwischen allen gesellschaftlichen Organisatio- zirkeln der SED betrachtete man diese Gespräche zunächst nen, Institutionen, Kräften und Personen auf beiden Seiten wohl eher als «Spielwiese» von Intellektuellen, die über kein notwendig. «Das schließt», so die wörtliche Formulierung im Mandat ihrer Parteien in der Deutschlandpolitik verfügten. gemeinsamen Papier, «auch den Besuch und Gegenbesuch, Doch erlangten gerade diese Diskussionen eine Eigendyna- die Teilnahme an Seminaren, wissenschaftlichen, kulturel- mik, die beide Parteien überraschte und vor allem die SED- len und politischen Veranstaltungen über die Systemgren- Führung alsbald überforderte. Debattiert wurden im Verlauf zen hinweg ein.» Der bekannte Schriftsteller Rolf Schneider der sieben Treffen Fragen der Friedens- und Reformfähigkeit sprach kurz nach der Veröffentlichung in einem Spiegel-Es- beider gesellschaftlicher Systeme, der Demokratie, der Men- say vom SPD-SED-Papier als «Magna Charta einer mögli- schenrechte und des gesellschaftlichen Wandels in Ost und chen Perestroika in der DDR». West. Wechselseitige Lerneffekte blieben da nicht aus. Die Es kam für alle, gerade auch für die Autoren, überra- ab dem vierten Treffen als Gäste teilnehmenden Journalisten schend, dass die SED-Führung einem solch ungewöhnli- aus Ost und West fanden das Geschehen gerade in den ers- chen Ideologiepapier zugestimmt hatte. Noch dazu, da es ten Jahren ausgesprochen sensationell. In der Zeit vom 28. kein Auftragswerk war und nicht mit der SED-Führung ab- August 1987 war vom «Beginn einer faszinierenden Expe- gestimmt worden war. Die Entwürfe, auf SED-Dialogseite dition» die Rede. Der Journalist und Historiker Peter Bender nie gemeinsam diskutiert, erreichten Honecker und das Po- meinte im WDR am 3. März 1987, «es fehle aller Dogmatis- litbüro aus guten Gründen nicht. Das Ideologiepapier war mus, alle Rechthaberei» und die DDR-Gesellschaftswissen- bereits am 27. Juni 1987 durch das SPD-Präsidium gebilligt schaftler sprächen «selbstkritisch und tastend. Man müsse worden, als es Reinhold am 16. Juli dem im Urlaub weilen- suchen, lernen, Erfahrungen sammeln, neu durchdenken den Honecker schickte. Schon einen Tag später bekam er es und umdenken.» Trotz der Einbindung der DDR-Gesell- mit der Randbemerkung zurück: «Einverstanden. E. H. PB schaftswissenschaftler in das politische System der SED [Politbüro] zur Entscheidung vorlegen. Dokument wäre von zeigten sich damals – wie Eppler es formulierte – bei ihnen großer historischer Bedeutung – für Diskussion und Aktion neue «Prozesse der Differenzierung, der Wandlung, der Öff- der Arbeiterbewegung.» Erich Honecker wie dem Politbüro nung, eines Ringens mit neuen Realitäten». galt das Papier als «wichtiger Akt der DDR-Friedenspolitik» An ein gemeinsames Papier hatte zunächst niemand ge- und Schritt der Einbeziehung der SPD in die angestrebte, dacht. Erst während des vierten Treffens im Februar 1986, ost-west-übergreifende «Koalition der Vernunft». Ein strate- das sich mit friedlichem Systemwettbewerb und ideologi- gisches Konzept des Umgangs mit diesem Streitpapier wur- scher Streitkultur beschäftigte, war es Eppler, der angesichts de nicht diskutiert. Die Ausarbeitung einer parteiinternen der bislang spannendsten Diskussionsrunde den Vorschlag Information sollte genügen, um den 2,3 Millionen SED-Mit- eines gemeinsamen «Protokolls» unterbreitete. Daraus gliedern zu «helfen», das SED-SPD-Papier als Friedensdoku- wurde dann das gemeinsame Papier, verfasst von Thomas ment und Erfolg der SED-Friedensstrategie zu verstehen. Ein Meyer, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Grundwerte- Legitimitätsgewinn schien sicher. kommission, und mir, der erstmals bei diesem Treffen dabei Was sich damals bereits abzeichnete und später bestätig- war und dort das Einführungsreferat hielt. Die abschließen- te – die SED-Führung, aber auch die Mehrzahl der Funkti- de Redaktion, in den Händen von Erhard Eppler, wurde von onsträger hatten Sinn und Anliegen des Papiers und die mit ihm mit Otto Reinhold, dem Rektor der Akademie für Gesell- ihm verbundene und unverhoffte Chance nicht erfasst. Ein schaftswissenschaften der SED, abgestimmt. Umdenken fand nicht statt (übrigens auch nicht im Westen). Der Inhalt des mit «Der Streit der Ideologien und die ge- Honeckers Experiment einer Öffnung nach außen war ohne meinsame Sicherheit» überschriebenen Textes war bemer- die erforderlichen innenpolitischen Folgerungen gedacht. Im kenswert. Dem Papier lag die Idee zugrunde, dass die Be- gemeinsamen Papier war dagegen erstmals der untrennbare ziehungen zwischen den gesellschaftlichen Systemen in Zusammenhang zwischen außen- und innenpolitischem Di- Ost und West auf eine neue Grundlage zu stellen seien. Die alog explizit formuliert worden. Die SED glaubte jedoch, ihre drei zentralen Begriffe dafür lauteten: gemeinsame Sicher- bisherige Doppelstrategie – Dialog und gewisse Flexibilität heit, friedlicher Systemwettbewerb, neue politische Streit- nach außen, Dialog- und Reformverweigerung nach innen – kultur. Frieden, so hieß es, könne nicht mehr gegeneinander unbeschadet fortsetzen zu können. Doch genau diese Stra- errüstet, sondern nur noch miteinander vereinbart werden. tegie scheiterte in der Folge zusehends. Der potenzielle Gegner sei zugleich der unentbehrliche In der SED entwickelte sich nach Verabschiedung des Pa- Partner der Friedenssicherung. Das war ein Bruch mit dem piers und seiner Veröffentlichung im Neuen Deutschland ein Freund-Feind-Denken, wie es Ost und West bislang prakti- relativ offener und kritischer Meinungsstreit um die neuen ziert hatten. Der Systemwettbewerb sollte in einem neuen Begriffe und die alten Glaubenssätze. Genau genommen Rahmen, bei Akzeptanz gemeinsamer Spielregeln, ausge- war es die lebhafteste, interessanteste und kontroverseste 58 Diskussion seit Jahren, wahrscheinlich sogar seit der in den bildung kollidierte in der DDR mit dem Monopolanspruch der 1960er Jahren geführten Auseinandersetzung um das Neue SED auf Wahrheit. Kurt Hager, SED-Politbüromitglied und Ökonomische System und um den Prager Frühling 1968. Es oberster Ideologiewächter, zog schon nach wenigen Wochen dominierte zunächst ein Gefühl der Erleichterung und der die Notbremse. In einer Rede vor Parteiaktivisten in Frank- Hoffnung, mit den Veränderungen in Moskau und dem ge- furt (Oder) im Oktober 1987, die im Neuen Deutschland pu- meinsamen SED-SPD-Papier nun endlich die ideologischen bliziert wurde, interpretierte er wesentliche Passagen des Schützengräben verlassen und offener über die drängenden Papiers, wie die zur Friedensfähigkeit des Kapitalismus, zum Probleme in der DDR diskutieren zu können. Unter DDR-In- Abbau der Feindbilder, zum gesellschaftlichen Dialog, um. tellektuellen kam eine Debatte in Gang – unter anderem über Staatssicherheitschef Erich Mielke schrieb zwischen 1987 Friedens- und Reformfähigkeit der Systeme, Dialog und De- und 1989 fünf Informationen an Erich Honecker und einen mokratie, Sozialismus und Wettstreit um zukunftsfähige Ge- ausgesuchten Kreis im Politbüro, in denen er über die «ge- sellschaftsmodelle –, die auch im Westen als Reformdiskurs fährlichen» Diskussionen berichtete, die das Papier in reform­ von Sozialisten Beachtung fand. orientierten Kreisen der SED, in den Kirchen und unter den Eine fast einhellige Zustimmung zum SPD-SED-Papier gab «negativ-feindlichen Kräften des Untergrunds» ausgelöst ha- es in der Evangelischen Kirche der DDR, stimmten doch vie- be. Es werde von diesen Kreisen, unterstützt durch führende le Forderungen des Papiers mit ihren eigenen überein. Man SPD-Politiker, als innenpolitisches Dokument «missbraucht». verband damit neue Hoffnungen auf Überwindung der Ab- Die seitens der SED-Führung eingeleitete «Missbrauchs- grenzungspolitik der SED und auf einen Wandel in der DDR, kampagne» sollte den Geist wieder in die Flasche zwingen. damit diese ihren «selbst propagierten demokratischen und Die Parteiapparate stuften das «historische Dokument» zu- sozialen Ansprüchen besser entspreche». Der Bund der rück als ein Papier zweier wissenschaftlicher Einrichtungen, Evangelischen Kirchen in der DDR forderte die Staatsfüh- das keine strategische Bedeutung für die Gesamtpolitik der rung der DDR auf, die im Papier mit der SPD eingegange- Partei habe. Die Medien wurden durch den im Politbüro für nen Verpflichtungen schrittweise umzusetzen, besonders die Agitation verantwortlichen Joachim Herrmann angewie- die Forderungen nach einem offenen Dialog zwischen Staat sen, «nichts mehr zu diesem Thema des Dialogpapiers zu und Bürgern und nach Akzeptanz für sogenannte Anders- bringen», da es zu «Konfusionen und Illusionen in der SED» denkende. geführt habe. Das Papier durfte bereits im Herbst 1987 nicht Entgegen heutigen Deutungen fand das gemeinsame Di- mehr als Broschüre gedruckt werden. Der Vorschlag beider alogpapier selbst bei einer Mehrheit in den Bürgerrechts- Institutionen, der Grundwertekommission und der Akade- gruppen zunächst alles in allem einen positiven Widerhall. mie für Gesellschaftswissenschaften, eine deutsch-deut- Dazu trug auch der Olof-Palme-Friedensmarsch im Septem- sche Schulbuchkommission zu bilden, wurde von der Volks- ber 1987 bei. Das Papier diente Bürgerrechtlern zugleich als bildungsministerin Margot Honecker brüsk zurückgewiesen. Berufungsinstanz für ihre seit Langem erhobenen, kritischen Die SED-Führung verweigerte den inneren gesellschaftli- Forderungen an die DDR-Machthaber. Die Skepsis, ob aus chen Dialog – vor allem zwischen Kirchenrepräsentanten, dem Inneren des DDR-Machtgefüges noch Impulse für eine Bürgerrechtlern und SED-Vertretern. Selbst auf den offiziel- Demokratisierung der Gesellschaft kommen könnten, war len DDR-Kirchentagen 1988 durften SED-Vertreter und DDR- weit verbreitet. Die Ereignisse um die Umweltbibliothek im Gesellschaftswissenschaftler nicht an Diskussionen des Pa- Herbst 1987 und um die Luxemburg-Liebknecht-Demonst- piers teilnehmen. ration im Frühjahr 1988 verstärkten diese zusätzlich. Gleichwohl stand die Mehrheit in der SED auch dann noch Auch international fand dieses Dialogpapier erhebliche Re- hinter der Grundsatzerklärung, als die Führung bereits zu- sonanz – gerade unter kommunistischen Parteien in Ost- und rückruderte. Die offene Auflehnung aber war bis zum Spät- Westeuropa sowie in der Sozialistischen Internationale. So sommer 1989 eher selten. Die verinnerlichte Parteidisziplin fand 1988 ein Treffen zum SPD-SED-Papier im nordrhein- und das Hoffen vieler auf Veränderung von «oben» und aus westfälischen Freudenberg statt, an dem sechs kommunis- der SED selbst wirkten dem lange Zeit entgegen. Die Kritik tische sowie elf sozialdemokratische und sozialistische Par- jedoch nahm zu, parteiintern, aber auch öffentlich. Gegen teien teilnahmen. «Abweichler» und «Nörgler» in der SED wurden allein 1988 Trotz unterschiedlicher Reaktionen war das SPD-SED-Pa- rund 23.000 Parteiverfahren durchgeführt. Der Druck auf die pier in der DDR-Gesellschaft mehrheitsfähig geworden, nur kritisch eingestellten Genossen und Parteiintellektuellen ver- anders, als es sich die SED-Führung vorgestellt hatte. Kaum stärkte sich. Nach außen aber setzte die SED-Führung ihre jemand bestritt seinen Wert als Ausdruck neuen Denkens in Politik des Verhandelns und des Dialogs fort. Die restaurati- Ost-West-Sicherheitsfragen und den Anteil der SED daran, ven Kreise und Parteiapparate der SED konnten noch einmal aber das eigentlich Interessante am Papier waren für die- ihre Vormachtstellung behaupten. Es wurde jedoch ein Pyr- se Mehrheit in der DDR die Forderungen nach offener Dis- rhussieg, denn die Glaubwürdigkeitskrise der SED-Führung kussion innerhalb eines jeden Systems, nach Einbeziehung vertiefte sich zusehends. aller Personen und Gruppen in den gesellschaftlichen Dia- In der DDR-Bevölkerung wurden alsbald Forderungen log, nach Informiertheit der Bürger, nach Systemwettstreit laut, die weit über die des SPD-SED-Papiers hinausreich- und Reformen. Dabei ging es dieser Mehrheit damals kei- ten. Für die Ereignisse im Herbst 1989 war jedoch typisch, neswegs um die Abschaffung der DDR, sondern um deren dass es nicht nur eine Bewegung gegen die Staatspartei gab, Demokratisierung und um gesellschaftlichen Wandel in Ost sondern auch eine Reformbewegung in ihr. Die ost- und die und West. Eine für die DDR der 1980er Jahre einmalige Situ- westdeutschen Dialogakteure hatten zu lange die Reformfä- ation und Chance. higkeit des Sozialismus über- und die Abwendung der Men- Die konservativen Gegner des Dialogpapiers in der SED schen von der DDR unterschätzt. Dass Dialog und Reform waren zunächst in die Defensive geraten. Der Dialog als eine in der DDR scheiterten, war Folge der systemimmanenten 58 59 spezifische Form der öffentlichen Diskussion und Meinungs- Blockadestrukturen des Sozialismus sowjetischen Typs, wie er auch in der DDR frühzeitig etabliert worden war. Aber wie Was bleibt? Die politische Situation hat sich nach 1989/90 die unterschiedlichen Wege in der Sowjetunion oder Ungarn grundlegend verändert. Das Dialogpapier ist ein Zeitdoku- einerseits und der DDR und der Tschechoslowakei anderer- ment und Geschichte geworden. Gleichwohl hat der Ab- seits zeigten, konnte die Systemtransformation durch die stand zum Geschehen einen erstaunlichen Effekt: Er macht herrschenden Eliten selbst von oben eingeleitet oder von un- deutlich, wie aktuell es heute ist. Das betrifft gerade die zwei ten gegen sie erstritten werden. In Polen wurde am Runden bestimmenden Leitideen des gemeinsamen Papiers: gesell- Tisch ein Pakt beider Kräfte geschlossen. schaftlicher Wandel und Kultur des Dialogs. Sinn und Anliegen des Dialogpapiers sind damit jedoch Die notwendige sozialökologische und solidarische Trans- nicht infrage gestellt. Die Politik des Dialogs hat, anders als formation war nicht nur für den Osten, sondern auch für den die der Konfrontation, entscheidend zur Zivilisierung des Westen angemahnt worden. Was damals schon in den ge- epochalen Ost-West-Konflikts und zur Öffnung der geschlos- meinsamen Gesprächsrunden und besonders im gemeinsa- senen Ost-West-Strukturen beigetragen, partiell die poli- men Positionspapier angedacht war, wird heute noch offen- tische Kultur in der DDR und selbst die innerhalb der SED sichtlicher: Die Transformation im Osten, der Untergang der verändert, dort das demokratisch-sozialistische Potenzial ge- sozialistischen Gesellschaft sowjetischen Typs, ist eben nicht stärkt und schließlich zum friedlichen Verlauf des zunächst das Ende, sondern lediglich der Auftakt einer neuen, umfas- nichtintendierten Umbruchs 1989 beigetragen. senderen Transformation; im Osten und gerade auch in den Die Ausgangssituation in der Bundesrepublik war eine westlich-kapitalistischen Gesellschaften. andere. Meinungsstreit und Dialog gelten als Bestandteile Und: Dialog ist dort am nötigsten, wo er unmöglich moderner pluralistischer Gesellschaften. Auf welche struk- scheint. Das gilt auch und gerade heute, wo neue globale turellen und mentalen Blockaden, Vorurteile und Abwehrre- politische Gegensätze und Feindbilder, herkömmliche und aktionen neue Formen der Streitkultur – zumal zwischen un- «neue» Kriege das Bild unserer Zeit prägen. Der Ausweg ist gewöhnlichen Partnern und Konkurrenten – dennoch treffen nicht, wie wir immer wieder erleben, die Militarisierung des konnten, zeigte sich in den Diskussionen um die Grundsatzer- Politischen, sondern die Suche nach Dialog, nach Verständi- klärung. Zentrale Thesen des Papiers – wie die von der wech- gungsprozessen, in denen trotz konträrer Ausgangslage ge- selseitigen Akzeptanz der Existenzberechtigung und der prin- meinsam nach Lösungen gesucht werden muss. zipiellen Friedens- und Reformfähigkeit – stießen keineswegs Eine friedvolle, ökologische und solidarische Weltgesell- nur bei den Regierenden im Osten, sondern auch bei denen schaft schrittweise zu erringen und zu gestalten wird zur im Westen auf heftigen Widerspruch. Unmittelbar nach Ver- größten Herausforderung des 21. Jahrhunderts und erfor- öffentlichung sprach Die Welt von einem «schmachvollen Pa- dert wiederum eine neue Kultur des Dialogs und eine neue pier», bezeichnete der Rheinische Merkur/Christ und Welt die globale gesellschaftliche Transformation. Dies verlangt des- Sozialdemokraten als «nützliche Idioten» und die Frankfurter halb mehr denn je auch den kritischen und gleichberechtig- Allgemeine Zeitung meinte, das Papier sei nur zustande ge- ten Dialog zwischen den pluralen Links- und Reformkräften, kommen, weil die SPD die Lehre aus ihrer Parteigeschichte damit sie sich dieser neuen Herausforderung verantwor- vergessen habe und die «Gefahren des Kommunismus» igno- tungsbewusst stellen können. riere. Der Sieger könne deshalb nur die SED sein. Breite Ab- lehnung erfuhr vor allem die These vom politischen Verände- rungsbedarf im eigenen Herrschaftsbereich, der wurde nur aufseiten des Systemkonkurrenten gesehen. Pointiert ausge- drückt bildete sich – wenn auch unbeabsichtigt – eine konser- Prof. Dr. Rolf Reißig, maßgeblicher Mitautor des SED-SPD- vative Allianz von Kräften in der DDR und in der Bundesrepu- Grundsatzpapiers von 1987, ist tätig am Brandenburg-Berliner blik gegen eine neue «Kultur des politischen Streits» und des Institut für Sozialwissenschaftliche Studien (BISS e. V.). Zahlrei- Eintretens für progressiven gesellschaftlichen Wandel in Ost che Veröffentlichungen, darunter «Dialog durch die Mauer. Die und West heraus. Andererseits fand das SPD-SED-Dialogpa- umstrittene Annäherung von SPD und SED» (Campus Verlag, pier Unterstützung bei der Mehrheit der Sozialdemokraten, Frankfurt a. M./New York 2002) und «Gesellschafts-Transforma­ der Grünen, der Gewerkschaften, der kritischen Intellektuel- tion im 21. Jahrhundert. Ein neues Konzept sozialen Wandels» len und in breiten Kreisen der zivilen Gesellschaft. (VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2009).

60 STANDPUNKTE 12/2012

Markus Mohr Vier Tage im August Vor 20 Jahren k am es in Rostock Lichtenhagen zum Pogrom

«Was mich als Innenpolitiker belastet, ist, dass Vorgänge eingetreten sind, die in der Geschichte der Bundesrepublik wirk- lich ihresgleichen suchen.»

Der ehemalige Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen und FDP-Bundestagsabgeordnete Burkhard Hirsch am 31. August 1992 im Bundestagsinnenausschuss

Am Mittwoch, den 19. August 1992 vermeldete ein Bericht der Rostocker Lokalzeitung Norddeutsche Neueste Nachrich- ten die Ankündigung einer «Bürgerwehr» im Stadtteil Lichtenhagen, dass man die dortige Zentrale Aufnahmestelle für Flüchtlinge (ZASt) «aufräumen» wolle. Ein anonymer Anrufer teilte unmissverständlich mit: «Wenn die Stadt nicht bis En- de der Woche in Lichtenhagen für Ordnung sorgt, dann machen wir das. Und zwar auf unsere Weise.» Die andere Lokal- zeitung der Stadt, die Ostseezeitung, rapportierte zwei Tage später die Ankündigung mehrerer Bewohner des Stadtviertels, dass die «rumänischen Roma ‹aufgeklatscht› werden sollen: «‹Wir werden dabei sein›, sagt Thomas, ‹und du wirst sehen, die Leute, die hier wohnen, werden aus den Fenstern schauen und Beifall klatschen›.» Diese in aller Öffentlichkeit ausge- stoßenen düsteren Prophezeiungen sollten in den darauf folgenden Tagen für eine Vielzahl von Flüchtlingen und vietna- mesischen ArbeitsmigrantInnen zur grausamen Wahrheit werden. Die Choreografie dieses für die Geschichte der Bundes- republik unfassbaren Pogroms ist vielfach beschrieben worden. Mit diesem Text soll es darum gehen, wesentlich auf die nazistische Qualität dieses Ereignisses abzustellen.

In den Abendstunden des 24. August des Jahres 1992 ver- Landesinnenminister von Mecklenburg-Vorpommern, Lothar sammelten sich in Rostock-Lichtenhagen wenigstens 3.000 Kupfer (CDU), wie auch der Gesamteinsatzleiter der Polizei, Menschen. Sie bildeten nicht einfach nur eine Menge, son- Siegfried Kordus, waren zu dieser Zeit nach einer vorange- dern sie verwandelten sich in einen Mob und waren dazu gangenen internen Besprechung mit dem vor Ort anwesen- bereit, mehr als 100 BewohnerInnen des «Sonnenblumen- den amtierenden Bundesinnenminister Rudolf Seiters (CDU) hauses» – ein Plattenbau, der wegen eines großflächigen für mehrere Stunden verschwunden und nicht erreichbar. Am Zier­mosaiks an einer Seitenwand so genannt wird – unter Ende war es lediglich einer Reihe von glücklichen Umständen Absingen und Schreien von Parolen wie «Deutschland, den zu verdanken, dass es den von allen polizeilichen Einschrän- Deutschen, Ausländer raus!», «Sieg Heil!» oder «Wir kriegen kungen befreiten 3.000 mordbereiten DemonstrantInnen euch alle!» durch Brandschatzen in Lebensgefahr zu brin - misslang, aus dem Sonnenblumenhaus ein Massengrab für gen. Parallel dazu waren Imbisse geöffnet. Es konnten gegrill- überwiegend vietnamesische MigrantInnen zu machen. Den te Würstchen käuflich erworben werden. Die internationalen Eingeschlossenen, darunter der Ausländerbeauftragte der Medien waren vor Ort. Die Weltöffentlichkeit sah zu. Die kei- Stadt Rostock und ein ZDF-Kamerateam, gelang es, über das neswegs überraschten, gleichwohl personell nur schwach Dach vor dem Rauch und den AngreiferInnen zu fliehen. vertretenen Polizeikräfte vor Ort, erhielten noch im Verlauf der In Rostock-Lichtenhagen hat sich im August 1992 in Theo­ Auseinandersetzungen den Befehl, den Schutz des Wohn- rie und Praxis ein Pogrom ereignet: Die Mehrheitsbevölke- hauses in der Mecklenburger Straße 18 einfach einzustellen rung nutzte den Vorwand, dass «vonseiten des Staates kei- und abzuziehen. Die in ihrem Leben bedrohten BewohnerIn- ne Abhilfe gegen eine (wahrgenommene) Bedrohung durch nen dieses Hauses wurden für mehrere Stunden dem brand- die Minderheit» zu erwarten war, um vielfältige «Formen kol- schatzenden Mob überlassen, der Notruf der lokalen Polizei lektiver Gewalt gegen eine weitgehend wehrlose ethnische war für sie nicht mehr erreichbar. Die nicht von der Polizei ver- Gruppe» auszuüben (Bergmann 2002). ständigte Feuerwehr wurde über Stunden von der zu allem be- Vor- und Nachgeschichte jener Abendstunden des 24. Au- 60 61 reiten Menge am Löschen gehindert. Sowohl der amtierende gust von Rostock illustrieren, wie politische Großwetter- und Motivlagen und die umsichtige Abwehr individueller Verant- durchschimmerte. Konkret: Bei fortexistierender Verfassung wortung sich mit den Mechanismen einer arbeitsteilig orga- flankierte der Staatsapparat terroristisches Handeln einzelner nisierten staatlichen Verwaltung verschränken: Da gab es ein Gruppen, deren Gewalt sich an keiner humanen Zielsetzung lange währendes berechnend tätiges Unterlassen staatlicher mehr zu legitimieren braucht und ausschließlich dazu dient, Behörden in der Aufnahme und Betreuung von Flüchtlingen. Furcht, Angst und Schrecken zu verbreiten, um so am Ende Sie wurden systematisch Bedingungen unterworfen, die da- den «starken Mann» herbeirufen zu können. Das erscheint zu- rauf zielten, dass sie nicht mehr als Menschen wahrgenom- nächst banal. Das ist es aber dann nicht, wenn man bedenkt, men werden. Gegen sie richtete sich ein unterschwelliger, dass in der Bundesrepublik über die Gegenwärtigkeit des Na- aber auch ausdrücklich öffentlich bekundeter und propa- tionalsozialismus in einem politischen Sinne nur in dem dis­ gierter Rassismus durch Teile der lokalen Bevölkerung und tanzierend erscheinenden Begriff des Rechtsextremismus der lokalen Presse. In diesem Zusammenhang wurde konse- gesprochen werden soll. Und es gehört zur Staatsräson der quent das Engagement organisierter NeofaschistInnen ein- Bundesrepublik, dass eben dieser Rechtsextremismus stets kalkuliert. Am Ende zielte eine kalt kalkulierte Verschwörung an jenem gesellschaftlichen Rand agiert, auf den dann alle aus dem Zentrum der bundesdeutschen Innenpolitik darauf angewidert mit dem Finger zeigen können. In Rostock stand ab, die noch vor Ort eingesetzten schwachen Polizeikräfte in der aber im Zentrum des Geschehens und verwandelte sich die Handlungsunfähigkeit zu manövrieren. All das trug zur in das, was er immer schon war: in den Nationalsozialismus. Entfesselung einer Situation bei, die für einen historischen Und die etablierten konservativen Kräfte des Staates haben Moment in diesem Land erneut das Tor zur Hölle aufstieß. an diesem Punkt mit ihm praktisch wie ideell für einen kurzen Über den Verlauf des Pogroms und seine politische Vor- Moment erneut so etwas wie einen «Pakt» geschlossen, mit geschichte ist bereits vieles in den sehr verdienstvollen Ab- dem Ziel, das in der Verfassung prominent verankerte Grund- handlungen von Diederichs (1993), Funke (1993), Schmidt recht auf Asyl zu kippen (vgl. Siegler u.a 1993). (2002) und Prenzel (2012), partiell auch aus einigen aus dem Für die vier Tage Ende August 1992 vor der ZASt und dem Untersuchungsausschuss des Landtages von Mecklenburg- Wohnheim für die vietnamesischen VertragsarbeiterInnen Vorpommern im Verlaufe des Jahres 1993 hervorgegange- gibt es ein Bild, das den applaudierenden Mob gespenstisch nen Drucksachen gesagt und beschrieben worden: Von heu- versinnbildlicht: Es zeigt den damals 38 Jahre alten arbeits- te aus gesehen ist es unstrittig, dass Flüchtlingen vonseiten losen Baumaschinisten Harald Ewert aus dem benachbar- des Innenministeriums in Schwerin und der Stadt Rostock ten Rostock-Reutershagen. Nachdem er vom Pogrom im bei der Versorgung und weiteren administrativen Behand- Radio gehört hatte, war er dort hingeeilt und hatte es sich lung in der Zentralen Aufnahmestelle für Flüchtlinge (ZASt) über Stunden als neugieriger Zuschauer angesehen. Das elementare Hilfestellungen vorenthalten wurden – eine po- Foto zeigt ihn in den Abendstunden des 24. August 1992 litische Praxis der gezielten Obstruktion, die im Nachhin- in der Menge des gaffenden Publikums, bekleidet mit dem ein mit der allfälligen Vokabel des «Versagens» bemäntelt schwarz-rot-goldenen Trikot der deutschen Fußballnational- wurde. Die zunächst von neofaschistischen Gruppen in der mannschaft. In seiner weißen Jogginghose ist im Schritt ein West-Bundesrepublik Anfang der 1980er Jahre angesto- großer feuchter Fleck zu erkennen, und er hebt mit trunken- ßene Kampagne zur Beseitigung des Asylrechts aus dem glasigen Augen den rechten Arm zum sogenannten Hitler- Grundgesetz war nach der Eingliederung der DDR in die gruß. Eine trostlose Figur zweifellos, sicher auch lächerlich, Bundesrepublik von CDU/CSU aufgegriffen und kampag- aber deswegen etwa nicht ernst zu nehmen? Erschien denn nenartig verallgemeinert worden. Desaströse Lebensbedin- nicht auch dem kundigen Theodor W. Adorno in der ersten gungen für Flüchtlinge lagen in ihrem politischen Kalkül. Hälfte der 1930er Jahre ein Herr namens Hitler nicht einmal Dass der katastrophale Polizeieinsatz in den Abendstun- als eine «Verbindung von King Kong und Vorstadt­friseur»? den offenkundig so «gewollt» gewesen sei, hatte sich nach Und mit dieser Formulierung trieb ihn alles andere als die Ab- einem zeitgenössischen Pressebericht sogar bis in die Rei- sicht um, diesen als eine nichtige, geradezu harmlose Co- hen der Polizei selbst herumgesprochen: «Die Polizisten er- micfigur zu verniedlichen. In einem Interview mit der Zeit- zählen, dass die meisten der Kollegen der Ansicht seien, der schrift Stern brachte Ewert für den Urinfleck die Ausrede vor, verkorkste Einsatz sei aus irgendwelchen Gründen gewollt dass ihm auf der Autofahrt eine zwischen den Beinen ein- gewesen. ‹Warum›, spekuliert einer, ‹weiß keiner so recht. geklemmte Büchse Bier ausgelaufen sei. Interessanter ist Vielleicht sollte es einfach die große Katastrophe geben.› Ei- jedoch seine Begründung für den «Hitlergruß»: «Das ging ner sagt, wie sehr er sich gewundert habe, ‹als wir plötzlich ganz automatisch», sagte er, aber selbstverständlich sei er von dem Heim weggezogen wurden›. Ein anderer meint, «kein Nazi» (Schmitz u.a. 1993,; Hampel 2002). Ohne es zu schon den ganzen Tag seien so ‹merkwürdige Dinge› über wissen, fokussiert der zeit seines Lebens niemals im orga- Funk gelaufen, die keiner verstanden habe. Ein dritter, der nisierten Neofaschismus hervorgetretene Nicht-Intellektuel- in einer Hundertschaft nahe des Schauplatzes postiert war, le Ewert mit dieser Aussage einen bedeutenden Aspekt in weiß noch, wie alle den Kopf geschüttelt haben, als sie das der deutschen Geschichte. Und über den hatte auch schon brennende Haus gesehen haben, ‹aber nicht los durften. Das kein Geringerer als Sebastian Haffner nachgedacht. Der kon- darf doch nicht wahr sein.› Es ist anscheinend so, dass sich servative Preuße Haffner kann als einer der bedeutendsten viele Polizisten in Rostock verraten und missbraucht fühlen» PublizistInnen­ in der Geschichte der Bundesrepublik an- (Lebert 1992). Doch diese Ahnungen der PolizeibeamtInnen gesehen werden. In seinen Ende der 1930er Jahre nieder- beantworten nicht die Frage nach der spezifischen politi- geschriebenen, aber erst lange nach seinem Tod im Jahre schen Qualität dessen, was sich dort abspielte. 2000 publizierten Jugenderinnerungen unter dem Titel «Ge- An dem Verlauf und der Choreografie des Pogroms von schichte eines Deutschen» beschrieb er die sich im Verlau- Rostock ist vieles bemerkenswert, zentral muss aber für fe des Jahres 1933 rasant vollziehende Gleichschaltung al- heute die Einsicht sein, dass hier in der politischen Wirklich- ler Aspekte des Alltages durch den Nationalsozialismus. Mit keit der Bundesrepublik der historische Nationalsozialismus Ekel registrierte er, wie bei überraschend vielen – auch bei 62 ihm selbst – im «Hitlergruß» die Arme in einer Weise hoch- Walser: Das können die Leute nicht mehr hören, diesen Ge- gezogen wurden, in dem man sich selbst zu einer Marionette neralverdacht. […] Schauen Sie, wenn in der Bundesrepublik herabwürdigte. Stichworte für den damals wirkenden Auto- Brutalitäten gegen Ausländer vorkommen, gegen Asylanten, matismus, der allerdings durch einen allerorten in der Gesell- dann sind unsere Medien sofort bereit, das zurückzubinden an schaft präsenten offenen Staatsterror flankiert war, sind ihm diese deutsche Vergangenheit. […] Ich glaube, ich habe Sie unter anderem der «Rausch des Patriotismus» und der «Ma- im Fernsehen gesehen in Lichtenhagen bei Rostock. Jetzt fra- gnetismus der Masse» (Haffner 2002). ge ich Sie, als was waren Sie dort? Die Vorgänge in Rostock-Lichtenhagen in den vier Ta- Bubis: Das will ich Ihnen sagen. […] In Lichtenhagen […] gen illustrierten nicht nur die Sehnsucht der Harald Ewerts stand [ich] vor dem Haus mit den verrußten Fenstern und nach Selbstunterordnung und Versorgung durch einen star- habe mir vorgestellt, es waren Menschen drin und es wur- ken und aggressiven deutschen Staat, in dem beliebig als den Molotowcocktails dort reingeschmissen. Das hat bei mir «fremd» Disqualifizierte weder Anspruch auf Rechte haben, schlimmste Erinnerungen wachgerufen. Nur, das habe ich noch überhaupt auf einen Platz unter den «VolksgenossIn- auch gesagt, mit dem Unterschied, das war in Lichtenhagen nen» hoffen dürfen. Zugleich besorgten solche Mitläufe- der Mob. Und das, woran ich mich erinnert habe, war der rInnen wie Ewert mit ihrem «Hitlergruß» sowie seiner the- Staat, der das organisiert und durchgeführt hat. Das habe ich oretischen Legitimation als «automatisch» eine spezifische immer wieder gesagt. politische Interpretation: In der sogenannten Asyldebatte ak- Walser: Ja, aber verstehen Sie, wenn Sie auftauchen, dann tualisierte die dabei in Anschlag gebrachten Praxis von Men- ist das sofort zurückgebunden an 1933. schenjagd, Mord und Totschlag den Furor der deutschen (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.12.1998) Geschichte aus den Jahren 1933 bis 1945. Wenn in diesem Der bundesrepublikanische Großschriftsteller Martin Wal- Land der «Hitlergruß» gezeigt wird, haben noch ganz ande- ser erachtete in dem Gespräch mit Bubis die Rückbindung re einen sehr guten Grund, sich dadurch angesprochen zu des Agierens der «Sieg Heil!» Schreienden, den «Hitlergruß» fühlen. Nach Haffner beschrieben schon die «Anfänge der zeigenden Menge an die Verbrechen des Nationalsozialis- Nazi-Revolution in Deutschland» einen Vorgang, der «ex- mus als deplatziert. Das Offensichtliche wird vom ihm ein- akt darauf abzielte, uns aus der Welt zu schaffen». Das wird fach geleugnet. auch der damals frisch gewählte Vorsitzende des Zentralra- In gewisser Weise kommt ihm Bubis dabei sogar ein wenig tes der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, so gesehen ha- entgegen, wenn er im Vergleich zwischen den Ereignissen ben. Noch im August 1992 machte er sich persönlich vor Ort in Rostock-Lichtenhagen mit dem Nationalsozialismus eine ein Bild von dem teilweise ausgebrannten Sonnenblumen- Entgegensetzung von Mob und Staat nahelegt. In Rostock haus. Etwa einen Monat später wurde die sogenannte Jüdi- haben sich aber diese scheinbaren Antipoden – unter dem sche Baracke in der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Tisch, könnte man sagen – die Hand gereicht. Verbleibt man Sachsenhausen niedergebrannt. Das demonstrative Enga- in den historischen Analogien, so könnte man hier von einer gement gegen den von Ewert in Stellung gebrachten «Auto- Art der «staatlichen Rahmung» ähnlich der sprechen, wie sie matismus» sollte dem notwendig diplomatisch agierenden von den letzten Regierungen in der Weimarer Republik ge- Funktionär der deutschen Juden und Jüdinnen, Bubis, spä- genüber der aufstrebenden NSDAP in den Jahren 1932/33 ter nicht nur gedankt werden. Als er von der Bürgerschaft praktiziert worden ist. Den beiden Reichskanzlern Franz von der Hansestadt Rostock Anfang November 1992 zu einem Papen und Kurt von Schleicher war die nationalsozialistische Gespräch über das Pogrom eingeladen wurde, stellte ihm Bewegung zur endgültigen Beseitigung der parlamentari- der Vorsitzende des Innenausschusses der Stadt, Karlheinz schen Ordnung mehr als willkommen, allein ihr wurde noch Schmidt (CDU), auf einer Pressekonferenz eine wohl kal- kein politischer Führungsanspruch zugebilligt. kulierte Frage: «Sie sind deutscher Staatsbürger jüdischen Das wechselseitig aufeinander bezogene Verhältnis zwi- Glaubens. Ihre Heimat ist doch Israel. Ist das richtig so? Wie schen dem bundesdeutschen Staat, hier vertreten durch das beurteilen Sie die täglichen Gewalttaten zwischen Palästi- Innenministerium in Schwerin, und dem Mob am Beispiel nensern und Israelis?» (Süddeutsche Zeitung, 3.11.1992). des Pogroms in Rostock fand eine sehr präzise Markierung Voilà! Mit den in dieser Frage liegenden Implikationen wurde in einer Aussage des Innenministers Kupfer selbst. Am 25. Bubis zunächst zum Fremden gemacht, und noch wichtiger, September 1992 quittierte er zunächst die Frage danach, ob es wurde ihm nachgewiesen, dass «er und seine Leute» ja man denn nicht «doch sehr erfolgreich» gewesen sei, «die schließlich auch … Herr Schmidt rührte damit an eine für Ju- Asylanten sind weg, das Grundgesetz wird sogar geändert» den und Jüdinnen in diesem Land in den Jahren nach 1933 mit einem «Ja», um darüber hinaus kühl zu erklären: «Die bittere und meist tödliche Erfahrung, die durch die gnaden- Rechten haben bewirkt, die Politiker dafür zu sensibilisieren, los exekutierte Verwaltungspraxis des nationalsozialistisch dass das Asylrecht eingeschränkt wird und dass das Sicher- gleichgeschalteten Apparats deutscher Behörden grausam heitsgefühl der Bevölkerung an erster Stelle steht – nicht nur verwirklicht worden war. in Ostdeutschland» (Funke 1993). Noch sechs Jahre später, im Dezember 1998, kam der Schriftsteller Martin Walser in einem Streitgespräch mit Hitzegrade: Die Folgen des Pogroms Ignatz Bubis auf dessen demonstrativen Besuch in Ros- Hinsichtlich konkreter personeller Konsequenzen ist das Po- tock-Lichtenhagen zu sprechen. Walser hatte zuvor in seiner grom von Rostock so gut wie nicht geahndet worden. Es sind Paulskirchen-Rede 1998 gegen die «Moralkeule Auschwitz» gerade mal zwei Politiker zurückgetreten, der Landesinnen- gewettert, von der er wünschte, nicht mehr belästigt zu wer- minister Lothar Kupfer und der Rostocker Oberbürgermeis- den, woraufhin ihm von Bubis «geistige Brandstiftung» vor- ter Klaus Kilimann (SPD). Der Gesamteinsatzleiter der Poli- geworfen worden war. Konsequent in seiner Geistesbewe- zei, Siegfried Kordus, wurde nach dem August 1992 sogar gung wollte Walser nach Auschwitz nun auch nichts mehr zum Leiter des Landeskriminalamtes Mecklenburg-Vorpom- 62 63 von Rostock hören. Perfider O-Ton Walser gegenüber Bubis: merns befördert. Gegen ihn und seinen Stellvertreter Jürgen Deckert war noch im März 1994 eine Anklage wegen fahrläs- kerte Asylrecht wurde bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. siger Brandstiftung erhoben worden. Die Rostocker Staats- Helmut Kohl hatte einmal in für derartige Anlässe typischer anwaltschaft hielt die beiden Polizeiführer für hinreichend Opfer-Täter-Verdrehung, nur zwei Monate nach Rostock, verdächtig, dass sie «in der betreffenden Krawallnacht hät- Ende Oktober 1992 auf dem CDU-Bundesparteitag wegen ten erkennen müssen, dass die Asylbewerberstelle und das der Aufnahme von Flüchtlingen «mit Bedacht» die Formel Vietnamesenwohnheim im Stadtteil Lichtenhagen bedroht eines «Staatsnotstandes» in die öffentliche Debatte gewor- waren und in Gefahr standen, in Brand gesetzt zu werden» fen: «Die Grenze der Belastbarkeit ist überschritten. Die Si- (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.3.1994). Die Anklage tuation hat sich dramatisch zugespitzt» (CDU-Bundespartei- wurde jedoch von dem zuständigen Gericht nicht zugelas- tag 1992). Mit der Verwendung dieses Begriffes wollte der sen – der Nachweis, durch Unterlassen eine Handlung be- Kanzler selbstverständlich die Erinnerung an die Notverord- fördert zu haben, war in dieser Angelegenheit im Ergebnis nungspolitik von Reichskanzler Heinrich Brüning, dem Li- nicht justiziabel. Im Zeitraum eines Jahres, das heißt bis zum quidatoren der parlamentarischen Demokratie in Weimar August 1993, wurden gegen 375 Personen strafrechtliche 1930 bis 1932, wecken. Der liberale Kommentator der Süd- Ermittlungsverfahren eingeleitet. Gerade einmal 44 davon deutschen Zeitung, Heribert Prantl, suchte das zwar noch in wurden verurteilt, davon lediglich vier zu Haftstrafen ohne einem Kommentar in die Perspektive einer «Staatsnotwehr Bewährung. Allein ein Strafverfahren beschäftigte sich mit gegen Neonazis» umzudrehen: «Es stellt sich die Frage, ob der Brandstiftung vom Montag, 24. August 1992. Erst gegen der innere Notstand, vor dem der Kanzler warnt, nicht schon Ende des Jahres 2001 sollte es hierzu noch ein Verfahren ge- eingetreten ist. Angreifer sind freilich nicht die Flüchtlinge, ben – sechs Jahre nachdem die Staatsanwaltschaft Anklage sondern Neonazis und Rechtsradikale. Angegriffen wird gegen vier jugendliche Angeklagte erhoben hatte. «Den ver- das Leben von Ausländern in Deutschland, hundertfach, zögerten Prozessbeginn begründete das Gericht mit Arbeits- und angegriffen wird das Gedenken an die Opfer der brau- überlastung» (Guski 2012). In diesem letzten Strafverfahren nen Barbarei» (28.10.1992). Allein: Anfang Dezember 1992 wurden die Angeklagten nicht mehr nur wegen Brandstif- schwenkte auch die SPD endgültig auf die Kohl‘sche Politik tung, sondern auch des versuchten Mordes beschuldigt. ein. Ende Mai 1993 wurde das Asylrecht mit einer Zweidrit- Der Angeklagte Ronny Sanne erklärte vor Gericht: «Es war telmehrheit im Bundestag, bestehend aus Christ-, Frei- und ein Riesenabenteuer. […] Aber was da passiert ist, darü- SozialdemokratInnen, quasi abgeschafft. Ohne die Gültig- ber waren wir uns nicht im Klaren. Ich war Teil der Meute, keit der Genfer Flüchtlingskonvention und Ausnahmefälle die Menschen Todesangst eingejagt hat» (Billerbeck 2002). (die Anerkennungsquote «politisch Verfolgter» nach Art. 16 Wenigstens hier wurden die Angeklagten Mitte Juni 2002 GG liegt traditionell im unteren einstelligen Bereich der Asyl- wegen versuchten Mordes und Brandstiftung zu Bewäh- verfahren) wäre die Bundesrepublik heute ein flüchtlings- rungsstrafen verurteilt. Dennoch muss für die justizielle Auf- freies Land. In den rund drei Jahren von der Vereinigung der arbeitung des Pogroms von Rostock festgehalten werden, Deutschländer bis zur Beseitigung des Asylrechts in der al- dass für eine Vielzahl von TäterInnen, die zum großen Teil bei ten Fassung wurden 50 Menschen aus rassistischen Grün- der Begehung der gemeinschaftlichen Tat auch filmisch oder den ermordet. Das Pogrom von Rostock markiert die ent- fotografisch festgehalten worden sind, für einen hundert- scheidende Etappe zur Abschaffung des Asylrechts im Mai fachen Mordversuch faktisch Straffreiheit realisiert worden 1993. Etwa ein Jahr später, Anfang März 1994, bilanzierte ist. Besonders bemerkenswert ist dabei der Beschluss der der Rudolf Seiters im Amt des Bundesinnenministers nach- Staatsanwaltschaft Rostock noch im Dezember 1992, alle gefolgte Manfred Kanther (CDU) mit einer markanten Äu- Verfahren wegen Volksverhetzung gegen die aktiv am Pog- ßerung geradezu feixend die politischen Konsequenzen des rom Beteiligten einzustellen. Die hier in Anschlag gebrachte brennenden Sonnenblumenhauses von Rostock-Lichten- Argumentation des zuständigen Staatsanwaltes: «Die häufig hagen: «Jetzt kommen nicht mehr 30.000, sondern 10.000 gehörten Rufe wie ‹Ausländer raus› und ‹Deutschland den Flüchtlinge. Das ist immerhin etwas. […] Dieses Ergebnis Deutschen› erfüllen die von der Rechtsprechung geforderten wäre nicht erzielbar gewesen ohne die öffentliche Ausein- Voraussetzungen nicht, weil sie zwar gegen das Bleiberecht andersetzung – die natürlich auch Hitzegrade erzeugt hat» eines Ausländers und damit im weiteren Sinne diskriminie- (Prantl u.a. 1994). rend, aber nicht gegen ihr Lebensrecht in der Gemeinschaft und damit gegen den Persönlichkeitskern eines Ausländers Extremismus-Doktrin reloaded gerichtet sind.» Somit sei aus der Sicht der Staatsanwalt- Das Pogrom besorgte auch eine kaum glaubliche Revitalisie- schaft ein Nachweis einer Volksverhetzung nicht zu führen rung der Extremismus-Doktrin. Sowohl Mecklenburg-Vor- (ak – analyse & kritik, Nr. 357, 25.8.1993). Von dieser feinsin- pommerns Innenminister Kupfer als auch Ministerpräsident nigen Begründung zum Zwecke der Verfahrenseinstellung, Berndt Seite beschuldigten nicht RassistInnen oder Neofa- die natürlich wie Walser den Bezug zum Nationalsozialismus schistInnen für die Vorgänge in Lichtenhagen verantwort- kappt, konnte Harald Ewert allerdings nicht profitieren. Für lich zu sein, sondern diejenigen, die sich versucht hatten, seinen «Hitlergruß» wurde er im Frühjahr 1993 wegen der Letzteren entgegenzustellen: Autonome. O-Ton Kupfer: «Die Verletzung des Paragrafen 86 a Strafgesetzbuch («Verwen- Störer gehören nachweislich ihrer Herkunft und ihres Ver- den von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen») haltens zum Teil zur rechts- und linksradikalen Szene, aber zu einer Geldstrafe in Höhe von 300 DM verurteilt (vgl. Ham- auch zum Kreis der Autonomen.» Ministerpräsident Seite se- pel 2002). kundierte: «Die Aktivitäten solcher Gewalttäter beschränken Die unmittelbar bis in die Gegenwart reichenden politi- sich nicht allein auf Mecklenburg-Vorpommern. Wir kennen schen Folgen des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen sind sie auch aus Brokdorf, aus der Hafenstraße in Hamburg, von schnell aufgezählt: Das in Artikel 16 des Grundgesetzes der Startbahn-West in Frankfurt und Wackersdorf» (Schmidt stets pathetisch an die Erfahrungen des Nationalsozialismus 2002). Bundesinnenminister Seiters nahm das in der nach zurückgebundene und angeblich als Lehre daraus veran- den Ereignissen anberaumten Sitzung des Bundestags­ 64 innenausschusses auf, als er dort erklärte: «Mich beunruhigt Literatur weiter das in Rostock zu beobachtende Zusammenwirken Adorno, Theodor W. (1971): Die Freudsche Theorie […] von rechtsextremistisch, ausländerfeindlich motivierten und die Struktur der faschistischen Propaganda, in: ders.: Gewalttätern und Autonomen, wenn es galt, gegen die Po- Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft. Frankfurt a. M. lizei vorzugehen» (Deutscher Bundestag 1992). In der glei- Bergmann, Werner (2002): Pogrome, in: Heitmeyer, chen Sitzung bekannte er sich demonstrativ zur Stärkung ei- Wilhelm/Hagen, John (Hrsg.): Internationales Handbuch der ner Behörde, von der niemals bekannt geworden ist, dass sie Gewaltforschung, Wiesbaden 2002, S. 441–460. von den zum Teil in den lokalen Gazetten der Stadt Rostock Billerbeck, Liane von (2002): «Ich war Teil der Meute.» vorab angekündigten Attacken auf die Flüchtlinge etwas mit- Zehn Jahre nach dem Pogrom von Lichtenhagen: Täter, die bekommen hatte: des Verfassungsschutzes. Und so wurden zu Märtyrern gemacht werden, eine Mordanklage und ein nach Rostock mit der perfiden Formel eines «68 von rechts», ungewisses Urteil, in: Die Zeit v. 13.6 2002. so der Hamburger Verfassungsschutzpräsident Ernst Uhrlau Christlich-Demokratische Union Deutsch- (Spiegel, 2.11.1992), die Verfassungsschutzbehörden mit land, Bundesgeschäftsstelle (1992): 3. Parteitag dem Ziel neu aufgestellt, den organisierten Neofaschismus, der CDU, Niederschrift, Düsseldorf 26.–28. Oktober 1992, der sich aus konservativer Sicht als eine nützliche Sturmtrup- Bonn. pe zur Beseitigung des Asylrechts erwiesen hatte, in eine Deutscher Bundestag (1992): 12 Wahlperiode, neue Form der staatlichen Verwaltung zu überführen. Eine Kurzprotokoll 38. Sitzung des Innenausschusses, erste Auskunft darüber, was das im Detail bedeutete, gab der 31. August 1992, Bonn. Verlauf des NPD-Verbotsverfahrens vor dem Bundesverfas- Diederichs, Otto (1993): Das Polizeidebakel von Rostock. sungsgericht in den Jahren 2001 bis 2003. Ein kaum fassba- Versuch einer analytischen Würdigung, in: Bürgerrechte & res Ausmaß der interaktiven Verschränkung zwischen Mit- Polizei/CILIP 44/1993, S. 6–15. arbeiterInnen der Verfassungsschutzbehörden mit der NPD Funke, Hajo (1993): Brandstifter, Göttingen, hier vor allem wurde offenkundig. Ähnlich stellt es sich zwischenzeitlich in das Kapitel: Rostockgate. Das politisch zugelassene und ge- der Aufarbeitung der Anfang November 2011 bekannt ge- förderte Pogrom?, S. 103–177. wordenen Mordserie des sogenannten Nationalsozialisti- Guski, Roman (2012): Nach Rostock-Lichtenhagen: schen Untergrunds (NSU) dar. Die «Dachorganisation» die- Aufarbeitung und Perspektiven des Gedenkens, in: ser Terrorzelle, der Thüringer Heimatschutz (THS), wurde Prenzel, Thomas (Hrsg.), a.a.O. S. 31–54. über Jahre hinweg nicht nur mit hohen Geldleistungen der Haffner, Sebastian (2002): Geschichte eines Deutschen. Verfassungsschutzbehörden alimentiert, sondern auch ge- Erinnerungen 1914–1933, München. führt. Auch in den gegenwärtig bekannt gewordenen Tatsa- Hampel, Torsten (2002): Er jubelte mit, als 1992 Brand­ chen um die NSU-Mordserie findet sich etwas wieder, was sätze auf das Rostocker Asylbewerberheim flogen. Und er auch schon Rostock in Bezug auf die staatlichen Behörden glaubt immer noch, es ginge um die Hose und nicht um die politisch sichtbar wurde: Eine Mischung aus institutionali- Hand, in: Tagesspiegel v. 6.1.2002. siertem und offenem Rassismus, politischer Kumpanei, tä- Landtag Mecklenburg-Vorpommern (1993): tigem Unterlassen und Verschwörung – kaschiert mit den Beschlussempfehlung und Abschlussbericht des 2. Unter- Wortmodulen «Pannen», «Fehler» und «Versagen». suchungsausschusses, Drs. 1/3771 v. 4.11.1993. Landtag Mecklenburg-Vorpommern (1993): Nie wieder! Beschlussempfehlung und Zwischenbericht des 2. Unter­ Heute ist darauf zu bestehen, dass sich die Ereignisse von suchungsausschusses, Drs. 1/3277 v. 16.6.1993. Rostock-Lichtenhagen in den Tagen vom 22. bis zum 25. Lebert, Stephan (1992): Die ohnmächtige Wut der Sünden- August 1992 mit dem Feuerschein der Pogrome vom 9. böcke. Polizisten in Rostock: Verraten und missbraucht? Drei November 1938 allemal begründet assoziieren lassen. Die Wochen nach den Krawallen verdichtet sich bei vielen Beam- «schlimmsten Erinnerungen» des Ignatz Bubis beschreiben ten der Verdacht, dass die ihnen zur Last gelegten Pannen den Maßstab, um die schlichte historische Wahrheit der vier politisch gewollt gewesen sind, in: Süddeutsche Zeitung v. Tage von Rostock Ende August 1992 abzumessen. Wer ver- 21.9.1992. sucht, den Nationalsozialismus in das Mittelalter zu verban- O.N. (1992): Gespannte Atmosphäre beim Besuch des Zen- nen und so zu tun, als habe die deutsche Gegenwart damit tralrats der Juden. Gespräche von Bubis in Rostock enden nichts mehr zu tun, verkennt, dass er sein Haupt offenbar je- im Eklat, in: Süddeutsche Zeitung v. 3.11.1992 derzeit erheben könnte. In Rostock-Lichtenhagen ist genau O.N. (1998): Wir brauchen eine neue Sprache für die Erin- das passiert. Von unten und nur für Momente. Und daran ha- nerung. Das Treffen von Ignatz Bubis und Martin Walser: ben nicht nur automatisch NationalsozialistInnen, sondern Vom Wegschauen als lebensrettender Maßnahme, von der auch viele andere durch kühles Kalkül mitgewirkt. Wer das Befreiung des Gewissens und den Rechten der Literatur, in: verdrängt, riskiert die Wiederkehr. Das und nichts anderes Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 14.12.1998. hat der Rahmen einer Interpretation zu sein, die sich gegen Prantl, Heribert (1992): Staatsnotwehr gegen Neonazis, jeden «Automatismus» dem «Nie wieder!» verpflichtet weiß. in: Süddeutsche Zeitung v. 28.10.1992. Prantl, Heribert/Deupmann, Ulrich (1994): Interview mit Manfred Kanther: «Dann steht man mit seinem Gekreisch ganz allein im leeren Saal», in: Süddeutsche Zeitung v. Dr. rer. pol Markus Mohr nahm am 29. August 1992 am autono- 7.3.1994. men Block der Massendemonstration wegen des Pogroms in Prenzel, Thomas (Hrsg.) (2012): 20 Jahre Rostock-Lich- Rostock-Lichtenhagen teil. Sie wurde stundenlang von mehre- tenhagen. Kontext, Dimensionen und Folgen der rassisti- ren tausend Polizeibeamten blockiert. Er lebt heute in Hamburg- schen Gewalt ­– Rostock. Univ., Institut für Politik- und 64 65 Altona. Verwaltungswissenschaften. STANDPUNKTE 13/2012

Helge Meves/Tobias Schulze Betriebssysteme und die Krise der Demokratie: Was lernen wir aus dem Aufstieg der Piraten?

Häufig wird den Piraten vor allem eine Rolle als zentraler netzpolitischer Akteur zugeschrieben. Auch gelten sie als Vertreter eines moderneren Liberalismus. Die Piraten beschreiben sich selbst als ideologiefrei und jenseits der klas- sischen Links-rechts-Koordinaten des politischen Systems verortet. Das Erstarken der Piraten ist aber vor allem als spezifisches Phänomen des deutschen Parteiensystems in einer zunehmend differenzierten Gesellschaft und als Aus- druck der gegenseitigen Entfremdung von Parteien und Bürgerinnen und Bürgern zu analysieren. Zudem wurzeln ihre politischen Werte, Konzepte und das Organisationsverständnis in Kulturtechniken des Internet. Insofern wirft der Er- folg der Piratenpartei für ihre politische Konkurrenz viele Fragen auf.

1 Pir aten im Hype Nachwahlumfragen zeigen, dass die Wählerinnen und Kleine Oppositionsparteien sind Projektionsflächen für Un- Wähler der Piraten nur wenig über die Positionen der Partei zufriedenheit. Neben einer tendenziell sinkenden Wahl- wissen. Ausschlaggebend ist für sie das Image der Piraten beteiligung hat es auf Bundesebene in den vergangenen als junge, unverbrauchte und nicht korrumpierte Partei.2 Ei- Jahren verschiedene Phasen gegeben, in denen kleinere nige häufig in den Medien vertretenen Piraten wie die ehe- Parteien erfolgreich waren. Davon profitiert haben wech- malige Geschäftsführerin Marina Weisband oder die beiden selweise verschiedene Parteien, darunter auch DIE LINKE. Mitglieder des Berliner Abgeordnetenhauses Martin Delius Diese Konjunkturen speisen sich aus wachsenden, mobilen oder Christopher Lauer bestätigen diesen Eindruck, ebenso Wählermilieus, die aus Unzufriedenheit mit den etablierten, wie der Auftritt der Piratenfraktion im Berliner Abgeordne- insbesondere den beiden großen Parteien und mit der de- tenhaus, die durch polemische, aber auch intelligente An- mokratischen Verfasstheit der Bundesrepublik ihre Wahlent- griffe gegen die Regierungspolitik des schwarz-roten Se- scheidung treffen. nats auffällt. Der Durchbruch bei den Wahlen in Berlin und Diese Milieus sind je nach Region und Zeitpunkt unter - die Wahlerfolge bei den drei darauffolgenden Landtagswah- schiedlich zusammengesetzt. Während in einigen Regionen len in Nordrhein-Westfalen, dem Saarland und Schleswig- viele Selbstständige und auch Besserverdienende zur Anhän- Holstein hatten spezifische Gründe, die durchaus temporä- gerschaft zählen, bestehen sie aus andernorts vor allem sozial ren und auch regionalen Charakter tragen. Im Sommer 2012 benachteiligten Personen und gewerkschaftlich organisierten werden allerdings angesichts des realen Handelns der neu Beschäftigten.1 Auch bei den Piraten geben die Wählerbewe- eingezogenen Fraktionen und des wenig überzeugenden gungen Hinweise auf diese regionalen Unterschiede: Ehemali- Auftretens des Bundesvorsitzenden Bernd Schlömer sowie ge Wählerinnen und Wähler der FDP, der Grünen, der LINKEN, des Geschäftsführers Johannes Ponader in der Öffentlichkeit der CDU und der SPD sowie Nichtwählerinnen und -wähler, die Begrenzungen der neuen Partei augenfällig. Die Umfra- ebenso wie die Anhängerschaft kleiner Parteien, stellen in sehr gewerte fallen, und vieles spricht dafür, dass der Hype erst unterschiedlichen Gewichtungen und differierend von Bun- einmal vorüber ist. desland zu Bundesland das Potenzial der Partei (siehe Grafik). Setzt man die absoluten Wählerwanderungen der vier Land- tagswahlen 2012 ins Verhältnis zu den Stimmanteilen der Par- 1 Vgl. insbesondere zu den Piraten die laufenden Untersuchungen von Stephan Klecha «Vol- le Kraft voraus. Die Piratenpartei vor dem Wahljahr 2013»; Präsentation an der Georg-August- teien bei den letzten Wahlen, zeigt sich, dass DIE LINKE und Universität Göttingen am 18.7.2012. Entsprechende Angaben sind auch in den Wahlanalysen FDP sowie kleinere Parteien die meisten Stimmen an die Pira- von Benjamin Hoff und Horst Kahrs zu finden: http://www.rosalux.de/parteien-­demokratie/ wahlanalysen.html. 2 Vgl. ARD-Deutschlandtrend April 2012 sowie Nachwahlumfragen ten abgaben, gefolgt von Grünen, SPD und CDU. von Infratest dimap unter stat.tagesschau.de. 66 25 25 WechselwählerInnen der Piraten kamen 20 20 von ...

LINKE 15 15 SPD Grüne 10 10 FDP CDU 5 5 Nichtwähler Andere 0 0 LTW Berlin 11 LTW Saarland 12 LTW Schleswig- LTW NRW 12 Holstein 12

Werte in Prozent. Daten: Infratest dimap

Die Piraten hatten seit den Bundestagswahlen 2009 bis zur ness, Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit hat sich verän- Abgeordnetenhauswahl in Berlin im September 2011 Wahl- dert. Noch viel mehr ist die demokratische Gesellschaft in ergebnisse von konstant zwei Prozent. An diesem Stamm- Hinsicht auf Parteiendemokratie, das parlamentarische Aus- wählertableau ist vor allem bemerkenswert, dass es keine handeln gesellschaftlicher Konflikte und seine Politikerinnen regionalen Hochburgen oder Kellerbezirke gibt. Ob groß- und Politiker in die Kritik geraten. städtische Milieus oder ländliche, ob sozialstrukturell reiche Die These «Die Demokratie macht aus, dass regelmäßig oder ärmere Regionen, ob eine höhere oder niedrigere Dich- freie und geheime Wahlen stattfinden» halten 53 Prozent te der Internetanschlüsse pro Kopf – die Ergebnisse variieren der Befragten für «sehr wichtig», und genauso viele schät- kaum. Allein das unterscheidet die Piraten von verschiede- zen ein, dass das auf die realen Verhältnisse «voll und ganz nen Wählerbündnissen und Parteien, die in den letzten Jah- zutrifft». Die These «Die Demokratie macht aus, dass die Bür- ren über ein bis zwei Legislaturperioden regional erfolgreich ger politisch informiert werden, dass sie sich an der Politik waren, wie etwa der Schill-Partei in Hamburg oder den Repu- beteiligen können» halten 46 Prozent für «sehr wichtig», aber blikanern in den 1990er Jahren in Baden-Württemberg. Die nur neun Prozent sehen, dass das «voll und ganz zutrifft». Piraten haben eine – wenn auch unter der Fünf-Prozent-Hür- Und die These «Die Demokratie macht aus, dass die gewähl- de zu verortende – bundesweit stabile Wählerbasis. ten Politiker ihre Politik weitgehend an den Wünschen der Bürger ausrichten» halten 53 Prozent für «sehr wichtig», aber 2 Der politische Kern: Krise der nur sieben Prozent sind der Meinung, dass das auch «voll Demokratie und Repräsentanz und ganz zutrifft».3 Die Piraten nehmen eine weitverbreitete Vorstellung von der Besonders kritisch sehen die demokratische Praxis 63 Pro- Krise der Demokratie und Repräsentanz auf. Das Ansehen zent der Arbeitslosen, 63 Prozent der Befragten aus Hartz- der Parteiendemokratie sinkt seit Jahren; sie wird von vielen IV-Haushalten und 60 Prozent aus Haushalten mit einem als fachlich unfähig und korrupt wahrgenommen. Jedes aus Nettoeinkommen unter 700 Euro. Der Publizist und Politik- der Planung laufende größere Infrastrukturprojekt, die Pro- wissenschaftler Serge Embacher macht deutlich, dass die- bleme des Renten- und Gesundheitssystems, nicht enden se Änderungen in den letzten Jahren auf die Sozialstaats­ wollende Militäreinsätze und anderes mehr liefern immer reformen der Agenda 2010 zurückgehen: «Das Reformpaket neue Nahrung für diese verbreitete Meinung. Im Gegenzug wurde in klassischer Top-down-Manier ohne breit angelegte gewannen mit der Ausweitung der globalisierungskritischen Beteiligung durchgesetzt und steht zudem für eine Verschär- Bewegung und weiterer Formen zivilgesellschaftlichen En- fung der sozialen Differenzen und Verwerfungen.»4 gagements repräsentations- und demokratiekritische Orga- nisationsformen an Attraktivität. Sie bieten umfangreichere Vernetzte statt vergesellschaftete Individuen Möglichkeiten der Mitwirkung und Partizipation und spre- Die Attraktivität der Piraten bei Wählerinnen und Wählern chen besonders system- und politikkritische Menschen an. wird bisher nicht durch eine stringente und konsistente «Er- Infolge dieser Entwicklungen haben sich die Einstellungen zählung» und auch nicht durch konkretes Handeln der Partei der Deutschen zur Demokratie in den letzten Jahren gravie- untersetzt. Die Piraten bestehen aus vielen Flügeln und Grup- rend gewandelt. Demokratische Grundprinzipien wie Gewal- tenteilung und Rechtsstaatlichkeit stellen für die meisten ei- nen unangefochten hohen Wert dar. Aber schon die Haltung 3 Embacher, Serge: Einstellungen zur Demokratie, in: Mörschel, Tobias (Hrsg.): Demokra- tie in Deutschland: Zustand – Herausforderungen – Perspektiven. Wiesbaden 2012, S. 71– 66 67 gegenüber demokratischen Tugenden wie Toleranz, Fair- 92. 4 Ebd. pen, die in sich sehr gut vernetzt sind. Während einzelne Ak- physikalischen Bestandteilen und den auf ihnen ausgeführ- teure (etwa aus Berlin) eher dem anarcho-linken Spektrum ten Programmen. zugeordnet werden können, sind vielfach auch rechte Posi- Die Piratenpartei will gemäß dieser Metapher zwar nicht tionen vertreten. Ein größerer Teil der Parteimitgliedschaft auf ein Programm verzichten, möchte aber gleichzeitig mehr verortet sich in der Tradition grünen Eigenimages als «weder als ein Programm. Das politische System der Bundesrepub- links noch rechts, aber vorne». Es ist offen, welche der Par- lik ist in dieser Metapher die Hardware. Die institutionellen teiflügel die inhaltliche Ausrichtung der Piraten bestimmen Rahmenbedingungen wie Parteiendemokratie, Lobbyver- werden. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sie mit aus ihrer bände, soziale Bewegungen und zivilgesellschaftliche Ak- Sicht überholten Ritualen und Regeln des etablierten Partei- teure und ihre Verfahren und gesetzlichen Regelungen sind ensystems brechen wollen und daraus ihre Attraktivität und quasi Anwendungsprogramme. Mit der Metapher vom neu- ihr nach innen verbindendes Element schöpfen. en Betriebssystem ist gemeint, diese Anwendungsprogram- me neu zu konfigurieren und transparent zu machen, um so Internetgestützte Protestaktionen das politische System zu verbessern. Die Bürgerinnen und Die wenig entwickelten Vorstellungen der Piraten über dif- Bürger selbst sollen diese Programme optimieren bzw. neu ferierende Interessen von Starken und Schwachen in einer erarbeiten. Dafür sind die Piraten lediglich Mittler. Gesellschaft und ihrer Vertretung basieren auf der Kultur der Diese Vorstellung von Politik geht in ihren technisch ver- internetorientierten Vorstellung von Gesellschaft und po- standenen Anlagen auf. Die kritisierte postdemokratische litischem Protest. Die für die Piraten relevanten politischen Herrschaft von Technokraten soll durch selbstständige Be- Aktionen im Internet vollziehen sich oft in Form kurzzeitiger herrschung und Neuentwicklung von Technologien ersetzt kampagnenförmiger Proteste ohne ausgereifte politische werden, die allen gleich zugänglich sind und Teilhabe ermög- Ideologien und Konzepte, wie etwa bei der Acta-Kampagne lichen. oder bei politischen Protestaktionen in sozialen Medien (etwa «Shitstorms»).5 Die Akteure nehmen als vernetzte Individu- Schwarmintelligenz und die Weisheit der vielen en daran teil, ohne die jeweiligen Aktionsformen zu verste- Eine der beiden Grundpositionen, die den Piraten zuge- tigen. Infolge dieser Kulturtechniken ist den Piraten die Vor- schrieben werden, liegt im Versprechen einer neuen Trans- stellung einer politischen Interessenvertretung fremd, wie parenz, Partizipation und Mitbestimmung in der Politik. Der sie etwa Gewerkschaften, soziale Bewegungen, Vereine und und die Einzelne soll, so das Versprechen, nicht mehr ei- Parteien leisten. Zugleich teilen sie bekannte Dilemmata einer nem mehr oder weniger hermetischen Apparat gegenüber- auf Freiwilligkeit und Aktivität beruhenden Organisation, die stehen, der sein Herrschaftswissen verwaltet und eigene demokratische Gleichheitsvorstellungen wegen der ungleich Selbsterhaltungsinteressen verfolgt. Das Versprechen lau- besseren Ressourcenausstattung der Aktivbürgerschaft un- tet, dass Bürgerinnen und Bürger (auf digitalem Weg) alle terlaufen und den Ausschluss von Minderheiten und unteren relevanten Informationen aus Parlamenten, Verwaltungen Schichten, deren Themen und Bedürfnisse verstärken. und Behörden bekommen und direkt auf politische Prozesse Die Gesellschaft generell erscheint auf der Grundlage die- Einfluss nehmen können. Erstere Position kann nur in Parla- ser Kulturtechniken als eine Sammlung vernetzter Individuen menten erfolgreich verfochten werden, in denen die Piraten ohne gesellschaftliche Konfliktlinien. Deutlich wird dies un- selbst nun auch Begrenzungen und Widerstände erfahren. ter anderem bei ihren Positionen zum Urheberrechtsschutz, Mitbestimmungsmöglichkeiten symbolisieren sie vor allem bei denen sich die Piraten erst langsam an eine konsistente innerparteilich mit ihrer Liquid Software sowie mit offenen Position zwischen den Interessen der Mediennutzer, der Kre- Parteitagen für alle Mitglieder. ativen und der Verwertungsindustrie heranarbeiten. Ihr von Die Organisationsform für die Gewinnung neuer Erkennt- Interessengegensätzen abstrahierendes Grundverständ- nisse ist für die Piraten die Schwarmintelligenz im Sinne ei- nis politischer Prozesse versperrt den Piraten aber auch den ner Weisheit der vielen. Zur Erklärung dieser Organisations- Zugang zu potenziellen Bündnispartnern, mit denen sie ihre form wird gern die Geschichte von einer Gewichtsschätzung Vorstellungen durchsetzen könnten. Auf diese gravierende auf einem Viehmarkt erzählt. Darin versucht eine Reihe von strategische Unbestimmtheit sind die Piraten anzusprechen: Leuten, das Gewicht eines Ochsen zu schätzen, und es zeigt Mit wem wollen sie bezüglich welcher gesellschaftlicher sich, dass der Durchschnitt der Schätzung im Allgemeinen Konfliktlinien wie Bündnisse eingehen? zuverlässiger ist als die Schätzung irgendeines Einzelnen. Die Schätzfehler der Einzelnen gleichen sich gegenseitig aus: Das Ein neues Betriebssystem statt eines Programms ist die Weisheit der vielen oder die Intelligenz des Schwarms. für die Politik Einige Teilbereiche der Demokratie, Kooperationsprozesse in Kaum eine Äußerung machte eine solche Karriere wie das der Wissenschaft, statistische Modelle oder eine tatsächlich Statement der ehemaligen Politischen Geschäftsführerin unabhängige Presse sind vergleichbar organisiert. Marina Weisband in der Bundespressekonferenz am 5. Ok- Das Viehmarkt-Beispiel ist plausibel, sofern die Weisheit tober 2011: «Wir wollen die Antworten von den Leuten. Wir der vielen als ein Werkzeug zur Erfüllung bestimmter Auf- wollen sie prinzipiell involvieren. Und in diesem Sinne haben gaben genutzt wird. Wie das Austarieren von Werten auf wir eigentlich nicht bloß ein Programm anzubieten, sondern Aktienmärkten seit der Tulpenspekulationsblase in den Nie- ein Betriebssystem.»6 derlanden 1637 bis zu allen neueren Krisen zeigt, gibt es für Diese Formulierung spielt nicht nur mit einem technischen das offensichtliche Versagen dieses Werkzeuges allerdings Modewort, sondern setzt auch das zugrunde liegende tech- nische Verständnis voraus: Ein Betriebssystem entlastet die Anwender davon, sich mit den Details der Hardware be- 5 Baringhorst, Sigrid/Yang, Mundo: Protestkulturen und Parteigründungen – das Beispiel schäftigen zu müssen. Es verwaltet die auf dem Rechner ab- der Piraten, in: Bieber, Christoph/Leggewie, Claus (Hrsg.): Unter Piraten. Erkundungen in einer neuen politischen Arena, Bielefeld 2012, S. 187–198. 6 Marina Weisband in der Bun- laufenden Prozesse und ist insofern ein Mittler zwischen den despressekonferenz am 5.10.2011: http://www.n24.de/mediathek/video_1256171.html 68 Beispiele genug. Insofern ist die Schwarmintelligenz nur ei- Gerade das Visionäre, wenn nicht Utopische von Ansätzen ne mögliche Form des theoretischen Verhältnisses zur Welt. wie einem entgeltfreien öffentlichen Nahverkehr oder einem Schwarmintelligenz als praktisches Verhältnis zur Welt wirft Grundeinkommen macht die Piraten für viele Wählerinnen ganz andere Fragen auf als die nach Flashmobs und Shit- und Wähler attraktiv. Die Piraten haben allerdings noch keine storms, Trollen und Mobbing. Dieses Werkzeug kann also je Konzepte vorgelegt, wie diese Forderungen realisiert werden nach Bestimmung der Aufgaben und regulierend einschrän- können, wie sich die Elemente des Visionären mit Umvertei- kender Verfahrensvorschriften etwa zum Schutz von Min- lungs- und Regulierungsfragen verbinden lassen, geschwei- derheitenmeinungen geeignet oder fehlbar sein. Neue Ideen ge denn wie diese Debatten zu führen sind. Dazu bräuchte es entstehen durch sie nicht, im Gegenteil, jedes Onlinerating Vorstellungen darüber, wie die Wirtschaft entwickelt werden über beste Filme oder Bücher, interessanteste Fragen oder und vor allem wie eine Umverteilung des gesellschaftlichen innovativste Kunst belegt die Tendenz zur Einebnung und Reichtums erfolgen soll. Gleichmacherei.7 Es ist schlichtweg etwas anderes, das Ge- wicht eines Ochsen zu schätzen, als ihn von einer Krankheit Postideologie und Pragmatismus als Attraktion zu heilen oder einen Ochsen zu züchten. und Vorteil der Piraten im Parteienwettbewerb Die Unentschiedenheit der Piraten in politischen Grundsatz- Wissenspolitik und Commons/Gemeingüter fragen muss für die Piratenpartei kein Nachteil sein. Ein Teil Die «Freiheit von Wissen und Information» und der Zugang zu der Wählerinnen und Wähler sieht in den Sprachstilen, Ab- Gemeingütern ist die zweite Grundfigur der Piratenerzählung.­ grenzungsritualen, Tabulinien und in der Symbolpolitik der Das erwähnte Transparenzversprechen ist ebenso Teil dieser klassischen Parteien ein Zeichen für die Abgehobenheit Erzählung wie das Bereitstellen von öffentlichen Grundgütern des politischen Systems, das an der Lebenswirklichkeit vie- als Reaktion auf die Deregulierung zur neoliberal umgestalte- ler Menschen vorbeigeht. Deren Lebenswelt strukturiert ten Gesellschaft. An erster Stelle findet sich dabei bei den Pi- sich nicht in den Konflikt- und Abgrenzungslinien der Par- raten die Ressource Wissen, dessen Entstehung und Eigen- teipolitik, schon gar nicht nach geschlossenen Weltbildern schaften die Piraten als öffentliches Gut beschreiben. Wissen weltanschaulich bestimmter Szenen. Sie entscheiden viel- widersetzt sich privater Aneignung, und ein möglichst freier mehr nach traditioneller Verbundenheit und Werteidentität Zugang zu Wissen wird als gesellschaftlich gewinnbringend (Stammwählerschaft) oder im Falle der Wechsel- und Neu- eingeschätzt. Deshalb sind der privaten eigentumsrechtli- wählerschaft nach Zuschreibungen, Images, Personen und chen Aneignung von Wissen, Information und immateriellen konkreten Aussagen und Positionen. Gütern enge Grenzen zu setzen. Als Beispiel kann hier die De- Für die Wählerinnen und Wähler der Piraten sind Naivität, batte um das Urheberrecht angesehen werden, bei der die Pragmatismus und die Unbekümmertheit, mit der die Pira- Piraten keine führende Rolle spielten und spielen, ihnen aber ten Politik begegnen, ihrer eigenen politischen Herangehens- trotzdem der Status des Impulsgebers zugesprochen wird weise sehr ähnlich und daher verständlich und attraktiv – vor und sie auch den überwiegenden Teil der Kritik aus Medienin- allem bei Jüngeren. Unattraktiv hingegen werden Parteien dustrie und Urheberszene auf sich zogen. wahrgenommen, die auf sich schnell verändernde gesell- Das mangelnde Verständnis von Umverteilung wird bei schaftliche Realitäten zu langsam reagieren oder nur par- den Piraten aus den Vorstellungen über Gemeingüter oder teipolitisch motivierte, aus dem Alltagsbewusstsein heraus Commons in der Internet- und Informationsgesellschaft ab- unverständliche oder mehr oder weniger ideologisch begrün- geleitet. Es orientiert sich an der Open-Source-Programmie- dete Antworten finden. rung und an der kollektiven Erstellung von Kreativgütern und Die Piraten reflektieren mit ihrer «unideologischen», «we- basiert auf dem einfachen Grundsatz «Wer aus den Com- der links noch rechts» Herangehensweise ein relevantes mons schöpft, muss zu den Commons beitragen». Das be- Unbehagen in der Bevölkerung an solchen politischen Ent- deutet weiter, keinen Nutzungsberechtigten auszuschlie- scheidungen, die als unsachgemäß, weil ideologisch bor- ßen, sondern mit gemeinsam zu nutzenden Ressourcen niert oder eigenmotiviert wahrgenommen werden. Vor dem individuelle Bedürfnisse zu befriedigen. Dieser Gemeingü- Hintergrund, dass Ideologien als veraltet erscheinen, kön- terdiskurs wird auch auf andere gesellschaftliche Bereiche nen klassische Sozialstaatsvisionen für Menschen in alltägli- übertragen: So wird ein entgeltfreier öffentlicher Nahverkehr chen prekären Arbeits- und Lebensverhältnisse keinen prak- als Möglichkeit egalitärer Teilhabe und freier Mobilität im ur- tischen Halt mehr bieten. banen Raum gesehen. Die Kritik der Piraten an althergebrachten Ritualen des Par- Mit der von den Piraten geführten Debatte um ein Grund- teiensystems ist richtig, muss aber weitergetrieben werden. einkommen sind ein Teilhabe- und ein Selbstbestimmungs- Bleibt sie in einer «unideologischen» Herangehensweise versprechen verknüpft. Diese Versprechen, die einen Min- stecken, die scheinbar weder links noch rechts kennt, ver- deststandard für ein menschenwürdiges Leben enthalten, kennt sie die unterschiedlichen Möglichkeiten von Teilhabe erscheinen in Zeiten der galoppierenden gesellschaftlichen und Selbstbestimmung der Stärkeren und Schwächeren. Exklusion lebensnäher als Abwehrkämpfe gegen die Erosion Die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte und die aktuellen sozialpartnerschaftlicher Kompromisse. Auseinandersetzungen darum, wer die Kosten der Finanz- Die beiden Versprechen sind daher sowohl attraktiv für und Wirtschaftskrise tragen soll, machen deutlich, dass es jüngere Menschen, denen eine Integration in die schrump- Gewinner und Verlierer innerhalb der Gesellschaft und zwi- fenden Kernbelegschaften mit unbefristeten Verträgen und schen den Schuldner- und Gläubigerstaaten gibt. Die Piraten guten Einkommen dauerhaft verwehrt bleibt, wie auch für tragen zur Erhellung dieser Fragen nichts bei. die wachsende Zahl an Wissensarbeiterinnen und Kreativen, die in immer prekäreren Verhältnissen wichtige Dienstleis- tungen für die Gesellschaft erbringen und auf mehr Selbst- 7 Lanier, Jaron: Gadgets. Warum die Zukunft uns noch braucht, Frankfurt am Main 2010, 68 69 bestimmung hoffen. S. 79 ff. Trotzdem sind die Piraten als positive Besonderheit des mehr Breite und Tiefe in der schnellen, persönlichen und di- deutschen Parteiensystems gegenüber den anderen Par- rekten Kommunikation erreicht. teiensystemen in Europa einzuordnen. In der Finanz- und Zum Thema der Commons hat DIE LINKE bereits Ideen Wirtschaftskrise haben sich in etlichen Ländern rechtspo- entwickelt und sie zum Teil in ihre Debatten aufgenommen. pulistische und radikal rechte Parteien etabliert bzw. an Ein- Mit ihrer Kompetenz in Fragen der Verteilung und des Ei- fluss hinzugewonnen. In Deutschland hingegen ist mit den gentums könnte sie sich für die politische Umsetzung die- Piraten eine Partei erfolgreich, in der relevante Teile mit ih- ser Ideen qualifizieren. Die Debatten zu den Gemeingütern rem inklusiven Gesellschaftsmodell eine Hegemonie gegen der Gesellschaft sind immer auch Debatten um die konkrete Rechtspopulismus und -extremismus stärken. Die Auseinan- Ausgestaltung des Sozialstaats, der Wirtschaftsdemokratie dersetzung mit den Piraten sollte dem Rechnung tragen, sie und der öffentlichen Daseinsvorsorge, damit sie den heuti- nicht in eine entsprechende Richtung drängen oder sie gar gen Bedürfnissen gerecht werden. Ihre Ergänzung um die dort verorten. Kampagnen wie die der LINKEN im Landtags- Aspekte des Egalitären, der Offenheit und der Bedingungs- wahlkampf in Schleswig-Holstein «Keine Stimme den Nazis, losigkeit verweist auf veränderte ausdifferenzierte Bedürfnis- egal unter welcher Flagge sie segeln!» sind kontraproduktiv lagen, deren Heterogenität die Lebenswelt vieler Menschen und schlagen auf die Urheberin selbst zurück. prägt. Individualität und Mobilität sind besonders für junge Men- 3 Was k ann für LINKE Politik schen zu Grundwerten geworden und passen nicht mehr zu gelernt werden? klassischen Lebens- und Biografiemustern, Normalarbeit ist Eine Erkenntnis aus der Attraktivität der Piraten könnte lau- längst zur Ausnahme in einer ausdifferenzierten Arbeitsge- ten, sich weniger mit weltanschaulich begründeten als viel- sellschaft mit neuen Beschäftigungsformen geworden. mehr mit interessegeleiteten Initiativen, Projekten und Kam- DIE LINKE sollte diese Entwicklungen zur Kenntnis nehmen pagnen in den politischen Diskurs zu begeben – natürlich und strategisch bearbeiten, wenn sie den Nährboden nutzen ohne in prinzipienlosen Populismus zu verfallen. Dazu gehört will, auf dem die Piraten ihre Akzeptanz gewonnen haben. es, zu gesellschaftlichen Konflikte linke Antworten zu entwi- DIE LINKE sollte in diesem Zusammenhang auch ihre steu- ckeln, statt sich umgekehrt erst auf ein zu erreichendes Ziel erpolitischen Vorstellungen und ihren politischen Schwer- festzulegen, um danach gesellschaftliche Konflikte im Sinne punkt der Stärkung des Öffentlichen herausstellen. Ihre Kon- dieses Ziels zu instrumentalisieren. zepte etwa gegen die Privatisierung von Stadtwerken und Benötigt wird neben einer klaren Analyse von Zielgruppen Krankenhäusern und für Formen solidarischer Ökonomie ge- und Bündnispartnern die Abkehr vom Glauben, dass fach- hen weit über die Vorstellungen der Piraten hinaus. Die von politische Kompetenz oder die glaubwürdig linke Position je- den Piraten entwickelten Konzepte eines bedingungslosen weils für sich ausreichend sind für Akzeptanz, Zustimmung Grundeinkommens sind hinsichtlich ihrer differierenden Hö- und Erfolg. Bisher mangelt es der Linkspartei vor allem an hen daraufhin zu befragen, ob sie überhaupt Teilhabe und Kommunikations- und Handlungskompetenz. Selbstbestimmung in der Gesellschaft ermöglichen können. Die Lösung erscheint banal: die Entwicklung von Strate- DIE LINKE sollte zudem das den Piraten zugeschriebene gien für einen verstärkten Austausch mit der Gesellschaft Offenheits- und Demokratieversprechen aufnehmen und und die Vernetzung mit ihren Strukturen. Linke Politik muss einlösen. Dabei sind Offenheit, Transparenz und Partizipation noch stärker von den Adressaten her und vor allem mit ihnen notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen für eine gedacht werden. Entwickelt sich DIE LINKE kooperativ mit Demokratie. Bündnispartnern, ihrer Wählerschaft und ihren Mitgliedern? Demokratie lässt sich nicht auf die Frage des «alle sollen Wird ihre Sprache verstanden? Zeigt sie sich offen für Kritik gleichberechtigt mitreden dürfen» reduzieren, sie ist auch und Feedback, und nimmt sie diese ernst? Sind ihre Äuße- konfrontiert mit dem Problem struktureller Ungleichheit im rungen und Positionen interessant – auch für Journalistinnen Zugang zu Informationen, Netzwerken und Diskursen. Die und Journalisten? Vermittelt sie wirklich den Eindruck, ihre immer geringer oder nicht mehr Beteiligten müssen gestärkt Vorhaben in die Tat umsetzen zu wollen? Sind ihre Ziele ent- werden, wenn die Krise der Demokratie und Repräsentation schieden und glaubwürdig genug, um Bündnisse zu schlie- gelöst werden soll. ßen und sich auf Kompromisse einzulassen? Dass auch hinsichtlich Transparenz und Mitbestimmung Die Topoi Entschiedenheit, Profilierung und Glaubwürdig- die Zuschreibungen für die Piraten weit über dem liegen, keit verweisen auf das Spannungsfeld von pragmatischer was sie bisher tatsächlich politisch leisten, stellt eine Chance Politik, dem notwendigen Einhalten von Regeln auf der ei- besonders für DIE LINKE dar. Das von der neuen Parteifüh- nen und dem Durchbrechen dieser Regeln des Parteiensys- rung der LINKEN vorgelegte 120-Tage-Programm beinhaltet tems auf der anderen Seite: Auch DIE LINKE muss als Pro- als einen Schwerpunkt «eine Offensive für das Öffentliche». jektionsfläche für Hoffnungen auf «das ganz andere» und für Bislang wird hier vor allem die Eigentums- und Zugangsfrage den Protest gegen die «Etablierten» stehen. Nonkonformi- betont. Daneben müssen aber auch die Fragen von Transpa- tät, Glaubwürdigkeit und Widerständigkeit sind Werte, die renz und Mitbestimmung eine größere Aufmerksamkeit be- einer radikalen Realpolitik nicht widersprechen, sondern die- kommen. se durch klug dosierte Symbolpolitik, durch spannende und überraschende Kampagnen und einen insgesamt offenen, kämpferischen, aber auch lebensbejahenden Habitus un- Helge Meves arbeitet im Bereich Strategie & Grundsatzfragen tersetzen und illustrieren. Die Piraten leben derzeit stark von der Bundesgeschäftsstelle der LINKEN. diesem Image. Die Frage, ob der LINKEN dieses «Storytel- Tobias Schulze ist Referent für Forschungs- und Technologie­ ling» gelingt, hängt nicht zuletzt davon ab, ob sie auch Medi- politik bei der Bundestagsfraktion DIE LINKE und Mitglied des envertreterinnen und -vertreter ansprechen und überzeugen Landesvorstands der LINKEN in Berlin. Er beschäftigt sich mit kann und ob sie im persönlichen Umgang wie im Internet Fragen der Wissenspolitik und bloggt dazu unter digitale-linke.de. 70 STANDPUNKTE 14/2012

Wolfgang Wippermann Verweigerte Wiedergutmachung Die Deutschen und der Völkermord an den Sinti und Roma

Jetzt wird endlich das Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma Europas eingeweiht. Doch warum erst jetzt?1 Über zehn Jahre nach der Einweihung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas und über 60 Jahre nach dem Völkermord, dem Juden sowie Sinti und Roma zum Opfer gefallen sind. Ist mit dem Denkmal jetzt alles wieder gut oder gar wieder gut- gemacht worden? Brauchen wir nicht auch ein Denkmal, das an das erinnert, was den Sinti und Roma nach dem Völker- mord angetan worden ist? Ein Denkmal des Denkmals.2

«Wie mit den Juden» Auf den ersten Blick scheint es sich hier um hohe Summen «Es ist ebenso wie mit den Juden […] Es bestand kein Un- zu handeln. Dabei muss jedoch der Zeitfaktor berücksichtigt terschied zwischen den Zigeunern und den Juden».3 So be- werden. Für «Wiedergutmachung» ist nie mehr als drei bis antwortete der Leiter der Einsatzgruppe D, Otto Ohlendorf, fünf Prozent des bundesdeutschen Haushalts aufgewandt die Frage der alliierten Ankläger, warum seine Untergebenen worden. In absoluten Zahlen: Wurden noch in den 1950er auch «Zigeuner» ermordet hätten. Ohlendorf war kein Einzel- Jahren jährlich drei Milliarden DM gezahlt, verringerte sich fall. Auch andere Täter haben auf dem Nürnberger Kriegsver- dieser Betrag im Laufe der Zeit auf 1,7 Milliarden DM jähr- brecherprozess bereitwillig zugegeben, dass neben Juden lich. Volkswirtschaftlich gesehen sind dies wirklich nur «pea- auch Roma zu Opfern des nationalsozialistischen Völkermor- nuts». Doch für viele Überlebende des Holocaust – bis 1985 des geworden sind. Dennoch und obwohl zur Vorbereitung hatten über vier Millionen Personen Anträge gestellt – hat- der Kriegsverbrecherprozesse zahlreiche Quellen gesam- ten und haben diese Zahlungen eine geradezu existenzielle melt wurden, die den rassistisch motivierten Völkermord an Bedeutung. Allerdings mussten sie sich diese Gelder in häu- den Roma eindeutig dokumentieren,4 sind die Nürnberger fig mehr als schwierigen Verhandlungen erstreiten, wobei Ankläger und Richter auf diesen «zweiten Holocaust» nicht die deutschen Behörden nachgerade einen «Kleinkrieg ge- weiter eingegangen. gen die Opfer» führten.8 Viele an sich Anspruch berechtigte Dies hatte Folgen bis auf den heutigen Tag. Wenn es schon die Siegermächte nicht für notwendig hielten, den Völker- 1 Es ist nicht das erste. Das erste Denkmal wurde im Berliner Bezirk Marzahn errichtet. Von mord an den Roma zu thematisieren, dann sahen es die be- Bürgern der DDR und in der Zeit der DDR. Dies sollte heute, wo man die DDR zu vergessen siegten Deutschen schon gar nicht ein, sich zu dieser Schuld scheint oder nur an ihre negativen und verbrecherischen Aspekte erinnert, nicht vergessen werden. Wir gehen im Folgenden aber vornehmlich auf die Bundesrepublik ein, weil sie sich zu bekennen und die Opfer zu entschädigen. So taucht das als Rechtsnachfolgerin des Dritten Reiches empfand und weil das Roma-Problem in der Wort «Zigeuner», soweit ich sehe, auch nicht in der nach DDR einen weit geringeren Stellenwert hatte als in der BRD. Auf DDR-Besonderheiten und Abweichungen von der BRD wird in den Anmerkungen verwiesen. 2 Über die im Folgen- 1945 entstandenen Publizistik über die deutsche Schuldfra- den nur ganz knapp skizzierte Geschichte und Nachgeschichte des Völkermords an den ge auf. Hier gab es kein Schuldbewusstsein und keine Ver- Sinti und Roma habe ich in den letzten 30 Jahren verschieden Aufsätze und Bücher geschrie- ben. Unter anderen: Wippermann, Wolfgang: Das Leben in Frankfurt zur NS-Zeit II. Die na- 5 pflichtungserklärung zur «Wiedergutmachung». tionalsozialistische Zigeunerverfolgung, Frankfurt am Main 1986; ders.: Geschichte der Sinti und Roma in Deutschland. Darstellung und Dokumente, Berlin 1993; ders.: «Wie die Zigeuner.» Antisemitismus und Antiziganismus im Vergleich, Berlin 1997; ders.: «Auser- «Wiedergutmachung» oder wählte Opfer»? Shoah und Porrajmos im Vergleich. Eine Kontroverse, Berlin 2005. 3 Zitiert nach: Rose, Romani (Hrsg.): Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma, wider die Gutmachung? Heidelberg 1995, S. 115. 4 In die gedruckte Auswahl der Nürnberger Dokumente wurden Bei den jüdischen Opfern des nationalsozialistischen Rassen- jedoch nur ganz wenige Quellen zum Völkermord an den Sinti und Roma aufgenommen: Nürnberger Prozesse. Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationa- mordes war dies jedoch anders. Bis 1990 sind insgesamt et- len Militärgerichtshof, Nürnberg 14.11.1945–1.10.1946, Bd. 1–42, Nürnberg 1947– wa 80 Milliarden DM «Wiedergutmachung» gezahlt worden.6 1949. 5 Vgl. zum Folgenden den instruktiven Sammelband von: Ludolf Herbst/Constantin Goschler (Hrsg.), Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland, München Fünf Prozent davon entfielen auf die globale «Wiedergutma- 1989. 6 Dazu und zum Folgenden: Karl Heßdörfer, Die finanzielle Dimension, in: Herbst/ chung» an Israel. Der Rest wurde an Einzelpersonen in Form Goschler (Hrsg.), Wiedergutmachung, S. 55–60. 7 Die DDR hat sich an diesen Zahlungen nicht beteiligt. Dies heißt aber nicht, dass die DDR keine «Wiedergutmachung» geleistet von Sachentschädigungen, einmaligen Zahlungen, Pensio- hat. Sie wurde aber nicht so genannt. Ein großer Teil der Reparationen der DDR ging an die nen und Zuschlägen zur Sozialversicherung für den Verlust an Sowjetunion. Der Gesamtumfang war weit höher als die «Wiedergutmachung» der BRD. 8 Dazu die sehr kritische Studie von: Pross, Christian: Wiedergutmachung. Der Klein- 70 71 Leben, Gesundheit und beruflichem Fortkommen gezahlt.7 krieg gegen die Opfer, Frankfurt am Main 1988. jüdische Opfer wollten oder konnten sich diesen bürokrati- Staatsbürger grundsätzlich nicht «entzogen werden». Der schen Prozeduren nicht stellen und sind leer ausgegangen. «Verlust der Staatsangehörigkeit darf nur auf Grund eines Hinzu kommt, dass die individuellen Zahlungen keineswegs Gesetzes und gegen den Willen des Betroffenen nur dann so hoch sind, wie in der Öffentlichkeit meist angenommen eintreten, wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos wird. So wird, um nur ein Beispiel zu nennen, der monatliche wird». Doch genau dies ist einigen Roma widerfahren, die Aufenthalt in einem deutschen Konzentrationslager mit ei- heute immer noch «staatenlos» sind, obwohl sie oder ihre ner einmaligen Zahlung von 150 DM «wieder gutgemacht». Eltern vor und zunächst auch noch nach 1945 die deutsche Schließlich ist eindringlich darauf hinzuweisen, dass diese Staatsbürgerschaft besessen hatten.13 Entschädigungs- und «Wiedergutmachungs»-Summen in keinem Verhältnis zu den Milliarden von Mark stehen, die Alles «Asoziale»? den Opfern geraubt oder durch Zwangsarbeit abgepresst Doch die skandalöse Geschichte dieser, wie sie von den Be- worden sind. troffenen empfunden wurde, «zweiten Verfolgung» 14 ging Zu kritisieren ist aber auch, dass bis heute im Wesentlichen noch weiter. Schon Anfang der 1950er Jahre haben Gerichte nur Juden entschädigt worden sind. Dies hatte drei Gründe: Anträge von überlebenden Roma auf «Wiedergutmachung» Einmal wurden durch das Londoner Schuldenabkommen mit der Begründung abgelehnt, dass es sich bei diesen «Zi- vom 27. Februar 1953 alle ausländischen Opfer des National- geunern» um «Asoziale» gehandelt habe.15 Da die «Zigeuner sozialismus auf den Abschluss eines Friedensvertrages mit und Zigeunermischlinge […] nicht aus rassistischen Grün- einem vereinten Deutschland vertröstet. Noch wichtiger war den, sondern wegen (ihrer) asozialen und kriminellen Hal- zweitens, dass im Luxemburger Abkommen und in den nach- tung verfolgt und inhaftiert» worden seien, ordnete der In- folgenden deutschen Entschädigungsgesetzen vereinbart nenminister von Baden-Württemberg am 22. Februar 1950 worden war, dass nur solche Personen anspruchberechtigt an, alle «Wiedergutmachungsanträge von Zigeunern und sind, die ihren Wohnsitz im Gebiet des früheren Deutschen Zigeunermischlingen zunächst dem Landesamt für Krimi- Reiches (in den Grenzen von 1937) hatten oder zumindest zum nal-Erkennungsdienst in Stuttgart zur Überprüfung» zuzu- «deutschen Sprach- und Kulturkreis» gehört haben. Letzteres leiten.16 Dieses Landesamt für Kriminal-Erkennungsdienst wurde den osteuropäischen Juden mit der mehr als merkwür- wird zweifellos die Beamten der ehemaligen «Zigeunerpoli- digen Begründung zugestanden, dass ihre Sprache, das Jiddi- zei» und jetzigen «Landfahrerstellen» um Rat gefragt haben. sche, zum «deutschen Sprachkreis» gehöre.9 Problematisch Damit entschieden letztlich die Täter, wer ein Opfer gewesen ist schließlich drittens die Definition des Begriffs «Opfer nati- war und Anspruch auf «Wiedergutmachung» hatte. onalsozialistischer Verfolgung». Dies sind nach bundesdeut- Dass es so weit kommen konnte, war jedoch auch die scher Rechtsauffassung Personen, die aus «politischen, religi- Schuld des (west-)deutschen Gesetzgebers. Schon vor ösen oder rassischen Gründen» verfolgt worden sind.10 Gründung der Bundesrepublik hatten verschiedene Länder- Durch diese Bestimmungen sind ganze Opfergruppen parlamente Gesetze zur «Wiedergutmachung nationalso- ausgeschlossen worden. Darunter die Roma, die nach 1945 zialistischen Unrechts» verabschiedet, in denen bestimmt anders als Juden behandelt wurden, obwohl sie davor «wie wurde, dass nur die Personen in den Genuss einer derarti- die Juden» aus ebenfalls «rassischen» Gründen verfolgt und gen «Wiedergutmachung» kommen sollten, die wegen ihrer ermordet worden sind. Dennoch haben weder die (alte) Bun- «politischen Überzeugung», des «Glaubens oder der Weltan- desrepublik noch die DDR und das vereinte Deutschland schauung» oder «aus Gründen der Rasse» verfolgt worden Verhandlungen mit Repräsentanten des Volkes der Roma waren.17 Diese Formulierung wurde in das «Bundesergän- über eine Globalentschädigung aufgenommen. Ein mit dem zungsgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozi- Luxemburger von 1952 zu vergleichendes Abkommen steht bis heute aus, obwohl es inzwischen zwar keinen Staat der Roma, wohl aber verschiedene Organisationen gibt, welche 9 Vgl. dazu die sarkastische Bemerkung eines jüdischen Opfers: «Meine Frau, meine drei Söhne, Mutter und Geschwister nie mehr wieder gesehen. Alle sind in Auschwitz umge - die Interessen der Roma weltweit und in den einzelnen Staa- kommen. Ich frage mich, wie ich es fertig bringe, hier zu sitzen und mich zum deutschen ten vertreten. Doch ihre immer wieder und gerade in jüngs- Kulturkreis zu bekennen.» Zitiert nach: Pross, Wiedergutmachung, S. 47. 10 In der DDR war es ähnlich. Hier sind aber Personen, die aus politischen Gründen verfolgt worden sind ter Zeit erhobenen Ansprüche wurden noch nicht einmal zur und Widerstand geleistet haben, besser behandelt worden als die, welche aus religiösen und rassischen Gründen verfolgt worden sind. Die Erstgenannten erhielten als Kämpfer Kenntnis genommen. Dabei sind sie ohne Zweifel berechtigt. gegen den Faschismus eine höhere Rente als die bloßen «Opfer des Faschismus». 11 Da- Ist doch nahezu allen ausländischen Roma der Anspruch auf zu und zum Folgenden: Greußing, Fritz: Das offizielle Verbrechen der zweiten Verfolgung, in: Zülch, Tilman (Hrsg.): In Auschwitz vergast – bis heute verfolgt. Zur Situation der Roma «Wiedergutmachung» mit der Begründung verweigert wor- (Zigeuner) in Deutschland und Europa, Reinbek 1979, S. 192–197; Spitta, Arnold: Wieder- den, dass sie weder im Gebiet des Deutschen Reiches in den gutmachung oder wider die Gutmachung, in: ebd., S. 161–167; Körber, Ursula: Die Wieder- gutmachung und die «Zigeuner», in: Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheitspolitik Grenzen von 1937 gelebt noch zum «deutschen Sprach- und 6, 1988, S. 165–175; Spitta, Arnold: Entschädigung für Zigeuner? Geschichte eines Vorur- Kulturkreis» gehört hätten. teils, in: Goschler, Herbst (Hrsg.): Wiedergutmachung, S. 385–402; Julia von dem Knese- beck, The Roma Struggle for Compensation in Post-War Germany, Hertforshire 2011. 12 Ei- Doch auch vielen Roma, die unzweifelhaft deutsche nen solchen Fall habe ich dokumentiert: Wippermann, Wolfgang: Mazurka Rose und der Staatsbürger waren oder gewesen waren, ist die «Wieder- Artikel 16 des Grundgesetzes, in: Perspektiven. Die internationale StudentInnenzeitung 7–8/1991, S. 51–53. Noch ausführlicher: Wippermann, Wolfgang: Christine Lehmann and gutmachung» lange Zeit verweigert worden. 11 Es gibt so- Mazurka Rose. Two Gypsies in the Grip of German Bureaucracy, in: Burleigh, Michael (Hrsg.): Confronting the Nazi Past. New Debates on Modern German History, London 1996, S. 112– gar Fälle, in denen Roma, die als deutsche Staatsbürger in 124. 13 Derartige Fälle werden aus der DDR nicht gemeldet. 14 Greußing, Das offizielle deutsche Konzentrationslager verschleppt worden waren, Verbrechen der zweiten Verfolgung, in: Zülch (Hrsg.), In Auschwitz vergast, S. 192 ff. Zahl- reiche weitere Fälle der Diskriminierung von Sinti und Roma bei: Margalit, Gilad: Die Nach- die ihnen nach 1945 zunächst wieder verliehene deutsche kriegsdeutschen und «ihre Zigeuner». Die Behandlung der Sinti und Roma im Schatten von Staatsbürgerschaft wieder entzogen wurde, wobei man sich Auschwitz, Berlin 2001. 15 In der DDR war dies nicht der Fall. Hier behielten solche Sinti und Roma, die als «Opfer des Faschismus» eingeschätzt worden waren, ihre Sonderrenten. auf die Gutachten von pensionierten und noch aktiven «Zi- Allerdings nur dann, wenn sie sich nicht strafbar gemacht hatten. 16 Zitiert nach: Körber, geunerpolizisten» aus der Zeit des Dritten Reiches berief. 12 Die Wiedergutmachung und die Zigeuner, S. 170. 17 So das «Gesetz zur Wiedergutma- chung nationalsozialistischen Unrechts», das am 12.8.1949 vom Länderrat der amerikani- Dies ist nicht nur skandalös, sondern ein glatter Verfas - schen Zone beschlossen wurde. In: Godin, Reinhard/Godin, Hans (Hrsg.): Rückerstattung sungsbruch, denn laut Artikel 16 Abs. 1 des Grundgesetzes, feststellbarer Vermögensgegenstände in der amerikanischen und britischen Besatzungs- zone und in Berlin. Gesetze der Militärregierungen mit der Verordnung für Berlin, Berlin darf die «deutsche Staatsangehörigkeit» einem deutschen 2. Aufl. 1950, S. 570 ff. 72 alistischen Verfolgung» vom 18. September 1953 sowie das wenn man die abstrusen Theorien dieser «Zigeunerforscher» «Bundesgesetz zur Entschädigung für Opfer nationalsozialis- und Rassenpolitiker ernst nimmt. Doch dies taten die west- tischer Verfolgung» übernommen.18 deutschen Richter und Kommentatoren des Bundesentschä- Obwohl sich einige Roma durchaus gegen ihre Verfolgung digungsgesetzes nicht. Stattdessen schlossen sie sich völlig gewehrt haben,19 ist kaum einer von ihnen wegen seiner «po- unkritisch der Meinung von nationalsozialistischen Politikern litischen Überzeugung» verfolgt worden. Da alle in Deutsch- und «Zigeunerpolizisten» an, welche die Roma pauschal als land lebenden Roma Christen waren, wobei die meisten wie- «asozial» und «kriminell» stigmatisiert hatten. Übersehen derum der katholischen Kirche angehört hatten, konnte auch wurde dabei erstens, dass keineswegs alle Roma «Asozia- von keiner Verfolgung wegen des «Glaubens oder der Welt- le» und «Kriminelle» waren, zweitens, dass für die Kriminal- anschauung» die Rede sein. Es blieb die Bestimmung «aus biologen auch «asoziales» und «kriminelles» Verhalten ver- Gründen der Rasse». erbbar und «rassisch» bedingt war, und schließlich drittens, Doch wie kann man «aus Gründen der Rasse» verfolgt wor- dass es mit rechtsstaatlichen Vorstellungen kaum vereinbar den sein, wenn es gar keine unterschiedlichen oder gar un- ist, Menschen nur deshalb ohne Urteil in Konzentrationsla- terschiedlich wertigen Rassen gibt, weil alle Menschen so ger zu sperren und zu ermorden, weil sie als «asozial» einge- verschieden und zugleich so gleich sind, dass jede Kategori- stuft wurden. sierung nach körperlichen oder geistigen Merkmalen auf un- Genau diesen dreifachen Fehler machte Otto Küster in sei- überwindliche Schwierigkeiten stößt?20 Doch diese These, die nem Kommentar zum Bundesentschädigungsgesetz, in dem heute von den meisten Anthropologen und Biologen vertreten er die These vertrat, dass alle bis 1943 gegen die Roma er- wird, war damals noch umstritten. Unumstritten war jedoch griffenen Maßnahmen aus «kriminalpolitischen Gründen» schon zu Beginn der 1950er Jahre, dass Sinti und Roma ge- erfolgt seien.24 Die nationalsozialistischen Behörden hätten nau wie Juden nicht als «Rasse» anzusehen sind. Bei den Ro- sich auf die «Bekämpfung derjenigen Zigeuner beschränkt, ma kam schließlich noch hinzu, dass ihre Vorfahren aus Indien die sich als asozial erwiesen hatten». Erst 1943 seien auch stammen und ihre Sprache, das Romanes, zur indoeuropäi- Sinti und Roma nach Auschwitz deportiert worden, die «per- schen Sprachfamilie gehört, weshalb sie selbst nach den ab- sönlich nicht zu beanstanden» gewesen seien, wobei Küster strusen Theorien der verschiedenen Rassenideologien genau völlig offenließ, woher er dies wusste und warum die übrigen wie die germanischen Völker als «Arier» anzusehen sind. Sinti und Roma «asozial» gewesen sein sollen. Doch diese Probleme waren lösbar oder wären lösbar ge- Küsters These sowie ähnliche Fehlurteile verschiedener wesen. Die zuständigen Richter hätten nämlich nur den Oberlandesgerichte wurden vom Bundesgerichtshof über- grundlegenden Erlass Himmlers vom 8. Dezember 1938 he- nommen und bestätigt, der am 7. Januar 1956 höchstrich- ranziehen müssen, um zu erkennen, dass die Nationalsozia- terlich entschied, dass für die Verfolgung der Sinti und Roma listen in der Tat eine «Regelung der Zigeunerfrage aus dem zumindest bis 1943 nicht «rassenideologische Gesichts- Wesen dieser Rasse heraus» angestrebt haben.21 Bei dieser punkte», «sondern die bereits erwähnten asozialen Eigen- «endgültigen Lösung der Zigeunerfrage» sollten die «rasse- schaften der Zigeuner» maßgebend gewesen seien, «die reinen Zigeuner und die Mischlinge gesondert» behandelt auch schon früher Anlaß gegeben» hätten, «die Angehöri- werden. Was mit dieser auf den ersten Blick merkwürdigen gen dieses Volkes besonderen Beschränkungen zu unter- Unterscheidung zwischen «rassereinen Zigeunern» und werfen».25 Selbst die in dem erwähnten Himmler-Erlass vom «Mischlingen» gemeint war, hätte man ohne Schwierigkeiten 8. Dezember 1938 «vorgesehenen Maßnahmen» könnten, der ebenfalls gedruckt vorliegenden Ausführungsanweisung so meinte der Bundesgerichtshof, «ihrem Wesen nach nicht vom 1. März 1939 zum Himmler-Erlass22 sowie den verschie- als spezifisch rasseverfolgend angesehen werde, sondern denen Publikationen Robert Ritters23 entnehmen können, auf halten sich noch im Rahmen polizeilicher Vorbeugungs- und dessen «rassenbiologische Forschungen» Himmler am 8. De- Sicherungsmaßnahmen». zember 1938 ausdrücklich hingewiesen hatte. Nach Ritters Damit hatte das höchste deutsche Gericht ein Urteil ge- Überzeugung, die sich dann Himmler zueigen machte, waren fällt, in dem die rassistisch motivierte Verfolgung der Sinti die Sinti und Roma allenfalls «primitive Arier» und insofern und Roma geleugnet wurde. Ein unfassbarer Skandal, der den zwar ebenfalls «arischen», aber ebenfalls als «minder- jedoch in der damaligen deutschen Öffentlichkeit kaum kri- wertig» geltenden slawischen Völkern vergleichbar. tisiert wurde. Eine Ausnahme war ein Aufsatz des Frankfur- Doch die meisten der in Deutschland lebenden Roma (Rit- ter Senatspräsidenten Franz Calvelli-Adorno, der eindringlich ter schätzte 90 Prozent) seien nicht «reinrassig», weil sich ih- re Vorfahren mit «kriminellen» und «asozialen Elementen»

des deutschen Volkes vermischt hätten. Da nach der damals 18 In: Bundesgesetzblatt I, 1953, S. 1397 ff. 19 Einige Beispiele bei: König, Ulrich: Sinti und weit verbreiteten These der sogenannten Kriminalbiologen, Roma unter dem Nationalsozialismus. Verfolgung und Widerstand, Bochum 1989. 20 Ca- valli-Sforza, Luca und Francesco: Verschieden und doch gleich. Ein Genetiker entzieht dem «asoziales» und «kriminelles» Verhalten vererbbar war, gal- Rassismus die Grundlage, München 1994. Mehr dazu bei: Wippermann, Wolfgang: Was ten diese «Mischlinge» als «geborene Verbrecher» und «Zi- ist Rassismus? Ideologien, Theorien, Forschungen, in: Danckwortt, Barbara, u. a. (Hrsg.): Historische Rassismusforschung. Ideologien – Täter – Opfer. Mit einer Einleitung von Wolf- geuner» zugleich und waren daher gewissermaßen doppelt gang Wippermann, Hamburg 1995, S. 9–33. 21 Runderlass des Reichsführers SS und Chefs der Deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern vom 8. Dezember 1938, in: «minderwertig», weil sich ihr «zigeunerisches» mit «asozia- Ministerialblatt des Reichs- und Preußischen Ministers des Innern Jg. 99, Nr. 51, 14. De- lem Blut» vermischt hatte. Daher wurden «Zigeunermischlin- zember 1938, S. 2105–2110. Abgedruckt bei: Wippermann, Wolfgang: Geschichte der Sin- ti und Roma. Darstellung und Dokumente, Berlin 1993, S. 80 f. 22 Ausführungsanweisung ge» viel rigoroser verfolgt als «jüdische Mischlinge». Selbst des Reichskriminalpolizeiamtes vom 1. März 1939 zum Runderlass des Reichsführers SS sogenannte Achtelzigeuner, das heißt Personen, unter de- und Chefs der Deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern vom 8. Dezember 1938, in: Deutsches Kriminalpolizeiblatt (Sonderausgabe), 12. Jg., 20. März 1939; abgedruckt bei: ren Urgroßeltern sich ein «Zigeuner» befunden haben soll, Wippermann, Geschichte der Sinti und Roma, S. 81. 23 Vgl. dazu: Brucker-Boroujerdi, Ute/ wurden schließlich genau wie sogenannte Volljuden nach Wippermann, Wolfgang: Die «Rassenhygienische und Erbbiologische Forschungsstelle» im Reichsgesundheitsamt, in: Bundesgesundheitsblatt 23. März 1989, S. 13–19; Wipper- Auschwitz deportiert. mann, Geschichte der Sinti und Roma, S. 26 ff. 24 Küster, Otto, u. a.: Bundesentschädi- Diese Differenzierung zwischen «reinrassigen Zigeunern» gungsgesetz. Bundesergänzungsgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialis- tischen Verfolgung (BEG) vom 18. September 1953, Kommentar, Berlin 1955, 72 73 und «Mischlingen» wirkt grotesk, ist aber durchaus logisch, S. 48. 25 Teilweise abgedruckt in: Zülch (Hrsg.), In Auschwitz vergast, S. 168–170. darauf aufmerksam machte, dass die «rassische Verfolgung mutet es schon sehr zynisch an, wenn die Bundesregierung der Zigeuner vor dem 1. März 1943», das heißt vor ihrer De- am 31. Oktober 1986 in einem abschließenden Bericht «über portation nach Auschwitz, begonnen hatte.26 Heftige Kritik Wiedergutmachung und Entschädigung für nationalsozia- kam auch von der United Restitution Organization (URO), listisches Unrecht sowie über die Lage der Sinti, Roma und die unter der Leitung von Kurt May Quellen und Materialien verwandter Gruppen» behauptet, dass das Fehl-Urteil von sammelte, um nachzuweisen, dass die Sinti und Roma tat- 1956 «verhältnismäßig geringe praktische Auswirkungen» sächlich aus «rassischen Gründen» verfolgt worden waren.27 gehabt habe.34 Insgesamt kann man sich Arnold Spittas Ur- Doch von diesen Argumenten der «Anwälte der Verfolg- teil nur anschließen, wonach man im Fall der Sinti und Roma ten» ließen sich einige westdeutsche Oberlandesgerichte «wider die Gutmachung» und nicht für eine wirkliche «Wie- nicht beeindrucken, die weiterhin Anträge auf Wiedergutma- dergutmachung» entschieden habe.35 Daher könnten sie ei- chung von Sinti und Roma rigoros ablehnten. Eine beson- gentlich auch «Wiedergutmachung für die Zeit nach 1945» ders scharfe Haltung nahm das Oberlandesgericht München fordern, wie dies der Liedermacher Wolf Biermann schon ein, das sich weiterhin auf die Voten und Gutachten der ehe- 1979 vorgeschlagen hat. Doch dazu wird es wohl kaum kom- maligen «Zigeunerpolizisten» in der Münchener «Landfah- men. Und Schuld daran tragen neben den deutschen Poli- rerzentrale» stützte28 und in einem Urteil vom 1. März 1961 tikern und Juristen auch deutsche Historiker, die den Völ- selbst bestritt, dass die Verfolgung der Sinti und Roma nach kermord an den Sinti und Roma marginalisiert und zugleich dem Auschwitzerlass Himmlers «rassisch» motiviert gewe- seinen rassistischen Charakter geleugnet haben, womit sie sen sei. Wenn «Zigeuner auch von Polizei, SS- oder Wehr- sich als Apologeten und willfährige Vollstrecker der antiziga- machtsdienstellen festgenommen und für kürzere oder nistischen Politik der Bundesrepublik erwiesen haben. längere Zeit in Gefängnissen oder geschlossenen Lagern festgehalten» worden seien, so sei dies nicht geschehen, «Kriminalpräventive» oder «um sie aus Gründen der Rasse zu verfolgen, sondern weil «rassische» Motive? sei ziel- und planlos umherzogen, sich über ihre Person nicht An den gesamten, hier bewusst ausführlich geschilderten po- ausweisen konnten oder für Spione gehalten wurden.»29 litischen und juristischen Auseinandersetzungen über die Fra- Da jedoch andere Gerichte, allen voran das Oberlandes- ge der «Wiedergutmachung» an Sinti und Roma haben sich gericht Frankfurt am Main, zu anderen Urteilen gelangten, die deutschen Historiker kaum beteiligt.36 Dies überließen sie sah sich schließlich der Bundesgerichtshof am 18. Dezem- fachfremden, aber gleichwohl extrem antiziganistisch einge- ber 1963 genötigt, die Entscheidung von 1956 wenigstens stellten Außenseitern wie dem Landauer Obermedizinalrat teilweise zu revidieren.30 Die Richter räumten ein, dass ras- Hermann Arnold, der verschiedene Bücher über die Geschich- senpolitische Motive für Maßnahmen, die seit dem Himm- te der Sinti und Roma im Allgemeinen, den Völkermord im Be- ler-Erlass vom 8. Dezember 1938 getroffen wurden, «mitur- sonderen geschrieben hat, in denen der rassistische Charak- sächlich» gewesen sein könnten. Daher wurde den Sinti ter dieses Völkermordes geleugnet und die Sinti und Roma und Roma jetzt gestattet, Entschädigungsanträge für Ver- selber als «Asoziale», «Bastarde», «Primitive», «Wildbeuter» folgungsmaßnahmen zu stellen, die nach dem 8. Dezember etc. diffamiert wurden.37 Gleichwohl oder vielleicht auch gera- 1938 stattgefunden hatten. de deshalb erfreute sich dieser Arnold bei den mit der «Zigeu- nerfrage» befassten Behörden eines mehr als guten Rufes. Er «Wiedergutmachung für die Zeit war ein gefragter Gutachter und prägte mit seinen extrem an- nach 1945»? tiziganistischen Publikationen über die Sinti und Roma auch Einen derartigen Stichtag zu verkünden, macht vielleicht im das Bild in den (west-)deutschen Schulbüchern und Lexika. Bereich des Bürgerlichen Rechts, etwa bei Räumungsklagen, Für die immer mehr expandierende NS-Forschung war Sinn, bei der rechtlichen Würdigung der Verfolgung der Sin- der Völkermord an den Sinti und Roma dagegen kein The- ti und Roma war dies schlicht Unsinn. Schließlich ist ja auch ma. In den Handbüchern und Überblicksdarstellungen zur niemand auf die Idee gekommen, zum Beispiel alle antijüdi- Geschichte des «Dritten Reiches» wurden die Sinti und Ro- schen Maßnahmen, welche die Nationalsozialisten bis zu den ma, wenn überhaupt, dann nur ganz am Rande erwähnt. 38 Novemberpogromen von 1938 getroffen haben, für rechtens Für diese Vernachlässigung waren zweifellos auch antiziga- zu erklären. Dabei waren die Nürnberger Rassegesetze vom 15. September 1935 spätestens seit dem 26. November 1935 31 26 Calvelli-Adorno, Franz: Die rassische Verfolgung der Zigeuner vor dem 1. März 1943, in: auch auf Sinti und Roma übertragen worden. Einzelne Ver- Rechtsprechung zum Wiedergutmachungsrecht 12, 1961, S. 529 ff. 27 Dazu: Hockerts, folgungsmaßnahmen hatte es seit Beginn des Dritten Rei- Hans Günther: Anwälte der Verfolgten. Die United Restitution Organization, in: Herbst/ Goschler (Hrsg.), Wiedergutmachung, S. 249–272. 28 Zahlreiche skandalöse Beispiele bei: ches gegeben. Die Sinti und Roma waren jedoch schon vor Schenk, Rassismus gegen Sinti und Roma, S. 330 ff. 29 Zitiert nach Schenk, Rassismus 1933 diskriminiert worden, denn alle «Zigeunergesetze» aller gegen Sinti und Roma, S. 326. 30 BGH-Urteil vom 18. Dezember 1963, in: Rechtsprechung zum Wiedergutmachungsrecht 1964, S. 209 ff. 31 Siehe den Runderlass des Reichs- und deutschen Länder waren schlicht verfassungswidrig, weil sie Preußischen Ministers des Innern vom 26. November 1935 über das «Verbot von Rassen- den auch für Sinti und Roma geltenden Gleichheitsgrundsatz mischehen», in: Ministerialblatt für die innere Verwaltung 1935, Nr. 49, Sp. 1429–1434; ab- gedruckt bei: Wippermann, Geschichte der Sinti und Roma, S. 77. 32 Zu diesem Ergebnis nicht beachteten.32 Streng genommen könnten Roma «Wie- gelangte eine zeitgenössische Dissertation: Höhne, Werner K.: Die Vereinbarkeit der deut- schen Zigeunergesetze mit dem Reichsrecht, insbesondere der Reichsverfassung, Jur. dergutmachung» auch für das schon während der Weimarer Diss., Heidelberg 1929. 33 Dieser Beschluss wurde in Form einer sog. «Härteregelung» Republik an ihnen begangene Unrecht erhalten. am 26. August 1981 in Kraft gesetzt. Vgl.: Rose, Romani: Bürgerrechte für Sinti und Roma. Das Buch zum Rassismus in Deutschland, Heidelberg 1987, S. 59. 34 Drucksache des Doch daran hat bisher noch niemand gedacht. Immerhin Deutschen Bundestages 10/6287 vom 31. Oktober 1986, S. 34. 35 Spitta, Wiedergutma- konnten Roma aufgrund eines Beschlusses des Bundesta- chung oder wider die Gutmachung, S. 161–167. 36 Zum Folgenden: Wippermann, Wolf- gang: «Wie mit den Juden»? Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma ges vom 14. Dezember 1979 eine «Beihilfe» in Höhe von ma- in Politik, Rechtssprechung und Wissenschaft, in: Bulletin für Faschismus- und Weltkriegs- ximal 5 000 DM beantragen.33 Die Antragsfrist lief jedoch am forschung 15/2000, S. 3–29. 37 Sein Hauptwerk ist: Arnold, Hermann: Die Zigeuner. Her- kunft und Leben im deutschen Sprachgebiet, Olten 1965. Dieses Buch erfreute sich einer 31. Dezember 1982 aus. Verschiedene der wenigen überle- großen Beliebtheit, wurde in allen Lexika zitiert und prägte auch die hier zu findenden Urtei- benden Sinti und Roma, denen man in den 1950er Jahren le bzw. Vorurteile über die Roma. 38 Dies trifft auch auf die Handbücher und Überblicksdar- stellungen der DDR zu. Allerdings hat kein einziger DDR-Historiker so negativ über die Sinti ihr Recht versagt hatte, waren inzwischen gestorben. Daher und Roma geschrieben, wie es einige westdeutsche getan haben. 74 nistische Vorurteile maßgebend. Hinzu kam jedoch, dass die griffe gegen die Rassismus-These von einigen Gießener Eth- Repräsentanten aller Hauptrichtungen der NS-Forschung nologen, Psychologen und Soziologen, die sich unter der Schwierigkeiten hatten und haben, den Völkermord an den Leitung des Theologen Reimar Gronemeyer zum «Gießener Sinti und Roma zu erklären. Projekt Tsiganologie» zusammengeschlossen hatten. Diese, Erwähnenswert ist allein ein kleiner, knapp zehn Seiten wie sie sich selbst nennen, «Tsiganologen» beschäftigten umfassender Aufsatz des Mitarbeiters des Münchener Insti- sich zunächst mit der gegenwärtigen Lage der deutschen tuts für Zeitgeschichte, Hans Buchheim, aus dem Jahr 1958 Roma. Dabei übernahmen sie die auch von anderen Sozio- über die «Zigeunerdeportation vom Mai 1940».39 Es handelt logen und Sozialarbeitern vertretene These, wonach es sich sich um eine Auftragsarbeit, die von den Gerichten angefor- bei den Roma nicht um eine ethnische Minderheit, sondern dert wurde, die sich damals mit der Frage beschäftigten, ob um eine «soziale Randgruppe» handele, die sich gegen ih- die Deportation der Sinti und Roma vom Mai 1940 rassis- re Integration in die «uniforme Industriegesellschaft» weh- tisch motiviert war oder nicht. Buchheim bejahte diese Fra- re und stattdessen mit einem gewissen «Eigensinn» an ihrer ge in seinem viel zu knappen «Gutachten» zwar, beschränk- «zigeunerischen Lebensweise» festhalte, um in ihrer «peri- te sich aber auf nur einige wenige Dokumente und machte pheren Subkultur» zu verbleiben.48 All dies war zunächst kei- sich insgesamt die Sache viel zu leicht. Insofern war es nicht neswegs negativ gemeint. Denn offensichtlich hofften diese völlig unbegründet, wenn die Gerichte, wie erwähnt, sei - Alt-68er in den zu einer «sozialen Randgruppe» mit einem nem Urteil nicht folgten. Hinzu kam, dass Buchheims knap- rebellischen «Eigensinn» stilisierten Sinti und Roma einen Er- pe Expertise von einem Aufsatz des Juristen Hans-Joachim satz für das Proletariat gefunden zu haben, das für die Revo- Döring widerlegt wurde, der ein Jahr später – 1959 – in den lution nicht mehr infrage käme, weil es sich ganz dem «Kon- angesehenen «Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte» er- sumterror» ergeben habe. schien.40 Döring sprach sich hier sowie in seinem fünf Jahre Diese revolutionären Wunschträume wurden jedoch von später veröffentlichten Buch über «Die Zigeuner im national- den Roma ganz und gar nicht geteilt. Stattdessen beharr- sozialistischen Staat» dafür aus, dass die Verfolgung der Sinti ten sie darauf, dass sie in Deutschland eine ethnische Min- und Roma überwiegend nicht rassistisch, sondern «kriminal- derheit und keine «soziale Randgruppe» darstellten, die sich präventiv» motiviert gewesen sei.41 zudem keineswegs aus «Eigensinn» gegen eine Integration Dieser, wie bereits ausführlich begründet, falschen These wehre. Im Gegenteil! Ihre eigentlich schon lange vollzogene Dörings haben die deutschen Fachhistoriker nicht widerspro- Akkulturation würde vielmehr von der notorisch antiziganis- chen und sie stattdessen stillschweigend akzeptiert. Damit tisch eingestellten Mehrheitsgesellschaft entweder nicht zur unterschieden sie sich ganz wesentlich von einigen auslän- Kenntnis genommen oder bewusst verhindert. dischen Historikern, die seit den 1960er Jahren einige Studi- Die Gießener «Tsiganologen» reagierten ob dieses nicht en vorlegten, in denen klar und eindeutig bewiesen wurde, erwarteten «Eigensinns» der Sinti und Roma mehr als ver- dass die Verfolgung der Sinti und Roma sehr wohl rassistisch stört. Anstatt ihre eigenen vorgefassten Theorien zu revidie- motiviert war. Zu nennen sind Jerzy Ficowsky aus Polen, Sel- ren, warfen sie den Sinti und Roma vor, weiterhin an ihrer «zi- ma Steinmetz und Erika Thurner aus Österreich, Bernard Si- geunerischen Lebensweise» festzuhalten. Dies war erstens jes aus Holland, Miriam Novitch aus Israel und vor allem das nicht wahr, weil heute alle deutschen Sinti und Roma sess- schon mehrfach zitierte Buch der Engländer Donald Kenrick haft geworden sind und über einen festen Wohnsitz verfü- und Grattan Puxon.42 Doch auch diese durchaus verdienst- gen, den sie allenfalls für gewerbliche oder Urlaubszwecke vollen Pionierstudien wurden in Deutschland kaum rezipiert für kürzere oder auch längere Zeiten verlassen. Außerdem und, wenn überhaupt, sehr spät ins Deutsche übersetzt. wird mit der Konstruktion einer spezifischen «zigeunerischen Erst seit Beginn der 1970er Jahre und nachdem Repräsen- Lebensweise» bestimmtes soziales, genauer gesagt «asozi- tanten der Roma selber in öffentlichkeitswirksamen Aktio- ales» Verhalten einer gesamten Volksgruppe zugeschrieben nen auf ihr Schicksal aufmerksam gemacht hatten,43 änderte sich das Bild. Jetzt erschienen neben einigen populärwissen- schaftlich gehaltenen Gesamtdarstellungen auch verschie- 39 Buchheim, Hans: Die Zigeunerdeportation vom Mai 1940, in: Gutachten des Instituts für dene wissenschaftliche Untersuchungen zur Verfolgung Zeitgeschichte, Bd. 1, München 1958, S. 51–61. 40 Döring, Hans-Joachim: Die Motive der Zigeuner-Deportation vom Mai 1940, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 7/1959, S. 418– vornehmlich der deutschen Sinti und Roma im lokalen und 428. 41 Döring, Hans-Joachim: Die Zigeuner im nationalsozialistischen Staat, Hamburg regionalen Bereich. Hinzu kamen einige Detailstudien zur 1964. 42 Ficowski, Jerzy: Cyganie Polscy. Skice historyczno-obyczajow, Warschau 1953; ders.: Cyganie na polskich drogach, Krakau 1965; ders.: Wieviel Trauer und Wege. Zigeuner Verfolgungsgeschichte der Sinti und Roma in Osteuropa, die in Polen, Frankfurt am Main 1992; Steinmetz, Selma: Österreichs Zigeuner im NS-Staat, Wien jedoch mehr von ausländischen als deutschen Historikern 1966; Thurner, Erika: Nationalsozialismus und Zigeuner in Österreich, Salzburg 1983; Sijes, Bernard, u. a., Vervolging van Zigeuners in Nederland 1940–1945, s’Gravenhage 1979; No- verfasst waren. Damit wurden nicht nur die Faktenkenntnis- vitch, Miriam: Le génocide des Tsiganes sous le Régime Nazi, Paris 1968; Kenrick, Donald/ se wesentlich erweitert, sondern auch die These begründet, Puxon, Grattan: The Destiny of Europe’s Gypsies, London 1982. 43 Dazu vor allem: Rose, Bürgerrechte für Sinti und Roma. 44 So der Vorsitzende des Zentralrats der deutschen Sin- dass die Verfolgung der Sinti und Roma generell und von An- ti und Roma, Romani Rose. Vgl.: Rose, Romani (Hrsg.): Der nationalsozialistische Völkermord fang an rassistisch motiviert gewesen war,44 ja ein integraler an Sinti und Roma, Heidelberg 1995. Ebenso eindeutig für die Rassismus-These: Reemtsma, Katrin: Sinti und Roma. Geschichte, Kultur und Gegenwart, München 1996. 45 So: Burleigh, Bestandteil der allgemeinen Rassenpolitik des nationalsozi- Michael/Wippermann, Wolfgang: The Racial State. Germany 1933–1945, Cambridge 1991, 45 bes. S. 113 ff. Ähnlich bereits: Müller-Hill, Benno: Tödliche Wissenschaft. Die Aussonderung alistischen «Rassenstaates» gewesen ist. Daher schlugen von Juden, Zigeunern und Geisteskranken 1933–1945, Reinbek 1984. 46 Hinzuweisen ist neben Repräsentanten der Roma selbst, die dies schon im- hier vor allem auf die Forschungen der Amerikanerin und langjährigen Mitarbeiterin des Wa- shingtoner Holocaust Museum Sybil Milton. Vgl. u. a.: Milton, Sybil: Der Weg zur «Endlösung mer behauptet hatten, auch einige in- und ausländische For- der Zigeunerfrage». Von der Ausgrenzung zur Ermordung der Sinti und Roma, in: Bamber- scher vor, den Völkermord an den Roma mit dem an den Ju- ger, Edgar/Ehmann, Annegret (Hrsg.): Kinder und Jugendliche als Opfer des Holocaust, Hei- delberg 1995, S. 29–52. 47 Daran und an der gesamten Kontroverse über den rassistischen den zu vergleichen und die beiden gemeinsamen, rassistisch Charakter der Verfolgung der Sinti und Roma haben sich Historiker der DDR kaum beteiligt. motivierten Grundzüge herauszuarbeiten.46 Vor 1990 durften sie es vielleicht nicht und danach konnten sie es vielleicht deshalb nicht mehr, weil sie ihren Job verloren hatten. 48 Münzel, Mark/Streck, Bernhard (Hrsg.): Kum- Der These, dass die Roma «wie die Juden» ebenfalls aus pania und Kontrolle. Moderne Behinderungen zigeunerischen Lebens, Gießen 1981; Gro- rassistischen Motiven ermordet worden sind, wurde jedoch nemeyer, Reimar (Hrsg.): Eigensinn und Hilfe. Zigeuner in der Sozialpolitik heutiger Sozial- gesellschaften, Gießen 1983. Dazu und zur folgenden Kritik: Wippermann, «Wie die 74 75 auch widersprochen.47 In Deutschland kamen die ersten An- Zigeuner», S. 200 ff. und damit ethnisiert. Dies kommt bereits einer rassistischen Doch auch darauf wollen wir hier nicht weiter eingehen. Die- Denkweise ziemlich nahe. sen Streit soll man den notorisch streitlustigen Historikern Während die Gießener «Tsiganologen» einmal deutlich überlassen.57 Stattdessen wenden wir uns der eingangs machten, dass sie selbst noch in gewissen Vorurteilen ei- schon erwähnten Frage zu, ob jetzt mit der Errichtung des nes rassistischen Antziganismus befangen waren, stritten Denkmals für die ermordeten Sinti und Roma Europas alles sie andererseits die rassistische Motivation der nationalso- wieder gut ist und wieder gutgemacht worden ist. zialistischen Verfolgung der Sinti und Roma mehr oder min- der entschieden ab. Dabei tat sich vor allem Bernhard Streck Denkmal des Denkmals besonders hervor, der seine bisherigen durchaus richtigen Natürlich nicht! Es ist nicht alles gut. Der Völkermord an Ansichten revidierte49 und nun die These vertrat, dass die Na- den Sinti und Roma kann nicht wieder gutgemacht werden. tionalsozialisten nur eine «sozialpolitische» Lösung des «Zi- Schon gar nicht durch ein Denkmal. Was man zwar nicht wie- geunerproblems» angestrebt hätten, wobei es ihnen mehr der gut, aber besser machen kann, ist die Aufarbeitung der auf eine «Beseitigung von Missständen, weniger von Perso- doppelten Vergangenheit. Zum einen der nationalsozialisti- nen» angekommen sei.50 Damit hatte Streck de facto die revi- schen und zum anderen der bundesrepublikanischen. In bei- sionistischen Thesen eines Arnold übernommen. den Bereichen ist noch viel zu tun. Man muss die Fakten klä- Dazu muss man wissen, dass die These, der Völkermord ren und über ihre Leugnung aufklären. Vor allem muss man an den Roma sei rassistisch motiviert und schon deshalb mit den Sinti und Roma gerecht werden. Das ihnen in der NS-Zeit dem Holocaust zu vergleichen, bei einigen, aber, wie schon angetane Leid kann man nicht wieder gutmachen. Wieder erwähnt, keineswegs allen jüdischen und israelischen His- gutmachen kann man aber die ihnen verweigerte Wiedergut- torikern auf Kritik gestoßen ist.51 Vorgetragen wurde sie un- machung; überwinden sollte man die nach wie vor vorhande- ter anderem von dem Nobelpreisträger Elie Wiesel und dem nen antiziganistischen Vorurteile der Mehrheitsgesellschaft; sehr angesehenen israelischen Holocaustforscher Yehuda und bekämpfen muss man die Diskriminierung der Sinti und Bauer.52 Anlass war die Frage, ob in dem Washingtoner Ho- Roma. Hier bei uns in Deutschland und in unseren Nachbar- locaust Museum auch das Schicksal der Sinti und Roma er- ländern. Zu all dem könnte ein neues und anderes Denkmal wähnt werden sollte, was von Wiesel, Bauer und anderen beitragen. Es wäre ein Denkmal des Denkmals. jüdischen und israelischen Historikern mit dem Argument zurückgewiesen wurde, der Mord an den Juden sei absolut einzigartig gewesen. Dagegen opponierte der Vorsitzende Wolfgang Wippermann ist Professor für Neuere Geschichte an der US-amerikanischen Roma Ian Hancock,53 der dabei auch der Freien Universität Berlin. Zudem hat er einen Lehrauftrag an von einigen anderen US-amerikanischen Historikern nicht- der Universität der Künste (UdK) Berlin und hält Gastprofessuren jüdischer und jüdischer Herkunft unterstützt wurde. Seine in Österreich, China und den USA. Intervention war erfolgreich. Im Washingtoner Holocaust Museum wird auch der Völkermord an den Sinti und Roma erwähnt, ja als Teil des allgemeinen Holocaust dargestellt.54 Diese pragmatische und gewissermaßen «typisch ameri- kanische» Lösung hätte für Deutschland eine Vorbildfunkti- on haben können, wo man seit Ende der 1980er Jahre darü- ber diskutierte, zwar kein Holocaustmuseum, wohl aber ein Holocaustmahnmal zu errichten, das jedoch ausschließlich an das Schicksal der Juden erinnern sollte. Wie nicht anders zu erwarten war, stieß dies auf die Kritik der Sinti und Roma und auch der Repräsentanten der anderen Opfer und Opfer- verbände. Dies konnte und sollte der Öffentlichkeit nicht ver- borgen bleiben. Während einige vor einer Hierarchisierung der Opfer im Allgemeinen, der Marginalisierung des Schick- sals der Sinti und Roma im Besonderen warnten, spitzten die anderen die These von der absoluten Singularität des Juden- 49 Vgl.: Streck, Bernhard: Die Bekämpfung des Zigeunerunwesens. Ein Stück moderner mordes bzw. der «Endlösung der Judenfrage» zu. Dabei kam Rechtsgeschichte, in: Zülch (Hrsg.): In Auschwitz vergast, S. 64–88. In diesem Aufsatz aus es zu höchst unerfreulichen, wechselseitigen Angriffen und dem Jahre 1979 hatte Streck noch die richtige These vertreten, dass die nationalsozialisti- sche «Zigeunerpolitik» rassistisch motiviert gewesen ist. 50 Streck, Bernhard: Die natio- Verdächtigungen. nalsozialistischen Methoden zur «Lösung des Zigeunerproblems», in: Tribüne – Zeitschrift Darauf und auf die gesamte und insgesamt unerfreuliche zum Verständnis des Judentums 20/1981, S. 53–77. 51 Neben Milton votierte auch Henry R. Huttenbach für die Vergleichbarkeit des Holocaust mit dem Völkermord an den Roma. Geschichte des Holocaustdenkmals soll hier nicht weiter Huttenbach, Henry R.: The Romani Porajmos. The Nazi Genocide of Europe’s Gypsies, in: eingegangen werden.55 Wichtig ist das Ergebnis: Das Holo- Nationality Papers 19/1991, S. 373–396. Vehement dagegen: Berenbaum, Michael: The Uniqueness and Universality of the Holcoaust, in: ders. (Hrsg.): A Mosaic of Victims. Non- caustdenkmal ist nur dem Gedenken an die «ermordeten Ju- Jews Persecuted and Murdered by the Nazis, London 1990, S. 20–36. 52 Bauer hat seine ablehnende Stellungnahme vor allem in einem Artikel in der «Enzyklopädie des Holocaust» den Europas» gewidmet. Dies ist legitim. Nicht legitim und zum Ausdruck gebracht. Dies trug ihm die überaus scharfe Kritik von Romani Rose ein, vgl.: scharf zu kritisieren ist, wenn die ausschließliche Berück- Gutman, Israel (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, Bd. 1–3, München 1995, Bd. 3, S. 1630–1634. 53 Vgl. seine mit schar- sichtigung der Shoah mit einer Relativierung der Bedeutung fen Angriffen gegen Wiesel und andere jüdischen Repräsentanten gespickte Streitschrift: des Porrajmos begründet wird. Denn bei beiden Verbrechen Hancock, Ian: The Pariah Syndrome, Ann Arbor o. J. 54 Im amerikanischen Sprachge- brauch wird unter «Holocaust» inzwischen keineswegs nur der Mord an den Juden, sondern handelte es sich um gleiche oder zumindest vergleichbare, der nationalsozialistische Rassenmord generell verstanden. 55 Dazu: Wippermann, Wolf- intendierte und rassistisch motivierte Völkermorde. Leider gang: Denken statt denkmalen. Gegen den Denkmalswahn der Deutschen, Berlin 2010, S. 129 ff. 56 Unter anderem von: Zimmermann, Michael: Rassenutopie und Genozid. Die wird diese Erkenntnis, die sich in der deutschen und inter- nationalsozialistische Lösung der Zigeunerfrage, Hamburg 1996 und Lewy, Guenter: «Rück- nationalen Forschung schon durchgesetzt hatte, von einigen kehr nicht erwünscht.» Die Verfolgung der Zigeuner im Dritten Reich, Berlin 2001. 57 Vgl. dazu: Wippermann, Wolfgang: «Auserwählte Opfer»? Shoah und Porrajmos im Vergleich. deutschen und ausländischen Forschern wieder bestritten.56 Eine Kontroverse, Berlin 2005. 76 STANDPUNKTE 15/2012

Sebastian Friedrich/Hannah Schultes Bedrohung Salafismus? Aktuelle Debatte in Deutschland bedient antimuslimischen Rassismus und nützt dem Verfassungsschutz

Im Frühjahr 2012 wuchs mit der Diskussion über die Koran-Verteilungen in deutschen Großstädten sowie den Auseinan- dersetzungen zwischen AktivistInnen der Initiative Pro NRW und AnhängerInnen des Salafismus in Bonn und Solingen das mediale und politische Interesse am Thema «Salafismus in Deutschland». Die diskursanalytische Auswertung ausge- wählter Beiträge der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zeigt, dass die Debatte im Kontext des hiesigen antimuslimischen Rassismus steht, den Sicherheitsdiskurs bedient und einer extremismustheoretischen Lo- gik folgt. Wesentliche Effekte dieser Debatte sind der Generalverdacht gegenüber der (konstruierten) Gruppe «der Mus- lime», die teilweise Rehabilitation des Verfassungsschutzes, der durch das Bekanntwerden der NSU-Morde in die Kritik geraten war, und die gleichzeitige Dethematisierung von Rassismus.1

Seit der Debatte um die Koran-Verteilungen und den Kon- Denn sowohl in einigen linken als auch in hegemonialen Me- frontationen zwischen SalafitInnen2 und AktivistInnen von dien und Äußerungen von PolitikerInnen bildete die Frage, Pro NRW in Bonn und Solingen im April und Mai 2012 ist wie der Salafismus in seiner Ideologie und Praxis zu bewer- das Wort Salafismus den meisten Menschen geläufig, auch ten sei, den Ausgangspunkt der meisten Beiträge. Die Jun- wenn sie damit wohl kaum mehr als eine vage Vorstellung gle World etwa brachte auf dem Höhepunkt der Debatte um verbinden. Die vorherrschende Deutung ist: Scheinbar aus Salafismus einen Schwerpunkt mit dem Untertitel «Sala- dem Nichts tauchte eine «unsere Sicherheit» massiv gefähr- fisten auf dem Vormarsch» (Jungle World Nr. 19/2012). Ex- dende radikale Strömung des Islam auf. Islamwissenschaft- plizit kritische Beiträge zur staatlichen Ordnungspolitik und lerInnen schätzen, dass lediglich 3.000 bis 5.000 MuslimIn- Repression gegen SalafitInnen fanden sich weder in dieser nen dem Salafismus zuzurechnen sind. Bei geschätzten vier noch in anderen Ausgaben. So wurden Abschiebungen und Millionen MuslimInnen in Deutschland beträgt der Anteil Law-and-Order-Vorstöße in diesem Zusammenhang kaum von SalafitInnen daher in etwa 0,1 Prozent, wovon wieder- erwähnt. Eine kritische Betrachtung der Debatte um Salafis- um nur eine Minderheit dem dschihadistischen Flügel zuge- mus setzt zwei zentrale Einsichten voraus: Diese Debatte fin- rechnet wird. Warum erhält eine Promille-Splittergruppe zu det erstens in einem gesellschaftlichen Raum mit bestimm- diesem Zeitpunkt eine derartige Aufmerksamkeit, und wie ist ten Macht- und Herrschaftsverhältnissen und nicht losgelöst diese Aufmerksamkeit zu bewerten? von ähnlichen vorangegangen Debatten und herrschenden Für die Beantwortung dieser Fragen halten wir eine theolo- Diskursen statt. Für die Diskussionen um Salafismus in den gische Bestimmung des Salafismus oder eine soziologische bürgerlichen Medien erscheinen uns drei Diskurse zentral: Untersuchung der Sozialstruktur und der Motivationen von der Islamdiskurs und der darin zum Ausdruck kommende SalafitInnen für entbehrlich. Notwendig erscheint hingegen antimuslimische Rassismus, der durch die Extremismusthe- der Blick auf Entwicklung, Kontexte und Effekte der Debatte. orie geprägte Sicherheitsdiskurs und der im Zeichen des In- Unverzichtbar ist dabei für uns die Thematisierung einer vor- tegrationsparadigmas stehende Einwanderungsdiskurs. Die geblichen Zwiespältigkeit: Zwar folgen weite Teile der sala- Debatte brachte dabei jedoch keine neuen Deutungsmuster fitischen Bewegung einem antiemanzipatorischen Gesell- hervor, sondern stärkte und verband bereits vorhandene an- schaftsbild, in der medialen und politischen Fokussierung des Themas setzen sich allerdings antimuslimische Denk- muster fort. 1 Wir bedanken uns für kritische Anmerkungen bei Fritz Burschel, John Lütten, Sara Madj­ lessi-Roudi, Verena Namberger, Andrea Strübe, Regina Wamper und Jens Zimmer - Wie kann eine kritische Analyse der medialen und politi- mann. 2 In den letzten Jahren hat sich die Bezeichnung «Salafist» durchgesetzt, während schen Verhandlung des Salafismus aussehen, die den Fokus bis in die 2000er Jahre hinein der Begriff «Salafit» dominant war. Das Suffix «-ist» stellt Ver- bindungen zu anderen negativ besetzten Begriffen wie «Terrorist», «Extremist» und «Isla- 76 77 auf die Debatte an sich richtet? mist» her. timuslimische, extremismustheoretische und integrations- meinen Zeitung (FAZ) bzw. deren Sonntagsausgabe (FAS) politische Aussagen. Die praktischen Konsequenzen der De- wurden SalafitInnen und Salafismus bis 2010 kaum erwähnt.6 batte waren vielfältig. So hielt es etwa Bundesinnenminister In den wenigen Fällen, in denen dennoch berichtet wurde, Hans-Peter Friedrich für richtig, dass Sanktionen über Sozi- geschah dies fast ausschließlich im Zusammenhang mit au- alleistungen – das heißt Sozialhilfe-Kürzungen oder -Strei- ßenpolitischen Themen. Die Begriffe «Salafismus», «Salafi- chungen – für «radikale Salafisten» geprüft werden, und ten» und «Salafisten» wurden zwischen den Jahren 2000 und strebte eine Verschärfung des Aufenthaltsgesetzes an, um 2010 in der FAZ/FAS und in der SZ durchschnittlich in 17 bzw. Abschiebungen zu erleichtern.3 Über diese Forderungen hi- 12 Beiträgen pro Jahr genannt. Die Zahl der Beiträge stieg in naus wurden seit April 2012 Razzien durchgeführt, Vereine den letzten Jahren schlagartig an: Im Jahr 2011 finden sich verboten und zwei Salafiten abgeschoben bzw. mit Abschie- 84 (FAZ/FAS) und 94 (SZ) Beiträge, im Jahr 2012 bis zum 31. bung bedroht. August sowohl in FAZ/FAS als auch in der SZ jeweils gar 226 Eine zweite Einsicht besteht darin, dass es spezifische Beiträge.7 Woher kommt das gesteigerte Interesse? gesellschaftspolitische Effekte der Debatte gibt, die bisher Da bis einschließlich 2010 Salafismus in Deutschland ebenfalls nicht hinreichend berücksichtigt wurden. Der we- quantitativ kaum ein Thema war, könnte angenommen wer- sentliche Effekt besteht unserer Auffassung nach in einer den, dass etwa der Anschlag auf Angehörige der US Air Rehabilitation des Verfassungsschutzes, die mit der Dethe- Force im März 2011 durch einen Salafiten in Frankfurt am matisierung von Rassismus einhergeht. Main das gesteigerte Medieninteresse hervorgerufen hat. Wir wollen mit diesem Diskussionsbeitrag die Debatte Allerdings stellt dieser Anschlag nicht den Beginn des Me- kontextualisieren und in ihren Effekten analysieren und wer- dieninteresses dar, sondern eine Reihe von Hintergrundbe- den dafür im ersten Schritt zeigen, seit wann und in welchen richten, Reportagen und Porträts über «Konvertiten». In der Zusammenhängen Salafismus in Deutschland bisher thema- FAZ und besonders in der FAS wird in der ersten Jahreshälfte tisiert wurde, bevor wir uns anschließend auf die Salafismus- 2010 mehrmals auf dieses Phänomen hingewiesen. So stell- Debatte im Frühling 2012 in den hegemonialen Medien kon- te Markus Wehner in der FAS am 10. Januar 2010 erstaunt zentrieren. fest, dass in einer Koranschule im Nordjemen mehrheitlich KonvertitInnen aus Deutschland anzutreffen seien. Kurz Sal afismus in den Medien darauf folgte in der FAZ ein ausführliches Porträt des Kon- bis zu den Koran-Verteilungen vertiten und Predigers Pierre Vogel, in dem besonders auf Den gesamtgesellschaftlichen diskursiven Kontext der Sala- dessen Werdegang hingewiesen wird: Ein «kölscher Jung, fismus-Debatte prägen zahlreiche Ereignisse, unter denen laut, lustig, herzlich», der zwischenzeitlich als Profi-Boxer insbesondere drei hervorzuheben sind. 2010 zog die Ver- auf dem Weg zu einer großen Karriere war, wird zum isla- öffentlichung des Buches «Deutschland schafft sich ab» mischen Prediger, der an der Universität in Mekka studiert vom Berliner Ex-Finanzsenator und Ex-Bundesbank-Vor- (FAZ, 2.2.2010). Zwei Wochen später schrieb Wehner er- standsmitglied Thilo Sarrazin eine Debatte nach sich, wel- neut in der FAS einen ausführlichen Beitrag über «deutsche» che antimuslimischen Rassismus stärkte und eine nachhal- Dschihadisten mit dem Titel: «Deutschland sucht den Super- tige Einteilung der migratisierten, das heißt als «Migranten» Djihadisten» (FAS, 14.2.10). In dem Beitrag wird in wenigen wahrgenommenen Menschen in «Integrationsverweigerer» Zeilen eine Brücke geschlagen von vermeintlichen Dschiha- und «Musterbeispiele gelungener Integration» zur Folge hat- disten, die von Deutschland aus in den Heiligen Krieg zie- te.4 Die Anschläge durch einen extrem Rechten in Oslo und hen sollen, zu Schriften etwa von Pierre Vogel und jungen Utøya im Juli 2011, die ihren ideologischen Ursprung unter KonvertitInnen, die dessen Schriften auswendig lernen wür- anderem im antimuslimischen Rassismus hatten, wurden den. Hier wird – anders als im Porträt über Vogel – kaum zwi- in den ersten Reaktionen medial zunächst als «islamistisch» schen salafitischer Religionsdeutung und konkretem terro- eingestuft, um dann Anders Behring Breivik als «Einzeltä- ristischen Handeln unterschieden. ter» entweder zu pathologisieren oder – der Logik der Ext- Zwar gab es bereits vor der Welle der Thematisierung remismustheorie folgend – als Rechtsextremen außerhalb von «Konvertiten» vereinzelt Meldungen über Salafismus in der «demokratischen Mitte» zu verorten. 5 Im November Deutschland, allerdings nur im Zusammenhang von Warnun- 2011 wurden die Morde des «Nationalsozialistischen Unter- gen des Verfassungsschutzes. Die aufgeregte Konzentration grunds» (NSU) aufgedeckt, und seitdem findet eine Debatte auf «Deutsche», die scheinbar plötzlich zum Islam konvertie- um das Versagen des Verfassungsschutzes statt, im Laufe ren, lässt aus rassismusanalytischer Sicht tief blicken: Das derer auch die Forderung nach dessen Abschaffung disku- Bild des «Konvertiten» symbolisiert die Angst der weiß-deut- tiert wurde. Die Koran-Verteilungen, die verstärkt von April bis Mitte Juni stattfanden, gehen auf das salafitische Netzwerk «Die 3 Friedrich dazu wörtlich: «Künftig sollte dies [Abschiebung; S.F./H.S.] schon dann möglich wahre Religion» zurück. Ziel war es, 25 Millionen Korane in sein, wenn jemand Inhalte verbreitet, die sich gegen die freiheitlich-demokratische Grund- ordnung richten oder die einer Radikalisierung beziehungsweise Anwerbung zum Terroris- deutschen Städten gratis zu verteilen – bis zum endgültigen mus Vorschub leisten, egal ob aus religiösen oder politischen Motiven» («Radikaler Salafis- mus ist wie eine harte Droge». Interview mit Hans-Peter Friedrich, in: Die Welt vom Stopp des Auftrags durch die zuständige Druckerei wurden 8.6.2012). 4 Vgl. Friedrich, Sebastian/Schultes, Hannah: Von «Musterbeispielen» und «In- 300.000 Exemplare geliefert. Der im Kontext der Koran-Ver- tegrationsverweigerern». Repräsentationen von Migrant_innen in der «Sarrazindebatte», in: Friedrich, Sebastian (Hg.): Rassismus in der Leistungsgesellschaft. Analysen und kriti- teilungen aufbrechenden Salafismus-Debatte gingen einzel- sche Perspektiven zu den rassistischen Normalisierungsprozessen der «Sarrazindebatte», ne auf den Salafismus bezogene Ereignisse voraus, deren Münster 2011, S. 77–95. 5 Wamper, Regina/Jadtschenko, Ekaterina/Jacobsen, Marc: «Das hat doch nichts mit uns zu tun!» Die Anschläge in Norwegen in deutschsprachigen Medien, mediale Verhandlung aufschlussreich ist für die hohe Auf- Münster 2011. 6 Wir beziehen uns auf die beiden auflagenstärksten deutschen Tageszei- merksamkeit, die das Thema 2012 erfahren hat. tungen SZ und FAZ/FAS, da diese als sogenannte Qualitätsmedien wahrgenommen wer- den: Den dort verbreiteten Deutungsangeboten kommt eine hohe Glaubwürdigkeit, eine Die Thematisierung des Salafismus beginnt im bundes- starke meinungsbildende Funktion und Multiplikator-Wirkung zu. 7 Berücksichtigt wurden deutschen Diskurs erst vor drei Jahren. Sowohl in der Süd- alle Beiträge der Printausgaben der FAZ (inklusive der Sonntagsausgabe FAS) und der SZ. Nicht berücksichtigt wurden im Sinne der Vergleichbarkeit die Online-Beiträge der Zeitun- deutschen Zeitung (SZ) als auch in der Frankfurter Allge- gen sowie Regional- und Spezialausgaben. 78 schen Mehrheitsgesellschaft vor Unterwanderung durch dung mit der tatsächlichen Religionsausübung steht, bildet MuslimInnen und den damit verbundenen Verlust der eige- die Grundlage für Rassifizierungsprozesse. Unter Bezug auf nen Dominanz. Während bis dato die (islamische) «Gefahr» Namen, Phänotyp und/oder Kleidungsstücke und andere entweder als eine von «außen» oder zumindest als eine von Merkmale wird Menschen eine islamische Religionszuge- «Anderen» (MigrantInnen) ausgehende im Inneren gedeu- hörigkeit zugeschrieben. Die «Rassifizierung von Muslim_in- tet wurde, scheint die Vorstellung besonders besorgniserre- nen»8 äußert sich in einer primären Wahrnehmung als Musli- gend, dass Teile der «Wir»-Gruppe sich für Ideen der «Ande- minnen und Muslime und bildet die notwendige Bedingung ren» interessieren oder diese gar den «westlichen Werten» für alltägliche Diskriminierung auf Basis von antimuslimi- vorziehen könnten. Zum einen wird hauptsächlich über zum schem Rassismus, bei dem durch «Essentialisierung, Dicho- Islam Konvertierte berichtet, kaum bis gar nicht aber über tomisierung und Hierarchisierung […] die Hybridität, Durch- Menschen, die sich zu anderen Glaubensrichtungen beken- lässigkeit und Dynamik kultureller Identitäten geleugnet» nen. Zum anderen impliziert der Begriff des Konvertiten bzw. wird.9 Auf dieser Grundlage wurden in den letzten Jahren der Konvertitin die Annahme, die sich zum Islam Bekennen- in Deutschland viele andere Themen mit dem Islamdiskurs den hätten sich vorher zu einer anderen Religion bekannt. Der gekoppelt, was jeweils antimuslimische Effekte zur Folge Begriff des «Konvertiten» wird zum Synonym für weiß-deut- hatte.10 So wurde das «Integrationsparadigma» mit damit sche ChristInnen, die zum Islam konvertieren. verbundenen Anforderungen auf angenommene oder tat- Die Diskussionen um Salafismus verschärfen sich nach sächliche Religiosität bezogen und häufig die Inszenierung dem Anschlag in Frankfurt/Main im März 2011. So wird fest- eines Werte- und Kulturkonflikts fortgeschrieben. 11 Weiter gestellt, dass für den Attentäter der Salafismus handlungslei- wurden selektiv emanzipatorische Argumente genutzt, um tend war, was insbesondere auf seine Facebook-Freundes- die Konzeption des «muslimischen Anderen» als unaufge- liste zurückgeführt wurde (FAZ, 22.6.2011). In der FAZ wird klärt und rückständig zu stützen12 und der neoliberale Unter- darüber hinaus festgestellt, dass das Attentat den Sicher- schichtendiskurs mit dem antimuslimischen Rassismus ver- heitsbehörden erneut deutlich zeige, «dass salafistische Pro- bunden.13 Diese Deutungsmuster tauchen allesamt auch bei paganda im Internet einen zuvor völlig unauffälligen jungen der Debatte um Salafismus auf. Mann offenbar binnen weniger Wochen radikalisieren kann» Die problematischen Tendenzen in der medialen und poli- (ebd.). Während der Saison der alljährlichen Vorstellungen tischen Verhandlung des Salafismus 2011 und 2012 lassen der Verfassungsschutzberichte der Länder und des Bundes sich in erster Linie auf den bei dem Thema mehrheitlich be- wurde im Juni 2011 über die erneuten Warnungen des In- dienten Sicherheitsdiskurs zurückführen. nenministeriums vor dem Salafismus berichtet. Die insbesondere seit dem 11. September 2001 herge- Zentrale Ereignisse für die Debatte um Salafismus stellen stellte Verbindung von Islam und Terrorismus stärkt die Kon- allerdings die Koran-Verteilungen ab April 2012 dar und die struktion «des gefährlichen Anderen». Vor allem Kopftuch Auseinandersetzungen mit extremen Rechten von Pro NRW und Bart werden in der medialen Verhandlung des Salafis- bei Kundgebungen in Bonn und Solingen Anfang Mai. Allein mus immer wieder als Kennzeichen von SalafitInnen her- von April bis Juni erschienen in FAZ, FAS und SZ zusammen vorgehoben. Auf der Alltagsebene verstärkt diese Deutung genommen 286 Beiträge, in denen die Begriffe Salafismus, bereits etablierter Marker als «salafistisch» die wahrgenom- Salafisten und Salafiten genannt wurden (im Vergleich: Im mene Haltung von MuslimInnen zum politischen Islam und gesamten Jahr 2011 waren es in SZ und FAZ/FAS 178 und zum Terrorismus. «Nicht jeder Salafist ist ein Terrorist», ver- 2010 sogar nur 30 Beiträge). Auf der inhaltlichen Ebene las- kündeten sowohl der ehemalige Präsident des Verfassungs- sen sich 2012 im Vergleich zu den Vorjahren keine wesent- schutzes, Heinz Fromm 2011 (zit. nach: SZ, 2.7.2011 und SZ, lichen neuen Aussagen und Urteile ausmachen, quantitativ 17.4.2012), wie auch Innenminister Friedrich 2012 (zit. nach: hingegen zeigt sich ein sprunghafter Anstieg. Die Welt, 8.6.2012). Dieser Allgemeinplatz wurde jeweils mit der Markierung von Terrorismus als salafitisch ergänzt, so Antimuslimischer Rassismus meinte zum Beispiel Fromm: «Aber fast alle Terroristen, die im Sicherheitsdiskurs wir kennen, hatten Kontakt zu Salafisten oder sind Salafis- Die Dynamiken diskursiver Inklusion und Exklusion und da- ten» (zit. nach: SZ, 2.7.2011). Diese Sätze erinnern nicht um- mit die Frage, wer zum nationalen «Wir» dazugehören darf sonst an den nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und wer nicht, prägten bereits eine hitzige Debatte nach der geprägten Spruch: «Nicht alle Muslime sind Terroristen, aber Rede des damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff zum alle Terroristen sind Muslime.» Die «Initiative Sicherheitspart- Tag der Deutschen Einheit 2010. Diese setzen sich nun in nerschaft – Gemeinsam mit Muslimen für Sicherheit», eine Aussagen wie «Der gewalttätige Salafismus gehört nicht zu Kooperation von muslimischen Verbänden mit Sicherheits- Deutschland» (SZ, 10.5.2012) oder in der in einem Titel einer behörden, veranstaltete im Juni 2011 einen «Präventionsgip- «Maischberger»-Sendung gestellten Frage «Gehört dieser Is- fel». An der Praxis der Sippenhaftung und des Generalver- lam zu Deutschland?» fort. Wenn der Salafismus unter dieser Frage verhandelt wird, verdeutlicht dies allerdings vor allem,

dass die Konstruktion einer kollektiven deutschen Identität 8 Shooman, Yasemin: Keine Frage des Glaubens. Zur Rassifizierung von «Kultur» und «Re- sich gegenwärtig immer noch stark auf die Abgrenzung von ligion» im antimuslimischen Rassismus, in: Friedrich (Hg.): Rassismus in der Leistungsge- sellschaft, S. 59–76, hier S. 64. 9 Ebd. 10 Friedrich, Sebastian/Schultes, Hannah: Anti- tatsächlichen und vermeintlichen MuslimInnen stützt. muslimische Effekte. Zu den gegenwärtigen Verschränkungen des Islamdiskurses in den Eine zentrale Annahme der Debatte um den Salafismus Medien, in: Migration und Soziale Arbeit 3/2012, S. 202–209. 11 Hess, Sabine/Moser, Jo- hannes: Jenseits der Integration. Kulturwissenschaftliche Betrachtungen einer Debatte, in: ist die objektive Existenz der Gruppe der «Muslime» – unter Hess, Sabine/Binder, Jana/Moser, Johannes (Hg.): no integration?! Kulturwissenschaftliche diesen gäbe es «Salafisten», die wiederum in gewaltberei- Beiträge zur Integrationsdebatte in Europa, Bielefeld 2009, S. 11–25. 12 Vgl. Karakayali, Serhat: Reflexiver Eurozentrismus. Zwischen diskursiver Kombinatorik und Latenz, in: Fried- te und nicht gewaltbereite einzuteilen seien. Die Kategori- rich (Hg.): Rassismus in der Leistungsgesellschaft, S. 96–113. 13 Friedrich, Sebastian: Die sierung der Bevölkerung nach der nur ungenau erhebbaren diskursive Erschaffung des «nutzlosen Anderen». Zur Verschränkung von Einwanderungs- und Unterschichtendiskurs, in: Jäger, Margarete/Kauffmann, Heiko (Hg.): Skandal und doch 78 79 Religionszugehörigkeit, die in keiner bestimmbaren Verbin- normal. Impulse für eine antirassistische Praxis, Münster 2012, S. 96–111. dachts änderten jedoch die Bekenntnisse zum Grundgesetz, Innenminister Friedrich fordert eine sechsmonatige Vorrats- die beständige Selbstverpflichtung zur Wachsamkeit und die datenspeicherung (vgl. Die Welt, 8.6.2012). In der SZ vom Distanzierung von Gewalttaten im Namen des politischen Is- 10. Mai 2012 wird berichtet, dass auch «mit Ausweisungen lam nichts. Denn die Diskussion prägt nicht nur die Eintei- […] das Problem nach Einschätzungen von Experten nicht lung in radikale und moderate MuslimInnen, sondern auch zu lösen sein» wird. Denn: «Abschieben kann man allenfalls die Behauptung «fließender Grenzen» 14 zwischen ihnen. ausländische Salafisten, viele der Extremisten, ob als Musli- Fernab vom realen politischen Einfluss des Salafismus wird me aufgewachsen oder zum Islam konvertiert, sind jedoch zum Beispiel in der SZ eine schleichende Unterwanderung deutsche Staatsbürger und dürfen nicht des Landes verwie- angedeutet: «Sehr genau sind diese Zahlen nicht, denn die sen werden.» Solche Kontextualisierungen zeigen auf, dass ideologischen Grenzen zwischen den salafistischen Ultras die Anrufung des Staates die Lösungsperspektive dominiert, und Vertretern anderer, politisch ebenso bedenklicher oder obgleich die Problemdefinition eine umfassendere ist. auch nur konservativer Auslegungen des Islam sind fließend. Klar ist aber: Obwohl die Salafisten nur eine winzige Minder- Antimuslimische Effekte heit unter den etwa vier Millionen Muslimen sind, wächst ih- der Extremismustheorie re Bedeutung» (SZ, 17.4.2012). Für die mediale Berichterstattung über den Salafismus war Distanzierungszwang und eine Kultur des Verdachts bil- von Beginn an die Kontextualisierung durch Links- und den die spürbaren Auswirkungen der diskursiven Verbin- Rechtsextremismus prägend. Sicherheitsbehördliches Voka- dung von Islam und Terrorismus. Allerdings spiegeln die bular wie «salafistische Bestrebungen» wurden von den Me- Distanzierungen von muslimischen Verbänden sich in der dien unkritisch übernommen. Die vor allem im Kontext der sicherheitsbehördlichen Praxis nicht wider: So behauptet Ausschreitungen in Bonn und Solingen 2012 vorgenommene der Verfassungsschutz, es gebe ein «islamistisches Perso- Gleichsetzung von Salafismus und extrem rechten Gruppen nenpotenzial»15 oder «Islamismuspotenzial»,16 von dem die stellt eine deutliche Affirmation extremismustheoretischer überwiegende Mehrheit auf «sogenannte legalistische Ver- Grundannahmen dar. In Bezug auf das Versammlungsrecht einigungen», wie zum Beispiel Milli Görüs, entfalle.17 Die Di- heißt es in der SZ: «Extremisten, welcher Couleur auch im- stanzierung politischer SalafitInnen von Gewalt hingegen mer, sollten wissen: Der Rechtsstaat ist tolerant, nicht blöd» bleibt wirkungslos aufgrund der Behauptung fließender (SZ, 8.5.2012). In einem Kommentar in der FAZ (3.5.2012) Grenzen. Die SZ erweckt den Eindruck, es handle sich zu- wird das Bild der sich «wie Magnete» anziehenden «Extre- dem um Scheinmanöver: «Die Vertreter des sogenannten misten» gezeichnet und eine direkte Verbindung zwischen politischen Salafismus vermeiden den offenen und strafba- Links- und Rechtsextremismus sowie «Salafisten» herge- ren Aufruf zum bewaffneten Dschihad» (SZ, 10.2.2012). Da- stellt, während die inhaltlich stark voneinander abweichen- bei wird ein Gegensatz zwischen Verführern und Verführten den politischen Positionen keine Vergleichsebene darstellen. aufgebaut, der einer differenzierten Analyse der Motivations- Sowohl die staatliche Praxis als auch die mediale Ver - lagen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die salafitische handlung des Themas ist allerdings durchzogen von einem Zusammenhänge attraktiv machen, im Weg steht. So spricht Widerspruch: Einerseits wird durch die Zusammenfassung die SZ von «jungen, ihrer selbst nicht sicheren Menschen, unter die Diagnose «extremistisch» eine Gleichbewertung die empfänglich sein könnten für eine verführerisch simple und -behandlung verschiedener «Extremismen» suggeriert, Einteilung der komplizierten Welt in Freund und Feind» (SZ, andererseits besitzt «Islamismus» eine Sonderstellung, was 13.4.2012). Die Koran-Verteilungen bewertet Mathilde Koller, die Kriterien zur sicherheitsbehördlichen Einordnung als Ext- damalige Chefin des nordrhein-westfälischen Verfassungs- remismus (Religionsverständnis) und die Prävention betrifft. schutzes, als «nur vermeintlich harmlos», denn das Ziel sei So fanden zum Beispiel in Brandenburg in den Jahren 2009 es, «Jugendliche mit salafistischem Gedankengut zu infiltrie- bis 2011 19 Veranstaltungen im Rahmen der Reihe «Sicher- ren» (zit. nach: SZ, 11.4.2012). heitsdialog – Integration, Radikalisierung und Islamismus» Der auf den politischen Islam in Deutschland bezogene (IRIS) in Zusammenarbeit mit der Landesintegrationsbeauf- Sicherheitsdiskurs lebt gerade von seinen Widersprüchen. tragten statt. Auf Präventionsmaßnahmen bezogen, kons- Auf der einen Seite werden zwei getrennte Gruppen – «radi- tatieren Matthias Rodatz und Jana Scheuring eine aus ihrer kale» und «moderate Muslime» – konstruiert und versichert, Analyse von Materialien des Bundesamtes für Verfassungs- «moderate Muslime» hätten mit dem Salafismus nichts zu schutz hervorgehende politische Strategie der «Integration tun, auf der anderen werden «fließende Grenzen» behauptet als Extremismusprävention».18 Am Beispiel der Deutschen und besondere Einflussmöglichkeiten «moderater Muslime» Islamkonferenz, die von Beginn an «Sicherheit und Islamis- auf «Radikale» angenommen, sodass die Forderung nach mus» im Rahmen eines Gesprächskreises thematisierte, zeigt ihrer Isolierung innerhalb einer fiktiven homogenen musli- sich, wie die Programmatik «Integration als Extremismus- mischen Gemeinde die logische Konsequenz darstellt. Ein prävention» auch den organisierten Dialog zwischen musli- zweiter – für Sicherheitsdiskurse typischer – Widerspruch er- mischen Verbänden und Behörden bestimmt. Muslimischen gibt sich aus der Behauptung einer unkontrollierbaren Be- Menschen weist dieser Fokus – auch über eine Umdeutung drohung und dem Versprechen, Sicherheit durch Repression des Grundgesetzes als christlich-europäisch – einen «prekä- und Kontrolle herzustellen. So wurde die bereits in anderen ren Status zwischen bedingter Zugehörigkeit und potenziel- Zusammenhängen vielfach bemühte Figur des «Schläfers» aktualisiert und vor dem «islamistischen Einzeltäter, der sich

über das Internet radikalisiert» (SZ, 27.2.2012), gewarnt. 14 «Radikaler Salafismus ist wie eine harte Droge». Interview mit Hans-Peter Friedrich, in: Staatliche Kontrolle und Repression erschienen trotz dieser Die Welt vom 8.6.2012. 15 BfV – Bundesamt für Verfassungsschutz: Verfassungsschutz- bericht 2011. Vorabfassung, Berlin 2011, S. 189. 16 Ebd., S. 191. 17 Ebd., S. 189. 18 Ro- Ausgangsdiagnose daraufhin als plausible Lösungen. Bezo- datz, Matthias/Scheuring, Jana: «Integration als Extremismusprävention». Rassistische gen auf Bonn und Solingen werden «Auflagen, Platzverweise Effekte der «wehrhaften Demokratie» bei der Konstruktion eines «islamischen Extremis- mus», in: Forum für kritische Rechtsextremismusforschung (Hg.): Ordnung. Macht. Extre- und frühzeitiger Polizeieinsatz» (SZ, 8.5.2012) befürwortet, mismus – Effekte und Alternativen des Extremismus-Modells, Wiesbaden: 2011, S. 59–84. 80 lem Sicherheitsrisiko» zu.19 Die Debatte um den Salafismus Öffentlichkeit gerückt. Weil bundesweit der Kampf gegen erneuert von der weiß-deutschen Mehrheitsgesellschaft aus- Rechtsextremismus verstärkt wird, hört man von einigen Be- gehende Integrationsforderungen. Damit die Bekenntnisse amten sogar schon die Sorge, es könnten zu wenige Kräfte zur Verfassung im Deutschen Islamforum auch bei allen Mus- für die Beobachtung militanter Muslime übrig bleiben. Vor limInnen Beachtung finden, müssten auch «Moscheen zu Or- allem in einigen ostdeutschen Bundesländern hätten Isla- ten der Integration» werden (SZ, 10.5.12). misten derzeit gute Aussichten, unbehelligt von Ermittlern Wie unterschiedliche Machtverhältnisse unterschiedliche zu agieren und zu agitieren.» (SZ, 19.3.2012) Effekte der Extremismustheorie hervorbringen, verdeutlicht Durch eine nicht abgesprochene Plakatkampagne des In- nicht zuletzt der direkte Vergleich mit dem Rechtsextremis- nenministeriums im Rahmen der «Beratungsstelle Radika- mus. Hier stärkt die Problematisierung als Rechtsextremis- lisierung» der «Initiative Sicherheitspartnerschaft» spitzte mus den Eindruck, die «demokratische Mitte» sei frei von sich das Verhältnis zwischen Behörden und muslimischen rassistischen und faschistischen Haltungen. Punktuellen Verbänden kürzlich zu. Vier von sechs muslimischen Ver- Versuchen, den «Extremismus der Mitte» zu thematisieren, bänden haben mittlerweile die sogenannte «Sicherheitspart- steht die Einschätzung entgegen, es handle sich bei diesen nerschaft» aufgekündigt. Die Plakate stellen fiktive Vermiss- Einstellungen um ein Problem an den «Rändern».20 Beim «Is- tenanzeigen dar und zeigen Fotografien. Darunter finden lamismus» und seiner gegenwärtigen Verhandlung in Form sich Texte wie folgender: «Das ist mein Bruder Hassan. Ich des Salafismus tritt der gegenteilige Effekt ein: Ein randstän- vermisse ihn, denn ich erkenne ihn nicht mehr. Er zieht sich diges Phänomen entfaltet über die Zuordnung zu einer nach immer mehr zurück und wird jeden Tag radikaler. Ich habe vor allem kulturell-rassistischen Kriterien konstruierten Grup- Angst ihn ganz zu verlieren – an religiöse Fanatiker und Ter- pe massive Konsequenzen für ebendiese.21 rorgruppen.» Von antimuslimischem Rassismus Betroffene wehrten sich in diesem Zusammenhang gegen den verstärk- Rehabilitation ten Fokus auf «radikale Muslime» als Mittel der Dethema- des Verfassungsschutzes tisierung von Rassismus: Als Antwort auf die geplante Pla- Der Diskursverlauf der letzten drei Jahre – weg von einer katkampagne entwarfen Mitglieder eines Online-Portals ein Pauschalkritik an «muslimischen Integrationsverweigerern» Gegenplakat mit dem Foto Enver Şimşeks. «Das ist Enver hin zur Thematisierung einer vergleichsweise geringen Zahl Şimşeks. Er war das erste Opfer der NSU. Wir vermissen ihn von AnhängerInnen einer bestimmten Form des politischen und haben Angst, dass die Behörden weiteres Beweismate- Islam – kann auch als Effekt der Anschläge in Oslo und der rial vernichten», heißt es darunter. Aufdeckung des NSU-Terrors verstanden werden. Der ras- sistische Hintergrund der Anschläge und der Mordserie zog Und die Kritik? eine Verschiebung des Fokus nach sich und schien eine Fort- Rückblickend wurde die Salafismus-Debatte ab April 2012 setzung des bisherigen Islamdiskurses für eine gewisse Zeit von linker Seite kaum kritisch begleitet. Zum Teil wurden po- erst einmal zu verunmöglichen. Wesentliche antimuslimi- litische Konsequenzen kaum bis gar nicht thematisiert, oder sche Aussagen waren aufgrund der genannten diskursiven es wurden hegemoniale Deutungen und Positionen gestärkt. Ereignisse nicht mehr sagbar. Zum anderen geriet auch die In beiden Fällen sind vier zentrale Versäumnisse linker Kritik Verfassungsschutzbehörde wegen der offensichtlichen Ver- festzustellen: Erstens blieb der Effekt der Rehabilitation des fehlungen und Vertuschungen zunehmend unter Druck. Verfassungsschutzes weitgehend unerkannt. Zweitens wur- Das Bedrohungsszenario Salafismus rehabilitiert im Effekt de kaum Kritik an extremismustheoretischer Logik geäußert. den Verfassungsschutz in zweierlei Form: Erstens wird auf Drittens wurde der Kontext des gesamtgesellschaftlich veran- die Notwendigkeit von Verfassungsschutzbehörden verwie- kerten antimuslimischen Rassismus ausgeblendet. Viertens sen, und zweitens findet eine Dethematisierung von Rassis- wurden konkrete Folgen, wie etwa Abschiebungen, ignoriert. mus statt. Beide Stränge widersprechen den kritischen Aus- Dass Diskurse und Aufmerksamkeitskonjunkturen reale einandersetzungen um Ineffektivität und Rechtsoffenheit Konsequenzen nach sich ziehen, verschwindet gegenwärtig des Verfassungsschutzes im Kontext der NSU-Morde. hinter der Frage, wie der Salafismus zu bewerten sei. Die- In der medialen Thematisierung von Salafismus wurde zu- se Konsequenzen bestehen unter anderem in bundesweiten meist auf die Arbeit des Verfassungsschutzes verwiesen, in- Razzien, Abschiebungen und der Befürwortung von Hartz- dem in den Medienberichten dessen Einschätzungen und IV-Kürzungen für Menschen, die als «Salafisten» gelten. Es Zahlen zum Salafismus aufgegriffen wurden − Kritik war in verwundert nicht, dass angesichts dessen einige Moschee- diesem Zusammenhang nicht zu vernehmen, fast so, als hät- gemeinden aus Angst vor Repression es eher vermeiden, te es die NSU-Morde bei gleichzeitigem Versagen der Behör- breite Bündnisse gegen antimuslimischen Rassismus einzu- den nicht gegeben. Die beinahe wöchentlichen Warnungen gehen, in denen auch Mitglieder von muslimischen Gemein- vor dem Salafismus durch Innenminister Friedrich aktuali- den aktiv sind, die verdächtig erscheinen. Die Forderung sierten Bedrohungsszenarien, und die Verbote, Razzien und nach «hartem Durchgreifen» sind aus anderen Kontexten be- Abschiebungen stellten symbolisch die Handlungsfähigkeit kannt: So sprachen zum Beispiel aufgrund kurdischer Pro- der Behörden wieder her. teste in den 1990er Jahren der damalige Bundespräsident Zugleich schien die Debatte um Salafismus die verspro- Roman Herzog und Bundeskanzler Helmut Kohl im März chene Aufarbeitung der NSU-Morde und die Verstrickungen 1996 von einem Missbrauch des «Gastrechts», 22 und am von Behörden in Rassismus von der Agenda zu verdrängen. Beamte der Sicherheitsbehörden sahen den Fokus auf die extreme Rechte bereits vor dem Bekanntwerden der geplan- 19 Ebd., S. 185. 20 Vgl. Prüwer, Tobias: Zwischen Skylla und Charybdis: Motive von Maß und Mitte. Über die merkwürdige Plausibilität eines Welt-Bildes – eine genealogische Skiz- ten Koran-Verteilungen kritisch. So berichtete die SZ: «Die is- ze, in: Forum für kritische Rechtsextremismusforschung (Hg.): Ordnung. Macht. Extremis- lamistische Szene ist, nachdem Ende 2011 die rechte Zwi- mus, S. 163–190. 21 Vgl. Rodatz/Scheuring: «Integration als Extremismusprävention», S. 166. 22 Zit. nach: Schwarz, Tobias: Bedrohung, Gastrecht, Integrationspflicht. Differenz- 80 81 ckauer Terrorzelle entdeckt wurde, etwas aus dem Blick der konstruktionen im deutschen Ausweisungsdiskurs, Bielefeld 2010, S. 159. 20. Juli 1997 forderte Gerhard Schröder in der Bild am Sonn- allerdings, in denen Unterdrückungs- und Ausbeutungsver- tag (Schlagzeile: «Raus – und zwar schnell!») die schnelle hältnisse berührt oder gar gestärkt werden, erfordern eine Abschiebung ausländischer Straftäter. Die öffentliche Dis- kritische Beleuchtung. In diesen Fällen sollte eine Analyse kussion und die staatlichen Maßnahmen konzentrieren sich der Kontexte und der Effekte stattfinden und danach gefragt kurzfristig zwar auf ein neues Objekt («Salafisten»), die dis- werden, ob insgesamt eine Legitimation oder ein Ausbau kursiven Legitimationsstrategien sind jedoch die alten. «In- von Unterdrückungsverhältnissen vorliegen. Für diese Ana- tegration als Extremismusprävention», die Figur des «Schlä- lyse ist der Einbezug direkter und indirekter Konsequenzen fers», Unterwanderungsfantasien, der exklusive Fokus auf für Betroffene unabdingbar. Andernfalls wird sich an der De- Sexismus, der symbolische Ausschluss aus dem «Wir-Kol- montage linker Gesellschaftskritik und Utopie beteiligt. lektiv» Deutschland, Sippenhaft und Distanzierungszwang bilden zentrale Merkmale nicht nur der Debatte um Salafis- mus, sondern waren auch Bestandteil vergangener Debat- Sebastian Friedrich ist freier Publizist, Redakteur bei kritisch-­ ten um «die Muslime». Solange sich nur die Objekte, nicht lesen.de und aktiv bei der Kampagne für Opfer rassistischer die Aussagen im Islamdiskurs ändern, kann von einer Zu- Polizei­gewalt (KOP). Seine Arbeitsschwerpunkte sind Medien­ rückdrängung von antimuslimischem Rassismus nicht die kritik, Diskurstheorie, Rassismusanalyse, Klassenverhältnisse Rede sein. Im Gegenteil: Die Konjunkturen von Eingrenzung und soziale Bewegungen. und Ausweitung der Objekte innerhalb der letzten zwei Jahre Hannah Schultes ist Sozialwissenschaftlerin, Redakteurin bei lassen erwarten, dass die Aufspaltung in «gute» und «radika- kritisch-lesen.de und aktiv bei der Kampagne für Opfer rassisti- le» MuslimInnen jederzeit reversibel ist. scher Polizeigewalt (KOP). Zu ihren Interessen zählen Diskursthe- Es gibt medienpolitische Scheindebatten, die von linker orie, Mediendiskurse und kritische Migrations- und Rassismus- Seite getrost ausgeblendet werden können. Diskussionen forschung. STANDPUNKTE 16/2012

Jörg Roesler AUF DEM WEG ZUM EINWANDERUNGSLAND Nur billige Arbeitskräfte und kaum geduldete Fremde? Zur Situation der Vertragsarbeiter in der DDR während der 1970er und 1980er Jahre

Mit «Bruderland ist abgebrannt!» hat die Rosa-Luxemburg-Stiftung in diesem Jahr eine Veranstaltungsreihe des Zentrums für Demokratie Treptow-Köpenick gefördert. In dieser Reihe wurde der staatsoffizielle «Antifaschismus» einer kritischen Ausleuchtung unterzogen, ebenso wurden Formen des Rassismus in der DDR-Gesellschaft sowie Antisemitismus und das Auftreten von Neonazis thematisiert. Von Teilen der linken Öffentlichkeit ist insbesondere die Auftaktveranstaltung mit Irritation und Verärgerung aufgenommen worden. Von einer «Delegitimierung» der DDR war die Rede. Die positiven Aspekte der DDR-Gesellschaft, die viele im neoliberalen Wiedervereinigungsstaat schmerzlich vermissen, will niemand infrage stellen – vielmehr ist eine differenzierte, wissenschaftlich gestützte Aufarbeitung etwa zur Situation von Vertrags- arbeiterinnen und ‑arbeitern unser Anliegen. Diesem Ziel dient auch die Veröffentlichung des vorliegenden Standpunkte- Papiers. In naher Zukunft wird ein weiterer Standpunkt erscheinen, der sich mit der Geschichte der sogenannten Gastar- beiter in der Bundesrepublik zwischen 1955 und 1973 beschäftigt.1

Die Diskussion im R at für Gegenseitige Angesichts dessen war es nicht verwunderlich, dass der von Wirtschaftshilfe (RGW) den DDR-Vertretern im deutsch-polnischen Wirtschafts- um Ausländerbeschäftigung ausschuss gegenüber den polnischen Kollegen geäußerte Nach dem Mauerbau erwies sich einer der von den «grenz- Vorschlag, auf der Basis individueller Verträge «polnische sichernden Maßnahmen» erhofften Vorteile rasch als Illusi- Arbeitskräfte in der DDR längerfristig zu beschäftigen bzw. on: Die «Arbeitskräftelenker» in den zuständigen Ministe- in die DDR umzusiedeln», dort zunächst auf positive Re- rien beziehungsweise Staatssekretariaten hatten gehofft, sonanz traf.2 Doch in der Führung der polnischen Kommu- dass mit dem Ende der «Republikflucht» auch der Arbeits- nisten überwogen die Bedenken. Die Nachricht über einen kräftemangel in der DDR beseitigt werden könnte. Dieser «Verkauf» polnischer Arbeitskräfte an einen deutschen Staat Mangel war – abgesehen von der durch die DDR-Wirt- würde die Frage, warum denn in Polen nicht genügend Ar- schaftsreform 1963 bis 1970 allerdings gebremsten Ten- beitsplätze vorhanden wären, zu einem Problem für die Par- denz der Betriebe, Arbeitskräfte zu horten – vor allem auf teiführung machen. Die Verhandlungen wurden abgebro- die spezifische demografische Situation zurückzuführen, in chen. Der Versuch der DDR, ihr Arbeitskräfteproblem über der sich die DDR befand: In den 1960er Jahren wurden auf Einwanderung zu beheben, war damit gescheitert. dem Arbeitsmarkt die in Rente gehenden, geburtenstarken Im Rahmen des RGW war Anfang der 1960er Jahre an- Jahrgänge von den geburtenschwachen der Nachkriegs- gesichts des Arbeitskräfteüberschusses in einigen Ländern zeit abgelöst. In den volkseigenen Betrieben (VEB) blieben (neben Polen zum Beispiel auch Bulgarien) und des Arbeits- so die Arbeitskräfte weiterhin knapp. Während die DDR da- kräftemangels in anderen (neben der DDR auch in der Tsche- rüber nachsann, wie das Arbeitskräftedefizit zu beseitigen choslowakei) eine Diskussion über einen Arbeitskräftetrans- sei, machte man sich in Polen, auf dessen Arbeitsmarkt seit fer innerhalb des RGW nach dem Rotationsprinzip in Gang Mitte der 1960er Jahre die geburtenstarken Nachkriegs- jahrgänge zu strömen begannen, darüber Gedanken, wie man die zusätzlichen Arbeitskräfte – allein anderthalb Mil- 1 Eine ausführliche Dokumentation der Veranstaltungsreihe und der Kontroverse um sie lionen sollten es im Zeitraum 1966 bis1970 werden – be- findet sich online unter www.rosalux.de/news/38661. 2 Röhr, Rita: Polnische Arbeitskräf- te in der DDR 1960–1970, in: Hübner, Peter/Tenfelde, Klaus (Hrsg.): Arbeiter in der SBZ-DDR, 83 schäftigen könnte. Essen 1999, S. 189. gekommen. Während die DDR und die Tschechoslowa- War das auch für den einzelnen Betrieb so? Die Frage be- kei dafür plädierten, die sozialistische Gemeinschaft durch antworteten fast alle Betriebs- und Kombinatsleiter mit «Ja», Nutzung aller Humanreserven, auch mit dem Mitteln des weil die «ausländischen Werktätigen» halfen, die prekäre Ar- Arbeitskräftetransfers, zu stärken, lehnte die Mehrzahl der beitskräftebilanz der Unternehmen zu entlasten. Damit wur- Länder diesen Vorschlag mit Hinweis auf die innerhalb der de die Planerfüllung sicherer, auch die Erfolgsprämien für EWG seit Mitte der 1950er Jahre als «transnationale imperi- das Leitungspersonal und die Beschäftigten. Zusätzliche Ar- alistische Ausbeutung» angeprangerte Beschäftigung italie- beitskräfte bedeuteten für die Werkleitung weniger Sorgen nischer, griechischer und türkischer Arbeitskräfte in der BRD und mehr Prestige. ab. Die RGW-Staaten einigten sich schließlich darauf, dass Dem SAL oblag die Umsetzung der qualitativen Grund- jedes einzelne Land für sich genügend Arbeitsplätze bereit- sätze der SED-Führung und der quantitativen Vorgaben der stellen müsse. Die eigenen Werktätigen sollten an Ort und Staatlichen Plankommission (SPK) beim Arbeitskräftetrans- Stelle für die Vermehrung des nationalen Reichtums arbei- fer in bilateralen Abkommen mit den Delegierungsländern. ten. Das würde der «sozialistischen Staatengemeinschaft als Die prinzipiell gleichen, im Detail jedoch recht unter - Ganzem» am ehesten zugute kommen. schiedlichen Arbeits- und Wohnbedingungen von Werktä- Da die «Überschuss-Länder» aber die gewaltigen Investiti- tigen verschiedener Nationen in der DDR hingen wesentlich onen zur Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze nicht aufbrin- von dem Nachdruck ab, den die Arbeitskräftelenkungsin- gen konnten, setzten sich mit der Zeit die Pragmatiker gegen stitutionen der Delegierungsländer auf die Ausgestaltung die Ideologen durch. Im «Rechenschaftsbericht über den Be- bestimmter Vertragsbedingungen legten. «Aushandelbar» schäftigtengrad und die Berufsausbildung der Arbeitskräfte waren nicht nur Urlaubslänge, das Ausmaß der Paketsen- in den RGW-Mitgliedsländern vom Dezember 1970» wurde dungen an Angehörige daheim oder die Häufigkeit der erstmals öffentlich festgestellt, dass «die Migration von Ar- Heimfahrten während des mehrjährigen Arbeitsaufenthal- beitskräften zwischen den sozialistischen Ländern von ge- tes, sondern auch das Verhältnis von Qualifizierungs- und genseitigem Nutzen sei.» Der «sozialistische Internationalis- reiner Arbeitszeit. mus» sollte sich bei einem derartigen Arbeitskräftetransfer Wichtiger als die für den einzelnen «ausländischen Werk- darin offenbaren, dass den Arbeitskräften aus dem Dele- tätigen» erzielten Ergebnisse war für die Delegierungsländer gierungsland nicht nur rechtliche Gleichstellung und sozi- der höchstmögliche Nutzen des Arbeitskräftetransfers für ale Absicherung wie den einheimischen Arbeitskräften im die eigene Volkswirtschaft beziehungsweise für das natio- Gastland gewährt, sondern darüber hinaus «Qualifizierung nale Budget. Um jedes Prozent Sozialversicherungsbeiträge, am Arbeitsplatz» angeboten werden sollte. Als selbstver- um jede Tonne Investitionsgüter, die in das Delegierungsland ständlich galt das in den Ländern des RGW auch im inne- transferiert werden sollte, wurde mit der DDR hartnäckig ren Arbeitsmarkt seit Mitte der 1950er Jahre durchgesetz- verhandelt. Aus den Abkommen ergibt sich nach Müggen- te Freiwilligkeitsprinzip. Ausdrücklich positiv erwähnte das burg der Eindruck, dass die Vertreter Polens, Ungarns, Ku- RGW-Papier den ersten zwischenstaatlichen Vertrag über bas und Chinas beim «Aushandlungspoker» gegenüber der Ausländerbeschäftigung innerhalb der Wirtschaftsgemein- DDR über bessere Karten verfügten als Algerier, Vietname- schaft nach dem Rotationsprinzip, den die DDR und Ungarn sen oder Mosambikaner.5 1969 miteinander abgeschlossen hatten.3 Der Nutzen für die Delegierungsländer sah natürlich an- ders aus als der für die DDR. Fast alle diese Länder hatten Motive und Verfahren zwischen­ ein Beschäftigungsproblem. Die zeitweilige «Verschickung» staatlicher Vertragsabschlüsse eines Teils ihrer Arbeitskräfte entlastete die Arbeitskräftebi- zum Arbeitskräftetransfer lanz. Schwerer als dieser unmittelbare Vorteil wog aber ein Die Vereinbarung über die Beschäftigung ungarischer Ar- mittel- und langfristiger: Die ausgesandten Arbeiter erwar- beiter wurde zum Pilotabkommen über Arbeit und Qualifi- ben in der DDR, wo sie vor allem in Industriebetrieben be- zierung für alle folgenden zwischenstaatlichen Verträge der schäftigt wurden, Qualifikationen, die dem Delegierungs- DDR mit anderen Ländern. Arbeitskräfte für die DDR wurden land nach deren Rückkehr beim Aufbau beziehungsweise durch zwischenstaatliche Verträge bald nicht nur aus RGW- Wiederaufbau (in Vietnam nach Beendigung der US-Aggres- Ländern (Polen, Ungarn, Mongolei), sondern auch aus an- sion 1975) zugute kamen. Drittens leisteten die im Ausland deren sozialistischen Ländern (China, Vietnam, Kuba) sowie Beschäftigten, denen es erlaubt war, einen Teil der von ih- aus «befreundeten jungen Nationalstaaten», wie Algerien, rem Lohn in der DDR gekauften Konsumgüter an ihre Famili- Angola und Mosambik, angeworben. en daheim zu schicken, einen – angesichts der Armut in den Für das Gastland DDR wie für die Delegierungsländer war Dritte-Welt-Ländern nicht zu unterschätzenden – Beitrag zur das Hauptmotiv zum Abschluss der Verträge der ökonomi- Erhöhung des individuellen Wohlstandsniveaus vor Ort. Den sche Nutzen für das eigene Land. Vom für die ausländischen Vietnamesen erlaubte das bilaterale Abkommen beispiels- Arbeitskräfte in der DDR zuständigen Staatssekretariat für weise, pro Jahr sechs Warenpakete zollfrei in ihre Heimat zu Arbeit und Löhne (SAL) wurde 1977 eine Analyse des «Nut- schicken, maximal zwei Mopeds beziehungsweise fünf Fahr- zen-Aufwand-Verhältnisses» durchgeführt.4 Ermittelt wur- räder, zwei Nähmaschinen, 150 Meter Stoff oder 100 Kilo- de der «ökonomische Nutzen für unsere Volkswirtschaft» in gramm Zucker. Gestalt der zusätzlich durch die ausländischen Arbeitskräfte erzeugten «industriellen Warenproduktion zu Industrieabga- bepreisen». Diesem Nutzen gegenübergestellt wurden die 3 Das sozialistische Weltsystem, Bd. 3, Berlin 1968, S. 439–467. 4 Vgl. hier wie im Folgen- Aufwendungen wie Lohnkosten, Prämienzahlungen, Unter- den die Unterlagen des Staatssekretariats für Arbeit und Löhne, die sich im Bundesarchiv, Berlin-Lichterfelde befinden (Signatur: BArch DQ 3). Darüber hinaus wurden relevante Ak- bringungskosten sowie Ausgaben für das Betreuungsperso- ten der SED-Führung (SAPMO-BArch DY 30), des Ministerrats der DDR (BArch DC 20) und nal. Das SAL kam zu dem Schluss, «dass der Einsatz der aus- des FDGB (SAPMO-BArch DY 34) eingesehen. 5 Müggenburg, Andreas: Die ausländischen Vertragsarbeitnehmer in der ehemaligen DDR. Darstellung und Dokumentation, Berlin 1996, ländischen Werktätigen für die DDR ökonomisch effektiv ist». S. 17–22. 84 Augenfällig ist, dass einige für die Vertragsarbeiter wichtige Dort gab es in der Regel für die ausländischen Mitarbeiter re- beziehungsweise während ihres DDR-Aufenthaltes wichtig servierte Sprechzeiten. Ebenso wie für DDR-Bürger war für werdende Dinge nicht Gegenstand des «Aushandlungspo- die Vertragsarbeiter die medizinische Versorgung einschließ- kers» waren: Dazu gehörte vor allem das Rotationsprinzip, lich der Verabreichung von Medikamenten unentgeltlich. zu dessen Anwendung sich die DDR nach dem Scheitern ih- Am Arbeitsplatz wurden die Vertragsarbeiter üblicher- res Einwanderungskonzeptes entschlossen und das auch weise Mitglieder in sozialistischen Brigaden. Die Einbezie- die Billigung des RGW gefunden hatte. Auf ihm bestanden hung in bestehende Brigaden brachte die in- und ausländi- auch die Entsendeländer, entweder weil ihr Arbeitskräfte- schen Kollegen einander näher. Um die Brigadebildung bei überschuss zeitlich begrenzt war (Ungarn, Polen) oder weil Arbeitsgruppen aus Vertragsarbeitern hatten sich im Be- sie größten Wert darauf legte, in kurzer Zeit eine möglichst trieb die Gewerkschaftsorganisation, der FDGB, und der große Zahl ihrer Bürger für den Aufbau von Industrien im Jugendverband, die Betriebsorganisation der FDJ, zu küm- Heimatland qualifizieren zu lassen (China, Vietnam, Mongo- mern. Bei «gemischten» Brigaden hing es von der Haltung lei, Kuba und eine Reihe junger Nationalstaaten). der deutschen Brigademitglieder ab, inwieweit ihre auslän- In den DDR-Medien wurde die Beschäftigung der «auslän- dischen Kollegen über die Verpflichtung «sozialistisch arbei- dischen Werktätigen» generell als Akt der «internationalisti- ten» hinaus auch in jenen Teil der Brigadeaktivitäten integ- schen Solidarität» bezeichnet und, um daran keine Zweifel riert wurden, der als «sozialistisch leben» bezeichnet wurde: aufkommen zu lassen, der Inhalt der Verträge nicht öffentlich Es handelte sich um gemeinsame Besuche von Kulturver- gemacht. anstaltungen, um Ausflüge und Brigadefeiern, Gartenfeste und Grillabende. In Betrieben, in denen Werkleitung, FDGB Arbeitssituation und Integration und FDJ den Gedanken der Solidarität mit anderen Völkern der Vertragsarbeiter in den VEB pflegten, traten junge Vertragsarbeiter, die sich nach Feier- Anders als die deutschen Beschäftigten in den VEB konnten abend kulturell betätigen wollten, mit ihren Darbietungen in sich die Vertragsarbeiter ihren Arbeitsort und Arbeitsplatz Jugendklubs und Schulpatenklassen der Betriebe auf. Zur In- nicht auswählen. Um für die Betriebe Kosten zu sparen, wur- tegration der Ausländer in den Betrieb gehörte zum Beispiel de relativ früh der «konzentrierte Einsatz» der Vertragsarbei- auch, dass VEB vietnamesische Vertragsarbeiter zu Veran- ter in ausgewählten VEB festgelegt. Als untere Grenze galten staltungen anlässlich des Tet-Fest, dem größten vietname- 50 Arbeitskräfte. Die Mehrzahl der Vertragsarbeiter, die über sischen Feiertag, einluden «unter Teilnahme aller Führungs- keine besondere Qualifikation verfügte, erhielt in dem für ih- kader der staatlichen und gesellschaftlichen Leitung des ren Einsatz vorgesehen Betrieb jene Arbeitsplätze zugewie- Betriebes», wie ein VEB stolz an das SAL berichtete. sen, die von den einheimischen Arbeitskräften gern gemie- Auch in jenen Betrieben, in denen man in den Vertragsar- den wurden. Es handelte sich um Arbeiten, bei denen wenig beitern nicht mehr sah als zusätzliche Arbeitskräfte und sich verdient wurde, um körperlich schwere beziehungsweise um deren spezifische Belange zu wenig kümmerte, konn- schmutzige Arbeiten und Arbeiten im Mehrschichtsystem. ten sich die Vertragsarbeiter mit ihren Problemen an die sie Nach einer Untersuchung des SAL, 1984 im Fahrzeugbau begleitenden, sie betreuenden (und natürlich auch kontrol- vorgenommen, ergab sich für die ausländischen Arbeiter lierenden) Landsleute wenden, die als Gruppenleiter bezie- ein durchschnittlicher Schichtanteil von 13 Prozent, für die hungsweise Dolmetscher zur Delegation gehörten. Ihr Anteil Nachtschicht aber von 61 Prozent. an den entsendeten Arbeitern schwankte je nach bilatera- Auch der Start ins Arbeitsleben war für die Vertragsarbei- lem Vertrag zwischen 7 Prozent (Polen) und 12 Prozent (Al- ter nicht einfach. Als Erstes war die Sprachbarriere zu über- gerien). Darüber hinaus bestand beispielsweise für Polen die winden. Die Verträge sahen Deutschkurse vor, die während Möglichkeit, sich mit Beschwerden an Institutionen wie die oder neben der Arbeitszeit zu absolvieren waren. Gewöhn- beim FDGB angesiedelten «Kommissionen zur Arbeit mit lich handelte es sich um 200 Unterrichtsstunden in den ers- den polnischen Werktätigen» zu wenden, auf die auch die ten drei Monaten (Angolaner) oder im ersten Einsatzjahr polnische Zentralgewerkschaft Einfluss hatte. Für vietname- (Kubaner). Noch größere Probleme als die sprachliche Ver- sische Vertragsarbeiter wurde immerhin festgelegt, dass die ständigung bereitete den Ausländern in den Anfangsmona- auf Abteilungen aufgesplitterten Arbeitskräfte zweimal im ten aber die Ernährungsumstellung. Selbst in Großbetrieben Jahr die Möglichkeit hatten, ihre Anliegen gegenüber der Be- wurde kaum auf die Essgewohnheiten der Ausländer Rück- triebsleitung auf Vollversammlungen vorzutragen. sicht genommen. Außer an Ernährungsstörungen erkrank- Wenn derartige institutionalisierte Möglichkeiten der Be- ten die Vertragsarbeiter häufig bei der Umstellung auf das schwerdeführung nicht oder nur in großen Zeitabständen zur ungewohnte Klima. Auch die ungewohnt lange und anstren- Verfügung standen, dann griffen die ausländischen Arbeits- gende Arbeit und der Schichtdienst – viele Ausländer waren kräfte auch schon mal zu einem Mittel, das in keinem zwi- zuvor nie der Fabrikdisziplin unterworfen gewesen – konnten schenstaatlichen Vertrag oder den jährlichen Abstimmungs- krank machen. Nach einer Untersuchung des SAL aus dem protokollen zwischen Gast- und Delegierungsland vereinbart Jahre 1987 lag der Anteil derjenigen Vertragsarbeiter, die aus war – zur Arbeitsniederlegung. Nach Angaben des SAL kam gesundheitlichen Gründen vorzeitig in ihre Heimatländer zu- es erstmals 1975 gehäuft zu Streiks. Insgesamt sollen 6.000 rückgeschickt werden mussten, zwischen sechs Prozent (Vi- «ausländische Werktätige» daran beteiligt gewesen sein. Da- etnamesen) und 15 Prozent (Mosambikaner). rauf musste reagiert werden. Im Bericht des Staatssekretari- Nach der mehrmonatigen Eingewöhnungsphase unter- ats hieß es dazu: «Auf Grund der aufgetretenen schwierigen schied sich der Krankenstand der ausländischen Arbeiter al- Situation beschlossen Parteiführung und Regierung Anfang lerdings nicht mehr signifikant von dem der einheimischen 1976 eine Reihe von Maßnahmen zur Stabilisierung des Ein- und lag bei den Vietnamesen sogar darunter. Das war vor satzes und der Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedin- allem auf die Tätigkeit des Personals der Betriebspolikliniken gungen der ausländischen Werktätigen.» Lediglich in einem 84 85 zurückzuführen, die in keinem Großbetrieb der DDR fehlten. Falle hat bei den Streiks das Delegierungsland in die Ausei- nandersetzungen unmittelbar eingegriffen. Als die Algerier der bei gleicher oder ähnlich gelagerter Arbeit, sind derartige streikten, weil sie in den VEB vertragswidrig als Hilfskräfte Beschwerden auf dem Gebiet der Kranken-, Unfall und Sozi- ohne geeignete Ausbildungsmöglichkeiten eingesetzt wur- alfürsorge kaum aufgetreten, da es eine Gleichbehandlung den, entschied sich 1976 die algerische Regierung dazu, zu- nicht nur laut Vorschrift, sondern auch faktisch gab. künftig keine Neueinreisen mehr zu genehmigen, das heißt den Vertrag mit der DDR auslaufen zu lassen. Die Lebenssituation der Vertrags­ Der individuelle Abbruch des DDR-Aufenthaltes durch un- arbeiter auSSerhalb der Betriebe zufriedene Vertragsarbeiter «aus persönlichen Gründen» war Die Verbesserung der Lebensbedingungen in den Heimen zwar in den zwischenstaatlichen Verträgen prinzipiell vorge- war eine vielfach geäußerte Forderung der Vertragsarbeiter. sehen, wurde jedoch von beiden Vertragspartnern ungern Jeder Betrieb, der beim SAL die Einstellung von Vertragsar- akzeptiert. Nach einer repräsentativen Untersuchung aus beitern beantragte, musste für sie Unterkünfte vorweisen. dem Jahre 1978 lag die Abbruchrate insgesamt bei 20 Pro- Oft reichten die betrieblichen Unterbringungsmöglichkeiten zent, disziplinarische und gesundheitliche Gründe einge- nicht aus. Die Werkleitung musste sich mit den kommunalen schlossen. Wohnungsverwaltungen abstimmen. Unbedingt einzuhal- Welche Forderungen und Wünsche trugen die ausländi- ten waren dabei die Gebote des SAL: Nicht erlaubt war etwa schen Werktätigen vor, wenn sie sich bei den Werkleitungen die Unterbringung in Baracken am Rande der Stadt, weil äl- beschwerten oder gar streikten? Soweit sich dies in den Ak- tere DDR-Bürger sich dann an die Behandlung von Fremd- ten der VEB niederschlug, sind diese seit deren Abwicklung arbeitern während der Nazizeit erinnern mochten. Die Woh- nach 1990 kaum noch zugänglich. Anders ist das, wenn Be- nungsverwaltungen wiederum wussten, dass es spezielle richte über derartige Beschwerden nach «weiter oben», das Baupläne für die Errichtung der vom SAL geforderten «Arbei- heißt bis ins SAL gelangten, wie die «Aktennotiz zur Ausspra- terhotels» nicht gab. Sie konnten für die Unterbringung der che mit dem vietnamesischen Kollegen Le Thanh Ly» vom Ausländer nur Wohnblöcke oder vielfach einzelne Aufgänge 22. August 1988 aus dem Braunkohlewerk Cottbus. Ly hat- von Wohnblöcken in Neubauvierteln zur Verfügung stellen. te versucht, seine Kollegen dazu zu überreden, ihn als Grup- Die eigentlich für Familien projektierten Wohnungen wurden penleiter vorzuschlagen. Er versprach, eine Reihe von For- in «Wohngemeinschaften» umfunktioniert. Laut zwischen- derungen seiner Landsleute gegenüber der Betriebsleitung staatlicher Verträge hatten pro Ausländer fünf Quadratmeter durchzusetzen: Die vietnamesischen Vertragsarbeiter sollten Raum zur Verfügung zu stehen, tatsächlich waren es etwas mehr Lohn, 1.200 bis 1.400 Mark (DDR-Durchschnitt 1988: mehr, aber deutlich weniger als die DDR-üblichen zwölf Qua- 1.287 Mark) erhalten, sie würden gute Arbeitsplätze bekom- dratmeter pro Person. Die Gemeinschaftsunterkunft muss- men, das heißt, sie müssten keine schwere Arbeit mehr leis- te über eine Kochgelegenheit, einen Kühlschrank und eine ten. Ly würde auch für Exkursionen und gute Sportmög- Waschmaschine sowie Besteck und Küchengeschirr verfü- lichkeiten sorgen. Wenn man innerhalb der DDR verreisen gen. Von den Heimbewohnern empfand, nach 1990 befragt, wollte, brauchte man sich, wenn er sich durchsetzte, nicht eine Mehrzahl die Wohnverhältnisse als «ausreichend bis mehr abzumelden. Darüber hinaus sollten die Lebensbedin- luxuriös» – im Vergleich zu den Wohnbedingungen in ihren gungen in den Wohnheimen verbessert werden. Heimatländern. Inwieweit sich der Betrieb oder das SAL der Wünsche der Unzufrieden waren die Ausländer, die in Heimen wohn- Vietnamesen annahm, ist aus den Akten nicht ersichtlich. ten, dagegen mit den Kontaktmöglichkeiten nach außen. Aus den Protokollen der Kontrollberichte des SAL über Ein- Besuchsmöglichkeiten gab es zwar von sechs bis 22 Uhr satzbetriebe geht jedoch hervor, dass die von Ly an erster unter Vorlage des Personalausweises. Doch wurden die Vor- Stelle angeführte Lohnfrage tatsächlich eine Ursache stän- schriften, die die Nutzung der Heime «als Umschlagplatz für diger Unzufriedenheit und Auseinandersetzungen zwischen spekulative Handelswaren und als Unterschlupf für gesuch- Vertragsarbeitern und Werkleitung war, fast unabhängig te Personen» verhindern sollten, von den Pförtnern oftmals von Betrieb und Herkunftsland der Ausländer. Die Ursache peinlich genau befolgt. Die übertriebene Reglementierung für die Lohndifferenz zwischen ausländischen und deut - des Einlasses, die der Staatssicherheit die Kontrollmöglich- schen Arbeitskräften im gleichen Betrieb dürfte kaum eine keiten erleichterte, blieb bis 1989 gültig, ungeachtet der vertragswidrig niedrige Entlohnung gewesen sein. Sie war wiederholt geäußerten Wünsche der Heimbewohner, die wohl eher darauf zurückzuführen, dass die Vertragsarbeiter Einlasskontrolle aus den Händen der Betriebe in die ihrer vielfach einfache und damit auch weniger gut bezahlte Ar- Gruppenleiter zu legen. beiten verrichteten. Ein erheblicher Teil der Differenz erklärt Die Abschottungsmaßnahmen waren auch Ausdruck der sich aus der in den VEB vorherrschenden Leistungsentloh- grundsätzlichen Übereinkunft zwischen der DDR-Seite und nung: Die Arbeitsnormen, die auch für die Vertragsarbeiter den ausländischen Vertragspartnern, im Interesse der Auf- galten, waren de facto oftmals zwischen Betriebsleitung und rechterhaltung des Rotationsprinzips eine Integration der Brigadeleitern für die deutschen Arbeitskräfte «ausgehan- Ausländer in die DDR-Gesellschaft zu vermeiden. delt» worden. Sie berücksichtigten weder die (durchschnitt- Anders als im Falle von FDGB und FDJ im Betrieb gab es lich) geringere Körperkraft etwa der Vietnamesen und auch seitens der in den Wohngebieten agierenden, gesellschaft- nicht die – zumindest in der Anfangszeit – unzureichenden lichen Organisationen wie der «Nationalen Front» oder der Produktionserfahrungen und -fertigkeiten der Ausländer. Im «Volkssolidarität» kaum Initiativen, die den Kontakt zwischen Braunkohlenwerk Welzow zum Beispiel erreichten die Vi- Ausländern und Wohnbevölkerung vermittelten. Es wurden etnamesen «im Verhältnis zu den DDR-Kollegen» nur eine auch lange Zeit seitens der Betriebe keine Anstrengungen durchschnittliche Normerfüllung von 70 bis 80 Prozent. unternommen, die Bürger über die Einrichtung eines «Arbei- Während es in Lohnfragen immer wieder Unzufriedenheit terhotels» in unmittelbarer Nähe vorab zu informieren. Erst in der Vertragsarbeiter darüber gab, dass sie real nicht so viel den 1980er Jahren änderte sich die Einstellung dazu. All das verdienten wie ihre deutschen Kollegen und Brigademitglie- trug dazu bei, dass das Wissen der Wohnbevölkerung über 86 das Leben in den Heimen in erster Linie auf – keineswegs Vertragsarbeiter auf den Zeitraum der «Perspektivplanperio- freundlichen – Gerüchten basierte. de», das heißt auf fünf Jahre, gefordert. Die Folge: Die Auf- Außerhalb von Heim und Betrieb konnten sich die Ver - enthaltsdauer des einzelnen «ausländischen Werktätigen» tragsarbeiter am Arbeitsort frei bewegen, auch Kontakt zu hätte sich von bisher zwei bis vier Jahren auf sechs bis acht den Kirchen aufnehmen. Erschöpft von der Arbeit, blieben Jahre erhöht. die Vertragsarbeiter nach Feierabend jedoch meist im Stadt- Die veränderte Perspektive für die Ausländerbeschäfti- viertel. In den «Wohngebietsgaststätten» der Neubauviertel gung in der DDR führte zu einem Umdenken bei den für die kamen sie mit den ihnen benachbart wohnenden DDR-Bür- Einsätze verantwortlichen «Arbeitkräftelenkern». Ein 1987 gern direkt in Berührung. Die (meist jugendlichen) Ausländer erarbeitetes Papier des SAL gelangte zu der Erkenntnis, dass verhielten sich aus der Sicht ihrer (älteren) deutschen Nach- bei achtjährigem Aufenthalt die bisher geltenden Unterbrin- barn in der Gaststätte und auf dem Weg von ihr zum Heim gungsbedingungen «nicht unbegrenzt aufrechterhalten wer- befremdlich anders. Beim SAL gingen immer wieder Einga- den können, weil sie Familiengründung und persönliche Le- ben ein, in denen man sich über das «unmögliche» Verhalten bensführung für lange Zeit außerordentlich einengen». der Ausländer beklagte. Beschwerden dieser und anderer Größere Entscheidungsräume für die Betriebe und die Art, wie über «Lärmbelästigung durch überlauten Radio- ausländischen Werktätigen wurden im SAL zunehmend an- empfang», Lärm, der beim Schichtwechsel auftrat, wie auch gemahnt und teilweise auch bereits vor dem Herbst 1989 bei Feiern, kommentierte eine für die Behandlung von Ein- gewährt. Der am dringendsten zu lösende Fall betraf die gaben zuständige Mitarbeiterin des SAL so, «dass die Lärm- Behandlung von schwanger gewordenen Vertragsarbeiterin- belästigung mit ein Vorwand ist, um eine Verlagerung des nen. Bei Schwangerschaft geboten die zwischenstaatlichen Wohnhotels zu erreichen». Tatsächlich wurde die Deklarati- Verträge die Heimschickung der betroffenen Person. Gegen on eines Wohnkomplexes zum «Arbeiterhotel» für Ausländer diese Regelung regten sich bei einem Teil der mit der Be- von der Bevölkerung in unmittelbarer Nachbarschaft in der treuung der Arbeiterinnen betrauten «Arbeitskräftelenkern» Regel negativ vermerkt. zunehmend Bedenken. Sie verstanden, dass die schwan- Dieses Verhalten war Ausdruck von Fremdenfeindlich- geren Frauen in der DDR entbinden und das Mütterjahr in keit, die zu DDR-Zeiten allerdings latent blieb. Handgreifli- Anspruch nehmen wollten. Mit dem Argument zusätzlicher che Auseinandersetzungen zwischen Ausländern und Deut- Kosten sprachen sich die Mehrheit der SAL-Mitarbeiter und schen waren vor 1989 selten. Über derartige Fälle wurde bis die VEB lange gegen derartige Wünsche aus. Als Kompro- «ganz oben», bis in die Parteiführung hinein, berichtet. Wenn miss wurde der Vorschlag entwickelt, Kleinkinder, die in ei- die Schuld an derartigen Übergriffen eindeutig bei DDR-Bür- ner Wohngemeinschaft aufgezogen werden sollten, könnten gern lag, wurden diese, wie im Falle einer Prügelattacke auf bis zur Rückkehr der Mütter in ihre Heimat in der DDR ver- Vietnamesen in Ludwigsfelde bei Berlin, juristisch zur Re- bleiben. Ein Krippenplatz würde so nicht beansprucht. Ende chenschaft gezogen und – in jenem Falle wegen «schweren 1988 hob die DDR das Rückschickungsgebot für Schwange- Rowdytums» – bestraft. re jedoch ganz auf. Seit Anfang 1989 war Schwangerschaft kein Ausweisungsgrund mehr. Die – am meisten unter den Neue Momente in der Ausl änderbe- Vertragsarbeiterinnen betroffenen – Frauen aus Vietnam er- schäftigung während der 1980er Jahre hielten von nun an (bis zum Anschluss der DDR an die BRD) Seit Ende der 1970er Jahre setzte die SED-Führung ver - wie die DDR-Bürgerinnen Schwangerschafts-, Wochen- und stärkt auf Rationalisierungsinvestitionen. Es wurde die Kindergeld sowie Schwangerschafts- und Wochenurlaub. «Schwedter Initiative» aus der Taufe gehoben, deren Parole Auch ihnen stand nunmehr das Recht auf eine bezahlte Frei- lautete: «Weniger produzieren mehr». Die angesichts der in stellung zur Kinderbetreuung für die Dauer eines Jahres zu. den VEB zu beobachtenden Tendenz zur Arbeitskräftehor- Im Rahmen der Debatten unter Mitarbeitern des SAL wur- tung vernünftige Strategie hatte für die Ausländerbeschäf- de im Sommer 1989 anlässlich der Pläne zur Wiederaufnah- tigung einen Nebeneffekt: Die Staatliche Plankommission me des Arbeitskräftetransfers aus Ungarn vonseiten des (SPK) glaubte, die «Arbeitskräfteimporte» herunterfahren zu Staatssekretariats für die Vertragsgestaltung angeregt: «Die können. Man hoffte, Probleme, die man mit den Vertragsar- neuen Grundlagen sollten die Möglichkeit des Wohnens in beitern hatte, würden sich mit deren sinkender Anzahl viel- normalen Wohnungen und des Familiennachzugs einschlie- leicht von selbst lösen. ßen, so dass gleichzeitig Wege einer gezielten Einwande- Mitte der 1980er Jahre war die «Schwedter Initiative» je- rungspolitik […] eröffnet werden können.» Damit war die doch gescheitert. Die Politik der Produktionssteigerung bei DDR ein Jahr vor ihrem faktischen Ende in Bezug auf die Be- Arbeitskräfteeinsparung durch Rationalisierungsinvestiti- schäftigung von Ausländern just dort angelangt, wo sie mit onen musste aufgegeben werden. Die SED-Führung setz- Überlegungen und Vorschlägen 25 Jahre zuvor begonnen te erneut und im stärkeren Maße als je zuvor auf den Zu - hatte – beim Einwanderungsland DDR. zug ausländischer Arbeitskräfte, deren Zahl sich von 1984 bis 1989 von 24.000 auf 94.000 erhöhte. Der von den «Ar- beitskräftelenkern» lange gehegte Gedanke, man könne ei- Jörg Roesler ist Wirtschaftshistoriker und gehört der Histori- nes Tages auf ausländische Arbeitskräfte wieder verzichten, schen Kommission der Partei DIE LINKE an. Er ist Mitglied der wurde endgültig aufgegeben. Gleichzeitig sahen SPK und Rosa-Luxemburg-Stiftung. Im Kölner PapyRossa-Verlag ist SAL sich gezwungen, dem Druck der Betriebe nachzuge- soeben seine «Geschichte der DDR» erschienen. ben und die Dauer des Aufenthalts der Vertragsarbeiter in der DDR zu verlängern. Aus Gründen der Planungssicher- heit und zwecks Verringerung des Anteils der wenig produk- tiven Einarbeitungszeit der Vertragsarbeiter wurde von den 86 87 Betrieben eine Verlängerung der Beschäftigungsdauer der STANDPUNKTE 17/2012

Jan Korte Wahn und Wirklichkeit Der Antikommunismus der frühen Bundesrepublik prägt den Umgang mit der NS-Vergangenheit bis heute

Zum Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik Deutschland gibt es mittlerweile eine ganze Reihe von wichtigen Forschungsarbeiten und Artikeln. Auch politisch spielt diese Frage immer wieder eine Rolle. Zuletzt etwa, als es um die braunen Wurzeln der Geheimdienste ging. Ein wesentlicher Aspekt aber, ohne den man diese Vorgänge kaum verstehen kann, wird viel zu oft ausgeblendet: die Rolle des Antikommunismus sowohl bei der Verhinderung einer kriti - schen Geschichtsaufarbeitung als auch bei der Entwicklung der bundesdeutschen Demokratie. Deshalb sollte die Ausei- nandersetzung mit der antidemokratischen Tradition des Antikommunismus ein zentrales Moment in der gegenwärtigen geschichtspolitischen Diskussionen in Wissenschaft und Politik sein. Hier gibt es zahlreiche Leerstellen, die es auszufüllen gilt. Die Frage, wie sich der Antikommunismus, als fast schon staatsreligiöse Ideologie, in weiten Teilen von Staat und Gesell- schaft bis heute halten konnte, sollte dabei im Zentrum stehen. Eine Beschäftigung mit den Mechanismen, sozialpsychologi- schen, juristischen und demokratietheoretischen Wirkungen des Antikommunismus kann sicherlich einiges zum Verständ- nis der heutigen Entwicklungen, wie etwa dem Agieren der Sicherheitsbehörden in Bezug auf den Naziterror, beitragen.

Antikommunismus und Restauration zusammenbeschlossen, welches Rolf Gössner zu Recht als Mein Freund Walter Timpe1 war in den 1950er Jahren Redak- ein «wahres Panoptikum des Verrats, der Zersetzung, Ver- teur der kommunistischen Tageszeitung Die Wahrheit/Nie- unglimpfung und Geheimbündelei» bezeichnete.4 So gab dersächsische Volksstimme. Er wurde 1955 zu einem Jahr es etwa die Bestimmungen «hochverräterische Unterneh- Haft, drei Jahren Berufsverbot und Führerscheinentzug ver- men», «landesverräterische Fälschungen», «Staatsgefähr- urteilt. Sein Vergehen war kommunistische Propaganda. Als dung», «staatsgefährdende Störungen» oder den «fahrläs- junger Redakteur hatte er umfassend über die braune Ver- sigen Landesverrat».5 Also alles dehn- und interpretierbare gangenheit der Bonner Politiker berichtet und analog zur da- Begriffe, die von jenen angewandt wurden, die bis 1945 maligen Programmatik der KPD zum revolutionären Sturz bereits Erfahrung mit der Verfolgung von KommunistInnen der Adenauerregierung aufgerufen. Letzteres – so berichtete hatten. Kurz: Das politische Strafrecht wurden von alten Na- es Walter Timpe in seiner wunderbaren Art, äußerst selbst- zis angewandt, die bereits Anfang der 1950er Jahre in die ironisch, später – sei allerdings ohne jeglichen Widerhall in Behörden im Allgemeinen und in den bundesdeutschen der Arbeiterklasse geblieben. Justiz- und Polizeiapparat im Speziellen zurückgeströmt Der Fall Walter Timpe 2 zeigt anhand eines konkreten waren. Laut Alexander von Brünneck wurden von 1951 bis Schicksals, dass es eine politische Justiz in der Bundes - 1958 allein auf dem Verwaltungsweg über 80 Verbote ge- republik gegeben hat, die sich fast ausschließlich gegen gen reale oder vermeintliche kommunistische Organisatio- KommunistInnen und andere Linke richtete. Alexander von Brünneck hat in seinem Standardwerk über die «Politische 1 Walter Timpe trat mit 18 Jahren in FDJ und KPD ein, wurde kurz danach das erste Mal auf Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutsch- einer Demonstration gegen die Remilitarisierung verhaftet; schließlich wurde er von einem land 1949–1968» die Entwicklung und den Umfang der Justizangehörigen, der eine blutige Vergangenheit in der NS-Zeit aufweisen konnte, verur- teilt. 2006 stellte er seine bewegende Geschichte bei der Anhörung der linken Bundestags- Verfolgung von KommunistInnen erfasst: Spätestens ab fraktion zum Jahrestag des KPD-Verbots vor. Dort erlebten ihn viele und waren begeistert 1950 wurde mit massiver Polizeigewalt gegen Veranstal- von seiner Analysefähigkeit und dem Glauben an die Möglichkeiten einer gerechteren Ge- sellschaft. Im Juni 2008 starb Walter Timpe überraschend. 2 Vgl. Korte, Jan: Instrument tungen und Kundgebungen von FDJ und KPD vorgegan- Antikommunismus. Sonderfall Bundesrepublik, Berlin 2009. 3 Philipp Müller starb, als die gen. Der wohl bekannteste und bestürzendste Höhepunkt Polizei in Essen auf TeilnehmerInnen einer kurz zuvor von Karl Arnold (CDU), dem Minister- präsidenten Nordrhein-Westfalens, verbotenen Demonstration gegen die bundesdeutsche dieser ersten Stufe des staatlichen Antikommunismus war Wiederbewaffnung schoss. Dies war das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, der Tod des jungen FDJ-Mitglieds Philipp Müller am 11. Mai dass ein Demonstrant durch die Polizei getötet wurde. 4 Gössner, Rolf: Die vergessenen Justizopfer des kalten Krieges. Über den unterschiedlichen Umgang mit der deutschen Ge- 1952.3 Der neue Staat hatte sich ein politisches Strafrecht schichte in Ost und West, Hamburg 1994, S. 51. 5 Ebd. 88 nen ausgesprochen. Schon 1951 wurde die FDJ verboten. Antikommunismus und Vergangen- Im selben Jahr stellte die Bundesregierung die Verbots - heitspolitik: gestern und heute anträge gegen die nazistische Sozialistische Reichspartei Im Zuge des Verbots der KPD trieb der Antikommunismus (SRP) und gegen die KPD. Ganz im Sinne der Totalitarismus- außerordentlich skurrile und skandalöse Blüten. Schon von theorie wurden damit Verbotsverfahren gegen eine rechte Brünneck machte vor Jahrzehnten auf einen besonders ver- und eine linke Partei eingeleitet. Letztendlich stellte das Ver- werflichen Vorgang aufmerksam. Im Zuge der Wiedergutma- bot der SRP lediglich die ideologische Untermauerung im chung für während der NS-Zeit erlittenes Unrecht wurde das Kampf gegen die KPD dar. Bundesentschädigungsgesetz (BEG) verabschiedet. Das BEG Der Höhepunkt der antikommunistischen Welle war sollte eine gewisse materielle Entschädigung, etwa für Haft schließlich das Verbot der KPD am 17. August 1956. Dieses im Konzentrationslager, darstellen. Außerdem war es natür- bezog sich im Übrigen auf eine verbalradikale Programmatik, lich auch eine sozialpsychologisch wichtige Anerkennung für die zum Zeitpunkt des Verbots gar keine Gültigkeit mehr hat- die Opfer des NS-Regimes. Im Zuge des KPD-Verbots wurde te. Nicht zuletzt brauchte das Bundesverfassungsgericht fast auch diese Praxis im BEG geändert. Nunmehr war es möglich, fünf Jahre, um das Verbot auszusprechen, was auf erheb- kommunistische WiderstandskämpferInnen von Entschä- liche verfassungsrechtliche Bedenken schließen lässt. Und digungszahlungen auszuschließen, zum Teil wurden sogar das alles gegen eine KPD, die Mitte der 1950er Jahre in der Rückzahlungen gefordert. Boris Spernol hat in einem Beitrag politischen Isolation stand und auf dem Weg zu einer Split- für den Sammelband «Die Praxis der Wiedergutmachung» die terpartei war. Ausschlüsse von KommunistInnen aus der Reihe der NS-Op- Bei den zweiten Bundestagswahlen bekam die KPD nur fer und WiderständlerInnen folgendermaßen skizziert: noch knapp über zwei Prozent der Stimmen. Mit dem KPD- «Dieselbe ausgeprägte kommunistische Gesinnung, die Verbot setzen dann im großen Umfang Ermittlungen, Ver- sie in den dreißiger Jahren zu Verfolgten des NS-Regimes haftungen und Verurteilungen ein. Laut von Brünneck gab hatte werden lassen, konnte bewirken, dass Kommunisten es in jenen Jahren jährlich rund 14.000 staatsanwaltliche ihre daraus resultierenden Wiedergutmachungsansprüche Ermittlungen und ca. 500 verurteilte Personen. In der Zeit in der Bundesrepublik wieder verloren, wenn sie an ihrer po- von 1951 bis 1968, so von Brünneck bilanzierend, wurden litischen Überzeugung festhielten.»8 125.000 staatsanwaltschaftliche Ermittlungen durchgeführt. So gab es zahlreiche Fälle, in denen kommunistischen Wi- Verurteilt wurden in dieser Zeit 6.758 Personen, zum Teil zu derstandskämpferInnen, die jahrelange KZ-Haft überlebt hohen Haftstrafen.6 hatten, die Ansprüche aberkannt und verweigert wurden. Diese Praxis galt allerdings nicht zwangsläufig, sondern wur- Ein deutscher Sonderweg de durchaus unterschiedlich und willkürlich gehandhabt. Mit der politischen Justiz gegen KommunistInnen und ei- Neben den materiellen Verlusten für die Betroffenen war es nem geradezu staatsreligiösen Antikommunismus wur- natürlich auch ein symbolischer Ausschluss aus den Reihen de nicht nur die Idee des Potsdamer Abkommens, das die des Widerstands. Fortan galt der Widerstand des 20. Juli als grundlegende Erneuerung Deutschlands unter Mitwirkung legitim (wenn auch dies erst, etwa im März 1952 durch Fritz der KommunistInnen vorsah, aufgekündigt. Es wurde auch Bauer im Remer-Prozess, erkämpft werden musste), derje- ein europäischer Sonderweg beschritten. Abgesehen von nige der Arbeiterbewegung und dort bis heute derjenige der den Diktaturen in Spanien, Griechenland oder Portugal gab KommunistInnen dagegen galt, trotz der Erwähnung von es nirgends in Europa ein so massives Vorgehen gegen Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985, KommunistInnen. Undenkbar wäre es etwa gewesen, die als illegitim beziehungsweise als weitgehend nicht existent. Kommunistische Partei Frankreichs zu verbieten oder KP- Um zumindest eine symbolische Anerkennung des kom- Vorsitzende, wie Togliatti in Italien, zu verhaften. Dieser Son- munistischen Widerstands zu erreichen, fand bereits im derweg des «Frontstaates» BRD wurde mit der Konfrontation Jahre 2006 eine Bundestagsdebatte auf Antrag der LINKEN des Kalten Krieges, in der sich die BRD an vorderster Front statt. Die Fraktion der LINKEN hatte gefordert, das oben sah, begründet und bildete eine der Legitimationsgrundla- skizzierte Unrecht anzuerkennen und die wichtige Rolle des gen für den herrschenden Antikommunismus. Auf die an- Widerstands von KommunistInnen zu würdigen.9 Wie weit dere machte im Jahre 2009 das Nachrichtenmagazin Der auch heute noch der Antikommunismus verbreitet ist, zeigte Spiegel im Zusammenhang mit einer Analyse der Dimensio- die Debatte zu diesem Thema: Der CDU-Abgeordnete Gün- nen der Kommunistenverfolgung aufmerksam. Dort hieß es: ter Baumann etwa stellte zum Antrag fest: «Es ist der Ver- «Die Zahl der zwischen 1951 und 1968 gefällten Urteile ge- such, diejenigen, die erst einen freiheitlich-demokratischen gen Kommunisten lag fast siebenmal so hoch wie die gegen Rechtsstaat beseitigen wollten und einen Unrechtsstaat NS-Täter – obwohl die Nazis Millionen Menschen ermordet nach DDR-Vorbild etablieren wollten, von Kollaborateuren zu hatten, während man westdeutschen Kommunisten politi- Opfern zu stilisieren, nicht zuletzt um das sozialistische Re- sche Straftaten wie Landesverrat vorwarf.»7 gime der DDR mit dem der Bundesrepublik auf eine Stufe zu Der Spiegel legt hier den ideologischen Kern des Antikom- stellen.»10 Einige Zeilen weiter bringt es der Unionspolitiker munismus frei. Er diente in erster Linie der Exkulpation der dann auf den Punkt: «Die Opfer, die Sie in ihrem Antrag an- bundesdeutschen Gesellschaft vom Nationalsozialismus. sprechen, sind gerade keine Opfer einer Diktatur.»11 Das NS- Dieser Antikommunismus in vergangenheitspolitischer Ab- sicht wurde von den ehemaligen Funktionseliten und dem 6 Brünneck, Alexander von: Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Bonner Politestablishment genutzt, um die Rückkehr der al- Deutschland 1949–1968, Frankfurt am Main 1978, S. 278. 7 Der Spiegel, Nr. 2, 5.1.2009. ten Nazis zu rechtfertigen. Aber auch die Mehrheit der Bevöl- 8 Spernol, Boris: Im Kreuzfeuer des Kalten Krieges. Der Fall Marcel Frenkel und die Verdrän- gung der Kommunisten, in: Frei, Norbert/Brunner, José/Goschler, Constantin: Die Praxis kerung war für den Antikommunismus äußerst empfänglich, der Wiedergutmachung. Geschichte, Erfahrung und Wirkung in Deutschland und Israel, da er eine komplette Ausblendung der eigenen Unterstüt- Göttingen 2009, S. 205. 9 Antrag «Entschädigung für Opfer nationalsozialistischer Verfol- gung», 21.11.2006, Bundestagsdrucksache 16/3536. 10 Günter Baumann am 30.11.2006 88 89 zung für den Nationalsozialismus ermöglichte. im Bundestag, in: BT-Plenarprotokoll 16/70, S. 7050. 11 Ebd. Regime war keine Diktatur? Bei der Debatte ging es explizit die bundesdeutsche Mehrheitsgesellschaft. Weil – so die Lo- um erlittene Qualen und Unrecht durch die Nazis. Es ging gik – der Kommunismus/Sozialismus genauso schlimm wie nicht um die Rolle von KommunistInnen nach 1945. das NS-System ist, braucht man sich nicht mit der eigenen Die gleiche Argumentation vonseiten der Union konnte Verstrickung auseinanderzusetzen. man nun kürzlich auch bei der Debatte um die Große An- Drittens: Der Antikommunismus in der Bundesrepublik frage «Umgang mit der NS-Vergangenheit» und andere ver- war eine Massenideologie und kein Projekt der Eliten, wie gangenheitspolitische Anträge der Linksfraktion im Bundes- es besonders orthodoxe KommunistInnen behaupteten. Es tag im November dieses Jahres erleben.12 Die LINKE hatte in gab einen extrem verbreiteten Antikommunismus der Arbei- einem neuerlichen Anlauf versucht, mit ihrem Antrag, «Wi- terklasse. Dieser war vergangenheitspolitisch determiniert derstand von Kommunistinnen und Kommunisten gegen (s. o.), durch zwölf Jahre staatlich verordneten Antikommu- das NS-Regime anerkennen»,13 einen Härtefonds für NS-Ver- nismus in den Köpfen, aber eben auch materiell und politisch folgte, denen Leistungen nach dem BEG aufgrund ihrer Mit- fest verankert. In Zeiten des materiellen Wirtschaftswunders gliedschaft in der KPD, der Vereinigung der Verfolgten des war der Verweis auf die DDR nicht besonders attraktiv. Und NS-Regimes (VVN) oder in anderen, als kommunistisch be- politisch zeigte sich, dass die fehlenden individuellen Frei- einflusst geltenden Organisationen aberkannt beziehungs- heitsrechte im Ostblock eine keinesfalls erstrebenswerte Zu- weise verweigert wurden, einzurichten und durch eine kunft darstellten. öffentliche Geste die Zugehörigkeit deutscher KommunistIn- Viertens: Die KPD war Mitte der 1950er Jahre politisch nen zum Erbe des Widerstands gegen das NS-Regime zum bereits weitgehend am Ende. Dies hatte, neben den oben Ausdruck zu bringen und damit deren Rehabilitierung vorzu- skizzierten gesellschaftlichen Gründen, auch viele andere nehmen.14 Wie sechs Jahre zuvor begründete auch diesmal Ursachen. Besonders schädlich für die Attraktivität war die die Regierungskoalition ihre Ablehnung damit, «dass dieser Fixierung der KPD auf Moskau und Ost-Berlin, was keinerlei Personenkreis bewusst gegen die freiheitlich-demokratische Anziehungskraft in allen gesellschaftlichen Schichten in der Grundordnung gearbeitet hat».15 BRD hatte. Interne Säuberungswellen, wie der «Kampf ge- Dieser kurze Auszug aus den Protokollen des Bundestages gen den Titoismus» gegen Ende der 1940er Jahre, und ein zeigt, dass es bis heute eine starre Verweigerungshaltung isolationistischer Kurs innerhalb der Gewerkschaften bewirk- gibt, sich kritisch mit dem Umgang mit der NS-Vergangen- ten das ihrige. Dann darf selbstverständlich nicht vergessen heit in der frühen Bundesrepublik auseinanderzusetzen. Die werden, dass die KPD durch den NS-Faschismus extrem ge- Geschichte der Aufarbeitung wird als eine ausschließliche schwächt war. Sie hatte Tausende von Opfern zu beklagen. Erfolgsgeschichte erzählt, ohne die Brüche und teilweise un- Last but not least ist auch in dieser Frage die Verbindung beschreiblichen Verfehlungen und moralischen Fehlleistun- von Antikommunismus und Vergangenheitspolitik der gen politisch anzuerkennen und aufzuarbeiten. Schlüssel zum Verständnis. Die großen SozialpsychologIn- Noch heute wird so die Rolle des Widerstands von Kom- nen Margarete und Alexander Mitscherlich haben es in ih- munistInnen im Wesentlichen verdrängt und verschwiegen. rem epochalen Werk über die «Unfähigkeit zu trauern» be- Anders dagegen in der Wissenschaft: Hier gibt es mittlerwei- schrieben: le einige gute Untersuchungen zu diesen Fragen. Die Politik «Das Folgenreichste [der NS-Gesellschaft] dürfte der emo- allerdings hinkt auch hier der Wissenschaft massiv hinterher. tionelle Antikommunismus sein. Er ist die offizielle staatsbür- gerliche Haltung, und in ihm haben sich die ideologischen Ursachen der Verfolgung Elemente des Nazismus mit denen des kapitalistischen Wes- Eine wesentliche Frage, die sich bei der Beschäftigung mit tens amalgamiert. So ist eine differenzierte Realitätsprüfung politischer Justiz und Antikommunismus stellt, ist, warum für alles, was mit dem Begriff ‹kommunistisch› bezeichnet eigentlich so wenig Gegenwehr und öffentliche Kritik geübt werden kann, ausgeblieben. Das unter Adolf Hitler einge- wurde? Neudeutsch müsste man fragen, warum die Zivilge- übte Dressat, den eigenen aggressiven Triebüberschuss auf sellschaft eigentlich nicht gegen diese antidemokratischen das propagandistisch ausgenutzte Stereotyp ‹Kommunis- und antikommunistischen Auswüchse aktiv wurde. Daher mus› zu projizieren, bleibt weiter gültig; es stellt eine Kon- hier der Versuch, einige Gedanken zu den Spezifika des deut- ditionierung dar, die bis heute nicht ausgelöscht wurde, da schen Antikommunismus zu formulieren: sie in der weltpolitischen Entwicklung eine Unterstützung Erstens: Zunächst einmal ist Antikommunismus eine Ideo- fand. Für unsere psychische Ökonomie waren der jüdische logie des Bürgertums gegen alle Ideen und Ausformungen und der bolschewistische Untermensch nahe Verwandte. der revolutionären und reformistischen Arbeiterbewegung. Mindestens, was den Bolschewisten betrifft, ist das Bild, das In der Weimarer Republik paarte sich dieser Antikommunis- von ihm im Dritten Reich entworfen wurde, in den folgenden mus mit einem fanatischen Antisemitismus, was schließlich Jahrzehnten kaum korrigiert worden.»16 von den NationalsozialistInnen zur «jüdisch-bolschewisti- schen Weltverschwörung» verschmolzen wurde. Der Anti- Wahnhaftes und Gegenpositionen kommunismus war im Übrigen das wesentliche Argument, Um die Internalisierung des Antikommunismus in den Rei- wodurch die konservativen Eliten schließlich auf den Kurs hen der Politik nachvollziehen zu können, lohnt ein Blick et- von Hitler einschwenkten. Das heißt, dass der Antikommu- wa in die Kabinettsprotokolle der ersten beiden Regierun- nismus die wesentliche Leitidee in der Weimarer Republik gen von Konrad Adenauer. Liest man sie heute, ist es kaum und schließlich – eliminatorisch radikalisiert – im Nationalso- zu glauben, mit welchen Fragen man sich damals ausein- zialismus war. Zweitens: In den 1950er Jahren hatte der Antikommunis- mus in erster Linie eine vergangenheitspolitische Funktion: 12 Bundestagsdebatte am 8.11.2012, Tagesordnungspunkt 4 a–f. 13 Bundestagsdruck- Er legitimierte ideologisch die Rückkehr der alten Eliten in sache 17/2201. 14 Ebd. 15 Detlef Seif (CDU, MdB) am 8.11.2012 im Bundestag, in: BT- Plenarprotokoll 17/204, S. 24722. 16 Mitscherlich, Alexander/Mitscherlich, Margarete: Die Amt und Würden. Und er diente als Exkulpationsangebot an Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, 16. Aufl., München 2001. 90 andersetzte. Man findet dort teilweise Skurriles. Dazu zwei keine reine Erfolgsgeschichte. Die verheerenden Folgen des Beispiele aus dem Jahr 1950: «Der Bundesminister für die Antikommunismus auf Staat und Gesellschaft sind bis heu- Angelegenheiten des Bundesrates macht auf die überpar- te weder wissenschaftlich noch politisch aufgearbeitet wor- teiliche Jugendarbeit gegen die FDJ aufmerksam, die u. a. den. Die Perspektive der Opfer fehlt gänzlich. die Absicht habe, einen Stafettenlauf nach Bonn zu organi- Ralph Giordano hat vor längerer Zeit eine aktuelle Definiti- sieren.»17 Die Skurrilität wird aber noch gesteigert. In einem on des Antikommunismus formuliert: Tagesordnungspunkt ging es um «Maßnahmen gegen sow- «Er [der Antikommunismus] ist, aus der Tiefe der Ver - jetische Propaganda in Berlin». Dort heißt es: «Die Einrich- gangenheit, eine destruktive Kraft, die Verfolgungsobjekte tung eines Hauses der Sowjet-Kultur und eines Hauses der braucht, Hatzgeschöpfe, Erzfeinde, Pauschalgegner, denen deutsch-polnischen Freundschaft im Ostsektor erfordern gegenüber demokratische Grundsätze zu verletzen legitim Gegenmaßnahmen von westlicher Seite, erklärt der Bundes- sein soll.»19 minister für gesamtdeutsche Fragen. Einer Anregung des Wie aktuell. Oberbürgermeisters von Groß-Berlin folgend, schlage er vor a) die Einrichtung eines Hauses der Ostdeutschen zur nati- onalen Pflege der ostdeutschen Kultur und b) die Veranstal- Jan Korte ist Politikwissenschaftler M. A., ehem. Stipendiat tung einer ostdeutschen Ausstellung in Berlin.»18 Diese zwei der Rosa-Luxemburg-Stiftung und gehört seit dem Jahr 2005 Auszüge illustrieren sehr gut, wie tief der Antikommunismus der Linksfraktion im Deutschen Bundestag an. Zahlreiche bis in die direkte Regierungspolitik vorgedrungen war und Veröffentlichungen zu Vergangenheitspolitik, Antikommunismus bereits wahnhafte Züge angenommen hatte. und Innenpolitik, u. a. «Kriegsverrat» (2011, zusammen mit Trotzdem darf nicht vergessen werden, dass es von An- Dominic Heilig) und «Instrument Antikommunismus» (2009). fang an auch Gegenstandpunkte zu restaurativer Vergan- genheitspolitik und Antikommunismus gegeben hat, die Ende der 1960er Jahre schließlich zu wesentlichen Änderun- gen in der Bundesrepublik führen sollten. Erinnert sei etwa an Martin Niemöller, der sich schon sehr früh gegen den An- tikommunismus wandte, weil er in ihm ein Relikt des Nati- onalsozialismus erkannte. Nicht zu vergessen auch Gustav Heinemann, der sich klar gegen den Antikommunismus po- sitionierte. Eine wichtige Gegenstimme war auch Eugen Ko- gon, der Verfasser des Buches «Der SS-Staat» und spätere einflussreiche Fernsehjournalist. All die Angeführten waren dezidiert keine Kommunisten. Im Gegenteil, sie waren ent- schiedene Gegner des autoritären Staatssozialismus. Aber sie hatten eine Gemeinsamkeit: Aufgrund ihrer (furchtbaren) Erfahrungen mit dem NS-Regime waren sie aus politischen Gründen entschiedene Gegner des Antikommunismus und einer restaurativen Vergangenheitspolitik. Sie standen da- mals ziemlich alleine da. Aber sie legten den Grundstein für eine spätere, kritische Auseinandersetzung mit der braunen Vergangenheit. Und hierzu zählte eben auch die Auseinan- dersetzung mit dem Antikommunismus in vergangenheits- politischer Absicht. Eine direkte Folge dieser Interventionen war das Erscheinen eines umfangreichen Artikels von Georg Lukács im Spiegel unter dem Titel «Von Nietzsche zu Hitler» im Jahr 1966. Man stelle es sich vor: Ein Marxist kann seiten- lang im führenden Nachrichtenmagazin seine kritische Sicht auf die deutsche Geschichte darlegen. Heute unvorstell- bar. Adorno konnte seinen Vortrag «Erziehung nach Ausch- witz» zur besten Sendezeiten im Rundfunk verbreiten. Und schließlich ebneten diese Gegenpositionen den Weg in die 1968er Jahre. Um die Brüche und Veränderungen der demokratischen Entwicklung der Bundesrepublik zu begreifen, erscheinen die Vergegenwärtigung dieser Gegenpositionen und die Ver- änderungen der gesellschaftlichen Zustände in diesen Berei- chen besonders wichtig. Ohne Engagement, ohne partielle Bündnisse zwischen Linken, Linksliberalen und gesellschaft- lichen Multiplikatoren hätte es diese Fortschritte kaum ge- geben. Sie zeigen die Veränderbarkeit der bundesdeutschen Gesellschaft und sie machen klar, dass es keine stringente Linie von 1945 bis in die Gegenwart gibt. Heute muss es um die weitere Aufarbeitung der Aufarbei- 17 Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung. Band 2. 1950, Boppard am Rhein 1984, S. 741. 18 Ebd., S. 544. 19 Giordano, Ralph: Die zweite Schuld oder von der Last ein Deut- 90 91 tung gehen. Die Geschichte der Bundesrepublik war eben scher zu sein, Berlin 1990.

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